Im Herzen der Welt,
dort, wo alle Flüsse ihren Ursprung haben,
dort, wo alles Leben herkommt, und dort,
wohin es zurückkehrt, wenn seine Zeit gekommen ist,
liegt er.
Der Wald, Der War, Der Ist,
Und Der Sein-Wird.
Er ist alt.
Und in seinem Herzen,
dort, wo keines Menschen Fuß jemals den Boden betreten,
dort, wo keines Menschen Stimme
jemals die heilige Stille gestört,
wo keines Menschen Auge jemals den grüngoldenen
Schimmer des Lichtes erblickt, das sich schwarz
auf ihren Mauern bricht, liegt die Festung.
Sie ist alt.
Niemand weiß, wer sie erbaute.
Niemand weiß, welchem Zweck sie dient.
Ihr Name ist Megidda.
Ihre Mauern sind schwarz, von der Farbe der Nacht,
wenn sie am tiefsten ist.
Ihre Türme sind hoch, den Himmel berührend,
doch nicht ganz.
Ihr Name ist Megidda, doch für die Menschen
lautet er
Tod.
Es heißt, dass einst ein Mann kommen wird,
ein Kind noch, und doch schon ein Held, der sie findet.
Einst, wenn die Zeit der Menschen gekommen ist.
Und die unsere.
Etwas war anders geworden. Gwenderon wusste nicht, was es war, aber etwas hatte sich verändert, so deutlich, dass er es spuren konnte wie einen unangenehmen Geruch, der plötzlich zwischen den Bäumen hing, wie unsichtbarer Nebel aus dem Boden aufsteigend und sich ihm immer entziehend, wenn er versuchte, ihn zu erkennen. Aber es war da.
Gwenderon zügelte sein Pferd. Er war vorausgeritten, nicht sehr weit, nur ein paar Dutzend Schritte, aber doch in dieser sonderbaren Umgebung aus dunkelgrünen Schatten und Schweigen weit genug, um den Blicken der anderen entzogen zu sein. Von allem hier war es vielleicht das, woran er sich niemals wirklich gewohnt hatte, und was ihn – manchmal, so wie heute – noch immer mit dem gleichen Schauder von Ehrfurcht auf der einen und nackter Angst auf der anderen Seite erfüllte wie am allerersten Tag. Irgendetwas stimmte hier mit den Entfernungen nicht. Gleich, wie weit man sich voneinander entfernte, ob zehn Schritte oder zehntausend, der Unterschied war nicht zu fassen. Im gleichen Moment, in dem er die imaginäre Zehnschrittegrenze zum Rest des kleinen Trupps überschritten hatte, war er verschwunden für ihre Augen, so, wie es sie für ihn nicht mehr gab. Zehn Schritte, von einem Ende der Kolonne zum anderen, nicht mehr. Alles, was dahinter lag, verschwamm in Schatten und düsterer Entfernung und dem Raunen des Waldes, als gäbe es da irgendjemanden oder etwas, der ihnen erlaubte, genau so weit und nicht weiter zu sehen. Der Teil ihrer Welt, den mit hierher zu bringen ihnen gestattet war, war klein.
Aber das war es nicht.
Nicht heute.
Gwenderon richtete sich ein wenig im Sattel auf und sein Pferd reagierte auf die Bewegung mit einem nervösen Hufscharren. Die kleinen Metallschuppen, mit denen der Nackenschutz gepanzert war, klirrten, als es unruhig den Kopf bewegte. Gwenderon beugte sich vor und kraulte flüchtig seine Ohren, aber das Tier beruhigte sich nicht; ganz im Gegenteil. Sein Schweif begann unruhig zu peitschen, als schlüge es nach Fliegen oder Mucken, die nicht da waren, und seine Nüstern blähten sich erregt. Den meisten anderen Männern waren diese kleinen Zeichen kaum aufgefallen; Gwenderon schon. Er ritt dieses Pferd seit einem Jahrzehnt. Es war hier so zu Hause wie er. Und so fremd.
Dann erkannte er, was es war.
Es war die Stille.
Ein Schweigen sehr sonderbarer, irgendwie stofflicher Art, das sich wie eine unsichtbare Decke über dem Wald ausgebreitet hatte. In den Wipfeln der Bäume sang noch immer der Wind sein nie endendes Lied und dann und wann drang das leise Plätschern und Murmeln des Wildwasserbaches, den sie vor einer halben Stunde durchschritten hatten, an Gwenderons Ohr. Es waren nur die Geräusche des Waldes zu hören: das Knacken von trockenen Zweigen und Laub unter den Hufen ihrer Pferde, das Rascheln der Blätter, das sanfte Flüstern des Unterholzes, das Geschichten erzählte, die älter waren als dieser Wald, das Tröpfeln von Tauwasser auf laubbedecktem Boden. Und trotzdem schien es ihm, als wären sie in einem Kreis von Schweigen und Stille gefangen. Der Wald atmete zwar noch, aber seine Bewohner waren verstummt. Kein Vogel zwitscherte. Die Schatten hatten aufgehört, auf weichen Pfoten vor ihnen zu fliehen. Und selbst das Rascheln und Wispern der Insekten, das leise Tappen weicher kleiner Pfoten, das unhörbare Öffnen verschlafener Augenlider, deren Besitzer träge nach den dreisten Eindringlingen in ihr verbotenes Reich Ausschau hielten – all die Millionen und Abermillionen kleiner, einzeln nicht wahrzunehmender Laute, die zu diesem Wald gehörten wie die mannsdicken schwarzen Stämme und der undurchdringliche Baldachin aus Blättern, zu dem sich seine Wipfel verwoben, waren verstummt.
Irgendetwas ist geschehen, dachte Gwenderon. Und auf absurde Art erfüllte ihn dieser Gedanke mit einem tiefen, beinahe lähmenden Schrecken.
Gwenderon schrak hoch, als sich das Unterholz neben ihm teilte und Karelian hervortrat. Wie immer war der Fährtenleser so leise, dass Gwenderon seine Schritte selbst jetzt nicht hörte. Der grauhaarige Mann mit dem scharf geschnittenen, aber nicht unsympathischen Gesicht und den dunklen Augen hatte sein Leben in diesem Wald verbracht. Er war hier geboren und aufgewachsen und im Laufe der Jahre selbst zu einem Teil des Waldes geworden, zu einem Wesen, das sich so still bewegen konnte wie die Schatten, in denen er lebte. Die Lautlosigkeit, mit der er sich zu bewegen vermochte, hatte manchmal etwas Unheimliches an sich.
Gwenderon rief sich beinahe schuldbewusst ins Gedächtnis zurück, dass dies der Grund war, aus dem Karelian ihn und die Garde begleitete. Sie waren eine mächtige Streitmacht, aber in diesem Teil des Schwarzeichenwaldes herrschten Gesetze, die anders waren als die, nach denen er bisher gelebt hatte. Ein Heer von hundert gepanzerten Lanzenreitern mochte in der grünbraunen Düsternis des Waldes auf ewig verschwinden, während ein einzelner Mann wie Karelian eine Chance hatte, sein Ziel unbehelligt zu erreichen. Sie brauchten ihn, so dringend wie die Lebensmittel in ihren Satteltaschen und das Wasser in ihren Schläuchen. Vielmehr dringender, denn dies beides ließ sich ersetzen und sie konnten eine Weile ohne es auskommen – was auf Karelian ganz und gar nicht zutraf.
Trotzdem erschrak er immer wieder, wenn der grauhaarige Waldläufer lautlos auftauchte. Vielleicht, dachte er, weil ihm in solchen Augenblien immer ganz besonders deutlich zu Bewusstsein kam, wie sehr sie alle Karelian ausgeliefert waren.
»Gwenderon?«
Gwenderons Pferd scheute ein wenig, als die Stimme des Waldläufers wie der Klang von schneidendem Eisen in die Stille des Waldes brach, aber Gwenderon brachte das Tier mit einem kurzen, harten Ruck am Zügel wieder zum Stehen und sah Karelian fragend an. »Ja?«
Karelian wies mit einer Kopfbewegung in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. »Da ist etwas, das ich Euch zeigen muss«, sagte er. »Ich glaube, es ist wichtig.«
Gwenderon runzelte die Stirn. Für Karelian waren diese beiden Sätze eine ungewöhnlich lange Rede. Der Waldläufer sprach beinahe nie, und wenn er es doch tat, dann beschränkte er sich auf das Nötigste. Seine abgehackte, knappe Art zu reden hatte während der ersten Tage Anlass zu zahllosen Witzeleien unter den Männern gegeben. Sein Anliegen muss wirklich wichtig sein, dachte Gwenderon. Das ungute Gefühl in seiner Magengrube verstärkte sich.
Trotzdem nickte er, wandte sich halb im Sattel um und blickte den Weg zurück, den er gekommen war. Einen Moment lang fragte er sich, wie ihn Karelian überhaupt gefunden hatte, verfolgte diesen Gedanken aber nicht zu Ende – einem Ende, das ohnehin nur zu Verwirrung geführt hätte –, sondern wartete reglos, bis die Spitze der kleinen Kolonne aus den Schatten des Waldes auftauchte.
Einer der Gardisten sah auf, blickte Gwenderon fragend an und machte Anstalten, sein Pferd ebenfalls zu zügeln, aber Gwenderon gebot ihm mit einer raschen Geste weiterzureiten, schwang sich aus dem Sattel und trat neben den Waldläufer. Selbst jetzt, nachdem er abgesessen hatte, überragte er Karelian um mehr als Haupteslänge; und das, obwohl er gewiss kein hoch gewachsener Mann war.
Karelian drehte sich wortlos um und verschwand im Unterholz. Obwohl er kaum ein Geräusch verursachte, bewegte er sich doch so schnell, dass Gwenderon Mühe hatte, ihm überhaupt zu folgen und in der unsicheren Dämmerung nicht den Anschluss zu verlieren.
Der Weg verschwand schon nach wenigen Augenblicken hinter einer dichten Mauer aus Grün und Braun in allen nur denkbaren Schattierungen und jetzt verschluckte der Wald auch die Geräusche der Reiter. Alles, was Gwenderon noch hörte, waren seine eigenen Schritte und das Hämmern seines Herzens. Der unsichtbare Flausch aus Stille war ihm gefolgt.
Er schauderte, und für einen Moment wurde das Gefühl so heftig, dass er tatsächlich körperlich fror und spürte, wie eine Gänsehaut den Rücken hinabkribbelte und sich die feinen Härchen auf den Handrücken und im Nacken aufstellten; wie das Fell einer Katze, das gegen den Strich gestreichelt wurde. Der Schwarzeichenwald war seine Heimat – er hatte ihn dazu gemacht, als er vor fast dreißig Jahren in den Dienst König Oros getreten war und ihm Treue geschworen hatte – und trotzdem erfüllte er ihn mit Unbehagen, ja, beinahe mit Furcht, und nicht erst seit heute. Sie waren weit von Hochwalden entfernt, sieben Tagesreisen, und die Wälder, durch die sie ritten, hatten nicht mehr viel mit dem Schwarzeichenwald gemein, der sich rings um die gewaltige Burg Oros und ihre Getreuen erhob. Es war ein Dschungel, beinahe undurchdringlich selbst für jene, die ihn so gut kannten wie Karelian. Hätte es die schmalen, wie mit einem gewaltigen Lineal gezogenen Pfade und Wege nicht gegeben, die – wie die Legende behauptete – vom Wald selbst geschaffen worden waren, damit Mensch und Tier ihrer Wege gehen konnten, ohne den Bäumen Schaden zuzufügen, hätten selbst siebzig Tagesreisen nicht gereicht, hierher zu kommen. Gwenderon hatte von Männern gehört, die verwegen genug gewesen waren, die vorgegebenen Pfade zu verlassen und in den Wald selbst einzudringen, auf der Suche nach Geheimnissen und Gold oder bloß Abenteuern. Keiner von ihnen war zurückgekommen. Nicht aus diesem Teil des Waldes.
Er verscheuchte den Gedanken. Es waren bloß Gerüchte. Die Menschen pflegten nun einmal die Dinge, die sie nicht verstanden, mit Märchen zu umgeben und sie so noch bedrohlicher zu machen, als sie es ohnehin schon waren; die eine, unbekannte Angst gegen die andere, vertraute zu tauschen, gegen die sie sich wenigstens wehren konnten. Aber er sollte nicht auf Gerüchte hören. Er war ein wenig zu alt, um jetzt noch damit zu beginnen.
Der Waldläufer ging langsamer, als er sah, dass Gwenderon nicht so rasch vorankam wie er, und als Gwenderon neben ihn trat, rang er sich sogar zu einem flüchtigen, allerdings kalt blickenden Lächeln durch. Eigentlich, erinnerte sich Gwenderon, hatte er Karelian nie wirklich lachen sehen. Er war sich nicht sicher, ob er es überhaupt konnte.
»Hier«, sagte Karelian. »Seht.«
Gwenderon blickte sich einen Moment verwirrt um, ehe er sah, was Karelian meinte.
Vor ihnen waren Spuren. Es waren zwei Reihen gleichmäßiger, dunkler Abdrücke, tief in den weichen Waldboden eingedrückt und zum Teil mit Wasser gefüllt, das aus dem feuchten Erdreich gesickert war, sodass sie wie kleine blinde Spiegel aussahen. Es musste ein sehr schwerer Körper gewesen sein, der hier entlanggegangen war.
Er sah Karelian stirnrunzelnd an, kniete nieder und fuhr mit den Fingern über die Ränder der Spur. Sie war sehr groß – eine gute Handspanne länger als der Fußabdruck eines normal gewachsenen Mannes – und es war nicht die Spur eines Menschen.
Es waren Abdrücke nackter, vierzehiger Füße, an deren vorderem Rand tiefe, wie mit einem Messer ausgestanzte Löcher sichtbar wurden, als hätten sich furchtbare Krallen in den weichen Boden gegraben.
Gwenderon sah mit einem Ruck auf, als er endlich begriff, welches Wesen Spuren wie diese hinterließ.
»Ein Raett?«, sagte er erschrocken. »Hier?«
Karelian nickte. Sein Gesicht blieb ruhig und ausdruckslos wie immer, aber in seiner Stimme vibrierte ein neuer, fast zorniger Unterton, als er antwortete. »Nicht nur einer«, sagte er. Seine Hand wies nach vorne. Gwenderon folgte der Geste und sah, dass die Spur in einem halb niedergetrampelten Dornenckbusch endete. Der Raett war rücksichtslos durch den Wald gebrochen und hatte dabei alles niedergewalzt, was ihm in den Weg geraten war. Plötzlich verstand er Karelians Zorn. Für ihn musste dieser zertrampelte Busch eine Wunde sein, die dem Wald geschlagen worden war.
»Dort hinten sind mehr Spuren«, fuhr Karelian nach einer Pause fort, die seinen Zorn deutlicher machte als alles, was er hätte sagen können. »Ein Dutzend, vielleicht mehr. Sie folgen uns.«
Gwenderon stand auf und rieb sich die Hände an der Hose, als hätte er sich an der Spur des Raett besudelt. Er zweifelte nicht an der Schlussfolgerung, die Karelian gezogen hatte. Wenn Karelian sagte, sie wurden verfolgt, dann wurden sie verfolgt. »Seit wann?«, fragte er.
Karelian zuckte mit den Achseln. »Die Spur ist keine Stunde alt. Die Ränder sind noch nicht eingesunken und die Erde ist noch feucht. Aber sie sind schon seit Tagen in unserer Nähe.«
»Seit Tagen?« Gwenderon erschrak. »Warum hast du uns nicht gewarnt?«
Karelian lächelte geringschätzig. »Ich hatte keinen Beweis. Diese Spuren sind die ersten, die ich gefunden habe. Ich wusste, dass sie uns folgen, schon seit langer Zeit. Ich kann sie spüren, ganz gleich, wie sorgsam sie sich verborgen halten. Aber Ihr hättet mir nicht geglaubt«, fügte er in abfälligem und – dessen war sich Gwenderon plötzlich sicher – ganz bewusst verckletzendem Tonfall hinzu. Trotzdem waren seine Worte keine Rechtfertigung, sondern eine bloße Feststellung, und Gwenderon widersprach nicht.
»Und … was schließt du daraus?«, fragte er.
»Nicht viel.« Karelian zuckte die Achseln. »Es kann eine wilde Herde sein, die nur zufällig der gleichen Richtung folgt wie wir und hofft, ein paar Abfälle zu finden.«
»Aber das glaubst du nicht wirklich.«
Karelian hielt seinem Blick gelassen stand. »Was ich glaube, spielt keine Rolle«, sagte er. »Es kann harmlos sein – oder auch nicht. Wir müssen Obacht geben.«
Gwenderon nickte. Er hatte keine Angst, aber Karelians Worte erfüllten ihn doch mit einem starken Unbehagen, das sich zu dem gesellte, das er ohnehin schon verspürt hatte. Raetts waren gefährlich und unberechenbar, aber er hatte zwei Dutzend der besten Krieger bei sich, und Karelians scharfe Sinne würden sie frühzeitig vor jeder Gefahr warnen, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Aber sie waren nicht allein und er war nicht nur für sein Leben und das seiner Männer verantwortlich.
»Gehen wir zurück«, sagte er. »Die Männer müssen gewarnt werden.« Fast gegen seinen Willen fügte er hinzu: »Glaubst du, dass sie uns angreifen werden?«
»Kaum«, antwortete Karelian nach kurzem Überlegen. »Raetts sind Feiglinge. Und wir sind zwei Dutzend Bewaffneckte. Aber wir sollten vorsichtig sein. Niemand darf sich mehr von der Gruppe entfernen.«
Gwenderon nickte. Karelian sprach längst nicht alles aus, was er dachte. Aber das war auch nicht nötig.
Lautlos wandten sie sich um und gingen nebeneinander zum Weg zurück. Karelian schwieg, und als Gwenderon ihm einen verstohlenen Blick zuwarf, sah er, dass sich auf seinen scharfen Zügen nicht die geringste Regung zeigte. Trotzdem fühlte er die Anspannung, die sich hinter der Maske von Ruhe und scheinbarer Entspanntheit des Waldläufers bemächtigt hatte.
Der Tross hatte angehalten, als sie den Weg wieder erreichten, gegen seinen Befehl; ein wüster Haufen seltsam unpassender Farbkleckse vor dem finster-grünen Hintergrund des jenseicktigen Waldrandes. Norrot, sein Unterhauptmann und Freund, blickte ihnen mit einer Mischung aus Besorgnis und Neugier entgegen. Seine Hand lag in einer unbewussten Geste auf dem silberbeschlagenen Griff des Schwertes, das er, anders als alle Männer, die Gwenderon kannte, am Sattelgurt und nicht an der Hüfte trug. »Herr?«
Gwenderon schüttelte schnell und fast unmerklich den Kopf, blickte warnend in die Richtung, in der das goldbestickte Wams des Prinzen wie eine bizarre Blume zwischen den silckbernen Kettenhemden der Krieger hervorstach, und schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung in den Sattel. »Raetts«, flüsterte er, so leise, dass nur Norrot das Wort verstehen konnte.
Der Hauptmann erbleichte, zeigte aber ansonsten keine Regung. Nicht einmal seine Haltung versteifte sich. Beinahe gemächlich wendete er sein Pferd, ritt ein Stück voraus und raunte einem der Krieger ein paar Worte zu, schnell und präzise, aber mit unbewegtem Gesicht und in ruhigem, fast beiläufig klingendem Ton. Der Mann nickte, ritt seinerseits ein Stück voraus und gab Norrots Befehl weiter.
Langsam und beinahe schwerfällig, wie ein großes Tier aus Stahl und Fleisch, dessen einzelne Glieder nur mit Verspätung auf die Befehle seines Willens gehorchten, setzte sich der Tross wieder in Bewegung.
Aber nicht alle Pferde fielen in den langsamen, Kräfte sparenden Trab, wie Gwenderon voller Besorgnis feststellte. Der Prinz selbst und drei oder vier der herausgeputzten Lackaffen, die ihn begleiteten und sich selbst »höfische Berater«, nannten, blieben, wo sie waren, und der Ausdruck von Neugier in den dunkelblauen Augen des Prinzen wandelte sich in Sorge, als Gwenderon näher kam und sein Tier einen Schritt vor ihm zügelte.
»Was ist geschehen, Gwenderon?«, fragte er; eine Spur zu laut und in dem leicht arroganten Tonfall, der ihm eigen war.
Gwenderon mochte es nicht, wenn jemand so mit ihm sprach. Nicht einmal, wenn es der Sohn seines Königs war; vielleicht besonders deswegen nicht. Aber dies war nicht der Augenblick, einen Gedanken an Fragen der Höflichkeit und Würde zu verckschwenden.
»Nichts, junger Herr«, antwortete er und hoffte, dass der Prinz nicht merkte, dass er log. Er war nie ein guter Schauspieckler gewesen. Und schon gar kein guter Lügner. »Karelian hat die Spuren einer Brüllechse entdeckt, das ist alles. Er zeigte sie mir«, fügte er hinzu, lächelnd und äußerlich gelassen, mit einer genau berechneten Spur mühsam unterdrückter Verärgerung in der Stimme, aber in Wahrheit das Gesicht des Prinzen ganz genau beobachtend. Er hatte sich diese Lüge sorgsam überlegt. Brüllechsen waren große, plumpe Tiere, massiger als ein Schlachtross und so stark wie zehn Bären, aber sie waren für ihre Feigheit bekannt und griffen nur an, wenn ihnen keine andere Wahl mehr blieb. Bisweilen nicht einmal dann. Manchmal waren sie sogar zu dumm zum Fliehen. Die Jagd auf sie war ungefähr so interessant wie die auf Felsblöcke. Hätte er den Namen irgendeines anderen Tieres erwähnt, hätte es gut sein können, dass Prinz Cavin den Teufel tat, seinem Befehl zu folgen und weiterzureiten, sondern unverzüglich darauf bestand, eine Jagd zu beginnen. Wenn es etwas gab, über das er sich in den letzten drei Tagen mehr beklagt hatte als über das ununterbrochene Reiten, dann war es die Langeweile.
Die linke Augenbraue des Prinzen hob sich ein Stück und verschwand damit fast unter dem Rand des prunkvollen Goldckhelms, der seinen Kopf zierte. Der Helm war ein bisschen zu groß für ihn und sein Gold ein wenig zu dünn und zu sorgsam poliert, ihn mehr als ein Stück überflüssigen Zierrates sein zu lassen. In einem wirklichen Kampf, dachte Gwenderon mit einer Mischung aus Spott und leiser Verärgerung, würde ihm ein Helm wie dieser nicht nur lästig, sondern gefährlich werden.
»Eine Brüllechse?«, wiederholte Cavin zweifelnd. »Hier? Ich wusste nicht, dass sie in diesem Teil des Waldes vorkommen.« Die andere, misstrauische Frage, die sich hinter der laut ausgesprochenen verbarg, war nicht zu überhören.
»Niemand weiß viel über diesen Teil der Wälder«, antworteckte Gwenderon ausweichend. »Nicht einmal Karelian.«
Aber der Prinz ließ nicht locker. Sein Misstrauen war geweckt, und wenn Gwenderon ihn auch insgeheim für einen eingebildeten Gecken hielt, der noch viel lernen musste, ehe er zum Mann würde, so war er doch intelligent und hatte den Spürsinn seines Vaters und den scharfen Verstand seiner Mutter geerbt. »Ihr seht sehr besorgt aus, Gwenderon«, sagte er, »dafür, dass keine Gefahr besteht.«
»Nicht besorgt«, antwortete Gwenderon. »Nur müde, Herr. Es war ein weiter Weg und ich bin nicht mehr so jung und kräftig wie Ihr.«
Der Prinz blickte ihn an, gleichermaßen geschmeichelt wie verwirrt von seinen Worten. Aber zu Gwenderons Erleichterung – und ein wenig auch Erstaunen – drang er nicht weiter in ihn, sondern zwang sein Pferd mit einer unsanften Bewegung herum und ritt zu der bunt getressten Schar seiner Höflinge und Lehrer zurück, die in respektvollem Abstand Halt gemacht hatte. Ihre Blicke hatten nicht Halt gemacht. Und in den allerwenigsten las Gwenderon etwas, das ihm gefiel. In den meisten Augen las er nur Verachtung – jene Art von herablassender Überheblichkeit, von der man ganz genau wusste, dass sie jeckder Grundlage entbehrte, und die Gwenderon gerade deshalb so sehr reizte. Es waren insgesamt acht; einer idiotischer als der andere – wie Gwenderon fand – und einer bunter herausgeputzt als der andere. Obwohl sie sich ihm alle einzeln und ausführcklich vorgestellt hatten, mit Namen, Rang und Erbfolge, die bis zu ihren Urururgroßvätern zurückreichte, wusste er nicht von einem den Namen. Das war, wie er fand, das Mindeste, was er diesen paradiesvogelfarbigen Gecken an Verachtung schuldig war. Sie hatten eine Menge von ihrer Pracht und Überheblichkeit verloren während der letzten drei Tage und in die gepuderten Gesichter hatten Müdigkeit und Schmerz tiefe Linien gegraben. Gwenderon stellte sich vor, dass sie wund gerittene Hintern haben und, wenn sie die Hosen herunterließen, wie bunt angemalte Schimpansen aussehen mussten, und dieser Gedanke verhalf ihm zu einem kurzen Gefühl hämischer Befriedigung. Nein – er mochte Prinz Cavins Begleiter nicht, ganz entschieden nicht.
Und wenn er ganz ehrlich war, dann mochte er den Prinzen auch nicht besonders.
Beinahe erschrocken verscheuchte er diesen letzten Gedanken und wartete, bis auch der letzte Reiter an ihm vorübergetrabt war, ehe auch er sein Pferd weitertraben ließ. Instinktiv blickte er sich um und suchte Karelian, fand ihn aber nicht mehr. Der Waldläufer war so lautlos verschwunden, wie er gekommen war.
Und trotzdem spürte Gwenderon, dass sie nicht mehr allein waren. Das Buschwerk lag wie eine schwarz-grün-braun gefleckte Mauer zu beiden Seiten des Weges – reglos, still und undurchdringlich. Aber er spürte plötzlich, dass dieser erste Eindruck täuschte. So, wie er vorhin die unheimliche Stille gespürt hatte, die hinter den normalen Lauten des Waldes lauckerte, spürte er jetzt auch: Irgendetwas war da, Augen, die ihn anstarrten, Ohren, die auf jedes seiner Worte lauschten …
Gwenderon versuchte vergeblich sich einzureden, dass es Karelians Augen und Ohren waren.
Sie rasteten früh an diesem Tage. Als Gwenderon das Zeichen zum Anhalten gab, war es noch eine gute Stunde bis zum Dunkelwerden; trotzdem hatte sich der Himmel bereits verdüstert und hier und da waren dicke graue Wolken auf dem sonst so strahlenden Blau erschienen. Das Licht begann trübe zu werden, wie an einem Novembermorgen, wenn der Nebel schon fort war, aber noch einen letzten Hauch in der Luft zurückgelassen hatte, und ein kühler Wind war aufgekommen. Die Stille folgte ihnen noch immer.
Obwohl sie alle darauf brannten, den Wald zu verlassen und Hochwalden wieder zu erreichen, widersprach niemand, als Gwenderon schon so früh befahl, das Nachtlager aufzuschlagen. Die Stelle war geradezu ideal: eine kleine, halbrunde Lichtung, deren gerade Grenze von einem glasklaren Bach gebildet wurde, die gekrümmte von den Stämmen des Waldes, zwischen denen das Unterholz so dicht wucherte, dass sie massiv wie eine Mauer wirkten; fast schwarz im schwindenden Licht des Nachmittages.
Und vielleicht war es auch ganz genau das, dachte Gwenderon: eine Mauer. Hier, auf dieser Lichtung, die mit ihrem Wasser und dem weichen Moos geradezu zum Rasten einlud, mochten schon andere übernachtet haben, und irgendwie vermochte er einfach nicht zu glauben, dass das Unterholz durch einen puren Zufall gerade hier besonders dicht sein sollte, wie eine stachelige Barriere, deren dornengespickte Krone auch ernst gemeinten Versuchen widerstehen mochte, sie zu übersteigen. Es war eine Mauer, die das fünfzehn Schritte messende Halbrund umgab, ein undurchdringlicher Wall. Er war sich nur nicht sicher, wen sie schützte: den Wald vor ihnen – oder sie vor dem Wald. Oder vor irgendetwas, was in ihm sein mochte.
Er verscheuchte den Gedanken, nahm den Sattel vom Rücken seines Pferdes und begann mit raschen Bewegungen sein Nachtlager zu errichten. Sie hatten Zelte in ihrem Gepäck: dünne Gespinste aus imprägnierter Seide, zusammengerollt nicht einmal so groß wie sein Arm und trotzdem verlässliche Helfer gegen Wind und Kälte. Aber die Mühe erschien ihm einfach zu groß, das komplizierte Geflecht aus Stangen und Sehnen zusammenzusetzen, und obwohl der Wind den kühlen Hauch des Abends herantrug, wusste er doch, dass die Nacht noch nicht wirklich kalt werden würde. Außerdem würden sie ein Feuer entzünden, sobald es wirklich dunkel geworden war. Und auch die Wolken, die sich von Osten heranschoben und allmählich zahlreicher wurden, waren nicht mehr als eine leere Drohung. Vielleicht würde es morgen regnen. Heute nicht mehr. So beließ er es dabei, seinen Sattel als Kopfkissen herzurichten und die Decken griffbereit daneben zu legen – so wie die meisten seiner Begleiter. Einzig die Männer, die den jungen Prinzen begleiteten, – und Cavin selbst, wie Gwenderon mit einem flüchtigen Gefühl von Verärgerung registrierte – hatten ihre Zelte aufgebaut, in einer geraden Linie am Ufer des Baches. Sie wirkte störend. Das helle Weiß der in bestimmte Öle getauchten Seide sah irgendwie … steril aus, fand Gwenderon. Voller Schadenfreude beobachtete er, wie einer von Cavins Lehrern vergeblich mit dem komplizierten Netzwerk aus dünnen Seilen und Haken zurande zu kommen versuchte; mit dem Ergebnis, sich um ein Haar selbst zu fesseln, wie ein ungeschickter Fischer, der sich in seinem eigenen Netz verhedderte. Schließlich ging er zu ihm hinüber und half ihm, seine Arme und Beine wieder aus dem Spinnennetz zu befreien, in das er die Sturmverspannung verwandelt hatte.
»Ich danke Euch, Gwenderon«, sagte der Mann, knapp und ohne eine Spur von echter Dankbarkeit.
Gwenderon nickte. »Keine Ursache. Es war außerdem überflüssig«, fügte er hinzu.
»Überflüssig?«
»Die Seile halten das Zelt bei starkem Wind oder Sturm«, erklärte Gwenderon. »Wir werden keines von beiden bekommen heute Nacht. Ich wollte nur nicht, dass Ihr Euch vollends zum Narren macht.«
Diesmal sprühte der Blick des Mannes vor Zorn.
Gwenderon erwiderte ihn kühl, wandte sich um und ging zu seinem Lager zurück. Mit einem Male war er müde, sehr müde.
Sein kleiner Triumph von gerade kam ihm plötzlich so billig und überflüssig vor, wie er gewesen war. Er setzte sich, kämpfckte einen Moment tapfer gegen die Versuchung an, sich einfach nach hinten sinken zu lassen und die Augen zu schließen, und tat es dann doch. Drei Tage praktisch ohne Unterbrechung im Sattel – neun, wenn er den Hinweg mitrechnete, wenngleich er nicht halb so anstrengend gewesen war wie der Ritt zurück – waren viel, auch für einen Mann wie ihn, denn er hatte den Höhepunkt seiner körperlichen Leistungsfähigkeit längst überschritten. Die Erschöpfung, deren Spuren ihm an Cavins Begleitern solche Genugtuung verschafft hatte, hatte längst auch von ihm Besitz ergriffen. Tagsüber, wenn er im Sattel saß und an der Spitze der kleinen Schar ritt, vermochte er sich zu beckherrschen. Er kompensierte einfach mit Willenskraft und Geckwohnheit, was ihm die anderen an Jugend und Stärke vorausckhatten. Es war tatsächlich so, wie er einmal vor langer Zeit Prinz Cavin gegenüber behauptet hatte: Man vermochte seine Erschöpfung schlichtweg zu vergessen, wenn man sie nicht beachtete, ähnlich wie bei einem schmerzenden Zahn. Aber in Augenblicken wie jetzt, wenn er ruhte und unaufmerksam war, dann fielen sie über ihn her, die dreiundfünfzig Jahre, die er zählte. Eine lange Zeit. Manchmal kam sie ihm fast zu lange vor. Er wusste nicht, ob es gut war, zu lange zu leben. Manchmal, besonders an kalten Abenden im Winter und Herbst, wenn die Feuchtigkeit in die Kammern Hochwaldens kroch, verspürte er ein schmerzhaftes Reißen in den Gliedern, und manchmal fiel es ihm morgens schwer, sich vom Schlaf zu lösen. Er hatte überlegt, wie es wohl war, irgendwann einmal wirklich alt zu sein; kurzsichtig und mit ausgefallenen Zähnen und Haar, und so klapprig, dass jede Bewegung zur Tortur wurde.
Aber so weit würde es nicht kommen. Es gab keinen konkreckten Grund für diese Gewissheit, aber Gwenderon hatte sie; unckumstößlich: Er würde nicht auf diese Weise sterben. Ein Tod als tatteriger, zahnloser Greis, der sich mit den Hunden um den wärmsten Platz hinter dem Ofen stritt, sobald es kühler wurde, passte so wenig zu ihm wie ein Weiberrock.
Das plötzliche Gefühl, nicht mehr allein zu sein, ließ ihn die Augen öffnen.
Prinz Cavin stand über ihn gebeugt, die Hände auf den Oberckschenkeln abgestützt, mit einem neugierigen Funkeln in den Augen. »Ich wollte nicht stören, Gwenderon.«
»Ihr stört nicht.« Gwenderon richtete sich auf, fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger der Linken über die Augen und vercksuchte vergeblich ein Gähnen zu unterdrücken. »Ich bin nicht müde.«
Cavin lächelte. »So?«, sagte er. »Ich bin es. Und alle anderen auch.« Er lächelte wieder und nach einem Augenblick erwiderte Gwenderon dieses Lächeln. Es musste wohl reichlich albern wirken, einen Mann, der sich den Schlaf aus den Augen rieb, sagen zu hören, dass er nicht müde war – und das auch noch mit einem Gähnen. Aber irgendwie hatten die Worte auf seiner Zunge bereitgelegen, ehe das Gähnen gekommen war, und er hatte sie nicht zurückhalten können. Er wurde wohl doch alt. Oder müde.
»Ihr habt Recht, mein Prinz«, sagte er. »Ich bin müde. Aber ich will noch nicht schlafen. Was wünscht Ihr?«
Cavin schien den plötzlichen Themawechsel falsch zu verckstehen, denn zwischen seinen Brauen erschien eine steile, übellaunige Falte, und sein Lächeln erlosch so rasch, wie es gekommen war. »Nichts Wichtiges«, antwortete er kühl. »Ich wollte Euch danken, dass Ihr Horus geholfen habt.«
»Horus?« Gwenderon überlegte einen Moment. Dann nickte er. »Euer Mann, der dabei war, sich zum Gespött zu machen.«
Die Falte zwischen Cavins dünnen, wie mit feinen parallelen Tuschestrichen gezogenen Brauen vertiefte sich. »Er ist nicht mein Mann«, antwortete er betont, »sondern einer meiner Lehrer, Gwenderon. Und überdies ein sehr kluger Mann. Warum verachtet Ihr ihn?«
»Wenn ich das täte, hätte ich ihm nicht geholfen«, antwortete Gwenderon. »Er war dabei, sich selbst zu erwürgen. Er mag ein kluger Mann sein, mein Prinz, aber das, was er weiß und kann, zählt hier nicht viel.« Cavins Worte machten ihn zornig. Er hatte keine Lust, mit Cavin zu streiten, schon gar nicht jetzt. Aber wie so oft in den letzten drei Tagen würde es wohl wieder darauf hinauslaufen: Sie hatten ein Dutzend Beinaheck-Auseinandersetzungen hinter sich und die Grenze zu einem echten Streit wurde jedes Mal dünner. Dabei spürte er ganz genau, dass der junge Prinz nicht gekommen war, um mit ihm zu streiten, so wenig, wie er absichtlich so scharf auf Cavins Angriff reagierte. Aber irgendwie waren sie wie zwei gereizte Raubtiere, die sich die ganze Zeit umschlichen und nach einer Möglichkeit suchten, den anderen zu packen. Und die Kreise wurden kleiner.
Trotzdem war es diesmal Cavin, der einlenkte, wenn auch, wie Gwenderon einen Augenblick später bemerkte, nicht unbeckdingt aus Einsicht. Seine dunkelblauen Augen – das Einzige, was er wirklich von seiner Mutter geerbt hatte, dachte Gwenderon – blitzten vor Zorn und nicht zum ersten Male in den vergangenen drei Tagen pressten sich seine Lippen zu einem dünnen, fast blutleeren Strich zusammen. Aber die wütende Entgegnung, die Gwenderon erwartete, blieb aus. Stattdessen schüttelte Cavin plötzlich den Kopf, seufzte sehr tief und ließ sich neben Gwenderon in den Schneidersitz sinken. Mit einem Male erinnerte er Gwenderon wieder an den Knaben von acht Jahren, als den er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatten oft so nebeneinander gesessen. Und als hätte er seine Gedanken gelesen oder diese Angewohnheit die ganze Zeit über beibehalten, beugte er sich plötzlich vor und ergriff mit beiden Händen seine Stiefelspitzen. Gwenderon lächelte.
»Warum streiten wir uns unentwegt, Gwenderon?«, murmelte Cavin plötzlich. Er blickte Gwenderon an, runzelte die Stirn und wartete nicht auf eine Antwort, sondern fuhr in fragendem Tonfall fort: »Habt Ihr Angst, dass ich Euch Euren Rang als Kommandant dieser Expedition streitig machen könnte?«
»Unsinn«, antwortete Gwenderon, vielleicht eine Spur zu hackstig. Natürlich war es nicht dos, aber Cavin war der Wahrheit doch näher gekommen, als er selbst wahrhaben wollte. »Ihr seid Oros Sohn und somit mein Befehlshaber. Und ich bin kein Kommandant und dies ist keine Expedition«, fuhr er in einem Tonfall fort, als müsse er sich verteidigen.
»Drei Behauptungen, von denen nur eine stimmt«, sagte Cavin. »Und keine Antwort auf meine Frage.«
»Und Ihr, mein Prinz?«, gab Gwenderon zurück. »Was ist mit Euch? Ich kenne Euch, seit –«
»Seit ich noch in die Windeln gemacht habe und Ihr mich auf den Knien geschaukelt habt, ich weiß«, unterbrach ihn Cavin. Wieder blitzte es in seinen Augen auf, und diesmal kostete es ihn mehr Beherrschung, die Worte nicht auszusprechen, die ihm auf der Zunge lagen. »Ihr braucht es nicht auszusprechen, Gwenderon. Jedermann hier weiß das. Umso mehr sollten wir Freunde sein, statt uns gegenseitig das Leben schwer zu machen.« Er seufzte. »Dieser verfluchte Wald zerrt schon genug an meinen Nerven. Wann werden wir Hochwalden endlich erreichen?«
»In drei Tagen. Mit etwas Glück.« Gwenderon war verstört. War es das?, dachte er. War die Lösung wirklich so einfach – und so erschreckend zugleich? Cavin war ein Kind gewesen, als er Hochwalden verlassen hatte, und jetzt war er zwanzig, ein Mann von sehr schlankem, aber kräftigem Wuchs und gucktem Aussehen, rein körperlich erwachsen, aber doch noch nicht alt genug, sich nicht mehr der Tatsache zu schämen, dass er einmal ein Kind gewesen war. Gwenderon wusste nicht, wie und in welchem Maße sich Cavin wirklich verändert hatte, in all den fremden Ländern und Städten, in denen er gewesen war, aber plötzlich war er sicher, dass es so war: Von allen hier war er, Gwenderon, der Einzige, der auch den anderen Cavin gekannt hatte. Den, der mit nass gemachten Hosen in der Burg herumgekrabbelt war, den Cavin, der lauthals losbrüllte, wenn er sich beim Spielen den Finger geklemmt oder die Krallen einer Katze zu spüren bekommen hatte, die er am Schwanz gezogen hatte. Den Sechsjährigen, der mit beiden Händen das Schwert seines Vaters zu heben versucht hatte und prompt nach vorne gekippt und sich die Nase blutig geschlagen hatte, weil die Waffe mehr wog als er selbst. War es wirklich so, dass alles, was sie eigentlich verbinden sollte, ihn in Cavins Augen zu einem potenziellen Gegner machte? Der Gedanke erschreckte ihn. Was, zum Teufel, dachte er, haben sie mit dir gemacht, in all den teuren Schulen und Universitäten, auf denen du warst, Cavin?
»Ihr habt mit Karelian gesprochen«, fuhr Cavin nach einer Weile fort. Gwenderon nickte, aber es war nur ein Reflex, keickne wirkliche Antwort. Ein unbewusster, aber sehr tief gehender Schrecken hatte von ihm Besitz ergriffen. Es fiel ihm schwer, Cavins Worten überhaupt noch zu folgen. »Danach«, fuhr Cavin fort, »seid Ihr weggegangen. Und als Ihr wiedergekommen seid, habt Ihr mich belogen, Gwenderon. Warum? Was hat Euch dieser Waldläufer wirklich gezeigt?«
»Belogen? Wie kommt Ihr darauf?«
Cavin schnaubte. »Für wie dumm haltet Ihr mich, Gwenderon? Denkt Ihr etwa, ich hätte das Märchen von der Brüllechse auch nur einen Moment lang geglaubt?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe heute Nachmittag dazu geschwiegen, weil ich Euch nicht vor aller Augen blamieren wollte. Jetzt sind wir allein, also sagt mir die Wahrheit.« Er hob rasch die Hand, als Gwenderon zu einer wütenden Antwort ansetzte. »Ihr seid nie ein guter Lügner gewesen, Gwenderon, und Ihr habt nichts dazugelernt in all den Jahren. Ich schon. Man hat mich gelehrt eine Lüge zu erkennen. Es ist gar nicht so schwer, wie Ihr glaubt.«
»So?« Gwenderon starrte ihn an.
Cavin nickte. »Fast jede Lüge verrät sich selbst«, erklärte er in einem Ton, der kindlichen Stolz über das verriet, was er sagckte. »Es ist ganz leicht. Eure Stimme verändert sich, wenn Ihr lügt, Gwenderon. Die Pupillen werden weiter und der Rhythmus des Atems ist plötzlich ein anderer.«
»Habt Ihr das auf Euren Schulen gelernt?«, fragte Gwenderon wütend.
Cavin nickte abermals. »Unter anderem. Was ist wirklich gewesen?«
»Karelian hat … eine Spur gefunden«, antwortete Gwenderon zögernd. »Er zeigte sie mir.«
»Eine Spur? Was für eine Spur?«
Einen Moment lang zögerte Gwenderon noch, aber dann flammte der Zorn in ihm höher auf. Vielleicht tat es Cavin ganz gut, einen kleinen Dämpfer zu bekommen. Eine Nacht voller übler Träume und Furcht würde ihm ein wenig von der Ehrfurcht und dem Respekt zurückbringen, die er verlernt zu hackben schien. »Raett«, sagte er. »Es waren die Spuren eines Raett. Und Karelian sagt, er hätte noch mehr gesehen.«
»Ein Raett?« Cavin erbleichte ein ganz kleines bisschen. »Ein wilder Raett? Hier?«
»Gibt es denn zahme?«, erwiderte Gwenderon.
Cavin nickte nervös; dann lächelte er, aber sein Blick flackerte. Er hatte Recht, dachte Gwenderon. Es war nicht sehr schwer, eine Lüge zu erkennen. Aber der Gedanke bereitete ihm nicht halb so viel Befriedigung, wie er sollte.
»Ich habe ein paar gesehen«, sagte Cavin schleppend. »In den Steinbrüchen von Cobol und … und als Ruderschläger auf dem Schiff, das mich hierher brachte. Es sind widerliche Kreackturen. Und Ihr sagt, sie wären hier? In unserer Nähe?« Unwillkürlich hob er den Blick und starrte die grünbraune Mauer aus Dornen und Blattwerk hinter Gwenderon an. »Seid Ihr sicher, dass sich der Waldläufer nicht getäuscht hat?«
»Ich bin sicher, dass ich mich nicht getäuscht habe«, antwortete Gwenderon betont. »Auch ich habe schon mehr als einen Raett gesehen, mein Prinz. Und sie waren nicht zahm.« Er lächelte innerlich, als er sah, wie Cavin noch mehr erbleichte, aber seine Worte taten ihm auch fast im gleichen Moment schon wieder Leid. »Es besteht keine Gefahr«, sagte er rasch. »Ich habe nie gehört, dass wilde Raetts einen so großen Trupp Bewaffneter angegriffen hätten. Wahrscheinlich ist es so, wie Karelian vermutet; sie folgen unserer Spur und hoffen, ein paar Abfälle zu ergattern.«
»Warum habt Ihr mich dann belogen, wenn keine Gefahr becksteht?«
Gwenderon seufzte. »Vielleicht, um eine sinnlose Diskussion wie diese zu vermeiden, mein Prinz«, sagte er. »Und auch, um Eure Begleiter nicht zu verunsichern. Ich bin froh, wenn wir Hochwalden erreichen, ehe einer von ihnen vor Überanstrengung zusammenbricht. Ein Haufen hysterischer Feiglinge, die vor jedem Schatten davonlaufen, ist das Letzte, was ich mir wünsche.«
Cavin rutschte ein wenig in seiner vorgebeugten Haltung herum, sodass er nun ihn und die Reihe kleiner weißer Zelte vor dem Bach gleichzeitig ansehen konnte. »Ihr verachtet sie, Gwenderon«, sagte er vorwurfsvoll. »Aber sie sind meine Freunde. Und jeder Einzelne ist ein fähiger Mann, auf seine Art.«
»Das mag sein«, antwortete Gwenderon gereizt. »Dort, wo sie herkommen. Hier sind sie nur eine Last, mein Prinz. Sie hätten nicht mitkommen sollen. Ihr Wissen von Politik und Kunst und Literatur und Wissenschaft und was weiß ich nutzt ihnen wenig, wenn sie in einen vergifteten Dorn treten oder giftige Beeren pflücken, um daran zu sterben. Warum habt Ihr sie mitgebracht?«
»Weil sie meine Freunde sind«, antwortete Cavin mit großem Ernst und ohne jede Spur von Vorwurf. »Und«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, »weil sie mich darum gebeten haben.«
»Uns sechs Tage lang zur Last zu fallen?«
»Hochwalden zu sehen«, antwortete Cavin mit einem Kopfschütteln. »Diese Männer haben mich alles gelehrt, was ich weiß, Gwenderon. Ich empfinde es nur als gerecht, wenn ich ihnen nun etwas zeige, was sie nie zuvor gesehen haben. Hochwalden ist eine Legende.«
»Hochwalden ist Euer Zuhause, Prinz«, sagte Gwenderon, in fast beschwörendem Ton. »Nichts, was man vorzeigt wie ein glänzendes Spielzeug.«
Cavin lachte ganz leise. »Was muss ich sehen, Gwenderon? Ihr seid ja eifersüchtig.« Dann wurde er wieder ernst. »Seid Ihr sicher, dass die Raetts keine Gefahr darstellen, Gwenderon? Ich habe keine Angst, aber ich möchte nicht, dass sie mir vorckwerfen, ich hätte meine Schulden mit dem Tatzenhieb eines Ungeheuers zurückgezahlt.«
»Völlig sicher«, antwortete Gwenderon in ebenso ernstem Ton, obwohl er nicht ganz so überzeugt war, wie er Cavin glauben machen wollte. Seine Worte von vorher waren wahr gewesen – er hatte auch noch nie gehört, dass Raetts im Schwarzeichenwald gesichtet worden wären. Erst recht nicht in diesem Teil des Waldes.
Cavin seufzte. »Das alles wäre gar nicht geschehen«, murmelte er, »hätte mein Vater nicht darauf bestanden, dass wir diesen Weg nehmen. Ich frage mich noch immer, warum.«
»Er ist kürzer«, antwortete Gwenderon.
»Eine Woche!«, ereiferte sich Cavin. »Und dafür zehnmal so mühsam! Bei allem, was recht ist, Gwenderon, ich war zwölf Jahre lang von Hochwalden fort – welchen Unterschied macht da noch eine Woche?«
Einen großen, dachte Gwenderon betrübt. Einen sehr großen, weil diese eine Woche vielleicht die Hälfte des Lebens ist, die deinem Vater noch bleibt, du dummer armer Junge.
Aber das sprach er nicht aus. König Oro hatte ihm sein Ehrenwort abverlangt, dass er Cavin gegenüber mit keinem Wort erwähnte, wie es wirklich um den König von Hochwalden stand. Und er würde dieses Wort halten, ganz gleich, was geschah. Und was hätte er Cavin auch sagen können? Dass König Oro von Hochwalden die Berührung des Todes gespürt hatte, das leise Zerren seiner Knochenhand, das ihm sagte: Deine Zeit ist gekommen, alter Freund. Jetzt ruf deinen Sohn zurück und küss ihn meinetwegen noch einmal, und dann mach gefälligst, dass du zu mir kommst? Oder dass König Oro, der Behüter des Schwarzeichenwaldes, schlichtweg um das Leben seines einzigen Sohnes fürchtete, weil er die Furcht kennen gelernt hatte, im zurückliegenden letzten Sommer seines Lebens und in Gestalt eines schwarz gekleideten Mannes, der uneingeladen an seinen Hof gekommen war? Oder dass er seinem Sohn und seinen ebenfalls uneingeladenen Begleitern die Strapaze dieses Rittes zumutete, weil ein tatteriger alter Zauberer in seine Krickstallkugel geschaut und in den durcheinander wirbelnden Rauchschwaden darin eine Gefahr gelesen hatte – oder es zuckmindest behauptete –, die auf den Prinzen lauerte, längs des normalen Weges nach Hochwalden? Nichts von alledem wäre völlig falsch, und nichts völlig richtig – und nichts davon hätte Cavin wirklich als Antwort akzeptiert.
So schwieg er, auch wenn er wusste, dass er damit die Kluft zwischen ihnen, über die Cavin gerade einen ersten dünnen Zweig gelegt hatte, noch mehr vertiefte. Er konnte direkt hören, wie dieser zerbrach, als Cavin nach einer Weile, in der er ihn vergeblich angestarrt und auf eine Antwort gewartet hatte, aufstand und sich umwandte.
Gwenderon blickte Cavin nach, bis er vor seinem Zelt niedergekniet und hineingekrochen war. Sie waren einmal Freunde gewesen, Cavin und er, der rotznasige Junge und der Waffenmeister von Hochwalden. Er hatte diesen vorlauten kleinen Bengel fast so sehr geliebt wie einen Sohn, und etwas in ihm tat es noch immer. Und vielleicht war das, was er jetzt spürte, nichts anderes als das, was alle Väter spüren, wenn sie sich eines Morgens über das vermeintliche Kinderbett ihres Sohnes beugen und feststellen, dass ein Mann darin liegt. Ein Mann, der in Konkurrenz zu ihnen trat, ob sie es wollten oder nicht. Aber vielleicht war auch alles ganz anders.
Wieder spürte Gwenderon den warmen schmeichelnden Griff der Müdigkeit und diesmal gab er ihm nach. Es wurde jetzt rasch dunkel, und hinter ihm, jenseits der dornengespickten Schutzwehr des Waldes, wo die Schatten nisteten, war bereits die Nacht hereingebrochen. Aber ganz kurz, bevor Gwenderon endgültig einschlief, öffnete er noch einmal die Augen, und für einen unendlich kurzen Moment glaubte er einen Schatten zu erkennen, der jenseits der Stachelhecke stand und zu ihnen herüberstarrte, einen gewaltigen, zottigen Schatten von mehr als Mannshöhe, der aus glühenden Augen zu dem kleinen Häufchen Menschen auf der Lichtung herüberblickte.
Gwenderon war schon zu müde, um mehr als ein Gefühl sehr flüchtigen Interesses zu verspüren oder den Gedanken gar bis zu seinem konsequenten Ende zu verfolgen, was aufzustehen und der Sache auf den Grund zu gehen bedeutet hätte. Er schlief ein.
Irgendwann, lange nach Mitternacht, begann es zu regnen. Zumindest was das Wetter anging, hatte er sich getäuscht. Aber bis die eisige Kälte ihn weckte und er begriff, was überhaupt geschah, war er bereits nass bis auf die Knochen.
Obwohl sich an die hundert Menschen auf dem Innenhof der Burg aufhielten, wirkte der gepflasterte Platz leer und auf sonderbare Weise verlassen, ein Tummelplatz für den Wind, der Feuchtigkeit und nasses Laub vor sich hertrieb. Wie zum Hohn war es kälter geworden, nachdem die Wolken weitergezogen und der Himmel wieder blau geworden war, und in den Ritzen des Kopfsteinpflasters glitzerte Regenwasser. Hier und da hatten sich Pfützen gebildet, die das Licht der tief stehenden Sonne wie achtlos verstreute Spiegelscherben brachen, und die Schatten wirkten hart, wie mit kräftigen Federstrichen gezogen. Schwarz ausgemalte Flächen unbestimmter Form, in denen nichts mehr existierte, Löcher in der Wirklichkeit. Es war still, und die wenigen Laute, die Oro vernahm, wirkten deplatziert: Ein Pferd wieherte, zur Antwort erklang der krächzende Schrei eines Vogels hoch in der Luft, und aus der Hufschmiede am anderen Ende des Hofes drang das gedämpfte unrhythmische Klingen von Stahl, der auf rot glühendes Eisen schlug. Funken stoben aus der Esse und erloschen in der feuchtigkeitsgeschwängerten Luft, ehe sie ihren begonnenen Halbkreis beenden konnten. Es war wie eine Szene ein ganz kleines bisschen jenseits der Realität, nicht mehr ganz Traum, aber auch noch nicht ganz Wirklichkeit. Die Zukunft warf düstere Schatten voraus, Schatten, die noch nicht sichtbar waren, aber etwas in seinem Inneren berührten wie eisiger Wind.
König Oro zog den weißen Mantel mit dem Wappen Hochwäldern – einem Doppelkopfadler in Schwarz und Weiß und düster drohendem Rot – ein wenig enger um die Schultern, hob den Kopf und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen zum Himmel empor. Ein dunkler Punkt zog hoch über der Burg seine Kreise, und als hätte er seinen Blick bemerkt und reagiere darauf, erscholl der krächzende Schrei ein zweites Mal, und diesmal klang er eindeutig spöttisch in Oros Ohren.
Oro seufzte. Es war ein böses Omen, ganz gleich, wie er es drehte und wendete: Es war nicht nur dieser Vogel dort oben, nicht nur die düstere Herbststimmung, mit der der Tag verspäcktet Einzug hielt, nicht nur das gedrückte Schweigen, das Hochwalden umklammerte wie eine unsichtbare erstickende Faust, nicht einmal die Bedrückung in seinem Inneren, von der er noch immer nicht wusste, ob sie nun Furcht oder ganz einfach Müdigkeit war – aber von allem ein bisschen. Er war nicht abergläubisch. Er war es nie gewesen, zu Faroans Leidwesen und Gwenderons geheimer Freude. Aber die letzten Tage hatten viel Neues gebracht und nur wenig davon war erfreulich gewesen. Und das plötzliche Unwetter und die schwarze Krähe hoch oben über der Burg erschienen wie zwei Versatzstücke, die Resnec eigens herbeigeschafft hatte, seinem Auftritt den richtigen Hintergrund zu geben.
Er fröstelte. Das Unheil lag fast greifbar über der Burg; er spürte es, wie einen unsichtbaren giftigen Nebel, der die klare Luft des Schwarzeichenwaldes verpestete. Irgendetwas hatte sich verändert, seit Resnec vor dem Tor erschienen und um Gastfreundschaft und eine Audienz gebeten hatte. Das eine war ihm gewährt worden, weil es der Brauch so vorschrieb, und das andere, weil Resnec ein mächtiger Mann war und es sich selbst ein König zweimal überlegte, ihn abzuweisen. Sogar der König des Schwarzeichenwaldes. Der vielleicht ganz besonders, fügte Oro in Gedanken hinzu.
Seine Miene verfinsterte sich, während er vollends aus dem Windschatten des Eingangs trat und mit gemessenen Schritten auf das Tor zuging. Die Fallbrücke war heruntergelassen und das Gatter hochgezogen worden, sodass die Spitzen wie Zähne eines rostigen Eisengebisses aus dem gemauerten Torgewölbe hervorsahen und sein Blick weit über die Brücke und den Grackben und das dahinter liegende Stück freien Geländes fiel, ehe er von der schwarzgrünen Mauer des Waldes aufgesogen wurde. Hochwalden lag auf einer künstlich geschaffenen Halbinsel, die wie eine hämisch ausgestreckte Granitzunge weit in den See hineinragte, aber von hier aus, durch das offen stehende Tor betrachtet, sah es so aus, als erhöbe sie sich unmittelbar am Waldrand. In Wahrheit maß die Entfernung bis zu den ersten Bäumen eine gute halbe Meile, aber irgendeine optische Täuschung verhinderte nachhaltig, dass man das erkannte. Niemand wusste, warum das so war. Oros Urururgroßvater hatte damit aufgehört, dieses Geheimnis ergründen zu wollen, und keiner seiner Nachfahren hatte jemals wieder damit angefangen. Selbst Faroan lächelte nur wissend, wurde er von Fremden, die manchmal auf die Burg kamen und sich verwundert an ihn wandten, darauf angesprochen. Aber Oro wusste, dass das scheinbare Wissen, das sich hinter diesem Lächeln verbarg, eine glatte Lüge war. Er wusste so wenig wie irgendckwer, was es mit diesem Geheimnis auf sich hatte. Manchmal fragte sich Oro, wie wenig sie in Wahrheit wohl wirklich über diesen Wald wussten. Und manchmal – und heute war es wieckder so weit – fragte er sich allen Ernstes, ob Hochwalden wirkcklich das war, wofür die Welt es hielt: die Herrscherin des Schwarzeichenwaldes. Oder war sie in Wahrheit nicht seine Gefangene? Die Geisel, die er als Preis dafür nahm, dass Menschen seinen heiligen Boden betreten und entweihen durften?
Während er solch düsteren Gedanken nachhing – den krausen Gedanken eines Mannes, der allmählich wirklich alt zu werden begann, wie er sich auf einer tieferen, sorgsam niedergehaltecknen Ebene seines Denkens eingestand –, näherte er sich dem Tor, und die Wachen, die bisher in eher nachlässiger Haltung dagestanden hatten, strafften sich. Die Krieger, die rechts und links des Eingangs Aufstellung genommen hatten, trugen ihre prachtvollsten Uniformen – weiße Waffenröcke und vergoldete Panzer, auf denen Wassertropfen schimmerten, dazu lange, mit bunten Wimpeln versehene Speere, Schilde und Schwerter. Manche die dünnen, übermannshohen Langbögen Hochwaldens, deren Treffsicherheit überall in der Welt gerühmt wurde. Es war ein Anblick, der mit seiner Pracht das Herz eines jeden Betrachters hätte erfreuen müssen.
Er tat es nicht; nicht heute. Oro hatte ganz im Gegenteil Mückhe, auf seinen Zügen wenigstens einen Anschein von Freundcklichkeit oder wenigstens königlicher Würde – oder was seine Berater dafür hielten – zu bewahren, als er sich dem Tor und der Hundertschaft Krieger näherte und sein Blick an der dunkel gekleideten Gestalt hängen blieb, die zwischen den Soldaten stand und ihm entgegensah.
Es war etwas an dem Fremden, was seine Soldaten schäbig und hilflos erscheinen ließ, einfach dadurch, dass er in ihrer Nähe war. Oro hatte während der letzten drei Tage acht- oder neunmal mit Resnec gesprochen, und jedes Mal hatte er hinterckher das Gefühl gehabt, sich beschmutzt zu haben. Wäre es nicht so kalt in der Burg gewesen und hätte die Feuchtigkeit sich in seinen Gliedern nicht ohnedies schon mit einem beständigen Reißen und Ziehen bemerkbar gemacht, hätte er jedes Mal gebadet, nachdem er mit Resnec gesprochen hatte.
Hätte, dachte er zornig. Hätte und würde und wenn! Es war noch nicht sehr lange her, da hätte er selbst seinem Sohn gesagt, dass diese drei Worte – und eine ganze Menge mehr – Worte für Feiglinge waren, Worte für entgangene Gelegenheickten und gemachte Fehler. Hätte er der Stimme in seinem Inneren gehorcht, dann hätte er Resnec aus der Burg geworfen; eine Minute nachdem er sie betreten hatte. Aber er hatte es nicht und das allein zählte.
Oro verscheuchte den Gedanken, straffte die Schultern und ging ein wenig schneller, als er die Kälte deutlicher zu spüren begann. Der Mantel, den er hastig übergeworfen hatte, ehe er das Haus verließ, sah vielleicht prachtvoll aus, aber er war alles andere als warm, und der Wind schnitt hindurch wie ein scharf geschliffenes Messer durch Pergament. Er war kein junger Mann mehr und er wollte nicht, dass Resnec sah, wie seine Hände vor Kälte zitterten, und es vielleicht für Schwäche hielt.
Resnec sah ihm ruhig entgegen, mit einem Blick, der kalt war wie der einer Schlange, die ein potenzielles Beutetier mustert, sich aber noch nicht ganz darüber klar geworden ist, ob sie nun Hunger hat oder nicht. Er war ein großer, dunkelhaariger Mann von schlankem Wuchs und unbestimmbarem Alter. Sein Gesicht wurde von einem dünnen, sorgsam ausrasierten Bart eingefasst und seine Hände waren schmal und sehnig; von jener Schlankheit, die große Kraft und ebenso große Behändigkeit verriet. Hätte Oro ihn unter anderen Umständen und an einem anderen Ort getroffen, hätte er nicht zu sagen vermocht, ob er nun einem fahrenden Abenteurer und Ritter oder einem Mann gegenüberstand, der seinen Lebensunterhalt mit Kartenkunstckstüchen bestritt. Wäre der stechende Blick seiner Augen und der grausame – nein, verbesserte sich Oro in Gedanken, nicht grausame –, harte Zug um seinen Mund nicht gewesen, dann hätte man ihn durchaus als gut aussehend bezeichnen können. So hatte er etwas von einer Schlange, fand Oro. Manchmal auch einer Ratte. Er war sich bis jetzt nicht darüber klar geworden, welcher Vergleich nun zutreffender war. Vermutlich keiner. Resnec war eben Resnec. Er wünschte sich, Gwenderon wäre da. Der alte Waffenmeister hätte gewusst, wie er mit Rescknec umzugehen hatte.
Oro blieb stehen, deutete eine Verbeugung an und wartete, bis Resnec die Geste erwidert hatte und damit der Etikette Gecknüge getan war.
»Ich sehe, Ihr seid bereit für die Abreise«, sagte er und fügte mit einer Geste zum Himmel hinzu: »Es wäre besser, Ihr würdet bis zum nächsten Sonnenaufgang warten. Es wird bald dunkel werden und der Regen hat die Wege aufgeweicht.«
Es war eine Floskel. Resnec wusste so gut wie er, dass die Worte nicht ernst gemeint waren und dass der König in Wirkcklichkeit genau das Gegenteil hatte sagen wollen. Aber er ließ sich nichts anmerken, sondern schüttelte nur höflich den Kopf und deutete mit einer knappen Handbewegung auf sich und sein Pferd. Er trug die gleiche Kleidung, mit der er gekommen war: dunkle, eng anliegende Hosen aus roh gegerbtem Leder, schwarze Stiefel, einen Waffenrock in der gleichen Farbe und einen schweren, mit Pelz gefütterten Mantel. Keine Waffe. Vielleicht, überlegte Oro, war das das Unheimlichste an ihm. Resnec war waffenlos, aber es war nichts Schwaches oder gar Hilfloses daran; im Gegenteil. Jeder Zoll seiner Erscheinung, jede noch so winzige Bewegung dieses Mannes machte deutlich, dass er keine Waffe nötig hatte.
»Ich bin gut ausgerüstet, mein König«, sagte Resnec nach einer Pause, die gerade so lang war, als hätte er gewartet, bis Oro seinen Gedanken zu Ende gedacht hatte. »Dunkelheit und Regen schrecken mich nicht und ich habe Eure Gastfreundschaft schon viel zu lange in Anspruch genommen.« Er lächelte: ein rasches, hässliches Verziehen der Lippen, das Oro einen Blick auf ein strahlend weißes Raubtiergebiss gewährte, legte die Hand auf den Sattelknauf seines Pferdes und wandte sich, in einer genau einstudierten Bewegung, dessen war Oro sicher, im letzten Moment noch einmal um.
»Ihr habt Euch Eure Entscheidung nicht noch einmal überlegt, mein König?«, fragte er.
Oro unterdrückte im letzten Moment eine scharfe Entgegcknung. Resnec wusste so gut wie er, wie seine Antwort ausfallen musste. »Nein«, sagte er. »Ihr wisst es, Resnec, und Ihr kennt auch die Gründe für meine Ablehnung.«
»Und Ihr die für meinen Wunsch«, entgegnete Resnec. Jede Spur von Freundlichkeit war aus seiner Stimme verschwunden, sie klang jetzt kalt, hart und beinahe drohend. Aber eben nur beinahe.
»Vielleicht überlegt Ihr es Euch doch noch einmal«, fuhr der schwarzhaarige Händler nach einer genau bemessenen Pause fort. »Mein Herr wäre sicher bereit sein Angebot zu erhöhen, obwohl es schon jetzt mehr als großzügig ist.«
»Das ist es fürwahr«, bestätigte Oro. »Es liegt nicht am Geld, Resnec, richtet das Eurem Herrn aus. Ich weiß die Großzügigkeit seines Angebotes sehr wohl zu schätzen, aber nicht einmal für die zehnfache Summe …«
»Überlegt es Euch gut, mein König«, unterbrach ihn Resnec. Der drohende Klang in seiner Stimme war jetzt nicht mehr zu überhören. »Mein Herr ist mächtig, mit dem Schwert und mit anderen Waffen. Wir brauchen diesen Wald.«
Oro wusste, dass es besser gewesen wäre, jetzt zu schweigen, aber Resnecs Worte ließen eine Welle heißer, unbezwingbarer Wut in ihm aufsteigen. Wenn er doch nur jünger wäre, nur zwanzig Jahre jünger, um diesem Kerl die Antwort zu geben, die seine Unverschämtheit verlangte: »Um Schiffe daraus zu bauen, ich weiß«, schnappte er. »Kriegsschiffe, die Ihr braucht, um andere Länder zu überfallen. Richtet Eurem König aus, dass alle Macht der Welt mich nicht dazu bewegen wird, auch nur einen einzigen Baum meines Reiches zu verkaufen. Nicht zu diesem Zweck! Und auch zu keinem anderen.« Der letzte Satz, den er hastig hinzufügte, war eine Entschuldigung für den vorhergegangenen und er tat ihm sofort wieder Leid. Wie kam es nur, dass Resnec ihn immer wieder dazu brachte, Dinge zu sagen, die er eigentlich gar nicht sagen wollte? Er, der sonst so beherrscht und überlegt war, dass viele ihn für kalt hielten?
Resnec erbleichte. Seine Lippen pressten sich zu einem schmalen, blutleeren Strich zusammen, sodass sie aussahen wie zwei kleine gerade Narben, die sein Gesicht in zwei ungleiche Hälften teilten.
Und als wäre es ein Omen – oder eine genau im richtigen Moment bestellte Geste –, fauchte in diesem Moment ein Windzug durch das offen stehende Tor und bauschte seinen Mantel, sodass er Resnecs schlanke Gestalt umflatterte wie eine Aura der Finsternis. Für die Dauer eines Atemzuges starrte er Oro mit unverhohlener Wut an, dann fuhr er herum, schwang sich in den Sattel und griff nach dem Zügel. Seine Bewegungen erinnerten Oro plötzlich an die einer großen, nachtfarbenen Fledermaus.
»Ist das Euer letztes Wort?«, fragte er kalt.
Oro nickte. »Mein allerletztes, Resnec. Wir verkaufen kein Holz, um damit Tod und Gewalt an die Küsten fremder Länder zu tragen. Es gibt genug Wälder, die ihr abholzen könnt, auf der anderen Seite der Berge. Genug, um hundert Flotten daraus zu bauen.«
Für einen Moment sah es so aus, als wolle Resnec noch etckwas darauf erwidern, aber dann beließ er es nur bei einem neuckerlichen Verziehen der Lippen, riss mit einem unnötig harten Ruck an den Zügeln seines Pferdes und zwang es, auf der Stelle kehrtzumachen. Das Tier tänzelte nervös und versuchte ausckzubrechen. Aber Resnec brachte es mit einem zweiten, noch brutaleren Ruck zur Räson.
»Wie Ihr wollt, König Oro«, sagte er wütend. »Aber ich kann Euch nicht garantieren, dass sich mein Herr mit dieser Antwort zufrieden gibt.« Die Selbstbeherrschung, die er bisher an den Tag gelegt hatte, zerbröckelte wie eine Gipsmaske, die feucht geworden war, und Oro fragte sich, ob er jetzt vielleicht den wirklichen Resnec darunter sah. Aber nur für einen Moment. Dann begriff er, dass der Zorn, der Resnecs Stimme zittern ließ, in Wahrheit nur Angst war. Aber wovor?
»Richtet Lassar meine Worte aus«, antwortete Oro aufgebracht. »Und sollte er Euch nicht glauben, dann sagt ihm, dass er jederzeit selbst auf meiner Burg willkommen ist, um sie aus meinem eigenen Munde zu hören. Und nun geht, solange Euch die Gesetze der Gastfreundschaft noch schützen.«
Resnec starrte ihn einen Moment lang aus brennenden Augen an. Dann, ohne ein weiteres Wort, stieß er seinem Tier die Sporen in die Flanken und preschte los. Der metallische Klang der Hufschläge wurde zu fernem grollenden Donner, als er auf die Zugbrücke hinausjagte und – ohne sein Tempo auch nur im Mindesten zu mäßigen – den breiten, regendurchweichten Weg zum Waldrand hinunter einschlug.
Oro blickte ihm nach, bis die schwarze Wand der Bäume Pferd und Reiter verschluckt hatte, wie ein Stück Finsternis, das sie ausgespien und nun wieder zu dem gemacht hatte, was es ursprünglich war. Aber selbst jetzt glaubte er noch, seine Nähe zu spüren.
Und obwohl die Luft klar und frisch roch, wie immer nach einem heftigen Regenguss, hatte Oro für Augenblicke das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Resnec war gekommen wie ein böser Geist, der den heiligen Frieden dieser Mauckern störte, und war wie ein solcher nicht wirklich fort, nachdem er gegangen war. Es war, als wäre etwas von der Dunkelheit und Kälte, die den angeblichen Händler wie unsichtbare Schatten begleiteten, in Hochwalden zurückgeblieben. Es würde lange dauern, bis sie ganz verschwanden.
Vielleicht war es nur die Furcht. Resnecs Worte waren keine leere Drohung gewesen, das wusste er. Er würde wiederkommen. Und nicht allein.
»Das war nicht besonders klug«, sagte eine Stimme hinter ihm. Oro runzelte die Stirn, drehte sich um und blickte mit einer Mischung aus Überraschung und Zorn in Faroans Gesicht. Als er aus dem Haus getreten war, war er allein gewesen, und er hatte nicht bemerkt, dass ihm der Magier gefolgt war.
»Wie lange stehst du schon hier und lauschst?«, fragte er zornig, Faroans Worte ganz bewusst ignorierend.
»Lange genug«, erwiderte Faroan, der sich auf seinen langen, in Form einer gewundenen Schlange geschnitzten Magierstab mit dem goldenen Knauf stützte. »Jedenfalls lange genug, deickne letzten Worte gehört zu haben. Sie waren nicht sehr klug gewählt. Resnec ist kein Mann, der ein Nein akzeptiert, und du hast ihn obendrein beleidigt. Er wird wiederkommen.«
Oro setzte zu einer scharfen Antwort an, aber dann fiel ihm ein, dass sie nicht allein waren und die Wachen, die rechts und links des Tores standen, jedes Wort hören konnten. Es war kein Geheimnis, dass Faroan und er sich in letzter Zeit nicht mehr so gut verstanden. Sie gerieten immer öfter aneinander, manchmal aus Gründen, die schlichtweg lächerlich waren, und vielleicht waren sie in Wahrheit nur zwei zänkische alte Männer, die zu lange zusammengelebt hatten, um sich noch zu ertragen, aber auch entschieden zu lange, als dass jeder für sich seiner Wege ginge. Aber das war etwas, was nur sie anging; eine Feindseligkeit besonders intimer Art, von der jeder wissen, die aber niemand erleben durfte. Mit einer schroffen Kopfbewegung wies er zum Haus hinüber und ging los. Faroan folgte ihm, zuerst in zwei, drei Schritten Abstand, holte aber rasch auf, als sie außer Hörweite der Wachen waren.
Oro blieb stehen. Vielleicht war es besser, das, was zu reden war, hier draußen zu bereden. Trotz des Zornes, der noch immer in ihm brodelte, wusste er im Grunde sehr wohl, dass Faroan Recht hatte. Und auch in Hochwalden hatten die Wände Ohren.
»Er wird wiederkommen«, sagte Faroan, übergangslos an das unterbrochene Gespräch anknüpfend. »Und das nächste Mal wird er nicht bitten, sondern fordern.«
»Ich weiß«, antwortete Oro übellaunig. »Und?« Der Zorn auf Resnec, der sich in den letzten Tagen in ihm aufgestaut hatte, drohte sich jetzt auf den Magier zu entladen. Er beherrschte sich nur noch mit Mühe. Seine Hände zitterten, aber diesmal nicht vor Kälte.
Faroans Stirn umwölkte sich und auf seinem weißbärtigen Gesicht, dessen jugendlich-glattes Aussehen nur vom Blick seiner hundert Jahre alten Augen Lügen gestraft wurde, erschien ein Ausdruck tiefer Sorge. »Er wird wiederkommen«, sagte er noch einmal. »Und ich fürchte, er wird uns Ärger machen.«
»Lassar wird sich nicht damit begnügen, uns nur Ärger zu machen«, sagte Oro gereizt. »Aber du bist hier, um das zu verckhindern. Wo warst du während der letzten drei Tage? Ich habe dich vermisst, bei meinen …«, er spie das Wort beinahe herckvor, »Beratungen mit Resnec.«
Faroan sah ihn einen Moment nachdenklich an, ging aber nicht weiter auf seine Worte ein. Er schien genau zu spüren, was in dem alten König vorging.
»Ich habe geforscht«, sagte er dann. »Ich habe über meinen Büchern gesessen und die Sterne beobachtet, und ich habe das Orakel befragt, Oro. Die Zeichen stehen nicht gut.«
»Papperlapapp«, sagte Oro wütend. »Heb dir dein Gewäsch für die Weiber und die Kinder auf, Faroan. Ich …«
»Es ist kein Gewäsch«, unterbrach ihn Faroan ernst, und etckwas in der Art, in der er sprach, ließ Oro erschauern. »Ich wollte, es wäre so, aber ich meine es ernst. Die Sterne stehen schlecht, so schlecht wie seit langem nicht mehr, und ich lese großen Schmerz in den Zeichen.« Er seufzte. »Resnec wird wiederkommen«, sagte er noch einmal. »Man muss kein Sterndeuter oder Magier sein, um das zu wissen. König Lassars Feldzug im Osten ist ins Stocken geraten, seit ihm das Zwergenvolk die Gefolgschaft aufgekündigt hat und er seine Trupckpen nicht mehr über die Berge versorgen kann. Er braucht eine Flotte und er braucht Holz, um diese Flotte zu bauen. Und der einzige Wald, der nahe genug an der Küste liegt, ihm dieses Holz zu geben, ohne dass er seine Schiffe quer über den halben Kontinent ziehen lassen muss, ist der Schwarzeichenwald. Aber warum sage ich dir das alles? Du weißt es ebenso gut wie ich.«
Oro nickte düster. Faroan offenbarte ihm nichts Neues. Lassar führte seit einem Jahrzehnt Krieg, gegen wechselnde Feinde und mit wechselndem Erfolg, aber bisher waren der Schwarzeichenwald und Hochwalden vor seinem Zugriff sicher gewesen.
»Er wird es nicht wagen, auch nur einen Baum zu fällen«, sagte er. »Der Schwarzeichenwald ist heilig. Seine eigenen Leute würden ihm die Gefolgschaft verweigern, wenn er es täte.«
Faroan antwortete nicht. Diese Worte waren eher Wunsch als Überzeugung, das wussten sie beide.
Lassar hatte in den letzten Jahren ein Land nach dem anderen erobert und sein Imperium unaufhaltsam ausgeweitet. Vielleicht war Hochwalden jetzt an der Reihe, von dem Moloch verschlungen zu werden, in den Lassar das ehemals blühende Tiefland verwandelt hatte.
»Er wird es nicht wagen«, sagte er noch einmal, als Faroan auch weiter nicht antwortete. »Niemand erhebt ungestraft die Hand gegen den Schwarzeichenwald. Die ganze Welt würde aufstehen und ihn zur Rechenschaft ziehen.«
Faroan senkte den Blick, starrte einen Moment wortlos zu Boden und zeichnete mit der Spitze seines Stabes vergängliche Kreise in die Oberfläche einer Pfütze, die vor ihm lag. »Vielleicht«, murmelte er. Er sah auf, lächelte nervös und unecht und sagte noch einmal: »Vielleicht. Ja, wahrscheinlich sogar, wenn ich es mir recht überlege. Er wird es nicht wagen. Nicht einmal Lassar.«
Aber sie wussten beide, dass es nur ein schwacher Versuch war, sich selbst zu beruhigen.
Oro fror plötzlich stärker, als sie zum Haus zurückgingen.
Mitten in der Nacht schrak er hoch. Im ersten Moment, noch schlaftrunken, dachte er, es wäre der Regen, dessen monotones Trommeln ihn geweckt hätte; oder die Kälte, die erst durch die dünne Seide der Zeltbahn und dann unter die Felle gekrochen war, mit denen er sich zugedeckt hatte.
Dann spürte er, dass er nass vor Schweiß war. Sein Herz hämmerte schnell und dumpf, und erst jetzt, mit einiger Verckspätung, erkannte er den Schrecken, der sich wie eine kalte Faust um seinen Magen geschlossen hatte.
Ein Traum, dachte Prinz Cavin. Ja, das muss es gewesen sein. Er versuchte sich zu erinnern, aber sein Gehirn war wie leer gefegt, wie oft nach einem Alptraum war nur der Schrecken zurückgeblieben, wie ein langsam abklingender Wundckschmerz. Allenfalls war es eine Farbe, auf die er sich zu besinnen glaubte; genauer gesagt, die Abwesenheit jeglicher Farbe: Schwarz. Ein Schwarz, das viel tiefer war als das, das man sah, wenn man die Augen schloss. Und mit diesem Schwarz war ein Empfinden entsetzlicher, lähmender Furcht verbunden.
Gwenderon, dachte er wütend. Das hatte er Gwenderon zu verdanken. Ihm und seinen verrückten Geschichten von Raetts und dem Zauber dieses Waldes.
Sein Zorn auf den grauhaarigen Waffenmeister vertrieb den letzten Rest von Furcht und kurz darauf schlief er wieder ein. Diesmal träumte er nicht mehr.
Wenigstens erinnerte er sich nicht daran, am nächsten Morgen.
Resnec folgte dem Weg nur so weit, bis er sicher war, dass er von der Burg aus nicht mehr gesehen werden konnte. Dann zwang er sein Pferd von der schlammigen Straße herunter, preschte eine kurze Böschung hinauf und brach durch dichtes Unterholz, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass die dornigen Zweige tiefe blutige Kratzer in die Haut seines Pferdes rissen. Für eine Strecke von vielleicht hundert Schritten bahnte er sich gewaltsam einen Weg durch das Unterholz, dann erreichte er eine schmale Lichtung, die an zwei Seiten von hockhen, rissigen Felsen gesäumt wurde, und hielt an.
Er war allein. Der Wald schwieg, und mit seiner Stille und Kälte kam er ihm für einen Moment vor wie ein großes, dunkelgrünes Grab. Es war ein unheimlicher Ort, ohne dass Rescknec dieses Gefühl irgendwie in Worte kleiden oder gar hätte begründen können. Aber eigentlich fühlte er sich ständig unckwohl, seit er diesen verwunschenen Wald betreten hatte. Und vielleicht lag es auch gar nicht an dieser Lichtung, sondern nur daran, dass er wusste, was hier geschehen würde, in wenigen Augenblicken.
Resnec war kein ängstlicher Mensch, aber er wusste, dass das Schweigen nicht allein auf den Regen und den Lärm zurückzuführen war, den er verursacht hatte, wenngleich beide gemeinsam ausgereicht haben mochten, alles Leben in weitem Umkreis zu vertreiben oder wenigstens zum Verstummen zu bringen. Aber die knisternde, unhörbare Spannung, die die Luft vibrieren und die Büsche angstvoll ihre Blätter zusammenzieckhen ließ, hatte andere Ursachen. Er wusste, was beides zu beckdeuten hatte, und gerade dieser Umstand war der Grund für sein Schaudern. Es war keine Angst. Er hatte es unzählige Mackle erlebt, aber es war ihm niemals gelungen, sich an den Anckblick zu gewöhnen oder den Schrecken, den er in ihm auslöste, vollends zu vertreiben. Aber es war keine Angst. Es war etwas Schlimmeres.
Vor ihm bewegte sich ein Schatten. Sein Pferd, das mit seicknen feinen tierischen Instinkten das Fremde, Falsche an diesem Vorgang zehnmal deutlicher spüren mochte als er, fuhr erschrocken zusammen und versuchte rücklings in den Wald zurückzuweichen. Resnec zwang es mit einem harten Ruck, stehen zu bleiben. Mit einer Mischung aus Unbehagen und Neugier sah er dem Schattenspiel zu.
Wie immer konnte er nicht wirklich erkennen, was geschah. Die Dunkelheit war ein Stück weit aus dem Wald herausgekrochen, ein großer, rauchig aufgelöster Finger, der ziellos hierhin und dorthin zu tasten schien. Dann bildete sich ein tieferer, dunklerer Keim von Schwärze darin, der wuchs in einem Wirckbel aus Finsternis und namenlosem Unbekannten. Dann – ganz plötzlich – trat eine schwarz gekleidete Gestalt aus dem Schattenreich zurück in die Welt, die er in seinem Palast, tausend Meilen und die Dauer eines Atemzugs von hier, verlassen hatte.
Lassar.
Resnec sprang von seinem Pferd und wollte auf die Knie fallen, aber der Schattenkönig hielt ihn mit einer ungeduldigen Bewegung zurück. »Sprich!«
»Ich … habe getan, was Ihr befohlen habt, Herr«, sagte Rescknec, ohne die schwarz gewandete Gestalt seines Meisters – oder gar sein Gesicht – anzublicken. »Aber es war, wie ich befürchtet hatte. Er weigert sich.«
»Dieser Narr.« Lassars Stimme war vollkommen kalt, ohne jegliches Gefühl. Resnec war nicht einmal sicher, ob der Herr der Schatten überhaupt in der Lage war, Gefühle zu empfinden. »Dieser starrköpfige, blinde alte Mann. Glaubt er im Ernst, sich meinem Willen widersetzen zu können?« Jetzt erkannte Resnec doch eine Gefühlsregung in der Stimme Lassars: Überrackschung.
»Hochwalden ist stark, Herr«, erinnerte Resnec, wobei er sich hütete, auch nur den Anschein eines belehrenden Tones in seiner Stimme laut werden zu lassen. »Und er hat Faroan. Ich habe ihn nicht zu Gesicht bekommen, aber ich hörte, dass er ein mächtiger Magier ist. Der letzte der Waldzauberer.« Diesen letzten Satz unterstrich er mit einer genau berechneten Mickschung aus sanftem Spott und Zweifel, aber Lassar reagierte ganz anders darauf, als er erwartet hatte.
»Der Mächtigste überhaupt«, sagte er. »Und doch nicht mächtig genug.« Plötzlich lachte er. »So sei es, Resnec. Oro hat es nicht anders gewollt. Du weißt, was du zu tun hast.«
Resnec antwortete nicht sofort, aber Lassar schien auch so zu spüren, was in seinem Statthalter vorging. Ein kaltes, böses Lächeln erschien auf seinen Zügen, ein Lächeln, das Resnec spürte, ohne ihn anblicken zu müssen. »Du hast Angst?«
»Das nicht«, sagte Resnec hastig. »Es ist nur …« Er schwieg einen Moment, blickte fahrig hierhin und dorthin – überallhin, nur nicht in das Schattengesicht unter der Kapuze – und verfluchte sich, nicht sofort geantwortet und damit Lassars Misstrauen geschürt zu haben. Jetzt würde er seine Bedenken aussprechen müssen und sich damit vielleicht seinen Unmut zuckziehen.
»König Oro ist ein mächtiger Mann«, begann er vorsichtig. »Sein Reich ist klein und er hat nur ein paar hundert Krieger, aber …«
»Aber er hat mächtige Freunde, wolltest du sagen«, sagte Lassar, als Resnec nicht weitersprach. Resnec senkte den Blick noch weiter.
Lassar lachte leise. »Oh ja, ich weiß, mein Freund. Alle Reiche diesseits der Berge würden wie ein Mann aufstehen und sich gegen uns wenden; oder uns zumindest die Gefolgschaft verweigern. Würde ich auch nur einen Kiesel aufheben und nach Hochwalden werfen – das ist es doch, was du fürchtest, nicht?« Wieder lachte er und diesmal war es ein kalter, harter Laut, ein Geräusch, als klirrten Eisstüchen in einem Becher aus Metall, das Resnec erschauern ließ.
»Ich weiß das alles, mein Freund«, fuhr Lassar fort. »Das und noch ein paar Dinge. Der Schwarzeichenwald ist heilig. Noch nie hat es jemand gewagt, die Hand gegen ihn oder seicknen Beschützer zu erheben. Täte es einer, würden sich alle Völker und Edlen gegen ihn erheben, vielleicht sogar die Kaste der Magier selbst. Er würde untergehen, selbst wenn er so mächtig wäre wie ich.« Er schüttelte den Kopf. Resnec spürte die Bewegung, obwohl er ihn noch immer nicht ansah. »Nichts von alledem wird geschehen, Resnec.«
»Aber wie …«
»Lass das meine Sorge sein«, unterbrach ihn Lassar. »Tu, was ich dir befohlen habe, und überlasse mir den Rest.«
Er sprach nicht weiter, und als es Resnec nach einer Weile wagte den Blick zu heben, war die Lichtung leer. Lassar war so lautlos gegangen, wie er gekommen war. Die Schatten hatten sich wieder hinter ihm geschlossen. Aber wie immer, wenn Resnec seinem dunklen Herrscher begegnet war, blieb ein unsichtbarer Hauch von Kälte und Dunkelheit zurück, als wäre ein winziger Teil der Welt, in der sich der Herr der Schatten bewegte, zurückgeblieben und löste sich nur zögernd auf, wie Rauch von einem übel riechenden Feuer aus Eingeweiden.
Ein leises, knackendes Geräusch unterbrach Resnecs Gedanken und ließ ihn herumfahren. Automatisch zuckte seine Hand zum Schwert. Aber er führte die Bewegung nicht zu Ende.
Das Unterholz rings um die Lichtung teilte sich beinahe lautlos, und eine Anzahl dunkler, allesamt hoch gewachsener Gestalten trat hervor. Resnec unterdrückte ein Stöhnen, als er sie erkannte.
Lassars Henker näherten sich ihm unterwürfig und blieben in respektvollem Abstand stehen, einen weit auseinander gezogenen Halbkreis großer, verschwommener Körper bildend. Keickner von ihnen sagte ein Wort oder regte sich auch nur noch, und trotzdem spürte Resnec die stumme Bedrohung, die von dem Dutzend Giganten ausging, mit der Intensität eines körpercklichen Schmerzes. Es war keine Androhung, die ihm gegolten hätte, sondern etwas Finsteres, Aggressives, das so zu ihrem Sein gehörte wie ihr unangenehmer Geruch und die flachen, unter wulstigen Helmen verborgenen Gesichter, eine Feindseckligkeit, die allem Lebenden, Fühlenden galt. Viel mehr noch als Lassar waren sie Teile der Schattenwelt, denn während der Finstere Herrscher nur dann und wann in das Reich der Schatten eindrang, waren sie Geschöpfe jener Welt, Wesen ohne Sein, die alles hassen mussten, was lebte und dachte. Auch er – ja, sogar Lassar selbst war von diesem Hass nicht ausgenommen. Er wusste, dass sie ihm gehorchen würden, selbst wenn er sie in die Vernichtung schickte, stumm und ohne zu protestieren, ohne nach dem Warum und Wenn seiner Befehle zu fragen, präzise und zuverlässig wie Maschinen.
Und trotzdem war alles, was er bei ihrem Anblick empfand, Angst.
Mit dem ersten Licht des neuen Tages ritten sie weiter. Gwenderon war schon eine Stunde vor Sonnenaufgang auf den Beicknen gewesen, denn er hatte keinen Schlaf mehr gefunden, nachdem er gegen Mitternacht aufgewacht war und schließlich doch sein Zelt auseinander gerollt und aufgebaut hatte. Die Kälte, einmal in seine Knochen gekrochen, hatte sich darin festgebissen wie eine tollwütige Ratte, und er war ein Dutzend Mal während der verbliebenen Stunden wieder aufgewacht, zitternd und jedes Mal schlechter gelaunt. Als er kurz vor ihrem Aufbruch sein Pferd sattelte und ihn ein Mann aus der Garde versehentlich stieß, fuhr er herum und schrie ihn dermackßen an, dass für einen Moment jede Bewegung auf der Lichtung erstarb und sich aller Blicke auf ihn richteten. Gwenderon entschuldigte sich sofort für seine Unbeherrschtheit und der Krieger nahm seine Entschuldigung an. Aber seine Laune sank um weitere Grade.
Hinzu kam, dass Karelian nicht zurückgekommen war. Gwenderon war nicht erstaunt gewesen, ihn während des vergangenen Tages nicht mehr zu sehen; Karelian war tagsüber zwar meist irgendwo in der Nähe der Kolonne, aber selten bei ihr. Trotzdem war er bisher jeden Abend zu ihnen gestoßen, um sich einen Platz am Feuer zu suchen und zu schlafen. Gestern nicht. Gwenderon gestand es nicht einmal sich selbst gegenüber ein – aber Karelians Fernbleiben bereitete ihm mehr Sorge, als ihm lieb war. Er dachte an Raettspuren und einen großen, zottigen Schatten, aus dem glühende Augen auf ihn herabgestarrt hatten.
Genau wie er es erwartet hatte, waren es Cavins so genannte Freunde, die den Aufbruch wieder einmal verzögerten. Es dauckerte eine halbe Stunde, bis auch der Letzte von ihnen sein Lager abgebrochen hatte und im Sattel saß. Und jetzt, als es endcklich so weit war im noch grauen Licht des Morgens, in der Kälte und melancholischen Stimmung, die die ersten Minuten eines neuen Tages begleitete, kamen sie ihm mehr denn je wie ein Haufen jämmerlicher Gestalten vor, wie sie auf ihren Pferden hockten, vornübergebeugt oder unruhig hin und her rutckschend, weil die Haut unter ihren schönen ledernen Hosen wund geritten und blutig war, mit grauen Gesichtern, in denen Müdigkeit und Erschöpfung um den ersten Rang kämpften. Sie gehörten nicht hierher. Noch viel weniger als er und seine Begleiter.
Es war sicher kein Zufall, dass Cavin so weit von ihm entfernt ritt, wie es überhaupt nur möglich war, wollte er sich nicht direkt von der Truppe entfernen. Und Gwenderon glaubte seine halb zornigen, halb herablassenden Blicke regelrecht zu spüren, ebenso wie er die geflüsterten Worte dieser Lackaffen zu hören glaubte, die in Cavins Begleitung waren. Es ärgerte ihn, obwohl er wusste, wie lächerlich sein Verhalten im Grunde war.
Sie waren vielleicht eine Stunde geritten, vielleicht auch etckwas mehr, denn das Verstreichen der Zeit – die zu der ihnen fremd gewordenen menschlichen Welt gehörte – war in diesen Wäldern schwer zu schätzen, als der Reiter an der Spitze der kleinen Kolonne plötzlich sein Pferd zügelte und gleichzeitig die Hand hob. Eine schwerfällige Woge nervöser Bewegung lief durch den Tross, begleitet von klirrendem Metall und dem Knirschen von Leder, vom unruhigen Schnauben und Stampfen der Tiere und unwilligem Gemurmel, ehe auch der letzte Reiter die Bewegung registriert hatte und zum Stehen gekommen war. Auch Gwenderon verhielt sein Tier ganz instinktiv für einen Moment, verwirrt durch den plötzlichen Halt. Dann, erfüllt von ebenso plötzlich aufflammender Besorgnis, sprengte er los, an den Reitern vorbei, sodass seine rechte Körperhälfte und die Flanke des Pferdes unsanft durch das Unterholz rechts des schmalen Weges brachen. Ein Ast traf ihn im Gesicht und riss ihm fast den Helm vom Kopf. Gwenderon schluckte einen Fluch herunter, galoppierte noch schneller – wobei er beinahe einen der Edelleute aus der Gefolgschaft des Prinzen über den Haufen ritt – und brachte sein Tier erst unmittelbar neben dem vordersten Reiter zum Halten.
»Was ist los?«, fragte er unwirsch.
Der Mann deutete stumm nach vorne, und der scharfe Verckweis, der Gwenderon zunächst auf der Zunge gelegen hatte, wurde zu einem erschrockenen, nicht mehr ganz unterdrückten Ausruf.
Vor ihnen, nicht mehr als zehn Pferdelängen entfernt, erhob sich eine übermannshohe, zottig braune Gestalt. Im Halbdunkel des Waldes hätte man sie fast für einen riesigen, ungewöhnlich breitschultrigen Menschen halten können. Aber eben nur fast. Schon der zweite Blick zerstörte die Illusion.
Der Kopf war zu klein und das Gesicht spitz und wie das einer Ratte nach vorne gezogen, bedeckt mit kurzem, drahtigem Fell, dessen Farbe irgendwo zwischen Braun und Grau schwankte. Die Augen waren nicht mehr als kleine glühende Knöpfe unter der flachen Stirn, und die Ohren waren, ähnlich wie bei einer Katze, dreieckig und nach allen Seiten beweglich. Die Hände, die – abgesehen von ihrer Größe und Kraft – denen von Menschen verblüffend ähnelten, endeten in fürchterlichen, hornigen Krallen. Der Körper war mit fingerlangem, zottigem Fell bedeckt, etwas dunkler und dichter als das am Kopf. Das Wesen trug keine Kleidung.
»Ein Raett!«, flüsterte er erschrocken.
Der Mann neben ihm nickte, und Gwenderon sah aus den Augenwinkeln, wie sich seine Hand dem Schwert im Gürtel näherte.
»Nicht«, flüsterte er. »Er … er will nicht kämpfen.« Wenigckstens hoffte er, dass es so war. »Wenn sie uns überfallen wollten, dann hätten sie es längst getan.«
Aber vielleicht war das gerade das, was er denken sollte, flücksterte eine Stimme in ihm. Sein Puls jagte. Er dachte an die Spuren, die sie gefunden hatten, und plötzlich vermisste er Karelian. Jetzt hätte er den Rat des Waldläufers nötiger gehabt als je zuvor.
Ein drittes Pferd gesellte sich zu ihnen, und Gwenderon sah, dass es Norrot war. Sein Schwert stak noch immer in der ledernen Scheide an seinem Sattelgurt, aber in den Fäusten des hücknenhaften Kriegers lag jetzt ein Langbogen, auf dessen halb gespannter Sehne ein Pfeil zitterte.
»Bleib zurück«, sagte Gwenderon halblaut. »Ich rede mit ihm.«
Norrot stieß einen verblüfften Laut aus, aber Gwenderon ließ ihm keine Zeit, irgendeinen der tausend Einwände vorzubringen, die er garantiert auf der Zunge hatte, sondern zwang sein Tier, langsam auf den Raett zuzugehen. Das Pferd scheute; der Rattengestank der Kreatur versetzte es in Angst. Aber Gwenderon zwang es weiterzugehen. Erst einen Schritt vor dem Raett hielt er an und blickte misstrauisch nach rechts und links. Der Wald umgab sie wie zuvor als eine schwarze Mauer aus Schweigen und Dunkelheit, hinter der sich nichts zu rühren schien; so massiv, als hörte die Welt dahinter einfach auf. Aber Gwenderon wusste sehr wohl, dass sich hinter dieser Mauer eine ganze Armee verstecken konnte. Wenn es eine Falle war, lief er sehenden Auges hinein. Wo war Karelian?
»Was willst du?«, fragte er, grob, aber sehr langsam und jeckdes Wort übermäßig betonend, damit der Raett ihn auch verstand. »Gib den Weg frei.«
Der Raett starrte ihn aus seinen knopfgroßen schwarzen Augen an, und Gwenderon sah die Wildheit, die in dem Blick loderte, ein tierisches Erbe, ungleich jünger als das des Menschen und ungleich wilder. Als der Raett sprach, klang seine Stimme geradezu lächerlich: ein hässliches Quietschen, das kaum zu verstehen war und im krassen Gegensatz zu dem mächtigen Körper stand, der die Kraft von fünf Männern haben musste.
»Hunger«, sagte er. »Wir viel Hunger. Ihr Essen.«
»Und?«, erwiderte Gwenderon. Seine Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt, aber er hörte nichts, sah nichts. Der Wald war stumm und reglos. »Wir haben nichts«, fauchte er. »Verckschwinde.« Er wollte sein Pferd herumreißen, aber der Raett verstellte ihm den Weg – rasch, aber doch nicht so hastig, dass seine Bewegung einen von Gwenderons Kriegern zu einer Unckbesonnenheit hinreißen konnte.
»Ihr Essen«, beharrte er. »Wir Hunger. Viel tot. Ihr geben. Wir bezahlen. Gold. Wir viel Gold.«
»Wir brauchen euer Gold nicht und unser Essen reicht gerade für uns selbst«, antwortete Gwenderon. Seine Gedanken überschlugen sich. Wenn es eine Falle war, dann war sie längst zugeschnappt. Aber waren Raetts intelligent genug, Fallen zu stellen? Und wenn nicht, wenn dieser eine Raett wirklich nur der Sprecher einer Horde halb verhungerter Nomaden war, dann würden sie sich vielleicht die Nahrungsmittel, die er ihnen verweigerte, mit Gewalt holen.
»Gut«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Ihr könnt eines der Packpferde haben. Schlachtet es meinetwegen; das Fleisch wird für ein paar Tage reichen. Mehr haben wir nicht.«
Der Raett stieß ein hohes, hässliches Quieken aus. »Du Mensch«, zischelte er. »Mensch gut.«
Gwenderon zog eine Grimasse. »Spar dir deinen Dank«, sagckte er unwirsch. »Wir entladen das Pferd, und ihr könnt es euch holen, sobald wir weitergeritten sind. Vorher nicht – ist das klar?«
Der Raett nickte. »Wir warten«, sagte er. »Später Essen. Mensch gut.«
Ohne ein weiteres Wort zwang Gwenderon sein Pferd herum, sprengte die wenigen Schritte den Weg zurück und hielt neben Norrot und dem Soldaten an.
»Was ist?«, fragte Norrot erregt. »Was wollte er?«
»Essen«, erwiderte Gwenderon. »Er gehört wohl zu einer ganzen Gruppe, die sich hier in der Gegend herumtreibt. Sie müssen halb verrückt vor Hunger sein. Soweit ich ihn verstanden habe, sind ein paar von ihnen bereits verhungert.« Wenigckstens versuchte er sich dies einzureden. Die Worte des Raett konnten ebenso gut eine andere Bedeutung haben. »Wir geben ihnen ein Pferd«, fügte er hinzu. »Entladet eines der Packtiere und verteilt die Last auf die übrigen. Und beeilt euch.«
»Was soll das heißen, Gwenderon?«
Gwenderon schloss für einen Moment die Augen, zwang sich innerlich zur Ruhe und drehte sich mit einer betont langsamen Bewegung herum, als er die helle, jugendliche Stimme hörte. Prinz Cavin hatte sich keine sonderliche Mühe gegeben, leise zu sprechen. Aber er gab sich sogar ganz besondere Mühe, den zornigen Ton in seinen Worten hörbar werden zu lassen. »Was soll das heißen, Gwenderon?«, fragte er noch einmal. »Habe ich das richtig gehört? Wir geben ihnen ein Pferd …?«
»Sie sind hungrig«, antwortete Gwenderon. »Unsere Vorräte sind begrenzt, aber wir können ein Pferd verschmerzen und …«
»Du gibst diesen Tieren ein Pferd?«, fiel ihm Cavin ungläuckbig ins Wort. »Du schenkst ihnen eines unserer Tiere, damit sie es fressen?« Seine Stimme klang gleichzeitig zornig und angeekelt.
»Wäre es Euch lieber, sie würden uns fressen, mein Prinz?«, fragte Gwenderon spöttisch.
Cavin überhörte seinen Einwand. »Das verbiete ich, Gwenderon. Schlag diese Kreatur nieder und reite weiter!«
»Ich glaube, Ihr habt nicht ganz verstanden, Prinz«, erwiderte Gwenderon, nur mehr mühsam beherrscht. »Dieser Raett ist nicht allein. Es können wenige sein, die er anführt, aber auch viele. Sie würden sich mit Gewalt holen, was wir ihnen nicht freiwillig geben, und …«
»Papperlapapp!« Wieder schnitt ihm Prinz Cavin das Wort ab. Gwenderon fühlte eine Welle heißen Zorns in sich aufsteigen. Begriff dieser junge Narr denn wirklich nicht – oder wollte er es nur auf eine Kraftprobe ankommen lassen, ausgerechnet jetzt?
»Ich verbiete es«, sagte der Prinz noch einmal, laut und herrisch. »Wir haben genug Krieger, uns des Angriffes einer Bande halb verhungerter Ungeheuer zu erwehren. Wären sie so viele, wie Ihr befürchtet, Waffenmeister, dann hätten sie uns längst angegriffen.«
Gwenderon starrte ihn einen Herzschlag lang an, dann drehte er sich halb im Sattel um und sah zu den Männern zurück, die damit begonnen hatten, eines der Packpferde zu entladen. Während der letzten Augenblicke hatten sie innegehalten und mit unverhohlener Neugier zu ihm und dem Prinzen hinübergeseckhen.
»Macht weiter!«, befahl er. »Und beeilt euch.«
Cavin zog hörbar die Luft ein. »Ihr verweigert den Gehorcksam?«, keuchte er.
»Nein«, antwortete Gwenderon, so ruhig er konnte. »Ich tue, was für Eure Sicherheit das Beste ist, Herr. Wir können das Pferd verschmerzen, und Euer Vater hat mein Wort, dass ich Euch heil und unverletzt nach Hochwalden bringe. Wir können es nicht riskieren, von den Raetts angegriffen zu werden, nur wegen eines Pferdes.«
»Ich werde dafür sorgen, dass –«, begann Cavin. Aber diesckmal wurde er von Gwenderon unterbrochen.
»Ihr werdet nichts tun, junger Herr«, sagte er eisig. »Ich bin für Euer Wohl verantwortlich, und ich befehlige diesen Tross, nicht Ihr, Herr.« Er betonte das Wort Herr auf die gleiche, abfällig-boshafte Art, in der Cavin ihn vorher Waffenmeister genannt hatte.
Die Lippen des jungen Prinzen pressten sich zu einem schmalen, blutleeren Strich zusammen. Seine Augen flammten. Aber er war intelligent genug zu erkennen, dass er verloren hatte und dass er die Schmach, die diese Niederlage in seinen Augen bedeutete, mit jedem weiteren Wort nur noch verckschlimmern würde. Mit einem wütenden Ruck riss er sein Pferd herum und ritt an seinen Platz in der Mitte der Kolonne zurück.
»Das war hart«, murmelte Norrot neben ihm. »Er wird Euch Schwierigkeiten machen, sobald wir Hochwalden erreicht hackben.«
»Unsinn«, knurrte Gwenderon. »Er ist ein junger Hitzkopf und weiß noch nicht, was das Wort Tapferkeit überhaupt beckdeutet, und sein Vater weiß das.«
Nervös blickte er wieder zu dem wartenden Raett zurück, der sich noch immer nicht von der Stelle gerührt hatte. Dann wandckte er sich im Sattel um und sah voller Ungeduld zu, wie die Männer das Packpferd entluden. Zu seiner Zufriedenheit hatten die Männer das am wenigsten kräftige Tier ausgewählt. Es war nervös und scharrte ängstlich mit den Vorderhufen im Boden, als spürte es instinktiv, welches Schicksal ihm bevorstand.
Der Raett erwachte aus seiner Erstarrung, als das Pferd vollends entladen war und einer der Männer Gwenderon die Zügel in die Hand drückte. Mit kleinen, trippelnden Schritten kam er näher und musterte abwechselnd das Tier und Gwenderon. Sein Rattenmaul stand einen Spaltbreit offen und gewährte Gwenderon einen Blick auf die entsetzlichen Reißzähne des Ungeheuers. Selbst jetzt, als er ihm gegenüberstand und mit ihm sprach, fiel es ihm schwer, zu glauben, dass der Raett der Vertreter einer – wenn auch mäßig – intelligenten Spezies sein sollte.
»Hier. Nimm es und verschwinde«, sagte Gwenderon und hielt dem Raett die Zügel hin.
Aber das Wesen machte keinerlei Anstalten, danach zu greifen. Stattdessen wandte es sich auf der Stelle um und stieß einen hohen, trällernden Ruf aus. Weniger als einen Herzschlag später teilte sich der Wald rechts und links des Weges und ein ganzes Dutzend der fellbedeckten Kreaturen erschien zwischen dem Unterholz. Gwenderon spürte, wie eine erschrockene Beckwegung durch die Reihen seiner Krieger lief. Schwerter wurden gezogen, Sehnen gespannt und Lanzen angelegt.
»Verdammt!«, sagte er. »Ich sagte, ihr solltet kommen, wenn wir weitergeritten sind. Schick sie weg!«
»Mensch gut«, antwortete der Raett blöde. »Viel Hunger. Nicht Angst haben. Geben Gold.«
»Behalte dein Gold, aber schick sie weg, bis –« Gwenderon sprach nicht weiter, als er sah, dass der Raett seine Worte überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Und es war auch zu spät – die Front der zottigen Kreaturen war bereits bis auf wenige Schritte herangekommen. Aber Gwenderon sah auch, dass keickner von ihnen eine Waffe trug. Und das Lodern in ihren Augen war vielmehr Hunger als Mordlust. Nicht wenige von ihnen waren verwundet, und einige – die Weibchen, wie er vermutete – trugen junge, kleine hässliche, haarige Bündel, die sich an ihren Zitzen festgesaugt hatten oder in ihren Armbeugen schliefen. Sie wirkten zerlumpt und trotz ihres beeindruckenden Körperbaues schwach und krank. Die allerwenigsten trugen Kleider.
Gwenderon wandte sich im Sattel um und hob beruhigend die Hand. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Senkt die Waffen. Sie haben nur Hunger.«
Für einen Moment begegnete sein Blick dem Norrots; der Krieger hatte sehr wohl bemerkt, dass Gwenderon ihnen nicht befohlen hatte die Waffen fortzustecken, sondern nur sie zu senken. Dann blickte er in das Gesicht des Prinzen. Der Hochmut und Zorn darauf war verschwunden und von Schrecken und langsam aufkeimender Furcht abgelöst worden. Gwenderon gestattete sich den Luxus eines flüchtigen Lächelns, ehe er sich wieder zu dem Raett umwandte.
»Also«, sagte er, »nehmt das Tier und lauft uns nicht noch einmal über den Weg.« Wieder hielt er dem Raett die Zügel des Tieres hin und diesmal griff das Wesen danach, streckte aber gleichzeitig die Hand nach dem Zaumzeug von Gwenderons eigenem Pferd aus und hinderte ihn daran, weiterzureiten.
»Danken«, zischelte es. »Wir Hunger. Du geben Pferd. Wir geben Gold.«
Gwenderon warf einen flüchtigen Blick auf die Reihe heruntergekommener, halb verhungerter Gestalten hinter dem riesigen Raett. Behutsam löste er die mächtige Pranke des Wesens vom Zaumzeug seines Pferdes, schüttelte den Kopf und rang sich zu einem Lächeln durch.
»Behaltet euer Gold«, sagte er. »Wir können das Pferd verckschmerzen. Nehmt es und esst euch satt.«
Der Raett starrte ihn an. Sein Rattengesicht blieb starr, aber in seinen Augen glomm ein Ausdruck, der vielleicht ein Lächeln war. Vielleicht auch etwas anderes.
»Mensch gut«, sagte er. »Wir danken. Später.«
Gwenderon antwortete nicht mehr, sondern gab das Zeichen zum Weiterreiten.
Der Schatten war einfach da. Ganz plötzlich, von einem Lidckschlag auf den nächsten, stand er zwischen dem Unterholz, ein schwarzes Loch, das lautlos in das braungrüne Halbdunkel des Waldes gestanzt worden war; größer und sehr viel massiger als ein Mensch. Winzige rote Augen glühten wie Kohlen in der Schwärze, die sein Körper war. Lange Zeit blieb das Ding einfach stehen, reg- und lautlos wie ein Spuk. Dann drehte es sich um und begann tiefer in den Wald einzudringen. Mit ihm kam die Furcht.
Irgendetwas war nicht so, wie es sein sollte. Gwenderon konnte das Gefühl nicht genauer in Worte fassen, aber es war zu stark, um es zu ignorieren: Der Wald hatte sich verändert. Seine Farckben waren finsterer, seine Konturen härter und kantiger, seine Schatten tiefer geworden; der Weg hatte sich in eine Schlucht verwandelt, zu beiden Seiten begrenzt von graugrün-braun marmorierten Wänden aus gemauerter Finsternis, und obwohl die Sonne schon wieder beinahe zu heiß vom Himmel schien, kroch doch ein Gefühl klammer Kälte in ihm empor, gegen das er sich nicht zu wehren wusste.
Eine weitere Stunde war vergangen, seit sie auf die Raetts gestoßen waren, vielleicht etwas mehr – so genau war das in der schattigen Halbdämmerung des Waldes nicht zu sagen –, und der Waffenmeister ritt unmittelbar neben dem Prinzen, ohne dass sie indes während dieser ganzen Zeit auch nur ein Wort miteinander gewechselt hätten, als der Mann an der Spitze des kleinen Trosses plötzlich abermals sein Pferd verhielt und warnend die Hand hob.
Prinz Cavin bemerkte die Bewegung im gleichen Moment wie er und runzelte die Stirn, was seinem fast noch kindlichen Gesicht einen sonderbaren Anstrich von Erwachsensein gab. »Was ist nun schon wieder los?«, fragte er.
»Ich werde es herausfinden, mein Prinz«, sagte Gwenderon rasch. »Bleibt hier.« Ehe Cavin Gelegenheit fand zu widersprechen – Gwenderon war sicher, dass er es getan hätte –, sprengckte er los und hielt neben dem Mann an der Spitze wieder an.
»Was ist?«, fragte er.
Der Krieger hob zögernd die Schultern, blickte Gwenderon einen Moment lang beinahe hilflos an und starrte dann wieder aus zusammengepressten Augen in die ineinander verkrallten Schatten des Waldes. »Ich … bin mir nicht sicher«, gestand er stockend. »Aber für einen Moment dachte ich, ich …« Er brach ab, als Hufschläge hinter ihnen laut wurden und Prinz Cavin herangeritten kam, biss sich hilflos auf die Unterlippe und begann den Zügel in den Fingern zu kneten.
»Rede weiter«, sagte Gwenderon aufmunternd. »Nur keine Angst. Besser, du warnst einmal zu viel als einmal zu wenig.«
Der Mann nickte. Sein Blick streifte die Gestalt des jungen Prinzen und wandte sich dann wieder dem Unterholz zu. »Ich dachte, dort hätte sich etwas bewegt«, sagte er. »Aber vielleicht habe ich mich getäuscht.«
Vor ihnen, nicht weiter als einen Steinwurf entfernt, knackte ein Zweig. Blätter raschelten und für einen Moment glaubte Gwenderon, etwas Großes, Dunkles durch das Geäst zu erkennen.
»Ihr habt Recht, Soldat«, sagte Cavin spröde. »Dort ist etckwas.« Er senkte die Hand auf das Schwert – ein Spielzeug, wie Gwenderon wusste, eine Prachtwaffe mit fein ziseliertem Griff und einer Schneide, die wie poliertes Silber glänzte und wie Glas zerbrechen würde, beim ersten ernst gemeinten Hieb – und sah Gwenderon mit einer sonderbaren Mischung aus Trickumph und Vorwurf an. »Mir scheint, Eure Freunde folgen uns, Gwenderon«, sagte er. »Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ihnen zu essen zu geben. Möglicherweise hat das Pferd ihren Appetit auf mehr geweckt.«
Gwenderon unterdrückte den Zorn, den Cavins Worte in ihm wachriefen. »Wer sagt Euch, dass es Raetts sind, mein Prinz?«, fragte er kühl.
Cavin lachte leise. »Oh, natürlich – ich vergaß ganz, welch ein Betrieb in diesen Wäldern herrscht. Man trifft ja jeden Augenblick auf Reisende und harmlose Spaziergänger, nicht wahr?«
Gwenderon sog hörbar die Luft ein, aber er antwortete nicht mehr auf Cavins Worte. Sosehr ihn das hochmütige Benehmen des jungen Prinzen in Rage versetzte, musste er doch zugeben, dass er vermutlich Recht hatte. Der Zufall, ausgerechnet in einem Teil des Schwarzeichenwaldes, den selbst seine Beherrckscher mieden, jetzt auch noch auf andere Fremde zu treffen, wäre wohl doch etwas zu groß.
»Ich werde nachsehen«, sagte er entschlossen. »Norrot, Willckhard – ihr kommt mit. Die anderen bleiben hier und beschützen den Prinzen.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Cavin ruhig. »Weil der Prinz Euch nämlich begleiten wird, Gwenderon.«
»Das verbiete ich!«, sagte Gwenderon scharf.
Cavin lächelte nur. »Wie wollt Ihr es verhindern, Waffenckmeister?«, fragte er. »Wollt Ihr mich vielleicht festbinden?« Er zog sein Schwert aus der Scheide und legte es quer vor sich über den Sattel.
Für die Dauer von zwei, drei Atemzügen musste Gwenderon mit aller Macht gegen den Wunsch ankämpfen, Cavin endgültig und vor aller Augen in seine Schranken zu verweisen, und sei es mit der schallenden Ohrfeige, die er sich schon lange verdient hatte. Aber dann nickte er nur.
»Gut«, sagte er. »Ganz wie Ihr wollt, mein Prinz.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Cavins Schwert. »Aber steckt wenigstens dieses Spielzeug weg. Und verhaltet Euch still.«
Er war beinahe überrascht, als Cavin tatsächlich sein Schwert wegsteckte und aus dem Sattel stieg. Sie warteten, bis die beickden Krieger, die Gwenderon gerufen hatte, ebenfalls von ihren Pferden gestiegen und an ihre Seite getreten waren, dann drangen sie – den Prinzen wie durch Zufall in der Mitte haltend – im rechten Winkel in den Wald ein.
Dunkelheit und Schweigen schlugen wie eine lautlose Woge über ihnen zusammen. Es war weniger schwer, in den Wald vorzudringen, als Gwenderon befürchtet hatte. Unterholz, Gestrüpp und verfilztes Pflanzenwerk bildeten zwar eine nahezu undurchdringliche Mauer beiderseits des Weges, aber nachdem sie sich erst einmal durch die Wand aus dornigen Zweigen gezwängt hatten, wurde der Weg besser.
Plötzlich blieb Cavin stehen und deutete auf eine Stelle links von Gwenderon, und als sich der Waffenmeister herumdrehte und in die angegebene Richtung sah, erkannte er einen großen, gedrungenen Schatten, der lautlos dastand und fast mit dem Schweigen des Waldes verschmolz. Knopfgroße schwarze Augen blitzten wie polierte Kugeln aus Eisen.
»Ihr hattet Recht, Cavin«, sagte er leise. »Es sind Raetts.« Seine Stimme klang plötzlich belegt. »Bleibt hier. Ich … werde ihn fragen, was er will.«
Diesmal widersprach Cavin nicht. Aber er reagierte.
Mit einem wütenden Schrei riss er sein Schwert wieder aus dem Gürtel, versetzte Gwenderon einen Stoß, der ihn beiseite taumeln ließ, und sprang mit hoch erhobener Waffe auf den Raett los.
Das Rattenwesen blickte ihm entgegen. In seinen Knopfaugen blitzte so etwas wie Verwirrung auf, Schrecken – kein Zorn, wie Gwenderon sehr deutlich registrierte –, dann fuhr es herum und verschwand so lautlos im Unterholz, wie es gekommen war. Cavin schlug wütend mit seinem Schwert in die Büsche.
»Verdammtes Vieh!«, brüllte er. »Komm her, wenn du etwas von uns willst! Ich will sehen, wie dir meine Klinge schmeckt!«
Gwenderon schwieg, auch als Cavin sich nach einer Weile herumdrehte und schwer atmend und mit hektisch gerötetem Gesicht zu ihm und den beiden Kriegern zurückkam. Er wusste nicht einmal mehr, was er in diesem Moment dachte. Nicht dass er Cavins Reaktion nicht verstanden hätte – auch ihn erfüllte das abermalige Auftauchen der Raett-Kreatur mit mehr Furcht, als er zuzugeben bereit war. Trotzdem rief Cavins Becknehmen ein Gefühl tiefen, heißen Zornes in ihm wach – nicht zuletzt, weil er damit hätte rechnen müssen, dass dieser junge Hitzkopf etwas Derartiges tun würde.
»Nun?«, fragte Cavin, nachdem er zurückgekommen war und sich trotzig vor ihm aufgebaut hatte. »Sagt es schon, Gwenderon, was ich getan habe, war wieder einmal dumm und unüberlegt, wie?« Seine Augen flammten vor Zorn.
»Nein, mein Prinz«, antwortete Gwenderon, mit einer Ruhe, die ihn fast selbst erstaunte. »Nur kindisch.«
»Kindisch?« Cavin erbleichte vor Wut. »So, es war also kindisch, dieses Ungeheuer davonzujagen?« Er bedachte Gwenderon mit einem Blick, der vor Verachtung nur so blitzte. »Mögcklicherweise hast du sogar Recht, Gwenderon«, sagte er, während er sein Schwert mit einer übertrieben heftigen Bewegung in den Gürtel stieß. »Aber was du getan hast, war leichtsinnig. Möglicherweise habe ich das Recht, kindisch zu sein, wenn uns dieses kindische Benehmen endlich von der Gesellschaft dieser Kreaturen befreit. Aber ich frage mich«, fügte er nach einer genau bemessenen Pause hinzu, »was mein Vater sagen wird, wenn er hört, dass du leichtsinnig warst, Waffenmeister.«
Und damit wandte er sich um und ließ Gwenderon und die anderen einfach stehen, um zum Weg zurückzugehen.
Nach einer Weile folgten ihm die drei Männer. Sie ritten weickter.
Die Nacht war gewichen, aber es wurde nicht richtig hell. Ein fast unwirklicher, grauer Schleier hatte sich wie eine flockige Decke über das Fort und die Zinnen von Hochwalden gebreitet. Es war nicht der Regen, das spürte Faroan. Und es war mehr als nur Dunkelheit, mehr als die normale Abwesenheit von Licht, was die Burg umgab. Es war ein finsterer Vorhang, hinter dem sich Schatten und huschende gestaltlose Dinge zu beckwegen schienen.
Es hatte wieder angefangen zu regnen und der Himmel blieb bewölkt. Nur hier und da lugte ein Stück matter Bläue durch eine Lücke des tief hängenden Himmels. Selbst hier, in der kleinen, achteckigen Kammer unter der obersten Plattform des Bergfrieds, hatten sich Kälte und Feuchtigkeit eingenistet, dem lodernden Kaminfeuer und den dicken Vorhängen, mit denen sieben der acht Fenster verhängt waren, zum Trotz.
Faroan zog fröstelnd den Umhang enger um die Schultern, trat vom Fenster zurück und ging zum Kamin hinüber. Er fror und die Kälte wich auch dann nicht vollends aus seinen Glieckdern, als er vor dem Feuer in die Hocke ging und die Hände über den prasselnden Flammen aneinander rieb. Es war mehr als die äußere Kälte, die er fühlte, und mehr als die eisige Luft, die ihn zittern ließ. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte Faroan das Gewicht der ungezählten Jahre, die auf seinen Schultern lasteten.
Das Quietschen rostiger Angeln ließ ihn aufsehen. Die Tür wurde geöffnet und die grauhaarige, gebeugte Gestalt König Oros betrat die Kammer. Faroan erhob sich rasch, ging dem König ein paar Schritte entgegen und neigte leicht das Haupt. »Mein König.«
Oro drückte die Tür hinter sich ins Schloss und gab ein verckärgertes Geräusch von sich. »Lass den Unsinn, Faroan«, sagte er. »Wir sind allein. Deine Zauberbücher werden die Etikette kaum zu schätzen wissen. Ich muss mit dir reden.«
Faroan schwieg. Es war ihm vom ersten Augenblick an klar gewesen, dass Oro nicht hierher gekommen war, um mit ihm zu plaudern. Das tat niemand. Es gab keinen in Hochwalden, der nicht ein gewisses Unbehagen verspürte, wenn er seine Kammer betrat, und Oro machte da keine Ausnahme. Selbst Faroan glaubte manchmal, vor allem dann, wenn er längere Zeit fort gewesen war und zum ersten Mal wieder den Raum betrat, noch einen schwachen Hauch des Fremden, Geheimnisckvollen zu spüren. Diese Wände hatten zu viele Beschwörungen erlebt, zu viel Magie gesehen, um sie vollends vergessen zu können.
Oro ging an ihm vorbei, setzte sich auf einen Schemel neben den Tisch und wartete, bis Faroan es ihm gleichgetan hatte. Sein Blick huschte nervös über das aufgeschlagene Zauberckbuch, das vor ihm auf dem Tisch lag. Die Buchstaben auf den Seiten schienen sich zu bewegen, als versuchten sie sich den Blicken derer, für die sie nicht bestimmt waren, eifersüchtig zu entziehen.
Faroan lächelte, schlug das Buch zu und sah Oro fragend an. »Resnec?«
Oro nickte kaum merklich. »Resnec«, bestätigte er. »Ich traue ihm nicht, Faroan. Und ich glaube, du hast Recht – er wird mein Nein nicht akzeptieren.« Seine Stimme klang ein ganz kleines bisschen nervös. »Ich habe die Wachen verdopckpelt«, sagte er plötzlich.
Faroan erschrak, aber nur kurz. Was hatte er erwartet? »Er wird nicht angreifen«, sagte er, aber es war eher Wunsch als wirkliche Überzeugung. »Lassar würde es nicht wagen, Hochwalden mit Gewalt zu nehmen oder auch nur einen seiner Krieger mit Waffen hierher zu schicken. Alle würden sich gegen ihn wenden, vom Zwergenvolk bis zu den hohen Eiben in den Bergen.«
Zu seiner Überraschung lächelte Oro plötzlich. Er schüttelte den Kopf, beugte sich vor und begann mit dem Ringfinger der Rechten die kabbalistischen Zeichen nachzuziehen, die in den schweinsledernen Einband des Buches eingraviert waren.
»Faroan, mein Freund«, seufzte er. »Ich wusste, dass ich diese Antwort von dir bekommen würde. Du denkst an Zwerge und Eiben, an Magier und uralte Flüche …«
»Die noch immer existieren und wirksam sind.«
»Aber woran du nicht denkst, das sind Schwerter und Bögen, Lassars Reiterei und seine schwarzen Henker. Ist die Welt, in der du lebst, wirklich so anders als die, in der ich lebe?«
Faroan antwortete nicht gleich. Oros Worte verwirrten ihn, umso mehr, da er spürte, dass der König das eigentliche Anliegen, dessentwegen er hergekommen war, noch nicht vorgetragen hatte.
»Was willst du?«, fragte er. »Dass ich einen Zauber spinne, der Lassar und sein Reich vernichtet? Eine Wand aus Magie, die Hochwalden schützt? Das kann ich nicht.«
»Ich weiß«, antwortete Oro.
»Was willst du dann?«, fragte Faroan. Eine noch vage, unbeckstimmte Ahnung stieg in ihm auf.
Oro wich seinem Blick aus. Seine Finger fuhren fort, die Licknien auf dem Buch nachzuzeichnen.
»Webe einen Zauber«, sagte er schließlich und noch immer ohne ihn anzublicken. »Ich möchte, dass du Cavin hierher holst. Ich fürchte um seine Sicherheit, solange er sich noch außerhalb der Mauern aufhält. Resnec ist ein verschlagener Mann. Wüsste er, dass mein eigener Sohn dort draußen ist, von nicht mehr als einem Dutzend Reitern beschützt …«
»Einem Dutzend deiner besten Reiter, Oro«, erinnerte Faroan sanft. »Gwenderon selbst ist bei ihm, und du weißt, dass er stark und tapfer wie zehn Männer ist.«
Oro machte eine abwertende Geste. »Was hilft Tapferkeit und Mut gegen Verschlagenheit und Heimtücke?«, fragte er. »Was sind Schwerter und Schilde gegen Magie und finsteren Zauber? Es war ein Fehler, ihn ausgerechnet jetzt kommen zu lassen.«
»Es war ein Fehler, ihn überhaupt fortzuschicken, Oro«, sagckte Faroan leise.
Oro blickte ihn an, schwieg aber. Sie hatten mehr als einmal darüber geredet und sich mehr als einmal deswegen gestritten, schon bevor Prinz Cavin damals, noch nicht acht Jahre alt, Hochwalden verlassen hatte, um seine Ausbildung an den becksten Schulen entlang der Küste zu beginnen. Er war Oros einziger Sohn, und der König, der die Jahre an sich vorüberziehen sah und spürte, dass er älter wurde, war der Meinung, dass das Beste für seinen Nachfolger gerade gut genug war. Hochwalden verdiente einen Herrscher, der sich auf dem schlüpfrigen Eis der Etikette so sicher bewegen konnte wie im Sattel seines Pferdes.
Natürlich hatte Oro Recht; die Zeiten, in denen ein König nur König sein konnte, weil er stark war, waren lange vorbei und würden vielleicht niemals wiederkommen. Aber Faroan wusste auch, dass es in den von den Jahrhunderten geschwärzten Wänden Hochwaldens noch andere Dinge gab, Dinge, von deren Existenz Oro nichts wusste oder vor denen er zumindest die Augen schloss. Vielleicht war der Schwarzeichenwald der letzckte Ort echter Magie und echten Zaubers, den es in der Welt noch gab. Und Faroan war der Meinung gewesen – und er war es noch –, dass es wichtigere Dinge gab, als fünf Fremdsprachen zu sprechen und zu wissen, ob man den kleinen Finger abspreizen durfte, wenn man ein Weinglas hielt. Aber er hatte sich Oros Ratschluss nicht widersetzt. Oro war der König, nicht er.
»Vielleicht war es das wirklich«, sagte Oro nach einer Weile. Plötzlich änderte sich sein Tonfall. »Doch wenn, dann ist es jetzt zu spät, darüber zu jammern. Ich möchte, dass Cavin so schnell wie möglich hierher gebracht wird, Faroan. Ob auf magischem oder irgendeinem anderen Wege ist gleich. Nur in Hochwalden ist er sicher.«
Faroan wollte widersprechen, aber er tat es nicht. Oros Worte enthielten mehr Wahrheit, als er selbst ahnen mochte. Lassar war nicht nur König und Eroberer, er war auch ein Zauberer, wenn auch einer, der sich der dunklen Seite der Magie verckschrieben hatte. Wenn er erfuhr, dass der einzige Sohn Oros praktisch schutzlos im Wald unterwegs war …
Er verscheuchte den Gedanken, zwang sich zu einem Lächeln und fuhr fort: »Cavin ist in Sicherheit, Oro. Selbst wenn Lassar auf irgendeinem Wege in Erfahrung gebracht haben sollte, dass er sich auf dem Rückweg befindet, wird er auf den Straßen nach ihm Ausschau halten oder allenfalls noch den Fluss beobachten. Es war ein kluger Entschluss, ihn den Weg durch das Herz des Waldes wählen zu lassen.«
Oros Blick spiegelte Sorge. »Ich hoffe es, mein Freund«, murmelte er. »Schon mancher ist nicht zurückgekehrt, der sich dorthin wagte.«
»Cavin ist in Sicherheit«, behauptete Faroan gegen seine Überzeugung. »Gwenderon ist der beste Mann, den es für diese Aufgabe gibt.« Er stand auf. »Trotzdem werde ich sehen, was ich tun kann.«
»Nur sehen?«, fragte Oro leise.
Faroan atmete scharf ein. »Das Herz des Schwarzeichenwaldes ist ein Ort großer Magie, mein König«, sagte er steif. »Mein Zauber wirkt dort nicht; so wenig wie der Lassars oder irgendeines anderen Magiers.«
Er deutete auf die geschliffene Kristallkugel, die auf einem kleinen Podest neben der Tür stand. »Vielleicht gelingt es mir, einen Blick auf ihn und seine Begleiter zu erhaschen. Doch ich brauche Ruhe, um den Zauber vorzubereiten.«
Oro verstand den Wink und erhob sich. »Tu das, mein Freund«, sagte er. »Ich … werde später noch einmal kommen.«
»Du solltest ein wenig schlafen«, sagte Faroan. In seiner Stimme schwang Sorge. »Die letzten Tage waren anstrengend und du …«
»Bist ein alter Mann, der Ruhe braucht?«, unterbrach ihn Oro mit einem sonderbaren, fast wehmütigen Lächeln. »War es das, was du sagen wolltest, mein Freund?« Er ging zur Tür und schob den Riegel zur Seite, blieb aber noch einmal stehen und sah zu Faroan zurück.
»Ich habe das Gefühl, bald sehr lange schlafen zu können, Freund«, sagte er mit großem Ernst. »Sieh nach meinem Sohn, Faroan, das ist alles, worum ich dich bitte.«
Faroan antwortete nicht darauf, sondern blieb reglos stehen, bis der König seine Kammer verlassen und die Tür hinter sich zugezogen hatte.
Der Angriff erfolgte so warnungslos, dass selbst Gwenderons schon beinahe übermenschlich schnelle Reaktion um ein Haar zu spät gekommen wäre. Sie waren zehn Minuten geritten, als der Mann an der Spitze der kleinen Kolonne aufschrie und wie vom Blitz getroffen von seinem Pferd stürzte. Gwenderon beckmerkte eine Bewegung schräg über sich, schrie dem Prinzen eine Warnung zu und riss instinktiv seinen Schild in die Höhe.
Ein harter Schlag traf seinen Arm; ein faustgroßer, pelziger Ball prallte gegen den Schild, versuchte sich mit unzähligen dürren Beinen festzuklammern und glitt haltlos ab. Cavins Pferd kreischte, zuerst vor Schrecken, dann vor Schmerz, als sich eine zweite Spinne an seinem Hals festklammerte und rasend vor Wut zubiss. Das Tier bäumte sich auf, warf seinen Reiter ab und trat in blinder Panik um sich.
Die geordnete Formation, in der sie bisher geritten waren, löckste sich von einer Sekunde auf die andere in ein heilloses Durcheinander auf. Männer und Tiere schrien vor Schmerz und Furcht, als die Tauspinnen wie schwarzer, klumpiger Hagel auf sie herabregneten.
Es waren hunderte, wenn nicht gar tausende der faustgroßen Tiere, die blindwütig alles angriffen, was sich bewegte. Gwenderon sah, wie einer der Edelmänner aus Cavins Begleitung gleich von fünf oder sechs der ekelhaften Tiere angegriffen und gebissen wurde. Der Mann schrie, fiel vom Pferd und schlug wie rasend um sich; seine Fäuste zermalmten zwei, drei Spinnen, aber die anderen griffen nur umso verbissener an.
Gwenderon bäumte sich auf, als er den schmerzhaften Biss nadelspitzer Fänge spürte, die sich tief in seine Haut bohrten. Er schleuderte die Spinne davon, versuchte einen Moment lang sein tobendes Pferd zu beruhigen, dann gab er den Kampf auf, sprang aus dem Sattel und eilte mit zwei, drei hastigen Schritten dorthin zurück, wo der Prinz gestürzt war. Cavin bewegte sich nicht.
Rings um sie herum tobte das Chaos. Der schmale Waldweg war eine Hölle aus Schreien, durchgehenden Pferden, Männern, die halb wahnsinnig vor Schmerz um sich schlugen, kleicknen, huschenden Schatten. Einer der Krieger zog sein Schwert und schlug wie wild auf die kribbelnde schwarze Masse ein, die seinen Brustpanzer bedeckte und in sein Helmvisier zu kriechen versuchte. Es kam Gwenderon fast wie ein Wunder vor, dass Cavin bisher noch nicht von einem durchgehenden Pferd zu Tode getrampelt worden war.
Hastig kniete er neben dem Prinzen nieder, wischte angeekelt eines der schwarzen Spinnentiere fort, das seine Schulter hinckaufkriechen wollte, und erschlug gleich darauf drei andere mit seinem Schild. Cavin stöhnte. Der Sturz hatte ihm das Beckwusstsein geraubt, aber er kam bereits wieder zu sich. Seine Augenlider flatterten und seine Hände fuhren mit kleinen, unsicheren Bewegungen über den Boden, als er sich hochzuckstemmen versuchte.
»Bleibt liegen, Herr«, sagte Gwenderon. »Keine Bewegung mehr!«
Cavin war benommen, aber er gehorchte instinktiv, und auch Gwenderon zwang sich, reglos sitzen zu bleiben, obgleich das Gefühl des Ekels in ihm immer unerträglicher wurde; sogar stärker als seine Angst. Aber er wusste, dass dies ihre einzige Chance war. Tauspinnen orientierten sich fast ausschließlich an Geräuschen und Gerüchen – und Bewegung. Für ihr primitives Begriffsvermögen war alles, was sich nicht bewegte, tot und uninteressant. Dabei waren sie normalerweise harmlos und gingen allen Lebewesen aus dem Weg, die größer als sie selbst waren. Aber sie konnten, allein durch die große Zahl, in der sie vorzukommen pflegten, zu mörderischen Gegnern werden. Gwenderon verstand nicht, warum die Tiere sie angriffen. Er hatte nie gehört, dass sie einen Gegner grundlos überfallen hätten – geschweige denn eine ganze Gruppe von Reitern …
Ein leises Stöhnen riss ihn aus seinen Überlegungen. Eine Spinne war auf Cavins Brust gekrochen und tastete mit ihren dünnen, zitternden Vorderbeinen nach seinem Kinn. Auf ihren nadelspitzen Fängen glitzerten wenige Tröpfchen einer farblocksen Flüssigkeit, und ihre vielfach gebrochenen Facettenaugen schienen im Halbdunkel des Waldes wie winzige glühende Kohlen zu leuchten. Die feinen Härchen auf ihrem kugelförmigen Leib zitterten.
»Bewegt Euch nicht, Herr!«, flüsterte Gwenderon. Langsam, unendlich langsam, streckte er die Hand aus, verharrte, als sich die Spinne ein winziges Stüchen drehte und nun ihn ansah, und schlug zu.
Die Spinne flog meterweit davon und verschwand im Unterckholz. Cavin atmete hörbar auf und Gwenderon bedeutete ihm mit einem beschwörenden Blick, still liegen zu bleiben.
Der ungleiche Kampf war vorüber, ehe er richtig begonnen hatte. Drei, vier Männer waren gleich Gwenderon und dem Prinzen aus ihren Sätteln gestürzt und lagen reglos auf dem Weg. Ein Stück hinter ihnen lag ein Pferd mit zuckenden Flanken und schaumigem Maul da und starb. Aber der größte Teil der Gruppe war in Sicherheit und sammelte sich fünfzig Schritt abwärts des Weges; hinter der unsichtbaren Grenze, an der die Tiere angriffen.
Sie hatten in doppelter Beziehung Pech gehabt, dachte Gwenderon düster. Die Reviere, die die Tauspinnen beanspruchten, waren niemals sehr groß. Ein Kreis von hundert, hundertfünfzig Schritten Durchmesser zumeist. Cavin und er mussten sich ziemlich genau im Herzen dieses Gebietes befunden haben, als die Spinnen angriffen. Wenn sie aufstanden und versuchten zu den anderen zu gelangen, würden die Spinnen abermals über sie herfallen. Ihr Gift war normalerweise nicht sehr gefährlich. Aber hundert Nadelstiche töteten ebenso sicher wie ein Schwerthieb.
»Was … tun wir jetzt, Gwenderon?«, fragte Cavin. Er sprach leise und gab sich Mühe, die Lippen so wenig wie möglich zu bewegen. Auf seiner Stirn glitzerte Schweiß. Aber er hielt sich erstaunlich gut; besser, als Gwenderon zu hoffen gewagt hatte.
Der grauhaarige Waffenmeister antwortete nicht gleich. Sein Blick glitt über die reglos daliegenden Gestalten auf dem Weg. Einer von ihnen trug das matte Silber seiner Garde; es war der Mann, der an der Spitze geritten und zuerst angegriffen worden war. Gwenderon würde keine Gelegenheit mehr haben, ihn für seinen Fehler zur Verantwortung zu ziehen. So, wie sein Kopf lag, musste er sich das Genick gebrochen haben, als er vom Pferd stürzte.
Bei den drei anderen handelte es sich um Edelleute aus Cavins Geleit. Zwei von ihnen waren tot, während der Dritte mit weit aufgerissenen Augen dahockte, vornübergebeugt und erstarrt, entweder vor Schreck oder weil er um die Eigenart der Spinnen wusste, nur Feinde anzugreifen, die sich bewegten.
»Verdammt, Gwenderon, was tun wir?«, keuchte Cavin. In seiner Stimme schwang jetzt deutlich Panik mit.
»Ich weiß es nicht, mein Prinz«, murmelte Gwenderon. Allmählich begann sich auch in ihm so etwas wie Verzweiflung breit zu machen. Sie konnten nicht ewig hier liegen bleiben – aber wenn sie sich bewegten oder auch nur ein zu lautes Wort sprachen, würden die gereizten Tiere erneut über sie herfallen. Schon jetzt spürte er, dass er die unnatürlich verkrampfte Haltung, in der er neben dem Prinzen hockte, nicht mehr sehr lange aushalten würde. Sein Rücken und seine Waden waren verckspannt und schmerzten. Behutsam verlagerte er sein Gewicht nach vorne, streckte vorsichtig die Hände aus und stützte sich auf dem Boden ab. Er brauchte fast fünf Minuten für diese Beckwegung.
»Vielleicht … können wir kriechen«, flüsterte er. »Wenn wir uns ganz langsam bewegen.«
Ein schwarzer Ball huschte auf wirbelnden Beinen heran und grub seine Fänge in Gwenderons Hand. Der Waffenmeister schrie auf und unterdrückte den Impuls, nach dem Tier zu schlagen.
Cavin seufzte. »So viel zu deinem Vorschlag, Gwenderon. Hast du noch mehr Ideen?«
»Ja«, schnappte Gwenderon. »Betet noch einmal, mein Prinz. Solange Ihr es noch könnt.«
Er schloss die Augen, versuchte den brennenden Schmerz in seiner Hand zu ignorieren und verlagerte noch einmal sein Körpergewicht, unendlich viel langsamer als zuvor und jederckzeit bereit, erneut zur Reglosigkeit zu erstarren.
Vor ihm waren gleich drei der pelzigen Tiere. Ihre Augen funkelten ihn boshaft an, und die Art, in der sich die haardünnen Fühler an ihren Köpfen bewegten, ließ ihn für einen Mockment fast glauben, dass sie miteinander sprachen. Langsam, ganz langsam hob er die Hand, bewegte sie einen Zoll nach vorne und senkte sie wieder.
Die Spinnen griffen nicht an.
Gwenderon atmete innerlich auf, hob die andere Hand und schob auch sie nach vorne, ein Stück weiter diesmal und eine Winzigkeit schneller.
Einer der schwarzen Bälle schoss auf ihn zu. Gwenderon erstarrte und die Spinne hielt wenige Fingerbreit vor seinen Händen an, blieb einen Moment zitternd stehen und trollte sich dann wieder.
»Das hat keinen Zweck«, stöhnte Cavin. »Auf diese Weise brauchen wir Stunden, um zu den anderen zu kommen. Das schaffen wir nicht.«
Gwenderon antwortete diesmal nicht. Es gab auch nichts, was er hätte sagen können. Ihre Lage war mehr als aussichtscklos.
»Prinz Cavin! Gwenderon!«, ertönte eine Stimme vom unteren Ende des Weges. »Haltet aus! Bewegt euch nicht! Wir hocklen euch!«
Gwenderon hob, unendlich langsam und vorsichtig, den Kopf und blickte zu den Reitern hinab. Der Tross hatte sich ein weickteres Stück zurückgezogen. Die Männer waren aus den Sätteln gestiegen, einige hockten am Boden und waren offensichtlich verletzt. Ein halbes Dutzend Krieger war damit beschäftigt, irgendetwas zu tun, was Gwenderon nicht erkennen konnte, aber sie taten es in großer Eile. Aufgeregte Rufe, das Klirren von Metall und das Knarren von Leder drangen an Gwenderons Ohr.
»Was haben sie vor?«, flüsterte Cavin.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Gwenderon düster. »Aber was immer es ist – es wird nicht klappen.«
Cavin gab einen undefinierbaren Laut von sich. »Du hast eine reizende Art, mir Mut zu machen, Gwenderon.«
Die Reihe der Krieger teilte sich, und jetzt erkannte Gwenderon auch, womit sie bisher beschäftigt gewesen waren. Zwei Angehörige der Garde näherten sich der unsichtbaren Grenze, hinter der die Tiere angriffen, aber sie waren kaum noch als Menschen zu erkennen. Jeder Quadratzoll ihres Körpers, der nicht vom Metall der Rüstungen bedeckt war, war sorgsam mit Leder oder dicken, mehrfach übereinander gelegten Stoffstreifen umwickelt. Die Lücken zwischen Brust-, Arm- und Beinckpanzer hatte man verstopft und abgedichtet, und selbst die Sehschlitze waren zugestopft worden, sodass sich Gwenderon fragckte, wie sie überhaupt sehen konnten. In den Händen hielten sie brennende Fackeln.
»Diese Narren!«, murmelte er. »Sie werden uns umbringen. Die Spinnen werden vollends verrückt, wenn sie das Feuer spüren. Wir werden tot sein, ehe sie halb bei uns sind!«
Langsam, unförmig wie zwei Gestalten aus einem Alptraum und mit plumpen, stampfenden Schritten kamen die beiden Soldaten näher. Die Spinnen begannen aus ihrer unmittelbaren Nähe zurückzuweichen, als sie das Feuer spürten, aber Gwenderon sah auch die rasche, kaum merkliche Bewegung, die wie eine Woge durch die Masse der Tiere lief. Die drei Spinnen, die noch immer vor ihm hockten und ihn misstrauisch beäugckten, wurden zusehends nervöser.
Plötzlich blieb einer der beiden Krieger stehen und Sekunden später verharrte auch sein Begleiter. Erschrockene, aufgeregte Rufe wurden in den Reihen der Männer laut, Arme deuteten auf etwas hinter Gwenderons Rücken.
Hinter ihm stieß Cavin ein ungläubiges Keuchen aus, aber Gwenderon kam nicht mehr dazu, sich umzublicken. Er hörte Schritte, dann fühlte er sich gepackt und mit unmenschlicher Kraft vom Boden hochgerissen. Im nächsten Augenblick wurde er über eine gewaltige, mit braunem Pelz bedeckte Schulter geworfen und davongetragen, schneller, als ein Pferd laufen konnte.
Erst als sie die Pferde erreicht hatten, blieb sein geheimnisckvoller Retter stehen, lud ihn von der Schulter und stellte ihn unsanft auf die Füße.
Gwenderon machte sich instinktiv los, taumelte einen Schritt zurück und blickte verwirrt in das spitze, pelzige Gesicht mit den schwarzen Knopfaugen, das ihn ausdruckslos anstarrte. Hinter seinem Retter erschien ein zweiter Raett, der Prinz Cavin wie einen Sack über der Schulter trug.
Der Schatten stand lautlos da, nicht sehr weit von den Reitern entfernt, halb verborgen zwischen den dornigen Büschen, die den Weg säumten, verschmolzen mit den anderen, natürlichen Schatten des Waldes. Niemand hätte ihn bemerkt, selbst wenn er direkt in seine Richtung geblickt hätte, weil niemand etwas bemerken kann, was gar nicht als es selbst existiert. Aber er sah. Und er hörte. Und nach einer Weile wandte er sich wieder um und verschwand so lautlos, wie er gekommen war.
»Ihr?«, murmelte Gwenderon.
Er verstand nichts mehr. Er fühlte nicht einmal mehr Erleichterung in diesem Augenblick. Alles, was er empfand, war eine grenzenlose Verwirrung – und Angst, eine immer stärker werdende, scheinbar grundlose Angst. »Aber wieso …?«
»Weil sie immun gegen das Gift der Tauspinnen sind«, sagte Norrot, der zu ihm geeilt war, um ihn zu stützen, jetzt aber unschlüssig schien, um wen er sich zuerst kümmern sollte – um Gwenderon oder Cavin, der von dem zweiten Raett reichlich unsanft von der Schulter geladen und ins Unterholz geworfen wurde.
Der junge Prinz sprang fluchend hoch, fuhr herum und starrte die riesengroße Ratte mit einer Mischung aus Zorn und Furcht an.
»Außerdem schützt sie ihr dickes Fell gegen die Bisse«, fuhr Norrot fort.
Cavin schenkte ihm einen bösen Blick, taumelte und riss sich mit einer wütenden Bewegung los, als der Raett sofort wieder seine Arme umklammerte, um ihn zu stützen.
»Lass mich los, du Ratte!«, schrie er. Der Raett gehorchte – und Cavin fiel prompt zum zweiten Mal in die Dornen.
In den Augen des Raett blitzte es auf. Gwenderon war nicht sicher – aber er glaubte fast, so etwas wie Spott in dem normacklerweise ausdruckslosen Nagergesicht der Riesenratte zu erkennen.
Er atmete tief ein, blickte an seinem Retter vorbei zu dem tockten Pferd und den vier reglos daliegenden Gestalten hin und wandte sich dann an den Raett. Er war nicht sicher, ob es der gleiche Raett war, dem sie zu essen gegeben hatten.
»Ich danke euch«, sagte er, langsam und noch immer außer Atem. Sein Herz jagte. Plötzlich war die Angst schlimmer als vorhin, als sie hilflos inmitten der Spinnen gesessen hatten. Gwenderon musste all seine Kraft aufbieten, das Zittern seiner Hände nicht zu stark sichtbar werden zu lassen. »Ohne eure Hilfe wären der Prinz und ich jetzt tot.«
»Hilfe gut«, radebrechte der Raett. »Du geben Essen. Wir sagen, danken. Wir helfen.« Er drehte sich halb herum, um auf Cavin hinabzublicken, und fügte etwas leiser hinzu: »Wir warnen. Aber Menschenjunges Angst.«
Gwenderon fuhr überrascht zusammen und besah sich seinen Retter genauer. Natürlich war es unmöglich, ihn als den Schatten zu identifizieren, den Cavin angegriffen hatte – aber plötzcklich ergab alles einen Sinn. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Cavin noch ein wenig mehr erbleichte.
»Ihr seid uns gefolgt? Das … das warst du, vorhin im Wald?«
Der Raett ahmte ein menschliches Nicken nach und deutete mit einer unbestimmten Geste auf den Wald. »Gefahr«, sagte er. »Kommen.« Er wandte sich um, machte einen Schritt und blieb wieder stehen, um auffordernd zu Gwenderon zurückzuckblicken. Dann deutete er auf Cavin. »Menschenjunges mitkommen.«
»Wen meint er mit Menschenjunges?«, fragte Cavin gepresst. »Ich verspreche Euch, dass ich dieser Kreatur –«
»Und ich verspreche Euch«, unterbrach ihn Gwenderon, sehr leise, aber in einem Ton, der Cavin abrupt verstummen und ihn aus großen Augen anstarren ließ, »dass ich Euch hier und auf der Stelle die Tracht Prügel verabreiche, die Ihr schon lange braucht, mein Prinz, wenn Ihr nicht auf der Stelle ruhig seid.« Er lächelte beinahe freundlich, tauschte noch einen raschen Blick mit Norrot, den dieser wie immer verstand, wartete, bis der breitschultrige Unterhauptmann ein Stück schräg hinter den Prinzen getreten war und seine Waffe gezogen hatte, und ging auf den Raett zu.
»Ihr helfen, wir helfen.« Der Raett ahmte ein menschliches Nicken nach und deutete mit einer unbestimmten Geste auf den Wald hinter sich. »Weg schlecht«, sagte er. »Nicht gehen allein. Zwei allein, Gefahr. Zwei zusammen besser.« Es bereitete ihm offensichtlich große Mühe, seine Stimmbänder dazu zu zwingen, in der Sprache eines fremden Volkes zu sprechen und die richtigen Worte zu finden. Aber Gwenderon verstand trotzckdem, was er meinte.
»Du meinst, wir sind in Gefahr?«
»Ja«, fauchte Cavin. »In der, aufgefressen zu werden.«
Gwenderon ignorierte ihn schlichtweg. »Und du meinst, wir sollten besser zusammen reisen statt getrennt?«, fügte er hinzu.
Wieder ahmte der Raett ein menschliches Nicken nach. Plötzlich grinste er, wobei Gwenderon einen Blick auf zwei Reihen fast fingerlanger, einwärts gebogener Reißzähne erckhaschte, die die Grimasse eher drohend erscheinen ließen. »Wir stark«, sagte er. »Ihr Essen.«
Gegen seinen Willen musste Gwenderon lächeln. Er wusste wenig mehr über die Raett als die bloße Tatsache, dass es sie gab; ein böser Scherz der Natur, die versucht hatte den Menschen nachzuahmen, dabei aber in der Wahl ihrer Mittel gewaltig danebengegriffen hatte.
Jedenfalls war es das, was er bis jetzt geglaubt hatte. Aber vielleicht stimmte das nicht. Das wilde Äußere der Raetts verckleitete die meisten dazu, diese Wesen als bloße Ungeheuer oder bestenfalls als geistlose Tiere zu sehen. Aber der Raett, der jetzt vor ihm stand und sich abmühte menschliche Worte und Gesten nachzuahmen, war weder das eine noch das andere. Ganz und gar nicht.
»Wie ist dein Name, Raett?«, fragte er.
»Guarr«, antwortete das Wesen und grinste wieder sein breicktes Rattengrinsen, als hätte Gwenderon einen besonders guten Scherz gemacht. »Weg schlecht«, sagte er. »Du helfen, wir helfen. Komm.« Er trat ein Stück zurück, machte eine halbe Wendung und deutete mit einer seiner Krallenhände zum Weg zurück, aber ein gutes Stück weiter westlich als dort, wo der Tross wartete.
»Du willst doch nicht im Ernst mit diesem Monstrum gehen?«, fragte Prinz Cavin scharf. Er hatte – wieder einmal – Gwenderons Befehl missachtet und war hinter ihn getreten. Betont langsam wandte Gwenderon sich um und sah den Prinzen an.
»Und warum nicht?«, fragte er. »Dieser Wald ist gefährlicher, als es den Anschein hat, mein Prinz – das haben wir gerackde erlebt, nicht wahr?« Er deutete auf Guarr und den zweiten Raett. »Wenn sie uns töten wollten, hätten sie es geschickter anfangen können. Lasst uns wenigstens sehen, was er will.«
»Kommen«, sagte Guarr ungeduldig. »Alle sehen. Weg schlecht. Guarr helfen.«
Cavin setzte zu einer wütenden Entgegnung an, aber Gwenderon drehte sich herum und ging hinter dem Raett her, sodass Cavin ihm folgen musste, ob er wollte oder nicht.
Sie drangen etwa hundert Schritte weit zwischen den dicht stehenden Bäumen in den Wald ein, dann hob Guarr plötzlich die Hand, bedeutete ihnen mit Gesten, zurückzubleiben, und huschte allein weiter. Gwenderon kam nicht umhin, die Eleganz und Lautlosigkeit zu bewundern, mit der sich dieses grockße, scheinbar so plumpe Wesen zu bewegen vermochte.
Dann sah er etwas, was ihn den Raett schlagartig vergessen ließ.
Dicht vor ihnen, nur wenige Schritte jenseits der unsichtbaren Grenze, vor der Guarr ihnen anzuhalten geboten hatte, verckänderte sich der Wald. Etwas Dunkles, Kriechendes bedeckte den Boden, formlose Klumpen haariger Schwärze, hier und da eingewoben in ein graues, zartes Gespinst.
»Was ist das?«, flüsterte Cavin. Seine Stimme zitterte leicht.
Statt einer direkten Antwort hob Gwenderon die Hand und deutete nach oben, zu den Baumwipfeln hin. Auch dort war das graue Gespinst sichtbar, große, zerfetzte Schleier, die wie erstarrter Nebel zwischen die Bäume gespannt und von dunklen, manchmal hektisch hin und her flitzenden Punkten durchsetzt waren.
»Ihr Nest«, sagte Gwenderon leise. Aber das war unmöglich! Sie waren hundert Schritt vom Weg entfernt!
Guarr kam zurück. In seiner Hand zappelte ein fast faustgrockßes, dunkles Ding, das er erst Gwenderon, dann Cavin mit einem breiten Grinsen entgegenstreckte. Cavin gab einen keuchenden Laut von sich und sprang zurück. Sein Gesicht verckzerrte sich vor Ekel.
»Was soll das?«, schrie er.
»Nichts, mein Prinz«, sagte Gwenderon, trat rasch vor und drückte Guarrs Arm herunter, wobei auch er ein starkes Gefühl des Ekels unterdrücken musste, als er dabei beinahe das zapckpelnde Etwas in seiner Hand berührte. »Er wollte uns nur warnen.« Das Ekelgefühl verstärkte sich und kroch in seiner Kehle empor, als er sah, wie Guarr die Spinne fallen ließ und beinahe behutsam mit den Zehen zurück in die Richtung dirigierte, aus der er sie gebracht hatte. Das Tier blieb einen Moment benommen sitzen, schien den Raett aus seinen winzigen Facettenaugen vorwurfsvoll zu mustern und verwandelte sich plötzcklich in einen Ball aus wirbelnden Beinen, der so schnell davonhuschte, dass der Blick ihm kaum zu folgen vermochte.
Gwenderon atmete tief ein, um den sauren Geschmack von der Zunge zu bekommen, und wandte sich wieder an den Raett. »Wie ist das möglich?«, fragte er. »Sie … sie greifen niemals an, außer jemand nähert sich ihrem Nest.«
»Wald Angst«, sagte Guarr ernst. »Tiere Angst. Böse Zeit.«
»Zum Teufel, Gwenderon, was bedeutet das alles?«, fragte Cavin wütend. »Was … was redet dieses Tier? Um ein Haar hätte es mir eine Spinne ins Gesicht gehalten!«
Gwenderon drehte sich betont langsam herum, bedachte Cavin mit einem eisigen Blick und deutete mit einer Kopfbewegung zum Weg zurück. »Das bedeutete, mein Prinz«, sagte er, »dass der Weg gut hundert Schritte an ihrem Nest vorüberführt. Seht Ihr die Gewebe dort oben?«
Cavin starrte ihn wütend an, trat mit deutlichen Anzeichen des Ekels wieder vor und blickte mit einer Mischung aus Zorn und trotzigem Widerwillen zu den Baumwipfeln empor, dann wieder zu Boden, der jetzt stärker zu zucken und beben schien. Die Tiere waren einzeln nicht zu erkennen, aber es war, als wäre hier der Wald selbst zu furchtbarem, haarigem Leben erwacht.
Ein scharfer, leicht unangenehmer Geruch hing in der Luft.
»Das müssen tausende sein«, murmelte er.
»Wohl eher zehntausende«, sagte Norrot an Gwenderons Stelle. »Ich habe nie ein so großes Nest gesehen.«
»Weg schlecht«, pflichtete ihm Guarr bei. »Wir helfen. Ich warnen.«
Cavin schenkte ihm einen finsteren Blick. Der Anblick der zahllosen Tiere, die den Boden und die Bäume vor ihnen mit kribbelndem Leben bedeckten, hatte ihn für einen Moment aus der Fassung gebracht. Aber Guarrs Worte brachten seine alte Überheblichkeit wieder zum Durchbruch.
»Und wenn«, sagte er. »Warum zeigt er uns diese Ungeheucker? Wir sind fast von ihnen umgebracht worden.«
»Eben«, sagte Gwenderon ruhig. »Und genau das hätte nicht geschehen dürfen.« Cavin wollte auffahren, aber Gwenderon fuhr rasch und mit ganz leicht erhobener Stimme fort: »Ihr mögt viel gelernt haben auf Euren Schulen, mein Prinz, aber es gibt in diesen Wäldern Dinge, die auf keiner Schule gelehrt werden. Es ist Brutzeit. Sie greifen alles an, was in ihren Nistckbereich eindringt. Seht.« Er bückte sich, hob einen Ast auf und warf ihn über die unsichtbare Grenze, hinter der der Boden mit Spinnen bedeckt war.
Das Ergebnis erschreckte ihn beinahe selbst. Der Boden schien von einer Sekunde zur anderen zu einem finsteren, lautlos kochenden Sumpf zu werden. Dutzende der faustgroßen schwarzen Tiere rasten auf wirbelnden Beinen heran, packten den Ast und bissen wie wild mit ihren winzigen Giftzähnen in das trockene Holz. Binnen weniger Sekunden war der Zweig unter einem zitternden Ball aus hunderten von haarigen kleinen Leibern und Beinen verschwunden.
Cavin schluckte, und Gwenderon konnte sogar im fahlen Halblicht des Waldes erkennen, dass er blass wurde. »Und?«, fragte er. Gwenderon hörte ganz deutlich, dass das Wort trotzig hatte klingen sollen. Aber der Versuch misslang kläglich.
Gwenderon bückte sich nach einem zweiten Stock und warf ihn nun dicht vor die imaginäre Linie, die Guarr ihnen bedeutet hatte. Diesmal geschah nichts. Die Tiere schienen den Ast nicht einmal bemerkt zu haben.
»Und … und wenn es ein … ein zweites Nest ist?«, fragte Cavin unsicher.
»Unmöglich«, behauptete Norrot überzeugt. »Seht sie Euch an, mein Prinz. Es sind mehrere zehntausend Tiere, mindeckstens. Sie benötigen ein Jagdrevier, das wir in zwei Tagen nicht durchqueren können. Zwei Nester dieser Größe, nur hundert Schritte voneinander entfernt – das ist ausgeschlossen.« Er warf Gwenderon einen Beistand heischenden Blick zu, den dieser mit einem Nicken quittierte, und fuhr fort: »Nein, mein Prinz. Die Tiere, die uns angegriffen haben, kamen aus diesem Nest. Irgendetwas hat sie dazu getrieben, ihre Gewohnheiten zu ändern und uns zu attackieren.«
Gwenderon schwieg. Norrots Worte erfüllten ihn mit dumpfem Entsetzen. Der Krieger sprach nichts anderes aus als das Offensichtliche, nichts als das, was er selbst die ganze Zeit über gedacht hatte. Aber es war unheimlich, die Wahrheit so offen aus dem Mund eines anderen zu hören. Und es war unglaublich, dachte er schaudernd. Tauspinnen waren Tiere, stumpfsinnige Insekten, die nicht bewusst handelten und zu keiner freien Entscheidung fähig waren. Sie änderten nicht so einfach ihre Gewohnheiten.
Cavin richtete sich auf, sah noch einmal unsicher zu den grau verhangenen Baumwipfeln hinauf und schüttelte den Kopf. »Ich begreife das nicht«, murmelte er. »Warum haben sie das getan?«
»Weil hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht«, antwortete Gwenderon kurz angebunden. Es war ihm nicht recht, dass Norrot in Gegenwart Cavins so redete. Auch er wusste, dass das, was sie hier sahen, alles andere als normal war. Er hatte niemals gehört, dass sich Tauspinnen in die Nähe der von Menschen benutzten Wege wagten. Trotz ihrer Gefährcklichkeit waren die Tiere nicht aggressiv, sondern mieden im Gegenteil die Nähe von Menschen. Aber es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie das nicht unbedingt in Hörweite des Prinzen besprochen hätten.
»Was tun wir?«, fragte Cavin. »Kehren wir um?«
»Einen Tagesritt zurück?« Gwenderons Miene verdüsterte sich. Die letzte Abzweigung hatten sie am vergangenen Abend passiert, seither hatte der Weg gerade und ohne Gabelung durch den Wald geführt. Der Gedanke, einen ganzen Tag zu verlieren, gefiel ihm nicht. »Es muss wohl sein«, sagte er schließlich.
»Und wenn wir einfach durchbrechen?«, fragte Cavin. »Ich meine, wir sind in Rüstung und Waffen. Jetzt, wo wir die Gefahr kennen, können wir uns schützen. Wenn wir schnell genug sind, sind wir vorbei, ehe sie überhaupt merken, dass wir da waren.«
Gwenderon schüttelte entschieden den Kopf. »Sind vier Tote noch nicht genug?«, fragte er kalt. »Nein, mein Prinz – ich werde nicht das Leben meiner Männer riskieren, nur um Zeit zu sparen.«
»Weg zeigen«, sagte Guarr plötzlich.
Gwenderon starrte den braunfelligen Raett einen Moment lang verstört an, bis er begriff, was er mit seinen Worten sagen wollte.
»Du meinst, du weißt einen anderen Weg durch den Wald?«, erkundigte er sich. Guarr nickte und begann aufgeregt in westlicher Richtung zu gestikulieren.
»Wir dorthin, ihr dorthin«, pfiff er. »Du gut. Wir Weg zeigen.«
Gwenderon zögerte. Im ersten Moment erschien ihm die Vorstellung, sich der Führung des Raett anzuvertrauen, so absurd, dass er sich einfach weigerte, darüber nachzudenken. Aber schließlich hatte ihm Guarr das Leben gerettet.
»Das ist nicht dein Ernst!«, entfuhr es Cavin. »Du willst nicht wirklich mit diesen Tieren gehen, Gwenderon. Das lasse ich nicht zu.«
Gwenderon seufzte. »Verzeiht, mein Prinz«, sagte er, »aber es gibt nichts, was Ihr zulassen könntet oder nicht.«
Cavin erbleichte, obwohl – oder vielleicht gerade weil Gwenderons Tonfall weit eher gelangweilt als scharf oder gar zornig gewesen war. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausckdruck, als hätte Gwenderon ihn in aller Öffentlichkeit geohrfeigt.
»Bist … bist du von Sinnen, Gwenderon?«, stammelte er. »Diese Biester wollen doch nur in der Nähe unserer Essensvorräte sein! Sie werden uns bei der erstbesten Gelegenheit ermorden, um unsere Vorräte und Waffen zu stehlen. Oder um uns aufzufressen!«
»Dazu hätten sie mehr als einmal Gelegenheit gehabt, mein Prinz«, antwortete Gwenderon, steif und zum wiederholten Male. »Ich halte es für besser, sie bei uns zu haben. Und«, fügckte er, so leise, dass der Raett hinter ihm die Worte nicht hören konnte, hinzu, »ich fühle mich sicherer, wenn ich sie vor mir habe statt hinter mir.«
Cavin starrte ihn zornig an. Aber wie schon einmal schien er genau zu spüren, dass Widerstand sinnlos war. Gwenderon hatte sehr deutlich gemacht, dass er es war, der die Verantwortung trug, und dass er es war, der entschied.
»Gut«, sagte er gepresst. »Aber glaub ja nicht, dass die Sache damit erledigt ist, Gwenderon.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Gwenderon kalt. »Wir werden es mit Eurem Vater bereden, sobald wir Hochwalden erreicht haben.« Mit einem Ruck wandte er sich um, sah den Raett einen Atemzug lang schweigend an und sagte: »Gut, Guarr. Ich vertraue dir. Ihr könnt mit uns kommen, bis wir Hochwalden erreicht haben«, sagte er. »Sobald die Festung in Sichtweite ist, trennen wir uns.«
Der Raett senkte den Kopf und quiekte eine Antwort, die Gwenderon nicht verstand. Dann begann er mit beiden Händen zu gestikulieren. Gwenderon unterdrückte ein Schaudern, als er sah, wie stark die Hände der Riesenratte waren.
»Ihr warten?«, sagte der Raett. »Andere zurück. Ich gelaufen, helfen.«
Gwenderon nickte. »Wir warten hier«, sagte er.
Guarr ließ einen zufriedenen Pfiff hören, wandte sich um und verschwand nahezu lautlos im Wald.
Prinz Cavin wich seinem Blick aus, als er sich umdrehte und langsam zum Weg zurückzugehen begann, und Gwenderon versuchte seinerseits, jeden Gedanken an den Prinzen zu verdrängen.
Cavin war jung, hitzköpfig und ungestüm und der Auffassung, dass seine Meinung die einzig gültige war. Aber all das waren nun einmal Vorrechte der Jugend. Und Gwenderon hatte erst vor Minuten erlebt, wie kühl und tapfer sich der junge Prinz in einer schwierigen Lage verhalten konnte. Er war bereits ein Mann, aber auch noch ein Kind – eine schwierige Zeit, durch die er hindurchmusste, gleich wie. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er wirklich erwachsen war.
Sie erreichten den Weg, und Gwenderons gerade neu erckwachter Optimismus bekam einen gehörigen Dämpfer, als er die Pferde sah – und die Männer, die hinter ihnen am Waldrand lagerten. Die Tiere waren – bis auf eines – mit dem Schrecken und einigen wenigen Kratzern davongekommen. Aber die Männer, die dumm genug gewesen waren, gegen die Spinnen kämpfen zu wollen, statt ein paar Bisse hinzunehmen und zu fliehen, hatten weniger Glück gehabt. Vor allem die Männer um den Prinzen, die Höflinge und Lehrer, die er mit nach Hochwalden bringen wollte, um dort – wie er es ausgedrückt hatte – die Zivilisation einzuführen, waren übel dran. Anders als die Männer der Garde waren sie nicht durch Rüstungen und Kettenhemden geschützt gewesen, und ihre dünnen Kleider hatten den Giftzähnen der Spinnen wenig Widerstand entgegensetzen können. Einer von ihnen lag im Sterben.
Fünf Tote, dachte Gwenderon düster. Fünf Tote, schon jetzt. Und es war noch ein weiter Weg bis Hochwalden.
Er blieb noch einen Moment neben dem Sterbenden hocken und blickte auf ihn hinab. Er empfand keinen Triumph – natürcklich nicht –, aber auch kaum Mitleid; nicht einmal Bedauern. Voller Schrecken begriff er, wie gleichgültig ihm diese Männer waren. Er hatte sie nicht als Männer akzeptiert, sondern sie nur als eine Last empfunden, mit ihren schreiend bunten Kleidern und ihrem dummen Gerede, ohne wahre Identität. Selbst jetzt, während er neben dem sterbenden Mann hockte und auf sein bleiches Gesicht hinabsah, empfand er nichts. Was geht in mir vor?, dachte er schaudernd.
Er fand keine Antwort auf diese Frage, und so erhob er sich nach einer Weile und ging, eigentlich ziellos, ein Stück den Weg hinab. Seine Hand schmerzte. Die Haut rings um die beickden winzigen, nadelspitzen Einstiche war gerötet und in seinem Arm pochte das Blut. Wenn er den Kopf zu schnell bewegte, verspürte er ein leichtes Schwindelgefühl. Aber das würde vergehen bis zum nächsten Morgen. Er war nicht oft genug gebissen worden, um ernsthaft krank zu werden.
Zu seiner Erleichterung musste er nicht lange warten, bis Guarr zurückkam. Der Raett erschien kaum fünf Minuten späckter, und er war nicht mehr allein, sondern wurde von zwei weickteren, etwas kleineren Rattenmännern begleitet, von denen er einen als seinen Bruder Gionn vorstellte. Die Raett-Herde konnte nicht sehr weit von hier entfernt im Wald lagern, dachte Gwenderon, obwohl sie weder etwas von ihnen gesehen noch gehört hatten. Plötzlich war er sehr froh, diese Wesen nicht zu Feinden zu haben.
Faroans Kopf schmerzte. Auf seiner Zunge hatte sich ein schlechter Geschmack eingenistet und die Luft in der Kammer kam ihm stickig und verbraucht vor, obwohl er das Fenster geöffnet hatte und es schon fast zu kalt war.
Müde stand er auf, ließ die Hände noch einen Moment auf den vergilbten Seiten des Zauberbuches liegen, in dem er die letzte Stunde geblättert hatte, ohne dass sich die verschlungenen Zeichen und Symbole auf dessen Seiten zu irgendeinem Sinn geordnet hätten, fuhr sich mit der linken Hand über die Augen und ging schließlich zum Fenster.
Die Dunkelheit schien sich vertieft zu haben. Gleichzeitig wirkte das lastende Schwarz jenseits der Mauern noch drohender. Es war Abend geworden, während er über seinen Orakeln und Büchern gesessen hatte. Auf den Türmen brannten jetzt kleine, flackernde Wachfeuer, und der halbmondförmige See, der zwei der vier Seiten Hochwaldens umschloss, lag wie eine Ebene aus geschmolzenem Pech da, dunkel und grundlos. Oro hatte die Wachen verstärkt, wie er gesagt hatte, aber obgleich jetzt an die hundert Krieger auf den Türmen und Wehrgängen patrouillierten, war kaum ein Laut zu vernehmen.
Nichts, dachte er müde. Er hatte alles getan, was er vermochte, jedes Orakel, jedes Zeichen, jedes Buch befragt, das er kannte, auf die geheimnisvollen Stimmen des Waldes gelauscht, die auch er nicht immer zu enträtseln verstand, in seine Kristallkugel geblickt – nichts. Nichts, außer einer sehr starken Vorahnung von Gefahr und Untergang, einer sehr großen Gefahr und eines sehr gründlichen Unterganges sogar – aber mehr konnte er den Zeichen nicht entnehmen. Es war, als hätte er all seine Macht verloren. Oder als gäbe es da etwas, das sie störte.
Faroan war von tiefer Sorge erfüllt, als er sich nach einer Weile umwandte und zu dem hölzernen Podest hinüberging, auf dem die Kristallkugel lag. Das Flackern des Kaminfeuers und sein eigenes Gesicht spiegelten sich in der polierten Oberfläche, aber es war nicht sein Gesicht, das ihm entgegenblickte, die gewölbte Oberfläche der Kugel verzerrte es zu einer Grickmasse und der tanzende rote Lichtschein der Flammen tauchte es in Blut. Es war ein böses Omen. Ein weiteres, böses Omen in einer endlosen Kette schlimmer Vorzeichen.
Der weißhaarige Magier atmete tief ein, hob die Hände und umschloss die Kugel in einer beschwörenden Geste. Das verckzerrte Spiegelbild seines Gesichts verschwand und für einen Moment schienen wesenlose graue Schatten das Innere des Kristalls auszufüllen, während Faroans Lippen unhörbare Worte formten. Die Kristallkugel wäre dabei nicht einmal nötig gewesen; ebenso gut hätte er einen Stein nehmen können oder eine Schale mit Pferdemist. Sie war eine der Konzessionen, die selbst der so mächtige Stand der Magier an die Welt gemacht hatte, und natürlich nicht einmal uneigennützig. Aber daran verschwendete Faroan in diesem Moment keinen Gedanken. Irgendetwas war … anders.
Die Schatten verdichteten sich, bildeten Formen und Umrisse und trieben wieder auseinander. Bilder entstanden und vergingen so schnell, wie sie gekommen waren.
Dann …
Das wogende Grau in der Kugel ballte sich zu Klumpen, grauen, faserigen Gebilden, die mit klebrigen Fäden miteinander verbunden schienen. Ein rotes, bösartiges Licht erschien im Herzen der Kristallkugel, ein Flackern und Lohen wie der Blick eines Dämonenauges, eingebettet in ein Netz aus Schwärze …
Faroan löste seine Hände von der Kugel und taumelte mit einem Schrei zurück. Seine Finger zitterten und plötzlich perlte Schweiß auf seiner Stirn. Seine Augen waren unnatürlich geweitet. Sekundenlang starrte er auf die Kugel, in der noch immer graue und schwarze Schemen tanzten.
»Lassar …«, keuchte er und alles Grauen, zu dem er überhaupt fähig war, lag im Klang dieses Namens. »Lassar …«
Plötzlich fuhr er herum. Er packte seinen Stab, stürmte zur Tür und auf den Gang hinaus, lauthals Oros Namen rufend. Der Posten, der auf dem Korridor vor seiner Kammer Wache hielt, blickte ihm verstört nach, aber Faroan ignorierte ihn. So schnell ihn seine alten Beine trugen, rannte er den Gang hinab, stürmte die enge Wendeltreppe hinunter und eilte zum Thronsaal.
Oro war allein, wie er erwartet hatte. Der große, spärlich eingerichtete Raum war in die Dunkelheit getaucht, die mit der Nacht durch die Fenster hereingekrochen war, und es war noch kein Feuer entzündet worden. Nur beiderseits des Throns standen zwei Kohlebecken voller Glut, die eine Insel aus dunkelrocktem Licht im Saal schufen, jenseits derer die Dunkelheit nur umso lastender erschien.
»Lassar!«, keuchte Faroan. »Bei allen Göttern, Oro, wir hackben uns geirrt. Lassar wird …«
König Oro brachte ihn mit einer raschen, befehlenden Geste zum Verstummen. Hinter seinem Thron bewegten sich Schatten; zwei Männer seiner Leibgarde, die bisher unsichtbar im Dunkel gestanden hatten.
»Du bist erregt, mein Freund«, sagte der König. »Beruhige dich und dann sprich. Was ist mit Lassar und worin haben wir uns geirrt?«
Faroan zwang sich gewaltsam zur Ruhe, schloss für einen Moment die Augen und atmete ein paar Mal gezwungen tief ein und aus, ehe er antwortete. Aber seine Stimme bebte noch immer vor Erregung. Seine Hand schloss sich so fest um den Magierstab, dass seine Knöchel knackten.
»Nicht wir haben uns getäuscht, mein König«, sagte er. »Sondern ich. Ihr hattet Recht. Er wird uns angreifen.«
»So?« Oro lächelte auf eine sonderbare Weise, aber Faroan war viel zu erregt, um darauf zu achten.
»Ich fürchte, er hat schon damit begonnen«, stieß er hervor. »Seine Magie …«
»Ist doch ein wenig stärker, als du geglaubt hast, nicht wahr, mein Freund?«, unterbrach ihn Oro.
Faroan erstarrte. Sein Blick saugte sich an den zerfurchten Zügen des Königs fest. Und langsam, ganz langsam, erwachte der Schrecken in seinem Herzen.
»Lassar …«, flüsterte er.
Der Mann auf dem Thron nickte und plötzlich erschien ein dünnes, grausames Lächeln auf seinen Lippen. Es waren Oros Lippen, Oros Lippen in Oros Gesicht. Nur die Augen darin hatten sich verändert. Sie waren jetzt grundlos und schwarz und von einem bösen, gierigen Feuer erfüllt.
Faroan fuhr mit einem Schrei herum, als sich die beiden Gestalten hinter dem Thron erneut bewegten und in den flackernden Schein der Kohlebecken traten. Sie blieben Schatten, obgleich sie jetzt im Licht standen. Verzweifelt lief er auf die Tür zu. Er schaffte es nicht ganz.
Das Letzte, was er hörte, war das hohe, boshafte Summen von Bogensehnen, dann spürte er einen doppelten, unglaublich schmerzhaften Schlag zwischen den Schulterblättern.
Dann entglitt der Magierstab seinen kraftlosen Fingern.
Es vergingen mehr als zwei Stunden, bis sie so weit waren den Weg fortsetzen zu können. Ein Mann aus Cavins Begleitung, der sich als Arzt zu erkennen gab, sorgte für die Verwundeten, und er tat es, wie Gwenderon einräumen musste, mit großer Kunstfertigkeit. Eine Zeit lang sah es sogar so aus, als könne er den Sterbenden retten; dann bäumte sich der Mann noch einckmal auf, stieß einen gellenden Schrei aus und starb.
Cavin selbst ging Gwenderon während all der Zeit bewusst aus dem Weg; er half seinem Begleiter, die Verwundeten zu versorgen, legte Verbände an, verrührte die Ingredienzien, die ihm der Arzt reichte, zu einer Paste, die lindernd auf die Bissckwunden einwirkte, und tat alles, um sich nützlich zu machen, verschwand aber jedes Mal, wenn Gwenderon nur in seine Näckhe zu kommen drohte. Gwenderon war froh darum. Die Sache war noch nicht erledigt – er musste mit Cavin sprechen, und Cavin mit ihm. Aber nicht jetzt.
Als sie schließlich so weit waren aufbrechen zu können, kam Karelian zurück. Er war nicht allein. In seiner Begleitung befand sich ein schwarzhaariger, bärtiger Mann, breitschultrig wie er selbst, aber nur halb so groß. Seine Kleider waren fleckig und wirkten auf den ersten Blick abgerissen und verdreckt, erwiesen sich aber auf den zweiten Blick als genau so gewollt; denn sie machten ihren Träger vor dem Hintergrund des Waldes beinahe unsichtbar. In den Händen trug er eine Axt, die eher zu einem Riesen gepasst hätte als zu einem normal gewachsenen Mann, geschweige denn zu einem Zwerg.
Hinter ihm und Karelian trat eine hoch gewachsene, sehr schlanke Frau mit schwarzem Haar aus dem Unterholz. Wie Karelian trug sie die fransige Lederkleidung der Waldläufer. Auf ihrem Rücken hing ein Langbogen, der fast so groß war wie sie selbst.
Gwenderons Miene verdüsterte sich, als er dem Waldläufer und seinen beiden Begleitern entgegentrat. Karelian wollte etwas sagen, aber Gwenderon ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.
»Wo seid Ihr gewesen?«, schnappte er gereizt. »Und wer hat Euch erlaubt Fremde mitzubringen, Karelian?«
Karelian war verwirrt. Sein Blick glitt zwischen Gwenderon, den Männern und Prinz Cavin hin und her. Selbst einem Mann mit weniger feinem Gespür, als er es hatte, musste die Spannung auffallen, die zwischen dem Prinzen und dem Waffenckmeister von Hochwalden herrschte. »Ich habe … Hilfe geholt«, sagte er stockend. »Was ist geschehen? Wer –« Er stockte. Seickne Augen weiteten sich, als er die braunfellige Gestalt Guarrs zwischen den Kriegern erkannte.
»Was sucht diese Kreatur hier?«, fragte er. Plötzlich klang seine Stimme scharf und schneidend wie Glas. Gwenderon sah, wie seine Hand zum Gürtel kroch und sich dem Schwert näherte, und auch sein zwergenhafter Begleiter spannte sich. Nur die schwarzhaarige Frau blieb ruhig. Nicht einmal der Ausdruck auf ihren Zügen änderte sich.
»Diese Kreatur«, antwortete er betont, »hat dem Prinzen und mir und wahrscheinlich allen anderen hier gerade das Leben gerettet, Karelian. Aber vielleicht wären wir nicht auf ihre Hilfe angewiesen gewesen, wenn Ihr an Eurem Platz gewesen wäret. Wir bezahlen Euch als Führer, habt Ihr das vergessen?«
In Karelians Augen blitzte es auf, aber die erwartete wütende Antwort blieb aus. Karelian atmete nur tief ein, deutete mit der Hand an Gwenderon vorbei den Weg hinauf und fragte noch einmal: »Was ist geschehen?«
»Nicht so viel, wie hätte geschehen können«, antwortete Gwenderon, nicht halb so ruhig wie der Waldläufer. »Bis auf die Tatsache, dass fünf Männer tot und die meisten anderen verletzt sind, ist im Grunde gar nichts passiert. Aber das ist gewiss nicht Euer Verdienst, Karelian.« Mit einer zornigen Kopfbewegung wies er den Weg hinab. »Dort vorne ist ein Nest von Tauspinnen. Sie haben uns angegriffen. Und sie hätten den Prinzen und mich getötet, hätte diese Kreatur, wie Ihr sie nennt, uns nicht gerettet. Was eigentlich Eure Aufgabe gewesen wäre.«
»Tauspinnen?« Karelian runzelte die Stirn, trat an Gwenderon vorbei und blickte für die Dauer von zehn, fünfzehn Herzckschlägen den Weg hinauf. Dann nickte er.
»Ihr seid ihrem Nest zu nahe gekommen«, sagte er. »Es ist Brutzeit. Sie glaubten ihre Jungen bedroht. Die Tiere sind unckberechenbar, wenn sie sich angegriffen fühlen.« Er deutete mit der Hand nach oben. »Seht Ihr die Netze dort, Gwenderon?«
Gwenderons Blick folgte seiner Geste. Zwischen den Baumckwipfeln spannten sich graue, wehende Gebilde, faserige Schwaden wie Nebel, in denen sich Staub und kleine dunkle Klumpen – Beutetiere wahrscheinlich – gefangen hatten. Sie ähnelten den Netzen, die er im Wald gesehen hatte, waren aber lange nicht so zahlreich. Jetzt, als er einmal darauf aufmerksam geworden war, sah er noch mehr der faserigen grauen Gebilde. Sie waren überall, nicht nur in den Wipfeln, sondern auch im Unterholz, rechts und links des Weges – überall. Vorhin hatte er nichts davon bemerkt. Mehr noch – er war beinahe sicher, dass sie nicht da gewesen waren …
»Ihr hättet es sehen müssen, Gwenderon«, sagte Karelian. Seine Worte klangen nicht wie eine Rechtfertigung. Es war eine reine Feststellung, mehr nicht. »Der Mann an Eurer Spitze hätte es sehen müssen.«
»Der Mann an unserer Spitze ist tot«, sagte Gwenderon. Dann weitaus heftiger: »Zum Teufel, wir haben Euch mitgenommen, damit Ihr uns vor solchen Dingen warnt und nicht hinterher sagt, was wir hätten tun müssen!« Sein ganzer aufgestauter Zorn drohte sich nun auf den Waldläufer zu entladen. Er beherrschte sich nur noch mit Mühe.
Karelian drehte sich aufreizend langsam zu ihm herum. »Es ist nicht meine Schuld, wenn Ihr das Offensichtliche nicht seht«, sagte er. »Ich war in Sorge wegen einer größeren Gefahr.« Er deutete auf seine Begleiter. »Das ist Animah, eine Frau meiner Sippe. Und Mannon vom Volk der Zwerge. Er wird uns den Weg durch die Wälder weisen.«
»Danke«, sagte Gwenderon wütend. »Wir haben bereits einen Führer gefunden. Wenn seine Führung« – er deutete auf Mannon – »so gut ist wie die Eure …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt noch zu streiten. Karelian hatte Recht, aber er auch. Mit aller Macht zwang er sich zur Ruhe. »Wieso einen Weg durch die Wälder?«, fragte er. »Woher wusstet Ihr, dass dieser Weg nicht mehr begehbar ist?«
»Er ist nicht mehr sicher, Herr«, unterbrach ihn Mannon. Seine Stimme war erstaunlich voll und tief für einen Mann von seinem Wuchs. Sie klang sehr angenehm, fand Gwenderon. »Lassars schwarze Henker sind gesehen worden und der Wald hat Angst.«
»Der Wald hat … Angst?«, wiederholte Gwenderon zweifelnd. Plötzlich fielen ihm Guarrs Worte ein und ganz instinkcktiv blickte er zu dem Raett hinüber. Das Rattenwesen stand weit von ihnen entfernt, aber es blickte in ihre Richtung. Seine Ohren zuckten ganz leicht. Gwenderon war sich plötzlich sicher, dass es jedes Wort verstand, das Karelian, Mannon und er wechselten.
»Es ist finstere Magie im Spiel, Herr«, bestätigte der Zwerg. »Lassars Schatten strecken ihre Hände über das Land. Ich fürchte, der Weg wäre nicht mehr sicher, selbst ohne die Spinnen. Ich kenne einen anderen.«
»Einen schnelleren«, fügte Karelian hinzu. »Mannon wird uns bis zum nächsten Sonnenaufgang vor die Tore von Hochwalden führen.«
»Das sind über dreißig Meilen!«, entfuhr es Gwenderon. Aber der Zwerg lächelte nur sanft.
»Das kleine Volk kennt Wege durch die Dunkelheit, die uns verschlossen sind«, sagte Animah. Sie lächelte, aber ihr Blick blieb kalt. Gwenderon fiel auf, wie groß sie war. Größer als er selbst, und er war alles andere als kleinwüchsig. »Ihr könnt ihm vertrauen, Gwenderon. Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Er ist ein Freund.«
Aber Gwenderon hörte ihre Worte kaum noch. Mannons Worte echoten wie dumpfes Hohngelächter hinter seiner Stirn: Es ist finstere Magie im Spiel, Herr … Lassars Schatten …
Er schauderte. Vielleicht war es gar kein Zufall, dass sie angegriffen worden waren, von Tieren, die die Menschen normacklerweise mieden. Und vielleicht kam die dumpfe, gestaltlose Furcht, die er wie einen nagenden Schmerz seit Tagen in sich fühlte und bisher zu ignorieren versucht hatte, nicht von ungefähr.
»Lassars Schatten …«, flüsterte er.
Karelian nickte. »Ja«, sagte er. »Spürt Ihr ihre Nähe nicht?« Er atmete hörbar ein, drehte sich um und blickte mit unbewegcktem Gesicht zu Guarr, dem Raett, hinüber. »Und vielleicht«, flüsterte er, »sind sie schon da.«
»Damit kommst du nicht durch, Resnec.« Oro sprach leise, beinahe im Flüsterton. Seine Stimme bebte, aber es war kein äußerlicher Schmerz, der sie zittern ließ, obgleich der Griff der beiden breitschultrigen Krieger viel härter war, als nötig gewecksen wäre einen alten Mann wie ihn zu halten. Seine Augen brannten. Er spürte, wie ihm eine einzelne, salzige Träne über die Wange lief und seine Lippen benetzte. Vergeblich suchte er in seinem Inneren nach einer Spur von Furcht oder Zorn, von Verzweiflung oder Angst. Alles, was er spürte, war ein tiefer, zehrender Schmerz, ein Gefühl, als krampfe sich irgendwo in ihm etwas zusammen.
Sein Blick irrte immer wieder zu der reglos ausgestreckten Gestalt des weißhaarigen Magiers hinüber. Sie hatten ihn auf die lange Tafel unter dem Südfenster gelegt, die Hände über der Brust verschränkt, und jemand war barmherzig genug gewesen, ihm den langen Magierstab mit dem goldenen Knauf auf die Brust zu legen. Wäre der hässliche rote Fleck auf der Vorderseite seines Gewandes nicht gewesen, hätte man meinen können, er schliefe.
Aber er schlief nicht, sondern war tot.
Tot. Das Wort hallte ein paar Mal hinter Oros Stirn wider, aber es verlor nichts von seiner Bedrohlichkeit. Es war … lächerlich. Faroan und tot – das war eine Kombination wie die Vorstellung brennenden Wassers. Obwohl er es sah und wusste, weigerte sich etwas in ihm, den Gedanken als wahr zu akckzeptieren. Faroan konnte nicht sterben. Er war kein Mensch, sondern ein Teil der Welt, wie Hochwalden, wie der Schwarzckeichenwald selbst, wie der Himmel. Wie lange kannte er Farockan jetzt? Fünfzig Jahre? Sechzig? Er wusste es nicht. Der Magier war schon alt gewesen, als er an den Hof gekommen war, und man munkelte, dass er sein Alter nach Jahrhunderten zählte wie andere nach Jahren. Irgendwie hatte Oro niemals auch nur daran gedacht, dass der Zauberer überhaupt sterben könnte. Und jetzt war er tot – meuchlings und feige ermordet.
Mühsam löste Oro seinen Blick von dem toten Magier und starrte Resnec an. »Dafür wirst du bezahlen, Resnec«, sagte er. »Niemand tötet einen Magier und niemand streckt seine gierigen Hände nach dem Schwarzeichenwald aus, ohne …«
»Du glaubst das wirklich, wie?«, unterbrach ihn Resnec. Er sprach ganz ruhig. In seiner Stimme war keine Spur von Hass oder auch nur Zorn; allerhöchstem, dass sie ein bisschen verckwundert klang. Beinahe mitleidig. »Du glaubst wirklich noch daran, dass Magie und der Geist von ein paar alten Bäumen den Lauf der Welt bestimmen, wie?« Er schüttelte den Kopf, seufzte und gab den beiden Männern hinter Oro einen Wink, ihn loszulassen.
»Du tust mir Leid, alter Mann«, fuhr er fort. »Du lebst in einer Welt, die schon lange nicht mehr existiert. Du und er.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Leichnam des Magiers. »Vielleicht wart ihr die letzten Vertreter dieser alten Zeit, Oro. Sie wird mit euch sterben.«
Oro starrte ihn an und versuchte vergeblich so etwas wie Hass oder wenigstens Zorn aufzubringen. Er fühlte sich becktäubt.
»Ihr werdet mich auch töten müssen«, sagte er.
Resnec antwortete nicht. Durch das geöffnete Fenster drang der Lärm des Kampfes herein: das Klirren von Metall, Schreie, Rufe, das dumpfe Geräusch, mit dem schwere Körper auf Stein oder Holz aufschlugen. Aber die Hand voll Männer, die jetzt noch Widerstand leisteten, würden in wenigen Augenblicken niedergemacht sein. Oro hatte Resnec gebeten, seinen Männern den Befehl zum Aufgeben erteilen zu dürfen, aber Resnec hatte das abgelehnt. Er wollte keine Gefangenen. Keine Zeugen.
Resnec trat ans Fenster, stützte sich schwer auf die steinerne Brüstung und blickte einen Moment hinaus. »Ich würde es nicht tun, wenn ich eine andere Wahl hätte«, sagte er. »Du hattest deine Chance, Oro.« Es hörte sich fast wie eine Rechtfertigung an. »Ich habe dich gewarnt. Mehr als einmal. Ich … hätte eine andere Lösung vorgezogen, glaube mir. Dieses Töten ist so sinnlos.«
»Dann ruf deine Kreaturen zurück!«, sagte Oro aufgebracht. »Lass mich mit meinen Kriegern sprechen. Sie werden die Waffen niederlegen, wenn ich es ihnen befehle.«
»Niemand widersetzt sich Lassars Befehlen«, antwortete Resnec ohne sich auch nur zu Oro umzudrehen. »Es ist zu spät, Oro.«
»Lassars Befehlen!«, stieß Oro hervor. »Was bist du, Rescknec? Ein Mann oder eine Puppe, die nach dem Willen eines habgierigen Magierkönigs handelt?«
Resnec drehte sich nun doch herum und verzog ärgerlich die Lippen. Er wirkte verletzt. Aber er kam nicht dazu, zu antworten.
»Zumindest ist Resnec ein Mann, der seine Grenzen kennt und um einiges klüger ist als du, alter Mann«, sagte eine Stimme in Oros Rücken. Oro drehte sich herum, setzte dazu an, etwas zu sagen, ballte aber stattdessen nur hilflos die Fäuste.
»Lassar.«
Der Mann in dem einfachen, braungrünen Gewand lächelte kalt.
»Es ehrt mich, dass Ihr mich erkennt, König Oro. Ja, ich bin Lassar, der habgierige Magierkönig.« Er lachte leise. »Es tut mir Leid, dass wir Eure Festung mit Gewalt nehmen mussten, aber Ihr habt uns keine Wahl gelassen.«
»Keine Wahl?« Oro schrie fast. Er hatte noch immer keine Angst, obgleich er spürte, dass er dem Tod jetzt sehr nahe war. »Ihr hattet keine Wahl, als zweihundert meiner Krieger zu erschlagen und diesen harmlosen alten Mann hier meuchlings und heimtückisch ermorden zu lassen? Und alles nur wegen ein paar Bäumen?«
»Wenn es nur ein paar Bäume sind, warum habt Ihr sie uns dann nicht gegeben, Oro?«, erwiderte Lassar kalt. »Hat Euch Resnec mein Angebot nicht überbracht? Oder war es Euch nicht großzügig genug? Und was Faroan angeht – er war kein harmloser alter Mann, Oro. Aber auch das ist ja jetzt erledigt.«
»Nichts ist erledigt«, antwortete Oro leise. »Ihr könnt mich töten und Ihr könnt diese Festung schleifen, aber Ihr werdet den Schwarzeichenwald niemals bekommen. Fühlt Euch nicht zu sicher, Lassar! Eure Macht ist auf Terror und Gewalt gegründet, aber Eure Gefolgsleute werden sich von Euch wenden, wenn sie erfahren, was hier geschehen ist.«
»Ihr sagt es, König Oro«, erwiderte Lassar gelassen. »Wenn sie erfahren, was hier geschehen ist. Aber sie werden es nicht erfahren.«
Oro presste die Lippen zusammen und starrte an dem Magier vorbei ins Leere, aber Lassar sprach von selbst weiter. Vielleicht hatte er Freude an dem grausamen Spiel gefunden. »Niemand wird irgendetwas erfahren, König Oro von Hochwalden. Alle Welt weiß, dass mein Vertrauter Resnec zu Euch gegangen ist. Ihr werdet das Angebot annehmen, das ist alles.«
»Ihr seid ein Narr, wenn Ihr wirklich glaubt, damit auch nur einen Schwachsinnigen täuschen zu können«, antwortete Oro gepresst. »Ihr seid ein Mörder und Verräter, Lassar, und Ihr werdet dafür bezahlen. Vielleicht werde ich es nicht mehr sein, der Euch zur Rechenschaft zieht, aber es werden andere …«
»Andere?«, unterbrach ihn Lassar. Ein rasches, höhnisches Lächeln huschte über seine Züge. »Wenn Ihr Euren Sohn meint, Oro, muss ich Euch enttäuschen.«
Obwohl sich Oro alle Mühe gab, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, fuhr er sichtlich zusammen. Cavin! Was wusste dieses Ungeheuer von Cavin?!
Lassar lachte böse, fast, als hätte er seine Gedanken gelesen. Vielleicht hatte er es.
»Habt Ihr geglaubt, ich wüsste nicht, dass Euer Sohn und Erckbe auf dem Weg hierher ist, Oro?«, fragte er. »Es gibt nicht viel, was meiner Aufmerksamkeit entginge.« Sein Lächeln erstarrte vollends zur Grimasse. Seine Stimme war kalt und hart wie Glas, als er weitersprach. »Ihr seid ein Narr. Euer Sohn wird kommen und sein Erbe antreten, und … ja, vielleicht bereitet Euch dieser Gedanke besondere Freude: Es wird nicht lange dauern und er wird mir ein ebenso treuer Verbündeckter sein wie Resnec.«
»Niemals!«, keuchte Oro. »Cavin wird dich vernichten, du Ungeheuer. Er wird bis zum letzten Blutstropfen gegen dich und deine schwarzen Henker kämpfen!«
Lassar nickte betrübt. »Er wäre dumm genug dazu, fürchte ich.«
Er seufzte, schwieg einen Moment, senkte den Blick und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.
Oro schrie auf, als der Magier den Blick hob und ihn wieder ansah. Das Gesicht unter der spitzen braunen Kapuze war nicht mehr das Lassars.
Es war sein eigenes Gesicht. Und es war seine eigene Stimme, mit der Lassar weitersprach – leise, höhnisch und so voller abgrundtiefer Bosheit, dass Oro ein zweites Mal aufstöhnte.
»Vielleicht würde er es tun, mein König«, sagte er spöttisch. »Aber er wird nicht gegen seinen eigenen Vater kämpfen, nicht wahr? Nach allem, was ich über Prinz Cavin gehört habe, ist er ein kluger und tapferer Prinz, aber auch ein Sohn, der seinem Vater gehorcht.«
»Du … du Bestie«, murmelte Oro. »Du …«
»Zweifelst du daran?«, fragte Lassar lächelnd. »Dein Sohn wird das Erbe antreten und Herrscher über Hochwalden sein, Oro. Aber er wird auch ein treuer Verbündeter sein; weil es der letzte Wunsch seines Vaters war, bevor er starb.«
»Niemals«, sagte Oro. Aber seine Stimme brach fast und tief in seinem Inneren wusste er, dass Lassar die Wahrheit sprach.
Der Abend kam, aber sie rasteten nicht. Zu Gwenderons Erckstaunen hatten weder Karelian noch der Zwerg irgendwelche Einwände vorgebracht, als Guarrs Sippe zu ihnen gestoßen war und sich ihnen schweigend angeschlossen hatte, obgleich sie keinen Versuch machten, ihren Widerwillen zu verhehlen. Und selbst Gwenderon konnte sich eines bedrückenden Gefühls nicht erwehren, als das Dutzend großer, braungrauer Gestalten aus dem Unterholz trat und sie schweigend umringte. Und gleichzeitig – so absurd es war – fühlte er sich sicherer.
Mannon, der Zwerg, hatte nur laut ausgesprochen, was sie alle schon lange gespürt hatten: Der Wald hatte sich verändert. Die Schatten zwischen den Bäumen waren keine Zuflucht, die Dunkelheit kein Schutz mehr und in dem Rascheln des Windes in den Baumwipfeln schienen unhörbare Stimmen zu flüstern.
Lassars Fluch … Gwenderon hatte versucht die Worte zu vergessen oder wenigstens als das abzutun, was sie wohl waren, nämlich dummes und abergläubisches Gerede. Aber es war ihm nicht ganz gelungen. Er war nie zuvor einem Zwerg begegnet, aber er hatte – wie alle – gehört, dass das kleine Volk die Stimme der Natur verstand und in den Schatten lesen konnte.
Sie ritten bis weit in die Nacht hinein. Guarr hatte sie zu Gwenderons Erstaunen, ohne dass Mannon auch nur mit einem Wort dagegen protestiert hatte, mehr als drei Stunden scheinbar kreuz und quer durch den Wald geführt, und Unterholz und Gestrüpp waren bald so dicht geworden, dass sie absitzen und die Pferde am Zügel hinter sich herführen mussten. Ohne die Raetts, die mit ihren gewaltigen Körperkräften immer wieder Breschen in die verfilzten Barrieren aus dornigen Zweigen und Ästen brachen, wären sie vielleicht gar nicht mehr von der Stelle gekommen.
Karelian beobachtete ihr Tun schweigend, aber seine Miene wurde immer finsterer, und Gwenderon spürte, wie es in ihm brodelte. Für ihn, dessen Heimat diese Wälder waren, war jeder geknickte Zweig eine Wunde, jeder ausgerissene Busch eine Narbe, die sie dem Wald zufügten, jedes Splittern von Holz ein Schmerzensschrei. Und trotzdem – und das war etwas, das Gwenderon nicht mehr verstand – ließ er es zu.
Gwenderon verlor schon bald die Orientierung. Er hatte Fackeln entzünden lassen wollen, aber Mannon hatte dies mit einem scharfen Befehl verboten. Gwenderon fühlte sich hilflos. Trotz des Vertrauens, das er dem Zwerg entgegenbrachte, beckhagte es ihm nicht, blindlings durch den Wald zu stolpern und dem guten Willen eines einzigen Mannes ausgeliefert zu sein. Eines Mannes vom Kleinen Volk zudem, dem man nachsagte, dass es so unberechenbar wie verschlagen sei und dass es sich dem Menschen nicht unbedingt verbunden fühlte, nur weil es ihm ähnlich war.
Mitternacht musste längst vorüber sein, als Mannon ihnen endlich eine Rast gestattete. Sie hatten eine kleine Lichtung erreicht, die an einer Seite wie von einer natürlichen Wehrmauer von Felsen eingefasst wurde, und der Zwerg fand sich widerwillig bereit, die Männer ein Feuer entzünden zu lassen, damit sie sich ein wenig wärmen und Fleisch aus ihren Vorräckten braten konnten.
Auch Gwenderon aß und trank. Aber er verzichtete darauf, die kurze Rast zu nutzen und sich hinzulegen, um seinem geschundenen Körper Gelegenheit zu geben, etwas von der aufgebrauchten Kraft zurückzugewinnen. Stattdessen ging er, von einer ihm selbst unerklärlichen inneren Unruhe getrieben, ziellos auf der Lichtung auf und ab. Der Wald behagte ihm nicht. Die Bäume umstanden den halbkreisförmigen Platz wie eine massive schwarze Mauer; er spürte den Atem des Fremden, Unheimlichen, der von ihnen ausging wie ein übler Geruch. Dies war nicht mehr der Schwarzeichenwald, den er kannte.
»Ihr seid in Sorge, Gwenderon?«
Gwenderon fuhr beinahe erschrocken zusammen, als er die Stimme hörte. Gezwungen langsam drehte er sich herum, mucksterte Karelian mit einem langen, eingehenden Blick von Kopf bis Fuß und zuckte mit den Achseln.
»Sollte ich?«, fragte er knapp.
Karelian lächelte dünn. »Ich dachte immer, ein Mann wie Ihr hätte das Misstrauen gepachtet«, sagte er. »Es wundert mich, dass Ihr plötzlich so vertrauensselig seid.«
»Was meint Ihr damit?«, entgegnete Gwenderon steif, obwohl er sehr gut wusste, worauf der Waldläufer hinauswollte. Karelian war kein Mann, der nur um des Redens willen redete. Er hatte ihn nicht angesprochen, um sich die Zeit zu vertreiben.
»Das wisst Ihr genau«, antwortete Karelian. »Diese … Tiere« – er deutete auf die Raett-Horde, die ein Stück abseits, fast am entgegengesetzten Ende der Lichtung, lagerte – »warum habt Ihr erlaubt, dass sie uns begleiten?«
Gwenderon seufzte. »Ihr habt mit dem Prinzen gesprochen.«
»Das habe ich«, nickte Karelian. »Auch wenn es nicht nötig gewesen wäre. Niemand hier ist glücklich über ihre Anwesenheit, und …«
»Ich weiß«, unterbrach ihn Gwenderon. Seine Stimme bebte vor Zorn. »Aber noch führe ich diese Gruppe, Karelian. Prinz Cavin ist ein Kind, ganz gleich, ob er nun der Sohn des Königs ist oder nicht. Er weiß es nicht besser. Aber von Euch hätte ich ein wenig mehr Verstand erwartet, Karelian! Diese Tiere, wie Ihr sie nennt …«
»Haben dem Prinzen und vielleicht euch allen das Leben gerettet«, mischte sich eine dritte Stimme ein. Gwenderon fuhr wütend herum und erkannte den Zwerg, der so leise herangekommen war, dass er ihn nicht gehört hatte.
»Das wissen wir, Gwenderon«, fuhr Mannon fort. »Aber darum geht es nicht.« Er schwieg einen Moment, spielte gedankenverloren mit seiner Axt und schüttelte den Kopf, als versuchte er Worte für Dinge zu finden, die sich mit Worten nicht erklären ließen. In der Düsternis der Nacht sah sein Gesicht plötzlich sehr alt aus.
»Der Weg, der vor uns liegt«, fuhr er fort, sehr leise und mit gesenktem Blick und langsam, als müsse er jedes Wort sehr sorgfältig überlegen, ehe er es aussprach, »ist gefährlich, Gwenderon. Gefährlich und verboten.«
»Verboten?«
Mannon nickte. »Es ist lange her, dass Menschen auf den geheimen Pfaden des Kleinen Volkes durch diesen Wald geschritten sind, Gwenderon«, fuhr er mit großem Ernst fort.
»Im Moment schreiten wir eher auf den Pfaden der Raetts«, versetzte Gwenderon, in einem vergeblichen Versuch, Mannons Worten etwas von ihrer düsteren Bedeutung zu nehmen. Und der Zwerg überging seinen Einwurf auch, als spüre er ganz genau, wie wenig Bedeutung er hatte.
»Es sind Wege, die zu kennen dem Menschen verboten sind. Ich gehe ein großes Risiko ein, euch zu führen. Und Karelian und Animah auch.«
Gwenderon blickte den Zwerg mit wachsender Verwirrung an. »Warum tust du es dann?«, fragte er. »Warum nehmt ihr dieses Risiko auf euch, wenn es so groß ist?«
»Weil es sein muss«, antwortete Karelian, als wäre dies Erklärung genug.
»Der Wald ist in Aufruhr«, fügte Mannon hinzu. »Der Frieckden dieses Ortes ist heilig, und doch hat es jemand gewagt, ihn zu brechen.« Er sah Gwenderon mit einem sonderbaren Blick an. »Spürt Ihr es nicht, Gwenderon? Fühlt Ihr nicht die Unruhe, die Furcht, die nach der Seele des Waldes greift?«
»Das Einzige, was ich gespürt habe, war der Biss einer Tauckspinne«, antwortete Gwenderon mit einem schrägen Seitenckblick auf den Waldläufer.
Mannon blieb ernst. »Und selbst dies ist ein Hinweis, den Ihr verstehen müsstet«, sagte er. »Tauspinnen greifen Menschen nicht an, außer sie sind in Angst. Sie kommen niemals in diesen Teil der Wälder, es sei denn, etwas hätte sie vertrieben. Die Tiere spüren das Nahen des Unheils vor den Menschen.«
»Und den Zwergen?«, fragte Gwenderon.
Mannon ignorierte seinen Einwurf. »Es gibt Wächter auf den Wegen, über die ich euch führe. Sie würden …«
»Genug«, unterbrach ihn Gwenderon gereizt. Er spürte, dass es der Zwerg wirklich ernst meinte und dass er nicht nur so sprach, weil er die Raetts verachtete wie Karelian. Und trotzckdem brachten ihn Mannons Worte in Rage. »Ich werde mit ihnen reden«, fuhr er fort, »aber ich …«
»Reden nicht nötig«, unterbrach ihn eine dunkle Stimme.
Gwenderon fuhr erschrocken zusammen, drehte sich um und blickte in ein braunes, spitz zulaufendes Gesicht mit glänzenden Knopfaugen.
»Ich alles gehört«, radebrechte Guarr. »Zwergenwege nicht gut für uns. Ihr Freunde, wir Freunde. Ihr helfen, wir helfen. Jetzt wir gehen.«
Gwenderon wollte antworten, aber diesmal kam ihm Mannon zuvor. Mit einem schnellen Schritt trat er zwischen ihn und das Rattenwesen, legte – mit absichtlich übertriebenen, umständlichen Bewegungen – die Axt zu Boden und streckte Guarr die leeren Hände entgegen, die Handflächen nach oben gedreht.
»Ich rede in Freundschaft zu dir, Guarr«, sagte er. »Unsere Völker sind seit Urzeiten verfeindet, aber du und ich haben keinen Streit miteinander. Und es gibt eine Gefahr, die uns beide bedroht.«
Die Barthaare des Raett sträubten sich sichtbar. Gwenderon sah, wie eine rasche, unbewusste Bewegung durch seinen muskulösen Körper ging. Seine schwarzen Augen glitzerten. Aber er rührte sich nicht, sondern blickte nur schweigend auf den Zwerg hinab.
»Ihr habt unseren Freunden geholfen«, fuhr der Zwerg fort. »Wir danken euch, aber jetzt trennen sich unsere Wege.« Er wies mit der Linken in den Wald jenseits der Lichtung. »Ihr müsst gehen«, sagte er, »denn der Weg, der dort beginnt, ist nicht für euer Volk. Ihr würdet zu Schaden kommen, würdet ihr versuchen uns zu folgen.«
Der Raett starrte ihn noch einen Herzschlag lang an, dann wandte er sich um und ging ohne ein weiteres Wort zu seiner Sippe zurück.
Gwenderon blickte ihm mit gemischten Gefühlen nach. Eicknerseits war er – auch wenn er sich hüten würde dies zuzugeben – beinahe froh, sich von Guarr und seiner Sippe trennen zu können; ihre Nähe hatte ihm Unbehagen bereitet, obgleich sie Sicherheit und Schutz versprach. Andererseits kam er sich undankbar vor.
»Jetzt legt Euch nieder und schlaft noch ein wenig, Gwenderon«, sagte Mannon. »Es ist noch ein weiter Weg bis Hochwalden und Ihr werdet all Eure Kraft benötigen. Animah, Karelian und ich werden wachen.«
Gwenderon wollte widersprechen, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. So blickte er nur an Mannon vorbei in die Richtung, in der sich Prinz Cavins weißes Gewand wie ein heller Fleck vor dem Wald abzeichnete.
Mannon bemerkte seinen Blick sehr wohl. »Wir werden auch auf ihn Acht geben«, sagte er.
Hoch über der Burg kreiste eine schwarze Krähe. Es war nicht das erste Mal, dass Resnec den Vogel sah, und er war davon überzeugt, dass es immer der gleiche Vogel war, nicht irgendckeine Krähe, sondern eine ganz bestimmte, ein schwarzer Höllenvogel, der Lassar folgte wie ein lautloser Schatten, sein Begleiter, sein Bote: sein Auge vielleicht. Vielleicht Lassar selbst.
Resnec vertrieb den Gedanken, zog den Mantel enger um die Schultern zusammen und stieg mit raschen Schritten die steile Holztreppe zum Wehrgang hinauf.
Selbst hier, im Schutze der Mauern, war der Wind empfindcklich kalt, und das Heulen, mit dem er sich an den Zinnen und Türmen der Festung brach, klang wie der Chor zahlloser weicknender Stimmen in Resnecs Ohren.
Resnec verhielt mitten im Schritt, drehte sich herum und blickte nachdenklich über den Burghof. Hochwalden lag still und scheinbar friedlich unter ihm. Aber es war der Friede des Todes und die Stille war die Stille eines Friedhofes. Nur ein knappes Dutzend Krieger hielt sich auf den Mauern auf und selbst sie standen starr wie Statuen. Und hätte er sich ihnen weiter genähert, hätte er bemerkt, dass sich nicht einmal ihr Haar oder ihre Kleider im Wind bewegten. Sie waren nicht echt; wenig mehr als Schatten, die unvollkommen die Krieger kopierten, die sie getötet hatten …
Resnec fröstelte plötzlich. Der Wind schien kälter zu werden, aber er wusste, dass das nicht stimmte und dass die Kälte, die er fühlte, nur seine eigene Furcht war. Er stand jetzt schon seit vielen Jahren in Lassars Lohn und Brot, aber es war das erste Mal, dass er gesehen hatte, wie seine schwarzen Henker töteckten.
Die Krieger König Oros hatten keine Chance gehabt. Lassars Kreaturen waren über die Pfade der Schatten gewandelt und im Rücken der Soldaten aufgetaucht, hinter den mächtigen Mauckern der Festung, die das Schutzversprechen, das sie darstellten, nicht hatten halten können. Oros Männer hatten nicht einmal gemerkt, dass sie angegriffen wurden, ehe die schwarzen Henker unter sie fuhren.
Resnec verscheuchte den Gedanken und ging weiter. Aber der Zweifel und die Furcht nagten weiter in ihm, tief im Grunde seiner Seele.
Der Wind schlug ihm wie eine eisige Kralle ins Gesicht, als er auf den Wehrgang hinaustrat und sich schwer auf die Brustckwehr stützte. Es wurde Tag. Der Wald lag noch immer wie ein schwarzer, dichter Schatten unter ihm. Aber das graue Licht der heraufziehenden Dämmerung begann die Schatten bereits aufzulösen. In wenigen Augenblicken würde die Sonne aufgehen.
Das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, ließ Resnec von der Brustwehr zurücktreten und sich herumdrehen. Ein Schatten erschien hinter ihm auf dem Wehrgang, ballte sich zusammen und nahm menschliche Formen an.
»Lassar.« Resnec deutete eine Verbeugung an und senkte das Haupt. Er glaubte, Lassars Blick körperlich auf sich zu fühlen. Es tat beinahe weh. Vielleicht war es wahr, was man sich über ihn erzählte: dass seine Blicke töten konnten.
»Du bist hier, Resnec?« Aus Lassars Stimme sprach gleichzeitig Verwunderung wie ein sanfter, ganz bewusst nicht vollends unterdrückter Tadel. »Du solltest ausruhen. Der morgige Tag wird sehr anstrengend werden.«
»Ich … konnte nicht schlafen, Herr«, antwortete Resnec verckstört. Plötzlich war die Angst wieder da.
»Du konntest nicht schlafen?«, wiederholte Lassar. »Was beckunruhigt dich, mein Freund?« Warum, dachte Resnec schauckdernd, klang das Wort Freund aus seinem Mund wie böser Spott?
»Es ist … nichts«, antwortete er ausweichend. »Ich war …«
»Nervös?« Lassar lachte, leise, meckernd und böse. »Was raubt dir den Schlaf, mein Freund? Der Kampf? Die Toten, die du gesehen hast?« Er trat näher und zwang Resnec mit einer befehlenden Geste, ihn anzusehen. Das Gesicht unter der spitzen dunklen Kapuze wirkte grau und zerfurcht, gleichzeitig uralt und alterslos. Ein böses Funkeln glomm in seinen Augen.
»Du hast Angst«, behauptete er. »Du dienst mir seit vielen Jahren, Resnec, aber jetzt ist der Moment gekommen, in dem du bereust dich mir verschrieben zu haben.«
»Das ist … nicht wahr«, widersprach Resnec, aber Lassar schnitt ihm mit einer abgehackten Geste das Wort ab. »Es ist so«, sagte er. »Versuche nicht, mich zu belügen, Resnec. Bisckher hast du mir gedient – als mein Bote, als Laufbursche und Unterhändler. Jetzt hast du zum ersten Mal erlebt, wie ich bin. Und du hast Angst. Jetzt, Resnec, jetzt erst hast du erkannt, wem du dich wirklich verschrieben hast. Dem Bösen.«
»Aber ich …«
»Widersprich mir nicht«, sagte Lassar scharf. »Du weißt, dass es so ist, und ich weiß, dass es so ist. Du bist nicht der Erste, Resnec, der in meine Dienste trat und es später bereute. Du bist wie alle anderen. Die Macht, die ich dir versprach, und der Reichtum, den ich dir gab, haben dich gelockt und du konntest der Versuchung nicht widerstehen.« Er wies mit einer zornigen Geste auf den Hof hinab. »Gestern Nacht hast du meine Diener gesehen und du hast gesehen, wie sie getötet haben, und …«
»Nicht getötet«, widersprach Resnec heftig. Er wunderte sich selbst, woher er den Mut nahm, Lassar zu unterbrechen, aber jetzt, als er es einmal getan hatte, redete er weiter, laut und hefcktig und erregt. Die Worte sprudelten aus ihm heraus, als wäre in seinem Innern ein unsichtbarer Damm gebrochen. »Das war kein Töten, Lassar! Das war kein fairer Kampf. Die Männer hatten keine Chance. Sie haben sie abgeschlachtet wie Tiere!«
»Fair?« Lassar lachte leise. »Ich habe niemals behauptet fair zu sein, Resnec.«
»Es war nicht richtig«, sagte Resnec, plötzlich wieder leise und mit gesenktem Blick. »Ich … ich bin Euch immer ein treucker Diener gewesen, Herr, und ich werde es auch bleiben, aber das, was ich sehen musste, war …« Er stockte, suchte einen Moment nach Worten und fuhr fort: »Ihr wisst, dass ich nicht an die alten Legenden und Märchen glaube, Herr, aber der Schwarzeichenwald und die Feste Hochwalden sind heilig. Niemand hat es jemals gewagt, die Hand nach diesem Wald auszustrecken oder diese Festung mit dem Schwert in der Faust zu betreten.«
»Und jetzt hast du Angst?« Lassar lachte.
»Ja«, antwortete Resnec fest. »Ich habe Angst, Herr, denn wenn bekannt wird, was hier geschehen ist, dann werden sich alle von Euch abwenden.«
»Niemand wird es wagen, den Treueeid zu brechen«, sagte Lassar. »Wer sich mit mir einlässt, dient mir bis zu seinem Tod, so oder so.«
»Das Zwergenvolk hat sich schon von Euch abgewandt«, gab Resnec zu bedenken. »Und andere werden folgen. Ihre Furcht vor Euch mag gewaltig sein, aber die Furcht vor dem Geist dieses Waldes …«
»Kein Wort mehr!«, unterbrach ihn Lassar. Seine Stimme bebte. Resnec sah, wie sich seine dürren grauen Hände zu Fäucksten ballten.
»Niemand wird erfahren, was hier geschehen ist, Resnec, wenn es das ist, was dich beunruhigt. Und nun geh. Geh und tue, was ich dir befohlen habe. Die Sonne geht auf.«
Resnec hielt dem Blick der grundlosen, schwarzen Augen Lassars noch einen Moment lang stand, dann fuhr er herum und stürmte auf die Treppe zu.
Und während er die schmalen, ausgetretenen Holzstufen hicknunterlief, glaubte er ein lautloses Lachen in seinen Gedanken zu hören.
In dieser Nacht träumte er wieder und wieder waren es zu Anfang nur Schwärze und gestaltlose Schrecken, die er sah. Dann glaubte er ein großes, grotesk missgestaltetes Etwas zu sehen, einen Schatten, in dem nur die Augen lebten, kleine, lodernde Augen, die wie Splitter rot glühender Kohle in die Wolke von Dunkelheit eingebettet waren. Etwas Bedrohliches ging von ihm aus.
Dann verschwand es und für eine Weile wurde der Traum so unlogisch und handlungslos, wie Alpträume nun einmal sind: ein sinnverwirrendes Durcheinander von Bildern und Dingen und grundloser Angst. Schließlich, ganz kurz bevor er erwachte, sah er noch einmal ein Bild, diesmal mit schon beinahe übernatürlicher Schärfe: eine schwarze, himmelhoch aufragende Mauer, gekrönt von absurd gekrümmten Zinnen, die sich wie Finger einer Krallenhand in den Himmel spreizten. Im allerersten Moment hielt er es für Hochwalden, nach dem sich etckwas in ihm zurücksehnte wie nach nichts anderem auf der Welt, dann sah er, dass es nicht stimmte.
Die schwarze Festung, die ihm sein Traum zeigte, war gröckßer, sehr viel größer, als die Burg seiner Kindheit. Und sie war alt. Unglaublich alt. Ihre Mauern waren zerfallen. Die Zeit hatte große Stücke aus den Zinnen herausgebissen, die Türme geschleift und Linien, die einst hart und kantig gewesen sein mochten, abgeschliffen. Trotzdem hatte sie der Festung nicht wirklich Schaden zufügen können.
Prinz Cavin erwachte.
Selbst jetzt hatte er noch das Bild jener namenlosen schwarckzen Festung vor Augen und es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass es nur ein Traum gewesen war, etwas, das er nie gesehen hatte und das es nicht gab; nichts als ein böser Streich, den ihm seine überreizten Nerven gespielt hatten.
Und doch …
Es gelang ihm nicht, das Bild vollends zu vertreiben. Er ließ sich wieder zurücksinken, zog die Decke bis an den Hals hoch, denn die Nacht war sehr kalt und das dünne Zelt bot keinen wirklichen Schutz, aber er fand keinen Schlaf mehr.
Nach einer Weile gab er den stummen Kampf auf und verließ sein Zelt.
Lassar sah der dunkel gekleideten Gestalt nach, bis sie seinen Blicken entschwunden war. Hätte Resnec in diesem Moment sein Gesicht sehen können, dann wäre ihm vielleicht der sonderbare, halb bedauernde, ein ganz kleines bisschen aber auch besorgte Ausdruck in den schwarzen Augen des Schattenfürcksten aufgefallen.
Er würde sich um Resnec kümmern müssen, dachte Lassar. Bald. Der Statthalter war stärker, als er bisher geglaubt hatte, und es war ihm noch nicht gelungen, die menschliche Seite seines Selbst vollends zum Verstummen zu bringen.
Vielleicht würde es ihm auch nicht gelingen. Auch Lassar war nicht allmächtig, und Resnec wäre nicht der Erste, der sich als zu stark erwies, den Schritt über die unsichtbare Grenze, die Lassars Welt von der der Menschen trennte, vollends zu tun.
Nun, dachte er, wenn es so wäre, dann würde er Resnec töckten. Er hatte sich bisher als nützlich erwiesen, aber Lassar wusste nur zu gut, dass ehemalige Verbündete die schlimmsten Feinde sein konnten.
Er wandte sich um und ging die Treppe hinunter, ging aber nicht nach links, wie Resnec zuvor, sondern in die entgegengesetzte Richtung, auf das große, jetzt beinahe leer stehende Haupthaus von Hochwalden zu.
Seine Schritte hallten sonderbar gebrochen von den finsteren Wänden der Halle wider. Hochwalden schien dunkler geworden zu sein, schweigsamer und zugleich düsterer. Mit Lassar und seinen schwarzen Kreaturen war eine ungreifbare Finsternis über Hochwalden hereingebrochen, etwas wie ein eisiger Hauch, der ihm aus der Welt der Schatten und der Düsternis, in der er lebte, hierher gefolgt war. Es war kalt, viel kälter als noch am Tage zuvor, und die Linien der Schatten schienen härter geworden zu sein.
Und noch etwas war anders.
Lassar vermochte es nicht in Worte zu fassen, aber er spürte, dass sich etwas verändert hatte, seit er das Haus verlassen hatte, um mit Resnec zu sprechen. Die finstere Aura des Schattenreiches schien verändert, als hätte sich etwas Neues, für Lassar Unbekanntes und trotzdem Drohendes in die wogenden Schatten gemischt.
Er blieb stehen, drehte sich einmal im Kreis und ließ den Blick seiner schwarzen Augen misstrauisch die Halle entlangcktasten.
Er war allein. Nirgends rührte sich etwas und nicht einmal der kleinste Laut war zu hören. Für einen kleinen Moment glaubte Lassar zu ahnen, was es war, das andere verspürten, wenn sie in seiner Nähe waren, diese Furcht, das kaum in Worte zu fassende Gefühl der Beklemmung, das die Nähe seiner finsteren Kräfte in den Seelen der anderen weckte. Der Atem der Magie.
Vielleicht war es das, dachte er. Hochwalden war ein Ort großer Zauberkraft, auch wenn sein eigener Besitzer dies nicht einmal gewusst hatte; vielleicht nicht einmal Faroan selbst, der doch der Hüter dieser Kraft war. Lassar wusste nur einen einzigen Ort auf der Welt, an dem diese Magie noch stärker zu spüren war, und den hatte selbst er noch nicht zu betreten gewagt. Ja, dachte er, vielleicht war es nur der Hauch der Jahrtaucksende, den er spürte, der Atem der Zeit, der diese Mauern erfüllte, das Pulsieren unbekannter, selbst für ihn geheimnisvoller Kräfte.
War es Angst?, dachte Lassar. War das, was er jetzt fühlte, Angst? Eine Warnung, die ihm irgendetwas in ihm zuschrie, nicht zu weit zu gehen, sich nicht an Mächten zu versuchen, denen nicht einmal er gewachsen war?
Er versuchte den Gedanken zu verscheuchen. Aber ganz gelang es ihm nicht.
Gwenderon hatte geschlafen, aber es war ein sehr leichter Schlummer gewesen; etwas in ihm war hellwach geblieben, trotz Mannons Versprechen, Wache zu halten, und so schrak er hoch, noch ehe Cavin die Hand ausstrecken und ihn an der Schulter berühren konnte.
Das Gesicht des jungen Prinzen war bleich. Der Widerschein des Feuers ließ zuckende rote Schatten über seine Züge huckschen und unter den Augen lagen dunkle Ringe. Wenn er geschlafen hatte, dachte Gwenderon, dann war es kein erquickender Schlaf gewesen. Er widerstand im letzten Moment der Vercksuchung, sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Ohne dass Cavin bisher auch nur einen Laut von sich gegeben hatte, spürte er den Ernst, der den jungen Prinzen erfüllte. Dies war nicht der Moment für Floskeln.
Er setzte sich auf, streifte die Decke ab und schauderte, als er die Kälte spürte, die sich in seinen Gliedern festgekrallt hatte. Rasch hob er die Hand, legte den Zeigefinger über die Lippen und stand vollends auf. Cavin nickte und trat einen Schritt zurück, deutete auf ein anderes, näher beim Waldrand gelegenes Feuer, neben dem niemand schlief. Auch er hatte Mannons Worte nicht vergessen – der Tag, der vor ihnen lag, würde sehr anstrengend werden. Es nutzte niemandem, wenn sie die anderen weckten.
Schweigend ging Gwenderon zum Feuer hinüber, ließ sich davor in die Hocke sinken und hielt die Hände über die fast heruntergebrannten Flammen. Obgleich er die Hitze spürte, wärmte die Glut nicht richtig. Es war, als wäre die Kälte, die sich in seinem Körper eingenistet hatte, von einer gänzlich neuen, körperlosen Art.
Aber vielleicht wurde er auch nur alt.
»Mein Prinz?«, sagte er ohne zu Cavin aufzublicken.
»Lass den Unsinn, Gwenderon«, antwortete Cavin halblaut. Gwenderon suchte vergeblich nach einer Spur von Ärger oder Hochmut in seiner Stimme. »Wir sind allein. Ich muss mit dir sprechen.«
Gwenderon sah zu ihm auf. »Worüber?«
»Über … über alles«, murmelte Cavin ausweichend. Wie Gwenderon ließ er sich in die Hocke sinken und rieb fröstelnd die Hände über den Flammen.
»Es tut mir Leid, wenn ich dir den Nachtschlaf stehle«, begann er, »aber –«
»Das macht nichts«, unterbrach ihn Gwenderon. »Ich hätte sowieso keine Ruhe gefunden.« Er unterdrückte ein Gähnen, ließ sich zurücksinken und zog fröstelnd die Schultern zusammen. »Es ist kalt.«
Cavin blickte ihn an, und obwohl Gwenderon sein Gesicht hinter dem Vorhang von Schatten und rotem Glutlicht kaum erkennen konnte, sah er doch den Vorwurf in seinen Augen. »Warum machst du es mir so schwer, Gwenderon?«
»Schwer? Was?«
»Mich zu entschuldigen, du sturer alter Mann«, fuhr Cavin auf, beruhigte sich aber sofort wieder. »Es tut mir Leid.«
»Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen«, antwortete Gwenderon, obgleich er genau wusste, dass er Cavins Schmerz damit nur noch schürte. Aber, zum Teufel – Cavin hatte Recht. Er war ein sturer alter Mann und er hatte es nicht nötig, sich von einem Kind demütigen zu lassen. Er war sogar alt genug das Recht zu haben, nachtragend zu sein.
»Fünf Männer sind tot«, murmelte Cavin plötzlich. »Und es ist meine Schuld. Warum sprichst du es nicht wenigstens aus?«
Gwenderon schwieg eine Weile. »Weil es nicht stimmt«, sagckte er schließlich. »Euch trifft keine Schuld, mein Prinz. Wenn überhaupt«, fügte er nach einer neuerlichen Pause hinzu, »dann bin ich es, der die Schuld an ihrem Tode trägt.«
»Ich hätte den Raett nicht davonjagen dürfen«, sagte Cavin, als hätte er seine Worte gar nicht gehört. »Er wollte uns warnen. Und ich Narr habe mein Schwert genommen und bin auf ihn losgegangen. Genauso gut hätte ich die fünf Männer mit eigener Hand erschlagen können.«
Gwenderon schwieg. Cavin redete Unsinn – niemand, auch er selbst nicht, hatte geahnt, was geschehen würde. Und er wusste, dass der Prinz diese Worte nur sprach, weil er aus Gwenderons Mund hören wollte, dass es nicht wahr war. Er hatte einen Fehler gemacht, einen entsetzlichen Fehler, der fünf tapfere Männer das Leben gekostet hatte, aber es war nicht seine Schuld. Niemand konnte mit dem Unmöglichen rechnen.
Aber Gwenderon sagte die Worte nicht, auf die der Prinz wartete. Er wusste selbst nicht, warum er es nicht tat – es wäre so einfach gewesen. Ein Lächeln, ein paar Worte, vielleicht nur ein Kopfschütteln, um den entsetzlichen Schmerz zu lindern, der in Cavins Seele brannte. Aber er tat es nicht.
»Was geschieht hier, Gwenderon?«, fuhr Cavin nach einer Weile fort. »Was geschieht mit diesem Wald?« Etwas in seiner Stimme war anders. Gwenderon konnte nicht sagen was, aber irgendetwas schien darin erloschen zu sein. Er hob die Schultern.
»Ich weiß es nicht, mein Prinz«, sagte er leise. »Aber ich spüre es auch.« Er musste an Guarrs Worte denken, und an die des Zwerges: Der Wald hat Angst. Böse Zeit. Er fror.
»Ich glaube, du verschweigst mir etwas, Gwenderon«, sagte Cavin plötzlich. »Du hast mir nie gesagt, warum mein Vater wirklich darauf bestand, dass wir diesen Weg nehmen.«
»Das habe ich«, widersprach Gwenderon, aber Cavin ließ seinen Einwurf nicht gelten, sondern machte eine wütende Handbewegung, als wolle er die Worte beiseite fegen.
»Das hast du nicht!«, behauptete er. »Nicht wirklich. Verdammt, Gwenderon – was geschieht auf Hochwalden? Wovor hat mein Vater Angst? Vor Lassar?«
Diesmal war Gwenderon wirklich überrascht. »Ihr habt davon gehört?«
Cavin lachte humorlos. »Wer hätte das nicht? Verdammt, Gwenderon, glaubst du, ich hätte all diese Jahre nur damit verckbracht, höfische Etikette zu lernen und Zahlen auf Papier zu kritzeln? Lassar erobert seit einem Jahrzehnt ein Land nach dem anderen. Warum sollte er den Schwarzeichenwald verckschonen? Sag mir jetzt die Wahrheit, Gwenderon – ist es Lassar, vor dem mein Vater Angst hat?«
»Nein«, antwortete Gwenderon nach einer Weile. »Euer Vackter nicht, Cavin. Aber ich.« Er rückte ein wenig näher an das Feuer heran, streckte wieder die Hände aus und rieb sie über der Glut. »Ich … weiß nicht, was hier geschieht«, fuhr er fort. »Alles ist anders geworden, mit einem Male.« Er blickte auf, sah in die Richtung, in der die Raetts wie große braune Bündel aus Fell neben ihrem Feuer lagen, und bemerkte mit einem Kopfschütteln: »Ich weiß nicht einmal, ob sie wirklich auf unserer Seite stehen oder nicht.«
»Seit wann stehen Raetts auf irgendjemandes Seite?«, fragte Cavin.
Gwenderon seufzte. »Ihr haltet sie für Tiere.«
»Sind sie das denn nicht?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Gwenderon. »Bis gestern dachte ich es, aber …« Wieder schüttelte er den Kopf, blickte einen Moment in die Flammen und wurde sehr leise: »Alles ändert sich, mein Prinz. Und es ist keine Veränderung zum Guten. Fragt Karelian. Er gibt es nicht zu, aber er ist so verstört wie Ihr und ich. Und dieser Zwerg, den er mitgebracht hat … was wisst Ihr über das Kleine Volk?«
»Nicht mehr als du«, antwortete Cavin. »Wahrscheinlich weckniger. Sie leben in den Bergen und sie verachten die Menschen.«
»Sie töten jeden, der ihr unterirdisches Reich betritt«, sagte Gwenderon ruhig. »Es ist ein offenes Geheimnis, mein Prinz. Keiner, der ihr Dunkles Reich erkunden wollte, ist jemals zurückgekehrt. Selbst Lassars Schattenkreaturen fürchten sie. Und jetzt kommt einer von ihnen hierher und bietet uns an, uns über die geheimen Pfade des Zwergenvolkes nach Hochwalden zu führen.«
»Du fürchtest eine Falle?«
Gwenderon war so verblüfft, dass er im ersten Moment gar nicht antwortete. Nur noch mit Mühe unterdrückte er ein Lachen. Cavin war ein Kind.
»Nein«, sagte er schließlich. »Sie sind nicht unsere Freunde, aber das bedeutet nicht, dass sie unsere Feinde wären, mein Prinz. Mannon ist hier, um Euch zu beschützen.«
»Mich?« Cavin schien ehrlich verblüfft.
»Den zukünftigen König von Hochwalden«, bestätigte Gwenderon. »Nicht Cavin, Oros Sohn. Nur den Beschützer des Schwarzeichenwaldes. Um Euch zu retten, würde er keinen Finger rühren.«
»Hochwalden und das Zwergenvolk –«, begann Cavin. Aber er sprach nicht weiter, denn so wie Gwenderon spürte er plötzcklich, dass sie nicht mehr allein waren. Mit einem Ruck sah er auf. Ein rascher Schatten von Ärger huschte über seine Züge, als er die hünenhafte Gestalt gewahrte, die einen halben Schritt jenseits des Lichtes stehen geblieben war.
»Wie lange belauschst du uns schon?«
»Nicht lange, Prinz«, erwiderte Animah. Sie kam näher, sah einen Augenblick lang auf Cavin und Gwenderon herab und stützte sich auf ihren mannslangen Bogen. Gwenderon sah, dass sie einen einzelnen Pfeil aus dem Köcher gezogen und so in die Hand genommen hatte, dass sie ihn in einer einzigen Bewegung auf die Sehne legen und gleichzeitig den Bogen spannen konnte.
»Was willst du?«, fragte Cavin, noch immer im gleichen, gereizten Ton.
»Ich hörte Stimmen«, antwortete Animah. »Die Nacht ist kalt und lang. Ich wollte euch nicht belauschen. Aber du hast Recht, Gwenderon«, fügte sie hinzu, als merke sie nicht einckmal, dass sie ihre eigenen Worte damit Lügen strafte. »Etwas geschieht, was auch Karelian und Mannon in Sorge versetzt. Nichts ist mehr, wie es war. Es ist ein großer Vertrauensbeweis von Mannon, uns über die Dunklen Pfade zu führen.«
»Und warum tut er es?«, fragte Cavin, nun mehr verunsichert als wirklich zornig.
»Aus dem Grund, den Euch Euer Waffenmeister nannte, Cavin«, antwortete die Waldläuferin. »Es geht nicht um Euch. Es geht um Hochwalden, um diesen Wald …« Sie zögerte einen winzigen Moment. »Vielleicht um das Schicksal der Welt.«
»Jetzt übertreibst du«, sagte Cavin unsicher. »Möglicherweickse plant Lassar wirklich einen Angriff auf Hochwalden, vielleicht auch einen Hinterhalt gegen uns. Aber die Welt wird nicht aufhören sich zu drehen, wenn uns etwas geschieht, oder meinem Vater.«
Animah lachte, sehr, sehr leise und ohne die geringste Spur von echtem Humor. »Seid Ihr Euch dessen ganz sicher, mein Prinz?«, fragte sie.
Cavin antwortete nicht mehr. Aber das Schweigen, in das sie verfielen, wirkte plötzlich bedrückend. Lautlos kroch die Dunkelheit näher an das Feuer.
Der Schatten beobachtete weiter. Er war dem halben Dutzend Feuer und den darum schlafenden Gestalten so nahe gekommen, dass er sie hätte berühren können, hätte er einen Arm ausgestreckt und hätte er Hände gehabt, etwas damit anfassen zu können. Aber niemand bemerkte ihn. Selbst wenn jemand aufgewacht wäre, er hätte nichts gesehen. Allenfalls dass ihm aufgefallen wäre, wie kalt es plötzlich wurde, wie sich in das monotone Winseln des Windes ein neuer, beinahe ängstlicher Unterton schlich, wie sich die Wirklichkeit ein ganz kleines Stüchen mehr in die Richtung verschob, in der der Wahnsinn lauerte; und die bösen Träume. Dann verschwand der Schatten wieder, so spurlos, wie ihn die Welt der Alpträume ausgespien hatte.
Es war nicht die Wirklichkeit, dachte er entsetzt, sondern ein Alptraum, der sich irgendwie in den Tag geschlichen hatte und behauptete, wirklich zu sein. Da waren die Angst und die Schatten, die wie lautlose Wesen aus finsteren Winkeln der Realität gekrochen waren, und die Kälte, die dem grellen Glanz der Sonne Hohn sprach – und immer wieder die Angst.
Gwenderon blickte schaudernd auf die chaotische Ansammcklung formloser schwarzer Basaltbrocken herab, die sich zwickschen den Sträuchern und Bäumen erhoben wie Klippen aus einem bizarren, erstarrten Meer. Sie waren sehr früh aufgebrochen und auf dem Weg, den Mannon ihnen gewiesen hatte, zwar ein gutes Stück vorangekommen, aber doch viel langsackmer als am Abend zuvor, als die Raetts bei ihnen gewesen und ihnen mit ihren gewaltigen Körperkräften Bahn gebrochen hatten. Es war nun Tag, und vor ihnen, zwischen den schwarz aufragenden Rieseneichen und dem dornigen Gebüsch, herrschte noch immer Dunkelheit. Vielleicht würde sie niemals ganz weichen.
Es war eine sehr eigenartige Dunkelheit, sie schien wie ein finsterer Vorhang Dinge zu verbergen, an die er lieber nicht denken mochte. Und er nahm eine ebenso seltsame, irgendwie körperlose Kälte wahr, die ihm und den anderen entgegenschlug. Beides war auf Angst einflößende Weise nicht normal. Wenn dies ein Teil der Welt war, in der das Kleine Volk lebte, dann verstand er, warum sie als so fremd und feindselig galt.
Dann drehte er sich im Sattel herum und sah in Mannons Gesicht, und er erkannte die Furcht darin und den Zweifel und wusste, dass, was immer hinter dieser gestaltgewordenen Schwärze dort vor ihnen lauerte, dem Zwerg so fremd und unheimlich war wie ihm. Vielleicht noch mehr, denn er mochte die Gefahr kennen, die hinter den Schatten wartete.
»Bist du sicher, dass dies der richtige Weg ist?«, fragte er.
Mannon nickte. Die Bewegung war abgehackt. »Ja«, sagte er. »Der Einzige. Wir sollten uns beeilen.« Seine Stimme drang nur verzerrt an Gwenderons Ohr. Selbst die Geräusche waren hier anders. Aber trotzdem konnte Gwenderon den Unterton von nur noch mühsam unterdrückter Angst darin deutlich hören. Und irgendwie war er froh, mit seiner Furcht nicht allein zu sein.
Sie ritten weiter. Ihre Tiere begannen zu scheuen, als sie sich den Ruinen näherten, aber diesmal waren es nicht Hitze und Erschöpfung, die sie gegen die Befehle ihrer Reiter aufbegehren ließen. Die Tiere spürten das Fremde, Böse, das von den zyklopischen Ruinen ausging, so deutlich wie ihre Herren. Vielleicht deutlicher.
Sie näherten sich dem verfallenen Gemäuer bis auf zehn Schritte, dann gebot Mannon ihm mit einer knappen Geste, abzusitzen und das Pferd am Zügel weiterzuführen. Gwenderon gab den Befehl weiter. Sein Gesicht prickelte, als näherten sie sich einer unsichtbaren Grenze, hinter der Kälte lauerte.
Für einen Moment überkamen ihn noch einmal Zweifel, während sie absaßen und auf das würfelförmige Gebäude zugingen, in dem er den Eingang zu dem Was-auch-immer vermutete, durch das sie der Zwerg führen wollte. Die Angst wurde stärker und er spürte ohne sich zu ihnen umblicken zu müssen, dass es den anderen ebenso erging, auch Karelian und Animah. Irgendetwas sagte ihm, dass es wichtig war, dem Zwerg zu folgen, dass dieser eine Tag, den sie einsparen würden, von entscheidender Bedeutung sein mochte.
Aber war es wirklich richtig?
Möglicherweise, dachte er bedrückt, tauschten sie ein Übel gegen ein anderes und größeres ein. Möglicherweise entfesselten sie einen Waldbrand, um einen brennenden Busch zu löckschen. Plötzlich – so absurd der Gedanke war – wünschte er sich Guarr und seine Raetts zurück. Sosehr ihn diese riesigen wilden Kreaturen erschreckt hatten, so sicher hatte er sich in ihrer Nähe gefühlt.
Cavin blieb plötzlich stehen. Seine Hand fiel klatschend auf das Schwert an seiner Seite, während sein Kopf hochruckte und sein Blick misstrauisch durch das Unterholz tastete. »Was ist?«, fragte Mannon ungehalten. »Warum haltet Ihr? Wir müssen weiter.« In seiner Stimme war ein drängender, fast furchtcksamer Unterton, der Gwenderon nicht gefiel.
Cavin antwortete nicht gleich, sondern drehte sich einmal um seine Achse, während sein Blick weiterhin misstrauisch die Schatten zwischen den Bäumen absuchte. Gwenderon fiel auf, dass er ganz bewusst nicht auf die schwarzen Ruinen blickte. Dann nahm er mit sichtlicher Überwindung die Hand von der Waffe und zuckte mit den Achseln. »Ich … weiß nicht«, gestand er zögernd.
»Irgendetwas ist …« Er brach ab, suchte einen Moment nach Worten und hob schließlich abermals die Schultern. »Vielleicht habe ich mich getäuscht«, murmelte er. »Ich hatte das Gefühl, jemand beobachtet uns.«
Gwenderon sah den Prinzen verwirrt an. Cavin war mit seicknen Gefühlen ganz und gar nicht allein. Auch er hatte schon seit geraumer Zeit das Empfinden gehabt, von unsichtbaren Augen angestarrt zu werden, es aber auf seine eigene Nervosicktät und Furcht geschoben, auf den Atem dieser fremden, ganz und gar feindseligen Welt, die im Herzen des Schwarzeichenckwaldes existierte, ohne dass er bisher auch nur eine Ahnung davon gehabt hatte. Andererseits …
»Lassar?«, fragte er, an Mannon gewandt.
»Du meinst, er hat uns verfolgen lassen?« Mannon zuckte mit den Achseln, so heftig, dass ihm um ein Haar die Axt von der Schulter geglitten wäre.
»Zuzutrauen wäre es ihm. Vielleicht, dass er einige seiner Kreaturen auf unsere Spur gesetzt hat.« Er lachte nervös. »Habt keine Sorge, Gwenderon. Dorthin, wohin wir gehen, können nicht einmal sie uns folgen.« Aber seinen Worten fehlte die rechte Überzeugung.
»Wir sollten trotzdem vorsichtig sein«, sagte Gwenderon. »Vielleicht wäre es besser, wenn einer von uns als Wache hier zurückbliebe.«
Mannon schüttelte den Kopf. »Nein. Ein Mann allein wäre in diesen Wäldern verloren. Und wenn es wirklich Lassar ist, würdest du deinen Mann opfern, Gwenderon. Er könnte uns nicht schützen. Und nun kommt.«
Es gelang Gwenderon nicht vollends, ein sichtbares Schauckdern zu unterdrücken, als sie weitergingen, aber Mannon tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Gwenderons Verhalten hatte nichts mit Feigheit zu tun. Kein denkendes Wesen, das der Angst fähig war, hätte nicht versucht eine Ausrede zu finden, nicht weiter zu gehen.
Sie überschritten die unsichtbare Grenze, hinter der Kälte und Furcht wie gläserne Raubtiere lauerten, und näherten sich der eigentlichen Ruine. Gwenderon erkannte jetzt, dass das Gebäude ehemals sehr viel größer gewesen sein musste, vielleicht war es eine kleine Festung gewesen, die hier gestanden hatte, lange bevor der erste Mensch seinen Fuß in diese Wälder setzte; vielleicht ehe es überhaupt Menschen gab. Der würfelförmige Bau, auf den Mannon zielstrebig zusteuerte, war der Rest eines ehedem gewaltigen Turmes, erbaut aus schwarzem Granit und Basalt, zernagt von Jahrtausenden, aber selbst jetzt noch gigantisch. Und er glaubte das Alter, das dieser schwarze Stein verströmte, geradezu anfassen zu können.
Der Eingang war zum Großteil mit Flugsand verschüttet, sockdass sie weitere, kostbare Minuten damit verschwenden mussten, sich mit den Händen einen Durchgang zu schaufeln, durch den sie ins Innere des Gebäudes gelangen und dabei noch die Pferde mitnehmen konnten. Die Echos ihrer Schritte wurden hohl.
Der Tag blieb hinter ihnen zurück, aber es wurde nicht dunkel. Die Wände selbst strahlten ein unangenehmes, irgendwie krank wirkendes Licht aus, einen grauen Schimmer, der an Schimmel und Verfall erinnerte und auch danach roch, und die Kälte sprang sie an wie ein unsichtbares Raubtier mit gläsernen Krallen. Gwenderon sah Mannons Gestalt wie einen kleinen verschwommenen Schatten vor sich, dessen Bewegungen in der unheimlichen Beleuchtung grotesk hüpften, und er fragte sich, ob auch er zu einem Gespenst wurde für die anderen. Schaudernd drehte er sich im Gehen um und blickte zu Cavin zurück. Der Prinz ging nur wenige Schritte hinter ihm, wie alle anderen ein wenig gebückt und sein Pferd am Zügel mit sich führend. Seine Augen waren weit vor Angst. Und es war … ja, dachte Gwenderon verwirrt, der Ausdruck in seinen Augen war Erkennen!
Cavin schien etwas sagen zu wollen, aber Gwenderon wandte rasch den Blick und ging ein wenig schneller, um zu Mannon aufzuschließen, der trotz seiner kurzen Beine und seiner grocktesken Art, sich fortzubewegen, bereits einen gehörigen Vorcksprung gewonnen hatte.
Der Weg führte sanft, aber beständig in die Tiefe. Mehr als einmal rückten die Wände so dicht zusammen, dass Gwenderon vor seinem Pferd gehen und das Tier mit Gewalt hinter sich herziehen musste, und mehr als einmal musste einer der Männer seine Peitsche zu Hilfe nehmen, sein bockendes Tier überhaupt noch von der Stelle zu bringen. Gwenderon wusste hinterher nicht mehr zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, seit sie Mannon in diesen schwarzen Schlund der Erde gefolgt waren. Er hatte versucht seine Schritte zu zählen, war aber rasch durcheinander geraten und hatte es aufgegeben. Vermutlich waren es nur wenige Minuten. Aber es kam ihm vor, als wären es Stunden. Irgendwann, nach einer Ewigkeit, traten die Wände des Tunnels auseinander und der Boden war plötzlich eben. Mannon blieb stehen, machte eine auffordernde Handbewegung und trat zur Seite, um Gwenderon und den anderen Platz zu machen.
Gwenderon wusste nicht, was er erwartet hatte – auf jeden Fall nicht das. Vor und unter ihnen breitete sich eine giganticksche, mit Trümmern übersäte Halle aus, eine zyklopische Höhle, groß genug, ganz Hochwalden hineinzusetzen, ohne dass seine Türme auch nur die Decke berührt hätten. Ein Hauch stickiger Wärme lag in der Luft, unbeschadet der Kälte, die Gwenderon noch immer zittern machte und seinen Atem zu einer Folge grauer Dampfwölkchen vor seinem Gesicht kondensieren ließ. Irgendwo, sehr weit entfernt, erscholl ein dumpfes Tosen und Rauschen wie von einem unterirdischen Wasserfall.
»Was ist das?«, fragte er. Die ungeheuerliche Weite der Höhle fing seine Worte auf, verschluckte sie und warf sie Sekunden später zurück, als unverständlich verzerrtes Echo, das seine Angst noch schürte. Mannon antwortete nicht, sondern blickte nur ungeduldig an Gwenderon vorbei auf den Gang, aus dem die Männer einer nach dem anderen hervorkamen. Es war keickner unter ihnen, dessen Gesicht nicht vor Angst erstarrt gewecksen wäre. Sie waren in eine Welt eingedrungen, in der sie nicht sein durften, in der nichts Lebendes etwas verloren hatte. Auch der Zwerg nicht. »Wie geht es weiter?«, fragte Gwenderon, als ihm klar wurde, dass Mannon auf seine erste Frage nicht antckworten würde.
Mannon blickte ihn an, schien etwas sagen zu wollen, deutete aber dann nur in einer fahrigen Geste auf zwei nicht sehr weit entfernte, übermannshohe, schwarze Basaltbrocken, die gegenckeinander gestürzt waren und so ein umgedrehtes »V« bildeten. Staub und Unrat waren im Laufe der Jahrhunderte selbst bis hier hinuntergekrochen und knirschten leise unter ihren Stiefeln, als sie sich dem steinernen Tor näherten. In Gwenderons Ohren klang das Geräusch wie ein leises, böses Lachen; vielleicht auch wie das Huschen und Knistern winziger horniger Krallen, die irgendwo hinter ihnen in der Dunkelheit gewetzt wurden.
Und immer noch hatte er das sichere Gefühl, beobachtet zu werden.
Es war nicht nur Einbildung, dachte er nervös. Die Dunkelckheit starrte ihn an. Irgendwo waren Augen, verborgen hinter dem Schleier widerlich grauen Lichtes, das nur den Eindruck von Helligkeit vermittelte, in Wahrheit den Blick aber eher narrte. Sie waren nicht allein. Aber er war auch nicht mehr sicher, dass es wirklich Lassars Augen waren, die sie beobachteten.
Der Zwerg hatte das steinerne »V« erreicht und blieb stehen. Fast behutsam begann er mit der behandschuhten Rechten den Staub fortzuwischen, bis der schwarze Basaltboden wieder bloß und glänzend dalag.
Auf dem sorgsam geglätteten Stein waren Linien zu erkennen: ineinander verschlungene Schlangenlinien, die einen sonderbar asymmetrischen – und unmöglich zu beschreibenden Umriss bildeten. Mannon zögerte und Gwenderon spürte deutlich, wie viel Überwindung es ihn kostete, seine Angst noch einmal niederzukämpfen und die Axt zur Hand zu nehmen. Als er es schließlich tat, waren seine Bewegungen voller Hast und nicht sehr sicher.
Die doppelt geschliffene Schneide knirschte bedrohlich, als Mannon sie in den schmalen Spalt im Stein schob und als Heckbel benutzte. Für einen winzigen Moment sah es eher so aus, als würde sie unter seinem Druck zerbrechen, statt den Spalt im Fels zu erweitern, aber dann erscholl ein sonderbar heller, seufzender Laut und vor den Füßen des Zwerges schwang ein gewaltiger Felsquader in die Tiefe; nahezu lautlos und sanft wie eine Feder. Gwenderon versuchte vergeblich den Mechacknismus zu erkennen, der den tonnenschweren Fels so sanft zu bewegen imstande war.
»Wohin –«, begann Cavin. Mannon fuhr herum und schnitt ihm mit einer erschrockenen Geste das Wort ab. »Keinen Laut!«, keuchte er. »Ich beschwöre Euch, keinen Laut mehr jetzt! Ganz gleich, was geschieht!«
Cavin verstummte erschrocken. Seine Augen wurden dunkel vor Angst, während sein Blick der schrägen, steil in die Tiefe führenden Rampe zu folgen versuchte, die unter der Falltür zum Vorschein gekommen war. An ihrem unteren Ende lastete Dunkelheit, eine Schwärze von wahrhaft stofflicher Art, wie eine Mauer.
Hintereinander folgten sie dem Zwerg in die Tiefe. Das graue Leuchten war auch hier allgegenwärtig, sodass sie die schmacklen, in den bloßen Fels hineingemeißelten Stufen deutlich erkennen konnten, die der Rampe folgten, als wäre sie nicht nur für menschliche, sondern auch für die Füße anderer Wesen geschaffen, denn sie waren zu hoch und zu schmal, um wirkcklich darauf gehen zu können. Irgendwo, wenige Meter unter ihnen, verloren auch sie sich in grauer Unendlichkeit, als wäre der Schacht mit leuchtendem Wasser gefüllt, und einen Mockment lang musste sich Gwenderon mit aller Gewalt gegen die Vorstellung wehren, dass dieser Höllenschacht geradewegs bis ins Zentrum der Erde hinabführte und ein einziger Fehltritt einen Sturz über Meilen und Meilen zur Folge haben könnte.
In Wahrheit war er nur wenige Dutzend Schritte tief. Aber es war ein entsetzliches Gefühl, nicht zu sehen, wohin einen der nächste Schritt führen würde.
Selbst als sie den Grund des Schachtes erreichten und wieder festen Boden unter den Füßen hatten, wurde es nicht besser. Die Angst gehörte so sehr zu dieser unterirdischen, verbotenen Welt wie ihr lichtschluckender Fels und der graue Schein.
Sie befanden sich in einer kleinen, vollkommen runden Kammer, von der zahllose niedrige Stollen abzweigten; offenckbar der Ausgangspunkt eines ungeheuerlichen Labyrinthes, das sich weit unter dem Wald erstreckte. Gwenderon dachte einen Moment darüber nach, welche finsteren Geheimnisse und üblen Dinge sich wohl noch in seinen schwarzen Eingeweiden verbergen mochten, zog es aber vor, doch nicht weiter darüber nachzudenken, und sah stattdessen den Zwerg fragend an. Mannon erwiderte seinen Blick ruhig, sah sich kurz um und deutete mit der Hand auf einen der abzweigenden Tunnel.
Noch einmal zögerte Gwenderon der Einladung zu folgen, dann vertrieb er seine Angst endgültig, duckte sich und drang mit raschen Schritten hinter dem Zwerg in den felsigen Gang ein. Irgendwo vor ihm bewegte sich etwas, sehr deutlich diesckmal, und Gwenderon war sicher, dass es nicht Mannon war – aber er schob den Gedanken mit aller Willenskraft von sich und zwang sich dazu, sich nur auf das vor ihm liegende Stück Weges zu konzentrieren.
Es war nicht sehr weit. Schon nach einem guten Dutzend Schritte endete der Gang, vor einer gewaltigen, schwarzen Tür aus Basalt, auf der sich die sinnverwirrenden Muster und Linicken der Falltür weiter oben wiederholten. Diesmal mussten sie Mannons Axt nicht zu Hilfe nehmen, um weiterzukommen: Die Tür schwang wie von Geisterhand (wieso wie?, dachte Gwenderon hysterisch. Es waren Geisterhände!!!) bewegt auf und der Zwerg ging weiter.
Mannon blieb so abrupt stehen, dass Gwenderon die Bewegung nicht mehr rechtzeitig bemerkte und gegen ihn prallte. Instinktiv senkte er die Hand auf das Schwert, führte die Beckwegung aber nicht zu Ende, als der Zwerg rasch und warnend die Hand hob und mit einer Kopfbewegung nach vorne wies. Lautlos trat Gwenderon neben ihn und spähte in die Halle hinckein.
»Was ist los?«, flüsterte er.
Mannon blickte ihn zornig an und legte warnend den Zeigefinger auf die Lippen. »Still«, flüsterte er. »Wartet hier!«
Er wartete Gwenderons Antwort nicht ab, sondern huschte einen Schritt zur Seite, um in die Deckung eines zyklopischen, schwarzen Basaltbrockens zu gelangen, bedeutete Gwenderon mit Gesten, ihm zu folgen, und nahm nun doch seine Waffe zur Hand; allerdings sehr langsam, wobei er die Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger der Linken hindurchgleiten ließ, damit sie kein verräterisches Scharren verursachte.
Auch Gwenderon griff abermals nach seinem Schwert, zog die Waffe jedoch noch nicht, sondern blickte den Zwerg mit einer Mischung aus Angst und Unsicherheit an. Mannon erwickderte seinen Blick, aber seine Augen waren leer: Gwenderon war sicher, dass der Zwerg ihn nicht wirklich sah. Eine Weile blieb Mannon in Deckung, in sonderbar erstarrter Haltung und gebannt lauschend, dann stand er sehr langsam auf und deutete ein Nicken an.
»Es ist alles in Ordnung«, flüsterte er. »Wir können weitergehen. Dort vorne!«
Gwenderon blickte gebannt in die Richtung, in die Mannons ausgestreckter Arm wies. Er sah nichts als unscharfe Formen, verwaschen, als betrachte er sie durch einen Schleier schnell stürzenden grauen Wassers, und huschende Bewegung, die wohl nur seiner eigenen Angst entsprang. Vor ihnen erstreckte sich eine weitere, ungeheuerliche Höhle, so groß, dass sich Gwenderons Verstand weigerte ihre wirkliche Größe zur Kenntnis zu nehmen.
»Wie weit … ist es noch?«, fragte er stockend. Sein Gaumen war so trocken, dass er kaum noch sprechen konnte.
»Nicht mehr weit«, erwiderte Mannon im Flüsterton. »Noch durch diese Halle, dann geht es hinauf. Wenigstens … hoffe ich das«, setzte er stockend hinzu.
Gwenderon starrte ihn an. »Du hoffst?«, wiederholte er ungläubig. »Was soll das heißen? Kennst du den Weg oder nicht?«
»Ich war niemals hier«, erwiderte Mannon ruhig. »Niemand war das, Gwenderon. Aber ich kenne den Weg. Und nun kommt.« Er straffte sich, fuhr herum und ging weiter, so schnell, dass Gwenderon keine Gelegenheit fand, ihn zur Rede zu stellen. Gwenderon folgte ihm, die rechte Hand auf dem Schwert, die linke am Zügel seines Pferdes, so fest, dass das Leder hörbar ächzte.
Schatten und Kälte und die verzerrten Echos ihrer Schritte folgten ihnen. Und die Halle war nicht mehr leer.
Jetzt, als er einmal darauf aufmerksam geworden war, sah er es deutlich: Inmitten des grauen Lichtes bewegte sich … ein Schatten.
Gwenderon konnte nicht erkennen, woher er kam – das flackernde graue Licht verwischte alles, was weiter als wenige Schritte entfernt lag, bis zur Unkenntlichkeit – aber er war groß und massig und er bewegte sich.
»Mannon?«, fragte er. »Bist du das?« Seine Stimme hallte unheimlich von den Wänden wider und der Schatten hörte für einen Moment auf, sich zu bewegen. Dann kam er weiter auf sie zu. Und irgendetwas an ihm war entsetzlich falsch.
»Zum Teufel, ihr sollt den Mund halten!«, erscholl Mannons Stimme aus der Dunkelheit, ein gutes Stück vor und rechts von dem Schatten. Seine Gestalt tauchte aus den pulsenden Scheckmen auf, das Gesicht eine Grimasse des Entsetzens, seine Haut glänzend vor Schweiß.
»Was … was ist das?«, stammelte Gwenderon.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Mannon. »Der … Wächter, von dem ich sprach. Ich beschwöre Euch, schweigt jetzt und geht weiter. Es ist nur noch ein kurzes Stück. Und seid still – das gilt auch für euch andere!«, fügte er mit erhobener Stimme hinzu, an die Männer gewandt, die ihm und Gwenderon wie zitternde Schatten folgten. Die Höhle fing seine Worte auf und verzerrte sie zu einem entsetzlichen Gelächter. »Ganz gleich, was geschieht, beachtet es nicht. Folgt nur mir. Und wehrt euch nicht. Wer seine Waffe zieht, ist verloren!«
Niemand widersprach, als er diesmal das Zeichen zum Weicktergehen gab, und auch Gwenderon nahm schweigend den Zückgel fester zur Hand und bemühte sich, den Abstand zu Mannon nicht größer als zwei Schritte werden zu lassen. Ein paar Mal sah er zu den anderen zurück. Sie folgten ihm in geringer Entfernung, aber er konnte nicht einmal die Gestalt Cavins identifizieren; ihre Gestalten waren verschwommene Schemen, die sich in grauer Helligkeit aufzulösen schienen wie trockenes Laub in leuchtender Säure. Und da war der Wächter, von dem Mannon gesprochen hatte, der Schatten, tausendfach schlimmer als Lassars Kreaturen, lauernd, sie umschleichend, niemals wirklich sichtbar, aber da.
Dann auf einmal begann einer der Männer zu schreien.
Für einen winzigen Moment glaubte Gwenderon das Blitzen von Metall zu sehen, ein sich aufbäumendes Pferd und ganz deutlich das schreckverzerrte Gesicht des Kriegers, dann legte sich ein anderer, viel gewaltigerer Schatten über den Mann und sein Tier, und plötzlich war nur noch wirbelnde Schwärze da, und ein grässlicher, nicht enden wollender Schrei, der tausendfach gebrochen von den unsichtbaren Wänden der Höhle wickderhallte.
Dann waren alle drei verschwunden – der Mann, sein Tier und der schwarze Schatten.
Das Trommeln der Hufschläge war verklungen, und nachdem das riesige Tor mit einem dumpfen Schlag geschlossen worden war, hatte sich erneut das tiefe, bedrohliche Schweigen des Todes über Hochwalden ausgebreitet. Es war vollends Tag geworden und trotzdem herrschte auf dem lang gestreckten Rechteck des Hofes noch Dunkelheit: Die Schatten waren tiefer und schärfer abgegrenzt als gewöhnlich und das Licht war bleiern und schien zu flackern, als hinge ein unsichtbarer Schleier vor dem gelben Ball der Sonne, der ihrem Licht jeden Rest von Wärme und Lebenskraft nahm.
Die Männer auf den Mauern waren immer noch die geisterckhaften Statuen und auch in den endlosen Gängen und Treppenfluren der Burg regte sich nicht die geringste Spur von Leben.
Hochwalden, die Festung König Oros, die Beschützerin des Schwarzeichenwaldes und Symbol für dessen Unantastbarkeit, hatte sich in ein gewaltiges steinernes Grab verwandelt.
Und doch war sie nicht leer.
Das Leben war aus ihren Mauern verjagt worden, aber zusammen mit Lassar, dem Herrn der Schatten und seinen Kreackturen, hatte etwas anderes, unbeschreiblich Finsteres Einzug in die uralten Mauern gehalten. Es war still.
Es dauerte einen Moment, bis Lassar begriff, dass es gerade dieses Schweigen war, was nicht stimmte. Hochwalden durfte nicht still sein. Nicht so still …
Von plötzlicher Sorge erfüllt fuhr er herum, stürmte durch die Halle und die Treppe hinauf, die zu Oros Gemächern führte.
Wenige Schritte vor dem Thronsaal fand er den ersten Toten.
Es war ein Mann seiner Garde. Er lag verkrümmt in einer großen, schon halb geronnenen Lache seines eigenen Blutes. Seine Augen waren im Tode geweitet, und ein Ausdruck des Schreckens hatte sich in seinen Blick gebrannt, der selbst Lassar schaudern ließ. Die rechte Hälfte seines Gesichts war auf furchtbare Weise zerstört; eine Wunde, wie sie keine Lassar bekannte Waffe schlagen konnte. Es sah aus, dachte er, als hätte ihn die Pranke eines Raubtieres getroffen. Dann fiel ihm der Rattengestank auf.
Der Schattenfürst blieb stehen, ließ sich dicht neben dem Leichnam auf ein Knie sinken und streckte zögernd die Hand nach ihm aus.
Seine Haut war noch warm. Was immer ihn umgebracht hatte, musste noch in der Nähe sein.
Lassar richtete sich mit einem Ruck auf, fuhr kampfbereit herum und tastete gleichzeitig mit den unbegreiflichen Sinnen eines Magiers die Runde ab, auf der Suche nach der Gefahr, dem … Etwas, das diesen Krieger getötet hatte und vermutlich nicht alleine war.
Aber er fand nichts. Rings um ihn herum herrschte das Schweigen des Todes. Er registrierte nicht die geringste Spur von Leben.
Überhaupt nichts …
Ein rascher, eisiger Schauer lief auf kribbelnden Spinnenfückßen seinen Rücken hinab, als er begriff, dass er auch die Anckwesenheit seiner eigenen Kreaturen nicht mehr fühlte. Es war, als wäre Hochwalden nun vollends ausgestorben.
Langsam wandte er sich wieder um, ging auf die geschlosseckne Tür des Thronsaales zu und öffnete sie.
Er war auf den Anblick vorbereitet gewesen; trotzdem traf es ihn wie ein Hieb.
Der große, nahezu leere Saal bot ein Bild der Verwüstung. Überall war Blut, waren zerbrochene Waffen und verkrümmt daliegende, schwarz bepelzte Leiber. So wie die Krieger dalagen, musste der Tod warnungslos über sie hereingebrochen sein, so schnell und plötzlich, dass sie nicht einmal mehr Zeit gefunden hatten, eine Warnung auszustoßen.
Lassar zögerte. Sein Blick starrte auf die kleine Tür im Hintergrund des Thronsaales. Dahinter lag ein kleiner, fensterloser Raum, leer bis auf ein Bett und eine hölzerne Truhe. Als er gegangen war, hatte der Leichnam des Magiers dort gelegen, mit verschränkten Armen, den Stab auf der Brust! Die Tür war verschlossen worden, von zwei Kriegern bewacht, die strengcksten Befehl hatten, niemand außer Lassar selbst hindurchzulassen.
Jetzt stand sie eine Handbreit offen und die beiden Wachen, die er davor postiert hatte, lagen tot auf dem Boden.
Lassars Besorgnis wuchs langsam zu bohrender Furcht, während er den Thronsaal durchquerte und sich der Kammer näherte.
Zwei Schritte vor der Tür blieb er stehen, hob die Hand und murmelte ein sonderbar klingendes Wort. Die Tür schwang wie von Geisterhand bewegt auf und Lassars Blick fiel auf das schmale, hölzerne Bett dahinter.
Es war leer.
Auf dem ehemals weißen Linnen waren noch große, hässliche Flecke bräunlich eingetrockneten Blutes zu erkennen, und auf dem Boden, vor dem Bett, wie zu einem spöttischen Abschiedsgruß geordnet, lagen die zersplitterten Schäfte von zwei schwarzen Pfeilen.
Die Pfeile, die den Magier getötet hatten.
Aber Lassar war sich plötzlich gar nicht mehr sicher, dass er wirklich tot war.
Denn Faroan, der Magier von Hochwalden, war verschwunden.
Es war früher Morgen, als sie die Höhle verließen. Auf dem letzten Stück war der Weg besser geworden, sodass sie in die Sättel hatten steigen können. Gwenderon wusste nicht mehr, wie lange sie durch die unterirdischen Höhlen und Tunnel geritten waren, wie viele Meilen sie zurückgelegt hatten, eingeschlossen in Fels und Dunkelheit und erstarrte Zeit. Er wusste nicht mehr, wie viele finstere Abgründe sie überschritten hatten und auf welchen verbotenen Pfaden sie gewandelt waren. Es konnten nicht mehr als etliche Stunden gewesen sein, aber er hatte das Gefühl, nach Jahren zum ersten Mal wieder das Licht der Sonne zu sehen, nach einer Ewigkeit zum ersten Mal wieckder frei atmen zu können.
Er vertrieb den Gedanken, ließ sein Pferd ein paar Schritte vom Höhleneingang zurückweichen und stieg müde aus dem Sattel. Mannon hatte gesagt, dass die Wege, über die er sie führen wollte, für Menschen verboten waren, und er hatte Recht damit. Wie Recht, das erkannte Gwenderon erst jetzt, als er auf das Flüstern der Furcht in seiner Seele lauschte und in die grauen, erschöpften Gesichter der anderen blickte.
Gwenderon war – hinter dem Zwerg und Karelian – der Erste gewesen, der den Tunnel verließ. Während er auf die anderen wartete, sah er sich erleichtert um. Sie waren wieder auf einer Lichtung, und mit Ausnahme des Felsens, in dessen Flanke die Höhle gähnte wie ein gewaltiges, aufgerissenes, steinernes Maul, gab es absolut nichts Außergewöhnliches zu sehen.
Die Sonne schien schon eine Weile, aber sie stand noch nicht hoch genug, um über den Wipfeln der Bäume sichtbar zu sein. Sie mussten einen Tag und eine Nacht im Reich des grauen Lichtes gewesen sein. Bestimmt. Gwenderon sah sich einen Moment unschlüssig um, ging dann zu Karelian und Mannon zurück, sagte aber zu ihnen kein Wort, sondern ließ seinen Blick über die doppelte Reihe erschöpfter Männer gleiten, die nacheinander aus dem Felsentor herauskam.
»Wer?«, fragte er einfach.
»Willhard, Herr.« Es war Norrot, der antwortete, und Gwenderon erschrak, als er seine Stimme hörte: ein erschöpftes Krächzen, das verzerrt unter dem Helm des Kriegers hervordrang. Norrots Gesicht war bleich wie das eines Toten.
Willhard, dachte Gwenderon betäubt. Ausgerechnet er. Nach Norrot hatte der dunkelhaarige, stets gut gelaunte Krieger sein größtes Vertrauen genossen. Für einen Moment weigerte er sich einfach, zu glauben, dass ausgerechnet er von allen es gewesen sein sollte, der die Nerven verloren hatte. Es war ungerecht. Es war einfach nicht richtig, dass nicht einer von Cavins idiotischen Schulmeistern die Beherrschung verloren hackben sollte, sondern einer seiner besten Krieger.
Seine Gedanken mussten wohl ziemlich deutlich auf seinem Gesicht geschrieben stehen, denn Mannon sah plötzlich zu ihm auf und versuchte zu lächeln. Es misslang. Der Zwerg wirkte erschöpft. Sein breitflächiges, fast zur Gänze von einem gewaltigen Bart beherrschtes Gesicht erschien im Morgenlicht grau und eingefallen und in seinen Augen stand ein fiebriger Glanz. Was immer er getan hatte, musste schwer gewesen sein. Es hatte ihn viel Kraft gekostet.
»Es tut mir Leid, Gwenderon«, sagte er. »Genau das war es, was ich verhindern wollte. Ich habe versagt.«
Gwenderon begriff den wahren Sinn von Mannons Worten erst nach Sekunden. »Soll das heißen, du … du hast gewusst, dass so etwas passiert?«
»Befürchtet«, berichtigte ihn Mannon ruhig. »Sie verlangen fast immer ein Opfer. Manchmal auch mehr. Ich hoffte es verckhindern zu können. Ich habe versagt.«
»Wenn jemand versagt hat, dann der Krieger«, mischte sich Karelian ein. Gwenderon drehte sich zu ihm herum und sah ihn voller Wut an, aber Karelian hielt seinem Blick stand. Animah war hinter ihn getreten und überragte ihn um Haupteslänge. Sie sah so erschöpft aus wie alle und sonderbarerweise war es gerade der Anblick ihres grauen, eingefallenen Gesichtes, der Gwenderon davon abhielt, Karelian die Antwort zu geben, die er verdiente. Stattdessen wandte er sich von ihm ab und machte eine vage Geste in den Wald hinein.
»Wo sind wir?«, fragte er. Nach den dunklen widerhallenden Echos, die ihre Worte unter der Erde begleitet hatten, kam ihm der Klang seiner eigenen Stimme fremd vor.
»Eine halbe Wegstunde von Hochwalden entfernt«, antwortete Karelian an Mannons Stelle.
»Eine halbe Wegstunde?«, wiederholte Gwenderon. Er deucktete zum Himmel hinauf. »Dann haben wir nicht viel Zeit gewonnen«, fuhr er an den Zwerg gewandt und in vorwurfsvollem Ton, fort. »Es ist wieder Morgen. Ich frage mich, weshalb Willhard sterben musste.«
»Es ist nicht wieder Morgen, Gwenderon«, sagte Animah sanft. »Es ist noch immer Morgen.«
Gwenderon drehte sich herum, als er die Stimme der Waldckläuferin hörte. »Noch … immer?«, wiederholte er erstaunt.
»Das ist völlig unmöglich«, mischte sich eine weitere Stimme ein. »Wir sind Stunden durch dieses Rattenloch gekrochen. Willst du behaupten, es wäre keine Zeit vergangen?«
Prinz Cavin war dicht an sie herangeritten und als Einziger nicht abgesessen. Sein Gesicht wirkte wie das aller anderen blass und erschöpft. Auch in seinen Augen glomm der Funke der Furcht, die von ihren Herzen Besitz ergriffen hatte.
»Es wird schon so sein, mein Prinz«, antwortete Gwenderon matt, obgleich Animahs Worte auch ihn mit einer tiefen, mit Furcht gemischten Verwirrung erfüllten. Aber er hatte keine Lust zu streiten. Nicht jetzt, und schon gar nicht mit Cavin. »Ihr könnt dem Zwerg vertrauen.«
Mannon sah ihn beinahe erstaunt an, schwieg aber. Nur auf Animahs Lippen erschien ein dünnes, kaum merkliches Lächeln.
»Aber das ist unmöglich!«, widersprach Cavin. »Wie …«
»Dem Zwergenvolk sind Wege und Pfade bekannt, die zu verstehen uns Menschen nicht gewährt ist«, unterbrach ihn Karelian ungeduldig. »Glaubt mir, Prinz – was Ihr auf Euren Schulen gelernt habt, ist nicht alles. Dieser Wald ist ein Ort großer Magie. Denkt nicht darüber nach.« Sein Lächeln wurde ein wenig spöttischer, als er hinzufügte: »Davon bekommt Ihr nur Kopfschmerzen.«
Cavin starrte ihn einen Moment mit neu aufflammendem Zorn an, dann riss er sein Pferd mit einem unnötig harten Ruck herum und galoppierte zu seinen Begleitern zurück.
Karelian sah ihm stirnrunzelnd nach. »Ich fürchte, Ihr werdet es nicht leicht haben, Gwenderon«, seufzte er. »König Oro ist alt und es wird nicht mehr lange dauern, bis Cavin seine Nachfolge antritt. Ich möchte nicht an Eurer Stelle sein, wenn er erst König auf Hochwalden ist. Er wird Euch die Schweineställe ausmisten lassen. Wenn Ihr Glück habt.«
Gwenderon lächelte. »Ihr müsst ihm Zeit geben, Karelian«, sagte er. »Er ist noch jung.«
»Zeit?« Etwas an der Art, in der Karelian das Wort aussprach, irritierte Gwenderon. Er sah auf und blickte dem Waldckläufer ins Gesicht. In das spöttische Lächeln und den Ausdruck von Erschöpfung hatte sich Sorge gemischt. »Ich fürchte, genau das ist es, was Ihr nicht habt, Gwenderon. Zeit.«
Gwenderon fragte den Waldläufer nicht, wie er seine Worte gemeint hatte. Wahrscheinlich hätte er doch nur ein neues Rätcksel zur Antwort bekommen und er war müde und erschöpft und wollte nicht mehr diskutieren. Mit einem lautlosen Achselzucken wandte er sich um und stieg wieder in den Sattel.
Nacheinander versammelten sich die Krieger und Edelleute um ihn und nach einer Weile hörte auch der junge Prinz auf, weiter zu schmollen, und lenkte sein Pferd wieder in die Mitte der zusammengeschmolzenen Gruppe, wo sein Platz war.
Gwenderon betrachtete ihn mit einer Mischung aus Sorge und Verwirrung. Was war nur mit ihm los? Er war zum Mann herangewachsen, in den Jahren, in denen er ihn nicht gesehen hatte, und trotzdem benahm er sich kaum anders als der rotznäcksige, vorlaute Bengel, den Gwenderon vor so vielen Jahren bis an die Grenzen des Schwarzeichenwaldes geleitet hatte.
Der Waffenmeister vertrieb den Gedanken mit einem leisen Seufzer, tätschelte seinem Pferd gedankenverloren den Hals und blinzelte die Müdigkeit fort, die in seinen Augen brannte.
»Reiten wir«, sagte er leise.
Aber weder Karelian noch der Zwerg rührten sich von der Stelle. Mannon stierte benommen vor sich hin, während Karelian mit kleinen, hektischen Bewegungen den Kopf hierhin und dorthin drehte und den Waldrand absuchte. Sein Mund war zu einem dünnen, blutleeren Strich zusammengepresst.
»Was habt Ihr?«, fragte Gwenderon.
»Ich … weiß nicht«, murmelte Karelian ohne ihn anzusehen. »Etwas ist nicht so, wie … wie es sein sollte.«
»Was bedeutet das?«, fragte Gwenderon barsch. »Fürchtet Ihr einen …«
»Ich weiß es nicht«, fiel ihm Karelian ins Wort. »Ich spüre nur, dass irgendetwas vorgeht.«
»Etwas Böses«, pflichtete ihm Mannon bei. »Lassars Atem ist überall. Ich spüre, wie er seine Klauen auch nach diesem Wald ausstreckt.« Auf seinem bärtigen Zwergengesicht erschien ein Ausdruck tiefer Sorge. »Ihr müsst auf der Hut sein, wenn Ihr weiterzieht.«
»Ihr?« Gwenderon sah den Zwerg fragend an. »Heißt das, du kommst nicht mit?«
»Nein.« Mannon schüttelte den Kopf. »Meine Aufgabe ist erfüllt. Die Gefahren, die jetzt noch auf Euch lauern, muss Euer Schwert abwehren, Gwenderon.«
Gwenderon war enttäuscht. Er wusste selbst nicht zu sagen warum, aber er hatte wie selbstverständlich angenommen, dass Mannon sie nach Hochwalden begleiten würde. Die Gefahr, die sie gemeinsam überstanden hatten, verband sie.
Aber vielleicht war das nur eine romantische Vorstellung, die gar nicht stimmte. Er straffte sich. »Ich danke Euch, Mannon«, sagte er. »Auch im Namen des Prinzen. Und richtet meinen Dank auch dem Volk der Zwerge aus, wenn ihr zu ihm zurückkehrt.«
»Das werde ich tun.« Mannon nickte zum Abschied, schwang seine Axt über die Schulter und ging an den Reitern vorbei zurück zu dem Tor im Fels. Gwenderon sah ihm nach, bis seine Gestalt mit den Schatten der Höhle verschmolzen war.
»Reiten wir«, sagte er rau. Plötzlich fühlte er sich müde. Die Anstrengungen der durchwachten Nacht, die sie der Wirklichkeit abgetrotzt hatten, forderten ihren Tribut. Er spürte, dass er schlichtweg im Sattel einschlafen würde, wenn er nicht in Beckwegung blieb.
Für eine kurze Weile schienen sie wieder in die Nacht hineinzureiten, als sie die Lichtung verließen und ein Stück weit durch das Unterholz ritten. Aber bereits nach wenigen Minuten erreichten sie wieder einen Weg.
Gwenderon bemerkte, wie die Männer um ihn herum erleichtert aufatmeten, als sie das Dunkel des Waldes verließen. Auch der Prinz wirkte nervös und unsicherer, als er zugeben wollte, wie Gwenderon mit einem raschen Seitenblick bemerkte.
Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt schneller, um an die Spitze der Gruppe und an Karelians und Animahs Seite zu gelangen. Der Waldläufer hatte nichts mehr gesagt, aber seine Blicke glitten noch immer unsicher über den Waldrand zu beickden Seiten des Weges und auch seine dunkelhaarige Begleiterin war sichtlich nervös. Fast eine Stunde lang ritten sie schweigend durch den Wald, ein erschöpfter, müder Haufen, der zwar weit vor der Zeit zurückkehrte, aber so müde war, als hätte er das Dreifache des normalen Weges hinter sich gebracht. Es waren nicht nur die durchwachte Nacht und die Aufregungen des vergangenen Tages gewesen, das spürte Gwenderon. Irgendetwas in den dunklen Kavernen und Tunneln des Zwergenvolkes hatte ihnen Kraft geraubt, als hätten sie für die gewonnene Zeit bezahlen müssen.
Plötzlich blieb Karelian abermals stehen und starrte aus zusammengekniffenen Augen in den Wald vor ihnen.
»Seid Ihr immer noch nervös?«, fragte Gwenderon.
Karelian nickte. Sein Gesicht wirkte angespannt. »Irgendetckwas stimmt nicht mit diesem Wald«, sagte er.
Gwenderon versuchte seine Bedenken mit einem Lächeln zu zerstreuen, aber es gelang ihm nicht. Im Gegenteil – auch er selbst fühlte sich immer unruhiger, und für einen Moment glaubte er ebenfalls zu spüren, was der Waldläufer meinte.
»Es ist nicht mehr weit bis Hochwalden«, sagte er. »Selbst wenn sich irgendwelches Gesindel hier herumtreiben sollte, werden sie es kaum wagen, uns so dicht bei der Festung anzugreifen.«
»Ich fürchte mich nicht vor Gesindel«, erwiderte Karelian ohne ihn anzublicken. »Mannon hatte Recht. Es ist Lassars Atem, der diesen Wald vergiftet. Er ist hier. Er oder seine schwarzen Henker.«
»Lassar?« Gwenderon runzelte die Stirn und widerstand im letzten Moment der Versuchung, sich erschrocken umzusehen. »Unsinn!«, sagte er. »Er wird es nicht wagen, die Hand nach diesem Wald auszustrecken. Sicher nicht. Allmählich geht mir dieses hysterische Gerede über Lassar auf die Nerven«, fügte er übellaunig hinzu.
Karelian wollte antworten, stockte aber plötzlich und fuhr mit einer erschrockenen Bewegung herum.
»Das ist ein Hinterhalt!«, keuchte er. »Gwenderon – das ist eine Falle! Zurück!!« Die letzten Worte hatte er geschrien.
Aber seine Warnung kam zu spät.
Ein gewaltiger Schatten brach aus dem Wald. Gwenderon hörte einen Schrei, dann ertönte ein peitschender Laut. Irgendetwas sirrte dicht an seinem Kopf vorbei und der Mann hinter ihm krümmte sich und fiel mit einem Schmerzenslaut aus dem Sattel.
»Raetts!«, brüllte Karelian mit überschnappender Stimme. »Sie sind uns gefolgt: Flieht!«
Auf dem schmalen Pfad brach ein unbeschreiblicher Tumult aus. Der Waldrand schien in einer Woge von braunem, strupckpigem Fell zu explodieren und spie Dutzende der mannsgroßen Kreaturen aus. Bogensehnen sirrten und ein ganzer Hagel von Pfeilen und Bolzen überschüttete die kleine Gruppe. Männer und Pferde schrien getroffen auf. Gwenderon verspürte einen harten, betäubenden Schlag gegen die Seite, fiel halbwegs aus dem Sattel und fand erst im letzten Augenblick sein Gleichgewicht wieder.
Rings um ihn her brach die Hölle aus. Die Angreifer waren Raetts, aber es waren nicht Guarr und seine Horde, wie Gwenderon im allerersten Moment geglaubt hatte. Sie waren viel größer und wilder als der heruntergekommene Haufen, der sie ein kurzes Stück des Weges begleitet hatte – und sie waren in schwarzes Leder und mattes, gehämmertes Metall gekleidet und schwangen mächtige Keulen und Schwerter in den krallenbewehrten Händen.
Es mussten nahezu zwei Dutzend der gewaltigen Kreaturen sein, die urplötzlich aus dem Wald gebrochen und wie ein tödcklicher Sturmwind unter Gwenderons Männer gefahren waren. Der Pfeilhagel hörte auf, so plötzlich, wie er begonnen hatte, aber dafür brach ringsum ein unbeschreibliches Handgemenge los.
»Zurück!«, schrie Gwenderon über den Kampflärm hinweg. »Schützt den Prinzen!«
Seine Stimme ging fast im Toben des Kampfes unter, aber drei, vier seiner Krieger hörten sie doch, lösten sich von ihren Gegnern und versuchten an seine und Prinz Cavins Seite zu gelangen. Gwenderon gewahrte eine Bewegung aus den Augenwinkeln, fuhr im Sattel herum und schlug mit dem Schild zu, als er das spitze Rattengesicht eines der Angreifer vor sich sah. Das Wesen fiel mit einem pfeifenden Laut zurück, aber sofort nahm ein anderes seinen Platz ein. Gwenderon versuchte erneut mit dem Schild zuzuschlagen. Aber der Raett duckte sich unter seinem Hieb hindurch, schlug eine seiner Krallenhände in Gwenderons Bein und hackte mit der anderen nach dem Hals des Pferdes.
Ein silberner Blitz jagte an seinem Gesicht vorbei. Der Raett schrie auf, schlug die Hände gegen den Hals und brach in die Knie. Zwischen seinen Fingern sah der Griff eines silbernen Zierdolches hervor.
Gwenderon wandte den Kopf und nickte dem Prinzen dankckbar zu. Cavin grinste flüchtig, fuhr herum und hieb mit seinem Schwert nach einem weiteren Raett. Das Wesen parierte den Schlag mit seiner Keule, sprang blitzschnell zur Seite und schlug seinerseits zu. Cavin schrie vor Schmerz und Überrackschung, als die armlange Keule seinen Arm traf und ihm das Schwert aus der Hand prellte. Aber er besaß immerhin noch genug Geistesgegenwart, dem nächsten Hieb auszuweichen und dem Raett einen Tritt auf die spitze Schnauze zu versetzen, der ihn zurücktaumeln ließ.
Gwenderon wankte im Sattel. Blut lief warm und klebrig an seinem Bein herab und seine ganze rechte Körperhälfte schien in Flammen zu stehen. Wie durch einen wogenden roten Vorckhang beobachtete er, wie Karelian mit gleich zwei der riesigen Kreaturen kämpfte, mit nichts als seinen bloßen Händen und Füßen. Mit zusammengebissenen Zähnen zog er das Schwert aus der Scheide, drängte sein Pferd ein paar Schritte zurück und schlug blindlings nach einem struppigen Schatten, der vor ihm auftauchte. Er traf nicht, aber der Raett ließ trotzdem von ihm ab und zog sich hastig zurück.
Der Kampf endete, ehe er richtig begonnen hatte. Schon die Pfeile der Angreifer hatten fast die Hälfte von Gwenderons Männern aus den Sätteln gefegt und die Überlebenden hatten der erdrückenden Übermacht der halb tierischen Kreaturen nichts entgegenzusetzen. Mann auf Mann fiel unter den Hieben der Rattenkrieger und im Handumdrehen lagen außer Gwenderon, Karelian, dem Prinzen selbst und zwei seiner Krieger alle Männer tot oder verwundet am Boden. Karelians Begleiterin war verschwunden. Gwenderon hoffte, dass sie Gelegenheit gefunden hatte, im Wald unterzutauchen.
Gwenderon hob schützend seinen Schild vor den jungen Prinzen, als die Front der Rattenkrieger näher rückte. Auch die Raetts hatten einen hohen Blutzoll entrichten müssen, aber sie standen zu viert noch immer gegen mehr als ein Dutzend der Bestien.
»Ein Schwert!«, keuchte der Prinz. »Gebt mir ein Schwert, Gwenderon.«
Gwenderon machte eine unwillige Kopfbewegung. Die Schmerzen in seiner Seite ließen allmählich nach, aber dafür machte sich ein dumpfes Gefühl der Betäubung in seinem Bein und der Schulter breit. Der Schild schien mit jedem Atemzug schwerer zu werden.
»Gebt mir ein Schwert!«, verlangte Cavin noch einmal. »Ich will wenigstens noch eines von den Biestern mitnehmen!«
»Verdammt, haltet endlich den Mund!«, schnappte Karelian. »Die hätten uns längst töten können, wenn sie gewollt hätten, begreift Ihr das nicht? Sie wollen Euch lebend!«
Cavin starrte ihn einen Augenblick lang aus schreckgeweiteckten Augen an. Seine Lippen begannen zu beben. Langsam, als koste ihn die Bewegung unendlich viel Überwindung, wandte er den Blick und starrte den Halbkreis mannshoher Rattengestalten an, der sie umgab.
Es war alles zu schnell gegangen, dachte Gwenderon. Sie hatten gar keine Zeit gehabt, wirklich zu begreifen, was geschah. Sie waren in eine Falle geritten, wie sie perfekter nicht sein konnte. Es war, als hätten die Angreifer gewusst, wo sie das Reich der Zwerge verlassen würden.
Eine unruhige Bewegung lief durch die Reihen der Rattenkrieger, dann teilte sich der Halbkreis aus Leibern und ein becksonders großes, narbenübersätes Exemplar trat hervor. Sein Fell war tiefschwarz und es hatte nur ein Auge.
Gwenderon packte sein Schwert fester, obwohl er wusste, wie sinnlos es wäre, kämpfen zu wollen. Er hatte kaum noch die Kraft, sein Schwert zu halten.
»Was willst du?«, fragte er.
Der Raett blieb stehen, starrte ihn einen Moment aus seinem einzigen, funkelnden Auge an und hob dann langsam die Hand. Seine Klaue deutete fordernd auf Cavin.
Gwenderons Gedanken überschlugen sich. Der Raett schwieg, aber die Bedeutung seiner Geste war klar.
»Einen Dolch!«, flüsterte Cavin. »Ich flehe dich an, Gwenderon, gib mir eine Waffe. Lieber bringe ich mich um als mich dieser Bestie auszuliefern!«
Der Raett wandte mit einem Ruck den Kopf und starrte Cavin an. Er schwieg noch immer, aber Gwenderon war sicher, dass er jedes einzelne Wort verstand. Noch einmal hob er die Hand und deutete auf Cavin. Und diesmal war die Geste ungleich befehlender und herrischer als zuvor.
»Ihr wollt den Prinzen«, sagte Gwenderon leise. Er spürte, wie ihn die beiden Krieger, die Cavin und ihn flankierten, nerckvös ansahen. Aber er widerstand der Versuchung, ihren Blick zu erwidern, um ihnen Mut zu machen. Stattdessen sah er ungerührt den riesigen schwarzen Raett an. Langsam hob er den Schild höher und drängte sein Pferd ein Stück zur Seite, sodass er genau zwischen dem Prinzen und der gigantischen Rattenkreatur stand.
»Holt ihn euch, wenn ihr könnt!«, sagte er.
Der Raett stieß einen Laut aus, der fast wie ein Lachen klang. Ohne irgendwelche Anzeichen von Hast oder Eile drehte er sich um, ging zu seinen Kriegern zurück und stieß einen schrillen, misstönenden Pfiff aus.
Die Front der Rattenkreaturen teilte sich und hinter ihnen erschien ein weiteres halbes Dutzend struppiger dunkelbrauner Ungeheuer. In ihren Händen lagen gewaltige, übermannsgroße Bögen.
Gwenderon spannte sich. Seltsamerweise hatte er überhaupt keine Angst. Er wusste, dass er sterben würde, ganz egal ob er den Prinzen nun auslieferte oder nicht. Die Raetts würden keickne Zeugen hinterlassen, die sie – oder ihre Auftraggeber – verraten konnten. Aber das einzige Gefühl, das in ihm war, war Enttäuschung. Er hatte versagt. Oro hatte ihn und ein Dutzend seiner besten Krieger ausgeschickt, um genau das zu verhindern, was jetzt geschehen war. Aber er hatte versagt.
»Es tut mir Leid, mein Prinz«, sagte er leise. »Wenn … wenn Ihr Euren Vater wieder seht, dann sagt ihm, dass es mir Leid tut. Ich …«
Ein helles, sirrendes Geräusch zerriss die Stille, die sich über die Lichtung gebreitet hatte. Einer der Rattenkrieger schrie auf, ließ seinen Bogen fallen und taumelte mit wild rudernden Armen zurück.
Aus seiner Brust ragte der gefiederte Schaft eines Pfeiles.
Der Todesschrei des Raett ging im Sirren der Bogensehnen und dem Klirren von Metall unter.
Die Front der Rattenkrieger zerbrach wie unter einem unsichtbaren Fausthieb. Ein Hagel von Pfeilen senkte sich wie eine tödliche Wolke auf die halb tierischen Angreifer herab und ein zweiter, dritter, vierter und fünfter Raett-Bogenschütze fiel getroffen zu Boden. Die Überlebenden suchten ihr Heil in der Flucht. Hinter ihnen sprengte ein Trupp weiß gekleideter, in Stahl und blitzendem Gold gepanzerter Reiter heran.
»Vater!«, schrie Prinz Cavin überrascht. »Gwenderon – das sind unsere Krieger! Wir sind gerettet!«
Gwenderon wollte antworten, aber er kam nicht dazu. Der Großteil der Raett-Krieger hatte zwar gleichfalls die Flucht ergriffen, aber drei oder vier von ihnen stürzten sich, ungeachtet der näher kommenden Reiterschar, auf Gwenderon und seickne Gruppe, wild entschlossen den Prinzen zu töten, wenn sie seiner schon nicht habhaft werden konnten.
Gwenderon riss mit einem erschrockenen Ausruf seinen Schild hoch, als der einäugige Anführer der Raett-Horde mit einem wütenden Pfeifen auf ihn zukam. In seinen Krallenhänden blitzte plötzlich ein Schwert, eine gewaltige, mehr als meckterlange Klinge, die ein normal gewachsener Mann kaum hätte halten können.
Gwenderon wankte im Sattel, als die Klinge mit ungeheurer Wucht auf seinen Schild herunterkrachte. Er schrie, spürte, wie der Schild zerbrach, und stürzte rücklings aus dem Sattel. Instinktiv rollte er sich ab und versuchte wieder auf die Füße zu springen, brach aber gleich darauf mit einem neuerlichen Schmerzensschrei zusammen. Sein Arm war taub, aber in der Schulter wühlte ein unbeschreiblicher Schmerz.
Cavins Schreckensschrei ließ ihn herumfahren.
Der Raett war unter der Wucht seines eigenen Hiebes zurückgetaumelt, aber er schien wie von Sinnen. Das einzige Auge flammte wie eine glühende Kohle in seinem schwarzen Rattengesicht. Mit einem wütenden Zischen riss er sein Schwert abermals in die Höhe und stürmte auf den Prinzen zu.
Karelian sprang ihn an. Der Raett keuchte, riss ihn in einer Bewegung, die Gwenderon einem Wesen seiner Größe niemals zugetraut hätte, herum und schlug Karelian den Schwertknauf vor die Stirn.
Der Waldläufer fiel mit einem lautlosen Seufzer nach hinten und blieb reglos liegen.
Gwenderon stemmte sich mit verzweifelter Kraft in die Höckhe. Oros Reiter sprengten in rasendem Galopp heran, aber so schnell sie auch waren – sie würden trotzdem zu spät kommen. Der Raett griff bereits wieder an. Er schien entschlossen zu sein, den Prinzen zu töten, wenn er ihn schon nicht lebendig bekommen konnte. Cavin versuchte sein Pferd herumzureißen, aber das Tier war halb wahnsinnig vor Furcht und trat nur hycksterisch auf der Stelle.
Gwenderon sprang.
Sein verletztes Bein schien in einer Woge von Schmerzen und unerträglicher Glut zu explodieren, als er gegen den Raett prallte. Er schrie, fiel hilflos zur Seite. Aber auch der Raett-Krieger war aus dem Gleichgewicht gekommen. Vom Schwung seines eigenen Angriffes nach vorne gerissen, tauckmelte er an Cavin vorbei und versuchte verzweifelt sein Gleichgewicht wiederzufinden.
Cavin half seiner Bewegung mit einem gezielten Fußtritt nach. Der Raett torkelte und stürzte vornüber.
Als er sich wieder aufrichten wollte, zischte ein Pfeil heran und bohrte sich in seinen Schädel.
Der Raett wankte. Seine Hände öffneten sich; das Schwert fiel polternd zu Boden.
Aber er starb nicht.
Langsam, unendlich langsam richtete er sich auf, breitete die Arme aus und tat einen einzigen, schwerfälligen Schritt auf den Prinzen zu.
Cavin sah ihm wie gebannt entgegen. Seine Augen waren vor Schrecken geweitet. Unfähig sich zu bewegen starrte er den näher kommenden Raett an.
»Prinz! Duckt Euch!«
Der Schrei riss Cavin endgültig aus seiner Erstarrung. Mit einem erschrockenen Keuchen fuhr er zusammen und krümmte sich instinktiv über dem Hals seines Pferdes. Ein dunkler, lang gestreckter Schatten zischte eine Handbreit über seinen Rücken hinweg, bohrte sich in die Brust des Raett und schleuderte ihn zurück.
Gwenderon stöhnte. Schmerzen und Übelkeit schlugen wie eine betäubende Woge über ihm zusammen und für einen Mockment verlor er das Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Rücken und eine Hand machte sich geschickt an seinem Bein zu schaffen. Es tat weh, sehr weh, aber er biss die Zähne zusammen und schluckte den Schmerzenslaut, der über seine Lippen kommen wollte, herunter. Jemand hob vorsichtig seinen Kopf an. Ein Gesicht beugte sich über ihn, zuerst nicht mehr als ein verschwommeckner heller Fleck, dann lichteten sich die grauen Schleier, die seinen Blick trübten, und er erkannte Cavin.
»Prinz«, murmelte er. »Seid Ihr … unverletzt?«
Cavin nickte, und für einen Moment glaubte Gwenderon, einen beinahe erleichterten Ausdruck in seinen Augen zu sehen.
»Liegt still, Gwenderon«, sagte er. Behutsam zog er seine Hand unter Gwenderons Hinterkopf hervor, beugte sich wieder über sein Bein und zog den Verband an. »Sagt Bescheid, wenn es zu wehtut«, sagte er.
Gwenderon drehte mühsam den Kopf. Sein Bein war mit einem Stock geschient worden und Cavin hatte schmale Streifen aus seinem Hemd gerissen, um die provisorische Schiene zu befestigen. Gwenderon nickte anerkennend.
»Wo habt Ihr … das gelernt?«, fragte er.
Cavin lächelte. »Man lernt mehr als Schreiben und Lesen auf den Schulen, auf denen ich war«, sagte er. »Zum Beispiel auch, starrköpfige alte Männer wie Euch zusammenzuflicken.«
Sein Blick wurde wieder ernst. »Ich danke Euch, Gwenderon«, sagte er leise. »Ich wäre tot, wenn Ihr Euch nicht vor dieses Ungeheuer geworfen hättet.«
»Dazu bin ich da«, murmelte Gwenderon. Wieder griffen Dunkelheit und Schwere nach seinem Denken und für einen Moment drohte er erneut in Bewusstlosigkeit zu versinken. Aber er wehrte sich mit aller Kraft und drängte die Schwärze zurück, die seine Gedanken zu umnebeln begann. Mühsam tastete er mit der Linken nach festem Halt und versuchte sich hochzustemmen, aber Cavin schob ihn mit sanfter Gewalt zurück.
»Bleibt liegen«, sagte er. »Die Männer bauen eine Trage für Euch.«
»Was ist mit … den Raetts?«, fragte Gwenderon.
»Sie sind tot. Oder geflohen.«
Es war nicht Cavin, der antwortete. Gwenderon drehte den Kopf und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen zu der Gestalt hinauf, die sich als schwarzer Schatten gegen das grelle Licht der Sonne abzeichnete.
»Wer … seid Ihr?«, fragte er.
Der Mann stieß ein halblautes, raues Lachen aus und ließ sich neben ihm in die Hocke sinken, sodass sein Gesicht im Schatten lag und Gwenderon es erkennen konnte.
Es war wie ein Hieb.
Gwenderon kannte dieses Gesicht. Das dunkle, eng anliegende Haar, die stechenden schwarzen Augen, denen nicht die geringste Kleinigkeit entging, den Mund, der ständig zu einem abfälligen Lächeln verzogen zu sein schien.
»Resnec!«
»Es freut mich, dass Ihr mich noch erkennt, Gwenderon«, sagte Resnec. »Nach all den Jahren.«
»Was tut Ihr hier?«, schnappte Gwenderon. Ohne auf den klopfenden Schmerz in seinem Bein zu achten stemmte er sich hoch, sodass sich sein Gesicht auf gleicher Höhe mit dem Rescknecs befand. »Was wollt Ihr?«
Resnec lächelte dünn. »Oh, zum Beispiel Euch das Leben retten«, sagte er spöttisch. »Und dem Prinzen. Wäre es Euch lieber gewesen, wir wären nicht gekommen?«
»Ihr kennt Euch?«, fragte Cavin verständnislos. »Wer ist dieser Mann, Gwenderon?«
Gwenderon versuchte aufzustehen, aber er war zu schwach dazu. Erst als Cavin ihm half, gelang es ihm, sich auf die Füße zu stemmen und – wenn auch schwankend – aus eigener Kraft zu stehen. Auch Resnec erhob sich wieder. Seine Haltung wirkte entspannt und auf seinen Zügen lag noch immer jenes spöttische, herablassende Lächeln. Aber seine Hand lag auf dem Schwert.
»Wer dieser Mann ist?«, wiederholte Gwenderon aufgebracht. »Habt Ihr wirklich noch nicht von Resnec gehört, mein Prinz?«
Cavin verneinte. »Wer ist er?«
»Lassars Stiefellecker«, antwortete Gwenderon böse.
»Las…« Cavin verstummte mitten im Wort, drehte sich zu Resnec herum und starrte ihn sekundenlang mit wachsender Verwirrung an.
Das Lächeln auf Resnecs Zügen wirkte plötzlich nicht mehr ganz echt. »Ich stehe in König Lassars Dienst, das ist richtig«, bekannte er. »Aber im Moment bin ich im Auftrage Eures Vackters unterwegs, Prinz Cavin.«
»Ich glaube Euch kein Wort!«, sagte Gwenderon aufgebracht. »König Oro würde niemals …«
»Warum«, unterbrach ihn Resnec, schnell und mit hörbar erckhobener Stimme, »fragt Ihr nicht Euren Herrn selbst, Gwenderon. Oder zweifelt Ihr sogar das Wort Eures Königs an?«
Gwenderon blinzelte verwirrt. »Oro ist hier?«
»Das stimmt«, sagte Cavin rasch. Seine Stimme klang unsicher. »Verzeiht, Gwenderon, aber ich vergaß es dir zu sagen. Er kam wenige Augenblicke nach Resnec und den Männern.«
Er deutete nach rechts. Gwenderons Blick folgte seiner Geste. Der schmale Waldweg quoll schier über von Dutzenden von Pferden und Kriegern, die die weißgoldene Uniform Hochwaldens trugen. Aber es waren auch andere Männer zwickschen ihnen: Krieger in schwarzen, matt glänzenden Rüstungen und bodenlangen Mänteln. Auf ihren Schilden und Brustharnickschen prangte ein flammend rotes Dreieck. Das Auge Siths, des Gottes des Feuers. Lassars Wappen … Und zwischen ihnen stand der König.
Aber das ist unmöglich!, dachte Gwenderon verwirrt. Oro hatte Hochwalden seit Monaten nicht mehr verlassen. Er war zu alt für solch einen anstrengenden Ritt. Hätte er es gekonnt, so wäre er selbst seinem Sohn entgegengeritten, statt Gwenderon zu schicken.
»Wartet, Gwenderon. Ich hole ihn.« Cavin lief los, ohne seickne Antwort abzuwarten, und Gwenderon blieb allein mit Rescknec zurück.
»Das … das verstehe ich nicht«, murmelte er hilflos.
Resnec lachte leise. »Das verlangt auch niemand von Euch, Gwenderon«, sagte er böse. »Es reicht, wenn Ihr tut, was man Euch sagt. Ihr seid nicht zum Denken hier, sondern um zu kämpfen.« Er sah sich mit bewusst übertriebener Gestik um und fügte hinzu: »Aber wie mir scheint, versteht Ihr nicht allzu viel von Eurem Handwerk.«
Gwenderon starrte den hoch gewachsenen Mann in dem dunklen Mantel hasserfüllt an. Hätte er noch die Kraft dazu gehabt, wäre er Resnec an die Kehle gegangen. So beschränkte er sich auf einen wütenden Blick und wartete schweigend, bis Cavin mit dem König zurückkam. Vier seiner Leibgardisten begleiteten Oro – aber auch zwei der schwarz gekleideten Krieger Lassars.
»Gwenderon!«, sagte Oro, als er näher kam. »Ich freue mich Euch gesund und wohlbehalten wieder zu sehen. Fast, jedenfalls«, fügte er mit einem flüchtigen Lächeln hinzu.
Gwenderon blieb ernst. Seine Gedanken überschlugen sich. Er verstand nichts mehr. »Was … was bedeutet das alles?«, fragte er verwirrt. »Verzeiht, Majestät, aber ich …«
»Ihr seid verwirrt, das verstehe ich«, unterbrach ihn Oro. »Aber es ist alles in Ordnung, Gwenderon, glaubt mir.«
»In Ordnung?« Gwenderon starrte den greisen König an, dann deutete er auf die beiden schwarz gekleideten Krieger zu seinen Seiten. »Was tun diese … diese Kreaturen hier?«, fragte er. Er sah aus den Augenwinkeln, wie sich Resnec spannte.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Oro noch einmal. Ein neuer Ton schwang in seiner Stimme mit, den sich Gwenderon nicht erklären konnte, und in seinen Augen glomm ein sonderbares Feuer.
»Es ist viel geschehen, seit Ihr fortgeritten seid, Gwenderon«, sagte er. »Hochwalden wurde angegriffen.«
»Angegriffen?«, keuchte Gwenderon. Seine unverletzte Hand zuckte zum Gürtel, aber er führte die Bewegung nicht zu Ende, als Oro fortfuhr: »Nicht von Lassar, Gwenderon. Im Gegenteil.«
»Im Gegenteil? Was heißt das?«
»Es waren Krieger aus den nördlichen Wüsten«, antwortete Resnec an Oros Stelle. Seine Stimme klang kalt. Aber es schwang auch eine Spur von Triumph darin mit. »Barbaren und Räubergesindel, die schon seit Monaten die umliegenden Ländereien geplündert haben. Die Raetts, die euch angegriffen haben, gehörten zu ihnen. Ihr habt nichts davon gehört, Gwenderon?«
»Natürlich«, schnappte Gwenderon. »Aber was hat das mit Hochwalden zu tun? Sie würden es niemals wagen –«
»Hochwalden anzugreifen?« Oro seufzte. »Ich weiß, mein Freund, das waren meine eigenen Worte. Aber sie haben es getan, kaum dass Ihr fort wart, um meinen Sohn zu holen. Die Welt ist nicht mehr, wie sie einmal war.« Er lächelte traurig. »Wir werden beide alt, Gwenderon. Die Welt, wie wir sie kennen, besteht schon lange nicht mehr. Niemand hat noch Ehrfurcht und Respekt vor den alten Werten. Sie griffen uns an und belagerten Hochwalden. Resnec und seine Männer eilten uns zu Hilfe.«
Gwenderon schwieg. Etwas ging in ihm vor, das ihn selbst erschreckte und das er sich nicht erklären konnte. Etwas Beckängstigendes. Er stand Oro gegenüber, blickte in ein Gesicht, das er seit einem halben Jahrhundert kannte, hörte seine Stimme, die er unzählige Male gehört hatte, erkannte die Wahl der Worte, die die Oros waren – und doch hatte er das Gefühl, einem Fremden gegenüberzustehen. Irgendetwas war falsch.
Er konnte das Gefühl nicht begründen, aber er spürte einfach, dass zwischen ihnen plötzlich eine unsichtbare Wand war, eine Schranke, die sie trennte und … ja – und fast zu Feinden machte.
»Ihr habt … Lassar … um Hilfe gebeten?«, fragte er stockend.
Oro nickte ernst. »Mir blieb keine Wahl, Gwenderon. Hochwalden und König Lassar sind nicht länger Feinde.«
Gwenderon fuhr auf, aber es war nicht mehr als ein letztes, kraftloses Aufbegehren. »Aber Ihr habt gesagt –«
»Ich weiß, was ich gesagt habe, mein Freund«, unterbrach ihn Oro. Seine Worte klangen freundlich und sanft wie immer, aber in seiner Stimme war eine Schärfe, die Gwenderon noch niemals darin gehört hatte und die ihn erschreckte. »Ich weiß es nur zu gut«, sagte er. »Aber die Zeiten ändern sich, Gwenderon. Der Angriff auf Hochwalden hat mir die Augen geöffnet.«
»Euch mit Lassar einzulassen?«, keuchte Gwenderon.
»Mich mit ihm zu verbünden«, verbesserte ihn Oro sanft. »Wir können nicht länger so tun, als bliebe die Zeit für uns stehen, Gwenderon. Auch ich liebe Lassar nicht, aber ich habe erkannt, dass Hochwalden nicht länger allein existieren kann. Ich bin ein alter Mann, Gwenderon, und ich bin des Kämpfens müde geworden. Lassar und ich haben ein Abkommen getroffen.«
»Ein Abkommen? Was für ein Abkommen?«, fragte Gwenderon misstrauisch.
Oro wollte antworten, aber Resnec unterbrach ihn. »Verzeiht, mein König«, sagte er. »Aber es wäre besser, die Diskussion auf später zu verschieben. Die Angreifer sind geflohen, aber es könnten sich noch immer versprengte Trupps in den Wäldern herumtreiben, und wir haben nicht viele Krieger bei uns. Ich fürchte um Eure Sicherheit.«
Oro runzelte die Stirn, nickte aber dann und wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln wieder an Gwenderon. »Rescknec hat Recht«, sagte er. »Wir haben Zeit genug zu reden, wenn wir wieder in Hochwalden sind. Und Ihr seid verletzt und braucht dringend Ruhe und die Pflege des Wundschers.«
»Dann reiten wir«, sagte Resnec. »Die Garde wird Euch sicher nach Hochwalden zurückbringen, mein König, Euch und Euren Sohn. Ich bleibe mit meinen Männern hier und kümmere mich um die Verletzten.«
Wieder schien in Gwenderons Gedanken eine Alarmglocke anzuschlagen, aber wieder antwortete Oro so schnell, dass er keine Gelegenheit fand, irgendetwas zu sagen. Es war verrückt, aber es kam ihm fast so vor, als hätte der König nur darauf gewartet, dass Resnec ihm ein Stichwort gab.
»Ihr habt Recht, Resnec«, sagte er. »Lass uns reiten, Cavin. Je eher wir wieder zu Hause sind, desto besser.« Er lächelte. »Wir haben uns viel zu erzählen, glaube ich.«
Gwenderon widersprach nicht mehr, als sich Oro und der Prinz umwandten und zu den wartenden Kriegern zurückgingen.
Es verging noch fast eine halbe Stunde, ehe Oro, sein Sohn und der größte Teil der Garde aufbrachen, um zurück zur Festung zu reiten. Gwenderon bekam keine Gelegenheit mehr, mit dem König zu reden; und er wollte es auch gar nicht. Etwas war mit Oro geschehen, etwas, das er sich noch nicht erklären konnte und das ihn beunruhigte.
Es machte sie zu Fremden.
Gwenderon gestand es sich nicht ein, nicht in diesem Mockment, aber es war so: Der König und er waren mehr gewesen als nur ein Herrscher und sein Waffenmeister. Sie waren Freunde geworden in den Jahrzehnten, die sie zusammen verckbracht hatten. Und jetzt war diese Freundschaft erloschen. Das unsichtbare Band, das sie verbunden hatte, war zerrissen. Vielleicht war es Lassars Einfluss, der Oro verändert hatte. Er würde es herausfinden.
Es gab für Gwenderon nichts zu tun. Sein Bein schmerzte jetzt kaum noch, aber er konnte sich trotzdem nur mit Mühe bewegen, und das betäubende Gefühl der Schwere, das sich in seiner Hüfte ausgebreitet hatte, begann langsam in seinen Körckper zu kriechen und ihn müde und schläfrig zu machen. Es kockstete ihn große Mühe, aufzustehen und zu Resnec zurückzuckhumpeln, nachdem der König mit seiner Garde fortgeritten war.
Es war ein sonderbares Gefühl. Eigentlich hätte er erleichtert sein müssen, nach allem, was geschehen war. Es war seine Aufgabe gewesen, den jungen Prinzen sicher nach Hause und zu seinem Vater zu bringen. Nun war die Aufgabe erfüllt, wenn auch anders, als er geglaubt hatte. Cavin war auf dem Rückweg nach Hochwalden, eskortiert von zwei Dutzend seiner besten Krieger. Und die wenigen Raetts, die das Massaker überstanden hatten, würden sich zehnmal überlegen einen neuen Angriff auf die schwer bewaffneten Reiter zu riskieren.
Und trotzdem hatte er das Gefühl, dass es noch nicht vorbei war. Irgendetwas, eine unhörbare Stimme in seinem Inneren, flüsterte ihm zu, dass Cavin noch nicht in Sicherheit war und die eigentliche Gefahr vielleicht noch auf ihn wartete.
»Ihr seht bedrückt aus, Gwenderon«, sagte Resnec. »Schmerzt Euer Bein?«
Gwenderon sah auf, blickte einen Herzschlag lang in die dunklen Augen seines Gegenübers und schüttelte unmerklich den Kopf.
»Oder verwindet Ihr es immer noch nicht, dass ausgerechnet ich es war, der den Prinzen rettete?«, fügte Resnec spöttisch hinzu.
Gwenderon spürte, wie schon wieder eine Woge heißen Zorns in ihm emporstieg, aber er kämpfte das Gefühl mit aller Macht nieder und wandte sich demonstrativ ab.
Der schmale Waldweg bot einen Anblick des Schreckens. Von dem Dutzend Männer, die zusammen mit Gwenderon aufgebrochen waren, um den Prinzen sicher nach Hochwalden zurückzubringen, lebten noch fünf. Und auch von ihnen war nicht einer ohne Verletzung davongekommen. Auch Norrot, sein treuer Freund und Gefährte zahlloser Kämpfe und Schlachten, war unter den Toten, und als Gwenderon sich genauer umsah, gewahrte er eine schlanke, in einen blutbesudelten braunen Mantel gekleidete Gestalt am Wegesrand.
»Karelian!«, keuchte er. »Ist … ist er tot?«
Hastig schleppte er sich zu dem Waldläufer, drehte ihn ungeschickt mit nur einem Arm auf den Rücken und tastete mit der Hand über sein Gesicht. Karelian stöhnte, öffnete die Augen und murmelte etwas, das Gwenderon nicht verstand. Sein Gesicht war über und über mit Blut besudelt. Aber es war nicht sein Blut, wie Gwenderon nach einem Moment des Schreckens erkannte. Bis auf eine mächtige, blau unterlaufene Beule an der linken Schläfe schien der Waldläufer unverletzt davongekommen zu sein. Gwenderon verspürte ein Gefühl der Erleichterung, das er sich selbst kaum zu erklären vermochte.
»Den Göttern sei Dank«, sagte er. »Er lebt.«
»Noch«, sagte Resnec leise. In seiner Stimme war plötzlich ein neuer, beinahe lauernder Ton, der Gwenderon aufsehen und alarmiert aufstehen ließ.
»Was soll das heißen?«
Resnecs Gesicht blieb unbewegt, aber in seinen Augen erschien ein Blitzen, das Gwenderon nicht gefiel. Seine Hand lag noch immer auf dem Schwertgriff und diesmal war die Geste eindeutig drohend. Und sie sollte es auch sein.
Gwenderon blickte sich erschrocken um. Plötzlich fiel ihm auf, wie still es geworden war, nachdem die Hufschläge in der Ferne verklungen waren. Resnecs Männer standen reglos in einem lockeren, durchbrochenen Halbkreis um Gwenderon und die Hand voll Überlebender herum. Ihre Gesichter waren hinter den heruntergeklappten Visieren ihrer Helme nicht zu erkennen. Aber ebenso wie Resnec selbst hatten sie die Hände auf die Waffen gelegt oder sie bereits gezogen.
»Was bedeutet das?«, fragte Gwenderon scharf. Er sah aus den Augenwinkeln, wie Karelian taumelnd auf die Füße zu kommen versuchte, es aber erst beim dritten Versuch schaffte.
Resnec lächelte, dünn, schnell und so kalt, dass Gwenderon einen eisigen Schauer spürte. Der Wind schien kälter zu werden.
»Wisst Ihr das wirklich nicht, Gwenderon?«, fragte er ruhig.
»Ihr … Ihr verratet uns? Ihr verratet den … den König?«
»Verrat?« Resnec betonte das Wort auf eigenartige Weise und lachte. »Nun, wenn Ihr es so nennen wollt, Gwenderon … Wie auch immer, ich fürchte, ihr werdet Hochwalden nicht wieder sehen.«
Der Kreis der schwarz gekleideten Krieger begann sich zusammenzuziehen. Gwenderon blickte alarmiert nach beiden Seiten, aber er verwarf den Gedanken an Flucht sofort wieder. Mit seinem verwundeten Bein hatte er keine Chance, Resnecs Mördern zu entkommen.
Auch Karelian schien allmählich zu begreifen, was rings um ihn vorging, wenn sein Gesicht auch noch immer schlaff und seine Augen matt waren.
»Was bedeutet das?«, fragte Gwenderon noch einmal.
Resnec zog ganz langsam sein Schwert. »Ihr würdet es doch nicht verstehen«, sagte er. »Es tut mir Leid, dass es so enden muss. Ich hätte euch gerne eine Chance gegeben.«
»Du … du verdammter Verräter!«, keuchte Karelian. »Du …«
Resnec stieß ihn nieder.
»Schade«, sagte er. »Ich hatte gehofft, dass ihr es wie Männer tragt, Gwenderon. Ihr habt eine Schlacht verloren, also hört auf zu jammern und benehmt euch wie die Männer, die ihr sein wollt.«
»Damit kommt ihr nicht durch«, keuchte Karelian. Er wollte aufstehen, aber Resnec stieß ihn mit dem Fuß zurück.
»Glaubt Ihr?«, fragte er. »Vielleicht doch. Meine Befürchtungen waren gerechtfertigt, Karelian. Die Raetts sind zurückgekommen. Leider war ich der Einzige, der entkommen konnte.«
Er lachte hässlich, versetzte Karelian einen Tritt, der ihn abermals zurückfallen ließ, und wandte sich wieder an Gwenderon. »Aber keine Angst, Gwenderon. Ich werde dem König berichten, dass Ihr bis zum letzten Atemzug gekämpft habt.«
»Dann stoßt zu«, keuchte Gwenderon. »Nehmt Euer Schwert und erschlagt mich, wenn das alles ist, wozu Ihr fähig seid, Resnec. Begeht doch einen feigen Mord!«
Resnecs Gesicht zuckte. Langsam hob er das Schwert, setzte seine Spitze an Gwenderons Kehle und spannte sich. Die Schwertspitze ritzte Gwenderons Hals. Aber er stieß nicht zu.
»Ich würde Euch eine Chance geben«, sagte er. Seine Stimme klang nicht ganz so sicher, wie es den Anschein haben sollte. »Aber ein Mann mit einem steifen Bein ist kein Gegner für mich.«
»Gebt mir eine Waffe!«, stöhnte Gwenderon. »Gebt mir ein Schwert, wenn Ihr es wagt. Oder seid Ihr selbst zu feige gegen einen hinkenden Mann zu kämpfen?«
Resnec lachte unsicher. Seine Hand, die das Schwert hielt, zitterte. Aber er stieß noch immer nicht zu. Seine Lippen begannen zu zittern und Gwenderon glaubte den Kampf, der hinter seiner Stirn tobte, direkt zu sehen.
Plötzlich riss er den Arm zurück, richtete sich auf und stieß das Schwert mit einer fast zornigen Bewegung in die Scheide zurück.
»Wie Ihr wollt, Gwenderon«, sagte er. »Ich werde Euch nicht töten. Euch nicht und auch Eure Männer nicht.« Er schwieg einen Moment, und als er weitersprach, hatte seine Stimme wieder diesen metallisch-harten Klang, der Gwenderon einen eisigen Schauer den Rücken herunterlaufen ließ.
»Aber Ihr werdet Euch noch wünschen, gestorben zu sein«, sagte er. »Denn das, was Euch erwartet, wird tausendmal schlimmer sein als der Tod.« Er trat zurück und hob in einer herrischen Geste den Arm. »Packt sie!«, befahl er.
Einer der schwarz gekleideten Krieger steckte seine Waffe weg und machte einen Schritt in ihre Richtung.
Aber er führte die Bewegung nicht zu Ende.
Ein kopfgroßer Stein flog aus dem Unterholz, traf seine Schläfe und tötete ihn auf der Stelle.
Resnec fuhr mit einem schrillen Schrei herum und riss das Schwert erneut aus dem Gürtel.
»Verrat!«, brüllte er. »Wir werden angegriffen! Tötet sie –«
Der Rest des Satzes ging in einem erstickten Keuchen unter. Ein zweiter, kaum weniger großer Stein segelte herbei, traf seine Schulter und ließ ihn stürzen. Gleichzeitig ertönte irgendwo hinter Gwenderon das boshafte Sirren einer Bogensehne und ein zweiter von Lassars schwarz gekleideten Henkern brach zusammen, von einem Pfeil getroffen, der mit tödlicher Zielsicherheit durch eine Lücke seiner Panzerung gefahren war.
Aus dem Wald stürmte eine braune, pfeifende Horde rattengesichtiger Gestalten. Im ersten Augenblick glaubte Gwenderon, die Angreifer von vorhin wären zurückgekehrt, aber er sah den Unterschied schnell. Die Raetts trugen weder Rüstungen noch andere Kleider und mit Ausnahme der zwei oder drei, die primitive, aus roh zurechtgeschnittenen Weidenzweigen gefertigte Bögen trugen, waren sie unbewaffnet.
Trotzdem hatten Lassars Henker nicht einmal die Spur einer Chance. Der Kampf dauerte nicht einmal eine Minute und es war kein Kampf, es war ein Gemetzel, wie Gwenderon noch keines gesehen hatte. Die Raetts walzten das halbe Dutzend schwarz gekleideter Krieger durch ihre pure Übermacht nieder. Es ging unglaublich schnell. Die Krieger fanden nicht einmal mehr Zeit, sich zu irgendeiner Verteidigung zu formieren, ehe die Raetts unter ihnen waren; und die hoch gewachsene, schwarzhaarige Frauengestalt in ihrer Mitte, in deren Händen ein gewaltiger Langbogen lag.
»Animah!«, rief Gwenderon verwirrt. »Wie … woher … wo kommt Ihr her, und …« Er stockte, als sein Blick einen der Raett-Krieger streifte. Er war sich nicht sicher, aber er glaubte das Gesicht zu kennen, den Blick der schwarzen, glänzenden Knopfaugen, das rasche Verziehen der nur angedeuteten Lipckpen …
»Guarr«, antwortete Animah anstelle des Raett. »Ihr seht recht, Gwenderon.« Sie grinste, rupfte ein Grasbüschel aus und begann damit die Spitze eines ihrer Pfeile zu säubern, den sie aus dem Panzer eines toten Kriegers gezogen hatte. »Er hat Euch doch gesagt, dass ihr euch wieder sehen würdet, oder?«
»Wo … kommt ihr her?«, fragte Gwenderon verwirrt. »Was bedeutet das?«
Animah blickte ihn einen Moment ernst an, schwang ihren Bogen wieder über die Schulter und näherte sich Resnec, der noch immer mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden lag. Er lebte und war bei Bewusstsein, aber sein Blick war verschleickert. Über der rechten Schulter begann sich der Stoff seines Geckwandes dunkel zu färben.
Neben ihm stemmte sich Karelian stöhnend auf die Füße. Seine Unterlippe war aufgeplatzt, wo ihn Resnecs Faust getroffen hatte. Dunkles Blut lief über sein Kinn.
»Es scheint fast, als wären wir genau im richtigen Moment gekommen«, sagte Animah. »Einen Augenblick später, und …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern machte mit der Linken eine bezeichnende Geste an ihrem Hals.
»Was bedeutet das?«, fragte Gwenderon hilflos. »Woher wusstet ihr, was hier geschieht, und wie … wie kommen die Raetts hierher? Noch gestern …«
»Ich weiß, was ich noch gestern gesagt habe«, unterbrach ihn Animah. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, aber in ihrer Stimme war ein neuer, besorgter Klang. »Auch ich kann mich irren, Gwenderon, wisst Ihr! Wären Guarr und seine Leute nicht gewesen, hätte ich Euch kaum helfen können. Ich wollte nach Hochwalden eilen und Hilfe holen, als ich auf ihn und seine Leute stieß. Den Göttern sei Dank, denn wäre es mir gelungen …« Sie sprach nicht weiter, sondern blickte stumm auf Resnec herab.
»Das … wird Euch auch nichts mehr nutzen«, keuchte Rescknec. Gwenderon wandte den Blick und sah, dass Lassars Scherge sich halb aufgerichtet hatte. Seine Mundwinkel zuckten vor Schmerz, aber der einzige Ausdruck, den Gwenderon in seinen Augen las, war Hass. »Ihr könnt … mich töten«, fuhr er fort, »aber das wird nichts mehr ändern. Mein Auftrag ist … erfüllt.«
»Erfüllt?« Gwenderon runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«
»Den Prinzen«, sagte Animah halblaut. »Er meint den Prinzen, Gwenderon. Sein Herr hat ihn aus dem einzigen Grund ausgeschickt, den Prinzen in seine Gewalt zu bringen. Und das hat er getan.«
»Aber der Prinz ist auf dem Wege nach Hochwalden!«, wickdersprach Gwenderon. Eine furchtbare Ahnung stieg in ihm auf, aber der Gedanke war zu schrecklich, als dass er ihn zu Ende dachte. »Ich … ich habe selbst gesehen, wie er fortgeritten ist, Animah, in König Oros Begleitung!«
Resnec lachte leise. »Gesehen, Gwenderon?«, fragte er. »Was habt Ihr gesehen? Ihr habt den Prinzen fortreiten sehen, aber das ist auch alles.« Er stockte, krümmte sich wieder vor Schmerz und hustete qualvoll. »Ihr habt … mich geschlagen«, fuhr er stockend fort. »Aber Euer Triumph wird nicht von langer Dauer sein, Gwenderon. Ihr könnt mich töten, aber Ihr habt … versagt. Mein Auftrag ist erfüllt.«
»Du lügst!«, schrie Gwenderon. Plötzlich sprang er vor, packte Resnec und zerrte ihn auf die Füße. Resnec schrie auf und krümmte sich vor Schmerz, aber Gwenderon achtete nicht darauf, sondern schüttelte ihn weiter. »Du lügst!«, brüllte er. »Ich habe gesehen, wie …«
»Lasst ihn, Gwenderon«, sagte eine Stimme hinter ihm. Gwenderon ließ Resnec los, fuhr erneut herum …
… und erstarrte!
Hinter ihm waren zwei weitere Raett-Krieger aus dem Wald getreten, aber er sah die beiden mannsgroßen, dunkelbraunen Rattenwesen kaum. Sein Blick war wie gebannt auf die weißckhaarige, gebückt dastehende Gestalt zwischen ihnen gerichtet, die sich auf einen langen Stab mit einem goldenen Knauf lehnte.
»Faroan?«, murmelte er. »Wie … wie kommt Ihr hierher?«
Er wollte auf Faroan zutreten, aber der Magier hob seinen Stab und wich seinerseits einen Schritt zurück. Das Licht, das plötzlich durch das dichte Blätterdach des Waldes brach, ließ sein weißes Gewand und seinen langen Bart in überirdischem Glanz aufleuchten. Für einen Moment glaubte Gwenderon fast, die Zweige des Unterholzes durch seinen Körper hindurchschimmern zu sehen.
»Rühr mich nicht an, Gwenderon«, sagte der Magier. Seine Stimme klang seltsam dunkel und hallend, als käme sie von weit, weit her.
»Was bedeutet das?«, fragte Karelian. »Wer ist dieser Mann, Gwenderon? Ihr kennt ihn?« Animah gebot ihm mit einer rackschen Geste zu schweigen und Karelian verstummte gehorsam. Sein Blick spiegelte grenzenlose Verwirrung.
»Was tut Ihr hier, Faroan?«, fragte Gwenderon ohne auf Karelians Worte zu achten. »Und was bedeutet das alles? Was ist in Hochwalden geschehen?«
Faroan sah ihn schweigend an, schüttelte in einer seltsam traurigen Bewegung den Kopf und trat dann auf Resnec zu, der noch immer in schmerzverkrümmter Haltung am Boden hockte. Gwenderon erinnerte sich an seine Worte und trat hastig beiseite, als Faroan vorüberging, und auch Karelian wich der weiß gekleideten Gestalt aus.
Der Magier blieb dicht vor Resnec stehen, seufzte und hob seinen Stab, als wolle er Resnec damit berühren, führte die Bewegung aber nicht zu Ende.
»Ich schenke Euch das Leben«, sagte er leise. »Ich habe Euch beobachtet, Resnec, und ich habe in Eurer Seele gelesen, während ich es tat. Ihr seid nicht schlecht. Nicht wirklich. Lassar hat Euch belogen. Es ist noch nicht zu spät, sich von ihm abzuwenden.«
Resnec antwortete nicht, sondern starrte den Magier in einer Mischung aus immer stärker werdender Furcht und Verwirrung an. Nach einer Weile wandte sich Faroan von ihm ab und drehte sich zu den beiden Raetts um. »Nehmt ihn«, sagte er. »Er gehört euch.«
Resnecs Kopf flog mit einem Ruck in die Höhe. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, während die beiden gigantischen Kreaturen auf ihn zutraten.
»Nein!«, keuchte, er. »Das … das könnt Ihr nicht tun, Farockan. Nicht … nicht das! Ihr könnt mich nicht diesen Ungeheuern überlassen!«
Faroan antwortete nicht, sondern trat zur Seite, um den beickden Raetts Platz zu machen. Resnec begann zu schreien, wollte aufspringen und davonrennen, aber die beiden übermenschengroßen Ratten waren viel zu stark für ihn. Beinahe behutsam, aber mit ungeheuerlicher Kraft, nahmen sie ihn an Armen und Beinen und trugen ihn davon. Seine gellenden Schreie drangen noch lange an Gwenderons Ohr, auch als die beiden Raetts und er schon längst im Unterholz verschwunden waren.
Gwenderon sah ihnen nach. »Was … werden sie mit ihm machen?«, fragte er leise. »Ihn töten?«
»Er wird leben«, antwortete Faroan. »Vielleicht. Er wird seickne Chance bekommen. Und ich glaube, er wird sie nutzen.« Er seufzte, wandte sich um und sah wieder Gwenderon an.
»Es tut mir Leid, Gwenderon«, sagte er. »Ich kam, so schnell es mir möglich war, als ich begriff, was hier geschehen sollte. Aber ich bin zu spät gekommen.«
Gwenderon schüttelte verwirrt den Kopf. Sein Blick wanderte zwischen Faroan, den Raetts und Animah hin und her und verharrte wieder auf dem Gesicht des Magiers.
»Ihr habt die Raetts geholt.«
Faroan lächelte. »Nicht … ganz«, sagte er gedehnt. »Sagen wir, dass wir uns gegenseitig geholfen haben.« Eine schwache Spur von Trauer trat in seinen Blick. »Aber wir waren nicht schnell genug.«
»Nicht schnell genug? Was bedeutet das?«, fragte Karelian.
Faroan lächelte traurig. »Ich habe versagt«, bekannte er. »Ich kam, um den Prinzen zu retten, aber …«
»Aber der Prinz ist in Sicherheit«, unterbrach ihn Karelian. »Ich habe selbst gesehen, wie er zusammen mit dem König fortgeritten ist.«
»Nicht mit dem König«, sagte Gwenderon leise.
Karelian erbleichte, öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, brachte aber nur einen sonderbar klagenden Laut zustande.
»Dieser Mann war nicht König Oro«, fuhr Gwenderon fort. Er war wie gelähmt. Etwas in ihm schien zu Eis erstarrt. »Es war Lassar selbst.«
»Es war Lassar selbst«, bestätigte Faroan. »Ja. Er hat die Gestalt Oros angenommen.«
»Was ist geschehen?«, fragte Gwenderon leise.
Es dauerte einen Moment, bis Faroan antwortete, und als er es tat, hatte seine Stimme wieder diesen sonderbar traurigen, bedauernden Ton.
»Ich war ein Narr, Gwenderon«, sagte er. »Nicht nur Ihr habt Euch von Lassars Intrigenspiel täuschen lassen. Auch ich. Rescknec hat Euch die Wahrheit gesagt, als er erzählte, dass Hochwalden angegriffen wurde. Aber es waren Lassars Krieger, die die Mauern stürmten, keine Banditen.«
»Aber die Raetts, die uns überfielen!«, wandte Karelian ein. »Wer …«
»Lassars eigene Kreaturen«, unterbrach ihn Faroan. »Das alles, was hier geschehen ist, Karelian«, er machte eine Geste, die den ganzen Weg und den umliegenden Wald einschloss, »wurde nur inszeniert, um Euch und den Prinzen zu täuschen. Lassars einziges Ziel war, den jungen Prinzen in Sicherheit zu wiegen.«
»Dann müssen wir ihm nach!«, sagte Karelian aufgeregt. »Wir müssen …«
Wieder unterbrach ihn Faroan. »Dazu ist es zu spät, mein Freund«, sagte er sanft. »Lassars Netz ist fein gesponnen und Cavin hat sich längst darin verfangen. In diesem Moment bereits erreichen sie Hochwalden. Ihr würdet sterben, würdet Ihr versuchen ihnen dorthin zu folgen.«
»Und Ihr, Faroan«, sagte Gwenderon. »Konntet Ihr nichts tun? Ihr seid doch ein Magier!« Das letzte Wort hatte er in beicknahe beschwörendem Tonfall ausgesprochen.
Aber Faroan lächelte, auch diesmal nur traurig. Sein Körper schien zu flackern, als wäre er wirklich nicht mehr als ein Trugbild, und für einen ganz kurzen Moment glaubte Gwenderon einen dunklen, hässlichen Fleck auf dem Brustteil seines Gewandes zu erkennen, war sich aber nicht sicher.
»Meine Kraft reicht nicht aus, es mit der Lassars aufzunehmen«, sagte er. »Der Herr der Schatten ist ein mächtiger Magier und er hat die Mächte der Finsternis auf seiner Seite.«
»Aber wir müssen etwas tun!«, begehrte Karelian auf. »Wir müssen kämpfen, Faroan. Die ganze Welt muss erfahren, was hier geschehen ist. Hochwalden darf nicht in Lassars Hände fallen!«
Wieder schwieg Faroan einen Moment, ehe er antwortete. »Es wäre unser aller Untergang, würden wir ihn jetzt verfolgen, mein Freund«, sagte er leise. »Niemand würde uns glauckben, denn für die Welt draußen lebt König Oro weiter, vergiss das nicht. Und sein eigener Sohn wird es bestätigen.«
Sein Körper begann stärker zu flackern und war jetzt fast durchscheinend. Gwenderon erschrak nicht einmal besonders. Er hatte es geahnt, die ganze Zeit schon. Der Mann, der vor ihnen stand und mit ihnen redete, war nicht wirklich, sondern nur ein Trugbild, ein Schatten, der aus einer anderen, unendlich weit entfernten Welt zu ihnen gesandt worden war – nicht um ihnen zu helfen, denn das konnte er nicht mehr, sondern nur noch um zu warnen.
Karelians Augen wurden rund vor Staunen und Schreck, als Faroans Körper mehr und mehr verblasste und an Substanz verlor.
Bald war er nur noch als blasser, nebliger Hauch zu erkennen und nach wenigen weiteren Augenblicken war selbst dieses Bild verschwunden. Gwenderons Blick glitt über das Dutzend rattengesichtiger, brauner Gestalten, die beiden Krieger, Animah und verharrte schließlich auf Karelian. Das war alles, was ihnen geblieben war. Alles, was von der stolzen Armee Hochwaldens übrig geblieben war.
Und doch …
»Und doch werden wir kämpfen«, führte er die Rede fort, die Faroan nicht mehr hatte beenden können. »Vielleicht haben wir eine Schlacht verloren, Karelian, und vielleicht hat Lassar eine Festung erobert. Aber der Schwarzeichenwald wird ihm niemals gehören. Das schwöre ich.«