Megidda

1

Wie immer, wenn er sich der Festung näherte, scheute sein Pferd und weigerte sich, freiwillig weiterzugehen, und wie immer, wenn er durch das gewaltige schwarze Tor ritt, hatte er das Gefühl, gleichzeitig eine zweite Grenze zu überschreiten, eine unsichtbare Barriere aus Kälte, etwas, wofür er keine Worte hatte, das seine Haut prickeln und die feinen Härchen in seinem Nacken und auf seinen Handrücken sich aufstellen ließ wie knisterndes Katzenfell. Und wie immer berührte die Furcht mit dürren Fingern seine Seele, kaum dass er das Tor durchschritten hatte und der Hof vor ihm lag. Die Ruinen der riesigen, quaderförmigen Gebäude erhoben sich wie ein künstlich aufgetürmtes Gebirge vor ihm und ihre schwarzen Schlagschatten stanzten Löcher in die Wirklichkeit. Auch dort, wo das Licht der schon tief stehenden Sonne noch hinreichte, herrschte etwas wie graues Zwielicht; noch keine richtige Dämmerung, aber auch kein wirklicher Tag, weil es beides hier in der Megidda nicht gab. Die Kälte war hier noch ein wenig unangenehmer als draußen im Wald.

Cavin lenkte sein Pferd auf den flachen Quader aus schwarckzem Basalt zu, den sie als Stall benutzten, wartete, bis die Tür geöffnet wurde und ein Raett heraustrat, um sein Tier zu nehmen, und stieg erst dann aus dem Sattel. Seine Muskeln waren steif vom langen Reiten und seine Hände schmerzten vor Kälte, trotz der fellgefütterten Handschuhe, die er übergestreift hatte. Der Wind, der ihm durch das Tor gefolgt war, überschüttete ihn mit staubfeinem, eisigem Schnee. Er drehte das Gesicht aus dem Wind, erwiderte den grüßenden Pfiff des Raett mit einer müden Geste und wandte sich nach rechts, dem rechteckigen Schatten des Turmes zu, in dem sie so etwas wie eine Enklave menschlichen Lebens geschaffen hatten. Unter seinen Stiefeln knirschte Eis, als er mit raschen Schritten den Hof überquerte und die Treppe hinaufging. Ein unförmiger Umriss tauchte aus dem Schatten des Torbogens auf, lugte einen Moment aus kleicknen glitzernden Knopfaugen zu ihm herab und verschmolz wieder mit dem Lavaschwarz hinter ihm, als er Cavin erkannte. Cavin unterdrückte ein Lächeln. Es war ein sonderbarer Anckblick, ein in Felle und Pelze gehülltes Wesen zu sehen, das selbst nur aus Fell und Pelz bestand. Die Raetts wirkten in ihrer Winterkleidung so unbeholfen, dass sie einen schon fast komickschen Anblick boten; selbst für ihn, der nun wahrlich Zeit genug gehabt hatte, sich daran zu gewöhnen. Aber der Gedanke entglitt ihm, ehe er sich länger damit beschäftigen konnte, und als er die Halle durchquerte und die nächste, nach oben führende Treppe in Angriff nahm, fühlte er schon wieder nichts mehr als Müdigkeit und Schwäche. Er war drei Tage fort gewesen und zwei von diesen drei Tagen hatte er im Sattel verbracht; selbst unter normalen Umständen schon eine Tortur. Im Winter, und in der Situation eines gejagten Tieres, das bei jedem Knacken eines Zweiges, bei jedem Laut, jedem jähen Lichtreflex zusammenfuhr, eine Qual. Und wozu? Missmutig dachte er an die Vorhaltungen, die ihm Gwenderon gleich machen würde – noch dazu mit Recht –, und seine Laune sank um weicktere Grade.

Die Treppe mündete in einem kurzen, sehr hohen Gang von dreieckigem Querschnitt, an dessen jenseitigem Ende eine Tür aus schwarzem Eisen lag. Auf dem Boden davor lag ein zusammengerollter Raett und schnarchte so laut, dass sich Cavin einen Moment wunderte, das Geräusch nicht schon draußen vor dem Tor gehört zu haben. Seine Klauenhände umklammerten einen Speer, um dessen Schaft sich sein nackter Schwanz gewickelt hatte und auf dessen Klinge seine Wange ruhte wie auf einem Kissen. Cavin lächelte müde, stieg mit vorsichtigen Bewegungen über den Schlafenden hinweg und öffnete die Tür so leise, wie er konnte. Sein Lächeln wurde etwas amüsierter, als sich der Raett im Schlaf bewegte und leise, quiekende Töne ausstieß. Trotz des Ehrfurcht gebietenden Äußeren der riesigen Kreatur empfand Cavin ein rasches, warmes Gefühl von Symckpathie. Mit jedem Tag, der verging, schien sich der Unterschied zwischen den Raetts und ihren menschlichen Kampfgefährten zu verwischen; was auch bedeutete, dass sie durchaus menschliche Unarten annahmen, wie ein Nickerchen während der Wache zu halten, zum Beispiel. Guarr würde toben vor Wut, wenn er den schlafenden Raett fand, aber Cavin hatte nicht vor, ihn anzuschwärzen. Er hielt es sowieso für schieren Unsinn, hier im Inneren der Megidda Wachen zu postieren – einen Angreifer, dem es gelang, sie zu finden und ihre Mauern zu erstürmen, würden auch ein paar Wachen nicht mehr aufhalten können. Nicht einmal, wenn es zwei Meter große Ungeheuer waren, die nur aus Zähnen und Klauen und unglaublich starken Muskeln bestanden.

Ein Hauch angenehmer Wärme streifte sein Gesicht, als er die Tür öffnete und hindurchschlüpfte. Das rote Licht von Fackeln vertrieb den grauen Schimmer, der den Rest der Festung erfüllte, er hörte Stimmen und ging schneller. Schließlich gelangte er in einen Teil des Gebäudes, in dem die Anwesenheit von Menschen nicht mehr zu übersehen war: Auf dem Boden lagen Matten aus geflochtenem Gras, eiserne Fackelhalter waren in die Wände getrieben worden, deren schwarzer Basalt mit Teppichen und vielleicht wenig künstlerisch, aber sehr liebeckvoll gemalten Bildern behängt war. Nicht alle diese Bilder stammten von menschlichen Händen. Manche – und es wurden mehr! – waren von Künstlern erschaffen, deren Hände klauenckbewehrt waren. Sie zeigten größtenteils rohe Tier- und Landckschaftsdarstellungen, manchmal aber auch Dinge, die Cavin nicht zu identifizieren imstande war, die ihn aber mit einem dumpfen Unbehagen erfüllten.

Er streifte seinen Mantel ab, warf ihn achtlos über einen Stuhl und durchquerte den Raum, der nur Lüftungsscharten in den Wänden hatte wie alle Kammern und Flure in dieser schwarzen Burg. Gwenderons Stimme drang hinter einer nur halb geschlossenen Tür hervor. Cavin klopfte, drückte die Tür auf, ohne eine Antwort abzuwarten, und bückte sich unter dem niedrigen Sturz hindurch, um sich nicht den Schädel anzuckschlagen. Gwenderon war nicht allein – auf der anderen Seite des niedrigen Tisches, vor dem er Platz genommen hatte, hockten Guarr und zwei weitere struppige Schatten, und zwischen ihnen, wie ein Zwerg zwischen Riesen, saß ein Mann, über dessen linkem Auge sich eine Klappe spannte. Cavin erinnerte sich nicht, ihn jemals zuvor gesehen zu haben, aber das besagte nichts; mit jedem Tag, der verging, wuchs die Zahl der Männer, die die schwarze Festung im Herzen des Waldes erreichten.

Einen Moment lang musterte er diesen Fremden, nickte Guarr und den beiden anderen Raetts flüchtig zu und wandte sich an Gwenderon. Auf dem Gesicht des Waffenmeisters lag ein angespannter Ausdruck; er freute sich sichtlich, Cavin wohlbehalten wieder zu sehen, aber sein Ärger war noch nicht verflogen. Wahrscheinlich, dachte Cavin spöttisch, hatte er sich in den letzten drei Tagen damit beschäftigt, seinen Zorn zu pflegen. Entsprechend eisig fiel seine Begrüßung aus. Er nickte nur knapp, deutete mit einer Handbewegung auf den letzten freien Stuhl am Tisch und schenkte Cavin unaufgefordert einen Becher Wein ein.

»Nun, Gwenderon«, begann Cavin, nachdem er einen Schluck von dem heißen, sehr süß schmeckenden Getränk genommen und seine von der Kälte taub gewordenen Lippen wieder geschmeidig gemacht hatte, »bist du gar nicht neugierig zu erfahren, wie es mir ergangen ist?«

»Nein«, antwortete Gwenderon grob. »Ich sehe, dass du leckbend zurück bist. Und das ist schon mehr, als ich erwartet hackbe.«

Cavin lachte, nippte abermals an seinem Wein und stellte den Becher mit spitzen Fingern auf den Tisch zurück. Die Wärme begann allmählich in seinen Körper zu kriechen; ein äußerst unangenehmes Gefühl. Unter seiner Haut schienen Ameisenckarmeen entlangzukrabbeln. Er spürte erst jetzt, wie kalt es draußen gewesen war. Guarrs Raetts hatten vorausgesagt, dass der Frühling in diesem Jahr zeitig kommen würde, Cavin wusste, dass sie sich nicht irrten. Aber ob früh oder nicht, der Winter nutzte seine letzten Tage, sich noch einmal kräftig auszutockben.

»Ich war am Fluss«, begann er, wobei er zuerst Guarr und dann dem Fremden in ihrer Mitte einen raschen, fragenden Blick zuwarf. Guarr antwortete mit einem fast unmerklichen Kopfnicken und Cavin wusste, dass er dem Mann vertrauen konnte. Es war unmöglich, einen Raett zu belügen. Ein gutes Dutzend von Lassars Spionen hatte diese Erkenntnis mit dem Leben bezahlt, als sie gekommen waren, um sich ihnen als angebliche Deserteure anzuschließen. »Irgendetwas geht vor«, fuhr er fort. »Ich weiß nicht genau was, denn ich konnte nicht dicht genug an das Lager herankommen, aber Lassars Männer entwickeln eine beunruhigende Aktivität.« Er seufzte. »Wüsste ich es nicht besser, würde ich behaupten, sie bauen Flöße.«

»Und warum nicht?«, fragte Gwenderon. »Habt Ihr gedacht, sie legen die Hände in den Schoß und warten ab, bis wir zahlreich genug sind sie aus dem Wald herauszuwerfen?«

»Weil der Fluss noch mindestens vier Wochen zugefroren sein wird«, antwortete Cavin ärgerlich. »Spiel nicht den Narren, Gwenderon – und hör endlich auf, den Beleidigten zu markieren, ich bin alt genug, um zu wissen, was ich tue.«

»Manchmal zweifle ich daran«, grollte Gwenderon, war aber klug genug nicht weiterzusprechen, und auch Cavin verzichtete auf eine Antwort. Sollte Gwenderon doch das letzte Wort beckhalten?

»Flöße?«, pfiff Guarr.

Cavin blickte ihn an und nickte. »Eine ziemlich große Anzahl sogar. Aber das ist es nicht, was mir Sorge bereitet.« Er seufzckte. »Sie beginnen den Wald abzuholzen, nicht weit von Hochwalden entfernt. Ich war nicht da, aber ich sprach mit einem deiner Leute, und man hört es einen halben Tagesritt im Umkreis.« Er griff wieder nach seinem Wein, trank jedoch nicht. »Wenn dieser verdammte Winter erst vorüber ist –«

»Brechen sie in Scharen über uns herein und jagen uns bis über den Rand der Welt«, fiel ihm Gwenderon ins Wort. Cavin sah ihn erstaunt an und Gwenderon deutete auf den Mann mit der Augenklappe. »Sarrath hier gehörte zu Lassars Kriegern. Fragt ihn.«

Cavin wandte sich an den Fremden. Der Mann war nicht sehr viel älter als er, aber sein Gesicht war von tiefen Linien durchzogen, die von einem Leben kündeten, das ihn rasch hatte altern lassen. »Du bist ein Deserteur?«

»Überläufer wäre das Wort, das mir lieber wäre«, erwiderte Sarrath. Seine Stimme war sehr weich und stand in krassem Gegensatz zu seinem Äußeren. Cavin lächelte.

»Gut, dann Überläufer. Du bist nicht der Erste, der zu uns stößt.«

»Ich weiß. Viele sagen sich von Lassar los. Und noch mehr würden es tun, wenn sie den Mut dazu hätten.«

»Vielleicht war es ein Fehler von dir, hierher zu kommen«, sagte Cavin ernst. Sarrath blinzelte – was mit nur einem Auge einigermaßen komisch aussah – und Cavin fügte erklärend hinzu: »Du kennst Lassar – er wird nicht aufgeben. Sobald der Schnee schmilzt und seine Truppen sich frei bewegen können, wird er anfangen uns zu jagen.«

»Er wird es nicht wagen, hierher zu kommen«, behauptete der Deserteur. »Er weiß ja nicht einmal, wo diese Festung ist.«

»Du hast sie auch gefunden«, gab Cavin zu bedenken, aber Sarrath machte nur eine unwillige Handbewegung. »Das war etwas anderes. Guarrs Leute brachten mich hierher und …«

»Und?«

Sarrath schwieg einen Moment. Sein Gesicht spiegelte Unsicherheit. Für einen Augenblick hatte Cavin das bestimmte Gefühl, dass er eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen, aber dann wechselte jener übergangslos das Thema: »Er wird euch nicht angreifen. Nicht einmal, wenn er wüsste, wo ihr zu finden seid. Er hat anderes zu tun.«

»Und was?«

»Zum Beispiel am Leben zu bleiben«, versetzte Sarrath erregt. »Lassar fürchtet die Schneeschmelze wie Ihr, Herr, denn sobald die Pässe frei sind, sind seine Tage gezählt.«

Diesmal war Cavin wirklich überrascht. »Was soll das heickßen?«, fragte er.

»Das soll heißen, dass Lassar sich sein eigenes Grab geschaufelt hat, als er Hochwalden niederbrennen ließ«, sagte Gwenderon an Sarraths Stelle. »Ihr hättet Euch Euren gefährlichen Ausflug sparen können, mein König.«

Cavin sah verwirrt auf. Wenn Gwenderon ihn mit mein König ansprach, dann war er entweder besonders verärgert oder versuchte spöttisch zu wirken. Aber er schluckte die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag, herunter und wandte sich stattdessen erneut an Sarrath. »Sprich.«

»Es sind … nur Gerüchte«, antwortete der Krieger ausweichend. »Nichts, was ich wirklich gehört oder gesehen hätte, aber …«

»Dann wiederhole das, was du nicht gehört hast«, unterbrach ihn Cavin verärgert. »Spiel hier nicht den Geheimnisvollen. Also?«

Sarrath wirkte in zunehmendem Maße verunsichert. Wahrckscheinlich wünschte er sich jetzt weit, weit weg. »Es sind viele Soldaten gekommen in den letzten Wochen«, begann er. »Sehr viele. Unsere … Lassars gesamte Armee«, verbesserte er sich. »Es scheint, dass er alle seine Truppen zusammenzieht, im Süden, in der Nähe von Hochwalden, Herr.«

»Wie viele?«, fragte Cavin.

»Fünftausend Mann bis jetzt«, antwortete Gwenderon. Cavin ignorierte ihn.

»An die fünftausend Mann«, bestätigte Sarrath. »Und es werden immer mehr. Der Weg über die Berge ist hart und gefährlich, solange der Schnee nicht geschmolzen ist, aber sie kommen. Wir erfahren nichts Konkretes, aber ich habe Augen, zu sehen, Herr.«

»Und was siehst du damit?«, fragte Cavin ungeduldig. Er hatte wahrlich keine Lust, irgendwelche rhetorischen Spielchen mit einem Deserteur zu spielen.

»Unterkünfte«, antwortete Sarrath. »Ställe für Pferde, Schmieden und große Mengen an Nahrungsmitteln und Waffen. Genug für sicher dreimal so viele Männer, wie jetzt schon hier sind.«

Die Rechnung war nicht besonders schwierig, aber ihr Ergebnis erschreckte Cavin mehr, als er sich eingestehen wollte. Fünfzehntausend Mann – das musste wirklich Lassars gesamcktes Heer sein. Die Armee, die er bisher gebraucht hatte, all die Länder und Reiche jenseits der Berge zu unterdrücken. Seine stählerne Faust. Aber warum ballte er sie jetzt über dem Schwarzeichenwald zusammen?

»Also haben wir mit einer Offensive zu rechnen, sobald das Frühjahr kommt«, murmelte er.

»Kaum«, erwiderte Gwenderon. »Ihr versteht nicht, mein König – Lassar rückt nicht auf uns vor – er flieht

»Er flieht? Vor wem?«

Gwenderon deutete auf den Überläufer. »Rede, Sarrath.«

»Ich … sprach mit einem der Männer, die über die Berge kamen«, begann Sarrath stockend. Er wich Cavins Blick aus. Seine Finger spielten nervös an der Tischkante. »Nachrichten verbreiten sich schnell in der Welt. Die Kunde vom Untergang Hochwaldens ist bis in die entferntesten Länder gedrungen. Lassars Macht ist ins Wanken geraten.«

»Vorsichtig ausgedrückt«, fügte Gwenderon hinzu.

»Was er getan hat, hat eine Woge der Empörung hervorgerufen«, bestätigte Sarrath. »Ich weiß nicht, was von dem stimmt, was mir der Mann erzählte, aber … aber es scheint, dass nicht nur Lassars Truppen auf dem Wege hierher sind.« Er sah auf, versuchte zu lächeln und senkte wieder den Blick. »Unsere … seine Krieger befestigen die Pässe, König Cavin, weil sie fürchten, dass die anderen Königreiche Truppen herschicken könnten.«

»Die anderen Königreiche?«, wiederholte Cavin zweifelnd.

»Lassars Frevel hat die ganze Welt erzürnt«, sagte Sarrath. »Die Kaste der Magier hat ihn ausgestoßen, als bekannt wurde, dass er Hochwalden zerstören ließ. Die nördlichen Länder hackben sich von ihm losgesagt und in Morgoun und in Tiefenburg kam es zu offenen Rebellionen. Euer Waffenmeister hat Recht – es ist kein Aufmarsch, sondern eine Flucht. Überall erheben sich die Menschen gegen seine Truppen. Wenn der Frühling kommt, wird er nicht nur den Winter vertreiben.«

Cavin starrte den Krieger zweifelnd an. Es fiel ihm schwer, seine Worte zu glauben. Andererseits – war es nicht gerade das, worauf sie gehofft hatten? Auf Hilfe von den Ländern auckßerhalb des Waldes, jenseits der Berge, die den Schwarzeichenwald vom Rest der Welt abriegelten?

»Lassar ist erledigt«, sagte Gwenderon. »Der Frevel an Hochwalden ist der Anlass, auf den sie alle gewartet haben, sich endlich von diesem Blutsauger zu befreien.« Er lachte. »Lasst ihn seine Truppen in Hochwalden zusammenziehen, Cavin. Er sitzt in der Falle, denn er kann nicht zurück. Und sobald er versucht den Wald zu betreten, vernichten wir ihn.«

»Sei kein Narr, Gwenderon«, sagte Cavin ruhig. »Du hast Sarraths Worte gehört. Wir sind ein paar hundert Mann gegen fünfzehntausend Krieger.«

»Von denen die Hälfte ihre Waffen davonwirft und zu uns überläuft, sobald es ernst wird«, sagte Gwenderon.

»Dann wäre es besser, sie würden ihre Waffen mitbringen«, mischte sich Guarr ein. Gwenderon warf ihm einen zornigen Blick zu und Cavin unterdrückte abermals ein Lächeln. Der Raett-Führer war rapide gealtert in den letzten sechs Monaten. Die Verletzung, die er beim Kampf um die Waldfestung davongetragen hatte, war niemals richtig geheilt, und sie alle wussten, dass er den nächsten Winter nicht mehr erleben würde. Aber im gleichen Maße, in dem sein Körper verfiel, schien sein Geist aufzublühen. Er sprach die Sprache der Menschen jetzt perfekt und sein Denken war von einer Schärfe und Klarckheit, die Cavin manchmal beinahe Angst einjagte. Wie fast immer hatte er Recht.

»Ein offener Kampf kommt nicht infrage«, sagte Cavin entschieden.

Zu seiner Überraschung widersprach Gwenderon nicht, sondern nickte im Gegenteil. »Natürlich nicht«, sagte er. »Aber es reicht, wenn wir ihn aufhalten. Ihr wisst, wie arm der Wald an Tieren und essbaren Pflanzen ist. Selbst wir haben in den letzckten Monaten die Gürtel enger geschnallt und wir sind nur wecknige hundert. Lassar kann sein Heer nicht verpflegen, und die Vorräte, die er mitgebracht hat, sind irgendwann aufgebraucht. Er sitzt in der Falle. Alles, was wir brauchen, ist ein wenig Zeit.«

»Und genau die wird er uns nicht lassen«, sagte Guarr. Er bleckte die Zähne, eine Geste, die einem menschlichen Grinsen gleichkam, und deutete auf seinen gelähmten Arm. »Muss ich dich daran erinnern, was geschah, als wir das letzte Mal vercksuchten Lassar zu überlisten?«

»Nein«, fauchte Gwenderon. »Aber diesmal ist es –«

»Genug«, unterbrach ihn Cavin, nicht sehr laut, aber in sehr scharfem Ton. Ihr Gespräch begann sich wieder einmal im Kreis zu drehen und es drohte – wieder einmal – in einem Streit zwischen ihm und Gwenderon oder Gwenderon und Guarr zu enden. So sicher sie an diesem verbotenen Ort waren, so gereizt war die Stimmung hier, als griffe etwas von der dücksteren Aura der Megidda nach den Seelen der Sterblichen, die sich angemaßt hatten in ihren Mauern Schutz zu suchen. Cavin war des Streitens einfach müde. Er stand auf. »Lasst uns später über alles reden«, fuhr er fort, »und in Ruhe. Ich bin müde und möchte schlafen, und der Winter dauert noch lange genug, um zu einem Entschluss zu kommen.« Er machte eine bestimmende Geste, dann wandte er sich an Sarrath. »Geh hinunter zu den anderen und lass dir einen Platz anweisen, an dem du schlafen kannst. Morgen nach Sonnenaufgang möchte ich mit dir reden. Allein«, fügte er mit einem Seitenblick auf Gwenderon hinzu. Einem ganz und gar überflüssigen Seitenblick, der, wie er selbst wusste, Gwenderons Ärger nur noch schüren würde. Aber auch das war etwas, was sich in den letzten sechs Monackten geändert hatte: Gwenderon und er waren wieder Freunde, jetzt mehr denn je, aber die Konkurrenz zwischen ihnen wurde deutlicher. Gwenderon zweifelte seinen Rang nicht an; vielleicht war er im Gegenteil froh, die Last der Verantwortung auf Cavins jüngere und stärkere Schultern wälzen zu können. Und trotzdem machte er keinen Hehl daraus, dass er ihn noch immer für das hielt, was er gewesen war, als er hierher kam: ein Kind, das vielleicht wie ein Mann aussah, aber noch nicht gelernt hatte wie ein solcher zu denken.

Ohne ein weiteres Wort drehte sich Cavin herum und verließ die Kammer. Kurz darauf stieg er ein zweites Mal über den schlafenden Raett-Posten hinweg und wandte sich nach rechts, einem schmalen Gang folgend, der vom Hauptkorridor abzweigte. Aber er ging noch nicht in seine Gemächer zurück, sondern wandte sich an der nächsten Abzweigung in die entgegengesetzte Richtung, bis er zu einer Treppe kam, die in steilen Schneckenhauswindungen tiefer in den schwarzen Schlund der Megidda hinabführte. Er fürchtete die lichtlosen Höhlen an ihrem Ende so sehr wie beim ersten Mal, da er dort unten gewesen war. Aber er war verwirrt. Er brauchte Rat. Vielleicht dringender als jemals zuvor.

2

Sie wusste längst nicht mehr, wie lange sie hier war; ob drauckßen, jenseits der rußgeschwärzten Mauern ihres Kerkers, Tag oder Nacht, Sommer oder Winter, Sonnenschein oder Schnee herrschte. Manchmal, in den Zeiten zwischendurch, in denen es ganz schlimm gewesen war, hatte sie beinahe vergessen, wer sie war. Warum sie hier war, wusste sie längst nicht mehr. Animah richtete sich mühsam auf, hob die Hand, um sich über die Augen zu fahren, und brach die Bewegung ab, ganz kurz bevor die Kette, die den stählernen Ring um ihr Gelenk mit dem Boden verband, sich schmerzhaft spannen konnte. Keine dieser Bewegungen verlangte ihr bewusstes Zutun, denn in den sechs Monaten, die sie nun hier gefangen war, in einer Welt, die nur aus Dunkelheit und Hunger und Schmerzen und Erniedrigungen bestand, hatte ihr Körper gelernt den Weg des geringsten Widerstandes zu finden. Ebenso unbewusst fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die Lippen, die rau und aufgesprungen waren, vom Durst zu Narben entstellt, die wohl nie wieder vollends heilen würden, beugte sich nach rechts und nahm mit spitzen Fingern die Wasserschale auf, in der sich noch ein Rest vom Vortag befand. Obwohl sie schon gar nicht mehr wusste, wie es war, nicht durstig zu sein, hatte sie sich angewöhnt stets einige Tropfen übrig zu lassen, denn sie bekam nicht jeden Tag zu trinken; und niemals genug.

Trotzdem schien heute einer der Tage zu sein, an denen es weniger schlimm war. Sie war von selbst erwacht und nicht durch Schläge geweckt worden und neben der schmutzigen Wasserschale lag ein Stück Brot. Sie aß es, spülte den schlechten Geschmack mit dem allerletzten Schluck Wasser herunter und lehnte sich gegen den feuchtkalten Stein in ihrem Rücken. Ihre Augen waren geschlossen, obwohl sie nicht mehr müde war, aber es gab nichts, was zu sehen sich gelohnt hätte. Sie kannte jeden Fingerbreit des drei Schritte im Quadrat messenden Steinwürfels auswendig, in den sie gesperrt worden war. Sie würde ihn nie wieder vergessen, selbst wenn sie eines Tages hier herauskommen sollte.

Wenn …

Animah hatte den Glauben längst verloren, dass dies jemals geschehen würde. Und selbst wenn – was dann? Wohin sollte sie sich wenden, wenn …

Voller Schrecken begriff sie, dass sie nicht mehr wusste, was jenseits der schimmelbewachsenen Mauern ihres Kerkers lag. Ihre Erinnerungen waren ein schwarzes Loch, alles, was vor der Zeit der Qual gewesen war, ausgelöscht. Es kostete sie Mühe, sich überhaupt auf ihren Namen zu besinnen.

»Animah«, sagte eine Stimme.

Sie fuhr hoch, so abrupt, bis die Ketten die Bewegung schmerzhaft stoppten, und starrte in die Dunkelheit neben sich. Ihr Herz begann zu klopfen.

»Dein Name ist Animah, du Närrin«, fuhr die Gestalt fort. »Du scheinst doch nicht ganz so stark zu sein, wie ich annahm.« Ein Lachen; leise, meckernd und sehr, sehr böse. Die Gestalt stand dicht neben ihr, so nahe, dass sie sie mit der Hand hätte berühren können, wären die Fesseln nicht gewesen, und trotzdem war sie nur ein Schattenriss in der Dunkelheit, ohne Tiefe, fast ohne Kontur; ein Gespenst, das aus ihren Träumen hinüber in die Wirklichkeit gekommen war, um sie zu quälen.

Dabei war Animah vollkommen sicher, dass sich die niedrige Tür nicht geöffnet hatte und dass sie allein gewesen war, als sie erwachte. Und sie hatte die Frage, wer sie war, doch gar nicht laut ausgesprochen?!

»Das brauchst du auch nicht«, sagte der Schatten. Wieder dieses böse leise Lachen. »Wirklich, du solltest dich ein wenig zusammenreißen, Amazone. Ich kenne Männer und Frauen, die weit Schlimmeres ertragen haben, ohne ihre Identität zu verlieren.«

Der Schatten bewegte sich, kam näher, ohne sich wirklich von der Stelle zu rühren, und etwas wie eine Hand aus Rauch und Nebel berührte die Fesseln, die ihre Handgelenke hielten. Ein scharfes Klicken ertönte und zum ersten Mal seit einhundertachtzig endlosen Tagen und Nächten waren ihre Arme frei.

Animah starrte fassungslos auf ihre Handgelenke, auf denen die stählernen Ringe braunrote Abdrücke hinterlassen hatten, dann in das nicht vorhandene Schattengesicht der Gestalt.

»Lassar«, murmelte sie. Ihre Gedanken liefen sprunghaft, eilten von Unwichtigem und Sinnlosem zu Wichtigem und Gefährlichem und wieder zurück. Der Klang des Namens, der ihr gerade im Moment wieder eingefallen war, war mit dem Empfinden von Gefahr verbunden und einer tiefen, entsetzlich tiefen Enttäuschung, mehr nicht.

»Oh, sie wird noch viel tiefer werden, wenn du erst die Wahrheit erfährst«, sagte Lassar spöttisch. Animah begriff, dass er ihre Gedanken las, so mühelos wie ein offenes Buch.

»Das ist richtig«, sagte Lassar. »Umso mehr solltest du einsehen, wie sinnlos es ist, mich belügen oder hintergehen zu wollen. Das kann niemand.« Er lachte, beugte sich vor und streckte die Hand aus, als wolle er ihr Gesicht berühren, tat es aber dann nicht. Animah hatte das Gefühl, einen eisigen Luftckhauch zu spüren, als seine Hände vor ihren Augen schwebten. »Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis, du kleine Närrin«, erklärte er kichernd. »Man sagt von mir, ich sei der Herr der Lügen, und das stimmt. Niemand kann mich belügen. Die einzige Waffe, die mich zu schlagen imstande wäre, ist die Wahrheit.«

Animah verstand kein Wort von dem, was Lassar sagte. Sie begriff nur, dass sie frei war, aber gleichzeitig glaubte sie zu spüren, dass sie der Gefahr nicht entronnen, sondern nur einer anderen, weitaus schlimmeren ausgesetzt war. Sie hatte damit gerechnet, zu sterben, und sie hatte Angst davor gehabt. Jetzt wünschte sie es sich fast. Es gab Dinge, die waren schlimmer als der Tod.

»Das stimmt«, sagte Lassar. »Aber du hast nichts zu befürchten. Du bist keine Gefahr mehr für mich. Komm.«

Lautlos glitt der Schatten wieder in die Höhe und ein Stück zur Seite, bis er den Blick auf die Tür freigab. Sie stand offen. Auf dem Gang dahinter war rotes Licht, unterbrochen vom massigen, schwarzen Schatten eines Mannes. Es dauerte einen Moment, bis Animah die Bedeutung der Geste begriff, und es dauerte noch länger, bis sie sie glaubte.

»Du lässt mich … frei?«, murmelte sie.

»Närrin«, sagte Lassar. »Natürlich nicht. Aber es bringt keicknen Vorteil mehr, dich zu quälen. Ich wollte wissen, wie stark du bist, und ich weiß es nun. Du bist keine Gefahr. Du warst es nie. Geh.«

Mühsam erhob sich Animah, machte einen unsicheren Schritt auf die Tür zu und ließ sich wieder auf Hände und Knie herabsinken, denn der Ausgang war so niedrig, dass sie nur hindurchkriechen konnte.

Auf der anderen Seite griffen kräftige Hände nach ihr und zogen sie in die Höhe. Ein stoppelbärtiges Gesicht tauchte vor ihr auf, hart und schmutzig, aber nicht grausam, eine Stimme sagte etwas im Tonfall einer Frage, das sie nicht verstand, dann wurde sie vorwärts gestoßen. Ihre Beine, seit sechs Monaten nicht mehr daran gewöhnt, das Gewicht ihres Körpers zu tragen, knickten ein, aber die gleichen Hände, die sie hochgezogen hatten, fingen sie nun auf. Sie versuchte sich zu wehren, ganz instinktiv, aber auch dafür fehlte ihr die Kraft. Sie war beinahe blind. Nach einem halben Jahr ewiger Nacht schien das Licht der einzelnen Fackel wie mit glühenden Nadeln in ihre Augen zu stechen.

»Bringt sie hinauf«, befahl Lassar. »Die Diener sollen sie waschen und ihr frische Kleider geben. Sie stinkt.«

Animah fragte sich, wie ein Schatten riechen konnte, aber auch dieser Gedanke entschlüpfte ihr wieder. Sie war so müde. So schwach. Sie hatte Angst. Die beiden Wächter schleiften sie zwischen sich durch den Gang, eine Treppe hinauf, deren Stufen nach ihren Füßen schlugen, dann traten sie ins Freie, in eine Welt, die weiß und kalt war und so unerträglich hell, dass sie mit einem Schmerzenslaut die Augen schloss und mit aller Macht die Lider aufeinander presste. Trotzdem ließ die Helligkeit ihre Augen tränen. Die Kälte legte sich wie ein eisiger Mantel auf ihre Haut.

Ganz schwach versuchte sie sich zu wehren, aber selbst wenn sie im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen wäre, wären die beiden Männer zu stark für sie gewesen. Sie wurde über den Hof gezerrt, sah Schatten vor dem quälenden Weiß der Welt und stolckperte durch eine weitere Tür. Plötzlich fühlte sie Wärme; den Geruch von dampfendem Wasser und Seife und dann waren andere Hände da, auch sie kräftig, aber sehr viel sanfter, die sie entkleideten und bis an den Hals in warmes, seifig-weiches Wasser steckten.

Animah gab jeden Widerstand auf. Mochten sie sie töten, hinterher, sie genoss es einfach, zum ersten Male seit einer Million Jahren wieder sauber zu sein und keine Schmerzen zu fühlen.

Allmählich begannen sich ihre Augen an das Licht zu gewöhnen, das auch hier drinnen noch unangenehm hell war, sodass sie in den ersten Minuten nur Helligkeit und dunkle, sich ruckhaft hin und her bewegende Schatten wahrnahm, die nur ganz langsam zu menschlichen Gestalten wurden. Sie befand sich in einem kleinen, strohgedeckten Raum, dessen Wände rußgeschwärzt waren wie die ihres Gefängnisses. Unter der Tür stand ein Krieger mit steinernem Gesicht, und drei Frauen unterschiedlichen Alters waren mit nichts anderem beckschäftigt als sie zu säubern und ihre Wunden zu salben und zu verbinden, was zum Teil sehr schmerzhaft war. Animah ließ es trotzdem widerstandslos geschehen, denn im gleichen Maße, in dem die Wärme des Wassers in ihren Körper kroch und die Kälte vertrieb, die sechs Monate lang Zeit gehabt hatte, sich darin einzunisten, begannen ihre Gedanken besser zu funktiocknieren. Erinnerungen, die sie längst verloren geglaubt hatte, tauchten aus dem Sumpf von Leid und Schmerzen auf, Gesichter, zu denen sich nach und nach Namen gesellten, dann Geschichten. Ihr Denken arbeitete noch lange nicht mit der gewohnten Schärfe und Klarheit und der allergrößte Teil ihres Wissens war ihr noch immer entzogen, vielleicht für immer verloren, aber sie war wenigstens kein Stück Fleisch mehr, das sich willenlos herumstoßen ließ und sogar dankbar dafür war. Eine widerliche Szene fiel ihr ein, drei oder vier Monate zurück, während der ersten Zeit ihrer Gefangenschaft, als sie noch so etwas wie Lebenswillen gehabt hatte: Eine Ratte hatte sich in ihren Kerker verirrt und versucht ihren Fuß anzufressen. Sie hatte sie erschlagen und roh gegessen. Ihr wurde übel. Sonderbar, dass sich gerade das so sehr in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte.

Nach einer guten halben Stunde befahl ihr eine der drei Fraucken, aus dem Bottich zu steigen. Animah gehorchte, griff schwach nach dem Handtuch, das ihr hingehalten wurde, und ließ es dann zu, dass man sie trocknete und mit wohlriechenden Ölen einrieb. Als Letztes wurde sie in ein einfaches weißes Gewand gehüllt, das von einer fingerdicken Kordel um die Taille zusammengehalten wurde.

Dann brachten sie die beiden Krieger fort, die draußen vor dem Haus gewartet hatten.

3

Es war sehr still hier. Selbst er, der so alt war, dass er selbst nicht mehr zu sagen wusste, wie viele Jahre er gelebt, das Kommen und Gehen wie vieler Generationen er gesehen und das Entstehen und Verschwinden wie vieler großer und kleiner Reiche er beobachtet hatte, spürte den Atem der Zeit, wenn er diesen Ort betrat. Werden und Vergehen, Entstehen und Wachsen, der ständige Wechsel zwischen Altem und Neuem, die der Pulsschlag der Welt waren, waren hier außer Kraft gesetzt, bedeutungslos vor der stummen Majestät dieses Ortes. Selbst das Licht wirkte zeitlos, die Schatten wie aus Stein gemeißelt, Farben und Formen mit unauslöschlichen Strichen in die Oberfläche der Wirklichkeit gebrannt. Die Sonne, die durch die Lücken im Blätterdach dieses einen, ungeheuerlichen Baumes schien, war die gleiche, die vor einer Million Jahren die Dunkelheit der Nacht vertrieben hatte, der Boden, auf den er seinen Fuß setzte, unverändert seit der Zeit, da das Leben Einzug auf der Oberfläche dieser Welt gehalten hatte. Der Unterschied zwischen heute und morgen und gestern war nur noch ein Wort, ohne wirkliche Bedeutung. Und selbst er, dem – vielleicht mit Ausnahme Cavins – als einzigem Menschen das Becktreten dieses Ortes gestattet war, spürte die Fremdheit, den Atem des anderen, völlig Unverständlichen, der diesen heiligen Ort erfüllte und den seine Seele als Angst empfing. Er sollte nicht hier sein. Auch König Oro hatte es niemals gewagt, diesen letzten Schritt zu tun, das allerletzte Geheimnis der Megidckda zu ergründen und den Ort zu betreten, der ihr Herz war, und Cavin, sein Sohn und Erbe, hätte es nicht getan, hätte er gewusst, welcher Macht er sich wirklich damit auslieferte. Und doch, während er sich dem urgewaltigen schwarzen Stamm der Rieseneiche näherte, seinen Fuß auf schwarze Lava und zu Stein gewordenes Erdreich setzte, das schon alt gewesen war, als diese Welt entstand, während die Geräusche und das letzte Licht des Tages hinter ihm zurückblieben und er sich in die ewige Dämmerung begab, die unter der Krone des Waldkönigs herrschte, in diesem Moment, hin und her gerissen zwischen Unsicherheit und Angst, spürte er mit unerschütterlicher Geckwissheit, dass auch diese Grenze nicht die letzte war, das Tabu nur der Schutz für ein neuerliches, ungleich größeres Rätsel war. Die gigantische Schwarzeiche war die Herrscherin der Megidda, die Königin des Schwarzeichenwaldes und doch wie er selbst nur Hüterin eines weiteren, vielleicht entsetzlichen Geheimnisses.

Faroan blieb stehen, schloss für einen Moment die Augen und versuchte Ordnung in den Sturm von Gefühlen und durcheinander wirbelnden Bildern zu bringen, der hinter seiner Stirn tobte. Es gelang ihm nicht ganz. Wie jedes Mal, wenn er hierckher kam, begannen seine Gedanken eigene Wege zu gehen, auf Pfaden zu wandeln, die ihn erschreckten und die einer eigenen, ihm selbst unverständlichen Gesetzmäßigkeit gehorchten. Dieckser Ort war alt, unglaublich alt. Es gab Dinge hier, die er nicht verstand und vielleicht auch nicht verstehen sollte. Er machte ihm Angst. Und doch war es der einzige Ort auf der Welt, vielleicht im ganzen Kosmos, an dem er die Lösung für all die uncklösbaren Fragen und Geheimnisse finden konnte, die sein Leckben auf so fürchterliche Weise verändert hatten. Nichts von allem, was während des letzten Jahres geschehen war, war Zufall. So etwas wie Zufall gab es nicht in der Welt der Menschen, von der er noch immer ein Teil war.

Der alte Magier verscheuchte auch diesen Gedanken, straffte die schmalen Schultern und ging weiter, bis der versteinerte Erdboden unter seinen Füßen knorrigem, schon vor einer Million Generationen zu Stein gewordenem Wurzelwerk wich. Ein Hauch trockener Kälte streichelte sein Gesicht wie eine unsichtbare, eisige Hand, dann berührte die gleiche Hand etwas hinter seiner Stirn, und er hörte die Stimme:

Du hast lange gebraucht.

Es war kein Tadel in diesen Worten; kein Vorwurf. Trotzdem verteidigte er sich: »Es war schwer, das Nichts zu durchschreickten. Es wird immer schwerer. Mit jedem Mal.«

Ich weiß, antwortete die Stimme. Ich bin das Nichts. Ein Teil davon.

Faroan versuchte nicht, über den Sinn dieser Worte nachzuckdenken. Er war hier, weil der Baumkönig ihn gerufen hatte, das war alles, was zählte. Es stand ihm nicht zu, nach dem Warum zu fragen. Trotzdem fügte er hinzu: »Wann wirst du mir Ruhe gewähren?«

Bald, antwortete die Stimme. Ich weiß, wie viel ich von dir verlange, mein Freund, denn einst war ich dir ähnlicher, als du je begreifen wirst. Du sehnst dich nach Ruhe und Vergessen. Aber es ist das letzte Mal, dass ich dich rufe.

Faroan erschrak. »Dann … dann ist es so weit?«

Ja. Der Tag der Entscheidung steht bevor. Der Feind rüstet zum entscheidenden Gefecht.

»Lassar?«

Die Stimme antwortete nicht gleich. Und als sie es schließlich tat, war irgendetwas in ihrem lautlosen Klang anders als sonst. Sie klang … besorgt?, dachte Faroan erschrocken.

Nicht Lassar, mein Freund. Auch er ist letztlich nur ein Werkzeug, nicht anders als du und selbst ich. Aber für dich und die, über die du wachen sollst, mag es genügen, den Feind in Lassar zu sehen. Ja. Es ist Lassar. Er ist zurückgekehrt. Und er hat die Schattenkrieger mit sich gebracht.

»Die Schattenkrieger!« Faroan wurde blass vor Schrecken. »Die –«

Die Dreizehn der Vernichtung, ja, bestätigte die Stimme.

»Dann … dann muss ich Cavin warnen!«, sagte Faroan erregt. »Er weiß nicht, was –«

Nein!, unterbrach ihn die Stimme. Du kennst die Regeln, Faroan. Du und ich gegen Lassar und Die Dreizehn. Niemand sonst.

»Regeln!« Faroan hob erregt die Hände. »Dieser Junge hat nicht die geringste Ahnung –«

Du vergisst, wie viel Zeit für die vergangen ist, die deine Freunde waren, seit du sie verlassen hast, Freund, unterbrach ihn die Stimme sanft. Aus dem Kind ist ein Mann geworden. Von allen, die jemals auf dem Thron Hochwaldens saßen, ist Cavin der, der der Aufgabe am ehesten gewachsen ist. Es ist kein Zufall, dass es jetzt geschieht.

»Er weiß ja nicht einmal, welchem Feind er gegenübersteht!«, begehrte Faroan auf. Ein wenig wunderte er sich selbst, woher er den Mut nahm, noch immer zu widersprechen. Aber die Worte, die er gehört hatte, hatten ihn vollends aus dem Konzept gebracht. Er hatte geahnt – gewusst –, dass dieser Tag kommen würde, aber wie für so vieles, was in der Zukunft lag, war die Vorstellung abstrakt für ihn geblieben, und ganz gleich wie lange er darüber nachgedacht, wie viele Jahre seines Leckbens er damit verbracht hatte, sich darauf vorzubereiten, es war doch stets etwas geblieben, das irgendwann einmal sein würde. Nicht morgen, nicht zu irgendeinem greifbaren Zeitpunkt, sondern verborgen hinter den Schleiern des Kommenden. Jetzt war es Wahrheit geworden. Und trotzdem wusste er im gleichen Augenblick, in dem er die Worte sprach, dass alles so kommen würde, wie es vorausbestimmt war.

»Er wird sterben«, murmelte er.

Vielleicht, antwortete das lautlose Wispern hinter seiner Stirn. Doch die Wege der Zukunft sind offen, Faroan. Es liegt in unserer Macht, sie zu beeinflussen. Und es mag Schlimmeres geben als den Tod.

»Aber –«

Ich verstehe deinen Schmerz, Freund, unterbrach ihn das lautlose Wispern. Und doch muss es kommen, wie es vorausbestimmt ist. Das Schicksal der Welt liegt nicht in deinen Händen und nicht in meinen, sondern einzig in denen Cavins.

»Eines Kindes!«, begehrte Faroan auf.

Eines Kindes, das den Mut hat, Dinge zu tun, vor denen selbst Männer zurückschrecken, antwortete die Stimme. Sieh.

Faroan drehte sich gehorsam herum. Im letzten, grau werdenden Licht des Tages erblickte er eine schmale Gestalt in einem wuchtigen Pelzmantel, der die Schultern zu erdrücken schien, die er wärmen sollte. Mit gemessenen, sehr langsamen Schritten, aber auch – wie Faroan fast überrascht feststellte – ohne auch nur einmal zu stocken überquerte sie den mit Trümmern übersäten Hof der Zyklopenfestung und näherte sich der gemauerten Einfriedung des Hügels, blieb schließlich doch einen Moment stehen und wandte sich nach rechts, der Treppe zu, die auf den künstlich aufgeschichteten Hügel hinckaufführte. Vor der riesigen Mauer, die unter dem Baumgiganten selbst winzig wirkte, sah sie verloren und klein aus. Schon die Schatten, die dieses schwarze Monstrum warf, mussten sie erschlagen.

»Cavin?«, sagte er überrascht. »Er kommt hierher?«

Es ist nicht das erste Mal, Freund, wisperte die Stimme. Er war oft hier, seit du ihn herbrachtest. Immer, wenn er Rat suchte. Er spürt, was geschehen wird. Er weiß es nicht, aber er spürt es. Er sucht dich.

»Mich?«, sagte Faroan verwirrt.

Die Wahrheit. Er glaubt, nur dich zu suchen, aber er sucht die Wahrheit. Er ist ratlos. Diesmal wird er Antworten bekommen.

Faroan erschrak, als ihm die wahre Bedeutung der lautlosen Worte bewusst war. »Aber was soll ich ihm sagen? Wir … wir müssen ihn warnen!«, murmelte er. Obwohl er leise sprach, waren seine Worte fast wie ein Schrei; voller Verzweiflung, aber auch erfüllt von dem Wissen, dass seine Bitte abgeschlagen werden musste.

Nein, antwortete die Stimme. Du weißt, dass das unmöglich ist, mein Freund. Es steht zu viel auf dem Spiel.

»Er … er wird ihn vernichten«, stammelte Faroan. »Er weiß ja nicht einmal, gegen wen er kämpft!«

Vielleicht, sagte das lautlose Wispern in ihm. Doch ich glaube, dass er der Aufgabe gewachsen sein wird. Er ist stark.

»Stark!« Faroan ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. »Was nutzen Stärke und Kraft gegen Lassars Verschlagenheit! Lass mich ihn wenigstens warnen!«

Nein, beharrte die Stimme. Du hast schon mehr getan, als du durftest, als du ihnen erlaubtest hierher zu kommen. Er hätte den Weg alleine finden müssen.

»Das … das war nicht meine Idee«, verteidigte sich Faroan. Aber die Stimme lachte nur. Du solltest nicht versuchen mich zu belügen, mein Freund, sagte sie sanft. Zumal es nicht nötig ist. Du weißt es nicht, aber hättest nicht du Karelian den Gedanken eingegeben, diesen letzten Zufluchtsort zu wählen, so hätte Lassar es getan.

»Lassar?«, wiederholte Faroan verstört. »Ich … ich verstehe nicht …«

Warte ab, mein Freund, sagte die Stimme. Du wirst verstehen. Bald. Sehr bald schon. Und nun geh. Cavin wartet auf dich.

»Aber was soll ich ihm sagen?«, stöhnte Faroan.

Du weißt es. Ich habe dich gerufen, damit du ihm die Antworten gibst, die er hören will. Die sein müssen. Du kennst seine Frage und du kennst die Antworten.

Oh ja, er wusste es. Und er wusste auch, dass er Cavin damit vielleicht umbringen würde. Aber er wusste auch, dass es sinncklos war, noch einmal widersprechen zu wollen. Zögernd wandckte er sich um, ging den Weg zurück, den er gekommen war, und blieb abermals stehen.

Es dauerte lange, bis Cavin kam, und als er am Fuße der Rieckseneiche erschien, waren seine Schritte langsam und schlepckpend, als kämpfe er gegen einen unsichtbaren Widerstand an, der ihn zurückhalten wollte. Gegen seinen Willen musste Farockan den jungen König bewundern. Niemand, nicht einer der zahllosen Behüter des Schwarzeichenwaldes, die vor ihm die Megidda betreten hatten, hatte den Mut gehabt, auch diesen letzten Schritt zu tun. Cavin wusste es nicht, aber er war einem Gott nahe. Sehr nahe.

Lautlos näherte sich Faroan der schmalen Gestalt Cavins und blieb erst stehen, als dieser den Kopf wandte und ihn anblickte. In seinen Augen war keine Überraschung, kein Schrecken, nur eine tiefe, unendlich tiefe Erleichterung. Sein Blick bohrte sich wie ein glühendes Messer in Faroans Seele.

»Du bist also gekommen«, murmelte Cavin schließlich. »Ich hoffte, dass ich dich hier finde, Freund.«

»Du solltest nicht hier sein«, erwiderte Faroan. »Niemand sollte das.« Einen Moment lauschte er auf Widerspruch, aber die lautlose Stimme in seinen Gedanken schwieg. Faroan war nicht zu weit gegangen mit seiner Warnung. Aber weit genug.

»Ich brauche deinen Rat, Faroan«, sagte Cavin. »Ich brauche ihn nötiger, als ich jemals etwas gebraucht habe. Lassars Trupckpen –«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Faroan. »Ich weiß, was geschieht, und ich weiß, welche Frage du stellen willst. Ich darf sie dir nicht beantworten. Noch nicht.«

Cavin war enttäuscht und er machte keinen Versuch, seine Enttäuschung zu verbergen. »Dann kannst du mir nicht helfen?«

»Helfen?« Faroan lächelte. »Die Entscheidung, die du fällen musst, kann dir niemand abnehmen, Cavin. Nur du allein kannst sie treffen. Aber es wird die richtige sein. Höre auf die Stimme deines Blutes und sie wird die richtige sein. Mehr kann und darf ich dir nicht sagen.«

»Wenn ich tue, was du sagst, dann müssen wir kämpfen«, sagte Cavin traurig. »Lassar wird nicht davon ablassen, den Wald erobern zu wollen. Er hat gar keine andere Wahl mehr.« Er schwieg einen Moment. »Dieser heilige Ort wird in einem Ozean von Blut versinken, wenn seine Krieger den Wald betreckten, Faroan. Ist es wirklich das, was du willst? Was –«, er hob die Hand und deutete auf den Baum hinter Faroan, »– er will?«

Faroan erschrak. Was wusste Cavin von ihm? Dann begriff er, dass er nichts wusste, dass es nur eine theatralische Geste war, zu der ihn seine Jugend verleitete. Er lächelte.

»Alles wird kommen, wie es kommen muss«, antwortete er. »Die Entscheidung liegt bei dir.«

»Dann wird das Töten weitergehen«, murmelte Cavin niedergeschlagen.

»Der Tod ist nicht alles«, erwiderte Faroan. Seine Stimme klang traurig. »Manchmal muss das Alte weichen, um dem Neuen Platz zu machen. Und das ist alles, was ich dir sagen kann.«

Cavin sagte nichts mehr, aber seine Hand senkte sich auf den Griff des Schwertes herab, der aus seinem Gürtel ragte, und sein Blick war voller Trauer. Trauer und Angst, wenngleich es eine Angst vor etwas war, das er noch gar nicht kannte. Faroan spürte eine heiße, schmerzende Welle von Mitleid in sich aufsteigen, was er diesem Jungen genommen hatte und was er ihm noch würde nehmen müssen. Aber er schwieg weiter. Und als er sich nach einer Weile herumdrehte und mit langsamen, gemessenen Schritten in die Richtung zurückging, aus der er gekommen war, und schließlich aus dem Reich des Schweigens und Alters wieder zurück in die Illusion trat, die die anderen Wirklichkeit nannten, war es nicht nur der Regen, der seine Wangen benetzte.

4

Sie hatte erwartet zu Lassar gebracht zu werden, aber sie sah den Herrn der Schatten an diesem Tage nicht, auch nicht am darauf folgenden und dem danach. Die beiden Krieger brachten sie in ein neues Gefängnis – größer und heller und weitaus menschenwürdiger ausgestattet als das, in dem sie die letzten sechs Monate verbracht hatte: eine zehn auf sechs Schritte messende Kammer, in der es ein Bett gab, einen Tisch und Stühle und sogar ein Fenster, wenn auch schmal und mit fingerdicken Eisenstäben, sodass jeder Gedanke an Flucht von vornherein sinnlos wurde. Auch das Essen war besser – keine Abfälle mehr, sondern frisches, süßes Brot und ein leichter Wein, bei jeder zweiten Mahlzeit sogar ein Stück Fleisch oder Fisch, sodass ihre Kräfte allmählich zurückkehrten.

Und im gleichen Maße, in dem sich ihr Körper erholte, begann sich auch ihr Geist zu regenerieren. Es war, als erwache sie aus einem tiefen, sechs Monate anhaltenden Schlaf, sehr langsam, aber unaufhaltsam.

Am dritten Tag begann sie ihre Muskeln zu trainieren; sehr vorsichtig zu Anfang, denn noch immer bereitete ihr jede Beckwegung Mühe und Schmerzen und jede größere Anstrengung endete mit Übelkeit. Aber Animah machte weiter. Nach einer Woche fühlte sie sich kräftig genug, ernsthaft über die Mögcklichkeit einer Flucht nachzudenken.

Sie wartete.

5

»Du hast Recht«, pfiff Guarr. »Es sind Flöße.« Er rutschte unruhig im Sattel hin und her, wischte sich ein wenig Pulverckschnee aus dem Gesicht und blickte abwechselnd Cavin und das Dutzend großer, plump erscheinender Konstruktionen an, die eine viertel Meile unter ihnen auf dem zugefrorenen Fluss standen; rechteckige hölzerne Gebilde, jedes einzelne groß genug, fünfzig Männer oder zwei Dutzend Berittener aufzucknehmen, und mit einer roh gefertigten Brustwehr an drei Seickten.

»Dann war Sarraths Information richtig.« Gwenderon gab sich keine Mühe, den Zorn aus seiner Stimme zu vertreiben. »Sie bereiten einen Angriff vor. Sobald das Eis aufbricht …«

»Unsinn«, unterbrach ihn Cavin. »Lassar ist kein Narr, Gwenderon. Er muss wissen, dass wir seine Vorbereitungen beobachten. Eine Gefahr, die man kennt, ist nur noch halb so groß.« Einen Moment lang blickte er noch auf den Fluss hinunter, dann schwang er sich aus dem Sattel, ging ein paar Schritte weit in den Wald hinein und stieß einen kurzen, schrillen Pfiff aus. Eine in graue und braune Pelze gehüllte Gestalt trat aus dem Schatten eines Busches und blickte ihn fragend an.

»Ist der Späher zurück?«, fragte Cavin.

Der Raett verneinte. »Der Weg ist weit, Herr. Und überall sind Wachen aufgestellt. Es sind viele.«

»Wozu Späher?«, fragte Gwenderon aufgebracht. »Ein paar wohl gezielte Brandpfeile, und der Spuk hat ein Ende.«

Cavin zog es vor, gar nicht darauf zu antworten. Gwenderon wusste so gut wie er, dass ein Angriff auf die Krieger dort unten am Fluss nicht infrage kam. Selbst von hier aus konnten sie sehen, dass es an die tausend Männer sein mussten, die ihr Lager rechts und links des vereisten Flusses aufgeschlagen hatten, und wie viele sich noch im undurchdringlichen Dickicht des Waldes verbergen mochten, wagte Cavin nicht einmal zu schätzen. Sie dagegen waren nicht einmal fünfzig; Guarrs Raetts bereits mitgerechnet. Ohne Gwenderon auch nur eines Blickes zu würdigen, ging er zurück zum Waldrand und spähte aus zusammengekniffenen Augen zum Fluss hinab. Es hatte die ganze Nacht über geschneit und der Wald war sehr still. Nur dann und wann drang ein Knacken an sein Ohr, manchmal, wenn der Wind sich drehte, ein schriller Ruf aus dem Heerlager unter ihnen oder das helle Klingen von Hämmern. Der Fluss war auf eine halbe Meile bedeckt von rechteckigen hässcklichen Flecken. Trotzdem arbeiteten die Soldaten weiter. Mehr Flöße entstanden, bis hin zur Biegung und wahrscheinlich noch darüber hinaus. Cavin überlegte. Selbst wenn sich das Wetter schlagartig änderte, würde es sicher noch zwei Wochen dauern, bis der Fluss eisfrei war. Wenn Lassars Männer in diesem Tempo weiterarbeiteten, würden an die hundert Flöße bereitckstehen, bis es so weit war. Genug, Lassars gesamtes Heer aufckzunehmen. Die Folgerung aus diesem Gedanken war so einfach, dass er sich schlicht weigerte sie anzuerkennen. So dumm konnte Lassar nicht sein.

»Wir müssen etwas tun, Cavin«, drängte Gwenderon.

»Er hat Recht, Herr«, stimmte Karelian zu. Diesmal sah Cavin verärgert auf. Gwenderons Zorn und Ungeduld verstand er, er hatte nichts anderes erwartet. Dass Karelian dem Waffenckmeister beipflichtete und ihm somit in den Rücken fiel, ärgerte ihn. Zornig drehte er sich herum und ging auf den Waldläufer zu, der wie er abgesessen war und aus vor Kälte geröteten Augen zum Fluss hinuntersah.

»Schaut dort hinüber«, fuhr Karelian fort, ehe Cavin Gelegenheit fand, etwas zu sagen. »Sie zerstören den Wald.«

Cavin musste nicht erst in die Richtung blicken, in die Karelians Arm wies. Er hatte wie alle die riesige Wunde gesehen, die Lassars Männer in den Wald geschlagen hatten: ein Rechtckeck von tausend auf tausend Schatten, in dem nur noch abgeschlagene Stümpfe standen. Selbst das Unterholz war herausgerissen und verbrannt worden, damit es die Männer nicht bei ihrer Arbeit behinderte. Und die Bresche im Wald wuchs.

»Ein paar Bäume«, sagte er ausweichend. »Es ist nicht so –«

»Ein paar Bäume?« Karelian fuhr herum. Seine Augen flammten vor Zorn. »Diese paar Bäume«, sagte er zornig, »sind der Grund, aus dem Euer Vater starb, mein König. Das ist genau das, was Lassar wollte und was Euer Vater und Gwenderon ihm verweigerten. Der Grund, aus dem er all Eure Krieger erschlagen und Hochwalden verbrennen ließ! Und Ihr seht zu.«

»Ich kann ja hinuntergehen und ihnen sagen, dass sie aufhören sollen«, fauchte Cavin wütend. Aber sein Zorn prallte an Karelian ab, und als er sich herumdrehte und zu Gwenderon und Guarr aufsah, erkannte er in ihren Blicken die gleiche Entckschlossenheit wie bei Karelian. War er denn der Einzige, der einen klaren Verstand behalten hatte?

»Verdammt, was sollen wir tun?«, fragte er wütend. »Ein Angriff auf diese Männer wäre doch vollkommen sinnlos. Haltet ihr sie für so dumm nicht damit zu rechnen? Wahrscheinlich warten sie nur auf uns!«

»Nicht wahrscheinlich«, sagte Guarr. »Bestimmt. Trotzdem sollten wir etwas tun.«

Cavin funkelte den Raett-Führer mit kaum mehr verhohlener Wut an. Guarr hockte wie ein verkrüppelter brauner Schatten auf dem Rücken seines Pferdes, durch seine Verletzungen beckhindert und noch unbeholfener, als es bei den Raetts ohnehin normal war. Sie hatten ihn im Sattel festbinden müssen, damit er überhaupt Halt fand. Trotzdem spürte er die Entschlossenheit, die den Riesennager erfüllte. Mit einem Male begriff er, dass er auf verlorenem Posten stand. Er hatte Gwenderon und die beiden anderen hierher gebracht, weil er gehofft hatte, allein der Anblick von Lassars gewaltiger Kriegsmaschinerie würde ihnen jegliche Lust auf einen Angriff nehmen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Er verstand jetzt, dass es von Anfang an beschlossene Sache gewesen war. »Und was?«, fragte er. Aber der scharfe Ton in seinen Worten war jetzt nur noch Trotz.

»Wir verbrennen die Flöße«, sagte Gwenderon.

»Und dann?« Cavin schnaubte. »Selbst wenn sie uns dabei nicht alle umbringen, werden sie einfach neue bauen.«

»Die verbrennen wir wieder«, antwortete Gwenderon ungeduldig. »Die Zeit arbeitet für uns, mein König.« Er wies mit einer zornigen Kopfbewegung auf den Fluss und die rechteckigen schwarzen Pockennarben auf seinem Eis. »Was Ihr dort seht, sind nicht die Vorbereitungen für einen Angriff, Cavin. Lassar flieht. Der Fluss führt zur Küste, und sobald er eisfrei ist, braucht er wenige Tage, sein gesamtes Heer in Sicherheit zu bringen.«

Und vielleicht wäre das das Beste, dachte Cavin. Er bestritt nicht Gwenderons Behauptung – es war die einzige Erklärung für alles, was in den letzten Wochen geschehen war. Trotz der schier unüberwindlichen Barriere, die der Winter in den Bergen errichtet hatte, waren Nachrichten in den Schwarzeichenckwald gedrungen, die die Behauptung des desertierten Kriegers zu beweisen schienen. Lassars Reich wankte. Noch hielt der Winter mit seinem Eis und seiner Kälte die Grundfesten seines Imperiums aus Angst und Terror zusammen, aber sobald der Frühling kam, würde nicht nur eine Rebellion, sondern ein Sturm losbrechen, der sein Reich davonspülte. Es war kein Zufall, dass seine Truppen hierher kamen, in die einzige Richtung, in die sie noch fliehen konnten. Lassar war kein Narr. Er musste wissen, dass die Hälfte seiner Männer erfror oder vor Erschöpfung starb, wenn sie versuchten die Berge im Winter zu überqueren. Wenn er es in Kauf nahm, dann hatte er seine Gründe dafür.

Ja, dachte er noch einmal, und eine Spur von Trauer, die er selbst nicht recht verstand, mischte sich in seine Gedanken. Lassars Reich würde untergehen, so oder so. Aber er war sehr sicher, dass Lassar, wenn es schon sein musste, mit einem Paukenschlag abtrat, gewaltig und böse, so wie er gelebt und geherrscht hatte. Sie konnten sie aufhalten. Selbst sie, die so wecknige waren, hatten die Macht, sein gewaltiges Heer zu bannen, bis die Verfolger da waren und es vernichteten. Aber das Schlachtfeld, auf dem dies geschah, würde der Schwarzeichenwald sein.

Dann dachte er an seine Begegnung mit Faroan und das, was der Magier gesagt hatte. Er hatte keine Hilfe zu erwarten; weckder von den Lebenden noch von den Toten.

Cavin seufzte. »Gut«, murmelte er resignierend. »Dann schickt einen Mann zurück zur Megidda. Er soll –«

»Nein«, unterbrach ihn Guarr. »Keinen Mann.«

Cavin sah verwirrt auf.

»Wir sind genug«, behauptete Guarr.

»Wir sind fünfzig gegen mehr als tausend!«, begehrte Cavin auf.

Guarr begann auf Raett-Art zu lachen, ein Laut, der Cavin einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. »Wir sind genug«, behauptete er. »Der Wald wird tun, was wir nicht können.«

»Und … wie?«, fragte Cavin zögernd. Auch Gwenderon und Karelian blickten das Raett-Männchen verwirrt an. Aber Guarr antwortete nicht, sondern drehte sich nur schwerfällig im Sattel herum, hob den Kopf und stieß einen schrillen, an- und abschwellenden Pfiff aus, wie ihn Cavin noch nie zuvor gehört hatte.

Es dauerte lange, bis eine Reaktion auf diesen Laut erfolgte. Irgendwo, verborgen in den Tiefen des Waldes, begann es zu knacken und zu rascheln. Ein Schatten tauchte zwischen den Büschen auf und verschwand wieder, dann noch einer und noch einer und noch einer, bis der Boden schwarz war und der Schnee unter dem Trippeln unzähliger kleiner Pfoten zu knickstern begann.

Guarr fuhr fort diese sonderbaren Pfiffe auszustoßen, und obwohl Cavin ganz genau wusste, dass es unmöglich war, war er gleichzeitig sicher, dass die Armee aus Ratten und Mäusen jeden einzelnen dieser Laute verstand. Schließlich, nach einer Ewigkeit, wie es Cavin vorkam, verschwanden die Tiere wieckder; so schnell und unheimlich, wie sie gekommen waren.

»Was … was hast du getan?«, murmelte er. In seiner Stimme war Angst.

Guarr lachte pfeifend. »Warte ab, Mensch«, sagte er. »Heute Nacht, wenn der Schnee fällt, greifen wir an.«

Und ganz plötzlich, zum ersten Male, seit er Guarr kennen gelernt hatte, hatte Cavin Angst vor ihm. Panische Angst.

6

Von der zugefrorenen Oberfläche des Flusses stieg ein eisiger Hauch zu ihnen hoch, und jetzt, als sie den Flößen ganz nahe waren, konnte Cavin die gewaltigen eisernen Kufen erkennen, die sich unter den Gebilden verbargen; riesigen Schlittschuhen gleich und immer ein Dutzend nebeneinander, sodass sie trotz des ungeheuerlichen Gewichtes das Eis nicht zerschneiden würden. Vorne, an den Schmalseiten der Flöße, waren große eiserne Ringe angebracht worden, durch die später Seile oder Ketten gezogen werden würden. Nur wenige Pferde oder Ochsen mussten ausreichen, auf diese Weise Lassars gesamte Armee durch den Wald zu transportieren; zehnmal schneller, als sich ein Mann zu Fuß oder auch zu Pferde fortzubewegen vermochte.

Ein Gefühl eisiger Wut hatte von Cavin Besitz ergriffen; aber es war eine Wut, in der auch eine gehörige Portion Hilflosigkeit war, denn der Anblick zeigte ihm nicht nur Lassars ganze Verschlagenheit, sondern auch ihre eigene Schwäche. Die Flöckße waren größer, als es von oben den Anschein gehabt hatte – eine einzige dieser auf Kufen gleitenden Festungen konnte mehr Männer tragen, als ihre gesamte Rebellenarmee an Mitgliedern zählte.

»So also hat er sich die Sache gedacht«, murmelte Gwenderon wütend. »Mit diesen Dingern ist er in wenigen Tagen an der Küste.«

»Ja«, stimmte Cavin zu. »Und wahrscheinlich wartet dort schon eine Flotte auf ihn. Wenn die Armeen der Nordländer über die Berge kommen, ist Lassar bereits verschwunden.«

»Oder auf dem Wege zurück«, fügte Gwenderon hinzu. In seiner Stimme schwang ein Ton widerwilliger Anerkennung mit. »Dieser Teufel – er wird denen in den Rücken fallen, die ihm in den Rücken fallen wollten. Der Schwarzeichenwald wird zur Falle – aber nicht für ihn.« Er schnaubte. »Wir werden es verhindern.« Wie um seine Worte zu bestätigen, griff Gwenderon in den Köcher auf seinem Rücken, nahm einen der mit Pech bestrichenen Pfeile hervor und legte ihn auf den Bogen, ohne jedoch die Sehne zu spannen.

Cavin verfolgte seine und Karelians Vorbereitungen mit gemischten Gefühlen. Er hatte nicht mehr widersprochen, obgleich sich alles in ihm gegen die Vorstellung sträubte, dieses gewaltige Heer anzugreifen, das auf dem Fluss und beiderseits davon lagerte. Guarrs Späher hatten ihnen einen Weg zum Flussufer hinab gezeigt, der praktisch unter den Nasen der Wächter entlangführte, und tatsächlich hatten sie das Flussufer unbehelligt erreicht. Aber vielleicht war es gerade das, was Cavins Misstrauen eher schürte – es war alles ein wenig zu glatt gegangen für seinen Geschmack. Rechts und links von ihnen, zum Teil weniger als eine Pfeilschussweite entfernt, wimmelte es von Lassars Kriegern, und wenn bisher auch niemand Notiz von ihnen genommen hatte, so konnte sich das rasch ändern. Sehr rasch sogar. Irgendwie erschien Cavin die Vorstellung, dass er und Gwenderon und Karelian und das knappe Dutzend Männer in ihrer Begleitung mit ein paar Pfeicklen diese gewaltige Kriegsflotte in Brand schießen sollten, schlichtweg lächerlich. Aber es war zu spät, jetzt noch zurückzuwollen.

Gwenderon berührte ihn am Arm und deutete zum anderen Ufer hinüber. Die Wunde, die Lassars Krieger in den Wald geschlagen hatten, war auch von hier aus deutlich zu erkennen. Die Männer hatten Fackeln entzündet, nachdem die Sonne untergegangen war, und das schier unablässige Hämmern und Sägen wurde nur unterbrochen, wenn einer der Baumriesen krachend niederstürzte. Selbst in Cavins Ohren, der mit diesem Wald nicht halb so verbunden war wie Gwenderon oder gar Karelian, klang es jedes Mal wie ein Schmerzensschrei.

Aber das war es nicht, worauf ihn Gwenderon hatte aufmerkcksam machen wollen. Etwas im Rhythmus der hin und her huckschenden Fackeln und Schatten auf dem jenseitigen Ufer hatte sich verändert. Es war … unruhiger geworden, hektischer. Und dann, ganz plötzlich, erlosch ein fingerlanger Ausschnitt in der Kette von Lichtern, die den gewaltsam geschaffenen Waldrand markierten. Ein einzelner, lang anhaltender Schrei drang zu ihnen herüber.

Gwenderon spannte seinen Bogen und hob den Feuerstein, aber Karelian legte ihm rasch die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, flüsterte er. »Warte.«

Ein zweiter Schrei erscholl, dann noch einer und noch einer, und mit einem Male erstickten die Arbeitsgeräusche unter einem Chor gellender Schreie, die Kette aus Lichtern zerriss vollends und ein tiefes, grollendes Rumpeln und Donnern ließ den Boden erbeben. Das Erdreich, durch das Wühlen und Graben von Millionen scharfer Krallen und Zähne seines Haltes beraubt, kam ins Rutschen. Aus der Entfernung betrachtet sah es harmlos und langsam aus, aber es war weder das eine noch das andere: Eis und Schnee verschwanden unter einer Lawine aus Geröll und Schlamm, braunen Zungen aus kochendem Erdreich, die sich dem Fluss entgegenstreckten und sich immer schneller und schneller vereinigten, Geröll und losgerissene Baumwurzeln mit sich reißend und die Männer schlichtweg zermalmend, die nicht rasch genug beiseite springen konnten. Dann, in weniger als einer Minute, nachdem der erste Schrei erklungen war, gab es nichts mehr, wohin die Krieger hätten ausweichen können; mit einer schwerfällig zuckenden Bewegung neigte sich der gesamte Hang dem Fluss entgegen, hob und senkte sich wie die Flanke eines träge erwachenden Drachen, und eine gewaltige Lawine aus Schlamm und Steinen donnerte die Böschung herab, traf mit einem urgewaltigen Dröhnen auf das Eis und zermalmte es.

»Jetzt!«, schrie Gwenderon.

Gleichzeitig ließ er seinen ersten Pfeil fliegen. Das Geschoss jagte, eine sprühende Spur aus Funken hinter sich herziehend, auf das zuvorderst stehende Floß zu, bohrte sich handtief in das Holz und setzte den frischen Teer in Brand, mit dem die Lücken zwischen den Stämmen gefüllt waren. Nahezu im selben Augenblick schossen auch die anderen. Ein Dutzend winziger glühender Kometen schien aus dem Ufergestrüpp zu brechen und sich auf die Flotte von hilflos daliegenden Flößen herabzucksenken. Nicht alle trafen ihr Ziel und nicht alle Ziele, die getroffen wurden, fingen tatsächlich Feuer. Aber als Cavin seinen zweiten Pfeil auf die Sehne legte, leckten die Flammen bereits an drei nebeneinander liegenden Flößen, und eines davon brannte bereits so lichterloh, dass es nicht mehr zu retten war. Der Anblick ihres so überraschenden Erfolges fegte Cavins Furcht davon und verwandelte sie in Kampfeslust. Hastig legte er einen zweiten Pfeil auf die Sehne, setzte ihn in Brand und schoss ohne lange zu zielen.

Zu einer dritten Salve kamen sie nicht mehr. Plötzlich war das Unterholz rings um sie herum voller Bewegung; Schatten und blitzendes Metall brachen wie eine Woge über sie herein und das Peitschen der Bogensehnen ging in den wütenden Schreien der Angreifer unter. Ein brennender Pfeil jagte eine Handbreit an Cavins Gesicht vorbei und traf einen der Krieger, ein zweiter erhob sich ziellos in die Luft und fiel torkelnd auf das Eis herab, weit entfernt von jeglichem Ziel. Cavin ließ seicknen Bogen fallen, riss stattdessen das Schwert aus dem Gürtel und fing im letzten Moment einen Keulenschlag ab, verlor aber durch den Hieb das Gleichgewicht, stürzte hintenüber und schlitterte hilflos ein Stück weit auf den Fluss hinaus, ehe er wieder auf die Füße kam. So schnell es auf dem spiegelglatten Eis überhaupt möglich war, hastete er zum Ufer zurück.

Er sah jetzt, dass die Angreifer weniger zahlreich waren, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte – acht, vielleicht zehn von Lassars Kriegern, die durch einen bösen Zufall in ihrer unmittelbaren Nähe gewesen sein mussten, als sie zu schießen begannen. Noch bevor er das Ufer erreichte und wieckder in den Kampf eingreifen konnte, war die Hälfte von ihnen besiegt, tot oder kampfunfähig, und die anderen wurden zurückgedrängt, jetzt, da der Vorteil der Überraschung nicht mehr auf ihrer Seite war. Und trotzdem mochte dieser kleine Trupp reichen, ihren Plan zum Scheitern zu verurteilen, denn aus dem Hauptlager, keine hundert Schritte weiter flussabwärts, erschollen jetzt wütende Rufe, und mit einem Male erzitterte das Eis unter dem Dröhnen eisenbeschlagener Hufe.

Cavin war mit einem Satz neben Gwenderon, der mit einem hünenhaften Krieger rang, schlug dem Mann den Schwertknauf in den Nacken und deutete auf den Fluss hinab. »Noch eine Salve!«, keuchte er. »Und dann nichts wie weg!« Noch während Gwenderon seinen Bogen aufhob, hetzte er weiter, rannte einen weiteren Angreifer durch sein pures Ungestüm über den Haufen und vertrieb den letzten von Lassars Kriegern mit einem wütenden, beidhändig geführten Hieb, der ihm das Schwert aus den Fingern prellte. Mit einem raschen Blick überzeugte er sich davon, dass keiner ihrer Männer ernsthaft verwundet war, hob seinen eigenen Bogen auf und feuerte einen letzten brennenden Pfeil auf die Flöße. Im grellroten Licht der Flammen sah er Reiter auf das Ufer zusprengen, und nicht sehr weit von ihnen entfernt schien das Unterholz lebendig geworden zu sein, wo sich ein weiterer Trupp von Lassars Kriegern näherte.

»Zurück!«, schrie Cavin. »Zu den Pferden!«

Sein Befehl wäre kaum mehr nötig gewesen. Die Männer hatten die näher kommenden Krieger bemerkt und begannen sich hastig zurückzuziehen; die letzte Salve brennender Pfeile galt nicht mehr den Flößen, sondern den Reitern, die zwischen diesen heransprengten. Nur zwei Geschosse trafen ihr Ziel und rissen die Männer in vollem Galopp aus den Sätteln, aber selbst wenn es zehnmal so viele gewesen wären, hätte das kaum einen Unterschied gemacht. Es war eine Woge aus Stahl, die da über den Fluss heranbrandete, hundert oder mehr Reiter, durch die sie einfach niedergewalzt wurden.

Cavin schleuderte seinen Bogen davon, fuhr herum und lief zum Wald hoch, so schnell er konnte. Sein Fuß verfing sich; er fiel, kam blitzschnell wieder auf die Füße. Der Boden unter seinen Füßen zitterte, als die ersten Reiter das Ufer erreichten und ihre Tiere rücksichtslos die flache Böschung hinaufdrängckten.

Cavin erreichte den Waldrand und blieb in einem Busch hängen, dessen Dornen wie kleine Nadeln durch seinen Pelz drangen. Verzweifelt schlug er mit dem Schwert zu, um sich Luft zu verschaffen, rannte im Zickzack zwischen den dicht stehenden Bäumen hindurch und beschleunigte sein Tempo noch, als er das Stampfen eisenbeschlagener Hufe hinter sich hörte. Ein Speer verfehlte ihn um Haaresbreite und fuhr mit einem saugenden Geräusch in den Boden, er sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln, ließ sich blitzschnell zur Seite fallen und hörte einen wütenden Schrei, als die Klinge, die seinen Schädel hätte treffen sollen, gegen einen Baum prallte und abbrach. Er drehte sich auf den Rücken, packte sein Schwert mit beiden Händen und stieß die Klinge nach oben ohne zu zielen. Sie traf. Das Pferd, das ihn hätte niedertrampeln sollen, bäumte sich auf, machte einen ungelenken Schritt zurück und brach wie vom Blitz getroffen zusammen, seinen Reiter unter sich begrabend.

Aber die Gefahr war keineswegs vorüber. Hier im Wald waren sie den schwerfälligen Reitern an Schnelligkeit überlegen und die Dunkelheit schützte sie zusätzlich, aber es waren viele, unglaublich viele. Cavin wurde erneut angegriffen, kaum dass er wieder auf die Füße gekommen war, wehrte ungeschickt einen Schwerthieb ab und prallte rücklings gegen einen Baum, als ihn ein Schildstoß traf. Seine linke Seite war plötzlich gelähmt. Eine Klinge hackte nach seinem Gesicht, verfehlte es nur knapp und riss eine schmerzhafte Wunde in seinen Oberckarm. Blindlings schlug er zurück, spürte, wie sein Schwert auf eisenharten Widerstand traf und ihm aus der Hand geprellt wurde, und warf sich blindlings zur Seite. Eine Speerspitze krachte in den Baum, dort, wo er gerade noch gestanden hatte, eine zweite traf zwischen seinem Arm und seinem Leib hindurch und schrammte schmerzhaft an seinen Rippen entlang. Cavin griff nach dem Schwert, erhob sich mit einem wütenden Ruck und schlug blindlings um sich.

Es war aussichtslos. Mit zwei, vielleicht auch drei Angreifern wäre er fertig geworden, denn ihre gewaltigen Schlachtrosse stellten hier im Wald wohl eher eine Behinderung für die Männer dar, aber mit einem Male sah er sich von mehr als einem Dutzend riesiger, dräuender Schatten umgeben. Ein Keulenhieb traf seinen Arm und lähmte ihn vollends, dann erhielt er einen Schildstoß in den Rücken, torkelte haltlos nach vorne und sah einen gewaltigen Stiefel auf sein Gesicht zurasen.

Er verlor nicht das Bewusstsein, aber für endlose Augenblicke klammerte er sich mit aller Macht an den schmalen Grat zwischen Dunkelheit und Licht, unfähig, auf die Dinge zu reagieren, die um ihn herum und mit ihm geschahen. In seinem Mund war Blut und er spürte eine tiefe, beinahe körperlich schmerzende Enttäuschung. Sie waren Narren gewesen, das war alles, was er denken konnte, kindische Narren, sich einzuckbilden, Lassars gewaltige Kriegsmaschinerie mit ein paar brennenden Pfeilen aufhalten zu können!

Harte Hände rissen ihn vom Boden hoch, ergriffen seine Arme und drehten sie auf den Rücken. Seine Hände wurden zusammengebunden und ein rüder Stoß zwischen die Schulterckblätter forderte ihn zum Weitergehen auf. Seine Kraft reichte nicht aus.

Er fiel, versuchte sich mit eigener Kraft auf die Füße zu kämpfen, die nur noch seinem Trotz entsprang, und fiel ein zweites Mal. Die blutigen Schleier vor seinen Augen lichteten sich nicht mehr. Er fühlte sich schwach wie ein neugeborenes Kind und er hätte vor Enttäuschung schreien können.

7

Spät am Abend wurde sie abgeholt; wieder von zwei gepanzerten, finster dreinblickenden Kriegern, die sie jedoch durchaus freundlich behandelten, wenn sie auch keinen Zweifel daran ließen, dass sie nach wie vor eine Gefangene war. Als sie diesmal auf den Hof hinaustrat, blendete sie das Tageslicht nicht, und sie nutzte die Gelegenheit, sich so gründlich umzucksehen wie nur möglich.

Ihr Verdacht, sich nirgendwo anders als in den Ruinen von Hochwalden zu befinden, bestätigte sich. Animah war niemals hier gewesen, obwohl der Schwarzeichenwald ihre Heimat war; aber er war so groß, dass ein Menschenleben allein nicht ausreichte, jeden Ort in seinen finsteren Teilen auch nur einmal zu besuchen, und die Burg hatte sie niemals interessiert.

Trotzdem erschreckte sie die Veränderung, die mit der Burg König Oros vonstatten gegangen war. Ein Drittel der gewaltigen Festungsanlage war vollkommen zerstört, verbrannt vom Feuer und zu Staub und Asche zermalmt von den Trümmern des niedergestürzten Hauptturmes. Und selbst das, was dem Wüten des Feuersturmes standgehalten hatte, war verwüstet: Aus der Perle des Schwarzeichenwaldes war eine verkohlte Ruine geworden, die nicht einmal der Schnee vollends hatte zudecken können.

Aber sie war nicht verlassen. Wie der Teil des kleineren Westturmes, der ihr in den letzten sieben Tagen und Nächten als Gefängnis gedient hatte, waren große Teile der Festung wieder hergerichtet worden, sodass sie halbwegs bewohnbar schienen; wenngleich sich niemand die Mühe gemacht hatte, die Schäden wirklich auszubessern. Animah schätzte, dass sich mehr als dreihundert Krieger in der Burgruine aufhielten. Sie sah nur wenige unbewaffnete Männer und Frauen und eine Hand voll Kreaturen, die weder das eine noch das andere zu sein schienen, aber die Spuren der Pferde waren unübersehbar. Hochwalden, obwohl eine Ruine, pulsierte vor Leben. Und über dem Ganzen lag eine schwer in Worte zu fassende, aber spürbare Aufbruchsstimmung.

Die beiden Krieger führten sie quer über den verschneiten Hof zu dem schwarz gewordenen Etwas, das einmal das Haupthaus Hochwaldens gewesen sein musste. Vor dem Eingang waren die Trümmer notdürftig beiseite geräumt worden, aber die Spuren des Brandes waren auch hier unübersehbar, ja, das Feuer schien hier mit besonderer Wut getobt zu haben, denn selbst die schwarzen Basaltblöcke, aus denen das Gebäuckde errichtet worden war, waren unter der Hitze geborsten. Dünne, vielfach verästelte Risse verwandelten die Eingangshalle in ein Spinnennetz, und trotz all der Zeit, die seither vergangen war, hing noch Brandgeruch in der Luft.

Am Ende der verwüsteten Halle ging es eine Treppe hoch, die zum Teil eingestürzt war und unter ihren Schritten bedrohlich zu beben begann und schließlich in einen weitläufigen Raum mündete, der einmal der Thronsaal gewesen sein mochte, denn unter dem Südfenster stand noch ein verkohltes Etwas, das Animah vage an einen gewaltigen Stuhl erinnerte; neben der Tür lehnte eine deformierte Rüstung, von der Hitze des Feuers zusammengeschmolzen wie Wachs und untrennbar mit der Wand verbunden. Animah schauderte. Welche Gewalten mochten hier getobt haben?, dachte sie. Es war schwer vorckstellbar, dass es ein normales Feuer gewesen war.

Aber was war schon normal, wenn Lassar seine Finger im Spiel hatte?

»Du tust mir unrecht, weißt du das?«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Und du beleidigst meine Krieger. Was du hier siehst, hat nichts mit Zauberei zu tun. Zumindest nicht sehr viel.«

Animah fuhr zusammen, drehte sich erschrocken herum und fuhr ein zweites Mal zusammen, als sie das Schattengesicht unter der Kapuze erblickte. Ein heftiges, fast übermächtiges Gefühl von Angst ergriff von ihr Besitz. Voller Schrecken fiel ihr etwas ein, was sie gewusst und wieder vergessen hatte, weil es Millionen Jahre her schien: dass Lassar ihre Gedanken las.

»Das ist richtig«, antwortete Lassar lächelnd. »Aber keine Sorge – ich werde es nicht tun, solange du vernünftig bist und ich nicht den Eindruck habe, dass du mich belügst. Es ist anstrengend und alles andere als angenehm, in der Kloake eurer Gedanken herumzuwühlen.« Er lachte leise. »Aber ich habe dich nicht kommen lassen, um über mich zu sprechen, sondern über dich.«

»Ich wüsste nicht, was wir miteinander zu bereden hätten«, antwortete Animah trotzig. »Ich bin deine Gefangene.«

»Ja«, bestätigte Lassar. »Das bist du wohl. Gut, dass du es einsiehst. Ich nehme an, du sehnst dich nicht nach dem Quartier zurück, in dem du den Winter verbracht hast?«

Animah antwortete nicht darauf und Lassar schien das auch gar nicht erwartet zu haben, denn er lachte nur leise, ging an ihr vorbei und trat an ein niedriges Tischchen auf der anderen Seickte der Tür, um zwei Becher mit Wein zu füllen. Animah ignorierte das Trinkgefäß, das er ihr hinhielt.

»Du magst keinen Wein?«, fragte Lassar mit übertrieben gespielter Enttäuschung. »Das ist schade. Er ist sehr gut, musst du wissen. Er stammt noch aus den Kellern dieser Burg, die den Brand gottlob überstanden haben. Aber wie du willst.« Er seufzte, setzte den einen Becher zurück und leerte den anderen mit einem Zug, ehe er auch ihn aus der Hand stellte. »Siehst du?«, sagte er spöttisch. »Er war nicht vergiftet.«

»Was willst du?«, fragte Animah ärgerlich. »Dich über mich lustig machen?«

»Nein«, antwortete Lassar ruhig. »Dazu habe ich weder Lust noch Zeit. Ich habe dich kommen lassen, um mit dir zu reden. Dir einen Vorschlag zu machen, genauer gesagt.«

»Einen Vorschlag?«

»Über einen Weg, wie du deine Freiheit zurückerlangen kannst, beispielsweise«, antwortete Lassar. Er lächelte noch immer, aber sein Blick war stechend geworden. Etwas Lauerndes war darin wie bei einer Schlange, dachte sie schaudernd.

»Meine … Freiheit?«, wiederholte sie ungläubig.

»Ja. Du und deine Rebellenfreunde, ihr legt doch solch grockßen Wert darauf, nicht wahr? Ich denke, ich habe einen Weg gefunden, wie du zu ihnen zurückkehren kannst ohne mir zu schaden.«

»Einen Weg? Du meinst, eine Möglichkeit, wie ich sie betrückgen kann, ohne –«

»Schweig!«, unterbrach sie Lassar. Sein Zorn wirkte echt. »Wofür hältst du dich, du dummes Weib?«

»Für deine Gefangene, Lassar«, erwiderte Animah ruhig. Seltsamerweise verspürte sie überhaupt keine Angst. Sie war sich bewusst, dass Lassar sie töten konnte, mit einer Bewegung seines kleinen Fingers und ohne dass es dazu eines Grundes bedurfte. Trotzdem war sie ganz kalt. Sie hatte zu viel durchgemacht, um jetzt noch Angst zu empfinden. »Für deine Gefangene«, wiederholte sie, »mit der du tun und lassen kannst, was immer du willst. Aber du kannst mich nicht zwingen meickne Freunde zu verraten.«

In Lassars dunklen Augen blitzte es auf. Aber der Zornesausckbruch, auf den Animah wartete, kam nicht. Stattdessen drehte er sich mit betont ruhigen Bewegungen wieder herum, füllte seinen Becher ein zweites Mal und setzte ihn an die Lippen, ehe er antwortete.

»Wer spricht von Verrat?«, fragte er nach einem Schluck. »Erinnerst du dich, was ich dir sagte, als ich dich aus dem Kerker entließ? Du bist keine Gefahr mehr für mich. Du warst es niemals, so wenig wie dieser Narr Gwenderon oder König Cavin. Es bringt keinen Nutzen mehr für mich, dich weiter gefangen zu halten.«

»Dann töte mich doch«, sagte Animah trotzig.

Lassar schüttelte den Kopf. »Ihr seid sehr schnell bei der Hand mit diesem Wort«, sagte er tadelnd. »Warum sollte ich das tun? Es ist eine Verschwendung, ein Menschenleben fortzuwerfen ohne einen zwingenden Grund. Nein – ich lasse dich gehen, Animah. Wenn du mir einen Dienst erweist.«

»Was soll ich dir bringen?«, fragte Animah böse. »Karelians Kopf – oder nur den Gwenderons?«

Lassar ohrfeigte sie.

Er schlug beinahe ruhig zu, ohne Zorn oder gar Hass, aber sehr hart. Animah taumelte einen Schritt zurück, presste die Hand gegen das Gesicht, kämpfte mit aller Macht gegen das Bedürfnis an, sich einfach auf ihn zu stürzen.

»Hörst du mir jetzt zu?«, fragte Lassar ruhig. »Wie gesagt – es gibt etwas, das du für mich tun kannst, und es ist wenig im Vergleich zu dem, was du dafür bekommst, deine Freiheit nämlich. Du wirst –«

Jemand klopfte gegen die Tür. Lassar brach mitten im Wort ab, runzelte verärgert die Stirn und fuhr mit einem Ruck herckum. »Was ist?!«, rief er zornig. »Ich hatte Befehl gegeben, mich nicht zu stören!« Trotzdem öffnete er die Tür und trat einen halben Schritt zurück, den Becher noch immer in der linken Hand. Animah erkannte einen der beiden Krieger, die sie hier heraufgebracht hatten. Der Mann senkte ängstlich das Haupt und begann mit rascher, sehr leiser Stimme zu sprechen, und obwohl Animah seine Worte nicht verstand, registrierte sie sehr wohl, dass sich Lassars Miene mit jedem Augenblick weickter verdüsterte. Was immer es für eine Nachricht war, die der Mann brachte, sie schien Lassar nicht zu gefallen.

»Ausgerechnet jetzt«, murmelte Lassar schließlich. Er seufzckte, blickte abwechselnd von Animah zu dem Krieger und wieckder zurück und nickte schließlich, wenn auch mit allen Anzeichen von Widerwillen. »Gut«, sagte er. »Es tut mir Leid, wenn wir unsere Unterhaltung unterbrechen müssen, aber ich werde anderenorts gebraucht. Ich muss dich leider um etwas Geduld bitten. Du wirst dich sicherlich nicht langweilen. Braddoc hier wird dir Gesellschaft leisten.« Damit trat er auf den Gang hinckaus und Animah blieb allein mit dem Krieger zurück.

8

Erst als die Männer ihn aus dem Wald hinaus und auf den Fluss gezerrt hatten, begann er wieder halbwegs klar zu sehen. Aus den schwarzen und roten Schlieren vor seinen Augen wurden die Umrisse von Männern und der flackernde Lichtschein der Brände. In den Geruch von Blut und Niederlage mischte sich der Qualm lodernden Pechs und verschmorenden Holzes. Sein Arm war noch immer taub, und obwohl er jetzt aus eigener Kraft lief, zerrten ihn die Männer noch immer grob hinter sich her; immer ein bisschen schneller, als er laufen konnte, sodass er mehr als einmal fiel und meterweit über das Eis geschleift wurde, ehe er wieder auf die Füße kam.

Und er war nicht der einzige Gefangene. Aus dem Wald drangen noch immer Schreie und wütende Rufe, das Stampfen von Hufen und das Brechen und Splittern von Geäst, aber mehr und mehr Reiter kamen bereits zurück, gefangene oder verckwundete – vielleicht tote – Rebellen hinter sich herschleifend, und in einer der mühsam vorwärts stolpernden Gestalten erkannte er zu seinem Entsetzen Gwenderon, noch am Leben und bei Bewusstsein, aber wie er selbst zu schwach, sich gegen die Schläge und Tritte zu wehren, die auf ihn herunterprasselten.

Quer über den Fluss wurden sie zum Hauptlager der Soldaten gezerrt, hindurch zwischen zwei hellauf brennenden Flößen, die fünfzig oder mehr von Lassars Kriegern vergeblich zu löckschen versuchten. Die Hitze nahm Cavin den Atem und strich wie eine glühende Hand über sein Gesicht, und das Eis knisterte bedrohlich unter seinen Füßen. Wo die harten Hufe der Pferde es berührten, entstanden Risse und kleine, halbmondförmige Vertiefungen, die sich rasend schnell mit Wasser füllten. Die Hitze war so gewaltig, dass das Eis unter den Flößen zu schmelzen begann, obwohl Cavin wusste, dass es noch immer mehr als meterdick war. Vielleicht, überlegte er, hatten sie im Nachhinein doch Erfolg gehabt. Vielleicht würde dieser eine Brand ausreichen, dass die Eisdecke über dem Fluss wie eine gewaltige Glasscheibe riss und in tausend Scherben zersprang, und Lassars Flotte so den Fluchtweg abschnitt. Das alles würde nichts daran ändern, dass er und Gwenderon und vermutlich auch Karelian und alle anderen, die an diesem Angriff teilgenommen hatten, mit dem Leben dafür bezahlten. Aber möglicherweise hatten sie Lassar doch in seiner eigenen Falle gefangen.

Für einen Moment tröstete ihn diese Vorstellung sogar über den Gedanken an seinen eigenen Tod hinweg; aber wirklich nur für einen Moment, denn als sie die brennenden Flöße passiert hatten und seine Augen aufhörten, vor Hitze und unerträgcklich grellem Licht zu tränen, sah er, wie lächerlich gering der Schaden war, den sie wirklich angerichtet hatten: Zwei der gewaltigen Eisflöße waren verloren, zwei weitere brannten und würden vielleicht gelöscht werden oder auch unbrauchbar sein, aber dahinter, unbeschädigt und in der Dunkelheit der Nacht an sprungbereit geduckte, schwarze Ungeheuer erinnernd, erhockben sich Dutzende der riesigen Flöße, jedes einzelne eine beckwegliche Festung, hinter deren Brustwehren sich gewaltige Katapulte und Schleudermaschinen erhoben. Das Eis unter den beiden brennenden Flößen würde brechen; schon jetzt zitterte der Fluss unter Cavins Füßen und von den beiden Flammensäulen aus wuchsen handbreite, knisternde Risse, die sich mit der gewaltigen Bresche vereinigten, die der Erdrutsch am gegenüberliegenden Ufer in die Eisdecke geschlagen hatte. Aber selbst wenn der gesamte Bereich dazwischen einbrechen sollte, hatten sie kaum ein Viertel des Flusses blockiert. Die verbleickbende Straße aus Eis war mehr als breit genug, Lassars gewaltige Flotte sicher zu transportieren.

Sie erreichten das Lager, einen gewaltigen Kreis aus Zelten und rasch improvisierten Laubhütten, der sich zu einem Drittel auf den Fluss hinausgeschoben hatte und schwarz vor Kriegern war. Ein derber Tritt ließ ihn stolpern und fallen, und Lassars Krieger zerrten ihn die letzten vierzig, fünfzig Meter über das Eis hinter sich her, bis sie das Flussufer erreicht hatten und die Böschung ihn unsanft bremste.

Cavin blieb einen Moment mit geschlossenen Augen liegen und wartete darauf, dass sie ihn wieder schlugen oder grob auf die Füße zerrten, aber weder das eine noch das andere geschah. Ganz im Gegenteil lösten sich sogar die Stricke, die seine Arme auf den Rücken fesselten, und als er aufsah, bemerkte er, dass die Krieger in den schwarzen Lederharnischen ein paar Schritte zurückgetreten waren und einen weiten Kreis um ihn, Gwenderon und die Hand voll anderer Gefangener bildeten. Von dem Dutzend Männer, das sie begleitet hatte, waren vier herbeigeschleift worden; die anderen mussten entweder entkommen oder tot sein.

Mühsam erhob sich Cavin auf Hände und Knie, kroch zu Gwenderon hinüber und half ihm, sich ebenfalls in die Höhe zu stemmen. Im flackernden Licht der Brände wirkte Gwenderons Gesicht fahl und gleichzeitig wie mit Blut übergossen. Seine Augen waren glasig.

»Bist du verletzt?«, fragte er.

Gwenderon schüttelte den Kopf, sog schmerzhaft die Luft ein und spuckte Blut. »Nein«, stöhnte er. »Es ist nichts. Ich habe einen Zahn verloren, glaube ich. Vielleicht zwei.«

»Dabei wird es wohl nicht bleiben«, murmelte Cavin düster. Er versuchte vergeblich seiner Stimme einen scherzhaften oder wenigstens aufmunternden Klang zu verleihen. Sein Lächeln geriet zur Grimasse. »Karelian?«, fragte er.

Gwenderon schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er entkommen.«

»Das ist er«, sagte eine Stimme. »Aber nur, weil ich meinen Männern befohlen habe, euch und eure Begleiter lebendig zu fangen und lieber entkommen zu lassen, bevor sie euch töten.«

Der Kreis ihrer Bewacher hatte sich geteilt und ein besonders hoch gewachsener, in das schwarze Leder Lassars gehüllter Krieger war auf Cavin und Gwenderon zugetreten. In seiner rechten Hand glänzte ein gewaltiges, zweischneidig geschliffecknes Schwert, wie um seine Worte sofort ad absurdum zu führen. Ein dünnes, vollkommen humorloses Lächeln verzog seine Lippen, als er Cavins Blick bemerkte.

»Eine reine Vorsichtsmaßnahme, mein König«, sagte er spöttisch. »Man hat mich gewarnt, dass Ihr sehr ungestüm werden könnt. Und wie ich sehe, war diese Warnung tatsächlich nicht unberechtigt.«

»Wer seid Ihr?«, fragte Cavin verwirrt.

»Ihr wollt reden, König Cavin?«, fragte der Riese. »Ich habe Euer Wort, dass ich die Waffe wegstecken kann?«

»Schieb sie dir in den Hintern«, stöhnte Gwenderon. Trotz der Schmerzen, die ihm die Bewegung bereiten musste, stand er auf und trat mit einem humpelnden Schritt neben Cavin.

»Was soll das heißen – Ihr habt Befehl gegeben, uns lebendig zu fangen?«, fragte Cavin. »Hat Lassar Euch diesen Befehl gegeben? Will er uns unbedingt lebend haben?«

»Er will, dass ihr lebt«, bestätigte der Riese. Der feine Unterckschied, den seine Worte machten, fiel Cavin sehr wohl auf, aber der Mann fuhr fort, ohne ihm Gelegenheit zu einer entsprechenden Frage zu geben: »Versteht mich nicht falsch, Köcknig Cavin – ich gab Befehl, Euch und Eure Leute gefangen zu setzen, aber nicht, um Euch als Gefangene nach Hochwalden zu bringen.« Er seufzte, schüttelte übertrieben den Kopf und schob sein Schwert mit einem heftigen Ruck in den Gürtel zurück. »Ein paar Eurer Männer sind verletzt, fürchte ich«, sagte er, »und sehr viele der unseren tot. Das alles wäre nicht nötig gewesen.«

Cavin sah ihn fragend an, schwieg aber, und zu seiner Erckleichterung hielt sich auch Gwenderon zurück, obwohl er in ohnmächtigem Zorn die Fäuste ballte und Cavin sicher war, dass er nichts lieber getan hätte, als sich auf den Krieger zu stürzen, ganz gleich, ob er waffenlos war oder nicht.

»Ich bin in Lassars persönlichem Auftrag hier, um Euch eine Botschaft zu überbringen, mein König«, fuhr der Riese fort.

»Ist ihm eingefallen, dass alles nur ein schreckliches Missckverständnis war und er sich wieder in sein Rattenloch zurückzieht?«, fauchte Gwenderon.

Cavin blickte ihn wütend an. »Schweig, Gwenderon«, sagte er streng. An den Krieger gewandt fuhr er fort: »Eine Botckschaft? Für mich? Wie lautet sie?«

»Mein Herr und König bietet Euch Frieden an, König Cavin«, antwortete der Riese. »Einen Waffenstillstand für einen Tag und eine Nacht, gerechnet vom nächsten Sonnenaufgang an. Das, und freies Geleit für Euch und Eure Begleiter.«

»Freies Geleit? Wohin?«

»Nach Hochwalden, Herr«, antwortete der Krieger. »Ich soll Euch Folgendes ausrichten: Es ist zu viel Blut geflossen, auf beiden Seiten, und es ist zu viel und zu sinnlos getötet worden. Mein Herr bedauert, was geschehen ist, und bittet Euch, zu ihm auf die Burg Eurer Väter zu kommen, um mit ihm zu reden.«

»Wozu?«, fragte Cavin spöttisch. »Um über unsere Kapitulacktion zu verhandeln?«

Der Krieger blieb ernst. »Das weiß ich nicht, Herr. Doch Lassar, mein König, trug mir auf, jeden Kampf zu vermeiden und Euch zu versichern, dass er es ehrlich meint.«

»Seit wann kennt er dieses Wort?«, fragte Gwenderon.

»Es ist sein fester Wille, den Frieden im Schwarzeichenwald wiederherzustellen, König Cavin«, fuhr der Krieger ungerührt fort. »Was bisher geschehen ist, soll vergessen sein. Ihr und Eure Begleiter seid frei. Ich habe Befehl, Euch sicher nach Hochwalden zu geleiten, wenn es Euer Wunsch ist.«

»Und … wenn nicht?«, fragte Cavin misstrauisch.

»Könnt Ihr gehen, wohin es Euch beliebt«, antwortete der Krieger ernst. Plötzlich lächelte er und fügte, in etwas weniger feierlichem Ton, hinzu: »Aber Ihr werdet verstehen, wenn ich Eure Waffen fordere. Liefert sie ab und zieht Euch in den Wald zurück oder folgt mir und meinen Männern nach Hochwalden. Ganz gleich, wie Ihr Euch entscheidet – von jetzt an bis zum nächsten Sonnenaufgang werden die Waffen schweigen.«

»Das ist ein Trick!«, behauptete Gwenderon aufgebracht. »Ihr glaubt diesem … diesem Söldner doch nicht etwa, Cavin?«

»Ich bin so wenig Söldner wie Ihr, Gwenderon«, sagte der Krieger scharf. »Ihr mögt mit den Zielen meines Herrn so wecknig einverstanden sein wie ich mit den Euren, Gwenderon, aber ich habe ihm die Treue geschworen und ich werde diesen Schwur halten. So wie ich mit meinem Leben dafür bürge, dass sein Wort nicht gebrochen wird.« Er zögerte einen winzigen Moment, und als er weitersprach, klang seine Stimme abfällig, aber auch sehr entschlossen. »Nehmt Euer Schwert und behaltet mich als Geisel hier, Gwenderon, wenn Ihr Lassars Wort nicht traut.«

»Als Geisel?« Gwenderon lachte, aber es klang nicht echt. »Seit wann hätte Lassar jemals etwas um das Leben seiner Krieger gegeben, Söldner?«

»Jetzt halt endlich den Mund, Gwenderon«, fauchte Cavin. »Ich glaube ihm.«

Gwenderons Augen wurden rund vor Unglauben. »Ihr … glaubt Lassar?«

»Nicht Lassar – ihm.« Cavin deutete mit einer Kopfbewegung auf den schwarz gepanzerten Riesen, atmete hörbar ein und straffte sich, so weit es seine geschundenen Muskeln zuckließen. Wenn er schon nicht wie ein König aussah, wollte er sich wenigstens so benehmen.

»Ihr habt meine Worte gehört«, sagte er. »Ich glaube Euch. Und ich nehme Euer Angebot an, meine Männer zu nehmen und mich zurückzuziehen. Unsere Waffen jedoch nehmen wir mit. Aber ich gebe Euch mein Wort als König, den Waffenstillckstand zu respektieren.« Er deutete auf den Wald auf der anderen Seite des Flusses. »Ihr stellt die Arbeiten ein. Kein Baum, kein Busch wird mehr gefällt bis zum nächsten Sonnenaufgang.«

»Für die Dauer des Waffenstillstandes«, bestätigte der Krieger. »Was soll ich meinem Herrn als Antwort bringen?«

»Dass Ihr seine Botschaft ausgerichtet habt«, antwortete Cavin. »Und dass ich sie gehört habe und darüber nachdenken werde.«

»Das wird Lassar nicht genügen«, sagte der Krieger. »Er wird –«

»Er wird meine Entscheidung respektieren«, unterbrach ihn Cavin kalt. »Vielleicht glaube ich ihm und komme, vielleicht auch nicht. Reitet zurück und richtet ihm genau das aus.«

»Sonst nichts?«

»Doch«, sagte Cavin ruhig. »Sagt ihm auch noch dies: Dieser Wald ist heilig und ich und die Meinen werden jeden einzelnen Baum auf seinem Boden mit unserem Leben verteidigen. Ganz gleich, wie ich mich entscheide – für jeden Baum, den ihr fällt, wird einer der Euren sterben. Und nun ruft Eure Männer zurück und lasst uns gehen.«

Einen Moment lang starrte ihn der riesenhaft gewachsene Krieger noch an, und Cavin hatte das sehr sichere Gefühl, dass es noch eine Menge gegeben hätte, was er sagen wollte. Aber dann zuckte er nur mit den Achseln, trat beiseite und machte eine Bewegung mit der Hand.

»Ihr seid frei.«

Und das waren sie. Auch wenn Cavin es erst glaubte, als sie den Fluss verlassen hatten und in die Sicherheit des Waldes eintauchten.

9

Lassar kam nicht nach wenigen Minuten zurück, wie er gesagt hatte, sondern blieb eine Viertel-, dann eine halbe, schließlich eine ganze Stunde. Der Krieger, den er zu Animahs Bewachung zurückgelassen hatte, stand mit überkreuzten Armen vor der Tür, so reglos wie eine Statue; nur seine Augen verrieten überhaupt, dass in ihm noch so etwas wie Leben war, denn ihr Blick war sehr wach, und obwohl sich in seinem Gesicht während der ganzen Zeit nicht ein Muskel rührte, war Animah sicher, dass ihm nicht die kleinste ihrer Bewegungen entging.

Nach einer Weile begann sie unruhig zu werden. Sie wusste noch immer nicht, warum Lassar sie überhaupt hatte kommen lassen, und was ihn davon abgehalten hatte, ihr sein Angebot zu unterbreiten, das zweifellos nur aus Verrat und Lüge bestehen konnte – oder ob diese unvorhergesehene Unterbrechung vielleicht Teil seines Planes war, denn auch das war möglich –, aber Lassar hatte ihr, ob nun beabsichtigt oder nicht, doch mehr verraten, als er vielleicht gewollt hatte. Zumindest wusste sie, dass Gwenderon und Karelian noch am Leben waren und – jedenfalls glaubte sie dies aus Lassars Worten zu schließen – dass sich auch Prinz Cavin nicht mehr in seiner Gewalt, sondern mittlerweile bei den Rebellen befand. Informationen, die für sie wichtiger waren, als Lassar in seiner Überheblichkeit annehmen mochte, denn sie gaben ihr das zurück, was die Folterknechte des Schattenkönigs in den letzten sechs Monaten methodisch zu zerstören versucht hatten: ihren Kampfeswillen. Lassar mochte glauben, dass sie keine Gefahr mehr für ihn darstellte, und zweifellos stimmte das im Moment sogar. Aber wenn es ihr gelang, aus der Burg zu fliehen und sich zu Karelian und den anderen durchzuschlagen … Sie hatte eine Menge gesehen in den letzten sechs Tagen. Mehr, als Lassar auch nur ahnte, denn ihre Gedanken zu lesen hieß nicht, sie auch alle zu kennen. Ganz und gar nicht.

Animah hatte auf dem verbrannten Thron Platz genommen; obwohl ihr sein Anblick ein fast körperliches Unbehagen bereicktete, symbolisierte er doch mehr als alles andere den Frevel, den Lassar an Hochwalden begangen hatte. Aber es war das einzige Sitzmöbel, das es im ganzen Raum gab, und sie war müde und kam sich einfach albern dabei vor, nur dazustehen und den schweigenden Krieger unter der Tür anzustarren. Jetzt stand sie auf, näherte sich – mit den langsamen Schritten eines Menschen, der im Grund unschlüssig ist, was er überhaupt tun soll – dem kleinen Tischchen neben der Tür und griff nach dem Becher, den Lassar zuvor für sie gefüllt hatte. Sie hatte Durst, und der Gedanke, dass der Wein vergiftet sein könne, kam ihr im Nachhinein reichlich albern vor – Lassar hatte mindestens hunderttausend Gelegenheiten gehabt, sie einfacher und sicherer zu töten als mit einem Becher vergiftetem Wein.

Vorsichtig nippte sie an dem süßen Getränk, registrierte unckbewusst, wie schwer und alkoholhaltig der Wein war, und wandte sich mit einem halblauten Seufzen an ihren Bewacher.

»Dein Name ist Braddoc?«, fragte sie.

Im ersten Moment schien es, als würde er nicht antworten, sondern weiter wie eine lebende Statue dastehen, aber dann drehte er doch ein wenig den Kopf, blickte sie aus seinen unckangenehmen grauen Augen an und nickte fast unmerklich. Animah antwortete mit einem übertriebenen Lächeln darauf.

»Der Wein ist gut«, sagte sie. »Trinkst du einen Becher mit mir?«

Braddoc schüttelte den Kopf und schwieg.

»Ich verstehe«, sagte Animah. »Lassar hat dir verboten zu trinken, nicht wahr?«

Braddoc nickte abermals und schwieg weiter.

»Hat er dir auch verboten zu reden?«, fragte Animah. »Oder hast du Angst, ich könnte dich behexen?« Sie lachte. »Keine Sorge, mein Freund. Ich sehne mich nur nach ein wenig menschlicher Gesellschaft. Ich war ziemlich lange allein, weißt du?« Sie nippte wieder an ihrem Wein, trat zwei Schritte auf den Wächter zu und musterte dabei unauffällig die Tür hinter ihm. Sie hatte kein Schloss, sondern nur einen einfachen Riegel, vor dem Braddoc allerdings wie ein lebender Berg stand. Sie schätzte, dass er an die hundert Pfund mehr wog als sie – und außerdem ausgeruht und hellwach war.

Lächelnd bewegte sie sich weiter auf ihn zu, blieb in weniger als einem Schritt Entfernung vor ihm stehen und löste mit der linken Hand den Hanfstrick, der ihr als Gürtel diente. Ihr Geckwand fiel raschelnd auseinander und Braddocs Gesicht zeigte zum ersten Mal eine Reaktion: Er runzelte die Stirn, um ihr zu zeigen, wie kindisch und sinnlos er ihren Versuch fand. Animah war in diesem Punkt etwas anderer Meinung. Ihre Hand schloss sich fester um den Strick; aber nicht fest genug, sein Misstrauen zu erwecken.

»Du bist langweilig, Braddoc«, sagte sie. »Was hat Lassar mit euch gemacht? Interessiert ihr euch alle nicht für Frauen oder bin ich dir nicht hübsch genug?«

»Lass das«, sagte Braddoc leise. Seine Stimme klang gelangweilt.

Animah seufzte. »Wie du willst.«

Im gleichen Moment ließ sie den Becher fallen, trat blitzckschnell einen Schritt auf den Krieger zu und rammte ihm das Knie zwischen die Oberschenkel. Braddoc ächzte, taumelte einen Schritt zur Seite und streckte die Hände nach ihr aus. Wie sie erwartet hatte, war er keineswegs außer Gefecht gesetzt.

Aber er war für den Bruchteil eines Augenblickes abgelenkt, und das war alles, was Animah brauchte. Blitzschnell tauchte sie unter seinen zupackenden Händen durch, war mit einem Schritt halbwegs neben und hinter ihm und schlang ihm den Strick um den Hals. Braddocs Rechte bewegte sich rasend schnell nach oben, packte den Strick, ehe er sich um seine Kehle legen und ihm den Atem abschnüren konnte, seine andere Hand suchte und fand Animahs Haar und krallte sich hinein. Mit einem wütenden Ruck versuchte er sie herum- und von den Füßen zu zerren.

Animah sprang. Vielleicht begriff der Krieger noch im allerletzten Moment, dass er sie unterschätzt hatte, aber wenn, dann kam dieses Begreifen zu spät. Animah rollte über seine Schulter, von seiner eigenen Kraft gezerrt, vollführte einen ungeschickten, halben Salto und landete schmerzhaft auf den Knien, aber ihre Hände umklammerten dabei mit aller Kraft den Strick. Es war Braddocs eigene Kraft, die ihm das Genick brach.

Kaum eine Minute später schob Animah den Riegel zurück und öffnete vorsichtig die Tür, Braddocs Schwert in der Rechten. Der Gang war leer, wie sie gehofft hatte, und auch als sie die Treppe erreichte, traf sie weder auf einen Krieger noch auf eine andere von Lassars Kreaturen.

Es war schwer, Hochwalden zu verlassen ohne entdeckt zu werden.

Aber sie schaffte es.

10

Über den See hinweg und aus einer Entfernung von mehr als einer Meile betrachtet hatten die Krieger die Größe von Spielckzeugen gehabt, und der Schnee, der bis weit in den Morgen hinein beständig vom Himmel gefallen war, ließ ihre schwarckzen Eisenharnische glänzen, als wären sie wirklich nicht mehr als kunstvoll lackierte kleine Zinnsoldaten, die durch einen bizarren Zauber zum Leben erwacht waren.

Jetzt, als sie näher gekommen waren, sah Cavin, wie groß die schwarz gepanzerten Kreaturen wirklich waren. Und mit der Entfernung hatten sie nicht nur ihre scheinbare Winzigkeit verckloren, sondern auch jegliche Ähnlichkeit mit menschlichen Wesen.

Cavin presste so heftig die Kiefer aufeinander, dass es wehtat. Seine Hände zitterten und in die kalte Entschlossenheit, die er noch vor Augenblicken verspürt hatte, mischte sich ein immer stärker werdender Funke nackter Angst. Er fror, aber das kam nicht nur daher, dass er bis auf die Haut durchnässt und übermüdet war, sondern es war eine Kälte, die eher aus seinem Inneren heraufzukriechen schien, und er hatte sie zum ersten Mal gefühlt, als er neben Gwenderon hinter dem Mauerrest in Deckung gegangen und die erste der dunklen Kreaturen aufgetaucht war. Es waren viele. Hochwalden war eine Ruine, aber sie war bewohnt; von mehr Wesen, als jemals in ihren Mauern geweilt hatten.

»Was ist das, Gwenderon?«, flüsterte er. »Was sind das für Wesen?«

Der Waffenmeister zuckte zur Antwort mit den Schultern, schmiegte sich dichter in den Schatten der zerborstenen Mauer und spähte aus eng zusammengepressten Augen auf das verkohlte Rechteck, das bis vor sechs Monaten der Innenhof Hochwaldens gewesen war. Obwohl er genau wusste, dass es unmöglich war nach so langer Zeit, glaubte er Brandgeruch zu riechen, und dort, wo der Schnee die Steine nicht unter sich begraben hatte, schienen sie noch immer heiß zu sein.

Nervös fuhr sich Gwenderon mit der Zungenspitze über die Lippen, sah sich misstrauisch nach beiden Seiten um und wischte sich mit dem Handrücken den pulverfeinen Schnee aus dem Gesicht.

»Ich weiß es nicht, Herr«, antwortete er auf Cavins Frage – mit einiger Verspätung und in einem Ton, der mehr als jedes Wort deutlich machte, wie sehr auch er die Aura des Finsteren, Bösen spürte, die das knappe Dutzend gepanzerter Riesenkreackturen umgab. Und wie sehr er sich in seiner Meinung bestätigt sah, dass sie nicht hätten kommen sollen. Er sprach es nicht aus, aber sein Blick und sein Tonfall sagten ganz deutlich, wofür er Lassars Einladung hielt: für eine Falle. »Ich habe so etckwas noch nie gesehen«, fügte er hinzu.

Cavins Blick verfinsterte sich. Seine Hand glitt zum Gürtel, schmiegte sich für die Dauer eines Herzschlages um den Schwertgriff und löste sich mit einem Ruck wieder von der Waffe. Er schluckte hart und die Finger seiner Linken schlossen sich so fest um den Mauerrand, dass kleine Stücke aus dem von Hitze mürbe gewordenen Gestein herausbrachen.

»Lassars Kreaturen«, flüsterte er.

Gwenderon nickte, wischte sich erneut mit einer fahrigen Geste über das Gesicht und verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. »Ja«, sagte er. »Aber von einer Art, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Raetts sind es jedenfalls nicht.« Er atmete hörbar ein und sah Cavin an.

»Das gefällt mir nicht, Herr«, sagte er. »Es stinkt geradezu nach einer Falle.«

Cavin lächelte, aber es war nur ein automatisches Verziehen der Lippen und wirkte bitter. Endlich hatte er es ausgesprochen. »Vielleicht hast du Recht«, sagte er. »Aber wenn es so ist, dann ist sie längst zugeschnappt. Und hör endlich damit auf, mich Herr zu nennen.«

»Ihr seid mein König, Cavin.«

»König?« Cavin gab einen Laut von sich, der wie ein unterdrücktes Lachen klang, ebenso gut aber auch ein Keuchen sein mochte. »König wovon, Gwenderon? Von einer verbrannten Ruine?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Hochwalden ist vernichtet, mein Freund«, sagte er. »Und mit ihm das Geschlecht seiner Herrscher. Vielleicht«, fügte er mit seltsam nachdenklicher Betonung hinzu, »waren wir es auch nie.«

Gwenderon schien widersprechen zu wollen, besann sich aber dann eines Besseren und wandte mit einem Ruck den Kopf, um wieder auf den Hof hinabzublicken, und nach einer Weile drehte sich auch Cavin wieder herum und lugte über den Rand seiner Deckung hinaus. Alles war ganz genau so, wie der Unterhändler gesagt hatte. Cavin kam sich beinahe ein wenig albern dabei vor, sich Hochwalden auf Umwegen und in aller Heimlichkeit zu nähern. Sie waren auf Lassars ausdrückliche Einladung hier.

Lassars Alptraumkreaturen bewegten sich noch immer mit diesen kleinen, ruckhaften Bewegungen hin und her, ohne dass ihr Tun irgendeinen Sinn zu haben schien oder dass Gwenderon oder Cavin irgendein System darin zu erkennen vermochten. Vor dem Hintergrund der geschwärzten Mauerreste sahen sie beinahe aus wie schwarze Scherenschnitte, die von unsichtckbaren Spielern an unsichtbaren Fäden bewegt wurden. Schatten, dachte Cavin schaudernd. Sie sahen aus wie Schatten, die zu verbotenem Leben erwacht waren. Aber eine der bizarren Gestalten war nahe genug an ihrem Versteck vorübergegangen, um sie erkennen zu lassen, dass sie alles andere als Schatten waren.

Umständlich stand er auf, überzeugte sich mit einer halb aucktomatischen Geste noch einmal davon, dass Schwert und Dolch sicher in seinem Gürtel steckten, und nickte Gwenderon auffordernd zu es ihm gleichzutun. Der Waffenmeister zögerte einen Moment. In seinem Gesicht arbeitete es und zum ersten Mal, seit dieser Alptraum begonnen hatte, glaubte Cavin Anzeichen echter Furcht auf den verwitterten Zügen seines Freundes und Lehrmeisters zu erblicken.

Aber wie sollte er auch irgendein anderes Gefühl als Angst oder allenfalls Abscheu empfinden, dachte Cavin zornig, bei dem, was er sah. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn mitzunehmen. Hochwalden war Gwenderons Heimat, hundertmal mehr, als es jemals die seine gewesen war. Aber aus der glänzenden Festung des Schwarzeichenwaldes war eine verkohlte Ruine geworden.

Und das war nicht alles. Den Anblick der geschleiften Mauckern, selbst den von Lassars Alptraumkreaturen, die allein durch ihr Hiersein den heiligen Boden dieser Stätte entweihten, hätte er vielleicht noch ertragen. Die wirkliche, schlimmste Veränderung, dachte er betrübt, während er neben Gwenderon über den zerstörten Wehrgang auf die Treppe zuging, war nicht zu seckhen. Aber dafür umso deutlicher zu spüren. Selbst ihm, der im Grunde nur wenige Wochen bewusst hier gelebt hatte, fiel der Unterschied mehr als deutlich auf. Es war das Anzeichen einer Krankheit, die die Seele und den Körper des Waldes befallen hatte. Wie mochte es da erst Gwenderon ergehen, der fast jede Minute seines langen Lebens in diesen Mauern und unter den Wipfeln der heiligen Schwarzeichen verbracht hatte? Lassar hatte mehr getan als eine Burg zu zerstören. Er hatte eine Legende vernichtet; schlimmer noch: geschändet. Er konnte es Gwenderon nicht verdenken, wenn er ihn hasste.

Sie erreichten das verkohlte Etwas, das von der Treppe übrig geblieben war, und blieben abermals stehen. Es gab jetzt nichts mehr, wohinter sie sich verstecken konnten, und ein paar der schwarzen Schattenkreaturen unten entdeckten sie und hielten in ihrem sinnlosen Tun inne. Cavin blickte unverwandt in den Hof hinab, aber er spürte, wie sich Gwenderon neben ihm wie zum Sprung spannte, als sich zwei der finsteren Riesen anschickten, auf sie zu und die Treppe hinaufzugehen.

»Bleib ruhig, Gwenderon«, flüsterte er. »Wir sind nicht hier, um irgendwelche Rachegefühle zu befriedigen.«

Gwenderon nickte, nahm aber die Hand nicht vom Schwertgriff. »Ja, Herr«, sagte er steif.

Sie gingen weiter. Das geschwärzte Gerippe, das von der Treppe übrig geblieben war, begann unter ihren Schritten zu beben, und für einen Moment fürchtete Cavin fast, es könne unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. Wie alles hier, dachte er bitter. Unten angekommen, irrte sein Blick ziellos über den Hof. Obwohl er nur einen kleinen Teil seines Lebens hier verckbracht hatte, war diese Burg doch seine Heimat gewesen. In den gewaltigen Hallen und Gängen hatte er gespielt. Hier, auf diesem Hof, der nun von Schutt und Trümmern übersät war, hatte er laufen und reiten gelernt, und hinter dem Eingang des Haupthauses, der nun halb hinter Steintrümmern und dürrem Buschwerk verborgen war, am gegenüberliegenden Ende des Hofes hatte er –

Cavin dachte den Gedanken nicht zu Ende, sondern zwang sich, sich auf das Dutzend schwarz gepanzerter Krieger zu konzentrieren, das sie erwartete. Seine eigenen Worte Gwenderon gegenüber fielen ihm ein. Sie waren nicht hier, um ihren Hass zu befriedigen, sondern um zu retten, was noch zu retten war.

Gwenderon berührte ihn am Arm und deutete mit der freien Hand nach rechts, zum Tor hin. Die beiden gewaltigen Eichenflügel hatten sogar dem Toben des Feuers getrotzt, aber ein Teil der Mauer daneben war eingestürzt, sodass der Blick ungehindert über den See und bis zum Waldrand an seinem jenseitigen Ufer reichte.

Dicht neben dem Tor stand eine Gestalt. Sie war kleiner als die schwarzen Krieger, schmaler in den Schultern und nicht in finsteres Eisen, sondern in einen schwarzen, bis auf den Boden fallenden Umhang mit eingenähter Kapuze gehüllt. Und trotzckdem wirkte sie beinahe bedrohlicher als die Krieger selbst.

»Lassar«, flüsterte Gwenderon. Seine Stimme bebte.

Cavin nickte, warf seinem Waffenmeister einen letzten warnenden Blick zu und ging hoch aufgerichtet, aber mit betont gemessenen, langsamen Schritten zwischen den stummen Riecksenkriegern hindurch. Gwenderon folgte ihm dichtauf, während sich Lassars Krieger nicht von der Stelle rührten, sondern blieckben, wo sie waren.

Lassar blickte ihnen ruhig entgegen. Sein Gesicht war hinter den Schatten der tief heruntergezogenen Kapuze verborgen wie fast immer, und als er sich schließlich bewegte, war es eher ein Huschen und Gleiten, mehr die Bewegung eines Schattens als die eines wirklichen Lebewesens. Trotzdem wirkte er auf schwer in Worte zu fassende Art körperlicher – echter – als die Male zuvor, da Cavin ihm gegenübergestanden hatte. Fast hatte er das Gefühl, einem wirklichen, lebenden Menschen gegenückberzustehen. Dann begriff er, dass es so war.

»Er ist es selbst«, sagte er leise, wobei es ihm nicht ganz gelang, die Überraschung aus seiner Stimme zu verbannen. »Nicht sein Schatten.«

Gwenderon nickte abgehackt, beschleunigte seine Schritte ein wenig, um an Cavins Seite zu gelangen, und blieb stehen, als der junge König zwei Schritte vor Lassar anhielt.

Sekundenlang sprach keiner von ihnen ein Wort und selbst das Heulen des Windes, der sich in den zerborstenen Mauerkronen fing, klang mit einem Male gedämpfter. Lassars Blick huschte flüchtig über Gwenderons Gesicht, wandte sich desinteressiert ab und fiel auf Cavin. Ein spöttisches Lächeln glomm darin auf.

»König Cavin«, sagte er. »Ihr bringt es immer wieder fertig, mich zu überraschen. Ich erwartete eigentlich nicht, Euch auf diese Weise wieder zu sehen.« Sein Blick glitt demonstrativ über Cavins und Gwenderons durchnässte Kleider. »Hat Euch mein Bote die Nachricht nicht so überbracht, wie ich sie ihm auftrug, oder misstraut Ihr der Brücke, die Euer Vater anlegen ließ, oder zieht Ihr es immer vor, einen See zu durchschwimmen, statt trockenen Fußes hinüberzugelangen?«

»Wir ziehen es vor«, sagte Gwenderon an Cavins Stelle, »uns mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass kein Hinterhalt auf uns wartet.«

Lassar lachte meckernd und schüttelte den Kopf. »Sei’s drum«, sagte er. »Ich freue mich jedenfalls, Euch gesund und wohlbehalten wieder zu sehen.«

Gwenderon sog scharf die Luft ein, aber Cavin brachte ihn mit einer raschen Geste zum Verstummen.

»Ich danke Euch für Eure Worte, Lassar«, begann er steif.

»Aber es fällt mir nicht leicht, ihnen zu glauben. In den letzckten sechs Monaten habt Ihr nichts unversucht gelassen meine Freunde und mich zu vernichten.«

Lassar lächelte erneut. Es wirkte fast echt. »Manchmal ist man gezwungen Dinge zu tun, die einem im Grunde zuwider sind«, antwortete er. »Als Sohn eines Königs solltet Ihr das wissen, Cavin.«

»Warum hast du uns kommen lassen, Lassar?«, fragte Gwenderon ärgerlich. »Nur um Belanglosigkeiten auszutauschen?«

»Gwenderon – bitte!«, sagte Cavin scharf, aber Lassar lächelte nur über die Worte des Waffenmeisters. »Lasst ihn, König Cavin«, sagte er. »Euer Waffenmeister hat Recht. Unser beider Zeit ist zu kostbar, um sie mit Belanglosigkeiten zu vertun. Ich freue mich, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid.«

Er schwieg einen Moment, trat zurück, maß Cavin und Gwenderon abwechselnd mit Blicken und deutete dann mit einer Kopfbewegung auf das niedergebrannte Haupthaus Hochwaldens. »Gehen wir hinein, um zu reden. Es ist kalt.«

Cavin schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Sagt, was Ihr zu sagen habt, Lassar. Hier.«

Lassar runzelte die Stirn, widersprach aber nicht mehr. »Wie Ihr wollt, mein König.«

»Und nennt mich nicht so«, fuhr Cavin in merklich schärferem Ton fort. »Ich bin kein König mehr, Lassar. Ihr habt meine Burg verbrannt und meine Untertanen erschlagen. Wenn ich jemals ein Königreich besessen habe, so habt Ihr es mir genommen.«

In Lassars Augen blitzte es. »Das könnte sich ändern«, sagte er.

»Wie meint Ihr das?«

»Ich habe Euch gerufen, Cavin«, begann Lassar, »um Euch einen Vorschlag zu unterbreiten. Es ist viel geschehen, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind.«

»Ich weiß«, warf Gwenderon spöttisch ein. »Ihr seid dabei, Euren Krieg zu verlieren, Lassar.«

Lassars Kopf ruckte mit einer zornigen Bewegung herum. Aber er hatte sich fast sofort wieder in der Gewalt. »Ich sehe«, sagte er kalt, »Ihr seid gut informiert.«

»Gute Nachrichten verbreiten sich schnell«, bestätigte Gwenderon böse.

Cavin hob die Hand. »Schweig, Gwenderon. Wir wollen wecknigstens hören, was Lassar zu sagen hat.«

Lassar lächelte. »Ich danke Euch, Cavin. Ihr werdet sehen, dass es sich lohnt. Ich habe Euch einen Vorschlag zu machen.«

»Welchen?«, schnappte Gwenderon. »Wollt Ihr Euch von den höchsten Mauern Hochwaldens stürzen?«

»Verdammt noch mal, halt endlich den Mund, Gwenderon!«, sagte Cavin wütend. Zu Lassar gewandt fuhr er fort: »Und Ihr, Lassar, solltet sagen, was zu sagen ist, und dann gehen. Fast jeder hier im Schwarzeichenwald hasst Euch und nicht alle sind so beherrscht wie Gwenderon und ich. Ich kann nicht für Eure oder die Sicherheit Eurer Männer garantieren, wenn Ihr uns nur hierher habt kommen lassen, um uns zu verspotten.«

Lassars Lächeln gefror zu einer Grimasse. »Das sind große Worte«, sagte er, »für einen Mann, der noch vor Augenblicken seine Machtlosigkeit betont hat. Aber zumindest habt Ihr Mut bewiesen, hierher zu kommen. Ich könnte Euch verhaften und als Geisel behalten. Oder töten.«

»Das könntet Ihr«, bestätigte Cavin ungerührt. »Aber glaubt Ihr im Ernst, Ihr würdet diesen Ort lebend verlassen, wenn mir oder Gwenderon auch nur ein Haar gekrümmt würde?«

Einen Moment lang starrte Lassar den jungen König mit unckbewegtem Gesicht an, dann stieß er hörbar die Luft zwischen den Zähnen aus, schlug mit einer heftigen Geste seine Kapuze zurück und lachte; sehr leise und ohne die geringste Spur eines echten Gefühles.

»Gut«, sagte er. »Nun, nachdem wir dem Protokoll Genüge getan und uns gegenseitig unsere Überlegenheit demonstriert haben, können wir vielleicht reden.«

»Bitte«, sagte Cavin steif.

»Ich werde gleich zur Sache kommen«, begann Lassar nach einer neuerlichen, sekundenlangen Pause. »Es ist viel gescheckhen, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben. Ich weiß, dass Ihr mich hasst, und ich gestehe, dass Ihr allen Grund dazu habt. Und ich weiß auch, dass Ihr noch immer ein mächtiger Mann seid, Cavin, ganz egal was Ihr behauptet. Ihr seid mehr König dieses Waldes, als es Euer Vater oder irgendeiner seiner Vorgänger jemals war. Ihr Eurerseits wisst, dass sich meine Pläne nicht überall so entwickeln, wie ich es mir gewünscht hätte.«

Cavin nickte. »Gwenderon hat es gesagt. Ihr verliert Euren Krieg.«

»Das würde ich nicht sagen«, antwortete Lassar. »Ich habe Rückschläge hinnehmen müssen, das mag sein. Aber ich bin noch immer mächtig genug mich meiner Feinde zu erwehren. Ich könnte den Schwarzeichenwald bis auf die Wurzeln niederbrennen lassen, wollte ich das. Ich könnte Euch aber auch Euer Haus und Euer Reich zurückgeben, Cavin.«

»Was soll das?«, fauchte Gwenderon. »Ein neuer Trick, Lassar? Wer, glaubt Ihr, würde Euch noch ein einziges Wort glauckben, nach allem, was Ihr getan habt?«

»Ich hoffe, Ihr glaubt mir, Cavin«, antwortete Lassar. »Ich appelliere weder an irgendein Gefühl noch bitte ich Euch um Vergebung. Das wäre ziemlich albern. Ich schlage Euch ein Geschäft vor, mehr nicht. Einen Handel zwischen Königen.«

»Welchen Handel?«, fragte Cavin steif.

»Ich biete Euch Frieden«, sagte Lassar. »Ich gebe Euch mein Wort, dass weder ich noch irgendeiner meiner Diener oder Verbündeten je wieder einen Fuß über die Grenzen Eures Waldes setzen wird, und ich biete Euch darüber hinaus ein Schuldgeld für das, was Euch und den Euren angetan wurde. Die Höckhe dieser Entschädigung könnt Ihr selbst nach eigenem Ermessen bestimmen. Und ich biete Euch Hochwalden.«

Cavin starrte den Herrn der Schatten an. »Ihr bietet was?«, fragte er verwirrt.

»Hochwalden«, wiederholte Lassar. »Die Burg Eurer Väter. Ich habe sie zerstört, weil ich zornig war und mich von Gefühlen leiten ließ, wo klares Überlegen angebracht gewesen wäre. Ein Fehler, wie ich jetzt einsehe. Ich bin bereit Wiedergutmachung zu leisten.«

»Wollt Ihr einen Zauberspruch aufsagen und die Burg wieder aufbauen?«, fragte Gwenderon wütend.

»Das kann ich nicht«, antwortete Lassar.

»Nein?« Gwenderons Stimme troff geradezu vor Hohn. »Das ist sonderbar – ein so mächtiger Zauberkönig wie Ihr.«

»Seid kein Narr, Gwenderon«, fauchte Lassar, aber eher ungeduldig als wirklich zornig. »Ich bin hier, Euch einen ernst gemeinten Vorschlag zu machen. Hochwalden war nur eine Burg. Sie kann wieder aufgebaut werden. Es mag ein Jahr dauckern oder auch zwei, aber sie kann mächtiger und schöner wieckder erstehen, als sie jemals war. Ich biete euch die Gelegenheit dazu.«

»Das ist ein Trick!«, behauptete Gwenderon erregt. »Glaubt ihm nicht, Herr. Er lügt!«

Lassar seufzte. »Mit Verlaub, Gwenderon, Ihr seid ein Narr«, sagte er ruhig. »Glaubt ihr, ich käme hierher, wenn ich nicht willens wäre mein Wort zu halten? Ich könnte Euch und Eure lächerliche Rebellion zerquetschen, wenn ich es wollte. Stattckdessen biete ich Euch Frieden.«

»Und was verlangt Ihr dafür?«, fragte Gwenderon misstrauckisch.

Lassar sah Cavin an, als er antwortete. »Nichts als Frieden«, sagte er ernst. »Frieden und freies Geleit für meine Truppen.«

»Freies Geleit?« Cavin schrie fast. »Ihr denkt, ich ließe es zu, dass Ihr mit Kriegern in den Schwarzeichenwald zieht, Lassar? Ihr müsst von Sinnen sein.«

»Nicht in den Schwarzeichenwald«, korrigierte ihn Lassar. »Nur hindurch. Und zu Euren Bedingungen. Ich weiß, dass es Euch schwer fallen wird, meinen Worten Glauben zu schenken, aber ich meine es ehrlich. Und ich hoffe, Ihr seid klug genug dies zu erkennen. Wir haben Krieg gegeneinander geführt und es hat sich gezeigt, dass keine Seite stark genug war die andere zu besiegen. Es sind Fehler gemacht worden, Cavin, auf beiden Seiten. Jetzt ist es an der Zeit, das Kämpfen zu beenden. Ich strecke Euch die Hand in Frieden entgegen.«

»Weil Ihr am Ende seid, Lassar«, sagte Gwenderon wütend. »Weil die Heere der vereinigten Nordländer über die Berge drängen werden, sobald die Pässe schneefrei sind. Weil Ihr Euch einen Krieg an drei Fronten nicht mehr leisten könnt.«

»Vielleicht habt Ihr sogar Recht, Gwenderon«, gestand Lassar ungerührt. »Und wenn? Umso mehr solltet Ihr davon überzeugt sein, dass mein Angebot ernst gemeint ist.«

»Und Ihr denkt, wir würden darauf eingehen?« Gwenderon stieß ein fast komisch klingendes Keuchen aus. »Verzeiht meickne Offenheit, Herr«, sagte er boshaft, »aber niemand im Schwarzeichenwald würde in Tränen ausbrechen, solltet Ihr diesen Krieg verlieren. Wie kommt Ihr auf die Idee, dass wir Euch plötzlich helfen würden ihn doch noch zu gewinnen?«

»Vielleicht, weil ich Euch sonst vernichten würde«, antwortete Lassar kalt.

Cavin versteifte sich. Als Gwenderon diesmal antworten wollte, schnitt er ihm mit einer befehlenden Geste das Wort ab und trat zornig einen Schritt auf Lassar zu.

»Was soll das bedeuten, Lassar?«, fragte er kalt. »Erklärt Euch!«

»Das hätte ich längst getan, mein König, würde mich dieser hitzköpfige Narr an Eurer Seite nicht ständig unterbrechen«, antwortete Lassar kalt. »Aber wie Ihr wollt: Ihr habt gehört, was ich Euch biete und was ich dafür verlange. Ich gebe Euch drei Tage, über mein Angebot nachzudenken, Cavin. Ihr könnt es annehmen und Euch und den Euren damit den Frieden erkaufen. Was geht Euch das Schicksal der Welt an? Es steht nicht in Eurer Macht, es zu ändern. Es steht nicht einmal in Eurer Macht, meinem Heer den Weg durch diesen Wald zu verwehren. Und das wisst Ihr.«

»Macht Euch nicht lächerlich«, sagte Gwenderon. »Seit sechs Monaten schickt Ihr Männer in den Schwarzeichenwald, um uns zu töten. Und seit der gleichen Zeit schicken wir sie Euch zurück. Auf die Rücken ihrer Pferde gebunden und tot.«

Lassars Blick sprühte vor Zorn. »Ich sagte schon mehrmals, dass Ihr ein Narr seid, Gwenderon«, zischte er. »Ich gebe zu, dass es mir nicht gelungen ist, Euch zu besiegen. Vielleicht ist es unmöglich, den Schwarzeichenwald zu erobern, und ganz sicher reicht nicht einmal meine Macht dazu. Aber ebenso sicher reicht sie aus, ihn zu vernichten. Zerstören, Gwenderon, ist immer leicht. Schaut Euch um, dann seht Ihr den Beweis.«

Gwenderon spannte sich. »Du Hund!«, keuchte er. »Du –«

Cavin legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und Gwenderon verstummte abrupt. Seine Hand krampfte sich um das Schwert in seinem Gürtel.

»Euer Ansinnen kommt … ein wenig überraschend, Lassar«, sagte Cavin stockend. »Und Ihr werdet verstehen, wenn ich nicht sofort darauf antworte.«

»Natürlich«, antwortete Lassar. »Es hätte mich erstaunt, würdet Ihr anders reagieren, mein König.« Durchdringend blickte er Cavin an und es war etwas in seinen Augen, was den jungen König schaudern ließ. Es war der Blick einer Schlange, dachte er fröstelnd, einer Schlange, die ihr Opfer mustert und überlegt, von welcher Seite sie es packen kann.

»Ich erwarte nicht, dass Ihr nur meinem Wort glaubt«, fuhr Lassar fort, als er nicht antwortete. »Aber Euer klarer Verstand sollte Euch sagen, dass ich die Wahrheit spreche. Überdies steht es Euch frei, Euch von der Ehrlichkeit meines Angebotes zu überzeugen. Bringt meinetwegen diesen Narr Faroan mit. Er wird Euch sagen, ob ich es ehrlich meine.«

»Faroan ist –«

»Ich weiß, was mit Faroan ist«, unterbrach ihn Lassar scharf. »Es war mein erster Fehler, ihn zu unterschätzen, und vielleicht der entscheidende überhaupt. Überlegt Euch mein Angebot und bedenkt, was geschehen würde, würdet Ihr es ausschlagen.«

»Ihr droht mir?«

»Nein«, sagte Lassar kalt. »Ich sage Euch, was ich tun werde, das ist alles. Der Schwarzeichenwald hat keinen Wert mehr für mich. Es gab eine Zeit, in der ich glaubte ihn zu brauchen, aber das ist Vergangenheit. Jetzt ist er nur noch ein Hindernis, etckwas, das meine Pläne stört. Ich könnte Euch zwingen meinen Kriegern Durchlass zu gewähren. Ich könnte ihn so niederckbrennen, wie ich dieses Schloss niedergebrannt habe.«

»Warum tust du es nicht, wenn es so leicht für dich ist?«, fragte Gwenderon hasserfüllt. Wieder spannte sich seine Gestalt, und für einen Moment – einen winzigen Moment nur, aber überdeutlich – spürte Cavin, wie die Spannung zwischen den beiden ungleichen Männern unerträglich wurde. Ein Wort, eine falsche Betonung, ja, eine falsche Miene von Lassar, das wusste er, und keine Macht der Welt würde Gwenderon noch davon abhalten, seine Waffe zu ziehen und sich auf ihn zu stürckzen, ungeachtet dessen, was anschließend mit ihm geschah.

Aber zu seiner eigenen Verwunderung nahm der Herr der Schatten auch diese Provokation hin. »Weil es in diesem Fall einfacher ist, den Frieden zu erkaufen, statt ihn mit Waffengewalt zu erzwingen. Ihr wisst, dass ich niemals etwas Grundlockses tue«, antwortete Lassar. Er lächelte kalt, wandte sich wieckder an Cavin und deutete eine Verbeugung an. »Ich erwarte Euch in drei Tagen, mein König«, sagte er. »Und Eure Antckwort.«

11

Sie waren hinter ihr her. Vor einer Stunde hatte Animah das erste Mal Hufschlag gehört, wenig später Rufe und das schrille Wiehern von Pferden und dann den Laut, den sie von allen Lauten am meisten gefürchtet hatte: das heisere, gierige Bellen der Hunde, die ihre Spur aufgenommen hatten. Seit diesem Moment rannte sie.

Sie hatte einen halb zugefrorenen Bach durchwatet, war durch einen Sumpf gestolpert und in einer halsbrecherischen Kletterei von Baumkrone zu Baumkrone gewechselt, um ihre Spur zu verwischen, aber es war ihr nicht gelungen. Ein paar Mal waren das Bellen und das Stampfen der Hufe hinter ihr zurückgeblieben, ein- oder zweimal auch ganz verstummt, aber nur, um kurz darauf erneut – und jedes Mal ein ganz kleines bisschen näher – an ihr Ohr zu dringen. Der Wald und die Dunkelheit schützten sie, aber ihr Schutz reichte nicht, die Übermacht der Verfolger auszugleichen. Einmal, als sie in eine Baumkrone gestiegen war und halb tot vor Erschöpfung innegehalten hatte, um wieder zu Atem zu kommen, hatte sie sie gesehen: auf die Entfernung nichts als glitzernde Lichtreflexe im schwarzweißen Labyrinth des verschneiten Waldes. Es waren zwanzig, vielleicht auch dreißig Reiter in schwarz glänzenden Lederrüstungen, begleitet von einer ganzen Meute kläffender Bluthunde, die voller Wut an ihren Leinen zerrten. Animah verstand nicht, warum die Reiter die Tiere nicht längst losgelassen hatten; aber sie verstand, dass sie binnen zehn Minuten tot und zerfetzt sein würde, wenn sie es taten.

Aber auch so schob sie das Ende ihrer verzweifelten Flucht nur hinaus. Spätestens in zwei, drei Stunden, wenn die Sonne aufging und die Dunkelheit wich, die sie bisher beschützt hatte, würden die Reiter sie einholen. Und dann … ja, dann würde sie sterben, ganz gleich was die Männer mit ihr vorhatten. Sie war entschlossen, sich eher in ihr Schwert zu stürzen, als sich ein zweites Mal Lassars Willkür auszuliefern. Nur aus diesem Grund hatte sie die Waffe noch bei sich, deren Gewicht ihr in den letzten Stunden zur Qual geworden war. Den Schild hatte sie längst fortgeworfen.

Animah verspürte noch immer keine Angst; nicht einmal Enttäuschung, dass alles so enden sollte. Im Nachhinein kam es ihr im Gegenteil eher wie ein Wunder vor, dass sie überhaupt so weit gekommen war. Sie hatte Hochwalden verlassen, ohne dass Alarm geschlagen worden wäre, und wenn sie ihren Vorcksprung bedachte, so musste fast eine Stunde vergangen sein, bevor ihre Flucht auch nur entdeckt worden war. Vielleicht war es nicht einmal Glück, dachte sie bitter. Vielleicht war dies alles nur Teil eines grausamen Spieles, das Lassar mit ihr spielte, denn sie war praktisch durch sein Heerlager hindurchgelaufen, ohne dass nur einer der zigtausend Männer Notiz von ihr genommen hätte. Vielleicht hatte er alles ganz genau so geplant. Vielleicht würden seine Häscher sie jagen, bis sie Gwenderons Lager fast erreicht hatte, um sie dann zu töten.

Aber sie wusste ja noch nicht einmal, wo es war. Sie wusste ja nicht einmal, ob es noch so etwas wie ein Lager gab oder ob ihre Rebellion nicht schon längst nur noch aus ihr bestand und der Schwarzeichenwald ein Teil von Lassars finsterem Reich geworden war, ob …

Mit schmerzhafter Wucht kam Animah zu Bewusstsein, wie wenig sie im Grunde wusste. Die letzten sechs Monate existierten nicht für sie. Das letzte Mal, dass sie Gwenderon und Karelian gesehen hatte, war während der Schlacht im Wald gewecksen, bei der sie fast getötet worden war. Und wer sagte ihr, dass Lassars Behauptung keine Lüge war und Karelian und Cavin am Leben und in Freiheit waren? Vielleicht war sie die letzte der Rebellen, das letzte Opfer seines grausamen Spieles, das er zum bloßen Zeitvertreib zu Tode hetzen ließ.

Nicht sehr weit hinter ihr ertönte ein heiseres Bellen, gefolgt vom scharfen Knall einer Peitsche und einem schmerzerfüllten Jaulen. Der Laut riss Animah wieder in die Wirklichkeit zurück. Gehetzt sah sie sich um, erkannte einen verschwommecknen Schatten gegen den Nachthimmel und lief schneller. Ihr Atem ging keuchend und in schmerzhaften, kurzen Stößen. Der Schnee, über den sie rannte, brannte wie Feuer an ihren bloßen Füßen. Ein dünner, aber unbarmherzig heftiger werdender Schmerz wühlte in ihrer Seite und sie spürte, wie ihre Kräfte jetzt rapide nachließen. Sie würde die Jagd nicht mehr bis zum Sonnenaufgang durchhalten.

Nicht einmal mehr zehn Minuten.

Schwer atmend blieb Animah stehen, lehnte sich gegen einen Baum und ergriff das Schwert in ihrer Rechten fester. Die Waffe schien eine Tonne zu wiegen und der Gedanke, sie zu heben und damit zu kämpfen oder gar einen Schwerthieb abzuwehren, war einfach lächerlich. Aber der Gedanke, kampflos zu sterben, noch mehr.

Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, denn der Reiter hatte sie entdeckt und drängte sein Pferd mit einem schrillen Ausruf in ihre Richtung. Animah sah das Tier wie ein Alptraumungeheuer auf sich zuspringen, ein gepanzerter Koloss, gigantisch und schwarz und mit flammenden roten Augen, flankiert von zwei kleineren, aber noch wilderen Bestien, deren gebleckte Fänge wie elfenbeinfarbene Dolche im Mondlicht schimmerten. Ungeschickt hob sie das Schwert, wich einen Schritt zur Seite und fiel zu Boden, als einer der Hunde sie ansprang. Reißzähne, so lang wie ihr kleiner Finger und spitz wie Messer, schnappten nach ihrer Kehle, verfehlten sie und gruben sich tief in ihre Schulter. Animah schrie vor Schmerz, bäumte sich auf und schleuderte den Hund mit verzweifelter Kraft von sich. Sofort war das Tier wieder auf den Beinen, fuhr herum und griff ein zweites Mal an. Animah stach mit dem Schwert in seine Richtung, verfehlte es und krümmte sich vor Schmerz, als sich die Zähne des schwarzen Ungeheuers dieses Mal in ihren Unterarm gruben. Blindlings hieb sie mit dem Schwertknauf zu, spürte, wie sie traf, und sank wimmernd zurück, als sich die entsetzlichen Kiefer öffneten. Ihr linker Arm war ein einziger pulsierender Schmerz. Wald und Himmel begannen sich vor ihren Augen zu drehen. Sie sah nur noch wie durch einen Vorhang aus flirrenden roten Nebeln. In ihrem Mund war der Geschmack von Erbrochenem.

Der Reiter stieß ein böses Lachen aus, sprang aus dem Sattel und trat ihr das Schwert aus der Hand. Gleichzeitig schnappten die Kiefer des Hundes nach ihrem Gesicht. Sie verfehlten es nur, weil der Mann das Tier im letzten Augenblick zurückriss.

Stöhnend wälzte sich Animah herum, presste den verwundeckten Arm an den Leib und kroch ungeschickt auf das Schwert zu. Ein riesiger Schatten erhob sich neben ihr, torkelnd und noch benommen, aber schon wieder mit gebleckten Zähnen und nach Mordlust und Tod riechend. Animahs Finger krochen auf das Schwert zu, erreichten es und schlossen sich um seinen Griff.

Der Soldat trat ihr auf die Hand; so wuchtig, dass sie hörte, wie zwei ihrer Finger brachen. Gleichzeitig schnappte etwas mit entsetzlicher Kraft nach ihrer Wade, schloss sich darum und riss ein Stück heraus. Animah spürte den Schmerz kaum noch. Sie begriff nur, dass Lassar nicht den Befehl gegeben hatte, sie lebend zu fangen; und sie war sehr dankbar dafür.

Aber der Tod, auf den sie wartete, kam nicht. Irgendetwas geschah, was sie nicht mehr richtig wahrnahm, denn ihre Sinne begannen bereits zu schwinden, aber etwas im Heulen der Hunde war mit einem Male anders, und der grässliche Schmerz in ihrem Bein und ihren Armen blieb zwar, wurde aber nicht von anderen Bissen abgelöst. Irgendwo, Meilen entfernt, wie es ihr schien, ertönte ein gellender, panikerfüllter Schrei, und plötzlich klang das Wimmern der Hunde schrill und war voller Todesangst.

Stöhnend hob Animah den Kopf, zwang ihre Lider, sich noch einmal zu heben, und sah Schatten über sich, zerfaserte Gestalten, die einen irren Veitstanz aufführten. Plötzlich fiel die größckte von ihnen zu Boden, zuckte noch ein paar Mal und lag dann still, dann brach einer der Hunde über ihren Beinen zusammen; warmes Blut, das nicht ihres war, lief über ihren Rücken, und wie in einer entsetzlichen Vision sah sie den zweiten Bluthund vor sich, wie irr nach allen Seiten beißend, heulend vor Wut und Schmerz. Etwas Kleines, Braunes und Zappelndes hing an seiner Kehle, und andere zappelnde kleine Dinge hatten sich in seine Flanken verbissen, zerrten an seinem Leib, seinen Beinen und seinem Schwanz, versuchten an seinem hässlichen Schädel hinaufzuklettern und bissen mit mörderischen Zähnen nach seinen Augen.

Das Letzte, was Animah bewusst wahrnahm, war ein riesiger struppiger Umriss, der nahezu lautlos aus dem Unterholz trat. Irgendwie schien er den Schatten zu ähneln, die den Hund niedergerungen hatten, nur dass er viel größer war, größer als ein Mensch, aber mit dem Gesicht einer Ratte.

Dann nichts mehr.

12

»Niemals!« Gwenderon ballte die Faust, beugte sich zornig vor und schlug sich wuchtig in die geöffnete Linke. Sein Gesicht flammte vor Erregung. »Niemals, Cavin«, wiederholte er. »Es wäre Wahnsinn, auf dieses Angebot einzugehen. Ihr … Ihr werdet ihm doch nicht ein Wort glauben! Nicht nach allem, was geschehen ist.«

Cavin lächelte traurig, beugte sich vor und angelte mit seicknem Dolch eine geröstete Kartoffel aus dem Feuer ohne zu antworten. Er fühlte sich müde, obgleich sie seit Stunden hier saßen und nichts anderes getan hatten als reden. Seine Augen brannten, sein Gaumen war trocken vom vielen Sprechen und er mochte nicht mehr reden, ja, nicht einmal mehr denken. Alles, was zu sagen war, war gesagt worden, mehr als einmal. Das Gespräch hatte vor vier Stunden begonnen sich im Kreise zu drehen, und es sah nicht so aus, als wäre auch nur einer von ihnen bereit diesen Kreis zu durchbrechen.

Sie waren zu viert: er selbst, Gwenderon, der auf der anderen Seite des Feuers Platz genommen hatte, dazu Karelian, dessen Part bei dieser Beratung wie üblich fast nur im Zuhören und einem gelegentlichen knappen Kopfnicken oder in einem wickderwillig eingestreuten Wort bestand, und als Letzter Guarr. Er hatte allerdings – obwohl er für einen Raett außergewöhnlich schwatzhaft war – kaum mehr gesprochen als Karelian. Dies war eine Sache zwischen Gwenderon und ihm, das hatte er im Grunde schon gewusst, bevor das Gespräch begonnen hatte. Und wie immer es ausging, dachte Cavin betrübt, er würde die Verantwortung dafür zu tragen haben.

»Das hat doch überhaupt keinen Sinn, Gwenderon«, sagte er müde. »Seit vier Stunden beharrt jeder von uns auf seinem Standpunkt und –«

»Und ich werde es weitere zweihundert Tage tun, wenn Ihr mich dazu zwingt, Cavin«, fiel ihm Gwenderon ins Wort. »Lassars Angebot stinkt geradezu nach einer Falle. Muss ich ausgerechnet Euch sagen, dass Lassar nicht nur der Herr der Schatten, sondern auch der Herr der Lügen ist? Zum Teufel, Cavin – er hat Euren Vater ermordet, Euch selbst zu seinem Sklaven gemacht und die meisten Eurer und meiner Freunde umbringen lassen. Er hat am heiligen Frieden des Schwarzeichenwaldes gefrevelt und er hat Hochwalden niedergebrannt! Was muss noch geschehen, bis Ihr begreift, dass dieser Mann nicht nur Euer Feind, sondern durch und durch schlecht ist?«

»Niemand ist durch und durch schlecht«, sagte Guarr. Gwenderon fuhr mit einem ärgerlichen Fauchen herum, aber das Raett-Männchen hielt seinem Blick gelassen stand und nickte noch, um seine Worte zu bekräftigen.

»Was verstehst du schon davon, Raett?«, murmelte Gwenderon zornig.

Guarr gab einen schrillen Pfiff von sich; das Gegenstück zu einem menschlichen Lachen. »Genug, Mensch«, antwortete er amüsiert. »Ich bin vielleicht nur ein dummes Tier, aber ich habe lange genug mit Menschen gelebt, um zu wissen, dass Lassar ist wie ihr alle. Er hat Gründe für das, was er tut.«

»Ja«, grollte Gwenderon. »Zum Beispiel den Schwarzeichenwald.«

»Was Guarr sagen will«, sprang Cavin ein, »ist einfach das, dass Lassar niemals etwas ohne Grund tut; und schon erst recht nichts, bei dem er sich keinen Vorteil ausrechnen würde.«

»Habe ich etwa das Gegenteil behauptet?«, fragte Gwenderon gereizt.

»Es wäre dumm von ihm, uns zu hintergehen«, fuhr Cavin fort, Gwenderons Einwurf wohlweislich ignorierend. »Das Kriegsglück war ihm nicht gerade hold im letzten Winter. Seit er Hochwalden niedergebrannt hat, haben sich viele seiner ehemaligen Verbündeten von ihm abgewandt. Lassar steht mit dem Rücken zur Wand.«

»Und diese Wand ist der Schwarzeichenwald«, knurrte Gwenderon. »Ich begreife nicht, dass Ihr auch nur eine Sekunde lang daran denken könnt, Lassar zu helfen, Cavin! Lassars Truppen werden überrannt, sobald die Pässe frei sind, und –«

»Und vorher wird er den Wald niederbrennen«, fiel ihm Cavin ins Wort.

Gwenderon verstummte. Seine Miene schien zu gefrieren und für einen Moment glaubte Cavin beinahe so etwas wie Verachtung in den grauen Augen des Waffenmeisters zu lesen.

»Ist es … das, wovor Ihr Angst habt?«, flüsterte er schließcklich.

Cavin seufzte. »Vielleicht, Gwenderon«, antwortete er. »Vielleicht bin ich auch nur des Kämpfens müde.«

»Ich habe länger gekämpft.«

»Und wie viele deiner Freunde sind gestorben in dieser Zeit?«, fragte Cavin leise. Er seufzte erneut, schüttelte beinahe sanft den Kopf und fuhr fort: »Es geht nicht darum, ob ich Angst habe oder nicht, mein Freund. Es geht überhaupt nicht um dich oder mich. Es geht um den Wald. Du hast Lassars Drohung gehört – seine Macht reicht lange nicht mehr so weit wie noch vor wenigen Monaten, aber er ist noch immer in der Lage, den Schwarzeichenwald niederzubrennen. Und er wird es tun.«

»Soll er es versuchen!«, ereiferte sich Gwenderon. »Soll er kommen, mit seinen Kriegern und seinem Zauber. Wir haben sechs Monate getrotzt, wir werden es auch noch ein paar weitere Wochen tun. Und danach wird es keinen Lassar mehr geben.«

»Und keinen Schwarzeichenwald.«

»Ihr –«

»Genug, Gwenderon«, sagte Cavin, sehr scharf diesmal. »Ihr habt Euren Standpunkt vorgetragen und ich meinen. Vielleicht fragen wir die anderen.« Er wandte sich an Guarr. »Vielleicht sollte ich die Entscheidung ohnehin dir überlassen, mein Freund. Du und dein Volk tragen die Hauptlast in diesem Kampf. Wenn es zur Schlacht kommt, wird es euer Blut sein, das fließt.«

Seltsamerweise antwortete Guarr nicht darauf, sodass Cavin nach einer Weile hinzufügte: »Können wir tun, was Gwenderon vorschlägt, Guarr? Können wir sie aufhalten?«

Guarr schüttelte stumm den Kopf.

»Nicht, wenn Ihr Wert darauf legt, dass es hinterher noch so etwas wie einen Wald gibt«, antwortete Karelian an seiner Stelle.

Gwenderon fuhr auf. »Das ist doch Unsinn!«, fauchte er. »Wir sind unangreifbar, in der Megidda, und –«

»Und?«, unterbrach ihn Cavin zornig. »Was wollt Ihr tun, Gwenderon? Euch in der Festung verkriechen und mit Steinen nach Lassar werfen, sobald er vorbeikommt? Wir sind sicher in der Festung, das mag sein, aber wir sind nicht genug, ihn aufckhalten zu können.«

»Der Preis wäre zu hoch«, stimmte Karelian zu. Er klang sehr traurig.

Gwenderon ballte in hilflosem Zorn die Fäuste, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schüttelte aber dann nur den Kopf und sprang mit einer abrupten Bewegung auf.

»Wo willst du hin?«, fragte Cavin scharf.

Gwenderon schnaubte. »Spielt das eine Rolle?«, fragte er bitter. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr großen Wert auf meine Anwesenheit legt, mein König« – die Art, in der er die letzten beiden Worte aussprach, grenzte an eine Beleidigung –, »oder gar auf meinen Rat. In Wahrheit habt Ihr doch längst entschieden.«

»Und wenn?«, fragte Cavin leise.

»Und wenn?« Gwenderons Antlitz verzog sich zu einem bitteren Lächeln. »Erinnert Ihr Euch an Eure eigenen Worte, Cavin?«, fragte er. »Ihr habt mir verboten, Euch weiter meinen König zu nennen. Entscheidet, wie Ihr wollt. Aber bedenkt, dass der Treueeid, den ich schwor, dem Herren von Hochwalden galt. Nicht einem Mann, der sich selbst zu einem Verbündeten Lassars macht.« Damit fuhr er herum und stürmte mit weit ausgreifenden Schritten davon.

Cavin sah ihm einen Moment stirnrunzelnd nach, dann wandckte er sich zurück und tauschte einen Blick mit Guarr. »Geh und schicke ihm einen deiner Männer nach, Freund«, bat er. »Er ist zornig und erregt. Er könnte Dinge tun, die er später bereut.«

Der Raett erhob sich schweigend und umständlich und folgte Gwenderon, während Cavin reglos sitzen blieb und in die Flammen starrte ohne sie wirklich zu sehen. Ein bitteres Gefühl hatte sich seiner bemächtigt. Ihre Situation kam ihm absurd vor – da saßen sie, nur wenige hundert Schritte von Lassars Armee entfernt, auf Gnade und Ungnade den Männern ausgeliefert, die ihnen schon einmal das Leben geschenkt hatten, und diskucktierten ernsthaft darüber, ob sie sie bekämpfen sollten, ein jämmerlicher Haufen hilfloser Männer und Raetts, deren erster Angriff bereits zu einem Fiasko geworden war. Einen Moment lang fragte er sich allen Ernstes, ob sie alle zusammen verrückt geworden waren, mit bloßen Händen eine Lawine aufhalten zu wollen. Aber er wusste auch, dass Gwenderons Worte nicht nur einer momentanen Erregung entsprangen, wie er Guarr gegencküber behauptet hatte. Im Gegenteil. Er ahnte, dass er einen Freund verloren hatte. Er wusste nur noch nicht, ob er dafür einen neuen Feind bekommen hatte.

»Er hat Recht, nicht?«, fragte Karelian nach einer Weile.

Cavin sah auf. »Womit?«

Karelian lächelte. »Mit seinen letzten Worten. Ihr habt längst entschieden.«

Cavin zögerte einen Moment, dann nickte er, senkte den Blick und starrte wieder in die Flammen. »Ja«, gestand er. »Schon in Hochwalden.« Schon vorher, fügte er in Gedanken hinzu. Schon lange vorher. Seine Entscheidung hatte festgestanden, als er mit Faroan gesprochen hatte. Er hatte es nur noch nicht gewusst. Aber das sprach er nicht laut aus.

»Ihr werdet Lassars Angebot annehmen.«

»Bleibt mir eine Wahl?«

»Viele von uns sind des Kämpfens schon längst überdrüssig geworden«, sagte Karelian, ohne direkt auf seine Frage einzugehen. »Der Boden dieses Landes ist mit zu viel Blut und zu vielen Tränen getränkt worden. Es gab eine Zeit, da war es verboten, ein Tier zu töten unter diesen Bäumen. Jetzt herrscht Krieg, und Menschen und Raetts töten sich gegenseitig. Die meisten von uns würden lieber heute als morgen zu ihren Famicklien und Freunden heimkehren.«

»Und trotzdem glaubst du auch, dass Gwenderon Recht hat?«

»Sie werden Euch verachten«, sagte Karelian ernst. »Viele werden Euch einen Feigling nennen, Cavin. Manche einen Verräter.«

»Ich weiß«, antwortete Cavin leise. »Glaubst du auch, dass ich das Schicksal der Welt verändere, wenn ich Lassars Kriegern gestatte durch den Schwarzeichenwald zu ziehen?«

Karelian lachte leise. »Das Schicksal der Welt? Kaum. Und wenn – was seid Ihr der Welt schuldig? Niemand ist Euch zu Hilfe geeilt, als Lassar mit dem Schwert in der Hand kam, um Euer Reich zu erobern. Niemand würde Euch jetzt zu Hilfe eilen, würde er kommen, um den Wald niederzubrennen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Cavin – es ist ganz alleine Eure Entscheidung. Der Schwarzeichenwald hat schon immer exickstiert, ohne dass irgendetwas außerhalb seiner Grenzen von Bedeutung für sein Schicksal gewesen wäre. Und wäre es so – Ihr könntet Lassar nicht aufhalten. Das erste Mal kam er, um zu erobern. Jetzt käme er, um zu zerstören. Aber sie werden Euch verachten.« Plötzlich wurde seine Stimme ganz leise, aber dabei so ernst, dass Cavin ein eisiger Schauer über den Rücken lief. »Ihr kennt den Preis, den Ihr zahlen müsst.«

Cavin nickte. Mit einem Male fiel es ihm fast schwer, zu sprechen. »Ich werde als der erste König Hochwaldens in die Geschichte eingehen, der sein Reich verriet. Sie werden mich verachten. Sie werden mich Cavin, den Feigling nennen. Den Verräter.« Er lachte leise. Es klang bitter. »Sie werden auf meinen Namen spucken, Karelian.«

»Aber der Schwarzeichenwald wird weiterleben«, fügte der Waldläufer hinzu.

»Und … Gwenderon?«

»Wird alt und bitter werden und sterben«, sagte Karelian ernst. »Wie wir alle. Aber er wird nicht Euer Feind werden.«

»Aber auch nicht mehr mein Freund, Karelian.«

Der Waldläufer nickte. »Ist dieses Opfer zu groß?«

Cavin beugte sich vor, raffte eine Hand voll Erde vom Boden auf und warf sie in die Flammen. »Die meisten meiner Freunde sind tot, Karelian«, flüsterte er. »Ich habe nicht mehr sehr vieckle. Ich kann es mir nicht leisten, einen weiteren zu verlieren.«

»Ihr könnt es Euch nicht leisten, den Wald zu verlieren, Cavin«, verbesserte ihn Karelian sanft.

Cavin nickte. »Ich weiß«, sagte er. »Und ich weiß auch, dass ich keine Wahl habe. Aber ich weiß nicht, welches Opfer gröckßer ist. Ich mag Gwenderon sehr. Ich … ich liebe ihn wie …«

»Wie einen Vater?« Karelian lächelte, als er den betroffenen Ausdruck auf Cavins Zügen gewahrte. »Nun, mein König – er war wie ein Vater zu Euch. Und er liebt Euch wie einen Sohn.«

»Es ist so … so falsch«, murmelte Cavin verzweifelt. Der Blick, den er Karelian zuwarf, war beinahe flehend. »Ich muss eine Freundschaft opfern, um mein Land zu retten, oder mein Land, um eine Freundschaft zu erhalten. Das … das ist einfach nicht richtig. Gibt es wirklich Momente, in denen alles, was man tun kann, falsch ist, mein Freund?«

Karelian nickte ernst. »Ja, mein König«, sagte er. »Die gibt es. Es wird an der Nachwelt sein, zu entscheiden, ob Eure Wahl richtig war oder nicht.«

»Die Nachwelt …« Cavin sprach das Wort mit einer Betocknung aus, die ihm selbst nicht ganz klar war. Irgendwie, ohne dass er den Gedanken begründen konnte, hatte er plötzlich das sichere Gefühl, dass es keine Rolle spielte, was die nach ihnen folgenden Generationen denken oder sagen würden, ganz einfach deshalb, weil es nach ihnen niemanden mehr geben würde, wenn er sich falsch entschied.

»Du hast Recht, Karelian«, sagte er nach einer Weile. »Lass es sie entscheiden.«

»Und wie entscheidet Ihr?«

Cavin antwortete nicht, sondern starrte weiter blicklos und mit unnatürlich weit geöffneten Augen in die Flammen. Dann stand er auf und ging mit sehr langsamen Schritten davon, zum Fluss hinunter, wo Lassars Krieger und der Unterhändler noch immer auf seine Antwort warteten.

13

Die Sonne war bereits aufgegangen, aber hier, tief unter den mächtigen Kronen der Bäume, die wie knorrige grüne Finger ineinander gewachsen und verfilzt waren, herrschte noch immer tiefste Nacht; Dunkelheit und ein Schweigen, das nur selten von Tierlauten und noch seltener von menschlichen Äußerungen durchbrochen wurde. Die Dunkelheit war absolut. Selbst das Licht einer Fackel wäre nach wenigen Schritten in den schwarzen Schatten zwischen den dicht stehenden, wie glatt poliert aussehenden Bäumen versickert.

Trotzdem bewegte sich der Reiter mit einer beinahe traumckwandlerischen Sicherheit. Sein Pferd scheute immer wieder, als spüre es Dinge in den Schatten, die den gröberen Sinnen seines Reiters verborgen blieben, aber Gwenderon zwang es jedes Mal mit roher Gewalt, weiterzugehen. Schließlich, nach einer Weile, deren Dauer er nicht einmal abzuschätzen vermochte – denn auch die Zeit begann hier, nahe am Herzen des Waldes, wie das Licht und der Wechsel von Tag und Nacht, ihre Bedeucktung zu verlieren –, lichtete sich die finstere Mauer vor ihm ein wenig. Sein Pferd griff schneller aus, instinktiv darum bemüht, heraus aus dieser fremden, kalten und schweigenden Welt zu gelangen, und nach einem knappen Dutzend Schritten erreichte er eine ovale, von mächtigen Baumkronen überspannte Lichtung.

Der Grabhügel in ihrer Mitte war im Laufe des Winters nahezu verschwunden. Unkraut, Buschwerk und junge Bäume hatten ihre Wurzeln in die aufgeworfene Erde gekrallt und begonnen, das verlorene Terrain mit der zeitlosen Geduld alles Natürlichen zurückzuerobern. Nur der, der ohnehin wusste, wonach er zu suchen hatte, hätte den Grabhügel überhaupt entckdeckt.

Gwenderon zügelte sein Pferd, sah sich einen Moment lang unschlüssig und mit einem allmählich aufkeimenden Gefühl von Furcht um, dann schwang er sich aus dem Sattel, band sorgsam die Vorderläufe des Tieres zusammen und ging mit raschen Schritten auf den Hügel zu. Sein Herz hämmerte, und die Luft, die er atmete, schien plötzlich bitter zu schmecken. Das Licht der Sonne, die mittlerweile als flammendes Rad über den Baumwipfeln erschienen war, wirkte gedämpft und blass, fast wie silberner Mondschein, und die Schatten schienen das Geräusch seiner Schritte aufzusaugen. Kalter, feinperliger Schweiß bedeckte seine Stirn, obwohl es so kalt war, dass sein Atemhauch sichtbar wurde.

Rasch umrundete er den Grabhügel, sah sich suchend um und zog sein Schwert aus dem Gürtel. Die rasiermesserscharfe Klinge zerschnitt Blätter und Dornengestrüpp, und schon nach wenigen Augenblicken lag die zernarbte Metallplatte frei vor ihm, unter der sich der Eingang zu Faroans Grab befand.

Gwenderon zögerte. Er war fest von der Notwendigkeit dessen überzeugt, was er tat, und doch …

Es war einfach nicht richtig, die Toten in ihrer Ruhe zu stören, und es war Frevel, überhaupt hierher zu kommen. Dieser Teil des Waldes war Menschen verboten. Hatte er nicht selbst sein Leben und das seiner Freunde riskiert, um ihn zu beschützen?

Aber dann vertrieb er den Gedanken. Es gab Momente, in denen musste man einen Teil opfern, um das Ganze zu schützen, das waren Cavins eigene Worte gewesen. Noch einmal zögerte er, denn irgendwie hatte er das Gefühl, das Band, das zwischen ihm und Cavin gewesen war, endgültig zu zerschneickden mit diesem Hieb. Wenn sie auch noch immer für die gleiche Sache kämpften, würden sie Gegner sein, wenn er tat, wesckhalb er gekommen war. Und dieser Gedanke schmerzte ihn mehr als alles andere; er war stärker als sein Hass auf Lassar, stärker als seine Liebe zum Schwarzeichenwald, stärker als der Treueeid, den er Cavins Vater geschworen hatte. Aber vielleicht war dies der Preis, den er bezahlen musste.

Mit einem letzten, wuchtigen Hieb zertrennte er eine Ranke, die ihm den Weg verwehren wollte, stieß sein Schwert in den Gürtel zurück und ließ sich auf die Knie fallen, um die schwarckze Eisenplatte anzuheben. Sie war schwer; viel schwerer, als er geglaubt hatte, und es kostete ihn seine ganze Kraft, sie so weit wegzuschieben, dass er hindurchschlüpfen konnte.

Darunter sah er die ersten Stufen einer schmalen, steil in die Tiefe führenden Treppe. Gwenderon zögerte einen Moment, dann schlüpfte er hinab, stemmte die Platte unter Aufbietung aller Kräfte vollends in die Höhe und begann in die Tiefe zu steigen.

Ein blasses, grünblaues Licht empfing ihn. Für einen Mockment machte sich noch einmal Angst in ihm breit, eine nackte, kreatürliche Angst, die verdächtig nahe an Panik grenzte. Er verscheuchte sie aber vollends, ging schneller und stand nach wenigen Schritten in einer niedrigen, kuppelförmig gewölbten Höhle, die leer war bis auf einen sargähnlichen Altar aus schwarzem Fels.

»Faroan«, murmelte er. »Wo immer du bist – verzeih mir.«

Die Wände schienen seine Worte zu verschlucken. Es gab kein Echo, keinen Laut, nur eine Stille, die so absolut war, dass sie alles überstieg, was er jemals erlebt hatte. Etwas in dem grünblauen Schein, der aus dem Nichts kam und die Höhle erhellte, schien sich zu ändern. War da nicht eine Bewegung?, dachte er nervös. Änderte sich nicht irgendetwas in dem Spiel von Licht und Schatten?

Diesmal kostete es ihn seine gesamte Überwindung, seine Furcht noch einmal zurückzudrängen und ganz an den offenen Sarg heranzutreten.

Er war leer. Eine fingerdicke Staubschicht bedeckte seinen Boden, und wenn er genau hinsah, dann glaubte er noch die Umrisse des menschlichen Körpers zu erkennen, der einst darin gelegen hatte. Natürlich war das Einbildung. Aber mit jeder Minute, die Gwenderon länger in dieser Höhle war, war er weckniger sicher, wo die Grenzen der Wirklichkeit endeten und die Illusion begann.

Nervös fuhr er sich mit dem Handrücken über Kinn und Lipckpen, beugte sich vor und streckte die Finger nach dem mannsckhohen, knorrigen Stab aus, der unter der flockigen Decke aus Staub lag. Seine Hand begann zu zittern und noch einmal zögerte er, von der plötzlichen, absurden Angst erfüllt, dass irgendetwas unsagbar Schreckliches geschehen würde, würde er den letzten Schritt tun und den Frieden dieses Ortes endgültig brechen.

Hieß es nicht, dass die Götter die bestraften, die es wagten, die Toten zu bestehlen?

Aber dann griff er entschlossen zu. Die Welt stürzte nicht ein, und keine Geisterhände kamen aus dem Nichts, um ihm das Herz aus dem Leibe zu reißen; alles, was er fühlte, waren staubverkrustetes Holz und Kälte.

Wenig später band er sein Pferd los und ritt zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. An seinem Sattel hing ein fast mannslanger Stab aus versteinertem Holz, sorgsam in gegerbte Lederstreifen eingewickelt, die er eigens zu diesem Zweck mitgebracht hatte, und so befestigt, dass er ihn beim Reiten nicht behinderte, er ihn aber jederzeit ergreifen konnte. Er fühlte sich wie ein Dieb. Ein Dieb und ein Verräter. Aber er hatte keine Wahl gehabt.

Gwenderon war so in seine düsteren Gedanken versunken, dass ihm die Stille im ersten Moment nicht einmal auffiel. Der frisch gefallene Schnee, der nun, mit einiger Verspätung, auch auf den Waldboden gerieselt war, dämpfte ohnehin jeden Laut, sodass alles, was er hörte, die schnaubenden Atemzüge seines Pferdes und das gelegentliche Brechen eines Zweiges waren. Aber schließlich schien es ihm beinahe zu still.

Gwenderon verhielt sein Pferd, sah sich aus misstrauisch zusammengepressten Augen um und lauschte. Er hörte noch immer nichts, aber nach einer Weile glaubte er etwas zu sehen: einen großen, verschwommenen Umriss, der sich immer geschickt in den Schatten hielt und stets zu verschwinden schien, gerade wenn er glaubte ihn endgültig ausgemacht zu haben. Seine Hand kroch zum Schwert.

»Lass die Waffe stecken, Gwenderon. Ich bin nicht dein Feind.« Unterholz knackte, ein wenig Schnee rieselte aus einem Baum, als sich seine Äste bewegten, dann trat ein übermannshoher, schwarzgrauer Koloss aus dem Gebüsch. »Wäre ich es, wärst du längst tot, Mensch«, fügte der Raett in beinahe amüsiertem Tonfall hinzu.

Gwenderon atmete auf, blickte den Raett jedoch weiter mit kaum gemindertem Misstrauen an. »Was willst du?«, fragte er.

»Wer bist du?«

»Mein Name ist Gesset«, antwortete der Riesennager pfeifend. »Wenigstens ist es das, was ihr Menschen aus ihm macht, wenn ihr ihn aussprecht. Das da sind meine Brüder.« Eine krallenbewehrte Hand deutete auf eine Stelle hinter Gwenderon, und als er sich im Sattel herumdrehte, bemerkte er sieben oder acht weitere rattengesichtige Gestalten, die wie aus dem Nichts zwischen dem verschneiten Unterholz aufgetaucht waren. Gesset hatte Recht, dachte er mit einer Mischung aus Zufriedenheit und Unbehagen: Hätte er ihn für seinen Feind gehalten, wäre er jetzt schon tot.

»Ich … kenne dich«, sagte er zögernd. Es war schwer, die Raetts zu unterscheiden, denn für Menschenaugen sahen sie fast alle gleich aus; trotzdem kam ihm Gesset vage bekannt vor. Er war sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben.

»Meine Brüder und ich waren bei euch, als ihr die Flöße angegriffen habt«, bestätigte Gesset. »Du hast ein gutes Gedächtcknis, Mensch.«

»Schickt dich Cavin?«, fragte Gwenderon zornig. »Hat er dir aufgetragen mich zurückzubringen, oder sollst du nur auf mich Acht geben, damit ich keine Dummheiten mache?«

»Weder das eine noch das andere, Mensch«, antwortete Gesset ungerührt. Es war nicht zu erkennen, ob er den beleidigenden Ton überhaupt registriert hatte. »Guarr bat uns, dir zu folgen und ein wenig auf dich zu achten, das ist richtig. Aber nur, weil meine Brüder und ich uns ohnehin entschlossen hatten unserer eigenen Wege zu gehen.«

Gwenderon blieb misstrauisch. Absurderweise war es gerade die scheinbare Offenheit des Raett, die ihn störte. »Was soll das heißen?«, fragte er. »Gehört ihr zu Guarr oder nicht?«

»Niemand gehört jemandem«, antwortete Gesset mit einem dünnen, schrillen Raett-Lachen. »Wir sind für König Cavin und gegen Lassar, aber niemand sagt uns, was wir zu tun oder zu lassen haben.«

»Gegen Lassar?« Gwenderon zog eine Grimasse. »Dann wäre es besser für euch, ihr würdet euch Cavin anschließen. In der Megidda seit ihr wenigstens sicher.« Er wollte weiterreiten, aber Gesset vertrat ihm rasch den Weg und ergriff das Zaumzeug seines Pferdes.

»Wir gehen nicht dorthin«, sagte er bestimmt. »Es ist ein schlechter Platz. Gehst du zurück?«

Gwenderon überlegte einen Moment. Wenn er ehrlich war, hatte er bisher nicht darüber nachgedacht, wohin er gehen würde. Auf jeden Fall nicht zurück zu Cavin. Nicht jetzt.

»Nein«, sagte er.

»Dann bleib bei uns«, sagte Gesset. »Unser Lager ist am Fluss, nicht weit von Lassars Heer entfernt. Zwei zusammen sind stärker als zwei allein.«

Gwenderon starrte den Raett unschlüssig an, drehte sich im Sattel herum und blickte der Reihe nach in das halbe Dutzend anderer Rattengesichter, das ihn anstarrte. War es wirklich ein Zufall, dass ihn die Raetts ausweglos einschlossen? »Ich verckstehe«, murmelte er. »Und wenn nicht, seht ihr euch leider gezwungen mich gewaltsam mitzunehmen, wie? Natürlich nur zu meinem eigenen Schutz.«

Es war das erste Mal, dass er einen Raett grinsen sah.

»Vielleicht«, antwortete Gesset. »Doch warum sollen wir streiten? Deine und unsere Ziele sind dieselben.«

»So?«, fragte Gwenderon zornig.

»Auch wir sind dagegen, das Heer durch den Wald ziehen zu lassen«, erklärte Gesset. »Es gibt viele wie uns.«

»Dann kommt mit mir und kämpft!«

»Aber es gibt noch mehr, die denken wie Guarr«, fuhr der Raett fort, ohne mit mehr als einem flüchtigen Lächeln auf Gwenderons ungestüme Worte zu reagieren. »Wählen wir den Kampf, so wird auch ihr Blut fließen. Welches Recht haben wir, über ihr Leben zu entscheiden, Mensch? Guarr bat uns, Lassars Heer im Auge zu behalten. Plant er Betrug, so werden wir es merken. Komm mit uns, und du bist frei, solange du nicht versuchst den Waffenstillstand zu brechen.«

Einen Moment lang war Gwenderon ernsthaft versucht, den Raett schlichtweg über den Haufen zu reiten. Aber nur einen Moment. Dann lächelte er resigniert, schlug dem Raett freundckschaftlich auf die Schulter und schwang sich mit einer müden Bewegung aus dem Sattel. Welchen Unterschied machte es schon, ob die Raetts nun offen oder unsichtbar in seiner Nähe waren? Er war ein Narr gewesen sich ernsthaft einzubilden, Guarrs zahllosen Ohren und Augen entgehen zu können. Wenn er floh, erreichte er damit nicht mehr als sich lächerlich zu machen. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, war er sehr froh, nicht mehr allein zu sein.

14

Wie immer, wenn sie sich der Burg über die Pfade der Schatten und Träume näherten, lag ein leiser Hauch von Nebel über dem Stück freier Fläche, das sich zwischen der Megidda und dem Waldrand spannte, sodass der Boden nur hier und da zu sehen war, und auch Zinnen und Türme der Feste waren hinter einem blassen, grau wirbelnden Schleier verborgen. Der Anblick war unwirklich. Der Nebel lag auf der Erde wie eine herabgesunkeckne Wolke, obwohl es viel zu kalt war, als dass es überhaupt Nebel hätte geben dürfen. Er verbarg die schwarzen Lavacktrümmer, die der Megidda vorgelagert waren wie Riffe einer jäh aus dem Meer emporsteigenden Klippe, jedes Geräusch zu einem unwirklichen Echo dämpfend. Und nicht zum ersten Mal, seit sie an diesem verbotensten aller Orte Zuflucht gesucht hatten, hatte Cavin das Gefühl, nicht nach Hause zu kommen, sondern einen Frevel zu begehen. Sein Blick suchte die himmelhohe schwarze Flanke der Zyklopenfestung, aber in Wahrheit sah er den schwarzen Stein kaum, auf dem weder Schnee noch Eis noch Regen Halt fanden, sondern glaubte die riesige Schwarzeiche im Herzen der Festung zu erblicken, einen schweigenden Giganten, der seit Jahrmillionen hier stand, älter als dieser Wald, älter als dieses Land, vielleicht älter als diese Welt. Der Gedanke, irgendetwas, was in seiner Macht stünde, könne ausreichen, diesem majestätischen Riesen Schackden zuzufügen, erschien ihm lächerlich. Aber dann glaubte er Lassars Worte zu hören, fast als hätte er sie nur gesprochen, damit er sich ihrer in genau diesem Moment erinnerte: Zerstören ist immer leichter als Erschaffen.

Vielleicht hatte er zerstört; alles, wofür die Völker der Welt gekämpft und gelitten hatten. Was nutzte ein Sieg, wenn es das, weshalb er errungen worden war, nicht mehr gab?

Mit einem sanften Schenkeldruck ließ er sein Pferd zwischen den Büschen hervortreten, wartete, bis Karelian und Guarr ihm gefolgt waren und rechts und links von ihm Aufstellung genommen hatten, und trabte erst dann weiter. Plötzlich verspürte er eine vollkommen absurde Angst, allein zu sein. Hinter ihnen tauchten mehr und mehr Reiter aus der Deckung des Waldes auf; das knappe Dutzend Männer, das ihren gescheiterten Angriff auf die Flöße überlebt hatte, und eine halbe Hundertschaft Raetts, die in fast komisch anmutenden Haltungen auf den Pferden hockten – mehr als ein Viertel des bunt zusammengewürfelten Haufens, der sich in den sechs Monaten um ihn, Karelian und Gwenderon geschart hatte und sich Rebellen nannte. Abermals kam ihm zu Bewusstsein, dass es Lassar nicht mehr als ein Fingerschnippen kosten würde, sie zu vernichten. Vielleicht waren sie nicht einmal hier sicher. Dieser Ort war das Nirgendwo, Lassars Zugriff und dem seiner Krieger entzogen. Aber er konnte auch ebenso zu einem Gefängnis werden.

Instinktiv ließ er sein Pferd langsamer laufen, als sie sich dem Tor näherten. Die beiden riesigen Eichenflügel standen noch immer so schräg und zerborsten da wie vor einem Jahrtausend, und das Fallgitter war heraufgezogen, sodass seine Spitzen wie rostzerfressene Zähne aus der Mauer ragten. Aber irgendetwas hinderte ihn daran, hindurch und auf den Hof seckhen zu können; es war der gleiche, unwirkliche graue Nebel, der auch die Zinnen und Türme der Megidda verbarg. Etwas bewegte sich dahinter, aber Cavin vermochte nicht zu sagen, was. Aber er hatte es auch längst aufgegeben, die Geheimnisse der schwarzen Festung ergründen zu wollen. Es gab ein paar Dinge, die sie freiwillig preisgab, nach den anderen zu fragen hatte keinen Sinn.

Kurz bevor sie das Tor und den halb zugeschütteten Graben davor erreichten, verhielt er sein Pferd vollends und drängte es ein Stück zur Seite, um Platz für die Nachfolgenden zu machen. Obwohl das Tor einst groß genug gewesen war dreißig Reiter nebeneinander passieren zu lassen, war es jetzt so mit Trümmern und Schutt blockiert, dass sich selbst ein einzelner Mann nur sehr behutsam hindurchbewegen konnte.

»Worauf wartet Ihr, Herr?«, fragte Karelian, der sein Tier wie er angehalten hatte.

Cavin lächelte beinahe verlegen. »Ich … weiß es nicht«, gestand er. »Ich weiß immer noch nicht, ob es richtig war.«

»Eure Entscheidung?« Karelian machte eine undeutbare Geste mit der Hand. »Es wird sich zeigen. Und ganz gleich, was die anderen sagen – Ihr habt verhindert, dass sich der Schwarzckeichenwald in ein Meer von Blut verwandelt. Ist das nicht Erfolg genug? Viel mehr Sorgen macht mir Gwenderon«, fuhr er leise fort. »Ihr habt nichts von ihm gehört?«

Cavin schüttelte betrübt den Kopf. »Nein. Guarrs Späher hackben seine Spuren verfolgt, bis sie sich im Wald verloren haben. Guarr ist zwar sicher, dass sie ihn finden, aber …« Er seufzte, schüttelte den Kopf und sah nach oben, in den tief hängenden, mit Schnee gefüllten Himmel. »Ich bete zu den Göttern, dass er nichts tut, was er bereut. Lassar wartet nur auf einen Vorwand, ihn zu töten.«

Karelian nickte besorgt, sagte aber nichts mehr, sondern ließ sein Pferd weitergehen, sodass Cavin ihm folgen musste, wollte er nicht allein zurückbleiben. Sie passierten das Tor. Der Nebel, der nicht nur den Boden, sondern auch das Geräusch der Pferdehufe verschluckt hatte, blieb hinter ihnen zurück.

Es kostete Cavin immer größere Überwindung, wenigstens äußerlich ruhig zu bleiben und sich seine Nervosität nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Sein Blick irrte beständig hierhin und dorthin, tastete über die Mauern der Megidda, strich an den Zinnen entlang, suchte den Turm und kehrte zurück zum Tor. Vor der breiten Freitreppe des Gebäudes, das er und die Seinen bewohnten, standen drei ungleiche Gestalten – zwei von Guarrs riesig gebauten Raetts und bei ihnen, zwischen den beickden Giganten, die ihn um dreifache Haupteslänge überragten, klein und verloren wirkend, ein Mann mit schütter gewordecknem grauem Haar. Cavin erinnerte sich flüchtig, dass sein Nackme Arcen oder Arven lautete und er einer der drei Männer in der Burg war, die sich auf die Heilkunst verstanden. Etwas an ihrem Anblick irritierte ihn. Diese drei waren nicht nur aus dem Haus gekommen, um die Heimkehrer zu begrüßen und zu fragen, wie alles verlaufen war. Sie warteten. Auf ihn.

Die Echos der Hufschläge wandelten sich in ein helles, mecktallisches Klacken, als sie weiterritten und auf Arcen und die beiden Raetts zuhielten. Zehn Schritte vor der Treppe hielt Cavin sein Pferd an, schwang sich aus dem Sattel und legte die letzten Meter zu Fuß zurück. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Guarr sich mit einem erleichterten Pfeifen ebenfalls aus dem Sattel plumpsen ließ, während Karelian regungslos sitzen blieb. Sein Gesicht war schlaff vor Erschöpfung, jetzt, als sie in Sicherheit waren und die Anspannung von ihm abfiel. Dann schien auch ihm aufzufallen, in welch angespannter Haltung die beiden Raetts und Arcen dastanden, denn er runzelte die Stirn, schwang sich mit einem Satz aus dem Sattel und eilte an Cavins Seite.

»Was ist geschehen?«, begann Cavin, ohne sich mit Förmcklichkeiten wie einer Begrüßung aufzuhalten.

»Gut, dass Ihr zurück seid, Herr«, antwortete Arcen. Er wirkckte sehr ernst. »Kommt mit. Und Ihr auch, Karelian«, fügte er hinzu, an den Waldläufer gewandt.

Karelian tauschte einen fragenden Blick mit Cavin, aber der antwortete nur mit einem Achselzucken darauf und bedeutete Karelian mit einer Geste, sich zu gedulden. Sie hätten ohnehin keine Antwort von Arcen erhalten, denn der Heiler war bereits herumgefahren und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf, wobei er sich ungeduldig umsah, ob Cavin und Karelian ihm auch folgten.

In der Burg herrschte die gleiche unnatürliche Stille wie immer, ein Schweigen, das selbst das Trappeln Arcens und ihrer beider Schritte aufzusaugen schien, und das gleiche dämmerige Halbdunkel, das geherrscht hatte, als er gegangen war. Cavin wäre nicht einmal überrascht gewesen, den gleichen schlafenden Raett-Wächter vor der Tür seines Gemaches zu finden; die Zeit hatte hier drinnen keine Bedeutung, oder zumindest nicht die, die sie außerhalb der nachtschwarzen Mauern der Megidda hatte.

Arcen öffnete ungeduldig die Tür, stieß sie so weit auf, dass Cavin und Karelian hindurchschlüpfen konnten, ehe sie wieder zufiel, und durchquerte die große Kammer, die ihnen als gemeinschaftlicher Wohn-, Aufenthalts- und Beratungsraum diente. Cavin registrierte verwundert, dass er offenbar auf sein, Cavins, Schlafgemach zuhielt, der einzige Raum in dem von Menschen bewohnten Teil der Megidda, den bisher alle respekcktiert hatten. Nicht einmal die beiden Raetts, die ihm als persönckliche Diener zur Verfügung standen, betraten ihn ohne seine ausdrückliche Genehmigung.

Der leise Anflug von Unmut, den er verspürte, verschwand sofort, als er die reglose Gestalt in seinem Bett sah.

Im ersten Moment erkannte er sie kaum, denn es war lange her, dass sie sich gesehen hatten, und unter denkbar ungünstigen Umständen, dann schrie Karelian plötzlich auf, rief Animahs Namen und war mit einem Satz an Arcen vorbei und am Bett.

Arcen riss ihn zurück, ehe er die Schlafende erreichen konnte.

»Nicht, Herr«, sagte er hastig, ließ Karelians Arm los und fügte mit einem gleichermaßen erklärenden wie verlegenen Lächeln hinzu: »Ich bin froh, dass sie schläft. Sie ist sehr schwach. Bis heute Morgen hatte sie hohes Fieber.«

»Was ist geschehen?« Cavin schob den Heilkundigen mit sanfter Gewalt beiseite, gab Karelian ein Zeichen, vorsichtig zu sein, und näherte sich ebenfalls dem Bett, sehr leise und fast auf Zehenspitzen. Trotz der schlechten Beleuchtung konnte er erkennen, wie ausgezehrt und krank die Waldläuferin war. Ihr Gesicht war eingefallen. Eine Anzahl frischer Narben entstellte ihre Haut und ihr Atem ging unregelmäßig und schnell. Sie roch nach Fieber und Krankheit. Selbst durch die Decke konnte Cavin erkennen, dass ihre Arme dick bandagiert und geschient waren.

»Animah«, murmelte Karelian. Sein Blick flackerte. Zum ersten Mal, seit Cavin ihn kannte, schien er dicht davor zu steckhen, die Beherrschung zu verlieren. Cavin war ein wenig überrascht – er hatte nie geahnt, dass Animah Karelian so nahe stand. Bestürzt gestand er sich ein, dass er niemals auch nur auf den Gedanken gekommen war, Karelian danach zu fragen.

»Ich … ich dachte, sie wäre tot.«

»Das dachte ich auch«, sagte Cavin. »Was ist geschehen, Arckcen? Wie kommt sie hierher?«

»Niallyc brachte sie«, antwortete der Heiler. »Einer von Guarrs Spähern.«

»Bring ihn zu mir«, verlangte Cavin, aber Arcen schüttelte nur bedauernd den Kopf.

»Das geht nicht, Herr. Er ist … gleich wieder aufgebrochen. Ihr wisst doch, dass die Raetts diesen Ort meiden. Aber er erckzählte mir alles. Er war in der Nähe Hochwaldens, nur eine Stunde oder zwei vom Fluss entfernt. Er rettete sie vor Lassars Kriegern.«

»Dann hat er sie nicht freiwillig gehen lassen?« Karelians Stimme bebte vor Wut. Er hatte das Bett umrundet und war auf die Knie gesunken. Seine Hand lag neben Ammans Schulter, berührte sie aber nicht.

»Freiwillig?« Arcen lachte bitter. »Mit Sicherheit nicht, Herr. Ich habe mit ihr geredet, aber ich weiß nicht, was von dem, was sie mir erzählt hat, stimmt und was sie im Fieber gesprochen hat. Sie war gefangen, wie sie sagt, auf Hochwalden, und –«

»Hochwalden?«, unterbrach ihn Cavin. »Sagtest du: Hochwalden?«

Arcen nickte. »Das behauptet sie, Herr. Seit der Schlacht im Wald ist sie in einem von Hochwaldens Kerkern gewesen. Vor einer Woche hat Lassar sie dann herausgelassen, ich weiß nicht warum. Aber vor zwei Tagen gelang ihr die Flucht.«

»Vor zwei Tagen?« Karelians Gesicht verdüsterte sich vor Zorn. »Das bedeutet –«

»Dass sie seine Gefangene war, während er mit mir und Gwenderon geredet hat, ja«, fiel ihm Cavin ins Wort. Eine kalte, entschlossene Wut machte sich in ihm breit. »Vielleicht waren wir nur ein paar Dutzend Schritte von ihr entfernt. Bei allen Göttern, vielleicht hat sie sogar gesehen, wie wir mit ihm sprachen.« Er machte eine auffordernde Handbewegung zu Arcen. »Sprich weiter.«

»Als der Raett sie fand, wurde sie von Lassars Reitern gejagt, Herr. Niallyc hätte keine Minute später kommen dürfen. Einer der Krieger hatte sie gestellt und niedergeschlagen. Seine Hunde waren dabei, sie zu zerfleischen. Niallyc tötete die Hunde und den Mann und brachte sie her. Seitdem liegt sie im Fieckber.«

»Wird sie … leben?«, fragte Karelian stockend.

Arcen überlegte einen Moment, dann nickte er, aber sehr zögernd. Er war nicht ganz sicher. »Ich denke schon«, sagte er. »Es wird lange dauern, aber sie ist sehr kräftig. Und sie will leben, was sehr wichtig ist. Ich denke, sie wird es schaffen.«

»Dieser Hund«, murmelte Karelian. »Dieser verdammte Verräter.«

»Was wollt Ihr?«, fragte Cavin bitter. »Lassar hat uns Frieckden angeboten, keine Freundschaft.« Er sah, wie Karelian bei seinen Worten zusammenfuhr, und er konnte den Zorn des Waldläufers nur zu gut verstehen. Aber was hatten sie erwartet? Dass Lassar sich vom Herrn des Bösen zu einem warmherckzigen, guten Menschen wandelte?

»Dafür wird er bezahlen«, murmelte Karelian. »Was immer er ihr angetan hat, er wird dafür büßen, Cavin, das schwöre ich.«

Cavin schwieg.

15

»Sie sind da.« Die Stimme riss Gwenderon aus dem Dämmerckzustand, in den er im Verlauf der letzten Stunden versunken war. Er fuhr hoch, blinzelte den stämmig gewachsenen, grauckbraun gescheckten Raett einen Moment verständnislos an und fuhr sich dann mit der Hand über die Augen, wie um seine Müdigkeit auf diese Weise fortzuwischen. Abrupt stand er auf.

»Es ist gut, Gesset«, sagte er. »Du hast dich nicht sehen lassen?«

Der Raett schüttelte den Kopf. »Wie Ihr es befohlen habt, Herr. Es sind viele«, fügte er besorgt hinzu.

Gwenderon nickte. »Ich weiß, mein Freund. Wie weit … sind sie noch entfernt?«

Der Raett musste das unbewusste Zögern in Gwenderons Worten gehört haben, denn er legte den Kopf schräg und sah den grau gewordenen Mann einen endlosen Moment aus seinen kleinen, pupillenlosen Tieraugen an, ehe er antwortete: »Eine Stunde, Herr. Für sie, denn sie sind viele und müssen ihr Temckpo nach den Langsamsten ausrichten, und die Flöße sind schwer. Für uns die Hälfte. Aber es wird Zeit, dass wir das Lager abbrechen. Sie kommen rasch näher.«

Abermals nickte Gwenderon. Nichts von dem, was er hörte, hatte ihn überrascht. Es war ihm nicht schwer gefallen, sich in Lassars Lage zu versetzen in den letzten Tagen. Es gab viele Wege durch den Wald, aber nur wenige, die Lassar gehen konnte, wollte er seine Truppen rasch genug zur Küste bringen, um seinen Feinden in einem Überraschungsangriff in den Rücken zu fallen; was er offensichtlich beabsichtigte. Der Fluss floss nicht in gerader Linie zur Küste, sondern in den willkürlichen Kehren und Wendungen alles Natürlichen, und die gewaltigen Eisflöße waren schwerfällig. Trotzdem erreichten sie ein zehnmal höheres Tempo als eine Armee zu Fuß und Pferde, die sich durch das Uferdickicht oder gar den Wald hätte kämpfen müssen. Sie hätten sie verbrennen sollen, dachte Gwenderon zornig, allen Vorschlägen Lassars und Bedenken Cavins zum Trotz. Vielleicht hätte es ihrer aller Leben gekostet, aber der Preis wäre der Wald gewesen.

Bisher schien es, als hielte Lassar Wort – keiner seiner Männer hatte versucht den vorgeschriebenen Pfad zu verlassen oder gar in den Wald einzudringen – und trotzdem war Gwenderon sicher, dass der Magier einen Hinterhalt plante. Er konnte das Gefühl nicht begründen, aber er wusste es mit unumstößlicher Sicherheit. Lassar wäre nicht Lassar, wenn er sich das, was er sich mit Gewalt nehmen konnte, erkauft hätte.

Und er war erst recht kein Mann, der irgendetwas verschenkckte, wenn er nicht überzeugt war es mit zehnfachem Profit zurückzubekommen.

Gwenderon verschob die Lösung dieses Problems – wie die viel zu vieler in letzter Zeit – auf später, band sich mit raschen Bewegungen seinen Waffengurt um und trat gebückt aus der niedrigen Laubhütte, in der er die Nacht verbracht hatte. Das Lager – wie alle Lagerplätze der Rebellen nicht in den Wald geschlagen, sondern auf einer der zahllosen natürlich gewachsenen Lichtungen aufgebaut – befand sich bereits in Aufbruchstimmung: Pferde waren gesattelt oder wurden gerade gezäumt, die Feuerstelle war gelöscht, die provisorisch errichtete Koppel abgebaut, Bündel und Satteltaschen geschnürt. Gwenderon begriff, dass Gesset bis zum letzten Moment gewartet hatte ihn zu stören. Seit er Cavins Lager verlassen hatte, hatte er wenig Schlaf bekommen. Er schenkte dem Raett ein rasches, dankbares Lächeln, ging zu seinem Pferd, das bereits fertig aufgezäumt war, und stieg umständlich in den Sattel.

»Brecht das Lager vollends ab«, befahl er. »Und sorgt dafür, dass keine Spuren zurückbleiben. Wir treffen uns zur Mittagsstunde an der Weggabelung beim Rabenstein.«

»Ihr … reitet fort?«, erkundigte sich Gesset.

Gwenderon nickte. Wie alle seine Bewegungen wirkte auch dieses Nicken abgehackt und gezwungen. Es waren die Bewegungen eines Mannes, der zu müde war noch irgendetwas spontan zu tun. »Ich reite ihnen ein Stück entgegen«, sagte er. »Keine Sorge – sie werden mich nicht bemerken. Aber ich muss sie sehen.«

»Ich begleite Euch«, sagte der Raett.

Im ersten Moment wollte Gwenderon abwinken, aber dann beließ er es bei einem resignierten Seufzen und wartete, bis Gesset sein Pferd geholt und an seine Seite geritten war. Vielleicht war es gut, wenn er nicht allein ritt. Die zwei Tage, die seit seinem überhasteten Weggang verstrichen waren, hatten ihm Zeit zum Nachdenken gegeben. Er war sich der Tatsache, überstürzt gehandelt zu haben, vollkommen bewusst; ebenso wie er sich darüber im Klaren war, dass er ein vollkommen übermüdeter und dazu gereizter Mann war. Vielleicht war es besser, jemanden bei sich zu haben, der auf ihn Acht gab.

Schweigend ritten sie los, zuerst ein Stück am Fluss entlang, dann, als das Lager außer Sicht gekommen war, etwas westlich davon direkt zwischen den Bäumen hindurch. Nach Schnee riechende Kälte und die nie ganz weichende Halbdämmerung des Waldes umgaben sie und das monotone Wiegen des Pferdes begann ihn einzulullen. Immer öfter ertappte er seine Geckdanken dabei, auf eigenen Pfaden zu wandeln, und ein- oder zweimal fielen ihm die Augen zu; er war sich nicht sicher, ob er nicht eingeschlafen war, und sei es nur für Sekunden.

»Warum reitet Ihr nicht voraus und tut, was vernünftig wäre, nämlich Euch vierundzwanzig Stunden auszuschlafen?«, fragte Gesset plötzlich.

Gwenderon fuhr zusammen, wandte mit einer hastigen Beckwegung den Kopf und sah das Raett-Männchen mit einem schuldbewussten Lächeln an. »Sieht man es so deutlich?«, fragte er.

Gesset machte eine undeutbare Handbewegung. »Was? Dass Ihr am Ende Eurer Kräfte seid, Gwenderon? Nicht nur ich habe es bemerkt, Gwenderon.« Er seufzte tief. »Es nutzt niemandem, wenn Ihr Euch umbringt, Gwenderon. Cavin und dem Wald am allerwenigsten.«

Gwenderon verhielt sein Pferd mit solcher Plötzlichkeit, dass Gesset – der wie alle Raetts ohnehin Schwierigkeiten hatte, sich überhaupt im Sattel zu halten – nicht schnell genug reagierte und ein gutes Stück weitertrabte, ehe es ihm endlich gelang, sein Reittier zum Stehen zu bringen.

»Wolltest du mich deshalb begleiten, Gesset?«, fragte Gwenderon scharf. »Um mir Vorhaltungen zu machen? Oder hat dich Cavin geschickt, um auf mich aufzupassen?«

In Gessets Augen glomm ein unbestimmter Ausdruck von Trauer auf. »Nein«, sagte er mit einer Sanftheit in der Stimme, die so gar nicht zu seinem barbarischen Äußeren passen wollte. »Nur um auf Euch Acht zu geben, Gwenderon.«

Gwenderon starrte ihn an, schluckte ein paar Mal und senkte betreten den Blick. Gesset konnte nichts dafür, dass er überreizt und nervös war. Es tat ihm Leid, ihn zur Zielscheibe seickner schlechten Laune gemacht zu haben. »Verzeih«, murmelte er. »Ich wollte nicht –«

Gesset winkte ab. »Ich sage doch, Ihr seid übermüdet, Herr. Warum geht Ihr nicht zurück, ruht Euch aus und überlasst es uns, Lassars Krieger im Auge zu behalten?«

Einen Moment lang war Gwenderon wirklich versucht, auf den Vorschlag des Raett einzugehen. Aber dann schüttelte er entschlossen den Kopf und ließ sein Pferd weitertraben. Gessets Augen waren zehnmal schärfer als die seinen, so wie alle Sinne der Raetts viel höher entwickelt waren als die irgendeicknes Menschen, das wusste er. Was den Blicken Gessets oder seiner Späher entging, würde er schon gar nicht bemerken.

Aber es gab etwas, was nur er tun konnte.

Seine Hand glitt zum Sattelgurt und strich fast liebkosend über den länglichen, in Lederstreifen eingehüllten Gegenstand, der wie ein Speer daran befestigt war. Gessets Blick folgte der Geste, aber der Raett schwieg dazu, so wie er die ganze Zeit über nicht einmal gefragt hatte, was es war, das Gwenderon bei sich trug und wie seinen Augapfel hütete.

»Warum bist du bei mir, Gesset?«, fragte Gwenderon nach einer Weile. »Ich meine nicht jetzt und hier, sondern überhaupt. Du weißt, dass ich gegen Cavins Befehl handele.«

»Ihr würdet niemals etwas tun, was ihm schaden könnte«, sagte Gesset, als wäre dies Antwort genug.

»Trotzdem könnte er das, was du und die anderen getan hackben, Verrat nennen«, beharrte Gwenderon.

»Ist es denn einer?«, fragte der Raett. Seine Stimme klang amüsiert.

Gwenderon schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich könnte mich täuschen.«

»In Lassar?« Gesset lachte. »Schwerlich, Herr. Ihr nennt ihn, was er ist – einen Lügner.«

»Und wenn er diesmal die Wahrheit sagt?«

»Werden wir es herausfinden«, sagte der Raett leichthin. »Es ist kein Verrat, wenn wir uns davon überzeugen, dass seine Krieger das Abkommen einhalten. Er wird es nicht einmal beckmerken.«

Gwenderon nickte. »Ich hoffe es«, sagte er leise und wie zu sich selbst. »Denn wenn nicht –«

Gesset brachte ihn mit einer abrupten Geste zum Schweigen und verhielt sein Pferd. »Still!«

Auch Gwenderon hielt an und lauschte, aber alles, was er hörte, waren ihre eigenen Atemzüge und das Wispern des Windes. Doch er schwieg und gab keinen Laut von sich, während Gesset mit schräg gehaltenem Kopf und halb geschlossecknen Augen lauschte. Schließlich, nach Sekunden, die Gwenderon wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, drehte der Raett den Kopf und sah ihn an.

»Jemand kommt.«

»Lassars Männer?«

Der Raett zuckte mit den Achseln, sah sich rasch nach beiden Seiten um und deutete schließlich mit einer Kopfbewegung auf einen übermannshohen dornigen Busch, dessen Blattwerk sichere Deckung versprach. Ohne ein weiteres Wort lenkte Gwenderon sein Pferd herum und ließ es hinter den Busch trackben.

Gessets Sinne mussten noch schärfer sein, als Gwenderon bisher angenommen hatte, denn es vergingen fast fünf Minuckten, ehe auch er die Laute von Pferdehufen hörte, gedämpft vom weichen Erdreich des Waldbodens und begleitet vom leicksen, rhythmischen Klirren von Metall.

»Hier?«, murmelte er verstört. »Mehr als eine Meile vom Fluss entfernt?«

»Vielleicht ein Spähtrupp«, vermutete Gesset. »Es mag sein, dass Ihr nicht der Einzige seid, der misstrauisch ist, Herr.«

Sie warteten. Der Hufschlag kam näher, entfernte sich wieckder, kam abermals näher und brach dann für eine endlose Micknute ab, als der Reiter anhielt. Gesset deutete stumm nach vorne, und als Gwenderons Blick der Geste folgte, sah auch er einen Schatten. Seine Hand glitt zum Schwert und schmiegte sich um den lederbezogenen Griff, zog die Waffe aber nicht. Der Reiter kam näher, wuchs von einem flachen Umriss zu einem Körper heran; ein Gigant von mehr als zwei Meter Gröckße, gepanzert in schwarzes Eisen und mit Speer, Schild und Morgenstern bewaffnet.

Gwenderon erstarrte.

Es war nicht irgendein Krieger, den er sah. Nicht einer von Lassars Söldnern, auch keine der hirnlosen Raett-Kreaturen, die er versklavt und in seine Rüstung gezwungen hatte, sondern einer der Furcht einflößenden Schattenkrieger, denen er und Cavin in den Ruinen Hochwaldens begegnet waren.

Sein Puls begann zu jagen und mit einem Male ging sein Atem so schnell, dass Gesset alarmiert aufsah und ihm beruhigend die Hand auf den Arm legte. Alles in ihm schrie danach, die Waffe zu ziehen und die Kreatur zu töten, was immer sie sein mochte. Aber Gwenderon tat es nicht, sondern nahm im Gegenteil die Hand vom Schwert und ballte nur in hilflosem Zorn die Fäuste auf dem Sattel.

Der Krieger näherte sich ihrem Versteck, verhielt sein Pferd und hob wie ein schnüffelnder Hund den Kopf. Ein sonderbarer, ganz sicher nicht menschlicher Laut drang unter seinem geschlossenen Visier hervor, und für einen Moment – den Bruchteil einer Sekunde nur, und doch für einen Augenblick, den Gwenderon nie wieder in seinem Leben vergessen sollte – konnte er direkt in die schmalen Sehschlitze seiner eisernen Larve blicken.

Gwenderon war sicher, dass dahinter keine Augen gewesen waren.

Langsam ritt der Fremde weiter, hielt dabei aber immer wieckder an, um wie ein Hund die Luft einzusaugen und Witterung aufzunehmen, bis er schließlich so überraschend verschwand, wie er gekommen war. Aber auch danach blieben Gwenderon und Gesset noch für endlose Augenblicke reglos und gebannt hinter ihrer Deckung. Selbst ihre Pferde verhielten sich still, als hätten auch sie das Fremde, Böse gespürt, das den Reiter umgab wie eine unsichtbare, böse Aura.

»Was … war das?«, flüsterte Gesset schließlich. Seine Stimme klang gepresst und erinnerte jetzt viel mehr an das Pfeifen und Quieken, mit dem sich die Raetts normalerweise verständigten.

Sein Blick flackerte.

»Ich weiß es nicht«, murmelte Gwenderon. »Eine von Lassars Kreaturen. Ich … bin ihnen schon einmal begegnet, in Hochwalden. Ich weiß nicht, was es war. Sicher kein Mensch.«

»Kein Leben«, sagte Gesset leise.

Gwenderon starrte ihn an. »Was sagst du da?«

»Es lebt nicht«, behauptete der Raett. Seine Stimme zitterte jetzt. Gwenderon sah, wie sich das Fell in seinem Nacken aufrichtete, als wäre es gegen den Strich gebürstet worden. Der Raett schien halb wahnsinnig vor Angst zu sein.

»Es lebt nicht«, wiederholte er. »Es ist tot, Gwenderon. Es atmet Unheil. Was war das? Was tut es hier?«

Sekundenlang starrte Gwenderon den Raett noch an, dann wandte er den Blick und sah in die Richtung, in der der unheimliche Reiter verschwunden war. »Ich weiß es nicht, Gesset«, flüsterte er. »Aber ich werde es herausfinden. Komm!«

16

Der Wind war kalt hier oben, und vielleicht war das der Grund, aus dem er so oft hierher kam: der Wind. Er erinnerte ihn an seine Heimat, an Hochwalden. Von allen Erinnerungen, die Cavin an das Haus seiner Kindheit hatte, war dies die intensivckste gewesen, ohne dass er jemals eine Erklärung dafür gefunden hätte: der Wind, der hinter den Zinnen des höchsten Turmes von Hochwalden immer gleich gewesen war, ganz egal ob es Sommer oder Winter war. Und so hatten ihn seine Schritte wieder hier herauf geführt, auf den Turm, von dem aus er die ganze gewaltige Festung und einen guten Teil des Waldes überblicken konnte, mit dem so viele Erinnerungen verbunden waren.

Nicht alle davon waren gut. Und in die, die gut waren, mischte sich ein sonderbares Gefühl der Bedrückung, das er sich nicht erklären konnte, das aber schlimmer wurde, mit jeder Stunde, die verging. Der zweite Tag, dachte er bedrückt. Der zweite Sonnenaufgang, seit er Lassar die Antwort auf seine Frage hatte ausrichten lassen, die Entscheidung, die ihn bisher einen Freund gekostet hatte und ihn vielleicht sein Königreich kosten würde. Cavin fühlte sich müde. Er hatte eine Entscheickdung getroffen – eigentlich zum ersten Mal überhaupt, solange er denken konnte – und er hatte sie aus sich heraus getroffen, nur auf seine innere Stimme vertrauend, ganz wie Faroan es ihm gesagt hatte, doch wusste er noch immer nicht, ob sie richtig gewesen war. Vielleicht hatte er alles damit verspielt, vielleicht alles gewonnen. Und vielleicht gab es noch eine dritte Möglichkeit.

Das Geräusch leiser Schritte ließ ihn aufsehen. Cavin wandte sich um und lächelte automatisch, als er Karelian erkannte. Wie er selbst wirkte der Waldläufer ernster und besorgter als sonst, und wie er hatte er in der vergangenen Nacht – der ersten seit ihrer Rückkehr vom Fluss – keinen Schlaf gefunden; unter seinen Augen lagen dunkle Ringe und seine Haut glänzte wächsern im roten Sonnenlicht. Cavin wusste, dass er die ganze Nacht bei Animah gewacht hatte, obwohl ihm Arcen mehr als einmal gesagt hatte, dass es nichts gab, was er für sie tun konnte. Der Gedanke erfüllte Cavin mit einem vagen Gefühl von Schuld, aber er war jetzt fast sicher, dass Karelian die schwarzhaarige Amazone liebte. Wie wenig er doch über die Männer und Frauen wusste, die seine Freunde waren.

»Ich hoffe, ich störe Euch nicht.«

Cavin verneinte. »Wobei wohl?«, fragte er.

Karelian zuckte die Achseln, trat neben ihn und stützte sich auf dem verwitterten Stein der Brüstung auf. Sein Blick glitt nach Süden.

»Ist es das, was Euch Sorge macht?«, fragte er.

Cavin sah in die gleiche Richtung. Natürlich gab es dort – wie überall – nichts anderes zu sehen als das endlose grüne Auf und Ab des Waldes, nur hier und da unterbrochen von zerrissecknen Schleiern grauen Morgennebels, den die Sonne noch nicht zur Gänze weggeschmolzen hatte. Aber natürlich wusste er, was Karelian meinte. Wenn er nur lange genug hinsah, dann glaubte er die Krieger beinahe zu sehen, einen schier endlosen Wurm aus Stahl und Fleisch, der sich durch den Wald fraß, langsam, aber unaufhaltsam.

»Nein«, sagte er nach einer Weile. »Meine Entscheidung ist getroffen, Karelian. Es ist zu spät, sich Sorgen zu machen. Wenn es wirklich ein Fehler war, werden wir es früh genug zu spüren bekommen.«

Karelian drehte sich herum, sah ihn für einen Augenblick ernst an und deutete dann mit der Linken nach unten in den Hof. »Die meisten hier heißen Eure Entscheidung gut«, sagte er.

»Die meisten?«

»Wir sind fast zweihundert«, erinnerte Karelian, »Guarrs Raetts mitgezählt. Es ist schwer vorstellbar, dass so viele einer Meinung sein sollten. Aber die meisten sind es. Sie sind des Kämpfens müde.«

Des Kämpfens müde … In Cavins Ohren klang dieser Satz wie böser Spott. Sie hatten ja noch gar nicht gekämpft. Ein kleines Scharmützel hier, ein Überfall auf einen unwichtigen Posten dort – der erste wirkliche Angriff, der erste Hieb, der Lassar wirklich wehtun sollte, war zu einer Katastrophe geworden. Und doch glaubte er Karelian, wenn er sagte, die Männer seien müde. Lassar hatte sie zermürbt, einfach dadurch, dass er nichts tat.

»Und es ist noch etwas«, sagte Karelian nach einer Weile. »Sie haben Angst. Keiner will länger hier bleiben als nötig. Diese Festung macht ihnen Angst.«

Cavin beugte sich vor und ließ seinen Blick lange und nachdenklich über die zerborstenen Mauern und Türme der Megidckda streifen, ein Labyrinth aus schwarzen Felsen und noch dunkleren, scharf abgegrenzten Schatten, die das Licht der Sonne niemals erreichen würde. Was er spürte, war Alter, ein unglaubliches, Ehrfurcht gebietendes Alter, das irgendetwas in ihm berührte und zum Erstarren brachte. Und er war der König von Hochwalden, der Mann, in dessen Adern das Blut der Waldkönige floss, der – auf eine Art, die er nicht einmal zu ahnen wagte – Teil dieses gigantischen, finsteren Ortes war, tiefer mit ihm verbunden als irgendein anderer Sterblicher sonst. Was mochten die anderen erst empfinden?

»Du bist nicht gekommen, um über die Männer zu sprechen«, sagte er ohne auf Karelians Worte einzugehen.

»Nein.« Die Antwort des Waldläufers kam zögernd. »Es ist Animah.«

»Wie geht es ihr?«

»Arcen behauptet, gut«, antwortete Karelian. »Sie ist ein paar Mal erwacht. Vor einer Stunde war Quarr bei ihr und hat mit ihr geredet.«

»Ich weiß«, sagte Cavin. »Ich habe ihn darum gebeten.«

Karelian schwieg einen Moment. In seinem Gesicht arbeitete es und Cavin wusste ganz genau, was nun kommen würde. Er hatte dieses Gespräch gefürchtet. Vielleicht war er auch ein wenig deshalb hier heraufgegangen, um vor ihm zu fliehen.

»Vor ihrer Tür steht eine Wache«, begann Karelian von neuckem.

»Auch das weiß ich, mein Freund«, sagte Cavin. »Sie steht auf meinen Befehl dort. Animah war ein halbes Jahr Lassars Gefangene.«

Karelian fuhr auf. »Sie ist halb tot, und –«

»Und genau das kann ein Trick sein, Karelian«, unterbrach ihn Cavin, leise, aber sehr entschieden. Karelian schluckte ein paar Mal und wandte den Blick ab, ehe er weitersprach.

»Ihr sprecht schon fast wie Gwenderon«, murmelte er.

»Ich spreche über den Mann, der sich selbst den Herrn der Lügen nennt«, verbesserte ihn Cavin. »Niemand weiß, was in diesem halben Jahr geschehen ist, Karelian. Niemand weiß, was er mit Animah gemacht hat. Wir wissen nicht einmal, wieckso sie plötzlich hier ist.«

»Was hat Euch der Raett gesagt?«, fragte Karelian. »Er hat mit ihr gesprochen, aber ich durfte nicht dabei sein.«

»Es war überflüssig«, gestand Cavin. »Er hat mit ihr geredet, aber er hat nichts erfahren. Nicht das, was ich wissen wollte. Was sie sagt, ist die Wahrheit.«

»Und warum lasst Ihr sie dann wie eine Gefangene behandeln?«

»Es ist das, was sie für die Wahrheit hält«, sagte Cavin ruhig. »Auch Guarr vermag nur Wahrheit und Lüge auseinander zu halten, Karelian. Er erkennt nicht, wenn jemand getäuscht wurde. Gib mir ein wenig Zeit, ich bitte dich. In einer Woche ist dieser ganze Spuk vorbei, wenn Lassar Wort hält. Dann ist sie frei …«

»Trotzdem stellt sie wohl kaum eine Gefahr dar«, beharrte der Waldläufer. »Wäre Lassar so mächtig, müsste er nicht lückgen und täuschen, um seine Ziele zu erreichen.« Aber seine Worte hörten sich nicht so an, als glaubte er selbst, was er sagckte. Cavin kam es eher so vor, als versuche er sich damit selbst zu beruhigen. Er war ein wenig verblüfft – er hatte geglaubt, auf stärkeren Widerspruch zu stoßen, vor allem jetzt, wo er wusste, wie Karelian zu Animah stand. Aber vielleicht war er nur erleichtert, sie frei und lebend wieder zu sehen, alles andere zählte nicht.

»Du spürst es auch, nicht?«, fragte er leise.

Karelian wich seinem Blick aus, aber nur für einen Moment, dann nickte er, starrte einen Moment zu Boden und atmete hörbar aus. »Es ist … viel Zeit vergangen, Herr«, sagte er stockend. »Es sind Wunden geschlagen worden, die Zeit brauchen, um zu heilen.«

Cavin schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht«, sagte er ernst. »Du fühlst es genau wie ich. Jeder spürt es, Karelian. Ich bin heute Nacht durch die Burg gegangen und habe mit den Männern gesprochen. Und es war keiner unter ihnen, der es nicht gefühlt hätte.« Er schwieg einen Moment, und als er weitercksprach, hörte Karelian, wie schwer es ihm fiel, die wenigen Worte auszusprechen.

»Wir haben einen Fehler begangen, mein Freund«, sagte er. »Ich weiß noch nicht, welchen, und ich weiß noch nicht, welche Folgen er haben wird, aber wir hätten auf Gwenderon hören sollen.«

»Guarrs Raetts behalten das Heer im Auge«, sagte Karelian. »Sie tun keinen Schritt, von dem wir nicht wüssten.«

»Und was, glaubst du, können wir tun, wenn sie das Abkommen brechen?«, fragte Cavin düster. »Du hast das Heer gesehen, Karelian. Viele sind geflohen oder gestorben, aber es sind noch immer mehr als zehntausend. Fünfzig auf jeden von uns.«

Karelian antwortete nicht, aber gerade dieses Schweigen sagckte Cavin mehr als alles, dass auch der Waldläufer den Pestgestank des Bösen spürte, der sich in den Mauern der Burg eingenistet hatte.

»Was wollt Ihr tun?«, fragte Karelian nach einer Weile.

Cavin sah ihn nicht an, sondern blickte starr weiter nach Sückden, dorthin, wo Lassars Heer seinen Weg zog. »Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Alles, was ich weiß, Karelian, ist, dass ich Angst habe. Und ich weiß nicht einmal wovor.«

17

Das Heer lag wie ein gigantisches, aus abertausend glänzenden Schuppen zusammengesetztes Ungeheuer auf dem Fluss. Die Luft war grau und bitter riechend und der Boden schien selbst hier oben, eine gute Meile entfernt, noch unter dem Rhythmus des marschierenden Heeres zu beben. Gwenderon fragte sich allen Ernstes, warum das Eis nicht unter dem Gewicht der mehr als dreißig Flöße und gut zweitausend Reiter brach.

Gwenderon rieb sich mit Daumen und Zeigefinger der Linken über die Augen, um die Tränen fortzuwischen, die ihm das grelle Gegenlicht in die Augen trieb. Das Sonnenlicht wirkte rot wie ein unseliges Omen, und gegen das Blau des Flusses und das verwischte Grünbraun des Waldes dahinter wirkte das Heer wie eine hässliche schwarze Narbe, die in die Wirklichkeit gerissen worden war.

»Es sind … so viele«, murmelte Gesset verstört. Es waren die ersten Worte, die der Raett sprach, seit sie den Waldrand erreicht und das heranrückende Heer unter sich erblickt hatten. Seine Stimme klang flach; Gwenderon hörte, dass der Anblick Gesset ebenso geschockt hatte wie ihn. Er hatte mit einer Armee gerechnet, aber das hier war …

Er fand nicht das richtige Wort. Ausdrücke wie gigantisch oder ungeheuerlich schienen nicht auszureichen, die schier endlose Masse von Männern und Pferden zu beschreiben, die sich unten auf dem Eis entlangwälzte. Während der letzten Nacht waren immer wieder Späher zurückgekommen, die die eine oder andere Einzelheit zu berichten wussten, aber jetzt, als Gwenderon die ganze Masse des Heeres unter sich sah, begriff er, dass sie alle nicht mehr als einen Bruchteil der ungeheuren Armee erblickt hatten. Sie hatten von vielen Männern gesprochen; tausend, vielleicht mehr. Aber was sie gesehen hatten, konnte nicht mehr als die Vorhut gewesen sein.

»Zehntausend«, murmelte Gesset. »Es müssen … mehr als zehntausend sein, Gwenderon.« Seine Augen waren weit vor Unglauben.

»Lassars gesamte Armee«, sagte Gwenderon. »Er muss all seine Krieger zusammengezogen haben, Gesset. Das … das ist sein ganzes Heer.«

»Was bedeutet das?«, murmelte Gesset. »Er … er …«

»Er flieht«, beendete Gwenderon den Satz, als der Raett nicht weitersprach. Plötzlich war alles ganz klar. Lassars großzügiges Angebot, sein plötzlicher Friedenswille, die Kunde von den Niederlagen, die seine Krieger an allen Fronten hatten einstecken müssen – dies alles fügte sich mit einem Male zu einem deutlichen Bild zusammen. Es war das, was Cavin und er erckwartet hatten, was er Lassar praktisch ins Gesicht gesagt hatte, als er ihm gegenüberstand. Aber es war etwas ganz anderes, es zu sehen.

»Er flieht, Gesset!«, wiederholte er erregt. »Begreifst du denn nicht? Lassar ist besiegt! Das da unten sind all seine Krieger, die Besatzungen all seiner Städte und Burgen. Er weiß, dass er den Krieg verloren hat. In wenigen Tagen schon werden die Pässe frei sein und Lassar sitzt wie eine Maus in der Falle, wenn die Heere seiner Feinde anrücken.«

Er ballte die Faust und schlug so wuchtig auf den Sattel, dass sein Pferd erschrocken tänzelte. »Und wir öffnen ihm den einzigen Weg aus dieser Falle! Ich habe es gewusst. Cavin wird einen furchtbaren Preis für den Handel zahlen müssen, den er eingegangen ist.«

Gesset blinzelte. »Das verstehe ich nicht.«

»Dann will ich es dir erklären!«, sagte Gwenderon erregt. »Lassar führt seit mehr als zehn Jahren Krieg, Gesset. Es gibt kaum ein Land, das er nicht angegriffen und erobert oder zuckmindest geplündert und gebrandschatzt hätte.«

»Das weiß ich«, begann Gesset, aber Gwenderon hörte seine Worte gar nicht, sondern fuhr erregt fort: »Vor zwei Jahren haben die nördlichen Königreiche eine Allianz gebildet und Lassars Heere zurückgeschlagen, und jetzt ist es endlich so weit, dass sie ihn in der Falle haben. Er kann nicht mehr entkommen, und nicht einmal seine Macht reicht aus, der erdrückenden Übermacht standzuhalten, die mit dem Frühjahr über die Berge kommen wird. Begreifst du immer noch nicht, Gesset – Lassar ist verloren! Die nördliche Allianz wird ihn schlagen. Besser gesagt – sie würde es, hätte er nicht einen Weg gefunden, sich und den Großteil seines Heeres in Sicherheit zu bringen. Wahrscheinlich zu dem einzigen Zweck, in ein paar Jahren mit mehr Kriegern und neuen Teufeleien zurückzukommen.«

Gesset starrte ihn an. Gwenderon wusste, dass es unmöglich war – aber für einen Moment war er fast sicher, dass der Raett unter seinem graubraunen Fell erbleichte.

»Sie werden … Cavin dafür verantwortlich machen«, sagte Gesset stockend.

Gwenderon nickte. »Ja. Sie werden kommen und Lassars Feckstung leer finden, und sie werden erfahren, dass es der König des Schwarzeichenwaldes war, der ihm den Fluchtweg öffnete. Hochwalden wird ein zweites Mal brennen. Und diesmal wird niemand kommen, um es wieder aufzubauen.«

»Ein interessanter Gedanke«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Gwenderon erstarrte für eine Sekunde, fuhr dann mit einem krächzenden Schrei herum und riss in der gleichen Bewegung das Schwert aus dem Gürtel.

»Lassar!«, keuchte er.

Der Herr der Schatten nickte spöttisch. »Es ehrt mich, dass Ihr mich schon am Klang meiner Stimme erkennt, Gwenderon«, sagte er lächelnd. »Aber Ihr wart ja schon immer ein kluger Mann. Ein interessanter Einfall, den Ihr da gehabt habt. Wären meine Pläne nicht schon anderweitig gediehen, dann käme ich wirklich in Versuchung, ihn aufzugreifen. Aber so …«

Gwenderon atmete mühsam beherrscht aus. Seine Hände zitterten so stark, dass er Mühe hatte, das Schwert zu halten. »Was tust du hier?«, keuchte er.

»Was ich hier tue?« Lassar schüttelte tadelnd den Kopf. Seickne Gestalt schien leicht zu flackern. Die Umrisse der Büsche und Bäume hinter ihm schimmerten durch das rauchige Schwarz seines Mantels. Gwenderon begriff, dass er nur einem Schatten gegenüberstand. »Mit Verlaub, mein lieber Freund, aber das ist eine reichlich dumme Frage, findet Ihr nicht? Ich achte auf mein Heer und darauf, dass das Abkommen, das ich mit Eurem König schloss, auch gehalten wird. Nicht ganz zu Unrecht, wie mir Eure Anwesenheit beweist. Ich nehme doch nicht an, dass Ihr Euch dem Befehl Eures Königs widersetzt und gegen seinen Willen hier seid, oder?«

»Cavin weiß nichts davon«, antwortete Gwenderon hastig. »Aber das ändert nichts daran, dass –«

»Dann seid Ihr ohne sein Wissen hier?«, unterbrach ihn Lassar mit gespielter Verwunderung. »Das ist schade. Gut für Cavin, denn es entbindet mich der unangenehmen Pflicht, ihn für diesen Bruch unseres Abkommens zur Verantwortung zu zieckhen, aber schlecht für Euch, Gwenderon.«

Gesset stieß ein zorniges Fauchen aus und griff zum Schwert, aber Gwenderon hielt ihn mit einer raschen Handbewegung zurück. »Nicht, Gesset«, sagte er. »Er ist nicht wirklich. Nur ein Schatten.«

Lassar lächelte. »Wahr gesprochen, Gwenderon. Aber wenn Ihr Wert auf einen lebenden Gegner legt – bitte.«

Er hob die Hand und machte eine komplizierte, flatternde Geste. Irgendwo hinter ihm knackte ein Zweig, dann wurde das Unterholz raschelnd auseinander gebogen und ein gewaltiger, in mattschwarzes Eisen gepanzerter Reiter trat aus dem Wald.

Der Schattenkrieger, auf dessen Spur sie hierher gekommen waren, dachte Gwenderon schaudernd. Der Anblick des Heeres hatte ihn den Unheimlichen für Augenblicke vergessen lassen. Jetzt, als er Lassars Blick begegnete, begriff er, dass nichts von dem, was geschehen war, Zufall gewesen war. Sie waren hierckher gekommen, weil sie hierher kommen sollten.

»Du hast das alles nur inszeniert, um mich zu bekommen, du Hund.«

Die Beleidigung schien Lassar zu amüsieren. »Ich sagte bereits, dass Ihr ein kluger Mann seid«, sagte er lächelnd. »Aber um Eure Frage zu beantworten – ja. Ihr habt mir zu viel Ungelegenheiten bereitet, mein Freund. Jemand, der sich mir so lange und hartnäckig widersetzen konnte, verdient einen würdigen Gegner. Ich konnte es nicht zulassen, dass Euch irgendein Bauerntölpel aus dem Hinterhalt erschlägt – oder Ihr gar irgendwann an Altersschwäche sterbt.«

Gwenderon packte sein Schwert fester. Der Riesenkrieger bewegte sich nicht, aber seine Hand lag griffbereit auf dem Schaft des gewaltigen Morgensterns und sein linker Arm steckte bereits in den Schlaufen des Schildes.

»Dann war alles nur eine Falle«, murmelte er. »Dein Angebot, Hochwalden, dies hier – alles nur, um dich zu rächen?«

Lassar kicherte. »Jetzt beleidigt Ihr mich, Gwenderon. Ich sagte Euch doch, dass ich niemals etwas Grundloses tue. Rache allein wäre zu wenig, um diesen Aufwand zu rechtfertigen. In gewissem Sinne habt Ihr natürlich Recht – Ihr und dieser Narr, der sich der König des Schwarzeichenwaldes nennt, werdet endlich bekommen, was ich Euch schon lange zugedacht hackbe.«

»Warum dann eigentlich?«, fragte Gwenderon erregt. Sein Blick streifte den Schattenkrieger. Die Hand des Riesen hatte sich fester um die Waffe geschmiegt. Und der Rand seines Schildes hatte sich um eine Winzigkeit gehoben. Die Muskeln seines Pferdes spannten sich beinahe unmerklich zum Sprung. Gwenderon verlagerte sein Gewicht ein wenig und hoffte, dass es Lassar und seinem Dämonenkrieger entging.

»Warum das alles?«, fragte er noch einmal.

»Warum?« Lassar lachte leise. »Ich sehe eigentlich keinen Grund, mich vor Euch zu rechtfertigen. Aber meinetwegen seht!«

Damit richtete er sich ein wenig im Sattel auf und machte eine rasche, befehlende Geste.

Es war vollkommen unmöglich, dass irgendeiner der Männer unten auf dem Fluss die Bewegung wahrnahm, dachte Gwenderon verstört – und trotzdem reagierten sie darauf. Etwas im schwerfälligen Rhythmus des Heeres änderte sich, die Geräucksche und das Lärmen klangen anders, die zehntausend Schupckpen des riesigen Stahlwurmes gerieten für Augenblicke durcheinander – und dann, eines nach dem anderen, kamen die gewaltigen Flöße zum Stillstand. Gleichzeitig wendeten die ersten Reiter ihre Pferde und zwangen sie die jenseitige Uferböckschung hinauf.

Und langsam, ganz, ganz langsam, begriff Gwenderon.

»Die … die Megidda«, murmelte er. »Du willst sie

»Was sonst?«, fragte Lassar amüsiert. »Es ist schade, dass Ihr sein verblüfftes Gesicht nicht mehr sehen werdet, wenn mein Heer vor den Toren seiner Zauberfestung erscheint und er begreift, wie wenig sicher er in Wahrheit ist.«

»Verräter«, stammelte Gwenderon. »Du verdammter –«

»Bitte, Gwenderon«, unterbrach ihn Lassar. »Es nutzt weder dir noch mir, wenn du mich beleidigst. Überdies ist es reine Zeitverschwendung. Vielleicht rechtfertige ich mich, wenn Ihr meinen Diener besiegt, Gwenderon. Und jetzt – kämpf!«

Im gleichen Moment sprengte der Schattenkrieger los. Pferd und Reiter schienen sich in wirbelnde Schemen zu verwandeln. Sein Schild kam hoch; der Morgenstern wurde zu einem rasenden Schatten und sauste auf Gwenderon nieder.

Aber so schnell er auch heran war – Gwenderon war schneller. Statt auszuweichen, was die instinktive Reaktion gewesen wäre – und wohl auch die, mit der der Angreifer gerechnet hatte –, sprengte er dem gepanzerten Riesen entgegen, riss sein Pferd im allerletzten Moment nach rechts und ließ sich aus dem Sattel fallen. Der Morgenstern des Riesen pfiff durch die Luft, prallte auf den leeren Sattel und riss eine tiefe Scharte in das Leder. Gwenderons Pferd bäumte sich auf und fiel – und im gleichen Moment bohrte sich sein Schwert tief in den Oberckschenkel des Kriegers.

Der Mann kippte zur Seite, ließ Schild und Morgenstern fallen und stürzte mit haltlos rudernden Armen zu Boden.

Gwenderon war über ihm, noch bevor er Zeit fand, sich wieckder auf Hände und Knie hochzustemmen. Sein Schwert sauste herab und zerschmetterte seinen schwarzen Eisenhelm. Der Krieger sank lautlos nach hinten und erstarrte.

Lassar klatschte spöttisch Beifall. »Bravo«, sagte er. »Das war ein Kampf, wie ich ihn von einem Waffenmeister Hochwaldens erwartet habe.« Er lachte leise, als sich Gwenderon umwandte und zu ihm aufsah. »Aber Ihr glaubt nicht im Ernst, dass das alles war, nicht wahr, mein Freund?«

Gwenderon schüttelte grimmig den Kopf. »Nein«, sagte er. »Aber wenn all deine Krieger so leicht zu besiegen sind, fürchte ich nicht mehr um die Sicherheit Cavins.«

Statt einer Antwort hob Lassar die Linke und machte erneut diese rasche, flatternde Geste.

Dicht hinter Gwenderon klirrte Metall. Der Waffenmeister drehte sich herum, hob instinktiv sein Schwert – und sah, wie der Krieger, den er gerade niedergeschlagen hatte, mit langsackmen, umständlichen Bewegungen wieder auf die Füße kam. Sein Helm war zerschmettert, aber hinter dem furchtbaren Riss war nur wogende Schwärze, kein Fleisch und kein Blut.

Es ist tot, glaubte er Gessets Worte noch einmal zu hören. Es lebt nicht, Gwenderon.

Und plötzlich begriff er, wie Recht der Raett mit seinem ungläubigen Ausruf gehabt hatte. Wie sollte er einen Gegner töckten, der nie gelebt hatte?

Der Krieger hob seinen Schild auf, bückte sich nach dem Morgenstern und kam mit wiegenden Schritten näher. Gwenderon wich ein Stück vor ihm zurück, wechselte das Schwert von der Rechten in die Linke und hob die Hand. Gesset sprengte heran, reichte ihm den kleinen runden Schild, den er am Sattel getragen hatte, und entfernte sich wieder. Gwenderon dankte im Stillen den Göttern dafür, dass der Raett instinktiv das Richtige erkannt hatte und nicht versuchte, neben ihm gegen Lassars Krieger zu kämpfen.

Langsam begannen sich die beiden ungleichen Gegner zu umkreisen. Der Morgenstern des Riesen wirbelte wie ein schwarzes Todesrad über seinem Helm, aber er hatte aus seicknem Fehler gelernt und griff nun nicht mehr mit ungestümer Wut an, sondern beschränkte sich darauf, Gwenderon vor sich herzutreiben und auf eine Gelegenheit zu warten, einen entscheidenden Hieb anbringen zu können. Immer wieder zuckte sein Morgenstern herunter und immer wieder riss er die Kette mit der stachelbewehrten Kugel zurück, ehe sie Gwenderon wirklich erreichte.

Er spielt mit mir, dachte Gwenderon. Dieser Kampf war nichts als ein böses, zynisches Spiel, dessen Anblick Lassar für die Niederlagen entschädigen mochte, die er ihm beigebracht hatte.

Wieder sauste der Morgenstern herab, aber diesmal wich ihm Gwenderon nicht aus, sondern duckte sich im letzten Moment unter der tödlichen Stahlkugel hindurch, schlug mit dem Schild nach dem Waffenarm des Riesen und stieß gleichzeitig nach seiner Kehle. Sein Schwert schrammte über den Rand des riecksigen schwarzen Schildes, wurde abgelenkt und traf das Visier des Giganten.

Mit einem hässlichen Knirschen bohrte sich die Klinge durch den fingerbreiten Sehschlitz, glitt ohne fühlbaren Widerstand durch den Helm hindurch und brach dicht über seinem Scheitel wieder hervor.

Der Gigant taumelte, beugte sich wie ein stürzender Baum nach vorne, ließ Schild und Morgenstern fallen und griff nach der Klinge. Gwenderon schrie vor Schrecken auf, packte den Schwertgriff mit beiden Händen und zerrte mit aller Macht daran, aber die Waffe hatte sich im geborstenen Helm des Riecksen verkeilt; er bekam sie nicht frei.

Ein Tritt traf sein Knie und schien sein Bein zu spalten. Gwenderon keuchte, fiel nach hinten und rollte sich im letzten Moment zur Seite, als der Riese über ihm zusammenbrach.

Diesmal dauerte es nur Sekunden, bis sich die schwarze Gestalt wieder zu bewegen begann. Gwenderon hatte sich kaum auf Hände und Knie hochgestemmt und seine Benommenheit abgeschüttelt, als Lassars Krieger auch schon wieder aufstand, langsamer als das erste Mal und mit ungeschickteren, noch trägeren Bewegungen, aber unaufhaltsam. Fast gemächlich zog er das Schwert aus seinem Helm, warf es Gwenderon vor die Füße und wandte sich um, um abermals Schild und Morgenstern aufzuheben.

»Du Teufel!«, zischte Gesset. Gwenderon blickte erschrocken hoch und sah, dass der Raett sein Pferd herumgezwungen hatte und bis auf Armeslänge an Lassar herangeritten war. Seine Rechte umklammerte das Schwert, das er aus dem Gürtel gezogen hatte.

»Wie lange willst du dieses grausame Spiel noch treiben?«, schrie der Raett. »Wenn du uns töten willst, dann tu es – aber quäle ihn nicht noch. Dieser Kampf ist nicht fair!«

Lassar bedachte ihn mit einem gelangweilten Blick. »Ich hackbe niemals behauptet fair zu sein«, sagte er. »Du solltest deine Kräfte schonen, Rattengesicht. Du wirst sie noch brauchen.«

Gesset keuchte vor Wut, riss sein Schwert hoch über den Kopf und schlug nach Lassar.

Gwenderons Schrei kam zu spät. Lassar zuckte nicht einmal mit einer Wimper, aber der Schattenkrieger, der sich bisher so plump bewegt hatte, schien plötzlich zu einem wirbelnden Schemen zu werden. Schneller, als Gwenderons Auge der Beckwegung folgen konnte, rühr er herum, sprang auf Gesset zu und fing das Schwert mit der bloßen Hand auf. Sein gepanzerter Handschuh zerbarst unter der Wucht des Hiebes, aber er war ein Wesen, das keinen Schmerz kannte. Seine Finger schlossen sich um das Schwert und zerbrachen es, als wäre es aus Glas; gleichzeitig holte er mit dem linken Arm zu einem gewaltigen Hieb aus und schlug Gesset aus dem Sattel.

Der Raett kreischte, überschlug sich zwei-, dreimal in der Luft, prallte Meter entfernt mit vernichtender Wucht auf den Boden und blieb wimmernd liegen.

Lassar schürzte die Lippen. »Schade«, sagte er bedauernd. »Das ging beinahe zu schnell. Ich hoffe doch, dass Ihr mir die Freude bereitet, Euch tapferer zu schlagen, Gwenderon.« Dackmit hob er die Hand und bedeutete seinem Krieger, sich erneut dem Waffenmeister zuzuwenden.

Gwenderon schluckte krampfhaft. In seinem Mund war ein bitterer Geschmack und er begann jede Stunde der Ruhe, um die er seinen Körper während der letzten Tage betrogen hatte, schmerzhaft zu vermissen. Für einen ganz kurzen Moment war er versucht, einfach aufzugeben und auf den Tod zu warten. Aber dann nahm er sein Schwert auf, überzeugte sich mit einem raschen Blick vom festen Sitz seines Schildes und wich Schritt für Schritt vor dem näher kommenden Schattenkrieger zurück. Etwas in seinen Bewegungen hatte sich verändert. Gwenderon vermochte nicht genau zu sagen, was es war – aber er spürte, dass es diesmal ernst war. Die beiden ersten Angriffe waren wenig mehr als, ein Spiel gewesen.

Diesmal würde ihn der Krieger töten.

Schritt für Schritt wich Gwenderon vor Lassar und dem schweigenden Giganten zurück. Der Riese hatte seinen Schild nicht mehr aufgenommen, sondern trug nur noch den Morgenstern. Gwenderon verfolgte die pendelnde Bewegung der tödlichen Stahlkugel gebannt. Der Gigant wechselte die Waffe ein paar Mal von der Rechten in die Linke und wieder zurück, und jedes Mal wurde der Rhythmus, in dem die Kugel schwang, schneller, seine Bewegungen fließender. Wie eine Maschine, dachte Gwenderon schaudernd, die umso perfekter funktionierte, je länger sie sich bewegte.

Plötzlich sprang der Gigant vor, schlug nach Gwenderons Kopf und versuchte gleichzeitig, nach seinem Bein zu treten, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Gwenderon duckte sich unter dem Schlag weg, schlug mit dem Schwert nach dem Knie des Angreifers und zerschmetterte seinen Beinschutz. Der Gigant taumelte, fing sich aber sofort wieder und griff mit der freien Hand nach Gwenderons Kehle. Seine Finger schnappten wie die Zähne einer Bärenfalle zu, verfehlten Gwenderons Hals um Millimeter und rissen ein handgroßes Stück Leder aus seicknem Wams. Gwenderon keuchte, kam aus dem Gleichgewicht und schlüpfte im letzten Moment unter der abermals zupackenden Klaue des Riesen hindurch, verlor aber dabei endgültig die Balance und fiel auf ein Knie hinab. Sofort wirbelte er herum und hoch, aber diesmal war seine Bewegung nicht schnell genug.

Er sah den Morgenstern im letzten Moment heranrasen, riss den Schild in die Höhe und wusste, dass er zu langsam reagiert hatte, bevor ihn die kindskopfgroße Stahlkugel traf und seine Rippen brach.

Der Schmerz war unbeschreiblich. Gwenderons Lungen schienen zu explodieren. Er spürte kaum, wie er von den Füßen gerissen und wie eine Puppe vier, fünf Schritte weit davongeschleudert wurde. Sein ganzer Körper war Schmerz, ein unckbeschreiblich grauenvoller, pulsierender Schmerz, dem eine noch schlimmere, tödliche Lähmung folgte. Er fiel, überschlug sich ein halbes Dutzend Mal und prallte gegen etwas Weiches, Warmes, das seinen Sturz bremste. Er wollte atmen, aber es ging nicht; er bekam keine Luft mehr und hatte nur noch Blut im Mund, konnte nicht einmal mehr schreien oder irgendetwas tun, um seiner Qual Ausdruck zu verleihen. Warmes Blut lief an seiner Seite herunter und tränkte sein Wams und seine Hose.

Wie durch einen blutigen Nebel sah er die Gestalt des Riecksenkriegers auf sich zukommen. Der Morgenstern pendelte lose in seiner Hand, und hinter dem Sehschlitz seines Visiers, der bisher leer gewesen war, schien jetzt ein satanisches Feuer zu glühen.

Gwenderon krümmte sich. Er bekam noch immer keine Luft und er wusste, dass er ersticken würde, wenn ihn nicht vorher die Eisenkugel des Riesen traf. Hinter seiner Stirn begann ein dumpfer, unglaublich machtvoller Gong zu dröhnen und in seiner Brust erwachte ein neuer, noch schlimmerer Schmerz. Seine Hände gruben ziellos im weichen Waldboden, fühlten Erdreich und kleine Steine, dann etwas Warmes, Weiches, Leckbendes …

Das Pferd. Sein Pferd, das vom ersten Hieb des Riesen gefällt und tot liegen geblieben war. Irgendetwas war an diesem Geckdanken, das wichtig war. Gwenderon wusste nicht, was, aber das Bild des braun gescheckten Tieres rührte irgendetwas in ihm an, das Wissen um etwas Wichtiges, das er vergessen hatte, das aber von Bedeutung war, nicht nur für ihn, sondern für sie alle, für Cavin, für Hochwalden, für den Wald …

Gwenderon schrie gellend auf, als ihn der Fuß des Riesen mit grausamer Wucht in der verletzten Seite traf. Der Schmerz trieb ihn fast in den Wahnsinn, aber er zerbrach auch das erstickende Band, das sich um seine Brust gelegt hatte; er konnte wieder atmen. Er schrie, warf sich mit einer Kraft, von der er selbst nicht mehr wusste, woher sie kam, herum und spürte, wie die Eisenkugel des Morgensterns dicht neben seinem Schädel in den Boden hämmerte.

Das Pferd, dröhnten seine Gedanken. Der Sattel. Etwas an seinem Sattel!

Gwenderon dachte nicht mehr. Sein Bewusstsein war ausgeschaltet, er reagierte nur noch blind wie ein Tier, nicht mehr als ein Bündel geschundenen Fleisches und zuckender Nerven, in das ihn die Schläge des Riesen verwandelt hatten. Seine Hände glitten ziellos über den Leib des Pferdes, fanden den Sattel und tasteten sich an seinem Rand entlang, ohne dass er wusste warckum, und fast als wären sie eigenständige kleine Wesen geworden, die nicht mehr seinem, sondern einem fremden Willen gehorchten. Er fühlte Leder unter den Fingern, weiches, mit Schnüren umwickeltes Leder, dann etwas Hartes, das sich wie Stein anfühlte und doch lebendig war …

Faroans Stab glitt ohne fühlbaren Widerstand aus seiner Umckhüllung. Gwenderon registrierte, wie sich seine Hände um seickne knorrige Oberfläche wie um einen Speerschaft schlossen. Erschien nicht länger Herr seines Körpers zu sein, sondern beobachtete sein eigenes Tun nur noch, wie ein Gast in seinem eigenen Leib, der nur geduldet war. Der Stab bewegte sich wie von selbst, deutete eine halbe Sekunde lang wie ein versteinerter Riesenfinger auf Lassar und vollendete den Halbkreis, den er begonnen hatte.

Dann berührte er die Brust des Schattenkriegers.

Gwenderon fühlte einen kurzen, heftigen Schauer von Hitze, dann ein Gefühl, als zerrisse eine straff gespannte Stahlfeder in seinem Schädel, dann sah er nur noch Licht und Flammen und spürte einen neuen, aber diesmal ganz anderen Schmerz, der wie eine Flutwelle durch seinen Körper schoss.

Dann verlor er endlich das Bewusstsein.

Er sah nicht mehr, wie sich der Schattenkrieger in einer grellen Lohe blauweißen, unerträglich hellen Lichtes auflöste.

18

Der dritte Abend seit Gwenderons Weggang. Das Tageslicht war geschwunden und vom warmen, Schatten spendenden Schein der Fackeln und Kerzen abgelöst worden, und im Kamin brannte, obgleich die Wärme des Tages noch spürbar in der Luft lag, ein gewaltiges Feuer und verbreitete zusätzliches, rotes Licht.

Cavin sah sich zum wiederholten Male in dem großen, fast leeren Saal um. Das Knistern und Prasseln der brennenden Holzscheite war das einzige Geräusch, das das drückende Schweigen durchbrach, das mit der Dämmerung Einzug in die schwarze Festung gehalten hatte, und er fühlte sich unbehagcklich, obgleich er nicht sagen konnte warum. Aber er war auch hierher gekommen, ohne zu wissen warum, und hatte vor dem Kamin Platz genommen, ohne irgendeinen Grund dafür zu hackben.

Er hätte sich besser fühlen müssen. Unten im Hof begannen die Männer und Raetts alles für den Aufbruch vorzubereiten, und beim nächsten Sonnenaufgang, ob Guarrs Späher nun zurück waren oder nicht, würden sie die Megidda verlassen, um nach Hochwalden zurückzukehren. Und wie Cavin hoffte, für immer. Er hatte keinen Grund, bedrückt zu sein. Dies war ein Ort, an dem man kaum atmen konnte und der die Gedanken aller, die ihn betraten, vergiftete, umso stärker, je länger sie hier waren. Er hatte das Haus seiner Väter zurückerobert und er war nun – nicht nur dem Titel nach – der Inhaber des Thrones vom Schwarzeichenwald. Trotzdem war alles, was er empfand, eine dumpfe Niedergeschlagenheit, verbunden mit dem Gefühl, einen Fehler begangen zu haben.

Es war … etwas anderes. Etwas, das Cavin nicht beschreiben konnte, aber das ihn erschreckte, auf einer tiefen, seinem direkckten Zugriff entzogenen Ebene seines Bewusstseins. Wie in Lassars Gegenwart, wo er den Atem finsterer Magie zu spüren glaubte, fühlte er, dass die Megidda … verändert war. Sie war still. Ihre Wände schienen jeglichen Laut aufzusaugen wie ein gewaltiger Schwamm das Wasser, und das Licht war eine Spur weniger hell, alle Farben etwas weniger leuchtend, die Schatten eine Winzigkeit tiefer als anderenorts. Der Unterschied war nicht groß genug, ihn zu begreifen, aber auch nicht klein genug, ihn einfach ignorieren zu können. Selbst jetzt spürte er es: Durch das offen stehende Fenster zum Hof drangen die Laute der Männer, die dort unten lagerten, denn viele hatten es vorgezogen, bei ihren Pferden und Waffen zu schlafen – angeblich aus alter Gewohnheit, in Wahrheit aber, das wusste Cavin, weil sie die unheimliche Veränderung, die mit der Festung vonstatten gegangen war, so deutlich spürten wie er –, und auch die Gänge und Säle der Burg hallten wider von Stimmengewirr, Lachen und all den kleinen Lauten, die zweihundert Menschen und Raetts nun einmal erzeugten, waren sie auf so engem Raum zusammengedrängt.

Und trotzdem war es unheimlich still hier drinnen. Die Laute, die an sein Ohr drangen, schienen keine Bedeutung zu haben. Es war, als wären sie Teil einer Welt und die schwarzen Mauckern der Megidda Teil einer anderen Welt, die sich an keiner Stelle berührten. Cavin hatte beinahe Angst, die Augen zu schließen, denn er wusste nicht, was er sehen würde, wenn er sie wieder öffnete.

Vielleicht war er auch nur müde.

Er stand auf, trank einen Schluck Wein aus dem Becher, der einsam auf der gewaltigen, leeren Tafel stand, drehte ihn einen Moment lang unschlüssig in der Hand und setzte ihn dann mit einem Ruck ab. Ein paar Tropfen Wein schwappten über seicknen Rand und benetzten die Tischplatte. Sie sahen aus wie Blut.

Cavin verdrängte die Vorstellung gewaltsam, wandte sich um und durchquerte mit raschen Schritten den Saal. Er war nicht gerne hier, so wenig wie an irgendeinem anderen Punkt dieser Alptraumfestung, und im Grunde war er nur hergekommen, sich nach Animah zu erkundigen; vielleicht auch, um Karelian zu sehen, der nach ihrem Gespräch am Morgen zu ihr zurückgegangen war und das Zimmer bis jetzt nicht mehr verlassen hatte. Aus einem Grund, den er selbst nicht verstand, hatte er es aber vergessen, kaum dass er den Saal betreten hatte.

Er öffnete die Tür, trat leise in das angrenzende Zimmer und lächelte, als Karelian aufsah. Die Augen des Waldläufers waren rot und dunkel vor Müdigkeit. Seine Haut glänzte ungesund.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Karelian nickte. Er versuchte zu lächeln, war aber offensichtlich zu müde dazu. Er hockte vornübergebeugt auf dem Stuhl, mit eingesunkenen Schultern, als hätte er nicht einmal mehr die Kraft, das Gewicht seines eigenen Körpers zu halten. Auf dem Boden neben ihm stand ein leerer Weinkrug.

»Du solltest ein wenig schlafen«, sagte Cavin vorwurfsvoll. »Wenn du willst, wache ich solange neben ihr.«

Karelian schüttelte den Kopf. »Das ist … sehr freundlich, Herr«, sagte er stockend. »Aber ich möchte hier bleiben.« Er schwieg einen Moment, sah auf und blickte Cavin an. Aber seine Augen blieben matt. Cavin war nicht sicher, dass er ihn überhaupt wahrnahm. »Ich möchte, dass sie mich sieht, wenn sie aufwacht.«

»Wie du willst.« Cavin ließ sich behutsam auf die Bettkante sinken, griff nach den Fingern der Schlafenden und zog die Hand fast hastig wieder zurück, als er spürte, wie heiß und trocken ihre Haut war.

»Das Fieber sinkt nicht«, sagte Karelian düster. »Arcen hat gesagt, es müsse zurückgehen. Aber es bleibt. Es frisst sie auf.«

Cavin widersprach nicht. Es wäre lächerlich gewesen, das Offensichtliche zu leugnen. Arcen hatte ihm gesagt, wie es um Animah stand: Nach seinem Wissen – und dem der Raetts – hätte das Fieber sinken müssen. Aber es sank nicht. Animah wurde schwächer mit jeder Stunde, die verging.

»Wer ist sie?«, fragte er plötzlich.

Karelian sah auf; verwirrt.

»Ich … ich habe dich niemals nach ihr gefragt«, sagte Cavin. »Sie hat ihr Leben riskiert, um meines zu retten, und ich habe nicht einmal gefragt, wer sie ist, Karelian.«

»Nicht Euer Leben, Herr«, antwortete Karelian. »Den Wald.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, sagte Cavin sanft. »Wer ist sie. Deine … Frau?«

Er erkannte an der Reaktion auf Karelians Gesicht, wie dumm seine Frage gewesen war. Für einen ganz kurzen Mockment sah es so aus, als wolle Karelian in schallendes Gelächter ausbrechen, dann wirkte er betroffen, ja, beinahe verlegen. Er schüttelte den Kopf.

»Meine Tochter«, sagte er leise. »Meine Frau starb schon vor langer Zeit, Herr. Der Wald hat sie getötet. Ein Jahr, bevor Ihr geboren wurdet.«

Cavin spürte einen eisigen Schauer. Mit einem Male kam er sich schäbig vor, die Frage überhaupt gestellt zu haben. Er hatte Karelian verletzt, das spürte er; sehr viel tiefer, als der Waldckläufer zugeben wollte.

»Verzeih«, murmelte er. »Ich wollte –«

»Ihr konntet es nicht wissen«, unterbrach ihn Karelian. Er sah ihn nicht an. »Niemand weiß es.«

»Ich weiß sowieso sehr wenig über dich«, flüsterte Cavin. »Über euch alle.«

Karelian antwortete nicht und nach einer Weile begriff Cavin, dass er nicht bereit war weiter über dieses Thema zu sprechen. Vielleicht hatte er schon mehr über Karelian erfahren, als diesem recht war; mehr, als er preiszugeben bereit war. Mit einem Male kam sich Cavin unendlich einsam vor. Er war umgeben von Männern, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um das seine zu schützen, und er war trotzdem ein Fremder. Er wusste nichts von ihnen. Weder von Karelian noch von irgendeinem der anderen. Von vielen kannte er nicht einmal die Namen. Der Einzige, dachte er betrübt, den er einigermaßen gekannt hatte, war Gwenderon gewesen. Und der war fortgegangen.

Mit einem Ruck stand er auf, lief aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich zu, durchquerte auch den angrenzenden Saal und lief so schnell auf den Gang hinaus, dass er um ein Haar den Posten über den Haufen gerannt hätte, der vor der Tür stand. Plötzlich hatte er das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Die Tonnen und Tonnen von Fels, die ihn umgaben, schienen ihn zu erdrücken.

Erst als er das Gebäude verlassen hatte und wieder im Freien war, beruhigte er sich halbwegs. Sein Herz jagte noch immer und er hätte vor Unsicherheit und Verzweiflung schreien können, aber er hatte sich wenigstens wieder so weit in der Gewalt, stehen zu bleiben und sich – zumindest äußerlich – zur Ruhe zu zwingen.

Was geschieht mit mir?, dachte er verzweifelt. Er hatte das Gefühl, die Welt um sich herum zerbrechen zu sehen. Alles, woran er geglaubt, alles, was er besessen und geliebt hatte, war zerstört und verloren. Und das Wenige, das ihm geblieben war, zerrann unter seinen Fingern wie Sand.

»Cavin!«

Cavin sah auf, als er den Ruf hörte, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und erkannte Guarr, der ungeschickt auf ihn zugehumpelt kam. In seiner Begleitung befand sich ein etwas kleinerer, dürrer Raett, der mit seiner hohen, quietschenden Stimme unentwegt auf ihn einredete. Cavin blickte den beiden ungleichen Wesen einen Moment verwirrt entgegen, ehe er auf sie zuging. Guarr lief sehr schnell, obwohl Cavin wusste, wie viel Mühe ihm jede überflüssige Bewegung bereitete seit seiner Verwundung.

»Guarr, Freund, was ist geschehen?«, begann er.

»Nichts Gutes, Cavin«, antwortete Guarr. »Ich habe Nachricht von Gesset. Lassar hat uns betrogen.«

Cavins Bedrückung wich eisiger Furcht. »Nachricht?«, murmelte er. »Was … was ist geschehen?«

»Was Gwenderon prophezeit hat«, antwortete Guarr keuchend. »Er hatte Recht, Cavin. Lassar hat gelogen. Seine Trupckpen haben den Fluss verlassen und sind in den Wald eingedrungen.« Er brach ab, rang keuchend nach Luft und deutete auf den schmalgesichtigen Raett neben sich. Cavin sah erst jetzt, wie erschöpft und abgerissen der Riesennager war. »Hackat hier gehört zu Gessets Sippe. Er … er ist gekommen, so schnell er konnte. Aber sein Vorsprung ist nicht sehr groß.«

Cavin begriff noch immer nicht ganz, was Guarr überhaupt gesagt hatte. Das hieß – er begriff es schon. Aber er weigerte sich einfach, es zu glauben. Es war unmöglich. Es durfte einfach nicht sein!

»In den … Wald eingedrungen?«, wiederholte er verstört. Seine Hände fühlten sich kalt an. Eiskalt. Es war eine Kälte, die ganz langsam in seinen Körper kroch. »Wo?«

»An der großen Biegung, Cavin«, antwortete Guarr. »Keine dreißig Meilen von hier entfernt.«

»Aber das … das ist unmöglich«, stammelte Cavin. »Das kann nicht sein, Guarr. Lassar weiß nicht, wo diese Burg ist. Niemand … niemand weiß es. Und selbst wenn, könnte er niemals hierher gelangen. Nicht … nicht mit seinen Kriegern!« Die letzten Worte hatte er hervorgestoßen wie einen verzweifelten Schrei. Narr, hämmerten seine Gedanken. Verdammter, blinder Narr! Das ist es gewesen, was er wollte. Die Megidda. Vom ersten Augenblick an. Guarrs Gestalt begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Sein Herz schlug ganz langsam, aber so hart, dass es wehtat.

»Wann … werden sie hier sein?«, fragte er stockend.

»Morgen«, antwortete Guarr. »Meine Brüder versuchen sie aufzuhalten, aber wir sind nicht genug. Wenn die Sonne aufgeht, sind sie hier.«

19

Eine weiche Hand lag auf seiner Stirn; warm, voller kurzem, drahtigem Fell und Kraft, und trotzdem sehr sanft. Er lag auf dem Rücken, aber der Grund, auf dem er lag, bewegte sich: eine Trage, die zwischen zwei Pferde gespannt war und sanft hin- und herschaukelte.

Nach dem Erwachen hätte der Schmerz kommen müssen; mit einiger Verzögerung, aber dafür umso größerer Wucht, so war es jedes Mal gewesen, wenn er verwundet worden war. Diesckmal blieb er aus. Alles, was er fühlte, war ein dumpfer, im Takt seiner Atemzüge rhythmisch an- und abschwellender Druck in seiner rechten Seite.

Gwenderon öffnete mit einem unterdrückten Stöhnen die Augen. Es war dunkel; nicht das schattige Halbdunkel des Waldes, sondern das Blauschwarz der Nacht, nur hier und da von Inseln flackernder rötlicher Helligkeit durchbrochen, wo die Männer Fackeln entzündet hatten. Die Geräusche von Pferden waren um ihn; das Klirren von Metall und das Knarren von Leder und Zaumzeug. Ein scharfer, nicht einmal unbedingt unangenehmer Geruch, den er erst nach Augenblicken als den der Raetts erkannte. Dann identifizierte er auch die Hand, die noch immer auf seiner Stirn lag, und drehte mühsam den Kopf. Ein spitzes, von zwei grundlosen, großen Augen beherrschtes Gesicht blickte auf ihn herab.

»Gesset«, murmelte er. »Du … lebst?«

Der Raett bleckte die Fänge; eine Geste, die er den Menschen abgesehen hatte und die wohl ein Lächeln sein sollte. »Es gehört mehr dazu als ein abgetakelter Zauberer und ein tollpatckschiger Riese, einen Raett umzubringen«, sagte er. »Aber du solltest nicht sprechen. Deine Wunde …« Er sprach nicht weickter, aber die Geste, mit der er seine Worte unterstrich, sagte genug.

Gwenderon hob mühsam den Kopf und blickte an sich hinab.

Er lag auf einer Trage zwischen zwei Pferden, wie er angenommen hatte. Jemand hatte ihm Wams und Hemd ausgezogen und sein Brustkorb war vom Nabel bis zum Hals unter einem straff angelegten Verband verborgen. Die rechte Hälfte des grauen Verbandstoffes war dunkel von seinem eigenen Blut.

»Beweg dich nicht«, sagte Gesset. »Wir haben dich verbunden, so gut es ging. Aber es ging nicht sehr gut. In ein paar Stunden bist du im Lager und beim Arzt.«

Gwenderon gehorchte. Selbst diese kleine Bewegung hatte ihn schon spürbar Kraft gekostet. Er bezweifelte, dass er in der Lage gewesen wäre, sich auch nur aufzusetzen.

»Hast du mich … gerettet?«, fragte er mühsam.

Gesset nickte, schüttelte gleich darauf den Kopf und stieß einen schrillen Pfiff aus.

»Lassar ist verschwunden, als du seine Kreatur besiegt hast. Zusammen mit den anderen.«

Gwenderon begriff nicht gleich. Verwirrt hob er abermals den Kopf, erntete dafür ein tadelndes Kopfschütteln des Raett und fragte: »Wie meinst du das – mit den anderen?«

»Du weißt es nicht?«

Gwenderon schüttelte den Kopf. »Ich war bewusstlos«, erklärte er überflüssigerweise. »Ich erinnere mich an … an nichts. Da war der Krieger und … und …« Er brach ab, als er begriff, dass er nicht nur vergeblich nach Worten suchte, sondern wirklich keine Erinnerungen hatte. Er glaubte Lassar zu sehen, das Schattengesicht des finsteren Magiers, sein böses, hämisches Lachen, dann die Eisenlarve des gepanzerten Riecksen.

Es lebt nicht. Seltsamerweise waren die Worte des Raett das Deutlichste, woran er sich erinnerte. Sein Kopf begann zu schmerzen. Für einen winzigen Moment sah er ein Licht, hell wie die Sonne und von blendend blauer Farbe. Wenn er sich nur erinnern könnte! Da war das Heer und …

Gessets Hand löste sich von seiner Stirn, als sich der Raett im Gehen umwandte und etwas vom Sattelgurt des Pferdes löste. Gwenderon sah einen lang gestreckten Schatten, dann raschelte trockenes Leder – und seine Erinnerungen kamen mit fast schmerzhafter Wucht zurück, als er den mannslangen, knorrig gewordenen Stab in Gessets Krallen sah.

»Faroan!«, keuchte er. »Faroans Stab.«

Der Raett blinzelte, drehte den Stab hilflos in Händen und sah Gwenderon durchdringend an. »Der Stab des Magiers?«, fragte er.

Gwenderon nickte.

»Woher hast du ihn?«

»Aus … Faroans Grab«, gestand Gwenderon nach kurzem Zögern. »Ich habe ihn … genommen. In der Nacht, bevor wir aufbrachen.«

Gesset blickte ihn sekundenlang sehr ernst an. »Warum?«, fragte er.

»Warum?« Gwenderon überlegte einen Moment, dann vercksuchte er im Liegen mit den Achseln zu zucken. »Ich … weiß es nicht«, gestand er. »Es war … nun, ich dachte, er könnte mir helfen. Zum Teufel, Gesset – was ist geschehen? Dieser Stab hat den Krieger getötet, aber das ist doch kein Grund –«

»Er hat viel mehr getan, Gwenderon«, unterbrach ihn Gesset ernst. »Du warst bewusstlos und hast es nicht gesehen, aber das Heer …«

Er sprach nicht weiter, sondern drehte erneut den Stab in der Hand und starrte abwechselnd ihn und Gwenderon an. Seine Augen wurden groß vor Furcht.

»Was ist mit dem Heer, Gesset?«, fragte Gwenderon. »Sprich!«

Der Raett seufzte. »Es ist verschwunden«, stieß er schließlich hervor. »Nicht das ganze Heer, aber sehr viele. Vielleicht taucksend Männer.«

»Verschwunden?« Gwenderon stemmte sich erstaunt auf die Ellbogen hoch. »Was soll das heißen?«

»Ich verstehe es ja selbst nicht«, antwortete der Raett. »Nieckmand versteht es. Sicherlich irgendeine neue Teufelei Lassars. Aber jetzt, wo ich weiß, dass dies Faroans Stab ist …«

»Was soll das heißen, verschwunden?«, fragte Gwenderon erneut, als Gesset auch diesmal nicht weitersprach. »Tausend Mann können nicht einfach verschwinden, Gesset.«

»Bis vor ein paar Stunden dachte ich das auch«, sagte Gesset ruhig. »Aber genauso war es, Gwenderon. Sie sind verschwunden, im gleichen Moment, in dem du den Dämon getötet hast. Einfach« – er schnippte mit den Fingern – »so.«

Gwenderon starrte ihn an. Die Worte des Raett schienen hinter seiner Stirn widerzuhallen; einmal, zweimal – immer und immer und immer wieder.

»Verschwunden«, murmelte er noch einmal. »Wie … wie viele sind noch da, Gesset?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe sie nicht gezählt!«, schnappte der Raett gereizt, hob gleich darauf entschuldigend die Hände und versuchte sein Rattengesicht zu einem Lächeln zu verziehen. »Verzeih. Aber ich weiß es wirklich nicht, Gwenderon. Ich war froh, noch am Leben und so weit bei Kräften zu sein, dich davonschleifen zu können.« Er überlegte einen Moment. »Noch immer sehr viele, fürchte ich. Und sie sind auf dem Wege nach Norden. Ich verstehe nicht, was geschehen ist.«

»Aber ich«, murmelte Gwenderon.

Gesset blinzelte.

»Wenigstens … fürchte ich es«, fuhr Gwenderon, mehr zu sich selbst und mit bebender Stimme, fort. Plötzlich fuhr er auf. »Wo sind wir?«

»Nicht sehr weit vom Fluss entfernt«, antwortete der Raett. »Warum?«

Statt einer Antwort stemmte sich Gwenderon vollends in die Höhe, versuchte die Beine von der improvisierten Trage zu schwingen und wäre glatt von seiner schwankenden Unterlage heruntergestürzt, hätte Gesset ihn nicht blitzschnell mit der freien Hand gehalten.

»Was wird das?«, fragte der Raett. »Willst du dich umbringen?«

Gwenderon schob seine Hand beiseite, beugte sich vor, um sich am Sattelzeug eines der Pferde abzustützen, und versuchte ein zweites Mal aufzustehen. Gesset fluchte, brachte die beiden Pferde mit einem scharfen Befehl zum Stehen und fuhr zornig herum.

»Muss ich dich erst niederschlagen, damit du Ruhe gibst?«, fragte er.

Gwenderon ignorierte seine Worte. Taumelnd kam er auf die Beine, hielt sich mit der linken an der Mähne des Pferdes fest und presste die andere Hand gegen die verwundete Seite. Der dunkle Fleck auf seinem Verband wurde größer. Sein Gesicht war plötzlich voller Schweiß. »Cavin«, stöhnte er. »Ich muss … Cavin warnen.«

Gesset schien erneut widersprechen zu wollen, aber dann begegnete er Gwenderons Blick, und irgendetwas war darin, das ihn abrupt verstummen ließ.

»Du wirst dich umbringen«, sagte er, sehr leise und sehr ernst.

»Möglich«, stöhnte Gwenderon. »Aber vorher muss ich die Megidda erreichen. Bei allen Göttern, Gesset – ich weiß jetzt, was Lassar im Schilde führt. Dieser verdammte Teufel.«

Der Raett starrte ihn noch eine endlose Sekunde lang an, dann fuhr er herum und hob befehlend den Arm. »Ein Pferd für Gwenderon!«, befahl er. »Und eines für mich!«

20

Die Nacht hatte sich wie eine schwarze Decke über den Himmel gelegt. Die Luft roch nach Schnee und Kälte und der Wind war abermals aufgefrischt und hatte fast die Stärke eines kleicknen Sturmes erreicht. Die Böen brachen sich heulend an den Zinnen und Türmen der Burg und es war kalt, entsetzlich kalt. Cavin blickte aus vor Müdigkeit brennenden Augen nach Sückden. In der Nacht sahen die Wipfel des Waldes aus wie ein erstarrter schwarzer Ozean aus Teer und die Reiter, die tief unter ihm in einer schier endlosen Kette aus dem Tor kamen, um eine halbe Meile weiter im Wald zu verschwinden, wie winzige Spielzeugsoldaten, die von unsichtbaren Schnüren gezogen wurden. Guarrs Krieger hatten Feuer zwischen den Lavariffen entzündet, die der Megidda vorgelagert waren, aber von hier oben aus waren es nicht mehr als Funken, winzige glühende Augen, die verloren schienen in einem unendlichen Ozean aus Schwärze. Irgendwo, jenseits einer nicht genau lokalisierbaren Grenze auf halber Strecke zwischen dem Wald und der Burg, schien sich der Boden zu bewegen, als wäre er lebendig geworden. Und in gewissem Sinne war er das wohl auch.

Cavin verscheuchte das bedrückende Gefühl, mit dem ihn die Vorstellung erfüllte, wandte sich von der Mauer ab und lief mit schnellen Schritten die halb zerfallene Treppe zum Hof hinunter. Die Kälte ließ ein wenig nach, als er aus dem Wind heraus war, und auch das unheimliche Heulen und Wehklagen der Böen blieb über ihm zurück. Trotzdem fühlte er sich weiter wie in einem Traum gefangen, unwirklich und jenseits der Realität. Er war so müde.

Auch der Hof war voller Leben, hundert, vielleicht mehr Gestalten, die sich um den von Trümmern frei geräumten Bereich vor dem Tor drängten – die Männer, die noch vor wenigen Stunden alle Vorbereitungen zum Aufbruch getroffen hatten und nun statt in die Freiheit in die Schlacht reiten würden; eine Schlacht zumal, die sie nicht gewinnen konnten. Im ersten Moment war Cavin überrascht, trotz der gedrückten Stimmung überall Lachen und Scherzen zu hören, aber dann kam er näher und sah in gespannte Gesichter, sah die kleinen nervösen Gesten, mit denen die Männer ihre Furcht zu überspielen suchten, und die Angst in ihren Augen. Keiner von ihnen würde den nächsten Morgen erleben und sie alle wussten es.

Und es war seine Schuld.

Er blieb abrupt stehen, drehte sich herum und versuchte den ummauerten Hügel in der Mitte der Riesenfestung zu erkennen und den gigantischen Baum, der sich darauf erhob. Aber er sah nichts als Schatten. Vielleicht hatte er sein Recht, das Allerheickligste zu erblicken, verspielt mit dem Fehler, den er begangen hatte.

Als er sich wieder umwandte, stand er Guarr gegenüber. Der Raett war so leise näher gekommen, dass er ihn nicht gehört hatte. Cavin widerstand der Versuchung, ihn zu fragen, wie lange er schon hinter ihm stand.

»Meine Brüder sind bereit«, sagte der Raett.

»Ich weiß.« Cavin dachte an den kabbelnden, lebenden Bockden außerhalb der Festung und schauderte. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wozu Guarrs »kleine Brüder« imstande waren, erst vor wenigen Tagen. Es mussten Millionen sein. Trotzdem wusste er, dass sie versagen würden. Lassar wäre nicht Lassar, hätte er nicht auch diesen Gegner einkalkuliert.

»Du weißt, dass sie alle sterben werden«, murmelte er, so leickse, dass außer Guarr niemand die Worte hören konnte.

»Vielleicht«, antwortete der Raett. »Vielleicht auch du und ich und alle deine Menschenbrüder.«

»Das … das ist etwas anderes«, sagte Cavin stockend. »Dies hier ist unser Kampf, Guarr. Noch könnt ihr gehen.«

»Gehen?« Guarr tat so, als verstünde er nicht.

»Gehen«, bestätigte Cavin ruhig. »Es ist noch Zeit, bis Lassars Heer heran ist und sich der Kreis um die Festung schließt. Keiner von uns würde es euch verübeln, wenn ihr vorher gehen würdet.« Er kam sich selbst albern bei diesen Worten vor. Guarr und seine Raetts und die Armee von Tieren, die ihnen beistand, waren das Einzige, was noch zwischen ihnen und Lassar stand. Ohne die Raetts waren sie keine hundert Mann. Und er wusste auch, dass Guarr seinen Vorschlag ablehnen würde. Trotzdem war er es ihm – und sich selbst – einfach schuldig gewesen, ihn zu machen.

»Du meinst das ernst«, sagte Guarr leise.

Cavin nickte. Ganz plötzlich hatte er Angst, dass er sich getäuscht haben könnte; dass Guarr sein Angebot annahm. Trotzckdem fuhr er fort: »Du und dein Volk, Guarr, ihr tragt die Hauptlast in diesem Kampf. Ihr habt sie von Anfang an getragen. Und du weißt, dass keiner dieser Krieger zurückkehren wird, die du jetzt hinausschickst. Ich sage es noch einmal – es ist nicht euer Kampf. Wenn du willst, dann nimm deine Brüder und geh deiner Wege.«

»Meiner Wege?« Guarr legte den Kopf auf die Seite und sah Cavin auf sehr sonderbare Weise an. »Wenn dieser Ort in Lassars Hand fällt«, sagte er ernst, »dann wird es keine Wege mehr geben, die wir gehen könnten, König Cavin. Du hast Recht – es ist euer Streit, nicht unserer. Aber es ist unsere Welt, die vernichtet wird, wenn du ihn verlierst.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach Cavin impulsiv. »Die Welt ist groß und –«

»Und voller Menschen«, unterbrach ihn Guarr. Er war sehr viel erregter, als nach Cavins Worten erklärbar schien. »Voller Menschen, die einander töten und bekämpfen und bestehlen und glauben, sie gehöre ihnen, diese Welt. Es gibt nichts, wockhin wir gehen könnten. Der Wald ist unsere Heimat. Er war es immer und er wird es immer bleiben.« Er ballte die Faust, und obwohl er alt und ein Krüppel war, war es eine Bewegung so voller Kraft, dass Cavin ganz instinktiv einen halben Schritt vor ihm zurückwich. »Wir sind wenig, König Cavin«, fuhr er fort, »aber wir werden kämpfen und wir werden siegen, denn der Wald steht auf unserer Seite. Wir werden siegen, wenn nicht heute, dann morgen oder in einem Jahr. Lassar hat mehr getan als sein Wort zu brechen. Keiner von denen, die er hierckher geführt hat, wird diesen Wald lebend verlassen.«

Cavin widersprach nicht. Trotz seiner entschlossenen Worte wusste Guarr, dass er sein Versprechen nicht einhalten konnte. Lassars Armee war zu mächtig, als dass er sie aufhalten könnte mit einer Hand voll Rattenkrieger und einem Heer aus Tieren. Er würde kommen und diese Festung nehmen und sie alle töckten, das wussten sie beide. Guarrs Worte waren ein Versprechen auf die Zukunft, mehr nicht. Aber um es einlösen zu können, mussten sie dort hinausgehen und sterben.

»Mein Pferd«, befahl Cavin laut.

Ein Krieger kam und brachte es, einen gewaltigen Hengst, gepanzert in die weißen und goldenen Farben Hochwaldens. Umständlich stieg Cavin in den Sattel, befestigte sehr sorgfältig den Schild mit dem roten Drachen Hochwaldens an seinem linken Arm, griff nach dem Speer, den ihm hilfreiche Hände reichten, und wartete, bis sich auch Guarr – umständlich und von einem halben Dutzend Männer unterstützt – in den Sattel seines eigenen Reittieres gezogen hatte. Jetzt, als sie wieder auf gleicher Höhe waren, kam er sich neben dem Raett vor wie ein Zwerg.

»Vielleicht solltest du hier bleiben, Guarr«, sagte er.

»Und mich vor diesen Menschen verkriechen?« Guarr machte eine zornige Geste zum Tor. »Wie kann ich meine Brüder in den Tod schicken und selbst zurückbleiben, Mensch?«

Cavin antwortete nicht mehr, sondern ritt los, sehr langsam zuerst, denn am Tor herrschte noch immer ein gewaltiges Geckdränge. Die Krieger stauten sich vor dem schmalen Durchgang wie Wasser in einer Flussenge, und obwohl Guarrs Leute den Auszug mit erstaunlichem Geschick regelten, würden noch endlose Minuten vergehen, ehe die Reihe an ihn und Guarr kam, die Megidda zu verlassen. Cavin fragte sich, ob er sie jemals wieder sehen würde. Plötzlich verspürte er eine absurde Ungeduld, sein Schwert ziehen und sich dem verhassten Feind stellen zu können. Wenn es schon nicht möglich war, dem Kampf auszuweichen, dann wollte er es hinter sich bringen, so schnell wie möglich.

Er blickte zur Burg zurück, die sich jetzt wie ein Stück gefrorener Nacht hinter ihm ausbreitete, und ein sonderbares Gefühl von Wehmut machte sich in ihm breit. Nur wenige Männer würden zurückbleiben – Karelian, dem er selbst befohlen hatte bei seiner Tochter zu wachen, obwohl sie seinen Bogen bitter nötig gehabt hätten, Arcen und die beiden anderen Heilkundigen, deren Leben sie nicht aufs Spiel setzen durften, weil es vielleicht nötig war, das zahlloser anderer zu retten, ein paar Verwundete und Kranke, drei oder vier von Guarrs Raett-Kriegern; alles in allem nicht einmal ein Dutzend Lebewesen, die in der steinernen Wüste der Megidda untergehen mussten. Für wenige kurze Monate hatten sie versucht Leben an diesen Ort ewigen Schweigens zu bringen. Der Versuch war misslungen.

Cavin verscheuchte den Gedanken, wandte sich mit einem Ruck um und sprengte los, als die Reihe an ihm war.

21

Zwei Stunden später trafen sie auf Lassars Heer. Gehört hatten sie es schon seit einer geraumen Weile: ein Laut, zuerst wisckpernd und weit entfernt, gedämpft wie das Rascheln einer sanfckten Brise in den Baumwipfeln, dann, ganz allmählich zuerst, anschwellend, lauter und drohender und aggressiver werdend, bis der ganze Wald unter dem Stampfen und Klirren tausender und tausender von Pferden zu erzittern schien.

Sie hatten angehalten, als sie die Stelle erreichten, die Guarrs Späher für ihr erstes Zusammentreffen mit den Angreifern ausgewählt hatten, und Cavin brauchte nur einen einzigen flüchtigen Blick, zu erkennen, wie klug diese Wahl war: Vor ihnen war der Boden geborsten, irgendwann, vor Jahrtausenden vielleicht, hatte sich der Wald um anderthalb Manneslängen gesenkt, sodass eine Klippe aus Erdreich und Wurzeln entstanden war, beinahe senkrecht und sich Meilen um Meilen nach beickden Seiten erstreckend, wie ein Riss, der sich durch die ganze Welt zog. Hier und da hatten Buschwerk und vorwitzige Bäuckme begonnen das Hindernis zu überwuchern, aber noch während Cavin nach einer geeigneten Deckung für sich und sein Pferd Ausschau hielt, bewegte sich ein ganzer Teil der Böckschung vor ihm, ein Stein kollerte, dann noch einer, und plötzcklich polterte eine Miniaturlawine den Erdbruch herab und riss Unterholz und einen kleinen Baum mit sich. Etwas Braunes, Quirliges huschte davon. Cavin schauderte. Guarrs »kleine Brüder« mochten im Geheimen arbeiten, aber er war plötzlich sehr froh, diese Wesen nicht zu Feinden zu haben.

Cavin wartete. Das Krachen und Splittern des Heeres kam beständig näher, und in der anderen, etwas tiefer gelegenen Hälfte der Welt begann Bewegung zu entstehen, ganz sacht zuerst, aber überall zugleich. Seine Hand löste den Bogen vom Sattelgurt und legte einen Pfeil auf die Sehne, fast ohne sein Zutun. Sein Pferd scheute, als etwas Kleines mit glitzernden Knopfaugen und einem handlangen nackten Schwanz an seinen Fesseln entlangstreifte. Nervös bohrte sich sein Blick in die Dunkelheit unter ihnen. Hätten sie einer nur zwei- oder dreifachen Übermacht gegenübergestanden, hätten sie vielleicht gewinnen können, denn alle Vorteile waren auf ihrer Seite.

Aber sie waren einer gegen fünfzig!

»Sie kommen«, sagte Guarr.

Cavin nickte, ohne den Blick vom Wald zu nehmen. Lassars Heer näherte sich jetzt rasch. Der gigantische Wurm aus Stahl und Fleisch war zerfallen, zu zahllosen einzelnen Körpern geworden, die sich über ein Gebiet von mehreren Meilen erstrecken mussten. Schon konnte er das Glitzern von Licht auf steinhartem Leder und Stahl erkennen und in das Splittern von Zweigen und das dröhnende Hämmern zahlloser Hufe mischten sich das Schnauben von Pferden, halblaute Rufe und Mecktallklirren. Irgendetwas begann sich am Fuße des Erdbruches zu bewegen; langsam, einzeln nicht wahrnehmbar, wie eine Woge, in der sich der ganze Waldboden hob. Einen Moment verharrte sie zitternd auf der Stelle, wurde deutlicher, ein wecknig nervöser und begann den näher kommenden Reitern entgegenzukriechen. Cavin hob seinen Bogen und zielte, aber Guarr drückte rasch seinen Arm herunter. »Noch nicht«, sagte er.

Im gleichen Moment erreichte die finstere Woge die vordersten Reiter.

Und verschlang sie.

Es ging so schnell, dass Cavin erschrak, obwohl er geahnt hatte, was geschehen würde. Die Finsternis erreichte die Reiter, überschwemmte sie, kroch rasend schnell an den Pferden hinckauf und bedeckte sie mit kribbelndem, tödlichem Leben, zerrte und biss Reiter und Tiere zu Boden, so schnell, dass kaum einer der Männer auch nur Zeit fand, einen Schrei auszustoßen.

Dann brach die Hölle los. Zehntausende der kleinen schnellen Nager brachen aus dem Boden, aus Gebüschen und Baumckwipfeln, erschienen wie tödliche Schatten aus dem Nichts oder fielen buchstäblich vom Himmel, eine gigantische, lebende Woge, die sich dem Reiterheer entgegenwarf und den Ansturm der Krieger binnen Sekunden zum Stehen brachte. Das Splittern und Dröhnen ihres Vormarsches machte einem Chor gellender Schreie Platz. Tiere bäumten sich auf und warfen ihre Reiter ab, Männer kippten aus den Sätteln, als mörderische Krallen ihre Kleider zerfetzten, tödliche Reißzähne nach ihren Kehlen und Augen und Mündern suchten, Männer und Tiere verschwanden schreiend, als sich der Boden auftat, von Milliocknen geduldig flinker Pfoten zu tödlichen Fallgruben ausgehöhlt. Aus dem Ansturm der Reiter wurde Chaos, dann, nach, Augenblicken, eine verzweifelte Flucht.

Aber es gab nichts, wohin sie fliehen konnten. Die Ratten waren überall, unter, auf und über dem Boden, in Geäst und Unterholz, in den Baumwipfeln. Binnen weniger Augenblicke war der Wald jenseits des Erdbruches mit Toten und Sterbenden übersät, und das entsetzliche Gemetzel ging weiter, denn die »kleinen Brüder« der Raetts waren wie in einem Blutrausch, unfähig, ihre Angriffe einzustellen oder von ihren Opfern abzulassen, wenn sie sich zur Flucht wandten.

Trotzdem – wie Cavin voller dumpfem Schrecken erkannte – ging der Vormarsch der Krieger weiter, denn von Süden drängckten mehr und mehr Männer heran, wie eine lebende Wand, die sich unaufhaltsam durch den Wald schob. Die Ratten griffen mit irrsinniger Wut an, aber Lassars Krieger waren jetzt gewarnt: Als das braune Heer die erste Welle der Reiter überrollt und verschlungen hatte, schlug ihm ein wahrer Hagel von Pfeicklen und Bolzen entgegen, lächerlich wenig gegen das ungeheuckerliche Heer der heranrasenden Nager und doch genug, um Lücken in ihre Reihen zu reißen. Lassars Krieger saßen ab, lösten gewaltige metallene Schilde von ihren Sätteln und vercksuchten eine Verteidigungslinie zu bilden. Auch sie wurde überrannt, aber von hinten drängten immer mehr und mehr Krieger nach, riesige, gepanzerte Gestalten jetzt, an deren mecktallenen Harnischen die Ratten keinen Angriffspunkt mehr fanden. Die bizarre Schlacht kam ins Stocken. Noch immer gellten Schmerzens- und Todesschreie wie ein apokalyptischer Chor zu den Rebellen hinauf, aber Lassars Männer wichen jetzt nicht mehr vor den Tieren zurück, sondern kämpften sich langsam und unter entsetzlichen Verlusten weiter zum Erdbruch vor. Sie mussten das Hindernis jetzt sehen – und die Kette von annäckhernd zweihundert Schatten, die mit gespannten Bögen und angelegten Lanzen auf sie warteten.

»Achtung jetzt!«, rief Cavin. »Sie kommen!«

Und sie kamen. Die Front aus Schilden und gepanzerten Leickbern öffnete sich wie ein bizarres Riesenmaul und eine gewaltige Masse finsterer Reiter sprengte auf die Böschung zu, drei-, vier-, fünfhundert, die ihre Tiere rücksichtslos durch den Wald trieben. Die meisten von ihnen fielen, noch ehe sie die halbe Strecke zurückgelegt hatten, aber aus dem Heer strömten immer neue Reiter, zwei für jeden, der fiel, und der Strom heranrasender Kolosse wurde breiter statt dünner.

»Jetzt!«, befahl Cavin.

Für die Dauer eines Atemzuges war das Peitschen der Bogensehnen alles, was er hörte. Ein finsterer Hagel aus Pfeilen senkte sich auf die Reiter herab, traf Mensch und Tier und ließ die Formation der Angreifer auseinander spritzen wie ein gewaltiger Fausthieb.

Aber die Überlebenden jagten weiter und noch immer drängckten aus Lassars Heer frische Krieger herbei, hunderte, tausende, wie es schien, eine endlose Masse finsterer riesiger Gestalten, die längst nicht mehr über zertrampelten Waldboden, sondern über einen Teppich aus Leichen ritt. Dann erreichten die Reiter die Böschung und noch einmal kam ihr Ansturm ins Stocken, als die Hälfte von Cavins Männern ihre Bögen senkte und dafür die Lanzen hob, die Böschung in einen Wald aus tödlich vorgerecktem Stahl verwandelnd, in den die Krieger hineingetrieben wurden und starben. Die Bogensehnen sirrten noch immer und jetzt, aus unmittelbarer Entfernung abgefeuert, verfehlte keines der Geschosse sein Ziel. Schon nach Augenckblicken verwandelte sich der Fuß der Böschung in ein unentckwirrbares Knäuel aus Menschen- und Pferdeleibern, Toten, Sterbenden und Verwundeten.

Und der Angriff ging weiter. Noch immer jagten Reiter in unaufhörlichem Strom heran, wurden getroffen und starben und wurden durch neue abgelöst. Und langsam, aber unbarmckherzig kam die Hauptmasse des Heeres näher.

Aber Cavin bemerkte noch etwas anderes. Etwas, das allen anderen – mit Ausnahme Guarrs vielleicht – entging und das ihn doch beinahe mehr erschreckte als das entsetzliche Töten und Sterben unter ihnen. Irgendetwas … änderte sich. Es war, als spüre der Wald den Schmerz, die grauenhafte, sinnlose Wut, den unglaublichen Hass, der sich auf beiden Seiten aufgestaut hatte – und als reagiere er darauf. Cavin konnte das Gefühl nicht in Worte fassen, aber es war da. Überdeutlich. Der Schwarzeichenwald begann sich zu verändern. Und es war keickne Änderung zum Guten.

Links von Cavin erscholl ein spitzer Schrei, und als er herumfuhr, sah er, dass die Verteidigungslinie gebrochen war. Über einen Berg von Leichen stürmten Lassars Krieger die Böschung, schwarzen Morddämonen gleich, die keine Angst und keinen Schmerz kannten.

Cavin ließ seinen Bogen sinken, hob die Lanze und riss sein Pferd herum. Sein Speer durchbohrte Schild und Brustharnisch eines Angreifers, riss diesen aus dem Sattel und wurde Cavin aus den Händen geprellt. Cavin fluchte, zerrte sein Schwert hervor und trieb seinen Hengst mit einem Satz an, mitten hinckein in die Masse der Angreifer. Zwei, dann drei von Lassars Kriegern erkannten ihn und stellten sich ihm entgegen, alle drei mit gewaltigen, zweikugeligen Morgensternen bewaffnet.

Cavin duckte sich unter der Waffe eines Angreifers hindurch, rammte dem Mann das Schwert durch eine Lücke seiner Panzerung und wich noch in der gleichen Bewegung dem Hieb eines zweiten Kriegers aus, der sein Pferd an seine Seite gezwungen hatte. Seine Klinge zuckte hoch, traf den Stiel des heranpfeifenden Morgensterns und zerschmetterte ihn. Der Hieb brachte den Angreifer aus dem Gleichgewicht und schleuderte ihn aus dem Sattel.

Irgendetwas traf sein Pferd. Das Tier bäumte sich auf, sein Hals war plötzlich rot und klaffte auseinander. Cavin fiel, brachte sich mit einer blitzschnellen Rolle vor den stampfenden Hufen des Tieres in Sicherheit und sprang wieder auf, als ein weiterer, schwarz vermummter Krieger auf ihn zukam. Cavin sprang zurück, ließ den Mann über sein vorgestrecktes Bein stolpern und schlug ihm wuchtig das Schwert in den Nacken. Der Krieger fiel, stürzte über seinen sterbenden Kameraden und blieb reglos liegen.

Cavin fuhr herum, war mit einem Satz neben einem Raett-Krieger, der sich verzweifelt gegen gleich drei der unheimlichen Angreifer zur Wehr zu setzen versuchte, tötete einen mit einem geraden, mit aller Macht geführten Stich und trat dem zweiten die Beine unter dem Leib weg. Der Mann fiel, rollte mit beinahe übermenschlicher Schnelligkeit herum und wieder auf die Beine und schlug noch im Aufspringen mit seinem Morgenstern nach dem jungen Waldkönig. Cavin versuchte den Hieb mit dem Schwert zu parieren, aber er zielte schlecht: Die Klinge verfehlte die stachelbewehrte Kugel und die armcklange Kette wickelte sich wie eine Peitschenschnur um seine Waffe und riss ihm das Schwert aus der Hand. Cavin fiel, entriss dem verblüfften Angreifer den Morgenstern und erschlug ihn mit seiner eigenen Waffe.

Als er sich nach seinem Schwert bückte, tötete der dritte Angreifer den Raett, dem er zu Hilfe geeilt war. Cavin schrie vor Wut und Enttäuschung auf, schwang sein Schwert mit beiden Händen und spaltete Helm und Schädel des Riesenkriegers.

Hinter ihm klirrte Metall. Er sah einen Schatten, hörte das tödliche Sirren der Stahlkugel und wirbelte herum, das Schwert mit beiden Fäusten haltend. Ein Schatten wuchs hinter ihm empor, gigantisch und schwarz und wie alle Angreifer mit Schild und Morgenstern bewaffnet. Cavins Schwert zuckte im gleichen Moment hoch, in dem die stachelige Eisenkugel herckunterkrachte.

Der Hieb traf seine Klinge, zerschmetterte sie und prellte ihm den nutzlosen Griff aus der Hand. Cavin keuchte vor Schmerz, brach in die Knie und warf sich blindlings zur Seite, um einem zweiten Hieb zu entgehen. Die tödliche Eisenkugel verfehlte ihn um Haaresbreite, aber der Angreifer stieß fast im gleichen Moment mit seinem gewaltigen Schild zu; Cavin riss noch die Hände nach oben, konnte aber nicht verhindern, dass das zollckdicke Eichenholz seine Schläfe mit der Wucht eines Hammerckschlages aufschürfte und ihn rücklings zu Boden schleuderte.

Triumphierend setzte der Angreifer ihm nach, schleuderte seinen Schild davon und schwang die mörderische Waffe mit beiden Armen.

Er führte die Bewegung nie zu Ende. Ein Speer zischte wie ein schwarzer Blitz durch die Luft, bohrte sich knirschend durch seinen Brustpanzer und schleuderte ihn zu Boden.

Cavin erhob sich stöhnend. Seine Arme waren taub von der Wucht der Hiebe, die er ausgeteilt und aufgefangen hatte, sein Herz hämmerte so schnell, dass es wehtat, und er hatte Mühe, mehr als Schatten und verschwommene Schemen zu erkennen. Trotzdem umklammerte seine Linke den Dolch, die einzige Waffe, die ihm geblieben war.

Aber es gab niemanden mehr, gegen den er sich hätte wehren müssen. Der Krieger, den der Speer getötet hatte, war der letzte gewesen. Sie hatten das Unmögliche geschafft und den Angriff abgeschlagen. Die wenigen überlebenden Krieger suchten ihr Heil in der Flucht. Keiner von ihnen erreichte das Heer.

Eine Gestalt näherte sich ihm, dann blickte er in Guarrs fellckbedecktes Gesicht, und eine Hand griff nach seiner Schulter, berührte sie aber nicht. »Seid Ihr unverletzt, Herr?«, fragte der Raett.

Cavin nickte. Selbst diese kleine Bewegung schien fast über seine Kräfte zu gehen. »Ja«, murmelte er. »Ich … hoffe es. Und du?«

Guarr grinste, schob sein Schwert in den Gürtel und sah sich suchend auf dem Boden um. Schließlich bückte er sich, hob das Schwert des getöteten Raett-Kriegers auf und reichte es Cavin. »Nehmt«, sagte er ernst. »Ihr werdet es brauchen.«

Cavin zögerte einen Moment, nach der Waffe zu greifen. An ihrem Griff klebte Blut; irgendwie hatte er das absurde Gefühl, sich zu besudeln, wenn er sie berührte. Dann begriff er, wie albern dieser Gedanke war, und nahm die Waffe an.

Sein Blick fiel an Guarr vorbei auf die Krieger – oder das, was einmal ihr Heer gewesen war. Jetzt war es ein Schlachtfeld. Sie hatten die Angreifer aufhalten können, aber der Blutzoll, den sie dafür gezahlt hatten, war fürchterlich. An die dreickßig der großen, in mattschwarzes Eisen gehüllten Gestalten lagen reglos auf dem Boden, aber beinahe die gleiche Anzahl Rebellen hatte diesen Sieg mit dem Leben bezahlt; und die Schlacht hatte noch nicht einmal richtig begonnen. »Wie viele sind wir noch?«, fragte er.

Guarr antwortete nicht gleich. Ein Schatten schien über das Gesicht des alten Raett zu huschen. Er schluckte und für einen Moment presste er die Lippen so fest aufeinander, dass sie nur mehr als dünner blutleerer Strich zu erkennen waren. Zum ersten Mal, seit Cavin dieses große, kluge Wesen kennen gelernt hatte, glaubte er Angst in seinem Blick zu lesen.

»Nicht mehr viele«, sagte Guarr schließlich. »Vielleicht noch hundertfünfzig. Die Verwundeten mitgezählt, die noch eine Waffe führen können.« Er schwieg einen Moment, dann löste er sich mit einer ruckhaften Bewegung aus seiner Starre, ging an Cavin vorbei und zog den Speer aus der Rüstung des getöteckten Kriegers. Seine Spitze war schartig geworden, wo sie das Eisen durchschlagen hatte. Aber auf dem geschliffenen Stahl war kein Blut, wie Cavin flüchtig registrierte.

»Kommt«, sagte Guarr entschlossen. »Es ist noch nicht vorckbei.«

Cavin stemmte sich mühsam hoch und hielt nach einem herrenlosen Pferd Ausschau. Es gab mehr als genug davon und längst nicht alle trugen die schwarzen Farben Lassars. Kurz bevor er in den Sattel stieg, blieb er noch einmal stehen, wälzte einen der getöteten Riesenkrieger mit dem Fuß zur Seite und löste den Morgenstern aus seinen steifen Fingern.

Guarr runzelte die Stirn, aber Cavin lächelte nur. »Es ist keickne schlechte Waffe«, sagte er. »Ich kann das beurteilen – ich habe es selbst zu spüren bekommen.«

Der Raett schüttelte den Kopf, ergriff seinen Speer fester und huschte, die Waffe zum Stoß bereithaltend, zur Böschung zurück.

Der Anblick, der sich ihnen bot, war entsetzlich. Die Nacht breitete einen gnädigen schwarzen Schleier über den Wald, aber schon das Wenige, das Cavin sehen konnte, reichte aus, ihm schier das Blut in den Adern erstarren zu lassen. So weit sein Blick reichte, war der Boden mit Toten übersät, Männern und Pferden, die wirr über- und untereinander lagen, zwischen ihnen die kleinen braunen Kadaver der Ratten, die noch in die Leiber ihrer Opfer verbissen waren. Wahnsinn, dachte er. Das ist Wahnsinn. Und alles nur, um die Machtgier eines einzigen Mannes zu befriedigen!

Es konnte nicht ungesühnt bleiben. Cavin spürte, wie der Wald das Leid und den Hass aufsog wie ein Schwamm, wie sich irgendetwas in ihm änderte, etwas Dunkles, Böses von der Seele des Schwarzeichenwaldes Besitz ergriff …

Sein Blick suchte das Heer. Der Kampf war für einen Mockment ins Stocken gekommen. Cavin schätzte, dass Lassars Heer an die tausend Mann verloren haben musste bei seinem vergeblichen Ansturm, selbst für eine so große Armee ein schmerzhafter Schlag. Aber neunmal so viele Krieger standen bereit, erneut gegen sie vorzustürmen, und sie alle wussten, dass sie einem zweiten Angriff nicht standhalten würden.

Aber zumindest im Moment schien ein solcher nicht bevorckzustehen. Ganz im Gegenteil zog die Linie aus Schreien und hektischer Bewegung, an der die Ratten noch immer gegen die gepanzerten Krieger anrannten, sich langsam zurück. Für einen ganz kurzen Moment flammte die aberwitzige Hoffnung in Cavin auf, dass sie gewonnen haben könnten, dass der verbissene Widerstand der Rebellen und der vollkommen unerwarteckte Angriff der Tiere den Kampfeswillen der Krieger gebrochen haben könnte. Aber im Grunde wusste er ganz genau, wie närrisch dieser Gedanke war.

»Was tun sie?«, flüsterte Guarr neben ihm. Cavin zuckte nur mit den Achseln. Das Heer zog sich zurück, sehr schnell sogar, aber er war Realist genug zu erkennen, dass es nur eine neue Kriegslist sein konnte, kein Rückzug, sondern eine Änderung der Taktik.

Plötzlich kam Wind auf, sehr schnell und wie aus dem Nichts, eine eisige, beständige Böe, die die Baumwipfel und das Unterholz peitschte und Cavin die Tränen in die Augen trieb. Hastig hob er den Schild, um sein Gesicht vor den schneidenden Böen zu schützen, und starrte mit neu aufflammendem Misstrauen über dessen Rand hinweg auf das feindliche Heer. Dieser Sturm war nicht normal. Er konnte den Gestank schwarzer Magie beinahe riechen, der ihn entfacht hatte.

»Was bedeutet das, Guarr?«, schrie er über das Heulen hinckweg. »Das ist Lassars Magie! Hast du nicht behauptet, sie wirkt in diesem Teil des Waldes nicht?«

Guarr pfiff eine Antwort, die Cavin nicht verstand, und deucktete mit einer hektischen Bewegung nach Süden. Cavin blickte in die angegebene Richtung.

Was er sah, ließ sein Herz stocken.

Der Wald lag schwarz unter ihnen, aber in einer halben Meile Entfernung, dort, wo sich die ersten Reihen des Heeres befinden mussten, leckten Flammen aus dem Unterholz, sprangen auf behänden, glühenden Füßen hierhin und dorthin, versengckten Moos und Büsche und züngelten an Baumstämmen.

»Großer Gott«, flüsterte Cavin. Eine eisige Hand schien nach seinem Herzen zu greifen und es mit übermenschlicher Kraft zusammenzupressen. »Dieser Wahnsinnige lässt … lässt den Wald anzünden.«

Der Wind riss ihm die Worte von den Lippen und trug sie davon, und eine halbe Meile südlich von ihnen fachte er das Feuer zu einer Wand an, einer brüllenden Wand aus Flammen und grellweißer Glut, die sich höher und höher erhob und racksend schnell näher kam …

22

Nach einer Ewigkeit erwachte sie. Anders als in den letzten Tagen, da sie aus fiebergeplagtem Schlaf hochgeschrocken war, fühlte sie sich zwar benommen und schwach, aber nicht mehr krank. Ihre Gedanken liefen, zum ersten Mal seit ihrer Flucht aus den Trümmern Hochwaldens, mit gewohnter Schärfe und Klarheit ab. Sie erinnerte sich an alles, was geschehen war – die Flucht, die Verfolger, die Hunde, die sie gestellt und hatten töten wollen … Dann war etwas geschehen, woran sie nur unklare Erinnerungen hatte. Raetts. Raetts waren gekommen, ihre großen, halb tierischen Verbündeten, und mit ihnen andere, kleinere Wesen, die die Hunde getötet und die Krieger vertrieben hatten, und …

Animah öffnete die Augen, blickte gegen eine hohe, finstere Steindecke und versuchte die Hände zu bewegen. Es ging nicht.

Im ersten Moment glaubte sie gefesselt zu sein, wieder in Gefangenschaft. Dann begriff sie, dass es Bandagen waren, fest angelegte Binden, die ihre Wunden bedeckten.

Länger als eine Minute blieb sie liegen, vollkommen reglos, den Blick starr gegen die Decke gerichtet, und versuchte sich zu erinnern, wo sie war. Die Raetts hatten sie fortgebracht, an einen Ort, den sie nur aus Legenden kannte und an dem …

Karelian.

Karelian und Cavin.

Für einen Moment sah sie die Gesichter der beiden ganz deutlich vor sich. Dann verschwand das Bild und machte wieckder der schwarzen Steindecke über ihr Platz.

Mühsam wandte sie den Kopf, erblickte eine schlafende, zusammengesunkene Gestalt auf einem Stuhl neben sich und unterdrückte im letzten Moment einen Schrei, als sie sie erkannte. Karelian! Der Mann war Karelian. Es war wahr, kein Fiebertraum, keine Vision. Sie war gerettet worden und in der Megidda, der Festung im Herzen des Schwarzeichenwaldes, und –

Obwohl sie sicher war keinen Laut verursacht zu haben, fuhr Karelian im Schlaf zusammen, hob unsicher den Kopf und sah sie an. Im ersten Moment war sein Blick verschleiert; er schlief nicht mehr, war aber auch noch nicht vollends wach. Dann war er aufgeregt.

»Animah!«, rief er aus. »Du bist wach. Du …« Seine Stimme versagte. Er versuchte aufzustehen, verharrte mitten in der Beckwegung und ließ sich wieder zurücksinken. »Du … du bist wach«, murmelte er. »Verstehst du mich? Erkennst du mich, Kind?«

Animah schloss aus seinen Worten, dass dieses Erwachen nicht das erste war aber ihre Erinnerungen purzelten wild durcheinander und es lohnte auch nicht, Energie darauf zu verckschwenden.

»Wo bin ich?«, flüsterte sie. Ihre Stimme war so schwach, dass sie selbst erschrak. »Durst«, fügte sie hinzu.

Karelian schüttelte irritiert den Kopf, dann sprang er so heftig auf, dass sein Stuhl umfiel, und verschwand aus ihrem Blickfeld, um Sekunden später mit einer gefüllten Wasserschale zurückzukommen. Behutsam hob er ihren Kopf an und setzte das Gefäß mit der freien Hand an ihre Lippen.

»Du bist in Sicherheit«, sagte er, während sie trank. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Du bist an einem Ort, an den Lassars Macht nicht hinreicht.«

Animah leerte die Schale bis zur Neige, ehe sie den Kopf in die Kissen zurücksinken ließ und ihren Vater verständnislos ansah. »Einem Ort, an den –«

»Die schwarze Festung«, sagte Karelian ruhig. »Faroan selbst hat uns den Weg hierher gewiesen. Wir sind in Sicherckheit, Kind. Keine Angst.«

Aber etwas im Klang seiner Worte war falsch. Animah hatte es stets gespürt, wenn Karelian sie belog, und sie spürte es auch diesmal. Etwas stimmte nicht.

»Was ist geschehen?«, fragte sie. »Ich … ich konnte fliehen. Lassar hat Hochwalden besetzt, nicht wahr? Was ist mit Cavin und den anderen? Habt ihr … ihn befreien können?«

»Das haben wir«, bestätigte Karelian. »Es ist viel geschehen in den letzten sechs Monaten. Ich werde dir alles erzählen, aber jetzt muss ich nach Arcen rufen, dem Heilkundigen. Gott sei Dank, dass du gesund bist!« Er ließ die Schale fallen, beugte sich vor und umarmte Animah so heftig, dass es fast wehtat. Tränen der Freude rannen über sein Gesicht.

Und im gleichen Moment, in dem er Animah berührte, geschah … etwas.

Animah spürte seine Berührung, den leisen Schmerz, den diese ihrem geschundenen Körper zufügte, aber da war auch noch etwas anderes, eine tiefe, entsetzlich tiefe Kälte, die von Karelians Körper auszugehen schien. Entsetzen ergriff sie.

Und als er sich aufrichtete und noch einmal sagte, dass er nun gehen und den Heilkundigen holen würde, huschte ein Schatten über sein Gesicht. Es ging ganz schnell; der Bruchteil einer Sekunde nur, weniger Zeit, als ein Gedanke brauchte, um gedacht zu werden, und trotzdem sah Animah, wie sich seine Züge änderten, etwas Dunkles, Gestaltloses durch das vertraute Antlitz ihres Vaters zu schimmern schien, etwas ungeheuer Düsteres und Böses …

»Warte«, sagte sie.

Karelian (Karelian?!) blieb stehen, runzelte die Stirn und blickte lächelnd auf sie hinab. Aber es war nicht Karelian. Es war Lassar. Ganz plötzlich begriff Animah alles. Ihre Flucht, ihre ans Wunderbare grenzende Rettung, ihr Erwachen an einem Ort, den Menschen nicht zu betreten gestattet war, das Wiedersehen mit ihrem Vater – das alles war nicht wahr. Es war nur ein weiterer Schachzug Lassars, eine weitere Lüge in dem Gespinst von Betrug und Verrat, das er über den Wald und seine Bewohner geworfen hatte.

Der Mann über ihr war Lassar, Lassar in einer seiner zahllocksen Verkleidungen, und er hatte all dies inszeniert, um ihr Vertrauen zu erschleichen und sie zum Verrat an ihren eigenen Freunden zu verleiten.

Mit aller Kraft, die ihr geblieben war, richtete sie sich auf, hob den Arm und streckte die Hand nach Karelians Gürtel aus.

»Was tust du?«, rief Karelian erschrocken. Wieder huschte ein Schatten über sein Gesicht. Seine Gestalt schien zu flackern wie ein großer, finsterer Ball aus Nebel.

Animah antwortete nicht, sondern stemmte sich weiter hoch. Ihre Hand krallte sich in Karelians/Lassars Gürtel, kroch daran entlang und krampfte sich um den Griff des Dolches, der darckaus hervorsah. Lassar begriff immer noch nicht, so sicher fühlte er sich in seiner Verkleidung, die er für perfekt hielt. Aber er hatte vergessen, dass ein Kind seinen Vater nicht nur am Äußeren erkennt.

»Um Gottes willen, so bleib doch liegen, Animah«, sagte Karelian. »Du bist noch zu schwach, um aufzu-«

Animah zog den Dolch aus seinem Gürtel, drehte ihn blitzckschnell nach oben und stieß zu, tief, mit aller Kraft, die sie hatte, und ohne Gnade. Lassars Augen wurden rund. Ein Ausckdruck ungläubigen Entsetzens begann sich in seinem Blick breit zu machen, dann Schmerz, ein entsetzlicher, unglaublich tiefer Schmerz. Er keuchte, richtete sich auf, blickte auf den Dolch hinab, der dicht unterhalb seines Herzens aus seiner Brust ragte, dann auf Animahs Gesicht. Er schien noch etwas sagen zu wollen, aber seine Kraft reichte nicht mehr. Wie vom Blitz getroffen kippte er zur Seite und fiel zu Boden.

Animah richtete sich stöhnend auf. Das Zimmer drehte sich. Der Boden schwankte. Ihr war übel. Sie hatte Lassar getötet, aber sie empfand keinen Triumph, nicht einmal Zufriedenheit. Langsam, unter Aufbietung aller Kräfte, stemmte sie sich in die Höhe, fiel neben dem Bett auf die Knie und blieb länger als eine Minute in dieser Stellung, während sie nach Luft rang und vor Schwäche weinte. Sie wusste, dass sie sterben würde, wenn sie jetzt nicht ruhte. Aber sie hatte Lassar getötet.

Sie stand auf, taumelte zur Tür und griff mit zitternden Fingern nach dem Riegel. Ihre Kraft reichte kaum ihn zurückzuckschieben. Aber sie wankte weiter. Sie würde sterben, aber das war gleich. Es waren noch mehr von Lassars Kreaturen hier, das spürte sie. Ihre Hand umklammerte den Dolch.

23

Das Feuer war eine halbe Stunde hinter ihnen, als sie die Feckstung erreichten. Sie waren geritten, so schnell sie nur konnten, ohne Rücksicht auf sich oder ihre Tiere zu nehmen; trotzdem hatten nicht alle den Wettlauf mit dem Tod gewonnen, denn Lassars Zaubersturm fachte den Brand zu ungeheurer Wut an. Der Himmel im Süden glühte im Widerschein der Flammen wie eine rote Kuppel, und obwohl das Feuer noch Meilen entfernt war, trug der Wind bereits Brandgeruch mit sich.

Cavin war einer der Ersten, die durch das Tor sprengten, tief über den Hals seines Pferdes gebeugt und keuchend vor Anstrengung. Die Festung war leer; auch von den wenigen, die zurückgeblieben waren, war niemand zu sehen, und erneut kam Cavin zu Bewusstsein, wie erbärmlich wenige sie waren; jetzt, nachdem die Hälfte von ihnen tot oder verwundet war, noch mehr. Nicht einmal die schier unüberwindlichen Mauern der Megidda würden sie noch schützen können, das wusste er. Das Feuer konnte ihnen nichts anhaben hier drinnen, denn die Bollwerke aus erstarrter Lava und Zeit waren fest genug, selbst einem Weltenbrand standzuhalten, aber Lassars Krieger, die dem Feuer auf dem Fuß folgten, würden sie überrennen. Auch die uneinnehmbarsten Mauern mussten dafür bemannt sein. Und sie hatten einfach nicht mehr genug Männer, jeden Punkt zu besetzen, der nötig war, die Festung zu halten.

Cavin sprang aus dem Sattel, ließ sein Pferd einfach stehen und rannte zum Tor zurück. Die Reiter kamen einzeln oder in kleinen Gruppen aus dem Wald gesprengt, und gerade als Cavin das Tor erreichte, stürzte ein Pferd und begrub seinen Reickter unter sich. Keiner von beiden stand wieder auf. »Auf die Zinnen!«, befahl er mit weit schallender Stimme. »Nehmt an Pfeilen mit, was ihr tragen könnt. Und wenn die Mauern fallen, flieht!«

Ein Teil der Männer begann die steilen Steintreppen zum Wehrgang emporzustürmen, aber andere – sehr viele – ließen sich einfach aus den Sätteln fallen, zu erschöpft, um seinem Befehl zu folgen. Vielleicht wollten sie auch einfach nicht mehr. Cavin hätte es keinem der Männer übel genommen, wenn er seinen Befehl verweigert und versucht hätte sich auf eigene Faust in Sicherheit zu bringen, denn er schickte sie in den sicheren Tod.

Vielleicht hätte er selbst sogar den Befehl gegeben, jeden Widerstand bleiben zu lassen und zu fliehen – hätte die Mögcklichkeit bestanden. Aber sie saßen in der Falle. Die einzige Wahl, die ihnen blieb, war die zwischen dem Tod in den Flammen und dem hier auf den Mauern.

Nervös blickte er zum Himmel hinauf. Das Samtblau der Nacht war dem bösartigen Glühen von Feuer gewichen. Schwarze, fettige Rauchwolken verdunkelten einen Teil des südlichen Horizonts, und Lassars Dämonenwind ließ gewaltige Schauer kleiner, weiß glühender Funken in den Himmel steigen, flammenden Käfern gleich, die den Brand weitertragen würden. Cavin begriff plötzlich, dass das Feuer nicht vor den Mauern der Megidda Halt machen würde. Vielleicht würde es sie verschonen, aber es würde weiterrasen; es war schon jetzt zu groß, um noch gelöscht zu werden oder von selbst zu erlöckschen. Selbst der Schnee, der fallen mochte, musste unter der höllischen Glut verdampfen, lange ehe er den Boden erreichte und die Flammen ersticken konnte. Lassar hatte am Schluss doch getan, womit er gedroht hatte – er verbrannte den Wald. Cavin lachte bitter.

»Was ist so komisch, Mensch?«, fauchte eine zornige Stimme neben ihm.

Cavin wandte den Blick und erkannte Guarr, der unbeholfen aus dem Sattel gestiegen und zu ihm gehumpelt war. »Nichts«, sagte er. »Ich musste nur daran denken, dass Lassar mir wirkcklich gegeben hat, was ich verdiene. Ich habe Hochwalden zurück, nicht?« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Wald hinaus. Durch das Unterholz schimmerte bereits das erste drockhende Rot der Brände. »Es wird zu dem Wald passen, über den ich herrsche. Eine verbrannte Ruine.«

Guarr antwortete nicht, sondern konzentrierte sich wie er darauf, die näher kommenden Krieger zu beobachten. Es waren nicht mehr viele – an die hundert Männer und Raetts hatten die Festung bereits erreicht, und jetzt waren es nur noch ein paar Nachzügler, die aus dem schwelenden Unterholz hervortaumelten. Hinter ihnen rasten die Flammen heran. Es ging sehr schnell und trotzdem hatte Cavin das Gefühl, die Zeit wäre stehen geblieben, denn seine Sinne arbeiteten mit jener eigentümlichen Schärfe, die ihnen nur in Momenten allergrößter Gefahr eigen war. Das Schwarz des Waldes wich allmählich einem düsteren, drohenden Rot, das heller wurde, zu Orange und schließlich Weiß wechselte und die ewige Nacht des Schwarzeichenwaldes verschlang, bis sich die Bäume und Bücksche des Waldes als scharf gezeichnete schwarze Schatten vor einer Wand unerträglicher Helligkeit abhoben. Dann begannen ihre Umrisse zu zerfließen, waren plötzlich gesäumt von weißckblauen Flammenkindern, die rasch zu breiten Säulen wurden, dann zu einer kompakten, brüllenden Flammenwand, fast so hoch wie die Mauern der Megidda und heiß, unerträglich heiß. Obwohl eine halbe Meile zwischen ihnen und dem brennenden Waldrand lag, konnte Cavin plötzlich nur noch mühsam atmen. Das Metall seiner Waffen wurde heiß. Eine glühende Hand schien seine Augäpfel zu berühren.

»Dieser Wahnsinnige«, flüsterte Guarr. Obwohl er sehr leise sprach, waren seine Worte wie durch einen Zauber deutlich zu hören. Sie und das Entsetzen, das in seiner Stimme schwang. »Wenn es das ist, was er wollte, muss er vollends den Verstand verloren haben. Das Feuer wird seine eigenen Männer verckschlingen.«

Cavin nickte, ohne den Blick von dem entsetzlichen Schauckspiel zu nehmen. Guarr sprach nur aus, was er schon die ganze Zeit über gedacht hatte: Wenn Lassars Krieger den Brand jeckmals unter Kontrolle gehabt hatten, so hatten sie sie jetzt verloren. Das Feuer wütete mit ungeheuerlicher Kraft, sprang hierckhin und dorthin und schickte Armeen kleiner glühender Funken in alle Richtungen, um sich zu verbreiten. Längst brannte nicht mehr nur der südliche Rand der Lichtung, sondern der ganze Wald, überall, wohin er auch blickte, und es war ein Brand, der nicht eher innehalten würde, als bis nichts mehr da war, was er verzehren konnte.

Lassars Krieger mussten ihm ebenso zum Opfer fallen wie der Wald und seine Bewohner.

Und vielleicht auch sie, fügte er in Gedanken hinzu. Das Feuer erreichte sie nicht, aber seine Hitze war so groß, dass die Luft in seinen Lungen zu brennen schien und sich seine Augenbrauen kräuselten. Und die Hitze stieg.

»Zurück«, befahl er halblaut, wandte sich um und rief noch einmal, sehr viel lauter: »Zieht euch zurück ins Haus. Die Hitze wird zu groß!«

Er selbst war einer der Ersten, die diesen Befehl befolgten.

24

Der Wald brannte. Rings um ihn herum tobte die Hölle, ein Feuer, wie es heißer nicht im flammenden Herzen einer Sonne sein könnte. Gwenderons Haar war längst verkohlt, seine Kleickder schwelten, und seine Haut war da, wo sie nicht von Stoff oder Leder geschützt war, von Brandblasen übersät. Vor einer halben Stunde war sein Pferd unter ihm zusammengebrochen und gestorben und kurz darauf hatte er Gesset aus den Augen verloren. Er war sicher, dass er tot war, tot wie all die Männer und Tiere, an denen er vorbeigestolpert war, deren Leichen den schwarz gewordenen Waldboden bedeckten oder in den Bäuckmen hingen, in die sie in panischer Angst gestiegen waren ohne dem Tod entrinnen zu können. Gwenderon wusste längst nicht mehr, in welche Richtung er lief oder warum. Aber irgendetckwas trieb ihn weiter, eine Kraft, die nicht die seine war; die gleiche unheimliche Macht, die ihn vor dem Toben der Flammen schützte. Mit einem kleinen, auf fast wunderbare Weise noch zu klarem Denken fähigen Teil seines Bewusstseins begriff er, dass er kein Recht mehr hatte zu leben; dass jede der zahllosen Wunden, die seinen Körper bedeckten, tödlich war. Aber er taumelte weiter, und seine Hand umklammerte fest den Stab, den er mit sich fortschleppte. Aber vielleicht war es auch gerade umgekehrt.

25

Selbst hier drinnen, hinter den meterdicken Mauern der Feckstung, war die Hitze beinahe unerträglich. Die Luft schien zu kochen. Der Boden zitterte jetzt fast ununterbrochen und manchmal glaubte Cavin, ein dumpfes, machtvolles Grollen zu hören, als stürzten tief unter der Erde gewaltige Höhlen ein. Vielleicht brach die Welt zusammen.

Cavin taumelte vor Erschöpfung, lehnte sich einen Moment gegen die Wand und stolperte weiter die Treppe empor. Der Weg hinauf in sein Schlafgemach war ihm niemals so weit vorgekommen. Es war, als wüchse die Treppe jedes Mal um zwei Stufen, wenn er eine überwunden hatte. Aber er musste hinauf. Wenn er schon sterben musste, dann wollte er wenigckstens in Karelians Nähe sein. Der Waldläufer war der einzige Freund, der ihm geblieben war.

Schließlich erreichte er das Ende der Treppe und den kurzen Gang, an dessen Ende der Ratssaal lag. Das Grollen und Beben war jetzt deutlicher zu spüren und unter der geschlossenen Tür drang dumpf roter Lichtschein hervor, der durch die Lichtckscharten gekrochen war. Die Hitze ließ ihn keuchen.

Als er die Tür aufstieß, fand er den Toten.

Es war einer von Karelians Gefolgsleuten; ein grauhaariger, stämmig gewachsener Mann in der grünbraunen Kleidung der Waldläufer. Er lag, mit grotesk verrenkten Gliedern und dem Gesicht nach unten auf dem Boden, und es hätte nicht einmal der dunklen Blutlache unter seinem Kopf bedurft, um Cavin zu sagen, dass er tot war. Einen Moment lang versuchte er sich an den Gedanken zu klammern, dass der Mann einen Fehltritt getan und sich auf dem steinernen Boden zu Tode gestürzt haben könnte; aber wirklich nur einen Moment lang. Nicht länger, als er brauchte, um neben dem Toten niederzuknien und ihn auf den Rücken zu drehen. Steinfliesen schneiden niemandem die Kehle durch.

Sekundenlang starrte Cavin benommen auf seine Fingerspitzen, die rot vom Blut des Erschlagenen waren. Dann fuhr er hoch und herum, zog sein Schwert und wich instinktiv zwei, drei Schritte zurück, bis er den kalten Fels der Wand in seinem Rücken fühlte.

Plötzlich schien die Burg voller Geräusche und Laute zu sein, die vor einem Moment noch nicht da gewesen waren. Er glaubte Schritte zu hören, ein Lachen, das ein wenig zu schrill und aufgesetzt klang, ein Rascheln und Schaben wie von großen, hornigen Körpern, die sich in den Schatten bewegten …

Cavin schob die Vorstellung mit Macht von sich, packte sein Schwert fester und sah sich aufmerksam nach beiden Seiten um. Der Saal war leer und auch in den angrenzenden Zimmern, deren Türen offen standen, regte sich nichts; zumindest nichts, so weit er sehen konnte. Trotzdem musste, wer immer den Mann vor ihm umgebracht hatte, noch in der Nähe sein.

Vorsichtig, jeden Nerv bis zum Zerreißen angespannt, ging Cavin weiter, durchsuchte flüchtig die anderen Räume und näherte sich schließlich seinem Privatgemach, dem einzigen Zimmer, dessen Tür verschlossen war.

Auf den ersten Blick schien es leer wie die anderen Zimmer. Animahs Bett war verwaist, aber auf den Kissen waren dunkle Flecke, die bewiesen, dass der unheimliche Mörder auch hier gewesen war.

Und als er es umrundete, fand er Karelian.

Der Waldläufer lag verkrümmt auf dem Boden, mit weit aufgerissenen, gebrochenen Augen, die rechte Hand noch gegen die tödliche Wunde in seiner Brust gepresst, die andere ausgestreckt und im Tode zu einer Kralle verkrümmt, als hätte er versucht irgendetwas festzuhalten. Auf seinen Zügen lag ein Ausdruck so tiefen Entsetzens, wie Cavin ihn noch niemals bei einem Menschen gesehen hatte.

Cavin fühlte … nichts.

Der Schmerz, dieser entsetzliche, rasende Schmerz, auf den er wartete, kam nicht. Er spürte nur Leere. Karelian war der Letzte gewesen. Der letzte Freund, der ihm geblieben war, und nun war er tot, von der Hand eines Meuchelmörders niedergestochen, den Lassar geschickt hatte. Das war alles, was er denken konnte. Er empfand nicht einmal Zorn.

Nach einer Weile wandte er sich um, verließ das Zimmer, durchquerte auch den angrenzenden Saal, und auf dem Gang nahe der Treppe sah er die Blutspur. Sie führte nach oben, hinckauf in die Teile der Festung, die sie nie zu betreten gewagt hatten. Jetzt betrat er sie, tastete sich halb blind an der Wand aus schwarzer Lava entlang und erreichte nach einigen Dutzend Schritten einen weiteren Treppenabsatz.

Links von ihm war rotes Licht, wo Feuerschein durch einen Lichtschacht fiel, und in der flackernden roten Beleuchtung lag Animah.

Es war wie ein Hieb.

Länger als eine Minute blieb Cavin reglos stehen, unfähig zu glauben, was er sah: Sie war tot. Ihr Genick war gebrochen und die Hände des Raett, der sie getötet hatte, lagen noch um ihren Hals, erstarrt im Tode, der das riesige Wesen über dem schwarzhaarigen Mädchen hatte zusammenbrechen lassen. Ein schmaler, beidseitig geschliffener Dolch ragte aus seinem Schädel, fast bis ans Heft in seinen Unterkiefer und bis hinauf in sein Gehirn getrieben.

Es war Karelians Dolch. Es gab keinen Zweifel. Cavin selbst hatte ihm die Waffe geschenkt, ein Beutestück, das er einem von Lassars Söldnern abgenommen hatte.

Die gleiche Waffe, die auch Karelian und den Mann unten im Saal getötet hatte. Und jetzt endlich begriff Cavin.

Ein Geräusch drang in sein Bewusstsein, so leise, dass er nicht sicher war es wirklich gehört zu haben, aber als er sich umdrehte und sein Schwert hob, erscholl es erneut und irgendckwo in der Dunkelheit vor ihm regte sich etwas; es war kein Körper, nicht einmal ein Schatten, sondern nur Bewegung. Leben. Cavin duckte sich leicht, streckte die Linke aus, um sich an der Wand entlangzutasten, und begann die ausgetretecknen Steinstufen weiter hinaufzugehen; vorsichtig, jedes Mal den Fuß ganz aufsetzend, ehe er sein Gewicht verlagerte, und mit bis zum Zerreißen angespannten Nerven.

Trotzdem war es reines Glück, das ihm das Leben rettete.

Der Angriff kam so schnell, dass seine Augen die Bewegung kaum wahrnahmen. Der Krieger sprang nicht aus der Dunkelckheit oder aus den Schatten hervor, sondern war einfach da, von einem Sekundenbruchteil zum anderen: ein Riese in einer dunkel schimmernden Eisenrüstung, gut zwei Köpfe größer als Cavin und mit Schild und Dolch bewaffnet.

Und einem Morgenstern, dessen stachelbewehrte Kugel im gleichen Augenblick nach Cavins Schädel schlug.

Der junge König duckte sich, verlor auf den schmalen Stufen den Halt und torkelte rücklings die Treppe hinunter; halb gegen die Wand gestützt, halb fallend. Dort, wo er eine halbe Sekunde zuvor noch gestanden hatte, krachte die Eisenkugel des Morgensterns gegen die Wand, riss Funken und kleine scharfkantige Splitter aus dem Stein und zuckte wie eine angreifende Schlange zurück.

Cavin torkelte weiter, stolperte über den Toten, der am Fuße der Treppe lag, stürzte zu Boden und rollte sich instinktiv zur Seite, als der Gigant nachsetzte und mit seiner fürchterlichen Waffe nach ihm schlug.

Mit einem verzweifelten Satz kam Cavin wieder auf die Fückße, brachte sich mit einem fast grotesk anmutenden Sprung in Sicherheit, als die Eisenkugel schon wieder nach ihm schlug, und hieb blindlings zurück. Sein Schwert prallte am hochgerissenen Schild des Kriegers ab, aber der Hieb brachte den Angreifer aus der Balance. Er torkelte, fiel, von der Wucht seines eigenen Schlages nach vorne gerissen, gegen die Wand. Aber als Cavin mit hoch erhobenem Schwert auf ihn eindrang, war er bereits wieder auf den Beinen und herum, fing den Schlag mit dem Stiel seines Morgensterns auf und schlug Cavin gleichzeitig die Kante seines Schildes gegen den Hals.

Cavin stürzte, ließ seine Waffe fallen, schlug beide Hände gegen die Kehle und rang verzweifelt nach Atem. Der Schlag war nicht sehr heftig gewesen, aber er bekam keine Luft mehr. Vor seinen Augen begannen blutige Schleier einen irren Veitckstanz aufzuführen; er krümmte sich, sah den Angreifer wie einen eisernen Todesengel über sich auftürmen und seine Waffe mit beiden Händen schwingen und trat nach seinen Beinen.

Der Riese wich instinktiv aus, prallte aber gegen die Wand und verlor für einen Moment die Balance. Cavin stemmte sich hoch, rang würgend um Atem und versuchte die Waffe zu heckben, aber das Schwert schien plötzlich Zentner zu wiegen. Er hatte die Klinge noch nicht halb erhoben, als der Fremde schon wieder angriff.

Cavin setzte alles auf eine Karte. Er ignorierte den rasenden Morgenstern, tauchte unter der Kugel hindurch und warf sich mit der Schulter gegen den vorgereckten Schild des Riesen. Gleichzeitig schrammte sein Schwert über den Brustpanzer des Angreifers, fand eine kaum fingernagelbreite Lücke in der mattschwarzen Eisenpanzerung und stieß hindurch.

Der Fremde schrie auf, schleuderte Cavin mit einem Schildckstoß zu Boden und krümmte sich. Der Schild entglitt seinen Händen, und aus dem Brustteil seiner Rüstung drang dunkelrocktes Blut. Die Wunde war sicher nicht gefährlich genug ihn sofort zu töten, aber die Ablenkung reichte Cavin, den Kampf endgültig zu entscheiden. Er schlug die Waffenhand des Fremckden beiseite, warf sich mit weit ausgebreiteten Armen nach vorn, umklammerte die Beine des Kriegers mit beiden Armen – und brachte ihn mit einem entschlossenen Ruck zu Fall. Wie ein stürzender Baum kippte der Riese nach hinten. Sein Helm prallte dröhnend auf die unterste Treppenstufe. Ein dumpfer, knirschender Laut drang unter dem geschwärzten Eisen hervor, dann öffneten sich die gepanzerten Fäuste des Riesen und seine Bewegungen erstarben.

Länger als eine Minute blieb Cavin stöhnend auf den Knien gekauert. Dunkle Bewusstlosigkeit wollte seine Gedanken verckschleiern; sein Herz hämmerte so heftig, dass er jeden Schlag wie einen schmerzhaften Hieb bis in die Fingerspitzen zu fühlen glaubte, aber er drängte den Schmerz zurück, zwang sich mit verzweifelter Kraft, mühsam ein- und auszuatmen, und stemmte sich schließlich torkelnd wieder auf die Beine. In seicknen Ohren rauschte das Blut, und als er sich nach seinem Schwert bückte, wurde ihm erneut schwindlig. Die Treppe und der Korridor schienen vor seinem Blick zu verschwimmen. Er sah nur noch Schemen und blutiges Rot.

Dann drangen Geräusche durch den immer dichter werdenden Schleier, und irgendetwas war an diesen Lauten, das ihm neue Kraft gab. Er fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht, um die Tränen aus seinen Augen zu wischen, ergriff sein Schwert und begann, halbwegs gegen die Wand gestützt und noch immer gegen Übelkeit und Schwäche ankämpfend, die gewundene Treppe hinunterzutaumeln. Der Lärm, der ihm entgegenschlug, wurde stärker.

Aber es dauerte lange, bis Cavin begriff, dass er Kampflärm hörte.

Wie von Sinnen rannte er los.

26

Der Kampf war vorbei, als er die Halle erreichte. Im ersten Moment war er geblendet, denn das grellrote Licht der Flammen verwandelte das Tor in ein Rechteck von unerträglicher Helligkeit. Aber er hörte Schreie und das Klirren von Stahl, Laute, die ihm nur zu vertraut waren. Dann erkannte er Schatten, die miteinander rangen. Instinktiv hob Cavin sein Schwert und hieb nach einer riesigen Gestalt, die mit erhobener Waffe auf ihn zutorkelte, traf aber nicht und kam auch nicht zu einem zweiten Hieb, denn der Mann taumelte weiter, und Cavin sah erst jetzt die beiden Pfeile, die aus seinem Rücken ragten.

Die Halle hatte sich in ein Chaos verwandelt. Überall lagen Tote und Verwundete, die meisten davon Lassars Männer, denn die Angreifer mussten hoffnungslos in der Minderzahl gewesen sein. Hier und da wurde noch gekämpft, aber Cavin kam nicht mehr dazu, selbst in das Geschehen einzugreifen. Wer von Lassars Männern noch lebte, sah sich plötzlich einem Feind gegenüber, der mit der Kraft der Verzweiflung kämpfte und nichts mehr zu verlieren hatte.

Er schob sein Schwert in den Gürtel zurück, hielt nach Guarr Ausschau und hob den Arm, als er den Raett unweit des Ausganges entdeckte. Guarr stieß einen schrillen Pfiff aus und eilte auf ihn zu.

»Wo kommt Ihr her?«, fragte Guarr. »Wo sind Karelian und –«

»Tot«, unterbrach ihn Cavin. »Beide.« Guarr sah ihn fragend an, aber Cavin sprach nicht weiter. Es ging Guarr nichts an, was wirklich geschehen war. Niemand sollte es erfahren. Diese letzte Lüge Lassars galt nur ihm.

»Sind noch mehr Krieger oben?«

Cavin schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, antwortete er. »Ich … bin einem begegnet. Er ist tot. Die hier müssen vercksucht haben sich den Weg nach draußen zu erkämpfen. Wahrckscheinlich haben sie nicht mit unserer Rückkehr gerechnet und sind in Panik geraten. Ich verstehe nicht, wo sie herkommen.«

»Aber ich«, sagte Guarr ernst. »Komm.« Ohne ein weiteres Wort der Erklärung wandte er sich um und humpelte auf den Ausgang zu.

Die Tür war geborsten und halb aus den Angeln gerissen; einer der Riesenkrieger lehnte daran wie ein bizarrer Schmetterckling, von einem geschleuderten Speer an das Holz genagelt und mit halb erhobenen, totenstarren Händen. Der Anblick erschreckte Cavin fast mehr, als es der eines lebenden Angreifers gekonnt hätte, denn er führte ihm mit schmerzhafter Wucht vor Augen, was ihre Feinde wirklich waren: keine lebenden Wecksen, sondern Dinge, die töteten, gnadenlos und präzise wie Mackschinen.

Cavin fuhr erschrocken zusammen, als er sah, worauf ihn Guarr aufmerksam machen wollte. Die Dunkelheit war blutig rotem Licht gewichen, das den Hof in ein unheimliches Muster von flackerndem Rot und hin- und herhuschenden Schatten verwandelte. Die Flammen hatten die Festung jetzt von allen Seiten eingeschlossen und die Luft flimmerte vor Hitze. Trotzckdem waren Lassars Krieger überdeutlich zu erkennen.

Es mussten an die tausend sein; eine gewaltige Armee, die in einem lockeren, nach innen gebogenen Halbkreis auf dem Hof Aufstellung genommen hatten. Wieder kam Cavin das Autockmatenhafte, Künstliche ihrer Erscheinung zu Bewusstsein. Alle waren gleich groß, alle auf die gleiche Art gekleidet, jeder mit Schild und Morgenstern bewaffnet und finster wie ein Stück zum Leben erwachter Nacht. Die Reiter ähnelten sich wie eine Armee identischer Zwillinge.

Oder wie Abdrücke aus einer einzigen Gussform, dachte Cavin schaudernd.

»Das … das ist das Ende. Es hat keinen Sinn mehr, Guarr.« Cavins Stimme brach fast. Trotz der fast unheimlichen Stille, die sich in der Halle ausgebreitet hatte, waren seine Worte kaum zu verstehen. Es dauerte lange, bis der Raett überhaupt darauf reagierte und müde den Kopf hob.

»Und was wollt Ihr tun, Herr?«

Cavin schloss die Augen, lehnte den Kopf nach hinten gegen die kahle Steinwand und atmete hörbar aus. »Ich gehe hinaus«, flüsterte er. »Er will mich, Guarr. Er wollte von Anfang an nur mich.«

Guarrs Antwort bestand in einem rauen, vollkommen humorcklosen Lachen. »Verzeiht, wenn ich Euch widerspreche, Herr«, sagte er sarkastisch, »aber um Euch Lassar auszuliefern, müsste er wenigstens hier sein. Bis jetzt habe ich keine Spur von ihm gesehen. Nur seine schwarzen Bestien.« Er stöhnte, presste die Hand gegen den dünnen, blutenden Schnitt über dem Auge, den er beim letzten Angriff davongetragen hatte, und betrachteckte stirnrunzelnd und beinahe wütend das Blut auf seinen Fingerspitzen.

»Er ist da«, behauptete Cavin. »Ich weiß nicht wo, und ich weiß nicht, wie er es gemacht hat – aber er ist hier. Ganz in unserer Nähe. Ich spüre ihn, Guarr.« Er stand auf, blieb einen Moment kraftlos gegen die Wand gelehnt stehen und machte ein paar taumelnde Schritte auf den Ausgang zu.

»Was habt Ihr vor?«, fragte Guarr alarmiert.

»Was ich sofort hätte tun sollen, Guarr«, antwortete Cavin grimmig. »Ich gehe hinaus.«

»Sie werden Euch umbringen.«

»Vielleicht«, antwortete Cavin. »Aber vielleicht lassen sie dann wenigstens euch am Leben. Ihr habt keinen Streit mit Lassar. Wenn ich tot bin, stellt ihr keine Gefahr mehr für ihn dar.« Er nickte noch einmal, um seine Worte zu bekräftigen, zog das Schwert aus dem Gürtel und ging weiter.

Guarr stellte ihm ein Bein, fing ihn auf, als er stürzte, und versetzte ihm rasch hintereinander zwei schallende Ohrfeigen. Cavin ächzte, hob die Hände, um seine Schläge abzuwehren, und versuchte nach ihm zu treten. Guarr schlug noch einmal zu und Cavins Widerstand erlahmte.

»Seid Ihr jetzt wieder vernünftig?«, fragte Guarr ruhig. Cavin wollte antworten, bekam aber nur einen keuchenden Laut herckaus, und Guarr ließ behutsam seine Schultern los.

»Wem glaubt Ihr damit zu nutzen, wenn Ihr Euch umbringt, Ihr Narr?«, fragte er scharf. »Bildet Ihr Euch im Ernst ein, Lassar ließe auch nur einen von uns lebend hier heraus? Das kann er sich gar nicht leisten. Nicht nach diesem neuerlichen Verrat.« Er deutete mit einer zornigen Kopfbewegung zum Fenster. »Ich bin sicher, dass Lassar sich eine wunderschöne Geschichte zurechtgelegt hat, nach der ihn niemand mehr für das verantwortlich machen wird, was hier geschehen ist. Geht zu ihm und lasst Euch erschlagen, und seid sicher, dass er die Welt glauben machen wird, dass Ihr es wart, der den Wald angezündet hat! Er kann es sich gar nicht leisten, auch nur einen von uns am Leben zu lassen, seht das ein.«

Cavin wollte widersprechen, aber Guarr fuhr ruhig, doch mit trotzdem leicht erhobener Stimme fort: »Wir sollten lieber überlegen, wie wir hier herauskommen. Ihr seid sicher, dass es keinen geheimen Ausgang gibt?«

Natürlich war Cavin nicht sicher. Die Monate, die sie in dieser Festung verbracht hatten, hatten nicht ausgereicht, auch nur ein Zehntel der gewaltigen Anlage zu untersuchen. Aber er war sicher, dass er keinen geheimen Ausgang kannte. Und wohin hätten sie auch fliehen können? Rings um die Megidda herum brannte die Welt. Guarr fragte auch nur, um überhaupt irgendetwas zu sagen und Cavin wieder zur Vernunft zu bringen.

Seine Taktik schien Erfolg zu haben, denn der junge Waldkönig beruhigte sich zusehends. Schließlich lächelte er sogar, wenn es auch mehr einer Grimasse glich.

»Du hast Recht, Guarr«, sagte er leise. »Verzeih.«

Guarr machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schon gut. Jeder kann die Nerven verlieren. Aber wie habt Ihr das gemeint – Lassar ist hier?«

»Wie ich es gesagt habe«, antwortete Cavin. »Ich spüre seine Nähe, Guarr. Er … er war die ganze Zeit über hier. Er … er ist diese Festung.«

»Dann sollten wir ihn suchen«, sagte Guarr, ohne auf die letzten Worte Cavins einzugehen.

Cavin lachte bitter. »Und wie, Guarr? Meinst du nicht, ich hätte –«

»Ihr seid nicht irgendwer, Herr«, fiel ihm Guarr ins Wort. »Ihr seid der Herr von Hochwalden. Der König des Schwarzeichenwaldes. Euch stehen andere Mittel und Wege offen als mir oder irgendeinem anderen.«

Cavins Blick spiegelte Trauer, als er antwortete. »Das wäre vielleicht so, wäre alles anders gekommen, Freund. Es wäre vielleicht so, hätte ich Zeit gehabt, das Erbe meines Vaters wirklich anzutreten. Wäre Faroan nicht gestorben, ehe ich auch nur begriff, was dieser Wald überhaupt ist. Doch nun bin ich nicht mehr als du. Vielleicht weniger.«

Guarr verwarf seine Worte mit einer unwilligen Geste. »Warum ruft Ihr Faroan nicht?«, fragte er. »Er hat uns schon einmal geholfen, er könnte es wieder. Ruft ihn, Herr!«

»Glaubst du nicht, ich hätte es versucht?«, fragte Cavin leise. Er schüttelte den Kopf, legte die Rechte auf den Schwertknauf in seinem Gürtel und berührte mit der anderen Hand Guarrs Arm. »Ich habe es versucht, mein Freund«, sagte er leise. »Ich habe ihn angefleht uns zu helfen, jede Minute, die wir hier eingeschlossen waren. Aber er hat nicht geantwortet. Diesmal hilft uns nur noch unser Mut und unsere Kraft, Guarr. Und das hier.« Er zog das Schwert, sah Guarr noch einen Herzschlag lang ernst in die Augen und nickte.

»Kommt, Freunde«, sagte er laut und nicht mehr nur an Guarr, sondern an alle gewandt. »Bringen wir es zu Ende.«

27

Die Phalanx der schwarzen Krieger zog sich wie ein Riss durch das rote Licht, eine gerade, präzise ausgerichtete Dreierreihe mattschwarz glänzender Rüstungen und großer, eisenbeschlagener Schilde. Dahinter, in fünf, sechs Schritten Abstand und wie zwei düstere Dämonenstatuen, standen Lassars Wächter, perfekte Ebenbilder der Dämonenarmee, nur größer und wilckder, drohender. Es war unheimlich still. Selbst der Wind war verstummt und obgleich es noch nicht vollends Tag war, war die Luft von seltener Klarheit; wie kunstvoll geschliffenes Glas, das den Blick nicht behinderte, sondern das, was dahinter lag, noch vergrößerte.

Cavin war der Erste, der den Turm verließ. Glühende Luft und Nebel, der in blutigen Schwaden vom Boden aufstieg und über die Mauern der Burg gekrochen war, schlugen ihm wie eine brennende Hand entgegen. Das Schwert fühlte sich plötzcklich klamm und sehr viel schwerer in seiner Hand an. Langsam entfernte er sich ein paar Schritte vom Turm, blieb stehen und wartete, bis Guarr und die anderen an seine Seite getreten waren.

Er war ganz ruhig. In jedem einzelnen Augenblick des Kampfes, ja seit er Hochwalden das erste Mal betreten und Lassar gegenübergestanden hatte, war die Furcht sein treuer Begleiter gewesen. Jetzt war sie verschwunden. Er spürte keine Angst mehr, nur noch eine dumpfe, alle anderen Gefühle erstickende Entschlossenheit und ein übermächtiges Empfinden des Endgültigen. Während des letzten halben Jahres hatte er ein Dutzend Mal dem Tod ins Auge geblickt und zehnmal so oft hatte er sich gefragt, wie es sein würde, wenn er ihm eines Tages nicht mehr ein Schnippchen schlagen konnte; was er empfinden würde, wenn der Augenblick kam, in dem es endgültig aus war. Jetzt wusste er es.

Nichts.

In ihm war nur Leere.

Eine sanfte, im Einzelnen kaum wahrnehmbare Bewegung lief durch die Dreierreihe der Dämonenkrieger. Gleichzeitig lebte der Wind wieder auf und blies Hitze und loderndes rotes Licht über die Mauerkrone und durch das offen stehende Tor.

»Die beiden Krieger«, flüsterte Guarr an seinem Ohr. »Lassars Kreaturen. Wo sie sind, ist auch er nicht weit. Wenn wir sie töten, haben wir vielleicht eine Chance.«

Cavin nickte, aber er tat es mehr, um Guarr zu beruhigen, denn aus irgendeinem anderen Grund. Selbst wenn es ihnen möglich gewesen wäre, sie zu töten – was Cavin bezweifelte –, sie wären nicht einmal in ihre Nähe gekommen. Zwischen ihnen und den beiden Riesenkriegern befanden sich tausend von Lassars schwarzen Kreaturen.

Zehn für jeden von uns, dachte Cavin düster. Es war kein sehr fairer Kampf.

Wieder lief diese rasche, irgendwie organische Bewegung durch die Reihe der Angreifer, dann, wie auf ein unhörbares Kommando hin, setzte sich die dreifache Mauer aus Stahl und tödlichem Eisen in Bewegung.

»Jetzt!«, rief Guarr.

Bogensehnen sirrten. Guarrs Speer zischte durch die Luft, zermalmte Schild und Brustharnisch eines Eisenkriegers und warf den Mann zu Boden; gleichzeitig fand ein halbes Dutzend Pfeile seine Ziele und riss weitere Krieger von den Füßen.

Die Lücken in der feindlichen Phalanx schlossen sich beinahe schneller, als sie entstanden waren. Die Dreierreihe der Däckmonen stampfte weiter heran, seelenlos, gleichmäßig, ohne ihren Vormarsch auch nur im Geringsten zu beschleunigen oder zu unterbrechen.

Eine zweite Pfeilsalve schlug den Angreifern entgegen und wieder marschierte die Reihe der unheimlichen schwarzen Krieger ungerührt weiter.

Dann waren sie heran und mit einem Male zerfiel die geordcknete Angriffsreihe in ein, zwei Dutzend kleinere Gruppen, die sich in stummer Verbissenheit auf Cavins Krieger stürzten und sie mit ihren fürchterlichen Morgensternen angriffen.

Aber nur seine Krieger.

Es ging beinahe zu schnell, als dass Cavin und Guarr auch nur Zeit fanden, wirklich zu begreifen, was geschah. Die Angreifer waren den Rebellen zehn zu eins überlegen und hier, auf der ungeschützten freien Fläche des Hofes, kam ihre zahlenmäßige Übermacht zehnmal stärker zur Geltung als drinnen in der Burg oder bei der Schlacht im Wald, wo die Verteidiger noch immer die Chance gehabt hatten, sich zurückzuziehen und sie einzeln in Kämpfe zu verwickeln. Der Kampf – das Schlachten, dachte Cavin entsetzt – dauerte nicht einmal eine Minute. Die schwarzen Giganten rasten heran und walzten die Verteidiger einfach nieder.

Fünfzig Herzschläge nach Beginn des Kampfes gab es nur noch Cavin und Guarr.

Und tausend schweigende schwarze Krieger, die einen undurchdringlichen Kreis um sie bildeten …

»Guarr!«, keuchte Cavin. »Was bedeutet das?«

Der Raett starrte ihn aus entsetzt geweiteten Augen an. Seine Hände zitterten so heftig, dass er kaum mehr in der Lage schien, das Schwert zu halten. »Ich … ich weiß es nicht«, stammelte er. »Lassar! Dieser Teufel! Er …« Er brach ab, fuhr herum, schrie plötzlich gellend auf und schlug mit wütenden Schwerthieben auf die Reihe der Riesenkrieger ein.

Lassars Kreaturen wehrten sich nicht einmal. Guarrs Schwert fuhr splitternd durch Schilde und Panzer, zermalmte Helme und Harnische, fuhr hierhin und dorthin und warf zehn, fünfckzehn, zwanzig der seelenlosen Kreaturen zu Boden, ehe der Raett keuchend in seiner Raserei innehielt. Er wankte, fiel auf die Knie, ließ sein Schwert fallen und fing den Sturz im letzten Moment mit den Händen auf. Sein Atem raste. Kleine hystericksche Laute kamen über seine Lippen, während er vollends nach vorne fiel. Wimmernd stemmte er sich wieder hoch. Seine Hand tastete über den Boden und suchte das Schwert.

»Lass es sein, Freund«, sagte Cavin leise. »Er spielt doch nur mit uns.«

Guarr hob den Kopf. Sein Gesicht war vor Erschöpfung und Entsetzen verzerrt und in seinen Augen glomm ein Feuer, das Cavin schaudern ließ. »Tötet mich«, wimmerte er. »Ich flehe Euch an, Cavin! Erschlagt mich! Gebt mir einen … ehrenvollen Tod!«

»Kein Tod ist ehrenvoll, du Narr.«

Cavin drehte sich betont langsam herum – und sah Lassar in die Augen. Er starrte ihn einen Herzschlag lang hasserfüllt an und lächelte. »Lassar«, sagte er. »Ihr habt Euch lange Zeit gelassen.«

»Ihr seid nicht sehr überrascht mich zu sehen«, stellte Lassar fest.

»Sollte ich?«, fragte Cavin. »Ich wäre überrascht gewesen, wenn Ihr nicht gekommen wäret. Einen so melodramatischen Auftritt könnt Ihr Euch doch nicht entgehen lassen.«

Lassar schüttelte tadelnd den Kopf. »Ihr beleidigt mich, Cavin«, stellte er fest. »Immerhin habe ich das nur zu Eurer Unterhaltung arrangiert. Ich hätte es mir weiß Gott einfacher machen können.«

»Mit einem Pfeil in den Rücken?«, fragte Cavin kalt. »Wie bei Faroan? Oder bei meinem Vater? Oder auf elegantere Art – wie bei Karelian und seinem eigenen Kind?«

Lassar runzelte verwirrt die Stirn. »Sein … Kind? Die Amazone war seine Tochter?« Er lächelte dünn. »Interessant. Das gibt dem Ganzen eine aparte Note, findest du nicht?«

»Du Teufel«, keuchte Cavin. »Du –«

Lassar bewegte ärgerlich die Hand. »Schweigt! Ich habe mir Eure Unverschämtheiten lange genug anhören müssen. Aber jetzt ist der Spaß vorbei.«

»Lasst wenigstens Guarr gehen, wenn Ihr mich töten wollt –«, begann Cavin, wurde aber sofort von Lassar unterbrochen: »Wer sagt, dass ich Euch töten will, Cavin?«

Cavin starrte ihn an. »Wenn Ihr nicht –«

»Glaubt Ihr im Ernst, ich hätte all dies nur getan, um Euch umzubringen, Ihr Narr?«, unterbrach ihn Lassar abfällig. »Ihr seid noch dümmer, als ich bisher annahm. Ich trachte Euch nicht nach dem Leben. Das habe ich niemals getan.«

»Was … was habt Ihr vor?«, fragte Cavin stockend. Eine dumpfe, noch unformulierte Ahnung begann sich wie ein übler Geschmack in ihm breit zu machen.

»Geduld, mein junger Freund«, antwortete Lassar. »Nur noch ein wenig Geduld, und Ihr werdet alles erfahren.« Er hob die Hand und machte eine befehlende Geste. Die Dreierreihe der schwarzen Krieger teilte sich und Lassars Wächter kamen herckbei, zwei gewaltige schwarze Schlachtrösser am Zügel führend. Lassar machte eine einladende Geste.

»Wenn ich Euch bitten dürfte, Cavin? Und Euch auch, Guarr.«

Einer seiner Krieger unterstrich die Worte mit einem rüden Stoß in Cavins Rücken. Cavin taumelte, stolperte an Lassar vorbei und fiel beinahe, als ihn ein zweiter, noch härterer Stoß traf. Dann griffen harte, eisengepanzerte Fäuste nach seinen Armen und zerrten ihn mit brutaler Kraft in den Sattel des Schlachtrosses.

Cavin wehrte sich nicht. Er wollte und konnte nicht mehr kämpfen. Jetzt nicht mehr. Er hatte den Kampf seines Lebens gekämpft, vielleicht den größten und wichtigsten Kampf, den jemals ein Mensch ausgefochten hatte – und verloren.

Sein Blick glitt über das unregelmäßige Rechteck des Hofes, verharrte einen Moment auf den Leichen der Männer, die zu ihm und Guarr gehörten, tastete weiter und suchte den gigantickschen Baum im Herzen der Festung. Seine Krone leuchtete rot im Widerschein der Flammen, fast, als brenne auch er. Selbst die Schatten, die er warf, waren rot. Versagt, dachte Cavin matt. Er hatte versagt.

»Warum das alles, Lassar?«, fragte er.

Lassar antwortete nicht gleich. Bevor er es tat, richtete er sich ein wenig im Sattel auf und sah sich um. Die Festung war in einen Ring von Feuer eingeschlossen. Der Himmel brannte. Vielleicht brannte die ganze Welt.

»Würdet Ihr mir glauben, wenn ich Euch sagte, dass es nötig war, König Cavin?«, fragte er.

»Nötig?« Cavin lachte bitter, deutete auf den flammenden Himmel über der Burg und dann auf die erschlagenen Männer und Raetts. »Der Tod dieser unschuldigen Männer? Der Tod deiner eigenen Krieger? Du hast nicht nur mein Heer vernichtet. Du hast gesiegt, aber du hast sehr viel für diesen Sieg beckzahlt.«

»Und ich werde mehr dafür bekommen, als du dir je träumen lässt, du Narr!«, fuhr Lassar auf, nun wieder so zornig und hart, wie Cavin ihn kannte. Aber er beruhigte sich auch ebenso schnell wieder.

»Ihr wisst nichts, Cavin«, sagte er. »Ihr habt diesen Ort betreckten und ihn allein dadurch entweiht, und Ihr bildet Euch ein, seine Geheimnisse zu kennen, aber Ihr wisst nichts über ihn.« Er drängte sein Pferd ein wenig dichter an das von Cavin heran und beugte sich im Sattel vor. »Wollt Ihr wissen, warum Ihr diesen Krieg verloren habt, mein König?«, fragte er höhnisch. »Nur weil Ihr hier wart. Dieser Ort wirkt durch die, die ihn beherrschen, aber Ihr habt niemals verstanden wie. Der Schwarzeichenwald war stark, solange seine Herrscher stark waren. Aber dann seid Ihr hierher gekommen, Ihr und Eure lächerlichen Rebellenfreunde, und er wurde so wie Ihr: schwach und voller Angst.«

»Und wie wird er nun werden?«, fragte Cavin. »Böse?«

»Hart«, sagte Lassar. »Stark, Cavin. Ihr habt Recht – all Eure Krieger sind tot und all meine Männer, bis auf die, die Ihr hier seht. Aber der Tod jedes Einzelnen erhöht die Macht dieses Ortes. Es ist ihr Tod, der ihn stark macht, der Tod des Waldes, der seine Mauern fester denn je werden lässt. Keine Macht der Welt kann ihn jetzt noch erstürmen. Und ich werde sein König sein.«

»Worauf wartet Ihr dann noch?«, fragte Cavin leise. »Erckschlagt uns, damit Eure Festung noch ein wenig stärker wird.«

»Ich sagte Euch bereits – ich trachte Euch nicht nach dem Leben«, sagte Lassar.

»Worauf wartet Ihr dann?«

Statt einer Antwort deutete Lassar zum Burgtor.

Es konnte kein Zufall sein. Welche Macht immer das Schicksal lenkte, sie hatte bis zu diesem Moment gewartet, vielleicht auch, damit Cavin die Wahrheit erfuhr, aus Lassars Mund und ohne dass der König der Schatten es überhaupt begriff.

Aber als Cavin die Gestalt sah, die durch das Tor getaumelt kam, begriff er. Vielleicht war er der erste Waldkönig überhaupt, der die Wahrheit erkannte. Vielleicht der erste Mensch. Sicher der letzte.

Gwenderon erschien wie ein schwarzer Schattenriss vor der feuererfüllten Bresche in der Mauer. Er wankte. Sein Haar und sein Gesicht und seine Hände waren verbrannt, seine Augen milchige weiße Kugeln, die nichts mehr sahen, seine Kleider verkohlt. Er lebte nicht mehr, war nur noch ein Stück Fleisch, das sich weiterschleppte, beseelt von einer Kraft, die Cavin nicht einmal zu erahnen imstande war.

Langsam, torkelnd kam er heran, wankte auf Cavin und Lassar zu und blickte sie beide aus seinen blinden Augen an. Sein Mund bewegte sich, versuchte Worte zu formen. Er roch nach verbranntem Fleisch und Tod. Seine rechte Hand, die den knorrigen Stab umklammerte, war nur mehr ein Skelett. Es war nicht mehr zu erkennen, was Holz und was verbranntes Fleisch war.

»Endlich seid Ihr da, Gwenderon«, sagte Lassar leise. Seine Stimme war ganz anders als bisher. Es war nichts mehr von dem boshaft-hämischen Ton darin, den Cavin so an ihm gehasst hatte. Er wirkte nur ernst. Entschlossen. Vielleicht, überlegte er, hatte er die ganze Zeit nur Theater gespielt.

Gwenderon versuchte zu antworten, aber er konnte es nicht. Er war blind, trotzdem wandte er den Kopf in Lassars Richtung. Blut lief über sein zerstörtes Gesicht.

»Quält ihn nicht noch, ich bitte Euch«, sagte Cavin leise. Lassar sah mit einem Ruck auf. Seine Augen flammten.

»Quälen?«, fragte er. »Wie kommt Ihr darauf, mein König? Im Gegenteil – ich bin ihm zu Dank verpflichtet«, fuhr Lassar fort. »Dafür, dass er Faroans Stab für mich geholt hat. Ich selbst hätte das Grab niemals betreten können. Und nun gebt ihn mir.«

Gwenderon begann zu zittern. Sein Mund öffnete sich, aber alles, was über seine Lippen kam, war ein unartikuliertes, schreckliches Stöhnen.

»Gib ihm den Stab, Gwenderon«, sagte Cavin leise. »Es hat keinen Sinn mehr.« Er wartete, bis Gwenderon gehorcht und Lassar den mannslangen Eichenstab ausgehändigt hatte, und lenkte sein Pferd ganz nah an das von Lassar heran. Gwenderon sank wimmernd zu Boden, fiel auf die Seite und starb endgültig. Cavin bemerkte es kaum noch. »Was jetzt geschieht«, sagte er leise, »geht nur noch uns beide an. Nicht wahr, Lassar?«

Lassar nickte, ergriff den Stab an einem Ende und hielt Cavin das andere hin.

Cavin griff danach. Und im gleichen Moment, in dem seine Finger das steingewordene Holz berührten, erlosch die Welt.

28

Der Baum war so alt wie die Welt. Sein Same war aus dem ersten Leben gesprossen, das die Oberfläche dieses Planeten erreicht hatte. Seine Krone berührte den Himmel, und seine Wurzeln reichten bis auf den tiefen Grund der Meere und zum Herzen der Welt. Der Wald war der Baum und der Baum war der Wald. Es gab nur ihn, Teile von ihm, Töchter, Söhne, Brückder, Schwestern – er war das Leben, das einzige und allein beckständige Leben, vielleicht die einzige Macht, die diese Welt je gesehen hatte. Er war kein Gott, denn Götter sind sterblich, während er immer war und immer sein würde.

»Seit wann weißt du es?«, fragte Lassar leise. Er flüsterte; trotzdem schien seine Stimme tausendfach verzerrt von den Rändern des grauen Nichts widerzuhallen, das sie umgab; Echos aus einer Welt, die an diesem Ort keinen Bestand mehr hatte.

Sie waren nicht wirklich hier, begriff Cavin. So wenig, wie er damals mit dem Trugbild seines Vaters wirklich hier gewesen war. Es gab dieses Hier nicht, weil der Baum überall war.

»Ich weiß nichts«, antwortete er nach einer Weile. Stunden? Jahre? Was bedeutete Zeit an einem Ort, der Ewigkeit war?

»Ich weiß überhaupt nichts. Ich ahne nur.« Er sah auf, blickte Lassar an und konnte nichts anderes empfinden als Mitleid.

Er ahnte, ja.

Aber Lassar glaubte zu wissen und ahnte nicht einmal.

»Warum hast du es getan?«, fragte er.

»Warum?« Lassar seufzte. »Ich dachte, du wüsstest es. Macht. Das Einzige, was zählt. Alles, was mich jemals interessiert hat, ist Macht.« Er runzelte die Stirn. »Willst du mich deshalb hassen?«

»Nein«, antwortete Cavin und es war die Wahrheit. Dies war kein Ort, an dem man lügen konnte. »Nicht deshalb. Es ist deickne Natur. Ich kann dich nicht für das hassen, was du bist, Lassar. Aber warum mussten so viele Unschuldige sterben? Es war von Anfang an eine Sache zwischen uns. Zwischen dir und mir.«

»Du hättest mir den Weg hierher niemals freiwillig gezeigt«, behauptete Lassar. »Du bist der Waldkönig. Es ist seit Urzeiten die Aufgabe deiner Familie, ihn, den Baum der Bäume, zu schützen. Du hättest ihn mir niemals freiwillig gezeigt.«

»Und du glaubst wirklich, es stünde in meiner Macht, ihn zu schützen? Du glaubst, es gäbe eine Gefahr für ihn?« Cavin schüttelte den Kopf und deutete auf den Baum. Eine Wurzel, groß wie ein Berg und vor einer Million Jahren zu Stein geworden, hatte den Boden vor ihnen bersten lassen. Aus dem Riss stieg grauer Nebel. Für einen Moment glaubte er ein Gesicht darin zu erkennen.

»Du bist so dumm, Lassar«, sagte er. »Du willst ihn? Nimm ihn, wenn du es kannst!«

Lassar starrte ihn an. Misstrauen flackerte in seinem Blick, aber nur für einen Moment. »Du kennst die Prophezeiungen«, sagte er und hob Faroans Stab. »Wer diesen Stab besitzt und Macht über den Waldkönig hat, hat auch Macht über ihn

»Und was versprichst du dir davon?«, fragte Cavin leise.

»Was ich mir davon verspreche?« Lassar ächzte. »Macht, du Narr. Unsterblichkeit und Macht über die Welt und die Menschen. Ich werde ewig leben. Ich werde alles Wissen und alle Erfahrungen jedes Menschen haben, der jemals auf dieser Welt gelebt hat. Du und die anderen, ihr habt eure Chance gehabt und verspielt. Ich werde sie nutzen. Ich werde ein Gott sein!«

»Wenn es das ist, was du willst«, sagte Cavin ruhig, »dann geh.«

Noch einmal zögerte Lassar. Dann wandte er sich um und ging mit schnellen Schritten auf den Baum zu. Cavin sah ihm nach, bis seine Gestalt im treibenden Nebel der Lichtung kleickner und kleiner geworden und schließlich ganz verschwunden war. Dann drehte er sich herum, ging ein paar Schritte, setzte sich auf eine Wurzel und wartete.

Zeit verging. Vielleicht entstanden in der Zeit, die er wartete, draußen in der Welt Reiche und Imperien, vielleicht verging auch nur die Spanne, die ein Gedanke brauchte – es interessierte ihn nicht. Jetzt endlich hatte er das Erbe seines Vaters angetreten und war der Waldkönig geworden. Und er hatte erst jetzt begriffen, was dieses Erbe bedeutete und dass es – wenn überhaupt – viel mehr als alles andere ein Fluch war. Du und die anderen, ihr habt eure Chance gehabt, glaubte er Lassars Worte noch einmal zu hören. Und ihr habt sie verspielt.

Hatten sie es getan?

Irgendwie glaubte Cavin zu ahnen, dass Lassar Recht hatte. Es war nicht Hochwalden, das verloren war. Es war nicht nur der Schwarzeichenwald, der niedergebrannt worden war. Der Wald würde wieder wachsen, sich wie ein Phönix aus der Asche erheben, wie er es jedes Mal getan hatte, all die unzähligen Male zuvor, da er das Kommen und Gehen eines neuen Volkes beobachtet hatte, denn die Geburt eines Volkes war so schmerzhaft und voller Blut wie die eines einzelnen Lebewecksens. Vielleicht würde irgendjemand sogar Hochwalden wieder aufbauen. Aber – und da war er ganz sicher – es würde kein Mensch sein. In diesem einen Punkt hatte Lassar Recht. Sie hatten ihre Chance gehabt. Ihre Zeit war abgelaufen. Oh, es würde Menschen geben, noch lange, noch Jahrhunderte, vielleicht Jahrzehntausende. Aber sie würden nicht länger die Herren sein.

Irgendwann bewegten sich die Schatten vor ihm und ein weißhaariger Mann erschien. Cavin lächelte flüchtig, als er Faroan erkannte.

»Ist er da?«, fragte er.

»Noch nicht«, antwortete Faroan. »Der Weg in die Unendcklichkeit ist weit. Aber er wird ihn bewältigen. Er ist stark. Von allen, die gekommen sind, war er der Stärkste. Er wäre vielleicht sogar in der Lage gewesen, den Weg zu verderben.«

»Aber nur vielleicht«, sagte Cavin.

Faroan lächelte. »Ja, sicher. Nur vielleicht. Die Unendlichkeit dauert zu lange, um Dinge wie Stolz oder Machtgier zu dulden. Er wird mit ihr verschmelzen und werden, was alle wurden: ein Teil des Ganzen.« Er schwieg eine Weile, bückte sich nach dem Stab, den Lassar achtlos fallen gelassen hatte, drehte ihn einen Moment in den Händen und warf ihn dann wieder zu Boden.

»Was ist er?«, fragte Cavin. »Gott?«

Faroan überlegte eine Weile. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob es so etwas wie Gott gibt. Wenn, dann kommt er ihm sicherlich nahe. Aber er ist nicht Gott. Er ist ein Wesen wie wir. Nur anders. Älter. Unendlich viel älter. Er ist alles. Eines Tages wirst auch du zu ihm gehören. Dann sehen wir uns wieder.«

Cavin nickte, stand auf, drehte sich herum und blieb noch einmal stehen. »Eines Tages sehen wir uns wieder«, bestätigte er. »Aber bis dahin ist noch viel Zeit – hoffe ich.«

»Was wirst du tun?«, fragte Faroan.

Cavin zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Die Welt ist groß. Vielleicht findet sich eine Verwendung für einen arckbeitslosen König.«

»Wirst du Hochwalden wieder aufbauen?«

Diesmal überlegte Cavin eine Weile. Dann schüttelte er den Kopf; sehr entschieden. »Es wäre nicht gut«, sagte er. »Und es wäre sinnlos. Du weißt, dass der Wächter nur einmal seine Aufgabe erfüllen darf.« Er zögerte, lächelte verlegen. »Habt ihr … schon einen Nachfolger für meine Familie?«

»Ja«, bestätigte Faroan. »Und es wird dich nicht überraschen. Ich glaube, du weißt, wer es ist.«

Cavin nickte. »Ich habe mich vom ersten Moment an gewundert, warum sie unseren Kampf gekämpft haben.«

»Vielleicht, weil es nicht euer Kampf war«, sagte Faroan ernst. Dann hob er den Arm, lächelte zum Abschied – und zerfaserte wie die Nebel, die ihn einhüllten.

Aber kurz bevor er verschwand, sah Cavin einen zweiten, massigen Umriss an derselben Stelle stehen, an der er gestanden hatte. Stämmige kurze Beine, ein graubraunes, struppiges Fell, spitze Ohren und Augen, die wie die von Tieren aussahen und doch voll großer Intelligenz und Sanftmut waren.

Auch der Raett verschwand spurlos, aber jetzt, nachdem Cavin den neuen Waldkönig gesehen hatte, wusste er, dass er sich um das Schicksal des Schwarzeichenwaldes keine Sorgen mehr zu machen brauchte.

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