Ich Schurke, ich erwartete Vorwürfel Und was hörte ich, als ich unter Schluchzen und Tränen ihre heiligen Worte vernahm?
«Das tut nichts, Du brauchst keine ArbeiL Man hat mir hier ein Gehalt angeboten, ich
wollte es nicht, werde es jetzt aber annehmen. Und wir werden davon leben und die Kinder ernähren. Du wirst bei mir sein, wir werden zusammen tun, was wir können. Jetzt aber bist Du wie ein Schwerverwundeter und ich führe Dich heim. Du wirst sehen, wie die Kinder schlafen, wirst unsere Mutter umarmen. Deine Seele soll sich beruhigen und ausruhen. Mein Armer, Du mein Aermster, llenka. Täub-chenl»
Sie nennt mich noch llenkal Und dann begann sie selbst zu weinen und meine grauen Haare zu küssen. Ich murmelte:
«Küss' sie nicht, sie sind voller Schmutz, ich war seit einem Monat nicht mehr im Bad. Küss' sie nicht!»
Doch kümmerte sie sich nicht darum, denn sie ist eine solche Frau. Es ist dies aber eine peinliche Erinnerung, der ich nicht gerne Worte verleihe; auch entsinne ich mich nicht genau, ob meine Haare wirklich so schmutzig waren, wie es mir vorkam. Ich war vom Weinen ganz schwach geworden, alles drehte sich vor meinen Augen, so dass ich mich an der Wand oder am Tisch festhalten musste, um nicht zu fallen. Nach einigen Minuten ging Saschenka hinaus, um ihren Pflichten nachzukommen, und ich sah mich im Zimmer um, wo all' dies vor sich gegangen war, wischte mir das Gesicht ab, versuchte mich zu be-
ruhigen. Als ich aber auf der Wand das weisse Gewand mit dem roten Kreuz erblickte, das mir von heute ab heilig ist, wie meine Sa-schenka selbst, begannen meine Tränen von Neuem zu fliessen. So brachte mich Sa-schenka nach Hause, ich wandte mich ab, während der Porher die Tür aufschloss. Ich versuchte zu sprechen, es kam aber natürlich bloss wirres Zeug heraus, und Saschenka unterbrach mich mit zärtlichen Worten:
«Du musst nicht, sprich heute nicht, beruhige Dich. Morgen werden wir reden.» Es erwies sich, dass sie für ein paar Tage Urlaub genommen hatte.
Ich erinnere mich bloss undeutlich, was zu Hause geschah. Alles schien sehr hell und ich ging in den Zimmern umher wie ein Geburtstagskind und lächelte dumm und beglückt. Küsste die schlafenden Kinder der Reihe nach, küsste Inna Ivanowna, die von Saschenka aufgeweckt worden war, und weinte mit ihr. Dann wurde der Samowar gebracht, ich trank heissen Tee und meine Tränen fielen in die Untertasse, unbegründete Tränen, die mir ohne Unterlass kamen, ich dachte wie heiss der Tee sei und weinte vor Rührung und Glück.
Saschenka machte mir ein Bett im Kabinett zurecht, sie fand, dass ich dort mehr Ruhe
haben würde, gab mir ein reines Hemd und brachte alles in Ordnung. Und als ich nun so rein und weiss, im reinen, weissen Bette lag, die Hände auf der Decke gefaltet, und sie das grüne Lämpchen auf den Tisch neben mich stellte, sich hinsetzte, ein Buch nahm, um mir daraus vorzulesen, da hatte ich wirklich die Empfindung, als wäre ich schwer verwundet gewesen und begänne jetzt zu genesen. Und so wohltuend war die Schwäche, die mich fast hinderte die Augenlider zu heben, um im Lichtkreis des Lämpchens die Decke, die Lampe, Saschenkas Kinn das ich gerade noch erblicken konnte, zu sehen.
Sie las Gogol, und wenn ich auch nur Bruchstücke hörte, so war es doch interessant und angenehm, wie wenn man in einem guten Traum andere Leute, Wege, Felder sieht. Ich vernahm die Worte: «Selifak», «Petruschka», «Kalesche», und sah dies alles schon vor mir, zu gleicher Zeit aber auch das Bild der dunkel dahinfliessenden Newa, der Automobile und des Vorübergehenden, der mich bei der Hand packte, dann kam wieder die Kalesche mit ihren Schellen und ein langer, langer Weg ... so schlummerte ich ein. Für einen Augenblick erwachte ich wieder, am ganzen Körper zitternd, sah den Lampenschein, hörte Saschenkas Stimme — und verfiel dann in einen tiefen Schlaf.
Als ich am Morgen erwachte, sah ich Sa-schenka am Tisch sitzen und in Tränen aufgelöst mein törichtes Tagebuch lesen. So blass war sie, so lieb nach der durchwachten Nacht, die sie um meinetwillen schlaflos zu-r gebracht hatte. Meine Saschenka, Saschenka, Du meine Heiligel
12. (25.) September.
Wir haben die Wohnung aufgegeben, und bei Finotschka, Saschenkas Freundin, zwei Zimmer gemietet, die früher von einem Flüchtling bewohnt wurden. Den Flüchtling haben wir gewissenlos vertrieben, wir sind selbst Flüchtlinge. O diese Finotschka — mit ihrem ewigen Lachen! Ach, mein Gott, wie angenehm sind doch diese kleinen Stübchen, diese harmlos lachende Finotschka meiner Empfindsamkeit.
Mir ist zumute, als sei ich in einen Palast gekommen, reich und frei, wie ein Zar! Finotschka hat einen Kanarienvogel, ich sitze wie ein Narr halbe Stunden lang vor seinem Bauer und sehe seinem Treiben zu.
Von der Hauptsache später, jetzt vermag ich darüber nicht zu sprechen. Die Deutschen setzen ihre Angriffe fort.
13. (26.) September.
Nur mit Mühe kann icti micti in Sasctienkas Schilderung wiedererkennen, aber ich glaube ihr, meiner Gerechten, wie dem Evangelium. Ein furchtbares Bildl Und ganz begreiflich ist es, dass ich ihr so fremd geworden war: bemerkte ich doch in der Anmassung meines persönlichen Grames ihre Tränen nicht, antwortete auf ihre liebkosenden Worte mit dem bösen Knurren eines Hofhundes, dem man die Knochen weggenommen hat. Und mein Schrecken, als ich meine Arbeit verloren, der törichte Stolz, der mir das Recht zu leben absprach . . . welch* unglaubliche Dummheit! Alle anderen können arbeitslos werden und um Mildtätigkeit bitten müssen, nur ich allein, dies Ausnahmgeschöpf, dieser vornehme Ilia Petrowitsch Demetjew, kann es nicht. Alle Menschen dürfen ihre Kinder verlieren, nur ich allein nicht, ich muss mich dagegen auflehnen, irgendjemand angreifen, mir selbst pharisäerisch an die Brust schlagen. Alle können schmerzliche Verluste erleiden, durch Feuersbrünste geschädigt, von Unglück aller Art heimgesucht werden, nur ich muss auf dieser Welt heilig und unantastbar auf einem Sockel stehen! Alle kämpfen, nehmen Qual und Sünde auf sich, nur ich allein sitze wie ein ausgedienter Lehrer, schreibe zur Nachtzeit Korrekturen, ergehe mich in Vorträgen, die
niemand anhört, teile Zensuren für das Betragen aus: Zwei minus, stelle Dich in die Ecke Deutschland! Und Ihr Dummköpfe alle, stellt Euch in die Ecke, solange ich, der Weise, hier auf dem Katheder stehe und mich brüste. Aber woher kann Saschenka dies alles verstanden haben? Meine Saschenkal
Sie sagt nirgendsher, es sei dies alles so klar gewesen; mag sein. Aber woher kam damals mqine Verblendung? Wahrscheinlich von dort, wo all' die müssigen Fragen herkommen. Mir ist ja jetzt alles klar, aber aus reine Gewohnheit frage ich weiter, setze Fragezeichen hin . . . zu dumm)
Ich kann die Seelenerleichterung, die ich nun empfinde, mit nichts vergleichen. Und die Hauptsache, ich fühle keinerlei Angst mehr was immer auch geschehen möge. Für mich ist nichts mehr furchtbar. Die Deutschen, — nun gut, die Deutschen, muss man fliehen — flieht man, muss man sterben — so stirbt man eben. Noch nie habe ich Petka und Jenka so geliebt, aber nicht einmal der Gedanke ihres Todes vermag mich mehr zu erschrecken . . . ich würde bitterlich um sie weinen, doch den eigenen Tod nicht mehr herbeirufen, mich nicht einmal nach ihm sehnen. Ueberhaupt der Tod — diese formelle Idiotie, wer liebt, lebt ewig, sagt Saschenka.
Gestern hat micti Finotschka den ganzen Abend «Alterchen» genannt, «mein Alterchen, mein Alterchen!» Saschenka begann sich ein wenig zu beleidigen und verlieh diesem Gefühl durch eine Bemerkung Ausdruck, ich aber war gar nicht gekränkt, sie scherzte ja doch nur. Trotzdem ging ich zum Spiegel, um mich zu betrachten . . weiss
Gott, sie hat recht. Nicht dass ich wirklich alt aussähe, scheine bloss älter als sechsundvierzig Jahre, es liegt irgendetwas in den Augen, im Lächeln, ja, und auch in den Tränen, die mir so häufig kommen. Ich werde nicht mehr lange leben, das ist eine Tatsache — und in diesem Gedanken ist eine ausser-gewöhnliche Kraft. Finotschka meint, das viele Herumlaufen in der Stadt hätte mich gestählt; möge sie nur lachen.
Wir freuen uns alle über die neue Wohnung, nur der Umzug war nicht angenehm; es ist schwer zu verstehen, was mit Inna Ivanowna vorgegangen ist, was sie so sehr betrübt haben mag. Mit einem Mal ist sie zusammengebrochen und liegt nun schon, das Gesicht zur Wand gekehrt, den zweiten Tag, zitternd vor Schwäche wie eine Sterbende. Als wir der Ahnungslosen damals ohne jegliche Vorbereitung mitteilten, dass ich meine Stelle verloren habe, war es erschreckend zu sehen, wie sie sich aufregte, erbleichte, zu beben begann.
Als die Möbel schon alle fortgebracht waren, weigerte sie sich ihr Zimmer zu verlassen, weinte, als wir sie an der Hand fortführten. Sie muss irgend eine besondere Vorstellung gehabt haben. Gestern Abend verlangte sie nach Saschenka und flüsterte ihr zu: «Rufe Paw-luscha zu mir;» natürlich erwiderte Saschenka, dass sie ihn sofort rufen würde. Zum Glück wiederholte die arme alte Frau ihre schreckliche Bitte nicht mehr. — Eben sah ich nach, sie schlafen alle, sie, Saschenka und die Kinder; solange Saschenka hier ist, schläft das Kindermädchen in Finotschkas Gastzimmer.
Es ist uns gelungen, die überflüssigen Möbel, die uns nur zur Last waren, vorteilhaft zu verkaufen. Saschenka bleibt noch einen Tag daheim, dann kehrt sie in ihr Lazarett zurück; sie wird auch für mich irgendeine erträgliche Beschäftigung suchen. Wo sind die Worte, die auszudrücken vermögen, wie sehr ich sie verehrel Sie zieht mich aus der Grube, in die zu verkriechen mir beliebte.
Finotschka trat eben aus dem Gastzimmer, um mich zu suchen. Eine volle Stunde sass sie bei mir und erzählte mir voll Entsetzen von der Invasion der Deutschen. An ihrer Blässe, ihren unzusammenhängenden Worten erkannte ich noch deutlicher als aus den Zeitungen, mit welcher Angst unsere Hauptstadt und unser
ganzes Volk dem Einfall des Feindes entgegensieht. Nicht um unserer Verdienste, unseres Reichtums und unserer Kraft willen — erbarme Dich unser o Herr, aber um unsere Armseligkeit, unseres Elends willen, die Du so liebtest, als Du auf Erden wandeltest.
Ich kann nicht einschlafen, es treibt mich irgendetwas zu tun. Es ist schrecklich, mit müssigen Händen dazusitzen, ich würde gerne den Fussboden fegen, — aber er ist schon gefegt. Nein, morgen schicke ich Saschenka ins Lazarett zurück, es hat keinen Sinn, es hinauszuschieben.
Wäre meine Brust etwas breiter, ich hielte sie ohne Zaudern den deutschen Geschossen hin, als Mauer für die Anderen.
15. (26.) September. Ich habe schon zwei Angebote, das eine als Buchhalter bei dem Komitee zur Unterstützung der Flüchtlinge, mit einem kleinen Oe-halt, das andere — an der Front, als Pfleger in der Etappe. Ich ziehe natürlich das letztere vor, werde auch das erste annehmen, wenn es sein muss.
Inna Ivanowna geht es schlecht, immer wieder ruft sie nach Pawluscha.
18. September (1. Oktober). Ich sammle für die Verwundeten
20. September (3 Oktober).
Nie hätte ich mir vorstellen können, dass sich in den Tränen ein so unsagbares Glück verbergen könnte! Und es ist so seltsam, früher verursachte mir das Weinen Kopfweh, ich empfand einen bitteren Geschmack im Munde und ein heftiger Schmerz zerris mir die Brust, jetzt aber weine ich leicht, schmerzlos, als ob es mir Freude machte. Besonders fiel mir dies auf meinem zweitägigen Rundgang mit der Sammelbüchse durch Petrograd auf, als jede Gabe, jeder Beweis der Teilnahme für die Verwundeten mich unsäglich bewegten. Und wie viel gute Menschen, wie viel goldene Herzen zogen an meinen glücklichen Äugen vorbei.
Meine langen Beine und den Umstand ausnützend, dass man mir als Genossen einen kleinen, aber flinken und unermüdlichen Gymnasiasten mitgegeben hatte, gelangte ich auf meinen Wanderungen bis Ochza und hier unter den armen Leuten, den Arbeitern und Handwerkern, verbrachte ich eine ausnehmend freudige Stunde.
«Wie die gebenl» sagte der Gymnasiast Fedia zu mir. «Wie die geben, nimm nur!»
«Ja, Fedia, wie sie gebenl Nimm nur!» antwortete ich lächelnd auf seine naiven Worte und fühlte, wie meine Äugen feucht wurden. Ich sah, wie der bärtige Arbeiter eifrig seinen
Kopeken oder seinen Fünfziger hergab und er war mir so lieb, dass ich mich schämte, ihm in die Augen zu sehen. Ich liebte seine Hände, seinen Bart, alles an ihm, an diesem wertvollen, ehrlichen Menschen, den kein Krieg verderben konnte! Angenehm war es auch, dass sie nicht verlegen wurden, sich nicht entschuldigten, wie dies am Newsky oder Morskoi öfters vorkam. Viele fragten mich:
«Ist das Ihr Söhnchen?»
«Nein, wir sind Bekannte,» antwortete dann Fedia ein wenig beleidigt, er kam sich schon zu erwachsen vor, um irgend jemandes Söhn-chen zu sein. Er nahm mir die schwere Sammelbüchse aus der Hand, bis er sie nicht mehr tragen konnte, führte mich, das heisst er kommandierte voller Würde mit mir herum.
Zweimal füllten wir die Büchse an und Hessen uns von unserer Arbeit so hinreissen, dass uns schliesslich vor lauter Müdigkeit die Beine nicht mehr tragen wollten, besonders Fedia war ganz erschöpft. Wir waren schon halbtot, als wir durch eine Nebengasse an jene Seite der Neva gelangten, wo sich die kleinen Fabriken mit ihren rauchenden Schloten erheben. Wir setzten uns ans Ufer. Lange genossen wir dort die Stille des schönen Abends, den Anblick der Barken und Dampfer, der breiten Neva, der rosigen Wolken ... nie werde ich diesen Abend vergessen. Ein vorbeifah-
rcnder Schleppdampfer trieb kleine, leise plätschernde Wellen an das flache Ufer, aus den grossen Holzbaracken krochen vergnügte Kinderchen und spielten ihre abendlichen Spiele, auf dem einen Ufer waren bereits die Laternen angezündet und strahlten ein mildes, blaues Licht aus; in meiner Seele war eine solche Ruhe, eine solche Reinheit, als wäre ich selbst wieder zum Kinde geworden. Ich schwieg und auch Fedia, der zuerst lebhaft über die Deutschen geplaudert hatte, wurde schweigsam und nachdenklich. Dann gingen Soldaten über die Ochtenskische Brücke, durch das Lärmen der Fuhrwerke klangen Bruchstücke ihres Gesanges zu uns herüber.
«Singen die Soldaten?» fragte Fedia aufgeregt. «Wo sind sie.»
«Auf der Brücke . . . hör' zu!»
Wie schön, wie kunstlos singen die Soldaten mit ihren einfachen, natürlichen Stimmen, man fühlt aus den Klängen das ganze Russland heraus, die heimische Erde, das ganze Volk. Schon war das Lied verklungen, es begann zu dunkeln, das ganze Ufer wurde von den Laternen und den aus den Fenstern schimmerden Lichtern erhellt, und noch immer dachte ich darüber nach, wie unzertrennbar die Soldaten und Russland sind . . . Russlandl Wie im Traum sah ich die herbstlichen Wälder, den herbstlichen Weg, die Lichtlein in den
Hütten, den Bauer auf seinem Karren. Sah die Pferdeschnauze, und es war etwas so Liebes an diesem Bild, mit zärtlicher Dankbarkeit gedachte ich des Gaules ewiger Arbeit, anderer Pferde, Dörfer und Städte ... Es schien mir, als käme mich Schlaf an. Aber Fedia, welche Trauer! Er war fest eingeschlafen, den Kopf an mich gelehnt. Ich hob seine herabgefallene Mütze auf, aber ich konnte ihn nicht wach bekommen, er lehnte sich immer von neuem schlaftrunken gegen mich. Ich zwang ihn die Augen zu öffnen. Er brummte:
«Bei Gott, ich kann nicht mehr gehen.»
«Ich sollte Dich schelten, aber meine Kräfte reichen nicht aus. Gehen wir bis zum Dampfer und fahren wir dann von dem Suworow Platz mit dem Tram.»
«Ja, gehen wir zum Dampfer,» willigte Fedia ein, er liebt die Dampfer sehr, mein verehrter Genosse.
So haben wir zwei Tage zusammen gearbeitet. Gestern regnete es leider und unsere Sammlung litt darunter, aber das Gefühl der Freude blieb, denn der Mensch leuchtet noch heller im herbstlichen Schmutz und Unwetter.
Ich dürfte meine Ernennung an die Front erhalten.
24. September (7. Oktober).
Wir tiaben Inna Ivanowna begraben. Schon seit langem lebte sie nur metir dem Schein nach und nun ist sie zu ihrem Pawluscha gegangen. Ich weiss nicht, ob sie einander dort begegnen werden, aber sie sind nun beide dort an jenem Ort, den wir nicht kennen, wo meine l.idotschka ist, wohin auch ich unterwegs bin.
Und wie viele doch sterben) Als ob im Walde eine Lichtung ausgerodet würde, jeden Tag verschwindet ein bekannter Baum.
Hartnäckig kehrt ein bitteres Gerücht immer wieder, auch die Zeitungen schreiben, dass die Deutschen immer näher kämen. Seit dem Frühjahr sind sie unaufhaltsam. Schritt für Schritt, in Russland eingedrungen, stehen nun vor Riga und der Düna; und gleichsam wie durch einen baufälligen Zaun sehen uns ihre drohenden Äugen an und der Tag ihres Einzuges liegt im Dunkel des Unbekannten.
Voll Traurigkeit und unerträglichem Mitleid betrachte ich die Menschen. Wie hart ist doch ihr Los auf dieser Erde, wie schwer ist's mit der eigenen, rätselhaften Seele leben zu müssen) Was verlangt diese dunkle Seele, wohin zieht sie durch Blut und Tränen?
Den ganzen Tag hört man Geschichten über die Flüchtlinge aus Polen und Wolhynien, über ihre aussergewöhnlichen Fluchten auf allen Wegen. Sie werden, und das scheint den an-
deren eine Beruhigung zu sein, in Bücher eingetragen, gezählt, und man spricht jetzt von ihnen wie von einer Rasse, die schon lange bestanden hat und niemand recht gefallen will. Ich verstehe diese Beruhigung nicht, es schmerzt die Vorstellung, wie sie die Strassen dahin flohen und noch fliehen, das Knarren der überlasteten Fuhrwerke, das Weinen und Husten der frierenden Kinder, das Brüllen der hungrigen Haustiere. Und wie sie fremd, von einem Orte zum andern ziehen, hinter sich blickend, gleich Lots Weib, in Flammen und Rauch die brennenden Dörfer und Städte sehend. Die Pferde reichen nicht, und viele spannen, wie erzählt wird, Kühe, ja selbst starke Hunde vor die Wagen oder ziehen sie selbst, wie in den alten Zeiten, als die Menschen zum ersten Mal vertrieben worden waren . . . und seit jener Zeit werden sie immer wieder und wieder vertrieben. Es ist schwer, sich ein Bild davon zu machen, was auf diesen Strassen geschieht, wo eine solche Menge drängt, dass es eher dem Newsky an einem Feiertage gleichen muss, als einer öden, herbstlich kotigen Chaussee. Wird uns diese » unbekannte Macht noch lange vor sich herjagen?
Und heute noch eine traurige Nachricht: die Bulgaren haben die Serben überfallen . . . konnten wir dem nicht entgehen, dass Brüder
Brüder zerfleischen? Die ganze Seele erbebt einem, wenn man bedenkt, dass dies Volk vernichtet, dass diese arme Wiese von jenen Schnittern abgemäht wird, deren Nahen, Kommen auch uns schreckt. Und was macht es ihnen aus, auch diese zu morden, haben doch die Türken, wie die Zeitungen melden, 800,000 Armenier hingemetzelt. Was ist da zu sagen? Sie tun mir alle leid und jeden Augenblick wird das bekümmerte Herz von neuem Unglück heimgesucht. Und ich weiss nicht, soll ich Gott bitten, er möge die verräterischen Bulgaren strafen oder soll ich mich hier vor einem unbegreiflichen Geheimnis der Menschenseele beugen.
Gestern aber war ich nahe daran, inmitten der Tränen und des Mitleids in Flüche auszubrechen, konnte mich nur mit Mühe in der folgenden schlaflosen Nacht besänftigen. Mir war eine Zeitung in die Hand geraten, in der von den unglückseligen Armeniern die Rede war. Ich gebe die Worte eines Augenzeugen genau wieder, so wie sie dort standen, schwarz auf weiss.
«Das furchtbarste Bild bot sich dem Augenzeugen in Bitlis dar. Noch ehe er Bitlis erreicht hatte, sah er im Walde eine Gruppe erst kürzlich hingeschlachteter Männer und darunter drei Frauen — völlig nackt, an den Beinen aufgehängt. Bei einer derselben stand
ein etwa einjähriges Kind und reckte die Arme nacti der Mutter aus, diese, nocli lebend, das Gesicht mit Blut überströmt, streckte dem Kind die Hände entgegen, doch konnten sie sich gegenseitig nicht erreichen.»
Kann man denn einschlafen, ein solches Bild vor Augen? Natürlich konnte ich es nicht, die ganze Nacht über stockte mir der Atem, tobte das Blut in meinem Kopfe, als wäre ich selbst bei den Beinen aufgehängt und hinaufgezogen. Einen Augenblick glaubte ich zu ersticken. Aber seltsam, als ich dann weinen konnte, schwemmten die Tränen meinen Zorn, die Flüche und noch ein anderes Gefühl ganz fort. Nur Eines blieb. Ich spreche nicht von den «kürzlich hingeschlachteten Männern» . . . schon die Art und Weise von Menschen wie von Schafen zu sprechen, verrät das Schablonenhafte dieses Anblicks, die Gewöhnung an denselben. Wie viele gibt es dieser kürzlich «Hingeschlachteten» auf unserer heutigen Schlachtbank, aber die Frau und das Kindchen, die Frau und ihr Kindchen . . .
Sie lebte noch, den Kopf nach unten, konnte so noch eine halbe, eine ganze Stunde am Leben bleiben; wie musste das Blut durch ihr Gehirn jagen, welch schreckliche blutrote Lichter mussten vor ihren brennenden Augen tanzen! Wie atmete sie? Wie konnte ihr Herz noch schlagen? Und inmitten dieses
roten, glühenden Todes erkannte sie nocli die Gestalt itires hilfsbedürftigen Knäbleins, sah nur dieses mit ihrem gequälten Blick, mit übermenschlicher Kraft streckte sie nach ihm die blaugelaufenen Hände aus, wandte ihm das blaurote Gesicht zu. Ein anderer wäre vor diesem entstellten Gesicht erschrocken, aber das einjährige, unschuldige Kind streckte die Hände nach ihm aus, erkannte in ihm seine Mutter. «Doch konnten sie sich gegenseitig nicht erreichen.» Entweder war die Entfernung zu gross, oder das dumme Knäblein verstand es nicht, die Hand hinauf zu reichen. Und was war ihr von Nöten? Nicht Leben und nicht Rettung, auf die sie nicht mehr rechnen konnte, nur eines; nur auf einen Äugenblick das Kinderhändchen zu halten, dessen Berührung ihrem Herzen Gewaltiges gewesen wäre. «Doch konnten sie sich gegenseitig nicht erreichen.»
Und die ganze Nacht versuchte ich, wie in einem schweren, bösen Traum, selbst dem Ersticken nahe, diese zwei hoffnunglos ausgestreckten Hände zu vereinigen. Jetzt werden sie gleich zusammenkommen, gleich einander berühren, etwas Ewiges, Starkes, ein unveränderliches Leben bilden . . . nein, es geht nicht, irgend etwas, eine unüberwindliche Kraft reisst mich zurück. Schmerzenden Kopfes besann ich mich eine Minute (schade, dass ich
das Rauchen aufgegeben habe, es verlangte mich sehr danach), und dann begann ich von neuem mit dieser entsetzlichen Arbeit, die keinen Anfang und kein Ende hatte. Von neuem suchte ich die Hände zu vereinigen, wieder waren sie einander ganz nahe, und wieder riss eine unsichtbare Gewalt sie auseinander. Das Blut schoss mir zu Kopfe, ich glaubte vor Verzweiflung zu ersticken. Schliesslich schien mir etwas Ungeheuerliches zu drohen: die Hände, die ich vereinigen wollte, streckten sich nach mir aus, um mich zu erwürgen, die Finger umkrallten meine Kehle, es waren nicht mehr vier Hände, unzählige waren es, unzählige . . .
Finotschka hatte mein lautes Stöhnen vernommen und kam erschrocken herbeigelaufen; als sie erfuhr, was mir fehle, gab sie mir Baldrian zu trinken, aber schon der Anblick eines lebenden Menschen beruhigte mich. Kaum aber war sie aus dem Zimmer gegangen, so begann das ganze von neuem, wenn auch nicht in der gleichen furchtbaren Art. Sie wollten mich nicht mehr erwürgen, aber ich konnte die Hände, wie früher, nicht vereinigen und hielt über diesen Gegenstand eine leidenschaftliche Rede in unserem Kontor, selbst ein paar unendlich lange Arme ausstreckend . . .
Gegen Morgen schlief ich traumlos ein.
Heute quälen mich furchtbare Gedanken und eine unbezähmbare Aufregung. Ich sehe auf jedes Paar Hände, das irgendwie beschäftigt ist oder miissig aus dem Äermel heraushängt, und träume davon, sie zu vereinigen. Ich denke an Inna Ivanowna und die anderen Mütter; wie sie, die ihren Sohn beweinen, nicht verstehen können, dass auch er den Sohn einer anderen Mutter erschossen und umgekehrt, und dass sie alle weinen. Nein, sie verstehen es wahrscheinlich, denn es ist ja so einfach, doch hier scheint das Schwergewicht in etwas anderem zu liegen. Wer streckt und wem streckt er die Hand zur Vereinigung hin? Und wer hindert dies, hindert dies ewig und immer? «Doch konnten sie sich gegenseitig nicht erreichen!» — sagt der Äugenzeuge.
Mein Zorn ist erloschen, weh und traurig ist mir und wieder fliessen mir still die Tränen. Wen soll man verfluchen, wen verdammen, da wir doch alle so unglücklich sind. Ich sehe das allgemeine Leid, sehe die ausgestreckten Hände und weiss, dass ein grosses Licht alles erhellen wird, wenn sie einander berühren, die Mutter Erde und ihre Söhne — ich aber werde es nicht mehr sehen. Und wozu habe ich gedient? Als «Zelle» habe ich gelebt, als «Zelle» werde ich sterben und habe nur die eine Bitte an mein Schicksal, dass mein Tod und das
Leid, das ich in Demut ergeben auf mich nehme, nicht umsonst sei.
Aber ich kann in dieser völligen Hoffnungslosigkeit keine Ruhe finden und so strecke ich irgend jemandem die Hand hin: Komm, gib mir die Deine. Ich habe Dich so lieb. Lieber, Du mein Lieber . . .
Und ich weine, weine, weine.