The terrorist got bombed!
The President got hit!
Security was tight!
The Secret Service got lit!
And everybody’s drunk,
Everybody’s wasted,
Everybody’s stoned,
Andthere’s nothin'gonna change it, Cause everybody’s drunk,
Everybody’s wasted,
Everybody ’s drinkin’on the Job.
THERAINMAKERS,
»Drinkin' On The Job«
Then he ran all the way to town, screamin’
»It came out of the sky!«
CREEDENCE CLEARWATERREVTVAL,
»It Came Out Of The Sky«
Erstes Kapitel
Die Stadt
1
Die Stadt hatte vier andere Namen, bevor sie Haven genannt wurde.
Sie begann ihre städtische Existenz im Jahre 1816 als Montville Plantation. Sie gehörte, mit Mann und Maus, einem Mann namens Hugh Crane. Crane kaufte sie 1813 vom Commonwealth of Massachusetts, zu dessen Provinzen Maine damals gehörte. Er war Leutnant im Unabhängigkeitskrieg gewesen.
Der Name Montville Plantation war ein Hohn. Cranes Vater war zeit seines Lebens nie über Dover hinausgekommen, und als der Bruch mit den Kolonien kam, blieb er ein loyaler Tory. Er beendete sein Leben als zwölfter Earl von Montville und Mitglied des Oberhauses. Als sein ältester Sohn wäre Hugh Crane der dreizehnte Earl von Montville geworden. Statt dessen enterbte ihn sein aufgebrachter Vater. Crane, nicht im mindesten aus der Fassung gebracht, nannte sich daraufhin erster Earl von Central Maine und manchmal auch Herzog von Nirgendwo.
Das Land, das Crane Montville Plantation nannte, bestand aus ungefähr neuntausend Hektar. Als Crane den legalen Status beantragte und erhielt, wurde Montville Plantation zur hundertdreiundneunzigsten registrierten Siedlung der Provinz Maine. Crane kaufte das Land wegen seines reichen Baumbestandes, und weil Derry, von wo aus man das Holz auf dem Fluß zum Meer transportieren konnte, nur zwanzig Meilen entfernt lag.
Wie billig war das Land, aus dem einmal Haven werden sollte?
Crane hatte die ganze Mischpoke für den Gegenwert von achtzehnhundert Pfund gekauft.
Natürlich war das Pfund damals erheblich mehr wert als heute.
2
Als Hugh Crane im Jahre 1826 starb, hatte Montville Plantation einhun-dertunddrei Einwohner. Sechs oder sieben Monate des Jahres ließen Holzfäller diese Zahl etwa aufdas Doppelte anschwellen, aber die zählten eigentlich nicht, denn sie brachten ihr gesamtes Geld nach Derry, und sie ließen sich gewöhnlich in Derry nieder, wenn sie zu alt wurden, um noch in den Wäldern zu arbeiten. Damals bedeutete »zu alt, um noch in den Wäldern zu arbeiten« etwa fünfundzwanzig.
Dennoch hatte die Siedlung, aus der schließlich Haven Village werden sollte, im Jahre 1826 angefangen, am Rande der unbefestigten Straße, die nordwärts nach Derry und Bangor führte, zu wachsen.
Wie man diese Straße auch nennen wollte (und sie wurde schließlich, außer für die allerältesten Einwohner wie Dave Rutledge, schlicht zur Route 9), sie war es, die die Holzfäller nehmen mußten, wenn sie am Ende eines jeden Monats nach Derry gingen, um ihren Lohn mit Trinken und Huren durchzubringen. Den größten Teil davon hoben sie für die Großstadt auf, aber die meisten waren durchaus willens, lange genug in Cooder's Tavern und Lodging-House zu verbringen, um den Straßenstaub mit ein oder zwei Bier hinunterzuspülen. Das war nicht viel, aber es genügte, um das Lokal zu einem gutgehenden kleinen Betrieb zu machen. Der General-Mercantile-Laden gegenüber (der Hiram Cooders Neffen gehörte und von diesem geführt wurde) ging nicht ganz so gut, warf aber trotzdem genügend Profit ab. 1828 eröffnete ein Barbier und Wundarzt (Hifam Cooders Vetter) neben dem General Mercantile sein Geschäft. Damals war es nichts Ungewöhnliches, in diesen aufstrebenden, florierenden Laden hineinzugehen und einen Holzfäller auf einem der drei Sessel zu erblicken, der das Kopfhaar geschnitten, die Schnittwunde an seinem Unterarm genäht und ein paar große Blutegel aus dem Glas vom Regal neben der Zigarrenkiste über die geschlossenen Augen gesetzt bekam, die ihre Farbe von grau nach rot veränderten, während sie anschwollen, und gleichzeitig vor einer Infektion der Schnittwunde schützten und jener Krankheit vorbeugten, die man damals »Hirnschmerzen« nannte. 1830 wurde am südlichen Ortsrand ein Hotel mit Gaststätte eröffnet (das Hiram Cooders Bruder George gehörte).
1831 wurde Montville Plantation zu Coodersville.
Was kaum jemanden überraschte.
Bei Coodersville blieb es bis 1864, als der Name in Montgomery geändert wurde, zu Ehren von Ellis Montgomery, einem Jungen aus dem Ort, der bei Gettysburg gefallen war, wo, wie manche behaupteten, das Zwanzigste Maine-Regiment die Union ganz allein gerettet hatte. Die Namensänderung schien eine gute Idee zu sein. Schließlich hatte der letzte Cooder in der Stadt, der verrückte alte Albion, zwei Jahre zuvor pleite gemacht und Selbstmord begangen.
In den Jahren nach dem Bürgerkrieg machte das Land eine Mode durch, die so unerklärlich war wie die meisten derartigen Moden. Sie betraf nicht Reifröcke oder Koteletten; es war die Mode, kleinen Ortschaften klassische Namen zu geben. Deshalb gibt es in Maine ein Sparta, ein Carthage, ein Athens, und dann natürlich noch Troy gleich 210
vor der Haustür. 1878 beschlossen die Bewohner, den Namen der Stadt noch einmal zu ändern, diesmal von Montgomery in Ilium. Das führte bei der Sitzung des Stadtrates zu einer tränenreichen Tirade der Mutter von Ellis Montgomery. In Wirklichkeit war diese Tirade mehr senil als beeindruckend, da die Mutter des Helden mittlerweile in die Jahre gekommen war, fünfundsiebzig an der Zahl, um genau zu sein. Man erzählte sich, daß die Leute geduldig und ein klein wenig schuldbewußt zuhörten, und die Entscheidung vielleicht sogar rückgängig gemacht hätten (Mrs. Montgomery hatte sicher recht, dachten einige, wenn sie sagte, daß vierzehn Jahre kaum das »ewige Gedenken« waren, welches man ihrem toten Sohn bei der feierlichen Zeremonie der Namensänderung am 4. Juli 1864 versprochen hatte), wenn sich die Blase der guten alten Dame nicht genau diesen Augenblick ausgesucht hätte, um sich zu entleeren. Man führte sie aus dem Rathaus, wobei sie ununterbrochen über die undankbaren Philister herzog, die den Tag bereuen würden.
Aus Montgomery wurde dennoch Ilium.
Zweiundzwanzig Jahre vergingen.
3
Es kam ein Erweckungsprediger mit flinker Zunge, der aus irgendeinem Grund Derry umging und statt dessen beschloß, sein Zelt in Ilium aufzuschlagen. Er nannte sich Colson, aber Myrtle Duplissey, Havens selbsternannte Historikerin, kam schließlich zu der Überzeugung, daß Colsons wirklicher Name Cooder lautete und daß er der uneheliche Sohn von Albion Cooder war.
Wer auch immer er war, zu der Zeit, als der Mais erntereif war, hatte er mit seiner anschaulichen Version des Glaubens die meisten Christen auf seine Seite gebracht - sehr zur Verzweiflung von Mr. Hartley, der die Methodisten von Ilium und Troy in Glaubensdingen betreute, und Mr. Crowell, der sich um das seelische Wohlergehen der Baptisten von Ilium, Troy, Etna und Unity kümmerte (in jenen Tagen erzählte man sich den Witz, daß Emory Crowells Pfarrei der Stadt Troy gehörte, aber sein Vermögen Gott). Dennoch waren sie nichts als Rufer in der Wüste. Die Gemeinde des Predigers Colson wuchs weiter, während sich der beinahe vollkommene Sommer 1900 dem Ende näherte. Die Ernte in diesem Jahr »überreichlich« zu nennen, wäre einer Untertreibung gleichgekommen; die karge Erde des nördlichen New England, für gewöhnlich so geizig wie Scrooge, brachte in diesem Jahr eine Fülle hervor, die beinahe unerschöpflich schien. Mr. Crowell, der Baptist, dessen Vermögen Gott gehörte, wurde deprimiert und verstummte, und drei Jahre später erhängte er sich im Keller der Pfarrei von Troy,
Mr. Hartley, der methodistische Pfarrer, reagierte mit zunehmender Bestürzung auf die religiöse Inbrunst, die sich in Ilium ausbreitete wie eine Choleraepidemie. Vielleicht lag das daran, daß die Methodisten unter normalen Umständen die unauffälligsten Diener Gottes sind; sie hören sich keine Predigten an, sondern »Botschaften«, beten meistens lautlos und betrachten das Amen vor der ganzen Gemeinde nur als angemessen, wenn es auf das Vaterunser folgt oder einen der wenigen Psalmen, die nicht vom Chor gesungen werden. Aber jetzt taten diese bislang unauffälligen Leute alles, sie verkündeten lautstark ihre Visionen und wälzten sich ekstatisch auf dem Boden. Als nächstes, sagte Mr. Hartley manchmal, werden sie mit Schlangen hantieren. Die Versammlungen im Zelt an der Straße nach Derry am Dienstag, Donnerstag und Sonntag wurden zunehmend lauter, ausgelassener und emotionell explosiver. »Wenn das in einem Jahrmarktszelt passierte, würde man es für Hysterie halten«, sagte er eines Abends bei einem Glas Sherry in der Sakristei der Kirche zu Fred Perry, der zum Kirchenvorstand gehörte und gleichzeitig sein einziger guter Freund war. »Aber weil es in einem Erweckungszelt geschieht, können sie es Pfingstfeuer nennen.«
Reverend Hartleys Argwohn gegenüber Colson erwies sich im Lauf der Zeit als durchaus gerechtfertigt, aber Colson verschwand, nachdem er eine reiche Ernte nicht an Kürbissen und Kartoffeln, sondern an harter Währung und weichen Frauenleibern eingebracht hatte. Zuvor jedoch drückte er der Stadt seinen letzten Stempel auf, indem er sie erneut umtaufte.
Seine Predigt an jenem heißen Augustabend begann mit dem Thema der Ernte als Symbol für großen Lohn Gottes und wandte sich dann dem Thema ebendieser Stadt zu. Zu diesem Zeitpunkt hatte Colson den Gehrock abgelegt. Das schweißnasse Haar hing ihm in die Augen. Die Schwestern hatten sich bereits in der Betecke niedergelassen, wenngleich es noch eine Weile dauern sollte, bevor das Verkünden von Visionen und das ekstatische Wälzen begann.
»Ich halte diese Stadt für auserwählt«, sagte Colson zu seinem Publikum und umklammerte die Seiten der Kanzel mit den großen Händen -vielleicht betrachtete er sie noch aus einem anderen Grund als dem, daß er sich entschieden hatte, dort sein Wort zu verbreiten (von seinem Samen ganz zu schweigen), als auserwählt, aber wenn es so war, dann sagte er es nicht. »Ich betrachte sie als Hafen. Ja! Ich habe hier einen Hafen gefunden, der mich an ein himmlisches Land erinnert, ein herrliches Land, das sich vielleicht kaum von jenem unterscheidet, in dem Adam und Eva lebten, bevor sie die Frucht von dem Baume aßen, von dem sie die Finger hätten lassen sollen. Auserwählt!« bellte Prediger Colson. Jahre später noch gab es Mitglieder seiner Gemeinde, die sich bewundernd darüber ausließen, wie dieser Mann, Schurke oder nicht, für Jesus hatte brüllen können.
»Amen!« heulte die Gemeinde. Der Abend war zwar warm, aber kaum warm genug, um die Röte so vieler weiblicher Wangen zu erklären; diese Röte war weit verbreitet, seit Prediger Colson in die Stadt gekommen war.
»Diese Stadt ist nichts anderes als eine Zierde Gottes.'«
»Hallelujah!« schrie die Gemeinde jubilierend. Brüste wogten. Augen leuchteten. Zungen schnellten hervor und feuchteten Lippen an.
»Diese Stadt hat eine Verheißung!« brüllte Prediger Colson, der jetzt rasch auf und ab ging und gelegentlich seine schwarzen Locken mit einem raschen Zucken zurückschleuderte, das seinen sehnigen Hals vorteilhaft zur Geltung brachte. »Diese Stadt hat eine Verheißung, und diese Verheißung ist eine reiche Ernte, und diese Verheißung soll erfüllt werden!«
»Gelobt sei Jesus Christus!«
Colson kehrte zur Kanzel zurück und umklammerte sie, dann sah er sie beschwörend an. »Warum ihr diese Stadt, die die Ernte Gottes und den Hafen Gottes verheißt - warum ihr diese Stadt, in der von solchen Dingen die Rede ist, nach einem Itacker benannt haben wollt, ist mehr, als ich mir erklären kann, Brüder und Schwestern. Ich kann mir nur erklären, daß irgendwann in der letzten Generation der Teufel gewirkt haben muß.«
Die Gespräche darüber, ob man den Namen der Stadt von Ilium in Haven ändern solle, begannen schon am nächsten Tag. Reverend Mr. Crowell protestierte ohne Nachdruck gegen die Änderung, Reverend Mr. Hartley wesentlich heftiger. Die Stadtverordneten waren neutral, sie wiesen lediglich darauf hin, daß es die Stadt zwanzig Dollar kosten würde, die in Augusta vorliegende Registrierungsurkunde zu ändern, und wahrscheinlich noch einmal zwanzig, um die Ortsschilder zu ändern. Ganz zu schweigen vom Aufdruck auf den Dokumenten und Briefbögen der Stadt.
Lange vor der Sitzung des Stadtrats im März, als über Tagesordnungspunkt 14, »Feststellung, ob die Stadt die Änderung des Namens der Incorporated Maine Town Nummer 193 von ILIUM in HAVEN genehmigt«, abgestimmt und entschieden wurde, hatte Prediger Colson buchstäblich sein Zelt abgebrochen und sich davongeschlichen. Besagtes Abbrechen und Davonschleichen fand in der Nacht des siebten September statt, im Anschluß an das, was Colson seit Wochen das große Harvest Home Revival von 1900 genannt hatte. Er hatte bereits einen Monat vorher klar gemacht, daß er das als die wichtigste Versammlung betrachtete, die er in diesem Jahr in der Stadt abhalten würde; vielleicht die bedeutendste Versammlung, die er _ jemals abgehalten hatte, auch wenn er sich hier niederlassen sollte, und er war in zunehmendem Maße davon überzeugt, daß Gott ihn genau dazu aufforderte - und ließ das nicht die Herzen der Damen höher schlagen! Es sollte, so sagte er, eine gewaltige
Liebesbekundung an den liebenden Gott werden, der die Stadt mit einer so phantastischen Ernte gesegnet hatte.
Colson selbst hielt ebenfalls reiche Ernte. Er begann damit, daß er die Versammelten aufforderte, die größte »Liebesgabe« seit seiner Ankunft zu spenden, und er hörte damit auf, daß er nach der Versammlung nicht zwei, nicht vier, sondern sechs junge Mädchen auf dem Feld hinter dem Zelt pflügte und besäte.
»Männer machen gerne große Worte, aber ich denke, die meisten Männer haben einen Derringer in der Hose, ganz egal, wie groß ihre Worte sind«, sagte der alte Duke Barfield eines Abends beim Barbier. Hätte es eine Wahl des übelriechendsten Mannes in der Stadt gegeben, dann hätte der alte Duke mit wehenden Fahnen gewonnen. Er roch wie ein gepelltes Ei, das einen Monat in einem Schlammloch gelegen hat. Man hörte ihm zu, aber aus einer gewissen Entfernung und gegen den Wind, wenn ein Wind wehte, der das möglich machte. »Ich habe schon von Männern gehört, die eine doppelläufige Flinte in der Hose hatten, und ich will glauben, daß es ab und zu, ab und zu einen gibt, der eine dreischüssige Pistole in der Hose hat, aber dieser Colson ist der einzige Mann mit einer sechsschüssigen, von dem ich je gehört h abe.«
Drei der Opfer des Predigers Colson waren vor dem Eindringen des Pfingstschniedels Jungfrauen gewesen.
Die Liebesgaben dieser Spätsommernacht des Jahres 1900 waren wahrhaftig großzügig gewesen, aber der Klatsch beim Barbier war sich uneins darüber, wie großzügig der finanzielle Teil gewesen war. Alle waren sich darin einig, daß schon vor dem großen Harvest Home Revival, wo das Predigen bis zehn gedauert hatte, das Singen bis Mitternacht und das Ficken auf dem Feld bis gegen zwei Uhr morgens, genügend Geld geflossen war. Einige wiesen auch darauf hin, daß Colson während der Dauer seines Aufenthalts keine nennenswerten Ausgaben gehabt hatte. Die Frauen hatten sich beinahe um das Privileg geprügelt, ihm die Mahlzeiten bringen zu dürfen, der Mann, dem jetzt das Hotel gehörte, hatte ihm kostenlos ein Zimmer überlassen... und selbstverständlich hatte ihn niemand für seine nächtlichen Vergnügungen zur Kasse gebeten.
Am Morgen des achten September waren Zelt und Prediger verschwunden. Er hatte reich geerntet... und gleichermaßen erfolgreich gesät. Zwischen dem ersten Januar und der Stadtratssitzung Ende März 1901 kamen in der Gegend neun uneheliche Kinder, drei Mädchen und sechs Jungen, zur Welt. Alle neun dieser »Liebes-Kinder« hatten eine bemerkenswerte Ähnlichkeit miteinander - sechs hatten blaue Augen, und alle miteinander hatten tief schwarze Locken. Die Tratscher beim Barbier (und keine Gruppe von Männern auf der Welt kann so erfolgreich Logik und Geilheit miteinander verbinden wie jene Müßiggänger, die in Korbstühle furzten, während sie Zigaretten drehten oder braune
Kautabakpfrieme in Spucknäpfe aus Blech spien) wiesen außerdem darauf hin, daß schwer zu sagen war, wie viele junge Mädchen abgereist waren, um andernorts »Verwandte zu besuchen«, in New Hampshire oder sogar in Massachusetts. Zudem wies man darauf hin, daß sogar einige verheiratete Frauen zwischen Januar und März Kinder geboren hatten. Wer konnte bei diesen Frauen ganz sicher sein? Aber die Trat-scher beim Barbier wußten natürlich genau, was am neunundzwanzigsten März geschehen war, nachdem Faith Clarendon einen acht Pfund schweren Jungen geboren hatte. Ein heftiger, feuchter Nordwind hatte um das Clarendon-Haus geheult und den letzten starken Schneefall des Jahres 1901 bis November gebracht. Ccra Simard, die Hebamme, die das Kind geholt hatte, saß im Halbschlaf am Küchenherd und wartete darauf, daß ihr Mann Irwin sich durch den Schnee kämpfte und sie nach Hause brachte. Sie sah, wie Paul Clarendon sich der Wiege näherte, in der sein neugeborener Sohn lag - sie stand an der anderen Seite des Herdes, in der Ecke, in der es am wärmsten war -, und über eine Stunde dort blieb und das Neugeborene wie gebannt betrachtete. Cora beging den schrecklichen Fehler, den starren Blick Paul Clarendons für Staunen und Liebe zu halten. Ihre Augen fielen zu. Als sie aus ihrem Nickerchen erwachte, stand Paul Clarendon mit dem Rasiermesser in der Hand über der Wiege. Er packte das Baby bei seinem dichten Schöpf blauschwarzen Haares, und noch bevor Cora den Mund aufmachen konnte, um zu schreien, hatte er ihm die Kehle durchgeschnitten. Er verließ das Zimmer ohne ein Wort. Einen Augenblick später hörte sie feucht gurgelnde Laute aus dem Schlafzimmer. Als der entsetzte Irwin Simard schließlich den Mut fand, das Schlafzimmer der Clarendons zu betreten, fand er Mann und Frau Hand in Hand im Bett. Clarendon hatte seiner Frau die Kehle durchgeschnitten, sich neben sie gelegt, mit seiner linken Hand ihre rechte ergriffen, hatte sich selbst die Kehle durchgeschnitten. Das alles geschah, zwei Tage nachdem die Stadt beschlossen hatte, ihren Namen zu ändern.
4
Der Reverend Mr. Hartley war strikt dagegen, den Namen der Stadt in einen zu ändern, der von einem Dieb, Schürzenjäger, falschen Propheten und »widerwärtigen Menschen« vorgeschlagen worden war. Das hatte er von seiner Kanzel gepredigt und das zustimmende Nicken seiner Gemeinde mit einer beinahe gehässigen Freude zur Kenntnis genommen, die so gar nicht zu ihm passen wollte. Von der Gewißheit erfüllt, daß Tagesordnungspunkt 14 abgelehnt werden würde, erschien er zur Sitzung am 27. März 1901. Nicht einmal die Kürze der Diskussion zwischen dem Verlesen des Tagesordnungspunktes durch den Stadt-
Schreiber und dem lakonischen »Nun, wie steht's, Leute?« von Luther Ruvall, dem Vorsitzenden des Stadtrats, beunruhigte ihn. Hätte er den leisesten Verdacht gehabt, dann hätte Hartley zum ersten Mal in seinem Leben vehement, vielleicht sogar erbittert gesprochen. Aber er hatte nicht einmal den leisesten Verdacht.
»Wer dafür ist, sage laut und vernehmlich ja«, sagte Luther Ruvall, und als das laute - wenn auch nicht sehr leidenschaftliche - Ja! erklang, das die Dachbalken erzittern ließ, war Hartley zumute, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen. Er sah sich mit wildem Blick um, aber es war zu spät. Die Lautstärke dieses Ja! hatte ihn so vollkommen überrascht, daß er keine Ahnung hatte, wie viele seiner eigenen Gemeindemitglieder sich gegen ihn gestellt und anders gestimmt hatten.
»Wartet...« sagte er laut mit einer Stimme, die niemand hörte.
»Gegenstimmen ?«
Vereinzeltes Nein. Hartley versuchte, seines hinauszubrüllen, aber der einzige Laut, der ihm über die Lippen kam, war eine sinnlose Silbe -Nik!
»Antrag angenommen«, sagte Luther Ruvall. »Nun zu Punkt 15 ...«
Dem Reverend Mr. Hartley war plötzlich warm - viel zu warm. Ihm war sogar zumute, als fiele er gleich in Ohnmacht. Er bahnte sich einen Weg zwischen den versammelten Männern in schwarz-rot-karierten Hemden und schmutzigen Flanellhosen hindurch, durch Rauchwolken aus Maispfeifen und von billigen Zigarren. Er fühlte sich immer noch schwach, aber jetzt war ihm, als müßte er sich übergeben, bevor er in Ohnmacht fiel. Eine Woche später konnte er das Ausmaß seines Schocks, der fast Entsetzen gleichgekommen war, nicht mehr verstehen. Ein Jahr später gestand er nicht einmal mehr ein, daß er ein solches Gefühl verspürt hatte.
Er stand auf der obersten Stufe der Rathaustreppe und inhalierte die vier Grad kalte Luft, hielt den Handlauf mit eisernem Griff umklammert und sah über die verschneiten Felder hinaus. An verschiedenen Stellen war der Schnee bereits soweit abgeschmolzen, daß man braune Stellen darunter sehen konnte, und er dachte mit einer bitteren Derbheit, die auch ganz und gar nicht zu ihm paßte, daß die Felder wie Scheißeflecken auf einem Nachthemd aussahen. Zum ersten und einzigen Mal beneidete er Bradley Colson - oder Cooder, wenn das sein wirklicher Name war. Colson war aus Ilium verschwunden... oh, Verzeihung, aus Haven. Er war weggelaufen, und jetzt wünschte sich Donald Hartley, er könnte dasselbe tun. Warum hatten sie es getan? Warum? Sie wußten, was er war, sie wußten es! Also warum hatten sie...
Eine kräftige, warme Hand legte sich auf seinen Rücken. Er drehte sich um und sah seinen guten Freund Fred Perry. Freds langes, freundliches Gesicht sah besorgt und teilnahmsvoll aus, und Hartley spürte ein unwillkürliches Lächeln über sein Gesicht huschen.
»Don, fehlt dir etwas?« fragte Fred Perry.
»Nein. Drinnen war mir einen Augenblick schwindlig. Es war die Abstimmung. Damit hatte ich nicht gerechnet.«
»Ich auch nicht«, sagte Fred.
»Meine Gemeindemitglieder haben auch dafür gestimmt«, sagte Hartley. »Sie müssen es getan haben. Das Ja war so laut, daß sie dabeigewesen sein müssen, meinst du nicht?«
»Nun...«
Der Reverend Mr. Hartley lächelte ein wenig. »Ich weiß offenbar nicht soviel über die menschliche Natur, wie ich immer geglaubt habe.«
»Komm wieder rein, Don. Sie stimmen jetzt darüber ab, ob die Ridge Road gepflastert werden soll.«
»Ich glaube, ich bleibe noch eine Weile hier draußen«, sagte Hartley, »und denke über die menschliche Natur nach.« Er verstummte, und gerade als Fred Perry sich umdrehen wollte, um wieder hineinzugehen, fragte Reverend Donald Hartley beinahe fasziniert: »Verstehst du es, Fred? Verstehst du, warum sie es getan haben? Du bist fast zehn Jahre älter als ich. Verstehst du es?«
Und Fred Perry, der sein eigenes Ja! hinter der geballten Faust gebrüllt hatte, schüttelte den Kopf und sagte nein; er verstand es überhaupt nicht. Er mochte Reverend Hartley. Er respektierte Reverend Hartley. Aber dessen ungeachtet (oder vielleicht - nur vielleicht - deswegen) hatte es ihm ein gehässiges Vergnügen bereitet, für den Namen zu stimmen, den Colson vorgeschlagen hatte: Colson, der falsche Prophet, Colson der Schwindler, Colson der Dieb, Colson der Verführer.
Nein, Fred Perry verstand die menschliche Natur überhaupt nicht.
Zweites Kapitel
'Becka Paulson
Rebecca Bouchard Paulson war mit Joe Paulson verheiratet, einem der beiden Briefträger und einem Drittel der gesamten Postbelegschaft von Haven. Joe betrog seine Frau, etwas, das Bobbi Anderson längst wußte. Jetzt wußte es auch 'Becka Paulson. Sie wußte es bereits seit drei Tagen. Jesus hatte es ihr gesagt. In den vergangenen drei Tagen hatte Jesus ihr die erstaunlichsten, schrecklichsten und abscheulichsten Dinge erzählt, die man sich nur vorstellen konnte. Sie machten sie krank, sie konnte nicht mehr schlafen, sie raubten ihr den Verstand... aber waren sie nicht gleichzeitig auch wunderbar? Mann, o Mann! Und sollte sie nicht hinhören, Jesus vielleicht einfach auf sein Gesicht legen oder ihn anbrüllen, endlich still zu sein? Auf keinen Fall. Zum einen lag eine Art von gräßlicher Faszination in allem, was Jesus sagte. Zum anderen war er der Erlöser.
Jesus stand auf dem Sony-Fernseher der Paulsons. Er war erst seit sechs Jahren dort. Davor hatte er auf zwei Zeniths gestanden. 'Becka schätzte, daß Jesus sich seit ungefähr sechzehn Jahren an derselben Stelle befand. Jesus war lebensecht und dreidimensional dargestellt. Es war ein Bild von ihm, das 'Beckas ältere Schwester Corinne, die in Portsmouth lebte, ihnen zur Hochzeit geschenkt hatte. Als Joe bemerkte, daß 'Beckas Schwester ganz schön knauserig war, hatte 'Becka ihm befohlen, stillzu sein. Nicht, daß sie sonderlich überrascht gewesen wäre; von einem Mann wie Joe konnte man kein Verständnis dafür erwarten, daß man wahre Schönheit nicht mit einem Preisschild versehen konnte.
Auf dem Bild war Jesus in ein schlichtes weißes Gewand gekleidet und hielt einen Hirtenstab in der Hand. Der Christus auf 'Beckas Fernseher trug das Haar fast so wie Elvis, nachdem Elvis aus der Armee entlassen worden war. Ja; er sah ein wenig wie Elvis in G. L Blues aus. Seine Augen waren braun und sanft. Hinter ihm wanderten Schafe, so weiß wie die Laken in Werbespots für Waschmittel und in perfekter Perspektive, bis zum Horizont und darüber hinaus. 'Becka und Corinne waren auf einer Schaffatm in New Gloucester aufgewachsen, und Becka wußte aus eigener Erfahrung, daß Schafe niemals so weiß und gleichförmig wollig waren wie kleine, auf die Erde gefallene Schönwetterwolken.
Aber, überlegte sie, wenn Jesus Wasser in Wein verwandeln und die Toten zum Leben erwecken konnte, dann gab es keinen Grund, warum er nicht die um ein paar Lammarschlöcher herum getrocknete Scheiße verschwinden lassen konnte, wenn er es wollte.
Joe hatte mehrmals versucht, das Bild vom Fernseher verschwinden zu lassen, und sie vermutete, daß sie jetzt wußte, warum. Joe hatte sich natürlich Gründe aus den Fingern gesogen. »Es scheint mir einfach unpassend, Jesus auf unserem Fernseher zu haben, wenn wir Magnum oder Miami Vice sehen«, hatte er gesagt. »Warum stellst du ihn nicht in dein Zimmer, 'Becka? Oder... weißt du was? Warum stellst du ihn nicht bis Sonntag in dein Zimmer, und dann kannst du ihn herunterbringen und zurückstellen, während du dir Jimmy Swaggart und Jack van Impe ansiehst. Ich wette, Jesus gefällt Jimmy Swaggart viel besser als Miami Vice.«
Sie weigerte sich.
Ein andermal hatte er gesagt: »Den Jungs gefällt das nicht, wenn wir donnerstags hier pokern. Niemand gefällt es, wenn Jesus zusieht, wie einer versucht, ein Straight zu ziehen.«
»Vielleicht fühlen sie sich unbehaglich, weil sie wissen, daß Kartenspielen Teufelswerk ist«, hatte 'Becka gesagt.
Joe, ein guter Pokerspieler, murrte. »Dann war es Teufelswerk, das dir zu der Trockenhaube und dem Granatring verholfen hat, der dir so gut gefällt«, sagte er. »Du solltest sie zurückgeben und das Geld der Heilsarmee stiften. Ich glaube, ich habe die Quittungen noch in der Kommode.«
Also gestattete sie Joe, das Bild von Jesus einmal im Monat am Donnerstag herumzudrehen, wenn er seine biertrinkenden, schmutzige Reden führenden Freunde zum Pokerspielen hier hatte - aber das war alles.
Und jetzt kannte sie den wahren Grund, warum er dieses Bild hatte loswerden wollen. Er mußte die ganze Zeit eine Ahnung gehabt haben, daß das Bild ein magisches Bild sein könnte. Oh, wahrscheinlich war »heilig« ein besseres Wort, magisch war für Heiden, Kopfjäger, Kannibalen, Katholiken und dergleichen, aber war ja letzten Endes doch fast alles dasselbe, nicht? Wie auch immer, Joe mußte gespürt haben, daß dieses Bild etwas Besonderes war, daß es seine Sünde ans Licht bringen würde.
Oh, sie hatte schon immer geahnt, daß etwas im Gange war. Er hatte es nachts nicht mehr auf sie abgesehen, was zwar eine Erleichterung war (Sex war genauso, wie ihre Mutter es ihr vorhergesagt hatte, übel, viehisch, manchmal schmerzhaft, immer demütigend), und außerdem hatte sie von Zeit zu Zeit Parfüm an seinem Kragen gerochen, und das war überhaupt keine Erleichterung gewesen. Wahrscheinlich hätte sie den Zusammenhang - die Tatsache, daß sein Grapschen etwa zu der Zeit aufgehört hatte, als sein Kragen anfing, gelegentlich nach Parfüm zu riechen - auch weiterhin ignorieren können, wenn das Bild von Jesus auf dem Sony nicht am siebten Juni angefangen hätte, zu ihr zu sprechen. Sie hätte sogar einen dritten Faktor übersehen können: Um die gleiche Zeit, als das Grapschen aufgehört und der Parfümgeruch angefangen hatte, war der alte Charlie Estabrooke im Postamt in den Ruhestand gegangen und eine Frau namens Nancy Voss war von der Post in Augusta gekommen, um seine Stelle einzunehmen. Sie vermutete, daß die Voss (die für 'Becka jetzt lediglich Die Nutte war) etwa fünf Jahre älter war als sie und Joe, also um die Fünfzig, aber sie war eine schlanke, gepflegte Fünfzigjährige. 'Becka gab zu, daß sie selbst ein wenig zugenommen hatte, von hundertsechsundzwanzig auf zweihundertdrei, das meiste, seit Byron, ihr einziges Kind, aus dem Haus gegangen war.
Sie hätte es ignorieren können, hätte es ignoriert, hätte es vielleicht sogar mit Erleichterung tolerieren können; wenn der Nutte die tierische Roheit des Geschlechtsverkehrs mit seinem Grunzen und Stoßen und dem abschließenden Verspritzen klebriger Flüssigkeit, die leicht nach Kabeljau roch und wie billiges Geschirrspülmittel aussah, gefiel, dann bewies das nur, daß die Nutte selbst wenig mehr als ein Tier war. Zudem befreite es 'Becka Paulson von einer lästigen, wenn auch immer seltener gewordenen Verpflichtung. Das heißt, sie hätte es ignorieren können, wenn das Bildnis von Jesus nicht zu ihr gesprochen hätte.
Das erste Mal geschah es an einem Donnerstagnachmittag kurz nach drei Uhr. Becka kam mit einem kleinen Snack (einem Stück Kuchen und einem Bierkrug voll Kirsch-Za-Rex) aus der Küche ins Wohnzimmer, um sich General Hospital anzusehen. Sie konnte nicht mehr glauben, daß Luke und Laura jedesmal zurückkehren würden, aber sie war nicht bereit, die Hoffnung völlig aufzugeben.
Sie beugte sich herab, um den Fernseher einzuschalten, als Jesus sagte: »'Becka, Joe besorgt es dieser Nutte bei der Post in jeder Mittagspause, und machmal sogar nach Feierabend noch einmal. Einmal war er so geil, daß er es ihr besorgte, während er ihr helfen sollte, die Post zu sortieren. Und weißt du was? Sie hat nicht einmal gesagt: >Warte wenigstens, bis ich die Briefpost sortiert habe.<
Und das ist noch nicht alles«, sagte Jesus. Er schritt halb durch das Bild, das weiße Gewand flatterte ihm um die Knöchel, und er setzte sich auf einen Felsen, der aus dem Boden ragte. Er hielt den Stab zwischen den Knien und sah sie grimmig an. »In Haven spielt sich eine ganze Menge ab. Du wirst nicht die Hälfte davon glauben.«
'Becka schrie und sank auf die Knie. »Herr!« kreischte sie. Ein Knie von ihr landete mitten in dem Stück Kuchen (das etwa so groß und dick war wie die Familienbibel), und Johannisbeerfüllung spritzte ins Gesicht des Katers Ossie, der unter dem Ofen hervorgekommen war, um zu sehen, was da vor sich ging. »Herr! Herr!« kreischte 'Becka weiter. Ossie lief fauchend in die Küche, wo er unter dem Herd verschwand, während rote Füllung von seinem Schnurrbart tropfte. Dort blieb er für den Rest des Tages.
»Nun, keiner der Paulsons hat je viel getaugt«, sagte Jesus. Ein Schaf wanderte zu ihm, und er jagte es weg, wobei er seinen Stab mit einer abwesenden Ungeduld handhabte, die 'Becka selbst in ihrem gegenwärtigen Zustand an ihren verstorbenen Vater erinnerte. Das Schaf lief weg, es waberte wegen des 3 D-Effekts ein wenig. Es verschwand und schien sich tatsächlich zu krümmen, als es über den Bildrand ging... aber das war bestimmt eine optische Täuschung. »Nein, Sir!« verkündete Jesus. »Joes Uronkel war ein Mörder, wie du sehr gut weißt, 'Becka. Er hat seinen Sohn umgebracht, seine Frau und dann sich selbst. Und als er hier oben ankam, weißt du, was wir da gesagt haben? >Kein Platz!< das haben wir gesagt.«Jesus beugte sich auf seinen Stab gestützt nach vorne. >»Geh runter zu Mr. Pferdefuß<, haben wir gesagt. >Dort bist du entschieden besser aufgehoben. Aber du wirst feststellen, daß der neue Hauswirt eine verdammt hohe Miete verlangt und niemals die Heizung abstelltA haben wir gesagt.« Dann blinzelte Jesus ihr unglaublicherweise zu - und 'Becka rannte kreischend aus dem Haus.
2
Im Hinterhof blieb sie keuchend stehen, das mausgraue Haar hing ihr ins Gesicht, ihr Herz schlug so schnell, daß es ihr angst machte. Gott sei Dank hatte niemand ihr Kreischen und Herumtoben gehört; sie und Joe wohnten weit draußen an der Nista Road, ihre nächsten Nachbarn waren die Brodskys, die in diesem schäbigen Wohnwagen hausten. Die Brods-kys waren eine halbe Meile entfernt. Das war gut. Jeder, der sie gehört hätte, wäre zu der Überzeugung gelangt, daß sich bei den Paulsons eine Wahnsinnige herumtrieb.
Nun, da ist doch auch eine, oder nicht? Wenn du denkst, daß dieses Bild zu sprechen angefangen hat, dann mußt du verrückt sein. Daddy würde dir dafür drei blaue Flecken prügeln - einen fürs Lügen, einen dafür, daß du es selbst geglaubt hast, und einen, weil du deine Stimme erhoben hast. 'Becka, Bilder sprechen nicht.
Nein... und das hat es auch nicht getan, meldete sich plötzlich eine andere Stimme. Diese Stimme kam aus deinem eigenen Kopf, 'Becka. Ich weiß nicht, wie das sein kann... woher du diese Dinge wissen kannst... aber so ist es gewesen. Du hast dieses Bild von Jesus deine eigenen Gedanken sprechen lassen, so wie Edgar Bergen in der Ed-Sullivan-Show Charlie McCarthy sprechen ließ.
Aber irgendwie schien diese Vorstellung noch angsteinflößender, noch verrückter als die, das Bild selbst hätte gesprochen, und sie weigerte sich, sie in ihr Denken einzulassen. Immerhin geschahen jeden Tag
Wunder. Da war dieser mexikanische Bursche, der ein Bildnis der Jungfrau Maria in eine Enchilada oder so etwas ähnliches eingebacken gefunden hatte. Da waren die Wunder von Lourdes. Ganz zu schweigen von den Kindern, die Schlagzeilen in der Regenbogenpresse gemacht hatten
- sie hatten Steine geweint. Das waren echte Wunder (für die Kinder, die Steine weinten, zugegebenermaßen ein ziemlich hartes), die so erhebend waren wie eine Predigt von Pat Robertson. Stimmen hören war einfach Verrücktheit.
Aber genau das ist geschehen. Und du hörst schon eine ganze Weile Stimmen, nicht? Du hast seine Stimme gehört, die von )oes, und da kam die Stimme her. Nicht von Jesus, sondern von Joe...
»Nein«, wimmerte 'Becka. »Ich hab' keine Stimmen in meinem Kopf gehört.«
Sie stand an ihrer Wäscheleine im Hinterhof und sah mit leerem Blick zum Wald auf der anderen Seite der Nista Road. Er waberte im Hitzeflimmer. Weniger als eine halbe Meile Luftlinie entfernt gruben Bobbi Anderson und Jim Gardener in diesem Wald immer mehr von einem titanischen Fossil in der Erde aus.
Verrückt, dröhnte die unversöhnliche Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf. Verrückt vor Hitze. Komm hierher, 'Becka Bouchard, ich werde dich für dieses dumme Gerede grün und blau prügeln.
»Ich habe keine Stimme in meinem Kopf gehört«, stöhnte 'Becka. »Dieses Bild hat wirklich gesprochen, ich schwöre es, ich bin keine Bauchrednerin!«
Besser das Bild. Wenn es das Bild war, dann war es ein Wunder, und Wunder kamen von Gott. Ein Wunder konnte einen in den Wahnsinn treiben - und der gütige Gott wußte, daß ihr jetzt zumute war, als würde sie wahnsinnig-, aber das bedeutete nicht, daß man schon vorher verrückt gewesen war. Aber wenn man Stimmen in seinem Kopf hörte oder glaubte, daß man die Gedanken anderer Menschen lesen konnte...
'Becka sah nach unten und erblickte Blut, das aus ihrem linken Knie quoll. Sie kreischte erneut und rannte ins Haus zurück, um den Arzt anzurufen, den Krankenwagen oder sonstwen. Sie war wieder im Wohnzimmer, hatte den Hörer ans Ohr gepreßt und wählte, als Jesus sagte:
»Das ist nur die Johannisbeerfüllung von deinem Kuchen, 'Becka. Warum beruhigst du dich nicht einfach, bevor du einen Herzanfall bekommst.«
Sie sah zum Sony, und der Telefonhörer fiel polternd auf den Tisch. Jesus saß immer noch auf dem Felsen. Es sah aus, als hätte er die Beine übereinandergeschlagen. Es war wirklich überraschend, wie sehr er ihrem Vater ähnelte - nur schien er nicht so furchteinflößend und ständig bereit zu sein, sofort wütend zu werden. Er sah sie mit einer Art erbitterter Geduld an.
»Sieh nach, ob ich nicht recht habe«, sagte Jesus.
Sie berührte zögernd das Knie und war auf Schmerzen gefaßt. Sie hatte keine. Dann sah sie die Kerne in der roten Substanz und entspannte sich. Sie leckte sich die Johannisbeerfüllung von den Fingern.
»Zudem«, sagte Jesus, »bildest du dir ein, Stimmen zu hören und verrückt zu werden. Der einzige, den du hörst, bin ich, und ich kann zu jedem reden, zu dem ich reden möchte, und zwar so, wie ich will.«
»Weil du der Heiland bist«, flüsterte 'Becka.
»Ganz recht«, sagte Jesus. Er sah nach unten. Unter ihm auf dem Bildschirm tanzten ein paar Salatschüsseln vor Begeisterung über das Hidden Valley Ranch Dressing, das sie gleich empfangen würden. »Und ich möchte, daß du diesen Unsinn abschaltest, wenn es dir nichts ausmacht. Wir können uns nicht unterhalten, wenn dieses Ding läuft. Außerdem kitzelt es mich an den Fußsohlen.«
'Becka trat zum Sony und schaltete ihn ab.
3
»Herr«, flüsterte sie.
Am darauffolgenden Sonntagnachmittag lag Joe Paulson fest schlafend in der Hängematte auf der hinteren Veranda, und der Kater Ossie schlief auf Joes üppigem Bauch. 'Becka stand im Wohnzimmer, hielt den Vorhang zurück und sah Joe an. Schlief in der Hängematte. Träumte zweifellos von seiner Nutte - träumte davon, sie auf einen großen Stapel von Katalogen und Woolco-Wurfsendungen zu werfen, um sie dann -wie würden Joe und seine schweinischen Pokerkumpane es ausdrücken ?
- »auf den Leisten zu spannen«.
Sie hielt den Vorhang mit der linken Hand, denn die rechte war voll von eckigen Neun-Volt-Batterien. Sie brachte die Batterien in die Küche, wo sie auf dem Küchentisch etwas bastelte. Jesus hatte ihr befohlen, es zu machen. Sie hatte Jesus gesagt, daß sie so etwas nicht konnte. Sie war ungeschickt. Das hatte ihr Daddy immer zu ihr gesagt. Sie wollte hinzufügen, daß er manchmal sagte, er wundere sich, wie sie sich überhaupt ohne Gebrauchsanweisung den Hintern abwischen konnte, aber dann entschied sie, daß man so etwas nicht zum Heiland sagte. Jesus hatte ihr gesagt, sie solle nicht albern sein; wenn sie einem Kochrezept folgen konnte, dann konnte sie auch dieses kleine Ding zusammenbauen. Zu ihrem Entzücken stellte sie fest, daß er damit recht hatte. Es war nicht nur leicht, es machte Spaß! Ganz sicher mehr Spaß als das Kochen; das lag ihr einfach nicht. Ihre Kuchen fielen zusammen, ihr Brot ging niemals auf. Sie hatte dieses kleine Ding gestern angefangen, sie arbeitete mit dem Toaster, dem Motor ihres alten Hamilton-Beach-Mixers und einer komischen kleinen Elektroniktafel, die aus dem alten Radio im Schuppen stammte. Sie dachte, daß sie längst fertig sein würde, bevor Joe aufwachte und hereinkam, um sich um zwei Uhr das Spiel der Red Sox im Fernsehen anzuschauen.
Sie griff nach seiner kleinen Lötlampe und zündete die Flamme geschickt mit einem Streichholz an. Noch vor einer Woche hätte sie gelacht, wenn ihr jemand gesagt hätte, daß sie heute mit einer Lötlampe arbeiten würde. Aber es war so einfach. Jesus hatte ihr genau gesagt, wie und wo sie die Kabel an der Elektroniktafel des alten Radios festlöten mußte.
Das war nicht alles, was Jesus ihr in den vergangenen drei Tagen gesagt hatte. Er hatte ihr Sachen gesagt, die ihr den Schlaf raubten; sie hatte Angst, zum Einkaufen in die Stadt zu gehen, weil sie fürchtete, man würde ihr das Schuldbewußtsein vom Gesicht ablesen können (ich weiß immer genau, wenn du etwas Schlechtes getan hast, 'Becka, hatte ihr Vater zu ihr gesagt, denn du hast ein Gesicht, das kein Geheimnis für sich behalten kann); sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben ihren Appetit verloren. Joe, der sich nur für seine Arbeit, die Red Sox und seine Nutte interessierte, merkte überhaupt nicht, daß etwas nicht stimmte. Aber gestern abend hatte er bemerkt, daß 'Becka an ihren Nägeln kaute, während sie sich Die Straßen von San Francisco ansah, und Nägelkauen war etwas, das sie vorher noch nie gemacht hatte - das war sogar eines der Dinge, die sie ihm zum Vorwurf machte. Joe Paulson dachte ganze zwölf Sekunden darüber nach, bevor er wieder zum Fernseher sah und seinen Träumen von Nancy Voss' wogenden weißen Brüsten nachhing.
Das gehörte zu den Dingen, die Jesus ihr gesagt hatte, und um derentwillen 'Becka kaum noch schlafen konnte und im fortgeschrittenen Alter von dreiundvierzig Jahren mit dem Nägelkauen anfing.
1973 hatte Moss Harlingen, einer von Joes Pokerkumpeln, seinen Vater umgebracht. Sie waren oben in Greenville auf der Jagd gewesen, und angeblich hatte es sich um einen dieser tragischen Unfälle gehandelt. Aber der Tod von Abel Harlingen war kein Unfall gewesen. Moss hatte sich einfach mit seiner Flinte hinter einen umgestürzten Baum gelegt und gewartet, bis sein Vater etwa fünfzig Meter von der Stelle, an der Moss sich befand, durch einen schmalen Bach stapfte. Moss hatte seinen Vater so deutlich im Visier gehabt wie eine Tontaube auf dem Schießstand. Er glaubte, er hätte seinen Vater des Geldes Wegen erschossen. Moss' Firma, Big Ditch Construction, mußte innerhalb von sechs Wochen zwei Wechsel bei zwei verschiedenen Banken einlösen, und keine wollte ihren verlängern - wegen dem anderen. Moss war zu Abel gegangen, aber sein Vater hatte sich geweigert, ihm zu helfen, obwohl er es sich hätte leisten können. Deshalb hatte Moss seinen Vater erschossen und eine hübsche Stange Geld geerbt, nachdem der Coroner auf Tod durch Unfall erkannt hatte. Die Wechsel wurden eingelöst, und Moss 224 glaubte wirklich (außer vielleicht von seinen tiefsten Träumen), daß er den Mord begangen hatte, um das Geld zu bekommen. Aber das wahre Motiv sah anders aus. Weit in der Vergangenheit, als Moss zehn und sein Bruder Emory sieben gewesen waren, war Abels Frau nach Rhode Island gefahren und einen ganzen Winter über dort geblieben. Ihr Bruder war plötzlich gestorben, und seine Frau brauchte Hilfe, um wieder auf die Beine zu kommen. Während ihre Mutter fort war, kam es im Hause der Harlingen wiederholt zu Päderastie. Sie hörte auf, als die Mutter der Jungen zurückkam, und die Vorfälle wiederholten sich niemals. Moss hatte sie vollkommen vergessen. Er erinnerte sich nicht mehr daran, wie er in der Dunkelheit wachgelegen hatte, wie er in Todesangst wachgelegen und in der Tür auf den Schatten seines Vaters gewartet hatte. Er hatte absolut keine Erinnerungen mehr daran, wie er dagelegen hatte, den Mund auf den Unterarm gepreßt, und wie ihm salzige Tränen der Scham und Wut aus den heißen Augen quollen und über sein kaltes Gesicht zum Mund rannen, während Abel Harlingen sich Creme auf den Schwanz schmierte und ihn grunzend und seufzend in den Hintereingang seines Sohnes schob. Das alles hatte einen so schwachen Eindruck in Moss hinterlassen, daß er sich nicht erinnern konnte, wie er sich in den Arm gebissen hatte, bis er blutete, um nicht aufzuschreien, und er konnte sich sicher nicht mehr an Emorys atemlose, vogelähnliche Schreie vom Nachbarbett erinnern - »Bitte, Daddy, nein, Daddy, ich nicht heute nacht, bitte, Daddy.« Natürlich vergessen Kinder sehr leicht. Aber eine leise Erinnerung mochte dennoch geblieben sein, denn als Moss Harlingen tatsächlich abdrückte und den arschfickenden Hurensohn abknallte, als das Echo sich entfernte und dann zurückkam und schließlich im unendlichen bewaldeten Schweigen der Wildnis von Maine verklang, da flüsterte Moss: »Nicht du, Em, nicht heute nacht.«
Alice Kimball, die an der Grundschule von Haven unterrichtete, war eine Lesbe. Das hatte Jesus 'Becka am Freitag gesagt, nicht lange nachdem die Dame selbst hier gewesen war, groß und solide und respektabel in ihrem grünen Hosenanzug, um für die Krebshilfe zu sammeln.
Darla Gaines, das hübsche siebzehnjährige Mädchen, das die Sonntagszeitung brachte, hatte eine halbe Unze »erstklassigen Stoff« zwischen Matratze und Rost ihres Bettes. Das hatte Jesus 'Becka gesagt, nachdem das Mädchen vorbeigekommen war, um für die vergangenen fünf Wochen zu kassieren (drei Dollar und fünfzig Cent Trinkgeld, und 'Becka wünschte sich nun, sie hätte sie ihr nicht gegeben), und sie und ihr Freund rauchten diesen Stoff vor dem Geschlechtsverkehr in Darlas Bett, und den Geschlechtsverkehr nannten sie den »horizontalen Bop.« Sie rauchten an Werktagen fast jeden Nachmittag den Stoff und machten von halb drei bis drei den »horizontalen Bop«. Darlas Eltern arbeiteten beide bei Splendid Shoe in Derry und kamen erst nach vier nach Hause.
Hank Bück, auch einer von Joes Pokerkumpeln, arbeitete in einem großen Supermarkt in Bangor und haßte seinen Boss so sehr, daß er ihm eines Tages, als der Boss ihn weggeschickt hatte, um ihm bei McDonald's sein Mittagessen zu holen, eine halbe Packung Ex-Lax in den Schokoladenshake geschüttet hatte. Der Boss hatte etwas Spektakuläreres als nur eine angeregte Verdauung erlebt; Viertel nach drei an diesem Nachmittag hatte er etwas in seine Hose gemacht, das das Äquivalent einer Scheiße-A-Bombe war. Die A-Bombe - oder S-Bombe, wenn man das bevorzugt - war losgegangen, während er in Paul's-Down-East-Super-markt Fleisch geschnitten hatte. Es war Hank gelungen, bis Feierabend ernst zu bleiben, aber als er in sein Auto stieg, um nach Hause zu fahren, hatte er so sehr gelacht, daß er sich fast selbst in die Hose geschissen hätte. Er hatte zweimal an den Straßenrand fahren müssen, so heftig hatte er gelacht.
»Gelacht«, sagte Jesus zu 'Becka. »Was sagst du dazu?«
'Becka fand, daß es ein erbärmlicher, schuftiger Trick war. Und diese Sachen waren erst der Anfang, schien es. Jesus wußte über jeden, mit dem 'Becka zu tun hatte, etwas Unerfreuliches oder Beunruhigendes.
Sie konnte mit diesen schrecklichen Informationen nicht leben.
Sie konnte aber auch nicht ohne sie leben.
Eines war sicher: sie mußte etwas dagegen unternehmen.
»Das tust du bereits«, sagte Jesus. Er sprach hinter ihr, aus dem Bild auf dem Sony. Natürlich tat er das. Die Vorstellung, daß seine Stimme aus ihrem eigenen Kopf stammte - die war irgendwie.. nun... daß sie irgendwie die Gedanken der Menschen lesen konnte... das war nur eine vorübergehende schreckliche Illusion. Das mußte sie sein. Die Alternative war grauenhaft.
Satan. Hexerei.
»Eigentlich«, sagte Jesus und bekräftigte seine Existenz mit der trok-kenen, strengen Stimme, die so sehr der ihres Vaters glich, »bist du mit diesem Teil fast fertig. Löte nur noch dieses Kabel an den Punkt links von diesem langen Zäpfchen... nein, nicht dort... dort. Braves Mädchen! Vergiß nicht, nicht zuviel Lötzinn! Das ist wie mit Brylcreem, 'Becka. Ein kleiner Klecks genügt.«
Seltsam, Jesus von Brylcreem sprechen zu hören.
4
Joe erwachte um Viertel vor zwei, schubste Ossie von seinem Bauch, schlenderte zum Rand des Rasens, wischte sich Katzenhaare vom T-Shirt und pißte in den dort wachsenden Giftsumach. Dann ging er ins Haus. Yankees gegen Red Sox. Großartig. Er öffnete den Kühlschrank, schaute kurz zu den Drahtresten auf dem Tisch und fragte sich, was zum
Teufel diese Dünnbrettbohrerin 'Becka wieder getrieben hatte. Aber er achtete nicht weiter darauf. Er dachte an Nancy Voss. Er stellte sich vor, wie es sein würde, zwischen Nancys Titten abzuspritzen. Er dachte, daß er es am Montag vielleicht herausfinden würde. Er zankte sich mit ihr; Herrgott, manchmal zankten sie sich wie zwei Hunde im August. Aber das schien nicht nur bei ihnen so zu sein; jeder schien in letzter Zeit gereizt zu sein. Aber wenn es ums Picken ging. . . verdammt und zugenäht! Seit er achtzehn gewesen war, war er nicht mehr so geil gewesen, und bei ihr war es ebenso. Es schien, als könnte keiner von ihnen genug bekommen. Ein paarmal hatte er sogar nachts abgespritzt. Es war, als wäre er wieder sechzehn. Er griff sich eine Flasche Bud und ging ins Wohnzimmer. Boston würde mit ziemlicher Sicherheit heute gewinnen. Er hatte auf 8 zu 5 getippt. In letzter Zeit schien er ein erstaunliches Gespür für Wetten zu haben. Unten in Augusta war ein Mann, der Wetten annahm, und Joe hatte in den vergangenen drei Wochen fast fünfhundert Piepen gemacht. Nicht, daß 'Becka etwas davon wußte. Er hatte es eingekellert. Es war komisch: er wußte genau, wer gewinnen würde und warum, und dann ging er nach Augusta und hatte das Warum vergessen und konnte sich nur noch an das Wer erinnern. Aber darauf kam es ja schließlich an, nicht? Letztes Mal hatte der Bursche in Augusta ungehalten reagiert, als er bei einer ZwanzigDollar-Wette drei zu eins hatte auszahlen müssen. Die Mets gegen die Pirates. Gooden als Werfer schien ein Zuckerschlecken für die Mets zu sein, aber Joe hatte auf die Pirates getippt, und sie hatten 5 zu 2 gewonnen. Joe wußte nicht, wie lange der Bursche in Augusta seine Wetten noch annehmen würde, aber was machte es schon, wenn er nicht wollte? Blieb immer noch Portland. Dort gab es zwei oder drei Buchmacher. In letzter Zeit schien er immer Kopfschmerzen zu bekommen, wenn er Haven verließ - vielleicht brauchte er eine Brille-, aber wenn man eine Glückssträhne hatte, waren Kopfschmerzen ein geringer Preis. Genug Geld, dann konnten sie beide weggehen. Und 'Becka konnte bei Jesus bleiben. Mit dem wollte 'Becka sowieso verheiratet sein.
Sie war kalt wie Eis. Aber diese Nancy? Ein Hitzeblitz! Und schlau! Erst heute nachmittag hatte sie ihn ins Hinterzimmer der Post geführt, um ihm etwas zu zeigen. »Sieh mal! Sieh mal, was ich mir ausgedacht habe! Mir ist eine Idee gekommen. Ich glaube, ich sollte das patentieren lassen, Joe! Wirklich!«
»Was für eine Idee?« fragte Joe. In Wahrheit war er ein wenig wütend auf sie. In Wahrheit interessierte er sich mehr für ihre Titten als für ihre Ideen, und wütend oder nicht, er bekam bereits wieder einen Edelstahlständer. Es war wirklich, als wäre er wieder ein Junge. Aber was sie ihm zeigte, ließ ihn seinen Edelstahlständer vergessen. Zumindest die nächsten vier Minuten.
Nancy Voss hatte den Trafo einer Spielzeugeisenbahn genommen und ihn irgendwie mit einigen D-Zellen verbunden. Dieses Instrument war mit sieben Mehlsieben verbunden, deren Böden herausgeschlagen worden waren. Die Siebe lagen auf den Seiten. Als Nancy den Trafo einschaltete, begannen eine Anzahl haarfeiner Drähte, die mit etwas verbunden waren, das wie ein Mixer aussah, scheinbar wahllos Briefe von einem Stapel auf dem Boden in die Siebe zu sortieren.
»Was macht es?« fragte Joe.
»Es sortiert die Briefe«, sagte sie. Sie deutete nacheinander auf die Siebe. Das dort ist Haven Village... das ist RFD 1, du weißt, Derry Road... das dort ist Ridge Road... das dort Nista Road... das ist... «
Anfangs konnte er es nicht glauben. Er hatte es für einen Witz gehalten und sich gefragt, wie ihr eine Ohrfeige gefallen würde. Warum hast du das getan? würde sie winseln. Ein paar Männer können einen Witz vertragen, würde er antworten, wie Sylvester Stallone in dem Film Die City-Cobra, aber ich gehöre nicht zu ihnen. Doch dann sah er, daß es wirklich funktionierte. Es war eine herrliche Erfindung, zugegeben, aber das Geräusch der Drähte, die über den Boden schabten, war ein wenig unheimlich. Harsch und flüsternd wie Spinnenbeine. Es funktionierte tatsächlich, der Teufel sollte ihn holen, wenn er wußte, wie, aber es funktionierte. Er sah, wie einer der Drähte einen Brief für Roscoe Thibault ergriff und ins richtige Sieb warf - RFD 2, das war die Hammer Cut Road-, obwohl er die falsche Anschrift Haven Village trug.
Er wollte sie fragen, wie es funktionierte, aber er wollte nicht wie ein verdammter Dummkopf aussehen, daher fragte er sie statt dessen, woher sie die Drähte hatte.
»Aus den Telefonen, die ich im Radio Shack gekauft habe«, sagte sie. »In der Bangor Mall. Sie waren im Angebot! Es ist auch noch ein wenig anderes Material aus den Telefonen enthalten. Ich mußte alles umbauen, aber es war leicht. Es ist mir... einfach eingefallen. Verstehst du?«
»Klar«, sagte Joe langsam und dachte an das Gesicht des Buchmachers, als Joe gekommen war, um seine sechzig Piepen abzuholen, nachdem die Pirates Gooden und die Mets geschlagen hatten. »Nicht schlecht. Für eine Frau.«
Ihr Ausdruck verfinsterte sich, und er dachte: Möchtest du etwas sagen? Möchtest du Streit? Komm schon. Ist mir recht. Ist mir ebenso recht wie das andere.
Dann hellte sich ihre Miene auf, und sie lächelte. »Jetzt können wir es noch länger machen.« Ihre Finger glitten über die harte Beule in seiner Hose. »Du möchtest es doch machen, Joe, oder nicht?«
Joe wollte. Sie legten sich auf den Boden, und er vergaß, daß er wütend auf sie war und daß er plötzlich imstande schien, die Ergebnisse von allem vorherzusehen, von Baseballspielen bis hin zu Pferderennen und Golfpartien, und zwar binnen eines Augenblicks. Er glitt in sie hinein, und sie stöhnte, und Joe vergaß sogar das gespenstisch flüsternde Ge -räusch, das die Drähte machten, während sie die Briefe in die Reihe der Mehlsiebe sortierten
5
Als Joe das Wohnzimmer betrat, saß 'Becka in ihrem Schaukelstuhl und tat so, als läse sie die neueste Ausgabe von The üpper Room. Zehn Minuten bevor Joe hereinkam, hatte sie das Gerät, dessen Herstellung Jesus ihr gezeigt hatte, hinten im Sony-Fernseher angeschlossen. Sie hatte seine Anweisungen buchstabengetreu befolgt, denn er hatte gesagt, man müsse vorsichtig sein, wenn man sich in einem Fernsehgerät zu schaffen machte.
»Du könntest gebraten werden«, hatte Jesus erklärt. »Dort drinnen ist mehr Saft als in einem elektrischen Stuhl, selbst wenn er abgeschaltet ist.«
Jetzt war der Fernseher abgeschaltet, und Joe sagte mißlaunig »Ich dachte, du hättest ihn vorgewärmt.«
»Ich denke, du weißt selbst, wie man den verdammten Fernseher einschaltet«, sagte 'Becka und sprach zum letzten Mal zu ihrem Mann.
Joe zog die Brauen hoch. Verdammt war ein verdammt seltsames Wort aus 'Beckas Mund. Er überlegte, ob er sie darauf ansprechen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Vielleicht war sie nur eine fette alte Stute, die in nicht allzu ferner Zeit allein in ihrem Haus sitzen würde.
»Schätze schon«, sagte Joe und sprach zum letzten Mal zu seiner Frau.
Er drückte den Knopf, mit dem man den Sony einschaltete, und mehr als zweitausend Volt rasten durch ihn hindurch, Wechselstrom, der, verstärkt, in tödlichen Gleichstrom verwandelt wurde und dann erneut verstärkt wurde. Seine Augen, weit aufgerissen, quollen hervor und platzten dann wie Trauben im Mikrowellenherd Er hatte die Bierflasche neben Jesus auf den Fernseher stellen wollen. Als der Strom durch ihn hindurchfloß, krampfte sich seine Hand so fest zusammen, daß die Flasche zerbrach. Braune Glassplitter drangen in seine Finger und Handflächen. Bier schäumte und tropfte. Es tropfte auf den Fernseher (dessen Plastikgehäuse bereits Blasen bildete) und verwandelte sich in Dampf, der nach Hefe roch.
»EEEEEOOOOOARRRRHMMMMMM!« schrie Joe Paulson. Sein Gesicht wurde schwarz; blauer Rauch quoll aus seinen Haaren und Ohren. Sein Finger war am Einschaltknopf des Sony festgenagelt.
Auf dem Bildschirm wurde ein Bild sichtbar. Es war Dwight Gooden, der den tollen Wurf tat, der ihm zwei Runden einbrachte, und hinter dem Ball herjagte, was Joe Paulson um vierzig Dollar reicher machte. Das Bild veränderte sich und zeigte Joe und Nancy Voss, die auf dem
Boden des Postamts inmitten eines Durcheinanders von Katalogen und Rundschreiben vögelten, zwischen denen Wurfsendungen einer Versicherung lagen, die versprachen, daß man jeden Versicherungsschutz bekommen würde, den man brauchte, auch wenn man über fünfundsechzig war, kein Vertreter würde an der Tür klingeln, eine ärztliche Untersuchung war nicht erforderlich, die Lieben würden für ein paar Pennies pro Tag voll geschützt sein.
»Nein!« schrie 'Becka, und das Bild veränderte sich erneut. Jetzt sah sie hinter einem Baumstamm Moss Harlingen kauern, der seinen Vater im Visier der doppelläufigen .30-.30 hatte und murmelte: Nicht du, Em, nicht heute nacht. Das Bild wechselte, und sie sah einen Mann und eine Frau, die im Wald gruben, die Frau saß hinter dem Armaturenbrett von etwas, das wie ein Gabelstapler aussah und ein wenig wie etwas aus einem Rube-Goldberg-Cartoon; der Mann schlang eine Kette um einen Baumstumpf. Hinter ihnen ragte ein riesiges scheibenförmiges Objekt aus der Erde. Es war silbern, aber stumpf; die Sonne fiel teilweise darauf, aber es funkelte nicht.
Joe Paulsons Kleidungsstücke gerieten in Brand.
Das Wohnzimmer war vom Geruch kochenden Biers erfüllt. Das 3D-Bild von Jesus wackelte und explodierte.
Becka kreischte und erkannte, daß sie selbst es die ganze Zeit gewesen war, ob es ihr gefiel oder nicht, sie, sie, sie und sie ermordete ihren Mann.
Sie lief zu ihm, ergriff seine rudernde, zuckende Hand ... und wurde selbst galvanisiert.
Jesus o Jesus rette ihn rette mich rette uns beide, dachte sie, als der Strom in sie hineinfloß und sie auf die Zehenspitzen trieb wie die grazilste Primaballerina der Welt en pointe. Und eine irre, keifende Stimme, die Stimme ihres toten Vaters, schwoll in ihrem Gehirn an: Reingefallen, 'Becka, nicht wahr? Herrlich reingefallen! Ich werde dich lehren, zu lügen! Ein_ für allemal!
Die Rückwand des Fernsehers, die sie wieder festgeschraubt hatte, nachdem sie ihr Gerät eingebaut hatte, wurde mit einem gewaltigen blauen Blitz gegen die Wand geschleudert. 'Becka stürzte auf den Teppich und zog Joe mit sich. Joe war bereits tot.
Als die schwelende Tapete hinter dem Fernseher die Vorhänge entzündet hatte, war 'Becka Paulson ebenfalls tot.
Drittes Kapitel
Hilly Brown
1
Der Tag, an dem Hillman Brown den spektakulärsten Trick seiner Laufbahn als Amateurzauberer ausführte - eigentlich den einzigen spektakulären Trick seiner Laufbahn als Amateurzauberer-, war Sonntag, der 17. Juli, genau eine Woche bevor das Rathaus von Haven in die Luft flog. Daß Hillman Brown niemals zuvor ein spektakulärer Trick gelungen war, war nicht verwunderlich. Schließlich war er erst zehn Jahre alt.
Sein Taufname war der Mädchenname seiner Mutter. Es hatte bereits Hillmans in Haven gegeben, als es noch Montgomery geheißen hatte, und wenngleich Marie Hillman es nicht bedauert hatte, Mary Brown zu werden - immerhin liebte sie den Mann! -, hatte sie doch den Namen erhalten wollen, und Bryant hatte eingewilligt. Das neugeborene Baby war noch keine Woche zu Hause, da nannte jeder es Hilly.
Hilly wuchs zu einem nervösen Kind heran. Maries Vater Ev sagte, er hätte Katzenschnurrhaare anstelle von Nerven und würde sein ganzes Leben lang schreckhaft sein. Das waren Neuigkeiten, die Bryant und Marie Brown nicht gerne hörten, aber nachdem sie ein Jahr mit dem Kind lebten, waren es keine Neuigkeiten mehr, sondern lediglich noch Tatsachen. Manche Babies versuchen sich zu beruhigen, indem sie in der Wiege oder ihrem Bettchen schaukeln; andere, indem sie am Daumen lutschen. Hilly schaukelte fast ununterbrochen (wobei er gleichzeitig ziemlich oft wütend weinte), und er lutschte an beiden Daumen -lutschte so heftig, daß sie mit schmerzhaften Blasen bedeckt waren, als er acht Monate alt war.
»Jetzt wird er damit aufhören«, hatte Dr. Lester in Derry ihnen versichert, nachdem er sich die häßlichen Blasen angesehen hatte, die Hillys Daumen verunstalteten ... Blasen, um derentwillen Marie weinte, als wären es ihre eigenen. Aber Hilly hatte nicht aufgehört. Sein Bedürfnis nach Trost war offenbar größer als die Schmerzen, welche seine wunden Daumen ihm bereiteten. Schließlich wurden die Blasen zu harten Schwielen.
»Er wird immer schreckhaft sein«, verkündete der Großvater des Jungen, so oft ihn jemand fragte (und wenn ihn niemand fragte, auch; mit dreiundsechzig war Ev Hillmann überaus geschwätzig). »Katzen-
231 schnurrhaare anstelle von Nerven, aber sicher! Er wird seine Eltern auf Trab halten, das wird Hilly.«
Hilly hielt sie tatsächlich auf Trab. Die Einfahrt der Browns war von Blöcken gesäumt, die Bryant auf Maries Bitten hin dort angebracht hatte. Auf jeden stellte sie einen Topf, und in jedem Topf wuchs eine andere Pflanze. Im Alter von drei Jahren stieg Hilly eines Tages aus seinem Bettchen, in dem er ein Nickerchen halten sollte (»Warum muß ich ein Nickerchen machen, Mami?« hatte Hilly gefragt. »Weil ich die Verschnaufpause brauche, Hilly«, hatte seine erschöpfte Mutter geantwortet), kletterte zum Fenster hinaus und stieß alle zwölf Töpfe mitsamt den Blöcken um. Als Marie sah, was Hilly angestellt hatte, weinte sie so untröstlich wie über die Blasen an den Daumen des armen Jungen. Als er sie weinen sah, war Hilly ebenfalls in Tränen ausgebrochen (mit den Daumen im Mund, er versuchte, an beiden gleichzeitig zu saugen). Er hatte die Blöcke und Töpfe nicht aus Bosheit umgestoßen - es schien ihm einfach eine gute Idee zu sein.
»Du machst dir keine Gedanken über die Kosten, Hilly«, sagte sein Vater bei diesem Anlaß. Bis zum 17. Juli 1988 sollte er es noch häufig sagen.
Im Alter von fünf Jahren setzte sich Hilly auf seinen Schlitten und schoß an einem Dezembertag die vereiste Einfahrt der Browns hinab und auf die Straße hinaus. Der Gedanke, erzählte er später seiner todblassen Mutter, ob auf der Derry Road etwas entlangkommen könnte, war ihm überhaupt nicht gekommen; er war aufgestanden, hatte das Eis glitzern gesehen und sich lediglich gefragt, wie schnell sein Flexible Flyer die Einfahrt hinabsausen würde. Marie sah ihn, sah den Tanklastwagen, der die Route 9 entlangdröhnte, und kreischte Hillys Namen so laut, daß sie die beiden darauffolgenden Tage kaum mehr als flüsternd sprechen konnte. Als sie in dieser Nacht zitternd in Bryants Armen lag, sagte sie ihm, daß sie den Grabstein des Jungen auf dem Homeland-Friedhof gesehen hatte - tatsächlich gesehen: Hillman Richard Brown, 1978-1983, Zu _ früh von uns gegangen.
»Hiüllyyyyyyy!«
Beim Schrei seiner Mutter, der ihm so laut wie ein Düsenflugzeug vorkam, warf Hilly den Kopf herum. Das hatte zur Folge, daß er vom Schlitten fiel, bevor dieser am Ende der Einfahrt angekommen war. Die Einfahrt war asphaltiert, die Eisdecke ziemlich dünn, und Hilly hatte nie das besessen, womit Gott die meisten draufgängerischen, aktiven Kinder segnet - Glück beim Stürzen. Er brach sich den linken Arm direkt über dem Ellenbogen und prallte so heftig mit der Stirn auf, daß er ohnmächtig wurde.
Sein Flexible Flyer schoß auf die Straße hinaus. Der Fahrer des Webber Tanklastwagens reagierte, bevor er sehen konnte, daß niemand auf dem Schlitten saß. Er riß das Lenkrad herum, und der Tanklastwagen
232 schlitterte mit der Anmut des Elefantenballetts in Fantasia in eine Schneeverwehung. Er stieß durch sie hindurch und blieb beängstigend zur Seite geneigt im Straßengraben liegen. Weniger als fünf Minuten nachdem sich der Fahrer aus der Kabine befreit hatte und zu Marie Brown gelaufen war, kippte der Lastwagen um und lag wie ein totes Mastodon im Schnee; teures Superbenzin gluckerte aus den drei Überlaufventilen.
Marie lief mit ihrem bewußtlosen Kind in den Armen die Straße hinab und schrie. In ihrem Entsetzen und ihrer Verwirrung war sie überzeugt, daß Hilly überfahren worden sein mußte, obwohl sie ganz deutlich gesehen hatte, wie er am Ende der Einfahrt vom Schlitten gefallen war.
»Ist er tot?« schrie der Lastwagenfahrer. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Gesicht weiß wie Papier, seine Nackenhaare waren gesträubt. Im Schritt seiner Hose breitete sich ein dunkler Fleck aus. »Beim heiligen Jesus, Lady, ist er tot?«
»Ich glaube schon«, weinte Marie. »Ich glaube, er ist tot, oh, ich glaube, er ist tot.«
»Wer ist tot?« fragte Hilly und schlug die Augen auf.
»Oh, Hilly, Gott sei Dank!« schrie Marie und umarmte ihn. Hilly erwiderte den Schrei mit großem Enthusiasmus. Sie drückte auf die gesplitterte Bruchstelle im linken Arm.
Hilly verbrachte die nächsten drei Tage im Derry Home Hospital.
»Das wird ihn wenigstens Vorsicht lehren«, sagte Bryant Brown am nächsten Abend beim Essen, das aus gebackenen Bohnen und Hot Dogs bestand.
Ev Hillman aß an diesem Abend zufällig bei ihnen; seit seine Frau gestorben war, tat Ev Hillman das ab und zu, aber nicht öfter als an fünf Abenden pro Woche. »Möchtest du eine Wette abschließen?« sagte Ev daraufhin und kicherte, den Mund voll Maisbrot. Bryant warf seinem Schwiegervater einen verärgerten Blick zu und sagte nichts.
Wie üblich hatte Ev recht - das war einer der Gründe, warum sich Bryant so oft über ihn ärgerte. In seiner zweiten Nacht im Krankenhaus, als die anderen Kinder der Kinderstation schon lange schliefen, beschloß Hilly, auf Erkundungspirsch zu gehen. Wie er an der Aufsichtsschwester vorbeikam, bleibt ein Geheimnis, aber er kam an ihr vorbei. Um drei Uhr morgens wurde sein Verschwinden entdeckt. Eine sofortige Suche, in der Kinderstation konnte ihn nicht zutage fördern. Auch keine Suche auf dem gesamten Stockwerk. Der Sicherheitsdienst wurde hinzugezogen. Man begann eine Durchsuchung des ganzen Krankenhauses -Angestellte, die bislang lediglich erbost gewesen waren, machten sich nun Sorgen-, fanden aber nichts. Hilly s Vater und Mutter wurden angerufen und kamen sofort; sie sahen aus, als hätten sie einen Schock erlitten. Marie weinte, aber wegen ihrer geschwollenen Kehle kam nur ein kehliges Krächzen heraus.
»Wir glauben, daß er irgendwo aus dem Gebäude hinausgewandert sein muß«, informierte sie der Verwaltungsdirektor.
»Wie, zum Teufel, kann ein Fünfjähriger einfach aus dem Gebäude hinauswandern ?« brüllte Bryant. »Was ist denn das hier für ein Laden ?«
»Nun... nun... Sie müssen verstehen, daß es sich nicht um ein Gefängnis handelt, Mr. Brown...«
Mary unterbrach sie beide. »Sie müssen ihn finden«, flüsterte sie. »Draußen sind minus fünf Grad. Hilly hat nur einen Pyjama an. Er könnte... er könnte...«
»Oh, Mrs. Brown, ich finde wirklich, solche Sorgen sind verfrüht«, unterbrach sie der Verwaltungsdirektor mit einem zuversichtlichen Lächeln. Aber in Wirklichkeit fand er nicht, daß sie verfrüht waren. Nachdem er festgestellt hatte, daß der Junge schon kurz nach der Runde um dreiundzwanzig Uhr verschwunden sein konnte, hatte er als erstes in Erfahrung gebracht, welche Temperatur draußen herrschte. Die Antwort hatte einen Anruf bei Dr. Elfman zur Folge, der sich auf Fälle von Unterkühlung spezialisiert hatte - im Winter gab es viele in Maine. Dr. Elfmans Prognose war ernst. »Wenn er hinausgelaufen ist, ist er wahrscheinlich tot«, hatte Elfman gesagt.
Eine weitere Durchsuchung des gesamten Krankenhauses, diesmal von der Polizei und Feuerwehr von Derry durchgeführt, ergab ebenfalls nichts. Man verabreichte Marie Brown ein Beruhigungsmittel und brachte sie zu Bett. Die einzige gute Nachricht war negativer Natur: bisher hatte man den mit einem Pyjama bekleideten erfrorenen Leichnam des Jungen noch nicht gefunden. Natürlich mußte der Verwaltungsdirektor daran denken, daß der Penobscot nicht weit am Krankenhaus entfernt vorbeifloß. Seine Oberfläche war zugefroren, es war möglich, daß der Junge versucht hatte, das Eis zu überqueren, und eingebrochen war. Oh, wie sehr er sich wünschte, die Browns hätten ihren Balg ins Eastern Maine Medical gebracht!
Am Nachmittag um zwei Uhr saß Bryant Brown benommen auf dem Stuhl neben seiner schlafenden Frau und überlegte, wie er ihr beibringen konnte, daß ihr einziges Kind tot war, wenn es notwendig sein sollte. Etwa zur selben Zeit bot sich einem Hausmeister, der im Keller war, um die Kessel der Wäscherei zu überprüfen, ein seltsamer Anblick: ein kleiner Junge, der nur eine Pyjamahose und einen Gips am linken Arm trug, kam barfuß und unbekümmert zwischen zwei der riesigen Kessel des Krankenhauses zum Vorschein.
»He!« rief der Hausmeister. »He, Junge!«
»Hi«, sagte Hilly. Seine Füße waren schwarz vor Schmutz; die Pyjamahose ölverschmiert. »Mann, ist das ein großes Haus! Ich glaube, ich habe mich verlaufen.«
Der Hausmeister trug Hilly nach oben ins Büro. Der Direktor setzte Hilly auf einen großen Ohrensessel (den er zuvor vorsichtshalber mit 334 einer aufgeschlagenen Doppelseite der Bangor Daily News abgedeckt hatte) und schickte seine Sekretärin hinaus, um eine PepsiCola und eine Tüte Reese's Pieces für den Balg zu holen. Unter anderen Umständen wäre der Direktor selbst gegangen, um den Jungen mit seiner großväterlichen Güte zu beeindrucken. Unter anderen Umständen - damit meine ich, dachte der Direktor grimmig, bei einem anderen Jungen. Er getraute sich nicht, Hilly allein zu lassen.
Als die Sekretärin mit dem Getränk und der Nascherei zurückkam, schickte der Direktor sie wieder weg- diesmal zu Bryant Brown. Bryant war ein starker Mann, aber als er Hilly auf dem Ohrensessel des Direktors sitzen sah, die zehn Zentimenter über dem Boden baumelnden Füße erblickte und hörte, wie die Zeitung unter seinem Po raschelte, wenn er sich bewegte, während er Pepsi trank und Süßigkeiten aß, da konnte er Tränen der Erleichterung und des Dankes nicht zurückhalten. Das brachte Hilly - der in seinem Leben niemals bewußt etwas Schlimmes getan hatte - natürlich ebenfalls zum Weinen.
»Herrgott, Hilly, wo hast du gesteckt?«
Hilly erzählte die Geschichte, so gut er es vermochte, und er überließ es Bryant und dem Direktor, daraus die objektive Wahrheit zu kondensieren, so gut sie es vermochten. Er hatte sich verlaufen, war in den Keller gegangen (»Ich folgte einem Kobold«, sagte Hilly zu ihnen) und war unter einen der Kessel gekrochen, um zu schlafen. Dort war es sehr warm gewesen, sagte er zu ihnen, so warm, daß er seine Pyjamajacke ausgezogen und sehr behutsam über den Gipsverband gestreift hatte.
»Die kleinen Hunde haben mir auch gefallen«, sagte er. »Kann ich so einen kleinen Hund haben, Daddy?«
Der Hausmeister, der Hilly gesehen hatte, fand auch die Pyjamajacke. Sie lag unter Kessel Nr. 2. Als er die Jacke hervorholte, sah er auch die »Welpen«, obwohl sie vor seinem Licht flohen. Er erwähnte sie Mr. und Mrs. Brown gegenüber nicht; sie sahen aus, als würden sie zusammenbrechen, wenn sie noch einen Schock erlebten. Der Hausmeister, ein freundlicher Mann, war der Überzeugung, es wäre vielleicht besser, wenn sie nicht erfuhren, daß ihr Sohn die Nacht mit Kellerratten verbracht hatte, die tatsächlich so groß wie Welpen zu sein schienen.
2
Hätte man ihn nach seiner Ansicht zu alledem - und den ähnlichen (wenn nicht ganz so spektakulären) Vorfällen der folgenden fünf Jahre seines Lebens - gefragt, dann hätte Hilly zweifellos achselzuckend geantwortet: »Irgendwie gerate ich immer in Schwierigkeiten.« Hilly meinte, daß er unfallanfällig war, aber bislang hatte ihm noch niemand diesen Ausdruck beigebracht.
Als er acht Jahre alt war - zwei Jahre nach Davids Geburt -, brachte er eine Nachricht von Mrs. Underhill nach Hause, seiner Lehrerin in der dritten Klasse, die Mr. und Mrs. Brown zu einer kurzen Unterredung zu sich bat. Die Browns gingen hin, nicht ohne einige Befürchtungen. Sie wußten, daß die Drittkläßler von Haven in der vorherigen Woche einem IQ-Test unterzogen worden waren. Bryant war insgeheim überzeugt davon, daß Mrs. Underhill ihnen eröffnen würde, Hilly habe weit unterdurchschnittlich abgeschnitten und müßte auf die Sonderschule überwechseln. Marie war überzeugt (und zwar ebenso insgeheim), daß Hilly an Dyslexie litt. Sie hatten in der Nacht zuvor beide nicht besonders gut geschlafen.
Was Mrs. Underhill ihnen dann sagte, war, daß Hilly total außerhalb der Skala lag - unverblümt gesagt, er war ein Genie. »Sie müssen ihn nach Bangor bringen und den Wechsler-Test machen lassen, wenn Sie wissen wollen, wie hoch sein IQ wirklich ist«, sagte Mrs. Underhill zu ihnen. »Hilly dem Tompall-Test zu unterziehen, ist ungefähr dasselbe, als wollte man den IQ eines Menschen bestimmen, indem man ihm den Intelligenztest für eine Ziege vorlegt.«
Marie und Bryant unterhielten sich darüber... und entschieden sich dagegen, die Sache weiter zu verfolgen. Sie wollten gar nicht wissen, wie intelligent Hilly war. Es genügte ihnen zu wissen, daß er nicht behindert war.. . aber, sagte Marie in dieser Nacht im Bett, das erklärte einiges: Hillys Rastlosigkeit, sein offensichtliches Unvermögen, länger als sechs Stunden pro Nacht zu schlafen, seine Begeisterung für irgendwelche Dinge, die manchmal mit der Schnelligkeit von Hurrikanen kam und ebenso schnell wieder verschwand. Eines Tages, als Hilly schon fast neun war, kam sie von der Post zurück, wo sie mit Baby David gewesen war, und stellte fest, daß die Küche, die sie vor kaum fünfzehn Minuten makellos hinterlassen hatte, ein einziges Chaos war. Die Spüle war voll von mehlverklebten Schüsseln. Auf der Arbeitsplatte lag ein Klumpen schmelzender Butter. Und im Herd backte etwas. Marie setzte David rasch in seinen Laufstall und machte die Backofentür auf, darauf gefaßt, daß ihr Rauchwolken und der Geruch von Verbranntem entgegenschlagen würden. Statt dessen fand sie ein Blech voll Bisquitrollen, die zwar linkisch geformt, aber köstlich waren. Sie verspeisten sie zum Abendessen... aber vorher hatte Marie Hilly die Kehrseite versohlt und ihn, der sich heulend entschuldigte, in sein Zimmer geschickt. Dann hatte sie sich an den Küchentisch gesetzt und geweint, bis sie lachte, während David - ein ruhiges, zufriedenes Kind, ein sonniges Tahiti im Vergleich zu Hillys Kap der Stürme - sich an den Stangen des Laufstalls festhielt und sie verwundert ansah.
Etwas, das sehr für Hilly sprach, war seine offenkundige Liebe zu seinem Bruder. Und wenngleich Marie und Bryant zögerten, Hilly das Baby halten zu lassen, ja sogar, es länger als, sagen wir, dreißig Sekun-236 den in einem Zimmer mit Hilly allein zu lassen, entspannten sie sich allmählich.
»Himmel, man könnte Hilly und David zwei Wochen zum Zelten an den Allagashsee schicken, und sie würden in bester Verfassung zurückkehren«, sagte Ev Hillman. »Er liebt den Kleinen. Und er ist gut zu ihm.«
Das stimmte. Die meisten - wenn auch nicht alle - Schwierigkeiten Hillys hingen mit dem ehrlichen Wunsch zusammen, seinen Eltern zu helfen oder sich zu bessern. Es ging einfach immer schief, das war alles. Aber bei David, der den Boden anzubeten schien, über den sein älterer Bruder gewandelt war, schien alles gutzugehen, was Hilly tat...
Das heißt, bis zum siebzehnten Juli, als er den Trick vorführte.
3
Mr. Robertson Davies (möge sein Tod noch tausend Jahre auf sich warten lassen) hat in seiner Deptford Trilogy darauf hingewiesen, daß unsere Einstellung gegenüber Zauberei und Zauberern weitgehend unsere Einstellung gegenüber der Wirklichkeit widerspiegelt und daß unsere Einstellung gegenüber der Wirklichkeit unsere Einstellung gegenüber der ganzen Welt der Wunder widerspiegelt in der wir leben - daß wir nichts sind als große Kinder, selbst die ältesten von uns (und vermutlich sogar Mr. Davies selbst), für die es Bäume gibt, die beißen, und andere, die einem große mystische Gefälligkeiten erweisen - zweifellos eine Eigenheit ihrer Rinde.
Hilly war vollauf davon überzeugt, daß er in einer Welt der Wunder lebte. Das war stets seine Meinung gewesen, und daran änderte sich auch nichts, einerlei, wieviel »Schwierigkeiten« er hatte. Die Welt war so geheimnisvoll schön wie die Glaskugeln, die seine Mutter und sein Vater jedes Jahr an den Weihnachtsbaum hängten (Hilly sehnte sich danach, selbst welche aufzuhängen, aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt - und seine Eltern ebenfalls -, daß es für eine Glaskugel das Todesurteil bedeutete, wenn Hilly sie in die Hand bekam. Für Hilly war die ganze Welt so unsagbar verwirrend wie der Zauberwürfel von Rubik, den er zu seinem neunten Geburtstag bekommen hatte (der Würfel war jedenfalls zwei Wochen unsagbar verwirrend, dann war die Lösung für Hilly nur noch Routine). Seine Einstellung gegenüber Zauberei war daher vorhersehbar - er liebte sie. Die Zauberei war wie geschaffen für Hilly Brown. Unglücklicherweise war Hilly Brown, wie Dunstable Ramsey in Davies' Deptford Trilogy, nicht geschaffen für Zauberei.
Aus Anlaß seines zehnten Geburtstags fuhr Bryant zur Derry Mall, um seinem Sohn noch ein Geschenk zu kaufen. Marie hatte ihn in der Kaffeepause angerufen. »Mein Dad hat vergessen, Hilly etwas zu kau-fen, Bryant. Er hat gefragt, ob du in der Mall vorbeischauen und ihm ein Spielzeug oder so etwas kaufen könntest. Er gibt dir das Geld wieder, wenn sein Scheck kommt.«
»Klar«, sagte Bryant und dachte: Und Schweine werden auf Besenstielen reiten.
»Danke, Liebling«, sagte sie dankbar. Sie wußte genau, daß ihr Vater
- der mittlerweile sechs- bis siebenmal in der Woche bei ihnen zu Abend aß, statt wie bisher fünfmal - ein Nagel zum Sarg ihres Mannes war. Aber er hatte sich niemals beschwert, und dafür liebte Marie ihn von ganzem Herzen.
»Hat er eine Vorstellung, was Hilly gefallen würde?«
»Er sagt, er verließe sich auf dein Urteil«, sagte sie.
Typisch, dachte Bryant. Also war er an diesem Nachmittag in einen der beiden Spielzeugläden der Mall gegangen und hatte nach Spielen, Puppen (die Puppen für Jungs wurden »Action-Figuren« genannt), Modellen und Kästen gesucht (Bryant sah einen großen Chemiekasten, stellte sich vor, wie Hilly Substanzen in Reagenzgläsern mischte und wandte sich mit Grausen ab). Nichts schien das Richtige zu sein; mit zehn Jahren war sein Sohn zu alt für Babyspielzeug und noch nicht alt genug für so komplizierte Sachen wie Kastendrachen und benzingetriebene Modellflugzeuge. Nichts schien das Richtige zu sein, und er stand unter Zeitdruck. Hillys Geburtstagsparty sollte um fünf Uhr beginnen, und es war schon Viertel nach vier. Er hatte kaum noch genügend Zeit, um nach Hause zu fahren.
Er griff beinahe zufällig nach dem Zauberkasten. Dreißig neue Tricks! stand darauf. Gut. Viele Stunden Spaß_ für den_jungen Zauberkünstler! stand darauf. Auch gut. Alter: 8-12 Jahre, stand darauf. Prächtig. Sicherheitsgeprüft für den jungen Magier! stand darauf, und das war am allerbesten. Bryant kaufte ihn und schmuggelte ihn unter dem Jackett ins Haus, während Ev Hillman zusammen mit Hilly, David und drei von Hillys Freunden einen rührend falsch gesungenen Chor von »Sweet Betsy from Pike« intonierte.
»Du kommst gerade recht zum Geburtstagskuchen«, sagte Marie und küßte ihn.
»Könntest du das vorher noch einpacken?« Er gab ihr den Zauberkasten. Sie warf einen flüchtigen Blick darauf und nickte. »Wie ist es gegangen?«
»Prima«, sagte sie. »Als Hilly an der Reihe war, dem Esel den Schwanz anzustecken, ist er übers Tischbein gestolpert und hat Stanley Jernigan die Stecknadel in den Arm gestochen, aber das war bislang alles.«
Das verbesserte Bryants Stimmung auf der Stelle. Das war wirklich prima. Als Eddie Golden im letzten Jahr bei einem Versteckspiel in Hillys »schönstes Versteck aller Zeiten« gekrochen war, hatte er sich das 238
Bein an einem rostigen Stück Stacheldraht aufgerissen, das Hilly irgend wie immer verfehlt hatte (Hilly hatte dieses alte Stück Stacheldraht überhaupt nie gesehen). Eddie war zum Arzt gebracht worden, der die Wunde mit drei Stichen genäht und ihm eine Tetanusspritze gegeben hatte. Der arme Eddie hatte allergisch auf die Spritze reagiert und im Anschluß an Hillys neunten Geburtstag zwei Tage im Krankenhaus verbracht.
Jetzt lächelte Marie und küßte Bryant erneut. »Daddy dankt dir« sagt sie. »Und ich auch.«
Hilly packte alle Geschenke erfreut aus, aber als er den Zauberkasten auspackte, überkam ihn das Entzücken. Er rannte zu seinem Großvater (dem es mittlerweile gelungen war, die Hälfte von Hillys Schokoladentorte hinunterzuschlingen, und der sich in eben diesem Augenblick ein weiteres Stück abschnitt) und umarmte ihn heftig.
»Danke, Großvater! Danke! Genau das, was ich mir gewünscht habe! Woher hast du das nur gewußt?«
Ev Hillman lächelte seinen Enkel gütig an. »Ich schätze, ich habe noch nicht ganz vergessen, wie es ist, ein Junge zu sein«, sagte er.
»Das ist super, Mann! Dreißig Tricks! Sieh dir das an, Barney...«
Als er herumwirbelte, um Barney Applegate den Kasten zu zeigen, stieß er mit der Ecke gegen Maries Kaffeetasse, die zerbrach. Kaffee spritzte und verbrühte Barneys Arm. Barney schrie.
»Tut mir leid, Barney«, sagte Hilly immer noch tanzend. Seine Augen strahlten so sehr, daß es schien, als stünden sie in Flammen. »Aber sieh dir das an! Riesig! Phantastisch!«
Nachdem die drei oder vier anderen Geschenke, die Bryant und Marie sehr viel früher aus einem FAO-Schwarz-Katalog bestellt hatten, damit sie rechtzeitig kamen, auf den Status von Statisten in einem Monumentalfilm degradiert worden waren, wechselten Bryant und Marie einen vielsagenden Blick.
Herrje, Liebling, das tut mir leid, sagten ihre Augen.
Nun, zum Teufel... so ist das Leben mit Hilly, antworteten seine.
Sie lachten beide.
Die Partygäste drehten sich für einen Augenblick zu ihnen herum -Marie vergaß niemals Davids runde, feierliche Augen -, dann sahen sie wieder Hilly zu, wie er seinen Zauberkasten auspackte.
»Ob wohl noch etwas von diesem Walnußeis mit Ahornsirup übrig ist«, überlegte Ev laut. Und Hilly, der seinen Großvater an diesem Nachmittag für den größten lebenden Menschen hielt, rannte los, um es ihm zu holen.
Mr. Robertson Davies hat in seiner Deptford Trilogy auch angedeutet, daß dieselbe große Binsenweisheit, die auf das Schreiben, Malen, das Beurteilen von Pferden auf dem Rennplatz und das Erzählen von Lügen auf völlig glaubhafte Weise zutrifft, auch für die Zauberei gilt: Manche Leute haben den Dreh heraus, andere nicht.
Hilly hatte ihn nicht heraus.
In Davies' Fifth Business, dem ersten der Deptford-Bücher, führt der Erzähler, der von der Zauberei fasziniert ist (ein Junge ungefähr in Hillys Alter), verschiedene Tricks - ziemlich schlecht-vor einem Beifall spendenden, unkritischen Publikum aus, das aus nur einer Person besteht (einem viel jüngeren Jungen, etwa in Davids Alter), wobei das Ergebnis ironisch ist: der ältere Junge stellt fest, daß der jüngere ein großes Talent für Kunststücke hat, das ihm selbst fehlt. Tatsächlich beschämt dieser Junge schon beim ersten Versuch, eine Münze in der Hand verschwinden zu lassen, den Erzähler ungemein.
An dieser Stelle freilich enden die Gemeinsamkeiten; David hatte nicht mehr Talent für Zauberei als Hilly. Ansonsten aber war alles gleich. David bewunderte seinen Bruder, und er hätte auch dann in geduldigem, aufmerksamem und liebevollem Schweigen dagesessen, wenn sein Bruder nicht versucht hätte, die Jacks aus dem brennenden Haus laufen oder Kater Victor aus seinem Zaubererhut auftauchen zu lassen (besagter Hut wurde im Juni weggeworfen, nachdem Victor sich darin verewigt hatte), sondern David statt dessen einen Vortrag über die Thermodynamik von Dampf gehalten oder ihn alle Vorfahren Christi aus dem Matthäus-Evangelium vorgelesen hätte.
Nicht, daß Hilly als Zauberer ein völliger Versager gewesen wäre; das war er nicht. HILLY BROWNS ERSTE GALA-ZAUBERVORSTELLUNG, die an dem Tag im Garten der Browns stattfand, an dem Jim Gardener Troy verließ, um am New England Poetry Caravan teilzunehmen, galt sogar als großer Erfolg. Ein Dutzend Kinder - größtenteils Hillys Freunde, aber auch einige aus Davids Kindergarten - und vier oder fünf Erwachsene kamen und sahen zu, wie Hilly ein rundes Dutzend Tricks vorführte. Die meisten dieser Tricks gelangen, nicht aufgrund von Talent oder echtem Können, sondern aufgrund der Unermüdlichkeit, mit der Hilly geübt hatte. Alle Intelligenz und Unermüdlichkeit auf der Welt können ohne eine Spur von Talent keine Kunst hervorbringen, aber Intelligenz und Unermüdlichkeit können großartige Fälschungen hervorbringen.
Zudem muß man folgendes zu dem Zauberkasten sagen, den Bryant beinahe aufs Geratewohl gekauft hatte: Seine Schöpfer wußten, daß die meisten der aufstrebenden Zauberer, in deren Hände ihr Werk wahrscheinlich fallen würde, ungeschickt und unbegabt sein würden; daher hatten sie sich vor allem auf mechanische Verfahren verlassen. Zum Beispiel mußte man sich wirklich anstrengen, um den Trick mit den sich vermehrenden Münzen zu verpatzen. Dasselbe galt für die Zauberguillotine (auf deren Plastik diskret MADE IN TAIWAN gestempelt war), die mit einer Rasierklinge bestückt war. Wenn ein nervöses Kind aus dem Publikum (oder ein völlig gelassener David) den Finger in die Vertiefung der Guillotine legte, über einem Loch, in dem eine Zigarette lag, dann würde Hilly die Klinge heruntersausen lassen und die Zigarette in zwei Hälften schneiden... aber der Finger würde auf wundersame Weise ganz bleiben.
Nicht alle Tricks waren auf mechanische Vorrichtungen angewiesen, um einen Effekt zu erzielen. Hilly brachte Stunden damit zu, ein beidhändiges Mischen zu üben, das es ihm ermöglichte, eine Karte von ganz unten im Stapel nach ganz oben »schweben« zu lassen. Das brachte er sogar ganz gut fertig, freilich ohne zu wissen, daß ein solcher Kartentrick für einen Falschspieler wie »Pits« Barfield viel wichtiger ist als für einen Zauberer. Bei einem Publikum aus mehr als zwanzig Personen herrscht keine intime Wohnzimmeratmosphäre mehr, und normalerweise kommen nicht einmal die besten Kartenkunststücke an. Hillys Publikum war relativ klein; daher gelang es ihm, es in seinen Bann zu ziehen - Kinder und Erwachsene gleichermaßen-, indem er nonchalant Karten, die in die Mitte des Stapels geschoben worden waren, ganz oben aufdeckte; indem er Rosalie Skehan eine Karte, die sie sich angesehen und dann wieder in den Stapel gesteckt hatte, in ihrer Handtasche finden ließ; und natürlich indem er die Jacks aus dem brennenden Haus laufen ließ, was vielleicht der beste Kartentrick ist, der jemals erfunden wurde.
Natürlich gab es Pannen. Hilly ohne Pannen, sagte Bryant an diesem Abend im Bett, das wäre wie McDonald's ohne Hamburger. Als er versuchte, einen Krug Wasser in ein Taschentuch zu schütten, das er von Joe Paulson geliehen hatte, dem Briefträger, der etwa einen Monat später einen tödlichen Stromschlag erleiden sollte, machte er lediglich das Taschentuch und seine Hose naß. Victor weigerte sich, aus dem Hut hervorzukommen. Am peinlichsten aber war, daß der Trick mit der verschwundenen Münze, den zu lernen Hilly viel Schweiß gekostet hatte, nicht klappte. Er ließ die Münzen in der Handfläche verschwinden (eigentlich handelte es sich um wagenradgroße runde, in Metallfolie eingewickelte Schokoladenscheiben, die unter dem Handelsnamen Munchie Money angeboten wurden), das machte ihm keine Schwierigkeiten, aber als er sich herumdrehte, fielen sie ihm aus dem Armel - sehr zur allgemeinen Erheiterung und unter wildem Beifall seiner Freunde.
Dennoch war der Applaus am Ende von Hillys Vorstellung aufrichtig. Alle waren sich darin einig, daß Hilly Brown »für seine zehn Jahre« ein eindrucksvoller Zauberer war. Nur drei Menschen stimmten nicht in dieses Urteil ein: Marie Bfown, Bryant Brown und Hilly selbst.
»Er hat es immer noch nicht gefunden, was?« fragte Marie ihren Mann in dieser Nacht im Bett. Sie wußten beide, daß es das war, was immer Hilly nach Gottes Ratschluß dem Scheinwerfer anfangen sollte, den Er ihm im Kopf mitgegeben hatte.
»Nein«, sagte Bryant nach einer langen nachdenklichen Pause. »Ich glaube nicht. Aber er hat schwer gearbeitet, nicht? Wie ein Ackergaul.«
»Ja«, sagte sie. »Ich war so froh, ihm zuschauen zu können. Es ist gut zu wissen, daß er es kann, anstatt sich immer nur zu verzetteln. Aber es stimmte mich auch ein wenig traurig. Er hat an diesen Tricks gearbeitet wie ein Collegestudent für die Abschlußprüfung.«
»Ichweiß.«
Marie seufzte. »Er hat seine Vorstellung gehabt. Jetzt wird er es wohl sein lassen und sich etwas anderem zuwenden. Irgendwann einmal wird er es finden.«
5
Zuerst schien es so, als behielte Marie recht; Hillys Interesse für Zauberei ging den Weg seines Interesses für Ameisenfarmen, Mondgestein und Bauchrednerei. Der Zauberkasten verschwand unter seinem Bett, wo er griffbereit stand, falls Hilly mitten in der Nacht mit einem Einfall aufwachte, und wanderte auf seinen überquellenden Schreibtisch. Marie erkannte darin den ersten Akt eines sattsam bekannten Schauspiels. Das Ende würde sein, daß der Zauberkasten schließlich auf dem staubigen Dachboden verschwand.
Aber Hillys Gedanken waren nicht weitergewandert - so einfach war das nicht. Die zwei Wochen nach seiner Zaubervorstellung waren eine Zeit schwerer Depressionen für Hilly. Das war etwas, das seine Eltern nicht spürten und niemals erfuhren. David wußte es, aber mit seinen vier Jahren konnte er nichts anderes tun als hoffen, daß Hilly wieder fröhlicher werden würde.
Hilly Brown versuchte mit der Tatsache fertigzuwerden, daß er zum ersten Mal in seinem Leben bei etwas versagt hatte, das er wirklich wollte. Der Beifall und die Glückwünsche hatten ihn gefreut, und er war nicht so unsensibel, aufrichtiges Lob für Höflichkeit zu halten; aber da war ein steiniger Teil in ihm - der Teil, der unter anderen Umständen einen großen Künstler aus ihm gemacht haben würde-, der mit diesem aufrichtigen Lob nicht zufrieden war. Aufrichtiges Lob, beharrte dieser steinige Teil, häuften die Nichtsnutze dieser Welt auf die Häupter der kaum Befähigten.
Kurz gesagt, aufrichtiges Lob genügte nicht.
Natürlich dachte Hilly nicht in derartigen Erwachsenenbegriffen... aber er dachte es. Hätte seine Mutter seine Gedanken gekannt, dann wäre sie ob seines Hochmuts sehr böse auf ihn gewesen... der, wie in ihrer Bibel zu lesen war, bekanntlich vor dem Fall kam. Sie wäre ganz sicher wütender gewesen wie damals, als er vor den Webber-Tanklast-wagen auf die Straße schlitterte oder als er versucht hatte, Victor ein Schaumbad in der Toilette zu verabreichen. Was möchtest du denn, Hilly? hätte sie gerufen und die Arme hochgeworfen. Unaufrichtiges Lob?
Ev, der viel sah, und David, der noch mehr sah, hätten es ihr sagen können.
Er wollte ihre Augen so groß werden lassen, daß es aussah, als_ fielen sie heraus. Er wollte die Mädchen zum Kreischen und die ]ungs zum Brüllen bringen. Er wollte alle zum Lachen bringen, wenn Victor mit einer Schleife am Schwanz und einer Schokoladenmünze im Maul aus dem Hut kam. Er hätte alles aufrichtige Lob und allen echten Applaus dieser Welt_ für einen einzigen Aufschrei, ein einziges hilfloses Lachen oder eine Frau eingetauscht, die das Bewußtsein verlor, wie man es in den Büchern über Harry Houdini lesen konnte, wenn er seinen berühmten »Flucht aus der Milchkanne«-Trick vorführte. Denn aufrichtiges Lob bedeutete, daß man nur gut war. Wenn sie schreien und lachen und das Bewußtsein verlieren, dann ist man großartig.
Aber er argwöhnte - nein, er wußte-, daß er niemals großartig sein würde, und alles Wollen der Welt konnte an dieser Tatsache nichts ändern. Das war ein bitterer Schlag. Nicht das Scheitern an sich, sondern das Wissen, daß man nichts dagegen tun konnte. In gewisser Weise war es wie das Ende des Glaubens an den Weihnachtsmann.
Während seine Eltern also glaubten, sein mangelndes Interesse bedeutete lediglich ein weiteres Umspringen des launischen Frühlingswindes, der durch jede Kindheit weht, handelte es sich in Wahrheit um Hillys erste erwachsene Schlußfolgerung: Wenn er im Zaubern niemals großartig werden konnte, dann sollte er den Kasten wegstellen. Er konnte den Kasten nicht stehenlassen und nur ab und zu einen Trick als Hobby ausführen. Dazu schmerzte sein Scheitern zu sehr. Es war eine schlechte Gleichung. Das Beste wäre, sie auszuradieren und eine neue hinzuschreiben.
Wenn Erwachsene mit derselben Entschlossenheit von ihren Besessenheiten lassen könnten, dann wäre die Welt ohne Zweifel ein besserer Ort. Robertson Davies sagt das nicht in seiner Deptford Trilogy... aber er deutet es sehr stark an.
6
Am vierten Juli kam David in Hillys Zimmer und sah, daß Hilly den Zauberkasten wieder hervorgeholt hatte. Er hatte viele der Tricks vor sich ausgebreitet... und zudem noch etwas anderes. Batterien. Die Batterien aus Daddys großem Radio, dachte David.
»Was machst'n, Hilly?« fragte David kumpelhaft.
Hilly runzelte die Stirn. Er sprang aufund schob David so heftig aus dem Zimmer, daß David auf den Teppich fiel. Dieses Verhalten war so ungewöhnlich, daß David zu verblüfft war, um zu weinen.
»Hinaus!« brüllte Hilly. »Man kann sich neue Tricks nicht ansehen! Die Medici ließen Leute hinrichten, wenn sie sie dabei erwischten, wie sie die Tricks ihrer Lieblingszauberer ausspionierten!«
Nach dieser Behauptung schlug Hilly David die Tür vor der Nase zu. David heulte um Einlaß, aber erfolglos. Diese unerwartete Härte in seinem etwas verqueren, aber ansonsten immer gutmütigen Bruder war so ungewöhnlich, daß David nach unten ging, den Fernseher einschaltete und sich vor Sesamstraße in den Schlaf weinte.
7
Hillys Interesse an Zauberei erwachte ungefähr zur gleichen Zeit neu, als das Bild von Jesus anfing, zu 'Becka Paulson zu sprechen.
Ein einziger, übermächtiger Gedanke beherrschte sein Gehirn: Wenn mechanische Tricks wie die vervielfältigte Münze das Beste waren, das ihm gelang, dann würde er seinen eigenen mechanischen Trick erfinden. Den besten, den jemals jemand gesehen hatte! Besser als Thurstons Uhrwerk oder Blackstones mehrteiliger Spiegel. Wenn Erfindungen besser geeignet waren als Manipulation, um Keuchen und Schreie und herzliches Gelächter zu erzeugen, so sei es.
In letzter Zeit fühlte er sich sehr in der Lage, Dinge zu erfinden.
In letzter Zeit schien sein Verstand beinahe vollgestopft mit Erfindungen zu sein.
Die Idee, etwas zu erfinden, ging ihm nicht zum ersten Mal durch den Kopf, aber seine bisherigen Vorstellungen waren vage gewesen, von Tagträumen überschattet und nicht von wissenschaftlichen Prinzipien geleitet - Raketen aus Pappkarton, Strahlenwaffen, die verdächtig nach Zweigen aussahen, auf die Styroporverpackungsmaterial gesteckt worden war, und so weiter. Von Zeit zu Zeit hatte er gute Einfälle gehabt, Einfälle, die beinahe praktisch waren, aber er hatte sie jedesmal fallengelassen, weil er nicht wußte, wie er sie in die Tat umsetzen sollte
- er konnte einen Nagel in ein Brett schlagen, aber das war alles.
Aber jetzt schien die Methode kristallklar zu sein.
Großartige Tricks, dachte er und lötete und hämmerte und schraubte Sachen zusammen. Als seine Mutter am 8. Juli zu ihm sagte, daß sie zum Einkaufen nach Augusta führe (sie sprach in einer abwesenden Weise; seit ungefähr einer Woche hatte Marie Kopfschmerzen, und die Tatsache, daß Joe und Becka Paulson bei einem Brand ums Leben gekommen waren, hatte auch nicht gerade eine Verbesserung bewirkt), fragte Hilly sie, ob sie im Radio Shack in der Mall vorbeikommen und ihm ein paar Sachen mitbringen würde. Er gab ihr eine Liste, die restlichen acht Dollar von seinem Geburtstag und fragte sie, ob sie ihm den Rest »irgendwie leihen« könnte.
Zehn (10) Federkontakte ä $ 0,70 (Nr. 1334567)
Drei (3) T-Kontakte (Feder) ä $ 1,00 (Nr. 1334709)
Ein (1) Koaxialkabel-Widerstandstecker ä $ 2,40 (Nr. 19776-C)
Wären nicht ihre Kopfschmerzen und das allgemeine Gefühl von Mattigkeit gewesen, hätte sie ihn zweifellos gefragt, wofür er diese Materialien brauchte. Sie hätte sich zweifellos gefragt, woher Hilly diese exakten Informationen haben konnte - bis hin zu den Inventarnummern-, ohne im Radio Shack in Augusta anzurufen.
Sie hätte vielleicht sogar vermutet, daß Hilly es endlich gefunden hatte.
In einem schrecklichen Sinne war genau das der Fall.
Statt dessen erklärte sie sich einfach bereit, ihm die Sachen mitzubringen und die fehlenden vier Dollar »irgendwie« zu »leihen«.
Als sie und David von Augusta zurückkehrten, waren ihr einige dieser Fragen eingefallen. Nach der Fahrt fühlte sie sich viel besser; die Kopfschmerzen waren völlig verschwunden. Und David, der still und in sich gekehrt gewesen war - ganz und gar nicht das ansonsten quirlige, plappernde, ausgelassene Kind-, seit Hilly ihn aus seinem Zimmer geschubst hatte, schien ebenfalls fröhlicher zu sein. Er hatte geredet wie ein Wasserfall, und von ihm hatte sie erfahren, daß Hilly eine ZWEITE GALA-ZAUBERVORSTELLUNG plante, die er in neun Tagen im Garten abhalten wollte.
»Er wird eine Menge neue Tricks vorführen«, sagte David.
»Tatsächlich?«
»Ja«, sagte David.
»Glaubst du, sie werden gut sein?«
»Weiß nicht«, sagte David und dachte daran, wie Hilly ihn aus dem Zimmer geschubst hatte. Er war den Tränen nahe, aber Marie bemerkte es nicht. Vor zehn Minuten waren sie, von Albion kommend, wieder in Haven eingetroffen, und ihre Kopfschmerzen fingen erneut an... und mit ihnen kam das Gefühl - jetzt etwas stärker-, daß sie ihre Gedanken irgendwie nicht so unter Kontrolle hatte wie normalerweise. Zunächst
einmal schien sie zu viele zu haben. Und darüber hinaus konnte sie von vielen nicht einmal sagen, was sie zu bedeuten hatten. Sie waren wie... Sie dachte sorgfältig darüber nach, und schließlich fiel es ihr ein. An der High School hatte sie den Schauspielkurs besucht (und sie war überzeugt, daß Hilly seinen Sinn für das Theatralische von ihr geerbt hatte), und die Gedanken in ihrem Kopf waren wie das Murmeln eines Publikums, das man vor Beginn der Vorstellung durch den geschlossenen Vorhang hört. Man verstand nicht, was sie sagten, aber man wußte, daß sie da waren.
»Ich glaube nicht, daß sie so toll werden«, sagte David schließlich. Er sah zum Fenster hinaus, und plötzlich waren seine Augen die eines Gefangenen, einsam und ausweglos. David sah Justin Hurd auf seinem Feld, er fuhr mit seinem Traktor herum und eggte. Eggte, wenngleich es bereits die zweite Juliwoche war. Einen Augenblick war der Verstand des zweiundvierzigjährigen Justin Hurd für den vierjährigen David Brown vollkommen offen, und David begriff, daß Justin seinen gesamten Garten zerstörte, den unreifen Mais unterpflügte, das Erbsenbeet aufriß, die frischen Melonen unter den Reifen seines Traktors zu Brei zerquetschte. Justin Hurd dachte, es wäre Mai. Mai 1951. Justin Hurd war verrückt geworden.
»Ich glaube, sie werden überhaupt nicht gut werden«, sagte David.
8
Bei Hillys ERSTER GALA-ZAUBERVORSTELLUNG watmzwanzig Personen anwesend gewesen. Bei der zweiten waren es nur sieben: seine Mutter, sein Vater, sein Großvater, David, Barney Applegate (der wie Hilly zehn Jahre alt war), Mrs. Crenshaw aus der Stadt (Mrs. Crenshaw hatte in der Hoffnung vorbeigeschaut, Marie Avon-Kosmetika verkaufen zu können) und Hilly selbst. Dieser drastische Zuschauerschwund war nicht der einzige Unterschied zur ersten Vorstellung.
Das Publikum der ersten Vorstellung war lebhaft gewesen - sogar ein wenig ausgelassen (zum Beispiel bei dem sarkastischen Beifall, der das Munchie Money begrüßte, als es aus Hillys Armel fiel). Das Publikum bei der zweiten war mürrisch und lustlos. Die Zuschauer saßen wie Schaufensterpuppen im Kaufhaus auf den Klappstühlen, die Hilly und sein »Assistent« (ein blasser und schweigsamer David) aufgestellt hatten. Hillys Dad, der bei der ersten Vorstellung applaudiert und gelacht und eine Menge Aufhebens gemacht hatte, unterbrach Hillys Eröffnungsrede über die »Geheimnisse des Orients«, indem er sagte, daß er für diese Geheimnisse nicht viel Zeit erübrigen könnte, wenn es Hilly
nichts ausmachte; er hätte gerade den Rasen gemäht und wollte duschen und ein Bier trinken.
Auch das Wetter hatte sich verändert. Der Tag der ERSTEN GALA -ZAUBERVORSTELLUNG war klar und warm und grün gewesen, einer der prachtvollsten Spätfrühlingstage, die Neuengland zu bieten hatte. Dieser Tag im Juli war heiß und drückend schwül, eine dunstige Sonne hämmerte von einem chromfarbenen Himmel. Mrs. Crenshaw fächelte sich mit einem ihrer eigenen Avon-Kataloge Luft zu und wartete darauf, daß dies vorübergehen würde. Man konnte das Bewußtsein verlieren, wenn man hier draußen in der heißen Sonne saß. Und dieser kleine Junge dort oben auf der aus Orangenkisten aufgebauten Bühne, im schwarzen Anzug und mit aufgemaltem Schuhcremebart... verzogen ... angeberisch ... Mrs. Crenshaw hätte ihn plötzlich umbringen können.
Die Zauberei war diesmal viel besser - sogar erstaunlich-, aber Hilly war verblüfft und verbittert, als er dennoch feststellen mußte, daß er das Publikum zu Tode langweilte. Er sah seinen Vater auf dem Sitz herumrutschen und darauf warten, daß er gehen konnte, und das machte Hilly wütend, denn seinen Vater wollte er mehr als alle anderen beeindrucken.
Was wollen sie eigentlich?fragte er sich selbst empört und schwitzte unter seinem Sonntagsanzug aus schwarzer Wolle ebenso sehr wie Mrs. Crenshaw. Ich mache meine Sache großartig - sogar besser als Hou-dini-, und trotzdem lachen und schreien und keuchen sie nicht. Warum nicht? Was, zum Teufel, ist schiefgegangen?
Im Zentrum von Hillys Orangenkistenbühne befand sich eine kleine Plattform (auch eine Orangenkiste, aber mit einem Tuch bedeckt). In ihrem Inneren war eine Erfindung verborgen, die Hilly gemacht hatte, wobei er die Batterien verwendete, die David in seinem Zimmer gesehen hatte, und dazu die Eingeweide eines alten Texas-Instruments-Rechners, den er (ohne die geringsten Gewissensbisse) aus der untersten Schublade der Kommode seiner Mutter in der Diele gestohlen hatte. Die Decke über der Orangenkiste war am Rande gebauscht, und unter einer solchen Bauschung befand sich ebenfalls ein Stück Diebesgut - das Fußpedal der Nähmaschine seiner Mutter. Hilly hatte das Pedal von der Maschine genommen, die Isolierung abgelöst und das Pedal mit seiner Erfindung verbunden. Dazu hatte er die Federklemmen verwendet, die seine Mutter ihm in Augusta besorgt hatte.
Das Gerät, das er erfunden hatte, ließ Dinge erst verschwinden und brachte sie dann wieder zum Vorschein.
Hilly fand das spektakulär und atemberaubend. Die Reaktion seines Publikums jedoch war gedämpft, und dann ging es nur noch bergab.
»Jetzt mein erster Trick, die verschwindende Tomate!« trompetete
Hilly. Er zog die Tomate aus seiner Kiste mit Zauberutensilien und hielt sie hoch. »Ich möchte gerne einen Freiwilligen aus dem Publikum, der bestätigt, daß dies eine echte Tomate ist und keine Fälschung oder so etwas. Sie da, Sir! Danke!« Er deutete auf seinen Vater, der nur müde abwinkte und sagte: »Es ist eine Tomate, Hilly, das sehe ich.«
»Okay! Und nun sehen Sie, wie die Geheimnisse des Orients Wunder wirken!«
Hilly verbeugte sich, plazierte die Tomate auf die Mitte des weißen Tuchs über der Kiste und deckte sie dann mit einem Seidenschal seiner Mutter zu. Er schwenkte den Zauberstab über der Erhebung unter dem blauen Schal. »Presto-majesto!« schrie er, dann trat er unauffällig auf das verborgene Pedal der Nähmaschine. Man hörte ein kurzes, leises Summen.
Die Beule unter dem Schal verschwand. Der Schal legte sich flach. Er nahm den Schal weg, um dem Publikum zu zeigen, daß darunter nichts mehr war, dann wartete er zufrieden auf die Ausrufe, das Erstaunen, die Fassungslosigkeit. Was er bekam, war Applaus.
Höflicher Applaus, mehr nicht.
Aus Mrs. Crenshaws Verstand empfing er folgendes: Eine Falltür. Nichts Besonderes. Ich kann nicht glauben, daß ich hier in der glühenden Sonne sitze und diesem verzogenen Balg zusehe, wie er Tomaten durch eine Falltür verschwinden läßt, nur um seiner Mutter ein paar Flaschen Parfüm zu verkaufen.
Also wirklich!
Hilly wurde allmählich wütend.
»Und nun ein anderes Geheimnis des Orients! Die Rückkehr der verschwundenen Tomate!« Er bedachte Mrs. Crenshaw mit wütendem Stirnrunzeln. »Und für die jenigen unter Ihnen, die an etwas so Albernes wie Falltüren denken, nun, ich könnte mir denken, selbst dumme Leute können begreifen, daß man eine Tomate zwar leicht durch eine Falltür verschwinden lassen kann, es aber außerordentliche Schwierigkeiten machen würde, sie wieder heraufzubringen, nicht?«
Mrs. Crenshaw saß einfach da, ihre Gesäßbacken quollen über den Rand des Stuhls, den sie langsam in den Boden drückte, während sie liebenswürdig lächelte. Ihre Gedanken waren aus Hillys Kopf verschwunden wie ein schlechtes Funksignal.
Er legte den Schal wieder auf die Plattform. Schwenkte den Zauberstab. Trat auf das Pedal. Der blaue Schal beulte sich kugelförmig aus. Hilly zog ihn triumphierend weg und enthüllte die Tomate.
»Ta-daaa!« brüllte er. Jetzt würden die Ausrufe und das Keuchen kommen.
Mehr höflicher Applaus.
Barney Applegate gähnte.
Hilly hätte ihn mit Freuden erschießen können.
Hilly hatte vorgehabt, sich von seinem Tomatentrick zum großen Finale hochzuarbeiten, und das war soweit ein ganz guter Plan. Aber er kam nicht sehr weit damit. In seiner verständlichen Begeisterung darüber, daß er eine Maschine erfunden hatte, mit der man tatsächlich Dinge verschwinden lassen konnte (er dachte, daß er sie vielleicht dem Pentagon überlassen würde, nachdem sein Bild als größter Zauberer der Geschichte auf dem Titelblatt von Newsweek erschienen war), hatte Hilly zwei Dinge übersehen. Zuerst einmal, daß nur Kinder und Idioten glauben, die Tricks einer Zaubervorstellung seien echt, und zweitens führte er im Grund genommen immer wieder denselben Trick aus. Jede neue Vorführung unterschied sich nur graduell von der vorhergehenden.
Nach der verschwundenen Tomate und der Rückkehr der verschwundenen Tomate machte Hilly sich grimmig an das verschwundene Radio (das seines Vaters, das bedeutend leichter geworden war, nachdem seine acht D-Zellen nun in den Eingeweiden der Erfindung unter der Plattform steckten) und die Rückkehr desselben.
Höflicher Applaus.
Der verschwundene Gartenstuhl, gefolgt von der Rückkehr des verschwundenen Gartenstuhls.
Sein Publikum saß erschlafft da, wie von der Sonne gelähmt... oder von dem, was sich inzwischen in der Atmosphäre von Haven befand. Wenn etwas von der Hülle des Schiffes oxidierte und in die Atmosphäre gelangte, dann war es an diesem Tag sicher stark, zumal sich kein Lüftchen regte.
Muß etwas unternehmen, dachte Hilly und geriet in Panik.
Er entschied spontan, daß er auf das verschwundene Bücherregal und das verschwundene Trimmgerät (das seiner Mutter gehörte) und das verschwundene Motorrad (das seinem Vater gehörte, und er bezweifelte, daß dieser sich in seiner momentanen Laune bereiterklären würde, es auf die Bühne zu fahren) verzichten würde. Er würde gleich zum Finale kommen.
Dem verschwundenen kleinen Bruder.
»Und jetzt. ..«
»Hilly, es tut mir leid, aber...« begann sein Vater.
»... mein letzter Trick«, fügte Hilly hastig hinzu und sah, wie sich sein Vater widerstrebend wieder zurücksinken ließ. »Ich brauche einen Freiwilligen aus dem Publikum. Komm her, David.«
David trat mit einem Gesichtsausdruck nach vorne, in dem sich Angst und Resignation das Gleichgewicht hielten. Obwohl man es ihm nicht ausdrücklich gesagt hatte, wußte David, wie der letzte Trick aussehen würde. Nur zu gut.
»Ich will nicht«, flüsterte er.
»Du wirst«, sagte Hilly grimmig.
»Hilly, ich habe Angst.« David flehte mit tränenfeuchten Augen. »Was ist, wenn ich nicht zurückkomme?«
»Du wirst«, flüsterte Hilly. »Alles andere kam auch zurück, oder nicht?«
»Ja, aber du hast nichts verschwinden lassen, das lebte«, sagte David. Jetzt flössen die Tränen über und rannen seine Wangen hinab.
Als er seinen Bruder ansah, den er so sehr und erfolgreich liebte (im Gernhaben von David hatte er mehr Erfolg gehabt als mit allem anderen, das er in die Hand genommen hatte, einschließlich der Zauberei), erlebte Hilly einen schrecklichen Augenblick des Zweifels. Es war, als erwachte man vorübergehend aus einem Alptraum, bevor er einen wieder hinabzog. Du wirst das nicht machen, oder? Du würdest ihn nicht auf eine belebte Straße stoßen, nur weil du glaubst, daß alle Autos rechtzeitig bremsen würden, oder? Du weißt nicht einmal, wohin diese Dinge verschwinden, wenn sie aufhören, hier zu sein!
Dann sah er sein Publikum an - gelangweilt und unaufmerksam, der einzige, der einen halbwegs lebendigen Eindruck machte, war Barney Applegate, der eingehend damit beschäftigt war, sich ein Stück Schorf vom Ellenbogen zu kratzen-, und seine Wut stieg wieder. Er sah die Tränen der Angst in Davids Augen nicht mehr.
»Steig auf die Plattform, David!« flüsterte Hilly grimmig. Davids kleines Gesicht begann zu beben- aber er ging auf die Plattform zu. Er hatte Hilly niemals widersprochen, da er ihn die ganzen fünfzehnhun-dert-und-ein-paar Tage seines Lebens bewundert hatte, und daher widersprach er ihm auch jetzt nicht. Dennoch konnte er sich kaum auf seinen pummeligen Beinchen halten, während er auf die mit einem Tuch zugedeckte Orangenkiste mit der verrückten Maschine darunter kletterte.
David wandte sich zum Publikum, ein kleiner rundlicher Junge in einem verblichenen T-Shirt, auf dem stand: SIE NENNEN MICH DR. LOVE. Tränen liefen ihm übers Gesicht.
»Lächle, verdammt!« zischte Hilly und stellte einen Fuß auf das Pedal der Nähmaschine.
Obwohl er heftiger weinte, gelang David die verzerrte Parodie eines Lächelns. Marie Brown sah die Entsetzenstränen des Kindes nicht. Mrs. Crenshaw hatte den Stuhl gewechselt (die vier Beine dessen, auf dem sie gesessen hatte, waren mittlerweile bis zur Hälfte im Rasen eingesunken) und schickte sich an zu gehen. Es war ihr einerlei, ob sie der dummen Fotze Avon verkaufte oder nicht. Dafür lohnte es sich nicht, diese Folter zu ertragen.
»Und JETZT!« brüllte Hilly sein lethargisches Publikum an »Das größte Geheimnis, das der Orient bereithält! Wenigen bekannt und von noch wenigeren ausgeübt! Der verschwundene Mensch! Sehen Sie genau her!«
Er warf eine Decke über Davids zitternde Gestalt. Während sie sich bis über Davids Beine senkte, wurde darunter ein deutliches Schluchzen laut. Hilly verspürte ein weiteres Zittern, das Angst sein konnte oder Vernunft, die mühsam um ihren Bestand kämpfte. »Hilly, bitte... bitte, ich habe Angst...« Das gedämpfte Flüstern verstummte.
Hilly zögerte. Und dachte plötzlich: Fort mit dir! Ich weiß, daß ich’s 'kann! Ich lernte diesen Trick... vom Tommyknocker-Mann!
Kurz darauf verlor Hilly Brown dann wirklich und tatsächlich den Verstand.
»Presto-majesto!« brüllte er, schwenkte den Stab über der zitternden Gestalt unter der Decke und trat auf das Pedal.
Summmmmmmmmm.
Das Laken sank langsam hinab, wie ein Laken es tut, wenn man es über ein Bett wirft und absinken läßt.
Hilly zog es weg.
»Ta-daaaa!« kreischte er. Er war halb von Sinnen vor Triumph und Angst, und einen Augenblick waren beide im Gleichgewicht, wie zwei gleich schwere Kinder auf einer Wippe.
David war verschwunden.
9
Einen Augenblick war die allgemeine Apathie unterbrochen. Barney Applegate hörte auf, an seinem Schorf zu kratzen. Bryant Brown richtete sich mit offenem Mund auf seinem Stuhl auf. Marie und Mrs. Crenshaw unterbrachen ihre geflüsterte Unterhaltung, Ev Hillman runzelte die Stirn und sah besorgt aus- aber dieser Ausdruck war nicht unbedingt neu. Ev sah schon seit ein paar Tagen besorgt aus und fühlte sich auch so.
Ahhh, dachte Hilly, und Balsam ergoß sich über seine Seele. Erfolg!
Das Interesse des Publikums und Hillys Triumph waren jedoch nur von kurzer Dauer. Tricks, die mit Menschen zu tun haben, sind immer interessanter als Tricks mit Gegenständen oder Tieren (ein Kaninchen aus einem Hut zu ziehen, ist schon ganz in Ordnung, aber kein Zauberer, der sein Geld wert ist, käme auf die Idee, daß er mit einem in der Mitte durchgesägten Pferd mehr Erfolg haben könnte als mit einem spärlich bekleideten Mädchen mit einer tollen Figur) - aber es ist doch wieder derselbe Trick. Diesmal war der Beifall lauter (und Barney Applegate stieß ein herzhaftes »Juhuuuu, Hilly!« aus), aber er ließ rasch wieder nach. Hilly sah, daß seine Mutter wieder mit Mrs. Crenshaw flüsterte. Sein Vater stand auf.
»Ich muß jetzt duschen, Hilly«, murmelte er. »Verdammt gute Vorstellung. «
»Aber...«
Vor der Einfahrt ertönte eine Hupe.
»Das ist meine Mutter«, sagte Barney und sprang so schnell auf, daß
er beinahe Mrs. Crenshaw umgestoßen hätte. »Bis bald, Hilly! Guter Trick!«
»Aber...«Jetzt spürte Hilly, wie ihm Tränen in den Augen brannten.
Barney sank auf die Knie und tat, als wollte er unter die Plattform winken. »Tschüs, Davey! Gut gemacht!«
»Er ist nicht dort unten, verdammt noch mal!« kreischte Hilly.
Aber Barney hastete bereits davon. Hillys Mutter und Mrs. Crenshaw gingen zur Tür und blätterten dabei einen Avon-Katalog durch. Alles geschah so schnell, »Nicht fluchen, Hilly«, rief seine Mutter, ohne sich umzudrehen. »Und David soll sich die Hände waschen, wenn ihr ins Haus kommt. Darunter ist es schmutzig!«
Nur noch Ev Hillman, Davids Großvater, war übrig. Ev sah Hilly mit besorgtem Gesichtsausdruck an.
»Warum gehst du nicht auch?« fragte Hilly mit einer verbitterten Wut, die lediglich durch seine tränennuschelnde Stimme verdorben wurde.
»Hilly, wenn dein Bruder nicht da unten ist«, sagte Ev mit einer Stimme, die seiner sonstigen gar nicht ähnelte, »wo genau ist er dann?«
Ich weiß es nicht, dachte Hilly, und da begann sich die Wippe zu neigen. Der Triumph ging weiter nach unten. Sehr weit. Und die Angst ging hoch. Sehr hoch. Mit der Angst kam Schuldbewußtsein. Ein Schnappschuß von Davids weinendem, entsetztem Gesicht. Ein Schnappschuß seines eigenen (dank einer ausgezeichneten Phantasie), das wütend und beinahe boshaft aussah - ganz sicher bedrohlich. Lächle, verdammt. David, der versuchte, durch seine Tränen zu lächeln.
»Oh, er ist tatsächlich dort unten«, sagte Hilly. Er brach in lautes Schluchzen aus und setzte sich auf die Bühne, zog die Knie an und legte sein heißes Gesicht darauf. »Ja, er ist dort unten, alle haben meine Tricks erraten, und keinem haben sie gefallen. Ich hasse Zauberei, ich wünsche, du hättest mir diesen dummen Zauberkasten nie geschenkt...«
»Hilly...« Ev trat einen Schritt vor, und nun sah er nicht nur besorgt, sondern beunruhigt aus. Irgend etwas stimmte hier nicht... hier und in ganz Haven. Er spürte es. »Was ist los?«
»Verschwinde von hier!« schluchzte Hilly. »Ich hasse dich! ICH HASSE DICH!«
Großväter sind ebenso anfällig für Scham, Schmerz und Verwirrung wie alle anderen Menschen auch. Ev Hillman verspürte nun das alles auf einmal. Es schmerzte, Hilly sagen zu hören, daß er ihn haßte - es schmerzte, obwohl der Junge offensichtlich emotional erschöpft war. Ev empfand Scham, weil es sein Geschenk war, das Hillys Tränen provoziert hatte. .. auch wenn sein Schwiegersohn das Geschenk gekauft hatte. Ev hatte es als sein Geschenk akzeptiert, als Hilly sich gefreut hatte; deshalb mußte er es auch jetzt akzeptieren, da es Hilly zum Weinen brachte und er das Gesicht auf die schmutzigen Knie gelegt hatte. Er empfand Verwirrung, weil noch etwas anderes hier vorging aber was? Er wußte es nicht. Er wußte, daß er sich, als es Sommer wurde, an die Tatsache zu gewöhnen begann, daß er senil wurde - oh, die Symptome waren noch schwach, aber sie schienen mit jedem Jahr ein bißchen stärker zu werden. Und in diesem Sommer schienen alle senil zu werden... aber was genau meinte er damit? Ein Ausdruck in den Augen? Seltsame Erinnerungslücken, ein Suchen nach Namen, die greifbar hätten sein sollen? Solche Sachen, ja. Aber es gab noch mehr. Er war sich nur nicht ganz klar darüber, was genau dieses »mehr« war.
Diese Verwirrung, die so ganz anders war als die Gedankenlosigkeit welche die anderen befallen hatte, die die ZWEITE GALA -ZAUBERVORSTELLUNG besuchten, brachte Ev Hillman, der die einzige anwesende Person gewesen war, die alle Tassen im Schrank hatte (überhaupt war er neuerdings die einzige Person in ganz Haven, von der sich das sagen ließ - Jim Gardener wurde zwar auch kaum von dem Schiff in der Erde beeinflußt, aber um den siebzehnten herum hatte Gardener wieder angefangen, viel zu trinken), dazu, etwas zu tun, das er später bitter bereute. Anstatt auf seine arthritisgeplagten Knie zu sinken und unter Hillys behelfsmäßige Bühne zu sehen, ob David Brown wirklich darunter war, zog er sich zurück. Er zog sich ebenso sehr von der Vorstellung zurück, daß es sein Geburtstagsgeschenk gewesen war, das Hillys momentanen Kummer verursacht hatte. Er ließ Hilly allein und dachte, er würde wiederkommen, »wenn der Junge sich wieder beruhigt hatte«.
10
Während Hilly seinem Großvater nachsah, wie dieser davonschlurfte, verdoppelten sich sein Elend und seine Schuldgefühle - dann verdreifachten sie sich. Er wartete, bis Ev gegangen war, dann rappelte er sich auf und ging zu der Plattform. Er stellte den Fuß auf das verborgene Pedal der Nähmaschine und trat darauf.
Summmmmmmmmm.
Er wartete darauf, daß sich die Decke zu Davids Gestalt aufbauschte. Er würde das Laken wegziehen und sagen: Na also, Baby, siehst du? War doch GAR NICHTS, oder? Vielleicht würde er David sogar eine saftige Ohrfeige verpassen, weil er ihm angst gemacht und er sich so elend gefühlt hatte. Vielleicht würde er auch nur...
Nichts geschah.
Angst fing an, Hilly die Kehle zuzuschnüren. Fing an- oder war sie die ganze Zeit über da gewesen? Die ganze Zeit, dachte er. Aber jetzt schwoll sie an, ja, das war genau das richtige Wort. Sie schwoll da drinnen an, als hätte ihm jemand einen Luftballon in den Hals gesteckt und bliese ihn nun auf. Verglichen mit dieser neuen Angst wirkten das Elend gut und die Schuldgefühle völlig harmlos. Er versuchte zu schlucken, konnte aber keinen Speichel an dieser Schwellung vorbeibringen.
»David?« flüsterte er und trat erneut auf das Pedal.
Summmmmmmmm.
Er beschloß, daß er David keine Ohrfeige verpassen würde. Er würde David umarmen. Wenn David zurückkam, würde Hilly auf die Knie sinken und ihn umarmen und ihm sagen, daß er eine ganze Woche lang alle G.-I.-Joe-Figuren haben konnte (ausgenommen vielleicht Snake-Eyes und Crystal Ball).
Es geschah immer noch nichts.
Die Decke, mit der er David zugedeckt hatte, lag zerknittert auf der, mit welcher er die Kiste über seiner Maschine zagedeckt hatte. Sie bauschte sich überhaupt nicht zu Davids Gestalt auf. Hilly stand ganz allein im Garten, die heiße Julisonne brannte auf ihn herab, sein Herz schlug schneller und schneller in der Brust, und der Ballon in seinem Hals schwoll an. Wenn er so groß geworden ist, daß er platzt, dachte er, werde ich wahrscheinlich schreien.
Hör auf damit! Er wird zurückkommen! Ganz sicher! Die Tomate ist zurückgekommen, und das Radio, und der Gartenstuhl. Und die Sachen, mit denen ich in meinem Zimmer experimentiert habe, sind auch zurückgekommen. Er... er...
»Hilly, du und David, kommt jetzt herein und wascht euch!« rief seine Mutter.
»Ja, Mom!« rief Hilly mit zitternder, verrückt fröhlicher Stimme zurück. »Gleich!«
Und er dachte: Bitte, lieber Gott, laß ihn zurückkommen, es tut mir leid, lieber Gott, ich werde alles tun, er kann alle G. 1. Joes_ für immer behalten, ich schwöre es, er kann das MOBAT und sogar Terrordome haben, nur, Gott, lieber Gott, BITTE LASS ES DIESMAL FUNKTIONIEREN UND LASS IHN ZURÜCKKOMMEN!
Er trat wieder auf das Pedal.
Summmmmmmmm...
Er sah das zerknitterte Laken durch tränenverschleierte Augen an. Einen Augenblick dachte er, es würde etwas passieren, aber es war nur ein Windhauch, der die Decke bewegte.
Panik, die so hell war wie Feilspäne, wühlte sich in Hillys Verstand Gleich würde er anfangen zu schreien und seine Mutter aus der Küche holen, und seinen Vater, nackt bis auf ein um die Taille geschlungenes Handtuch, Shampoo im Haar, das ihm an den Wangen herablaufen würde, und sie würden sich beide fragen, was Hilly diesmal angestellt hatte. In gewisser Weise würde die Panik gnädig sein. Wenn sie kam, würde sie das Denken auslöschen.
Aber unglücklicherweise war es noch nicht soweit. Zwei Gedanken jagten in rascher Folge durch Hillys messerscharfen Verstand.
Der erste: Ich habe nie etwas verschwinden lassen, das lebte. Sogar die Tomate war gepflückt, und Daddy sagt, wenn man etwas gepflückt hat, dann lebt es eigentlich nicht mehr.
Der zweite Gedanke: Was ist, wenn David nicht atmen kann, wo er ist? Was ist, wenn er nicht ATMEN kann?
Bis zu diesem Augenblick hatte er sich kaum gefragt, was mit den Dingen geschah, die er »verschwinden« ließ. Aber jetzt...
Der letzte klare Gedanke, den er hatte, bevor sich die Panik wie eine Decke über ihn senkte - oder ein Leichentuch -, war eigentlich ein Bild, das vor seinem geistigen Auge erschien. Er sah David in einer unheimlichen, feindseligen Landschaft liegen. Sie sah aus wie die Oberfläche einer kahlen, toten Welt. Die graue Erde war trocken und kalt; Risse klafften wie tote Reptilienmäuler. Sie erstreckten sich im Zickzack in alle Richtungen. Darüber befand sich ein Himmel, der schwärzer als Juweliersamt war, und eine Milliarde Sterne kreischte herab - sie waren heller, als die Sterne auf der Erde es jemals waren, denn die Welt, die Hilly im Geiste vor seinen aufgerissenen, schreckgeweiteten Augen sah, war fast oder vollständig ohne Luft.
Und inmitten dieser unirdischen Einsamkeit lag sein pummeliger, vier Jahre alter Bruder in kurzer Hose und einem T-Shirt, auf dem stand: SIE NENNEN MICH DR. LOVE. David umklammerte seine Kehle und versuchte, die Nicht-Luft einer Welt zu atmen, die vielleicht eine Billion Lichtjahre entfernt war. David keuchte und lief purpurn an. Frost zeichnete Muster des Todes auf seine Lippen und Fingernägel. Er...
Ah, aber da überkam ihn endlich die gnädige Panik.
Er riß die Decke zurück, mit der er David zugedeckt hatte, und stieß die Kiste um, welche die Maschine verbarg. Er trat immer wieder auf das Pedal der Nähmaschine und begann zu schreien. Erst als seine Mutter vor ihm stand, wurde ihr klar, daß er nicht nur schrie, sondern tatsächlich Worte aussprach.
»Alle G. I. Joes!« kreischte Hilly. »Alle G. I. Joes! Alle G. L Joes! Für immer! Alle G. I. Joes!«
Und dann, unendlich beängstigender:
»Komm zurück, David! Komm zurück, David! Komm zurück!«
»Mein Gott, was meint er damit?« schrie Marie.
Bryant ergriff seinen Sohn an den Schultern und drehte ihn herum, so daß sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber standen.
»Wo ist David? Wo ist er?«
Aber Hilly hatte das Bewußtsein verloren, und er kam niemals wieder richtig zu sich. Mehr als hundert Männer und Frauen, darunter Bobbi und Gard, durchsuchten den Wald jenseits der Straße und klopften das Unterholz nach Hillys Bruder David ab.
Hätte man ihn fragen können, dann hätte Hilly wahrscheinlich gesagt, daß sie seiner Meinung nach zu nahe am Haus suchten.
Viel zu nahe.
Viertes Kapitel
Bent und Jingles
1
Am Abend des vierundzwanzigsten Juli, eine Woche nach dem Verschwinden von David Brown, fuhr Trooper Benton Rhodes gegen acht Uhr mit einem Fahrzeug der Staatspolizei aus Haven heraus. Peter Gabbons, von seinen Kollegen Jingles genannt, saß auf dem Beifahrersitz. Die Dämmerung lag in Asche um sie herum. Es war natürlich eine metaphorische Asche, ganz im Gegensatz zu der auf den Händen und Gesichtern der beiden Polizisten. Diese Asche war echt. Rhodes' Denken kehrte immer wieder zu dem abgetrennten Arm und der Hand zurück und zu der Tatsache, daß er sofort gewußt hatte, wem sie gehörte. Jesus.
Hör auf, daran zu denken! befahl er seinem Verstand.
Okay, willigte sein Verstand ein und dachte gleich weiter daran. »Versuch es noch einmal mit dem Funkgerät«, sagte er. »Ich wette, wir haben Interferenzen von dieser verdammten Mikrowellenschüssel, die sie in Troy aufgestellt haben.«
»Okay.« Jingles griff nach dem Mikro. »Einheit 16 an Basis. Hörst du uns, Tug? Over.«
Er ließ den Knopf los, und sie lauschten beide. Sie hörten unheimliche atmosphärische Störungen, in die sich geisterhafte Stimmen mischten.
»Soll ich es noch einmal versuchen?« fragte Jingles.
»Nein. Wahrscheinlich gibt es sich bald.«
Bent fuhr mit hundert und eingeschaltetem Blaulicht auf der Route 3 Richtung Derry. Wo, zum Teufel, blieb die Verstärkung? Von und nach Haven Village hatte es keine Kommunikationsprobleme gegeben; die Funkverbindung war so klar gewesen, daß es beinahe unheimlich war. Und der Funk war an diesem Abend nicht das einzig Unheimliche in Haven gewesen.
Richtig! stimmte sein Verstand zu. Und übrigens, du hast den Ring sofort erkannt, nicht? Den Ring eines Polizisten erkennt man, auch wenn er an einer _ frauenhand steckt. Und hast du gesehen, wie die Sehnen heraushingen? Sah aus wie ein Stück Fleisch beim Metzger, nicht? Lammkeule oder so etwas. Hat ihr einfach den Arm abgerissen. Es...
Hör auf, habe ich gesagt! Gottverdammt, LASS DAS!
]a, okay, schon gut. Ich vergaß einen Augenblick, daß du nicht darüber nachdenken willst. Oder wie ein Rollbraten, hm? Und das viele Blut!
Hör auf, bitte hör auf, stöhnte er.
Gut, okay, ich weiß, ich verliere den Verstand, wenn ich weiter darüber nachdenke, aber ich glaube, ich werde trotzdem darüber nachdenken, weil ich einfach nicht damit aufhören kann. Ihre Hand, ihr Arm, sie waren schlimm, schlimmer als jeder Verkehrsunfall, den ich je gesehen habe, aber was ist mit all den anderen Teilen? Den abgetrennten Köpfen? Den Augen? Den Füßen? ]a, Sir, das muß wahrhaftig ein Knüller von einer Kesselexplosion gewesen sein!
»Wo ist unsere Verstärkung?« fragte Jingles rastlos.
»Weiß nicht.«
Aber wenn sie auftauchte, konnte er sie wirklich zur Schnecke machen, oder nicht?
Ich habe ein Rätsel _für euch, könnte er zu den Leuten sagen. Ihr werdet nie darauf kommen. Wie ist es möglich, daß nach einer Explosion überall zerfetzte Körper herumliegen, aber nur eine Tote? Und ganz nebenbei, wie kommt es, daß die Explosion eines Kessels kleinen anderen Schaden anrichtet, als den Rathausturm wegzupusten? Und wieso war der Stadtratsvorsitzende, dieser Berringer, nicht imstande, die Leiche zu identifizieren, obwohl selbst ich wußte, um wen es sich handelte? Gebt ihr auf, Jungs?
Er hatte den Arm mit einer Decke zugedeckt. Für die anderen Körperteile konnte er nichts weiter tun, und er vermutete, daß es auch unwichtig war. Aber Ruths Arm hatte er zugedeckt.
Das hatte er auf dem Platz vor dem Rathaus von Haven Village getan. Er hatte es getan, während dieser Idiot von Chef der freiwilligen Feuerwehr, Allison, grinsend dagestanden hatte, als wäre es ein Bohnenessen gewesen und nicht eine Explosion, bei der eine prachtvolle Frau ums Leben gekommen war. Es war alles verrückt. Hoffnungslos verrückt.
Peter Gabbons hatte den Spitznamen Jingles wegen seiner rauhen Andy-Devine-Stimme erhalten - Jingles war eine Rolle, die Devine in einer alten Westernserie im Fernsehen gespielt hatte. Als Gabbons von Georgia gekommen war, hatte Tug Eilender, der Einsatzleiter, angefangen, ihn so zu nennen, und der Name war hängengeblieben. Jetzt sagte Gabbons mit einer hohen, erstickten Stimme, die keinerlei Ähnlichkeit mit seiner sonstigen Jingles-Stimme hatte: »Fahr rechts ran, Bent. Mir ist schlecht.«
Rhodes steuerte hastig nach rechts und brachte das Auto so schlitternd zum Halten, daß es beinahe in den Straßengraben gestürzt wäre. Immerhin hatte Gabbons es als erster gesagt; das war schon etwas.
Jingles stürzte rechts aus dem Polizeiauto. Bent Rhodes stürzte links
hinaus. Im flackernden Blaulicht erbrachen beide alles, was sie in sich hatten. Bent taumelte gegen die Seite des Autos und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab; aus dem Gras links vom Wagen hörte er immer noch würgende Laute. Er drehte den Kopf himmelwärts und war vage dankbar für den Wind.
»Schon besser«, sagte Jingles schließlich. »Danke, Bent.«
Benton wandtesich zu seinem Partner. Jingles' Augen waren dunkle, Löcher in seinem Gesicht. Es war das Gesicht eines Mannes, der seine Informationen verarbeitet und zu keinem auch nur halbwegs vernünftigen Ergebnis kommt.
»Was ist dort passiert?« fragte Bent.
»Bist du blind? Der Turm des Rathauses hat abgehoben wie eine Rakete.«
»Und warum hat die Explosion des Kessels den Turm hochgejagt?«
»Keine Ahnung.«
»Spuck drauf.« Bent versuchte zu spucken. Er konnte es nicht. »Glaubst du das? Eine Kesselexplosion im Juli, die den Turm vom Rathaus bläst?«
»Nein. Stinkt zum Himmel.«
»Richtig, Partner. Stinkt gewaltig zum Himmel.« Bent machte eine Pause. »Jingles, was hast du gefühlt? Hast du dort etwas Unheimliches gespürt?«
Jingles sagte vorsichtig: »Vielleicht. Vielleicht habe ich etwas gespült. «
»Was?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Jingles. Seine Stimme klang höher, sie nahm den zitternden, unsicheren Tonfall eines Kindes an, das den Tränen nahe ist. Über ihnen leuchtete eine Galaxis voller Sterne. Grillen
sangen in der duftenden Sommerstille. »Ich bin nur verdammt froh, daß
ich wieder draußen bin...«
Jingles, der wußte, daß er am nächsten Tag nach Haven zurückkehren und bei den Ermittlungen und Aufräumungsarbeiten helfen würde, fing tatsächlich an zu weinen.
2
Nach einer Weile fuhren sie weiter. Jede noch verbliebene Spur Tageslicht war vom Himmel verschwunden. Bent war froh. Er wollte Jingles lieber nicht ansehen... und er wollte nicht, daß Jingles ihn ansah.
Übrigens, Bent, sagte sein Verstand jetzt zu ihm, es war verdammt erstaunlich, nicht? Verdammt unheimlich. Die abgetrennten Köpfe und die kleinen Beine, an deren kleinen Füßen meist noch die Schuhe saßen. Und die Rümpfe! Hast du die Rümpfe gesehen? Das Auge! Das einzelne blaue Auge? Hast du das gesehen? Mußt du gesehen haben! Du hast es in den Gully gekickt, als du dich nach unten gebeugt hast, um Ruth McCauslands Arm aufzuheben. All diese abgetrennten Arme und Beine und Köpfe und Rümpfe, aber Ruth war die einzige Person, die gestorben ist. Das ist wirklich ein Rätsel_ für die Weltmeisterschaft der Rätselknak-ker.
Die Körperteile waren schlimm gewesen. Die zerfetzten Überreste der Fledermäuse - kaum vorstellbare Massen von ihnen - waren ebenfalls schlimm gewesen. Aber nichts war so schlimm gewesen wie Ruths Arm mit dem Ring ihres Mannes am Mittelfinger der rechten Hand, denn Ruths Hand und Arm waren echt gewesen.
Die abgetrennten Köpfe und Beine und Rümpfe hatten ihm anfangs einen verdammten Schock versetzt - einen benommenen Augenblick lang hatte er sich gefragt, ob eine Schulklasse - Sommerferien oder nicht
- das Rathaus besichtigt hatte, als es hochging. Aber dann war seinem umnebelten Verstand klargeworden, daß nicht einmal Vorschulkinder so kleine Gliedmaßen besaßen und daß Kinder keine Arme und Beine hatten, die nicht bluteten, wenn sie von den Körpern gerissen wurden.
Er hatte sich umgedreht und Jingles gesehen, der einen kleinen rauchenden Kopf in einer und ein teilweise geschmolzenes Bein in der anderen Hand hielt.
»Puppen«, hatte Jingles gesagt. »Verdammte Puppen. Wo kommen alle diese verdammten Puppen her, Bent?«
Er hatte antworten wollen, wollte sagen, daß er es nicht wußte (wenngleich ihm schon etwas an diesen Puppen merkwürdig erschienen war; im Lauf der Zeit sollte er darauf kommen), als im auffiel, daß immer noch Leute im Haven Lunch aßen. Daß immer noch Leute auf dem Markt einkauften. Kälte hatte sein Herz berührt gleich einem Finger aus Eis. Dies war eine Frau, die die meisten zeit ihres Lebens gekannt hatten
- die sie kannten, respektierten und vielfach liebten-, aber sie gingen einfach weiter ihren Geschäften nach.
Gingen ihren Geschäften nach, als wäre überhaupt nichts passiert.
In diesem Augenblick fing Bent Rhodes an, sich zu wünschen -wirklich ernsthaft zu wünschen-, wieder aus Haven heraus zu sein.
Jetzt, während er das Funkgerät abschaltete, aus dem immer noch nichts kam als atmosphärische Störungen, erinnerte Bent sich an das, was ihm vorher merkwürdig erschienen war. »Sie hatte Puppen. Mrs. McCausland.« Ruth, dachte Bent. Ich wünsche, ich hätte sie so gut gekannt, daß ich sie Ruth nennen konnte, so wie Monster es tut. Tat. Soweit ich weiß, haben alle sie gemocht. Und daher war es so komisch, daß sie alle einfach weiter ihren Geschäften nachgingen...
»Ich glaube, davon habe ich gehört«, sagte Jingles. »Ein Hobby von ihr, nicht? Ich glaube, ich habe es im Haven Lunch gehört. Oder vielleicht bei Cooder, bei einem Schwatz mit den Alten.«
Wahrscheinlicher bei einem Bier mit den Alten, dachte Rhodes, aber er nickte nur. »Ja. Und ich nehme an, das waren sie. Ihre Puppen. Im Frühjahr habe ich mich mit jemand über Mrs. McCausland unterhalten, ich glaube, es war Monster, und...«
»Monster?« fragte Jingles. »Monster Dugan kannte Mrs. McCausland?«
»Recht gut, glaube ich. Monster und ihr Mann waren Kollegen. Wie auch immer, er sagte, sie hätte hundert Puppen, vielleicht sogar zweihundert. Er sagte, sie wären ihr einziges Hobby, und sie waren einmal in Augusta ausgestellt. Er sagte, auf diese Ausstellung wäre sie stolzer gewesen als auf alles, was sie für die Stadt getan hat - und sie dürfte eine ganze Menge für Haven getan haben.«
Ich wünsche, ich hätte sie Ruth nennen können, dachte er wieder.
»Monster sagte, sie hätte ständig gearbeitet, wenn sie sich nicht gerade mit ihren Puppen beschäftigte.« Bent überlegte einen Augenblick, dann fügte er hinzu: »So, wie Monster von ihr sprach, konnte man glauben, er hätte... äh, ein Faible für sie gehabt.« Das hörte sich so verdammt altmodisch an, wie in einem Roy-Rogers-Western, aber so schien Butch »Monster« Dugan immer zu Ruth McCausland gestanden zu haben. »Wahrscheinlich wirst du nicht derjenige sein, der ihm die Nachricht überbringt, aber wenn doch, dann kann ich dir nur einen Rat geben: Mach keine dummen Witze.«
»Ja, okay, kapiert. Monster Dugan auf dem Hals zu haben, hätte mir gerade noch gefehlt, um den Tag abzurunden.«
Bent lächelte humorlos.
»Ihre Puppensammlung«, sagte Jingles. Er nickte. »Ich wußte natürlich, daß es Puppen waren...« Er bemerkte Bents Seitenblick und lächelte ein wenig. »Okay, es gab ein oder zwei Sekunden, da dachte ich... aber als ich sah, wie sich die Sonne auf ihnen spiegelte und daß kein Blut zu sehen war, da wußte ich, was es war. Ich konnte mir nur nicht erklären, warum es so viele waren.«
»Das weißt du immer noch nicht. Und vieles andere auch nicht. Wir haben keine Ahnung, wie sie dorthin kamen. Verdammt, wie ist sie dorthin gekommen?«
Jingles sah elend aus. »Wer hätte sie denn umbringen können, Bent? Sie war so eine nette Dame. Gottverdammt!« -
»Ich glaube, sie wurde ermordet«, sagte Bent. Seine Worte klangen wie brechende Stöcke in seinen Ohren. »Fandest du, daß das wie ein Unfall aussah?«
»Nein, das war keine Kesselexplosion. Und die Dämpfe, die uns hinderten, den Keller zu betreten, rochen die nach Öl?«
Bent schüttelte den Kopf. Was immer es gewesen sein mochte, er hatte in seinem ganzen Leben noch nichts ähnliches gerochen. Dieser Dummkopf Berringer hatte wahrscheinlich nur mit einem recht gehabt, nämlich daß das Einatmen dieser Dämpfe gefährlich sein konnte und es am besten war, oben zu bleiben, bis sie sich aus dem Keller des Rathauses verzogen hatten. Jetzt fragte er sich, ob sie absichtlich ferngehalten worden waren - vielleicht, damit sie keinen Kessel sahen, der vollkommen intakt war.
»Wenn wir unseren Bericht über diese Scheiße geschrieben haben, dann werden diese Typen einiges zu erklären haben«, sagte Jingles. »Allison, Berringer, alle miteinander. Und einiges werden sie Dugan erklären müssen.«
Bent nickte nachdenklich. »Die ganze verdammte Sache war verrückt. Das ganze Nest fühlte sich verrückt an. Ich meine, mir wurde tatsächlich schwindlig. Und dir?«
»Die Dämpfe...« meinte Jingles unsicher.
»Scheiß auf die Dämpfe. Mir wurde auf der Straße schwindlig.«
»Ihre Puppen, Bent. Was hatten ihre Puppen dort zu suchen?«
»Ich weiß nicht.«
»Ich auch nicht. Aber das ist auch wieder so etwas Beschissenes, das nicht zusammenpaßt. Versuchen wir es damit: Wenn jemand sie so sehr haßte, daß er sie ermordete, dann haßte er sie vielleicht auch so sehr, daß er ihre Puppen gleich mit hochjagen wollte. Glaubst du das?«
»Eigentlich nicht«, sagte Benton Rhodes.
»Aber es könnte sein«, sagte Jingles, als wäre die Tatsache, daß er es sagte, schon ein Beweis. Bent wurde klar, daß Jingles sich bemühte, aus Unvernunft Vernunft zu machen. Er bat Jingles, es noch einmal mit dem Funkgerät zu versuchen.
Der Empfang war ein wenig besser, aber immer noch nicht so, daß man darüber aus dem Häuschen geraten konnte. Bent konnte sich nicht erinnern, daß er so kurz vor Derry jemals so starke Interferenzen von der Mikrowellenschüssel in Troy bekommen hatte.
3
Den Zeugen zufolge, mit denen sie sprachen, war die Explosion fünf Minuten nach drei erfolgt, plus minus eine halbe Minute. Die Rathausuhr schlug dreimal, wie sie es immer tat. Fünf Minuten später, KA-WUMM! Und während sie nun im Dunkeln nach Derry zurückfuhren, tauchte vor Benton Rhodes ein seltsam überzeugendes Bild auf, das ihm eine Gänsehaut über den ganzen Körper jagte. Er sah die Zeiger der Rathausuhr an diesem heißen und windstillen Julinachmittag auf vier Minuten nach drei stehen. Und plötzlich wechseln sie einen Blick, die im Haven Lunch; die im Cooder's General Store; die im Haven Hardware; die Damen im Junque-A-Torium; die Kinder, die auf der Schaukel sitzen oder in der Sommerhitze schlaff an den Reckstangen auf dem Spielplatz neben der Schule hängen; er geht von den Augen einer übergewichtigen Dame, die auf dem städtischen Tennisplatz hinter dem Rathaus ein Doppel spielte, zu ihrer Partnerin und dann zu ihren übergewichtigen Gegnerinnen auf der anderen Seite des Netzes. Der Ball rollt langsam in eine Ecke des Platzes, während sie sich hinlegen und die Hände auf die Ohren pressen... und warten. Auf die Explosion warten.
Alle in der Stadt legen sich hin und warten darauf, daß sich dieses KA-WUMM in den Tag bohrt wie der Hieb eines Vorschlaghammers auf dickesHolz.
Bern erschauerte plötzlich hinter dem Steuer des Streifenwagens.
Die Verkäuferinnen bei Cooders. Die Kunden in den Gängen. Die Leute im Haven Lunch an den Tischen oder hinter dem Tresen. Um 15.04 Uhr legten sie sich hin, die ganze verdammte Bande. Und um 15.06 Uhr standen sie wieder auf und gingen ihren Geschäften nach. Alle, mit Ausnahme der designierten Gaffer. Und Allison und Berringer, die allen erzählten, daß der Kessel explodiert war, was nicht stimmte, und daß sie nicht wußten, wer das Opfer war, was verdammt noch mal auch nicht stimmte.
Du glaubst doch nicht, es hätten wirklich alle gewußt, daß es passieren würde, oder?
Ein Teil von ihm glaubte genau das. Denn wenn die guten Leute von Haven es nicht gewußt hatten, wie kam es dann, daß Ruth McCausland und ihre Puppen die einzigen Opfer waren? Wie kam es, daß es nicht einen einzigen Arm mit Schnittverletzungen gab, obwohl ein Schauer aus Glassplittern mit einer Geschwindigkeit von ungefähr hundertfünfzig Stundenkilometern über die Main Street gefegt war?
»Mittlerweile sollten wir außerhalb der Reichweite dieser verdammten Schüssel sein«, sagte Bent. »Versuch es noch einmal.«
Jingles griff zum Mikrofon. »Ich verstehe immer noch nicht, wo die verdammte Verstärkung bleibt.«
»Vielleicht ist anderswo noch etwas passiert. Es regnet nie...«
»Ja, es schüttet immer gleich. Zum Beispiel Puppenarme und -beine.« Als Jingles den Mikroknopf drückte, lenkte Bent den Streifenwagen in eine Kurve. Scheinwerfer und Blaulicht beleuchteten einen Pritschenwagen, der quer über die Straße stand.
»Heiliger Hirn...« Dann setzten seine Reflexe ein und er trat auf die Bremse. Gummi kreischte und rauchte; einen Augenblick dachte Bent, er würde die Kontrolle über das Fahrzeug verlieren. Dann kam der Wagen drei Meter vor dem Lastwagen zum Stehen.
»Bitte gib das Klopapier rüber«, sagte Jingles mit leiser, zitternder Stimme.
Sie stiegen aus und öffneten beide, ohne viel zu überlegen, die Pistolenhalfter. Der Geruch von verbranntem Gummi hing in der Sommerluft.
»Was soll die Scheiße?« rief Jingles, und Bent dachte: Er spürt es auch. Dies ist nicht koscher, es ist ein Teil von dem, was in dieser unheimlichen kleinen Stadt vor sich geht, und er spürt es auch.
Ein Lufthauch regte sich, und Bent hörte einen Augenblick Segeltuch steif flattern, und eine Plane glitt mit einem klapperschlangenähnlichen Laut von etwas auf der Pritsche des Lastwagens herunter. Bent spürte, wie seine Eier hastig nordwärts schrumpelten. Es sah aus wie der Lauf einer Bazooka. Er wollte sich hinwerfen, als er zu seiner Verblüffung erkannte, daß es nur ein Stück gewelltes Abflußrohr in einer Art Wiege aus Holz war. Kein Grund, sich zu fürchten. Aber er _fürchtete sich. Er wa|- entsetzt.
»Diesen Lastwagen habe ich in Haven gesehen, Bent. Er parkte vor dem Restaurant.«
»Wer ist da?« rief Bent.
Keine Antwort.
Er sah Jingles an. Jingles, dessen Augen in dem weißen Gesicht geweitet und dunkel wirkten, sah ihn an.
Bent dachte plötzlich: Mikrowelleninterferenz? War es wirklich das, was verhindert hat, daß wir durchkamen?
»Wenn jemand in diesem Lastwagen ist, sollte er lieber herauskommen?« rief Bent. »Sonst...«
Ein schrilles, irres Kichern ertönte von der Pritsche, dann war es wieder still.
»Himmel, das gefällt mir nicht«, stöhnte Jingles Gabbons.
Bent trat einen Schritt vor und hob seine Waffe, und plötzlich war die Welt von grünem Licht erfüllt.
Fünftes Kapitel
Ruth McCausland
1
Ruth Arlene Merrill McCausland war fünfzig, aber sie sah zehn Jahre jünger aus - an einem guten Tag sogar fünfzehn. Alle in Haven waren sich darin einig, daß sie, ob Frau oder nicht, der beste Polizist war, den die Stadt je gehabt hatte. Manche sagten, das läge daran, daß ihr Mann Staatspolizist gewesen war. Andere sagten, es läge einfach daran, daß Ruth Ruth war. Wie auch immer, alle waren sich darin einig, daß Haven sich glücklich schätzen konnte, sie zu haben. Sie war streng, aber gerecht. Sie konnte bei einem Notfall ihre fünf Sinne beisammenhalten. Das alles sagten die Leute von Haven von ihr, und noch mehr. In einer Kleinstadt in Maine, die von Männern regiert wurde, seit es eine Stadt zu regieren gab, waren solche Aussagen von einiger Bedeutung. Das war nur recht und billig: sie war eine bemerkenswerte Frau.
Sie wurde in Haven geboren und wuchs dort auf; sie war sogar die Großnichte des Reverend Mr. Donald Hartley, den im Jahre 1901 der Beschluß der Gemeinde, ihren Namen zu ändern, so hart getroffen hatte. 1955 war sie vorzeitig zum Studium an der Universität von Maine zugelassen worden - in der Geschichte der Universität war sie erst die dritte Studentin, die mit siebzehn Jahren als Vollstudentin anerkannt wurde. Sie schrieb sich in der juristischen Fakultät ein.
Im darauffolgenden Jahr verliebte sie sich in Ralph McCausland, der gleichfalls Jura studierte. Er war groß; mit seinen einsfünfundachtzig war er aber immer noch acht Zentimeter kleiner als sein Freund Anthony Dugan (der von seinen Freunden Butch, von seinen zwei oder drei engsten Freunden Monster genannt wurde), aber er überragte Ruth um gute dreißig Zentimeter. Für so einen großen Mann war er seltsam -beinahe absurd - anmutig und humorvoll obendrein. Er wollte Staatspolizist werden. Als Ruth ihn fragte, weshalb, sagte er, weil sein Vater einer gewesen war. Er brauchte kein juristisches Examen, um Polizist zu werden, erklärte er ihr; um Staatspolizist zu werden, genügten ein High-School-Abschluß, gute Augen, gute Reflexe und ein einwandfreies Führungszeugnis. Aber Ralph wollte mehr, als seinem Vater die Ehre erweisen, daß er in seine Fußstapfen trat. »Ein Mann, der sich auf einen Job vorbereitet und nichts dafür tut, daß er weiterkommt, ist entweder faul oder verrückt«, sagte er eines Abends bei einer Cola im Bear's Den zu Ruth. Er sagte ihr nicht, daß er hoffte, eines Tages Polizeichef von Maine zu werden, weil es ihm widerstrebte, von seinen Ambitionen zu sprechen. Aber Ruth wußte es auch so.
Sie akzeptierte Ralphs Heiratsantrag im darauffolgenden Jahr unter der Bedingung, daß er wartete, bis sie ihr Examen gemacht hatte. Sie wollte nicht als Juristin arbeiten, sagte sie zu ihm, aber sie wollte ihm helfen, wo sie konnte. Ralph willigte ein. Jeder vernünftige Mann, der Ruth Merrills reine, intelligente Schönheit sah, hätte eingewilligt. Als Ralph sie 1959 heiratete, war sie Anwältin.
Sie kam als Jungfrau in ihr Hochzeitsbett. Sie machte sich deswegen ein bißchen Sorgen, wenngleich nur ein tiefer Teil ihres Verstandes - ein Teil, über den nicht einmal sie ihre sonstige eiserne Kontrolle ausüben konnte-, es wagte, sich auf eine verschwommene Art Gedanken darüber zu machen, ob dieser Teil von ihm auch so groß war wie alles andere; manchmal, wenn sie tanzten oder sich küßten, fühlte er sich so an. Aber er war sanft, und sie erlebte nur einen kurzen Augenblick des Unbehagens, der sofort der Lust wich. »Mach mich schwanger«, flüsterte sie ihm ins Ohr, während er anfing, sich über ihr und in ihr zu bewegen.
»Mit Vergnügen, Lady«, sagte Ralph ein wenig atemlos.
Aber Ruth empfing nicht.
Ruth, das einzige Kind von John und Holly Merrill, erbte eine märchenhafte Geldsumme und ein prächtiges Haus in Haven Village, als ihr Vater 1962 starb. 1963 verkauften sie und Ralph ihr kleines Nachkriegsreihenhaus in Derry und zogen nach Haven. Zwar wollte keiner dem anderen etwas anderes eingestehen als uneingeschränktes Glück, aber sie waren sich doch beide deutlich bewußt, daß es in der alten Villa zu viele leere Zimmer gab. Vielleicht, dachte Ruth manchmal, kann es uneingeschränktes Glück nur geben, wenn es von kleinen Dissonanzen begleitet wird, zum Beispiel dem Zerschellen einer umgeworfenen Vase oder eines Goldfischglases; einem durchdringenden Jubelschrei, wenn man gerade in einen süßen Nachmittagsschlummer sinkt; ein Kind, welches an Halloween mit Süßigkeiten schwanger wird und in den frühen Morgenstunden des ersten November einen Alptraum gebiert. In ihren sehnsüchtigen Augenblicken (Ruth achtete darauf, daß es davon verdammt wenige gab) dachte sie manchmal an die mohammedanischen Teppichknüpfer, welche immer absichtlich einen Fehler in ihre Arbeit einarbeiteten, um damit dem vollkommenen Gott zu huldigen, der sie als weniger unfehlbare Geschöpfe erschaffen hatte. Mehr als einmal kam ihr der Gedanke, daß im Teppich eines erfüllten Lebens ein Kind einen so respektvollen Fehler garantierte.
Aber meistens waren sie glücklich. Sie bereiteten Ralphs schwierigste Fälle gemeinsam vor, und seine Aussagen vor Gericht waren immer leise, respektvoll und vernichtend. Es war einerlei, ob man ein betrunkener Fahrer war, ein Brandstifter oder ein Tunichtgut, der bei einer Kneipenprügelei einem anderen eine Bierflasche auf dem Schädel zertrümmert hatte. Wenn man von Ralph McCausland verhaftet wurde, dann standen die Chancen, daß man ungeschoren davonkam, ewa so wie die eines Mannes, der im Zentrum eines Atombombentests stand, nur ein paar Fleischwunden abzubekommen.
In den Jahren, während Ralph langsam, aber sicher die Karriereleiter der Maine State Police emporkletterte, begann Ruth ihre Karriere im Dienste der Stadt - nicht, daß sie darin jemals »Karriere« gesehen hätte, und ganz sicher sah sie darin nichts, was mit »Politik« zu tun hatte. Keine Stadtpolitik, sondern Dienst für die Stadt. Das war ein kleiner, aber entscheidender Unterschied. Freilich machte die Arbeit sie nicht so restlos glücklich, wie die Leute glaubten, mit denen sie zusammenarbeitete. Sie hätte ein Kind gebraucht, um die wahre Erfüllung zu finden. Daran war nichts Überraschendes oder Entwürdigendes. Schließlich war sie ein Kind ihrer Zeit, und nicht einmal die Intelligentesten sind gegen ein unablässiges Bombardement von Propaganda immun. Sie und Ralph waren bei einem Arzt in Boston gewesen, und nach eingehenden Untersuchungen versicherte er ihnen, daß sie beide fruchtbar waren. Er gab ihnen den Rat, sich zu entspannen. In gewisser Weise war das ein grausamer Befund. Wäre einer von ihnen steril gewesen, dann hätten sie ein Kind adoptiert. So beschlossen sie, eine Weile zu warten und den Rat des Arztes zu beherzigen... oder es zu versuchen. Und als sie anfingen, sich über eine Adoption zu unterhalten, hatte Ralph nicht mehr lange zu leben, auch wenn sie es beide nicht wußten oder auch nur ahnten.
In den letzten Jahren ihrer Ehe hatte Ruth eine Art eigener Adoption vorgenommen - sie adoptierte Haven.
Zum Beispiel die Bibliothek. Die Pfarrei der Methodisten war seit undenklichen Zeiten voller Bücher - ein Teil vom Detective Book Club oder Reader's-Digest-Auswahlbücher, von denen eindeutig Schimmelgeruch aufstieg, wenn man sie aufschlug; andere waren zur Größe von Telefonbüchern aufgequollen, als 1947 die Wasserrohre der Pfarrei geplatzt waren, aber die meisten waren in erstaunlich gutem Zustand. Ruth sortierte sie geduldig, behielt die guten, verkaufte die schlechten als Altpapier und warf nur diejenigen weg, an denen nichts mehr zu retten war. Im Dezember 1968 wurde die Bibliothek von Haven in der frisch gestrichenen und neu möblierten Methodistenpfarrei eröffnet, und Ruth McCausland war ehrenamtliche Bibliothekarin, eine Tätigkeit, die sie bis 1973 beibehielt. An dem Tag, als sie sich zurückzog, hängten die Treuhänder ein Foto von ihr über den Kamin im Lesesaal. Ruth protestierte, aber dann gab sie nach, als ihr klar wurde, daß sie sie ehren würden, ob sie diese Ehrung nun wollte oder nicht. Ihr wurde klar, daß sie ihre Gefühle verletzen, sie aber nicht von ihrem Vorgehen abhalten konnte. Sie mußten sie ehren. Die Bibliothek, die sie im Alleingang begründet hatte, wo sie in eine von Ralphs alten rotkarierten Jagdjacken eingemummt auf dem kalten Fußboden gesessen und geduldig Bücherkisten durchgesehen hatte, bis ihre Hände taub wurden und ihr Atem aus Mund und Nasenlöchern kondensierte, war im Jahre 1972 zu Maines Kleinstadtbibliothek des Jahres erklärt worden.
Unter anderen Umständen hätte sich Ruth darüber gefreut, aber 1972 und 1973 freute sie sich über sehr wenig. Ralph McCausland starb im Jahre 1972. Im Frühjahr fing er an, über heftige Kopfschmerzen zu klagen. Im Juni wurde ein großer Bluterguß im Auge sichtbar. Die Röntgenaufnahme zeigte einen Gehirntumor. Er starb im Oktober, zwei Tage vor seinem siebenunddreißigsten Geburtstag.
Im Bestattungsinstitut schaute Ruth lange in den offenen Sarg. Sie hatte im Lauf der vergangenen Woche fast ununterbrochen geweint, und sie vermutete, daß es in den nächsten Wochen und Monaten noch genügend Tränen zu vergießen gab - vielleicht ganze Ozeane. Aber sie hätte ebensowenig in der Öffentlichkeit geweint, wie sie dort nackt erschienen wäre. Allen Anwesenden (und das war praktisch fast jedermann) kam sie so gefaßt und ausgeglichen wie immer vor.
»Leb wohl, Liebling«, sagte sie schließlich und küßte ihn auf den Mundwinkel. Sie nahm den Polizeiring vom Mittelfinger seiner rechten Hand und schob ihn auf den Mittelfinger ihrer eigenen. Am nächsten T ag fuhr sie zu G. M. Pollock in Bangor und ließ ihn kleiner machen. Sie trug ihn bis zum Tag ihres Todes, und obwohl ihr bei ihrem gewaltsamen Tod der Arm von der Schulter gerissen werden sollte, hatten weder Bent noch Jingles Mühe, diesen Ring zu identifizieren.
2
Die Bibliothek war nicht der einzige Dienst, den Ruth der Stadt erwies. In jedem Herbst sammelte sie für die Krebshilfe, und in jedem der sieben Jahre, in denen sie das tat, brachte sie eine größere Summe zusammen, als in allen anderen vergleichbaren Städten von Maine gespendet wurde. Das Geheimnis ihres Erfolges war einfach: Ruth ging überall hin. Sie redete freundlich und furchtlos mit den Anwohnern anrüchiger Straßen, die buschige Brauen und tiefliegende Augen hatten und manchmal beinahe so gefährlich aussahen wie die knurrenden Hunde auf ihren mit den toten und verfallenden Leibern alter Autos und Landmaschinen vollgestopften Hinterhöfen. In den meisten Fällen erhielt sie Spenden. Vielleicht ließen sich einige vor Überraschung dazu verleiten, weil es so lange her war, daß jemand sie besucht hatte.
Sie wurde nur einmal von einem Hund gebissen. Aber das war der Erinnerung wert. Der Hund selbst war nicht groß, aber er hatte eine Menge Zähne.
MORAN, stand auf dem Briefkasten. Außer dem Hund war niemand zu Hause. Der Hund kam knurrend um das Haus herum, während sie klopfend vor der ungestrichenen Haustür auf der Veranda stand. Sie hielt ihm eine Hand hin, und Mr. Morans Hund biß unverzüglich hinein, dann wich er zurück und pinkelte vor Aufregung auf die Ve -randa. Ruth ging die Verandatreppe herab, holte ihr Taschentuch aus der Handtasche und wickelte es um ihre blutende Hand. Der Hund sprang hinter ihr her und biß sie noch einmal, diesmal ins Bein. Sie trat nach ihm, und er schreckte zurück, aber während sie auf ihren Dart zuhinkte, kam er hinter ihr her und biß sie ein drittes Mal. Das war der einzige ernste Biß. Mr. Morans Hund riß ein beachtliches Stück Fleisch aus ihrer linken Wade (an diesem Tag hatte sie einen Rock an; sie ging niemals wieder in einem Rock für die Krebshilfe sammeln), dann wich er in die Mitte von Mr. Morans unkrautüberwuchertem Rasen zurück, wo er sich knurrend und sabbernd niederließ und ihm Ruths Blut von der heraushängenden Zunge tropfte. Anstatt sich hinter das Steuer zu setzen, machte sie den Kofferraum des Dart auf. Sie hastete nicht. Wenn sie es tat, würde der Hund sie ziemlich sicher erneut angreifen. Sie holte die Remington .30-06 heraus, die sie besaß, seit sie sechzehn war. Sie erschoß den Hund, als er wieder auf sie zukam. Sie hob den Kadaver auf und legte ihn auf ausgebreitete Zeitungen in den Kofferraum, dann brachte sie ihn zu Dr. Daggett, dem Tierarzt in Augusta, der sich um Bobbis Hund Peter gekümmert hatte, bevor er die Praxis aufgab und nach Florida zog. »Wenn dieses Miststück Tollwut hatte, habe ich eine Menge Ärger«, sagte sie zu Daggett. Der Tierarzt sah von dem Hund, der eine Kugel direkt zwischen den glasigen Augen und nur noch ziemlich wenig Hinterkopf hatte, zu Ruth McCausland, die zwar gebissen worden war und blutete, ansonsten aber so gelassen wie immer war. »Ich weiß, ich habe nicht soviel von dem Gehirn zur Untersuchung übriggelassen, wie Ihnen wahrscheinlich lieb wäre, aber es war unvermeidlich. Würden Sie ihn sich ansehen, Dr. Daggett?« Er sagte ihr, daß sie zum Arzt müßte; die Wunden mußten desinfiziert und die Wade genäht werden. Daggett war für sein Naturell bemerkenswert aufgeregt. Ruth sagte ihm, daß er ihre Wunden ebensogut desinfizieren konnte. Und was das »Flickwerk«, wie sie es nannte, anbelangte, so wollte sie sofort in die Ambulanz des Derry Home gehen, nachdem sie ein paar Anrufe erledigt hatte. Sie bat ihn, den Hund zu untersuchen, während sie das tat, und fragte ihn, ob sie das Telefon in seinem Büro benutzen dürfte, um seine Patienten nicht zu beunruhigen. Eine Frau hatte geschrien, als Ruth eingetreten war, was eigentlich nicht überraschend war. Eines von Ruths Beinen war aufgerissen und blutig. Auf den blutüberströmten Armen trug sie den Kadaver von Morans Hund', der in eine Decke gewickelt war. Daggett sagte, daß sie das Telefon benutzen konnte. Das tat sie, und sie führte das erste als R-Gespräch und ließ die Gebühren für das zweite auf ihren Apparat anschreiben (sie bezweifelte, daß Mr. Moran ein R-Gespräch annehmen würde). Ralph war in Monster Dugans Haus und ging Fotos für eine bevorstehende Totschlag-Verhandlung durch. Monsters Frau bemerkte nichts Außergewöhnliches an Ruths Stimme und Ralph auch nicht; er sagte später zu ihr, daß sie einen hervorragenden Verbrecher abgegeben hätte. Sie sagte, sie hätte sich beim Sammeln für die Krebshilfe verspätet. Sie sagte ihm, wenn er vor ihr nach Hause käme, sollte er sich das Hackfleisch wärmen und sich etwas von diesem Pfannengemüse zubereiten, das er so gerne aß, im Gefrierschrankwaren noch sechs oder sieben Packungen. Außerdem, sagte sie, befand sich ein Kaffeekuchen im Brotkasten, falls er etwas Süßes wollte. Mittlerweile war Daggett in sein Büro gekommen und desinfizierte ihre Wunden, und Ruth war sehr blaß. Ralph wollte wissen, wieso sie sich verspätet hatte. Sie sagte, sie würde es ihm erzählen, wenn sie nach Hause käme. Ralph sagte ihr, daß er sich darauf freute und daß er sie liebte. Ruth sagte, ihre Gefühle wären genau die gleichen. Dann, während Daggett sich um die Bißwunde hinter dem Knie kümmerte (die Hand hatte er versorgt, während sie mit Ralph gesprochen hatte) und sich danach die tiefe Wunde an der Wade vornahm (sie konnte tatsächlich spüren, wie das verletzte Fleisch vor dem Alkohol zurückzuweichen schien), riefsie Mr. Moran an. Ruth sagte ihm, daß sein Hund sie dreimal gebissen hatte, und das war einmal zuviel gewesen, und daher hatte sie ihn erschießen müssen, und sie hatte die Spendenkarte in seinem Briefkasten gelassen, und die Krebshilfe würde ihm für jede Spende überaus dankbar sein. Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann fing Mr. Moran an zu sprechen. Bald fing Mr. Moran an zu schreien. Wenig später fing Mr. Moran an zu toben. Mr. Moran war so wütend, daß er beim Sprechen eine vulgäre Redegewandtheit demonstrierte, die nicht nur Poesie gleichkam, sondern gewissermaßen schon homerischen Versen. Etwas dergleichen gelang ihm niemals wieder in seinem Leben, aber wenn er es manchmal versuchte und scheiterte, dann dachte er voll trauriger, beinahe stolzer Sehnsucht an diese Unterhaltung zurück. Ruth hatte ihn in Höchstform gebracht, daran bestand kein Zweifel. Mr. Moran sagte ihr, sie könnte damit rechnen, auf jeden Dollar der Stadt verklagt zu werden, den sie besaß, und ein paar des Staates obendrein. Mr. Moran sagte, er würde vor Gericht gehen, und der beste Anwalt im County war sein Pokerkumpel. Mr. Moran versprach Ruth, daß die Kugel, mit der sie seinen armen Hund getötet hatte, die teuerste werden würde, die sie jemals in ihrem Leben abgefeuert hatte. Mr. Moran sagte, wenn er mit ihr fertig war, dann würde sie ihre Mutter dafür verfluchen, daß sie jemals die Beine für ihren Vater breit gemacht hatte. Mr. Moran sagte, ihre Mutter sei offensichtlich dumm genug gewesen, genau das zu tun, aber er konnte allein aus der Unterhaltung mit ihr ersehen, daß der größte Teil von ihr aus dem zweifellos unterentwickelten Pimmel ihres
Vaters gespritzt und an dem Stück Fleisch hinabgeflossen war, das ihre Mutter einen Schenkel nannte. Mr. Moran sagte ihr, daß die reiche und mächtige Ruth McCausland sich momentan vielleicht wie Königin Kacke vom Scheißhaufen fühlen mochte, sie aber bald herausfinden würde, daß sie nichts weiter war als ein kleines Klümpchen Scheiße, das in der großen Toilettenschüssel des Lebens schwamm. Mr. Moran fügte hinzu, in diesem speziellen Fall hätte er die Hand an der Spülung und beabsichtige, daran zu ziehen. Mr. Moran sagte noch eine Menge mehr. Mr. Moran redete nicht; er predigte. Prediger Colson (oder hieß er Cooder?) hätte auf der Höhe seiner Macht Mr. Moran an diesem Tag nichts Gleichwertiges entgegensetzen können. Ruth wartete geduldig, bis ihm zumindest vorübergehend die Spucke wegblieb. Dann sagte sie mit einer freundlichen und angenehmen Stimme, die nicht verriet, daß ihre Wade sich jetzt anfühlte, als würde sie im Ofen brennen, daß das Gesetz diesbezüglich nicht eindeutig war, daß aber bei Verletzungen durch Tiere der Besitzer weitaus häufiger zu Schadensersatz verurteilt wurde als der Besucher, auch wenn er unaufgefordert gekommen war. Die< Frage war, ob der Besitzer hinreichend dafür gesorgt hatte...
»Scheißdreck, wovon sprechen Sie?« schrie Moran.
»Ich versuche Ihnen zu sagen, daß die Gerichte wenig Verständnis für einen Mann aufbringen, der seinen Hund nicht anleint, so daß er eine Frau beißen kann, die für eine karitative Organisation wie die Krebshilfe sammelt. Mit anderen Worten, ich will Ihnen klarmachen, daß man Sie vor Gericht bezahlen lassen wird, weil Sie sich wie ein Arschloch verhalten haben.«
Verblüfftes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Mr. Morans Muse hatte sich für immer verzogen.
Ruth machte eine kurze Pause und kämpfte gegen einen Ohnmachtsanfall, während Daggett die Desinfektion beendete und eine leichte Binde über die Wunde wickelte. »Wenn Sie vor Gericht gehen, Mr. Moran, könnte mein Anwalt dann jemanden finden, der bezeugt, daß Ihr Hund schon früher Leute gebissen hat?«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Vielleicht zwei Leute?«
Wieder Schweigen.
»Vielleichtdrei...«
»Scher dich zum Teufel, du überkandidelte Fotze«, sagte Mr. Moran plötzlich.
»Nun«, sagte Ruth, »ich kann nicht sagen, daß es angenehm war, mit Ihnen zu reden, aber Ihnen zuzuhören, wie Sie Ihre Ansichten zum besten gegeben haben, war eindeutig lehrreich. Man denkt manchmal, man hat bis auf den Grund des Brunnens menschlicher Dummheit gesehen, daher ist es ab und zu nützlich, wenn man daran erinnert wird, daß dieser Brunnen offenbar keinen Grund hat. Ich fürchte, ich muß jetzt auflegen. Ich hatte gehofft, heute noch bei sechs Haushalten vorsprechen zu können, aber ich fürchte, das muß ich verschieben. Ich muß leider ins Derry Home Hospital und ein paar Stiche machen lassen.«
»Ich hoffe, die bringen Sie um«, sagte Moran.
»Ich verstehe. Aber Sie sollten trotzdem versuchen, der Krebshilfe zu helfen, wenn Sie können. Wir brauchen alle Hilfe, die wir bekommen können, wenn wir den Krebs noch zu unseren Lebzeiten besiegen wollen. Sogar übellaunige, großkotzige, idiotische, vernagelte Hurensöhne wie Sie können dazu ihren Teil beisteuern.«
Mr. Moran verklagte sie nicht. Eine Woche später kam jedoch die Spendenkarte der Krebshilfe zurück. Er hatte keine Briefmarke auf den Umschlag geklebt, absichtlich, vermutete sie, damit sie Nachgebühr entrichten mußte. Darin steckten außerdem ein Zettel und eine Eindollarnote mit einem großen braunen Fleck darauf. ICH HABE MIR DAMIT DEN ARSCH ABGEWISCHT, SIE DRECKSTÜCK! verkündete der Zettel triumphierend. Er war mit der großen krakeligen Handschrift eines Erstkläßlers mit motorischen Störungen geschrieben worden. Ruth hielt den Geldschein an einer Ecke und warf ihn zu der übrigen Wäsche in die Maschine. Als er wieder herauskam (sauber; Mr. Moran schien unter anderem auch nicht zu wissen, daß Scheiße abwaschbar ist), bügelte sie ihn. Danach war er nicht nur sauber, sondern auch steif; er hätte erst gestern von der Bank gekommen sein können. Sie warf ihn in den Segeltuchbeutel, in dem sie alles verwahrte, was sie gesammelt hatte. In ihr Kassenbuch trug sie ein: ß. Moran, Gespendete Summe: $ 1,00.
3
Die Bibliothek von Haven. Die Krebshilfe. Die New-England-Konferenz der Kleinstädte. Ruth diente Haven bei allem. Sie war außerdem in der Methodistenkirche aktiv; es gab selten ein Essen, bei dem nicht ein Gericht von Ruth McCausland dabei war, oder einen Basar, bei demkein Kuchen oder selbstgebackenes Brot von Ruth McCausland verkauft wurde. Sie hatte im Schulrat und im Schulbuchkomitee mitgearbeitet.
Die Leute sagten, sie wußten nicht, wie sie das alles machte. Wenn man sie direkt darauf ansprach, dann lächelte sie und sagte, daß sie der Überzeugung war, emsige Hände wären glückliche Hände. Man hätte vermuten können, daß sie bei all diesen Aktivitäten keine Zeit für Hobbies mehr haben würde... aber sie hatte sogar zwei. Sie las gerne (besonders gefielen ihr Bobbi Andersons Westernromane; sie besaß sie alle, mit handschriftlicher Widmung), und sie sammelte Puppen.
Ein Psychiater hätte Ruths Puppensammlung mit ihrem unerfüllten Wunsch nach Kindern gleichgesetzt. Ruth, die ansonsten nicht viel von Psychiatern hielt, hätte zugestimmt. Jedenfalls bis zu einem gewissen
Punkt. Aus welchen Gründen auch immer, sie machen mich glücklich hätte sie gesagt, wenn man sie auf den Standpunkt des Psychiaters hingewiesen haben würde. Und ich bin der Meinung, Glück ist das Gegenteil von Traurigkeit, Bitterkeit und Haß: Glück sollte so lange wie möglich unerforscht bleiben.
In den ersten Jahren in Haven teilten sie und Ralph sich ein Arbeitszimmer. Das Haus war so groß, daß jeder eines für sich selbst hätte haben können, aber sie waren abends gerne zusammen. Das große Arbeitszimmer hatte aus zwei Räumen bestanden, bevor Ralph die Zwischenwand herausgenommen und damit ein Zimmer geschaffen hatte, das sogar noch größer war als das Wohnzimmer unten. Ralph hatte seine Münz- und Streichholzschachtelsammlung, ein Bücherregal (Ralphs Bücher waren ausnahmslos Sachbücher, die meisten über Militärgeschichte) und einen alten Schreibtisch, den Ruth persönlich renoviert hatte.
Für Ruth machte er etwas, das sie beide als »das Schulzimmer« bezeichneten.
Etwa zwei Jahre bevor die Kopfschmerzen anfingen, sah Ralph, daß Ruth der Platz für ihre Puppen ausging (inzwischen saß sogar eine Reihe auf ihrem Schreibtisch, und manchmal fiel eine herunter, wenn sie tippte). Sie saßen auf dem Sessel in der Ecke, sie ließen ihre kleinen Beinchen nonchalant von den Fensterbänken herabbaumeln, und dennoch mußten Besucher manchmal drei oder vier davon auf den Schoß nehmen, wenn sie sich setzen wollten. Sie hatte eine Menge Besucher, das kam noch dazu; Ruth war zudem Notarin, und es kam oft jemand vorbei, um ein Dokument beglaubigen oder einen Schuldschein gegenzeichnen zu lassen.
Deshalb baute Ralph in diesem Jahr zu Weihnachten ein Dutzend kleine, kirchenbankähnliche Sitzgelegenheiten für ihre Puppen. Ruth war entzückt. Es erinnerte sie an das einzimmrige Schulhaus, das sie in Crosman Corner besucht hatte. Sie stellte die Bänke, in ordentlichen Reihen auf und setzte die Puppen darauf. Danach wurde dieser Teil von Ruths Arbeitszimmer nur noch das Schulzimmer genannt.
Zum nächsten Weihnachtsfest - seinem letzten, wenngleich er sich da noch prächtig fühlte und der Gehirntumor, der ihn schließlich umbringen sollte, erst ein mikroskopisch kleiner Punkt in seinem Gehirn war -schenkte Ralph ihr vier neue Bänke, drei neue Puppen und eine zu den Bänken passende Tafel. Mehr war nicht vonnöten, um eine freundliche Schulzimmeratmosphäre zu erzeugen.
Auf der Tafel standen die Worte: »Liebe Lehrerin, ich liebe Dich von ganzem Herzen - EIN HEIMLICHER VEREHRER.«
Erwachsene leßen sich von Ruths Schulzimmer verzaubern. Die meisten Kinder waren ebenfalls verzaubert, und Ruth freute sich immer, wenn Kinder - Jungen ebenso wie Mädchen - mit den Puppen spielten, obwohl viele wertvoll und einige der besonders alten sehr zerbrechlich waren. Einige Eltern wurden ziemlich nervös, wenn ihnen klar wurde, daß ihre Kinder mit einer Puppe aus dem vorkommunistischen China spielten oder mit einer, die der Tochter von Oberrichter John Marshall gehört hatte. Ruth war eine gütige Frau; wenn sie spürte, daß Eltern wirklich nervös wurden, wenn einem Kind ihre Puppen Freude bereiteten, dann holte sie eine Barbie und einen Ken hervor, die sie für solche Gelegenheiten aufbewahrte. Die Kinder spielten damit, aber unlustig, als wäre ihnen klar, daß die wirklich guten Puppen außer Reichweite gebracht worden waren. Wenn Ruth jedoch spürte, daß Eltern nur deshalb nein sagten, weil sie es irgendwie unhöflich fanden, daß ihre Kinder mit den Spielsachen der erwachsenen Dame spielten, dann machte sie ihnen klar, daß sie das überhaupt nicht störte.
»Haben Sie keine Angst, daß ein Kind einmal welche kaputtmacht?« hatte Mabel Noyes sie gelegentlich gefragt. Mabels Junque-A-Torium war gepflastert mit Schildern wie HÜBSCH ANZUSEHEN, HERRLICH ZU HALTEN, DOCH WER ES KAPUTTMACHT, DER MUSS ES BEHALTEN. Mabel wußte, daß die Puppe, die Richter Marshalls Tochter gehört hatte, mindestens sechshundert Dollar wert war - sie hatte einem Händler mit wertvollen Puppen in Boston ein Bild davon gezeigt, und er hatte vierhundert gesagt, daher ging sie davon aus, daß sechshundert ein fairer Preis war. Dann hatte sie eine Puppe, die Anna Roosevelt gehört hatte... eine echte haitianische Voodoopuppe... und Gott allein wußte, was sonst noch, und diese saßen Wange an Wange und Schenkel an Schenkel mit so gewöhnlichen alten Dingen wie Raggedy Arm und Andy.
»Nicht im geringsten«, hatte Ruth geantwortet. Sie fand Mabels Einstellung so unbegreiflich wie Mabel ihre. »Wenn Gott möchte, daß eine dieser Puppen zerbrochen wird, dann kann Er sie selbst zerbrechen, oder Er kann ein Kind schicken, es zu tun. Aber bislang hat noch kein Kind eine zerbrochen. Oh, es sind ein paar Köpfe gerollt, und Joe Pell hat etwas mit der Zugschnur in Mrs. Beasleys Rücken gemacht, so daß sie jetzt nur noch so etwas wie >Möchtest du duschen ?< sagt, aber mehr Schaden ist noch nicht angerichtet worden.«
»Ich bin trotzdem der Ansicht, daß Sie mit so zerbrechlichen, unersetzbaren Sachen ein ungeheures Risiko eingehen«, sagte Mabel. Sie schnaubte. »Manchmal glaube ich, ich habe in meinem ganzen Leben nur eines gelernt, nämlich, daß Kinder Sachen kaputtmachen.«
»Nun, vielleicht habe ich einfach Glück gehabt. Aber sie sehen sich wirklich vor. Ich glaube, weil sie sie lieben.« Ruth verstummte und runzelte ein wenig die Stirn. »Jedenfalls die meisten«, gab sie nach einem Augenblick zu.
Daß nicht alle Kinder mit den »Kindern im Schulzimmer« spielen wollten - daß manche sich regelrecht vor ihnen fürchteten-, war eine
Tatsache, die sie verwirrte und bekümmerte. Zum Beispiel die kleine Edwina Thurlow. Edwina war in schrille Schreie ausgebrochen, als ihre Mutter sie bei der Hand genommen und buchstäblich zu den ordentlichen Reihen der Puppen gezerrt hatte, die aufmerksam auf ihre Tafel blickten. Mrs. Thurlow fand, daß Ruths Puppen einfach das Reizendste waren, so putzig wie eine spielende Katze, so süß wie Schlagsahne; wenn es noch andere ländliche Klischees für »faszinierend« gab, dann hatte Mrs. Thurlow sie zweifellos auf Ruths Puppen angewendet, und es war ihr unmöglich, die Angst ihrer Tochter vor ihnen zu verstehen. Sie glaubte, Edwina wäre »nur schüchtern«. Ruth, die das unmißverständliche Funkeln der Angst in Edwinas Augen gesehen hatte, war es nicht gelungen, die Mutter (die Ruth für eine dumme, dickköpfige Frau hielt) davon abzuhalten, das Kind gewissermaßen auf die Puppen zu stoßen.
Norma Thurlow hatte also die kleine Edwina durch das Schulzimmer gezerrt, und die Schreie der kleinen Edwina waren so laut gewesen, daß Ralph vom Keller heraufgerannt war, wo er Stühle renoviert hatte. Es dauerte zwanzig Minuten, Edwina aus ihrer Hysterie zu locken, und natürlich mußte sie nach unten gebracht werden, weg von den Puppen. Norma Thurlow war krank vor Verlegenheit, und jedesmal, wenn sie einen finsteren Blick in Edwinas Richtung warf, wurde ihre Tochter von einem neuerlichen hysterischen Anfall geschüttelt.
Später an diesem Abend ging Ruth nach oben und betrachtete ihr Schulzimmer voll stummer Kinder (zu den »Kindern« gehörten so großmütterliche Gestalten wie Mrs. Beasley und Old Gammar Hood, aus dem, wenn man ihn umdrehte und etwas veränderte, der große böse Wolf wurde) und fragte sich, wie sie Edwina so viel Angst hatten einjagen können. Edwina selbst hatte es nicht erklären können, selbst die behutsamsten Fragen hatten lediglich zu neuen Entsetzensschreien geführt.
»Ihr habt dieses Kind wirklich unglücklich gemacht«, sagte Ruth schließlich leise zu den Puppen. »Was habt ihr mit ihr angestellt?«
Die Puppen sahen sie nur mit ihren Glasaugen, mit ihren Knopf augen, ihen gestickten Augen an.
»Und Hilly Brown traute sich auch nicht in ihre Nähe, als seine Mutter herüberkam, um sich den Kaufvertrag bestätigen zu lassen«, sagte Ralph hinter ihr. Sie drehte sich verblüfft um, dann lächelte sie.
»Ja, Hilly auch«, sagte sie. Und es waren noch andere gewesen. Nicht viele, aber genug, um sie zu beunruhigen.
»Kommt schon«, sagte Ralph und legte ihr einen Arm um die Taille. »Gesteht, ihr Bande. Welcher von euch Bösewichtern hat dem kleinen Mädchen angst gemacht?«
Die Puppen sahen ihn stumm an.
Und einen Augenblick... nur einen Augenblick.. - spürte Ruth, wie sich Angst in ihrem Magen entrollte und an der Wirbelsäule hinauf fortpflanzte, wo sie die Rippen wie bei einem Knochenxylophon zum Erklingen brachte... dann war es vorbei.
»Mach dir keine Sorgen, Ruthie«, sagte Ralph und drückte sie fester an sich. Wie immer regte sein Geruch sie ein wenig auf. Er küßte sie hart. Und sein Kuß war nicht das einzige Harte an ihm.
»Bitte«, sagte sie ein wenig atemlos und unterbrach den Kuß. »Nicht vor den Kindern.«
Er lachte und nahm sie in die Arme. »Wie wäre es dann vor den gesammelten Werken von Henry Steele Commager?«
»Wunderbar«, keuchte sie und stellte fest, daß sie bereits zur Hälfte... nein, zu drei Vierteln... nein, vier Fünfteln... ausgezogen war.
Er liebte sie heftig und mit großer Befriedigung für beide Teile. Alle Teile. Der Augenblick der Angst war vergessen.
Aber in diesem Jahr erinnerte sie sich am neunzehnten Juli an sie. Das Bild von Jesus hatte am siebten Juli angefangen, zu 'Becka Paulson zu sprechen. Am neunzehnten Juli fingen Ruth McCauslands Puppen an, zu ihr zu sprechen.
4
Die Einwohner der Stadt waren überrascht, aber erfreut, als sich die Witwe zwei Jahre nach Ralphs Tod im Jahre 1972 um das Amt der Stadtpolizistin von Haven bewarb. Ein junger Bursche namens Mum-phry trat gegen sie an. Dieser Bursche war ein Narr, darin waren sich die meisten einig, aber sie waren sich auch darin einig, daß er wahrscheinlich nichts dafür konnte; er war neu in der Stadt und wußte sich wahrscheinlich nicht zu benehmen. Diejenigen, die sich im Haven Lunch darüber unterhielten, stimmten darin überein, daß er wahrscheinlich mehr zu bedauern als zu tadeln war. Er kandidierte als Demokrat, und seine Argumentation schien darauf hinauszulaufen, daß der gewählte Polizist Trunkenbolde, Verkehrssünder und Tunichtgute verhaften mußte; von Zeit zu Zeit vielleicht sogar einen gefährlichen Kriminellen, den er dann ins County-Gefängnis schaffen mußte. Die Bürger von Haven würden doch sicher keine Frau in so ein Amt wählen, Juristin oder nicht, oder? Genau das taten sie. Das Stimmenverhältnis war McCausland 407, Mumphry 9. Man konnte annehmen, daß zu den neun Stimmen seine eigene, die seiner Frau, seines Bruders und seines dreiundzwanzigjähri-gen Sohnes gehörten. Blieben fünf ungeklärte Stimmen. Niemand machte je ein Aufhebens darum, aber Ruth selbst vermutete immer, daß Mr. Moran draußen am südlichen Stadtrand vier Freunde hatte, von denen sie nichts wußte. Drei Monate nach der Wahl zogen Mumphry und seine Frau aus Haven weg. Sein Sohn, ein netter Bursche namens John, entschied sich zu bleiben, aber selbst nach vierzehn Jahren wurde er noch häufig als »der Neue« bezeichnet, etwa: »Dieser Neue, Mum-phry, kommt heute morgen vorbei, um sich die Haare schneiden zu lassen; erinnerst du dich noch, wie sein Alter Herr gegen Ruth angetreten ist und böse die Hucke vollbekam?« Seither hatte Ruth keinen Gegenkandidaten mehr gehabt.
Die Stadtbewohner hatten ihre Kandidatur zutreffend als öffentliche Erklärung interpretiert, daß ihre Trauerzeit nun vorbei war. Eine Sache (von vielen), die der unglückliche Mumphry nicht verstanden hatte, war die, daß der Erdrutschsieg bei der Wahl zumindest teilweise Havens Art war, zu rufen: »Hurra, Ruth, schön, daß du wieder da bist!«
Ralphs Tod war plötzlich und schockierend gewesen, und es fehlte nicht viel daran - verdammt wenig sogar-, daß er den Teil in ihr abtötete, der großzügig und gütig war. Sie wußte, daß dieser Teil den dominierenden Part ihrer Persönlichkeit besänftigte und im Zaum hielt. Dieser dominierende Part war verschlagen, listig, logisch und - wenngleich sie es ungern zugab, sie wußte es dennoch - manchmal hartherzig.
Sie kam zu der Überzeugung, wenn sie die großzügige, gütige Seite ihrer Persönlichkeit sterben ließ, dann wäre das so, als würde sie Ralph ein zweites Mal töten. Und deshalb kam sie nach Haven zurück.
In einer Kleinstadt kann schon ein derartiger Mensch eine gravierende Veränderung des Klimas und dessen bewirken, was die Wortgewandten gerne die »Lebensqualität« nennen; ein derartiger Mensch kann sogar zum Herzen der Stadt werden. Ruth war auf bestem Wege gewesen, ein derart unschätzbarer Mensch zu werden, als ihr Mann starb. Zwei Jahre später - nach einer Zeit, die ihr in der Rückschau wie ein langer, trostloser Aufenthalt in der Hölle vorkam - hatte sie diesen unschätzbaren Menschen wiederentdeckt, ungefähr so, wie man in einer alten dunklen Dachbodenecke etwas Hübsches wiederfmden kann - ein Kaleidoskop oder einen dekorativen Schaukelstuhl, der noch brauchbar ist. Man hält ihn ans Licht, vergewissert sich, daß er heil ist, staubt ihn ab, poliert ihn auf und bringt ihn wieder zum Leben. Die Kandidatur zur Stadtpolizistin war nur der erste Schritt gewesen. Sie konnte nicht sagen, weshalb es ihr so richtig erschien, aber das war es - es schien die perfekte Lösung zu sein, einerseits Ralphs zu gedenken und andererseits damit fortzufahren, sie selbst zu sein. Sie stellte sich vor, daß die Arbeit wahrscheinlich langweilig und uninteressant sein würde, aber das waren auch die Spendensammlungen für die Krebshilfe und die Arbeit im Schulbuchkomitee gewesen. Langweilig und uninteressant bedeutete nicht, daß eine Arbeit nutzlos war, ein Sachverhalt, den die meisten Menschen nicht zu wissen oder wissentlich zu ignorieren schienen. Und, sagte sie sich, wenn es ihr wirklich keinen Spaß machte, dann konnte kein Gesetz sie zwingen, sich zur Wiederwahl zu stellen. Sie wollte helfen, nicht, sich zum Märtyrer machen. Wenn ihr die Arbeit zuwider war, dann würde sie Mumphry oder sonstwem seine Chance lassen.
Aber Ruth stellte fest, daß ihr die Arbeit Spaß machte. Zunächst einmal gab sie ihr die Möglichkeit, mit einigen der üblen Zustände aufzuräumen die der alte John Harley geduldet und gegen deren Ausufern er nichts unternommen hatte.
Zum Beispiel Del Cullum. Die Cullums lebten schon seit undenklichen Zeiten in Maine, und Delbert - ein Automechaniker mit buschigen Brauen, der in Elt Barkers Shell-Tankstelle arbeitete - war wahrscheinlich nicht der erste von ihnen, der sexuellen Umgang mit seinen Töchtern pflegte. Die Ahnenreihe der Cullums war unglaublich verworren und inzüchtig; Ruth wußte von mindestens zwei schwachsinnigen Cullums in Pineland (wollte man dem Klatsch im Ort glauben, war einer davon mit Schwimmhäuten zwischen Fingern und Zehen zur Welt gekommen).
Inzest gehört zu jenen von der Zeit geheiligten ländlichen Traditionen, über die die romantischen Dichter selten schreiben. Dieser traditionelle Aspekt mag der Grund dafür gewesen sein, daß John Harley niemals ernsthaft versucht hatte, dem ein Ende zu bereiten, aber Ruth war nicht bereit, »Tradition« in einer so grotesken Ausprägung gelten zu lassen. Sie stattete den Cullums einen Besuch ab. Es wurde laut. Albion Turlow hörte das Brüllen ganz deutlich, obwohl er eine Viertelmeile entfernt wohnte und auf einem Ohr taub war. Dem Brüllen folgte das Geräusch einer angeworfenen Motorsäge, diesem wiederum ein Schuß und ein Schrei. Dann verstummte die Motorsäge, und Albion, der mittlerweile auf der Straße stand und mit einer Hand die Augen abschirmte, während er zum Haus der Cullums sah, hörte Mädchenstimmen (Delbert war mit dem Fluch von Mädchen geschlagen, sechs Mädchen, und diese waren natürlich buchstäblich sein Fluch und er ihrer), die aufgeregt durcheinanderschrien.
Als Albion später im Haven Lunch die Geschichte einem faszinierten Publikum erzählte, sagte er, er hätte daran gedacht, ins Haus zurückzugehen und die Polizistin anzurufen... aber dann war ihm klargeworden, daß wahrscheinlich sie den. Schuß abgefeuert hatte.
Statt dessen blieb Albion neben seinem Briefkasten stehen und wartete, wie sich die Dinge entwickeln würden. Etwa fünf Minuten nachdem die Motorsäge verstummt war, fuhr Ruth McCausland in die Stadt zurück. Fünf Minuten danach fuhr Del Cullum mit seinem Pritschenwagen vorbei. Seine abgehärmte Frau saß auf dem Beifahrersitz. Auf der Lastfläche befanden sich ein paar Kartons mit Geschirr und Kleidung und eine alte Matratze. Delbert und Maggie Cullum wurden nie wieder in Haven gesehen. Die drei Mädchen der Cullums, die über achtzehn waren, gingen nach Derry und Bangor zur Arbeit. Die drei minderjährigen wurden in Waisenhäuser gebracht. Die meisten Bewohner von Haven waren froh, daß die Familie Cullum zerschlagen worden war. Sie hatte dort am Ende der Ridge Road wie giftige Pilze in einem dunklen 278
Keller gewuchert. Man spekulierte darüber, was Ruth getan hatte und wie sie es getan hatte, aber sie selbst sprach nie darüber.
Und die Cullums waren nicht die einzigen, die Ruth McCausland ergrauend, schlank, einen Meter sechsundfünfzig groß und hundertfünfundzwanzig Pfund schwer, entweder aus der Stadt vertrieb oder im Laufe der Jahre einsperren ließ. Da waren zum Beispiel die haschrauchenden Hippies, die eine Meile östlich von der alten Frank-GarrickFarm einzogen. Diese wertlosen, von Filzläusen wimmelnden Ausreden für Menschen kamen in einem Monat und wurden im nächsten durch Ruths Stiefel der Größe sechsunddreißig wieder hinausbefördert. Franks Nichte, die die Bücher schrieb, rauchte wahrscheinlich auch von Zeit zu Zeit etwas Hasch, glaubte man in der Stadt (in der Stadt glaubte man; daß alle Schriftsteller Hasch rauchen, übermäßig trinken oder ihre Abende mit Sex in außergewöhnlichen Stellungen verbringen), aber sie handelte nicht damit, und die Hippies weiter unten an der Straße hatten genau das getan.
Dann waren da die Jorgensons an der Miller Bog Road Benny Jorgen-son erlag einem Herzschlag, und Iva heiratete drei Jahre später wieder und wurde Iva Haney. Nicht lange danach kam es bei ihrem siebenjährigen Sohn und ihrer fünfjährigen Tochter zu seltsamen Unfällen. Der Junge stürzte, als er aus der Badewanne stieg; das Mädchen verbrannte sich den Arm am Herd. Dann rutschte der Junge auf dem feuchten Küchenboden aus und brach sich den Arm, das Mädchen trat auf einen halb im Laub verborgenen Rechen, dessen Stiel hochschnellte und sie auf die Stirn traf. Schließlich stürzte der Junge beim Brennholzholen die Kellertreppe hinab und holte sich einen Schädelbruch. Eine W eile sah es so aus, als würde er nicht durchkommen. Wahrhaftig eine Pechsträhne.
Ruth kam zu der Überzeugung, daß die Pechsträhne im Haus der Haneys lange genug gedauert hatte.
Sie fuhr mit ihrem alten Dodge Dart hinaus und traf Eimer Haney auf der Veranda; er trank eine Flasche Miller Lite, bohrte in der Nase und las das Saldier of Fortune-Magazin. Ruth deutete Eimer an, daß er das Pech in Ivas Haus war, ganz besonders für Bethie und Richard Jorgenson. Ihr war schon aufgefallen, sagte sie, daß manche Stiefväter ein großes Pech für ihre Stiefkinder waren. Sie sagte, die Pechsträhne würde möglicherweise sehr rasch aufhören, wenn Eimer Haney die Stadt verließ. Ziemlich bald. Noch vor Ende der Woche.
»Mir machen Sie keine Angst«, sagte Eimer Haney gelassen. »Dies ist jetzt mein Haus. Und Sie verschwinden besser, bevor ich Ihnen mit einem Scheit Feuerholz einen Scheitel ziehe, Sie aufdringliche Schlampe.«
»Denken Sie darüber nach«, sagte Ruth lächelnd.
Diesmal hatte Joe Paulson am Briefkasten gestanden und alles mit angehört - Eimer hatte die Stimme erhoben gehabt, und Joe hörte recht gut. Joe erzählte später im Haven Lunch, daß er am Briefkasten gestanden und Post sortiert hatte, und irgendwie hatte er sie einfach nicht richtig sortieren können, bevor die Unterhaltung zu Ende war.
»Woher weißt du dann, daß sie gelächelt hat?« hatte Elt Barker gefragt.
»Habe ich ihrer Stimme angehört«, hatte Joe geantwortet.
Später am selben Tag war Ruth zum Gebäude der Staatspolizei in Derry gefahren und hatte mit Butch »Monster« Dugan gesprochen. Mit seiner Größe von einsneunzig und zweihundertundachtzig Pfund Lebendgewicht war Monster der größte Staatspolizist in New England. Außer Mord (und vielleicht selbst das) hätte Monster für Ralphs Witwe alles getan.
Zwei Tage später fuhren sie erneut zu Haney. Monster hatte seinen freien Tag und trug Zivil. Iva Haney war auf der Arbeit. Bethie war in der Schule. Richard war natürlich immer noch im Krankenhaus. Eimer Haney, der natürlich immer noch arbeitslos war, saß auf der Veranda eine Flasche Miller Lite in einer und die neueste Ausgabe von Hot Talk in der anderen Hand. Ruth und Monster Dugan blieben ungefähr eine Stunde lang bei ihm. Während dieser Stunde hatte Eimer Haney eine ganz außerordentliche Pechsträhne. Diejenigen, die sahen, wie er an diesem Abend die Stadt verließ, sagten, er hätte ausgesehen, als wäre er in eine Häckselmaschine gefallen, aber der einzige, der sich getraute zu fragen, was wirklich geschehen war, war der alte John Harley selbst.
»So etwas Merkwürdiges«, sagte Ruth, »habe ich noch nie erlebt. Während wir ihn davon zu überzeugen versuchten, daß seine Stiefkinder vielleicht glücklicher dran wären, wenn er verschwände, wollte er duschen. Während wir mit ihm sprachen! Und stellen Sie sich vor, in der Badewanne ist er dann gestürzt. Dann hat er sich am Herd den Arm verbrannt und ist auf dem Linoleum ausgerutscht, als er zurückwich! Daraufhin beschloß er, daß er frische Luft brauchte, daher ging er nach draußen und trat auf denselben Rechen, auf den vor zwei Monaten die kleine Bethie Jorgenson getreten ist, und da hat er beschlossen, zu packen und zu verschwinden. Ich glaube, damit hatte er recht, der arme Mann. Anderswo wird er glücklicher leben.«
5
Sie war wirklich der Mensch, den man am ehesten als »Herz der Stadt« bezeichnen konnte, und vielleicht war sie deshalb eine der ersten, der die Veränderungen auffielen.
Es begann mit Kopfschmerzen und schlechten Träumen.
Die Kopfschmerzen begannen im Monat Juli. Manchmal waren sie so schwach, daß sie sie kaum bemerkte. Dann schwollen sie ohne Vorwarnung zu einem lauten, pochenden Rhythmus hinter ihrer Stirn an In der Nacht des vierten Juli waren sie so schlimm, daß sie Christina McKeen anrief, mit der sie zum Feuerwerk nach Bangor hatte fahren wollen, und absagte.
Als sie an diesem Abend zu Bett ging, war es draußen noch hell, aber als sie endlich einschlafen konnte, war es dunkel geworden. Sie nahm an daß die schwüle Hitze sie wach hielt - sie hielt in dieser Nacht vermutlich viele Leute in New England wach, und dies war nicht die erste Nacht, in der solches Wetter herrschte. Es war einer der ruhigsten, heißesten Sommer seit Menschengedenken.
Sie träumte von Feuerwerk.
Aber dieses Feuerwerk war nicht rot und weiß und leuchtend orange, sondern von einem stumpfen, gräßlichen Grün. Es explodierte in Lichtgarben am Himmel... aber diese erloschen nicht, sondern wuchsen am Firmament zu riesigen Geschwüren zusammen.
Sie sah sich um und erblickte Leute, die sie ihr ganzes Leben lang gekannt hatte - Harleys und Crenshaws und Browns und Duplisseys und Andersens und Clarendons-, die mit Gesichtern von faulig schlammgrüner Farbe zum Himmel emporschauten. Sie standen vor der Post, dem Drugstore, dem Junque-A-Torium, dem Haven Lunch, der Northern National Bank; sie standen vor der Schule und vor der ShellTankstelle, und in ihren Augen leuchtete grünes Feuer, ihre Münder standen idiotisch offen.
Die Zähne fielen ihnen aus.
Justin Hurd drehte sich grinsend zu ihr um, die zurückgezogenen Lippen entblößten rosa Zahnfleis ch. Im verrückten Licht ihres Traums sah der Speichel auf diesem Zahnfleisch wie Rotz aus.
»Ischt toll«, lispelte Justin, und sie dachte: Mach, daß du ^ fortkommst! Sie müssen alle sofort aus der Stadt heraus! Wenn sie es nicht tun, dann werden sie auf die gleiche Weise sterben wie Ralph!
Jetzt kam Justin auf sie zu, und sie sah mit zunehmendem Entsetzen, daß sich sein Gesicht veränderte und schrumpfte - es wurde zu dem aufgedunsenen gestickten Gesicht von Lumpkin, ihrer Vogelscheuchenpuppe. Sie sah sich hektisch um und stellte fest, daß sich alle in Puppen verwandelt hatten. Mabel Noyes drehte sich um und sah sie an, und Ma-bels blaue Augen waren so berechnend und habgierig wie immer, aber ihre Lippen waren zum Amorsbbgenlächeln einer Porzellanpuppe verzogen.
» Tommy knockersch«, lispelte Mabel mit dröhnender, hallender Stimme, und Ruth erwachte stöhnend und mit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit.
Ihre Kopfschmerzen waren weg, wenigstens vorübergehend. Sie erwachte aus dem Traum, war sofort hellwach und dachte: Ruth, du mußt die Stadt sofort verlassen. Du hast nicht einmal Zeit, einen Koffer zu packen ~ zieh dir nur etwas an, steig in den Dart und VERSCHWINDE!
Aber das konnte sie nicht.
Statt dessen legte sie sich wieder hin. Nach langer Zeit schlief sie wieder ein.
6
Als die Meldung kam, daß das Haus der Paulsons in Flammen stand, rückte die Freiwillige Feuerwehr von Haven aus, aber sie ließ sich erstaunlich viel Zeit. Ruth war zehn Minuten vor dem ersten Löschfahrzeug dort. Sie hätte Dick Allison den Kopf abgerissen, als er endlich auftauchte, aber sie wußte, daß beide Paulsons tot waren - und das hatte Dick Allison natürlich auch gewußt. Darum hatte er sich nicht die Mühe gemacht, sich zu beeilen, aber deshalb fühlte Ruth sich kein bißchen besser.
Ganz im Gegenteil.
Dieses Wissen. Was genau war das?
Ruth wußte nicht, was es war.
Es war ihr nicht einmal möglich, die Tatsache des Wissens zu ergründen. Am Tag, an dem das Haus der Paulsons niederbrannte, wurde Ruth klar, daß sie schon seit einer Woche Dinge wußte, die sie eigentlich gar nicht wissen durfte. Aber es schien so natürlich zu sein! Es kam nicht mit Pauken und Trompeten. Das Wissen war ebenso Teil von ihr - inzwischen von jedermann in Haven - wie ihr Herzschlag. Daher dachte sie ebensowenig darüber nach wie über ihren Herzschlag, der leise und stetig in ihren Ohren tönte.
Aber sie mußte darüber nachdenken, nicht? Weil es Haven veränderte - und die Veränderungen nicht gut waren.
7
Einige Tage vor David Browns Verschwinden wurde Ruth mit dumpfer, aufdämmernder Bestürzung bewußt, daß sie von der Stadt geächtet wurde. Niemand spuckte sie an, wenn sie morgens von ihrem Haus zu ihrem Büro im Rathaus ging... niemand warf mit Steinen... sie spürte immer noch viel von der alten Freundlichkeit in ihren Gedanken... aber sie wußte, daß die Leute sich nach ihr umdrehten, wenn sie vorüberging. Sie ging mit erhobenem Kopf und gelassenem Gesicht, als würde ihr Kopf nicht pochen und pulsieren wie ein fauler Zahn, als hätte sie nicht die Nacht zuvor (und die vor dieser und die davor und...) damit verbracht, sich im Bett hin und her zu werfen, einzudösen und schreckliche, nur halb erinnerte Träume zu haben und sie mühsam wieder abzuschütteln.
Sie beobachteten sie... beobachteten sie und warteten darauf
Worauf?
Aber sie wußte es: Sie warteten darauf, daß sie »werden« würde.
8
In der Woche zwischen dem Brand bei Paulsons und Hillys ZWEITER
GALA-ZAUBERVORSTELLUNG wurde es schlimmerfürRuth.
Die Post. Das war eine Sache.
Sie bekam weiterhin Rechnungen und Rundschreiben und Kataloge, aber keine Briefe. Keine persönliche Post. Nach drei Tagen ging sie zum Postamt. Nancy Voss stand lediglich wie ein Sack hinter dem Schalter und sah sie ausdruckslos an. Als Ruth ausgeredet hatte, glaubte sie, buchstäblich das Gewicht des Blickes der Voss spüren zu können. Es war, als lägen zwei staubige Steine auf ihrem Gesicht.
In der eintretenden Stille konnte sie hören, wie im Büro etwas summte und Laute von sich gab, die an eine Spinne erinnerten. Sie hatte keine Ahnung, was es war,
(davon abgesehen, daß es ihre Post sortierte)
aber die Laute gefielen ihr nicht. Und es gefiel ihr nicht, mit dieser Frau hier zu sein, denn sie hatte mit Joe Paulson geschlafen und 'Becka gehaßt und...
Draußen war es heiß. Hier drinnen war es noch heißer. Ruth spürte, wie ihr am ganzen Körper der Schweiß ausbrach.
»Sie müssen einen Suchantrag ausfüllen«, sagte Nancy Voss mit langsamer, tonloser Stimme. Sie schob eine weiße Karte über den Tresen. »Hier.« Sie zog die Lippen zu einem humorlosen Grinsen zurück. Ruth sah, daß die Frau die Hälfte ihrer Zähne verloren hatte.
Hinter ihnen, in der Stille: Kratz-kratz, kritz-kratz, kratz-kratz, kritz-kratz.
Ruth begann, das Formular auszufüllen. Der Schweiß bildete dunkle Ringe unter den Achseln ihres Kleides. Draußen brannte die Sonne unablässig auf den Parkplatz der Post herunter. Achtunddreißig im Schatten, mindestens, und kein Windhauch, und Ruth wußte, der Asphalt des Parkplatzes würde so weich sein, daß man ein Stück davon mit dem Finger wegreißen konnte, wenn man wollte, um darauf herumzukauen...
Trogen Sie die Art Ihres Problems ein, stand auf dem Formular.
Ich werde verrückt, dachte sie, das ist die Art meines Problems. Außerdem habe ich meine erste Blutung seit drei ]ahren.
Mit fester Handschrift schrieb sie, daß sie seit über einer Woche keine Privatpost mehr bekommen hatte und wollte, daß man der Sache nachging-
Kratz-kratz, kritz-kratz.
»Was ist das für ein Geräusch?« fragte sie, ohne von dem Formular aufzusehen. Sie hatte Angst davor, aufzusehen.
»Postsortiermaschine«, brummte Nancy. »Ich habe sie erfunden.« Pause. »Aber das wissen Sie doch, Ruth.«
»Wie kann ich das wissen, bevor Sie es mir gesagt haben?« fragte Ruth; sie mußte sich mit Gewalt zu einem freundlichen Ton zwingen. Der Kugelschreiber, den sie hielt, zitterte und machte Kleckse auf das Formular - was einerlei war; ihre Post kam nicht an, weil Nancy Voss sie hinauswarf. Ein Teil von ihr wußte auch das. Aber Ruth war stark; ihr Gesicht blieb offen und fest. Sie sah Nancy Voss direkt in die Augen, wenngleich sie sich vor dem staubigen schwarzen Blick fürchtete und vor seinem Gewicht.
Los doch, sprich es aus, sagte Ruths Blick. Ich habe keine Angst vor deinesgleichen. Sprich ... aber wenn du erwartest, daß ich quietschend wie eine Maus davonlaufe, dann mach dich auf eine Überraschung gefaßt.
Nancys Blick wurde unsicher, dann schlug sie die Augen nieder. Sie wandte sich ab. »Rufen Sie mich, wenn Sie die Karte ausgefüllt haben«, sagte sie. »Ich habe zuviel Arbeit, um nur hier herumzustehen und Volksreden zu halten. Seit Joe tot ist, türmt sich die Arbeit zu Bergen. Wahrscheinlich kommt Ihre Post
(VERSCHWINDE AUS DER STADT DU MISTSTÜCK VERSCHWINDE SOLANGE WIRDICHNOCH GEHENLASSEN]
deshalb nicht pünktlich, Missis McCausland.«
»Glauben Sie?« Jetzt kostete es sie eine übermenschliche Anstrengung, ihre Stimme freundlich und angenehm zu halten. Nancys Gedanke hatte sie wie ein Kinnhaken getroffen. Er war so hell und klar wie ein Blitzschlag gewesen. Sie blickte auf das Formular und sah einen großen schwarzen
(Tumor)
Klecks, der sich darauf ausbreitete. Sie knüllte es zusammen und warf es weg.
Kritz-kritz-kratz.
Die Tür hinter ihr ging auf. Sie drehte sich um und sah Bobbi Anderson hereinkommen.
»Hallo, Bobbi«, sagte sie.
»Hallo, Ruth.«
(geh weg sie hat recht geh weg solange du noch kannst solange man es dir erlaubt bitte Ruth die meisten von uns wollen dir nichts Böses)
»Arbeitest du an einem neuen Roman, Bobbi?« Ruth konnte das Zittern ihrer Stimme nun kaum noch verbergen. Gedanken zu hören war schlimm - man hatte das Gefühl, man wäre verrückt und litte unter Halluzinationen. Und dann so etwas von Bobbi Anderson zu hören,
(solange man es dir erlaubt)
ausgerechnet, wo sie doch die netteste Person war...
Ich habe nichts dergleichen gehört, dachte sie und klammerte sich mit einer Art matter Inbrunst an diesen Gedanken. Ich habe mich geirrt, das ist alles.
Bobbi öffnete ihr Postfach und holte ein Bündel Briefe heraus. Sie sah sie an und lächelte. Ruth bemerkte, daß sie unten links einen Backenzahn und oben rechts einen Schneidezahn verloren hatte. »Es wäre besser, wenn du gingest, Ruth«, sagte sie sanft. »Steig einfach ins Auto und fahr los. Meinst du nicht?«
Dann spürte Ruth, wie sie ruhiger wurde - trotz ihrer Angst und ihrer pochenden Kopfschmerzen wurde sie ruhiger.
»Niemals«, sagte sie. »Dies ist meine Stadt. Und wenn du weißt, was hier vor sich geht, dann sag allen anderen, die es auch wissen, sie sollen mich nicht drängen. Ich habe Freunde außerhalb von Haven, Freunde, die mir aufmerksam zuhören werden, einerlei, wie verrückt sich das, was ich zu sagen habe, auch anhören mag. Sie würden um meines toten Mannes willen zuhören, wenn nicht um meiner selbst willen. Und was dich anbelangt, du solltest dich schämen. Das ist auch deine Stadt. Jedenfalls war sie das.«
Einen Augenblick bildete sie sich ein, Bobbi sähe verwirrt und ein wenig beschämt aus. Dann lächelte sie sonnig, und in diesem kleinmädchenhaften Zahnlückenlächeln lag etwas, das Ruth mehr Angst machte als alles andere. Es war ebensowenig menschlich wie das Grinsen einer Forelle. Sie sah Bobbi in den Augen dieser Frau, und sie hatte sie eindeutig in ihren Gedanken gespürt... aber das Lächeln hatte nichts von Bobbi an sich.
»Wie du meinst, Ruth«, sagte sie. »Alle in Haven haben dich gern, das weißt du. Ich glaube, in ein oder zwei Wochen... höchstens drei... wirst du aufhören zu kämpfen. Ich dachte nur, ich sollte dich auf diese Möglichkeit hinweisen. Aber wenn du bleiben möchtest, soll es uns auch recht sein. Noch eine Weile, dann wird mit dir... alles in Ordnung sein.«
9
Bei Cooder's wollte sie Tampax kaufen. Es gab keine. Kein Tampax, keine Modess, keine Stayfree Maxis oder Minis, keine Binden oder Tampons
Ein handgeschriebenes Schild verkündete: NEUE LIEFERUNG KOMMT MORGEN. WIR BITTEN, UNANNEHMLICHKEITEN ZU ENTSCHULDIGEN
10
Am Freitag, dem fünfzehnten Juli, fingen die Probleme mit ihrem Bürotelefon an.
Am Morgen war es nur ein ärgerlich lautes Summen, das Ruth und ihr Gesprächspartner übertönen mußten. Am Mittag war ein knisterndes Geräusch dazugekommen. Um zwei Uhr war es so schlimm geworden, daß das Telefon nutzlos war.
Als sie nach Hause kam, stellte sie fest, daß das Telefon dort überhaupt keine Geräusche von sich gab. Es war vollkommen tot. Sie ging nach nebenan zu den Fannins, um die Störungsstelle der Telefongesellschaft anzurufen. Wendy Fannin machte Brot in der Küche, sie knetete einen Klumpen Teig, während die Küchenmaschine einen weiteren durcharbeitete.
Zu matt, um wirklich überrascht zu sein, stellte Ruth fest, daß die Maschine nicht an die Steckdose angeschlossen war, sondern an etwas, das wie ein offengelegtes Elektronikspiel aussah. Es erzeugte ein starkes Glühen, während es Wendys Brotteig durcharbeitete.
»Natürlich kannst du das Telefon benutzen«, sagte Wendy. »Du weißt,
(verschwinde Ruth verschwinde aus Haven)
wo es ist, nicht?«
»Ja«, sagte sie. Sie ging zur Diele, blieb dann aber stehen. »Ich war bei Cooder's. Ich brauchte ein paar Binden, aber sie waren alle ausverkauft.«
»Ich weiß.« Wendy lächelte und entblößte drei Zahnlücken in einem Gebiß, das noch vor einer Woche makellos gewesen war. »Ich habe die vorletzte Packung gekauft. Es wird bald vorbei sein. Wir werden etwas mehr >werden<, und dann wird dieser Teil vorüber sein.«
»Ist das so?« sagte Ruth.
»O ja«, sagte Wendy und wandte sich wieder ihrem Brot zu.
Das Telefon der Fannins funktionierte ausgezeichnet. Das überraschte Ruth nicht. Das Mädchen von New England Contel sagte, sie würden sofort einen Mann vorbeischicken. Ruth bedankte sich, und beim Hinausgehen bedankte sie sich auch bei Wendy Fannin.
»Gern geschehen«, sagte Wendy lächelnd. »Was immer du willst, Ruth. Alle in Haven haben dich gern, du weißt das doch.«
Ruth zitterte trotz der Hitze.
Der Telefonwartungsdienst kam und machte etwas an der Leitung neben Ruths Haus. Dann führte er einen Test durch. Das Telefon funktionierte einwandfrei. Die Leute fuhren weg. Eine Stunde später funktionierte das Telefon nicht mehr.
An diesem Abend spürte sie auf der Straße ein zunehmendes Flüstern von Stimmen in ihrem Kopf - Gedanken so leicht wie Herbstlaub, das von einem sanften Oktoberwind kurz zum Rascheln gebracht wird.
(unsere Ruth wir lieben dich ganz Haven liebt)
(wenn du hierbleibst niemand will dir etwas tun Ruth also geh oder bleib hier)
(ja geh oder bleib hier aber laß uns)
(ja laß uns in Ruhe Ruth mische dich nicht ein laß uns)
(laß uns »werden« ja laß uns »werden« laß uns in Ruhe damit wir »werden« können)
Sie ging langsam, und in ihrem Kopf pulsierten die Stimmen.
Sie sah ins Haven Lunch hinein. Beach Jernigan, der Imbißkoch, hob grüßend eine Hand. Ruth ebenfalls. Sie sah, wie sich Beachs Mund bewegte und deutlich die Worte formte: Da geht sie. Mehrere Männer am Tresen drehten sich um und winkten. Sie lächelten. Ruth sah Lük-ken, wo noch vor kurzem Zähne gewesen waren. Sie ging am Cooder's Market vorbei. Sie ging an der Vereinigten Methodistenkirche vorbei. Vor ihr lag jetzt das Rathaus mit dem quadratischen Ziegelsteinturm. Die Zeiger der Turmuhr standen auf neunzehn Uhr fünfzehn - neunzehn Uhr fünfzehn an einem Sommerabend, und überall in Haven würden Männer Bierdosen aufmachen und Radios einschalten, um Joe Costiglione und den Klang des Red Sox Warmup zu hören. Sie konnte Bobby Tremaine und Stephanie Colson sehen, die langsam Hand in Hand auf der Route 9 zum Stadtrand gingen. Sie gingen schon seit vier Jahren miteinander, und Ruth fand, es war wirklich ein Wunder, daß Stephanie noch nicht schwanger war.
Nur ein Juliabend bei Einbruch der Dämmerung - alles normal.
Nichts war normal.
Hilly Brown und Barney Applegate kamen aus der Bibliothek, Hillys kleiner Bruder David folgte ihnen wie der Schwanz eines Drachen. Sie wollte sehen, was für Bücher die Jungs sich ausgeliehen hatten, und sie zeigten sie ihr bereitwillig. Nur in den Augen des kleinen David hatte sie kurz ein zögerndes Eingeständnis der Panik gesehen, die er empfand... und in seinen Gedanken gelesen. Daß sie seine Angst gespürt und nichts dagegen unternommen hatte, war der Hauptgrund dafür, daß sie sich so schwere Vorwürfe machte, als der kleine Junge zwei Tage später verschwand. Jemand anders hätte sich vielleicht einfach herausgeredet, hätte gesagt: Ich hatte selbst genug um die Ohren, auch ohne daß ich mich um die Probleme von David Brown kümmerte. Aber sie gehörte nicht zu der Art von Frauen, die mit solchen Verteidigungen trösten können. Sie hatte das Entsetzen des Jungen gespürt. Schlimmer, sie hatte seine Resignation gespürt, das Wissen, daß sich nichts ändern ließ, daß sie sich einfach weiter auf ihrem vorbestimmten Kurs vom Schlimmen zum Schlimmsten bewegen würden. Und wie um die Wahrheit dessen zu beweisen, he, presto!, war David verschwunden. Und Ruth nahm ihren Teil der Schuld auf sich, genau wie sein Großvater.
Am Rathaus machte sie kehrt und ging zu ihrem Haus zurück, wobei sie trotz ihrer bohrenden Kopfschmerzen und ihres zunehmenden Unbehagens ein freundliches Gesicht machte. Die Gedanken wirbelten und raschelten und tanzten.
(lieben dich, Ruth)
(wir können warten Ruth)
(psssst psssst geh schlafen)
(ja geh schlafen und träume)
(träume von Dingen träume von Wegen)
(zu »werden« Wegen zu »werden« Wegen zu)
Sie betrat ihr Haus, verschloß die Tür hinter sich, ging nach oben und vergrub das Gesicht im Kissen.
Träume von Wegen zu »werden«.
O Gott, wenn ich doch nur genau wüßte, was das bedeutete.
Wenn du gehst gehst du wenn du bleibst veränderst du dich.
Sie wünschte sich, sie wüßte es, denn was immer es auch bedeuten mochte, es geschah mit ihr, ob sie wollte oder nicht. Soviel Widerstand sie auch leistete, sie war ebenfalls dabei zu »werden«.
(ja Ruth ja)
(schlafe... träume... denke... »werde«)
(ja Ruth _ ja)
Diese raschelnden und fremden Gedanken verfolgten sie in den Schlaf und zerstoben dann in der Dunkelheit. Sie lag vollständig angezogen diagonal auf dem großen Bett und schlief tief und fest.
Als sie aufwachte, war ihr Körper steif, aber ihr Verstand fühlte sich klar und erfrischt. Ihre Kopfschmerzen hatten sich verzogen wie Rauch. Ihre Periode, die so seltsam würdelos und beschämend gewesen war, nachdem sie gedacht hatte, das wäre engültig aus und vorbei, hatte aufgehört. Zum ersten Mal seit fast zwei Wochen war sie wieder ganz sie selbst. Sie würde lange und kalt duschen und sich dann daranmachen, dem allem auf den Grund zu gehen. Wenn sie dazu Hilfe von außerhalb brauchte, nun gut. Wenn sie ein paar Tage damit leben mußte, daß die Leute sie für übergeschnappt hielten, auch gut. Sie hatte ihr ganzes Leben lang darauf hingearbeitet, als geistig gesund und vertrauenswürdig zu gelten. Und wozu konnte so ein Ruf dienen, wenn nicht dazu, daß einen die Leute ernst nahmen, wenn man sich verrückt anhörte.
Als sie anfing, ihr zerknittertes Kleid auszuziehen, erstarrten ihre Finger plötzlich über einem Knopf.
Ihre Zunge hatte eine Lücke in der unteren Zahnreihe gefunden - sie spürte einen sanften, pochenden Schmerz dort. Sie sah auf die Bettdecke. Da, an der Stelle, wo ihr Kopf geruht hatte, sah sie den Zahn, der ihr in dieser Nacht ausgefallen war. Plötzlich schien nichts mehr einfach zu sein - überhaupt nichts.
Ruth stellte fest, daß die Kopfschmerzen wieder angefangen hatten.
11
Haven stand sogar noch heißeres Wetter bevor - im August sollte es eine Woche geben, in der die Temperaturen an jedem einzelnen Tag die Vierzig-Grad-Marke überschritten -, aber vorläufig reichte jedem in der Stadt die Welle schwüler Hitze vom zwölften bis zum neunzehnten Juli vollkommen aus, besten Dank.
Die Straßen gleißten. Die Blätter an den Bäumen hingen schlaff und staubig herab. Die stille Luft übertrug Laute: Bobbi Andersens alter Lastwagen, der nun zu einer Ausgrabungsmaschine umgebaut war, war während dieser ganzen heißen acht Tage in Haven Village deutlich zu hören. Die Leute wußten', daß draußen auf dem alten Frank-Garrick-Arlwesen etwas Wichtiges vor sich ging - wichtig für die ganze Stadt-, aber niemand sprach laut davon, ebensowenig wie man davon sprach, daß es Justin Hurd, Bobbis nächsten Nachbarn, verrückt gemacht hatte. Justin bastelte Sachen, das gehörte zu seinem »Werden«, aber weil er verrückt geworden war, waren einige der Sachen, die er bastelte, ziemlich gefährlich. Eines war ein Ding, das harmonische Schwingungen in der Erdrinde erzeugte - Schwingungen, die ein Erdbeben auslösen konnten, das groß genug war, den gesamten Staat aufzureißen und die Osthälfte in den Atlantik stürzen zu lassen.
Justin hatte die Schwingungsmaschine gebaut, um die verdammten Kaninchen und Waldmurmeltiere aus ihren Löchern zu treiben. Sie fraßen seinen ganzen Salat. Ich werde die kleinen Mistviecher herausschütteln, dachte er.
Beach Jernigan ging eines Tages zu Justins Anwesen hinaus, während Justin draußen war und auf seinem westlichen Feld das Getreide eggte (an diesem Tag pflügte er heftig schwitzend fünfzig Ar Mais um und hatte dabei die Lippen unablässig zu einer irren Grimasse zusammengezogen, weil er sich den Kopf darüber zerbrach, wie er drei Reihen Salat retten konnte), und zerlegte das Gerät, das aus ausgeschlachteten Teilen einer Stereoanlage bestand. Wenn Justin zurückkehrte, würde er feststellen, daß das verdammte Ding fort war, wahrscheinlich annehmen, die gottverdammten Kaninchen oder Murmeltiere hätten es gestohlen, sich möglicherweise daranmachen, ein neues zu bauen... und in diesem Fall würde Beach oder sonst jemand es erneut wegnehmen. Wenn sie Glück hatten, würde er vielleicht auch den Drang verspüren, etwas weniger Gefährliches zu bauen.
Die Sonne stieg jeden Tag an einen Himmel, der die Farbe von blassem Porzellan hatte, und dann schien sie am Dach der Welt zu hängen. Hinter dem Haven Lunch lag eine Reihe von Hunden im spärlichen Schatten des überhängenden Daches, sie hechelten, und ihnen war so heiß, daß sie nicht einmal Flöhe kratzen konnten. Die Straßen waren weitgehend verlassen. Hin und wieder fuhr jemand auf dem Weg von oder nach Derry oder Bangor durch Haven. Aber nicht zu viele, denn über die Autobahn ging es viel schneller.
Diejenigen, die durchführen, bemerkten eine seltsame und urplötzliche Verbesserung des Rundfunkempfangs - ein verblüffter Truckfahrer, der die Route 9 fuhr, weil es ihm auf der 1-95 zu langweilig geworden war, fand einen Rockmusiksender, der, wie sich herausstellte, von Chicago sendete. Zwei alte Leutchen auf dem Weg nach Bar Harbor fanden einen Sender klassischer Musik aus Florida. Der unheimliche, kristallklare Empfang verschwand wieder, wenn sie Haven hinter sich ließen.
Einige Durchreisende erlebten unangenehmere Nebenwirkungen: größtenteils Kopfschmerzen und Übelkeit - manchmal ernste Übelkeit. Sie wurde meistens auf durch die Hitze verdorbenen Reiseproviant zurückgeführt.
Ein kleiner Junge aus Quebec, der mit seinen Eltern nach Old Orchard Beach unterwegs war, verlor in den zehn Minuten, die der Kombiwagen der Familie brauchte, um Haven von einem Ende zum anderen zu durchqueren, vier Milchzähne. Die Mutter des kleinen Jungen schwor auf Französisch, daß sie so etwas in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte. In dieser Nacht wurden sie in einem Motel in Old Orchard Beach von der Zahnfee geholt (und nur einer war lose gewesen, erklärte die Mutter des Jungen) und durch einen Dollar ersetzt.
Einem Mathematiker vom MIT, der zu einer zweitägigen Konferenz über semilogische Zahlen zur University of Maine fuhr, wurde plötzlich klar, daß er am Rande einer völlig neuen Erkenntnis über die Mathematik und die mathematische Philosophie stand. Sein Gesicht wurde grau, seine schwitzende Haut plötzlich kalt, als ihm mit völliger Deutlichkeit bewußt wurde, wie er mittels dieses Konzeptes sehr rasch beweisen konnte, daß jede gerade Zahl über zwei die Summe zweier Primzahlen ist; wie man dieses Konzept dazu verwenden konnte, den Winkel zu dritteln; wie man damit...
Er fuhr rechts ran, hastete aus seinem Auto und übergab sich in den Straßengraben. Er stand zitternd und mit weichen Knien über dem Schlamassel (in dem sich auch einer seiner Schneidezähne befand, wenngleich er momentan zu aufgeregt war, es zu bemerken), und seine Finger juckten danach, ein Stück Kreide zu halten und eine Tafel mit Sinus- und Kosinusfunktionen zu füllen. Visionen vom Nobelpreis geisterten durch sein vor Aufregung rasendes Gehirn. Er warf sich in sein Auto und machte sich wieder auf die Fahrt nach Orono, wobei er seinen rostigen Subaru auf hundertzwanzig Stundenkilometer peitschte. Als er Hamp -den erreicht hatte, waren Wolken vor seine außerordentliche Vision gezogen, und als er in Orono war, war nichts übrig als ein schwacher Schimmer. Er vermutete, daß es ein vorübergehender Hitzschlag gewesen war. Nur das Erbrechen war echt gewesen, das roch er an seinen Kleidern. Am ersten Tag der Konferenz war er blaß und schweigsam, 290
sagte wenig und trauerte seiner überwältigenden, schnell vergangenen Vision nach.
Das war auch der Morgen, an dem Mabel Noyes zur Unperson wurde, während sie im Keller des Junque-A-Torium hantierte. Man hätte nicht sagen können, daß sie »durch einen Unfall« starb oder infolge von »unsachgemäßer Handhabung«. Keiner dieser Ausdrücke beschrieb genau, was mit ihr geschehen war. Mabel schoß sich keine Kugel in den Kopf, während sie ein Gewehr reinigte, oder steckte einen Finger in die Steckdose; sie ließ einfach ihre eigenen Moleküle zusammenfallen und hörte auf zu existieren. Es ging schnell und war kein bißchen unsauber. Ein blauer Lichtblitz, dann war sie verschwunden. Nichts blieb übrig außer einem schwelenden BH-Träger und einem Gerät, das wie ein Silberpolierer aussah. Und genau das hatte das Gerät auch sein sollen. Mabel hatte sich gedacht, daß es ihr eine schmutzige, mühsame Arbeit erleichtern würde, und sich gefragt, warum sie bisher nie so ein Gerät hergestellt hatte — oder warum, um Himmels willen, man es nirgendwo kaufen konnte, denn es war völlig einfach herzustellen, und diese Schlitzaugen in Korea hätten es wahrscheinlich tonnenweise auf den Markt werfen können. Weiß Gott, die Schlitzaugen in Korea warfen auch andere Sachen tonnenweise auf den Markt, aber sie vermutete, daß sie dafür eigentlich dankbar sein sollte, da die Schlitzaugen in Japan offenbar zu stolz geworden waren, um sich noch um die Kleinigkeiten zu kümmern. Sie hatte angefangen, sich alle möglichen Dinge vorzustellen, die sie aus dem Trödel in ihrem Laden herstellen konnte. Wunderbare Dinge. Sie schaute in die Kataloge und war erstaunt, daß sie nicht darin waren. Mein Gott, dachte sie, ich glaube, ich werde reich werden! Aber sie hatte eine Art Kurzschluß in dem Gerät geschaffen, und daher wurde sie in weniger als 0,0006 Nanosekunden in die Twilightzone versetzt.
Im Grunde genommen vermißte sie niemand in Haven.
Die Stadt lag erschlafft am Grunde einer Schüssel voll stehender Luft. Aus dem Wald hinter dem Garrick-Anwesen war Motorenlärm zu hören, während Bobbi und Gardener gruben.
Ansonsten schien die ganze Stadt im Dornröschenschlaf zu liegen.
12
Ruth schlief an diesem Nachmittag nicht.
Sie dachte über die Geräusche auf Bobbi Andersons Grundstück nach (zumindest sie betrachtete es nicht mehr als das alte Garrick-Anwesen), und über Bobbi Andersen selbst.
Mittlerweile existierte in der Stadt ein gemeinschaftliches Wissen, ein Meer von Gedanken, in das sich alle teilten. Vor einem Monat hätte Ruth eine solche Vo rstellung für Irrsinn gehalten. Jetzt war es unbestreitbar. Das Wissen war da, wie die anschwellenden, flüsternden Stimmen.
Ein Teil davon war die Gewißheit, daß Bobbi das alles ins Rollen gebracht hatte.
Es war unabsichtlich geschehen, aber sie hatte alles in Bewegung gesetzt. Jetzt arbeiteten sie und ihr Freund (der Freund war ein völliges Nichts für sie, sie wußte nur von ihm, weil sie ihn gesehen hatte, wie er abends mit Bobbi auf der Veranda saß) zwölf bis vierzehn Stunden täglich, und sie machten es immer schlimmer. Ruth glaubte nicht, daß der Freund eine Ahnung hatte, was er da machte. Er war irgendwie außerhalb des gemeinschaftlichen Netzes.
Wie machten sie es immer schlimmer?
Sie wußte es nicht, sie wußte nicht einmal sicher, was sie überhaupt machten. Das war ebenfalls blockiert, nicht nur für Ruth, sondern für alle in Haven. Mit der Zeit würden sie es erfahren; so wie die Menstruation jeder Frau in der Stadt zwischen ungefähr acht und sechzig etwa zur gleichen Zeit aufgehört hatte. Es hatte etwas mit Graben zu tun, mehr hatte Ruth nicht herausbringen können. Eines Nachmittags döste sie leicht und träumte, daß Bobbi und ihr Freund aus Troy einen gewaltigen silbernen Zylinder mit einem Durchmesser von etwa sechzig Metern freilegten. Nachdem sie einen großen Teil ausgegraben hatten, sah sie einen viel kleineren Zylinder, möglicherweise aus Stahl, mit vielleicht drei Metern Durchmesser und einen Meter fünfzig hoch, der wie ein Nippel aus der Mitte des Dings hervorragte. In diesen Nippel war das Symbol + eingraviert, und als sie erwachte, begriff Ruth: Sie hatte von einer riesigen Alkalibatterie geträumt, die in der Erde und dem Granit hinter Bobbis Haus begraben war, einer Batterie, die größer war als Frank Spruces Melkscheune. -
Ruth wußte freilich, daß das, was immer Bobbi und ihr Freund im Wald ausgruben, sicher keine riesige Batterie der Marke Eveready war. Aber - in gewisser Hinsicht, dachte sie, war es genau das. Bobbi hatte eine riesige Energiequelle entdeckt und war irgendwie zu ihrer Sklavin geworden. Dieselbe Kraft stimulierte die Stadt und versklavte sie zugleich. Und sie wurde unablässig stärker.
Ihr Verstand flüsterte: Du mußt sie gehen lassen. Du mußt einfach zurücktreten und sie ihren Weg gehen lassen. Sie haben dich geliebt, Ruth; das stimmt. Du hörst ihre Stimmen in deinem Kopf wie einen Oktoberwind, der in den Blättern raschelt, und ^ jetzt wirbelt er sie nicht nur hoch und läßt sie wieder_ fallen, sondern reißt sie in einen Zyklon; du hörst die Stimme ihrer Gedanken, und wenngleich sie manchmal durcheinander und wirr sind, können sie wohl nicht lügen. Und wenn diese anschwellenden Stimmen sagen, daß sie dich geliebt haben, dich immer noch lieben, dann sagen sie die Wahrheit. Aber wenn du dich in das einmischst, was hier vor sich geht, ich glaube, dann werden sie dich umbringen, Ruth. Nicht Bobbis Freund- der ist irgendwie immun. Er hört keine Stimmen. Er gehört nicht zu denen, die »werden«. Er wird nur betrunken. Das sagt Bobbi: »Er wird betrunken.« Aber was den Rest betrifft... wenn du dich in ihre Belange einmischst... dann werden sie dich umbringen, Ruth. Sanft. Voller Liebe. Also tritt einfach zurück. Laß es geschehen.
Aber wenn sie das tat, dann würde ihre Stadt zerstört werden... nicht verändert, so wie ihr Name wieder und wieder verändert worden war, nicht verletzt, wie dieser Priester mit der flinken Zunge sie verletzt hatte, sondern zerstört. Und sie würde mit ihr zerstört werden, denn die Kraft nagte bereits an ihrem Innersten. Das konnte sie spüren.
Also gut... was wirst du tun?
Vorläufig gar nichts. Vielleicht wird es von alleine wieder besser. Gab es bis dahin eine Methode, wie sie ihre Gedanken abschirmen konnte?
Sie fing an, mit Zungenbrechern zu experimentieren. Fischers Fritz fischt _ frische Fische. Blaukraut bleibt Blaukraut, und Brautkleid bleibt Brautkleid. Sie stellte fest, daß sie mit etwas Übung ständig einen im Hintergrund ihres Verstandes aufsagen konnte. Sie ging in die Stadt zum Markt, kaufte etwas Fleisch und zwei frische Maiskolben zum Essen und unterhielt sich freundlich mit Madge Tilletts an der Kasse und David Rutledge, der an seinem Stammplatz im vorderen Teil des Ladens saß und mit seinen arthritischen Händen langsam einen Korbstuhl flocht. Aber der alte Dave sah neuerdings gar nicht mehr so alt aus. Keineswegs.
Alle beide sahen sie an, argwöhnisch, überrascht... verwirrt.
Sie hören mich. Aber nicht sehr gut... Ich blockiere sie! Ich kann es!
Sie wußte nicht, wie erfolgreich sie war, und sie wollte sich nicht auf ihre Fähigkeit verlassen - aber es funktionierte. Das bedeutete nicht, daß sie sie nicht empfangen konnten, wenn sich mehrere von ihnen zusammentaten und ihr Gehirn sondierten. Sie spürte, daß das möglich sein würde. Aber es war immerhin etwas, ein Pfeil in einem bislang leeren Köcher.
An diesem Abend, Samstagabend, beschloß sie, daß sie bis Dienstagnachmittag warten würde - ungefähr sechzig Stunden. Wenn die Lage sich weiter verschlechterte, dann würde sie zur Staatspolizei von Derry gehen, ein paar der alten Freunde ihres Mannes aufsuchen - zum Beispiel Monster Dugan - und ihnen sagen, was sich etwa vierzig Meilen entfernt an der Route 9 abspielte.
Es war vielleicht nicht der allerbeste Plan, aber er mußte genügen.
Ruth McCausland schlief ein.
Und träumte von Batterien in der Erde.
Sechstes Kapitel
Ruth McCausland, Fortsetzung
1
Das Verschwinden von David Brown machte einen Strich durch Ruths Plan. Nach Davids Verschwinden war sie außerstande, die Stadt zu verlassen. Denn David war fort, und sie wußten es alle... aber sie wußten auch, daß David irgendwie immer noch in Haven war.
Im Verlauf des »Werdens« gab es offenbar immer eine Zeit, die man den »Tanz der Unwahrheit« nennen konnte. Für Haven begann diese Zeit mit dem Verschwinden von David Brown und entfaltete sich während der anschließenden Suche.
Ruth hatte sich gerade hingesetzt, um die Lokalnachrichten zu hören, als das Telefon klingelte. Es war Marie Browns hysterische, kaum verständliche Stimme.
»Beruhigen Sie sich, Marie«, sagte Ruth und dachte, daß es gut war, daß sie früh zu abend gegessen hatte. Vielleicht kam sie eine ganze Weile nicht mehr dazu, etwas zu essen. Anfangs konnte sie nur eine Tatsache aus Marie Brown herausbekommen, nämlich die, daß ihr Junge David in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte, Schwierigkeiten, die bei einer Zaubervorstellung im Garten angefangen hatten, und Hilly war hysterisch geworden...
»Geben Sie mir Bryant«, sagte Ruth.
»Aber Sie werden kommen, nicht?« weinte Marie. »Bitte, Ruth, noch vor Einbruch der Dunkelheit. Wir können ihn noch finden, ich weiß es.«
»Selbstverständlich werde ich kommen«, sagte Ruth. »Und jetzt geben Sie mir Bryant.«
Bryant war wie betäubt, konnte aber verständlicher schildern, was sich zugetragen hatte. Es hörte sich immer noch verrückt an, aber was war heutzutage in Haven nicht verrückt? Nach der Zaubervorstellung hatte sich das Publikum verlaufen und Hilly und David zum Aufräumen zurückgelassen. Jetzt war David verschwunden. Hilly war ohnmächtig geworden und konnte sich überhaupt nicht mehr daran erinnern, was an diesem Nachmittag vorgefallen war. Er wußte nur, wenn er David sah, würde er ihm alle G. I. Joes geben, aber er wußte nicht mehr, warum.
»Kommen Sie, so schnell Sie können«, sagte Bryant.
Auf dem Weg hinaus blieb sie einen Augenblick stehen, bevor sie zu
ihrem Dart ging, und sah mit echtem Haß die Main Street von Haven Village entlang. Was habt ihr jetzt getan? dachte sie. Gottverdammt, was habt ihr jetzt getan?
2
Da nur noch zwei Stunden Tageslicht blieben, vergeudete Ruth keine Zeit. Sie versammelte Bryant, Ev Hillman, John Golden, der ein Stück die Straße hinunter wohnte, und Henry Applegate, Barneys Vater, im Galten der Browns um sich. Marie wollte ebenfalls an der Suche teilnehmen, aber Ruth bestand darauf, daß sie sich um Hilly kümmerte. In ihrer derzeitigen Verfassung wäre Marie mehr ein Hemmnis als eine echte Hilfe gewesen. Sie hatten natürlich schon gesucht, aber sie hatten es auf eine ziellose, abwesende Weise getan. Als die Eltern des Jungen schließlich überzeugt gewesen waren, daß David über die Straße und in den Wald gelaufen sein mußte, hatten sie die Suche eigentlich ganz eingestellt, obwohl sie weiterhin ziellos umhergewandert waren.
Ruth erfuhr manches aus dem, was sie sagten; manches aus der seltsam geistesabwesenden, seltsam verängstigten Art, auf die sie dreinschauten; das meiste jedoch aus ihren Gedanken.
Ihren beiden Gedanken: den menschlichen Gedanken und den der Tommyknockers. Es gab immer einen Punkt, an dem das »Werden« in Wahnsinn umschlagen konnte - dem Wahnsinn der Schizophrenie, wenn der Verstand des Opfers versuchte, gegen den fremden Gruppenverstand anzukämpfen, der sie allmählich zusammenschweißte... und sie dann auslöschte. Dies war die Zeit notwendigen Akzeptierens. Daher war es die Zeit des Tanzes der Unwahrheit.
Mabel Noyes hätte ihn in Gang bringen können, aber sie war nicht beliebt genug gewesen, die Leute zum Tanzen zu bringen. Die Hillmans und die Browns waren es; sie waren beliebt und wurden geachtet.
Und natürlich war David nur ein kleiner Junge.
Der vernetzte Menschenverstand, der »Ruth-Verstand«, wie man sagen könnte, dachte: Er könnte ins hohe Gras hinter dem Garten der Browns gewandert und dort eingeschlafen sein. Das wäre viel wahrscheinlicher als Maries Überzeugung, daß er in den Wald gelaufen ist-dazu hätte er die Straße überqueren müssen, und er ist ein wohlerzogener Junge. Das haben Marie und Bryant beide gesagt. Noch wichtiger, andere auch. Man hat ihm immer wieder und wieder gesagt, daß er die Straße nicht ohne einen Erwachsenen überqueren darf, daher ist es unwahrscheinlich, daß er in den Wald gelaufen ist.
»Wir werden den Garten und die Wiese dahinter Stück für Stück durchkämmen«, sagte Ruth. »Und wir werden nicht nur herumwandern, wir werden suchen.«
»Und wenn wir ihn nicht finden?« Bryants Augen waren ängstlich und flehend. »Wenn wir ihn nicht finden, Ruth?«
Sie mußte es ihm nicht sagen, sie mußte es nur denken. Wenn sie David nicht rasch fanden, dann würde sie anfangen zu telefonieren. Ein weitaus größerer Suchtrupp würde zusammengestellt werden - Männer mit Taschenlampen und Megaphonen, die den Wald durchkämmten, Wenn David bis zum Morgen nicht gefunden worden war, würde sie Orval Davidson in Unity anrufen und ihn seine Bluthunde mitbringen lassen. Für die meisten war diese Prozedur nichts Neues. Sie kannten Suchtrupps, die meisten hatten schon einmal einem angehört; während der Jagdsaison waren sie nichts Außergewöhnliches, wenn es im Wald nur so von Fremden wimmelte, die nagelneue orangefarbene Flanellhosen von L. L. Bean anhatten und großkalibrige Gewehre spazierentrugen. Normalerweise fand man diese Verirrten lebend, an nichts anderem leidend als Sonnenbrand und hochgradiger Verlegenheit.
Aber manchmal wurden sie tot aufgefunden.
Und manchmal wurden sie überhaupt nicht gefunden.
Sie würden David Brown nicht finden, und das wußten sie schon lange, bevor die Suche anfing. Kaum war Ruth angekommen, hatten ihre Gedanken sich vernetzt. Dies war ein instinktiver Akt, so unwillkürlich wie ein Blinzeln. Sie schlössen ihr Denken zusammen und suchten nach David. Ihre geistigen Stimmen vereinten sich zu einem Chor, der so stark war, daß sich David, hätte er sich in einem Umkreis von siebzig Meilen aufgehalten, die Hände vor den Kopf geschlagen und vor Schmerzen aufgeschrien hätte. Er hätte es noch in der fünffachen Entfernung gehört und mitbekommen, daß sie nach ihm suchten.
Nein, David Brown hatte sich nicht verirrt. Er war einfach nur... nicht da.
Die Suche, auf die sie sich vorbereiteten, war vollkommen nutzlos.
Aber weil es der Tommyknocker-Verstand war, der das wußte, und weil sie sich immer noch als »menschliche Wesen« betrachteten, begannen sie den Tanz der Unwahrheit.
Das »Werden« erforderte viele Lügen.
Diese eine, die sie sich selbst erzählten, mit der sie darauf bestanden, daß sie immer noch so waren wie eh und je, war die wichtigste Lüge von allen.
Auch das wußten sie alle. Sogar Ruth McCausland.
3
Um acht Uhr dreißig war die Dämmerung so finster geworden, daß man sie von der Nacht nicht mehr unterscheiden konnte, und die fünf Suchenden waren auf ein Dutzend angewachsen. Die Neuigkeit verbreitete sich rasch - ein wenig zu rasch, um normal zu sein. Sie suchten alle Gärten und Felder auf der Seite der Browns ab, wobei sie mit Hillys Bühne anfingen (Ruth selbst war mit einer starken Taschenlampe daruntergekrochen, da sie der Meinung war, wenn sich David irgendwo in der Nähe befand, dann fest schlafend dort - aber sie fand nur flachgetretenes Gras und einen seltsam elektrischen Geruch, bei dem sie die Nase rümpfte) und die Suche von dort strahlenförmig ausbreiteten. »Glauben Sie, daß er im Wald ist, Ruth?« fragte Casey Tremaine. »Muß er sein«, antwortete sie müde. Sie hatte wieder Kopfschmerzen. David war (nicht da)
ebensowenig im Wald wie der Präsident der Vereinigten Staaten. Dennoch...
Im Hintergrund ihres Verstandes jagten die Zungenbrecher einander wie Eichhörnchen auf Trimmrädern.
Die Dämmerung war freilich noch nicht so undurchdringlich, daß sie nicht sehen konnte, wie Bryant Brown eine Hand vors Gesicht legte und sich von den anderen abwandte. Es folgte ein Augenblick peinlichen Schweigens, den Ruth schließlich unterbrach.
»Wir brauchen mehr Leute.«
»Staatspolizisten, Ruth?« fragte Casey.
Sie merkte, daß sie sie alle mit ernsten und nüchternen Gesichtern ansahen.
(nein Ruth nein)
(Außenstehende keine Außenstehenden wir kümmern uns darum) (kümmern uns um diese Sache wir brauchen keine Außenstehenden während)
(während wir unsere alten Häute abstreifen und unsere neuen überziehen während)
(wir »werden«)
(wenn er im Wald ist werden wir ihn hören er wird rufen)
(mit seinem Verstand rufen)
(keine Außenstehenden Ruth pssst pssst um dein Leben Ruth wir) (wir lieben dich alle aber keine Außenstehenden)
Die Stimmen schwollen in ihrem Verstand an, schwollen in der schwülen Dunkelheit an; sie sah sich um und erblickte nur dunkle Gestalten und weiße Gesichter, Gestalten und Gesichter, die einen Augenblick überhaupt nicht menschlich aussahen. Wie viele von euch haben ihre Zähne noch? dachte Ruth McCausland hysterisch.
Sie machte den Mund auf und dachte, sie würde schreien, aber ihre Stimme klang - jedenfalls in ihren eigenen Ohren - normal und natürlich. In ihrem Hirn liefen die Zungenbrecher
(Fischers Fritz fischt frische Fische frische Fische)
schneller und schneller.
»Ich finde, wir brauchen sie noch nicht, Casey. Sie?«
Casey sah sie ein wenig verwirrt an.
»Nun, ich denke, das liegt bei Ihnen, Ruth.«
»Fein«, sagte sie. »Henry... John... ihr anderen. Telefoniert herum. Ich möchte fünfzig walderfahrene Männer und Frauen hier haben, bevor wir anfangen. Jeder, der bei den Browns auftaucht, muß eine Taschenlampe dabei haben, sonst wird er nicht einmal in die Nähe dieses Waldes kommen. Wir suchen einen verirrten Jungen. Ich möchte nicht, daß noch ein erwachsener Mann oder eine Frau dazukommt.«
Während sie sprach, wuchs die Autorität ihrer Stimme; die zitternde Angst ließ nach. Sie sahen sie voller Respekt an.
»Ich rufe Adley McKeen und Dick Allison an. Bryant, gehen Sie zu Marie, und sagen Sie ihr, sie soll Unmengen Kaffee machen. Es wird eine lange Nacht werden.«
Sie entfernten sich in unterschiedliche Richtungen; die Männer, die Anrufe tätigen mußten, gingen zu Henry Applegates Haus. Das der Browns war näher, aber die Lage hatte sich verschlimmert, und im Augenblick wollte keiner dorthin gehen. Nicht, während Bryant seiner Frau erzählte, Ruth McCausland wäre zu der Überzeugung gekommen, daß sich ihr vierjähriger Sohn vielleicht doch im
(nicht da)
großen Wald verirrt hatte.
Ruth war völlig erschöpft. Sie wünschte sich, glauben zu können, daß sie einfach verrückt wurde; wenn sie das glauben könnte, dann würde alles viel einfacher sein.
»Ruth?«
Sie sah auf. Ev Hillman stand neben ihr, sein schütteres weißes Haar wehte ihm um den Kopf. Er sah besorgt und furchtsam aus.
»Hilly ist wieder ausgerastet. Seine Augen sind offen, aber...« Er zuckte die Achseln.
»Das tut mir sehr leid«, sagte Ruth.
»Ich bringe ihn nach Derry. Bryant und Ruth wollen hierbleiben.«
»Warum nicht zuerst einmal zu Doc Warwick?«
»Ich finde, Derry ist besser.« Ev sah Ruth an, ohne zu blinzeln. Seine Augen waren die Augen eines alten Mannes, blutunterlaufen, verschleiert, das einstige Blau so verblichen, daß beinahe keine Farbe mehr vorhanden war. Verblichen, aber nicht dumm. Und Ruth wurde plötzlich mit einem Schwall von Erregung, der ihr fast den Kopf vom Hals riß, deutlich, daß sie seine Gedanken fast überhaupt nicht lesen konnte! Was auch immer hier in Haven vorging, Ev war, wie Bobbis Freund, davon ausgenommen. Es spielte sich um ihn herum ab, und er wußte davon -manches-, aber er war nicht Teil davon.
Sie verspürte eine Erregung, auf die bitterer Neid folgte.
»Ich glaube, außerhalb der Stadt wird er besser aufgehoben sein, Sie nicht, Ruthie?«
»Ja«, sagte sie langsam und dachte an die anschwellenden Stimmen und zum letzten Mal daran, wie David nicht da war, dann verdrängte sie diese verrückte Vorstellung ein für allemal. Selbstverständlich war er hier. Waren sie keine Menschen? Sie waren es. Waren. Aber...
»Ja, ich glaube auch.«
»Sie könnten mit uns kommen, Ruthie.«
Sie sah ihn lange an. »Hat Hilly etwas gemacht, Ev? Ich sehe seinen Namen in Ihrem Kopf. Sonst sehe ich nichts - nur das. Er geht aus und an wie eine Neonreklame.«
Er sah sie an und schien offenbar nicht überrascht von dem diskreten Eingeständnis, daß sie - die vernünftige Ruth McCausland - entweder seine Gedanken las oder glaubte, daß sie das tat.
»Vielleicht. Er benimmt sich so. Dieser... dieser weggetretene Zustand, in dem er sich befindet... wenn es das ist... könnte sein, daß er etwas getan hat, das ihm jetzt leid tut. Wenn ja, dann war es nicht seine Schuld, Ruthie. Was immer hier in Haven vor sich geht... das ist in Wirklichkeit dafür verantwortlich.«
Eine Tür fiel zu. Sie blickte zum Haus der Applegates und sah mehrere Männer zurückkommen.
Ev drehte sich herum, dann sah er Ruth an.
»Kommen Sie mit uns, Ruth.«
»Und meine Stadt im Stich lassen? Ev, das kann ich nicht.«
»Also gut. Wenn Hilly sich erinnern sollte...«
»Lassen Sie es mich wissen«, sagte sie.
»Wenn ich kann«, murmelte Ev. »Sie können es mir schwermachen, Ruthie.«
»Ja«, sagte Ruth. »Das weiß ich.«
»Sie kommen, Ruth«, sagte Henry Applegate und maß Ev Hillman mit einem kalten, berechnenden Blick. »Eine Menge gute Leute.«
»Schön«, sagte Ruth.
Ev hielt Applegates Blick einen Moment stand, dann ging er weg. Etwa eine Stunde später, während Ruth den Suchtrupp organisierte und für den ersten Abschnitt einteilte, sah sie Evs alten Valiant die Einfahrt der Browns herunterrollen und in Richtung Bangor abbiegen. Eine kleine, dunkle Gestalt - Hilly - saß auf dem Beifahrersitz wie eine Schaufensterpuppe.
Viel Glück euch beiden, dächte Ruth. Sie wünschte sich - sehnlichst! -gleichfalls auf dem Weg aus diesem fiebrigen Alptraum zu sein.
Als das Auto des alten Mannes über den ersten Hügel verschwand, sah Ruth sich um und erblickte etwa fünfundzwanzig Männer und ein halbes Dutzend Frauen, einige auf dieser Straßenseite, einige auf der anderen. Sie standen alle reglos da und betrachteten
(liebten)
sie nur. Wieder dachte sie, daß ihre Gestalten sich veränderten, verzerrten, unmenschlich wurden; sie »wurden« tatsächlich, sie wurden zu etwas, an das sie nicht einmal zu denken wagte.
»Was glotzt ihr so?« rief sie ein wenig zu schrill. »Kommt schon! Versuchen wir, David Brown zu finden!«
4
In dieser Nacht fanden sie ihn nicht, und am Montag, an dem eine weißglühende, pulsierende Hitze herrschte, auch nicht. Bobbi Anderson und ihr Freund nahmen an der Suche teil; das Dröhnen der Grabungsmaschinen hinter dem alten Garrick-Anwesen war für eine Weile verstummt. Der Freund, Gardener, sah blaß, elend und verkatert aus. Als Ruth ihn sah, bezweifelte sie, daß er den Tag durchhalten würde. Wenn etwas darauf hindeutete, daß er womöglich umkippen und eine Lücke hinterlassen würde, in der sie den Jungen mö glicherweise übersehen konnten, dann würde Ruth ihn sofort zu Bobbis Haus zurückschik-ken... aber er hielt durch, verkatert oder nicht.
Inzwischen hatte Ruth selbst einen kleineren Zusammenbruch gehabt, hervorgerufen durch die doppelte Belastung, David zu suchen und den unheimlichen Veränderungen in ihrem eigenen Verstand Widerstand zu leisten.
Am Montagmorgen hatte sie vor Tagesanbruch zwei Stunden unruhig geschlafen, dann war sie wieder hinausgegangen und hatte eine Tasse Kaffee nach der anderen getrunken und eine Zigarette nach der anderen geraucht. Für sie bestand kein Zweifel mehr daran, daß man Hilfe von außerhalb hinzuziehen mußte. Und wenn sie das tat, dann würden die Auswärtigen ziemlich schnell - innerhalb von Stunden, dachte sie - mitbekommen, daß Haven seinen Namen in Gruseldorf geändert hatte. Bald würde der »Lebensstil« in Haven zum eigentlichen Gegenstand ihres Interesses werden - und nicht der verschwundene Junge. Und dann wäre David ganz sicher für immer verloren.
Die Hitze hielt sich bis lange nach Sonnenuntergang. In der Ferne hörte man Donner, aber es ging kein Lüftchen, und es regnete nicht. Wetterleuchten flackerte. Im Gestrüpp und im dichten Unterholz summten Stechmücken. Zweige knackten. Männer fluchten, wenn sie in feuchte Stellen stolperten oder über umgestürzte Stämme fielen. Lichtkegel von Taschenlampen zuckten unablässig. Über allem ein Gefühl der
Dringlichkeit, aber nicht der Zusammengehörigkeit; vor Mitternacht am Sonntag kam es sogar zu mehreren Faustkämpfen. Die geistige Kommunikation hatte Haven kein Gefühl des Friedens und der Harmo -nie gebracht; sie schien das genaue Gegenteil bewirkt zu haben. Ruth versuchte sie beschäftigt zu halten, so gut es ging.
Dann, kurz nach Mitternacht - also am frühen Montagmorgen schwamm die Welt ganz einfach von ihr weg. Wie ein großer Fisch, der träge aussieht, bis er einmal heftig mit der Schwanzflosse peitscht und verschwindet. Sie sah, wie ihr die Taschenlampe aus der Hand fiel. Es war, als sähe sie etwas, das sich in einem Film abspielte. Sie spürte, wie der heiße Schweiß auf Stirn und Wangen plötzlich kalt wurde. Die Kopfschmerzen, die sie schon den ganzen Tag plagten und immer schlimmer geworden waren, hörten mit einem unvermittelten, schmerzlosen Plop auf. Sie hörte es, als hätte jemand plötzlich in ihrem Gehirn eine Lärmmaschine abgestellt. Einen Augenblick konnte sie buchstäblich sehen, wie grellbunte Kreppapierstreifen durch die grauen Kanäle ihres Hirns schwebten. Dann gaben ihre Knie nach. Ruth fiel vorwärts in verfilztes Unterholz. Im schrägen Lichtkegel der Lampe konnte sie Dornen sehen, die lang waren und gefährlich aussahen, aber das Gestrüpp schien so weich zu sein wie Eiderdaunen.
Sie wollte rufen, konnte es aber nicht.
Sie hatten es auch so gehört.
Schritte kamen näher. Lichtstrahlen überkreuzten sich.
Jemand
(]ud Tarkington)
stieß gegen jemand anderen
(Hank Buck)
und ein kurzer haßerfüllter Wortwechsel begann zwischen den beiden (geh mir aus dem Weg, Schussel)
(ich schlage dir diese Lampe über den Schädel, Buck, ich schwöre es dir)
dann konzentrierten sich aller Gedanken voll aufrichtiger und unbestreitbarer
wir lieben dich alle Ruth
Herzlichkeit auf sie, und das machte ihr angst. Hände berührten sie, drehten sie um und
(wir lieben dich alle und wir werden dir helfen zu »werden«) hoben sie behutsam auf.
(Undich liebe euch auch ... jetzt bitte, _findet ihn. Konzentriert euch darauf, konzentriert euch auf David Brown. Kämpft nicht, streitet nicht.)
(wir haben dich alle gern Ruth ...)
Sie sah, daß einige von ihnen weinten, aber sie sah auch (obwohl sie es nicht wollte), daß andere die Zähne gefletscht hatten, die Lippen hochzogen, sinken ließen und wieder hochzogen. Wie Hunde vor einem Kampf.
5
Ad McKeen brachte sie nach Hause, und Hazel McCready brachte sie zu Bett. Sie versank in wilde und wirre Träume. Als sie am Dienstagmorgen aufwachte, konnte sie sich nur noch an eines erinnern, nämlich an ein Bild von David Brown, der sein Leben in einer fast luftlosen Leere aushauchte - er lag auf schwarzer Erde unter einem schwarzen Himmel mit funkelnden Sternen, Erde, die hart und versengt und rissig war. Sie sah Blut aus den Schleimhäuten seines Mundes und seiner Nase hervorquellen, sah seine Augen platzen, und genau da erwachte sie und richtete sich stöhnend im Bett auf.
Sie rief im Rathaus an. Hazel antwortete. Alle Männer und Frauen, die dazu imstande waren, waren draußen im Wald bei der Suche, sagte Hazel. Aber wenn sie ihn bis morgen nicht gefunden hatten... Hazel sprach nicht zu Ende.
Am Dienstagmorgen um zehn gesellte sich Ruth wieder zum Such-trupp, der mittlerweile zehn Meilen in den Wald vorgedrungen war.
Newt Berringer sah sie an und sagte: »Sie haben -
(hier draußen nichts verloren, Ruth)
und das wissen Sie genau«, vollendete er den Satz laut.
»Ich habe hier etwas verloren«, sagte sie ungewohnt schroff. »Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe, damit ich anfangen kann.«
Sie blieb den ganzen langen, brütend heißen Nachmittag dabei und rief, bis sie stockheiser war. Als es erneut zu dämmern begann, ließ sie sich von Beach Jernigan nach Hause fahren. Auf der Ladefläche von Beachs Lastwagen lag etwas unter einer Plane. Sie hatte keine Ahnung, was es war, und wollte auch nicht danach fragen. Sie wollte unbedingt im Wald bleiben, aber sie war völlig erschöpft und fürchtete, sie würden sie nicht wieder mitmachen lassen, wenn sie noch einmal stürzen sollte. Sie würde sich zwingen, etwas zu essen, und dann sechs oder sieben Stunden schlafen.
Sie machte sich ein Schinkensandwich und verzichtete zugunsten eines Glases Milch auf den Kaffee, den sie viel lieber getrunken hätte. Sie ging nach oben ins Schulzimmer, setzte sich und stellte ihre karge Mahlzeit auf den Schreibtisch. Sie betrachtete ihre Puppen, die ihren Blick mit ihren Glasaugen erwiderten.
Nicht mehr lachen, keine Wonnen, dachte sie. Das Quäker-Treffen hat begonnen. Zeigst du Zähne oder Zunge...
Der Gedanke driftete davon.
Sie blinzelte - nicht gerade aufwachend, aber in die Wirklichkeit
zurückkehrend - ein wenig später und sah auf die Uhr. Sie riß die Augen auf. Sie hatte ihre Mahlzeit um halb neun hier heraufgebracht. Sie stand immer noch da, aber inzwischen war es Viertel nach elf
Und...
. . . einige der Puppen waren bewegt worden,
Der deutsche Junge mit dem kurzen Hemd und der Lederhose lehnte sich an die Effanbee-Damenpuppe, anstatt zwischen der japanischen Puppe im Kimono und der indischen in ihrem Sari zu sitzen. Ruth stand auf, und ihr Herz schlug zu schnell und zu heftig. Die Hopi-Kachina-Puppe saß auf dem Schoß einer haitianischen Voodoo-Puppe aus Sackleinwand, mit weißen Kreuzen anstelle von Augen. Und der russische Moosmann lag auf dem Boden und sah zur Decke, sein Kopf war zur Seite gedreht, wie der Kopf eines Gehenkten.
Wer hat meine Puppen bewegt? Wer ist hier gewesen?
Sie sah sich erschrocken um, und einen Augenblick rechnete ihr angsterfüllter, verwirrter Verstand voll und ganz damit, den Kindesmiß-handler Eimer Haney im Halbschatten von Ralphs ehemaligem Arbeitszimmer stehen und sein dummes betrunkenes Grinsen zu sehen. Ich habe es dir doch gesagt, Weib. Du bist nichts weiter als eine Schlampe, die sich in alles einmischt.
Nichts. Niemand.
Wer ist hier gewesen? Wer hat meine ...
Wir bewegen uns selbst, meine Liebe.
Eine verschlagene, zitternde Stimme.
Sie fuhr mit der Hand zum Mund. Sie riß die Augen auf. Und dann sah sie die ungelenken Buchstaben auf der Tafel. Sie waren mit solcher Kraft geschrieben worden, daß die Kreide mehrmals abgebrochen war; in der Kreideablage lagen etliche kurze Stücke.
David Brown is on Altair 4
Was? Was? Was hat das...
Das bedeutet, er ist zu weit weg, sagte die Kachina-Puppe, und plötzlich schien sie grünes Licht aus ihren Baumwollporen zu schwitzen. Während Ruth sie starr vor Entsetzen betrachtete, öffnete sich ihr Holzgesicht zu einem bösen, gähnenden Grinsen. Eine tote Grille fiel heraus und prallte mit einem trockenen Wüstenklicken auf den Boden. Zu weit weg, zu weit weg, zu weit weg. . .
Nein, das glaube ich nicht! schrie Ruth.
Die ganze Stadt, Ruth ...zu weit weg ...zu weit... zu weit...
Nein!
Verloren... verloren ...
Plötzlich waren die Augen der Greiner Pappmachepuppe von diesem flüssigen grünen Feuer erfüllt. Du bist auch verloren, sagte sie. Du bist jetzt ebenso verrückt wie die anderen. David Brown ist nur eine Ausrede, um hier zu bleiben ...
Nein...
Aber jetzt regten sich alle ihre Puppen, das grüne Leuchten wanderte von einer zur anderen, bis ihr Schulzimmer davon erfüllt war. Es pulsierte, und sie hatte das grauenhafte Gefühl, sich in einem gespenstischen Smaragdherzen zu befinden.
Sie starrten sie mit ihren Glasaugen an, und jetzt endlich begriff sie, warum die Puppen Edwina Thurlow so große Angst eingejagt hatten.
Jetzt waren es die Stimmen ihrer Puppen, die zu diesem Rascheln von Herbstlaub anschwollen, verschlagen flüsterten, untereinander tuschelten, zu ihr tuschelten... aber es waren auch die Stimmen der Stadt, und Ruth McCausland wußte es.
Sie dachte, daß sie vielleicht der letzte Rest von geistiger Gesundheit in der Stadt waren... und von ihrer eigenen.
Es muß etwas geschehen, Ruth. Das war die Puppe aus Biskuitporzellan, aus deren Mund Feuer quoll; es war die Stimme von Beach Jernigan.
Du mußt jjemanden warnen. Das war die französische Puppe mit ihrem gummiartigen Guttaperchakörper; es war die Stimme von Hazel McCready.
Aber j jetzt werden sie dich nicht mehr_ fortgehen lassen, Ruth. Das war die Nixon-Puppe, deren ausgestopfte Finger zum doppelten V-Zeichen erhoben waren, die mit der Stimme von John Enderson unten in der Grundschule sprach. Sie könnten es, aber es wäre falsch.
Sie haben dich gern, Ruth, aber wenn du jetzt versuchst zu gehen, werden sie dich umbringen. Das weißt du, oder nicht? Das war ihre Kewpie-Puppe aus dem Jahre 1910, deren Gummikopf wie eine umgekehrte Träne aussah; diese Stimme war die von Justin Hurd.
Du mußt ein Signal senden.
Signal, Ruth, jja, und du weißt, wie...
Benütze uns, wir können dir zeigen, wie, wir wissen ...
Sie taumelte einen Schritt zurück und preßte die Hände auf die Ohren, als könnte sie so die Stimmen ausschließen. Ihr Mund zuckte. Sie war entsetzt, und was sie am meisten bestürzte, war der Gedanke, daß sie diese Stimmen mit ihren verdrehten Wahrheiten für geistig gesund hatte halten können. Havens geballte Verrücktheit befand sich hier, genau hier.
Signal, benutze uns, wir können dir zeigen, wie, wir wissen es, und du MÖCHTEST es wissen, das Rathaus, Ruth, der Turm ...
Die raschelnden Stimmen griffen den Gesang auf: Das Rathaus, Ruth! Ja, das ist es! Das Rathaus! Das Rathaus! ]a!
Aufhören! kreischte sie. Aufhören, aufhören, o bitte, könnt ihr nicht...
Und dann fiel Ruth McCausland zum ersten Mal, seit sie elf Jahre alt gewesen war und beim Sommerpicknick der Methodisten den Wettlauf der Mädchen über eine Meile gewonnen hatte, in Ohnmacht.
6
Irgendwann in dieser Nacht, ziemlich früh, erlangte sie das Bewußtsein auf eine verwaschene Weise wieder und schlurfte nach unten in ihr Schlafzimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie spürte benommen, daß ihr Kopf schmerzte, wie bei den wenigen Malen, wenn sie zuviel getrunken hatte und mit einem Kater aufgewacht war. Sie bekam auch mit, daß das Haus wankte und ächzte wie ein alter Schoner bei schwerem Seegang. Während Ruth bewußtlos auf dem Boden des Schul-zimmers gelegen hatte, hatten heftige Gewitterstürme das zentrale und östliche Maine heimgesucht. Eine Kaltfront aus dem Mittelwesten war endlich nach Neuengland vorgedrungen und hatte die stickige Hitze vertrieben, die in den vergangenen anderthalb Wochen über dem Land gelastet hatte. Vielerorts war dieser Wetterumschwung von verheerenden Gewittern begleitet. Haven blieb das Schlimmste erspart, aber der Strom fiel wieder aus, diesmal für mehrere Tage.
Doch der Stromausfall war unwichtig; Haven hatte inzwischen seine eigene Energieversorgung. Wichtig war lediglich, daß das Wetter umgeschlagen war. Als das geschah, war Ruth nicht die einzige Person in Haven, die mit schlimmen, wie von einem Kater herrührenden Kopfschmerzen erwachte.
Jeder in der Stadt, vom ältesten bis zum jüngsten, wachte mit demselben Gefühl auf, während böige Winde die verpestete Luft nach Osten auf den Ozean hinaustrieben, wo sie sie zu harmlosen Schwaden zerstoben.
7
Ruth schlief bis Mittwochmittag ein Uhr. Sie stand mit den letzten Resten ihrer Kopfschmerzen auf, aber zwei Anacin beseitigten sie. Um fünf ging es ihr besser als seit langer Zeit. Ihr Körper schmerzte, und ihre Muskeln waren verkrampft, aber verglichen mit den Dingen, die sie seit Anfang Juli plagten, waren das Nebensächlichkeiten, die ihr Wohlbefinden kaum beeinträchtigten. Nicht einmal ihre Angst um David Brown konnte das beeinträchtigen.
Alle, denen sie auf der Main Street begegnete, hatten einen verschleierten Blick in den Augen, als wären sie gerade aus dem Zauberbann einer Märchenhexe erwacht.
Ruth ging zu ihrem Büro im Rathaus und genoß es, wie der Wind ihr
Haar von der Stirn hob, wie die Wolken über einen tiefblauen und klaren Himmel zogen; einen Himmel, der beinahe herbstlich aussah. Sie sah ein paar Jungen, die auf dem großen Feld hinter der Grundschule einen Drachen steigen ließen, und lachte sogar laut auf.
Später hatte sie nichts mehr zu lachen, als sie mit einer Gruppe redete, die sie rasch einberufen hatte - Havens drei Gemeinderäte, der Bürgermeister und natürlich Bryant und Marie Brown. Ruth begann damit, daß sie sich entschuldigte, weil sie bisher nicht die Staatspolizei eingeschaltet oder das Verschwinden des Jungen gemeldet hatte. Sie hatte geglaubt, sagte sie, sie würden David rasch finden, noch in der Nacht, spätestens am nächsten Tag. Sie wußte, das war keine Entschuldigung, aber darum hatte sie es unterlassen. Sie sagte, das sei ihr schwerster Fehler, seit sie Polizistin von Haven war, und wenn David Brown darunter leiden mußte, dann würde sie sich das niemals verzeihen.
Bryant, der benommen und abwesend und elend aussah, nickte nur. Marie jedoch griff über den Tisch und nahm ihre Hand.
»Sie sollten sich keine Vorwürfe machen«, sagte sie leise. »Es waren andere Umstände. Das wissen wir alle.« Die anderen nickten.
Ich kann ihre Gedanken nicht mehr hören, stellte Ruth plötzlich fest, und ihr eigener Verstand antwortete: Konntest du das,jemals, Ruth? Oder waren es Halluzinationen, die deine Sorge um David Brown hervorgerufen hat?
Ja. Ja, ich konnte es.
Es wäre leichter gewesen zu glauben, daß es sich um Halluzinationen gehandelt hatte, aber das stimmte nicht. Als ihr das klar wurde, wurde ihr auch noch etwas anderes klar: Sie konnte es immer noch. Es war, als hörte sie das leise, ferne Rauschen in einer Muschel, das Kinder immer für das Rauschen des Meeres halten. Sie hatte keine Ahnung, was für Gedanken sie hatten, aber sie hörte sie immer noch. Hörten sie ihre auch ?
SEID IHR NOCH DA? dachte sie, so laut sie konnte.
Marie Brown riß die Hände an die Schläfen, als hätte sie plötzlich einen stechenden Schmerz verspürt. Newt Berringer runzelte heftig die Stirn. Hazel McCready, die auf den vor ihr liegenden Block gekritzelt hatte, sah auf, als hätte Ruth laut gesprochen.
O.ja, sie können mich noch hören.
»Wie dem auch sei und ob es richtig oder falsch war, jetzt ist es passiert«, sagte Ruth. »Es wird Zeit - höchste Zeit-, daß ich die Staatspolizei über Davids Verschwinden informiere. Sind Sie damit einverstanden?«
Unter normalen Umständen wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, ihnen so eine Frage zu stellen. Schließlich bezahlten sie ihr das kümmerliche Gehalt dafür, daß sie Fragen beantwortete und nicht stellte.
Aber jetzt war in Haven alles anders.
Sie sahen Ruth überrascht und ein wenig bestürzt an.
Jetzt empfing sie die Stimmen wieder ganz deutlich: Nein, Ruth, nein... keine Außenstehenden... wir kümmern uns darum ... wir brauchen keine Außenstehenden, während wir »werden« ... pssst... um dein Leben, Ruth... pssst...
Eine besonders heftige Bö brachte die Fenster von Ruths Büro zum Scheppern. Adley McKeen drehte sich zu dem Geräusch um... alle taten es. Dann erschien ein rätselhaftes, sehr eigenartiges kleines Lächeln auf Adley McKeens Gesicht.
»Natürlich, Ruth«, sagte er. »Wenn Sie meinen, daß die Staatspolizei eingeschaltet werden sollte, dann tun Sie es. Wir vertrauen Ihrem Urteil, nicht?«
Die anderen stimmten zu.
Das Wetter hatte sich verändert, der Wind wehte, und am Mittwochnachmittag leitete die Staatspolizei die Suche nach David Brown.
8
Am Freitag begriff Ruth McCausland, daß Mittwoch und Donnerstag
nichts weiter als eine trügerische Pause in einem fortlaufenden Prozeß gewesen waren. Sie wurde unablässig in einen fremden Wahnsinn getrieben.
Ein schwacher Teil ihres Verstandes erkannte diese Tatsache und beklagte sie... konnte sie aber nicht aufhalten. Er konnte nur hoffen, daß die Stimmen ihrer Puppen neben Wahnsinn auch einen Teil Wahrheit verkündeten.
Wie außerhalb ihrer selbst stehend beobachtete sie, wie ihre Hände ein scharfes Küchenmesser ergriffen - dasjenige, das sie zum Ausnehmen von Fischen verwendete - und aus der Schublade zogen. Sie nahm es mit nach oben ins Schulzimmer.
Das Schulzimmer glühte in fauligem grünem Licht. Tommyknocker-Licht. So nannte sie mittlerweile jeder in der Stadt, und das war ein guter Name, nicht? Ja. So gut wie jeder andere. Die Tommyknockers.
Gib ein Signal. Mehr kannst du nicht tun. Sie möchten dich loswerden, Ruth. Sie lieben dich, Ruth, aber ihre Liebe ist mörderisch geworden. Ich glaube, man könnte eine verdrehte Art von Respekt darin sehen. Weil sie immer noch Angst vor dir haben. Auch jetzt noch, wo du fast schon so verrückt bist wie alle anderen auch, haben sie Angst vor dir. Vielleicht wird jemand das Signal hören ... hören... sehen... verstehen.
Jetzt befand sich eine linkische Zeichnung vom Uhrturm des Rathauses auf ihrer Tafel... die Kritzelei eines Erstkläßlers.
Ruth war nicht imstande, an den Puppen im Schulzimmer zu arbeiten, nicht in diesem gräßlich wabernden und pulsierenden Licht. Sie trug sie eine nach der anderen ins Arbeitszimmer ihres Mannes und schlitzte ihre Leiber auf wie eine Chirurgin - der französischen Madame, dem Clown aus dem neunzehnten Jahrhundert, der Kewpie-Puppe, einer nach der anderen.
Dann schob sie in jede ein kleines Gerät ein, das sie aus C-Zellen, Drähten, Elektronikteilen von Taschenrechnern und den Pappröhren von Klopapierrollen hergestellt hatte. Die Schnitte nähte sie rasch mit starkem schwarzem Faden wieder zu. Je länger die Reihe der nackten Puppen auf dem Schreibtisch ihres Mannes wurde, desto mehr glichen sie toten Kindern, vielleicht Opfern einer grausamen Massenvergiftung, die nach ihrem Tod ausgezogen und beraubt worden waren.
In jeder zugenähten Öffnung war ein Stück ausgespart, so daß die Klopapierrollen wie seltsame Teleskope herausragen konnten. Obwohl sie nur aus Pappe bestanden, würden die Rollen dazu dienen, die Energie zu kanalisieren, wenn sie erzeugt wurde. Sie hatte keine Ahnung, woher sie das wußte oder woher sie überhaupt wußte, wie man diese Geräte herstellte... das Wissen schien ihr aus der Luft zugeflogen zu sein. Aus derselben Luft, in die sich David Brown
(ist auf Altair-q)
aufgelöst hatte.
Wenn sie das Messer in ihre plumpen, wehrlosen Körper stieß, puffte
grünes Licht heraus.
Ich
(sende ein Signal)
ermorde die einzigen Kinder, die ich jemals hatte.
Das Signal. Denk an das Signal. Nicht an die Kinder.
Mit Verlängerungskabeln verband sie die Puppen fein säuberlich zu einer Kette. Von den letzten acht Zentimetern dieser Kabel hatte sie die Isolierung entfernt und das glänzende Kupfer in einen M-i6-Feuer-werkskracher gebohrt, den sie, etwa eine Woche bevor dieser Wahnsinn begann, Beach Jernigans vierzehnjährigem Sohn Hump (der so genannt wurde, weil eine seiner Schultern etwas höher war als die andere) abgenommen hatte. Einen Augenblick sah sie voller Zweifel in ihr Schulzimmer mit seinen jetzt leeren Bänken. Es fiel genügend Licht durch den Türbogen ein, so daß sie auf der Tafel die Zeichnung des Uhrturms erkennen konnte. Sie selbst hatte sie während einer ihrer Phasen der Geistesabwesenheit, die immer länger zu werden schienen, gemacht.
Die Zeiger der Uhr auf der Zeichnung standen auf drei Uhr.
Ruth ließ von ihrer Arbeit ab und ging zu Bett. Sie schlief, aber es war kein ruhiger Schlaf; sie wälzte sich und drehte sich herum und stöhnte. Selbst im Schlaf gingen ihr die Stimmen durch den Kopf - Gedanken an Rache, an Kuchen, die gebacken werden mußten, sexuelle Phantasien, Sorgen über Unregelmäßigkeiten, Ideen für seltsame Maschinen und Geräte, Träume von Macht. Und unter alledem ein dünnes, irrationales Gestammel wie von einem verseuchten Fluß: das waren die Gedanken, die aus den Köpfen der anderen Einwohner ihrer Stadt kamen, aber keine menschlichen Gedanken waren, und in ihrem alptraumgeplagten Schlaf erkannte der Teil von Ruth McCausland, der sich immer noch störrisch an die geistige Gesundheit klammerte, die Wahrheit: Das waren nicht die anschwellenden Stimmen der Menschen, unter denen sie all die Jahre gelebt hatte, sondern die derer von außerhalb. Es waren die Stimmen der Tommyknockers.
10
Am Donnerstagnachmittag war Ruth klar, daß der Wetterumschwung nichts verändert hatte.
Die Staatspolizei kam, leitete aber keine weiträumige Suche ein; Ruths wie immer detaillierter und präziser Bericht hatte deutlich gemacht, daß der vierjährige David Brown das bisher durchsuchte Gebiet kaum verlassen haben konnte, es sei denn, er wäre entführt worden -eine Möglichkeit, an die man nun denken mußte. Ihrem Bericht lagen Geländeskizzen bei. Diese waren mit ihrer deutlichen Handschrift markiert und ließen erkennen, daß sie die Suche gründlich durchgeführt hatte.
»Ruthie, du warst umsichtig und gründlich«, sagte Monster Dugan an diesem Abend zu ihr. Seine Stirn war so gerunzelt, daß jede einzelne Runzel wie eine Erdbebenverwerfung aussah. »Das bist du immer gewesen. Aber ich hätte niemals gedacht, daß du einmal einen John-Wayne-Alleingang wie diesen durchziehen würdest.«
»Butch, es tut mir leid.«
»Ja, nun...« Er zuckte die Achseln. »Geschehen ist geschehen, was?«
»Ja«, sagte sie und lächelte resigniert. Das war einer von Ralphs Lieblingssprüchen gewesen.
Butch stellte viele Fragen, aber nicht die, die zu beantworten es sie drängte: Ruth, was stimmt in Haven nicht? Der heftige Wind hatte die Atmosphäre in der Stadt bereinigt; keiner der Auswärtigen spürte, daß etwas nicht in Ordnung war.
Aber der Wind hatte nicht die Probleme weggeweht. Der böse Spuk dauerte immer noch an. Was immer es sein mochte - von einem gewis -sen Punkt aus schien es sich selbst fortzusetzen. Ruth ging davon aus, daß dieser Punkt erreicht war. Sie fragte sich, was ein Ärzteteam, das in Haven eine Reihenuntersuchung vornähme, dabei feststellen würde. Eisenmangel bei den Frauen? Männer mit plötzlich auftretendem Haarausfall? Verbesserte Sehfähigkeit (besonders periphere Sehfähigkeit) in Verbindung mit ungewöhnlich starkem Zahnausfall? Menschen, die so schlau waren, daß sie umheimlich wirkten, die so auf einen eingestellt waren, daß sie - haha - Gedanken zu lesen schienen?
Ruth selbst hatte Mittwochnacht zwei weitere Zähne verloren. Einen entdeckte sie am Donnerstagmorgen auf ihrem Kissen, der andere war nirgends zu finden. Sie vermutete, daß sie ihn verschluckt hatte. Nicht, daß es eine Rolle spielte.
11
Der Zwang, das Rathaus hochzujagen, wurde zu geistigem Giftsumach, der sie in den Wahnsinn trieb und sich pausenlos in ihrem Gehirn bewegte. Die Puppenstimmen flüsterten unablässig. Am Freitag unternahm sie einen letzten Versuch, sich selbst zu retten.
Sie beschloß, die Stadt doch zu verlassen - schließlich war es nicht mehr ihre Stadt. Sie mutmaßte, daß sie so lange geblieben war, war auch eine der Fallen, die die Tommyknockers für sie ausgelegt hatten... und wie bei der David-Brown-Falle war sie hineingestolpert, verwirrt wie ein Kaninchen in einer Schlinge.
Sie dachte, ihr alter Dodge würde nicht anspringen. Sie hätten ihn präpariert. Aber er sprang an.
Dann dachte sie, man würde sie nicht aus Haven Village herauslassen, sie würden sie aufhalten, wie Moonies lächeln und ihr ihre endlos raschelnden Wir-lieben-dich-alle-Ruth-Gedanken senden. Sie wurde nicht aufgehalten.
Sie fuhr die Main Street hinab und aus der Stadt hinaus, und dabei saß Ruth stocksteif mit weiß hervortretenden Knöcheln hinter dem Steuer, hatte ein starres Lächeln im Gesicht, und Zungenbrecher (Fischers Fritze fischt frische Fische)
rasten durch ihren Verstand. Sie spürte, wie ihr Blick zum Uhrturm des Rathauses gezogen wurde -(ein Signal Ruth sende ein)
(ja die Explosion der herrliche)
(Knall schieß ihn bis nach Altair-4 Ruth)
und sie leistete erbittert Widerstand. Dieser Zwang, das Rathaus hochzujagen, um jemanden darauf aufmerksam zu machen, was hier vor sich ging, war irrsinnig. Es war, als würde man sein Haus anzünden, um ein Hähnchen zu grillen.
Als der Backsteinturm nicht mehr zu sehen war, ging es ihr besser.
Als sie auf der Straße nach Derry war, mußte sie dem Drang widerstehen, so schnell zu fahren, wie der Dart es zuließ (was immer noch überraschend schnell war, wenn man sein Alter bedachte). Sie fühlte sich, als wäre sie gerade glücklich aus einer Löwengrube entkommen -mehr durch Glück als durch Verstand. Während der Ort hinter ihr zurückblieb und die raschelnden Stimmen leiser wurden, befiel sie das Gefühl, als müßte jemand eine verspätete Verfolgung gestartet haben.
Sie sah immer wieder in den Rückspiegel und rechnete damit, Fahrzeuge zu sehen, die sie verfolgten, um sie zurückzubringen. Sie würden darauf bestehen, daß sie zurückkam.
Sie liebten sie zu sehr, um sie gehenzulassen.
Aber die Straße blieb frei. Kein Dick Allison heulte mit einem der drei Löschfahrzeuge der Stadt hinter ihr her. Kein Newt Berringer in seinem großen minzgrünen Olds-88. Kein Bobby Tremaine in seinem gelben Challenger.
Als sie sich der Stadtgrenze zwischen Haven und Albion näherte, beschleunigte sie den Dart auf neunzig Stundenkilometer. Je näher sie der Stadtgrenze kam - die sie, zu Recht oder nicht, als den Punkt betrachtete, an dem ihre Flucht unwiderruflich werden würde -, desto mehr erschienen ihr die vergangenen zwei Wochen wie ein schwarzer, verzerrter Alptraum.
Ihr Fuß auf dem Gaspedal des Dart wurde immer schwerer.
Schließlich warnte sie etwas - vielleicht war es etwas, das die Stimmen gesagt hatten und das ihr Unterbewußtsein registrierte. Schließlich hatte sie in letzter Zeit alle möglichen Informationen empfangen, im Schlaf ebenso wie im Wachsein. Als das Stadtschild näher kam -
A
L
B
I
O
N
- nahm sie den Fuß vom Gas und trat auf die Bremse. Sie ließ sich weich und viel zu weit durchtreten, wie in den letzten vier Jahren eigentlich immer. Ruth ließ das Auto vom Asphalt auf den Seitenstreifen rollen. Hinter ihr wirbelte Staub auf, so fein und weiß wie Knochenmehl. Der Wind hatte sich gelegt. Die Luft in Haven war wieder totenstill. Der Staub, den sie aufgewirbelt hatte, dachte Ruth, würde lange Zeit hängenbleiben.
Sie umklammerte das Lenkrad und überlegte, warum sie angehalten hatte.
Überlegte. Wußte beinahe. Begann
(zu »werden«)
zu wissen. Oder zu erraten.
Eine Barriere? Denkst du das? Sie haben eine Barriere errichtet? Es ist ihnen gelungen, ganz Haven in eine... eine Ameisenfarm zu verwandeln oder in etwas unter einer Glasglocke? Ruth, das ist lächerlich!
Genau das war es. Es entsprach nicht nur Logik und Erfahrung, sondern auch ihren Sinneseindrücken. Während sie hinter dem Lenkrad saß und dem Radio zuhörte (leise Jazzmusik, die von einem kleinen Collegesender in Bergenfield, New Jersey ausgestrahlt wurde), rumpelte ein Hühnerlaster aus Hillcrest vorbei, wahrscheinlich auf dem Weg nach Derry. Wenige Sekunden später fuhr ein Chevy Vega in die andere Richtung. Am Steuer saß Nancy Voss. Auf dem Aufkleber auf der Heckstoßstange stand: POSTANGESTELLTE MACHENES EXPRESS.
Nancy Voss sah Ruth nicht an, sie fuhr einfach ihres Weges - in diesem Fall wahrscheinlich nach Augusta.
Siehst du? Nichts hält sie auf, dachte Ruth.
Nein, flüsterte ihr Verstand zurück. Sie nicht, Ruth, nur dich. Es hält dich auf, und wahrschienlich würde es auch Bobbi Andersons Freund und ein oder zwei andere aufhalten. Nur zu! Fahr getrost mit achtzig Stundenkilometern dagegen, wenn du es nicht glaubst! Wir lieben dich alle, und es würde uns traurig stimmen, wenn dir etwas zustieße... aber wir würden nicht - könnten nicht! - verhindern, daß es geschieht.
Anstatt weiterzufahren, stieg sie aus und lief zur Haven-Albion-Grenze, gefolgt von ihrem langen Schatten. Die heiße Julisonne brannte auf ihren Kopf herab. Im Wald hinter Bobbis Haus konnte sie das unablässige dumpfe Dröhnen von Maschinen hören. Sie gruben wieder. Die David-Brown-Ferien waren vorbei. Und sie spürte, daß sie nahe daran waren... nun, nahe an etwas. Dies rief ein Gefühl von Dringlichkeit und Panik in ihr wach.
Sie kam zu dem Schild... ging daran vorbei... lief weiter... und spürte eine wilde, zunehmende Hoffnung in ihr aufkeimen. Sie war aus Haven heraus! Sie war in Albion! Noch einen Augenblick, dann würde sie schreiend zum nächsten Haus laufen, zum nächsten Telefon. Sie...
... wurde langsamer.
Ihr Gesicht nahm einen verwirrten Ausdruck an... der sich dann in eine schreckliche aufdämmernde Gewißheit verwandelte.
Es fiel ihr schwer zu gehen. Die Luft wurde zäh, elastisch. Sie konnte spüren, wie sie ihre Wangen berührte, ihre Stirn; sie konnte spüren, wie sie ihre Brüste flachdrückte.
Ruth senkte den Köpf und ging Weiter, sie hatte den Mund zu einer angestrengten Grimasse verzogen, die Sehnen an ihrem Hals traten hervor. Sie sah aus wie eine Frau, die gegen heftigen Wind geht, obwohl die Bäume zu beiden Seiten der Straße kaum die Blätter bewegten. Das Bild, das ihr jetzt einfiel, war dasselbe wie das, welches Jim Gardener eingefallen war, als er versucht hatte, mit der Hand in Bobbi Andersons Boilerluke zu greifen; lediglich der Maßstab war anders. Ruth war, als wäre die ganze Straße mit einem unsichtbaren Nylonstrumpf abgesperrt worden, so groß, daß er einer Titanin gepaßt hätte. Ich habe schon von Strumpfhosen im Nackt-Look gehört, dachte sie hysterisch, aber dies ist lächerlich.
Der Druck ließ ihre Brüste schmerzen. Und plötzlich begannen ihre Füße auf dem Boden auszurutschen. Panik ergriff sie. Sie hatte den Punkt erreicht und überschritten, an dem ihre Fähigkeit, Vorwärtsbewegung zu erzeugen, die Elastizität der unsichtbaren Barriere überstieg. Jetzt schob sie sie wieder zurück.
Sie mühte sich ab, aus eigener Kraft hinauszukommen, bevor das geschah, aber sie verlor den Halt und wurde grob in die Richtung zurückgestoßen, aus der sie gekommen war; ihre Füße scharrten über den Boden, und sie riß erschrocken die Augen auf. Es war, als würde sie von einem riesigen Luftballon zurückgestoßen.
Einen Augenblick verloren ihre Füße völlig den Kontakt mit dem Boden. Dann landete sie auf den Knien, schürfte sich beide böse auf und zerriß ihr Kleid. Sie stand auf und ging, vor Schmerzen weinend, zu ihrem Auto zurück.
Sie saß fast zwanzig Minuten hinter dem Steuer und wartete darauf, daß das Pochen in den Knien nachließ. Gelegentlich fuhren Autos und Lastwagen in beiden Richtungen auf der Derry Road entlang, und einmal, während sie da saß, kam Ashley Ruvall mit seinem Fahrrad daher. Er hatte seine Angel dabei. Er sah sie und hob grüßend die Hand.
»Hi, Mischisch McCauschland!« rief er lispelnd und grinste. Das Lispeln war eigentlich nicht verwunderlich, dachte sie benommen, schließlich hatte der Junge keine Zähne mehr. Er hatte nicht ein paar, sondern alle verloren.
Sie spürte, wie Kälte sie durchströmt e, als der Junge rief: »Wir lieben Schie alle, Mischisch McCauschland...«
Nach sehr langer Zeit ließ sie den Dart an, wendete um hundertachtzig Grad und fuhr durch die drückende Stille nach Haven Village zurück. Während sie auf der Main Street zu ihrem Haus fuhr, war ihr, als sähen viele Leute sie an, derm Augen von einem Wissen erfüllt waren, welches mehr verschlagen als weise war.
Ruth schaute in den Rückspiegel und sah den Uhrturm am anderen Ende der kurzen Main Street.
Die Zeiger näherten sich drei Uhr.
Vor dem Haus der Fannins hielt sie an, holperte achtlos über den Bordstein und würgte den Motor ab. Sie machte sich nicht die Mühe, den
Zündschlüssel herumzudrehen. Sie saß nur hinter dem Lenkrad, während rote Anzeigen am Armaturenbrett flackerten, und schaute in den Rückspiegel, während ihr Verstand sacht entschwebte. Als sie wieder zu sich kam, schlug die Rathausuhr sechs. Sie hatte drei Stunden verloren ... und einen weiteren Zahn. Die Stunden konnte sie nicht mehr wiederfinden, wohl aber den Zahn, einen Schneidezahn, der in ihrem Schoß auf dem Kleid lag.
12
Ihre Puppen redeten die ganze Nacht mit ihr. Und sie dachte, daß nichts, was sie sagten, eigentlich Lügen waren... das war das Allerschrecklichste. Sie saß im grünen, kranken Herzen ihres Einflusses und hörte ihnen zu, wie sie ihre verrückten Märchen erzählten.
Sie sagten ihr, sie hätte völlig recht, wenn sie glaubte, daß sie verrückt wurde; ein Röntgenbild ihres Gehirns, sagten sie, überhaupt von jedermann in Haven, würde einen Neurologen schreiend davonlaufen lassen. Ihr Gehirn veränderte sich. Es begann zu... »werden«.
Ihr Gehirn und ihre Zähne - oh, Verzeihung, ihre Ex-Zähne - begannen beide zu »werden«. Und ihre Augen... ihre Farbe veränderte sich, oder nicht? Ja. Ihr Dunkelbraun verblich zu Mandelbraun... und hatte sie gestern im Haven Lunch nicht bemerkt, daß sich auch Beach Jerni-gans leuchtendblaue Augen veränderten? Wurden sie nicht auch zu Mandelbraun?
Mandelbraune Augen... keine Zähne... großer Gott, was geschieht mit uns?
Die Puppen sahen sie glasig an und lächelten.
Keine Sorge, Ruth, es handelt sich nur um eine Invasion aus dem Weltall, wie man sie jahrelang in billigen Filmen sehen konnte. Das ist dir doch klar, oder nicht? Die Invasion der Tommyknockers. Wenn du die Invasoren aus dem Weltraum sehen möchtest, von denen in den B-Filmen und den Science-fiction-Geschichten immerzu die Rede war, dann sieh in Beach Jernigans Augen. OderWendys. Oderdeine eigenen.
»Ihr meint, daß ich aufgefressen werde«, flüsterte sie in der sommerlichen Dunkelheit, während Freitagnacht zu Samstagmorgen wurde.
Aber Ruth! Was hast du dir denn unter »Werden« vorgestellt? Die Puppen lachten, und Ruths Verstand entschwebte wieder gnädig.
13
Als sie am Samstagvormittag erwachte, schien die Sonne, auf der Tafel im Schulzimmer war die Kritzelei des Rathausturms, und auf Ralphs Schreibtisch lagen mehr als zwei Dutzend Taschenrechner. Sie steckten in der Segeltuchtasche, die sie mitnahm, wenn sie für die Krebshilfe sammeln ging. Auf einigen Taschenrechnern waren Aufkleber. BER-RINGER MCCREADY. BÜRO DES BÜRGERMEISTERS, NICHT MITNEHMEN. GEMEINDEKASSE. Sie hatte also überhaupt nicht geschlafen. Statt dessen hatte sie eine ihrer Phasen der Geistesabwesenheit gehabt... und dabei anscheinend alle Taschenrechner aus dem Rathaus gestohlen.
Warum?
Es steht dir nicht zu, nach dem Warum zu_ fragen, Ruth, flüsterten die Puppen, und sie verstand mit jedem Tag, mit jeder Minute, sogar mit jeder Sekunde besser, warum sie der kleinen Edwina Thurlow solche Angst eingejagt hatten. Du mußt nur ein Signal geben ... und sterben.
Wieviel von diesem Gedanken stammt von mir? Und wieviel von ihnen, die mich antreiben?
Ist nicht wichtig, Ruth. Es wird so oder so geschehen, also mach es so schnell und gründlich, wie du kannst. Hör auf zu denken. Laß es geschehen ... denn ein Teil von dir möchte, daß es geschieht, nicht?
Ja. Der größte Teil von ihr sogar. Und es war kein Signal für die Außenwelt oder ein ähnlicher Quatsch; das war lediglich der vernünftige Zuckerguß auf einem großen Teufelskuchen der Unvernunft.
Sie wollte ein Teil davon sein, wenn alles hochging.
Die Pappröhren würden die Energie kanalisieren und sie als hellen Strom destruktiver Kraft in den Turm senden, und dann würde der Turm abheben wie eine Rakete; die Druckwelle würde die Straßen dieser verderbten Stadt Haven mit Vernichtung überziehen, und Vernichtung war genau das, was sie wollte; das war Teil ihres »Werdens«.
14
An diesem Abend rief Butch Dugan sie an, um sie über den Fall David Brown auf dem laufenden zu halten. Einiges daran war ungewöhnlich. Der Bruder des Jungen, Hillman, befand sich in einem Zustand im Krankenhaus, der der Katatonie gleichkam. Um den Großvater des Jungen stand es nicht viel besser. Er fing an, den Leuten zu erzählen, daS David Hillman sich nicht verirrt hatte, sondern tatsächlich verschwunden war. Mit anderen Worten, der Zaubertrick wäre echt gewesen, Und, führte Butch weiter aus, er erzählte allen Leuten, die es hören wollten, daß halb Haven verrückt wurde und die andere Hälfte es bereits war.
»Er fuhr nach Bangor und unterhielt sich mit einem Burschen namens Bright von den News«, sagte Monster. »Sie wollten eine rührende Geschichte und bekamen statt dessen Irrsinn aufgetischt. Der alte Mann wird zu einem echten Quasar, Ruth.«
»Du solltest ihm sagen, er soll fortbleiben«, sagte Ruth. »Sie werden ihn hereinlassen, aber er wird nicht wieder hinauskommen.«
»Was?« brüllte Monster. Seine Stimme wurde plötzlich leise. »Die Verbindung ist im Eimer, Ruth.«
»Ich sagte, vielleicht gibt es morgen etwas Neues. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.« Sie rieb sich unaufhörlich die Schläfen und betrachtete die Puppen, die in einer Reihe auf Ralphs Schreibtisch lagen und verkabelt waren wie eine Terroristenbombe. »Halt morgen nach einem Signal Ausschau.«
»Was?« Monsters Stimme war in der zunehmenden Brandung der zusammenbrechenden Verbindung kaum noch zu verstehen.
»Leb wohl, Butch. Bist ein feiner Kerl. Hör einfach hin. Ich glaube, man wird es bis Derry hören können. Um drei.«
»Ruth, ich verstehe dich nicht... ruf zurück... bald...«
Sie legte den Hörer des nutzlosen Telefons auf, sah ihre Puppen an, lauschte den anschwellenden Stimmen und wartete darauf, daß es Zeit wurde.
15
Dieser Sonntag war ein Bilderbuchsommertag in Maine: klar, hell, warm. Um Viertel vor eins zog Ruth McCausland ein hübsches blaues Sommerkleid an und verließ ihr Haus zum letzten Mal. Sie schloß die Eingangstür ab und stellte sich auf Zehenspitzen, um den Schlüssel an den kleinen Haken zu hängen. Ralph hatte einmal gesagt, jeder Einbrecher, der sein Geld wert war, würde als erstes über der Tür nach dem Schlüssel suchen, aber Ruth hatte es dennoch so gemacht, und es war niemals in dem Haus eingebrochen worden. Im Grunde genommen, vermutete sie, kam es nur auf Vertrauen an, und Haven hatte sie noch nie im Stich gelassen. Sie hatte die Puppen in Ralphs alten Segeltuchsack gestopft und den Sack die Vortreppe heruntergeschleift.
Bobby Tremain schlenderte pfeifend vorbei. »Soll ich Ihnen helfen, Missis McCausland?«
»Nein, danke, Bobby.«
»Schon gut.« Er lächelte. Sein Lächeln hatte noch ein paar Zähne -nicht viele, aber ein paar, wie die letzten Latten in einem Zaun, der ein Spukhaus umgab. »Wir lieben Sie alle.«
»Ja«, sagte sie und hievte den Sack auf den Beifahrersitz. Bohrende Schmerzen rasten durch ihren Kopf. »Oh, wie gut ich das weiß.«
(was denkst du Ruth wohin gehst du)
(frische fische fischt Fischers Fritz)
(sag es uns Ruth sag uns was die Puppen dir befohlen haben) (Brautkleid bleibt Brautkleid)
(sag Ruth ist es das was wir wollen oder hältst du noch durch) (der Hahn ist tot der Hahn ist tot)
(es ist was wir wollen, nicht? es gibt keine Veränderungen, oder?) Sie sah Bobby einen Augenblick an, dann lächelte sie. Bobby Tremaines Lächeln wurde ein wenig unsicher.
(mich lieben? ja... aber ihr habt immer noch Angst vor mir, und das aus gutem Grund)
»Geh weiter, Bobby«, sagte sie leise, und Bobby ging weiter. Er sah einmal über die Schulter zurück, und sein jugendliches Gesicht war besorgt und mißtrauisch.
Ruth fuhr zum Rathaus.
Es hüllte sich in sonntägliches Schweigen, eine verstaubte Kirche der Verwaltung. Ihre Schritte klackten und hallten. Der Sack war zu schwer zum Tragen, daher schleifte sie ihn über den gewachsten Boden. Das erzeugte ein trockenes, schlangenähnliches Zischen. Sie zerrte ihn drei Treppen hoch, jede steiler als die vorhergehende, wobei ihre Hände die Schnur umklammert hielten, mit der sie ihn zugebunden hatte. Ihr Kopf pulsierte und schmerzte. Sie biß sich auf die Lippen, und zwei Zähne kippten mit verfaulter Leichtigkeit zur Seite. Sie spie sie aus. Ihr Atem war rauhes Stroh in ihrer Kehle. Staubiges Sonnenlicht fiel durch die Fenster im dritten Stock herein.
Sie schleifte den Sack den kurzen, unerträglich heißen Flur entlang -hier oben gab es nur zwei Räume, auf jeder Seite einen. In ihnen waren alle Unterlagen der Stadt archiviert. Wenn das Rathaus Havens Gehirn war, dann war hier, in diesem stillen und heißen Dachboden, sein papiernes Gedächtnis, das zurückreichte bis in jene Tage, als die Stadt Ilium, Montgomery, Coodersville und Montville Plantation gewesen war.
Die Stimmen flüsterten und raschelten um sie herum.
Einen Augenblick blieb sie stehen, sah zum letzten Fenster hinaus, sah hinab auf den kurzen Abschnitt der Main Street. Vor Cooder's Market, der an Sonntagen von zwölf bis sechs geöffnet hatte, parkten etwa fünfzehn Autos. Das Geschäft schien gut zu gehen. Leute gingen ins Haven Lunch, um Kaffee zu trinken. Ein paar Autos fuhren vorbei.
Es sieht so normal aus ...es sieht alles so verdammt normal aus! Sie erlebte einen schwindelerregenden Augenblick des Zweifels... dann sah Moose Richardson nach oben und winkte, als könnte er sie sehen, wie sie zu diesem verstaubten Fenster im dritten Stock hinausschaute.
Und Moose war nicht der einzige. Eine Menge Leute sahen sie an.
Sie duckte sich, drehte sich um und holte die Stange zum Fensteröffnen, die dort, wo der Flur in einer Sackgasse endete, in einer Ecke stand. Sie hakte die Stange in den Ring in der Decke, um die Klappleiter herunterzuziehen. Nachdem sie das getan hatte, stellte sie die Stange weg, beugte sich zurück und sah nach oben in den Turm. Sie konnte das mechanische Ticken und Rasseln des Uhrwerks hören und dazwischen das leise Rascheln schlafender Fledermäuse. Da oben schien eine ganze Menge von ihnen zu sein. Die Stadt hätte sie schon vor Jahren beseitigen sollen, aber das Ausräuchern war widerwärtig - und teuer. Wenn das Uhrwerk wieder kaputtging, würde man die Fledermäuse ohnehin beseitigen müssen, bevor man es reparieren konnte. Und das würde noch früh genug sein. Was die Stadträte anbelangte, so war alles in Ordnung, solange jemand anders im Amt war, wenn die Turmuhr nachts um drei zwölf schlug und dann einfach stehenblieb.
Ruth wickelte sich die Schnur des Sacks dreimal ums Handgelenk und begann, mit dem Sack zwischen den Beinen langsam die Leiter emporzuklettern. Der Sack stieß immer wieder an und ruckte aufwärts wie eine Leiche im Leichentuch. Die Schnur schnitt immer tiefer in ihr Handgelenk, und bald war die Hand purpurn und gefühllos. Sie atmete in langen, heftigen Zügen, die tief in ihrer Brust schmerzten.
Schließlich war sie von Schatten eingehüllt. Sie trat von der Leiter auf den eigentlichen Dachboden des Rathauses und zog ihren Sack Hand über Hand hoch. Ruth registrierte kaum, daß ihr Zahnfleisch und ihre Ohren zu bluten angefangen hatten und daß sie den sauren, kupfrigen Geschmack von Blut im Mund hatte.
Um sich herum nahm sie den Gruftgestank von alten Ziegelsteinen wahr, die in der trockenen, dunklen, aufgestauten Sommerhitze backten. Links von ihr befand sich ein großer, undeutlicher Kreis: die Rückseite des Zifferblattes über der Main Street. In einer wohlhabenderen Stadt hätten zweifellos alle vier Seiten ein Zifferblatt gehabt; der Turm von Haven hatte nur dieses eine. Es hatte einen Durchmesser von dreieinhalb Metern. Dahinter konnte sie, noch undeutlicher, die sich bewegenden Zahnräder sehen. Sie konnte sehen, wo der Hammer herabsausen und die Glocke anschlagen würde. Die Delle dort war tief und uralt. Das Uhrwerk war sehr laut.
Mit raschen, eckigen Bewegungen - sie war jetzt selbst wie eine Uhr, eine ablaufende Uhr, und in ihrem Glockenturm wimmelte es eindeutig von Fledermäusen, nicht? - wickelte Ruth sich die Schnur vom Handgelenk - mußte sie buchstäblich aus einer tiefen, spiraligen Rinne in ihrem Fleisch herauswinden - und öffnete den Sack. Sie holte die Puppen eine nach der anderen heraus, wobei sie sich bewegte, so schnell sie konnte. Sie legte sie so im Kreis aus, daß all ihre Füße miteinander Kontakt hatten, ihre Hände ebenfalls. In der Dunkelheit sah es aus, als hielten die Puppen eine Seance ab.
Sie verband den M-i6-Kracher mit dem Zentrum der Delle in der großen Glocke. Wenn die Stunde schlug und der Hammer herabsauste...
Bumm.
Ich werde einfach hier sitzen, dachte sie. Hier sitzen und darauf warten, daß der Hammer herabsaust.
Plötzlich spülte monotone Mattigkeit über sie hinweg. Ruth entschwebte.
16
Sie kam langsam wieder zu sich. Zuerst dachte sie, sie müßte zu Hause in ihrem Bett sein, das Gesicht ins Kissen gepreßt. Sie war im Bett, und das alles war nur ein schrecklicher Alptraum gewesen. Aber ihr Kissen war nicht so rauh und so heiß; ihre Laken pulsierten und atmeten nicht.
Sie hob die Hände und berührte einen heißen, ledrigen Körper, kaum mit Fleisch bedeckte Knochen. Die Fledermaus hatte sich direkt oberhalb ihrer rechten Brust niedergelassen, in der Kuhle ihrer Schulter... plötzlich wurde ihr klar, daß sie das Tier gerufen hatte... daß sie sie irgendwie alle gerufen hatte. Sie konnte seinen rauhen Nagetierverstand hören, dessen Gedanken dunkel und instinktiv und verrückt waren. Es dachte nur an Blut und Insekten und an das Gleiten in blinder Dunkelheit.
»Mein Gott, nein!« schrie sie... Das runzlige, fremde Gekritzel seiner Gedanken war irrsinnig und unerträglich. »O nein, o bitte, lieber Gott, nein...«
Unwillkürlich preßte sie die Hände zusammen, und die papierartigen Knochen unter den ledrigen Flügeln brachen in ihrem Griff. Es fiepte, und Ruth verspürte scharfe Nadeln des Schmerzes in den Wangen, als sie gebissen wurde.
Jetzt fiepten sie alle, alle, und ihr wurde bewußt, daß sich Dutzende auf ihr niedergelassen hatten, vielleicht Hunderte. Auf ihrer anderen Schulter, auf ihren Schuhen, in ihrem Haar. Unter ihrem Blick fing der Schoß ihres Kleides an, sich zu bewegen und zu wuseln.
»O nein!« schrie sie noch einmal in die staubige Düsternis des Turms. Fledermäuse flogen um sie herum. Sie fiepten. Das Flüstern ihrer Schwingen war leise anschwellender Donner, es glich dem anschwellenden Flüstern der Stimmen Havens. »O nein! O nein! O nein!«
Eine Fledermaus flatterte in ihr Haar, verfing sich, fiepte.
Eine andere flog ihr ins Gesicht, und ihr Atem war der Gestank eines toten Hühnerhauses.
Die Welt wirbelte und drehte sich. Irgendwie rappelte sie sich auf die Beine. Sie schlug mit den Händen um den Kopf. Die Fledermäuse waren überall, wie eine schwarze Wolke um sie herum, und jetzt war kein Unterschied mehr zwischen den weichen flatternden Explosionen ihrer Flügel und den Stimmen
(wir lieben dich alle, Ruth!) den Stimmen
(wir hassen dich Ruth misch dich nicht ein wage es nicht dich einzumischen)
den Stimmen von Haven.
Sie hatte vergessen, wo sie war. Sie hatte die Falltür vergessen, die direkt neben ihren Füßen gähnte, und als sie darauf zustolperte, hörte sie die Uhr schlagen - aber der Klang war gedämpft, nicht richtig, denn der Hammer hatte den Zünder getroffen und...
... und nichts passierte.
Sie drehte sich um, während Fledermäuse sie umschwirrten, und jetzt bluteten auch ihre ungläubigen Augen, aber durch den rötlichen Nebel sah sie den Hammer erneut herabsausen, und dann ein drittes Mal, und immer noch blieb die Welt ganz.
Ein Blindgänger, dachte Ruth McCausland. Es war ein Blindgänger. Und stürzte durch die Falltür.
Die Fledermäuse flogen von ihrem Körper, ihr Kleid flog von ihrem Körper, ein Schuh fiel ihr vom Fuß. Sie prallte gegen die Leiter, machte eine halbe Drehung und landete mit einem Aufprall, der alle ihre Rippen brach, auf der linken Seite. Sie versuchte sich umzudrehen, was ihr irgendwie auch gelang. Die meisten Fledermäuse hatten den Rückweg durch die Falltür in die willkommene Dunkelheit des Turms gefunden, aber etwa ein halbes Dutzend flatterte immer noch verwirrt unter der Decke des Flurs im dritten Stock. Der Klang ihrer Stimmen war so fremd und insektenhaft, so schwarmähnlich und voller Irrsinn. Das waren die Stimmen, die sie seit dem vierten Juli oder so in ihrem Kopf gehört hatte. Die Stadt wurde nicht nur verrückt. Das wäre schlimm gewesen, aber dies war schlimmer... o Gott, es war viel, viel schlimmer.
Und es war alles umsonst gewesen. Hump Jernigans Kracher war ein Blindgänger. Sie verlor das Bewußtsein und kam etwa vier Minuten später wieder zu sich; eine Fledermaus saß auf ihrem Nasenrücken und leckte blutige Tränen von ihrer Wange.
»Nein, du MISTSTÜCK!« kreischte sie und riß das Tier mitten entzwei, von Ekel geschüttelt. Es gab ein Geräusch wie zerreißendes dickes Papier von sich. Seine fremdartigen Eingeweide tropften auf ihr nach oben gerichtetes, von Spinnweben verschmutztes Gesicht. Sie konnte den Mund nicht öffnen, um zu schreien - Laß mich sterben, Gott, bitte, laß mich nicht wie sie sein, laß mich nicht »werden«-, weil dann die sterbenden Eingeweide hineingetropft wären - und dann explodierte Humps Kracher mit einem undramatischen, feuchten Knall unter dem Hammer. Grünes Licht füllte erst das Rechteck der Falltür aus... und
dann die ganze Welt. Einen Augenblick konnte Ruth die Knochen der Fledermäuse ganz deutlich sehen, wie auf einer Röntgenaufnahme. Dann wurde das Grün zu Schwarz.
Es war fünfzehn Uhr fünf.
17
Überall in Haven legten sich die Menschen hin. Einige waren von dem unbestimmten Gedanken erfüllt, daß es eine gute Zeit wäre, Vorräte heraufzuholen, in ihre Keller gegangen, andere hatten lediglich das vage Gefühl, dort unten würde es kühler sein. Beach Jernigan lag hinter der Theke im Haven Lunch und hatte die Hände unter dem Nacken verschränkt. Er dachte an das Ding auf der Pritsche seines Lastwagens, das Ding unter der Plane.
Um fünfzehn Uhr fünf zerbarst die Basis des Uhrturms, pulverisierte Ziegelsteine wurden versprüht. Ein gewaltiger Explosionsknall jagte über die Felder; er zerschmetterte fast alle Fensterscheiben in Haven und viele in Troy und Albion.
Grünes Feuer ergoß sich aus dem klaffenden Riß in der Mauer, dann stieg der Turm empor, eine surrealistische Ziegelsteinrakete, ein Ma-gritte-Flugkörper mit einer Uhr an einer Seite. Er erhob sich auf einer Säule aus grünem Feuer - das gewiß kalt war, sonst wären die Puppen verbrannt und Ruth McCauslands Arm; vermutlich die ganze Stadt.
Der Turm stieg auf der grünen Feuersäule in die Höhe, und jetzt wölbten sich die Seitenwände nach außen - aber einen Augenblick blieb die Illusion bestehen: eine Ziegelsteinrakete, die in den Nachmittagshimmel stieg... und durch das Dröhnen der Explosion konnte man die Uhr hören, die Stunde um Stunde schlug. Beim zwölften Schlag -Mittag? Mitternacht? - explodierte sie wie die unselige »Challenger«. Ziegelsteine flogen überallhin - Benton Rhodes sollte später einen Teil der Schäden zu sehen bekommen, aber der größte Teil wurde rasch beseitigt.
Fliegende Ziegelsteine schössen durch Hauswände, Kellerfenster, Bretterzäune, fielen wie Bomben vom Himmel. Der große Zeiger der Uhr, verschnörkeltes Schmiedeeisen, sauste durch die Luft wie ein tödlicher Bumerang und blieb in einer der uralten Eichen vor der Bibliothek von Haven stecken.
Mauerwerk und gesplitterte Bretter prasselten auf die Erde.
Dann Stille.
Nach einer Weile standen die Menschen in ganz Haven vorsichtig wieder auf und sahen sich um... fingen an, Glas wegzuräumen oder Schäden zu begutachten. Zerstörung hatte die Stadt heimgesucht, aber niemand war verletzt worden. Und in der ganzen Stadt hatte nur ein
Mensch tatsächlich gesehen, wie die Ziegelsteinrakete, dem grandiosen Traum eines Wahnsinnigen vergleichbar, in die Luft gestiegen war.
Dieser Mensch war Jim Gardener gewesen. Bobbi machte ein kleines Nickerchen - Gardener hatte sie dazu überredet. Keiner sollte in der größten Nachmittagshitze arbeiten - besonders Bobbi nicht. Sie hatte sich ein wenig von dem schrecklichen Zustand erholt, in dem Gardener sie gefunden hatte, aber sie mutete sich immer noch viel zuviel zu, und ihre Menstruation hatte unvermittelt wieder sehr heftig eingesetzt.
Ich frage mich, dachte er morbide, wann sie statt ein paar zusätzlichen Eisen tabletten täglich eine Bluttransfusion braucht? Aber er wußte, daß das unwahrscheinlich war. Seine Ex-Frau hatte schreckliche Menstruationsprobleme gehabt, möglicherweise, weil ihre Mutter das als DES bekannte Medikament erhalten hatte. Daher hatte Gardener einen Kursus über eine Körperfunktion mitgemacht, die sein eigener Körper niemals ausführen würde, und er wußte, daß die laienhafte Vorstellung der Männer von der Menstruation - ein monatlicher Blutfluß aus der Va -gina — falsch war. Das Material, das ausgeschieden wurde, war zum größten Teil nicht Blut, sondern abgestorbenes Gewebe. Die Menstruation war ein wirksamer Abfallbeseitigungsprozeß bei einer Frau, die imstande war, Kinder zu bekommen, es aber momentan nicht tat.
Nein, er bezweifelte, daß Bobbi verbluten würde... es sei denn, sie bekam einen Uterusriß, was höchst unwahrscheinlich war.
Blödsinn. Du weißt nicht, was in dieser Situation wahrscheinlich ist und was nicht.
Okay. Zugegeben. Und er wußte, daß Frauen nicht dafür geschaffen waren, Tag für Tag und Woche für Woche zu menstruieren, ganz egal aus welchen Gründen. Im Grunde genommen waren Blut und Gewebe ein und dasselbe: der Stoff, aus dem Bobbi Anderson gemacht war. Es war wie Kannibalismus, aber...
Nein. Nein, war es nicht. Es war, als hätte jemand ihren Thermostaten bis zum Ende der Skala gedreht, und nun verbrannte sie sich selbst. Während der Hitzewelle der vergangenen Woche war sie mehrmals beinahe umgekippt, und Gardener wußte, daß die Suche nach dem kleinen David Brown, so grotesk es sich anhörte, eine Art Erholungspause für Bobbi gewesen war.
Gardener hatte nicht geglaubt, daß er sie dazu bringen würde, ein Nickerchen zu machen. Dann aber, gegen Viertel vor drei, hatte Bobbi gesagt, daß sie doch etwas müde wäre und vielleicht ein Nickerchen brauchen könnte. Sie hatte Gardener gefragt, ob er sich nicht auch ein Stündchen hinlegen wollte.
»Ja«, sagte er. »Aber vorher werde ich ein paar Minuten auf der Veranda sitzen und lesen.« Und dabei diesen kleinen Drink kippen.
»Nun, mach nicht zu lange«, sagte Bobbi. »Eine Siesta würde dir auch nicht schaden.«
Aber er war so lange sitzengeblieben und hatte sich mit seinem Drink Zeit gelassen, daß er noch dasaß, als der Knall über die Felder und Hügel zwischen hier und dem Village raste - ungefähr fünf Meilen.
»Was zum Teufel...«
Das Dröhnen wurde lauter... und plötzlich sah er es, etwas aus einem Alptraum, eine Säuferhalluzination mußte es sein, mußte es verdammt noch mal sein. Dies war keine telepathische Schreibmaschine oder ein Heißwasserboiler aus dem Weltall - dies war eine Rakete aus Ziegelsteinen, die in Haven Village abhob, und das war es, Freunde und Nachbarn, jetzt bin ich endgültig übergeschnappt.
Kurz bevor es explodierte und den Himmel mit grünem Licht überzog, erkannte er es und wußte, daß es keine Halluzination war.
Da war Bobbi Andersons Kraft, da war das, was sie benutzen wollten, um den Kernkraftwerken ein Ende zu bereiten, dem Wettrüsten, der verdammten Woge weltweiten Wahnsinns; da war es und stieg auf einer grünen Feuersäule himmelwärts: einer der Verrückten in der Stadt hatte irgendwie eine Zündschnur unter das Rathaus gelegt und ein Streichholz daran gehalten und auf die se Weise den Turm in die Luft gejagt wie eine verdammte Silvesterrakete.
»Verdammte Scheiße«, flüsterte Gardener mit dünner, entsetzter Stimme.
Das ist es, Gard! Schau in die Zukunft! Möchtest du das? Diese Frau hat nicht mehr alle Tassen im Schrank, und das weißt du... die Anzeichen sind zu deutlich. Möchtest du diese Macht in ihre Hände geben? Ja?
Sie ist nicht verrückt, antwortete Gardener ängstlich. Überhaupt nicht verrückt, und glaubst du, das, was du gerade gesehen hast, würde etwas an der Gleichung ändern? Keineswegs, es unterstreicht sie nur. Wenn nicht Bobbi und ich, wer dann? Die Polizei von Dallas, genau die. Alles wird gut werden, ich behalte sie im Auge, wache über sie...
Oh, das machst du verdammt gut, du elende Niete, verdammt gut.
Das unglaubliche Ding am Himmel explodierte und verschoß überallhin grünes Feuer. Gardener schirmte die Augen ab. Er war aufgestanden.
Anderson kam herausgelaufen.
»Was, zum Teufel, war das?« fragte sie, aber sie wußte es - sie wußte es, und Gardener wußte mit einer kalten Gewißheit, daß sie es wußte.
Gardener legte eine Barriere vor seinen Verstand - in den vergangenen zwei Wochen hatte er gelernt, wie er das mit vollem Erfolg tun konnte.
Diese Barriere bestand lediglich darin, wahllos alte Adressen zu rezitieren, Gedichtverse und Songtexte - aber sie funktionierte. Es war gar nicht schwierig, solche störenden Interferenzen abzuspulen, wie er herausgefunden hatte; sie unterschieden sich kaum von den unzusammenhängenden Gedanken, die den meisten Menschen beinahe unablässig durch den Kopf gehen (er hätte seine Meinung geändert, wenn er von Ruth McCauslands qualvollen Anstrengungen gewußt hätte, ihre Ge -danken zu verheimlichen - Gardener hatte keine Ahnung, wieviel Mühe ihm die Platte in seinem Schädel ersparte). Er hatte mehrfach bemerkt, wie Bobbi ihn auf seltsame, verwirrte Weise angesehen hatte, und obwohl sie sich abwandte, wenn sie feststellte, daß Gardener sie betrachtete, wußte er, daß sie versuchte, seine Gedanken zu lesen... es angestrengt versuchte... und dennoch scheiterte.
Er benutzte diese Barriere, um seine erste Lüge vor Bobbi zu verheimlichen, seit er sich am fünften Juli, vor fast drei Wochen, mit ihr zusammengetan hatte.
»Ich weiß es nicht genau«, sagte er. »Ich bin im Sessel eingenickt. Ich habe eine Explosion gehört und einen Lichtblitz gesehen. Schien grün zu sein. Das ist alles.«
Bobbis Augen suchten in seinem Gesicht, dann nickte sie. »Nun, wir sollten lieber in die Stadt fahren und nachsehen.«
Gardener entspannte sich ein wenig. Er wußte nicht recht, warum er gelogen hatte, aber es schien ihm sicherer zu sein, und sie hatte ihm geglaubt. Diesen Glauben wollte er nicht ins Wanken bringen. »Würde es dir etwas ausmachen, allein zu fahren? Ich meine, wenn du Gesellschaft möchtest...«
»Nein, schon recht«, sagte sie beinahe eifrig und ging.
Als er zur Veranda zurückkehrte, nachdem er dem Lastwagen nachgewunken hatte, stieß er mit dem Fuß sein Glas um. Das Trinken nahm wieder überhand, und es wurde Zeit, damit aufzuhören. Denn hier ging etwas wirklich Unheimliches vor sich. Er sollte es im Auge behalten, und wenn man trank, war man blind.
Das war ein Schwur, den er schon oft getan hatte. Manchmal hielt er sogar eine Weile vor. Diesmal nicht. Als Bobbi an diesem Abend zurückkehrte, saß Gardener schlafend und betrunken auf der Veranda.
Dennoch war Ruths Signal empfangen worden. Der Empfänger machte sich Sorgen, arbeitete immer noch entschlossen an Bobbis Projekt mit, fühlte sich aber dennoch so unwohl, daß er mehr Schnaps in sich hineinschüttete. Aber es war empfangen und wenigstens teilweise verstanden worden: Gardeners Lüge war in gewisser Weise ein Beweis dafür. Aber auf ihre andere Leistung wäre Ruth vielleicht stolzer gewesen.
Stimmen oder nicht, die Dame starb bei geistiger Gesundheit.
Siebtes Kapitel
Beach Jernigan und Dick Allison
1
Niemand in Haven freute sich mehr über das »Werden« als Beach Jernigan. Wären Gards Tommyknockers Beach persönlich erschienen, ausgerüstet mit Atomwaffen und dem Vorschlag, er solle in den sieben größten Städten der Welt eine unterbringen, dann hätte Beach sofort angefangen, Flugverbindungen herauszusuchen. Selbst in Haven, wo leiser Fanatismus zum Lebensstil wurde, war Beachs Haltung extrem Hätte er eine Ahnung von Gards immer stärker werdenden Bedenken gehabt, hätte er ihn beseitigt. Für immer. Und sofort, wenn nicht früher.
Es gab einen guten Grund für Beachs Empfinden. Im Mai- nicht lange nach Hilly Browns Geburtstag - hatte Beach einen schlimmen Husten bekommen, der nicht verschwinden wollte. Er war beängstigend, weil er nicht von Fieber oder einer Erkältung begleitet wurde. Er wurde noch beängstigender, als er anfing, ein wenig Blut zu enthalten. Wenn man ein Restaurant betritt, dann möchte man überhaupt nicht husten. Das gefällt den Kunden nicht. Es macht sie nervös. Früher oder später erzählt es jemand der Gesundheitsbehörde, und die machen einem vielleicht eine Woche den Laden dicht, während sie abwarten, was der Tb-Test ergibt. Das Haven Lunch war bestenfalls mittelmäßig profitabel (Beach nahm zwölf Stunden täglich Bestellungen entgegen, damit ihm am Ende fünfundsechzig Dollar pro Woche übrigblieben - hätte das Lokal ihm nicht schuldenfrei gehört, wäre er verhungert), und Beach konnte es sich nicht leisten, im Sommer den Laden eine Woche dichtgemacht zu bekommen. Der Sommer war noch nicht da, aber er kam schnellen Schrittes. Daher ging er zum alten Doc Warwick, und Doc Warwick schickte ihn zum Bruströntgen ins Derry Home, und als die Röntgenbilder zurückkamen, studierte Doc Warwick sie zwanzig Sekunden, dann rief er Beach an, und als Beach bei ihm war, sagte Doc Warwick: »Ich habe schlechte Nachrichten für Sie, Beach. Setzen Sie sich.«
Beach setzte sich. Er hatte das Gefühl, er wäre auf den Boden gefallen, wenn kein Stuhl dagewesen wäre. Alle Kraft war aus seinen Beinen gewichen. Im Mai gab es noch keine Telepathie in Haven - jedenfalls nicht mehr als das normale Maß, welches die Leute immer haben-, aber dieses normale Maß genügte Beach. Er wußte, was Doc Warwick sagen würde, bevor er es aussprach. Keine Tb, das große K. Lungenkrebs.
Aber das war im Mai gewesen. Jetzt, im Juli, fühlte sich Beach fit wie ein Turnschuh. Doc Warwick hatte ihm gesagt, er müsse damit rechnen, am fünfzehnten Juli im Krankenhaus zu liegen, und nun war er hier, aß wie ein Scheunendrescher, war meistens geil wie ein Bär und fühlte sich, als könnte er Bobby Tremain beim Wettrennen schlagen. Er war nicht noch einmal ins Krankenhaus gegangen, um sich die Brust röntgen zu lassen. Er wußte auch so, daß der große dunkle Fleck auf dem linken Lungenflügel verschwunden war. Was das anbelangte, wenn er ein Röntgenbild gewollt hätte, dann hätte er sich einen Nachmittag freigenommen und selbst einen Röntgenapparat gebaut. Er wußte genau, wie er das anstellen mußte.
Aber jetzt, im Kielwasser der Explosion, waren andere Sachen zu bauen, andere Dinge zu tun... und zwar schnell.
Sie hielten eine Versammlung ab. Alle in der Stadt. Sie versammelten sich freilich nicht wie bei einer richtigen Zusammenkunft; das war unnötig. Beach briet weiterhin Hamburger im Haven Lunch, Nancy Voss sortierte weiter Briefmarken in der Post (jetzt, da Joe tot war, war sie wenigstens eine Zuflucht, wo man sich aufhalten konnte, Sonntag oder nicht), Bobby Tremain blieb unter seinem Challenger und baute ein Rückflußventil ein, mit dem es ihm möglich sein würde, rund hundert Kilometer mit drei Litern zu fahren. Nicht Andersons Benzinpille -nicht ganz-, aber fast. Newt Berringer, der verdammt genau wußte, daß keine Zeit vergeudet werden durfte, fuhr zu den Applegates hinaus, so schnell er konnte.
Aber was sie taten oder wo sie sich aufhielten, sie waren zusammen, ein Netz stummer Stimmen - die Stimmen, die Ruth so große Angst gemacht hatten.
Weniger als fünfundvierzig Minuten nach der Explosion hatten sich etwa siebzig Leute bei Henry Applegate versammelt. Jetzt, da die ShellTankstelle sich fast vollständig aus dem Reparatur- und Wartungsgeschäft zurückgezogen hatte, verfügte Henry über die größte und am besten ausgerüstete Werkstatt. Christina Lindley, die erst siebzehn war, aber dennoch im Vorjahr beim alljährlichen Fotowettbewerb von Maine den zweiten Preis gewonnen hatte, kam fast eine Stunde später an, etwas ängstlich und außer Atem (und obendrein auch ziemlich sexy, um die Wahrheit zu gestehen) nach einer Fahrt mit Bobby Tremain, der manchmal schneller als hundertsiebzig Stundenkilometer gefahren war. Wenn Bobby den Dodge röhren ließ, war er wenig mehr als ein gelber Strich.
Man hatte sie geholt, damit sie zwei Fotos vom Uhrturm anfertigte. Das war eine schwierige Aufgabe, denn da der Turm jetzt zu Ziegelsteinbrocken, Mauerwerk und Uhrwerkteilen reduziert war, bedeutete es, daß sie ein Foto von einem Foto machen mußte.
Christina hatte hastig ein Album mit Fotos der Stadt durchgeblättert. Newt hatte ihr gedanklich übermittelt, wo sie es finden konnte - in Ruth 326
McCauslands eigenem Büro. Sie legte zwei Aufnahmen beiseite; beide waren recht gut, aber in Schwarzweiß. Ihre Absicht war es, eine Illusion zu erzeugen - einen Uhrturm, den man sehen konnte. .. aber durch den man, wenn es dazu kommen sollte, mit einem Flugzeug hindurchfliegen konnte.
Mit anderen Worten, sie hatten vor, eine gigantische Laterna-magica-Projektion an den Himmel zu werfen.
Ein guter Trick.
Früher hätte Hilly Brown sie darum beneidet.
Gerade als Christina anfing, die Hoffnung aufzugeben, fand sie es: ein hervorragendes Foto vom Rathaus in Haven Village, auf dem der Turm deutlich zu sehen war, und darüber hinaus aus einem Winkel aufgenom men, durch den zwei Seiten des Turms sichtbar wurden. Großartig. Das würde ihnen die räumliche Tiefe geben, die sie brauchten. Ruths sorgfältiger Kommentar unter dem Foto sagte, daß es aus dem Yankee-Magazin Nr. 5/87 stammte.
Wir müssen gehen, Chris, hatte Bobby zu ihr gesagt, ohne sich die Mühe zu machen, dazu seinen Mund zu benutzen. Er trat ungeduldig von einem Bein aufs andere, wie ein kleines Kind, das dringend auf die Toilette muß.
Ja, schon gut. Dies hier wird...
Sie verstummte.
Oh, sagte sie. Meine Güte.
Bobby Tremain trat rasch zu ihr. Was ist los?
Sie deutete auf das Foto.
»Oh, SCHEISSE!« riefBobby Tremain laut aus, und Christina nickte.
2
Indem sie schnell und schweigend arbeiteten (abgesehen vom gelegentlichen ungehaltenen Knurren von jemand, der der Meinung war, daß ein anderer nicht schnell genug arbeitete), hatten sie an diesem Abend um sieben eine Maschine gebaut, die aussah wie ein riesiger Diaprojektor auf einem Industriestaubsauger.
Sie probierten sie aus, und das riesige, steinerne Gesicht einer Frau erschien auf Henrys Feld. Die Leute, die sich versammelt hatten, betrachteten diese Stereoprojektion von Henry Applegates Großmutter stumm, aber bewundernd. Die Maschine funktionierte. Wenn das Mädchen das Foto vom Rathaus brachte - genauer gesagt, die Fotos, denn natürlich mußten sie eine Stereoprojektion erzeugen -, konnten sie...
Dann drang ihre leise, von Bobby Tremains Gedanken verstärkte Stimme zu ihnen.
Schlechte Nachrichten.
»Was war das?« wandte sich Kyle Archinbourg an Newt. »Ich habe nicht alles mitbekommen.«
»Verflucht, bist du denn taub?« fauchte Andy Baker. »Heiliger Himmel, die Bewohner von drei Counties haben den Knall gehört, als das Miststück das Dach hochgejagt hat. Für zwei Cent...« Er ballte die Fäuste.
»Hört auf, ihr beiden«, sagte Hazel McCready. Sie wandte sich an Kyle. »Das Mädchen hat verdammt gute Arbeit geleistet.« Sie sendete absichtlich so intensiv sie konnte, um Christina Lindley zu erreichen und gleichzeitig Kyle Archinbourg die Situation zu erklären... um sie aufzumuntern. Das Mädchen hatte
(gedacht)
sich besorgt angehört, beinahe hysterisch, und in diesem Zustand konnte sie ihnen nichts nützen. In diesem Zustand würde sie mit ziemlicher Sicherheit Mist machen, und sie hatten einfach keine Zeit für Mist.
»Es ist nicht ihre Schuld, daß auf dem Foto die Uhr zu sehen ist.«
»Was meinst du damit?« fragte Kyle.
»Sie hat ein Farbfoto mit einem Winkel gefunden, der gar nicht besser sein könnte«, sagte Hazel. »Von der Kirche und vom Friedhof aus sieht er genau richtig aus, und von der Straße nur ein wenig verzerrt. Wir müssen ein paar Tage verhindern, daß Leute von außerhalb zur Rückseite gehen, bis Chris einen ungefähr passenden Winkel findet, aber da sie sich für den Kessel interessieren werden... und für Ruth... kommen wir wohl damit durch. Kann man ein paar Straßen sperren ?« Sie sah Newt an.
»Kanalisationsarbeiten«, sagte er prompt. »Kinderleicht.«
»Mir ist das Problem immer noch nicht klar«, sagte Kyle.
»Könnte an dir liegen, du dämliches Arschloch«, sagte Andy Baker.
Kyle drehte sich wutschnaubend zu dem Mechaniker um, und Newt sagte zu beiden: »Hört auf damit.« Und zu Kyle: »Das Problem ist, daß Ruth den Turm heute nachmittag um fünfzehn Uhr fünf hochgejagt hat. Auf dem einzigen guten Bild, das Christina gefunden hat, ist die Uhr deutlich zu erkennen.
Sie steht auf Viertel vor zehn.«
»Oh«, sagte Kyle. Plötzlich machte Schweiß sein Gesicht ölig. Er nahm sein Taschentuch und wischte es ab. »Oh, Scheiße. Was machen wir jetzt?«
»Keine Ahnung«, sagte Hazel gelassen.
»Miststück!« schrie Andy. »Ich würde sie umbringen, wenn sie nicht schon tot wäre!«
»Alle in der Stadt haben sie geliebt, das weißt du, Andy«, sagte Hazel.
»Ja. Und ich hoffe, der Teufel drunten in der Hölle röstet sie an einer langen Gabel.« Andy schaltete den Apparat ab.
Henrys Großmutter verschwand. Hazel war erleichtert. Es hatte etwas Abstoßendes, diese Frau mit ihrem scharfkantigen Gesicht dreidimensional über Henrys Feld schweben zu sehen, wo die Kühe - die schon längst im Stall sein sollten - manchmal beim Grasen durch sie hindurch wanderten oder achtlos in der altmodischen Brosche verschwanden, welche die Frau an ihrem hochgeschlossenen Kleid trug.
»Alles wird gut werden«, sagte Bobbi Anderson plötzlich in das Schweigen hinein, und alle - auch Christina Lindley in der Stadt -hörten es und waren erleichtert.
3
»Bring mich nach Hause«, sagte sie zu Bobby Tremain. »Rasch. Ich weiß, was zu tun ist.«
»Sie sind schon so gut wie da.« Er ergriff ihre Hand und begann, sie zur Tür zu ziehen.
»Moment«, sagte sie.
»Hm?«
»Glaubst du nicht, ich sollte besser das Foto mitnehmen?«
»Natürlich!« sagte Bobby und schlug sich gegen die Stirn.
4
Derweil saß Dick Allison, der Chef der Freiwilligen Feuerwehr von Haven, in seinem Büro und schwitzte trotz der Klimaanlage Sturzbäche, während er Telefonanrufe entgegennahm. Der erste kam vom Stadtpolizisten in Troy, der zweite vom Polizeichef von Unity, der dritte von der Staatspolizei und der vierte von AR
Er hätte wahrscheinlich ohnehin geschwitzt, aber einer der Gründe, warum seine Klimaanlage nichts nützte, war der, daß die Druckwelle der Explosion seine Tür aus den Angeln gerissen hatte. Der Verputz war größtenteils von den Wänden gefallen. Er saß inmitten der Trümmer und erzählte seinm Anrufern, daß es ganz sicher ein verdammter Knall gewesen war, unc es sah so aus, als wäre dabei ein Mensch ums Leben gekommen, aber es war auf gar keinen Fall so schlimm, wie es sich wahrscheinlich angehört hatte. Während er seinen Mist für einen Burschen namens John Leandro von den Bangor Daily News verzapfte, fiel ihm ein Korkpaneel von der Decke auf den Kopf. Dick fegte es mit einem wölfischen Knurren beiseite, lauschte, lachte und sagte, es wäre nur das schwarze Brett gewesen. Das gottverdammte Ding war wieder umgefallen. Es hat nur diese Saugnäpfe auf der Rückseite, wissen Sie, und wenn man billig kauft, dann bekommt man auch nur etwas Billiges, hatte seine Mutter stets gesagt, und...
Es dauerte noch fünf Minuten, aber schließlich langweilte er Leandro vom Telefon weg. Als er den Hörer auflegte, fiel der größte Teil des Deckenverputzes vor seiner Tür mit einem staubigen Knirrrsch! herunter.
»GOTTVERDAMMTES-BESCHISSENES-DREIMAL-VERFLUCH-TES-ELENDES MISTSTÜCK!« kreischte Dick Allison und hieb mit der linken Hand auf den Schreibtisch, so fest er konnte. Er brach sich dabei zwar alle vier Finger, merkte es in seiner tobenden Wut aber gar nicht. Wäre in diesem Augenblick jemand in sein Büro gekommen, dann hätte Dick Allison ihm wahrscheinlich die Kehle aufgerissen, seinen Mund mit heißem Blut gefüllt und es dem Betreffenden ins Gesicht zurück-gespien. Er kreischte und fluchte und trampelte sogar mit den Füßen auf dem Boden, wie ein Kind, das einen Veitstanz aufführt, weil es Stubenarrest bekommen hat.
Er sah kindisch aus.
Er sah außerdem außerordentlich gefährlich aus.
Tommyknockers, Tommyknockers klopften an mein Tor.
5
Zwischen zwei Telefonanrufen ging Dick in Hazels Büro, fand die Midol in ihrer Schublade und nahm sechs davon. Dann bandagierte er seine schmerzende, geschwollene Hand und vergaß sie. Wäre er noch ein Mensch gewesen, wäre das unmöglich gewesen; man vergißt nicht einfach vier gebrochene Finger. Aber inzwischen war er »geworden«. Und dazu gehörte unter anderem, daß er imstande war, Schmerzen durch Willenskraft zu beherrschen.
Kam ihm gerade recht.
Zwischen den Gesprächen mit der Außenwelt - und manchmal während dieser Gespräche - sprach Dick mit den Männern und Frauen, die hektisch bei Henry Applegate arbeiteten. Er sagte, kr erwarte gegen halb, spätestens um fünf ein paar Staatspolizisten. Wa der Projektor bis dahin bereit? Als Hazel ihm das Problem erklärte, fing Dick wieder an zu toben, diesmal nicht nur aus Wut, sondern auch aus Angst. Als Hazel erklärte, was Christina Lindley vorhatte, beruhigte er ich ein wenig. Sie hatte zu Hause eine Dunkelkammer. Dort würde sie sorgfältig ein Negativ des Bildes aus Yankee machen und es etwas vergrößern, nicht weil es größer sein mußte, damit der Projektor funktionierte (zu starke Vergrößerung konnte der Illusion des Uhrturms ein grobkörniges Aussehen verleihen), sondern weil sie ein etwas größer/s Bild brauchte, mit dem sie arbeiten konnte.
Sie wird ein Negativ anfertigen, erklärte Hazel seinem Verstand, und dann die Uhrzeiger mit der Spritzpistole vom Zifferblatt tilgen. Bobby
Tremain wird sie mit einem Xacto-Messer wieder einfügen, damit sie fünfzehn Uhr fünf zeigen. Er hat eine ruhige Hand und 'ein wenig Talent. Momentan scheint eine ruhige Hand wichtiger zu sein.
Ich dachte, wenn man ein Negativ von einem Positiv macht, wird es verschwommen, sagte Dick Allison. Besonders wenn das Positiv farbig ist.
Sie hat ihre Entwicklerausrüstung verbessert, sagte Hazel. Sie brauchte nicht hinzuzufugen, daß die siebzehnjährige Christina Lindley mittlerweile die fortschrittlichste Dunkelkammer auf der ganzen Welt hatte.
Also wie lange?
Sie denkt, Mitternacht, sagte Hazel.
Himmel Herrgott noch mal! brüllte Dick so laut, daß die Leute auf Henrys Feld zusammenzuckten.
Wir brauchen etwa dreißig D-Zellen, warf Bobbi Andersens Stimme ruhig ein. Sei so nett und kümmere dich darum, Dick. Wir verstehen das Problem mit der Polizei. Spiel I-ah für sie, kapiert?
Er machte eine Pause. Ja, sagte er. Buck und Roy, Junior Sample.
Exakt. Und halt sie _ fest. Eigentlich macht mir nur ihr Funkgerät Sorgen, nicht sie selbst - vorerst werden sie nur einen Wagen schicken, höchstens zwei. Aber wenn sie es sehen... und über Funk durchgeben ...
Zustimmendes Murmeln wie das Rauschen des Ozeans in einer Muschel.
Gibt es eine Möglichkeit, ihren Funkverkehr zu blockieren? fragte Bobbi.
Ich... warf Andy Becker plötzlich entzückt ein. Ich habe eine bessere Idee. Bringt Buck Peters auf der Stelle dazu, seinen fetten Arsch zur Tankstelle zu schleppen.
Ja! Bobbi übertönte ihn, ihr Gedanke war schrill vor Aufregung. Gut! Großartig! Und wenn sie die Stadt verlassen, muß jemand... ich glaube, Beach...
Beach wurde die Ehre zuteil, auserwählt zu werden.
Bent Rhodes und Jingles Gabbons von der Maine State Police kamen Viertel nach fünf in Haven an. Sie erwarteten, die rauchenden, uninteressanten Trümmer einer Kesselexplosion zu finden - ein altes Feuerwehrauto müßig am Bordstein, zwanzig oder dreißig Schaulustige auf dem Gehsteig. Statt dessen stellten sie fest, daß der gesamte Uhrturm des Rathauses von Haven hochgegangen war wie eine Silvesterrakete. Die Straße war mit Ziegelsteinbrocken übersät, Fenster waren zersprungen, überall lagen verstümmelte Puppen... und verdammt zu viele Leute gingen einfach ihren Geschäften nach.
Dick Allison begrüßte sie mit einer unheimlichen Herzlichkeit, als wäre dies ein Essen der Republikaner und nicht etwas, das wie eine Katastrophe größeren Ausmaßes aussah.
»Allmächtiger, was ist hier eigentlich passiert?« fragte Bent ihn.
»Nun ja, vielleicht war es doch etwas schlimmer, als ich am Telefon gesagt habe«, sagte Dick, ließ den Blick über die mit Trümmern übersäte Straße schweifen und schenkte den Polizisten dann ein leutseliges Bin-ich-nicht-ein-böser-Bube-Lächeln. »Ich dachte mir, es würde sowieso niemand glauben, der es nicht gesehen hat.«
Jingles murmelte: »Ich sehe es und glaube es trotzdem nicht.« Sie hatten Dick Allison beide als Kleinstadtstümper abgetan, der obendrein wahrscheinlich nicht ganz dicht war. Das machte nichts. Er stand hinter ihnen und beobachtete, wie sie den Schaden betrachteten. Das Lächeln verschwand allmählich von seinem Gesicht, sein Ausdruck wurde kalt.
Rhodes sah den Menschenarm inmitten der winzigen Kunstglieder. Als er sich wieder an Dick wandte, war sein Gesicht weißer als vorher, und er sah um einiges jünger aus.
»Wo ist Mrs. McCausland?« fragte er.
»Nun, wissen Sie, das könnte ein Teil unseres Problems sein«, begann Dick. »Sehen Sie...«
7
Dick hielt sie in der Stadt fest, solange er konnte, ohne ihren Argwohn zu erwecken. Es war Viertel vor acht, als sie abfuhren, und inzwischen senkte sich die Dämmerung herab. Dick wußte, wenn sie nicht bald losfuhren, dann würden sie anfangen, sich zu wundern, warum die Verstärkung nicht eintraf, die sie angefordert hatten.
Sie hatten beide über Funk mit dem Hauptquartier in Derry gesprochen, und beide hatten das Mikro wieder eingehängt und verwirrt und bestürzt ausgesehen. Die Antworten, die sie am anderen Ende erhielten, waren korrekt, die Stimme war es, die nicht ganz richtig zu sein schien. Aber keiner der beiden konnte sich über eine solche Nebensächlichkeit Gedanken machen, jedenfalls jetzt nicht. Sie mußten mit zu vielen anderen Dingen zurechtkommen. Zunächst einmal mit dem Ausmaß des Unfalls. Des weiteren mit der Tatsache, daß sie das Opfer gekannt hatten. Und drittens mußten sie versuchen, das Fundament für einen möglicherweise riesigen Fall zu legen, ohne dabei irgendwelche Fehler zu machen, die die späteren Ermittlungen ernsthaft behindern konnten.
Außerdem fingen sie an, die Auswirkungen des Aufenthalts in Haven zu spüren.
Sie glichen Männern, die einen Holzfußboden in einem unbelüfteten Raum mit Vinyl versiegeln und dabei high werden, ohne es zu merken. Sie empfingen keine Gedanken - dazu reichte die Zeit nicht aus, und sie würden wieder fort sein, bevor das geschehen konnte-, aber sie fühlten sich sehr seltsam. Es behinderte sie und machte alltägliche Routine zu etwas, durch das sie sich hindurchkämpfen mußten.
Das alles empfing Dick Allison aus ihren Gedanken, während er auf der anderen Straßenseite im Haven Lunch saß und eine Tasse Kaffee trank. Sie waren viel zu beschäftigt, um zu bemerken, daß sich (TugEilender)
ihr Einsatzleiter heute nicht wie sonst anhörte. Der Grund dafür war ziemlich einfach. Sie sprachen nicht mit Tug Eilender. Sie unterhielten sich mit Buck Peters; ihre Funksprüche gingen nicht von und nach Derry, sondern von und zur Garage von Elt Barkers Shell-Tankstelle, wo Buck Peters schwitzend über einem Mikrofon kauerte, Andy Baker an seiner Seite. Buck schickte neue Informationen und Anweisungen über Andys Funkgerät hinaus (ein kleines Ding, das er in seiner Freizeit gebastelt hatte, ein kleines Ding, mit dem er mit Lebewesen auf dem Uranus hätte Kontakt aufnehmen können, sofern dort irgendwelche Leute gelebt hätten, die ihrerseits funken konnten). Verschiedene Stadtbewohner konzentrierten sich angestrengt auf die Gehirne von Bent Rhodes und Jingles Gabbons. Sie übermittelten Bück alles, was sie über Eilender in Erfahrung bringen konnten, den zu hören die Polizisten natürlich erwarteten. Bück Peters hatte eine Art angeborenes Nachahmungstalent (er war eine große Attraktion, wenn er beim alljährlichen Grange Stage Spectacular den gerade amtierenden Präsidenten und Publikumslieblinge wie Jimmy Cagney und John Wayne nachmachte). Er war nicht Rich Little und würde es auch nie sein, aber wenn er jemanden »gab«, dann wußte man, um wen es sich handelte. Für gewöhnlich.
Wichtiger aber war, daß die Lauscher Bück übermitteln konnten, wie er auf die einzelnen Funksprüche reagieren sollte, denn fast jeder Sprecher rechnet in Gedanken mit den Antworten, die er auf seine Fragen und Mitteilungen bekommen wird. Wenn Bent und Jingles die Nachahmung kauften - und das taten sie zu einem großen Teil tatsächlich-, dann lag das nicht so sehr an Bucks Talent, sondern daran, daß ihre Erwartungen, wie »Tugs« Antworten aussehen sollten, erfüllt wurden. Andy war weiterhin imstande gewesen, Tugs Stimme zu entstellen, indem er atmosphärische Störgeräusche überlagerte - nicht so stark, wie sie sie auf dem Rückweg nach Derry hören würden, aber doch stark genug, um Tugs Stimme immer dann undeutlich klingen zu lassen, wenn sich Zweifel
(Himmel das hört sich überhaupt nicht nach Tug an ich frage mich ob er eine Erkältung hat) in ihre Gedanken stahlen.
Viertel nach sieben, als Beach ihm eine frische Tasse Kaffee brachte, fragte Dick: »Bist du bereit?«
»Klar doch.«
»Und sicher, daß das Gerät funktionieren wird?«
»Es funktioniert bestens... möchtest du es sehen?« Beach war beinahe kriecherisch.
»Nein. Keine Zeit. Was ist mit dem Reh? Hast du das?«
»Jawoll. Bill Elderly hat es geschossen, und Dave Rutledge hat es ausgeweidet.«
»Das ist gut. Also dann los.«
»Okay, Dick.« Beach zog die Schürze aus und hängte sie an einen Nagel hinter der Theke. Er drehte das Schild, das an der Tür hin, von OFFEN auf GESCHLOSSEN. Normalerweise hätte es einfach nur dagehangen, aber heute abend schwang es hin und her, weil die Scheibe zerbrochen war und eine leichte Brise wehte.
Beach hielt inne und sah Dick mit verkniffenem Zorn an.
»Sie hätte so etwas nicht tun sollen«, sagte er.
Dick zuckte die Achseln. Es spielte keine Rolle; es war nun einmal geschehen. »Sie ist tot. Das ist das entscheidende. Die Kinder kommen mit dem Bild gut voran. Und was Ruth anbelangt... jemanden wie sie gibt es in der Stadt nicht mehr.«
»Da ist dieser Bursche draußen auf dem alten Garrick-Anwesen.«
»Der ist doch ständig betrunken. Außerdem möchte er graben. Mach schon, Beach. Sie werden bald aufbrechen, und es soll so weit außerhalb des Ortes geschehen wie nur möglich.«
»Okay, Dick. Sei vorsichtig.«
Dick lächelte. »Wir müssen jetzt alle vorsichtig sein. Das ist eine heikle Sache.«
Er sah Beach nach, der in seinen Lastwagen stieg und von dem Parkplatz vor dem Haven Lunch herunterfuhr, der in den letzten zwölf Jahren die Heimat des alten Chevy gewesen war. Während der Wagen die Straße entlangrollte, wobei Beach langsam fuhr und sich bemühte, den Glasscheiben auszuweichen, konnte Dick den Umriß unter der Plane auf der Pritsche sehen und weiter hinten noch etwas anderes, das in Plastik eingewickelt war.
Es war das größte Reh, das Bill Elderly so kurzfristig hatte finden können. Im Juli war das Jagen von Wild im Staate Maine ganz eindeutig verboten.
Als Beachs Lastwagen nicht mehr zu sehen war (MACHT LIEBE, NICHT KRIEG, ABER SEID BEREIT FÜR BEIDES, stand auf einem Aufkleber auf der Stoßstange), drehte sich Dick wieder zum Tresen und griff nach seiner Kaffeetasse. Beachs Kaffee war wie immer stark und gut. Das brauchte er. Dick war mehr als müde; er war erschöpft. Obwohl es draußen noch hell war und obwohl er immer zu denen gehört hatte, die nicht ins Bett konnten, bevor nicht die Nationalhymne im letzten hoch sendenden Kanal erklungen war, wollte er jetzt nichts weiter als ins Bett. Es war ein anstrengender Tag voller Angst gewesen, und er würde erst vorüber sein, wenn Beach Meldung gemacht hatte. Und der Schlamassel, den Ruth McCausland angerichtet hatte, würde nicht aus der Welt sein, wenn die beiden Polizisten beseitigt waren. Sie konnten eine Menge Dinge vertuschen, aber nicht die Tatsache, daß die beiden Polizisten auf dem Rückweg von Haven gewesen waren, wo eine andere Polizistin (sicher, nur eine Dorfpolizistin, aber Polizist war Polizist, und diese war sogar mit einem Staatspolypen verheiratet gewesen, um die Sache noch ein bißchen spaßiger zu machen) aus der Gleichung ausgelöscht worden war.
Und das bedeutete, daß der Spaß erst anfing.
»Wenn man es einen Spaß nennen kann«, sagte Dick verdrossen ins Leere. »Ich kann das nicht, und wenn mich der Hund fickt.« Der Kaffee stieß ihm sauer brennend auf. Er trank ihn dennoch.
Draußen heulte ein starker Motor auf. Dick wirbelte auf seinem Hocker herum und sah den beiden Polizisten nach, die aus der Stadt hinausfuhren, während das Blinklicht auf dem Dach des Streifenwagens blaues Licht und schwarze Schatten über die Trümmer warf.
8
Christina Lindley und Bobby Tremain standen nebeneinander und betrachteten das leere Blatt im Entwicklerbad, und keiner der beiden atmete, während sie darauf warteten, ob das Bild herauskam oder nicht.
Allmählich wurde es sichtbar.
Da war der Uhrturm des Rathauses von Haven. In lebensechten Farben. Und die Zeiger der Uhr standen auf 3.05 Uhr.
Bobby atmete langsam und sachte aus. Perfekt, sagte er.
Nicht ganz, sagte Christina. Da ist noch etwas.
Er drehte sich fragend zu ihr um. Was? Was stimmt nicht?
Nichts. Alles in Ordnung. Da ist nur noch etwas, das wir tun müssen.
Sie war nicht häßlich, aber weil sie eine Brille trug und mausbraunes Haar hatte, hatte sie sich immer für häßlich gehalten. Sie war siebzehn und hatte noch nie eine Verabredung gehabt. Jetzt schien das alles einerlei zu sein. Sie machte den Reißverschluß ihres Rocks auf und schob ihn zusammen mit dem Unterrock und dem Baumwollslip, die sie beide im Supermarkt von Derry gekauft hatte, nach unten. Sie stieg heraus und nahm das Foto vorsichtig aus dem Entwicklerbad. Sie stand auf Zehenspitzen, um es aufzuhängen, und spannte dabei die glatten Gesäßbacken an. Dann drehte sie sich zu ihm um und spreizte die Beine.
Das brauche ich.
Er nahm sie im Stehen. An die Wand gelehnt. Als ihr Jungfernhäutchen riß, biß sie ihn so heftig, daß Blut floß. Und als sie beide gemeinsam kamen, geschah es mit Grunzen und Kratzen, und es war sehr, sehr gut.
Genau wie in alten Zeiten, dachte Bobby, während er sie zu Applegates Haus hinausfuhr, und fragte sich, was genau er damit meinte.
Dann kam er zu dem Schluß, daß es eigentlich nicht so wichtig war.
8
Beach beschleunigte den Chevy auf rasselnde fünfundachtzig - mehr gab er nicht her. Eines, wozu er mit seinem phantastischen neuen Wissen noch nicht gekommen war, war die Auferstehung dieses alten Bombers. Aber er hoffte, daß die alte Betsy es noch einmal schaffte und ihn so weit brachte, wie er heute fahren mußte.
Als er die Stadtgrenze von Troy passiert hatte, ohne sie zu hören oder eine Spur ihres Blaulichts hinter sich zu sehen, drosselte er die Ge -schwindigkeit des Lastwagens auf siebzig (mit großer Erleichterung, er war drauf und dran gewesen zu überhitzen), und als er in Newport war, ging er auf sechzig zurück. Inzwischen wurde es zunehmend dunkler.
Er passierte die Stadtgrenze von Derry und fing schon an sich zu fragen, ob die verdammten Polizisten einen anderen Weg genommen haben mochten - was unwahrscheinlich war, denn dies war der schnellste Weg, aber gütiger Himmel, wo blieben sie nur?-, als er das leise Murmeln ihrer Gedanken vernahm.
Er fuhr rechts ran und saß einen Augenblick still da, den Kopf zur Seite geneigt, die Augen halb geschlossen, vergewisserte sich. Sein Mund, seltsam schwächlich und eingesunken, nachdem die meisten Zähne ausgefallen waren, war der eines viel älteren Mannes. Es war irgend etwas mit
(Sommersprossen)
Ruth. Sie waren es, ganz ohne Zweifel. Die Gedanken kamen klarer.
(man konnte die Sommersprossen ganz deutlich erkennen, trotz des Blutes)
und Beach nickte. Sie waren es, eindeutig. Sie kamen schnell näher. Er hatte genug Zeit, aber nur, wenn er sich dazuhielt.
Beach fuhr ein paar hundert Meter weiter, um eine Kurve herum, und sah die letzte lange Gerade der Route 3 nach Derry vor sich. Er stellte den Wagen quer und versperrte die Straße. Dann nahm er die Plane von dem gewehrähnlichen Ding auf der Pritsche, seine Finger zupften nervös an Knoten, während ihre Stimmen in seinem Kopf lauter und lauter und lauter wurden.
Als ihre Scheinwerfer die Bäume auf dieser Seite der Kurve streiften, duckte sich Beach. Er griff nach den sechs Eisenbahntrafos, die er auf ein
Brett geschraubt hatte (und das Brett wiederum hatte er am Lastwagen verschraubt, damit es nicht verrutschen konnte), und schaltete einen nach dem anderen ein. Er hörte das Aufheulen, als sie beschleunigten, dann ging dieses Geräusch, wie alle anderen, im Quietschen der Reifen und Bremsen unter. Jetzt lag die Pritsche in grellweißem Scheinwerferlicht, untermischt mit dem blauen Flackerschein des Blinklichtes, und Beach preßte sich dicht an den Boden, verschränkte die Hände über dem Kopf und dachte, daß er es vermasselt hatte, indem er zu dicht hinter einer Kurve parkte, und sie würden mit seinem Lastwagen zusammenstoßen, wobei sie vielleicht nur verletzt wurden, er aber ganz bestimmt getötet, und dann würden sie die Überreste seines »Gewehrs« finden und sich fragen: Was haben wir denn hier? Und... und...
Du hast es vermasselt, Beach, sie haben dir das Leben gerettet, und du hast es vermasselt... oh, verdammt... verdammt... verdammt...
Dann hörte das Quietschen der Reifen auf. Der Geruch von verbranntem Gummi war stark und übelkeiterregend, aber der Zusammenstoß, für den er sich gewappnet hatte, war nicht eingetreten. Blaulicht flak-kerte. Knistern und Knattern in einem Mikrofon.
Er hörte den Bullen mit der heiseren Stimme wie aus weiter Ferne sagen: »Was soll diese Scheiße?«
Beach vollführte zitternd einen Mädchenliegestütz und erhob sich nur so weit, daß er über die Heckklappe der Pritsche hinwegschauen konnte. Er sah ihren Streifenwagen am Ende von zwei langen schwarzen Spuren stehen. Selbst im Sternenlicht waren diese Spuren deutlich zu sehen. Der Streifenwagen stand keine drei Meter entfernt in einem schrägen Winkel da. Wenn sie nur fünf Stundenkilometer schneller gefahren wären,..
]a, sind sie aber nicht.
Geräusche. Das zweifache Zuschlagen der Türen, als sie ausstiegen. Das leise Summen der Trafos, die sein Gerät speisten - ein Gerät, das sich nicht sehr von denen unterschied, die Ruth in die Leiber ihrer Puppen eingenäht hatte. Und noch ein leises Summen. Fliegen. Sie rochen das Blut unter der Plastikhülle, kamen aber nicht an den Kadaver des Rehs heran.
Ihr werdet eure Chance noch_ früh genug bekommen, dachte Beach und grinste. Zu schade, daß ihr diese beiden Kerle dort draußen nichtzu kosten bekommen werdet.
»Diesen Lastwagen habe ich in Haven gesehen, Bent«, sagte der mit der heiseren Stimme. »Er parkte vor dem Restaurant.«
Beach drehte das Abflußrohr etwas auf seiner Gabel. Wenn er hindurchsah, konnte er sie beide erkennen. Und sollte sich der eine aus dem direkten Einflußbereich des Geräts entfernen, war das nicht weiter schlimm. Es gab einen gewissen Streueffekt.
Geht weg vom Auto, Jungs, dachte Beach, griff nach der Türklingel von Western Auto und legte den Daumen darauf. Sein Grinsen zeigte rosa Zahnfleisch. Möchte nichts von dem Auto abbekommen. Geht beiseite, okay?
»Wer ist da?« rief der andere Polizist.
Die Tommyknockers sind da, die an deine Tür klopfen, Pißkopf, dachte er und fing an zu kichern. Er konnte nicht anders. Er versuchte es zu unterdrücken, so gut er konnte.
»Wenn jemand in diesem Lastwagen ist, kommt er jetzt besser heraus!«
Er begann lauter zu kichern, er konnte einfach nichts dafür. Und das war vielleicht gar nicht schlecht, denn sie sahen einander an und kamen dann langsam auf den Lastwagen zu, wobei sie die Waffen zogen. Auf den Lastwagen zu, weg vom Streifenwagen.
Beach wartete, bis er sicher war, daß der Streifenwagen nicht erfaßt werden würde - sie hatten ihm befohlen, das Auto unversehrt zu lassen, und er hatte die Absicht, nicht ein Chromstäubchen von der Stoßstange zu pusten. Als die Polizisten frei standen, drückte Beach auf den Klingelknopf. Avon klingelt, Pißköpfe, dachte er, und diesmal kicherte er nicht nur; er lachte brüllend. Ein dicker Strahl grünen Lichts schoß in die Dunkelheit, traf beide Polizisten und hüllte sie ein. Beach sah etliche gelbe Funken in diesem grünen Leuchten und begriff, daß einer der Polizisten mehrmals hintereinander seine Pistole abfeuerte.
Beach roch den strengen Geruch schmorender Eisenbahntrafos. Es folgte ein plötzliches plop!, und einer von ihnen versprühte einen Funkenschauer. Ein paar Funken landeten sengend auf seinem Arm, und er wischte sie fort. Das grüne Feuer, das aus dem Ende des Rohrs kam, erlosch. Die Polizisten waren verschwunden. Nun... fast verschwunden.
Beach sprang über die Heckklappe des Pritschenwagens und bewegte sich, so schnell er konnte. Weiß Gott, dies war nicht die Autobahn, und so spät fuhr niemand mehr nach Derry, um einzukaufen, aber früher oder später würde irgend jemand vorbeikommen. Er sollte...
Ein einzelner rauchender Schuh lag auf dem Asphalt. Er hob ihn auf und hätte ihn beinahe wieder fallen gelassen. Er hatte nicht erwartet, daß er so schwer sein würde. Als er hineinsah, erkannte er, warum. Ein von einem Socken umhüllter Fuß steckte noch darin.
Beach trug ihn zum Lastwagen zurück und warf ihn ins Fahrerhaus. Wenn er wieder in der Stadt war, würde er ihn wegschaffen. Er brauchte ihn nicht zu vergraben, in Haven gab es wirksamere Methoden, Sachen wegzuschaffen. Wenn die Mafia wüßte, was wir Yankeetölpel hier haben, würde sie wahrscheinlich den ganzen Krempel kaufen wollen, dachte Beach und kicherte erneut.
Er löste die Haltebolzen der Heckklappe. Sie klappte mit einem rostigen Krachen herunter. Er ergriff den in Plastik gehüllten Kadaver des
Rehs. Wessen Einfall war das gewesen? Der des alten Dave? Eigentlich spielte es keine Rolle. In Haven wurden alle Einfälle allmählich zu einem einzigen.
Das in Plastik gehüllte Bündel war schwer und sperrig. Beach legte die Arme um die Hinterbeine des Rehs und zog. Es kam von der Pritsche herunter, sein Kopf prallte auf den Asphalt. Beach schaute sich wieder um, ob am Horizont helle Scheinwerfer zu sehen waren, er sah keine und schleifte den Kadaver über die Straße, so schnell er konnte. Er legte ihn keuchend ab und drehte ihn um, so daß er das Plastik entfernen konnte. Jetzt schob er beide Arme unter das säuberlich ausgeweidete Reh und hob es hoch. Die Sehnen standen wie Kabel in seinem Nacken vor; die zurückgezogenen Lippen hätten Zähne entblößt, wenn er noch welche gehabt hätte. Der Kopf des Rehs mit dem erst halb gewachsenen Geweih hing neben seinem rechten Unterarm herab. Seine staubigen Augen starrten in die Nacht.
Beach stolperte drei Schritte das Bankett hinab und warf den Kadaver des Rehs in den Straßengraben, wo er mit einem Klatschen aufschlug. Er trat zurück und hob die Plastikfolie auf. Er trug sie zum Lastwagen zurück und stopfte sie auf den Beifahrersitz. Hinten wäre es ihm lieber gewesen - sie stank-, aber dann bestand das Risiko, daß sie fortwehte und gefunden wurde. Er eilte um den Wagen herum zur Fahrerseite, wobei er mit einer Grimasse das blutgetränkte Hemd von der Brust wegzog. Sobald er zu Hause war, würde er sich umziehen.
Er stieg ein und ließ den Motor der alten Betsy an. Er wendete und kurbelte, bis er wieder Richtung Haven stand, dann verweilte er noch einen Augenblick und versuchte festzustellen, ob die Szene die Ge -schichte erzählte, die sie erzählen sollte. Er fand, sie täte es. Da stand ein Streifenwagen einsam und verlassen am Ende einer langen Bremsspur auf der Straße. Motor aus, Blinklicht an. Im Straßengraben lag der ausgeweidete Kadaver eines stattlichen Rehs. Der würde nicht lange unbemerkt bleiben, nicht im Juli.
War irgend etwas an dieser Geschichte, das Haven flüsterte?
Beach glaubte es nicht. Die Geschichte handelt von zwei Polizisten, die ins Hauptquartier zurückkehrten, nachdem sie einen Unfall mit einem Todesopfer untersucht hatten. Zufällig stießen sie auf eine Gruppe von Männern, die Rehe wilderten. Was geschah mit den Polizisten? Ah, das war die Frage, nicht? Und je mehr Tage verstrichen, desto ominöser würden die möglichen Antworten aussehen. In der Geschichte kamen Wilderer vor, Wilderer, die möglicherweise in Panik geraten waren, zwei Polizisten erschossen und diese dann im Wald begraben hatten. Aber Haven ? Beach war der festen Überzeugung, sie würden das für eine ganz andere Geschichte halten, die bei weitem nicht so interessant war.
Jetzt konnte er im Rückspiegel Scheinwerfer sehen. Er legte den ersten Gang ein und umrundete den Streifenwagen. Das Blinklicht tauchte ihn in ein halbes Dutzend blaue Pulsschläge, dann war er daran vorbei. Beach sah nach rechts und erblickte den schwarzen Dienstschuh mit der blauen Dienstsocke darin, die wie der Schwanz eines Drachen daraus hervorragte, und kicherte. Ich wette, als du den heute morgen angezogen hast, Mr. Klugscheißer von der Staatspolizei, hattest du keine Ahnung, wo er heute nacht enden würde.
Beach Jernigan kicherte erneut und legte mit einem Ruck den zweiten Gang ein. Er war auf dem Weg nach Hause, und er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so pudelwohl gefühlt.
Achtes Kapitel
Ev Hillman
1
Leitartikel, Bangor Daily News, 25. Juli 1988:
ZWEI STAATSPOLIZISTEN VERSCHWINDEN IN DERRY Ausgedehnte Suchaktion eingeleitet von David Bright
Die Entdeckung eines verlassenen Streifenwagens der Staatspolizei in Derry gestern abend kurz nach 21.30 Uhr hat zur zweiten größeren Suchaktion dieses Sommers im östlichen und zentralen Maine geführt. Die erste galt dem vierjährigen David Brown aus Haven, der immer noch vermißt wird. Ironischerweise befanden sich die beiden Polizisten Benton Rhodes und Peter Gabbons zum Zeitpunkt ihres Verschwindens auf dem Rückweg von ebendieser Stadt, nachdem sie dort erste Ermittlungen über eine Kesselexplosion durchgeführt hatten, die ein Todesopfer forderte (beachten Sie den Artikel dazu auf dieser Seite).
Außerdem wurde, was ein Polizeibeamter als »die schlimmste Nachricht, die ich zu diesem Zeitpunkt bekommen konnte« bezeich-nete, der Kadaver eines Rehs, das erschossen und ausgeweidet war, in der Nähe des Streifenwagens gefunden, was die Vermutung nahelegt, daß...
2
»Seht euch das an«, sagte Beach am nächsten Morgen über einer Tasse Kaffee zu Dick Allison und Newt Berringer. Sie saßen im Haven Lunch und lasen die Zeitung, die gerade gekommen war. »Wir haben alle gedacht, niemand würde eine Verbindung herstellen. Verdammt!«
»Beruhige dich«, sagte Newt, und Dick nickte. »Niemand wird das Verschwinden eines vierjährigen Jungen, der sich wahrscheinlich im Wald verirrt hat oder von einem Sexperversen aufgegriffen und entführt wurde, mit dem Verschwinden von zwei kräftigen Staatspolypen in Zusammenhang bringen. Richtig, Dick?«
»Goldrichtig.«
3
Falsch.
4
Bangor Daily News, Seite eins, unter dem Falz:
BEI UNFALL UMS LEBEN GEKOMMENE POLIZISTIN AUS HAVEN WAR DAS HERZ IHRER GEMEINDE von John Leandro
Ruth McCausland, eine von nur drei weiblichen Constables in Maine, starb gestern in ihrer Heimatstadt Haven. Sie war fünfzig. Richard Allison, Chef der Freiwilligen Feuerwehr von Haven, sagte, Mrs. McCausland sei offenbar ums Leben gekommen, als Öldämpfe sich entzündeten, die sich aufgrund eines defekten Ventils im Keller des Rathauses von Haven gesammelt hatten. Allison sagte, das Licht im Keller, wo zahlreiche Dokumente gelagert sind, sei nicht besonders gut. »Vielleicht hat sie ein Streichholz angezündet«, sagte Allison. »Das jedenfalls ist die Theorie, die wir mittlerweile entwickelt haben.«
Auf die Frage, ob Spuren von Brandstiftung gefunden wurden, antwortete Allison verneinend, meinte aber, das Verschwinden der beiden Staatspolizisten, die geschickt worden waren, um den Unglücksfall zu untersuchen, würde es schwieriger machen, das festzustellen. »Da keiner der ermittelnden Beamten einen Bericht abliefern konnte, werden wir es wohl mit der staatlichen Feuerinspektion zu tun bekommen. Momentan hoffe ich jedenfalls inbrünstig, daß die beiden vermißten Polizisten heil und gesund wieder auftauchen.«
Newton Berringer, Vorsitzender des Stadtrats, sagte, die ganze Stadt empfände tiefe Trauer für Mrs. McCausland. »Sie war eine großartige Frau«, sagte Berringer, »und wir haben sie alle geliebt.« Andere Stadtbewohner äußerten sich mit ähnlichen Worten, nicht selten mit Tränen in den Augen, wenn sie von Mrs. McCausland sprachen.
5
Natürlich war es Hillys Großvater Ev, der den Zusammenhang erkannte. Ev Hillman, den man die Stadt im Exil hätte nennen können, Ev Hillman, der wegen einer deutschen Granate, die während der Ardennenoffensive dicht neben ihm hochgegangen war, mit zwei kleinen Stahlplatten im Schädel aus dem Krieg heimgekehrt war.
Er verbrachte den Montag vormittag nach Havens explosivem Sonntag dort, wo er alle seine Vormittage verbrachte - in Zimmer 371 des Derry Home Hospital, wo er auf Hilly aufpaßte. Er hatte sich in der Lower Main Street ein möbliertes Zimmer gemietet, und dort verbrachte er seine Nächte - seine weitgehend schlaflosen Nächte-, wenn die Schwestern ihn schließlich nach Hause schickten.
Manchmal lag er in der Dunkelheit und glaubte, kichernde Laute aus dem Abfluß zu hören, und dann dachte er: Du verlierst den Verstand, Alterchen. Aber das tat er nicht. Manchmal wünschte er sch, es wäre so.
Er hatte versucht, mit ein paar Krankenschwestern über das zu reden, was mit David geschehen war - was er glaubte, was er wußte. Sie bemitleideten ihn. Anfangs sah er ihr Mitleid nicht; die Augen gingen ihm erst auf, nachdem er den Fehler g emacht hatte, mit dem Reporter zu reden. Das hatte ihm die Augen geöffnet. Er dachte, die Schwestern bewunderten ihn wegen seiner Hingabe an Hilly, und er täte ihnen leid, weil Hilly nicht gesund wurde... aber sie hielten ihn auch für verrückt. Kleine Jungs verschwanden nicht bei Zaubertricks, die während Vorstellungen in Gärten abgehalten wurden. Um das zu wissen, brauchte man nicht einmal in die Vorschule zu gehen.
Nachdem er sich eine Weile in Derry aufgehalten hatte, halb verrückt vor Sorge um Hilly und David, vor Scham über das, was er jetzt für seine eigene Feigheit hielt, und vor Angst um Ruth McCausland und die anderen in Haven, fing Ev an, ab und zu in der kleinen Bar an der Lower Main ein Glas zu trinken. Im Verlauf einer Unterhaltung mit dem Barkeeper hörte er die Geschichte eines Mannes namens John Smith, der eine Weile in der nicht allzu weit entfernten Stadt Cleaves Mills unterrichtet hatte. Smith hatte jahrelang im Koma gelegen und war mit einer Art hellseherischer Begabung aufgewacht. Vor ein paar Jahren war er übergeschnappt - er hatte versucht, einen Politiker namens Stillson zu ermorden, der ein Abgeordneter von New Hampshire im Repräsentantenhaus gewesen war.
»Keine Ahnung, ob an dieser Hellseherei was dran war oder nicht«, sagte der Barkeeper und zapfte Ev ein frisches Bier. »Ich selbst glaube ja, das alles ist nur Augenwischerei. Aber wenn Sie eine ausgeflippte Ge -schichte zu erzählen haben -« Ev hatte angedeutet, er hätte eine Ge -schichte zu erzählen, gegen die sich The Amityville Horror harmlos ausnehmen würde - »dann ist Bright von der Bangor Daily News derjenige, dem Sie sie erzählen müssen. Er hat für die Zeitung über diesen Smith berichtet. Er schaut ab und zu mal auf ein Bier hier vorbei, und ich kann Ihnen sagen, Mister, er glaubt, daß dieser Smith das zweite Gesicht hatte.«
Ev hatte rasch hintereinander drei Bier getrunken - mit anderen Worten, gerade genug zu glauben, daß einfache Lösungen möglich sein würden. Er ging zum Münzfernsprecher, legte sein Kleingeld auf die
Ablage und rief die Daily News in Bangor an. David Bright war da, und Ev redete mit ihm. Er erzählte ihm nicht die Geschichte, nicht am Telefon, aber er sagte, er hätte eine Geschichte zu erzählen, und er wüßte nicht, was sie zu bedeuten hätte, aber er sei der Meinung, die Leute sollten schnell davon erfahren.
Bright klang interessiert. Mehr noch, er klang teilnahmsvoll. Er fragte Ev, wann er nach Bangor kommen könnte (daß Bright nicht davon sprach, nach Derry zu kommen, um mit dem alten Mann zu sprechen, hätte Ev eigentlich deutlich machen müssen, daß er sowohl Brights Gutgläubigkeit als auch seine Anteilnahme überschätzt hatte), und Ev hatte gefragt, ob es noch an diesem Abend möglich wäre.
»Nun, ich werde noch zwei Stunden hier sein«, sagte Bright. »Können Sie vor Mitternacht kommen, Mr. Hillman?«
»Worauf Sie sich verlassen können«, sagte der alte Mann und legte auf. Als er Wally's Spa in der Lower Main verließ, leuchteten seine Augen, und sein Schritt war federnd. Er sah zwanzig Jahre jünger aus als der Mann, der hineingeschlurft war.
Aber bis Bangor waren es fünfundzwanzig Meilen, und die Wirkung der drei Bier ließ nach. Als Ev das Gebäude der News erreicht hatte, war er wieder nüchtern. Er merkte, daß er seine Geschichte schlecht erzählte, daß er immer wieder zu der Zaubervorstellung zurückkehrte, zu Hillys Aussehen, zu seiner Überzeugung, daß David Brown tatsächlich verschwunden war.
Schließlich hörte er auf... aber es war weniger ein Aufhören als vielmehr das Austrocknen eines zunehmend zähfließenden Stroms.
Bright klopfte mit einem Bleistift gegen die Seite seines Schreibtischs und sah Ev nicht an.
»Sie haben zu dem Zeitpunkt nicht unter die Plattform gesehen, Mr. Hillman?«
»Nein... nein. Aber...«
Jetzt sah Bright ihn an, und er machte ein freundliches Gesicht, aber darin sah Ev den Ausdruck, der ihm die Augen öffnete - der Mann hielt ihn für total übergeschnappt.
»Mr. Hillman, das ist alles sehr interessant...«
»Vergessen Sie's«, sagte Ev und stand auf. Der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, wurde so heftig zurückgestoßen, daß er beinahe umfiel. Nur am Rande registrierte er das Klicken der Textcomputer, das Läuten der Telefone, die Menschen, die mit Blättern in der Hand die Redaktion betraten und verließen. Am deutlichsten spürte er, daß es Mitternacht war, daß er müde war und krank vor Angst, und dieser Bursche hier hielt ihn für verrückt. »Vergessen Sie's, es ist spät, Sie möchten sicher nach Hause zu Ihrer Familie, nicht?«
»Mr. Hillman, wenn Sie es von meiner Warte aus sehen würden, dann würden Sie verstehen...«
»Ich sehe es von Ihrer Warte aus«, sagte Ev. »Ich glaube, zum ersten Mal. Ich muß auch gehen, Mr. Bright. Ich habe eine lange Fahrt vor mir, und die Besuchszeit fängt um neun an. Tut mir leid, daß ich Ihre Zeit vergeudet habe.«
Er verschwand, so schnell er konnte, und erinnerte sich an etwas, das er eigentlich nicht hätte vergessen dürfen, nämlich, daß es keinen'sol-chen Narren gab wie einen alten Narren, und er hatte das Gefühl, daß ihn seine heutige Vorstellung zum größten alten Narren aller Zeiten gestempelt hatte. Nun, soviel zu dem Versuch, den Leuten zu erzählen, was in Haven vor sich ging. Er war alt, aber der Teufel sollte ihn holen, wenn er sich jemals wieder einem solchen Blick aussetzen würde.
In seinem ganzen Leben.
6
Dieser Entschluß hielt genau sechsundfünfzig Stunden vor - bis er die Schlagzeilen der Montagszeitung sah. Als er sie gesehen hatte, wollte er mit dem Mann sprechen, der die Ermittlungen über das Verschwinden der beiden Polizisten leitete. In der News stand, daß er Dugan hieß, und es wurde auch erwähnt, daß er Ruth McCausland gut gekannt hatte -daß er sogar die Ermittlungen in einem außerordentlich heißen Fall unterbrechen würde, um bei der Beerdigung der Dame ein paar Worte zu sprechen. Ev gewann den Eindruck, daß er sie verdammt gut gekannt haben mußte.
Aber als er nach dem Feuer und der Erregung der vergangenen Nacht suchte, fand er nur bittere Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit. Die beiden Artikel auf Seite eins hatten ihm das letzte bißchen Mumm genommen, das er noch gehabt hatte. Haven verwandelt sich in ein Schlangennest, und jetzt _ fangen sie an zu beißen. Ich muß jemanden davon überzeugen, daß es so ist, aber wie soll ich das anstellen? Wie kann ich_ jemanden davon überzeugen, daß sie in dieser Stadt Gedanken lesen können und weiß Gott was sonst noch? Wie, wo ich mich doch kaum daran erinnern kann, woher ich weiß, daß etwas vor sich geht? Wie, wo ich doch niemals selbst etwas gesehen habe? Wie? Mehr noch, wie soll ich es machen, wo sich doch die ganze gottverdammte Sache direkt vor ihren Augen abspielt und sie sie nicht sehen? Ein Stück die Straße entlang wird eine ganze Stadt verrückt, und niemand hat die geringste Ahnung davon, daß es geschieht.
Er schlug wieder die Seite mit den Nachrufen auf. Ruths klare Augen sahen ihn aus einem dieser seltsamen Zeitungsbilder heraus an, die nichts weiter sind als dicht zusammengedrängte Pünktchen. Ihre so ruhigen und klaren und offenen Augen sahen ihn gelassen an. Ev vermutete, daß es mindestens fünf Männer in der Stadt gab, wahrscheinlich sogar ein Dutzend, die in sie verliebt gewesen waren, und sie hatte es niemals gewußt. Ihre Augen schienen selbst die Vorstellung vom Tod zu leugnen und für absurd zu halten. Dennoch war sie tot.
Er erinnerte sich, wie er mit Hilly weggefahren war, während sich der Suchtrupp formiert hatte.
Sie sollten mit uns kommen, Ruthie.
Ev, ich kann nicht,.. Rufen Sie mich an.
Er hatte es versucht, weil er der Überzeugung gewesen war, wenn Ruth zu ihm nach Derry käme, würde sie in Sicherheit sein... und sie könnte seine Geschichte bestätigen. In seinem Zustand von Verwirrung, Elend und, ja, Heimweh, war Ev nicht sicher, was davon ihm wichtiger gewesen war. Letzten Endes war es einerlei. Er hatte dreimal versucht, Haven direkt anzuwählen, das letzte Mal nach seiner Unterredung mit Bright, aber kein Anruf war durchgekommen. Einmal hatte er es über das Amt versucht, und dort hatte man ihm gesagt, daß eine Leitung defekt zu sein schien. Ob er es später noch einmal versuchen wollte? Ev sagte, das wollte er, hatte es aber nicht getan. Statt dessen hatte er sich im Dunkeln hingelegt und dem Kichern des Ausgusses gelauscht.
Und jetzt, weniger als drei Tage später, hatte Ruth sich bei ihm gemeldet. Über die Nachrufseite.
Er sah Hilly an. Hilly schlief. Die Arzte nannten es nicht Koma - seine Hirnströme waren nicht die eines komatösen Patienten, sagten sie; es waren die Hirnströme eines Menschen im Tiefschlaf. Ev war es einerlei, wie sie es nannten. Er wußte, daß Hilly entschwebte, und ob es sich um einen Zustand handelte, der Autismus hieß - Ev wußte nicht einmal, was das Wort bedeutete, aber er hatte die Arzte mit gedämpften Stimmen, die nicht für seine Ohren bestimmt gewesen waren, davon reden gehört-, oder um einen, der Koma hieß, spielte keine Rolle. Das waren nur Worte. Hilly entschwebte, darauf lief es hinaus, und das war schrecklich.
Auf der Fahrt nach Derry hatte der Junge sich verhalten wie eine Person in tiefem Schock. Ev hatte eine vage Ahnung, daß es besser für ihn wäre, wenn er ihn aus Haven fortbrächte, und in ihrer hektischen Sorge um David schienen weder Bryant noch Marie zu bemerken, in welchem Zustand sich sein älterer Bruder zu befinden schien.
Es hatte nichts genützt, aus Haven zu verschwinden. Mit Hillys Bewußtsein war es weiter bergab gegangen. Am ersten Tag im Krankenhaus hatte er elf von vierundzwanzig Stunden geschlafen. Er konnte einfache Fragen beantworten, aber kompliziertere verwirrten ihn. Er klagte über Kopfschmerzen. Er konnte sich überhaupt nicht an die Zaubervorstellung erinnern und schien zu glauben, sein Geburtstag wäre erst letzte Woche gewesen. In dieser Nacht hatte er im Tiefschlaf einen Satz ganz deutlich ausgesprochen: »Alle G. I. Joes.« Das hatte er immer wieder geschrien, als alle aus dem Haus gerannt kamen und feststellten, daß David verschwunden und Hilly hysterisch war.
Am darauffolgenden Tag hatte Hilly vierzehn Stunden geschlafen und schien während seiner benommenen Wachperiode noch verwirrter zu sein. Als die Kinderpsychologin, die sich seines Falles angenommen hatte, ihn nach seinem zweiten Vornamen fragte, antwortete er »Jonathan«. Das war Davids zweiter Vorname.
Jetzt schlief er praktisch rund um die Uhr. Manchmal machte er die Augen auf und schien Ev oder eine der Schwestern sogar anzusehen, aber wenn sie ihn ansprachen, dann lächelte er nur sein süßes Hilly -Brown-Lächeln und entschwebte wieder.
Entschwebte. Er lag da wie ein verzauberter Prinz in einem Märchenschloß, und nur die Tropfflasche über seinem Kopf und die gelegentlichen Durchsagen auf dem Korridor störten die Illusion.
Anfangs hatte an der neurologischen Front große Aufregung geherrscht; ein dunkler, unspezifischer Schatten in der Gegend von Hilly s Großhirnrinde hatte darauf hingedeutet, daß die seltsame Benommenheit des Jungen von einem Gehirntumor herrühren könnte. Aber als sie Hilly zwei Tage später wieder röntgten (seine Platten waren auf Eis gelegt worden, erklärte der Röntgentechniker, weil niemand damit rechnete, im Gehirn eines Zehnjährigen einen Tumor zu finden, und vorher nichts darauf hingedeutet hatte), war der Schatten verschwunden. Der Neurologe hatte mit dem Röntgentechniker konferiert, und Ev glaubte der defensiven Haltung des Technikers zu entnehmen, daß Federn geflogen waren. Der Neurologe versicherte ihm, daß man noch einen Satz Platten anfertigen würde, aber er war sicher, das Ergebnis würde negativ sein. Der erste Satz, sagte er, mußte beschädigt gewesen sein.
»Ich hatte gleich vermutet, daß etwas nicht koscher war«, sagte er zu Ev.
»Warum?«
Der Neurologe, ein großer Mann mit feuerrotem Bart, lächelte. »Weil dieser Schatten riesig war. Um ganz offen zu sein, ein Kind mit einem so großen Gehirntumor hätte schon ziemlich lange ein schwerkrankes Kind sein müssen... wenn es überhaupt noch am Leben wäre.«
»Ich verstehe. Dann wissen Sie also immer noch nicht, was mit Hilly los ist?«
»Wir verfolgen zwei oder drei Möglichkeiten«, sagte der Neurologe, aber sein Lächeln wurde vage, er wandte den Blick von Ev ab, und am nächsten Tag erschien die Kinderpsychologin wieder. Die Kinderpsychologin war eine sehr dicke Frau mit sehr dunklem schwarzem Haar. Sie wollte wissen, wo Hillys Eltern waren.
»Sie versuchen, ihren anderen Sohn zu finden.« Ev nahm an, daß ihr das genügen würde.
Es genügte ihr nicht. »Rufen Sie sie an und sagen Sie ihnen, ich brauche ihre Hilfe dabei, diesen hier zu finden.«
Sie kamen, waren aber keine Hilfe. Sie hatten sich verändert; sie waren seltsam geworden. Das spürte auch die Kinderpsychologin, die nach einigen anfänglichen Fragen zurückwich - Ev konnte buchstäblich spüren, wie sie es tat. Ev selbst mußte sich zusammennehmen, um nicht aufzustehen und das Zimmer zu verlassen. Er wollte ihre seltsamen Blicke nicht auf sich spüren; unter ihren Blicken fühlte er sich, als wäre er irgendwie für etwas gezeichnet. Die Frau in der karierten Bluse und den verblichenen Jeans war seine Tochter gewesen, und sie sah immer noch wie seine Tochter aus, aber das war sie nicht, nicht mehr. Der größte Teil von Marie war tot, und der Rest starb rapide.
Die Kinderpsychologin hatte sie nicht mehr hergebeten.
Seither war sie zweimal erschienen, um sich Hilly anzusehen. Zum zweiten Mal am Sonntagnachmittag, an dem Tag, bevor das Rathaus von Haven in die Luft flog.
»Was haben sie ihm zu essen gegeben?« fragte sie unvermittelt.
Ev hatte im Schein der warmen Nachmittagssonne am Fenster gesessen und beinahe gedöst. Die Frage der dicken Frau weckte ihn. »Was?«
»Was haben sie ihm zu essen gegeben?«
»Nun, normales Essen«, sagte er.
»Das bezweifle ich.«
»Müssen Sie nicht«, sagte er. »Ich habe viele Mahlzeiten mit ihnen eingenommen, ich weiß es. Warum fragen Sie?«
»Weil zehn seiner Zähne fehlen«, sagte sie kurz angebunden.
7
Trotz des dumpfen Pochens der Arthritis ballte Ev die Faust und schlug damit heftig auf ein Bein.
Was wirst du tun, alter Mann? David ist fort, und es wäre einfacher, wenn du dir einreden könntest, daß er wirklich tot ist, nicht?
Ja. Das hätte alles einfacher gemacht. Trauriger, aber einfacher. Aber das konnte er nicht glauben. Ein Teil von ihm war immer noch davon überzeugt, daß David am Leben war. Vielleicht war es nur Wunschdenken, aber das glaubte Ev nicht - dazu hatte er sich zu seiner Zeit oft genug verleiten lassen, aber diesmal machte es nicht diesen Eindruck. Es war eine starke, pulsierende Intuition in seinem Kopf: David lebt. Er ist verschwunden, und er schwebt in Lebensgefahr, oh, ganz sicher... aber noch kann er gerettet werden. Wenn. Wenn du dich entschließen kannst, etwas zu tun. Und wenn das, wozu du dich entschließt, das Richtige ist. Schlechte Karten_ für einen alten Furz wie dich, der neuerdings hin und wieder mal einen dunklen_ fleck in seine Hosen pißt, wenn er es nicht rechtzeitig zum Klo schafft. Schlechte, schlechte Karten.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden des Montags war er zitternd in seinem gemieteten Zimmer aufgewacht. Er hatte einen schreckliehen Alptraum gehabt. Er hatte geträumt, er befände sich an einem dunklen und steinigen Ort - nadelspitze Berge sägten an einem schwarzen, von kalten Sternen überzogenen Himmel, und ein Wind, so scharf wie ein Eispickel, heulte durch schmale Felsritzen. Unter ihm konnte er eine endlose Ebene im Sternenlicht sehen. Sie sah kalt und trocken und leblos aus und war von breiten, im Zickzack verlaufenden Rissen durchzogen. Und von irgendwoher konnte er Davids dünne Stimme hören: »Hilf mir, Großvater, das Atmen tut weh! Hilf mir, Großvater, das Atmen tut weh! Hilf mir! Ich habe Angst! Ich wollte den Trick nicht mitmachen, aber Hilly hat mich gezwungen, und_ jetzt_ finde ich nicht mehr nach Hause!«
Sein Körper war schweißgebadet, und der Schweiß rann über sein Gesicht wie Tränen.
Er stand auf, ging zu Hilly und beugte sich dicht über ihn. »Hilly«, sagte er nicht zum ersten Mal. »Wo ist dein Bruder? Wo ist David?«
Aber diesmal schlug Hilly die Augen auf. Sein wäßriger, leerer Blick machte Ev schauern - es war der Blick einer blinden Sibylle.
»Altair-4«, sagte Hilly ruhig und unmißverständlich. »David ist auf Altair-4, und da sind Tommy knockers, Tommyknockers klopfen an mein Tor.«
Er machte die Augen zu und schlief wieder fest ein.
Ev stand vollkommen reglos über ihm, und seine Haut hatte die Farbe von Asche.
Nach einer Weile begann er zu zittern.
8
Er war die Stadt im Exil.
Wenn Ruth McCausland Havens Herz und Gewissen gewesen war, dann war Ev Hillman, dreiundsiebzig (und längst nicht so senil, wie er neuerdings befürchtete), sein Gedächtnis. In seinem langen Leben dort hatte er viel von der Stadt gesehen und noch mehr gehört; er war immer ein guter Zuhörer gewesen.
Als er an diesem Montagabend das Krankenhaus verließ, machte er einen Umweg über den Mr.-Paperback-Laden von Derry, wo er neun Dollar in einen Atlas von Maine investierte - ein Kompendium großer Karten, die den Staat in handlichen Abschnitten von jeweils sechshundert Quadratmeilen zeigten. Als er Karte Nummer 23 aufschlug, fand er die Stadt Haven. Beim Schreibwaren- und Zeitschriftenhändler hatte er außerdem einen Zirkel gekauft, und jetzt zog er einen Kreis um die Stadt herum, ohne sich zu fragen, warum er das tat. Natürlich bohrte er die Nadel des Zirkels nicht in Haven Village, denn der Ort lag am Stadtrand.
David ist auf Altair-q.
David ist auf Altair-4, und da sind Tommyknockers, Tommyknockers klopfen an mein Tor.
Ev saß stirnrunzelnd über der Karte und dem Kreis, den er gezogen hatte, und fragte sich, ob das, was Hilly gesagt hatte, irgendeine Bedeutung haben konnte.
Hättest einen roten Stift nehmen sollen, alter Mann. Haven müßte jetzt rot umrandet werden. Auf dieser Karte... auf jeder Karte.
Er beugte sich tiefer darüber. Seine Fernsicht war immer noch so gut, daß er eine Bohne von einem Maiskorn hätte unterscheiden können, wenn man beide auf einen vierzig Meter entfernten Pfosten gelegt hätte, aber seine Nahsicht ging zunehmend rascher zum Teufel, und er hatte die Lesebrille bei Marie und Bryant gelassen - er hatte das Gefühl, wenn er zurückkehrte, um sie zu holen, würde er sich über mehr den Kopf zerbrechen müssen als über die Schwierigkeit, Kleingedrucktes zu lesen. Zum ersten Mal war es besser- sicherer-, wenn er ohne sie zurechtkam.
Seine Nase berührte fast das Papier, als er die Stelle betrachtete, wo er die Nadel eingestochen hatte. Es war direkt auf der Derry Road, ein Stück nördlich vom Preston Stream und ein wenig östlich von dem, das er und seine Freunde als Kinder Big Injun Woods genannt hatten. Auf dieser Karte hieß es Burning Woods, und diesen Namen hatte Ev auch schon ein - oder zweimal gehört.
Er verengerte den Zirkel auf ein Viertel des Radius, den er gebraucht hatte, um ganz Haven einzukreisen, und zog einen zweiten Kreis. Er sah, daß sich das Haus von Marie und Bryant gerade noch in diesem Kreis befand. Im Westen lag der kurze Abschnitt der Nista Road, die von der Route 9 - der Derry Road - abzweigte und als Sackgasse an einer Kiesgrube am Rande dieses Waldes endete - ob man ihn nun Big Injun Woods oder Burning Woods nannte, es blieb derselbe Wald.
Nista Road... Nista Road... etwas war mit der Nista Road, aber was? Etwas, das geschehen war, bevor er auf die Welt kam, aber einen solchen Eindruck hinterlassen hatte, daß man Jahre später noch immer darüber redete...
Ev schloß die Augen, und es sah aus, als schliefe er im Sitzen, ein fast kahler, knochiger alter Mann in einem ordentlichen Khakihemd und ordentlicher Khakihose mit Bügelfalten.
Einen Augenblick später fiel es ihm ein, und er fragte sich, wie er hatte so lange brauchen können, bis er darauf gekommen war. Die Claren-dons. Natürlich, die Clarendons. Sie hatten an der Kreuzung der Nista Road und der Old Derry Road gewohnt. Paul und Faith Clarendon. Faith, die so von diesem Prediger mit der flinken Zunge eingenommen gewesen war und die neun Monate nachdem der Prediger aus der Stadt verschwunden war, ein Kind mit schwarzen Haaren und blauen Augen zur Welt gebracht hatte. Paul Clarendon, der das Kind, das in der Wiege lag, lange betrachtet und dann sein Rasiermesser geholt hatte...
Ein paar Leute hatten die Köpfe geschüttelt und dem Prediger die Schuld gegeben - Colson hatte er geheißen. Behauptete er jedenfalls.
Ein paar Leute hatten die Köpfe geschüttelt und Paul Clarendon die Schuld gegeben; sie sagten, er wäre schon immer verrückt gewesen, und Faith hätte ihn nie heiraten dürfen.
Ein paar Leute hatten natürlich auch Faith die Schuld gegeben. Ev erinnerte sich an einen alten Mann beim Barbier - das war Jahre später, aber Orte wie Haven haben ein langes Gedächtnis -, der sie »nichts als eine geile Nutte, dazu geboren, um Arger zu machen« genannt hatte.
Und ein paar Leute hatten - selbstverständlich nur im Flüsterton -dem Wald die Schuld gegeben.
Ev riß die Augen auf.
Ja. Ja, das hatten sie. Seine Mutter hatte solche Leute unwissend und abergläubisch genannt, aber sein Vater hatte nur langsam den Kopf geschüttelt und seine Pfeife geraucht und gesagt, manchmal hätten alte Geschichten ein oder zwei Körnchen Wahrheit in sich, und es wäre besser, kein Risiko einzugehen. Darum, sagte er, bekreuzigte er sich jedesmal, wenn ihm eine schwarze Katze über den Weg lief.
»Hmmpf!« Evs Mutter hatte verächtlich geschnaubt. Ev selbst war damals ungefähr neun Jahre alt gewesen, erinnerte er sich jetzt.
»Und ich glaube, darum wirft sich deine Mutter eine Prise Salz über die Schulter, wenn sie das Salzfaß umgeworfen hat«, hatte Evs Dad lächelnd zu Ev gesagt.
»Hmmpf!« sagte sie erneut und ging hinein, um ihren Mann rauchend auf der Veranda zurückzulassen und ihren Sohn an seiner Seite, aufmerksam lauschend, während sein Vater erzählte. Ev war immer ein guter Zuhörer gewesen... nur in dem entscheidenden Augenblick nicht, als jemand so dringend einen Zuhörer gebraucht hatte, in dem unverzeihlichen Augenblick, als er sich verwirrt von Hillys Tränen hatte vertreiben lassen.
Jetzt hörte Ev zu. Er lauschte seinen Erinnerungen...
9
Sie hatten ihn Big Injun Woods genannt, weil der alte Chief Atlantic dort gestorben war. Die Weißen hatten ihn Chief Atlantic genannt - sein richtiger Micmac-Name war Wahwayvokah gewesen, was »am großen Wasser« bedeutet. »Chief Atlantic« war eine verächtliche Übersetzung davon. Ursprünglich hatte der Stamm den Großteil dessen bewohnt, was heute Penobscot County war, große Gruppen hatten sich in Oldtown, Skowhegan und dem Großen Wald niedergelassen, der in Ludlow begann - in Ludlow begruben sie ihre Toten, als sie 1880 von der Grippe dahingerafft wurden, anschließend zogen sie mit Wahwayvokah weiter, der sie in der Zeit ihres weiteren Niedergangs regierte. Wahwayvokah starb 1885, und er verkündete auf dem Totenbett, daß die Wälder, in die er sein sterbendes Volk geführt hatte, verflucht seien. Das berichteten die beiden weißen Männer, die bei seinem Tod dabei gewesen waren -ein Anthropologe vom Boston College und einer von der Smithsonian Institution; sie waren auf der Suche nach Artefakten der Indianerstämme aus dem Nordosten gewesen, die rasch degenerierten und bald verschwunden sein würden. Unklar war, ob Chief Atlantic den Fluch selbst auferlegt oder lediglich auf einen bestehenden Tatbestand hingewiesen hatte.
Wie auch immer, sein einziges Monument war der Name Big Injun Woods - man wußte nicht einmal mehr, wo er begraben lag. In Haven und den umliegenden Orten war dieser Name für das große Waldgebiet, soweit Ev wußte, nach wie vor der gebräuchlichste, aber er konnte verstehen, daß die Kartographen, die den Atlas von Maine gemacht hatten, ein Wort wie »Injun« nicht in ihrem Werk stehen haben wollten. Die Leute waren empfindlich geworden, was solche beiläufigen Verballhornungen anbelangte.
Alte Geschichten enthalten manchmal ein Körnchen Wahrheit, hatte sein Dad gesagt...
Ev, der sich auch bekreuzigte, wenn ihm eine schwarze Katze über den Weg lief (und, um die Wahrheit zu sagen, auch dann, wenn eine nur die Absicht zu haben schien, sicher ist sicher), war der Meinung, daß sein Dad recht hatte und dieses Körnchen normalerweise da war. Und verflucht oder nicht, Big Injun Woods war nie eine besonderes Glück verheißende Gegend gewesen.
Sie hatte Wahwayvokah kein Glück gebracht, sie hatte den Claren-dons kein Glück gebracht. Er erinnerte sich, daß sie auch den Jägern/die sich dorthin begeben hatten, niemals Glück gebracht hatte. Im Laufe der Jahre hatte es zwei... nein drei... Augenblick mal...
Ev riß die Augen auf und pfiff stumm vor sich hin, während er im Geist eine Akte mit der Aufschrift JAGDUNFÄLLE, HAVEN durchging. Ihm fielen auf Anhieb ein Dutzend Unfälle ein, meistens mit Gewehren, die sich in den Big Injun Woods zugetragen hatten, ein Dutzend Jäger, die blutend und fluchend hinausgetragen worden waren oder blutend und bewußtlos oder ganz einfach tot. Ein paar hatten sich selbst angeschossen, indem sie beim Überklettern gestürzter Baumstämme geladene Gewehre als Krücken benutzten oder fallen ließen oder etwas ähnlich Blödsinniges damit taten. Einer hatte angeblich Selbstmord begangen. Aber jetzt fiel Ev wieder ein, daß zweimal im November ein Mord in den Big Injun Woods begangen worden war - beide Male im Streit, einmal in einem Camp wegen eines Kartenspiels, ein andermal, weil zwei Freunde sich nicht einigen konnten, wessen Kugel einen Hirsch von Rekordgröße niedergestreckt hatte.
Und wie viele Jäger hatten sich dort verirrt. Herrgott! Wie viele! Es schien, als hätte in jedem Jahr ein Suchtrupp zusammengestellt werden müssen, um einen armen, verängstigten Teufel aus Massachusetts oder New Jersey oder New York zu finden, in manchen Jahren waren es sogar zwei oder drei gewesen. Nicht alle waren gefunden worden.
Bei den meisten handelte es sich um Stadtmenschen, die eigentlich gar nichts im Wald verloren gehabt hätten, aber das war nicht immer so. Erfahrene Jäger sagten, Kompasse funktionierten in den Big Injun Woods schlecht oder überhaupt nicht. Evs Dad sagte, irgendwo dort draußen müßte ein verdammt großer Brocken Magnetgestein im Boden stecken, und der ließe die Kompaßnadeln tanzen. Der Unterschied zwischen Stadtmenschen und erfahrenen Jägern war der, daß die Stadtmenschen lernten, wie man einen Kompaß las, und sich dann blind auf ihn verließen. Und wenn er ausflippte und sagte, daß Osten Norden und Westen Osten war, oder wenn die Nadel einfach im Kreis herumwirbelte, dann glichen sie Männern, die mit Durchfall im Scheißhaus festsaßen. Klügere Männer verfluchten einfach ihren Kompaß, steckten ihn weg und versuchten dann, sich anhand einer anderen der etwa ein halbes Dutzend Möglichkeiten zu orientieren. Und wenn einem gar nichts mehr einfiel, dann suchte man nach einem Bach, der einen hinausführte. Wenn man immer daran entlangwanderte, stieß man früher oder später auf eine Straße oder einen Strommast von CME Aber Ev hatte ein paar Männer gekannt, die ihr Leben lang in Maine gewohnt und gejagt hatten und für die man trotzdem einen Suchtrupp hatte zusammenstellen müssen, oder die nur durch einen glücklichen Zufall wieder herausgekommen waren. Delbert McCready, den Ev seit seiner Kindheit kannte, war einer davon. Del war am Dienstag, dem 10. November 1947, mit seiner Schrotflinte in die Big Injun Woods gegangen. Nachdem achtundvierzig Stunden verstrichen waren und er sich immer noch nicht gemeldet hatte, rief Mrs. McCready bei Alf Tremain an, der damals Constable gewesen war. Ein aus zwanzig Mann bestehender Suchtrupp ging in den Wald, wo die Nista Road am Diamond Gravel Pit endete; Ende der Woche war die Zahl auf zweihundert gestiegen.
Sie waren drauf und dran gewesen, Del - dessen Tochter natürlich Hazel McCready war - als verschollen aufzugeben, als er am Preston Stream aus dem Wald getaumelt kam, blaß und benommen und zwanzig Pfund leichter als bei seinem Aufbruch.
Ev besuchte ihn im Krankenhaus. »Wie ist das passiert, Del? Die Nächte waren klar, die Sterne waren zu sehen. Du kannst dich doch an den Sternen orientieren, oder nicht?«
»Klar.« Del sah zutiefst beschämt aus. »Konnte ich jedenfalls immer. «
»Und das Moos. Als wir Kinder waren, hast du mir beigebracht, wie man durch das Moos an Baumstämmen erkennen kann, wo Norden ist.«
»Klar«, wiederholte Del. Nur das. Ev ließ ihm Zeit, dann drängte er.
»Also, was ist passiert?«
Del sagte lange Zeit nichts. Dann sagte er mit einer Stimme, die fast unhörbar war: »Ich wurde herumgedreht.«
Ev ließ das Schweigen sich hinziehen, so schwer es ihm fiel.
»Eine Weile war alles in Ordnung«, fuhr Del schließlich fort. »Ich habe fast den ganzen Morgen gesucht, sah aber keine frischen Spuren. Ich setzte mich, aß mein Essen und trank eine Flasche vom Bier meiner Ma. Das machte mich schläfrig, und ich machte ein Nickerchen. Ich hatte komische Träume... kann mich nicht mehr daran erinnern, aber ich weiß, daß sie komisch waren. Und sieh her! Das ist passiert, während ich schlief.«
Del McCready hob die Oberlippe und zeigte Ev eine Zahnlücke.
»Einen Zahn verloren?«
»Hmhm .. er lag auf meiner Hose, als ich aufwachte. Er muß herausgefallen sein, während ich schlief, obwohl ich fast nie Ärger mit den Zähnen hatte, abgesehen von damals, als sich der Weisheitszahn entzündete, was mich fast umgebracht hätte. Aber dann wurde es dunkel...«
»Dunkel!«
»Ich weiß, wie sich das anhört, keine Bange«, sagte Del schroff - aber es war die Schroffheit von jemandem, der sich zutiefst schämt. »Ich habe einfach den ganzen Nachmittag verschlafen, und als ich aufstand, Ev. . .«
Er rollte die Augen nach oben und sah Ev einen kläglichen Augenblick lang an, dann wandte er sich wieder ab, als könnte er es nicht ertragen, seinem alten Freund länger als eine Sekunde in die Augen zu sehen.
»Es war, als hätte mir jemand das Gehirn gestohlen. Vielleicht die Zahnfee.«
Del hatte gelacht, aber es war kein humorvolles Lachen gewesen. »Ich wanderte eine Weile in dem Glauben herum, dem Polarstern zu folgen, und als ich gegen neun Uhr oder so noch immer nicht an der Hammer Cut Road herausgekommen war, da rieb ich mir sozusagen die Augen und stellte fest, daß es gar nicht der Polarstern war, sondern einer der Planeten - Mars oder Saturn, denke ich. Ich habe mich zum Schlafen hingelegt, und bis ich eine Woche später am Preston Stream herauskam, habe ich nur noch bruchstückhafte Erinnerungen.«
»Nun...« Ev verstummte. Das hörte sich so gar nicht nach Del an, der normalerweise in jeder Lage einen klaren Kopf behielt. »Warst du in Panik, Del?«
Del wandte Ev den Blick zu, und seine Augen hatten immer noch einen beschämten Ausdruck, aber jetzt lag auch eine Spur von Humor darin. »Ich glaube nicht, daß ein Mann eine ganze Woche in Panik sein kann«, sagte er trocken. »Ist schrecklich ermüdend.«
»Also hast du nur...«
»Ich habe nur«, stimmte Del zu, »aber nur was, das kann ich nicht sagen. Ich weiß, als ich aus diesem Schlaf erwachte, waren meine Beine und mein Arsch eingeschlafen und gefühllos, und ich weiß, in einem der Träume war mir, als hörte ich etwas summen - weißt du, so wie man Stromleitungen an einem stillen Tag summen hört-, das ist alles. Ich habe meine ganze Walderfahrung vergessen und bin herumgeirrt wie jemand, der noch nie einen Wald gesehen hat. Als ich den Preston Stream erreichte, hatte ich genügend Verstand, ihm zu folgen, und ich bin hier aufgewacht, und wahrscheinlich lacht die garre Stadt über mich, aber ich bin froh, daß ich noch am Leben bin, das habe ich nur Gottes Gnade zu verdanken.«
»Niemand lacht über dich, Del«, sagte Ev, was natürlich eine Lüge war, denn genau das taten die Leute. Er bemühte sich fast fünf Jahre lang, es wieder loszuwerden, und als er überzeugt war, daß die Klugscheißer beim Barbier es ihm immer wieder aufs Butterbrot schmieren würden, zog er nach East Eddington und eröffnete eine Tankstelle mit einer kleinen Werkstatt. Ev besuchte ihn immer noch ab und zu, aber Del kam kaum noch nach Haven. Ev glaubte den Grund dafür zu kennen.
10
Ev saß in seinem gemieteten Zimmer, schob den Zirkel zusammen, soweit es ging, und schlug einen dritten Kreis, so eng der Zirkel es zuließ. Innerhalb dieses murmelgroßen Kreises lag nur ein Haus, und er dachte: Dieses Haus ist dem Zentrum von Haven am nächsten. Komisch, daß ich vorher nie daran gedacht habe.
Es war das alte Garrick-Anwesen, das an der Derry Road lag, und dahinter erstreckten sich die Big Injun Woods.
Wenn schon keinen anderen, dann hätte ich wenigstens diesen letzten Kreis rot ziehen sollen.
Franks Nichte, Bobbi Anderson, wohnte jetzt dort - natürlich betrieb sie keine Landwirtschaft; sie schrieb Bücher. Ev hatte kaum je ein Wort mit Bobbi gewechselt, aber sie hatte einen guten Ruf in der Stadt. Sie bezahlte ihre Rechnungen pünktlich, sagten die Leute, und klatschte nicht. Außerdem schrieb sie gute alte Westerngeschichten, die man verschlingen konnte, nichts mit erfundenen Monstern und unanständigen Wörtern wie in den Büchern von diesem Burschen, der in Bangor wohnte. Verdammt gute Western, sagten die Leute.
Besonders für ein Mädchen.
Die Leute in Haven hatten ein gutes Gefühl, was Bobbi anbelangte, aber natürlich war sie erst seit dreizehn Jahren in der Stadt, und man würde abwarten müssen. Garrick, darin waren sich die meisten einig, war so verrückt wie eine Scheißhausratte gewesen. Er hatte immer eine gute Ernte eingebracht, aber das änderte nichts an seinem Geisteszustand. Er hatte immerzu versucht, jemandem von seinen Träumen zu erzählen. Meistens drehten sie sich um die Wiederkunft Christi. Nach einer Weile war es soweit gekommen, daß selbst Arlene Cullum, die mit der Leidenschaft einer christlichen Märtyrerin betete, die Flucht ergriff, wenn sie Frank Garricks Lastwagen (auf dessen Stoßstange Aufkleber waren wie WENN DIE VERZÜCKUNG HEUTE STATTFINDET, SOLL, MIR JEMAND INS LENKRAD GREIFEN) die Main Street entlangkom men sah.
Ende der sechziger Jahre hatte er sich etwas über fliegende Untertassen in den Kopf gesetzt. Etwas über Elias, der ein Rad in einem Rad gesehen hatte und der von Engeln in den Himmel getragen worden war, die von Elektromagnetismus angetriebene feurige Wagen hatten. Er war verrückt gewesen, und er war 1975 an einem Herzanfall gestorben.
Aber bevor er gestorben ist, dachte Ev mit zunehmender Kälte, hat er alle Zähne verloren. Mir ist es aufgefallen, und ich erinnere mich, daß Justin Hurd aus der Nachbarschaft auch eine Bemerkung darüber machte, und... und jetzt ist Justin als nächster daran, abgesehen von Bobbi natürlich, und Justin war auch nicht gerade das, was man einen Ausbund an geistiger Stabilität und Vernunft nennen konnte. Die paarmal, die ich ihn gesehen habe, bevor ich wegging, hat er mich sogar an den alten Frank erinnert.
Es war seltsam, dachte er zuerst, daß er bisher nie all die merkwürdigen Vorkommnisse innerhalb dieser beiden inneren Kreise in Zusammenhang gebracht hatte, daß niemand dies je getan zu haben schien. Als er weiter darüber nachdachte, kam es ihm jedoch nicht mehr so seltsam vor. Ein Leben - ganz besonders ein langes - setzte sich aus Millionen Ereignissen zusammen, und diese bildeten einen Gobelin mit zahlreichen darin eingewebten Mustern. Ein einzelnes Muster wie dieses -Todesfälle, Morde, verirrte Jäger, der verrückte Frank Garrick, vielleicht sogar das merkwürdige Feuer bei den Paulsons - erkannte man nur, wenn man danach suchte. Wenn man es entdeckt hatte, dann fragte man sich, wie man es hatte übersehen können. Aber wenn nicht...
Und jetzt dämmerte ihm ein neuer Gedanke: mit Bobbi Anderson war vielleicht doch nicht alles in Ordnung. Er erinnerte sich, daß seit Anfang Juli, vielleicht schon vorher, die Geräusche schwerer Maschinen aus den Big Injun Woods gekommen waren. Ev hatte die Geräusche gehört und nicht weiter darauf geachtet - Maine war dicht bewaldet, die Geräusche waren nur zu vertraut. Wahrscheinlich fällte New England Paper wieder einmal ein paar Bäume.
Aber jetzt, da er darüber nachdachte - jetzt, da er das Muster gesehen hatte-, wurde Ev klar, daß die Geräusche zu nahe gewesen waren, um vom Gelände von NEP zu kommen - sie kamen vom Garrick-Anwesen.
Und nun wurde ihm auch klar, daß die ursprünglichen Geräusche - das wespenhafte Summen von Motorsägen, das knirschende Krachen umstürzender Bäume, das hustende Dröhnen benzinbetriebener Zerhacker - Lauten gewichen waren, die er überhaupt nicht mit Holzfällerarbeit in Verbindung brachte. Die späteren Geräusche... was hatte sie erzeugt? Möglicherweise Planierraupen.
Wenn man das Muster erst einmal erkannt hatte, ergab sich alles wie von selbst - wie die letzten paar Teile, die sich mühelos in ein großes Puzzle einfügen ließen.
Ev saß da und betrachtete die Karte und die Kreise. Ein lähmendes Entsetzen schien durch seine Adern zu rinnen und ihn von innen heraus erstarren lassen. Wenn man das Muster einmal erkannt hatte, konnte man es nicht mehr übersehen.
Ev klappte den Atlas zu und ging zu Bett.
11
Wo er nicht schlafen konnte.
Was machen sie heute nacht dort drüben? Sachen bauen?Menschen verschwinden lassen? Was?
Jedesmal, wenn er in den Schlaf driftete, tauchte ein Bild auf: Alle Bewohner von Haven standen mit verträumten Gesichtern, wie unter Drogen, auf der Main Street, alle schauten nach Südwesten, zu diesen Geräuschen, gleich Moslems, die sich zum Gebet nach Mekka gewandt haben.
Schwere Maschinen.,. Tiefbaumaschinen.
Wenn man die Teile des Puzzles zusammenfügte, erkannte man, um was es sich handelte, auch wenn kein Bild auf der Packung war, das einem half. Während er nicht weit von dem Ort, an dem Hilly in seinem Koma auf dem Bett lag, glaubte Ev, das Bild schon ziemlich gut zu sehen. Selbstverständlich nicht vollständig, gewiß, aber eine Menge davon. Er sah es und wußte ganz genau, daß ihm niemand glauben würde. Nicht ohne Beweise. Und er wagte nicht, dorthin zurückzukehren, sich wieder in ihre Reichweite zu begeben. Ein zweites Mal würden sie ihn nicht gehen lassen.
Etwas. Etwas in den Big Injun Woods. Etwas im Boden, etwas auf dem Land, welches Frank Garrick seiner Nichte, die diese Westernromane schrieb, testamentarisch vermacht hatte. Etwas, das eine Kompaßnadel und den menschlichen Verstand durcheinanderwirbelte, wenn man ihm zu nahe kam, Ev hielt es für denkbar, daß überall auf der Erde solche seltsamen Dinge vergraben waren. Immerhin ließe sich damit erklären, warum die Menschen an manchen Orten ständig verrückt spielten. Etwas Schlechtes. Spukhaftes. Vielleicht sogar etwas Verfluchtes.
Ev bewegte sich unruhig, drehte sich um, starrte zur Decke.
Etwas war in der Erde gewesen. Bobbi Anderson hatte es gefunden und grub es aus... sie und dieser Bursche, der bei ihr auf der Farm war. Der Bursche hieß... hieß...
Ev dachte nach, aber es fiel ihm nicht ein. Er erinnerte sich daran, wie Beach Jernigans Mund einen verkniffenen Ausdruck aigenommen hatte, als eines Tages im Haven Lunch die Rede auf Bobbis Freund gekommen war. Die Kaffeepausen-Stammgäste hatten gerade gesehen, wie der Mann mit einer Tüte Lebensmitteln aus dem Supermarkt kam. Er hatte ein Haus drüben in Troy, sagte Beach; einen erbärmlichen kleinen Schuppen mit Kohleherd und Plastik vor den Fenstern.
Jemand sagte, er hätte gehört, der Bursche sei gebildet.
Beach sagte, Bildung könne nicht verhindern, daß jemand eine Null war.
Ev erinnerte sich, daß niemand im Lunch dem widersprochen hatte.
Auch Nancy Voss hatte sich abfällig geäußert. Sie sagte, Bobbis Freund hätte seine Frau angeschossen, wäre aber nicht vor Gericht gestellt worden, weil er Collegeprofessor gewesen war. »Wenn man in diesem Land ein Diplom mit lateinischen Wörtern darauf besitzt, kommt man mit allem durch«, hatte sie gesagt.
Sie hatten dem Burschen nachgesehen, wie er in Bobbis alten Lastwagen eingestiegen und zum Garrick-Anwesen zurückgefahren war.
»Ich habe gehört, er hat seinen Doktor im Saufen gemacht«, sagte Dave Rutledge vom letzten Hocker, seinem Lieblingsplatz. »Jeder, der da rauskommt, sagt, daß er immer so besoffen ist wie he Ratte im Schnapsfaß.«
Daraufhin war eine Salve gehässigen, klatschsüchtigen Gelächters gefolgt. Sie hatten Bobbis Freund nicht gemocht; keiner von ihnen. Warum nicht? Weil er seine Frau angeschossen hatte? Weil er trank? Weil er mit einer Frau zusammenlebte, mit der er nicht verheiratet war? Ev wußte es besser. An diesem Tag hatten im Lunch Männer gesessen, die ihre Frauen nicht einfach geschlagen, sondern in völlig neue Formen geprügelt hatten. Das war dort schon fast Gesetz: Man war verpflichtet, der Alten eine zu knallen, wenn sie »aufmüpfig« wurde. Da gab es Männer, die von elf Uhr morgens bis sechs Uhr abends von Bier lebten und von sechs Uhr abends bis Mitternacht von billigem Whisky, und die durch ein Rotztuch geseihten Old-Woodsman-Verschnitt gesoffen hätten, wenn sie sich Whisky nicht leisten konnten. Männer, die das Sexualleben von Kaninchen hatten, von Loch zu Loch springend... Wie hieß der Mann bloß?
Ev driftete in den Schlaf. Sah sie auf den Gehwegen stehen, auf dem Rasen vor der öffentlichen Bibliothek, beim kleinen Park, und alle schauten verträumt in die Richtung, aus der diese Geräusche kamen. Er war wieder wach.
Was hast du herausgefunden, Ruth? Warum haben sie dich umgebracht?
Er wälzte sich auf die linke Seite.
David lebt... aber wenn ich ihn zurückholen will, muß ich in Haven anfangen.
Er wälzte sich auf die rechte Seite.
Wenn ich zurückkehre, werden sie mich umbringen. Es gab einmal eine Zeit, da war ich_ fast so beliebt wie Ruth ... jedenfalls bildete ich mir das immer gern ein. Jetzt hassen sie mich. Ich habe es an dem Abend in ihren Augen gesehen, als sie nach David zu suchen anfingen. Ich habe Hilly weggebracht, weil er krank war und einen Arzt brauchte, _ja ... aber es war verdammt gut, einen Grund zum Verschwinden zu haben. Vielleicht haben sie mich nur gehen lassen, weil David sie abgelenkt hat. Vielleicht wollten sie mich einfach nur loswerden. Wie auch immer, ich hatte Glück, daß ich entkommen konnte. Noch einmal würde es mir nicht gelingen. Wie kann ich also zurückkehren? Ich kann es nicht.
Ev wälzte sich im Bett herum und dachte über die Zwickmühle nach, in der er gefangen war - er mußte nach Haven zurück, wenn er David retten wollte, bevor David starb, aber wenn er nach Haven zurückkehrte, dann würde er ziemlich schnell getötet und von irgendwem im Garten verscharrt werden.
Irgendwann kurz vor Mitternacht versank er in einen unruhigen Schlummer, der rasch zum tiefen und traumlosen Schlaf völliger Erschöpfung wurde.
12
Er erwachte am Dienstag um Viertel nach zehn; so fest hatte er schon lange nicht mehr geschlafen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich erfrischt und wohl. Der Schlaf hatte ihm noch etwas anderes sehr Gutes getan: In der Nacht war ihm eingefallen, wie er vielleicht nach Haven hinein und wieder hinaus konnte. Vielleicht. Es war ein Risiko, das er für David und Hilly eingehen mußte.
Er dachte, am Tag von Ruth McCauslands Beerdigung könnte er vielleicht nach Haven hinein - und wieder herauskommen.
13
Butch »Monster« Dugan war der größte Mann, den Ev jemals gesehen hatte. Ev glaubte, daß Justin Hurds Vater Henry nur knapp danebengelegen hatte - Henry war einsachtundachtzig groß gewesen, hatte dreihundertachtzig Pfund gewogen und so breite Schultern gehabt, daß er
durch die meisten Türen schräg hindurchgehen mußte-, aber dieser Bursche, fand Ev, war noch um einiges größer. Vielleicht zwanzig oder dreißig Pfund leichter, aber das war alles.
Als Ev ihm die Hand schüttelte, stellte er fest, daß ihm sein Ruf vorausgeeilt war. Er sah es Dugans Gesicht an.
»Setzen Sie sich, Mr. Hillman«, sagte Dugan und setzte sich selbst auf einen Stuhl, der aussah, als wäre er aus einer riesigen Eiche geschnitzt worden. »Was kann ich für Sie tun?«
Er erwartet, daß ich anfange zu spinnen, dachte Ev gelassen. So wie wir immer erwarteten, daß Frank Garrick spinnen würde, wenn er einen von uns auf der Straße erwischte. Und ich _ fürchte, ich werde ihn nicht enttäuschen. Aber wenn du dich ein bißchen zusammennimmst, Ev, dann setzt du vielleicht doch deinen Willen durch, jetzt weißt du zumindest, was du möchtest.
»Nun, vielleicht können Sie tatsächlich etwas tun«, sagte Ev. Zumindest hatte er nichts getrunken; es war ein schlimmer Fehler gewesen, nach dem Bier mit diesem Reporter zu reden. »In der Zeitung steht, daß Sie morgen an Ruth McCauslands Beerdigung teilnehmen.«
Dugan nickte. »Ich fahre hin. Ruth war eine gute Freundin.«
»Werden noch andere vom Polizeirevier in Derry hinfahren? In der Zeitung stand, daß ihr Mann Staatspolizist war, und sie war ja selbst Polizistin - ich weiß, ein Constable ist nichts Besonderes; Sie verstehen, was ich meine. Es werden doch andere hinfahren, oder nicht?«
Jetzt runzelte Dugan die Stirn, und er hatte eine ganze Menge Stirn, die er runzeln konnte.
»Mr. Hillman, wenn Sie auf etwas Bestimmtes hinauswollen, dann verstehe ich Sie nicht.« Und ich bin heute morgen sehr beschäftigt, _ falls Sie es nicht wissen sollten, fügte sein Gesicht hinzu. Zwei Polizisten werden vermißt, und es sieht immer mehr danach aus, als wären sie auf Wilderer gestoßen, die in Panik geraten sind und sie erschossen haben; ich bin derjenige, der_ für die-Ermittlungen-zuständigist, und zu alledem ist meine gute Freundin Ruth McCausland gestorben, und ich habe weder die Zeit noch die Geduld für irgendwelchen Blödsinn.
»Das weiß ich. Aber Sie werden es schon noch verstehen. Hatte sie noch andere Freunde, die fahren werden?«
»Ja. Etwa ein halbes Dutzend. Ich fahre aber allein und etwas früher, damit ich noch ein paar Leute zu einem anderen Fall verhören kann.«
Ev nickte. »Ich kenne diesen anderen Fall«, sagte er, »und ich glaube, Sie kennen mich. Oder glauben, mich zu kennen.«
»Mr. Hillman...«
»Ich habe zu den falschen Leuten zur falschen Zeit närrische Sachen gesagt«, sagte Ev mit ruhiger Stimme. »Unter anderen Umständen hätte ich es besser gewußt, aber ich war beunruhigt. Einer meiner Enkelsöhne ist verschwunden. Der andere liegt in einer Art Koma.«
»Ja, ich weiß.«
»Ich war so durcheinander, daß ich nicht gewußt habe, ob ich kam oder ging. Also habe ich mit einigen der Schwestern geredet, und dann fuhr ich nach Bangor und sprach mit diesem Reporter Bright. Ich habe das Gefühl, Sie kennen das meiste von dem, was ich ihm erzählt habe.«
»Soweit ich weiß, glauben Sie an eine Art von... von Verschwörung, was das Verschwinden von David Brown betrifft...«
Ev mußte sich anstrengen, um nicht zu lachen. Das Wort war bizarr und zutreffend zugleich. Ihm selbst wäre es niemals eingefallen. O ja, es handelte sich tatsächlich um eine Verschwörung. Um eine verdammte Verschwörung.
»Ja, Sir. Es gibt eine Verschwörung, und ich bin der Überzeugung, Sie haben drei Fälle, die mehr miteinander zu tun haben, als Sie denken - das Verschwinden meines Enkels, das Verschwinden der beiden Polizisten und der Tod von Ruth McCausland... meiner Freundin ebenso wie Ihrer.«
Dugan sah ein wenig verblüfft drein... und zum ersten Mal verschwand der ablehnende Ausdruck aus seinen Augen. Ev hatte den Eindruck, daß Dugan zum ersten Mal wirklich sah, daß Everett Hillman vor ihm saß und nicht nur ein verrückter alter Tattergreis, der hergekommen war, um einen Teil seines Morgens hier abzufurzen.
»Vielleicht erklären Sie mir einmal, was Sie glauben«, sagte Dugan und holte einen Block aus der Schublade.
»Nein. Diesen Block können Sie wieder weglegen.«
Dugan sah ihn einen Augenblick stumm an. Er legte den Block nicht weg, wohl aber den Bleistift aus der Hand.
»Bright hat mich für verrückt gehalten, und dabei habe ich ihm nicht die Hälfte von dem erzählt, was ich glaube«, sagte Ev. »Also werde ich Ihnen gar nichts erzählen. Es geht nur um eines - ich glaube, daß David noch lebt. Ich glaube nicht, daß er noch in Haven ist, aber ich habe das Gefühl, wenn ich dorthin zurückkehre, kann ich herausfinden, wo er ist. Ich habe aber Gründe - einen ziemlich guten sogar - für die Annahme, daß ich in Haven nicht erwünscht bin. Ich glaube, wenn ich unter ganz normalen Umständen dort erschiene, würde ich unter ebenso geheimnisvollen Umständen verschwinden wie David Brown. Oder einen Unfall haben wie Ruth.«
Butch Dugans Gesichtsausdruck veränderte sich. »Ich glaube«, sagte er, »das sollten Sie mir erklären.«
»Das werde ich nicht. Ich kann es nicht. Ich weiß, was ich weiß, und ich glaube, was ich glaube, aber ich habe nicht die Spur eines Beweises. Ich weiß, wie verrückt sich das anhören muß, aber wenn Sie mir ins Gesicht sehen, dann werden Sie immerhin eines feststellen: Ich glaube, was ich sage.«
Dugan seufzte. »Mr. Hillman, wenn Sie in diesem Geschäft wären, dann wüßten Sie, wie ehrlich die meisten Lügner aussehen.« Ev wollte etwas sagen, aber Dugan schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie das. War ein Schlag unter die Gürtellinie. Ich habe seit Sonntagnacht nur etwa sechs Stunden geschlafen. Ich werde zu alt für diese Marathons. Tatsache ist, ich glaube Ihnen, daß Sie ehrlich sind. Aber Sie machen nur geheimnisvolle Andeutungen und reden um die Dinge herum. Manchmal machen Leute das, wenn sie Angst haben, aber häufiger dann, wenn sie nichts Genaues wissen. Wie auch immer, ich habe keine Zeit, mich lange mit Ihnen zu beschäftigen. Ich habe Ihre Fragen beantwortet, vielleicht könnten Sie mir jetzt sagen, was Sie wollen.«
»Gerne. Ich bin aus zwei Gründen hergekommen, Trooper Dugan. Zunächst einmal wollte ich mich vergewissern, daß sich morgen eine Menge Polizisten in Haven aufhalten. Wenn viele Polizisten anwesend sind, ist die Gefahr, daß etwas passiert, geringer, meinen Sie nicht auch?«
Dugan sagte nichts, er sah Ev nur ausdruckslos an.
»Zweitens wollte ich Ihnen sagen, daß ich morgen auch in Haven sein werde. Aber ich werde nicht an Ruths Beerdigung teilnehmen. Ich werde eine Leuchtpistole bei mir haben, und wenn Sie oder Ihre Männer während der Beerdigung eine große Leuchtkugel am Himmel hochgehen sehen, dann wissen Sie, daß ich über eine dieser Verrücktheiten gestolpert bin, an die niemand glauben will. Können Sie mir folgen?«
»Sie haben gesagt, die Rückkehr nach Haven könnte... äh, ungesund für Sie sein.« Dugans Gesicht war immer noch ausdruckslos, aber das machte nichts; Ev wußte, daß er wieder zu seiner ursprünglichen Überzeugung zurückgekehrt war: Ev war doch verrückt.
»Wenn ich unter ganz normalen Umständen dorthin ginge, habe ich gesagt. Unter diesen Umständen glaube ich, werde ich damit durchkommen. Ruth wurde in Haven sehr geliebt, ich glaube nicht, daß ich Ihnen das erzählen muß. Praktisch die ganze Stadt wird dabeisein und ihr die letzte Ehre erweisen. Ich weiß nicht, ob sie sie noch geliebt haben, als sie starb, aber das spielt keine Rolle - sie werden trotzdem erscheinen.«
»Wie kommen Sie darauf?« fragte Dugan. »Oder gehört das auch zu den Dingen, über die Sie nicht sprechen wollen?«
»Nein, es ist mir einerlei. Es würde verdächtig aussehen, wenn sie nicht erscheinen würden.«
»Fürwen?«
»Für Sie. Für die anderen Polizisten, die mit ihr oder ihrem Mann befreundet waren. Für die Jungs vom Democratic Committee des Pe-nobscot County. Würde mich nicht überraschen, wenn der Kongreßabgeordnete Brennan jemanden von Augusta schicken würde - sie hat sich mächtig für ihn eingesetzt, als er für das Amt in Washington kandidierte. Sie war nicht nur eine lokale Berühmtheit, sehen Sie, und dern müssen sie Rechnung tragen. Sie sind wie Leute, die keine Party geben wollen, es aber dennoch müssen. Ich hoffe, sie werden so damit beschäftigt sein, den richtigen Eindruck zu erwecken - eine gute Vorstellung zu geben -, daß sie meine Anwesenheit in Haven überhaupt nicht bemerken, bevor ich wieder weg bin.«
Butch Dugan verschränkte die Arme vor der Brust. Ev kam der Wahrheit sehr nahe - zuerst hatte Dugan sich der Überzeugung hingegeben, daß sich David Bright, der menschliches Verhalten normalerweise sehr genau beurteilen konnte, diesmal geirrt hatte. Hillman war ebenso vernünftig wie er selbst. Jetzt war er ein wenig beunruhigt, nicht weil Hillman doch verrückt war, sondern weil sich herausgestellt hatte, daß er wirklich verrückt war. Und doch... die Stimme des alten Mannes und sein fester Blick hatten etwas seltsam Überzeugendes.
»Sie sprechen, als wäre jeder in Haven irgendwie in etwas verwickelt«, sagte Dugan, »und ich finde, das ist unmöglich. Das sollten Sie wissen.«
»Ja, jeder normale Mensch würde das sagen. Darum sind sie so lange damit durchgekommen. Vor fünfzig Jahren hätten die Menschen gedacht, daß die Atombombe unmöglich ist, und sie hätten über die Vorstellung des Fernsehens gelacht, ganz zu schweigen von Videorecordern. Viel hat sich nicht verändert, Trooper Dugan. Die meisten Menschen sehen bis zum Horizont und nicht weiter. Wenn jemand sagt, daß es etwas jenseits ihres Horizonts gibt, dann hören die Leute nicht zu.«
Ev stand auf und streckte die Hand über den Schreibtisch, als hätte er alles Recht der Welt zu denken, daß Dugan sie ergreifen würde. Was Butch so überraschte, daß er genau das tat.
»Als ich Sie ansah, wußte ich, daß Sie mich für verrückt halten«, sagte Ev mit einem leutseligen kleinen Lächeln, »und ich schätze, ich habe genügend gesagt, um Ihren Verdacht zu bekräftigen. Aber ich habe herausgefunden, was ich herausfinden mußte, und ich habe gesagt, was ich sagen mußte. Tun Sie einem alten Mann einen Gefallen und sehen Sie ab und zu zum Himmel. Und wenn Sie eine purpurne Leuchtkugel sehen...«
»Der Wald ist diesen Sommer sehr trocken«, sagte Dugan, und kaum hatte er die Worte über die Lippen gebracht, schienen sie ihm hilflos und unwichtig zu sein; beinahe frivol. Ihm wurde klar, daß er hilflos wieder dazu gebracht wurde, Ev zu glauben.
Dugan räusperte sich und sprach weiter.
»Wenn Sie wirklich eine Leuchtkugel abschießen, könnte das einen höllischen Waldbrand auslösen. Wenn Sie keine Erlaubnis haben, so ein Ding zu benützen - und ich weiß verdammt genau, daß Sie keine haben-, dann könnte ich Sie ins Gefängnis werfen lassen.«
Evs Grinsen wurde ein wenig breiter, war aber immer noch völlig humorlos. »Ich glaube, wenn Sie die Leuchtkugel sehen«, sagte er, »dürfte es meine geringste Sorge sein, in Bangor in den Knast gesteckt zu werden. Schönen Tag noch, Trooper Dugan.«
Ev ging hinaus und machte die Tür leise hinter sich zu. Dugan stand einen Augenblick so verwirrt und unbehaglich da, wie er sich in seinem Leben noch nicht gefühlt hatte. Laß ihn gehen, dachte er, dann setzte er sich in Bewegung.
Etwas hatte Butch Dugan beschäftigt. Das Verschwinden der Polizisten, die er beide gekannt und gemocht hatte, hatte es vorübergehend aus seinem Denken verdrängt. Hillmans Besuch hatte es zurückgebracht, und daher ging er dem alten Mann nach.
Es war die Erinnerung an seine letzte Unterhaltung mit Ruth. Er hatte sich schon vorher Sorgen um sie gemacht; ihre Handhabung des Falles David Brown hatte so gar nicht zu der Ruth McCausland gepaßt, die er kannte. Das einzige Mal, soweit er sich erinnern konnte, hatte sie unprofessionell reagiert.
Dann, am Abend vor ihrem Tod, hatte er sie wegen der Ermittlungen angerufen, um Informationen zu geben und zu bekommen; kurz gesagt, um zu schwatzen. Er wußte, daß keiner von ihnen einen Anhaltspunkt hatte, aber manchmal stellte sich beim gemeinsamen Spekulieren etwas heraus. Im Verlauf dieser Unterhaltung war das Thema auf den Großvater des Jungen gekommen. Inzwischen hatte Butch mit David Bright von der News gesprochen gehabt - und ein Bier mit ihm getrunken-, und er hatte Ruth von Evs Überzeugung erzählt, die ganze Stadt wäre irgendwie verrückt geworden.
Ruth hatte nicht über die Geschichte gelacht oder sich darüber ausgelassen, daß Ev Hillman den Verstand verlor, wie er es erwartet hatte. Er war nicht mehr sicher, was genau sie gesagt hatte, denn in diesem Augenblick war die Verbindung schlecht geworden - nicht, daß daran etwas Unmögliches gewesen wäre; die Leitungen in Kleinstädten wie Haven waren immer noch auf Masten, und es kam regelmäßig vor, daß eine Verbindung zum Teufel ging - ein starker Wind genügte, und man konnte den Eindruck gewinnen, man unterhielte sich mit dem Gesprächspartner vermittels Bohnendosen, die durch eine gewachste Schnur miteinander verbunden waren.
Sag ihm, er soll fortbleiben, hatte Ruth gesagt - das jedenfalls war sicher. Und kurz bevor er sie endgültig verloren hatte, hatte er geglaubt, sie hätte - ausgerechnet - etwas von Nylonstrumpfhosen gesagt. Er mußte sie falsch verstanden haben, aber in ihrem Tonfall hatte kein Zweifel bestanden - Trauer und grenzenlose Müdigkeit, als hätte ihr Unvermögen, David Brown zu finden, ihr allen Mut genommen. Einen Augenblick später war die Verbindung völlig zusammengebrochen. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie zurückzurufen, denn er hatte ihr alle Informationen gegeben, die er hatte... im Grunde genommen herzlich wenig.
Am nächsten Tag war sie tot.
Sag ihm, er soll fortbleiben.
Ich habe Gründe . . . für die Annahme, daß ich in Haven nicht erwünscht bin.
Sag ihm, er soll fortbleiben.
Ich könnte verschwinden wie David Brown.
Fortbleiben.
Oder einen Unfall haben wie Ruth McCausland.
Fort.
Er holte den alten Mann auf dem Parkplatz ein.
14
Hillman fuhr einen alten purpurnen Valiant mit durchgerosteten Kotflügeln. Er hatte die Fahrertür geöffnet und sah auf, als Dugan über ihm aufragte.
»Ich fahre morgen mit Ihnen.«
Ev riß die Augen auf. »Sie wissen ja nicht einmal, wo ich hinwill!«
»Nein. Aber wenn ich bei Ihnen bin, dann brauche ich mir keine Sorgen zu machen, daß Sie die Hälfte der Wälder im östlichen Maine in Brand setzen, während Sie versuchen, mir wie Null-Null-Sieben eine Nachricht zukommen zu lassen.«
Ev sah ihn abschätzend an, dann schüttelte er den Kopf. »Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich jemanden bei mir hätte«, sagte er, »besonders einen Mann, der so groß ist wie Gorilla Monsoon, und der dazu noch ein Schießeisen hat. Aber die in Haven sind nicht dumm, Officer Dugan. Das waren sie nie, und ich habe das Gefühl, in letzter Zeit sind sie es noch weniger. Sie erwarten, Sie bei der Beerdigung zu sehen. Wenn Sie nicht da sind, werden sie argwöhnisch werden.«
»Herrgott! Ich möchte wissen, wie Sie dastehen und diesen Quatsch verzapfen und dabei gleichzeitig so vernünftig aussehen können!«
»Vielleicht, weil Sie es auch wissen«, sagte Ev. »Wie seltsam das alles ist. Wie seltsam, daß alles in Haven angefangen hat.« Dann fügte er mit einem verblüffenden Einfühlungsvermögen hinzu: »Oder vielleicht haben Sie Ruth gut genug gekannt, um zu spüren, daß sie selbst nicht mehr ganz beisammen war.«
Die beiden Männer sahen einander an, die Sonne brannte auf sie herab, und ihre Schatten fielen scharf umrissen auf den Schotterparkplatz des Polizeireviers von Derry.
»Ich werde heute abend durchsickern lassen, daß ich krank bin«, sagte Dugan. »Daß ich Darmgrippe habe. Die geht im Revier um. W as halten Sie davon?«
Ev nickte mit plötzlicher Erleichterung - diese Erleichterung war so groß, daß sie verblüffend war. Die Vorstellung, sich nach Haven zuriick-zuschleichen, hatte ihm mehr Angst gemacht, als er sich selbst hatte eingestehen wollen. Er hatte diesen großen Polizisten halb davon überzeugt, daß dort etwas vor sich ging; das sah er seinem Gesicht an. Halb überzeugt war nicht viel, aber es war immerhin ein gewaltiger Fortschritt, wenn man seine Ausgangsposition bedachte. Aber selbstverständlich hatte er es nicht allein vollbracht; Ruth McCausland hatte ihm geholfen.
»Also gut«, sagte er, »aber hören Sie mir zu, Trooper Dugan, hören Sie mir gut zu, denn morgen kann unser beider Leben davon abhängen. Sie dürfen keinen der Männer, die morgen zur Beerdigung fahren, anrufen und ihnen erzählen, der Grund, weshalb Sie nicht kommen, wäre nur eine Ausrede. Rufen Sie heute abend nur ein paar Leute an, und sagen Sie ihnen, daß es Ihnen wirklich hundeelend geht und Sie hoffen, morgen kommen zu können, es aber nicht glauben.«
Dugan runzelte die Stirn. »Warum soll ich sagen...« Aber plötzlich wußte er es, und sein Kiefer klappte herunter. Der alte Mann sah ihn gelassen an.
»Jesus Christus, wollen Sie damit sagen, die Leute in Haven wären Gedankenleser? Daß die Leute es aus ihren Gedanken erfahren könnten, wenn sie wissen, daß ich nicht krank bin?«
»Ich sage Ihnen überhaupt nichts, Trooper Dugan«, sagte Ev. »Sie sagen mir etwas.«
»Mr. Hillman, ich glaube wirklich, Sie müssen sich etwas einbilden ...«
»Als ich zu Ihnen kam, hätte ich nie erwartet, daß Sie mich begleiten wollen. Darauf war ich auch nicht aus. Ich hatte nur gehofft, daß Sie ab und zu nach meinem Signal Ausschau halten würden, falls ich in Schwierigkeiten gerate, das hätte diesem Schlangennest zumindest noch eine Weile die Hölle heißgemacht. Aber wenn Sie einem Mann mehr bieten, dann verlangt er mehr. Vertrauen Sie mir noch eine Weile. Bitte. Um Ruths willen... wenn das erforderlich ist, Sie dazu zu bringen, daß Sie mit mir fahren. Noch etwas: Einerlei, was auch passiert, Sie werden morgen ein paar seltsame Dinge spüren.«
»Ich habe heute schon ein paar verdammt seltsame Dinge gespürt«, sagte Dugan.
»Hmhm«, sagte Ev und wartete darauf, daß Dugan sich entschied.
»Haben Sie schon eine genaue Vorstellung, wohin Sie gehen wollen ?« fragte Dugan nach einem Augenblick. »Oder wollen Sie einfach nur in der Stadt umherspazieren, bis Sie es satt haben?«
»Ich habe eine genaue Vorstellung«, sagte Ev leise. Er dachte: O ja. Jawoll, Sir. Hinter dem alten Garrick-Anwesen, am Rande der Big Injun Woods, wo Kompasse noch nie einen Scheißdreck wert gewesen sind. Und ich glaube, wir werden einen ziemlich guten Weg dorthin finden, wo es ist-was immer »es« sein mag-, denn ein Gerät wie das, das Bobbi Anderson und ihr Freund benutzt haben, hinterläßt eine Spur, so breit wie eine Autobahn. Nein, ich glaube nicht, daß wir Mühe haben werden, es zu finden.
»Okay, geben Sie mir die Adresse, wo Sie in Derry wohnen, dann werde ich Sie um neun mit meinem Privatwagen abholen. Wir werden ungefähr um die Zeit in Haven ankommen, zu der der Gottesdienst anfängt.«
»Das Auto ist meine Sache«, sagte Ev. »Nicht dieses hier, das ist in Haven bekannt. Ich nehme einen Mietwagen. Und Sie sollten um acht aufkreuzen, weil wir einen kleinen Umweg machen werden.«
»Ich kann uns nach Haven bringen, ohne durch den Ort zu fahren«, sagte Dugan. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«
»Mache ich nicht. Aber ich möchte die ganze Stadt umgehen und von Albion aus hinkommen, und ich glaube, ich weiß genau, wie ich das machen muß.«
»Aber warum, zum Teufel, muß es genau dieses Ende der Stadt sein?«
»Weil es von der Stelle, wo sie sich aufhalten werden, am weitesten entfernt ist, und genau dort möchte ich nach Haven zurückkommen. So weit von ihnen entfernt wie möglich.«
»Sie haben wirklich Angst, was?«
Evnickte.
»Warum ein Mietwagen?«
»Kriminaler, stellen Sie nicht so viele Fragen!«
Ev verdrehte die Augen auf so komische Weise, daß Dugan grinsen mußte.
»Das ist mein Job«, sagte er. »Warum wollen Sie einen Mietwagen? Niemand in Haven kennt mein Privatauto.« Er machte eine nachdenkliche Pause. »Jedenfalls jetzt nicht mehr, wo Ruth tot ist.«
»Weil es eine Laune von mir ist«, sagte Ev Hillman. Sein Gesicht runzelte sich plötzlich zu einem überraschend süßen Lächeln. »Und ab und zu sollte man seinen Launen folgen.«
»Also gut«, sagte Butch. »Ich gebe auf. Acht Uhr. Ihr Weg, Ihr Auto, Ihre Laune. Ich muß völlig den Verstand verloren haben.«
»Ich glaube, morgen um diese Zeit werden Sie eine viel bessere Vorstellung davon haben, was es bedeutet, den Verstand zu verlieren«, sagte Ev und stieg in seinen alten purpurnen Valiant, bevor Butch ihm noch mehr Fragen stellen konnte.
Aber Butch hatte keine Fragen mehr. Ihm war zumute, als hätte er an seinem ersten Tag in New York City die Brooklyn Bridge gekauft und bar bezahlt, obwohl er gewußt hatte, daß etwas so Großes eigentlich nicht verkäuflich sein konnte. Niemand wird angeschmiert, der sich nicht anschmieren lassen will, dachte er. Er hatte drei Jahre in Augusta im Betrugsdezernat gearbeitet, und das war das erste gewesen, was sie ihm beigebracht hatten. Der alte Mann war seltsam überzeugend gewesen, aber Butch wußte, daß er sich nicht zu dieser Sache hatte überreden lassen; er war darauf geflogen. Denn er hatte Ruth McCausIand geliebt, und vielleicht noch ein Jahr oder so, dann hätte er genügend Mut beisammen gehabt, um ihr einen Antrag zu machen. Wenn jemand stirbt, den man geliebt hat, dann bleibt ein schwarzes Loch mitten im eigenen Herzen zurück, und eine Methode, dieses Loch zu stopfen, ist die Weigerung zu glauben, daß er oder sie durch einen dummen Zufall umgekommen ist. Es fällt leichter zu glauben - und sei es nur kurze Zeit-, daß jemand dafür verantwortlich ist, den man sich greifen kann. Das macht das Loch ein wenig kleiner. Sogar ein Trottel weiß das.
Dugan seufzte und fühlte sich plötzlich wesentlich älter als siebenundvierzig, während er zum Revier zurückstapfte.
Ev fuhr ins Krankenhaus und saß den größten Rest des Tages bei Hilly. Gegen drei Uhr schrieb er zwei Briefe. Einen legte er auf Hillys Nachttisch und schützte ihn vor der Brise, die gelegentlich verspielt durch das offene Fenster pfotete, indem er eine Vase darauf stellte. Der andere Brief war länger, und als er ihn beendet hatte, faltete er ihn zusammen und steckte ihn in die Tasche. Dann verließ er das Krankenhaus.
Er fuhr zu einem kleinen Gebäude im Industrieviertel von Derry. MAINE MED SUPPLIES stand auf dem Schild über der Tür. Und darunter: Spezialisten für Atmungsgeräte und Atmungstherapie seit 1946.
Er sagte dem Mann drinnen, was er wollte. Der Mann antwortete, das hörte sich wirklich an, als sollte er nach Bangor fahren und mit den Leuten von Downeast ScubaDive sprechen. Ev erklärte, daß eine Taucherausrüstung das letzte sei, was er wollte; ihn interessierte größtmögliche Beweglichkeit an Land. Er und der Mann redeten noch eine Weile miteinander, und Ev ging wieder, nachdem er einen Mietvertrag für sechsunddreißig Stunden unterschrieben hatte - und zwar für eine ziemlich spezielle Ausrüstung. Der Mann von Maine Med Supplies stand an der Tür, sah ihm nach und kratzte sich am Kopf.
15
Die Schwester las den Brief auf Hillys Nachttisch.
Hilly,
ich werde dich vielleicht eine Weile nicht sehen können, wollte dir aber noch sagen, ich bin der festen Überzeugung, daß du diese schlimme Phase überwinden wirst, und wenn ich dir dabei helfen kann, bin ich der glücklichste Großvater der Welt. Ich glaube, David ist noch am Leben, und es ist nicht deine Schuld, daß er überhaupt verschwunden ist. Ich liebe dich, Hilly, und ich hoffe, ich sehe dich baldwieder.
Dein Großvater Ev
Aber er sah Hilly Brown nicht wieder.
Neuntes Kapitel
Die Beerdigung
1
Von neun Uhr an kamen die Auswärtigen, die Ruth McCausland gekannt und mit ihr gearbeitet hatten, nach Haven Village. Bald war fast jeder Parkplatz an der Main Street besetzt. Das Haven Lunch machte gute Geschäfte, Beach war emsig damit beschäftigt, Bestellungen von Eiern, Speck, Würstchen und Hamburgern entgegenzunehmen. Er brühte eine Kanne Kaffee nach der anderen auf. Der Abgeordnete Brennan war nicht gekommen, aber er hatte seinen engsten Mitarbeiter geschickt. Hättest selbst kommen sollen, ]oe, dachte Beach mit einem kaum merklichen Grinsen. Hättest ’ne ganze Menge brandneue Vorstellungen davon bekommen können, wie man ’ne Regierung führt.
Der Tag war kühl und klar herauf gedämmert, einem Morgen im September angemessener als einem Ende Juli. Der Himmel war hellblau, die Temperatur lag bei dreißig Grad, der Wind wehte mit etwa zwanzig Meilen aus Westen. Wieder waren Auswärtige in der Stadt, und wieder hatte Haven glückliches Wetter für sie parat. Bald würde es einerlei sein, ob sie Glück hatten oder nicht, erklärten die Dorfbewohner einander, ohne zu sprechen; bald würden sie selbst ihres Glückes Schmied sein.
Ein guter Tag, hätte man sagen können; die beste Art von Sommertag, die man in New England haben konnte, die Art, deretwegen die Touristen kamen. Ein Tag, der Appetit machte. Diejenigen, die von außerhalb nach Haven gekommen waren, bestellten herzhafte Frühstücke, wie man es von Leuten mit gutem Appetit erwartet, aber Beach stellte fest, daß die meisten Portionen halbgegessen zurückkamen. Die Neuankömmlinge verloren den Appetit rasch; das Licht in ihren Augen erlosch, die meisten begannen, blaß und ein bißchen elend auszusehen.
Im Lunch war es brechend voll, dennoch kamen kaum Unterhaltungen in Gang.
Muß daran liegen, daß euch die Luft in unserem Städtchen nicht guttut, Leute, dachte Beach. Er stellte sich vor, wie er in die Vorratskammer ging, wo die Erfindung, mit der er die beiden neugierigen Schnüffler beseitigt hatte, unter einem Stapel Tischtüchern verborgen war. Er stellte sich vor, wie er sie hier hereinbrachte, eine große, tödliche Bazooka, und sein Lokal mit einem einzigen Strahl reinigenden grünen Feuers von all diesen Auswärtigen befreite.
Nein; nicht jetzt. Noch nicht. Bald würde es keine Rolle mehr spielen. Nächsten Monat. Aber vorläufig...
Er sah auf den Teller, den er abkratzte, und erblickte in irgend jemandes Rührei einen Zahn.
Die Tommyknockers kommen, meine Freunde, dachte Beach. Aber wenn sie schließlich hier sind, werden sie wahrscheinlich kaum an die Tür klopfen; ich glaube, sie werden die verdammte Tür einfach wegblasen.
Beachs Grinsen wurde breiter. Er schabte den Zahn zusammen mit dem restlichen Abfall in die Mülltonne.
2
Dugan konnte schweigen, wenn er wollte, und an diesem Morgen wollte er es. Offenbar wollte es auch der alte Mann. Dugan war pünktlich um acht bei dem Haus in der Lower Main gewesen, in dem der alte Mann wohnte und vor dem ein Jeep Cherokee hinter dem Valiant des Alten am Straßenrand stand. Hinten im Wagen lag ein Jutesack, der mit Hanfschnur zugebunden war.
»Haben Sie den in Bangor gemietet?«
»Beim AMC in Derry«, sagte Ev.
»Muß teuer gewesen sein.«
»So schlimm auch wieder nicht.«
Damit endete die Unterhaltung. Etwa eine Stunde und vierzig Minuten später kamen sie zur Stadtgrenze zwischen Albion und Haven. Wir werden einen kleinen Umweg machen, hatte der alte Mann gesagt, und wenn das keine maßlose Untertreibung war, dann hatte Butch noch nie eine gehört. Er fuhr schon seit zwanzig Jahren in Maine herum und hatte bis heute geglaubt, es wie seine Westentasche zu kennen. Jetzt wußte er es besser. Hillman kannte es wie seine Westentasche, im Vergleich dazu hatte Butch kaum mehr als einen guten allgemeinen Überblick.
Sie wechselten von der Autobahn auf die Route 69; von der 69 auf eine Landstraße, dann bei Troy auf einen Schotterweg; dann auf gestampfte Erde; dann auf einen Feldweg, zwei Fahrspuren mit Gras in der Mitte, schließlich auf einen halb zugewachsenen Holzfällerpfad, der aussah, als wäre er das letzte Mal um 1950 benutzt worden.
»Zum Teufel, wissen Sie überhaupt, wohin Sie fahren?« brüllte Butch, als der Cherokee auf einem überwucherten Knüppeldamm einbrach und sich dann wieder befreite, wobei alle vier Räder Schlamm und Holzsplitter aufspritzen ließen.
Ev nickte nur. Er klammerte sich wie ein alter kahler Affe an das Lenkrad des Cherokee.
Ein Waldweg führte zum anderen, und schließlich durchbrachen sie
ein dichtes Gestrüpp und kamen auf einen gestampften Weg, in dem Butch die Albion Town Road Nr. 5 erkannte. Butch hatte es für unmöglich gehalten, aber der alte Mann hatte genau das getan, was er verspro -chen hatte: er war um ganz Haven herumgefahren, ohne einmal in die Stadt hinein zu müssen.
Jetzt brachte Ev den Cherokee dreißig Meter vor dem Schild zum Stillstand, welches die Stadtgrenze von Haven markierte. Er drehte das Fenster herunter und schaltete den Motor ab. Außer dem Knacken des abkühlenden Motors war kein Laut zu hören. Kein Vogel sang, und das fand Butch seltsam.
»Was ist in dem Sack dort hinten?« fragte Butch.
»Alles mögliche. Darüber brauchen Sie sich jetzt noch nicht den Kopf zu zerbrechen.«
»Worauf warten Sie?«
»Kirchenglocken«, sagte Ev.
3
Es waren nicht die Glocken der Methodistenkirche, mit deren Klang Ev großgeworden war und den er erwartete, die um Viertel vor zehn läuteten und die um Ruth Trauernden - die echten und die, die vorhatten, erstaunliche Mengen Krokodilstränen zu vergießen - auf forderten, sich in der Methodistenkirche zu versammeln, wo der erste Akt des aus drei Akten bestehenden Stückes stattfinden sollte (Akt II: Zeremonie am Grab; Akt III: Erfrischungen in der Stadtbibliothek).
Reverend Goohringer, ein schüchterner Mann, der normalerweise nicht den Mut aufbrachte, Buh zu einer Gans zu sagen, war vor ein paar Wochen durch die Stadt gegangen und hatte den Leuten erzählt, daß er das ständige Dingdong endgültig satt hätte.
»Warum tun Sie dann nicht etwas dagegen, Gooey?« hatte Pamela Sargent ihn gefragt.
Reverend Lester Goohringer war in seinem ganzen Leben noch nicht »Gooey« genannt worden, aber in seiner momentanen Verdrossenheit hatte er es gar nicht bemerkt.
»Vielleicht werde ich das«, sagte er und sah sie grimmig durch seine dicken Brillengläser an. »Vielleicht werde ich genau das.«
»Irgendwelche Vorstellungen?«
»Schon möglich«, sagte er verschlagen. »Die Zukunft wird es zeigen, nicht?«
»Immer, Gooey«, sagte sie. »Immer.«
Tatsächlich hatte Reverend Goohringer eine ganz prachtvolle Idee hinsichtlich dieser Glocken - er konnte kaum glauben, daß sie ihm nicht schon früher gekommen war, so wunderschön und einfach war sie. Und das schönste daran war, er würde nicht einmal mit dem Kirchenvorstand oder der L'adies' Aid darüber sprechen müssen (einer Organisation, die offenbar nur zwei Arten von Frauen anzog - fette Schnecken mit Titten so groß wie Fässer, oder knochenärschige und flachbrüstige Schlampen wie Pamela Sargent mit ihrer Zigarettenspitze aus Elfenbeinimitat und ihrem rauhen Raucherhusten), oder mit den wenigen wohlhabenden Angehörigen seiner Gemeinde... wenn er zu ihnen gehen mußte, hatte er hinterher immer eine Woche lang Sodbrennen. Er ging nicht gerne betteln. Nein, es war etwas, das Reverend Lester Goohringer ganz allein tun konnte, und er tat es. Der Teufel sollte sie alle holen, wenn sie keiner Spaß verstanden.
»Und wenn du mich noch einmal Gooey nennst, Pam«, hatte er geflüstert, während er den Sicherungskasten im Keller der Kirche so umbaute, daß er den Starkstrom aushielt, den sein Einfall erforderte, »dann werde ich dir den Pümpel im Pfarreipissoir in die Fotze rammen und dir das Gehirn damit herausstoßen... wenn du es nicht schon völlig ausgepißt hast.«
Er meckerte und wandte sich wieder seinen Drähten zu. Reverend Lester Goohringer hatte in seinem ganzen Leben noch nicht so unverblümte Gedanken gehabt oder so unverblümte Sachen gesagt, aber er fand sie befreiend und aufmunternd. Er hatte sogar vor, jedem in Haven, dem sein neues Glockenspiel nicht gefiel, zu sagen, sie sollten sich ihre Glocken in den Arsch schieben und sich selbst ins Knie ficken.
Aber alle in der Stadt fanden, daß die Veränderung geradezu großartig war. Das war sie auch. Und heute emp fand Reverend Goohringer Stolz, der seine Brust schwellen ließ, als er auf den neuen Schalter der Sakristei drückte und das Läuten der Glocken über Haven hinweghallte und ein Potpourri von Hymnen spielte. Das Glockenspiel war programmierbar, und heute hatte Lester Goohringer Ruths Lieblingshymnen eingegeben. Dazu gehörten so alte Methodisten- und Baptistenklassiker wie »What a Friend We Have in Jesus« und »This Is My Father's World«.
Reverend Goohringer trat zurück, rieb sich die Hände und sah zu, wie sich die Leute in Zweier- und Dreiergruppen der Kirche näherten, angelockt von den Glocken, den Glocken, dem Ruf der Glocken.
»Gottverdammich!« rief Reverend Goohringer aus. Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch niemals wohler gefühlt, und er hatte vor, Ruth McCausland stilvoll zu verabschieden. Er hatte vor, eine Sahnetorte von einer Predigt abzuliefern.
Immerhin hatten sie sie alle geliebt.
4
Die Glocken.
Dave Rutledge, Havens ältester Einwohner, neigte ein Ohr in ihre Richtung und lächelte zahnlos - er hätte auch dann gelächelt, wenn die Glocken völlig unmelodisch erklungen wären, weil er sie hören konnte. Bis Anfang Juli war Dave fast vollkommen taub gewesen, seine Glieder waren fast immerzu kalt gewesen, weil sein Kreislauf nicht mehr mitmachte; immerhin war er neunzig und damit schon ein recht altes Haus. Aber in diesem Monat hatten sich sein Gehör und sein Kreislauf wie durch ein Wunder verbessert. Die Leute sagten zu ihm, er sähe zehn Jahre jünger aus, und bei Gott, er fühlte sich zwanzig Jahre jünger. Meine Güte, spielten diese Glocken nicht wundervoll? Dave stand auf und setzte sich Richtung Kirche in Bewegung.
5
Der Ruf der Glocken.
Im Januar war der Mitarbeiter, den der Abgeordnete Brennan nach Haven geschickt hatte, in D. C. gewesen, und dort hatte er eine wunderschöne Frau namens Annabelle kennengelernt. Diesen Sommer war sie mit ihm nach Maine gekommen, und an diesem Morgen hatte sie ihn nach Haven begleitet, um ihm Gesellschaft zu leisten. Er hatte ihr versprochen, daß sie in Bar Harbor übernachten würden, bevor sie nach Augusta zurückkehrten. Zuerst hatte sie gedacht, daß es eine schlechte Idee gewesen war, denn in dem Restaurant war ihr ein wenig übel geworden, und sie hatte ihr Frühstück nicht aufessen können. Zunächst einmal sah der Koch und Inhaber wie eine ältere, dickere Version von Charles Manson aus. Er lächelte immerzu seltsam in sich hinein, wenn er sich unbeobachtet wähnte - so sehr, daß man sich zu fragen begann, ob er das Rührei mit Arsen vergiftet hatte. Aber der Klang der Glocken, die Hymnen spielten, die sie seit ihrer Kindheit in Nebraska nicht mehr gehört hatte, erfüllte sie mit Staunen.
»Mein Gott, Marty, wie kann sich eine kleine hinterwäldlerische Stadt wie diese so ein wundervolles Glockenspiel leisten?«
»Vielleicht ist irgendein reicher Sommertourist hier gestorben und hat es ihnen vermacht«, sagte Marty abwesend. Er interessierte sich nicht für Glockenspiele. Er hatte seit ihrer Ankunft Kopfschmerzen, die immer schlimmer wurden. Außerdem blutete sein Zahnfleis ch. Eitrige Parodontose war in seiner Familie nichts ungewöhnliches, und er hoffte, daß es nicht das war. »Komm schon, gehen wir zur Kirche.« Damit wir es hinter uns bringen und nach Bar Harbor fahren können, um uns das Hirn aus dem Kopf zu vögeln, dachte er. Dies ist ein unheimliches Nest.
Sie gingen gemeinsam über die Straße, sie in einem schwarzen Hosenanzug (aber, hatte sie ihm auf dem Weg hierher verstohlen zugeflüstert, ihre Unterwäsche, das bißchen, das sie anhatte, war ganz aus weißer Seide), er im offiziellen Anthrazit. Die Menschen von Haven, die sich ebenfalls in ihre feinsten Kleider geworfen hatten, gingen mit ihnen. Marty sah eine überraschende Anzahl puderblauer Polizeiuniformen.
»Schau, Marty! Die Uhr!«
Sie deutete auf die Turmuhr des Rathauses. Der Turm war aus soliden Ziegelsteinen erbaut, aber einen Augenblick schien er vor Martys Augen zu wabern und zu verschwimmen. Seine Kopfschmerzen verschlimmerten sich aufder Stelle. Vielleicht lag es an seinen Augen. Er hatte sich vor drei Monaten einer Untersuchung unterzogen, und der Arzt hatte gesagt, seine Augen wären so gut, daß er ohne weiteres Jetpilot werden könnte, aber vielleicht hatte er sich geirrt. Die Hälfte aller Ärzte in Amerika waren heutzutage auf Koks. Er hatte in Time darüber gelesen ... aber warum schweiften seine Gedanken auf diese Weise ab? Es lag an den Glocken. Sie schienen in seinem Kopf zu hallen und sich zu vervielfachen. Zehn, hundert, tausend, eine Million, alle spielten »When We Meet at Jesus' Feet«.
»Was ist mit der Uhr?« fragte er gereizt.
»Die Zeiger sind komisch«, sagte sie. »Sie sehen fast aufgemalt aus.«
6
Der Ruf der Glocken.
Eddie Stampnell vom Polizeirevier in Derry überquerte die Straße zusammen mit Andy Rideout aus Orono - sie hatten Ruth beide gekannt und gemocht.
»Hübsch, nicht?« fragte Eddie zweifelnd.
»Vielleicht«, sagte Andy. »Ich, muß nur immerzu daran denken, daß Bent und Jingles von ein paar Bauerntölpeln hier draußen erschossen und wahrscheinlich auf dem Kartoffelacker irgendeines Farmers begraben worden sind, und mir kommt das bis auf die Knochen getürkt vor. Es scheint, als hätte Haven eine Pechsträhne. Ich weiß, das klingt albern, aber so fühle' ich.«
»Mein Kopf hat eine Pechsträhne«, sagte Eddie. »Tut verdammt weh.«
»Nun, gehen wir rüber und bringen wir es hinter uns«, sagte Andy. »Sie war eine gute Frau, aber jetzt ist sie tot. Und unter uns, jetzt, da sie tot ist, möchte ich am liebsten keine Viertelstunde länger in Haven bleiben.«
Sie betraten gemeinsam die Methodistenkirche, und keiner der beiden warf einen Blick auf Reverend Lester Goohringer, der neben dem Schal-375
ter stand, welcher sein herrliches Glockenspiel kontrollierte, sich lächelnd die Hände rieb und die Komplimente aller entgegennahm.
7
Das Weinen der Glocken.
Bobbi Anderson stieg aus ihrem blauen Chevrolet, schlug die Tür zu, strich ihr dunkelblaues Kleid über den Hüften glatt und überprüfte im Außenspiegel des Lastwagens noch einmal ihr Make-up, bevor sie langsam den Gehweg entlang zur Kirche ging. Sie ging mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern. Sie versuchte sehr, die Ruhepausen zu bekommen, die sie brauchte, um weitermachen zu können, und Gard hatte ihr geholfen, ihre Besessenheit zu bremsen,
(und genau das ist es, eine Besessenheit, mach dir nichts vor) aber Gard war eine Bremse, die sich langsam abnutzte. Er nahm nicht an der Beerdigung teil, weil er einen kapitalen Rausch ausschlief, er lag daheim, das zerknitterte Gesicht auf den Armen, sein Atem eine saure Wolke um den Kopf. Anderson war müde, sicher, aber es war mehr als nur das - heute morgen schien eine unermeßliche, formlose Trauer sie zu erfüllen. Teilweise um Ruth, teilweise um David Brown, teilweise um die ganze Stadt. Größtenteils aber, vermutete sie, um sich selbst. Das »Werden« ging weiter - das hieß, für alle in Haven, außer Gard-, und es war gut, aber sie trauerte um ihre eigene Identität, die allmählich verschwand wie Morgennebel. Sie wußte jetzt, daß Die Büffel-Soldaten ihr letztes Buch sein würde... und die Ironie war, wie sie mittlerweile vermutete, daß die Tommyknockers auch davon den größten Teil geschrieben hatten.
8
Glocken, Glocken, Glocken.
Haven reagierte auf sie. Es war Akt I einer Scharade mit dem Titel Die Beerdigung von Ruth McCausland oder Wie sehr wir diese Frau geliebt haben. Nancy Voss hatte die Post zugemacht, um zu kommen. Das hätte die Regierung nicht gutgeheißen, aber was die Regierung nicht weiß, macht sie nicht heiß. Sie würde bald genug etwas wissen. Sie würde bald eine große Eilzustellung aus Haven bekommen. Sie und jede andere Regierung auf diesem Erdball.
Frank Spruce, der Besitzer von Havens größter Molkerei, reagierte auf die Glocken. John Mumphry, dessen Vater gegen Ruth um die Stellung des Constable angetreten war, reagierte auf sie. Ashley Ruvall, der zwei Tage vor ihrem Tod an der Stadtgrenze an ihr vorbeigefahren war, reagierte zusammen mit seinen Eltern. Ashley weinte. Doc Warwick war da, und auch Jud Tarkington; Adley McKeen kam mit Hazel McCready am Arm; Newt Berringer und Dick Allison reagierten auf sie, sie schritten langsam aus und stützten Ruths Vorgänger, John Harley, zwischen sich. John war schwach und beinahe durchsichtig.
Sie alle kamen und reagierten damit auf den Ruf der Glocken - die Tremains und Thurlows, Applegates und Goldmans, Duplisseys und Archinbourgs. Gute Leute aus Maine, hätte man meinen können, größtenteils französischer, irischer, schottischer und kanadischer Abstammung. Aber jetzt waren sie anders; während sie sich in der Kirche einfanden, verschmolzen ihre Gedanken und wurden zu einem einzigen Verstand, der die Auswärtigen beobachtete, auf den leisesten Mißton in ihren Gedanken achtete... sie fanden sich zusammen, sie lauschten, und die Glocken läuteten in ihrem seltsamen Blut.
9
Ev Hillman saß hinter dem Lenkrad des Cherokee und riß die Augen auf, als er die fernen Klänge des Glockenspiels hörte. »Was zum Teufel...«
»Kirchenglocken, was sonst?« sagte Butch Dugan. »Hört sich schön an. Ich denke, sie bereiten sich darauf vor, mit der Beerdigung anzufangen.« Drüben im Ort begraben sie Ruth ... was, um alles in der Welt, habe ich mit diesem verrückten alten Mann hier an der Stadtgrenze verloren?
Es war nicht sicher, aber jetzt war es zu spät, seine Entscheidung rückgängig zu machen.
»Zu meiner Zeit haben die Glocken der Methodistenkirche niemals so geklungen«, sagte Ev. »Jemand hat sie ausgewechselt.«
»Na und?«
»Nichts. Alles. Ich weiß auch nicht. Kommen Sie, Trooper Dugan.« Er drehte den Zündschlüssel, und der Motor des Cherokee brüllte auf.
»Ich frage Sie noch einmal«, sagte Dugan mit für ihn außergewöhnlicher Geduld. » Wonach suchen wir eigentlich?«
»Ich weiß es nicht mit Sicherheit.« Der Cherokee fuhr über die Stadtgrenze. Sie hatten die Gemarkung von Albion verlassen und waren in die von Haven gefahren. Ev hatte plötzlich das unabweisbare Gefühl, daß er Haven trotz seiner Vorsichtsmaßnahmen nicht wieder verlassen würde. »Wenn wir es sehen, werden wir es wissen.«
Dugan antwortete nicht, er hielt sich lediglich krampfhaft fest und fragte sich noch einmal, wie er sich darauf hatte einlassen können - er mußte ebenso verrückt sein wie der alte Furz, mit dem er fuhr, vielleicht noch verrückter. Er hob eine Hand zur Stirn und fing an, sie zu reiben.
Dort bekam er Kopfschmerzen.
10
Es gab Schniefen, rote Augen und ein wenig Schluchzen, als Reverend Goohringer, dessen Kahlkopf sanft in dem vielfarbigen Licht schimmerte, das die durch die Buntglasfenster einfallenden Sonnenstrahlen erzeugten, seine Predigt hielt, gefolgt vom Singen einer Hymne, einem Gebet, einer weiteren Hymne, der Verlesung von Ruths Lieblingsbibelstelle den Seligpreisungen) und noch einer Hymne. Unter ihm, in einem Halbkreis um die Kanzel erblühend, standen große Sträuße Sommerblumen.
Obwohl die oberen Fenster der Kirche geöffnet worden waren und eine angenehme Brise hindurchwehte, war der süße Geruch übelkeiterregend.
»Wir haben uns hier versammelt, um Ruth McCausland zu preisen und ihr Dahinscheiden zu beklagen«, begann Goohringer.
Die Einwohner standen entweder mit gefalteten Händen da oder hielten Taschentücher umkrampft; ihre Augen - größtenteils feucht -betrachteten Goohringer mit feierlicher, ungeteilter Aufmerksamkeit. Sie sahen gesund aus, die Leute - gute Farbe, größtenteils makellose Haut. Und selbst jemand, der noch nie in Haven gewesen war, hätte sehen können, daß die versammelte Trauergemeinde in zwei Gruppen zerfiel.
Die Auswärtigen sahen nicht gesund aus. Sie waren blaß. Ihre Augen waren benommen. Zweimal während der Predigt ging einer rasch hinaus, lief um die Ecke der Kirche herum und übergab sich. Bei anderen war die Übelkeit nicht ganz so heftig - ein unbehagliches Rumoren in den Eingeweiden, nicht so schlimm, daß sie hinaus mußten, aber anhaltend.
Mehrere Auswärtige sollten Zähne verlieren, bevor der Tag zu Ende gmg-
Mehrere bekamen Kopfschmerzen, die fast schlagartig vergingen, als sie die Stadt verlassen hatten - das Aspirin tat endlich seine Wirkung, vermuteten sie.
Den allermeisten jedoch kamen die erstaunlichsten Einfälle, während sie auf den harten Bänken saßen und zuhörten, wie Goohringer seine Gedenkrede für Ruth McCausland hielt. Bei manchen kamen die Einfälle so unvermittelt und waren so gewaltig, so. fundamental, daß die betreffenden Personen meinten, ihnen wäre in den Kopf geschossen worden. Diese Personen mußten den Drang unterdrücken, von den Bänken aufzuspringen und lauthals »Heureka!« rufend auf die Straße zu stürzen.
Die Leute von Haven sahen das alles und waren amüsiert. Hin und wieder wich der apathische, puddingähnliche Ausdruck im Gesicht von jemandem einer Art Schock. Die Augen wurden aufgerissen, Münder
aufgesperrt, und die Leute von Haven wußten, daß wieder einmal jemand von einer großen Idee gepackt worden war.
Eddie Stampnell vom Polizeirevier Derry zum Beispiel dachte sich einen bundesweiten Polizeikanal aus, auf dem alle Polizisten miteinander in Verbindung treten konnten. Und er sah, wie man diesen Kanal mühelos abhörsicher machen konnte; alle neugierigen Zivilisten, die mit ihren Funkgeräten den Polizeifunk abhörten, wären angeschissen. Neuerungen und Verbesserungen strömten schneller in seinen Verstand ein, als er sie verarbeiten konnte; wären seine Einfälle Wasser gewesen, wäre er darin ertrunken. Dafür werde ich berühmt werden, dachte er fiebernd. Reverend Goohringer war vergessen; Andy Rideout, sein Partner, war vergessen; sein Unbehagen in dieser unheimlichen kleinen Stadt war vergessen; Ruth war vergessen. Die Einfälle hatten seinen Verstand verschluckt. Dafür werde ich berühmt werden, und ich werde die Polizeiarbeit in Amerika revolutionieren ... vielleicht auf der ganzen Welt. Verdammte Scheiße! Verdammmm-te SCHEISSE!
Die Leute von Haven, die wußten, daß Eddies großartige Einfälle zur Mittagszeit nebulös und spätestens um drei völlig vergessen sein würden, lächelten und lauschten und warteten. Warteten darauf, daß diese Sache vorbei war, damit sie sich wieder ihrem eigentlichen Geschäft widmen konnten.
Damit sie weiter »werden« konnten.
11
Sie fuhren den Weg entlang - Town Road Nr. 5 in Albion, die hier in Haven zur Fire Road Nr. 16 wurde. Zweimal zweigten Holzfällerpfacle in den Wald ab, und jedesmal, wenn er einen sah, wappnete sich Dugan für eine Fahrt, die seine Knochen noch mehr durcheinanderschütteln würde. Aber Hillman benutzte sie nicht. Er kam zur Route 9 und bog rechts ab. Er beschleunigte den Cherokee auf achtzig Stundenkilometer und fuhr weiter nach Haven hinein.
Dugan war zappelig. Er wußte nicht genau, warum. Der alte Mann war selbstverständlich verrückt; die Vorstellung, daß sich Haven in ein Schlangennest verwandelt hatte, war reine Paranoia. Dennoch spürte Monster wie sich eine ständige, pulsierende Nervosität in ihm aufbaute. Ein unbestimmtes, unterschwelliges Buschfeuer in seinen Nerven.
»Sie reiben sich ständig die Stirn«, sagte Hillman.
»Ich habe Kopfschmerzen.«
»Ich vermute, die Schmerzen wären noch wesentlich schlimmer, wenn der Wind nicht wehen würde.«
Wieder ein völlig sinnloser Ausspruch. Was, in Gottes Namen, hatte er hier verloren? Und warum war er so gottverdammt zappelig?
»Mir ist, als hätte mir jemand ein paar Schlaftabletten untergejubelt.«
»Hmhmm«
Dugan sah ihn an. »Aber Sie spüren nichts dergleichen, was? Sie sind so kalt wie eine Hundeschnauze.«
»Ich habe Angst, aber ich bin nicht zappelig, und ich habe auch keine Kopfschmerzen.«
»Warum sollten Sie auch Kopfschmerzen haben?« sagte Dugan schroff. Die Unterhaltung begann ihn frappant an Alice im Wunderland zu erinnern. »Kopfschmerzen sind nicht ansteckend.«
»Wenn Sie zusammen mit sechs anderen Burschen einen geschlossenen Raum streichen, werden wahrscheinlich alle Kopfschmerzen bekommen. Ist es nicht so?«
»Ja, schätze schon. Aber dies ist nicht...«
»Nein, ist es nicht. Und wir haben Glück mit dem Wetter. Dennoch denke ich, daß von dem Ding ein gewaltiger Gestank ausströmt, denn Sie spüren ihn. Das sehe ich Ihnen an.« Hillman machte eine Pause, dann sagte er noch einenAlice-im-Wunderland-Satz: »Haben Sie schon ein paar grandiose Ideen gehabt, Trooper?«
»Was meinen Sie damit?«
Hillman nickte zufrieden. »Gut. Wenn es dazu kommt, sagen Sie es mir. In dem Sack habe ich etwas für Sie.«
»Das ist verrückt«, sagte Dugan. Seine Stimme klang nicht ganz fest. »Ich meine, vollkommen verrückt. Wenden Sie, Hillman, ich möchte umkehren.«
Plötzlich formulierte Ev in Gedanken, so scharf und deutlich er konnte, einen Satz. Von seinen drei letzten Tagen in Haven wußte er, daß Bryant, Marie, Hilly und David routinemäßig ihre Gedanken gelesen hatten. Er hatte es gespürt, wenngleich er sie nicht empfangen konnte. Auf die gleiche Weise hatte er herausgefunden, daß sie nicht in seinen Verstand hineinkonnten, wenn er sie nicht ließ. Er hatte angefangen sich zu fragen, ob das etwas mit dem Stahl in seinem Kopf zu tun haben konnte, dem Andenken an eine deutsche Granate. Er hatte sie mit schrecklicher, unausweichlicher Klarheit gesehen, ein grauschwarzes Ding, das sich im Schnee drehte. Er hatte gedacht: Nun, ich bin tot. Das war's _ für mich. Danach konnte er sich an nichts mehr erinnern, bis er in einem französischen Lazarett aufgewacht war. Er erinnerte sich an die Schmerzen in seinem Kopf; er erinnerte sich an die Schwester, die ihn geküßt und deren Atem nach Anis gerochen hatte und die immer dieselben Worte wiederholte, als spräche sie zu einem sehr kleinen Kind: »]e t’aime, man amour. La guerre est_ finie. ]e t’aime. Je t’aime et les Etats-Unis.«
La guerre est finie, dachte er jetzt. La guerre est finie.
»Was ist es?« fragte er Dugan scharf.
»Was meinen Sie... «
Ev steuerte den Cherokee an den Straßenrand, wo er eine Staubwolke aufwirbelte. Die Stadtgrenze lag jetzt eineinhalb Meilen hinter ihnen; noch etwa drei oder vier Meilen bis zur alten Garrick-Farm.
»Denken Sie nicht, sprechen Sie nicht, sagen Sie mir nur, was ich gedacht habe!«
»Toutf fini, Sie denken la guerre est_ finie, aber Sie sind verrückt, man kann keine Gedanken lesen, es ...«
Dugan verstummte. Er drehte langsam den Kopf und sah Ev an. Ev konnte die Sehnen im Nacken des Mannes knacken hören. Seine Augen waren riesig.
»La guerre est_finie«, flüsterte er. »Das haben Sie gedacht, und daß ihr Atem nach Lakritze roch...«
»Anis«, sagte Ev und lächelte. Ihre Schenkel waren weiß gewesen, ihre Fotze so eng.
»... und ich habe eine Granate im Schnee gesehen. Heiliger Himmel, was geht hier vor?«
Ev stellte sich einen altmodischen roten Traktor vor. »Was jetzt?«
»Traktor«, hauchte Dugan. »Farmall. Aber Sie haben die falschen Reifen daran. Mein Dad hatte einen Farmall. Es sind Dixie-Field-Boss-Reifen. Die würden nicht an einen Far...«
Dugan drehte sich plötzlich um, packte den Türgriff des Cherokee, beugte sich hinaus und übergab sich.
12
»Ruth hat mich einmal gefragt, ob ich bei ihrer Beerdigung die Seligsprechungen vorlesen würde, wenn ich sie leiten sollte«, sagte Reverend Goohringer mit einer sanften Methodistenstimme, mit der Reverend Donald Hartley voll und ganz einverstanden gewesen wäre, »und ich habe ihren Wunsch respektiert. Dennoch...«
(la guerre Sie haben gedacht la guerre est)
Goohringer verstummte, sein Gesicht nahm einen überraschten und
etwas besorgten Ausdruck an. Ein guter Beobachter hätte glauben können, daß ein wenig Gas emporgestiegen war und er eine Pause gemacht
hatte, um ein unschickliches Rülpsen zu unterdrücken.
»... glaube ich, es gibt noch ein paar Verse, die sie gerne mochte. Sie...«
(Traktor Farmall Traktor)
Wieder eine kurze Unterbrechung in Goohringers Predigt, wieder huschte der besorgte Ausdruck über sein Gesicht.
»... gehören nicht zu den Versen, um die eine christliche Frau normalerweise bitten würde, denn sie weiß, daß eine christliche Frau sie verdienen muß. Hören Sie mir zu, wie ich aus den Sprüchen Salomos lese, und überprüfen Sie, die Sie sie gekannt haben, ob das auf Ruth McCausland nicht zutrifft.«
(es sind Dixie-Field-Boss-Reifen)
Dick Allison sah nach links und blickte Newt jenseits des Mittelgangs ins Auge. Newt sah bestürzt aus. John Harley hatte den Mund aufgeklappt, seine blaßblauen Augen sahen verblüfft hierhin und dorthin.
Goohringer fand seine Stelle, verlor sie wieder, ließ beinahe die Bibel fallen. Plötzlich war er aufgeregt, nicht mehr der Zeremonienmeister, sondern ein Theologiestudent mit Lampenfieber. Aber niemand bemerkte es; die Auswärtigen waren entweder mit körperlichem Unwohlsein oder mit unglaublichen Einfällen beschäftigt. Die Leute von Haven zogen sich zusammen, als ein Alarm losging, der von einem Verstand zum nächsten weitersprang, bis ihre Köpfe davon hallten - dies war ein neues Glockenspiel, ein unmelodisches.
(jemand schnüffelt herum)
(wo er nichts zu suchen hat)
Bobby Tremain ergriff Stephanie Colsons Hand und drückte sie. Sie drückte ebenfalls und sah ihn mit großen braunen Augen an - der aufgeschreckte Blick eines Rehs, das den Hahn am Gewehr des Jägers klicken hört.
(draußen an der Route 9)
(zu nahe am Schiff)
(einer ist ein Polizist)
(.Polizist, _ ja, aber ein besonderer Polizist - Ruths Polizist, er liebte) Ruth hätte diese anschwellenden Stimmen gekannt. Und jetzt fingen sogar ein paar der Auswärtigen an, sie zu spüren, wenngleich sie Havens Infektion noch nicht lange ausgesetzt gewesen waren. Ein paar sahen sich um, wie Leute, die aus einem leichten Schlummer erwachen. Zu ihnen gehörte die Freundin des Mitarbeiters vom Abgeordneten Brennan. Sie war meilenweit von hier entfernt gewesen, schien es - sie war eine kleine Büroangestellte in Washington, aber sie hatte gerade ein Ablagesystem erfunden, das ihr eine dicke Beförderung einbringen konnte. Dann schnitt ein zusammenhangloser Gedanke, sie hätte schwören können, daß es nicht ihr eigener war (jemand muß sie aufhalten, und zwar schnell!) durch ihren Verstand, und sie drehte sich um, um festzustellen, ob tatsächlich jemand in der Kirche laut gesprochen hatte.
Aber alle waren still bis auf den Pfarrer, der seine Stelle wiedergefunden hatte. Sie sah Marty an, aber Marty saß mit glasigen Augen da und betrachtete eines der Buntglasfenster mit dem Blick eines Mannes in tiefer Hypnose. Sie hielt es für Langeweile und hing wieder ihren eigenen Gedanken nach.
>»Wem ein tugendsam Weib beschert ist<«, las Goohringer, und seine Stimme war ein wenig unsicher. Er zögerte an den falschen Stellen und verhaspelte sich ein paarmal. >»Die ist viel edler denn die köstlichsten Perlen. Ihres Mannes Herz darf sich auf sie verlassen, und Nahrung wird ihm nicht mangeln. Sie tut ihm Liebes und kein Leides ihr Leben lang. Sie geht mit Wolle...«
Jetzt vernahmen die empfänglichen Ohren in der Kirche einen weiteren Ausbruch dieser fremden Gedanken:
(tut mir leid aber ich konnte einfach nichts)
(...)
was?)
(...)
(heiliger Christus, das ist unfaßbar! Wie...)
(...)
(Es sprechen zwei Stimmen, aber wir hören nur eine, dachte das Gedankennetz, und die Blicke richteten sich auf Bobbi. Es gab nur eine Person in Haven, die ihre Gedanken vor ihnen verbergen konnte, und diese Person war jetzt nicht hier. Zwei Stimmen... ist die Stimme dessen, den wir nicht hören, die deines betrunkenen Freundes?
Bobbi stand plötzlich auf und zwängte sich durch die Reihe, ihr war auf schreckliche Weise bewußt, daß die Leute sie anstarrten. Goohringer, dieser Esel, war wieder verstummt.
»Entschuldigung«, murmelte Bobbi. »Entschuldigung... Entschuldigung. «
Schließlich entkam sie in den Mittelgang und auf die Straße. Andere -darunter Bobby Tremain, Newt, Dick und Bryant Brown - folgten ihr. Die Auswärtigen bemerkten nichts. Sie waren wieder in ihre seltsamen Träume versunken.
13
»Tut mir leid«, sagte Butch Dugan. Er machte die Tür zu, holte ein Taschentuch aus der Gesäßtasche und begann, sich den Mund abzuwischen. »Ich konnte einfach nichts dafür. Jetzt geht es mir besser.«
Ev nickte. »Ich werde es Ihnen nicht erklären. Keine Zeit. Aber ich möchte, daß Sie sich etwas anhören.«
»Was?«
Ev schaltete das Radio des Cherokee ein und ließ den Suchlauf durch die Frequenzen laufen. Dugan zuckte zusammen. Er hatte noch nie in seinem Leben so viele Sender gehört, nicht einmal nachts, wenn sie alle einander überlagerten und manchmal zu einem wirren Stimmenmeer verschmolzen. Diese hatten nichts Wirres an sich; die meisten waren kristallklar.
Ev verharrte bei einem C&W-Sender. Gerade war ein Song der Judds zu Ende. Als er fertig war, kam die Erkennungsmelodie des Senders.
Butch Dugan konnte kaum glauben, was er hörte: »We-We-Vau-AAAAl« sang eine fröhliche Mädchengruppe zum Klang von Geigen und Banjos.
»Heiliger Christus, das ist unfaßbar!« rief Dugan. »Wie...«
Ev schaltete das Radio aus. »Ich möchte jetzt, daß Sie meinem Kopf zuhören.«
Dugan sah ihn einen Augenblick lang fassungslos an. Nicht einmal Alice im Wunderland war so verrückt gewesen.
»Wovon sprechen Sie, um Gottes willen?«
»Streiten Sie nicht mit mir, tun Sie es einfach.« Ev wandte das Gesicht von Dugan ab und präsentierte ihm seinen Hinterkopf. »Ich habe zwei Stahlplatten im Kopf. Andenken an den Krieg. Die größere ist hier. Sehen Sie die Stelle, wo kein Haar wächst?«
»Ja, aber...«
»Keine Zeit! Bringen Sie Ihr Ohr dicht an diese Narbe und hören Sie zu!«
Er gehorchte... und spürte das Unwirkliche über sich hinwegspülen. Der Hinterkopf des alten Mannes spielte Musik. Sie war blechern und weit entfernt, aber dennoch völlig verständlich. Frank Sinatra sang »New York, New York«.
Butch Dugan fing an zu kichern. Bald lachte er. Dann schlug er die Arme um den Bauch und brüllte. Er war hier draußen am Arsch der Welt, mit einem alten Mann, dessen Kopf sich gerade in eine Musikbox verwandelt hatte. Bei Gott, das war besser als Ripleys Believe It Or Not.
Butch lachte und keuchte und weinte und brüllte und...
Die schwielige Handfläche des alten Mannes schlug ihm ins Gesicht. Die Überraschung, wie ein kleines Kind geschlagen zu werden, riß Butch aus seiner Hysterie, ebenso der Schmerz. Er sah Ev blinzelnd an und griff sich mit einer Hand an die Wange.
»Anderthalb Wochen bevor ich die Stadt verließ, hat das angefangen«, sagte Ev grimmig. »Musik in meinem Kopf. Sie wurde stärker, wenn ich in diese Gegend kam, und darüber hätte ich früher nachdenken sollen, aber ich habe es nicht getan. Jetzt ist sie noch stärker. Alles ist stärker. Ich habe jetzt keine Zeit für ein kreischendes Tohuwabohu. Alles in Ordnung?«
Die Röte, die Dugans Gesicht überzog, verdeckte größtenteils das Mal von Evs Hand. Ein kreischendes Tohuwabohu. Das beschrieb es ziemlich gut. Zuerst hatte er gekotzt, und dann hatte er einen hysterischen Anfall gehabt, wie ein Teenagermädchen. Dieser alte Mann zeigte nicht nur mehr Beherrschung als er, er war ihm um Klassen voraus.
»Alles klar«, sagte er.
»Glauben Sie jetzt, daß hier etwas im Gange ist? Daß sich in Haven etwas verändert hat?«
»Ja. Ich...« Er schluckte. »Ja«, wiederholte er.
»Gut.« Ev trat aufs Gas und raste wieder auf die Straße. »Dieses Ding... verändert alle in der Stadt, Trooper Dugan. Alle, außer mir. Ich empfange Musik im Kopf, aber das ist alles. Ich kann keine Gedanken lesen... und ich habe keine Einfälle.«
»Was meinen Sie mit >Einfälle Was für Einfälle?«
»Alle möglichen.« Der Tacho des Cherokee berührte neunzig, dann kletterte er weiter. »Das Problem ist nur, ich habe keine Beweise für das, was hier los ist. Überhaupt keine. Sie haben gedacht, ich wäre nicht mehr ganz dicht, was?«
Dugan nickte. Er hielt sich am Armaturenbrett fest. Ihm war wieder speiübel. Die Sonne war zu grell, sie spiegelte sich auf der Windschutzscheibe und dem Chrom.
»Der Reporter und die Schwestern dachten das auch. Aber es ist etwas hier im Wald, und ich werde es finden, ich werde ein paar Bilder davon machen, und ich werde Sie zurückbringen, dann werden wir beide laut sprechen, und vielleicht bekommen wir meinen Enkel David zurück, vielleicht auch nicht, aber auf jeden Fall sollten wir dem, was hier vor sich geht, ein Ende bereiten, bevor es zu spät ist. Sollten? Wir müssen.«
Jetzt verharrte die Tachonadel knapp unter hundert.
»Wie weit ist es noch?« preßte Dugan zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er würde wieder kotzen müssen, und zwar bald; er hoffte nur, er würde sich beherrschen können, bis sie bei ihrem wie auch immer gearteten Ziel angelangt waren.
»Zur alten Garrick-Farm«, sagte Ev. »Weniger als eine Meile.«
Gott sei Dank, dachte Dugan.
14
»Es ist nicht Gard«, sagte Bobbi. »Gard liegt besinnungslos auf der Veranda des Hauses.«
»Woher willst du das wissen?« fragte Adley McKeen. »Du kannst ihn nicht lesen.«
»Doch, kann ich«, sagte Bobbi. »Jeden Tag ein bißchen besser. Er ist noch auf der Veranda, ich sage es euch. Er träumt vom Skilaufen.«
Sie sahen Bobbi einen Augenblick schweigend an - etwa ein Dutzend Männer, die gegenüber der Methodistenkirche, vor dem Haven Lunch, auf der Straße standen.
»Wer ist es dann?« fragte Joe Summerfield schließlich.
»Weiß ich nicht«, sagte Bobbi. »Nur, daß es nicht Gard ist.« Bobbi wippte ein wenig auf den Füßen. Ihr Gesicht war das einer Frau von fünfzig, nicht von siebenunddreißig. Sie hatte braune Ringe der Erschöpfung unter den Augen. Die Männer schienen es nicht zu bemerken.
In der Kirche schwollen die. Stimmen zu »Holy, Holy, We Adore Thee« an.
»Ich weiß, wer es ist«, sagte Dick Allison plötzlich. Seine Augen waren fremdartig und trüb vor Haß geworden. »Es kann nur einer sein. Ich kenne nur eine andere Person in der Stadt mit Metall im Schädel.«
»Ev Hillman!« rief Newt aus. »Herrgott!«
»Wir müssen handeln«, sagte Jud Tarkington. »Diese Dreckskerle sindverdammt nahe dran. Adley, hol ein paar Gewehre aus dem Laden.«
»Okay.«
»Holt sie, aber benutzt sie nicht«, sagte Bobbi. Ihre Augen betrachteten die Männer nacheinander. »Nicht bei Hillman, wenn er es ist, und nicht bei dem Bullen. Besonders nicht bei dem Bullen. Wir können uns keinen zweiten Schlamassel in Haven leisten. Nicht bevor wir
(das »Werden«)
alles hinter uns haben.«
»Ich hole meine Röhre«, sagte Beach. Sein Gesicht brannte vor Eifer.
Bobbi packte ihn an den Schultern. »Nein, das wirst du nicht tun«, sagte sie. »Keinen Schlamassel mehr, das bedeutet auch keinen verschwundenen Polizisten mehr.«
Sie sah sie alle miteinander an, dann Dick Allison, der nickte.
»Hillman muß verschwinden«, sagte er. »Daran führt kein Weg vorbei. Aber das ist wahrscheinlich nicht schlimm. Ev ist verrückt. Ein verrückter alter Mann bringt alles fertig. Ein verrückter alter Mann kann mir nichts, dir nichts auf den Gedanken kommen, einfach nach Zion, Utah oder Grand Forks, Idaho, zu fahren, um dort auf das Ende der Welt zu warten. Der Bulle wird einen Schlamassel anrichten, aber er wird es in Derry tun, und es wird ein Schlamassel sein, den jeder versteht. Niemand wird mehr unser Nest beschmutzen. Los, Jud. Hol die Gewehre. Bobbi, du fährst mit deinem Lieferwagen hinter das Lokal. Newt, Adley, Joe, ihr fahrt mit mir. Jud, du fährst mit Bobbi. Der Rest in Kyles Caddy. Kommt schon, bewegt euch!«
15
Sssccchhh...
Derselbe alte Traum, nur ein paar neue Falten. Verdammt seltsame. Der Schnee hatte sich rosa verfärbt. Er war von Blut getränkt. Kam es von ihm ? Verfluchte Hölle! Wer hätte gedacht, daß der alte Tunichtgut soviel Blut in sich hat?
Sief fahren die mittelschwere Abfahrt hinab. Er weiß, er hätte mindestens noch eine Stunde auf der Anfängerabfahrt bleiben müssen, diese hier ist zu schnell für ihn, und außerdem ist der viele blutige Schnee sehr beunruhigend, besonders wenn es sich um das eigene Blut handelt.
Jetzt schaut er auf, was einen stechenden Schmerz durch seinen Kopf jagt - und er reißt die Augen auf. Auf dem gottverdammten Hang steht ein Jeep!
Annemarie schreit: »Bobbi stemmen, Gard! BOBBI STEMMEN!«
Aber er braucht Bobbi nicht zu stemmen, denn dies ist nur ein Traum, er ist ihm in den vergangenen paar Wochen ein vertrauter Freund geworden, ebenso wie das gelegentliche Ertönen von Musik in seinem Kopf; dies ist ein Traum, und dies ist kein Jeep, dies ist nicht die Schipiste Straight Arrow, es...
. .. fährt in Bobbis Einfahrt.
Ist das ein Traum? Oder ist es Wirklichkeit?
Nein, das war die falsche Frage. Eine bessere Frage wäre gewesen: Wieviel davon ist Wirklichkeit?
Das Chrom schoß blendende Lichtblitze in Gardeners Augen. Er zuckte zusammen und griff nach
(Skistöcken? nein, kein Traum, es ist Sommer, und du bist in Haven)
dem Verandageländer. Er konnte sich an fast alles erinnern. Es war verschwommen, aber er konnte sich erinnern. Keine Blackouts mehr, seit er zu Bobbi zurückgekehrt war. Musik in seinem Kopf, aber keine Blackouts. Bobbi war zur Beerdigung gefahren. Später würde sie zurückkommen, und sie würden weitergraben. Er erinnerte sich an alles, so wie er sich daran erinnerte, daß der Turm des Rathauses wie ein riesiger Vogel in den Himmel gestiegen war. Alles vorhanden und archiviert, Sir. Nur dieses nicht.
Er stützte sich mit den Händen auf das Geländer, stand mit glasigen, blutunterlaufenen Augen da und starrte trotz des Gleißens den Jeep an. Ihm war klar, daß er aussehen mußte wie jemand, der aus der Bowery entlaufen ist. Gott sei Dank enthält die Reklame immer ein Körnchen Wahrheit - so ist mir jetzt zumute.
Dann drehte der Mann auf dem Beifahrersitz den Kopf und sah Gard. Der Mann war so riesig, daß er wie ein Wesen aus einem Märchen aussah. Er hatte eine Sonnenbrille auf, daher konnte Gardener nicht sicher sagen, ob sich ihre Blicke tatsächlich trafen. Er glaubte es; ihm war so. Wie auch immer, es war nicht so wichtig. Er kannte diesen Blick. Als Veteran von etwa fünfzig Protestkundgebungen kannte er ihn sehr gut. Er kannte ihn auch als Trunkenbold, der mehr als einmal im Knast aufgewacht war.
Nun ist die Polizei von Dallas doch gekommen, dachte er. Der Ge -danke brachte Zorn und Bedauern mit sich... aber vor allem ein Gefühl der Erleichterung.
Er ist ein Bulle... aber was macht er in einem Jeep? Mein Gott, wie groß sein Gesicht ist... der Kerl ist so groß wie ein verdammtes Haus! Muß ein Traum sein. Muß sein.
Der Jeep hielt nicht an. Er rollte quer über die Einfahrt und verschwand. Jetzt konnte Gardener nur noch das Dröhnen des Motors hören.
Fuhren nach hinten. In Richtung Wald. Sie wußten es bereits. Mein Gott, wenn die Regierung es bekommt...
All seine frühere Empörung stieg wie Galle in ihm hoch; seine benommene Erleichterung verflog wie Rauch. Er sah, wie Ted der StromMann sein Jackett über die zertrümmerten Teile der Schwebe-Maschine warf und sagte: Was für ein Gerät?
Die Empörung wich der altbekannten kalten Wut.
HE, BOBBI, BEWEG DEINEN ARSCH HIERHER! schrie er in Gedanken, so laut und deutlich er konnte.
Frisches Blut quoll aus seiner Nase, und er taumelte geschwächt zurück, verzog angeekelt das Gesicht und griff nach seinem Taschentuch. Was macht es schon? Sollen sie es doch haben. Es ist so oder so beschissen, wie du genau weißt. Wenn die Polizei von Dallas es bekommt, na und? Es verwandelt Bobbi und alle anderen in der Stadt in die Polizei von Dallas. Besonders ihre speziellen Freunde. Diejenigen, die sie nachts mitbringt, wenn sie denkt, daß ich schlafe. Diejenigen, die sie in den Schuppen_ führt.
Das war zweimal geschehen, beide Male gegen drei Uhr in der Frühe. Bobbi glaubte, daß Gardener tief schlief - eine Mischung aus harter Arbeit, zuviel Fusel und Valium. Der Pegelstand des Valiumglases sank ständig, das stimmte, aber nicht, weil Gardener die Tabletten schluckte. In Wahrheit spülte er seine Abendtablette immer in der Toilette hinunter.
Warum diese Heimlichtuerei? Das wußte er nicht, ebensowenig, warum er Bobbi belogen hatte, als sie ihn fragte, was er am Sonntagnachmittag gesehen hatte. Jeden Abend eine Valiumtablette hinunterzuspülen, war eigentlich strenggenommen nicht gelogen, denn Bobbi hatte ihn noch nie direkt gefragt, ob er sie nähme; sie hatte lediglich den sinkenden Pegelstand der Flasche gesehen und eine falsche Schlußfolgerung gezogen, die richtigzustellen Gardener sich nicht die Mühe gemachthatte.
Ebensowenig wie er die falsche Vermutung richtigstellte, daß er fest schlief. In Wirklichkeit litt er nämlich an Schlaflosigkeit. Kein noch so zügelloses Trinken konnte ihn lange betäuben. Die Folge war eine Art ständiges, verschwommenes Bewußtsein, über das manchmal graue Schleier des Schlafs hinwegzogen, wie ungewaschene Socken.
Als er zum ersten Mal in den frühen Morgenstunden Licht über die Wand des Gästezimmers hatte huschen sehen, hatte er hinausgeschaut und einen großen Cadillac erblickt, der in die Einfahrt einbog. Er hatte auf die Uhr geschaut und gedacht: Das muß die Mafia sein ... wer sonst würde um drei Uhr morgens mit einem Caddy auf einer abgelegenen Farm auftauchen?
Aber als das Verandalicht eingeschaltet worden war, hatte er das Gefälligkeits-Nummernschild gesehen, KYLE-1, und bezweifelt, ob die Mafia auf Gefälligkeits-Nummernschilder Wert legte.
Bobbi hatte sich zu den vier Männern und der Frau gesellt, die ausgestiegen waren. Bobbi war angezogen, aber barfuß gewesen. Gardener kannte zwei der Männer - einer war Dick Allison gewesen, der Chef der freiwilligen Feuerwehr. Die beiden anderen kamen ihm vage bekannt vor. Die Frau war Hazel McCready.
Wenig später hatte Bobbi sie zum hinteren Schuppen geführt. Dem mit dem großen Kreig-Schloß an der Tür.
Gardener dachte: Vielleicht sollte ich hinausgehen. Herausfinden, was vorgeht. Statt dessen hatte er sich wieder hingelegt. Er wollte nicht einmal in die Nähe dieses Schuppens gehen. Er hatte Angst davor. Vor dem, was darin sein konnte.
Er war wieder eingedöst
Am nächsten Morgen waren der Caddy und Bobbis Gäste verschwunden. An diesem Morgen war Bobbi fröhlicher gewesen, mehr sie selbst als zu irgendeinem Zeitpunkt seit Gardeners Rückkehr. Er hatte sich eingeredet, daß es ein Traum gewesen war oder etwas - nicht gerade das DT, aber etwas ähnliches - aus der Flasche. Dann, vor nicht einmal vier Nächten, war KYLE-i wieder aufgetaucht. Dieselben Leute waren ausgestiegen, Bobbi war dazugekommen, und sie waren nach hinten zum Schuppen gegangen.
Gard sank wieder auf Bobbis Schaukelstuhl und griff nach der Flasche Scotch, die er heute morgen mit herausgebracht hatte. Die Flasche war da. Gardener hob sie langsam, trank und spürte flüssiges Feuer in seinem Magen aufprallen und dort explodieren. Das Motorengeräusch des Jeep war schwächer geworden, wie in einem Traum. Vielleicht war es genau das gewesen. Alles schien neuerdings so zu sein. Wie ging diese Zeile aus dem Paul-Simon-Song? Michigan seems like a dream to me now. Ja, Sir. Michigan, unheimliche Schiffe, die im Boden vergraben sind, Jeep Che-rokees und Cadillacs mitten in der Nacht. Wenn man genügend trank, verblaßte alles zu einem Traum.
Aber es ist kein Traum. Sie sind die Leute, die das Sagen haben, diese Leute, die in dem Cadillac mit dem KYLE-1-Nummernschild kommen. Genau wie die Polizei von Dallas. Genau wie der gute alte Ted mit seinen Reaktoren. Was_ für einen Schuß gibst du ihnen, Bobbi? Wie bedienst du sie noch besser als die anderen Genies aus dem Ort? Die alte Bobbi hätte so eine Scheiße nicht abgezogen, aber die neue verbesserte Bobbi tut es, und wie lautet die Antwort auf all das? Gibt es überhaupt eine?
»So oder so beschissen!« rief Gardener lauthals. Er kippte den letzten Rest Scotch und warf die Flasche über das Verandageländer ins Gebüsch. »So oder so beschissen!« wiederholte er und rastete aus.
16
»Der Kerl hat uns gesehen«, sagte Butch, während der Jeep diagonal durch Andersons Garten holperte und gewaltige Maispflanzen umfuhr und Sonnenblumen, die das Dach des Cherokee überragten.
»Wenn schon«, sagte Ev und rang mit dem Lenkrad. Sie kamen am anderen Ende aus dem Garten heraus. Die Räder des Cherokee zermatschten eine Reihe Kürbisse, die erstaunlich früh zu voller Reife gelangt waren. Die Schale war seltsam blaß, und wenn sie platzten, sah man widerlich rosa Fruchtfleisch. »Wenn sie jetzt noch nicht wissen, daß wir in der Stadt sind, dann habe ich mich in allen Punkten geirrt... Sehen Sie! Habe ich es nicht gesagt?«
Ein breiter, ausgefahrener Pfad schlängelte sich in den Wald. Ev rumpelte darauf.
»Er hatte Blut im Gesicht.« Dugan schluckte. Es fiel ihm schwer. Sein Kopf schmerzte jetzt gräßlich, sämtliche Plomben in seinen Zähnen schienen heftig zu vibrieren. Seine Eingeweide brannten schon wieder. »Und auf dem Hemd. Sah aus, als hätte ihm jemand...
Fahren Sie rechts ran, mir ist wieder schlecht.«
Ev trat auf die Bremse. Dugan öffnete seine Tür, lehnte sich hinaus und erbrach ein dünnes gelbes Rinnsal auf den Erdboden, dann schloß er einen Moment die Augen. Die Welt torkelte und drehte sich.
Stimmen raschelten in seinem Kopf. Viele Stimmen.
(Gard hat sie gesehen er ruft um Hilfe)
(wie viele)
(zwei zwei in einem Cherokee sie fuhren Richtung)
»Hören Sie«, hörte Butch sich selbst wie aus weiter Ferne sagen, »ich möchte Ihnen den Spaß wirklich nicht verderben, aber ich fühle mich miserabel. Hundsmiserabel.«
»Das war zu erwarten.« Hillmans Stimme drang durch einen langen, hallenden Flur zu ihm. Irgendwie gelang es Butch, sich wieder auf den Beifahrersitz zu ziehen, obwohl er nicht mehr die Kraft hatte, die Wagentür zuzuschlagen. Er kam sich so schwach vor wie ein neugeborenes Kätzchen. »Sie hatten keine Zeit, irgendwelche Widerstandskräfte aufzubauen, und wir sind jetzt da, wo sein Einfluß am stärksten ist. Halten Sie durch. Ich habe etwas, das Ihnen helfen wird. Glaube ich jedenfalls.«
Ev drückte den Knopf, der die elektrische Heckscheibe des Cherokee herunterließ, stieg aus, öffnete die Heckklappe und holte den Jutesack heraus. Er schleppte ihn zum Fahrersitz und hob ihn hinauf. Er sah Dugan an, und was er sah, gefiel ihm nicht. Das Gesicht des Polizisten hatte die Farbe von Kerzenwachs. Er hatte die Augen geschlossen, seine Lippen waren purpurn. Sein Mund stand halb offen, und er atmete in kurzen, flachen Zügen. Ev wunderte sich einen Augenblick, wie es
möglich war, daß das Ding einen solchen Einfluß auf Dugan hatte und auf ihn keinen, überhaupt keinen.
»Durchhalten, Freund«, sagte er und schnitt mit seinem Taschenmesser das Seil durch, mit dem der Sack zugebunden war.
»... übel...« winselte Dugan und erbrach bräunliche Flüssigkeit. Ev sah, daß drei Zähne darinlagen.
Er holte eine leichte Sauerstoffflasche hervor - der Bursche von Maine Med Supplies hatte sie einen Flachmann genannt. Er riß die Alufolie vom Ende des Schlauchs, der aus dem Flachmann kam, legte damit einen Edelstahlstutzen mit Innengewinde frei. Dann brachte er eine goldfarbene Plastikmaske von der Art, mit der Düsenflugzeuge ausgerüstet sind, zum Vorschein, an der ein gerippter weißer Plastikschlauch saß, der in einem Verbindungsstück mit Außengewinde - einem Ventil -endete.
Wenn dieses Ding nicht so_ funktioniert, wie der Mann es versprochen hat, dann wird mir dieser große Bursche hier wegsterben.
Er schraubte das Verbindungsstück mit dem Außengewinde in den Edelstahlstutzen. Er hörte, wie Sauerstoff leise in die goldfarbene Maske zischte. In Ordnung. Soweit, so gut.
Er beugte sich hinüber, setzte Dugan die Maske auf Mund und Nase und streifte ihm das elastische Halteband über den Kopf. Dann wartete er ängstlich, was passieren würde. Wenn Dugan nicht in dreißig bis vierzig Sekunden wieder zu sich kam, würde er kehrtmachen und davonfahren, so schnell er konnte. David war verschwunden, und Hilly ging es schlecht, aber das gab ihm nicht das Recht, Dugan zu ermorden, der keine Ahnung gehabt hatte, worauf er sich einließ.
Zwanzig Sekunden vergingen. Dann dreißig.
Ev legte den Rückwärtsgang des Cherokee ein, um am Rand von Andersons Garten zu wenden, als Dugan stöhnte, zusammenzuckte und die Augen aufschlug. Sie sahen ihn über den Rand der goldfarbenen Maske hinweg sehr groß und blau und verwirrt an. Seine Wangen hatten wieder etwas Farbe.
»Was zum Teufel...« Seine Hände griffen nach der Maske.
»Lassen Sie sie auf«, sagte Ev und legte eine seiner großen von Arthritis verkrümmten Hände auf die von Butch. »Die Luft hier draußen hat Sie vergiftet. Wollen Sie unbedingt gleich wieder eine Dosis?«
Butch hörte auf, nach der Maske zu greifen. Sie bebte auf seinem Gesicht, während er sagte: »Wie lange reicht der Sauerstoff?«
»Ungefähr fünfundzwanzig Minuten, hat der Bursche gesagt. Aber es ist ein automatisches Ventil. Sie können die Maske zwischendurch abnehmen. Wenn Sie anfangen, sich wieder schlecht zu fühlen, setzen Sie sie wieder auf. Ich möchte gerne weiterfahren, wenn Sie meinen, daß Sie es schaffen. Es kann nicht mehr weit sein, und... und ich habe das Gefühl, daß ich es wissen muß.«
Butch Dugan nickte.
Der Cherokee setzte sich wieder in Bewegung. Dugan blickte in den Wald um sie herum. Still. Keine Vögel. Überhaupt keine Tiere. Kein gar nichts. Völlig unnatürlich. Verdammt unnatürlich und sehr schlimm.
Schwach, ganz hinten in seinem Verstand, hörte er Gedanken, gleich dem Flüstern einer Kurzwellenübertragung.
Er sah Ev an. »Was zum Teufel geht hier eigentlich vor?«
»Das wollen wir herausfinden.« Ev wühlte in dem Sack, ohne die Augen von dem Pfad zu nehmen. Dugan zuckte zusammen, als der Unterboden des Cherokee über einen Baumstumpf schrammte, der etwas weniger tief abgesägt war als die anderen.
Ev holte eine große 45er heraus. Sie sah so alt aus, als hätte der ursprüngliche Besitzer sie schon im Ersten Weltkrieg dabeigehabt.
»Ihre?« fragte Dugan. Es war erstaunlich, wie schnell der Sauerstoff
ihn wieder auf Vordermann brachte.
»Ja. Man bringt Ihnen doch bei, damit umzugehen, nicht?«
»Ja.« Aber die von Hillman sah wie eine Antiquität aus.
»Sie werden sie heute vielleicht benutzen müssen«, sagte Ev und reichte sie ihm.
»Was...«
»Passen Sie auf. Sie ist geladen.«
Vor ihnen fiel das Land plötzlich ab. Durch die Bäume drang eine starke Rîflexion: Sonnenschein, der von einem riesigen metallenen Gegenstand abprallte.
Ev trat auf die Bremse und war plötzlich bis auf den Grund seines Herzens entsetzt.
»Was zum Teufel?« hörte er Dugan neben sich murmeln.
Ev machte die Tür auf und stieg aus. Als seine Füße den Boden berührten, stellte er fest, daß die Erde kreuz und quer von kleinen, staubigen Rissen durchzogen war und sehr schnell vibrierte. Im nächsten Augenblick schrillte Musik, ohrenbetäubend laut, mit voller Wucht in seinem Verstand auf. Es dauerte vielleicht dreißig Sekunden, aber die Schmerzen waren unerträglich und schienen eine Ewigkeit anzuhalten. Schließlich blendete sie einfach aus.
Er sah Dugan, der die Maske jetzt unters Kinn geschoben hatte, vor dem Cherokee stehen. Die Sauerstoffmaske hielt er an ihrem Riemen in einer Hand, die 45er in der anderen. Er sah Ev besorgt an.
»Alles klar«, sagte Ev.
»Wirklich? Ihre Nase blutet. Wie bei dem Burschen auf der Farm, an dem wir vorbeigefahren sind.«
Ev putzte sich mit einem Finger die Nase und betrachtete das Blut. Er wischte den Finger an der Hose ab und nickte Dugan zu. »Vergessen Sie nicht, die Maske wieder aufzusetzen, wenn Sie anfangen, sich komisch zu fühlen.« »Oh, keine Bange.«
Ev lehnte sich in den Cherokee hinein und kramte wieder in seiner Wundertüte. Er holte eine Kodak-Disk-Kamera heraus, dann etwas, das wie eine Kreuzung aus Pistole und Fön aussah.
»Ihre Leuchtpistole?« fragte Dugan mit einem kleinen Lächeln.
»Hmhmm. Gehen Sie wieder ans Gas, Trooper. Sie werden schon wieder blaß.«
Dugan streifte die Maske über, dann näherten sich die beiden Männer dem glitzernden Ding im Wald. Fünfzig Schritte von dem Cherokee entfernt blieb Ev stehen. Es war mehr als riesig, es war titanisch, ein Ding, neben dem sich, wenn es vollständig freigelegt war, ein Ozeanriese wahrscheinlich wie ein Zwerg ausgenommen hätte.
»Geben Sie mir die Hand«, sagte er heiser zu Dugan.
Dugan gehorchte, wollte aber wissen, warum.
»Weil ich mir vor Angst fast in die Hosen scheiße«, sagte Ev. Dugan drückte seine Hand. Evs Arthritis flammte auf, dennoch erwiderte er den Händedruck. Nach einem Augenblick gingen die beiden Männer weiter.
17
Bobbi und Jud holten die Gewehre aus dem Laden und legten sie auf die Pritsche. Der Abstecher hatte nicht lange gedauert, aber Dick und die anderen hatten einen guten Vorsprung, und Bobbi fuhr so schnell, wie sie sich traute. Der Schatten des Lastwagens, der kürzer wurde, während der Tag sich dem Mittag näherte, raste neben ihnen her.
Plötzlich erstarrte Bobbi hinter dem Lenkrad.
»Hast du das gehört?«
»Etwas habe ich gehört«, sagte Jud. »Das war dein Freund, nicht?«
Bobbi nickte. »Gard hat sie gesehen. Er ruft um Hilfe.«
»Wie viele?«
»Zwei. In einem Jeep. Sie fuhren zum Schiff.«
Jud hieb sich mit der Faust auf den Oberschenkel. »Diese Schweinehunde ! Diese dreckigen schnüffelnden Schweinehunde!«
»Wir kriegen sie«, sagte Bobbi. »Keine Bange.«
Fünfzehn Minuten später erreichten sie die Farm. Bobbi stellte ihren Lastwagen hinter Allisons Nova und Archinbourgs Cadillac ab. Sie sah die Gruppe der Männer an und fühlte sich an ihre nächtlichen Treffen hier draußen erinnert... die Versammlungen derjenigen, die
(zuerst »werden«)
besonders stark gemacht werden sollten. Aber Hazel war nicht hier, dafür Beach; und auch Joe Summerfield und Adley McKeen waren noch nie im Schuppen gewesen.
»Hol die Gewehre«, sagte sie zu Jud. »Joe, du hilfst ihm. Vergeßt nicht
- nur schießen, wenn es unbedingt nötig ist, und keiner erschießt den Bullen, ganz gleich, was passiert.«
Sie sah zur Veranda und erblickte Gard, der auf dem Rücken lag. Sein Mund stand offen, und er atmete mit leisem, rostigem Schnarchen. Bobbis Blick wurde weich. Es gab eine Menge Leute in Haven - in erster Linie Dick Allison und Newt Berringer-, die der Meinung waren, sie hätte sich Gard schon längst vom Hals schaffen sollen. Niemand hatte etwas laut ausgesprochen, aber in Haven brauchte man nichts mehr laut auszusprechen. Bobbi wußte, wenn sie Gard eine Kugel durch den Kopf schießen würde, wäre eine Stunde später ein ganzes Regiment von Leuten da, die mithelfen würden, ihn irgendwo zu verscharren. Sie mochten Gard nicht, weil die Stahlplatte in seinem Schädel ihn gegen das »Werden« immun machte. Und sie machte ihn schwer zu lesen. Aber er war ihre Bremse. Doch selbst das war Unsinn. Die Wahrheit war viel einfacher: Sie liebte ihn nach wie vor. Dazu war sie noch menschlich genug.
Und sie mußten alle zugeben, als sie eine Warnung brauchten, hatte Gard sie ihnen zukommen lassen, betrunken oder nicht.
Jud und Joe Summerfield kamen mit den Gewehren zurück. Es waren insgesamt sechs, unterschiedlichen Kalibers. Bobbi sah, daß fünf an Leute ausgegeben wurden, denen sie blind vertrauen konnte. Das sechste, ein 22er, gab sie Beach, der sich beschweren würde, wenn er kein Schießeisen bekam.
Mit dem Ritual der Gewehre beschäftigt, fiel keinem auf, daß Gard die blutunterlaufenen Augen halb geöffnet hatte und sie ansah. Niemand hörte seine Gedanken; er hatte gelernt, sie abzuschirmen.
»Gehen wir«, sagte Bobbi. »Und vergeßt nicht: der Bulle muß am Leben bleiben.«
Sie machten sich miteinander auf den Weg.
18
Ev und Butch standen am Rand der Ausgrabung, die jetzt eine unregelmäßige Kluft war, von links nach rechts mehr als dreihundert Meter lang und an der breitesten Stelle zwanzig Meter breit. Andersens Bastardlastwagen, der alt und abgenutzt aussah, stand seitlich davon, daneben der aufgemotzte Bulldozer mit der riesigen Schraubenzieherschnauze. In einem offenen Unterstand aus geschälten Baumstämmen befanden sich noch andere Werkzeuge. Ev sah auf einer Seite eine Kettenwinde, auf der anderen einen Häcksler. Unter dem Ausstoßventil des Häckslers lag ein großer Haufen feuchter Späne. Kanister mit Benzin standen in dem Schuppen, daneben eine schwarze Tonne mit der Aufschrift DIESEL. Als Ev die Geräusche im Wald zum ersten Mal gehört hatte, hatte er 394 geglaubt, New England Paper fälle ein paar Bäume, aber dies war kein Holzfällen. Es war eine Ausgrabung.
Diese Scheibe. Diese monströse Scheibe, die in der Sonne glänzte.
Der Blick konnte sich nicht davon losreißen, er wurde immer wieder hingezogen. Gardener und Bobbi hatten einen weiteren großen Teil des Hügels abgetragen. Jetzt ragten dreißig Meter poliertes silbergraues Metall aus der Erde ins grün-goldene Sonnenlicht. Hätten sie in die Kluft hineingeschaut, dann hätten sie weitere zehn bis zwölf Meter gesehen.
Aber keiner der beiden ging so nahe heran, daß er hineinschauen konnte.
»Heiliger Himmel«, sagte Dugan. Die goldfarbene Maske bebte über seinem Mund, darüber quollen die blauen Augen aus den Höhlen. »Heiliger Himmel, es ist ein Raumschiff. Was meinen Sie, ist es von uns oder von den Russen ? Mein Gott, das ist ja so groß wie die Queen Mary, das ist nicht russisch, es ist nicht... ist nicht...«
Er verstummte wieder. Trotz des Sauerstoffs fingen seine Kopfschmerzen wieder an.
Ev hob die Disk-Kamera und machte sieben Aufnahmen, so schnell seine Finger es zuließen. Dann ging er zwanzig Schritt nach rechts, stellte sich neben den Häcksler und machte fünf weitere.
»Gehen Sie nach rechts!« sagte er zu Dugan.
»Hm?«
»Nach rechts! Ich möchte Sie auf den letzten dreien drauf haben, wegen der Größenverhältnisse.«
»Kann nicht, Alter!« Obwohl seine Stimme durch die Maske gedämpft war, hatte sie einen unverkennbar schrillen Unterton.
»Sie müssen nicht. Vier Schritte genügen.«
Dugan ging vier sehr kleine Schritte nach rechts. Ev hob wieder die Disk-Kamera - ein Vatertagsgeschenk von Bryant und Marie - und machte die letzten drei Fotos. Dugan war ein gewaltiger Mann, aber das Schiff in der Erde ließ ihn zur Größe eines Pygmäen schrumpfen.
»Okay«, sagte Ev. Dugan kehrte rasch wieder zu seinem ursprünglichen Platz zurück. Er ging mit unsicheren, schwankenden Schritten und ließ dabei das große runde Ding nicht aus den Augen.
Ev fragte sich, ob die Fotos etwas werden würden. Seine Hände hatten gezittert. Und das Schiff - es handelte sich eindeutig um eine Art Raumschiff- könnte eine Art Strahlung aussenden, die den Film verderben würde.
Selbst wenn sie etwas wurden, wer würde ihm glauben? Wer in einer Welt, in der die Kinder jeden Samstag ins Kino gingen und Filme wie Krieg der Sterne sahen?
»Ich will hier weg«, sagte Dugan.
Ev sah das Schiff noch einen Augenblick an und fragte sich, ob
David dort drinnen gefangen saß, durch seltsame Gänge wanderte und durch Türen ging, die nicht für menschliche Gestalten geschaffen waren, ob er in der Dunkelheit verhungerte. Nein,.. wenn er dort drinnen wäre, dann wäre er schon vor langer Zeit verhungert. Verhungert oder verdurstet.
Dann steckte er die Kamera in die Hosentasche, ging zu Dugan zurück und nahm die Leuchtpistole in die Hand. »Hmhmm. Ich glaube...«
Ev erstummte und sah in Richtung des Cherokee. Zwischen den Bäumen stand eine Reihe von Männern - und eine Frau-, einige waren bewaffnet. Ev kannte alle - und keinen.
19
Bobbi kam den Hang herunter auf die beiden Männer zu. Die anderen folgten.
»Hallo, Ev«, sagte Bobbi freundlich.
Dugan hob die 45er und wünschte sich sehnlichst seine Dienstpistole Kaliber .357. »Stehenbleiben«, sagte er. Es gefiel ihm nicht, wie die Maske das Wort dämpfte und ihm die Autorität nahm. Er zog sie herunter. »Alle miteinander. Diejenigen mit Gewehren sollen sie fallen lassen. Sie sind alle festgenommen.«
»Wir sind in der Überzahl, Butch«, sagte Newt Berringer liebenswürdig.
»Verdammter Schnüffler!« knurrte Beach. Dick Allison warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Sie sollten Ihre Maske lieber wieder aufsetzen, Butch«, sagte Adley McKeen mit einem trägen, spöttischen Lächeln. »Sonst geht sie noch verloren.«
Kaum hatte er die Maske abgenommen, fing Butch wieder an, sich benommen zu fühlen. Das unablässige Flüstern ihrer Gedanken machte alles noch schlimmer. Er zog sie hoch und fragte sich, wieviel Sauerstoff noch in der Flasche sein mochte.
»Werfen Sie Ihr Schießeisen weg«, sagte Bobbi. »Und Sie die Leuchtpistole, Ev. Niemand will euch etwas tun.«
»Wo ist David?« fragte Ev grob. »Ich will ihn wiederhaben, du Miststück. «
»Er ist auf Altair-4, zusammen mit Robby dem Roboter und Dr. Möbius«, sagte Kyle Archinbourg kichernd. »Er macht ein Picknick zwischen den Gedächtnisspeichern der Krell.«
»Halt den Mund«, sagte Bobbi. Plötzlich war sie verwirrt und schämte sich ihrer selbst, und sie war unsicher. Miststück? Hatte der alte Mann sie so genannt? Miststück? Sie wollte ihm sagen, daß er verwirrt war -nicht sie war ein Miststück. Das war ihre Schwester Anne.
Plötzlich stand ihr ein verworrenes Bild vor Augen - die Verzweiflung des alten Mannes, Gards Verzweiflung, ihre eigene, alles verschmolz miteinander. Sie war abgelenkt. Währenddessen hob Ev die Leuchtpistole und feuerte. Wenn Dugan es getan hätte, dann hätten sie seine Absicht gelesen, bevor er sie in die Tat hätte umsetzen können, aber bei dem alten Mann war das etwas anderes.
Man hörte ein hohles Fudd! und ein Heulen. Beach Jernigan war in weiße Flammen eingehüllt und taumelte zurück, das 22er flog ihm aus der Hand. Seine Augen wurden von einem Film überzogen, sie kochten und platzten, als der brennende Phosphor in sie eindrang. Seine Wangen begannen zu schmelzen. Er machte den Mund auf und griff sich an die Brust, als die überhitzte Luft, die er einatmete, sich ausdehnte und seine Lungen zerriß. Das alles geschah innerhalb weniger Sekunden.
Die Reihe von Männern verlor den Zusammenhalt, als sie mit vor Entsetzen leeren Gesichtern zurücktaumelten. Sie hörten Beach Jernigan in ihren eigenen Köpfen sterben.
»Los!« schrie Ev Dugan an und rannte zum Cherokee. Jud Tarkington taumelte ein paar Schritte vor, um ihn aufzuhalten. Ev schlug ihm den heißen Lauf der Leuchtpistole ins Gesicht, wobei er ihm die Wangen verbrannte und die Nase brach. Jud kippte mit rudernden Armen nach hinten, stolperte über die eigenen Beine und stürzte der Länge nach hin.
Beach brannte auf dem lehmigen, vertrockneten Boden. Er griff mit einer verkrampften Hand kraftlos nach seiner Kehle, erschauerte und lag dann still.
Dugan setzte sich in Bewegung, er rannte hinter dem alten Mann her, der die Hand nach dem Türgriff des Cherokee ausstreckte.
Bobbi hörte Beachs Gedanken schwächer werden und dann verstummen. Als sie sich umdrehte, sah sie, daß der alte Mann und der Bulle nahe daran waren zu entkommen.
Heiliger Himmel, Jungs, ihr müßt sie aufhalten!
Das riß sie aus ihrer Lähmung, aber Bobbi war die erste, die sich bewegte. Sie lief zu Ev und schlug dem alten Mann den Kolben der Schrotflinte, die sie trug, in den Nacken. Evs Gesicht prallte gegen den oberen Rahmen der Fahrertür. Blut quoll ihm aus der Nase, er sank benommen auf die Knie. Bobbi hob die Schrotflinte, um noch einmal zuzuschlagen, als Dugan die 4jer des alten Mannes durch das Beifahrerfenster auf der anderen Seite des Cherokee hindurch abfeuerte.
Bobbi spürte, wie plötzlich ein gewaltiger Hammer gegen ihre rechte Schulter schlug. Ihr rechter Arm wurde mit aller Kraft hochgerissen, die Schrotflinte fiel ihr aus der Hand. Der Hammer betäubte das Fleisch einen Augenblick lang, dann kam die Hitze, ein sich ausdehnendes Feuer, das sie von innen heraus verbrannte.
Sie wurde nach hinten geschleudert, ihre linke Hand griff nach der Stelle, die der Hammer getroffen hatte, sie erwartete, Blut zu finden, fand aber keines - wenigstens noch nicht-, nur ein Loch in ihrer Bluse und dem Fleisch darunter. Das Loch hatte harte Kanten, die sich heiß und pochend anfühlten. Blut lief an ihrem Rücken hinab, eine ganze Menge, aber der Schock hatte sie betäubt, und sie empfand noch keine Schmerzen. Ihre linke Hand hatte die kleine Wunde gefunden, wo die Kugel eingedrungen war; die Austrittswunde war so groß wie eine Kinderfaust.
Sie sah Dick Allison, dessen Gesicht weiß und schlaff vor Entsetzen war.
(dies läuft nicht richtig Herrgott überhaupt nicht richtig erledigt ihn bevor er uns erledigt o du verdammter Schnüffler verdammter SchnüfflerVERDAMMTER SCHNÜFFLER!)
»Nicht schießen!« kreischte Bobbi. Schmerz explodierte in ihr. Blut spritzte ihr wie schaumige Gischt aus dem Mund. Die Kugel hatte ihre rechte Lunge zerfetzt.
Allison zögerte. Bevor Dugan die Waffe noch einmal heben konnte, waren Newt und Joe Summerfield bei ihm. Dugan fuhr herum, und Newt hieb den Lauf seines Gewehrs auf die Hand, die die 45er hielt. Dugans zweiter Schuß ging in den Boden.
»Schluß, Trooper, Schluß, sonst sind Sie ein toter Mann!« schrie John Enders, der Rektor der Grundschule. »Es sind vier Gewehre auf Sie gerichtet!«
Dugan sah sich um. Er sah vier Männer mit Gewehren. Und Allison, der immer noch starr dreinblickte und nur einen Schritt vom Ausrasten entfernt zu sein schien, machte den Eindruck, als würde er schießen, wenn auch nur ein Eichhörnchen furzte.
Sie werden dich sowieso um bringen. Also kannst du auch gleich einen Abgang wie ]ohn Wayne versuchen. Scheiße, die sind alle verrückt.
»Nein«, sagte Bobbi. Sie lehnte jetzt an der Motorhaube des Jeeps. Blut rann ihr unaufhörlich aus dem Mund. Der Rücken ihrer Bluse war durchweicht. »Wir sind nicht verrückt. Wir werden Sie nicht umbringen. Vergewissern Sie sich.«
Dugan tastete unbeholfen nach Bobbi Andersons Verstand und erkannte, daß sie es ernst meinte... aber irgendwo war ein Haken, ein Haken, den er gefunden hätte, wenn er in diesem unheimlichen Geschäft des Gedankenlesens kein so blutiger Anfänger gewesen wäre. Wie das Kleingedruckte im Vertrag eines gerissenen Autohändlers. Er würde später darüber nachdenken. Diese Burschen waren Amateure, und es bestand immer noch die Möglichkeit, daß er mit heiler Haut von hier wegkam. Wenn...
Plötzlich riß ihm Adley McKeen die goldfarbene Maske vom Gesicht. Butch verspürte fast auf der Stelle eine Woge der Übelkeit.
»So gefallen Sie mir besser«, sagte Adley. »Sie werden weniger ans Abhauen denken, wenn Ihre verdammte Dosenluft zugedreht ist.«
Butch kämpfte gegen die Benommenheit an und sah zu Bobbi Anderson. Ich glaube, sie wird sterben.
(denken Sie was Sie wollen)
Er richtete sich auf und wich einen Schritt zurück, als dieser unerwartete Gedanke seinen Kopf erfüllte. Er sah sie eingehender an.
»Was ist mit dem alten Mann?« fragte er unverblümt.
»Geht...« Bobbi hustete und spuckte mehr Blut. Blasen bildeten sich vor ihren Nasenlöchern. Kyle und Newt gingen auf sie zu. Bobbi winkte sie zurück. »Geht Sie nichts an. Sie und ich werden vorne in den Jeep einsteigen. Sie fahren. Hinten werden drei Männer mit Gewehren sitzen, damit Sie nicht auf dumme Gedanken kommen.«
»Ich will wissen, was mit dem alten Mann geschehen wird«, wiederholte Butch.
Bobbi strich das schweißnasse Haar mit der linken Hand aus den Augen. Ihre rechte Hand hing nutzlos herab. Es war, als wollte sie, daß Dugan sie sehr deutlich sah, daß er sie einschätzte. Das tat Butch. Die Kälte, die er in ihren Augen sah, war echt.
»Ich möchte Sie nicht töten«, sagte sie leise. »Das wissen Sie. Aber wenn Sie noch ein Wort sagen, werde ich Sie hier an dieser Stelle von meinen Männern hinrichten lassen. Wir werden Sie neben Beach begraben und das Risiko eingehen.«
Ev Hillman rappelte sich auf. Er sah benommen aus, als wüßte er nicht, wo er war. Er strich mit dem Arm das Blut wie Schweiß von der Stirn.
Eine weitere Woge der Benommenheit wallte durch Butch, und er hatte einen unendlich tröstlichen Gedanken: Das ist alles nur ein Traum. Nur ein Traum.
Bobbi lächelte humorlos. »Denken Sie das, wenn Sie wollen«, sagte sie. »Steigen Sie nur in den Jeep ein.«
Butch stieg ein und glitt hinter das Lenkrad. Bobbi ging zur Beifahrerseite. Sie begann wieder zu husten, spuckte Blut, und ihre Beine gaben nach. Zwei der anderen mußten sie stützen.
Ich weiß, daß sie sterben wird.
Bobbi drehte den Kopf und sah ihn an. Diese klare Gedankenstimme
(denken Sie was Sie wollen)
erfüllte wieder seinen Kopf.
Archinbourg, Summerfield und McKeen zwängten sich auf den Rücksitz des Cherokee.
»Fahren Sie«, flüsterte Bobbi. »Langsam.«
Butch fuhr an. Er sollte Everett Hillman noch einmal wiedersehen, aber er würde sich nicht daran erinnern - später würde der größte Teil von Butchs Verstand weggewischt sein wie Kreide von einer Tafel. Der alte Mann stand im Sonnenlicht da, hinter ihm ragte die unfaßbare Untertassenform auf. Er war von großen Männern umzingelt, und fünf
Schritte von ihm entfernt lag etwas, das wie ein verkohlter Baumstamm aussah.
Du warst nicht schlecht, alter Mann. Zu deiner Zeit mußt du eine echte Kanone gewesen sein.., und du warst ganz eindeutig nicht verrückt.
Hillman sah auf und zuckte die Achseln, als wollte er sagen: Nun, wir haben es immerhin versucht.
Heftigere Benommenheit. Butchs Sicht verschwamm.
»Ich bin nicht sicher, ob ich fahren kann«, sagte er, und seine Stimme schien wie aus großer Entfernung zu dröhnen. »Dieses Ding... es macht mich krank.«
»Hat er noch Luft in seiner kleinen Flasche, Adley?« flüsterte Bobbi. Ihr Gesicht war aschfahl. Im Vergleich dazu schien das Blut auf ihren Lippen grellrot zu sein.
»Die Maske zischt ein wenig.«
»Setz sie ihm auf.«
Einen Augenblick nachdem sie wieder fest auf Butchs Mund und Nase saß, ging es ihm auch schon besser.
»Genießen Sie es, solange Sie können«, sagte Bobbi, dann verlor sie das Bewußtsein.
20
»Asche zu Asche... Staub zu Staub. Hiermit übergeben wir den Leib unserer Freundin Ruth McCausland der Erde, ihre Seele aber dem gütigen Gott.«
Die Trauergemeinde hatte sich zu dem hübschen kleinen Friedhof auf dem Hügel westlich der Stadt begeben. Sie stand zwanglos an einem offenen Grab. Ruths Sarg ruhte auf Brettern darüber. Hier waren erheblich weniger Trauergäste anwesend als in der Kirche; viele der Auswärtigen hatten die Chance der Pause zwischen beiden Akten genutzt und sich mit Kopfschmerzen und Übelkeit oder vor neuen Einfällen fast berstend zurückgezogen.
Die Blumen am Kopfende des Grabes raschelten leise im Sommerwind. Als Reverend Goohringer den Kopf hob, sah er eine hellgelbe Rose den Grashügel hinabrutschen. Jenseits des verwitterten Zauns von Homeland konnte er den Uhrturm des Rathauses sehen. Er waberte ein wenig in der klaren Luft, als sähe man ihn durch Hitzeflimmern. Dennoch, dachte Goohringer, war es eine verdammt gute Illusion. Diese Fremden in der Stadt hatten die beste Laterna-magica-Vorstellung gesehen, die es je gegeben hatte, und wußten es nicht einmal.
Sein Blick traf einen Moment den von Frank Spruce - er sah die Erleichterung ganz deutlich in Franks Augen, und er vermutete, daß
Frank sie auch in seinen lesen konnte. Viele der Auswärtigen würden dorthin zurückkehren, von wo sie gekommen waren, und ihren Freunden und Bekannten erzählen, daß Ruths Tod die kleine Gemeinde zutiefst erschüttert hätte; die meisten schienen völlig geistesabwesend zu sein. Was keiner von ihnen wußte, überlegte Goohringer, war die Tatsache, daß die meisten von ihnen ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Geschehnisse beim Schiff gerichtet hatten. Eine Zeitlang war es dort draußen ziemlich schlecht gelaufen. Jetzt hatten sie wieder alles unter Kontrolle, aber Bobbi Anderson konnte sterben, wenn sie nicht rechtzeitig zum Schuppen gebracht wurde, und das war schlimm.
Trotzdem hatten sie alles unter Kontrolle. Das »Werden« würde weitergehen. Das war die einzig wichtige Überlegung.
Goohringer hielt die Bibel aufgeschlagen in der Hand. Die Seiten flatterten ein wenig im Wind. Jetzt hob er die andere Hand. Die Trauernden, die sich um Ruths Grab versammelt hatten, senkten die Köpfe.
»Der Herr segne und behüte dich, er lasse sein Angesicht leuchten über dir und gebe dir Frieden. Amen.«
Die Trauernden hoben die Köpfe. Goohringer lächelte. »Für diejenigen, die noch eine Weile bleiben und Ruths gedenken wollen, werden in der Bibliothek Erfrischungen gereicht«, sagte er.
Akt II war vorbei.
21
Kyle griff behutsam in Bobbis Hosentasche und suchte, bis er den Schlüsselring gefunden hatte. Er zog ihn heraus, suchte die Schlüssel durch und fand schließlich dem, mit dem man das Vorhängeschloß am Schuppentor öffnen konnte. Er steckte den Schlüssel ins Loch, drehte ihn aber nicht herum.
Adley und Joe Summerfield hatten Dugan im Visier, der immer noch am Steuer des Jeeps saß. Butch fiel es immer schwerer, Luft aus der Maske zu saugen. Die Nadel der Vorratsanzeige war jetzt schon seit fünf Minuten im roten Bereich. Kyle gesellte sich zu ihnen.
»Sieh nach dem Trunkenbold«, sagte Kyle zu Joe Summerfield. »Sieht aus, als wäre er weggetreten, aber ich traue diesem Wichser nicht.«
Joe überquerte den Hof, sprang auf die Veranda und untersuchte Gardener eingehend, wobei er vor dessen übelriechendem Atem zurückzuckte. Diesmal simulierte Gardener nicht, er hatte sich eine frische Flasche Scotch geholt und bis zur Besinnungslosigkeit getrunken.
Während die beiden anderen Männer darauf warteten, daß Joe zurückkam, sagte Kyle: »Bobbi wird wahrscheinlich sterben. Wenn sie stirbt, werde ich als allererstes diese Null wegschaffen.«
Joe kam zurück. »Weggetreten.«
Kyle nickte und drehte den Schlüssel im Schloß, während Joe sich zu Adley gesellte, um den Bullen in Schach zu halten. Kyle zog das Schloß weg und machte die Tür einen Spalt auf. Gleißendes grünes Licht ergoß sich heraus - es war so grell, daß es das Sonnenlicht verblassen zu lassen schien. Ein seltsam flüssiges, rüttelndes Geräusch war zu hören. Es war beinahe (aber nicht ganz) der Lärm einer Maschine.
Kyle wich unwillkürlich einen Schritt zurück, sein Gesicht verzerrte sich einen Augenblick zu einem Ausdruck von Angst, Ekel und Ehrfurcht. Allein der Geruch - schwer und widerwärtig und organisch -hätte ausgereicht, einen Mann umzuhauen. Kyle begriff - wie alle anderen auch - daß die zweigeteilte Natur der Tommyknockers allmählich zusammenwuchs. Der Tanz der Täuschung war fast vorbei.
Flüssige, rüttelnde Geräusche... und dann ein anderer Laut. Etwas wie das schwächliche, verschleimte Kläffen eines ertrinkenden Hundes.
Kyle war bisher zweimal im Schuppen gewesen, konnte sich aber an wenig erinnern. Er wußte natürlich, daß es ein großartiger Ort war, ein wichtiger Ort und daß er sein eigenes »Werden« beschleunigt hatte. Aber der menschliche Teil von ihm hatte immer noch eine fast abergläubische Angst davor. Er kam zu Adley und Joe zurück.
»Wir können nicht auf die anderen warten. Wir müssen Bobbi sofort da hineinschaffen, sonst haben wir überhaupt keine Chance mehr, sie zu retten.«
Er sah, daß der Polizist die Maske abgenommen hatte. Sie lag nutzlos auf dem Sitz neben ihm. Das war gut. Wie Adley draußen im Wald gesagt hatte, ohne seine Dosenluft würde er weniger ans Abhauen denken.
»Behalt den Bullen im Visier«, sagte Kyle. »Joe, hilf mir mit Bobbi.«
»Ich soll dir helfen, sie in den Schuppen zu schaffen?«
»Nein, du sollst mir helfen, sie in den Rumford-Zoo zu bringen, damit sie die verdammten Löwen sehen kann!« brüllte Kyle. »Natürlich in den Schuppen!«
»Ich glaube... ich glaube, ich möchte nicht dort hinein. Nicht jetzt.« Joe sah von dem grünen Licht zu Kyle, er hatte ein beschämtes, etwas ekelerfülltes Grinsen im Gesicht.
»Ich helfe dir«, sagte Adley leise. »Bobbi ist ein feiner Kumpel. Wäre schade, wenn sie draufginge, bevor wir fertig sind.«
»Also gut«, sagte Kyle. »Behalte den Bullen im Auge«, sagte er zu Joe. »Und wenn du es vermasselst, dann werde ich dich umbringen, das schwöre ich bei Gott.«
»Werde ich nicht, Kyle«, sagte Joe. Das beschämte Grinsen spielte immer noch um seine Lippen, aber an seiner Erleichterung konnte kein Zweifel bestehen. »Ganz sicher nicht. Ich werde ihn mit Argusaugen bewachen.«
»Das solltest du auch«, sagte Bobbi schwach. Das überraschte sie alle.
Kyle sah sie an, dann wieder Joe. Joe zuckte vor der nackten Verachtung in Kyles Augen zurück... aber er sah nicht zum Schuppen, zum Licht, zu den rüttelnden, platschenden Lauten.
»Komm, Adley«, sagte Kyle schließlich. »Bringen wir Bobbi hinein. Je früher, desto besser.«
Adley McKeen, um die fünfzig, kahl, untersetzt, zauderte nur einen Augenblick. »Ist es...« Er leckte sich die Lippen. »Kyle, ist es schlimm dort drinnen?«
»Ich kann mich gar nicht erinnern«, sagte Kyle. »Ich weiß nur, daß ich mich großartig fühlte, als ich wieder herauskam. Als wüßte ich mehr. Als könnte ich mehr.«
»Oh«, sagte Adley mit beinahe nichtvorhandener Stimme.
»Du wirst einer von uns werden, Adley«, sagte Bobbi mit derselben schwachen Stimme. '
Adleys Gesicht war zwar immer noch ängstlich, zeigte aber Entschlossenheit. »Also gut«, sagte er.
»Versuchen wir, ihr nicht weh zu tun«, sagte Kyle.
Sie trugen Bobbi in den Schuppen. Joe Summerfield wandte seine Aufmerksamkeit kurz von Dugan ab und sah ihnen nach, wie sie in dem Leuchten verschwanden - und er hatte wirklich den Eindruck, als würden sie verschwinden und nicht nur eintreten; es war, als sähe man einen Gegenstand in einer blendenden Korona verschwinden.
Seine Unaufmerksamkeit war kurz, aber der alte Butch Dugan hätte nicht mehr gebraucht. Er erkannte die Gelegenheit selbst, war aber außerstande, sie zu nutzen. Keine Kraft in den Beinen. Brennende Übelkeit im Magen. Sein Kopf dröhnte und pochte.
Ich will nicht da hinein.
Aber wenn sie beschlossen, ihn hineinzuschleppen, konnte er nichts dagegen tun. Er war so schwach wie ein Kätzchen.
Er driftete davon.
Nach einer Weile hörte er Stimmen und hob den Kopf. Das kostete ihn einige Anstrengung, denn ihm war, als hätte jemand Zement in eines seiner Ohren gegossen, bis der ganze Kopf davon voll war. Der Rest der Bande kam aus dem Gewucher, das Bobbi Andersens Garten war. Sie stießen den alten Mann grob vor sich her. Hillman stolperte und fiel hin. Einer von ihnen - Tarkington - brachte ihn mit Fußtritten wieder auf die Beine, und Butch empfing Tarkingtons Gedanken ganz deutlich: Er war wütend über das, was er für den Mord an Beach Jernigan hielt.
Hillman stolperte weiter auf den Cherokee zu. In diesem Augenblick wurde die Schuppentür geöffnet. Kyle Archinbourg und Adley McKeen kamen heraus. McKeen sah nicht mehr ängstlich aus - seine Augen leuchteten, ein gewaltiges zahnloses Grinsen teilte seine Lippen. Aber das war nicht alles. Etwas anderes...
Dann wurde es Butch klar.
In den wenigen Minuten, die die beiden Männer drinnen gewesen waren, schien ein großer Teil von Adley McKeens Haaren verschwunden zu sein.
»Ich werde jederzeit wieder hineingehen, Kyle«, sagte er. »Kein Problem. «
Da war noch mehr, aber alles driftete wieder davon. Butch ließ es geschehen.
Die Welt wurde düster, bis nichts mehr übrig war, außer den klatschenden Lauten und dem Nachglühen von grünem Licht auf seinen Lidern.
22
Akt III.
Sie saßen in der Stadtbibliothek - deren Name, darin waren sich alle einig, in Ruth McCausland Memorial Library geändert werden würde. Sie tranken Kaffee, Eistee, Coca-Cola, Ginger Ale. Sie tranken nichts Alkoholisches. Nicht bei Ruths Beerdigung. Sie aßen winzige dreieckige Thunfischsandwiches, sie aßen ähnliche mit Streichkäse und Oliven, sie aßen Sandwiches mit Streichkäse und Pimiento. Sie aßen kalten Braten und Jell-O-Salat, in dem Karottenstreifen hingen wie Fossilien in Bernstein.
Sie sprachen angeregt, aber es war weitgehend still im Raum - wäre er abgehört worden, wären die Lauscher enttäuscht gewesen. Die Spannung, die manches Gesicht hatte verkniffen werden lassen, als sich die Situation draußen im Wald zugespitzt hatte und gefährlich nahe daran gewesen war, außer Kontrolle zu geraten, war verschwunden. Bobbi war im Schuppen.
Auch der neugierige Schnüffler von einem alten Mann war hineingebracht worden. Und zuletzt hatte man den neugierigen Schnüffler von einem Polizisten hineingebracht.
Der Gruppenverstand verlor die Spur dieser drei Menschen, als sie in den grellen Kupferoxidschein des grünen Lichts eintraten.
Sie aßen und tranken und lauschten und redeten, aber keiner sagte ein Wort, und das war gut so; die letzten Auswärtigen waren nach Goohrin-gers Ansprache am Grab aus der Stadt verschwunden, und sie hatten Haven wieder für sich selbst.
(wird jetzt alles gut werden)
(ja sie werden das mit Dugan verstehen)
(bist du. sicher)
(ja sie werden verstehen; sie werden glauben zu verstehen)
Das Ticken der Seth Thomas auf dem Kaminsimsi die die Grundschule nach der letztjährigen Altmaterialsammlung im Frühjahr gespendet hatte, war das lauteste Geräusch im Raum. Hin und wieder hörte man das leise Scheppern einer Porzellantasse. Ganz schwach, jenseits der offenen Fenster mit den Fliegengittern, das Geräusch eines fernen Flugzeugs.
Kein Vogelzwitschern.
Es wurde nicht vermißt.
Sie aßen und tranken, und als Dugan gegen dreizehn Uhr dreißig aus Bobbis Schuppen geführt wurde, wußten sie Bescheid. Die Leute standen auf, und dann begann sofort eine Unterhaltung, eine echte Unterhaltung. Deckel wurden auf Plastikschüsseln gedrückt. Unverzehrte Sandwiches wurden in Tüten gepackt. Claudette Ruvall, Ashleys Mutter, breitete ein Stück Aluminiumfolie über den Rest des Auflaufs, den, sie gemacht hatte. Sie gingen alle nach draußen und machten sich lächelnd und plaudernd auf den Heimweg.
Akt III war vorbei.
23
Bei Sonnenuntergang erwachte Gardener mit Katerkopfschmerzen und dem Gefühl, daß Dinge vorgefallen waren, an die er sich nicht recht erinnern konnte.
Hast es endlich geschafft, Gard, dachte er. Endlich hattest du wieder einen Blackout. Zufrieden?
Es gelang ihm, sich von der Veranda zu erheben und zitternd um die Ecke des Hauses zu gehen, außer Sichtweite der Straße, bevor er sich übergab. Er sah Blut in dem Erbrochenen und war nicht überrascht. Dies war nicht das erste Mal, aber diesmal war es mehr Blut als je zuvor.
Träume, großer Gott, er hatte ein paar unheimliche Alpträume gehabt, Blackout oder nicht. Leute waren gekommen und gegangen, so viele Leute, daß sie nur noch eine Blaskapelle gebraucht hätten und die (von Dallas, die Polizei von Dallas war heute morgen hier, und du hast dich betrunken, damit du sie nicht siehst, du elender Feigling) Er wandte sich von der Lache zwischen seinen Füßen ab. Mit jedem Schlag seines Herzens verschwamm die Welt vor seinen Augen, und Gardener wußte plötzlich, daß er dem Tod sehr nahe gewesen war. Er beging doch Selbstmord... nur sehr langsam. Er legte den Arm gegen die Hauswand und den Kopf auf den Arm.
»Mr. Gardener, geht es Ihnen nicht gut?«
»Haa!« schrie er und fuhr hoch. Sein Herz vollführte zwei heftige Schläge, schien eine Ewigkeit stehenzubleiben und fing dann so heftig an zu klopfen, daß er die einzelnen Schläge kaum unterscheiden konnte. Seine Kopfschmerzen überschritten plötzlich die kritische Schwelle. Er wirbelte herum.
Bobby Tremain stand vor ihm, er sah überrascht, beinahe ein wenig amüsiert aus; aber es schien ihm nicht leid zu tun, daß er Gardener erschreckt hatte.
»Himmel, ich wollte Sie nicht erschrecken, Mr. Gardener...«
Genau das hast du verdammt noch mal getan, und das weißt du verdammt genau.
Der junge Tremain blinzelte mehrmals rasch hintereinander. Er hat etwas davon mitbekommen, dachte Gardener. Er stellte fest, daß ihn das einen Scheißdreck interessierte.
»Wo ist Bobbi?« fragte er.
»Ich...«
»Ich weiß, wer du bist. Ich weiß, wo du bist. Direkt vor mir. Wo ist Bobbi?«
»Ich will es Ihnen sagen«, sagte Bobby Tremain. Sein Gesicht wurde sehr offen, sehr ehrlich, die Augen unvorstellbar groß, und Gardener wurde plötzlich nachdrücklich an seine Zeit als Lehrer erinnert. Ge nauso sahen Studenten aus, die einen langen Winter mit Skifahren, Vögeln und Trinken verbracht hatten und dann versuchten, einem zu erklären, daß sie ihre Referate heute nicht abgeben konnten, weil ihre Mütter am Samstag gestorben waren.
»Also, dann sag es mir.« Gardener lehnte sich an die Bretterwand des Hauses und betrachtete den Jungen im rötlichen Schein des Sonnenuntergangs. Über seine Schulter hinweg konnte er den Schuppen sehen, abgesperrt und mit zugenagelten Fenstern.
Er erinnerte sich, daß der Schuppen auch in dem Traum vorgekommen war.
Traum? Oder was sonst - etwas, von dem du nicht zugeben willst, daß es Wirklichkeit war?
Einen Augenblick schien Gardeners zynischer Gesichtsausdruck den Jungen aus der Fassung zu bringen.
»Miss Anderson hatte einen Hitzschlag. Ein paar Männer haben sie in der Nähe des Schiffs gefunden und ins Derry Home Hospital gebracht. Sie waren weggetreten.«
Gardener richtete sich rasch auf. »Geht es ihr jetzt wieder besser?«
»Weiß ich nicht. Sie sind immer noch bei ihr. Hier hat niemand angerufen. Jedenfalls nicht seit drei Uhr. Da bin ich nämlich hierhergekommen.«
Gardener stieß sich von der Wand ab, ging mit gesenktem Kopf um die Ecke herum und kämpfte gegen den Kater. Er hatte geglaubt, der Junge würde lügen, und vielleicht hatte er gelogen, was die,Natur dessen anbelangte, was Bobbi zugestoßen war, aber Gardener spürte einen wahren Kern in dem, was der Junge sagte: Bobbi war krank, verletzt, irgend etwas. Das erklärte das traumhafte Kommen und Gehen, an das er sich erinnerte. Er vermutete, daß Bobbi sie mit ihren Gedanken
gerufen hatte, der schönste Trick der Woche. Nur in Haven, meine Damen und Herren...
»Wo wollen Sie hin?« fragte Tremain plötzlich scharf.
»Nach Derry.« Gardener war am Ende der Einfahrt angekommen. Dort parkte Bobbis Pritschen wagen. Daneben der gelbe Dodge Challenger des Jungen. Gardener drehte sich wieder zu ihm um. Der Sonnenuntergang hatte rote Lichter und dunkle Schatten auf das Gesicht des Jungen gemalt, so daß er wie ein Indianer aussah. Gardener sah genauer hin und begriff, daß er nirgends hingehen würde. Dieser Bengel mit dem -schnellen Auto und den Schultern eines Football-Helden war nicht nur hergekommen, um Gard die schlechte Nachricht beizubringen, sobald Gard genug von dem Fusel abgeschüttelt hatte, um wieder unter den Lebenden zu weilen.
Soll ich glauben, daß Bobbi dort draußen im Wald war und gegraben hat wie eine Verrückte, bis sie mit einem Hitzschlag zusammenklappte, während ihr Partner sturzbetrunken auf der Veranda lag? Ist es das? Nun, das ist ein guter Trick, denn sie sollte auf der Beerdigung dieser McCausland sein. Sie _ fuhr in den Ort, und ich_ fing an, darüber nachzu denken, was ich am Sonntag gesehen hatte... ich_ fing an nachzudenken, und dann _ fing ich an zu trinken, so wie es_ fast immer bei mir ist. Natürlich hätte Bobbi zur Beerdigung fahren, wiederkommen, sich umziehen und dann in den Wald hinausgehen können, um zu graben, um dort einen Hitzschlag zu bekommen ... aber so war es nicht. Der Junge lügt. Es steht ihm deutlich im Gesicht geschrieben, und plötzlich bin ich verdammt froh, daß er meine Gedanken nicht lesen kann.
»Ich glaube, Miss Anderson wäre es lieber, wenn Sie hierbleiben und mit der Arbeit weitermachen würden«, sagte Bobby Tremain gelassen.
»Glaubst du?«
»Nun, das glauben wir alle. « Einen Augenblick sah der Junge besorgter denn je aus - argwöhnisch, ein wenig aus der Fassung gebracht. Ich vermute, er hat nicht damit gerechnet, daß Bobbis betrunkenes Haustier noch Krallen und Zähne hat. Das löste einen anderen, ungleich merkwürdigeren Eindruck aus, und er musterte den Jungen in dem Licht, das allmählich zu Orange und Aschenrosa verblaßte. Die Schulter eines Footballhelden, ein hübsches Gesicht mit Kinnfurche, das von Alex Gordon oder Bernie Wrightson hätte gezeichnet sein können, breite Brust, schmale Taille. Bobby Tremain. All-American. Kein Wunder, daß das Colson-Mädchen seinetwegen aus dem Häuschen war. Aber dieser eingesunkene, schwächlich wirkende Mund sah ganz genauso aus wie der der anderen, dachte Gardener. Sie waren es, die ihre Zähne verloren, nicht Gardener.
Okay - weshalb ist er hier?
Um mich zu bewachen. Um sicherzustellen, daß ich keinen Mucks mache. Was auch geschieht.
»Also gut«, sagte er mit sanfterer, versöhnlicherer Stimme zu Tremain. »Wenn alle das glauben.«
Tremain entspannte sich ein wenig. »So ist es.«
»Nun, dann laß uns hineingehen und Kaffee machen. Ich könnte einen brauchen. Ich habe Kopfschmerzen. Und wir werden morgen früh zeitig anfangen müssen...« Er blieb stehen und sah Tremain an. »Du wirst doch helfen, nicht? Das gehört auch dazu, oder?«
»Äh... ja, Sir.«
Gardener nickte. Er sah einen Augenblick zum Schuppen, und im schwindenden Tageslicht konnte er in den schmalen Ritzen zwischen den Brettern gleißendes Grün erkennen. Einen Augenblick verharrte sein Traum fast innerhalb seiner Reichweite - todbringende Schuster, die in diesem grünen Leuchten an unbekannten Sachen bastelten. Er hatte das Leuchten noch nie vorher so hell gesehen, und als Tremain gleichfalls hinüberschaute, stellte er fest, daß dieser den Blick voller Unbehagen schnell wieder abwandte.
Nicht ganz zufällig kam Gardener der Text eines alten Songs in den Sinn und verschwand dann wieder:
Don't know what they're doing, but they laugh a lot behind the green door... green door, what's that secret you're keepin’?
Dann war da ein Geräusch. Leise... rhythmisch... nicht identifizierbar ... aber irgendwie unangenehm.
Sie waren beide stehengeblieben. Jetzt ging Gardener weiter auf das
Haus zu. Tremain folgte ihm dankbar.
»Gut«, sagte Gardener, als wäre die Unterhaltung überhaupt nicht unterbrochen worden. »Ich kann Hilfe brauchen. Bobbi meint, wir würden in etwa zwei Wochen auf eine Art Luke oder so etwas stoßen...
dann können wir ins Innere.«
»Ja, ich weiß«, sagte Tremain, ohne zu zögern.
»Aber nur, wenn wir zu zweit arbeiten.«
»Oh, es wird immer jemand bei Ihnen sein«, sagte Tremain und lächelte freundlich. Gardener lief es kalt den Rücken hinunter.
»Ach?«
»Ja. Worauf Sie sich verlassen können!«
»Bis Bobbi zurückkommt.«
»Bis dahin«, stimmte Tremain zu.
Aber er glaubt, daß Bobbi nicht zurückkommen wird. Niemals.
»Komm«, sagte er. »Kaffee. Und dann vielleicht was zu futtern.«
»Hört sich gut an.«
Sie gingen nach drinnen und ließen den Schuppen allein in der zunehmenden Dunkelheit klatschen und murmeln. Als die Sonne unterging, wurde das Grün zwischen den Brettern heller und heller und heller. Eine Grille sprang in die leuchtende Spur, die aus einer der Ritzen auf die Erde fiel, und war auf der Stelle tot.
Zehntes Kapitel
Ein Tagebuch: Die Stadt, Schluß
1
Donnerstag, 28. Juli:
Butch Dugan erwachte in der Nacht genau um fünf nach drei in seinem Bett in Derry. Er warf die Decke zurück und schwang die Füße auf den Boden. Seine Augen waren groß und benommen, sein Gesicht aufgedunsen vom Schlaf. Die Kleidung, die er am Vortag während der Fahrt nach Haven mit dem alten Mann angehabt hatte, lag auf dem Stuhl bei seinem kleinen Schreibtisch. In der Brusttasche seines Hemdes steckte ein Kugelschreiber. Er brauchte diesen Kugelschreiber. Das schien der einzige Gedanke zu sein, den sein Verstand zuließ.
Er stand auf, ging zum Stuhl, nahm den Kugelschreiber, warf das Hemd auf den Boden, setzte sich und saß dann einige Augenblicke lang nur da, starrte in die Dunkelheit und wartete auf den nächsten Gedanken.
Butch war in Andersens Schuppen gegangen, aber sehr wenig von ihm war wieder herausgekommen. Er schien geschrumpft, vermindert. Er konnte sich an überhaupt nichts deutlich erinnern. Wenn man ihn danach gefragt hätte, hätte er seinen eigenen zweiten Vornamen nicht nennen können, und er konnte sich nicht daran erinnern, daß er in dem Cherokee, den Hillman gemietet hatte, zur Stadtgrenze Haven-Troy gefahren worden war und daß er sich hinter das Lenkrad gesetzt hatte, nachdem Adley McKeen ausgestiegen und zu Kyle Archinbourgs Cadillac zurückgegangen war. Er erinnerte sich auch nicht, nach Derry zurückgefahren zu sein. Und doch war das alles geschehen.
Er hatte den Cherokee vor dem Haus geparkt, in dem der alte Mann wohnte, hatte ihn abgeschlossen und war dann in sein eigenes Auto gestiegen. Zwei Blocks weiter hatte er lange genug angehalten, um die Schlüssel des Jeeps in einen Gully zu werfen.
Er war anschließend direkt zu Bett gegangen und hatte geschlafen, bis der in seinem Verstand eingebaute Wecker geklingelt hatte.
Jetzt wurde ein neuer Schalter gedrückt. Butch blinzelte ein- oder zweimal, zog eine Schublade auf und holte ein Blatt Papier heraus. Er schrieb:
Dienstagabend habe ich den Leuten erzählt, ich könnte nicht u ihrer Beerdigung, weil ich krank bin. Das stimmte. Aber es war nicht mein Magen. Ich wollte sie_ fragen, ob sie mich heiraten will, habe es aber immer wieder hinausgeschoben. Ich hatte Angst, sie würde nein sagen. Hätte ich keine Angst gehabt, könnte sie _ jetzt noch leben. Da sie nicht mehr lebt, habe ich nichts mehr, worauf ich mich _ freuen kann.
Dieser ganze Schlamassel tut mir sehr leid.
Er überflog den Brief noch einmal, dann unterschrieb er mit seinem Namen: Anthony F. Dugan.
Er legte Kugelschreiber und Zettel beiseite, richtete sich wieder kerzengerade auf und sah zum Fenster hinaus.
Ein weiteres Relais klickte.
Das letzte Relais.
Er stand auf und ging zum Schrank. Er stellte die Kombination des Wandsafes im Schrank ein und holte seine -357er Magnum heraus. Er streifte das Holster über die Schulter, ging wieder zum Schreibtisch und setzte sich.
Er dachte einen Augenblick nach, runzelte die Stirn, stand auf, schaltete das Licht in dem begehbaren Schrank aus, machte die Tür zu, ging wieder zum Schreibtisch, setzte sich erneut, nahm die -357er aus dem Halfter, drückte die Mündung fest auf das linke Augenlid und betätigte den Abzug. Der Stuhl kippte um und schlug mit einem schlichten, undramatischen Holzpoltern auf dem Boden auf - ein Geräusch wie die herunterklappende Falltür eines Galgens.
2
Seite eins, Bangor Daily News, Freitag, 29. Juli:
POLIZIST AUS DERRYBEGEHT SELBSTMORD Ermittlungsleiter im Fall der verschwundenen Polizisten von John Leandro
Cpt. Anthony »Butch« Dugan von der Staatspolizei in Derry erschoß sich allem Anschein nach am Donnerstag in den frühen Morgenstunden mit seiner Dienstpistole. Sein Tod ist ein schwerer Schlag für das Revier in Derry, das erst letzte Woche vom Verschwinden zweier Polizisten erschüttert wurde...
Samstage jo. Juli:
Gardener saß auf einem Baumstumpf im Wald, er hatte das Hemd ausgezogen, aß ein Thunfischsandwich mit Ei und trank Eiskaffee mit Brandy. Ihm gegenüber saß John Enders, der Grundschulrektor, auf einem anderen Stumpf. Enders war harte Arbeit nicht gewöhnt; obwohl es erst Mittag war, sah er erhitzt und müde und beinahe ausgelaugt aus.
Gardener nickte ihm zu. »Nicht schlecht«, sagte er. »Jedenfalls besser als Tremain. Tremain würde Wasser beim Kochen anbrennen lassen.«
Enders lächelte erschöpft. »Danke.«
Gardener sah an ihm vorbei zu der gewaltigen kreisförmigen Scheibe, die aus dem Boden ragte. Die Grube wurde immer breiter, und sie mußten immer mehr von diesem silbernen Gewebe verwenden, um zu verhindern, daß sie einstürzte (er hatte keine Ahnung, wie sie es herstellten, er wußte nur, daß der große Vorrat im Keller beinahe verbraucht gewesen war, bis gestern ein paar Frauen mit einem Wagen aus der Stadt gekommen waren und einen neuen Vorrat gebracht hatten, ordentlich zusammengelegt wie frisch gebügelte Vorhänge). Sie brauchten mehr, weil sie immer mehr von dem Hügel abtrugen... und das Ding reichte immer noch tiefer. Bobbis ganzes Haus hätte mittlerweile in seinem Schatten Platz gehabt.
Er sah wieder zu Enders. Enders betrachtete es mit einem Ausdruck bewundernder, religiöser Ehrfurcht - als wäre er ein hinterwäldlerischer Druide, der zum ersten Mal Stonehenge zu Gesicht bekommt.
Gardener stand auf, wobei er etwas stolperte. »Kommen Sie«, sagte er. »Wir wollen ein bißchen sprengen.«
Vor ein paar W ochen hatten er und Bobbi eine Stelle erreicht, wo das Schiff so fest in Muttergestein eingebettet war wie Stahl in Beton. Der Fels hatte dem Schiff nicht geschadet, hatte nicht einmal einen Kratzer auf der perlgrauen Hülle hinterlassen, geschweige denn es eingedrückt oder beschädigt. Aber es saß fest. Der Fels mußte weggesprengt werden. Unter anderen Umständen wäre das eine Aufgabe für einen Bautrupp gewesen, der wußte, wie man Dynamit - eine Menge Dynamit - richtig anwendete.
Aber neuerdings waren in Haven Sprengstoffe zu haben, die Dynamit überflüssig machten. Gardener wußte immer noch nicht, womit die Explosion in Haven Village ausgelöst worden war, und er war nicht sicher, ob er es je erfahren wollte. Aber das war so oder so eine müßige Frage, denn niemand sagte ihm etwas. Was immer es gewesen war, er war sicher, daß ein gewaltiges Bauwerk aus Ziegelsteinen wie eine Rakete abgehoben hatte, und ein paar dieser neuen und verbesserten Sprengstoffe hatten damit zu tun gehabt. Er erinnerte sich, daß er einst sogar Zeit damit vergeudet hatte, darüber nachzudenken, ob das Super-
Gehirnfutter, das Bobbis Fundsache in die Atmosphäre entließ, Waffen hervorbringen konnte oder nicht. Diese Zeit schien jetzt unglaublich fern, der damalige Jim Gardener unglaublich naiv.
»Schaffen Sie es, Johnny?« fragte er den Schulrektor.
Enders stand auf, zuckte zusammen und griff mit einer Hand zum Rücken, Er sah völlig erschöpft aus, brachte aber dennoch ein Lächeln zustande. Ein Blick auf das Schiff schien ihn zu erfrischen. Doch aus dem Winkel eines seiner Augen quoll Blut - eine einzige rote Träne. Irgend etwas da drinnen war geplatzt. Das macht die große Nähe zum Schiff, dachte Gard. Am ersten der beiden Tage, an denen Bobby Tremain ihm »geholfen« hatte, hatte er fast unmittelbar nach seiner Ankunft seine letzten paar Zähne ausgespuckt wie Maschinengewehrkugeln.
Er dachte daran, ihm zu sagen, daß etwas hinter seinem rechten Auge kaputt war, dann beschloß er, es ihn selbst herausfinden zu lassen. Dem Burschen würde nichts geschehen. Wahrscheinlich. Und Gardener war sich nicht sicher, ob es ihm etwas ausmachen würde, wenn er draufging... und das schockierte ihn mehr als alles andere.
Warum sollte es ihm etwas ausmachen? Bildest du dir immer noch ein, daß diese Kreaturen Menschen sind? Wenn_ ja, solltest du allmählich vernünftig werden, Gard-alter-Gard.
Er ging den Hang hinab und blieb am letzten Stumpf stehen, bevor felsiger Mutterboden zerklüftetem und schroffem Felsgestein wich. Er hob ein billiges Transistorradio aus gelbem, bruchfestem Plastik auf. Es sah aus wie Snoopy. Die Tastatur eines Sharp-Taschenrechners war daran befestigt. Und natürlich Batterien.
Summend ging Gardener zum Rand der Kluft. Dort verstummte er, war ganz still und betrachtete nur die titanische graue Flanke des Schilfs. Der Anblick erfrischte ihn nicht, aber er bewirkte, daß ihn tiefe Ehrfurcht ergriff, verbunden mit Obertönen einer zunehmend dunkler werdenden Furcht.
Aber du hoffst auch noch. Du wärst ein Lügner, wenn du sagen würdest, daß es anders ist. Der Schlüssel könnte immer noch da sein... irgendwo.
Aber diese Hoffnung wurde ebenso dunkler wie die Furcht. Vermutlich würde sie bald dahin sein.
Durch die Grabung am Hügel war das Schiff mittlerweile so weit entfernt, daß er es nicht mehr berühren konnte - nicht, daß er es gewollt hätte; das Gefühl, daß sich sein Kopf in einen sehr großen Lautsprecher verwandelte, gefiel ihm überhaupt nicht. Es tat weh. Er blutete jetzt kaum noch, wenn er es berührte (und manchmal ließ es sich nicht vermeiden), aber die dröhnende Radiomusik kam immer, und ab und zu spritzte ihm doch mehr Blut aus Nase oder Ohren, als ihm recht sein konnte. Gardener fragte sich kurz, von wieviel geborgter Zeit er bereits lebte, aber auch diese Frage war müßig. Seit dem Morgen, als er aufdem
Wellenbrecher in New Hampshire aufgewacht war, lebte er nur von geborgter Zeit. Er war ein kranker Mann, das wußte er, aber nicht so krank, daß er nicht die Ironie der Situation gesehen hätte, in der er sich befand: Nachdem er sich den Rücken krummgeschuftet hatte, um dieses Miststück mit einer Vielzahl von Geräten auszugraben, die aussahen, als stammten sie direkt aus dem Hugo-Gernsback-Universalkatalog, nachdem er getan hatte, was die anderen wahrscheinlich nicht hätten tun können, ohne sich in einer Art hypnotischer Trance zu Tode zu arbeiten, würde es ihm vielleicht nicht möglich sein, hineinzugehen, wenn sie sich bis zu der Luke vorgearbeitet hatten, die nach Bobbis fester Überzeugung da sein mußte. Aber er wollte es versuchen. Darauf konnte man getrost Gift nehmen.
Jetzt stellte er den Fuß in eine Seilschlinge, zog den Knoten fest und steckte das Snoopy-Radio in sein Hemd. »Lassen Sie mich sachte runter, Johnny.«
Enders begann, eine Winde zu drehen, und Gardener sank langsam nach unten. Die glatte graue Hülle neben ihm schien aufwärts zu gleiten.
Wenn sie ihn loswerden wollten, wäre das eine bequeme Methode, dachte er. Einfach einen telepathischen Befehl an Enders schicken: Laß das Rad los, John. Wir brauchen ihn nicht mehr. Und dann würde er hinunterstürzen, zwölf Meter tief auf das solide Gestein, und das schlaffe Seil über ihm würde hochgezogen werden.
Aber natürlich war er ohnehin auf ihre Gnade angewiesen... und er vermutete, daß sie, wenn auch widerstrebend, anerkannten, wie nützlich er ihnen war. Tremain war jung und kräftig wie ein Bulle, aber er war nach zwei Tagen umgekippt. Enders würde den heutigen Tag überstehen
- vielleicht-, aber Gardener hätte Uhr samt Kette (welche Uhr, welche Kette, ha-ha?) darauf verwettet, daß morgen ein anderer erscheinen würde, um ein Auge auf ihn zu haben.
Bobbi war in Ordnung.
Einen Scheißdreck war sie -wenn du nicht gekommen wärst, hätte sie sich umgebracht.
Aber sie hat sich hier besser gehalten als Enders oder der _junge Tremain...
Sein Verstand erwiderte unbarmherzig: Bobbi ging mit den anderen in den Schuppen. Tremain und Enders nicht... jedenfalls hast du es nie gesehen. Vielleicht ist das der Unterschied. «.
Also, was ist dort drinnen? Zehntausend Engel, die auf einem Stecknadelkopf tanzen? Der Geist von James Dean? Das Leichentuch von Turin? Was?
Er wußte es nicht.
Sein Fuß berührte den Boden.
»Ich bin unten!« rief er.
Enders' Gesicht, das sehr klein aussah, erschien am Rand der Grube. Dahinter konnte Gardener einen winzigen Streifen blauen Himmel sehen. Zu winzig. Klaustrophobie, flüsterte es ihm ins Ohr - eine Stimme, so rauh wie Schmirgelpapier.
Hier unten war der Raum zwischen dem Schiff und der mit diesem silbernen Gewebe überzogenen Wand sehr schmal. Gard mußte sich äußerst behuts am bewegen, damit er nicht die Schiffshülle berührte und damit eine Musikexplosion auslöste.
Hier unten war das Gestein sehr dunkel. Er kauerte nieder und strich mit den Fingern darüber. Sie wurden naß. In der vergangenen Woche waren sie jeden Tag ein wenig nasser geworden.
Am Morgen hatte er ein Quadrat von zehn Zentimeter Seitenlänge und dreißig Zentimeter Tiefe in den Fels gebohrt, wobei er ein Gerät verwendet hatte, das einmal ein Fön gewesen war. Jetzt machte er seinen Werkzeugkasten auf, holte eine Taschenlampe heraus und leuchtete in den Hohlraum.
Es stand Wasser darin.
Er erhob sich und brüllte: »Lassen Sie den Schlauch herunter!«
»... was?...« drang es herab. Enders hörte sich reumütig an. Gardener seufzte und fragte sich, wie lange er selbst noch dem unablässigen Sog der Erschöpfung standhalten konnte. Die Hugo-Gernsback-Univer-salausrüstung war schon in Ordnung, aber keiner hatte daran gedacht, eine Wechselsprechanlage zwischen da oben und hier unten zu installieren. Statt dessen mußten sie sich die Hälse heiser brüllen.
Oh, aber ihr Denken verläuft eben nicht in diesen Bahnen, wie du weißt. Warum sollten sie an Sprechanlagen denken, wo sie doch Gedanken lesen können? Du bist hier der Mann im Einspänner, nicht sie.
»Den Schlauch!« brüllte er. »Lassen Sie den gottverdammten Schlauch runter, Sie Schwachkopf!«
»... o... kay...«
Gardener wartete darauf, daß der Schlauch herunterkam, und wünschte sich kläglich, er wäre sonstwo auf der Welt, wünschte, er könnte sich einreden, daß alles nur ein Alptraum war.
Es nützte nichts. Das Schiff war auf verrückte Weise exotisch, aber diese Realität war zu prosaisch, um ein Traum zu sein: der saure Geruch von John Enders' Schweiß, der leichte Fuselgeruch seines eigenen, das Seil, das in seine Sohle schnitt, wenn er in die Grube hinuntergelassen wurde, das Gefühl des rauhen, feuchten Gesteins unter seinen Fingern.
Wo ist Bobbi, Gard? Ist sie tot?
Nein. Er glaubte nicht, daß sie tot war, aber er war zu der Überzeugung gekommen, daß sie sehr krank sein mußte. Am Mittwoch war ihr etwas zugestoßen. Am Mittwoch war ihnen allen etwas zugestoßen. Gardener konnte seine Erinnerungen nicht fassen, aber er wußte, daß er keinen echten Blackout und keinen DT-Alptraum gehabt hatte. Es wäre besser für ihn gewesen, wenn er einen gehabt hätte. Am Mittwoch hatte eine hektische Vertuschung stattgefunden - ein hektisches Geradebiegen von Ereignissen. Und er glaubte, daß Bobbi im Verlauf dieser Ereignisse verletzt worden war... krank geworden... irgend etwas.
Aber sie sprechen nicht darüber.
Bobby Tremain: Bobbi? Ach, Mr. Gardener, mit Bobbi ist alles in Ordnung - nur ’n kleiner Hitzschlag. Sie wird in Null Komma nichts wieder hier sein. Sie kann die Ruhepause brauchen! Ich glaube, das wissen Sie besser als jeder andere!
Hörte sich großartig an. So großartig, daß man meinen konnte, der junge Tremain glaubte es selbst, bis man in seine seltsamen Augen sah.
Er konnte sich vorstellen, wie er zu jenen ging, die er mittlerweile als Schuppen-Leute bezeichnete, und zu wissen verlangte, was mit ihr geschehen war.
Newt Berringer: Als nächstes wird er behaupten, wir wären die Polizei von Dallas.
Junge, dann würden sie aber alle anfangen zu lachen, was? Sie die Polizei von Dallas? Das war verdammt komisch. Das war zum Brüllen.
Vielleicht, dachte Gardener, ist mir deshalb so sehr danach zumute. Zum Brüllen, meine ich.
Jetzt stand er tief in dieser von Menschen geschaffenen Grube in der Erde, eine Grube, in der sich ein titanisches außerirdisches Schief befand, und wartete darauf, daß der Schlauch herunterkam. Und plötzlich ertönte der schreckliche letzte Satz von George Orwells Farm der Tiere wie ein Todesschrei in seinem Kopf. Seltsam, was man in dem entdeckte, das man einmal auswendig gelernt hatte. »Die Tiere draußen schauten von Schwein zu Mensch und von Mensch zu Schwein und dann nochmals von Schwein zu Mensch; aber es war bereits unmöglich, zu sagen, wer das Schwein und wer der Mensch war.
Herrgott, Gard, reiß dich zusammen!
Endlich kam der Schlauch, ein zwanzig Meter langer von der freiwilligen Feuerwehr. Er war natürlich dazu gedacht, Wasser zu spritzen, nicht, es aufzusaugen, aber eine Vakuumpumpe hatte seine Funktion mühelos umgekehrt.
Enders ließ ihn ruckartig herab. Das Ende schwang hin und her und schlug manchmal an die Hülle des Schiffs. Jedesmal, wenn das geschah, gab es ein Geräusch, das dumpf und seltsam durchdringend zugleich war. Gardener gefiel es nicht, und er war rasch soweit, daß er sich vor ihm fürchtete. *
Werrgoff, ich wünschte mir, er hätte dieses Ding nicht zum Schwingen gebracht.
Poch...poch... poch. Warum kann es nicht einfach kling! machen? Warum muß es dieses Geräusch machen, das sich anhört, als würde Erde auf einem Sarg geschaufelt?
Poch... poch... poch!
Herrgott, ich hätte springen sollen, als ich die Möglichkeit dazu hatte. Ich hätte einfach von diesem verdammten Wellenbrecher in Arcadia Beach springen sollen. Das war am vierten Juli, nicht? Scheiße, ich hätte eine bildschöne Leiche sein können.
Dann tu es doch einfach jetzt. Wenn du heute abend ins Haus kommst, dann schluckst du alle Valium aus dem Medizinschrank. Bring dich um, wenn du nicht den Mumm hast, dies bis zum Schluß durchzu stehen oder der Sache ein Ende zu machen. Die guten Leute von Haven werden wahrscheinlich über deinem Leichnam eine Party _feiern. Glaubst du, die wollen dich hier? Wenn nicht noch etwas von der alten unverbesserlichen Bobbi da wäre, dann wärst du wahrscheinlich schon längst tot. Wenn sie nicht zwischen dir und ihnen stünde...
Poch... poch... poch!
Stand Bobbi denn noch zwischen ihm und dem Rest von Haven? Ja, aber wenn sie starb - wie lange würde es dauern, bis er selbst aus der Gleichung ausradiert wurde?
Nicht lange, mein Freund. Überhaupt nicht lange. Schätzungsweise fünfzehn Minuten.
Poch... poch... poch! '
Stöhnend, die Zähne gegen das dumpfe, tote Pochen zusammengebissen, sprang Gard hoch und ergriff die Messingtülle des Schlauchs, bevor sie noch einmal gegen die Hülle schlagen konnte. Er zog sie herunter, kniete sich über das Loch und legte den Kopf in den Nacken, um Enders' winziges Gesicht sehen zu können.
»Lassen Sie die Pumpe an!« brüllte er.
»... was?...«
Und Jesus weinte bitterlich, dachte Gardener.
»Lassen Sie die gottverdammte Pumpe an!« brüllte er, und diesmal spürte er, spürte er tatsächlich, wie sein Kopf auseinanderfiel. Er schloß die Augen.
».. .okay...«
Als er nach oben sah, war Enders verschwunden.
Gardener schob die Tülle des Schlauchs in das Loch, das er heute morgen gebohrt hatte. Das Wasser begann langsam, fast bedächtig zu blubbern. Zuerst war es nur kühl, aber seine Hände wurden rasch taub. Obwohl die Grube, in der er sich befand, nur zwölf Meter tief war, hatten sie doch fast den ganzen Hügel abgetragen, und die Stelle, an der sich Gard jetzt befand, hatte bis Ende Juni wahrscheinlich fünfundzwanzig Meter unter der Erde gelegen. Wieviel es genau war, hätte sich ermitteln lassen, wenn man den freigelegten Teil des Schiffes abgemessen hätte, aber im Grunde interessierte es Gardener nicht. Die simple Tatsache schien zu sein, daß sie beinahe eine Wasserader erreicht hatten: poröses, wasserhaltiges Gestein. Die untere Hälfte oder die unteren zwei Drittel 416 des Schiffes schwammen offenbar in einem riesigen unterirdischen See.
Seine Hände waren so taub, daß sie vergessen hatten, was sie waren.
»Komm schon, Arschloch«, murmelte er.
Wie als Antwort darauf begann der Schlauch zu vibrieren und sich zu winden. Er konnte den Motor der Pumpe nicht hören, aber das war auch gar nicht nötig. Als der Pegelstand in dem Bohrloch sank, konnte Gardener seine geröteten, tropfenden Hände wieder sehen. Er schaute zu, wie der Wasserspiegel weiter sank.
Wenn wir auf die Wasserader stoßen, wird uns das aufhalten.
]a. Wir könnten einen ganzen Tag verlieren, während sie sich eine Art Superpumpe ausdenken. Es gibt vielleicht eine Verzögerung, aber nichts wird sie aufhalten, Gard. Weißt du das nicht?
Der Schlauch gab das Geräusch eines gigantischen Strohhalms in einem gigantischen leeren Colaglas von sich. Das Bohrloch war leer.
»Abschalten!« brüllte er. Enders schaute einfach weiter zu ihm herab. Gardener seufzte und zog sehr heftig an dem Schlauch. Enders schreckte auf, dann machte er mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. Er verschwand. Ein paar Sekunden später hörte der Schlauch auf zu vibrieren. Dann stieg er in die Höhe, als Enders ihn aufrollte.
Gardener vergewisserte sich, daß das Ende ganz still hing und nicht schwingen konnte, bevor er losließ.
Jetzt holte er das Radio aus dem Hemd und schaltete es ein. Es hatte eine eingebaute zehnminütige Verzögerung. Er legte das Radio auf den Boden des Lochs, dann bedeckte er es mit losem Geröll. Zwar würde ein Großteil der Explosivkraft nach oben verpuffen, aber dies war ein starker Sprengstoff, woraus er auch bestehen mochte, und es würde genügend übrigbleiben, um das Gestein in einer Tiefe von fast einem Meter so zu zertrümmern, daß sie die Brocken mit der Seilwinde rasch nach oben befördern konnten. Und dem Schiff würde nichts passieren. Ihm konnte offenbar nichts etwas anhaben.
Gardener schlüpfte mit dem Fuß in die Schlinge und brüllte: »Ziehen Sie mich hoch!«
Nichts geschah.
»ZIEHEN SIE MICH HOCH, JOHNNY!« kreischte er. Wieder hatte er das Gefühl, daß sein Kopf an einer morschen Naht zerriß.
Immer noch nichts.
Sein handgelenktiefes Eintauchen in eiskaltes Wasser hatte Gards Körpertemperatur um etwa zwei Grad gesenkt. Dennoch brach jetzt auf seiner Stirn ein klammer und unangenehm klebriger Schweiß aus. Er sah auf die Armbanduhr. Zwei Minuten waren verstrichen, seit er das Snoopy-Radio eingeschaltet hatte. Vom Zifferblatt der Uhr schweifte sein Blick zu dem Geröll auf dem Bohrloch. Er hatte noch genügend Zeit, das Geröll wegzuklauben und das Radio abzuschalten.
Aber wenn er das Radio abschaltete, würde er damit nicht das abschalten, was in dem Radio vor sich ging. Das wußte er irgendwie.
Er hielt nach Enders Ausschau, und Enders war nicht da.
So schaffen sie dich aus dem Weg, Gard.
Ein Schweißtropfen lief ihm in die Augen. Er wischte ihn mit dem Handrücken weg.
»ENDERS! HE, JOHNNY!«
Klettere am Seil hoch, Gard.
Zwölf Meter? Träum weiter. Vielleicht im College. Vielleicht nicht einmal damals.
Er sah auf die Uhr. Drei Minuten.
]a, genau so. Peng. Alles_ futsch. Ein Opfer_ für das große Schiff. Eine Kleinigkeit, um die Tommyknockers gnädig zu stimmen.
«... schon eingeschaltet?«
Er sah so rasch nach oben, daß sein Nacken knackste, und seine wachsende Angst verwandelte sich in Wut.
»Ich habe vor fast fünf Minuten eingeschaltet, Sie verdammter Idiot! Holen Sie mich hier heraus, bevor es hochgeht und mich in die Luft jagt!«
Enders Mund formte ein O, das beinahe komisch wirkte. Er verschwand wieder, und Gardener schaute durch einen Schweißfilm hindurch auf die Uhr.
Dann ruckte die Schlinge unter seinem Fuß, und einen Augenblick später bewegte er sich aufwärts. Gardener schloß die Augen und klammerte sich an das Seil. Offenbar war er doch nicht so bereit, über den Jordan zu gehen, wie er sich immer einredete. Vielleicht war es auch gar nicht so schlecht, das zu wissen.
Er erreichte den Rand der Grube, trat heraus und löste die Schlinge um seinen Fuß. Dann ging er dorthin, wo Enders stand.
»Tschuldigung«, sagte Enders und lächelte albern. »Ich dachte, wir hätten ausgemacht, daß Sie rufen, bevor Sie...«
Gardener schlug ihn. Es war geschehen, und Enders lag mit an einem Ohr hängender Brille und blutigem Mund auf der Erde, noch bevor Gardener richtig wußte, was er eigentlich vorhatte. Und obwohl er nicht telepathisch begabt war, glaubte er zu spüren, wie sich plötzlich jeder Kopf in Haven aufmerksam und lauschend in diese Richtung drehte.
»Sie haben mich dort unten gelassen, während dieses Ding schon tickte, Sie Arschloch«, sagte er. »Wenn Sie - oder sonst jemand aus der Stadt - das noch einmal machen wollen, dann lassen Sie mich lieber gleich da unten. Haben Sie das verstanden?«
Wut glomm in Enders' Augen auf. Er rückte seine Brille zurecht, so gut er konnte, und stand auf. Schmutz klebte an seinem kahlen Kopf. »Ich glaube, Sie wissen nicht, mit wem Sie reden.«
»Ich weiß mehr, als Sie glauben«, sagte Gardener. »Hören Sie zu, Johnny. Und ihr anderen, wenn ihr mithört, wovon ich fest überzeugt bin, ihr hört auch zu. Ich möchte eine Wechselsprechanlage da unten. Ich möchte etwas ganz normale Rücksichtnahme. Ich habe euer Spiel mitgespielt; ich bin der einzige in der Stadt, dem ihr nicht das Gehirn frisieren mußtet, damit er es tut. Verdammt noch mal, ich möchte etwas ganz normale Rücksichtnahme. Habt ihr das gehört?«
Enders sah ihn an, aber Gardener hatte den Eindruck, als lauschte auch er. Anderen Stimmen. Gardener wartete, wie ihre Entscheidung ausfallen würde. Er war so wütend, daß es ihm eigentlich einerlei war.
»Also gut«, sagte Enders leise und preßte den Handrücken auf den blutenden Mund. »Vielleicht haben Sie recht. Wir werden eine Sprechanlage herbringen, und wir werden zusehen, daß Sie mehr... wie haben Sie es genannt?« Ein verächtliches Lächeln umspielte seine Lippen. Es war ein Lächeln, das Gardener nur zu gut kannte. So lächelten die Arbergs und McCardles dieser Welt. So lächelten die Atombosse, wenn sie von ihren Kernkraftwerken sprachen.
»Ich sagte >Rücksichtnahme<. Vergessen Sie es nicht. Aber schlaue Jungs können lernen, nicht, Johnny? Drüben im Haus ist ein Wörterbuch. Brauchen Sie es, Sie Arschloch?« Er ging einen Schritt auf Enders zu und hatte die deutliche Befriedigung, den Mann zwei Schritte zurückweichen und das verächtliche kleine Lächeln verschwinden zu sehen. An seine Stelle trat ein Ausdruck" nervöser Ängstlichkeit. »Rücksichtnahme, Johnny. Vergessen Sie es nicht. Keiner von euch sollte es vergessen. Wenn nicht um meinet-, dann um Bobbis willen.«
Inzwischen standen sie am Geräteschuppen, Enders' Augen waren klein und nervös, die von Gardener groß und blutunterlaufen und immer noch wütend.
Und wenn Bobbi stirbt, dann reicht eure Vorstellung von Rücksichtnahme vielleicht_ für einen raschen und schmerzlosen Tod. So ungefähr sieht es aus, habe ich recht? Würden Sie sagen, daß das die Topographie der Situation ungefähr beschreibt, Sie kleiner glatzköpfiger Scheißkerl?
»Ich - wir - wissen Ihre unverblümten Worte zu schätzen«, sagte Enders. Seine Lippen, die von keinen Zähnen mehr gestützt wurden, flappten nervös auf und ab.
»Das kann ich mir denken.«
»Vielleicht dürfen wir nun auch etwas unverblümt sprechen.« Er nahm die Brille ab und begann, sie mit einem verschwitzten Hemdzipfel zu putzen (ein Vorgehen, das sie wahrscheinlich nur noch schmieriger machen würde, dachte Gardener), und Gardener sah ein gemeines, wütendes Funkeln in seinen Augen. »Sie sollten nicht... nicht so zuschlagen wie eben, Jim. Ich gebe Ihnen den Rat - wir alle geben Ihnen den Rat-, es nie wieder zu tun. Es finden... äh... Veränderungen... ja, Veränderungen... in Haven statt...«
»Was Sie nicht sagen.«
»Und einige dieser Veränderungen haben die Leute... äh... reizbar gemacht. Daher könnte es... nun, ein schwerer Fehler sein, so zuzuschlagen. «
»Stören Sie plötzliche Geräusche?« fragte Gardener.
Enders sah ihn argwöhnisch an. »Ich verstehe nicht, worauf Sie h...«
»Wenn der Zeitzünder des Radios richtig funktioniert, dann werden Sie gleich eines hören.«
Er begab sich hinter den Schuppen, wobei er nicht gerade rannte, sich aber auch nicht Zeit ließ. Enders warf einen erschrockenen Blick auf das Schiff, dann lief er hinter ihm her. Er stolperte über eine Schaufel und stürzte der Länge nach hin, rieb sich das Schienbein und verzog das Gesicht. Einen Augenblick später erschütterte ein dumpfes, bebendes Brüllen die Erde. Es folgte eine Reihe dieser dumpfen, aber durchdringenden Klopfgeräusche, als Steinsplitter gegen die Schiffshülle prallten. Andere flogen in die Luft und fielen dann am Rand der Grube auf die Erde oder polterten hinein. Gardener sah einen von der Schiffshülle abprallen und eine erstaunliche Strecke weit fliegen.
»Sie bornierter, hinterlistiger Hurensohn!« schrie Enders. Er lag immer noch am Boden und hielt immer noch sein Schienbein umklammert.
»Wenn einer borniert und hinterlistig ist, dann sind Sie es«, sagte Gardener. »Sie haben mich da unten gelassen.«
Enders funkelte ihn wütend an.
Gardener blieb einen Augenblick stehen, wo er war, dann ging er zu ihm und streckte die Hand aus. »Kommen Sie, Johnny. Es wird Zeit, das Vergangene vergangen sein zu lassen. Wenn Stalin und Roosevelt lange genug zusammenarbeiten konnten, um Hitler zu schlagen, dann werden wir doch wohl lange genug zusammenarbeiten können, um dieses Ding da aus der Erde zu holen. Was meinen Sie?«
Enders meinte nichts, aber nach einem Augenblick ergriff er Garde-ners Hand und stand auf. Er klopfte sich mürrisch die Kleidung ab und bedachte Gardener ab und zu mit einem fast katzenhaften Blick des Mißfallens.
»Wollen wir nachsehen, ob wir unseren Brunnen schon gegraben haben?« fragte Gardener. Er fühlte sich so wohl wie seit Tagen nicht mehr - eigentlich sogar seit Monaten, wenn nicht Jahren. Diesem Enders eine zu kleben hatte ihm verdammt gut getan.
»Was meinen Sie damit?«
»Vergessen Sie's«, sagte Gardener und ging dann allein zu der Grube. Er sah nach unten, suchte nach Wasser, lauschte auf Plätschern und Gurgeln. Er sah nichts und hörte nichts. Es schien, als hätten sie noch einmal Glück gehabt.
Plötzlich wurde ihm klar, daß er hier stand und die Hände auf die
Oberschenkel stützte, am Rand einer zwölf Meter tiefen Grube, und daß sich ein paar Meter hinter ihm ein Mann befand, dem er gerade eben einen Schlag auf den Mund versetzt hatte. Wenn Enders wollte, dann könnte er mich mit einem einzigen Stoß in den Abgrund befördern, dachte er und hörte Enders sagen: Daher könnte es ein schwerer Fehler sein, so zuzuschlagen.
Aber er sah sich nicht um, und dieses Hochgefühl hielt an, ob es nun auf absurde Weise fehl am Platze war oder nicht. Er steckte in der Klemme, und daraus konnte er sich nicht befreien, indem er sich einen Rückspiegel an den Kopf montierte, damit er sehen konnte, wer sich ihm von hinten näherte.
Als er sich endlich umdrehte, stand Enders immer noch bei dem Unterstand und sah ihn mit dem mürrischen Ausdruck einer getretenen Katze an. Gardener vermutete, daß er mit seinen Mutantengenossen wieder auf der Gemeinschaftsleitung gewesen war.
»Was meinen Sie?« rief Gardener zu ihm hinüber. In seiner Stimme lag erzwungene Freundlichkeit. »Dort unten liegen eine ganze Menge Brocken. Machen wir uns wieder an die Arbeit, oder senden wir noch ein paar Jammertiraden durch den Äther?«
Enders trat in den Schuppen und holte das Schwebegerät heraus, mit dem sie die größeren Brocken bewegten, dann kam er damit auf Gardener zu. Er hielt es ihm hin. Gardener hängte sich das Gerät auf den Rücken. Er ging zur Schlinge, dann sah er Enders noch einmal an.
»Vergessen Sie nicht, mich hochzuziehen, wenn ich rufe.«
»Keine Sorge.« Enders' Augen - vielleicht auch nur die Gläser seiner Brille - waren trübe. Gardener stellte fest, daß es ihm einerlei war, was trübe war. Er trat mit dem Fuß in die Seilschlinge und zog sie fest, während Enders zur Winde zurückging.
»Vergessen Sie nicht, Johnny. Rücksichtnahme. Das ist die Parole des Tages.«
John Enders ließ ihn hinunter, ohne etwas zu sagen.
4
Sonntag, 31. Juli:
Henry Bück, für seine Freunde Hank, beging an diesem Sonntagmorgen die letzte Tat eindeutig irrationaler Verrücktheit, zu der es in Haven kam.
Die Leute in Haven sind reizbar, hatte Enders zu Gard gesagt. Ruth McCausland hatte während der Suche nach David Brown Anzeichen dieser Gereiztheit gesehen; böse Worte, Reibereien, hier und da ein hastiger Schlag. Ironischerweise war es immer Ruth selbst gewesen -Ruth und der klare moralische Imperativ, der sie im Leben dieser Men-sehen stets gewesen war-, die verhindert hatte, daß die Suche zu einer einzigen Rauferei wurde.
Reizbar? »Verrückt« wäre vielleicht ein besseres Wort gewesen.
Im Schock des »Werdens« hatte die Stadt einem mit Gas gefüllten Zimmer geglichen, das nur darauf wartete, daß jemand ein Streichholz anzündete... oder etwas noch Zufälligeres, aber ebenso Tödliches tat, denn eine Explosion in einem gasgefüllten Zimmer kann auch durch einen unschuldigen Botenjungen verursacht werden, der auf die Klingel drückt und einen Funken erzeugt.
Dieser Funke blieb aus. Das war teilweise Ruths Verdienst. Teilweise war es Bobbis Verdienst. Dann, nach den Besuchen im Schuppen, begann eine Gruppe von einem halben Dutzend Männern und einer Frau, ähnlich wie die LSD-Trip-Helfer der Hippies Ende der sechziger Jahre, Haven über das Ende des ersten schwierigen Stadiums des »Werdens« hinwegzuhelfen.
Es war gut für die Menschen von Haven, daß es nie zu dem großen Knall kam, gut für die Menschen von Maine, New England und vielleicht für die des ganzen Kontinents oder der ganzen Welt. Ich muß nicht derjenige sein, der Ihnen erzählt, daß es überall im Universum ganze Planeten gibt, die nichts weiter sind als große Schlackehaufen, welche im Weltraum schweben, weil ein Krieg darüber, wer in der lokalen Wäscherei zu viele Trockner benutzte, zum Jüngsten Tag eskalierte. Niemand kann je wissen, wo etwas endet - oder ob es endet. Ende Juli hätte es durchaus dazu kommen können, daß die ganze Welt aufwachte und feststellte, daß in einer obskuren kleinen Stadt in Maine ein gewaltiger, die Erde erschütternder Konflikt ausgebrochen war -ausgelöst durch etwas so ungeheuer Wichtiges wie das Problem, wer an der Reihe war, den Kaffee für die Frühstückspause im Haven Lunch zu holen.
Selbstverständlich ist es durchaus möglich, daß wir unsere Welt eines Tages auch ohne fremdes Zutun in die Luft jagen, und zwar aus Gründen, die unter dem Blickwinkel von Lichtjahren gesehen ebenso trivial erscheinen mögen; von dem Punkt aus gesehen, an dem wir weit draußen in einem Arm der Milchstraße in der Kleinen Magellanschen Wolke rotieren, mag eine russische Invasion der iranischen Ölfelder, der Beschluß der NATO, amerikanische Marschflugkörper in Westdeutschland zu stationieren, ebenso wichtig sein wie die Frage, wer an der Reihe ist, ein Tablett mit fünf Tassen Kaffee zu holen. Aus der galaktischen Perspektive läuft das vielleicht alles auf dasselbe hinaus.
Wie dem auch sein mag, in Haven endete die Periode der Spannungen mit dem Monat Juli; inzwischen hatte fast jeder in der Stadt die Zähne verloren, und eine Reihe weiterer seltsamer Veränderungen hatte eingesetzt. Bei den sieben Menschen, die Bobbis Schuppen besucht hatten, um an dem teilzuhaben, was in dem grünen Leuchten wartete, hatten diese
Mutationen schon zehn Tage früher eingesetzt, waren aber von ihnen geheimgehalten worden.
In Anbetracht der Art der Veränderungen war das wahrscheinlich sehr klug gewesen.
Hank Bucks Rache an Albert »Pits« Bafield war wirklich die letzte Tat zügelloser Verrücktheit in Haven, und deshalb verdient sie vielleicht eine kurze Erwähnung.
Hank und Pits Barfield gehörten zu dem Donnerstags-Kreis von Pokerspielern, zu dem auch Joe Paulson gehört hatte. Am 31. Juli hatten die Pokerspiele längst aufgehört, zwar nicht, weil dieses Miststück 'Becka Paulson verrückt geworden war und ihren Mann gebraten hatte. Sie hatten aufgehört, weil man beim Pokern nicht bluffen kann, wenn alle Mitspieler Telepathen sind.
Dennoch hegte Hank einen Groll gegen Pits Barfield, und je mehr er darüber nachdachte, desto heftiger wurde er. Pits hatte die ganzen Jahre über gemogelt. Mehrere von ihnen hatten es vermutet - Hank erinnerte sich an einen Abend im Hinterzimmer von Kyle Archinbourg, sieben Jahre mußte das jetzt her sein, an dem er mit Moss Harlingen Billard gespielt hatte, und Moss hatte gesagt: »Er mogelt so sicher, wie du auf die Welt gekommen bist, Hank. Sechser-Kugel in die Seite.« Klack! die Sechser-Kugel rollte wie an einer Schnur ins Loch an der Seite. »Und der Mistkerl ist gut darin. Wenn er nur ein bißchen langsamer wäre, würde ich ihn dabei erwischen.«
»Wenn du das denkst, solltest du aus dem Spiel aussteigen.«
»Scheiße! Alle anderen sind so ehrlich, wie der Tag lang ist. Und die Wahrheit ist, ich bin besser als die meisten. Neuner. Ecke.« Klack! »Der kleine Wichspimmel ist schnell, und er übertreibt es nie - er mogelt nur ein klein wenig, wenn er wirklich anfängt, den Bach runterzugehen. Ist dir noch nie aufgefallen, wie er jeden Donnerstagabend dasteht? Fast ausgeglichen.«
Das war Hank aufgefallen. Dennoch hatte er geglaubt, das wäre nur ein bißchen Bockmist, den Moss sich da zusammenreimte - Moss war ein guter Pokerspieler, und ihm mißfielen alle, deren Geld er nicht nach Hause tragen konnte. Aber im Laufe der Jahre hatten andere einen ähnlichen Verdacht geäußert, und etliche - ein paar verdammt nette Kerle darunter, Leute, mit denen Hank wirklich gern ein paar Bier getrunken und Karten gespielt hatte - waren aus der Runde ausgestiegen. Sie taten es still und leise, ohne Aufhebens oder Ärger, und die Möglichkeit, daß Pits Barfield dafür verantwortlich sein konnte, wurde nie auch nur angedeutet. Es war nur so, daß sie schließlich doch der montagabendlichen Kegelrunde in Bangor beigetreten waren und ihre Frauen nicht wollten, daß sie an zwei Abenden in der Woche weg waren. Es war so, daß sich ihre Arbeitszeiten geändert hatten und sie sich die lange Nacht nicht mehr leisten konnten. Es war so, daß der Winter näher rückte (auch wenn es erst Mai war) und sie unbedingt ein paar Arbeiten an ihrem Schneemobil erledigen mußten.
Sie stiegen also aus; zurück blieb der harte Kern von drei öder vier Leuten, die von Anfang an dabeigewesen waren, und das Wissen, daß die Ausgeschiedenen es entweder gemerkt oder so deutlich gerochen hatten, wie man das Dschungelaroma riechen konnte, das fast ununterbrochen von Barfields ungewaschenem Körper ausging, machte die Sache irgendwie noch schlimmer. Sie hatten es gemerkt. Er und Kyle und Joe waren beschummelt worden. Sie waren all die Jahre beschummelt worden.
Nachdem das »Werden« bereits in vollem Gange war, fand Hank die Wahrheit ein für allemal heraus. Hank hatte nicht nur gemogelt, er hatte von Zeit zu Zeit sogar die Karten gezinkt. Diese Kunst hatte er sich in den Monaten nach dem Zweiten Weltkrieg angeeignet, in den langen und monotonen Stunden seines Dienstes bei einem Ersatzbataillon in Berlin. In einigen dieser heißen, schwülen Julinächte lag Hank wach und mit Kopfschmerzen im Bett und stellte sich vor, wie Pits ohne Hemd und Schuhe in einem netten warmen Bauernhaus saß und zum Himmel stank, während er das Mogeln übte und ein breites beschissenes Grinsen im Gesicht hatte, wenn er von den Pissern träumte, die er ausnehmen würde, wenn er wieder zu Hause war.
Hank erduldete diese Träume und Kopfschmerzen zwei Wochen lang... dann fiel ihm eines Nachts die Lösung ein. Er würde Pits ganz einfach zu seinem Ersatzbataillon zurückschicken, das würde er tun. Jedenfalls zu irgendeinem Ersatzbataillon. Einem Ersatzbataillon, das vielleicht fünfzig Lichtjahre entfernt war oder fünfhundert oder fünf Millionen. Einem Ersatzbataillon in der Phantomzone. Und Hank wußte genau, wie das zu machen war. Er saß kerzengerade im Bett und grinste breit. Endlich waren seine Kopfschmerzen verschwunden. Er stand auf und machte sich sofort an die Arbeit, um drei Uhr morgens.
Zwei Wochen nachdem er den Einfall gehabt hatte, erwischte er Pits. Pits saß auf einem zurückgekippten Stuhl vor Cooder's Market und sah sich die Bilder in einem Gallery-Heft an. Bilder von nackten Frauen anstarren, mogeln und stinken - das war typisch für Pits Barfield, dachte Hank.
Es war Sonntag, verhangen und heiß. Die Leute sahen, wie Hank dorthin ging, wo Albert »Pits« Barfield auf seinem zurückgekippten Stuhl saß, die Stiefel hinter die Vorderbeine gehakt hatte und den Anblick all der hübschen Mädchen genoß; sie fühlten-hörten einen einzigen Gedanken unablässig
(Ersatzbataillon Ersatzbataillon Ersatzbataillon) in Hanks Verstand hämmern, sie sahen den großen Radiorecorder, den er am Griff trug, sahen die Pistole, die er sich vorn in die Hose gesteckt hatte, und machten, daß sie weiterkamen.
Pits war ganz in das Faltblatt in der Mitte des Gallery versunken. Es zeigte eine ganze Menge von einem Mädchen namens Candi (zu deren Hobbies, behauptete das Magazin, »Segeln und Männer mit sanften und kräftigen Händen« gehörten), und daher sah er viel zu spät auf, um noch etwas Konstruktives zu seinen Gunsten unternehmen zu können. Wenn man die Größe der Pistole bedachte, die Hank bei sich hatte, meinten die Leute (normalerweise ohne den Mund aufzumachen, es sei denn, um Essen in sich hineinzuschaufeln) beim Abendessen, war es für den guten alten Pits wahrscheinlich bereits zu spät gewesen, als er an diesem Sonntagmorgen aufgestanden war.
Die Vorderbeine von Pits Stuhl knallten auf das Pflaster.
»He, Hank! Was...«
Hank zog die Pistole - es war ein Andenken an seinen eigenen Militärdienst. Er hatte ihn in Korea abgeleistet und keineswegs bei einem Ersatzbataillon.
»Du wirst schön sitzen bleiben«, sagte Hank, »denn sonst werden sie deine Eingeweide von diesem Schaufenster putzen können, du mogelnder Hurensohn!«
»Hank... Hank... was...«
Hank griff in sein Hemd und holte ein kleines Paar Borg-Kopfhörer heraus. Er stöpselte sie in den großen Recorder, schaltete ihn ein und warf Pits den Kopfhörer zu.
»Aufsetzen, Pits. Mal sehen, wie du dich hier herausmogeln wirst.«
»Hank... bitte...«
»Ich habe nicht die Absicht, mich auf eine Diskussion einzulassen, Pits«, sagte Hank. »Ich zähle bis fünf. Du setzt diese Kopfhörer auf, und dann werde ich dir eine Schläfenoperation verpassen.«
»Herrgott, Hank, es war doch nur ein verdammtes Pokerspiel um Vierteldollars!« kreischte Pits. Schweiß troff ihm vom Gesicht und färbte sein Khakihemd dunkel. Sein Geruch war gewaltig, säuerlich und ausgesprochen widerwärtig.
»Eins... zwei...«
Pits sah sich panisch um. Niemand war da. Die Straße hatte sich auf magische Weise geleert. Nicht einmal ein Auto fuhr die Main Street entlang, obwohl eine ganze Menge vor dem Supermarkt parkten. Es herrschte völlige Stille, in der er und Hank die Musik aus dem Kopfhörer hören konnten - Los Lobos fragten sich, ob der Wolf überleben würde.
»Es war ein lausiges Pokerspiel um Vierteldollars und nur mit drei Mann, und überhaupt habe ich es nur ganz selten gemacht!« schrie Pits. »UmHimmels willen, warum hält denn niemand diesen Burschen auf?«
»... drei...«
Und mit allerletztem, verzweifeltem Trotz schrie Pits: »Und er ist ein verdammt schlechter Verlierer!«
»Vier«, sagte Hank und hob die Pistole.
Pits, dessen ganzes Hemd jetzt von Schweiß dunkel verfärbt war, dessen Augen rollten und der roch wie ein gerade mit Napalm bombardierter Misthaufen, gab auf. »Okay! Okay! Okay!« schrie er und nahm den Kopfhörer. »Ich mache es, siehst du? Ich mache es!«
Er setzte den Kopfhörer auf. Ohne die Pistole von ihm abzuwenden, beugte sich Hank über den Recorder, mit dem man nicht nur Kassetten abspielen, sondern auch Mittelwelle- und UKW-Sender empfangen konnte. Die Play-Taste unter dem Kassettenschacht war überklebt worden. Auf dem Klebeband stand ein einziges ominöses Wort: Senden.
Hank drückte darauf.
Pits begann zu schreien. Dann wurden die Schreie leiser, als drosselte in seinem Innern jemand die Lautstärke. Gleichzeitig schien jemand seine Erscheinung abzuschalten, seine physische Kohärenz, sein Dasein. Pits Barfield verblaßte wie eine Fotografie. Jetzt bewegte sich sein Mund lautlos, seine Haut war so weiß wie Milch.
Ein kleines Stück Wirklichkeit - ein Stück Wirklichkeit von der Größe der unteren Hälfte einer Stalltür - schien sich hinter ihm aufzutun. Man hatte das Gefühl, als hätte sich die Wirklichkeit - die Wirklichkeit von Haven - um eine unbekannte Achse gedreht, wie das Trick-Bücherregal in einem Spukhaus-Film. Hinter Pits war jetzt eine unheimliche, schwärzlichpurpurne Landschaft zu sehen.
Hanks Haar begann, ihm um die Ohren zu wehen; sein Kragen stotterte mit dem Geräusch einer Automatikwaffe mit Schalldämpfer; der Abfall auf dem Asphalt - Süßigkeitenpapiere, flachgetretene Zigarettenpackungen, ein paar Humpty-Dumpty-Kartoffelchipstüten -schoß über das Pflaster und in das Loch. Er wurde von dem Luftstrom mitgerissen, der in diese beinahe luftlose andere Welt strömte. Ein Teil des Abfalls flog zwischen Pits' Beinen hindurch. Und ein Teil, dachte Hank, schien durch die Beine selbst zu fliegen.
Dann wurde Pits selbst plötzlich in dieses Loch gesaugt, als wäre er so leicht geworden wie der Abfall auf dem gepflasterten Vorplatz des Supermarkts. Sein Gallery folgte ihm, die Seiten flatterten wie Fledermausschwingen. Schön für dich, Pißkopf, dachte Hank, jetzt hast du im Ersatzbataillon wenigstens was zu lesen. Pits' Stuhl kippte um, schlitterte über das Pflaster und verharrte schwankend halb in, halb außerhalb der Öffnung. Inzwischen fegte ein Windkanal an Hank vorbei. Er beugte sich über seinen Recorder, sein Finger verweilte über der Stop-taste.
Kurz bevor er sie drückte, hörte er einen hohen, dünnen Schrei von diesem anderen Ort. Er sah auf und dachte: Das ist nicht Pits.
Er hörte ihn wieder.
»... hilly...«
Hank runzelte die Stirn. Das war eine Kinderstimme. Eine Kinderstimme, und sie kam ihm irgendwie bekannt vor. Irgendwie...
»... noch nicht vorbei? Ich möchte nach Hause ko-oommen.«
Es folgte ein helles, tonloses Klirren, als das Schaufenster vom Coo-der's Market, das bei der Rathausexplosion am vorigen Sonntag nach innen gedrückt worden war, jetzt nach außen gesaugt wurde. Ein Glassturm wirbelte um Hank herum, aber er blieb wie durch ein Wunder unverletzt.
»... bitte, es ist schwer zu aaaaaaaaatmen...«
Jetzt begannen die B&M-Bohnen im Sonderangebot, die im Schaufenster zu einer Pyramide aufgeschichtet worden waren, Hank um die Ohren zu fliegen, während sie in das Loch in der Wirklichkeit gesogen wurden, das er irgendwie geöffnet hatte. Fünfpfundtüten Rasendünger und Zehnpfundtüten Holzkohle schlitterten mit trockenen, papiernen Lauten über das Pflaster.
Ich werde den Pisser zum Schweigen bringen, dachte Hank, und wie um seine Entscheidung zu unterstreichen, knallte ihm eine Bohnendose an den Hinterkopf, wurde in die Luft geschleudert und dann in die schwärzlich purpurne Wunde gesogen.
»Hillniiin...«
Hank drückte auf die Stoptaste. Die Öffnung verschwand auf der Stelle. Man hörte ein hölzernes Knirschen, als der bereits halb in der Öffnung verschwundene Stuhl fast exakt diagonal in zwei Hälften zerschnitten wurde. Die Hälfte des Stuhls lag auf dem Pflaster. Die andere Hälfte war nicht mehr zu sehen.
Randy Kroger, der Deutsche, dem Cooder's seit Ende der fünfziger Jahre gehörte, packte Hank und drehte ihn herum. »Für das Schaufenster werden Sie bezahlen, Bück«, sagte er.
»Klar, Randy, wie Sie meinen«, stimmte Hank zu und rieb sich benommen die Beule, die an seinem Hinterkopf wuchs.
Kroger deutete auf die seltsame Stuhlhälfte auf dem Pflaster, »für diesen Stuhl werden Sie auch bezahlen«, verkündete er und ging wieder hinein.
So endete der Juli.
5
Montag, 1. August:
John Leandro hörte auf zu reden, kippte den Rest seines Biers und fragte David Bright: »Was meinst du, wird er sagen?«
Bright dachte einen Augenblick nach. Er und Leandro saßen in der Bounry Tavern, einem geschmacklos eingerichteten Lokal in Bangor, das lediglich zwei Vorzüge hatte - es lag fast direkt gegenüber den Redaktionsräumen der Bangor Daily News, und montags bekam man Heine-ken-Bier für eineinviertel Dollar pro Flasche.
»Ich glaube, er wird damit anfangen, daß er dir befiehlt, nach Derry zu rasen und den Sitzungskalender des Gemeinderats zu holen«, sagte Bright. »Und dann wird er dich wahrscheinlich fragen, ob du schon einmal daran gedacht hast, einen Psychiater aufzusuchen.«
Leandro sah auf absurde Weise niedergeschmettert aus. Er war erst vierundzwanzig, und die beiden letzten Berichte, die er geschrieben hatte - über das Verschwinden von (lies: den möglichen Mord an) zwei Staatspolizisten und den Selbstmord eines dritten -, hatten seinen Appetit auf die starken Sachen geweckt. Ein Bericht über ein Essen der Kriegsveteranen von Derry war öde im Vergleich zu dem Erlebnis, bei der ingrimmigen nächtlichen Suche nach den Leichen verschwundener Polizisten dabeizusein. Er wollte nicht, daß die starken Sachen wieder aufhörten. Bright tat die kleine Niete fast leid - das Problem lag darin, daß Leandro genau das war. Daß jemand mit Vierundzwanzig eine Niete war, konnte man hinnehmen. Aber er war ziemlich sicher, daß Johnny Leandro auch mit Vierundvierzig noch eine Niete sein würde... mit Vierundsechzig... mit Vierundachtzig, wenn er so lange lebte.
Eine vierundachtzigjährige Niete, das war eine unfaßbare und entsetzliche Vorstellung. Bright beschloß, doch noch ein Bier zu bestellen.
»Ich habe nur einen Scherz gemacht«, sagte Bright.
»Dann glaubst du, er wird mich der Sache nachgehen lassen?«
»Nein.«
»Aber eben hast du gesagt...«
»Das mit dem Psychiater war ein Scherz«, sagte Bright geduldig. »Nur das war ein Scherz.«
»Er«, das war Peter Reynault, der Chefredakteur. Bright hatte schon vor vielen Jahren gelernt, daß Chefredakteure eines mit Gott gemeinsam hatten, und er vermutete, daß Johnny Leandro das selbst bald herausfinden würde. Reporter konnten denken, aber es waren Chefredakteure wie Peter Reynault, die letzten Endes lenkten.
»Aber...«
»Du hast nichts, dem du nachgehen könntest«, sagte Bright.
Hätte der innere Kreis von Haven - diejenigen, die Bobbis Schuppen einen Besuch abgestattet hatten - das gehört, was Leandro als nächstes sagte, dann wäre seine Lebenserwartung wahrscheinlich auf Tage gesunken . .. vielleicht sogar auf ein paar Stunden.
»Ich habe Haven, dem ich nachgehen könnte«, sagte er und stürzte den Rest des Heineken Dunkel in drei langen Zügen hinunter. »Dort fängt alles an. Das Kind verschwindet in Haven, die Frau stirbt in Haven, Rhodes und Gabbons befinden sich auf der Rückfahrt von Haven. Dugan begeht Selbstmord. Warum? Weil er diese McCausland liebte, sagt er. Diese McCausland aus Haven.«
»Vergiß nicht den reizenden alten Opa«, sagte Bright. »Er läuft herum und behauptet, das Verschwinden seines Enkels sei eine Verschwörung gewesen. Ich habe fast erwartet, daß er anfängt, von Fu Manchu und der Versklavung der weißen Rasse zu flüstern.«
»Also, was ist es?« fragte Leandro dramatisch. »Was ist in Haven los?«
»Es ist der teuflische Doktor«, sagte Bright. Sein Bier kam. Er wollte es nicht mehr. Er wollte nur noch fort von hier. Es war ein Fehler gewesen, den reizenden alten Großvater zu erwähnen. Er fühlte sich ein wenig unbehaglich, wenn er an den reizenden alten Großvater dachte. Großvater hatte offensichtlich nicht mehr alle Tassen im Schrank gehabt, aber in seinen Augen war etwas gewesen...
»Was?«
»Dr. Fu Manchu. Wenn du Nayland Smith irgendwo herumhängen siehst, dann hast du, glaube ich, die Story des Jahrhunderts.« Bright beugte sich vor und flüsterte heiser: »Versklavung der weißen Rasse. Vergiß nicht, von wem du das zuerst gehört hast, wenn du einen Anruf von der New York Times bekommst.«
»Ich finde das nicht besonders komisch, David.«
Eine vierundachtzigjährige Niete, dachte Bright wieder. Das muß man sich mal vorstellen.
»Oh, ich habe noch etwas«, sagte Bright. »Kleine grüne Männchen. Die Invasion der Erde hat bereits begonnen, aber niemand weiß es. Und -TA-DA! Keiner wollte dem heldenhaften_ jungen Star-Reporter glauben! Robert Redford als John Leandro in dem nervenzerreißenden Spannungsknüller...«
Der Barkeeper kam herüber und sagte: »Könnten Sie vielleicht ein bißchen leiser sein?«
Leandro stand mit verkniffenem Gesicht auf. Er legte drei Dollarscheine auf die Bar. »Dein Sinn für Humor ist kindisch, David.«
»Oder wie wäre es damit«, sagte Bright verträumt. »Fu Manchu und kleine grüne Männchen aus dem Weltall. Eine Allianz, die in der Hölle geboren wurde. Und niemand weiß es, außer dir, Johnny.«
»Nun, es ist mir einerlei, ob Reynault mich die Sache verfolgen läßt oder nicht«, sagte Leandro, und Bright merkte, daß er Johnny vielleicht etwas zu sehr hochgenommen hatte; die Niete war wütend. »Mein Urlaub fängt nächsten Freitag an. Vielleicht fahre ich nach Haven und verfolge die Sache auf eigene Faust.«
»Klar«, sagte Bright aufgeregt. Er wußte, er sollte aufhören - Leandro würde wahrscheinlich gleich versuchen, ihm eine ins Gesicht zu schlagen-, aber der Bursche bot ihm immer wieder Deckungslücken »Klar, der wäre genau der Richtige! Redford würde die Rolle natürlich nur übernehmen, wenn er es im Alleingang tun könnte! Der einsame Wolf! Mann! Vergiß nur nicht, deine spezielle Uhr zu tragen, wenn du dorthin fährst.«
»Was für eine Uhr?« fragte Leandro mit immer noch wütendem
Gesicht. Oh, er hatte eine Stinkwut, und trotzdem hielt er immer wieder das Kinn hin.
»Das weißt du doch, die Uhr, die Ultraschallsignale aussendet, die nur Superman hören kann, wenn man an der Krone zieht«, sagte Bright und führte es mit seiner eigenen Uhr vor (wobei er sich eine ziemliche Menge Bier auf die Hose goß). »Sie macht siiiiiii...«
»Es ist mir gleich, was Peter Reynault denkt, und es ist mir gleich, wie viele dumme Witze du machst«, sagte Leandro. »Ihr werdet vielleicht beide eine ziemlich große Überraschung erleben.«
Er ging weg, dann drehte er sich noch einmal um.
»Und für das Protokoll, ich halte dich für einen zynischen Scheißkerl ohne eine Spur von Phantasie.«
Nachdem er dieses vernichtende Urteil gesprochen hatte, machte Johnny Leandro auf dem Absatz kehrt und stolzierte hinaus.
Bright hob sein Glas und prostete dem Barkeeper zu. »Trinken wir auf die zynischen Scheißkerle dieser Welt«, sagte er. »Wir haben keine Spur von Phantasie, aber dafür sind wir auch keine Nieten.«
»Wie Sie meinen«, sagte der Barkeeper. Er glaubte, alles schon einmal gesehen zu haben... aber schließlich war er noch nie Barkeeper in Haven gewesen.
6
Dienstag, 2. August:
Es waren sechs Personen, die sich an diesem Spätnachmittag in Newt Berringers Büro trafen. Es ging auf fünf Uhr zu, aber die Turmuhr - in einem Turm, der echt aussah, aber durch den ein Vogel mühelos hätte hindurchfliegen können, wenn es in Haven Village noch Vögel gegeben hätte - zeigte immer noch fünf nach drei. Alle sechs hatten einige Zeit in Bobbis Schuppen verbracht; Adley McKeen war als letzter zu ihrer Runde gestoßen. Die anderen waren Newt, Dick Allison, Kyle, Hazel und Frank Spruce.
Sie unterhielten sich über die paar Dinge, über die sie sich unterhalten mußten, ohne den Mund aufzumachen.
Frank Spruce fragte, wie es Bobbi ging.
Noch am Leben, antwortete Newt; mehr wußte niemand. Sie kam vielleicht wieder aus dem Schuppen heraus. Aber wahrscheinlicher war, daß sie nicht wieder herauskam. Wie auch immer, wenn es soweit war, würden sie es wissen.
Die Unterhaltung wandte sich kurz dem zu, was Hank Bück am Vortag getan hatte und was aus dieser anderen Welt herübergedrungen war. Niemand scherte sich besonders um das Los des dahingegangenen und alles andere als beliebten Pits Barfield. Vielleicht war die Strafe dem
Verbrechen angemessen gewesen, vielleicht war sie ein wenig übertrieben gewesen. Einerlei. Es war vorbei. Hank war für das, was er getan hatte, nichts geschehen; er hatte Randy Kroger einen Scheck für das Schaufenster und die Waren gegeben, die durch das Loch gesaugt worden waren, das Hank in die Wirklichkeit gebohrt hatte. Kroger rief Northern National in Bangor an, ob der Scheck gedeckt war. Er erfuhr, daß er gut war, und mehr wollte er nicht wissen.
Sie hätten Hank wenig tun können, selbst wenn ihnen der Sinn danach gestanden hätte; die einzige Gefängniszelle der Stadt befand sich im Keller des Rathauses, eine umgebaute Gerümpelkammer, wo Ruth ab und zu an Wochenenden Betrunkene eingebuchtet hatte; die Zelle hätte Hank Bück vielleicht zehn Minuten standgehalten. Ein kräftiger Vierzehnjähriger hätte daraus ausbrechen können. Und sie konnten Hank schlecht ins Gefängnis des County schicken. Die Anklage hätte sich ziemlich merkwürdig angehört. Die Alternativen, die ihnen zur Verfügung standen, waren einfach - entweder sie ließen ihn in Ruhe, oder sie schickten ihn nach Altair-4- Glücklicherweise konnten sie genau in Hanks Verstand sehen und seine Motivation erkennen. Sie sahen, daß seine Wut und seine Verwirrung abklangen, wie überall in der Stadt. Es war unwahrscheinlich, daß er noch etwas Radikales tun würde, daher nahmen sie ihm seinen umgebauten Recorder weg, verlangten von ihm, daß er keinen neuen mehr baute, und wandten sich dann dem zu, was ihnen mehr zu schaffen machte... der Stimme, die er angeblich gehört hatte.
Eindeutig, sie gehörte David Brown, sagte Frank Spruce jetzt. Irgendwelche Zweifel?
Keiner hatte welche.
David Brown war auf Altair-4.
Niemand wußte genau, wo Altair-4 war oder was es war, und es interessierte sie auch nicht besonders. Das Wort selbst stammte aus einem alten Film und bedeutete nicht mehr als Tommyknockers, und das stammte aus einem alten Kinderreim. Wichtig (aber auch nicht sonderlich) war hingegen, daß Altair-4 eine Art kosmischer Speicher war, ein Ort, wo alle möglichen Dinge gelagert waren. Hank hatte Pits dorthin geschickt, aber vorher hatte er den stinkenden alten Hurensohn offensichtlich einer halbgaren Art von Desintegrationsprozeß unterzogen.
Das warbei David Brown offenbar nicht der Fall gewesen.
Langes, nachdenkliches Schweigen.
(ja wahrscheinlich _ ja)
Dieses letzte war nicht einer Einzelperson zuzuweisen; es war ein Gruppengedanke, wie von einem in sich geschlossenen Schwärm.
(aber warum sich deshalb Gedanken machen)
Sie sahen einander ohne jede Gefühlsregung an. Sie hatten noch Gefühlsregungen, aber nicht wegen einer solchen Nebensächlichkeit.
Holt ihn zurück, sagte Hazel gleichgültig. Das wird Bryant und Marie zufriedenstellen. Und Ruth. Sie hätte es gewollt. Und wir haben sie alle geliebt, das wißt ihr. Ihr Denken hatte den Tonfall einer Frau, die vorschlägt, daß ein Freund ihrem Sohn als Belohnung dafür, daß er artig war, eine Limonade kauft.
Nein, sagte Adley, und alle Blicke richteten sich auf ihn. Er mischte sich zum ersten Mal in ihre Unterhaltung ein. Er machte einen verlegenen Eindruck, fuhr aber dennoch beharrlich fort. Jede Zeitung und jeder Fernsehsender des Landes würden sofort hier erscheinen, um die Story über das »Wunder seines Wiederauftauchens« zu bekommen. Er wird allgemein für tot gehalten, ein Vierjähriger, der seit zwei Wochen verschwunden ist. Wenn er jetzt wieder auftaucht, würde das entschieden zu viel Staub aufwirbeln.
Jetzt nickten sie.
Und was würde er sagen? warf Newt ein. Wenn sie ihn fragten, wo er gewesen war, was würde er sagen ?
Wir könnten seine Erinnerungen auslöschen, sagte Hazel. Das wäre überhaupt kein Problem, und die Presseleute würden Amnesie als völlig natürlich ansehen. Unter den Umständen.
(ja aber das ist nicht das Problem)
Wieder waren es viele Stimmen, die wie eine sprachen. Sie wirkten mit einer seltsamen Mischung aus Worten und Bildern zusammen. Das Problem war, die Dinge waren inzwischen soweit gediehen, daß niemand mehr in die Stadt kommen durfte außer Leuten, die ganz schnell hindurchfuhren ... und die meisten von ihnen sollte man mit falschen Baustellenschildern und Umleitungen fernhalten. Auf gar keinen Fall aber wollte man in Haven eine Horde von Reportern und Kameramännern haben. Der Rathausturm würde auf den Filmen nicht zu sehen sein; es war ein Gedankendia, im Grunde nicht mehr als eine Halluzination. Nein, alles in allem war es besser, David Brown dort zu lassen, wo er war. Eine Weile würde es ihm noch gutgehen. Sie wußten wenig über Altair-4, aber sie wußten, daß die Zeit dort mit einer anderen Geschwindigkeit ablief - auf Altair-4 war weniger als ein Jahr vergangen, seit die Erde aus der Sonne herausgeschleudert worden war. David Brown war also im Grunde genommen erst eben dort eingetroffen. Natürlich konnte er sterben; seltsame Mikroben konnten in seinen Organismus eindringen, eine seltsame Speicherratte von Altair-4 konnte ihn fressen, oder er konnte ganz einfach an den Folgen des Schocks sterben. Wahrscheinlich würde er aber am Leben bleiben, und selbst wenn er starb, wäre es nicht besonders wichtig.
Ich habe das Gefühl, der Junge könnte uns noch gut zupaß kommen, sagte Kyle.
(wie)
Als Ablenkung.
(was meinst du damit)
Kyle wußte nicht genau, was-er damit meinte. Es war nur ein Gefühl: wenn Haven wieder ins Rampenlicht gerückt wurde - so wie Ruth es mit der Explosion ihrer verdammten Puppen versucht hatte, die soviel besser funktioniert hatten als sie sollten-, dann konnten sie David Brown vielleicht zurückholen und irgendwo absetzen. Wenn das aufdie richtige Weise geschah, gewannen sie hier vielleicht wieder ein wenig Zeit. Zeit war immer ein Problem. Zeit zum »Werden«.
Kyle verlieh diesen Vorstellungen nicht in zusammenhängender Weise Ausdruck, aber die anderen nickten beifällig. Es konnte nicht schaden, David Brown sozusagen noch eine Weile hinter der Bühne warten zu lassen.
(laßt es Marie nicht wissen - ihr »Werden« ist noch nicht weit genug fortgeschritten - ihr müßt es noch vor Marie geheimhalten)
Alle sechs sahen sich an und rissen die Augen auf. Diese schwache, aber deutliche Stimme gehörte keinem von ihnen. Sie kam von Bobbi Anderson.
Bobbi! rief Hazel und fuhr halb von ihrem Stuhl hoch. Bobbi, wie geht es dir?
Keine Antwort.
Bobbi war fort - es blieb nicht einmal ein Hauch von ihr in der Luft zurück. Sie sahen einander argwöhnisch an, untersuchten den Eindruck, den dieser Gedanke auf die anderen gemacht hatte, und bestätigten, daß es tatsächlich Bobbi gewesen war. Alle wußten, wären sie allein gewesen, ohne jemanden, der es bestätigen konnte, dann hätten sie es für eine unglaublich starke Halluzination gehalten.
Wie wollen wir es vor Marie geheimhalten? fragte Dick Allison beinahe wütend. Wir können nichts voreinander geheimhalten!
Doch, antwortete Newt. Können wir. Noch nicht gut genug, aber wir können unsere Gedanken immerhin dämpfen. So daß sie schwer zu sehen sind. Weil...
(weil wir)
(dort draußen waren)
(im Schuppen waren)
(Bobbis Schuppen)
(wir haben die Kopfhörer in Bobbis Schuppen aufgehabt)
(und aßen aßen um zu »werden«)
Ein Seufzen lief sanft durch sie alle.
Wir müssen zurück, sagte Adley McKeen. Nicht wahr?
»Ja«, sagte Kyle. »Müssen wir.« Es war während der ganzen Versammlung das einzige Mal, daß jemand laut sprach, und es war gleichzeitig ihr Ende.
Mittwoch, 3. August:
Andy Bozeman, der bis vor drei Wochen, als er sein Büro einfach zugemacht hatte, Havens einziger Grundstücksmakler gewesen war, hatte herausgefunden, daß das Gedankenlesen etwas war, an das man sich rasch gewöhnen konnte. Er wußte nicht, wie rasch, und auch nicht, wie abhängig er davon geworden war, bis er an der Reihe war, zu Bobbis Anwesen zu fahren, um mitzuhelfen und den Trunkenbold zu beaufsichtigen.
Ein Teil seines Problems - und nach Gesprächen mit Enders und dem jungen Tremain wußte er, daß es ein Problem sein würde - war, daß er sich so nahe am Schiff befand. Es war, als stünde man neben dem größten Generator der Welt; unablässig liefen einem Strudel und Ströme seiner unheimlichen Kraft wie wirbelnde Sandhosen in der Wüste über die Haut. Manchmal drifteten großartige Ideen in seinen Verstand und machten es ihm unmöglich, sich auf das zu konzentrieren, was er gerade tat. Manchmal geschah genau das Gegenteil: sein Denken brach völlig ab, wie eine Mikrowellenübertragung, die durch einen Ausbruch ultravioletter Strahlen unterbrochen wurde. Größtenteils aber war es einfach die physikalische Tatsache des Schiffes, das vor ihm aufragte wie etwas aus einem Traum. Es war erhebend, ehrfurchtgebietend, furchteinflößend, wunderbar. Bozeman glaubte nun zu verstehen, wie den Israeliten zumute gewesen sein mußte, als sie die Bundeslade durch die Wüste trugen. In einer seiner Predigten hatte Reverend Goohringer gesagt, daß ein Mann den Kopf hineingesteckt hatte, um herauszufinden, warum so viel Aufhebens um sie gemacht wurde, und er war auf der Stelle tot umgefallen.
Denn Gott war darinnen gewesen.
Auch in dem Schiff konnte sich eine Art Gott befinden, dachte Andy. Und selbst wenn dieser Gott geflohen war, hatte er seine Spuren hinterlassen ... und wenn man darüber nachdachte, fiel es einem schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, die man gerade tat.
Dann war da Gardeners beunruhigende Leere. Man rannte ständig dagegen - wie gegen eine geschlossene Tür, die eigentlich offen sein sollte. Man schrie ihn an, einem etwas zu geben, was man brauchte, und er fuhr einfach mit seiner Arbeit fort.
Überhaupt keine Reaktion. Oder man wollte sich auf ihn einstimmen
- sich einfach in den Strom seiner Gedanken einklinken, als griffe man in einer Gemeinschaftsleitung zum Telefon, um zu hören, wer sprach. Überhaupt niemand. Die Leitung war tot.
Die Wechselsprechanlage, die an der Innenseite des Unterstandes angenagelt worden war, summte. Das Kabel verlief über den lehmigen, rissigen Boden in die Kluft, aus der das Schiff herausragte.
Bozeman kippte den Schalter auf »Sprechen«. »Ich bin hier.«
»Die Ladung ist angebracht«, sagte Gardener. »Ziehen Sie mich hoch.« Er hörte sich sehr, sehr müde an. Er mußte sich gestern nacht gewaltig einen reingesoffen haben, dachte Bozeman, nach den Kotzgeräuschen zu urteilen, die er gegen Mitternacht auf der hinteren Veranda gehört hatte. Und als er heute morgen in Gardeners Zimmer schaute, hatte er Blut auf dem Kissen gesehen.
»Sofort.« Der Zwischenfall mit Enders hatte sie alle gelehrt, daß man keine Zeit verlieren durfte, wenn Gardener hochgezogen werden wollte.
Er ging zur Winde und begann zu kurbeln. Es war lästig, dies von Hand machen zu müssen, aber es herrschte wieder einmal ein vorübergehender Mangel an Batterien. Noch eine Woche, dann würde alles hier laufen wie ein Uhrwerk... aber Bozeman bezweifelte, ob er dann noch dabeisein würde. Es war anstrengend, hier so nahe am Schiff zu sein. Auf eine andere Weise war es auch anstrengend, so nahe bei Gardener zu sein - es war, als befände man sich in der Nähe eines geladenen Gewehrs mit einem Abzug, den man nur anzutippen brauchte. Zum Beispiel die Art, wie er John Enders einen verpaßt hatte - Enders hatte es nur deshalb nicht kommen sehen, weil Gardener so zermürbend leer war. Hin und wieder stieg eine Gedankenblase - bruchstückhaft oder vollständig - zur Oberfläche seines Verstandes, die so lesbar war wie die Schlagzeile einer Zeitung, aber das war alles. Vielleicht hatte Enders es provoziert -Bozeman wußte, daß er auch nicht besonders scharf darauf gewesen wäre, mit einem dieser explosiven Radios auf dem Grund einer Grube festzusitzen. Aber darum ging es nicht. Das entscheidende war, daß Johnny es nicht hatte vorhersehen können. Gardener konnte jederzeit alles tun, und niemand konnte ihn aufhalten, weil niemand etwas vorhersehen konnte.
Andy Bozeman wünschte sich fast, daß Bobbi stürbe, damit sie sich den Kerl vom Hals schaffen konnten. Sicher, es würde schwieriger sein, wenn nur Leute aus Haven an dem Projekt arbeiteten, es würde langsamer vorangehen, aber das war es wert.
Die Art und Weise, wie er einem so hinterfotzig daherkommen konnte, war schon verdammt nervtötend.
Zum Beispiel heute morgen. Kaffeepause. Bozeman saß auf einem Baumstumpf, aß ein paar dieser kleinen Sandwiches mit Erdnußbutter und trank Eiskaffee aus seiner Thermoskanne. Er hatte heißen Kaffee immer kaltem vorgezogen, selbst bei warmem Wetter, aber seit er alle Zähne verloren hatte, machten ihm die wirklich heißen Getränke zu schaffen.
Gardener saß mit untergeschlagenen Beinen wie einer dieser YogaMeister auf einem schmutzigen Stück Segeltuch, aß einen Apfel und trank ein Bier Bozeman war unbegreiflich, wie jemand gleichzeitig einen Apfel essen und ein Bier trinken konnte, besonders am Morgen, aber Gardener tat es. Von hier konnte Bozeman die Narbe oberhalb von Gardeners linker Braue sehen. Unter dieser Narbe befand sich die Stahlplatte. Sie...
Gardener hatte den Kopf gedreht und Bozeman dabei ertappt, wie er ihn ansah. Bozeman errötete und fragte sich, ob Gardener anfangen würde, zu brüllen und zu randalieren. Ob er vielleicht herüberkommen und versuchen würde, ihm ebenso einen Schlag zu versetzen wie Johnny Enders. Wenn er das versucht, dachte Bozeman und ballte die Fäuste, dann wird er feststellen, daß ich nicht so ein Schwächling bin.
Statt dessen hatte Gardener angefangen, mit klarer, deutlicher Stimme zu sprechen - und dabei umspielte ein leises, zynisches Lächeln seine Lippen. Nach einem Augenblick wurde Bozeman klar, daß er nicht nur sprach, sondern rezitierte. Der Mann saß hier, mit untergeschlagenen Beinen mitten im Wald auf einem Stück Segeltuch, hatte ein vom Kater völlig benebeltes Gehirn, und das glitzernde Schiff in der Erde ließ Wellen von Reflexionen über seine Wangen wandern, und er rezitierte wie ein Schuljunge - der Mann war völlig unberechenbar, wie Bozeman jedermann berichtete. Er hätte Gardener nur zu gern tot gesehen.
»>Tom gab ihm den Pinsel mit Widerwillen im Gesicht, aber Jubel im Herzen<«, sagte Gardener, der die Augen halb geschlossen und das Gesicht der wärmenden Morgensonne zugewandt hatte. Das Lächeln verschwand nicht von seinen Lippen. »>Und während der ehemalige Dampfer Big Missouri in der Sonne arbeitete und schwitzte, saß der in den Ruhestand versetzte Künstler auf einem Faß im Schatten dicht daneben, ließ die Füße baumeln, verzehrte schmatzend den Apfel und überlegte, wie er weitere Unschuldige hereinlegen konnte.<«
»Was...« begann Andy, aber Gardener, um dessen Lippen jetzt ein echtes, wenn auch immer noch zynisches Lächeln spielte, unterbrach ihn.
»>An denen herrschte kein Mangel; hin und wieder kamen Jungen vorbei; sie kamen, um zu spotten, aber sie blieben, um zu streichen. Als Ben erschöpft war, hatte Tom die nächste Erlaubnis für einen gut erhaltenen Drachen an Billy Fisher verkauft; und als er aufgab, kaufte sich Johnny Miller für eine tote Ratte ein und eine Schnur, an der man sie schwingen konnte.. .<«
Gardener trank den Rest seines Biers, rülpste und streckte sich.
»Sie haben mir keine tote Ratte und eine Schnur gebracht, an der ich sie schwingen kann, aber ich habe eine Wechselsprechanlage, Bozie, und das ist doch immerhin ein Anfang, nicht?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, sagte Bozeman langsam. Er hatte nur zwei Jahre das College besucht, Handelsrecht, bevor er es verlassen und Geld verdienen mußte. Sein Vater hatte einen Herzfehler und chronischen Bluthochdruck gehabt. Hochgestochene Burschen wie der hier machten ihn nervös und wütend. Sie spielten sich auf, als würde ihre Fähigkeit, die Worte von jemandem zu zitieren, der schon lange tot war, ihre Scheiße angenehmer riechen lassen als die anderer Menschen.
Gardener sagte: »Schon gut. Das ist aus dem zweiten Kapitel von Tom Sawyer. Als Bobbi in Utica in der siebten Klasse war, da gab es etwas, das Junior Exhibition hieß. Es war ein Rezitierwettbewerb. Sie wollte nicht daran teilnehmen, aber ihre Schwester Anne entschied, daß sie es sollte, daß es gut für sie wäre oder so etwas, und wenn Anne etwas entschied, Bruder, dann war es entschieden. Damals hatte Anne Haare auf den Zähnen, Bruder, und die hat sie heute noch. Wenigstens vermute ich es. Ich habe sie lange nicht mehr gesehen, und das kann mir nur recht sein. Aber es ist anzunehmen, daß sie immer noch dieselbe ist. Menschen wie sie ändern sich nur sehr selten.«
»Nennen Sie mich nicht Bozie«, sagte Andy und hoffte, daß er sich gefährlicher anhörte, als er sich fühlte. »Das mag ich nicht.«
»Als ich Bobbi in dem ersten Kurs hatte, da schrieb sie einmal darüber, wie sie steckengeblieben war, als sie versuchte, Tom Sawyer zu rezitieren. Sie wußte einfach nicht mehr weiter.« Gardener stand auf und kam auf Andy zu, eine Entwicklung, die der ehemalige Makler höchst beunruhigt verfolgte. »Am nächsten Tag nach dem Unterricht fragte ich sie, ob sie sich noch an den Abschnitt über das Zaunstreichen erinnern konnte. Sie konnte es. Das überraschte mich nicht. Es gibt Dinge, die vergißt man nie wieder, wenn einen die Schwester oder die Mutter zu einer Horror-Show wie der Junior Exhibition zwingt. Wenn man da oben vor all den Leuten steht und den Text vergessen hat, den man rezitieren sollte. Aber ansonsten könnte man ihn noch auf dem Sterbebett aufsagen.«
»Hören Sie«, sagte Andy. »Wir sollten uns wieder an die Arbeit machen...«
»Ich ließ sie etwa vier Sätze aufsagen, dann fiel ich ein. Ihr Kiefer klappte fast bis auf die Knie herunter. Dann fing sie an zu lächeln, und wir sagten es gemeinsam auf, Wort für Wort. So seltsam war das gar nicht. Wir waren beide schüchterne Kinder gewesen, Bobbi und ich. Ihre Schwester war der Drachen vor ihrer Höhle gewesen, meine Mutter der Drachen vor meiner. Menschen wie sie haben häufig die abwegige Vorstellung, die beste Methode, ein Kind von seiner Schüchternheit zu heilen, sei die, es in die Art von Situation zu bringen, vor der es sich am meisten fürchtet - so etwas wie Junior Exhibition. Es war nicht einmal ein so großer Zufall, daß wir beide den Abschnitt über das Zaunstreichen auswendig lernen mußten. Die einzige Geschichte, die noch öfter auswendig gelernt wird, ist >Das verräterische Herz<.«
Gardener atmete ein und schrie:
»Schurken! Verstellt euch nicht länger! Reißt die Dielen auf an dieser Stelle! Hier pocht es, sein verfluchtes Herz!«
Andy hatte einen kurzen Schrei ausgestoßen. Er ließ die Thermoskanne fallen, eine halbe Tasse Eiskaffee durchnäßte den Schritt seiner Hose.
»Aber, aber, Bozie«, sagte Gardener im Plauderton. »Aus Polyester geht das nie wieder heraus.«
Er ging um Andy herum und in den Unterstand, aus dem er mit einem umgebauten Frogger-Spiel wieder herauskam.
»Der Unterschied zwischen uns beiden war nur, daß ich nicht steckengeblieben bin«, sagte Gardener. »Ich habe sogar den zweiten Preis gewonnen. Aber meine Angst, vor Menschenmengen zu sprechen, hat es nicht beseitigt... es hat sie nur noch schlimmer gemacht. Wann immer ich vor eine Gruppe trete, um Gedichte zu lesen, schaue ich in diese gierigen Augen... und dann denke ich an >Das Zaunstreichen<. Und ich denke an Bobbi. Manchmal reicht mir das, um darüber hinwegzukommen. Wie dem auch sei, das hat uns zu Freunden gemacht.«
»Mir ist nicht klar, was das alles mit unserer Arbeit hier zu tun hat!« schrie Andy so schrill, wie es sonst gar nicht seine Art war. Sein Herz schlug zu schnell. Als Gardener geschrien hatte, hatte er einen Augenblick lang tatsächlich geglaubt, der Mann wäre verrückt geworden.
»Ihnen ist nicht klar, was dies mit dem Zaunstreichen zu tun hat?« fragte Gardener und'lachte. »Dann müssen Sie blind sein, Bozie.«
Er deutete zu dem Schiff, das sich in seinem perfekten Fünfundvier-zig-Grad-Winkel aus der breiten Grube erhob.
»Wir graben es aus, anstatt es zu streichen, aber das ändert überhaupt nichts am Prinzip. Ich habe Bobby Tremain und John Enders verschlis -sen, und wenn Sie morgen wiederkommen, dann fresse ich Ihre Hush-Puppies. Aber, ich scheine nie etwas dafür zu bekommen. Sagen Sie demjenigen, der morgen hierher kommt, daß ich eine tote Ratte haben möchte und eine Schnur, an der ich sie schwingen kann, Bozie... oder mindestens eine große Murmel.« Auf halbem Weg zur Grube war Gardener stehengeblieben. Er drehte sich zu Andy um. Die Unfähigkeit, den großen Mann mit den hängenden Schultern und dem verschwommenen, seltsam gebrochenen Gesicht zu lesen, hatte Bozeman nie unbehaglicher gestimmt als in diesem Augenblick.
»Noch besser wäre es, Bozie«, hatte Gardener mit einer Stimme gesagt, die so leise war, daß Andy sie kaum hören konnte, »wenn Sie morgen Bobbi hierher brächten. Ich möchte wissen, ob die neue verbesserte Bobbi immer noch das Zaunstreichen aus Tom Sawyer rezitieren kann.«
Dann war er ohne ein weiteres Wort zur Schlinge gegangen und hatte darauf gewartet, daß Andy ihn hinunterließ.
Wenn das nicht hinterfotzig gewesen war, dann wußte Andy nicht, was es sonst sein konnte. Und, dachte er weiter, während er die Winde drehte, das war Gardeners erstes Bier des Tages gewesen. Er wird bis
zum Mittagessen noch vier oder _ fünf hinunterkippen, und dann wirder erst recht verrückt werden.
Jetzt tauchte Gardener schwankend am Rand der Grube auf, und Andy verspürte den Drang, den Griff der Winde einfach loszulassen. Problem gelöst.
Aber das konnte er nicht - Gardener gehörte Bobbi Anderson, und bis Bobbi entweder starb oder aus dem Schuppen herauskam, mußte alles so weitergehen wie bisher.
»Kommen Sie, Bozie. Manche Brocken fliegen ziemlich weit.« Er ging auf den Schuppen zu. Andy beeilte sich, ihm zu folgen.
»Ich habe Ihnen gesagt, ich mag es nicht, wenn Sie mich Bozie nennen«, sagte er.
Gardener maß ihn mit einem seltsam leeren Blick. »Ich weiß«, sagte '
er.
Sie gingen hinter den Schuppen. Etwa drei Minuten später erklang wieder dieses laute, berstende Dröhnen aus der Grube. Felsbrocken flogen in die Luft und fielen mit dumpfen Klangs und Klongs auf die Hülle des Schiffes.
»Also, gehen...« begann Bozeman.
Gardener hielt ihn am Arm fest. Er hatte den Kopf geneigt, sein Gesicht war aufmerksam, die Augen dunkel und lebhaft. »Psssst!«
Andy wand den Arm frei. »Was, zum Teufel, ist denn nun wieder los?«
»Hören Sie es denn nicht?«
»Ich höre nichts...«
Dann hörte er es. Ein Zischlaut, wie von einem riesigen Teekessel, kam aus der Grube. Er wurde lauter. Wahnsinnige Aufregung packte Andy. Und mehr als nur ein wenig Entsetzen.
»Sie sind es!« flüsterte er und drehte sich zu Gard um. Seine Augen hatten die Größe von Türknöpfen. Seine Lippen, auf denen Speichel glänzte, zitterten. »Sie sind nicht tot, wir haben sie aufgeweckt... sie kommen heraus!«
»Jesus kommt, und er ist sauer«, sagte Gardener unbeeindruckt.
Das Zischen wurde lauter. Dann hörte man ein zweites knirschendes Geräusch - das war keine Explosion, es war das Geräusch von etwas Schwerem, das zusammenbricht. Einen Augenblick später brach noch etwas anderes zusammen: Andy. Er hatte keine Kraft mehr in den Beinen und sank auf die Knie.
»Sie sind es, sie sind es, sie sind es!« schluchzte er.
Gardener hakte eine Hand unter die Achsel des Mannes, zuckte wegen der heißen, dschungelhaften Feuchtigkeit dort ein wenig zusammen und zog ihn auf die Beine.
»Das sind nicht die Tommyknockers«, sagte er. »Das ist Wasser.«
»Was?« Bozeman sah ihn mit benommener Verständnislosigkeit an.
»Wasser!« schrie Gardener und schüttelte Bozeman kurz und heftig, »Wir haben gerade unseren Swimmingpool eingeweiht, Bozie!«
»Wa...«
Plötzlich verwandelte sich das Zischen in ein sanftes, unablässiges Brausen. Wasser spritzte wie ein sich ausbreitendes Laken aus der Grube himmelwärts. Es war keine Wassersäule, es war, als hätte ein Riesenkind einfach den Finger auf einen riesigen Wasserhahn gedrückt, um zu sehen, wie das Wasser überall hinspritzte. Auf genau diese Weise wurde Wasser auf dem Grund der Grube durch ein paar Spalten gedrückt.
»Wasser?« fragte Andy verwirrt. Er konnte keine Ordnung in seine Gedanken bringen.
Gardener antwortete nicht. Regenbogen tanzten in dem Wasser; es rann an der Hülle des Schiffes hinab und ließ winzige Perlen zurück... und er sah, wie diese Tropfen zu tanzen begannen, so wie Wasser, das man in eine Pfanne mit heißem Fett spritzt, zischt und tanzt. Aber dies geschah nicht aufs Geratewohl. Die Tropfen reihten sich gehorsam an den Kraftlinien auf, die auf der Schiffshülle verliefen wie die Längengrade auf einem Globus.
Ich kann sie sehen, dachte Gardener. In diesen Tropfen kann ich die Energie sehen, die von der Hülle abgestrahlt wird. Mein Gott...
Ein weiteres Knirschen. Gardener glaubte zu spüren, wie der Boden unter seinen Füßen etwas absackte. Auf dem Grund der Grube vollendete der Wasserdruck das, was die Sprengung begonnen hatte - er erweiterte Risse und Löcher und preßte den morschen Fels auseinander. Mehr Wasser kam heraus, und mit weniger Druck. Die Gischtlaken sanken zurück. Ein letzter diffuser Regenbogen waberte in der Luft und verschwand.
Gardener sah, wie sich das Schiff bewegte, als der Fels, der es so lange festgehalten hatte, es freigab. Es bewegte sich so wenig, daß es Einbildung hätte sein können, aber das war es nicht. In diesem kurzen Augenblick konnte er sich vorstellen, wie es aussehen würde, wenn es freikam-er konnte sich vorstellen, wie sein Schatten langsam über die Erde wanderte, während es aufwärts schwebte, konnte das unirdische Heulen hören, mit dem die Hülle über das Muttergestein schleifte, konnte spüren, wie jeder in Haven in diese Richtung sah, während es heiß und glitzernd in den Himmel emporstieg, eine monströse Silbermünze, die zum ersten Mal seit Jahrtausenden wieder in die Horizontale schwebte, die lautlos am Himmel dahinglitt, im freien Flug...
Das wünschte er sich. Großer Gott! Mochte es gut oder schlecht sein -das wünschte er sich so sehr.
Gardener schüttelte heftig den Kopf, wie um wieder klar denken zu können.
»Kommen Sie«, sagte er. »Sehen wir es uns an.«
Ohne zu warten, ging Gardener zum Rand der Grube und sah hinein.
Er konnte Wasser strömen hören, aber es war kaum zu sehen. Er befestigte einen der großen Scheinwerfer, die sie benutzten, wenn sie nachts arbeiteten, an der Schlinge und ließ sie etwa drei Meter hinab. Das genügte; wenn er ihn weitere drei Meter hinuntergelassen hätte, wäre er unter Wasser gewesen. Es war tatsächlich ein See, in den sie eingebrochen waren. Die Grube füllte sich rasch.
Nach einem Augenblick trat Andy neben ihn. Sein Gesicht war verzerrt. »Die ganze Arbeit!« heulte er.
»Haben Sie Ihr Surfbrett mitgebracht, Bozie? Werden wir den Freischwimmer am Donnerstag oder Fr...«
»Seien Sie still!« schrie Andy Bozeman ihn an. »Seien Sie still, ich hasse Sie!«
Wilde Hysterie spülte über Gardener hinweg. Er stolperte zu einem Stumpf und setzte sich, und er fragte sich, ob das Ding all die Jahrhunderte hindurch wasserdicht geblieben war, fragte sich, wie hoch der faire Marktpreis für eine fliegende Untertasse mit Wasserschaden sein mochte. Er fing an zu lachen. Auch als Andy Bozeman herüberkam, ihm ins Gesicht schlug und ihn vom Stumpf stieß, konnte Jim Gardener nicht aufhören zu lachen.
8
Donnerstag 4. August:
Als es Viertel vor neun war und sich immer noch niemand hatte sehen lassen, fragte sich Gardener, ob sie vielleicht aufgaben. Er spielte mit dieser Idee, während er auf Bobbis Schaukelstuhl auf der Veranda saß und den großen geschwollenen Bluterguß im Gesicht betastete, wo Bozeman ihn erwischt hatte.
Nach Mitternacht waren wieder ein paar von ihnen mit Archinbourgs Cadillac hier gewesen. Fast genau dieselbe Gruppe. Wieder eine Mitternachtsparty im Schuppen. Gardener hatte sich auf einen Ellenbogen gestützt und sie durch das Fenster des Gästezimmers beobachtet, wobei er sich fragte, wer zu diesen Soireen die Chips und die Dipsaucen mitbrachte. Sie waren nur Schatten, die sich um die lange Schnauze des »Coupe de Ville« versammelt hatten. Sie standen einen Augenblick da, dann gingen sie zum Schuppen. Als sie die Tür aufmachten, ergoß sich das bösartige, gleißende Licht in einer Flut heraus, die den ganzen Hof und das Gästezimmer in ekliges grünes Radiumleuchten tauchte. Sie gingen hinein. Das Glühen wurde zu einem dicken senkrechten Streifen, erlosch aber nicht völlig. Sie hatten die Tür angelehnt gelassen. Die Bewohner dieser unbedeutenden kleinen Stadt in Maine waren jetzt die intelligentesten Menschen auf der Welt, aber offenbar war nicht einmal ihnen eingefallen, wie man eine Tür von außen mit einem Vorhängeschloß versperrt, und sie hatten nicht daran gedacht, im Inneren auch eines anzubringen.
Jetzt, während er auf der Veranda saß und Richtung Stadt sah, dachte Gardener: Vielleicht sind sie zu aufgeregt, wenn sie dort hineingehen, um an so profane Dinge wie Vorhängeschlösser zu denken.
Er schirmte die Augen mit einer Hand ab. Ein Lastwagen näherte sich. Ein großer alter Lastwagen, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Über etwas auf der Pritsche war eine Plane gebreitet. Sie flatterte im Wind. Gardener wußte, daß er in die Einfahrt einbiegen würde. Selbstverständlich hatten sie nicht aufgegeben.
Bin letzte Nacht im Gästebett erwacht, zum Tommyknockerschuppen kamen Leute in der Nacht. Hätt' reinschauen können, hob’ mich nicht getraut, weil's mir vor dem im Innern graut.
Irgendwie glaubte er nicht, daß die Preisrichter beim Younger Poets Wettbewerb von Yale viel davon halten würden. Aber, dachte Gardener, so steht es eben um den alten ]im Gardener. Vielleicht wird man es später meine Tommyknocker-Phase nennen. Oder meine SchuppenPeriode. Oder...
Der Lastwagen schaltete herunter und fuhr stöhnend auf Bobbis Hof. Der Motor erstarb winselnd. Der Mann im ärmellosen T-Shirt war der, der Gard am vierten Juli nach Haven mitgenommen hatte. Er erkannte ihn sofort. Kaffee, dachte er. Du hast mir Kaffee mit einer Menge Zucker gegeben. Hat gut geschmeckt.
Er sah aus wie ein Statist aus James Dickeys Roman über die Großstadtjungen und ihre Kanufahrt auf dem Cahoolawassee aus. Aber Gardener glaubte nicht, daß der Mann aus Haven war - hatte er nicht Albion gesagt?
Das Zeug breitet sich aus, dachte er. Warum auch nicht? Ist doch eine Art radioaktiver Niederschlag, oder nicht? Und Albion liegt in Windrichtung.
»Hallo, Sie«, sagte der Fahrer. »Schätze, Sie erinnern sich nicht an mich.« Sein Tonfall fügte hinzu: Mach keinen Scheiß mit mir, Fred.
»Ich denke, doch«, sagte Gard, und der Name erschien wie durch Zauber in seinem Verstand, trotz allem, was inzwischen passiert war -nach einem Monat, so angefüllt mit so vielen seltsamen Ereignissen, daß er ihm eher wie zehn Jahre vorkam. »Freeman Moss. Sie haben mich mitgenommen. Ich kam, um nach Bobbi zu sehen. Aber ich schätze, das wissen Sie.«
»Hmhmmm.«
Moss ging zur Pritsche des Lastwagens, löste Knoten und zupfte an Seilen. »Wollen Sie mir nicht helfen?«
Gardener kam zwei Stufen herunter, dann blieb er stehen und lächelte ein wenig. Zuerst Tremain, dann Eider, dann Bozeman mit seiner irgendwie erbarmenswerten gelben Polyesterhose.
»Klar«, sagte er. »Aber beantworten Sie mir eine Frage.« »Hmmm?« Moss ließ von den Seilen ab. Er schlug die Plane zurück, und Gardener sah, was er erwartet hatte: eine unheimliche Ansammlung von Ausrüstungsgegenständen: Tanks, Schläuche, drei an ein Brett genagelte Autobatterien. Eine neue und verbesserte Pumpe. »Wenn ich kann.«
Gardener grinste humorlos. »Haben Sie mir eine tote Ratte und eine Schnur mitgebracht, an der ich sie schwingen kann?«
9
Freitag, 5. August:
Seit Ende der sechziger Jahre, als der Luftwaffen-Stützpunkt Dow in Bangor dichtgemacht hatte, wurde Haven nicht mehr regulär von Flugzeugen überflogen. Hätte damals jemand das Schiff ausgegraben, hätte es Arger geben können; manchmal waren vier- bis fünfmal täglich Abfangjäger über die Stadt hinweggedonnert und hatten mit ihren Überschallknalls Scheiben klirren und manchmal bersten lassen. Die Piloten sollten über dem Gebiet der Vereinigten Staaten nur auf Überschallgeschwindigkeit gehen, wenn es sich nicht vermeiden ließ, aber die Hitzköpfe, die die F-4S flogen, zumeist junge Leute, auf deren Stirnen und Wangen sich gerade die letzten Spuren von Akne zurückbildeten, wurden manchmal ein wenig übermütig. Verglichen mit den Düsenjägern waren die Mustangs und Chargers, die die großen Jungen noch vor einem Jahr gefahren hatten, ziemlich lahm. Als Dow dichtmachte, gab es immer noch ein paar Flüge der National Guard, aber dann wurde sie auf dem Luftwaffenstützpunkt Loring bei Limestone im Norden stationiert.
Nach einigem Hin und Her wurde aus dem Stützpunkt ein kommerzieller Flughafen, Bangor International Airport genannt. Einige fanden diesen Namen für einen Flughafen mit ein paar lumpigen Northeast-Airlines-Flügen nach Boston täglich und einer Handvoll klappriger Pipers, die nach Augusta und Portland flogen, ziemlich hochtrabend. Aber der Luftverkehr nahm zu, und 1983 war BIA zu einem geschäftigen Flughafen geworden. Er wurde nicht nur von zwei Inlandslinien regelmäßig angeflogen, sondern auch auf zahlreichen internationalen Flügen zum Auftanken benutzt, und so verdiente er sich schließlich seinen hochtrabenden Namen.
Eine Zeitlang überflogen einige Linienmaschinen Haven - das war Anfang der siebziger Jahre. Aber Piloten und Navigatoren meldeten regelmäßig Radarprobleme in dem als Quadrant G-3 bezeichneten Ge -biet, in dem sich fast ganz Haven befand, ganz Albion und die Umgebung des China Lake. Diese wolkige Interferenz, die als »Popcorn« oder »Echo-Dunst« oder, noch prosaischer, als »Geisterdreck« bezeichnet wird, wird auch regelmäßig über dem Bermuda-Dreieck gemeldet. Kompasse drehten durch. Manchmal kam es zu unerklärlichen Fehlfunktionen in der elektronischen Ausrüstung.
1973 kollidierte ein von BIA südwärts nach Boston fliegender DeltaJet beinahe mit einem TWA-Jet, der sich auf dem Weg von London nach Chicago befand. In beiden Flugzeugen wurden Drinks verschüttet, eine Stewardess verbrühte sich mit heißem Kaffee. Niemand, außer den Piloten im Cockpit, wußte, wie knapp es gewesen war. Der Copilot des Delta-Flugzeugs setzte sich eine heiße Sonderzustellung in die Hose, lachte hysterisch bis nach Boston und quittierte zwei Tage später für immer den Dienst.
1974 fiel bei einer Big-Sky-Chartermaschine voll mit glücklichen Spielern aus Bangor und den kanadischen Seeprovinzen auf dem Weg nach Las Vegas über Haven ein Triebwerk aus, und sie mußte nach Bangor zurückkehren. Als das Triebwerk am Boden wieder angelassen wurde, funktionierte es einwandfrei.
1975 kam es wieder zu einem Beinahe-Zusammenstoß. 1979 schließlich war jeglicher kommerzieller Flugverkehr aus der Gegend verlegt worden. Hätte man einen Fluglotsen vom FAA nach seiner Ansicht gefragt, so hätte dieser lediglich die Achseln gezuckt und es als Drachen bezeichnet. Das war ihr dafür üblicher Ausdruck. Hier und da gab es solche Stellen; niemand wußte, warum. Es war einfacher, Flugzeuge umzuleiten und sie zu vergessen.
Ab 1982 wurde auch der private Flugverkehr von den Fluglotsen in Augusta, Waterville und Bangor routinemäßig aus dem Quadranten G-3 herausgeleitet. So kam es, daß kein Pilot das schimmernde Objekt sah, das genau aus der Mitte des Quadranten G-3 auf der FAA-Karte ECUS-2 emporblitzte.
Bis Peter Bailey es am Nachmittag des zweiten August sah.
Bailey war ein Privatpilot mit zweihundert Flugstunden. Er flog eine Cessna Hawk XP, und er wäre der erste gewesen, darauf hinzuweisen, daß sie ihn ein paar Bananenschalen gekostet hatte. Das war Peter Baileys Ausdruck für Geld. Er fand ihn urkomisch. Die Hawk machte zweihundertvierzig Stundenkilometer und verfügte über gute Flugeigenschaften; sie stieg mühelos auf 17000 Fuß. Hervorragende Instrumente machten es fast unmöglich, sich zu verfliegen (die zusätzliche Navigationsantenne hatte auch ein paar Bananenschalen gekostet). Mit anderen Worten, es war ein gutes Flugzeug, das fast von selbst fliegen konnte - aber das brauchte es natürlich nicht, wenn ein guter Pilot wie er am Steuerknüppel saß.
Wenn Peter Bailey einen Dorn im Auge hatte, dann war es die gottverdammte Versicherung. Diese war schlichtweg Wegelagerei, und er hatte seine Golfpartner zu Tränen gelangweilt mit den Forderungen, die die Versicherungsgesellschaft an ihn stellte.
Er hatte Freunde, die flogen, versicherte er ihnen grimmig, sogar eine ganze Menge. Und eine ganze Menge mit weniger Flugstunden aufdem Schein als er schaufelten den Heiden von der Versicherung weniger Bananenschalen zu als er. Ein paar waren Burschen, mit denen er nicht geflogen wäre, wenn sie das letzte Flugzeug auf der Welt besäßen und seine Frau mit einer Gehirnblutung sterbend in einem Krankenhaus in Denver gelegen hätte. Aber der Betrag war nicht die größte Demütigung. Die größte Demütigung war, daß er, Peter Bailey, er, ein geachteter Neurochirurg, der über dreihunderttausend Bananenschalen jährlich machte, Rückversicherungsprämien akzeptieren mußte, wenn er fliegen wollte. Nun, sagte er zu seinen gebannten Zuhörern (die häufig wünschten, sie hätten sich für die kurze Bahn mit neun Löchern entschieden oder, noch besser, wären in der Bar geblieben und hätten ein paar Bloody Marys zu sich genommen), Rückversicherungsprämien war eine Risikoversicherung, wie sie auch Teenager und Trunkenbolde für ihre Autos akzeptieren mußten. Scheiße! Wenn das nicht eine gottverdammte Diskriminierung war, dann wußte er nicht, was eine war. Wenn er nicht so ein vielbeschäftigter Mann wäre, dann würde er den Dreckskerlen einen Prozeß anhängen, und den würde er ganz bestimmt gewinnen.
Die meisten Golfpartner Baileys waren Anwälte, und die meisten wiederum wußten, daß es nicht klappen würde. Risikoversicherungen beruhten auf Statistiken, und Tatsache war, Peter Bailey war nicht nur Neurochirurg, er war Arzt, und von allen Berufsgruppen der Welt schneiden Ärzte als Piloten am allerschlechtesten ab.
Nachdem er einer dieser Tiraden entkommen war, bemerkte einer der Spieler, während Bailey schäumend zum Clubhaus stapfte: »Mit diesem Hurensohn würde ich nicht einmal nach Denver fahren, wenn meine Frau mit einer Gehirnblutung sterbend dort im Krankenhaus läge.«
Peter Bailey gehörte genau zu der Sorte von Piloten, um derentwillen die Statistiken erfunden worden waren. Es gab zweifellos überall in Amerika Ärzte, die mustergültige Piloten waren. Peter Bailey gehörte nicht zu ihnen. Im OP war er schnell und entschlossen, wenn ein Patient vor ihm lag, dem man ein Rechteck aus der Schädeldecke gesägt hatte, um rosa-graue Hirnmasse freizulegen, und mit Skalpell und Lasermesser ging er so feinfühlig um wie ein Tänzer, aber er war ein miserabler Pilot, der ununterbrochen vorgeschriebene Flughöhen verließ, gegen Sicherheitsvorschriften der FAA verstieß und von seinem ihm zugewiesenen Kurs abwich. Er war ein kühner Pilot, aber mit zweihundert Flugstunden konnte man ihn kaum als erfahrenen Piloten bezeichnen. Sein Status als Risikoträger bestätigte lediglich die alte Regel: Ein Pilot konnte das eine oder andere sein, aber niemals beides gleichzeitig.
An diesem Tag flog er allein von Teeterboro bei New York nach Bangor. In Bangor wollte er einen Wagen mieten und zum Derry Home Hospital fahren. Man hatte ihn gebeten, im Fall des jungen Hillman
Brown als Berater zu füngieren. Weil der Fall interessant war und das Honorar stimmte (und weil er über den Golfplatz in Orono nur Gutes gehört hatte), hatte er eingewilligt.
Das Wetter war den ganzen Weg über gut gewesen, die Luft still. Bailey hatte den Flug genossen. Wie üblich war sein Flugbuch gepfuscht, er hatte ein Leitsignal völlig verpaßt und war überzeugt, ein zweites müßte ausgefallen sein (er hatte mit dem Ellenbogen auf die Frequenzwahltaste gedrückt), er war von seiner vorgeschriebenen Flughöhe von
11 ooo Fuß bis hinauf zu 15 ooo und bis hinunter zu 6000 abgewichen und hatte es wieder einmal geschafft, niemanden umzubringen - ein Segen, den zu erkennen er leider zu dumm war.
Er war auch ziemlich weit von seiner Route abgekommen, und so kam es, daß er Haven überflog, wo ihn plötzlich ein gewaltiges Blinken blendete; es war, als hätte jemand ihn mit dem Deckel der größten Crisco-Dose der Welt gespiegelt.
» Was zum Teufel...«
Er blickte nach unten und sah in dieser Helligkeit ein hypnotisches Glitzern. Er hätte es unbeachtet lassen können, er hätte weiterfliegen und einen weiteren Tag leben (oder vielleicht mit einer voll besetzten Passagiermaschine zusammenstoßen) können, aber er war früh dran und fasziniert. Er flog eine Wendeschleife.
»Also, wo...«
Es blitzte wieder auf, diesmal so hell, daß ein blauer Halbmond vor seinen Augen nachleuchtete. Ein Lichtmuster huschte über die Decke der Pilotenkanzel.
»Jee-sus«
Unter ihm, auf einer Lichtung im graugrünen Wald, befand sich ein riesiger silbriger Gegenstand, aber bevor er viel davon erkennen konnte, war er schon wieder unter der Backbordtragfläche verschwunden.
Bailey ging zum zweiten Mal an diesem Tag auf 6000 Fuß herunter und wendete noch einmal. Er hatte Kopfschmerzen bekommen - er spürte es, er schrieb sie aber der Aufregung zu. Sein erster Gedanke war gewesen, daß es sich um einen Wasserturm handeln mußte, aber niemand würde einen so gewaltigen Wasserturm im Wald bauen.
Er überflog das Objekt noch einmal, diesmal in einer Höhe von 4000 Fuß. Er hatte die Hawk soweit gedrosselt, wie er es wagte (und das war ein gut Teil mehr, als ein erfahrener Pilot gewagt hätte, aber die Hawk war ein gutes Flugzeug und verzieh ihm).
Artefakt, dachte er diesmal, fast krank vor Aufregung. Ein gewaltiges scheibenförmiges Artefakt in der Erde... oder eine Regierungs-Sache? Aber wenn es sich um eine Sache der Regierung handelte, wieso war sie dann nicht mit einem Tarnnetz abgedeckt? Und die Erde darum herum war ausgehoben worden - von hier oben konnte man deutlich erkennen, daß sich ein tiefer Graben um das Ding herumzog.
Bailey beschloß, es noch einmal zu überfliegen - verdammt, er würde im Tiefflug darübergehen! -, dann fiel sein Blick auf seine Instrumente, und sein Herz setzte einen Schlag aus. Die Kompaßnadel beschrieb langsame, sinnlose Kreise, die Treibstoffanzeige leuchtete rot auf. Der Höhenmesser schoß plötzlich auf 22000 Fuß, blieb kurz auf dieser Marke stehen und stürzte dann auf Null ab.
Der kraftvolle 195-PS-Motor der Hawk gab ein schreckliches Heulen von sich. Die Schnauze sank. Baileys Herz ebenfalls. Sein Kopf dröhnte. Vor seinen aus den Höhlen quellenden Augen tanzten Nadeln, blinkten Lichter von Grün nach Rot wie winzige Verkehrsampeln, und das Höhenwarnsignal, das einem verträumten Piloten sagen sollte, Wach auf, Dummkopf, du wirst gleich mit einem großen unbeweglichen Objekt namens Mutter Erde zusammenstoßen, begann zu ertönen, wenngleich es erst losgehen sollte, wenn das Flugzeug unter 500 Fuß gesunken war, Baileys eigene Augen ihm aber sagten, daß die Hawk sich immer noch bei 4000 Fuß befand, vielleicht sogar etwas höher. Er sah auf das Digitalthermometer, das die Außentemperatur anzeigte. Es blinkte von 47 auf 58, dann auf 5. Dort verharrte es einen Augenblick, dann zeigte es 999. Dort blieben die roten Ziffern und pulsierten heftig, dann gab das Thermometer den Geist auf.
»Was, um Himmels willen, ist hier los?« schrie Bailey und stellte fassungslos fest, daß ihm ein Schneidezahn aus dem Mund fiel, vom Geschwindigkeitsmesser abprallte und zu Boden fiel.
Der Motor heulte erneut.
»Scheiße«, flüsterte er. Jetzt war ihm übel vor Angst. Aus dem Loch, wo sein Zahn gewesen war, rann ihm Blut übers Kinn. Ein Tropfen fiel auf sein Lacoste-Hemd.
Das glitzernde Ding in der Erde verschwand wieder unter den Tragflächen.
Der Motor der Hawk stotterte und setzte aus. Die Maschine verlor an Höhe. Bailey vergaß seine ganze Ausbildung und zog am Steuerknüppel, so heftig er nur konnte, aber das stumme Flugzeug wollte und konnte nicht darauf reagieren. Baileys Kopf pochte und dröhnte. Die Cessna sank auf 4000 Fuß... 3500... 3000. Bailey tastete mit einer Hand wie ein Blinder und drückte auf den Knopf mit der Aufschrift NOTSTART. Die Zündung der Hawk puffte hohl. Der Propeller drehte sich, blieb wieder stehen. Jetzt war die Cessna auf 2500 Fuß gesunken. Sie flog so tief über die Old Derry Road hinweg, daß Bailey das Schild mit den Gottesdienst-Zeiten vor der Methodistenkirche erkennen konnte.
»Scheißdreck«, flüsterte er. »Ich werde sterben.«
Er zog den Choke ganz heraus und hämmerte wieder auf den Startknopf. Der Motor hustete, lief eine Weile, fing dann an zu stottern.
»Nein!« kreischte Bailey. Ein Auge platzte und füllte sich mit Blut.
Das Blut rann dünn an seiner linken Wange herunter. In seinem panischen, entsetzten Zustand bemerkte er es nicht einmal. Er schlug den Choke wieder hinein. »Keine Aussetzer mehr, du Scheißflugzeug!«
Der Motor brüllte; der Propeller wirbelte und verschwamm vor dem Sonnenlicht. Bailey zog den Knüppel heran. Das überforderte Flugzeug begann wieder zu stottern.
»Scheißkiste! Scheißkiste! Scheißkiste!« brüllte er. Sein linkes Auge war jetzt voller Blut, und auf einer gewissen Ebene bekam er mit, daß die Welt ein seltsam rosa Aussehen angenommen hatte, aber wenn er die Zeit oder Möglichkeit gehabt hätte, überhaupt darüber nachzudenken, dann hätte er das wahrscheinlich seiner Wut über diese idiotische Situation zugeschrieben.
Er ließ den Steuerknüppel los; die Hawk, der es nunmehr möglich war, in einem beinahe vernünftigen Winkel zu steigen, machte sich wieder an die Arbeit. Haven Village glitt unter ihr hinweg, und Bailey bemerkte, daß Leute zu ihm heraufsahen. Er flog so tief, daß sie seine Nummer aufschreiben konnten, wenn jemand daran dachte.
Nur zu! dachte er grimmig. Nur zu, schreibt sie auf, denn wenn ich mit der Firma Cessna_ fertig bin, dann wird_ jeder gottverdammte Aktionär, den sie haben, in Unterhosen dastehen! Ich werde diese_ fahrlässigen Hurensöhne auf jede einzelne Bananenschale verklagen, die sie haben!
Die Hawk stieg jetzt langsam an, der Motor lief glatt und ruhig. Baileys Kopf versuchte, sich selbst von den Schultern zu reißen, aber plötzlich hatte er einen Einfall - einen Einfall von so überwältigender Einfachheit und grenzenlosen Möglichkeiten, der alles andere aus seinem Denken verdrängte. Er begriff nichts Geringeres als die physiologische Grundlage des Zweikammersystems des menschlichen Gehirns. Dies führte zu einem sofortigen Verständnis der Rassenerinnerung, nicht als verschwommenes Jungsches Konzept, sondern als Funktion rekombinanter DNS und biologischer Imprints. Und damit wiederum kam das Begreifen, was die gesteigerte Millierg-Erzeugungskapazität des Corpus callosum während Perioden gesteigerter Aktivität der endokrinen Drüsen, welche die Gehirnforscher seit dreißig Jahren verwirrte, tatsächlich bedeutete.
Peter Bailey begriff plötzlich, daß Zeitreise - tatsächliche Zeitreise -sich innerhalb seiner Reichweite befand.
Im selben Augenblick explodierte ein großer Teil seines eigenen Gehirns.
Weißes Licht blitzte in seinem Kopf auf - weißes Licht, das genau der Reflexion von dem Objekt im Wald glich.
Wäre er nach vorne gekippt und hätte den Steuerknüppel niedergedrückt, dann hätten die Bewohner von Haven ein weiteres Problem gehabt. Aber er fiel nach hinten, sein Kopf sank schlaff ins Genick, Blut floß ihm aus den Ohren. Er starrte zur Decke der Pilotenkanzel empor, einen Ausdruck grenzenloser, endgültiger Überraschung im Gesicht.
Wäre der Autopilot der Cessna eingestellt gewesen, dann wäre er mit ziemlicher Sicherheit glatt weitergeflogen, bis der Treibstoff alle war. Das Wetter war optimal, und so etwas war schon öfters vorgekommen. So flog sie fünf Minuten lang auf einer fast konstanten Höhe von 5500 Fuß dahin. Das Funkgerät wies den toten Neurochirurgen an, er solle sich sofort wieder auf die vorgeschriebene Höhe begeben.
Über Derry brachte eine Windströmung das Flugzeug auf einen sanften Abwärtskurs. Es flog einen weiten Bogen Richtung Newport. Der Bogen wurde enger, verwandelte sich in eine Spirale. Aus der Spirale wurde ein Trudeln. Ein Junge, der auf einer Brücke der Route 7 angelte, sah, wie das Flugzeug abstürzte und sich dabei drehte wie ein Schlangenbohrer. Er beobachtete mit offenem Mund, wie es auf Ezra Dockerys Nordwiese stürzte und in einem Feuerball explodierte.
»Heiliger Jesses !« schrie der Junge. Er ließ die Angel fallen und rannte zur Mobil-Tankstelle von Newport, um die Feuerwehr anzurufen. Kurz darauf verschlang ein Barsch den Köderwurm und zog die Angel ins Wasser. Die Angel war für immer verschwunden, aber in der Aufregung der Brandbekämpfung auf Dockerys Wiese und der Bergung des verkohlten Piloten aus dem Wrack der Cessna bemerkte der Junge es kaum.
10
Samstag, 6. August:
Newt und Dick saßen im Haven Lunch. Zwischen ihnen lag die Zeitung. Der Leitartikel berichtete von einem erneuten Ausbruch von Feindseligkeiten im Mittleren Osten; der Artikel, der ihnen heute morgen zu schaffen machte, stand direkt unter dem Falz. NEUROCHIRURG FINDET BEI FLUGZEUGABSTURZ DEN TOD, lautete die Schlagzeile. Ein Foto des Flugzeugs war abgebildet. Außer dem Heck war von der einst so schönen Cessna Hawk nichts Erkennbares mehr übriggeblieben.
Sie schoben ihr Frühstück fast ungegessen zur Seite. Molly Fender-son, Beachs Nichte, kochte jetzt, seit Beach tot war. Molly war ein verdammt nettes Mädchen, aber ihre Spiegeleier sahen aus wie gebratene Arschlöcher. Dick fand, daß sie auch so schmeckten, obwohl er noch nie ein Arschloch gegessen hatte, gebraten oder sonstwie.
Vielleicht schon, sagte Newt.
Dick sah ihn mit hochgezogenen Brauen an.
Heutzutage verarbeiten sie _ fast alles in Hot Dogs. Jedenfalls habe ich das einmal gelesen.
Dicks Magen drehte sich um. Er sagte Newt, er solle sein verdammtes Maul halten.
Newt schwieg einen Moment, dann sagte er: Müssen zwanzig, dreißig Leute gewesen sein, die den Typ über der Stadt gesehen haben.
Alle aus Haven? fragte Dick.
Ja.
Dann haben wir kein Problem, oder?
Nein, ich glaube nicht, antwortete Newt und trank einen Schluck Kaffee. Jedenfalls nicht, wenn sich so etwas nicht wiederholt.
Dick schüttelte den Kopf. Sollte es nicht. In der Zeitung steht, er wäre vom Kurs abgekommen.
Ja. Das steht da. Fertig?
Klar.
Sie gingen, ohne zu bezahlen. Geld hatte für die Bewohner von Haven keine Bedeutung mehr. In Dick Allisons Keller befanden sich mehrere große Kartons voll Bargeld, die achtlos im ehemaligen Kohlenverschlag abgestellt worden waren - größtenteils Zwanziger, Zehner und Einer. Haven war eine kleine Stadt. Wenn jemand für etwas Bargeld brauchte, dann kam er und holte sich welches. Das Haus war nicht verschlossen. Neben telepathischen Schreibmaschinen und Boilern, die mit der Energie kollabierender Moleküle angetrieben wurden, hatte Haven auch eine beinahe vollkommene Form des Kollektivismus entdeckt.
Auf dem Gehsteig vor dem Lunch sahen sie zum Rathaus. Der Turm flackerte unsicher. In diesem Augenblick war er da, so solide wie das Tadsch Mahal, wenn auch nicht so schön. Im nächsten war nur noch blauer Himmel über den gezackten Ruinen der Basis des Turms. Dann war er wieder da. Sein langer Morgenschatten flatterte wie der Schatten einer vom Wind bewegten Jalousie. Für Newt war die Tatsache, daß manchmal der Schatten des Turms da war, der Turm jedoch nicht, besonders beunruhigend.
Herrgott! Wenn ich mir dieses Ding lange genug anschaue, schnappe ich über, sagte Dick.
Newt fragte, ob sich jemand um die Störung kümmerte.
Tommy Jacklin und Hester Brookline mußten nach Derry fahren, sagte Dick. Sie sollen fünf Tankstellen besuchen und beide Ersatzteilhändler. Ich habe ihnen fast siebenhundert Piepen mitgegeben und ihnen gesagt, sie sollten, wenn möglich, zwanzig Autobatterien mitbringen. Aber sie sollen an möglichst vielen verschiedenen Stellen kaufen. Es gibt schon Leute in den umliegenden Orten, die der Meinung sind, in Haven wäre man verrückt auf Batterien.
Tommy Jacklin und Hester Brookline? fragte Newt zweifelnd. Herrgott, das sind doch noch Kinder! Hat Tommy überhaupt einen Führerschein, Dick?
Nein, sagte Dick widerstrebend. Aber er ist fünfzehn und hat eine Lizenz und fährt wirklich sicher. Außerdem ist er groß. Sieht älter aus, als er wirklich ist. Sie werden zurechtkommen.
Verdammt, ein solches Risiko!
Schon, aber...
Sie kommunizierten mit Gedanken, die mehr Bilder als Worte waren; das geschah in Haven um so häufiger, je besser die Leute diese seltsame neue Gedankensprache lernten. Trotz seiner Befürchtungen verstand Newt das grundlegende Problem, welches Dick veranlaßt hatte, zwei Jugendliche mit dem Lastwagen der Fannins nach Derry zu schicken. Sie brauchten Batterien, brauchten sie unbedingt, aber es fiel den Leuten, die in Haven lebten, zunehmend schwerer, Haven zu verlassen. Wenn ein Kauz wie Dave Rutledge oder ein alter Tattergreis wie John Harley es versuchen würde, wäre er wahrscheinlich tot - und verwest-, bevor er die Stadtgrenze von Derry erreicht hätte. Bei jüngeren Leuten wie Newt und Dick würde es etwas länger dauern, aber sie würden auch sterben... wahrscheinlich einen qualvollen Tod, wegen der körperlichen Veränderungen, die in Bobbis Schuppen angefangen hatten. Es überraschte keinen, daß Hilly Brown im Koma lag, und er war schon weggebracht worden, als die Dinge eigentlich erst richtig ins Rollen kamen. Tommy Jacklin war fünfzehn, Hester Brookline eine frühreife Dreizehnjährige. Sie hatten wenigstens die Jugend auf ihrer Seite und konnten vielleicht wegfahren und zurückkehren, ohne zum Schutz vor einer Atmosphäre, die für sie inzwischen fremd und feindselig geworden war, das Äquivalent von NASA-Raumanzügen tragen zu müssen. Und eine solche Ausrüstung wäre nicht in Frage gekommen, selbst wenn sie sie gehabt hätten. Sie hätten wahrscheinlich etwas zusammenbasteln können, aber wenn zwei junge Leute in Raumanzügen im Napa-Ersatzteilladen in Derry aufgetaucht wären, dann hätte das zu ein paar Fragen führen können. Oder zu mehr als nur ein paar.
Gefällt mir nicht, sagte Newt.
Verdammt, mir auch nicht, antwortete Dick. Ich werde keine Minute Ruhe haben, bevor sie nicht wieder hier sind, und Doc Warwick wartet draußen an der Haven-Troy-Grenze, um sich um sie zu kümmern, sobald sie...
Wenn sie.
Hmhmm... wenn. Ich glaube, daß sie es schaffen, aber es wird ihnen nicht gutgehen.
Was für Probleme erwartest du?
Dick schüttelte den Kopf. Er wußte es nicht, und Doc Warwick weigerte sich, auch nur Mutmaßungen anzustellen... er hatte Dick lediglich mit schroffer Gedankenstimme gefragt, was, nach Dicks Ansicht, mit einem Lachs geschehen würde, wenn dieser sich entschloß, mit dem Fahrrad stromaufwärts zu radeln, anstatt zu schwimmen.
Nun... sagte Newt zweifelnd.
Nun, nichts, gab Dick zurück. Wir können dieses Ding - er nickte zu dem flackernden Uhrturm - nicht so lassen, wie es ist.
Newt erwiderte: Wir haben die Luke jetzt fast erreicht. Ich glaube, wir könnten es so lassen.
Vielleicht. Vielleicht nicht. Aber wir brauchen Batterien für andere Dinge, wie du weißt. Und wir müssen vorsichtig sein. Das weißt du auch.
Gib einem alten Hasen keine guten Ratschläge, Dick.
(Sehe...)
Scheiß drauf, Arschloch, hatte Newt sagen wollen, aber er unterdrückte es, obwohl er Dick Allison mit jedem verstreichenden Tag widerlicher fand. Die Wahrheit war, ganz Haven wurde mittlerweile von Batterien betrieben, wie ein Spielzeugauto von FAO Schwarz. Und sie brauchten immer mehr und größere, und Bestellungen bei Versandgeschäften ließen nicht nur zu lange auf sich warten, sondern konnten auch irgendwo Warnlichter aufleuchten lassen. Man konnte nie wissen.
Alles in allem war Newt Berringer ein Mann mit großen Sorgen. Sie hatten den Flugzeugabsturz überlebt; konnten sie es auch überleben, wenn Tommy und Hester etwas zustieß ?
Er wußte es nicht. Er wußte nur, daß er keine Ruhe haben würde, bis die Kinder wieder in Haven waren, wo sie hingehörten.
11
Sonntag, 7. August:
Gardener war beim Schiff, betrachtete es und versuchte - wieder einmal - darüber nachzudenken, ob aus dem ganzen Schlamassel noch etwas Gutes herauskommen konnte... und wenn nicht, ob es einen Ausweg gab. Er hatte das Flugzeug vor zwei Tagen gehört, aber er war im Haus gewesen und einen Augenblick zu spät herausgekommen, um es bei seinem dritten Überfliegen zu sehen. Dreimaliges Überfliegen war genau zweimal zuviel; er war ziemlich sicher, daß der Pilot das Schiff und die Ausgrabung gesehen hatte. Der Gedanke hatte Gardener eine seltsame, bittere Erleichterung gebracht. Gestern hatte er dann den Artikel in der Zeitung gelesen. Man brauchte kein Collegeexamen, um den Zusammenhang zu erkennen. Der arme alte Dr. Bailey war vom Kurs abgekommen, und dieses Überbleibsel der Raumarmada von Ming dem Erbarmungslosen hatte ihn fertiggemacht.
Machte das ihn, Jim Gardener, zum Mitschuldigen bei einem Mord? Schon möglich, und dieser Gedanke gefiel ihm nicht, ob er nun seine Frau angeschossen hatte oder nicht.
Freeman Moss, der mürrische Holzfäller aus Albion, war heute morgen nicht erschienen - das Schiff hatte seine Sicherungen durchbrennen lassen, wie die der anderen vor ihm, vermutete Gard. Seit Bobbis Verschwinden war Gard zum ersten Mal allein. An der Oberfläche schien das Möglichkeiten zu bieten. Aber wenn man tiefer blickte, blieben dieselben alten Zwickmühlen bestehen.
Der Artikel über das abgestürzte Flugzeug und den toten Neurochirurgen war schlimm gewesen, aber für Gard war der Artikel über dem Falz - den Newt und Dick gar nicht beachtet hatten - schlimmer. Im Mittleren Osten war die Lage wieder einmal brisant, und wenn diesmal geschossen wurde, konnten Atombomben dabei sein. Die Union Besorgter Wissenschaftler, die glücklichen Leutchen, die die Schwarze Uhr besaßen, hatten die Zeiger gestern auf zwei Minuten vor die nukleare Mitternacht gerückt, stand in der Zeitung. Fröhliche Zeiten, wahrhaftig. Das Schiff konnte dieses Problem möglicherweise aus der Welt schaffen ... aber wollten Freeman Moss, Kyle Archinbourg, Bozie und all die anderen das eigentlich? Manchmal war Gard von der quälenden Gewißheit erfüllt, daß die Entschärfung des Pulverfasses, auf dem die ganze Welt saß, das allerletzte war, worum es dem neuen und verbesserten Haven ging. Also ?
Er wußte es nicht. Manchmal war es beschissen, eine telepathische Null zu sein.
Sein Blick wanderte zu der Pumpe, die am Rand der Grube im Schlamm stand. Die Arbeit am Schiff bisher war eine Frage von Staub und Erde und Steinen und Baumstümpfen gewesen, die nicht aus dem Boden herauswollten, bis man vor Verzweiflung halb verrückt war. Jetzt war es eine nasse Arbeit - wirklich eine sehr nasse Arbeit. An den letzten Abenden war er mit feuchtem Lehm im Haar, zwischen den Zehen und in der Arschfurche heimgegangen. Schlamm war schlimm, aber Lehm war schlimmer. Lehm klebte.
Die Pumpanlage war das seltsamste, häßlichste Konglomerat, das er bislang gesehen hatte, aber sie funktionierte. Außerdem wog sie Tonnen, aber der meistens schweigende Freeman Moss hatte sie ganz alleine von Bobbis Hof hierhergebracht... er hatte fast den ganzen Donnerstag und fünfhundert Batterien dazu gebraucht, aber er hatte es geschafft, eine Arbeit, für die ein normaler Bautrupp wahrscheinlich eine Woche gebraucht hätte.
Moss hatte ein Gerät wie einen Metalldetektor benutzt, um jeden Bestandteil an seinen vorgesehenen Platz zu bringen - zuerst vom Lastwagen herunter, dann durch den Garten, dann über den ausgefahrenen Pfad zur Ausgrabungsstelle. Die Bestandteile schwebten feierlich durch die warme Sommerluft, und ihre Schatten glitten unter ihnen dahin. Moss hielt das Ding, das einst ein Metalldetektor gewesen war, in einer Hand, und in der anderen etwas, das wie ein Walkie-talkie aussah. Wenn er die gekrümmte Edelstahlantenne am Ende des Walkie-talkie hob und den Parabolspiegel am Ende des Detektors bewegte, dann stiegen Motor oder Pumpe empor. Wenn er sie nach links drehte, schwebten die Teile nach links. Gard beobachtete das alles mit der
Gelassenheit eines Trinkerveteranen (und niemand sieht so viele seltsame Dinge wie ein Trinker) und dachte, daß Moss wie ein skrofulöser Dompteur aussah, der mechanische Elefanten zum Standort eines unvorstellbaren Zirkus durch den Wald führt.
Gardener hatte schon oft genug gesehen, wie schwere Maschinen mühsam transportiert worden waren, um zu begreifen, daß dieses Gerät Bautechniken revolutionieren konnte. Er besaß kein praktisches Wissen um solche Dinge, aber er vermutete, daß ein einziges Gerät wie das, welches Moss am Donnerstag mit so geistesabwesender Beiläufigkeit benutzt hatte, die Kosten für ein Projekt von der Größe des AssuanStaudammes um fünfundzwanzig Prozent oder mehr senken konnte.
Aber es hatte zumindest eines mit der Aufrechterhaltung der Illusion am Rathaus gemein - es erforderte eine ganze Menge Saft.
»Hier«, sagte Moss und reichte Gard einen schweren Rucksack. »Nehmen Sie den.«
Gard zuckte zusammen, als er den Rucksack schulterte. Moss sah es und lächelte ein wenig. »Im Lauf des Tages wird er leichter werden«, sagte er. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken.« Er stöpselte den Anschluß eines Transistor-Kopfhörers in die Fernsteuerung und setzte sich den Kopfhörer auf.
»Was ist in dem Rucksack?« fragte Gardener.
»Batterien. Gehen wir.«
Moss hatte das Gerät eingeschaltet, schien zu lauschen, nickte und richtete dann die gekrümmte Antenne auf den ersten Motor. Er erhob sich in die Luft und schwebte. Moss hielt die Fernsteuerung in einer und den umgebauten Metalldetektor in der anderen Hand und ging auf den Motor zu. Mit jedem Schritt, den er tat, wich der Motor eine entsprechende Distanz zurück. Gard bildete die Nachhut.
Moss ging mit dem Motor zwischen Haus und Schuppen entlang, führte ihn um den Tomcat herum und dann durch Bobbis Garten. Ein breiter Pfad war durch diesen niedergetreten worden, aber auf beiden Seiten davon wucherte alles in altbekannter Pracht. Einige der Sonnenblumen waren mittlerweile dreieinhalb Meter hoch. Vor etwa einer Woche war er einmal aus einem schrecklichen Alptraum erwacht. Darin hatten die Sonnenblumen im Garten die Wurzeln aus der Erde gezogen und waren herumgewandert, und aus den Blüten war geisterhaftes Licht auf die Erde gefallen, wie die Strahlen von Taschenlampen mit grünen Linsen.
Im Garten gab es Sommerkürbisse, so groß wie U-Boot-Torpedos. Tomaten so groß wie Basketbälle. Der Mais war stellenweise so hoch wie die Sonnenblumen. Gardener hatte einen halben gepflückt. Er war gut sechzig Zentimeter lang. Zwei hungrige Männer hätten davon satt werden können. Aber Gard hatte den Mundvoll Körner, den er abgebissen hatte, ausgespien, das Gesicht verzogen und sich den Mund abgewischt. Der Geschmack war fleischig und ekelhaft gewesen. Bobbi hatte einen Garten voll riesiger Pflanzen, aber das Gemüse war ungenießbar ... vielleicht sogar giftig.
Der Motor war langsam vor ihnen hergeschwebt, und beiderseits von ihm hatte der Mais geraschelt und geschwankt, als er sich seinen Weg bahnte. Gardener sah Spritzer und Flecken von Fett und Maschinenöl auf einigen der aggressiv grünen, schwertähnlichen Blätter. Am anderen Ende des Gartens begann der Motor abzusacken. Moss senkte die Antenne, und der Motor sank mit leisem Poltern zu Boden.
»Was ist denn?« hatte Gardener gefragt.
Moss hatte lediglich gegrunzt und ein Zehncentstück hervorgeholt. Er steckte es in einen Schlitz seiner Fernsteuerung, drehte es und holte sechs Doppel-A-Duracell-Batterien aus dem Batterienfach. Er warf sie gleichgültig auf die Erde. »Geben Sie mir neue«, sagte er.
Gardener nahm den Rucksack ab, löste die Riemen, hob die Lasche und sah etwas, das auf den ersten Blick aussah wie eine Milliarde Doppel-As; es war, als hätte jemand in Atlantic City den Großen Jackpot gewonnen und der Spielautomat hätte Batterien ausgespuckt statt Geldstücke.
»Jesus!«
»Der bin ich nicht«, sagte Moss. »Geben Sie mir ein halbes Dutzend von diesen Dingern.«
Zum ersten Mal schien Gardener keine Witzelei auf der Pfanne zu haben. Er reichte sechs Batterien hinüber und sah zu, wie Moss sie in das Fach steckte. Dann machte Moss die Klappe wieder zu, schaltete ein, setzte den Kopfhörer wieder auf und sagte: »Gehen wir.«
Vierzig Meter weiter, im Wald, wurden die Batterien erneut gewechselt, sechzig Meter weiter noch einmal. Den Motor schweben zu lassen, brauchte nicht soviel Saft, wenn es bergab ging, aber als Moss den großen Motorblock endlich am Rand der Grube deponiert hatte, hatten sie zweiundvierzig Batterien verbraucht.
Hin und her, hin und her; sie transportierten die Teile der Pumpanlage eins nach dem anderen von Freeman Moss' Lastwagen zum Rand der Grube. Der Rucksack auf Gardeners Rücken wurde immer leichter.
Bei der vierten Tour hatte Gard Moss gefragt, ob er es einmal versuchen könnte. Eine gewaltige Industriepumpe, deren Raison d'etre vor diesem kleinen Ausflug wahrscheinlich darin bestanden hatte, Abwasser aus verstopften Klärgruben zu pumpen, stand auf einem Schräggang etwa hundert Meter von der Grube entfernt. Moss wechselte wieder einmal Batterien aus. Mittlerweile lagen den ganzen Weg entlang tote Doppel-As, und sie erinnerten Gardener mit seltsamer Deutlichkeit an den Jungen am Strand von Arcadia Beach. Den Jungen mit den Krachern. Den Jungen, dessen Mutter das Trinken aufgegeben hatte... und alles andere. Der Junge, der von den Tommyknockers gewußt hatte.
»Klar können Sie es versuchen.« Moss reichte ihm das Gerät. »Ich könnte ein bißchen Hilfe gebrauchen, das geb' ich gern zu. Schlaucht ganz schön, dieses dauernde Tragen.« Er sah Gardeners Blick und fügte hinzu. »Hmhmm. Einen Teil tue ich selbst; deshalb der Kopfhörer. Sie können es versuchen, aber ich glaube nicht, daß Sie viel Glück haben werden. Sie sind nicht wie wir.«
»Ist mir auch schon aufgefallen. Ich bin der einzige, der sich nicht bei Sears und Roebuck ein neues Gebiß kaufen muß, wenn dies alles vorüber ist.«
Moss sah ihn gallig an und sagte nichts.
Gard nahm sein Taschentuch und wischte das braune Ohrenschmalz von Moss von dem Kopfhörer, dann setzte er ihn auf. Er vernahm ein fernes Geräusch, wie man es hört, wenn man eine Muschel ans Ohr hält. Er richtete die Antenne auf die Pumpe, wie er es bei Moss gesehen hatte, dann führte er die Antenne vorsichtig höher. Das ferne Muschelrauschen in seinem Ohr veränderte sich. Die Pumpe bewegte sich eine Winzigkeit - er war sicher, daß er sich das nicht nur einbildete. Aber einen Augenblick später geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Er spürte, wie aus seiner Nase warmes Blut über sein Gesicht rann, und im selben Moment plärrte eine Stimme in seinem Kopf los. »TEPPICHE FÜR IHREN FLUR ODER FÜR DIE GANZE WOHNUNG BILLIGER!« kreischte ein Rundfunksprecher, der plötzlich mitten in Gardeners Kopf saß und offensichtlich in ein Megaphon brüllte. »JA, WIR HABEN EINE NEUE LIEFERUNG TEPPICHE BEKOMMEN! DIE LETZTE WAR SCHNELL AUSVERKAUFT, ALSO BEEILEN SIE SICH...«
»Auuu, mein Gott, hör auf!« hatte Gardener geschrien. Er ließ die Fernsteuerung fallen und griff sich an den Kopf. Der Kopfhörer wurde ihm aus den Ohren gezogen, die plärrende Stimme verstummte. Er hatte Nasenbluten und einen Kopf, der wie eine Glocke dröhnte.
Freeman Moss, aus seiner Schweigsamkeit herausgerissen, sah Gardener mit aufgerissenen Augen an. »Was, in Gottes Namen, war das?« fragte er.
»Das«, sagte Gardener schwach, »war WZON. Wo sie nur Rock and Roll spielen, weil das allen so gefällt. Stört es Sie, wenn ich mich einen Augenblick hinsetze, Moss? Ich glaube, ich habe mir gerade in die Hose gemacht.«
»Ihre Nase blutet auch.«
»Kein Witz, Sherlock«, sagte Gardener.
»Ich glaube, von nun an sollten Sie lieber mich den Schweber bedienen lassen.« Gard war mehr als bereitwillig darauf eingegangen. Sie brauchten den ganzen restlichen Tag, um die Ausrüstung zur Grube zu bringen, und als das letzte Stück draußen war, war Moss so erschöpft, daß ihn Gardener praktisch zum Lastwagen tragen mußte.
»Mir ist zumute, als hätte ich gerade zwei Klafter Holz gehackt und mir dabei das Gehirn rausgeschissen«, keuchte der alte Mann.
Gard hatte nicht damit gerechnet, daß der Mann danach zurückkommen würde. Aber anderntags war Moss pünktlich um sieben erschienen. Statt seines Lastwagens hatte er einen verbeulten Pontiac gefahren. Er stieg aus dem Pontiac aus und klopfte mit einem Henkelmann an sein Bein.
»Kommen Sie. Fangen wir an.«
Gardener respektierte Moss mehr als die drei anderen »Helfer« zusammengenommen. Er mochte ihn sogar.
Moss sah ihn an, während sie zum Schiff hinausgingen und der Morgentau dieses Freitagmorgens ihre Hosenaufschläge anfeuchtete. »Das habe ich mitbekommen«, sagte er. »Ich schätze, Sie sind auch ganz in Ordnung.«
Das war ungefähr alles, was Mr. Freeman Moss an diesem Tag zu ihm zu sagen wußte.
Sie ließen eine Unmenge von Schläuchen in die Grube hinab und verlegten weitere Schläuche, die das Wasser, das sie herauspumpten, hügelabwärts leiten sollten, zu einem Hang, der südöstlich von Bobbis Haus verlief. Diese »Abflußschläuche«, wie Moss sie nannte, waren Segeltuchschläuche mit großem Durchmesser, die, wie Gard vermutete, von der freiwilligen Feuerwehr stammten.
»Hmhmm, ein paar von ihr und ein paar von anderswo«, sagte Moss, wollte sich aber nicht weiter über das Thema auslassen.
Bevor er die Pumpe einschaltete, ließ er Gardener ein paar U-förmige Krampen über die Schläuche hämmern. »Sonst schwingen sie herum und spritzen das Wasser überallhin. Wenn Sie je einen Feuerwehrschlauch außer Kontrolle gesehen haben, dann wissen Sie, wie gefährlich das ist. Und wir haben nicht genügend Männer, um sie den ganzen Tag dastehen und einen Haufen Schläuche festhalten zu lassen.«
»Die Freiwilligen haben wohl nicht gerade Schlange gestanden, wie?«
Freeman Moss hatte ihn stumm angesehen und einen Augenblick nichts gesagt. Dann grunzte er: »Hauen Sie die Krampen tief ein. Wir werden sie trotzdem oft genug wieder reinhauen müssen. Sie werden sich lockern.«
»Können Sie den Strom nicht so regulieren, daß Sie sich nicht mit diesen Scheißkrampen herumärgern müssen?« fragte Gardener.
Moss verdrehte angesichts seiner Unwissenheit ungeduldig die Augen. »Klar«, sagte er, »aber dort unten ist verdammt viel Wasser, und das würde ich gerne noch vor dem Jüngsten Tag herausbringen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Gardener hielt lachend die Hände hoch. »He, ich habe doch nur gefragt«, sagte er. »Friede.«
Der Mann hatte lediglich in seinem unnachahmlichen Freeman-Moss-Stil gegrunzt.
Um neun Uhr dreißig floß Wasser mit großer Geschwindigkeit vom
Schiff weg und hügelabwärts. Es war kalt und klar und so rein, wie Wasser nur sein kann - und das ist wahrhaftig rein, wie jeder bestätigen kann, der selbst einen Brunnen hat. Am Mittag hatten sie einen brandneuen Fluß geschaffen. Er war fast zwei Meter breit und seicht, aber das Wasser strömte unablässig und riß Kiefernnadeln, krumige schwarze Erde und kleinere Sträucher mit sich. Die beiden Männer konnten wenig mehr tun, als herumsitzen und darauf achten, daß nicht einer der Abflußschläuche freikam und herumschnellte und Wasser verspritzte wie ein geborstener Hydrant. Moss schaltete die Pumpe regelmäßig ab, damit sie lose Krampen festhämmern oder herausziehen und an anderen Stellen einschlagen konnten, wenn sich der Boden um sie herum zu sehr gelockert hatte.
Um drei Uhr riß der Fluß größere Sträucher mit sich, und kurz vor fünf hörte Gardener das krachende Poltern eines umstürzenden großen Baumes. Er stand auf und reckte den Hals, aber es war so weit unten an dem neuen Fluß geschehen, daß er es nicht sehen konnte.
»Hat sich nach einer Kiefer angehört«, sagte Moss.
Jetzt war es Gardener, der Moss ansah und nichts sagte.
»Könnte aber auch eine Fichte gewesen sein«, sagte Moss, und wenngleich sein Gesicht ernst blieb, glaubte Gardener, daß Moss gerade einen Witz gemacht hatte. Einen sehr bescheidenen, aber immerhin einen Witz.
»Kommt das Wasser bis zur Straße, was meinen Sie?«
»Oh, hmhmm, das denke ich schon.«
»Es wird sie wegspülen, glauben Sie nicht?«
»Nein. Die Leute aus der Stadt verlegen schon ein neues Rohr. Ein ganz dickes. Sie werden den Verkehr ein paar Tage umleiten müssen, während sie den Asphalt aufreißen, aber hier draußen herrscht ohnehin nicht mehr so viel Verkehr wie früher.«
»Ist mir auch aufgefallen«, sagte Gardener.
»Verdammt gut, wenn Sie mich fragen. Die Sommertouristen sind immer eine Pest. Also, Gardener - ich schalte jetzt die Pumpleistung runter, aber trotzdem werden über Nacht siebzig bis achtzig Liter pro Minute abgepumpt. Nicht schlecht für Automatikbetrieb. Kommen Sie, wir gehen. Das Schiff ist wunderbar, aber es bringt meinen Blutdruck durcheinander. Ich werde ein Bier bei Ihnen trinken, bevor ich heim zur Missus gehe, wenn Sie gestatten.«
Gestern, am Samstag, war Moss wieder mit seinem alten Pontiac gekommen und hatte die Pumpen prompt wieder auf volle Leistung hochgeschaltet - hundertfünfzig Liter pro Minute, neuntausend Liter pro Stunde.
Heute morgen: kein Freeman Moss. Er hatte schließlich doch aufgegeben, wie alle anderen, und Gardener war wieder allein und konnte seine Möglichkeiten durchdenken.
Erste Möglichkeit: Weitermachen wie immer.
Zweite Möglichkeit: Weglaufen, so schnell es ging. Er war bereits zu dem Schluß gekommen, daß er, wenn Bobbi sterben sollte, wenig später einen tödlichen Unfall haben würde. Nicht mehr als eine halbe Stunde später. Wenn er beschloß, jetzt wegzulaufen, würden sie es im voraus wissen ? Das glaubte Gardener nicht. Er und der Rest von Haven spielten immer noch auf die altmodische Weise Poker: Alle Karten zugedeckt auf dem Tisch. Oh, und nebenbei, Leute - wie weit würde er laufen müssen, um vor ihnen und ihren Buck-Rogers-Maschinchen sicher zu sein?
Gardener glaubte, daß es nicht allzu weit sein würde. Derry, Bangor, sogar nach Augusta... das alles mochte nicht weit genug weg sein. Portland? Vielleicht. Wahrscheinlich. Um dessentwillen, was er als die Zigaretten-Analogie bezeichnete.
Wenn ein Kind zu rauchen anfing, dann konnte es sich glücklich schätzen, wenn es ein halbes Stäbchen schaffte, ohne sich die Eingeweide rauszukotzen oder halb bewußtlos zu werden. Nach sechs Monaten Übung schaffte es vielleicht fünf bis zehn Stäbchen täglich. Wenn man dem Kind drei Jahre Zeit ließ, dann hatte man einen Lungenkrebskandidaten mit zweieinhalb Packungen täglich.
Dann den Spieß umdrehen. Wenn man dem Kind, das gerade sein erstes Stäbchen geraucht hat und würgend und mit grünem Gesicht herumläuft, sagt, daß es mit dem Rauchen aufhören muß, dann wird es wahrscheinlich auf die Knie fallen und einem die Füße küssen. Erwischt man es erst, wenn es fünf oder zehn am Tag raucht, dann hat man ein Kind vor sich, dem es wahrscheinlich ziemlich einerlei ist, ob es aufhört oder nicht... obschon ein Kind selbst auf dieser Gewöhnungsebene feststellen wird, daß es zu viele Süßigkeiten ißt oder sich nach einer Zigarette sehnt, wenn es sich langweilt oder nervös ist.
Ah, dachte Gardener, aber nehmen wir den Raucherveteran. Wenn man ihm sagt, daß er die Sargnägel sein lassen muß, dann wird er sich an die Brust fassen wie ein Mann, der einen Herzinfarkt hat... aber er vergewissert sich nur, daß die Zigarettenschachtel in der Brusttasche seines Hemdes steckt. Das Rauchen, das wußte Gardener von seinen eigenen weitgehend erfolgreichen Versuchen, es sich abzugewöhnen oder wenigstens auf eine weniger tödliche Tagesration zu drosseln, ist eine körperliche Sucht. In der ersten Woche ohne Zigaretten leiden Raucher an Nervosität, Kopfschmerzen und Muskelzuckungen. Ärzte können Vitamin B12 verschreiben, um die schlimmsten Symptome zu dämpfen. Aber sie wissen, daß es keine Medikamente gibt, die dem ehemaligen Raucher über seine Verlustgefühle und Depression während der sechs Monate hinweghelfen, die dann beginnen, wenn der Raucher seine letzte Zigarette ausdrückt und sich auf die lange Reise aus der Sucht macht.
Und Haven, dachte Gardener jetzt und drehte die Pumpen auf volle Leistung, ist wie ein rauchgefülltes Zimmer. Zuerst wurde ihnen hier übel... sie waren wie Kinder, die hinter der Scheune versuchen, mit Maishülsen das Rauchen zu lernen. Aber jetzt mögen sie die Luft im Zimmer, und warum auch nicht? Sie sind die endgültigen Kettenraucher. Es ist in der Luft, die sie atmen, und Gott allein weiß, welche physiologischen Veränderungen in ihren Gehirnen und Körpern vor sich gehen. Lungenschnitte zeigen die Bildung von Tumorzellen im Lungengewebe von Leuten, die erst seit achtzehn Monaten rauchen. In Städten mit giftigen Industrieabgasen bilden sich überdurchschnittlich viele Gehirntumoren, und ebenso, Gott steh uns bei, im Umfeld von Kernkraftwerken. Also, was macht es mit ihnen?
Er wußte es nicht - er hatte keine äußerlichen Veränderungen bemerkt, abgesehen vom Verlust aller Zähne und zunehmender Gereiztheit. Aber er glaubte nicht, daß sie ihn weit verfolgen würden, wenn er abhaute. Sie könnten wie eine wilde Horde in einem Western hinter ihm herballern, aber irgendwie war er überzeugt, daß sie ziemlich schnell aufgeben würden... sobald die Entzugssymptome einsetzten.
Er ließ alle vier Pumpen mit Höchstgeschwindigkeit arbeiten, und der Fluß schwoll sofort wieder zu einem breiten Strom an. Dann begann er sein Tagwerk damit, daß er die Krampen überprüfte, die die Schläuche hielten.
Wenn er entkam, hatte er zwei Möglichkeiten: den Mund halten oder auspacken. Er wußte, daß er, aus mehreren Gründen, wahrscheinlich schweigen würde. Was bedeutete, daß er sich selbst abschrieb - den vergangenen Monat mit seiner Knochenarbeit vergaß, auf die Möglichkeit verzichtete, den selbstmörderischen Kurs der Weltpolitik mit einem Schlag zu ändern; vor allem aber würde er seine gute Freundin und einstige Geliebte Bobbi Anderson abschreiben, die er mittlerweile seit gut zwei Wochen nicht mehr gesehen hatte.
Dritte Möglichkeit: Es loswerden. Hochjagen. Vernichten. Es zu einem weiteren vagen Gerücht wie das über die mutmaßlichen Außerirdischen in Hangar 18 machen.
Trotz seiner dumpfen Wut über den Wahnsinn der Kernenergie und die energiesüchtigen technokratischen Schweine, die sie entworfen und in Auftrag gegeben hatten und sich selbst im Kielwasser von Tschernobyl weigerten, die Gefahren zu sehen; trotz seiner Depression angesichts des AP-Funkfotos der Wissenschaftler, welche die Schwarze Uhr auf zwei Minuten vor Mitternacht vorgestellt hatten, erkannte er deutlich, daß vielleicht das Beste, was er tun konnte, die Zerstörung des Schiffes war. Die Oxidation dessen, womit seine Hülle imprägniert worden war (absichtlich, vermutete er), hatte hier draußen eine Fülle unfaßbarer Gerätschaften entstehen lassen; Gott allein wußte, was für wunderbare Dinge drinnen warteten. Aber da waren noch andere Sachen, nicht? Der Neurochirurg in dem abgestürzten Flugzeug, der alte Mann und der große Polizist, vielleicht die Polizistin, Mrs. McCausland, vielleicht die beiden anderen Staatspolizisten, die verschwunden waren, vielleicht sogar der Junge der Browns... wieviel davon ging auf das Konto dieses Dinges, das er betrachtete, das aus dem Boden ragte wie das klaffende Maul des größten weißen Wals, von dem er je zu träumen gewagt hatte? Einiges? Alles? Nichts?
In einem war sich Gardener sicher - es würde noch mehr passieren.
Daß das Schiff in der Erde eine Quelle der Schöpfungs kraft war, das stand außer Frage... aber es war auch das notgelandete Transportmittel einer unbekannten Rasse aus der großen schwarzen Weite - Geschöpfe, deren Denken sich ebenso sehr vom menschlichen Denken unterscheiden konnte wie das menschliche Denken von dem einer Spinne. Es war ein überwältigendes, makelloses Artefakt, das an diesem Sonntagmorgen im weichen Licht der Sonne schimmerte... aber es war auch ein Spukhaus, in dem immer noch Dämonen auf den einsamen Fluren herumspazieren konnten. Es gab Augenblicke, da sah er es an und spürte, wie seine Fremdheit ihm die Kehle zuschnürte, als starrten ihn aus der Erde flache Augen an.
Aber wie sollte er es loswerden? Wie sollte er es hochjagen? Selbst wenn er es wollte, wie konnte er es tun? Die Sprengladungen, mit denen sie das Gestein weggesprengt hatten, waren viel stärker als Dynamit, aber sie konnten die Hülle des Dinges nicht einmal ankratzen. Sollte er zum Luftwaffenstützpunkt bei Limestone spazieren und mit der unglaublichen Gewandtheit von Dirk Pitt in einem Roman von Clive Cussler eine A-Bombe stehlen? Und wäre es nicht urkomisch, wäre es nicht der allergrößte Witz, wenn er tatsächlich eine Kernwaffe stehlen und zünden könnte, um dann festzustellen, daß er das immer noch heile und unversehrte Schiff mit einem einzigen Schlag befreit hatte?
Das waren seine Möglichkeiten, und die dritte war überhaupt gar keine Möglichkeit... das wußten seine Hände offenbar besser als sein Gehirn, denn während er sie zum x-ten Mal überdachte, hatten seine Hände emsig weitergearbeitet - sie stellten die Pumpen auf Höchstleistung und vergewisserten sich, daß alle Krampen festsaßen. Dann war er wieder an der Grube und überprüfte die Ansaugschläuche und den Pegelstand des Wassers. Er stellte erfreut fest, daß er eine starke Taschenlampe brauchte, um das Wasser zu sehen - es sank zunehmend. Er nahm an, daß sie am Mittwoch mit dem Sprengen und Freilegen fortfahren konnten, spätestens Donnerstag... und wenn sie wieder anfingen, würde die Arbeit schnell vonstatten gehen. Das Gestein einer Wasserader war porös und brüchig. Sie würden keine Zeit damit vergeuden müssen, Löcher für die Sprengungen zu bohren, denn es würden genügend natürliche Löcher vorhanden sein - nicht nur für explodierende Kofferradios, sondern für ganze Säcke voll Sprengstoff. Die nächste Phase würde sein, als würde man sich von einem klebrigen Hefestück einem lockeren, gut aufgegangenen Teig zuwenden.
Gard stand einige Zeit über die Kluft in abr Erde gebeugt und leuchtete mit der großen Lampe in die schwarze Tiefe. Dann schaltete er sie ab, weil er wieder die Krampen überprüfen wollte. Es war erst halb neun am Morgen, aber er wollte schon wieder einen Drink.
Er drehte sich um.
Da stand Bobbi.
Gardeners Mund klappte auf. Nach einem Augenblick schloß er ihn wieder und ging auf sie zu, wobei er fest damit rechnete, daß die Halluzination transparent werden und verschwinden würde. Aber Bobbi blieb solide, und Gard sah, daß sie eine Menge Haar verloren hatte - ihre Stirn, bleich und schimmernd weiß, erstreckte sich fast bis zur Hälfte des Schädels, nur in der Mitte war noch ein Streifen Haare vorhanden. Aber diese neu zutage getretenen Kahlstellen waren nicht das einzige Bleiche an ihr. Sie sah aus, als hätte sie eine lange und auszehrende Krankheit hinter sich. Ihr rechter Arm lag in einer Schlinge. Und...
... und sie trägt Make-up. Schminke. Ich bin ziemlich sicher, daß es das ist - sie hat sie dick aufgetragen, wie eine Dame, die einen Bluterguß verbergen will. Aber sie ist es... Bobbi ...es ist kein Traum ...
Plötzlich füllten sich seine Augen mit Tränen. Bobbi wurde doppelt, dann dreifach. Bisher - bis zu diesem Augenblick - war ihm nicht klar gewesen, wie besorgt er gewesen war. Und wie einsam.
»Bobbi?« fragte er heiser. »Bist du es wirklich?«
Bobbi lächelte, das alte süße Lächeln, das er so sehr liebte, dasjenige, das ihn schon so oft vor seinem eigenen idiotischen Selbst gerettet hatte. Es war Bobbi. Es war Bobbi, und er liebte sie.
Er ging zu ihr, schlang die Arme um sie, legte sein müdes Gesicht an ihren Hals. Auch das hatte er schon oft getan.
»Hallo, Gard«, sagte sie und fing an zu weinen.
Er weinte auch. Er küßte sie. Küßte sie. Küßte sie.
Seine Hände waren plötzlich überall an ihr, ihre freie Hand an ihm.
Nein, sagte er, während er sie küßte. Nein, du kannst nicht...
Psst. Ich muß. Es ist meine letzte Chance, Gard. Unsere letzte Chance.
Küssen. Sie küßten sich. Oh, sie küßten sich, und jetzt waren die Knöpfe ihrer Bluse aufgeknöpft, und dies war nicht der Körper einer Sex-Göttin, er war weiß und kränklich, die Muskeln weich, die Brüste schlaff, aber er liebte sie und küßte sie und küßte sie, und sie verteilten die Tränen gegenseitig auf ihren Gesichtern.
Gard, mein Liebster, mein Liebster, mein ewig
Pssst
Oh, bitte, ich liebe dich
Bobbi, ich liebe
liebe
küß mich
küß
ja
Kiefernnadeln unter ihnen. Süße. Ihre Tränen. Seine Tränen. Sie küßten, küßten, küßten. Und als er in sie eindrang, bemerkte Gard zwei Dinge gleichzeitig: Wie sehr er sie vermißt hatte, und daß kein einziger Vogel sang. Der Wald war tot.
12
Gard benutzte sein Hemd, das sowieso nicht besonders sauber gewesen war, um braune Schminkeflecken von seinem nackten Körper zu wischen. Die Schminke war nicht nur in ihrem Gesicht gewesen. War sie hier mit der Absicht herausgekommen, mit ihm zu schlafen? Etwas, worüber er besser nicht nachdachte. Jedenfalls nicht jetzt.
Obwohl sie so, wie sie geschwitzt hatten, ein Festmahl für Schnaken und Stechmücken hätten sein müssen, hatte er nicht einen einzigen Insektenstich abbekommen. Er glaubte, Bobbi auch nicht. Es steigert nicht nur den IQ, dachte er und sah zum Schiff hinüber, es schlägt auch jedes bekannte Insektenvernichtungsmittel, das auf dem Markt ist, um Längen,
Er warf das Hemd beiseite und berührte Bobbi, strich mit dem Finger über ihre Wange und rieb dabei noch ein wenig Schminke weg. Das meiste jedoch war abgeschwitzt worden... oder von Tränen weggespült.
»Ich habe dir wehgetan«, sagte er.
Du hast mich geliebt, antwortete sie.
»Was?«
Du hörst mich, Gard. Ich weiß es.
»Bist du wütend?« fragte er und merkte, daß die Barrieren wieder errichtet wurden, daß er wieder schauspielerte, daß es vorbei war, daß alles, was sie je gemeinsam gehabt hatten, endgültig vorbei war. Es war ein schmerzliches Gefühl. »Möchtest du deshalb nicht mit mir sprechen?« Er machte eine Pause. »Ich könnte dir keinen Vorwurf machen. Du hast im Laufe der Jahre eine Menge Scheiße von mir erdulden müssen, Bobbi.«
»Ich habe mit dir gesprochen«, sagte sie, und so leid es ihm tat, sie nach dem Liebesakt zu belügen, so froh war er, ihre Zweifel zu spüren. »Mit meinen Gedanken.«
»Das habe ich nicht gehört.«
»Du hast es früher gehört. Du hast es gehört... und geantwortet. Wir haben gesprochen, Gard.«
»Wir waren dichter bei... dem dort.« Er deutete zum Schiff.
Sie lächelte matt zu ihm hoch und preßte die Wange an seine Schulter. Nachdem die meiste Schminke weggewischt war, sah ihr Gesicht beunruhigend durchscheinend aus.
»Habe ich dir wehgetan?«
»Nein. Ja. Ein wenig.« Sie lächelte. Es war das alte Bobbi-Anderson-schert-euch-zum-Teufel-Grinsen, aber dennoch rann ihr eine letzte Träne die Wange herab. »Aber es hat sich gelohnt. Wir haben uns das Beste bis zum Schluß aufgehoben, Gard.«
Er küßte sie sanft, aber jetzt waren ihre Lippen anders. Die Lippen der »neuen verbesserten« Roberta Anderson.
»Als erstes, letztes oder in der Mitte, ich hätte nicht mit dir schlafen sollen, und du solltest nicht hier draußen sein.«
»Ich weiß, ich sehe müde aus«, sagte Bobbi, »und ich trage eine Menge Zeug, wie du schon festgestellt hast. Du hattest recht - ich habe mich überarbeitet und hatte so etwas wie einen vollkommenen körperlichen Zusammenbruch.«
Bockmist, dachte Gardener, aber er verbarg den Gedanken unter weißem Rauschen, damit Bobbi ihn nicht lesen konnte - das allerdings tat er kaum bewußt. Dieses Verheimlichen war ihm zur zweiten Natur geworden.
»Die Behandlung war... radikal. Sie brachte einige belanglose Hautprobleme und Haarausfall mit sich. Aber es wird nachwachsen.«
»Oh«, sagte Gardener und dachte: Du kannst immer noch nicht lügen, Bobbi. »Nun, es freut mich, daß es dir wieder besser geht. Aber vielleicht solltest du dir ein paar Tage freinehmen, die Füße hochlegen...«
»Nein«, sagte Bobbi leise. »Die Zeit für die letzte Anstrengung ist gekommen, Gard. Wir sind fast da. Wir beide haben es angefangen, du und ich...«
»Nein«, sagte Gardener. »Du hast es angefangen, Bobbi. Du bist buchstäblich darüber gestolpert. Damals, als Peter noch am Leben war. Erinnerst du dich?«
Als er Peter erwähnte, sah Gardener Leid in Bobbis Augen. Dann war es wieder verschwunden. Sie tat Gards Einwand mit einem Achselzuk-ken ab. »Du warst früh genug hier. Du hast mir das Leben gerettet. Ohne dich wäre ich nicht hier. Also vollbringen wir es gemeinsam Gard. Es kann nicht mehr weit bis zur Luke sein, etwa sieben Meter, schätze ich.«
Gardener hatte das starke Gefühl, daß sie recht hatte, aber plötzlich war ihm nicht mehr danach, das zuzugeben. In seinem Herzen wurde ein Stachel herumgedreht, und der Schmerz war schlimmer als jeder Kater, den er je gehabt hatte.
»Wenn du das denkst, dann glaube ich es dir.«
»Was meinst du, Gard? Noch eine Meile. Wir beide zusammen.«
Er saß nachdenklich da, sah Bobbi an und stellte wieder fest, wie still, wie unheildrohend still der Wald war, wenn keine Vögel sangen.
So ist es - so wird es sein -, wenn _jemals eines ihrer verdammten Kernkraftwerke durchbrennt. Die Menschen werden schlau genug sein zu verduften - das heißt, wenn sie rechtzeitig gewarnt werden und wenn das Kernkraftwerk, um das es sich handelt, und das NRC genügend Mumm haben, es ihnen zu sagen -, aber man kann nicht einer Eule oder einem Specht befehlen, das Gebiet zu verlassen. Man kann einer Schar-lach-Tangare nicht befehlen, nicht in den Feuerball zu sehen. Also werden ihre Augen schmelzen, und sie werden einfach blind herumflattern, so blind wie Fledermäuse, und gegen Bäume und Hauswände prallen, bis sie verhungern oder sich die Hälse brechen. Ist das ein Raumschiff, Bobbi? Oder ist es ein riesiger Müllbehälter, der schon ein Leck hat? Das hat es, oder nicht? Darum ist es in diesem Wald so still, und darum ist der Polyestervogel dieses Neurologen am Freitag vom Himmel gefallen, nicht?
»Was meinst du, Gard? Noch eine Meile?«
Also, wo ist die gute Lösung? Wo ist der ehrenhafte Friede? Läufst du weg? Übergibst du es der Polizei von Dallas, damit sie es gegen die sowjetische Polizei von Dallas einsetzen kann? Was? Was? Irgendwelche neuen Vorschläge, Gard?
Und plötzlich hatte er einen Einfall... einen Hauch von einem Einfall.
Aber ein Hauch war besser als nichts.
Er umarmte Bobbi mit falscher Herzlichkeit. »Okay. Noch eine Meile.«
Bobbis Grinsen wurde breiter... dann wich es einem Ausdruck verblüffter Neugier. »Wieviel hat sie dir gelassen, Gard?«
»Wieviel hat wer mir gelassen?«
»Die Zahnfee«, sagte Bobbi. »Jetzt hast du auch einen verloren. Direkt hier vorne.«
Erstaunt und ein wenig ängstlich hob Gard die Hand zum Mund. Eindeutig, da war eine Lücke/wo gestern noch ein Schneidezahn gesessen hatte.
Also hatte es angefangen. Nachdem er einen ganzen Monat im Schatten dieses Dinges gearbeitet hatte, hatte er törichterweise angenommen, daß er immun war, aber dem war nicht so. Es hatte angefangen; er war auf dem besten Weg, ebenfalls neu und verbessert zu werden.
Auf bestem Weg zu »werden«.
Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ist mir gar nicht aufgefallen«, sagte
er.
»Spürst du einen Unterschied?«
»Nein«, sagte Gardener wahrheitsgemäß. »Jedenfalls noch nicht. Was meinst du, möchtest du etwas arbeiten?«
»Ich werde tun, was ich kann«, sagte Bobbi. »Mit diesem Arm...«
»Du kannst die Schläuche überprüfen und mir sagen, ob sich welche gelockert haben. Und mit mir reden.« Er sah Bobbi mit einem schüchternen Lächeln an. »Von den anderen wußte keiner, wie man redet. Ich meine, sie waren freundlich, aber...« Er zuckte die Achseln. »Klar?«
Bobbi lächelte ihm zu, und Gardener sah wieder ein unverschleiertes Aufblitzen der alten Bobbi, der Frau, die er geliebt hatte. Er erinnerte sich an den sicheren, dunklen Hafen ihres Halses, und der Stachel in seinem Herzen regte sich von neuem. »Ich glaube schon«, sagte sie, »und ich werde dir ein Ohr wegreden, wenn du das möchtest. Ich war auch einsam.«
Sie standen nebeneinander und lächelten einander an, und es war beinahe wie früher, aber der Wald war stumm, keine Vögel erfüllten ihn mit ihrem Zwitschern.
Die Liebe ist vorbei, dachte er. Jetzt handelt es sich wieder um dasselbe alte Pokerspiel, aber gestern nacht ist die Zahnfee gekommen, und ich nehme an, sie wird heute nacht wiederkommen. Möglicherweise mit ihrer Kusine und ihrem Schwager, Und wenn sie meine Karten sehen, vielleicht diesen Hauch eines Einfalls wie ein As in der Rückhand, dann ist es aus und vorbei. In gewisser Weise ist es komisch. Wir sind immer davon ausgegangen, daß die Außerirdischen wenigstens noch leben müßten, um eine Invasion durchziehen zu können. Nicht einmal H. G. Wells hat sich eine Invasion von Geistern träumen lassen.
»Ich möchte einen Blick in die Grube werfen«, sagte Bobbi.
»Okay. Wahrscheinlich wird dir gefallen, wie sie sich leert.«
Gemeinsam traten sie in den Schatten, den das Schiff warf.
13
Montag, 8. August:
Die Hitze war wieder da.
Um Viertel nach sieben an diesem Montagmorgen betrug die Temperatur vor Newt Berringers Küchenfenster achtundzwanzig Grad, aber Newt war nicht in der Küche, um sie abzulesen; er stand in der Pyjamahose im Bad, trug ungeübt die Schminke seiner verstorbenen Frau auf sein Gesicht auf und fluchte, weil der Schweiß das Zeug verklumpen ließ. Er hatte immer gedacht, Make-up sei harmloser Damenfirlefanz, aber jetzt, wo er versuchte, es seinem eigentlichen Zweck gemäß anzuwenden - nicht, um das Schöne zu unterstreichen, sondern um das Schlimme zu verbergen (oder zumindest das Unerwartete) -, stellte er fest, daß das Schminken ungefähr so war, wie jemandem die Haare zu schneiden. Es war schwieriger, als es aussah.
Er versuchte die Tatsache zu verbergen, daß im Verlauf der letzten
Woche die Haut auf Wangen und Stirn angefangen hatte, durchsichtig zu werden. Er wußte natürlich, daß das mit den Ausflügen in Bobbis Schuppen zu tun hatte, die er und die anderen unternommen hatten -Ausflüge, an die er sich hinterher nicht erinnern konnte; nur, daß sie furchteinflößend gewesen waren, aber mehr noch erregend, und daß er alle drei Male herausgekommen war und sich drei Meter groß und imstande gefühlt hatte, mit einer ganzen Kompanie Ringerinnen im Schlamm Sex zu haben. Er wußte genug, um das, was sich abspielte, mit dem Schuppen in Verbindung zu bringen, aber anfangs hatte er gedacht, er verlöre einfach seine übliche Sommerbräune. In den Jahren bevor ein eisiger Winternachmittag und ein ins Schleudern geratener Lastwagen sie ihm genommen hatte, hatte Elinor, seine Frau, immer gescherzt, man brauchte Newt im Mai nur unter einen einzigen Sonnenstrahl zu legen, und schon würde er braun wie ein Indianer.
Aber seit letzten Freitag konnte er sich nichts mehr vormachen. Er konnte die Venen, Arterien und Kapillaren in seinen Wangen sehen, so genau wie bei diesem Modell, das er seinem Neffen Michael vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte - »Der Verblüffende Sichtbare Mann«, hatte es geheißen. Es war verdammt beunruhigend. Es war auch nicht nur so, daß man in sich selbst hineinsehen konnte; wenn er die Finger auf die Wangen drückten, dann fühlten sich die Wangenknochen eindeutig schwammig an. Es war, als würden sie sich... nun, auflösen.
So kann ich nicht hinausgehen, dachte er. Mein Gott, nein.
Aber als er am Samstag in den Spiegel gesehen und nach einigem Blinzeln und Rätseln erkannt hatte, daß der graue Schatten, den er durch die Wangen sehen konnte, seine eigene Zunge war, da war er förmlich zu Dick Allison geflogen.
Dick hatte die Tür aufgemacht und so normal ausgesehen, daß Newt einen schrecklichen Augenblick lang geglaubt hatte, dies passierte nur mit ihm, mit ihm allein. Dann erfüllte Dicks sicherer, nachdrücklicher Gedanke seinen Kopf und machte ihn schwach vor Erleichterung: Himmel, du kannst doch nicht so herumlaufen, Newt. Du machst den Leuten angst. Komm herein, ich werde Hazel anrufen.
(Natürlich war das Telefon eigentlich gar nicht nötig, aber alte Ge -wohnheiten wurde man nicht so leicht los.)
Unter dem Neonring in der Küche hatte Newt ganz deutlich gesehen, daß Dick Schminke aufgetragen hatte - Hazel, sagte Dick, hatte ihm gezeigt, wie man sie auftrug. Ja, den anderen erging es ebenso, ausgenommen Adley, der erst vor zwei Wochen zum ersten Mal mit in den Schuppen gegangen war.
Wo wird das alles enden, Dick? hatte Newt unbehaglich gefragt. Der Spiegel in Dicks Diele hatte ihn wie ein Magnet angezogen, und er hatte seine Zunge hinter den blassen Lippen und durch sie hindurch gesehen, und in seiner Stirn sah er ein verfilztes Unterholz von kleinen pulsierenden Kapillaren. Er drückte mit den Fingern gegen den Schädelknochen über der Braue und sah die schwachen Abdrücke, als er sie wegnahm. Sie waren wie Fingerabdrücke in Wachs, sogar die Rillen und Schleifen der Fingerspitzen hatten sich deutlich erkennbar in die Haut eingegraben. Es hatte ihn mit Ekel erfüllt, das zu sehen.
Ich weiß es nicht, hatte Dick geantwortet. Er unterhielt sich gleichzeitig mit Hazel am Telefon. Aber es spielt eigentlich keine Rolle. Schließlich wird es allen so ergehen. Wie mit allem anderen. Du weißt, was ich meine.
Ja, er wußte es. Die ersten Veränderungen, dachte Newt, als er an diesem heißen Montagmorgen in den Spiegel sah, waren in gewisser Weise schlimmer, schockierender gewesen, denn sie waren so... nun, intim gewesen.
Aber er hatte angefangen, sich daran zu gewöhnen, und das bewies nur, daß man sich an alles gewöhnen konnte, wenn man nur hinreichend Zeit dafür hatte.
Jetzt stand er vor dem Spiegel und hörte am Rande, wie der Discjockey im Radio seiner Zuhörerschaft verkündete, daß ein Schwall heißer Luft aus dem Süden sich der Gegend näherte und sie alle noch mit mindestens drei Tagen heißem und schwülem Wetter mit Temperaturen zwischen dreißig und fünfunddreißig Grad rechnen konnten. Newt verfluchte das bevorstehende schwülheiße Wetter - seine Hämorrhoiden würden brennen und jucken, wie immer-, dann machte er sich wieder daran, seine zunehmend durchsichtigen Wangen, Stirn, Nase und Hals unter Eli-nor's Max-Factor-Make-up zu verbergen. Er hörte auf, das Wetter zu verfluchen und wandte sich wieder dem Make-up zu, ohne einmal mit Fluchen aufzuhören, da er keine Ahnung hatte, daß Make -up nach einer gewissen Zeit alt und bröckelig wird (und dieses spezielle Döschen hatte schon lange vor Elinors Tod im Jahre 1984 im Schrank gestanden).
Aber er vermutete, daß er sich daran gewöhnen würde, den Scheiß aufzutragen - jedenfalls so lange, bis es nicht mehr erforderlich war. Man konnte sich an verdammt alles gewöhnen. Ein Tentakel, an der Spitze weiß, dann rosa und zu seiner unsichtbaren Basis hin immer dunkelroter und dicker werdend, fiel ihm plötzlich aus dem Schlitz der Pyjamahose. Wie um seine Theorie zu bestätigen, steckte Newt Berringer ihn lediglich wieder abwesend zurück und versuchte weiter, die Schminke seiner toten Frau auf seinem immer mehr verschwindenden Gesicht gleichmäßig zu verteilen.
14
Dienstag, 9. August:
Der alte Doc Warwick zog langsam das Laken über Tommy Jacklin und ließ es sinken. Es bauschte sich etwas auf, dann fiel es in sich zusammen. Der Umriß von Tommys Nase war deutlich zu sehen. Er war ein hübscher Junge gewesen, aber er hatte eine große Nase gehabt, genau wie sein Vater.
Sein Vater, dachte Bobbi Anderson kläglich. Jemand wird es seinem Vater sagen müssen, und dreimal dürft ihr raten, wer damit beauftragt werden wird. Sie wußte, so etwas sollte sie nicht mehr bekümmern -Dinge wie der Tod des jungen Jacklin, Dinge wie das Wissen, daß sie Gard beseitigen mußte, wenn sie die Luke erreicht hatten -, aber manchmal war es eben doch noch so.
Sie hoffte, das würde mit der Zeit nachlassen.
Noch ein paar Besuche im Schuppen. Mehr würde es nicht erfordern.
Sie strich unwillkürlich über ihre Bluse und nieste.
Abgesehen von dem Niesen und dem keuchenden Atem von Hester Brookline im anderen Bett der behelfsmäßigen Klinik, die der Doc in seinem Wohn-und-Sprechzimmer eingerichtet hatte, herrschte einen Augenblick nur schockiertes Schweigen.
Kyle: Ist er wirklich tot?
Nein, manchmal decke ich sie nur zum Spaß zu, sagte Warwick schroff. Scheiße, Mann! Ich wußte, daß er über den Jordan gehen würde. Deshalb habe ich euch hergerufen. Ihr seid doch jetzt die Stadtväter, oder nicht?
Er sah Hazel und Bobbi einen Augenblick an.
Entschuldigung. Und die Stadtmütter.
Bobbi lächelte humorlos. Bald würde es nur noch ein Geschlecht in Haven geben. Keine Mütter; keine Väter. Nur eine weitere Station auf dem langen Weg zum »Werden«, konnte man sagen.
Sie sah von Kyle zu Dick, zu Newt und zu Hazel und erkannte, daß die anderen ebenso schockiert aussahen, wie sie sich fühlte. Gott sei Dank war sie nicht allein. Tommy und Hester waren zurückgekehrt - sogar früher als geplant, denn als Tommy sich schon drei Stunden, nachdem sie das Gebiet von Haven-Troy verlassen hatten, hundeelend gefühlt hatte, hatte er die Sache beschleunigt und so schnell gehandelt, wie es
ging.
Der verdammte Bengel war wirklich ein Held, dachte Bobbi. Ich denke, das Beste, was wir für ihn tun können, ist ein anständiges Begräbnis, aber er war trotzdem ein Held.
Sie sah zu Hester, die so bleich war wie eine Wachspuppe und mit geschlossenen Augen trocken atmete. Sie hätten zurückkehren können -vielleicht sollen-, als sie spürten, wie die Kopfschmerzen einsetzten, als
ihr Zahnfleisch zu bluten anfing, aber sie hatten nicht einmal darüber gesprochen. Und nicht nur das Zahnfleisch hatte geblutet. Hester, die während des gesamten »Werdens« menstruiert hatte (anders als bei den älteren Frauen schien es bei den jungen Mädchen überhaupt nicht aufzuhören, jedenfalls bisher nicht), hatte Tommy am Troy General Store anhalten lassen, damit sie sich dickere Binden kaufen konnte. Die Blutung war immer stärker geworden. Als sie an der Stadtgrenze von Newport-Derry im Auto Supply an der Route 7 drei Autobatterien und eine gute gebrauchte Lastwagenbatterie gekauft hatten, hatten sich vier Stayfree-Maxis vollgesogen.
Sie bekamen Kopfschmerzen, Tommy mehr als Hester. Als sie ein halbes Dutzend Allstate-Batterien im Sears-Laden und im Derry Tru-Value Hardware über hundert C-, D- und Doppel- und Tripel-A-Zellen gekauft hatten (wo gerade eine neue Lieferung eingetroffen war), da wußten sie beide, daß sie zurück mußten.. . schnell. Tommy bekam Halluzinationen; als er durch die Wentworth Street fuhr, glaubte er, einen Clown zu sehen, der ihn aus einem offenen Kanalisationsschacht heraus angrinste - ein Clown, der glitzernde Silberdollars anstelle von Augen hatte und Luftballons in der geballten, weißbehandschuhten Hand hielt.
Acht Meilen außerhalb von Derry, auf der Route 9 in Richtung Haven, fing Tommys Rektum an zu bluten.
Er fuhr rechts ran und fragte Hester mit vor Verlegenheit brennendem Gesicht, ob er ein paar von ihren Binden haben könnte. Als sie nach dem Grund fragte, konnte er es ihr erklären, sie aber nicht dabei ansehen. Sie gab ihm eine Handvoll, und er ging eine Minute in die Büsche. Als er zum Auto zurückkam, schwankte er wie ein Betrunkener und hatte eine Hand ausgestreckt.
»Du mußt fahren, Hester«, sagte er. »Ich sehe nicht besonders gut.«
Als sie die Stadtgrenze erreichten, war der Beifahrersitz des Autos voll Blut, und Tommy war bewußtlos.
Inzwischen konnte auch Hester nur noch wie durch einen dunklen Vorhang sehen; sie wußte, es war vier Uhr an einem hellen Sommernachmittag, aber Doc Warwick schien wie aus einer purpurnen Gewitterdämmerung auf sie zuzukommen. Sie wußte, er machte die Tür auf, berührte ihre Hand, sagte: Schon gut, Liebes, du bist wieder zu Hause, du kannst_ jetzt das Steuer loslassen, du bist wieder in Haven. Es gelang ihr, einen mehr oder weniger zusammenhängenden Bericht über ihre Aktivitäten an diesem Nachmittag abzugeben, während sie in Hazel McCreadys schützenden Armen lag, aber sie war ebenso wie Tommy bewußtlos, lange bevor sie das Haus des Doktors erreichten, obwohl Warwick unerhörte neunzig fuhr und sein weißes Haar im Wind flatterte.
Adley McKeen flüsterte: Was ist mit dem Mädchen?
Nun, ihr Blutdruck sinkt, sagte Warwick. Die Blutung hat aufgehört. Sie ist jung und kräftig. Gute ländliche Erbmasse. Ich habe ihre Eltern und Großeltern gekannt. Sie wird es überstehen. Er sah sie grimmig an, und seine wäßrigen blauen Augen ließen sich von ihrem Make-up nicht täuschen, mit dem sie in diesem Licht aussahen wie ein halbes Dutzend gespenstisch sonnengebräunter Clowns.
Aber ich glaube nicht, daß sie jemals wieder sehen wird.
Betroffenes Schweigen.Bobbi brach es:
Das stimmt nicht.
Doc Warwick drehte sich zu ihr hin.
Sie wird wieder sehen, sagte Bobbi. Wenn das »Werden« abgeschlossen ist, wird sie wieder sehen. Dann werden wir alle mit einem Auge sehen.
Warwick hielt ihrem Blick einen Moment lang stand, dann schlug er die Augen nieder. Ja, sagte er, kann sein. Aber es ist trotzdem eine Affenschande.
Bobbi stimmte ohne Nachdruck zu. Schlimm für sie. Noch schlimmer für Tommy. Kein Trost für ihre Eltern. Ich muß zu ihnen. Ich könnte Gesellschaft brauchen.
Sie sah sie einen nach dem anderen an, aber sie senkten nacheinander die Blicke, und ihre Gedanken wurden zu einem leisen, tiefen Summen.
Also gut, sagte Bobbi. Ich schaffe es auch allein, denke ich.
Adley McKeen meldete sich verlegen zu Wort. Ich komme mit dir, Bobbi, wenn du es willst. Ich leiste dir Ge sellschaft.
Bobbi schenkte ihm ein müdes, aber dennoch irgendwie strahlendes Lächeln und drückte seine Schulter. Danke, Ad. Zum zweiten Mal, danke.
Die beiden gingen hinaus. Die anderen sahen ihnen nach, und als sie Bobbis Lastwagen starten hörten, drehten sie sich zu Hester Brookline um, die bewußtlos dalag, angeschlossen an eine komplizierte Lebenserhaltungsmaschine, die aus Teilen von zwei Radios bestand, einem automatischen Plattenwechsler, der Fernbedienung von Warwicks neuem Sony-Fernseher...
... und natürlich aus einer Menge Batterien.
15
Mittwoch, 10. August:
Trotz seiner Müdigkeit, seiner Verwirrung, seinem Unvermögen, mit dem Hamlet-Spielen aufzuhören, und - was das Schlimmste war - des beharrlichen Gefühls, daß in Haven alles immer schiefer ging, hatte Jim Gardener - seit dem Tag, an dem Bobbi zurückgekommen war und sie gemeinsam auf dem Bett aus wohlriechenden Piniennadeln gelegen hatten, den Alkohol recht gut unter Kontrolle gehabt. Zum Teil aus purem Eigennutz. Zu oft Nasenbluten, zu oft Kopfschmerzen. Ein Teil war sicher auf den Einfluß des Schiffes zurückzuführen, dachte er - er konnte nicht vergessen, daß er Nasenbluten gehabt hatte, nachdem Bobbi ihn gedrängt hatte, ihren Fund zu berühren, und er gehorchte und die Kante des Schiffes umklammerte und diese schnelle, summende Vibration gespürt hatte - aber er war klug genug einzusehen, daß sein ständiges Trinken auch seinen Teil dazu beitrug. Es hatte keine eigentlichen Blackouts gegeben, aber an manchen Tagen hatte seine Nase drei-bis viermal geblutet. Er hatte immer zu Hypertonie geneigt, und man hatte mehr als einmal gesagt, daß starkes Trinken einen latenten Zustand verschlimmern konnte.
Es ging ihm also einigermaßen gut, bis er Bobbi niesen hörte.
Dieses so schrecklich vertraute Geräusch rief eine Reihe von Erinnerungen in ihm wach, und plötzlich explodierte eine schreckliche Idee wie eine Bombe in seinem Kopf.
Er ging in die Küche, machte den Wäschekorb auf und sah sich das Kleid an, das sie gestern abend getragen hatte. Bobbi bemerkte seine Inspektion nicht: sie schlief. Sie hatte im Schlaf geniest.
Bobbi war am vorhergehenden Abend ohne Erklärung weggegangen. Sie hatte auf Gardener einen nervösen und beunruhigten Eindruck gemacht, und obwohl sie den ganzen Tag lang schwer gearbeitet hatten, hatte sie fast nichts gegessen. Kurz vor Sonnenuntergang hatte sie gebadet, sich umgezogen und war in den heißen, immer noch schwülen Abend hineingefahren. Gegen Mitternacht hatte Gardener gehört, daß sie zurückkam, hatte das grelle Aufflackern von Licht gesehen, als Bobbi in den Schuppen ging. Er glaubte, daß sie bei Einbruch der Dämmerung herausgekommen war, war aber nicht sicher.
Den ganzen heutigen Tag über war sie verdrossen gewesen, hatte nur etwas gesagt, wenn er sie angesprochen hatte, und selbst dann nur einsilbige Worte. Gardeners linkische Versuche, sie aufzumuntern, blieben erfolglos. Sie ließ auch das Abendessen wieder ausfallen und schüttelte nur den Kopf, als Gardener eine Partie Cribbage auf der Veranda vorschlug, wie in alten Zeiten.
Bobbis Augen, die aus der unheimlichen Schicht fleischfarbener Schminke herausschauten, waren ernst und feucht gewesen. Während Gardener das bemerkte, ergriff Bobbi eine Handvoll Kleenex vom Tisch hinter ihr und nieste zwei- oder dreimal rasch hintereinander hinein.
»Sommererkältung, glaube ich. Ich werde mich auf die Matratze begeben, Gard. Tut mir leid, daß ich so ein Spielverderber bin, aber ich bin erledigt.«
»Okay«, sagte Gardener.
Etwas - die Erinnerung an etwas Vertrautes - nagte in ihm. Und jetzt stand er da und hielt ihr Kleid in der Hand, ein leichtes, ärmelloses Sommerkleid. In alten Zeiten wäre es am Morgen gewaschen und zum
Trocknen auf die Leine gehängt, am Nachmittag gebügelt und noch vor Sonnenuntergang wieder in den Schrank gehängt worden. Aber dies waren nicht die alten Zeiten, es waren die Neuen Verbesserten Zeiten, und sie wuschen Wäsche nur noch, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden ließ; immerhin gab es wichtigere Dinge zu tun, oder nicht?
Wie um seine Gedanken zu bekräftigen, nieste Bobbi zweimal im Schlaf.
»Nein«, flüsterte Gard. »Bitte.« Er warf das Kleid in den Korb zurück und mochte es plötzlich nicht mehr berühren. Er schlug den Korbdeckel zu, dann blieb er erstarrt stehen und wartete, ob das Geräusch Bobbi geweckt hatte.
Sie hat den Lastwagen genommen. Um etwas zu tun, das sie nicht tun wollte.-Etwas, das sie aufgeregt hat. Etwas so Formelles, daß sie ein Kleid gebraucht hat. Sie kam spät zurück und ging in den Schuppen. Kam nicht ins Haus, um sich umzuziehen. Ging hinein, als hätte sie hineingehen müssen. Auf der Stelle. Warum?
Aber die Antwort, verbunden mit dem Niesen und dem, was er auf ihrem Kleid gefunden hatte, schien unausweichlich.
Trost.
Und wenn Bobbi, die immer allein gelebt hatte, Trost brauchte, wer war immer zur Stelle gewesen, ihn ihr zu geben? Gard? Daß ich nicht lache, Leute. Gard kam immer nur, um Trost zu suchen, nicht, um ihn zu spenden.
Er wollte sich betrinken. Mehr als jemals, seit diese verrückte Sache angefangen hatte.
Vergiß es. Als er sich umdrehte, um die Küche zu verlassen, wo Bobbi ihre Alkoholvorräte aufbewahrte und den Wäschekorb stehen hatte, fiel etwas klickend auf die Dielen.
Er beugte sich nach unten, hob es auf, betrachtete es, ließ es nachdenklich in der Hand hin - und herrollen. Es war natürlich ein Zahn. Nummer zwei. Er steckte einen Finger in den Mund, spürte die neue Lücke, betrachtete das Blut auf der Fingerkuppe. Er ging zur Küchentür und lauschte. Bobbi schnarchte in ihrem Schlafzimmer. Es hörte sich an, als wären ihre Stirnhöhlen total verstopft.
Eine Sommererkältung, hat sie gesagt. Vielleicht. Vielleicht ist es das
ja.
Aber er erinnerte sich daran, wie Peter manchmal auf ihren Schoß gesprungen war, wenn Bobbi auf dem alten Schaukelstuhl am Fenster saß und las, oder wenn sie auf der Veranda saß. Bobbi sagte, wenn ein Wetterumschwung bevorstand, war die Wahrscheinlichkeit größer, daß Peter einen seiner tittenvernichtenden Sprünge machte, und wenn das Wetter heiß und schwül war, dann stieg die Wahrscheinlichkeit, daß auch ihre Allergie sich meldete. Als wüßte er es, hatte sie einmal gesagt und hatte dem Beagle die Ohren gekrault. Weißt du es, Peter?
Weißt du es?Macht es Spaß, mich zum Niesen zu bringen? Ein Unglück kommt selten allein, nicht? Und Peter schien auf seine Art zu ihr emporzulachen.
Gardener erinnerte sich: Als Bobbis Rückkehr ihn letzte Nacht kurz geweckt hatte (Bobbis Rückkehr und dieses grüne Leuchten), hatte er ein fernes und bedeutungsloses Hitzegewitter gehört.
Jetzt fiel ihm wieder ein, daß Peter manchmal auch ein wenig Trost gebraucht hatte.
Besonders dann, wenn es donnerte. Peter hatte eine Heidenangst vor dem Donnern.
Heiliger Christus, hat sie Peter dort in dem Schuppen? Und wenn_ ja, in Gottes Namen, WARUM?
Auf Bobbis Kleid waren Schlieren einer seltsamen, klebrigen grünen Flüssigkeit gewesen.
Und Haare.
Sehr vertraute kurze braune und weiße Haare. Peter war in dem Schuppen, und zwar schon die ganze Zeit. Bobbi hatte gelogen, Peter war nicht tot. Gott allein wußte, über wie viele andere Dinge sie ihn noch belogen hatte... aber warum dies ?
Warum?
Gardener wußte es nicht.
Er änderte die Richtung, ging zum Geschirrschrank rechts neben der Spüle, holte eine Flasche Scotch heraus und öffnete den Verschluß. Er hielt die Flasche hoch und sagte: »Auf den besten Freund des Menschen. « Er trank aus der Flasche, gurgelte heftig und schluckte.
Erster Schluck.
Peter. Was, zum Teufel, hast du mit Peter gemacht, Bobbi?
Er wollte sich betrinken
Sehr.
Schnell.