VIERTER TEIL

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Grenouille ging nachts. Wie zu Beginn seiner Reise wich er den Städten aus, mied die Straßen, legte sich bei Tagesanbruch schlafen, stand abends auf und ging weiter. Er fraß, was er am Wege fand: Gräser, Pilze, Blüten, tote Vögel, Würmer. Er durchzog die Provence, überquerte in einem gestohlenen Kahn die Rhone südlich von Orange, folgte dem Lauf der Ardèche bis tief in die Cevennen hinein und dann dem Allier nach Norden.

In der Auvergne kam er dem Plomb du Cantal nahe. Er sah ihn westlich liegen, groß und silbergrau im Mondlicht, und er roch den kühlen Wind, der von ihm kam. Aber es verlangte ihn nicht hinzugehen. Er hatte keine Sehnsucht mehr nach dem Höhlenleben. Diese Erfahrung war ja schon gemacht und hatte sich als unlebbar erwiesen. Ebenso wie die andere Erfahrung, die des Lebens unter den Menschen. Man erstickte da und dort. Er wollte überhaupt nicht mehr leben. Er wollte nach Paris gehen und sterben. Das wollte er.

Von Zeit zu Zeit griff er in seine Tasche und schloss die Hand um den kleinen gläsernen Flakon mit seinem Parfum. Das Fläschchen war noch fast voll. Für den Auftritt in Grasse hatte er bloß einen Tropfen verbraucht. Der Rest würde genügen, um die ganze Welt zu bezaubern. Wenn er wollte, könnte er sich in Paris nicht nur von Zehn-, sondern von Hunderttausenden umjubeln lassen; oder nach Versailles spazieren, um sich vom König die Füße küssen zu lassen; dem Papst einen parfumierten Brief schreiben und sich als der neue Messias offenbaren; in Notre-Dame vor Königen und Kaisern sich selbst zum Oberkaiser salben, ja sogar zum Gott auf Erden – falls man sich als Gott überhaupt noch salbte…

All das könnte er tun, wenn er nur wollte. Er besaß die Macht dazu. Er hielt sie in der Hand. Eine Macht, die stärker war als die Macht des Geldes oder die Macht des Terrors oder die Macht des Todes: die unüberwindliche Macht, den Menschen Liebe einzuflößen. Nur eines konnte diese Macht nicht: sie konnte ihn nicht vor sich selber riechen machen. Und mochte er auch vor der Welt durch sein Parfum erscheinen als ein Gott – wenn er sich selbst nicht riechen konnte und deshalb niemals wüsste, wer er sei, so pfiff er drauf, auf die Welt, auf sich selbst, auf sein Parfum.

Die Hand, die den Flakon umschlossen hatte, duftete ganz zart, und wenn er sie an seine Nase führte und schnupperte, dann wurde ihm wehmütig, und für ein paar Sekunden vergaß er zu laufen und blieb stehen und roch. Niemand weiß, wie gut dies Parfum wirklich ist, dachte er. Niemand weiß, wie gut es gemacht ist. Die andern sind nur seiner Wirkung untertan, ja, sie wissen nicht einmal, dass es ein Parfum ist, das auf sie wirkt und sie bezaubert. Der einzige, der es jemals in seiner wirklichen Schönheit erkannt hat, bin ich, weil ich es selbst geschaffen habe. Und zugleich bin ich der einzige, den es nicht bezaubern kann. Ich bin der einzige, für den es sinnlos ist.

Und ein andermal, da war er schon in Burgund: Als ich an der Mauer stand, unterhalb des Gartens, in dem das rothaarige Mädchen spielte, und ihr Duft zu mir herüberwehte… oder vielmehr das Versprechen ihres Dufts, denn ihr späterer Duft existierte ja noch gar nicht – vielleicht war das, was ich damals empfand, demjenigen ähnlich, was die Menschen auf dem Cours empfanden, als ich sie mit meinem Parfum überschwemmte…? Aber dann verwarf er den Gedanken: Nein, es war etwas anderes. Denn ich wusste ja, dass ich den Duft begehrte, nicht das Mädchen. Die Menschen aber glaubten, sie begehrten mich, und was sie wirklich begehrten, blieb ihnen ein Geheimnis.

Dann dachte er nichts mehr, denn das Denken war nicht seine Stärke, und er war auch schon im Orleanais.

Er überquerte die Loire bei Sully. Einen Tag später hatte er den Duft von Paris in der Nase. Am 25. Juni 1767 betrat er die Stadt durch die Rue Saint-Jacques frühmorgens um sechs.

Es wurde ein heißer Tag, der heißeste bisher in diesem Jahr. Die tausendfältigen Gerüche und Gestänke quollen wie aus tausend aufgeplatzten Eiterbeulen. Kein Wind regte sich. Das Gemüse an den Marktständen erschlaffte, eh es Mittag war. Fleisch und Fische verwesten. In den Gassen stand die verpestete Luft. Selbst der Fluss schien nicht mehr zu fließen, sondern nur noch zu stehen und zu stinken. Es war wie am Tag von Grenouilles Geburt.

Er ging über den Pont Neuf ans rechte Ufer, und weiter zu den Hallen und zum Cimetiere des Innocents. In den Arkaden der Gebeinhäuser längs der Rue aux Fers ließ er sich nieder. Das Gelände des Friedhofs lag wie ein zerbombtes Schlachtfeld vor ihm, zerwühlt, zerfurcht, von Gräben durchzogen, von Schädeln und Gebeinen übersät, ohne Baum, Strauch oder Grashalm, eine Schutthalde des Todes.

Kein lebender Mensch ließ sich blicken. Der Leichengestank war so schwer, dass selbst die Totengräber sich verzogen hatten. Sie kamen erst nach Sonnenuntergang wieder, um bei Fackellicht bis in die Nacht hinein Gruben für die Toten des nächsten Tages auszuheben.

Nach Mitternacht erst – die Totengräber waren schon gegangen – belebte sich der Ort mit allem möglichen Gesindel, Dieben, Mördern, Messerstechern, Huren, Deserteuren, jugendlichen Desperados. Ein kleines Lagerfeuer wurde angezündet, zum Kochen und damit sich der Gestank verzehre.

Als Grenouille aus den Arkaden kam und sich unter diese Menschen mischte, nahmen sie ihn zunächst gar nicht wahr. Er konnte unbehelligt an ihr Feuer treten, als sei er einer von ihnen. Das bestärkte sie später in der Meinung, es müsse sich bei ihm um einen Geist oder einen Engel oder sonst etwas Übernatürliches gehandelt haben. Denn üblicherweise reagierten sie höchst empfindlich auf die Nähe eines Fremden.

Der kleine Mann in seinem blauen Rock aber sei plötzlich einfach dagewesen, wie aus dem Boden herausgewachsen, mit einem kleinen Fläschchen in der Hand, das er entstöpselte. Dies war das erste, woran sich alle erinnern konnten: dass da einer stand und ein Fläschchen entstöpselte. Und dann habe er sich mit dem Inhalt dieses Fläschchens über und über besprenkelt und sei mit einem Mal von Schönheit übergössen gewesen wie von strahlendem Feuer.

Für einen Moment wichen sie zurück aus Ehrfurcht und bassem Erstaunen. Aber im selben Moment spürten sie schon, dass das Zurückweichen mehr wie ein Anlaufnehmen war, dass ihre Ehrfurcht in Begehren umschlug, ihr Erstaunen in Begeisterung. Sie fühlten sich zu diesem Engelsmenschen hingezogen. Ein rabiater Sog ging von ihm aus, eine reißende Ebbe, gegen die kein Mensch sich stemmen konnte, um so weniger, als sich kein Mensch gegen sie hätte stemmen wollen, denn es war der Wille selbst, den diese Ebbe unterspülte und in ihre Richtung trieb: hin zu ihm.

Sie hatten einen Kreis um ihn gebildet, zwanzig, dreißig Personen und zogen diesen Kreis nun enger und enger. Bald fasste der Kreis sie nicht mehr alle, sie begannen zu drücken, zu schieben und zu drängeln, jeder wollte dem Zentrum am nächsten sein.

Und dann brach mit einem Schlag die letzte Hemmung in ihnen, der Kreis in sich zusammen. Sie stürzten sich auf den Engel, fielen über ihn her, rissen ihn zu Boden. Jeder wollte ihn berühren, jeder wollte einen Teil von ihm haben, ein Federchen, ein Flügelchen, einen Funken seines wunderbaren Feuers. Sie rissen ihm die Kleider, die Haare, die Haut vom Leibe, sie zerrupften ihn, sie schlugen ihre Krallen und Zähne in sein Fleisch, wie die Hyänen fielen sie über ihn her.

Aber so ein Menschenkörper ist ja zäh und lässt sich nicht so einfach auseinanderreißen, selbst Pferde haben da die größte Mühe. Und so blitzten bald die Dolche auf und stießen zu und schlitzten auf, und Äxte und Schlagmesser sausten auf die Gelenke herab, zerhieben krachend die Knochen. In kürzester Zeit war der Engel in dreißig Teile zerlegt, und ein jedes Mitglied der Rotte grapschte sich ein Stück, zog sich, von wollüstiger Gier getrieben, zurück und fraß es auf. Eine halbe Stunde später war Jean-Baptiste Grenouille in jeder Faser vom Erdboden verschwunden.

Als sich die Kannibalen nach gehabter Mahlzeit wieder m Feuer zusammenfanden, sprach keiner ein Wort. Der eine oder andere stieß ein wenig auf, spie ein Knöchelchen aus, schnalzte leise mit der Zunge, stupste mit dem Fuß einen übriggebliebenen Fetzen des blauen Rocks in die Flammen: Sie waren alle ein bisschen verlegen und trauten sich nicht, einander anzusehen. Einen Mord oder ein anderes niederträchtiges Verbrechen hatte jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, schon einmal begangen. Aber einen Menschen aufgefressen? Zu so etwas Entsetzlichem, dachten sie, seien sie nie und nimmer imstande. Und sie wunderten sich, wie leicht es ihnen doch gefallen war und dass sie, bei aller Verlegenheit, nicht den geringsten Anflug von schlechtem Gewissen verspürten. Im Gegenteil! Es war ihnen, wenngleich im Magen etwas schwer, im Herzen durchaus leicht zumute. In ihren finsteren Seelen schwankte es mit einem Mal so angenehm heiter. Und auf ihren Gesichtern lag ein mädchenhafter, zarter Glanz von Glück. Daher vielleicht die Scheu, den Blick zu heben und sich gegenseitig in die Augen zu sehen.

Als sie es dann wagten, verstohlen erst und dann ganz offen, da mussten sie lächeln. Sie waren außerordentlich stolz. Sie hatten zum ersten Mal etwas aus Liebe getan.

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