TEIL ZWEI Die Verschleppung Tyler Marshalls

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Auf unserer frühmorgendlichen Wirbelwindtour durch die Seniorenresidenz Maxton haben wir flüchtig einen Hausmeister gesehen - erinnern Sie sich zufällig? Ausgebeulter Overall? Ein bisschen dicklich um die Taille? Zigarette im Mundwinkel, obwohl auf den Korridoren der Wohntrakte alle fünf, sechs Meter Schilder mit Rauchen verböten! Hier arbeiten Lungen! angebracht sind? Ein Mopp, der wie ein Klumpen toter Spinnen aussieht? Nein? Nur keine Entschuldigung. Es ist schon ziemlich leicht, Pete Wexler zu übersehen, diesen ehemals unscheinbaren Jugendlichen (Notendurchschnitt im Abschlusszeugnis der French Landing High School: 79 Punkte), der ein unscheinbares junges Mannesalter hinter sich hat und nun am Beginn seines voraussichtlich unscheinbaren mittleren Alters angelangt ist. Sein einziges Hobby besteht daraus, die miefigen Oldies, die seine Tage mit ihrem Grunzen, ihren unsinnigen Fragen und dem Gestank von Fürzen und Pisse füllen, ab und zu heimlich brutal zu kneifen. Die AlzheimerArschlöcher sind die Schlimmsten. Es ist schon vorgekommen, dass er gelegentlich eine Zigarette auf ihren hageren Rücken oder verschrumpelten Hinterteilen ausgedrückt hat. Ihm gefallen ihre erstickten Schreie, wenn dann die Hitze zu wirken beginnt und der Schmerz ihnen ins Mark dringt. Diese hässliche kleine Folter erfüllt einen doppelten Zweck: Sie bringt die Alten ein wenig auf Trab und befriedigt etwas in ihm. Hellt seine Tage irgendwie auf. Möbelt die alte Einstellung auf. Außerdem, wem werden sie’s schon erzählen?

Und, o Gott, da kommt gerade der Allerschlimmste, schlurft langsam den Korridor des Daisy-Trakts hinunter. Charles Burnsides Mund steht so weit offen wie das herunterklappbare Hinterteil seiner langen Unterhose. Pete hat Burnsides verschrumpelte, mit Scheiße verschmierte Gesäßbacken deutlicher vor sich, als er sie jemals sehen wollte. Bei Gott, die Schokoladeflecken reichen bis zu den Kniekehlen hinunter. Er ist zur Toilette unterwegs, aber leider ein kleines Bisschen zu spät dran. Ein bestimmtes braunes Pferd - nennen wir’s Morning Thunder - ist schon aus seiner Box durchgegangen und zweifellos auch über Burnys Bettwäsche galoppiert.

Bloß gut, dass ich die nicht sauber machen muss, denkt Pete und grinst hämisch um seine Zigarette herum. Übergebe an dich, Butch.

Aber der Schreibtisch dort vorn gegenüber den Einrichtungen für kleine Jungs und Mädchen ist im Augenblick unbesetzt. Butch Yerxa wird den reizenden Anblick von Burnys vorbeisegelndem dreckigen Arsch verpassen. Butch ist offenbar rausgegangen, um eine Zigarette zu rauchen, obwohl Pete dem Idioten schon hundertmal erklärt hat, dass all diese Rauchverbotsschilder nichts zu bedeuten haben - Chipper Maxton ist’s scheißegal, wer wo raucht (und übrigens auch, wo die Kippen ausgedrückt werden). Diese Schilder sind nur angebracht worden, damit das gute alte Sabberer-Schloss bestimmte lästige staatliche Vorschriften erfüllt.

Petes Grinsen wird breiter, und in diesem Augenblick hat er große Ähnlichkeit mit seinem Sohn Ebbie, Tyler Marshalls gelegentlichem Freund (ebenjenem Ebbie Wexler, der Jack und Henry vor kurzem den Stinkefinger gezeigt hat). Pete überlegt, ob er rausgehen und Butch erzählen soll, dass ihn in D18 ein kleiner Hausputz erwartet - den Bewohner von D18 nicht zu vergessen -, oder ob er einfach abwarten soll, bis Butch die neueste Schweinerei von Burny selbst entdeckt. Vielleicht geht Burny ja in sein Zimmer zurück und übt sich als Fingermaler, um die Freude gewissermaßen etwas zu verteilen. Das wäre gut, aber es wäre auch gut, Butch ein langes Gesicht machen zu sehen, wenn Pete ihm erzählt, was ...

»Pete.«

O nein. Von dem Weibsbild erwischt. Sie ist zwar ein Klasseweib, aber Weibsbild bleibt Weibsbild. Pete rührt sich einen Augenblick lang nicht, weil er hofft, dass sie vielleicht wieder geht, wenn er sie ignoriert.

Vergebliche Hoffnung.

»Pete.«

Er dreht sich um. Da steht Rebecca Vilas, die gegenwärtige Schmusepuppe des Chefs. Heute trägt sie ein hellrotes Kleid, vielleicht zu Ehren des Erdbeerfests, und hochhackige schwarze Pumps, vielleicht zu Ehren ihrer tollen Beine. Pete stellt sich kurz vor, wie diese tollen Beine ihn umschlingen, wie diese hohen Absätze sich hinter seinem Rücken kreuzen und Uhrzeigern gleich in verschiedene Richtungen weisen, dann sieht er den Karton, den sie in den Armen hält. Zweifellos Arbeit für ihn. Pete bemerkt auch den glitzernden Ring an ihrem Finger, irgendeine Art Edelstein von der Größe eines gottverdammten Rotkehlcheneis, wenn auch merklich blasser. Er fragt sich, übrigens nicht zum ersten Mal, was man als Frau eigentlich tun muss, um sich einen solchen Ring zu verdienen.

Sie steht da, klopft mit einer Fußspitze auf den Boden, gönnt ihm seinen Blick. Hinter ihr setzt Charles Burnsi-de seinen langsamen, tatterigen Weg in Richtung Herrentoilette fort. Sieht man sich dieses alte Wrack mit seinen dünnen Beinen und dem schütteren schlohweißen Haar an, sollte man eigentlich glauben, mit seiner Beweglichkeit sei es längst vorbei. Was ein Irrtum. Ein schrecklicher Irrtum.

»Miz Vilas?«, sagt Pete schließlich.

»Gemeinschaftsraum, Pete. Im Laufschritt. Und wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie in den Patiententrakten nicht rauchen sollen?«

Bevor er antworten kann, wendet sie sich mit einem aufreizenden kleinen Schwenk ihres Rocks ab und geht in Richtung Gemeinschaftsraum davon, dorthin, wo am Nachmittag der Tanz zum Erdbeerfest stattfinden wird.

Pete stellt seufzend den Mopp an die Wand und folgt ihr.

Charles Burnside ist jetzt allein am Ende des Daisy-Korridors. Die Leere verschwindet aus seinem Blick, wird durch ein helles, wildes Glitzern niederträchtiger Intelligenz ersetzt. Er wirkt schlagartig jünger. Burny, die menschliche Scheißmaschine, hat sich plötzlich in Luft aufgelöst. An seiner Stelle steht Carl Bierstone, der die Kleinen in Chicago mit solch brutalem Geschick zur Strecke gebracht hat.

Carl ... und etwas anderes. Etwas nicht Menschliches.

Er - es - grinst.

Auf dem nicht besetzten Schreibtisch liegt ein Stapel Papier, der mit einem runden Stein von der Größe einer Kaffeetasse beschwert ist. Auf dem Stein steht in kleinen schwarzen Buchstaben: Butchs Lieblingsstein.

Burny greift sich Butch Yerxas Lieblingsstein und geht - noch immer grinsend - rasch zur Toilette hinüber.

Im Gemeinschaftsraum sind die Tische entlang der Wände aufgestellt und mit roten Papiertischdecken bezogen worden. Später wird Pete noch rote Lämpchen aufstellen (batteriebetrieben; keine Kerzen für die Sab-berer, Gott bewahre). Überall an den Wänden hat man mit Klebeband große Erdbeeren aus Pappe angebracht, von denen manche ziemlich ramponiert wirken - sie sind alljährlich im Juli angebracht und wieder abgenommen worden, seit Herbert Maxton dieses Heim gegen Ende der Swingin’ Sixties eröffnet hat. Der Linoleumboden ist leergeräumt und kahl.

Am Nachmittag und frühen Abend werden heute die miefigen Oldies, die noch gut genug zu Fuß und bei Laune sind, dort draußen zu Big-Band-Sounds aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren herumschlurfen, sich bei den langsamen Nummern aneinander klammern und nach den Jitterbugs vor Aufregung wahrscheinlich ihre Windeln einnässen. (Vor drei Jahren erlitt einmal ein Oldie namens Irving Christie nach einem besonders anstrengenden Tänzchen zu »Don’t Sit Under the Apple Tree with Anyone Else but Me« einen kleinen Herzanfall.) O ja, der Schwof beim Erdbeerfest ist immer aufregend.

Rebecca hat ganz allein drei kleine Holzpodeste zusammengeschoben und sie mit einem weißen Laken bedeckt hat, um so das Podium für Symphonic Stans Auftritt zu schaffen. In der Ecke steht ein glänzend verchromtes Mikrofon mit großer kugelförmiger Verkleidung, ein echt altes Stück aus den Dreißigerjahren, das einmal im Cotton Club im Einsatz war. Es gehört zu Henry Leydens kostbarsten Besitztümern. Daneben steht der hohe, schmale Karton, in dem es gestern angeliefert wurde. Auf dem Podium, unter einem mit roten und weißen Kreppgirlanden und weiteren Erdbeeren aus Pappe geschmückten Querbalken, steht eine Trittleiter. Bei ihrem Anblick empfindet Pete einen Moment lang besitzergreifende Eifersucht. Rebecca Vilas ist in seiner Kammer gewesen. Verdammte Schnüfflerin! Hat sie was von seinem Stoff geklaut, wird er ihr bei Gott ...

Rebecca setzt ihren Karton mit hörbarem Grunzen auf dem Podium ab, dann richtet sie sich auf. Sie wischt eine Strähne seidigen kastanienbraunen Haars von einer geröteten Wange. Es ist erst früher Vormittag, aber dieser Tag wird dem Coulee Country eine wahre Affenhitze bringen. Klimatisiert eure Unterwäsche, und nehmt doppelt so viel Deodorant, Leute, wie George Rathbun an solchen Tagen manchmal blafft.

»Ich dachte schon, Sie würden nie mehr kommen, Wertester«, sagt Rebecca mit ihrem irischen Akzent.

»Tja, da bin ich«, sagt Pete mürrisch. »Sieht allerdings so aus, als kämen Sie ganz gut ohne mich zurecht.« Er macht eine Pause, dann fügt er hinzu: »Werteste.« Für Pete ist das eine ziemlich geistreiche Bemerkung. Er tritt vor und sieht in den Karton, der wie der Mikrofonkarton mit Eigentum vön Henry Leyden gestempelt ist. Der Karton enthält einen kleinen Scheinwerfer, um den ein Anschlusskabel gewickelt ist, und eine rosa Streuscheibe, die dem Licht die Farbe von Zuckerwatte und Erdbeerbonbons geben soll.

»Was für ’n Scheiß ist das?«, sagt Pete.

Rebecca bedenkt ihn mit einem strahlenden, gefährlichen Lächeln. Selbst für einen verhältnismäßig beschränkten Kerl wie Pete ist die Botschaft dieses Lächelns klar: Du stehst am Rand des Alligatorbeckens, Kumpel, wie viele Schritte willst du noch machen?

»Licht«, sagt sie. »L-I-C-H-T. Kommt dort oben an den Haken. H-A-K-E-N. Der DJ besteht darauf. Sagt, dass es ihn in Stimmung bringt. S-T-I-M...«

»Was ist eigentlich aus Weenie Erickson geworden?«, brummelt Pete. »Bei Weenie hat’s solchen Scheiß nie gegeben. Er hat zwei Stunden lang seine gottverdammten Schallplatten aufgelegt, ein paar Schlucke aus seinem Flachmann genommen und rechtzeitig aufgehört.«

»Er ist weggezogen«, sagt Rebecca gleichgültig. »Wohl nach Racine, glaub ich.«

»Tja ...« Pete blickt nach oben, begutachtet den Querbalken mit den ineinander verschlungenen roten und weißen Kreppgirlanden. »Ich seh keinen Haken nich, Miz Vilas.«

»Herrgott noch mal«, sagt sie und steigt die Leiter hinauf. »Hier! Sind Sie blind?«

Pete, ganz entschieden nicht blind, ist für seine Sehfähigkeit noch nie so dankbar gewesen. Von seinem Platz unter ihr hat er einen guten Blick auf ihre Schenkel, den roten Rüschenbesatz ihres Slips und die Zwillingskurven ihrer Gesäßbacken, die jetzt hübsch angespannt sind, während sie auf der fünften Leiterstufe steht.

Sie blickt auf ihn hinab, nimmt seinen wie betäubten Gesichtsausdruck wahr, registriert seine Blickrichtung. Ihre strenge Miene wird etwas sanfter. Wie ihre liebe Mutter einmal so klug bemerkte, manche Männer werden einfach närrisch, wenn irgendwo ein Höschen aufblitzt.

»Pete. Erde ruft Pete.«

»Hä?« Er sieht zu ihr auf. Sein Mund steht offen, an der Unterlippe klebt ein Tropfen Speichel.

»An meiner Unterwäsche befindet sich nirgends ein Haken. Das weiß ich todsicher. Aber wenn Sie den Blick etwas weiter nach oben richten ... auf meine Hand statt auf meinen Hintern .«

Er hebt, noch immer benommen, den Kopf und sieht die Spitze eines rot lackierten Fingernagels (kein Zweifel, Rebecca ist heute ganz und gar ein Traum in Erd-beerrot) auf einen matt glänzenden Haken tippen, der eben zwischen den Girlanden zu sehen ist, wie ein Angelhaken mörderisch glänzend aus einem bunten Köder hervorragt.

»Haken«, sagt sie. »Streuscheibe an Scheinwerfer anbringen, Scheinwerfer am Haken anbringen. Scheinwerfer leuchtet in einem warmen Pink, wie der DJ ausdrücklich verlangt hat. Verstehen, was ich meinen, Kemo Sabe?«

»Äh . yeah .«

»Sehen Sie dann bitte zu, um mich originell auszudrücken, dass Sie ihn hochkriegen?«

Sie steigt die Leiter hinunter, weil sie findet, dass Pete Wexler bereits die größte kostenlose Show genossen hat, die er vernünftigerweise für einen lausigen kleinen Auftrag erwarten kann. Und Pete, der schon eine Erektion hinter sich hat, holt Symphonic Stans rosa Spot aus dem Karton und bereitet sich darauf vor, die nächste zu bekommen. Als er die Trittleiter hinaufsteigt, bewegt er den Unterleib an Rebeccas Gesicht vorbei. Sie nimmt die Ausbuchtung in seiner Hose wahr und muss sich auf die Innenseite einer Wange beißen, um ein Lächeln zu unterdrücken. Männer sind wirklich Dummköpfe. Liebenswerte Dummköpfe, zumindest einige von ihnen, aber trotzdem Dummköpfe. Bloß können manche Dummköpfe sich Schmuck und Reisen und Mitternachtsdinners in Nachtclubs in Milwaukee leisten, und manche Dummköpfe eben nicht.

Aus manchen Dummköpfen ist nicht mehr rauszuholen, als dass sie dir einen lausigen Scheinwerfer anbringen.

»Wartet auf mich, Jungs!«, ruft Tyler Marshall. »Ebbie! Ronnie! T. J.! Wartet!«

Über eine Schulter hinweg ruft Ebbie Wexler (der wirklich wie eine nicht sonderlich helle kurzgeschorene Comicfigur aussieht) zurück: »Fang uns doch, Langweiler!«

»Yeah!«, brüllt Ronnie Metzger. »Fang uns, Wang-leiler!« Ronnie, ein Junge, der noch viele Stunden Sprachtherapie vor sich hat, sieht sich ebenfalls um, rammt dabei mit seinem Fahrrad beinahe eine Parkuhr und schafft es gerade noch, ihr auszuweichen. Dann flüchten sie, beanspruchen mit ihren Rädern zu dritt den ganzen Gehsteig (Gott sei dem Fußgänger gnädig, der ihnen entgegenkommt), und ihre rasenden Schatten flüchten neben ihnen.

Tyler überlegt, ob er zu einem Spurt ansetzen soll, um sie einzuholen, aber dann spürt er, dass seine Beine doch zu müde sind. Sein Vater und seine Mutter sagen zwar, dass er im Lauf der Zeit noch aufholen wird, dass er nur etwas klein für sein Alter ist, aber, Mann, Ty hat da so seine Zweifel. Und er beginnt auch mehr und mehr an Ebbie, Ronnie und T. J. zu zweifeln. Lohnt es sich denn wirklich, mit so welchen Schritt halten zu wollen? (Wüsste Judy Marshall von diesen Zweifeln, würde sie aufstehen und applaudieren - sie fragt sich seit mindestens zwei Jahren, wann ihr intelligenter und nachdenklicher Sohn es endlich satt haben wird, mit solch einer Bande von Versagern rumzuhängen . mit »Minderbemittelten«, wie Judy sie nennt.)

»Knutsch ’ne Elfe«, sagt Ty unglücklich - diesen harmlos vulgären Ausdruck hat er vom Sci-Fi Channel aufgeschnappt, der gerade in Wiederholung die Miniserie Das zehnte Königreich zeigt - und steigt von seinem Rad ab. Er braucht nicht hinter ihnen herzurasen; er weiß ohnehin, wo er sie finden wird: auf dem Parkplatz vom 7-Eleven, wo sie Eis-Slurpees lutschen und Magic Cards tauschen. Das ist ein weiteres Problem, das Tyler mit seinen Freunden hat. Heutzutage würde er viel lieber Baseballkarten tauschen, aber Ebbie, Ronnie und T. J. machen sich absolut nichts aus den Cardinals, den Indians, den Red Sox und der Brew Crew. Ebbie hat sich sogar zu der Behauptung verstiegen, Baseball sei schwul

- eine Aussage, die Ty weniger für empörend, als für dumm (fast Mitleid erregend) hält.

Er schiebt sein Rad langsam den Gehsteig entlang und kommt dabei allmählich wieder zu Atem. Vor ihm kreuzen sich die Chase und die Queen Street. Ebbie nennt letztere immer Queer Street oder Schwuli-Straße. Natürlich. Keine Überraschung. Und ist das nicht ein großer Teil des Problems? Tyler ist ein Junge, der Überraschungen liebt; Ebbie Wexler dagegen ist ein Junge, der offenbar keine mag. Das macht auch ihre gegensätzlichen Reaktionen auf die Musik, die sie vorhin aus dem Pickup gehört haben, völlig voraussagbar.

Tyler bleibt an der Ecke stehen und blickt die Queen Street entlang. Sie ist auf beiden Seiten von buschigen Hecken gesäumt. Über der rechten ragen mehrere verschachtelte Dächer auf. Das Heim für alte Leute. Am Haupteingang ist irgendein Plakat angebracht. Tyler schwingt sich neugierig wieder auf sein Rad und fährt langsam den Gehsteig entlang, um es sich näher anzusehen. Die längeren Zweige der Hecke neben ihm streifen leise zischend seine Lenkstange.

Das Plakat verkündet in einem fröhlichen Wirbel aus handgemalten Ballonen: Heute ist Erdbeerfestiii Was, fragt Ty Marshall sich, ist das eigentlich, ein Erdbeerfest? Eine Party, eine Veranstaltung nur für alte Leute? Das ist wohl eine Frage, aber wiederum auch keine sonderlich interessante. Nachdem er einige Sekunden lang darüber nachgedacht hat, dreht er mit dem Rad um und will zur Chase Street zurückfahren.

Charles Burnside betritt die Herrentoilette am Ende des Korridors im Daisy-Trakt - noch immer grinsend und mit Butchs Lieblingsstein in der Hand. Rechts ist eine Reihe Waschbecken mit jeweils einem Spiegel darüber -Metallspiegel von der Art, wie man sie auf den Toiletten drittklassiger Bars und Saloons findet. In einem davon erblickt Burny das eigene grinsende Spiegelbild. In einem anderen, jenem, der dem Fenster am nächsten ist, sieht er einen kleinen Jungen in einem T-Shirt der Milwaukee Brewers. Der Junge steht mit seinem Fahrrad zwischen den Beinen unmittelbar vor dem Haupteingang und liest das Einladungsplakat zum Erdbeerfest.

Burny beginnt zu sabbern. Allerdings nicht auf zurückhaltende Art. Burny sabbert buchstäblich wie der Wolf im Märchen, weiße Fäden aus schaumigem Speichel tropfen ihm aus den Mundwinkeln und quellen über die schlaffe, leberbraune Rundung seiner Unterlippe. Der Sabber läuft ihm wie ein blasiger Strom aus Sei-fenlauge übers Kinn. Er wischt ihn sich achtlos mit dem Rücken einer knotigen Hand ab und schlenzt ihn auf den Fußboden, ohne den Spiegel eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Der Junge im Spiegel gehört nicht zu den armen verirrten Kleinen dieses Ungeheuers - Ty Marshall hat sein gesamtes bisheriges Leben in French Landing verbracht und weiß genau, wo er ist -, aber er könnte einer von ihnen sein. Er könnte sich sehr leicht verirren und in einem bestimmten Raum enden. In einer bestimmten Zelle. Oder sich auf brennenden, blutenden Füßchen zu einem unbekannten Horizont dahinschleppen.

Vor allem, wenn Burny seinen Willen bekommt. Er wird sich beeilen müssen, aber wie wir schon gesehen haben, kann Charles Burnside sich bei entsprechender Motivation in der Tat sehr flink bewegen.

»Gorg«, sagt er zu dem Spiegel. Er spricht dieses unsinnige Wort völlig deutlich im nüchternen Tonfall eines Mannes aus dem Mittleren Westen aus. »Komm, Gorg.«

Und ohne zu warten, um zu sehen, was als Nächstes kommt - er weiß genau, was als Nächstes kommt -, wendet Burny sich ab und geht auf die vier nebeneinander angeordneten WC-Kabinen zu. Er betritt die zweite von links und schließt die Tür hinter sich.

Tyler will gerade wieder losfahren, als es drei Meter von dem Erdbeerfestplakat entfernt in der Hecke raschelt. Eine große schwarze Rabenkrähe zwängt sich aus dem Laubwerk und hüpft auf den Gehsteig der Queen Street.

Sie betrachtet den Jungen mit lebhaftem, verständigem Blick. Sie steht mit gespreizten schwarzen Beinen da, öffnet den Schnabel und spricht. »Gorg!«

Tyler sieht sie an, setzt ein Lächeln auf, weiß nicht recht, ob er das wirklich gehört hat, ist aber bereit, entzückt zu sein (mit seinen zehn Jahren ist er stets bereit, entzückt zu sein, immer geneigt, das Unglaubliche zu glauben). »Was? Hast du etwas gesagt?«

Die Krähe flattert mit ihren glänzenden Flügeln und legt den Kopf auf eine Art schief, die das Hässliche fast charmant wirken lässt.

»Gorg! Ty!«

Der Junge lacht. Sie hat seinen Namen gesagt! Die Krähe hat seinen Namen gesagt!

Er steigt ab, legt sein Rad auf den Gehsteig und macht dann ein paar Schritte auf die Krähe zu. In diesem Augenblick ist ihm - unglücklicherweise - nichts ferner als der Gedanke an Amy St. Pierre und Johnny Irkenham.

Ty hat eigentlich erwartet, dass die Krähe wegfliegen wird, wenn er sich ihr nähert, aber sie flattert nur etwas mit den Flügeln und weicht mit einem Schritt zur Seite ins buschige Dunkel der Hecke zurück.

»Hast du meinen Namen gesagt?«

»Gorg! Ty! Abbalah!«

Für einen Augenblick verblasst Tys Lächeln. Dieses Wort ist ihm halbwegs vertraut, die Assoziationen, die es weckt, sind zwar schwach, aber nicht gerade erfreulich. Aus irgendeinem Grund muss er dabei an seine Mutter denken. Dann sagt die Krähe nochmals seinen Namen; sie sagt eindeutig: »Ty!«

Tyler macht einen weiteren Schritt von der Queen Street weg und auf den schwarzen Vogel zu. Parallel dazu macht die Krähe neuerlich einen Schritt zur Seite, der sie weiter ans Dickicht der Hecke heranbringt. Auf der Straße ist niemand unterwegs; dieses Viertel von French Landing träumt in der Morgensonne. Ty macht einen weiteren Schritt ins Verderben, und alle Welten beben.

Ebbie, Ronnie und T. J. kommen großspurig aus dem 7-Eleven, in dem der Turbankopf hinter der Theke sie gerade mit Heidelbeer-Eislutschern bedient hat (Turbankopf ist nur einer der vielen abfälligen Ausdrücke, die Ebbie von seinem Dad aufgeschnappt hat). Sie haben auch neue Päckchen Magic Cards, jeder zwei Päckchen.

Ebbie, dessen Lippen blau verschmiert sind, wendet sich an T. J. »Fahr die Straße runter und hol den Langweiler.«

T. J. macht ein beleidigtes Gesicht. »Wieso ich?«

»Weil Ronnie die Karten gekauft hat, Blödmann. Los, beeil dich.«

»Wozu brauchen wir ihn überhaupt, Ebbie?«, fragt Ronnie. Er lehnt am Fahrradständer, kaut die kalten, süßen Eisbrocken.

»Weil ich’s sage«, antwortet Ebbie überheblich. Tatsache ist, dass Tyler Marshall an Freitagen meistens Geld hat. Eigentlich hat Tyler sogar an fast allen Tagen Geld. Seine Eltern haben schwer Kohle. Aus diesem Grund empfindet Ebbie, der von einem allein stehenden Vater erzogen wird (wenn man’s so nennen kann), der einen beschissenen Job als Hausmeister hat, bereits einen unterschwelligen Hass auf Tyler; die ersten Demütigungen werden nicht mehr lange auf sich warten lassen, und die ersten Prügel werden bald folgen. Aber jetzt will er nur weitere Magic Cards, ein drittes Päckchen für jeden. Dass Tyler gar keine Magic Cards mag, macht es nur noch reizvoller, ihn dafür blechen zu lassen.

Aber zuerst müssen sie den kleinen Langweiler hier raufholen. Oder den kleinen Wang-leiler, wie der sprachgestörte Ronnie ihn nennt. Der Ausdruck gefällt Ebbie, und er findet, dass er ihn in Zukunft benützen sollte. Wang-leiler ... Ein gutes Wort. Verspottet Ty und Ronnie gleichzeitig. Zwei Fliegen mit einer Klappe.

»Mach ran, T. J. Außer du willst ’ne Kopfnuss.«

T. J. will keine. Ebbie Wexlers Kopfnüsse sind verdammt schmerzhaft. Er seufzt theatralisch, zieht sein Rad rückwärts aus dem Fahrradständer, steigt auf und fährt mit der Lenkstange in einer Hand und dem Wassereis in der anderen wieder den sanft abfallenden Hügel hinunter. Er geht davon aus, Ty gleich zu sehen - vermutlich wie dieser sein Rad schiebt, weil er einfach ... so ... müüüde ist -, aber Ty scheint gar nicht auf der Chase Street zu sein. Was ist da los?

T. J. strampelt etwas schneller.

Auf der Herrentoilette betrachten wir jetzt die Reihe WC-Kabinen. Die Tür der zweiten Kabine von links ist geschlossen. Die anderen drei stehen in ihren verchromten Angeln hängend offen. Unter der geschlossenen Tür sehen wir ein Paar knotige, mit einem Aderngeflecht überzogene Knöchel, die aus schmutzigen Pantoffeln aufragen.

Eine Stimme schreit mit überraschender Verve auf. Es ist die Stimme eines jungen Mannes, heiser, hungrig und zornig. Ihr monotones Echo hallt von den gekachelten Wänden wider: »Abbalah! Abbalahdoon! Munshun gorg!«

Plötzlich rauscht die Wasserspülung der Toiletten. Nicht nur die hinter der geschlossenen Tür, sondern alle gleichzeitig. Den WC-Kabinen gegenüber rauscht auch die Wasserspülung der Urinale, deren verchromte Hebel perfekt synchron nach unten weisen. Wasser läuft über ihre gewölbten Porzellanflächen.

Als wir von den Becken wieder zu den WC-Kabinen hinübersehen, stellen wir fest, dass die schmutzigen Pantoffeln - und die Füße in ihnen - verschwunden sind. Und zum ersten Mal haben wir tatsächlich das Geräusch von Verwerfungen gehört: eine Art heißes Ausatmen; ein Laut, wie man ihn aus der Lunge entweichen hört, wenn man um zwei Uhr morgens aus einem Albtraum aufschreckt.

Verehrtes Publikum, Charles Burnside hat das Gebäude verlassen.

Die Krähe ist jetzt bis ganz an die Hecke zurückgewichen. Sie fixiert Tyler weiter mit ihrem glänzenden, unheimlichen Blick. Tyler, der sich wie hypnotisiert fühlt, tritt weiter auf sie zu.

»Sag noch mal meinen Namen«, flüstert er. »Sag noch mal meinen Namen, dann kannst du gehen.«

»Ty!«, krächzt die Krähe entgegenkommenderweise; schließlich flattert sie kurz mit den Flügeln und schlüpft in die Hecke. Tyler kann sie noch einen Augenblick sehen, ihr glänzendes Schwarz zwischen glänzendem Grün, dann ist sie verschwunden.

»Heiliger Bimbam!«, sagt Tyler mit einem kleinen, zittrigen Lachen. Hat sich das wirklich ereignet? Es hat sich doch ereignet, oder?

Er beugt sich zu der Stelle hinunter, wo die Krähe in der Hecke verschwunden ist, weil er hofft, dass sie eine Feder verloren haben könnte, die er als Souvenir mitnehmen könnte, und als er das tut, schießt ein hagerer weißer Arm durchs Grün und packt ihn zielsicher am Hals. Tyler hat noch Zeit, ein entsetztes Quieksen auszustoßen, dann wird er durch die Hecke gezerrt. Einer seiner Laufschuhe wird von den kurzen, steifen Zweigen abgestreift. Hinter der Hecke ertönt ein kehliger, gieriger Schrei, der wie »Junge!« klingt, und dann ist ein dumpfer Schlag zu hören - vielleicht von einem Lieblingsstein, der den Kopf eines kleinen Jungen trifft. Danach herrscht Stille bis auf das ferne Brummen eines Rasenmähers und das nähere Summen einer Biene.

Die Biene summt jenseits der Hecke, wo das Maxton steht, zwischen den Blumen herum. Dort ist sonst nichts zu sehen außer grünem Gras und in der Nähe des Gebäudes die Tische, an denen die alten Leute mittags zum Erdbeerfest-Picknick Platz nehmen werden.

Tyler Marshall ist fort.

T. J. Renniker lässt sein Fahrrad an der Kreuzung der Chase und Queen Streets ausrollen. Von seinem Eis tropft ihm dunkelblauer Saft über das Handgelenk, aber das nimmt er kaum wahr. Auf halbem Weg die Queen Street entlang sieht er Tys Rad, das leicht schräg auf dem Gehsteig liegt, von Ty selbst ist aber nichts zu sehen.

T. J. fährt langsam tretend - irgendwie hat er bei dieser Sache ein schlechtes Gefühl - zu dem abgelegten Rad hinüber. Unterwegs merkt er irgendwann, dass sein Wassereis sich jetzt in ein matschiges klebriges Etwas verwandelt hat. Er wirft es in den Rinnstein.

Das ist Tys Fahrrad, kein Zweifel. Dieses rote Schwinn mit den 20-Zoll-Rädern, dem Rennlenker und einem grünen Aufkleber der Milwaukee Bucks seitlich am Rahmen ist unverwechselbar. Dieses Rad und .

Vor der Hecke, die eine Grenze zwischen der Welt der alten Leute und der Welt der richtigen, der wirklichen Leute bildet, sieht T. J. einen auf der Seite liegenden einzelnen Reebok-Laufschuh. Um ihn herum ist eine Anzahl glänzender grüner Blätter verstreut. Aus dem Laufschuh ragt eine kleine schwarze Feder.

Der Junge starrt den Laufschuh mit großen Augen an. T. J. ist vielleicht nicht so clever wie Tyler, aber er ist immerhin ein paar Watt heller als Ebbie Wexler, und er kann sich leicht vorstellen, dass Tyler hier durch die Hecke gezerrt worden ist und dabei sein Fahrrad zurückgelassen hat ... und einen Laufschuh ... einen einzelnen, auf der Seite liegenden Laufschuh ...

»Ty?«, ruft er. »Willst du uns bloß verscheißern? Lass das lieber bleiben. Sonst sage ich Ebbie, dass er dir die schlimmste Kopfnuss gibt, die du je gekriegt hast.«

Keine Antwort. Ty verscheißert niemanden. Das ahnt T. J. irgendwie.

In T. J.s Kopf explodieren plötzlich Erinnerungen an Amy St. Pierre und Johnny Irkenham. Hinter der Hecke hört er verstohlene Schritte (beziehungsweise bildet sich ein, sie zu hören): Der Fisherman, der sein Mittagessen verputzt hat, will sich eine Nachspeise holen!

T. J. will kreischen, kann aber nicht. Seine Kehle ist zu einem nadelfeinen Loch zusammengeschrumpft. Statt zu kreischen, reißt er sein Fahrrad herum und beginnt in die Pedale zu treten. Um so schnell wie irgend möglich von der dunklen Masse dieser Hecke wegzukommen, verlässt er den Gehsteig und kurvt auf die Fahrbahn hinaus. Beim Holpern über den Randstein zerquetscht das Vorderrad die Überreste des Eis-Slurpees. Während er wie ein Radrennfahrer tief über den Lenker gebeugt in Richtung Chase Street strampelt, hinterlässt er eine dunkle, glänzende Spur auf dem Asphalt. Sie sieht aus wie Blut. Irgendwo in der Nähe krächzt eine Krähe. Das klingt wie ein Lachen.

Robin Hood Lane Nr. 16: Hier waren wir schon mal, wie das Revuegirl zum Erzbischof sagte. Ein Blick durchs Küchenfenster zeigt uns Judy Marshall, die im Schaukelstuhl in der Ecke ein Nickerchen macht. Auf ihrem Schoß liegt ein Buch, der Roman von John Grisham, den wir zuletzt auf ihrem Nachttisch gesehen haben. Neben ihr auf dem Boden steht eine halb volle Tasse mit kaltem Kaffee. Judy hat zehn Seiten geschafft, bevor sie eingenickt ist. Dafür sollten wir nicht Mr. Grishams Erzähltalent verantwortlich machen; Judy hat eine schlimme Nacht hinter sich, und das war nicht die erste. Dass sie zuletzt über zwei Stunden am Stück geschlafen hat, liegt über zwei Monate zurück. Fred weiß, dass mit seiner Frau irgendwas nicht in Ordnung ist, aber er hat keine Ahnung, wie tief das reicht. Ahnte er das, wäre er noch weit verängstigter. Bald, Gott sei ihm gnädig, wird er eine bessere Vorstellung von ihrem Geisteszustand bekommen.

Jetzt beginnt sie, undeutlich zu stöhnen und den Kopf von einer Seite auf die andere zu werfen. Aus ihrem Mund kommen wieder diese unsinnigen Worte. Die meisten sind zu schlaftrunken verzerrt, um verständlich zu sein, aber wir schnappen Abbalah und Gorg auf.

Plötzlich reißt sie die Augen auf. Im Morgenlicht, das die Küche mit dem staubigen Gold des Sommers füllt, leuchten sie strahlend königsblau.

»Ty!«, keucht sie und zuckt beim Aufwachen krampfhaft mit den Füßen. Sie sieht auf die Küchenuhr über dem Herd, es ist jetzt zwölf nach neun. Alles erscheint ihr verzerrt, wie man es häufig erlebt, wenn man zwar tief, aber weder gut noch lange geschlafen hat. Und sie schleppt einen elenden, nicht ganz albtraumhaften Traum wie die schleimigen Stränge einer Nachgeburt hinter sich her: Männer mit weichen Filzhüten, die sie tief in die Stirn gezogen hatten, um das Gesicht zu verbergen, gingen auf langen Robert-Crumb-Beinen, die in großen Robert-Crumb-Schuhen mit runden Kappen endeten, finstere, entschlossen wirkende Gangstertypen, die sich zu schnell vor einer Stadtsilhouette - Milwaukee? Chicago? - und vor einem dräuend orangeroten Himmel bewegten. Als Soundtrack des Films spielte die Band von Benny Goodman den »King Porter Stomp«, den ihr Vater immer auflegte, wenn er sich einen angetrunken hatte. Die Atmosphäre des Traums war eine erschreckend düstere Mischung aus Kummer und Entsetzen: Schreckliche Dinge waren passiert, aber das Schlimmste stand erst noch bevor.

Nichts von der Erleichterung, die man normalerweise empfindet, wenn man aus schlechten Träumen aufwacht

- die Erleichterung, die sie selbst empfunden hatte, als sie jünger gewesen war . und . und .

»Und normal«, sagt sie mit krächzender, noch leicht verschlafener Stimme. »>King Porter Stomp<. Ausgerechnet.« Ihr war das Stück immer wie die Musik erschienen, die man in alten Zeichentrickfilmen hörte, in denen Mäuse mit weißen Handschuhen in aberwitzigem Tempo in Mäuselöcher hinein- und herausrannten. Als ihr Vater einmal zu diesem Stück mit ihr herum tanzte, hatte sie gespürt, wie etwas Hartes sie anstieß. Etwas in seiner Hose. Danach hatte sie sich möglichst verdrückt, wenn er seine Tanzmusik auflegte.

»Schluss damit«, sagt Judy mit derselben krächzenden Stimme. Es ist eine Krähenstimme, und dabei fällt ihr ein, dass in ihrem Traum eine Krähe vorgekommen ist. Aber natürlich! Die Krähe Gorg.

»Gorg bedeutet Tod«, sagt sie und leckt sich die trockene Oberlippe, ohne es zu merken. Ihre Zunge kommt sogar noch weiter heraus, und die Spitze leckt beim Zurückkommen über ihre Nasenlöcher . warm und feucht und irgendwie tröstlich. »Dort drüben heißt Gorg nichts anderes als Tod. Dort drüben im .«

Anderland ist das Wort, das sie nicht mehr sagt. Bevor sie es aussprechen kann, sieht sie auf dem Küchentisch nämlich etwas, das zuvor nicht dort war. Einen geflochtenen Korb, aus dem ein Geräusch kommt, ein halblautes, schläfriges Geräusch.

Verzweiflung kriecht ihr in den Unterleib, macht ihr Gedärm schlaff und wässrig. Sie weiß, wozu solche Weidenkörbe verwendet werden. Bei dem Korb handelt es sich um einen Fischkorb.

In French Landing gibt’s heutzutage einen Fischer. Einen bösen Fisherman.

»Ty?«, ruft sie, aber natürlich bekommt sie keine Antwort. Außer ihr ist das Haus leer. Fred ist im Geschäft, und Ty ist zum Spielen unterwegs - jede Wette. Wir sind in der zweiten Julihälfte, mitten in den Sommerferien, und Ty streift bestimmt durch die ganze Stadt und erlebt all die gruseligen Abenteuer, die Jungen eben so unternehmen, wenn sie endlos lange Sommertage vor sich haben. Aber er ist nicht allein; Fred hat mit ihm darüber gesprochen, dass er mit seinen Kumpels zusammenbleiben soll, bis der Fisherman gefasst ist, mindestens bis dahin, und sie hat es ebenfalls getan. Judy kann den Wexler-Jungen nicht besonders leiden (den Metzger- oder den Renniker-Jungen auch nicht), aber zu mehreren ist man einfach sicherer. Ty dürfte dieser Sommer zwar keine kulturellen Schlüsselerlebnisse bringen, aber wenigstens ...

»Wenigstens ist er sicher«, sagt sie mit ihrer krächzenden Krähe-Gorg-Stimme. Aber der Weidenkorb, der während ihres Nickerchens auf dem Küchentisch erschienen ist, scheint das zu leugnen, scheint ihr gesamtes Sicherheitskonzept zu negieren. Wo kommt er her? Und was ist das weiße Ding, das da auf ihm liegt?

»Eine Mitteilung«, sagt sie und steht auf. Sie legt die kurze Entfernung zwischen Schaukelstuhl und Küchentisch wie jemand zurück, der noch träumt. Die Mitteilung besteht aus einem einmal gefalteten Stück Papier. Auf der Hälfte, die sie sehen kann, liest sie Sweet Judy Blue Eyes. Im College, kurz vor ihrer ersten Begegnung mit Fred, hatte sie einen Freund, der sie so nannte. Sie bat ihn, damit aufzuhören - es war ärgerlich, abgeschmackt -, aber weil er’s immer wieder vergaß (absichtlich, wie sie vermutete), gab sie ihm schnellstens den Laufpass. Hier ist er wieder, dieser dämliche Spitzname, und verspottet sie.

Judy dreht den Wasserhahn am Ausguss auf, ohne den Zettel aus den Augen zu lassen, füllt ihre gewölbte Hand mit kaltem Wasser und trinkt. Als ein paar Tropfen auf Sweet Judy Plue Eyes fallen, ist der Name sofort verschmiert. Mit Füllertinte geschrieben? Wie altmodisch! Wer schreibt heutzutage noch mit einem Füller?

Sie greift nach dem Zettel, zieht die Hand dann aber wieder zurück. Das Geräusch aus dem Korb ist jetzt lauter. Es ist ein Summen. Das sind .

»Das sind Fliegen«, sagt sie. Das Wasser hat ihre Kehle erfrischt, und ihre Stimme ist nicht mehr so krächzend, aber in Judys Ohren klingt sie weiterhin wie die der Krähe Gorg. »Du weißt, wie Fliegen summen.«

Nimm den Zettel.

Will aber nicht.

Ja, aber du musst! Los, nimm ihn! Wo ist dein Mumm geblieben, du kleiner Hosenscheißer?

Gute Frage. Verdammt gute Frage. Judys Zunge kommt zum Vorschein, wischt über die Oberlippe und die Rinne in der Mitte. Dann greift Judy nach dem Zettel und faltet ihn auseinander.

Tut mir leid, dass ich blos eine Niere schicken kann. Die andre hab ich gebraten und gegessen. Sie war sehr gut!

Der Fisherman

Judy Marshalls Finger, Handflächen, Handgelenke und Unterarme werden schlagartig gefühllos. Sie wird so leichenblass, dass die blauen Adern durch die Wangen schimmern. Es grenzt an ein Wunder, dass sie nicht ohnmächtig zusammenklappt. Der Zettel gleitet ihr aus den Fingern und segelt schaukelnd zu Boden. Während sie immer wieder den Namen ihres Sohnes kreischt, schlägt sie den Deckel des Fischkorbs zurück. Vor ihr liegen glänzend rote Eingeweideschlingen, auf denen es von Fliegen wimmelt. Sie sieht die faltigen Säcke der Lungenflügel und die faustgroße Pumpe, die einmal ein Kinderherz war. Sie sieht den dicken purpurroten Klumpen der Leber . und eine einzelne Niere. Auf diesem Mischmasch von Eingeweiden wimmelt es von Fliegen, und die ganze Welt ist gorg ist gorg ist gorg.

In der sonnigen Stille ihrer Küche beginnt Judy Marshall jetzt wie ein Tier zu heulen. Es ist das Heulen von Wahnsinn, der endlich aus seinem fragilen Käfig ausgebrochen ist, von entfesseltem Wahnsinn.

Butch Yerxa wollte nach einer Zigarette gleich wieder reingehen - beim Erdbeerfest gibt’s immer viel zu tun (aber der gutherzige Butch hasst diesen künstlichen kleinen Feiertag nicht, wie Pete Wexler es tut). Dann ist jedoch Petra English, eine Altenpflegerin aus Asphodel, zu ihm rübergekommen, und sie haben angefangen, über Motorräder zu fachsimpeln, und bevor man’s sich versieht, sind zwanzig Minuten vergangen.

Er sagt Petra, dass er gehen muss, sie sagt, dass er die lackierte Seite oben und die gummierte Seite unten lassen soll, und Butch schlüpft durch die Tür in den Daisy-Trakt zurück, wo ihn eine unangenehme Überraschung erwartet. Dort steht Charles Burnside nackig neben dem Schreibtisch und hat seine Hand auf dem Stein, den Butch als Briefbeschwerer benützt. (Sein Sohn hat ihn letztes Jahr im Sommercamp gebastelt - also die Worte draufgeschrieben -, und Butch findet ihn verdammt niedlich). Butch hat nichts gegen die Heimbewohner -wüsste er von der Sache mit den Zigaretten, würde er Pete Wexler handgreiflich belehren, statt ihn nur der Heimleitung zu melden -, aber er mag es nicht, wenn sie seine Sachen anfassen. Er mag es vor allem bei diesem Kerl nicht, der ziemlich fies ist, wenn er mal wieder eine wache Phase hat. Was jetzt der Fall zu sein scheint. Das sieht Butch ihm an den Augen an. Der wahre Charles Burnside ist zum Luftholen aufgetaucht, möglicherweise zu Ehren des Erdbeerfests.

Und weil gerade von Erdbeeren die Rede ist: Burny scheint bereits von ihnen genascht zu haben. Auf seinen Lippen und in den tiefen Falten neben den Mundwinkeln sind Spuren von Rot zu erkennen.

Aber darauf achtet Butch kaum. Burny hat noch andere Flecken an sich. Braune.

»Wollen Sie nicht Ihre Hand davon wegnehmen, Charles?«, sagt er.

»Von was?«, fragt Burny, dann fügt er hinzu: »Arschgeige.«

Butch will nicht von meinem Lieblingsstein sagen, das klingt zu dämlich. »Von meinem Briefbeschwerer.«

Burny wirft einen Blick auf den Stein, den er gerade zurückgelegt hat (als er aus der WC-Kabine gekommen ist, waren etwas Blut und Haare daran, aber für solche Fälle gibt’s auf der Toilette ja Waschbecken). Er nimmt die Hand weg und steht einfach da. »Mach mich sauber, Blödmann. Ich hab mich vollgeschissen.«

»Das sehe ich. Aber erst will ich wissen, ob Sie in der Küche waren und dort Ihre Scheiße verteilt haben. Und lügen Sie mich nicht an, denn ich weiß nämlich genau, dass Sie dort waren.«

»Hab mir erst die Hände gewaschen«, sagt Burny und weist sie vor. Sie sind knotig, aber tatsächlich rosig und sauber. Sogar die Nägel sind sauber. Der Alte muss sie sich wirklich gewaschen haben. »Wichser«, fügt er hinzu.

»Also los, gehen wir ins Bad«, sagt Butch. »Der Arschgeigen-Wichser macht Sie wieder sauber.«

Burny schnaubt, kommt aber bereitwillig mit.

»Freuen Sie sich schon auf den Tanz heute Nachmittag?«, fragt Butch ihn, nur um irgendwas zu sagen. »Haben Sie Ihre Tanzschuhe schon auf Hochglanz gebracht, Big Boy?«

Burny, der einen in seinen wachen Phasen manchmal überraschen kann, grinst und lässt dabei ein paar gelbliche Zähne sehen. Wie seine Lippen sind sie rot verfärbt. »Yeah, kann’s kaum noch erwarten, endlich loszurocken«, sagt er.

Obwohl Ebbie sich nichts anmerken lässt, hört er sich T. J.s Story über Tyler Marshalls verlassenes Fahrrad und den Laufschuh mit wachsendem Unbehagen an. Ronnies Gesichtsausdruck lässt dagegen starkes Unbehagen erkennen.

»Also, was machen wir jetzt, Ebbie?«, fragt T. J. als er fertig ist. Er ist nach seinem langen Spurt bergauf endlich wieder zu Atem gekommen.

»Was meinst du, was wir machen?«, sagt Ebbie. »Das Gleiche, was wir sowieso machen wollten: Durch die Stadt fahren und zusehen, was wir an Pfandflaschen finden können. Uns in den Park setzen und Magics tauschen.«

»Aber . aber was ist, wenn der .«

»Halt doch die Klappe!«, sagt Ebbie. Er weiß, welchen Namen T. J. aussprechen wollte, will ihn aber nicht hören. Sein Dad sagt, dass es Unglück bringt, eine Mütze aufs Bett zu werfen, weshalb Ebbie das auch nie tut. Wenn schon das Unglück bringt, muss es doppelt so schlimm sein, den Namen irgendeines verrückten Killers auszusprechen.

Aber dann spricht dieser Idiot Ronnie Metzger ihn trotzdem aus ... gewissermaßen: »Was ist, wenn’s der Misherfun war, Ebbie? Was ist, wenn Ty vom .«

»Halt deine Scheißfresse!«, sagt Ebbie und holt mit der Faust aus, als wollte er dem verdammten Schwätzer eine aufs Maul hauen.

In diesem Augenblick springt der indische Verkäufer wie ein Schachtelteufel mit Turban aus dem 7-Eleven. »Solches Gerede will ich hier nicht hören!«, ruft er. »Verschwindet jetzt, führt eure schmutzigen Reden anderswo! Sonst rufe ich die Polizei!«

Ebbie fährt langsam in eine Richtung, die ihn weiter von der »Queer« Street wegführen wird (dabei murmelt er halblaut Sandnigger, ein weiterer reizender Ausdruck, den er von seinem Vater gelernt hat), und die beiden anderen Jungen folgen ihm. Als sie einen Straßenblock zwischen sich und das 7-Eleven gebracht haben, hält Eb-bie an und wendet sich den beiden anderen zu, wobei er Kinn und Wanst nach vorn reckt.

»Er ist vor ’ner halben Stunde allein weggefahren«, sagt er.

»Hä?«, sagt T. J.

»Wer hat was gemacht?«, sagt Ronnie.

»Ty Marshall. Wenn irgendwer fragt, er ist vor ’ner halben Stunde allein weggefahren. Als wir . äh .« Eb-bie versucht sich zu erinnern, was ihm aber schwer fällt, weil er so wenig Übung im Behalten hat. Unter normalen Umständen braucht Ebbie Wexler auch nichts anderes als die Gegenwart.

»Als wir uns das Schaufenster vom Allsorts angesehen haben?«, schlägt T. J. schüchtern vor und hofft, dass ihm das nicht eine von Ebbies brutalen Kopfnüssen einbringt.

Ebbie betrachtet ihn sekundenlang ausdruckslos, dann lächelt er. T. J. atmet auf. Ronnie Metzger wirkt weiterhin nur verwirrt. Mit einem Baseballschläger in der Hand oder Eishockey-Schlittschuhen an den Füßen ist Ronnie der King. In der übrigen Zeit ist er meist nur ahnungslos.

»Genau«, sagt Ebbie, »yeah. Wir haben vor dem Fenster von Schmitt’s gestanden, dann ist dieser Pickup mit der beschissenen Punkmusik vorbeigekommen, und dann hat Ty gesagt, dass er abhauen muss.«

»Wohin hat er müssen?«, fragt T. J.

Ebbie ist zwar nicht intelligent, aber er besitzt das, was man als »Bauernschläue« bezeichnen könnte. Er weiß instinktiv, dass die beste Story eine kurze Story ist -je kürzer sie ist, desto geringer die Gefahr, dass jemand einen über eine Widersprüchlichkeit stolpern lässt. »Das hat er uns nicht gesagt. Er hat bloß gesagt, dass er abhauen muss.«

»Er ist doch gar nicht abgehauen«, sagt Ronnie. »Er hat doch bloß nicht mithalten können, weil er ein . « Er macht eine Pause, legt sich das Wort zurecht und bringt es diesmal tatsächlich richtig heraus: ». weil er ein Langweiler ist.«

»Vergiss es«, sagt Ebbie. »Was ist, wenn der ... wenn dieser Kerl ihn erwischt hat, du Dämlack? Willst du, dass die Leute dann sagen, dass das nur passiert ist, weil er nicht mithalten konnte? Dass er umgebracht worden ist oder sonst was, weil wir ihn zurückgelassen haben? Willst du, dass die Leute sagen, dass das alles unsere Schuld ist?«

»He, Mann«, sagt Ronnie. »Du glaubst doch nicht in echt, dass der Misherfun - Fisherman - Ty erwischt hat, oder?«

»Das weiß ich nicht, und mir ist’s auch egal«, sagt Eb-bie. »Es macht mir auch nichts aus, dass er weg ist. Ich hab langsam sowieso die Schnauze von dem voll gehabt.«

»Oh.« Ronnie gelingt es, gleichzeitig verständnislos und befriedigt zu wirken. Was für ein Dämlack der ist, staunt Ebbie insgeheim. Was für ein totaler, kompletter Dämlack! Und wer das nicht glaubt, braucht nur daran zu denken, wie der bärenstarke Ronnie sich von Ebbie eine Kopfnuss nach der anderen geben lässt. Irgendwann kommt vermutlich der Tag, an dem Ronnie merkt, dass er sich das nicht mehr gefallen lassen muss, und dann könnte es passieren, dass er Ebbie wie einen menschlichen Zeltpflock in den Boden treibt. Aber solche Dinge machen Ebbie keine Sorgen; in die Zukunft vorauszublicken fällt ihm noch schwerer als in die Vergangenheit zurückzusehen.

»Ronnie«, sagt Ebbie.

»Ja?«

»Wo waren wir, als Tyler abgehauen ist?«

»Äh ... Schmitt’s Allsorts?«

»Richtig. Und wo ist er hin?«

»Hat er nicht gesagt.«

Ebbie sieht, dass Ronnie das bereits für die Wahrheit zu halten beginnt, und ist zufrieden. Er wendet sich an T. J. »Kapiert?«

»Alles klar.«

»Gut, dann weiter.«

Sie fahren los. Als sie die mit Bäumen bestandene Straße entlangrollen, setzt der Dämlack sich etwas vor Ebbie und T. J. aber Ebbie lässt ihn gewähren. Er lenkt sein Rad näher an T. J. heran und sagt: »Hast du dort hinten sonst irgendwas gesehen? Irgendwen? Vielleicht einen Kerl?«

T. J. schüttelt den Kopf. »Nur sein Rad und seinen Schuh.« Er macht eine Pause und überlegt angestrengt. »Am Boden haben ein paar Blätter gelegen. Von der Hecke. Und ich hab eine Feder gesehen, glaub ich. Wie von einer Krähe oder so?«

Das tut Ebbie als unwesentlich ab. Er schlägt sich eher mit der Frage herum, ob der Fisherman heute Morgen wirklich nahe an ihn herangekommen ist - nahe genug, um sich einen seiner Kumpels zu schnappen. Einem blutdürstigen Teil seines Ichs gefällt diese Vorstellung, gefällt der Gedanke, irgendein schemenhaftes, gesichtsloses Monster habe den zunehmend lästiger werdenden Tyler Marshall abgemurkst und zum Mittagessen verspeist. Zu seinem Ich gehört auch ein kindlicher Teil, der sich vor dem schwarzen Mann fürchtet (dieser Teil wird heute Nacht das Regiment führen, wenn er wach in seinem Zimmer liegt und die Schatten anstarrt, die Formen anzunehmen und immer näher an sein Bett heranzudrängen scheinen). Und dann gibt es noch einen frühreifen Teil seines Ichs, der instinktiv und unverzüg-lich Maßnahmen ergriffen hat, um sich dem Auge des Gesetzes für dem Fall zu entziehen, dass Tylers Verschwinden sich zu etwas entwickelt, was Ebbies Vater einen »Scheißrabatz« nennen würde.

Aber wie bei Dale Gilbertson und Tys Vater Fred herrscht in Ebbie Wexlers Innerem vor allem ein großer, fundamentaler Unglaube vor. Er will einfach nicht glauben, Tyler sei etwas Endgültiges zugestoßen. Nicht einmal nach den Morden an Amy St. Pierre und Johnny Ir-kenham, der zerstückelt und in einem alten Hühnerstall aufgehängt wurde. Das sind Kinder, von denen Ebbie in den Abendnachrichten gehört hat, Fiktionen aus dem Fernsehland. Da er weder Amy noch Johnny gekannt hat, können sie ruhig gestorben sein, genau wie nicht wirklich existierende Leute ständig in Filmen und im Fernsehen sterben. Bei Ty ist das aber anders. Ty war vorhin noch da. Er hat mit Ebbie geredet. Ebbie hat mit ihm geredet. Aus Ebbies Sicht kommt das Unsterblichkeit gleich. Oder sollte ihr gleichkommen. Konnte der Fisherman sich Ty schnappen, könnte er sich jeden Jungen schnappen. Auch Ebbie. Deshalb glaubt er’s wie Da-le und Fred einfach nicht. Sein geheimstes und innerstes Innere, jener Teil seines Ichs, der dem Rest seines Selbst versichert, auf dem Planeten Ebbie sei alles bestens, leugnet den Fisherman und all dessen Werke.

»Ebbie, glaubst du .«, sagt T. J.

»Ach was«, sagt Ebbie. »Der taucht wieder auf. Komm, wir fahren in den Park. Dosen und Flaschen können wir auch später noch suchen.«

Fred Marshall hat sein Sportsakko im Büro gelassen und sich die Ärmel hochgekrempelt, um Rod Tisbury dabei zu helfen, eine neue Rotofräse von Hiler auszupacken. Dieses erste Gerät einer neuen Modellreihe von Hiler ist echt super.

»Auf ein Gerät wie das hier warte ich seit mindestens zwanzig Jahren«, sagt Rod. Er setzt das breite Ende der Brechstange fachmännisch oben an der großen Kiste an, worauf eine der Seitenwände mit dumpfem Knall auf den Betonboden der Wartungsdienstwerkstatt klatscht. Rod ist Chefmechaniker bei Goltz’s und hier in seiner Werkstatt der King. »Sie eignet sich für den kleinen Farmer; sie eignet sich aber auch für den Landschaftsgärtner. Wenn man bis zum Herbst nicht ein Dutzend dieser Dinger verkauft, hat man seinen Beruf verfehlt.«

»Bis Ende August verkaufe ich locker zwanzig davon«, sagt Fred völlig zuversichtlich. Vorübergehend sind alle seine Sorgen angesichts dieser fantastischen kleinen grünen Maschine vergessen, einer Maschine, die verdammt viel mehr kann, als nur fräsen. Sie wird mit zahlreichen tollen Zusatzgeräten geliefert, die sich so leicht anbringen und abnehmen lassen wie das Vliesfutter einer Out-doorjacke. Er will den Motor anlassen, will ihn laufen hören. Der Zweizylinder sieht echt stark aus.

»Fred?«

Er sieht sich ungeduldig um. Dort steht Ina Gaitskill, Ted Goltz’ Sekretärin und gleichzeitig Empfangsdame der Firma. »Was ist?«

»Anruf für Sie.« Ina deutet quer durch die Werkstatt -die von Maschinenlärm und dem lauten Rattern eines Druckluftschraubers, der die Radmuttern eines alten Ca-se-Traktors löst, widerhallt - auf das Wandtelefon, an dem mehrere Lichter blinken.

»Können Sie nicht aufschreiben, um was es geht, Ina? Ich wollte Ron helfen, eine Batterie in dieses kleine Biest einzubauen, damit wir .«

»Sie sollten lieber selbst ans Telefon gehen. Die Anruferin hat sich mit Enid Purvis gemeldet. Wohl eine Nachbarin von Ihnen?«

Fred blinzelt kurz, dann kommt sein Verkäufergedächtnis, das zwanghaft Namen speichert, ihm zu Hilfe. Enid Purvis. Frau von Deke. Ecke Robin Hood/Maid Marian. Deke hat er erst heute Morgen gesehen. Sie haben sich zugewinkt.

Gleichzeitig nimmt er wahr, dass Inas Augen weit aufgerissen und ihre normalerweise vollen Lippen schmal zusammengekniffen sind. Sie wirkt besorgt.

»Was gibt’s?«, fragt Fred. »Was ist denn los, Ina?«

»Weiß ich nicht.« Dann fügt sie zögernd hinzu: »Irgendwas mit Ihrer Frau.«

»Gehen Sie lieber hin, Boss«, sagt Rod, aber Fred ist bereits über den ölfleckigen Betonboden zum Telefon unterwegs.

Zehn Minuten nachdem er von Goltz’s weggerast ist und an der Parkplatzausfahrt wie ein Teenager eine schwarze Reifenspur auf dem Asphalt hinterlassen hat, kommt er zu Hause an. Das Schlimmste war gewesen, wie ruhig und überlegt Enid Purvis gesprochen hatte, wie sie sich bemüht hatte, nicht verängstigt zu wirken.

Sie sei mit Potsie, ihrem Hund, Gassi gegangen, sagte sie, und am Haus der Marshalls vorbeigekommen, da habe sie Judy schreien hören. Nicht nur einmal, sondern zweimal. Enid, Gott segne sie, hatte natürlich getan, was jede gute Nachbarin getan hätte: Sie war zur Haustür gegangen, hatte angeklopft und dann den Briefschlitz aufgestoßen und hindurchgerufen. Wäre keine Antwort gekommen, erklärte sie Fred, hätte sie wahrscheinlich die Polizei verständigt. Dazu wäre sie nicht einmal nach Hause gegangen; sie hätte einfach die Straße zum Haus der Plotskys überquert und von dort aus angerufen. Aber .

»Mir fehlt nichts«, habe Judy gerufen und dann gelacht. Ihr Lachen war schrill und endete mit einem japsenden Kichern. Dieses Lachen sei Enid irgendwie noch unheimlicher vorgekommen als die Schreie. »Alles war nur ein Traum. Sogar Ty war ein Traum.«

»Haben Sie sich verletzt, meine Liebe?«, habe Enid durch den Briefschlitz gerufen. »Sind Sie gestürzt?«

»Den Fischkorb hat’s nie gegeben«, habe Judy zurückgerufen. Vielleicht hatte sie auch Tischkorb gesagt, obwohl, Enid war sich ziemlich sicher, Fisch- korb gehört zu haben. »Den hab ich auch geträumt.« Dann, so hatte sie Fred widerstrebend berichtet, habe Judy Marshall zu weinen begonnen. Es sei sehr beunruhigend gewesen, diese aus dem Briefschlitz an ihr Ohr dringenden Laute zu hören. Selbst der Hund habe gewinselt.

Enid habe nochmals durch den Briefschlitz gerufen und gefragt, ob sie reinkommen dürfe, um sich davon zu überzeugen, dass Judy nicht verletzt sei.

»Verschwinden Sie!«, habe Judy zurückgerufen. Mitten in ihrem Weinen habe sie aber erneut gelacht - ein zorniges, verwirrtes Lachen. »Sie sind auch nur ein Traum. Diese ganze Welt ist ein Traum.« Dann sei ein Klirren zu hören gewesen, als hätte sie einen Kaffeebecher oder ein Wasserglas mit der Hand vom Tisch gewischt. Oder an die Wand geworfen.

»Ich habe die Polizei nicht gerufen, weil ich dachte, Ihrer Frau würde nichts fehlen«, berichtete Enid ihm zum Abschluss (Fred hatte sich den Telefonhörer ans Ohr gepresst und mit der freien Hand das andere Ohr zugehalten, um all die störenden mechanischen Geräusche auszuschließen, die ihm normalerweise Spaß machten, sich ihm in diesem Augenblick aber wie verchromte Stacheln in den Schädel zu bohren schienen). »Wenigstens körperlich nichts, meine ich. Aber, Fred ... ich glaube, Sie sollten lieber mal heimfahren und nach ihr sehen.«

Judys Eigentümlichkeiten aus letzter Zeit wirbelten ihm alle durch den Kopf. Dazu Pat Skardas Worte. Mentale Dysfunktion ... Wir bekommen zwar oft zu hören, »Soundso ist plötzlich übergeschnappt«, ... es gibt meistens irgendwelche Anzeichen ...

Und er hat die Anzeichen gesehen, oder nicht?

Gesehen, aber nichts unternommen.

Fred parkt seinen Wagen, einen Ford Explorer, in der Einfahrt, rennt die Stufen zur Haustür hinauf und ruft dabei schon den Namen seiner Frau. Sie antwortet nicht. Selbst nachdem er durch die Haustür gestürmt ist (die er mit solcher Gewalt aufstößt, dass die Messingklappe des Briefschlitzes ein sinnloses kleines Klacken von sich gibt), antwortet ihm niemand. Das klimatisierte Innere seines Hauses lässt ihn frösteln, und jetzt erst merkt er, dass er in Schweiß gebadet ist.

»Judy? Jude?«

Noch immer keine Antwort. Fred hastet durch die Diele in die Küche, wo er sie üblicherweise am ehesten antrifft, wenn er vormittags noch einmal heimkommt, weil er irgendwas vergessen hat.

Die Küche ist leer und sonnendurchflutet. Tisch und Küchentheke sind sauber; die Küchengeräte blitzen; auf der Abtropffläche neben dem Ausguss stehen zwei frisch abgewaschene Kaffeetassen, die in der Sonne glitzern. Weitere Sonnenreflexe kommen von einem Häufchen Glasscherben, die in einer Ecke liegen. Fred sieht auf einer Scherbe einen Blumenaufkleber und erkennt daran, dass das die Vase vom Fensterbrett war.

»Judy?«, ruft er wieder. Er fühlt den Puls an Kehle und Schläfen pochen.

Sie gibt keine Antwort, aber auf einmal hört er sie oben. Sie singt.

»Rock-a-bye baby ... on the treetop ... when the wind blows . «

Fred erkennt das Lied, aber statt beim Klang ihrer Stimme erleichtert zu sein, fröstelt er nur noch mehr. Sie hat es Tyler immer vorgesungen, als er noch klein war. Tys Wiegenlied, hat sie es genannt. Fred hat dieses Lied schon jahrelang nicht mehr von ihr gehört.

Er geht durch die Diele zur Treppe zurück und nimmt jetzt wahr, was er im Vorbeihasten übersehen hat. Der Druck Christina’s World von Andrew Wyeth ist abgehängt und an die Fußleistenheizung gestellt worden. Die Tapete unter dem Bilderhaken ist an mehreren Stellen bis auf die Wandfaserplatte darunter abgekratzt. Fred, der nun noch mehr fröstelt, weiß genau, dass Judy das getan hat. Dahinter steckt keine eigentliche Intuition, auch keine logische Schlussfolgerung. Man könnte es die Telepathie lange Verheirateter nennen.

Von oben ist eine schöne, tonrein singende Stimme zu hören, die zugleich völlig sinnentleert klingt: ». the craddle will rock. When the bough breaks, the craddle will fall...«

Fred nimmt jeweils zwei Stufen auf einmal, ruft dabei ihren Namen.

Im oberen Flur haben sie über die Jahre eine Galerie ihrer Vergangenheit aufgehängt: Fred und Judy vor dem Madison Shoes, einem Blues-Club, in dem sie manchmal waren, wenn im Chocolate Watchband nichts Interessantes los war; Fred und Judy im Kreis ihrer lächelnden Angehörigen beim Brautwalzer auf ihrer Hochzeit; Judy in einem Krankenhausbett, erschöpft, aber glücklich, mit dem neugeborenen Ty im Arm; die Aufnahme von der Farm der Familie Marshall, über die sie immer die Nase rümpfte; und vieles mehr. Jetzt bietet der Flur ein erschreckendes Bild der Verwüstung.

Die meisten der gerahmten Fotos sind abgenommen worden. Manche - wie die Aufnahme von der Farm -sind offenbar zu Boden geschmettert worden. Der ganze Flur ist mit glitzernden Glasscherben übersät. Und sie hat die Tapete hinter einem halben Dutzend Bilder zerkratzt. Wo das Krankenhausfoto von Judy und Ty gehangen hat, ist das Papier fast völlig abgerissen, und er sieht, wo ihre Fingernägel sich in die Wandfaserplatte darunter gegraben haben. Einige dieser Kratzer sind mit antrocknenden Blutflecken gesprenkelt.

»Judy! Judy!«

Die Tür von Tylers Zimmer steht offen. Fred spurtet den Flur entlang. Unter seinen Sohlen knirschen Glassplitter.

». and down will come Tyler, craddle and all.«

»Judy! Ju...«

Er steht an der Tür und bringt vorübergehend kein einziges Wort mehr heraus.

Tys Zimmer sieht nach einer gewalttätigen Durchsuchung aus, wie man sie aus Kriminalfilmen kennt. Die Kommodenschubladen sind herausgerissen worden und liegen im ganzen Raum verstreut, die meisten ausgeleert. Die Kommode selbst ist von der Wand abgerückt worden. Überall liegen Klamotten herum: Jeans und TShirts und Unterwäsche und weiße Sportsocken. Der Kleiderschrank steht offen, und weitere Kleidungsstücke sind von ihren Bügeln gerissen worden; dieselbe eheliche Telepathie wie zuvor sagt ihm, dass sie Tys Hosen und Oberhemden herabgerissen hat, um sich zu vergewissern, dass sich dahinter nichts verbirgt. Das Jackett von Tylers einzigem Anzug hängt schief über dem Türknopf des Kleiderschranks. Seine Poster sind von den Wänden gefetzt worden; Mark McGwire ist mitten durchgerissen. In allen Fällen bis auf einen hat sie die Tapete hinter den Postern in Ruhe gelassen, die einzige Ausnahme ist dafür aber sehenswert. In dem Rechteck hinter dem Plakat mit dem Schloss (Kehrt heim ins alte Land) ist die Tapete fast völlig abgerissen. Auf der Wandfaserplatte darunter sind viele weitere Blutspuren zu erkennen.

Judy Marshall hockt auf der nackten Matratze von Tylers Bett. Mit dem Kopfkissen obendrauf liegt die Bettwäsche zusammengeknüllt in einer Ecke. Das Bett selbst ist von der Wand weggezerrt worden. Judy hält den Kopf gesenkt. Fred kann ihr Gesicht nicht sehen - das Haar verbirgt es -, aber sie trägt Shorts, und er kann die Blutspritzer und -streifen auf ihren sonnengebräunten Schenkeln sehen. Sie hält die Hände unterhalb der Knie gefaltet, wo Fred sie nicht sehen kann, und er ist froh darüber. Er will nicht sehen müssen, wie schlimm sie sich verletzt hat, bevor es unbedingt sein muss. Das Herz hämmert ihm in der Brust, das Nervensystem arbeitet wegen Adrenalinüberlastung an der Drehzahlgrenze, und im Mund hat er einen Geschmack wie von einer durchgebrannten Sicherung.

Sie setzt wieder an, den Refrain von Tys Wiegenlied zu singen, aber er kann’s nicht länger ertragen. »Judy, nein«, sagt er und nähert sich ihr durch das wüste Minenfeld, das noch gestern Abend, als er hineingegangen ist, um Ty einen Gutenachtkuss zu geben, das halbwegs aufgeräumte Zimmer eines kleinen Jungen war. »Hör auf, Schatz, ich bin da.«

Erstaunlicherweise hört sie auf. Sie hebt den Kopf, und als er das Entsetzen in ihrem Blick sieht, verlässt ihn der letzte Rest Kraft, den er sich noch bewahrt hat. Das hier ist mehr als nur Entsetzen. Das ist eine Leere, als wäre etwas in ihrem Inneren zur Seite geglitten und hätte ein schwarzes Loch freigegeben.

»Ty ist fort«, sagt sie einfach. »Ich habe hinter so viele Bilder gesehen, wie ich nur konnte . Ich war mir sicher, dass er hinter dem hier sein würde ... Wenn er irgendwo wäre, würde er hinter dem hier sein .«

Sie zeigt auf die Stelle, wo das irische Reiseplakat gehangen hat, und er sieht, dass vier Fingernägel ihrer linken Hand ganz oder teilweise abgerissen sind. Sein Magen macht einen Handstandüberschlag. Ihre Finger sehen aus wie in rote Tinte getaucht. Wenn’s nur Tinte wäre, denkt Fred. Wenn’s nur ...

». aber es ist natürlich nur ein Bild. Das sind alles nur Bilder. Das weiß ich jetzt.« Sie macht eine Pause, dann ruft sie aus: »Abbalah! Munshun! Abbalah-gorg, Abbalahdoon!« Ihre Zunge kommt heraus - kommt zu unglaublicher, cartoonhafter Länge heraus - und wischt mit Speichel benetzt über die Nasenspitze. Das sieht Fred, aber er kann es nicht glauben. Er kommt sich vor wie jemand, der mitten in einen Horrorfilm gerät, entdecken muss, dass der Film Wirklichkeit ist, und jetzt nicht weiß, was er tun soll. Was soll er denn tun? Was soll man tun, wenn man entdeckt, dass die Frau, die man liebt, verrückt geworden ist oder zum Allermindesten den Bezug zur Realität verloren hat?

Aber er liebt sie, hat sie seit der ersten Woche nach ihrem Kennenlernen geliebt - hilflos und absolut und seither ohne das geringste Bedauern - und lässt sich jetzt von Liebe leiten. Er setzt sich neben sie, legt einen Arm um sie und hält sie einfach nur umarmt. Er fühlt sie von innen heraus zittern. Ihr Körper vibriert wie eine Saite.

»Ich liebe dich«, sagt er und ist von seiner Stimme überrascht. Erstaunlich, dass aus einem solchen Chaos aus Angst und Verwirrung scheinbare Ruhe kommen kann. »Ich liebe dich, und alles kommt wieder in Ordnung.«

Sie sieht zu ihm auf, und ein gewisser Ausdruck tritt ihr wieder in die Augen. Fred kann ihn nicht als Vernunft bezeichnen (so gern er das auch täte), aber er zeugt zumindest von einer Art marginalem Bewusstsein. Sie weiß, wo sie ist und wer bei ihr ist. Sekundenlang sieht er Dankbarkeit in ihrem Blick. Dann verzerrt erneut unerträglicher Schmerz das Gesicht, und sie beginnt zu weinen. Das Weinen hat einen erschöpften, hoffnungslosen Klang, der ihm das Herz zerreißt. Nerven, Herz und Verstand, alles schmerzt.

»Ty ist fort«, sagt Judy. »Der Gorg hat ihn gelockt, und der Abbalah hat ihn verschleppt. Abbalahdoon!« Tränen laufen ihr übers Gesicht. Als sie die Hände hebt, um die Tränen wegzuwischen, hinterlassen die Finger erschreckende Blutspuren.

Obwohl er davon überzeugt ist, dass Tyler nichts fehlt (Fred jedenfalls hat heute keine Vorahnungen, wenn wir einmal von seiner optimistischen Verkaufsprognose für die neue Hiler-Fräse absehen), durchläuft ihn beim Anblick dieser Blutspuren ein plötzlicher Schauder, der aber nicht durch Judys Zustand, sondern durch das ausgelöst wird, was sie eben gesagt hat: Ty ist fort. Ty ist mit seinen Freunden unterwegs; er hat Fred erst gestern Abend erzählt, dass er tagsüber gemeinsam mit Ronnie, T. J. und diesem eher unerfreulichen Wexler-Jungen »rumhängen« will. Und er hat versprochen, auf dem kürzesten Weg nach Hause zu kommen, falls die anderen drei Jungen sich an Orten herumtreiben, an denen er nicht sein will. Damit scheint für alle Eventualitäten vorgesorgt zu sein, obwohl . gibt es nicht so etwas wie mütterliche Intuition? Na ja, denkt er, vielleicht im Fernsehen.

Er hebt Judy hoch und ist aufs Neue entsetzt, diesmal darüber, wie leicht sie ist. Sie muss zehn Kilo abgenommen haben, seit ich sie zuletzt so hochgehoben habe, denkt er. Mindestens fünf. Wie kann mir das entgangen sein? Aber er weiß, warum. Arbeitsüberlastung war mit schuld daran; die hartnäckige Weigerung, sich von der Idee zu verabschieden, im Grunde genommen sei alles in Ordnung, hat den Rest besorgt. Tja, denkt er, während er sie aus dem Zimmer trägt (ihre Arme sind müde nach oben gekrochen und haben sich um seinen Hals geschlungen), von dieser kleinen Fehleinschätzung dürfte ich jetzt kuriert sein. Und das glaubt er wirklich, obwohl er weiterhin blind darauf vertraut, dass sein Sohn sich in Sicherheit befindet.

Judy ist bei ihrem Amoklauf nicht bis ins Elternschlafzimmer vorgedrungen. Fred erscheint es jetzt wie eine kühle Oase der Vernunft. Judy scheint es ähnlich zu empfinden. Sie seufzt erschöpft und lässt die Arme von seinem Hals gleiten. Ihre Zunge kommt zum Vorschein, aber dieses Mal wischt sie nur schwach über die Ober-lippe. Fred beugt sich nach vorn und lässt Judy aufs Bett gleiten. Sie hält die Hände hoch und starrt sie an.

»Ich hab mich geschnitten . mich zerkratzt .«

»Ja«, sagt er. »Ich hole gleich was zum Verarzten.«

»Wie ...?«

Er setzt sich kurz neben sie. Den Kopf hat sie in die weiche doppelte Dicke der Kissen sinken lassen, allmählich fallen ihr die Augen zu. Er glaubt, hinter der Verwirrung in ihrem Blick noch immer die erschreckende Leere zu erkennen. Er hofft, dass er sich irrt.

»Weißt du das nicht mehr?«, fragt er sanft.

»Nein . bin ich hingefallen?«

Fred zieht es vor, nicht zu antworten. Er denkt wieder nach. Nicht sehr viel, das würde ihn vorerst noch überfordern, aber doch ein wenig. »Schatz, was ist ein Gorg? Was ist ein Abbalah? Ist das ein Mensch?«

»Weiß ... nicht ... Ty .«

»Ty fehlt nichts«, sagt er.

»Doch .«

»Nein«, beteuert er. Irgendwie beteuert er das beiden Menschen in diesem hübschen, geschmackvoll möblierten Schlafzimmer. »Schatz, bleib einfach liegen, ja? Ich möchte ein paar Sachen holen.«

Ihr fallen langsam die Augen zu. Er glaubt, dass sie einschlafen wird, aber sie schafft es, die Lider noch einmal halb zu öffnen.

»Bleib einfach liegen«, sagt er. »Kein Aufstehen und Herumlaufen mehr. Damit ist jetzt Schluss. Du hast der armen Enid Purvis einen Schrecken eingejagt, der sie ein Jahr ihres Lebens kosten wird. Versprochen?«

»Versprochen .« Die Lider sinken wieder herab.

Fred geht nach nebenan ins Bad, wobei er auf irgendeine Bewegung hinter sich horcht. Er hat noch nie einen Menschen gesehen, der so erledigt war, wie Judy das im Augenblick zu sein scheint, aber Verrückte sind clever, und obwohl Fred auf manchen Gebieten ein wahrer Verdrängungskünstler ist, kann er sich in Bezug auf den gegenwärtigen Geisteszustand seiner Frau nichts mehr vormachen. Verrückt? Wirklich völlig übergeschnappt? Vermutlich nicht. Aber bestimmt leicht durchgedreht. Vorübergehend durchgedreht, verbessert er sich, während er das Medizinschränkchen öffnet.

Nachdem er das Antiseptikum Mercurochrom herausgenommen hat, sucht er die rezeptpflichtigen Medikamente im Fach darüber ab. Es sind nicht viele. Er greift nach dem Fläschchen ganz links außen. Sonata, Apotheke French Landing, eine Kapsel vor dem Schlafengehen, höchstens vier Nächte nacheinander einnehmen, verordnet von Dr. med. Patrick J. Skarda.

Im Spiegel des Medizinschränkchens kann Fred nicht das ganze Bett sehen, aber er sieht den Fußteil . und einen von Judys Füßen. Noch immer auf dem Bett. Gut, gut. Er schüttelt eine Kapsel des Schlafmittels heraus, danach kippt er die Zahnbürsten aus dem Glas - er hat nicht die Absicht, nur wegen eines sauberen Glases in die Küche hinunterzugehen, will sie nicht so lange allein lassen.

Sobald er das Glas gefüllt hat, geht er mit dem Wasser, der Pille und dem Fläschchen Mercurochrom ins Schlafzimmer zurück. Sie hat die Augen geschlossen. Sie atmet so langsam, dass er ihr eine Hand auf die Brust legen muss, um sich zu vergewissern, dass sie überhaupt atmet.

Fred betrachtet das Schlafmittel, wägt das Für und Wider ab, dann rüttelt er sie wach. »Judy! Jude! Wach kurz auf, Schatz. Damit ich dir kurz eine Pille geben kann, okay?«

Sie gibt keinen Laut von sich, und Fred legt die Kapsel auf den Nachttisch. Judy wird sie vorerst wohl nicht brauchen. Dass sie so rasch eingeschlafen ist und so tief schläft, erfüllt ihn mit schwachem Optimismus. Ihm kommt es so vor, als wäre irgendein schlimmes Geschwür geplatzt, hätte sein Gift in sie ergossen und sie müde und geschwächt, aber vielleicht auch wieder genesend zurückgelassen. Könnte das sein? Fred weiß es nicht, aber er weiß bestimmt, dass sie sich nicht etwa nur schlafend stellt. Judys gegenwärtige Probleme haben alle mit Schlaflosigkeit begonnen; Schlaflosigkeit ist von Anfang an die einzige Konstante gewesen. Während sie erst seit einigen Monaten beunruhigende Symptome hat erkennen lassen - Selbstgespräche und diese merkwürdige, ziemlich abstoßende Angewohnheit mit der Zunge, um nur zwei davon zu erwähnen -, hat sie bereits seit Januar schlecht geschlafen. Daher das Schlafmittel. Jetzt scheint sie endlich umgekippt zu sein. Und darf man nicht hoffen, dass ihre normale frühere Persönlichkeit zurückkehren wird, wenn sie aus einem normalen Schlaf erwacht? Dass nur ihre Sorgen um die Sicherheit ihres Sohns während des Fisherman-Sommers sie in eine Art Krise gestürzt haben? Vielleicht, vielleicht auch nicht ... Jedenfalls hat Fred jetzt Zeit, darüber nachzudenken, was als Nächstes zu tun ist, und er will diese Zeit gut nutzen. Eines erscheint ihm unbestreitbar: Ist Ty hier, wenn seine Mutter wieder aufwacht, wird der Junge eine sehr viel glücklichere Mutter haben. Daraus ergibt sich unmittelbar die Frage, wie er Ty möglichst schnell finden kann.

Sein erster Gedanke ist, bei Tys Freunden anzurufen. Das wäre einfach: Ihre Telefonnummern hängen in Ju-dys gut lesbarer, leicht schräger Schrift notiert am Kühlschrank - ebenso wie die Nummern von Feuerwehr, Polizei (mit Dale Gilbertsons Privatnummer; er ist ein alter Freund) und Notarzt. Aber Fred braucht nur einen Augenblick, um sich klar zu werden, dass das keine gute Idee ist. Ebbies Mutter ist tot, und sein Vater ist ein unangenehmer Schwachkopf - Fred hat nur einmal ein paar Worte mit ihm gewechselt, aber dieses eine Mal war mehr als genug. Fred mag es nicht sehr, wenn Judy manche Leute als »Minderbemittelte« einstuft (Für wen hältst du dich eigentlich, hat er sie einmal gefragt, für die gottverdammte Frau Königin?), aber auf Pete Wexler passt dieses Etikett. Der hat bestimmt keine Ahnung, wo die Jungen heute sind, und es wird ihm auch egal sein.

Mrs. Metzger und Ellen Renniker könnten es wissen, aber Fred, der selbst einmal ein Junge mit Sommerferien war - in denen einem die ganze Welt zu Füßen liegt und man zweitausend Orte kennt, an denen man sich herumtreiben kann -, bezweifelt das sehr. Denkbar wäre, dass die Jungen bei den Metzgers oder Rennikers zu Mittag essen (der Zeitpunkt dafür rückt allmählich heran), aber lohnt es sich, wegen dieser vagen Möglichkeit zwei Frauen in Angst und Schrecken zu versetzen? Sie würden als Erstes nur an den Killer denken, und das darf er ihnen auf keinen Fall antun.

Während Fred wieder neben seiner Frau auf der Bettkante sitzt, beginnt er das erste wirkliche Kribbeln von Sorge um seinen Sohn zu spüren, weist es aber brüsk von sich. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich von unbestimmten Ängsten kribbelig machen zu lassen. Er muss daran denken, dass zwischen den mentalen Problemen seiner Frau und der Sicherheit seines Sohnes keinerlei Zusammenhang besteht - außer in Judys Vorstellung. Seine Aufgabe ist es, Ty in einwandfreier Verfassung zu präsentieren, um ihr so zu beweisen, dass ihre Ängste unbegründet sind.

Ein Blick auf den Radiowecker auf dem Nachttisch zeigt Fred, dass es 11.15 Uhr ist. Wie die Zeit verfliegt, wenn man sich herumtreibt, denkt er. Neben ihm gibt Judy einen einzelnen japsenden Schnarchlaut von sich. Es ist ein leiser, wirklich ganz damenhafter Laut, aber Fred fährt trotzdem zusammen. Wie sie ihn erschreckt hat, als er sie zuerst in Tys Zimmer gesehen hat! Er ist immer noch verängstigt.

Vielleicht kommen Ty und seine Freunde zum Mittagessen ja auch hierher. Judy sagt, dass sie oft kommen, weil die Metzgers nicht viel zu essen haben und Mrs. Renniker meistens etwas auftischt, was die Jungen als »Pampe« bezeichnen: ein undefinierbares Gericht aus Nudeln mit grau zerkochtem Fleisch. Judy macht ihnen Sachen, die sie mögen: Campbell-Suppe und Mortadella-Sandwichs. Ty hat andererseits auch genug Geld dabei, um sie alle ins McDonald’s in dem kleinen Einkaufszentrum im Norden der Stadt einzuladen, oder sie könnten in Sonny’s Cruisin’ Restaurant gehen, das ein billiger Schnellimbiss mit einem miesen FünfzigerjahreAmbiente ist. Und Ty lädt seine Freunde gerne mal ein. Er ist von Natur aus großzügig.

»Ich warte bis zum Mittagessen«, murmelt er, ganz ohne zu merken, dass er laut denkt. Judy stört er damit ganz sicher nicht; sie schläft tief. »Dann .«

Was dann? Das weiß er nicht recht.

Er geht nach unten, stellt die Kaffeemaschine wieder an und telefoniert mit der Firma. Er bittet Ina, Ted Goltz auszurichten, dass er heute nicht mehr kommen kann - Judy sei krank. Eine Sommergrippe, erklärt er ihr. Mit Erbrechen und allem. Er zählt ihr die Kunden auf, mit denen er heute Termine gehabt hätte, und bittet sie, Otto Eisman zu fragen, ob nicht er sie übernehmen kann. Otto wird sich eifrig auf Freds Kunden stürzen.

Während er mit Ina spricht, fällt ihm etwas ein, und nachdem das Gespräch beendet ist, ruft er doch bei den Metzgers und Rennikers an. Bei den Metzgers meldet sich ein Anrufbeantworter, und Fred legt auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Ellen Renniker meldet sich jedoch nach dem zweiten Klingeln. Er bittet sie in lockerem und gut gelauntem Tonfall - das macht ihm keine Mühe, er ist ein verdammt guter Verkäufer -, Ty möge doch zu Hause anrufen, falls die Jungen dort zum Mittagessen aufkreuzen. Fred sagt, dass er seinem Sohn etwas erzählen müsse, und lässt dabei durchblicken, dass es sich um etwas Erfreuliches handelt. Ellen sagt, dass sie’s Ty ausrichten wird, fügt aber hinzu, dass T. J. das Haus morgens mit vier, fünf Dollar verlassen hat, die ihm bestimmt ein Loch in die Jeans gebrannt haben, so-dass sie ihn nicht vor dem Abendessen erwartet.

Fred geht wieder nach oben, um nach Judy zu sehen. Sie hat nicht mal einen Finger bewegt, und er nimmt an, dass das gut ist.

Nein. An dieser Sache ist überhaupt nichts gut.

Statt abzuklingen, nachdem die Situation sich nun -gewissermaßen - stabilisiert hat, scheint seine Angst stärker zu werden. Sich einzureden, Ty sei mit seinen Freunden zusammen, scheint nichts mehr zu nützen. Das sonnige, stille Haus wird ihm langsam unheimlich. Er merkt, dass er Ty nicht mehr nur um Judys willen in einwandfreier Verfassung vor sich sehen möchte. Wo können die Jungen nur stecken? Gibt’s irgendeinen Ort, an dem sie .?

Natürlich gibt’s einen. Wo sie Magic Cards bekommen können. Dieses dämliche, unverständliche Spiel, das sie mit Begeisterung spielen.

Fred Marshall geht wieder hinunter, greift sich das Telefonbuch, blättert in den Gelben Seiten und ruft dann das 7-Eleven an. Wie fast jeder in French Landing ist Fred wöchentlich vier, fünfmal im 7-Eleven - hier eine Dose Limonade, da eine Tüte Orangensaft. Er erkennt den singenden Tonfall des Inders, der dort tagsüber bedient. Ihm fällt auch sofort der Name des Mannes ein: Rajan Patel. Es ist ein alter Verkäufertrick, so viele Namen wie irgend möglich im aktiven Speicher zu behalten. Hier macht er sich echt bezahlt. Als Fred ihn mit Mr. Patel anspricht, wird der Mann sofort sehr freundlich und äußerst hilfsbereit. Leider kann er Fred nicht recht weiterhelfen. Tagsüber kommen viele Jungen herein. Sie kaufen Magic Cards, auch Pokémon- und Baseballkarten. Manche tauschen diese Karten vor dem 7-Eleven. Er kann sich allerdings an drei erinnern, die morgens mit Rädern da waren, sagt er. Sie haben Wassereis und Magic Cards gekauft und sich anschließend draußen über irgendwas gestritten. (Rajan Patel lässt ihre üblen Ausdrücke unerwähnt, obwohl sie der Hauptgrund dafür sind, dass er sich an diese Jungen erinnert.) Kurze Zeit später, sagt er, seien sie weggefahren.

Fred trinkt Kaffee, ohne sich auch nur daran erinnern zu können, ihn sich eingeschenkt zu haben. Neue Fäden ängstlicher Unruhe lassen in seinem Kopf hauchzarte Spinnennetze entstehen. Drei Jungen. Drei.

Das hat nichts zu bedeuten, das weißt du doch, oder?, sagt er sich. Er weiß es, aber gleichzeitig weiß er es auch nicht. Er kann nicht einmal glauben, dass Judys Ängstlichkeit ihn wie ein Erkältungsvirus ein bisschen angesteckt hat. Das ist lediglich . nun . Ängstlichkeit um der Ängstlichkeit willen.

Fred bittet Patel, ihm die Kids zu beschreiben, und ist nicht allzu überrascht, als Patel das nicht kann. Er glaubt, einer der Jungen sei dicklich gewesen, aber sogar das weiß er nicht sicher. »Sorry, aber ich sehe so viele«, sagt er. Fred erklärt ihm, dass er das versteht. Das tut er auch, nur kann alles Verständnis der Welt ihn nicht beruhigen.

Drei Jungen. Nicht vier, sondern drei.

Inzwischen ist es Essenszeit, aber Fred hat kein bisschen Hunger. Die unheimliche, sonnige Stille lastet auf ihm. Die Spinnweben werden dichter.

Nicht vier, sondern drei.

Falls Mr. Patel Tys Kumpel gesehen hat, war der dickliche Junge bestimmt Ebbie Wexler. Die Frage ist nur: Wer waren die beiden anderen gewesen? Und welcher hatte gefehlt? Welcher war dumm genug gewesen, sich von den anderen zu trennen?

Ty ist fort. Der Gorg hat ihn gelockt, und der Abbalah hat ihn verschleppt.

Verrücktes Gerede, ohne jeden Zweifel . aber trotzdem hat Fred plötzlich eine Gänsehaut auf den Armen. Er stellt den Kaffeebecher mit einem kleinen Knall ab. Er wird die Glassplitter zusammenkehren, das wird er tun. Das ist der nächste Schritt, ohne jeden Zweifel.

Den wirklichen nächsten Schritt, den logischen nächsten Schritt flüstert ihm eine Stimme im Kopf zu, als er die Treppe hinaufsteigt, aber er weist das sofort weit von sich. Die Cops werden in letzter Zeit bestimmt mit Anfragen hysterischer Eltern überhäuft, die ihre Kids für eine Stunde oder etwas länger aus den Augen verloren haben. Bei seiner letzten Begegnung mit Dale Gilbertson hat der arme Kerl sorgenvoll und bekümmert ausgesehen. Fred möchte nicht als Teil des Problems, sondern lieber als Teil der Lösung eingeordnet werden. Trotzdem .

Nicht vier, sondern drei.

Er holt Kehrschaufel und Besen aus der kleinen Besenkammer neben der Waschküche und fängt an, die Glassplitter zusammenzukehren. Als er damit fertig ist, sieht er nach Judy, stellt fest, dass sie noch immer schläft (allem Anschein nach tiefer als je zuvor), und geht dann in Tylers Zimmer hinüber. Ty wäre entsetzt, wenn er es in diesem Zustand sähe. Er würde glauben müssen, seine Mama sei wirklich übergeschnappt.

Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen, flüstert die Stimme in seinem Kopf. Er sieht sein Zimmer nicht wieder, nicht heute Abend, niemals mehr. Der Gorg hat ihn gelockt, und der Abbalah hat ihn verschleppt.

»Schluss damit!«, ermahnt Fred sich. »Hör auf, dich wie ein altes Weib zu benehmen.«

Aber das Haus ist zu leer, zu still, und Fred Marshall hat Angst.

In Tylers Zimmer Ordnung zu schaffen dauert länger, als Fred erwartet hätte; seine Frau muss wie ein Wirbelsturm darin gewütet haben. Wie kann eine so zierliche Person so viel Kraft aufbringen? Ist das die Kraft von Berserkern? Schon möglich, aber Judy braucht eigentlich keine Berserkerkraft. Hat sie sich jemals etwas in den Kopf gesetzt, kann sie eine erstaunliche Energie entwickeln.

Bis er alles aufgeräumt hat, sind fast zwei Stunden vergangen. Die einzige ins Auge fallende Spur, die noch bleibt, ist das aus der Tapete herausgekratzte Rechteck, wo das irische Reiseplakat gehangen hat. Auf Tys frisch gemachtem Bett sitzend, stellt Fred fest, dass er die weiße Wandfaserplatte, die so schamlos hervorsticht wie ein gebrochener Knochen durch zerfetzte Haut, umso weniger ertragen kann, je länger er diese Stelle anstarrt. Er hat die Blutspuren abgewaschen, aber er kann nichts gegen die Kratzspuren machen, die Judy mit den Fingernägeln hinterlassen haben.

Doch, das kann ich, denkt er. Das kann ich sehr wohl.

Tys Kleiderschrank ist ein altes Mahagonimöbel, ein Erbstück aus dem Nachlass irgendeiner weitläufigen Verwandten von Judy. Eigentlich kann man ihn nicht allein bewegen, aber unter den jetzigen Umständen kommt Fred diese Arbeit gerade recht. Er legt einen Teppichbodenrest unter, damit der Fußboden keine Kratzer bekommt, und schiebt den Schrank darauf durchs Zimmer. Vor der anderen Wand stehend, verdeckt er den größten Teil der zerkratzten Fläche. Sobald der kahle Fleck nicht mehr sichtbar ist, fühlt Fred sich besser. Normaler. Ty ist nicht zum Mittagessen heimgekommen, aber damit hat Fred eigentlich auch nicht gerechnet. Er kommt bis vier Uhr nach Hause, spätestens. Zum Abendessen ist er hier. Jede Wette.

Fred schlendert ins Elternschlafzimmer zurück und massiert sich unterwegs mit einer Hand das Kreuz. Judy hat sich noch immer nicht bewegt, und er legt ihr wieder besorgt eine Hand auf die Brust. Sie atmet langsam, aber ganz gleichmäßig. Wenigstens das ist in Ordnung. Er streckt sich neben ihr auf dem Bett aus, will seine Krawatte lockern und lacht auf, als er seinen offenen Hemdkragen ertastet. Sakko und Krawatte, beides hat er ja bei Goltz’s gelassen. Nun, heute war wirklich ein verrückter Tag. Vorläufig tut’s einfach gut, hier in der klimatisierten Kühle zu liegen und den schmerzenden Rü-cken auszuruhen. Den Kleiderschrank zu verschieben war eine Schweinearbeit, aber er ist froh, dass er’s getan hat. Einschlafen wird er ganz sicher nicht; dazu ist er viel zu aufgeregt. Außerdem hat er nie zu den Leuten gehört, die tagsüber gern ein Nickerchen machen.

Während Fred das denkt, schläft er ein.

Neben ihm beginnt Judy im Schlaf zu flüstern. Gorg ... Abbalah ... der Scharlachrote König. Und einen Frauennamen.

Der Name lautet Sophie.

6

Im Bereitschaftsraum der Polizeistation French Landing klingelt das Telefon auf dem Schreibtisch. Bobby Dulac hat nach Nasengold geschürft. Jetzt wischt er seinen letzten Schatzfund am Rand einer Schuhsohle ab und greift nach dem Hörer.

»Jep, Polizeistation, Officer Dulac am Apparat, was kann ich für Sie tun?«

»He, Bobby. Hier ist Danny Tcheda.«

Bobby verspürt einen Stich von leichtem Unbehagen. Danny Tcheda - wie Cheetah ausgesprochen - ist einer der insgesamt vierzehn ganztägig beschäftigten Cops, die in French Landing mit Streifenwagen patrouillieren. Er hat gerade Dienst, und normalerweise sollen Dienst habende Cops sich über Funk melden. Die einzige Ausnahme gilt, wenn es um den Fisherman geht. Dale hat angeordnet, dass Streifenpolizisten sich telefonisch melden sollen, wenn sie glauben, vor einer Situation zu stehen, die mit dem Killer zu tun hat. Dort draußen hören zu viele Leute, darunter bestimmt auch Wendell »Scheißkopf« Green, den Polizeifunk ab.

»Danny, was gibt’s?«

»Vielleicht nichts, vielleicht aber auch etwas nicht so Gutes. Ich habe ein Kinderrad und einen einzelnen Laufschuh im Kofferraum. Hab sie drüben auf der Queen Street gefunden. In der Nähe der Seniorenresidenz Maxton.«

Bobby zieht einen Schreibblock zu sich heran und macht sich Notizen. Sein leichtes Unbehagen ist zu Beklommenheit geworden.

»Das Rad ist in Ordnung«, fährt Danny fort. »Lag einfach so auf dem Gehsteig. Aber in Verbindung mit dem einzelnen Schuh .«

»Yeah, yeah, ich verstehe, Danny, aber du hättest diese Hinweise auf ein Verbrechen niemals mitnehmen dürfen.« Bitte, lieber Gott, lass es keine Hinweise auf ein Verbrechen sein, denkt Bobby Dulac. Bitte, lieber Gott, lass kein weiteres passiert sein.

Irma Freneaus Mutter war gerade da gewesen, um mit Dale zu reden, und obwohl es kein Kreischen oder Schreien gegeben hat, ist sie in Tränen aufgelöst und leichenblass aus seinem Dienstzimmer gekommen. Noch steht nicht fest, ob das kleine Mädchen das dritte Opfer des Fishermans geworden ist, aber ...

»Das musste ich, Bobby«, sagt Danny gerade. »Ich bin allein unterwegs. Ich wollte das nicht über Funk melden, ich musste erst ein Telefon finden. Hätte ich das Fahrrad dort gelassen, hätte sich sonst wer daran zu schaffen machen können. Verdammt, es sogar klauen können. Das ist ein gutes Rad, ein Schwinn mit Dreigangschaltung. Besser als das Fahrrad meines Jungen, das sag ich dir.«

»Dein Standort?«

»7-Eleven, oben am Hügel an der Route 35. Ich habe Folgendes gemacht: Ich habe die Position des Fahrrads und des einzelnen Schuhs mit Kreidekreuzen auf dem Gehsteig markiert. Ich habe alles nur mit Handschuhen angefasst und den Schuh in einen Asservatenbeutel gesteckt.« Dannys Tonfall klingt zunehmend besorgt. Bobby weiß, wie ihm zumute sein muss, kann sich mitfühlend in dessen Dilemma hineinversetzen. Allein mit dem Streifenwagen unterwegs zu sein, ist ein Scheißjob, aber French Landing beschäftigt bereits so viele Cops -in Voll- und Teilzeit -, wie der städtische Haushalt hergibt. Außer diese Sache mit dem Fisherman gerät völlig außer Kontrolle: Dann werden die Stadtväter zweifellos zusätzliche Mittel im Haushalt entdecken.

Vielleicht ist sie schon außer Kontrolle geraten, denkt Bobby Dulac.

»Okay, Danny. Okay. Ich verstehe, warum du das Zeug mitgenommen hast.« Ob Dale das auch versteht, ist eine völlig andere Sache, denkt Bobby dabei.

Danny senkt die Stimme. »Niemand braucht zu erfahren, dass ich das Beweismaterial mitgenommen habe, okay? Also, wenn das Thema mal auf den Tisch kommt. Vor Gericht oder so.«

»Das hängt von Dale ab, glaube ich.« O Gott, sagt Bobby sich. Ihm ist gerade ein neues Problem eingefallen. Alle unter dieser Nummer eingehenden Gespräche werden automatisch aufgezeichnet. Bobby beschließt, dass das Bandgerät einen Defekt erleiden wird - rückwirkend ab etwa zwei Uhr an diesem Nachmittag.

»Und soll ich dir noch was erzählen?«, sagt Danny. »Was mir dabei am wichtigsten war? Ich wollte nicht, dass die Leute diese Sachen sehen. Sieht man ein Fahrrad irgendwo mutterseelenallein herumliegen, braucht man kein beschissener Sherlock Holmes zu sein, um daraus bestimmte Schlussfolgerungen zu ziehen. Und die Leute sind kurz davor, in Panik zu geraten, vor allem nach dieser völlig unverantwortlichen Story, die der Herald heute Morgen gebracht hat. Aus demselben Grund wollte ich übrigens auch nicht aus dem Maxton anrufen.«

»Bleib mal dran. Du solltest mit Dale reden, glaub ich.«

In überaus trübseligem Tonfall sagt Danny: »O Mann.«

In Dale Gilbertsons Dienstzimmer hängt ein schwarzes Brett, das von den vergrößerten Fotos von Amy St. Pierre und Johnny Irkenham beherrscht wird. Ein drittes Foto wird bald hinzukommen, fürchtet er - das von Irma Freneau. Unter den beiden Fotos sitzt Dale an seinem Schreibtisch und raucht eine Marlboro 100. Er hat den Ventilator eingeschaltet, der hoffentlich den Rauch vertreiben wird. Sarah würde ihm an die Gurgel gehen, wenn sie wüsste, dass er wieder raucht, aber lieber Jesus Christus, er braucht irgendwas.

Sein Gespräch mit Tansy Freneau war kurz, aber das reinste Fegefeuer gewesen. Tansy ist eine Trinkerin, ein Stammgast der Sand Bar, und während ihres Gesprächs war der Geruch von Kaffee mit Brandy so stark gewesen, als käme er geradezu aus ihren Poren (eine weitere Ausrede für den Ventilator). Sie war halb betrunken bei ihm aufgekreuzt, aber Dale war das gerade recht gewesen. Wenigstens hatte sie das ruhig gestellt. Es ließ ihre trüben Augen zwar nicht glitzern, dafür war Kaffee mit Schuss nicht geeignet, aber sie blieb ruhig. Und bevor sie gegangen war, hatte sie gräßlicherweise sogar gesagt: »Danke für Ihre Hilfe, Sir.«

Tansys Exmann - Irmas Vater - lebt am anderen Ende von Wisconsin in Green Bay (»Green Bay ist die Stadt des Teufels«, pflegte Dales Vater immer zu sagen; Gott weiß, warum), wo er als Automechaniker arbeitet und nach Tansys Darstellung mehrere Bars mit Namen wie The End Zone und The Fifty-Yard Line unterhält. Bis heute konnte man mit gewisser Berechtigung glauben -oder zumindest hoffen -, Richard »Cubby« Freneau habe seine Tochter entführt. Eine E-Mail vom Green Bay Police Department hat diese Hoffnung aber zunichte gemacht. Cubby Freneau lebt mit einer Frau zusammen, die selbst zwei Kinder hat, und hat den Tag, an dem Irma verschwunden ist, wegen Trunkenheit und Ruhestörung in der Ausnüchterungszelle verbracht. Es gibt zwar noch immer keine Leiche, und Tansy hat keinen Brief vom Fisherman erhalten, aber .

Die Tür öffnet sich. Bobby Dulac streckt den Kopf herein. Dale drückt die Zigarette hastig am Innenrand des Papierkorbs aus und verbrennt sich dabei mit den aufstiebenden Funken den Handrücken.

»Heiliger Strohsack, Bobby, können Sie nicht anklopfen?«

»Sorry, Chief.« Bobby betrachtet den aus dem Papierkorb aufsteigenden Rauchfaden ohne Überraschung oder Interesse. »Danny Tcheda ist am Telefon. Ich finde, Sie sollten selbst mit ihm reden.«

»Worum geht’s denn?« Aber das weiß er. Wozu sonst dieser Anruf?

Bobby wiederholt nur, nicht ohne Mitgefühl: »Ich finde, Sie sollten selbst mit ihm reden.«

Der von Rebecca Vilas geschickte Wagen liefert Henry Leyden um 15.30 Uhr, eineinhalb Stunden vor Beginn des Tanzes zum Erdbeerfest, in der Seniorenresidenz Maxton ab. Die Überlegung ist, dass die alten Leute sich auf der Tanzfläche Appetit holen und dann in den - für diesen Anlass passend geschmückten - Speisesaal strömen sollen, wo sie ein herrlich spätes (19.30 Uhr ist fürs Maxton ziemlich spät) Dinner erwartet. Mit Wein für alle, die welchen trinken.

Der übel gelaunte Pete Wexler ist von Rebecca Vilas dazu abkommandiert worden, den Scheiß des DJs (für Pete ist Henry »der blinde Plattenkramer«) reinzubringen. Besagter Scheiß besteht aus zwei Lautsprechern (sehr groß), einem Plattenspieler (leicht, aber sperrig und verdammt schlecht zu tragen), einem Verstärker (sehr schwer), verschiedenen Kabeln (völlig durcheinander, aber das ist das Problem des blinden Plattenkramers) und vier Kartons mit richtigen Schallplatten, die vor ungefähr hundert Jahren unmodern geworden sind. Pete vermutet, dass der blinde Plattenkramer in seinem ganzen Leben noch keine CD gehört hat.

Das letzte Teil ist ein Kleidersack mit eingearbeitetem Bügel. Pete hat kurz hineingesehen und festgestellt, dass er einen weißen Anzug enthält.

»Hängen Sie ihn bitte dort hinein«, sagt Henry und zeigt unfehlbar treffsicher auf den Vorratsraum, der ihm als Garderobe dienen soll.

»Okay«, sagt Pete. »Was haben Sie da drin, wenn man fragen darf?«

Henry lächelt. Er weiß genau, dass Pete schon hineingesehen hat. Er hat das Knistern des Plastiksacks und das leise Ratschen des Reißverschlusses in einem Duett gehört, das nur entsteht, wenn jemand den Kleidersack oben öffnet. »In diesem Kleidersack, mein Freund, wartet Symphonic Stan, der Big-Band-Man, nur darauf, dass ich ihn anziehe und zum Leben erwecke.«

»Oh, aha«, sagt Pete, der nicht recht weiß, ob seine Frage damit beantwortet ist oder nicht. Er weiß nur, dass diese Schallplatten fast so schwer waren wie der Verstärker. Irgendjemand sollte dem blinden Plattenkramer wirklich einmal was von CDs flüstern, immerhin stellen diese Dinger den nächsten großen Sprung nach vorn dar.

»Sie haben mich etwas gefragt; darf ich nun Sie etwas fragen?«

»Nur zu«, sagt Pete.

»Heute Nachmittag scheint die Polizei in der Seniorenresidenz Maxton gewesen zu sein«, sagt der blinde Plattenkramer. »Jetzt ist sie wieder fort, aber sie war bei meiner Ankunft da. Unter den Greisen hat’s doch hoffentlich keinen Raub, keine Tätlichkeiten gegeben?«

Pete bleibt mit dem Kleidersack in der Hand wie angenagelt unter einer großen Erdbeere aus Pappe stehen und starrt den blinden Plattenkramer mit einer Verwunderung an, die Henry fast mit Händen greifen kann. »Woher wissen Sie, dass die Cops hier waren?«

Henry legt einen Finger seitlich an die Nase und hält den Kopf leicht schief. Seine Stimme sinkt zu einem heiseren, verschwörerischen Flüstern herab. »Hab was Blaues gerochen.«

Pete wirkt verwirrt, überlegt, ob er weiterfragen soll oder nicht, entscheidet sich dann aber dagegen. Als er in Richtung Vorratsraum-Garderobe weitergeht, sagt er: »Sie waren ziemlich zugeknöpft, aber ich glaube, dass sie ein weiteres vermisstes Kind suchen.«

Der Ausdruck amüsierter Neugier verschwindet aus Henrys Gesicht. »Großer Gott«, sagt er.

»Sie waren da und sind schnell wieder verschwunden. Hier gibt’s keine Kids, Mr. . äh, Leyden?«

»Leyden«, bestätigt Henry.

»Ein Kind in diesem Laden würde rausknallen wie eine Rose aus einem Flecken Giftefeu, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Für Henry sind alte Leute in keiner Weise mit Giftefeu vergleichbar, aber er versteht in der Tat, worauf Mr. Wexler hinauswill. »Wieso haben Sie gedacht ...?«

»Irgendwer hat was auf dem Gehsteig gefunden«, sagt Pete. Er zeigt aus dem Fenster, dann wird ihm klar, dass der Blinde nicht sehen kann, wohin er zeigt. Dämlack, wie Ebbie sagen würde. Er lässt die Hand wieder sinken. »Ist ein Kid verschleppt worden, ist wahrscheinlich jemand mit dem Auto vorbeigefahren und hat’s mitgenommen. Hier drinnen gibt’s keine Kidnapper, das können Sie mir glauben.« Pete lacht über die bloße Idee, ein miefiger Oldie aus dem Maxton könnte irgendeinen Jungen verschleppen, der groß genug ist, um Rad zu fahren. Der Junge würde den alten Kerl vermutlich wie einen trockenen Stock über dem Knie zerbrechen.

»Genau«, sagt Henry nüchtern, »das ist wenig wahrscheinlich.«

»Ich glaube, die Cops wollen einfach nur peinlich ungenau sein.« Er macht eine Pause. »Das ist nur ein kleiner Scherz von mir.«

Henry lächelt höflich, während er sich überlegt, dass die Alzheimerkrankheit bei manchen Leuten tatsächlich eine Verbesserung sein könnte. »Wenn Sie meinen Anzug aufhängen, Mr. Wexler, sind Sie dann so freundlich, ihn leicht auszuschütteln? Nur um etwa aufkommende Knitterfalten hintanzuhalten?«

»Okay. Soll ich ihn für Sie aus dem Sack rausholen?«

»Danke, nicht nötig.«

Pete geht in die Vorratskammer, hängt den Kleidersack auf und schüttelt ihn leicht. Hintanhalten, was zum Teufel soll das denn heißen? Hier im Maxton gibt es die Überreste einer Bücherei; vielleicht schlägt er dieses Wort mal nach. Es lohnt sich, seinen Wortschatz zu verbessern, das steht auch immer in Reader’s Digest, obwohl Pete bezweifelt, dass es sich in seinem Beruf sehr lohnen würde.

Als er wieder in den Gemeinschaftsraum hinausgeht, ist der blinde Plattenkramer - Mr. Leyden, Symphonic Stan, wer zum Teufel er auch ist - dabei, die Kabel zu entwirren und mit einem Tempo und einer Zielsicherheit einzustecken, die Pete leicht entnervend findet.

Der arme alte Fred Marshall hat einen schrecklichen Traum. Das Wissen, dass dies nur ein Traum ist, müsste ihn eigentlich weniger grässlich machen, aber das tut es irgendwie nicht. Er ist mit Judy in einem Boot auf einem See unterwegs. Judy sitzt vorn im Bug. Sie angeln. Zumindest angelt er; Judy hält nur ihre Angelrute in der Hand. Ihr Gesicht ist ausdruckslos leer. Ihre Haut ist wächsern. Ihr Blick ist wie betäubt, erschlagen. Er müht sich zunehmend verzweifelt ab, mit ihr in Verbindung zu treten, indem er eine Gesprächseröffnung nach der anderen ausprobiert. Keine funktioniert. Um eine unter diesen Umständen ziemlich treffende Metapher zu gebrauchen, beißt sie bei keinem Köder an. Er sieht, dass ihr leerer Blick den zwischen ihnen auf dem Bootsboden stehenden Fischkorb zu fixieren scheint. Aus dem Flechtwerk sickern breite rote Ströme von Blut.

Das ist nichts, nur Fischblut, versucht er sie zu beruhigen, aber sie gibt keine Antwort. In Wirklichkeit ist Fred sich seiner Sache selbst nicht so sicher. Als er überlegt, ob er nicht doch einen Blick in den Fischkorb werfen soll, nur um sicherzugehen, ruckt etwas gewaltig an seiner Rute - wären seine Reflexe nicht so gut, wäre sie ihm aus den Händen gerissen worden. Er hat einen großen Fisch an der Angel!

Fred holt die Leine ein, wobei der Fisch am anderen Ende auf jedem Meter erbitterten Widerstand leistet. Als er ihn dann endlich in Bootsnähe hat, merkt er, dass er keinen Kescher hat. Zum Teufel damit, denkt er, setz alles auf eine Karte. Er reißt die Rute nach hinten - die Leine soll sich nur trauen, jetzt zu reißen -, und der Fisch, die gottverdammt größte Seeforelle, die man je zu sehen hoffen kann, fliegt aus dem Wasser und in einem glitzernden, flossenzappelnden Bogen durch die Luft. Der Fisch landet auf dem Bootsboden (sogar unmittelbar neben dem triefenden Fischkorb) und fängt an, sich herumzuwerfen. Und er fängt an, grausige Erstickungslaute von sich zu geben. Fred hat noch nie gehört, dass ein Fisch solche Laute von sich gibt. Er beugt sich nach vorn und sieht zu seinem Entsetzen, dass die Forelle Tylers Gesichtszüge hat. Sein Sohn ist irgendwie zu einer Wer-Forelle geworden und stirbt jetzt auf dem Bootsboden. Erstickt.

Fred packt sie, will den Angelhaken entfernen und sie zurückwerfen, solange noch Zeit dafür ist, aber das grässlich röchelnde Ding rutscht ihm immer wieder durch die Finger und hinterlässt nur eine schleimige Schuppenspur. Ohnehin wäre es schwierig, den Haken herauszubekommen. Der Ty-Fisch hat ihn ganz verschluckt, und die mit Widerhaken versehene Spitze ragt dicht unter der Stelle, wo das Menschengesicht schwindet, aus den Kiemen. Tys Röcheln wird lauter, rauer, unendlich grausiger .

Fred setzt sich mit einem leisen Schrei auf und hat das Gefühl, auch er müsste ersticken. Einen Augenblick lang ist er in Bezug auf Ort und Zeit völlig desorientiert - in Verwerfungen verirrt, könnten wir sagen -, dann erkennt er, dass er im Schlafzimmer auf der Kante des Bettes sitzt, das er mit Judy teilt.

Ihm fällt auf, dass das Zimmer jetzt viel düsterer wirkt, weil die Sonne auf die andere Seite des Hauses gewandert ist. Mein Gott, denkt er, wie lange habe ich geschlafen? Wie konnte ich ...

Oh, da ist noch etwas anderes: das grausige Röcheln, das ihm aus seinem Traum gefolgt ist. Es ist sogar lauter als zuvor. Es wird Judy wecken, sie ängstigen .

Aber Judy liegt nicht mehr auf dem Bett.

»Jude? Judy?«

Sie hockt in einer Ecke. Ihre weit aufgerissenen Augen sind leer, genau wie in seinem Traum. Aus ihrem Mund quillt ein Strauß aus zusammengeknülltem Papier. Ihr grotesk angeschwollener Hals erinnert Fred an eine Grillwurst, deren Haut gleich platzen wird.

Das Papier, denkt er. Jesus, sie erstickt daran!

Fred wälzt sich übers Bett, fällt über die Kante und landet wie ein Bodenturner bei einer schwierigen Übung auf allen vieren. Er greift nach ihr. Sie macht keine Bewegung, um sich ihm zu entziehen. Das ist immerhin etwas. Obgleich sie zu ersticken droht, sind ihre Augen immer noch ausdruckslos. Sie sind glanzlose Nullen.

Fred reißt ihr den Papierstrauß aus dem Mund. Dahinter steckt ein zweiter. Fred greift ihr zwischen die Zähne, drückt die Papiermasse mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zusammen (wobei er denkt: Bitte, beiß mich nicht, Judy, bitte nicht) und zieht sie ebenfalls heraus. Ganz hinten in ihrem Rachen steckt eine dritte Papierkugel, die er ebenfalls herausholt. Obwohl sie zusammengeknüllt ist, sieht er die gedruckten Wörter Grossartige Idee und weiß, woran sie würgt: an Blättern des Notizblocks, den Ty ihr zum Geburtstag geschenkt hat.

Sie röchelt weiter. Ihre Haut beginnt sich schiefergrau zu verfärben.

Fred packt sie an den Oberarmen und zieht sie hoch. Das geht ganz leicht, aber als er loslässt, knicken ihr die Knie ein, und sie sackt wieder zusammen. Judy hat sich in eine schlaffe Stoffpuppe verwandelt. Sie röchelt weiter. Ihr angeschwollener Hals .

»Hilf mir, Judy! Hilf mir, du Miststück!«

Er merkt gar nicht, was er sagt. Er reißt sie hoch - so heftig, wie er in seinem Traum die Angelrute hochgerissen hat - und wirbelt sie, während sie auf den Zehenspitzen steht, wie eine Ballerina herum. Dann umschlingt er sie von hinten, sodass seine Handgelenke die Unterseite ihrer Brüste streifen und ihr Gesäß gegen seinen Unterleib gepresst ist, eine Stellung, die er für äußerst sexy halten würde, wenn seine Frau nicht gerade dem Ersticken nahe wäre.

Fred reckt wie ein Anhalter einen Daumen zwischen ihren Brüsten hoch, dann sagt er das Zauberwort, während er mit dem Daumen nach oben und hinten ruckt. Das Zauberwort heißt Heimlich-Handgriff, und es funktioniert. Zwei weitere Papierklumpen fliegen Judy aus dem Mund - von einem dünnen Strom aus Erbrochenen angetrieben, das kaum mehr als Magensaft ist, weil sie in den letzten zwölf Stunden nur drei Tassen Kaffee und ein Preiselbeertörtchen zu sich genommen hat.

Sie schnappt nach Luft, hustet zweimal und beginnt dann, mehr oder weniger gleichmäßig zu atmen.

Er legt sie aufs Bett ... lässt sie einfach aufs Bett fallen. Krampfartige Schmerzen zucken ihm durchs Kreuz, was wirklich kein Wunder ist: erst Tys Kleiderschrank, jetzt das hier.

»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«, fragt er sie laut. »Was um Himmels willen hast du dir dabei gedacht?«

Er merkt, dass er eine Hand über Judys emporgewandten Gesicht erhoben hat, als wollte er sie schlagen. Ein Teil seines Ichs will sie auch schlagen. Er liebt sie, aber in diesem Augenblick hasst er sie auch. In den Jahren ihrer Ehe hat er sich alle möglichen schlimmen Dinge ausgedacht - Judy an Krebs erkrankt, Judy nach einem Unfall gelähmt, Judy, die sich erst einen Liebhaber nimmt und dann die Scheidung verlangt -, aber er hat sich nie vorstellen können, dass Judy ihn feig im Stich lassen würde, und hat sie das nicht praktisch getan?

»Was hast du dir dabei gedacht?«

Sie erwidert seinen Blick ohne Angst . aber auch ohne irgendetwas anderes. Die Augen sind glanzlos. Fred lässt die Hand sinken, denkt dabei: Ich würde sie mir abhacken, bevor ich dich schlage. Ich bin vielleicht zornig auf dich, ich bin zornig auf dich, aber ich würde sie mir abhacken, bevor ich dich schlage.

Judy wälzt sich herum, liegt nun mit dem Gesicht nach unten auf der Tagesdecke, sodass das Haar den Kopf wie ein Strahlenkranz umgibt.

»Judy?«

Nichts. Sie liegt einfach nur da.

Fred starrt sie einen Augenblick lang an, dann faltet er eine der schleimigen Papierkugeln auseinander, mit denen sie sich zu ersticken versucht hat. Das Papier ist mit einem Gewirr aus hingekritzelten Wörtern bedeckt. Gorg, Abbalah, Eeleelee, Munshun, Bas, Lum, Opopanax, alles nichts, was ihm etwas sagen würde. Andere - dahinschleppen, Arschgeige, schwarz, rot, Chicago und Ty -sind richtige Wörter, aber jeglicher Kontext fehlt. An einem Rand des Blatts steht in Druckbuchstaben: Haddu Möhren? Muddu Essen. Am gegenüberliegenden Rand steht wie von einem Fernschreiber mit klemmender Wiederholfunktion geschrieben: Schwarzes Haus Scharlachroter König Schwarzes Haus Scharlachroter König Schwarzes Haus Scharlachroter König

Wenn du deine Zeit damit vergeudest, darin einen Sinn zu suchen, bist du genau so verrückt wie sie, denkt Fred. Du darfst deine Zeit ...

Zeit.

Fred sieht auf den Radiowecker und will nicht glauben, was dieser anzeigt: 16.17 Uhr. Ist das möglich? Ein Blick auf seine Armbanduhr bestätigt ihm jedoch, dass der Wecker richtig geht.

Obwohl er weiß, dass das töricht ist, weil er seinen Sohn selbst im Tiefschlaf hereinkommen gehört hätte, geht Fred mit langen, kraftlosen Schritten zur Schlafzimmertür. »Ty!«, ruft er laut. »He, Ty! Tyler!«

Während Fred auf eine Antwort wartet, die nicht kommen will, erkennt er, dass sich sein ganzes Leben verändert hat, möglicherweise sogar für immer. Die Leute erzählen einem immer, dass so etwas passieren kann -von einem Augenblick zum anderen, sagen sie, bevor man sich’s versieht, sagen sie -, aber man glaubt es nie. Bis ein Sturm heraufzieht.

In Tys Zimmer hinübergehen? Nachsehen? Sich überzeugen?

Ty ist nicht da - das weiß Fred, aber er tut es trotzdem. Das Zimmer ist leer, wie er’s vorausgesehen hat. Und es wirkt merkwürdig entstellt, fast Unheil verkündend, seit der Kleiderschrank jetzt an der anderen Wand steht.

Judy. Du hast sie allein gelassen, du Idiot. Sie kaut bestimmt schon wieder Papier, sie sind clever, Verrückte sind clever .

Fred rennt den Flur entlang ins Schlafzimmer zurück, atmet aber erleichtert auf, als er Judy so daliegen sieht, wie er sie verlassen hat: mit dem Gesicht nach unten, das Haar wie eine Strahlenkrone um den Kopf ausgebreitet. Er entdeckt, dass seine Sorge um seine verrückte Frau jetzt hinter seine Sorge um seinen verschwundenen Sohn zurückgetreten ist.

Er kommt bis vier Uhr nach Hause, spätestens ... Jede Wette. Das hat er gedacht. Aber es ist längst vier Uhr durch. Ein Sturm ist heraufgezogen und hat diese Gewissheit hinweggefegt. Fred geht auf seine Seite des Doppelbetts und setzt sich neben das gespreizte Bein seiner Frau. Er nimmt den Telefonhörer ab und tippt eine Nummer ein. Eine einfache Nummer, nur drei Ziffern.

»Jep, Polizeistation, Officer Dulac am Apparat, Sie haben die Notrufnummer gewählt, um was handelt es sich?«

»Officer Dulac, hier ist Fred Marshall. Ich möchte Da-le sprechen, falls er noch da ist.« Dale ist bestimmt noch da. Er arbeitet immer ziemlich lange, vor allem seit ...

Den Rest verdrängt Fred, aber in seinem Kopf tobt der Sturm heftiger. Lauter.

»Tja, Mr. Marshall, er ist hier, aber er ist in einer Besprechung, und ich glaube nicht, dass ich ihn .«

»Stellen Sie mich zu ihm durch.«

»Mr. Marshall, Sie verstehen mich nicht richtig. Er ist mit zwei Kerlen von der Wisconsin State Police und einem vom FBI zusammen. Wenn Sie einfach mir erzählen, worum .«

Fred schließt die Augen. Das ist doch interessant, oder? Eine interessante Beobachtung. Er hat die Notrufnummer gewählt, aber das scheint der Idiot am anderen Ende vergessen zu haben. Weshalb? Weil der Anrufer jemand ist, den er kennt. Es ist der gute alte Fred Marshall, hab erst vorletztes Jahr einen Deere-Rasentraktor bei ihm gekauft. Muss die Notrufnummer gewählt haben, weil das einfacher war, als die normale Nummer nachzuschlagen. Weil niemand, den Bobby kennt, in einen wirklichen Notfall verwickelt sein kann.

Fred erinnert sich daran, an diesem Morgen eine ähnliche Illusion gehegt zu haben - als anderer Fred Marshall, der glaubte, der Fisherman könne seinem Sohn nie etwas anhaben. Nicht seinem Sohn.

Ty ist fort. Der Gorg hat ihn gelockt, und der Abbalah hat ihn verschleppt.

»Hallo? Mr. Marshall? Fred? Sind Sie noch .«

»Hören Sie zu«, sagt Fred, noch immer mit geschlossenen Augen. Drüben bei Goltz’s würde er den anderen Mann inzwischen Bobby nennen; aber Goltz’s ist ihm noch nie so fern erschienen; Goltz’s liegt im Sternensys-tem Opopanax, auf dem Planeten Abbalah. »Hören Sie mir gut zu. Schreiben Sie mit, wenn’s nicht anders geht. Meine Frau ist verrückt geworden, und mein Sohn ist verschwunden. Haben Sie das kapiert? Frau verrückt. Sohn verschwunden. Und jetzt verbinden Sie mich mit dem Chief.«

Aber das tut Bobby Dulac nicht, jedenfalls nicht sofort. Er hat eine Schlussfolgerung angestellt. Ein taktvollerer Polizeibeamter (zum Beispiel ein Jack Sawyer in jüngeren Jahren) hätte diese Schlussfolgerung für sich behalten, aber nicht so Bobby. Bobby meint, einen großen Fisch an der Angel zu haben.

»Mr. Marshall? Fred? Ihrem Sohn gehört nicht zufällig ein Schwinn? Ein rotes Schwinn mit Dreigangschaltung? Mit einem neuen Nummernschildrahmen, auf dem . äh ... Big Mac steht?«

Fred verschlägt es die Stimme. Einige endlose, schreckliche Augenblicke lang kann er nicht einmal atmen. Zwischen den Ohren bläst der Sturm lauter und stärker. Es ist jetzt ein Hurrikan.

Der Gorg hat ihn gelockt ... und der Abbalah hat ihn verschleppt.

Endlich, als es so scheint, als müsste Fred gleich ersticken, löst sich die Verkrampfung in der Brust, und er tut einen gewaltigen, reißenden Atemzug. »Verbinden Sie mich mit Chief Gilbertson! Sofort, Sie gottverdammtes Arschloch!«

Obwohl er das mit voller Lungenkraft kreischt, zuckt die Frau, die neben ihm mit dem Gesicht nach unten auf der Tagesdecke liegt, nicht einmal zusammen. Er hört ein Klicken. Er ist in der Warteschleife. Nicht lange, aber doch so lange, dass er die kahle, zerkratzte Wandfläche im Zimmer seines verschwundenen Sohns, die angeschwollene Säule des Halses seiner verrückt gewordenen Frau und das in seinem Traum aus einem Fischkorb tropfende Blut sehen kann. Sein Rücken verkrampft sich grausam schmerzhaft, und Fred begrüßt diesen Schmerz. Er kommt ihm vor wie ein Telegramm aus der realen Welt.

Dann ist Dale am Apparat. Dale fragt ihn, was passiert ist, und Fred Marshall fängt an zu weinen.

7

Gott allein weiß, wo Henry Leyden diesen erstaunlichen Anzug aufgetrieben hat, wir wissen es jedenfalls nicht. In einem Kostümverleih? Nein, er ist zu elegant, um ein Kostüm zu sein; das hier ist das Original, keine Imitation. Aber was für eine Art Original ist dieser »Zoot Su-it«? Die breiten Aufschläge ziehen sich bis zu einer halben Handbreit unterhalb der Taille hinunter, und die doppelten Frackschöße reichen beinahe bis zu den Knöcheln der weit geschnittenen Bundfaltenhose, die unter der schneeigen Fläche der zweireihigen Weste bis fast zum Brustbein hinaufzureichen scheinen. An Henrys Füßen schmücken weiße, seitlich hoch geknöpfte Gamaschen weiße Lacklederschuhe; um seinen Hals liegt ein hoher Stehkragen, der die abgeknickten Spitzen über eine breite, wallende, perfekt gebundene weiße Satinschleife hinstreckt. Die Gesamtwirkung ist die von altväterlicher Diplomatenpracht in harmonischer Verbindung mit einem Zoot Suit: die Flottheit des Ensembles überspielt seine Förmlichkeit, aber die Würde von Frackschößen und Weste verleiht dem Ganzen eine majestätische Eleganz spezieller Art, eine königliche Würde, wie man sie oft bei afroamerikanischen Entertainern und Musikern sieht.

Während Rebecca Vilas Henry in den Gemeinschaftsraum begleitet, wohin ihnen der mürrische Pete Wexler folgt, der ein Wägelchen schiebt, das mit den Schallplattenkartons beladen ist, erinnert sie sich dunkel daran, in einem Ausschnitt aus irgendeinem alten Film Duke Ellington in einem Cutaway dieser Art gesehen zu haben ... oder war das Cab Calloway gewesen? Sie erinnert sich an hochgezogene Augenbrauen, ein strahlendes Lächeln, ein verführerisches Gesicht, eine hoch aufgerichtete Gestalt vor einer Band, aber an nicht viel mehr. (Lebten Mr. Ellington oder Mr. Calloway noch, hätten sie Rebecca erklären können, bei Henrys Outfit samt der »hoch drapierten« Hose mit »abgesteppter Falte«, beides Ausdrücke, die nicht zu Rebeccas Wortschatz gehören, handle es sich zweifellos um einen handgenähten Zoot Suit von einem der vier Spezialschneider in den Schwarzenvierteln von New York, Washington, Philadelphia oder Los Angeles, in den Dreißiger- und Vierzigerjahren Meister ihres Handwerks, Untergrundschneider, jetzt leider Gottes ebenso tot wie ihre berühmten Kunden. Henry Leyden weiß genau, wer sein Outfit geschneidert hat, wer es getragen hat und wie es in seine Hände gekommen ist, aber im Umgang mit Personen wie Rebecca Vilas gibt Henry nicht mehr preis, als vermutlich schon bekannt ist.) Auf dem zum Gemeinschaftsraum führenden Korridor scheint sein weißer Cutaway von innen heraus zu leuchten - ein Eindruck, den Henrys übergroße Daddy-CoolSonnenbrille mit Bambusgestell, an deren Bügelenden winzige Saphire zu glitzern scheinen, nur noch verstärkt.

Gibt es vielleicht irgendeinen Laden, der »Famose Klamotten großer Bandleader aus den Dreißigern« verkauft? Erbt irgendein Museum diese Sachen und versteigert sie dann aus Platzmangel? Rebecca kann ihre Neugier keinen Augenblick länger beherrschen. »Mr. Leyden, wo haben Sie diesen wunderschönen Anzug her?«

Aus dem Hintergrund und sorgfältig als Selbstgespräch getarnt, äußert Pete Wexler die gemurmelte Vermutung, um ein Outfit dieser Art zu bekommen, müsse man einen Angehörigen einer ethnischen Minderheit, deren Name mit N beginne, mindestens zwei Meilen weit jagen.

Henry ignoriert Pete und lächelt. »Man muss nur wissen, wo man suchen muss.«

»Sie haben wahrscheinlich noch nie von CDs gehört«, sagt Pete. »Die sind nämlich der große neue Fortschritt.«

»Klappe halten und weiterschieben, Wertester«, sagt Ms. Vilas. »Wir sind gleich da.«

»Rebecca, meine Liebe, wenn Sie gestatten«, sagt Henry. »Mr. Wexler hat alles Recht zu meckern. Schließlich konnte er nicht wissen, dass ich ungefähr dreitausend CDs besitze, oder? Und wenn der Mann, dem diese Sachen einmal gehört haben, als Nigger bezeichnet werden kann, wäre ich stolz darauf, auch einer zu heißen. Das wäre eine unglaubliche Ehre. Ich wollte, ich könnte sie für mich beanspruchen.«

Henry ist stehen geblieben. Auch Pete und Rebecca, die er durch seinen Gebrauch dieses Schimpfworts auf unterschiedliche Weise schockiert hat, haben Halt gemacht.

»Und«, sagt Henry, »wir schulden denen Respekt, die uns bei der Durchführung unserer Aufgaben unterstützen. Ich habe Mr. Wexler gebeten, meinen Anzug beim Aufhängen auszuschütteln, und er ist mir sehr freundlich gefällig gewesen.«

»Yeah«, sagt Pete. »Und ich hab Ihren Scheinwerfer aufgehängt und Ihren Plattenspieler und Lautsprecher und Scheiß genau dorthin gestellt, wo Sie ihn haben wollten.«

»Vielen Dank, Mr. Wexler«, sagt Henry. »Ich weiß Ihre Bemühungen um meinetwillen zu würdigen.«

»Ach, Scheiße«, sagt Pete, »ich hab bloß meine Arbeit gemacht, okay? Brauchen Sie noch was, wenn Sie fertig sind, helfe ich Ihnen jederzeit.«

Ganz ohne aufblitzendes Höschen oder kurz gezeigten Hintern ist Pete Wexler völlig entwaffnet worden. Das findet Rebecca verblüffend. Insgesamt, das wird ihr jetzt klar, ist Henry Leyden, blind oder nicht, der bei weitem coolste Typ, den sie in den gesamten sechsundzwanzig Jahren ihres bisherigen Erdenwallens zu begegnen die Ehre gehabt hat. Mal abgesehen von seinem Anzug - wo kommen solche Kerle her?

»Glauben Sie wirklich, dass heute Nachmittag irgendein kleiner Junge vom Gehsteig draußen vor dem Anwesen verschwunden ist?«, fragt Henry.

»Was?«, sagt Rebecca.

»Kam mir jedenfalls so vor«, sagt Pete.

»Was?«, fragt Rebecca erneut - diesmal nicht Henry, sondern Pete Wexler. »Was sagen Sie da?«

»Na ja, er hat mich gefragt, und ich hab’s ihm erzählt«, sagt Pete. »Das war alles.«

Rebecca macht gefährlich wütend einen Schritt auf ihn zu. »Das ist auf unserem Gehsteig passiert? Ein weiteres Kind, vor unserem Anwesen? Und Sie haben mir oder Mr. Maxton kein Wort davon gesagt?«

»Da gab’s nichts zu erzählen«, bringt Pete zu seiner Verteidigung vor.

»Vielleicht könnten Sie uns liebenswürdigerweise erzählen, was genau passiert ist«, sagt Henry.

»Klar. Passiert ist bloß, dass ich rausgegangen bin, um eine zu rauchen, okay?« Das ist weniger als die volle Wahrheit. Vor die Wahl gestellt, zehn Meter zur Herrentoilette im Daisy-Trakt zu gehen, um seine Kippe in einem der WCs hinunterzuspülen, oder drei Meter zum Ausgang zu gehen und sie auf den Parkplatz zu schnipsen, hat Pete sich vernünftigerweise für die Entsorgung ins Freie entschieden. »Wie ich ins Freie komme, sehe ich dort draußen den Streifenwagen parken. Ich gehe also an die Hecke, und da ist einer von den Cops, ein junger Kerl, heißt Cheetah oder so ähnlich, glaub ich, und er lädt dieses Fahrrad, anscheinend ein Kinderfahrrad, in seinen Kofferraum. Und noch was anderes, das ich nicht richtig erkennen kann, außer dass es klein ist. Und wie er damit fertig ist, holt er ein Stück Kreide aus seinem Handschuhfach, kommt damit zurück und markiert zwei Stellen auf dem Gehsteig mit einem großen X.«

»Haben Sie ihn angesprochen?«, fragt Rebecca. »Haben Sie ihn gefragt, was er da macht?«

»Miz Vilas, ich red nicht mit den Cops, außer mir bleibt nichts anderes übrig, Sie wissen schon. Und dieser Cheetah, der hat mich überhaupt nicht gesehen. Der Kerl hätte mir sowieso nichts erzählt. Er hat ein komisches Gesicht gemacht, als wollte er sagen: Jesus, hoffentlich komme ich aufs Scheißhaus, bevor ich mir in die Hose mache - so ’n Gesicht.«

»Dann ist er einfach weggefahren?«

»Einfach so. Zwanzig Minuten später sind noch zwei Polizisten aufgekreuzt.«

Rebecca hebt beide Hände, schließt die Augen, presst die Fingerspitzen an die Stirn und gibt Pete Wexler dabei eine ausgezeichnete Gelegenheit, die er sofort dankbar nützt, die Form ihrer Brüste zu bewundern, die sich unter der Bluse abzeichnen. Das Ganze ist vielleicht nicht so großartig wie der Blick vom Fuß der Leiter, aber es ist sehr nett, ja, das ist’s wirklich. Aus der Sicht von Ebbies Dad gleicht ein Anblick wie der von Rebecca Vilas’ Titten, die sich gegen den dünnen Blusenstoff drängen, einem guten Feuer an einem kalten Abend. Sie sind größer, als man bei einem schlanken, zierlichen Persönchen wie ihr vermuten würde, und wissen Sie, was? Wenn die Arme hochgehen, gehen die Titten auch hoch! He, wenn er gewusst hätte, dass sie eine solche Show bieten würde, hätte er ihr die Sache mit Cheetah und dem Fahrrad gleich erzählt, nachdem sie passiert war.

»Also gut, okay«, sagt sie, während sie die Fingerspitzen weiterhin flach an die Stirn gepresst hält. Sie reckt das Kinn in die Höhe, hebt die Arme noch eine Handbreit und runzelt voller Konzentration die Stirn, wobei sie für einen Augenblick wie eine Statue auf einem Sockel aussieht.

Hurra und halleluja, denkt Pete. So hat alles seine guten Seiten. Wird die nächste kleine Rotznase gleich morgen Früh von unserem Gehsteig verschleppt, kommt das für mich nicht bald genug.

Rebecca sagt: »Okay, okay, okay«, öffnet die Augen und lässt die Arme sinken. Pete Wexler fixiert starr einen Punkt oberhalb ihrer Schulter; auf seinem Gesicht steht ein trügerisch unschuldiger Ausdruck, den sie aber sofort richtig deutet. Großer Gott, was für ein Höhlenmensch! »Die Sache ist wahrscheinlich weniger schlimm, als es aussieht. Erstens haben Sie nur einen Polizeibeamten gesehen, der ein Fahrrad mitgenommen hat. Vielleicht war es gestohlen. Vielleicht hat ein anderer Junge sich das Rad nur >geliehen<, hat es hier hingelegt und ist weggelaufen. Der Cop kann danach Ausschau gehalten haben. Oder der Junge, dem das Rad gehört, ist von einem Auto angefahren worden oder sonst was. Und selbst wenn das Schlimmste passiert sein sollte, sehe ich nicht, wie uns das schaden könnte. Das Maxton ist nicht dafür verantwortlich, was sich außerhalb unseres Geländes ereignet.«

Sie wendet sich an Henry, der gerade ein Gesicht macht, als wünschte er sich, er wäre hundert Meilen von diesem Ort entfernt. »Sorry, ich weiß, dass das grässlich kalt geklungen hat. Auch mich bedrückt die Sache mit dem Fisherman wegen der beiden armen Kinder und des verschwundenen Mädchens sehr. Wir sind alle so durcheinander, dass wir kaum noch vernünftig denken können. Aber sehen Sie, ich möchte auf keinen Fall, dass wir in diesen Schlamassel hineingezogen werden.«

»Natürlich sehe ich das so«, sagt Henry. »Da ich einer der Blinden bin, von denen George Rathbun dauernd herumplärrt.«

»Ha!«, prustet Pete Wexler los.

»Und Sie stimmen mir zu, nicht wahr?«

»Ich bin ein Gentleman, ich stimme jedem zu«, sagt Henry. »Ich stimme Pete zu, dass möglicherweise ein weiteres Kind von unserem lokalen Ungeheuer entführt worden ist. Officer Cheetah, oder wie immer er heißen mag, war offenbar weit besorgter, als ein verloren gemeldetes Fahrrad rechtfertigen würde. Und ich stimme Ihnen zu, dass das Maxton für keines dieser Ereignisse verantwortlich gemacht werden kann.«

»Gut«, sagt Rebecca.

»Es sei denn, versteht sich, dass jemand von hier etwas mit der Ermordung dieser Kinder zu tun gehabt hat.«

»Aber das ist unmöglich!«, sagt Rebecca. »Die meisten unserer Heimbewohner wissen nicht mal mehr den eigenen Namen.«

»Mit den meisten der Tattergreise hier könnte ein zehnjähriges Mädchen fertig werden«, sagt Pete. »Sogar die, die nicht an der Altenkrankheit leiden, laufen mit der eigenen . Sie wissen schon . beschmiert herum.«

»Sie vergessen das Personal«, sagt Henry.

»Aber, aber«, sagt Rebecca, die für einen Augenblick fast sprachlos ist. »Ach, kommen Sie! Das ist ... das ist eine völlig unverantwortliche Unterstellung.«

»Ganz recht. Das ist sie. Aber wenn diese Mordserie weitergeht, ist niemand mehr unverdächtig. Darauf wollte ich hinaus.«

Pete Wexler läuft ein kalter Schauder über den Rü-cken - wenn die städtischen Clowns anfangen, die Heimbewohner zu vernehmen, könnten seine privaten Vergnügungen rauskommen, und wäre das nicht ein gefundenes Fressen für Wendell Green? Dann hat er eine glänzende Idee und bringt sie gleich vor, weil er hofft, Miz Vilas damit zu beeindrucken. »Wissen Sie was? Die Cops sollten mal mit diesem Kerl aus Kalifornien reden, dem großen Detektiv, der vor zwei, drei Jahren dieses Kinderling-Arschloch geschnappt hat. Der wohnt doch irgendwo hier in der Nähe, oder? Jemand wie er, das ist der Kerl, den wir für diesen Fall brauchen. Unsere Cops hier, die sind damit heillos überfordert. Der Kerl aber, der ist ’ne - wie sagt man gleich wieder? - ’ne gottverdammte Ressource.«

»Merkwürdig, dass Sie das ansprechen«, sagt Henry. »Ich bin da nämlich völlig Ihrer Meinung. Es wird allmählich Zeit, dass Jack Sawyer sein Ding tut. Ich werde ihn nochmals bearbeiten.«

»Sie kennen ihn?«, fragt Rebecca.

»O ja«, sagt Henry. »Das tue ich. Aber wird’s nicht auch allmählich Zeit, dass ich mein eigenes Ding tue?«

»Bald. Sie sind alle noch draußen.«

Rebecca führt ihn den restlichen Korridor entlang weiter in den Gemeinschaftsraum, den sie dann alle drei durchqueren, um zu dem großen Podium zu gelangen. Henrys Mikrofon steht neben dem Tisch, auf dem seine Lautsprecher und der Plattenspieler aufgebaut sind. Entnervend treffsicher sagt Henry: »Viel Platz hier drinnen.«

»Das können Sie feststellen?«, sagt Rebecca.

»Kleinigkeit«, sagt Henry. »Wir sind bestimmt gleich da.«

»Direkt vor Ihnen. Kann ich Ihnen bei irgendwas helfen?«

Henry streckt einen Fuß aus und tippt mit der Schuhspitze an die Seite des Podiums. Er lässt eine Hand über die Tischkante gleiten, macht den Mikrofonständer ausfindig, sagt: »Im Augenblick nicht, Darling« und steigt dann lässig aufs Podium. Er tastet sich hinter den Tisch und befingert den Plattenspieler. »Alles bestens«, sagt er. »Pete, würden Sie bitte die Plattenkartons auf den Tisch stellen? Der oberste kommt hierher, die anderen gleich daneben.«

»Wie ist er, Ihr Freund Jack?«, fragt Rebecca.

»Eine Waise des Sturms. Eine Miezekatze, aber eine äußerst schwierige Miezekatze. Ich muss leider sagen, dass er einem verdammt auf den Keks gehen kann.«

Partygeräusche, das Murmeln von Gesprächen, in das sich Kinderstimmen und Lieder mischen, die auf einem alten Klavier heruntergehämmert werden, dringen durch die Fenster herein, seit sie den Gemeinschaftsraum betreten haben. Nachdem Pete die Plattenkartons auf den Tisch gestellt hat, sagt er: »Ich geh jetzt lieber raus, weil Chipper mich bestimmt schon sucht. Draußen gibt’s wahrscheinlich beschissen viel sauber zu machen, sobald alle hier drin sind.«

Pete schlurft das Wägelchen vor sich her schiebend hinaus. Rebecca fragt Henry, ob sie noch irgendwas für ihn tun kann.

»Die Deckenbeleuchtung brennt, nicht wahr? Bitte schalten Sie sie aus, und warten Sie, bis die erste Welle hereinkommt, Dann schalten Sie den rosa Spot ein und machen sich bereit, Jitterbug bis zum Umfallen zu tanzen.«

»Sie wollen, dass ich das Licht ausmache?«

»Sie werden schon sehen.«

Rebecca geht durch den Raum zum Eingang zurück, schaltet die Deckenbeleuchtung aus und sieht wirklich, was Henry versprochen hat. Sanftes, gedämpftes Licht, das durch die seitlichen Fenster hereinfällt, scheint in der Luft zu schweben und ersetzt die vorige grelle Helligkeit durch einen weich schimmernden Lichtschein, als ob der Raum hinter einem Gazevorhang läge. Der rosa Spot macht sich hier drinnen bestimmt sehr gut, denkt Rebecca.

Draußen auf dem Rasen geht die Sause vor dem Tanzvergnügen allmählich zu Ende. An den Picknicktischen sind viele alte Männer und Frauen eifrig dabei, ihren restlichen Erdbeerkuchen und ihre Limonade zu vertilgen, und der Klavier spielende Gent mit Kreissäge und roten Ärmelhaltern kommt zum Finale von »Heart and Soul«, ba bomp ba bomp ba ba bomp bomp bomp, keine Finesse, aber reichlich Lautstärke, klappt den Klavierdeckel zu und steht unter spärlichem Beifall auf. Enkelkinder, die zuvor darüber gejammert haben, dass sie zum großen Fest mitmussten, schlängeln sich zwischen den Tischen und Rollstühlen hindurch, weichen den Blicken ihrer Eltern aus und hoffen, der Ballon-Lady im Clownskostüm und mit roter Kraushaarperücke einen letzten Ballon abschwatzen zu können, o grenzenlose Freude.

Alice Weathers applaudiert dem Klavierspieler, wozu sie allen Anlass hat: Bei ihr hat er vor vierzig Jahren die Grundlagen des Pianistentums zwar widerstrebend, aber eben gut genug gelernt, um sich bei Gelegenheiten wie der jetzigen ein paar Dollar dazuverdienen zu können, wenn er nicht seiner normalen Arbeit nachgehen und auf der Chase Street Sweatshirts und Baseballmützen verkaufen muss. Charles Burnside, der sich - nachdem der gutherzige Butch Yerxa ihn sauber geschrubbt hat -, mit einem alten weißen Hemd und einer weiten, schmutzigen Hose fein gemacht hat, steht etwas abseits der Menge im Schatten einer großen Eiche und klatscht nicht, sondern grinst höhnisch. Der offene Hemdkragen liegt feucht um den dürren Hals mit den kordelartig hervortretenden Sehnen. Ab und zu fährt er sich mit dem Handrücken über den Mund oder stochert mit einem abgebrochenen Daumennagel zwischen den Zähnen, aber sonst bewegt er sich überhaupt nicht. Er sieht aus, als hätte ihn jemand am Straßenrand abgesetzt und wäre davongefahren. Kommen die umhertobenden Enkel aus Versehen in Burnys Nähe, weichen sie augenblicklich wie von einem Kraftfeld abgestoßen zurück.

Zwischen Alice und Burny stopfen drei Viertel der Bewohner des Maxton sich an den Tischen voll, schlurfen mit ihren Gehhilfen herum, sitzen unter den Bäumen, hocken in ihren Rollstühlen, humpeln hierhin und dorthin - schwatzen, dösen, kichern, furzen, tupfen auf frischen Erdbeerflecken an ihrer Kleidung herum, starren ihre Angehörigen an, starren ihre zitternden Hände an, starren ins Leere. Eine Hand voll der am we-nigsten ansprechbaren Heimbewohner tragen konische Papierhütchen in einem harten, glanzlosen Rot und einem harten, glanzlosen Blau, den Farben erzwungener Fröhlichkeit. Die Frauen aus der Küche haben angefangen, mit großen schwarzen Müllsäcken die Runde zwischen den Tischen zu machen, sie müssen sich nämlich bald in ihr Reich zurückziehen, um das große Festmahl des heutigen Abends zuzubereiten: Kartoffelsalat, Kartoffelbrei, Kartoffelpüree, gebackene Bohnen, Götterspeise, Marshmallow-Salat, Schlagsahne-Salat und natürlich die riesige Erdbeertorte!

Chipper Maxton, der unbestrittene und erbliche Souverän dieses Reichs, dessen Temperament sonst dem eines in einem Schlammloch festsitzenden Stinktiers gleicht, hat die vergangenen eineinhalb Stunden damit zugebracht, lächelnd herumzuschlendern und Hände zu schütteln, aber jetzt hat er genug. »Pete«, knurrt er, »wo zum Teufel bleiben Sie so lange? Sie fangen an, die Klappstühle aufzustapeln, okay? Und helfen mit, diese Leute in den Gemeinschaftsraum zu verfrachten. Los, Bewegung, verdammt noch mal! Der Westen ruft!«

Pete hastet davon, und Chipper klatscht zweimal laut in die Hände, dann hebt er die ausgestreckten Arme. »He, alle miteinander«, brüllt er, »könnt ihr wirklich fassen, was für einen verflixt herrlichen Tag der liebe Gott uns für dieses schöne Fest geschenkt hat? Ist das nicht toll?«

Ein halbes Dutzend schwacher Stimmen erhebt sich zustimmend.

»Kommt schon, Leute, das könnt ihr besser! Ich will’s für diesen wundervollen Tag hören, auch dafür, dass wir uns alle so wundervoll amüsieren, und für all die wundervolle Hilfe und Unterstützung durch unsere Freiwilligen und unsere Mitarbeiter!«

Leicht überschwänglicherer Jubel belohnt seine Mühe.

»Also gut! He, wisst ihr was? Wie George Rathbun sagen würde, könnte sogar ein Blinder sehen, wie großartig wir uns alle amüsieren. Ich weiß, dass ich’s tue, und wir sind noch längst nicht am Ende! Wir haben den großartigsten Discjockey, den ihr je gehört habt, einen Kerl namens Symphonic Stan der Big-Band-Man, der nur darauf wartet, euch im Gemeinschaftsraum eine ganz, ganz wundervolle Show mit nonstop Musik und Tanz bis zum großen Erdbeerfestdinner zu bieten, und wir haben ihn noch dazu billig gekriegt - aber erzählt ihm nicht, dass ich das gesagt habe! Also, liebe Freunde und Angehörige, es wird jetzt Zeit, Abschied zu nehmen und Ihre Lieben zu den Golden Oldies schwofen zu lassen, genau wie sie selbst, haha! Golden Oldies, das sind wir hier im Maxton doch alle. Selbst ich bin nicht mehr so jung wie früher, haha, deshalb werde ich heute Abend vielleicht mit irgendeiner glücklichen Lady eine Runde drehen.

Im Ernst, Leute, für uns wird’s Zeit, die Tanzschuhe anzuziehen. Bitte küssen Sie Dad oder Mama, Granddad oder Grandma zum Abschied, und beim Hinausgehen wollen Sie vielleicht einen kleinen Unkostenbeitrag in dem Korb auf Ragtime Willies Klavier gleich dort drüben hinterlassen, zehn Dollar, fünf Dollar, jeder Betrag, den Sie erübrigen können, hilft uns, die Kosten für den frohen, frohen Tag zu decken, den wir Ihrer Mama, Ihrem Dad bereiten. Wir tun es aus Liebe, aber die Hälfte dieser Liebe ist Ihre Liebe.«

In einem Zeitraum, der uns vielleicht überraschend kurz erscheint - nicht jedoch Chipper Maxton, der recht gut weiß, dass nur sehr wenige Leute sich länger in einem Altenheim aufhalten wollen, als sie unbedingt müssen -, verteilen die Angehörigen ihre letzten Küsse und Umarmungen, treiben die erschöpften Kinderchen zusammen und folgen im Gänsemarsch den Fußwegen über den Rasen zum Parkplatz, wobei eine größere Anzahl Besucher noch Geldscheine in den Korb auf Ragtime Willies Klavier legt.

Kaum hat dieser Exodus eingesetzt, machen Pete Wex-ler und Chipper Maxton sich mit allem ihnen zur Verfügung stehenden Geschick daran, die alten Leute ins Gebäude zurückzubringen. Chipper sagt Dinge wie: »Wissen Sie denn nicht, wie sehr wir alle Sie leichtfüßig tanzen sehen möchten, Mrs. Syverson?«, während Pete sich direkter ausdrückt: »Los jetzt, Kumpel, schwing die Prothesen«, aber beide Männer arbeiten mit sanften oder weniger sanften Schubsen, Stößen, Griffen an den Ellbogen und Rollstuhlschieben, um ihre gebrechlichen Schützlinge durch die Tür zu bekommen.

Von ihrem Posten aus beobachtet Rebecca Vilas, wie die Heimbewohner in den schummerigen Gemeinschaftsraum kommen, wobei manche in einem Tempo bewegt werden, das eine Idee zu flott ist, um noch harmlos zu sein. Henry Leyden steht unbeweglich hinter seinen Plattenkartons. Sein Anzug schimmert; sein Kopf ist nur eine dunkle Silhouette vor den Fenstern. Pete Wex-ler, der ausnahmsweise zu beschäftigt ist, um Rebeccas Busen anzugaffen, kommt mit Eimer Jesperson vorbei, den er am Ellbogen gepackt hält, lässt ihn wenige Meter hinter dem Eingang vorläufig stehen und wirft sich herum, um Thorvald Thorvaldson, Eimers verhassten Feind und Mitbewohner von D12, ausfindig zu machen. Alice Weathers schwebt ohne fremde Hilfe herein, faltet die Hände unter dem Kinn und wartet darauf, dass die Musik beginnt. Groß, hager, hohlwangig, im Zentrum eines leeren Raums, den er für sich allein hat, schlüpft Charles Burnside durch die Tür und entfernt sich sofort ziemlich weit zur Seite. Als seine toten Augen ihren Blick teilnahmslos erwidern, läuft Rebecca ein Schauder über den Rücken. Das nächste Augenpaar, dem ihr Blick begegnet, gehört Chipper, der Flora Flostads Rollstuhl so achtlos schiebt, als hätte er eine Orangenkiste aufgeladen, und sie mit einem ungeduldigen Blick bedenkt, der absolut nicht zu dem ungezwungenen Lächeln auf seinem Gesicht passt. Zeit ist Geld, klar doch, aber Geld ist auch Geld, und diese Show soll endlich in Gang kommen, pronto! Die erste Welle, hat Henry ihr gesagt - ist das jetzt hier die erste Welle? Sie blickt zum Podium hinüber, überlegt sich, wie sie fragen soll, und merkt, dass ihre Frage schon beantwortet ist, sobald sie nämlich zu ihm hinübersieht, gibt Henry ihr ein Zeichen, indem er einen Daumen hochreckt.

Rebecca betätigt den Schalter für den rosa Spot, und fast alle Anwesenden, auch einige greise Heimbewohner, die längst zu keiner Reaktion irgendwelcher Art mehr imstande zu sein schienen, geben ein leises Ah von sich. Ein verwandelter Henry Leyden, dessen Anzug, dessen Hemd, dessen Gamaschen im Lichtkegel blendend weiß strahlen, gleitet geschmeidig ans Mikrofon, während eine Langspielplatte, die er scheinbar aus dem Nichts herbeigezaubert hat, sich wie ein Kreisel auf seiner rechten Handfläche dreht. Seine Zähne leuchten; sein glatt gekämmtes Haar glänzt; die Saphire an den Bügeln der Zaubersonnenbrille glitzern. Henry scheint selbst zu tanzen, als er mit raschen, eleganten Schritten ans Mikrofon gleitet ... nur ist er nicht mehr Henry Leyden; nie im Leben, wie George Rathbun so gern brüllt. Der Anzug, die Gamaschen, das glatt zurückgekämmte Haar, die Sonnenbrille, selbst der erstaunlich wirkungsvolle rosa Spot sind lediglich Requisiten. Der eigentliche Zauber geht hier von Henry, diesem einzigartig formbaren Wesen, aus. Ist er George Rathbun, ist er ganz George. Ebenso die Wisconsin Rat; ebenso Henry Shake. Es ist achtzehn Monate her, dass er Symphonic Stan aus dem Kleiderschrank geholt hat und in ihn hineingeschlüpft ist wie eine Hand in einen Handschuh, um das Publikum einer Tanzveranstaltung der Veteranenvereinigung in Madison zu entzücken, aber die Sachen passen ihm noch immer, o ja, sie passen, und er passt in sie hinein, ein als Gesamtkunstwerk in eine nie selbst erlebte Vergangenheit, ein wieder geborener Hipster.

Auf seiner flach ausgestreckten Handfläche erscheint die rotierende LP wie ein massiver, unbeweglicher schwarzer Wasserball.

Legt Symphonic Stan bei Tanzveranstaltungen auf, beginnt er immer mit »In the Mood«. Obwohl er Glen Miller nicht verabscheut, wie es manche Jazz-Aficionados tun, ist er dieses Titels im Lauf der Jahre überdrüssig geworden. Aber »In the Mood« wirkt immer. Selbst wenn seinen Gästen nichts anderes übrig bleibt, als mit einem Fuß im Grab und mit dem anderen auf der sprichwörtlichen Bananenschale zu tanzen, tanzen tun sie doch. Außerdem weiß er, dass Miller nach seiner Einberufung dem Arrangeur Billy May von seinem Vorsatz erzählt hat, »aus diesem Krieg als irgendeine Art Held rauszukommen«, und hol’s der Teufel, er hat Wort gehalten, was?

Henry erreicht das Mikrofon und lässt die rotierende LP mit einer nachlässigen Bewegung der rechten Hand auf den Plattenteller gleiten. Die Menge applaudiert ihm mit einem gehauchten Oh.

»Willkommen, willkommen, all ihr Hepcats und Hepkitties«, sagt Henry. Aus den Lautsprechern kommen seine Worte in der flüssigen, leicht abgehobenen Redeweise eines wahren Rundfunkreporters aus dem Jahr 1938 oder 1939, einem jener Männer, die LiveÜbertragungen aus Tanzlokalen und Nightclubs zwischen Boston und Catalina kommentierten. Honig troff über die Lippen dieser Musen der Nacht, denen nicht so leicht etwas entging. »He, sagt mal, ihr Alligators, gibt’s eine bessere Art, eine swingende Soiree zu beginnen, als mit Glen Miller? Kommt schon, Brüder und Schwestern, lasst mich ein Yeah hören!«

Von den Bewohnern des Maxton - von denen einige bereits auf der Tanzfläche sind, während andere in un-terschiedlichen Posen von Verwirrung oder geistiger Leere in Rollstühlen an ihren Rändern hocken - kommt eine geflüsterte Antwort, weniger ein Partyschrei, als das Rascheln eines Herbstwindes in kahlen Baumkronen. Symphonic Stan grinst wie ein Hai und hebt beide Hände, als wollte er eine tobende Menge beschwichtigen; dann wirbelt er herum wie ein von Chick Webb inspirierter Tänzer im Savoy Ballroom. Seine Frackschöße breiten sich wie Schwanenflügel aus, seine glänzenden Füße fliegen und landen und fliegen erneut. Im nächsten Augenblick erscheinen zwei schwarze Wasserbälle auf den Handflächen des DJs, von denen einer durch einen Taschenspielertrick verschwindet, während der andere auf dem Plattenteller landet.

»All-reety, all-righty, all-rooty, ihr Hoppin’ Hens und Boppin’ Bunnies, hier kommt der Sentimental Gentleman, Mr. Tommy Dorsay persönlich, also greift euch euren Schatz und legt los, während der Sänger Dick Hay-mes, der Stolz von Buenos Aires, Argentinien, die musikalische Frage stellt >How Am I to Know You?<. Frank Sinatra hat das Gebäude noch nicht betreten, Brüder und Schwestern, aber das Leben ist trotzdem fein wie, mmmh, Wein.«

Rebecca Vilas will ihren Augen nicht trauen. Dieser Kerl schafft es, praktisch alle auf die Tanzfläche zu holen, sogar einige der Rollstuhlfahrer, die jetzt wie die besten Tänzer herumwirbeln. In seinem exotischen, staunenswerten Outfit herausgeputzt ist Symphonic Stan - Henry Leyden, korrigiert sie sich selbst - abgedroschen und atemberaubend, absurd und überzeugend, alles zugleich. Er ist wie ... eine Art Zeitkapsel, nur seiner Rolle und dem verpflichtet, was diese alten Leute hören wollen. Er hat sie wie durch Zauberei ins Leben zurückgeholt - in so viel Jugend, wie noch in ihnen steckte. Unglaublich? Das ist das einzig passende Wort. Menschen, die sie als schlurfende Zombies abgeschrieben hatte, blühen vor ihren Augen auf. Was Symphonic Stan angeht, führt er sich wie ein eleganter Derwisch auf, so-dass ihr Wörter wie verbindlich, geschliffen, weltmännisch, sexy, lässig, geschmeidig einfallen - Ausdrücke, die in ihrer Gesamtheit nur auf ihn zutreffen. Und dieser Trick mit den rotierenden Schallplatten! Wie macht er das nur?

Sie merkt gar nicht, dass sie mit einem Fuß den Takt mitklopft und sich zum Rhythmus der Musik wiegt, bis Henry »Begin the Beguine« von Artie Shaw auflegt, worauf sie buchstäblich ihre eigene Beguine beginnt, indem sie allein zu tanzen anfängt. Henrys Hepcat-Jive, der Anblick so vieler weißhaariger, violett getönter und kahlköpfiger Menschen, die über die Tanzfläche gleiten, Alice Weathers glückstrahlend in den Armen keines anderen als des schwermütigen Thorvald Thorvaldsens, Ada Meyerhoff und »Tom Tom« Boettcher, die sich mit ihren Rollstühlen umkreisen, der mitreißende Beat der Musik, der alles unter der einschmeichelnden Strahlkraft von Artie Shaws Klarinette verschmelzen lässt, alle diese Dinge vereinigen sich plötzlich auf magische Weise zu einer Vision irdischer Schönheit, die Rebecca brennende Tränen in die Augen treibt. Sie hebt lächelnd die Arme, dreht sich und wird im nächsten Augenblick mit erfahrenem Griff von Tom Toms Zwillingsbruder eingefangen, dem 86-jährigen Hermie Boettcher, dem pensionierten Erdkundelehrer von A17, den sie bisher für ziemlich steifleinen gehalten hat, der sie nun aber wortlos im Foxtrottschritt mitten auf die Tanzfläche führt.

»Eine Schande, ein hübsches Mädchen ganz für sich allein tanzen zu sehen«, sagt Hermie.

»Hermie, Ihnen würde ich überallhin folgen«, erklärt sie ihm.

»Kommen Sie, wir wollen näher ans Podium heran«, sagt er. »Ich möchte mir diesen Star in den schicken Klamotten aus der Nähe ansehen. Er soll blind wie ein Maulwurf sein, aber das glaube ich nicht.«

Hermie, der seine rechte Hand fest in ihr Kreuz gepresst hält und seine Hüften im Takt zu Artie Shaw wiegt, führt sie ganz nahe ans Podium heran, auf dem der Symphoniker bereits seinen Trick mit einer neuen Schallplatte vorführt, während er die letzten Takte der vorigen abwartet. Rebecca könnte schwören, dass Stan/Henry nicht nur spürt, dass sie vor ihm tanzt, sondern ihr geradezu zublinzelt! Aber das ist nun wirklich unmöglich . oder etwa nicht?

Der Symphoniker lässt die Shaw-Platte verschwinden, legt die neue auf den Plattenteller und sagt: »Könnt ihr >fetzig< sagen? Könnt ihr >groovy< sagen? Nachdem wir jetzt alle ein bisschen lockerer sind, wollen wir zu Woody Hermans >Wild Root< jumpen und jiven. Dieser Song ist euch schönen Ladys gewidmet, vor allem der einen, die Calyx trägt.«

Rebecca lacht und sagt: »Ach, du liebe Güte!« Er konnte ihr Parfüm riechen; er hatte es erkannt!

Ohne sich von dem lebhafteren Tempo von »Wild Root« einschüchtern zu lassen, gleitet Hermie Boettcher einen Schritt zurück, streckt die Arme aus und wirbelt Rebecca herum. Beim ersten Schlag des nächsten Takts fängt er sie in seinen Armen auf, wechselt die Tanzrichtung und lässt sie beide zum anderen Ende des Podiums kreiseln, wo Alice Weathers neben Mr. Thorvaldson stehend zu Symphonic Stan aufsieht.

»Die besondere Lady müssen Sie sein«, sagt Hermie. »Weil dieses Parfüm, das Sie tragen, eine Widmung wert ist.«

»Wo haben Sie so tanzen gelernt?«, fragt Rebecca.

»Mein Bruder und ich, wir waren Stadtjungen. Tanzen gelernt haben wir vor der Musikbox im Alouette’s drüben in Arden.« Rebecca kennt das Alouette’s auf der Main Street in Arden, aber wo früher die Limonadentheke war, befindet sich jetzt eine Lunchtheke, und die Jukebox ist ungefähr damals rausgeflogen, als Johnny Mathis aus den Charts verschwunden ist. »Wollen Sie einen guten Tänzer, suchen Sie sich einen Jungen aus der Stadt. Tom Tom, na, der war immer der flotteste Tänzer weit und breit, und man kann ihn zwar in diesen Rollstuhl knallen, aber sein Rhythmusgefühl kann ihm keiner nehmen.«

»Mr. Stan, juhu, Mr. Stan?« Alice Weathers hat den Kopf in den Nacken und die Hände um den Mund gelegt. »Erfüllen Sie auch Musikwünsche?«

Eine Stimme so ausdruckslos und hart wie zwei gegeneinander mahlende Steine sagt: »Ich war zuerst da, alte Hexe.«

Diese grobe Unverschämtheit lässt Rebecca ruckartig Halt machen. Hermies rechter Fuß senkt sich sanft auf ihren linken, wird aber rasch weggezogen, ohne sie mehr zu verletzen als ein Kuss. Charles Burnside, der über Alice aufragt, funkelt Thorvald Thorvaldson an. Thorvaldson weicht zurück und zieht an Alices Hand.

»Gewiss, meine Liebe«, sagt Stan und beugt sich etwas zu ihr hinunter. »Sagen Sie mir Ihren Namen und was Sie hören möchten.«

»Ich bin Alice Weathers und .«

»Ich war zuerst da«, wiederholt Burny laut.

Rebecca sieht zu Hermie hinüber, der mit saurer Miene den Kopf schüttelt. Stadtjunge oder nicht, er ist ebenso eingeschüchtert wie Mr. Thorvaldson.

»>Moonglow<, bitte. Von Benny Goodman.«

»Ich bin zuerst dran, Schnepfe. Ich will das Woody-Herman-Stück >Lady Magowan’s Nightmare<. Das ist wirklich gut.«

Hermie beugt sich zu Rebeccas Ohr hinüber. »Niemand mag diesen Kerl, aber er setzt sich immer durch.«

»Nicht diesmal«, sagt Rebecca. »Mr. Burnside, ich möchte, dass Sie .«

Symphonic Stan schneidet ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. Er wendet sich an den Besitzer der bemerkenswert unangenehmen Stimme. »Muss leider passen, Mister. Der Song heißt >Lady Magowan’s Dream<, aber ich habe dieses fetzige kleine Stück heute Nachmittag nicht mitgebracht, sorry.«

»Okay, Kumpel, wie wär’s dann mit dem Song >I Can’t Get Started<, den Bunny Berigan gespielt hat?«

»Oh, den mag ich auch«, sagt Alice. »Ja, bitte spielen Sie >I Can’t Get Started<.«

»Wie Sie wünschen«, sagt Stan mit Henry Leydens gewöhnlicher Stimme. Ohne sich die Mühe zu machen, übers Podium zu tänzeln oder die Schallplatte auf seiner Handfläche rotieren zu lassen, vertauscht er die LP auf dem Plattenteller einfach mit einer anderen aus dem ersten Karton. Er wirkt eigenartig niedergeschlagen, als er ans Mikrofon tritt und sagt: »>I’ve flown around the world on a plane, I settled revolutions in Spain - Can’t get started.< Für die liebenswerte Alice Blaukleid und den Nachtwanderer.«

»Affenarsch«, sagt Burny laut.

Die Musik setzt ein. Rebecca tippt Hermie auf den Arm und tritt auf Charles Burnside zu, für den sie nie mehr als undefinierbaren Abscheu empfunden hat. Da sie ihn jetzt im Visier hat, bringen Abscheu und Empörung sie dazu, zu ihm zu sagen: »Mr. Burnside, Sie werden sich jetzt bei Alice und unserem Gast hier entschuldigen. Sie sind ein ungehobelter, abscheulicher Rüpel, und ich möchte, dass Sie nach Ihrer Entschuldigung auf Ihr Zimmer gehen, wo Sie hingehören.«

Ihre Worte bleiben wirkungslos. Burnside lässt plötzlich die Schultern hängen. Auf seinem Gesicht steht ein breites, nichts sagendes Grinsen, und er starrt blicklos ins Leere. Er wirkt so verwirrt, als könnte er sich nicht an seinen Namen erinnern, von Bunny Berigans Namen ganz zu schweigen. Im Übrigen ist Alice Weathers weggetanzt, und Symphonic Stan, der ganz hinten auf dem Podium außerhalb des Lichtkegels des rosa Spots steht, scheint tief in Gedanken versunken zu sein. Auf der Tanzfläche schwanken die alten Paare im Takt der Musik. Von der Seite aus deutet Hermie Boettcher Tanzschritte an und wirft ihr einen fragenden Blick zu.

»Tut mir Leid, dass das passiert ist«, sagt Rebecca zu Stan/Henry.

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. >I Can’t Get Started< war der Lieblingssong meiner Frau. Gerade in den letzten Tagen habe ich viel an sie denken müssen. Deshalb hat mich das irgendwie kalt erwischt.« Er fährt sich mit einer Hand über das glatte Haar, schlenkert mit den Armen und schlüpft sichtbar wieder in seine Rolle.

Rebecca beschließt, ihn in Ruhe zu lassen. Auch sie möchte jetzt für eine Weile von allen in Ruhe gelassen werden. Sie signalisiert Hermie ihr Bedauern und dass die Pflicht rufe, schlängelt sich durch die Menge und verlässt den Gemeinschaftsraum. Irgendwie hat der alte Burny es geschafft, vor ihr auf dem Korridor zu sein. Er schlurft mit hängendem Kopf und über den Boden schrammenden Füßen geistesabwesend in Richtung Dai-sy-Trakt.

»Mr. Burnside«, sagt sie, »mit Ihrer Schauspielerei können Sie vielleicht alle anderen täuschen, aber Sie sollten wissen, dass das nicht für mich gilt.«

Der Alte dreht sich mit ruckartigen kleinen Bewegungen nach ihr um. Erst bewegt sich ein Fuß, dann ein Knie, die spatigen Hüften, der zweite Fuß, zuletzt der hagere Rumpf. Die hässliche Blüte von Burnys Schädel hängt von ihrem dürren Stängel herab, sodass Rebecca seine gesprenkelte Kopfhaut vor sich hat. Seine lange Nase ragt wie ein verzogenes Steuerruder hervor. Mit derselben grässlichen Langsamkeit hebt er den Kopf, um trübe Augen und einen schlaffen Mund sehen zu lassen. In den trüben Augen blitzt nackte Rachsucht auf, und die aschgrauen Lippen kräuseln sich.

Die erschrockene Rebecca weicht unwillkürlich einen Schritt zurück. Burnys Mund hat sich noch weiter zu einem abscheulichen Grinsen verzogen. Rebecca würde am liebsten die Flucht ergreifen, aber ihr Zorn darüber, von diesem blöden Fiesling gedemütigt worden zu sein, lässt sie die Stellung halten.

»Lady Magowan hatte einen schlimmen, schlimmen Albtraum«, teilt Burny ihr mit. Seine Stimme klingt, als stünde er unter Drogen oder schlafe fast. »Und Lady Sophie hatte ebenfalls einen Albtraum. Nur war ihrer noch schlimmer.« Er kichert. »Der König war in seinem Zähl-haus, zählte seine Schätze. Das hat Sophie gesehen, als sie eingeschlafen ist.« Sein Kichern wird schriller, und er sagt etwas, das wie »Mr. Munching« klingt. Seine zurückgezogenen Lippen lassen gelbe, unregelmäßige Zähne sehen, und mit seinem eingesunkenen Gesicht geht eine subtile Veränderung vor. Eine vordem verborgene Intelligenz scheint seine Gesichtszüge zu formen. »Kennen Sie Mr. Munshun? Mr. Munshun und seinen kleinen Freund Gorg? Wissen Sie, was in Chicago passiert ist?«

»Schluss jetzt, Mr. Burnside.«

»Wissen Sie von Fritz Haarmann, von ihm, der so reizend war? Die Leute haben ihn, haben ihn, haben ihn den Vampir, Vampir, Vampir von Hannover genannt, ja, das haben sie getan, getan, getan. Jedermann, jedermann, jedermann hat Gottes Albträume, die ganze Zeit, Zeit, Zeit, haha, hoho.«

»Hören Sie mit diesem Gebrabbel auf!«, schreit Rebecca. »Mich können Sie damit nicht täuschen!«

Für einen kurzen Moment blitzt erneut Intelligenz in Burnys trübem Blick auf, weicht aber fast augenblicklich wieder zurück. Er fährt sich mit der Zungenspitze über die Lippen und sagt: »Aufwachen, Burn-Burn.«

»Wie Sie meinen«, sagt Rebecca. »Essen gibt’s um halb acht, wenn Sie wollen. Machen Sie bis dahin ein Nickerchen oder sonst was, okay?«

Burny wirft ihr einen griesgrämigen, düsteren Blick zu, setzt klatschend einen Fuß auf den Boden und leitet so den zeitraubenden Vorgang des Umdrehens ein. »Das sollten Sie sich aufschreiben. Fritz Haarmann. In Hannover.« Sein Mund verzieht sich zu einem Lächeln, das beunruhigend verschlagen wirkt. »Wenn der König hierher kommt, können wir vielleicht miteinander tanzen.«

»Nein danke.« Rebecca kehrt dem alten Scheusal den Rücken zu und klappert auf ihren hohen Absätzen den Flur entlang davon, wobei sie sich seines ihr folgenden Blicks unangenehm bewusst ist.

Im fensterlosen Vorzimmer von Chippers Büro liegt Re-beccas hübsche kleine Handtasche von Coach flach auf dem Schreibtisch. Bevor sie hineingeht, reißt sie ein Blatt von einem Notizblock ab, schreibt Fritz Har-mann(?), Hannover(?) darauf und steckt den Zettel ins Mittelfach der Tasche. Das mag nichts zu bedeuten haben - vermutlich nicht -, aber wer weiß? Sie ist wütend, weil sie sich von Burnside hat ängstigen lassen, und wenn sie eine Möglichkeit findet, diesen Unsinn gegen ihn zu verwenden, wird sie ihr Bestes tun, um ihn aus dem Maxton entfernen zu lassen.

»Kleines, bist du’s?«, ruft Chipper.

»Nein, Lady Magowan und ihr gottverdammter Albtraum.« Sie geht mit großen Schritten in Chippers Büro und findet ihn, wie er an seinem Schreibtisch sitzt, wo er zufrieden das Geld zählt, das die Söhne und Töchter seiner Schützlinge an diesem Nachmittag gespendet haben.

»Meine kleine Becky sieht aber ziemlich missgelaunt aus«, sagt er. »Was ist passiert, ist einer unserer Zombies dir auf den Fuß getreten?«

»Nenn mich nicht Becky.«

»He, he, Kopf hoch! Du wirst nicht glauben, wie viel dein redegewandter Liebhaber heute von den Verwandten ergaunert hat. Hundertsechsundzwanzig Schein-chen! Steuerfrei! Okay, was ist also passiert?«

»Charles Burnside hat mir einen Schrecken eingejagt, das ist passiert. Er gehört in eine psychiatrische Klinik.«

»Das ist doch nicht dein Ernst? Gerade dieser Zombie ist sein Gewicht in Gold wert. Solange Charles Burnside noch atmen kann, wird er immer einen Platz in meinem Herzen haben.« Er schwenkt grinsend eine Hand voll Geldscheine. »Und wenn du einen Platz in meinem Herzen hast, Honey-Baby, hast du immer einen Platz im Maxton.«

Bei der Erinnerung daran, wie Burnside gesagt hat:

Der König war in seinem Zählhaus, zählte seine Schätze, fühlt sie sich unrein. Würde Chipper nicht auf so überschwängliche Weise mit schlaffen Lippen grinsen, würde er sie, das vermutet Rebecca, nicht so unangenehm an seinen liebsten Heimbewohner erinnern. Jedermann hat Gottes Albträume, die ganze Zeit, Zeit, Zeit - das war keine üble Beschreibung von dem French Landing des Fishermans. Komisch, wer hätte gedacht, dass der alte Burny mehr Notiz von diesen Morden nehmen würde als Chipper? Rebecca hatte nie gehört, dass er die Verbrechen des Fishermans auch nur erwähnte, wenn man von den Gelegenheiten absah, bei denen er darüber meckerte, bevor Dale Gilbertson endlich seinen dicken fetten Arsch hochkriege, könne er niemandem erzählen, dass er zum Fischen fahre, aber was für eine beschissene kleine Sorge sei das schon?

8

Zwei Telefongespräche und eine weitere, private Angelegenheit, die er nach Kräften zu leugnen versucht, haben sich verschworen, um Jack Sawyer aus seinem Kokon im Norway Valley zu holen und auf die Straße nach French Landing, in die Sumner Street und zur Polizeistation zu bringen. Der erste Anruf war von Henry gekommen, und Henry, der während einer der Pausen des Symphonikers aus dem Speisesaal im Maxton anrief, hatte darauf bestanden, ihm die Meinung zu sagen. An diesem Morgen war offenbar ein Kind vom Gehsteig vor dem Maxton entführt worden. Unabhängig davon, aus welchen Gründen - die er übrigens nie erläutert habe -Jack sich nicht an den Ermittlungen beteiligt habe, zählten diese jetzt nicht mehr, sorry. Damit seien dem Fisherman insgesamt vier Kinder zum Opfer gefallen, Jack glaube doch wohl nicht im Ernst, dass Irma Freneau demnächst gesund und munter heimkommen werde, oder doch? Vier Kinder!

»Nein«, hatte Henry gesagt, »ich hab’s nicht im Radio gehört. Es ist heute Morgen passiert.«

»Vom Hausmeister im Maxton«, hatte Henry gesagt. »Er hat gesehen, wie ein sichtlich besorgter Cop ein Kinderfahrrad aufgehoben und in seinen Kofferraum gelegt hat.«

»Also gut«, hatte Henry gesagt, »ich weiß es vielleicht nicht sicher, aber ich bin mir meiner Sache sicher. Spätestens heute Abend hat Dale das arme Kind identifiziert, und morgen Früh posaunt die Zeitung seinen Namen hinaus. Und dann flippt die ganze County aus. Kapierst du das nicht? Schon die Meldung, dass du an den Ermittlungen beteiligt bist, kann viel dazu beitragen, dass die Leute Ruhe bewahren. Du kannst dir den Luxus, im Ruhestand zu leben, nicht mehr leisten, Jack. Du musst deinen Teil tun.«

Jack hatte ihm erklärt, er ziehe voreilige Schlüsse und sie würden später darüber reden.

Eine Dreiviertelstunde später hatte Dale Gilbertson mit der Nachricht angerufen, ein Junge namens Tyler Marshall sei irgendwann vormittags vom Gehsteig vor dem Maxton verschwunden und Tylers Vater, Fred Marshall, sei jetzt auf der Polizeistation und verlange, Jack Sawyer zu sprechen. Fred sei ein großartiger Kerl, ein grundanständiger Mensch und Familienvater, ein solider Bürger, ein Freund von Dale, könne man sagen, aber im Augenblick wisse er einfach nicht mehr weiter. Judy, seine Frau, habe anscheinend schon vor dieser Sache psychische Probleme gehabt, aber Tylers Verschwinden habe ihr jetzt den Rest gegeben. Sie rede wirres Zeug, habe sich selbst verletzt, habe das Haus auf den Kopf gestellt.

»Und ich kenne Judy Marshall ziemlich gut«, hatte Dale gesagt. »Eine wirklich schöne Frau, klein und zierlich, aber hart im Nehmen, steht mit beiden Füßen fest auf dem Boden der Realität, ein wundervoller Mensch, eine großartige Frau, von der man gedacht hätte, sie würde unter keinen Umständen durchdrehen. Sie hat anscheinend geglaubt, gewusst oder geahnt, dass Tyler entführt worden ist, schon bevor sein Fahrrad aufgefunden wurde. Am Spätnachmittag hat ihr Zustand sich so verschlimmert, dass Fred den Hausarzt Dr. Skarda rufen und sie ins French County Lutheran Hospital in Arden bringen musste, wo die Ärzte sie sofort in Station D, die psychiatrische Abteilung, gesteckt haben. Du kannst dir also vorstellen, in welcher Verfassung der arme Kerl ist. Er besteht darauf, mit dir zu reden. Zu dir habe ich kein Vertrauen, hat er mir erklärt.«

»Pass auf«, hatte Dale gesagt, »wenn du nicht reinkommst, steht Fred Marshall demnächst vor deiner Tür, das garantiere ich dir. Ich kann den Kerl nicht an die Leine legen und denke auch nicht daran, ihn einzusperren, nur um ihn von dir fernzuhalten. Außerdem brauchen wir dich hier dringend, Jack.«

»Also gut«, hatte Dale gesagt. »Ich weiß, dass du nichts versprechen willst. Aber du weißt, was du tun solltest.«

Hätten diese Gespräche ausgereicht, ihn in seinen Pi-ckup und auf den Weg zur Sumner Street zu bringen? Sehr wahrscheinlich, glaubt Jack, was also den dritten Faktor, den geheimen, kaum eingestandenen Faktor, belanglos macht. Er hat nichts zu bedeuten. Ein dummer Anfall von nervöser Anspannung, eine unter den gegenwärtigen Umständen völlig natürliche zunehmende Besorgnis. So etwas konnte jedem passieren. Er hatte gerade Lust, sein Haus zu verlassen, na und? Niemand konnte ihm vorwerfen, er flüchte daraus. Statt vor etwas zu flüchten, dem er am dringendsten entkommen wollte - vor der bedrohlichen Unterströmung in den Verbrechen des Fishermans -, bewegte er sich darauf zu. Damit verpflichtete er sich jedoch nicht zu größerem Engagement. Ein Freund Dales, der Vater eines anscheinend verschwundenen Jungen, dieser Fred Marshall, wollte unbedingt mit ihm reden; gut, sollte er mit ihm reden. Wenn eine halbe Stunde mit einem im Ruhestand lebenden Kriminalbeamten Fred Marshall irgendwie helfen konnte, seine Probleme in den Griff zu bekommen, war der im Ruhestand lebende Kriminalbeamte bereit, ihm die nötige Zeit zu opfern.

Alles andere war rein privat. Wachträume und Rotkehlcheneier brachten einen durcheinander, aber das war eine reine Privatangelegenheit. Sie konnte ausgesessen, überlistet, ergründet werden. Kein vernünftiger Mensch nahm solches Zeug ernst: Wie ein Sommersturm blies es herein, blies es wieder hinaus. Als er jetzt bei Grün über die Kreuzung in Centralia rollte und mit der reflexartigen Aufmerksamkeit eines Cops die auf dem Parkplatz der Sand Bar aufgereihten fünf Harleys bemerkte, spürte er, dass er die Schwierigkeiten dieses Nachmittags nüchterner zu beurteilen begann. Es war völlig logisch, dass er außerstande - nun, sagen wir nicht willens - gewesen war, die Kühlschranktür zu öffnen. Schlimme Überraschungen machen einen vorsichtig. Im Wohnzimmer war eine Lampe durchgebrannt, aber als er zu der Schublade gegangen war, in der er ein halbes Dutzend neue Halogenlampen aufbewahrte, hatte er sie nicht öffnen können. Tatsächlich war er nicht imstande gewesen, im gesamten Haus irgendein Schubfach, irgendeine Schiebe- oder Schranktür zu öffnen, was ihn der Möglichkeit beraubt hatte, sich eine Tasse Tee zu machen, sich umzuziehen, sich ein Mittagessen zuzubereiten oder mehr zu tun, als halbherzig in Büchern zu blättern und fernzusehen. Als die Briefkastenklappe gedroht hatte, eine Pyramide aus kleinen blauen Eiern zu verbergen, hatte er beschlossen, seine Post erst morgen herauszuholen. Er bekam ohnehin nur Bankauszüge, Zeitschriften und Werbedrucksachen.

Wir wollen die Sache nicht übermäßig dramatisieren, ermahnt Jack sich. Ich hätte jedes Schubfach, jede Schiebeoder Schranktür im ganzen Haus öffnen können; ich wollte nur nicht. Ich habe mich nicht davor gefürchtet, dass Rotkehlcheneier aus dem Kühlschrank oder dem Kleiderschrank quellen könnten - ich wollte nur nicht riskieren, eines der verdammten Dinger zu finden. Zeigt mir einen Psychologen, der das neurotisch nennt, und ich zeige euch einen Trottel, der keine Ahnung von Psychologie hat. Alle erfahrenen Kollegen haben mir erzählt, dass einem die Arbeit in der Mordkommission irgendwann auf den Geist geht. Teufel, schließlich habe ich deshalb den Dienst quittiert!

Was sollte ich tun, bei der Polizei bleiben, bis ich eines Tages durchdrehe? Du bist ein cleverer Kerl, Henry Leyden, na gut, ich mag dich, aber es gibt Dinge, von denen du einfach nichts verstehst!

Okay, er fuhr in die Sumner Street. Alle verlangten lautstark, er solle etwas unternehmen, und das tat er jetzt. Er würde Hallo zu Dale sagen, die Jungs begrüßen, sich mit diesem Fred Marshall, dem soliden Bürger mit dem verschwundenen Sohn, zusammensetzen und ihm die übliche Beruhigungspille verpassen, dass alles Menschenmögliche getan werde, blabla, das FBI arbeitet in dieser Sache eng mit uns zusammen, und das Bureau hat die besten Ermittler der Welt. Diese Beruhigungspille. Aus Jacks Sicht bestand seine Hauptaufgabe daraus, Fred Marshalls Fell zu streicheln, als wollte er eine verletzte Katze beruhigen; sobald Marshall sich wieder beruhigt hatte, war Jacks angebliche Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber - eine Verpflichtung, die nur in den Köpfen anderer existierte - erfüllt, sodass er sich wieder in sein wohlverdientes Privatleben zurückziehen konnte. Passte Dale das nicht, konnte er sich in den Mississippi stürzen; passte Henry das nicht, würde Jack sich weigern, ihm weiter Bleak House vorzulesen, und ihn statt-dessen zwingen, sich Lawrence Welk, Vaughn Monroe oder etwas ebenso Qualvolles anzuhören. Schlechten Dixie. Vor Jahren hatte irgendjemand Jack eine CD mit dem Titel Fats Manassas & His Muskrat All Stars Stompin’ the Ramble geschenkt. Nach dreißig Sekunden Fats Ma-nassas würde Henry um Gnade winseln.

Bei dieser Vorstellung fühlt Jack sich wohl genug, um beweisen zu wollen, dass hinter seinem Zögern vor Schränken und Schubladen keine auf einer Phobie basierende Unfähigkeit, sondern nur eine vorübergehende Unwilligkeit gesteckt hat. Auch während seine Aufmerksamkeit anderen Dingen galt, was überwiegend der Fall war, hat der geschlossene Aschenbecher unter dem Armaturenbrett ihn gereizt und verspottet, seit er sich ans Steuer des Pickups gesetzt hat. Eine Art unheilvoller Anzüglichkeit, eine Aura von latenter Bosheit umgibt das flache Rechteck des Aschenbechers.

Fürchtet er, hinter der Blende könnte ein kleines blaues Ei lauern?

Natürlich nicht. Dort befindet sich nichts außer Luft und schwarzen Formteilen aus Kunststoff.

Also kann er das Fach herausziehen.

Vor den Fenstern des Pickups gleiten die Gebäude der Außenbezirke von French Landing vorbei. Jack hat fast genau die Stelle erreicht, an der Henry heute Morgen Dirtysperm den Stecker herausgezogen hat. Natürlich kann er den Aschenbecher aufziehen. Nichts leichter als das. Man schiebt einfach die Finger unter den überstehenden Rand und zieht. Die einfachste Sache der Welt. Er streckt eine Hand aus. Bevor er die Blende mit den Fingerspitzen berührt, reißt er die Hand aber wieder zurück. Schweißperlen rollen ihm über die Stirn hinunter und verfangen sich in den Augenbrauen.

»Nichts dabei«, sagt er laut. »Hast du irgendein Problem damit, Jacky-Boy?«

Jack streckt die Hand wieder nach dem Aschenbecher aus. Als er plötzlich merkt, dass er mehr auf die Unterkante des Armaturenbretts als auf die Straße achtet, sieht er auf und verringert sein Tempo sofort um die Hälfte. Aber er weigert sich, ganz anzuhalten. Um Himmels willen, hier geht’s bloß um einen Aschenbecher. Er berührt die Blende und schiebt die Finger in die Aussparung. Jack sieht nochmals auf die Straße. Dann reißt er die kleine Schublade mit der Entschlossenheit einer Krankenschwester heraus, die einem Patienten ein Pflas-ter vom behaarten Bauch abreißt. Der Zigarettenanzünder, den er an diesem Morgen vor seinem Haus unabsichtlich gelockert hat, springt eine Handbreit in die Luft und erscheint vor Jacks entsetztem Blick wie ein fliegendes schwarz-silbernes Ei.

Er kommt von der Straße ab, holpert über den verunkrauteten Seitenstreifen und hält auf einen vor ihm aufragenden Telefonmast zu. Der Zigarettenanzünder plumpst mit einem lauten metallischen Knall, den kein Ei der Welt hätte hervorbringen können, in den Aschenbecher zurück. Der Telefonmast kommt näher und füllt schon fast die Windschutzscheibe aus. Jack tritt das Bremspedal durch, kommt schleudernd zum Stehen und löst damit im Aschenbecher eine Serie von Klapper- und Rattergeräuschen aus. Hätte er sein Tempo nicht schon verringert, bevor er den Aschenbecher aufgezogen hat, wäre er an den Mast geknallt, der jetzt keine eineinhalb Meter vor dem Kühler des Pickups aufragt. Jack wischt sich den Schweiß vom Gesicht und greift nach dem Zigarettenanzünder. »Mist, verdammter!« Er lässt den Anzünder in seine Halterung einrasten und sinkt in den Sitz zurück. »Kein Wunder, dass Rauchen einen umbringen kann«, sagt er. Der Witz ist zu schwach, um ihn zu erheitern, und er tut ein paar Sekunden lang nicht mehr, als zusammengesunken dazusitzen und den spärlichen Verkehr auf der Lyall Road zu beobachten. Nachdem der Puls auf annähernd normale Frequenz zurückgegangen ist, macht er sich vollends bewusst, dass er den Aschenbecher schließlich doch aufgezogen hat.

Der blonde, leicht zerknitterte Tom Lund lauert offenbar auf seine Ankunft. Als Jack nämlich an den drei am Eingang aufgereihten Kinderfahrrädern vorbeigeht und die Polizeistation betritt, schießt der junge Beamte hinter seinem Schreibtisch hoch und kommt eilig auf ihn zu, um ihm zuzuflüstern, dass Dale Gilbertson und Fred Marshall in Dales Dienstzimmer auf ihn warten und er ihn gleich hineinbringen wird. Die beiden werden froh sein, ihn zu sehen, das stehe fest. »Ich bin’s auch, Lieutenant Sawyer«, fügt Lund hinzu. »Mann, das muss ich echt sagen. Was Sie können, haben wir bitter nötig, glaub ich.«

»Sagen Sie ruhig Jack zu mir. Ich bin nicht mehr Lieutenant. Ich bin nicht mal mehr ein Cop.« Jack hatte Tom Lund bei den Ermittlungen im Fall Kinderling kennen gelernt und einen guten Eindruck von Diensteifer und Pflichtbewusstsein des jungen Mannes gewonnen. Lund, der seinen Beruf, seine Uniform und seine Plakette liebt, seinen Chief als Vorgesetzten achtet und Jack ehrfürchtig respektiert, hatte ohne zu klagen Hunderte von Stunden am Telefon, bei Behörden und in seinem Wagen verbracht, um die oft widersprüchlichen Details, die das Ergebnis einer Kollision zwischen einem Saatgutvertreter aus Wisconsin und einer Berufstätigen vom Sunset Strip waren, zu überprüfen und nochmals zu überprüfen. In dieser ganzen Zeit hatte Tom Lund sich den energiegeladenen Schwung eines High-School-Quarterbacks bewahrt, der zu seinem ersten Spiel aufs Feld läuft.

So sieht er jetzt gar nicht mehr aus, bemerkt Jack. Er hat dunkle Schatten unter den Augen, und die Backenknochen treten deutlicher hervor. An Lunds schlechtem Aussehen sind aber nicht nur Schlafmangel und Übermüdung schuld; in seinem Blick liegt der hilflos verwirrte Ausdruck eines Menschen, der einen heftigen Schlag aufs Gemüt erlitten hat. Der Fisherman hat Tom Lund um einen Großteil seiner Jugend gebracht.

»Aber ich will zusehen, was ich tun kann«, sagt Jack und verspricht damit mehr Engagement als ursprünglich beabsichtigt.

»Wir können bestimmt alles brauchen, was Sie uns geben können«, sagt Lund. Das ist zu viel, zu servil, und als Lund sich abwendet, denkt Jack: Ich bin nicht hergekommen, um euer Erretter zu sein.

Dieser Gedanke weckt sofort Schuldgefühle in ihm.

Lund klopft an, öffnet die Tür, um Jack anzukündigen, begleitet ihn hinein und verschwindet dann wie ein Geist, ohne von den beiden Männern überhaupt wahrgenommen zu werden, die von ihren Stühlen aufstehen und den Besucher anstarren - der eine mit sichtlicher Dankbarkeit, der andere mit einer Riesenportion desselben Gefühls, in das sich aber auch nackte Not mischt, bei der Jack noch unbehaglicher zumute wird.

Während Dale die beiden Männer etwas konfus miteinander bekannt macht, sagt Fred Marshall: »Danke, dass Sie gekommen sind, vielen Dank. Mehr kann ich nicht ...« Sein rechter Arm ragt wie ein Pumpenschwengel vom Körper ab. Als Jack die angebotene Hand ergreift, verstärken die Emotionen auf Freds Gesicht sich schlagartig. Er umklammert Jacks Hand und scheint sie fast für sich zu beanspruchen, wie ein Raubtier seine Beute beansprucht. Er drückt sie unablässig. Seine Augen füllen sich mit Tränen. »Ich kann Ihnen nicht .« Marshall lässt Jacks Hand los und wischt sich die Tränen vom Gesicht. Sein Blick wirkt jetzt schutzlos und sehr verwundbar. »Mann, o Mann«, sagt er. »Ich bin wirklich froh, dass Sie gekommen sind, Mr. Sawyer. Oder sollte ich Lieutenant sagen?«

»Einfach Jack genügt. Wollt ihr beiden mir nicht erzählen, was heute passiert ist?«

Dale zeigt auf einen bereitstehenden Stuhl; die drei Männer nehmen Platz; die schmerzliche, aber im Grunde genommen simple Geschichte von Fred, Judy und Tyler Marshall wird erzählt. Fred spricht als Erster und ziemlich lange. In seiner Version der Story erliegt eine tapfere, unerschrockene Frau, eine liebevolle Ehefrau und Mutter, unerklärlichen, vielgestaltigen Störungen und Verwandlungen und lässt rätselhafte Symptome erkennen, die von ihrem ignoranten, dummen, egozentrischen Ehemann übersehen werden. Sie stößt unsinnige Wörter aus; sie schreibt verrücktes Zeug auf Notizzettel, stopft sich das Papier in den Mund und versucht es zu verschlucken. Sie sieht die Tragödie voraus, und das gibt ihr den Rest. Klingt verrückt, aber ihr selbstsüchtiger Ehemann denkt, dass das die Wahrheit ist. Genauer gesagt denkt er, dass er denkt, dass das die Wahrheit ist, weil er darüber nachgedacht hat, seit er zuerst mit Dale gesprochen hat, und obwohl das verrückt klingt, ergibt es einen gewissen Sinn. Welche andere Erklärung könnte es sonst geben? Er glaubt also, Folgendes zu denken - dass seine Frau angefangen hat, den Verstand zu verlieren, weil sie wusste, dass der Fisherman unterwegs war. Solche Dinge sind möglich, nimmt er an. Zum Beispiel wusste die tapfere, leidende Frau, dass ihr schöner, wunderbarer Sohn verschwunden war, noch bevor der dumme, selbstsüchtige Ehemann, der wie an einem ganz normalen Tag zur Arbeit gefahren war, ihr von dem Fahrrad erzählt hat. Das war praktisch der Beweis für Freds Theorie. Der schöne kleine Junge ist mit drei Freunden weggefahren, aber nur die drei Freunde sind zurückgekommen, und Officer Danny Tcheda hat das Schwinn-Rad des kleinen Sohnes und einen seiner armen kleinen Laufschuhe auf dem Gehsteig vor dem Maxton gefunden.

»Danny Cheetah?«, fragt Jack, der wie Fred Marshall zu denken beginnt, dass er alle möglichen beunruhigenden Dinge denkt.

»Tcheda«, sagt Dale und buchstabiert ihm den Namen. Anschließend erzählt Dale seine eigene, weit kürzere Version der Geschichte. In Dale Gilbertsons Story fährt ein Junge mit seinem Fahrrad spazieren und verschwindet, vielleicht als Folge einer Entführung, vom Gehsteig vor dem Maxton. Mehr weiß Dale vorerst nicht, und er vertraut darauf, dass Jack Sawyer viele der Lücken in dieser Erzählung ausfüllen können wird.

Jack Sawyer, den die beiden anderen Männer erwartungsvoll anstarren, lässt sich Zeit, um die drei Gedanken zu ordnen, die er jetzt zu denken glaubt. Der erste ist weniger ein Gedanke, als eine Reaktion, in der ein Gedanke verborgen ist: Seit dem Augenblick, in dem Fred Marshall seine Hand umklammert und »Mann, o Mann« gesagt hat, mag Jack ihn, was eine unerwartete Wende im Szenario dieses Abends ist. Fred Marshall erscheint ihm als ideale Werbefigur fürs Kleinstadtleben. Würde sein Bild Reklametafeln zieren, die für Immobilien in der French County werben, könnte man Leuten in Milwaukee und Chicago viele Zweitwohnsitze verkaufen. Fred Marshalls freundliches, gut aussehendes Gesicht und seine schlanke Läufergestalt zeugen praktisch von Verantwortungsbewusstsein, Anständigkeit, guten Manieren und gutnachbarlichem Wesen, Bescheidenheit und einem großzügigen Herzen. Je mehr Fred Marshall sich als dumm und egoistisch anklagt, desto sympathischer wird er Jack. Und je mehr er ihn mag, je mehr Mitgefühl er mit dessen verzweifelten Lage hat, desto dringender will er dem Mann helfen. Jack ist mit der Erwartung in die Polizeistation gekommen, er werde auf Dales Freund wie ein Polizeibeamter reagieren, aber seine Cop-Reflexe sind wegen Nichtgebrauchs eingerostet. Stattdessen reagiert er wie ein Mitbürger. Wie Jack recht gut weiß, betrachten Cops von einem Verbrechen betroffene Zivilisten selten als Mitbürger, jedenfalls nie im Anfangsstadium der Ermittlungen. (Der im Inneren von Jacks Reaktion auf den Mann vor ihm verborgene Gedanke besagt, dass Fred Marshall aufgrund seiner Wesensart niemanden verdächtigen könnte, mit dem er gut auskommt.)

Jacks zweiter Gedanke ist der eines Cops und Mitbürgers, und während er sich weiter an den dritten Gedanken gewöhnt, der allein das Ergebnis seiner eingerosteten, aber noch immer präzisen Cop-Reflexe ist, spricht er den zweiten aus. »Die Fahrräder, die ich draußen gesehen habe, gehören wahrscheinlich Tylers Freunden, oder? Vernimmt jemand sie jetzt gerade?«

»Bobby Dulac«, sagt Dale. »Ich habe mit ihnen gesprochen, als sie angekommen sind, aber viel war nicht aus ihnen rauszukriegen. Ihrer Darstellung nach waren sie alle auf der Chase Street unterwegs, als Tyler allein weggefahren ist. Sie behaupten, nichts gesehen zu haben. Vielleicht stimmt das sogar.«

»Aber du glaubst, dass dahinter mehr steckt?«

»Allerdings! Aber ich weiß nicht, was zum Teufel das sein könnte, und wir müssen sie nach Hause schicken, bevor ihre Eltern Rabatz machen.«

»Wer sind sie, wie heißen sie?«

Fred Marshall schlingt die Finger umeinander wie um den Griff eines unsichtbaren Baseballschlägers. »Ebbie Wexler, Ronnie Metzger und T. J. Renniker. Sie sind die Jungen, mit denen Ty sich in diesem Sommer rumgetrieben hat.« Der letzte Satz enthält ein unausgesprochenes Urteil.

»Das klingt so, als hielten Sie diese drei nicht für den bestmöglichen Umgang für Ihren Sohn.«

»Äh ... nein«, sagt Fred, den sein Wunsch, die Wahrheit zu sagen, und sein natürliches Bestreben, jeglichen Anschein von Unfairness zu vermeiden, in ein Dilemma geraten lassen. »Nicht, wenn Sie’s so ausdrücken. Ebbie scheint ein ziemlicher Rabauke zu sein, und die beiden anderen sind vielleicht ein bisschen . schwer von Ka-pee oder so? Ich hoffe - beziehungsweise habe gehofft -,

Ty würde erkennen, dass er sich verbessern und seine freie Zeit mit Kids verbringen könnte, die etwas mehr auf seinem . Sie wissen schon .«

»Mehr auf seinem Niveau sind.«

»Richtig. Das Dumme ist nur, dass mein Sohn für sein Alter eher klein geraten ist, während Ebbie Wexler . äh .«

»Für sein Alter groß und stämmig ist«, sagt Jack. »Ideale Voraussetzungen für einen Rabauken.«

»Soll das heißen, dass Sie Ebbie Wexler kennen?«

»Nein, aber ich habe ihn heute Morgen gesehen. Er war mit den beiden anderen Jungen und Ihrem Sohn zusammen.«

Dale setzt sich ruckartig auf, und Fred Marshall lässt seinen unsichtbaren Schläger fallen. »Wann war das?«, fragt Dale. Und gleichzeitig fragt Fred Marshall: »Wo?«

»Chase Street, ungefähr zehn nach acht. Ich bin in die Stadt gekommen, um Henry Leyden abzuholen und nach Hause zu fahren. Auf dem Rückweg sind die vier Jungen mit ihren Rädern direkt vor mir auf die Straße gefahren. Dabei habe ich Ihren Sohn genau gesehen, Mr. Marshall. Ein netter, sympathischer Junge.«

Fred Marshalls größer werdende Augen zeigen, dass in seinen Gedanken eine Art Hoffnung, eine Art Versprechen Gestalt annimmt; Dale sinkt langsam wieder zurück. »Das entspricht ziemlich genau der Story, die die Jungs erzählt haben. Kurz danach muss Ty sich von ihnen getrennt haben. Falls er’s wirklich getan hat.«

»Oder sie sind davongeradelt und haben ihn zurückgelassen«, sagt Tys Vater. »Sie können schneller radeln als Ty, und manchmal . nun, manchmal haben sie ihn geneckt.«

»Indem sie vorausgeradelt sind und ihn abgehängt haben«, sagt Jack. Fred Marshalls trübseliges Nicken spricht von Demütigungen, die ein kleiner Junge seinem mitfühlenden Vater anvertraut hat. Jack erinnert sich an das gerötete, feindselige Gesicht und den hochgereckten Mittelfinger Ebbie Wexlers und fragt sich, ob und wie der Junge versuchen könnte, sich selbst zu schützen. Dale hat gesagt, er habe in der Aussage der Jungen eine Unwahrheit gewittert, aber weshalb sollten sie lügen? Jedenfalls ist die Lüge höchstwahrscheinlich von Ebbie Wexler ausgegangen. Die beiden anderen waren nur Befehlsempfänger.

Jack schiebt den dritten seiner Gedanken vorläufig beiseite und sagt: »Ich möchte mit den Jungs reden, bevor ihr sie heimschickt. Wo sind sie jetzt?«

»Im Vernehmungsraum, oben an der Treppe.« Dale zeigt auf die Zimmerdecke. »Tom bringt dich rauf.«

Mit seinen schlachtschiffgrauen Wänden, einem grauen Metalltisch und dem einzelnen Fenster, das schmal wie eine Schießscharte in einer Burgmauer ist, scheint der Raum oben an der Treppe dafür entworfen worden zu sein, Geständnisse durch Langeweile und Verzweiflung zu erpressen. Als Jack von Tom Lund hineingeführt wird, scheinen die vier Insassen des Vernehmungsraums dessen bleierner Atmosphäre erlegen zu sein. Bobby Du-lac dreht den Kopf zur Seite, hört auf, mit einem Bleistift auf die Tischplatte zu klopfen, und sagt: »Na, hurra Hollywood. Dale hat gesagt, dass Sie reinkommen wür-den.« In dieser trübseligen Umgebung scheint selbst Bobby etwas von seinem Glanz verloren zu haben. »Wollen Sie diese Rowdys hier verhören, Lieutenant?«

»Vielleicht in ein paar Minuten.« Zwei der drei Rowdys auf der anderen Seite des Tischs beobachten, wie Jack neben Bobby Dulac tritt, als fürchteten sie, er könnte sie in eine Zelle stecken. Die Wörter »verhören« und »Lieutenant« haben belebend gewirkt wie ein vom Lake Michigan herüberwehender kalter Wind. Ebbie Wexler beobachtet Jack mit zusammengekniffenen Augen und versucht, taff auszusehen, und der Junge neben ihm, Ronnie Metzger, rutscht mit Augen so groß wie Suppenteller auf seinem Stuhl hin und her. Der dritte Junge, T. J. Renniker, hat den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt und scheint zu schlafen.

»Weckt ihn auf«, sagt Jack. »Ich habe etwas zu sagen und will, dass ihr’s alle hört.« In Wirklichkeit hat er nichts zu sagen, aber er muss erreichen, dass diese Jungen aufmerksam zuhören. Er weiß bereits, dass Dale Recht hat. Wenn sie nicht lügen, halten sie zumindest etwas zurück. Deswegen hat sein plötzliches Auftauchen sie bei ihrem schläfrigen Beisammensein erschreckt. Hätte Jack zu bestimmen gehabt, hätte er die Jungen voneinander getrennt und einzeln befragt, aber jetzt muss er mit Bobby Dulacs Fehler zurechtkommen. Er muss sie anfangs kollektiv behandeln und ihre Angst ausnützen. Er will die Jungen nicht terrorisieren, sondern nur erreichen, dass ihr Puls sich etwas beschleunigt; anschließend kann er sie voneinander trennen. Das schwächste, schuldbewussteste Glied der Kette hat sich bereits zu erkennen gegeben. Jack ist ohne Gewissensbisse bereit, Lügen zu erzählen, um Informationen zu bekommen.

Ronnie Metzger stößt T. J. an der Schulter an und sagt: »Wach auf, Kummdopf ... Dummkopf.«

Der schlafende Junge stöhnt, hebt den Kopf vom Tisch und reckt die Arme. Als sein Blick auf Jack fällt, setzt er sich ruckartig blinzelnd und schluckend auf.

»Guten Morgen«, sagt Jack. »Ich möchte mich vorstellen und euch erklären, was ich hier mache. Ich heiße Jack Sawyer und bin Lieutenant bei der Mordkommission des Los Angeles Police Departments. Ich kann erstklassige Leistungen vorweisen und habe ein ganzes Zimmer voller Belobigungen und Auszeichnungen. Mache ich Jagd auf einen Verbrecher, schnappe ich ihn eigentlich immer. Vor drei Jahren bin ich wegen eines Falles aus Los Angeles nach French Landing gekommen. Zwei Wochen später habe ich einen Mann namens Thornberg Kinderling in Ketten mit nach L. A. zurückgenommen. Weil ich French Landing kenne und schon mit der hiesigen Polizei zusammengearbeitet habe, hat das LAPD mich abkommandiert, damit ich Chief Dale und seine Leute bei ihren Ermittlungen wegen der Fis-herman-Morde unterstütze.« Er sieht nach unten, um festzustellen, ob Bobby Dulac über diesen Unsinn grinst, aber Bobby starrt mit versteinerter Miene über den Tisch. »Euer Freund Tyler Marshall war heute Morgen vor seinem Verschwinden mit euch zusammen. Hat der Fisherman ihn verschleppt? Ich sag’s nicht gern, aber ich glaube, dass er’s getan hat. Vielleicht können wir Tyler zurückbekommen, vielleicht auch nicht, aber ich werde dem Fisherman das Handwerk legen. Dazu müsst ihr mir ganz genau erzählen, was passiert ist. Dabei müsst ihr vollkommen ehrlich sein, wenn ihr nämlich lügt oder etwas verschweigt, macht ihr euch der Verdunkelung schuldig. Solche Behinderung der Justiz ist ein schweres Verbrechen. Officer Dulac, welche Mindeststrafe steht in Wisconsin auf Behinderung der Justiz?«

»Fünf Jahre, da bin ich mir ziemlich sicher«, sagt Bobby Dulac.

Ebbie Wexler beißt sich auf die Unterlippe; Ronnie Metzger starrt mit gerunzelter Stirn die Tischplatte an; T. J. Renniker betrachtet ausdruckslos das schmale Fenster.

Jack setzt sich neben Bobby Dulac. »Übrigens bin ich der Typ in dem Pickup gewesen, dem einer von euch heute Morgen den Stinkefinger gezeigt hat. Ich kann nicht sagen, dass ich begeistert bin, euch wiederzusehen.«

Zwei Köpfe wenden sich Ebbie zu, der angestrengt die Augen zusammenkneift, während er versucht, dieses brandneue Problem zu lösen. »Hab ich nicht getan«, sagt er, nachdem er sich für glattes Leugnen entschieden hat. »Vielleicht hat’s so ausgesehen, aber ich hab’s nicht getan.«

»Du lügst, und wir haben noch nicht mal angefangen, über Tyler Marshall zu reden. Ich gebe dir noch eine Chance. Sag mir die Wahrheit.«

Ebbie grinst hämisch. »Ich laufe nicht rum und zeig Leuten, die ich nicht kenne, den Stinkefinger.«

»Steh auf!«, sagt Jack.

Ebbie sieht nach links und rechts, aber seine Freunde sind außerstande, seinen Blick zu erwidern. Er schiebt seinen Stuhl zurück und steht zögernd auf.

»Officer Dulac«, sagt Jack, »führen Sie diesen Jungen ab und bewachen Sie ihn draußen.«

Bobby Dulac spielt seine Rolle vollendet. Er windet sich von seinem Stuhl hoch und behält Ebbie scharf im Auge, während er auf ihn zugleitet. Er erinnert an einen Panther auf dem Weg zu einem üppigen Mahl. Ebbie Wexler weicht zurück und versucht, Bobby mit erhobener Hand von sich fernzuhalten. »Nein, nicht . Ich nehm’s zurück . Ich hab’s getan, okay?«

»Zu spät«, sagt Jack. Er beobachtet, wie Bobby den Jungen am Ellbogen packt und zur Tür schleppt. Ebbie stemmt sich schwitzend und mit gerötetem Gesicht dagegen, sodass der auf seinen Arm ausgeübte Druck ihn nach vorn über seinen Wanst abknicken lässt. Er stolpert japsend und unter Tränen weiter. Bobby Dulac öffnet die Tür und schleift ihn auf den düsteren Gang im ersten Stock hinaus. Die ins Schloss fallende Tür schneidet Ebbies ängstliches Jammern ab.

Die beiden zurückgebliebenen Jungen sind blass wie Magermilch geworden und scheinen zu keiner Bewegung imstande zu sein. »Macht euch seinetwegen keine Sorgen«, sagt Jack. »Ihm passiert weiter nichts. In fünfzehn, zwanzig Minuten dürft ihr nach Hause fahren. Ich hatte bloß keine Lust, mit jemandem zu reden, der von Anfang an lügt, das ist alles. Denkt daran: Sogar lausige Cops merken, wenn man sie belügt, und ich bin ein erstklassiger Cop. Ich will euch verraten, was wir jetzt machen. Wir reden darüber, was heute Morgen passiert ist, was Tyler gemacht hat, wie ihr euch von ihm getrennt habt, wo ihr wart, was ihr anschließend getan habt, ob ihr vielleicht irgendwas gesehen habt, solches Zeug.« Er lehnt sich zurück und legt die Hände flach auf den Tisch. »Also los, erzählt mir, was passiert ist.«

Ronnie und T. J. wechseln einen Blick. T. J. steckt den rechten Zeigefinger in den Mund und beginnt auf dem Fingernagel herumzukauen. »Ebbie war’s, der Ihnen den Finger gezeigt hat«, sagt Ronnie.

»Ohne Scheiß? Ich meine, was ist danach passiert.«

»Äh, Ty hat gesagt, dass er irgendwohin muss.«

»Er musste irgendwohin«, bestätigt T. J.

»Wo wart ihr da gerade?«

»Äh . vor dem Allsorts Pomorium.«

»Emporium«, sagt T. J. »Es heißt nicht Pomorium, Blödmann, sondern Em-po-ri-um. «

»Und?«

»Und Ty hat gesagt .« Ronnie sieht kurz zu T. J. hinüber. »Ty hat gesagt, dass er irgendwohin muss.«

»Wohin ist er gefahren, nach Osten oder Westen?«

Die Jungen behandeln diese Frage, als wäre sie in einer Fremdsprache gestellt worden, indem sie stumm darüber nachrätseln.

»In Richtung Fluss oder vom Fluss weg?«

Sie sehen sich wieder an. Die Frage ist in verständlichem Englisch gestellt worden, kann aber nicht befriedigend beantwortet werden. Schließlich sagt Ronnie: »Weiß ich nicht.«

»Was ist mit dir, T. J.? Weißt du’s vielleicht?«

T. J. schüttelt den Kopf.

»Gut. Das war ehrlich. Ihr wisst’s nicht, weil ihr ihn nicht wegfahren gesehen habt, stimmt’s? Und er hat nicht wirklich gesagt, dass er irgendwohin muss, oder? Ich wette, dass Ebbie sich das ausgedacht hat.«

T. J. windet sich unbehaglich, und Ronnie starrt Jack ehrfürchtig bewundernd an. Er hat sich soeben als Sherlock Holmes erwiesen.

»Wisst ihr noch, wie ich mit meinem Pickup vorbeigefahren bin?« Sie nicken gemeinsam. »Tyler war mit euch zusammen.« Wieder ein Nicken. »Ihr hattet den Gehsteig vor dem Allsorts Emporium schon verlassen und wart auf der Chase Street nach Osten unterwegs - vom Fluss weg. Ich habe euch in meinem Rückspiegel beobachtet. Ebbie ist wie verrückt gestrampelt. Ihr beiden konntet fast mit ihm mithalten. Tyler, der kleiner ist als ihr, ist zurückgeblieben. Deshalb weiß ich, dass er nicht allein weggefahren ist. Er hat nur nicht mithalten können.«

»Und er ist weit, weit zurückgeblieben«, jammert Ronnie Metzger, »und der Misherfun ist rausgekommen und hat ihn sich geschnappt.« Er bricht prompt in Tränen aus.

Jack beugt sich nach vorn. »Habt ihr gesehen, wie’s passiert ist? Einer von euch beiden?«

»Nee«, schluchzt Ronnie. T. J. schüttelt langsam den Kopf.

»Ihr habt nicht gesehen, dass jemand mit Ty geredet hat, dass ein Wagen bei ihm gehalten hat, dass er in einen Laden gegangen ist oder irgendwas in dieser Art?«

Die Jungen antworten mit einem unzusammenhängenden, fast unverständlichen Gestammel, aus dem Jack entnimmt, dass sie nichts gesehen haben.

»Wann habt ihr gemerkt, dass er weg war?«

T. J. öffnet den Mund, macht ihn aber wieder zu.

»Als wir unsere Eis-Slurpees gegessen haben«, sagt Ronnie. T. J. der schrecklich angespannt wirkt, nickt zustimmend.

Zwei weitere Fragen bringen an den Tag, dass sie ihr Wassereis vor dem 7-Eleven gegessen haben, wo sie auch Magic Cards gekauft haben, und dass sie Tylers Abwesenheit vermutlich schon nach wenigen Minuten bemerkt haben. »Ebbie hat gesagt, Ty würde uns noch mehr Karten kaufen«, fügt Ronnie hilfsbereit hinzu.

Damit ist der Augenblick erreicht, auf den Jack gewartet hat. Worin das Geheimnis auch liegen mag . es hat sich ereignet, kurz nachdem die Jungen aus dem 7-Eleven kamen und sahen, dass Tyler noch immer nicht nachgekommen war. Und das ist allein T. J.s Geheimnis. Der Junge schwitzt praktisch Blut, während die Erwähnung der Slurpees und der Magic Cards seinen Freund auffällig beruhigt hat. Es gibt nur noch eine Frage, die Jack beiden stellen möchte. »Ebbie wollte Tyler also finden. Seid ihr alle mit den Rädern losgefahren, um ihn zu suchen, oder hat Ebbie nur einen von euch losgeschickt?«

»Hä?«, sagt Ronnie. T. J. senkt das Kinn und verschränkt die Arme über dem Kopf, als wollte er einen Schlag abwehren. »Tyler ist irgendwohin gefahren«, sagt Ronnie. »Wir haben ihn nicht gesucht, wir sind in den Park gefahren. Um Magic Cards zu tauschen.«

»Ich verstehe«, sagt Jack. »Vielen Dank, Ronnie. Du hast mir sehr geholfen. Ich möchte, dass du rausgehst und bei Ebbie und Officer Dulac bleibst, während ich mich kurz mit T. J. unterhalte. Das dürfte nicht länger als fünf Minuten dauern, wahrscheinlich sogar weniger.«

»Ich kann gehen?« Auf Jacks Nicken hin steht Ronnie zögernd von seinem Stuhl auf. Als er die Tür erreicht, lässt T. J. ein leises Wimmern hören. Dann ist Ronnie fort, und T. J. wirft sich auf seinem Stuhl zurück und versucht, sich so klein wie irgend möglich zu machen, während er Jack mit Augen anstarrt, die glänzend, ausdruckslos und fast rund geworden sind.

»T. J.«, sagt Jack, »du hast nichts zu befürchten, das verspreche ich dir.« Da er nun mit dem Jungen allein ist, der sich dadurch für schuldig erklärt hat, dass er im Vernehmungsraum eingeschlafen ist, kommt es Jack vor allem darauf an, ihm dieses Schuldgefühl zu nehmen. Er kennt T. J.s Geheimnis, aber dieses Geheimnis ist völlig unbedeutend; es ist wertlos. »Ganz gleich, was du mir erzählst, ich werde dich nicht verhaften. Auch das ist ein Versprechen. Du hast nichts zu befürchten, mein Sohn. Tatsächlich bin ich sogar froh, dass deine Freunde und du reinkommen und uns helfen konntet, ein paar Dinge zu klären.«

In dieser Manier spricht er drei, vier Minuten weiter, bis T. J. Renniker, bisher zum Tod durch Erschießen verurteilt, allmählich begreift, dass seine Begnadigung rechtzeitig eingetroffen ist und er nicht hinter Ross und Schliegel, wie sein Kumpel Ronnie sagen würde, bleiben muss, sondern mit seiner unmittelbaren Entlassung rechnen kann. Er bekommt wieder etwas mehr Farbe. Er nimmt seine vorige Größe wieder an, und seine Augen verlieren ihren Schreckensglanz.

»Erzähl mir, was Ebbie getan hat«, sagt Jack. »Das bleibt unter uns. Ich erzähl’s ihm nicht. Ehrlich, ich verpfeife dich nicht.«

»Ebbie wollte, dass Ty noch mehr Magic Cards kauft«, sagt T. J. der sich durch unbekanntes Terrain vorantastet. »Wäre Ty da gewesen, hätte der’s auch getan. Ebbie kann ganz schön fies sein. Also ... also hat er zu mir gesagt, fahr zurück und hol den Langweiler, sonst kriegst du ’ne Kopfnuss.«

»Also hast du dich aufs Rad gesetzt und bist auf der Chase Street zurückgefahren.«

»Mhm. Ich hab mich umgesehen, aber Ty war nirgends. Obwohl ich ihn hätte sehen müssen, wissen Sie? Wo hätte er sonst sein sollen?«

»Und ...?« Jack zieht die Antwort, die er schon kennt, mit einer Handbewegung an Land.

»Aber ich hab ihn einfach nicht gesehen. Da bin ich die Queen Street runtergefahren, wo das Heim für die alten Leute ist, das mit der großen Hecke davor. Und, äh, ich hab sein Fahrrad dort liegen sehen. Auf dem Gehsteig vor der Hecke. Sein Laufschuh hat auch dort gelegen. Und ein paar Blätter von der Hecke.«

Das ist es also, das wertlose Geheimnis. Nun ja, vielleicht doch nicht ganz wertlos, so lässt sich nämlich der Zeitpunkt von Tys Verschwinden ziemlich genau bestimmen: gegen 8.15 oder 8.20 Uhr. Das Fahrrad und der einzelne Laufschuh des Jungen haben also fast vier Stunden lang auf dem Gehsteig gelegen, bevor Danny Tcheda sie aufgefunden hat. Den dortigen Straßenzug nimmt das Maxton praktisch allein ein, und vor Mittag ist niemand zum Erdbeerfest gekommen.

T. J. schildert seine Angst - falls der Fisherman Ty in diese Hecke gezogen hatte, würde er vielleicht zurückkommen, um sich noch mehr zu holen! Auf Jacks abschließende Frage hin sagt der Junge: »Ebbie hat gesagt, wir sollen sagen, dass Ty vom Allsorts aus allein weggefahren ist, damit die Leute uns nicht, na ja, uns keine Schuld geben würden. Für den Fall, dass er umgebracht worden ist. Aber Ty ist nicht wirklich umgebracht worden, oder? Kids wie Ty werden nicht umgebracht.«

»Hoffentlich nicht«, sagt Jack.

»Ich hoffs auch.« T. J. schnieft und wischt sich die Nase am Ärmel ab.

»Okay, dann wollen wir sehen, dass ihr nach Hause kommt«, sagt Jack, indem er aufsteht.

T. J. steht ebenfalls auf und bewegt sich hinter dem Tisch in Richtung Tür. »Oh! Mir ist noch was eingefallen!«

»Was?«

»Auf dem Gehsteig haben ein paar Federn gelegen.«

Der Boden unter Jacks Füßen scheint wie ein Schiffsdeck erst nach rechts, dann nach links zu schwanken. Er hält sich auf den Beinen, indem er die Stuhllehne umklammert. »Wirklich?« Er achtet darauf, sich nichts anmerken zu lassen, als er sich dem Jungen zuwendet. »Was meinst du mit Federn?«

»Schwarze Federn. Große, wie von einer Krähe. Eine hat neben dem Fahrrad gelegen, die andere hat im Schuh gesteckt.«

»Das ist komisch«, sagt Jack und spielt auf Zeitgewinn, bis er sich davon erholt hat, dass in seinem Gespräch mit T. J. Renniker ganz unerwartet Federn aufgetaucht sind. Dass er darauf überhaupt reagiert, ist lächerlich; dass er auch nur eine Sekunde lang fürchtete, er werde in Ohnmacht fallen, ist grotesk. T. J.s Federn waren reale Krähenfedern auf einem realen Gehsteig. Seine eigenen waren Traumfedern, Federn irrealer Rotkehlchen, so illusorisch wie alles andere in einem Traum. Jack erzählt sich allerlei nützliche Dinge dieser Art und fühlt sich bald wieder normal, aber wir sollten wissen, dass das Wort Federn für den Rest des Abends und weit in den nächsten Tag hinein unterschwellig durch seine Gedanken schwebt - von einer Aura umgeben, die wie ein elektrischer Sturm geladen ist und gelegentlich mit dem zischenden Knall eines Blitzschlags hervorbricht.

»Das war unheimlich«, sagt T. J. »Also, wie soll eine Feder in seinen Schuh gekommen sein?«

»Vielleicht hat der Wind sie reingeblasen«, sagt Jack, der zweckmäßigerweise ignoriert, dass es den ganzen Tag über praktisch windstill war. Mit der beruhigenden Gewissheit, dass der Fußboden wieder stabil ist, macht er T. J. ein Zeichen, auf den Korridor hinauszugehen, und folgt ihm hinaus.

Ebbie Wexler stößt sich von der Wand ab und kommt neben Bobby Dulac herangestampft. Bobby, der seine Rolle weiterspielt, wirkt wie aus Stein gehauen. Hinter ihnen schleicht Ronnie Metzger sich beiseite. »Wir können diese Jungen nach Hause schicken«, sagt Jack. »Sie haben ihre Pflicht getan.«

»T. J. was hast du gesagt?«, fragt Ebbie finster.

»Er hat klar gemacht, dass ihr nichts über das Verschwinden eures Freundes wisst«, sagt Jack.

Ebbie entspannt sich, aber nicht ohne einen nach dem anderen bösartig anzustarren. Sein letzter und bösartigster Blick gilt Jack, der die Augenbrauen hochzieht. »Ich hab nicht geheult«, sagt Ebbie. »Ich hab Angst gehabt, aber ich hab nicht geheult.«

»Du hast Angst gehabt, das stimmt«, sagt Jack. »Versuch nicht wieder, mich zu belügen. Du hast deine Chance gehabt, der Polizei zu helfen, und du hast sie verspielt.«

Ebbie kämpft mit dieser Vorstellung und schafft es, sie zumindest teilweise zu begreifen. »Okay, aber der Stinkefinger hat eigentlich nicht Ihnen gegolten. Sondern der blöden Musik.«

»Ich hab sie auch beschissen gefunden. Der Kerl, der bei mir mitgefahren ist, wollte sie unbedingt spielen. Weißt du, wer das war?«

Während Ebbie ihn misstrauisch mustert, erklärt Jack: »George Rathbun.«

Als hätte er »Superman« oder »Arnold Schwarzenegger« gesagt, verfliegt Ebbies Misstrauen, und sein Gesicht verwandelt sich. In seinen kleinen, eng beieinander stehenden Augen steht unschuldiges Staunen. »Sie kennen George Rathbun?«

»Er ist einer meiner besten Freunde«, sagt Jack, ohne hinzuzufügen, dass die meisten seiner übrigen besten Freunde in gewisser Beziehung ebenfalls George Rathbun sind.

»Cool«, sagt Ebbie.

Im Hintergrund wiederholen T. J. und Ronnie: »Cool.«

»George ist ziemlich cool«, sagt Jack. »Ich werde ihm erzählen, dass ihr das gesagt habt. Los, wir gehen runter und sehen zu, dass ihr Kids auf eure Räder kommt.«

Noch immer in dem herrlichen Bewusstsein, dem großen, dem unübertrefflichen George Rathbun nahe gewesen zu sein, steigen die Jungen auf ihre Fahrräder und radeln dann die Sumner Street entlang, um schließlich auf die Second Street abzubiegen. »Ein guter Trick, was Sie da über George Rathbun erzählt haben«, sagt Bobby Dulac. »So sind sie happy weggefahren.«

»Das war kein Trick.«

Bobby ist so verblüfft, dass er Jack unter der Tür des Dienstgebäudes versehentlich anrempelt, und sagt: »George Rathbun ist ein Freund von Ihnen?«

»Stimmt«, sagt Jack. »Und manchmal kann er einem verdammt auf den Keks gehen.«

Dale Gilbertson und Fred Marshall sehen auf, als Jack das Dienstzimmer betritt: Dale mit vorsichtiger Erwartung, Fred Marshall mit einer Hoffnung, die Jack fast das Herz zerreißt.

»Nun?«, sagt Dale.

(Federn)

»Du hast Recht gehabt, sie haben etwas verschwiegen, aber es war nicht viel.«

Fred Marshall sinkt gegen die Stuhllehne zurück und lässt einiges von seinem Glauben an eine zukünftige Hoffnung aus sich entweichen wie Luft aus einem Autoreifen, der ein Loch bekommen hat.

»Schon bald nachdem sie das 7-Eleven erreicht hatten, hat der Wexler-Junge T. J. mit dem Auftrag zurückgeschickt, Ihren Sohn zu suchen«, sagt Jack. »In der Queen Street hat T. J. das Fahrrad und den einzelnen Schuh auf dem Gehsteig liegen sehen. Natürlich haben sie alle sofort an den Fisherman gedacht. Ebbie Wexler hat sich ausgerechnet, man könnte ihnen Vorwürfe machen, weil sie Tyler zurückgelassen haben, und ist auf die Story gekommen, die ihr gehört habt - dass Tyler sich von ihnen getrennt hat statt umgekehrt.«

»Wenn du alle vier Jungs ungefähr um zehn nach acht gesehen hast, muss Tyler nur wenige Minuten später verschwunden sein. Was macht dieser Kerl, lauert er in Hecken?«

»Vielleicht tut er genau das«, sagt Jack. »Haben deine Leute sich die Hecke angesehen?«

(Federn)

»Die Staties waren dort und haben sie unter die Lupe genommen«, sagt Dale, der damit die Beamten der State Police meint. »Blätter und Erde, mehr war nicht zu finden.«

Fred Marshall schlägt mit der Faust auf den Schreibtisch, als wollte er mit der bloßen Hand einen Schienennagel hineintreiben. »Mein Sohn war vier Stunden verschwunden, bevor jemandem sein Fahrrad aufgefallen ist. Jetzt ist’s gleich halb acht! Er ist seit fast zwölf

Stunden verschwunden! Ich dürfte nicht hier sitzen. Ich müsste mit dem Auto herumfahren und ihn suchen.«

»Alle suchen deinen Sohn, Fred«, sagt Dale. »Meine Jungs, die Staties, sogar das FBI.«

»Zu denen habe ich kein Vertrauen«, sagt Fred. »Die haben doch auch Irma Freneau nicht gefunden, oder? Warum sollten sie meinen Sohn finden? So viel ich sehe, habe ich hier nur eine Chance.« Als er zu Jack hinübersieht, lassen tiefe Gefühle seine Augen aufleuchten. »Diese Chance sind Sie, Lieutenant. Helfen Sie mir, bitte?«

Jacks dritter und beunruhigendster Gedanke, den er bisher zurückgedrängt hat und der ausschließlich der eines erfahrenen Polizeibeamten ist, veranlasst ihn jetzt zu sagen: »Ich möchte mit Ihrer Frau reden. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mitkomme, falls Sie sie morgen besuchen?«

Dale blinzelt und sagt: »Vielleicht sollten wir darüber noch mal reden.«

»Glauben Sie, dass das nützlich wäre?«

»Vielleicht«, sagt Jack.

»Jedenfalls könnte Ihr Besuch ihr gut tun«, sagt Fred. »Wohnen Sie nicht im Norway Valley? Das liegt auf dem Weg nach Arden. Ich hole Sie gegen neun Uhr ab.«

»Jack«, sagt Dale.

»Gut, dann bis neun«, sagt Jack und ignoriert die von seinem Freund kommenden vermischten Signale von Kummer und Verärgerung ebenso wie die dünne Stimme, die in seinem Kopf (Federn) flüstert.

»Erstaunlich«, sagt Henry Leyden. »Ich weiß nicht, ob ich dir danken oder dich beglückwünschen soll. Vermutlich beides. Das Spiel ist schon zu weit fortgeschritten, als dass du >abgedreht< erreichen könntest wie ich, aber ich glaube, >cool< wäre für dich erreichbar.«

»Ja, ja, schon gut. Ich bin nur hingefahren, um zu verhindern, dass der Vater des Jungen bei mir zu Hause aufkreuzt.«

»Das war nicht der einzige Grund.«

»Richtig. Mir war irgendwie nervös und eingeengt zumute. Ich hatte Lust wegzufahren, Lust auf einen Tapetenwechsel.«

»Aber es hat noch einen weiteren Grund gegeben.«

»Henry, du steckst hüfttief in der Scheiße, ist dir das klar? Du möchtest glauben, dass ich aus Pflichtgefühl, um der Ehre willen, aus Mitleid oder aus Selbstlosigkeit gehandelt habe, aber so war’s nicht. Ich sag’s nicht gern, aber ich bin viel weniger gutherzig und verantwortungsbewusst, als du annimmst.«

»>Hüfttief in der Scheiße?< Mann, damit hast du absolut Recht. Ich hab den größten Teil meines Lebens hüft-tief in der Scheiße gesteckt - von brusttief und sogar kinntief ganz zu schweigen.«

»Nett von dir, dass du’s zugibst.«

»Du verstehst mich allerdings falsch. Du hast Recht, ich halte dich für einen guten, anständigen Menschen. Das denke ich nicht nur, sondern ich weiß es. Ganz gleich, wie du dich jetzt siehst, du bist bescheiden, bist mitfühlend, besitzt Ehrgefühl und Verantwortungsbewusstsein. Aber davon habe ich nicht gesprochen.«

»Was hast du also tatsächlich gemeint?«

»Der weitere Grund, der dich veranlasst hat, zum Polizeirevier zu fahren, hängt mit dem Problem, dieser Sorge zusammen, die dich schon die letzten zwei Wochen umtreibt. Du läufst gewissermaßen unter düsteren Schatten herum.«

»Hä?«, sagt Jack.

»Das Problem, dieses Geheimnis, das du hast, fordert die Hälfte deiner Aufmerksamkeit, sodass du nur halb anwesend bist; der Rest deines Ichs ist irgendwo anders. Sweetie, glaubst du, dass ich nicht merke, wenn du besorgt und geistesabwesend bist? Ich bin vielleicht blind, aber meine Antennen funktionieren bestens.«

»Okay. Nehmen wir mal an, in letzter Zeit hätte mir tatsächlich irgendwas Sorgen gemacht. Was hätte das mit meiner Fahrt zum Polizeirevier zu tun?«

»Da gibt’s zwei Möglichkeiten. Du bist hingefahren, um das Problem bei den Hörnern zu packen, oder du warst auf der Flucht vor ihm.«

Jack äußert sich nicht dazu.

»Das alles legt nahe, dass dieses Problem mit deinem Leben als Polizeibeamter zusammenhängt. Vielleicht verfolgt dich wieder irgendein alter Fall. Vielleicht ist ein Psychopath, den du hinter Gitter gebracht hast, entlassen worden und droht nun damit, dich zu ermorden. Oder, so beschissen das auch klingt, du hast erfahren, dass du Leberkrebs und nur noch eine Lebenserwartung von drei Monaten hast.«

»Ich habe keinen Krebs, zumindest meines Wissens nicht, und kein ehemaliger Sträfling trachtet mir nach dem Leben. Meine alten Fälle ruhen alle, wenigstens die meisten, längst im LAPD-Archiv. Natürlich macht mir in letzter Zeit etwas Sorgen, und ich hätte mir denken können, dass du das mitbekommst. Aber ich wollte dich nicht ... na ja, dich nicht damit belästigen, bevor ich dieses Problem nicht selbst in den Griff bekommen habe.«

»Erzähl mir wenigstens ein bisschen davon, ja? Bist du darauf zugegangen oder davor weggelaufen?«

»Diese Frage lässt sich nicht beantworten.«

»Das wird sich zeigen. Ist das Essen nicht bald fertig? Ich verhungere, ich verhungere buchstäblich. Du kochst zu langsam. Ich wäre schon vor zehn Minuten fertig gewesen.«

»Nicht nervös werden«, sagt Jack. »Gleich wird serviert. Das Problem ist diese verrückte Küche, die du hast.«

»Die vernünftigste Küche Amerikas. Vielleicht der ganzen Welt.«

Nachdem Jack die Polizeistation rasch genug verlassen hatte, um eine unnütze Diskussion mit Dale zu vermeiden, hatte er einem Impuls nachgegeben, Henry angerufen und ihm angeboten, heute Abend für sie beide zu kochen. Zwei ordentliche Steaks, eine gute Flasche Wein, gegrillte Champignons, eine große Schüssel Salat. Das alles könne er aus French Landing mitbringen. Jack hatte schon drei, viermal für Henry gekocht, und Henry hatte einmal im Gegenzug ein ungewöhnlich bizarres Dinner für Jack zubereitet. (Seine Zugehfrau hatte sämtliche Kräuter und Gewürze aus dem Regal genommen, um es feucht abzuwischen, und dann wild durcheinander wieder eingeordnet.) Was habe er in French Landing zu schaffen? Das werde er ihm später erklären. Um halb neun war er vor dem geräumigen weißen Farmhaus vorgefahren, hatte Henry begrüßt und seine Einkäufe und sein Exemplar von Bleak House in die Küche getragen. Er hatte das Buch aufs andere Ende des Küchentischs geworfen, die Weinflasche aufgemacht, seinem Gastgeber und sich selbst ein Glas Wein eingeschenkt und zu kochen begonnen. Auch diesmal hatte er wieder mehrere Minuten gebraucht, um sich mit den Exzentrizitäten von Henrys Küche vertraut zu machen, in der Gegenstände nicht nach Arten - Pfannen bei Pfannen, Messer bei Messern, Töpfe bei Töpfen -, sondern so angeordnet waren, wie es das jeweilige Gericht verlangte. Wollte Henry rasch eine Forelle nach Müllerinart mit neuen Kartoffeln zubereiten, brauchte er nur den richtigen Schrank zu öffnen, um alle notwendigen Utensilien vorzufinden. Sie waren in vier Grundkategorien geordnet (Fleisch, Fisch, Geflügel und Gemüse), in denen es viele Untergruppen und Unteruntergruppen gab. Dieses Ordnungssystem verwirrte Jack, der oft in mehreren weit voneinander entfernten Bereichen suchen musste, bis er die richtige Pfanne oder einen Wender fand. Während Jack am Schneidbrett stand, Schranktüren öffnete und kochte, deckte Henry den Küchentisch mit Tellern und Silberbesteck und setzte sich dann an den Tisch, um seinen sorgenvollen Freund ins Kreuzverhör zu nehmen.

Jetzt kommen die Steaks, nur kurz angebraten, auf die Teller, die Champignons werden um sie herum drapiert, und die riesige Salatschüssel wird in die Tischmitte gestellt. Henry erklärt das Mahl für köstlich, nimmt einen kleinen Schluck Wein und sagt: »Wenn du weiterhin nicht über dein Problem, was immer es ist, reden willst, solltest du mir wenigstens erzählen, was sich auf dem Revier ereignet hat. Ich vermute, dass annähernd außer Zweifel steht, dass ein weiteres Kind entführt worden ist.«

»Praktisch außer Zweifel, muss ich leider sagen. Ein Junge namens Tyler Marshall. Sein Vater ist Fred Marshall, der, der draußen bei Goltz’s arbeitet. Kennst du ihn zufällig?«

»Lange her, dass ich einen Mähdrescher gekauft habe«, sagt Henry.

»Als Erstes ist mir aufgefallen, dass Fred Marshall ein sehr netter Kerl ist«, sagt Jack und schildert dann ausführlich und in allen Einzelheiten die Ereignisse und Erkenntnisse dieses Abends, wobei er nur seinen dritten, seinen unausgesprochenen Gedanken auslässt.

»Du hast tatsächlich gefragt, ob du Mrs. Marshall besuchen darfst? In der Psychiatrie im French County Lu-theran Hospital?«

»Ja, das habe ich«, sagt Jack. »Ich fahre gleich morgen Früh hin.«

»Das verstehe ich nicht.« Henry isst, indem er das Steak mit dem Messer ertastet, es mit der Gabel aufspießt und dann einen schmalen Streifen Fleisch abschneidet. »Wozu willst du mit der Mutter sprechen?«

»Weil ich glaube, dass sie irgendwas mit dem Fall zu tun hat«, sagt Jack.

»Oh, mach halblang! Die eigene Mutter des Jungen?«

»Ich behaupte nicht, dass sie der Fisherman ist, das ist sie natürlich nicht. Aber nach Aussage ihres Ehemanns hat Judy Marshall bereits angefangen, sich seltsam zu benehmen, bevor Amy St. Pierre verschwunden ist. Als die Morde weitergingen, hat ihr Zustand sich stetig verschlechtert, und als heute ihr Sohn verschwunden ist, hat sie ganz durchgedreht. Ihr Mann musste sie in die Psychiatrie einliefern lassen.«

»Findest du nicht, dass sie einen ausgezeichneten Grund für einen Nervenzusammenbruch hatte?«

»Sie hat durchgedreht, bevor irgendjemand ihr von ihrem Sohn erzählt hatte. Ihr Mann glaubt, dass sie mit ASW begabt ist! Er sagt, dass sie die Morde vorausgesehen, dass sie gewusst hat, dass der Fisherman unterwegs war. Und sie hat gewusst, dass der Junge verschwunden war, bevor sein Fahrrad aufgefunden wurde - als Fred Marshall nach Hause gekommen ist, hat sie die Wände zerkratzt und Unsinn geredet. Völlig übergeschnappt.«

»Man hört von vielen Fällen, in denen eine Mutter plötzlich weiß, dass ihrem Kind irgendeine Gefahr oder Verletzung droht. Ein psychisches Band. Klingt wie Hokuspokus, scheint aber möglich zu sein.«

»Ich glaube nicht an Außersinnliche Wahrnehmung, und ich glaube nicht an Zufälle.«

»Worauf willst du also hinaus?«

»Judy Marshall weiß irgendwas, und was sie weiß, wird eine echte Sensation sein. Fred kann’s nicht sehen -er steht ihr viel zu nahe -, und Dale kann’s ebenfalls nicht sehen. Du hättest hören sollen, wie er von ihr erzählt hat.«

»Und was soll sie wissen?«

»Ich glaube, dass sie den Täter vielleicht kennt. Ich glaube, dass es jemand aus ihrem näheren Umfeld sein muss. Sie kennt seinen Namen, und das treibt sie zum Wahnsinn.«

Henry runzelt die Stirn und benützt seine spezielle Suchtechnik, um ein weiteres Stück Fleisch ausfindig zu machen. »Du fährst also hin, um sie zum Reden zu bringen«, sagt er schließlich.

»Ja. Im Prinzip.«

Auf diese Ankündigung folgt rätselhaftes Schweigen. Henry säbelt stumm ein Stück Fleisch ab, kaut, was er abgeschnitten hat, und spült es mit einem Schluck Ca-bernet hinunter.

»Wie war dein Engagement als DJ? Hat’s gut geklappt?«

»Es war herrlich. All die wundervollen alten Swinger haben auf der Tanzfläche losgelegt - sogar die im Rollstuhl. Nur ein Kerl hat mich ein bisschen genervt. Er war zu einer Frau namens Alice unverschämt und wollte, dass ich den Song >Lady Magowan’s Nightmare< spiele, den es nicht gibt, wie du vielleicht weißt.«

»Er heißt >Lady Magowan’s Dream<. Woody Herman.«

»Bravo. Das Abstoßende an ihm war, dass er eine schreckliche Stimme hatte. Sie hat wie aus der Hölle geklungen! Jedenfalls hatte ich die Woody-Herman-Platte nicht dabei, und daraufhin hat er Bunny Berigans >I Can’t Get Started< verlangt. Was zufällig Rhodas Lieb-lingssong gewesen ist. Wegen meiner verrückten akustischen Halluzinationen und allem anderen hat mich das durcheinander gebracht. Ich weiß selbst nicht, warum.«

Die beiden konzentrieren sich einige Minuten lang auf ihre Teller.

»Woran denkst du, Henry?«, sagt Jack schließlich.

Henry hält den Kopf schief, als hörte er einer inneren Stimme zu. Dann legt er stirnrunzelnd die Gabel beiseite. Die innere Stimme fordert Aufmerksamkeit. Er rückt seine Sonnenbrille zurecht und wendet sich an Jack. »Trotz allem, was du sagst, denkst du weiter wie ein Cop.«

Jack stemmt sich gegen den Verdacht, Henry mache ihm kein Kompliment. »Wie meinst du das?«

»Cops haben eine andere Sichtweise als Leute, die keine Cops sind. Betrachtet ein Cop jemanden, überlegt er sich, was der andere verbrochen haben mag. Dass jemand unschuldig sein könnte, kommt ihm überhaupt nicht in den Sinn. Für einen altgedienten Cop, der zehn oder mehr Dienstjahre auf dem Buckel hat, ist jeder schuldig, der kein Cop ist. Nur sind die meisten noch nicht geschnappt worden.«

Henry hat die Denkart von Dutzenden von Männern beschrieben, mit denen Jack früher zusammengearbeitet hat. »Henry, woher weißt du das?«

»Ich sehe es in ihren Augen«, sagt Henry. »So gehen Polizisten an die Welt heran. Du bist ein Polizist.«

»Ich bin ein Schutzmann«, stößt Jack hervor. Aus Entsetzen über sich selbst wird er rot. »Sorry, dieser dämliche Satz geht mir seit einiger Zeit im Kopf herum; er ist mir einfach rausgerutscht.«

»Was hältst du davon, wenn wir das Geschirr abräumen, um endlich mit Bleak House anzufangen?«

Als ihr weniges Geschirr neben dem Ausguss gestapelt ist, nimmt Jack das Buch vom anderen Ende des Kü-chentischs, folgt Henry ins Wohnzimmer hinüber, bleibt im Vorbeigehen aber kurz stehen, um wie jedes Mal einen Blick ins Tonstudio seines Freundes zu werfen. Eine Tür mit einem großen Glasfenster führt in einen kleinen schalldichten Raum voller elektronischer Geräte: das Mikrofon und der Plattenspieler aus dem Maxton, die wieder vor Henrys gut gepolstertem Drehstuhl aufgebaut sind; gleich daneben ein CD-Wechsler mit dem dazugehörigen Digital-Analog-Konverter; ein Mischpult und ein riesiges Tonbandgerät nebeneinander unter dem zweiten, größeren Fenster, das in die Küche hinausführt. Damals, als Henry sein Tonstudio plante, hatte Rhoda auf diesem Fenster bestanden, weil sie, so sagte sie, ihn bei der Arbeit sehen können wolle. Nirgends ist ein Kabel zu sehen. Mit seiner disziplinierten Ordnung erinnert das gesamte Studio an die Kapitänskabine auf einem Schiff.

»Sieht so aus, als wolltest du heute noch arbeiten«, sagt Jack.

»Ich will zwei weitere Henry Shakes fertig stellen. Außerdem arbeite ich an einer Sendung zur Feier des Geburtstags von Lester Young und Charlie Parker.«

»Die haben am selben Tag Geburtstag?«

»Ziemlich dicht aufeinander. 27. und 29. August. Ich weiß nicht, ob du im Wohnzimmer überall Licht möchtest.«

»Am liebsten schon«, sagt Jack.

Also schaltet Henry Leyden die Lampen auf beiden Seiten des Fensters ein, während Jack Sawyer zu dem Sessel am Kamin geht, die große Stehlampe an einem ihrer geschwungenen Arme anknipst und dann beobachtet, wie sein Freund zielsicher zu der Wandlampe neben der Tür und dann zu der reich verzierten Art-déco-Lampe neben seinem eigenen liebsten Sitzmöbel, dem Sofa im Missionsstil, geht, die Lampen nacheinander anknipst und sich dann so aufs Sofa setzt, dass ein ausgestrecktes Bein der Länge nach auf den Sitzpolstern liegt. Eine sanfte, gleichmäßige Helligkeit erfüllt den länglichen Raum und bildet nur um Jacks Sessel eine Insel aus hellerem Licht.

»Bleak House von Charles Dickens«, sagt Jack. Er räuspert sich. »Okay, Henry, jetzt geht’s los.«

»>London. Der Michaelistermin ist vorüber ...<«, liest er vor und marschiert in eine aus Ruß und Schmutz bestehende Welt. Schmutzige Hunde, schmutzige Pferde, schmutzige Menschen, ein Tag ohne Licht. Bald hat er den zweiten Absatz erreicht: »>Nebel überall. Nebel stromaufwärts, wo der Strom zwischen Buschwerk und Auen fließt; Nebel stromabwärts, wo er sich schmutzig zwischen Reihen von Schiffen und dem Uferunrat einer großen (und schmutzigen) Stadt hindurchwälzt. Nebel auf den Sümpfen von Essex und Nebel auf den Höhen von Kent. Nebel kriecht in die Kajüten der Kohlenschiffe; Nebel liegt draußen auf den Rahen und hängt in der Takelage großer Schiffe; Nebel senkt sich auf die Schanzkleider von Lastkähnen und kleinen Booten .<«

Die Stimme versagt ihm kurz, und er ist mit dem Kopf für einen Augenblick nicht mehr bei ihrer Lektüre. Was er da liest, erinnert ihn auf unglückliche Weise an French Landing, die Sumner Street und die Chase Street, die Lichter in den Fenstern des Oak Tree Inns, die in der Nailhouse Row lauernden Thunder Five und die graue vom Fluss heraufführende Straße, die Queen Street und die Hecke des Maxton, die an einem rechtwinkligen Straßensystem angeordneten kleinen Häuser - dies alles von einem unsichtbaren Nebel bedeckt, der am Highway ein verwittertes Schild mit der Aufschrift Zutritt verboten einhüllt, die Sand Bar verschluckt und hungrig und auf Beutesuche in die Täler hineingleitet.

»Entschuldigung«, sagt er. »Ich habe nur daran denken müssen, wie .«

»Ich auch«, sagt Henry. »Bitte weiter.«

Jack, der außer diesem Aufblitzen eines alten Zutritt-verboten-Schildes nicht das Geringste von dem schwarzen Haus ahnt, das er eines Tages wird betreten müssen, konzentriert sich wieder auf den Text und liest weiter vor. Die Fenster werden dunkler, das Lampenlicht erscheint wärmer. Vor Gericht geht der Prozess Jarndyce und Jarndyce von den Anwälten Chizzle, Mizzle und Drizzle befördert oder behindert seinen schleppenden Gang; Lady Dedlock lässt Sir Leicester Dedlock auf ihrem großen Landsitz mit seiner moderigen Kapelle, dem über die Ufer getretenen Fluss und dem »Geisterweg« allein zurück; Esther Summerson beginnt in der Ichform zu plappern. Unsere Freunde beschließen, dass das Auftauchen Esthers eine kleine Erfrischung erfordert, wol-len sie noch mehr von dem Geplapper durchstehen. Henry erhebt sich vom Sofa, gleitet in die Küche hinaus und kommt mit zwei niedrigen, dicken Gläsern, die zu einem Drittel mit Balvenie Double Wood Single-Malt-Whisky gefüllt sind, sowie einem Glas klarem Wasser für den Vorleser zurück. Einige kleine Schlucke, ein anerkennendes Gemurmel, dann liest Jack weiter. Esther, Esther, Esther, aber unter der Wasserfolter ihrer erbarmungslosen Fröhlichkeit kommt die Geschichte in Fahrt und schlägt Vorleser und Zuhörer gleichermaßen in ihren Bann.

Als Jack eine Stelle erreicht, an der die Lektüre sich gut unterbrechen lässt, schließt er das Buch und gähnt. Henry steht auf und reckt sich. Sie gehen zur Tür, und Henry folgt Jack unter einen weiten Nachthimmel hinaus, der mit hell leuchtenden Sternen übersät ist. »Eines würde mich noch interessieren«, sagt Henry.

»Was denn?«

»Hast du dich wirklich als Cop gefühlt, als du auf dem Revier warst? Oder ist’s dir vorgekommen, als würdest du nur einen spielen?«

»Das war wirklich etwas überraschend«, sagt Jack. »Ich habe mich fast sofort wieder als Cop gefühlt.«

»Gut.«

»Wieso ist das gut?«

»Weil es bedeutet, dass du auf dieses rätselhafte Geheimnis zugerannt bist, statt davor wegzulaufen.«

Jack schüttelt den Kopf und lächelt, gönnt Henry absichtlich nicht die Befriedigung einer Antwort, steigt in seinen Pickup und verabschiedet sich von der leichten, aber deutlichen Überhöhung des Fahrersitzes aus. Der Motor springt stotternd an und lauft dann rund, die Scheinwerfer flammen auf, und Jack ist nach Hause unterwegs.

9

Nur wenige Stunden später findet Jack sich unter einem grauen Herbsthimmel wieder, unter dem er auf der Hauptstraße eines verlassenen Vergnügungsparks unterwegs ist. Auf beiden Seiten stehen mit Brettern verschalte Buden: die Würstchenbude Fenway Franks, die Annie-Oakley-Schießbude, die Ballwurfbude. Es hat geregnet, und weiterer Regen steht bevor; die Luftfeuchtigkeit macht die Luft frisch. In nicht allzu großer Entfernung kann er das einsame Donnern von Wogen hören, die gegen einen verlassenen Strandstreifen branden. Irgendwo aus der Nähe dringt lebhaftes Gitarrezupfen an sein Ohr. Es müsste fröhlich klingen, aber für Jack ist es das grässliche Gegenteil von Musik. Er sollte nicht hier sein. Dies ist ein alter Ort, ein gefährlicher Ort. Er kommt an einem mit Brettern verschalten Fahrgeschäft vorbei. Am Eingang verkündet ein Schild: Das rasende Opopanax eröffnet am Memorial Day 1982 wieder - Bis dann, Leute!

Opopanax, denkt Jack, nur ist er nicht mehr Jack; jetzt ist er Jacky. Er ist Jacky-Boy, und seine Mutter und er sind auf der Flucht. Vor wem? Natürlich vor Sloat. Vor dem emsigen, umtriebigen Onkel Morgan.

Speedy, denkt Jack, und als hätte er ein telepathisches Stichwort geliefert, beginnt eine warme, leicht verwaschene Stimme zu singen: »When the red red robin comes bob bob bobbin’ along, / There will be no more sobbinwhen he starts throbbin’ his old sweet song...«

Nein, denkt Jack. Ich will dich nicht sehen. Ich will dein altes sanftes Lied nicht hören. Du kannst ohnehin nicht hier sein; du bist tot. Du liegst tot auf der Santa Monica Pier. Ein alter, kahlköpfiger Schwarzer liegt tot im Schatten eines zur Leblosigkeit erstarrten Karussellpferds.

Aber das stimmt nicht. Wenn die alte Cop-Logik wiederkehrt, setzt sie sich selbst in Träumen wie ein Tumor fest, und man braucht nicht viel davon, um zu erkennen, dass das hier nicht Santa Monica ist - es ist zu kalt und zu alt. Das ist das Land der Vergangenheit, in dem Jacky und die Königin der B-Movies wie die Flüchtlinge, die sie tatsächlich waren, aus Kalifornien flüchteten. Und nicht eher Halt machten, bis sie die jenseitige Küste und den Ort erreichten, an den Lily Cavanaugh Sawyer ...

Nein, daran denke ich nicht, daran denke ich nie

... gekommen war, um zu sterben.

»Wach auf, wach auf, du Schlafmütze!«

Die Stimme seines alten Freundes.

Freund, dass ich nicht lache! Er hat mich auf die Straße der Prüfungen geschickt; er hat sich zwischen mich und Richard, meinen einzigen wahren Freund, gedrängt. Durch seine Schuld wäre ich fast umgekommen; er hat mich fast zum Wahnsinn getrieben.

»Wach auf, wach auf, steh schon auf!«

Wach auf, wach auf, wach auf. Es wird Zeit, dem schrecklichen Opopanax gegenüberzutreten. Es wird Zeit, in deine nicht allzu herrliche Vergangenheit zurückzukehren.

»Nein«, flüstert Jack, und dann endet die Hauptstraße. Vor ihm steht das Karussell, entfernt wie das auf der Santa Monica Pier, entfernt wie das, an das er sich ... nun, aus der Vergangenheit erinnert. Mit anderen Worten ist es eine Kreuzung, eine Traumspezialität, die weder hierhin noch dorthin gehört. Aber der Mann, der mit seiner Gitarre auf einem Knie unter einem der in starrer Pose aufgebäumten Pferde sitzt, ist unverkennbar. Jacky-Boy würde dieses Gesicht überall erkennen, und all die alte Liebe steigt wieder in ihm auf. Er kämpft gegen sie an, aber es ist ein Kampf, den nur wenige Menschen gewinnen - vor allem jene nicht, die ins Alter von zwölf Jahren zurückversetzt worden sind.

»Speedy?«, ruft er aus.

Der Alte erwidert seinen Blick, und sein braunes Gesicht verzieht sich zu einem breiten Grinsen. »Travellin’ Jack!«, sagt er. »Wie du mir gefehlt hast, Sohn.«

»Sie haben mir auch gefehlt«, sagt er. »Aber ich bin nicht mehr auf Wanderschaft. Ich bin in Wisconsin sesshaft geworden. Das .« Er deutet auf seinen durch Magie wiederhergestellten Jungenkörper in Jeans und TShirt. »Das ist nur ein Traum.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls liegt noch eine kleine Reise vor dir, Jack. Das habe ich dir seit einiger Zeit mitgeteilt.«

»Wie meinen Sie das?«

Speedys Grinsen ist in der Mitte listig, an den Rändern leicht verärgert. »Spiel mir nicht den Dummen vor, Jacky. Hab dir doch die Federn geschickt, oder? Hab dir ein Rotkehlchenei geschickt, ja? Hab dir mehr als nur eines geschickt.«

»Warum können die Leute mich nicht in Ruhe lassen?«, fragt Jack. Seine Stimmlage kommt einem Winseln verdächtig nahe. Kein schöner Klang. »Sie . Henry . Dale .«

»Schluss jetzt!«, sagt Speedy streng. »Hab keine Zeit mehr, dich nett zu fragen. Das Spiel ist rau geworden, ja?«

»Speedy .«

»Du hast deinen Job, ich hab meinen. Übrigens den gleichen Job. Winsle mir nichts vor, Jack, und zwing mich nicht dazu, dich weiter zu verfolgen. Du bist ein Schutzmann, wie du’s immer gewesen bist.«

»Ich lebe im Ruhestand .«

»Scheiß auf deinen Ruhestand! Die Kinder, die er ermordet hat - das ist schlimm genug. Die Kinder, die er ermorden könnte, wenn ihm nicht das Handwerk gelegt wird - das ist noch schlimmer. Aber der Junge, den er verschleppt hat .« Speedy beugt sich nach vorn; dunkle Augen blitzen in seinem dunklen Gesicht. »Dieser Junge muss zurückgeholt werden - und zwar bald. Kannst du ihn nicht zurückholen, musst du ihn selbst umbringen, so zuwider mir dieser Gedanke auch ist. Weil er ein Brecher ist. Ein mächtiger Brecher. Vielleicht braucht er nur einen weiteren, um es niederzureißen.«

»Wer braucht etwas?«, fragt Jack.

»Der Scharlachrote König.«

»Und was will dieser Scharlachrote König niederreißen?«

Speedy mustert ihn einen Augenblick, dann fängt er an, statt einer Antwort wieder die lebhafte kleine Melodie von vorhin zu spielen. »There will be no more sobbinwhen he starts throbbin’ his old sweet song...«

»Speedy, ich kann nicht!«

Die Melodie endet mit schrillen Dissonanzen. Speedy betrachtet den zwölfjährigen Jack Sawyer mit einer Eiseskälte, die den Jungen bis zu dem in seinem Innersten verborgenen Männerherzen erstarren lässt. Und als Speedy Parker wieder spricht, scheint seine Stimme mit dem weichen Südstaatentonfall geradezu von Verachtung zu triefen.

»Du machst dich jetzt ran, verstanden? Du hörst auf, zu jammern und zu winseln und zu zögern. Du hebst deinen Mumm dort auf, wo du ihn liegen gelassen hast, und machst dich an die Arbeit!«

Jack weicht vor ihm zurück. Eine schwere Hand fällt ihm auf die Schulter, und er denkt: Das ist Onkel Morgan. Er oder vielleicht Sunlight Gardener. Es ist 1981, und ich muss alles noch mal von vorn durchstehen ...

Aber das ist der Gedanke eines Jungen, und alles ist nur der Traum eines Mannes. Jack Sawyer, wie er jetzt ist, stößt die fügsame Verzweiflung des Kindes beiseite. Nein, keineswegs. Das bestreite ich. Diese Gesichter und diese Orte habe ich hinter mir gelassen. Das war harte Arbeit, und ich denke nicht daran, sie mir von ein paar Phantomfedern, ein paar Phantomeiern und einem schlechten Traum zerstören zu lassen. Such dir einen anderen Jungen, Speedy. Dieser hier ist erwachsen geworden.

Er dreht sich kampfbereit um, aber dort ist niemand.

Hinter ihm auf dem Plankenweg liegt ein Kinderfahrrad wie ein totes Pony auf der Seite. Auf der Halterung seines Nummernschilds steht Big Mac. Aber nun hört Jack eine neue Stimme: kalt und brüchig, hässlich und unüberhörbar böse. Er weiß unwillkürlich, dass dies die Stimme des Wesens ist, das ihn berührt hat.

»Stimmt genau, Arschgeige. Halt dich da raus. Leg dich nicht mit mir an, sonst verstreu ich deine Eingeweide von Racine bis La Riviere.«

Dicht vor dem Fahrrad tut sich im Plankenweg ein strudelndes Loch auf. Es weitet sich wie ein erstauntes Auge. Es wird zusehends größer, und Jack hechtet hinein. Das ist der Weg zurück. Der einzige Ausweg. Die verächtliche Stimme verfolgt ihn.

»So ist’s recht, Wichser«, sagt sie. »Lauf! Renn vor dem Abbalah weg! Renn vor dem König weg! Lauf um dein kümmerliches beschissenes Leben!« Die Stimme bricht in Lachen aus, und der Klang dieses irren Gelächters folgt Jack Sawyer ins Dunkel zwischen Welten hinab.

Stunden später steht Jack nackt an seinem Schlafzimmerfenster, kratzt sich geistesabwesend am Hintern und beobachtet, wie der Himmel im Osten rosig hell wird. Er ist seit vier Uhr wach. Er kann sich an nicht allzu viel aus seinem Traum erinnern (seine Widerstandskraft mag nachlassen, aber sie ist selbst jetzt noch nicht ganz erschöpft), aber er hat genug im Gedächtnis behalten, um eines sicher zu wissen: Der Tote auf der Santa Monica Pier hat ihn so sehr erschüttert, dass er seinen Beruf auf-gegeben hat, weil er ihn an jemanden erinnerte, den er früher gekannt hat.

»Das alles ist nie passiert«, erklärt er dem anbrechenden Tag in geheuchelt geduldigem Tonfall. »Ich hatte irgendeinen durch Stress ausgelösten juvenilen Zusammenbruch. Meine Mutter glaubte, sie hätte Krebs, sie hat sich mich geschnappt, und wir sind bis an die Ostküste geflüchtet. Bis nach New Hampshire. Sie dachte, sie müsste an einen Ort zurück, an dem sie einmal glücklich war, um dort zu sterben. Wie sich rausgestellt hat, war das größtenteils Einbildung, die gottverdammte Midlife-crisis einer Schauspielerin, aber was versteht ein Junge schon davon? Ich war im Stress. Ich habe viel geträumt.«

Jack seufzt.

»Ich habe geträumt, ich hätte meiner Mutter das Leben gerettet.«

Das Telefon hinter ihm klingelt. In dem dämmrigen Raum klingt dieser Ton schrill und gebrochen.

Jack Sawyer schreit auf.

»Ich habe Sie geweckt«, sagt Fred Marshall, und Jack weiß sofort, dass dieser Mann die Nacht durchwacht, dass er in seinem frauenlosen, sohnlosen Haus gesessen hat. Vielleicht in Fotoalben blätternd, während der Fernseher lief. In dem Bewusstsein, dass er damit Salz in seine Wunden rieb, aber außerstande, damit aufzuhören.

»Nein«, sagt Jack, »ich war gerade .«

Er verstummt. Das Telefon steht neben dem Bett, und neben dem Telefon liegt ein Notizblock. Auf diesen Block ist etwas gekritzelt. Da Jack allein im Haus ist, muss er es geschrieben haben - beschissen elementar, mein lieber Watson -, aber das ist nicht seine Schrift. Irgendwann in seinem Traum hat er diese Zeilen in der Handschrift seiner toten Mutter zu Papier gebracht:

Der Turm. Die Balken. Wenn die Balken brechen, Jacky-Boy, wenn die Balken brechen und der Turm einstürzt

Das ist alles. Sonst gibt es nur den armen alten Fred Marshall, der entdeckt hat, wie schnell das idyllischste Leben im Mittleren Westen zu einem Albtraum werden kann. Jacks Mund hat versucht, ein paar Dinge zu sagen, während sein Verstand mit dieser Fälschung aus seinem Unterbewusstsein beschäftigt war - wahrscheinlich nicht sehr vernünftige Dinge -, aber das stört Fred nicht; er leiert einfach ohne die Sprechpausen und Stimmsenkungen weiter, die Leute normalerweise benützen, um das Ende von Sätzen oder den Beginn neuer Gedanken zu bezeichnen. Fred spricht sich einfach aus, schüttet sein Herz aus, und Jack erkennt selbst in seinem eigenen verzweifelten Zustand, dass Fred Marshall aus dem Haus Robin Hood Lane Nr. 16, diesem entzückenden, scheinbar direkt aus Neuengland importierten Häuschen, allmählich am Ende seiner Kraft angelangt ist. Gibt es für ihn nicht bald eine Wende zum Besseren, braucht er seine Frau nicht mehr auf Station D im French County Lutheran zu besuchen; dann teilen die beiden sich dort ein Zimmer. Fred spricht von ihrem geplanten Besuch bei Judy, das begreift Jack jetzt. Er versucht nicht mehr, ihn zu unterbrechen, sondern hört einfach zu und starrt dabei stirnrunzelnd auf die Zeilen hinunter, die er geschrieben hat. Turm und Tragebalken. Was für Balken? Bohlen? Kanthölzer? Riegel? Sparren? Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute?

». weiß dass ich gesagt habe ich würde Sie um neun abholen aber Dr. Spiegleman das ist ihr Arzt dort oben Spiegleman heißt er hat gesagt dass sie eine schlimme Nacht hinter sich hat in der sie viel geschrien und gekreischt und versucht hat die Tapete abzureißen und zu essen und sie scheint auch eine Art Anfall gehabt zu haben sodass sie ein neues Medikament ausprobieren wollen Pamizene oder Patizone oder so ähnlich heißt es ich hab’s mir nicht aufgeschrieben Dr. Spiegleman hat vor einer Viertelstunde angerufen ich frage mich ob diese Leute jemals schlafen und gesagt wir müssten sie gegen vier Uhr besuchen können er glaubt dass ihr Zustand sich bis dahin so weit stabilisieren wird dass wir sie besuchen können und ich könnte Sie um drei Uhr abholen wenn Sie nicht schon was anderes .«

»Drei Uhr wäre gut«, sagt Jack ruhig.

». vorhaben oder einen anderen Termin haben das würde ich verstehen aber wenn ich vorbeikommen könnte falls Sie nichts anderes vorhaben wäre ich Ihnen dankbar weil ich nicht allein hinfahren möchte .«

»Ich erwarte Sie also«, sagt Jack. »Wir fahren mit meinem Pickup.«

». dachte ich würde vielleicht von Ty oder seinem Entführer hören der sich vielleicht mit einer Lösegeldforderung melden würde aber die ganze Zeit hat niemand angerufen außer Spiegleman er ist dort oben der Arzt meiner Frau .«

»Fred, ich werde Ihren Jungen finden.«

Jack ist entsetzt über diese kühne Behauptung, über die selbstmörderische Zuversicht, die er in seiner Stimme hört, aber sie erfüllt zumindest einen Zweck: Sie lässt Freds Strom unbelebter Worte versiegen. Am anderen Ende der Leitung herrscht erholsames Schweigen.

Schließlich flüstert Fred mit bebender Stimme: »Oh, Sir. Wenn ich das nur glauben könnte.«

»Ich möchte, dass Sie’s versuchen«, sagt Jack. »Und vielleicht können wir auch den Verstand Ihrer Frau wiederfinden, wenn wir schon dabei sind.«

Vielleicht sind beide am selben Ort zu finden, denkt er, ohne es jedoch zu sagen.

Vom anderen Ende der Leitung kommen wässrige Laute. Fred hat zu weinen begonnen.

»Fred.«

»Ja?«

»Sie sind um drei Uhr bei mir.«

»Ja.« Ein gewaltiges Schniefen; ein jammervoller Schrei, der größtenteils unterdrückt wird. Jack kann sich annähernd vorstellen, wie leer Fred Marshall sein Haus in diesem Augenblick vorkommen muss, und selbst diese ungefähre Vorstellung ist schlimm genug.

»Ich wohne im Norway Valley. Sie fahren an Roy’s Store vorbei, dann über den Tamarack Creek .«

»Ich weiß, wo das ist.« In Freds Tonfall schwingt leichte Ungeduld mit. Jack ist sehr froh, sie zu hören.

»Gut. Dann bis später.«

»Ist gebongt.« Jack hört ein geisterhaftes Echo von Freds Verkäuferfröhlichkeit, das ihm fast das Herz zerreißt.

»Um wie viel Uhr?«

»D-drei?« Dann mit marginaler Gewissheit: »Drei.«

»Richtig. Wir fahren mit meinem Pickup. Auf der Rückfahrt können wir vielleicht in Gertie’s Kitchen eine Kleinigkeit zu Abend essen. Good-bye, Fred.«

»Good-bye, Sir. Und vielen Dank.«

Jack legt den Hörer auf. Er starrt die Handschrift seiner Mutter, die er aus dem Gedächtnis reproduziert hat, noch einen Augenblick lang an und fragt sich, wie man so etwas auf Cop-Sprech nennen würde. Autofälschung? Er schnaubt, dann knüllt er den Zettel zusammen und beginnt sich anzuziehen. Er wird ein Glas Saft trinken und dann einen etwa einstündigen Spaziergang machen. Sich all die schlechten Träume aus dem Kopf blasen lassen. Und sich dabei auch den Klang von Fred Marshalls schrecklich leiernder Stimme aus dem Kopf blasen lassen. Nachdem er dann geduscht hat, wird er vielleicht Dale Gilbertson anrufen, um zu fragen, ob es irgendwelche neuen Entwicklungen gegeben hat. Wenn er sich wirklich für diesen Fall engagieren will, wird er sich mit einem Haufen Papierkram befassen müssen ... Er wird die Eltern nochmals befragen wollen . einen Blick in das Altenheim werfen, vor dem der kleine Marshall verschwunden ist .

Mit dem Kopf voll solcher Gedanken (eigentlich erfreuliche Gedanken, obwohl er das heftig bestritten hätte, wenn jemand diese Vermutung geäußert hätte) stolpert Jack fast über den Karton, der vor seiner Haustür auf der Fußmatte steht. Dort stellt Buck Evitz, der Postbote, Päckchen und Pakete ab, wenn er welche abzustellen hat, aber es ist noch nicht einmal halb sieben, und Buck wird mit seinem kleinen blauen Lieferwagen frühestens in drei Stunden vorbeikommen.

Jack bückt sich und hebt das Päckchen vorsichtig auf. Es hat die Größe eines Schuhkartons und ist in braunes Papier verpackt, das schlampig zugeschnitten und nicht mit Klebeband, sondern mit großen roten Siegelwachsfladen zugeklebt ist. Außerdem ist es mit einer weißen Schnur gesichert, deren komplizierte Schlingen in einer übergroßen Kinderschleife enden. In der oberen rechten Ecke kleben Briefmarken, zehn oder zwölf Stück, die verschiedene Vögel zeigen. (Keine Rotkehlchen, wie Jack mit verständlicher Erleichterung feststellt.) Irgendwas ist mit diesen Briefmarken nicht in Ordnung, aber was es ist, kann Jack nicht gleich feststellen. Er ist zu sehr auf die Anschrift fixiert, die spektakulär nicht in Ordnung ist. Sie enthält keine Postfachnummer, keine Landzustell-nummer, keine Postleitzahl. Eigentlich nicht mal einen Namen. Die Anschrift besteht aus einem einzigen, in großen Druckbuchstaben hingekritzelten Wort:

JACKY

Während Jack diese krummen Buchstaben betrachtet, stellt er sich eine zur Faust geballte Hand vor, die einen Filzschreiber umklammert; zusammengekniffene Augen; eine Zungenspitze, die aus dem Mundwinkel eines Irren ragt. Seine Pulsfrequenz hat sich verdoppelt. »Das gefällt mir nicht«, flüstert er heiser. »Das gefällt mir ganz und gar nicht.«

Und natürlich gibt es sehr gute Gründe, SchutzmannGründe, so zu reagieren. Das Päckchen ist ein Schuhkarton; er kann denn Deckel durch das braune Papier hindurch ertasten, und es wäre nicht das erste Mal, dass ein Irrer eine Bombe in einen Schuhkarton gepackt hat. Er wäre verrückt, wenn er das Päckchen öffnen würde, aber er ahnt bereits, dass er’s trotzdem tun wird. Fliegt er dabei in die Luft, kann er sich wenigstens aus den Ermittlungen in Sachen Fisherman-Morde verabschieden.

Jack hebt das Päckchen ans Ohr, um zu hören, ob es tickt, obwohl er sich darüber im Klaren ist, dass tickende Bomben so veraltet sind wie Betty-Boop-Cartoons. Er hört nichts, aber er sieht jetzt, was mit den Briefmarken, die gar keine Briefmarken sind, nicht in Ordnung ist. Jemand hat die Bilder auf den Vorderseiten von etwa einem Dutzend Zuckerpäckchen aus einer Cafeteria sorgfältig ausgeschnitten und auf den verpackten Schuhkarton geklebt. Jack entfährt ein grunzendes humorloses Lachen. Dieses Päckchen hat ihm wirklich ein Irrer geschickt. Irgendein Verrückter in einer geschlossenen Anstalt, der leichter Zugang zu Zuckerpäckchen als zu Briefmarken hat. Aber wie ist es hergekommen? Wer hat es (ohne die nachgemachten Briefmarken zu entwerten) vor seiner Haustür abgelegt, während er seine wirren Träume geträumt hat? Und wer kann ihn in diesem Teil der Welt überhaupt als Jacky kennen? Seine Jacky-Tage liegen weit hinter ihm.

Nein, das tun sie nicht, TravellinJack, flüstert eine Stimme. Noch längst nicht. Es wird Zeit, dass du mit deinem Gejammer aufhörst und dich an die Arbeit machst, Boy.

Fang gleich damit an, indem du nachsiehst, was in dem Karton ist.

Jack ignoriert entschlossen seine innere Stimme, die ihn warnt, dass er etwas gefährlich Dummes tut, zerreißt die Schnur und benützt den Daumennagel, um die schlampigen Siegelwachsklumpen zu zerteilen. Wer verwendet heutzutage überhaupt noch Siegelwachs? Er legt das Packpapier beiseite. Vielleicht ist das etwas für die Spurensicherer.

Der Karton ist nicht nur Schuhkarton, sondern ein Sportschuhkarton. Genauer gesagt ein Karton für Laufschuhe der Marke New Balance. Größe 34. Eine Kindergröße. Bei diesem Anblick steigt Jacks Pulsfrequenz aufs Dreifache. Er spürt, dass ihm kalte Schweißperlen auf die Stirn treten. Kehle und Schließmuskel verkrampfen sich gleichzeitig. Auch das ist eine vertraute Reaktion. So bereiten Schutzleute sich innerlich auf einen schrecklichen Anblick vor. Und der hier wird schrecklich sein. Daran zweifelt Jack so wenig, wie er daran zweifelt, dass er weiß, von wem die Sendung stammt.

Das ist meine letzte Chance, einen Rückzieher zu machen, denkt er. Danach heißt es: Alles einsteigen!, und auf geht’s ins ... ins Ungewisse.

Aber selbst das ist gelogen, das weiß er. Dale erwartet ihn gegen Mittag auf der Polizeistation in der Sumner Street. Fred Marshall kommt um drei Uhr her, und sie werden die Verrückte Hausfrau aus der Robin Hood La-ne besuchen. Der Punkt, an dem er noch hätte aussteigen können, liegt längst hinter ihm. Jack weiß noch immer nicht recht, wie das gekommen ist, aber er scheint wieder im Dienst zu sein. Und falls Henry Leyden die Frechheit besitzt, ihm dazu gratulieren, kann es passieren, dass Jack ihm in den blinden Hintern tritt.

Aus den Dielenbrettern von Jacks Vernunft steigt wie ein Pesthauch die flüsternde Stimme aus seinem Traum auf - Ich verstreu deine Eingeweide von Racine bis La Riviere -, aber sie stört ihn weniger als die Verrücktheit, die sich in den nachgemachten Briefmarken und den mühsam hingekritzelten Lettern seines alten Kosenamens manifestiert. Mit Verrückten hat er schon früher zu tun gehabt. Von gegen ihn ausgesprochenen Drohungen ganz zu schweigen.

Er setzt sich mit dem Sportschuhkarton auf den Knien auf die Stufen vor der Haustür. Vor ihm erstreckt sich das Nordfeld noch ganz still und grau. Bunny Boettcher, Tom Toms Sohn, hat die zweite Mahd erst letzte Woche vorgenommen, und nun hängt flacher Bodennebel über den knöchelhohen Stoppeln. Der Himmel darüber beginnt gerade erst hell zu werden. Noch keine einzige Wolke stört seine stille Nicht-Farbe. Irgendwo ruft ein Vogel. Jack atmet tief durch und sagt sich: Ist’s jetzt aus mit mir, könnte ich’s schlimmer treffen. Viel schlimmer.

Dann nimmt er ganz vorsichtig den Deckel des Kartons ab und legt ihn beiseite. Nichts explodiert. Aber es sieht so aus, als hätte jemand den New-Balance-Karton mit Nacht vollgepackt. Dann erkennt Jack, dass er mit glänzenden schwarzen Krähenfedern ausgestopft ist, und spürt eine Gänsehaut auf den Armen.

Er will nach den Federn greifen, dann hält er aber in-ne. Er berührt diese Federn ungefähr so gern, wie er den Leichnam eines halb verwesten Pestopfers berühren würde. Aber unter ihnen liegt etwas. Er kann es sehen. Sollte er sich Handschuhe holen? Im Garderobenschrank in der Diele liegen welche .

»Scheiß auf die Handschuhe«, sagt Jack und kippt den Inhalt des Kartons auf das braune Packpapier, das neben ihm auf der Veranda liegt. Als Erstes kommt eine Flut von Federn, die selbst in der völlig stillen Morgenluft leicht umherwirbeln. Danach ein dumpfer Schlag, mit dem der Gegenstand, um den die Federn gestopft waren, auf die Veranda poltert. Im nächsten Augenblick steigt Jack Verwesungsgeruch in die Nase.

Jemand hat beim Anwesen Sawyer in der Norway Valley Road einen mit Blut getränkten Kinderlaufschuh zugestellt. Irgendetwas hat diesen ziemlich stark benagt -und den Inhalt noch mehr. Jack sieht ein Futter aus blutig verfärbtem Baumwollgewebe, das einmal eine Socke gewesen sein muss. Und in der Socke sind Haut- und Fleischfetzen zu erkennen. Es handelt sich um einen Kinderlaufschuh der Marke New Balance mit einem Kinderfuß darin, den irgendein Tier stark benagt hat.

Er hat ihn mir geschickt, denkt Jack. Der Fisherman.

Um ihn zu verspotten. Um ihm zu sagen: Komm doch rein, wenn du mitspielen willst. Das Wasser ist angenehm, Jacky-Boy, das Wasser ist angenehm.

Jack steht auf. Sein Herz rast, die Schläge folgen jetzt zu dicht aufeinander, um sich zählen zu lassen. Die Schweißperlen auf seiner Stirn sind angeschwollen und geplatzt und ihm wie Tränen übers Gesicht gelaufen, Lippen, Hände und Füße sind taub . Aber trotzdem sagt er sich, dass er ruhig ist. Dass er in L. A. an Brückenpfeilern und in Freeway-Unterführungen schon Zerschelltes, schon Schlimmeres, weit Schlimmeres gesehen hat. Noch ist das hier für ihn der erste abgetrennte Körperteil. Im Jahr 1997 hatten sein Partner Kirby Tes-sier und er in der Stadtbücherei von Culver City einen einzelnen Hoden entdeckt, der wie ein altes weich gekochtes Ei auf einem WC-Spülkasten lag. Deshalb sagt er sich, dass er ruhig ist.

Er steht also auf und geht die Stufen hinunter. Er geht an der Motorhaube seines burgunderroten Dodge Ram mit der Weltklasse-Stereoanlage darin vorbei; er geht an dem Vogelhotel vorbei, das Dale und er ein, zwei Monate nach Jacks Einzug am Rand des Nordfelds aufgestellt haben, das perfekteste Mehrfach-Vogelhaus des Universums. Er sagt sich, dass er ruhig ist. Er sagt sich, dass das ein Beweisstück ist, sonst nichts. Nur ein weiterer Strang in der Henkerschlinge, die der Fisherman sich letztlich selbst um den Hals legen wird. Er ermahnt sich, es nicht als Teil eines Kindes, als Teil eines kleinen Mädchens namens Irma, sondern als Beweisstück A zu sehen. Er spürt, wie Tau seine nackten Fußknöchel benetzt und den Saum seiner Jeans durchnässt, und weiß, dass er sich bei einem etwas längeren Spaziergang durch das knöchelhohe Gras ein Paar Gucci-Slipper für 500 Dollar ruinieren wird. Aber was ist schon dabei? Er ist so reich, dass es schon nicht mehr geschmacklos ist; wenn er will, kann er sich so viele Schuhe kaufen wie Imelda Marcos. Wichtig ist nur, dass er ruhig ist. Jemand hat ihm einen Schuhkarton mit einem Kinderfuß gebracht, hat ihn im Dunkel der Nacht vor seiner Haustür abgelegt, aber er ist ruhig. Das ist ein Beweisstück, sonst nichts. Und er? Er ist ein Schutzmann. Beweisstücke sind sein täglich Brot. Er braucht nur etwas frische Luft, muss den Verwesungsgeruch, der aus dem Schuhkarton aufgestiegen ist, aus der Nase bekommen ...

Jack gibt einen erstickten Würgelaut von sich und hastet etwas schneller weiter. In seinem Verstand (meinem ruhigen Verstand, redet er sich ein) verstärkt sich das Gefühl einer herannahenden Klimax. Irgendetwas steht kurz davor sich zu ereignen ... oder sich zu verändern ... sich zurückzuverwandeln.

Diese letzte Vorstellung ist besonders alarmierend, und Jack beginnt mit hochgerissenen Knien und pumpenden Armen über die abgemähte Fläche zu rennen. Dabei hinterlässt er eine dunkle Spur im Gras: eine Diagonale, die an der Einfahrt zu seinem Haus beginnt und überall enden könnte. Vielleicht in Kanada. Oder am Nordpol. Weiße Falter, aus ihrer tauschweren Morgenstarre aufgeschreckt, flattern in trägen Schwärmen auf und sinken dann schlaff ins Gras zurück.

Er rennt schneller, weg von dem zerbissenen, blutgetränkten Laufschuh, der auf der Veranda seines perfekten Hauses liegt, weg von seinem eigenen Horror. Aber das Gefühl einer herannahenden Klimax lässt sich nicht abschütteln. Vor seinem inneren Auge beginnen Gesichter aufzusteigen, jedes mit seinem eigenen bruchstückhaften Soundtrack. Gesichter und Stimmen, die er seit zwanzig und mehr Jahren ignoriert hat. Steigen diese Gesichter auf oder murmeln diese Stimmen, hat er sich bisher mit der alten Lüge beruhigt, es habe einst einen verängstigten kleinen Jungen gegeben, der sich von der neurotischen Panik seiner Mutter wie von einer Erkältung habe anstecken lassen und sich eine Story, eine großartige Fantasiegeschichte, mit dem guten alten Jack Sawyer, der seine Mama rettet, als Hauptperson ausgedacht. Nichts davon war real, und als 16-Jähriger hatte Jack es alles vergessen. Damals war er ruhig gewesen. Wie er jetzt ruhig ist, während er wie ein Verrückter über die Wiese rennt und diese dunkle Spur, diese Schwärme von aufgeschreckten Faltern hinter sich zurücklässt, was er aber ganz ruhig tut.

Ein schmales Gesicht, eng beieinander stehende Augen unter einer schräg aufgesetzten weißen Papiermütze: Wenn du mir ein Fass rausrollen kannst, wenn ich eines brauche, kannst du den Job haben. Smokey Updike aus Oatley, New York, wo sie erst das Bier tranken und dann das Glas fraßen. Oatley, wo es im Tunnel außerhalb der Stadt irgendetwas gegeben hatte und wo Smokey ihn gefangen gehalten hatte. Bis .

Forschender Blick, falsches Lächeln, leuchtend weißer Anzug: Irgendwo habe ich dich schon mal gesehen, Jack . aber wo? Sag’s mir. Bekenne. Sunlight Gardener, ein Prediger aus Indiana, dessen Name auch Osmond gewesen war. Osmond hatte er in irgendeiner anderen Welt geheißen.

Das breite, behaarte Gesicht und der ängstliche Blick eines Jungen, der gar kein Junge war: Dies ist ein schlimmer Ort, Jacky, Wolf weiß es. Und das stimmte, es war ein sehr schlimmer Ort. Sie steckten ihn in eine Box, steck-ten den guten alten Wolf in eine Box, und zuletzt brachten sie ihn um. Wolf starb an einer Krankheit namens Amerika.

»Wolf!«, keucht der übers Nordfeld rennende Mann. »Wolf, o Gott, das tut mir Leid!«

Gesichter und Stimmen, alle diese Gesichter und Stimmen, die vor seinem inneren Auge aufsteigen, ihm in den Ohren gellen, gesehen und gehört werden wollen, ihn mit der Ahnung einer herannahenden Klimax erfüllen und seine Abwehrmechanismen zu durchbrechen drohen, wie eine Flutwelle über einen Deich hinwegbrandet.

Übelkeit durchröhrt ihn und lässt die Welt wild kippen. Er gibt erneut Würgelaute von sich, und diesmal füllt sich seine Kehle mit einem Geschmack, an den er sich erinnert: mit dem Geschmack von billigem, kratzigen Wein. Und plötzlich ist er wieder in New Hampshire, wieder in der Arcadia Funworld. Speedy und er stehen wieder neben dem Karussell mit seinen zur Leblosigkeit erstarrten Pferden (»Alle Karussellpferde haben Namen, hast du das nicht gewusst, Jack?«), und Speedy hält ihm eine Flasche Wein hin und behauptet, das sei ein Zaubertrank, ein kleiner Schluck davon, dann wird er hinübergehen, hinüberflippen .

»Nein!«, ruft Jack, obwohl er weiß, dass es dafür schon zu spät ist. »Ich will nicht hinübergehen!«

Die Welt kippt auf die andere Seite zurück, und er fällt mit krampfhaft zusammengekniffenen Augen auf allen vieren ins Gras. Er braucht die Augen nicht zu öffnen; die intensiveren, üppigeren Gerüche, die ihm plötzlich in die Nase steigen, sagen ihm alles, was er wissen muss. Und dazu kommt das Gefühl einer Heimkehr nach so vielen dunklen Jahren, in denen praktisch jede wache Bewegung und Entscheidung irgendwie dem Zweck gedient hat, das Eintreffen eben dieses Augenblicks zu verhindern (oder zumindest zu verzögern).

Dies ist Jack Sawyer, meine Damen und Herrn, mitten auf einer großen Wiese unter einem Morgenhimmel, den kein Partikel Luftverschmutzung befleckt, auf den Knien liegend. Er weint. Er weiß, was geschehen ist, und er weint. Das Herz rast ihm vor Angst und Freude.

Dies ist Jack Sawyer zwanzig Jahre später: zum Mann herangereift und endlich wieder in den Territorien.

Es ist die Stimme seines alten Freundes Richard -manchmal auch Rationaler Richard genannt -, die ihn rettet. Der jetzige Richard, Seniorpartner der eigenen Anwaltskanzlei (Sloat & Associates, Ltd.), nicht der Richard von früher, als Jack ihn wahrscheinlich am besten kannte, sein Freund aus langen Sommerferien auf Seabrook Island in South Carolina. Der Richard von Seabrook Island war fantasievoll, lebhaft, flink auf den Beinen, wuschelhaarig und dünn wie ein Morgenschatten gewesen. Der jetzige Richard, Fachanwalt für Körperschaftsrecht, hat schütteres Haar, ist recht beleibt und hat eine große Vorliebe für sitzende Tätigkeiten und Bushmills Irish Whisky. Außerdem hat er seine Fantasie, die damals auf Seabrook Island so großartig verspielt war, wie eine lästige Fliege zerquetscht. Richard Sloat ist das Opfer einer Umerziehung geworden, findet Jack manchmal, aber etwas anderes ist auch dazugekommen (vermutlich auf der Law School): ein pompöser, schafähnlicher, zögerlicher Laut, am Telefon besonders irritierend, der jetzt Richards Stimmsignatur ist. Dieser Laut beginnt bei geschlossenen Lippen und verstärkt sich dann, während Richard schlagartig die Lippen öffnet, sodass er wie eine absurde Kreuzung aus einem Wiener Sängerknaben und Bela Lugosi aussieht.

Während Jack jetzt mit zusammengekniffenen Augen in der Mitte der weiten grünen Fläche kniet, die einst sein Nordfeld war, und die neuen, intensiveren Gerüche wahrnimmt, an die er sich so gut erinnert, nach denen er sich so heftig gesehnt hat, ohne es überhaupt zu merken, hört er, wie Richard Sloat in seinem Kopf zu sprechen beginnt. Was für eine Erleichterung diese Worte sind! Er weiß, dass dies nur sein eigener Verstand ist, der Richards Stimme imitiert, aber es ist trotzdem wundervoll. Wäre Richard jetzt hier, würde Jack seinen alten Freund vermutlich umarmen und sagen: Auf dass du bis in alle Ewigkeit dozierst, Richie-Boy. Mit Schafgeblöke und allem.

Der Rationale Richard sagt: Du merkst hoffentlich, dass du träumst, Jack, oder? ... ba-haaaa ... Der Stress beim Öffnen des Päckchens ... ba-haaaa ... hat dich zweifelsohne ohnmächtig werden lassen, und das hat wiederum ... ba-HAAAA! den Traum ausgelöst, den du jetzt hast.

Jack, der weiter mit geschlossenen Augen und ihm ins Gesicht hängenden Haaren auf den Knien liegt, sagt: »Mit anderen Worten ist das etwas, was wir damals .«

Ganz recht! Was wir damals ... ba-haaaa ... »Seabrook-Island-Zeug« genannt haben. Aber Seabrook Island war vor langer Zeit, Jack, deshalb schlage ich vor, dass du jetzt die Augen öffnest, wieder aufstehst und dir darüber klar wirst, dass die ungewöhnlichen Dinge, die du vielleicht zu sehen glaubst ... b’haa! ... nicht wirklich da sind.

»Nicht wirklich da«, murmelt Jack. Er steht auf und öffnet die Augen.

Er erkennt auf den ersten Blick, dass die ungewöhnlichen Dinge wirklich da sind, aber er behält Richards großspurige »Ich sehe wie fünfunddreißig aus, bin aber in Wirklichkeit sechzig«-Stimme im Kopf und benützt sie als Schutzschild. So gelingt es ihm, ein labiles Gleichgewicht zu bewahren, statt tatsächlich in Ohnmacht zu fallen oder - vielleicht - ganz den Verstand zu verlieren.

Über ihm leuchtet der Himmel in einem unendlich klaren dunklen Blau. Um ihn herum stehen Rispen- und Timotheusgras hüfthoch, nicht nur knöchelhoch; in diesem Teil der Schöpfung gibt es keinen Bunny Boettcher, der es gemäht hat. Übrigens steht hinter Jack, wo er hergekommen ist, auch kein Farmhaus, sondern nur eine malerische alte Scheune mit einer Windmühle daneben.

Wo sind die fliegenden Menschen?, fragt Jack sich mit einem Blick zum Himmel, dann schüttelt er energisch den Kopf. Keine fliegenden Menschen; keine zweiköpfigen Papageien; keine Werwölfe. Alles das war »Seabrook-Island-Zeug«, eine Neurose, mit der er sich von seiner Mutter hatte anstecken lassen und von der einige Zeit sogar Richard befallen wurde. Alles nur . ba-haaaa ... Scheiß, den er sich einbildet.

Obwohl er das akzeptiert, weiß er zugleich, dass es wirklich Scheiß wäre, nicht zu glauben, was ihn auf allen Seiten umgibt. Der Geruch des Grases, jetzt so stark und süß, der sich mit dem blumigeren Duft des Klees und dem kräftigeren Bassoprofundo-Geruch der schwarzen Erde mischt. Das unaufhörliche schrille Zirpen der Grillen, die im Gras ihr gedankenloses Grillenleben leben. Die flatternden weißen Wiesenfalter. Das makellose Blau des Himmels, das durch keine einzige Strom- oder Telefonleitung, durch keinen einzigen Kondensstreifen entstellt wird.

Was Jack jedoch am tiefsten beeindruckt, ist die Unberührtheit der weiten Wiesenfläche um ihn herum. Er sieht den Kreis, wo er auf die Knie gefallen ist, wo das taunasse Gras niedergedrückt ist. Aber es gibt keinen Pfad, der zu diesem Kreis führt, keine Fußspur im nassen, empfindlichen Gras. Man könnte glauben, er sei vom Himmel gefallen. Das ist natürlich unmöglich, wieder Seabrook-Island-Zeug, aber .

»Ich bin aber gewissermaßen vom Himmel gefallen«, sagt Jack mit bemerkenswert fester Stimme. »Ich bin aus Wisconsin hergekommen. Ich bin hierher geflippt.«

Dagegen protestiert Richards Stimme nachdrücklich, indem sie mit einem Schauer von Humpfs und Ba-haaas explodiert, aber Jack nimmt sie kaum wahr. Das ist nur der gute alte Rationale Richard, dessen Stimme in seinem Kopf erklingt. Richard hatte einst Zeug dieser Art durchlebt und war am anderen Ende mit mehr oder weniger intaktem Verstand rausgekommen . aber damals war er zwölf gewesen. In jenem Herbst waren sie beide zwölf gewesen, und in diesem Alter sind Geist und Körper noch elastischer.

Jack hat sich langsam im Kreis gedreht, aber nichts gesehen außer weiten Feldern (über denen der Morgennebel jetzt mit zunehmender Tageserwärmung zu einem leichtem Dunst wird) und den blaugrauen Wäldern dahinter. Nun sieht er etwas anderes. Im Südwesten verläuft etwa eine Meile entfernt eine unbefestigte Straße. Hinter ihr am Horizont oder vielleicht knapp dahinter steigt eine kleine Rauchwolke in den makellos blauen Sommerhimmel auf.

Keine Holzöfen, sagt Jack sich, nicht im Juli, aber vielleicht kleine Werkstätten. Und ...

Dann hört er eine Dampfpfeife - drei lange Pfeifsignale, die schwach aus der Ferne herüberhallen. Das Herz scheint ihm in der Brust anzuschwellen, und seine Mundwinkel gehen zu einer Art hilflosem Grinsen in die Höhe.

»Dort liegt der Mississippi, bei Gott«, sagt er, und um ihn herum scheinen die Wiesenfalter in zartem Filigran ihre Zustimmung zu tanzen. »Das ist der Mississippi oder wie immer sie ihn hier drüben nennen. Und das Pfeifsignal, Freunde und Nachbarn ...«

Zwei weitere Pfeifsignale hallen durch den beginnenden Sommertag. Gewiss, die Entfernung schwächt sie ab, aber aus der Nähe wären sie gewaltig laut. Das weiß Jack.

»Das ist ein Riverboat. Ein verdammt großes. Vielleicht ein Schaufelraddampfer.«

Jack beginnt in Richtung Straße zu gehen und redet sich dabei ein, dies alles sei ein Traum; davon glaubt er zwar kein Wort, aber er benützt es wie ein Seiltänzer seine Balancierstange. Nachdem er etwa hundert Meter zurückgelegt hat, dreht er sich um und sieht zurück. Von seinem Landeort zieht sich eine dunkle Linie durchs Timotheusgras bis zu der Stelle, wo er jetzt steht. Das ist seine Fußspur. Seine einzige Spur. Weit links von ihm (nun schon fast hinter ihm) stehen Scheune und Windmühle. Das sind mein Haus und meine Garage, denkt Jack. Zumindest sind sie das in der Welt von Chevro-lets, Nahostkonflikten und der Oprah-Winfrey-Show.

Er geht weiter und hat die Straße fast erreicht, als ihm auffällt, dass es im Südwesten mehr als nur Rauch gibt. Von dort kommen auch irgendwelche Vibrationen. Sie hämmern auf seinen Kopf ein wie eine beginnende Migräne. Und sie sind eigentümlich variabel. Steht er so, dass er genau nach Süden blickt, ist das unangenehme Pulsieren schwächer. Wendet er sich nach Osten, ist es verschwunden. Im Norden ist es beinahe verschwunden. Dreht er sich dann weiter, schwillt es wieder zu voller Stärke an. Seit er auf die Vibrationen aufmerksam geworden ist, sind sie schlimmer als zuvor, wie das Summen einer Fliege oder das Knacken des Heizkörpers in einem Hotelzimmer lästiger sind, nachdem sie einem erst einmal aufgefallen sind.

Jack dreht sich nochmals langsam um die eigene Achse. Süden: Die Vibrationen sind schwächer. Osten: Sie sind verschwunden. Norden: Sie setzen allmählich wieder ein. Westen: Sie werden stärker. Südwesten: Sie pulsieren, als hätte der Sendersuchlauf eines Autoradios den stärksten Sender weit und breit gefunden. Peng, peng, peng. Dunkle, hässliche Vibrationen wie hämmernde Kopfschmerzen, dazu ein Geruch nach brandigem Rauch .

»Nein, nein, nein, nicht Rauch«, sagt Jack. Er steht in hüfthohem Sommergras, die Hose taunass, der Kopf von weißen Faltern umschwärmt, die einen irgendwie verrückten Heiligenschein bilden, die Augen aufgerissen, die Wangen wieder bleich. In diesem Augenblick sieht er wieder wie ein Zwölfjähriger aus. Unheimlich, wie er sich in sein jüngeres (und vielleicht besseres) Ich zurückverwandelt hat. »Nicht Rauch, das riecht nach .«

Plötzlich gibt er wieder Würgelaute von sich. Dieser Geruch - nicht in der Nase, sondern mitten im Kopf -ist nämlich Verwesungsgeruch. Der Geruch von Irma Freneaus abgetrenntem Fuß.

»Ich rieche ihn«, flüstert Jack und weiß, dass er damit nicht den Geruch meint. Er kann dieses Pulsieren in alles verwandeln, was er will . es aber auch verschwinden lassen, wie er jetzt merkt. »Ich rieche den Fisher-man. Entweder ihn oder . ich weiß nicht, was.«

Er geht weiter und bleibt nach hundert Metern erneut stehen. Das Pulsieren im Kopf ist tatsächlich weg. Es ist schwächer geworden und verstummt, wie Rundfunksender es tun, wenn der Tag allmählich heißer wird. Das ist eine Erleichterung.

Jack hat die Straße fast erreicht, die in einer Richtung zweifellos zu irgendeiner Version von Arden und in der anderen zu Versionen von Centralia und French Landing führt, da hört er ein unregelmäßiges Trommeln. Er fühlt es auch körperlich, spürt es die Beine wie den Backbeat von Gene Krupa hinauflaufen.

Er wendet sich nach links, dann stößt er einen Schrei aus, in dem sich Überraschung und Entzücken mischen. Drei riesige braune Tiere mit langen, vorn abgeknickten Löffeln hoppeln an ihm vorbei, tauchen aus dem Gras auf, versinken wieder darin, tauchen erneut auf. Sie sehen wie mit Kängurus gekreuzte Kaninchen aus. Ihre hervorquellenden schwarzen Augen starren ihn mit komischem Entsetzen an. Dann hoppeln sie über die Straße, und ihre flachen Pfoten (weiß statt braun bepelzt) wirbeln klatschend Staub auf.

»Jesus!«, sagt Jack halb lachend, halb schluchzend. Er schlägt sich mit einem Handballen an die Stirnmitte. »Was war das, Richie-Boy? Irgendeinen Kommentar dazu?«

Natürlich hat Richie einen dazu. Er erklärt Jack, er habe soeben eine äußerst lebhafte . ba-haaaa! . Halluzination gehabt.

»Klar doch«, sagt Jack. »Riesenkarnickel. Bringt mich zum nächsten AA-Treffen.« Als er jetzt auf die Straße hinaustritt, betrachtet er wieder den südwestlichen Horizont. Die dort aufsteigenden Rauchschleier. Ein Dorf. Und haben seine Bewohner Angst, wenn die Abendschatten länger werden? Angst vor der herabsinkenden Nacht? Vor dem Ungeheuer, das ihre Kinder raubt? Brauchen sie einen Schutzmann? Natürlich brauchen sie einen. Natürlich haben sie .

Vor ihm auf der Straße liegt etwas. Jack bückt sich und hebt eine Baseballmütze der Milwaukee Brewers auf, die in dieser Welt hoppelnder Riesenkarnickel augenfällig fehl am Platz, aber unbestreitbar real ist. Das eng eingestellte Kunststoffband am hinteren Mützenrand lässt vermuten, dass es sich um die Mütze eines Kindes handelt. Jack dreht sie um, weiß bereits, was er finden wird, und liest dann auf der Unterseite des Mützenschirms in sorgfältiger Druckschrift tatsächlich den Namen Ty Marshall. Die Mütze ist nicht so nass wie Jacks Jeans, die vom Tau klatschnass sind, aber auch nicht ganz trocken. Sie muss ja seit gestern hier am Straßenrand gelegen haben, denkt er. Logischerweise könnte man annehmen, Tys Entführer sei mit dem Jungen auf dieser Straße unterwegs gewesen, aber das glaubt Jack eher nicht. Vielleicht weckt das nachhallende Pulsieren der Vibrationen eine andere Idee, suggeriert ihm ein anderes Bild: Der Fisherman, der Ty irgendwo ausbruchsicher untergebracht hat, ist zu Fuß auf dieser unbefestigten Straße unterwegs. Unter einen Arm hat er sich den mit nachgeahmten Briefmarken verzierten Schuhkarton geklemmt. Auf dem Kopf trägt er Tys Baseballmütze, die nicht richtig sitzt, weil sie eigentlich für seinen Kopf zu klein ist. Trotzdem will er die Größeneinstellung nicht verändern. Will nicht, dass Jack die Mütze für eine Männermütze hält, keine eine einzige Sekunde lang. Er fordert Jack heraus, fordert ihn zum Mitspielen auf.

»Hat sich den Jungen in unserer Welt geschnappt«, murmelt Jack. »Ist mit ihm in diese Welt geflüchtet. Hat ihn irgendwo sicher untergebracht, wie eine Spinne eine Fliege versteckt. Lebend? Tot? Lebend, glaube ich. Weiß auch nicht, warum. Vielleicht will ich das nur glauben.

Spielt im Augenblick aber keine Rolle. Dann ist er zu Irmas Versteck gegangen. Hat ihren Fuß geholt und ihn mir gebracht. Hat ihn durch diese Welt getragen und ist dann in meine Welt geflippt, um den Karton vor meine Haustür zu stellen. Hat er unterwegs die Mütze verloren? Weil sie ihm vom Kopf gefallen ist?«

Das glaubt Jack nicht. Jack glaubt, dass dieser Scheißkerl, dieser Abschaum, dieser die Welten wechselnde Drecksack die Mütze absichtlich zurückgelassen hat. Weil er wusste, dass Jack sie auf dieser Straße finden würde.

Jack hält die Mütze an die Brust gepresst wie ein Fan im Miller Park, während die Nationalhymne gespielt wird, schließt die Augen und konzentriert sich. Das ist leichter als erwartet, aber manche Fertigkeiten verlernt man vermutlich nie - wie man eine Orange schält, wie man Rad fährt, wie man zwischen Welten hin und her flippt.

Ein aufgeweckter Junge wie du braucht sowieso keinen billigen Wein, hört er seinen alten Freund Speedy Parker sagen, und in Speedys Stimme schwingt ein leises Lachen mit. Im selben Augenblick scheint die Welt um ihn herum wieder ins Kippen zu geraten. Und im nächsten Augenblick hört er ganz nahe das beunruhigende Geräusch eines heranrasenden Autos.

Er weicht einen Schritt zurück und öffnet dabei die Augen. Als Erstes sieht er eine Asphaltstraße - die Nor-way Valley Road -, aber dann .

Eine Autohupe gellt, und ein staubiger alter Ford rast so dicht an ihm vorbei, dass der rechte Außenspiegel keine Handbreit von Jack Sawyers Nase entfernt vorbeiflitzt. Ein Schwall warmer Luft, jetzt wieder mit dem schwachen, aber durchdringenden Geruch von Kohlenwasserstoffen geschwängert, flutet über Jack hinweg, während er irgendeinen Farmer jungen empört schreien hört:

». weg von der Straße, Aaarschloooch!«

»Verbitte mir, von einem Bauernlümmel Arschloch genannt zu werden«, sagt Jack mit seiner besten Rationa-ler-Richard-Stimme, aber obwohl er dazu noch ein pompöses Ba-haaa! anhängt, fühlt er, wie sein Herz jagt. Mann, er wäre beim Zurückflippen fast genau vor einem Auto gelandet!

Bitte, Jack, verschone mich, sagt Richard. Du hast alles nur geträumt.

Jack weiß es besser. Obwohl er sich höchst verblüfft umsieht, ist er in seinem Innersten durchaus nicht verblüfft, nein, nicht im Geringsten. Zum einen hat er noch immer die Mütze - Tyler Marshalls Baseballmütze mit dem Abzeichen der Brewers. Und zum anderen liegt die Brücke über den Tamarack Creek gleich hinter der nächsten Anhöhe. In jener anderen Welt, in der Riesenkarnickel an einem vorbeihoppeln, ist er ungefähr eine Meile weit gegangen. In dieser hier sind es mindestens vier.

So war es einst, denkt er, so war es einst, als Jacky sechs war. Als alle in Kalifornien lebten, und niemand anderswo lebte.

Aber das stimmt nicht. Es ist irgendwie nicht richtig.

Jack steht am Rand der Straße, die vor wenigen Se-kunden noch unbefestigt war, jetzt aber asphaltiert ist, starrt auf Ty Marshalls Baseballmütze hinunter, versucht herauszubekommen, was nicht stimmt, wieso es nicht stimmt, weiß aber gleichzeitig, dass ihm das wahrscheinlich nicht gelingen wird. Alles das liegt schon lange zurück, und außerdem hat er sich seit seinem dreizehnten Lebensjahr bemüht, seine zugegebenermaßen bizarre Kindheit zu vergessen. Mit anderen Worten mehr als sein halbes Leben lang. Man kann sich nicht so lange bemühen, alles zu vergessen, und dann einfach mit den Fingern schnippen und erwarten, dass .

Jack schnippt mit den Fingern. Sagt zu dem wärmer werdenden Sommermorgen: »Was ist passiert, als Jacky sechs war?« Und beantwortet sich die Frage selbst: »Als Jacky sechs war, hat Daddy das Horn gespielt.«

Was soll das wieder heißen?

»Nicht Daddy«, sagt Jack plötzlich. »Nicht mein Daddy. Dexter Gordon. Das Stück hat >Daddy Played the Horn< geheißen. Oder vielleicht das Album. Die LP.« Er steht da, schüttelt den Kopf, nickt dann. »Plays. Daddy Plays. >Daddy Plays the Horn<.« Und im nächsten Augenblick ist ihm alles wieder gegenwärtig. Aus der Hi-Fi-Anlage kommt Dexter Gordons Tenorsaxophon. Jacky Sawyer spielt hinter dem Sofa mit seinem Londoner Spielzeugtaxi, das wegen seines Gewichts, das es irgendwie realer als ein Spielzeug erscheinen lässt, so befriedigend ist. Sein Vater und Richards Vater unterhalten sich. Phil Sawyer und Morgan Sloat.

Stell dir vor, wie dieser Kerl dort drüben einschlagen würde, hatte Onkel Morgan gesagt, und für Jacky Sawyer war dies sein erster Hinweis auf die Territorien gewesen. Bereits als Sechsjähriger hatte Jacky von ihnen erfahren. Und .

»Als Jacky zwölf war, ist Jacky wirklich dort gewesen«, sagt er.

Lächerlich!, trompetet Morgans Sohn. Völlig ... ba-haaa! ... lachhaft! Als Nächstes erzählst du mir vermutlich, dort habe es fliegende Menschen gegeben!

Aber bevor Jack der Fantasiegestalt seines alten Freundes das oder sonst etwas erzählen kann, kommt ein weiteres Auto heran. Es hält neben ihm. Aus dem Fahrerfenster starrt mit misstrauischem Blick (ein gewohnheitsmäßiger Ausdruck, wie Jack festgestellt hat, hinter dem kein wirkliches Misstrauen steht) Elvena Morton, Henry Leydens Haushälterin.

»Was zum Kuckuck machen Sie hier unten an der Straße, Jack Sawyer?«, fragt sie.

Er lächelt sie an. »Hab nicht besonders gut geschlafen, Mrs. Morton. Dachte, ich sollte einen kleinen Spaziergang machen, um den Kopf etwas auszulüften.«

»Und? Marschieren Sie immer durchs taunasse Gras, wenn Sie sich den Kopf auslüften wollen?«, sagt sie mit einem Blick auf seine Jeans, die bis zu den Knien und sogar noch etwas darüber klatschnass sind. »Nützt das was?«

»Ich muss wohl in Gedanken verloren gewesen sein«, sagt er.

»Genau so sieht’s aus«, sagt sie. »Steigen Sie ein, dann nehme ich Sie bis zu Henrys Einfahrt mit. Außer Sie wollen Ihren Kopf noch ein bisschen länger auslüften.«

Jack muss grinsen. Das gefällt ihm. Irgendwie erinnert es ihn an seine verstorbene Mutter. (Fragte ihr ungeduldiger Sohn, was es zum Abendessen gebe und wann endlich gegessen werde, sagte Lily Cavanaugh manchmal: »Gebratene Fürze mit Zwiebeln, Windpudding und Luftsauce als Nachspeise, aufgetragen wird um halb vor Essiggurke.«)

»Ich glaube, mein Kopf ist so klar, wie er heute werden dürfte«, sagt er und geht vorn um Mrs. Mortons alten braunen Toyota herum. Auf dem Beifahrersitz liegt eine große Tüte, aus der Grünzeug ragt. Jack schiebt sie in die Mitte, dann nimmt er Platz.

»Ich weiß nicht, ob Morgenstund Gold im Mund hat«, sagt sie beim Anfahren, »aber wer bei Roy’s früh einkauft, kriegt das beste Grüngemüse, das kann ich Ihnen sagen. Außerdem bin ich gern vor den Tagedieben da.«

»Tagediebe, Mrs. Morton?«

Sie bedenkt ihn mit ihrem besten misstrauischen Blick: die Augen zur Seite schielend, der rechte Mundwinkel herabgezogen, als hätte sie auf etwas Saures gebissen.

»Hängen vor der Lunchtheke herum und quatschen über den Fisherman dies, den Fisherman das. Wer er sein könnte, was er sein könnte - ein Schwede, ein Pole oder ein Ire - und natürlich darüber, was sie mit ihm machen werden, sobald er geschnappt ist, was längst passiert wäre, wenn jemand anders als dieser total unfähige Dale Gilbertson für die Ermittlungen zuständig wäre. Das sagen sie. So kann leicht reden, wer sich’s mit seinem dicken Hintern auf einem von Roy Soderholms Hockern bequem gemacht hat - in einer Hand ’ne Tasse Kaffee, in der anderen ’ne Kippe. So sieht’s nämlich aus. Natürlich hat auch jeder zweite von denen einen Scheck fürs Arbeitslosengeld in der hinteren Hosentasche, aber davon reden sie nicht. Mein Vater hat immer gesagt: >Zeig mir einen Mann, der sich im Juli zum Heuen zu schade ist, dann zeig ich dir einen, der das ganze Jahr über faulenzt.««

Jack rutscht tiefer in den Schalensitz, stemmt die Knie ans Handschuhfach und beobachtet, wie das Asphaltband unter dem Wagen verschwindet. So kommt er schnell nach Hause. Die Jeans fangen bereits zu trocknen an, und ihm ist eigenartig friedlich zumute. Das Nette an Elvena Morton ist, dass man zur Unterhaltung mit ihr nichts beitragen muss, weil sie gern bereit ist, auch den Part des anderen zu übernehmen. Dabei fällt ihm ein weiterer Lilyismus ein. Von sehr redseligen Menschen (zum Beispiel Onkel Morton) sagte sie manchmal, Soundsos Zunge sei »in der Mitte gelagert und bewegt sich an beiden Enden«.

Er grinst leicht und hebt wie zufällig eine Hand, damit Mrs. M. seinen Mund nicht sieht. Sie würde ihn fragen, was so komisch sei, und was sollte er dann antworten? Dass er eben gedacht habe, ihre Zunge sei in der Mitte gelagert? Aber es ist auch komisch, wie die Gedanken und Erinnerungen zurückgeströmt kommen. Hat er nicht erst gestern versucht, seine Mutter anzurufen, weil er vergessen hatte, dass sie tot ist? Das erscheint ihm jetzt wie etwas, was er in einem ganz anderen Leben getan haben könnte. Vielleicht war es ja ein anderes Leben. Er fühlt sich weiß Gott nicht wie derselbe Mensch, der heute Morgen die Beine aus dem Bett geschwungen hat: müde und voller schlimmer Vorahnungen. Jetzt fühlt er sich erstmals wieder ganz lebendig seit . nun, vermutlich seit dem Tag, an dem Dale mit ihm diese Straße entlanggefahren ist und ihm das hübsche kleine Haus gezeigt hat, das einst Dales Vater gehört hat.

Elvena Morton schwatzt inzwischen weiter.

». obwohl ich zugeben muss, dass ich jede Ausrede nutze, um das Haus zu verlassen, wenn er mit dem Verrückten Mongoloiden anfängt«, sagt sie. »Verrückter Mongoloide« ist Mrs. Mortons Ausdruck für Henrys Wisconsin-Rat-Rolle. Jack nickt verständnisvoll, ohne zu ahnen, dass er binnen weniger Stunden einen Mann mit dem Spitznamen »Verrückter Ungar« kennen lernen wird. Einer der kleinen Zufälle des Lebens.

»Er setzt sich immer frühmorgens in den Kopf, den Verrückten Mongoloiden zu spielen, und ich habe zu ihm gesagt: >Henry, wenn Sie so laut kreischen und schreckliche Dinge sagen und dann diese grässliche Musik von Kids spielen müssen, denen man niemals eine Tuba, von einer elektrischen Gitarre ganz zu schweigen, in die Hand hätte geben dürfen, warum tun Sie das morgens, wenn Sie wissen, dass Sie danach für den Rest des Tages erledigt sind?< Das ist er nämlich: Spielt er den Verrückten Mongoloiden, kriegt er in vier von fünf Fällen Kopfschmerzen und liegt dann nachmittags mit einem Eisbeutel auf der armen Stirn in seinem Schlafzimmer, und an solchen Tagen rührt er auch keinen Happen von seinem Mittagsimbiss an. Manchmal ist sein Abendessen weg, wenn ich am nächsten Tag nachsehe - ich lasse es immer am gleichen Platz im Kühlschrank stehen, außer er sagt mir, dass er selbst kochen will -, aber in der Hälfte aller Fälle steht es unberührt da, und wenn es nicht mehr da ist, habe ich ihn im Verdacht, dass er es manchmal einfach in den Abfallzerkleinerer kippt.«

Jack grunzt. Mehr braucht er nicht zu tun. Ihre Worte schwappen über ihn hinweg, und er überlegt sich, wie er den Kinderlaufschuh mit der Feuerzange anfassen und in einen Klarsichtbeutel stecken wird, wie die Beweiskette beginnen wird, sobald er den Beutel auf der Polizeistation abliefert. Er überlegt sich, dass er sich vergewissern muss, dass der Schuhkarton sonst nichts enthält, und dass er sich das Packpapier genauer ansehen muss. Und dass er die ausgeschnittenen Zuckerbilder noch einmal überprüfen muss. Vielleicht ist unter ihnen ja der Name irgendeines Restaurants eingedruckt. Ziemlich unwahrscheinlich zwar, aber .

»Und er sagt: >Mrs. M. dagegen bin ich hilflos. An manchen Tagen wache ich einfach als die Ratte auf. Obwohl ich später dafür büßen muss, bereitet mir ein solcher Anfall auch ziemliche Freude, während er andauert. Totale Freude.< Und ich habe ihn gefragt, ich habe gesagt: >Wie können Sie Freude an Musikstücken haben, in denen Kinder ihre Eltern umbringen, Fötusse essen, Sex mit Tieren haben - davon hat eins von diesen Liedern wirklich gehandelt, Jack, ich hab’s ganz deutlich gehört - und all das wollen?< Das habe ich ihn gefragt, und er hat gesagt ... Hoppla, da wären wir ja schon!«

Sie haben tatsächlich die zu Henrys Haus führende Zufahrt erreicht. Eine Viertelmeile weiter ist das Dach von Jacks Haus zu sehen. Sein Dodge Ram, sein in der Einfahrt stehender Pickup, glitzert harmlos in der Sonne. Nicht zu sehen ist die Veranda und erst recht nicht das grausige Ding, das dort auf den Brettern darauf wartet, weggeräumt zu werden. Im Namen des Anstands weggeräumt zu werden.

»Ich könnte Sie eigentlich ganz heimfahren«, sagt sie. »Warum tue ich’s nicht einfach?«

Jack, der an den Laufschuh und den ihn umgebenden Verwesungsgeruch denkt, lächelt, schüttelt den Kopf und öffnet rasch die Beifahrertür. »Ich muss noch etwas mehr nachdenken, glaub ich«, sagt er.

Sie sieht ihn mit dem Ausdruck unzufriedenen Misstrauens an, den Jack für verkappte Liebe hält. Sie weiß, dass er ein wenig Heiterkeit in Henry Leydens Leben gebracht hat, und mag ihn allein dafür, glaubt er. Zumindest hofft er das. Ihm fällt auf, dass sie die Baseballmütze in seinen Händen mit keinem Wort erwähnt hat

- aber wozu auch? In diesem Teil der Welt besitzt jeder männliche Bewohner mindestens vier solcher Mützen.

Er geht die Straße hinauf davon, mit wehenden Haaren (die Zeit der Modehaarschnitte bei Chez-Chez am Rodeo Drive liegt lange hinter ihm - er lebt jetzt im Coulee Country; nur wenn er zufällig daran denkt, lässt er sich die Haare von dem alten Herb Roeper in der Chase Street neben den Veteranen schneiden) und dem lockeren, schlaksigen Gang eines Jungen. Mrs. Morton lehnt sich aus dem Fenster und ruft ihm hinterher: »Ziehen Sie die Jeans aus, Jack! Sobald Sie zu Hause sind! Lassen Sie sie nicht an sich trocknen! Davon kriegt man Arthritis!«

Er hebt eine Hand, ohne sich umzudrehen, und antwortet: »Wird gemacht!«

Fünf Minuten später geht er wieder die eigene Zufahrt entlang. Angst und Niedergeschlagenheit sind zumindest vorläufig aus seinem Körper herausgebrannt. Auch die Ekstase, was eine Erleichterung ist. Für einen Schutzmann gibt es fast nichts Schlimmeres, als in Ekstase durch Ermittlungen zu galoppieren.

Als er den Karton auf der Veranda sieht - das Packpapier, die Federn und den ziemlich beliebten Kinderlaufschuh nicht zu vergessen -, muss Jack unwillkürlich daran denken, wie Mrs. Morton den großen Weisen Henry Leyden zitiert hat.

Dagegen bin ich hilflos. An manchen Tagen wache ich einfach als die Ratte auf. Obwohl ich später dafür büßen muss, bereitet mir ein solcher Anfall auch ziemliche Freude, während er andauert. Totale Freude.

Totale Freude. Als Kriminalbeamter hat Jack sie gelegentlich empfunden, manchmal bei Ermittlungen am Tatort, häufiger jedoch bei der Vernehmung von Zeugen, die mehr wussten, als sie anfangs zugaben . Das ist etwas, was Jack Sawyer fast immer merkt, etwas, was er förmlich wittert. Er nimmt an, dass Tischler diese Freude empfinden, wenn sie besonders gut tischlern, Bildhauer, wenn sie einen guten Kinn- oder Nasentag haben, Architekten, wenn die Linien auf ihren Bauplänen sich ideal zusammenfügen. Das einzige Problem ist, dass irgendjemand in French Landing (vielleicht auch in einer der umliegenden Kleinstädte, aber Jack tippt auf French Landing) dieselbe Freude empfindet, wenn er Kinder ermordet und Teile ihrer kleinen Körper verzehrt.

Irgendjemand in French Landing wacht immer häufiger als der Fisherman auf.

Jack betritt das Haus durch den Hintereingang. Aus der Küche nimmt er eine Packung großer Klarsichtbeutel mit Zippverschluss, ein paar Müllbeutel, die Kehrschaufel und den Handfeger mit. Er öffnet den Eisbereiter seines Kühlschranks und kippt etwa die Hälfte der Eiswürfel in einen der Müllbeutel - was Jack Sawyer betrifft, hat Irma Freneaus armer Fuß das Maximum seines Verwesungszustands erreicht.

Aus seinem Arbeitszimmer holt er noch rasch einen Schreibblock, einen schwarzen Markerstift und einen Kugelschreiber. Aus dem Wohnzimmer nimmt er die kürzere der beiden Feuerzangen mit. Und als er dann wieder auf die Veranda tritt, hat er seine geheime Identität als Jack Sawyer so gut wie ganz abgestreift.

Ich bin ein Schutzmann, denkt er lächelnd. Verteidiger des amerikanischen Lebensstils, Freund der Lahmen, der Stummen und der Toten.

Als er dann auf den von seiner jammervollen kleinen Gestankswolke umgebenen Laufschuh hinabsieht, verblasst sein Lächeln. Er spürt etwas von dem gewaltigen Mysterium, das auch wir empfunden haben, als wir zuvor in den Trümmern des verlassenen Restaurants auf Irma gestoßen sind. Er wird sein Möglichstes tun, um diesen sterblichen Überresten Ehre zu erweisen, genau wie wir unser Bestes getan haben, um dem toten Kind Ehre zu erweisen. Er denkt an die Autopsien, an denen er teilgenommen hat, an die wahre Feierlichkeit, die hinter den Witzen und den fleischerhaften Derbheiten verborgen liegt.

»Irma, bist du’s?«, fragt er leise. »Bist du’s, dann musst du mir helfen. Red mit mir. Jetzt müssen die Toten den Lebenden helfen.« Ohne darüber nachzudenken, drückt Jack einen Kuss auf seine Finger und bläst den Kuss dann zu dem Kinderschuh hinunter. Am liebsten würde ich den Mann - oder das Scheusal - umbringen, der das getan hat, denkt er. Ihn aufknüpfen, während er sich kreischend und zappelnd in die Hose macht. Ihn im Gestank seiner eigenen Fäkalien ins Jenseits befördern.

Aber solche Gedanken sind unehrenhaft, und er verdrängt sie.

Der erste Klarsichtbeutel ist für den Laufschuh mit den Überresten des Kinderfußes bestimmt. Die Feuerzange benützen. Den Zippverschluss zuziehen. Mit dem Markerstift das Datum auf den Klarsichtbeutel schreiben. Eine Kurzbeschreibung des Beweisstücks mit Kugelschreiber auf dem Schreibblock notieren. Den Beutel in den Müllbeutel mit Eiswürfeln stecken.

Der zweite Beutel nimmt die Baseballmütze auf. Dabei ist die Feuerzange überflüssig; Jack hat das Beweisstück bereits zu lange in den Händen gehalten. Er steckt es in den Klarsichtbeutel. Zieht den Zippverschluss zu.

Schreibt das Datum auf den Beutel, notiert eine Kurzbeschreibung auf dem Schreibblock.

In den dritten Klarsichtbeutel kommt das braune Packpapier. Jack hält es kurz mit der Feuerzange hoch, um die vermeintlichen Vogelmarken zu begutachten. Unter jedem Bild steht Manüfactüred by Domino, aber das ist auch alles. Kein Name eines Restaurants, nichts dergleichen. In den Beutel damit. Zippverschluss zuziehen. Datum draufschreiben. Kurzbeschreibung notieren.

Er kehrt die Federn zusammen und füllt sie in einen vierten Beutel. Der Schuhkarton enthält weitere Federn. Er fasst ihn mit der Feuerzange an, kippt die Federn aufs Kehrblech, und dann scheint sein Herz plötzlich einen Sprung zu machen und wie eine Faust an die linke Seite seines Brustkorbs zu hämmern. Auf dem Boden des Schuhkartons ist etwas geschrieben. Derselbe Filzstift ist dazu benützt worden, die gleichen krummen Buchstaben hinzukritzeln. Und wer das geschrieben hat, wusste genau, an wen er schrieb. Nicht an den äußerlichen Jack Sawyer, sonst hätte er - der Fisherman - ihn zweifellos Hollywood genannt.

Diese Botschaft gilt dem inneren Mann und dem Kind, das existierte, lange bevor Jack »Hollywood« Sawyer jemals die Bühne betrat.

Versuch's mal bei Ed's Eats and Dogs, Schutzmann. Dein Ungeheuer.

DER FISHERMAN

»Dein Ungeheuer«, murmelt Jack. »Genau.« Er fasst den Schuhkarton mit der Feuerzange an und steckt ihn in den zweiten Müllbeutel; er hat keine verschließbaren Klarsichtbeutel, die groß genug wären, um ihn aufzunehmen. Dann stapelt er alle Beweisstücke neben sich zu einem ordentlichen kleinen Haufen auf. Dieses Zeug sieht immer gleich aus: grausig und prosaisch zugleich - wie auf Fotos in den längst nicht mehr erscheinenden Zeitschriften, in denen wahre Verbrechen geschildert wurden.

Er geht hinein und wählt Henrys Nummer. Er fürchtet, Mrs. Morton könnte abheben, aber Gott sei Dank ist Henry selbst am Apparat. Sein gegenwärtiger Anfall von Rattismus scheint abgeklungen zu sein, wenn auch nicht ohne Nachwehen: Selbst am Telefon kann Jack im Hintergrund das leise Wummern und Wiehern »elektrischer Gitarren« hören.

Er kenne Ed’s Eats gut, sagt Henry, aber wieso um alles auf der Welt interessiere Jack sich ausgerechnet für diese Bruchbude? »Die liegt jetzt völlig in Trümmern. Ed Gilbertson ist schon ziemlich lange tot, und in French Landing gibt es Leute, die das sogar als Segen bezeichnen würden, Jack. Der Laden war ein SalmonellenPalast, wenn’s jemals einen gegeben hat. Magenschmerzen waren dort vorprogrammiert. Die Gesundheitsbehörde hätte seinen Laden längst dichtmachen müssen, aber Ed kannte die richtigen Leute. Zum Beispiel Dale Gilbertson.«

»Waren die beiden verwandt?«, fragt Jack, und als Henry »Scheiße, ja!« antwortet, was sein Freund normalerweise nie sagen würde, begreift Jack, dass Henry diesmal zwar anscheinend einer Migräne entgangen ist, aber dass seine Rolle als Rat ihm weiter im Kopf herumspukt. Jack hat ab und zu ähnliche Reminiszenzen an George Rathbun gehört, wenn aus Henrys schlankem Hals unerwartet ein Ausruf eines fetten Mannes kam, und er kennt Henrys Art, sich mit einem über die Schulter geworfenen Ding-dong oder Ivey-divey zu verabschieden; das ist nur »the Sheik, the Shake, the Shook of Ara-by«, der zum Luftholen auftaucht.

»Wo liegt es genau?«, fragt Jack.

»Schwer zu sagen«, antwortet Henry. Das klingt leicht gereizt. »Draußen bei diesem Landmaschinenhändler ... diesen Goltz’s. Soviel ich mich erinnere, ist die Zufahrt so lang, dass man sie als Zufahrtsstraße bezeichnen könnte. Und falls es jemals ein Schild gegeben hat, ist es längst verschwunden. Als Ed Gilbertson seinen letzten mit Mikroben verseuchten Chili Dog verkauft hat, Jack, warst du vermutlich noch in der ersten Klasse. Worum geht’s eigentlich?«

Jack weiß, dass sein Vorhaben nach normalen Ermittlungsmaßstäben lächerlich ist - man nimmt keinen Außenstehenden an einen Tatort mit, vor allem nicht an den eines Mordes -, aber hier handelt es sich nicht um normale Ermittlungen. In einem seiner Klarsichtbeutel hat er ein Beweisstück, das er aus einer anderen Welt mitgebracht hat - wenn das nicht anormal ist? Natürlich kann er das längst nicht mehr existierende Ed’s Eats selbst finden; bei Goltz’s gibt es bestimmt jemanden, der ihm den Weg dorthin zeigen kann. Aber .

»Der Fisherman hat mir heute Morgen einen von Irma Freneaus Laufschuhen geschickt«, sagt Jack. »Irmas Fuß war noch darin.«

Henrys erste Reaktion besteht aus einem tiefen, scharfen Luftholen.

»Henry? Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja.« Henrys Stimme klingt schockiert, aber ruhig. »Wie schrecklich für die Kleine - und ihre Mutter.« Er macht eine Pause. »Und für dich. Für Dale.« Eine weitere Pause. »Für diese Stadt.«

»Ja.«

»Jack, soll ich dich zu Ed’s bringen?«

Das kann Henry, darüber ist Jack sich im Klaren. Ein Kinderspiel. Überhaupt nichts dabei. Und weshalb hätte er Henry sonst anrufen sollen?

»Ja«, sagt er.

»Hast du die Polizei verständigt?«

»Nein.«

Er wird fragen, warum ich das nicht getan habe, und was werde ich antworten? Dass ich nicht will, dass Bobby Dulac, Tom Lund und alle anderen dort draußen herumtrampeln und mit ihren Gerüchen die Witterung des Täters überlagern, bevor ich Gelegenheit gehabt habe, sie selbst aufzunehmen? Dass ich keinem dieser Kerle zutraue, die Ermittlungen nicht zu verpatzen, was übrigens auch für Dale gilt?

Aber Henry stellt keine Fragen. »Ich stehe an meiner Einfahrt«, sagt er. »Ich muss nur wissen, wann.«

Jack überschlägt, was noch zu tun ist und wie lange es dauern wird, bis das Beweismaterial sicher in der abschließbaren Box auf der Ladefläche seines Pickups liegt. Er erinnert sich daran, dass er sein Handy mitnehmen sollte, das sonst die meiste Zeit über nur in seinem Arbeitszimmer in dem kleinen Ladegerät steht. Er hat vor, die Polizei zu verständigen, sobald er Irmas Leiche in situ gesehen und den entscheidend wichtigen ersten Rundgang am Tatort gemacht hat. Dann können Dale und seine Jungs kommen. Sollen sie doch die Blaskapelle der High School mitbringen, wenn sie wollen. Er sieht auf die Uhr und stellt fest, dass es kurz vor acht ist. Wie kann es so früh schon so spät sein? In jener anderen Welt sind die Entfernungen kürzer, das weiß er, aber läuft dort auch die Zeit schneller? Oder hat er nur nicht auf sie geachtet?

»Ich komme um Viertel nach acht vorbei«, sagt Jack. »Aber wenn wir bei Ed’s Eats sind, bleibst du wie ein braver kleiner Junge im Auto sitzen, bis ich dir sage, dass du aussteigen darfst.«

»Verstanden, mon capitaine.«

»Ding-dong.« Jack legt auf und geht wieder auf die Veranda hinaus.

Die Dinge werden sich nicht so entwickeln, wie Jack das erhofft. Er wird diesen ersten ungestörten Blick nicht bekommen, wird die Witterung des Täters nicht aufnehmen können. Tatsächlich wird die ohnehin schon brisante Situation in French Landing an diesem Nachmittag kurz davor stehen, außer Kontrolle zu geraten. Obwohl daran viele Faktoren mitwirken, wird der Hauptverursacher dieser neuerlichen Eskalation der Verrückte Ungar sein.

In diesem Spitznamen steckt eine Dosis guter alter Kleinstadthumor, der sich darin ausdrückt, dass der schmächtige Bankangestellte Big Joe oder der Buchhändler mit der Trifokalbrille Adlerauge genannt wird. Mit eins achtundsechzig und 68 Kilogramm ist Arnold Hrabowski der kleinste Mann in Dale Gilbertsons gegenwärtiger Truppe. Er ist sogar die kleinste Person in Dales Truppe, weil Debbi Anderson und Pam Stevens beide schwerer und größer sind (mit ihren eins fünfundachtzig könnte Debbi von Arnold Hrabowskis Kopf Rühreier essen). Außerdem ist der Verrückte Ungar ein ziemlich harmloser Bursche: ein Mann, der sich weiterhin entschuldigt, wenn er jemandem einen Strafzettel ausstellt, obwohl Dale ihm schon oft erklärt hat, dass das sehr unvernünftig ist, und Vernehmungen schon mal mit so unglücklichen Redewendungen wie »Entschuldigung, aber ich wüsste gern . « beginnt. Deshalb setzt Dale ihn möglichst nur als Wachhabenden oder in der Innenstadt ein, wo ihn jeder kennt und die meisten ihn mit leicht gönnerhaftem Respekt behandeln. Er tourt als Officer Friendly durch die Grundschulen im Coulee Country. Die Kleinsten, die nicht ahnen, dass sie ihre erste Einweisung in die Übel des Haschrauchens von dem Verrückten Ungarn bekommen, schwärmen für ihn. Hält er an der High School härtere Vorträge über Drogen, Alkohol und rücksichtsloses Autofahren, dösen die Kids oder schieben sich Juxnotizen zu, obwohl sie den mit Bundesmitteln bezahlten Nodrugs-Wagen, den Hrabowski fährt - ein niedriger, eleganter Pontiac, auf dessen Türen Just say No prangt - echt cool finden. Im Prinzip ist Officer Hrabowski ungefähr so aufregend wie ein Thunfischsandwich, bitte ohne Majo.

Aber in den Siebzigerjahren, also da gab es einen Einwechselwerfer, der erst in St. Louis und dann bei den Kansas City Royals spielte, einen wirklich sehr Furcht erregenden Kerl, der Al Hrabosky hieß. Er stolzierte geradezu, wenn er vom Warmwerfen hereinkam, und bevor er zu werfen begann (meistens im neunten Inning, wenn die Bases besetzt waren und das Spiel auf der Kippe stand), kehrte Al Hrabosky dem Wurfmal den Rücken zu, senkte den Kopf, ballte die Fäuste und stieß sie einmal kurz in die Luft, um sich in Stimmung zu bringen. Dann drehte er sich wieder um und begann gemeine Fastballs zu werfen, von denen viele haarscharf am Kinn der Batter vorbeizischten. Er hieß natürlich der Verrückte Ungar, und sogar ein Blinder konnte sehen, dass er der verdammt beste Einwechselpitcher der Major Lea-gues war. Und jetzt ist Arnold Hrabowski natürlich als der Verrückte Ungar bekannt, muss einfach unter diesem Namen bekannt sein. Vor ein paar Jahren hat er sogar versucht, sich nach dem Vorbild des berühmten Pitchers einen Fu-Manchu-Bart stehen zu lassen. Aber während Al Hraboskys Fu so Furcht erregend wie die Kriegsbemalung eines Zulukriegers war, löste Arnolds nur Schmunzeln aus - ein Fu auf diesem sanften Buchhaltergesicht, man stelle sich das vor! -, weshalb er ihn sich schnell wieder abrasierte.

Der Verrückte Ungar von French Landing ist kein schlechter Kerl; er tut sein absolut Bestes, und unter normalen Umständen ist sein Bestes gut genug. Aber es sind momentan keine gewöhnlichen Zeiten in French Landing, es sind die verwirrenden Verwerfungszeiten, die Abbalah-Opopanax-Zeiten. Er ist genau der Typ ei-nes Polizeibeamten, den Jack immer so fürchtet. Und an diesem Morgen wird er - natürlich ohne böse Absicht - eine schlimme Situation noch weit schlimmer machen.

Der Anruf des Fishermans unter der Notrufnummer geht um 8.10 Uhr ein, zu einer Zeit, wo Jack gerade seine Notizen auf dem Schreibblock abschließt und Henry zu seiner Einfahrt hinunterschlendert, wobei er trotz des Schattens, den Jacks Mitteilung auf seine Stimmung geworfen hat, die Düfte des Sommermorgens mit großem Vergnügen genießt. Im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen (zum Beispiel Bobby Dulac) befolgt der Verrückte Ungar die neben dem Notruftelefon klebende Anleitung wortwörtlich.

Arnold hrabowski: Hallo, hier Polizeistation French Landing, Officer Hrabowski am Apparat. Sie haben die Notrufnummer gewählt. Um was handelt es sich? [Unverständliches Geräusch ... ein Räuspern?] ah: Hallo? Hier ist Officer Hrabowski. Handelt es ... anrufer: Hallo, Arschgeige.

ah: Wer sind Sie? Handelt es sich um einen Notfall?

a: Sie haben einen Notfall. Nicht ich. Sie.

ah: Wer sind Sie, bitte? a: Ihr schlimmster Albtraum.

ah: Sir, darf ich Sie um Ihren Namen bitten?

a: Abbalah. Abbalah-duhn. [Phonetisch.]

ah: Sir, ich kann Sie nicht ...

a: Ich bin der Fisherman.

[Schweigen.]

a: Was ist los? Schiss? Sie sollten Schiss haben. ah: Sir, Sie machen sich strafbar, wenn Sie falsche ... a: In der Hölle gibt’s Peitschen und im Shayol Ketten. [Anrufer könnte auch »Sheol« gesagt haben.] ah: Sir, wenn ich Ihren Namen haben dürfte ... a: Mein Name ist Legion. Meine Zahl ist groß. Ich bin eine Ratte unter dem Fußboden des Universums. Robert Frost hat das gesagt. [Anrufer lacht.] ah: Sir, wenn Sie kurz dranbleiben, verbinde ich Sie mit dem Chief, damit ...

a: Maul halten und zuhören, Arschgeige. Läuft dein Tonband? Das will ich hoffen. Ich könnte leicht abhauen, wenn ich wollte, aber ich will nicht. ah: Sir, ich ...

a: Schnauze, Wichser! Ich hab euch eine dagelassen und hab’s satt, warten zu müssen, bis ihr sie endlich findet. Versucht’s mal bei Ed’s Eats and Dawgs. Dürfte jetzt leicht verwest sein, aber als sie neu war, war sie sehr [Anrufer spricht ein rollendes »r«, sodass dieses Wort wie »serrr« klingt] lecker.

ah: Wo sind Sie? Wer sind Sie? Wenn das ein Scherz ist ... a: Sagen Sie dem Schutzmann einen Gruß von mir.

Als dieser Anruf kam, lag der Puls des Verrückten Ungarn bei ganz normalen, unaufgeregten achtundsechzig Schlägen die Minute. Als er um 8.12 Uhr endet, rast Arnold Hrabowskis Pumpe wie verrückt. Er ist leichenblass. Während des Gesprächs hat er einen Blick auf das Display mit der Nummer des Anrufers geworfen und die dort angezeigte Telefonnummer mit so zitternder Hand notiert, dass die Ziffern über drei Zeilen seines Notizblocks gehen. Nachdem der Fisherman aufgelegt hat und nur noch ein Summen in der Leitung zu hören ist, ist Hrabowski so durcheinander, dass er die Rückruffunktion des roten Telefons aktivieren will, weil er vergisst, dass die Notrufnummer eine Einbahnstraße ist. Sein Zeigefinger trifft das glatte Plastikgehäuse des Telefons, und er wirft mit einem ängstlichen Fluch den Hörer auf die Gabel. Er starrt den Kasten wie etwas an, das ihn gebissen hat.

Hrabowski reißt den Hörer des schwarzen Apparats neben dem Notruftelefon von der Gabel und fängt an, die mitgeschriebene Nummer einzutippen. Aber seine Finger gehorchen ihm nicht richtig, und er erwischt zwei Ziffern auf einmal. Er flucht wieder, und Tom Lund, der gerade mit einer Tasse Kaffee vorbeigeht, fragt: »Was ist los, Arnie?«

»Hol Dale!«, brüllt der Verrückte Ungar so laut, dass Tom zusammenfährt und sich Kaffee über die Finger schüttet. »Hol ihn sofort her!«

»Was zum Teufel hast .«

»Sofort, verdammt noch mal!«

Tom starrt Hrabowski noch einige Sekunden lang mit hochgezogenen Augenbrauen an und geht dann los, um Dale mitzuteilen, dass der Verrückte Ungar jetzt wirklich verrückt geworden zu sein scheint.

Beim zweiten Anlauf gelingt es Hrabowski, die Nummer, die er sich aufgeschrieben hat, richtig zu wählen. Das Telefon klingelt. Es klingelt. Und klingelt weiter.

Dale Gilbertson erscheint, ebenfalls mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Er hat dunkle Schatten unter den Augen, und die Linien um seine Mundwinkel treten viel deutlicher hervor als sonst.

»Arnie? Was ist .?«

»Hören Sie sich den letzten Anruf an«, sagt Arnold Hrabowski. »Ich glaube, das war ... Hallo!« Letzteres blafft er in den Hörer, während er sich am Einsatzleitertisch nach vorn beugt und die vor ihm liegenden Papiere nervös beiseite wischt. »Hallo, wer spricht da?«

Er hört zu.

»Die Polizei, mit der sprechen Sie. Officer Hrabowski von der Polizeistation French Landing. Und jetzt beantworten Sie meine Frage. Wer sind Sie?«

Dale hat inzwischen den Kopfhörer aufgesetzt und hört mit wachsendem Entsetzen den letzten über das Notruftelefon eingegangenen Anruf ab. Allmächtiger Gott!, denkt er. Sein erster - der allererste - Impuls ist, Jack Sawyer anzurufen, um ihn um Hilfe zu bitten. Danach zu schreien wie ein kleiner Junge, der sich die Hand in einer Tür eingeklemmt hat. Dann ermahnt er sich, die Sache selbst in den Griff zu bekommen, dass dies sein Job ist, ob’s ihm gefällt oder nicht, dass er versuchen muss, die Sache in den Griff zu bekommen und seine Arbeit zu tun. Außerdem ist Jack mit Fred Marshall nach Arden gefahren, um Freds verrückte Frau zu besuchen. Zumindest hatte er das vor.

Unterdessen versammeln sich Cops um den Einsatzleitertisch: Lund, Tcheda, Stevens. Was Dale sieht, als er sie mustert, sind nur große Augen und bleiche, verwirrte Gesichter. Und die Leute auf Streife? Die Leute, die ge-rade dienstfrei haben? Bis auf Bobby Dulac, der vielleicht eine Ausnahme ist, nicht besser. In sein Entsetzen mischt sich Verzweiflung. O Gott, das ist ein Albtraum! Ein Lastwagen, der mit versagenden Bremsen bergab auf den überfüllten Pausenhof einer Schule zurast.

Er reißt sich den Kopfhörer ab, ohne zu spüren, dass er sich dabei eine kleine Schnittwunde am Ohr zufügt. »Wo ist der Anruf hergekommen?«, fragt er Hrabowski. Der Verrückte Ungar hat inzwischen den Hörer aufgelegt und sitzt einfach nur wie vor den Kopf geschlagen da. Dale packt ihn an der Schulter, rüttelt ihn durch. »Wo ist er hergekommen?«

»Vom 7-Eleven«, antwortet der Verrückte Ungar, und Dale hört Danny Tcheda grunzen. Mit anderen Worten: nicht allzu weit von der Stelle entfernt, wo der kleine Marshall verschwunden ist! »Ich habe gerade mit Mr. Rajan Patel gesprochen, der dort tagsüber Dienst hat. Er sagt, dass die Nummer zum Münztelefon draußen am Eingang gehört.«

»Hat er gesehen, wer dort telefoniert hat?«

»Nein. Er war gerade hinten draußen, um eine Bierlieferung in Empfang zu nehmen.«

»Wissen Sie bestimmt, dass Patel nicht selbst .«

»Yeah. Er spricht mit indischem Akzent. Mit starkem Akzent. Der Kerl vorhin . Dale, Sie haben ihn selbst gehört. Der hat wie irgendwer geklungen.«

»Worum geht’s denn?«, fragt Pam Stevens. Sie kann es sich allerdings vorstellen; das können sie alle. Ihre Frage bezieht sich auf die Details. »Was ist passiert?«

Um alle möglichst schnell zu informieren, spielt Dale den Mitschnitt nochmals ab, diesmal über die Lautsprecher.

In das anschließend herrschende betroffene Schweigen hinein sagt Dale: »Ich fahre zu Ed’s Eats raus. Tom, Sie kommen mit mir.«

»Ja, Sir!«, sagt Tom Lund. Er sieht aus, als wäre ihm vor Aufregung fast schlecht.

»Vier Streifenwagen kommen nach.« Der größte Teil von Dales Verstand ist wie gefroren; diese Verfahrenssachen gleiten Schwindel erregend übers Eis. Was Verfahren und Organisation angeht, bin ich Spitze, denkt er. Ich habe nur etwas Mühe damit, diesen gottverdammten Psy-chomörder zu schnappen. »Alle paarweise besetzt. Danny, Sie und Pam im ersten. Ihr fahrt fünf Minuten nach Tom und mir ab. Genau fünf Minuten nach uns, ohne Leuchten oder Sirene. Wir wollen versuchen, diese Sache möglichst lange geheim zu halten.«

Danny Tcheda und Pam Stevens wechseln einen Blick, nicken und sehen dann wieder Dale an. Dale merkt nicht, wie Arnold »der Verrückte Ungar« Hra-bowski ihn anstarrt. Er teilt drei weitere Paare ein, zuletzt Dit Jesperson und Bobby Dulac. Bobby ist der Einzige, den er wirklich dort draußen haben will; die anderen sind nur als Rückversicherung und - Gott gebe, dass das nicht nötig sein wird - für den Ordnungsdienst da. Alle Wagen sollen in Abständen von fünf Minuten hinausfahren.

»Lassen Sie mich mitfahren«, bettelt Arnold Hrabowski. »Kommen Sie, Boss, was sagen Sie?«

Dale öffnet den Mund, um zu sagen, dass Arnie auf seinem Posten bleiben soll, aber dann sieht er den hoffnungsvollen Blick in diesen wässrigen braunen Augen. Selbst in seiner tiefen Verzweiflung kann Dale nicht anders, als darauf zu reagieren, wenigstens ein bisschen. Für Arnie besteht das Polizeileben allzu oft daraus, dass er auf dem Gehsteig steht, während die Parade vorbeimarschiert.

Schöne Parade, sagt Dale sich.

»Passen Sie auf, Arnie«, sagt er. »Sobald Sie mit allen Anrufen fertig sind, piepsen Sie Debbi an. Schaffen Sie’s, sie hier reinzuholen, können Sie zu Ed’s rauskommen.«

Arnold nickt so eifrig, dass Dale fast lächeln muss. Der Verrückte Ungar schafft es, dass Debbi spätestens um halb zehn hier ist, vermutet er - und wenn er sie wie ein Höhlenmensch an den Haaren herschleifen muss. »Mit wem fahre ich zusammen, Dale?«

»Sie kommen allein«, sagt Dale. »Am besten mit dem Nodrugs-Wagen, okay? Aber wenn Sie hier aufstehen, Arnie, ohne dass sofort eine Ablösung Ihren Platz einnimmt, sind Sie morgen auf der Suche nach einem neuen Job.«

»Oh, machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagt Hrabowski, der in seiner Aufregung, Ungar hin oder her, mit eindeutig schwedischem Akzent spricht. Das ist allerdings kaum überraschend, schließlich war Centra-lia, wo er aufgewachsen ist, früher als Swede Town bekannt.

»Auf geht’s, Tom«, sagt Dale. »Wir schnappen uns das Zeug zur Spurensicherung und .«

»Äh ... Boss?«

»Was, Arnie?« Gemeint ist natürlich: Was denn schon wieder?

»Soll ich die beiden Kerle von der State Police, also Brown und Black, soll ich die beiden anrufen?«

Danny Tcheda und Pam Stevens kichern. Tom lächelt. Dale tut nichts dergleichen. Das Herz, schon im Keller, sinkt ihm jetzt noch tiefer. Tiefgeschoss, verehrte Fahrgäste

- zu den falschen Hoffnungen nach links, zu den aussichtslosen Sachen nach rechts. Letzter Halt, alles aussteigen.

Perry Brown und Jeff Black. Die hatte er ganz vergessen, wie komisch. Brown und Black, die ihm jetzt fast hundertprozentig seinen Fall wegnehmen werden.

»Sie sind noch draußen im Paradise Motel«, fährt der Verrückte Ungar fort, »der Kerl vom FBI ist aber nach Milwaukee zurückgefahren, glaub ich.«

»Ich .«

»Und die von der Bezirkspolizei«, ackert der Verrückte Ungar unverdrossen weiter. »Vergessen Sie die nicht. Wen soll ich zuerst anfordern - den Leichenbeschauer oder den Spurensicherungswagen?« Bei Letzterem handelt es sich um einen blauen Ford Econoline mit allen Finessen von schnell trocknendem Gips für Abdrücke von Reifenspuren bis hin zu einem rollenden Videostudio. Lauter Zeug, das die Polizei in French Landing niemals bekommen wird.

Dale steht unbeweglich da, hält den Kopf gesenkt und starrt trübselig den Fußboden an. Sie werden ihm seinen Fall wegnehmen. Mit jedem Wort, das Hrabowski sagt, wird ihm das klarer. Und plötzlich will Dale ihn dringend behalten. Obwohl er ihn hasst, obwohl der Fall ihn ängstigt, will er ihn unbedingt behalten. Der Fisherman ist ein Monster, aber er ist kein County-Monster, kein Bundesstaat-Monster, kein Vereinigte-Staaten-Monster. Der Fisherman ist ein French-Landing-Monster, Dale Gilbertsons Monster, und er will den Fall aus Gründen behalten, die nichts mit persönlichem Prestige oder auch nur der profanen Frage zu tun haben, wie er seinen Job behalten soll. Er will den Kerl zur Strecke bringen, weil der Fisherman alles beleidigt, was Dale will und braucht und woran er glaubt. Das sind Dinge, die man nicht laut aussprechen kann, ohne dass es altmodisch und einfältig klingt, aber sie sind trotzdem wahr. Er empfindet jähen, törichten Zorn auf Jack. Wäre Jack früher an Bord gekommen, hätten sie vielleicht .

Und wenn Wünsche Pferde wären, würden Bettler reiten. Er muss die County benachrichtigen, und sei es nur, damit der Leichenbeschauer an den Tatort kommt, und er muss auch die State Police in Person der Detectives Brown und Black benachrichtigen. Aber nicht, bevor er sich angesehen hat, was dort draußen auf dem Feld hinter Goltz’s zu finden ist. Bevor er sich angesehen hat, was der Fisherman zurückgelassen hat. Bei Gott, nicht vorher.

Und nicht bevor er vielleicht zu einem letzten Schlag gegen den Hundesohn ausgeholt hat.

»Sie setzen unsere Jungs in Abständen von fünf Minuten in Marsch«, sagt er, »wie ich’s angeordnet habe. Dann lassen Sie sich hier von Debbi ablösen. Sie soll die County und die State Police anrufen.« Arnold Hra-bowskis verwirrte Miene löst bei Dale fast einen Schreikrampf aus, aber er schafft es irgendwie, nicht die Geduld zu verlieren. »Ich möchte einen kleinen zeitlichen Vorsprung.«

»Oh«, sagt Arnie, und als er wirklich begreift, sagt er nochmals: »Oh!«

»Und erzählen Sie niemandem außer unseren Jungs von dem Anruf oder was wir vorhaben. Keiner Menschenseele. Damit könnten Sie eine Panik auslösen. Haben Sie verstanden?«

»Absolut, Boss«, sagt der Verrückte Ungar.

Dale sieht auf die Wanduhr: 8.26 Uhr. »Auf geht’s, Tom«, sagt er. »Wir müssen uns beeilen. Tempus fugit.«

Der Verrückte Ungar hat nie effizienter gearbeitet, und alles klappt traumhaft gut. Selbst Debbi Anderson akzeptiert ohne Widerrede, dass sie ihn ablösen soll. Aber trotz aller Arbeit kann er die Stimme am Telefon nicht vergessen. Heiser, kratzig, mit einem Anflug von Akzent, wie ihn jemand, der hierzulande lebt, leicht annehmen könnte. Nicht weiter ungewöhnlich. Trotzdem verfolgt sie ihn. Nicht weil der Kerl ihn Arschgeige genannt hat - an Samstagabenden haben ihn gewöhnliche Betrunkene schon mit weit schlimmeren Namen belegt -, sondern wegen einiger anderer Sachen. In der Hölle gibt’s Peitschen und im Shayol Ketten. Mein Name ist Legion. Solches Zeug. Und Abbalah. Was ist ein Abbalah? Arnold Hrabowski weiß es nicht. Er weiß nur, dass er sich beim bloßen Klang dieses Worts schlecht und ängstlich fühlt. Es klingt wie ein Wort aus einem Zauberbuch, wie eine Formel, mit der man einen Dämon heraufbeschwören kann.

Macht ihm irgendetwas Angst, gibt es nur einen Menschen, der ihn davon befreien kann, und das ist seine Frau. Er weiß recht gut, dass Dale gesagt hat, dass er keiner Menschenseele erzählen darf, was sich ereignet hat, und er versteht die Gründe dafür, aber der Chief hat bestimmt nicht auch Paula gemeint. Sie sind seit zwanzig Jahren verheiratet, und Paula ist nicht einfach irgendein anderer Mensch. Sie ist seine zweite Hälfte.

Deshalb (mehr um seine starken Angstgefühle zu zerstreuen, als um zu klatschen; wenigstens das wollen wir Arnold zugestehen) macht der Verrückte Ungar den schrecklichen Fehler, auf die Verschwiegenheit seiner Frau zu vertrauen. Er ruft Paula an und erzählt ihr, dass er vor kaum einer halben Stunde mit dem Fisherman gesprochen hat. Ja, wirklich, mit dem Fisherman! Er erzählt ihr von der Leiche, die angeblich draußen bei Ed’s Eats auf Dale Gilbertson und Tom Lund wartet. Sie fragt ihn, ob mit ihm denn alles in Ordnung sei. Ihre Stimme zittert vor Ehrfurcht und Aufregung, was den Verrückten Ungarn recht befriedigt, weil er selbst Ehrfurcht und Aufregung empfindet. Sie reden noch etwas länger miteinander, und als Arnold dann auflegt, fühlt er sich besser. Der Horror dieser rauen, eigenartig wissenden Stimme am Telefon ist ein wenig verblasst.

Paula Hrabowski ist die Verschwiegenheit selbst, die Verschwiegenheit in Person. Sie erzählt nur ihren beiden besten Freundinnen von dem Anruf, den Arnie vom Fisherman bekommen hat, und der Leiche bei Ed’s Eats und schwört beide auf Geheimhaltung ein. Beide versprechen, keiner Menschenseele etwas zu erzählen, und so kommt es, dass eine Stunde später, noch bevor die State Police, der Leichenbeschauer und die Spurensicherer benachrichtigt sind, jedermann weiß, dass die Polizei draußen bei Ed’s Eats ein Schlachthaus entdeckt hat. Ein halbes Dutzend ermordeter Kinder. Vielleicht sogar mehr.

10

Während der Streifenwagen mit Tom Lund am Steuer langsam die Third Street in Richtung Chase Street entlangfährt - seine Blinkleuchten auf dem Dach demonstrativ dunkel, die Sirene ausgeschaltet -, zieht Dale seine Geldbörse heraus und fängt an, den Wust in den Fächern zu sortieren: Geschäftskarten, die Leute ihm gegeben haben, ein paar Fotos mit Eselsohren, zusammengefaltete kleine Notizzettel. Auf einem dieser Zettel findet er, was er sucht.

»Was machen Sie da, Boss?«, fragt Tom.

»Geht Sie nichts an. Sie fahren einfach, okay?«

Dale nimmt das Telefon aus der Halterung auf der Mittelkonsole, verzieht das Gesicht, wischt einen Rest Puderzucker von jemands Doughnut vom Tastenfeld und tippt dann ohne große Hoffnung die Nummer von Jacks Handy ein. Er beginnt zu lächeln, als sich nach dem vierten Klingeln jemand meldet, aber dann verwandelt sein Lächeln sich in ratloses Stirnrunzeln. Er kennt diese Stimme, müsste sie erkennen, aber ...

»Hallo?«, sagt der Mann, der sich an Jacks Mobiltelefon gemeldet hat. »Sprechen Sie jetzt, wer immer Sie sind, oder bewahren Sie auf ewig Schweigen.«

Jetzt weiß Dale, wer das ist. Wäre er zu Hause oder im Büro gewesen, hätte er ihn sofort erkannt, aber in diesem Zusammenhang .

»Henry?«, sagt er. Er weiß, dass das dämlich klingt, aber er kann’s nicht ändern. »Onkel Henry, bist du’s?«

Jack lenkt seinen Pickup gerade über die Tamarack Bridge, als das Handy in seiner Hosentasche sein lästiges kleines Piepsen von sich zu geben beginnt. Er zieht es heraus und tippt damit leicht auf Henrys Handrücken. »Übernimmt das mal«, sagt er. »Von Handys kriegt man Gehirntumore.«

»Was für mich wohl im Gegensatz zu dir in Ordnung geht.«

»Mehr oder weniger, yeah.«

»Siehst du, das mag ich so an dir, Jack«, sagt Henry und klappt das Telefon mit einer nonchalanten Handbewegung auf. »Hallo?« Und nach einer Pause: »Sprechen Sie jetzt, wer immer Sie sind, oder bewahren Sie auf ewig Schweigen.« Jack sieht kurz zu ihm hinüber, dann konzentriert er sich wieder auf die Straße. Vor ihnen taucht Roy’s Store auf, wo man offenbar das beste Grünzeug bekommt, wenn man nur früh genug hier ist. »Ja, Dale. Hier spricht in der Tat dein werter ...« Henry hört zu, runzelt etwas die Stirn, lächelt etwas. »Ich bin in Jacks Pickup, mit Jack zusammen«, sagt er. »George Rathbun arbeitet heute Morgen nicht, weil KDCU eine Reportage vom Sommermarathon drüben in La Riviere .«

Er hört wieder zu, dann sagt er: »Ist es ein Nokia - so fühlt und hört es sich jedenfalls an -, dann ist’s nicht analog, sondern digital. Augenblick.« Er sieht zu Jack hinüber. »Dein Handy«, sagt er. »Ist es ein Nokia?«

»Ja, aber warum .«

»Weil digitale Handys angeblich schwieriger abzuhören sind«, sagt Henry und spricht wieder ins Telefon. »Es ist digital, und ich gebe ihn dir. Jack kann dir bestimmt alles erklären.« Henry übergibt ihm das Gerät, faltet pedantisch die Hände auf dem Schoss und sieht genauso aus dem Seitenfenster, als würde er die Landschaft betrachten. Und vielleicht tut er das ja auch, denkt Jack. Vielleicht tut er das auf irgendeine absurde, verrückte Weise tatsächlich.

Jack hält auf dem Seitenstreifen des Highways 93. Er mag Handys ohnehin nicht - für ihn sind sie die Sklavenarmbänder des 21. Jahrhunderts -, aber er verabscheut es geradezu, beim Fahren zu telefonieren. Außerdem besteht keine Gefahr, dass Irma Freneau ihnen wegläuft.

»Dale?«, sagt er.

»Wo bist du?«, fragt Dale, und Jack weiß sofort, dass der Fisherman auch anderswo tätig gewesen ist. Hoffentlich nicht wieder ein ermordetes Kind, denkt er. Bitte nicht schon wieder eines. »Wieso bist du mit Henry zusammen? Hast du auch Fred Marshall im Wagen?«

Jack erzählt ihm, dass der ursprüngliche Plan sich geändert hat, und will fortfahren, aber Dale unterbricht ihn.

»Ich möchte, dass du alles liegen und stehen lässt und sofort zu dem ehemaligen Schnellimbiss Ed’s Eats and Dawgs in der Nähe von Goltz’s rauskommst. Henry kann dir helfen, den zu finden. Der Fisherman hat uns angerufen, Jack. Er hat unter der Notrufnummer angerufen. Hat uns mitgeteilt, dass Irma Freneaus Leiche dort draußen liegt. Na ja, vielleicht nicht ausdrücklich, aber er hat >sie< gesagt.«

Dale stammelt nicht gerade, aber doch beinahe. Das nimmt Jack wahr, wie ein guter Kliniker die Symptome eines Patienten registrieren würde.

»Ich brauche dich, Jack. Ich bin wirklich .«

»Dorthin sind wir ohnehin unterwegs«, sagt Jack ruhig, obwohl sie im Augenblick nicht fahren, sondern nur auf dem Seitenstreifen stehen, während auf dem Highway gelegentlich ein Auto an ihnen vorbeizischt.

»Was?«

In der Hoffnung, dass Dale und Henry die Vorzüge der digitalen Technik richtig einschätzen, berichtet Jack dem Polizeichef von French Landing von der Sendung, die er am heutigen Morgen erhalten hat, und ist sich dabei bewusst, dass Henry, der weiter aus dem Fenster zu sehen scheint, sehr aufmerksam zuhört. Er erzählt Dale allerdings, Ty Marshalls Baseballmütze habe auf dem Schuhkarton mit den Federn und Irmas Fuß gelegen.

»Heilige .«, sagt Dale außer Atem. »Heilige Scheiße!«

»Sag mir, was du bislang vorhast«, sagt Jack, und Dale erzählt es ihm. Es klingt vernünftig - zumindest bisher -, nur gefällt Jack die Sache mit Arnold Hrabowski nicht. Er schätzt den Verrückten Ungarn als einen Kerl ein, der sich nie als richtiger Cop wird verhalten können, selbst wenn er sich größte Mühe gibt. Mit solchen Blindgängern hat er in seiner Dienstzeit beim LAPD genügend schlechte Erfahrungen gemacht.

»Dale, was ist mit dem Telefon im 7-Eleven?«

»Das ist ein Münztelefon«, sagt Dale, als würde er mit einem Kind reden.

»Richtig, und an dem könnten Fingerabdrücke sein«, sagt Jack. »Das heißt, es sind bestimmt Milliarden von Fingerabdrücken daran, aber die Spurensicherer können die frischesten isolieren. Ganz leicht. Der Typ könnte Handschuhe getragen haben, aber vielleicht hat er auch keine getragen. Übrigens, immer wenn er Mitteilungen und Visitenkarten hinterlässt und an die Eltern schreibt, ist er zu Phase zwei übergegangen. Morde allein genügen ihm nicht mehr. Und jetzt will er dich also herausfordern, will mit dir spielen. Vielleicht wünscht er sich insgeheim sogar, gefasst und gestoppt zu werden - wie damals der >Son of Sam<.«

»Das Telefon, frische Fingerabdrücke am Telefon.« Dales Stimme klingt geradezu gedemütigt, und Jack hat sofort Mitleid mit ihm. »Jack, ich schaff s nicht allein. Ich komme nicht allein zurecht.«

Dazu äußert Jack sich lieber nicht. Stattdessen sagt er: »Wen kannst du losschicken, damit er sich ums Telefon kümmert?«

»Dit Jesperson und Bobby Dulac, würde ich mal sagen.«

Bobby ist viel zu gut, findet Jack, als dass man ihn lange zum 7-Eleven am Stadtrand abordnen dürfte. »Sie sollen das Telefon vorerst nur mit Absperrband sichern und mit dem Mann an der Theke reden. Anschließend können sie zum Tatort nachkommen.«

»Okay.« Dale zögert, dann stellt er eine Frage. Das Eingeständnis seiner Niederlage, die daraus spricht, und seine fast völlige Kapitulation machen Jack niedergeschlagen. »Sonst noch was?«

»Hast du die State Police angerufen? Die County? Ist der FBI-Mann verständigt? Dieser Kerl, der sich einbildet, wie Tommy Lee Jones auszusehen?«

Dale zieht die Nase hoch. »Äh ... also, ich wollte mit den Benachrichtigungen noch eine Weile warten.«

»Gut«, sagt Jack, und die primitive Befriedigung in seiner Stimme bringt Henry dazu, den blinden Blick von der Landschaft abzuwenden und stattdessen seinen Freund mit hochgezogenen Augenbrauen zu betrachten.

Wir wollen uns nochmals erheben - auf Flügeln wie Adler, wie Reverend Lance Hovdahl, der lutherische Pastor von French Landing vielleicht sagen würde -, um dem schwarzen Band des Highways 93 in Richtung Stadt folgend vorauszufliegen. Wir erreichen die Route 35 und biegen dort rechts ab. Im Vordergrund liegt auf der rechten Seite die überwachsene Zufahrtsstraße, die nicht zum Goldschatz eines Drachen oder geheimen Zwer-genbergwerken, sondern zu jenem besonders unangenehmen schwarzen Haus führt. Etwas weiter dahinter können wir die futuristische Kuppel von Goltz’s sehen (na ja ... sie wirkte futuristisch, zumindest in den Siebzigerjahren). Unsere Orientierungspunkte sind alle vorhanden, auch der mit Geröll übersäte, verunkrautete unbefestigte Fahrweg, der von der Hauptstraße nach links abzweigt. Es ist der Weg, der zu Ed Gilbertsons ehemaligem Palast sündiger Freuden führt.

Wir wollen uns auf der Telefonleitung niederlassen, die etwa parallel zu diesem Weg verläuft. Aufregender Klatsch kitzelt unsere Vogelfüße: Paula Hrabowskis Freundin Myrtle Harrington gibt die Nachricht von der Leiche bei Ed’s (beziehungsweise den Leichen) an Richie Bumstead weiter, der sie dann seinerseits an Beezer St. Pierre, den trauernden Vater und Spiritus Rector der Thunder Five, weitergeben wird. Dieser Sprechverkehr durch den Draht sollte uns eigentlich nicht gefallen, aber er tut es trotzdem. Klatsch ist zweifellos hässliches Zeug, aber er regt den menschlichen Geist nicht wenig an.

Aus Westen kommt jetzt der Streifenwagen mit Tom Lund am Steuer und Dale Gilbertson auf dem Beifahrersitz an. Und aus Osten kommt Jacks burgunderroter Dodge Ram herangerollt. Sie erreichen die Abzweigung zu Ed’s im selben Augenblick. Jack bedeutet Dale, er solle vorausfahren, und fährt dann hinter ihm her. Wir erheben uns in die Luft, schweben über ihnen und fliegen dann voraus. Wir lassen uns auf der rostigen Esso-Zapfsäule nieder, um den weiteren Gang der Dinge zu beobachten.

Jack fährt langsam den Weg entlang, der zu dem halb zerfallenen Gebäude führt, das zwischen hohem Unkraut und Goldrute steht. Er hält Ausschau nach irgendwelchen Anzeichen für Verkehr, sieht aber nur die frischen Reifenspuren, die der Streifenwagen von Dale und Tom hinterlassen hat.

»Wir sind hier allein«, teilt er Henry mit.

»Ja, fragt sich nur für wie lange.«

Nicht sehr lange, hätte Jacks Antwort gelautet, hätte er sich die Mühe gemacht, eine zu geben. Stattdessen hält er neben Dale und steigt aus. Henry lässt das Fenster auf seiner Seite herunter, bleibt aber wie befohlen im Auto sitzen.

Das Ed’s war einst ein schlichter Holzbau von der Länge eines Güterwagens der Burlington Northern und auch mit dem flachen Dach eines Güterwagens. Am Südende konnte man an einem der drei Fenster Waffeleis kaufen. Am Nordende konnte man einen üblen Hot Dog oder eine noch üblere Portion Fisch mit Fritten zum Mitnehmen bekommen. Im Mittelteil befand sich eine kleine Imbissbude mit der Theke und rot gepolsterten Hockern. Das Südende ist inzwischen ganz zusammengebrochen, vermutlich unter der Schneelast des Winters. Die Fensterscheiben sind längst alle eingeworfen worden. An den Wänden stehen einige Graffiti -Soundso lutscht Schwänze, wir haben Patty Jarvis gefickt biß sie geflennt hat, Troy libt Maryann -, aber nicht so viele, wie Jack erwartet hätte. Bei allen Hockern bis auf einen hat man die Sitzpolster aufgeschlitzt. Im Gras zirpen Grillen um die Wette. Sie sind laut, aber längst nicht so laut wie die Fliegen in dem verfallenden Holzbau. Dort drinnen scheint es massenhaft Fliegen zu geben, eine regelrechte Versammlung. Und .

»Riechst du auch was?«, sagt Dale.

Jack nickt. Natürlich riecht er etwas. Diesen Gestank hat er heute schon einmal in der Nase gehabt, aber der hier ist bei weitem schlimmer. Weil hier mehr von Irma vorhanden ist, was Verwesungsgestank verbreiten kann. Weit mehr, als in einen Schuhkarton passen würde.

Tom Lund hat ein Taschentuch hervorgezogen und wischt sich damit sein breites, kummervolles Gesicht ab. Der Tag ist heiß, aber nicht heiß genug, um den Schweiß zu erklären, der ihm übers Gesicht läuft. Sein Teint ist käsig.

»Officer Lund«, sagt Jack.

»Hä?« Tom fährt zusammen und sieht sich mit ziemlich wildem Blick nach Jack um.

»Sie werden sich vielleicht übergeben müssen. Lässt sich das nicht vermeiden, tun Sie’s bitte dort drüben.« Jack deutet auf einen fast zugewachsenen Weg, der noch älter und weniger klar erkennbar ist als der Fahrweg von der Straße her. Der Weg scheint sich in Richtung Goltz’s davonzuschlängeln.

»Ich schaff s schon«, sagt Tom.

»Das weiß ich. Aber falls Sie sich trotzdem übergeben müssen, tun Sie’s bitte nicht auf etwas, was zum Beweismaterial gehören könnte.«

»Sie fangen gleich damit an, das ganze Gebäude mit Band abzusperren«, weist Dale seinen Untergebenen an. »Jack? Auf ein Wort, ja?«

Dale legt Jack eine Hand auf den Unterarm und führt ihn zu dessen Pickup hinüber. Obwohl Jack viele andere Dinge im Kopf hat, fällt ihm auf, wie kräftig diese Hand zupackt. Und dass sie nicht zittert. Wenigstens vorläufig noch nicht.

»Was gibt’s?«, fragt Jack ungeduldig, als sie in der Nähe des Beifahrerfensters seines Pickups Halt machen.

»Wir wollen uns doch umsehen, bevor alle Welt hier aufkreuzt, oder? War das nicht die Idee, oder hast du .«

»Du musst den Fuß holen, Jack«, sagt Dale und fügt hinzu: »Hallo, Onkel Henry, du siehst schick aus.«

»Danke«, sagt Henry.

»Was redest du da?«, sagt Jack. »Der Fuß ist ein Beweisstück.«

Dale nickt. »Aber er sollte zu dem hier aufgefundenen Beweismaterial gehören, finde ich. Außer dir macht die Vorstellung Spaß, in Madison vierundzwanzig Stunden lang vernommen zu werden.«

Jack öffnet den Mund, um Dale aufzufordern, ihr bisschen Zeit nicht mit barem Unsinn zu vergeuden, macht ihn dann aber wieder zu. Ihm fällt plötzlich ein, wie die Tatsache, dass dieser Fuß sich in seinem Besitz befindet, auf Klugscheißer aus der Minor League wie den Detectives Brown und Black wirken könnte. Vielleicht sogar auf einen Klugscheißer aus der Major Lea-gue wie John Redding vom FBI. Ausgezeichneter Cop geht unmöglich früh in den Ruhestand und lässt sich in der unmöglich bukolischen Kleinstadt French Landing, Wisconsin, nieder. Er hat reichlich Kies, dessen Herkunft aber unklar ist, um mal das Mindeste zu sagen. Und siehe da, plötzlich beginnt in dieser Gegend ein Serienmörder sein Unwesen zu treiben.

Vielleicht ist bei dem ausgezeichneten Cop ja eine Schraube locker. Vielleicht gleicht er den Feuerwehrleuten, die solchen Spaß an den hübschen Flammen haben, dass sie sich selbst als Brandstifter betätigen. Dales »Farbentruppe« würde sich bestimmt fragen müssen, wes-halb der Fisherman einem Frührentner wie Jack einen Körperteil einer Ermordeten geschickt haben sollte. Und die Mütze, denkt Jack. Nicht zu vergessen, Tys Baseballmütze.

Plötzlich weiß er, wie Dale zumute war, als Jack ihm erklärt hat, das Telefon im 7-Eleven müsse gesichert werden. Er weiß es genau.

»O Mann«, sagt er. »Du hast Recht.« Er sieht zu Tom Lund hinüber, der eifrig damit beschäftigt ist, das Gebäude mit gelbem Markierband mit dem Aufdruck Polizei-Absperrung zu umspannen, während Falter seine Schultern umgaukeln und die Fliegen im Schatten von Ed’s Eats weiter wie betrunken summen. »Was ist mit ihm?«

»Tom hält dicht«, sagt Dale, und auf diese Empfehlung hin beschließt Jack, ihm zu trauen. Dem Verrückten Ungarn hätte er nicht getraut.

»Dafür bin ich dir was schuldig«, sagt Jack.

»Stimmt«, bestätigt Henry vom Beifahrersitz aus. »Sogar ein Blinder kann sehen, dass er dir was schuldig ist.«

»Halt die Klappe, Onkel Henry«, sagt Dale.

»Ja, mon capitaine.«

»Was machen wir mit der Mütze?«, fragt Jack.

»Finden wir noch etwas von Ty Marshalls Sachen ...« Dale macht eine Pause, dann schluckt er trocken. ». oder von Ty selbst, legen wir sie dazu. Wenn nicht, behältst du sie vorläufig.«

»Ich glaube, du hast mich gerade vor großen Unannehmlichkeiten bewahrt«, sagt Jack und führt Dale zur Ladefläche seines Pickups. Er klappt den Deckel der Edelstahlbox hinter dem Fahrerhaus auf, die er für die Fahrt hierher gar nicht erst abgesperrt hat, und holt einen der Müllbeutel heraus. In seinem Inneren schwappt Wasser, in dem die letzten Reste der Eiswürfel schwimmen. »Kommst du dir wieder mal dumm vor, könntest du dich selbst daran erinnern.«

Dale geht überhaupt nicht darauf ein. »O gott!«, sagt er, indem er die Wörter zu einem Wort zusammenzieht. Er starrt den Klarsichtbeutel an, der gerade aus dem Müllbeutel zum Vorschein kommt. An seiner durchsichtigen Oberfläche haften Wassertropfen.

»Dieser Geruch!«, sagt Henry mit unverkennbarem Entsetzen. »Ach, das arme Kind!«

»Du riechst ihn sogar durch den Beutel hindurch?«, fragt Jack.

»Ja, natürlich. Und den von dort drüben auch.« Henry zeigt auf den verfallenen Holzbau und holt dann seine Zigaretten heraus. »Hätte ich das geahnt, hätte ich mir Pfefferminzbonbons und eine starke Havanna mitgebracht.«

Jedenfalls ist es nicht mehr nötig, den Klarsichtbeutel mit seinem grausigen Inhalt an Tom Lund vorbeizutragen, weil der jetzt mit seiner Spule Markierband hinter dem Gebäude verschwunden ist.

»Geh rein«, sagt Dale halb laut zu Jack. »Sieh dich um, und lass das Ding drinnen zurück, falls du ... na ja, falls du ... sie findest. Ich muss noch mal mit Tom reden.«

Jack tritt durch den windschiefen, türlosen Eingang in den stärker werdenden Gestank. Von außen dringt Dales Stimme herein, der Tom anweist, Pam Stevens und Danny Tcheda zur Einmündung zurückzuschicken, sobald sie ankommen, damit sie Unbefugte fern halten.

Das Innere von Ed’s Eats dürfte nachmittags recht gut beleuchtet sein, aber um diese Tageszeit wird es nur von einigen sich willkürlich kreuzenden Sonnenstrahlen erhellt, in denen Galaxien von Sonnenstäubchen träge kreisen. Jack tritt vorsichtig auf, wünscht sich, er hätte eine Taschenlampe, will aber nicht zum Streifenwagen zurückgehen, um sich eine zu holen, bevor er den Fuß deponiert hat. (Er betrachtet das als »Zurückverlegung«.) Im Staub und Gerümpel auf dem Fußboden sieht er Fußabdrücke und dazwischen verstreut ein paar alte graue Federn. Die Abdrücke haben die Größe von Männerschuhen und sind teilweise von einer Hundefährte überlagert. Linker Hand von sich sieht Jack ein sauberes kleines Häufchen Hundekot. Er geht um die verrosteten Überreste eines umgestürzten Gasgrills herum und folgt beiden Spuren um die schmutzige Theke. Draußen fährt der zweite aus French Landing kommende Streifenwagen vor. Hier drinnen, in dieser dunkleren Welt, ist das Summen der Fliegen zu einem lauten Brausen geworden, und der Gestank ... der Gestank ...

Jack zieht ein Taschentuch hervor und hält es sich vor die Nase, während er den Spuren weiter in die Küche folgt. Dort vervielfältigen sich die Pfotenspuren, während die Schuhabdrücke ganz verschwinden. Jack denkt grimmig an den Kreis aus niedergetretenem Gras, den er in jener anderen Welt hinterlassen hat - einen Kreis aus zertrampeltem Gras, zu dem keine Spur hin- oder wegführte.

An der Rückwand des Raums liegen Irma Freneaus sterbliche Überreste neben einer angetrockneten Blutlache. Ihre schmutzigen rotblonden Haare verdeckten barmherzigerweise ihr Gesicht. Über ihr stehen auf einer rostigen Blechtafel, mit der früher vermutlich die Fritteusen abgedeckt waren, zwei Wörter, die jemand Jacks Überzeugung nach mit schwarzem Filzschreiber dorthin gekritzelt hat:

Hallo, Boys

»Ah, Scheiße«, sagt Dale Gilbertson dicht hinter ihm, und Jack schreit beinahe auf.

Draußen beginnt fast augenblicklich das Chaos loszubrechen. Auf halber Strecke der Zufahrt haben Danny und Pam (die nicht im Geringsten enttäuscht sind, als Wachposten eingeteilt worden zu sein, seit sie die verfallene Ruine von Ed’s selbst gesehen und etwas von dem aus ihr dringenden Gestank abbekommen haben) beinahe einen Frontalzusammenstoß mit einem alten In-ternational-Harvester-Pickup, der mit gut vierzig Meilen in der Stunde in Richtung Ed’s rast. Zum Glück weicht Pam mit dem Streifenwagen nach rechts aus, und auch der Fahrer des Pickups - Teddy Runkleman - reißt das Steuer nach rechts. Die Fahrzeuge verfehlen sich nur um eine Handbreit und kommen dann im Gras auf beiden Seiten dieser erbärmlichen so genannten Straße zum Stehen. Die rostige Stoßstange des Pickups prallt gegen eine junge Birke.

Pam und Danny steigen mit Herzjagen und überhöh-tem Adrenalinspiegel aus ihrem Streifenwagen. Aus dem Fahrerhaus des Pickups quellen vier Männer wie Clowns aus einem kleinen Zirkusauto. Mrs. Morton würde alle vier als Stammgäste aus Roy’s Store erkennen. Tagediebe, so würde sie diese Kerle bezeichnen.

»Verdammt noch mal, was macht ihr denn hier?«, brüllt Danny Tcheda. Er lässt die Hand auf den Griff seiner Pistole fallen, hebt sie dann aber mit leichtem Widerstreben wieder hoch. Er merkt, dass er Kopfschmerzen bekommt.

Die Männer (Runkleman ist der Einzige, den die Polizeibeamten namentlich kennen, obwohl ihnen auch die anderen drei vom Sehen her bekannt sind) haben vor Aufregung Glupschaugen.

»Wie viele habt ihr gefunden?«, sprudelt es aus einem von ihnen heraus. Pam kann sehen, wie seine Spucke durch die Morgenluft fliegt - ein Anblick, auf den sie gut hätte verzichten können. »Wie viele hat der Scheißkerl umgebracht?«

Pam und Danny wechseln einen einzigen bestürzten Blick. Und bevor sie antworten können, kommt - großer Gott! - ein mit weiteren vier oder fünf Männern besetzter alter Chevrolet Bei Air herangerast. Nein, einer der fünf ist eine Frau. Sie halten an und quellen heraus, auch sie wie Clowns aus ihrem kleinen Zirkuswagen.

Aber die wirklichen Clowns sind anscheinend wir, denkt Pam. Wir.

Pam und Danny sind von acht halb hysterischen Männern und einer halb hysterischen Frau umringt, die sie alle mit Fragen bombardieren.

»Teufel, ich fahr jetzt hin und seh’s mir selbst an!«, ruft Teddy Runkleman fast triumphierend, und Danny erkennt, dass die Situation kurz davor ist, außer Kontrolle zu geraten. Lässt er zu, dass diese Idioten wirklich bis zu Ed’s Eats weiterfahren, reißt Dale ihm den Kopf ab.

»Halt, keine Bewegung, das gilt für euch alle!«, brüllt Danny und zieht dabei tatsächlich seine Pistole. Für ihn ist es das erste Mal, und er hasst es, das Gewicht der Waffe in seiner Hand zu spüren - schließlich sind das gewöhnliche Leute, keine Verbrecher -, aber immerhin sichert es ihm ihre Aufmerksamkeit.

»Das hier ist ein Tatort«, sagt Pam, die jetzt endlich wieder normal sprechen kann. Die Leute murmeln etwas und wechseln Blicke, aus denen hervorgeht, dass sie ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt finden. Pam tritt an den Fahrer des Chevrolets heran. »Wer sind Sie, Sir? Einer von den Saknessums? Sie sehen wie ein Saknessum aus.«

»Freddy«, gibt er zu.

»Okay, Sie setzen sich jetzt wieder ans Steuer, Freddy Saknessum, und die anderen von euch, die mitgefahren sind, steigen ebenfalls ein, und ihr seht zu, dass ihr rückwärts wieder von hier verschwindet. Versucht nicht erst zu wenden, sonst bleibt ihr nur stecken.«

»Aber ...«, beginnt die Frau. Pam hält sie für eine von den Sangers, ein Clan von Schwachköpfen, wenn’s jemals einen gegeben hat.

»Schluss jetzt und haut ab!«, fordert Pam sie auf.

»Und Sie fahren gleich hinterher«, sagt Danny zu Teddy Runkleman. Danny kann nur hoffen, dass nicht noch mehr Leute kommen, sonst müssen die alle versuchen, einen Autokorso im Rückwärtsgang hinzukriegen. Er weiß nicht, wie die Nachricht die Runde gemacht hat, kann es sich im Augenblick aber auch nicht leisten, sich darüber Sorgen zu machen. »Außer Sie wollen eine Anzeige wegen Behinderung polizeilicher Ermittlungen. Dafür können Sie fünf Jahre kriegen.« Er hat keine Ahnung, ob es einen Tatbestand dieser Art gibt, aber das macht ihnen augenblicklich noch besser Beine als der Anblick seiner Pistole.

Der Chevrolet stößt zurück, wobei das Heck wie ein Hundeschwanz von einer Seite zur anderen wackelt. Dann folgt Runklemans Pickup, auf dessen Ladefläche zwei Männer stehen und übers Fahrerhaus starren, um vielleicht wenigstens einen Blick aufs Dach von Ed’s Eats zu erhaschen. Ihre Neugierde verleiht ihren Gesichtern einen Ausdruck unangenehmer Geistlosigkeit. Der Streifenwagen bildet den Abschluss der kleinen Kolonne, indem er mit jetzt eingeschalteten Blinkleuchten den alten Chevrolet und den noch älteren Pickup wie ein Schäferhund vor sich hertreibt. Pam muss die meiste Zeit bremsen und lässt beim Fahren einen endlosen Strom halb lauter Wörter hören, die sie bestimmt nicht von ihrer Mutter gelernt hat.

»Gibst du mit diesem Mund deinen Kids ihren Gutenachtkuss?«, fragt Danny nicht ohne Bewunderung.

»Halt die Klappe«, sagt sie. Dann: »Hast du ein Aspirin für mich?«

»Das wollte ich dich auch gerade fragen«, sagt Danny.

Sie erreichen den Highway eben rechtzeitig. Aus French Landing kommen drei weitere Autos; auch aus Richtung Centralia und Arden sind zwei Wagen zur Abzweigung unterwegs. In der sich erwärmenden Morgenluft ist eine Sirene zu hören. Der nächste Streifenwagen, das dritte Fahrzeug einer Kolonne, die unauffällig bleiben sollte, überholt die Gaffer aus der Stadt.

»O Mann!« Danny ist hörbar entsetzt. »O Mann, o Mann, o Mann. Das wird ein Zirkus, und ich wette, dass nur die Staties noch immer nichts wissen. Sie werden fuchsteufelswild sein. Dale wird fuchsteufelswild sein.«

»Wir schaffen’s schon«, sagt Pam. »Nur keine Aufregung. Wir blockieren einfach die Einfahrt. Und steck die verdammte Knarre wieder weg.«

»Ja, Mutter.« Er verstaut die Pistole im Halfter, während Pam die Zufahrtsstraße verlässt, auf den Highway hinausfährt, um den dritten Streifenwagen passieren zu lassen, dann wieder zurückstößt und die Einmündung blockiert. »Yeah, vielleicht sind wir gerade noch rechtzeitig da, um die Sache zu stoppen.«

»Natürlich sind wir das.«

Sie entspannen sich etwas. Beide haben den alten Weg vergessen, der zwischen Ed’s und Goltz’s verläuft, aber in der Stadt gibt es viele Leute, die ihn kennen. Zum Beispiel Beezer St. Pierre und seine Jungs. Und obwohl Wendell Green ihn nicht kennt, scheinen Kerle wie er immer einen Hintereingang finden zu können. Sie haben einen Instinkt dafür.

11

Beezers Reise begann damit, dass Myrtle Harrington, Michael Harringtons liebevolle Ehefrau, sich am Telefon flüsternd Richie Bumstead anvertraute, in den sie hoffnungslos verknallt ist, obwohl er einst mit ihrer zweitbesten Freundin, Gladys, verheiratet war, die im erstaunlichen Alter von einunddreißig Jahren in ihrer eigenen Küche tot umgefallen ist. Richie Bumstead verdankt Myrtle genügend Makkaroni-Thunfisch-Aufläufe und geflüsterte Telefongespräche, um für zwei weitere Leben versorgt zu sein, aber dieser besonderen geflüsterten Mitteilung hörte er freudig, sogar eigentümlich erleichtert zu, als Ausfahrer der Kingsland Brewing Company hat er nämlich Beezer St. Pierre und die anderen Jungs zumindest einigermaßen kennen gelernt.

Anfangs hielt Richie die Thunder Five für Stromer -große Kerle mit strähnigem schulterlangem Haar und wallenden Bärten, die auf ihren Harleys durch die Stadt röhrten -, aber eines Freitags stand er am Lohnschalter einmal zufällig neben dem Riesen Mouse, und Mouse sah auf ihn herab und sagte etwas Komisches darüber, dass auch Freude an der Arbeit den Lohnscheck nie größer erscheinen lasse, und sie fingen eine Unterhaltung an, von der Richie Bumstead der Kopf schwirren sollte.

Zwei Abende später sah er Beezer St. Pierre und den Kerl namens Doc auf dem Hof miteinander schwatzen, als er gerade Dienstschluss hatte, und nachdem er sein Fahrzeug für die Nacht versorgt hatte, schlenderte er zu den beiden hinüber und ließ sich in ein weiteres Gespräch verwickeln, bei dem er das Gefühl hatte, in eine Kombination aus einer zwielichtigen Blues Bar und einer Jeopardy-Meisterschaft geraten zu sein. Diese Kerle -Beezer, Mouse, Doc, Sonny und Kaiser Bill - sahen zwar wie tumbe Schlägertypen aus, aber sie waren clever. Wie sich herausstellte, leitete Beezer als Braumeister die Abteilung Sonderprojekte hinsichtlich des Kingsland Ale, und die anderen Kerle waren ihm unmittelbar unterstellt. Sie waren doch tatsächlich alle auf dem College gewesen! Sie waren daran interessiert, ein großartiges Bier zu brauen und sich gut zu amüsieren, und Richie wünschte sich irgendwie, er könnte sich auch ein Bike kaufen, um mit ihnen herumzuhängen, aber ein langer Samstagnachmittag und -abend in der Sand Bar bewiesen ihm, dass er die Grenze zwischen gutem alten Amüsement und völligem Sich-gehen-Lassen nicht überschreiten konnte. Er besaß nicht das Stehvermögen, um zwei Krüge Kingsland zu trinken, anständig Billard zu spielen, zwei weitere Krüge zu trinken, während die Unterhaltung sich um den Einfluss Sherwood Andersons und Gertrude Steins auf den jungen Hemingway drehte, ein paar kräftige Kopfstöße einzustecken und auszuteilen, noch ein paar Krüge Bier zu trinken, trotzdem nüchtern genug zu bleiben, um übers Land zu röhren, ein paar unternehmungslustige Mädels aus Madison aufzureißen, massenhaft erstklassigen Stoff zu rauchen und bis Tagesanbruch durchzumachen. Man musste Respekt vor Leuten haben, die das alles tun und trotzdem gute Jobs behalten konnten.

Aus Richies Sicht ist er geradezu dazu verpflichtet, Bee-zer mitzuteilen, dass die Polizei endlich Irma Freneaus Leiche aufgefunden hat. Die Wichtigtuerin Myrtle hat zwar gesagt, dass dies ein Geheimnis sei, das Richie für sich behalten müsse, aber er würde jede Wette eingehen, dass Myrtle gleich nach dem Auflegen weitere vier, fünf Leute angerufen hat. Diese Leute werden wiederum ihre besten Freunde anrufen, und binnen kürzester Zeit wird halb French Landing auf der Route 35 unterwegs sein, um mitzuerleben, was dort draußen passiert. Und Beezer hat mehr Recht darauf, dabei zu sein als die meisten anderen, oder etwa nicht?

Keine dreißig Sekunden nachdem er Myrtle Harring-ton abgewimmelt hat, schlägt Richie Bumstead bereits Beezer St. Pierres Nummer im Telefonbuch nach und wählt sie dann.

»Richie, ich will bloß hoffen, dass du mir keinen Scheiß erzählst«, sagt Beezer.

»Er hat zu Hause angerufen, ja?« Beezer lässt sich das von Richie bestätigen. »Dieses wertlose Stück Scheiße mit dem Nodrugs-Wagen, der Verrückte Ungar? ... Und wo soll das Mädchen liegen?«

»Scheiße, da ist bald die ganze Stadt draußen«, sagt Beezer dann. »Aber danke, Mann, vielen Dank. Dafür bin ich dir was schuldig.« Kurz bevor der Hörer auf die Gabel geknallt wird, glaubt Richie noch zu hören, wie Beezer einen weiteren Satz beginnt, der in heißen Tränen untergeht.

Und in dem kleinen Haus in der Nailhouse Row wischt Beezer St. Pierre sich tatsächlich Tränen in den Bart. Er schiebt das Telefon behutsam ein Stück von sich weg und dreht sich nach Bear Girl um, seiner Lebensgefährtin, seiner Alten, Amys Mutter, die in Wirklichkeit Susan Osgood heißt und jetzt unter ihren dicken blonden Zöpfen zu ihm aufsieht, während sie einen Finger in ihr Buch geklemmt hält, um die Seite zu markieren, bei der sie gerade war.

»Sie haben die kleine Freneau gefunden«, sagt er. »Ich muss hin.«

»Also los«, sagt Bear Girl beherzt. »Nimm das Handy mit, und ruf mich dann so schnell wie möglich an.«

»Yeah«, sagt er, reißt das Handy aus dem Ladegerät und rammt es in eine Vordertasche seiner Jeans, geht aber nicht gleich zur Haustür. Er steckt eine Hand ins rotbraune Gewirr seines Vollbarts und kämmt ihn geistesabwesend mit den Fingern. Seine Füße scheinen am Boden zu kleben; sein Blick wirkt unkonzentriert. »Der Fisherman hat die Notrufnummer angerufen«, sagt er. »Ist dieser Scheiß zu fassen? Sie konnten die kleine Fre-neau nicht selbst finden; sie mussten sich von ihm erzählen lassen, wo die Leiche liegt.«

»Hör zu, Beezer«, sagt Bear Girl. Sie steht auf und legt die Entfernung zwischen den beiden weit schneller zurück, als es den Anschein hat. Sie kuschelt ihren kompakten kleinen Körper an seine massige Gestalt. Beezer atmet ihren sauberen, beruhigenden Duft - eine Mischung aus Seife und frischem Brot - tief ein. »Wenn ihr dort draußen ankommt, musst du dafür sorgen, dass die Jungs sich beherrschen. Deshalb musst erst mal du dich beherrschen, Beezer. Auch wenn du noch so zornig bist, darfst du nicht durchdrehen und einfach Leute verprügeln. Vor allem keine Cops.«

»Du denkst wahrscheinlich, ich sollte lieber nicht hinfahren.«

»Du musst. Ich will nur nicht, dass du im Gefängnis landest.«

»He«, sagt er, »ich bin ein Brauer, kein Raufer.«

»Vergiss das nicht«, sagt sie und tätschelt seine Schulter. »Willst du die Jungs nicht von hier aus anrufen?«

»Ich benutze die Buschtrommel.« Beezer geht zur Haustür, bückt sich dort, um seinen Helm aufzuheben, und marschiert dann hinaus. Schweiß läuft ihm über die Stirn und sickert durch seinen Bart. Mit zwei großen Schritten ist er bei seiner Harley. Er legt eine Hand auf den Sattel, wischt sich mit dem Handrücken über seine Stirn und brüllt: »Der gottverdammte Fisherman hat dem verdammten ungarischen Cop gesagt, wo Irma Freneaus Leiche zu finden ist. Werfährt mit mir hin?«

Auf beiden Seiten der Nailhouse Row werden bärtige Köpfe aus Fenstern gestreckt, und laute Stimmen rufen: »Wart auf mich!«, »Heiliger Scheiß!«, »Komme sofort!« und »Yo!«. Aus vier Haustüren kommen vier große Kerle in Lederjacken und Stiefeln gestürmt. Beezer muss fast lächeln - er mag diese Kerle, aber manchmal erinnern sie ihn irgendwie an Cartoongestalten. Noch bevor sie ihn erreicht haben, berichtet er von Richie Bumstead und dem Anruf unter der Notrufnummer, und nachdem er damit fertig ist, sitzen Mouse, Doc, Sonny und Kaiser Bill auf ihren Bikes und warten auf das Zeichen zur Abfahrt.

»Aber der Deal sieht folgendermaßen aus«, sagt Bee-zer. »Zwei Dinge sind wichtig. Wir fahren dort für Amy und Irma Freneau und Johnny Irkenham hin, nicht für uns selbst. Wir wollen sicherstellen, dass alles richtig läuft, und wir schlagen niemandem den Schädel ein, außer er will’s nicht anders. Ist das klar?«

Die anderen brummeln, grollen und knurren, was offenbar Zustimmung signalisieren soll. Vier verfilzte Bärte wippen auf und ab.

»Und der zweite Punkt: Falls wir jemandem den Schädel einschlagen, ist’s der Fisherman. Weil wir uns hier mit genug Scheiß haben abspeisen lassen und ich mir jetzt verdammt sicher bin, dass wir selbst Jagd auf diesen Scheißkerl machen müssen, der mein kleines Mädchen ermordet ...« Beezer versagt für einen Augenblick die Stimme. Er reckt eine Faust in die Höhe, bevor er fortfährt: ». und die andere Kleine in diesem beschissenen Schuppen an der 35 zurückgelassen hat. Weil ich keine Ruhe gebe, bis ich diesen Scheißkerl in die Finger bekomme, und wenn’s soweit ist, schlage ich ihm den Schädel ein!«

Seine Jungs, seine Crew, seine Truppe, alle recken die Faust hoch und brüllen Zustimmung. Fünf Harleys springen röhrend an. »Wir sehen uns die Sache vom Highway aus an und nehmen dann den Weg hinter Goltz’s!«, ruft Beezer noch, bevor er mit den anderen im Kielwasser die Nailhouse Row entlangrast, um dann die Chase Street hinaufzudonnern.

Sie rollen mitten durch die Stadt: Beezer mit im Fahrtwind wehendem Bart voraus, Mouse und Sonny an seinem Auspuff klebend, Doc und Kaiser Bill unmittelbar dahinter. Das Donnergrollen ihrer Bikes lässt die Schaufenster von Schmitt’s Allsorts klirren und scheucht die Spatzen von der Markise vor dem Agincourt Theater auf. Wie Beezer über dem Lenker seiner Harley hängt, erinnert er etwas an King Kong, der unterwegs ist, um irgendein Klettergerüst zu zerlegen. Sobald sie am 7-Eleven vorbei sind, schließen Kaiser und Doc so zu Sonny und Mouse auf, dass sie nun die gesamte Straßenbreite einnehmen. Leute, die auf der Route 35 nach Westen fahren, werfen einen Blick auf die heranrasenden Gestalten und weichen hastig auf den Seitenstreifen aus; Autofahrer, die sie im Rückspiegel herankommen sehen, fahren scharf rechts an den Straßenrand, strecken den linken Arm aus dem Fenster und winken sie durch.

Als sie sich Centralia nähern, hat Beezer schon ungefähr doppelt so viele Autos überholt, als an einem normalen Wochenendmorgen auf einer Landstraße unterwegs sein dürften. Die Situation ist noch schlimmer, als er sich ausgerechnet hat: Dale Gilbertson ist zwar fest entschlossen, die Abzweigung von der Route 35 von einer Streifenwagenbesatzung absperren lassen, aber zwei Cops können einfach nicht mehr als zehn, zwölf Leichenjäger aufhalten, die darauf aus sind, das Werk des Fishermans mit eigenen Augen zu sehen, es wirklich zu sehen. French Landing hat nicht genügend Cops, um alle Spinner aufzuhalten, die jetzt Ed’s Eats ansteuern. Bee-zer stellt sich fluchend vor, wie er ausrastet und ein paar dieser abartigen Fisherman-Touristen in Zeltpflöcke verwandelt. Aber gerade ausrasten darf er auf keinen Fall - nicht wenn er von Dale Gilbertson und seinen Handlangern irgendeine Art Kooperation erwartet.

Als Beezer seine Begleiter um einen klapprigen alten roten Toyota führt, kommt ihm eine so perfekte Idee, dass er vergisst, den Fahrer der Klapperkiste in blinden Horror zu versetzen, indem er ihn anstarrt und dabei knurrt: »Ich mache Kingsland Ale, das beste Bier der Welt, du blöder Schweinehund.« Das hat er heute Morgen schon an zwei Fahrern ausprobiert, die ihn daraufhin beide nicht enttäuscht haben. Die Leute, die sich diese Behandlung durch schlechtes Fahren oder den Besitz eines wirklich hässlichen Autos verdienen, bilden sich immer ein, er bedrohe sie mit irgendeiner grotesken Form sexuellen Missbrauchs, und erstarren wie Kaninchen, sind zu keiner Bewegung mehr fähig. Ein fröhlicher Spaß, wie die Einwohner der smaragdenen Stadt in Der Zauberer von Oz singen. Die Idee, die Beezer von seinem harmlosen Vergnügen abgelenkt hat, zeichnet sich durch die Schlichtheit wahrer Inspiration aus. Kooperation sichert man sich am besten dadurch, dass man sie selbst gewährt. Er weiß genau, wie er Dale Gilbertson für sie einnehmen kann: Die Antwort setzt eine Baseballmütze auf, greift sich ihre Autoschlüssel und ist auf dem Weg aus dem Haus ... Die Antwort ist überall um ihn herum mit Händen zu greifen.

Ein kleiner Teil der Antwort sitzt am Steuer des roten Toyotas, den Beezer und seine fröhliche Crew eben überholt haben. Wendell Green hätte die scheinbare Zurechtweisung, der er entgangen ist, aus beiden konventionellen Gründen verdient. Sein kleiner Wagen war vielleicht nicht von Anfang an hässlich, aber inzwischen ist er von so vielen Beulen und Kratzern entstellt, dass er einem rollenden Feixen gleicht, und Green fährt ihn mit unbeirrbarer Arroganz, die er für »Schneidigkeit« hält. Er flitzt bei Gelb über Kreuzungen, wechselt rücksichtslos die Fahrspur und fährt dicht auf, um andere Fahrer einzuschüchtern. Natürlich hupt er auch, sobald er sich im Geringsten provoziert fühlt. Wendell ist gemeingefährlich. Seine Fahrweise spiegelt seinen Charakter wider: rücksichtslos, gedankenlos und angeberhaft. Im Augenblick fährt er sogar noch schlechter als sonst, weil er versucht, alle vor ihm fahrenden Autos zu überholen, während er sich größtenteils auf das Diktiergerät, das er sich an den Mund hält, und die goldenen Worte konzentriert, die seine ebenso goldene Stimme in das kostbare Gerät spricht. (Wendell bedauert oft die Kurzsichtigkeit der hiesigen Radiostationen, die so viel Sendezeit an Dummköpfe wie George Rathbun und Henry Shake vergeuden, obwohl sie ein viel höheres Niveau erreichen könnten, wenn sie einfach ihn jeden Tag etwa eine Stunde lang die Nachrichten kommentieren ließen.) Ah, die herrliche Kombination aus Wendells Worten und Wendells Stimme - Edward R. Murrow, der Reporter, der während des Blitzkrieges aus London berichtete, hat selbst in seiner besten Zeit nie so eloquent, nie so volltönend geklungen.

Folgendes diktiert er unterwegs: Heute Morgen schloss ich mich einer regelrechten Karawane der Schockierten, der Trauernden und der nur Neugierigen an, die einen Trauerzug bildeten, der sich auf dem idyllischen Highway 35 nach Osten schlängelte. Nicht zum ersten Mal war der Verfasser dieser Zeilen erschüttert - zutiefst erschüttert - von dem immensen Gegensatz zwischen der lieblichen, friedlichen Landschaft im Coulee Country und den hässlichen, brutalen Verbrechen, die ein geistesgestörter Triebtäter in dieser unschuldigen Idylle verübt hat. Neuer Absatz.

Die Nachricht hatte wie ein Lauffeuer die Runde gemacht. Der Nachbar rief den Nachbarn, der Freund den Freund an. Laut einem morgens bei der Polizeistation French Landing eingegangenem Notruf liegt die verstümmelte Leiche der kleinen Irma Freneau in den Ruinen von Ed’s Eats and Dawgs, einem ehemaligen Café mit Eisdiele. Und wer hatte dort angerufen? Doch gewiss ein pflichtbewusster Bürger? Keineswegs, meine Damen und Herrn, keineswegs ...

Meine Damen und Herrn, dies ist Frontberichterstattung, hier wird die Nachricht geschrieben, während sie sich ereignet - eine Arbeitsweise, die dem erfahrenen Journalisten unbedingt »Pulitzer-Preis« zuflüstern muss. Diesen Knüller verdankte Wendell Green seinem Friseur Roy Royal, der ihn von seiner Frau Tillie hatte, die ihrerseits von Myrtle Harrington persönlich ins Vertrauen gezogen worden war. Wendell Green wusste, was er seinen Lesern schuldig war: Er griff sich sein Diktiergerät und seine Kamera und rannte zu seinem hässlichen kleinen Auto hinaus, ohne sich die Zeit zu nehmen, die He-rald-Redaktion anzurufen. Er braucht keinen Fotografen; alle benötigten Aufnahmen kann er mit seiner zuverlässigen Nikon F2 machen, die jetzt auf dem Beifahrersitz liegt. Eine nahtlose Kombination aus Wort und Bild . eine scharfsinnige Untersuchung des grausigsten Verbrechens des neuen Jahrhunderts ... eine gedankenreiche Erforschung des Wesens des Bösen ... eine mitfühlende Schilderung der Leiden einer Kleinstadt . eine schonungslose Enthüllung der Unfähigkeit einer örtlichen Polizei .

Ist es verwunderlich, dass Wendell Green, dem dies alles durch den Kopf geht, während seine einschmeichelnden Worte nacheinander ins Mikrofon seines hochgehaltenen Diktiergeräts tropfen, weder das Donnern der Harleys noch das Näherkommen der Thunder Five wahrnimmt, bevor er auf der Suche nach dem perfekten Ausdruck zufällig zur Seite blickt? Er sieht also zur Seite und erkennt mit einem Anfall von Panik kaum einen Meter links neben sich Beezer St. Pierre, der auf seiner röhrenden Harley sitzt und seinen Lippenbewegungen nach anscheinend singt singt hä?

Nö, kann nicht sein. Nach Wendells Erfahrung flucht Beezer St. Pierre eher wie ein Seemann bei einer Schlägerei in einer Hafenbar. Als Wendell nach Amy St. Pierres Tod lediglich altem Journalistenbrauch folgend im Haus Nailhouse Row Nr. 1 aufgekreuzt war und von dem trauernden Vater hatte wissen wollen, wie man sich fühle, wenn die eigene Tochter von einem Ungeheuer in Menschengestalt wie ein Schwein abgeschlachtet und teilweise verzehrt worden sei, hatte Beezer den unschuldigen Zeitungsmann an der Kehle gepackt, ihn mit einer Flut von Obszönitäten überschüttet und ihm abschließend angedroht, falls Mr. Green sich jemals wieder blicken lasse, werde er ihm den Kopf abreißen, um dann an dem Stumpf unbeschreibliche sexuelle Handlungen vorzunehmen.

Die Drohung von damals ruft Wendells kurzzeitige Panik hervor. Er wirft einen Blick in den Rückspiegel und sieht Beezers Kohorte wie ein einfallendes Gotenheer die Straße entlangbrausen. In seiner Einbildung schwingen sie Schädel an Seilen aus Menschenhaut und brüllen einander zu, was sie mit seinem Hals tun werden, nachdem sie ihm den Kopf abgerissen haben. Was immer er in sein kostbares Gerät diktieren wollte, verflüchtigt sich augenblicklich - und damit auch sein Tagtraum von der Zuerkennung des Pulitzer-Preises. Seine Magennerven verkrampfen sich, und aus allen Poren seines breiten, geröteten Gesichts treten Schweißperlen. Seine linke Hand zittert am Lenkrad, seine rechte schüttelt das Diktiergerät wie Kastagnetten. Wendell nimmt den Fuß vom Gaspedal, rutscht tiefer in den Fahrersitz und dreht den Kopf möglichst weit nach rechts. Er kämpft gegen den fast übermächtigen Drang an, sich im Fußraum unter dem Lenkrad in fötaler Haltung zusammenzurollen. Das Röhren schwerer Motoren hinter ihm wird lauter. Das Herz hämmert ihm gegen die Rippen. Wendell stößt einen wimmernden Klagelaut aus. Eine Kette von Kesselpauken lässt die Luft jenseits der dünnen Blechhaut der Fahrertür erzittern.

Dann donnern die Motorräder an ihm vorbei und rasen den Highway entlang weiter. Wendell Green wischt sich das Gesicht ab. Langsam kann er seinen Körper wieder dazu überreden, sich aufzusetzen. Sein Herz versucht allmählich nicht mehr, aus seinem Brustkorb zu entkommen. Die Welt vor der Windschutzscheibe, die auf die Größe einer Stubenfliege zusammengeschrumpft war, nimmt wieder normale Größe an. Wendell sagt sich, eigentlich habe er nicht mehr Angst gehabt, als jeder normale Mensch unter diesen Umständen verspürt hätte. Selbstachtung bläst ihn auf wie Helium einen Ballon. Die meisten Kerle wären geradewegs in den Straßengraben gefahren, denkt er; die meisten Kerle hätten sich in die Hose gemacht. Aber wie hat nun Wendell Green reagiert? Er hat etwas weniger Gas gegeben, das war alles. Er hat sich wie ein Gentleman benommen und die Arschlöcher von der Thunder Five vorbeigelassen. Was Beezer und seine Gorillas betrifft, ist aus Wendells Sicht Höflichkeit der bessere Teil der Tapferkeit. Er fährt wieder etwas schneller und beobachtet, wie die Biker vorausrasen.

Das Diktiergerät läuft noch. Wendell hebt es an den Mund, fährt sich mit der Zungenspitze über die Lippen und entdeckt, dass er vergessen hat, was er sagen wollte. Unbesprochenes Magnetband surrt von Spule zu Spule. »Verdammt«, sagt er und drückt die Stopp-Taste. Ein inspirierter Satz, eine melodische Kadenz ist im Äther verschwunden, vielleicht für immer. Aber die ganze Situation ist noch weit frustrierender. Wendell hat das Gefühl, mit dem verloren gegangenen Satz sei eine ganze Serie logischer Gedankenverbindungen verschwunden: Er kann sich erinnern, die großen Umrisse von mindestens einem halben Dutzend scharfsinniger Artikel gesehen zu haben, die weit über den Fisherman hinausgegangen wären und ... was getan hätten? Ihm den Pu-litzer-Preis eingebracht hätten, klar, aber wie? In einem bestimmten Bereich seines Verstands, in dem die großen Umrisse entstanden sind, ist weiterhin die äußere Form gespeichert, aber diese Form ist jetzt leer. Beezer St. Pierre und seine Gorillas haben etwas ermordet, was Wen-dell Green jetzt wie die großartigste Idee erscheint, die er jemals gehabt hat, aber Wendell ist sich nicht sicher, ob es ihm gelingen wird, sie ins Leben zurückzurufen.

Wozu sind diese Biker-Freaks überhaupt hier draußen unterwegs?

Die Frage beantwortet sich von selbst: Irgendein dämlicher Gutmensch hat es wohl für notwendig gehalten, Beezer von dem Anruf des Fishermans zu informieren, und jetzt sind die Biker-Freaks zu den Überresten des Ed’s unterwegs - genau wie Wendell. Zum Glück haben so viele Leute dasselbe Ziel, dass er sich gute Chancen ausrechnet, seiner gerechten Strafe entgehen zu können. Um nichts zu riskieren, lässt er ein paar Wagen zwischen sich und den Bikern.

Der Verkehr wird dichter und gerät ins Stocken; weiter vorn bilden die Biker eine Kolonne und fahren links an der Autoschlange vorbei, die zur Abzweigung der staubigen alten Zufahrt zu Ed’s Eats kriecht. Aus siebzig, achtzig Metern Entfernung kann Wendell beobachten, wie zwei Cops, ein Mann und eine Frau, sich bemühen, die Gaffer zum Weiterfahren zu bewegen. Bei jedem Fahrzeug, das vor ihnen hält, müssen sie dieselbe Pantomime aufführen, die Insassen abweisen und die Straße entlangzeigen. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, ist ihr Streifenwagen quer geparkt, sodass er die Einfahrt blockiert und alle abhält, die auf die Idee kommen könnten, ihre Anweisungen zu missachten. Dieser Anblick stört Wendell nicht weiter, weil Pressevertreter ja automatisch Zugang zu allen Tatorten haben. Journalisten sind das Medium, die Öffnung, durch die sonst verbotene Orte und Ereignisse die Öffentlichkeit erreichen. Wendell Green ist hier der Repräsentant des Volkes -und außerdem der bekannteste Journalist im Westen Wisconsins.

Nachdem er weitere zehn Meter vorangekrochen ist, sieht er, dass die Cops, die den Verkehr in Fluss zu halten versuchen, Danny Tcheda und Pam Stevens sind, und seine Selbstgefälligkeit gerät ins Wanken. Erst vor wenigen Tagen haben Tcheda und Stevens seine Bitte um Informationen beide mit der Aufforderung beantwortet, er solle sich zum Teufel scheren. Pam Stevens ist ohnehin ein rechthaberisches Weibsbild, ein professionelles Raubein. Wieso würde eine passabel aussehende Mieze sonst zur Polizei gehen? Stevens würde ihm den Zugang zum Tatort rein aus Trotz verwehren - das würde ihr richtig Spaß machen! Wendell erkennt, dass er wahrscheinlich wird versuchen müssen, den Tatort auf Schleichwegen zu erreichen. Er sieht sich auf dem Bauch liegend über die Felder robben und empfindet dabei einen angewiderten Schauder.

Wenigstens wird er das Vergnügen haben, aus nächster Nähe zu beobachten, wie die Cops Beezer und seine Crew aufzuhalten versuchen. Da die Biker an einem weiteren halben Dutzend Autos vorbeiröhren, ohne ihr Tempo zu verringern, vermutet Wendell, dass sie angeberhaft schleudernd abbiegen, zwischen den beiden Dummköpfen in Blau durchrollen und um den Streifenwagen herumfahren wollen, als würde er gar nicht existieren. Was machen die Cops dann?, fragt Wendell sich - ziehen sie ihre Pistolen und versuchen grimmig auszusehen? Geben sie Warnschüsse ab und schießen sich dabei gegenseitig in den Fuß?

Erstaunlicherweise achten Beezer und seine Freunde hinter ihm gar nicht auf die Autos, die auf die Zufahrt abzubiegen versuchen, auf Tcheda und Stevens oder auf sonst irgendetwas dort vorn. Sie drehen nicht einmal die Köpfe zur Seite, um den teilweise eingefallenen Holzbau, den Wagen des Chiefs, den Pickup - den Wendell sofort erkennt - und die im sonnenverbrannten Gras stehenden Männer zu betrachten, von denen zwei Dale Gilbertson und Hollywood Jack Sawyer, der Besitzer des Pickups, dieser hochnäsige Arsch aus L. A. sind. (Mit dem dritten Kerl, der einen Panamahut, Sonnenbrille und eine schicke Weste trägt, kann zumindest Wendell überhaupt nichts anfangen. Er sieht aus wie aus einem alten Humphrey-Bogart-Film entsprungen.) Nein, sie röhren mit stur nach vorn zeigenden Helmen an dem ganzen Durcheinander an der Abzweigung vorbei, als hätten sie’s nur eilig, nach Centralia zu kommen, um aus der Einrichtung der Sand Bar Kleinholz zu machen.

Alle fünf Hundesöhne fahren so gleichgültig wie eine Horde wilder Hunde weiter. Sobald die Straße vor ihnen wieder frei ist, bilden die anderen hinter Beezer erneut eine Viererkette, die sich über die gesamte Fahrbahnbreite erstreckt. Dann biegen sie wie auf ein Zeichen hin links ab, schleudern fünf Wolken aus Staub und Kies auf und wenden auf der Straße. Ohne ihren Bewegungsablauf zu unterbrechen - anscheinend sogar ohne Geschwindigkeitsverlust -, nehmen sie ihre frühere 1-2-2-Formation wieder ein und röhren nun nach Westen, am Tatort vorbei in Richtung French Landing zurück.

Der Teufel soll mich holen, denkt Wendell Green. Beezer kehrt um und gibt auf. Diese Flasche! Die Bikergruppe wird immer größer, während sie auf ihn zurast, und der verblüffte Wendell kann bald Beezer St. Pierres grimmiges Gesicht erkennen, das unter dem Helm ebenfalls immer größer wird, während er näher kommt. »Hätte dich nie für einen Feigling gehalten«, sagt Wendell, während er weiter beobachtet, wie Beezer auf ihn zuröhrt. Der Fahrtwind hat den Vollbart in gleich große Hälften geteilt, die rechts und links am Gesicht anliegen. Hinter der Schutzbrille sehen Beezers Augen aus, als würde er durch einen Gewehrlauf zielen. Bei der Vorstellung, Beezer könnte diesen Jägerblick auf ihn richten, wird Wendell halbwegs übel. »Loser«, sagt er, allerdings nicht sehr laut. Beezer rast mit ohrenbetäubendem Lärm an dem verbeulten Toyota vorbei. Das Hämmern der restlichen Harleys der Thunder Five lässt den kleinen Wagen erzittern, dann röhren sie die Straße entlang weiter.

Dieser Beweis für Beezers Feigheit heitert Wendell auf, während er im Rückspiegel beobachtet, wie die Biker kleiner werden. Ein Gedanke, den er nicht ignorieren kann, beginnt sich jedoch allmählich durch die Synapsen seines Gehirns an die Oberfläche zu schlängeln. Wendell ist vielleicht nicht der Edward R. Murrow der Gegenwart, aber er ist seit fast dreißig Jahren Reporter und hat in dieser Zeit gewisse Instinkte entwickelt. Der Geistesblitz, der sich durch seine Gedankenbahnen windet, löst eine Folge sich wellenartig ausbreitender Alarmsignale aus, die schließlich in sein Bewusstsein vordringen. Wendell kapiert endlich - er erkennt den verborgenen Plan; er begreift, was hier vorgeht.

»Teufel auch!«, sagt er, hupt breit grinsend, reißt das Lenkrad nach links und schafft es gerade noch, mit nur minimalen Schäden an seiner Stoßstange und der seines Vordermanns aus der Kolonne auszuscheren. »Du hinterlistiger Hundesohn«, sagt Wendell vor Entzücken fast kichernd. Der Toyota quetscht sich aus der nach Osten orientierten Autoschlange und rollt auf die Fahrspuren nach Westen hinüber. Dann nimmt er scheppernd und furzend die Verfolgung der listigen Biker auf.

Wendell Green wird also doch nicht durch Maisfelder kriechen müssen: Dieser hinterlistige Hundesohn Beezer St. Pierre weiß einen Schleichweg zum Ed’s Eats! Unser Starreporter braucht nur weit genug zurückzubleiben, um außer Sichtweite zu sein, dann bekommt er einen Freifahrschein zum Tatort. Wunderbar. Ah, welche Ironie doch darin liegt: Beezer ist der Presse behilflich . Vielen Dank, du arroganter Rowdy! Er nimmt nicht an, dass Dale Gilbertson ihn ungehindert herumschnüffeln lassen wird, aber es wird weit schwieriger sein, Wendell zu vertreiben, als ihm nur den Zutritt zu verwehren. In der Zeit, die er dann dort hat, kann er ein paar bohrende Fragen stellen, ein paar aussagekräftige Fotos knipsen und vor allem genügend Atmosphäre aufsaugen, um eines seiner legendären »Stimmungsbilder« zu entwerfen.

Wendell dackelt den Bikern mit achtzig Sachen frohgemut den Highway hinterher und lässt sie zwar weit vorausrasen, aber ohne sie aus den Augen zu verlieren. Der Strom entgegenkommender Wagen wird rasch dünner: nach Zweier- und Dreiergruppen, die mit großen Abständen fahren, kommen noch ein paar einzelne Autos, dann gar keine mehr. Als hätten sie gewartet, bis sie unbeobachtet sind, biegen Beezer und seine Freunde auf einmal quer über den Highway ab und röhren die Zufahrt zu Goltz’s futuristischem Kuppelbau hinauf.

Wendell spürt einen unwillkommenen Stich von Selbstzweifel; andererseits kann er sich nicht vorstellen, dass Beezer und seine Rüpel plötzlich Sehnsucht nach Anhängerkupplungen oder Rasentraktoren haben sollten. Er fährt etwas schneller und fragt sich dabei, ob sie ihn etwa bemerkt haben und jetzt abzuschütteln versuchen. Seines Wissens gibt es dort oben nur den Ausstellungsraum, die Kundendienstwerkstatt und die Asphaltwüste des Parkplatzes. Und hinter dem Parkplatz? Soviel er weiß, erstreckt sich auf einer Seite mit niedrigem Buschwerk bewachsenes Ödland bis zum Horizont, während sich auf der anderen Seite ein lichtes Wäldchen hinzieht. Wendell kann von der Straße aus sehen, wo die anscheinend als Windschutz gepflanzten Bäume sich den Hügel hinunterziehen.

Ohne erst den Blinker zu setzen, biegt er über die Gegenfahrbahnen ab und rast die Zufahrt zu Goltz’s hinauf. Das Donnern der Harleys ist noch zu hören, klingt aber deutlich leiser, und Wendell spürt jäh aufkommende Angst: Sie haben ihn irgendwie ausgetrickst, hauen ab und machen sich johlend über ihn lustig! Am Ende der Zufahrt rast er um den Ausstellungsraum herum und erreicht den großen Parkplatz. Vor der Kundendienstwerkstatt stehen zwei riesige gelbe Traktoren, aber sein Wagen ist hier das einzige Auto. Am Rand des leeren Parkplatzes bildet eine nur stoßstangenhohe niedrige Betonmauer, hinter der Bäume gepflanzt sind, die Grenze zwischen Asphalt und Ödland. Jenseits der Baumlinie endet die Mauer an dem in leichter Kurve verlaufenden Asphaltband der Zufahrt zur Rückseite des Ausstellungsraums.

Wendell reißt das Steuer herum und fährt aufs Ende der Betonmauer zu. Er kann die Motorräder noch hören, aber sie klingen jetzt wie ein ferner Bienenschwarm. Sie müssen ungefähr eine halbe Meile weit entfernt sein, denkt Wendell, während er aus dem Toyota springt. Er stopft sich das Diktiergerät in eine Jackentasche, hängt sich die Nikon um den Hals und rennt um die Mauer herum auf die verwilderte Wiese. Schon bevor er das Wäldchen erreicht, sieht er die brüchigen, zum Teil überwucherten Überreste einer alten Schotterstraße, die sich zwischen den Bäumen den Hügel hinunterzieht.

Wendell schätzt, was aber übertrieben ist, dass das Ed’s Eats ungefähr eine Meile von hier entfernt liegt, und fragt sich, ob sein Wagen diese Strecke auf dieser holperigen, unebenen Oberfläche zurücklegen könnte. An manchen Stellen ist der Straßenbelag durch tiefe Risse zu tektonischen Platten aufgespalten; an anderen ist er zu schwarzem Geröll zerbröselt. Tellerförmige Einbrüche und lange Spalten, in denen Unkraut wuchert, strahlen von den dicken Baumwurzeln aus, von denen die ehemalige Straße unterminiert ist. Ein Biker könnte verhältnismäßig mühelos über die Unebenheiten hinwegholpern, aber Wendell sieht ein, dass er diesen Weg besser zu Fuß bewältigen wird als mit dem Toyota. Vom Highway aus hat er gesehen, dass ihm noch reichlich Zeit bleibt, bevor der Leichenbeschauer und die Spurensicherer aufkreuzen. Auch mit Unterstützung des berühmten Hollywood Sawyers bewegen die hiesigen Cops sich wie in Trance.

Während Wendell unterwegs ist, wird das Motorengeräusch der Harleys lauter, als hätten die Jungs am Ende der alten Straße Halt gemacht, um ihre Taktik zu besprechen. Perfekt. Wendell kann nur hoffen, dass sie lange genug schwatzen, bis er sie fast eingeholt hat; er hofft, dass sie sich anbrüllen und die Fäuste in die Luft recken. Er will sie mit Zorn und Adrenalin - und Gott weiß was diese Wilden sonst noch in ihren Satteltaschen mitführen - bis zu den Kiemen voll gepumpt sehen. Wendell würde liebend gern ein Foto machen, auf dem Beezer St. Pierre Dale Gilbertson mit einer gut platzierten Rechten die Vorderzähne ausschlägt oder seinen Kumpel Sawyer in einen Würgegriff nimmt. Aber das Foto, nach dem Wendell am meisten giert und für das er bereit wäre, jeden Cop, County- oder Staatsbeamten oder unbeteiligten Zuschauer zu bestechen, der imstande ist, die Hand aufzuhalten, ist ein gutes, scharfes, dramatisches Foto von Irma Freneaus nackter Leiche. Am liebsten eines, das keinen Zweifel an den vom Fisher-man angerichteten Verwüstungen lässt, wie immer sie aussehen mögen. Zwei Fotos wären noch idealer - eines von ihrem Gesicht wegen der schmerzlichen Intensität, das andere eine Ganzkörperaufnahme für die Perversen -, aber notfalls würde er sich mit der Ganzaufnahme begnügen. Ein Bild dieser Art würde um die ganze Welt gehen und dabei Millionen Dollar einspielen. Allein der National Enquirer würde einiges - wie viel, zweihundert Mille, dreihundert? - für ein Foto der armen kleinen Irma hinblättern, auf dem die Ermordete mit deutlich erkennbaren Verstümmelungen ausgestreckt daliegt. Da erzähl mir noch einer was von Goldminen!

Als Wendell auf der miserablen ehemaligen Straße erst kaum hundertfünfzig Meter zurückgelegt hat, wobei seine Aufmerksamkeit zu gleichen Teilen davon beansprucht wird, dass er sich an dem Gedanken an das viele Geld weidet, das die kleine Irma in seine Taschen leiten wird, und zugleich befürchtet, er könnte stürzen und sich den Knöchel verstauchen, verstummt das Röhren der Motorräder der Thunder Five plötzlich. Die nun folgende Stille wirkt gewaltig, füllt sich dann aber sofort wieder mit anderen, wenn auch leiseren Geräuschen. Wendell hört nicht nur die eigenen keuchenden Atemzüge, sondern auch irgendein anderes Geräusch, eine Kombination aus Rattern und Poltern irgendwo hinter sich. Er fährt herum und erblickt am Beginn der ehemaligen Straße einen uralten Pickup, der schwankend auf ihn zuhält.

Es ist fast komisch anzusehen, wie der Pickup von einer Seite auf die andere schwankt, während erst ein Rad, dann ein zweites in einer unsichtbaren Vertiefung verschwindet oder über die Bruchkante einer Platte des alten Straßenbelags hinaufrollt. Oder vielmehr wäre es komisch, wenn diese Leute ihn nicht bei seiner privaten Erkundungstour zu Irma Freneaus Leiche stören würden. Immer wenn der Pickup über ein besonders massiv wirkendes Stück Baumwurzel klettert, schwanken die vier dunklen Köpfe im Fahrerhaus wie Marionetten. Wendell tritt einen Schritt vor, um diese Bauernlümmel dorthin zurückzuschicken, wo sie hergekommen sind. Die Radaufhängung des Pickups streift einen flachen Felsbrocken, sodass unter dem Wagenboden Funken stieben. Diese Kiste muss mindestens dreißig Jahre alt sein, denkt Wendell - sie gehört zu den wenigen Fahrzeugen, die noch klappriger als sein eigener Wagen aussehen. Als der Pickup herangerattert kommt, erkennt Wendell, dass das ein International Harvester ist. Unkraut und ein Birkenzweig schmücken seine vordere Stoßstange. Baut I. H. überhaupt noch Pickups? Wendell hebt wie ein Geschworener bei der Vereidigung die Hand. Der Truck holpert und rumpelt noch ein paar Meter über Querrinnen weiter, bevor er zum Stehen kommt. Die linke Wagenseite reicht erheblich höher als die rechte. Im Halbdunkel unter den Bäumen kann Wendell die Gesichter der Leute, die ihn aus dem Fahrerhaus anstarren, nicht genau sehen, aber er hat das Gefühl, mindestens zwei von ihnen zu kennen.

Der Mann am Steuer streckt den Kopf aus dem Fahrerfenster und sagt: »Hallo, Sie großer Reporter. Haben die Bullen Ihnen auch die Haustür vor der Nase zugeknallt?« Es ist Teddy Runkleman, auf dessen Namen Wendell regelmäßig stößt, wenn er den täglichen Polizeibericht durchgeht. Die drei anderen im Fahrerhaus wiehern wie Maultiere über Teddys geistreiche Bemerkung. Wendell erkennt zwei von ihnen: Freddy Saknes-sum, Angehöriger eines zwielichtigen Clans, der in verschiedenen baufälligen Schuppen drunten am Fluss sein unstetes Leben fristet, und Toots Billinger, ein hagerer junger Mann, der sich irgendwie damit über Wasser hält, dass er in La Riviere und French Landing Schrott sammelt. Wie Runkleman ist Toots schon mehrmals wegen irgendwelcher drittklassiger Straftaten verhaftet, aber bisher nie rechtskräftig verurteilt worden. Die abgehärmte, ungepflegte Frau zwischen Freddy und Toots kommt ihm irgendwie bekannt vor, aber er weiß nicht, wo er sie hintun soll.

»Hallo, Teddy«, sagt Wendell. »Hallo, Freddy und Toots. Nein, als ich das Durcheinander dort draußen gesehen habe, habe ich beschlossen, den Hintereingang zu benützen.«

»He, Wendell, erinnerst du dich nicht an mich?«, fragt die Frau, was leicht Mitleid erregend klingt. »Doodles Sanger, falls dein Gedächtnis völlig im Arsch ist. Ich bin mit ’nem ganzen Haufen Kerle in Freddys Bel Air losgefahren, und Teddy war mit ’nem anderen Haufen unterwegs, aber nachdem Miss Miststück uns weitergeschickt hat, wollten die anderen auf ihre Barhocker zurück.«

Natürlich erinnert er sich an sie, obwohl das hart gewordene Gesicht, das er jetzt vor sich hat, kaum noch Ähnlichkeit mit dem des lebenslustigen Partygirls namens Doodles Sanger hat, das vor einem Jahrzehnt im Hotel Nelson Drinks servierte. Wendell glaubt, dass sie mehr wegen ihrer übermäßigen Trinkerei am Arbeitsplatz als wegen ihrer Klauerei rausgeflogen ist, obwohl sie weiß Gott beides getan hat. Damals hat Wendell eine Menge Geld über die Bartheke im Hotel Nelson geschoben. Er versucht sich zu erinnern, ob er jemals mit Doodles in die Kiste gegangen ist.

Er geht auf Nummer Sicher und sagt: »Jesses, Dood-les, wie zum Teufel konnte ich ein hübsches kleines Ding wie dich vergessen?«

Über diesen Geistesblitz müssen die Jungs laut gackern. Doodles rammt Toots Billinger den Ellbogen in die dürren Rippen, bedenkt Wendell mit einem schmollenden kleinen Lächeln und sagt: »Oh, danke, liebster Herr.« Ja, er hat sie gebumst, das steht fest.

Jetzt wäre eigentlich der ideale Zeitpunkt, diese Schwachköpfe in ihre Rattenlöcher zurückzubeordern, aber auf einmal wird Wendell von einer Inspiration erster Ordnung heimgesucht. »Wie würde’s euch netten Leuten gefallen, einem Gentleman von der Presse behilflich zu sein und sich damit fünfzig Eier zu verdienen?«

»Jeder fünfzig oder alle zusammen?«, fragt Teddy Runkleman.

»Na, na, für alle zusammen natürlich«, sagt Wendell.

Doodles beugt sich nach vorn und sagt: »Zwanzig für jeden, okay, du große Nummer? Wenn wir machen, was du von uns verlangst.«

»Ach, ihr brecht mir das Herz«, sagt Wendell, zieht seine Geldbörse aus der Hüfttasche und nimmt vier Zwanziger heraus, sodass nur ein Zehner und drei Eindollarscheine zurückbleiben, mit denen er für den Rest des Tages auskommen muss. Sie nehmen ihre Bezahlung entgegen und lassen die Scheine blitzschnell verschwinden. »Okay, ich möchte, dass ihr Folgendes tut«, sagt Wendell und beugt sich zum Seitenfenster und den vier Kürbislaternengesichtern im Fahrerhaus hinüber.

12

Wenige Minuten später kommt der Pickup unter den letzten Bäumen, dort wo die Schotterstraße in Unkraut und hohem Gras verschwindet, schlingernd zum Stehen. Die Motorräder der Thunder Five stehen einige Meter links voraus sauber aufgereiht schräg auf ihren Seitenständern. Wendell, der Freddy Saknessums Platz im Fahrerhaus eingenommen hatte, steigt aus, geht einige Schritte weiter und hofft, dass nichts von dem kräftigen Duft nach getrocknetem Schweiß, ungewaschenen Leibern und abgestandenem Bier, den seine Mitfahrer absondern, an seiner Kleidung haftet. Hinter sich hört er Freddy von der Ladefläche springen, während die anderen aussteigen und die Autotüren schließen, ohne mehr als doppelt so viel Lärm zu machen wie unbedingt nötig. Von seinem Standort aus kann Wendell nur die farblose, verrottete Rückwand von Ed’s Eats aus einem Dickicht aus Wilder Möhre und Tigerlilien aufragen sehen. Leise Stimmen, von denen eine Beezer St. Pierre gehört, dringen ihm ans Ohr. Wendell überprüft rasch seine Nikon, nimmt den Objektivdeckel ab und vergewissert sich, dass der neue Film richtig transportiert wird, bevor er mit langsamen, lautlosen Schritten an den Harleys vorbeigeht und der Längsseite des verfallenen Gebäudes folgt.

Bald kann er die überwachsene Zufahrt und den querstehenden Streifenwagen sehen, der sie blockiert. Unmittelbar am Highway diskutieren Danny Tcheda und Pat Stevens mit einem Dutzend Männer und Frauen, die ihre Autos kreuz und quer wie Spielsachen verstreut hinter sich zurückgelassen haben. Das wird nicht mehr lange funktionieren: Falls Tcheda und Stevens einen Damm bilden sollen, wird dieser Damm demnächst an einigen Stellen brechen. Wendell kann das nur recht sein: Größtmögliches Chaos würde ihm weit mehr Bewegungsfreiheit verschaffen und auch die Story farbiger machen. Er wünscht sich, er könnte gleich jetzt in sein Diktiergerät murmeln:

Die Unerfahrenheit von Chief Gilbertsons Truppe zeigte sich in den vergeblichen Bemühungen der Officers Tcheda und Stevens, die große Zahl jener Bürger abzuweisen, die gekommen waren, um den neuesten Beweis für die Geistesgestörtheit des Fishermans mit eigenen Augen zu sehen ... Ah, irgendwas, irgendwas, dann: ... aber dem Verfasser dieser Zeilen gelang es, bis zum Tatort vorzudringen, wo ihn das Bewusstsein, als die Augen und Ohren seiner Leser dienen zu dürfen, mit Stolz und Demut erfüllte ...

Wendell hasst es, solch wunderbares Zeug einzubüßen. Leider gibt es keine Garantie dafür, dass er sich später daran erinnern wird, aber er darf jetzt nicht riskieren, gehört zu werden. Er geht weiter auf die Vorderseite des Ed’s Eats zu.

Die demütigen Ohren der Öffentlichkeit belauschen, wie Beezer St. Pierre und Dale Gilbertson direkt vor dem Gebäude ein überraschend freundschaftliches Gespräch führen; die demütigen Augen der Öffentlichkeit beobachten, wie Jack Sawyer mit einem leeren Plastikbeutel und einer Baseballmütze in der rechten Hand in Sicht kommt. Die demütige Nase der Öffentlichkeit meldet einen wahrhaft grässlichen Gestank, der die Anwesenheit einer verwesenden Leiche in dem schäbigen kleinen Bau rechts von Wendell bezeugt. Jack bewegt sich etwas behänder als sonst, und obgleich klar ist, dass er nur zu seinem Pickup will, sieht er sich immer wieder um.

Was geht hier vor? Der Goldjunge wirkt ganz entschieden schuldbewusst. Er benimmt sich wie ein Ladendieb, der sich gerade seine Beute unter die Jacke stopft, und Goldjungen sollten sich nicht so benehmen. Wendell hebt die Kamera und stellt sie aufs Ziel scharf. Da haben wir dich, Jack, alter Junge, alter Freund, alter Kumpel, frisch wie ein neuer Geldschein und doppelt so scharf. Mach ein nettes Gesicht für die Kamera und lass uns sehen, was du in der Hand hältst, okay? Wendell macht ein Foto und verfolgt dann durch den Sucher, wie Jack zu seinem Truck geht. Der Goldjunge will diese Sachen im Handschuhfach verstauen, denkt Wendell, und möchte dabei nicht gesehen werden. Pech für dich, Kleiner, hier arbeitet die versteckte Kamera. Aber Pech auch für die stolzen und doch demütigen Augen und Ohren von French County. Als Jack Sawyer seinen Pickup erreicht, steigt er nämlich nicht etwa ein, sondern beugt sich seitlich über die Ladefläche und fummelt dort an etwas herum, wobei er unserem edlen Journalisten den Rücken und sonst gar nichts zeigt. Der edle Journalist macht trotzdem eine Aufnahme, damit eine Bildfolge zum nächsten Foto entsteht, auf dem Jack Sawyer sich von seinem Truck abwendet - mit leeren Händen und nicht mehr schuldbewusst. Er hat seine schmuddeligen Schätze dort unsichtbar verstaut, aber was hat sie zu Schätzen gemacht?

Dann wird Wendell Green von einem Blitzstrahl getroffen. Ein kalter Schauer überläuft seine Kopfhaut, und sein krauses Haar droht sich zu glätten. Eine großartige Story ist soeben unglaublich großartig geworden. Teuflischer Mörder, verstümmelte Kinderleiche und . der Sturz eines Helden! Jack Sawyer kommt mit einem Plastikbeutel und einer Baseballmütze der Brewers aus der Ruine, vergewissert sich, dass er nicht beobachtet wird, und versteckt das Zeug dann in seinem Pickup. Er hat diese Dinge in Ed’s Eats gefunden; er hat sie vor der Nase seines Freundes und Bewunderers Dale Gilbertson beiseite geschafft. Der Goldjunge hat Beweismaterial vom Tatort entfernt! Und Wendell hat den Beweis dafür auf Film, Wendell hat den hochnäsigen Jack Sawyer in der Tasche, Wendell wird ihn mit einem fürchterlichen Krach zu Fall bringen. Mann, o Mann! Er würde am liebsten tanzen, das würde er, und er kann sich nicht länger beherrschen: Er führt mit seiner wundervollen Kamera in den Händen und einem lotterigen Grinsen auf dem Gesicht einen unbeholfenen kleinen Freudentanz auf.

Er fühlt sich so gut, so siegreich, dass er beinahe beschließt, die vier Idioten zu vergessen, die auf sein Signal warten, und es für heute gut sein zu lassen. Aber halt, das wäre verfrüht. Die Supermarkt-Revolverblätter hecheln nach einem schönen, grausigen Foto von Irma Freneaus Leiche, und Wendell Green ist der Mann, der es ihnen beschaffen kann.

Wendell macht einen weiteren vorsichtigen Schritt auf die Vorderseite des verfallenen Gebäudes zu und sieht dann etwas, was ihn wie angenagelt stehen bleiben lässt. Vier der Biker sind ans Ende der überwachsenen Zufahrt hinuntergegangen, wo sie Tcheda und Stevens anscheinend helfen, die Gaffer weiterzuschicken, die sich Leichen aus der Nähe ansehen wollen. Teddy Runkleman hat gehört, der Fisherman habe in diesem Schuppen mindestens sechs, vielleicht sogar acht halb verzehrte Kinderleichen versteckt: Die Nachricht ist auf ihrem Weg durch die Kleinstadt immer sensationeller aufgebauscht worden. Daher können die Cops bestimmt Hilfe brauchen, aber Wendell wünscht sich, Beezer und seine Crew würden die Situation anheizen, statt mitzuhelfen, sie unter Kontrolle zu halten. Er erreicht das Ende des Gebäudes und wirft einen Blick um die Ecke, um alles zu sehen, was sich vor Ed’s Eats abspielt. Um zu bekommen, was er will, wird er den genau richtigen Augenblick abpassen müssen.

Ein zweiter Streifenwagen schlängelt sich durch die auf dem Highway 35 herumstehenden Autos, fährt an Tchedas Wagen vorbei und rollt dann im Unkraut und Geröll vor Ed’s Eats aus. Zwei jüngere Teilzeit-Cops namens Holtz und Nestler steigen aus, schlendern auf Dale Gilbertson zu und bemühen sich angestrengt, nicht auf den Gestank zu reagieren, der mit jedem Schritt widerli-cher wird. Wendell beobachtet, dass diese Jungs noch mehr Mühe haben, ihre Bestürzung und Verblüffung zu verbergen, als sie sehen, wie ihr Chief sich anscheinend freundschaftlich mit Beezer St. Pierre unterhält, den sie vermutlich einer Myriade namenloser Straftaten verdächtigen. Die beiden sind Farmersjungen mit abgebrochenem Studium an der UW/River, die sich ein einzelnes Gehalt teilen und so verbissen darum kämpfen, in Vollzeit übernommen zu werden, dass sie dazu neigen, alles in striktem Schwarz-Weiß-Raster zu sehen. Dale beruhigt sie, und Beezer, der beide mit je einer Hand hochheben und ihre Köpfe wie weich gekochte Eier zerschlagen könnte, lächelt wohlwollend. Offenbar auf Dales Anweisung hin traben die neuen Jungs zum Highway hinunter, wobei sie Jack Sawyer im Vorbeigehen verehrungsvolle Blicke zuwerfen, die armen Trottel.

Jack tritt zu einer kleinen Besprechung an Dale heran. Nur schade, dass Dale nicht weiß, dass sein Kumpel Beweismaterial unterschlagen hat, ha! Oder, überlegt Wendell sich, weiß er’s vielleicht - steckt er mit ihm unter einer Decke? Eines steht jedenfalls fest: Alles wird an den Tag kommen, sobald der Herald die aufschlussreichen Fotos bringt.

Unterdessen steht der Kerl mit Panamahut und Sonnenbrille einfach nur mit verschränkten Armen da und wirkt so unbekümmert und selbstbewusst, als hätte er alles so unter Kontrolle, dass sogar der Gestank ihm nichts anhaben kann. Der ist eine Schlüsselfigur, sagt Wendell sich. Er entscheidet, was gemacht wird. Der Goldjunge und Dale wollen ihn zufrieden stellen; das lässt ihre Körpersprache erkennen. Eine Andeutung von Respekt, von Ehrerbietung. Falls sie etwas vertuschen, tun sie’s für ihn. Aber weshalb? Und wer zum Teufel ist er? Ein Mann in mittleren Jahren, irgendwo in den Fünfzigern, eine Generation älter als Jack und Dale; er ist zu elegant, um auf dem Land zu leben, also kommt er aus Madison, vielleicht aus Milwaukee. Er ist offenbar kein Cop, sieht aber auch nicht wie ein Geschäftsmann aus. Jedenfalls ist er verdammt selbstbewusst, das verkündet seine ganze Haltung.

Dann durchbricht ein weiterer Streifenwagen die Absperrung unten am Highway 35 und kommt dann neben dem der Teilzeit-Cops zum Stehen. Der Goldjunge und Gilbertson gehen hin und begrüßen Bobby Dulac und seinen Partner, den fetten Dit Jesperson, aber der Kerl mit dem Panamahut sieht nicht einmal zu ihnen hinüber. He, das ist cool. Er steht da ganz allein wie ein General, der seine Armee überblickt. Wendell beobachtet, wie der geheimnisvolle Unbekannte eine Zigarette herausholt, sie sich anzündet und eine weiße Rauchfahne ausstößt. Jack und Dale gehen mit den Neuankömmlingen in das alte Gebäude, aber dieser Kerl raucht einfach seine Zigarette weiter, ohne sich im Geringsten darum zu kümmern, was um ihn herum geschieht. Durch die verrottete Wand kann Wendell hören, wie Dulac und Jesperson sich über den Gestank beschweren; dann grunzt einer von ihnen Bäh!, als er die Leiche sieht. »Hallo, Boys?«, sagt Dulac. »Soll der Scheiß echt sein? Hallo, Boys?« Seine Stimme verrät Wendell ziemlich genau, wo die Leiche liegt - offenbar an der Rückwand.

Bevor die drei Cops und Sawyer wieder zur Vorderfront des Gebäudes schlurfen, beugt Wendell sich um die Ecke, richtet seine Kamera auf den geheimnisvollen Unbekannten und knipst ein Bild von ihm. Zu seinem Entsetzen sieht der Kerl mit dem Panamahut sofort in seine Richtung und fragt: »Wer hat mich fotografiert?« Wendell weicht hastig hinter das Gebäude zurück, aber er weiß, dass der Kerl ihn gesehen haben muss. Die Sonnenbrille war genau auf ihn gerichtet! Der Kerl hat das Gehör einer Fledermaus - er hat das Verschlussklicken wahrgenommen. »Kommen Sie raus«, hört Wendell ihn sagen. »Es ist sinnlos, sich verstecken zu wollen. Ich weiß, dass Sie da sind.«

Wendell, dessen Blickfeld jetzt eingeschränkt ist, kann gerade noch sehen, dass ein Wagen der State Police, dem der Nodrugs-Pontiac der hiesigen Polizei folgt, vom Stau am Ende der Zufahrt heraufgerast kommt. Dort unten scheint die Situation den Siedepunkt erreicht zu haben. Wenn Wendell sich nicht täuscht, sieht er, wie einer der Biker einen Mann aus dem Fahrerfenster eines gepflegten grünen Oldsmobiles zerrt.

Zeit, die Kavallerie anzufordern, das steht fest. Wen-dell tritt vom Gebäude zurück und winkt seine Truppe heran. Teddy Runkleman plärrt »Auf sie mit Gebrüll!«, und Doodles kreischt wie eine läufige Katze. Wendells vier Helfer stürmen daraufhin an ihm vorbei und machen so viel Lärm, wie er sich nur wünschen kann.

13

Danny Tcheda und Pam Stevens haben bereits alle Hände voll damit zu tun, Möchtegern-Eindringlinge abzuwehren, als sie schwere Motorräder donnernd auf sich zurasen hören. Die Ankunft der Thunder Five hat ihnen heute wirklich noch zu ihrem Glück gefehlt. Teddy Runkleman und Freddy Saknessum loszuwerden, war einfach genug gewesen, aber keine fünf Minuten später füllten sich die nach Osten führenden Fahrbahnen des Highways 35 mit Leuten, die glaubten, es sei ihr gutes Recht, all die kleinen Leichen anzugaffen, die angeblich in der Ruine von Ed’s Eats gestapelt waren. Für jedes Auto, das sie schließlich weiterschicken konnten, rollten zwei weitere heran. Jedermann verlangt eine ausführliche Erklärung dafür, weshalb sie als Steuerzahler und besorgte Bürger keinen Zutritt zu einem Tatort haben sollen, vor allem zu einem, der so tragisch, so ergreifend, so ... nun, so aufregend sei. Die meisten weigern sich zu glauben, dass in dem verfallenen Gebäude nur Irma Freneaus Leiche liegt; drei Leute nacheinander werfen Danny vor, er helfe mit, irgendetwas zu vertuschen, und einer von ihnen benützt tatsächlich das Wort »Fishergate«. Puh. Auf verrückte Weise glauben viele dieser Leichenjäger beinahe, die hiesige Polizei wolle den Fisherman schützen!

Manche von ihnen befingern Rosenkränze, während sie ihn zusammenstauchen. Eine Frau schwenkt ein Kruzifix vor seinem Gesicht und erklärt ihm, er habe eine schmutzige Seele und sei zum Fegefeuer verdammt. Mindestens die Hälfte aller Leute, die er abweist, haben Kameras bei sich. Was für Menschen fahren an einem Samstagmorgen los, um Fotos von ermordeten Kindern zu machen? Und was Danny wirklich aufregt: Sie alle halten sich für völlig normal. Wer ist der Abartige? Er.

Der für ein ältliches, aus dem Maid Marian Way stammende Paar sprechende Ehemann sagt: »Junger Mann, Sie scheinen der einzige Mensch in dieser County zu sein, der nicht begreift, dass überall um uns herum Geschichte passiert. Madge und ich finden, dass wir ein Recht auf ein Andenken haben.«

Ein Andenken?

Danny, der verschwitzt, übel gelaunt und völlig angewidert ist, verliert die Beherrschung. »Kumpel, da bin ich völlig Ihrer Meinung«, sagt er. »Ging’s nach mir, könnten Sie und Ihre reizende Frau mit einem blutbefleckten T-Shirt, vielleicht sogar mit dem einen oder anderen abgeschnittenen Finger im Kofferraum wegfahren. Aber was soll ich sagen? Der Chief lässt überhaupt nicht mit sich reden.«

Das Maid-Marian-Way-Paar fährt hastig weiter - zu schockiert, um noch etwas zu sagen. Der nächste Kerl in der Schlange fängt sofort zu plärren an, als Danny sich zum Fahrerfenster hinunterbeugt. Er sieht genau so aus, wie Danny sich George Rathbun vorstellt, aber seine Stimme ist heiserer und etwas höher. »Glauben Sie bloß nicht, dass ich nicht sehe, was Sie machen, Freundchen!« Danny sagt, dass das gut so sei, weil er einen Tatort zu bewachen habe, worauf der George-Rathbun-Typ, der einen alten blauen Dodge Caravan ohne vordere Stoßstange und rechten Außenspiegel fährt, schreit: »Ich stehe seit zwanzig Minuten hier, während Sie und diese Person praktisch nichts tun. Ich hoffe, dass ihr nicht überrascht seid, wenn hier demnächst eine Bürgerwehr aktiv wird!«

Ausgerechnet in diesem heiklen Augenblick hört Danny das unverkennbare Grollen, mit dem die Thunder Five den Highway entlang auf ihn zugerast kommt. Er fühlt sich schlecht, seit er Tyler Marshalls Fahrrad vor dem Altenheim gefunden hat, und die Vorstellung, sich mit Beezer St. Pierre auseinander setzen zu müssen, füllt sein Hirn mit dunklem öligen Rauch und stiebenden roten Funken. Er senkt den Kopf und starrt dem rotgesich-tigen George-Rathbun-Doppelgänger direkt in die Augen. Sein Tonfall ist ausdruckslos monoton, als er sagt: »Sir, wenn Sie so weitermachen, lege ich Ihnen Handschellen an, parke Sie auf den Rücksitz meines Wagens, bis ich diesen Posten verlassen darf, und nehme Sie dann aufs Revier mit und buchte Sie mit irgendeiner Begründung ein. Das verspreche ich Ihnen. Tun Sie sich jetzt einen Gefallen, indem Sie schleunigst hier verschwinden.«

Der Mund des Mannes öffnet und schließt sich goldfischartig. Auf den bereits geröteten Hamsterbacken erscheinen hochrote Flecken. Danny starrt ihm weiter in die Augen und hofft fast schon darauf, dass der andere ihm einen Anlass dafür liefert, ihn in Handschellen auf dem Rücksitz des Streifenwagens schmoren zu lassen.

Der Kerl überlegt, welche Möglichkeiten sich ihm bieten, und entscheidet sich für Vorsicht. Er senkt den Blick, legt den Rückwärtsgang ein und rammt beim Zurückstoßen fast den Miata hinter ihm.

»Ich kann’s einfach nicht glauben«, sagt Pam. »Welches Arschloch hat hier eigentlich nicht dichtgehalten?«

Mit Danny beobachtet sie, wie Beezer und seine Freunde an der Autoschlange vorbei auf sie zuröhren.

»Keine Ahnung, aber ich würde demjenigen gern mit größter Lust meinen Schlagstock in den Rachen rammen. Und danach wäre ich gleich auf der Suche nach Wendell Green.«

»Den brauchst du nicht lange zu suchen. Sein Wagen steht ungefähr als sechster in der Schlange.« Pam deutet auf Wendells rollendes Feixen.

»Großer Gott«, sagt Danny. »Obwohl, eigentlich bin ich froh, diesen elenden Angeber hier zu sehen. Da kann ich ihm wenigstens genau sagen, was ich von ihm halte.« Er beugt sich lächelnd hinunter, um mit dem jugendlichen Fahrer des Miatas zu sprechen. Der Junge fährt davon, und Danny bedeutet dem Fahrer hinter jenem, ebenfalls weiterzufahren, während er selbst die Annäherung der Thunder Five beobachtet. Zu Pam sagt er: »Wenn Beezer sich mit mir anlegen will, wenn er auch nur den Eindruck macht, gewalttätig werden zu wollen, ziehe ich meine Knarre, so wahr mir Gott helfe.«

»Papierkram, Papierkram«, sagt Pam.

»Das ist mir scheißegal.«

»Okay, ich bin dabei«, sagt sie, damit er weiß, dass sie ihm Feuerschutz geben wird, falls er seine Waffe zieht.

Selbst die Autofahrer, die durch die Polizeisperre an der Zufahrt zum Ed’s Eats zu gelangen versuchen, machen eine Pause, um Beezer und seine Boys zu beobachten. In Bewegung, mit grimmigen Mienen und wehenden Haaren und Bärten, scheinen sie entschlossen zu sein, möglichst viel Chaos zu verursachen. Danny Tche-da beginnt das Herz zu jagen, und er fühlt, wie sich sein Schließmuskel verkrampft.

Dann rasen die Thunder Five aber einfach vorbei, ohne die Polizeibeamten auch nur eines Blickes zu würdigen, einer nach dem anderen. Beezer, Mouse, Doc, Sonny und Kaiser Bill - da fahren sie dahin und lassen den Tatort hinter sich.

»Na, verdammt«, sagt Danny, der nicht recht weiß, ob er sich erleichtert oder enttäuscht fühlt. Die jähe Bestürzung, die ihn überkommt, als die Biker nur wenige Augenblicke später in einer Wolke aus Staub und Kies ihr synchrones Wendemanöver vorführen, zeigt ihm bereits, dass er zuvor Erleichterung empfunden hat.

»Nein, bitte nicht«, sagt Pam.

Alle Augenpaare in den wartenden Autos verfolgen die vorbeirasenden Motorräder, die jetzt in Richtung French Landing zurückfahren. Einige Sekunden lang scheint nur das in der Ferne verhallende Donnergrollen der fünf Harley-Davidsons zu hören zu sein. Danny Tcheda nimmt die Schirmmütze ab und fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Pam Stevens macht ein Hohlkreuz und atmet langsam aus. Dann hupt jemand, zwei weitere Hupen fallen ein, und ein Kerl mit Jeansjacke, der einen Walrossschnauzer trägt, hält ein Lederetui mit einer verkleinerten Polizeiplakette hoch und erklärt, er sei der Vetter eines Kreisrichters und Ehrenmitglied der Polizei in La Riviere, was wohl im Prinzip zu bedeuten hat, dass er nie Strafzettel wegen Falschparkens oder Schnellfahrens bekommt und überall freie Durchfahrt hat. Der Schnauzbart verzieht sich zu einem breiten Grinsen. »Lassen Sie mich also durch, dann können Sie wieder Ihrem Geschäft nachgehen, Officer.«

Ihn nicht durchzulassen, das sei sein Geschäft, sagt Danny, aber er muss diese Mitteilung mehrmals wiederholen, bevor er sich dem nächsten Fall widmen kann. Nachdem er jetzt also ein paar weitere unzufriedene Bürger weitergeschickt hat, will er einmal nachsehen, wie lange er noch warten muss, bevor er Wendell Green abbügeln kann. Der Reporter kann nicht weiter als zwei, drei Wagen entfernt sein. Sobald Danny seinen Kopf hebt, beginnt ein Hupkonzert, und die Leute fangen zu schreien an. Lassen Sie uns rein! He, Kumpel, ich zahle Ihr Gehalt, ist Ihnen das klar? Ich will mit Dale reden, ich will mit Dale reden!

Einige Männer sind aus ihren Autos gestiegen. Sie zeigen alle mit dem Finger auf Dale, ihr Münder bewegen sich, aber er versteht nicht, was sie schreien. Ein hinter seinem linken Auge beginnender Schmerz bohrt sich ihm wie ein rot glühender Eisenstab mitten ins Gehirn. Irgendwas stimmt hier nicht; er kann Greens hässlichen roten Wagen nicht mehr sehen. Wohin zum Teufel ist er verschwunden? Verdammt, verdammt, verdammt, Green muss die wartende Kolonne verlassen haben und querfeldein zum Ed’s Eats gefahren sein. Danny wirft sich herum und sucht das Feld ab. Hinter ihm erheben sich wütende Stimmen und wildes Gehupe. Kein klapperiger roter Toyota, kein Wendell Green. Wer hätte das gedacht, der Schwätzer hat aufgegeben!

Kurze Zeit später lässt der Verkehr nach, und Danny und Pam hegen die Hoffnung, ihr Auftrag sei damit so ziemlich beendet. Alle vier Fahrspuren des Highways 35 sind so leer wie sonst am Samstagmorgen üblich. Der einzige Wagen, der jetzt noch heranrollt, ist ein Pickup, der aber ohne anzuhalten, in Richtung Centralia weiterfährt.

»Glaubst du, wir sollten dort rauffahren?«, fragt Pam und nickt zu dem verfallenen Gebäude hinüber.

»Später vielleicht.« Danny hat es nicht eilig, in den Gestank zurückzukommen. Er wäre durchaus damit zufrieden, hier die Stellung zu halten, bis der Leichenbeschauer und die Spurensicherer eintreffen. Was fällt den Leuten überhaupt ein? Er würde bereitwillig auf zwei Tage Gehalt verzichten, wenn ihm dafür der Anblick von Irma Freneaus Leiche erspart bliebe.

Dann hören Pam und er gleichzeitig zwei deutlich voneinander unterscheidbare Geräusche, von denen keines sonderlich beruhigend klingt. Das erste stammt von einer weiteren Fahrzeugkolonne, die auf einmal zu ihnen unterwegs ist; das zweite ist das dumpfe Grollen von Motorrädern, die sich dem Tatort von rückwärts anzunähern scheinen.

»Gibt’s etwa eine zweite Zufahrt von hinten?«, sagt Danny ungläubig.

Pam zuckt mit den Schultern. »Sieht so aus. Aber um Beezers Gorillas muss Dale sich jetzt kümmern, wir sind hier nämlich bestimmt bald wieder ausgelastet.«

»Ach, Scheiße«, sagt Danny. Schätzungsweise dreißig Autos und Pickups halten auf die von ihnen blockierte Zufahrt zu. Pam und er können sehen, dass diese Leute wütender und entschlossener zu sein scheinen als der erste Haufen. Am Ende der Kolonne stellen mehrere Männer und Frauen ihre Fahrzeuge auf dem Seitenstreifen ab, steigen aus und kommen zu Fuß auf die beiden Polizeibeamten zu. Die Vordersten der Horde fuchteln schreiend mit geballten Fäusten, schon bevor sie auf die Zufahrt abzubiegen versuchen. Eine Frau und zwei Jugendliche entrollen unglaublicherweise ein langes Spruchband, auf dem Wir wollen den Fisherman: steht. Ein Mann in einem staubigen alten Cadillac streckt den linken Arm aus dem Fenster und hält ein selbst gemaltes Schild mit der Forderung Gilbertson muss weg hoch.

Danny sieht sich um und stellt fest, dass die Thunder Five tatsächlich eine rückwärtige Zufahrt gefunden haben müssen, vier von ihnen, deren Haltung eigenartig an Secret-Service-Agenten erinnert, stehen jetzt nämlich vor Ed’s Eats, während Beezer St. Pierre in ein Gespräch mit dem Chief vertieft ist. Und wie die beiden aussehen, auch dafür fällt Danny ein Bild ein: wie zwei Staatschefs, die ein Handelsabkommen vereinbaren. Das ist nun mal eine völlig unerklärliche Sache, und Danny wendet sich wieder den Autos, den Irren mit den Spruchbändern und Schildern, den Männern und Frauen zu, die auf Pam und ihn eindrängen.

Hoover Dalrymple, ein 71-jähriger Hüne mit weißem Spitzbart, baut sich vor Pam auf und fängt an, seine unveräußerlichen Rechte einzufordern. Danny erinnert sich an den Namen des Mannes, weil Dalrymple vor ungefähr einem halben Jahr in der Bar des Hotels Nelson eine Schlägerei angefangen hat - und jetzt ist er wahrscheinlich hier, um sich für seine damalige Festnahme zu rächen. »Ich werde nicht mit Ihrem Partner reden«, schreit er, »und mir auch nicht anhören, was er sagt, weil Ihr Partner sich einen Dreck um die Rechte der Bürger dieser Gemeinde schert.«

Danny schickt einen orangeroten Subaru, den ein mürrischer Teenager mit einem schwarzen Black-Sabbath-T-Shirt fährt, dann eine schwarze Corvette mit Kennzeichenhaltern eines Händlers aus La Riviere weiter, der von einer auffällig hübschen jungen Frau mit auffällig unanständigem Wortschatz gefahren wird. Wo kommen diese Leute bloß her? Außer Houver Dalrymple kennt er keinen einzigen. Die meisten dieser zweiten Horde von Gaffern scheinen von außerhalb zusammengetrommelt worden zu sein.

Als er zu Pam hinübergehen will, um sie zu unterstützen, fühlt er, wie sich ihm eine Hand auf die Schulter legt, dreht sich um und sieht hinter sich Dale Gilbertson neben Beezer St. Pierre stehen. Die vier anderen Biker drücken sich ganz in der Nähe herum. Der Kerl namens Mouse, der natürlich ungefähr so groß wie ein Heuschober ist, begegnet Dales Blick und grinst.

»Was machen die hier?«, fragt Danny.

»Nicht aufregen«, sagt Dale. »Mr. St. Pierres Freunde haben angeboten, uns bei der Absperrung des Tatorts zu helfen, und ich glaube, dass wir ihre Unterstützung sehr gut brauchen können.«

Aus den Augenwinkeln heraus sieht Danny die Zwillingsbrüder Neary aus der ersten Reihe der Menge ausbrechen und hebt eine Hand, um sie aufzuhalten. »Was kriegen sie dafür?«

»Ein paar Informationen«, sagt der Chief. »Okay, Jungs, an die Arbeit.«

Beezers Freunde schwärmen aus und nähern sich der Menge. Der Chief tritt neben Pam, die ihn zuerst verblüfft anstarrt, dann aber nickt. Mouse knurrt Hoover Dalrymple an: »Kraft der mir verliehenen Gewalt befehle ich dir, dich zum Teufel zu scheren, Hoover.« Der Alte verschwindet so unvermittelt, als hätte er sich entma-terialisiert.

Die Wirkung der übrigen Biker auf die Menge ist ähnlich. Danny kann nur hoffen, dass die vier trotz den ständigen Beschimpfungen nicht ausrasten: Ein Zweieinhalbzentnermann, der wie ein Hell’s Angel auf dem äußerst schmalen Grat zwischen Selbstbeherrschung und wachsendem Zorn aussieht, wirkt Wunder, wenn er vor einer rebellischen Menge steht. Der Biker neben Danny schickt Floyd und Frank Neary weg, indem er ihnen nur mit der Faust droht. Als sie zu ihrem Auto zurückschleichen, blinzelt der Biker Danny zu und stellt sich als Kaiser Bill vor. Beezers Freund macht es sichtlich Spaß, die Gaffer abzuweisen, und ein breites Grinsen droht seine finstere Miene zu überlagern, unter der sein Zorn jedoch weiterhin wie flüssiges Magma brodelt.

»Wer sind die anderen?«, fragt Danny.

Kaiser Bill nennt die Namen von Doc und Sonny, die rechts von Danny dabei sind, die Menge auseinander zu treiben.

»Wieso macht ihr das?«

Der Kaiser senkt den Kopf, sodass sein Gesicht sich nur eine Handbreit vor Dannys befindet, der sofort das Gefühl hat, einem Stier gegenüberzustehen. Das breitflächige Gesicht und die behaarte Haut verströmen Hitze und Wut. Danny erwartet halbwegs, Dampfstrahlen aus den breiten Nüstern des Mannes kommen zu sehen. Eine der Pupillen ist kleiner als die andere; das Weiß der Augäpfel ist von aggressiven roten Äderchen durchzogen. »Wieso? Das machen wir für Amy. Ist Ihnen das nicht klar, Officer Tcheda?«

»Sorry«, murmelt Danny. Natürlich. Er kann nur hoffen, dass es Dale gelingt, diese Monster im Zaum zu halten. Als er nämlich sieht, wie Kaiser Bill einen alten Mustang, dessen leichtsinniger jugendlicher Fahrer nicht rechtzeitig zurückgestoßen ist, wild schaukeln lässt, ist er mehr als froh, dass die Biker wenigstens nicht das übliche Schlagwerkzeug dabeihaben.

Durch die Lücke, in der zuvor der Mustang des Jugendlichen gestanden hat, fährt ein Streifenwagen auf Danny und den Kaiser zu. Als er durch die Menge rollt, trommelt eine Frau in einem der Wagen, die ein ärmelloses T-Shirt und eine Caprihose trägt, mit der flachen Hand an die rechten Seiten-Scheiben. Bob Holtz und Paul Nestler, die beiden Teilzeit-Cops, springen heraus, starren den Kaiser an und fragen dann Danny, ob Pam und er Hilfe brauchen. »Fahrt rauf und redet mit dem Chief«, sagt Danny, obwohl das eigentlich selbstverständlich ist. Holtz und Nestler sind zwar nette Kerle, aber sie müssen noch viel über Befehlsverhältnisse - und alles andere auch - lernen.

Ungefähr eineinhalb Minuten später kreuzen Bobby Dulac und Dit Jesperson auf. Danny und Pam winken sie durch, während die Biker sich ins Getümmel stürzen und Sprechchöre anstimmende Bürger von den Seiten und den Motorhauben ihrer Fahrzeuge wegreißen. Kampfeslärm erreicht Danny inmitten wütender Schreie aus der Menge vor ihm. Er hat das Gefühl, hier schon stundenlang auf Posten zu stehen. Sonny, der Leute mit weit ausholenden Ruderbewegungen seiner Arme beiseite räumt, taucht neben Pam auf, die ihr Bestes tut. Mouse und Doc werfen sich gemeinsam in die Bresche. Der Kaiser, aus dessen Nase ein dünner Blutfaden rinnt, der seinen Bart im linken Mundwinkel dunkel färbt, nimmt wieder seinen Platz neben Danny ein.

Als die Menge gerade »Hell no, we won’tgo! Hell no, we won’t go!« zu skandieren beginnt, kommen Holtz und Nestler zurück, um die Abwehrfront zu verstärken. Hell no, we won’t go?, fragt Danny sich. Hatte das nicht mal mit dem Vietnamkrieg zu tun?

Danny, der die heranheulende Polizeisirene nur undeutlich wahrnimmt, sieht Mouse in die Menge waten und die drei ersten Leute, die er erreichen kann, k. o. schlagen. Doc steht vor einem Danny wohl bekannten Oldsmobile, legt die Pranken auf den unteren Rand des offenen Fensters und fragt den Fahrer, einen kleinen Mann mit Stirnglatze, was zum Teufel er hier zu suchen habe. »Doc, lassen Sie ihn in Ruhe«, sagt Danny, aber erneutes Sirenengeheul übertönt seine Worte.

Obwohl der schmächtige Mann am Steuer wie ein ineffizienter Mathelehrer beziehungsweise kleiner Beamter aussieht, besitzt er die Entschlossenheit eines Gladiators. Es handelt sich um Reverend Lance Hovdahl, Dannys alten Sonntagsschullehrer.

»Ich dachte, ich könnte vielleicht helfen«, sagt der Reverend.

»Bei diesem Scheißkrach kann ich Sie echt kaum verstehen. Kommen Sie, ich helfe Ihnen raus«, sagt Doc. Er packt durchs offene Fenster zu, während die Sirene wieder heult und hinter ihm ein Wagen der State Police vorbeikriecht.

»Aufhören, Doc, stopp!«, brüllt Danny, während er sieht, wie die beiden Männer im Wagen der State Police, Brown und Black, sich die Hälse verrenken, um das Schauspiel zu beobachten, bei dem ein bärtiger Mann mit dem Körperbau eines Grizzlybären einen lutherischen Geistlichen durchs Seitenfenster aus dessen Auto zerrt. Hinter den beiden taucht eine weitere Überraschung auf: Arnold Hrabowski, der Verrückte Ungar, der durch die Windschutzscheibe seines No-drugs-Mobils glotzt, als wäre ihm bei dem Chaos um ihn herum nicht ganz wohl in seiner Haut.

Der Einmündungsbereich der Zufahrt gleicht inzwischen einem Schlachtfeld. Danny bahnt sich mit großen Schritten einen Weg durch den kreischenden Mob, stößt ein paar Leute beiseite und erreicht schließlich Doc und seinen alten Sonntagsschullehrer, der leicht mitgenommen wirkt, aber anscheinend unversehrt ist. »Ach, du liebe Güte, Danny«, sagt der Geistliche. »Wie ich mich freue, Sie hier zu sehen.«

Doc funkelt die beiden an. »Ihr kennt euch?«

»Reverend Hovdahl, das hier ist Doc«, sagt Danny. »Doc, das hier ist Reverend Hovdahl, Pastor der Mount Hebron Lutheran Church.«

»Heiliger Strohsack«, sagt Doc und fängt sofort an, die Revers des kleinen Mannes abzuklopfen und am Saum von dessen Jackett zu zupfen, als wollte er ihn wieder in Form ziehen. »Sorry, Reverend, ich hab Ihnen hoffentlich nicht weh getan.«

Die Cops von der State Police und der Verrückte Ungar schaffen es endlich, sich durch die Menge zu quetschen. Der Geräuschpegel sinkt auf nicht allzu lautes Stimmengewirr herab - mit unterschiedlichen Mitteln haben Doc und seine Freunde die lautesten Krakeeler zum Schweigen gebracht.

»Zum Glück ist das Fenster breiter als ich«, sagt der Reverend.

»He, vielleicht könnte ich Sie mal besuchen, um ein bisschen mit Ihnen zu reden«, sagt Doc. »Ich habe in letzter Zeit viel übers Christentum im 1. Jahrhundert gelesen. Sie wissen schon, Geza Vermes, John Dominic Crossan, Paula Fredriksen, solches Zeug. Mich würde interessieren, was Sie von einigen meiner Ideen halten.«

Was der Reverend Hovdahl zu sagen beabsichtigt, geht in einer plötzlichen Lärmexplosion am oberen Ende der Zufahrt unter. Eine Frau kreischt wie eine Furie: ein gel-lendes, fast nicht mehr menschliches Kreischen, bei dem sich Danny die Nackenhaare sträuben. Für ihn klingt das, als streiften ausgebrochene Irre, tausendmal gefährlicher als die Thunder Five, tobend durch die Landschaft. Was zum Teufel ist dort oben jetzt schon wieder los?

»>Hallo, BoysHallo, Boys

Dale hüstelt hinter vorgehaltener Hand und zuckt mit den Schultern. »Er wollte, dass wir sie finden.«

»Klar doch«, sagt Jack. »Er hat uns aufgefordert, hierher zu fahren.«

»Aber wozu hat er das getan?«, fragt Bobby.

»Weil er stolz auf seine Arbeit ist.« Aus irgendwelchen düsteren Tiefen von Jacks Gedächtnis kommt eine hässliche Stimme: Halt dich da raus. Leg dich nicht mit mir an, sonst verstreu ich deine Eingeweide von Racine bis La Rivie-re. Wessen Stimme war das gewesen? Obwohl er außer seiner Überzeugung keinen Beweis dafür hat, versteht Jack, dass der Fisherman identifiziert wäre, wenn es ihm gelänge, diese Stimme jemandem zuzuordnen. Aber das schafft er nicht; in diesem Augenblick kann Jack Sawyer sich nur an einen Gestank erinnern, der schlimmer war als der Verwesungsgeruch, der dieses verfallene Gebäude erfüllt - ein grässlicher Gestank, der aus dem Südwesten einer anderen Welt kam. Auch das war der Fisherman beziehungsweise das, was der Fisherman in jener anderen Welt war.

Dann kommt ihm ein Gedanke, einer, der eines ehemaligen aufgehenden Sterns der Mordkommission im LAPD würdig ist, und er sagt: »Dale, ich glaube, du solltest Henry mal die Aufzeichnung des Notrufs vorspielen.«

»Das verstehe ich nicht. Wozu?«

»Henry nimmt Töne wahr, die nicht mal Fledermäuse hören. Selbst wenn er die Stimme nicht erkennt, werden wir danach weit mehr wissen als jetzt.«

»Tja, Onkel Henry vergisst halt nie eine Stimme, die er schon mal gehört hat, das ist wahr. Okay, machen wir, dass wir hier rauskommen. Der Leichenbeschauer und die Spurensicherer müssten eigentlich gleich eintreffen.«

Während Jack hinter den beiden anderen Männern hergeht, denkt er an Tyler Marshalls Baseballmütze und wo er sie gefunden hat - in jener Welt, die er mehr als sein halbes Leben zu leugnen versucht hat, bis er heute Morgen in sie zurückgekehrt ist, was noch immer Schockwellen durch seinen Körper sendet. Der Fisher-man hat die Mütze für ihn in den Territorien zurückgelassen, von denen er erstmals gehört hat, als er sechs war ... als Jacky sechs war und Daddy das Blasinstrument spielte. Das alles, dieses gewaltige Abenteuer drängt sich jetzt wieder in sein Bewusstsein, aber nicht etwa, weil er das will, sondern weil es zurückkommen muss: Mächte, auf die er keinen Einfluss hat, halten ihn am Genick gepackt und schleppen ihn vorwärts. Vorwärts in die eigene Vergangenheit! Der Fisherman ist stolz auf seiner Hände Arbeit, ja, der Fisherman verspottet sie absichtlich - eine so offenkundige Wahrheit, dass keiner der drei Männer sie auszusprechen brauchte -, aber in Wirklichkeit versucht der Fisherman nur, Jack Sawyer zu ködern, der als Einziger die Territorien gesehen hat. Und wenn das zutrifft, wie es nicht anders sein kann, dann .

. dann sind die Territorien und alles, was sie enthalten, irgendwie in diese schrecklichen Verbrechen verwickelt, und er ist in irgendein Drama mit ungeheuren Konsequenzen gestoßen worden, die er vorerst unmöglich überblicken kann. Der Turm. Die Tragebalken. Davon hat er in der Handschrift seiner Mutter gelesen, irgendwas von brechenden Balken und einem einstürzenden Turm. Diese Dinge, was immer sie bedeuten mögen, sind ebenso Bestandteile des Rätsels wie Jacks feste Überzeugung, dass Tyler Marshall noch lebt und in irgendeinem Winkel der anderen Welt versteckt gehalten wird. Die Erkenntnis, dass er über das alles niemals mit irgendjemandem sprechen darf, nicht einmal mit Henry Leyden, bewirkt, dass er sich schrecklich einsam fühlt.

Jacks Überlegungen zerstieben mit einem Streich in dem lärmenden Chaos, das plötzlich neben und vor dem verfallenen Gebäude losbricht. Es klingt wie ein Indianerüberfall in einem Western: Kriegsgeschrei und Gebrüll und das Trampeln rennender Füße. Eine Frau stößt einen gellenden Schrei aus, der auf unheimliche Weise an die Obertöne der Polizeisirene erinnert, die er vor einigen Augenblicken nur halb wahrgenommen hat. Dale murmelt: »Jesus!«, und stürmt von Bobby und Jack gefolgt ins Freie.

Draußen scheinen etwa ein halbes Dutzend Verrückte Draußen scheinen etwa ein halbes Dutzend Verrückte über die mit Unkraut überwucherte Kiesfläche vor Ed’s Eats zu toben. Dit Jesperson und Beezer, die noch zu verblüfft sind, um zu reagieren, sehen stumm zu, wie sie kreuz und quer durcheinander rennen. Die Verrückten machen erstaunlich viel Lärm. Ein Mann brüllt: »Killt den Fisherman! Killt den verdammten Hundesohn!« Ein anderer schreit: »Recht und Gesetz und Freibier!« Ein hagerer Typ mit Latzhose greift diese Forderung auf: »Freibier! Wir wollen Freibier!« Eine Hexe, die eigentlich zu alt für ihr Trägertop und ihre Jeans wirkt, springt herum, wedelt mit den Armen und kreischt dabei, so laut sie nur kann. Das Grinsen auf allen Gesichtern lässt darauf schließen, dass diese Leute irgendeinen schwachsinnigen Streich verüben. Sie amüsieren sich köstlich.

Vom Highway 35 kommt ein Wagen der State Police herauf, dicht dahinter der No-drugs-Pontiac des Verrückten Ungarn. Mitten im Chaos hält Henry Leyden den Kopf leicht schief und lächelt in sich hinein.

Als der fette Dit Jesperson sieht, dass sein Chief die Verfolgung eines der Männer aufnimmt, tritt auch er schwerfällig in Aktion und nimmt sich Doodles Sanger vor, auf die er einen Hass hat, seit sie ihn eines späten Abends im Hotel Nelson abgewiesen hat. Dit erkennt Teddy Runkleman, den großen Lümmel mit der Boxernase, auf den Dale Jagd macht; er kennt auch Freddy Saknessum, aber Freddy ist zweifellos zu schnell für ihn, und außerdem hat Dit den Verdacht, wenn er Freddy Saknessum in die Hände bekäme, würde er wahrscheinlich ungefähr acht Stunden später mit irgendeiner wirklich hässlichen Infektion auf dem Rücken liegen. Bobby Dulac verfolgt den hageren Kerl, deshalb ist Dit für Doodles zuständig, und er freut sich schon darauf, sie ins Unkraut zu werfen und ihr heimzuzahlen, was sie ihn vor sechs Jahren in der schmuddeligen Bar im Nelson geheißen hat. (Vor etwa einem Dutzend der liederlichsten Typen von French Landing hatte Doodles ihn mit Tubby, dem stinkenden, watschelnden alten Mischlingshund des damaligen Polizeichefs, verglichen.)

Als Dit ihr ins Gesicht sieht, hört sie eine Sekunde lang mit dem Herumspringen auf, bleibt ruhig stehen und macht mit den Fingern beider Hände kleine einladende Bewegungen. Er stürzt sich auf sie, aber als er die Stelle erreicht, wo sie zuvor gestanden hat, ist sie zwei Meter rechts neben ihm und tänzelt herum wie ein Boxer. »Tubby-Tubby«, sagt sie. »Komm und hol’s dir, Tub-Tub.« Dit grapscht wütend nach ihr, verfehlt sie und verliert beinahe das Gleichgewicht. Doodles tänzelt hohnlachend davon und gebraucht wieder das verhasste Wort. Dit begreift nur eines nicht - warum macht Doodles weiter, statt einfach abzuhauen? Man könnte fast glauben, sie wollte geschnappt werden, wenn auch nicht gleich.

Nach einem weiteren energischen Sprung, der sein Ziel nur sehr knapp verfehlt, wischt Dit Jesperson sich den Schweiß vom Gesicht und begutachtet die Lage. Bobby Dulac ist dabei, dem hageren Kerl Handschellen anzulegen, aber Dale und Hollywood ergeht es nicht viel besser als ihm. Teddy Runkleman und Freddy Saknes-sum narren ihre Verfolger durch rasches Hakenschlagen, wobei sie wie Idioten meckernd lachen und ihre dämlichen Sprüche skandieren. Warum sind solche minderwertigen Subjekte immer so agil? Dit vermutet, dass Ratten wie Runkleman und Saknessum einfach mehr Übung darin haben, sich leichtfüßig zu bewegen, als normale Leute.

Er stürzt sich auf Doodles, die ihm aber wieder entwischt und eine kleine Tanzpantomime aufführt, bei der sie glucksend die Knie hochreißt. Über ihre Schulter hinweg sieht Dit, wie Hollywood endlich Saknessum austrickst, ihm einen Arm um die Hüfte schlingt und ihn zu Boden wirft.

»Sie hätten mich nicht so rabiat auf den Arsch schmeißen müssen«, sagt Saknessum. Seine Blickrichtung ändert sich, und er nickt knapp. »He, Runks.«

Teddy Runkleman sieht zu ihm hinüber, dann blickt auch er zur Seite und bleibt plötzlich stehen.

»Was ist los, ist Ihnen der Sprit ausgegangen?«, sagt der Chief.

»Die Party ist aus«, sagt Runkleman. »He, wir haben bloß Spaß gemacht, versteh’n Sie?«

»Ach, Runksie, ich will aber noch ein bisschen spielen«, sagt Doodles und streut ein paar Hüftwackler in ihr Herumgehopse ein. Beezer St. Pierre schiebt seinen massigen Körper blitzschnell zwischen Dit und sie. Er bewegt sich auf sie zu und rumpelt dabei wie ein Sattelschlepper, der eine Steilstrecke bewältigen muss. Doodles versucht tänzelnd zurückzuweichen, aber Beezer bekommt sie zu fassen und schleppt sie dann zu Dale hinüber.

»Beezie, liebst du mich denn nicht mehr?«, fragt Doodles.

Beezer grunzt angewidert und setzt sie vor dem Chief ab. Die beiden von der State Police, Perry Brown und Jeff Black, halten sich im Hintergrund und sehen noch angewiderter aus als der Biker. Würde man Dits Gedankengänge aus ihrer Kurzschrift in die Normalsprache übersetzen, käme Folgendes heraus: Er muss was auf dem Kasten haben, wenn er das Kingsland Ale braut, weil das nämlich ein verdammt gutes Bier ist. Und seht euch bloß den Chief an! Der ist so fuchsteufelswild, dass er nicht mal merkt, dass wir dabei sind, diesen Fall zu verlieren.

»Ihr habt bloß Spaß gemacht?«, brüllt der Chief. »Was ist mit euch Idioten bloß los? Habt ihr überhaupt keinen Respekt vor dem armen Mädchen dort drinnen?«

Als die Staties vortreten, um die Sache in die Hand zu nehmen, sieht Dit, wie Beezer einen Augenblick vor Schreck erstarrt und sich dann so unauffällig wie möglich von der Gruppe entfernt. Außer Dit Jesperson achtet niemand auf ihn - der riesige Biker hat seinen Teil getan, und nun ist sein Part beendet. Arnold Hrabowski, der bisher mehr oder weniger hinter Brown und Black versteckt war, schiebt die Hände in die Hosentaschen, zieht die Schultern hoch und wirft Dit einen betretenen Blick zu, als wollte er sich für irgendetwas entschuldigen. Das versteht Dit nicht: Was für einen Grund hat der Verrückte Ungar, sich so schuldbewusst zu benehmen? Teufel, er ist doch eben erst hier angekommen. Dit sieht erneut zu Beezer hinüber, der schwerfällig auf die Längsseite des Gebäudes zutappt, wo - sieh mal einer an! - jedermanns bester Freund und Lieblingsreporter, Mr. Wendell Green, aufgetaucht ist, der jetzt leicht besorgt wirkt. Hier ist mehr als nur eine Art Abschaum hochgekommen, sagt Dit sich.

Beezer mag Frauen, die clever und vernünftig sind wie Bear Girl; hirnlose Stinktiere wie Doodles treiben ihn zum Wahnsinn. Er packt zu, bekommt zwei Hände voll teigiges, mit Viskose bedecktes Fleisch zu fassen und klemmt sich die strampelnde Dolly unter den Arm.

»Beezie, liebst du mich denn nicht mehr?«, sagt Doodles.

Er setzt die blöde Kuh vor Dale Gilbertson ab. Während Dale endlich diese vier erwachsenen »jugendlichen Straftäter« zusammenstaucht, erinnert Beezer sich an das Zeichen, das Freddy Runksie gegeben hat, und er blickt über die Schulter des Chiefs zur Vorderfront des Ed’s Eats hinüber. Links neben dem halb verfallenen grauen Eingang richtet Wendell Green seine Kamera auf die Gruppe vor ihm, knipst ganz ungeniert, bückt und verrenkt sich und wechselt einige Male den Standort, während er seine Fotos macht. Als er durchs Objektiv sieht, dass Beezer ihn anstarrt, richtet Wendell sich auf und setzt die Kamera ab. Auf seinem Gesicht steht ein unbehagliches kleines Lächeln.

Green muss sich von der Rückseite an den Tatort herangepirscht haben, stellt Beezer sich vor, die Cops dort unten hätten ihn nämlich niemals passieren lassen. Bei näherer Überlegung müssen auch Doodles und ihre Neandertaler von dort hergekommen sein. Er hofft nur, dass sie nicht alle diesen Weg entdeckt haben, weil sie hinter ihm hergefahren sind, was aber immerhin mög-lich wäre.

Der Reporter lässt seine Kamera an ihrem Trageriemen hängen und schlurft von dem alten Holzbau weg, ohne Beezer dabei aus den Augen zu lassen. Die schuldbewusste, ängstliche Art, wie er sich bewegt, erinnert Beezer an eine Hyäne, die zu ihrem Aas schleicht. Wen-dell Green fürchtet Beezer wirklich, und dazu hat er auch alles Recht. Green kann von Glück sagen, dass Bee-zer ihm nicht tatsächlich den Kopf abgerissen hat, statt nur davon zu reden. Trotzdem ... Greens hyänenartiges Wegschleichen kommt Beezer unter den jetzigen Umständen ziemlich merkwürdig vor. Er kann doch nicht fürchten, vor all diesen Cops zusammengeschlagen zu werden, oder?

Beezers Gehirn verknüpft Greens Unbehagen mit der von ihm beobachteten Verständigung zwischen Runkle-man und Saknessum. Als ihre Blickrichtung sich geändert hat, als sie weggesehen haben, haben sie zu dem Reporter hinübergesehen! Er hat das Ganze im Voraus geplant. Green hat die Neandertaler natürlich vorgeschickt, um von seiner heimlichen Arbeit mit der Kamera abzulenken. Solche abgrundtiefe Schäbigkeit, solche moralose Niederträchtigkeit versetzt Beezer in Zorn. Von Ekel getrieben, entfernt er sich unauffällig von Dale und den übrigen Polizeibeamten und geht auf Wendell Green zu, ohne den Reporter auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

Er merkt, wie Wendell überlegt, ob er flüchten soll, diese Idee aber wieder verwirft, vermutlich weil er genau weiß, dass er keine Chance hat, ihm zu entwischen.

Als Beezer bis auf drei Schritte an ihn herangekommen ist, sagt Green: »Wir brauchen hier keinen Ärger, Mr. St. Pierre. Ich mache nur meine Arbeit. Das verstehen Sie bestimmt.«

»Ich verstehe alles Mögliche«, sagt Beezer. »Wie viel haben Sie diesen Clowns gezahlt?«

»Wem? Welchen Clowns?« Wendell gibt vor, Doodles und die anderen erst jetzt zu bemerken. »Oh, die? Haben die den ganzen Rabatz gemacht?«

»Und warum hätten sie losziehen und hier Krach schlagen sollen?«

»Weil sie Tiere sind, nehme ich mal an.« Wendells Gesichtsausdruck lässt den ernstlichen Wunsch erkennen, sich mit Beezer auf der Seite der Menschen zusammenzutun - in Abgrenzung zu Tieren wie Runkleman und Saknessum.

Beezer, der darauf achtet, statt Greens Kamera dessen Augen zu fixieren, tritt näher an ihn heran und sagt: »Wendell, Sie sind echt ein Scheißkerl, wissen Sie das?«

Wendell hebt die Hände, um Beezer abzuwehren. »He, wir haben vielleicht Meinungsverschiedenheiten gehabt, aber .«

Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, umfasst Bee-zer mit der rechten Hand die Kamera und legt seine Linke flach auf Wendell Greens Brust. Er reißt die rechte Hand zurück und versetzt Green mit der Linken einen gewaltigen Stoß. Eines von beiden muss brechen, Greens Genick oder der Trageriemen, und ihm ist’s fast egal, was zuerst nachgibt.

Nach einem Geräusch wie ein Peitschenknall taumelt der Reporter mit den Armen fuchtelnd rückwärts und schafft es kaum, auf den Beinen zu bleiben. Beezer zieht die Kamera aus ihrer Tasche, von der zwei Stücke eines zerfetzten Lederriemens herabbaumeln. Er lässt die Tasche fallen und dreht die Kamera in seinen Pranken hin und her.

»He, lassen Sie das!«, sagt Wendell mit erhobener Stimme, die aber doch leiser als ein Schrei ist.

»Was ist das, eine alte F2A?«

»Wenn Sie das schon wissen, dann wissen Sie auch, dass sie ein echter Klassiker ist. Geben Sie sie mir wieder.«

»Ich mache sie nicht kaputt, ich räume sie nur aus.« Beezer öffnet die Kamerarückwand, schiebt einen dicken Finger unter das sichtbare Filmstück und reißt den ganzen Film aus der Patrone. Er lächelt dem Reporter zu und wirft den Film ins Dickicht. »Sehen Sie, wie viel besser sie aussieht ohne diesen ganzen Scheiß da drin? Das ist ein hübscher kleiner Apparat - Sie sollten ihn nicht mit Müll voll stopfen.«

Wendell wagt nicht, sich anmerken zu lassen, wie wütend er ist. Er reibt sich die wunde Stelle am Genick und knurrt: »Dieser so genannte Müll ist mein Lebensunterhalt, Sie Trampel, Sie Schwachkopf. Geben Sie mir jetzt meine Kamera wieder.«

Beezer hält sie ihm nonchalant hin. »Ich habe gerade nicht alles verstanden, fürchte ich. Was haben Sie gesagt?«

Wendell, dessen einzige Reaktion ein finsterer Blick ist, reißt Beezer die Kamera aus der Hand.

Als die beiden Beamten der State Police schließlich vortreten, empfindet Jack eine Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung. Was sie tun werden, ist offensichtlich, also sollen sie’s tun. Perry Brown und Jeff Black werden Dale den Fall Fisherman wegnehmen und eigene Ermittlungen anstellen. Von nun an wird Dale von Glück sagen können, wenn vom Tisch der State Police gelegentlich ein paar Krümel für ihn abfallen. Am meisten bedauert Jack, dass Brown und Black in dieses Irrenhaus, in diesen Zirkus geraten sind. Sie haben die ganze Zeit auf ihren Augenblick gewartet - in gewisser Beziehung darauf gewartet, dass der örtliche Polizeichef seine Unfähigkeit beweist -, aber was sich jetzt abspielt, ist eine öffentliche Demütigung für Dale, und Jack wünscht sich, es wäre nicht dazu gekommen. Er hätte sich nicht vorstellen können, dass er für das Auftauchen einer Bikergang an einem Tatort einmal dankbar sein würde, aber so schlimm sind die derzeitigen Verhältnisse nun eben. Beezer St. Pierre und seine Freunde haben die Sensationslüsternen wirkungsvoller im Zaum gehalten als Dales Leute. Die Frage ist nur: Wie haben all diese Menschen davon erfahren?

Abgesehen von dem Schaden, den Dales Ruf und Selbstachtung erleiden werden, bedauert Jack es nicht sonderlich, dass für den Fall jetzt andere zuständig sein werden. Brown und Black sollen ruhig alle Keller in der French County durchsuchen; Jack hat das Gefühl, dass sie nicht weiter kommen werden, als es der Fisherman zulässt. Um weiterzukommen, glaubt er, müsste man sich in Richtungen bewegen, die Brown und Black nie verstehen könnten, und Orte aufsuchen, die ihrer Überzeugung nach nicht existieren. Weiterkommen bedeutet, dass man Freundschaft mit dem Opopanax schließen muss, und Männer wie Braun und Black misstrauen allem, was auch nur nach Opopanax riecht. Das bedeutet wiederum, dass Jack trotz allem, was er sich seit dem Mord an Amy St. Pierre gesagt hat, den Fisherman allein fassen muss. Oder vielleicht nicht ganz allen. Dale wird schließlich viel mehr freie Zeit haben, und unabhängig davon, wie schäbig die State Police ihn behandelt, ist Dale zu sehr in diesen Fall verwickelt, um ihn zu den Akten legen zu können.

»Chief Gilbertson«, sagt Perry Brown, »ich glaube, wir haben hier genug gesehen. Nennen Sie das einen Tatort absperren?«

Dale wendet sich von Teddy Runkleman ab und dreht sich frustriert zu den Staties um, die sich wie SA-Männer nebeneinander aufgebaut haben. Sein Gesichtsausdruck verrät Jack, dass er genau weiß, was geschehen wird, und nur hofft, dass es nicht demütigend brutal wird. »Ich habe getan, was ich konnte, um dieses Gebiet abzusperren«, sagt Dale. »Nachdem der Notruf eingegangen war, habe ich meine Leuten persönlich angewiesen, paarweise in vernünftigen Abständen rauszufahren, um niemanden neugierig zu machen.«

»Chief, Sie müssen Ihr Funkgerät benützt haben«, sagt Jeff Black. »Irgendwer muss mitgehört haben.«

»Mein Funkgerät war ausgeschaltet«, sagt Dale. »Und meine Leute wissen, dass sie nichts Dienstliches weitertrat-schen dürfen. Aber wissen Sie was, Lieutenant Black? Wo der Fisherman doch uns angerufen hat, vielleicht hat er da auch verschiedene andere Bürger anonym angerufen.«

Teddy Runkleman hat diese Diskussion verfolgt wie ein Zuschauer ein Tennisfinale.

»Zuerst noch etwas anderes«, sagt Perry Brown. »Was haben Sie mit diesem Mann und seinen Freunden vor? Wollen Sie nicht eine Anzeige gegen sie aufnehmen? Der Anblick seines Gesichts geht mir auf die Nerven.«

Dale überlegt einen Augenblick, dann sagt er: »Ich nehme keine Anzeige gegen sie auf. Verschwinden Sie, Runkleman.« Als Teddy sich entfernen will, sagt Dale: »Augenblick noch. Wie seid ihr hergekommen?«

»Über die alte Straße«, sagt Teddy. »Fängt hinter Goltz’s an und führt genau hierher. Die Thunder Five sind sie auch gefahren. Und dieser Mr. Green, der große Reporter.«

»Wendell Green ist hier?«

Teddy zeigt zur Schmalseite der Ruine hinüber. Dale wirft einen Blick über die Schulter, und Jack sieht ebenfalls in diese Richtung und wird Augenzeuge, wie Beezer St. Pierre den Film aus der Kamera fetzt, während Wen-dell Green ihn in hilfloser Wut beobachtet.

»Noch eine Frage«, sagt Dale. »Wie habt ihr erfahren, dass die Leiche der kleinen Freneau hier draußen liegt?«

»Bei Ed’s sollen fünf oder sechs Leichen liegen, hab ich gehört. Mein Bruder Erland hat mich angerufen und es mir erzählt. Er hatte es von seiner Freundin.«

»Los, verschwinden Sie schon«, sagt Dale, und Teddy Runkleman schlendert davon, als hätte er eine Auszeichnung für Bürgersinn erhalten.

»Also gut«, sagt Perry Brown. »Chief Gilbertson, Sie sind am Ende der Fahnenstange angelangt. Ab sofort werden die Ermittlungen von Lieutenant Black und mir geleitet. Ich brauche eine Kopie des Notruf-Tonbands und Fotokopien aller Notizen und Zeugenaussagen, die Sie und Ihre Beamten aufgenommen haben. Ihre Rolle wird von nun an darin bestehen, sich den Ermittlungen der State Police ganz unterzuordnen und voll mit uns zusammenzuarbeiten, wenn Sie dazu aufgefordert werden. Informationen über den Stand der Ermittlungen erhalten Sie jeweils, wenn Lieutenant Black und ich es für angebracht halten. Wenn Sie mich fragen, Chief Gilbertson, kommen Sie besser weg, als Sie es verdienen. Ich habe noch nie einen chaotischeren Tatort gesehen. Sie haben die Sicherung des Tatorts in geradezu unglaublicher Weise vernachlässigt. Wie viele von Ihnen haben eigentlich das . das Gebäude betreten?«

»Drei«, sagt Dale. »Ich, Officer Dulac und Lieutenant Sawyer.«

»Lieutenant Sawyer«, sagt Brown. »Entschuldigen Sie, ist Lieutenant Sawyer wieder beim LAPD? Gehört er jetzt offiziell der hiesigen Polizei an? Und wenn nicht, warum haben Sie ihm dann Zugang zu diesem Gebäude gewährt? Genauer gesagt: Was hat Mr. Sawyer überhaupt hier zu suchen?«

»Er hat mehr Morde aufgeklärt, als Sie und ich je aufklären werden, selbst wenn wir noch so lange leben.«

Brown wirft Jack einen scheelen Blick zu, während Jeff Black ihn mit großen Augen anstarrt. Von seinem Standort hinter den beiden Staties aus sieht Arnold Hra-bowski ebenfalls Jack Sawyer an, jedoch keineswegs so, wie Perry Brown es getan hat. Arnolds Gesichtsausdruck ist der eines Mannes, der sich innigst wünscht, unsichtbar zu sein, und als Jack seinen Blick erwidert, sieht er rasch weg und tritt verlegen von einem Fuß auf den anderen.

Aha, denkt Jack. Natürlich, der Verrückte Verrückte Verrückte Verrückte Verrückte Ungar, da haben wir’s.

Perry Brown fragt Dale, was außerdem Mr. St. Pierre und seine Freunde am Tatort zu schaffen hätten, und Dale antwortet, dass sie mitgeholfen hätten, die Neugierigen zurückzudrängen. Habe Dale Mr. St. Pierre zugesichert, ihn als Gegenleistung für seine Dienste über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten? Etwas in dieser Richtung, ja.

Jack macht einige Schritte rückwärts und beginnt, sich in einem sanft geschwungenen weiten Bogen zu bewegen, der ihn zu Arnold Hrabowski führen wird.

»Unglaublich«, sagt Brown. »Sagen Sie, Chief Gilbert-son, wollten Sie eigentlich bewusst eine kleine Verzögerung eintreten lassen, bevor Sie Lieutenant Black und mich benachrichtigen?«

»Ich habe mich strikt an die Vorschriften gehalten«, sagt Dale. Als Antwort auf die nächste Frage bestätigt er, dass er den Leichenbeschauer und die Spurensicherer angefordert habe, die er übrigens jetzt gerade die Zufahrt heraufkommen sehe.

Die Bemühungen des Verrückten Ungarn um Selbstbeherrschung bewirken nur, dass er aussieht, als müsste er dringend mal austreten. Als Jack ihm eine Hand auf die Schulter legt, erstarrt er wie die berühmten Holzindianer vor den Zigarrenläden.

»Ganz ruhig, Arnold«, sagt Jack, dann erhebt er die Stimme. »Lieutenant Black, da Sie diesen Fall übernehmen, es gibt noch einige Dinge, die Sie wissen sollten.«

Brown und Black wenden ihm ihre Aufmerksamkeit zu.

»Der Mann, von dem der Notruf gekommen ist, hat das Münztelefon im 7-Eleven am Highway 35 in French Landing benützt. Dale hat den Apparat mit Absperr-band sichern lassen, und der dortige Angestellte weiß, dass er niemanden damit telefonieren lassen darf. Vielleicht sind an diesem Telefon ja nützliche Fingerabdrücke zu finden.«

Black kritzelt etwas in sein Notizbuch, und Brown sagt: »Gentlemen, Ihre Rolle hier ist beendet, würde ich mal sagen. Chief, setzen Sie Ihre Leute ein, um die Menschenansammlung unten am Ende der Zufahrt zu zerstreuen. Wenn ich mit dem Leichenbeschauer wieder aus dem Gebäude komme, will ich keinen einzigen Menschen mehr dort unten sehen - auch Sie und Ihre Leute nicht. Falls wir irgendwelche neuen Erkenntnisse haben, werden wir Sie noch in dieser Woche anrufen.«

Dale wendet sich wortlos ab und schickt Bobby Dulac mit einem Nicken die Zufahrt hinunter, wo die Menge inzwischen auf einige wenige Hartnäckige zusammengeschrumpft ist, die an ihren Autos lehnen. Brown und Black schütteln dem Leichenbeschauer die Hand und beraten sich mit den Spezialisten, die mit dem Spurensi-cherungswagen gekommen sind.

»Also, Arnold«, sagt Jack, »Sie sind doch gern ein Cop, oder nicht?«

»Ich? Ich liebe meinen Beruf als Cop.« Arnold schafft es nicht ganz, Jacks Blick zu erwidern. »Und ich könnte ein guter sein, ich weiß, dass ich das könnte, aber der Chief hat nicht genug Vertrauen zu mir.« Er rammt seine zitternden Hände in die Hosentaschen.

Jack fühlt sich zwischen Mitleid für diesen erbärmlichen Möchtegern und dem Drang, ihn mit Fußtritten bis ans Ende der Zufahrt hinunterzujagen, hin und her gerissen. Ein guter Cop? Arnold könnte nicht einmal ein guter Pfadfinderführer sein. Durch seine Schuld ist Dale Gilbertson öffentlich abgekanzelt worden, wobei er sich vermutlich wie an den Pranger gestellt vorgekommen ist. »Aber Sie haben sich nicht an Ihre Befehle gehalten, stimmt’s, Arnold?«

Arnold bebt wie ein vom Blitz getroffener Baum. »Was? Ich hab nichts getan.«

»Sie haben jemandem davon erzählt. Vielleicht sogar mehreren Leuten.«

»Nein!« Arnold schüttelt heftig den Kopf. »Ich habe nur meine Frau angerufen, das war alles.« Er wirft Jack einen flehentlichen Blick zu. »Der Fisherman hat mit mir geredet, er hat mir erzählt, wo er die Leiche des Mädchens versteckt hat, und das wollte ich Paula wissen lassen. Ehrlich, Holl, äh, Lieutenant Sawyer, ich bin nicht davon ausgegangen, dass sie jemanden anrufen würde, ich wollte’s ihr nur erzählen.«

»Schlechter Zug, Arnold«, sagt Jack. »Sie werden dem Chief melden, was Sie getan haben, und zwar gleich jetzt. Dale verdient nämlich zu erfahren, was schief gegangen ist, und er sollte sich nicht selbst die Schuld daran geben müssen. Sie mögen Dale doch, oder?«

»Den Chief?« Arnolds Stimme schwankt vor Respekt vor seinem Chief. »Klar tue ich das. Er ist, er ist ... er ist ein großartiger Kerl. Aber wird er mich nicht rausschmeißen?«

»Das muss er entscheiden, Arnold«, sagt Jack. »Sie hät-ten’s verdient, wenn Sie mich fragen, aber vielleicht haben Sie ja noch mal Glück.«

Der Verrückte Ungar schlurft in Richtung Dale davon. Jack beobachtet beider Gespräch einen Augenblick lang, dann geht er an ihnen vorbei zur Schmalseite des verfallenen Gebäudes, wo Beezer St. Pierre und Wendell Green sich in unheilvollem Schweigen gegenüberstehen.

»Hallo, Mr. St. Pierre«, sagt er. »Hallo, Wendell.«

»Ich lege Beschwerde ein«, sagt Green. »Ich berichte über die größte Story meines Lebens, und dieser Bauernlümmel ruiniert mir einen ganzen Film. So darf man die Presse nicht behandeln; wir haben das Recht, alles zu fotografieren, was zum Teufel wir wollen.«

»Sie hätten vermutlich auch behauptet, Sie hätten ein Recht darauf, die Leiche meiner Tochter zu fotografieren.« Beezer sieht zu Jack hinüber. »Dieser Scheißkerl hat Teddy und die anderen Schwachköpfe dafür bezahlt, dass sie sich wie Idioten aufführen, damit niemand merkt, wie er sich dort reinschleicht. Er hat das Mädchen fotografiert.«

Wendell tippt Jack mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Das kann er nicht beweisen. Aber ich will Ihnen etwas sagen, Sawyer. Ich habe Fotos von Ihnen gemacht. Sie haben Beweismaterial auf der Ladefläche Ihres Trucks versteckt, und ich habe Sie auf frischer Tat ertappt. Denken Sie also lieber noch mal nach, bevor Sie versuchen, sich mit mir anzulegen. Ich kann Sie auffliegen lassen.«

Ein gefährlicher roter Nebel scheint Jacks Kopf auszufüllen. »Sie wollten Fotos von der Mädchenleiche verkaufen?«

»Was kümmert Sie das?« Ein hässliches Grinsen verbreitert Wendell Greens Mund. »Sie sind auch nicht gerade lilienweiß, stimmt’s? Vielleicht können wir einander nützen, hä?«

Der rote Nebel wird dichter und trübt Jacks Blick. »Wir können einander nützen?«

Beezer St. Pierre ballt seine gewaltigen Fäuste, streckt die Finger und ballt wieder die Fäuste. Beezer, das weiß Jack, deutet seinen Tonfall genau richtig, aber die Vision von Dollarzeichen hält Wendell Green so gepackt, dass er Jacks Drohung als simple Frage versteht.

»Lassen Sie mich einen neuen Film einlegen und die Aufnahmen machen, die ich brauche, dann behalte ich für mich, was ich über Sie weiß.«

Beezer senkt den Kopf und ballt wieder die Fäuste.

»Passen Sie auf. Ich bin ein großzügiger Mensch -vielleicht könnte ich Sie sogar beteiligen, sagen wir mit zehn Prozent meiner Gesamteinnahmen.«

Jack würde ihm lieber das Nasenbein zertrümmern, aber er begnügt sich mit einem kräftigen Magenhaken.

Green umklammert seinen Bauch mit beiden Händen und klappt nach vorn, dann bricht er zusammen. Sein Gesicht hat sich hektisch rosa verfärbt, und er ringt nach Atem. Aus seinem Blick sprechen Entsetzen und ungläubiges Staunen.

»Sehen Sie, auch ich bin ein großzügiger Mensch, Wendell. Ich habe Ihnen vermutlich Tausende von Dollar für Zahnersatz erspart - und eine gebrochene Kinnlade.«

»Vergessen Sie die plastische Operation nicht«, sagt Beezer, indem er die rechte Faust in die linke Handfläche klatschen lässt. Er sieht aus, als hätte ihm jemand gerade seine Lieblingsnachspeise weggeschnappt.

Wendells Gesicht hat sich purpurrot verfärbt.

»Zu Ihrer Information, Wendell: Auch wenn Sie etwas anderes gesehen zu haben glauben, ich unterschlage kein Beweismaterial. Ich offenbare es vielmehr, obwohl das für Sie vermutlich zu hoch ist.«

Green schafft es, eine winzige Menge Luft einzusaugen.

»Wenn Sie wieder Luft kriegen, verschwinden Sie von hier. Kriechen Sie, wenn’s nicht anders geht. Gehen Sie zu Ihrem Wagen und fahren Sie weg. Und beeilen Sie sich um Himmels willen, sonst kann’s passieren, dass unser Freund hier Sie für den Rest Ihres Lebens in den Rollstuhl schickt.«

Beezer beugt sich über Green und flüstert: »Wie würde es Ihnen gefallen, vom Hals abwärts gefühllos zu sein?«

Wendell Green kommt langsam auf die Knie hoch, saugt erneut geräuschvoll etwas Sauerstoff ein und rappelt sich schließlich zusammengekrümmt auf. Das Schlenkern seiner offenen Hand gilt den beiden, aber was er damit sagen will, bleibt unklar. Es könnte sein, dass er Beezer und Jack damit auffordern will, ihn in Ruhe zu lassen, oder ihnen versprechen will, sie nicht mehr zu belästigen, oder beides. Mit tief nach vorn gebeugtem Oberkörper und an den Bauch gepressten Händen stolpert Green um die Ecke des Gebäudes davon.

»Ich sollte mich wahrscheinlich bei Ihnen bedanken«, sagt Beezer. »Sie haben mir geholfen, ein Versprechen zu halten, das ich meiner Alten gegeben habe. Aber ich muss sagen, Wendell Green ist ein Kerl, den ich wirklich gern demontieren würde.«

»Mann«, sagt Jack, »ich war mir nicht sicher, ob ich’s schaffen würde, Ihnen zuvorzukommen.«

»Genau, meine Selbstbeherrschung hat bereits gebröckelt.«

Beide Männer grinsen. »Beezer St. Pierre«, sagt Beezer und streckt die Hand aus.

»Jack Sawyer.« Jack schlägt ein und hat dann kurzfristig das Gefühl, Beezer wolle ihm die Hand zerquetschen.

»Wollen Sie die ganze Arbeit den Staties überlassen oder auf eigene Faust weitermachen?«

»Was meinen Sie?«, sagt Jack.

»Sollten Sie jemals Hilfe brauchen oder Verstärkung nötig haben, brauchen Sie sich nur zu melden. Ich will von ganzem Herzen, dass dieser Hundesohn gefasst wird, und ich glaube, dass Sie bessere Chancen haben, ihn aufzuspüren, als sonst jemand.«

Auf der Rückfahrt ins Norway Valley sagt Henry: »Oh, Wendell hat tatsächlich ein Foto von der Leiche gemacht. Als du aus dem Gebäude gekommen und zum Pickup gegangen bist, habe ich gehört, dass jemand ein paar Aufnahmen macht, aber zunächst gedacht, das war vielleicht Dale. Als Dale und du dann mit Bobby Dulac drinnen wart, habe ich wieder ein Klicken gehört und erkannt, dass jemand mich fotografiert! Aha, habe ich mir gesagt, das muss Mr. Wendell Green sein, und ihn aufgefordert, hinter dem Gebäude hervorzukommen Im nächsten Augenblick sind diese Leute brüllend und kreischend herangestürmt. Sobald sie unterwegs waren, habe ich gehört, wie Mr. Green um die Ecke getrabt kommt, das Gebäude betritt und ein paar Fotos macht. Dann ist er wieder ins Freie geschlichen und hat draußen an der Ecke gestanden, wo dein Freund Beezer ihn sich geschnappt und die Sache mit dem Film erledigt hat. Beezer ist ein bemerkenswerter Kerl, was?«

»Henry, hättest du mir das alles auch so erzählt?«

»Natürlich, aber du bist ja ständig herumgerannt. Außerdem dachte ich mir, dass Wendell Green bestimmt erst Leine zieht, wenn er tüchtig in die Mangel genommen wird. Ich werde nie mehr ein Wort von seinem Geschmiere lesen. Niemals.«

»Dito«, sagt Jack.

»Aber du wirst nicht aufgeben, nach dem Fisherman zu fahnden, oder? Trotz allem, was der aufgeblasene State Cop gesagt hat.«

»Ich kann jetzt nicht aufgeben. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass die Wachträume, die ich gestern erwähnt habe, mit diesem Fall zusammenhängen.«

»Ivey-divey. Aber zurück zu Beezer. Habe ich ihn nicht sagen gehört, er wolle Wendell am liebsten demontierend«

»Yeah, so war’s.«

»Er muss ein faszinierender Mann sein. Von meinem Neffen weiß ich, dass die Thunder Five ihre Samstagnachmittage und -abende in der Sand Bar verbringen. Vielleicht bringe ich nächste Woche Rhodas alten Wagen in Gang und fahre nach Centralia, um ein paar Biere zu trinken und mich nett mit Mr. St. Pierre zu unterhalten. Er hat bestimmt einen interessanten Musikgeschmack.«

»Du willst nach Centralia fahren?« Jack starrt Henry an, dessen einziges Zugeständnis an die Absurdität dieser Idee aus einem kleinen Lächeln besteht.

»Blinde können tadellos Auto fahren«, sagt Henry. »Sie können wahrscheinlich besser fahren als die meisten Sehenden. Ray Charles kann’s jedenfalls.«

»Komm schon, Henry. Wieso glaubst du, dass Ray Charles Auto fahren kann?«

»Wieso, da fragst du noch? Weil Ray mich eines Nachts in Seattle, das war, äh, vor vierzig Jahren, damals als ich ein Engagement bei KIRO hatte, zu einer Spazierfahrt eingeladen hat. Lief wie geschmiert. War überhaupt nichts dabei. Wir sind natürlich auf Seitenstraßen geblieben, aber Ray ist fast hundert Sachen gefahren, das weiß ich ziemlich sicher.«

»Nehmen wir mal an, dass das wirklich passiert ist, hast du denn keine Angst gehabt?«

»Angst? Natürlich nicht. Ich war doch sein Navigator. Ich glaube also nicht, dass ich irgendein Problem damit hätte, auf diesem verschlafenen Highway hier durchs Hinterland nach Centralia zu finden. Blinde fahren eigentlich nur deshalb nicht selbst, weil die anderen sie nicht lassen. Alles nur eine Machtfrage. Wir sollen an den Rand gedrängt bleiben. Beezer St. Pierre würde das sehr gut verstehen.«

»Und ich habe geglaubt, ich würde erst heute Nachmittag einen Besuch im Irrenhaus machen«, sagt Jack.

14

Auf dem Rücken des steilen Hügels zwischen dem Nor-way Valley und Arden gehen die Serpentinen und Haarnadelkurven des Highways 93, der hier nur mehr zweispurig ist, in die lange, an eine Sprungschanze erinnernde Gefällestrecke in die Stadt hinunter über, und östlich des Highways bildet der Hügel ein weites, mit Gras bewachsenes Plateau. Zwei verwitterte rote Picknicktische warten auf Leute, die sich dafür entscheiden, hier einige Minuten Halt zu machen und die spektakuläre Aussicht zu genießen. Ein bunter Fleckenteppich aus Farmen erstreckt sich über etwa fünfzehn Meilen einer sanft gegliederten, nicht ganz ebenen Landschaft, die von Wasserläufen und Landstraßen durchzogen wird. Ein solider Wall aus buckeligen blaugrünen Hügeln bildet den Horizont. An dem weiten Himmel hängen sonnenbeschienene weiße Wolken wie frische Wäsche.

Fred Marshall lenkt seinen Ford Explorer auf den gekiesten Seitenstreifen, hält dort und sagt: »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Als Jack vor seinem Farmhaus in den Explorer gestiegen ist, hat er einen leicht abgewetzten schwarzen Aktenkoffer mitgebracht, und dieser Aktenkoffer liegt jetzt flach auf seinem Schoß. Die Initialen von Jacks Vater — P. S. S., Philip Stevenson Sawyer - sind neben dem Tragegriff an der oberen Schmalseite in Gold eingeprägt. Fred hat den Aktenkoffer einige Male neugierig betrachtet, aber er hat nicht danach gefragt, und Jack hat sich nicht von sich aus dazu geäußert. Fürs Vorzeigen und Erklären wird noch Zeit sein, denkt Jack, nachdem er mit Judy Marshall gesprochen hat. Fred steigt aus dem Wagen, und Jack stellt den alten Aktenkoffer seines Vaters im Fußraum ab, bevor er dem anderen Mann über das weiche Gras folgt. Als sie die Picknicktische erreichen, deutet Fred auf die Landschaft. »Bei uns gibt’s nicht viel, was man als Touristenattraktion bezeichnen könnte, aber das hier ist ziemlich gut, nicht wahr?«

»Es ist sehr schön«, sagt Jack. »Aber ich finde hier alles schön.«

»Judy liebt diese Aussicht sehr. Wenn wir bei gutem Wetter nach Arden rüberfahren, muss sie jedes Mal hier halten, aussteigen, sich entspannen und sich eine Zeit lang umsehen. Sozusagen die wichtigen Dinge speichern, bevor sie in den Alltagstrott zurückkehrt. Ich, ich werde manchmal ungeduldig und denke: Komm schon, du hast diese Aussicht schon tausendmal gesehen, ich muss ins Geschäft zurück, aber ich bin ja ein Mann, stimmt’s? So merke ich jedes Mal, wenn wir hier halten und uns ein paar Minuten hinsetzen, dass meine Frau mehr weiß als ich und ich einfach darauf hören sollte, was sie sagt.«

Jack lächelt, setzt sich auf die Bank und wartet auf den Rest der Geschichte. Seit Fred Marshall ihn abgeholt hat, hat jener nur zwei, drei Sätze gesprochen, um seine Dankbarkeit auszudrücken, aber es ist klar, dass er diesen Ort gewählt hat, um sich etwas von der Seele zu reden.

»Ich bin heute Morgen ins Krankenhaus rübergefahren, und sie ... Nun, sie ist anders. Sieht man sie, redet man mit ihr, würde man sagen müssen, dass sie in viel besserer Verfassung ist als gestern. Obwohl sie sich weiter schreckliche Sorgen um Tyler macht, ist sie anders. Glauben Sie, dass das an den Medikamenten liegt? Ich weiß nicht mal, was sie ihr geben.«

»Können Sie ganz normal mit ihr reden?«

»Ab und zu, yeah. Zum Beispiel hat sie mir eine Geschichte erzählt, die gestern in der Zeitung gestanden hat - von einem kleinen Mädchen aus La Riviere, das bei einem landesweiten Rechtschreibwettbewerb beinahe den dritten Platz belegt hätte, aber an einem verrückten Wort gescheitert ist, das kein Mensch kennt. Po-poplax oder so ähnlich.«

»Opopanax«, sagt Jack. Er klingt, als hätte er sich an einer Fischgräte verschluckt.

»Sie haben die Meldung auch gelesen? Interessant, dass euch beiden dasselbe Wort aufgefallen ist. Irgendwie hat es sie angeregt. Sie hat die Krankenschwestern nach der Bedeutung dieses Worts gefragt, worauf eine in ein paar Lexika nachgeschlagen hat. Die konnte es aber nicht finden.«

Jack hat das Wort in seinem Concise Oxford Dictionary gefunden; die buchstäbliche Bedeutung hatte sich aber als unwichtig erwiesen. »Das ist wahrscheinlich die Definition von Opopanax«, sagt Jack. »>i. Ein Wort, das nicht im Lexikon steht. 2. Ein schreckliches Geheimnis.<«

Fred, der im Bereich des Aussichtspunkts nervös auf und ab gegangen ist, bleibt jetzt neben Jack stehen, der mit einem Blick nach oben feststellt, dass der andere über das weite Panorama hinausblickt. »Ha! Vielleicht ist das die Bedeutung.« Freds Blick bleibt auf die Landschaft gerichtet; er ist noch nicht ganz so weit, aber er macht Fortschritte. »Es war schön, zu sehen, dass sie sich für so was interessiert, für eine winzige Meldung im Herald ... «

Fred wischt sich Tränen aus den Augen und macht einen Schritt in Richtung Horizont. Als er sich umdreht, sieht er Jack geradewegs ins Gesicht. »Äh, bevor Sie Ju-dys Bekanntschaft machen, möchte ich Ihnen noch ein paar Dinge über sie erzählen. Das Dumme ist nur, dass ich nicht weiß, wie diese Dinge in Ihren Ohren klingen werden. Selbst für mich klingt manches ... Ich weiß nicht.«

»Versuchen Sie’s einfach«, sagt Jack.

»Okay«, sagt Fred, faltet krampfhaft die Hände und senkt den Kopf. Als er dann wieder aufsieht, wirkt sein Blick verwundbar wie der eines Säuglings. »Ach ... ich weiß nicht, wie ich’s ausdrücken soll. Okay, ich sag’s einfach. Mit einem Teil meines Gehirns denke ich, dass Judy etwas weiß. Das möchte ich zumindest denken. Andererseits möchte ich keiner Selbsttäuschung erliegen, indem ich glaube, dass sie nicht mehr verrückt sein kann, nur weil es ihr wieder besser zu gehen scheint. Aber das möchte ich wirklich glauben. Und wie, Mann!«

»Sie glauben also, dass Judy etwas weiß.« Das durch Opopanax hervorgerufene unheimliche Gefühl verschwindet angesichts dieser Bestätigung seiner Vermutung.

»Etwas, was ihr nicht einmal ganz klar zu sein scheint«, sagt Fred. »Wie ich Ihnen schon gesagt habe, sie hat gewusst, dass Ty verschwunden war, noch bevor ich’s ihr erzählt habe.«

Er wirft Jack einen gequälten Blick zu und tritt dann einige Schritte zur Seite, schlägt mit der linken Faust in die rechte Handfläche und starrt zu Boden. Eine weitere innere Barriere fällt offenbar vor seinem Bedürfnis, sein Dilemma zu erläutern.

»Okay, passen Sie auf. Folgendes müssen Sie über Ju-dy wissen. Sie ist ein besonderer Mensch. Gut, viele Ehemänner würden sagen, dass ihre Frauen etwas Besonderes sind, aber Judy ist auf spezielle Weise besonders. Erstens ist sie irgendwie erstaunlich schön, aber davon rede ich gar nicht. Und sie ist unglaublich tapfer, aber das meine ich auch nicht. Man könnte glauben, sie würde mit irgendetwas in Verbindung stehen, was wir anderen nicht mal andeutungsweise begreifen können. Aber kann es so was geben? Wie verrückt ist das? Wird man verrückt, wehrt man sich anfangs vielleicht nach Kräften und wird hysterisch; ist man dann zu verrückt, um weiterzukämpfen, wird man ganz ruhig und schicksalsergeben. Auch darüber werde ich mit ihrem Arzt reden müssen, weil dieser Gedanke mich sonst zerreißt.«

»Worüber spricht sie denn? Gibt sie selbst eine Erklärung dafür, dass sie so viel ruhiger ist?«

Fred Marshalls Blick bohrt sich in Jacks Augen. »Nun, zum einen scheint Judy zu glauben, dass Ty noch lebt -und dass Sie der einzige Mensch sind, der ihn finden kann.«

»Also gut«, sagt Jack, der sich nicht dazu äußern möchte, bevor er mit Judy gesprochen hat. »Hat Judy eigentlich jemals von einem früheren Bekannten gesprochen - oder einem entfernten Verwandten, einem ehemaligen Freund -, der Ty entführt haben könnte?« Seine Hypothese klingt hier weniger überzeugend als in Henry Leydens ultrarationaler, ganz und gar bizarrer Küche; Fred Marshalls Antwort schwächt sie weiter.

»Nein, außer er heißt Scharlachroter König, Gorg oder Abbalah. Ich kann nur sagen, dass Judy etwas zu sehen glaubt, aber obwohl es mir unverständlich ist, hoffe ich von ganzem Herzen, dass es tatsächlich existiert.«

Eine plötzliche Vision der Welt, in der Jack Sawyer die Brewers-Mütze eines Jungen gefunden hat, durchbohrt ihn wie eine Lanze mit Stahlspitze. »Und dort ist Tyler.«

»Würde ein Teil von mir das nicht für entfernt möglich halten, würde ich auf der Stelle durchdrehen«, sagt Fred. »Außer ich bin schon jetzt nicht mehr ganz bei Trost.«

»Okay, reden wir mit Ihrer Frau«, sagt Jack.

Von außen gleicht das French County Lutheran Hospital einem im i9. Jahrhundert erbauten Irrenhaus im Norden Englands: schmutzige Klinkermauern mit geschwärzten Strebepfeilern und Lanzettbogen, ein Spitz-dach mit von Kreuzblumen gekrönten Fialen, dicke Türmchen, schmale, hohe Fenster und eine lange Fassade mit Pockennarben aus uraltem Schmutz. Das riesige Gebäude, das sich am Westrand von Arden in einem von einer Mauer umgebenen Park mit dichtem Eichenbestand erhebt - gotisch, aber ohne Erhabenheit -, wirkt wie eine Strafanstalt bar jeglichen Mitleids. Jack erwartet beinahe, gleich die schrille Orgelmusik aus einem Vin-cent-Price-Film zu hören.

Sie gehen durch eine schmale hölzerne Spitzbogentür und betreten eine beruhigend vertraute Eingangshalle. An einer zentralen Empfangstheke weist ein gelangweil-ter Uniformierter Besuchern den Weg zu den Aufzügen; Plüschtiere und kleine Blumenbuketts füllen das Schaufenster der Geschenkboutique; an willkürlich verteilten Tischen sitzen am Tropf hängende Patienten in Bademänteln mit ihren Angehörigen zusammen, während andere Patienten auf den an den Seitenwänden aufgereihten Stühlen hocken; in einer Ecke beraten sich zwei weiß bekittelte Ärzte. Hoch darüber verbreiten zwei staubige, reich verzierte Kronleuchter ihr sanftes ockergelbes Licht, das die prächtigen Lilien, die in hohen Vasen beiderseits des Eingangs der Geschenkboutique stehen, für einen Augenblick zu vergolden scheint.

»Wow, hier drinnen sieht’s weit besser aus«, sagt Jack.

»Meistenteils«, sagt Fred.

Sie treten an die Empfangstheke, und Fred sagt: »Station D.« Mit milde aufflackerndem Interesse gibt der Mann ihnen zwei rechteckige Kärtchen mit dem Stempelaufdruck Besucher und winkt sie dann durch. Der Aufzug kommt klappernd herunter und lässt sie in eine holzgetäfelte Kabine von der Größe einer Besenkammer eintreten. Fred Marshall drückt auf den Knopf mit der Nummer fünf, worauf der Aufzug mit ihnen nach oben rumpelt. Das gleiche sanfte, goldene Licht wie zuvor füllt die absurd winzige Kabine. Vor zehn Jahren hat ein bemerkenswert ähnlicher Aufzug, jedoch in einem Pariser Grandhotel, Jack und eine UCLA-Doktorandin der Kunstgeschichte namens Iliana Tedesco zweieinhalb Stunden lang gefangen gehalten, in deren Verlauf Ms. Tedesco ihm mitteilte, trotz ihrer persönlichen Dankbarkeit für etwas, was zumindest bis zu diesem Augenblick eine lohnende gemeinsame Reise gewesen sei, habe ihre Beziehung ihre Endstation erreicht, vielen Dank. Nachdem er darüber nachgedacht hat, beschließt Jack, Fred Marshall nicht mit dieser Mitteilung zu belästigen.

Der Aufzug ist manierlicher als sein französischer Cousin: Er hält zitternd, öffnet mit kaum wahrnehmbarem Widerstreben seine Schiebetür und entlässt Jack Sawyer und Fred Marshall in den fünften Stock, auf dem das angenehme Licht ein wenig dunkler zu brennen scheint als im Aufzug und im Eingangsbereich. »Leider müssen wir ganz auf die andere Seite hinüber«, sagt Fred zu Jack. Linkerhand erstreckt sich ein scheinbar endlos langer Korridor wie eine Übung in perspektivischem Zeichnen. Fred weist in die Richtung, in die sie weiter müssen.

Sie gehen durch zwei große zweiflüglige Türen, vorbei am Korridor zu Station B, an zwei großen Räumen mit durch Vorhänge abgeteilten Patientenbetten vor-über, biegen am geschlossenen Eingang der Abteilung Gerontologie ab, folgen einem nicht enden wollenden Flur, der von schwarzen Brettern gesäumt ist, gehen am Eingang zu Station C vorbei, biegen an den Toiletten abrupt rechts ab, kommen an der Augenambulanz und dem Archiv vorbei und erreichen endlich einen mit Station D bezeichneten Korridor. Je weiter sie gelangen, desto düsterer scheint das Licht zu werden, desto näher scheinen die Wände zusammenzurücken und die Fenster zu schrumpfen. Im Korridor zur Station D lauern Schatten, und auf dem Fußboden glänzt eine kleine Wasserlache.

»Wir sind im ältesten Teil des Gebäudes angelangt«, sagt Fred.

»Sie wollen Judy hier bestimmt so bald wie möglich rausholen.«

»Na ja, klar, sobald Pat Skarda glaubt, dass sie so weit ist. Aber das wird Sie überraschen: Judy gefällt es hier irgendwie. Ich glaube, es hilft ihr. Sie hat mir erzählt, dass sie sich völlig sicher fühlt, und von den Leuten, die reden können, sollen einige äußerst interessant sein. Man kommt sich vor wie auf einer Kreuzfahrt, sagt sie.«

Jack lacht erstaunt und ungläubig auf. Fred Marshall berührt ihn an der Schulter und sagt: »Ob das wohl heißt, dass ihr Zustand sich sehr gebessert oder sehr verschlimmert hat?«

Am Ende des Korridors gelangen sie unmittelbar in einen ziemlich großen Raum, in dem anscheinend seit einem Jahrhundert nichts mehr verändert worden ist. Die dunkelbraune Wandtäfelung ragt bis auf Brusthöhe über den dunkelbraunen Holzfußboden. Hoch in der grauen Wand rechts lassen zwei schmale, hohe Fenster, die wie Bilder eingerahmt sind, gedämpftes graues Licht ein. Ein hinter einer polierten Holztheke sitzender Mann drückt auf einen Knopf, der eine übergroße Metalltür mit der Aufschrift Station D und einem kleinen Drahtglasfenster entriegelt. »Sie können hineingehen, Mr. Marshall, aber wer ist Ihre Begleitung?«

»Er heißt Jack Sawyer. Das geht schon in Ordnung.«

»Ist er ein Arzt oder ein Verwandter?«

»Weder noch, aber meine Frau möchte ihn sprechen.«

»Warten Sie einen Augenblick hier.« Der Wärter verschwindet durch die Metalltür und sperrt sie mit gefängnisartigem Scheppern hinter sich ab. Eine Minute später kommt er mit einer Stationsschwester zurück, deren breites, faltiges Gesicht, deren muskulöse Arme, Hände und dicke Beine sie wie einen Mann in Frauenkleidung erscheinen lassen. Sie stellt sich als Jane Bond, Oberschwester von Station D, vor - eine Kombination aus Wörtern und Umständen, die unwiderstehlich zumindest einige Spitznamen suggerieren. Die Oberschwester bombardiert erst Fred und Jack, dann nur Jack mit Fragen, bevor sie wieder durch die große Tür verschwindet.

»Und wo ist Dr. No?«, sagt Jack, der sich das nicht verkneifen kann.

»Sie sind nicht der Erste, der den Witz macht«, sagt der Wärter. »Sie ist taff, aber ungerecht.« Er sieht hüstelnd zu den hohen Fenstern auf. »Wir haben hier einen Krankenpfleger, der sie Nullnull-Null nennt.«

Einige Minuten später stößt Oberschwester Bond, Agentin 000, die Metalltür auf und sagt: »Sie können jetzt reinkommen, aber befolgen Sie meine Anweisungen.«

Auf den ersten Blick erinnert die Station an eine riesige Flugzeughalle, die in einen Bereich mit gepolsterten Bänken, einen Bereich mit runden Tischen und Plastikstühlen und einen dritten Bereich unterteilt ist, in dem auf zwei langen Tischen Zeichenpapier, Schachteln mit Farbstiften und Farbkästen gestapelt sind. In dem riesigen Raum wirken diese Einrichtungsgegenstände wie Puppenhausmöbel. Auf dem glatten Estrich, der in einem anonymen Grau gestrichen ist, liegen hier und da rechteckige gepolsterte Matten; sechs Meter über dem Fußboden sind in die Rückwand, deren rote Ziegel in weit zurückliegenden Jahren ein paar weiße Anstriche erhalten haben, kleine vergitterte Fenster eingelassen. In einem Glaskasten links neben dem Eingang sieht eine Krankenschwester, die dort am Schreibtisch sitzt, von ihrem Buch auf. Rechts im Hintergrund, weit hinter den Tischen mit dem Künstlerbedarf, führen drei verschlossene Metalltüren in eigene Welten. Das Gefühl, sich in einer Flugzeughalle zu befinden, weicht allmählich dem Eindruck einer gütigen, aber unbeugsamen Gefangenschaft.

Von den zwanzig bis dreißig Männern und Frauen, die in dem riesigen Raum verstreut sind, kommt leises Stimmengewirr. Nur sehr wenige dieser Männer und Frauen sprechen mit sichtbaren Begleitern. Sie schreiten im Kreis, stehen zur Bewegungslosigkeit erstarrt da, liegen in Säuglingshaltung auf den Matten; sie zählen etwas an den Fingern ab und kritzeln in ihre Notizbücher; sie zucken, gähnen, weinen, starren ins Leere oder in ihr Inneres. Manche von ihnen tragen grüne Krankenhauskleidung, andere Zivilsachen aller Art: T-Shirts und Shorts, Trainingsanzüge, Jogginganzüge, gewöhnliche Hemden und lange Hosen, Sweatshirts und Jeans. Niemand trägt einen Gürtel, und an allen Schuhen fehlen die Schuhbänder. An einem runden Tisch sitzen zwei muskulöse Männer mit Bürstenhaarschnitten und in blendend weißen T-Shirts, die wie geduldige Wachhunde dreinsehen. Jack sucht den Raum nach jemandem ab, der Judy Marshall sein könnte, kann aber niemanden entdecken.

»Ich habe um Ihre Aufmerksamkeit gebeten, Mr. Sawyer.«

»Sorry«, sagt Jack. »Ich hatte nicht erwartet, dass die Station so groß ist.«

»Wir müssen so groß sein, Mr. Sawyer. Wir versorgen immerhin eine wachsende Bevölkerung.« Sie scheint auf die Anerkennung ihrer Bedeutsamkeit zu warten, und Jack nickt. »Also gut. Ich erkläre Ihnen jetzt einige Grundregeln. Halten Sie sich daran, gestaltet sich Ihr Besuch hier für uns alle so angenehm wie möglich. Also, starren Sie die Patienten nicht an und lassen Sie sich von dem, was sie sagen, nicht beunruhigen. Benehmen Sie sich nicht, als fänden Sie irgendetwas, was sie tun oder sagen, ungewöhnlich oder beängstigend. Seien Sie einfach höflich, dann lässt man Sie nach einiger Zeit in Ruhe. Bittet man Sie um Dinge, tun Sie innerhalb vernünftiger Grenzen das, was Sie für richtig halten. Aber geben Sie ihnen bitte kein Geld, keine scharfen Gegenstände oder Esswaren, die nicht von einem der Ärzte freigegeben sind - die Wirkung mancher Medikamente wird durch bestimmte Lebensmittel beeinträchtigt. Irgendwann wird vermutlich eine ältere Frau namens Estelle Packard auf Sie zukommen und Sie fragen, ob Sie ihr Vater sind. Antworten Sie, was Sie wollen, aber wenn Sie Nein sagen, wird sie das sehr enttäuschen. Wenn Sie Ja sagen, ist sie für heute glücklich. Noch Fragen, Mr. Sawyer?«

»Wo ist Judy Marshall?«

»Sie sitzt mit dem Rücken zu uns auf der Bank dort hinten. Sehen Sie sie, Mr. Marshall?«

»Ich hab sie gleich gesehen«, sagt Fred. »Übrigens, hat sich ihr Zustand seit heute Morgen verändert?«

»Nicht, dass ich wüsste. Dr. Spiegleman kommt in ungefähr einer halben Stunde zur Visite; vielleicht hat er ja Neuigkeiten für Sie. Soll ich Mr. Sawyer und Sie zu Ihrer Frau begleiten, oder möchten Sie lieber selbst hinübergehen?«

»Danke, wir kommen allein zurecht«, sagt Fred. »Wie lange dürfen wir bleiben?«

»Ich gebe Ihnen fünfzehn, maximal zwanzig Minuten. Judy befindet sich noch in der Beobachtungsphase, und ich möchte ihren Stresslevel möglichst niedrig halten. Sie wirkt im Augenblick recht friedlich, aber sie leidet an starkem Realitätsverlust und offen gesagt, an Wahnvorstellungen. Eine weiteres hysterisches Zwischenspiel würde mich also nicht sonderlich überra-schen, und wir wollen die Beobachtungsphase nicht unnötig verlängern, indem wir ihre Medikation jetzt umstellen, nicht wahr? Achten Sie bitte darauf, Mr. Marshall, die Unterhaltung stressfrei, locker und positiv zu gestalten.«

»Sie glauben wirklich, dass sie an Wahnvorstellungen leidet?«

Oberschwester Bond lächelt mitleidig. »Unter Wahnvorstellungen leidet Ihre Frau vermutlich schon seit Jahren, Mr. Marshall. Oh, sie hat’s geschafft, sie zu verbergen, aber fixe Ideen, wie sie welche hat, entstehen nicht über Nacht, nein, nein. Solche Dinge brauchen Jahre, um sich heranzubilden, und in dieser ganzen Zeit kann der oder die Betreffende scheinbar normal funktionieren. Dann gibt irgendetwas den Anstoß dazu, dass die Psychose sich in voller Stärke manifestiert. In diesem Fall war das natürlich das Verschwinden Ihres Sohns. Übrigens möchte ich diese Gelegenheit wahrnehmen, Ihnen mein Beileid auszusprechen. Wie schrecklich für Sie und Ihre Frau.«

»Ja, das ist es«, sagt Fred Marshall. »Aber Judy hat sich schon merkwürdig benommen, bevor ...«

»Da war’s nicht anders, fürchte ich. Sie brauchte Trost, und ihre Wahnvorstellungen - ihre illusionäre Welt - ist zutage getreten, weil diese Welt ihr genau den Trost gewährt hat, den sie brauchte. Das werden Sie doch heute Morgen auch gemerkt haben, Mr. Marshall. Hat Ihre Frau da nicht von Reisen in andere Welten gesprochen?«

»Reisen in andere Welten?«, fragt Jack bestürzt.

»Eine ziemlich typische schizophrene Vorstellung«, sagt Oberschwester Bond. »Über die Hälfte der Leute auf dieser Station haben ähnliche Fantasien.«

»Sie glauben, dass meine Frau schizophren ist?«

Oberschwester Bond blickt an Fred vorbei, um die Gesamtheit der Patienten, die in ihrer Obhut stehen, zu mustern. »Ich bin keine Psychiaterin, Mr. Marshall, aber ich habe über zwanzig lange Jahre hinweg Erfahrungen mit Geistesgestörten gesammelt. Auf Grund dieser Erfahrungen muss ich Ihnen leider sagen, dass sich bei Ihrer Frau meiner Ansicht nach die klassischen Symptome einer paranoiden Schizophrenie manifestieren. Ich wollte, ich könnte Ihnen etwas Erfreulicheres mitteilen.« Sie sieht wieder Fred Marshall an. »Die endgültige Diagnose stellt natürlich Dr. Spiegleman, und der kann auch alle Ihre Fragen beantworten, auch hinsichtlich der Behandlungsmöglichkeiten und so weiter.«

Das Lächeln, mit dem sie Jack bedenkt, scheint im Augenblick seiner Entstehung zu gefrieren. »Ich erzähle meinen neuen Besuchern immer, dass Angehörigen meist mehr unter der Situation leiden als die Patienten. Manche der Leute hier bei uns haben keinerlei Sorgen. Wirklich, man muss sie fast beneiden.«

»Klar«, sagt Jack. »Wer täte das nicht?«

»Dann gehen Sie schon«, sagt sie mit einem Anflug von Gereiztheit. »Viel Spaß bei Ihrem Besuch.«

Einige der Patienten wenden sich ihnen zu, während sie langsam über den staubigen grauen Boden zur hintersten Bankreihe gehen; zahlreiche Augenpaare verfolgen ihren Weg. Neugier, Gleichgültigkeit, Verwirrung, Misstrauen und Freude, vereinzelt auch unpersönlicher Zorn zeigen sich auf den blassen Gesichtern. Jack hat den Eindruck, als bewegten alle Patienten dieser Station sich unmerklich auf sie zu.

Ein schwammiger Mann mittleren Alters, der einen Bademantel trägt, hat angefangen, durch die Tischreihen zu hasten, als hätte er Angst, den Bus zur Arbeit zu verpassen. Ein Stück weiter steht eine hagere alte Frau mit langem schlohweißen Haar auf und starrt Jack mit flehendem Blick an. Ihre gefaltet erhobenen Hände zittern heftig. Jack zwingt sich dazu, ihren Blick nicht zu erwidern. Als er an ihr vorbeigeht, flüstert sie halb singend: »Mein kleiner Schatz war hinter der Tür, aber ich hab’s nicht gewusst, und da war er in all dem Wasser.«

»Hm«, sagt Fred. »Judy hat mir erzählt, dass der kleine Sohn dieser Frau in der Badewanne ertrunken ist.«

Aus den Augenwinkeln heraus hat Jack beobachtet, wie der Wuschelhaarige im Bademantel mit aufgerissenem Mund auf sie zustürmt. Als Fred und er die Rückseite der Bank erreichen, an der Judy Marshall sitzt, hebt der Mann einen Finger, als wollte er dem Busfahrer ein Zeichen geben, auf ihn zu warten, und trottet dann vorwärts. Jack beobachtet, wie er herankommt; zum Teufel mit Oberschwester Bonds Ratschlag. Er wird nicht zulassen, dass dieser Irre über ihn herfällt, bestimmt nicht. Der erhobene Finger nähert sich seiner Nase bis auf eine Handspanne, und die trüben Augen des Mannes starren Jack forschend ins Gesicht. Die Augen weichen zurück; der Mund schnappt zu. Im nächsten Moment wirft der Mann sich herum und hastet mit wehendem Bademantel davon, den erhobenen Finger weiter auf der Suche nach seinem Ziel.

Was war das?, fragt Jack sich. Der falsche Bus?

Judy Marshall hat sich nicht bewegt. Sie muss den an ihr vorbeistürmenden Mann gehört haben, seinen keuchenden Atem, als er stehen geblieben ist, dann sein flatterndes Weiterhasten, aber ihr Rücken in dem lockeren grünen Gewand bleibt gerade, ihr Kopf verharrt unbeweglich in leicht erhobener Haltung. Sie scheint von allem, was sie umgibt, losgelöst zu sein. Wäre ihr Haar gewaschen, gebürstet und gekämmt, trüge sie Straßenkleidung und hätte einen Koffer neben sich stehen, sähe sie genau wie eine Frau aus, die auf einer Bahnhofsbank sitzt und auf die Abfahrtszeit ihres Zuges wartet.

Schon bevor Jack das Gesicht von Judy Marshall sieht, bevor sie ein einziges Wort spricht, hat sie also diese Aura von Abschiednehmen um sich, von unablässig angetretenen Reisen - diese Andeutung von Exkursionen, diese Ahnung von einem möglichen Woanders.

»Ich sage ihr, dass wir da sind«, flüstert Fred und huscht ums Ende der Bank herum, um vor seiner Frau in die Hocke zu gehen. Sie beugt den Kopf bei unverändert aufrechtem Rückgrat nach vorn, als wollte sie auf die wirre Mischung aus Kummer, Liebe und Besorgnis antworten, die auf dem gut aussehendem Gesicht ihres Ehemanns brennt. Dunkelblondes Haar mit goldenen Glanzlichtern liegt flach an der mädchenhaften Rundung von Judy Marshalls Hinterkopf an. Hinter den Ohren sind Dutzende von verschiedenfarbigen Strähnen zu einem spinnwebförmigen Knoten verklumpt.

»Wie fühlst du dich, Schatz?«, fragt Fred leise.

»Es gelingt mir, mich zu amüsieren«, sagt sie. »Wirklich, Liebling, ich sollte wenigstens noch einige Zeit hier bleiben. Die Oberschwester ist davon überzeugt, dass ich absolut verrückt bin. Ist das nicht praktisch?«

»Jack Sawyer ist hier. Möchtest du jetzt mit ihm reden?«

Judy streckt eine Hand aus und tätschelt sein Knie. »Sag Mr. Sawyer, er möchte nach vorn kommen, und du setzt dich hier neben mich, Fred.«

Jack tritt bereits vor und hat den Blick auf Judy Marshalls wieder erhobenen Kopf gerichtet, der sich ihm aber nicht zuwendet. Fred hat kniend ihre ausgestreckte Hand mit beiden Händen ergriffen, als wollte er sie jeden Moment küssen. In dieser Stellung erinnert er an einen liebeskranken Ritter, der seiner Königin huldigt. Als Fred ihre Hand an seine Wange drückt, sieht Jack die weißen Mullverbände an ihren Fingerspitzen. Judys Wangenknochen werden sichtbar, dann die Seite ihres ernsten, nicht lächelnden Mundes; dann ist ihr ganzes Profil sichtbar, scharf wie das Krachen des Eises am ersten Frühlingstag. Es ist das königliche, idealisierte Profil auf einer Kamee oder einer Münze: der leichte Aufwärtsbogen der Lippen, der klar definierte, wie gemeißelte Abwärtsschwung der Nase, die geschwungene Linie des Kinns, jeder Winkel in vollkommener, sanfter, eigenartig vertrauter Übereinstimmung mit dem Ganzen.

Sie verschlägt ihm die Sprache, diese unerwartete Schönheit; für Bruchteile einer Sekunde hemmt sie ihn mit der tiefen, körnigen Nostalgie ihrer bruchstückhaften, nicht ganz fassbaren Heraufbeschwörung eines anderen Gesichts. Grace Kelly? Catherine Deneuve? Nein, keine dieser beiden; Jack begreift, dass Judys Profil ihn an eine Frau erinnert, der er erst noch begegnen muss.

Dann ist der seltsame Augenblick vorüber: Fred Marshall steht auf, Judys Gesicht im Dreiviertelprofil verliert seine königliche Ausstrahlung, während sie beobachtet, wie ihr Mann sich neben sie auf die Bank setzt, und Jack verwirft, was ihm soeben zugestoßen ist, als Absurdität.

Sie hebt den Blick nicht, bis er vor ihr steht. Ihr Haar ist glanzlos und verfilzt. Unter dem Krankenhausgewand trägt sie ein altes Nachthemd aus blauer Spitze, das schon unansehnlich gewesen sein muss, als es neu war. Trotz diesen Nachteilen ist er Judy Marshall in der Sekunde verfallen, in dem sein Blick ihrem begegnet.

Ein von seinen Sehnerven ausgehender Stromstoß scheint durch ihn hindurch abwärts zu pulsieren, und Jack wird sich hilflos bewusst, dass sie die schönste, hinreißendste Frau sein muss, die er je in seinem Leben gesehen hat. Er befürchtet gleich, die Stärke seiner Reaktion auf sie könnte ihn umwerfen, dann - noch schlimmer! -, sie werde erkennen, was in ihm vorgeht, und ihn für einen Tölpel halten. Er wünscht sich verzweifelt, in ihren Augen nicht als Tölpel zu erscheinen. Brooke Greer, Claire Evinrude, Iliana Tedesco, so attraktiv jede von ihnen auf ihre eigene Art auch war, sehen neben ihr alle wie kleine Mädchen in Halloween-Kostümen aus.

Judy Marshall verbannt seine ehemaligen Geliebten ins Regal; sie entlarvt sie als Spleens und Fantasieprodukte, von unechten Egos und hundert lähmenden Unsicherheiten durchsetzt. Judys Schönheit entsteht nicht vor einem Spiegel, sondern wächst mit atemberaubender Schlichtheit geradewegs aus ihrem innersten Wesen; was man sieht, ist nur der kleine, sichtbare Teil von weit gewichtigeren, weit umfassenderen, strahlenderen und ausgebildeteren Eigenschaften in ihrem Innersten.

Jack kann kaum glauben, dass der liebenswerte, gutherzige Fred Marshall tatsächlich das fantastische Glück gehabt hat, diese Frau zu heiraten. Weiß er, wie großartig, wie buchstäblich wundervoll sie ist? Wäre sie ledig, würde Jack sie auf der Stelle heiraten. Ihm kommt es so vor, als hätte er sich schon in sie verliebt, als er nur ihren Hinterkopf gesehen hat.

Aber er darf sie nicht begehren. Sie ist Fred Marshalls Frau und die Mutter des Sohns der beiden, und Jack wird einfach ohne sie weiterleben müssen.

Sie spricht einen kurzen Satz, der wie eine vibrierende Schallwelle durch ihn hindurchgeht. Er beugt sich mit einer gemurmelten Entschuldigung nach vorn, und Judy bedenkt ihn lächelnd mit einer Handbewegung, die ihn einlädt, vor ihr Platz zu nehmen. Jack sinkt im Schneidersitz zu Boden, noch immer vom Schlag dieses ersten Anblicks widerhallend.

Aus ihrer Miene spricht wundervolles Einfühlungsvermögen. Sie hat genau gesehen, was eben in ihm vorgegangen ist, und sie scheint es gutzuheißen. Sie hält deswegen nicht weniger von ihm. Jack öffnet den Mund, um eine Frage zu stellen. Obwohl er nicht weiß, wie die Frage lauten wird, muss er sie stellen. Die Art seiner Frage ist unwichtig. Die idiotischste Erkundigung reicht aus; er kann nur nicht dasitzen und stumm dieses herrliche Gesicht anstarren.

Bevor er spricht, geht eine Version der Realität lautlos in eine andere über, und Judy Marshall verwandelt sich übergangslos in eine Mittdreißigerin mit verfilztem Haar und dunklen Schatten unter den Augen, die ihn auf einer Bank in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung sitzend unverwandt anblickt. Das müsste ihm eigentlich wie eine Wiederherstellung seiner Vernunft erscheinen, aber stattdessen kommt es ihm wie ein Trick vor, als hätte Judy Marshall sich absichtlich verwandelt, um ihm ihre Begegnung zu erleichtern.

Die Worte, die er spricht, sind so banal, wie er befürchtet hat. Jack hört sich sagen, dass er sich freue, sie kennen zu lernen.

»Ich freue mich auch, Sie kennen zu lernen, Mr. Sawyer. Ich habe so viele wundervolle Dinge über Sie gehört.«

Er sucht ein Anzeichen dafür, dass sie das Ungeheure des soeben vergangenen Augenblicks anerkennt, aber er sieht nur ihre lächelnde Wärme. Unter den gegebenen Umständen erscheint ihm das aber Anerkennung genug. »Wie kommen Sie hier zurecht?«, fragt er, und damit verschieben die Gewichte sich noch mehr in seine Richtung.

»An den Umgang, den man hier hat, muss man sich erst gewöhnen, aber diese armen Leute hier haben sich bloß verirrt und können jetzt nicht zurückfinden, das ist alles. Manche von ihnen sind sehr intelligent. Ich habe hier Gespräche geführt, die weit interessanter waren als die in meiner Kirchengruppe oder der Elternvereinigung. Vielleicht hätte ich schon früher in Station D kommen sollen! Mein Aufenthalt hier hat mich einiges gelehrt.«

»Zum Beispiel?«

»Beispielsweise, dass es zum einen viele Möglichkeiten gibt, sich zu verirren, und dass man sich viel leichter verirren kann, als jemals irgendjemand zugibt. Die Leute hier drinnen können ihre Gefühle nicht verbergen, und die meisten haben nie gelernt, mit ihrer Angst umzugehen.«

»Wie sollte man denn damit umgehen?«

»Nun, man geht mit ihr um, indem man sie angeht, so simpel ist das! Man sagt nicht einfach, ich habe mich verirrt und weiß nicht, wie ich zurückfinden soll - man geht in dieselbe Richtung weiter. Man setzt einen Fuß vor den anderen, bis man sich noch mehr verirrt hat. Das sollte jeder wissen. Vor allem Sie, Jack Sawyer.«

»Wie kommen ...« Bevor er seine Frage beenden kann, taucht eine alte Frau mit faltigem, freundlichem Gesicht neben ihm auf und berührt ihn an der Schulter.

»Entschuldigung.« Sie senkt den Kopf und zieht dabei das Kinn wie ein schüchternes kleines Mädchen an. »Ich möchte dich etwas fragen. Bist du mein Vater?«

Jack lächelt ihr zu. »Erst musst du mir eine Frage beantworten. Heißt du vielleicht Estelle Packard?«

Die alte Frau nickt mit strahlenden Augen.

»Ja, dann bin ich dein Vater.«

Estelle Packard hebt die Hände vor den Mund, beugt dankend den Kopf und schlurft freudestrahlend rückwärts davon. Als sie etwa drei Schritte entfernt ist, winkt sie Jack mit einer leichten Handbewegung zu und tänzelt schließlich von dannen.

Als Jack wieder zu Judy Marshall hinübersieht, hat er das Gefühl, sie hätte ihren Schleier des Gewöhnlichen eben weit genug geöffnet, um ihn einen winzigen Teil ihrer überwältigend großen Seele sehen zu lassen. »Sie sind ein sehr netter Mensch, nicht wahr, Jack Sawyer? Das hätte ich mir gleich denken können. Sie sind sogar ein guter Mensch. Natürlich sind Sie auch charmant, aber Charme und Anständigkeit gehören nicht immer zusammen. Soll ich Ihnen noch ein paar Dinge über Sie erzählen?«

Jack sieht zu Fred auf, der die Hand seiner Frau in der seinen hält und strahlend lächelt. »Ich möchte, dass Sie alles sagen, wonach Ihnen zumute ist.«

»Es gibt Dinge, die ich nicht aussprechen kann, wie sehr mir auch danach zumute ist, aber vielleicht hören Sie sie trotzdem. Eines kann ich jedoch sagen: Ihr gutes Aussehen hat Sie nicht eitel gemacht. Sie sind nicht oberflächlich, und das könnte etwas damit zu tun haben. Vor allem haben Sie das Geschenk einer guten Erziehung genossen. Ich würde sagen, Sie haben eine wundervolle Mutter gehabt. Ich vermute doch richtig?«

Jack lacht, berührt von diesem unerwarteten Einfühlungsvermögen. »Ich wusste nicht, dass man mir das anmerkt.«

»Wissen Sie, worin sich das auch äußert? In der Art, wie Sie mit anderen Menschen umgehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie aus Verhältnissen stammen, die wir gewöhnlichen Leute nur aus Filmen kennen, aber das ist Ihnen nicht zu Kopf gestiegen. Sie sehen uns als Menschen, nicht als Provinzler, und deshalb weiß ich, dass ich Ihnen vertrauen kann. Ihre Mutter hat offensichtlich sehr gute Arbeit geleistet. Ich war auch eine gute Mutter - oder habe mich zumindest bemüht, eine zu sein - und weiß deshalb, wovon ich rede. So etwas sehe ich.«

»Sie sagen, Sie waren eine gute Mutter? Weshalb gebrauchen Sie .«

»Die Vergangenheitsform? Weil ich die Zeit gemeint habe, bevor .«

Freds Lächeln verblasst zu einem Ausdruck schlecht verhohlener Besorgnis. »Was meinst du mit: >bevor

»Mr. Sawyer weiß es vielleicht«, sagt sie und wirft Jack einen Blick zu, der ihn offenbar ermutigen soll.

»Sorry, leider nicht«, sagt er.

»Soll heißen, bevor ich hier gelandet bin und endlich angefangen habe, etwas nachzudenken. Bevor die Dinge, die mir zugestoßen sind, aufgehört haben, mich bis zum Wahnsinn zu ängstigen - bevor ich erkannt habe, dass ich in mein Inneres sehen und diese Gefühle analysieren kann, die ich mein Leben lang immer wieder gehabt habe. Bevor ich Zeit für Reisen hatte. Ich halte mich weiter für eine gute Mutter, aber ich bin nicht mehr genau dieselbe Mutter.«

»Schatz, bitte«, sagt Fred. »Du hast dich nicht verän-dert, du hast nur eine Art Zusammenbruch gehabt. Sollten wir jetzt nicht über Tyler reden?«

»Wir reden bereits über Tyler. Mr. Sawyer, kennen Sie diesen Aussichtspunkt am Highway 93, wo die Straße ungefähr eine Meile südlich von Arden über den großen Hügel führt?«

»Ja, seit heute«, sagt Jack. »Fred hat ihn mir gezeigt.«

»Sie haben all die Farmen gesehen, die sich bis zum Horizont erstrecken? Und die Hügel in der Ferne?«

»Ja. Fred hat mir erzählt, dass Sie für die Aussicht von dort oben viel übrig haben.«

»Ich will dort immer anhalten und aussteigen. Ich liebe alles an dieser Aussicht. Man kann erst meilenweit alles erkennen, aber dann - hoppla! - auf einmal nichts mehr. Dann ist da nur noch der Himmel. Aber der Himmel beweist, dass es eine Welt jenseits der Hügel gibt. Wer sich auf den Weg macht, kann dorthin gelangen.«

»Ja, Sie können das.« Jack hat plötzlich eine Gänsehaut auf den Unterarmen und spürt ein Kribbeln im Nacken.

»Ich? Ich kann lediglich in Gedanken reisen, Mr. Sa-wyer, obwohl ich mich nur wieder an diese Fähigkeit erinnert habe, weil ich in der Klapsmühle gelandet bin. Aber mir ist gekommen, dass Sie dorthin gelangen können - auf die andere Seite der Hügel.«

Sein Mund fühlt sich trocken an. Er nimmt Fred Marshalls wachsende Verzweiflung wahr, ohne sie mildern zu können. Von dem Bedürfnis getrieben, ihr tausend Fragen zu stellen, beginnt er mit der einfachsten:

»Wie ist Ihnen das gekommen? Was meinen Sie damit?«

Judy Marshall entzieht ihrem Mann die Hand und streckt sie Jack hin, der sie mit beiden Händen umfasst. Sollte sie jemals wie eine gewöhnliche Frau ausgesehen haben, ist das jetzt nicht der Fall. Sie leuchtet wie ein Leuchtturm, wie ein Freudenfeuer auf einer fernen Klippe.

»Sagen wir’s mal so ... spät nachts oder wenn ich lange allein war, hat mir jemand etwas zugeflüstert. Es war nicht richtig konkret, aber sagen mir mal, es sei so gewesen, als hätte mir jemand von jenseits einer massiven Mauer etwas zugeflüstert. Ein Mädchen wie ich, ein Mädchen in meinem Alter. Und wenn ich dann eingeschlafen bin, habe ich fast jedes Mal von dem Land geträumt, in dem dieses Mädchen lebte. Ich habe es Anderland genannt. Es war wie die Welt hier, wie das Coulee Country, nur heller und sauberer und magischer. In Anderland fuhren die Leute mit Kutschen und lebten in riesigen weißen Zelten. In Anderland gab es Menschen, die fliegen konnten.«

»Sie haben Recht«, sagt er. Fred sieht mit schmerzlicher Ungewissheit von seiner Frau zu Jack hinüber, und Jack sagt: »Das klingt verrückt, aber Sie hat Recht.«

»Als in French Landing diese schlimmen Dinge zu passieren begannen, hatte ich Anderland schon ziemlich vergessen. Ich hatte seit meinem dreizehnten oder vierzehnten Lebensjahr nicht mehr daran gedacht. Aber je näher die schlimmen Dinge heranrückten - an Fred und Ty und mich heranrückten, meine ich -, desto schrecklicher wurden meine Träume und desto weniger real er-schien mir mein Leben. Ich habe Wörter aufgeschrieben, ohne zu wissen, dass ich es tat, ich habe verrückte Dinge gesagt, ich habe allmählich durchgedreht. Ich habe nicht begriffen, dass Anderland mir etwas mitzuteilen versuchte. Das Mädchen hat mir von jenseits der Mauer wieder etwas zugeflüstert, aber jetzt war es erwachsen und halb zu Tode geängstigt.«

»Wie sind Sie darauf gekommen, dass ausgerechnet ich helfen könnte?«

»Das rührt von einem Gefühl her, das ich hatte, als Sie damals diesen Kinderling verhaftet haben und ein Foto von Ihnen in der Zeitung war. Als ich Ihr Bild gesehen habe, war mein erster Gedanke: Er weiß Bescheid über Anderland. Ich habe mich nicht gefragt, woher ich das von einem einzigen Blick auf ein Foto wusste; mir war einfach klar, dass Sie darüber Bescheid wissen. Und als Ty dann verschwunden ist und ich den Verstand verloren habe und in dieser Umgebung aufgewacht bin, dachte ich, wenn man in die Köpfe einiger dieser Leute hier sehen könnte, hätte die Station D ziemliche Ähnlichkeit mit Anderland, und dabei ist mir wieder Ihr Bild eingefallen. Und in diesem Augenblick habe ich begriffen, wie man dorthin reisen kann. Heute bin ich den ganzen Vormittag in Gedanken durch Anderland gewandert. Ich habe es betrachtet, habe es angefasst. Habe seine unglaublich reine Luft eingeatmet. Haben Sie gewusst, Mr. Sawyer, dass es dort drüben kängurugroße Kaninchen gibt? Allein ihr Anblick bringt einen zum Lachen.«

Jack grinst breit und beugt sich mit einer Geste, die an die zuvor ihres Mannes erinnert, über ihre Hand, um sie zu küssen.

Sie entzieht sie ihm sanft. »Als Fred mir erzählt hat, dass er Sie kennen gelernt hat und dass Sie der Polizei helfen, wusste ich, dass Sie aus einem bestimmten Grund hier sind.«

Was diese Frau da geleistet hat, versetzt Jack in Erstaunen. Im schlimmsten Augenblick ihres Lebens, als ihr Sohn verschwunden war und sie den Verstand zu verlieren drohte, hat sie mit einer imposanten Gedächtnisleistung all ihre Kraft zusammengenommen und praktisch ein Wunder bewirkt. Sie hat in sich die Fähigkeit zu reisen entdeckt. Von einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung aus hat sie diese Welt halb hinter sich gelassen und ist in eine andere gelangt, die sie nur aus Kindheitsträumen kannte. Einzig der Löwenmut, den ihr Mann an ihr beschrieben hat, kann ihr die Kraft verliehen haben, diesen mysteriösen Schritt zu wagen.

»Sie haben einmal etwas getan, nicht wahr?«, fragt Judy ihn. »Sie waren drüben in Anderland, und Sie haben etwas getan - etwas Gewaltiges. Sie brauchen das nicht zu bejahen, weil ich Ihnen das auch so ansehe; es ist sonnenklar. Aber Sie müssen es aussprechen, damit ich es laut hören kann. Sagen Sie also Ja.«

»Ja.«

»Was getan?«, fragt Fred. »In welchem Traumland? Was hat das alles zu bedeuten?«

»Später«, wehrt Jack ab. »Es gibt da etwas, das ich Ihnen nachher zeigen werde.« Er widmet sich wieder der außergewöhnlichen Frau, die vor ihm sitzt. Judy Marshall brennt vor Verständnis, Mut und Glauben, und obwohl sie tabu für ihn ist, erscheint sie ihm jetzt als die einzige Frau in dieser oder jeder anderen Welt, die er für den Rest seines Lebens lieben könnte.

»Sie waren wie ich«, sagt sie. »Sie haben diese andere Welt ganz vergessen. Und Sie haben sich dafür entschieden, zur Polizei zu gehen, Kriminalbeamter zu werden. Sie sind sogar einer der besten Detectives geworden, die je gelebt haben. Wissen Sie, warum Sie das getan haben?«

»Die Arbeit hat mir zugesagt, nehme ich mal an.«

»Was hat Ihnen daran besonders gefallen?«

»Der Gemeinschaft zu helfen. Unschuldige Leute zu schützen. Die Bösen hinter Gitter zu bringen. Die Arbeit war interessant.«

»Und Sie haben gehofft, sie würde nie aufhören, interessant zu sein. Weil es immer ein neues Problem zu lösen, eine neue Frage zu beantworten geben würde.«

Sie hat mitten ins Schwarze getroffen, seine Motivation auf eine Weise begründet, die ihm bis dahin nicht bewusst war. »Ja, das stimmt.«

»Sie waren ein großer Detective, weil es - obwohl Sie das nicht wussten - etwas sehr Wichtiges gab, das Sie aufdecken mussten.«

Ich bin ein Schutzmann, erinnert Jack sich. Seine eigene dünne Stimme in der Nacht, die ihn von jenseits einer massiven Mauer ansprach.

»Etwas, das Sie um Ihres eigenen Seelenheils willen finden mussten.«

»Ja«, sagt Jack. Ihre Worte haben sein Innerstes getroffen, und ihm stehen plötzlich Tränen in den Augen.

»Ich wollte immer irgendetwas Fehlendes aufspüren. Mein ganzes Leben war von der Suche nach einer geheimen Erklärung geprägt.«

Eine Erinnerung, die so deutlich wie ein Filmausschnitt ist, zeigt ihm einen großen zeltartigen Pavillon, einen weißen Raum, in dem eine schöne und ausgezehrte Königin im Sterben liegt, und ein kleines Mädchen, zwei oder drei Jahre jünger als sein zwölfjähriges Ich, unter ihrem Gefolge.

»Haben Sie es Anderland genannt?«, fragt Judy.

»Ich habe es die Territorien genannt.« Indem er dieses Wort laut ausspricht, hat er das Gefühl, eine Truhe zu öffnen, welche Schätze enthält, die er sich endlich mit jemandem teilen kann.

»Das ist ein guter Name. Fred wird das zwar nicht verstehen, aber als ich heute Morgen auf meiner langen Wanderung war, habe ich gespürt, dass mein Sohn in Anderland ist - in Ihren Territorien also. Irgendwo verborgen, irgendwo versteckt. In großer Gefahr, aber noch lebendig und unversehrt. In einer Zelle. Auf dem Fußboden schlafend. Aber am Leben. Unverletzt. Halten Sie das für möglich, Mr. Sawyer?«

»Augenblick mal!«, sagt Fred. »Ich weiß, dass du das alles glaubst, und am liebsten möchte ich es auch glauben, aber wir reden hier von der realen Welt.«

»Ich glaube, dass es viele reale Welten gibt«, sagt Jack. »Und ja, ich glaube, dass Ty irgendwo in Anderland ist.«

»Können Sie ihn retten, Mr. Sawyer? Können Sie ihn uns zurückbringen?«

»Es wird so sein, wie Sie vorhin gesagt haben, Mrs.

Marshall«, sagt Jack. »Dass ich hier bin, muss einen Grund haben.«

»Sawyer, ich kann nur hoffen, dass ich mit dem, was Sie mir nachher zeigen wollen, mehr anfangen kann als mit euch beiden«, sagt Fred. »Vorläufig müssen wir aber wohl Schluss machen. Der Dragoner ist im Anmarsch.«

Während sie vom Parkplatz des Krankenhauses herunterfahren, wirft Fred Marshall einen Blick auf den Aktenkoffer, der flach wie zuvor auf Jacks Schoß liegt, sagt aber nichts. Er schweigt weiter, bis sie wieder den Highway 93 erreichen, aber dann sagt er: »Ich bin froh, dass Sie mitgekommen sind.«

»Danke«, sagt Jack. »Das bin ich auch.«

»Also, ich fühle mich irgendwie überfordert, aber mich würde schon interessieren, wie Sie den Besuch beurteilen. Finden Sie, dass er gut gelaufen ist?«

»Das wäre untertrieben, würde ich sagen. Ihre Frau ist ... ich weiß gar nicht, wie ich sie beschreiben soll. Mir fehlen einfach die Worte, um auszudrücken, für wie wunderbar ich sie halte.«

Fred nickt, dann schielt er zu Jack hinüber. »Sie halten sie also nicht für übergeschnappt?«

»Wenn sie verrückt ist, wäre auch ich liebend gern so verrückt wie sie.«

Der zweispurige asphaltierte Highway, der sich vor ihnen erstreckt, führt steil den Hügel hinauf und scheint über dessen Rücken hinweg ins dimensionslose Blau des weiten Himmels weiterzuführen.

Noch ein misstrauischer Blick von Fred. »Und Sie ha-ben dieses ... diese Region, die Sie Anderland nennt, schon einmal gesehen?«

»Ja, das habe ich. So schwer das zu glauben ist.«

»Wirklich? Ohne Scheiß? Beim Grab Ihrer Mutter?«

»Beim Grab meiner Mutter.«

»Sie sind also dort gewesen. Und nicht nur im Traum, sondern wirklich dort gewesen?«

»In dem Sommer, als ich zwölf war.«

»Könnte ich auch dorthin?«

»Nein, vermutlich nicht«, sagt Jack. Das ist zwar nicht die Wahrheit, Fred könnte die Territorien sehr wohl besuchen, wenn Jack ihn mitnähme, aber er will diese Tür so fest wie möglich geschlossen halten. Er kann sich vorstellen, Judy Marshall in diese andere Welt mitzunehmen; bei Fred dagegen liegt der Fall anders. Judy hat sich eine Reise in die Territorien mehr als verdient, während Fred noch immer außerstande ist, an ihre Existenz zu glauben. Judy würde sich dort drüben wie zu Hause fühlen, aber ihr Mann wäre für Jack wie ein Klotz am Bein, den er mit sich herumschleppen müsste - mit anderen Worten: ein zweiter Richard Sloat.

»Das habe ich mir fast schon gedacht«, sagt Fred. »Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich oben wieder kurz halten.«

»Gern«, sagt Jack.

Auf dem Hügelrücken überquert Fred die Gegenfahrbahn, um auf dem mit Kies bestreuten Rastplatz zu parken. Statt jedoch auszusteigen, deutet er auf Jacks Aktenkoffer. »Haben Sie da drin das, was Sie mir zeigen wollen?«

»Ja«, sagt Jack. »Ich hätte es Ihnen schon früher gezeigt, aber nachdem wir bei der Herfahrt hier gehalten hatten, wollte ich erst einmal abwarten, was Judy zu sagen hatte. Und ich bin froh, dass ich’s getan habe. Vielleicht können Sie jetzt mehr damit anfangen, da Sie zumindest eine teilweise Erklärung dafür gehört haben, wie ich es gefunden habe.«

Jack lässt die Schlösser des Aktenkoffers aufschnappen, klappt den Deckel auf und nimmt aus dem mit hellem Leder gefütterten Inneren die Brewers-Mütze, die er am Morgen gefunden hat. »Sehen Sie sich die an«, sagt er und gibt Fred die Baseballmütze.

»Omeingott«, sagt Fred Marshall mit einem erschrockenen Wortschwall. »Ist das ... ist das .?« Er sieht unter den Mützenschirm und atmet stoßartig aus, als er den Namen seines Sohns entdeckt. Sein Blick springt zu Jack hinüber. »Das ist Tylers Mütze. Himmel, das ist seine. Großer Gott!« Er drückt die Mütze an die Brust und holt zweimal tief Luft, ohne den Blick von Jack zu wenden. »Wo haben Sie die gefunden? Wie lange ist das her?«

»Ich habe sie heute Morgen auf der Straße gefunden«, sagt Jack. »In der Region, die Ihre Frau Anderland nennt.«

Mit einem lang gezogenen Stöhnen öffnet Fred Marshall die Fahrertür und springt hastig aus dem Wagen. Als Jack ihn erreicht, steht er am äußersten Rand des Aussichtspunkts, hält die Baseballmütze an die Brust gedrückt und sieht zu den blaugrünen Hügeln hinter dem weiten Flickenteppich aus Feldern hinüber. Er fährt herum und starrt Jack an. »Glauben Sie, dass er noch lebt?«

»Ich glaube, dass er lebt«, sagt Jack.

»In der Welt dort drüben.« Fred deutet auf die Hügel. Tränen schießen ihm in die Augen, und die Lippen zittern ihm. »In dieser Welt, die irgendwo dort drüben existiert, wie Judy sagt.«

»Genau in dieser Welt.«

»Dann gehen Sie hin und finden Sie ihn!«, schreit Fred mit tränenüberströmtem Gesicht und schwenkt die Baseballmütze wild in Richtung Horizont. »Gehen Sie hin und bringen Sie ihn zurück, verdammt noch mal! Ich kann’s nicht, also müssen Sie’s tun.« Er tritt einen Schritt vor, als wollte er zu einem Boxhieb ausholen, dann schlingt er die Arme um Jack Sawyer und beginnt zu schluchzen.

Sobald Fred nicht mehr zittert und seine Atmung sich etwas beruhigt hat, sagt Jack: »Ich werde tun, was ich kann.«

»Ich weiß, dass Sie das tun werden.« Fred tritt zurück und wischt sich die Tränen aus den Augen. »Tut mir Leid, dass ich Sie so angebrüllt habe. Ich weiß, dass Sie uns helfen werden.«

Die beiden Männer machen kehrt, um zum Auto zurückzugehen. Weit im Westen verdecken lockere, wollige Schleier aus blassgrauem Dunst das Land am Fluss.

»Was ist das?«, fragt Jack. »Regen?«

»Nein, Nebel«, sagt Fred. »Kommt vom Mississippi rein.«

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