»Lange Wiese« hieß ein breites, flaches Feld auf dem rechten Ufer des Flüßchens Snjeschinka, eine Werst vom Gute der Perekatows entfernt. Das linke, mit jungem dichtem Eichenwald bedeckte Ufer erhob sich steil über dem Flüßchen, das fast ganz mit Schilf bewachsen war und nur hie und da kleine freie Buchten hatte, in denen sich Wildenten aufhielten. Eine halbe Werst hinter dem Flüßchen, rechts von der »Langen Wiese«, waren runde, wellige Hügel, auf denen sich hie und da alte Birken, Hasel- und Maßholderbüsche erhoben.
Die Sonne ging eben unter. Die Mühle rauschte und klapperte in der Ferne, bald lauter, bald leiser, je nach dem Wind. Auf der Wiese weideten träge die herrschaftlichen Pferde. Ein Hirt folgte singend einer Herde gieriger und scheuer Schafe. Die Schäferhunde jagten vor Langeweile den Krähen nach.
Lutschkow ging mit gekreuzten Armen im Wäldchen auf und ab. Sein angebundenes Pferd hatte schon mehr als einmal voller Ungeduld auf das helle Gewieher der Fohlen und Stuten geantwortet. Awdej ärgerte sich wie immer und war zugleich befangen. Von der Liebe Maschas noch nicht völlig überzeugt, zürnte er ihr schon und ärgerte sich über sich selbst – doch die Erregung erdrückte in ihm den Ärger. Endlich blieb er vor einer breiten Haselstaude stehen und fing an, mit seiner Gerte die äußersten Blätter abzuschlagen.
Er hörte ein leises Geräusch. Er hob den Kopf. Zehn Schritte vor ihm stand Mascha, vom schnellen Gehen gerötet, in Hut, doch ohne Handschuhe, in einem weißen Kleid, mit einem in aller Eile umgebundenen Tüchlein am Halse. Sie senkte die Augen und schwankte leicht.
Awdej ging linkisch, mit gezwungenem Lächeln auf sie zu.
»Wie glücklich bin ich ...« begann er kaum hörbar.
»Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen«, unterbrach ihn Mascha, schwer atmend. »Ich pflege hier jeden Abend spazierenzugehen ... und Sie ...«
Lutschkow verstand aber nicht mal, ihre Scham zu schonen und sie in ihrer unschuldigen Lüge zu unterstützen.
»Ich glaube doch, Marja Ssergejewna«, sagte er mit großer Würde, »Sie wollten es selbst ...«
»Ja, ja« entgegnete Mascha eilig. »Sie wollten mich sehen? Sie wollten ...« Ihre Stimme versagte.
Lutschkow schwieg. Mascha hob schüchtern die Augen.
»Entschuldigen Sie mich«, begann er, ohne sie anzusehen. »Ich bin ein einfacher Mensch und bin es nicht gewohnt, mit Damen zu sprechen ... Ich wollte Ihnen sagen ... ich glaube aber, Sie sind gar nicht geneigt, mich anzuhören ...«
»Sprechen Sie.«
»Sie befehlen ... Nun, ich will Ihnen ganz offen sagen, daß ich schon längst, seitdem ich die Ehre hatte, Sie kennenzulernen ...«
Awdej hielt inne. Mascha wartete auf die Fortsetzung.
»Ich weiß übrigens nicht, wozu ich Ihnen das alles sage. Sein Schicksal kann man doch nicht ändern.«
»Wer kann das wissen!«
»Ich weiß es!« entgegnete Awdej finster. »Ich bin die Schicksalsschläge gewohnt!«
Mascha glaubte, daß Lutschkow wenigstens jetzt keinen Grund habe, über sein Schicksal zu klagen.
»Es gibt aber gute Menschen auf der Welt«, bemerkte sie lächelnd. »Sogar viel zu gute ...«
»Ich verstehe Sie, Marja Ssergejewna, und weiß, glauben Sie es mir, Ihre Gewogenheit wohl zu schätzen. Ich ... ich ... Sie werden mir doch nicht zürnen?«
»Nein. Was wollen Sie sagen?«
»Ich will sagen – daß Sie mir gefallen ... Marja Ssergejewna, daß Sie mir außerordentlich gefallen.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, unterbrach ihn Mascha verlegen. Ihr Herz krampfte sich vor Erwartung und Angst zusammen. »Ach, schauen Sie nur, Herr Lutschkow«, fuhr sie fort, »diese Aussicht!«
Sie zeigte ihm die mit den langen Abendschatten bedeckte, mit dem Rot der untergehenden Sonne übergossene Wiese.
Lutschkow fing an, über diesen plötzlichen Wechsel des Gesprächsthemas erfreut, die Aussicht zu bewundern. Er stellte sich neben Mascha.
»Lieben Sie die Natur?« fragte sie plötzlich, den Kopf schnell zu ihm wendend und ihn mit dem freundlichen, neugierigen und sanften Blick ansehend, der, ebenso wie die helle Stimme, nur jungen Mädchen eigen ist.
»Ja, die Natur ... gewiß«, murmelte Awdej. »Natürlich, es ist angenehm, abends spazierenzugehen; obwohl ich, offen gestanden, Soldat bin und von solchen Empfindsamkeiten nichts verstehe.« Lutschkow pflegte oft zu sagen, daß er »Soldat« sei.
Es trat eine kurze Pause ein. Mascha blickte noch immer auf die Wiese.
Soll ich nicht weggehen? dachte sich Awdej. Unsinn! Mut! ... »Marja Ssergejewna«, begann er mit ziemlich fester Stimme.
Mascha wandte sich zu ihm um.
»Entschuldigen Sie mich«, begann er wie scherzend. »Gestatten Sie mir die Frage, wie Sie über mich denken, ob Sie irgendeine ... Zuneigung für meine Person empfinden.«
Mein Gott, wie ungeschickt er doch ist, dachte sich Mascha. »Wissen Sie, Herr Lutschkow«, antwortete sie ihm lächelnd, »daß es nicht immer leicht ist, eine bestimmte Antwort auf eine bestimmte Frage zu geben?«
»Und doch ...«
»Warum wollen Sie es wissen?«
»Ich bitte Sie! Ich möchte es wissen.«
»Aber ... ist es wahr, daß Sie leidenschaftlicher Duellant sind? Sagen Sie, ist es wahr«, fragte Mascha mit ängstlicher Neugier, »daß Sie schon mehr als einen Menschen getötet haben?«
»Es ist wohl vorgekommen«, antwortete Awdej gleichgültig und strich sich den Schnurrbart.
Mascha sah ihn unverwandt an.
»Mit dieser Hand?« flüsterte sie.
Lutschkows Blut geriet indessen in Wallung. Vor ihm stand schon seit mehr als einer Viertelstunde ein hübsches, junges Mädchen.
»Marja Ssergejewna«, begann er wieder mit eigentümlicher, scharfer Stimme, »Sie kennen jetzt meine Gefühle, Sie wissen, warum ich Sie habe sehen wollen. Sie waren so gütig ... Sagen Sie mir doch endlich, was ich mir erhoffen darf!«
Mascha spielte mit einer Feldnelke. Sie blickte Lutschkow von der Seite an, errötete, lächelte und sagte: »Was sprechen Sie für Dummheiten!« Und sie reichte ihm die Blume.
Awdej ergriff ihre Hand.
»Sie lieben mich also!« rief er aus.
Mascha überlief es ganz kalt vor Schreck. Sie dachte gar nicht daran, Awdej ihre Liebe zu gestehen; sie wußte selbst noch nicht bestimmt, ob sie ihn liebte. Da kommt er ihr zuvor und zwingt sie zu einem Geständnis – folglich versteht er sie nicht. Eine so schnelle Lösung hatte sie nicht erwartet.
Mascha hatte sich den ganzen Tag wie ein neugieriges Kind gefragt: »Liebt er mich?«, hatte einen angenehmen Abendspaziergang und respektvolle und zärtliche Worte erwartet, hatte in Gedanken kokettiert, diesen Wilden gezähmt und ihm erlaubt, ihr die Hand zu küssen – und statt dessen ...
Statt dessen fühlte sie an ihrer Wange den rauhen Schnurrbart Awdejs.
»Wollen wir glücklich sein«, flüsterte er, »es gibt doch nur ein Glück auf Erden!« Mascha zuckte zusammen, lief erschrocken zur Seite und blieb ganz blaß stehen, sich mit der Hand gegen eine Birke stützend. Awdej wurde furchtbar verlegen.
»Entschuldigen Sie«, murmelte er, auf sie zugehend, »ich dachte wirklich nicht ...«
Mascha starrte ihn schweigend an. Ein unangenehmes Lächeln verzerrte seine Lippen, rote Flecken waren ihm ins Gesicht getreten.
»Was fürchten Sie denn?« fuhr er fort. »Ist es denn eine so große Sache? Unter uns ist doch schon alles ...«
Mascha schwieg.
»Hören Sie auf! Was für Dummheiten! Das ist doch nur so ...
Lutschkow streckte ihr seine Hand entgegen.
Mascha erinnerte sich an Kister und an sein »Nehmen Sie sich in acht«; sie erstarb vor Schreck und schrie mit ziemlich kreischender Stimme: »Tanjuscha!«
Aus dem Haselgebüsch tauchte das runde Gesicht des Dienstmädchens auf.
Awdej verlor die Fassung. Durch die Nähe ihrer Zofe beruhigt, rührte sich Mascha nicht vom Fleck.
Der Kampfhahn erzitterte aber vor Wut. Seine Augen wurden ganz klein; er ballte die Fäuste und fing an, krampfhaft zu lachen.
»Bravo! Bravo! Das ist gescheit, das muß ich schon sagen!« schrie er.
Mascha erstarrte zu Stein.
»Wie ich sehe, haben Sie alle Vorsichtsmaßregeln getroffen, Marja Ssergejewna! Vorsicht schadet nie. Das ist wirklich nett! Heutzutage sind die jungen Mädchen schlauer als die Alten. Und das soll Liebe sein!«
»Ich weiß nicht, Herr Lutschkow, wer Ihnen das Recht gibt, von Liebe zu sprechen ... was für eine Liebe meinen Sie?«
»Wieso, wer? Sie selbst!« unterbrach sie Lutschkow. »Das ist doch sonderbar!« Er fühlte, daß er alles verdarb, konnte sich aber nicht mehr beherrschen.
»Ich habe unüberlegt gehandelt«, versetzte Mascha. »Ich bin auf Ihre Bitte eingegangen, weil ich mich auf Ihre délicatesse verließ ... Sie verstehen aber nicht Französisch: also auf Ihre Höflichkeit.«
Awdej erbleichte. Mascha hatte ihn mitten ins Herz getroffen!
»Ich verstehe nicht Französisch, mag sein; aber ich verstehe ... ich verstehe, daß es Ihnen beliebt, sich über mich lustig zu machen.«
»Durchaus nicht, Awdej Iwanowitsch. Ich bedaure es sogar sehr ...«
»Sprechen Sie, bitte, nicht von Ihrem Bedauern«, unterbrach sie Awdej zornig »verschonen Sie mich, bitte, damit!«
»Herr Lutschkow ...«
»Spielen Sie keine Herzogin! Vergebliche Mühe! Sie schüchtern mich damit nicht ein.«
Mascha trat einen Schritt zurück, wandte sich schnell um und ging fort.
»Soll ich Ihnen Ihren Freund, Ihren Schäfer, das empfindsame Herz Kister schicken?« schrie ihr Awdej nach. Er hatte den Kopf verloren. »Ist es nicht dieser Freund ... der?«
Mascha antwortete ihm nicht und ging schnell und frohen Mutes weiter. Sie fühlte sich, trotz des Schreckens und der Erregung, erleichtert. Es war ihr, als wäre sie aus einem schweren Traum erwacht, aus einem dunklen Zimmer ins Freie, in die Sonne getreten.
Awdej sah sich wie besessen um, brach in stummer Wut ein junges Bäumchen ab, sprang in den Sattel und bohrte seinem Pferd die Sporen so wütend in die Flanken und zerrte so erbarmungslos an den Zügeln, daß das arme Tier, nachdem es die acht Werst in einer Viertelstunde zurückgelegt hatte, in derselben Nacht beinahe einging.
Kister, der bis Mitternacht vergebens auf Lutschkow gewartet hatte, begab sich am nächsten Morgen selbst zu ihm. Der Bursche meldete Fjodor Fjodorowitsch, daß sein Herr noch schlafe und befohlen habe, niemand vorzulassen. »Auch mich nicht?« – »Auch Sie nicht, Euer Wohlgeboren.« Kister ging, von qualvoller Unruhe gepeinigt, einigemal über die Straße und kehrte nach Hause zurück. Hier übergab ihm sein Diener ein Billett.
»Von wem?«
»Von den Perekatows. Der Vorreiter Artjomka hat es hergebracht.«
Kister zitterten die Hände.
»Er soll einen Gruß ausrichten und auf Antwort warten. Soll ich dem Artjomka einen Schnaps geben?«
Kister entfaltete langsam das Billett und las folgendes:
»Lieber guter Fjodor Fjodorowitsch!
Ich muß Sie sehr dringend sprechen. Kommen Sie, wenn möglich, heute. Schlagen Sie mir meine Bitte nicht ab, ich beschwöre Sie bei unserer alten Freundschaft. Wenn Sie nur wüßten ... aber Sie werden alles erfahren. Auf Wiedersehen – nicht wahr?
Marie.
P. S. Kommen Sie unbedingt heute.«
»Soll ich dem Vorreiter Artjomka einen Schnaps geben?«
Kister sah seinem Diener lange erstaunt ins Gesicht und ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus.
»Der Herr hat gesagt, ich soll dir einen Schnaps geben und auch selbst mit dir trinken«, sagte Kisters Diener zum Vorreiter Artjomka.