Dschuba Tschebobargo und andere nette Leute
Max, bist du sicher, dass sie dir gefällt?«, fragte Juffin ein wenig verlegen. »Oder hast du dich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass der König deine Wohnung bezahlt?«
Ich musste lachen. Noch am Vortag hatte ich befürchtet, das Haus sei für mich allein viel zu riesig. Immerhin hatte es zwei Etagen, und auf jeder gab es ein sportplatzgroßes Zimmer. In Echo geizt man nicht mit der Wohnfläche und bevorzugt geräumige, zweibis dreigeschossige Häuser. Das von mir favorisierte Haus in der Straße der alten Münzen war etwas kleiner als seine Nachbarn, gefiel mir aber gerade deshalb sehr. Juffin dagegen frotzelte, ich würde Nester bevorzugen.
»Wir Leute aus den Grenzgebieten sind Sklaven unserer Gewohnheiten«, stellte ich fest. »Wenn Sie die Zelte derer kennen würden, die zwischen der Grafschaft Wuk und den Leeren Ländern leben ...«
Dieser konspirative völkerkundliche Hinweis war eigentlich für den Hausbesitzer gedacht, der ehrerbietig in der Zimmerecke stand. Es war besser, diesem braven Bürger nicht zu sagen, dass sein neuer Mieter aus einer anderen Welt nach Echo emigriert war. Der Arme war übrigens ganz berauscht davon, einen Mieter gefunden zu haben, aber nicht berauscht genug, um nicht auf interessante Informationen über meine Vergangenheit zu lauern.
»Außerdem ist es für meinen Arbeitgeber sehr günstig, wenn ich mich für diese Wohnung entscheide. Denn je schlimmer es bei mir daheim aussieht, desto mehr Zeit verbringe ich im Büro.«
»Sehr vernünftig, Max. Oben schläfst du, unten empfängst du Gäste - aber wo wohnt das Personal?«
Ich beschloss, meinen Chef endgültig zu frappieren.
»Ich brauche kein Personal. Ich will keine fremden Leute bei mir herumlaufen haben, die die Bücher einräumen, die ich offen habe liegen lassen, in meinen Sachen herumwühlen, mein Gepäck tragen und mir verlogen in die Augen sehen, wenn sie weitere Anweisungen erwarten. Und dass ich für all das auch noch bezahlen soll, kommt ganz und gar nicht in Frage!«
»Alles klar, Max. Wir haben es bei dir offenbar mit einem Asketen von der strengen Observanz zu tun, dessen eigentlicher Beweggrund pathologischer Geiz ist. Wofür willst du dein Gehalt eigentlich ausgeben?«
»Ich werde A-Mobile sammeln. Bei meiner Begeisterung für sportliches Fahren reicht ein Wagen nicht aus.«
Sir Juffin seufzte. Er hielt schon eine Geschwindigkeit von hundert Meilen pro Stunde für eine unbegreifliche Kühnheit - und womöglich hatte er recht. Bis zu meiner Ankunft hatte in Echo die Überzeugung geherrscht, dreißig Meilen pro Stunde solle als Höchstgeschwindigkeit für A-Mobile - die hiesigen Wunder der Technik - gelten. Klar, dass ich durch meinen Fahrstil zu einer stadtbekannten Attraktion avanciert war.
»Wie auch immer: Du bist ein seltsamer Mensch,
Max - ein Haus zu mieten, in dem es nur drei Bäder gibt
Zugegeben - diese Entscheidung war tatsächlich ein Fehler. In Echo ist das Bad ein besonderer Ort, an dem es fünf bis sechs kleine, mit Wasser unterschiedlichster Temperatur gefüllte Wannen gibt. Auch benutzt man diverse Badezusätze. All das gilt nicht als Luxus. Ich allerdings war nicht so verweichlicht. Im Haus von Sir Juffin Halli, das sogar mit elf Wannen aufwarten konnte, empfand ich das tägliche Bad als Schwerarbeit, nicht als Vergnügen. Drei Wannen reichten mir deshalb völlig - davon jedenfalls war ich überzeugt.
»In einem Punkt immerhin hast du recht«, sagte Sir Juffin resigniert. »Ob elf Badewannen oder drei, macht keinen Unterschied, wenn man schläft. Also gut, Junge, es ist ja dein Leben, und du sollst es dir einrichten, wie es dir gefällt. Fahren wir jetzt lieber schon mal ins Fressfass. Es ist besser, wenn wir dort heute früher landen als die anderen.«
Das Dienst-A-Mobil stand gleich um die Ecke. Als der Hausbesitzer die ersehnte Unterschrift unter seinen Vertrag bekommen hatte, konnte er sein Glück kaum fassen und verschwand eiligst.
Das Fressfass - das hübscheste Wirtshaus von Echo - nahm uns warm in die Arme. Wir setzten uns an unsere Lieblingsplätze, also zwischen das Fenster und die angeblich längste Theke der Stadt. Ich hatte einen eher enttäuschenden Ausblick auf die Straße, Sir Juffin hingegen die herrliche Aussicht auf die Theke und den gewaltigen Busen von Madame Zizinda.
Wie beabsichtigt waren wir die Ersten. Später sollte ich den Kollegen offiziell vorgestellt werden, und solche Zeremonien ließ Sir Juffin traditionsgemäß im Fressfass steigen. Die Prozedur wurde dadurch erleichtert, dass ich bereits zwei Mitglieder des Kleinen Geheimen Suchtrupps kennengelernt hatte - Sir Melifaro nämlich, das Tagesantlitz von Sir Juffin Halli, und Sir Schürf Lonely- Lokley, den Schnitter des Lebensfadens. Die beiden hatten mich schon beschnuppern dürfen, als wir den tobenden Spiegel des alten Sir Makluk bekämpft hatten. Meine neuen Bekannten hatten gewichtige Eindrücke von mir bekommen und sie vermutlich längst - und zwar bedrohlich flüsternd - auf den Arbeitssitzungen bei einer Tasse Kamra weitererzählt. Und geheimnisvolle Bemerkungen von Sir Juffin Halli hatten nur weiteres Öl ins Feuer gegossen.
So war ich zu meinem Supermann-Image gekommen, das zwar schmeichelhaft war, mir aber auch viel abverlangte. Trotz meiner Nervosität war ich Juffin Halli dankbar, so früh mit mir ins Fressfass gegangen zu sein. Egal wie es weitergehen würde: Ich hatte einen warmen Sitzplatz. Und vielleicht würde mir ja auch in der Seele warm, wenn ich erst ein Gläschen Dschubatinischen Säufer bekäme.
Rasch aber stellte sich heraus, dass der Dschubatinische Säufer längst nicht das Beste war, was es hier zu kosten gab. Wir bekamen ausgezeichnete Kamra und einen aromatischen Likör, dessen Name - Tränen der Finsternis - mich etwas entmutigte. Doch ich hatte mir ganz überflüssige Sorgen gemacht: Mochten den Schöpfer des Likörs bei der Namensgebung auch poetische Neigungen geleitet haben - sein Geschmack war unvergesslich.
»Entspann dich, Junge«, meinte Juffin und lächelte mich an. »Melifaro und ich haben so viel Unsinn über dich verbreitet, und Sir Lonely-Lokley hat dazu so beredt geschwiegen, dass die Übrigen - falls sie überhaupt kommen - sicher alle schützenden Amulette angelegt haben, die sie nur auftreiben konnten.«
»Das kann ich mir vorstellen. Sagen Sie, Juffin, gehört die ältere Dame am Nachbartisch etwa zu unserem Trupp? Sie sieht mich ständig so zaghaft an.«
Zu meiner Verwunderung fixierte mich Juffin fast bedrohlich. »Warum hast du das gesagt, Max? Kannst du mir das erklären?«
»Das war nur ein Scherz. Diese Dame ist plötzlich aufgetaucht und hat mich die ganze Zeit angeschielt.«
»Ich wundere mich immer mehr über dich, Max!«
»Wie meinen Sie das?«
»Morgen kaufe ich mir jedenfalls selbst ein paar Amulette.«
Die füllige ältere Lady stand auf, wickelte sich in ihren Lochimantel und kam auf uns zu. Dabei veränderte sich ihr Gesicht, und sie kam als untersetzter Gentleman bei uns an. Ich schaute verblüfft drein und begriff nicht, was da passiert war.
»Du bist es wirklich!«, sagte der Ankömmling ehrerbietig und legte die Hand über die Augen, wie es sich beim Kennenlernen gehörte. Ich wiederholte die Begrüßungsgeste unverzüglich.
»Sehr erfreut, mich vorstellen zu dürfen. Mein Name ist Kofa Joch, und ich bin der Meister des Verhörs. Herzlieh willkommen, Junge. Du hast mich gerade erschaffen. «
»Das hatte ich nicht vor, Sir«, begann ich verlegen. »Das war bloß ein Scherz ...«
»Sag noch, dass du es nie wieder tun wirst, Max«, rief Juffin und brach in Gelächter aus. »Schau nur, wie schuldbewusst er dasitzt! Mensch, jeder andere würde an deiner Stelle vor Hochmut platzen!«
Sir Kofa Joch lächelte sanft. »Er berechtigt zu großen Hoffnungen. Schließlich brauchen wir für unsere Einheit mindestens eine bescheidene Person.« Mit diesen Worten setzte er sich neben Juffin und damit mir gegenüber und trank genüsslich seine Kamra.
»So eine leckere Kamra gibt es nirgendwo sonst!«, stellte er fest und lächelte erneut. »Ich habe interessante Neuigkeiten für euch. Überall in der Stadt tratscht man über das neue Nachtantlitz des Ehrwürdigen Leiters, also über dich, mein Junge. Zwei Versionen sind dabei im Umlauf. Nach der einen soll Juffin Halli ein Wesen aus der Welt der Toten nach Echo gebracht haben. Na, gefällt dir das, Max? Die andere Version ist vielleicht pikanter: Der Ehrwürdige Leiter soll seinem unehelichen Sohn, den er die ganze Zeit im Grenzgebiet versteckt hatte, einen Posten in der Verwaltung besorgt haben. Na, sind Sie begeistert, Juffin?«
»Warum können die Leute sich nichts Witzigeres ausdenken?«, murmelte mein Chef. »Die hauptstädtische Mythologie blüht vor allem auf zwei Sektoren: dem der verbotenen Magie und dem der Beziehungsabenteuer meiner Jugend. Letztere erregen hier besonderes Interesse, weil ich - anders als normale Leute - nicht in Echo zur Welt gekommen bin, sondern aus Kettari stamme. Darum denken hier alle, in der Provinz ergehe man sich den lieben langen Tag in Unzucht und Ausschweifungen, weil man ja sonst nichts zu tun habe ... Tja, Kofa, ich muss den König vielleicht bald um Gehaltserhöhung bitten. Tagaus, tagein so ein dummes Zeug hören zu müssen, kostet viel Kraft.«
»Halb so schlimm. Die ersten achtzig Jahre hat mich das sehr geärgert, aber dann hab ich mich daran gewöhnt. Ich arbeite mit Juffin nämlich schon sehr lange, Max«, meinte Kofa Joch und schenkte mir wieder sein sanftes, gönnerhaftes Lächeln.
»Kofa hat als Polizeigeneral am Rechten Flussufer gearbeitet und mehrere Jahre lang versucht, mich zu verhaften«, meinte Juffin. »Ein paarmal hätte er beinahe Erfolg gehabt. Aber das ist schon eine Weile her und geschah noch vor dem Kampf um das Chrember-Gesetzbuch. Das waren Zeiten! Jeder Bewohner von Echo konnte damals mit Magie hundertsten Grades Brot backen! Kannst du dir das vorstellen?«
Ich nickte schweigend. Es ist schwer, sich daran zu gewöhnen, dass man in Echo deutlich mehr als hundert Jahre alt wird. Viele große Persönlichkeiten und die Mehrheit meiner Bekannten schaffen es, ihr abenteuerliches Leben fast ins Unendliche zu verlängern.
Wie alt mochte Sir Kofa sein? Er sah höchstens wie sechzig aus, allerdings nach irdischen Maßstäben. In diesem Alter gilt man hier als Jugendlicher. Melifaro zum Beispiel, von dem ich geglaubt hatte, er sei in meinem Alter, war schon hundertfünfzehn Jahre alt. Er wurde an dem Tag geboren, an dem König Gurig VII. die rebellischen alten Orden endgültig besiegt und das Chrember-Gesetzbuch verkündet hatte, also am ersten Tag der neuen Epoche des Gesetzbuchs. Er scherzte zwar oft darüber, war aber insgeheim - wie ich glaube - sehr stolz darauf.
Ich traute mich nicht, Sir Juffin nach seinem Alter zu fragen. Vielleicht hatte ich einfach Angst, als Antwort ein Rätsel zu bekommen. Außerdem war ich erst dreißig! In diesem Alter waren sie noch Kinder gewesen und hatten gerade Lesen und Schreiben gelernt.
Während ich dies noch überlegte, trudelten weitere Mitarbeiter unserer Einheit ein. Ein junger Mann in prächtigem lila Lochimantel, der seinen enorm langen Körper verbarg, lächelte mich schon von der Türschwelle schüchtern an. Unterwegs warf er mit lautem Krachen einen Stuhl um und entschuldigte sich dafür so herzlich bei einer Dame mittleren Alters, die in der Nähe saß, dass sie dem Tollpatsch mit einem langen, sanften Blick verzieh. Diese sympathische Person sprach mich schon von weitem an und gestikulierte dabei verzweifelt.
»Ich freue mich, Ihnen endlich persönlich sagen zu können, wie sehr ich von Ihnen begeistert bin, Sir Max! Ich möchte Sie so vieles fragen und habe die letzten Tage vor Ungeduld und Neugier gebrannt, wenn Sie mir diese Formulierung erlauben.«
»Und wer sind Sie?«, fragte ich überrascht. Ich fühlte mich wie ein von einem Fan bedrängter Popstar.
»Verzeihen Sie! Vor Begeisterung hab ich ganz vergessen, mich vorzustellen! Ich bin Sir Lukfi Penz, der Oberste Wissenshüter. Stets zu Ihren Diensten!«
»Dieses Naturwunder passt auf unsere Buriwuche auf«, ergänzte Juffin. »Besser gesagt: Die Buriwuche passen auf ihn auf.«
Mein Interesse an Sir Penz wuchs rasant, da ich schon viel über diese klugen Vögel gehört hatte, die aus dem entfernten Arwaroch stammten. Im Vereinigten Königreich waren sie fast nirgendwo mehr zu finden. Nur im Haus an der Brücke lebten noch über hundert dieser wundersamen Geschöpfe und dienten als einzigartiges Verwaltungsarchiv. Ihr phänomenales Gedächtnis bewahrte ein Jahrtausend an Daten, Namen und Fakten. Ein Gespräch mit einem Buriwuch war, wie ich rasch begriffen hatte, viel interessanter, als sich durch einen Stapel Papiere zu arbeiten. Ich konnte es nicht erwarten, diese erstaunlichen Tiere zu sehen. Deshalb erschien mir der Mann, der seine Arbeitszeit mit ihnen verbrachte, als eine äußerst nützliche Bekanntschaft.
»Wieso bist du allein gekommen, Lukfi?«, fragte Juffin den Obersten Wissenshüter. Sir Penz setzte sich neben mich und nutzte die Gelegenheit, den Saum seines Mantels in meine Tasse zu tauchen. Das war vorderhand sein letztes Missgeschick.
Als ich seine Gesichtszüge musterte, merkte ich, dass Lukfi Penz nicht mehr der Jüngste war. Er gehörte bloß zu den Leuten, die sehr lange kindlich aussehen, um sich dann plötzlich ihrem Alter optisch anzupassen.
Lukfi lächelte verlegen und sagte: »Wissen Sie, Sir Juffin, die Übrigen versuchen gerade, ein ernstes philosophisches Problem zu lösen - den Konflikt von Macht und Verantwortung.«
»Sündige Magister! Worum geht's denn?«
»Nicht aufregen, Sir! Die drei müssen nur entscheiden, wer von ihnen in der Verwaltung bleibt. Sir Melifaro, Ihr Tagesantlitz, soll - so wollen es die Vorschriften - im Haus an der Brücke bleiben, wenn Sie unterwegs sind. Außerdem kennt er Sir Max schon, so dass sich die Frage der Etikette nicht mehr stellt. Als Ihr Vertreter und unser Vorgesetzter darf er andererseits darüber entscheiden, werbleiben soll.«
Juffin lachte los, und Sir Kofa schmunzelte verständnisvoll.
» Als ich das Haus an der Brücke verlassen wollte«, fuhr Lukfi fort und trank gedankenverloren einen Schluck Tränen der Finsternis aus meinem Glas, »erklärte Lady Melamori, sie kenne Sir Max noch nicht, habe aber keine Lust auf lange Diskussionen, sondern werde in ein anderes Zimmer gehen und dort auf das Ende des sinnlosen Streits warten. Hier erlaube ich mir, anderer Meinung zu sein: Die Diskussion, wer gehen darf und wer bleiben muss, ist auf jeden Fall interessant und nützlich. Dann ist mir noch etwas aufgefallen: Sir Melifaro glaubt womöglich, auch ich sei ein Mitarbeiter des Geheimen Suchtrupps und er könne daher auch mir befehlen zu bleiben. Um dieser Gefahr zuvorzukommen, war ich unhöflich und bin schnell gegangen.«
»Gib Max sein Glas zurück und nimm deins, es ist voller«, flüsterte Sir Kofa Joch ihm sanft zu. »Pass auf - vielleicht ist so eine Verwechslung für einen Bewohner der Leeren Länder ja die schlimmste Beleidigung. Und Sir Max ist in seinem Zorn grausamer, als du dir vorstellen kannst.«
Lukfi Penz sah so erschrocken wie interessiert drein. »Ist das wahr, Max?«
»Sie haben Glück, Sir Lukfi«, sagte ich lächelnd. »Bei uns gilt so eine Verwechslung als kürzester Weg zu einer tiefen Freundschaft. Traditionsgemäß muss ich nun Ihr Glas austrinken. Das tue ich natürlich gern, weil es viel voller ist!«
Sir Juffin schaute mich mit fast väterlichem Stolz an. Lukfis Miene hellte sich wieder auf: »Sehen Sie, Kofa! Und Sie sind gleich von einer Beleidigung ausgegangen! Ich hab bloß einen guten Instinkt. Als ich noch in der Schule war ... ach, meine Herren, verzeihen Sie die Abschweifung, meine Schuljahre sind bestimmt kein interessantes Tischgespräch.« Er wandte sich an mich. »Stimmt es, dass Sie allein und nur nachts arbeiten werden? Wissen Sie, die Nacht ist die merkwürdigste Zeit des Tages. Ich habe immer die beneidet, die es abends nicht ins Bett zieht. Meine Frau Warischa meint zum Beispiel auch, das echte Leben beginne nach Sonnenuntergang. Darum gelingt es mir selten auszuschlafen«, beendete der aufgeregte Mann seine Rede verlegen.
»Macht doch nichts«, tröstete ich den armen Sir Lukfi. »Sie haben bestimmt andere Vorteile.«
»Seht mal, das Verantwortungsgefühl hat gewonnen«, bemerkte Juffin. »Seid gegrüßt, Sieger!«
Ein ziemlich auffälliges Pärchen kam auf uns zu. Der große Sir Schürf Lonely-Lokley mit seinem Charlie Watt-Gesicht trug wie immer Weiß. Er hatte eine kleine, äußerst flinke Frau in elegantem dunkelblauem Lochimantel am Arm. Ich hatte eine Amazone mit breitem Kreuz erwartet, bekam hingegen eine blau gekleidete Elfe zur Kollegin, die das Gesicht von Diana Rigg hatte, einem klassischen Bond-Mädchen. Wie es hier wohl um Affären am Arbeitsplatz bestellt war? Das würde ich Juffin bestimmt demnächst fragen.
Aber Scherz beiseite. Die Dame sah nicht nur gut aus - in ihren dunklen Augen funkelten auch Klugheit und Lachlust. Für mich sind das zwei Seiten einer Medaille. Außerdem spürte ich am ganzen Leib, welche Gefahr von der kleinen Lady ausging - eine Gefahr, die sich sicher mit jener des phlegmatischen Sir Lonely-Lokley messen konnte, und dessen tödliche Hände hatte ich ja schon in Aktion erlebt.
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich heiße Melamori Blimm und bin Verfolgungsmeisterin«, stellte die Lady sich leise vor. Zu meinem Erstaunen war sie sichtlich aufgeregt. Sündige Magister - was mochte man ihr über mich erzählt haben?
»Freut mich ebenso«, sagte ich. Das entsprach zwar nicht den Begrüßungsregeln, kam aber von Herzen.
Lonely-Lokley nickte mir mit dem versteckten Stolz eines alten Bekannten zu und setzte sich zu Lukfi Penz. Melamori blieb neben mir stehen, und der herbe Duft ihres Parfüms brachte meine Nasenflügel zum Beben.
»Verzeihen Sie, Max - ich habe Ihnen ein Geschenk mitgebracht. Sir Juffin würde mich als Geizhals abstempeln, wenn ich es nicht getan hätte.« Mit diesen Worten zog sie eine kleine Keramikflasche aus den Falten ihres Mantels. »Diesen Wein haben Sie bestimmt noch nicht probiert. Selbst ich trinke ihn selten, obwohl mein Großvater Kima mich sehr verwöhnt.«
Vorsichtig überreichte sie mir die kostbare Flasche und setzte sich neben Sir Kofa.
Nachdenklich musterte ich das mitgebrachte Gefäß.
»Du hast keine Ahnung, was für ein Glückspilz du bist!«, rief Juffin mir zu und wirkte plötzlich zweihundert Jahre jünger. »Das ist eine absolute Seltenheit. Dieser Wein stammt aus dem ältesten Keller des Ordens des Siebenzackigen Blattes. Kima Blimm - Melamoris Großvater - ist Winzer der Ordensweine. Nur deshalb hab ich seine Enkelin überhaupt eingestellt ... Na, Lady Melamori, seien Sie nicht so schnell eingeschnappt! Sonst glauben die Leute noch, wir kennen uns erst seit gestern Abend. Jemand sollte mal ein Verzeichnis der dümmsten Witze von Sir Juffin Halli erstellen und es dem Trubel von Echo teuer verkaufen.«
»Aber Sir Max kennt mich noch nicht und könnte glauben, ich sei wirklich wegen meiner Verwandtschaft im Geheimen Suchtrupp gelandet«, flüsterte Lady Melamori beleidigt.
»Aber Max kennt doch mich, Unvergessliche. Außerdem hat er Sie bestimmt längst durchschaut. Vor einer halben Stunde hat er auf Sir Kofa gezeigt, der in Gestalt einer prächtigen Lady gekommen war, und mich gleich gefragt, ob die Dame zu meinen geheimen Mitarbeitern gehört. Stimmt's, Max?«
Drei erstaunte Augenpaare fixierten mich, und ich hatte das brennende Bedürfnis, den Inhalt meiner Tasse zu mustern.
Verlegen zuckte ich die Achseln. »Sie machen aus einer Mücke einen Elefanten, Sir. Einmal hab ich zwar richtig geraten, aber ... Zugegeben, als ich Lady Melamori sah, hab ich sofort gedacht, sie sei mindestens so gefährlich wie Schürf. Doch das ist schon alles.« Ich zwinkerte der Lady zu. »Hab ich mich etwa getäuscht?«
Melamori lächelte wie eine satte Katze.
»Alle, die ich ins Cholomi-Gefängnis oder ins Haus an der Brücke geschleppt habe, von wo die Flucht noch schwieriger ist, können Ihre Worte vermutlich bestätigen, Sir Max«, sagte sie mit Unschuldsmiene und fügte hinzu: »Ihr alle schmeichelt mir nur. Sir Schürf ist ein unübertroffener Killer. Ich dagegen lerne sehr langsam. Dafür finde ich Verbrecher sehr schnell!« Melamori zeigte wieder ihre scharfen Zähne. »Mir reicht es völlig, jemandem auf die Spur zu treten. Dann weiß das Verbrecherherz, dass wir uns bald sehen und sein Glück demnächst zu Ende ist.«
Die kleine, gefährliche Lady sah ein wenig verlegen in unsere aufmerksamen Gesichter.
»Verzeihung. Ich hab wohl etwas übertrieben und schweige schon wieder, meine Herrschaften.«
»Macht doch nichts«, antwortete Sir Juffin väterlich. »Nutzen Sie lieber die Abwesenheit von Melifaro. Was meinen Sie, wann er so eine flammende Rede unterbrochen hätte?«
»Beim zweiten Wort«, kicherte Melamori. »Aber wenn ich mit ihm allein bin, kennt seine Ritterlichkeit keine Grenzen! Dann lässt er mich sogar fünf, sechs Worte sagen. Können Sie sich das vorstellen?«
»Nein. In seiner Anwesenheit passiert mir das nie, obwohl ich der Ehrwürdige Leiter bin. Moment mal, Sir Schürf, wie haben Sie Melifaro eigentlich überlistet?«
»Ganz einfach. Ich hab unseren Buriwuch Kurusch gebeten, die Anleitung zu wiederholen, die auch Melifaro bei Dienstantritt bekommen hat. Dort heißt es eindeutig ...«, begann Sir Lonely-Lokley gelassen.
»Schon klar«, sagte Juffin lachend. »Das brauchen Sie nicht weiterzuerzählen. Da ist er ja an den Richtigen geraten!«
Ich folgerte daraus, dass die Harmonie des Kleinen Geheimen Suchtrupps auf dem alten dialektischen Prinzip beruhte, wonach Einigkeit und Streit einander ablösen. Der temperamentvolle Melifaro und der kaltblütige Lonely-Lokley, der unberechenbare Juffin und die kleine, bedrohliche Lady Melamori, überlegte ich gedankenverloren. Wessen Eigenschaften sollte ich wohl ausgleichen? Vermutlich die von allen, wie es sich für ein Wesen aus einer anderen Welt wahrscheinlich gehörte.
Dann konzentrierten sich alle auf die mir geschenkte Flasche.
»Darf ich Sie bitten, Sir Kofa, diesen seltenen Genuss unter uns zu verteilen?« Ich hielt den bejahrten Gentleman für genau den Richtigen, mich in schwieriger Lage an ihn zu wenden.
Mit meiner Großzügigkeit eroberte ich die Herzen aller. Später erzählte mir Juffin, sie wären völlig einverstanden gewesen, wenn ich das Geschenk mit nach Hause genommen hätte. In Echo verzeiht man jede Schwäche für gastronomische Raritäten. Deshalb war meine Großzügigkeit für die hiesigen Feinschmecker eine angenehme Überraschung.
Während der Verkostung versetzte Lonely-Lokley mich erneut in Erstaunen. Aus den schneeweißen Falten seines Lochimantels zog er eine alte, dunkle Holztasse und stellte sie vor Sir Kofa. Das allein fand ich nicht merkwürdig. Ich konnte mir durchaus vorstellen, dass Sir Schürf das vertraute Holzgefäß überallhin mitnahm, besonders zu speziellen Anlässen. Ich merkte nur, dass die Tasse so gut wie keinen Boden hatte. Sir Kofa reagierte darauf nicht im Mindesten und füllte den löcherigen Gral mit dem raren Getränk. Und nicht ein Tropfen ging verloren! Juffin merkte, dass ich dringend wieder eine kurze historische Belehrung brauchte.
»Staune nicht, Max. Sir Schürf ist seinerzeit Mitglied des Ordens der Löchrigen Tasse gewesen und hat als Fischexperte Aquarien beobachtet. Diese Aquarien hatten nicht weniger Löcher als seine Tasse hier. Die Mitglieder des Ordens haben nur Fische aus den eigenen Aquarien gegessen und dazu aus löchrigen Krügen getrunken, stimmt's, mein Freund?«
Lonely-Lokley nickte gewichtig mit dem Kopf und nippte an seinem Getränk.
»Bis zum Beginn der Traurigen Zeit«, fuhr Juffin fort, »hatte der Orden der Löchrigen Tasse mit dem Orden des Siebenzackigen Blattes, dem Wohlwollenden und dem Einzigartigen Orden gute Beziehungen.« Freundschaftlich und ehrerbietig nickte Juffin Lady Melamori zu. »Dennoch hat er sich nicht an wichtige Vereinbarungen gehalten. Wie seine Kollegen darf Sir Schürf das alte Zeremoniell seines Ordens ausüben, darf also auch aus seiner löchrigen Tasse trinken. Zwar setzt er dabei verbotene Magie ein, ist aber verpflichtet, ihre gefährlichen Folgen zu neutralisieren, und tut das auch sofort. Aus dem Zeremoniell zieht er immer aufs Neue eine ordentliche Portion Kraft. Hab ich was vergessen, Sir Lonely-Lokley?«
»Sie haben die Gründe und Folgen meines Handelns kurz, aber kompakt erklärt«, bemerkte Lonely-Lokley nickend. Seine Tasse hielt er in beiden Händen, und auf seinen starren Zügen lag ein Abglanz konzentrierter Wonne.
Nachdem Sir Juffin auf mein Drängen hin ein Tablett mit verschiedenen Speisen und einer Portion von Lady Melamoris Wein zu Sir Melifaro geschickt hatte, war ich sicher, die Herzen all meiner Kollegen erobert zu haben.
An diesem Abend lächelte ich oft und bemühte mich, die Klippen meiner ausgedachten Herkunft zu umschiffen, an denen mich die Fragen des interessierten, aber leichtgläubigen Sir Lukfi beinahe hätten scheitern lassen. Ich kokettierte mit Lady Melamori, lauschte Sir Kofa, sprach den Namen von Sir Lonely-Lokley stets fehlerfrei aus und brachte Sir Juffin zum Lachen. Ich war selbst über mich erstaunt: Nie zuvor hatte Max es geschafft, die Seele einer so großen Gesellschaft zu sein.
Als die Zahl der leeren Teller das Fassungsvermögen der Geschirrspülmaschine überschritt, entschieden wir uns zum Aufbruch. Sir Kofa Joch erbot sich großzügig, nach Melifaro die Schicht zu übernehmen. Sir Juffin Halli gab allen nicht weniger großzügig einen Sorgenfreien Tag. Zusätzlich lud er uns für den folgenden Abend ins Fressfass ein. So gesehen hatte Melifaro eigentlich kaum etwas verpasst.
Also musste das Haus an der Brücke eine letzte Nacht ohne mich auskommen. Diese Zeit wollte ich für den Umzug in mein neues Domizil nutzen, ehe ich am Tag darauf offiziell meinen Dienst würde antreten und binnen weniger Stunden würde begreifen müssen, was man von mir verlangte. Inzwischen zweifelte ich daran, dass mir das gelingen würde.
Lady Melamori stieg in ein Familien-A-Mobil. Die zierliche Verfolgungsmeisterin lächelte zum Abschied geheimnisvoll und sagte mir leise, Max sei ein sonderbarer Name, klinge aber trotz seiner Kürze gut. Dann fuhr sie mit wahrhaft königlichem Pomp nach Hause, begleitet von zwei Musikern, die das Radio im Wagen ersetzen sollten, während Lukfi und Lonely-Lokley mit einem Dienst-A-Mobil davonknatterten.
Uns hingegen holte der alte Kimpa ab, der Haushofmeister von Sir Juffin. Mein Chef benutzte immer den eigenen Wagen, weil er sich, wie er sagte, im Dienst-A- Mobil so unangenehm im Dienst fühlte. Im eigenen Fahrzeug dagegen sei es fast schon wie zu Hause, und man müsse ein Dummkopf sein, um die Möglichkeit nicht zu nutzen, sich eine Stunde früher daheim zu fühlen. Das erschien mir logisch.
Auf dem Heimweg schwiegen wir reichlich. Wenn man weiß, worüber man mit seinem Begleiter reden könnte, ist das ein Zeichen gegenseitiger Sympathie. Zusammen schweigen zu können, ist der Anfang der Freundschaft.
»Bleib noch auf eine Tasse Kamra«, sagte Juffin auf der Türschwelle, und das war keine Bitte, sondern ein Befehl. Der kleine Chuf grüßte uns beim Reinkommen und wedelte vorsichtig mit dem Schwanz. »Max ist da und geht gleich wieder. Weit, weit«, erreichten mich seine kurzen, betrübten Gedanken.
»Es ist doch noch nicht so weit, Chuf!«, tröstete ich ihn. »Ich würde dich gern mitnehmen, aber du willst dich bestimmt nicht von deinem Herrchen trennen. Außerdem kann ich - anders als Kimpa - nicht kochen. Und du bist hier der Feinschmecker. Ich komme dich aber oft besuchen. Einverstanden?«
Mein flaumiger Freund seufzte und leckte sich das Maul. »Zum Mittagessen besuchen!«, reagierte er vorsichtig begeistert.
Sir Juffin war zufrieden. »Dann habt ihr ja alles besprochen. Gut so, Chuf. Gesunder Pragmatismus! Keine Sentimentalitäten!«
Im Wohnzimmer nahmen wir in bequemen Sesseln Platz. Ergeben legte sich Chuf auf meine Füße. Er hatte offenbar beschlossen, mitunter von Juffins Füßen zu weichen. Kimpa brachte Kamra und Gebäck. Mit Genuss zündete ich meine letzte irdische Zigarette an. Jetzt begann mein neues Leben: Würde ich auf Pfeife umsteigen oder mit dem Rauchen aufhören? Beide Möglichkeiten waren nicht sehr verlockend, aber eine dritte gab es nicht.
Wir plauderten kurz über meine neuen Bekannten, und die Neugier von Sir Juffin war grenzenlos. Er interessierte sich für all meine Eindrücke. Wie hatte mir Kofa gefallen, wie Lukfi und Melamori? Als wir über die Lady sprachen, erkundigte ich mich, ob Affären am Arbeitsplatz laut Chrember-Gesetzbuch verboten seien. Wenn es so wäre, hätte Juffin mich gleich wegen verbrecherischer Absichten verhaften können.
»Nicht dass ich wüsste. Seltsame Idee ... Ist bei euch denn so ein Verbot möglich?«, fragte er erstaunt.
»Nein. Man findet es aber nicht richtig, eine Affäre am Arbeitsplatz zu haben - obwohl jeder eine hat.«
»Deine Welt ist ein seltsamer Ort, Max. Dort denkt man das eine und tut das andere. Bei uns denkt man überhaupt nichts. Das Gesetz bestimmt nur das Notwendigste, aber Überzeugung und Tradition beeinflussen unsere Gewohnheiten, obwohl jeder machen kann, was er will. Also vorwärts, wenn es brennt! Allerdings zweifle ich selbst, ob das eine gute Idee ist. Lady Melamori ist ein seltsames Mädchen. Eine unverbesserliche Idealistin, die ihre Einzigartigkeit anscheinend sehr schätzt. Melifaro macht ihr seit Jahren den Hof, und sie hechelt seine Mühen mit jedem ausführlich durch - kaum zu glauben, was?«
»Melifaros Komplimente kann ich mir gut vorstellen: Schieben Sie Ihren prachtvollen Hintern aus meinem Blickfeld, Unvergessliche! Seine göttlichen Umrisse erlauben mir nicht, mich zu konzentrieren!«
Sir Juffin brach in Gelächter aus.
»Richtig, Max. Bist du Hellseher?«
»Unsinn! Mir sind nur ein paar Sachen aufgefallen ...«
»Wie dem auch sei - Melifaro ist der Liebling der Mädchen. Und das, obwohl er nicht rothaarig ist. Gib dir ruhig Mühe, Max, doch ich fürchte, auch du wirst Lady Melamori nicht erobern.«
Ich zuckte die Achseln.
»Bei Mädchen hab ich noch nie Glück gehabt. Anfangs geht es immer gut, doch dann beschließen sie zu heiraten - aber einen anderen. Das ist seltsam, weil ich mich immer in kluge Mädchen verliebt habe. Das hat aber nicht geholfen. Warum vernünftige Leute immer heiraten wollen, ist mir unbegreiflich! Ich habe mich aber daran gewöhnt.«
»Das hört sich an, als hättest du entweder das dickste Fell oder die dünnste Haut im ganzen Königreich.«
»Weder das eine noch das andere. Das ist vermutlich ein kultureller Unterschied. Bei uns soll man Schmerzen möglichst rasch vergessen. Wer dazu nicht imstande ist, erregt Mitleid, in das sich Erstaunen mischt. Verwandte empfehlen solchen Leuten, einen Psychoanalytiker zu besuchen. Das liegt auch daran, dass wir viel kürzer leben - für eine Sache viel Zeit aufzuwenden, ist für uns unverständliche Verschwendung.«
»Wie lange lebt ihr denn?«, wunderte sich Sir Juffin.
»Siebzig, vielleicht achtzig Jahre. Wieso?«
»Ihr sterbt so jung? Ausnahmslos?«
»Ja. Aber es ist nicht so wie bei euch. Mit achtzig sind wir wirklich alt.«
»Und wie alt bist du, Max?«
»Ziemlich genau dreißig. Wann hab ich eigentlich Geburtstag? Ich bin es leid, daran zu denken.«
Sir Juffin war ernstlich beunruhigt. »Dann bist du ja noch ein Kind! Na, ich hoffe, du hast nicht vor, alles nach vierzig, fünfzig Jahren aus Altersgründen hinzuwerfen! Wenn ich mir dich so anschaue ...«
Er sprang aus dem Sessel und betastete schon in der nächsten Sekunde mit eiskalten, schwerfälligen Händen meinen Rücken. Dann wurden sie heiß, und ich hatte das Gefühl, meine Persönlichkeit, die normalerweise hinter den Augen haust, verlagere sich in die Wirbelsäule. Mit meinem Rücken »sah« ich den warmen Glanz, der aus seinen starren Fingern kam. Dann hörte er so unerwartet auf, wie er angefangen hatte. Zufrieden mit dem Ergebnis, kehrte Juffin auf seinen Platz zurück.
»Alles in Ordnung, Junge. Es gibt keinen Unterschied zwischen uns beiden - auch wenn es dir schwerfällt, das zu glauben. Wie alt man wird, hängt von der Lebensführung ab. In dieser Welt kannst du über dreihundert Jahre leben. Gerade hast du mich aber erschreckt, Max! Was ist dein Vaterland nur für eine Gegend? Aus welcher Hölle hab ich dich geholt?«
»Aus der Welt der Toten«, lächelte ich betrübt. »Die hauptstädtischen Klatschmäuler haben richtig geraten, auch wenn alles halb so schlimm ist. Wenn man von Kindesbeinen an nur eine Welt kennt, hält man notgedrungen alles, was passiert, für selbstverständlich. Ich hab mein Haus verlassen und bereue es nicht. Viele würden das auch gern tun, aber ich würde es nicht unbedingt sofort wiederholen, obwohl ich immer ein Tagträumer war, der sich in einen Pechvogel verwandelte. Die Mehrheit allerdings würde Ihnen sagen, man solle sich mit dem begnügen, was man hat, statt nach etwas Besserem zu suchen. Außerdem klingt die Idee der Lebensverlängerung für viele verlockend. Wenn Sie noch einen meiner Landsleute brauchen, sagen Sie mir Bescheid!«
»Ich brauche aber keinen mehr!«
»Wer weiß, vielleicht ist es demnächst Mode, Sie im Traum zu besuchen.«
»Ich könnte all diesen Leuten doch nie und nimmer eine Stelle besorgen! Aber wer weiß? Ich sollte mich besser nicht festlegen!«
Vieles nimmt ein seltsames Ende. So war es auch mit unserem Zusammenleben: Sir Juffin ging einfach kommentarlos in sein Schlafzimmer, und ich bereitete meinen Umzug vor.
Ich war überzeugt, eigentlich gar nichts packen zu müssen, doch das erwies sich als Irrtum, denn ich besaß inzwischen eine ganze Menge Habseligkeiten: eine rasch wachsende Bibliothek, meine Kleidung, Juffins Geschenke und die hübschen Fundstücke meiner Stadtspaziergänge, bei denen ich diverse Tante-Emma-Läden besucht und dort meinen Vorschuss verpulvert hatte. Meine Bibliothek enthielt die achtbändige Enzyklopädie von Manga Melifaro, die mir sein jüngster Sohn geschenkt hatte, und diese schweren Bände waren nur ein kleiner Teil der Sammlung.
Überdies nahm ich mit, was ich bei meiner Ankunft in Echo angehabt hatte. Es war zwar unwahrscheinlich, dass ich Jeans und Pulli noch mal brauchen würde, aber ich konnte mich nicht von ihnen trennen. Vielleicht würde ich ja doch noch mal nach Hause abhauen müssen, zum Beispiel für Zigaretten.
Gut eine Stunde brauchte ich, um meine Sachen vom Schlafzimmer zum A-Mobil zu schleppen, das am Tor stand. Dann fuhr ich mit fröhlich klopfendem Herzen und leerem Kopf in mein neues Heim. Zu Hause - wie seltsam diese Worte inzwischen klangen!
Ich überquerte die Brücke namens Kamm von Echo, deren Läden und Wirtshäuser anziehend leuchteten. Trotz der späten Stunde war noch überall Betrieb. In Echo können die Leute das Nachtleben auskosten, denn die erlaubte Magie reicht völlig, um ein, zwei Nächte durchzumachen, ohne Gesundheit oder Beruf zu schaden.
Danach landete ich auf dem Rechten Flussufer und gelangte ins Herz der Altstadt. Auf Wohnungssuche hatten mir die engen Gassen hier besser gefallen als die breiten Alleen der Neustadt, des pulsierenden Zentrums von Echo.
Die Mosaikgehsteige in der Straße der alten Münzen hatten ihre Farbe fast verloren, doch ihre Steinchen gefielen mir besser als die leuchtenden Platten, die auf den neuen Straßen verlegt waren. Seit jüngstem wusste ich, dass Dinge Erinnerungen haben und davon erzählen können. Juffin hatte mir beigebracht, ihr Murmeln zu hören und - wichtiger noch - in Bilder zu übersetzen. Und Geschichten hatte ich immer gemocht. In meiner Freizeit würde ich genug damit zu tun haben zu ermitteln, wovon all die Gegenstände in der Altstadt redeten.
Mein neues Haus freute sich, mich zu sehen. Noch vor kurzem hätte ich gedacht, ich fantasiere. Aber inzwischen wusste ich, dass obskure Vorahnungen genauso glaubhaft waren wie klare Tatsachen. Jedenfalls mochten wir uns - ich und mein neues Haus. Das Gebäude war also wieder bewohnt. Sein Besitzer hatte mir erzählt, der Vormieter sei vor etwa vierzig Jahren ausgezogen, und seither seien nur ab und an die Putzfrauen gekommen.
Ich stieg aus dem A-Mobil und trug mein Zeug ins Wohnzimmer. Wie in Echo üblich, war es fast leer. Minimalistische Inneneinrichtungen haben mir immer gefallen, doch ich hatte meinen Geschmack bisher nirgendwo entfalten können. Das Zimmer enthielt nur einen kleinen Tisch, auf dem ich meinen im Fressfass bestellten Vorratskorb absetzte, ein paar bequeme Sessel, die denen im Wohnzimmer von Sir Juffin ähnelten, und ein paar Regale. Was brauchte man auch sonst?
Zwei Stunden ordnete ich genüsslich Bücher und Nippes und ging dann ins Schlafzimmer. Die Hälfte des riesigen Raums bedeckte ein so flaumweicher Boden, dass es kein Risiko, sondern ein Vergnügen sein dürfte, hier aus dem Bett zu fallen. Ein paar Kissen und Felle lagen als verwaistes Häuflein in der Ecke. Weiter weg befand sich eine Garderobe, in die ich einen Haufen bunter Stoffe geworfen hatte: meine hiesige Kleidung. Jeans, Pulli und Weste - meine Erinnerungsstücke also - hatte ich nach ganz unten gepackt. Neben dem Schlafzimmer lag ein kleines Bad, das für die Morgentoilette ideal war. Die übrigen Sanitäranlagen befanden sich im Keller.
Schon war ich umgezogen und wollte weder essen noch schlafen und hatte auch keine Lust, das Haus zu verlassen und spazieren zu gehen. Stattdessen hätte ich jedem Teufel für eine Schachtel Zigaretten sofort meine Seele verkauft.
Ich saß im Wohnzimmer, stopfte ungeschickt meine Pfeife und machte mir trübe Gedanken über mein bitteres Schicksal. In meiner Trauer tröstete mich nur der Blick nach draußen, wo eine dreistöckige Villa mit kleinen dreieckigen Fenstern und spitzem Ziegeldach stand. Wie jeder, der immer in Neubauten gelebt hat, hatte ich großen Respekt vor Altbauten. Und in Echo konnte jeder Stein Geschichten über sein Haus erzählen.
Nachdem ich mich an der Pracht des Hauses gegenüber sattgesehen hatte, nahm ich den dritten Band der Enzyklopädie von Sir Manga Melifaro zur Hand, in dem von meinen angeblichen Landsleuten die Rede war, von den Bewohnern der Grafschaft Wuk und der Leeren Länder also. Auch ein fiktives Vaterland soll man lieben - und vor allem erforschen. Dabei dachte ich zunächst an all die bohrenden Fragen, die mir Sir Lukfi Penz bestimmt bald stellen würde. Außerdem fand ich das Buch sehr interessant. Bei Seite hundert, wo es um Nomaden ging, die aus Zerstreutheit ihr minderjähriges Stammesoberhaupt in der Steppe verloren und sich dafür verflucht hatten, schlief ich ein. Im Traum sah ich meine Version der unglaublichen Geschichte, allerdings mit Happy End: Als Erwachsener wandte sich der Verlorene an unser Amt, und Sir Juffin und ich halfen ihm, sein armes Volk ausfindig zu machen. Und zum Abschied gab Sir Lonely-Lokley ihm ein paar kurze, aber gehaltvolle Benimmregeln mit, was sein Verhalten an seiner künftigen Arbeitsstelle anging.
Ich erwachte für meine Verhältnisse sehr früh, nämlich schon vormittags, und beschloss, mich lange und sorgfältig herauszuputzen, da ich am Abend offiziell meinen Dienst antreten würde. Dazu ging ich nach unten und legte mich nacheinander in alle drei Badewannen. Drei sind besser als eine - da beißt die Maus keinen Faden ab! Und viel hübscher als elf sind drei natürlich auch, wenn ich mir diese Spitze gegen unsere hauptstädtischen Snobs - allen voran Sir Juffin Halli - erlauben darf.
Endlich hatte ich Zeit für den Vorratskorb aus dem Fressfass. Zum Glück enthielt er einen Krug Kamra, den ich mir gleich aufwärmen konnte. Dieses Getränk ließ mich alles vergessen, was ich je gekocht hatte. Sir Juffin hatte schon überlegt, von mir zubereitete Kamra zur Einschüchterung gefährlicher Verbrecher einzusetzen. Allerdings bremste ihn, dass diese Methode als äußerst grausam gelten würde.
Ich erwärmte die Kamra auf einem kleinen Kohleofen, der zur unerlässlichen Ausstattung jedes Wohnzimmers gehörte. Der Morgen war herrlich! Es gelang mir sogar, meine am Vortag gestopfte Pfeife anzuzünden. Na bitte - ich schaffte alles! Selbst der seltsame Beigeschmack des hiesigen Tabaks konnte mir die optimistische Stimmung nicht rauben.
Zur Arbeit ging ich zu Fuß, um aller Welt meinen neuen, dunkel gemusterten Mantel und meinen schwarzen Turban zu zeigen, der aus mir - einem ganz normalen Menschen - einen exotischen Schönling machte. Leider begeisterte sich niemand außer mir an diesem Anblick. Die Leute waren mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt oder sahen verträumt in die Vitrinen luxuriöser Altstadtgeschäfte. Ich erntete keine bewundernden Blicke, und es gab keine Schönheit, die bereit gewesen wäre, sich mir an den Hals zu werfen. Typisch!
Ich bog in die Straße der Kupferkessel ein und erreichte kurz darauf zum ersten Mal die ersehnte Geheimtür, die ins Haus an der Brücke führte. Bisher hatte ich sie nicht benutzen dürfen, sondern Juffins Dienststelle durch den Besuchereingang betreten müssen.
Über einen kurzen Korridor gelangte ich in den Teil des Gebäudes, in dem der Kleine Geheime Suchtrupp - meine Einheit also - untergebracht war. Die andere Hälfte des Baus gehörte zur Stadtpolizei von Echo, die unter dem Befehl von Sir Bubuta Boch stand, von dem ich noch nichts Gutes gehört hatte. Ich passierte ein großes leeres Empfangszimmer, in dem ein Beamter friedlich döste, und gelangte in den Saal der allgemeinen Arbeit, wo ich Sir Lonely-Lokley antraf. Konzentriert notierte er etwas in ein dickes Heft und machte dazu ein betrübtes Gesicht. Diese Schreiberei! Wozu hat man hier denn Tafeln, die sich von selbst beschriften, und kluge Buriwuche, die jedes Wort speichern?
Meine Sorge um Sir Schürf Lonely-Lokley erwies sich jedoch als unbegründet. Er führte bloß sein persönliches Arbeitstagebuch. Ich wollte ihn nicht von dieser freiwilligen bürokratischen Fronarbeit ablenken und ging in Juffins Büro, das sich als verhältnismäßig kleines und sehr angenehmes Zimmer erwies.
Der Ehrwürdige Leiter saß am Schreibtisch und wäre bei dem Versuch, Lady Melamori abzukanzeln, fast vor Lachen erstickt. Sie saß ihm mit der Miene einer so bescheidenen wie verstockten Gymnasiastin gegenüber.
» Da bist du ja, Max! Hier deine erste Aufgabe: Zieh los und begeh einen furchtbaren Mord! Das Nichtstun macht die Leute hier richtig verrückt. Weißt du, was die erste und gegenwärtig einzige Lady unseres Suchtrupps getan hat? Sie ist Kapitän Fuflos - dem Stellvertreter, Schwager und Seelenverwandten von General Bubuta Boch - auf die Spur getreten. Prompt hat ihm das arme Herz wehgetan, und schreckliche Ahnungen haben ihn gequält. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er sich mit den Grundfragen des Daseins beschäftigt, doch das hat ihm keine Freude gemacht. Die Intelligenz eines jungen Leutnants namens Kamschi hat Fuflos vor dem Selbstmord gerettet. Der gequälte Kapitän ist auf sein Gut gefahren, um wieder zu Kräften zu kommen, und der Leutnant war gezwungen, mir die Abwesenheit seines Kapitäns anzuzeigen! Kaum zu glauben, aber auf solche Leute sind sie bei der Stadtpolizei angewiesen! Es wäre besser, General Bubutas Stelle mit Leutnant Kamschi zu besetzen. Du lachst, Max?«
»Sie doch auch, Sir! Machen Sie sich Luft, sonst platzen Sie noch.«
Juffin winkte ab, folgte meinem Rat aber. Melamori sah uns fast vorwurfsvoll an. Was mochte das zu bedeuten haben? Da hatte sie einen schweren Fehler begangen, und wir kicherten!
»Was soll ich mit Ihnen machen, Lady? Sie haben Glück, dass Kamschi Ihnen anscheinend oft nachschaut. Stellen Sie sich vor, was es für einen Lärm gegeben hätte, wenn er sich mehr um die Gesetze und um die Gesundheit seines Chefs gekümmert hätte.«
»Aber indem ich Kapitän Fuflos auf die Spur getreten bin, hab ich doch nur bewiesen, dass er ein Verbrecher ist«, sagte Melamori rasch und lächelte uns unwiderstehlich an. »Damit müssten Sie doch zufrieden sein!«
»Seien Sie unbesorgt - ich habe auch ohne Ihre Hilfe genug Freude am Leben. Weil das lange Nichtstun Sie verrückt gemacht hat, gehen Sie für drei Tage ins Cholomi-Gefängnis und helfen dem Kommandanten dort beim Durchforsten des Archivs. Sie sind für solche Aufgaben ideal, denn Ihre Familie hat viel Erfahrung, was Geheimnisse anlangt. Wenn hier was passiert, sag ich Ihnen gleich Bescheid. Jetzt flehen Sie die Dunklen Magister um ein blutiges Verbrechen an, und denken Sie daran, ein Präsent für Sir Kamschi mitzunehmen. Schenken Sie ihm etwas aus dem Vorratskeller Ihres Großvaters Kima. Das verpflichtet ihn zu nichts, übertrifft aber seine kühnsten Erwartungen. Und jetzt ab ins Gefängnis!«
Lady Melamori rollte die Augen wie eine Märtyrerin. »Sehen Sie, Sir Max? Diese Dienststelle ist das Bollwerk der Tyrannei! Wegen eines harmlosen Scherzes gleich drei Tage nach Cholomi zu müssen!«
»Tyrannei?«, fragte Sir Juffin und lächelte tückisch. »Der alte Kommandant wird Ihnen einen königlichen Empfang bereiten. Seinen Koch kennen Sie noch nicht, oder?«
»Natürlich kenne ich ihn! Nur seinetwegen habe ich in diesem Büro noch kein Gift geschluckt.« Melamori geriet ins Stocken und fügte schuldbewusst hinzu: »Sir Juffin, ich bitte um Verzeihung! Fuflos ist einfach ein solcher Dummkopf, dass ich mich nicht habe beherrschen können.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, meinte Juffin und kicherte erneut.
Ich hatte das Gefühl, Lady Melamori wäre straflos ausgegangen, wenn sie ein wenig dreister gewesen wäre.
Bevor die schöne Verbrecherin mit dem Dienst-A-Mobil nach Cholomi fuhr, flüsterte sie mir im Vorbeigehen zu, sie sei nicht immer so. Das glaubte ich nur zu gern.
»Nun, Max«, begann Juffin gelangweilt, »heute muss ich dir mein offizielles Gesicht zeigen. Aber zuerst stelle ich dir Kurusch vor.«
Die Geschichte des Verbrechens von Lady Melamori hatte mich so beschäftigt, dass ich den eulenartigen Vogel, der mit wichtiger Miene auf der Rückenlehne eines Stuhls saß, erst jetzt bemerkte. Der Buriwuch - denn um einen solchen handelte es sich - sah mich lange und aufmerksam an.
»Nichts zu meckern - der taugt was!«, kam es endlich aus seinem Schnabel, und ich begriff, dass es um mich ging.
»Danke, Buriwuch«, wollte ich in scherzhaftem Ton sagen, doch meine Stimme klang sehr ernst.
Juffin nickte. »Das ist ein großes Lob, Max! Du hättest hören sollen, wie er über andere geurteilt hat.«
»Was haben Sie denn da so gesagt?«, fragte ich interessiert.
»Dienstgeheimnis!«, teilte Kurusch gelassen mit. »Und jetzt an die Arbeit!«
Meine Aufgabe bestand darin, etwas in einer unverständlichen Sprache zu sagen. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um eine uralte Zauberformel, deren Kraft mich angeblich für immer an die Interessen der Krone band.
»Aber ich merke gar nichts!«, sagte ich verwirrt, nachdem ich die Formel ausgesprochen hatte.
»Musst du auch nicht«, meinte Juffin. »Als ich die Formel aufsagte, ist auch nichts Besonderes passiert. Kann sein, dass es nur Aberglaube ist, aber vielleicht funktioniert es ja tatsächlich. Gib Acht - ich lese dir jetzt in Gegenwart unseres Kurusch eine dienstliche Anweisung vor. Du brauchst sie nicht zu verstehen. Denk einfach an etwas Angenehmes, denn das Ganze dauert ziemlich lange. Notfalls wiederholt Kurusch die eine oder andere Passage für dich. Stimmt's, mein Süßer?«, fragte Juffin und sah den Vogel zärtlich an. Das Tier spreizte stolz die Flügel.
Ich möchte den Inhalt dessen, was ich vorgelesen bekam, nicht im Einzelnen berichten. Es ging ungefähr darum, dass ich zu allem verpflichtet sei, was ich tun solle, und auf keinen Fall tun solle, was ich nicht dürfe. Damit solche Binsenweisheiten in mein Ohr drangen, hatte ein am Hofe lebender Bürokrat ein paar Blätter bestes Papier verbraucht. Sir Juffin opferte eine halbe Stunde, mir das literarische Meisterwerk vorzutragen, und beendete seinen Auftritt mit einem erleichterten Seufzer. Ich tat es ihm nach. Buriwuch Kurusch hingegen schien das Ganze richtig Spaß gemacht zu haben.
»Warum arbeitet ihr klugen Vögel eigentlich für die Menschen?«, wollte ich wissen. Diese Frage hatte mich schon eine halbe Stunde beschäftigt.
»Da wir nur wenige sind, fällt es uns schwer, uns allein durchzuschlagen«, antwortete das Tier. »Bei Menschen zu leben, ist unter solchen Umständen bequem und interessant. Dort, wo es viele von uns gibt, können wir ohne Hilfe überleben und sind durchaus mächtig. Aber in dieser Dienststelle ist es wirklich spannend! Es gibt so viele Worte und Geschichten!«
»Eine würdige Antwort«, meinte Juffin und lächelte gönnerhaft. »Begreifst du jetzt, Max? Die Vögel finden uns unterhaltsam!«
Dann bekam ich feierlich meine Dienstwaffe überreicht - einen kleinen Dolch, der sich besser zum Reinigen der Fingernägel als zum Töten eignete. Der Griff des Dolchs enthielt einen Zeiger, der auf erlaubte wie verbotene Magie reagieren sollte. Ich hatte etwas Ähnliches schon im Einsatz gesehen und wusste, dass dieses Instrument nicht sehr zuverlässig war. Vielleicht war es besser, von Anfang an keine Illusionen zu haben.
Als wir mit den Formalitäten fertig waren, gingen wir ins oberste Stockwerk des Hauses an der Brücke. Dort wurde ich einem kleinen, gutmütigen Dicken vorgestellt, der einen grell orangen Mantel trug und auf Sir Juffins einleitende Worte munter ausrief: »Sehr erfreut! Mein Name ist Kumba Kurmak. Ich bin Sir Juffins Kanzleichef und die netteste Person in diesem finsteren Gebäude, weil ich für Auszeichnungen, Orden und andere angenehme Dinge zuständig bin.«
»Außerdem fungiert Sir Kumba in unserer Dienststelle als Vertreter des Königs«, fügte Juffin hinzu. »Egal wie sehr wir uns anstrengen: Ohne seine Vermittlung dringt nichts nach oben durch.«
»Schenken Sie diesen Worten keinen Glauben«, meinte der freundliche Dicke lächelnd. »Wenn Sie jemanden bei Hofe um etwas bitten wollen, ist Juffin der richtige Mittelsmann. Allerdings hoffe ich, dass ich der Erste war, der dem König von Ihren großartigen Verdiensten erzählt hat.«
Schockiert sah ich meinen Chef an. »Welche Verdienste denn?«, fragte ich ihn zweifelnd per Stummer Rede.
»Er meint die Sache mit dem Spiegel des alten Sir Makluk«, erklärte Juffin mir auf gleichem Wege. »Natürlich hast du da noch nicht offiziell zu uns gehört. Desto größer ist die Ehre, die dir widerfahren ist! Das Vereinigte Königreich soll um seine Helden wissen.«
»Sie sind der Erste, Sir Max, der seinen Dienst in Echo mit einer Auszeichnung beginnt«, erklärte Sir Kumba Kurmak und verbeugte sich ehrerbietig. »Ich arbeite hier schon sehr lange. Glauben Sie mir also ruhig und freuen Sie sich«, sagte er und reichte mir eine kleine dunkle Holzschachtel. Ich wusste schon, dass man in Echo jedes Geschenk sofort öffnen muss. Also wollte ich den Deckel aufmachen, doch es ging nicht.
»Das ist ein Geschenk des Königs, Max«, mischte sich Juffin ein. »Leicht bekommt man das nicht auf. Dazu braucht man, wenn ich nicht irre, Weiße Magie vierten Grades. Mach die Schachtel daheim auf, denn in der Öffentlichkeit ist Zaubern verboten.«
»Verzeihung«, rief ich und errötete vermutlich. »Ich hab noch nie ein königliches Geschenk bekommen.«
»Kein Problem, Max«, tröstete mich der gutmütige Sir Kumba. »Wenn Sie wüssten, wie viele Leute zwar genau wissen, wie man mit einer solchen Auszeichnung umzugehen hat, sie aber nie bekommen! Ihre Lage scheint mir wirklich beneidenswert.«
Ich bedankte mich vielmals. Danach verließen Juffin und ich Sir Kumbas Büro.
»Sie hätten mich wirklich warnen können«, meinte ich verärgert, als wir wieder in Juffins Zimmer waren. »Sie genießen meine Blamage - das merk ich doch.«
»So ist es für alle besser. Was für ein »Grenzbarbar* wärst du schließlich, wenn du alles richtig machen würdest? Du musst etwas leiden, Junge. Konspiration ist nun mal nicht leicht.«
»Schon gut. Helfen Sie mir, das Kästchen zu öffnen? Allein schaff ich es nicht.«
»Stell dich nicht so an. Versuch's, und ich helfe dir notfalls. Aber mach die Tür zu! Keine Sorge, hier sind schon ganz andere Dinge geschehen.«
Ich legte die Schachtel auf Juffins Schreibtisch und versuchte, mich zu entspannen und an alles zu erinnern, was ich gelernt hatte. Vergeblich! Beschämt zuckte ich die Achseln.
»Hoppla, sollte ich mich doch getäuscht haben? Schauen wir uns das Ding mal an ... Nein, hier ist höchstens Magie vierten Grades nötig. Das kannst du schon, Max. Probier's noch mal!«
Ich wurde ärgerlich - auf die Schachtel; auf den König, der sie mir angedreht hatte,- auf Juffin, der mir nicht helfen wollte. Na gut, dachte ich, versuchen wir's anders. In meinem Zorn gab ich dem schlafenden Wachmann nebenan per Stummer Rede sehr energisch einen Auftrag und hatte den Eindruck, ihn vom Sessel purzeln zu hören. Ein paar Sekunden später klopfte er schüchtern an die Tür. Sir Juffin sah mich staunend an.
»Welcher Teufel ist in dich gefahren, Max?«
»Ohne frische Kamra komm ich hier nicht weiter.«
»Keine schlechte Idee.«
Der vor Schreck zitternde Wachmann stellte das Tablett auf den Tisch und verschwand. Juffin schaute befremdet zur Tür, die sich gerade schloss.
»Was ist da los? Er hat zwar Angst vor mir, aber doch nicht so viel!«
»Das war ich. Ich hab ein wenig gebrüllt, als ich nach ihm rief.«
»Na, das macht nichts. Sie sollen ruhig Angst vor dir bekommen, weil du neu bist. Wenn du sie nicht gleich erschrickst, musst du später stundenlang warten, bis sie in ihrer Faulheit geruhen, auf deinen Ruf zu reagieren. Bist du zornig, Max?«
»Und wie!«, brüllte ich, trank meine Kamra in einem Zug aus und klopfte mit dem kleinen Finger neben der Schachtel auf den Tisch, wie ich es gelernt hatte. Erstaunt sah ich, dass sie sich in Staub verwandelte. Aber ein darin versteckter kleiner Gegenstand blieb ganz. Das war zu erwarten gewesen. Mein Zorn verrauchte.
»O weh«, sagte ich. »Was hab ich nur getan?«
»Na ja, du hast Magie sechsten statt vierten Grades benutzt, dadurch aber nur die hübsche Schachtel ruiniert. Der Rest ist unversehrt. Zum Glück ist mein Büro von den übrigen gut isoliert. Ich kann mir lebhaft vorstellen, welchen Tumult es sonst gegeben hätte! Mein Chef wäre über diesen Fehler vermutlich entzückt gewesen.«
»Sie haben mir leider nicht gesagt, dass ich Magie höheren Grades nicht anwenden darf. Oder hab ich Sie da falsch verstanden?«
»Keine Ahnung, Max. Jedenfalls bist du ein Böiger Wind«, wiegelte Juffin ab. »Sei aber bitte so lieb und versuch, deinen Wirkungskreis auf mein Büro zu beschränken. Dann gibt es auch keine Probleme. Und jetzt schauen wir uns mal an, was du vom König bekommen hast.«
Wir betasteten das kleine Päckchen, das mitten im Staub lag. Dann packte ich es vorsichtig aus, bis eine purpurrote Erbse zum Vorschein kam, die ich in die Hand nahm und von allen Seiten betrachtete.
»Was ist das?«
Juffin lächelte nachdenklich. »Ein Nachkomme der legendären Purpurroten Perle König Gurigs VII. Das Besondere an dieser Perle ist, dass niemand sie je gesehen hat - weder der verstorbene König noch sein Nachfolger, der partout nicht ermitteln will, wo sich dieses unsichtbare Wunder befindet. Er hat gesagt, er wisse es nicht und wolle es auch nicht wissen. Aber der Nachwuchs der Mutterperle kommt regelmäßig in den unterschiedlichsten Ecken des Palasts zum Vorschein. Seine Majestät schenkt diese »Perlenwaisen* besonders verdienten Bürgern. Ich hab schon drei. Bei dir ist es wirklich flott gegangen, ohne dass der Erwerb für dich leicht gewesen wäre. Schließlich hast du im Haus meines Nachbarn einiges erlebt!«
»Hat die Perlenmutter Zauberkräfte?«
»Auf alle Fälle. Aber was sie genau kann, wird sich noch zeigen. Bisher weiß es niemand. Bewahr deine Perle gut auf und bestell beim Juwelier eine Schatulle dafür, wenn du magst.«
»Eine Schatulle? Die kostet doch nur Geld, und mir gefällt das kleine Ding nicht besonders.«
»Typisch Barbar! Der Schrecken der Wachmänner!«, rief Juffin und brach in Gelächter aus.
Dann überließ er mich dem Schicksal, übergab mir also die Leitung des Hauses und ging ins Fressfass, wo er Melifaro ein Essen ausgab.
»Erinnern Sie ihn daran, dass er mir noch was schuldet«, rief ich meinem Chef nach. »Er soll seine Verpflichtungen mir gegenüber irgendwann erfüllen!«
»Bedeuten Verpflichtungen für dich kalte oder warme Vorspeisen?«, fragte Sir Juffin.
»Verpflichtungen bedeuten viel Essen im richtigen Moment«, stellte ich klar.
Die Nacht verlief so ruhig, dass ich etwas enttäuscht war. Kurusch unterhielt mich, so gut er konnte. Jetzt erfuhr ich auch, dass der kluge Vogel genau wie ich gern die ganze Nacht wach blieb. Diese Seelenverwandtschaft erlaubte mir, ihm mein Leben zu erzählen. Zuerst aber legte er einen Eid ab, ihm anvertraute Informationen »mehr als streng geheim« zu halten. Seine unerschütterliche Ruhe erstaunte mich.
Der nächste Tag begann mit dem Besuch von Sir Kofa Joch, der noch vor Tagesanbruch erschien. Auch er arbeitete oft nachts, da es zu seinen Hauptpflichten gehörte, Wirtshausgespräche zu belauschen und wichtige Informationen herauszufiltern. Jeden Morgen erschien der Meister des Verhörs im Haus an der Brücke, glich seine Miene seinem etwas angegriffenen Gesamtzustand an und berichtete Sir Juffin bei einer Tasse Kamra interessante Neuigkeiten. Abends hingegen, wenn er seinen Nachtdienst begann, pflegte er über große Pläne zu schwadronieren.
»In der Stadt gibt es Gerüchte, du seiest Juffins unehelicher Sohn«, begrüßte mich Sir Kofa Joch. »Aber egal. Du hast schon am ersten Arbeitstag die Auszeichnung des Königs bekommen. Juffin und ich hatten gewettet, ob das tatsächlich passieren würde, und er hat gewonnen. Dank deines Erfolgs und der milden Stimmung Seiner Majestät hat dieser alte Fuchs sechs Kronen verdient. Aber das macht nichts, denn in der Nacht habe ich einiges beim Kartenspiel gewonnen und kann alles bezahlen.«
»Woher kommen diese Gerüchte über meine Herkunft, Sir Kofa?«, hakte ich nach.
»Frag mich was Leichteres. Ich vermute, sie basieren zum Teil auf diffus durchsickernden Informationen, zum Teil auf der erschütternd banalen Fantasie vieler Leute. Vielleicht spielt auch der Wunsch eine Rolle, die langweilige Realität ein wenig aufzupeppen. Ich hab keine Ahnung, Max.«
»Die Leute reden einfach gern«, erklärte Kurusch nachsichtig.
»Hast du schon Gerüchte über den Ehrwürdigen Leiter gehört?«, fragte Kofa. »Die Hälfte davon haben wir selbst in Umlauf gebracht. Der Geheime Suchtrupp soll nämlich einschüchternd wirken. Wusstest du schon, dass Sir Juffin im Besitz eines Lügenrings ist, der tödliche Strahlung aussendet? Jeder, der in seiner Gegenwart die Unwahrheit sagt, muss unter großen Schmerzen sterben. Die ursprüngliche Fassung dieses Gerüchts war bescheidener: Mit Hilfe eines kleines Gegenstands - so lautete sie - überführe Sir Juffin jeden Betrüger. Die grausamen Details verdanken wir also der Volkskunst.«
»Kannst du mir noch mehr erzählen?«, fragte ich interessiert.
»Zum Beispiel ernährt Juffin sich von dem gedörrten Fleisch rebellischer Magister, das er immer dabeihat. Man soll ihm nicht in die Augen sehen, sonst verliert man den Funken und stirbt. Und natürlich schnappt ihn sich Juffin - wer anders? Außerdem lebt er ewig, und seine Eltern waren uralte Magister, die ihren Sohn aus Sand geschaffen haben, den sie mit ihrer Spucke mischten. Der Ehrwürdige Leiter hatte auch einen Zwillingsbruder, den er jedoch eines Tages verspeist hat. Und nachts geht er als Schatten um.«
»Seid ihr am Tratschen? Stör ich etwa?«, fragte die gerade durchgehechelte Kultgestalt der städtischen Mythologie munter und ließ sich genüsslich in einen Sessel fallen.
»Ich versuche nur, den armen Jungen vorzuwarnen«, sagte Sir Kofa und lächelte.
»Arm? Wieso denn arm? Sie hätten ihn als Vampir erleben sollen! Wie war deine Nacht, mein Held?«, fragte Juffin.
»Langweilig - nichts los«, sagte ich selbstmitleidig. »Ich hab die ganze Nacht mit Kurusch geschwatzt.«
»Bei mir gab's auch nichts«, ergänzte Sir Kofa. »Nur zwei stinknormale Einbrüche in reichen Gegenden. Die Diebe haben zwar die teuersten Sachen mitgenommen, aber General Bubuta wird das schon schaffen. Max hat recht, es war extrem langweilig. Echo - früher ein Bollwerk krimineller Romantik - verwandelt sich langsam in einen provinziellen Sumpf.«
»So schlimm ist es auch wieder nicht. Es ist doch schrecklich, wenn's zu bunt wird. Geh nach Haus und erhol dich, Max.«
Genau das hatte ich vor, doch im Treppenhaus hörte ich eine laute Stimme, die zwischen Bass und Falsett schwankte: »Du wagst es, mir so einen Blödsinn zu erzählen?! Sechzig Jahre bin ich jetzt hier, und noch niemand ...«
Ich riss die Tür auf. Ein athletisch gebauter, in einen purpurroten Mantel gehüllter Mann an der Schwelle zu deutlichem Übergewicht pöbelte den erschrockenen Chauffeur meines Dienst-A-Mobils an.
»Ruhe, aber sofort!«, rief ich. »Der Ehrwürdige Leiter des Geheimen Suchtrupps hat geschworen, die auf den Scheiterhaufen zu bringen, die ihn stören. Hören Sie also mit dem Geschrei auf. Der Fahrer steht in königlichem Dienst!«
»Was? Wer sind Sie, und was erlauben Sie sich?«, fragte das bullige Geschöpf und schien wieder gesprächsfähig.
»Haben Sie zu viel getrunken, Sir?«, schleuderte ich ihm gut gelaunt entgegen. »Ihr Büro ist im anderen Trakt. Wir sind hier im Treppenhaus des Gebäudes, das sich Stadtpolizei und Kleiner Geheimer Suchtrupp teilen. Seien Sie so gut und respektieren Sie das, denn hier halten sich einige zornige Leute auf, die sich so ihre Gedanken machen, wenn mal wieder die ganze Nacht niemand verhaftet wird. Also, fahren wir!«, meinte ich dann zum Chauffeur, und wir verschwanden.
»Danke, Sir Max!«, erklärte der bejahrte Mann und verbeugte sich vor mir.
»Warum erlauben Sie ihm, Sie so anzubrüllen? Er sieht zwar gefährlich aus, aber Sie arbeiten doch für den König und für Sir Juffin! Sie sind eine wichtige Person, mein Freund.«
»General Bubuta Boch nimmt so was nicht zur Kenntnis. Es nervt ihn, wenn ein A-Mobil zu nah am Eingang steht, obwohl sein Fahrer beinahe im Korridor parkt.«
»War das General Bubuta Boch? Hoppla!«
Der Poltergeist hatte mich stark an meinen ehemaligen Vorgesetzten erinnert, und ich empfand eine merkwürdige Befriedigung. Ihre Zeit ist vorbei, mein Herr!
Sir Max zeigt Ihnen, wo es langgeht! Schadenfreude ist zwar gehässig, aber ich bin ja auch kein Engel, sondern ein Mensch.
Erst zu Hause merkte ich, wie müde ich war. Die angenehmste Bettwäsche des Vereinigten Königreichs stand mir zur Verfügung. Aber was war mit meinen Träumen los? Man könnte sagen, sie hätten mich verraten.
Von Kindesbeinen an waren Träume ein wichtiger Teil meines Lebens. Immer hat ein Alptraum mich stärker aus der Bahn geworfen als reale Unannehmlichkeiten. Und an diesem Morgen quälte mich ein echtes Schreckgespenst.
Zuerst träumte ich, nicht einschlafen zu können - kein Wunder, denn ich lag auf dem Tisch im Wohnzimmer und ähnelte einem appetitlichen Mittagessen. Durchs Fenster sah ich das Nachbarhaus, ein echtes Meisterwerk, das mich am ersten Abend so begeistert hatte. In der Traumwirklichkeit aber spürte ich tiefe Abscheu vor dem Gebäude. Hinter den dreieckigen Fenstern war es dunkel, und das ließ nichts Gutes vermuten. Ich wusste, dass die Hausbesitzer lange tot waren, doch im Traum kamen sie mir lebendig vor. Gefährlich waren sie allerdings nicht.
Lange Zeit passierte nichts. Ich konnte mich nicht rühren, und auch das missfiel mir. Die Ahnung, dass etwas geschehen würde, beunruhigte mich noch mehr. Irgendwas kam sogar schon aus unbestimmter Ferne langsam auf mich zu. Es brauchte nur Zeit - und die war reichlich vorhanden.
Das Warten zog sich ins Unendliche. Ich hatte den Eindruck, so sei es immer gewesen und so würde es auch bleiben. Doch irgendwann gelang es mir aufzuwachen.
Ich hatte Kopfweh und war schweißgebadet, aber erleichtert. Wie angenehm es war, wieder wach zu sein! Ich wühlte kurz im Schrank und fand eine Flasche Kachar-Balsam. »Damit musst du sparsam umgehen, Max. Es eignet sich nicht zum täglichen Genuss«, hatte Sir Juffin mich oft belehrt. Aber mein Körper brauchte eine Stärkung, und ich wollte ihn nicht foltern. Ein dummer Traum konnte mir die seelischen Kräfte einer ganzen Woche rauben. Also trank ich davon, fühlte mich gleich besser und durfte annehmen, dass es so bliebe. Ich lächelte in die Nachmittagssonne und ging nach unten, um die Stärkung mit einem Bad und einer guten Tasse Kamra abzurunden.
Eine Stunde später war ich wieder fit. Ich wurde bestimmt noch nicht im Büro erwartet. Eine halbe Stunde verbrachte ich mit einem Buch auf dem Schoß im Wohnzimmer. Diesmal fand ich den Ausblick nicht so hübsch, entschied mich aber dennoch, dem Fenster nicht den Rücken zu kehren.
Endlich begriff ich: So ging es nicht weiter. Ich legte den dritten Band der Enzyklopädie von Sir Manga Melifaro beiseite, trat auf die Straße und näherte mich behutsam dem Nachbarhaus. Meine Hand berührte den nagelneuen Dolch mit dem Zeiger im Griff. Ich sah mich um. Das Gebäude war unschuldig wie ein Kind. Hier gab es lediglich Schwarze Magie des erlaubten zweiten Grades. Vielleicht wollte jemand frische Kamra zubereiten oder Butterdosen säubern.
Doch mein Herz sagte mir etwas anderes. »Das ist ein übler Ort«, flüsterte es mir erschrocken zu. In letzter Zeit hatte sich der Muskel als guter Berater erwiesen. Womöglich sollte ich seine Meinung berücksichtigen? Aber ich wollte unbedingt meine Ruhe haben und ungestört leben.
»Vielleicht sollte ich mir spät in der Nacht keine grausamen Geschichten mehr anhören«, versuchte ich, mir einzureden.
Um mich abzulenken, ging ich mit meinem neuen Spielzeug durch die Nachbarschaft und überprüfte, ob in den Häusern ringsum die Bestimmungen der Epoche des Gesetzbuchs eingehalten wurden. Mein Dolch zeigte überall nur Werte an, die Treue und Loyalität bewiesen. Offenbar beschäftigte man sich hier einzig mit kulinarischen Experimenten. Schwarze Magie zweiten Grades sickerte buchstäblich aus allen Fenstern. Als der Zeiger begann, zwischen der erlaubten Zwei und der unerwünschten Drei hin und her zu springen, schaute ich mich aufmerksam um. Ich stand vor einem kleinen Wirtshaus mit dem bedrohlichen Namen Zum gesättigten Skelett, hatte den Eindruck, der Koch sei begeistert bei der Sache, und ging dort frühstücken. Das Fressfass ist ein heiliger Ort, aber ein wenig Abwechslung würde mir guttun.
Trotz meiner Alpträume hatte ich mehr Appetit als üblich. Am Nachbartisch tuschelten zwei Tantchen über eine gewisse Lady Alata, die am Morgen beim Einkäufen bestohlen worden sei. »Das geschieht dieser gierigen Zicke recht!« In Gedanken hatte ich Mitleid mit der unglücklichen Frau, denn ich wusste ja, welcher Herr sich berufen fühlen würde, ihr Vermögen wieder zu beschaffen, und hatte viel von ihm gehört. All das aber hatte keinen Einfluss auf meinen Appetit.
Nachdem ich gefrühstückt hatte, ging ich langsam zur Arbeit, streifte dabei gemütlich durch die Altstadt und gab all mein Taschengeld für unnötige, aber bezaubernde Kleinigkeiten aus. In meiner Heimat glaubt man, Einkäufen rette Hausfrauen vor ermüdender Routine und tödlichem Stress. Das gilt aber auch für Detektive, die nächtliche Alpträume hinter sich haben.
Mit vielen Paketen beladen, kam ich eine halbe Stunde zu früh ins Haus an der Brücke.
»Willst du dein Nest verschönern, du Schrecken der Ordnungshüter?«, fragte Juffin freundlich und besah sich meine Einkäufe. »Weißt du, Max - Bubuta glaubt, wer ihn so heftig angepöbelt hat wie du, müsse dazu berechtigt gewesen sein. Jetzt hat er Respekt vor dir, träumt aber garantiert davon, dich zu erwürgen. Alle Achtung, Junge. Hat dir sein Tobsuchtsanfall eigentlich gefallen?«
»Er hat sich schwer danebenbenommen! Ein höherer Staatsbeamter darf so was nicht tun. Ich werde hier Ordnung schaffen!«, rief ich, machte ein entschlossenes Gesicht und fügte lächelnd hinzu: »Ich wollte ja schon immer die Macht ergreifen!«
»Tolle Idee«, meinte Juffin träumerisch. »Vielleicht gelingt es sogar uns beiden. Aber was hast du, Max? Du siehst nicht gut aus.«
»Das haben Sie so schnell gemerkt?«, fragte ich und sah ihn verwirrt an.
»Natürlich. Hoffentlich hat Bubuta keine Hexe engagiert ... Ach, was rede ich denn da! Im Grunde genommen ist er die Gesetzestreue in Person. Er erlaubt zwar seiner Frau, sich mit Magie zu beschäftigen, hält sich selber aber davon fern. Also - was ist los, Max?«
Ich war froh, alles erzählen zu können. Vielleicht war ich ja deshalb so früh zur Arbeit gekommen.
»Es ist nicht viel passiert, doch ich hab ein kleines Problem. Ich hab schlecht, ja widerlich geträumt - keine besonders grausamen Sachen, aber ich hab es als abscheulich empfunden.«
»Hast du das Haus nach dem Aufwachen überprüft?«
»Ja, es war Schwarze Magie zweiten Grades. Ich vermute, meine Nachbarn haben bloß Kamra gemacht. Aber Sie wissen doch, dass der Zeiger manchmal irrt, Juffin.«
»Stimmt, das hab ich schon bemerkt. Du solltest versuchen, dein Zimmer durch Magie gegen äußere Einflüsse abzuschotten. Der Zeiger darf dann nicht bei Null stehen bleiben, sondern muss deine magische Aktivität vermelden. Theoretisch ist es möglich, andere Einflüsse auszuschalten, aber wer hat schon so viel Kraft? Ich jedenfalls nicht. Ich bin nicht der größte Zauberer der Welt, allerdings auch nicht der schwächste. Aber egal - du hast also etwas Abscheuliches gespürt?«
»Mehr als das. Mein Herz hat mir zugeflüstert, ich solle auf der Hut sein.«
»Na schön, Max. Auf dem Nachhauseweg schau ich bei dir vorbei. Es ist ein wenig zu früh, etwas zu unternehmen. Ich habe sogar meinem Tagesantlitz die Erlaubnis gegeben, eine Woche auf dem elterlichen Landgut zu bleiben. Und Sir Lonely-Lokley hat Urlaub genommen, um nach Hause zu fahren, was seit Jahrzehnten nicht passiert ist. Gehen wir also ins Fressfass und trinken wir einen Krug Kamra. Und du passt gut auf alles auf, Kurusch! Später bringt Max dir ein kleines Geschenk mit, und ihr könnt ein wenig durchs große Archiv spazieren. Bis dann! Mein Herz sagt mir, dass diese Nacht noch ruhiger wird als die letzte, falls das überhaupt möglich ist. Gehen wir, Max.«
»Vergiss dein Mitbringsel nicht«, ermahnte mich Kurusch so gelassen wie Regen.
Im Wirtshaus war Juffin ganz väterliche Fürsorge und ging rasch meine unbedeutenden Probleme durch.
»Weißt du, Max: Egal was passiert ist - du bist keiner, der wegen Verdauungsschwierigkeiten gleich Alpträume bekommt. Und bis jetzt waren deine Träume alles andere als gewöhnlich. Wenn sich das wiederholt, wäre es besser, du bleibst zwei, drei Tage bei mir, bis wir alles geklärt haben.«
»Vielen Dank, Juffin, aber warum sollte ich so rasch wieder zu Ihnen ziehen? Mein Leben lang habe ich von einem eigenen Haus geträumt, wo das Schlafzimmer oben, das Wohnzimmer unten ist, die Treppe quietscht und es keine überflüssigen Möbel gibt. Jetzt habe ich es. Also möchte ich es noch etwas genießen!«
»Gut, du willst also zu Hause schlafen und ein halbes Dutzend Alpträume pro Nacht bearbeiten, ja?«, fragte Juffin streng.
»Das will ich natürlich nicht. Aber vielleicht war das der erste und letzte Alptraum. Jeder kann doch einfach so mal einen haben.«
»Und dein Herz hat auch einfach nur so gestreikt? Einfach so, Max, werden nur kleine Kätzchen geboren.«
Bei dieser Binsenweisheit sprang ich auf. »Hier gibt es also auch Katzen?«
»Wieso denn nicht?«
»Weil ich noch keine gesehen habe.«
»Wie solltest du auch! Schließlich bist du noch nie aus der Stadt gekommen. Katzen hält man doch nicht im Haus. Kühe und Schafe übrigens auch nicht.«
»Merkwürdig. Habt ihr hier falsche Katzen?«
»Ihr habt falsche Katzen! Unsere Katzen sind die richtigsten des Weltalls!«
Mit diesen fröhlichen Worten trennten wir uns. Sir Juffin spazierte durch die Straße der alten Münzen, und ich fuhr zum Haus an der Brücke, um zu faulenzen. Kurusch bekam von mir eine Pirogge mit Cremefüllung. Wie meine Kollegen behaupteten, schwärmte der Vogel dafür. Doch schnell war klar, dass er sich den Schnabel nicht allein von der klebrigen Creme säubern konnte, und ich musste das ganze Gebäude auf den Kopf stellen, um eine Serviette zu finden.
Dann ging ich nach oben und unterhielt Sir Lukfi Penz und etwa hundert Buriwuche bis zum Abend mit aus dem dritten Band der Enzyklopädie von Sir Manga Melifaro geplünderten Geschichten über die Leeren Länder. Als es schon richtig dunkel war, wollte Sir Lukfi nach Hause gehen. So erfuhr ich, dass sein Arbeitstag vom Mittag bis zum Einbruch der Dämmerung dauerte. In der übrigen Zeit wollten die Vögel nicht gestört werden. Übrigens betrachteten andere Tiere unseren guten Kurusch als Sonderling. Sie fanden es unmöglich, die ganze Zeit mit Menschen zu verbringen.
Ich lud den sympathischen Sir Lukfi auf eine Tasse Kamra in mein Büro ein. Das stimmte ihn froh und traurig zugleich. Per Stummer Rede wandte er sich an seine Frau und sagte mir dann: »Meine Gattin ist bereit, noch eine Stunde zu warten. Danke für die Einladung, Sir Max! Verzeihen Sie, dass ich nicht gleich zugesagt habe. Aber wir sind noch nicht lange verheiratet und ...«, sagte er und blieb mit seinem Mantel an einer Klinke hängen, so dass ich ihn befreien musste.
»Sie brauchen mir nichts zu erklären«, meinte ich und lächelte herzlich. »Alles in Ordnung, mein Lieber!«
Als wir mein Büro betraten, rief ich den Boten. Der kam sofort angerannt und betrachtete mich devot. Begann hier etwa der Horrorfilm »Max, Fresser der Untergebenen«? Wenn ja: Gut so!
Lukfi schlürfte genüsslich an seinem Becher Kamra und tauchte den Ärmel darin ein. Um keine Zeit zu verlieren, fragte ich ihn gleich nach den Buriwuchen. Kuruschs Standpunkt hatte ich schon gehört - jetzt wollte ich die Meinung der anderen Seite erfahren.
»Die Vögel selbst haben mich zu ihrem Betreuer gewählt«, erzählte Sir Lukfi. »Warum sie das getan haben, mögen die Magister wissen! Jedenfalls ist das schon Jahre her. Ein Bote hat damals bei mir geklopft und mir die Einladung ins Haus an der Brücke überreicht. Die Tiere haben dann gesagt, sie seien mit mir zufrieden. Es hat auch andere Kandidaten gegeben, darunter einen Verwandten der Königlichen Ratgeberin, aber sie wollten mich. Weißt du noch, warum, Kurusch?«
»Ich hab dir das doch schon tausend Mal gesagt: Weil du alle Vögel voneinander unterscheiden kannst.«
»Kurusch, du bist genauso ein Witzbold wie Sir Juffin. Wer könnte euch nicht unterscheiden?«
»Mir würde das bestimmt schwerfallen«, gab ich verblüfft zu.
»Eben. Ich sag ihm das seit mehr als hundert Jahren, und er glaubt mir nicht«, knurrte Kurusch. »Für einen Menschen ist sein Gedächtnis wirklich ziemlich gut.«
»Ich habe wohl tatsächlich ein gutes Gedächtnis«, meinte Lukfi zufrieden. »Aber ich habe mein Leben lang gedacht, andere hätten ein schlechtes Gedächtnis und ich ein normales.«
»Er weiß sogar, wie viele Federn jeder von uns besitzt«, vertraute Kurusch mir an. »Für einen Menschen ist das enorm.«
»Ist das wahr?«, fragte ich erstaunt. »Selbst wenn dies das Einzige ist, was Sie behalten haben, Lukfi, bin ich im Vergleich zu Ihnen ein Schwachkopf. Und alle anderen auch.«
»Was reden Sie denn da, Sir Max«, erwiderte der erstaunliche Mann ernst. »Sie sind kein Schwachkopf, sondern nur unaufmerksam - wie die überwältigende Mehrheit.«
Sündige Magister! Warum war er so bescheiden, bloß von Unaufmerksamkeit zu sprechen?
Lukfi verabschiedete sich und ließ mich mit Kurusch, der gleich einschlief, allein. Sofort machte ich mich an die Arbeit: Auf Juffins Tisch fand ich viele aktuelle und alte Zeitungen. Als Neuling in Echo begeisterte mich jedes Journal wie ein Fantasy-Roman, den man allerdings jederzeit beiseitelegen konnte, um durch eine scheinbar fiktive Realität zu spazieren.
Sir Kofa Joch trudelte vor Tageseinbruch ein und brummte, es gebe nichts Neues, und mit Neuigkeiten sei auch nicht zu rechnen. Er habe lediglich von vier Wohnungseinbrüchen gehört, aber damit müsse sich unsere tapfere Polizei herumschlagen. Er jedenfalls gehe jetzt schlafen, und von ihm aus könnten sich alle zum Teufel scheren. Ich seufzte mitfühlend und las weiter in einem gut ein Jahr alten Trubel von Echo.
Sir Juffin erschien recht früh, orderte Kamra und betrachtete mich nachdenklich. »Bisher gibt es keine Neuigkeiten, Max, jedenfalls keine echten. Aber ich habe eine Idee: Eigentlich steht mein Haus für dich immer offen, doch du hast recht - es ist besser, wenn du noch ein oder zwei Nächte bei dir bleibst. Solltest du keine Alpträume bekommen, ist alles prima. Wenn aber doch, tja ... So unangenehm es für dich auch ist: Die ganze Geschichte sollte sich weiterentwickeln. Vielleicht erfahren wir auf diese Weise etwas Interessantes.«
»Woran denken Sie? Worauf muss ich mich gefasst machen?«
»Soll ich ehrlich sein? Auf das Schlimmste! Dein Haus gefällt mir gar nicht, aber ich weiß nicht, warum. Ich kann mich auch an keinen ähnlichen Fall erinnern. Vielleicht ist ja alles nur aus Langeweile entstanden, aber das glaub ich eigentlich nicht. Wir werden es herausfinden. Ich erkundige mich gleich bei Sir Lukfi nach dem Hausbesitzer und den Nachbarn. Jetzt nimm das hier«, sagte er und gab mir ein nicht gerade hübsches Armband. »Streif das über. Es ist die Garantie, dass du aufwachst.«
»Kann es wirklich so gefährlich werden?«
»Leider ja. Das Leben ist voller Gefahren, und am schlimmsten sind die Dinge, die wir nicht begreifen. Oder die es nicht gibt. Na schön. Wenn du aufwachst, sag mir Bescheid.«
Verantwortung zu tragen, erleichtert das Einschlafen nicht gerade. Ich wälzte mich herum und nahm schließlich die Enzyklopädie von Manga Melifaro zur Hand, um mir ihre hübschen Zeichnungen anzuschauen. Die hiesigen Katzen interessierten mich besonders, und ich hoffte, Darstellungen von ihnen zu finden. Das dauerte zwar lange, doch endlich glückte es mir. Auf den ersten Blick wirkten die wunderschönen Geschöpfe wie normale Katzen - nur dass sie auffällig groß waren, länger als einen Meter bei etwa vierzig Zentimetern Höhe. Das konnte ich berechnen, weil auf einer Zeichnung neben den Katzen ein Mann im gestrickten Lochimantel zu sehen war. Laut Bildunterschrift war er ein Hirte. Ich erfuhr auch, dass die Bewohner von Landland Katzen wegen ihres warmen Fells besonders gern züchten. Wie Schafe! Das erschütterte und begeisterte mich zugleich. Sollte ich mir auch ein Kätzchen anschaffen? Für hauptstädtische Snobs sind das Nutztiere, die man in Massen hält. Aber ich - ein Barbar von der Grenze zu den Leeren Ländern - konnte mir so eine Extravaganz leisten.
Über der Vorstellung, erster Katzenbesitzer von Echo zu werden, schlief ich ein. Vielleicht wäre es besser für mich gewesen, länger wach zu liegen, denn aus dem ersehnten Schlaf trat mir rasch ein unangenehmer Traum entgegen, in dem ich erneut hilflos und erstarrt auf dem Tisch im Wohnzimmer lag.
Diesmal war es noch schlimmer: Ich hatte alles Wissen über mich verloren. Wer ich war, woher ich kam, wo ich mich befand, was ich gemacht und mit welchen Mädchen ich mich getroffen hatte, wie meine Freunde hießen und wo ich die Kindheit verbracht hatte - auf all diese Fragen hatte ich keine Antwort. Mein Wissen über die Welt beschränkte sich auf mein Schlafzimmer, den Blick auf die dreieckigen Fenster des Nachbarhauses ... und meine Angst. Tatsächlich: Auf der ganzen Welt kannte ich nur diesen Ort. Und ich spürte Unheil.
Im Haus gegenüber öffnete sich ein Fenster, und ich fühlte mich beobachtet. Dann tauchte eine Hand auf, und ein Schwung Sand kam aus der Dunkelheit, fiel aber nicht auf den Gehsteig, sondern schwebte in der Luft wie eine goldene Wolke. Dann ein zweiter Schwung, ein dritter. Schon führte ein kurzer Pfad durch die Luft. Ich war überzeugt zu wissen, wohin. »Die ganze Geschichte sollte sich weiterentwickeln«, dachte ich. »Also gut, dann soll sie weitergehen ... Aber das ist ja gar nicht mein Gedanke - das sind doch Juffins Worte!«
Als ich mich an das Gespräch mit meinem Chef erinnerte, wusste ich wieder, wer ich bin, und war erleichtert. Zwar hatte ich noch immer Angst, doch sie hatte ihre lähmende Ausschließlichkeit verloren. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich träumte - und zwar keinen normalen Traum, sondern den eines Menschen, der seinen Alptraum beobachtet. Und ich wusste, dass ich aufwachen musste. Doch das klappte nicht.
»Ich Dummkopf hab vergessen, das Armband anzulegen«, überlegte ich panisch, wachte dann aber - den Magistern sei Dank! - doch noch auf und ... merkte, dass ich tatsächlich auf dem Tisch im Wohnzimmer geschlafen hatte, statt mit der Enzyklopädie der Welt im Bett zu liegen. War ich etwa in einen Horrorfilm zweiter Klasse geraten?
Mit schlotternden Knien ging ich ins Schlafzimmer hinauf. Vor allem fürchtete ich, im Bett einen zweiten Max zu entdecken. Denn wer könnte entscheiden, welcher der Richtige war?
Doch oben lag niemand. Mit zitternden Händen nahm ich die Flasche Kachar-Balsam, die ich vorsorglich ans Kopfende des Betts gelegt hatte, und trank einen Schluck und noch einen. Nun fühlte ich mich schon besser, sprang unter die Bettdecke und nahm mir fest vor, nicht einzuschlafen. Dann sagte ich Juffin per Stummer Rede Bescheid.
»Ich bin eingeschlafen - die Sache sieht schlecht aus.«
»Na, wenn du eingeschlafen bist, ist alles halb so schlimm. Komm ins Fressfass, ich spendiere dir ein Frühstück. Auch ich habe Neuigkeiten für dich.«
»In einer Stunde bin ich da! Ende!«
»Was meinst du mit >Ende«, fragte Juffin irritiert.
»Ende der Verbindung, was sonst?«
»Na dann, Ende!«, meinte er amüsiert.
Das Fressfass war wirklich ein magischer Ort. Jeder fühlte sich dort wohl, und es gelang mir sogar, die Ereignisse der Nacht recht humorvoll zu erzählen.
»Du hast also wieder auf dem Tisch geschlafen? Dann ist die Sache ernster als vermutet. Ich fürchte, du musst doch ein paar Tage bei mir bleiben, und ich übernachte derweil in deinem Haus. Vielleicht bekomme ich ja auch Alpträume.«
»Ich hab eine andere Idee: Ich bleibe, und Sie setzen sich neben mich und halten mir wie ein Kindermädchen die Hand. <<
»So was hatte ich mir auch schon überlegt, aber ...«
»Was für ein Aber denn, Juffin? Ich hab das doch jetzt schon zwei Nächte lang erlebt! Die Sache entwickelt sich! Wenn Sie jetzt aber statt meiner bei mir übernachten, werden Sie bestimmt in den nächsten beiden Nächten die Szenen sehen, die ich gestern und vorgestern gesehen habe. Auf diese Weise verlieren wir mindestens zwei Tage.«
»Wahrscheinlich. Aber mir gefällt nicht, dass dieses Geschöpf sich deiner so leicht bemächtigen kann. Ich fürchte, du bist im Schlaf noch zu schwach.«
»So kann man das nicht sagen! Ich habe mir immer wieder ins Bewusstsein gerufen, dass es sich bei dem, was ich erlebt habe, nur um einen Traum gehandelt hat. Und ich bin sogar aufgewacht, obwohl ich das Armband vergessen hatte.«
»Das hättest du auf keinen Fall vergessen dürfen, Max! Auf gar keinen Fall! Schließlich handelt es sich - unter uns gesagt - um das Armband des Großen Magisters vom Orden des Geheimen Krauts.«
»Ernähren Sie sich nicht zufällig von den Mitgliedern dieses Ordens?«
Juffin kicherte kurz, wurde dann aber ernst.
»Du hast mit dem Kachar-Balsam wohl etwas übertrieben? Deine Lebensfreude macht mir Angst.«
»Mir auch. Sind Sie einverstanden, mein Händchen zu halten?«
»Versuchen kann ich es. Doch ich vermute, die Anwesenheit eines Wachenden beeinflusst die Entwicklung.«
»Wenigstens kann ich mich dann endlich erholen. Und was passiert, wenn wir beide einschlafen?«
Plötzlich hatte Juffin eine Idee. »Vielleicht sollte ich dein Händchen doch nicht halten, sondern dich besser von meinem Büro aus beobachten. Ja, so machen wir's. Aber zuerst übernachte ich bei dir. Sicher ist sicher.«
»Mein Haus steht zu Ihrer Verfügung. Aber ich habe nur drei Bäder - schreckt Sie das nicht ab?«
»Was tut man nicht alles für die Sicherheit des Vereinigten Königreichs! Und für die eigene. Ich wusste doch, dass ich dir hätte verbieten sollen, dieses Loch zu mieten.«
»Nicht so schlimm. Wenn ich erst erwachsen bin und gelernt habe, Schmiergelder zu nehmen, baue ich mir einen Palast am Linken Flussufer. Haben Sie vielleicht irgendwelche Neuigkeiten? Sie wollten doch die Buriwuche nach den ehemaligen Bewohnern meines Nachbarhauses fragen.«
»Das hat mich einen halben Tag gekostet. Dafür habe ich jetzt wirklich spannende Nachrichten. Schade, dass ich mich mit der ganzen Sache nicht schon vor ein paar Jahren beschäftigt habe. Aber ohne deine Träume wäre ich nie auf die Idee gekommen, einige Umstände miteinander zu verbinden, die für sich betrachtet ganz unauffällig sind. Und jetzt ab ins Büro, damit die Buriwuche dir ihre Neuigkeiten zwitschern können.«
»Lukfi, ich möchte noch mal die Informationen hören, die wir im Laufe des Tages zusammengetragen haben.«
»Alles klar, Sir Juffin. Guten Tag, Sir Max. Sie sind heute aber früh dran. Dabei ist es in letzter Zeit doch so ruhig!«
Ich zuckte die Achseln. Tatsächlich war nicht viel passiert, nur ein paar Wohnungseinbrüche. Und im neuen Haus schlief ich schlecht. Das war's schon.
Lukfi ging zu einem Buriwuch.
»Tatun, erzähl uns doch bitte noch mal von den Bewohnern der Straße der alten Münzen.«
Der Vogel schien die Achseln darüber zu zucken, dass jemand so olle Kamellen hören wollte, begann dann aber zu erzählen, denn das war sein Beruf.
»Auskunft über Immobilienbesitz, erstattet am 208. Tag des Jahres 115. Objekt: Straße der alten Münzen, Hausnummer 1. Eigentümerin: Charista Aag. Bis jetzt durch nichts verdächtig und von niemandem verdächtigt. Lebt außerhalb der Stadt. Im Jahre 109 wurde das Haus an die Familie Poedr vermietet, die den Mietzins für sechsunddreißig Jahre im Voraus entrichtete. Herr Poedr verlor seinen Funken und starb im Jahre 112. Seine Frau Pita Poedr und ihre Tochter Zita leben noch immer dort. Die Tochter ist seit der Kindheit krank, nimmt aber keine Hilfeleistungen in Anspruch und verlässt das Haus nicht. Mutter und Tochter leben allein, bekommen keinen Besuch und sind völlig unauffällig.
Hausnummer 2. Eigentümer: Kunk Stifan. Er bewohnt das Haus mit seinen beiden minderjährigen Söhnen. Seine Frau Trita Stifan starb im Jahre 107. Im Jahre 110 wurde Kunk des Mordes an dem Dienstmädchen Pama Lorras verdächtigt. Er wurde aber freigesprochen und erhielt Schadenersatz, weil ein Heiler nachwies, das Dienstmädchen sei infolge eines Herzfehlers im Schlaf gestorben. Kunk beschäftigt einen Diener, der allerdings nicht bei ihm wohnt, und hat für seine Söhne vier Lehrer engagiert. Keiner seiner Hausangestellten hat es lange bei ihm ausgehalten. Anfang des Jahres hat er seinen Posten in der Finanzverwaltung krankheitsbedingt aufgeben müssen und lebt nun in Rente.
Hausnummer 3. Eigentümer: Rogro Zill, Chefredakteur von Königliche Stimme und Mitinhaber des Trubel von Echo. Seine Akten sind an entsprechender Stelle aufbewahrt. Er wohnt in der Neustadt, in der Straße der Ingwerträume. Das Haus in der Straße der alten Münzen wurde weder verkauft noch vermietet, weil der Besitzer keine weiteren Einnahmen benötigt.«
»Seine Akten sind ein Gedicht«, flüsterte Juffin mir zu. »Aber im Moment interessieren sie uns nicht. Du solltest sie dir aber bei Gelegenheit mal anschauen - sehr empfehlenswert!«
Auch Tatuns Ausführungen zum vierten, fünften und sechsten Haus waren sehr ähnlich. Die Bewohner der Straße der alten Münzen schienen die unglücklichsten Menschen von Echo zu sein, denn sie waren krank, hatten oft all ihre Verwandten verloren und würden ganz allein sterben müssen. Verbrechen, Selbstmorde oder mysteriöse Vorfälle gab es hingegen keine. Wie konnte es aber sein, dass in dieser Straße so viele kranke und einsame Menschen wohnten? Zumal in Echo, wo die Heiler selbst Tote auf erstehen lassen können?
»Hausnummer 7«, fuhr der Buriwuch fort.
»Pass auf, Max, das ist das Haus deines Nachbarn!«, rief Juffin und stieß mich in die Seite.
»Hausnummer 7«, wiederholte der Vogel geduldig. »Eigentümer: Tolakan En, verheiratet mit Feni En, keine Kinder. Tolakan En hat das Haus im Jahre 54 von seinem Vater geerbt, dem General En, der zugleich Hoflieferant war. Das Gesamterbe ist viele Millionen Kronen wert.«
Ich pfiff leise, denn Sir Tolakan war fantastisch reich. Von einer Krone ließ sich eine Woche lang leben, wenn man keinen teuren Nippes kaufte.
»Tolakan En ist durch nichts verdächtig und wird von niemandem verdächtigt«, fuhr der Vogel fort. »Er lebt sehr zurückgezogen. Wie zu dem Journalisten in Hausnummer 3 findet sich auch zu ihm ein Dossier an entsprechender Stelle.«
»Interessant, oder? Der reiche Tolakan wohnt seit sechzig Jahren in dieser bescheidenen Gegend. Und noch wichtiger: Er und seine Gattin sind das einzige gesunde Paar in der ganzen Straße. In ihrem Haus gibt es weder Behinderte noch Tote zu beklagen.«
»Hausnummer 8«, fuhr der Buriwuch monoton fort. »Eigentümerin: Gina Ursil. Keiner Untat verdächtigt. Die Voreigentümerin, ihre Mutter Lea Ursil, verlor ihren Funken und starb im Jahre 87. Seither steht das Haus leer. Die Eigentümerin lebt auf ihrem Gut in Uriuland.«
»Ich vermute, jetzt hast du das Wesentliche mitbekommen«, seufzte Juffin. »So geht das immer weiter. Leere Häuser, kranke Witwen, sieche Witwer, schwächliche Kinder. Und dazu dein Haus, in dem - wie wir wissen - nicht alles so läuft, wie es wünschenswert wäre. Danke, Tatun. Ich glaube, das reicht für heute. Wenn wir noch etwas wissen wollen, wenden wir uns an Kurusch.«
»Und das Wirtshaus?«, fragte ich. »Das Gesättigte Skelett? Dort hab ich gestern gefrühstückt. Da ist doch hoffentlich alles in Ordnung?«
»Das ist der Lichtblick in dieser merkwürdigen Straße. Aber bedenke, Max: Dort arbeiten und essen zwar Leute, aber schlafen tun sie dort nicht! Auch der Wirt Goppa Talabun wohnt in einem anderen Wirtshaus, über seinem Betrunkenen Skelett nämlich. Er besitzt ja mindestens zwölf Spelunken. Und jede trägt ein Skelett im Namen. Goppa findet das lustig. Seine Kundschaft wahrscheinlich auch.«
Juffin bedankte sich bei Lukfi und Buriwuch, und wir gingen in sein Büro. Kurusch schlief wie immer auf der Lehne seines Stuhls.
»Aufwachen«, murmelte Juffin und strich ihm gönnerhaft über die Federn. »Wir müssen noch ein bisschen arbeiten.«
Kurusch öffnete seine runden Augen und versetzte gelassen: »Aber erst die Nüsse.«
Während unser kluger Vogel mit Nussknacken beschäftigt war, tranken wir eine Tasse Kamra und aßen einen Happen.
»Jetzt bin ich so weit«, erklärte Kurusch schließlich.
»Fein - dann bist du also bereit, in deinem Gedächtnis zu graben, mein Guter. Uns interessiert alles, was mit dem siebten Haus in der Straße der alten Münzen zusammenhängt. Konzentrier dich und leg los! Sir Max sammelt alle Gerüchte über seine Nachbarn - gib dir also richtig Mühe!«
Kurusch schmollte ein wenig und schwieg. Ich hatte den Eindruck, er summte wie ein Computer leise vor sich hin. Nach ein paar Minuten gab er sich einen Ruck und begann:
»Das siebte Haus in der Straße der alten Münzen ist eins der ältesten von Echo. Es wurde 1140 von einem Schmiedemeister namens Stremmi Bro erbaut, von seinem Sohn Kardu Bro übernommen und schließlich von dessen Sohn Vamire Bro bewohnt. Im Jahre 2154 der Epoche der Orden verkaufte Vamire Bro sein Haus an die Familie Gjusot. Mener Gjusot, bekannt als Großer Magister des Ordens der Grünen Monde, wurde im Jahre 2346 in diesem Haus geboren, bekam es zu seinem hundertsten Geburtstag geschenkt und lebte dort von aller Welt zurückgezogen. Bekanntlich gründete Mener Gjusot im Jahre 2504 den Orden der Grünen Monde offiziell. Bis dahin war die Macht des Ordens nicht bewiesen, und die Treffen der Mitglieder fanden in der Wohnung des Großen Magisters statt. Als man im Jahre 2675 die große Residenz des Ordens erbaute, war das siebte Haus in der Straße der alten Münzen dennoch nicht leer: Der Große Magister beschäftigte sich dort mit -besonders wichtigen Dingen«, wie er zu sagen pflegte.
In der Traurigen Zeit gehörten die Mitglieder des Ordens der Grünen Monde zu den Ersten, die mit Feuer und Schwert verfolgt wurden, weil ihr Orden zu den wichtigsten Konkurrenten des Siebenzackigen Blattes gehörte. Die Mehrzahl der Novizen, Agenten und Magister des Ordens wurde getötet. Der Große Magister Mener Gjusot nahm sich am 333. Tag des Jahres 3183 in der Residenz seines Ordens das Leben - fünf Jahre, bevor die Epoche des Gesetzbuchs begann. Bekanntlich haben nur zwölf in die Geheimnisse des Ordens eingeweihte Magister überlebt. Sie alle haben - nach Informationen des Ordens des Siebenzackigen Blattes - das Vereinigte Königreich verlassen. Berichte über die Tätigkeiten eines jeden dieser zwölf Magister befinden sich im Archiv und werden im Laufe der Ermittlungen bearbeitet. Das Eigentum des friedlichen Mener Gjusot - also auch sein Haus in der Straße der alten Münzen - wurde vom König beschlagnahmt. Auf seinen Befehl hin wurde das Haus im achten Jahr der Epoche des Gesetzbuchs an General En verkauft, den Hoflieferanten des Königs. Zwei Jahre später starb General En, und das Haus ging in den Besitz von Sir Tolakan En über, dem Hauptberater der Verpflegungskanzlei und einzigen Sohn des Verstorbenen. Die Immobilie stand leer, bis Familie En im Jahre 54 der Epoche des Gesetzbuchs vom Land in die Stadt zog. Ein Jahr darauf beendete Sir Tolakan En seinen Dienst in der Kanzlei, lebt seither ganz zurückgezogen und lässt nicht einmal seine Diener bei sich wohnen. Sein Verhalten wird allgemein mit extremem Geiz erklärt, der bei reichen Leuten ja häufig ist ... Gib mir noch Nüsse!«
Kaum hatte Kurusch diese Forderung ausgesprochen, verfiel er in Schweigen.
»Eine gute Geschichte, Max«, lächelte Juffin zufrieden und fischte aus den zahlreichen Schubladen seines Schreibtischs ein paar Nüsse hervor. »Der Vater kauft ein Haus und stirbt bald darauf. Alles läuft gut, solange das Haus leersteht. Im Jahre 54 wird es von seinem Nachfolger bezogen. Nicht einmal ein Jahr später hat sich der neue Hausherr schon in einen anderen Mensehen verwandelt. Ohne äußeren Anlass verzichtet er auf Hausangestellte und wird zu einem der unauffälligsten Bewohner von Echo. Lady Fern - seine Frau und die wichtigste Salonlöwin der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts - hat keine Erklärung für Tolakans merkwürdiges Verhalten - genauso wenig wie seine engsten Freunde. Da kann man nichts machen: Das Leben eines jeden - und sei er auch der reichste Mensch der Hauptstadt - ist seine Privatsache. Die Leute staunen erst über Tolakans Lebenswandel und vergessen ihn dann. Das Leben geht weiter.«
»Hat er sich wirklich niemandem gezeigt?«
»Jein. Ab und an hat man schon irgendwo eine Nasenspitze zu sehen bekommen. Aber nur die Nasenspitze von Lady Feni. Sie verlässt das Haus nur alle zwölf Tage und ist noch immer so distanziert wie damals, als ihre Schönheit eine der Hauptsensationen am Königshof war. Aber die beiden bekommen keinen Besuch. Lady Feni geht einkaufen und packt ihre Taschen jedes Mal so voll mit Nahrungsmitteln, dass die beiden sie niemals aufbrauchen können. Es scheint, als hätte sie eine neue Aufgabe gefunden - die nämlich, in kürzester Zeit die größte Sammlung diversester Nahrungsmittel zusammenzutragen. Im Übrigen ist so etwas für eine derart reiche Frau in ihrer Position völlig normal.«
»Da haben Sie ja viel erfahren, Juffin!«
»Ach, Max - ich fürchte, das ist viel zu wenig. Aber mehr konnte ich in der kurzen Zeit nicht ausfindig machen. Na schön - sei froh, dass du dich damit nicht hast quälen müssen. Sammle deine Kräfte und genieße das Leben. Ich gehe derweil nach Hause und versuche, in meinem Mauseloch ein wenig Schlaf zu finden. Ich dachte schon, die Zeit meiner asketischen Heldentaten sei für immer vorbei.«
Sir Juffin verschwand, und ich blieb allein im Haus an der Brücke zurück. Die ganze Nacht versuchte ich, seinem Befehl zu entsprechen, mich zu erholen und das Leben zu genießen. Das fiel mir nicht leicht, doch ich tat, was ich konnte.
Wie üblich begann der nächste Tag mit einem Treffen mit Sir Kofa. Er wirkte ein wenig zerstreut. Übrigens stand ihm dieser Gesichtsausdruck besser als seine übliche Grimasse stockfinsterer Langeweile.
»Die Diebstähle greifen immer mehr um sich«, teilte er mir mit. »Weißt du, allmählich gefällt mir das nicht mehr. Darum spitze ich die Ohren. Alles deutet darauf hin, dass es immer die gleichen Leute sind, die sie begehen. Aber wie schafft es diese flinke Truppe, zugleich in weit voneinander entfernten Häusern in Echo zuzuschlagen? Und wenn es verschiedene Leute sind - welches Genie schafft es dann, sie so perfekt zu koordinieren? Und vor allem: wofür? Damit General Bubuta endlich erfährt, dass in dieser Stadt nur eine Mannschaft wirklich regiert? Na schön, mein Junge, sag Juffin, er soll sich mit mir treffen, wenn ihm langweilig wird. Die ganze Sache ist natürlich ziemlich dumm und für unsere Behörde alles andere als geeignet, doch in der Nacht erscheint sogar eine dünne Frau als Bettdecke!«
»In der Not frisst der Teufel Fliegen«, antwortete ich automatisch. »Ich werde das weiterleiten, Sir Kofa, aber ich fürchte, heute langweilt sich Sir Juffin sicher nicht. Ich hab ihm eine nette kleine Arbeit zugeschustert ...«
»Na, sollen sich doch die Vampire um diese Diebstähle kümmern! Ich warte lieber auf bessere Zeiten. Bleib gesund, Max. Ich will auf dem Heimweg noch ein paar Besuche machen und verabschiede mich deshalb jetzt.«
Ich langweilte mich noch eine halbe Stunde und bekam dann per Stummer Rede eine Nachricht von Sir Juffin: »Bei mir ist alles in Ordnung. Allerdings denke ich lieber nicht daran, dass ich mich demnächst in deinem Bad waschen muss. Wenn ich komme, gehen wir ins Fressfass frühstücken.«
Genüsslich träumte ich von einem herrlichen Menü, und mein Arbeitszimmer schien bis zur Ankunft von Sir Juffin alle Attribute eines guten Restaurants zu besitzen: ein prachtvolles Büfett, verlockende Düfte und einen einsamen Feinschmecker, dem der Hunger ins Gesicht geschrieben stand.
Schließlich kam der Ehrwürdige Leiter, und wir gingen ins Fressfass.
»Ich habe die Ehre zu berichten«, begann Juffin dort und verzog dabei den Mund, als wäre er ein Rekrut, der zum ersten Mal selbständig eine Aufgabe bewältigen sollte, »dass die Ergebnisse meiner Ermittlungen Folgendes zeigen: Erstens wohnt im Nachbarhaus tatsächlich etwas, und zweitens hat es Angst vor mir. Vielleicht findet es mich aber auch nur eklig oder unappetitlich. Oder es handelt sich um einen Abonnenten des Trubel von Echo, der mich respektiert und deshalb Distanz hält. Wie auch immer - ich bin unangetastet geblieben. Vielleicht ist aber alles noch komischer gelaufen. Zuerst habe ich geträumt, auf deinem schrecklichen Esstisch zu liegen, doch nach kaum einer Sekunde war alles verschwunden. Ich war frei wie ein Vogel und konnte schlafen, wo ich wollte. Daraufhin bin ich zudringlich geworden und habe versucht, mich unserem geheimnisvollen Freund zu nähern. Sein Haus war aber so gut geschützt, dass ich dort nur das tief schlafende Ehepaar entdecken konnte. Ich habe aber dennoch etwas Neues erfahren!«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, dass die magischen Phänomene im Nachbarhaus kein Menschenwerk sind. Es kann allerdings sein, dass jemand die Kräfte, die nun im Haus spuken, zum Leben erweckt hat. Ich habe übrigens den Verdacht, dass die Vergangenheit den Namen dieses Jemands schützt. Wer von den ehemaligen Bewohnern - vom Großen Magister des Ordens der Grünen Monde abgesehen - hätte Gefallen an solchen Spielchen finden können? Eins jedenfalls bleibt Tatsache: Eine fremde Kraft versucht, sich bei dir einzunisten. Ich habe den Eindruck, sie will dich ins Exotische ziehen.«
»Ins Exotische? Ich bin doch schon exotisch genug. Was will diese Kraft bloß von mir?«, murmelte ich.
»Na was wohl? Happi, happi!«, lächelte Juffin und fuhr sich gierig grinsend mit der Zunge über die Lippen. »Jedenfalls führt sie nichts Gutes im Schilde. Warum sollten die Leute in der Nachbarschaft sonst sterben wie die Fliegen? Na schön - was wissen wir noch über unseren Gegner? Nach der Analyse der heutigen Nacht kann man sagen, dass er vorsichtig und selektiv arbeitet. Diese Kraft will sich also nicht mit einem ebenbürtigen Gegner wie mir einlassen. Außerdem hat sich gezeigt, dass sich unser kleiner Freund auch irren kann, denn heute ist er zunächst in meinen Traum eingedrungen, dann aber schnell geflohen. Das freut mich, denn ich habe nur ungern mit einem perfekt funktionierenden Gegner zu tun! Schwierig. Na gut, Max, unsere Informationen sind eindeutig unzureichend. Also wirst du dich demnächst noch ein, zwei Nächte mit Alpträumen quälen müssen. Ich werde mich in mein Arbeitszimmer zurückziehen und deine nächtlichen Abenteuer genau beobachten. Komm nur nicht auf den Gedanken, heute ohne dein Amulett, das ich dir so mühsam besorgt habe, aus dem Haus zu gehen!«
»Meinen Sie diese Blechkette?«
»Ich meine das Armband des Großen Magisters vom Orden des Geheimen Krauts. Dein Leichtsinn wird mich noch ins Grab bringen! Ohne diese >Blechkette< kann dir keiner garantieren, dass du aus deinen Alpträumen je wieder erwachst. Würde dir das gefallen?«
»Nicht besonders. Ich werde das Armband schon nicht vergessen, Juffin. Seltsam, dass ich es gestern habe vergessen können. Vielleicht ist das unbekannte Ungeheuer, das irgendwo im Hinterhalt liegt, ja der Grund meiner Zerstreutheit.«
»Möglich. Umso schlimmer, Max, umso schlimmer.«
»Denken Sie bitte, wenn Sie über meine nächtlichen Träume wachen, an alle vorbeugenden Sicherheitsmaßnahmen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder werde ich immer zerstreuter, oder dieses Geschöpf verwandelt mich in einen Idioten.«
»Du hast recht. Alles ist möglich. In einem solchen Fall schadet es nie, Sorgfalt anzumahnen. Du isst ja ungemein wenig, merke ich gerade. Verdirbt dir dieser Quatsch etwa den Appetit? Probleme kommen und gehen, dein Bauch aber bleibt dir erhalten. Die Bedürfnisse deines Magens sind wichtiger als alles andere.«
»Ich gelobe Besserung, Sir.«
Und tatsächlich besserte ich mich, aß den Teller leer und nahm mir Nachschlag. Sir Juffin betrachtete mich mit dem Lächeln einer liebenden Großmutter.
Alles war toll, doch irgendwann musste ich nach Hause, um die neue Folge der Horrorserie Nightmare on Elm Street zu sehen, in der der arme Max die Hauptrolle spielte. Angst verspürte ich nicht. Eigentlich erfüllte mich eher absurder Heldenmut. Also beschloss ich, nicht bei Juffin zu übernachten, um so die Klärung des Falls voranzutreiben. An sich war es nur meine Dickköpfigkeit, die mich so handeln ließ.
Trotz der widrigen Umstände war es schön, wieder zu Hause zu sein. Die Sonne schimmerte durch zartbitterschokoladenbraune Vorhänge, die ich gekauft hatte, um das grelle Tageslicht ins warme Halbdunkel einer Unterwassergrotte zu verwandeln. In erster Linie dienten sie dazu, mich vor dem ekelhaften Anblick des Nachbarhauses zu bewahren. Dies war schon kurz nach meinem Einzug Leitlinie beim Einrichten der Wohnung geworden.
Juffins Anwesenheit hatte einige Spuren hinterlassen: Im Wohnzimmer standen eine schmutzige Tasse und ein Krug Kamra, und im Schlafzimmer waren Kissen und Decken in entgegengesetzte Ecken der riesigen Matratze gewandert. Außerdem hatte Juffin die Bibliothek am Kopfende meines Bettes zensiert und Bücher, die ihm nicht genehm waren, im Zimmer verstreut. Ein seltsamer Gedankensprung ließ mich bei diesem Anblick feststellen, ich brauchte dringend eine Katze, und ich nahm mir vor, mir eine anzuschaffen, wenn dieses Abenteuer überstanden wäre.
»He, Max«, schreckte mich Juffin per Stummer Rede aus meinen Gedanken. »Vergiss nicht, dein Armband anzulegen.«
Ich sprang wie angestochen auf. Sündige Magister! Wer hätte das gedacht: Ich hatte tatsächlich vergessen, meinen Talisman überzustreifen. Dabei war mir eben noch sonnenklar gewesen, wie leichtsinnig das wäre! Ohne zu zögern, schob ich das Armband übers Handgelenk.
»Außerdem hattest du recht, Max. Du konntest auf alles achten, nur nicht auf deine Sicherheit, denn das Amulett war perfekt blockiert - auf sehr interessante Weise übrigens. Schade nur, dass du meine Erklärungen im Moment nicht so richtig verstehen kannst. Wir sind wirklich auf ein außerordentliches Geschöpf gestoßen. Na schön. Überleg doch mal, ob du noch andere Amulette hast. Also Dinge, die du sehr magst. Oder Sachen, mit denen du dich wohl fühlst - wie ein Kind mit seinem Lieblingsspielzeug. Wenn du so was findest, bedeck dich damit von Kopf bis Fuß. Das kann nicht schaden, und wer weiß, wie sehr dir diese weichen Amulette nützen. Und streng dich nicht so an, wenn du mich per Stummer Rede rufst. Ich bin immer für dich da, sehe und höre alles und hab die Lage unter Kontrolle. Du kannst also deine Schwäche zeigen. Wie hast du gestern Abend gesagt? finde? Also Schluss mit unserem Gespräch.«
Ich versank in Gedanken. Amulette? Welche Amulette mochte ich haben? Die Handcremedose aus dem Schlafzimmer von Sir Makluk-Olli vielleicht, meine erste »Beute«! Ich hatte sie aus dem Zimmer gerettet, in dem sie nicht hatte bleiben wollen, und spürte nun wirklich, dass sie Sympathie für mich empfand. Rasch legte ich meine kleine Freundin neben das Kopfkissen.
Und sonst? Wie es schien, besaß ich weiter keinen Talisman. Aber das Kind der Purpurroten Perle, das Geschenk des Königs, konnte eigentlich auch als Amulett gelten. Genau wie der dritte Band der Enzyklopädie der Welt von Sir Manga Melifaro. Ich hatte mich daran gewöhnt, mit diesem Buch einzuschlafen wie ein Kind mit einem Kuscheltier.
Nachdem ich meine bescheidene Barrikade gebaut und mich noch mal vergewissert hatte, das Armband zu tragen, ging ich zu Bett. Kaum hatte ich begonnen, in einem Buch zu blättern, fühlte ich mich hundemüde. Und das, obwohl ich fest überzeugt gewesen war, unser heutiges Experiment müsste aus technischen Gründen ausfallen, also weil ich vor Angst und Anspannung kein Auge würde zutun können. Nun aber fühlte ich mich im Gegenteil so sicher und entspannt, als habe mir jemand Schlafund Beruhigungsmittel verabreicht. Freddy Krueger vom Nachbarhaus gab sich offenbar alle Mühe, dass sein Opfer keinen Widerstand leistete. »Ich muss Juffin einiges fragen«, dachte ich im Halbschlaf. »Aber wozu eigentlich? Es ist sowieso alles klar.«
Diesmal kam mir mein Alptraum nicht so eklig vor. Ich verstand sehr gut, was ich träumte, und wusste, wer ich war, warum ich mich hier befand, worauf ich wartete und so weiter. Juffins Anwesenheit spürte ich zwar nicht, aber ich wusste um seine Gegenwart.
So träumte ich erneut, wie ein herrlich angerichteter Braten auf einem Büfett zu liegen. Meine Vorhänge waren von fremder Hand geöffnet worden, und nichts konnte mich vor dem Anblick des Nachbarhauses schützen. Mein Herz bebte vor Abscheu, als ich merkte, wie eine unsichtbare Hand mir schmerzhafte Muskelspritzen injizierte, doch ich hatte Kraft genug zum Widerstand und wurde erstaunlicherweise sogar wütend.
Natürlich konnte mir der Ärger allein nicht helfen, doch wer mochte wissen, was als Nächstes passieren würde! Auf alle Fälle packte ich diese Wut am Schopf, weil sie keine schlechte Alternative zur Angst war.
Irgendeine böse Kraft erlaubte mir nicht, ruhig in meinem Haus zu schlafen, für das ich doch Miete bezahlt hatte! Irgendein dämonisches Scheusal störte mich beim Ausruhen, und statt klarer Alpträume lagen mir vage Schreckensbilder bedrückend auf der Seele. Doch ich versuchte, mich gegen den Ansturm dämonischer Kräfte zu behaupten, so gut es ging.
»Prima, Max«, drang Juffins Stumme Rede in meinen inneren Kampf. »Du machst das wirklich gut, und es funktioniert! Jetzt versuch, ein wenig erschrocken zu sein. Deine Angst ist das beste Lockmittel. Wenn du keine Angst hast, lässt die seltsame Kraft dich und alles andere womöglich in Ruhe. Doch wir müssen das Geschöpf aus seiner Höhle locken. Tu darum so, als würdest du aufgeben.«
Das war leichter gesagt als getan! In diesem Moment hätte ich lieber alles um mich herum in Trümmer geschlagen. Mein Zorn war so groß, dass ich die widerliche Erstarrung, die mich zum schwächsten Geschöpf des Weltalls hatte werden lassen, beinahe überwunden hätte.
Eines aber war gut: Schon der Wunsch, erschrocken zu sein, führte dazu, dass alle Gespenster aus den weiten Regionen des Alptraums sich diensteifrig um mich versammelten. Ich brauchte mich bloß auf das dunkle Fensterdreieck des Nachbarhauses und den schmalen Sandpfad zu konzentrieren, der von dort seinen Ausgang nahm, und schon verwandelte sich mein Zorn in fast panische Angst. Um des Experiments, aber auch um meines psychischen Wohlergehens willen versuchte ich, wieder zornig zu werden. Und es klappte erneut! Die Möglichkeit, meine Stimmung im Handumdrehen zu wechseln, half mir sehr, denn so musste ich mich nicht auf einen der beiden üblen Zustände festlegen, konnte also ständig zwischen Angst und Zorn lavieren. Welch verführerische Alternative!
Letztendlich schaffte ich es, ein labiles Gleichgewicht zu erreichen: Ich hatte zwar Angst, doch sie ergriff mich nicht vollständig; ich war zwar zornig, vergaß dabei aber nicht meine Hilflosigkeit.
Dann kam wieder eine Hand voll Sand aus der Dunkelheit. Und wieder. Und wieder. Der schmale Pfad zwischen unseren Fenstern war jetzt viel länger als zuvor, und eine Ewigkeit schien vergangen. Dann protestierte mein Herz. Damit war ich völlig einverstanden. Zwar hätte ich weiterschlafen können, doch ich wollte nicht bis zum nächsten Tag warten, denn dann würden die Alpträume von neuem beginnen. Juffin wollte unbedingt einen Blick auf das Wirken des merkwürdigen Geschöpfs werfen. Ich beschloss, ihm dieses Vergnügen zu ermöglichen. Ich würde leiden, so viel ich konnte, und sogar ein wenig mehr. Wie bei einem Zahnarztbesuch.
Als sich der Sandpfad langsam durchs offene Fenster meinem Tisch näherte, auf dem sich ein hilfloser Haufen Angst und Ärger namens Max befand, spürte ich Erleichterung. Die Lösung des Rätsels rückte heran. Und wirklich: Am Fenster gegenüber erschien eine dunkle Silhouette, betrat den Sandpfad und näherte sich Schritt für Schritt. Es handelte sich um einen Mann mittleren Alters mit unauffälligen Gesichtszügen und leer glänzendem Blick.
Plötzlich begriff ich, dass ich keine Kontrolle mehr über die Situation hatte. Und zwar nicht, weil alles so schnell unheimlich geworden oder das Geschöpf kein Mensch gewesen wäre - beides hätte ich verkraften können. Doch zwischen uns gab es eine Verbindung, und das war schlimmer als all meine Ängste und Seelenqualen. Plötzlich merkte ich, dass eine Substanz aus meinem Körper floss. Es war kein Blut, sondern etwas Unsichtbares, doch mir war klar: Ein Weiterleben ohne diese Substanz war undenkbar.
Etwas schnürte mir die Kehle zu - nicht stark, aber stark genug, damit ich wieder einschlief. Doch mein Armband, über dessen Vorzüge Sir Juffin so viel geredet hatte, arbeitete merklich und vor allem rechtzeitig. Hätte es auch nur eine Sekunde später zu wirken begonnen, wäre ich womöglich nicht mehr aufgewacht.
Ich nahm die Beine vom Tisch und wunderte mich über gar nichts mehr. Ein Flügel des breit geöffneten Fensters quietschte kläglich im Wind. Ich schloss das Fenster und zog erleichtert die Vorhänge zu. Mein Körper gab mir zu verstehen, er habe nichts dagegen, wieder in Ohnmacht zu fallen. Ich drohte ihm mit der Faust: Wehe, du wagst es!
»Guten Tag, Max«, hörte ich Juffin sagen, und seine angenehme Stimme war meiner Seele eine Labsal. »Du warst sehr gut, mein Junge! Wirklich! Glückwunsch - dein unangenehmes Abenteuer ist überstanden. Jetzt wissen wir alles Nötige, und der Showdown ist nah. Brot und Kachar-Balsam werden heute dein Hauptgericht sein. Raus aus den Federn und auf zu mir! Verstanden?«
»Verstanden. Ende«, gab ich automatisch zurück und kroch rüber ins Schlafzimmer. Fünf Minuten später hüpfte ich beinahe ins Bad und war - dem kräftigsten Getränk der Welt, dem Kachar-Balsam, sei Dank! - wieder unter den Lebenden.
Plötzlich begriff ich den Sinn von Juffins Bemerkung: »Glückwunsch - dein unangenehmes Abenteuer ist überstanden.« Ich hatte es hinter mir! Was auch passieren würde - diesen Alptraum musste ich nie mehr erleiden. Sündige Magister! Was braucht der Mensch mehr, um glücklich zu sein?
Auf dem Weg zur Arbeit entschied ich, dem Menschen fehle zu seinem Glück noch ein Frühstück. Im Gesättigten Skelett zum Beispiel. Also bog ich kurzerhand ins warme Halbdunkel des Lokals. Sir Juffin verlangte von seinen Untergebenen nie zu hungern - auch nicht in dienstlichen Angelegenheiten.
Im Haus an der Brücke drängten sich viel mehr Menschen als sonst. Sir Lonely-Lokley machte sich in seinem dicken Heft Notizen und saß so unbequem auf der Kante seines Stuhls, dass es schon wehtat, ihm nur dabei zuzusehen. Sir Melifaro, der gerade vom Gut seiner Familie zurückgekehrt war, hüpfte wie ein Springteufel herum und rief, der bedeutendste illegitim geborene Prinz sei gekommen, und er sei überglücklich, sich in den Strahlen meines Ruhms sonnen zu dürfen. Ich kam zu dem Schluss, der Arme habe einen Stich. Dann begriff ich, dass er das Geschenk des Königs meinte, in dessen Besitz ich seit drei Tagen, nein, schon seit einer Ewigkeit war. Nächtliche Alpträume können wirklich jeden fertigmachen, und auch für mich war das alles zu viel gewesen. Kein Wunder, dass ich kurzzeitig die Übersicht verloren hatte. Kaum aber hatte ich mich gefangen, drohte ich meinem Tagesantlitz mit der Faust, ließ seinem Vater Grüße ausrichten und ging schnurstracks zu Juffin.
In seinem Büro traf ich auf Lady Melamori, die für jemanden, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war, entschieden zu schlechte Laune hatte.
»Gut, dass du so schnell gekommen bist, Max! Unsere Arbeit muss noch ein wenig warten, denn wir haben hier - wenn ich so sagen darf - familiäre Ungelegenheiten. Ich rufe die Übrigen gleich dazu.«
»Familiäre Ungelegenheiten? Was soll das denn sein?«, staunte ich.
»Ich bin bestohlen worden«, klagte Lady Melamori. »Als ich wieder nach Hause kam, war alles durcheinandergeworfen und durchwühlt. Wie kränkend das ist! Als ich in den Dienst des Geheimen Suchtrupps eintrat, war ich fest überzeugt, so etwas würde mir erspart bleiben ...«
»Aber wo ist das Problem, Lady? «, fragte ich errötend. »Treten Sie dem Schurken doch einfach auf die Spur, und der Fall ist gelöst.«
»Aber es gibt keine Spur! Ich habe den Eindruck, meine Sachen sind von allein verschwunden.«
»Ich hab immer gesagt, das einsame Leben ist nicht gut für unsere kleine hübsche Lady Melamori«, bemerkte Sir Melifaro von der Tür her. »Wäre ich in Ihrem Schlafzimmer gewesen, Unvergessliche, dann wäre nichts passiert!«
»Ich kauf mir einen Hund«, entgegnete Lady Melamori lächelnd, und ihre Grübchen kamen zum Vorschein. »Der kann genauso gut aufpassen und frisst weniger. Angeblich versteht er sogar die Sprache der Menschen - im Gegensatz zu Ihnen.«
Sir Lonely-Lokley ließ Sir Kofa höflich den Vortritt. Alle bis auf Lukfi waren bereits versammelt, doch ihn brauchte man in solchen Fällen anscheinend nicht, denn seine Arbeit im Großen Archiv hatte keinen Bezug zu unserer Tätigkeit.
»Na, meine Herrschaften - wollt ihr eine Neuigkeit hören?«, fragte Sir Juffin und ließ einen musternden Blick über uns schweifen. »Wir stecken in der Klemme! Ich hoffe, ihr alle seid der Meinung, dass Lady Melamori ihren Kram zurückbekommen soll. Sie ist zwar etwas verärgert, was unsere Laune nicht gerade hebt, doch die ganze Stadt wartet gespannt auf die Heldentaten unseres Suchtrupps. Ich weiß, Lady Melamori, dass Sie noch niemandem von dem Diebstahl erzählt haben, doch in Echo gibt es viele preiswerte Hellseher! Melifaro, diese Sache fällt in dein Ressort. Tu, was du für richtig hältst.
Max und ich müssen uns mit einer anderen dringenden Angelegenheit herumschlagen.«
Melifaro hatte sich schon Lady Melamoris Lehnstuhl genähert. Missvergnügt bemerkte ich, dass sie ihr Näschen in seinen Oberarm bohrte.
»Das vollständige Verzeichnis aller gestohlenen Sachen, bitte, meine Liebe«, säuselte Melifaro und zupfte vertraulich am Pony seiner Kollegin.
»Achtunddreißig Ringe, alle mit dem Familienwappen der Blimms auf der Innenseite; Geld - ich weiß nicht, wie viel, aber jede Menge, tausend Kronen, denke ich; acht Halsketten mit unserem Wappen auf dem Verschluss. Meine Verwandten kennzeichnen ihren Schmuck. Ich hab sie deswegen immer ausgelacht, doch jetzt ist mir klar, dass das eigentlich eine kluge Vorsichtsmaßnahme ist. Ich glaube, das war's. Die Diebe haben keinen einzigen Talisman mitgenommen. Ach, das hätte ich fast vergessen: Die Puppe, die du mir am Tag der Jahresmitte geschenkt hast, haben sie auch gestohlen. «
Melifaro runzelte die Stirn. »Die schöne Puppe! Sie war so ein hübsches Spielzeug! Merkwürdig, dass die Diebe ausgerechnet sie mitgenommen haben. Die übrigen Sachen mitgehen zu lassen, ist dagegen nur zu verständlich. Sir Juffin, würden Sie uns vielleicht mit Kamra bewirten, da wir inzwischen vollzählig versammelt sind? Dann könnten wir gemeinsam über den Fall nachdenken und diskutieren. So ganz allein in meinem Dorf hab ich mich nämlich furchtbar gelangweilt. Ihre wichtige Sache kann doch bestimmt eine halbe Stunde warten, oder?«
»Ein halbes Stündchen kann jede Sache warten - bis auf die Dinge, von denen General Bubuta Boch so gern erzählt. Also gut, dann bestelle ich für uns alle einen großen Krug Kamra aus dem Fressfass, aber du musst dich dafür durch größeren Einsatz revanchieren, Melifaro.«
»Warum das denn? Juffin, merken Sie nicht, dass das der Gipfel der Idiotie ist: Erst stiehlt man das Kleinste und Kostbarste, was sich in der Tasche eines Lochimantels nur transportieren lässt, und dann nimmt man eine Puppe mit, die so groß ist wie ein dreijähriges Kind. Die war natürlich nicht billig, aber warum lässt man dann nicht auch gleich das Geschirr und einen Sessel aus dem Salon mitgehen? Der wäre sogar noch teurer als die Puppe gewesen.« Melifaro entfernte sich vom Sessel der Lady und hockte sich neben der Armlehne seines Chefs nieder, der dadurch gezwungen war, seinem Mitarbeiter auf den Kopf zu sehen.
»Du verbeißt dich in die Frage, warum ausgerechnet die Puppe gestohlen wurde. Dafür hast du schon die erste Portion Kamra verdient.«
»Verdient hab ich sie allein, doch trinken tun wir sie zusammen. Aber egal! Sir Kofa, wer von unseren wackeren Stadtpolizisten steht im Moment an erster Stelle des Weißen Blättchens?«
»Sir Kamschi, aber der ist gegenwärtig nicht im Büro. Versuch mal, Leutnant Schichola zu erreichen. Der steht auf Platz vier und beschäftigt sich obendrein mit Wohnungseinbrüchen.«
»Na gut, ich bin gleich wieder da. Wer sich zwischenzeitlich an meiner Kamra vergeht, wird dran glauben müssen«, fügte Melifaro hinzu.
Sein Ermittlungstempo begeisterte mich. Wenn man irgendwann einen Film über den großen Detektiv Melifaro aus Echo dreht, kann das nur ein Kurzfilm werden!
»Was ist dieses Weiße Blättchen eigentlich?«, fragte ich Sir Kofa neugierig und brachte ihn damit schallend zum Lachen. Auch Lady Melamori kicherte.
»Ach, Max! Das ist nur so ein Witz von uns. Ab und an erstellen wir eine Liste der zwölf cleversten Polizisten, um zu wissen, mit wem sich am besten Zusammenarbeiten lässt. In Wirklichkeit arbeiten bei der Stadtpolizei viele vernünftige und gute Leute, aber mit Chefs wie Bubuta und Fuflos werden sie alle schnell zum Gegenstand des Spotts. Die Jungs sind glücklich, wenn sie es geschafft haben, in unserem Weißen Blättchen zu stehen. Das freut sie mehr als ein Lob des Königs. Auch weil selbst General Bubuta so ein Lob - wie es seinem Dienstgrad entspricht - einmal im Jahr bekommt. Aber wie ich sehe, hast du mich bereits verstanden.«
Und wie ich ihn verstanden hatte! Und ich war begeistert von dieser Idee.
Sogar Lonely-Lokley lebte auf: »Dieses Weiße Blättchen erleichtert unsere Arbeit sehr, Sir Max«, sagte er belehrend.
»Sir Schürf gehört zu unseren wichtigsten Listenschreibern«, lächelte Juffin. »Da kommt ja unsere Kamra.«
Der Krug war vor lauter Süßigkeiten, die Sir Juffin ebenfalls im Fressfass bestellt hatte, kaum sichtbar. Kaum war die Stärkung angekommen, kehrte auch Melifaro zurück. Er hatte einen Schwung Tafeln dabei, die sich von selbst beschriftet hatten, sprang über die Armlehne und warf sich in seinen Sessel. Erst nahm er eine Pirogge, schob sie im Ganzen in den Mund und sah dabei wie der Vogel Kurusch aus - zerzaust und schmutzig, aber glücklich. Dann trank er seinen Becher auf einen Zug leer und vertiefte sich schließlich in seine Tafeln. Ein, zwei Minuten lang - für seine Verhältnisse also eine halbe Ewigkeit - studierte er sie aufmerksam. Dann sprang er kurz auf, um sich eine zweite Pirogge zu nehmen, und setzte mit vollem Mund zu einer feierlichen Erklärung an. Nach ein paar Sekunden war er schon besser zu verstehen.
»Das hatte ich mir schon gedacht! Bei allen anderen wurde auch eine Puppe gestohlen! Und natürlich jede Menge Schmuck. Das Wichtigste ist aber, dass in jedem Inventar gestohlener Sachen eine Puppe auftaucht. Interessant! Ach, Lady Melamori! Wie es scheint, habe ich Ihnen einen Knüppel zwischen die Beine geworfen. Aber das geschieht Ihnen recht. Der Zorn verschmähter Männer ist furchtbar. Na ja, wo hab ich die Puppe eigentlich gekauft? An irgendeinem kleinen Stand auf dem Flohmarkt. Wo genau, ist nicht so wichtig, denn ich lasse dort sowieso alles auf den Kopf stellen!«
»Warte lieber noch etwas damit«, mischte sich Sir Kofa ein. »Sag mir besser, um welche Art Puppen es sich handelt. Wie hat Ihre Puppe ausgesehen, Lady Melamori?«
»Wie ein Junge von zwölf Jahren, nur viel kleiner. Sie hat ein sehr hübsches Gesicht, und ihre Hände sind erstaunlich gut geschnitzt. Ich habe sie oft und lange betrachtet. Sie hat lange dünne Finger und sogar Handlinien und trägt eine ausländische Tracht aus teurem Stoff.
Leider weiß ich nicht, um welche Tracht es sich da handelt. Und einen langen Mantel hat sie an, der unserem Lochi ähnelt. Die Puppe war immer lauwarm - fast wie ein Mensch. Ich hatte ein wenig Angst vor ihr. Deshalb hab ich sie im Wohnzimmer gelassen, obwohl sie normalerweise eher ins Schlafzimmer gesetzt wird.«
»Das reicht! Du brauchst nicht auf den Flohmarkt zu fahren, Melifaro, sondern kannst in Ruhe weiteressen. Ich gehe jede Wette ein, dass es in Echo nur einen gibt, der solche Puppen schnitzen kann: Dschuba Tschebobargo. Dieser Mann hat Zauberhände!«
»Na schön«, murmelte Juffin. »Dann habt ihr drei ja heute Abend was zu tun. Max und ich ziehen derweil mit Sir Schürf los, um jemanden kennen zu lernen, und zwar ... Was, zum Kuckuck, ist denn jetzt wieder los, Junge?« Diese Frage war an einen zu Tode erschrockenen Boten gerichtet, der in Juffins Büro gekommen war, ohne anzuklopfen.
»Es ist etwas Schreckliches passiert!«, rief der Kurier aufgebracht. »In der Straße der alten Münzen! Jemand ist totgebissen worden!«
»Und so was hältst du für eilig?« Juffin nickte phlegmatisch. »Tritt näher, Freund. Warum zitterst du denn so? Hast du noch nie ein Unheil erlebt? Bist du etwa neu hier?«
Der Bote nickte vorsichtig und verschwand im Halbdunkel des Korridors.
»Also los, Jungs«, seufzte Juffin. »Ich weiß nicht, wie und warum da jemand totgebissen wurde. Ich weiß nur, dass bei solchen Ereignissen besondere Kräfte im Spiel sind. Und nur wegen dir, Sir Melifaro, wegen deiner Fresssucht hat diese Show ohne uns begonnen. Na schön, wir stecken alle bis zum Hals in Arbeit. Man sieht sich.« Mit diesen Worten wandte er sich an mich. »Und du? Warum machst du es dir noch immer bequem? Auf geht's!«
Kurze Zeit war ich wie erstarrt und danach noch immer sehr kraftlos. Nur mit knapper Mühe konnte ich aufstehen und zum A-Mobil gehen.
Mehr als alles andere wollte ich erklärt bekommen, was mir da eben widerfahren war, doch Juffin schien selbst nicht zu wissen, was los gewesen war.
»Du hast dich wunderbar gehalten, Max, und mir die Möglichkeit gegeben, das Geschöpf zu untersuchen. Ich war fest überzeugt, es wäre nicht imstande, bei helllichtem Tage Leute anzufallen. Übrigens, Schürf - diese Gefahr muss unbedingt gebannt werden. Kümmere dich darum. Wir unterstützen dich dabei. Alles klar?«
»Alles klar, Sir«, nickte Lonely-Lokley und blickte dabei so begeistert drein, als habe man ihm befohlen, seine Wohnung zu putzen.
»Weißt du, was dir widerfahren ist, Max? Du verdankst deine Erstarrung den Überresten deines Nachbarn, also Sir Tolakan En persönlich - aber was heißt schon »persönlich«? Von dem armen Kerl ist ohnehin fast nichts übrig geblieben.«
»Inwiefern verdanke ich ihm meine Erstarrung?«
»Ich glaube, es war sehr dumm von ihm, in das Haus neben dir zu ziehen. Dort wohnt ein Fetan, das ist völlig klar.«
»Ein Fetanl?«
»Ach, auch davon weißt du nichts! Na ja, Fetane sind die Geister der Bewohner einer anderen Welt. Sie kommen körperlos, um uns bestimmte Dinge zu vermitteln. In der Epoche der Orden tauchten solche Geschöpfe nur selten auf. Sie sind nicht nur nützlich, sondern können auch gefährlich sein. Je länger ein Fetan lebt, desto mehr magische Kraft besitzt er. Früher oder später rebelliert er gegen den Magier, der ihn gerufen hat, und ergreift nicht selten von seinem Körper Besitz. So ein Fetan, musst du wissen, sehnt sich danach, einen Körper zu haben, und wenn er ihn hat, braucht er was zu essen. Es ist nicht allzu kompliziert, einen Fetan zu vernichten - davon wirst du dich bald überzeugen können. Doch es ist praktisch unmöglich, seine Existenz nachzuweisen. Fetane umgeben sich mit einer unsichtbaren, aber undurchdringlichen Schutzhülle. Ihr Hauptziel ist es, für andere unauffällig zu bleiben, und ihre Schutzzone verhindert, dass man ihre Existenz überhaupt bemerkt. Sollte jemand aber auf einen Fetan stoßen, kann er von seiner Entdeckung nicht mehr erzählen. Der Fetan ernährt sich nämlich von fremden Schläfern, und wenn diese Leute erwachen - vorausgesetzt, sie erwachen überhaupt noch mal -, können sie sich an nichts erinnern. Mit dir hatten wir wirklich Glück, Max. Später erkläre ich dir, warum. Aber eins bestürzt mich: Warum hat ein Fetan begonnen, nicht nur Schläfer, sondern auch wache Menschen anzufallen? Von so einem Fall habe ich noch nie gehört. Aber das bekommen wir auch noch heraus.«
»Und wenn der Fetan uns entkommen ist?«, fragte ich schroff. »Wie können wir ihn dann ausfindig machen?«
»Dass er entkommen kann, ist ausgeschlossen, Max, völlig ausgeschlossen. Ein Fetan kann sein Haus nämlich nicht verlassen. Das ist ein Naturgesetz. Manche Magier hatten den Mut, mit einem Fetan Geschäfte zu machen - nach dem Motto: Solange er mir den Kopf nicht abgebissen hat, kann ich mich ja davonmachen und das Haus mit seinem geheimnisvollen Mieter Weiterverkäufen - sollen doch andere die Suppe auslöffeln!«
»Wie konnte Lady Feni denn dann einkaufen gehen, wenn ...«
»Gute Frage, mein Junge! Ich vermute, wenn ein Fetan zwei Körper zur Verfügung hat, kann er einem ab und an ein wenig Freiheit geben - natürlich nur für kurze Zeit. Aber ich bin fest überzeugt, dass Lady Feni nicht selbst einkaufen war, sondern nur eine klägliche Erinnerung an sie, die extra für diese Tätigkeit programmiert wurde. Diese Tarnung war sehr erfolgreich. Kein Wunder - Fetane sind ja Meister der Tarnung. Aber wir sind da! Lass uns aussteigen.«
Wir ließen das A-Mobil vor meinem Haus stehen. Inzwischen war auf der Straße der alten Münzen ziemlich viel los. Ein paar Mitarbeiter der Stadtpolizei, sechs Anwohner und ein Haufen tief erschütterter Schaulustiger, die aus dem Gesättigten Skelett gekommen waren, hatten einen Kreis um das Opfer gebildet, um eine Frau mittleren Alters also, die sehr einfach gekleidet und deren Kopf beinahe vom Rumpf abgetrennt war. In der Nähe lag ein Korb mit Nüssen. Die zerstreuten Nüsse erinnerten mich an den dünnen Sandpfad, der im Traum zwischen meinem Haus und dem Haus nebenan durch die Luft geführt hatte.
Sir Juffins Stimme, die von den Polizisten Erklärungen einforderte, riss mich aus meinen Gedanken.
»Die Zeugen behaupten, der Täter sei sehr klein gewesen«, meldete einer der Polizisten verwirrt.
»Und wo sind die Zeugen?«
Aus der Gruppe Schaulustiger trat ein junges Pärchen hervor. Die beiden waren augenscheinlich sympathisch und nach hiesigen Maßstäben noch sehr jung - ungefähr sechzig Jahre alt. Die Frau erwies sich als die Gesprächigere, wie es oft so ist.
»Wir waren auf dem Weg zur Arbeit und sind nur zufällig in diese Straße geraten. Sie war leer. Nur ziemlich weit vor uns ging eine Frau mit einem Korb in der Hand. Plötzlich kam aus diesem Haus hier ...« - sie zeigte auf das architektonische Meisterstück, das mich schon lange beschäftigt hatte - »... ein Männchen herausgesprungen.«
»Sind Sie sicher, dass es sich um einen sehr kleinen Mann gehandelt hat?«, unterbrach Juffin.
»Absolut, Sir! Frud kann das auch bestätigen. Er war klein wie ein Kind, aber wie ein Erwachsener gekleidet, sehr elegant und sehr teuer. Erst verstanden wir gar nichts. Wir dachten, er würde die Frau kennen und wolle sie umarmen. Na ja, er sprang kurz hoch, damit ihm das bei seiner Größe gelang. Das fanden wir lustig, doch dann fiel die Lady um, und wir erschraken. Das Männlein sprang noch ein paar Mal auf sie drauf und verschwand.«
»Und wohin?«
»Na ja, irgendwohin. Auf jeden Fall nicht in unsere Richtung. Den Magistern sei Dank! Frud wollte ihn verfolgen, doch ich hatte Angst. Dann haben wir Hilfe gerufen.«
»Vielen Dank, meine Liebe. Jetzt ist mir alles klar«, erklärte Juffin und wandte sich an die Polizisten. »Seit Sie hier sind, meine Herren, ist noch niemand aus dem Haus gekommen, oder?«
»Niemand, Ehrwürdiger Leiter! Und wir sind auch nicht ins Haus gegangen, weil
»Sie haben ganz richtig gehandelt! Max, Schürf, wir gehen!«
Wir besuchten meinen zum Vampirismus neigenden Nachbarn.
In seinem Haus war es dunkel und still. Und sehr schmutzig, wie ich hinzufügen muss. Ein großes, bis zur Decke mit allem Möglichen gefülltes Zimmer, in dem die Habe der Bestohlenen gesammelt war, machte den Eindruck eines scheußlichen Museums. Ich sage das nicht, weil ich mich über die Unordnung im Haus geärgert hätte. Dort herrschte einfach nur eine furchtbare Atmosphäre. Sogar Lonely-Lokley runzelte verächtlich die Stirn - und das hieß einiges.
Zum ersten Mal, seit ich in Echo war, ging mir die Größe eines Hauses auf die Nerven. Es kostete uns viel Zeit, das Erdgeschoss zu inspizieren - und das, obwohl wir sehr schnell arbeiteten. Und herausgekommen ist dabei nichts. Nur unsere Stimmung war endgültig verdorben.
Dann mussten wir in den ersten Stock hoch. Dort war es genauso dunkel und still. Als Sir Lonely-Lokley die Treppe zum zweiten Stock betrat, sah ich ihm nach und wünschte mir, ein Nickerchen machen zu können. Doch dann würde ich nie wieder aufwachen.
»Kopf hoch, Max!« Juffin hatte gemerkt, dass ich schlappzumachen drohte, und sich per Stummer Rede bei mir gemeldet. »Egal wie das endet - nur Schürf hat hier wirklich was zu tun, und auch seine Aufgabe ist nicht sehr kompliziert. Wir beide sind nur aus Neugier hier. Das ist vielleicht nicht der angenehmste Spaziergang, doch es gibt Schlimmeres - das kann ich dir versichern. Also, Kopf hoch, mein Junge!«
Ich fühlte mich ein wenig besser. Gleich zauberte ich ein schwaches Lächeln aufs Gesicht und sah dabei Sir Juffin an.
Dann gingen wir weiter nach oben, bis nur noch der Himmel über uns war.
Sie hatten auf uns gewartet - diese beiden, die irgendwann Tolakan En und seine Frau Feni gewesen waren, märchenhaft reich, wahnsinnig verliebt und unendlich glücklich. Doch sie waren längst tot, und statt ihrer begegnete uns der langlebige Fetan, der nach Belieben über zwei Körper verfügen konnte.
Das Geschöpf wusste um seine hoffnungslose Lage und war sich klar darüber, was kommen würde. Darum versuchte es noch nicht mal, Widerstand zu leisten. Plötzlich spürte ich Mitleid mit dem unbekannten Geist, der gegen seinen Willen nach Echo geholt worden und nun gezwungen war, sich durchzuschlagen. Mich hätte ja auch ein verrückter Magister nach Echo zitieren können! Mit meinem Talent hätte ich es selbst im Schlaf geschafft, in eine unangenehme Situation zu geraten! Brrr!
Fünf schneeweiße Strahlen richteten sich auf das erstarrte Pärchen, Strahlen, die von der linken Hand Sir Lonely-Lokleys ihren Ausgang genommen hatten und das Pärchen in Schutt und Asche legten. Ich hoffte, dass sein Ende schmerzlos gewesen war.
»Juffin«, fragte ich in die klirrende Stille, »ist überhaupt noch etwas vom Ehepaar En übrig? Ich meine, eine Seele ... oder wie immer man das nennen mag.«
»Das weiß niemand, Max!«
Er zog mir blitzschnell die Knie weg, und ich stürzte zu Boden. Noch im Fallen begriff ich, dass etwas mit meinem Genick nicht stimmte. Ich spürte einen stechenden Schmerz im Nacken. Dann lief eine Kältewelle über meinen Hals. Ich schrie und stieß dabei anscheinend einen Fluch aus.
Nach ein paar Sekunden der Ohnmacht merkte ich, dass ich noch am Leben war - ein starker Schmerz im rechten Knie und am Kinn war dafür Beweis genug. Mein Nacken war ganz starr - als habe ich eine Novocain-Spritze bekommen. Etwas Warmes lief an meinem Hals herunter. »Wenn das Blut ist, dann verzeih mir, lieber Lochimantel«, dachte ich finster.
Am Hinterkopf spürte ich eine warme Hand. Sehr angenehm. Mir wurde immer blümeranter, und ich driftete Richtung Nirwana, doch dieser Zustand hielt nicht lange an.
Als ich die Augen wieder öffnete, war meine Lage vielleicht nicht ideal, aber durchaus erträglich. Knie und Kinn meldeten, dass sie sich zwar gemein benommen hatten, sich nun aber bessern würden. Auch Hals und Nacken gaben mir keinen Anlass zur Besorgnis mehr. Fieberhaft suchte Sir Juffin mit blutbespritzten Händen nach einem Handtuch.
»Nehmen Sie einen Vorhang«, sagte ich mit eigenartig heller Stimme. »Die Besitzer des Hauses haben sicher nichts dagegen.«
»Du bist wirklich ein kluger Kopf, Max! Was würde ich nur ohne dich anfangen?«
»Sie hätten ruhig in Ihrem Büro bleiben und Kamra trinken können. Dann hätten Sie sich diese Szene erspart. Was war das eigentlich, Juffin?«
»Eine ausführliche praktische Antwort auf einige theoretische Fragen, mit denen sich kluge Köpfe an der Universität beschäftigen. Aber schau selbst. Und hab keine Angst, den Kopf zu drehen. Ich hab deine Wunden gestillt. Deine Verletzungen waren ohnehin nicht spektakulär! Mit einem Wort: Dir wird der Kopf nicht vom Hals fallen. Und sollte er es doch tun, hab keine Angst - ich kann dir einen neuen annähen, der besser ist als der alte.«
»Sehr witzig! Und wo ist Ihre ausführliche Erklärung?«
»Hier, Sir Max!«, rief Lonely-Lokley. Er hockte neben mir und zeigte mir zwei kleine Gegenstände, die er in der rechten, also weniger gefährlichen Hand hielt. Es handelte sich um eine in der Mitte durchgebrochene Figur - genauer gesagt um eine kleine, füllige Frau, die einen Dreizack in der Hand hielt. Ihr Gesicht war nicht hübsch, aber voll bedrohlicher Kraft, was ihre Züge unvergesslich machte.
»Sündige Magister! Was ist denn das?«
»Eins der vielen Meisterwerke vom Anfang der Ordensepoche«, erklärte Lonely-Lokley. »Ein Amulett, das dieses Haus schützen sollte.«
»Eine herrliche Figur!«, seufzte Juffin. »Ich glaube, das Gespenst von Lady Feni hat sie irgendwo erworben, wo es nichts unter dreihundert Kronen zu kaufen gibt. Sie muss von einem begnadeten Künstler stammen, sündige Magister! Die Vampire sollen ihm die Ohren abbeißen!«
»Wirklich nicht schlecht«, stimmte ich zu. »Was für ein ausdrucksstarkes Gesicht! Ob das ein magisches Requisit war?«
»Na ja, zu ihrer Zeit hat diese Dame das Haus aufs Beste vor Dieben und unerwünschten Gästen geschützt. Und vor bewaffneten Widerlingen. Alles ist gut, sofern so ein Amulett in ein normales Haus gelangt, wo gewöhnliche Leute wohnen. In einem Haus aber, in dem ein Fetan lebt, kann mit so einem Amulett alles Mögliche passieren. Diese einfache Wahrheit haben oberschlaue Wissenschaftler ab und an bezweifelt. Doch es ist und bleibt Tatsache: Wenn ein Amulett sich gegen dich kehrt, bist du erledigt. Das nenne ich eine ausführliche Antwort auf manch theoretische Überlegung. Übrigens hätte ich nicht bloß mit ansehen dürfen, wie dich in dieser Wohnung die Kräfte verließen. Hätte ich mich mit dir unterhalten, wäre dein Nacken heil geblieben - und deine Nerven natürlich auch. Also gut, gehen wir. Im Haus an der Brücke ist es angenehmer. Vielleicht brauchst du Urlaub? Schließlich bist du verletzt, wenn auch nicht besonders schlimm.«
»Urlaub? Sie wollen ja bloß ohne mich Piroggen essen und die ganze Sache ungestört besprechen! Wenn Sie mich loswerden wollen, müssen Sie mich umbringen. Anders geht's nicht!«
»Deine Neugier und deine Verfressenheit verhindern immer wieder, dass du dich bei der Arbeit wirklich verausgabst«, lächelte Juffin. »Na schön. Gehen wir endlich.«
Lonely-Lokley half mir auf die Beine und musste dafür meinen Mantel mit den Händen berühren, da er seine ehrwürdigen Handschuhe im Fond des A-Mobils gelassen hatte. Ich begriff, dass es riskant war, sich von diesem Mann am Ellbogen führen zu lassen - genauso riskant wie der Besuch der Abendschule in einem Atomkraftwerk. Darum versuchte ich, allein die Treppe herunterzugehen. Das klappte ziemlich gut. Ich war zwar alles andere als leichtfüßig, kam aber wohlbehalten unten an.
Kaum saßen wir im A-Mobil, verzerrte Juffin sein Gesicht, als habe er in eine Zitrone gebissen.
»Das Abendessen wird auf später verschoben, Leute. Melifaro bittet dringend um Hilfe. Die drei sind offenbar in die Klemme geraten. Wenn selbst Melifaro jammert, was mag dann passiert sein? Der Arme hatte keine Zeit für Erklärungen, sondern hat nur gebrüllt, das Unheil habe alle Kraft zusammengenommen und tobe jetzt erst richtig. Mit einem Wort: Das kann heiter werden! Wir fahren jetzt in die Straße der kleinen Generäle. Max, setz du dich ans Steuer. Im Moment kann dein Leichtsinn uns nur nützen. Und du, Junge, lauf zum Haus an der Brücke und lies Zeitungen. Na los!«, rief Juffin und stupste den verblüfften Chauffeur mit dem Ellbogen. Ich nahm seinen Platz ein, und wir fuhren los. Juffin hatte nur Zeit, »Links!« oder »Rechts!« zu schreien.
An diesem Abend gelang es mir, dem Motor des unglücklichen A-Mobils zweihundert Sachen aus den Rippen zu leiern.
Eile war geboten, denn die Straße der kleinen Generäle lag - wie sich erwies - am Westrand der Stadt. Dennoch schafften wir es, nach kaum einer Viertelstunde dort aufzutauchen. Juffin hätte nicht unbedingt feststellen müssen, dass wir angekommen waren, denn daran gab es - offen gesagt - keinen Zweifel.
Ich kann nicht behaupten, dass es in Echo abends besonders leise ist. Dennoch ist es eigentlich nicht üblich, in Gruppen von zwanzig, dreißig Personen in Unterwäsche durch die Straßen zu laufen, dazu noch in Gesellschaft von Kindern und leicht hysterischen Haustieren. Wehklagend auf dem eigenen Dach herumzurennen, ist - soweit ich weiß - ebenfalls unüblich. Und selbst das war hier zu sehen.
»Der schmutzig rosa Hühnerstall da vorn ist das Haus von Dschuba Tschebobargo«, sagte Juffin mit ausgestreckter Hand.
Aus dem so gnadenlos kritisierten Gebäude kam ein barfüßiger Mann gehetzt, dessen durchtrainierten Körper die Reste eines Skaba-Mantels bedeckten. Am Saum des Mantels klebte ein glitzernder Gegenstand, der früher bestimmt ein Schmuckstück war. Im nächsten Moment merkte ich, dass er lebendig war. »Ist das etwa eine Ratte?«, fragte ich mich. »Ekelhaft!«
Seit meiner Kindheit habe ich Angst vor Ratten. Diese verbreitete Phobie hat einen komplizierten Namen, an den ich mich damals allerdings nicht zu erinnern vermochte. Doch nach ein paar Sekunden hatte ich mich wieder unter Kontrolle und sagte mir, mehrfarbige Ratten kämen in der Natur doch gar nicht vor. Im Normalfall ist so ein Geschöpf schwarz oder grau und hat allenfalls einen Rotstich. Das geheimnisvolle Wesen am Mantelsaum dagegen besaß obendrein eine erstaunlich menschenähnliche Gestalt.
»Das ist ja ein kleines Männchen!«, rief ich fröhlich. »Bloß ein klitzekleines Männchen! Von dem hat doch das Mädchen erzählt!«
Aus Lonely-Lokleys linker Hand schoss eine weiße Flamme und ließ von dem Männchen nicht mal ein Häufchen Asche übrig. Der erschrockene Mantelträger lief wohlbehalten weiter und ließ die unbeschäftigten Liebhaber des männlichen Striptease seinen mattweißen Hintern sehen, der in der Dämmerung seltsam schimmerte.
»Soll ich ihn anhalten, Sir?«, fragte Schürf.
Juffin schüttelte den Kopf. »Das ist nicht Dschuba. Soll er ruhig noch laufen. Immerhin ist das eine gute Unterhaltung! Warum warst du eigentlich so vergnügt, Max? Hast du eine Idee, wer das Männlein gewesen sein könnte?«
»Was für eine Idee denn?«, fragte ich und errötete sichtlich. »Ich war nur froh, dass es keine Ratte ist.«
»Eine Ratte? Was soll das denn sein?«
»Gibt es in Echo etwa keine Ratten?!«
»Soweit ich weiß, nicht. Aber vielleicht haben sie hier nur einen anderen Namen. Doch jetzt lass uns nachschauen, was im Haus los ist. Sir Schürf, Sie gehen als Erster rein. Und du, Max, passt auf deinen armen Kopf auf. Heute ist kein guter Tag für dich.«
An diesem Tag merkte ich, dass ich sehr gern in Gesellschaft von Sir Schürf Lonely-Lokley war. Er ist ein ausgezeichneter Killer. Wer dem Tod so nahe steht wie er und doch spürt, dass er keine Gefahr darstellt, ist etwas Besonderes und erlebt ein unbestreitbares Gefühl von Machtvollkommenheit. Schwindel erregend!
Auf der Schwelle zum rosa Hühnerstall verlor sich meine unangebrachte Hochstimmung. Ein weiteres kleines Männchen klebte am Bauch eines dicken alten Mannes und schmatzte seltsam sinnlich. Anscheinend schmeckten ihm die Innereien des Alten prächtig. Zum Glück beendete Lonely-Lokley diese Idylle schnell. Hätte er auch nur ein paar Sekunden gezögert, dann hätte ich mich sicher von den Piroggen, die ich Stunden zuvor gegessen hatte, verabschieden müssen.
»Donnerwetter! Das ist doch Krello Schir!«, staunte Juffin und näherte sich dem entstellten Leichnam. »Schade um den Armen. Ich hätte nie gedacht, dass Dschuba sich einen so ausgezeichneten Koch leistet. Schließlich ist er nur ein bescheidener Künstler!«
Wir gingen ins Schlafzimmer. Der Anblick, der sich uns dort bot, wäre es wert gewesen, in Bronze verewigt zu werden. In die Reste seines Lochimantels gehüllt, versuchte der tapfere Sir Melifaro, ein kleines, sich wütend windendes Männchen zu zerbrechen. Gut ein weiteres Dutzend lebloser Körper diente seiner Heldentat als Hintergrund. Sir Lonely-Lokley sprang in den Flur zurück.
»Wo ist denn Melifaros ewiges Lächeln geblieben?«, fragte ich verblüfft.
Melifaro schüttelte feierlich den kleinen, kopflosen Körper, den er in Händen hielt, und fing dann tatsächlich an zu lächeln. Er überlegte wohl, wie das Ganze auf seine Betrachter wirken mochte.
»Zu den Magistern mit dir, Max! Ich hab Lonely- Lokley gerade per Stummer Rede gesagt, er soll die restlichen Männchen fangen.«
»Die restlichen Männchen!?«
»Zwölf sind mir schon entkommen. Auch Dschuba ist die Flucht gelungen. Aber was ihn anlangt, mache ich mir keine Sorgen: Männer, die ihr keine Aufmerksamkeit schenken, mag unsere Lady Melamori nicht. Solche Typen findet sie sogar noch unter der Erdoberfläche.«
»Was sind diese Zwerge eigentlich für Missgeburten? Kannst du mir das erklären, mein Gnom-Bezwinger?«
»Wieso Missgeburten? Die sind doch ganz nett! Schau sie dir nur mal genau an!«, meinte Melifaro und reichte mir den kleinen Kopf, den er vom Rumpf des letzten Männchens getrennt hatte. Ich verzog vor Ekel die Miene, doch dann merkte ich, dass er aus Holz war. Er hatte wirklich ein hübsches Gesicht - sündige Magister!
»Ist das eine Puppe? So eine, wie du sie Lady Melamori geschenkt hast?«
»Ja. Davon gab es mindestens zwölf, doch irgendwann sind sie fuchsteufelswild geworden. Als wir kamen, wollten sie Dschuba umbringen oder ihn wenigstens bis in alle Ewigkeit verfluchen. Es war eine Qual, den Armen auch nur anzusehen.«
»Gehen wir, Jungs«, unterbrach Juffin unser nettes Gespräch. »Wir sind Sir Schürf natürlich nicht ebenbürtig, aber jeder soll tun, was in seiner Macht steht. Wo ist eigentlich unser tapferer Sir Schichola? Ist er etwa desertiert?«
»Beinahe ... Ach was, kleiner Scherz. Er hat nur Verstärkung angefordert und springt inzwischen an der Spitze einer großen Polizeieinheit von einem Dach aufs andere. Ich hoffe, sie haben mindestens ein paar Puppen eingefangen. Helfen Sie mir bitte, Juffin - ich bin heute einfach nicht in Form.«
Gebannt verfolgte ich, wie Sir Juffin mit den Fingerspitzen über Melifaros zerstochene Hände strich. Der Arme verzerrte leidend das Gesicht.
»Das ist nichts Ernstes. Mit meinem Magen steht es schlimmer.«
»Ach so«, meinte Juffin und fuhr mit den Händen dorthin, wo Melifaros grellgelber Mantel einen purpurroten Fleck hatte. »Na so was, mein Junge. Was wollten diese hirnlosen Geschöpfe denn mit deinem Bauch? Und da kannst du immer noch stehen? Respekt! Na ja, diese Wunde hab ich jetzt auch repariert. Du hast wirklich Glück gehabt, dass sie so hoch gesprungen sind ... Wenn sie sich etwas weiter unten verbissen hätten, hätte ich dich nicht so leicht wieder zusammenflicken können.«
»Ihnen wünsche ich einen Vampir an den Hals, Juffin. Halten Sie das für einen guten Witz?«
»Jedenfalls ist er nicht schlechter als deine. Na schön. Gehen wir.«
Kaum waren wir wieder auf der Straße, schien es, als ginge die Welt unter. Ein kleiner Knirps humpelte winselnd an mir vorbei. Entsetzt stellte ich fest, dass ihm mit fast unhörbarem Zischen eine kleine Figur nachtrippelte, die in der Dämmerung so sehr einer Ratte ähnelte, dass ich mich beinahe zu einer Heldentat aufgerafft hätte. Ich beugte mich vor, packte eins der kleinen, eleganten Beine des Geschöpfs, stöhnte leise vor Angst und schleuderte das Wesen mit aller Kraft aufs Straßenpflaster. Gleich zerbrach die Puppe in tausend Stücke.
»Geht man so in den Leeren Ländern mit ungehorsamen Jungs um?«, fragte Melifaro mit spöttischer Ehrerbietung. »Schauen wir mal, wen wir noch fertigmachen können. Na los!«
Aber wir kamen nicht weit. Kaum hatten wir begonnen, uns das Stadtviertel vorzuknöpfen, trafen wir schon auf Sir Lonely-Lokley, der ein wenig müde und sehr friedlich gestimmt war. Sein schneeweißer Lochimantel sah tadellos aus.
»Das war's schon«, verkündete er. »Ich hab die Polizisten gerade angewiesen, die Anwohner zu beruhigen. Es gibt keine Puppen mehr.«
»Wirklich nicht?«, hätte ich ihn beinahe gefragt, konnte mich aber gerade noch rechtzeitig bremsen. Wenn Schürf Lonely-Lokley so etwas sagte, dann war es auch so. Höchste Zeit, dass ich mir das endlich merkte.
»Ausgezeichnet. Vielen Dank für Ihre schnelle Hilfe, Sir Schürf. Ich freue mich schon seit anderthalb Stunden auf eine Tasse Kamra«, gähnte Juffin.
»Deshalb hab ich mich ja so beeilt, Sir«, versetzte Schürf.
Hätte ich Lonely-Lokley weniger gut gekannt, hätte ich schwören können, er habe das ironisch gemeint.
Wir gingen zu unserem A-Mobil. Unterwegs vernahmen wir ein exaltiertes Gebrüll, das mir bekannt vorkam.
»So ein Schreihals gehört in den Schweinestall!«, rief Sir Juffin.
»Was ist denn los? Hat Bubuta sich etwa entschlossen, die Aktion zu übernehmen?«, wunderte ich mich.
»Natürlich«, meinte Juffin und loderte vor Zorn. »Schließlich geht es um etwas Wichtiges! Um die Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung und so weiter. Du glaubst doch wohl nicht, Bubuta ließe sich eine Gelegenheit entgehen zu glänzen! Gönn es ihm, das Schwert zu zücken und damit herumzufuchteln! Das ist schließlich alles, was er kann. Schade, dass er die Leitung übernimmt! Wenigstens hat ihn eine Puppe gebissen!«
»Nein, Sir«, meinte Lonely-Lokley melancholisch, »das war keine Puppe. Mit General Bubuta Boch ist auch Kapitän Fuflos gekommen. Wie alle wissen, ist er ein sehr gehorsamer Soldat. Wenn er den Befehl bekäme, um die Ecke zu schießen, täte er sogar das.«
Juffin und Melifaro tauschten einen Blick und lächelten kurz.
»Kapitän Fuflos ist der schlechteste Schütze weit und breit«, erklärte mir Juffin mit halbem Lächeln. »Wenn er sich auf den Boden wirft, springt sein Gewehr in den Himmel.«
Nach dieser Bemerkung wandte er sich an Lonely- Lokley. »Was ist eigentlich genau passiert?«
»Die Schüsse von Kapitän Fuflos sind von der Mauer abgeprallt und haben General Bubuta Boch verletzt. Die Wunde ist zwar nicht gefährlich, aber äußerst lästig. Ich fürchte, er wird in nächster Zeit Probleme haben, sich zu setzen.«
Kaum hatte ich das gehört, fiel ich ins Lachen meiner Kollegen ein.
Als ich wieder am Steuer des A-Mobils saß, wurde mir klar, dass auch ich endlich eine Tasse Kamra trinken wollte. Also raste ich noch schneller als sonst zum Haus an der Brücke zurück. Der Wagen flog beinahe über die Straße.
Wenn es einen gab, dem die Fahrt außer mir noch Spaß gemacht hat, dann Melifaro. Jedenfalls musste ich ihm versprechen, ihm in unserer Freizeit Einblick ins Geheimnis der Geschwindigkeit zu gewähren. Doch was für ein Geheimnis sollte das überhaupt sein?
Ich bin vielleicht gut! Da lache ich über Kapitän Fuflos und kann selbst kein Gewehr bedienen, dachte ich plötzlich. Ich weiß nicht mal, wie es überhaupt funktioniert.
Juffin hatte meinen inneren Monolog gehört und beruhigte mich per Stummer Rede: »Wenn du willst, kannst du den Umgang mit dem Gewehr nach der Arbeit ein wenig üben. Aber vergiss nicht, dass wir vom Geheimen Suchtrupp den Umgang mit diesem Gerümpel für unter unserer Würde halten. Bei diesem Tempo solltest du allerdings vor allem auf den Weg achten, kapiert?«
Im Haus an der Brücke erwartete uns eine überaus angenehme Überraschung. Im Saal der allgemeinen Arbeit thronte die zerstreute, aber glückliche Lady Melamori.
Vor ihr lag ein weißblonder Hüne, dessen muskulösen Hals sie mit energisch aufgestützten Füßen auf die zerkratzten Treppenstufen drückte. Sein Gesicht war vor Atemnot puterrot angelaufen. Wäre ich. Schnellrichter gewesen, hätte ich entschieden, diese peinigende Lage sei für den armen Mann Strafe genug.
»Übernehmen Sie das Verhör und protokollieren Sie alles, Sir Melifaro!«, zwitscherte Lady Melamori vergnügt. »Ich sitze hier schon seit einer Stunde mit ihm herum.«
»Daran sind Sie selber schuld. Sie hätten eine weniger affektierte Pose annehmen sollen. Wir halten ohnehin sehr viel von Ihnen«, meinte Juffin leichthin. »Schleppt dieses Scheusal in Melifaros Arbeitszimmer. Ich ertrage seinen Anblick nicht. Solche Hände und eine solche Begabung zu haben und damit so viel Unheil anzurichten! Woran hat das eigentlich gelegen, du Genie? Hast du zu wenig verdient, um dir eine Tasse Kamra leisten zu können? «
Dschuba Tschebobargo war anscheinend zu keiner Antwort fähig. Vermutlich hatte er nicht begriffen, was geschehen war.
Lady Melamori erhob sich graziös. Der arme Mann reagierte gar nicht darauf, dass sein Kopf so unerwartet vom Gewicht ihrer Füße befreit war. Die Lady griff ihn bei einer strohblonden Strähne und zog ihn - scheinbar mühelos - in Melifaros Büro hinüber. Der wiederum wiegte beeindruckt den Kopf und ging ihr nach.
Kaum saßen wir bei Tisch, begann ich zu leiden. Mit dem verzerrten Gesicht eines Helden aller Weltkriege sehnte ich mich danach, das nette Gespräch zu wiederholen, das ich mit meinen Kollegen vor ein paar Tagen im Fressfass geführt hatte, und konnte deren Rückkehr daher kaum erwarten. Im Übrigen hatte ich den Verdacht, so ein nettes Gespräch würde auch ohne meinen Wunsch zustande kommen. Juffin wollte nämlich endlich eine Tasse Kamra trinken.
»Vielleicht sollten wir für unsere Abteilung ein paar Flaschen guten Wein bestellen. Irgendwie bin ich müde heute«, stellte Lonely-Lokley fest. »Ich hoffe, niemand hat was gegen Wein?«
Und wirklich waren alle mit Schurfs Bestellung einverstanden. Schließlich hatten wir etwas zu feiern! Vor wenigen Stunden erst hatten wir einen Fetan - eine der gefährlichsten und mächtigsten Spielarten der dunklen Kraft in dieser Welt - aufgespürt und unschädlich gemacht. Darüber hinaus hatten wir eine Menge verrückt gewordener kleiner Leutchen aus dem Verkehr gezogen. Und obendrein hatten wir Dschuba Tschebobargo kennengelernt, den Besitzer von Zauberhänden!
Als unsere Bestellung aus dem Fressfass eintraf, zog Lonely-Lokley eine löchrige Tasse aus dem Mantel, die ich schon kannte. Wiederum schaffte er es, mich in Erstaunen zu versetzen, indem er eine Flasche Nordlicht öffnete und den Inhalt langsam in die Tasse schüttete, deren Größe mit Sir Schurfs unersättlicher Gier natürlich nicht mithalten konnte. Doch auch diesmal drang kein Tropfen durch die vielen Löcher. Im Gegenteil: Eine Säule aromatischen Weins stieg leicht zitternd über dem Tassenrand in die Flöhe. Lonely-Lokley trank von der Oberkante des flüssigen Eiszylinders, der daraufhin langsam, aber sicher verschwand, bis nur noch eine leere Tasse vor unserem Helden stand. Ich wollte mich bekreuzigen, überlegte dann aber, dass diese Geste in Echo als Magie irgendeines unerlaubten Grades missverstanden werden könnte, und beherrschte mich deshalb.
»Geht es Ihnen schon besser, Sir Schürf?«, fragte Juffin fürsorglich.
»Selbstverständlich. Vielen Dank für die Stärkung.« Auf dem Gesicht von Lonely-Lokley war tatsächlich keine Spur von Müdigkeit mehr zu entdecken.
Nach wie vor aber war mir manches nicht klar, und ich suchte nach Erklärungen.
»Wie hat Dschuba Tschebobargo die Puppen eigentlich zum Leben erwecken können?«, fragte ich Sir Juffin.
»Dschuba ist wirklich ein großer Meister. All die Puppen hat er allein mit Hilfe erlaubter Magie und mit seinen wunderbaren Händen geschaffen. Richtig lebendig waren sie freilich nicht, sondern nur imstande, bestimmte Dinge zu tun. Zum Beispiel konnten sie das ganze Geld und allen Schmuck, den sie nur zu tragen vermochten, zusammenraffen und damit zu ihrem Schöpfer zurückkehren. Eine ausgezeichnete Idee! Kompliment! Hätte Melifaro sich nicht mit dieser Sache beschäftigt, dann hätte es wohl noch Jahre gedauert, ehe jemand Tschebobargo auf die Schliche gekommen wäre. Und in dieser Zeit hätte er ein riesiges Vermögen zusammenräubern können. Der heutige Vorfall allerdings hätte die ganze Idylle ohnehin beendet.«
»Was war überhaupt los? Warum waren die Puppen plötzlich so wütend?«, fragte ich. »Soweit ich weiß, ist so was doch früher nicht passiert.«
»Hast du noch immer nicht kapiert, was los war? Was war das wohl für ein Männchen, das aus dem Haus deiner Nachbarin gesprungen ist und ihr unglückliches Opfer abgeknutscht hat?«
»Eine Puppe von Dschuba Tschebobargo!«, rief ich. Endlich war mir die Erleuchtung gekommen. »Lady Feni hat sie mit anderem antiquarischem Plunder erworben! In ihrem berüchtigten Haus wurde die Puppe dann verrückt - genau wie das Amulett, das mich überfallen hat. Vielleicht wäre ich an ihrer Stelle ja auch übergeschnappt. Aber was ist mit den übrigen Puppen passiert? War das eine Epidemie?«
»Wenn du willst, kannst du dich sehr gut ausdrücken, Max. Es war tatsächlich eine Epidemie. Diese verrückte Puppe ist nach Hause zurückgekehrt und hat große Veränderungen ausgelöst. Inzwischen gibt es keinen Zweifel mehr, dass die verzauberten Puppen in Anwesenheit eines Fetans nicht nur ihre Eigenschaften ändern, sondern sogar gewisse Eigenschaften auf gleichartige Geschöpfe übertragen können. Der heutige Tag war dem wissenschaftlichen Fortschritt zweifelsohne wohlgesinnt. Und kleinere existenzielle Wunden hat er auch geschlagen.«
»Obendrein hat er für Streitereien mit den Nachbarn gesorgt«, fügte ich hinzu.
»Ich hab dir ja immer gesagt, dass du dieses Loch nicht mieten sollst, Junge!«, rief Juffin und schenkte mir treu sorgend Kamra nach.
»Und ich hab von Anfang an gesagt, dass es mir nur um unsere gute Sache geht. Wie viele Seelen hätte dieser Fetan wohl noch gefressen, wenn er nicht auf mich gestoßen wäre!«
»Die Leute aus der Provinz verfügen nun mal über eine ausgezeichnete Intuition - davon bin auch ich inzwischen fest überzeugt«, resümierte Sir Lonely-Lokley.
»Außerdem sind sie ungewöhnlich oft erfolgreich«, meinte Juffin lächelnd, wandte sich an mich und erklärte: »Jetzt hast du bestimmt gemerkt, dass du das Geschenk des Königs genau rechtzeitig bekommen hast. Ich hab noch eine wissenschaftliche Entdeckung für dich - hoffentlich die letzte für heute. Wisst ihr eigentlich, liebe Leute, dass ich herausgefunden habe, woher die wunderbaren Eigenschaften der Kinder der Purpurroten Perle stammen?«
»Wenn wir loslegen, kommen irgendwann alle Staatsgeheimnisse ans Tageslicht«, polterte die ermüdete Lady Melamori, richtete sich im Stuhl auf und fügte hinzu: »Ausgezeichnet, Sir Juffin! Melifaro wird uns gleich erzählen, was er mit dem Polizisten - der Nummer vier unseres Weißen Blättchens - aus Tschebobargo rausgequetscht hat. Dieser Polizist ist wirklich ein Teufelskerl. Der arme Tschebobargo ist außer sich. Als ich auf seine Spur trat, war ich schrecklich sauer auf ihn. Das ist mir jetzt ein wenig peinlich. Dem armen Dschuba geht es nach all den Untersuchungen sowieso nicht besonders. Warum steht dieser Schichola eigentlich auf dem vierten Platz? Meiner Meinung nach sollte er mindestens auf Platz zwei vorrücken.«
»Wenn ich richtig verstanden habe, zeigt sich die Intelligenz von Leutnant Schichola darin, dass er Angst vor Ihnen hat, Lady, und das nicht zu verbergen sucht.«
»Unsinn!«, rief Melamori entrüstet. »Wir haben uns nur über Dienstliches unterhalten.«
»Das reicht - soweit mir bekannt ist - völlig aus. Aber Spaß beiseite! Erzählen Sie weiter, Lady.«
»Ach, lassen wir das! Sie haben bestimmt viel interessantere Neuigkeiten. Mein prächtiger Sir Juffin - spannen Sie mich nicht allzu sehr auf die Folter!«
»Das tu ich doch gar nicht. Sie haben mich nur unterbrochen. Sie hätten ruhig an der Tür lauschen und im richtigen Moment eintreten können. Aber gut. Wie ich Max schon vor Stunden auf seine Nachfrage hin erklärt habe, können Fetane die Erinnerung, die ihre Opfer an sie haben, in die entlegensten Winkel des menschlichen Bewusstseins zurückdrängen. Daher können sich die unglücklichen Opfer eines Fetans nie an ihre Träume erinnern und führen ihr merkwürdiges Befinden auf andere Ursachen zurück. Infolgedessen bleiben sie zu Hause, gehen ein weiteres Mal schlafen und liefern sich dadurch aufs Neue dem hungrigen Geschöpf aus. Als ich gestern deine Alpträume verfolgte, Max, habe ich erlebt, wie deine Amulette arbeiten, und mit eigenen Augen gesehen, was das Kind der Purpurroten Perle ausgerichtet hat. Du hättest deine Perle gar nicht neben dem Kopfkissen lassen müssen. Es hätte völlig gereicht, sie in der Hand zu halten. Wie sich erwiesen hat, helfen diese Perlen ihrem Besitzer, unter allen Umständen das Gedächtnis zu behalten. Das ist schon das ganze Geheimnis. Und jetzt, Lady Melamori, schlucken Sie bitte runter, was Sie im Mund haben, und berichten Sie, was Ihnen widerfahren ist.«
Doch Melamori folgte diesem klugen Rat nicht, sondern legte mit vollem Mund los. Tischmanieren schienen nicht gerade die Stärke der hiesigen Aristokratie zu sein. Allerdings hat mich ihr Anblick, wie ich gestehen muss, sehr amüsiert.
»Alles lief wunderbar. Ich bin Dschuba Tschebobargo rasch auf die Spur gekommen. Das war nicht allzu kompliziert, denn seine Adresse ist kein Geheimnis. Dennoch war ich sehr verärgert, was sich, wie ihr alle wisst, als Vorteil erwiesen hat. Bei seiner Verhaftung hatte ich den Verbrecher völlig unter Kontrolle. Melifaro, der sympathische Sir Schichola und ich hatten uns zur Straße der kleinen Generäle aufgemacht. Dort angekommen stellten wir fest, dass sich Tschebobargo in einer schwierigen Situation befand. Er lag im Wohnzimmer auf dem Boden, und seine kleinen Geschöpfe umringten ihn. Manche Puppen begriffen sich inzwischen als dankbare Söhne ihres Schöpfers, während andere der Tyrannei ihres Erzeugers den Kampf ansagen wollten. Als wir ins Zimmer kamen, besprachen sie diese Sache gerade. Ach, meine Herrschaften! Sie sagten kein Wort, sondern knirschten nur mit den Zähnen. Das war ihr Kompromiss zwischen Stummer Rede und normaler Unterhaltung. Wir haben gleich ein paar Puppen zerstört. Daraufhin sind die Übrigen panisch in alle Himmelsrichtungen geflohen. Auch Tschebobargo hat zu fliehen versucht, doch ich weiß nicht, ob er sich vor uns oder vor seinen Puppen in Sicherheit hat bringen wollen. Auf alle Fälle wusste der Arme nicht, was um ihn herum geschah. So musste ich ihn weiter verfolgen, während Melifaro und Sir Schichola zurückblieben, um das Unheil vollkommen zu ersticken. Den Rest der Geschichte kennt ihr ja schon. Aber es gibt noch etwas: Die Polizei hat im Badezimmer von Dschuba Tschebobargo fast alle von ihm gestohlenen Dinge gefunden, darunter auch meine Sachen. Sie haben ganz oben gelegen, weil ich als Letzte beraubt worden bin. Und womit habt ihr euch beschäftigt?«, fragte Lady Melamori und sah Sir Lonely- Lokley dabei traurig an - und mich auch!
»Sir Juffin wird Ihnen alles erzählen«, antwortete Schürf sanft. Er gehörte offenbar nicht zu den großen Schwätzern des Vereinigten Königreichs.
»Ich warte, bis alle da sind«, meinte Juffin. »Seien Sie mir nicht böse, süße Lady, doch ich erzähle nun mal nicht gern immer wieder das Gleiche.«
»Schon gut. Aber ich könnte - wie Sie genau wissen - vor Neugier in Ihren Armen sterben.«
Nach kaum einer halben Stunde trat Melifaro ein. Im Gegensatz zu den anderen hatte er es geschafft, sich umzuziehen. Diesmal war seine Skaba salatgrün, sein Lochimantel dagegen grellrot und königsblau kariert. Bewahrte er etwa seine ganze Garderobe im Büro auf!?
Gleich darauf erschien Sir Kofa in Juffins Büro. Angeblich war er nur vorbeigekommen, um nach dem Stand der Dinge zu fragen. In der Stadt erzählte man sich inzwischen merkwürdige Sachen. Zum Beispiel hieß es von Dschuba Tschebobargo, er sei Anführer einer Bande von Liliputanern gewesen. Außerdem raunte man, der Ehrwürdige Leiter habe dem ehemaligen Höfling Tolakan En, der beträchtliche Spielschulden gehabt habe, höchstpersönlich die Kehle durchgeschnitten. Obendrein sollte Juffin noch Tolakans Frau erschlagen haben. Auch hieß es, En habe sich mit verbotener Magie befasst und freundschaftlichen Umgang mit den vierundzwanzig aufsässigsten Magistern von Echo gepflegt.
»Ein hübsches Gerücht«, lächelte Juffin. »Und dazu noch sehr lehrreich. Alle Leute dürften jetzt begriffen haben, dass man Spielschulden rechtzeitig zurückzahlen sollte.«
Zur Witzfigur des Tages aber wurde General Bubuta Boch, der trotz Verletzung eine Verlautbarung zusammenstoppelte, in der es hieß, unter seiner umsichtigen Leitung sei die Stadtpolizei auf eine Spur gestoßen, die es demnächst ermöglichen werde, eine Diebstahlserie aufzuklären, die die Bewohner von Echo seit kurzem in Atem halte. Der arme Bubuta hatte nicht gemerkt, dass der Fall längst gelöst war! Zum Glück konnten aufgeweckte Mitarbeiter des Generals die Veröffentlichung des Kommuniques verhindern und ihren Chef so davor bewahren, sich in der ganzen Stadt zum Gespött zu machen.
Den Rest des Abends berichtete Juffin von unseren Abenteuern. Fast wäre ich eingedöst, so satt war ich, und so warm war mir. Doch vor allem schläferte mich ein, meine Abenteuer als so interessantes wie seltsames Märchen erzählt zu bekommen.
»Max, ich befehle dir, nach Hause zu gehen«, erklärte Juffin. »Alle Geheimnisse sind gelüftet, alle Piroggen gegessen. Was du jetzt brauchst, sind vierundzwanzig Stunden Schlaf ohne den leisesten Alptraum.«
»Keine Einwände!«, lächelte ich. »Ich habe nur noch eine letzte Frage. Melifaro, was ich schon lange wissen wollte: Gibt es auf deinem Gut eigentlich Katzen?«
»Natürlich. Warum?«
»Ich hatte mir geschworen, mir ein Kätzchen anzuschaffen, wenn dieser Fall überstanden ist. Und weil wir nun nicht einen, sondern gleich zwei Fälle gelöst haben, brauche ich ein Paar.«
»Ich kann dir sogar zwölf Kätzchen schenken. Aber was willst du damit machen? Willst du sie etwa essen? « »Wir Leute aus der Provinz essen alles«, erklärte ich, hatte dann aber Mitleid mit meinen schockierten Kollegen und meinte: »Ich werde sie streicheln, und sie werden schnurren - dem klassischen Verhältnis zwischen Mensch und Katze getreu.«
Zu Hause war es sehr nett. Die Alpträume lagen hinter mir, und nach all den turbulenten Tagen war ich hundemüde. Also legte ich mich ins Bett, schloss die Augen und streckte mich so sehr, dass ich beinahe geschrien hätte. Dann döste ich ein und schlief nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Stein. Und das sehr lange. Erst am Abend des nächsten Tages trieb mich der Hunger aus dem Bett. Anders als ein Stein verspürt der Mensch nämlich von Zeit zu Zeit großen Appetit.
Nach einer Stunde klopfte es an der Tür. Draußen stand der junge Bote unserer Dienststelle.
»Ich habe eine Sendung von Sir Melifaro für Sie«, meldete der Junge ehrerbietig und überreichte mir einen großen, enorm schweren Korb. Ich schloss die Tür hinter dem Boten und schlug die gemusterte Decke, die über dem Korb lag, zurück. Zwei haarige Wesen sahen mich mit hellen blauen Augen an. Ich nahm sie aus dem Korb. Jedes Kätzchen wog mehr als ein erwachsenes Exemplar in meiner Heimat! Ich musterte die beiden - einen schwarzen Kater und eine kaffeebraune Katze. Sie schienen ein enorm ruhiges Wesen zu haben, das schon an Faulheit grenzte und wohl darauf zurückzuführen war, dass sie allzu gut genährt waren. Meine Neuanschaffung ließ mich richtiggehend aus dem Häuschen geraten. So sehr, dass ich mich gleich bei Sir Melifaro meldete.
»Vielen Dank, mein Freund! Die Tiere sind wahnsinnig schön! Mir fehlen die Worte«, teilte ich ihm mit.
»Sündige Magister, Max! Dass du dich in Stummer Rede so lustig ausdrücken würdest, hätte ich nicht gedacht. Die Katzen sind doch nicht der Rede wert. Guten Appetit!«
Was hätte ich von ihm sonst zu hören bekommen können?
Den Kater nannte ich Armstrong, die Katze Ella. Diese Namen gab ich ihnen, als sie mich laut miauend daran erinnerten, gefüttert werden zu wollen. Meine Tiere hatten wirklich durchdringende Stimmen! Und als ich noch nicht Sir Max aus Echo war, habe ich abends gern alten Jazz gehört.