DER EISERNE RITTER TILLI-WILLI

DIE GEBURT DES RIESEN

Die Werkstätte wurde im großen Keller des Palastes eingerichtet, wo noch die Tische standen, auf denen Urfin Juice mit seinen Gehilfen einst die Holzköpfe gefertigt hatte. Die Luft wurde mit Hilfe von Feuern gereinigt, Kerzen erleuchteten den Raum. Die Arbeit war in vollem Gange. Charlie Black hatte die Zeichnungen angefertigt, nach denen aus dem mitgebrachten Blech die Teile für den Rumpf, den Kopf, die Arme und die Beine des Riesen herausgeschnitten wurden, der den Namen des heidnischen Gottes Tilli-Willi erhielt. Die Arbeit erforderte große Genauigkeit. Die Teile mußten mit Holzhämmern gebogen werden, damit sie die nötige Wölbung erhielten und nach dem Vernieten die Form eines menschlichen Körpers annahmen. Der kleinste Fehler in der Berechnung konnte Folgen haben, die sich nicht beheben lassen würden. Das Werk wurde durch die gewaltige Größe Tilli-Willls erschwert. Charlie Black und Lestar hatten beschlossen, daß TilliWilli größer sein müsse als Arachna, damit er sie zu Tode erschrecke. Für jeden Arm wurden fünf Blechtafeln verbraucht, für die Beine acht und für den gewaltigen Rumpf zwanzig. Zum Glück hatte Charlie Black genügend Material aus Kansas mitgebracht. Zwanzig Stunden am Tag und sogar mehr kreischten in der Werkstätte die Bohrer, klopften die Hämmer, glühten in den Ofen Eisenstäbe und gingen aus den Händen der Schmiede Nieten und anderes Zubehör hervor. Im niedrigen Gewölbe des Kellers war es so heiß, daß die Menschen von Schweiß troffen und manchmal sogar das Bewußtsein verloren. Doch niemand ließ es sich verdrießen, jeder arbeitete aufopferungsvoll, wußte er doch, daß auch von ihm die Rettung der Heimat abhing. Nach und nach entstanden die gewaltigen Hüften, Schenkel und Arme des künftigen Riesen. Sie sahen wie eiserne Tunnels aus, in denen sich die kleinen Zwinkerer mit ihrem Werkzeug bewegten. Diese Teile sollten durch Gelenke verbunden werden. In den mächtigen Kopf des mechanischen Riesen wurden schräge Löcher für die Augen und eine breite Öffnung für den Mund gebohrt. Den Rumpf Tilli-Willis beschloß man im Hof zusammenzubauen, denn täte man es im Keller, würde man ihn durch die Tür nicht hinaustragen können. Rumpf, Kopf und Glieder waren jedoch nur ein Teil der Arbeit, und nicht einmal der wichtigste. Denn Tilli-Willi sollte gehen, laufen und Speer und Schild handhaben können. Zu diesem Zweck mußte er mit unzähligen Zahnrädern. Hebeln sowie großen und kleinen Federn ausgestattet werden, die Muskeln ersetzten. Das forderte viel

Geschick und Zeit. Zum Glück waren die Zwinkerer seit jeher hervorragende Handwerker gewesen, und außerdem hatten sie in den letzten Jahren beim Auseinandernehmen und Zusammenfügen des Eisernen Holzfällers und seiner komplizierten Teile viel Erfahrung gesammelt. Man gönnte sich weder Rast noch Ruhe, denn der Frost wurde mit jedem Tag grimmiger. Den wichtigsten Teil der Arbeit, den Einbau der Zahnräder, Hebel und Federn, übernahmen Charlie und Lestar, die täglich nur zwei Stunden schliefen und so erschöpft waren, daß sie sich kaum noch auf den Beinen hielten. Damit der Schlaf sie nicht während der Arbeit überwältige, tranken sie einen Aufguß aus Nuch-Nuch-Nüssen. Schließlich war man so weit, daß die Montage des mechanischen Riesen beginnen konnte. Sie sollte im Hof vor sich gehen. Für die Teile der Arme und Beine war die Tür groß genug, für den Kopfjedoch zu klein, und man mußte ein großes Loch in die Wand bohren, um ihn hinauszuschaffen. Im Hof brannten viele Feuer, an denen sich die Arbeiter wärmten, wenn es ihnen zu kalt wurde. Die Feuer waren auch deshalb gut, weil sie die Luft im Hof reinigten, wofür die Handwerker Dank für Urfin Juice empfanden, denn ohne seinen Rat hätten sie mit Rafalooblättern vor dem Mund wie mit Maulkörben arbeiten müssen. Die Zimmerleute hatten Leitern und hohe Bühnen vorbereitet, die man nach Bedarf verstellen konnte. An einer festen Stange, die auf zwei hohen Pfählen ruhte, hingen Flaschenzüge. Die Montage begann damit, daß der Rumpf Tilli-Willis mit starken Seilen angehoben wurde. Um ihn in die notwendige Höhe zu befördern, wurde die Seile über Flaschenzüge von 170 Mann gezogen, denen der Eiserne Holzfäller in eigener Person half. Das Kommando führte Charlie Black. Der Rumpf war der wichtigste Teil des Riesen, denn er beherbergte die Steueranlage, die alle Bewegungen lenkte. Deshalb hatten die Meister in Tilli-Willis Bauch eine Kabine eingebaut, in die man durch eine schmale Tür einsteigen konnte. An den Boden der Kabine wurde ein Drehsessel festgeschraubt, von dem aus ein Mensch, der die Bewegungen Tilli-Willis steuern sollte, bequem alle Hebel und Knöpfe zur Betätigung der Federn bedienen konnte. Es versteht sich, daß zu diesem Zweck nur Lestar geeignet war, der geschickteste Mechaniker im Land der Zwinkerer, der schon viele Geräte und Vorrichtungen erfunden und installiert hatte. Jetzt kam auch noch sein kleiner Wuchs zustatten und nicht zuletzt die Kraft und Ausdauer, die er immer noch besaß. Nach Aufhängung des Rumpfes gingen die Arbeiter an die Montage der Arme, der Beine und des Kopfes. Die Anlage war von unzähligen Seilen umgeben, an denen, in Rauch und Dunst gehüllt, Schwebebühnen auf- und abglitten, die Handwerker mit Bohrern, Meißeln, Hämmern und Zangen trugen.

Das Gewirr der Stimmen, das Kreischen der Flaschenzüge und das Klopfen der Hämmer vermischte sich in der nebligen Luft zu einem ohrenbetäubenden Gedröhn, und die gewaltige Figur TilliWillis nahm immer mehr menschliche Formen an. Schließlich kam der feierliche Augenblick, da alle mechanischen Arbeiten beendet, Federn, Instrumente und sonstiges Gerät eingebaut waren und der Riese fest auf seinen gewaltigen Beinen stand. Beim Abschmieren seiner Federn und Gelenke war ein großes Faß Öl verbraucht worden. Jetzt kam die Reihe der Anstreicher. Die Bemalung des Kopfes wurde den besten Meistern übertragen. Das waren wahrhaftige Künstler, die die Züge des Gottes von den Kuru-Kussu-Inseln genau nachbildeten. Wer das grimmige Gesicht Tilli-Willis, seine bösen funkelnden schrägen Augen und das schauderhafte Grinsen seines Mundes mit den riesigen Hauern sah, mußte vor Schreck erbeben. Rumpf, Arme und Beine waren so bemalt, daß man einen gepanzerten mittelalterlichen Ritter vor sich zu haben glaubte. Zur Vervollständigung der Ähnlichkeit waren nur noch Schild, Schwert und Lanze notwendig. Das riesige Schwert lag bereits da, es war so schwer, daß vierzig Mann es kaum von der Stelle bewegen konnten, und der eiserne Schild hätte Hunderten Menschen Schutz gegen Regen bieten können. Zu einem Ritter gehört natürlich auch eine Lanze, doch die Lanzen der Ritter pflegten Knappen zu tragen, und deshalb mußte man in diesem Fall von einer Lanze absehen. Wo hätte man auch für einen solchen Riesen einen Lanzenträger nehmen sollen?

Die Schöpfer Tilli-Willis waren mit ihrem Werk zufrieden. „Tja", sagte Charlie Black, „wenn Arachna unser Kindchen sieht, werden ihr die Knie schlottern." „Ich werde das Kindchen lehren", sagte Lestar, „den Feind zu jagen, wie der Wolf den Hasen." Das „Kindchen" Tilli-Willi war nicht stumm, denn in seine Kehle hatte man eine Sirene eingebaut, deren Tonleiter von der tiefsten bis zur höchsten Heulstufe reichte. Als man sie zum erstenmal ausprobierte, brach in der Stadt ein schrecklicher Tumult aus. Das durchdringende Geheul trieb die Menschen aus den Häusern, die meinten, der Weltuntergang sei da, und die mit angstverzerrten Gesichtern durch die Straßen rannten, wobei sie sich wegen des Gelben Nebels ständig stießen. Es mußten Herolde zur Beruhigung des Volkes ausgeschickt werden. Charlie Black rieb sich vor Vergnügen die Hände, paffte und schwor bei den Stürmen aller Breiten, daß der automatische Riese seine Aufgabe glänzend erfüllen werde. Es war Zeit, die Kampfhandlungen gegen die Hexe aufzunehmen. Ein paar Tage bevor der Riese fertig war, hatten die Holzköpfe Ellis Wohnwagen auf den Schultern hergebracht. Er wurde auf die bereitstehenden Radpaare gesetzt, Tür und Fenster wurden abgedichtet, die

Einrichtung erneuert, kurz, es fehlte nichts mehr, um ihn auf die Reise zu schicken. Da die kleinen Pferde des Zauberlandes einen so schweren Wagen nicht ziehen konnten, beschloß der Stab des Scheuchs, Holzköpfe einzuspannen. Diesen fiel auch die Aufgabe zu, den automatischen Riesen aufzuziehen. Die Federn, die Arme, Beine und Hals des Giganten bewegten, waren so stark, daß man sie nur mit der Kraft von Holzköpfen aufziehen konnte. Also bestiegen mehrere hölzerne Männer Leitern, die an den Rumpf Tilli-Willis lehnten, steckten die Aufziehschlüssel in die entsprechenden Löcher und drehten die Schlüssel, bis die Federn vor Spannung zu knarren und zu dröhnen begannen. Als das Aufziehen beendet war, konnte man sicher sein, daß es für mehrere Stunden ununterbrochener Arbeit reichen würde. Zum obersten Leiter der in den Kampf ziehenden Holzköpfe wurde der ehemalige General Lan Pirot ernannt, der sich als ein ausgezeichneter Verwalter erweisen sollte.

DIE ERSTEN SCHRITTE DES EISERNEN RITTERS

Die Besatzung der fahrbaren Festung bestand aus dem Scheuch, dem Eisernen Holzfäller, Din Gior, Faramant, Doktor Boril, KaggiKarr und den Gästen von jenseits der Berge: Charlie Black, Ann, Tim und Arto. Der Löwe mit seinem massiven Rumpf fand keinen Platz im Wagen und blieb verdrossen in der Smaragdenstadt zurück. Zur Mannschaft gehörte auch Lestar, nur mußte er im Bauch von Tilli-Willi sitzen. Zur Geländebeobachtung waren im Bauch und im Rücken des Ritters mehrere Bullaugen eingelassen, durch die Lestar alles sehen konnte, was vor und hinter dem Riesen geschah. Die gewaltigen Augen im Kopf Tilli-Willis, die in ihren Höhlen rollten, sollten dem Feind Furcht einflößen. Das zumindest war die Absicht der Schöpfer Tilli-Willis gewesen, doch in Wirklichkeit kam es anders, wovon werter die Rede sein soll. Nun war alles für die lange und gefährliche Reise bereit. Säcke und Körbe mit Proviant und Fäßchen mit Trinkwasser standen unter den Bänken, die vergiftete Luft war nach dem Verfahren Urfin Juices gereinigt worden, was unbedingt geschehen mußte, denn im engen Wagen hätte niemand mehrere Tage ohne Unterbrechung mit Rafalooblättern vor Mund und Nase atmen können. Die giftigen Tropfen des Gelben Nebels konnten durch die gut abgedichteten Wände, Boden und Dach der fahrbaren Festung nicht eindringen. Zur Lüftung hatte Lestar in die Wände mehrere Löcher gebohrt, die durch zuverlässige Filter aus Rafalooblättern geschützt waren. Damit man sich im Wagen gut fühlte, sollten die Insassen so selten wie nur möglich aussteigen und immer darauf bedacht sein, die Tür hinter sich schnell zuzuschlagen.

Lestar, der es sich in der Kabine des automatischen Giganten bequem gemacht hatte, drückte auf den Hauptganghebel, worauf es im Leib Tilli-Willis zu knarren und zu knirschen begann, dann knackten die Federn und der Riese setzte sich in Bewegung. Aber da geschah auch schon ein Wunder. Beim ersten Schritt wurde Tilli-Willi lebendig! Zur Erklärung sei gesagt, daß eine Begebenheit dieser Art in den Staaten Kansas, Ohio oder Connecticut als Wunder gelten würde, nicht aber im Zauberland, wo solche Dinge alle Tage vorkamen. Dort lebten und bewegten sich, fühlten und gebärdeten sich wie Menschen ein Strohmann, der Scheuch hieß, und ein Mann aus Eisen, den man den Eisernen Holzfäller nannte. Dort waren zwei mechanische Maultiere, Cäsar und Hannibal, als sie die Grenze zum Zauberland überschritten hatten, lebendig geworden und hatten wie Menschen zu sprechen begonnen. Deshalb waren die Teilnehmer des Feldzugs auch nicht verwundert, als in Tilli-Willi plötzlich Leben kam. Sie freuten sich darüber, faßten es jedoch nicht als ein Wunder auf. Tilli-Willi drehte den Kopf neugierig nach allen Seiten, denn seine gewaltigen Augen, die nur zur Abschreckung von Feinden dienen sollten, hatten zu sehen begonnen. Der Riese sagte mit dröhnendem Baß: „Bringt einen Spiegel, ich möchte wissen, wie ich von der Seite aussehe." In wenigen Minuten brachte man den größten Spiegel, den man im Palast hatte auftreiben können, putzte ihn sorgfältig und hängte ihn an die Stange, unter der Tilli-Willi zusammengebaut worden war. Der Riese suchte lange einen geeigneten Platz, betrachtete dann aufmerksam sein Gesicht im Spiegel und brach dann in schallendes Gelächter aus. „Oh, was bin ich doch für ein Prachtkerl! Keiner von euch Menschen hat solche ausdrucksvollen Augen, das schwöre ich bei allen Gewittern!" rief Tilli-Willi entzückt. Die Zuhörer mußten laut lachen. Wie sich herausstellte, hatte der eiserne Riese schon bei seiner Geburt die Seemannsausdrücke von Kapitän Black aufgeschnappt. Wie viele Wunder gab es doch in diesem ungewöhnlichen Lande!... Tilli-Willi fuhr fort:

„Oh, welch hübsche Wangen und welch reizendes Kinn ich habe! Ihr Menschen seid doch nur komische Mißgestalten im Vergleich zu mir! Aber wo ist denn Väterchen Charlie, nach dessen Entwurf ihr einen solchen Prachtkerl gebaut habt? Bitte tritt hervor, zeig dich doch, mein liebes Väterchen Charlie, ich brenne schon darauf, dich zusehen!" Der Seemann trat vor. Er war etwas verwirrt, zugleich aber auch stolz über die Worte seines mechanischen Kindes. Da es von unten schlecht zu sehen war, stieg er eine hohe Leiter hinauf, die mehrere Zwinkerer festhielten. „Es freut mich, daß du zufrieden bist, mein Junge!" schrie er in das Sprachrohr. „Wir haben uns reichlich Mühe gegeben..." „Papa, nimm bitte das Rohr vom Mund", bat Tilli-Willi. „Meine hervorragenden Ohren hören auch ohne Rohr jedes Wort, das du sagst. Ein Hai soll mich verschlingen, wenn ich lüge!" Charlie Black lachte. „Weißt du denn, was ein Hai ist?" Der Riese erwiderte ohne Zaudern:

„Das ist wohl so etwas wie die Hexe Arachna, mit der ich mich schlagen soll, dazu habt ihr mich doch gemacht, wenn ich euch recht verstehe. Papachen, ich muß dir sagen, du hast deine Aufgabe glänzend ausgeführt. Das war mir schon klar, als ich die Möglichkeit erhielt, meine Sinne zu beherrschen. Wisset alle, ich habe einen starken Willen - der Blitz soll mich treffen, wenn ich mich nicht wie ein Löwe schlagen werde!" Der Tapfere Löwe, der das alles mitanhörte, war über den Vergleich sehr geschmeichelt und bedankte sich bei Tilli-Willi. Der eiserne Riese aber sagte sanft: „Papachen, ich würde dich gern an meine liebende Brust drük-ken, aber ich fürchte, das könnte schlimm enden. Ihr Menschen scheint so zerbrechlich zu sein!"

„Ja, das sind wir von Natur", gab der Einbeinige Seemann zu. „Deshalb begnüge dich damit, Söhnchen, deine Liebe und Dankbarkeit in Worten auszudrücken. Das wird für mich weniger gefährlich sein. Jetzt aber mußt du durch dieses Tor gehen", sagte Charlie Black. „Vorwärts, marsch!" Der Riese tat, wie ihm geheißen, doch vor dem Tor blieb er unschlüssig stehen. „Papa Charlie, das Tor ist zu klein für mich, unter dem Bogen komme ich nicht durch..."

Charlie Black mußte verwirrt zugeben, daß da etwas wirklich nicht stimme und man den Bogen werde zerbrechen müssen.

„Das nehme ich auf. mich, Papachen", sagte der Riese. „Gebt mir nur eine Spitzhacke, die schwerste, die ihr habt."

Die Hacke in der eisernen Faust, hieb Tilli-Willi so gewaltig auf den Torbogen ein, daß die Ziegelbrocken nach allen Seiten spritzten und die Zuschauer auseinanderliefen. In wenigen Minuten war der Durchbrach fertig, und der eiserne Ritter trat auf den freien Platz. Der Wohnwagen, von Holzköpfen gezogen, folgte ihm. Als der Riese mit dem Schwert in der Rechten und dem Schild in der Linken durch die Straßen stapfte, überragte sein Kopf die dritte Etage der Häuser. Die Leute riefen ihm aus den Fenstern begeistert zu: „Hoch lebe unser Retter! Ruhm dem eisernen Mann, der Arachna besiegen wird!"

Tilli-Willi verbeugte sich stolz nach allen Seiten. „Habt Vertrauen zu mir, Bürger!" sagte er. „Tilli-Willi ist noch jung, aber ihr könnt euch auf ihn verlassen!"

Natürlich war auch das Stadttor für den Riesen zu eng, doch das hatte man vorausgesehen und ein Stück der Mauer rechtzeitig abgetragen. Da die

Fähre eine so schwere Last wie den Riesen nicht tragen konnte, mußte er den Kanal watend durchqueren. Ins Wasser steigend, bemerkte er nebenbei: „Ich darf wohl annehmen, meine Nähte sind dicht genug, und ich werde nicht naß."

Aus dem Bauch des Riesen drang Lestars Stimme: „Sei unbesorgt, auf unsere Arbeit ist Verlaß!"

Tilli-Willi entgegnete spöttisch: „Ach, das seid Ihr, mein angeblicher Führer! Ihr heißt Lestar, wenn ich nicht irre? Aufrichtig gesagt, schaff ich es auch ohne Euch, doch bleibt schon, wo Ihr seid. Wie sagt man doch: Doppelt hält besser..."

Durch die Prahlerei verlor Tilli-Willi die Kontrolle über seine Bewegungen, glitt auf dem Schlamm des Kanalbodens aus, warf die Arme in die Luft und plumpste beinahe ins Wasser. Es hätte schlimm enden können. Wäre das geschehen, hätten Charlie Black und seine Gefährten ihn im Kanal wiederaufrichten müssen, und wer weiß, ob sie es geschafft hätten. Zum Glück verlor Lestar nicht die Geistesgegenwart. Er drückte rechtzeitig auf die notwendigen Hebel, worauf der eiserne Gigant das Gleichgewicht wiedererlangte. Er richtete sich auf und schritt, die Eisdecke des Kanals zerbrechend, auf das andere Ufer zu. Als er es bestieg, wies ihn Lestar sanft zurecht: „Überheblichkeit hat schon vielen geschadet." „Was ist das, Überheblichkeit?" fragte der Riese. Als man es ihm erklärte, sagte er schuldig: „Ich will nie mehr überheblich sein..." Am Abend erzählte Lestar dem Kapitän und den anderen Teilnehmern des Feldzuges von diesem kindischen Streich Tilli-Willis, der für die Expedition schwere Folgen hätte haben können. Der Einbeinige Seemann sagte: „Ich hatte schon in Kansas beschlossen, daß unser Helfer im Kampf mit Arachna ein Junge sein muß. Ja, ja, wundert euch nicht, gerade ein eiserner Junge von dreißig Ellen. Als ich hier, auf der Smarggdeninsel, die Teile zusammensetzte, sagte ich zu ihnen, der zukünftige Tilli-Willi müsse mutig sein wie ein Knabe, der jede Gefahr verachtet und von Heldentaten träumt... "

„Onkelchen Charlie, das hast du großartig gemacht!" rief Ann begeistert. „Würde unser Tim dreißig Ellen groß und ganz aus Eisen sein, er würde sich genauso verhalten!"

Alle Insassen des Wagens waren überzeugt, daß Charlie Black es gut gemacht hatte und daß das Leben das Übrige besorgen würde.

DIE KÖNIGIN DER FELDMÄUSE

Als die Holzköpfe den Wagen vorsichtig von der Fähre gehoben und auf die gelbe Backsteinstraße gesetzt hatten, auf der sie ihn ziehen sollten, stellte Ann eine, allem Anschein nach unschuldige Frage, die jedoch, wie sich bald zeigte, niemand beantworten konnte. Diese Frage lautete: „Was tun wir, wenn Arachna sich weigert, den Kampf mit TilliWilli aufzunehmen, und mit ihrem Zauberteppich davonfliegt?" „Oh, daran habe ich nicht gedacht", gestand Charlie Black. „Die Hexe würde in einer Stunde gut zwanzig Meilen schaffen, für die wir mindestens einen ganzen Tag brauchten. Und wo sollen wir sie suchen, wenn sie davongeflogen ist?" „Da kann uns wohl der Zauberkasten helfen", sagte, auf den polierten Kasten klopfend, der Scheuch. „Er wird uns nicht helfen", entgegnete Charlie mürrisch. „Im Gelben Nebel funktioniert er nicht." Alle wurden nachdenklich. Jemand klopfe an die Tür, und herein trat mit besorgtem Gesicht Lestar. Er hatte sich nicht erklären können, warum der Wagen so lange stand, und war aus dem Bauch Tilli-Willis über die Strickleiter heruntergekommen, um nach der Ursache zu fragen. Als man es ihm sagte, ließ auch er den Kopf hängen. Tim seufzte: „Wie schade, daß wir den Silberreif nicht haben. Mit ihm hätte ich Arachna bestimmt den Teppich entwendet!" Eine Zeitlang herrschte Schweigen. „Ich weiß, wie wir es anstellen können, daß die Hexe den Teppich verliert!" rief Ann. „Die Mäuse müssen ihn zernagen!"

„Was hast du?" fragte Tim besorgt. „Bist wohl übergeschnappt?" Doch da fiel sein Blick auf die Silberpfeife an Anns Hals, und er jauchzte auf: „Ramina? Du hast an Ramina gedacht?"

„Natürlich", erwiderte das Mädchen. „Halt bitte Arto fest!" Ann bließ in die Pfeife, die ihre große Schwester einst von der Königin der Feldmäuse geschenkt bekommen hatte, und im nächsten Augenblick stand Ramina mit mehreren Hoffräulein da. Arto wollte sich auf sie stürzen, doch Tim hielt ihn fest. „Guten Tag, Eure Majestät!" begrüßte Ann die kleine Königin. „Guten Tag, liebes Kind!" erwiderte Ramina. „Ich freue mich, dich zu sehen, und auch Tim, den Riesen von jenseits der Berge und sogar das Hündchen, meinen Erzfeind. Es ist mir sehr angenehm, daß ihr alle wohlauf seid. Gerade jetzt, wo wir uns wiedersehen, befindet sich unsere Heimat in schwerer Not. Mein Volk hat viel zu leiden..."

„Hoffentlich ist niemand von Euren Untertanen umgekommen?" fragte das Mädchen teilnahmsvoll. „Noch nicht. Wir haben im unterirdischen Gang, der aus dem alten Turm führt, Unterschlupf gefunden. Der Riese von jenseits der Berge hat euch von diesem Gang wahrscheinlich erzählt." „Ja, ja!" rief Ann lebhaft. Charlie Black fügte hinzu: „Ihr wart es, die uns damals diesen Weg wiest. Wir haben uns dort mit dem Sechsfüßer geschlagen!"

„Dieser unterirdische Gang ist jetzt unsere Zuflucht. Dort gibt es keinen Gelben Nebel, doch leider auch nichts zu essen." „Eure Majestät!" sagte Ann, „wir sind in das Zauberland gekommen, um den Gelben Nebel zu vertreiben, und wir bitten Euch, uns beizustehen." „Wie sollen wir euch beistehen, wo wir doch so klein und schwach sind?" fragte Ramina verwundert. „Wir haben die Riesin Arachna gesehen, wie sie einmal, in Gedanken versunken, über ein Feld ging, auf dem meine Untertanen zogen. Die Hexe trat unabsichtlich auf unseren Zug, und dabei sind 140 Mäuse umgekommen, unter denen sich mehrere sehr ehrenwerte Personen befanden!"

Der Scheuch und seine Kameraden drückten der Königin ihr tiefstes Beileid aus, und dann erzählte ihr Charlie Black vom Riesen Tilii-Willi, der es mit Arachna aufnehmen werde. Er nahm Ramina und ihr Fräulein auf die Hand und zeigte ihnen durch das Fenster den automatischen Giganten. Die Mäuse erzitterten vor Schreck, als sie das grimmige Gesicht des eisernen Ritters erblickten. „Aber wir können uns mit Arachna nicht messen, solange sie den fliegenden Teppich besitzt", sagte der Seemann. „Unser TilliWilli ist zu langsam. Wenn die Hexe ihm entschlüpft und mit dem Teppich fortfliegt, wird er sie nicht einholen können, deshalb richten wir an das Mäusevolk die dringende Bitte, den Zauberteppich zu vernichten." „Das können wir!" piepste Ramina erfreut. „Wir werden den Teppich so zernagen, daß nichts von ihm übrigbleibt."

Der Scheuch und seine Kameraden klatschten begeistert in die Hände, wobei sie Arto völlig vergaßen, der sich schon duckte, um die Mäuse anzuspringen. Tim packte ihn gerade noch rechtzeitig am Nacken und verhinderte so ein Unglück.

„Der Weg von unserem Unterschlupf zu den Besitzungen der bösen Hexe ist jedoch weit", fuhr Ramina fort, „und voller Hindernisse, darunter reißende Wildbäche, Berge und tiefe Schluchten... Wir brauchen einen Begleiter, der kräftig und flink sein soll und uns an den gefährlichen Stellen helfen kann."

Ihr Blick blieb auf Tim O'Kelli ruhen, der sich geschmeichelt fühlte und sofort seine Dienste anbot. Aufrichtig gesagt, fürchtete der Einbeinige Seemann, den Jungen allein auf eine so weite und gefährliche Reise zu schicken, doch er sah keinen anderen Ausweg. Weder Charlie, noch der Eiserne Holzfäller noch Din Gior eigneten sich als Begleiter des Mäusevolks, denn sie waren mit der Zeit schwerfällig geworden. Faramant oder den Doktor konnte der Kapitän mit dieser Aufgabe auch nicht betrauen, weil beide schwächlich und schon im fortgeschrittenen Alter waren.

„Nun denn, mein Junge", sagte schließlich der Kapitän seufzend, „du darfst gehen, aber ich beschwöre dich bei allen Masten unseres Schiffes, sei vorsichtig! Ich wünsche dir eine glückliche Reise, Kamerad, und Hals- und Beinbruch!"

Während man Tim für die Reise ausstattete, wobei natürlich Filter aus Rafalooblättern und Schutzbrille nicht vergessen wurden, erkundigte sich die Mäusekönigin bei Ann und Charlie nach ihrer guten Freundin Elli. Sie fragte, wie sie lerne und ob sie gesund sei, auch wollte sie wissen, wie es dem ehemaligen Zauberer Goodwin gehe, nachdem er das Zauberhandwerk aufgegeben hatte und in den Ruhestand getreten war. Als man ihr sagte, Goodwin führe eine Gemischtwarenhandlung, schüttelte die Königin mißbilligend den kleinen Kopf. Tim stand bereits reisefertig vor der Tür. Sein Rucksack war bis oben gefüllt mit Proviant und was man sonst noch unterwegs brauchen kann; in seinem Gürtel stak eine kleine scharfe Axt mit festem Stiel. „Du sollst nicht zu Fuß reisen, Tim", sagte der Scheuch. „Die Zeit ist kostbar, wir müssen jede Stunde sparen. Faramant, gib Tim den Zauberteppich Ruscheros!"

Bei der Übergabe des Teppichs, an dem eine Inventarmarke hing, schärfte Faramant, der jetzt Leiter des Versorgungsdienstes war, dem Jungen ein, auf diesen kostbaren Gegenstand gut aufzupassen. In das Inventarbuch aber trug er ein: „Teppich auf Verfügung des Weisen Scheuchs zur zeitweiligen Nutzung an Tim O'Kelli übergeben."

Tim trat aus dem Wagen, breitete den Teppich aus, setzte sich auf ihn und steckte Ramina mit ihrem Mäusegefolge in seinen Hemdausschnitt, wo sie sich sehr wohl fühlten. „Trag uns, kleiner Teppich, zum Eingang in den unterirdischen Flur, der bei der Farm von Lin Raub beginnt!" befahl der Junge. Die Adresse hatte ihm zuvor die Mäusekönigin gegeben. Der Teppich stieg auf und schwenkte in die genannte Richtung ein. Faramant folgte ihm mit den Augen, bis er verschwand. Dann gab er den Holzköpfen ein Zeichen, und der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Der tapfere Trupp bewegte sich auf den Süden zu. Bis zum Großen Fluß sollte er dem gelben Backsteinweg folgen, diesen dann verlassen und den Unterschlupf Arachnas in den wilden Bergen suchen, der irgendwo zwischen dem Blauen Land und den Besitzungen Stellas lag. Das Sitzen im holpernden Wagen, den die Holzköpfe langsam zogen, war recht langweilig, und deshalb wandte sich Ann mit honigsüßer Stimme an den Seemann:

„Onkelchen Charlie, ich muß fortwährend an die wunderbare Geschichte von Lord Baumcharlie und Professor Vogel denken, die du uns erzählt hast." Eine List ahnend, brummte Charlie:

„Na und? Wer hindert dich denn, daran zu denken?" „An etwas Altes zu denken, ist natürlich gut, doch etwas Neues zu hören, ist wohl viel besser",

sagte das Mädchen, verschmitzt lächelnd. Sie schmiegte sich noch enger an den Onkel und bat: „Erzähle mir bitte noch eines deiner Erlebnisse, du hast doch selbst gesagt, daß du viele Abenteuer erlebt hast?"

Der Seemann ließ sich erweichen. „Du Schmeichelkätzchen", sagte er, „welches Abenteuer möchtest du denn hören?"

„Erzähl, wie du dein Bein verloren hast!" schlug Ann vor. „War es nicht bei einem Kampf mit Piraten?" „Du hast es fast erraten", sagte Charlie

Black. „Schön, also hört alle aufmerksam zu."

Charlie Black begann seine lange Geschichte zu erzählen.

DER GROSSE FELDZUG DER MÄUSEARMEE

Der Flug mit dem Zauberteppich zum unterirdischen Gang, in dem sich die Mäuse aufhielten, dauerte eine Stunde - zu Fuß hätte Tim einen ganzen Tag dafür gebraucht. Beim Landen rief er begeistert: „Ein großartiger Teppich! Ich wünschte mir, so einen in Kansas zu besitzen!"

Er rollte den Teppich zusammen und nahm ihn unter den Arm. Die Mäusekönigin, die ihr Köpfchen aus Tims Hemdausschnitt herausstreckte, wies piepsend den Weg, und bald stand der Junge vor dem unterirdischen Gang. Er zündete die Laterne an, die der vorsorgliche Faramant ihm mitgegeben hatte, und stieg den steilen Abhang hinab.

„Gebt bitte acht, Freund Tim", bat Ramina, „daß Ihr meine Untertanen nicht zertretet."

Das war keine überflüssige Mahnung. Im Schein der Laterne erblickte Tim unzählige Scharen von Mäusen, die den Gang füllten. Sie flitzten hin und her, lugten aus Ritzen, hingen wie Trauben an Wänden oder krallten sich an Felsvorsprünge. Sie piepsten und stritten um jedes freie Plätzchen, doch als sie die Königin und ihr Gefolge erblickten, verstummten sie wie auf Befehl. Auf der Hand Tims wie auf einer Tribüne stehend, hielt Ramina eine Ansprache, in der sie kurz über die Ankunft der Rettungsexpedition von jenseits der Berge berichtete. Sie schloß mit den Worten: „Wir müssen den Menschen helfen, der grausamen Arachna das Handwerk zu legen, nur dann werden Licht und Wärme zu uns wiederkehren. Wir müssen alles tun, damit die Hexe den Zauberteppich verliert, sonst wird sie der Vergeltung entgehen, und wir müßten dann bis ans Ende unserer Tage im Gelben Nebel leben." „Eure Majestät, mir ist was eingefallen", wandte sich Tim an Ramina. „Wenn wir so viele Mäuse auf den Teppich nehmen, wie er tragen kann, und mit ihnen zum Schlupfwinkel Arachnas fliegen, werden sie den großen Teppich der Hexe schnell unbrauchbar machen." „Ihr irrt, Freund Tim", entgegnete die Königin. „Mit der Zernagung des Teppichs ist es nicht getan, denn die Zwerge werden die Zauberwolle rasch wieder einsammeln, sie zwirnen und einen neuen Teppich daraus weben. Damit das nicht geschieht, muß er ganz aufgegessen werden, das aber ist nur dann möglich, wenn alle meine Untertanen im Einsatz sind." Tim kratzte sich am Nacken, als er diese Erklärung hörte. „Wenn dem so ist", sagte er, „brechen wir sofort auf." Aber fürchtet Ihr nicht, daß Eure Mäuse umkommen, wenn sie so viel giftigen Nebel atmen werden?" „Das kann passieren, wenn sie eine Woche oder anderthalb durch den Nebel marschieren, wir aber werden die Besitzungen Arachnas viel früher erreichen." Ramina hatte eben immer eine Antwort bereit. Tims Befürchtungen, auf dem Marsch werde keine Ordnung herrschen, erwiesen sich als unbegründet. Die Mäusearmee war sehr gut organisiert. Sie bestand aus Divisionen, die sich in Regimenter unterteilten, diese wieder in Bataillone, welche sich in Kompanien gliederten, die aus Zügen bestanden. Jede Abteilung wurde von einer erfahrenen und verdienten Maus im Range eines Leutnants, Hauptmanns oder Obersten geführt, deren Befehle man genau befolgte. Der Armeestab bestimmte die Marschordnung der Divisionen und Regimenter, und Verbindungsmänner gaben die Weisungen an alle Unterabteilungen weiter. Tim, in dessen Hemdausschnitt und Taschen die Königin und der Armeestab saßen, ging an der Spitze, ihm folgten die Adjutanten und Verbindungsmänner. Der Junge zweifelte, ob er im Nebel den Weg finden würde, doch Ramina beruhigte ihn: „Eine Fee kann sich in den Feldern und Wäldern ihrer Heimat nicht verirren. Wenn Ihr vom richtigen Weg abkommt, werde ich es sofort merken und Euch sagen."

Bis zum Abend bewegte sich die Armee in strenger Ordnung, Kompanie auf Kompanie, Regiment auf Regiment. Tim war zum Umfallen müde, als Ramina an einem Weizenfeld das Haltezeichen gab. Die Mäuse verstreuten sich über das Feld und begannen mit ihren scharfen Zähnen die welken und runzligen Körner zu zermalmen. Tim verschlang sein Abendbrot und schlief, in den Zauberteppich eingerollt, sofort ein. Am Morgen, als die feuerrote Sonne aus dem Nebel lugte, brach man auf. Der zweite Marschtag war schwerer als der erste. Oft versperrten breite Wildbäche den Weg. Dann fällte Tim mit seiner Axt ein paar Bäume, die er so umlegte, daß sie die Ufer verbanden. Auf diese Weise überwanden die Mäuse schnell das Hindernis und ordneten sich auf dem anderen Ufer wieder in Kolonnen. In Raminas Armee herrschte eben strenge Disziplin. Am dritten Tag brach, als alles noch schlief, ein Schneegestöber aus. Eisiger Wind fegte über das Tal und trieb weiße Flockenwirbel hoch. Ein Schneegestöber im Zauberland! Noch vor einem Monat hätte das niemand im Reich des ewigen Sommers für möglich gehalten! Wer hätte sich auch einen so heulenden Wind vorstellen können, der die Sträucher zur Erde bog, Zweige von den, Bäumen riß und Legionen von Mäusen schüttelte? Von einem Verbleiben am Übernachtungsort konnte keine Rede sein, wenn man nicht erfrieren wollte, und Ramina gab den Befehl zum Aufbruch. Die Verbindungsmänner wateten mit erhobenen Schwänzchen durch den Schnee, um den Befehl an die Abteilungen weiterzugeben. Züge und Kompanien sammelten sich, gegen den Wind ankämpfend, zu Marschkolonnen. Tim O'Kelli schritt an der Spitze dieser wunderbaren grauen Armee. Er hatte seinen Rücken mit dem Zauberteppich zugedeckt und die Brille aufgesetzt, an der jetzt Schnee klebte. Er dachte bei sich: "Würde meine Mutter nur sehen, wie ich das Versprechen halte, mich im Zauberland vor Gefahren in acht zu nehmen... "

Ramina, mit ihrem unfehlbaren Orientierungssinn, wies dem Jungen die Richtung. Wie viel Gepieps und Getümmel herrschte in den unübersehbaren Kolonnen der kleinen grauen Tierchen und wie viele Heldentaten wurden hier vollbracht! Da fiel eine alte Maus in ein Loch, das wegen des Schnees nicht zu sehen gewesen war. Sofort sprangen mehrere Nachbarinnen aus dem Zug und hielten ihr die Pfötchen und Schwänzchen hin, an die geklammert, sie sich wieder hervorarbeitete. An anderer Stelle stützten zwei große kräftige Mäuse von beiden Seiten eine ermattete junge Maus und munterten sie zum Weitergehen auf. Am schwersten hatten es die Adjutanten und Verbindungsmänner. Sie flitzten hin und her zwischen den Kolonnen, sammelten Zurückgebliebene und führten sie zu ihren Einheiten zurück. Man hätte sie um ihren Opfermut und ihre Tapferkeit beneiden können! Ein Verbindungsmann rettete ein ganzes Bataillon, das vom Weg abgekommen und in eine steile Schlucht geraten war. Er fand einen Weg aus der Schlucht und geleitete das Bataillon zurück zu seinem Verband. Ein Adjutant, sein Name war Zerrissenes Ohr, trug eine ganze Meile lang auf seinem Rücken das Mäuschen Schwarzfell, das sich an einem spitzen Ast gestochen hatte, bis er Tim einholte und ihm die Verwundete übergab. Das war nicht die einzige Maus, die sich jetzt in der Obhut des Jungen befand. In seinen Taschen lagen unzählige verwundete, entkräfete und halberfrorene graue Tierchen. Viele ruhten in seinem Hemdausschnitt, auf den Schultern, auf der Mütze und in seinen Ärmeln... Der erbitterte Kampf gegen Frost und Sturm dauerte mehrere Stunden. Da und dort lichteten sich die Reihen der Mäusearmee, und wer weiß, was noch geschehen wäre, hätte sich der Wind nicht gelegt. Danach wurde es etwas wärmer, und am Himmel kam eine glühendrote Sonne zum Vorschein. Die Königin befahl zu halten und ein Lager für die Nacht aufzuschlagen. Sie ließ die Bataillone zum Appell antreten, wobei sich herausstellte, daß die Armee an Erfrorenen und Vermißten 785 Mann, darunter auch Kommandeure, verloren hatte. Das war eine mäßige Zahl für ein vieltausendköpfiges Heer, doch wenn sich das wiederholte, konnte es schlimme Folgen haben. Am vierten Marschtag verschlechterte sich der Weg erheblich. Das Gelände war jetzt bergig, und die Mäuse konnten sich nicht so schnell bewegen, wie in der Ebene. Sie mußten sich jedoch beeilen, denn vom Erfolg ihres Unternehmens hing das Schicksal des Landes ab. Es galt vor allem, die Fahrgeschwindigkeit des Wohnwagens mit der Marschgeschwindigkeit der Armee abzustimmen, damit Charlie Black nicht vor den Mäusen bei der Höhle der bösen Hexe eintraf, denn in diesem Falle würde sie mit dem Teppich fortfliegen, und dann wäre es für die Mäuse wie für den Riesen Tilli-Willi sehr schwer, sie wieder aufzuspüren..

Die Armee näherte sich einem hohen Berg mit steilen Hängen, für dessen Überwindung mehrere Stunden nötig waren. Tim beschloß, diese Zeit für einen Flug zum Einbeinigen Seemann auszunutzen, dem er Bericht erstatten wollte. Er nahm die Mäusekönigin mit. Der Teppich beförderte die beiden schnell zum Wohnwagen, der den Großen Fluß überquert hatte und ebenfalls tief in das südliche Gebiet vorgedrungen war. Hinter dem Wagen stapfte unermüdlich Tilli-Willi, der zweimal täglich von Holzköpfen aufgezogen wurde. Ann, Charlie Black und ihre Gefährten freuten sich, von Tim und Ramina zu hören, daß die Mäusearmee im Anmarsch sei, doch ihre Gesichter verfinsterten sich bei der Nachricht von den Verlusten, die die Armee durch das gestrige Gestöber erlitten hatte. Der Sturm hatte auch die Gegend erfaßt, in der sich der Wohnwagen bewegte, doch die Insassen hatten dadurch keinen Schaden erlitten. Der Eiserne Holzfäller, Kaggi-Karr und Ramina rechneten aus, daß die fahrbare Festung weiter vorgedrungen sein mußte als die Mäusearmee, und zogen den Schluß, daß der Wagen jetzt ein, zwei Tage stillstehen müsse, damit die Hexe keinen Verdacht schöpfe und nicht das Weite suche. Tim füllte seinen Proviant auf, schärfte die kleine Axt, nahm Ramina in die Tasche und trat den Rückweg an. Als die beiden die Mäusearmee erreichten, stiegen deren letzten Züge bereits von dem Berg hinab, dessen Erklimmung so viel Mühe gekostet hatte. Der folgende Tag war wieder voller Strapazen. Den Weg furchten Schluchten mit steilen Wänden, von denen manche sich umgehen ließen, während über andere Brücken geschlagen werden mußten, wozu Tim Bäume an den Schluchträndern fällte. Einmal machte man vor einer Schlucht halt, die sich nicht umgehen ließ und an deren Rand auch keine Bäume wuchsen. Was sollte man tun? Die Mäuse in kleinen Gruppen mit dem fliegenden Teppichzipfel auf die andere Seite befördern? Das war möglich, würde jedoch viel Zeit in Anspruch nehmen. Die Königin hatte einen Einfall: Sie schlug vor, eine lebendige Hängebrücke zu errichten. Der Vorschlag wurde verwirklicht, indem man mehrere Hundert der größten und kräftigsten Mäuse auswählte, von denen jede mit den Vorderpfoten das

Schwänzchen der nächsten umklammerte, wodurch eine lebendige Kette entstand, die Tim durch einen geschickten Wurf über den Abgrund spannte. Auf dieser schwankenden Brücke bewegte sich jetzt eine Kompanie nach der anderen. Die Mäuse piepsten ängstlich und wandten die Augen vom Abgrund ab, bis schließlich alle auf der anderen Seite waren. Ein Unfall wurde noch im letzten Moment vermieden, als dem verwundeten Mäuschen Schwarzfell schwindlig wurde und es strauchelte. Es wäre bestimmt in den Abgrund gestürzt, hätten zwei Kameraden es nicht rechtzeitig aufgefangen. Nach der Schluchtüberquerung nahm Tim die lebendige Brücke zu sich auf den Teppich und flog mit ihr hinüber. Das war das letzte und schwerste Hindernis gewesen. Nun wurde das Gelände besser, und nach einem viertägigen schnellen Marsch erblickte die Armee einen herrlichen blauen Himmel über sich, worüber jeder Mann, vom General bis zum gemeinen Soldaten, in Begeisterung geriet. Hier begannen die Besitzungen Arachnas, die man noch rechtzeitig erreicht hatte, denn viele Mäuse husteten schon und bei manchen tränten die Augen. Als die Mäuse aus dem Gelben Nebel hinauskamen, atmeten sie erleichtert auf. Allerdings mußte man hier sehr vorsichtig sein, denn in der Nähe konnten sich Zwerge herumtreiben, die, wenn sie die Mäuse gewahrten, es sofort der Hexe melden würden. In diesem Falle wäre das ganze Unternehmen gescheitert. Zum Glück war der Boden hier weich, und bald hatten die Mäuse viele Löcher gegraben, in denen sie kein fremdes Auge entdecken konnte. Tim flog mittlerweile zu Charlie Black, um mit ihm die weiteren Pläne zu beraten.

TILLI-WILLI, DER ERFINDER

Es war reiner Zufall, daß sich auf dem Wege der Armee Raminas kein einziger Zwerg befand und Arachna folglich nichts vom Anmarsch der Mäuse erfuhr, sonst hätte sie gewiß Vorkehrungen getroffen. Die Kundschafter meldeten ihr jedoch, daß ein sonderbares Haus auf Rädern, von hölzernen Menschen gezogen, auf ihre Besitzungen zurollte, und daß dieses Haus Tag und Nacht von einem eisernen Riesen mit grimmigem Gesicht bewacht werde. Arachna beschloß nachzuspüren, wer diese Feinde seien und welche Gefahr von ihnen drohte. Sie bestieg ihren Teppich, setzte Ruf Bilan neben sich und flog davon. Eine Meile vor dem Ort, an dem sich nach Meldung der Zwerge der Wagen befand, ging die Hexe nieder, versteckte sich im Walde und schickte Bilan zur Erkundung aus. Eine halbe Stunde später hörte Arachna trockenes Laub rascheln und erblickte Ruf Bilan, der aus den Büschen hervortrat. Der kleine Mann taumelte, sein Gesicht war kreideweiß, seine Lippen bebten. Es dauerte eine gute Weile, bis er hervorstieß:

„Oh, Herrin, es war schrecklich ... dieser Anblick..." Weiter konnte er nicht reden. „Sprich doch, Jammerlappen!" fuhr ihn die Hexe an. „Ein Rie-Riese", stammelte Ruf Bilan. „Soo groß, nn-nein, noch größer als Ihr... Das Gesicht... Oh, dieses Gesicht! Ich lag in den Büschen, von niemandem zu sehen, doch als er nach meiner Seite blickte, schie-schien mir, als durchbohrten mich ddd-ddie schrecklichen Au-Augen... Es war no-nnoch ein Mm-Mann da, den er Ppappa-papa nannte! Ich wwwa-wwwa-weiß nicht mehr, wie ich mich davongeschleppt habe." „Trottel!" rief Arachna verächtlich. „Lungert herum und kriegt nichts heraus! Ich gehe selbst hin."

Die Hexe schritt zuerst aufrecht, dann bückte sie sich und schließlich begann sie zu robben. Plötzlich hörte sie ein Dröhnen und Knacken, und als sie weiter robbte, bot sich ihr folgendes Bild: TilliWilli, leicht vorgebeugt, mit dem Rücken zur Hexe, wirbelte ein riesiges Schwert in seinen Händen herum mit einer Leichtigkeit, als wäre es ein dünner Spazierstock. Bei jedem Hieb fiel ein dicker Baum, den flinke Holzköpfe sofbrt zur Seite schafften. So entstand ein Weg für den Wagen. Arachna sah nicht das Gesicht des Riesen, doch seine Größe und seine Kraft beeindruckten sie gewaltig. „Nein, mit diesem Kerl will ich lieber nichts zu tun haben", raunte die Hexe. „Ich werde mich mit dem Teppich aus dem Staub machen, dann mag mich das Knäblein im ganzen Lande suchen." Die Hexe wußte nicht, daß eine unbesiegbare Mäusearmee sich ihrer Höhle näherte! Mit finsterem Gesicht kehrte Arachna zurück. Sie war sehr nachdenklich. Unterwegs hatte sie Pläne geschmiedet, die ihr helfen sollten, den Feind möglichst lange aufzuhalten. Sie befahl ihren Zwergen, die Feinde nicht aus den Augen zu lassen und ihr jeden Abend deren Aufenthaltsort zu melden. Der Wohnwagen blieb, wie Charlie Black mit Ramina ausgemacht hatte, zwei Tage am Rastplatz. Doch schon in der ersten Nacht gab es im Lager des Scheuchs ein Ereignis, das das ganze Unternehmen stark beeinflussen sollte. Lestar schlief in seinem bequemen Sessel, als oben gedämpft die Stimme des eisernen Ritters ertönte „Lestar! Fahrer Lestar, hört Ihr mich?"

Als die Antwort ausblieb, rief der Riese lauter: „Lestar, hört doch, ich rufe Euch!" „Mmm... Was ist los?" fragte der Mechaniker schlaftrunken. „Wer ruft?" „Ich, Tilli-Willi! Warum habt Ihr nicht geantwortet?" „Ach so, du bist es, Freundchen? Ich habe geschlafen, wahrscheinlich sogar sehr fest." „Geschlafen? Das verstehe ich nicht. Was bedeutet ,geschla-fen'?" wollte der Riese wissen.

„Wie soll ich es dir sagen? Geschlafen kommt vom Wort Schlaf und ist sehr schwer zu erklären", erwiderte Lestar. „Aber ich will es versuchen.

Stell dir vor: Es liegt ein Mensch da, bis sich seine Augen schließen, und dann sieht und hört er nichts mehr. Erst Stunden später kehren die Sinne zu ihm zurück, das heißt dann, er sei erwacht." „Wieso, das ist doch gefährlich!" rief der Riese entsetzt. „An einen Schlafenden können sich Feinde heranschleichen und mit ihm tun, was sie wollen, sogar töten!" „So schlimm ist es nicht", erwiderte Lestar schmunzelnd. „Wenn ein Feind in der Nähe ist, schlafen die Menschen nicht oder sie stellen Wachen auf. Ohne Schlaf kann ein Mensch nicht leben, der Schlaf stellt seine Kräfe wieder her und macht ihn frisch und munter." „Was seid ihr doch für unvollkommene Wesen", bemerkte Tilli-Willi. „So viel Zeit umsonst zu verlieren! Völlig unproduktiv! Ich bin nicht so. Nachts, wenn alles ruhig ist, kommen mir verschiedene interessante Gedanken. Heute zum Beispiel habe ich mir ein Schema ausgedacht, es ist bestimmt ein sehr nützliches Schema, ich schwöre es bei allen Masten der Welt!" Die Reisetage waren für den eisernen Ritter nicht umsonst vergangen. Er hatte sich stundenlang mit Lestar über verschiedene Dinge unterhalten, vor allem über Technik. Er hatte dabei viel gelernt, und auch sein Wortschatz war um vieles reicher geworden. „Was ist das für ein Schema?" fragte Lestar überrascht. „Ich weiß jetzt, wie ich mich selbst aufladen kann", sagte TilliWilli. „Diese Holzköpfe, die mich ständig mit ihren Leitern umtanzen und die mit ihren Schlüsseln in mir stochern - daß sie die Flut ersäufe! - gehen mir schrecklich auf die Nerven. Da hab ich mir gedacht: Wenn man mir noch einige Federn und Hebel einsetzen und die Zugstangen zweiseitig machen würde..." Der Riese begann so ungeheuer komplizierte technische Gedanken darzulegen, daß es, meine ich, keinen Zweck hat, sie hier wiederzugeben, weil außer Spezialisten sie kaum jemand verstehen würde. Sein Vorschlag bestand, um es kurz zu sagen, darin, durch Einbau zusätzlicher Hebel und Federn die Maschinerie in seinem Bauch so zu vervollkommnen, daß sich beim Heben oder Senken eines Arms der andere aufzieht und daß das linke Bein das rechte aufladet und umgekehrt. Lestar war entzückt über diese Idee. Er öffnete die Tür und steckte den Kopf hinaus, um besser zu hören, und rief schließlich froh aus: „Höre, Junge, du bist ein genialer Mechaniker!"

„Genial ist wohl übertrieben", wehrte Tilli-Willi ab. „Ich habe einfach viel freie Zeit, die ich nicht mit allerlei Unsinn wie Essen und Schlafen vertrödle!" Lestar, dem die Neuigkeit fast die Brust zersprengte, lief zum Wohnwagen hinüber, weckte Charlie Black und erzählte ihm von der Idee des eisernen Ritters, worüber auch der Seemann in Begeisterung geriet. Am nächsten Tag machte man sich in aller Frühe ans Werk. Im Gepäck des Seemanns fanden sich die notwendigen Federn und Hebel, und sogleich begann die Rekonstruktion des mechanischen Riesen, bei der Tilli-Willi sehr nützliche Anweisungen gab. Am Abend des nächsten Tages war die

Arbeit beendet und Lestar sagte zum Riesen:

„Mein lieber Tilli, jetzt ist es soweit! Du brauchst meine Dienste nicht mehr, und ich nehme von dir Abschied!"

„Was bedeutet das?" fragte der Riese erstaunt.

„Das bedeutet, daß ich nicht mehr in deinem Bauch zu sitzen brauche und daß meine Nichtigkeit dich auch nicht mehr belasten wird!" ,,Das will ich ja gar nicht", entgegnete Tilli-Willi mißmutig. „Für mich seid Ihr leicht wie eine Feder, und ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ich ohne meinen Führer und, ich wage es zu sagen, meinen Lehrmeister und Freund, durch die Straßen gehen soll. Die Langweile könnte ich nicht ertragen! Da gäbe es ja niemanden, mit dem man ein Wort wechseln könnte. Deshalb bitte ich, ehrwürdiger Lestar, Euren Platz wieder einzunehmen!"

Darauf schmunzelte der Mechaniker und stieg in seine Kabine ein. Von diesem Tag an machte die geistige Entwicklung Tilli-Willis gute Fortschritte, doch seinem Lehrmeister bereitete das nicht wenig Schwierigkeiten. Am Tag stapfte der Riese hinter dem Wagen einher, nachts aber hatte er viel Zeit zum Nachdenken und gab dem Mechaniker keine Ruhe. Er stellte ihm unzählige Fragen, wie es gewöhnlich dreijährige Jungen tun, und das Ende dieser Fragerei war gar nicht abzusehen. „Woraus ist die Sonne gemacht und warum zieht sie über den Himmel?" „Woher kommen die Flüsse?" „Warum ist es in der Nacht finster?" „Warum weht der Wind?" „Warum hat mein Papa nur ein Bein?" „Wie leben die Menschen auf der anderen Seite der Berge?" und so weiter und so fort. Der gute Lestar gab sich die größte Mühe, die Fragen des wißbegierigen Tilli-Willi so gut er konnte zu beantworten, aber oft schlief er mitten im Satz ein...

Es gab kaum noch eine Nacht, in der Lestar ausschlafen konnte, deshalb versuchte er es am Tage, wenn der Riese ihn in Ruhe ließ. Für den kleinen Mechaniker aus dem Land der Zwinkerer war es ein schweres Amt, Lehrmeister des jungen Tilli-Willi zu sein.

DIE SCHLICHE DER HEXE ARACHNA

Als die Rekonstruktion des eisernen Ritters beendet war, hatte sich die Kampfstärke des Trupps unter der Führung des Scheuchs und Charlie Blacks gewaltig erhöht. Jetzt, wo man sich den Besitzungen Arachnas näherte, war große Vorsicht geboten. Mit dem kleinen Teppich konnte Charlie Black keine Erkundungsflüge mehr unternehmen, doch gab es die erprobte Kämpferin Kaggi-Karr, die dem Trupp stets einige Meilen vorausflog, den Weg inspizierte, sich überall umschaute und immer mit wertvollen Auskünften zurückkehrte. Kam man an eine Schlucht, über die eine Brücke gebaut werden mußte, so war der eiserne Ritter gleich zur Stelle. Im Handumdrehen fällte er ein paar große Bäume, die er nach den Weisungen Lestars verlegte. Bald konnten sich unsere Helden überzeugen, daß Arachna über ihren Vormarsch unterrichtet war. Der Wagen fuhr durch eine Lichtung, und als er ihre engste Stelle erreichte, stürzten die Holzköpfe und verschwanden, als hätte sie die Erde verschlungen. Die Vorderräder des Wagens versanken in ein Loch, die Achse zerbrach, die Insassen fielen kopfüber, rutschten den geneigten Wagenboden hinab, prallten gegen die Wände und gegeneinander. Die Verletzten stöhnten, und Arto, auf den der Eiserne Holzfäller gefallen war, heulte vor Schmerz. „Wir sind in eine Falle geraten!" rief Charlie Black. „Das hat uns Arachna beschert."

Während die Menschen sich mühsam erhoben, traf Tilli-Willi ein. Er zog den Wagen aus der Grube, stellte ihn an einen ebenen Ort und fragte besorgt: „Papa Charlie, wie fühlst du dich? Ist dir etwas passiert, hast du vielleicht einen Knochen gebrochen?"

„Nein, nein, mein Kindchen!" erwiderte der Einbeinige Seemann gerührt. „Ich habe nur eine Beule, weiter nichts." ,,Was ist das, eine Beule?" Das mußte dem wißbegierigen Riesen erklärt werden. Erst dann machte er sich mit dem Mechaniker Lestar daran, eine neue Achse zu zimmern und das zerbrochene Rad zu richten. Inzwischen renkte Doktor Boril den Verletzten Arme und Beine ein und legte Salbe auf ihre Wunden. Die Reparatur des Wagens endete erst am Abend, und deshalb beschloß man, an dieser Stelle zu übernachten.

„Wir sind noch gut davongekommen", sagte Charlie Black, „es hätte viel schlimmer ausgehen können. Die Hexe ist gefährlich, wir müssen auf der Hut sein."

„Man soll nicht in eine Grube fallen", sagte der Scheuch bedächtig. „Eine Grube ist schlimm, ein ebener Weg gut. Wenn wir immer nur auf ebenen Wegen fahren, werden wir niemals in Gruben fallen."

Alle Anwesenden gaben dem Scheuch recht, konnten aber mit seinem Rat nicht viel anfangen, denn vor getarnten Fallen bot er keinen Schutz. Am nächsten Tag schlug man das Nachtlager am Ufer eines kleinen tiefen Flusses auf. Charlie Black, Ann, Din Gior, Faramant, Boril und Tim schliefen, vom holprigen Weg erschöpf, im Wagen. Nur der Scheuch und der Eiserne Holzfäller, die keinen Schlaf kannten, unterhielten sich. Das Gespräch, das sie seit vielen Jahren führten, drehte sich immer um die Frage, was besser sei: ein Gehirn oder ein Herz. Während ihres hitzigen Streitgesprächs drang plötzlich dumpfer Lärm aus der Ferne, und im selben Augenblick erbebte die Erde. „Muß wohl ein Erdsturz sein", sagte der Holzfäller und fuhr fort nachzuweisen, daß ein Mensch, der ein liebendes Herz hat, kein Gehirn brauche. Es verging fast eine Stunde. Charlie Black träumte, er fahre auf einem Schiff und höre die See außenbords rauschen. Er erwachte, und zu seiner Verwunderung hörte er unter dem Wagenboden wirklich Wasser rauschen. Er stieß die Tür auf, schaute hinaus und gewahrte Wasser. Soweit das Auge Finsternis und Nebel durchdringen konnte, war nichts als Wasser zu sehen. „Alarm!" rief Charlie. „Überschwemmung!" Din Gior, Faramant, Boril, Tim und Ann sprangen von ihren Sitzen auf.

„Lestar schläft natürlich in seiner Kabine, und Tilli-Willi kommt von selbst nicht auf den Gedanken, daß wir seine Hilfe brauchen", sagte Din Gior. „Er versteht nicht, wie bedrohlich unsere Lage ist. Ich gehe mal schnell hin!" Er warf seinen prächtigen Bart über die Schulter, den Ann einen Tag vorher zu einem dreisträhnigen Zopf zusammengeflochten hatte, und stieg aus dem Wagen. Er mußte bis zur Brust im Wasser waten, um zum Riesen zu gelangen, und als er schließlich dessen Beine erreichte, begann er mit der Faust gegen sie zu hämmern. „Was ist los?" rief Lestar, der nach einem wie immer sehr ermüdenden Gespräch mit seinem Zögling gerade erst eingeschlafen war. „Schau hinaus, du wirst's sehen!" erwiderte Din Gior. Tilli-Willi hatte bereits begriffen, daß etwas Schlimmes geschehen war. Er nahm Din Gior vorsichtig auf die Hand und setzte ihn auf seine Schulter. Charlie Black, der die Tür hinter Din Gior zugeschlagen hatte, machte jetzt dem Scheuch, dem Eisernen Holzfäller und Lan Pirot, der zur Berichterstattung erschienen war, Vorwürfe, weil sie das Alarmsignal nicht rechtzeitig gegeben hatten. Der Scheuch und der Holzfäller rechtfertigten sich damit, daß sie Landratten seien und noch niemals Wassergeräusche gehört hätten, der ehemalige General. aber sagte, der Fluß sei unerwartet aus den Ufern getreten und habe seine Kumpel überrascht: Noch bevor sie an etwas denken konnten, standen sie schon im Wasser. Es hatte jetzt wenig Sinn, nach Schuldigen zu suchen, die Ursache der Bescherung war auch so allen klar. Der dumpfe Lärm, den der Holzfäller und der Scheuch vernommen hatten, war durch einen Erdsturz verursacht worden, den die

Hexe hervorgerufen hatte, um den Fluß abzuriegeln. Das steigende Wasser hatte den Wagen angehoben, der jetzt auf den Wellen schaukelte, und weil er keinen einzigen Ritz besaß, sickerte kein Wasser durch. „Unsere Festung hat sich in ein Schiff verwandelt, und Charlie Black ist sein Kapitän, hurra!" rief Tim begeistert. „Befehlt, Kapitän, Schiffsjunge Tim O'Kelli wird immer seine Pflicht tun!" Charlie stand jedoch der Sinn nicht nach Übermut. Die Lage war bedrohlich. Das Hochwasser konnte den Wagen in ein Gestrüpp abtreiben, das ihn vielleicht nicht freigeben würde. Die Holzköpfe konnten ihn nicht halten, weil sie aus Holz waren und wie der Wagen auf dem Wasser trieben. Zum Glück traf Tilli-Willi rechtzeitig ein. Er ging auf die schwimmende Festung zu und fragte vor allem nach Papa Charlies Gesundheit und Wohlbefinden. Erst dann packte er mit seiner gewaltigen Faust den Wagen, der sofort wie angewurzelt stillstand. Die Nacht war so finster, daß man den Morgen abwarten mußte, bevor man irgendeinen Beschluß faßte. Die Besatzung verging fast vor Ungeduld, bis das fahle Morgenlicht den Nebel durchstieß. Charlie sagte, man müsse sich bis zu einem trockenen Plätzchen durchschlagen. Es habe wenig Sinn, den von Arachna errichteten Damm zu zerstören, denn das würde zu viel kostbare Zeit in Anspruch nehmen. Die Krähe wurde auf Kundschaft ausgesandt. In einer halben Stunde kam sie mit der Meldung zurück, sie habe ein flaches Ufer erspäht, auf das man den Wagen leicht hinaufziehen könnte. Der Kapitän hatte aus der Stadt Seile mitgenommen, die jetzt gut zustatten kamen. Er warf ein Seilende den Holzköpfen zu, die es an Deichsel und Räder anbanden. Tilli-Willi stampfte, den Wagen hinter sich ziehend, klatschend durch das Wasser. Die Krähe flog voraus und wies den Weg. „Land, Land!" riefen die Insassen des Wagens, wie einst die Matrosen des Christophor Kolumbus. Die Holzköpfe mit Lan Pirot an der Spitze stiegen durchnäßt, mit abgeblätterter Farbe und gar jämmerlich anzusehen aus dem Wasser, doch ihre Kraft hatten sie sich bewahrt. Als alles wieder hergerichtet war, brach man auf. Der kleine Trupp bewegte sich auf dem Weg, den die Krähe ausgekundschaftet hatte.

„Ein gefährlicher Gegner, diese Hexe, sehr schlau und erfinderisch", sagte der Seemann kopfschüttelnd. „Würde gerne wissen, welche Überraschung sie uns noch bereitet."

Die Überraschung ließ auch nicht lange auf sich warten. Am Abend des nächsten Tages, als die kleine Schar durch eine felsige Schlucht zog, erbebte plötzlich die Erde, und von den Hängen wälzten sich große Steine. Felsbrocken sprangen donnernd an Unebenheiten hoch und zerbarsten, und gewaltige Splitter flogen mit Kanonenkugelgeschwindigkeit dahin. Mit einer Wendigkeit, die man ihm nicht zugetraut hätte, schützte Tilli-Willi den Wagen. Den gewaltigen Schild vorstreckend, bog und wand er

seinen mächtigen Leib nach allen Seiten, um die Schläge der fliegenden Steine aufzufangen. Das Bombardement dauerte einige Minuten. In dieser Zeit parierte der junge eiserne Ritter gut ein Dutzend Geschosse, die den Wagen hätten zertrümmern und seine Insassen in Brei verwandeln können. Die Steine schlugen krachend gegen den Schild, und der Lärm drohte, die Insassen der fahrbaren Festung taub zu machen. Nur dem Geschick und der Findigkeit Tilli-Willis hatte man es zu verdanken, daß man noch glimpflich davonkam. Ein Rad des Wagens war zertrümmert, ein Holzkopf namens Algen hatte einen Arm verloren, und der Schild Tilli-Willis hatte mehrere tiefe Einbeulungen. Das Rad wurde ausgewechselt (Charlie hatte mehrere Ersatzräder mitgenommen), dem Holzkopf Algen wurde ein neuer Arm eingesetzt, und die Schar verließ eilig den gefährlichen Ort. Als der Wagen aus der Schlucht herauskam, sahen seine Insassen im Nebel hoch oben Arachna, die zitternd ihr blaues Gewand an sich preßte und davonflog. „Allem Anschein nach hat Ramina den Kampfauftrag nicht erfüllt", sagte der Scheuch. „Die Hexe fliegt auf ihrem Teppich, folglich haben die Mäuse ihn nicht aufgefressen." „Das ist wohl nicht so einfach", seufzte Charlie Black. „Ich hoffe, sie dösen nicht und warten den passenden Augenblick ab." Schon bei der ersten Rast kam dem Scheuch der Gedanke, TilliWilli für den Opfermut, den er bei der Abwehr des Überfalls von Arachna gezeigt hatte, einen Orden zu verleihen. Der weise Strohmann führte immer einen Vorrat von Orden mit, die Faramant, der Versorgungschef, aufbewahrte. Allerdings mußte man dem jungen Riesen lange erklären, was ein Orden ist und wofür man ihn bekommt. Als er schließlich begriffen hatte, fragte er: „Hat Papa Charlie auch einen Orden? Nach dem, was mir Lestar von seinen Heldentaten erzählt hat, muß er- bei allen Stürmen der südlichen Breiten! - einen Haufen Orden haben." Verdutzt schlug sich der Scheuch mit der Hand auf den Kopf. Hätte der Herrscher des Smaragdenlandes erröten können, er wäre bei dieser treuherzigen Frage bestimmt puterrot geworden. „Oh, ich Grobian, ich Esel!" schrie der Scheuch und zog die Stecknadeln, die beim Schlag auf den Kopf in seine Hand eingedrungen waren, heraus. „Warum ist es mir nicht eingefallen? Bei seinem ersten Besuch hat der Riese von jenseits der Berge die Smaragdenstadt aus der Gewalt Urfin Juices erlöst und mich und den Eisernen Holzfäller aus der Gefangenschaft befreit... Allerdings pflegten meine Handwerker damals noch keine Orden zu machen. Aber warum hab ich jetzt nicht daran gedacht, wo der Riese von jenseits der Berge wieder gekommen ist, um uns zu helfen, wo er im Kampf gegen einen furchtbaren Feind sein kostbares Leben aufs Spiel setzt? Oh, ich Dummkopf, ich Einfaltspinsel! Wieso ist es mir nicht eingefallen, diesen hinge-bungs-vollen Mann für seine Verdienste mit dem

Orden des Smaragdensterns auszuzeichnen?! Lieber Freund, verzeiht mir mein Versäumnis und nehmt diese Auszeichnungen..."

Trotz aller (nebenbei gesagt, schwacher) Proteste Charlie Blacks heftete der Herrscher an dessen Matrosenjacke die drei höchsten Orden des Landes, die aus Gold gefertigt und mit Smaragden besetzt waren. Erst danach wurde der für Tilli-Willi bestimmte Orden in seine eiserne Brust geschraubt. „Schade, daß es keinen Spiegel gibt", seufzte der Riese, „ich hätte gerne gewußt, wie so ein Ding auf meiner Brust aussieht..."

Das nächste Hindernis auf dem Wege war ein gewaltiger Steinhaufen, der von einem Bergrutsch herzurühren schien. Arachna hatte viel gearbeitet, bis sie diesen Berg aus riesiger Steinbrocken aufgetürmt hatte.

Das nützte ihr jedoch wenig, denn in drei Stunden räumte TilliWilli alles fort. Etwas später fuhr der Wagen aus den Bergen hinaus und hielt auf einer Ebene, wo man Nachrichten von Ramina abzuwarten beschloß.

DAS ENDE DES ZAUBERTEPPICHS

Seit einigen Tagen stand die Mäusearmee an der Grenze von Arachnas Besitzungen. Am Tag hielten sich die Mäuse in Erdlöchern verborgen, nachts marschierten sie in geschlossenen Reihen auf die vom giftigen Nebel unberührten Felder der Hexe, um ihren Hunger zu stillen. Jeden Tag beobachteten verborgene Späher, wie die Hexe mit ihrem Teppich davonflog und erst nach Stunden zurückkehrte. Ramina war zweimal beim Riesen von jenseits der Berge gewesen und hatte von ihm erfahren, daß die Kampfhandlungen der Hexe keinen Erfolg hatten. Nachts schlichen sich Kundschafter der Mäusearmee auf geheimen Pfaden an den Schlupfwinkel Arachnas heran und kehrten mit der Meldung zurück, daß der Teppich in der Höhle versteckt und für niemanden erreichbar sei. Es begab sich an einem regnerischen Tag, daß der Teppich sehr naß wurde und man ihn vor der Höhle zum Trocknen ausbreitete, wo er auch in der folgenden Nacht liegen blieb, wie es in der frohen Botschaft hieß, die ein Spähtrupp Ramina überbrachte. Sofort wurden Meldegänger auf die Felder ausgeschickt, wo die Mäuse nach einem hungrigen Tag wieder etwas zu sich nahmen. Der Befehl, den sie verkündeten, lautete: „Alle Abteilungen haben sich zu versammeln und die Stellungen einzunehmen, die in der Disposition angegeben sind!" In weniger als einer halben Stunde waren alle Divisionen und Regimenter marschbereit. In der Finsternis hätte niemand die grauen Fälle der Mäuse von der Erde unterscheiden können.

Von allen Seiten pirschten sich die Regimenter an den Teppich heran. Das Rascheln der winzigen Pfoten und die leisen Befehle, die von Zeit zu Zeit erteilt wurden, waren kaum vernehmbar. Die Teppichwache, zwei alte Zwerge, lag in festem Schlaf da, und auch Arachna schlief, erschöpft von den Anstrengungen des Tages. Tausende und aber Tausende Mäuse verteilten sich über den Zauberteppich, Hunderttausende scharfe Zähnchen bohrten sich in sein Gewebe, daß die Wolle zu knistern begann, und bald zeigten sich auch schon die ersten Löcher. Die Königin hatte ihrem Volk streng befohlen, mit voller Hingabe zu arbeiten und sich nicht darauf zu beschränken, den Teppich zu zernagen. „Jeder Faden muß aufgegessen werden, selbst wenn es noch so widerlich schmeckt!" hieß es im Befehl. „Bis zum Morgen ist die Arbeit abzuschließen, und wo der Teppich war, darf nichts als nackte Erde zurückbleiben!"

Die Mäuse scheuten keine Mühe. Ihre Zugführer paßten auf, daß kein Faden übrigblieb. Wenn eine Maus einen Faden nicht verschlingen konnte, weil er zu lang war, sprang ihr eine andere bei und biß das Stück ab, das jene nicht bewältigen konnte.

Die Wache schnarchte friedlich, während der Teppich sich nach und nach in ein Sieb verwandelte. Mit ihren Pfötchen die prallen Bäuche streichelnd, begannen sich die Mäuse zurückzuziehen, obwohl noch viel Wolle dalag. Die kluge Ramina, die das vorausgesehen hatte, schickte sofort ihre Adjutanten aus, die bald neue Divisionen herbeiholten, welche mit frischen Kräften über die Teppichreste herfielen. Es gab auch komische Bilder, zum Beispiel, wenn zwei Mäuschen von beiden Seiten an einem langen Faden zerrten, bis dieser zerriß, und die Rivalinnen mit zuckenden Pfötchen auf den Rücken fielen. Der Befehl Raminas wurde mit militärischer Pünktlichkeit ausgeführt. Am Morgen war vom Teppich nichts mehr da. Allerdings konnte sich die graue Armee nicht von der Stelle rühren, so sehr waren die Bäuchlein der winzigen Tiere mit Wolle vollgestopft. An diesem Morgen erwachte Arachna früher als sonst. Ihr war, als hätte man sie in die Seite gestoßen, und sie trat aus der Höhle. Sie warf einen Blick dorthin, wo gestern noch der Teppich gelegen hatte, und das Herz stockte ihr, als sie statt der bunten Farben eine graue wogende Masse ohne deutliche Umrisse gewahrte. Vergeblich hielt die Hexe nach den Wachen Ausschau. Diese hatten das Verschwinden des Teppichs längst entdeckt und waren - weil sie nur zu gut wußten, welch schreckliche Strafe ihnen jetzt drohte - geflohen. Arachna machte ein paar Schritte, worauf das graue Tuch in Wallung geriet und seine Form zu verändern begann. „Mäuse!" schrie die Hexe entsetzt. „Mäuse haben den Teppich gefressen!" Sie hätte sich auf diese wogende Masse stürzen und sie zertreten können, aber Arachna fürchtete sich, wie viele andere Frauen auch, vor Mäusen.

Der Leser soll sich darüber nicht wundern, weiß er doch, daß selbst die Elefanten, die Riesen unter den Tieren, sich vor Mäusen fürchten. Die Kater werden mir helfen, dachte Arachna, stürzte in die Höhle, nahm das Zauberbuch und stieß eine Beschwörung aus, die die Kater herbeirief. Damals hatten sich im Lande Arachnas viele wilde Kater angesammelt, die aus den Nachbargebieten vor dem Gelben Nebel geflohen waren. Braune, gestreifte und schwarze Kater, mit Rißnarben und Schrammen, die sie sich in Raufereien geholt hatten, stürzten, die Schwänze gereckt und laut miauend, auf den Ruf der Hexe von allen Seiten herbei. Doch da geschah etwas, wovon die Chronik der Zwerge mit Staunen und Begeisterung erzählt. Die Mäuse wünschten sehnlichst, den Katern zu entrinnen, und weil die Kater von allen Seiten auf sie zukamen, gab es nur einen Rettungsweg: Den Weg in die Luft. Die Bäuche der Mäuse waren mit Wolle vollgepfercht, und weil es Zauberwolle war, hatte sie auch in den Tierbäuchen ihre Auftriebskraft nicht verloren. Wieviel solcher Kraft aber braucht schon eine Maus, um in die Luft aufzusteigen! Die Zauberwolle hörte den gedachten Befehl ihrer neuen Besitzer und hob das unübersehbare Mäuseheer mit der Königin an der Spitze in die Luft empor. So kam es, daß die wilden Kater statt der leckeren Beute einen leeren Platz vorfanden, und, da es niemanden gab, auf den sie sich hätten stürzen können, fielen sie schreiend und fauchend übereinander her. Die Mäuschen aber ruderten hurtig mit ihren Schwänzchen, als wären es Steuer, und während sie sich schnell von der Höhle Arachnas entfernten, piepsten sie munter darauf los und riefen sich gegenseitig ihre Eindrücke von dieser neuen Art der Vorwärtsbewegung zu. Leider hielt dieser Zustand der Mäuse nicht lange an. Nach und nach verwandelten sie sich in einfache irdische Wesen zurück, die auf vier Beinen laufen. Doch die Zauberwolle hatte sich über das ganze Land verstreut, und jetzt konnten sogar die emsigen Zwerge sie nicht wieder einsammeln. So verlor die Hexe ihren Zauberteppich. Nun war ihr völlig klar, daß eine Schlacht mit dem eisernen Riesen, der den Wagen begleitete, nicht mehr zu vermeiden war. Mit dem Zauberteppich hätte sie vor ihm fliehen können, wenn sie es wollte, doch jetzt war sie wie Tilli-Willi an die Erde gekettet. Und wieder mußte sie, wie so oft schon, an die schlimme Prophezeiung Urfin Juices denken... Sie versammelte etwa zwei Dutzend Zwerge, die noch nicht das Weite gesucht hatten, und schickte sie auf Kundschaft aus. Sie sollten herausfinden, sagte Arachna, wo sich die fahrbare Festung befinde und ob sie auch wirklich den Weg eingeschlagen habe, der zur Höhle führt. Unterdessen begann sie eine Waffe zu zimmern, mit der sie dem Riesen entgegentreten wollte. Es war eine gewaltige Keule aus Eichenholz, dessen Festigkeit allgemein bekannt ist.

EIN NEUER BUNDESGENOSSE

Als Tim mit der Nachricht zurückkehrte, der Teppich Arachnas sei vernichtet, brachen seine Gefährten in ein lautes Jauchzen aus, und selbst die Holzköpfe führten vor Freude einen Tanz auf, der jedoch so plump war, daß Lan Pirot, der von Tanzen immerhin etwas verstand, sich vor Ärger krümmte. „Jetzt wird uns die Hexe nicht entkommen!" sagte der Scheuch selbstgefällig. „Als sie fliegen konnte und wir nicht, konnten wir ihrer nicht habhaft werden. Wir können auch jetzt nicht fliegen, doch auch sie kann es nicht, folglich werden wir ihrer habhaft werden."

Alle stimmten dem Scheuch zu, nur Charlie nicht, der kopfschüttelnd sagte: „Ich fürchte, daß es nicht ganz so ist, wie du sagst. Natürlich sind unsere Siegeschancen gestiegen. Aber unser Knäblein Tilli-Willi entwickelt sich schrecklich schnell, man darf sagen, mit märchenhafter Geschwindigkeit. Ihr habt euch selbst überzeugt, wie er buchstäblich vor unseren Augen immer flinker, schneller und klüger wurde. Trotzdem fürchte ich, daß er, wenn Arachna flieht, sie nicht einholen können wird. Die Hexe hat leichte Beine, sie macht große Sprünge, sie kann die Richtung ihres Laufs blitzschnell ändern. Unser Junge aber ist schwerfällig..." Bei diesen klugen Worten Charlies ließen alle die Köpfe hängen. „Was fangen wir jetzt bloß an, Onkel Charlie?" fragte Ann. „Wir müssen einen Bundesgenossen suchen, der ebenso flink wie Arachna und so stark wie Tilli-Willi ist. Ein solcher Bundesgenosse könnte, meine ich, der Riesenadler sein", erwiderte Charlie. „Der Adler Karfax?" riefen Tim und Ann überrascht. „Ja, ihn habe ich gemeint", bestätigte der Seemann. „Dem Bericht über eure Abenteuer vom vorigen Jahr habe ich entnommen, daß Karfax ein edler Vogel ist, der Lug und Trug nicht duldet. Hat er nicht Urfin Juice verlassen, als er dessen tückische Pläne erriet? Karfax mag die Menschen, er hat euch, ohne daß ihr ihn darum batet, über den Abgrund getragen, der für eure Maulesel unpassierbar war. Ich meine, Karfax wünscht, wie alle anderen Einwohner des Zauberlandes, daß der verhaßte Gelbe Nebel so schnell wie möglich verschwindet." „Das stimmt, jedes deiner Worte stimmt, Kapitän", rief Tim, „ich mache mich sofort zu Karfax auf, um seine Hilfe zu erbitten." Über diese Worte war Ann schrecklich gekränkt. „Nur du, überall nur du", sagte sie verdrießlich. „Die Mäusearmee hast du ins Feld geführt, auf Kundschaft bist du geflogen, wann komm denn endlich ich an die Reihe?" „Weißt du, Ann, ein Flug nach dem Adlertal ist ein gefährliches Unternehmen", mischte sich der Seemann ein. „Mit einem Zauberteppich zu fliegen, ist was ganz anderes, als auf einem Maulesel zu reiten. Ja, übrigens, wer hat den Eltern versprochen, gefährliche Abenteuer zu meiden?"

„Hat denn Tim nicht auch versprochen?" fragte Ann, „oder irre ich mich vielleicht?"

Darauf wußte der Kapitän nichts zu erwidern.

„Ich ziehe mit Karfax, das könnt ihr mir nicht abschlagen!" fuhr Ann fort. „Er wird auf mich eher hören als auf Tim."

„Warum denn?" wunderte sich Tim. „Weil ich eine Frau bin!" sagte Ann stolz. Unter allgemeinem Gelächter wurde die Frage zu Anns Gunsten entschieden. Um auf dem Flug weniger Angst zu haben, nahm das Mädchen Arto mit. Anns Herz krampfte sich zusammen, als der Teppich, ihrem Befehl folgend, in die Luft aufstieg, über Felder und Wälder zog und vor den Bergen die Flughöhe steigerte. Das Mädchen und das Hündchen sprachen sich gegenseitig Mut zu und hatten nicht einmal so große Angst, wie man hätte meinen können. Über den Bergen schien die Sonne viel heller, als im Tal, die Luft war hier reiner, und Ann und Arto fühlten sich wohl. Unter ihrem Teppich zogen viele schneebedeckte Gipfel vorüber, und dem Mädchen fiel auf, daß der Schnee in diesem Jahr viel tiefer in die Täler hinabreichte, als im vergangenen. Das Mädchen erklärte sich diese Erscheinung damit, daß es in den Bergen, wie in allen anderen Gegenden des Zauberlandes, viel kälter geworden war. In der Tiefe der Täler konnte man wegen des Nebels nichts unterscheiden, doch unsere Reisenden waren fest davon überzeugt, daß der Teppich sie ans Ziel bringen werde. Sie hatten sich auch nicht getäuscht. Als Ann vom Teppich stieg, erblickte sie unweit ein Nest, so groß wie ein zweistöckiges Haus, aus dem der gewaltige Kopf eines jungen Adlers lugte. Im nächsten Augenblick erdröhnte die Luft von gewaltigen Flügelschlägen, und auf die Erde ging ein Riesenadler nieder. Es war kein anderer, als Karfax. Überrascht musterte er zunächst den kleinen Gast, doch Karfax hatte ein gutes Gedächtnis und erkannte das Mädchen sofort. „Guten Tag, edler Karfax", sagte Ann knicksend. „Willkommen, Mädchen, in unseren Bergen", krächzte der Adler. „Ich nehme an, du bist in einer sehr wichtigen Angelegenheit zu mir gekommen, sonst hättest du diesem Lappen dein Leben gewiß nicht anvertraut." Gekränkt über diese Geringschätzung des Teppichs, sagte Ann, für seine Größe sei er hinreichend zuverlässig. „Aber nicht darum handelt es sich", fuhr sie fort. „Mich führt eine dringende Bitte zu Euch. Aber vor allem möchte ich wissen, ob auch ihr Riesenadler den Nebel, der über der Erde hängt, als sehr störend empfindet." „Wie soll ich's dir erklären", erwiderte Karfax nachdenklich. „Hier oben geht es noch, aber in den Tälern ist es jetzt furchtbar schwer, Gemsen und Auerochsen aufzustöbern, und deshalb müssen wir in letzter Zeit oft hungern."

„Dann laßt Euch erzählen, wie das alles gekommen ist!" sagte Ann, und sie erzählte vom langen Schlaf Arachnas, von ihrem Erwachen und davon, wie

die böse Hexe den Gelben Nebel heraufbeschworen hatte, um sich die Völker des Zauberlandes botmäßig zu machen.

„Mein Onkel Charlie Black, mein Freund Tim O'Kelli und ich sind in Euer Land gekommen, weil seine Einwohner uns darum gebeten haben. Wir haben den Kampf gegen Arachna aufgenommen und auch schon einige Erfolge erzielt, doch für den Endsieg fehlen uns die Kräfte. Wenn Ihr uns nicht helft, wird sich der Gelbe Nebel aus dem Zauberland nicht verziehen", schloß das Mädchen, glühend vor Überzeugung. „Wenn ich recht verstehe, ist diese Arachna von der Art des Urfin Juice, der sich im vergangenen Jahr die Marranen unterworfen und sich zu ihrem Herrscher ausgerufen hat, stimmt?"

„Aber nein", wehrte Ann lachend ab. „Im Vergleich zu Arachna ist Urfin nur ein kleines Fischlein, wie mein Onkel Charlie sagt. Selbst als Urfin die Smaragdenstadt erobert hatte, strahlte die Sonne weiter am blauen Himmel. Jetzt aber hat das Zauberland weder Sonne noch Himmel, und wenn sich nichts ändert, wird es bald verkommen. Außerdem kann ich noch sagen, daß Urfin längst nicht mehr Gott und auch nicht König ist, das Volk hat ihn nämlich durchschaut und davongejagt. Ja, er hat sich sogar in einen braven Mann verwandelt, denn er ist nicht in den Dienst der Hexe getreten und hat auch ein Mittel zur Bekämpfung des Gelben-Nebels erfunden." „Das freut mich", sagte Karfax. „Und was Arachna betrifft, bin ich bereit, mich mit ihr zu schlagen, wenn es sein muß."

„Ihr werdet Euch nicht allein mit ihr schlagen müssen, sondern im Bündnis mit dem mächtigen eisernen Ritter Tilli-Willi. Er ist sehr stark, aber wie soll ich's Euch sagen", das Mädchen suchte nach den passenden Worten, „ihm fehlt noch Flinkheit und Geschicklichkeit, um Arachna zu besiegen." Nach dieser Erklärung sagte der Adler: „Wir wollen keine Zeit mit Worten verlieren und lieber aufbrechen. Du brauchst nicht auf diesem Lappen zu fliegen, auf meinem Rücken ist es viel bequemer. Nur weiß ich nicht, wie du auf meinen Rücken steigst - in unserem Adlertal gibt es nämlich keine Leitern." „Das soll Euch keine Sorge machen", lächelte Ann. Sie setzte sich auf den Teppich, nahm Arto auf die Knie und sagte leise: „Teppich, Teppich, heb mich auf den Rücken des Karfax!"

Im selben Augenblick saß das Mädchen mit dem Hündchen dort, wo sie es gewünscht hatte.

„Oh, dieser Lappen scheint doch noch zu etwas gut zu sein", wunderte sich der Adler. Er befahl seinem Jungen, artig auf die Rückkehr der Mutter zu warten, die nach Beute ausgeflogen war, und erhob sich geräuschvoll in die Luft.

DIE SCHLACHT DER RIESEN

Die Ankunft Karfax' im Lager Charlie Blacks bewies, daß Ann ihren wichtigen Auftrag erfüllt hatte. Als der kleine Teppich sie vom Rücken des Adlers zur Erde getragen hatte, streckte sie Tim die Zunge heraus und frohlockte: „Jetzt staunst du, was?" „Ich gebe mich geschlagen", brummte Tim.

Charlie Black und sein kleiner Trupp begrüßten freudig den Riesenadler. Tilli-Willi sagte höflich: „Es freut mich, Euch zu sehen, ehrwürdiger Vogel! Ich hoffe, wir beide werden der bösen Hexe den Garaus machen!" Karfax war überrascht über das grimmige Gesicht des eisernen Riesen, doch als kluger und höflicher Vogel ließ erJls sich nicht anmerken und lobte sogar dessen große schräge Augen. „Die sehen wahrscheinlich ausgezeichnet", sagte der Adler, worüber Tilli-Willi sehr stolz war. „Ich bin eine außergewöhnliche Schönheit, bei allen Eisbergen!" rief er strahlend. „Das weiß jedermann im Zauberland." Jetzt, wo die ganze Streitmacht beisammen war, konnte man die Kampfhandlungen aufnehmen. Doch bevor der Zug zur Höhle Arachnas aufbrach, mußte man sich vergewissern, ob die Hexe noch dort war. Den letzten Kundschafterauftrag erhielt Tim, obwohl Ann ihm diesen strittig machte. Doch da sie von niemandem, Arto nicht ausgenommen, unterstützt wurde, mußte sie sich dreinfinden. Tim und Arto flogen mit dem kleinen Zauberteppich davon und kehrten nach zwei Stunden enttäuscht zurück. Die Hexe sei verschwunden, meldete der Junge. Er hatte versucht, berichtete er, wenigstens einen der Zwerge aufzustöbern, um ihn auszufragen, doch es war, als hätte der Erdboden sie alle verschlungen. Nichtsdestoweniger war das Unternehmen nicht ganz nutzlos gewesen, denn Arto sagte, wenn man ihm gestatte, die Spur aufzunehmen, werde er die Hexe bestimmt ausfindig machen, wo immer sie sich auch versteckt haben mag.

Der Scheuch bemerkte: „Du hast wahrscheinlich ein sehr scharfes Auge, wenn du so sicher bist, die Spur der Hexe zu erspähen. Wie aber, wenn auf den Steinen nichts zu sehen sein wird?"

Arto mußte lachen. „Wir Hunde haben einen Sinn, der es uns ermöglicht, selbst in stockfinsterer Nacht Spuren zu verfolgen. Das ist unser Spürsinn." Der Scheuch schüttelte ungläubig den Kopf. Weil das Hündchen die Spur nur dort aufnehmen konnte, wo sie begann, beschlossen die Gefährten, sich gemeinsam zur Höhle zu begeben. Tim, der das Gelände mehrmals mit dem Teppich überflogen hatte, sagte, es sei schwer passierbar, da komme der Wagen einfach nicht durch. Wie sehr es unseren Freunden auch leid tat, sie mußten ihre fahrbare Festung zurücklassen. Also zogen sie den Wagen in die Büsche und deckten ihn zur Tarnung mit Zweigen zu. Schon bei den ersten Schritten auf dem felsigen Steg zeigte es sich, daß ein Verfolgungsmarsch mit Rafalooblättern vor dem Mund viel schwerer ist, als eine Fahrt im bequemen Wohnwagen. Charlie Black war jetzt sehr zufrieden, die Kanone mit dem Vorrat an Pulver und Kugeln nicht mitgenommen zu haben - ein solcher Gedanke war ihm nämlich gekommen, und er hatte ihn verworfen. Wie hätte man auch mit so schwerem Gerät die wendige Hexe über Engpässe und Schluchten verfolgen können? Flinten hätten gleichfalls nichts genutzt, selbst wenn sie noch so groß wären, denn gegen Arachna konnte man damit ebenso wenig ausrichten wie mit Knallfröschen. Der Marsch war auch ohne Kanone nicht leicht. Noch ein Glück, daß mehr als zwei Dutzend Holzköpfe mit Lan Pirot an der Spitze mit dabei waren. Die kräftigen Holzkerle hatten den ganzen Wageninhalt - Bettzeug, Proviant und Werkzeug - auf ihre Schultern geladen, und jetzt schritten sie dem Zug voran, hielten Ausschau, suchten das Gelände nach Hinterhalten und Fallen ab und räumten große Steine aus dem Wege. In der zweiten Reihe schritten Charlie Black und Tim, der Arto auf dem Arm hielt (das Hündchen mußte seine Kräfte für den kommenden Kampf mit Arachna schonen). Ihnen folgte der Eiserne Holzfäller, der den Scheuch stützte, weil der Ärmste fortwährend taumelte und oft hinfiel, was den ganzen Zug aufhielt. Din Gior und Faramant schritten an der Seite des dicken Doktor Boril, dem die Arzneitasche wie gewöhnlich an der Hüfte baumelte. Din Gior trug den Zauberfernseher, den man den Holzköpfen nicht anvertraute, und auf der Schulter Faramants hockte die Krähe Kaggi-Karr. Das Ende des Zuges und seine Rückendeckung bildete der majestätisch stampfende eiserne Ritter Tilli-Willi. Die Luftstreitkraft der kleinen Armee repräsentierte Karfax. Er trug Ann auf dem Rücken und hielt nach allen Seiten Ausschau. Unsere Helden freuten sich ungemein, als sie die Grenze der Besitzungen Arachnas überschritten. Uber ihnen spannte sich ein blauer Himmel, den kein einziges Wölkchen trübte, ein Himmel, wie sie ihn schon lange nicht gesehen hatten. Die Sonne sandte freigebig ihre Strahlen auf sie herab, und belebende frische Luft strömte in ihre Lungen, die schon lange nicht so frei geatmet hatten. Die Menschen nahmen die Rafalooblätter, die sie schon längst satt hatten, vom Mund und beglückwünschten sich gegenseitig. Selbst die Holzköpfe jauchzten vor Freude, denn sie fühlten, daß ihre nassen Körper, die so viele Tage die Sonne entbehren mußten, schnell trocken wurden. Nur Tilli-Willi blickte verständnislos zum Himmel - er hatte in seinem kurzen Leben eine solch herrlich strahlende Sonne noch nicht gesehen. Nach mehreren Wegstunden, als es auf den Abend zuging, beschloß man, Rast zu machen und den Morgen abzuwarten, weil man nicht im Dunkeln bei der Höhle Arachnas ankommen wollte, wo vielleicht Fallen vorhanden waren. Wie herrlich war diese Nacht in der frischen warmen Luft unter den großen funkelnden Sternen am tiefblauen Himmel!

Auf seinem harten Lager ausgestreckt, betrachtete Charlie Black den Himmel. „Diese Pracht hat die verdammte Hexe dem Zauberland geraubt! Schon allein deswegen verdient sie den Tod!" sagte er. Ann, Tim und Arto verbrachten unter den flauschigen Schwingen Karfax' eine sehr angenehme Nacht. Als der Morgen graute, machte sich der bunte Zug wieder auf die Beine, und in drei Stunden erreichte er die Höhle Arachnas. Sie war leer, und auch die Zwerge waren spurlos verschwunden. Bevor man in den letzten, entscheidenden Kampf zog, wollte der Scheuch sich noch einmal die Hexe im Fernseher angucken. Man stellte den Zauberkasten auf einen flachen Stein, und alle drängten sich vor den Bildschirm. Der Scheuch sprach die Zauberworte, der Schirm leuchtete auf, und bald war auf ihm auch Arachna zu sehen. Sie stand, in ihr blaues Gewand gehüllt, geduckt zwischen wilden Felsen. Das Gesicht der Hexe war vor Wut und Angst verzerrt. Sie hielt nach allen Seiten Ausschau, und man konnte erkennen, daß sie sich fürchtete, in ihrem Schlupfwinkel entdeckt zu werden. Neben ihr lag griffbereit eine gewaltige Keule. „Oho, die liebe Person hat sich aber schwer bewaffnet!" sagte Faramant. Tilli-Willi rief:

„Gegen mein Schwert ist dieses Holzstück eine Nichtigkeit, das kann ich bei allen Fockmasten schwören!"

Nachdem sie ergebnislos nach dem Zauberbuch Arachnas gesucht hatte, machte sich die Schar wieder auf den Weg. Das ganze schwere Gepäck blieb auf dem Platz vor der Höhle liegen. Arto lief schnup-pernd voran. Er hatte die Spur der Hexe aufgenommen und folgte ihr so sicher wie ein Mensch, der sich frei auf der Straße einer Stadt bewegt. Lestar und Tilli-Willi hatten es nicht leicht, dem zottigen schwarzen Tier zu folgen, das wie ein Knäuel durch Büsche, mannhohes Gras und Geröll rollte. Deshalb flog Kaggi-Karr über ihren Köpfen und wies ihnen den Weg. In der hintersten Reihe schritten die Holzköpfe und die Menschen, und über ihnen schwang Karfax gleichmäßig seine gewaltigen Flügel. Er trug jetzt niemanden auf dem Rücken, denn es stand ein schwerer Kampf bevor, und er wäre glatt überfordert gewesen, wenn er sich noch um einen Reiter zu kümmern und auf ihn acht zu geben hätte. Alle halbe Stunden prüfe der Scheuch im Fernseher, ob die Hexe noch in ihrem Schlupfwinkel steckte. Arachna war noch da, doch ihr Verhalten wurde immer unruhiger. Sie hielt ihre Augen so starr auf den Himmel gerichtet, daß man befürchten mußte, sie werde den Adler entdecken. Charlie Black gab Karfax durch ein Zeichen zu verstehen, er solle niedriger fliegen, worauf dieser in Tiefflug überging. „Die Spur Arachnas ist jetzt frischer und deutlicher zu erkennen", meldete Arto. „Wir nähern uns ihrem Schlupfwinkel."

Der Weg wurde inzwischen immer schlechter. Viele Schluchten, schmale und breite, unterbrachen ihn. Über die schmalen schlugen die Holzköpfe Brücken aus den mitgenommenen Stämmen, die breiten mußten umgangen werden. Tilli-Willi, der an der Spitze des Zuges schritt, mußte größte Vorsicht beobachten, denn ein winziger Fehltritt hätte genügt, damit er abstürzte und sich schwere Verletzungen zuzog, was den ganzen Feldzug gefährden konnte.

„Wie weit sich diese verdammte Hexe verzogen hat!" ächtze der kurzbeinige Boril, der seinen Gefährten kaum noch folgen konnte. „Bleibt doch zurück, Doktor!" schlug ihm Charlie Black mehrmals vor. „Um nichts in der Welt! Die Medizin muß immer auf ihrem Posten sein!" erwiderte jedes Mal der tapfere kleine Doktor und setzte keuchend und schwitzend den Weg fort. Plötzlich tauchte auf einem Berggipfel die riesige schwarze Figur Arachnas auf, die das Nahen ihrer Feinde entdeckt hatte. Der Zug Charlie Blacks war jetzt Zielscheibe eines schweren Steinbombardements, das die Hexe eröffnete. Mit ihren gewaltigen Händen hob sie riesige Steine auf und schleuderte sie auf weite Entfernung. Beim Aufschlag zerbrachen die Steine, und mächtige Brocken flogen nach allen Seiten. Einer hatte bereits einen Holzkopf getroffen und zerfetzt. Die Steine, die auf Tilli-Willi zuflogen, wurden von ihm geschickt mit dem Schild pariert. Kapitän Black hatte in der Nähe zwei große gegeneinander gelehnte Steinplatten entdeckt, die eine Art Dach bildeten, unter dem er und seine Gefährten Deckung vor dem Steinhagel fanden. Der Seemann sagte: „Wenn Giganten kämpfen, sollen sich Zwerge lieber fernhalten. Unsere Schläge sind für die Riesen nicht mehr, als Mückenstiche." Um das Bild der Schlacht besser verfolgen zu können, hatte sich der Seemann dicht am Ausgang postiert. Er sah, wie Tilli-Willi zäh den Hang erklomm, während die Hexe gewaltige Steine auf ihn hinabwarf. Bangen Herzens beobachtete er, wie die Felsbrocken mit schrecklichem Gedröhn hinabrollten. Sie waren so groß, daß kein Schild sie hätte abwehren können. Wenn ein Brocken auf Tilli-Willi zuflog, wich er geschickt aus, und das Geschoß flog sausend an ihm vorbei.

„Potzdonnerwetter!" schrie plötzlich der Seemann händefuchtelnd: „Endlich ist der Adler in den Kampf getreten!"

Karfax hatte lange auf den richtigen Augenblick gewartet, um wie ein Pfeil niederzugehen und seinen riesigen Schnabel in den Rücken Arachnas zu stoßen, was mit solcher Wucht geschah, daß die Hexe fast umfiel und den Stein fallen ließ, den sie gerade werfen wollte. Mit wutverzerrtem Gesicht drehte sie sich zum neuen Angreifer um, packte die Keule und schwang sie hoch. Trotz seiner gewaltigen Größe war der Adler sehr flink und wich geschickt den Hieben Arachnas aus. Während die Hexe sich des Adlers erwehrte, stapfte Tilli-Willi mit riesigen Schritten den Hang immer höher.

Seine mechanischen Muskeln, die Stahlfedern, ächzten und knarrten vor Anspannung, während Lestar mit seinen kleinen Füßen auf den Kabinenboden trommelte und dem eisernen Ritter Ermunterungen zurief: „Bitte, noch ein Schrittchen. Oh, das war großartig! Bitte noch eins! Das ist famos. Streng dich noch ein kleines bißchen an, mein Kind, bald ist's geschafft"

Der Riese stieg, Drohungen ausstoßend, immer höher. „Blitz und Donner!" grölte er. „Du sollst mich kennenlernen, verdammte Hexe, warte, bald hab ich den Berg bestiegen!" Die Unerbittlichkeit im Gesicht Tilli-Willis und der Zorn, der in seinen schrägen Augen flackerte, flößten Arachna Entsetzen ein. Der eiserne Ritter beschleunigte seinen Schritt. Durch den Einsatz von Karfax in den Kampf gegen Arachna hatte Charlie Black bewiesen, daß er ein hervorragender Kenner der militärischen Kunst war: Für die mächtige Hexe war der Kampf an zwei Fronten kein Honiglecken. Wenn sie sich nach Tilli-Willi umwandte, um ihm einen Felsbrocken zu verpassen, fiel der Adler sie mit Schnabel, Krallen und Flügeln von hinten an. Wandte sie sich wieder Karfax zu, brachte der eiserne Riese unangefochten ein weiteres Stück des Hanges hinter sich. Die Hexe begriff die Aussichtslosigkeit ihrer Lage. „Oh, hätte ich nur den Zauberteppich!" flüsterten ihre Lippen. Mit den Zauberteppich hätte sie dem eisernen Riesen entrinnen können und hätte den Lufkampf nur mit dem Riesenadler allein auszutragen brauchen. In einem solchen Zweikampf hätte sie vielleicht einen Sieg errungen. Doch die Überreste des Teppichs waren jetzt längst über das ganze Land verstreut, und sie mußte den schweren Kampf ohne Teppich ausfechten. Es blieb Arachna nichts übrig, als ihr Heil in der Flucht zu suchen. Durch einen geschickten Keulenhieb betäubte sie Karfax einen Augenblick lang und stürmte in gewaltigen Sätzen den Hang hinab - fort vom unerbittlich nahenden Tilli-Willi. Die Riesenfigur der Hexe verschwand aus dem Blickfeld Charlie Blacks und seiner Gefährten, die die Schlacht aufmerksam verfolgt hatten. Der Seemann packte den kleinen Teppich, den Tim in den Händen hielt, stellte sich auf ihn und befahl ihm, zum Schlachtfeld zu fliegen. Der Zauberteppich zuckte und erhob sich nur wenige Zentimeter über die Erde -der Seemann war eben zu schwer für ihn. Tim, der den Vorgang gespannt beobachtete, sprang auf Charlie Black zu. „Verzeihung, Kapitän", rief er, „den Flug werde wohl ich machen müssen!" „Ja, Junge, du hast eben Schwein!" sagte Black mürrisch und trat Tim den Platz auf dem Teppich ab.

Der Teppich stieg in die Luft und trug den strahlenden Tim O'Kelli auf den Gipfel des Berges, wo sich ihm ein erschütterndes, unvergeßliches Bild darbot. Mit zerfetztem blauem Gewand stürmte die Hexe wie eine Gams über die Hänge, sprang, auf ihre mächtige Keule gestützt, über Schluchten, schlug Haken und lief in Schlaufen, um ihren Verfolger abzuschütteln. Das wäre ihr vielleicht gelungen, hätte Karfax nicht scharf aufgepaßt. Er flatterte ständig über der Hexe, stieß ihr den Schnabel ins Gesicht, schlug mit den Flügeln auf ihren Rücken und krallte sich in ihre Schultern fest. Hinter ihr lief, die mechanischen Muskeln aufs äußerste angespannt, der eiserne Ritter mit entsetzlich funkelnden Augen und vor Jugend glühendem Herzen. Der Adler ließ sein Auge über das Labyrynth der Kämme und Schluchten schweifen und gewahrte in der Ferne eine gewaltige Klippe, die von drei Seiten tiefe Abgründe säumten. Karfax kannte schon lange diesen Felsen, den man Todesklippe nannte. Wie oft hatten er und seine Brüder dort Gemsen und Auerochsen in den Tod gehetzt!

„Dorthin, dorthin muß ich die Hexe treiben", entschied der Adler. „Sie darf keinen anderen Weg nehmen!"

Wie sehr Arachna sich auch anstrengte, vom gefährlichen Weg abzuschwenken, es half ihr nichts. Sie durfte weder rechts noch links abbiegen, mußte geradeaus weiterrennen, und mit jedem Schritt und jedem Sprung kam sie der Stelle näher, wo die Vergeltung sie ereilen sollte. Da war schon die Todesklippe!

Als sie die Falle sah, in die die furchtbaren Gegner sie trieben, stieß Arachna einen Schrei der Wut und des Entsetzens aus. Mit dem Mut der Verzweiflung wandte sie sich zu Tilli-Willi um, hob die Keule und drang auf ihn ein. Es begann ein ungewöhnlicher Kampf. Tim O'Kelli, der ihn verfolgte, quietschte vor Entzücken und hüpfte so ungestüm auf dem kleinen Teppich, daß er zehnmal fast abgestürzt wäre, hätte der Teppich nicht vorsorglich bald den einen, bald den anderen Rand angehoben. Die zwei Riesen fochten mit ihren Waffen - Arachna mit der schweren Keule, Tilli-Willi mit dem gewaltigen Schwert -, als wären es leichte Spazierstöcke. Ob der eiserne Ritter ohne die Hilfe Karfax' gesiegt hätte oder ob er gefallen wäre, ist völlig ungewiß. Was wir wissen, ist, daß der Adler mit furchtbarem Ingrimm und Todesverachtung kämpfte, der Hexe mit seinen Krallen schrecklich zusetzte und ihr Gesicht mit den Flügeln peitschte, wodurch sie den Feind fast nicht sehen konnte. Dann war es soweit. Durch einen geschickten Hieb zerbrach Tilli-Willi die Keule der Hexe. Arachna schleuderte das Stück Holz, das sie noch in der Hand hielt und das ihr jetzt nichts mehr nutzte, gegen den Adler, stieß einen gellenden Schrei „Urfin hat Recht gehabt!!" aus und stürzte in den Abgrund, aus dem sofort weißer Dampf aufstieg. „Sieg! Sieg!!" rief der Adler mit gewaltiger Stimme. „Sieg!!" dröhnte Tilli-Willi. „Sieg!" rief aus seiner Kabine mit schwacher Stimme Lestar, der noch nie in seinem Leben so glücklich, aber auch nie so erschöpft gewesen war, wie jetzt. Die Erschütterungen, die er im Bauch des Riesen während der Jagd und des erbitterten Kampfes erdulden mußte, hatten ihn tüchtig hergenommen. Wer könnte die Freude beschreiben, die Charlie Black und seine Gefährten empfanden, als Tim O'Kelli mit dem Zauberteppich herangeflogen kam und ihnen über den Ausgang des Kampfes berichtete. Bald kehrten auch die Sieger- der zerschundene und staubbedeckte Adler und der eiserne Ritter Tilli-Willi mit tiefen Einbeulungen an Brust und Hüften - zurück. Beim Anblick seines grimmigen Gesichtes hätte niemand geglaubt, wie sanft das Herz dieses Riesen sein konnte. Die Menschen überschüttelten den tapferen Karfax mit Lob und guten Wünschen. Der Adler wehrte jedoch schlicht ab: „Ihr braucht mir nicht zu danken, Freunde! Der Gelbe Nebel hat mich ebenso wie euch mit dem Tod bedroht, folglich kämpfte ich nicht nur für euch, sondern auch für mich, für meinen ganzen Stamm. Jetzt aber kehre ich heim, meine Stammesgenossen erwarten mich schon mit Ungeduld und Besorgnis. Wenn ihr wollt, nehme ich Ann bis zur Höhle der Arachna mit, das wird dem Mädchen die Strapazen einer Wagenreise ersparen!" Bevor sie den Rücken des Adlers bestieg, blies Ann in die kleine Trillerpfeife, worauf sofort Ramina erschien.

„Teilt unsere Freude, Majestät!" sagte Ann. „Die tückische Arachna ist tot, um ihre Niederlage aber hat sich auch das Mäusevolk verdient gemacht!" Das Mädchen nahm die hocherfreute Königin auf die Hand, und der Teppich hob beide auf den Rücken von Karfax. Beim Abflug sah das Mädchen noch, wie die frohe Schar ihrer Gefährten den Rückweg antrat.

DAS ENDE DES GELBEN NEBELS

Ann blickte Karfax so lange nach, bis er sich in einen kleinen Punkt verwandelte und im fernen Himmel verschwand. Ramina nahm Abschied von dem Mädchen, bevor sie die Rückreise zu ihrem Volk antrat, das sie in das seit alters bewohnte Smaragdenland zurückführen wollte. Bebenden Herzens betrat Ann die Höhle Arachnas und blieb wie versteinert stehen, als sie eine Menge winziger Menschlein gewahrte. Da waren Greise mit grauen Bärten, die zu ihr hinaufschauten, säuberlich gekleidete alte Frauen mit weißen Hauben und gestickten Schürzen, Mädchen und Jungen und ganz kleine Kinder mit schönen, aber für sie viel zu großen Spielsachen in den Händen. Die Zwerge traten zurück, und aus ihrer Schar löste sich ein ehrwürdiger Greis mit roter Zipfelmütze. Es war Kastaglio, der Chronist und Älteste des Zwergenvolkes. „Guten Tag, liebe Ann!" sagte er, sich verbeugend.

„Ihr kennt meinen Namen?" wunderte sich das Mädchen. „Wir wissen über alles Bescheid, was euch angeht, Boten von der Smaragdeninsel und Gäste von jenseits der Berge", erwiderte Kastaglio bedächtig. „Wir haben viele Nächte lauschend unter eurem Wohnwagen verbracht, um die Pläne eures Feldzuges zu erfahren." „Und die habt ihr natürlich Arachna mitgeteilt!" schrie das Mädchen zornig. „Mitnichten", entgegnete ruhig der Zwerg. „Wir haben Neu-trali-tät bewahrt, wie Euer Freund, der Weise Scheuch, sich auszudrücken beliebt. Ich will es Euch erklären: In uralten Zeiten war über unser Volk ein Bann verhängt worden, Arachna zu dienen, uns ihr in allem zu unterwerfen und nichts tun, was ihr hätte schaden können. Doch dieser Bann enthielt nicht die Verpflichtung, gegen ihre Feinde zu kämpfen", lächelte der Alte verschmitzt, „und deshalb haben wir gegen euch auch nicht gekämpft" Überrascht über die Schlauheit der Zwerge, fragte Ann: „Warum habt ihr euch aber so lange vor uns verborgen?"

„Weil ihr verlangt hättet, daß wir euch unterstützen, was wir nicht tun durften. Jetzt aber, wo Arachna tot und der Bann gebrochen ist, stehen wir ganz zu eurer Verfügung." „Wie, ihr wißt schon, daß die Hexe tot ist?" staunte Ann wiederum.

„Sind euch in den Bergen auf dem Wege zu Arachnas Höhle die grauen kleinen Pfähle nicht aufgefallen?" fragte lächelnd Kastaglio. „Ich habe sie gesehen, ihnen aber keine Beachtung geschenkt, weil ich dachte, es seien gewöhnliche Steine." „Nein, das waren Zwerge, die sich von Kopf bis Fuß in graue Decken gehüllt hatten. Oh, wir sind Meister der Tarnkunst!" „Ja, das muß man wohl sagen", sagte das Mädchen. „Und als Arachna im Kampfe fiel, ging die freudige Nachricht von Posten zu Posten, schneller als über die Vogelstafette."

„Wer hätte das geahnt? Nun, ich kann mich nur freuen, daß ihr im Kampf der Hexe gegen uns Neutra ...lität", Ann konnte das Wort kaum aussprechen, „bewahrt habt. Ich kann mir vorstellen, wie viele Scherereien ihr uns hättet bereiten können!"

„Nicht der Rede wert!" sagte Kastaglio stolz. „Aber laßt uns zur Sache kommen. Ich nehme an, daß ihr nach dem Sieg über Arachna ihr Zauberbuch suchen werdet, um ihren bösen Hexenkünsten ein Ende zu machen, stimmt?" „Ihr habt recht, liebes Großväterchen!" „Schön, dann will ich euch gleich das Versteck zeigen, in dem die Herrin das Buch aufbewahrte."

Das Versteck befand sich im entferntesten und dunkelsten Winkel der Höhle. Es bestand aus einem Gelaß in der Wand, das ein flacher Stein bedeckte, den man vom Felsen nicht unterscheiden konnte. Die Knöpfe, welche die geheimen Federn des Verschlusses in Bewegung setzten, hätte ohne Hilfe des Zwergs niemand gefunden. Als der Deckstein sich auftat, ergriff Ann hastig das dicke pergamentene Buch, dessen Deckel von der Zeit rostfarben geworden waren.

„Habt Dank, herzlichen Dank, liebes Großväterchen!" rief Ann stürmisch. „Wie seid Ihr denn daraufgekommen, wo die Hexe das Buch aufbewahrte?"

„Hab ich euch nicht gesagt, daß unseren Augen nichts verborgen bleibt? Das Komischste an der Sache war, daß die Herrin in der unerschütterlichen Überzeugung lebte, nur sie kenne das Versteck." Der Alte kicherte und mit ihm alle anderen Zwerge. „Ich danke euch, Freunde, aber aufrichtig gesagt, möchte ich nicht häusliche Spione haben, wie ihr es seid", sagte Ann lachend. Darauf lachten die Zwerge noch stärker. Wenige Stunden später traf der Trupp Charlie Blacks aus den Bergen ein. Man kann sich vorstellen, wie groß die Freude der Ankömmlinge war, als sie in den Händen des Mädchens das Buch sahen, um das sie so schwer hatten kämpfen müssen. Hätte man das Buch nicht gefunden, wären alle ihre Mühen umsonst gewesen und das Zauberland hätte daran glauben müssen. Mitten in dieser allgemeinen Freude, als man sich gegenseitig die Hände schüttelte und auf die Schultern klopfe, kroch aus einem unbemerkten Versteck Ruf Bilan hervor. Das Gesicht des Verräters war grau vor Scham und Entsetzen. Er verbeugte sich unterwürfig vor dem Scheuch und dem Riesen von jenseits der Berge und bat sie, ihn für seinen neuen Verrat nicht allzu hart zu bestrafen. „Ich bin unschuldig", stammelte er. „Als ich aus dem langen Schlaf in der Höhle erwachte, begann mich einer der unterirdischen Erzgräber zu erziehen, doch ehe ich etwas lernte... "

„Haben dich die Zwerge geholt, die Arachna nach dir geschickt hatte", fiel ihm der Scheuch ins Wort. „Das alles ist uns bekannt, wir wissen, daß du in die Hände der Hexe fielst, als man aus dir noch etwas Ordentliches machen konnte. Das mildert deine Schuld", fügte der gerechte Herrscher hinzu. Bilan warf sich vor ihm auf die Knie.

„Ihr schenkt mir also das Leben?" jauchzte er. „Oh, ich werde Eure Barmherzigkeit nie vergessen!..."

„Ja, aber in deiner heutigen Art bist du eine Schande für deinen Stamm. Man wird dich wieder einschläfern müssen..." Das Entsetzen im Gesicht Bilans gewahrend, fuhr der Scheuch beruhigend fort: „Allerdings sollst du nicht für lange Zeit eingeschläfert werden, ein Monat oder zwei werden wohl genügen. Danach wird man dich erst richtig umerziehen. Jetzt geh in die Smaragdenstadt und teile Ruschero mit, ich habe gebeten, einen anständigen Menschen aus dir zu machen." „Bei allen Masten und Segeln!" rief Charlie Black, „das ist ein guter Einfall, Bruder Scheuch!"

Ruf Bilan verneigte sich bis zur Erde, stammelte unzählige Dankesworte und machte sich auf den Weg. Als er hinter einem Hügel verschwand, trat aus der Schar der Zwerge Kastaglio hervor und wandte sich ehrerbietig an den Scheuch:

„Dreimalweiser Herrscher der Smaragdeninsel! Wir haben schon lange von Euren hervorragenden Eigenschaften gehört, und wir bitten Euch jetzt, uns Zwerge unter Eure hohe Schirmherrschaft zu nehmen!"

„Was heißt das?" fragte der Scheuch verwundert.

„Das heißt, daß wir Eure Untertanen sein möchten. Wir wissen natürlich, daß wir eine solche Ehre nicht verdient haben, doch sind wir bereit, Euch jeden Tribut zu zahlen, den Ihr uns aufzuerlegen geruhet."

Der Scheuch stützte sich bedächtig auf seinen prächtigen Stock, den er während des ganzen Feldzugs zu bewahren verstanden hatte. Die Bitte der Zwerge schmeichelte ihm sehr.

„Hm... hm...", räusperte er sich. „Eure Bitte kommt mir etwas überraschend, doch meine ich, ihrer Erfüllung stehen keine erschwerenden Umstände im Wege."

Dieser nebelhafte Satz flößte den Zwergen große Achtung ein. Sie bewunderten die Gelehrsamkeit des Scheuchs um so mehr, als ihre frühere Herrin niemals solche gelehrten Ausdrücke verwendet hatte. „Dürfen wir das, Euer Wohlgeboren, so verstehen, daß Ihr unseren Wunsch zu erfüllen bereit seid?" fragte Kastaglio zaghaft. „Ja, gewiß", sagte der Scheuch herablassend. „Und was den Tribut angeht... Ich habe gehört, ihr habt hier eine genaue Chronik eures Landes geführt, stimmt das?" „Ja, Euer Wohlgeboren, wir führen sie bereits seit fünftausend Jahren!" erwiderte Kastaglio stolz.

„Schön, ihr sollt sie weiterführen, und das wird der Tribut sein, den ich euch auferlege!" „Hurra!! Es lebe der Dreimalweise Scheuch!" riefen die Zwerge im Chor. „Natürlich werdet ihr uns die Früchte eurer Arbeit zeigen", schloß der Scheuch milde.

„Gestattet uns, Euch alle Rollen unserer Chronik darzubringen, wir haben sie fünftausend Jahre lang aufbewahrt. Bei uns liegen sie nutzlos da, in der Smaragdenstadt aber werden Geschichtsforscher sie studieren und lange wissenschaftliche Traktate schreiben... "

Die Chroniken wurden eingepackt und auf die kräftigen Rücken der Holzköpfe geladen. Die Zwerge haben ihr Versprechen gehalten: Sie setzen noch heute ihre Chronik fort. Die Bücherei der Smaragdenstadt hat bereits den 579. Band der „Allgemeinen Chronik des Zauberlandes" erhalten, in der ein jeder die Beschreibung der seltsamen und ungewöhnlichen Ereignisse unter dem Titel „Das Geheimnis des verlassenen Schlosses" nachlesen kann. Mit allgemeiner Zustimmung wurde Charlie Black die Ehre zuerkannt, den Bann Arachnas zu brechen und den Gelben Nebel aufzulösen. Hatte doch er, der Riese von jenseits der Berge, den mächtigen eisernen Ritter Tilli-Willi geschaffen, und kein anderer als er hatte den Einfall gehabt, Karfax' Hilfe anzurufen! Es war augenscheinlich, daß man ohne diese beiden Riesen die Hexe nicht hätte besiegen können. Man beschloß, die feierliche Zeremonie des Bannbruchs an der Grenze der ehemaligen Besitzungen Arachnas zu veranstalten, dort, wo der Gelbe Nebel begann. Dort würde sich sofort zeigen, ob die magischen Worte wirkten. Nach einigen Reisestunden hielt der Zug an der Grenze zwischen dem Sonnen und dem Nebelgebiet. Vorne, wo der Gelbe Nebel lag, war alles in Dunst gehüllt, wehten Feuchtigkeit und Kälte herüber. Während hüben Vögel zwitschernd in den Bäumen hüpften, üppige Blumen die Köpfe aus dem Gras streckten und bunte Falter umherflatterten, war drüben die Erde mit Schnee bedeckt, standen die Bäume ohne Laub da, war der Wald wie ausgestorben. Aller Herzen klopften, als Charlie Black das Buch aufschlug und laut die Zauberworte sprach:

„Uburrü-kürüburrü, tandarra-andabarra, faradon-garabadon, schabarra-scharabarra, es weiche für alle Zeiten der Gelbe Nebel aus dem Zauberland!"

Das Wunder geschah! Es war, als hätte eine Riesenhand den Nebelvorhang aufgehoben, und dort, wo eben noch eisige Leere geherrscht hatte, zeigte sich ein schöner blauer Himmel und strahlte die Sonne in ihrer herrlichen Pracht. Das Entzücken unserer Helden war unbeschreiblich. Ann und Tim umarmten sich, Charlie Black warf seine Pfeife hoch in die Luft und fing sie geschickt wieder auf, Doktor Boril schwenkte seine Arzneitasche, und Lan Pirot führte anmutig den „Tanz des Hirsches" auf, für den er beim Wettstreit der Stadttänzer den ersten Preis erhalten hatte. Arto, der plötzlich vergessen hatte, daß er sprechen konnte, bellte ohrenbetäubend, Kaggi-Karr schlug wilde Purzelbäume in der Luft, die Holzköpfe stampften vor Vergnügen mit den Füßen, und der riesige Knabe Tilli-Willi stimmte zum erstenmal in seinem Leben ein Lied an, dessen Worte und Melodie er aus dem Stegreif gedichtet hatte. Das Zauberland war gerettet. Nun würde ewig die heiße Sonne darüber strahlen, würden die Bäume das ganze Jahr saftige Früchte tragen und die Menschen unbeschwert die Felder bestellen und reiche Ernten einbringen. Charlie Black zündete ein Feuer an, in das er das Zauberbuch Arachnas warf.

„Mögen die furchtbaren Beschwörungen, die in diesem verfluchten Buche stehen, für alle Zeiten verschwinden!" sagte der Seemann. „Wer weiß, in welche Hände es geraten und welchen Schaden es noch anrichten könnte, wenn wir es nicht vernichten!"

Das Feuer leckte die Blätter, die in den vielen Jahrtausenden ganz steif geworden waren, dann blähte sich das Buch, brannte lichterloh und ließ

stinkenden Rauch in die Luft aufsteigen. Die alten Zauberblätter verwandelten sich in Asche, die ein Windstoß erfaßte und in die Ferne trug. „Möge alles Böse wie dieses Buch im Zauberland und in der ganzen Welt untergehen!" sprach Charlie Black feierlich.

DIE RÜCKKEHR

Unsere Freunde brachen in bester Stimmung auf, den Wagen zu holen, den sie in der Nähe zurückgelassen hatten.

„Kapitän, ich will vorausfliegen und zu eurer Ankunft alles vorbereiten", schlug Tim vor. Doch als der Junge sich auf den Teppich setzte und ihm zu fliegen befahl, rührte sich dieser nicht von der Stelle. Tim wiederholte mehrmals den Befehl, doch es nützte nicht. „Was ist mit dem Ding nur los?" schrie Tim wütend. „Nichts Besonderes", erklärte ihm der Scheuch. „Arachna ist tot, ihr Zauberbuch verbrannt, und damit haben alle ihre Hexereien aufgehört." „Meinetwegen kannst du hier bleiben, nutzloser Lappen!" rief der Junge, den Teppich mit dem Fuß von sich stoßend.

„Du sollst dich schämen!" sagte Ann vorwurfsvoll. „Dieser liebliche kleine Teppich hat uns so viele Dienste erwiesen, und das ist nun dein Dank dafür!" Ann rollte den Teppich zusammen und nahm ihn unterm Arm. „Ich will ihn als Andenken an unsere Abenteuer aufbewahren!" sagte sie. „Gib ihn her, ich will ihn schon tragen", sagte Tim errötend und nahm dem Mädchen die Last ab. Unterdessen nahm Faramant das Inventarverzeichnis aus der Tasche, schlug ein bestimmtes Blatt darin auf, feuchtete die Spitze seines Bleistifts an und strich die Eintragung aus: „Gebrauchter fliegender Teppich, Größe 4 x 3 Ellen..." An den Rand schrieb er noch die Bemerkung: „Abgeschrieben wegen Verlust der Zauberkraft."

Faramant faltete das Verzeichnis wieder zusammen, steckte es in die Tasche und sagte: „Alles will seine Ordnung haben. Wen wird die Kontrolle bei einer Bestandsaufnahme nach dem Teppich fragen? Natürlich mich, den Chef des Versorgungsdienstes."

Die Schar marschierte über verschneites Gelände. Ringsum geschahen wunderbare Dinge: Von der Erde stieg Dunst auf, von den Hügeln plätscherte Wasser herab, an den Zweigen der Bäume schwollen die Knospen, und da und dort, wo der Schnee geschmolzen war, kam grünes Gras zum Vorschein. Unter den wunderwirkenden Strahlen der heißen Sonne zog im Zauberland der Frühling ein!

Scharen von Vögeln - Nachtigallen, Rotkehlchen, Stieglitze und Zeisige -holten die Wanderer ein und zogen über ihre Köpfe dahin. Die unfreiwilligen Gäste Arachnas kehrten zu ihren heimatlichen Nestern zurück, aus denen sie der Gelbe Nebel vertrieben hatte. In den Bäumen hüpften Eichhörnchen und Beutelratten, und etwas weiter weg trottete ein Bär, der furchtsam nach dem schrecklichen Gesicht Tilli-Willis schielte. Der aufmerksame Riese gewahrte die Angst von Meister Petz und erinnerte sich plötzlich, daß auch andere Tiere bei seinem Anblick ängstlich in die Büsche huschten. Tilli-Willi blieb stehen und winkte den Bären heran. Zögernd kam Meister Petz näher. Die Augen des eisernen Ritters flößten ihm Entsetzen ein, und er senkte den Blick zu Boden. „Hör mal, Freund", sagte Tilli-Willi sanft, „du scheinst Angst vor mir zu haben?"

„N-n-n-ein, ich ha-ha-be k-k-eine Angst", blubberte der Bär, „w-w-wo-vor sollte ich auch A-A-Angst haben?"

„Ganz deiner Meinung", sagte der Riese. „Ich habe immerhin einiges für dieses Land getan. Äber warum willst du mir denn nicht in die Augen schauen?"

„B-b-bitte, quält m-mich nicht...", stotterte Meister Petz und rannte wie gehetzt in das nächste Gebüsch. Kopfschüttelnd blickte Tilli-Willi ihm nach. „Das ist ihr Dank...", flüsterte er gekränkt. Der Scheuch bemerkte den Ärger Tilli-Willis und beschloß, ihn zu trösten. „Du sollst dich nicht ärgern, lieber Freund", sagte er sanft, „sondern vielmehr stolz sein, daß deine Augen eine mag-ne-ti-sche Kraft ausstrahlen... "

„Man-ge-schi... Wie hast du gesagt?" Der Scheuch wiederholte das Wort. „Diese Kraft wird nicht jedem gegeben", erklärte er. „Hast du vielleicht einen Menschen gesehen mit solchen Augen wie du?" „Nein", erwiderte der eiserne Riese. „Na also. In deinem Gesicht, besonders in den Augen, liegt eine einmalige In-di-vi-du-a-li-tät, und darin besteht deine Ü-ber-le-genheit über alle Lebewesen und alle unbelebten Dinge!" Bezaubert von diesen langen und klingenden Worten, vergaß der sanftmütige Riese sein Leid und rief freudig aus: „Von jetzt an werde ich der Angst dieser Käuze keine Beachtung mehr schenken!"

„Das ist genau das richtige!" stimmte der Scheuch zu. Je weiter man kam, desto lebendiger wurde die Natur. Kaggi-Karr, die auf der Schulter des eisernen Ritters saß, flatterte plötzlich auf und schrie erregt: „Nein, so halte ich es nicht länger aus! Ich darf die Erfüllung meiner Obliegenheiten nicht länger aufschieben!"

„Was sind denn das für Obliegenheiten?" fragte Tim verdutzt. „Weiß du denn nicht, daß ich Generaldirektor des Post- und Fernmeldewesens des

Zauberlandes bin?" erwiderte die Krähe gereizt. „Für meine Verdienste habe ich sogar einen Orden bekommen, den ich nur deshalb nicht trage, weil ich das Prahlen nicht mag."

Bei diesen Worten warf die Krähe einen ironischen Blick auf die Brust Borils, die zwei Orden schmückten.

„Verzeiht, Exzellenz, ich bin hier fremd und hatte von Eurem hohen Rang keine Ahnung", sagte der Junge verlegen.

Kaggi-Karr, die von dieser Anrede sehr geschmeichelt war, erklärte ihre Absichten: „Ich werde jetzt Boten nach allen Richtungen ausschicken, damit die Menschen und Tiere so schnell wie möglich erfahren, daß der Gelbe Nebel für immer verschwunden ist und sie heimkehren können. Meine Eilboten werden ins Unterirdische Land zu den Käuern und den Erzgräbern gehen. Ich werde alle zurückrufen, die sich vor dem Gelben Nebel in die Besitzungen der guten Feen Willina und Stella gerettet haben. Die Ordnung im Zauberland muß so schnell wie nur möglich wiederhergestellt werden!"

Ann und Tim schauten achtungsvoll auf den aufgeplusterten Vogel, von dem so viel abhing und der alles tat, um den Einwohnern des Zauberlandes recht viel Nutzen zu bringen. Unterdessen war Kaggi-Karr bereits weit weg von diesem Ort. Sie erteilte den Schwalben und Spatzen, die auf ihren Ruf herbeigeeilt waren, Befehle. Jeder weitere Tag brachte neue wunderbare Veränderungen. Schnee und Eis waren längst verschwunden, das Gras wuchs schnell, und die Bäume, die sich mit dichtem Laub bedeckt hatten, trugen schon üppige Blüten, deren Duft die Bienen herbeilockte. Ann, Tim und Charlie Black erkannten mit Freude die schönen Wiesen und Haine des Zauberlandes wieder. Sie waren es gewesen, die diesen Zauber wiedererstehen ließen, und deshalb war ihre Freude doppelt groß. Herden von Antilopen, Bisons und Hirschen überholten unsere Wanderer, Rotfüchse stöberten in den Büschen nach unvorsichtigen Kaninchen und Waldechsen krochen aus tiefen Erdlöchern hervor, in denen sie sich vor dem Frost verborgen hatten. Kaggi-Karr wurde von ihren Untergebenen alle paar Stunden über die Vorgänge im Lande unterrichtet. Die Nachrichten waren gut: Die Marranen hatten das Land der Schwätzer verlassen, waren in ihr Tal zurückgekehrt und bestellten jetzt die Felder. Beim Abschied hatten die Marranen die gastfreundlichen Untertanen Stellas ihrer ewigen Freundschaft versichert und gesagt, nunmehr könne nichts mehr in der Welt auch nur einen Schatten des Unbehagens auf ihre Beziehungen werfen. Die Käuer und Erzgräber hatten ebenfalls die düstere Höhle verlassen und waren in ihre lieblichen Häuser zurückgekehrt, die die heiße Sonne so freigebig wärmte. Ihnen waren natürlich die Tiere gefolgt, die im Unterirdischen Land ein Obdach gefunden hatten. Wankend vor Hunger und blinzelnd von dem ungewohnten Licht, trabten Elche, Büffeln,

Antilopen, Hasen und Waschbären durch die Wälder ihren Heimatorten zu. Der Scheuch, der über das Schicksal Urfin Juices besorgt war, wollte wissen, wie dieser die schweren Wochen des Schnees und der Kälte in seiner trostlosen Einsamkeit überstanden hatte. Vor allem war er um die Gesundheit des ehemaligen Königs besorgt. Die Antwort gab der Zauberkasten. Er zeigte dem Herrscher der Smaragdenstadt und seinen Freunden ein schönes Tal am Fuße der Weltumspannenden Berge, das Häuschen von Urfin Juice mit erneuertem Anstrich und den wieder grünenden Garten. Den Spaten in der kraftvollen Hand, grub Urfin Beete um. Sein Gesicht hatte einen sanften, zufriedenen Ausdruck, den man an ihm früher nicht gekannt hatte. Niemand hätte sich jetzt vorstellen können, wie finster und mürrisch dieser selbe Urfin einmal gewesen war. Daneben auf einem Baumstumpf hatte sich die Eule Guamoko breitgemacht, die nach dem langen Hunger jetzt wieder dicker geworden war.

„...Wie du siehst, Freundin Guamokolatokint", setzte Urfin das Gespräch mit der Eule fort, „habe ich mit meiner Prophezeiung recht gehabt. Das mußt du jetzt zugeben. Arachna ist längst tot..." „Wie willst du das beweisen, Herr?" entgegnete die Eule, die sich sehr geschmeichelt fühlte, daß Urfin sie beim vollen Namen nannte, was sehr selten vorkam. „Vielleicht hat die Hexe Vernunft angenommen und den Menschen die Sonne gutwillig zurückgegeben?"

„Gutwillig? Daß ich nicht lache!" kicherte Urfin. „Bei der müßtest du lange nach gutem Willen suchen. Nein, für mich ist es völlig klar, daß der Weise Scheuch ein ganz ungewöhnliches Mittel erfunden haben muß, um dieser Bestie das Handwerk zu legen!"

Als der Scheuch das hörte, kamen ihm so viele Lobesworte für Urfin in den Sinn, daß sein Kopf mächtig anschwoll. Juice fuhr fort: „Freilich würde ich gerne wissen, was das für ein Mittel ist. Vielleicht schicke ich dich auf Kundschaft aus, Guamokolatokint?"

„Dazu bin ich gerne bereit, Herr, ich werde schon alles auskundschaften", sagte die Eule, die sich über die harmlose Schmeichelei Urfins ungeheuer freute. Zufrieden mit dem Gehörten schaltete der Scheuch den Fernseher aus. „Wie ich sehe, hat sich der ehemalige U-sur-pa-tor völlig verändert", sagte er. „Ich meine, wir sollten Urfin wieder in die Smaragdenstadt einladen. Er ist für seine früheren Verbrechen hinreichend bestraft worden, mag er nun wieder unter Menschen leben. Wie er sich während der Geschichte mit Arachna verhalten hat, ist wahrhaftig lobenswert!" Der Zug setzte seinen Weg fort und erreichte schließlich die Grenze des Smaragdenlandes. Der Scheuch und seine Gefährten hatten den Wagen verlassen, um den sich jetzt die Holzköpfe kümmerten. Sie gingen jetzt zu Fuß und freuten sich über das Wiedererwachen der Natur.

Es zeigten sich die ersten Farmen. Ihre Einwohner waren aus der Stadt zurückgekehrt, in die sie vor dem Frost und dem Gelben Nebel geflohen waren. Sie arbeiteten wieder in den Gärten und auf den Feldern, waren wieder froh und glücklich, und nur an ihren eingefallenen Wangen konnte man noch erkennen, welche schweren Zeiten sie überstanden hatten. Sie begrüßten stürmisch ihre Befreier: den Riesen von jenseits der Berge, Ann, Tim, den Scheuch, den Holzfäller und ganz besonders den sanftmütigen Giganten Tilli-Willi. Niemand ängstigte sich jetzt vor seinem grimmigen Gesicht, wußten doch alle, daß es nur als Maske zur Einschüchterung der Hexe notwendig gewesen war. Als schließlich die Türme der Smaragdenstadt auftauchten, gingen die Herzen unserer Freunde vor Glück über. Die Smaragdenstadt war schon immer herrlich gewesen, doch unseren Helden schien es, als wäre sie jetzt noch prächtiger, obwohl das kaum möglich war. Die Smaragde in den Mauern, auf den Türmen, an den Toren und auf den Dächern funkelten, als hätte man sie gerade blitzblank geputzt. Grüne und rote Dachziegel wechselten in malerischer Unordnung, und die ganze Stadt glich einem wunderbaren Spielzeug, wie es nur große Meister zu schaffen vermögen. Die Schar bestieg die Fähre, die längst wieder funktionierte, und fuhr über den Kanal. Nur der eiserne Knabe durchquerte ihn watend. Diesmal strauchelte er nicht und glitt auch nicht aus, denn seine Bewegungen waren sicher, der Schritt fest. Tilli-Willi ging in den großen Stadtpark wohnen, weil sich in der ganzen Stadt kein Haus fand, das für ihn groß genug gewesen wäre. Von früh bis spät war jetzt dieser Park von den Stimmen der Kinder erfüllt, die in Scharen zum sanftmütigen Riesen strömten. Jungen und Mädchen staunten über seine Größe, doch sein Gesicht ängstigte sie nicht. Der eiserne Knabe nahm immer gern an ihren Spielen teil, denn in seinem Alter kann es nichts Ernsteres und Notwendigeres geben als Spiel. Als die Schar das Tor erreichte, war die Pforte wie immer geschlossen. Ann zog dreimal die Glocke, das kleine Fenster des Pförtnerhauses ging auf, und wer sich da zeigte, war Faramant mit einer grünen Brille auf der Nase! Der Hüter des Tores hatte eine Stunde zuvor den Zug verlassen, war vorausgeeilt und hatte seinen alten Platz im Pförtnerhaus eingenommen.

„Wer seid ihr und was wollt ihr in unserer Stadt?" fragte er streng, obwohl seine Augen lächelten.

„Ich bin der Dreimalweise Scheuch, der Herrscher des Smaragdenlandes. Ich bin gekommen, um den Platz wieder einzunehmen, der mir von Rechts wegen zusteht."

„Ich bin der Eiserne Holzfäller, Herrscher der Zwinkerer. Ich bin auf Einladung meines Freundes, des Scheuchs, gekommen, um eine Zeitlang als Gast in eurer herrlichen Stadt zu wohnen!" „Ich bin der Riese von jenseits der Berge, ein Seemann. Ich will mich nach dem schweren Kampf mit der mächtigen Hexe in eurer schönen Stadt ausruhen."

Nachdem sich auch die anderen vorschriftsmäßig vorgestellt hatten, tat sich die Pforte auf, und Faramant ging mit einem Korb voller Brillen auf sie zu. „Die Smaragdenstadt begrüßt euch, Wanderer", sagte würdevoll der Hüter des Tores. „Doch vor dem Betreten der Stadt müßt ihr diese grünen Brillen aufsetzen. So lautet der Befehl Goodwins, des Großen und Schrecklichen, und sein Befehl ist hier Gesetz!"

Unsere Freunde setzten augenzwinkernd die Brillen auf, und als sie es getan hatten, begannen die Gegenstände im Umkreis in allen Tönen der grünen Farbe - vom zartesten bis zum tiefsten - zu schillern. Als der Scheuch, der Holzfäller, der Seemann und ihre Gefährten in die Stadt eintraten, bot sich ihnen ein Bild, wie man es sich nicht einmal im Traum vorstellen kann. Vor den Haustüren und auf den Balkons drängten sich unzählige Menschen, Kinder hingen wie Trauben auf den Dächern und hielten sich an Traufen, Wetterhähnen und Schornsteinen fest, aus weitgeöffneten Fenstern schauten Greise und alte Frauen. Jauchzen erfüllte die Luft, und von allen Seiten flogen Blumen und ganze Sträuße... In diesem fröhlichen Getümmel flatterte, zerzaust und heiser vom vielen Schreien, Kaggi-Karr, die das Amt des Obersten Festordners versah. Sie war schon am Vortag eingetroffen, hatte den Einwohnern der Stadt und ihrer Umgebung die Ankunft des Scheuchs und seiner Gefährten angekündigt und dann den ganzen stürmischen Empfang vorbereitet. Von Tausenden jauchzenden Menschen umgeben, schritt die Schar über den Blumenteppich, der die Straßen bedeckte, und betrat den Palastplatz, in dessen Mitte, wie in alten glücklichen Zeiten, der Hauptspringbrunnen der Stadt in allen Farben des Regenbogens strahlte, Gold- und Silberfischlein aus seiner Schale hochsprangen, durch die Luft zuckten und schillernd zurück ins Wasser fielen.

Der Palast des Scheuchs erwartete mit weitgeöffneten Toren und glänzenden Spiegelscheiben den Herrn und seine Gäste. Die Palastdienerschaft hatte die Parkettböden auf Hochglanz poliert und Wände und Decken blitzblank geputzt. Frischgebürstete Seiden- und Samtvorhänge hingen an vergoldeten Gardinenstangen, und überall glitzerten herrliche Smaragde.

Von ihrem Gefunkel taten die Augen weh, und der vorsorgliche Faramant hatte dreimal recht, als er unseren Helden die grünen Brillen aufnötigte. Vor der Tür des Thronsaals wartete der Koch Baluol mit weißer Schürze und weißer Haube, eine riesige Torte auf goldenem Teller präsentierend. Die Tische im Saal waren mit unzähligen auserlesensten Gerichten gedeckt.

Im Thronsaal saß der Tapfere Löwe in Erwartung seiner Freunde. Der ehrwürdige König der Tiere hatte wegen seines fortgeschrittenen Alters an den gefährlichen Abenteuern nicht teilnehmen können. Er war überglücklich, Ann, den Seemann Charlie und alle anderen Gefährten lebendig und wohlauf wiederzusehen. Aus seinen Augen rannten Freundentränen, die er mit der Schwanzquaste trocknete.

Ann traute ihren Augen nicht, als der hagere Doktor Robil in seinem Galakleid mit den Orden an der Brust auf sie zukam, sich höflich verbeugte und ihr den Silberreif hinhielt. Das konnte sie nicht fassen, hatte der Holzfäller doch gesagt, daß der Reif zusammen mit der zahmen Hindin Auna verschwunden war.

Die Erklärung war sehr einfach. Als der Gelbe Nebel sich über das Land ausbreitete, war Auna schutzsuchend zu ihrer Herrin Fregosa in den Violetten Palast zurückgekehrt, und die Köchin hatte ihr natürlich den Reif wieder abgenommen. Leider geschah das, als der Eiserne Holzfäller bereits unterwegs in die Smaragdenstadt war, und deshalb war der Talisman im Lande der Zwinkerer geblieben.

Freudestrahlend setzte Ann den schönen Schmuck auf, drückte jedoch nicht auf den Rubinknopf, um sich unsichtbar zu machen, denn im Freundeskreis gehört sich das nicht.

Tim sagte: „Wie schade, daß wir den Reif nicht früher bekamen, als wir gegen Arachna in den Kampf zogen. Ich hätte mich unsichtbar in ihre Höhle geschlichen und ihr das Zauberbuch entwendet." „Das wäre dir nicht gelungen", widersprach Ann. „Das Buch lag in einem sicheren Versteck, und ohne die Hilfe der Zwerge hättest du es nicht gefunden. Ja, selbst wenn du es gefunden hättest und wir das Land entzaubert und vom Gelben Nebel befreit hätten, ist ungewiß, was später geschehen wäre. Vielleicht kannte die Hexe noch andere schreckliche Sprüche, mit denen sie ein noch größeres Übel als den Gelben Nebel hätte heraufbeschwören können."

Alle fanden, daß Ann recht hatte und daß alles sehr gut ausgegangen sei. Auch ohne den Silberreif hatte sich das Zauberland von Arachna befreit, und jetzt hatte es von ihr nichts mehr zu befürchten. „Trotzdem werde ich den Silberreif nicht mehr bei euch lassen", sagte Ann lachend. „Ihr habt ihn nachlässig aufbewahrt. Aber", sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn, „wo ist denn Ramina? Wo ist die hochherzige Ramina, unsere erste Bundesgenossin im Kampf gegen Arachna?" Verlegen sagte Kaggi-Karr, das sei ihre Schuld, sie habe im Tumult an die Königin der Feldmäuse nicht gedacht.

„Das werden wir wiedergutmachen", lächelte das Mädchen und blies in ihre Zauberpfeife.

Auf ihrer ausgestreckten Hand erschien Ramina mit funkelnder Goldkrone auf dem Köpfchen. Das Mädchen und die Königin begrüßten einander sehr herzlich. Als die Gäste sich an die Festtafel setzten, gewahrten sie im offenen Fenster, hinter dem die Schneegipfel funkelten, den klug dreinschauenden häßlichen Kopf Oichos. Der treue Drache wartete geduldig auf die Retter des Smaragdenlandes, die er in ihre schöne ferne Heimat zurückfliegen sollte.

Ende

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