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Das Sanatorium war still.

Lillian Dunkerque hockte in hellblauen Hosen auf ihrem Balkon. Die Nacht war weit weg und vergessen. Das Telefon klingelte. Sie hob den Hörer ab. »Ja, Boris – nein, natürlich nicht – wohin kämen wir, wenn wir das täten? – Lass uns nicht darüber reden – natürlich kannst du heraufkommen – ja, ich bin allein, wer sollte schon hier sein –?«

Wolkow kam auf den Balkon.

Sie beobachtete ihn.

»Boris«, sagte sie »Wir verstehen uns zu gut.«

»Wirklich?«

»Ja. Du verstehst mich zu sehr und ich dich, und das ist unser

Elend.«

Wolkow lachte. »Besonders bei Föhnwetter.«

»Nicht nur bei Föhnwetter.«

»Oder wenn Fremde angekommen sind.«

»Siehst du«, sagte Lillian. »Du weißt bereits den Grund. Du kannst alles erklären. Ich nichts. Du weißt alles im voraus über mich. Wie müde das macht! Ist das auch der Föhn?«

»Der Föhn und das Frühjahr.«

Lillian schloß die Augen.

»Warum bist du nicht eifersüchtig?« fragte sie.

»Ich bin es ja. Immer.«

Sie öffnete die Augen. »Auf wen? Auf Clerfayt?« Er schüttelte den Kopf.

»Das dachte ich mir. Worauf dann?«

Wolkow antwortete nicht. Wozu fragte sie? Und was wußte sie schon davon? Eifersucht begann nicht mit einem Menschen und endete nicht damit. Sie begann mit der Luft, die der geliebte Mensch atmete und endete nie. Nicht einmal mit dem Tode des anderen. »Worauf, Boris?« fragte Lillian. »Doch auf Clerfayt?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht auf das, was mit ihm heraufkommt.«

»Was kommt schon herauf?« Lillian schloß wieder die Augen. »Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein. Clerfayt fährt in ein paar Tagen wieder hinunter und wird uns vergessen und wir ihn.«

Sie lag eine Zeitlang still auf ihrem Liegestuhl. Wolkow saß hinter ihr und las. »Manchmal möchte ich etwas ganz Unsinniges tun, Boris«, sagte sie.

»Das möchte jeder.«

»Du auch?«

»Ich auch.«

»Warum tun wir es dann nicht?«

»Es würde nichts ändern.«

»Du auch?«

Boris sah auf die schmale Gestalt vor sich. Wie wenig sie von ihm wußte, obschon sie glaubte, ihn zu verstehen!

* * *

Die Glocken der Kirche im Dorf begannen zu läuten. Wolkow stand auf und ließ den Vorhang gegen die Sonne weiter herunter. »Eva Moser wird morgen entlassen«, sagte er. »Gesund.«

»Ich weiß. Sie ist schon zweimal entlassen worden.«

»Dieses Mal ist sie wirklich gesund. Das Krokodil hat es mir bestätigt.«

Lillian hörte durch das Verhallen der Glocken plötzlich den Ton Giuseppes. Der Wagen kam rasch die Serpentinen herauf und hielt. Sie wunderte sich, weshalb Clerfayt ihn heraufbrachte; es war das erste Mal seit seiner Ankunft.

Eine halbe Stunde später hörte Lillian den Wagen Clerfayts abfahren. Boris war vorher gegangen. Dann stand sie auf und ging nach unten.

Zu ihrem Erstaunen sah sie Clerfayt auf einer Bank vor dem Sanatorium sitzen. »Ich glaubte, Sie wären vorhin nach unten gefahren«, sagte sie und setzte sich neben ihn. »Habe ich bereits Halluzinationen?« »Nein. Das war Hollmann.« »Hollmann?«

»Ja. Ich habe ihn ins Dorf geschickt, eine Flasche Wodka zu kaufen.«

»Mit dem Wagen?«

»Ja«, sagte Clerfayt. »Mit dem Wagen. Es war höchste Zeit.«

Man hörte den Motor wieder. Clerfayt stand auf und horchte. »Nun wollen wir einmal sehen, was er macht – ob er brav und fromm gleich wieder heraufkommt, oder ob er mit Giuseppe absaust.«

»Absaust? Wohin?«

»Wohin er will. Benzin ist genug im Tank. Damit kann er fast bis Zürich kommen.«

»Was?« sagte Lillian. »Was sagen Sie da? Wissen Sie nicht, daß er krank ist?«

»Gerade deshalb. Er hat schon geglaubt, er hätte verlernt zu fahren.«

»Und wenn er sich eine Erkältung holt?«

Clerfayt lachte. »Er ist warm angezogen. Und Rennfahrern geht es mit Wagen so wie Frauen mit Abendkleidern – wenn sie ihnen Spaß machen, erkälten sie sich nie darin.«

Lillian starrte ihn an. »Und wenn er sich trotzdem eine Erkältung holt! Wissen Sie, was das hier oben bedeutet? Man kann sich hier den Tod an einer Erkältung holen!«

Clerfayt betrachtete sie. Sie gefiel ihm so bedeutend besser als am

Abend vorher. »Das sollten Sie sich merken, wenn Sie abends, statt im Bett zu bleiben, in die Palace Bar ausreißen«, sagte er. »In einem dünnen Kleid und seidenen Schuhen.«

Lillian war einen Augenblick verwirrt.

»Da ist er! Sehen Sie ihn? Hören Sie nur, wie er die Kurven nimmt! Heute abend wird er ein anderer Mensch sein.«

»Er wird heute abend mit Fieber im Bett liegen.«

»Mit Ketten auf den Reifen kann man nicht gerade ein Renntempo fahren.« Er legte einen Arm um ihre Schultern.

»Hoffentlich reißt er nicht wirklich aus«, sagte Clerfayt.

Lillian antwortete nicht sofort. Ihre Lippen waren trocken. »Warum soll er ausreißen?« sagte sie dann mühsam. »Er ist doch fast geheilt.

Warum soll er da alles riskieren?«

»Manchmal riskiert man es gerade dann.«

»Würden Sie es an seiner Stelle riskieren?«

»Das weiß ich nicht.«

Lillian holte Atem. »Würden Sie es tun, wenn sie wüssten, daß Sie nie wieder gesund würden?« fragte sie.

»Anstatt hier zu bleiben.«

»Anstatt hier ein paar Monate länger vorsichtig zu leben«

Er lachte. »Danach müssen Sie nicht gerade einen Rennfahrer fragen.«

»Würden Sie es tun?«

»Ich habe keine Ahnung. So etwas weiß man nie vorher. Vielleicht ja, um noch einmal an mich zu reißen, was Leben heißt, ohne Rücksicht auf Zeit – aber vielleicht würde ich auch nach der Uhr leben und um jeden Tag geizen und jede Stunde. Das weiß man nie. Ich habe da merkwürdige Überraschungen erlebt.«

Sie hörten plötzlich den Motor wieder. »Er kommt zurück«, sagte Clerfayt.

»Ja«, wiederholte sie und holte tief Atem. »Er kommt zurück. Sind Sie enttäuscht?«

»Nein. Ich wollte nur, daß er den Wagen einmal fährt. Das letzte Mal, als er darin saß, hatte er seinen ersten Blutsturz.«

Lillian sah Giuseppe auf der Chaussee heranschießen. Sie konnte es plötzlich nicht ertragen, Hollmanns strahlendes Gesicht sehen zu müssen. »Ich muß hinein«, sagte sie hastig. »Das Krokodil sucht mich bereits!« Sie wendete sich zum Eingang. »Und wann fahren Sie über den Paß?« fragte sie.

»Wann Sie wollen«, erwiderte Clerfayt. Es war Sonntag, und Sonntage im Sanatorium waren immer schwerer zu ertragen als die Wochentage. Die Arzte kamen nur in die Zimmer, wenn es notwendig war, so daß man glauben konnte, man sei gesund.

Lillian kam trotz des Verbots zum Abendessen herunter; das Krokodil kontrollierte gewöhnlich sonntags nicht. Sie hatte zwei Gläser Wodka getrunken. Dann hatte sie ihr bestes Kleid angezogen – Kleider halfen manchmal mehr als jeder moralische Trost –, aber diesmal hatte auch das nicht genutzt. Der Cafard, der plötzliche Weltschmerz, der Hader mit Gott, den jeder hier oben kannte und der ohne ersichtlichen Grund kam und ging, war geblieben. Er hatte sie angeflogen wie ein dunkler Schmetterling.

Erst als sie in das Esszimmer trat, wußte sie, woher er kam. Das Zimmer war fast voll, und an einem Tisch in der Mitte saß Eva Moser, umringt von einem halben Dutzend ihrer Freunde, vor sich einen Kuchen, eine Flasche Champagner und Geschenke in buntem Papier. Es war ihr letzter Abend. Am nächsten Nachmittag sollte sie abfahren.

Lillian wollte zuerst umkehren; dann sah sie Hollmann. Er saß allein neben einem Tisch mit den drei schwarzgekleideten Südamerikanern, die auf den Tod Manuelas warteten, und winkte ihr zu.

»Ich habe Giuseppe heute gefahren«, sagte er.

»Haben Sie es gesehen?«

»Ja. Hat jemand sonst Sie noch gesehen?«

»Wer?«

»Das Krokodil? Oder der Dalai Lama?«

»Niemand. Der Wagen war an der Übungswiese geparkt. Da kann man ihn nicht sehen. Und wenn schon! Ich bin glücklich. Ich glaubte schon, ich könne die verdammte Karre nicht mehr fahren.«

»Kommt Clerfayt heute abend nicht?« fragte sie.

»Nein. Er hat heute nachmittag überraschend Besuch bekommen. Wozu soll er auch immer heraufkommen? Es muß langweilig sein für ihn.«

»Warum fährt er dann nicht weg?« fragte Lillian ärgerlich.

»Er fährt; aber erst in ein paar Tagen. Mittwoch oder Donnerstag.«

»Diese Woche?«

»Ja. Ich nehme an, er wird mit seinem Besuch hinunterfahren.«

Lillian antwortete nicht.

»Und mit wem reiße ich denn von nun an abends aus?«

»Da sind doch genug. Und Clerfayt ist ja auch noch hier.«

»Ja. Und nachher?«

Lillian stand auf. »Ich werde schlafen gehen.Gute Nacht, Hollmann.«

»Ist irgend etwas los, Lillian?«

»Nichts als das Übliche. Langeweile.

Die Nachtschwester hatte ihre Abendrunde beendet. Lillian saß auf ihrem Bett und versuchte zu lesen. Wieder lag die Nacht vor ihr. Es klopfte. Charles Ney stand draußen in einem roten Schlafrock und Pantoffeln. »Alles ist klar«, flüsterte er. »Komm rüber zu Dolores!

Abschiedsfeier für Eva Moser.«

»Wozu? Warum geht sie nicht? Wozu muß sie noch Abschied feiern?«

»Wir wollen eine Abschiedsfeier. Nicht sie.«

»Ihr habt doch schon eine im Esszimmer gehabt.«

»Nur um die Schwester zu täuschen. Komm, sei keine Trauerweide[21]

»Ich habe keine Lust.«

»Komm, Lillian! Wenn du hier bleibst, wirst du dich ärgern, allein zu sein – wenn du drüben bist, wirst du dich ärgern, hingekommen zu sein. Es ist also dasselbe – komm deshalb!« Er öffnete die Tür. »Alle kommen! Zieh dich an und komm!« »Ich ziehe mich nicht an. Ich komme in Pyjamas!«

»Komm in Pyjamas, aber komm!«

Dolores Palmer wohnte ein Stockwerk tiefer als Lillian. Sie lebte dort seit drei Jahren in einem Appartement, das aus einem Schlafzimmer, einem Wohnzimmer und einem Bad bestand. Sie bezahlte die höchste Miete des Sanatoriums.

Lillian sah sich um. Es war ein Bild, das sie kannte. Sie waren wie Kinder, die heimlich zu lange aufbleiben. Dolores Palmer trug ein chinesisches Kostüm, ein langes Kleid. Sie war von einer tragischen Schönheit, die sie selbst nicht empfand. Ihre Liebhaber gingen daran irre wie Reisende an einer Fata Morgana.

Eva Moser saß neben dem Fenster und schaute hinaus. Ihre glückliche Stimmung war umgeschlagen. »Sie weint«, sagte Maria Savini zu Lillian. »Was sagst du dazu?«

»Warum?«

»Frag sie selbst; du wirst es nicht glauben. Sie hält dies für ihr Zuhause.«

»Es ist mein Zuhause«, sagte Eva Moser. »Hier bin ich glücklich gewesen. Hier habe ich Freunde. Unten kenne ich niemand.«

»Was soll ich werden?« jammerte Eva Moser jetzt in voller Panik. »Sekretärin? Wer nimmt mich schon? Ich kann nur schlecht Schreibmaschine schreiben.«

Lillian betrachtete Eva. Sie hatte auch früher schon Patienten gesehen, die entlassen worden waren und behauptet hatten, lieber bleiben zu wollen. Aber Eva Moser war ein anderer Fall; sie meinte, was sie sagte. Sie war ehrlich verzweifelt. Sie hatte sich an das Sanatorium gewöhnt. Sie hatte Angst vor dem Leben unten.

»Ich gehe«, sagte Lillian. »Ich kann das nicht aushalten.«

»Geh nicht!« sagte Charles Ney und beugte sich zu ihr. »Bleibe noch! Wir brauchen dich. Sing etwas, Lillian!«

* * *

Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür, und das Krokodil stand im Rahmen.

»Das habe ich mir doch gedacht! Zigaretten! Alkohol auf dem Zimmer! Eine Orgie! Sogar Sie dabei, Fräulein Ruesch!«

* * *

Lillian zog die Vorhänge zu. Da war die Panik wieder! Sie suchte nach den Schlaftabletten. Einen Augenblick glaubte sie, draußen Clerfayts Motor zu hören. Sie sah auf die Uhr. Er hätte sie retten können vor der langen Nacht; aber sie konnte ihn nicht anrufen.

Hatte Hollmann nicht gesagt, er habe Besuch? Von wem? Von irgendeinem gesunden Frauenzimmer aus Paris oder Mailand oder Monte Carlo! Zum Teufel mit ihm, er fuhr ohnehin in ein paar Tagen ab! Sie schluckte die Tabletten.

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