Zweiter Teil

I

Zwei Tage nach den seltsamen Vorgängen auf Nastasja Filippownas Abendgesellschaft, mit denen wir den ersten Teil unserer Erzählung geschlossen haben, fuhr Fürst Myschkin eilig nach Moskau, um seine unerwartete Erbschaft in Empfang zu nehmen. Es hieß damals, seine eilige Abreise habe möglicherweise auch noch andere Ursachen; aber hierüber sowie über die Erlebnisse des Fürsten in Moskau und überhaupt während seiner Abwesenheit von Petersburg sind wir nur sehr weniges zu berichten imstande. Der Fürst blieb genau sechs Monate fort, und sogar diejenigen Leute, die einigen Grund hatten, sich für sein Schicksal zu interessieren, vermochten während dieser ganzen Zeit nur äußerst wenig über ihn in Erfahrung zu bringen. Manchen kamen allerdings, wiewohl nur sehr selten, gewisse Gerüchte zu Ohren; aber diese Gerüchte klangen großenteils recht seltsam und widersprachen einander fast immer. Am meisten interessierte man sich für den Fürsten natürlich im Jepantschinschen Haus, wo er bei seiner Abreise nicht einmal Zeit gefunden hatte, sich zu verabschieden. Der General war allerdings damals noch mit ihm zusammengekommen, sogar mehrere Male, und sie hatten miteinander ernste Gespräche geführt; aber von diesen Zusammenkünften machte Jepantschin seiner Familie keine Mitteilung. Und überhaupt wurde in der ersten Zeit, das heißt, einen ganzen Monat lang nach der Abreise des Fürsten, im Jepantschinschen Haus nach stillschweigender Übereinkunft von ihm nicht gesprochen. Nur die Generalin Lisaweta Prokofjewna äußerte sich ganz am Anfang dieser Zeit dahin, sie habe sich in dem Fürsten grausam getäuscht. Und einige Tage darauf fügte sie, ohne jedoch den Fürsten zu nennen, sondern nur so im allgemeinen, hinzu, das wichtigste Charakteristikum ihres Lebens bestehe darin, daß sie sich fortwährend in den Menschen täusche. Und schließlich nach weiteren zehn Tagen erklärte sie, als sie sich aus irgendeinem Grund über ihre Töchter geärgert hatte, nun sei es genug mit den Irrtümern; weitere werde sie nicht begehen. Außerdem war nicht zu verkennen, daß in diesem Haus lange Zeit eine recht unangenehme Stimmung herrschte. Es machte sich ein gewisser Druck, eine gewisse Gespanntheit fühlbar; man sprach sich nicht ordentlich aus und neigte dazu, sich zu streiten; alle machten finstere Gesichter. Der General war Tag und Nacht beschäftigt und mit Arbeit überhäuft; man hatte ihn selten stärker von Geschäften in Anspruch genommen und tätiger gesehen, namentlich im Dienst. Seine Familie bekam ihn kaum noch zu sehen. Was die Jepantschinschen Mädchen anlangte, so hörte natürlich niemand ein lautes Wort von ihnen über das Vorgefallene; vielleicht sprachen sie sogar untereinander, wenn sie allein waren, nur sehr wenig darüber. Sie waren stolze, hochmütige Mädchen und sogar unter sich zuweilen verschämt; übrigens verstanden sie einander schon beim ersten Wort, ja sogar beim ersten Blick, so daß sie manchmal nicht nötig hatten, viel zu sprechen.

Nur auf eins hätte ein fremder Beobachter, wenn ein solcher dagewesen wäre, schließen können: daß, nach all den oben angeführten, wiewohl nicht zahlreichen Indizien zu urteilen, der Fürst doch einen besonderen Eindruck in der Jepantschinschen Familie gemacht haben mußte, obwohl er sich in ihr nur einmal und noch dazu nur flüchtig gezeigt hatte. Vielleicht beruhte dieser Eindruck einfach darauf, daß einige außerordentliche Erlebnisse des Fürsten die Neugier erregt hatten. Wie dem auch sein mochte, jedenfalls hatte er einen starken Eindruck hinterlassen.

Nach und nach versanken auch die Gerüchte, die sich zunächst in der Stadt verbreitet hatten, in das Dunkel der Ungewißheit. Man erzählte sich allerdings von einem närrischen jungen Fürsten (den Namen konnte niemand zuverlässig angeben), der auf einmal eine kolossale Erbschaft gemacht und eine zugereiste Französin, eine bekannte Cancantänzerin aus dem Château des fleurs in Paris, geheiratet habe. Aber andere sagten, die Erbschaft habe vielmehr ein General gemacht, und derjenige, der die zugereiste Französin und berühmte Cancantänzerin geheiratet habe, sei ein enorm reicher russischer Kaufmann; dieser habe bei seiner Hochzeit aus reiner Prahlsucht in betrunkenem Zustand an einer Kerze siebenhunderttausend Rubel der letzten Prämienanleihe verbrannt. Aber alle diese Gerüchte verstummten sehr bald, wozu die Umstände sehr wesentlich mithalfen. So zum Beispiel hatte sich Rogoschins ganze Rotte, von der doch manche über das Geschehene allerlei hätten erzählen können, in geschlossenem Trupp mit ihm selbst an der Spitze nach Moskau begeben, eine Woche nach der schauderhaften Orgie auf dem Bahnhof von Jekateringof, bei welcher auch Nastasja Filippowna zugegen gewesen war. Einige wenige, die sich für die Sache gar nicht einmal sonderlich interessierten, hatten gerüchtweise gehört, Nastasja Filippowna sei gleich am nächsten Tag nach jener Orgie in Jekateringof geflohen und verschwunden, und man habe endlich ausgespürt, daß sie sich nach Moskau begeben habe; sie fanden daher, daß auch Rogoschins Abreise nach Moskau mit diesem Gerücht im Einklang stehe.

Auch speziell über Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, der gleichfalls eine in seinem Kreis recht bekannte Persönlichkeit war, begannen allerlei Gerüchte umzugehen. Aber auch ihm begegnete etwas, wovon alles üble Gerede über ihn sehr bald ermattete und demnächst ganz aufhörte: er wurde sehr krank und konnte nirgends in der Gesellschaft erscheinen, ja nicht einmal im Dienst. Nachdem er einen Monat lang schwer leidend gewesen war, genas er wieder, gab aber seine Tätigkeit bei der Aktiengesellschaft aus nicht näher bekanntem Grund gänzlich auf, und ein anderer erhielt seine Stelle. Im Haus des Generals Jepantschin ließ er sich gleichfalls kein einziges Mal mehr blicken, so daß auch zum General ein anderer Beamter kommen mußte. Gawrila Ardalionowitschs Feinde hätten annehmen können, er schäme sich über alles, was mit ihm vorgegangen war, so sehr, daß er sich nicht auf der Straße zeigen möchte; aber er kränkelte tatsächlich immer noch: er verfiel sogar in Hypochondrie und wurde melancholisch und nervös. Warwara Ardalionowna verheiratete sich in diesem selben Winter mit Ptizyn; alle Bekannten der beiden führten diese Eheschließung geradezu auf den Umstand zurück, daß Ganja nicht zu seiner Tätigkeit zurückkehren mochte und nicht nur aufgehört hatte, die Familie zu unterhalten, sondern sogar selbst der Hilfe, ja beinah der Wartung bedürftig geworden war.

Wir bemerken in Parenthese, daß auch von Gawrila Ardalionowitsch im Jepantschinschen Haus nie mehr gesprochen wurde, als ob ein solcher Mensch nie im Haus verkehrt hätte, ja überhaupt nie auf der Welt gewesen wäre. Dabei hatten aber alle über ihn (und zwar sogar sehr bald) einen sehr merkwürdigen Fakt erfahren, nämlich folgendes: in eben jener für ihn so verhängnisvollen Nacht habe Ganja, als er nach dem unangenehmen Vorfall bei Nastasja Filippowna nach Hause zurückgekehrt sei, sich nicht schlafen gelegt, sondern mit fieberhafter Ungeduld auf die Rückkehr des Fürsten gewartet. Der Fürst, der nach Jekateringof gefahren sei, sei von dort um sechs Uhr morgens zurückgekehrt. Da sei Ganja zu ihm ins Zimmer gegangen und habe das angebrannte Geldpäckchen, das ihm Nastasja Filippowna während seiner Ohnmacht geschenkt hatte, vor ihm auf den Tisch gelegt. Er habe den Fürsten dringend gebeten, sobald sich eine Möglichkeit dazu böte, dieses Geschenk Nastasja Filippowna zurückzugeben. Als Ganja zum Fürsten hereingekommen sei, habe er sich in einer feindlichen und beinah verzweifelten Stimmung befunden; aber nachdem dann zwischen ihm und dem Fürsten einige Worte gewechselt worden seien, habe Ganja beim Fürsten zwei Stunden lang gesessen und die ganze Zeit über bitterlich geschluchzt. Beide seien in aller Freundschaft voneinander geschieden.

Diese Nachricht, die allen Mitgliedern der Familie Jepantschin zu Ohren gekommen war, stellte sich, wie durch die Folgezeit bestätigt wurde, als völlig richtig heraus. Es war allerdings merkwürdig, daß derartige Nachrichten sich so schnell verbreiten und bekannt werden konnten; so wurde zum Beispiel alles, was in Nastasja Filippownas Wohnung vorgegangen war, in der Jepantschinschen Familie beinah noch am andern Tag bekannt, und zwar in ziemlich genauen Details. Hinsichtlich der Nachrichten über Gawrila Ardalionowitsch hätte man allerdings annehmen können, daß sie den Jepantschins von Warwara Ardalionowna zugetragen worden seien, die auf einmal bei den Fräulein Jepantschin aufgetaucht und sogar sehr bald mit ihnen auf recht vertrauten Fuß gelangt war, worüber sich Lisaweta Prokofjewna höchlichst wunderte. Aber obgleich Warwara Ardalionowna es aus irgendeinem Grund für nötig hielt, mit den Fräulein Jepantschin in so nahe Beziehungen zu treten, so würde sie doch über ihren Bruder mit ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gesprochen haben. Sie besaß ebenfalls in ihrer Art einen ziemlichen Stolz, obwohl sie an einer Stelle Freundschaft schloß, von wo ihr Bruder beinah weggejagt worden war. Auch früher schon war sie mit den Fräulein Jepantschin bekannt gewesen; aber sie hatten einander nur selten gesehen. Im Salon zeigte sie sich übrigens auch jetzt kaum je, sondern benutzte, als wenn sie nur auf einen Augenblick vorsprechen wollte, die Hintertreppe. Lisaweta Prokofjewna war ihr weder früher zugetan gewesen, noch war sie es jetzt, obwohl sie Nina Alexandrowna, Warwara Ardalionownas Mutter, sehr hochschätzte. Sie wunderte sich und ärgerte sich zugleich und schrieb die Freundschaft mit Warja den Launen und der Herrschsucht ihrer Töchter zu, die gar nicht genug auszudenken wüßten, was sie ihr zum Tort tun könnten; aber Warwara Ardalionowna setzte doch sowohl vor als nach ihrer Verheiratung ihre Besuche bei ihnen fort.

Aber es war nach der Abreise des Fürsten ungefähr ein Monat verflossen, da erhielt die Generalin Jepantschina einen Brief von der alten Fürstin Bjelokonskaja, die vierzehn Tage vorher nach Moskau zu ihrer ältesten dort verheirateten Tochter gefahren war, und dieser Brief brachte bei ihr eine sichtbare Wirkung hervor. Obwohl sie weder ihren Töchtern noch ihrem Mann Iwan Fjodorowitsch etwas daraus mitteilte, merkten ihre Angehörigen doch an vielen Anzeichen, daß sie besonders animiert, ja aufgeregt war. Sie fing an, mit den Töchtern in einer ganz merkwürdigen Weise zu reden, immer über ganz ungewöhnliche Gegenstände; sie hatte offenbar die größte Lust, sich auszusprechen, bezwang sich aber aus irgeneinem Grund. An dem Tag, an dem sie den Brief erhalten hatte, war sie gegen alle sehr zärtlich und küßte sogar Aglaja und Adelaida; es machte den Eindruck, als täte sie vor ihnen wegen irgend etwas Buße; aber weswegen eigentlich, darüber konnten diese nicht ins klare kommen. Sogar gegen Iwan Fjodorowitsch, der bei ihr einen ganzen Monat lang in Ungnade gewesen war, wurde sie auf einmal freundlich. Natürlich ärgerte sie sich gleich am folgenden Tag furchtbar über ihre gestrige Sentimentalität und fand noch vor dem Mittagessen Zeit, sich mit allen zu zanken; aber gegen Abend hellte sich der Horizont wieder auf. Überhaupt befand sie sich die ganze folgende Woche über in recht guter Laune, was bei ihr schon lange nicht dagewesen war.

Aber nach einer weiteren Woche traf von der Fürstin Bjelokonskaja ein zweiter Brief ein, und diesmal entschloß sich die Generalin dazu, sich auszusprechen. Sie erklärte mit feierlicher, triumphierender Miene, die alte Bjelokonskaja (anders bezeichnete sie die Fürstin niemals, wenn sie in Abwesenheit derselben von ihr sprach) habe ihr sehr tröstliche Nachrichten über diesen ... »über diesen Sonderling, na ja, über den Fürsten« zugehen lassen. Die Alte habe in Moskau Nachforschungen nach ihm angestellt, Erkundigungen über ihn eingezogen und sehr Gutes über ihn in Erfahrung gebracht; der Fürst habe sich schließlich auch bei ihr selbst präsentiert und auf sie einen sehr günstigen Eindruck gemacht. Das war auch daraus zu ersehen, daß sie ihn eingeladen hatte, sie täglich mittags zwischen ein und zwei Uhr zu besuchen; »und er kommt nun alle Tage zu ihr angelaufen, und sie ist seiner noch nicht überdrüssig geworden«, schloß die Generalin und fügte dann noch hinzu, durch Vermittlung »der Alten« habe der Fürst zu mehreren guten Familien Zutritt erhalten. »Das ist gut, daß er nicht immer zu Hause hockt und sich wie ein Dummrian geniert.« Die jungen Mädchen, denen dies alles mitgeteilt wurde, merkten sofort, daß die Mama ihnen sehr vieles aus ihrem Brief vorenthielt. Vielleicht erfuhren sie das Fehlende durch Warwara Ardalionowna, die natürlich alles, was ihrem Mann über den Fürsten und dessen Aufenthalt in Moskau bekannt war, auch ihrerseits wissen konnte und wirklich wußte. Und Ptizyn konnte darüber mehr wissen als alle andern. Aber er war in geschäftlichen Dingen außerordentlich schweigsam, wiewohl er seiner Frau selbstverständlich nichts vorenthielt. Die Abneigung der Generalin gegen Warwara Ardalionowna stieg dadurch noch mehr.

Aber wie dem auch sein mochte, das Eis war einmal gebrochen, und es durfte nun wieder über den Fürsten laut gesprochen werden. Der ungewöhnliche Eindruck, den der Fürst im Jepantschinschen Haus gemacht, und das lebhafte Interesse, das er dort erregt und hinterlassen hatte, traten von neuem klar zutage. Die Generalin wunderte sich sogar über die starke Wirkung, die die Nachrichten aus Moskau auf ihre Töchter ausübten. Und die Töchter ihrerseits waren erstaunt über die Mama, die ihnen so feierlich erklärt hatte, das wichtigste Charakteristikum ihres Lebens bestehe darin, daß sie sich fortwährend in den Menschen täusche, und gleichzeitig den Fürsten der Aufmerksamkeit der »hochvermögenden« alten Fürstin Bjelokonskaja in Moskau empfohlen hatte, wozu doch ein gewaltiger Aufwand von Bitten und Beschwörungen nötig war; denn »die Alte« war in gewissen Fällen nur schwer in Bewegung zu setzen.

Sowie aber einmal das Eis gebrochen war und ein neuer Wind wehte, beeilte sich auch der General auszusprechen, was er wußte; denn man merkte leicht, daß auch er sich für den Fürsten lebhaft interessierte. Er machte den Seinigen übrigens nur über die geschäftliche Seite der Angelegenheit Mitteilungen. Er habe, sagte er, im Interesse des Fürsten zwei sehr verläßliche und in ihrer Art einflußreiche Moskauer Herren beauftragt, ihn und besonders seinen Ratgeber Salaskin zu überwachen. Alles, was über die Erbschaft gesagt sei, das heißt die Tatsache, daß dem Fürsten eine Erbschaft zugefallen sei, habe sich als richtig erwiesen; aber die Erbschaft selbst stelle sich schließlich nicht als so bedeutend heraus, wie es anfangs verlautet habe. Das Vermögen stecke zur einen Hälfte in verwickelten Unternehmungen; es seien Schulden vorhanden; auch träten Prätendenten auf, und der Fürst verfahre trotz aller Ratschläge auf eine sehr wenig geschäftsmäßige Weise. Er, der General, wünsche ihm natürlich von ganzem Herzen alles Gute (jetzt, wo das Eis gebrochen war, konnte er das sagen); denn der junge Mann verdiene es, wenn er auch ein bißchen soso sei. Aber er mache doch dort arge Dummheiten: es hätten sich zum Beispiel Gläubiger des verstorbenen Kaufmanns mit anfechtbaren oder geradezu wertlosen Urkunden über ihre Ansprüche gemeldet, und andere, die von dem Fürsten Witterung bekommen hätten, ganz ohne solche Urkunden; und was habe der Fürst getan? Er habe sie fast alle befriedigt, obwohl ihm seine Freunde vorgestellt hätten, daß alle diese sauberen Patrone von Gläubigern jedes Rechtsanspruches ermangelten; aber er habe sie doch befriedigt, einzig deshalb, weil sich herausgestellt habe, daß einige von ihnen tatsächlich Schaden erlitten hätten.

Die Generalin erwiderte darauf, daß auch die Fürstin Bjelokonskaja an sie in demselben Sinn geschrieben habe, und daß dieses Verfahren dumm, sehr dumm sei.

»Dummheit ist nicht heilbar«, fügte sie in scharfem Ton hinzu; aber man konnte es ihr am Gesicht ansehen, wie sehr sie sich doch innerlich über diese Handlungsweise des »Dummrians« freute. Aus allem merkte der General schließlich, daß seine Gemahlin an dem Fürsten wie an einem leiblichen Sohn Anteil nahm und sich gegen Aglaja außerordentlich zärtlich benahm; als Iwan Fjodorowitsch das wahrgenommen hatte, nahm er für einige Zeit eine sehr geschäftsmäßige Haltung an.

Aber diese ganze angenehme Stimmung dauerte nicht lange. Kaum waren zwei Wochen vergangen, da trat auf einmal ein Umschlag ein; die Generalin machte wieder ein finsteres Gesicht, und der General fügte sich, nachdem er einige Male die Achseln gezuckt hatte, wieder in »das Eis des Schweigens«. Die Sache war die: vierzehn Tage vorher hatte er eine zwar kurze und daher nicht ganz klare, aber doch zuverlässige Nachricht folgenden Inhalts erhalten: Nastasja Filippowna, die zuerst in Moskau verschwunden und dann in Moskau selbst von Rogoschin aufgefunden, dann wieder irgendwohin verschwunden und wieder von ihm aufgefunden sei, habe ihm endlich so gut wie bestimmt versprochen, ihn zu heiraten. Und nun, nur vierzehn Tage später, erhielt Seine Exzellenz plötzlich eine andere Nachricht: Nastasja Filippowna sei zum drittenmal, fast vom Traualtar, davongelaufen und diesmal irgendwo in der Provinz untergetaucht, und dabei sei gleichzeitig auch Fürst Myschkin aus Moskau verschwunden, nachdem er alle seine Angelegenheiten der Fürsorge Salaskins anvertraut habe. »Ob er mit ihr zusammen davongegangen oder ihr nur nachgelaufen ist, weiß man nicht; aber eins von beiden wird wohl der Fall sein«, schloß der General. Lisaweta Prokofjewna hatte ihrerseits ebenfalls unangenehme Nachrichten erhalten. Das Ende vom Lied war, daß zwei Monate nach der Abreise des Fürsten fast alle Gerüchte über ihn in Petersburg endgültig verstummt waren und im Jepantschinschen Haus »das Eis des Schweigens« nicht mehr gebrochen wurde. Warwara Ardalionowna setzte übrigens ihre Besuche bei den jungen Damen dennoch fort.

Um nun mit all diesen Gerüchten und Nachrichten abzuschließen, fügen wir hinzu, daß bei Jepantschins zu Beginn dieses Frühjahrs sehr viele Umwälzungen vor sich gingen, so daß es leicht war, den Fürsten zu vergessen, der selbst nichts von sich hören ließ und vielleicht auch nichts von sich hören lassen wollte. Im Laufe des Winters war man allmählich zu dem Entschluß gelangt, im Sommer ins Ausland zu gehen, das heißt Lisaweta Prokofjewna und die Töchter sollten hinreisen; der General selbst konnte seine Zeit natürlich nicht zu »bloßen Zerstreuungen« vergeuden. Der Entschluß war auf die dringenden und beharrlichen Bitten der Töchter hin gefaßt worden, welche vollständig davon überzeugt waren, daß man sie lediglich deswegen nicht ins Ausland bringen wolle, weil ihre Eltern unaufhörlich mit der Sorge, sie zu verheiraten und Freier für sie zu suchen, beschäftigt seien. Vielleicht waren auch die Eltern schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß Bewerber auch im Ausland zu finden seien, und daß eine Reise, die nur einen Sommer dauere, nichts verderbe, sondern am Ende sogar noch förderlich sein könne. An dieser Stelle scheint es angemessen, zu erwähnen, daß man von der früher in Aussicht genommenen Eheschließung zwischen Afanasi Iwanowitsch Tozki und dem ältesten Fräulein Jepantschina vollständig abgekommen war und ein formeller Antrag von seiner Seite nicht erfolgte. Das hatte sich ganz von selbst so gemacht ohne vieles Reden und ohne allen Kampf in der Familie. Seit der Abreise des Fürsten war von beiden Seiten alles auf einmal darüber still geworden. Auch dieser Umstand trug mit zu der gedrückten Stimmung bei, die damals in der Familie Jepantschin herrschte, obwohl die Generalin sich dahin äußerte, sie sei jetzt so froh, daß sie sich mit beiden Händen bekreuzen möchte. Obgleich der General in Ungnade war und fühlte, daß er das selbst verschuldet hatte, schmollte er doch längere Zeit; es tat ihm leid, daß Afanasi Iwanowitsch nicht sein Schwiegersohn wurde: »Ein solches Vermögen und ein so gewandter Mensch!« Nicht lange darauf erfuhr der General, daß Afanasi Iwanowitsch sich von einer zugereisten Französin hatte fesseln lassen, die zur höheren Gesellschaft gehöre und Marquise und Legitimistin sei, daß die Eheschließung bevorstehe, und daß sie ihren Gemahl dann nach Paris und später irgendwohin in die Bretagne entführen werde.

»Na, mit der Französin wird er zugrunde gehen«, dies war die Ansicht des Generals darüber.

Also die Jepantschins machten sich bereit, zu Beginn des Sommers wegzureisen. Da trat plötzlich ein Ereignis ein, das von neuem alle Pläne umstieß, und die Reise wurde zur größten Freude des Generals und der Generalin wieder aufgeschoben. Es kam ein Fürst aus Moskau nach Petersburg, ein Fürst Schtsch., übrigens eine sehr bekannte Persönlichkeit, und zwar bekannt von der allerbesten Seite. Er war einer jener ehrenhaften, bescheidenen, tatfreudigen Männer, wie sie in der letzten Zeit häufiger geworden waren, jener Männer, die aufrichtig und bewußt das Nützliche erstreben, immer arbeiten und sich durch die seltene, glückliche Gabe auszeichnen, immer Arbeit für sich zu finden. Ohne sich vorzudrängen, ohne sich an dem erbitterten Gezänk und an dem müßigen Gerede der Parteien zu beteiligen, und ohne sich zu den Ersten zu rechnen, besaß der Fürst doch ein recht gründliches Verständnis für einen guten Teil der Entwicklung, die die letzte Zeit gebracht hatte. Er hatte früher ein Amt bekleidet und dann bei der ländlichen Selbstverwaltung mitgewirkt. Außerdem war er ein nützliches korrespondierendes Mitglied mehrerer gelehrter russischer Gesellschaften. Im Verein mit einem bekannten Techniker hatte er durch das von ihm gesammelte statistische Material und die von ihm angestellten Untersuchungen bewirkt, daß eine der wichtigsten projektierten Eisenbahnen eine zweckmäßigere Richtung erhielt. Er war etwa fünfunddreißig Jahre alt, gehörte zur »allervornehmsten Gesellschaft« und besaß außerdem ein »schönes, solides, sicheres« Vermögen, wie sich der General ausdrückte, der anläßlich einer sehr wichtigen geschäftlichen Angelegenheit mit dem Fürsten bei seinem Chef, dem Grafen, zusammengetroffen war und seine Bekanntschaft gemacht hatte. Der Fürst benutzte infolge einer gewissen besonderen Neugierde gern jede Gelegenheit, mit russischen Geschäftsleuten bekannt zu werden. Es machte sich so, daß der Fürst auch mit der Familie des Generals bekannt wurde. Adelaida Iwanowna, die mittlere der drei Schwestern, machte auf ihn einen recht starken Eindruck. Zu Beginn des Frühlings machte er ihr einen Antrag. Der Freier gefiel sowohl ihr als auch ihrer Mutter recht gut. Auch der General war sehr erfreut. Selbstverständlich wurde die Reise verschoben. Die Hochzeit wurde für den Frühling in Aussicht genommen.

Die Reise hätte übrigens auch noch in der Mitte oder gegen Ende des Sommers stattfinden können, wenn auch nur in der Form eines ein- oder zweimonatigen Ausfluges der Mutter und der beiden bei ihr verbliebenen Töchter, um den Schmerz über Adelaidas Ausscheiden aus der Familie zu besänftigen. Aber es trat wieder ein neues Ereignis ein: schon zu Ende des Frühjahrs (Adelaidas Hochzeit hatte sich etwas verzögert und war nun auf die Mitte des Sommers angesetzt worden) führte Fürst Schtsch. bei der Jepantschinschen Familie einen entfernten Verwandten von sich ein, mit dem er aber sehr gut bekannt war. Es war dies ein gewisser Jewgeni Pawlowitsch R., ein noch sehr junger Mann (er mochte ungefähr achtundzwanzig Jahre alt sein), Flügeladjutant, bildschön, von vortrefflicher Herkunft, geistreich, elegant, »ein Anhänger der neuen Ideen«, »hochgebildet« und unerhört reich. Hinsichtlich dieses letzten Punktes war der General immer sehr vorsichtig. Er zog Erkundigungen ein und äußerte dann: »Die Sache scheint sich tatsächlich so zu verhalten; indes ist doch noch weitere Bestätigung erforderlich.« Dieser junge Flügeladjutant, dem man eine große Zukunft prophezeite, erhielt noch eine besondere Empfehlung durch die Art, wie sich die alte Fürstin Bjelokonskaja in Moskau in ihren Briefen über ihn aussprach. Nur in einem Punkt war sein Ruf etwas bedenklich: er sollte mehrere Liaisons gehabt und, wie behauptet wurde, mehrere Siege über unglückliche Herzen davongetragen haben. Nachdem er Aglaja gesehen hatte, wurde er in der Familie Jepantschin ein überaus häufiger Gast. Er hatte zwar noch nichts deutlich ausgesprochen, ja nicht einmal irgendwelche Andeutungen gemacht; aber die Eltern waren doch der Ansicht, man müsse für diesen Sommer den Plan einer Auslandsreise aufgeben. Aglaja selbst war vielleicht anderer Meinung.

Dies begab sich, kurz bevor unser Held zum zweitenmal auf dem Schauplatz unserer Erzählung erschien. Zu dieser Zeit war, nach dem äußeren Schein zu urteilen, der arme Fürst Myschkin in Petersburg bereits vollständig in Vergessenheit geraten. Wäre er jetzt auf einmal unter den Menschen, die ihn kannten, erschienen, so würden sie so überrascht gewesen sein, als ob er vom Himmel gefallen wäre. Aber wir wollen inzwischen von noch einem Ereignis Mitteilung machen und damit unsere Einleitung beschließen.

Kolja Iwolgin setzte nach der Abreise des Fürsten anfangs sein früheres Leben fort, das heißt er ging ins Gymnasium, besuchte seinen Freund Ippolit, beaufsichtigte den General und half seiner Schwester Warja in der Wirtschaft, indem er Laufburschendienste verrichtete. Aber die Untermieter verschwanden schnell: Ferdyschtschenko zog drei Tage nach dem Vorfall, der in Nastasja Filoppownas Wohnung stattgefunden hatte, aus und war sehr bald verschollen, so daß man von ihm überhaupt nichts mehr zu hören bekam; es hieß, daß er irgendwo trinke; aber es fehlte dafür die Bestätigung. Der Fürst reiste nach Moskau; so war es mit den Untermietern zu Ende. Als sich dann Warja verheiratete, zogen Nina Alexandrowna und Ganja mit ihr zusammen zu Ptizyn in die Ismailowskaja-Straße; was den General Iwolgin anlangt, so begegnete ihm fast gleichzeitig etwas ganz Unvorhergesehenes: er wurde ins Schuldgefängnis gesetzt. Veranlaßt hatte dies seine Freundin, die Hauptmannsfrau, auf Grund der Schuldscheine, die er ihr zu verschiedenen Zeiten im Gesamtbetrag von etwa zweitausend Rubeln gegeben hatte. Das war für ihn eine vollständige Überraschung, und der arme General war nun »entschieden ein Opfer seines zu weit gehenden Glaubens an den Edelmut des menschlichen Herzens, allgemein gesagt«. Da er sich angewöhnt hatte, Schuldscheine und Wechsel zu unterschreiben, ohne sich im geringsten darüber zu beunruhigen, so hatte er gar nicht an die Möglichkeit gedacht, daß solche Urkunden jemals wirksam werden könnten, sondern immer gemeint, das sei nur so eine Form. Nun stellte sich heraus, daß es nicht nur so eine Form war. »Und da soll man sich nun noch auf Menschen verlassen und ihnen ein edelmütiges Vertrauen schenken!« rief er bekümmert aus, als er mit seinen neuen Freunden im Tarasowschen Haus bei einer Flasche Wein saß und ihnen seine Geschichten von der Belagerung von Kars und von dem auferstandenen Soldaten erzählte. Er führte dort übrigens ein höchst angenehmes Leben. Ptizyn und Warja sagten, daß das für ihn ganz der richtige Ort sei, und Ganja stimmte ihnen völlig bei. Nur die arme Nina Alexandrowna weinte im stillen bitterlich, worüber ihre Angehörigen sehr verwundert waren, und obwohl sie fortwährend kränkelte, schleppte sie sich doch, so oft sie nur konnte, nach dem Schuldgefängnis hin, um ihren Mann zu besuchen.

Aber seit der Zeit, wo den General dieses »Malheur« betroffen hatte, wie Kolja sich ausdrückte, und überhaupt seit der Verheiratung seiner Schwester hatte sich Kolja fast gänzlich von der Oberherrschaft seiner Angehörigen freigemacht, und es war so weit gekommen, daß er in der letzten Zeit nur noch selten bei der Familie erschien und dort übernachtete. Gerüchten zufolge hatte er eine Menge neuer Bekanntschaften angeknüpft; außerdem war er im Schuldgefängnis eine sehr bekannte Erscheinung geworden; Nina Alexandrowna konnte dort ohne ihn gar nicht mit ihrem Mann zurechtkommen. Zu Hause aber belästigte man ihn jetzt nicht einmal mit neugierigen Fragen. Warja, die früher so streng mit ihm verfahren war, unterwarf ihn jetzt nicht dem geringsten Verhör über seine Wanderungen, und Ganja redete und verkehrte zur großen Verwunderung seiner Angehörigen manchmal trotz seiner Hypochondrie mit ihm ganz freundschaftlich, was früher nie geschehen war, da der sechsundzwanzigjährige Ganja natürlicherweise seinem fünfzehnjährigen Bruder nicht die geringste freundschaftliche Beachtung geschenkt, ihn grob behandelt, auch von allen anderen Angehörigen nur Strenge gegen ihn verlangt und beständig gedroht hatte, »ihn bei den Ohren zu nehmen«, wodurch bei Kolja »der letzte Rest menschlicher Geduld erschöpft wurde«. Man konnte glauben, daß Ganja seinen Bruder Kolja jetzt manchmal geradezu nötig hatte. Diesem hatte es nicht wenig imponiert, daß Ganja damals das Geld zurückgegeben hatte, und er war bereit, ihm dafür vieles zu verzeihen.

Es waren nun drei Monate seit der Abreise des Fürsten vergangen, da erfuhr man in der Familie Iwolgin, daß Kolja auf einmal mit Jepantschins bekannt geworden sei und von den jungen Mädchen stets sehr freundlich aufgenommen werde. Warja hatte dies bald erfahren; übrigens war Kolja nicht durch Warja dort bekannt geworden, sondern »ganz auf eigene Hand«. Allmählich hatte man ihn bei Jepantschins liebgewonnen. Die Generalin war ihm anfänglich nicht sehr zugetan gewesen, hatte dann aber bald an ihm Geschmack gefunden »wegen seiner Offenherzigkeit, und weil er nicht schmeichelte«. Daß Kolja nicht schmeichelte, war durchaus richtig; er verstand es, mit ihnen auf völlig gleichem Fuße und unter Wahrung seiner Unabhängigkeit zu verkehren, wiewohl er der Generalin manchmal Bücher und Zeitungen vorlas; aber er war immer äußerst dienstfertig. Ein paarmal verzankte er sich grimmig mit Lisaweta Prokofjewna und erklärte ihr, sie sei eine Despotin, und er werde keinen Fuß mehr in ihr Haus setzen. Das erstemal war der Streit aus der »Frauenfrage« entstanden und das zweitemal aus der Frage, welche Jahreszeit zum Zeisigfang die geeignetste sei. So unwahrscheinlich es klingen mag, aber die Generalin schickte ihm am dritten Tag nach dem Streit durch einen Diener ein Briefchen zu, in dem sie ihn dringend bat, wieder hinzukommen; Kolja sträubte sich nicht, sondern stellte sich sofort ein. Nur Aglaja zeigte sich ihm aus nicht recht verständlichem Grund dauernd nicht wohlgeneigt und behandelte ihn sehr von oben herab. Und doch sollte er gerade sie in Erstaunen versetzen. Eines Tages (es war in der Osterzeit) paßte Kolja einen Augenblick ab, wo er mit Aglaja allein war, und übergab ihr einen Brief, wobei er nur bemerkte, er sei angewiesen, ihn ihr unter vier Augen zuzustellen. Aglaja warf dem »eingebildeten Jungen« einen strengen Blick zu; aber Kolja wartete Weiteres nicht ab und ging hinaus. Sie öffnete den Brief und las:


»Sie haben mich früher einmal Ihres Vertrauens gewürdigt. Vielleicht haben Sie mich jetzt ganz vergessen. Wie kommt es, daß ich jetzt an Sie schreibe? Ich weiß es nicht; aber es wurde in mir ein unüberwindliches Verlangen rege, mich Ihnen, gerade Ihnen, ins Gedächtnis zurückzurufen. Wie oft hatte ich Sie alle drei dringend nötig; aber ich sah immer von Ihnen allen dreien nur Sie allein. Ich habe Sie nötig, dringend nötig. Von mir selbst habe ich Ihnen nichts zu schreiben und nichts zu erzählen. Das war auch gar nicht meine Absicht; ich wünsche nur von ganzem Herzen, daß Sie glücklich sein möchten. Sind Sie glücklich? Nur das wollte Ihnen sagen.

Ihr Bruder Fürst L. Myschkin.«


Als Aglaja diesen kurzen und recht sinnlosen Brief las, wurde sie plötzlich dunkelrot und versank in Nachdenken. Es würde uns schwer sein, den Gang ihrer Gedanken aufzuzeichnen. Unter anderm fragte sie sich: »Soll ich den Brief jemandem zeigen?« Sie schämte sich dessen gewissermaßen. Schließlich warf sie den Brief mit einem sonderbaren, spöttischen Lächeln in den Schubkasten ihres Nähtisches. Am folgenden Tag nahm sie ihn wieder heraus und legte ihn in ein dickes, stark in Halbfranz gebundenes Buch (so machte sie es immer mit ihren Briefschaften, um sie recht schnell zu finden, sobald sie sie gebrauchte). Erst eine Woche darauf sah sie zufällig, was es eigentlich für ein Buch war, in dem dieser Brief lag. Es war der ›Don Quijote de la Mancha‹. Aglaja lachte laut auf; es ist schwer zu sagen, warum.

Auch wissen wir nicht zu sagen, ob sie den Brief einer ihrer Schwestern zeigte.

Aber gleich bei der Lektüre des Briefes war ihr der Gedanke durch den Kopf gegangen: hat sich denn wirklich der Fürst diesen eingebildeten, großtuerischen Jungen dazu ausersehen, mit ihm Briefe zu wechseln, und ist dieser Junge vielleicht am Ende gar der einzige Mensch, mit dem der Fürst hier in Korrespondenz steht? So nahm sie denn eine sehr geringschätzige Miene an und unterwarf Kolja einem Verhör. Aber der sonst immer sehr empfindliche »Junge« beachtete diesmal diese Geringschätzung nicht im mindesten; sehr kurz und in recht trockenem Ton erklärte er der Fragerin, er habe zwar bei der Abreise des Fürsten von Petersburg diesem für jeden Fall seine ständige Adresse mitgeteilt und ihm dabei seine Dienste angeboten; aber dies sei der erste Auftrag, den er von ihm empfangen habe, und das erste Schreiben desselben; und zum Beweis der Wahrheit des Gesagten zeigte er ihr auch den Brief, den er selbst von dem Fürsten erhalten hatte. Aglaja machte sich kein Gewissen daraus, ihn zu lesen. In diesem Brief an Kolja stand:


»Lieber Kolja, seien Sie so gut, den hier beiliegenden Brief an Aglaja Iwanowna abzugeben. Bleiben Sie hübsch gesund!

Ihr Sie liebender Fürst L. Myschkin.«


»Es ist doch komisch, daß er sich einen solchen Knirps zum Vertrauten aussucht«, bemerkte Aglaja in beleidigendem Ton, gab Kolja den Brief zurück und ging geringschätzig an ihm vorbei.

Das war nun doch mehr, als Kolja ertragen konnte. Und er hatte noch gerade für diesen Besuch seinen Bruder Ganja, ohne ihm den Grund zu erklären, gebeten, ob er nicht dessen noch ganz neue grüne Krawatte umbinden dürfe! Er fühlte sich bitter gekränkt.

II


Es war Anfang Juni, und das Wetter war in Petersburg schon eine ganze Woche lang außerordentlich schön gewesen. Jepantschins besaßen ein prächtiges eigenes Landhaus in Pawlowsk. Lisaweta Prokofjewna bekam es auf einmal mit der Unruhe und trieb zum Aufbruch; nach kaum zwei Tagen geschäftiger Tätigkeit zogen sie um.

Einen oder zwei Tage nach dem Umzug der Familie Jepantschin traf Fürst Ljow Nikolajewitsch Myschkin mit dem Morgenzug aus Moskau ein. Es war niemand zu seinem Empfang auf dem Bahnhof erschienen; aber beim Aussteigen aus dem Waggon kam es ihm auf einmal so vor, als ob aus der Menge, die die mit dem Zug Angekommenen umdrängte, der seltsame, brennende Blick zweier Augen auf ihn gerichtet sei. Als er jedoch aufmerksamer hinschaute, konnte er nichts mehr wahrnehmen. Gewiß war es ihm nur so vorgekommen; aber es blieb doch bei ihm eine unangenehme Empfindung zurück. Zudem war der Fürst auch ohnedies traurig und nachdenklich und schien aus irgendeinem Grund in Sorge zu sein.

Ein Droschkenkutscher fuhr ihn nach einem Gasthof in der Litejnajastraße. Das Gasthaus war sehr gering. Der Fürst erhielt zwei kleine, dunkle, schlecht möblierte Zimmer, wusch sich und kleidete sich um; dann ging er, ohne etwas zu genießen, eilig aus, wie wenn er Zeit zu verlieren oder jemanden nicht zu Hause zu treffen fürchtete.

Wenn einer von den Leuten, die ihn vor einem halben Jahr bei seinem ersten Aufenthalt in Petersburg kennengelernt hatten, ihn jetzt gesehen hätte, so würde er vielleicht gefunden haben, daß sein Äußeres sich sehr vorteilhaft verändert habe. Und doch war das kaum der Fall. Nur die Kleidung war eine völlig andere geworden: er trug jetzt einen in Moskau von einem guten Schneider gearbeiteten Anzug; aber dieser Anzug hatte einen Fehler: er war gar zu sehr nach der Mode angefertigt (wie das gewissenhafte, aber nicht sehr talentvolle Schneider immer machen), und noch dazu für einen Menschen, der darauf nicht den geringsten Wert legte, so daß ein besonders Lachlustiger bei einem aufmerksamen Blick auf den Fürsten vielleicht Anlaß genommen hätte zu lächeln. Aber was kommt den Leuten nicht alles lächerlich vor.

Der Fürst nahm eine Droschke und fuhr nach den Peski1. In einer der Straßen der Roschdestwenskaja fand er bald ein kleines Holzhäuschen. Zu seiner Verwunderung präsentierte sich dieses Häuschen äußerlich recht hübsch: es war sauber, gut in Ordnung gehalten und mit einem Vorgarten versehen, in welchem Blumen wuchsen. Die Fenster nach der Straße zu waren geöffnet, und aus ihnen wurde ein lautes, unaufhörliches Sprechen vernehmbar, ja fast ein Schreien, wie wenn jemand laut läse oder eine Rede hielte; ab und zu wurde diese Stimme durch das Lachen mehrerer anderer heller Stimmen unterbrochen. Der Fürst ging auf den Hof hinein, stieg ein paar Stufen hinan und fragte nach Herrn Lebedjew.

»Da ist er«, antwortete die Köchin, die die Tür geöffnet hatte. Sie hatte die Ärmel bis zum Ellbogen aufgestreift und wies mit dem Finger nach dem »Salon«.

In diesem Salon, der dunkelblau tapeziert war, und dessen sauberes Mobiliar einigen Anspruch auf Eleganz erhob (es befanden sich dort ein runder Tisch, ein Sofa, eine Bronzeuhr unter einem Glassturz, ein schmaler Spiegel am Fensterpfeiler und ein sehr altertümlicher kleiner Kronleuchter mit Glasprismen, der an einer bronzenen Kette von der Decke herabhing), mitten in diesem Zimmer stand Herr Lebedjew in eigener Person, mit dem Rücken nach dem eintretenden Fürsten zu, sommerlich gekleidet, ohne Rock, in bloßer Weste, und hielt, sich gegen die Brust schlagend, eine affektvolle Rede über irgendein Thema. Seine Zuhörer waren: ein fünfzehnjähriger Knabe, der ein recht lustiges, kluges Gesicht hatte und ein Buch in der Hand hielt, ein etwa zwanzigjähriges junges Mädchen, ganz in Trauerkleidung, mit einem Säugling auf dem Arm, ein dreizehnjähriges Mädchen, gleichfalls in Trauer, das sehr herzlich lachte und dabei den Mund gewaltig weit aufriß, und endlich ein sehr sonderbarer Zuhörer, ein auf dem Sofa liegender junger Mann von etwa zwanzig Jahren, sehr hübsch, mit langem, dichtem, dunklem Haar, großen, schwarzen Augen und einem kleinen Anflug von Bart. Dieser Zuhörer schien den Redenden häufig zu unterbrechen und ihm zu widersprechen, und darüber lachte wahrscheinlich das übrige Publikum.

»Lukjan Timofejewitsch, Lukjan Timofejewitsch! So hör doch! Sieh doch mal her ...! Na, bei euch ist auch alles vergebens!«

Mit einer wegwerfenden Handbewegung ging die Köchin fort; sie ärgerte sich so, daß sie ganz rot geworden war.

Lebedjew sah sich um und stand, als er den Fürsten erblickte, eine Weile wie vom Donner gerührt; dann stürzte er mit einem knechtischen Lächeln auf ihn zu, wurde aber unterwegs von neuem ganz starr und sagte nur:

»Durch-durch-durchlauchtigster Fürst!«

Aber wie wenn er immer noch nicht imstande wäre, seine Fassung wiederzugewinnen, drehte er sich auf einmal um und stürzte ohne jede Veranlassung zunächst auf das Mädchen in Trauer zu, das das Kind auf dem Arm hielt, so daß diese vor Überraschung und Schreck zurückschwankte; dann aber ließ er diese und stürmte auf das dreizehnjährige Mädchen los, das in der nach dem Nebenzimmer führenden Tür auf der Schwelle stand, und auf dessen Gesicht als Überrest des kurz vorhergehenden Lachens noch ein Lächeln lag. Sie hielt dem Anschreien nicht stand, sondern flüchtete sogleich in die Küche; Lebedjew stampfte hinter ihr her sogar mit den Füßen auf den Boden, um sie noch mehr zu erschrecken; aber als er dem Blick des Fürsten begegnete, der ihn verlegen ansah, sagte er zur Erklärung:

»Nur ... nur aus Ehrerbietung, hehehe!«

»Aber Sie machen sich unnötige Mühe ...«, begann der Fürst.

»Sofort, sofort, sofort ... schnell wie der Wind!«

Damit lief Lebedjew rasch aus dem Zimmer hinaus. Erstaunt blickte der Fürst das junge Mädchen, den Knaben und den auf dem Sofa liegenden jungen Mann an, die alle drei lachten. Auch der Fürst fing an zu lachen.

»Er ist gegangen, sich den Frack anzuziehen«, sagte der Knabe.

»Es tut mir außerordentlich leid ...«, begann der Fürst.

»Ich dachte schon ... Sagen Sie, ist er vielleicht ...«

»Sie meinen betrunken?« rief eine Stimme vom Sofa her.

»Nicht die Spur! Er hat vielleicht drei bis vier Gläschen getrunken, na, oder auch fünf; aber was will das bedeuten? Das ist ja ganz normal!«

Der Fürst wollte sich zu der vom Sofa herkommenden Stimme hinwenden; aber nun begann das junge Mädchen zu sprechen und fragte mit dem offenherzigsten Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht:

»Vormittags trinkt er nie viel; wenn Sie in einer geschäftlichen Angelegenheit zu ihm hergekommen sind, dann reden Sie jetzt mit ihm; es ist gerade die rechte Zeit. Wenn er abends nach Hause kommt, dann ist er allerdings manchmal betrunken; aber jetzt weint er meistens bis in die Nacht hinein und liest uns aus der Heiligen Schrift vor, weil unsere Mutter vor fünf Wochen gestorben ist.«

»Er ist wahrscheinlich deswegen weggelaufen, weil er noch nicht recht wußte, was er Ihnen antworten soll«, rief lachend vom Sofa her der junge Mann. »Ich möchte wetten, daß er vorhat, Sie zu betrügen, und sich jetzt überlegt, wie er es anzustellen hat.«

»Erst vor fünf Wochen! Erst vor fünf Wochen!« fiel der zurückkehrende Lebedjew ein, der inzwischen den Frack angezogen hatte. Er blinzelte mit den Augen und zog ein Taschentuch aus der Tasche, um sich damit die Tränen abzuwischen. »Meine Kinder sind mutterlos!«

»Aber warum kommen Sie denn in diesem zerlumpten Anzug herein?« sagte das Mädchen. »Da hinter der Tür haben Sie ja einen ganz neuen Oberrock liegen; haben Sie ihn nicht gesehen, nein?«

»Schweig still, du Schwätzerin!« schrie Lebedjew sie an.

»Willst du wohl!« Er trampelte wieder, um sie zu bedrohen, mit den Füßen.

Aber dieses Mal lachte sie nur. »Warum versuchen Sie, mich zu erschrecken? Ich bin ja nicht Tanja; ich werde nicht davonlaufen«, sagte sie. »Sie werden noch unsere kleine Ljubow hier aufwecken, und dann wird sie noch Krämpfe bekommen ... Weshalb schreien Sie denn so?«

»Nein, nein, nein! Schweig, schweig ...!« versetzte Lebedjew in größter Bestürzung, lief zu dem Kind hin, das auf dem Arm seiner Tochter schlief, und bekreuzte es mit erschrockener Miene mehrmals. »Herr Gott, erhalte sie mir; Herr Gott, erhalte sie mir! Das ist meine Kleinste, meine Tochter Ljubow«, wandte er sich an den Fürsten; »sie ist in legitimer Ehe von meiner unlängst verstorbenen Gattin Jelena geboren, die im Wochenbett starb. Und dieser Kiebitz hier ist meine Tochter Wjera, in Trauerkleidung. Und dieser, dieser, ja dieser ...«

»Nun? Bist du steckengeblieben?« rief der junge Mann.

»So fahr doch fort! Sei nicht verlegen!«

»Durchlaucht!« rief Lebedjew plötzlich mit Heftigkeit.

»Haben Sie von der Ermordung der Familie Schemarin in den Zeitungen gelesen?«

»Ja, ich habe davon gelesen«, erwiderte der Fürst einigermaßen verwundert.

»Nun, das ist hier der wahre Mörder der Familie Schemarin; er ist es, er!«

»Aber was reden Sie!« versetzte der Fürst.

»Das heißt, im übertragenen Sinn gesprochen; er ist der künftige zweite Mörder einer künftigen zweiten Familie Schemarin, wenn es noch einmal eine solche geben wird. Darauf bereitet er sich jetzt schon vor ...«

Alle lachten. Dem Fürsten kam der Gedanke, Lebedjew mache vielleicht wirklich diese Winkelzüge und Seitensprünge nur deshalb, weil er seine Fragen voraussehe, nicht wisse, was er darauf antworten solle, und Zeit zu gewinnen suche.

»Er revoltiert! Er stiftet Verschwörungen an!« schrie Lebedjew, als wenn er nicht mehr imstande wäre, sich zu beherrschen. »Na, bin ich denn imstande, na, bin ich denn berechtigt, einen solchen Verleumder, einen solchen Wüstling und Unmenschen als meinen leiblichen Neffen, als den einzigen Sohn meiner seligen Schwester Anisja anzuerkennen?«

»Hör doch auf, du betrunkenes Subjekt! Können Sie es glauben, Fürst, jetzt ist er auf den Einfall gekommen, sich mit Advokatur zu befassen und Vertretungen vor Gericht zu übernehmen; er hat sich auf die Rhetorik geworfen und redet mit seinen Kindern im Haus immer nur noch im höheren Stil. Vor fünf Tagen hat er vor den Friedensrichtern gesprochen. Und wen hat er da verteidigt? Nicht die alte Frau, die ihn gebeten und angefleht hatte, und die von so einem Schuft von Wucherer ausgeplündert worden war (fünfhundert Rubel, die ihr gehörten, ihr ganzes Vermögen, hatte der Mensch sich angeeignet), sondern eben diesen Wucherer selbst, einen gewissen Seidler, einen Juden, weil der versprochen hatte, ihm fünfzig Rubel zu geben ...«

»Fünfzig Rubel, wenn ich den Prozeß gewönne, und nur fünf, wenn ich ihn verlöre«, erklärte Lebedjew auf einmal in einer ganz andern Tonart als die, in der er bisher gesprochen hatte, und so, als ob er nie geschrien hätte.

»Na, er hat natürlich nichts ausgerichtet; es geht jetzt bei Gericht nicht mehr so zu wie ehemals; man hat ihn da nur ausgelacht. Aber er war mit sich sehr zufrieden. ›Denken Sie daran, meine unparteiischen Herren Richter‹, hat er gesagt, ›daß ein unglücklicher Greis, der nicht gehen kann und von seiner ehrlichen Arbeit lebt, seines letzten Stückes Brot beraubt wird; denken Sie an die weisen Worte des Gesetzgebers: Im Gericht soll Milde herrschen!‹ Und können Sie es glauben? Jeden Morgen deklamiert er uns hier dieselbe Rede vor, Wort für Wort, wie er sie da gehalten hat; es ist heute das fünftemal, daß er sie uns vorgetragen hat, jetzt eben, bevor Sie kamen; so gut hat sie ihm gefallen. Er sagt sich selbst darüber Elogen. Und er hat vor, noch so einen zu verteidigen. Sie sind ja wohl Fürst Myschkin? Kolja hat mir von Ihnen gesagt, Sie seien der klügste Mensch, der ihm bisher auf der Welt vorgekommen wäre ...«

»Das stimmt! Das stimmt! Der klügste Mensch auf der Welt!« fiel Lebedjew sofort ein.

»Na, der hier schwatzt das allerdings nur so hin. Der eine liebt Sie, und der andere möchte sich bei Ihnen in Gunst setzen; aber ich beabsichtige durchaus nicht, Ihnen zu schmeicheln; das sage ich Ihnen ein für allemal. Sie sind ja doch ein urteilsfähiger Mensch: seien Sie Schiedsrichter zwischen mir und ihm! Na, bist du damit einverstanden, daß der Fürst es übernimmt, unser Schiedsrichter zu sein?« wandte er sich an seinen Onkel. »Ich bin ordentlich froh, Fürst, daß Sie gerade hergekommen sind.«

»Ja, ich bin damit einverstanden!« rief Lebedjew in entschlossenem Ton und sah sich unwillkürlich nach dem Publikum um, das wieder heranzurücken begann.

»Aber was haben Sie denn eigentlich miteinander?« fragte der Fürst und runzelte ein wenig die Stirn.

Er hatte wirklich Kopfschmerzen und gelangte außerdem immer mehr und mehr zu der Überzeugung, daß Lebedjew ihm etwas vormachte und sich darüber freute, daß die Hauptsache hinausgeschoben wurde.

»Also Darlegung des Tatbestandes! Ich bin sein Neffe; darin hat er nicht gelogen, obwohl er sonst immer lügt. Ich habe mein Studium nicht beendet; aber ich will es beenden und werde meine Absicht durchsetzen; denn ich habe einen energischen Charakter. Inzwischen aber will ich, um zu existieren, eine Stellung bei der Eisenbahn mit fünfundzwanzig Rubeln Gehalt annehmen. Ich bekenne außerdem, daß er mir schon zwei- oder dreimal geholfen hat. Ich besaß zwanzig Rubel und habe sie verspielt. Können Sie es glauben, Fürst, ich war so gemein und nichtswürdig, das Geld zu verspielen!«

»An einen Schurken, an einen Schurken, dem er überhaupt nichts hätte bezahlen sollen!« schrie Lebedjew.

»Ja, an einen Schurken; aber bezahlen mußte ich es ihm«, fuhr der junge Mann fort. »Daß er aber ein Schurke ist, kann auch ich bezeugen, und zwar nicht deswegen, weil er dich durchgeprügelt hat. Es ist das nämlich ein in seiner Karriere gescheiterter Offizier, ein Leutnant a.D., von der ehemaligen Rogoschinschen Kohorte; er erteilt Unterricht im Boxen. Die treiben sich jetzt alle hier und da umher, seitdem Rogoschin sie weggejagt hat. Aber das Allerärgste war, daß ich wußte, daß er ein Schurke, ein Taugenichts und ein Dieb war, und mich doch mit ihm zum Spiel hinsetzte, und daß ich, als ich den letzten Rubel setzte (wir spielten Palki2), bei mir dachte: ›Wenn ich verliere, gehe ich zu Onkel Lukjan und falle ihm zu Füßen; er wird es mir nicht abschlagen.‹ Das war eine unwürdige Handlungsweise, eine ganz unwürdige Handlungsweise! Das war eine bewußte Gemeinheit!«

»Ja, das war eine bewußte Gemeinheit!« wiederholte Lebedjew.

»Na, triumphiere nicht zu früh, warte noch!« rief der Neffe beleidigt. »Er freut sich schon. Ich kam zu ihm hierher, Fürst, und bekannte ihm alles: ich handelte ehrenhaft und beschönigte nichts, was ich getan hatte; ich schimpfte vor seinen Ohren auf mich selbst mit den stärksten Ausdrücken; alle hier Anwesenden sind Zeugen. Um die Stelle bei der Eisenbahn zu erhalten, muß ich mich unbedingt einigermaßen einkleiden; denn ich bin ganz zerlumpt. Da, sehen Sie mal meine Stiefel an! Sonst kann ich die Stelle nicht antreten, und wenn ich sie nicht zum bestimmten Termin antrete, so bekommt sie ein anderer; dann sitze ich wieder auf dem Trockenen und kann mich nach einer anderen Stelle umsehen. Jetzt bitte ich ihn nur um fünfzehn Rubel und verspreche, ihn nie wieder um Geld zu bitten und ihm überdies im Laufe der ersten drei Monate die ganze Schuld bis auf die letzte Kopeke zurückzuzahlen. Ich werde mein Wort halten. Ich bin imstande, monatelang von Brot und Kwas3 zu leben; denn ich habe einen festen Charakter. Für drei Monate werde ich fünfundsiebzig Rubel Gehalt bekommen. Mit dem Früheren zusammen werde ich ihm im ganzen fünfunddreißig Rubel schuldig sein; somit werde ich genug Geld haben, um ihm alles zu bezahlen. Na, mag er mir Prozente abnehmen, soviel er will; hol's der Teufel! Kennt er mich denn etwa nicht? Fragen Sie ihn selbst, Fürst: habe ich ihm nicht jedesmal, wenn er mir früher geholfen hatte, das Geld zurückbezahlt? Warum will er denn nun diesmal nicht? Er ist ärgerlich darüber, daß ich an diesen Leutnant meinen Spielverlust bezahlt habe; das ist der einzige Grund! So ein Mensch ist das; er gönnt weder sich noch einem andern etwas!«

»Und nun geht er nicht weg!« schrie Lebedjew. »Er hat sich hier hingelegt und geht nicht weg!«

»Das habe ich dir ja gesagt. Ich gehe nicht weg, ehe du mir nicht das Geld gibst. Warum lächeln Sie, Fürst? Sie finden wohl, daß ich unrecht habe?«

»Ich lächle nicht; aber meiner Ansicht nach haben Sie in der Tat bis zu einem gewissen Grad unrecht«, antwortete der Fürst mit Widerstreben.

»So sagen Sie doch geradeheraus, daß ich ganz und gar unrecht habe, und machen Sie keine gewundenen Redensarten! Was soll das heißen: ›bis zu einem gewissen Grad‹?«

»Nun, wenn Sie wollen, so will ich auch sagen, daß Sie ganz und gar unrecht haben.«

»Wenn ich will! Lächerlich! Denken Sie denn, ich weiß nicht selbst, daß meine Handlungsweise etwas Bedenkliches hat, daß das Geld ihm gehört, daß er seinen freien Willen hat, und daß das, was ich tue, auf Erpressung hinausläuft? Sie kennen das Leben nicht, Fürst. Wenn man auf diese Leute nicht einen Druck ausübt, erreicht man nichts bei ihnen. Man muß einen Druck auf sie ausüben. Mein Gewissen ist ja rein; ich kann mit gutem Gewissen sagen: ich werde ihn nicht zu Schaden bringen; ich werde ihm sein Geld mit Zinsen zurückerstatten. Er hat ja auch schon eine gewisse seelische Befriedigung gehabt, indem er gesehen hat, wie ich mich vor ihm erniedrigte. Was will er nun noch mehr? Wozu ist er denn gut auf der Welt, wenn er niemandem nützt? Und ich bitte Sie, was tut er denn selbst? Erkundigen Sie sich nur einmal, wie er andere behandelt, und wie er die Leute betrügt! Wie ist er denn zu diesem Haus gekommen? Ich lasse mir den Kopf abschneiden, wenn er Sie nicht schon betrogen hat und nicht überlegt, wie er Sie noch weiter betrügen kann! Sie lächeln? Sie glauben mir nicht?«

»Mir scheint, daß das alles mit Ihrer Sache nichts zu tun hat«, bemerkte der Fürst.

»Ich liege hier nun schon den dritten Tag, und was habe ich nicht alles zu sehen bekommen!« rief der junge Mann, ohne auf ihn zu hören. »Stellen Sie sich vor, daß er diesen Engel hier, dieses junge, jetzt mutterlose Mädchen, meine Kusine, seine Tochter, verdächtigt und in ihrem Schlafzimmer jede Nacht nach Liebhabern sucht! Auch zu mir pflegte er leise hereinzukommen und unter dem Sofa, auf dem ich liege, nachzusehen. Er ist vor Mißtrauen verrückt geworden; in jedem Winkel sieht er Diebe. Die ganze Nacht über springt er jeden Augenblick aus dem Bett, sieht nach den Fenstern, ob sie auch gut geschlossen sind, faßt die Türen an, guckt in den Ofen, und so treibt er es jede Nacht etwa siebenmal. Vor Gericht verteidigt er Gauner, und er selbst verrichtet dreimal in jeder Nacht seine Gebete, hier im Salon; er liegt dabei auf den Knien und schlägt halbe Stunden lang mit der Stirn auf den Fußboden. Und für wen betet er nicht alles! Was redet er dabei nicht alles in seiner Trunkenheit her! Er hat schon für das Seelenheil der Gräfin Dubarry gebetet; ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört; Kolja hat es auch gehört; er ist ganz verrückt geworden!«

»Sehen Sie nur, hören Sie nur, wie er mich beschimpft, Fürst!« schrie Lebedjew, der ganz rot geworden und wirklich außer sich war. »Aber das weiß er nicht, daß ich, der Trunkenbold und Liederjan, der Räuber und Übeltäter, ihn, diesen Spötter, als er noch ein ganz kleines Kind war, in Windeln gewickelt und in der Wanne gebadet habe, und daß ich bei meiner verwitweten, bettelarmen Schwester Anisja, selbst ein bettelarmer Mensch, die Nächte über ohne zu schlafen, aufgesessen und sie beide in ihren Krankheiten gewartet und dem Hausknecht unten Holz gestohlen und ihm Lieder vorgesungen und dazu mit den Fingern geschnipst habe, und das alles mit hungrigem Magen! Ja, so habe ich ihn gewartet und gepflegt, und nun lacht er über mich! Und was kümmert dich das, wenn ich auch wirklich einmal für das Seelenheil der Gräfin Dubarry meine Stirn bekreuzt hätte? Vor drei Tagen, Fürst, habe ich zum erstenmal in meinem Leben ihre Biographie im Konversationslexikon gelesen. Weißt du denn überhaupt, wer die Gräfin Dubarry war? Sag, weißt du es oder nicht?«

»Na, du bist wohl der einzige, der das weiß!« murmelte der junge Mann spöttisch, aber etwas gezwungen.

»Das war eine Gräfin, die aus der Schande hervorgegangen war und dann wie eine Königin regierte, und die von einer großen Kaiserin in einem eigenhändigen Schreiben ›ma chère cousine‹ angeredet wurde. Ein Kardinal, der päpstliche Nuntius, erbot sich beim lever du roi (weißt du, was das ist: lever du roi?), ihr die seidenen Strümpfe persönlich auf die nackten Füße zu ziehen, und meinte noch, das sei für ihn eine große Ehre – so eine hohe, heilige Persönlichkeit! Weißt du das? Ich sehe dir am Gesicht an, daß du es nicht weißt! Na, und wie ist sie gestorben? Antworte, wenn du es weißt!«

»Scher dich weg! Laß mich in Ruh!«

»Gestorben ist sie in der Weise, daß nach all diesen Ehren der Henker Sampson diese hohe Machthaberin auf die Guillotine schleppte, unschuldig, zum Ergötzen der Pariser Fischweiber, und sie vor Angst gar nicht begriff, was mit ihr vorging. Sie sah, daß er sie am Hals unter das Messer bog und mit Fußtritten hinschob (die Weiber lachten dazu), und sie schrie: ›Encore un moment, monsieur le bourreau, encore un moment!‹ Das bedeutet: ›Warten Sie nur noch ein Augenblickchen, Herr Bourreau, nur ein einziges Augenblickchen!‹ Und für dieses Augenblickchen wird Gott ihr vielleicht verzeihen; denn man kann sich nichts vorstellen, was für eine Menschenseele schlimmer wäre als diese misère. Weißt du, was das Wort misère bedeutet? Na, siehst du wohl, die schreckliche Lage, von der ich erzählt habe, das ist eben so eine misère. Als ich von diesem Aufschrei der Gräfin und von diesem einen Augenblickchen las, da hatte ich ein Gefühl, als ob man mir das Herz mit einer Zange zwickte. Und was geht dich das an, du Wurm, daß ich vor dem Zubettgehen in meinem Gebet ihrer, dieser großen Sünderin, gedacht habe? Vielleicht habe ich es gerade deswegen getan, weil, solange die Erde steht, für sie wahrscheinlich noch nie jemand seine Stirn bekreuzt hat oder es sich überhaupt hat in den Sinn kommen lassen. Denn es wird für sie in jener Welt eine angenehme Empfindung sein, daß sich ein ebenso großer Sünder, wie sie, gefunden hat, der auch für sie wenigstens ein einziges Mal auf Erden gebetet hat. Warum lachst du? Du glaubst nicht, du Atheist! Aber woher hast du dein Wissen? Und du hast das, was du erlauscht hast, auch noch lügnerisch entstellt; denn ich habe nicht einfach nur für die Gräfin Dubarry gebetet; ich habe so gesagt: ›O Gott, gib die ewige Ruhe der Seele der großen Sünderin Gräfin Dubarry und allen, die ihr gleichen!‹ und das ist doch etwas ganz anderes; denn es gibt viele solche großen Sünderinnen, die warnende Beispiele für die Veränderlichkeit des Glücks sind und viel gelitten haben und sich jetzt dort ängstigen und stöhnen und warten. Und auch für dich und alle, die dir gleichen, für alle frechen, unverschämten Gesellen deiner Art habe ich damals gebetet, wie du wissen wirst, da du mich niemals bei meinem Gebet hast belauschen mögen ...«

»Na, nun hör nur auf; laß es genug sein; bete, für wen du willst; hol dich der Teufel; warum bist du so ins Schreien hineingekommen?« unterbrach ihn der Neffe ärgerlich.

»Er ist außerordentlich belesen, Fürst; haben Sie das schon gewußt?« fügte er mit einem ungeschickten Lächeln hinzu. »Er liest jetzt immer Memoiren und allerlei andere Bücher.«

»Ihr Onkel ist aber bei alledem kein herzloser Mensch«, bemerkte der Fürst etwas unwillig.

Dieser junge Mann wurde ihm sehr zuwider.

»Sie werden ihn uns am Ende noch durch Ihr Lob verderben! Sehen Sie nur, wie er gleich die Hand aufs Herz legt und einen spitzen Mund macht; das ist ihm süß eingegangen! Herzlos ist er nicht, meinetwegen; aber ein Spitzbube ist er, das ist das Malheur; und außerdem ist er auch noch ein Trunkenbold und ist wie jeder Mensch, der ein paar Jahre lang getrunken hat, ganz aus dem Leim gegangen, so daß alles an ihm knarrt. Die Kinder hat er allerdings lieb, und meine selige Tante hat er gut behandelt ... Sogar mich hat er lieb, und er hat mir gewiß in seinem Testament einen Teil seines Vermögens hinterlassen.«

»Nichts hinterlasse ich dir!« schrie Lebedjew ingrimmig.

»Hören Sie mal, Lebedjew«, sagte der Fürst in bestimmtem Ton, indem er sich von dem jungen Mann abwandte, »ich weiß ja aus Erfahrung, daß Sie, wenn Sie wollen, auf geschäftlichem Gebiet Tüchtiges leisten können ... Ich habe jetzt sehr wenig Zeit, und wenn Sie ... Entschuldigen Sie, wie ist doch Ihr Vor-und Vatersname? Ich habe es vergessen.«

»Ti-Ti-Timofej.«

»Und?«

»Lukjanowitsch.«

Alle, die im Zimmer anwesend waren, lachten wieder laut auf.

»Er lügt!« rief der Neffe. »Auch darin lügt er! Er heißt gar nicht Timofej Lukjanowitsch, Fürst, sondern Lukjan Timofejewitsch! Na, nun sag selbst, warum hast du denn gelogen? Dir kann es doch gleich sein, ob du Lukjan oder Timofej heißt, und was hat der Fürst daran für ein Interesse? Er schwindelt nur aus reiner Angewohnheit, versichere ich Ihnen!«

»Ist das wirklich wahr?« fragte der Fürst ungeduldig.

»Ich heiße allerdings Lukjan Tomofejewitsch«, gestand Lebedjew verlegen ein, indem er demütig die Augen niederschlug und wieder die Hand aufs Herz legte.

»Aber warum tun Sie denn das? Ich bitte Sie!«

»Aus Selbsterniedrigung«, flüsterte Lebedjew, der seinen Kopf immer tiefer und immer demütiger herabsinken ließ.

»Ach was! Was liegt denn darin für eine Selbsterniedrigung! Wenn ich nur wüßte, wo Kolja jetzt zu finden ist!« sagte der Fürst und wollte sich schon umdrehen, um wegzugehen.

»Ich will Ihnen sagen, wo Kolja ist«, erbot sich wieder der junge Mann.

»Nein, nein, nein!« rief Lebedjew aufgeregt und hastig.

»Kolja hat hier übernachtet, ist aber am Morgen weggegangen, um seinen General zu suchen, den Sie, Fürst, Gott weiß warum aus dem Schuldgefängnis losgekauft haben. Der General hatte noch gestern versprochen, er würde hierherkommen, um hier zu übernachten; aber er ist nicht gekommen. Am wahrscheinlichsten ist er die Nacht über im Gasthaus ›Zur Waage‹, nicht weit von hier, gewesen. Kolja ist also entweder dort oder in Pawlowsk bei Jepantschins. Er hatte Geld und wollte noch gestern hinfahren. Also er ist in der ›Waage‹ oder in Pawlowsk.«

»In Pawlowsk, in Pawlowsk wird er sein ...! Aber wir wollen in unser Gärtchen gehen und ... ein Täßchen Kaffee ...«

Und Lebedjew zog den Fürsten an der Hand hinaus. Sie verließen das Zimmer, durchschritten einen kleinen Hof und passierten ein Pförtchen. Dort befand sich wirklich ein sehr kleines, sehr hübsches Gärtchen, in welchem dank dem guten Wetter schon alle Bäume grün waren. Lebedjew ließ den Fürsten auf einem grün angestrichenen Holzbänkchen an einem in die Erde gegrabenen Tisch Platz nehmen und setzte sich selbst ihm gegenüber. Nach kurzer Zeit wurde wirklich der Kaffee gebracht. Der Fürst lehnte ihn nicht ab. Lebedjew fuhr fort, ihm mit kriecherischer Miene in großer Spannung in die Augen zu sehen.

»Ich wußte gar nicht, daß Sie ein so hübsches Hauswesen haben«, sagte der Fürst; aber sein Gesicht machte den Eindruck, als ob er an etwas ganz anderes dächte.

»Wir sind arme, unglückliche ...«, begann Lebedjew, sich zusammenkrümmend; aber er hielt inne.

Der Fürst blickte zerstreut vor sich hin und hatte seine letzte Bemerkung offenbar schon wieder vergessen. Es verging noch ungefähr eine Minute. Lebedjew beobachtete den Fürsten und wartete. »Nun also, wie steht es?« fragte der Fürst, der aus seinen Gedanken zu sich zu kommen schien. »Sie wissen ja selbst, Lebedjew, was wir beide miteinander zu verhandeln haben: ich bin infolge Ihres Briefes hergekommen; nun reden Sie!«

Lebedjew wurde verlegen; er wollte etwas sagen, brachte aber nur stotternde Laute heraus und konnte nichts Deutliches von sich geben. Der Fürst wartete ein Weilchen und lächelte trüb.

»Ich glaube Sie sehr gut zu verstehen, Lukjan Tomofejewitsch: Sie haben mich wahrscheinlich nicht erwartet. Sie dachten, ich würde mich aus meiner Zurückgezogenheit nicht gleich auf Ihre erste Benachrichtigung hin aufmachen, und schrieben mir, um Ihr Gewissen zu beruhigen. Aber Sie sehen, ich bin hergekommen. Nun lassen Sie es genug sein, und täuschen Sie mich nicht weiter! Hören Sie auf, zwei Herren zu dienen! Rogoschin ist schon drei Wochen hier; ich weiß alles. Haben Sie es schon wieder fertiggebracht, sie ihm zu verraten und zu verkaufen wie damals? Sagen Sie die Wahrheit!«

»Der Unmensch hat es selbst erfahren, ganz allein.«

»Schimpfen Sie nicht auf ihn; er hat Sie ja freilich schlecht behandelt ...«

»Geprügelt hat er mich, geprügelt!« fiel Lebedjew in großer Erregung ein. »Mit einem Hund hat er mich in Moskau gehetzt, die ganze Straße entlang, mit einem Jagdhund. Es war ein schreckliches Tier!«

»Sie halten mich für ein kleines Kind, Lebedjew. Sagen Sie mir im Ernst: hat sie ihn jetzt in Moskau verlassen?«

»Im Ernst, im Ernst, und wieder unmittelbar vor der Trauung. Der zählte schon die Minuten; aber sie reiste hierher nach Petersburg und kam geradewegs zu mir: ›Rette mich, beschütze mich, Lukjan‹, sagte sie, ›und sage dem Fürsten nichts ...!‹ Sie fürchtet sich vor Ihnen, Fürst, noch mehr als vor ihm, und das ist das Rätselhafte!« Lebedjew hielt mit schlauer Miene den Finger an die Stirn.

»Und jetzt haben Sie die beiden nicht wieder zusammengeführt?«

»Durchlauchtigster Fürst, was konnte ... was konnte ich dagegen tun?«

»Nun genug! Ich werde selbst alles in Erfahrung bringen. Sagen Sie mir nur: wo ist sie jetzt? Bei ihm?«

»O nein, ganz und gar nicht! Sie lebt immer noch ganz für sich. Sie sagt: ›Ich bin frei‹, und wissen Sie, Fürst, das ist bei ihr immer der Refrain: ›Ich bin noch vollkommen frei‹, sagt sie. Sie wohnt immer noch in der Petersburgskaja4, im Haus meiner Schwägerin, wie ich Ihnen ja auch geschrieben habe.«

»Ist sie auch jetzt dort?«

»Ja, wenn sie nicht bei dem schönen Wetter in Pawlowsk ist, bei Darja Alexejewna, in deren Landhaus. Sie sagt: ›Ich bin vollkommen frei!‹ Noch gestern hat sie sich Nikolai Ardalionowitsch gegenüber sehr ihrer Freiheit gerühmt. Ein übles Zeichen!«

Lebedjew schmunzelte.

»Ist Kolja oft bei ihr?«

»Er ist leichtsinnig und unberechenbar und nicht diskret.«

»Sind Sie in neuerer Zeit dagewesen?«

»Ich gehe alle Tage hin, alle Tage.«

»Also waren Sie auch gestern da?«

»N-nein, vorvorgestern.«

»Wie schade, daß Sie angetrunken sind, Lebedjew! Sonst hätte ich Sie etwas gefragt.«

»Oh, nicht die Spur betrunken bin ich!«

Lebedjew machte geradezu ein finsteres Gesicht.

»Sagen Sie mir: in welchem Zustand befand sie sich, als Sie sie verließen?«

»Sie suchte ...«

»Sie suchte?«

»Es war, als ob sie immer etwas suchte, als ob sie etwas verloren hätte. Was die bevorstehende Ehe betrifft, so war ihr sogar der Gedanke daran zuwider, und sie faßte die bloße Erwähnung derselben als Beleidigung auf. An ihn selbst denkt sie nicht mehr als an ein Stückchen Apfelsinenschale, das heißt: doch mehr, sie denkt an ihn mit Furcht und Schrecken und verbietet einem sogar, von ihm zu reden; sie sehen einander nur, wenn es unbedingt nötig ist ... und er empfindet das außerordentlich schmerzlich! Aber sie wird ihrem Schicksal doch nicht entgehen ...! Sie ist unruhig, spottlustig, launisch, zänkisch..«

»Launisch und zänkisch?«

»Ja, zänkisch; denn es fehlte das vorige Mal wenig daran, daß sie mich wegen etwas, was ich gesagt hatte, an den Haaren gerissen hätte. Ich wollte sie durch die Offenbarung des Johannes gesund machen.«

»Wie? Was?« fragte der Fürst, der sich verhört zu haben glaubte.

»Durch Vorlesen aus der Offenbarung des Johannes. Sie ist eine Dame mit einem unruhigen Geist, hehe! Überdies habe ich die Beobachtung gemacht, daß sie eine große Neigung zu ernsten, wenn auch abseits gelegenen Gesprächsgegenständen hat. Sie liebt dergleichen und faßt es sogar als ein Zeichen besonderer Hochachtung auf, wenn man von solchen Dingen anfängt. Ja. Ich bin in der Auslegung der Offenbarung stark und beschäftige mich damit schon seit fünfzehn Jahren. Sie stimmte mir darin bei, daß wir jetzt bei dem dritten Pferd, dem Rappen, angelangt sind und bei dem Reiter, der ein Maß in seiner Hand hat, da ja in jetziger Zeit alles nach dem Maß und dem Vertrag geht und alle Menschen nur ihr Recht suchen: ›Ein Maß Weizen um einen Denar und drei Maß Gerste um einen Denar ...‹, und dann möchten sie sich noch einen freien Geist und ein neues Herz und einen gesunden Leib und alle andern Gaben obendrein bewahren. Aber auf Grund des bloßen Rechts können sie sich das nicht bewahren, und danach folgt das fahle Pferd und der, dessen Name Tod heißt, und nach ihm kommt dann die Hölle ... Darüber reden wir, wenn wir zusammenkommen, und es hat bei ihr starke Wirkung getan.«

»Sie selbst glauben daran?« fragte der Fürst, indem er Lebedjew mit einem eigentümlichen Blick ansah.

»Ich glaube daran und lege es aus. Denn ich bin arm und nackt und ein Atom im Strudel der Menschheit. Und wer achtet Lebedjew? Jeder spottet über ihn, und jeder versetzt ihm einen Fußtritt. Aber dort, bei dieser Auslegung, stehe ich den Großen dieser Welt gleich. Denn dabei kommt es auf den Verstand an! Und es hat auch schon ein hoher Würdenträger vor mir gezittert, auf seinem Lehnstuhl, als ihm ein Licht aufging. Seine Exzellenz Nil Alexejewitsch hatte vor zwei Jahren vor Ostern von mir gehört (ich war damals noch in seinem Departement angestellt), ließ mich durch Peter Sacharowitsch expreß aus dem Bureau zu sich in sein Arbeitszimmer rufen und fragte mich unter vier Augen: ›Ist das wahr, daß du ein Verkünder des Antichrists bist?‹ Und ich leugnete nicht und sprach: ›Ich bin es.‹ Und ich legte ihm alles aus und stellte es ihm dar, und ich milderte das Schreckliche nicht, sondern steigerte es noch unvermerkt, indem ich die allegorische Bücherrolle öffnete, und zog Schlüsse aus den Zahlen. Und er lachte; aber bei den Zahlen und den Ähnlichkeiten fing er an zu zittern und bat mich, das Buch zu schließen und wegzugehen, und zu Ostern wies er mir eine Remuneration an, und in der zweiten Woche nach Ostern hauchte er seine Seele aus.«

»Was reden Sie da, Lebedjew?«

»Ich sage es, wie es gewesen ist. Er fiel nach dem Mittagessen aus seiner Equipage ... mit der Schläfe schlug er gegen einen Prellstein, und wie ein kleines Kind, ganz wie ein kleines Kind, war er auf dem Fleck tot. Dreiundsiebzig Jahre war er nach der Rangliste alt geworden; er hatte eine rötliche Gesichtsfarbe, graues Haar und besprengte sich ganz mit Parfüm; und immer lächelte er, immer lächelte er, wie ein kleines Kind. Peter Sacharowitsch erinnerte sich damals noch an das, was vorhergegangen war, und sagte zu mir: ›Du hast es vorhergesagt.‹«

Der Fürst erhob sich. Lebedjew wunderte sich und war sogar ganz befremdet, daß der Fürst schon fort wollte.

»Sie sind jetzt so gleichmütig geworden, hehe!« erlaubte er sich unterwürfig zu bemerken.

»Ich fühle mich in der Tat nicht ganz wohl; der Kopf tut mir weh, wohl von der Reise«, antwortete der Fürst mit finsterem Gesicht.

»Sie sollten aufs Land gehen«, riet Lebedjew schüchtern.

Der Fürst überlegte.

»Ich will selbst in drei Tagen mit meiner ganzen Familie nach meinem Landhaus ziehen, damit sich auch der Säugling da kräftigt, und damit hier im Haus unterdessen alles zurechtgemacht wird. Ich ziehe ebenfalls nach Pawlowsk.«

»Sie ziehen auch nach Pawlowsk?« fragte der Fürst rasch. »Wie geht denn das zu? Ziehen hier alle Leute nach Pawlowsk? Und Sie haben, wie Sie sagen, dort ein eigenes Landhaus?«

»Alle Leute ziehen nicht nach Pawlowsk. Mir hat Iwan Petrowitsch Ptizyn eines von den Landhäusern überlassen, die ihm für ein Billiges da zugefallen sind. Es ist ein hübscher Ort und hochgelegen und grün und billig, und es herrscht da bon ton, und auch Musik ist da; darum ziehen so viele nach Pawlowsk. Ich wohne übrigens nur in einem Nebengebäude; das Landhaus selbst ...«

»Das haben Sie wohl vermietet?«

»N-n-nein. Noch nicht ... noch nicht definitiv.«

»Vermieten Sie es mir!« schlug der Fürst schnell vor.

Gerade darauf schien es Lebedjew abgesehen zu haben. Dieser Gedanke war ihm wenige Augenblicke vorher durch den Kopf gegangen. Ein Bedürfnis nach einem Mieter hatte er übrigens gar nicht mehr; ein solcher hatte sich bereits gefunden und ihn benachrichtigt, er werde das Landhaus vielleicht mieten. Lebedjew wußte bestimmt, daß er es nicht »vielleicht«, sondern sicher mieten werde; aber jetzt war ihm auf einmal ein seiner Meinung nach vielversprechender Gedanke gekommen, das Landhaus dem Fürsten zu überlassen, unter Benutzung des Umstandes, daß der bisherige Interessent sich nur unbestimmt ausgedrückt hatte. »Das ist ja ein eigentümliches Zusammentreffen und eine ganz neue Wendung der Dinge«, das war seine Empfindung. Er nahm den Vorschlag des Fürsten ordentlich mit Entzücken an und machte auf dessen direkte Frage nach dem Preis nur eine abwehrende Handbewegung.

»Nun, wie Sie wollen«, sagte der Fürst. »Ich werde mich erkundigen, was üblich ist, und Sie sollen nicht zu Schaden kommen.«

Sie verließen nunmehr beide den Garten.

»Ich könnte Ihnen ... ich könnte Ihnen ... wenn es Ihnen erwünscht wäre, könnte ich Ihnen eine sehr interessante Mitteilung machen, hochverehrter Fürst; ich könnte Ihnen etwas mitteilen, was sich auf denselben Gegenstand bezieht«, murmelte Lebedjew, der glückselig neben dem Fürsten einherscharwenzelte.

Der Fürst blieb stehen.

»Darja Alexejewna hat ebenfalls ein Landhaus in Pawlowsk.«

»Nun, und?«

»Ein gewisse Dame ist mit ihr befreundet und beabsichtigt anscheinend, sie häufig in Pawlowsk zu besuchen. Sie hat dabei eine bestimmte Absicht.«

»Nun?«

»Aglaja Iwanowna ...«

»Ach, hören Sie auf, Lebedjew!« unterbrach ihn der Fürst, als sei bei ihm ein wunder Punkt berührt. »Das verhält sich alles anders. Sagen Sie mir lieber, wann Sie umziehen! Mir ist es je eher um so lieber, da ich im Gasthaus ...«

Während dieses Gesprächs hatten sie den Garten verlassen, waren, ohne nochmals in das Haus zu gehen, über den Hof gegangen und näherten sich nun dem Torpförtchen.

»Das beste wäre«, meinte Lebedjew schließlich, »wenn Sie gleich heute vom Gasthaus zu mir zögen; übermorgen ziehen wir dann alle zusammen nach Pawlowsk.«

»Ich werde es mir überlegen«, erwiderte der Fürst nachdenklich und ging aus dem Tor.

Lebedjew sah ihm nach. Die plötzliche Zerstreutheit des Fürsten überraschte ihn. Dieser hatte sogar vergessen, beim Weggehen Adieu zu sagen, und nicht einmal mit dem Kopf genickt, was zu der Höflichkeit und Aufmerksamkeit des Fürsten, die Lebedjew recht wohl kannte, wenig stimmte.


Fußnoten


1 Stadtteil im Osten von Petersburg; die Roschdestwenskaja erscheint hier als ein Teil desselben. (A.d.Ü.)


2 Ein Hasardspiel mit Karten (A.d.Ü.)


3 Säuerliches Getränk aus Roggenmehl und Malz. (A.d.Ü.)


4 Ein Stadtteil von Petersburg. (A.d.Ü.)

III

Es ging schon auf zwölf. Der Fürst wußte, daß er bei Jepantschins in ihrer Stadtwohnung jetzt nur den dienstlich beschäftigten General treffen konnte, und auch den kaum. Er sagte sich, daß der General ihn womöglich sogleich mit Beschlag belegen und mit nach Pawlowsk hinausnehmen würde, und es lag ihm doch sehr daran, vorher noch einen Besuch zu machen. Auf die Gefahr hin, daß es ihm für Jepantschins zu spät werden und er genötigt sein würde, seine Fahrt nach Pawlowsk bis zum nächsten Tag aufzuschieben, entschloß sich der Fürst dazu, zunächst jenes Haus aufzusuchen, wohin es ihn so sehr verlangte.

Dieser Besuch war für ihn übrigens in gewisser Hinsicht gewagt. Er zauderte und schwankte. Er wußte von dem Haus, daß es in der Gorochowaja-Straße lag, nicht weit von der Sadowaja-Straße, und entschied sich dafür, hinzugehen, in der Hoffnung, es werde ihm noch gelingen, ehe er hinkomme, einen endgültigen Beschluß zu fassen. Als er an die Kreuzung der Gorochowaja- und Sadowaja-Straße kam, wunderte er sich selbst über seine ungewöhnliche Aufregung; er hatte nicht erwartet, daß ihm das Herz so schmerzhaft schlagen würde. Ein Haus zog, wahrscheinlich durch seinen besonderen Anblick, schon von weitem seine Aufmerksamkeit auf sich, und der Fürst erinnerte sich später, daß er zu sich gesagt hatte: »Es wird gewiß dieses Haus sein!« Mit außerordentlicher Neugier ging er näher heran, um seine Mutmaßung auf ihre Richtigkeit zu prüfen; er fühlte, daß es ihm aus irgendeinem Grund besonders unangenehm sein würde, wenn er es sollte erraten haben. Es war dies ein großes, finsteres, dreistöckiges Haus, ohne allen architektonischen Schmuck, von schmutziggrüner Farbe. Einige, allerdings nur sehr spärliche derartige Häuser, die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gebaut sind, haben sich namentlich in diesen Straßen Petersburgs (obwohl sich doch in dieser Stadt so vieles ändert) fast unversehrt erhalten. Sie sind solide gebaut, mit dicken Mauern und sehr wenigen Fenstern; im Erdgeschoß sind die Fenster manchmal vergittert. Meist befindet sich unten ein Wechselgeschäft. Der Skopze1, der in dem Wechselgeschäft sitzt, wohnt oben. Ein solches Haus macht von außen und von innen einen ungastlichen, unfreundlichen Eindruck; es sucht sich gleichsam zu verstecken und zu verbergen; aber warum eigentlich schon der bloße Anblick des Hauses einen solchen Eindruck macht, das ist schwer zu sagen. Die architektonischen Linien müssen wohl auf geheimnisvolle Weise diese Wirkung ausüben. In diesen Häusern wohnen fast ausschließlich Kaufleute. Der Fürst näherte sich dem Tor, sah nach dem Türschild und las: »Haus des erblichen Ehrenbürgers Rogoschin.«

Seinem Zaudern ein Ende machend, öffnete er die Glastür, die hinter ihm geräuschvoll wieder zuschlug, und begann die Haupttreppe zum zweiten Stock hinaufzusteigen. Die Treppe war dunkel, kunstlos aus Steinstufen gebaut, die Wände mit roter Farbe angestrichen. Er wußte, daß Rogoschin mit seiner Mutter und seinem Bruder das ganze zweite Stockwerk dieses düsteren Hauses bewohnte. Der Diener, der dem Fürsten öffnete, führte ihn ohne Anmeldung hinein; die Führung dauerte lange: sie passierten einen für Festlichkeiten bestimmten Saal mit marmorartig bemalten Wänden, eichenem Parkettfußboden und schweren, plumpen Möbeln aus den zwanziger Jahren; sie gingen auch durch einige kleine Zimmerchen, wobei sie Bogen und Zickzacke machten, ein paar Stufen hinauf- und dann wieder ebensoviele hinunterstiegen, und klopften endlich an einer Tür an. Parfen Semjonowitsch öffnete selbst; als er den Fürsten erblickte, wurde er so blaß und blieb so starr auf dem Fleck stehen, daß er mit seinem unbeweglichen, erschrockenen Blick und dem zu einem verständnislosen Lächeln schiefgezogenen Mund eine Zeitlang einem steinernen Götzenbild glich; er schien in dem Besuch des Fürsten etwas Unglaubliches, ja beinah Wunderbares zu finden. Der Fürst hatte zwar etwas Derartiges erwartet, war aber doch erstaunt.

»Vielleicht komme ich nicht gelegen, Parfen; ich kann ja wieder gehen«, sagte er schließlich verlegen.

»Nicht doch, du kommst durchaus gelegen!« erwiderte Parfen, der endlich seine Fassung wiedergewann. »Bitte, tritt näher!«

Sie duzten sich. Es hatte sich in Moskau so getroffen, daß sie häufig und lange zusammen waren, und es hatte bei diesem Zusammensein auch Augenblicke gegeben, die auf das Herz des einen wie des andern einen tiefen Eindruck gemacht hatten. Jetzt hatten sie einander mehr als drei Monate lang nicht gesehen.

Die Blässe und ein leises, huschendes Zucken waren noch immer nicht von Rogoschins Gesicht gewichen. Er hatte zwar seinen Gast eingeladen näherzutreten; aber seine außerordentliche Befangenheit dauerte fort. Während er den Fürsten zu einem Lehnsessel führte und am Tisch Platz nehmen ließ, wandte sich dieser zufällig zu ihm hin und blieb überrascht von seinem seltsam starren Blick stehen. Dieser Blick schien den Fürsten zu durchbohren und erinnerte ihn zugleich an etwas Peinliches, Düsteres, das er vor wenigen Stunden gesehen hatte. Er setzte sich nicht hin, sondern blieb, ohne sich zu rühren, stehen und blickte Rogoschin eine Weile gerade in die Augen: diese Augen schienen im ersten Moment noch stärker aufzuflammen. Endlich lächelte Rogoschin, aber etwas verlegen und verwirrt.

»Warum siehst du mich denn so unverwandt an?« murmelte er. »Setz dich doch!«

Der Fürst setzte sich.

»Parfen«, sagte er, »sag mir aufrichtig: wußtest du, daß ich heute nach Petersburg kommen würde?«

»Daß du herkommen würdest, habe ich mir gedacht«, versetzte Rogoschin. »Und wie du siehst, habe ich mich nicht geirrt«, fügte er boshaft lächelnd hinzu. »Aber woher hätte ich wissen sollen, daß du gerade heute kommen würdest?«

Die schroffe Heftigkeit und der seltsam gereizte Ton der an die Antwort angeschlossenen Frage befremdeten den Fürsten noch mehr.

»Aber selbst wenn du wußtest, daß ich gerade heute kommen würde, so brauchst du doch nicht so gereizt zu sein«, sagte der Fürst leise, nicht ohne Verlegenheit.

»Warum fragtest du denn, ob ich es gewußt habe?«

»Als ich vorhin aus dem Waggon stieg, sah ich zwei ganz ebensolche Augen auf mich gerichtet wie die, mit denen du mich soeben von hinten ansahst.«

»Na so was! Wessen Augen waren denn das?« murmelte Rogoschin argwöhnisch.

Es schien dem Fürsten, als sei er zusammengezuckt.

»Ich weiß es nicht; es war einer aus der dichten Menge; ich halte sogar für möglich, daß es mir nur so vorgekommen ist; dergleichen Täuschungen begegnen mir in letzter Zeit häufiger. Ich habe beinah dieselbe Empfindung, Bruder Parfen, wie vor fünf Jahren, als ich meine Anfälle bekam.«

»Na also, vielleicht ist es dir nur so vorgekommen; ich weiß es nicht ...«, murmelte Parfen.

Das freundliche Lächeln auf seinem Gesicht stand ihm in diesem Augenblick sehr schlecht; dieses Lächeln hatte sozusagen einen Sprung bekommen, und Parfen war trotz aller Bemühungen nicht imstande, es wieder zusammenzukleben.

»Nun, willst du wieder ins Ausland gehen, ja?« fragte er und fügte plötzlich hinzu: »Erinnerst du dich noch, wie wir im Herbst auf der Bahn zusammen von Pskow hierher fuhren ..., du im Mantel, weißt du noch, und in Gamaschen?«

Rogoschin lachte plötzlich laut auf, dieses Mal mit unverhohlener Feindseligkeit, und wie wenn er sich freute, daß es ihm gelungen war, diese Gesinnung wenigstens auf irgendeine Weise zum Ausdruck zu bringen.

»Bleibst du hier für die Dauer wohnen?« fragte der Fürst, indem er das Arbeitszimmer musterte.

»Ja, ich bin hier zu Hause. Wo sollte ich auch sonst hin?«

»Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich habe von dir Dinge gehört, die dir gar nicht ähnlich sehen.«

»Was reden die Leute nicht alles!« bemerkte Rogoschin trocken.

»Aber du hast doch deine ganze Leibkohorte weggejagt und wohnst nun hier im elterlichen Haus und begehst keine tollen Streiche mehr. Das ist recht schön. Gehört das Haus dir oder euch allen gemeinsam?«

»Das Haus gehört der Mutter. Zu ihr geht es auf der andern Seite des Flurs.«

»Und wo wohnt dein Bruder?«

»Mein Bruder Semjon Semjonowitsch wohnt im Nebengebäude.«

»Ist er verheiratet?«

»Er ist Witwer. Wozu willst du das denn wissen?«

Der Fürst blickte vor sich hin und erwiderte nichts; er war plötzlich in Gedanken versunken und schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Rogoschin drang nicht auf eine Antwort, sondern wartete ruhig. Sie schwiegen beide. »Ich habe dein Haus, als ich näherkam, auf hundert Schritte als das deinige erkannt«, sagte der Fürst.

»Woran denn?«

»Das weiß ich schlechterdings nicht. Dein Haus hat die Physiognomie eurer ganzen Familie und eures ganzen Rogoschinschen Lebens; wenn du mich aber fragst, worauf sich diese meine Anschauung gründet, so kann ich dafür keine Erklärung geben. Es ist natürlich nur Einbildung. Ich bin sogar in Sorge darüber, daß mich solche Dinge so aufregen. Früher wäre mir gar nicht der Gedanke gekommen, daß du gerade in einem solchen Haus wohnen würdest; aber sowie ich es jetzt erblickte, mußte ich sofort denken: ›Ja, gerade so muß sein Haus aussehen!‹«

»Nun sieh mal an!« versetzte Rogoschin mit einem unbestimmten Lächeln, ohne den unklaren Gedanken des Fürsten recht zu verstehen. »Dieses Haus hat noch der Großvater gebaut«, bemerkte er. »Es haben immer Skopzen darin gewohnt, die Familie Chludjakow; die wohnen auch jetzt hier zur Miete.«

»Es ist hier so düster. Du sitzt hier auch so im Dunklen«, sagte der Fürst, indem er sich im Arbeitszimmer umsah.

Es war ein großes, hohes, dunkles Zimmer, mit allerlei Möbeln vollgestellt, meist großen Arbeitstischen, Schreibtischen und Schränken, in denen Geschäftsbücher und Papiere aufbewahrt wurden. Ein breites, rotes Ledersofa diente offenbar als Rogoschins Bett. Der Fürst bemerkte auf dem Tisch, an dem ihn Rogoschin hatte Platz nehmen lassen, ein paar Bücher; eines von ihnen, Solowjows Geschichte Rußlands, war aufgeschlagen und mit einem Lesezeichen versehen. An den Wänden hingen in trüben Goldrahmen einige Ölgemälde, die so dunkel geworden waren, daß sich auf ihnen schwer etwas erkennen ließ. Ein lebensgroßes Porträt zog die Aufmerksamkeit des Fürsten auf sich: es stellte einen etwa fünfzigjährigen Mann dar, in einem langschößigen Rock von deutscher Fasson, mit zwei Medaillen am Hals, mit einem sehr dünnen, kurzen, grauen Bart, runzligem, gelbem Gesicht und mißtrauischem, verschlossenem, finsterem Blick.

»Das ist wohl dein Vater?« fragte der Fürst.

»Ja, das ist er«, antwortete Rogoschin mit einem unangenehmen Lächeln, als ob er vorhätte, im nächsten Augenblick irgendeinen ungenierten Scherz über seinen verstorbenen Vater zu machen.

»War er ein Altgläubiger?«

»Nein, er ging in die Kirche; aber er sagte allerdings, der alte Glaube sei richtiger. Auch vor den Skopzen hat er Achtung gehabt. Dies hier war sein Arbeitszimmer. Warum fragst du danach, ob er altgläubig war?«

»Wirst du die Hochzeit hier feiern?«

»J-ja«, antwortete Rogoschin, der bei der unerwarteten Frage zusammenzuckte.

»Werdet ihr bald heiraten?«

»Du weißt ja selbst, daß das nicht von mir abhängt.«

»Parfen, ich bin nicht dein Feind und beabsichtige nicht, dir irgendwie hinderlich zu sein. Ich wiederhole dir das jetzt ebenso, wie ich es dir früher einmal in einem fast gleichen Augenblick ausgesprochen habe. Als in Moskau deine Hochzeit bevorstand, bin ich dir nicht hinderlich gewesen; das weißt du. Das erstemal kam sie selbst zu mir hingestürzt, unmittelbar vor der Trauung, und bat mich, sie vor dir zu ›retten‹. Ich wiederhole dir ihren eigenen Ausdruck. Dann ist sie auch von mir weggelaufen; du hast sie wieder ausfindig gemacht und zum Altar geführt, und da ist sie, wie es heißt, wieder von dir weggelaufen, hierher. Ist das wahr? Mir hat es Lebedjew so mitgeteilt, und darum bin ich hergereist. Daß ihr euch aber hier wieder geeinigt habt, das habe ich erst gestern zum erstenmal von einem deiner früheren Freunde gehört, von Saloschew, wenn du es wissen willst. Hierhergefahren bin ich aber in folgender Absicht: ich wollte sie endlich überreden, zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit ins Ausland zu reisen. Sie ist körperlich und seelisch sehr heruntergekommen, namentlich hat ihr Kopf stark gelitten, und sie bedarf meines Erachtens sorgsamster Pflege. Ich wollte sie nicht selbst ins Ausland begleiten, sondern hatte in Aussicht genommen, alles Nötige ohne meine persönliche Anwesenheit einzurichten. Ich sage dir die reine Wahrheit. Wenn es wirklich zutrifft, daß ihr euch wieder geeinigt habt, dann werde ich ihr gar nicht vor Augen treten und auch zu dir nie wieder kommen. Du weißt selbst, daß ich dich nicht täusche, da ich immer gegen dich aufrichtig gewesen bin. Wie ich darüber denke, daraus habe ich dir nie ein Hehl gemacht und habe dir immer gesagt, daß es ihr sicheres Verderben ist, wenn sie deine Frau wird. Und auch dein Verderben wird es sein, vielleicht in noch schlimmerem Grad als das ihre. Wenn ihr euch wieder trenntet, so wäre das für mich eine große Beruhigung; aber meinerseits euch zu veruneinigen und auseinanderzubringen, ist nicht meine Absicht. Sei doch ruhig und hege keinen Argwohn gegen mich! Du weißt ja doch selbst, daß ich niemals dein wirklicher Nebenbuhler gewesen bin, selbst damals nicht, als sie sich zu mir geflüchtet hatte. Du lachtest jetzt eben, und ich weiß, warum du es tust. Aber wir haben dort getrennt gelebt, sie und ich, und dann sogar in verschiedenen Städten, und du weißt das alles doch ganz genau. Ich habe dir ja auch schon früher auseinandergesetzt, daß ich sie nicht aus Liebe, sondern aus Mitleid liebe. Ich meine, ich habe das damals klar dargelegt. Du sagtest damals, du hättest diese meine Worte verstanden, nicht wahr? Hast du sie auch wirklich verstanden? Oh, wie voll Haß du mich ansiehst! Ich bin hergekommen, um dich zu beruhigen, weil auch du mir teuer bist. Ich habe dich sehr lieb, Parfen. Ich gehe jetzt und komme niemals wieder. Lebe wohl!«

Der Fürst stand auf.

»Bleib noch ein Weilchen bei mir sitzen!« sagte Parfen leise; er erhob sich nicht von seinem Platz und legte den Kopf in die rechte hohle Hand. »Ich habe dich lange nicht gesehen.«

Der Fürst setzte sich wieder. Beide schwiegen.

»Wenn ich dich nicht vor mir sehe, fühle ich gleich gegen dich einen Groll, Ljow Nikolajewitsch. In diesen drei Monaten, wo ich dich nicht gesehen habe, bin ich jeden Augenblick auf dich ergrimmt gewesen, das weiß Gott! Ich hätte dich vergiften mögen! So steht das. Und jetzt hast du nun doch nicht eine Viertelstunde bei mir gesessen, und schon ist mein ganzer Groll vergangen, und du bist mir wieder lieb und wert wie früher. Bleib noch ein Weilchen bei mir sitzen ...!«

»Wenn ich bei dir bin, dann glaubst du mir, und wenn ich nicht da bin, dann hörst du gleich auf, mir zu vertrauen, und hast mich wieder im Verdacht. Du artest ganz nach deinem Vater«, antwortete der Fürst freundlich lächelnd und bemüht, seine Rührung zu verbergen. »Ich glaube dem Klang deiner Stimme, wenn ich bei dir sitze. Ich verstehe ja, daß wir beide, du und ich, nicht miteinander zu vergleichen sind ...«

»Warum fügst du das hinzu? Und gleich bist du wieder in gereizter Stimmung«, versetzte der Fürst, der sich über ihn wunderte.

»Wir werden nicht nach unserer Meinung gefragt, was wir für einen Charakter haben wollen«, antwortete jener; »der wird ohne unser Zutun bestimmt. Wir beide lieben ja auch auf verschiedene Weise; es ist eben in allem ein Unterschied«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen leise fort. »Du liebst sie, wie du sagst, aus Mitleid. Von solchem Mitleid mit ihr ist bei mir nichts vorhanden. Und sie haßt mich ja auch, haßt mich mehr als irgendeinen andern Menschen. Ich träume jetzt jede Nacht von ihr, und zwar immer, daß sie sich mit einem andern über mich lustig macht. So steht die Sache, Bruder. Sie geht mit mir zum Traualtar und denkt dabei an mich mit keinem Gedanken; sie hat dabei keine andere Empfindung, als wenn sie die Schuhe wechselte. Wirst du es glauben? Fünf Tage habe ich sie nicht gesehen, weil ich nicht wage zu ihr hinzufahren; ich fürchte, sie fragt mich: ›Warum bist du hergekommen?‹ Und wie oft hat sie mir Schimpf angetan ...«

»Dir Schimpf angetan? Was redest du!«

»Als ob du es nicht wüßtest! Sie ist ja doch von mir unmittelbar vor der Trauung mit dir weggelaufen; das hast du ja eben selbst gesagt.«

»Aber du wirst doch nicht glauben, daß ...«

»Und hat sie mich nicht mit dem Offizier, diesem Semtjuschnikow, in Moskau betrogen? Ich weiß bestimmt, daß sie es getan hat, und noch dazu, nachdem sie den Tag für die Trauung selbst angesetzt hatte.«

»Das ist unmöglich!« rief der Fürst.

»Ich weiß es sicher«, erklärte Rogoschin im Ton der festesten Überzeugung. »Das liegt nicht in ihrem Wesen, willst du sagen, nicht wahr? Das ist richtig, Bruder, daß das nicht in ihrem Wesen liegt. Aber das ist doch nur leeres Gerede. Dir gegenüber wird sie sich nicht so benehmen und ein solches Betragen vielleicht selbst verabscheuen; aber mir gegenüber benimmt sie sich nun eben so. So ist es nun einmal. Sie betrachtet mich als das niedrigste Geschöpf auf Gottes Erdboden! Und mit Keller, diesem Offizier, der sich so gern boxt, hat sie sich lediglich in der Absicht eingelassen, sich über mich lustig zu machen ... Und du weißt noch nicht, was sie mit mir in Moskau angestellt hat! Und wieviel Geld, wieviel Geld hat mich das alles gekostet ...«

»Aber ... wie in aller Welt kannst du sie denn unter solchen Umständen heiraten? Wie soll denn das später werden?« fragte der Fürst ganz erschrocken.

Rogoschin warf dem Fürsten einen grimmigen, furchtbaren Blick zu und antwortete nicht.

»Ich bin jetzt schon fünf Tage nicht bei ihr gewesen«, fuhr er dann fort, nachdem er ungefähr eine Minute lang geschwiegen hatte. »Ich fürchte immer, daß sie mich wegjagt. Sie sagt: ›Ich bin noch immer meine eigene Herrin; wenn ich will, jage ich dich ganz fort und reise selbst ins Ausland‹ (davon hat sie zu mir schon gesprochen, daß sie ins Ausland reisen wolle«, bemerkte er wie in Parenthese und sah dem Fürsten in ganz besonderer Art in die Augen). »Manchmal allerdings will sie mir damit nur Furcht einjagen; sie möchte sich immer über mich lustig machen; aber zu andern Zeiten ist sie wirklich in finsterer Stimmung, zieht die Augenbrauen zusammen und sagt kein Wort; und das ist's, was ich am meisten fürchte. Neulich dachte ich: ›Ich will doch nicht immer mit leeren Händen zu ihr kommen‹; aber sie lachte nur spöttisch über meine Geschenke und wurde dann sogar ernstlich zornig. Ich hatte ihr einen so schönen Schal geschenkt, daß ihr, trotzdem sie früher im Luxus gelebt hatte, seinesgleichen wohl noch nicht vor Augen gekommen war; den gab sie ihrem Stubenmädchen Katja. Und von dem Termin für die Hochzeit darf ich gar nicht zu reden anfangen. Ich kann mich ja gar nicht als ihren Bräutigam ansehen, wenn ich mich fürchte, auch nur zu ihr hinzugehen. Da sitze ich nun hier, und wenn ich es nicht mehr aushalten kann, dann gehe ich heimlich und verstohlen auf der Straße an ihrem Haus vorbei oder verstecke mich irgendwo hinter einer Ecke. Neulich habe ich beinah bis zum Morgengrauen in der Nähe ihrer Haustür gelauert; ich hatte so einen Verdacht. Aber sie hatte mich wohl durch das Fenster bemerkt und sagte nachher: ›Was würdest du mit mir machen, wenn du sähest, daß ich dich betrüge?‹ Ich konnte mich nicht halten und sagte: ›Das weißt du selbst.‹«

»Was soll sie denn wissen?«

»Woher soll ich es denn selbst wissen?« erwiderte Rogoschin, grimmig auflachend. »In Moskau habe ich sie damals mit keinem abfassen können, obwohl ich lange aufpaßte. Ich nahm sie mir damals einmal vor und sagte zu ihr: ›Du bist mit mir verlobt und willst in eine ehrenhafte Familie eintreten; weißt du jetzt aber auch, was du für eine bist? So eine bist du!‹ sagte ich.«

»Das hast du zu ihr gesagt?«

»Ja.«

»Nun, und sie?«

»›Ich habe jetzt vielleicht nicht einmal Lust‹, sagte sie, ›dich als Lakaien anzunehmen, geschweige denn deine Frau zu werden.‹ – ›Und ich‹, sagte ich, ›gehe mit solchem Bescheid nicht weg; die Sache muß so oder so ein Ende haben!‹ – ›Und ich‹, sagte sie, ›werde gleich Keller rufen und ihm sagen, er solle dich aus dem Haus hinauswerfen.‹

Da habe ich mich auf sie gestürzt und sie geschlagen, daß sie blaue Flecke davon bekam.«

»Es ist nicht möglich!« rief der Fürst.

»Ich sage dir: es ist so gewesen«, erwiderte Rogoschin leise, aber mit funkelnden Augen. »Sechsunddreißig Stunden lang habe ich nicht geschlafen, nicht gegessen, nicht getrunken und ihr Zimmer nicht verlassen; auf den Knien habe ich vor ihr gelegen. ›Ich sterbe hier‹, sagte ich, ›ich gehe nicht hinaus, ehe du mir nicht verzeihst, und wenn du mich hinausbringen läßt, ertränke ich mich; denn wie werde ich jetzt ohne dich leben können?‹ Sie war jenen ganzen Tag wie eine Wahnsinnige: bald weinte sie, bald wollte sie mich mit einem Messer töten, bald schimpfte sie auf mich. Sie rief Saloschew, Keller, Semtjuschnikow und alle andern herbei, wies vor aller Augen mit dem Finger auf mich und schmähte mich. ›Wir wollen heute alle zusammen ins Theater fahren, meine Herren‹, sagte sie; ›mag er hier sitzen bleiben, wenn er nicht weggehen will; ich brauche doch seinetwegen nicht das Haus zu hüten! Es wird Ihnen hier, während ich weg bin, Tee gereicht werden, Parfen Semjonowitsch; Sie müssen ja heute ganz hungrig geworden sein.‹ Sie kehrte allein aus dem Theater zurück. ›Das sind Feiglinge und Schufte‹, sagte sie, ›sie fürchten sich vor dir und wollen auch mir Angst machen: sie sagen: Er wird so nicht fortgehen; er wird Sie am Ende noch ermorden! Aber ich werde, wenn ich in mein Schlafzimmer gehe, die Tür nicht hinter mir zuschließen; so wenig fürchte ich mich vor dir! Das magst du wissen und mit eigenen Augen sehen! Hast du Tee getrunken?‹ – ›Nein‹, sagte ich, ›und ich werde auch keinen trinken.‹ – ›Das ließe sich hören, wenn du ein Ehrenmann wärest; so aber steht dir das sehr wenig.‹ Und wie sie gesagt hatte, so tat sie auch: sie schloß ihr Zimmer nicht zu. Am Morgen kam sie wieder zu mir herein und lachte. ›Du hast wohl den Verstand verloren?‹ sagte sie; ›nicht wahr? Du wirst ja auf diese Weise Hungers sterben.‹ – ›Verzeih mir!‹ sagte ich. – ›Ich will dir nicht verzeihen und werde dich nicht heiraten; ich habe es dir ja gesagt. Hast du wirklich die ganze Nacht auf diesem Stuhl gesessen und nicht geschlafen?‹ – ›Nein‹, sagte ich, ›ich habe nicht geschlafen.‹ –›Was bist du für ein gescheiter Mensch! Und wirst du nun heute wieder keinen Tee trinken und nicht zu Mittag essen?‹ – ›Ich habe dir ja gesagt, daß ich es nicht tun werde. Verzeih mir!‹ – ›Wenn du nur wüßtest, wie wenig dir das steht‹, sagte sie; ›gerade wie einer Kuh ein Sattel. Meinst du etwa, mich dadurch einzuschüchtern? Was schadet es mir denn, wenn du hungrig dasitzt? Nein, wie mich das ängstigt!‹ Sie wurde zornig, aber das dauerte nicht lange; dann fing sie wieder an, mich zu höhnen. Und da wunderte ich mich über sie, wie es kam, daß eigentlich so gar keine Bosheit aus ihr redete. Und doch trägt sie andern das Böse, das sie ihr angetan haben, nach, trägt es ihnen lange nach! Mir schoß damals der Gedanke durch den Kopf, sie möge mich wohl so geringschätzen, daß sie mir nicht einmal ernstlich böse sein könne. Und das ist auch die Wahrheit. ›Weißt du‹, sagte sie, ›was es mit dem römischen Papst für eine Bewandtnis hat?‹ – ›Ich habe von ihm gehört‹, sagte ich. – ›Du hast keine Weltgeschichte gelernt, Parfen Semjonowitsch‹, sagte sie. – ›Ich habe überhaupt nichts gelernt‹, sagte ich. – ›Nun‹, sagte sie, ›da will ich dir einmal etwas zu lesen geben: es gab einmal einen Papst, der war auf einen Kaiser zornig, und der Kaiser lag vor dem Palast des Papstes drei Tage, ohne zu trinken und ohne zu essen, barfuß auf den Knien, bis er ihm verzieh. Was meinst du? Was mag wohl der Kaiser in diesen drei Tagen, als er da kniete, im stillen gedacht, und was für Gelübde mag er wohl getan haben? Aber warte‹, sagte sie, ›ich werde es dir selbst vorlesen!‹ Sie sprang auf und holte ein Buch. ›Es sind Verse‹, sagte sie und begann, mir in Versen vorzulesen, wie dieser Kaiser es sich in diesen drei Tagen zuschwor, daß er sich an dem Papst rächen werde. ›Gefällt dir das denn nicht, Parfen Semjonowitsch?‹ sagte sie. – ›Was du da gelesen hast‹, sagte ich, ›ist alles sehr richtig.‹ – ›Aha, du sagst selbst, daß es richtig ist; also tust du vielleicht ebenfalls ein Gelübde von dieser Art: Wenn sie mich heiratet, dann werde ich es ihr gedenken und heimzahlen!‹ – ›Ich weiß nicht‹, sagte ich; ›vielleicht denke ich wirklich so.‹ – ›Wie ist denn das möglich, daß du es nicht weißt?‹ – ›Ich weiß es einfach nicht‹, sagte ich; ›ich denke jetzt an andere Dinge.‹ – ›Woran denkst du denn jetzt?‹ – ›Wenn du von deinem Platz aufstehst und an mir vorbeigehst, dann blicke ich nach dir hin und folge dir mit den Augen; und wenn dein Kleid raschelt, dann steht mir das Herz still; und wenn du aus dem Zimmer gehst, dann rufe ich mir jedes Wort, das du gesagt hast, ins Gedächtnis zurück, und mit welchem Ton du es gesagt hast, und welchen Sinn es hatte; und diese ganze Nacht über habe ich an nichts gedacht; ich habe immer nur danach hingehorcht, wie du im Schlaf atmetest, und wie du dich ein paarmal bewegtest ...‹ – ›Da denkst du wohl‹, sagte sie lachend, ›am Ende gar auch nicht mehr daran, daß du mich geschlagen hast, und hast es ganz vergessen?‹ – ›Vielleicht denke ich nicht mehr daran‹, sagte ich; ›ich weiß es nicht.‹ – ›Aber wenn ich dir nun nicht verzeihe und dich nicht heirate?‹ – ›Ich habe schon gesagt, daß ich mich dann ertränke.‹ – ›Vielleicht tötest du mich noch vorher ...‹ Als sie das gesagt hatte, versank sie in Nachdenken. Dann wurde sie zornig und ging hinaus. Eine Stunde darauf kam sie mit ganz finsterer Miene wieder zu mir herein. ›Ich werde dich heiraten, Parfen Semjonowitsch‹, sagte sie, ›nicht weil ich vor dir Angst hätte, sondern weil es ganz gleich ist, wie ich zugrunde gehe. Da ist eine Art nicht besser als die andere. Setz dich hin‹, sagte sie; ›es wird sogleich das Mittagessen für dich aufgetragen werden. Und wenn ich dich heirate‹, fügte sie hinzu, ›so werde ich dir eine treue Frau sein; daran zweifle nicht; darüber brauchst du dich nicht zu beunruhigen.‹ Dann schwieg sie ein Weilchen und sagte darauf: ›Du bist doch kein Lakai; ich hatte früher gemeint, du wärest ein richtiger Lakai, wie er leibt und lebt.‹ Und da setzte sie auch die Hochzeit an; aber eine Woche darauf lief sie mir davon und flüchtete sich zu Lebedjew. Als ich herkam, sagte sie zu mir: ›Ich will dich nicht gänzlich abweisen; ich will nur noch warten, solange es mir belieben wird; denn ich bin immer noch meine eigene Herrin. Warte auch du, wenn du willst!‹ So steht es jetzt bei uns ... Wie denkst du über das alles, Ljow Nikolajewitsch?«

»Wie denkst du selbst darüber?« fragte der Fürst zurück und blickte Rogoschin traurig an.

»Aber denke ich denn überhaupt?« rief dieser heftig und unwillkürlich.

Er wollte noch etwas hinzufügen, unterdrückte es aber und schwieg in grenzenlosem Kummer.

Der Fürst erhob sich und wollte wieder fortgehen.

»Ich werde dir trotzdem nicht hinderlich sein«, sagte er leise, beinah melancholisch, wie wenn er auf einen heimlichen Gedanken antwortete, der ihm innerlich gekommen wäre.

»Weißt du, was ich dir sagen werde?« rief Rogoschin; er wurde auf einmal lebhaft, und seine Augen funkelten.

»Wie du so vor mir zurücktreten kannst, dafür habe ich kein Verständnis! Liebst du sie denn gar nicht mehr? Früher schmachtetest du doch nach ihr; das habe ich recht wohl gesehen. Und warum wärst du denn jetzt Hals über Kopf hierher gereist? Aus Mitleid?« Sein Gesicht verzerrte sich zu einem boshaften Lächeln. »Hehe!«

»Du meinst, daß ich dich betrüge?« fragte der Fürst.

»Nein, ich glaube dir; aber ich verstehe nichts davon. Das Wahrscheinlichste ist wohl, daß dein Mitleid am Ende noch größer ist als meine Liebe!«

Ein böser Gedanke, der danach drängte, sich sofort zu äußern, flammte auf seinem Gesicht auf.

»Nun, deine Liebe ist vom Haß schwer zu unterscheiden«, versetzte der Fürst lächelnd. »Wenn sie aber vergeht, wird das Unglück vielleicht noch schlimmer sein. Ich kann dir schon jetzt sagen, Bruder Parfen ...«

»Daß ich sie umbringen werde?«

Der Fürst zuckte zusammen.

»Daß du sie grimmig hassen wirst für diese deine jetzige Liebe und für all die Qual, die du jetzt ausstehst. Für mich ist das Allerwunderbarste, wie es zugeht, daß sie wieder bereit ist, dich zu heiraten. Als ich es gestern hörte, wollte ich es kaum glauben, und es wurde mir ganz schwer ums Herz. Sie hat sich ja schon zweimal von dir losgemacht und ist unmittelbar vor der Trauung davongelaufen; also hat sie doch ein Gefühl dafür, was ihr bevorsteht ...! Was in aller Welt reizt sie jetzt an dir? Etwa dein Geld? Das ist Unsinn. Und du hast ja auch wohl von deinem Geld schon ein gut Teil vergeudet. Oder möchte sie überhaupt nur einen Mann bekommen? Aber einen Mann könnte sie doch auch, von mir abgesehen, mit Leichtigkeit erlangen. Und jeder andere wäre besser als du, weil du sie vielleicht geradezu umbringen wirst und sie das schon jetzt wohl nur zu gut weiß. Oder weil du sie so heftig liebst? Wirklich, das könnte der Grund sein. Ich habe mir sagen lassen, daß es Frauen gibt, die gerade so geliebt zu werden wünschen ... aber ...«

Der Fürst brach ab und versank in Nachdenken.

»Warum hast du wieder über das Porträt meines Vaters gelächelt?« fragte Rogoschin, der jede Veränderung in dem Gesicht des Fürsten, jede darüber hinhuschende Regung mit der größten Aufmerksamkeit beobachtete.

»Warum ich gelächelt habe? Es kam mir der Gedanke, wenn dir dieses Unglück nicht zugestoßen und diese Liebe nicht über dich gekommen wäre, dann würdest du vielleicht genau so werden wie dein Vater, und zwar in sehr kurzer Zeit. Du würdest allein und wortkarg in diesem Haus sitzen, mit einer gehorsamen, schweigsamen Frau, würdest nur selten und in strengem Ton reden, keinem Menschen trauen, den freundschaftlichen Verkehr mit Menschen auch gar nicht vermissen und nur schweigend und mit finsterer Miene Geld zusammenhäufen. Höchstens würdest du gelegentlich die Bücher der Altgläubigen loben und dich für das Bekreuzen mit zwei Fingern interessieren, und auch das vielleicht erst, wenn du alt geworden wärest ...«

»Spotte nur! Ganz genau dasselbe hat sie neulich gesagt, als sie dieses Porträt ebenfalls betrachtete! Es ist erstaunlich, wie ihr in allen Dingen so ein und derselben Ansicht seid ...«

»Ist sie denn schon bei dir gewesen?« fragte der Fürst interessiert.

»Ja. Sie betrachtete das Porträt lange und stellte viele Fragen über den Verstorbenen. ›Du würdest ganz genau ebenso sein‹, sagte sie endlich lächelnd zu mir. ›Du hast starke Leidenschaften, Parfen Semjonowitsch, solche Leidenschaften, daß du durch sie ohne weiteres nach Sibirien zur Zwangsarbeit kommen würdest, wenn du nicht auch Verstand besäßest; denn du hast einen guten Verstand‹, sagte sie (so drückte sie sich aus, ob du es nun glaubst oder nicht; es war das erstemal, daß ich von ihr eine solche Äußerung hörte!). ›All diese jetzigen Tollheiten würdest du sehr bald beiseite werfen. Und da du ein Mensch ohne alle Bildung bist, so würdest du anfangen, Geld zusammenzuscharren, und würdest wie dein Vater mit deinen Skopzen in deinem Haus sitzen; möglicherweise würdest du zuletzt auch selbst zu ihrem Glauben übertreten, und dein Geld würdest du so liebgewinnen, daß du nicht zwei Millionen, sondern vielleicht zehn Millionen zusammenbringen und auf deinen Geldsäcken Hungers sterben würdest; denn du bist in allen Dingen leidenschaftlich, alles treibst du bis zur Leidenschaft.‹ Genauso redete sie, fast genauso mit diesen selben Worten. Sie hatte noch nie vorher so mit mir geredet! Sie redet ja sonst immer mit mir nur von törichten Dingen oder macht sich über mich lustig; und auch damals hatte sie lachend angefangen; aber dann war sie ganz ernst und düster geworden; sie ging durch dieses ganze Haus und besah es und schien eine Art Schreck darüber zu bekommen. ›Ich werde das alles umändern und anders einrichten‹, sagte ich; ›oder ich kaufe auch vielleicht zur Hochzeit ein anderes Haus.‹ – ›Nein, nein‹, sagte sie; ›hier soll nichts umgeändert werden; wir wollen hier wohnen, wie es ist. Ich möchte bei deiner Mutter wohnen‹, sagte sie, ›wenn ich deine Frau bin.‹ Ich führte sie zu meiner Mutter; sie benahm sich gegen diese ehrerbietig wie eine leibliche Tochter. Die Mutter sitzt schon seit längerer Zeit, schon zwei Jahre, da, als ob sie nicht bei vollem Verstand wäre (sie ist krank), und nach dem Tod des Vaters ist sie ganz wie ein kleines Kind geworden und fügt sich in alles; sie sitzt, ohne aufzustehen, da und verneigt sich nur vor jedem, den sie sieht, von ihrem Platz aus; ich glaube, wenn man sie nicht fütterte, würde sie es drei Tage lang nicht merken. Ich nahm die rechte Hand der Mutter, legte ihr die Finger zurecht und sagte: ›Segnen Sie sie, Mütterchen; sie wird sich mit mir trauen lassen.‹ Da küßte sie meiner Mutter mit herzlicher Empfindung die Hand. ›Deine Mutter‹, sagte sie, ›hat gewiß viel Leid zu ertragen gehabt.‹ Als sie dieses Buch hier in meinem Zimmer sah, wunderte sie sich und sagte: ›Was treibst du denn hier? Du liest russische Geschichte?‹ (Sie hatte aber selbst zu mir einmal in Moskau gesagt: ›Du solltest doch ein bißchen für deine Bildung tun und wenigstens Solowjows russische Geschichte lesen; du weißt ja rein gar nichts!‹) ›Das ist recht von dir‹, sagte sie; ›lies das nur weiter! Ich werde dir selbst ein Verzeichnis der Bücher aufstellen, die du in erster Linie lesen mußt; ist es dir recht?‹ Niemals, niemals vorher hatte sie so zu mir gesprochen, so daß ich ganz erstaunt war; zum erstenmal konnte ich wieder frei aufatmen.«

»Ich freue mich darüber sehr, Parfen«, erwiderte der Fürst mit warmem Gefühl; »sehr freue ich mich. Wer weiß, vielleicht bringt euch Gott doch noch in Übereinstimmung.«

»Das wird nie geschehen!« rief Rogoschin heftig.

»Höre, Parfen, wenn du sie so liebst, möchtest du dann nicht ihre Achtung verdienen? Und wenn du das möchtest, hoffst du dann nicht, daß es dir gelingen wird? Ich habe vorhin gesagt, daß es mir ein wunderbares Rätsel ist, warum sie dich heiraten will. Aber wiewohl ich dieses Rätsel nicht lösen kann, so zweifle ich doch nicht daran, daß jedenfalls ein zureichender, vernünftiger Grund vorhanden sein muß. Von deiner Liebe ist sie überzeugt; aber wahrscheinlich ist sie auch davon überzeugt, daß du mancherlei gute Eigenschaften besitzt. Es kann ja nicht anders sein! Das, was du soeben gesagt hast, dient zur Bestätigung. Du sagst selbst, daß sie es möglich gefunden hat, mit dir in einem ganz andern Ton zu sprechen, als der, in dem sie früher mit dir verkehrt und geredet hat. Du bist mißtrauisch und eifersüchtig; daher übertreibst du alles, was du Schlechtes bemerkst. Sie denkt doch offenbar nicht so schlecht von dir, wie du annimmst. Sonst liefe ja, wenn sie dich heiratete, dies auf dasselbe hinaus, wie wenn sie mit Bewußtsein ins Wasser ginge oder sich dem Messer darböte. Ist denn das möglich? Wer tut denn das mit Bewußtsein?«

Mit bitterem Lächeln hörte Parfen die warmen Worte des Fürsten an. Seine Überzeugung schien bereits unerschütterlich festzustehen.

»Mit was für schrecklichen Augen du mich jetzt ansiehst, Parfen!« rief der Fürst unwillkürlich erschrocken.

»Ins Wasser gehen oder sich dem Messer darbieten!« sagte dieser endlich. »Hehe! Eben deshalb heiratet sie mich ja, weil sie als meine Frau bestimmt auf das Messer rechnet! Hast du denn wirklich bisher noch nicht begriffen, Fürst, was hier vorliegt?«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Nun, vielleicht verstehst du es wirklich nicht, hehe! Man sagt ja von dir, du wärest nicht so ganz ... hm. Sie liebt einen andern; begreife das doch! Gerade so, wie ich sie jetzt liebe, geradeso liebt sie jetzt einen andern. Und dieser andere, weißt du, wer das ist? Das bist du! Na, das hast du nicht gewußt, nicht wahr?«

»Ich?«

»Ja, du. Sie hat sich gleich damals, an ihrem Geburtstag, in dich verliebt. Aber sie denkt, sie könne dich nicht heiraten, weil sie dir Schande machen und dir dein ganzes Leben verderben würde. ›Man weiß ja‹, sagt sie, ›was ich für eine bin.‹ Und bei dieser Auffassung ist sie bis auf diesen Augenblick verblieben. Das hat sie mir alles ganz offen ins Gesicht gesagt. Sie fürchtet, dich zu entehren und ins Verderben zu bringen; aber bei mir kommt so etwas natürlich nicht in Betracht; mich kann sie heiraten. Da sieht man, wie sie mich achtet; das ist auch bemerkenswert!«

»Aber wie geht es zu, daß sie von dir zu mir geflüchtet ist, und ... von mir ...«

»Und von dir zu mir? Hehe! Was hat sie nicht alles für Einfälle! Sie ist jetzt ganz wie im Fieber. Sie schreit mir zu: ›Ich heirate dich, gerade wie wenn ich ins Wasser gehe. Nur recht schnell Hochzeit!‹ Sie treibt selbst zur Eile, bestimmt den Tag, und wenn die Zeit heranrückt, erschrickt sie, oder es kommen ihr andere Gedanken; Gott weiß, wie's zusammenhängt; aber du hast es ja selbst gesehen: sie weint und lacht und wird wie vom Fieber geschüttelt. Und was ist dabei Wunderbares, daß sie auch von dir weggelaufen ist? Sie ist damals von dir weggelaufen, weil es ihr selbst zum Bewußtsein kam, wie stark sie dich liebt. Bei dir zu bleiben, das ging über ihre Kraft. Du hast vorhin gesagt, ich hätte sie damals in Moskau wieder ausfindig gemacht; das ist nicht richtig; sie kam aus eigenem Antrieb von dir zu mir gelaufen: ›Bestimme einen Tag‹, sagte sie; ›ich bin bereit! Laß Champagner bringen! Wir wollen zu den Zigeunerinnen fahren!‹ schrie sie ... Und wenn ich nicht gewesen wäre, so hätte sie sich schon längst ins Wasser gestürzt; das kann ich bestimmt sagen. Sie stürzt sich nur deswegen nicht hinein, weil ich ihr vielleicht noch schrecklicher bin als das Wasser. Aus purem Grimm wird sie mich heiraten ... Wenn sie mich heiratet, so kann ich mit aller Sicherheit sagen, daß sie es aus Grimm tut.«

»Aber wie kannst du nur ... wie kannst du nur ...«, rief der Fürst, ohne den Satz zu beenden.

Er blickte Rogoschin erschrocken an.

»Warum sprichst du nicht zu Ende?« fragte dieser lächelnd. »Aber wenn du willst, so werde ich dir sagen, was du in diesem Augenblick im stillen denkst: ›Wie kann sie unter solchen Umständen seine Frau werden? Wie kann man das zulassen?‹ Ich weiß, daß du das denkst ...«

»Ich bin nicht deswegen hergereist, Parfen; ich sage dir, so etwas ist mir nicht in den Sinn gekommen ...«

»Es ist ja möglich, daß du nicht deswegen hergereist bist, und daß dir so etwas nicht in den Sinn gekommen war; aber nun wird sich der Zweck nachträglich hinzufinden, hehe! Nun genug! Warum bist du so bestürzt? Solltest du wirklich nichts davon gewußt haben? Du setzt mich in Erstaunen!«

»Das ist bei dir nur Eifersucht, Parfen; das ist eine Krankheit; du übertreibst das alles maßlos ...«, murmelte der Fürst in größter Aufregung. »Was hast du denn?«

»Laß das liegen!« sagte Parfen und riß dem Fürsten hastig ein Messer aus der Hand, das dieser vom Tisch genommen hatte, wo es neben dem Buch gelegen hatte, und tat es wieder auf seinen früheren Platz.

»Es ist mir, als hätte ich es bei der Einfahrt in Petersburg gewußt, als hätte ich eine Vorahnung davon gehabt ...«, fuhr der Fürst fort. »Ich wollte nicht herfahren! Ich wollte diese ganze Sache vergessen und mir aus dem Herzen reißen! Nun, lebe wohl ... Aber was hast du denn?«

Während des Sprechens hatte der Fürst in der Zerstreutheit dasselbe Messer wieder vom Tisch in die Hand genommen, und nun nahm Rogoschin es ihm zum zweitenmal aus der Hand und warf es auf den Tisch. Es war ein Messer von ganz einfacher Gestalt, mit einem Griff aus Hirschhorn, nicht zum Zusammenklappen, mit einer etwa dreizehn Zentimeter langen und entsprechend breiten Klinge. Als Rogoschin sah, daß der Fürst stutzig darüber wurde, daß ihm dieses Messer zweimal aus der Hand gerissen war, ergriff er es grimmig und ärgerlich, legte es in das Buch und schleuderte das Buch auf einen andern Tisch. »Du schneidest damit wohl die Seiten auf?« fragte der Fürst, aber zerstreut, als sei er immer noch in seine Gedanken versunken.

»Ja, freilich.«

»Es ist ja ein Gartenmesser!«

»Ja. Kann man denn die Seiten nicht auch mit einem Gartenmesser aufschneiden?«

»Aber es ... es ist ganz neu.«

»Na, was ist denn dabei, daß es neu ist? Darf ich mir etwa nicht ein neues Messer kaufen, sobald ich will?« schrie Rogoschin endlich in einer Art von Raserei; seine Gereiztheit war mit jedem Wort ärger geworden.

Der Fürst zuckte zusammen und blickte ihn aufmerksam an.

»Aber wir sind auch die Richtigen!« sagte er lachend; er war nun wieder völlig zur Besinnung gekommen. »Sei mir nicht böse, Bruder; wenn mir der Kopf so schwer ist wie jetzt, und dazu noch diese Krankheit ... ich werde dann ganz zerstreut und komisch. Ich wollte überhaupt nicht danach fragen ... ich weiß schon nicht mehr, um was es sich handelte. Leb wohl!«

»Nicht dort!« sagte Rogoschin.

»Ich habe vergessen, durch welche Tür ich hereingekommen bin!«

»Hier, hier, komm, ich werde dir den Weg zeigen.«


Fußnoten


1 Ein Verschnittener, Mitglied einer geheimen religiösen Sekte. (A.d.Ü.)


IV


Sie gingen durch dieselben Zimmer, die der Fürst schon vorher passiert hatte. Rogoschin ging ein wenig voraus, der Fürst hinter ihm her. Sie kamen in den großen Salon. Hier befanden sich an den Wänden einige Gemälde, lauter Bischofsporträts und Landschaften, von denen nichts zu erkennen war. Über der Tür zum nächsten Zimmer hing ein Bild von recht auffälligem Format: über anderthalb Meter lang und nicht viel mehr als ein Viertelmeter hoch. Es stellte den soeben vom Kreuz abgenommenen Heiland dar. Der Fürst blickte es flüchtig an, wie wenn ihm eine Erinnerung käme, wollte aber, ohne stehenzubleiben, durch die Tür hindurchgehen. Er fühlte sich sehr bedrückt, und es verlangte ihn, möglichst schnell aus diesem Haus herauszukommen. Aber Rogoschin blieb plötzlich vor dem Bild stehen.

»All diese Bilder hier«, sagte er, »hat mein verstorbener Vater auf Auktionen gekauft, das Stück zu einem oder zwei Rubel; er liebte so etwas. Ein Sachverständiger hat sie alle hier besichtigt; er sagte, es sei Schund; aber dieses hier, das Bild über der Tür, das ebenfalls für zwei Rubel gekauft ist, von dem sagte er, es sei kein Schund. Noch bei Lebzeiten meines Vaters fand sich jemand, der ihm dafür dreihundertfünfzig Rubel bot, und Iwan Dmitrijewitsch Saweljew, ein Kaufmann, der ein großer Liebhaber solcher Dinge ist, der ist bis auf vierhundert hinaufgegangen und hat in der vorigen Woche meinem Bruder Semjon Semjonowitsch schon fünfhundert geboten. Aber ich habe es für mich behalten.«

»Das ist ja ... das ist ja eine Kopie nach Hans Holbein«, sagte der Fürst, der nun Zeit gehabt hatte, das Bild genauer zu betrachten; »und wiewohl ich kein großer Kenner bin, so scheint es mir doch eine vorzügliche Kopie zu sein. Ich habe dieses Bild im Ausland gesehen und kann es nicht vergessen. Aber ... was hast du denn ...?«

Rogoschin kümmerte sich auf einmal nicht weiter um das Bild, sondern ging auf dem bisherigen Weg wieder voran. Allerdings ließ sich dieses sprunghafte Wesen durch seine Zerstreutheit und durch die besondere, seltsam reizbare Stimmung, die bei ihm so plötzlich hervorgetreten war, vielleicht erklären; aber trotzdem erschien es dem Fürsten wunderlich, daß Rogoschin ein von ihm selbst begonnenes Gespräch so plötzlich abbrach und ihm nicht einmal antwortete.

»Hör mal, Ljow Nikolajewitsch«, fing Rogoschin wieder an, nachdem er einige Schritte gemacht hatte, »ich wollte dich schon längst fragen: glaubst du an Gott oder nicht?«

»Wie sonderbar du fragst, und ... was du für ein sonderbares Gesicht machst!« äußerte der Fürst unwillkürlich.

»Dieses Bild betrachte ich immer gern«, murmelte Rogoschin nach kurzem Stillschweigen, als ob er seine Frage wieder vergessen hätte.

»Dieses Bild betrachtest du gern?« rief der Fürst, von einem plötzlichen Gedanken überrascht. »Dieses Bild? Aber beim Anblick dieses Bildes kann ja mancher Mensch seinen Glauben verlieren!«

»Ich verliere ihn auch«, war Rogoschins überraschende, bestätigende Antwort.

Sie waren bereits zur Entreetür gelangt.

»Wie?« sagte der Fürst, stehenbleibend. »Was redest du da? Ich habe eigentlich nur im Scherz gesprochen, und du sagst das so ernst! Und warum hast du mich gefragt, ob ich an Gott glaube?«

»Einen besonderen Grund hatte ich nicht dazu. Ich wollte dich schon früher danach fragen. Heutzutage glauben ja viele nicht an ihn. Ob das wohl wahr ist (du hast ja im Ausland gelebt), mir hat einmal so ein Trunkenbold gesagt, bei uns in Rußland gebe es mehr Leute, die nicht an Gott glauben, als in allen andern Ländern? ›Uns‹, sagte er, ›wird es leichter, zum Unglauben zu gelangen, als ihnen, weil wir weiter fortgeschritten sind.‹«

Rogoschin lächelte spöttisch; als er seine Frage ausgesprochen hatte, öffnete er die Tür und wartete mit der Klinke in der Hand darauf, daß der Fürst hinausgehe.

Der Fürst wunderte sich, ging aber hinaus. Der andere trat nach ihm auf den Treppenflur hinaus und machte die Tür hinter sich zu. Sie standen einander mit solchen Gesichtern gegenüber, daß es schien, als hätten sie beide vergessen, wohin sie gekommen seien, und was sie nun zu tun hätten.

»Lebe wohl!« sagte der Fürst und reichte Rogoschin die Hand.

»Lebe wohl!« erwiderte dieser und drückte fest, aber ganz mechanisch die ihm hingestreckte Hand.

Der Fürst stieg eine Stufe hinab und wendete sich dann wieder um.

»Was aber den Glauben betrifft«, begann er lächelnd (er wollte offenbar Rogoschin nicht verlassen, ohne ihm geantwortet zu haben; auch belebte ihn eine plötzlich auftauchende Erinnerung), »was den Glauben betrifft, so hatte ich in der vorigen Woche an zwei Tagen vier verschiedene Erlebnisse. An einem Vormittag fuhr ich auf einer neuen Eisenbahnstrecke und unterhielt mich im Waggon vier Stunden lang mit einem gewissen S., den ich auf der Fahrt kennengelernt hatte. Ich hatte schon früher viel von ihm gehört, unter anderm auch, daß er Atheist sei. Er ist tatsächlich ein sehr gelehrter Mann, und ich freute mich, daß ich mit einem wirklichen Gelehrten reden durfte. Außerdem ist er ein außerordentlich wohlerzogener Mensch und redete infolgedessen mit mir, ganz wie wenn ich ihm an Kenntnissen und Begriffsvermögen gleichkäme. An Gott glaubte er nicht. Nur eines fiel mir auf: daß er über diesen Punkt die ganze Zeit über gar nicht sprach, und das fiel mir gerade deswegen auf, weil es mir auch früher, sooft ich mit Ungläubigen zusammengekommen war, und sooft ich derartige Bücher gelesen hatte, immer so vorgekommen war, als ob sie über diesen Punkt überhaupt weder redeten noch in ihren Büchern schrieben, obgleich es auf den ersten Blick scheinen konnte, daß sie darüber handelten. Das sprach ich ihm gleich damals aus, aber jedenfalls nicht deutlich, oder ich wußte mich nicht auszudrücken; denn er verstand mich nicht ... Am Abend kehrte ich in einer Kreisstadt in einem Gasthaus ein, um da zu übernachten, und in diesem Gasthaus war kurz vorher, in der vorhergehenden Nacht, ein Mord geschehen, so daß bei meiner Ankunft alle noch davon sprachen. Zwei Bauern, ältere Leute, nicht betrunken, schon lange miteinander bekannt und befreundet, hatten Tee getrunken und wollten sich zusammen in ihrem gemeinsamen Kämmerchen schlafen legen. Aber der eine hatte bei dem andern in den letzten zwei Tagen eine silberne Uhr an einer Schnur von gelben Glasperlen gesehen, die er offenbar bei ihm früher noch nicht gekannt hatte. Dieser Mann war kein Dieb; er war sogar ein ehrenhafter Mensch und für einen Bauer durchaus nicht arm. Aber diese Uhr gefiel ihm dermaßen und hatte für ihn so viel Verlockendes, daß er schließlich nicht mehr widerstehen konnte: er nahm ein Messer, ging, als der Freund sich umgedreht hatte, vorsichtig von hinten an ihn heran, paßte die Entfernung ab, richtete die Augen gen Himmel, bekreuzte sich, und nachdem er im stillen inbrünstig gebetet hatte: ›O Gott, verzeih mir um Christi willen!‹, schnitt er seinem Freund mit einem Schnitt wie einem Hammel die Kehle durch und nahm ihm die Uhr weg.«

Rogoschin schüttelte sich vor Lachen. Er lachte so heftig, als ob er einen Anfall bekommen hätte. Es machte einen ganz seltsamen Eindruck, dieses Lachen zu sehen, nachdem er sich kurz vorher in so düsterer Stimmung befunden hatte.

»Das gefällt mir! Nein, das ist ja ganz vorzüglich!« schrie er krampfhaft und fast außer Atem. »Der eine glaubt überhaupt nicht an Gott, und der andere glaubt so sehr an ihn, daß er sogar bei der Ermordung eines Menschen betet ... Nein, Bruder, das ist ja gar nicht auszudenken! Hahaha! Nein, das ist köstlich!«

»Am andern Morgen ging ich aus und schlenderte durch die Stadt«, fuhr der Fürst fort, sobald Rogoschin sich einigermaßen beruhigt hatte, wiewohl das Lachen immer noch nach Art eines Krampfanfalls auf seinen Lippen zuckte; »da sah ich, wie ein betrunkener Soldat in ganz wüstem Zustand auf dem Holztrottoir umherschwankte. Er kam auf mich zu und sagte: ›Herr, kaufe mir dieses silberne Kreuz ab; ich lasse es dir für zwanzig Kopeken; es ist von Silber!‹ Ich sah, daß er in der Hand ein Kreuz hielt, das er sich jedenfalls eben erst abgenommen hatte; es saß an einem himmelblauen, stark abgenutzten Band, war aber, wie man auf den ersten Blick sehen konnte, nur von Zinn, von großem Format, mit acht Enden, nach einem echt byzantinischen Muster. Ich nahm ein Zwanzigkopekenstück aus der Tasche und gab es ihm; das Kreuz aber band ich mir sogleich um; dem Soldaten konnte man am Gesicht ansehen, wie er sich freute, den dummen Herrn geprellt zu haben; er ging schleunigst davon, ohne Zweifel um den Erlös für sein Kreuz zu vertrinken. Auf mich, Bruder, machte damals all das, was in Rußland massenhaft auf mich eindrang, einen sehr starken Eindruck; ich hatte in meinem Heimatland vorher für nichts Verständnis gehabt, war wie ein Blinder aufgewachsen, und meine Erinnerungen an Rußland während der fünf Jahre meines Aufenthalts im Ausland waren höchst phantastischer Art gewesen. Da wanderte ich also weiter und dachte: ›Nein, ich will über diesen Soldaten, der seinen Christus verkauft hat, doch noch nicht den Stab brechen. Gott weiß, was für Gefühle sich in den schwachen Herzen dieser betrunkenen Menschen regen.‹ Als ich eine Stunde darauf in mein Gasthaus zurückkehrte, stieß ich auf eine Bauersfrau mit einem Säugling. Es war eine noch junge Frau; das Kind mochte etwa sechs Wochen alt sein. Das Kind lächelte sie an, nach ihrer Wahrnehmung zum erstenmal seit seiner Geburt. Ich sah, daß sie sich auf einmal mit dem Ausdruck größter Frömmigkeit bekreuzte. ›Was hast du denn, junge Frau?‹ fragte ich; ich erkundigte mich nämlich damals nach allem, was mir auffiel. ›Ach‹, sagte sie, ›ebenso wie sich eine Mutter freut, wenn sie ihr Kind zum erstenmal lächeln sieht, ganz ebenso wird sich gewiß auch Gott jedesmal freuen, wenn er vom Himmel sieht, daß ein Sünder von ganzem Herzen betet.‹ Das sagte die Bauersfrau zu mir, fast mit diesen selben Worten, und sprach damit einen überaus tiefen, feinen, echt religiösen Gedanken aus, einen Gedanken, in dem das ganze Wesen des Christentums zugleich zum Ausdruck kommt, das heißt die Vorstellung von Gott als unserem Vater und von der Freude Gottes über den Menschen, die der Freude eines Vaters über sein Kind gleicht – der eigentliche Kernpunkt dessen, was Christus gesagt hat. Eine einfache Bauersfrau! Allerdings war es eine Mutter ... und wer weiß, vielleicht war sie die Frau jenes Soldaten. Höre, Parfen, du fragtest mich vorhin; da hast du meine Antwort: das Wesen des religiösen Gefühls wird weder durch vernunftmäßige Überlegungen, noch durch Vergehungen und Verbrechen, noch durch atheistische Anschauungen berührt; es ist etwas Andersartiges und wird in alle Ewigkeit etwas Andersartiges sein; die Lehren des Atheismus werden in alle Ewigkeit davon abgleiten, und die Atheisten werden in ihren Disputationen in alle Ewigkeit dran vorbeireden. Die Hauptsache aber ist, daß man dies am klarsten und schnellsten an der russischen Seele erkennt; das ist das Resultat meiner Beobachtungen! Das ist eine der ersten Überzeugungen, die ich bei uns in Rußland gewonnen habe. Hier läßt sich etwas ausrichten, Parfen; es läßt sich vieles ausrichten auf unserem russischen Boden, glaube mir! Erinnere dich, wie wir eine Zeitlang in Moskau zusammen lebten und öfters miteinander darüber sprachen ... Und ich hatte gar nicht vorgehabt, jetzt hierher zurückzukehren! Ich hatte mir die Wiederbegegnung mit dir ganz, ganz anders ausgemalt! Na, was hilft's ...? Leb wohl, auf Wiedersehen! Gott behüte dich!«

Er wendete sich um und stieg die Treppe hinunter.

»Ljow Nikolajewitsch!« rief Parfen dem Fürsten von oben nach, als dieser zum ersten Treppenabsatz gelangt war; »hast du das Kreuz, das du von dem Soldaten gekauft hast, bei dir?«

»Ja.« Der Fürst blieb wieder stehen.

»Zeig es doch einmal her!«

Wieder eine neue Absonderlichkeit! Der Fürst überlegte einen Augenblick, stieg dann wieder hinauf, zog das Kreuz heraus und zeigte es ihm, ohne es vom Hals abzunehmen.

»Gib es mir!« sagte Rogoschin.

»Wozu? Hast du denn ...«

Der Fürst mochte sich nicht gern von diesem Kreuz trennen.

»Ich will es tragen, und meines will ich dir geben; das trage du dann!«

»Du willst, daß wir die Kreuze tauschen? Schön, Parfen; wenn du es so meinst, dann freue ich mich; wir wollen Kreuzbrüder werden!«

Der Fürst nahm sein zinnernes Kreuz ab, Parfen sein goldenes, und sie tauschten miteinander. Parfen schwieg. Erstaunt und betrübt bemerkte der Fürst, daß das frühere Mißtrauen und das frühere bittere, spöttische Lächeln von dem Gesicht seines neuen Kreuzbruders immer noch nicht geschwunden waren, sondern wenigstens in einzelnen Augenblicken immer wieder stark sichtbar wurden. Schweigend ergriff Rogoschin endlich die Hand des Fürsten und stand eine Weile da, als ob er sich zu etwas nicht entschließen könnte; endlich zog er ihn auf einmal hinter sich her, indem er kaum hörbar sagte: »Komm!« Sie gingen quer über den Treppenflur und klingelten an einer Tür, die derjenigen, aus welcher sie herausgekommen waren, gerade gegenüber lag. Es wurde ihnen bald geöffnet. Eine alte, ganz zusammengekrümmte Frau in schwarzem Kleid, mit einem Tuch um den Kopf, verbeugte sich schweigend tief vor Rogoschin; dieser sagte schnell ein paar Worte zu ihr und führte, ohne stehenzubleiben und eine Antwort abzuwarten, den Fürsten in die Wohnung hinein. Wieder durchschritten sie dunkle Zimmer von einer außerordentlichen, sozusagen kalten Sauberkeit; auch die altertümlichen Möbel in ihren weißen, reinen Überzügen machten einen kalten, trüben Eindruck. Ohne Anmeldung führte Rogoschin den Fürsten geradewegs in ein kleines, salonartiges Zimmer; ein Teil desselben war durch eine niedrige Zwischenwand von glänzendem Mahagoniholz mit je einer Tür rechts und links abgeschlagen; der dahinterliegende Raum diente wahrscheinlich als Schlafzimmer. In einer Ecke des Salons, am Ofen, saß in einem Lehnstuhl eine kleine, ältere Frau, dem Anschein nach noch nicht allzu bejahrt, sogar mit einem recht gesunden, angenehmen, runden Gesicht, aber schon vollständig ergraut und (was man schon beim ersten Blick erkennen konnte) ganz kindisch geworden. Sie trug ein schwarzwollenes Kleid, ein großes, schwarzes Tuch um den Hals und eine reine, weiße Haube mit schwarzen Bändern. Die Füße ruhten auf einem Fußbänkchen. Neben ihr saß eine andere, sauber gekleidete, alte Frau, älter als die erste, gleichfalls in Trauer und gleichfalls mit einer weißen Haube, wahrscheinlich eine arme Person, die aus Gnaden in das Haus aufgenommen war, und strickte schweigend einen Strumpf. Sie schienen beide die ganze Zeit her geschwiegen zu haben. Als die erste Alte Rogoschin und den Fürsten erblickte, lächelte sie ihnen zu und nickte zum Zeichen ihres Vergnügens mehrmals freundlich mit dem Kopf.

»Mütterchen«, sagte Rogoschin, ihr die Hand küssend, »hier ist ein guter Freund von mir, Fürst Ljow Nikolajewitsch Myschkin; er und ich haben miteinander die Kreuze getauscht; er hat sich eine ganze Zeitlang in Moskau wie ein Bruder gegen mich benommen und viel für mich getan. Segne ihn, Mütterchen, wie du deinen eigenen Sohn segnen würdest! Warte, liebe Alte! So! Laß mich dir die Hand zurechtmachen ...«

Aber noch ehe Parfen Zeit hatte dies auszuführen, hob die alte Frau ihre rechte Hand in die Höhe, legte drei Finger derselben zusammen und bekreuzte den Fürsten dreimal andächtig. Darauf nickte sie ihm noch einmal freundlich und zärtlich mit dem Kopf zu.

»Nun wollen wir wieder gehen, Ljow Nikolajewitsch!« sagte Parfen. »Ich hatte dich nur zu diesem Zweck hergeführt ...«

Als sie wieder auf die Treppe hinaustraten, fügte er hinzu:

»Sie versteht ja nichts, was man zu ihr sagt, und hat auch von meinen Worten nichts verstanden; aber sie hat dich doch gesegnet; da muß es doch ihr eigener Wunsch gewesen sein ... Nun aber leb wohl; du und ich haben beide keine Zeit mehr.«

Damit öffnete er die Tür, die zu seiner Wohnung führte.

»So laß dich doch wenigstens zum Abschied umarmen, du wunderlicher Mensch!« rief der Fürst, indem er ihn mit zärtlichem Vorwurf anblickte, und wollte ihn umarmen.

Aber Parfen hatte kaum dazu angesetzt, die Arme zu erheben, als er sie auch sogleich wieder sinken ließ. Er konnte sich nicht dazu entschließen; er wandte sich ab, um den Fürsten nicht anzusehen. Er wollte ihn nicht umarmen.

»Hab keine Angst! Ich habe dir zwar dein Kreuz weggenommen, werde dich aber nicht um einer Uhr willen ermorden!« murmelte er undeutlich und lachte auf einmal seltsam auf.

Aber plötzlich verwandelte sich sein ganzes Gesicht: er wurde schrecklich blaß, seine Lippen fingen an zu zittern, seine Augen flammten auf. Er hob die Arme in die Höhe, umarmte den Fürsten mit festem Druck und sagte keuchend:

»So nimm sie denn hin, wenn das Schicksal es einmal so will! Sie sei dein! Ich trete sie dir ab ...! Vergiß Rogoschin nicht!«

Er wandte sich von dem Fürsten ab, ging, ohne noch einmal nach ihm hinzublicken, in seine Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu.

V


Es war schon spät, fast halb drei, und der Fürst traf den General Jepantschin nicht mehr zu Hause. Er ließ seine Karte zurück und entschied sich dafür, nach dem Gasthaus »Zur Waage« zu gehen und dort nach Kolja zu fragen und, wenn er nicht dort sei, ihm ein Briefchen zurückzulassen. In der »Waage« wurde ihm gesagt, Nikolai Ardalionowitsch sei schon am Morgen weggegangen, habe aber beim Weggehen die Weisung hinterlassen, wenn etwa jemand nach ihm frage, solle man sagen, daß er wohl um drei Uhr zurück sein werde. Wenn er um halb vier noch nicht wieder da sei, sei er mit der Bahn nach Pawlowsk gefahren, nach dem Landhaus der Generalin Jepantschina, und werde dort auch zum Essen bleiben. Der Fürst setzte sich hin, um auf ihn zu warten, und benutzte die Zeit, um sich etwas zum Mittagessen geben zu lassen.

Um halb vier und selbst um vier Uhr war Kolja noch nicht erschienen. Der Fürst ging weg und wanderte mechanisch umher, wohin ihn die Füße trugen. Zu Anfang des Sommers kommen in Petersburg manchmal wunderschöne Tage vor, helle, warme, stille Tage. Es traf sich, daß dieser Tag gerade einer von jenen seltenen Tagen war. Eine Zeitlang schweifte der Fürst ziellos umher. Die Stadt war ihm nur wenig bekannt. Er blieb manchmal an Straßenkreuzungen, vor diesem oder jenem Haus, auf Plätzen und auf Brücken stehen; einmal ging er auch, um sich auszuruhen, in eine Konditorei. Mitunter begann er mit größtem Interesse die Passanten zu betrachten; aber meist achtete er weder auf die Passanten noch darauf, wo er ging. Er befand sich in einem Zustand peinlicher Spannung und Unruhe und fühlte gleichzeitig ein ungewöhnlich starkes Verlangen nach Einsamkeit. Er wollte gern allein sein und sich dieser qualvollen Spannung ganz passiv überlassen, ohne im geringsten nach einem Ausweg aus diesem Zustand zu suchen. Er empfand einen Widerwillen dagegen, sich an die Lösung der Fragen heranzumachen, die auf seine Seele und auf sein Herz eindrangen. »Aber bin ich denn etwa an alldem schuld?« murmelte er vor sich hin, fast ohne sich seiner Worte bewußt zu werden.

Um sechs Uhr fand er sich auf dem Bahnhof der Bahn nach Zarskojeselo. Das Alleinsein war ihm bald unerträglich geworden; ein neues Verlangen ergriff mit heißer Glut sein Herz, und das Dunkel, in dem seine Seele sich härmte, wurde für einen Augenblick von einem hellen Schein erleuchtet. Er nahm ein Billett nach Pawlowsk und wartete ungeduldig auf den Zeitpunkt der Abfahrt; aber er hatte immer das Gefühl, als verfolge ihn etwas, und dies war Wirklichkeit, nicht etwa ein Phantasiegebilde, wie er vielleicht zu denken geneigt war. Als er schon beinah im Waggon saß, warf er plötzlich das soeben gekaufte Billett auf den Boden und ging, verwirrt und in Gedanken versunken, wieder aus dem Bahnhof hinaus. Eine Weile darauf fiel ihm auf der Straße plötzlich etwas ein; es war, als ob ihm auf einmal etwas sehr Seltsames, was ihn schon lange beunruhigt hatte, klar würde. Er ertappte sich mit Bewußtsein bei einer Beschäftigung, die er schon lange fortgesetzt, aber bis zu diesem Augenblick nicht bemerkt hatte: nämlich schon seit mehreren Stunden, schon als er noch in der »Waage« war, vielleicht sogar schon, ehe er dorthin kam, hatte er von Zeit zu Zeit angefangen, gewissermaßen etwas um sich herum zu suchen. Er hatte diese Tätigkeit mitunter wieder vergessen, sogar auf längere Zeit, auf eine halbe Stunde, dann aber auf einmal von neuem sich unruhig umzusehen und ringsumher zu suchen begonnen.

Aber kaum hatte er an sich dieses krankhafte und bisher ganz unbewußte Verlangen bemerkt, das ihn schon so lange beherrscht hatte, als plötzlich vor seinem geistigen Auge noch eine andere Erinnerung auftauchte, die ihn außerordentlich interessierte; er erinnerte sich, daß er in dem Augenblick, als er sich dieses beständigen Suchens bewußt wurde, auf dem Trottoir vor einem Schaufenster gestanden und mit großem Interesse die dort ausgelegten Waren betrachtet hatte. Jetzt nun lag ihm sehr daran, unter allen Umständen festzustellen: ob er wirklich soeben, vielleicht vor nur fünf Minuten, vor diesem Schaufenster gestanden habe und ihm das nicht etwa nur so vorgekommen sei und er irgendeine Verwechslung begangen habe. Existierten dieser Laden und diese Waren wirklich? Er hatte ja heute tatsächlich das Gefühl, daß er sich in einem besonders krankhaften Zustand befinde, fast in demselben Zustand, der sich ehemals, zu Beginn der Anfälle seiner früheren Krankheit, bei ihm einzustellen pflegte. Er wußte, daß er in der Zeit, wo sich die Anfälle vorbereiteten, außerordentlich zerstreut war und oft sogar Gegenstände und Personen verwechselte, wenn er sie ohne besondere Aufmerksamkeit ansah. Aber es war auch noch ein spezieller Grund vorhanden, weshalb ihm jetzt so sehr daran gelegen war, festzustellen, ob er damals vor einem Laden gestanden hatte; unter den im Schaufenster ausgelegten Gegenständen war einer gewesen, den er betrachtet und dabei sogar auf sechzig Kopeken taxiert hatte; daran erinnerte er sich trotz all seiner Zerstreutheit und Unruhe. Folglich, wenn dieser Laden existierte und der betreffende Gegenstand tatsächlich unter den Waren ausgestellt war, so mußte er eigens wegen dieses Gegenstandes stehengeblieben sein. Also mußte dieser Gegenstand ihn so sehr interessiert haben, daß er seine Aufmerksamkeit sogar zu einer Zeit auf sich gezogen hatte, wo er sich, nachdem er eben den Bahnhof verlassen, in so arger Verwirrung befunden hatte. Er ging, fast sehnsüchtig nach rechts blickend, zurück, und sein Herz schlug heftig vor unruhiger, ungeduldiger Erwartung. Aber da war ja dieser Laden; er hatte ihn endlich gefunden! Er war schon fünfhundert Schritte von ihm entfernt gewesen, als er den Entschluß gefaßt hatte umzukehren. Und da war auch der Gegenstand für sechzig Kopeken; »gewiß, sechzig Kopeken; mehr ist er nicht wert!« sagte er sich jetzt auf das bestimmteste und lachte auf. Aber dieses Lachen war ein hysterisches; er fühlte sich sehr bedrückt. Er erinnerte sich jetzt deutlich, daß er gerade hier, während er vor diesem Schaufenster stand, sich plötzlich umgedreht hatte, ebenso wie eine Weile vorher, als er Rogoschins Augen auf sich gerichtet fühlte. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß er sich mit dem Laden und dem Gegenstand nicht geirrt hatte (wovon er übrigens auch schon vor der Nachprüfung überzeugt gewesen war), interessierte er sich nicht mehr für den Laden und ging so schnell wie möglich von ihm weg. Alles dies mußte er unter allen Umständen möglichst bald überdenken; jetzt war es ihm klar, daß er auch auf dem Zarskojeseloer Bahnhof nicht nur so eine leere Vorstellung gehabt hatte, sondern ihm unbedingt etwas Wirkliches begegnet war, das mit all dieser seiner früheren Unruhe zusammenhing. Aber der innerliche unüberwindliche Widerwille gewann wieder die Oberhand; der Fürst mochte nichts überlegen und schickte sich nicht an, es zu tun; er versank ganz in Gedanken an etwas anderes. Er dachte unter anderm daran, daß es in seinem epileptischen Zustand fast unmittelbar vor einem Anfall (falls der Anfall im Wachen eintrat) eine Phase gegeben hatte, wo auf einmal mitten in der Traurigkeit und der seelischen Finsternis und der Niedergeschlagenheit sein Gehirn für Augenblicke gleichsam aufgeflammt war und all seine Lebenskräfte sich plötzlich mit außergewöhnlicher Energie gespannt hatten. Die Empfindung des Lebens und das Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit verzehnfachten sich in diesen Augenblicken, die nur die Dauer eines Blitzes hatten. Verstand und Herz waren von einem ungewöhnlichen Licht durchleuchtet, all seine Aufregungen, all seine Zweifel, all seine Beunruhigungen mit einem Schlag besänftigt, in eine höhere Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Verstand und Einsicht in die letzten Gründe der Dinge aufgelöst. Aber diese Momente, diese Lichtblitze waren nur Vorläufer jener letzten, entscheidenden Sekunde (es war nie mehr als eine Sekunde), mit der der Anfall selbst begann. Diese Sekunde war freilich unerträglich. Wenn er später, nach Wiederkehr des Zustandes der Gesundheit, über diesen Augenblick nachdachte, so sagte er sich oft, daß dieses Aufschimmern und Aufblitzen eines erhöhten Selbstgefühls und Selbstbewußtseins und somit auch eines »höheren Seins« nichts anderes sei als Krankheit, eine Aufhebung des normalen Zustandes, und daß, wenn es sich so verhalte, dies überhaupt kein höheres Sein sei, sondern ganz im Gegenteil zu der allerniedrigsten Art des Seins gerechnet werden müsse. Und trotzdem gelangte er schließlich zu einer höchst paradoxen Schlußfolgerung: »Was liegt daran, daß dies Krankheit ist«, sagte er sich, »was liegt daran, daß es eine nicht normale Anspannung ist, wenn das Resultat, der Augenblick dieser Empfindung, demjenigen, der nach Wiederkehr des Zustandes der Gesundheit sich daran erinnert und es überdenkt, als die höchste Stufe der Harmonie und Schönheit erscheint und ihm ein bisher ungeahntes Gefühl der Fülle, des Ebenmaßes, der Versöhnung und des entzückten, gebetartigen Zusammenfließens mit der höchsten Synthese des Lebens verleiht?« Diese nebelhaften Ausdrücke kamen ihm selbst sehr verständlich vor und erschienen ihm nur als gar zu schwach. Daran, daß dies tatsächlich »Schönheit und Gebet«, und »die höchste Synthese des Lebens« sei, daran konnte er keinen Zweifel hegen und keinen Zweifel für zulässig erachten. Es waren dies ja doch keine traumhaften Visionen, wie sie die Folge des Genusses von Haschisch, Opium oder Alkohol sind, unnatürliche, wesenlose Visionen, die die Denktätigkeit herabsetzen und den Geist schädigen. Das konnte er nach Beendigung des krankhaften Zustandes klar beurteilen. Diese Augenblicke waren vielmehr gerade eine außerordentliche Steigerung des Selbstbewußtseins (wenn man diesen Zustand kurz bezeichnen soll), des Selbstbewußtseins und gleichzeitig eines im höchsten Grade unmittelbaren Selbstgefühls. Wenn er in jener Sekunde, das heißt in dem letzten Augenblick des Bewußtseins vor dem Anfall, manchmal noch die Möglichkeit fand, zu sich selbst klar und mit Bewußtsein zu sagen: »Ja, für diesen Augenblick könnte man das ganze Leben hingeben!«, so war dieser Augenblick sicherlich das ganze Leben wert. Übrigens wollte er für die logische Richtigkeit seines Schlusses nicht einstehen; der Stumpfsinn, die seelische Finsternis, die Idiotie standen ihm als die deutliche Folge jener höchsten Augenblicke nur zu klar vor Augen. Er würde darüber natürlich nicht im Ernst disputiert haben. In seiner Schlußfolgerung, das heißt in der Wertschätzung dieses Augenblicks, lag unzweifelhaft ein Fehler; aber die Realität des Gefühles verwirrte ihn doch einigermaßen. In der Tat, was war mit dieser Realität zu machen? Sie existierte doch; er selbst hatte doch in eben jener Sekunde noch Zeit gefunden, zu sich zu sagen, daß diese Sekunde um des grenzenlosen Glücks willen, das er voll und ganz empfinde, vielleicht das ganze Leben wert sein könne.

»In diesem Augenblick«, so hatte er zu Rogoschin in Moskau zur Zeit ihrer häufigen Zusammenkünfte einmal gesagt, »in diesem Augenblick wird mir jener auffallende Ausspruch verständlich, daß ›hinfort keine Zeit mehr sein soll‹.1 Wahrscheinlich«, hatte er lächelnd hinzugefügt, »ist das dieselbe Sekunde, in der der umgestoßene Wasserkrug des Epileptikers Mohammed nicht Zeit fand auszufließen, während Mohammed in derselben Sekunde alle Wohnungen Allahs beschaute.« Ja, er war in Moskau häufig mit Rogoschin zusammengekommen und hatte mit ihm noch über viele andere Gegenstände gesprochen. »Rogoschin hat vorhin gesagt, ich hätte damals an ihm wie ein Bruder gehandelt; das hat er heute zum erstenmal gesagt«, dachte der Fürst bei sich.

Er hing diesen Gedanken nach, während er im Sommergarten unter einem Baum auf einer Bank saß. Es war ungefähr sieben Uhr. Der Garten war leer; ein dunkles Gewölbe umhüllte für einen Augenblick die untergehende Sonne. Es war schwül, als ob ein Gewitter in noch ferner Aussicht stände. In seinem jetzigen kontemplativen Zustand lag für ihn etwas Verlockendes. Er klammerte sich mit seinen Erinnerungen und mit seiner Denktätigkeit an jeden äußeren Gegenstand und tat dies gern und eifrig, da er immer etwas Wirkliches, Gegenwärtiges vergessen wollte; aber bei dem ersten Blick, den er um sich tat, erkannte er sofort seinen traurigen Gedanken wieder, den Gedanken, von dem er so sehr wünschte sich loszumachen. Er versuchte, sich daran zu erinnern, daß er vorhin in dem Restaurant des Gasthauses beim Mittagessen mit dem Kellner über einen kürzlich geschehenen, sehr eigenartigen Mord gesprochen hatte, der viel Aufsehen erregte und zu vielen Gesprächen Anlaß gab. Aber kaum hatte er diese Erinnerung in sich wachgerufen, als ihm auf einmal wieder etwas ganz Besonderes begegnete.

Ein außerordentliches, unbezwingliches Verlangen schlug, wie eine dämonische Versuchung, auf einmal seine ganze Willenskraft in Bande. Er stand von der Bank auf und ging aus dem Garten geradewegs in der Richtung nach der Peterburgskaja zu. Er hatte vorhin auf dem Newa-Kai einen Passanten gebeten, ihm den Weg über die Newa nach der Peterburgskaja zu zeigen; das hatte dieser auch getan; aber der Fürst war dann nicht dorthin gegangen. Und jedenfalls war es heute zwecklos, hinzugehen; das wußte er. Die Adresse hatte er allerdings schon lange und konnte somit das Haus der Schwägerin Lebedjews leicht finden; aber er wußte beinah sicher, daß er sie nicht zu Hause treffen würde. »Sie ist jedenfalls nach Pawlowsk gefahren; sonst hätte Kolja der Abrede gemäß etwas in der ›Waage‹ hinterlassen.« Wenn er also jetzt hinging, so tat er das sicherlich nicht, um sie zu sehen. Eine andere, trübe, qualvolle Wißbegierde lockte ihn dorthin. Ein neuer, plötzlicher Gedanke war ihm gekommen ...

Aber es genügte ihm vollkommen, daß er ging und wußte, wohin er ging: einen Augenblick nach dem Entschluß war er bereits in Bewegung, fast ohne auf seinen Weg zu achten. Seinen »plötzlichen Gedanken« länger zu überlegen, wurde ihm sofort furchtbar widerwärtig und beinah unmöglich. Mit qualvoll angestrengter Aufmerksamkeit betrachtete er alles, was ihm vor die Augen kam, den Himmel, die Newa. Er fing ein Gespräch mit einem ihm begegnenden kleinen Kind an. Vielleicht steigerte sich auch sein epileptischer Zustand immer mehr und mehr. Das Gewitter schien wirklich heraufzuziehen, wiewohl nur langsam. In der Ferne begann es schon zu donnern. Es wurde sehr schwül ...

Wie einem manchmal eine Melodie nicht aus dem Kopf geht, obwohl sie einem zum Ekel geworden ist, so mußte er jetzt aus nicht recht verständlichem Grund fortwährend an Lebedjews Neffen denken, den er vor einigen Stunden kennengelernt hatte. Seltsam war, daß dieser ihm immer in der Gestalt jenes Mörders ins Gedächtnis kam, dessen damals Lebedjew selbst Erwähnung getan hatte, als er ihm seinen Neffen vorstellte. Ja, von diesem Mörder hatte er noch vor ganz kurzer Zeit in der Zeitung gelesen. Über derartige Dinge hatte er seit seiner Rückkehr nach Rußland vieles gelesen und gehört und all diese Geschichten eifrig verfolgt. So hatte er vor einer Weile auch in dem Gespräch mit dem Kellner gerade für diesen Mörder der Familie Schemarin ein lebhaftes Interesse bekundet. Der Kellner war mit ihm gleicher Meinung gewesen; daran erinnerte er sich. Er erinnerte sich auch an den Kellner; dies war ein kluger, junger Bursche von ernstem, vorsichtigem Wesen; »aber«, sagte sich der Fürst, »Gott mag wissen, was er für ein Mensch ist; es ist schwer, in einem neuen Land neue Menschen zu durchschauen.« An die russische Seele begann er übrigens leidenschaftlich zu glauben. Oh, viel, viel ihm ganz Neues, Ungeahntes, Unerwartetes hatte er in diesen sechs Monaten kennengelernt! Aber eine fremde Seele, das ist ein dunkles Rätsel; auch die russische Seele ist ein dunkles Rätsel, wenigstens für viele Menschen. Da hatte er nun lange mit Rogoschin verkehrt, nahe verkehrt, brüderlich verkehrt; aber kannte er Rogoschin etwa? Welch ein Wirrwarr und wieviel Häßliches war manchmal in einer Menschenseele, diesem Chaos, enthalten! Und was für ein garstiger, selbstzufriedener Patron war dieser Lebedjewsche Neffe von vorhin! »Aber was mache ich denn?« fuhr der Fürst in seinen Träumereien fort.

»Ist er es denn etwa gewesen, der diese sechs Menschen ermordet hat? Ich scheine da etwas zu verwechseln ... wie sonderbar! Der Kopf ist mir etwas schwindlig ... Aber was für ein sympathisches, liebes Gesicht hat Lebedjews älteste Tochter, die, die mit dem Kind auf dem Arm dastand; was für einen unschuldigen, kindlichen Ausdruck und was für ein kindliches Lachen!« Seltsam, daß er dieses Gesicht bisher vergessen hatte und es ihm erst jetzt wieder einfiel! Lebedjew, der die Seinigen durch Trampeln mit den Füßen einschüchtern möchte, liebt sie wahrscheinlich alle sehr. Und so sicher wie zwei mal zwei vier ist, liebt Lebedjew auch seinen Neffen von Herzen!

Warum hat er sich übrigens beikommen lassen, über diese Leute so zu urteilen, er, der doch erst heute angekommen ist? Wie kann er solche Verdammungsurteile fällen? Da hat ihm gleich heute Lebedjew so ein Problem geliefert: hat er denn etwa erwartet, in Lebedjew einen solchen Menschen zu finden? Hat er etwa Lebedjew früher von dieser Seite gekannt? Lebedjew und die Gräfin Dubarry – o Gott! Wenn übrigens Rogoschin einen Mord begehen sollte, so wird er das wenigstens nicht in so widerwärtiger Weise tun. Von einem solchen seelischen Chaos würde bei ihm nicht die Rede sein. Ein nach einer Zeichnung bestelltes Mordinstrument und sechs in völliges Delirium versetzte Menschen! Besitzt etwa Rogoschin ein nach einer Zeichnung bestelltes Mordinstrument ...? »Aber ... ist es denn bereits eine ausgemachte Sache, daß Rogoschin einen Mord begehen wird?« dachte der Fürst und zuckte dabei zusammen. »Ist es meinerseits nicht ein Verbrechen und eine Gemeinheit, dies mit solcher zynischen Offenheit anzunehmen?« rief er, und die Röte der Scham ergoß sich über sein Gesicht. Er war ganz bestürzt und blieb wie angenagelt auf dem Weg stehen. Er erinnerte sich an das, was ihm vor einem Weilchen auf dem Zarskojeseloer Bahnhof und am Morgen auf dem Nikolai-Bahnhof begegnet war, und daran, wie er Rogoschin gerade ins Gesicht nach den Augen gefragt hatte, und an Rogoschins Kreuz, das er jetzt selbst trug, und wie ihn Rogoschins Mutter gesegnet hatte, zu der er von diesem selbst hingeführt worden war, und an die letzte krampfhafte Umarmung und den schließlichen Verzicht Rogoschins auf der Treppe – und nach alledem ertappte er sich nun dabei, wie er fortwährend um sich herum etwas suchte; und dann dieser Laden und dieser Gegenstand ... was für eine Gemeinheit! Und nach alledem ging er jetzt »mit einer besonderen Absicht, mit einem besonderen plötzlichen Gedanken« dorthin! Verzweiflung und Leid ergriffen seine ganze Seele. Der Fürst wollte unverzüglich umkehren und nach seinem Gasthaus zurückgehen; er machte auch wirklich kehrt und schlug diese Richtung ein; aber nach einer Minute blieb er wieder stehen, überlegte, wendete um und setzte seinen früheren Weg fort.

Und jetzt befand er sich schon in der Peterburgskaja und war nahe bei dem betreffenden Haus; jetzt ging er ja nicht mit der früheren Absicht dorthin und nicht »mit dem besonderen Gedanken«! Wie wäre das auch möglich! Ja, seine Krankheit kehrte wieder; das war unzweifelhaft; vielleicht bekam er noch heute einen Anfall. Der bevorstehende Anfall war auch die Ursache dieser ganzen seelischen Dunkelheit und dieses »Gedankens«! Jetzt war die Dunkelheit zerstreut, der Dämon vertrieben; es gab keine Zweifel mehr; in seinem Herzen herrschte eitel Freude! Und ... er hatte »sie« so lange nicht gesehen; es war ihm Bedürfnis, sie wiederzusehen; und ... ja, jetzt würde er wünschen, Rogoschin zu treffen; er würde ihn bei der Hand nehmen, und sie würden zusammen hingehen ... Sein Herz war rein; war er denn etwa Rogoschins Nebenbuhler? Morgen wird er selbst zu Rogoschin gehen und ihm sagen, daß er sie gesehen hat. Er ist ja, wie Rogoschin vorhin gesagt hat, nur um sie zu sehen, hierher geeilt! Möglicherweise trifft er sie zu Hause; es ist ja doch nicht sicher, daß sie sich in Pawlowsk befindet!

Ja, das alles mußte jetzt klargestellt werden, damit ein jeder deutlich in dem Herzen des andern lesen konnte und es keine düsteren, leidenschaftlichen Verzichte mehr gab, wie vor einer Weile Rogoschins Verzicht; nein, alles mußte sich frei und und im Hellen vollziehen. War denn Rogoschin nicht fähig, ein Leben im Hellen zu führen? Er sagte, er liebe sie in anderer Weise; er habe mit ihr keinerlei derartiges Mitleid. Allerdings fügte er dann noch hinzu: »Dein Mitleid ist vielleicht noch größer als meine Liebe«; aber damit verleumdet er sich selbst. Hm ...! Rogoschin bei einem Buch ..., ist das nicht schon »Mitleid«, nicht ein Anfang von »Mitleid«? Beweist nicht schon das Vorhandensein dieses Buches in seinem Besitz, daß er sich seines Verhältnisses zu ihr voll bewußt ist? Und seine Erzählung von vorhin? Nein, das ist ein tieferes Gefühl als eine bloße Leidenschaft. Und flößt denn ihr Gesicht nur Leidenschaft ein? Und kann dieses Gesicht jetzt überhaupt Leidenschaft einflößen? Es erweckt Schmerz; es ergreift die ganze Seele; es ... Eine brennende, qualvolle Erinnerung zog dem Fürsten plötzlich das Herz zusammen.

Ja, eine qualvolle Erinnerung! Er erinnerte sich daran, welche Qual es kürzlich für ihn gewesen war, als er zum erstenmal an ihr Anzeichen einer geistigen Störung wahrgenommen hatte. Er war damals beinah in Verzweiflung geraten. Und wie hatte er sie nur allein weglassen können, als sie damals von ihm zu Rogoschin geflüchtet war! Er hätte ihr selbst nacheilen müssen, statt nur auf Nachrichten zu warten. Aber ... hat denn Rogoschin an ihr bisher noch nichts von geistiger Störung bemerkt? Hm ...! Rogoschin sieht in allem andere Ursachen, vermutet als Ursachen immer Leidenschaften! Und was für eine sinnlose Eifersucht! Was wollte er vorhin mit seiner Annahme sagen?

(Der Fürst errötete plötzlich, und sein Herz zuckte zusammen.)

Aber welchen Zweck hatte es, sich an all dies zu erinnern? Sie waren beide so gut wie irrsinnig, er und Rogoschin. Aber für ihn, den Fürsten, wäre es beinah ein Ding der Unmöglichkeit, diese Frau leidenschaftlich zu lieben; es wäre beinah eine Grausamkeit, eine Unmenschlichkeit. Ja, ja! Nein, Rogoschin verleumdet sich selbst; er hat ein großes Herz, das leiden und Mitleid empfinden kann. Wenn er die ganze Wahrheit erkennt und sich überzeugt, was für ein bemitleidenswertes Geschöpf diese schwer geschädigte, halbirre Frau ist, wird er ihr dann nicht alles Vergangene, alle seine Qualen verzeihen? Wird er nicht ihr Diener, ihr Bruder, ihr Freund, ihre Vorsehung werden? Das Mitleid wird ihn zur Einsicht bringen, ihn belehren. Das Mitleid ist das wichtigste und vielleicht das einzige Gesetz für die Existenz der ganzen Menschheit. Oh, in welcher unverzeihlichen, ehrlosen Weise hat er sich Rogoschin gegenüber schuldig gemacht! Nein, nicht die russische Seele ist ein dunkles Rätsel, sondern in seiner eigenen Seele muß ein dunkles Rätsel sein, wenn er sich etwas so Schreckliches vorstellen kann. Wegen einiger warmen, herzlichen Worte in Moskau nennt ihn Rogoschin schon seinen Bruder, und er ... Aber das war alles Krankheit und Fieber! Das wird sich alles lösen ...! Wie finster hat Rogoschin vorhin gesagt, daß er seinen Glauben verliere! Dieser Mensch leidet gewiß furchtbar. Er sagt, er betrachte dieses Bild gern; aber gern tut er es wohl nicht, sondern er empfindet ein Bedürfnis danach. Rogoschin ist nicht nur eine leidenschaftliche Natur; er ist auch ein Kämpfer: er will seinen verlorenen Glauben mit Gewalt wiedergewinnen. Er bedarf dieses Glaubens jetzt dringend und vermißt ihn qualvoll ... Ja, nur an etwas glauben! Nur an jemand glauben! Aber wie seltsam doch dieses Holbeinsche Bild ist ... Ah, da ist ja die Straße! Und da ist gewiß auch das Haus; ja, es stimmt, Nr. 16, »Haus der Kollegiensekretärin Filisowa«. Hier! Der Fürst klingelte und fragte nach Nastasja Filippowna.

Die Hauswirtin, die selbst geöffnet hatte, antwortete ihm, Nastasja Filippowna sei schon am Morgen nach Pawlowsk zu Darja Alexejewna gefahren, und es könne sogar sein, daß sie einige Tage dort bleibe. Frau Filisowa war eine kleine Person mit scharfen Augen und spitzem Gesicht, etwa vierzig Jahre alt; sie blickte ihn schlau und prüfend an. Auf ihre Frage nach seinem Namen, die sie absichtlich in geheimnisvollem Ton stellte, wollte ihr der Fürst zuerst keine Antwort geben; aber er drehte sich dann doch sofort wieder um und bat sie angelegentlich um Mitteilung seines Namens an Nastasja Filippowna. Frau Filisowa nahm dieses dringende Verlangen mit gesteigerter Aufmerksamkeit und außerordentlich diskreter Miene entgegen, wodurch sie offenbar zum Ausdruck bringen wollte: »Seien Sie unbesorgt; ich weiß Bescheid!« Der Name des Fürsten machte auf sie augenscheinlich einen sehr starken Eindruck. Der Fürst blickte sie zerstreut an, wendete sich um und machte sich auf den Rückweg nach seinem Gasthaus. Aber er bot beim Hinausgehen nicht mehr dasselbe Bild wie in dem Augenblick, als er bei Frau Filisowa geklingelt hatte. Es war mit ihm wieder, und zwar ganz plötzlich, eine sehr große Veränderung vorgegangen: er war wieder blaß und schwach geworden, befand sich in starker Aufregung und schritt wie ein schwer Leidender einher; die Knie zitterten ihm, und ein mattes, verlorenes Lächeln spielte um seine bläulich gewordenen Lippen: sein »plötzlicher Gedanke« hatte seine Bestätigung gefunden und sich als richtig erwiesen, und – er glaubte wieder an seinen Dämon!

Aber hatte er seine Bestätigung gefunden? Hatte er sich als richtig erwiesen? Wodurch war bei ihm wieder dieses Zittern hervorgerufen, dieser kalte Schweiß, diese seelische Finsternis und Kälte? Dadurch, daß er soeben wieder diese »Augen« gesehen hatte? Aber er war ja aus dem Sommergarten einzig und allein in der Absicht dorthin gegangen, sie wiederzusehen! Darin hatte ja sein »plötzlicher Gedanke« bestanden. Er hatte ein dringendes Verlangen verspürt, diese »Augen von vorhin« wiederzusehen und festzustellen, ob er ihnen dort, bei diesem Haus, wiederbegegnen werde. Das war ein krampfhaftes Verlangen bei ihm gewesen; warum war er also jetzt so bestürzt und niedergeschlagen darüber, daß er sie wirklich soeben gesehen hatte? Als ob er es nicht hätte erwartet gehabt! Ja, das waren eben dieselben Augen (und daran, daß es eben dieselben waren, konnte jetzt nicht mehr der geringste Zweifel bestehen), die ihn am Morgen aus der Menschenmenge angefunkelt hatten, als er aus dem Waggon der Nikolai-Bahn ausgestiegen war; dieselben (ganz dieselben!), deren auf ihn von hinten her gerichteten Blick er nachher aufgefangen hatte, als er sich in Rogoschins Wohnung auf einen Stuhl setzte. Rogoschin hatte es vorhin abgestritten: »Wessen Augen waren denn das?« hatte er mit einem verzerrten, eisigen Lächeln gefragt. Und noch vorhin auf dem Zarskojeseloer Bahnhof, als er in den Waggon stieg, um zu Aglaja zu fahren, und auf einmal wieder, schon zum drittenmal an diesem Tag, diese Augen erblickte, hatte der Fürst die größte Lust gehabt, zu Rogoschin heranzutreten und ihm zu sagen, »wessen Augen es gewesen seien!« Aber er war aus dem Bahnhof weggelaufen und erst vor dem Laden eines Messerschmiedes wieder zur Besinnung gekommen, in dem Augenblick, als er dort stand und einen Gegenstand mit einem Hirschhorngriff auf sechzig Kopeken taxierte. Ein seltsamer, schrecklicher Dämon hatte ihn endgültig gepackt und wollte ihn nicht mehr loslassen. Dieser Dämon hatte ihm im Sommergarten, als er selbstvergessen unter einer Linde saß, zugeflüstert: wenn Rogoschin es für so nötig halte, ihn vom frühen Morgen an zu verfolgen und auf Schritt und Tritt zu beobachten, so werde er, nun er gesehen habe, daß der Fürst nicht nach Pawlowsk fahre (was natürlich für Rogoschin eine Erkenntnis von ausschlaggebender Bedeutung war), jedenfalls »dorthin« gehen, zu jenem Haus in der Peterburgskaja, und ihm, dem Fürsten, auflauern, der ihm noch am Morgen sein Ehrenwort darauf gegeben habe, daß er sie nicht aufsuchen wolle, und daß er nicht zu diesem Zweck nach Petersburg gekommen sei. Und nun hatte es den Fürsten krampfhaft nach jenem Haus hingezogen; was war nun Auffälliges dabei, daß er tatsächlich dort Rogoschin getroffen hatte? Er hatte nur einen unglücklichen Menschen gesehen, dessen Seelenstimmung düster, aber sehr begreiflich war. Dieser unglückliche Mensch suchte sich jetzt auch gar nicht mehr zu verbergen. Ja, Rogoschin hatte es vorhin in seiner Wohnung aus irgendeinem Grund abgestritten und geleugnet; aber auf dem Zarskojeseloer Bahnhof hatte er, fast ohne sich verstecken zu wollen, dagestanden. Derjenige, der sich verbarg, hatte dort eher der Fürst zu sein geschienen als Rogoschin. Aber jetzt bei dem Haus hatte er auf der andern Seite der Straße schräg gegenüber in einer Entfernung von etwa fünfzig Schritten mit verschränkten Armen auf dem Trottoir gestanden und gewartet. Hier war er schon vollständig sichtbar gewesen und hatte dies anscheinend auch absichtlich gewollt. Er hatte dagestanden wie ein Ankläger und wie ein Richter, und nicht wie ... Ja, nicht wie wer?

Aber warum war denn er, der Fürst, jetzt nicht selbst an ihn herangegangen, sondern hatte sich von ihm abgewandt, wie wenn er nichts bemerkt hätte, obwohl doch ihre Blicke einander begegnet waren? (Ja, ihre Blicke waren einander begegnet, und sie hatten sich wechselseitig angesehen.) Er hatte ja selbst vorhin beabsichtigt, ihn bei der Hand zu nehmen und mit ihm zusammen »dorthin« zu gehen. Er hatte ja selbst morgen zu ihm gehen und ihm sagen wollen, daß er bei ihr gewesen sei. Er hatte sich ja, während er noch dorthin ging, auf der Hälfte des Weges, als auf einmal die Freude seine Seele erfüllte, selbst von seinem Dämon losgemacht. Oder lag in Rogoschin, das heißt in der ganzen heutigen Erscheinung dieses Menschen, in der Gesamtheit seiner Worte, Bewegungen, Handlungen und Blicke, wirklich etwas, was die schrecklichen Ahnungen des Fürsten und die aufregenden Einflüsterungen seines Dämons rechtfertigen konnte? Etwas, was sich von selbst dem Auge aufdrängt, aber schwer oder unmöglich zu definieren und darzulegen und mit hinreichenden Gründen zu beweisen ist, aber doch trotz all dieser Schwierigkeit und Unmöglichkeit einen starken, unwiderstehlichen Eindruck macht, der unwillkürlich in eine volle Überzeugung übergeht ...?

Eine Überzeugung wovon? (Oh, wie quälte den Fürsten »das Ungeheuerliche«, »das Unwürdige« dieser Überzeugung, »dieser unwürdigen Ahnung«, und wie klagte er sich selbst an!) »Sage doch, wenn du es wagst, wovon du überzeugt bist!« sagte er fortwährend vorwurfsvoll und herausfordernd zu sich selbst; »formuliere es; wage es, deinen Gedanken vollständig auszusprechen, deutlich, genau, ohne Schwanken! Oh, ich bin ein Ehrloser!« so schalt er sich immer wieder voll Unwillen und mit der Röte der Scham im Gesicht; »mit welchen Augen werde ich jetzt mein ganzes Leben lang diesen Menschen ansehen! Oh, was ist das für ein Tag! O Gott, welch ein beklemmendes Gefühl!«

Am Ende dieses langen, qualvollen Weges von der Peterburgskaja gab es einen Augenblick, wo den Fürsten auf einmal ein unbezwingliches Verlangen ergriff, sofort nach Rogoschins Wohnung zu gehen, ihn dort zu erwarten, ihn voller Scham mit Tränen zu umarmen, ihm alles zu sagen und die ganze Sache mit einemmal zu Ende zu bringen. Aber er stand schon vor seinem Gasthof ... Wie sehr hatte ihm heute früh auf den ersten Blick dieser Gasthof mißfallen, diese Korridore, dieses ganze Haus, seine eigenen Zimmer; mehrmals im Laufe des Tages hatte er sich mit besonderem Widerwillen daran erinnert, daß er wieder dahin zurückkehren müsse ... »Aber was ist denn nur mit mir? Ich glaube ja heute wie ein krankes Weib an jede Ahnung!« dachte er nervös und spöttisch, während er im Tor stehenblieb. An eines der Vorkommnisse dieses Tages erinnerte er sich jetzt ganz besonders; aber er tat dies »kaltblütig«, »mit klarem Urteil« und »ohne Beklemmung«. Es fiel ihm plötzlich das Messer ein, das vorhin bei Rogoschin auf dem Tisch gelegen hatte. »Aber warum sollte eigentlich Rogoschin auf seinem Tisch nicht so viele Messer liegen haben, als ihm irgend beliebt?« sagte er, verwundert über sich selbst; und starr vor Staunen erinnerte er sich plötzlich daran, wie er vorhin vor dem Laden des Messerschmiedes stehengeblieben war. »Aber was kann denn da für ein Zusammenhang bestehen!« wollte er ausrufen, sprach aber diesen Gedanken nicht bis zu Ende aus. Ein neuer, unerträglicher Anfall von Schamgefühl, ja fast von Verzweiflung hielt ihn auf seinem Platz, dicht beim Eingang in den Torweg, festgebannt. Er blieb einen Augenblick stehen. Das ist eine nicht seltene Erscheinung: durch unerträgliche, plötzliche Erinnerungen, besonders wenn sie mit dem Gefühl der Scham verknüpft sind, werden die Menschen gezwungen, einen Augenblick auf demselben Fleck stehenzubleiben. »Ja, ich bin ein herzloser Mensch und ein Feigling!« sagte er sich mit düsterer Miene und setzte sich mit einem plötzlichen Ruck wieder in Bewegung, um weiterzugehen; aber ... er blieb von neuem stehen.

In diesem ohnehin schon dunklen Torweg war es jetzt ganz finster; die heraufgezogene Gewitterwolke hatte die Abendhelle verschlungen, und gerade zu der Zeit, wo der Fürst sich dem Haus näherte, öffnete sich die Wolke auf einmal und schüttete ihren Regen herab. In dem Augenblick, als der Fürst nach dem kurzen Stehenbleiben sich ruckartig wieder in Bewegung setzte, befand er sich am Anfang des Torwegs, da, wo man von der Straße aus in den Torweg eintrat. Und plötzlich erblickte er in der Tiefe des Durchgangs im Halbdunkel, da, wo es die Treppe hinaufging, einen Menschen. Dieser Mensch schien auf etwas zu warten, huschte aber schnell davon und war verschwunden. Diesen Menschen hatte der Fürst nicht deutlich sehen können und hätte schlechterdings nicht mit Sicherheit sagen können, wer es gewesen war. Zudem kamen hier so viele Menschen vorbei; es war eben ein Gasthaus, und auf den Korridoren war ein ewiges Kommen und Gehen. Aber er fühlte auf einmal die volle und unwiderlegliche Überzeugung, daß er diesen Menschen erkannt habe, und daß dieser Mensch bestimmt Rogoschin war. Einen Augenblick darauf eilte der Fürst ihm nach, die Treppe hinauf. Das Herz stand ihm still. »Jetzt wird sich sogleich alles entscheiden!« sagte er bei sich mit seltsamer Sicherheit.

Die Treppe, die der Fürst vom Torweg aus hinauflief, führte zu den Korridoren des ersten und zweiten Stockwerks, an denen die Zimmer der Hotelgäste lagen. Diese Treppe war, wie in allen alten Häusern, von Stein, dunkel, eng und wand sich um eine dicke, steinerne Säule herum. Auf dem ersten Absatz befand sich in dieser Säule eine nischenartige Vertiefung, nicht mehr als einen Schritt breit und einen halben Schritt tief. Ein Mensch konnte jedoch darin Platz finden. Wie dunkel es auch war, so unterschied der Fürst doch sogleich, als er den Absatz erreichte, daß sich hier in dieser Nische ein Mensch versteckt hatte. In dem Fürsten wurde plötzlich der Wunsch rege, vorbeizugehen und nicht nach rechts zu blicken. Er tat noch einen Schritt, konnte sich aber doch nicht beherrschen und wandte sich um.

Die zwei Augen von vorhin, eben dieselben Augen, begegneten auf einmal seinem Blick. Der Mensch, der in der Nische verborgen gewesen war, war inzwischen ebenfalls einen Schritt aus ihr herausgetreten. Eine Sekunde lang standen die beiden einander ganz dicht gegenüber. Plötzlich faßte der Fürst den andern an den Schultern und drehte ihn um, nach der Treppe zu, mehr nach dem Licht hin: er wollte sein Gesicht deutlicher sehen.

Rogoschins Augen funkelten auf, und ein wahnsinniges Lächeln entstellte sein Gesicht. Seine rechte Hand fuhr in die Höhe, und es blitzte etwas in ihr; dem Fürsten kam es nicht in den Sinn, sie aufzuhalten. Er erinnerte sich später nur, daß er gerufen hatte:

»Parfen, ich kann es nicht glauben ...!«

Dann war es, als ob sich auf einmal etwas vor ihm öffnete: ein ungewöhnliches, inneres Licht erhellte seine Seele. Dies dauerte vielleicht eine halbe Sekunde; aber er erinnerte sich doch deutlich und bewußt an den Anfang, an den ersten Laut eines furchtbaren Schreis, der sich von selbst seiner Brust entrang, und den er mit keiner Anstrengung hätte zurückhalten können. Dann erlosch sein Bewußtsein, und es trat völlige Finsternis ein.

Er hatte einen epileptischen Anfall bekommen, nachdem diese Krankheit ihn schon so lange Zeit nicht mehr heimgesucht hatte. Bekanntlich treten die epileptischen Anfälle, namentlich soweit dabei das Hinstürzen selbst in Frage kommt, ganz plötzlich ein. In dem Augenblick, wo sie eintreten, verzerrt sich auf einmal das Gesicht außerordentlich, und besonders wird der Blick entstellt. Krämpfe und Zuckungen ergreifen den ganzen Körper und alle Gesichtsmuskeln. Ein furchtbarer, unbeschreiblicher und mit nichts zu vergleichender Schrei ringt sich aus der Brust; in diesem Schrei verschwindet sozusagen alles Menschliche, und es ist für einen Beobachter unmöglich oder wenigstens sehr schwer, sich vorzustellen und zu glauben, daß derjenige, der da schreit, wirklich eben dieser Mensch ist. Man kann sich dabei sogar einbilden, daß da ein anderer schreie, der sich im Innern dieses Menschen befinde. Wenigstens haben viele den empfangenen Eindruck so geschildert; bei vielen ruft der Anblick eines Menschen, der einen epileptischen Anfall durchmacht, ein unerträgliches Entsetzen hervor, das sogar etwas Mystisches an sich hat. Es läßt sich annehmen, daß ein solches Gefühl plötzlichen Entsetzens, im Verein mit allen andern schrecklichen Empfindungen dieses Augenblicks, Rogoschin plötzlich auf dem Fleck erstarren ließ und dadurch den Fürsten vor dem sonst unvermeidlichen Stoß des bereits auf ihn herabfahrenden Messers rettete. Als dann Rogoschin sah, daß der Fürst von ihm zurücktaumelte und plötzlich hintenüberfiel, gerade die Treppe hinunter, wobei er aus voller Wucht mit dem Hinterkopf gegen eine Steinstufe schlug, da eilte er, ehe er noch Zeit gefunden hatte, über den Anfall ins klare zu kommen, spornstreichs nach unten, lief um den Daliegenden herum und rannte fast ohne Besinnung aus dem Gasthaus hinaus.

Infolge der Krämpfe, der Zuckungen und des Umsichschlagens rutschte der Körper des Kranken die Stufen hinab, deren nicht mehr als fünfzehn waren, bis ganz zum Fuß der Treppe. Sehr bald, kaum fünf Minuten nachher, wurde der Daliegende bemerkt, und es sammelte sich um ihn eine Menge Menschen. Die große Blutlache, die sich um den Kopf gebildet hatte, erweckte Zweifel, ob dieser Mensch sich selbst zerschlagen habe oder ein Verbrechen vorliege. Bald jedoch durchschauten einige, daß es ein Fall von Epilepsie war, und einer der Kellner erkannte in dem Fürsten einen kürzlich eingetroffenen Gast. Die Aufregung kam endlich infolge eines sehr glücklichen Umstandes zur Ruhe.

Kolja Iwolgin, der in der »Waage« hinterlassen hatte, er werde um vier Uhr zurück sein, und statt dessen nach Pawlowsk gefahren war, hatte es infolge einer Überlegung, die ihm plötzlich gekommen war, abgelehnt, bei der Generalin Jepantschina zu speisen, war nach Petersburg zurückgefahren und nach der »Waage« geeilt, wo er gegen sieben Uhr abends eintraf. Nachdem er aus dem für ihn hinterlassenen Billett ersehen hatte, daß der Fürst sich in der Stadt befand, eilte er mit Benutzung der ihm in dem Billett mitgeteilten Adresse zu ihm. Als er in dem Gasthaus erfuhr, daß der Fürst ausgegangen sei, ging er nach unten in die Restaurationsräume, um dort zu warten, ließ sich Tee geben und hörte dem Spiel des Orchestrions zu. Zufällig hörte er ein Gespräch über einen Anfall mit an, den jemand soeben bekommen habe, stürzte, von einer richtigen Ahnung erfüllt, nach der Stelle hin und erkannte den Fürsten. Sogleich wurden alle erforderlichen Maßregeln ergriffen. Der Fürst wurde in sein Zimmer getragen; obgleich er wieder zu sich gekommen war, dauerte es doch sehr lange, bis er das volle Bewußtsein wiedererlangte. Ein Arzt, der herbeigerufen war, um den verwundeten Kopf zu untersuchen, verordnete ein Wundwasser und erklärte, daß die Verletzungen in keiner Weise gefährlich seien. Als der Fürst (es war darüber schon eine Stunde vergangen) endlich anfing, seine Umgebung ordentlich zu erkennen, schaffte Kolja ihn in einem Wagen aus dem Gasthaus zu Lebedjew. Dieser nahm den Kranken mit großer Freundlichkeit und vielen Verbeugungen auf. Es wurde um seinetwillen auch der Umzug nach dem Landhaus beschleunigt, und am dritten Tag befanden sich alle schon in Pawlowsk.


Fußnoten


1 Offenbarung des Johannes, 10, 6. (A.d.Ü.)

VI

Lebedjews Landhaus war nicht groß, aber bequem und sogar hübsch. Der zum Vermieten bestimmte Teil war besonders schön ausgestattet. In einer ziemlich geräumigen Veranda beim Eingang von der Straße in die Wohnung waren mehrere Orangen- und Zitronenbäume und Jasminsträucher in großen grünen Holzkübeln aufgestellt, was nach Lebedjews Ansicht einen überaus reizvollen Anblick bot. Einige dieser Gewächse hatte er mit dem Landhaus zugleich erworben und war von dem Effekt, den sie in der Veranda hervorbrachten, so entzückt gewesen, daß er unter Benutzung einer sich bietenden Gelegenheit beschloß, zur Vervollständigung noch eine Anzahl ebensolcher Gewächse in Kübeln auf einer Auktion zu erstehen. Als endlich alle diese Gewächse nach dem Landhaus geschafft und aufgestellt waren, lief Lebedjew mehrmals am Tage die Stufen der Veranda hinab auf die Straße und bewunderte von dort aus sein Besitztum, wobei er jedesmal im stillen die Summe erhöhte, die er dem künftigen Mieter seines Landhauses abzuverlangen gedachte. Dem Fürsten, der infolge der seelischen Leiden und der physischen Abgeschlagenheit sehr schwach war, gefiel das Landhaus ausnehmend. Übrigens sah der Fürst am Tag des Umzugs nach Pawlowsk, das heißt am dritten Tag nach dem Anfall, äußerlich bereits wieder fast wie ein gesunder Mensch aus, wiewohl er sich innerlich immer noch nicht genesen fühlte. Er freute sich über einen jeden, den er in diesen drei Tagen um sich sah: über Kolja, der fast gar nicht von ihm wegkam, über die ganze Familie Lebedjew (ohne den Neffen, der verschwunden war, man wußte nicht wohin), über Lebedjew selbst; sogar den General Iwolgin, der ihn noch in der Stadt besuchte, empfing er mit Vergnügen. Am Tag des Umzugs selbst, der erst gegen Abend sein Ende erreicht hatte, war um ihn in der Veranda ziemlich viel Besuch versammelt; zuerst war Ganja gekommen, den der Fürst kaum wiedererkannte, so hatte er sich in dieser ganzen Zeit verändert, indem er namentlich viel magerer geworden war. Darauf waren Warja und Ptizyn erschienen, die ebenfalls in Pawlowsk zur Sommerfrische wohnten. Der General Iwolgin, der sich bei Lebedjew fast für die Dauer einquartiert hatte, schien auch mit ihm zusammen umgezogen zu sein. Lebedjew bemühte sich, ihm den Zutritt zu dem Fürsten zu verwehren und ihn bei sich festzuhalten; er verkehrte mit ihm freundschaftlich: sie waren anscheinend schon lange miteinander bekannt. Der Fürst bemerkte, daß sie an all diesen drei Tagen manchmal miteinander lange Gespräche führten, nicht selten schrien und stritten, sogar, wie es schien, über wissenschaftliche Gegenstände, wohl zu Lebedjews großem Vergnügen. Man konnte selbst meinen, daß ihm der General für diese Disputationen unentbehrlich war. Aber Lebedjew dehnte die Vorsichtsmaßregeln, die er mit Bezug auf den General zur Anwendung brachte, seit der Übersiedlung nach dem Landhaus auch auf seine Familie aus; mit der Begründung, der Fürst dürfe nicht gestört werden, ließ er niemand zu ihm; sobald er nur im entferntesten Verdacht schöpfte, daß seine Töchter, Wjera mit dem Kind nicht ausgenommen, nach der Veranda gehen wollten, wo sich der Fürst befand, stürzte er sofort auf sie los, trampelte mit den Füßen und jagte sie fort, trotz aller Bitten des Fürsten, jedermann zu ihm zu lassen.

»Erstens hört sonst aller Respekt auf, wenn man ihnen dergleichen gestattet; und zweitens schickt es sich auch nicht für sie ...«, erklärte er schließlich auf eine direkte Frage des Fürsten.

»Aber warum denn?« erwiderte der Fürst, der ihn gern von seinem Verfahren abbringen wollte. »Wirklich, Sie quälen mich mit all dieser Beaufsichtigung und Behütung. Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, daß es mir langweilig ist, allein zu sein, und Sie selbst ennuyieren mich durch Ihr beständiges Gestikulieren und Umhergehen auf den Zehen noch mehr.«

Der Fürst wies damit darauf hin, daß Lebedjew, obwohl er alle seine Angehörigen wegen der angeblichen Ruhebedürftigkeit des Kranken wegtrieb, doch selbst während dieser ganzen drei Tage alle Augenblicke zum Fürsten hereinkam und jedesmal zuerst die Tür öffnete, den Kopf hereinsteckte, sich im Zimmer umsah, als ob er feststellen wollte, ob der Fürst auch noch da sei und nicht davongelaufen wäre, und dann auf den Zehen, langsam, mit schleichenden Schritten sich dessen Lehnstuhl näherte, so daß er seinen Mieter manchmal unversehens erschreckte. Fortwährend erkundigte er sich, ob der Fürst etwas brauche, und wenn der Fürst ihm endlich bemerkte, er möge ihn in Ruhe lassen, so machte er gehorsam, und ohne ein Wort zu erwidern, kehrt, ging wieder auf den Zehen zur Tür zurück und gestikulierte, während er so ging, die ganze Zeit über, wie wenn er zu verstehen geben wollte, er sei nur so ohne besondere Absicht hereingekommen, werde kein Wort weiter reden, gehe ja schon wieder hinaus und werde nicht mehr wiederkommen; aber nichtsdestoweniger erschien er nach zehn Minuten oder höchstens einer Viertelstunde von neuem. Kolja, der freien Zutritt zum Fürsten hatte, erregte dadurch Lebedjews höchstes Mißfallen, ja dieser fühlte sich sogar dadurch schwer gekränkt. Kolja merkte, daß Lebedjew halbe Stunden lang an der Tür stand und horchte, was er mit dem Fürsten sprach und teilte diese seine Beobachtung natürlich dem Fürsten mit.

»Aber Sie halten mich ja unter Schloß und Riegel, wie wenn Sie mich als Ihr Eigentum erworben hätten«, protestierte der Fürst. »Wenigstens auf dem Land möchte ich es anders haben; lassen Sie es sich gesagt sein, daß ich empfangen werde, wen ich will, und gehen werde, wohin es mir beliebt.«

»Ohne den allergeringsten Zweifel«, versetzte Lebedjew mit lebhaften Gestikulationen.

Der Fürst betrachtete ihn aufmerksam vom Kopf bis zu den Füßen.

»Wie ist das, Lukjan Timofejewitsch? Haben Sie Ihr Schränkchen, das in Ihrer Wohnung über dem Kopfende Ihres Bettes an der Wand befestigt war, hierher mitgebracht?«

»Nein, das habe ich nicht getan.«

»Haben Sie es wirklich dort gelassen?«

»Es war nicht möglich, es mitzunehmen; ich hätte es aus der Wand herausbrechen müssen; es sitzt ganz fest darin.«

»Aber vielleicht haben Sie hier ein ebensolches?«

»Sogar ein besseres, sogar ein besseres; ich habe es mit dem Landhaus mitgekauft.«

»Ach so! Wem haben Sie denn vorhin den Zutritt zu mir verwehrt? So etwa vor einer Stunde?«

»Das ... das war der General. Ich habe ihn allerdings nicht hereingelassen, und er paßt auch wirklich nicht für Sie. Ich schätze diesen Mann sehr hoch, Fürst; er ... er ist ein bedeutender Mensch; glauben Sie es etwa nicht? Na, sehen Sie, aber trotzdem ... trotzdem wäre es das beste, durchlauchtigster Fürst, wenn Sie ihn nicht empfangen wollten.«

»Aber warum denn nicht? möchte ich doch fragen. Und warum stehen Sie denn jetzt auf den Zehen, Lebedjew, und kommen immer zu mir, als ob Sie mir ein Geheimnis ins Ohr sagen wollten?«

»Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch, das fühle ich«, antwortete Lebedjew ziemlich unmotiviert und schlug sich affektvoll auf die Brust. »Aber wird der General für Sie nicht gar zu gastfreundlich sein?«

»Was heißt das: gar zu gastfreundlich?«

»Er ist sehr für Gastfreundschaft. Erstens richtet er sich bei mir schon ganz häuslich ein; nun, das mag noch hingehen; aber er ist unternehmend und dringt sogleich in die Verwandtschaft ein. Er und ich, wir haben schon mehrmals unsere Familienverhältnisse untersucht, und es hat sich dabei herausgestellt, daß wir miteinander verwandt sind. Und noch gestern hat er mir auseinandergesetzt, es lasse sich auch beweisen, daß Sie mütterlicherseits ein entfernter Neffe von ihm seien. Wenn also Sie sein Neffe sind, dann sind auch wir beide, Sie und ich, miteinander verwandt, durchlauchtigster Fürst. Das ist ja nun noch nichts Schlimmes, eine kleine Schwäche; aber soeben hat er mir versichert, daß er sein ganzes Leben lang, von der Zeit an, wo er noch Fähnrich war, bis zum elften Juni vorigen Jahres, täglich nicht weniger als zweihundert Personen an seinem Tisch sitzen gehabt habe. Es sei schließlich so weit gekommen, daß sie gar nicht mehr aufgestanden seien, sondern täglich fünfzehn Stunden lang zu Mittag und zu Abend gespeist und Tee getrunken hätten, und das alles dreißig Jahre lang ohne die geringste Unterbrechung; es sei kaum Zeit gewesen, das Tischtuch zu wechseln. Der eine sei aufgestanden und weggegangen und ein anderer gekommen; und an den patriotischen Festtagen sei die Zahl seiner Gäste auf dreihundert gestiegen. Und bei der tausendjährigen Jubiläumsfeier Rußlands seien es siebenhundert gewesen. Das ist ja schrecklich; solche Erzählungen sind ein sehr übles Symptom; so gastfreundliche Herren auch nur zu empfangen, ist bedenklich, und da habe ich mir gedacht, ob er nicht für Sie und für mich doch gar zu gastfreundlich ist.«

»Aber Sie stehen, wie es scheint, mit ihm auf sehr gutem Fuß?«

»Wir verkehren miteinander wie Brüder, und ich fasse das, was er so sagt, als Scherz auf. Mögen wir auch miteinander verwandt sein; was schadet es mir? Das kann mir nur eine Ehre sein. Ich halte ihn für einen höchst interessanten Menschen, trotz der zweihundert Tischgäste und der noch größeren Zahl bei der Tausendjahrfeier Rußlands. Ich rede zu Ihnen ganz aufrichtig. Sie sprachen soeben von Geheimnissen, Fürst, und sagten, ich träte immer zu Ihnen heran, wie wenn ich Ihnen ein Geheimnis mitteilen wollte; nun, es trifft sich gerade, daß wirklich ein Geheimnis vorliegt: eine gewisse Person hat mir soeben mitgeteilt, daß sie sehr wünsche, mit Ihnen eine geheime Zusammenkunft zu haben.«

»Warum denn eine geheime? Der Heimlichkeit bedarf es nicht. Ich werde selbst zu ihr hingehen, womöglich gleich heute.«

»Gewiß, der Heimlichkeit bedarf es nicht«, versetzte Lebedjew gestikulierend. »Auch fürchtet sie gar nicht das, was Sie vermuten. Apropos, der Unmensch kommt jeden Tag her, um sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen; ist Ihnen das bekannt?«

»Sie nennen ihn so oft einen Unmenschen; das ist mir sehr verdächtig.«

»Sie brauchen gar keinen Verdacht zu haben, nicht den geringsten Verdacht«, wehrte Lebedjew eilig ab. »Ich wollte Ihnen nur bemerken, daß die betreffende Person sich nicht vor ihm, sondern vor einem ganz andern fürchtet.«

»Aber vor wem denn? Sagen Sie es doch schnell!« rief der Fürst ungeduldig angesichts der geheimnisvollen Grimassen Lebedjews.

»Das ist eben das Geheimnis.«

Dabei lächelte Lebedjew.

»Wessen Geheimnis?«

»Das ist Ihr eigenes Geheimnis. Sie selbst haben mir verboten, durchlauchtigster Fürst, in Ihrer Gegenwart davon zu sprechen ...«, murmelte Lebedjew, und nachdem er sich genugsam daran geweidet hatte, daß es ihm gelungen war, die Neugier seines Zuhörers bis zu peinlicher Ungeduld zu steigern, schloß er plötzlich: »Sie fürchtet sich vor Aglaja Iwanowna.«

Der Fürst machte ein finsteres Gesicht und schwieg einen Augenblick.

»Bei Gott, Lebedjew, ich werde Ihr Landhaus verlassen«, sagte er dann auf einmal. »Wo sind Gawrila Ardalionowitsch und Ptizyns? Bei Ihnen? Auch denen haben Sie den Zutritt zu mir verwehrt und sie in Ihre eigenen Zimmer gelockt.«

»Sie werden kommen, sie werden kommen! Sogar der General wird mit ihnen mitkommen. Alle Türen werde ich aufmachen, und meine Töchter werde ich herrufen, alle, alle, sofort, sofort«, flüsterte Lebedjew erschrocken unter lebhaften Handbewegungen und rannte dabei von einer Tür zur andern.

In diesem Augenblick erschien Kolja, von der Straße kommend, auf der Veranda und meldete, daß hinter ihm Besuch komme: Lisaweta Prokofjewna mit ihren drei Töchtern.

»Soll ich Ptizyns und Gawrila Ardalionowitsch hereinlassen oder nicht? Soll ich den General hereinlassen oder nicht?« fragte Lebedjew hastig, der durch diese Nachricht in große Erregung versetzt worden war.

»Warum denn nicht? Lassen Sie jeden ein, der zu mir will! Ich kann Ihnen sagen, Lebedjew, daß Sie mein Verhältnis zu den Menschen gleich von Anfang an falsch beurteilt haben; Sie sind da fortwährend in einem Irrtum befangen. Ich habe nicht den geringsten Grund, mich vor irgend jemand zu verstecken und zu verbergen«, bemerkte der Fürst lachend.

Als Lebedjew ihn lachen sah, hielt er es für seine Pflicht, dies ebenfalls zu tun. Trotz seiner großen Aufregung war er offenbar sehr zufrieden.

Die von Kolja gebrachte Nachricht erwies sich als zutreffend; er war den Jepantschins nur ein paar Schritte vorausgelaufen, um sie anzumelden, und die Besucher erschienen nun plötzlich von beiden Seiten: von der Straße her Jepantschins und aus den Zimmern das Ptizynsche Ehepaar, Ganja und General Iwolgin.

Jepantschins hatten von der Krankheit des Fürsten und von seiner Anwesenheit in Pawlowsk erst soeben durch Kolja gehört; bis dahin hatte sich die Generalin in verständnisloser Verwunderung befunden. Schon vor drei Tagen hatte der General seiner Familie die Visitenkarte des Fürsten gezeigt; diese Karte rief bei Lisaweta Prokofjewna die bestimmte Überzeugung hervor, daß der Fürst selbst unmittelbar nach dieser Karte nach Pawlowsk kommen werde, um ihnen einen Besuch zu machen. Vergebens hielten ihr die Töchter entgegen, daß jemand, der ein halbes Jahr lang nicht geschrieben habe, es auch jetzt vielleicht gar nicht so eilig haben werde, und daß er vielleicht, auch abgesehen von den Beziehungen zu ihrer Familie, in Petersburg viel zu tun haben möge; woher könnten sie denn von seinen Geschäften Kenntnis haben? Die Generalin wurde über diese Bemerkungen geradezu böse und bot eine Wette darauf an, daß der Fürst spätestens am folgenden Tage erscheinen werde, wiewohl auch das schon sehr spät sei. Am folgenden Tag wartete sie den ganzen Vormittag; dann erwartete sie ihn zum Mittagessen, zum Abend, und als es schon ganz dunkel geworden war, ärgerte sich Lisaweta Prokofjewna über alles und jedes und zankte sich mit allen, selbstverständlich ohne unter den Gründen des Streits den Fürsten auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Auch am dritten Tag wurde seiner keinerlei Erwähnung getan. Als Aglaja sich beim Mittagessen unversehens die Bemerkung entschlüpfen ließ, Mama sei ärgerlich, weil der Fürst nicht komme, worauf der General sofort einschaltete, er für seine Person könne nichts dafür, da stand Lisaweta Prokofjewna auf und ging zornig vom Tisch. Endlich, am Abend, erschien Kolja mit einer Menge Nachrichten und erzählte ihnen alle Erlebnisse des Fürsten, soweit sie ihm bekannt waren. Das Resultat war, daß Lisaweta Prokofjewna triumphierte; Kolja wurde aber gehörig ausgescholten: »Sonst hockt er hier tagelang bei uns und ist nicht loszuwerden, und jetzt hat er uns nicht einmal eine Mitteilung zugehen lassen, wenn er schon selbst nicht herkommen mochte.« Kolja wollte eigentlich sofort wegen des Ausdrucks »nicht loszuwerden« aufbegehren, verschob dies aber doch auf ein anderes Mal, und wenn der Ausdruck nicht gar zu beleidigend gewesen wäre, so hätte er ihn vielleicht ganz entschuldigt, soviel Vergnügen machte ihm Lisaweta Prokofjewnas Aufregung und Unruhe bei der Nachricht von der Krankheit des Fürsten. Sie behauptete eine ganze Weile, sie müßten unverzüglich einen expressen Boten nach Petersburg schicken, um eine ärztliche Zelebrität ersten Ranges aufzusuchen und mit dem ersten Zug herbeizuschaffen. Aber die Töchter redeten ihr das aus; indes wollten sie hinter ihrer Mama nicht zurückbleiben, als diese sich sofort anschickte, den Kranken zu besuchen.

»Er liegt auf dem Sterbebett«, sagte sie, sich eilig zurechtmachend; »wie werden wir uns da um Vorschriften der Etikette kümmern! Ist er ein Freund unseres Hauses oder nicht?«

»Andererseits ist es auch nicht passend, sich jemandem so ohne weiteres aufzudrängen«, wollte Aglaja einwenden. »Na, dann komm nicht mit! Das wird sogar ganz gut sein; sonst ist niemand hier, um Jewgeni Pawlowitsch zu empfangen, wenn er kommen sollte.«

Infolge dieser Bemerkung schloß sich Aglaja natürlich sofort den andern an, was sie übrigens ohnehin beabsichtigt hatte. Fürst Schtsch., der mit Adelaida im Gespräch begriffen war, erklärte sich auf deren Bitte unverzüglich bereit, die Damen zu begleiten. Er hatte schon früher, zu Anfang seiner Bekanntschaft mit Jepantschins, ein großes Interesse bekundet, als er von ihnen etwas über den Fürsten gehört hatte. Es hatte sich herausgestellt, daß er mit diesem bereits bekannt war, und zwar hatten sie einander vor nicht allzu langer Zeit irgendwo kennengelernt und dann ungefähr vierzehn Tage lang zusammen in irgendeinem kleinen Städtchen gelebt. Das war vor drei Monaten gewesen. Fürst Schtsch. hatte ihnen sogar viel von dem Fürsten erzählt und sich überhaupt sehr sympathisch über ihn ausgesprochen, so daß er jetzt mit aufrichtigem Vergnügen hinging, um einen alten Bekannten zu besuchen. Der General Iwan Fjodorowitsch war augenblicklich nicht zu Hause. Jewgeni Pawlowitsch war ebenfalls noch nicht gekommen.

Von dem Jepantschinschen Landhaus bis zu dem Lebedjewschen waren nur dreihundert Schritte. Der erste unangenehme Eindruck, den Lisaweta Prokofjewna beim Fürsten empfing, wurde dadurch hervorgerufen, daß sie eine ganze Gesellschaft um ihn versammelt fand, ganz zu schweigen von dem Umstand, daß ihr in dieser Gesellschaft zwei oder drei Personen entschieden zuwider waren; und zweitens war sie unangenehm erstaunt, als ihnen, statt eines Verscheidenden auf dem Sterbebett, den sie zu finden erwartet hatte, ein anscheinend völlig gesunder, elegant gekleideter junger Mann mit lächelnder Miene entgegentrat. Sie blieb ganz verwundert stehen, zum größten Vergnügen Koljas, der ihr natürlich, noch ehe sie von ihrem Landhaus aufbrach, sehr wohl hätte mitteilen können, daß niemand im Verscheiden liege und von einem Sterbebett nicht die Rede sei, dies aber absichtlich unterlassen hatte in schlauer Voraussicht des komischen Zornes der Generalin, die nach seiner psychologischen Spekulation sich jedenfalls darüber ärgern würde, wenn sie den Fürsten, dem sie herzlich zugetan war, gesund anträfe. Kolja war sogar so taktlos, seine Vermutung laut auszusprechen, um Lisaweta Prokofjewna noch mehr zu reizen, mit der er sich trotz der zwischen ihnen bestehenden Freundschaft beständig und manchmal in recht scharfer Form neckte.

»Warte nur, lieber Freund, krähe nicht zu früh!« antwortete Lisaweta Prokofjewna und setzte sich auf den Lehnstuhl, den ihr der Fürst zurechtrückte.

Lebedjew, Ptizyn und General Iwolgin beeilten sich, den jungen Damen Stühle zu bringen. Aglaja wurde vom General zum Sitzen eingeladen. Lebedjew stellte auch dem Fürsten Schtsch. einen Stuhl hin, wobei er es fertigbrachte, durch die Krümmung seines Rückens eine außerordentliche Ehrerbietung auszudrücken. Warja begrüßte die jungen Damen mit dem gewöhnlichen Entzücken im Flüsterton.

»Ich hatte allerdings geglaubt, dich im Bett zu finden, Fürst; so schwarzseherisch hatte mich die Angst gemacht; und ich leugne keineswegs, daß ich mich soeben furchtbar über dein glückliches Gesicht ärgerte; aber ich schwöre dir, das dauerte nur einen Augenblick, nur so lange, als ich noch nicht nachgedacht hatte. Sobald ich nachgedacht habe, handle und rede ich immer verständiger; ich denke, es wird dir ebenso gehen. In Wirklichkeit aber könnte ich mich über die Genesung meines eigenen Sohnes, wenn ich einen hätte, kaum so freuen wie über die deinige; und wenn du es mir nicht glaubst, so ist das eine Schande für dich, nicht für mich. Dieser unartige Junge aber erlaubt sich mit mir ganz ungehörige Späße. Du bist ja wohl sein Gönner; darum möchte ich dir ankündigen, daß ich eines schönen Tages auf die Ehre und das Vergnügen seiner weiteren Bekanntschaft verzichten werde; das kannst du mir glauben.«

»Was trifft mich denn für Schuld?« rief Kolja. »Wenn ich Ihnen auch hoch und heilig beteuert hätte, daß der Fürst schon beinah gesund sei, so hätten Sie mir doch nicht glauben mögen, weil es viel interessanter war, ihn sich auf dem Sterbebett vorzustellen.«

»Bleibst du lange hier bei uns in Pawlowsk?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an den Fürsten.

»Den ganzen Sommer über und vielleicht noch länger.«

»Du bist allein hier. Bist du denn nicht verheiratet?«

»Nein, ich bin nicht verheiratet«, erwiderte der Fürst, der über die Naivität dieser gegen ihn gerichteten Stichelei lächeln mußte.

»Zum Lächeln ist kein Anlaß; so etwas kommt doch vor. Ich sagte es aber wegen des Landhauses; warum bist du denn nicht zu uns gezogen? Wir haben ein ganzes Nebengebäude leerstehen. Übrigens, ganz wie du willst. Wohnst du denn hier als Untermieter? Bei dem hier?« fügte sie halblaut hinzu, indem sie mit einer Kopfbewegung auf Lebedjew hindeutete. »Warum schneidet er denn fortwährend Gesichter?«

In diesem Augenblick kam Wjera, wie gewöhnlich mit dem Kind auf dem Arm, aus dem Innern des Hauses auf die Veranda.

Lebedjew, der sich bei den Stühlen umherwand und schlechterdings nicht wußte, wo er bleiben sollte, aber durchaus nicht weggehen wollte, stürzte plötzlich auf Wjera los und wollte sie mit heftigen Armbewegungen aus der Veranda hinausjagen; er vergaß sich sogar so weit, daß er mit den Füßen trampelte.

»Ist er verrückt?« fügte die Generalin hinzu.

»Nein, er ...«

»Vielleicht ist er betrunken? Deine Gesellschaft hier ist nicht schön«, sagte sie in entschiedenem Ton, indem sie auch die übrigen Gäste mit ihrem Blick umfaßte. »Ah, aber was für ein liebliches Mädchen! Wer ist das?«

»Das ist Wjera Lukjanowna, eine Tochter dieses Herrn Lebedjew.«

»Ah ...! Ein sehr liebliches Mädchen. Ich möchte ihre Bekanntschaft machen.«

Lebedjew aber, der Lisaweta Prokofjewnas lobendes Urteil gehört hatte, zog bereits selbst seine Tochter herbei, um sie vorzustellen.

»Meine Kinder sind mutterlos, mutterlos!« jammerte er, während er herankam. »Auch dieses Kind, das sie auf dem Arm hat, ist mutterlos; es ist ihre Schwester, meine Tochter Ljubow, in rechtmäßiger Ehe von meiner unlängst verstorbenen Frau Jelena geboren, die vor sechs Wochen nach Gottes Willen im Wochenbett gestorben ist ... ja ... Sie vertritt an ihr Mutterstelle, obgleich sie nur ihre Schwester ist, nichts weiter als ihre Schwester ... nichts weiter, nichts weiter ...«

»Und du, lieber Freund, bist nichts weiter als ein Dummkopf, nimm mir's nicht übel. Na, nun genug; jetzt wirst du es wohl selbst wissen, denke ich«, bemerkte Lisaweta Prokofjewna sehr ungehalten.

»Vollkommen richtig!« erwiderte Lebedjew sehr respektvoll mit einer tiefen Verbeugung.

»Hören Sie mal, Herr Lebedjew, ist das wahr, was man von Ihnen sagt: Sie legen die Offenbarung des Johannes aus?« fragte Aglaja.

»Vollkommen wahr! Ich beschäftige mich damit seit fünfzehn Jahren.«

»Ich habe von Ihnen gehört. Es hat ja wohl auch in der Zeitung etwas über Sie gestanden?«

»Nein, das bezog sich auf einen andern Erklärer, auf einen andern; der ist gestorben, und ich bin jetzt sein Nachfolger«, versetzte Lebedjew, ganz außer sich vor Freude.

»Tun Sie mir den Gefallen und erklären Sie sie mir einmal in diesen Tagen als guter Nachbar. Ich verstehe von der Offenbarung nichts.«

»Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, Aglaja Iwanowna, daß das von ihm nur Scharlatanerie ist; glauben Sie mir!« mischte sich General Iwolgin schnell in das Gespräch hinein, der schon wie auf Kohlen gesessen und auf das lebhafteste gewünscht hatte, irgendwie eine Unterhaltung anzuknüpfen; er setzte sich bei diesen Worten neben Aglaja Iwanowna. »Gewiß«, fuhr er fort, »der Aufenthalt auf dem Land hat ja seine besonderen Reize und seine besonderen Vergnügungen, und der Verkehr mit jemandem, der es so keck unternimmt, die Offenbarung zu erklären, ist ein Amüsement wie jedes andere und sogar ein solches, das in interessanter Weise den Verstand in Anspruch nimmt; aber ich ... Sie scheinen mich erstaunt anzusehen? Ich habe die Ehre, mich vorzustellen: General Iwolgin. Ich habe Sie auf den Armen getragen, Aglaja Iwanowna.«

»Sehr erfreut. Ich bin mit Warwara Ardalionowna und mit Nina Alexandrowna bekannt«, murmelte Aglaja, die sich die größte Mühe gab, nicht loszulachen.

Lisaweta Prokofjewna wurde dunkelrot. Der Ärger, der sich schon lange in ihrer Seele angesammelt hatte, verlangte auf einmal dringend nach einem Ausweg. Sie konnte den General Iwolgin nicht leiden, mit dem sie früher einmal, vor sehr langer Zeit, bekannt gewesen war. »Du lügst, Väterchen, wie das deine Gewohnheit ist; du hast sie nie auf den Armen getragen«, sagte sie zu ihm scharf und unwillig.

»Sie haben es vergessen, Mama; er hat mich wirklich auf den Armen getragen«, bestätigte Aglaja plötzlich die Angabe des Generals. »Wir wohnten damals in Twer. Ich war sechs Jahre alt; ich erinnere mich an alles noch recht wohl. Er machte mir einen Bogen und einen Pfeil und lehrte mich damit schießen, und ich schoß eine Taube tot. Erinnern Sie sich, daß wir beide zusammen eine Taube totgeschossen haben?«

»Und mir brachte er damals einen Helm aus Pappe und einen hölzernen Degen; das weiß ich noch!« rief Adelaida.

»Auch ich erinnere mich daran«, fügte Alexandra bekräftigend hinzu. »Ihr zanktet euch damals noch wegen der verwundeten Taube und wurdet in die Ecken gestellt; Adelaida stand so da, wie sie war: mit dem Helm und dem Degen.«

Der General, der zu Aglaja gesagt hatte, er habe sie auf den Armen getragen, hatte das nur so hingeredet, lediglich um ein Gespräch in Gang zu bringen und einzig und allein, weil er fast immer eine Unterhaltung mit jungen Leuten in dieser Weise begann, wenn er mit ihnen bekannt zu werden wünschte. Diesmal aber hatte es sich ganz zufällig getroffen, daß er die Wahrheit gesagt hatte, und ebenso war es ein Zufall gewesen, daß er selbst dieses wahre Faktum vergessen hatte. Als nun Aglaja jetzt unerwarteterweise zur Bestätigung erzählte, daß sie mit ihm zusammen eine Taube totgeschossen habe, erhellte sich sein Gedächtnis auf einmal, und er erinnerte sich selbst an diesen Vorfall bis in die kleinsten Details, wie man sich in höheren Jahren nicht selten an etwas aus der fernen Vergangenheit erinnert. Es ist schwer zu sagen, was eigentlich an dieser Erinnerung so stark auf den armen und wie gewöhnlich etwas angetrunkenen General wirken konnte; aber er wurde auf einmal ganz gerührt.

»Ich erinnere mich, ich erinnere mich an alles!« rief er. »Ich war damals Hauptmann. Sie waren noch so ein kleines, allerliebstes Ding. Nina Alexandrowna ... Ganja ... Ich verkehrte in Ihrem Haus. Iwan Fjodorowitsch ...«

»Und nun sieh mal, wie weit du jetzt heruntergekommen bist!« fiel die Generalin ein. »Na, wenigstens hast du noch nicht alle anständigen Gefühle in dir durch den Trunk erstickt, wenn das so auf dich hat wirken können! Aber deine Frau hast du halb zu Tode gequält. Statt deinen Kindern den Weg durchs Leben zu zeigen, sitzt du im Schuldgefängnis. Mach, daß du von hier wegkommst, Väterchen; geh anderswohin, stell dich hinter eine Tür in die Ecke und weine; denke an deine früheren unschuldigen Tage; vielleicht verzeiht dir dann Gott. Geh nur, geh; ich rede ganz im Ernst. Nichts ist zur Besserung nützlicher, als reuig der Vergangenheit zu gedenken.« Aber es bedurfte keiner wiederholten Versicherung, daß sie ganz im Ernst rede: Der General war wie alle Trinker sehr gefühlvoll und konnte wie alle heruntergekommenen Trinker die Erinnerung an die glückliche Vergangenheit nicht ertragen. Er stand auf und begab sich gehorsam nach der Tür, so daß Lisaweta Prokofjewna sogleich wieder Mitleid mit ihm empfand.

»Ardalion Alexandrowitsch! Väterchen!« rief sie ihm nach. »Bleibe noch einen Augenblick hier! Wir sind allzumal Sünder. Wenn du fühlen wirst, daß dein Gewissen dir nicht mehr soviel Vorwürfe macht, dann komm zu mir; dann wollen wir uns zusammensetzen und von alten Zeiten plaudern. Ich bin ja vielleicht noch fünfzigmal sündhafter als du. Aber jetzt lebe wohl, geh, du hast hier nichts zu schaffen!« fügte sie hinzu, in Angst, daß er wieder umkehren könnte.

»Sie täten gut, wenn Sie ihm vorläufig nicht nachgingen«, sagte der Fürst, um Kolja aufzuhalten, der seinem Vater schnell folgen wollte. »Sonst wird er nach einer Minute ärgerlich werden, und der ganze segensreiche Augenblick ist dann verdorben.«

»Das ist richtig; laß ihn jetzt in Ruhe, geh erst in einer halben Stunde hin!« sagte Lisaweta Prokofjewna befehlend.

»Da sieht man, was es zu bedeuten hat, wenn man wenigstens einmal im Leben die Wahrheit sagt. Zum Weinen hat es ihn gebracht!« wagte Lebedjew hinterdrein zu bemerken.

»Na, und du mußt auch ein netter Patron sein, Väterchen, wenn das wahr ist, was ich über dich gehört habe«, trumpfte ihn Lisaweta Prokofjewna sogleich ab.

Das wechselseitige Verhältnis aller bei dem Fürsten versammelten Besucher klärte sich allmählich. Der Fürst wußte die ihm von der Generalin und ihren Töchtern bewiesene Teilnahme selbstverständlich in ihrem ganzen Wert zu würdigen und sagte ihnen aufrichtig, er habe gerade heute, noch vor ihrem Besuch, die bestimmte Absicht gehabt, zu ihnen zu kommen, trotz seiner Krankheit und trotz der späten Stunde. Lisaweta Prokofjewna erwiderte ihm mit einem Blick auf seine Gäste, das könne er auch jetzt noch sogleich zur Ausführung bringen. Ptizyn, ein höflicher und sehr friedfertiger Mensch, stand sehr bald darauf auf und zog sich nach dem Nebengebäude in Lebedjews Wohnung zurück; sehr gern hätte er dabei auch Lebedjew selbst mit fortgeführt. Dieser versprach, ihm bald nachzufolgen; unterdessen war Warja mit den jungen Mädchen in ein lebhaftes Gespräch hineingekommen und blieb infolgedessen. Sie und Ganja waren sehr froh über die Abwesenheit des Generals; Ganja selbst folgte bald Ptizyn nach. Während der kurzen Zeit, die er auf der Veranda in Gegenwart der Jepantschinschen Damen zugebracht hatte, hatte er sich bescheiden und würdig benommen und unter Lisaweta Prokofjewnas strengem Blick, die ihn zweimal von Kopf bis zu den Füßen musterte, die Fassung nicht verloren. Wer ihn früher gekannt hatte, mußte in der Tat finden, daß er sich sehr verändert habe. Dies machte auf Aglaja einen guten Eindruck.

»War das nicht Gawrila Ardalionowitsch, der eben wegging?« fragte sie auf einmal in ihrer beliebten Art: laut, in scharfem Ton, ohne Rücksicht auf das Gespräch der andern, das sie mit ihrer Frage unterbrach, und ohne sich an irgendeinen einzelnen zu wenden.

»Jawohl«, antwortete der Fürst.

»Ich hatte ihn kaum erkannt. Er hat sich sehr verändert, und ... sehr zu seinem Vorteil.«

»Das ist mir sehr lieb zu hören«, erwiderte der Fürst.

»Er war sehr krank«, fügte Warja, zugleich erfreut und bedauernd, hinzu.

»Inwiefern soll er sich denn zu seinem Vorteil verändert haben?« fragte Lisaweta Prokofjewna ärgerlich und beinah erschrocken. »Wie kommst du darauf? Ich bemerke an ihm nichts, was besser geworden wäre. Was scheint dir denn eigentlich besser?«

»Etwas Besseres als den ›armen Ritter‹ kann es überhaupt nicht geben!« rief plötzlich Kolja, der die ganze Zeit über neben Lisaweta Prokofjewnas Stuhl gestanden hatte.

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Fürst Schtsch. lachend.

»Ich bin ganz derselben Ansicht«, erklärte Adelaida ernst.

»Was ist denn das für ein ›armer Ritter‹?« fragte die Generalin, indem sie alle Redenden verständnislos und ärgerlich anblickte. Aber als sie sah, daß Aglaja rot geworden war, fügte sie zornig hinzu: »Gewiß wieder irgendein Unsinn! Was ist das für ein ›armer Ritter‹?«

»Als ob es das erstemal wäre, daß dieser freche Junge, Ihr Liebling, anderer Leute Worte verdreht!« antwortete Aglaja hochmütig und unwillig.

Fast jedesmal, wenn Aglaja zornig wurde (und das geschah ziemlich oft), blickte aus ihrer anscheinend ernsten, unerbittlichen Miene doch so viel von dem schlecht verhehlten, ungeduldigen Wesen eines Schulkindes hervor, daß es manchmal unmöglich war, bei ihrem Anblick das Lachen zu unterdrücken, worüber sich Aglaja übrigens gewaltig ärgerte, da sie nicht begriff, worüber die Leute lachten, und »wie jemand da überhaupt lachen könne und zu lachen wage«. Auch jetzt lachten die Schwestern und Fürst Schtsch.; sogar Fürst Ljow Nikolajewitsch, der aus irgendeinem Grund ebenfalls errötet war, lächelte. Kolja jubelte und triumphierte. Aglaja wurde nun ernstlich böse und dadurch noch einmal so schön. Ihre Verlegenheit stand ihr außerordentlich gut, und nicht minder gleichzeitig ihr Ärger über sich selbst wegen dieser Verlegenheit.

»Auch Ihre eigenen Worte hat er oft genug verdreht!« fügte sie hinzu.

»Ich wiederhole nur Ihren eigenen Ausspruch!« rief Kolja. »Vor einem Monat blätterten Sie im Don Quijote und riefen dabei aus, es gebe doch nichts Besseres als den armen Ritter. Ich weiß nicht, auf wen sich das damals beziehen sollte: ob auf Don Quijote oder auf Jewgeni Pawlowitsch oder auf noch jemand anders; aber jedenfalls meinten Sie damit irgend jemand, und es entspann sich darüber ein langes Gespräch ...«

»Ich sehe, daß du dir mit deinen Vermutungen doch gar zu viel herausnimmst, mein Lieber!« unterbrach ihn Lisaweta Prokofjewna ärgerlich.

»Aber bin ich denn der einzige, der davon spricht?« versetzte Kolja, der sich nicht den Mund verbieten ließ.

»Alle haben damals davon gesprochen und sprechen auch jetzt noch davon, da gleich Fürst Schtsch. und Adelaida Iwanowna. Und alle haben erklärt, daß sie auf seiten des ›armen Ritters‹ stehen; also muß doch der ›arme Ritter‹ existieren und existiert jedenfalls, und wenn nur Adelaida Iwanowna wollte, so würden wir meiner Ansicht nach alle schon längst wissen, wer der ›arme Ritter‹ ist.«

»Inwiefern soll ich denn daran schuld sein?« fragte Adelaida lachend.

»Sie wollten sein Porträt nicht zeichnen; insofern sind Sie daran schuld! Aglaja Iwanowna bat Sie damals, das Porträt des ›armen Ritters‹ zu zeichnen, und setzte Ihnen den ganzen Vorwurf des Bildes auseinander, den sie sich selbst ausgesonnen hatte; erinnern Sie sich noch an diesen Vorwurf? Aber Sie wollten es nicht ...«

»Wie hätte ich den Betreffenden denn zeichnen sollen? In der Beschreibung wird doch von diesem ›armen Ritter‹ gesagt:


›Niemals in die Höhe schlug er

Vorm Gesichte das Visier.‹


Was konnte dabei also für ein Gesicht herauskommen? Was sollte ich zeichnen? Ein Visier? Einen Anonymus?«

»Ich verstehe von alledem nichts; was ist das nun wieder für ein Visier?« ereiferte sich die Generalin, die im stillen sehr wohl zu begreifen anfing, wer unter der wahrscheinlich schon lange geläufigen Benennung ›der arme Ritter‹ verstanden wurde. Aber ganz besonders ärgerte sie sich darüber, daß Fürst Ljow Nikolajewitsch ebenfalls verlegen geworden war und schließlich eine solche Befangenheit bekundete wie ein zehnjähriger Junge.

»Nun also, wird diese Dummheit endlich zu Ende kommen? Wird mir nun erläutert werden, was dieser ›arme Ritter‹ bedeutet? Ist das etwa ein so furchtbares Geheimnis, daß man gar nicht daran rühren darf?«

Aber alle lachten nur weiter.

»Es ist ganz einfach ein merkwürdiges russisches Gedicht«, ergriff endlich Fürst Schtsch. das Wort, offenbar mit dem Wunsch, die Sache möglichst schnell zu erledigen und dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, »ein Gedicht über einen ›armen Ritter‹, ein Fragment ohne Anfang und ohne Schluß. Vor einem Monat scherzten wir einmal alle nach Tisch und suchten wie gewöhnlich nach einem Vorwurf für ein künftiges Bild Adelaida Iwanownas. Sie wissen, daß es bereits zu einer Art von Familiensport geworden ist, Vorwürfe für Adelaida Iwanownas Bilder ausfindig zu machen. Da verfielen wir auch auf den ›armen Ritter‹; wer zuerst auf diesen Einfall kam, weiß ich nicht mehr ...«

»Aglaja Iwanowna war es!« rief Kolja.

»Mag sein; ich will es nicht bestreiten, obwohl ich mich nicht erinnere«, fuhr Fürst Schtsch. fort. »Die einen spotteten über dieses Sujet; andere dagegen meinten, man könne sich gar nichts Höheres ausdenken. Aber um den ›armen Ritter‹ darzustellen, dazu war unter allen Umständen ein Gesicht als Modell erforderlich; so musterten wir denn die Gesichter aller unserer Bekannten; aber kein einziges taugte dazu; daran scheiterte die Sache. Das ist alles. Es ist mir unverständlich, warum Nikolai Ardalionowitsch es hier hat erwähnen und erörtern mögen. Was früher und bei bestimmtem Anlaß komisch war, hat jetzt alles Interesse verloren.«

»Er hat es eben getan, weil da wieder irgendeine neue Dummheit dahintersteckt, eine boshafte, verletzende Dummheit«, bemerkte Lisaweta Prokofjewna scharf.

»Es steckt gar keine Dummheit dahinter, sondern vielmehr die größte Hochachtung«, sagte Aglaja mit ganz unerwartetem Ernst und Nachdruck. Es war ihr inzwischen gelungen, sich wieder vollständig in ihre Gewalt zu bekommen und ihre frühere Verlegenheit zu unterdrücken.

Ja, auf Grund gewisser Anzeichen konnte man, wenn man sie ansah, meinen, daß sie sich jetzt selbst darüber freute, daß der Spaß sich immer länger und länger ausdehnte; und diese ganze Umwandlung ging bei ihr gerade in dem Augenblick vor, als die immer zunehmende Verlegenheit des Fürsten ganz deutlich wurde.

»Erst lachen sie wie die Unsinnigen, und dann wird auf einmal von der größten Hochachtung gesprochen! Verrücktes Volk! Was soll hier die Hochachtung? Sag mal sofort, warum du so aus heiler Haut auf einmal von der größten Hochachtung redest!«

»Von der größten Hochachtung«, erwiderte Aglaja ebenso ernst und nachdrücklich auf die ärgerliche Frage der Mutter, »von der größten Hochachtung rede ich deshalb, weil in diesen Versen ein Mensch geschildert wird, der fähig ist, erstens ein Ideal zu haben und zweitens, nachdem er sich einmal ein solches Ideal aufgerichtet hat, an dasselbe zu glauben und ihm blind sein ganzes Leben zu weihen. So etwas kommt in unserer Zeit nicht alle Tage vor. Dort, in diesen Versen, ist nicht gesagt, worin eigentlich das Ideal des ›armen Ritters‹ bestand; aber man sieht, daß es eben ein leuchtendes Ideal war, ›das Ideal der reinen Schönheit‹, und daß der verliebte Ritter sich sogar statt der Schärpe einen Rosenkranz um den Hals band. Allerdings ist da noch von einer dunklen, nur andeutenden Devise die Rede, den Buchstaben A.N.B., die er auf seinen Schild geschrieben hatte ...«

»A.N.D.«, verbesserte Kolja.

»Ich sage aber A.N.B. und will dabei bleiben«, unterbrach ihn Aglaja ärgerlich. »Wie es sich damit auch verhalten mag, soviel ist klar, daß es diesem ›armen Ritter‹ nun ganz gleichgültig war, wer seine Dame war, und was sie tat. Ihm genügte es, sie sich ausgewählt zu haben und an ihre ›reine Schönheit‹ zu glauben; und nun verehrte er sie sein ganzes Leben lang; gerade darin besteht sein Verdienst, daß er, selbst wenn sie später zur Diebin würde, doch an sie glauben und für ihre reine Schönheit eine Lanze brechen müßte. Der Dichter scheint beabsichtigt zu haben, in der auffallenden Gestalt eines reinen, hochgesinnten Ritters den ganzen gewaltigen Begriff der mittelalterlichen, ritterlichen platonischen Liebe zur zusammenfassenden Darstellung zu bringen; selbstverständlich ist das alles ein Ideal. In dem ›armen Ritter‹ hat dieses Gefühl schon die höchste Stufe erreicht, die Askese; man muß gestehen, daß die Fähigkeit zu einem solchen Gefühl einen hohen Wert hat, und daß solche Gefühle einen bedeutsamen und unter Umständen sehr löblichen Charakterzug bilden, wobei ich nicht gerade Don Quijote meine. Der ›arme Ritter‹ ist eine Art Don Quijote, aber ein ernster, nicht ein komischer. Ich habe ihn am Anfang nicht verstanden und über ihn gelacht; aber jetzt liebe ich den ›armen Ritter‹, und vor allen Dingen schätze ich seine Taten hoch.«

Damit schloß Aglaja, und wenn man sie ansah, konnte man schwer daraus klug werden, ob sie im Ernst sprach oder scherzte.

»Na, ein Dummkopf ist er, er und seine Taten!« urteilte die Generalin kurz. »Aber du, liebes Kind, bist ganz ins Schwatzen hineingekommen; das war ja eine ordentliche Vorlesung; aber meiner Ansicht nach steht dir das gar nicht gut; jedenfalls ist es unpassend. Was sind das für Verse? Sag sie mal auf; du kannst sie doch sicher auswendig! Ich will diese Verse unbedingt kennenlernen. Mein ganzes Leben lang habe ich Verse nicht leiden können, als hätte ich eine Ahnung gehabt, daß ich mich bloß darüber ärgern würde. Um Gottes willen, Fürst, werde nicht böse! Wir beide, du und ich, müssen, wie es scheint, es zusammen ertragen«, sagte sie, zu dem Fürsten Ljow Nikolajewitsch gewendet. Sie war sehr aufgebracht.

Fürst Ljow Nikolajewitsch wollte schon etwas sagen, konnte aber wegen seiner immer noch andauernden Verlegenheit nichts herausbringen. Aglaja hingegen, die sich in ihrer »Vorlesung« soviel herausgenommen hatte, zeigte keine Spur von Verlegenheit mehr, sondern schien sich im Gegenteil zu freuen. Sie stand sofort auf, mit derselben ernsten, bedeutsamen Miene wie vorher; es machte den Eindruck, als hätte sie sich darauf vorbereitet und nur auf eine Aufforderung gewartet. In die Mitte der Veranda tretend, stellte sie sich gerade vor den Fürsten hin, der auf seinem Lehnstuhl sitzenblieb. Alle blickten sie einigermaßen erstaunt an, und fast alle, Fürst Schtsch., die Schwestern und die Mutter, sahen mit einem unangenehmen Gefühl dem neuen, in der Vorbereitung begriffenen Schelmenstreich entgegen, der jedenfalls etwas weit zu gehen drohte. Aber Aglaja fand offenbar ihr Vergnügen an dem affektierten Benehmen, mit dem sie sich zu der Deklamation der Verse anschickte. Lisaweta Prokofjewna war schon nahe daran, sie mit energischen Worten von dort wegzurufen und auf ihren Platz zurückzuschicken; aber gerade in dem Augenblick, als Aglaja die bekannte Ballade zu deklamieren begann, traten zwei neue Gäste, die in lautem Gespräch begriffen waren, von der Straße in die Veranda. Dies waren der General Iwan Fjodorowitsch Jepantschin und hinter ihm ein junger Mann. Ihr Erscheinen rief bei den bereits Anwesenden eine kleine Aufregung hervor.

VII


Der junge Mann, der den General begleitete, war ungefähr achtundzwanzig Jahre alt, hochgewachsen, schlank, mit einem schönen, verständigen Gesicht und großen, schwarzen, klug und spöttisch blickenden Augen. Aglaja sah sich gar nicht nach ihm um und deklamierte ruhig das Gedicht weiter, indem sie fortfuhr, nur den Fürsten anzusehen, und sich nur an ihn allein wandte. Dem Fürsten war klar, daß sie dies alles mit irgendeiner besonderen Absicht tat. Aber wenigstens trugen die neuen Gäste einigermaßen zur Verbesserung seiner unbehaglichen Situation bei. Als er sie erblickte, erhob er sich, nickte dem General von weitem freundlich zu und machte ein Zeichen, daß sie die Deklamation nicht unterbrechen möchten; er selbst aber retirierte sich hinter seinen Lehnstuhl, wo er, mit dem linken Arm auf die Lehne gestützt, die Ballade weiter mit anhörte, sozusagen in gesicherter und nicht so komischer Stellung wie vorher, als er auf dem Lehnstuhl saß. Lisaweta Prokofjewna winkte ihrerseits den Ankömmlingen mit gebieterischen Handbewegungen zu, sie möchten stehenbleiben.

Der Fürst interessierte sich übrigens sehr für seinen neuen Gast, der mit dem General gekommen war; er vermutete mit Bestimmtheit in ihm Jewgeni Pawlowitsch Radomski, von dem er schon viel gehört und an den er schon oft gedacht hatte. Nur machte ihn dessen Zivilanzug stutzig, da er gehört hatte, daß Jewgeni Pawlowitsch Offizier sei. Ein spöttisches Lächeln spielte während der ganzen Dauer der Deklamation um die Lippen des neuen Gastes, als wenn er bereits etwas von dem ›armen Ritter‹ gehört hätte.

»Vielleicht rührt der ganze Gedanke von ihm her«, dachte der Fürst im stillen.

Aber mit Aglaja war eine große Veränderung vorgegangen. Statt der ursprünglichen Affektiertheit und Wichtigtuerei, mit der sie zum Deklamieren vorgetreten war, zeigte sie einen solchen Ernst und ein so tiefes Eindringen in den Geist und Sinn des dichterischen Erzeugnisses, sie sprach jedes Wort des Gedichtes mit solchem Verständnis, sie trug die Verse mit so vollendeter Schlichtheit vor, daß sie, als die Deklamation beendet war, nicht nur die allgemeine Aufmerksamkeit gefesselt, sondern auch durch die Wiedergabe des hohen geistigen Gehaltes der Ballade jene besondere, affektierte Feierlichkeit, mit der sie so triumphierend in die Mitte der Veranda getreten war, nachträglich gewissermaßen zum Teil gerechtfertigt hatte. In diesem feierlichen Wesen konnte man jetzt nur ihre grenzenlose und vielleicht naive Hochachtung vor demjenigen sehen, was sie wiederzugeben unternommen hatte. Ihre Augen leuchteten, und ein leiser, kaum bemerkbarer Schauer der Begeisterung und des Entzückens lief einigemal über ihr schönes Gesicht. Sie deklamierte:


»Einstmals lebt' ein armer Ritter,

Schweigsam, herzensgut und schlicht;

Kühn mit jedem Feinde stritt er,

Ernst und blaß war sein Gesicht.


In Verzückung war erschienen

Ihm ein himmlisch Frauenbild,

Nie vergaß er dessen Mienen,

Hehr und edel, hold und mild.


Ganz der Heiligen ergeben,

Mied er alle Frau'n hinfort,

Gönnt' in seinem ganzen Leben

Keinem ird'schen Weib ein Wort.


Und ein Paternoster trug er

Um den Hals als sondre Zier;

Niemals in die Höhe schlug er

Vorm Gesichte das Visier.


Dieser Rittersmann, getrieben

Von des Herzens reiner Glut,

Hat auf seinen Schild geschrieben

A.N.D. mit seinem Blut.


Als ins heil'ge Land sie kamen,

Rief ein jeder Christenheld

Seiner edlen Dame Namen

In der Schlacht auf blut'gem Feld.


›Lumen coeli, sancta rosa!‹

Rief jedoch mit wildem Blick

Unser Ritter; solch Gedroh sah

Scheu der Feind und wich zurück.


Heimgekehrt zur Burg der Väter,

Lebt' er fort, ein trüber Tropf,

Immer einsam, bis er später

Starb, nicht ganz normal im Kopf.«


Wenn der Fürst in späterer Zeit sich an diesen ganzen Vorgang erinnerte, so quälte er sich lange ratlos mit einer für ihn unlösbaren Frage ab: wie es möglich war, eine so echte, schöne Empfindung mit so offenbarem, boshaftem Spott zu vereinigen. Denn daß wirklich Spott dahintersteckte, daran zweifelte er nicht; das fühlte er deutlich, und er hatte zu seiner Auffassung seine guten Gründe: beim Deklamieren hatte sich Aglaja erlaubt, die Buchstaben A.N.D. mit den Buchstaben N.F.B. zu vertauschen. Daß hier kein Irrtum und kein Verhören seinerseits vorlag, daran konnte er nicht zweifeln (die Folgezeit lieferte den Beweis für die Richtigkeit seiner Ansicht). Jedenfalls war Aglajas Ausschreitung (die sicherlich nur als Scherz gemeint, aber doch gar zu keck und leichtsinnig war) vorher überlegt gewesen. Von dem »armen Ritter« hatten alle gesprochen und sich darüber amüsiert, schon vor einem Monat. Und trotzdem mußte der Fürst, wie sehr er auch später sein Gedächtnis anstrengte, zugeben, daß Aglaja jene Buchstaben nicht nur ohne jeden scherzhaften oder spöttischen Beiklang, nicht nur ohne eine besondere Betonung, die ihren geheimen Sinn stärker hervorgehoben hätte, sondern im Gegenteil mit so unverändertem Ernst, mit einer solchen unschuldigen, naiven Einfachheit gesprochen hatte, daß man hätte denken können, eben jene Buchstaben hätten in dem Gedicht gestanden, und es wäre so in dem Buch gedruckt gewesen. Es lag in ihrem Verhalten etwas, was den Fürsten peinlich verletzte. Lisaweta Prokofjewna hatte es natürlich nicht verstanden und weder die Vertauschung der Buchstaben noch die Anspielung gemerkt. General Iwan Fjodorowitsch begriff weiter nichts, als daß da ein Gedicht deklamiert wurde. Von den übrigen Zuhörern hatten sehr viele die Ausschreitung gemerkt und sich über deren Kühnheit und Tendenz gewundert; aber sie schwiegen und bemühten sich, harmlose Gesichter zu machen. Jewgeni Pawlowitsch jedoch hatte (darauf hätte der Fürst wetten mögen) nicht nur verstanden, sondern bestrebte sich auch, dies durch seine Miene zu zeigen: er lächelte überaus spöttisch.

»Ein reizendes Gedicht«, rief die Generalin in aufrichtigem Entzücken, sobald die Deklamation zu Ende war.

»Von wem ist es denn?«

»Von Puschkin, Mama. Machen Sie uns doch nicht solche Schande; man muß sich ja schämen!« rief Adelaida.

»Ihr stellt einen aber auch immer als Dummkopf hin!« erwiderte Lisaweta Prokofjewna gekränkt. »Schämt euch! Sowie wir nach Hause kommen, müßt ihr mir dieses Puschkinsche Gedicht geben.«

»Ich glaube, wir besitzen überhaupt keinen Puschkin.«

»Seit wer weiß wie langer Zeit liegen bei uns zwei ramponierte Bände herum«, fügte Alexandra hinzu.

»Dann schickt sofort jemanden nach der Stadt, um ein Exemplar zu kaufen, Fjodor oder Alexej, gleich mit dem nächsten Zug, am besten Alexej. Aglaja, komm einmal her! Gib mir einen Kuß; du hast sehr schön deklamiert; aber wenn du es ernst gemeint hast«, fügte sie beinah flüsternd hinzu, »so tust du mir leid; und wenn du ihn hast verspotten wollen, dann billige ich dein Benehmen nicht; dann wäre es jedenfalls besser gewesen, die Deklamation ganz zu unterlassen. Verstanden? Geh, mein Kind, ich werde noch mit dir darüber reden; aber wir haben hier schon zu lange gesessen.«

Unterdessen hatte der Fürst den General Iwan Fjodorowitsch begrüßt, und der General hatte ihm Jewgeni Pawlowitsch Radomski vorgestellt.

»Ich habe ihn in Petersburg unterwegs getroffen, und wir sind beide eben erst mit dem Zug angekommen. Er hörte, daß ich hierher ginge, und daß auch alle meine Angehörigen ...«

»Ich hörte, daß auch Sie hier in Pawlowsk seien«, unterbrach ihn Jewgeni Pawlowitsch; »und da ich mir schon längst fest vorgenommen hatte, nicht nur Ihre Bekanntschaft zu suchen, sondern auch nach Ihrer Freundschaft zu streben, so wollte ich keine Zeit verlieren. Sie sind nicht wohl? Ich habe es eben erst gehört ...«

»Ich bin ganz gesund und freue mich sehr, Sie kennenzulernen; Fürst Schtsch. hat mir viel von Ihnen erzählt, und ich habe sogar viel mit ihm von Ihnen gesprochen«, antwortete Ljow Nikolajewitsch, indem er ihm die Hand reichte.

Sie wechselten einige höfliche Worte, drückten einander die Hände und blickten sich gegenseitig prüfend in die Augen. Es entspann sich sofort ein gemeinsames Gespräch. Der Fürst bemerkte (und er bemerkte jetzt alles rasch und eifrig, vielleicht sogar Dinge, die gar nicht existierten), daß Jewgeni Pawlowitschs Zivilanzug ein allgemeines und ungewöhnlich starkes Aufsehen erregte, dergestalt, daß sogar alles, was die Gesellschaft bisher interessiert hatte, in den Hintergrund trat und vergessen wurde. Es machte den Eindruck, als lege man diesem Kostümwechsel eine besondere Wichtigkeit bei. Adelaida und Alexandra fragten den jungen Mann verwundert, was das zu bedeuten habe; Fürst Schtsch., sein Verwandter, redete darüber in großer Unruhe, der General sogar beinah in Aufregung. Nur Aglaja musterte den neuen Zivilisten einen Augenblick zwar neugierig, aber doch mit vollkommener Seelenruhe, als wolle sie lediglich durch Vergleichung feststellen, ob ihm der Militär-oder der Zivilanzug besser stehe, wandte sich aber dann gleich wieder von ihm ab und sah ihn nachher nicht weiter an. Auch Lisaweta Prokofjewna hatte keine Lust, Fragen an ihn zu richten, obgleich sie sich vielleicht ebenfalls einigermaßen beunruhigte. Es schien dem Fürsten, daß Jewgeni Pawlowitsch bei ihr in Ungnade stand.

»Ich war ganz verwundert, höchst erstaunt!« erwiderte Iwan Fjodorowitsch auf alle Fragen. »Ich traute meinen Augen nicht, als ich ihm vorhin in Petersburg begegnete. Und warum so plötzlich? Das ist mir ein reines Rätsel. Er selbst proklamiert es immer als seinen Grundsatz, man müsse sich stets vor Heftigkeit hüten.«

Bei dem sich nunmehr entwickelnden Gespräch ergab sich, daß Jewgeni Pawlowitsch sich seinen Bekannten gegenüber schon lange dahin geäußert hatte, daß er den Abschied zu nehmen gedenke; aber er hatte jedesmal in so wenig ernstem Ton darüber gesprochen, daß es unmöglich war, ihm zu glauben. Er sprach nämlich auch von ernsthaften Dingen immer mit so scherzhafter Miene, daß man gar nicht aus ihm klug werden konnte, besonders wenn er es selbst nicht wünschte.

»Ich bin ja nur zeitweilig, auf einige Monate, höchstens auf ein Jahr ausgetreten«, sagte Radomski lachend.

»Aber soweit ich wenigstens Ihre Verhältnisse kenne, liegt doch gar kein Grund dazu vor«, ereiferte sich der General immer noch.

»Muß ich denn nicht auch einmal meine Güter besichtigen? Sie haben es mir ja selbst geraten. Und außerdem möchte ich auch ins Ausland reisen ...«

Das Gespräch wendete sich übrigens bald anderen Gegenständen zu; aber die eigenartige und immer noch fortdauernde Unruhe überschritt doch nach der Meinung des alles beobachtenden Fürsten die Grenzen des Gewöhnlichen, und es mußte da wohl etwas Besonderes dahinterstecken.

»Also der ›arme Ritter‹ ist auch wieder aufs Tapet gebracht?« fragte Jewgeni Pawlowitsch, indem er an Aglaja herantrat.

Zur Verwunderung des Fürsten blickte diese ihn erstaunt und fragend an, wie wenn sie ihm zu verstehen geben wollte, daß zwischen ihnen beiden von dem »armen Ritter« nicht die Rede gewesen sein könne, und daß sie die Frage überhaupt nicht verstehe.

»Aber es ist zu spät, es ist viel zu spät jetzt, um nach der Stadt zu schicken und einen Puschkin holen zu lassen, viel zu spät!« stritt Kolja mit Lisaweta Prokofjewna energisch und hitzig. »Zum dreitausendstenmal sage ich Ihnen: es ist zu spät!«

»Ja, es dürfte vielleicht zu spät dazu sein, um jetzt noch nach der Stadt zu schicken«, mischte sich unvermutet Jewgeni Pawlowitsch ein, der möglichst schnell von Aglaja loszukommen suchte. »Ich glaube, die Läden werden in Petersburg schon geschlossen sein; es ist ja bald neun Uhr«, sagte er, die Uhr herausziehend.

»Sind wir solange ohne einen Puschkin ausgekommen, dann können wir auch noch bis morgen warten«, meinte Adelaida.

»Und für vornehme Leute ist es nicht einmal schicklich, sich für die Literatur besonders zu interessieren«, fügte Kolja hinzu. »Fragen Sie nur Jewgeni Pawlowitsch! Weit passender interessieren sich solche Leute für einen gelben char à banc mit roten Rädern.«

»Das haben Sie gewiß wieder aus einem Buch, Kolja!« bemerkte Adelaida.

»Alles, was er sagt, hat er aus Büchern«, stimmte Jewgeni Pawlowitsch bei. »Er reproduziert ganze Sätze aus den kritischen Revuen. Ich habe schon lange das Vergnügen, Nikolai Ardalionowitschs Redeweise zu kennen; aber diesmal hat er nun doch nicht aus einem Buch zitiert. Nikolai Ardalionowitsch macht eine deutliche Anspielung auf meinen gelben char à banc mit roten Rädern. Nur habe ich diesen Wagen bereits vertauscht, so daß Sie mit Ihrer Bemerkung zu spät kommen.«

Der Fürst hörte das, was Radomski sagte, mit an. Er hatte den Eindruck, daß dessen Benehmen recht nett, bescheiden und heiter sei; ganz besonders gefiel es ihm, daß derselbe mit Kolja, der ihn fortwährend neckte, auf völlig gleichem Fuß verkehrte und mit ihm durchaus freundschaftlich sprach.

»Was ist das?« Mit dieser Frage wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Wjera, die Tochter Lebedjews, die mit einigen Büchern in den Händen vor ihr stand. Die Bücher hatten ein großes Format und waren vorzüglich gebunden und fast neu.

»Ein Puschkin«, antwortete Wjera. »Unser Puschkin. Papa hat mir befohlen, ihn Ihnen zu bringen.«

»Wie ist das gemeint? Was stellt das vor?« fragte Lisaweta Prokofjewna erstaunt.

»Nicht als Geschenk, nicht als Geschenk! Das würde ich nicht wagen!« rief Lebedjew, der hinter der Schulter seiner Tochter hervorsprang. »Ich überlasse Ihnen die Bücher zu meinem Selbstkostenpreis. Dies ist unser eigener Familien-Puschkin, die Annenkowsche Ausgabe, die jetzt nirgends mehr aufzutreiben ist – zu meinem Selbstkostenpreis. Ich werde ihn Ihnen mit Ehrerbietung hinbringen, in dem Wunsch, ihn Ihnen zu verkaufen und dadurch die edle Ungeduld des höchst edlen literarischen Interesses Euer Exzellenz zu befriedigen.«

»Ah, du willst ihn verkaufen! Nun, dann danke ich schön. Du sollst nicht um dein Geld kommen; habe keine Angst; schneide nur keine Gesichter, Väterchen, sei so gut! Ich habe von dir gehört; du sollst ja ein sehr belesener Mann sein; wir plaudern schon noch einmal miteinander. Wie ist's? Willst du die Bücher selbst zu mir bringen?«

»Mit Ehrerbietung und größtem Respekt!« versetzte Lebedjew höchst zufrieden unter starkem Gesichterschneiden und nahm seiner Tochter die Bücher ab.

»Na, verliere sie nur nicht, wenn du sie hinbringst; Ehrerbietung ist dabei nicht vonnöten. Aber ich sage dir vorher«, fügte sie, ihn fest anblickend, hinzu, »über die Schwelle lasse ich dich nicht; dich heute zu empfangen, das liegt nicht in meiner Absicht. Deine Tochter Wjera kannst du mir aber gleich hinschicken; die hat mir sehr gefallen.«

»Warum sagen Sie denn nichts von jenen Leuten?« wandte sich Wjera ungeduldig an ihren Vater. »Sonst werden sie noch unaufgefordert hereinkommen; sie haben schon angefangen Lärm zu machen. Ljow Nikolajewitsch«, wandte sie sich an den Fürsten, der schon nach seinem Hut gegriffen hatte, »da sind schon vor längerer Zeit vier Menschen gekommen, die zu Ihnen wollen. Sie warten in unserer Wohnung und schimpfen; aber Papa will sie nicht zu Ihnen hereinlassen.«

»Was sind das für Besucher?« fragte der Fürst.

»Sie sagen, sie kämen in einer geschäftlichen Angelegenheit«, erwiderte Wjera. »Aber es sind Menschen von solcher Art, daß sie, wenn sie jetzt nicht vorgelassen werden, sich nicht scheuen werden, Sie einmal auf der Straße anzuhalten. Es wird das beste sein, wenn Sie sie vorlassen, Ljow Nikolajewitsch, und sie dann ein für allemal abschütteln. Gawrila Ardalionowitsch und Ptizyn reden dort auf sie ein; aber sie hören nicht darauf.«

»Es ist Pawlischtschews Sohn, es ist Pawlischtschews Sohn! Er ist es nicht wert, er ist es nicht wert!« rief Lebedjew mit lebhaftem Armschwenken. »Die Leute sind nicht wert, daß man sie anhört, und es schickt sich gar nicht, daß Sie, durchlauchtigster Fürst, sich ihretwegen stören lassen. So ist es. Die Menschen verdienen es nicht ...«

»Pawlischtschews Sohn! Mein Gott!« rief der Fürst in größter Verlegenheit. »Ich weiß ... aber ich hatte ja ... ich hatte ja Gawrila Ardalionowitsch mit der Erledigung dieser Sache beauftragt. Eben hat mir noch Gawrila Ardalionowitsch gesagt ...«

Aber Gawrila Ardalionowitsch kam bereits aus den Zimmern auf die Veranda heraus; ihm folgte Ptizyn. In dem nächsten Zimmer hörte man Lärm und die laute Stimme des Generals Iwolgin, der, wie es schien, einige andere Stimmen zu überschreien suchte. Kolja lief sogleich dahin, wo der Lärm war.

»Das ist sehr interessant«, bemerkte Jewgeni Pawlowitsch laut. »Also ist er orientiert!« dachte der Fürst.

»Was für ein Sohn Pawlischtschews? Und ... was kann das für ein Sohn Pawlischtschews sein?« fragte der General Iwan Fjodorowitsch erstaunt, der neugierig seinen Blick über alle Gesichter schweifen ließ und mit Verwunderung bemerkte, daß diese neue Geschichte nur ihm allein unbekannt sei.

In der Tat, die Aufregung und Spannung war allgemein. Der Fürst war höchst verwundert, daß diese seine rein persönliche Angelegenheit bereits das Interesse aller Anwesenden in so hohem Grad erregt hatte.

»Es wird sehr gut sein, wenn Sie diese Angelegenheit sogleich und persönlich erledigen«, sagte Aglaja, die mit besonders ernstem Wesen zum Fürsten hintrat. »Und uns allen wollen Sie, bitte, erlauben, Ihre Zeugen zu sein. Man will Sie mit Schmutz bewerfen, Fürst; Sie müssen sich feierlich rechtfertigen, und ich freue mich schon im voraus herzlich für Sie.«

»Auch ich würde wünschen, daß diese garstige Prätention endlich einmal zu Ende käme!« rief die Generalin. »Gib es ihnen ordentlich, Fürst; schone sie nicht! Ich habe schon so viel von dieser Affäre hören müssen, und es ist mir oft genug die Galle übergelaufen. Aber es wird interessant sein, diese Menschen einmal anzusehen. Rufe sie herein, und wir wollen uns wieder hinsetzen. Aglajas Rat war gut. Haben Sie von dieser Angelegenheit etwas gehört, Fürst?« wandte sie sich an Fürst Schtsch.

»Gewiß, ich habe davon gehört, und zwar bei Ihnen. Aber es reizt mich ganz besonders, mir diese jungen Leute anzusehen«, erwiderte Fürst Schtsch.

»Es sind wohl Nihilisten, nicht wahr?« fragte Lisaweta Prokofjewna.

»Nein, Nihilisten sind sie eigentlich nicht«, sagte Lebedjew vortretend; auch er zitterte vor Aufregung; »es ist eine andere, besondere Sorte. Mein Neffe hat mir gesagt, sie gingen weiter als die Nihilisten. Wenn Euer Exzellenz etwa meinen, diese Leute durch Ihre Gegenwart verlegen zu machen, so würde das ein Irrtum sein; die werden nicht verlegen. Die Nihilisten sind doch manchmal kenntnisreiche Leute, sogar gelehrte Leute; aber diese hier gehen weiter, weil sie vor allem materielle Interessen im Auge haben. Es ist das eigentlich eine Folgeerscheinung des Nihilismus, wenn auch keine unmittelbare, sondern nur eine indirekte: sie kennen den Nihilismus nur vom Hörensagen. Diese Leute sprechen sich nicht in einem Zeitungsartikel aus, sondern schreiten sofort zur Tat; es ist zum Beispiel nicht davon die Rede, ob Puschkin sinnlos ist, oder ob Rußland in seine Teile zerfallen muß; nein, diese Menschen betrachten es jetzt geradezu als ihr Recht, wenn sie nach etwas Verlangen tragen, vor keinem Hindernis haltzumachen, und wenn sie acht Personen dabei abmurksen müßten. Aber, ich würde Ihnen doch nicht raten, Fürst ...«

Indes der Fürst ging schon zur Tür, um sie den Besuchern zu öffnen.

»Sie verleumden die Leute, Lebedjew«, sagte er lächelnd; »Sie haben sich zu sehr über Ihren Neffen geärgert. Glauben Sie ihm nicht, Lisaweta Prokofjewna! Ich versichere Ihnen: Leute wie Gorski und Danilow1 sind nur seltene Ausnahmen; diese Leute hier ... sind nur in einem Irrtum befangen. Aber es wäre mir nicht lieb, wenn die Sache hier in Gegenwart aller verhandelt würde. Verzeihen Sie also, Lisaweta Prokofjewna; sie werden hereinkommen, ich werde sie Ihnen zeigen und dann wegführen. Treten Sie näher, meine Herren!«

Was ihn beunruhigte, war vielmehr ein anderer, ihm peinlicher Gedanke. In seinem Kopf war die Frage aufgetaucht: war nicht vielleicht diese ganze Sache von jemandem künstlich im voraus arrangiert, gerade zu dieser Zeit und Stunde, wo diese Zeugen zugegen waren, und zwar vielleicht arrangiert in der Erwartung, daß sie nicht mit seinem Triumph, sondern mit seiner Beschämung enden werde? Aber er war ganz betrübt über diesen »ungeheuerlichen, schändlichen Argwohn«. Er müßte ja, meinte er, vor Scham in die Erde sinken, wenn jemand erführe, daß er so etwas denke; und in dem Augenblick, als die neuen Besucher eintraten, war er aufrichtig bereit zu glauben, daß er in sittlicher Hinsicht auf einem weit niedrigeren Standpunkt stehe als irgendeiner der übrigen Anwesenden.

Es traten fünf Personen ein; vier davon waren die neuen Gäste, und als fünfter folgte ihnen General Iwolgin, ganz ereifert, in Aufregung und in einem starken Anfall von Redelust. »Der wenigstens ist auf meiner Seite!« dachte der Fürst lächelnd. Kolja schlüpfte mit den andern zusammen herein. Er sprach eifrig mit Ippolit, der zu den Ankömmlingen gehörte; Ippolit hörte ihn an und lächelte.

Der Fürst bat die Besucher, Platz zu nehmen. Sie waren fast alle noch ein so jugendliches, von der Volljährigkeit noch so weit entferntes Völkchen, daß man sich über den ganzen Vorfall und die dadurch hervorgerufene Aufregung wundern konnte. Namentlich war Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, der von dieser »neuen Affäre« nichts wußte und nichts verstand, geradezu empört, als er diese junge Gesellschaft erblickte, und hätte sicherlich irgendwie Einspruch erhoben, wenn ihn nicht der ihm merkwürdige Umstand davon zurückgehalten hätte, daß seine Gattin an den Privatangelegenheiten des Fürsten so warmen Anteil nahm. Er blieb übrigens teils aus Neugier, teils aus Gutherzigkeit, sogar in der Hoffnung, helfen und jedenfalls durch seine Autorität von Nutzen sein zu können; aber die Verbeugung, die ihm der eintretende General Iwolgin machte, verstimmte ihn von neuem; er runzelte die Stirn und nahm sich vor, hartnäckig zu schweigen.

Unter den vier Besuchern war übrigens einer der dreißigjährige Leutnant a.D., der Boxer, der zur Rogoschinschen Rotte gehört und angeblich früher selbst jedem Bittsteller fünfzehn Rubel gegeben hatte. Es lag die Vermutung nahe, daß er die übrigen in der Eigenschaft eines aufrichtigen Freundes begleite, um ihnen Mut zu machen und nötigenfalls als Beistand zu dienen. Unter den übrigen nahm die erste Stelle ein und spielte die erste Rolle derjenige, der als »Pawlischtschews Sohn« bezeichnet wurde, wiewohl er sich mit dem Namen Antip Burdowski vorstellte. Es war dies ein junger Mann, ärmlich und schlampig gekleidet, in einem Oberrock, dessen Ärmel so fettig waren, daß sie spiegelten, mit einer unsauberen, bis oben zugeknöpften Weste, ohne alle sichtbare Wäsche, mit einem schwarzseidenen, unglaublich vollgefetteten, zu einem Strick zusammengedrehten Halstuch, mit ungewaschenen Händen, mit einem Gesicht, das ganz mit Pickeln besät war, mit blondem Haar und, wenn man sich so ausdrücken kann, unschuldig-frechem Blick. Er war von kleiner Statur, mager und ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt. Auf seinem Gesicht war nicht die geringste Spur von Ironie oder überhaupt von Denktätigkeit ausgeprägt, sondern nur eine vollständige stumpfe Trunkenheit von dem Bewußtsein, sich im Recht zu befinden, und gleichzeitig ein sonderbarerweise zum steten Bedürfnis gewordenes Gefühl, als sei er beleidigt worden. Er sprach in erregtem Ton, heftig und stockend, einzelne Worte nicht ganz zu Ende bringend, wie wenn er ein Stotterer oder gar ein Ausländer wäre, obgleich er von rein russischer Abkunft war.

Es begleiteten ihn erstens der den Lesern bereits bekannte Neffe Lebedjews und zweitens Ippolit. Ippolit war ein sehr junger Mensch, ungefähr siebzehn, vielleicht achtzehn Jahre alt, mit einem klugen Gesicht, das aber beständig den Ausdruck der Gereiztheit trug und die schrecklichen Spuren seiner Krankheit zeigte. Er war mager wie ein Skelett, mit blaßgelber Haut; seine Augen funkelten, und auf seinen Backen brannten zwei rote Flecken. Er hustete beständig; jedes Wort, fast jeder Atemzug war von einem Röcheln begleitet. Er befand sich offenbar im höchsten Stadium der Schwindsucht. Es schien, daß er nur noch zwei bis drei Wochen zu leben habe. Er war sehr müde und ließ sich früher als alle andern auf einen Stuhl nieder. Die übrigen genierten sich beim Eintritt ein wenig und waren sogar verlegen; sie blickten jedoch wichtigtuerisch drein und fürchteten offenbar, sich etwas von ihrer Würde zu vergeben. Das stand in seltsamem Widerstreit zu ihrem Ruf als Gegner aller nutzlosen gesellschaftlichen Possen und Vorurteile und überhaupt fast aller Dinge auf der Welt mit Ausnahme ihrer eigenen Interessen.

»Antip Burdowski«, sagte der »Sohn Pawlischtschews« hastig und stockend.

»Wladimir Doktorenko«, stellte sich mit klarer, deutlicher Aussprache Lebedjews Neffe vor; es klang, als brüste er sich mit seinem Namen.

»Keller«, murmelte der Leutnant a.D.

»Ippolit Terentjew«, sagte der letzte mit einer Stimme, deren kreischender Ton etwas Überraschendes hatte. Alle hatten endlich in einer Reihe auf Stühlen dem Fürsten gegenüber Platz genommen und sich sogleich vorgestellt; nun machten sie finstere Gesichter und schoben, um sich Mut zu machen, ihre Mützen von einer Hand in die andere; alle bereiteten sich darauf vor, zu reden, schwiegen aber trotzdem sämtlich; sie schienen auf etwas mit einer herausfordernden Miene zu warten, in der gleichsam zu lesen war: »Nein, Bruder, da irrst du dich; du wirst mich nicht übers Ohr hauen!« Man hatte das Gefühl, daß jemand zum Anfang nur das erste Wort, nur ein einziges Wort zu sagen brauche, dann würden sie sofort alle zusammen, sich wechselseitig unterbrechend und einander zuvorkommend, zu reden beginnen.


Fußnoten

1 Gewalttätige Verbrecher. (A.d.Ü.)


VIII


»Meine Herren, ich habe niemand von Ihnen erwartet«, begann der Fürst; »ich selbst bin bis heute krank gewesen; Ihre Angelegenheit aber« (er wandte sich an Antip Burdowski) »hatte ich schon vor einem Monat Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin zur Erledigung übergeben, wovon ich Sie gleich damals benachrichtigt habe. Übrigens will ich einer persönlichen Aussprache nicht ausweichen; nur werden Sie selbst zugeben, daß es dazu schon etwas spät am Tage ist ... Ich möchte Ihnen vorschlagen, mit mir in ein Zimmer zu gehen, wenn es nicht zu lange dauert ... Hier sind jetzt meine Freunde, und seien Sie überzeugt ...«

»Freunde können dabei sein, soviel Sie wollen; aber erlauben Sie«, unterbrach ihn plötzlich in sehr anmaßendem Ton, wiewohl ohne noch die Stimme besonders zu erheben, Lebedjews Neffe, »erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie uns hätten höflicher behandeln können und uns nicht zwei Stunden lang in Ihrer Gesindestube hätten warten zu lassen brauchen ...«

»Gewiß ... auch ich ... Das ist so recht fürstenmäßig! Sie freilich ... sind ein vornehmer Mann; aber ich ... bin nicht Ihr Lakai! Und ich ... ich ...«, murmelte Antip Burdowski in großer Aufregung, mit bebenden Lippen; Speicheltröpfchen flogen ihm aus dem Mund; es war, als wenn er jeden Augenblick bersten und platzen wollte. Aber er überhastete sich so, daß nach einem Dutzend Worten nichts mehr zu verstehen war.

»Das war so recht fürstenmäßig!« schrie Ippolit mit seiner kreischenden, rissigen Stimme.

»Wenn mir das passiert wäre«, brummte der Boxer, »das heißt, wenn sich dieses Benehmen direkt gegen mich als anständigen Menschen richtete, dann hätte ich an Burdowskis Stelle ... ja, dann hätte ich ...«

»Meine Herren, ich habe erst diesen Augenblick erfahren, daß Sie hier sind, bei Gott!« erwiderte der Fürst.

»Wir fürchten uns nicht vor Ihren Freunden, Fürst, wer es auch immer sein mag, weil wir in unserm Recht sind«, erklärte wieder Lebedjews Neffe.

»Gestatten Sie indessen die Frage«, kreischte wieder Ippolit, der aber jetzt schon sehr hitzig geworden war, »welches Recht Sie haben, Burdowskis Angelegenheit dem Urteil Ihrer Freunde zu unterbreiten? Wir wünschen vielleicht gar nicht, daß Ihre Freunde darüber urteilen; es ist nur zu klar, was das Urteil Ihrer Freunde für einen Wert hat ...!«

»Aber wenn Sie, Herr Burdowski, hier nicht zu sprechen wünschen«, sagte der Fürst, als es ihm endlich gelang, zu Worte zu kommen (er war über diesen Anfang des Gesprächs außerordentlich erstaunt), »so lassen Sie uns, wie schon gesagt, gleich in ein Zimmer gehen. Davon aber, daß Sie alle hier seien, habe ich, wie ich Ihnen nochmals bemerke, erst diesen Augenblick gehört ...«

»Aber Sie haben kein Recht, Sie haben kein Recht, Sie haben kein Recht ...! Ihre Freunde ... Da ...!« stotterte Burdowski von neuem. Er sah scheu und ängstlich um sich und ereiferte sich immer mehr, je mehr sein Selbstvertrauen sank und seine Furcht wuchs. »Sie haben kein Recht.«

Nachdem er das gesagt hatte, schnappte er ganz plötzlich ab, als ob er nichts weiter wüßte; und stumm seine kurzsichtigen, stark hervorstehenden, mit dicken, roten Äderchen durchzogenen Augen aufreißend, starrte er, mit dem ganzen Oberkörper vornübergebeugt, den Fürsten an. Diesmal war der Fürst so verwundert, daß auch er verstummte und ihn gleichfalls mit weitgeöffneten Augen, ohne ein Wort zu sagen, ansah.

»Ljow Nikolajewitsch!« rief auf einmal Lisaweta Prokofjewna. »Lies doch dies hier gleich einmal vor, augenblicklich! Das hat auf deine Angelegenheit unmittelbaren Bezug!«

Sie hielt ihm eilig eine humoristische Wochenschrift hin und wies mit dem Finger auf einen Artikel. Lebedjew war in dem Augenblick, als die neuen Gäste noch im Hereinkommen begriffen waren, von der Seite zu Lisaweta Prokofjewna herangesprungen, um deren Gunst er sich sehr bemühte, hatte, ohne ein Wort zu sagen, aus der Seitentasche seines Rocks diese Zeitschrift herausgezogen, sie ihr gerade vor die Augen gehalten und auf eine angestrichene Spalte hingezeigt. Durch das, was Lisaweta Prokofjewna bereits davon gelesen hatte, war sie in gewaltige Verwunderung und Entrüstung versetzt worden.

»Wäre es aber nicht besser, es nicht laut zu lesen«, stammelte der Fürst sehr verlegen; »ich würde es lieber für mich allein lesen ... später ...«

»Dann lies du es lieber vor, sofort, laut! Laut!« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Kolja und riß dem Fürsten die Zeitschrift, die er noch kaum berührt hatte, ungeduldig aus den Händen. »Lies es allen laut vor, damit es jeder hört.«

Lisaweta Prokofjewna war eine heißblütige, leidenschaftliche Dame, so daß sie manchmal plötzlich, ohne lange zu überlegen, alle Anker lichtete und, unbekümmert um das Wetter, aufs hohe Meer hinausfuhr. Iwan Fjodorowitsch bewegte sich unruhig hin und her. Aber während alle im ersten Augenblick unwillkürlich starr waren und verwundert warteten, was da kommen werde, hatte Kolja die Zeitschrift auseinandergeschlagen und begann nun, laut von der Stelle an zu lesen, die ihm der hinzuspringende Lebedjew zeigte:

»Proletarier und Edelinge. Eine Episode aus dem täglichen und alltäglichen Räuberwesen. Fortschritt! Reform! Gerechtigkeit!

Seltsame Dinge kommen in unserem sogenannten heiligen Rußland vor, im Zeitalter der Reformen und der unternehmungslustigen Aktiengesellschaften, in dem Zeitalter des Nationalgefühls und der jährlichen Ausfuhr Hunderter von Millionen ins Ausland, in dem Zeitalter der Beschützung des Handwerks und der Lähmung der arbeitenden Hände und so weiter und so weiter; man kann nicht alles aufzählen, meine Herren, daher kommen wir sofort zur Sache. Es hat sich eine sonderbare Geschichte mit einem der edlen Sprößlinge unseres ehemaligen Gutsherrnstandes (de profundis!) zugetragen, mit einem jener Sprößlinge, deren Großväter ihr Vermögen beim Roulette verspielten, und deren Väter sich genötigt sahen, als Fähnriche und Leutnants zu dienen, und gewöhnlich im Anklagezustand wegen irgendeines harmlosen Defizits bei den Staatsgeldern starben, und die dann selbst, wie der Held unserer Erzählung, entweder als Idioten aufwachsen oder sogar in Kriminalprozesse hineingeraten (bei denen sie übrigens zum Zweck ihrer Besserung und zur Erbauung anderer von den Geschworenen freigesprochen zu werden pflegen) oder endlich zu guter Letzt eine jener Geschichten loslassen, die das Publikum in Erstaunen versetzen und unserem an sich schon hinreichend schmählichen Zeitalter zur Schande gereichen. Unser junger Edeling kehrte vor einem halben Jahr, mit ausländischen Gamaschen angetan und in einem ungefütterten Mäntelchen vor Kälte zitternd, im Winter nach Rußland aus der Schweiz zurück, wo er eine Kur gegen seine Idiotie durchgemacht hatte (sic!). Man muß bekennen, daß er Glück hatte; denn (wir reden noch gar nicht von seiner interessanten Krankheit, von der er sich in der Schweiz kurieren ließ; aber ist denn Idiotie überhaupt heilbar? Stellen Sie sich das nur einmal vor?!!) er konnte an seiner Person die Wahrheit des russischen Sprichworts beweisen: ›Eine gewisse Sorte von Menschen hat immer Glück!‹ Urteilen Sie selbst: nach dem Tod seines Vaters, der, wie es heißt, als Leutnant in der Untersuchungshaft gestorben war, weil er im Kartenspiel die ganzen Kompaniegelder verloren oder vielleicht auch einem Untergebenen eine übermäßige Portion Rutenhiebe hatte verabreichen lassen (vergessen Sie nicht, meine Herren, das war in der alten Zeit), wurde unser Baron, der als Säugling zurückgeblieben war, aus Barmherzigkeit von einem sehr reichen russischen Gutsbesitzer aufgezogen. Dieser russische Gutsbesitzer (nennen wir ihn P.!) besaß in jener alten goldenen Zeit viertausend leibeigene Seelen (leibeigene Seelen! verstehen Sie diesen Ausdruck, meine Herren? Ich verstehe ihn nicht. Man muß erst das Konversationslexikon befragen; ›nicht lang ist's her, und doch ist's kaum zu glauben‹1) und war offenbar einer jener russischen Nichtstuer und Tagediebe, die ihr müßiges Leben im Ausland verbrachten, im Sommer in den Badeorten und im Winter im Pariser Château des fleurs, wo sie seinerzeit enorme Summen zurückließen. Man kann mit Bestimmtheit sagen, daß mindestens ein Drittel des gesamten in der früheren Zeit der Leibeigenschaft gezahlten Pachtzinses in die Tasche des Besitzers des Pariser Château des fleurs floß (war das ein glücklicher Mensch!). Wie dem auch gewesen sein mag, jedenfalls ließ der sorglose P. dem verwaisten jungen Herrn eine fürstliche Erziehung zuteil werden und hielt ihm Erzieher und Gouvernanten (ohne Zweifel hübsche), die er bei Gelegenheit selbst aus Paris mitbrachte. Aber der junge Edeling, der Letzte seines Geschlechtes, war ein Idiot. Die Gouvernanten aus dem Château des fleurs konnten ihm nicht helfen, und bis zum zwanzigsten Lebensjahr vermochte ihr Zögling keine einzige Sprache zu sprechen, nicht einmal die russische. Letzteres ist übrigens verzeihlich. Endlich bildete sich in P.s russischem Gutsherrnkopf die Vorstellung, man könne einem Idioten in der Schweiz Verstand beibringen lassen, übrigens eine von seinem Standpunkt aus logische Vorstellung: so ein Müßiggänger und Proprietär konnte sich sehr wohl denken, daß man für Geld sogar Verstand auf dem Markt kaufen könne, ganz besonders in der Schweiz. Fünf Jahre lang befand sich nun der edle Sprößling zur Kur bei einem bekannten Professor in der Schweiz; diese Kur kostete viele tausend Rubel: der Idiot wurde dadurch natürlich nicht klug, aber doch, wie man sagt, einem Menschen wenigstens so halbwegs ähnlich. Da stirbt P. unerwartet früh. Ein Testament war natürlich nicht vorhanden; die Vermögensverhältnisse befanden sich, wie das gewöhnlich der Fall ist, in arger Unordnung; es stellte sich ein Haufe gieriger Erben ein, die sich natürlich nicht im geringsten mehr um diesen letzten Sprößling seines Geschlechtes kümmerten, den der Verstorbene aus Barmherzigkeit in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen wollen. Der junge Edeling, Idiot wie er war, versuchte doch, seinen Professor zu betrügen, und ließ sich, wie man erzählt, von ihm zwei Jahre lang gratis behandeln, indem er ihm den Tod seines Wohltäters verheimlichte. Aber der Professor war selbst ein schlauer Patron; das Ausbleiben der Zahlungen und ganz besonders der starke Appetit seines fünfundzwanzigjährigen faulenzenden Patienten machten ihn doch schließlich stutzig; er gab ihm ein Paar alte Gamaschen von sich zum Anziehen, schenkte ihm einen abgetragenen Mantel von sich und spedierte ihn aus Barmherzigkeit dritter Klasse nach Rußland; so war die Schweiz ihn losgeworden. Es könnte nun scheinen, als habe Fortuna unserem Helden den Rücken gewendet. Das war jedoch nicht der Fall: Fortuna, die ganze Gouvernements Hungers sterben läßt, schüttete auf einmal alle ihre Gaben über diesen Aristokraten aus, wie in der Krylowschen Fabel die Wolke über das ausgetrocknete Feld hinwegzieht und ihr Wasser in den Ozean hinabschüttet. Fast in demselben Augenblick, als er aus der Schweiz in Petersburg eintraf, starb in Moskau ein Verwandter seiner Mutter (die natürlich aus dem Kaufmannsstand stammte), ein alter, kinderloser, allein dastehender, langbärtiger Kaufmann und Sektierer, und hinterließ eine Erbschaft von mehreren Millionen in barem Geld, die (ja, das wäre etwas für uns beide, mich und Sie, lieber Leser!) in ihrem ganzen Betrag unanfechtbar unserem jungen Edeling zufiel, der sich in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen! Na, nun klang die Musik natürlich anders. Um unseren Baron in Gamaschen, der schon angefangen hatte, einer bekannten Schönheit der Halbwelt den Hof zu machen, sammelte sich auf einmal ein ganzer Schwarm von Freunden; es fanden sich auch Verwandte ein und vor allem ganze Scharen vornehmer Mädchen, die danach schmachteten, mit ihm in den Stand der heiligen Ehe zu treten. Und was konnte man sich auch Besseres denken: ein Aristokrat, ein Millionär, ein Idiot, also alle Vorzüge vereint; einen solchen Mann kann man nicht einmal mit der Laterne finden oder auf Bestellung geliefert bekommen ...!«

»Das ... das übersteigt ja alles!« rief Iwan Fjodorowitsch in höchster Entrüstung.

»Hören Sie auf, Kolja!« rief der Fürst in flehendem Ton. Von allen Seiten erschollen verschiedenartige Ausrufe.

»Weiterlesen! Unter allen Umständen weiterlesen!« verlangte Lisaweta Prokofjewna auf das allerbestimmteste; sie beherrschte sich augenscheinlich nur mit größter Anstrengung. »Fürst, wenn du ihm das Weiterlesen verbietest, bekommst du es mit mir zu tun!«

Es war nichts zu machen: mit heißem Gesicht, geröteten Wangen und mit einer Stimme, die vor Aufregung zitterte, las Kolja weiter vor: »Aber während unser neugebackener Millionär sozusagen im Schoß des Glückes saß, geschah etwas von einer Seite her, von der es niemand erwartet hatte. Eines schönen Morgens erscheint bei ihm ein Besucher, mit ruhigem, ernstem Gesicht, mit höflicher, aber würdiger und rechtlicher Redeweise, bescheiden und anständig gekleidet, in seiner Denkart offenbar der fortschrittlichen Richtung angehörig, und erklärt ihm in wenigen Worten den Grund seines Kommens: er ist ein bekannter Advokat; er ist von einem jungen Mann mit der Vertretung seiner Interessen beauftragt worden und kommt in dessen Namen. Dieser junge Mann ist nicht mehr und nicht weniger als ein Sohn des verstorbenen P., obgleich er einen andern Namen trägt. Der Lüstling P. hatte in seiner Jugend ein anständiges, armes Mädchen verführt, das zu seinem Hofgesinde gehörte, aber eine westeuropäische Erziehung genossen hatte (wobei selbstverständlich die Herrenrechte der damaligen Zeit der Leibeigenschaft mit ins Spiel kamen), und als die unausbleiblichen, nahe bevorstehenden Folgen dieses Verhältnisses sichtbar wurden, sie möglichst schnell an einen erwerbstätigen, sogar in dienstlicher Stellung befindlichen Mann von edlem Charakter verheiratet, der dieses Mädchen schon lange geliebt hatte. Anfangs unterstützte er das junge Ehepaar; aber die edle Gesinnung des Ehemannes veranlaßte diesen bald, die weitere Annahme solcher Unterstützung abzulehnen. Es verging nun einige Zeit, und P. vergaß allmählich das Mädchen und seinen mit ihr erzeugten Sohn und starb dann bekanntlich, ohne testamentarische Anordnungen zu hinterlassen. Sein Sohn, der zu einer Zeit geboren wurde, als seine Mutter bereits in legitimer Ehe lebte, wuchs unterdessen unter einem andern Familiennamen heran und wurde von dem edeldenkenden Gatten seiner Mutter völlig als Sohn behandelt; aber als er bei dessen Tod mit der kränklichen, leidenden, an den Füßen gelähmten Mutter in einem abgelegenen Gouvernement zurückblieb, sah er sich vollständig auf seine eigenen Mittel angewiesen. Er selbst ging nach der Hauptstadt und verdiente sich Geld durch tägliche anständige Arbeit, indem er in Kaufmannsfamilien Privatstunden gab und sich dadurch zuerst als Gymnasiast, dann als Hörer der für ihn zweckmäßigen Universitätsvorlesungen erhielt, wobei er ein höheres Ziel im Auge hatte. Aber kann man etwa viel erwerben, wenn einem der russische Kaufmann für die Stunde zehn Kopeken gibt und man obendrein eine kranke, gelähmte Mutter hat? Auch als diese schließlich in dem abgelegenen Gouvernement starb, wurde der Sohn dadurch nicht sonderlich entlastet. Nun werfen wir die Frage auf: wie mußte unser junger Edeling gerechterweise denken? Gewiß meinen Sie, verehrter Leser, daß er zu sich folgendermaßen gesprochen hat: ›Ich habe mein ganzes Leben lang von P. alle erdenklichen Wohltaten genossen; für meinen Unterhalt und meine Erziehung, für Gouvernanten und dann in der Schweiz für die Heilung von der Idiotie sind viele, viele Tausende draufgegangen; und da besitze ich nun jetzt Millionen, während P.s edeldenkender Sohn, der an den Fehltritten seines leichtsinnigen, vergeßlichen Vaters keinerlei Schuld trägt, sich mit Privatstunden zu Tode quält. Alles, was für mich aufgewandt wurde, hätte gerechterweise für ihn aufgewandt werden sollen. Die für mich ausgegebenen gewaltigen Summen kamen mir in Wirklichkeit nicht zu. Es war dies nur ein Irrtum der blinden Fortuna; sie gehörten eigentlich dem Sohn P.s. Für ihn hätten sie verbraucht werden sollen, nicht für mich; letzteres war nur die Ausgeburt einer phantastischen Laune des leichtsinnigen, vergeßlichen P. Wenn ich im vollen Sinn ein edler, feinfühliger, gerechter Mensch wäre, so müßte ich seinem Sohn die Hälfte meiner ganzen Erbschaft abgeben; aber da ich vor allen Dingen ein kluger Mensch bin und recht gut weiß, daß die Sache nicht einklagbar ist, so werde ich ihm nicht die Hälfte meiner Millionen geben. Aber allerdings würde es von meiner Seite gar zu gemein und schamlos sein‹ (der Edeling vergaß, daß es auch nicht klug sein würde), ›wenn ich dem Sohn P.s jetzt nicht wenigstens die Tausende zurückerstattete, die P. für die Heilung meiner Idiotie ausgegeben hat. Das ist lediglich eine Forderung des Gewissens und der Gerechtigkeit! Denn was wäre aus mir geworden, wenn P. mich nicht aufgezogen, sondern statt dessen sich um seinen Sohn bekümmert hätte?‹

Aber nein, meine Herren! Unsere jungen Edelinge denken nicht so. Was für Vorstellungen ihm auch der Advokat machte, der die mühevolle Vertretung der Sache des jungen Mannes einzig und allein aus Freundschaft zu diesem und fast wider dessen Willen, beinah gewaltsam übernommen hatte, wie sehr er ihn auch auf die Pflichten der Ehre, des Anstandes und der Gerechtigkeit, ja sogar auf die Gebote der gewöhnlichen Klugheit hinwies, der Schweizer Zögling blieb unerbittlich, und was tat er? Alles Bisherige wäre noch nichts; aber nun kommt etwas, was wirklich unverzeihlich und durch keine interessante Krankheit zu entschuldigen ist: dieser Millionär, der kaum die Gamaschen seines Professors ausgezogen hatte, konnte nicht einmal so viel kapieren, daß der edeldenkende junge Mann, der sich mit Privatstunden quälte, ihn nicht um ein Almosen und eine Unterstützung bat, sondern sein Recht forderte, dasjenige verlangte, was ihm zustand, wenn auch nicht im gerichtlichen Sinne; und ebensowenig wußte der Millionär es zu würdigen, daß der junge Mann seine Ansprüche nicht persönlich erhob, sondern nur seine Freunde für ihn eintraten. Mit majestätischer Miene, berauscht von der durch seine Millionen ihm zugefallenen Macht, andere Menschen ungestraft niederzutreten, zieht unser Edeling einen Fünfzigrubelschein heraus und ist frech genug, ihn dem edeldenkenden jungen Mann als Almosen zu schicken. Sie glauben es nicht, meine Herren? Sie sind empört, beleidigt und stoßen einen Schrei der Entrüstung aus: aber trotz alledem hat er es getan! Selbstverständlich wurde ihm das Geld sogleich zurückgeschickt, sozusagen ihm ins Gesicht zurückgeschleudert. Wie soll nun die Sache erledigt werden? Gerichtlich verfolgen läßt sie sich nicht; es bleibt nur der Weg der Öffentlichkeit übrig! Wir übergeben daher dieses Geschichtchen dem Publikum, indem wir uns für seine Richtigkeit verbürgen. Man sagt, einer unserer bekanntesten Humoristen habe darüber ein reizendes Epigramm verfaßt, das nicht nur in den provinziellen, sondern auch in den hauptstädtischen Sittenschilderungen eine Stelle zu finden verdient:


In 'nem Mäntelchen von Schneider2

Spielte Ljow3 fünf Jahr herum;

Unterdessen wurde leider

Nichts aus seinem Studium.

Heimgekehrt drauf in Gamaschen,

Erbt' er glücklich 'ne Million

Und bestahl trotz voller Taschen

Einen armen Musensohn.«


Als Kolja geendet hatte, reichte er die Zeitschrift so schnell wie möglich dem Fürsten hin, stürzte, ohne ein Wort zu sagen, in eine Ecke, drückte sich dicht hinein und verbarg das Gesicht in den Händen. Er schämte sich in einem unerträglichen Grade, und sein kindliches, an Schmutz noch nicht gewöhntes Empfinden war maßlos verletzt. Es schien ihm, als sei etwas ganz Ungewöhnliches vorgegangen, als sei alles Bestehende dadurch auf einmal niedergerissen, und als sei er selbst beinah mit daran schuld, schon allein dadurch, daß er es laut vorgelesen habe.

Aber auch alle übrigen schienen Ähnliches zu empfinden.

Die jungen Mädchen fühlten sich sehr unbehaglich und schämten sich. Lisaweta Prokofjewna hielt einen heftigen Zorn gewaltsam zurück und bereute es wohl bitter, sich in die Sache eingelassen zu haben; jetzt schwieg sie. Mit dem Fürsten ging dasselbe vor, was allzu schüchternen Menschen in solchen Fällen zu begegnen pflegt: er schämte sich dermaßen über das Benehmen anderer, nämlich seiner Gäste, daß er sich im ersten Augenblick fürchtete, sie auch nur anzusehen. Ptizyn, Warja, Ganja, sogar Lebedjew, alle machten etwas verlegene Gesichter. Das Sonderbarste war, daß Ippolit und »Pawlischtschews Sohn« ebenfalls erstaunt zu sein schienen; auch Lebedjews Neffe war offenbar unzufrieden. Nur der Boxer saß ganz ruhig da und drehte mit würdevoller Miene seinen Schnurrbart; die Augen hielt er niedergeschlagen, aber nicht aus Verlegenheit; im Gegenteil schien es, als tue er es aus edler Bescheidenheit, und um sein Triumphgefühl nicht allzu sichtbar werden zu lassen. An allem konnte man merken, daß der betreffende Artikel ihm sehr gut gefiel.

»Weiß der Teufel, was das vorstellen soll«, brummte Iwan Fjodorowitsch halblaut. »Das ist ja, als hätten fünfzig Lakaien sich zusammengetan und das abgefaßt.«

»Gestatten Sie die Frage, mein Herr, wie Sie es wagen können, uns durch solche Vermutungen zu beleidigen?« fragte Ippolit, am ganzen Leibe zitternd.

»Das, das, das ist für einen anständigen Menschen ... Sagen Sie selbst, General, wenn ein anständiger Mensch ... so ist das doch verletzend!« brummte der Boxer, der gleichfalls auf einmal zusammenfuhr, seinen Schnurrbart drehte, und mit den Schultern und dem ganzen Oberkörper zuckte.

»Erstens bin ich für Sie nicht ›mein Herr‹, und zweitens beabsichtige ich Ihnen keinerlei Erklärungen zu geben«, erwiderte der höchst ergrimmte Iwan Fjodorowitsch in scharfem Ton, stand auf, ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, zum Ausgang der Veranda und stellte sich dort auf die oberste Stufe hin, den Anwesenden den Rücken zuwendend. Er war höchst empört über Lisaweta Prokofjewna, die auch jetzt noch nicht daran dachte, sich vom Fleck zu rühren.

»Meine Herren, meine Herren, gestatten Sie mir doch endlich, etwas zu sagen, meine Herren!« rief der Fürst bekümmert und aufgeregt; »und tun Sie mir den Gefallen, lassen Sie uns so miteinander reden, daß wir uns gegenseitig verstehen! Auf den Artikel will ich nicht weiter eingehen, meine Herren; lassen wir ihn meinetwegen beiseite; nur ist ja alles, was in dem Artikel gedruckt ist, unwahr, meine Herren! Ich darf Ihnen das sagen, weil Sie es ja selbst wissen; man muß sich geradezu schämen. Ich würde daher sehr verwundert sein, wenn einer von Ihnen das geschrieben haben sollte.«

»Ich habe von dem Artikel bis auf diesen Augenblick nichts gewußt«, erklärte Ippolit. »Ich billige ihn nicht.«

»Ich habe zwar gewußt, daß er geschrieben war; aber ... ich hätte ebenfalls nicht dazu geraten, ihn zu drucken, weil es noch zu früh ist«, fügte Lebedjews Neffe hinzu.

»Ich habe es gewußt; aber ich habe ein Recht ... ich ...«, murmelte »Pawlischtschews Sohn«.

»Wie! Sie selbst haben das alles verfaßt?« fragte der Fürst, indem er Burdowski gespannt anblickte. »Aber das ist doch ganz unmöglich!«

»Wir brauchen Ihnen aber keine Berechtigung zu solchen Fragen zuzugestehen«, mischte sich Lebedjews Neffe hinein.

»Ich habe mich ja nur gewundert, daß Herr Burdowski das fertig gebracht hat ... aber ... ich möchte doch eines bemerken: wenn Sie diese Sache schon der Öffentlichkeit übergeben hatten, warum fühlten Sie sich denn dann vorhin so beleidigt, als ich in Gegenwart meiner Freunde von eben dieser Sache zu reden anfing?«

»Endlich!« murmelte Lisaweta Prokofjewna ärgerlich.

»Und Sie haben sogar noch vergessen, Fürst«, bemerkte, plötzlich zwischen den Stühlen hervorschlüpfend, Lebedjew, der sich nicht länger beherrschen konnte und beinah fieberte, »Sie haben noch vergessen, daß nur Ihr guter Wille und Ihre beispiellose Herzensgüte Sie veranlaßt haben, diese Herren zu empfangen und anzuhören, und daß sie keinerlei Recht haben, dies zu fordern, um so weniger, da Sie diese Angelegenheit schon an Gawrila Ardalionowitsch zur Erledigung abgegeben haben, ebenfalls infolge Ihrer außerordentlichen Güte. Jetzt aber, durchlauchtigster Fürst, wo Sie sich inmitten Ihrer auserlesenen Freunde befinden, dürfen Sie auf diese Gesellschaft nicht um dieser Herren willen verzichten; Sie könnten allen diesen Herren ohne weiteres die Tür weisen, worüber ich als Besitzer dieses Hauses mich sogar außerordentlich freuen würde ...«

»Vollkommen richtig!« erscholl auf einmal aus dem Hintergrund General Iwolgins dröhnende Stimme.

»Genug damit, Lebedjew, genug damit, genug damit ...«, begann der Fürst; aber ein ganzer Sturm unwilliger Ausrufe übertönte seine Worte.

»Nein, entschuldigen Sie, Fürst, entschuldigen Sie; jetzt darf es nicht damit genug sein?« überschrie Lebedjews Neffe alle übrigen. »Jetzt muß die Sache klar und bestimmt festgestellt werden, da sie offenbar nicht richtig verstanden wird. Es sind hier juristische Finten hineingebracht worden, und auf Grund dieser Finten droht man, uns zur Tür hinauszuwerfen! Meinen Sie denn wirklich, Fürst, daß wir so dumm wären, nicht selbst zu verstehen, daß unsere Sache sich nicht gerichtlich verfolgen läßt, und daß wir vom juristischen Standpunkt aus nicht berechtigt sind, auch nur einen Rubel von Ihnen zu verlangen? Aber wir sagen uns, daß, wenn hier auch kein juristisches Recht vorliegt, dafür doch ein menschliches, natürliches Recht vorhanden ist, ein Recht des gesunden Verstandes und der Stimme des Gewissens, und daß, wenn auch dieses unser Recht in keinem vermoderten menschlichen Gesetzbuch geschrieben steht, doch ein anständiger, ehrenhafter Mensch, was ganz dasselbe ist wie ein vernünftig denkender Mensch, verpflichtet ist, auch in denjenigen Fällen anständig und ehrenhaft zu bleiben, die in den Gesetzbüchern nicht verzeichnet stehen. Darum sind wir hierher gekommen, ohne zu fürchten, daß man (womit Sie uns soeben gedroht haben) uns deshalb aus der Tür werfen werde, weil wir nicht bitten, sondern fordern, und weil unser Besuch zu so später Stunde unschicklich ist (wiewohl wir eigentlich nicht so spät gekommen sind, sondern Sie es waren, der uns in der Gesindestube solange warten ließ), darum, sage ich, sind wir furchtlos hierher gekommen, weil wir annehmen, Sie seien ein vernünftig denkender Mensch, das heißt ein ehrenhafter, gewissenhafter Mensch. Ja, es ist wahr: wir sind nicht demütig hereingekommen, nicht wie Schmarotzer und Bittsteller, sondern mit erhobenem Kopf, wie freie Männer, und durchaus nicht mit einer Bitte, sondern mit einer freien, stolzen Forderung (hören Sie: nicht mit einer Bitte, sondern mit einer Forderung; merken Sie sich das!). Wir legen Ihnen nun in würdiger Form, offen und geradezu die Frage vor: glauben Sie in der Burdowskischen Angelegenheit im Recht oder im Unrecht zu sein? Geben Sie zu, daß Pawlischtschew Ihnen zahllose Wohltaten erwiesen und Sie vielleicht sogar vom Tod errettet hat? Wenn Sie es zugeben (und die Sache ist ja sonnenklar!), beabsichtigen Sie oder halten Sie es nach Ihrem Gewissen für gerecht, jetzt, wo Sie in den Besitz von Millionen gekommen sind, Ihrerseits den in Not befindlichen Sohn Pawlischtschews schadlos zu halten, wenn er auch den Namen Burdowski führt? Ja oder nein? Wenn Sie ja sagen, das heißt mit anderen Worten, wenn in Ihnen das steckt, was Sie in Ihrer Sprache Ehre und Gewissen nennen, und was wir mit einem zutreffenderen Ausdruck als gesunde Vernunft bezeichnen, so stellen Sie uns zufrieden, und die Sache ist erledigt. Stellen Sie uns zufrieden ohne Bitten und Dankbarkeitsbezeigungen unsererseits; erwarten Sie solche von uns nicht; denn Sie werden das nicht um unseretwillen, sondern um der Gerechtigkeit willen tun. Wenn Sie uns aber nicht zufriedenstellen wollen, das heißt nein antworten, dann gehen wir sofort weg, und die Verhandlungen werden abgebrochen; Ihnen aber sagen wir ins Gesicht, in Gegenwart aller Ihrer Zeugen, daß Sie ein Mensch von geringem Verstand sind und auf einer niedrigen Stufe geistiger Entwicklung stehen, daß Sie nicht wagen dürfen und nicht berechtigt sind, sich künftighin einen Mann von Ehre und Gewissen zu nennen, und daß Sie dieses Recht für gar zu billigen Preis kaufen wollen. Ich bin zu Ende. Ich habe die Frage formuliert. Jagen Sie uns jetzt aus dem Haus, wenn Sie es wagen! Sie können das tun; Sie haben die Macht dazu. Aber vergessen Sie nicht, daß wir trotzdem fordern und nicht bitten! Wir fordern; wir bitten nicht.« Lebedjews Neffe, der sehr hitzig geworden war, hielt inne.

»Wir fordern, wir fordern, wir fordern, wir bitten nicht ...!« stammelte Burdowski und wurde dabei rot wie ein Krebs.

Auf die Worte von Lebedjews Neffen folgte eine gewisse allgemeine Bewegung der Zuhörer, und es wurde sogar ein Gemurr hörbar, wiewohl alle Mitglieder der ganzen Gesellschaft es offenbar vermieden, sich in die Sache einzumischen, vielleicht mit einziger Ausnahme Lebedjews, der sich wie im Fieber befand. (Es war merkwürdig: Lebedjew, der doch augenscheinlich auf seiten des Fürsten stand, empfand jetzt nach der Rede seines Neffen doch eine Art Vergnügen befriedigten Familienstolzes; wenigstens ließ er mit einer Miene besonderer Genugtuung seinen Blick rings über die Anwesenden schweifen.)

»Meiner Ansicht nach«, begann der Fürst mit ziemlich leiser Stimme, »meiner Ansicht nach haben Sie, Herr Doktorenko, in allem, was Sie soeben gesagt haben, zur Hälfte vollkommen recht; ich will sogar zugeben, daß Sie in der bei weitem größeren Hälfte recht haben; und ich würde mit Ihnen vollkommen einverstanden sein, wenn Sie nicht in Ihrer Äußerung etwas weggelassen hätten. Was Sie da eigentlich weggelassen haben, das Ihnen genau anzugeben bin ich nicht in der Lage; aber es fehlt entschieden etwas, damit Ihre Worte in vollem Umfang als gerecht gelten könnten. Aber wenden wir uns lieber zur Sache, meine Herren; sagen Sie doch: warum haben Sie diesen Artikel drucken lassen? Jedes Wort darin ist ja eine Verleumdung, so daß Sie, meine Herren, meiner Ansicht nach eine Gemeinheit begangen haben.«

»Erlauben Sie ...!«

»Mein Herr ...!«

»Das ... das ... das ...«, tönte es gleichzeitig aus dem Mund der erregten Besucher.

»Was den Artikel anlangt«, erwiderte Ippolit mit seiner kreischenden Stimme, »was diesen Artikel anlangt, so habe ich Ihnen bereits gesagt, daß ich und die andern ihn nicht billigen! Geschrieben hat ihn der hier« (er wies auf den neben ihm sitzenden Boxer); »ich gebe zu, daß der Artikel in unschicklicher Form, mit mangelhafter Beherrschung der Sprache und in einem Stil geschrieben ist, wie sich desselben eben ehemalige Militärs von seiner Art bedienen. Er ist ein dummer Mensch und geht obendrein immer auf Gelderwerb aus, das gebe ich zu, das sage ich ihm alle Tage gerade ins Gesicht; aber trotzdem war er zur Hälfte in seinem Recht: die Öffentlichkeit ist das gesetzliche Recht eines jeden, folglich auch Burdowskis. Seine Abgeschmacktheiten aber mag er selbst verantworten. Was aber das anbetrifft, daß ich vorhin in unser aller Namen gegen die Anwesenheit Ihrer Freunde Protest einlegte, so erachte ich es für nötig, Ihnen, meine Herrschaften, zu bemerken, daß dieser Protest lediglich bezweckte, unser Recht zu wahren, daß uns aber im Grunde die Anwesenheit von Zeugen sogar erwünscht ist, und daß wir vorhin, noch ehe wir hereinkamen, alle vier damit einverstanden waren. Mögen diese Zeugen sein, wer sie wollen, sogar Ihre Freunde; aber da sie nicht umhin können werden, Burdowskis Recht anzuerkennen (denn es ist so sicher wie ein mathematischer Lehrsatz), so ist es sogar am besten, wenn diese Zeugen Ihre Freunde sind; um so deutlicher wird die Wahrheit ans Licht treten.«

»Das ist richtig; wir sind damit einverstanden gewesen«, bestätigte Lebedjews Neffe. »Warum machten Sie denn dann vorhin gleich bei den ersten Worten ein solches Geschrei und einen solchen Lärm, wenn Ihnen das selbst erwünscht war?« fragte der Fürst erstaunt.

»Was diesen Artikel betrifft, Fürst«, griff nun der Boxer in die Debatte ein, der den dringenden Wunsch hatte, zu Worte zu kommen, und sich in einer angenehmen Erregung befand (man konnte vermuten, daß die Anwesenheit der Damen stark auf ihn wirkte), »was diesen Artikel betrifft, so bekenne ich, daß ich tatsächlich der Verfasser bin, wiewohl mein kränklicher Freund, dem ich in Anbetracht seines Schwächezustandes vieles zugute zu halten pflege, ihn soeben scharf kritisiert hat. Aber ich habe ihn verfaßt und ihn in dem Journal eines guten Freundes in Gestalt eines Beitrages drucken lassen. Nur die Verse sind nicht von mir, sondern stammen tatsächlich aus der Feder eines bekannten Humoristen. Meinem Freund Burdowski habe ich den Artikel nur vorgelesen, und zwar nicht vollständig, und habe sogleich von ihm seine Einwilligung zum Druck erhalten; indes werden Sie selbst zugeben müssen, daß ich ihn auch ohne seine Einwilligung hätte drucken lassen können. Die Öffentlichkeit ist ein allgemeines, edles, wohltätiges Recht. Ich hoffe, daß Sie selbst, Fürst, fortschrittlich genug denken, um dies nicht in Abrede zu stellen ...«

»Ich werde das nicht in Abrede stellen; aber Sie müssen selbst sagen, daß in Ihrem Artikel ...«

»Sie wollen sagen: er ist etwas scharf gehalten? Aber es handelt sich hier, wie Sie werden zugeben müssen, sozusagen um das Gemeinwohl; und kann man denn schließlich eine so ausgezeichnete Gelegenheit unbenutzt lassen? Schlimm für die Schuldigen; aber das Gemeinwohl geht über alles. Was einige Ungenauigkeiten, sozusagen Hyperbeln anlangt, so werden Sie auch dies zugeben müssen, daß das Wichtigste der leitende Gedanke ist, der Zweck und die Absicht. Wichtig ist, daß ein Einzelfall als wohltätig wirkendes Beispiel benutzt wird; um Privatinteressen können wir uns erst in zweiter Linie kümmern. Und schließlich handelt es sich hier um den Stil; es ist dies sozusagen eine Aufgabe für humoristische Darstellung. Und schließlich ... schreiben doch alle so, wie Sie selbst werden zugeben müssen! Haha!«

»Aber ich muß sagen: Sie haben da doch einen ganz wahrheitswidrigen Weg eingeschlagen, meine Herren!« rief der Fürst. »Sie haben den Artikel in der Voraussetzung drucken lassen, ich würde mich um keinen Preis bereitfinden lassen, Herrn Burdowski zufriedenzustellen, und Sie müßten mir darum einen Schreck einjagen und an mir Ihr Mütchen kühlen. Aber woher wußten Sie denn das? Ich habe mich vielleicht dafür entschieden, Herrn Burdowski zufriedenzustellen. Ich sage Ihnen jetzt geradeheraus und vor all diesen Zeugen, daß ich ihn zufriedenstellen werde ...«

»Nun, das ist endlich einmal ein verständiges, edles Wort eines verständigen, edlen Menschen!« erklärte der Boxer.

»O Gott!« rief Lisaweta Prokofjewna unwillkürlich.

»Das ist nicht mehr zu ertragen«, murmelte der General.

»Erlauben Sie, meine Herren, erlauben Sie, ich werde Ihnen die Sache auseinandersetzen«, bat der Fürst. »Vor fünf Wochen erschien bei mir in S. ein Herr Tschebarow, Ihr Bevollmächtigter und Vertreter, Herr Burdowski. Sie haben in Ihrem Artikel eine sehr schmeichelhafte Schilderung von ihm gegeben, Herr Keller«, wandte sich der Fürst, auf einmal auflachend, an den Boxer; »aber mir gefiel er ganz und gar nicht. Ich war mir gleich bei der ersten Begegnung darüber klar, daß dieser Tschebarow die Haupttriebfeder bei der ganzen Angelegenheit bildet, und daß er wohl derjenige ist, der Sie, Herr Burdowski, unter Ausnutzung Ihrer Naivität zu diesem ganzen Vorgehen angestiftet hat, wenn ich offen reden soll.«

»Sie haben kein Recht ... ich ... bin nicht naiv ... das ...«, stotterte Burdowski aufgeregt.

»Sie haben keinerlei Berechtigung, solche Vermutungen auszusprechen«, fügte, für ihn eintretend, Lebedjews Neffe hinzu.

»Das ist im höchsten Grade beleidigend!« kreischte Ippolit. »Eine beleidigende, lügenhafte Vermutung, die gar nicht zur Sache gehört.«

»Verzeihung, meine Herren, Verzeihung!« entschuldigte sich der Fürst eilig; »bitte, verzeihen Sie! Ich habe es nur deswegen gesagt, weil ich meine, es würde wohl das beste sein, wenn wir gegeneinander völlig aufrichtig wären; aber wie Sie wollen; ganz wie Sie wollen! Ich sagte zu Herrn Tschebarow, da ich nicht in Petersburg sei, so würde ich unverzüglich einem Freund zur Erledigung der Angelegenheit Vollmacht erteilen und Sie, Herr Burdowski, davon benachrichtigen. Ich sage Ihnen geradeheraus, meine Herren, daß mir diese Sache als eine arge Gaunerei erschien, eben deshalb, weil dieser Tschebarow dabei beteiligt war ... Oh, fühlen Sie sich nicht beleidigt, meine Herren! Um Gottes willen, fühlen Sie sich nicht beleidigt!« rief der Fürst erschrocken, da er sah, daß Burdowski wieder eine gekränkte, empörte Miene machte und seine Freunde sich anschickten, aufgeregt zu protestieren. »Es kann sich doch nicht auf Sie persönlich beziehen, wenn ich sage, daß ich die Sache für eine Gaunerei hielt! Ich kannte ja damals niemand von Ihnen persönlich, nicht einmal Ihre Namen; ich urteilte nur nach dem Eindruck, den mir Tschebarow machte; ich sage das überhaupt, weil ... Wenn Sie wüßten, wie schrecklich ich betrogen worden bin, seitdem ich die Erbschaft gemacht habe!«

»Fürst, Sie sind furchtbar naiv«, bemerkte Lebedjews Neffe spöttisch.

»Und dabei ein Fürst und ein Millionär! Trotz Ihres vielleicht wirklich guten, schlichten Herzens können Sie dem allgemeinen Gesetz natürlich doch nicht entgehen«, äußerte Ippolit.

»Möglich, gut möglich, meine Herren«, erwiderte der Fürst rasch, »obwohl ich nicht verstehe, von welchem allgemeinen Gesetz Sie reden. Aber ich fahre fort; fühlen Sie sich nur nicht so ganz ohne Grund beleidigt; ich schwöre Ihnen, die Absicht, Sie zu kränken, liegt mir absolut fern. Und in der Tat, was soll denn das vorstellen, meine Herren: man kann ja kein einziges offenes Wort sagen, gleich fühlen Sie sich beleidigt! Erstens war ich also höchst erstaunt, daß ein ›Sohn Pawlischtschews‹ existierte, und zwar in so schrecklicher Lage, wie sie mir Tschebarow schilderte. Pawlischtschew war mein Wohltäter gewesen und der Freund meines Vaters. (Ach, warum haben Sie in Ihrem Artikel eine solche Unwahrheit über meinen Vater geschrieben, Herr Keller? Er hat sich keine Veruntreuung von Kompaniegeldern und keine ungerechte Behandlung Untergebener zuschulden kommen lassen; davon bin ich fest überzeugt; wie haben Sie nur die Hand dazu rühren mögen, eine solche Verleumdung niederzuschreiben?) Und das, was Sie über Pawlischtschew geschrieben haben, ist doch geradezu unerhört: Sie nennen diesen edelsten aller Menschen einen Lüstling, einen Leichtsinnigen, mit einer solchen Kühnheit und Sicherheit, als ob Sie wirklich die Wahrheit sagten; und dabei war er der sittenreinste Mensch, der je auf der Welt gelebt hat! Er war sogar ein sehr achtbarer Gelehrter, stand mit vielen in der Wissenschaft hochangesehenen Männern in Briefwechsel und gab viel Geld zur Beförderung wissenschaftlicher Zwecke aus. Was aber sein Herz und seine guten Taten anlangt, oh, da haben Sie allerdings ganz richtig geschrieben, daß ich damals beinah ein Idiot war und nichts ordentlich verstehen konnte (wiewohl ich doch Russisch zu sprechen und zu verstehen imstande war); aber alles, woran ich mich jetzt erinnere, vermag ich doch ganz gut in seinem Wert zu beurteilen ...«

»Erlauben Sie«, kreischte Ippolit, »wird das auch nicht allzu gefühlvoll werden? Wir sind keine Kinder. Sie wollten direkt zur Sache kommen; es ist bald zehn Uhr; vergessen Sie das nicht!«

»Schön, schön, meine Herren!« stimmte ihm der Fürst sogleich bei. »Nach der ersten Regung von Mißtrauen sagte ich mir, daß ich mich doch irren könne, und daß Pawlischtschew vielleicht wirklich einen Sohn habe. Aber in großes Erstaunen versetzte mich der Umstand, daß dieser Sohn das Geheimnis seiner Geburt so leichtfertig, das heißt, ich will sagen, so öffentlich preisgibt, und vor allem, daß er seine Mutter verunehrt. Schon damals nämlich suchte mich Tschebarow durch den Hinweis auf eine Veröffentlichung einzuschüchtern ...«

»Was für eine Dummheit!« rief Lebedjews Neffe.

»Sie haben kein Recht ... Sie haben kein Recht!« schrie Burdowski.

»Der Sohn ist für die Liederlichkeit seines Vaters nicht verantwortlich, und die Mutter trägt keine Schuld«, kreischte Ippolit sehr erregt.

»Um so mehr verdiente sie geschont zu werden, möchte man meinen«, erwiderte der Fürst schüchtern.

»Sie sind nicht nur naiv, Fürst, sondern wohl einer stärkeren Bezeichnung würdig«, bemerkte Lebedjews Neffe mit boshaftem Lächeln.

»Und welches Recht hatten Sie ...«, kreischte Ippolit mit ganz unnatürlicher Stimme.

»Keines, keines!« unterbrach ihn der Fürst eilig. »Darin haben Sie recht, das erkenne ich an; aber jener Gedanke war mir damals ganz unwillkürlich gekommen und ich sagte mir darauf sogleich selbst, daß meine persönlichen Gefühle keinen Einfluß auf die Behandlung der Sache haben dürften; denn wenn ich aus Dankbarkeit gegen Pawlischtschew eine Verpflichtung anerkennen wolle, Herrn Burdowskis Forderungen zu befriedigen, so müsse ich sie eben in jedem Fall befriedigen, das heißt ohne Rücksicht darauf, ob ich gegen Herrn Burdowski von Hochachtung erfüllt sei oder nicht. Ich habe hiervon nur deswegen zu reden begonnen, meine Herren, weil es mir doch unnatürlich schien, daß ein Sohn das Geheimnis seiner Mutter so vor aller Öffentlichkeit kundgibt ... Mit einem Wort: dies war der Hauptgrund, weswegen ich zu der Überzeugung gelangte, dieser Tschebarow müsse eine Kanaille sein und habe Herrn Burdowski durch Betrug zu dieser Gaunerei aufgehetzt.«

»Aber das ist ja nicht mehr zum Aushalten!« wurde von seiten seiner Gäste gerufen, von denen einige sogar von den Stühlen aufsprangen.

»Meine Herren! Ich sagte mir daher, der unglückliche Herr Burdowski müsse ein harmloser, unbehüteter Mensch sein, der sich leicht einem beliebigen Gauner füge, und ich sei mithin um so mehr verpflichtet, ihm als ›Pawlischtschews Sohn‹ zu helfen, und zwar erstens dadurch, daß ich Herrn Tschebarow entgegenträte, zweitens dadurch, daß ich ihm in aufrichtiger Freundschaft Mentordienste erwiese, und drittens durch Auszahlung von zehntausend Rubeln, das heißt der ganzen Summe, die nach meiner Berechnung Pawlischtschew für mich aufgewendet haben mag.«

»Wie? Nur zehntausend Rubel?« schrie Ippolit.

»Na, im Rechnen sind Sie nicht sehr stark, Fürst, oder vielleicht auch sehr stark, obwohl Sie sich so naiv und harmlos stellen!« rief Lebedjews Neffe.

»Ich gehe auf zehntausend nicht ein«, sagte Burdowski.

»Antip, nimm es an!« riet ihm der Boxer schnell, zwar flüsternd, aber doch für alle vernehmlich, indem er sich über Ippolits Stuhllehne hinweg von hinten zu ihm hinbog. »Nimm es an; nachher werden wir weitersehen!«

»Hören Sie mal, Herr Myschkin«, kreischte Ippolit, »begreifen Sie doch endlich, daß wir keine Dummköpfe sind, keine gemeinen Dummköpfe, wie es wahrscheinlich alle Ihre Gäste von uns glauben, auch diese Damen, die so entrüstet über uns lächeln, und besonders dieser noble Herr« (er wies auf Jewgeni Pawlowitsch), »den ich natürlich nicht die Ehre habe zu kennen, von dem ich aber wohl schon etwas gehört habe ...«

»Erlauben Sie, erlauben Sie, meine Herren, Sie haben mich wieder nicht recht verstanden!« wandte sich der Fürst erregt zu ihnen. »Erstens haben Sie, Herr Keller, in Ihrem Artikel mein Vermögen ganz ungenau angegeben: ich habe keine Millionen erhalten; ich besitze vielleicht nur ein Achtel oder ein Zehntel dessen, was Sie bei mir voraussetzen; zweitens sind in der Schweiz gar nicht so enorme Summen für mich ausgegeben worden: Schneider erhielt sechshundert Rubel jährlich, und auch das nur in den ersten drei Jahren; auch hat Pawlischtschew niemals hübsche Gouvernanten aus Paris geholt; das ist wieder Verleumdung. Meines Erachtens beträgt der für mich gemachte Aufwand erheblich weniger als zehntausend Rubel. Aber doch habe ich diese Summe angesetzt, und Sie müssen selbst zugeben: da ich eine Schuld zurückzahle, kann ich Herrn Burdowski schlechterdings nicht mehr anbieten, selbst wenn ich ihn außerordentlich lieb hätte; ich kann es schon aus Taktgefühl nicht, da ich ihm eben eine Schuld zurückzahle und ihm nicht etwa ein Almosen zuwende. Ich weiß nicht, meine Herren, wie Ihnen das unverständlich sein kann! Aber ich wollte das nachher alles durch meine Freundschaft und durch meine tätige Teilnahme an dem Ergehen des unglücklichen Herrn Burdowski ausgleichen, der ohne Zweifel betrogen worden ist, da er sonst unmöglich einer solchen Gemeinheit zugestimmt hätte, wie sie Herrn Kellers heutige Äußerungen über seine Mutter in diesem Artikel darstellen ... Aber warum kommen Sie denn wieder außer sich, meine Herren? Auf die Art werden wir einander schließlich überhaupt nicht mehr verstehen! Was ich gedacht hatte, hat sich ja doch als zutreffend herausgestellt! Ich habe mich jetzt mit eigenen Augen überzeugt, daß meine Vermutung richtig war«, sagte der Fürst, der ganz in Eifer gekommen war, in bittendem Ton; er wünschte, die Erregung zu besänftigen, und merkte nicht, daß er sie nur steigerte.

»Was? Wovon haben Sie sich überzeugt?« schrien die Gegner wütend auf ihn los.

»Aber ich bitte Sie, erstens habe ich selbst Gelegenheit gehabt, Herrn Burdowski genau kennenzulernen, und sehe jetzt selbst, wes Geistes Kind er ist ... Er ist ein unschuldiger Mensch, der von allen betrogen wird! Und er ist ein schutzloser Mensch, und darum ist es meine Pflicht, schonend mit ihm zu verfahren. Und zweitens hat Gawrila Ardalionowitsch, in dessen Hände ich diese Sache gelegt hatte, und von dem mir lange keine Nachricht zugegangen war, da er sich unterwegs befand und dann drei Tage lang in Petersburg krank lag, der hat plötzlich jetzt, erst vor einer Stunde, bei unserem ersten Wiedersehen, mir mitgeteilt, er habe Tschebarows Absichten sämtlich durchschaut und besitze die erforderlichen Beweise; Tschebarow sei genau der Mensch, für den ich ihn gehalten hätte. Ich weiß ja, meine Herren, daß mich viele für einen Idioten halten, und da ich in dem Ruf stand, leicht Geld hinzugeben, so hielt es Tschebarow für eine sehr leichte Aufgabe, mich zu betrügen, und rechnete dabei besonders auf meine dankbaren Empfindungen Pawlischtschew gegenüber. Aber die Hauptsache ist – merken Sie auf, meine Herren, merken Sie auf! –, die Hauptsache ist, daß sich jetzt herausstellt, daß Herr Burdowski gar nicht Pawlischtschews Sohn ist! Soeben hat mir Gawrila Ardalionowitsch dies mitgeteilt, und er versichert, er habe positive Beweise dafür erlangt. Nun, was meinen Sie jetzt? Das ist ja nach allem, was Sie schon angerichtet haben, gar nicht zu glauben! Und wohl zu merken: positive Beweise! Ich glaube es noch nicht, ich selbst glaube es noch nicht, versichere ich Ihnen; ich zweifle noch, da Gawrila Ardalionowitsch noch keine Zeit dazu gefunden hat, mir alle Einzelheiten mitzuteilen; aber daß Tschebarow eine Kanaille ist, daran kann jetzt kein Zweifel mehr bestehen! Er hat den unglücklichen Herrn Burdowski und Sie alle, meine Herren, die Sie Ihren Freund edelmütig unterstützen wollten (denn er bedarf augenscheinlich eines Beistandes; ich habe ja dafür Verständnis!), er hat Sie alle hinters Licht geführt und Sie alle in eine gaunerhafte Affäre verwickelt; denn die ganze Sache ist in Wirklichkeit nichts anderes als Betrug und Gaunerei!«

»Wieso Gaunerei? ... Wieso soll er nicht Pawlischtschews Sohn sein? Wie ist das möglich ...?« riefen mehrere durcheinander.

Burdowskis ganzes Gefolge befand sich in unsagbarer Verwirrung und Aufregung.

»Ja, gewiß, Gaunerei! Wenn sich jetzt herausstellt, daß Herr Burdowski nicht Pawlischtschews Sohn ist, so erweist sich ja damit Herrn Burdowskis Forderung geradezu als Gaunerei, das heißt selbstverständlich, wenn er die Wahrheit wüßte; aber das ist es ja eben, daß er getäuscht worden ist, und darum bemühe ich mich so energisch, ihn zu verteidigen; darum sage ich auch, daß er wegen seiner Naivität bemitleidet zu werden verdient; sonst erscheint er in dieser Sache selbst als ein Gauner. Aber ich für meine Person bin bereits überzeugt, daß er nichts davon weiß. Ich selbst habe mich vor meiner Abreise nach der Schweiz in derselben Lage befunden, habe ebenfalls unzusammenhängende Worte gestammelt ... man will sich ausdrücken und ist nicht dazu imstande ... Ich habe dafür Verständnis; ich kann es ihm sehr nachempfinden, weil ich selbst fast ein ebensolcher Mensch war; ich darf darüber reden! Und endlich will ich dennoch, trotzdem er jetzt nicht mehr Pawlischtschews Sohn ist und alles sich als Mystifikation entpuppt, ich will dennoch meinen Entschluß nicht ändern und bin bereit, ihm die zehntausend Rubel auszuzahlen, dem Andenken Pawlischtschews zu Ehren. Eigentlich wollte ich ja vor Herrn Burdowskis Auftreten diese zehntausend Rubel dem Andenken Pawlischtschews zu Ehren für eine Schule verwenden; aber es ist ja jetzt ganz gleich, ob ich sie für eine Schule verwende oder sie Herrn Burdowski gebe, weil Herr Burdowski, wenn er auch nicht Pawlischtschews Sohn ist, doch beinah an Stelle eines solchen steht, da man ihn selbst darüber so boshaft getäuscht hat und er selbst sich aufrichtig für Pawlischtschews Sohn gehalten hat! Hören Sie nun mit an, meine Herren, was Gawrila Ardalionowitsch uns sagen wird: bringen wir die Sache zu Ende; seien Sie nicht zornig, regen Sie sich nicht auf, setzen Sie sich hin! Gawrila Ardalionowitsch wird uns sogleich alles erklären, und ich gestehe, daß ich selbst außerordentlich begierig bin, alle Einzelheiten zu erfahren. Er sagte, er sei sogar nach Pskow zu Ihrer Mutter gefahren, Herr Burdowski, die keineswegs gestorben ist, wie man Sie in dem Artikel hat schreiben lassen ... Setzen Sie sich hin, meine Herren, setzen Sie sich hin!«

Der Fürst setzte sich, und es gelang ihm, auch Herrn Burdowskis Begleiter, die von ihren Plätzen aufgesprungen waren, wieder zum Hinsetzen zu bewegen. In den letzten zehn oder zwanzig Minuten hatte er hitzig, laut, in ungeduldiger Hast gesprochen, sich hinreißen lassen und alle andern zu überschreien gesucht; jetzt, gleich darauf, bereute er naturgemäß bitterlich einige ihm entschlüpfte Ausdrücke und die Äußerung gewisser Vermutungen.

Hätte man ihn nicht so gereizt und ganz außer sich gebracht, so würde er es sich nicht gestattet haben, manche Vermutungen so unverhüllt und hastig mit unnötiger Offenherzigkeit laut auszusprechen. Aber kaum hatte er sich wieder auf seinen Platz gesetzt, als ein schmerzhaft brennendes Gefühl der Reue sein Herz durchdrang: er hatte Burdowski nicht nur dadurch »beleidigt«, daß er so laut und öffentlich bei ihm dieselbe Krankheit voraussetzte, gegen die er selbst in der Schweiz eine Kur gebraucht hatte, sondern er hatte ihm auch das Angebot der eigentlich für eine Schule bestimmten zehntausend Rubel seiner Meinung nach in einer plumpen, unvorsichtigen Weise gemacht, namentlich insofern, als er es vor allen Leuten mit lauten Worten getan hatte. »Ich hätte warten und es ihm morgen unter vier Augen anbieten müssen«, dachte der Fürst sogleich; »aber das ist jetzt wohl nicht mehr gutzumachen! Ja, ich bin ein Idiot, ein richtiger Idiot!« sagte er sich in einem Anfall von Scham und aufrichtiger Betrübnis.

Inzwischen war Gawrila Ardalionowitsch, der sich bis dahin abseits gehalten und beharrlich geschwiegen hatte, auf des Fürsten Aufforderung vorgetreten, hatte sich neben ihn gestellt und begann nun ruhig und klar über die Ausführung des ihm vom Fürsten erteilten Auftrages Bericht zu erstatten. Alle Gespräche waren augenblicklich verstummt. Alle hörten höchst gespannt zu, namentlich Burdowskis ganzes Gefolge.


Fußnoten


1 Aus Gribojedows (1793-1829) bekanntem Lustspiel in Versen »Verstand schafft Leiden«, Akt II, Szene 2. (A.d.Ü.)


2 Der Name des Schweizer Professors.


3 Der Name des jungen Edelings.

IX

»Sie werden gewiß nicht leugnen«, begann Gawrila Ardalionowitsch, sich speziell an Burdowski wendend, der mit größter Anstrengung zuhörte, ihn vor Erstaunen mit weit aufgerissenen Augen anstarrte und sich offenbar in höchster Verwirrung befand, »Sie werden und wollen gewiß nicht ernstlich leugnen, daß Sie gerade zwei Jahre nach der Verheiratung Ihrer verehrten Mutter mit dem Kollegiensekretär Herrn Burdowski, Ihrem Vater, geboren sind. Die Zeit Ihrer Geburt läßt sich sehr leicht dokumentarisch feststellen, so daß die für Sie und für Ihre Mutter so beleidigende Entstellung dieser Tatsache in Herrn Kellers Artikel sich einzig und allein als ein Spiel der eigenen Phantasie dieses Herrn darstellt, der der Meinung war, dadurch die Evidenz Ihres Rechtes zu erhöhen und so Ihren Interessen zu dienen. Herr Keller sagt, er habe Ihnen den Artikel vorher vorgelesen, wiewohl nicht ganz ... ohne allen Zweifel hat er ihn Ihnen nicht bis zu dieser Stelle vorgelesen ...«

»Bis zu dieser Stelle allerdings nicht«, unterbrach ihn der Boxer; »aber alle Tatsachen waren mir von einer vertrauenswürdigen Persönlichkeit mitgeteilt worden, und ich ...«

»Verzeihen Sie, Herr Keller«, unterbrach ihn Gawrila Ardalionowitsch, »lassen Sie mich jetzt reden! Ich versichere Ihnen, daß wir seinerzeit auch noch auf Ihren Artikel zu sprechen kommen werden; dann können Sie Ihre Erklärungen abgeben; jetzt aber wollen wir lieber in guter Ordnung fortfahren. Ganz zufällig, durch Beihilfe meiner Schwester Warwara Ardalionowna Ptizyna, erhielt ich von ihrer intimen Freundin, der verwitweten Gutsbesitzerin Wjera Alexejewna Subkowa, einen Brief des verstorbenen Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew, den dieser ihr vor vierundzwanzig Jahren aus dem Ausland geschrieben hatte. Nachdem ich mich mit Wjera Alexejewna in Verbindung gesetzt hatte, wandte ich mich auf ihren Rat an den Oberst a.D. Timofej Fjodorowitsch Wjasowkin, einen entfernten Verwandten und seinerzeit sehr guten Freund des Herrn Pawlischtschew. Es gelang mir, von ihm noch zwei Briefe Nikolai Andrejewitschs zu erhalten, die ebenfalls aus dem Ausland geschrieben waren. Durch diese drei Briefe, ihr Datum und die darin enthaltenen tatsächlichen Angaben läßt sich mit zwingender Sicherheit, ohne daß irgendwelche Widerlegung oder auch nur ein Zweifel möglich wäre, beweisen, daß Nikolai Andrejewitsch damals ins Ausland gereist war (wo er sich ununterbrochen drei Jahre lang aufhielt), gerade anderthalb Jahre vor Ihrer Geburt, Herr Burdowski. Ihre Mutter hat, wie Ihnen bekannt ist, Rußland nie verlassen. Augenblicklich werde ich diese Briefe nicht vorlesen; dazu ist es schon zu spät; ich weise nur für jeden Fall auf diesen Fakt hin. Aber wenn es Ihnen gefällig ist, Herr Burdowski, eine Zusammenkunft in meiner Wohnung, meinetwegen gleich morgen früh, festzusetzen und Ihre Zeugen, in jeder Ihnen beliebigen Anzahl, sowie Sachverständige zur Vergleichung der Handschrift mitzubringen, so hege ich nicht den geringsten Zweifel, daß Sie nicht umhin können werden, sich von der evidenten Wahrheit der von mir mitgeteilten Tatsache zu überzeugen. Wenn es aber so ist, so fällt selbstverständlich die ganze Sache zusammen und ist damit von selbst erledigt.«

Wieder folgte eine allgemeine Bewegung und tiefgehende Erregung. Burdowski selbst stand plötzlich von seinem Stuhl auf.

»Wenn es so ist, dann bin ich betrogen worden, betrogen; aber nicht von Tschebarow, sondern schon vor sehr langer Zeit; ich will keine Sachverständigen, ich will keine Zusammenkunft; ich glaube es so schon; ich verzichte ... ich nehme die zehntausend Rubel nicht an ... Adieu ...«

Er griff nach seiner Mütze und schob seinen Stuhl zurück, um fortzugehen.

»Wenn es Ihnen möglich ist, Herr Burdowski«, hielt ihn Gawrila Ardalionowitsch mit leiser Stimme und in freundlichem Ton auf, »so bleiben Sie, bitte, noch hier, wenn auch nur fünf Minuten! Es werden in dieser Angelegenheit noch einige außerordentlich wichtige Tatsachen zutage kommen, wichtig besonders für Sie und jedenfalls sehr interessant. Meiner Meinung nach müssen Sie dieselben kennenlernen, und es wird Ihnen vielleicht selbst angenehmer sein, wenn die Sache vollständig aufgeklärt wird ...«

Burdowski setzte sich schweigend wieder hin, ließ den Kopf ein wenig herunterhängen und schien tief in Gedanken versunken zu sein. Nach ihm setzte sich auch Lebedjews Neffe wieder hin, der gleichfalls aufgestanden war, um ihn zu begleiten; dieser hatte zwar nicht den Kopf verloren und von seiner Dreistigkeit nichts eingebüßt, war aber offenbar stark betroffen. Ippolit machte ein finsteres Gesicht, war traurig und, wie es schien, sehr erstaunt. In diesem Augenblick mußte er übrigens so heftig husten, daß er sogar sein Taschentuch mit Blut befleckte. Der Boxer war ganz erschrocken:

»Ach, Antip«, rief er trübselig, »ich hatte dir ja damals ... vorgestern gesagt, daß du vielleicht gar nicht Pawlischtschews Sohn wärst!«

Man hörte verhaltenes Lachen; zwei oder drei der Anwesenden lachten lauter als die andern.

»Den Fakt, den Sie uns soeben mitteilten, Herr Keller«, begann Gawrila Ardalionowitsch wieder, »ist sehr wertvoll. Nichtsdestoweniger bin ich auf Grund zuverlässiger Tatsachen völlig zu der Behauptung berechtigt, daß Herrn Burdowski zwar natürlich der Zeitpunkt seiner Geburt sehr wohl bekannt war, nicht aber der Aufenthalt Pawlischtschews im Ausland, wo dieser den größten Teil seines Lebens zubrachte, und von wo er nach Rußland immer nur auf kurze Zeit zurückkehrte. Außerdem ist auch der Fakt seiner damaligen Abreise an sich so wenig auffallend, daß nach mehr als zwanzig Jahren selbst seine nahen Bekannten sich nicht daran erinnern konnten; von Herrn Burdowski rede ich natürlich nicht, der damals noch gar nicht geboren war. Allerdings erschien es mir jetzt nicht aussichtslos, Nachforschungen anzustellen; aber ich muß bekennen, daß die Feststellungen, zu denen ich gelangte, mir nur ganz zufällig gelungen sind und ebensogut hätten mißlingen können. Für Herrn Burdowski und sogar für Tschebarow waren diese Feststellungen tatsächlich fast unmöglich, selbst wenn es ihnen in den Sinn gekommen wäre, solche Nachforschungen anzustellen. Aber möglicherweise ist es ihnen gar nicht in den Sinn gekommen ...«

»Erlauben Sie, Herr Iwolgin«, unterbrach ihn plötzlich Ippolit gereizt, »welchen Zweck soll dieses ganze sinnlose Gerede haben (verzeihen Sie den Ausdruck!)? Die Sache ist jetzt aufgeklärt; wir erkennen die wichtigste Tatsache als richtig an; wozu also die peinliche, verletzende Angelegenheit noch weiter breittreten? Sie möchten vielleicht mit der Geschicklichkeit Ihrer Untersuchungen prahlen, sich uns und dem Fürsten gegenüber als tüchtigen Spion und Detektiv aufspielen? Oder beabsichtigen Sie, Herrn Burdowski durch den Nachweis zu entschuldigen und zu rechtfertigen, daß er sich nur aus Unwissenheit auf die Sache eingelassen hat? Aber das ist eine Dreistigkeit, mein Herr! Burdowski bedarf dessen nicht, von Ihnen gerechtfertigt und entschuldigt zu werden; das mögen Sie wissen! Er fühlt sich verletzt; die Sache ist ihm ohnehin jetzt peinlich; er befindet sich in einer unbehaglichen Lage; das sollten Sie merken und verstehen ...«

»Genug, Herr Terentjew, genug!« gelang es Gawrila Ardalionowitsch endlich, ihn zu unterbrechen. »Beruhigen Sie sich, regen Sie sich nicht auf; Sie scheinen ja doch recht krank zu sein. Sie tun mir sehr leid. Wenn Sie es also wünschen, so schließe ich, das heißt ich sehe mich genötigt, diejenigen Tatsachen, deren vollständige und auf Beweise gestützte Kenntnis meines Erachtens nicht überflüssig sein würde, nur noch in aller Kürze mitzuteilen«, fügte er hinzu, als er eine allgemeine Bewegung wahrnahm, die wie Ungeduld aussah. »Ich möchte nur zur Kenntnis aller, die sich für die Sache interessieren, bringen, daß Ihre Mutter, Herr Burdowski, lediglich deswegen Herrn Pawlischtschews Wohlwollen und Fürsorge genoß, weil sie die Schwester jenes Gutsmädchens war, in das Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew seit seiner Jugend so verliebt war, daß er sie unzweifelhaft geheiratet hätte, wenn sie nicht frühzeitig gestorben wäre. Ich habe Beweise dafür, daß diese stille Liebe, so sicher und zuverlässig sie auch feststeht, doch sehr wenig bekannt war und bald in Vergessenheit geriet. Des weiteren könnte ich Ihnen darlegen, daß Ihre Mutter schon als zehnjähriges Kind von Herrn Pawlischtschew wie eine Verwandte zur Erziehung angenommen wurde, daß ihr eine beträchtliche Mitgift ausgesetzt wurde, und daß all diese Fürsorge bei Pawlischtschews zahlreicher Verwandtschaft sehr beunruhigende Gerüchte hervorrief; man dachte sogar, er werde seine Pflegetochter heiraten. Aber die Sache endete damit, daß sie aus Neigung (und das könnte ich Ihnen auf das schlagendste beweisen) im Alter von zwanzig Jahren den Feldmesser Herrn Burdowski heiratete. Ich habe nun mehrere zuverlässige Tatsachen zusammengebracht zum Beweis, daß Ihr Vater, Herr Burdowski, der durchaus kein erfahrener Geschäftsmann war, nach Empfang der Mitgift Ihrer Mutter im Betrag von fünfzehntausend Rubeln den Dienst quittierte, sich auf kaufmännische Unternehmungen einließ, betrogen wurde, das Kapital einbüßte, den Kummer darüber nicht zu ertragen vermochte und zu trinken anfing, wovon er nachher krank wurde und schließlich frühzeitig starb, im achten Jahr nach seiner Verheiratung mit Ihrer Mutter. Darauf blieb diese, nach ihrem eigenen Zeugnis, in bitterer Armut zurück und wäre ganz zugrunde gegangen, wenn nicht Pawlischtschew sie beständig in großmütigster Weise unterstützt hätte: er gab ihr jährlich eine Beihilfe bis zu sechshundert Rubeln. Ferner habe ich zahllose Zeugnisse dafür, daß er Sie, als Sie noch ein kleines Kind waren, herzlich liebte. Aus diesen Zeugnissen, sowie auch wieder aus der Bestätigung von seiten Ihrer Mutter, geht hervor, daß er Sie namentlich deswegen liebte, weil Sie in Ihrer Kindheit stotterten und den Eindruck eines verkrüppelten, bemitleidenswerten, unglücklichen Kindes machten (Pawlischtschew aber hatte, wie ich aus zuverlässigen Beweisen schloß, sein ganzes Leben lang eine besondere zärtliche Zuneigung für alles Niedergedrückte und von der Natur Vernachlässigte, besonders wenn es sich um Kinder handelte – eine Tatsache, die nach meiner Überzeugung für unsere Angelegenheit von hoher Wichtigkeit ist). Endlich kann ich mich rühmen, noch über einen bedeutsamen Punkt sehr genaue Untersuchungen angestellt zu haben, nämlich darüber, wie diese außerordentliche Zuneigung Pawlischtschews zu Ihnen (er machte es möglich, daß Sie auf das Gymnasium kamen und unter besonderer Aufsicht und Anleitung lernten) endlich allmählich Pawlischtschews Verwandte und Hausgenossen auf den Gedanken brachte, sie wären sein Sohn und Ihr Vater nur ein betrogener Ehemann. Aber die Hauptsache ist, daß dieser Gedanke sich erst in Pawlischtschews letzten Lebensjahren zu einer bestimmten, allgemeinen Überzeugung verdichtete, das heißt zu einer Zeit, als alle für die Erbschaft zu fürchten anfingen, und als die ursprünglichen Tatsachen in Vergessenheit geraten, Nachforschungen aber unmöglich waren. Ohne Zweifel ist diese Idee auch zu Ihnen gelangt, Herr Burdowski, und hat sich vollständig bei Ihnen festgesetzt. Ihre Mutter, mit der ich die Ehre hatte, persönlich bekannt zu werden, wußte zwar von all diesen Gerüchten, weiß aber bis auf diese Stunde nicht (und ich meinerseits habe sie ebenfalls darüber in Unkenntnis gelassen), daß auch Sie, ihr Sohn, sich unter dem Bann dieses Gerüchtes befanden. Ich fand Ihre hochverehrte Mutter, Herr Burdowski, in Pskow krank und in ärgster Armut, in die sie durch Pawlischtschews Tod geraten ist. Mit Tränen der Dankbarkeit teilte sie mir mit, daß sie nur durch Sie und Ihre Hilfe ihr Leben auf der Welt fristet; sie erwartet viel von Ihnen für die Zukunft und glaubt fest an Ihre künftigen Erfolge ...«

»Das wird aber nachgerade unerträglich!« erklärte auf einmal Lebedjews Neffe laut und ungeduldig. »Was soll denn hier dieser ganze Roman?«

»Ekelhaft! Ganz ungehörig!« sagte Ippolit mit heftigen Körperbewegungen.

Burdowski aber äußerte nichts und rührte sich nicht einmal.

»Was das hier soll?« sagte Gawrila Ardalionowitsch mit schlauer Miene, als wundere er sich sehr, und schickte sich boshaft an, nun seine Resultate darzulegen. »Erstens ist Herr Burdowski jetzt vielleicht völlig davon überzeugt, daß Herr Pawlischtschew ihn aus Edelmut liebte, und nicht als seinen Sohn. Diese Tatsache mußte Herr Burdowski erfahren, der vorhin nach dem Vorlesen des Artikels des Herrn Keller sein Einverständnis und seine Billigung aussprach. Ich sage das deswegen, Herr Burdowski, weil ich Sie für einen anständigen Menschen halte. Zweitens ergibt sich, daß hier nicht die geringste diebische Gaunerei vorliegt, nicht einmal von Tschebarows Seite; das ist auch für mich ein wichtiger Punkt, weil der Fürst vorhin in der Erregung bemerkte, auch ich sei der Ansicht, daß es sich bei dieser Angelegenheit um eine diebische Gaunerei handle. Es bestand vielmehr auf allen Seiten eine feste Überzeugung, und wiewohl Tschebarow vielleicht wirklich ein großer Schurke ist, hat er doch in diesem Fall lediglich wie ein erwerbslustiger Winkeladvokat gehandelt. Er hoffte, als Rechtsbeistand ein tüchtiges Stück Geld zu verdienen, und seine Spekulation war nicht nur fein und meisterhaft, sondern auch sehr richtig: er baute auf die Leichtigkeit, mit der der Fürst Geld ausgab, und auf das Gefühl der Dankbarkeit und Verehrung, das er für den verstorbenen Pawlischtschew hegte; er baute ferner (was das Wichtigste ist) auf die bekannten ritterlichen Anschauungen des Fürsten von den Pflichten der Ehre und des Gewissens. Was nun speziell Herrn Burdowski betrifft, so kann man sagen, daß er infolge seiner eigenen Überzeugung dermaßen der Einwirkung Tschebarows und seiner Umgebung unterlag, daß er die Sache fast gar nicht aus persönlichem Interesse unternahm, sondern in der Meinung, damit der Wahrheit, dem Fortschritt und der Menschheit einen Dienst zu erweisen. Jetzt also, nach Mitteilung dieser Tatsachen, wird es allen klar sein, daß Herr Burdowski ein reiner Charakter ist, trotz alles gegenteiligen Scheines, und der Fürst kann ihm jetzt noch eher und lieber als vorhin seine freundliche Unterstützung und die tatkräftige Beihilfe anbieten, von der er vorhin sprach, als er von der Schule und von Pawlischtschew redete.«

»Hören Sie auf, Gawrila Ardalionowitsch, hören Sie auf!« rief der Fürst in aufrichtigem Schreck. Aber es war schon zu spät.

»Ich habe gesagt, ich habe schon dreimal gesagt«, rief Burdowski in gereiztem Ton, »daß ich kein Geld will. Ich nehme es nicht an ... wozu ... ich will nicht ... fort von hier!«

Er wollte eilends die Veranda verlassen. Aber Lebedjews Neffe bekam ihn noch am Arm zu fassen und flüsterte ihm etwas zu. Burdowski kehrte schnell zurück, zog ein offenes Kuvert großen Formats aus der Tasche und warf es auf ein Tischchen, das neben dem Fürsten stand.

»Da ist das Geld ...! Wagen Sie es nicht ... wagen Sie es nicht ...! Da ist das Geld!«

»Es sind die zweihundertfünfzig Rubel, die Sie ihm durch Tschebarow als Almosen zu schicken wagten«, fugte Doktorenko erläuternd hinzu.

»In dem Artikel war gesagt: fünfzig!« rief Kolja.

»Ich bitte Sie um Entschuldigung!« sagte der Fürst, indem er an Burdowski herantrat. »Ich habe Ihnen schweres Unrecht getan, Burdowski; aber ich habe es Ihnen nicht als Almosen geschickt, glauben Sie mir! Ich habe Ihnen auch jetzt Unrecht getan, vorhin.« (Der Fürst war sehr niedergeschlagen; er sah müde und schwach aus, und seine Worte waren unzusammenhängend.) »Ich sprach von Gaunerei ... aber das bezog sich nicht auf Sie; ich habe mich geirrt. Ich sagte, daß Sie ebenso ein kranker Mensch seien wie ich. Aber Sie sind nicht ebenso wie ich; Sie geben ja Stunden und unterstützen Ihre Mutter. Ich sagte, Sie brächten Ihre Mutter in Unehre; aber Sie lieben sie; sie sagt es selbst ... ich wußte das nicht ... Gawrila Ardalionowitsch hatte mir vorhin noch nicht alles mitgeteilt ... ich habe Unrecht getan. Ich wagte es, Ihnen zehntausend Rubel anzubieten; aber das war Unrecht von mir; ich hätte es in anderer Weise machen müssen; aber jetzt ... geht es nicht mehr, weil Sie mich verachten ...«

»Aber das ist ja das reine Irrenhaus!« rief Lisaweta Prokofjewna.

»Gewiß, es ist ein Irrenhaus!« sagte Aglaja, die sich nicht mehr beherrschen konnte, in scharfem Ton.

Aber ihre Worte gingen in dem allgemeinen Lärm unter; alle redeten jetzt laut und gaben ihr Urteil ab: der eine disputierte, der andere lachte. Iwan Fjodorowitsch Jepantschin war im höchsten Grade empört und wartete mit einer Miene gekränkter Würde auf Lisaweta Prokofjewna. Lebedjews Neffe gab noch ein letztes Wort hinzu: »Ja, Fürst, man muß Ihnen die Gerechtigkeit widerfahren lassen, anzuerkennen, daß Sie es gut verstehen, Ihre ... na, sagen wir Krankheit (um es anständig auszudrücken) auszunützen; Sie haben Ihre Freundschaft und Ihr Geld in so geschickter Form anzubieten verstanden, daß es jetzt einem anständigen Menschen absolut unmöglich ist, sie anzunehmen. Das ist entweder sehr naiv oder sehr geschickt ... Sie werden es übrigens am besten wissen.«

»Erlauben Sie, meine Herren«, rief Gawrila Ardalionowitsch, der mittlerweile das Kuvert mit dem Geld aufgemacht hatte, »hier sind gar nicht zweihundertfünfzig Rubel darin, sondern nur hundert. Ich sage das deshalb, Fürst, damit daraus nicht irgendein Mißverständnis entsteht.«

»Lassen Sie, lassen Sie!« wehrte ihm der Fürst mit einer Handbewegung des Widerwillens.

»Nein, nicht ›Lassen sie!‹« fiel Lebedjews Neffe sofort ein.

»Ihr ›Lassen Sie!‹ ist für uns beleidigend, Fürst. Wir verstecken uns nicht, wir sprechen es offen aus: ja, es sind nur hundert Rubel darin und nicht zweihundertfünfzig; aber ist das nicht ganz gleich ...«

»N-nein, ganz gleich ist das nicht«, wandte Gawrila Ardalionowitsch schnell mit einer Miene naiver Verwunderung ein.

»Unterbrechen Sie mich nicht! Wir sind nicht solche Dummköpfe, wie Sie glauben, Herr Advokat!« rief Lebedjews Neffe boshaft und ärgerlich. »Selbstverständlich sind hundert Rubel nicht zweihundertfünfzig Rubel, und das ist nicht ganz gleich; aber das Wichtige ist dabei das Prinzip; der leitende Gedanke ist hier wichtig; und daß hundertfünfzig Rubel fehlen, ist nur ein zufälliger Begleitumstand. Wichtig ist, daß Burdowski Ihr Almosen nicht annimmt, Durchlaucht, daß er es Ihnen ins Gesicht wirft; und bei dieser Handlungsweise ist es ganz gleich, ob es hundert oder zweihundertfünfzig Rubel sind. Burdowski hat die zehntausend Rubel nicht angenommen, das haben Sie gesehen; und er würde auch die hundert Rubel nicht wiederbringen, wenn er ein Mensch ohne Ehre wäre! Die hundertfünfzig Rubel sind für Tschebarows Reise zum Fürsten verausgabt worden. Machen Sie sich lieber über unsere Ungeschicklichkeit, über unsere unpraktische Art, die Sache anzugreifen, lustig; Sie haben sich ja ohnehin aus allen Kräften bemüht, uns lächerlich zu machen; aber wagen Sie nicht zu sagen, daß wir kein Ehrgefühl besäßen! Die fehlenden hundertfünfzig Rubel, mein Herr, werden wir alle zusammen dem Fürsten zurückerstatten, zwar vielleicht nur rubelweise, aber mit Zinsen. Burdowski ist arm, Burdowski besitzt keine Millionen, und Tschebarow reichte nach der Reise seine Rechnung ein. Wir hatten auf einen Gewinn gehofft ... Wer hätte an seiner Stelle anders gehandelt?«

»Anders als wer?« rief Fürst Schtsch.

»Ich werde hier noch verrückt!« rief Lisaweta Prokofjewna.

»Das erinnert«, bemerkte lachend Jewgeni Pawlowitsch, der lange dagestanden und nur beobachtet hatte, »an eine berühmte Verteidigungsrede, die ein Advokat kürzlich hielt. Er betonte als Milderungsgrund die Armut seines Klienten, der sechs Menschen mit einemmal ermordet hatte, um sie auszurauben, und schloß plötzlich folgendermaßen: ›Es ist ganz natürlich, daß meinem Klienten bei seiner Armut der Gedanke kam, diese sechs Menschen zu ermorden; wem wäre an seiner Stelle nicht derselbe Gedanke gekommen?‹ Diese Art der Verteidigung hat etwas sehr Amüsantes.«

»Genug!« rief plötzlich, vor Zorn zitternd, Lisaweta Prokofjewna. »Es ist Zeit, mit diesem sinnlosen Gerede aufzuhören ...!« Sie befand sich in furchtbarer Aufregung, warf den Kopf drohend zurück und ließ ungeduldig, hochmütig und herausfordernd ihren funkelnden Blick über die ganze Gesellschaft hinschweifen, wobei sie in diesem Augenblick kaum die Freunde von den Feinden unterschied. Sie war auf jenem Punkt lange zurückgehaltenen, aber nun endlich ausbrechenden Zornes angelangt, wo man sich zu sofortigem Kampf gedrängt fühlt und das Bedürfnis verspürt, unverzüglich über jemand herzufallen. Wer Lisaweta Prokofjewna kannte, mußte sogleich merken, daß mit ihr etwas Besonderes vorging. Iwan Fjodorowitsch sagte am andern Tag zum Fürsten Schtsch.:

»Das kommt ja bei ihr manchmal vor, aber in dem Grad, wie gestern, doch nur sehr selten; so alle drei Jahre einmal, aber nicht öfter, nicht öfter!« fügte er erläuternd hinzu.

»Genug, Iwan Fjodorowitsch! Lassen Sie mich!« rief Lisaweta Prokofjewna. »Warum bieten Sie mir jetzt Ihren Arm? Vorhin verstanden Sie nicht, den richtigen Zeitpunkt wahrzunehmen, um mich wegzuführen; Sie sind der Mann, Sie sind das Oberhaupt der Familie; Sie mußten mich Närrin am Ohr wegführen, wenn ich nicht auf Sie hörte und wegging. Und wenigstens sollten Sie für Ihre Töchter sorgen! Aber jetzt werden wir auch ohne Sie den Weg finden; Anlaß, uns zu schämen, haben wir jetzt für ein ganzes Jahr genug ... Warten Sie noch einen Augenblick; ich möchte mich erst noch beim Fürsten bedanken ...! Ich danke dir, Fürst, für die gastliche Aufnahme! Und ich hatte mich hier behaglich hergesetzt, um die Jugend reden zu hören ... Das ist eine Gemeinheit, eine Gemeinheit! Das ist ja ein Unfug, ein Wirrwarr; so etwas sieht man ja nicht einmal im Traum! Gibt es denn wirklich viele solche Menschen ...? Schweig still, Aglaja! Schweig still, Alexandra! Das ist nicht eure Sache ...! Drehen Sie sich nicht immer neben mir hin und her, Jewgeni Pawlowitsch; Sie sind mir ganz zuwider geworden ...! Also du, mein Lieber, bittest diese Menschen noch um Verzeihung«, fuhr sie, sich wieder an den Fürsten wendend, fort. »›Verzeihen Sie‹, sagst du, ›daß ich Ihnen ein Kapital anzubieten gewagt habe ...!‹ Und du, Schwadroneur, was hast du denn zu lachen?« fuhr sie plötzlich auf Lebedjews Neffen los. »Du sagst: ›Wir verzichten auf das Kapital; wir bitten nicht, sondern wir fordern!‹ Als ob er nicht wüßte, daß dieser Idiot gleich morgen wieder zu ihnen hinlaufen wird, um ihnen seine Freundschaft und sein Geld anzubieten! Du wirst ja doch wohl hingehen? Wirst du hingehen? Ja oder nein?«

»Ja, ich werde hingehen«, antwortete der Fürst leise und demütig.

»Na, da hört ihr's! Darauf rechnest du ja auch bloß!« wandte sie sich wieder zu Doktorenko; »jetzt hast du das Geld schon so gut wie in der Tasche; und da schwadronierst du, um uns Sand in die Augen zu streuen ... Nein, Verehrtester, da mußt du dir andere suchen, die dümmer sind als ich; ich durchschaue euch durch und durch ... ich verstehe euer ganzes Spiel!«

»Lisaweta Prokofjewna!« rief der Fürst.

»Kommen Sie weg von hier, Lisaweta Prokofjewna; es ist hohe Zeit; auch den Fürsten wollen mir mitnehmen«, sagte Fürst Schtsch. lächelnd in möglichst ruhigem Ton.

Die Mädchen standen ängstlich abseits; der General war ganz erschrocken; überhaupt waren alle erstaunt. Einige, die etwas weiter entfernt standen, lächelten heimlich und flüsterten untereinander; Lebedjews Gesicht drückte den höchsten Grad des Entzückens aus.

»Häßlichen Wirrwarr findet man in der ganzen Welt, gnädige Frau«, sagte Lebedjews Neffe, der gleichfalls nicht wenig betroffen war.

»Aber nicht einen so argen! Nicht einen so argen, lieber Freund, wie jetzt bei euch; nicht einen so argen!« rief Lisaweta Prokofjewna, gleichsam schadenfroh und wie in einem hysterischen Anfall. »So laßt mich doch in Ruhe!« schrie sie denen, die auf sie einredeten, zu. »Nein, wenn Sie schon erzählen, Jewgeni Pawlowitsch, daß sogar ein Verteidiger vor Gericht erklärt hat, es sei nichts natürlicher als aus Armut sechs Menschen abzuschlachten, dann ist der Jüngste Tag nahe herangekommen; so etwas habe ich ja noch nie gehört! Jetzt ist mir alles klargeworden! Ist denn dieser Stotterer etwa nicht imstande, einem die Kehle abzuschneiden?« Sie wies auf Burdowski, der sie höchst erstaunt ansah. »Ich möchte darauf wetten, daß er es fertig bekommt!« Er wird dein Geld, die zehntausend Rubel, vielleicht nicht annehmen, wird sie vielleicht aus Gewissensbedenken nicht annehmen; aber er wird bei Nacht kommen und dir die Kehle durchschneiden und das Geld aus der Schatulle nehmen, ohne daß sein Gewissen dagegen Einwendungen erhebt! »Das ist nach seiner Ansicht nicht ehrlos! Das ist ›ein Ausbruch edler Verzweiflung‹, das ist ›Negation‹ oder weiß der Teufel was sonst noch ... Pfui! Alles ist auf den Kopf gestellt; alle gehen mit den Füßen nach oben. Da ist ein junges Mädchen im Elternhaus aufgewachsen; auf einmal springt sie mitten auf der Straße in eine Droschke: ›Mamachen, ich habe mich neulich mit irgendeinem Karlowitsch oder Iwanowitsch verheiratet; leben Sie wohl!‹ Und eine solche Handlungsweise ist nach eurer Meinung ganz in der Ordnung, achtungswert und natürlich? Das ist die Frauenfrage? Da, dieser dumme Junge hier« (sie zeigte auf Kolja), »auch der hat neulich darüber disputiert und sagt, das sei eben die Frauenfrage. Aber auch wenn eine Mutter dumm ist, sollten die Töchter sie anständig behandeln ...! Warum trugt ihr denn vorhin, als ihr hereinkamt, die Köpfe so stolz erhoben? ›Wagt es nicht, uns zu nahezutreten; wir kommen! Gib uns alle erdenklichen Rechte; aber wage du nicht, dich uns gegenüber zu mucksen! Erweise uns in unerhörtem Maß alle Achtung; aber wir werden dich schlechter behandeln als den niedrigsten Lakaien!‹ Sie suchen die Wahrheit, sie bestehen auf ihrem Recht; aber sie selbst haben ihn wie die Heiden in ihrem Artikel verleumdet. ›Wir fordern; wir bitten nicht, und ihr werdet von uns kein Wort des Dankes zu hören bekommen, weil ihr es doch nur zur Beruhigung eures eigenen Gewissens tut!‹ Eine nette Moral! Aber wenn du dich von jeder Verpflichtung zur Dankbarkeit dispensierst, dann kann doch auch der Fürst dir antworten, daß er gegen Pawlischtschew keine Dankbarkeit empfinde, weil ja auch Pawlischtschew nur zur Beruhigung seines eigenen Gewissens Gutes getan habe. Und du hast ja doch nur auf seine Dankbarkeit gegen Pawlischtschew deine Spekulation gegründet; er hat ja doch von dir kein Geld geborgt und ist dir nichts schuldig; also worauf hast du denn sonst gerechnet als auf seine Dankbarkeit? Wie kannst du dich denn da selbst von ihr lossagen? Ihr Verrückten! Ihr nennt die menschliche Gesellschaft roh und inhuman, weil sie ein verführtes Mädchen ächtet; aber wenn ihr die menschliche Gesellschaft als inhuman bezeichnet, so erklärt ihr damit doch, daß diesem Mädchen von dieser Gesellschaft ein Schmerz zugefügt wird. Wenn das aber für sie ein Schmerz ist, wie könnt ihr sie dann selbst in den Zeitungen vor eben dieser Gesellschaft an den Pranger stellen und verlangen, daß das für sie kein Schmerz sein soll? Ihr Verrückten! Ihr eitlen Menschen! Ihr glaubt nicht an Gott, ihr glaubt nicht an Christus! Eitelkeit und Stolz haben eure Seelen so zerfressen, daß ihr schließlich noch einer den andern auffressen werdet, das sage ich euch voraus! Ist das nicht ein Unsinn, ein Wirrwarr, ein Skandal? Und trotz alledem wird dieser verdrehte Mensch noch zu ihnen hingehen und sie um Verzeihung bitten! Gibt es denn viele solche Leute wie ihr? Was lächelt ihr? Weil ich mich mit euch so gemein gemacht habe? Das ist nun einmal geschehen; daran ist nichts mehr zu ändern ...! Lächle du mich nicht so an, du frecher Bube!« (Sie stürzte plötzlich auf Ippolit los.) »Er kann kaum noch atmen und verdirbt andere! Du hast mir diesen Jungen hier verdorben« (sie zeigte wieder auf Kolja); »er schwärmt immer von dir; du unterweist ihn im Atheismus, du glaubst nicht an Gott; und dabei stehst du in einem Alter, daß du noch Hiebe bekommen könntest, mein Verehrter! Pfui über euch ...! Also, Fürst Ljow Nikolajewitsch, wirst du wirklich morgen zu ihnen hingehen, ja?« fragte sie wieder fast atemlos den Fürsten.

»Ja, ich werde hingehen.«

»Dann kenne ich dich nicht mehr!« Sie drehte sich schnell um, um wegzugehen, kehrte aber plötzlich wieder zurück. »Wirst du auch zu diesem Atheisten gehen?« Sie zeigte auf Ippolit. »Aber warum lächelst du denn über mich?« schrie sie mit seltsam klingender Stimme und stürzte auf Ippolit los, dessen spöttisches Lächeln sie nicht ertragen konnte.

»Lisaweta Prokofjewna! Lisaweta Prokofjewna! Lisaweta Prokofjewna!« wurde von allen Seiten zugleich gerufen.

»Mama, das ist eine Schande!« rief Aglaja laut.

»Beunruhigen Sie sich nicht, Aglaja Iwanowna!« antwortete Ippolit ruhig; Lisaweta Prokofjewna hatte ihn beim Arm gepackt und hielt diesen aus nicht recht verständlichem Grund fest; sie stand vor ihm und durchbohrte ihn förmlich mit ihrem wütenden Blick. »Beunruhigen Sie sich nicht! Ihre Mama wird schon selbst zu der Einsicht kommen, daß man sich an einem Sterbenden nicht vergreifen darf ... Ich bin bereit, eine Erklärung darüber abzugeben, warum ich gelacht habe ..., und werde mich sehr freuen, wenn man es mir verstattet ...«

Hier überfiel ihn plötzlich ein heftiger Husten, den er eine ganze Minute lang nicht stillen konnte.

»Er ist schon im Verscheiden und hält immer noch Reden!« rief Lisaweta Prokofjewna. Sie ließ seinen Arm los und sah erschrocken, wie er sich das Blut von den Lippen wischte. »Wozu willst du denn noch reden? Du mußt einfach hingehen und dich ins Bett legen ...«

»Das wird auch geschehen«, erwiderte Ippolit leise, fast flüsternd, mit heiserer Stimme. »Sobald ich heute nach Hause komme, werde ich mich gleich hinlegen ... binnen vierzehn Tagen werde ich sterben, das weiß ich ... In der vorigen Woche hat es mir B...n selbst gesagt ... Also wenn Sie gestatten, möchte ich Ihnen noch ein paar Worte zum Abschied sagen.«

»Aber hast du denn den Verstand verloren? Was? Das ist ja Unsinn! In ärztliche Behandlung mußt du; was hat es für Sinn, jetzt Gespräche zu führen! Geh, geh und leg dich ins Bett!« rief Lisaweta Prokofjewna erschrocken.

»Wenn ich mich hinlege, so werde ich ja bis zu meinem Tode nicht wieder aufstehen«, versetzte Ippolit lächelnd.

»Ich wollte mich schon gestern hinlegen, um vor dem Tod nicht wieder aufzustehen, verschob es aber um zwei Tage, solange mich die Beine noch tragen ... um heute mit denen hierher zu gehen ... Aber ich bin sehr müde ...«

»So setz dich doch, setz dich doch! Warum stehst du? Da hast du einen Stuhl!« rief Lisaweta Prokofjewna eifrig und schob ihm selbst einen Stuhl hin.

»Ich danke Ihnen«, fuhr Ippolit leise fort. »Setzen Sie sich mir gegenüber, dann wollen wir miteinander sprechen ... Wir müssen unbedingt miteinander sprechen, Lisaweta Prokofjewna; jetzt bestehe ich darauf ...« Er lächelte wieder. »Bedenken Sie, daß ich heute zum letztenmal in der freien Luft und unter Menschen bin und in zwei Wochen aller Wahrscheinlichkeit nach in der Erde liegen werde. Also wird das eine Art Abschied von den Menschen und von der Natur sein. Ich bin zwar nicht sehr sentimental; aber denken Sie sich: ich freue mich doch sehr, daß dies alles gerade hier in Pawlowsk vorgegangen ist; man sieht hier doch wenigstens einen grünen Baum.«

»Aber wozu willst du denn jetzt ein Gespräch führen?« wandte Lisaweta Prokofjewna ein, die immer ängstlicher wurde. »Du fieberst ja vollständig. Vorhin kreischtest und quiektest du, und jetzt bekommst du kaum Luft und bist am Ersticken!«

»Ich werde mich gleich wieder erholen. Warum wollen Sie mir meinen letzten Wunsch abschlagen ...? Wissen Sie, ich habe schon lange im stillen davon phantasiert, mit Ihnen einmal zusammenzukommen, Lisaweta Prokofjewna; ich habe viel von Ihnen gehört ... durch Kolja; der ist ja fast der einzige, der mich nicht verlassen hat ... Sie sind eine eigenartige Frau, eine exzentrische Frau; das habe ich jetzt selbst gesehen ... Wissen Sie wohl, daß ich Sie sogar ein bißchen geliebt habe?«

»O Gott, und ich hätte ihn wahrhaftig beinah geschlagen!«

»Aglaja Iwanowna hat Sie davon zurückgehalten. Ich irre mich doch nicht? Das ist doch Ihre Tochter Aglaja Iwanowna? Sie ist so schön, daß ich vorhin gleich beim ersten Blick vermutete, sie sei es, obwohl ich sie niemals gesehen habe. Lassen Sie mich wenigstens zum letztenmal in meinem Leben eine wirkliche Schönheit sehen!« fügte Ippolit mit einem ungeschickten, schiefen Lächeln hinzu. »Es ist ja auch der Fürst hier und Ihr Gemahl und die ganze Gesellschaft. Warum wollen Sie mir meinen letzten Wunsch abschlagen?«

»Einen Stuhl!« rief Lisaweta Prokofjewna; aber sie ergriff selbst einen und setzte sich Ippolit gegenüber hin. »Kolja!« befahl sie, »brich gleich mit ihm auf und bring ihn nach Hause, und morgen werde ich bestimmt selbst ...«

»Wenn Sie erlauben, würde ich den Fürsten um eine Tasse Tee bitten ... Ich bin sehr müde. Wissen Sie was, Lisaweta Prokofjewna, Sie wollten ja wohl den Fürsten zum Teetrinken mit zu sich nach Hause nehmen: bleiben Sie doch hier; lassen Sie uns eine Weile zusammen sein; der Fürst wird gewiß uns allen, die wir hier sind, Tee geben lassen. Verzeihen Sie, daß ich solche Anordnungen treffe ...! Aber ich kenne Sie ja, Sie sind eine gute Frau, und auch der Fürst ist ein guter Mensch ... wir sind sämtlich lächerlich gute Leute ...«

Der Fürst geriet in geschäftige Bewegung; Lebedjew stürzte Hals über Kopf davon, Wjera lief hinter ihm her.

»Sei es so!« stimmte die Generalin ihm kurz bei. »Rede, aber leise, und reg dich nicht auf! Du tust mir leid ...! Fürst, du verdienst nicht, daß ich bei dir Tee trinke; aber ich will meinetwegen hierbleiben, wiewohl ich niemanden um Verzeihung bitte, niemanden! Unsinn! Übrigens, wenn ich vorhin auf dich geschimpft habe, so verzeih mir das ... das heißt, wenn du willst. Übrigens will ich niemanden hier zurückhalten«, wandte sie sich mit höchst zorniger Miene an ihren Mann und an ihre Töchter, als ob auch diese ihr irgendein schweres Unrecht angetan hätten. »Ich kann auch allein nach Hause zurückgehen ...«

Aber man ließ sie nicht zu Ende sprechen. Alle traten heran und umringten sie dienstfertig. Der Fürst bat sofort alle, zum Tee dazubleiben, und entschuldigte sich, daß er bisher nicht daran gedacht habe. Selbst der General war so liebenswürdig, ein paar Worte der Beruhigung zu murmeln und Lisaweta Prokofjewna freundlich zu fragen, ob es ihr auf der Veranda auch nicht zu kühl sei. Er setzte sogar schon dazu an, Ippolit zu fragen, ob er schon lange auf der Universität sei, tat es aber doch nicht. Jewgeni Pawlowitsch und Fürst Schtsch. wurden auf einmal sehr liebenswürdig und heiter, und auf Adelaidas und Alexandras Gesichtern wurde durch das fortdauernde Erstaunen hindurch sogar ein Ausdruck von Zufriedenheit sichtbar; kurz, alle waren augenscheinlich froh, daß die Krisis bei Lisaweta Prokofjewna vorüber war. Nur Aglaja machte ein finsteres Gesicht und setzte sich schweigend abseits. Auch die ganze übrige Gesellschaft blieb da; keiner wollte fortgehen, nicht einmal General Iwolgin, dem Lebedjew im Vorübergehen etwas zuflüsterte, wahrscheinlich nichts sehr Angenehmes, da der General sogleich in einen Winkel verschwand. Der Fürst trat mit seiner Einladung auch an Burdowski und dessen Begleitung heran, ohne jemand zu übergehen. Sie murmelten mit gezwungenen Mienen, sie würden auf Ippolit warten, und zogen sich sofort nach dem fernsten Winkel der Veranda zurück, wo sie sich wieder alle in einer Reihe hinsetzten. Wahrscheinlich war der Tee in Lebedjews Wohnung schon lange für die Familie fertig; denn er wurde sofort gebracht. Es schlug elf Uhr.

X


Ippolit benetzte seine Lippen an der Tasse Tee, die ihm Wjera Lebedjewa gereicht hatte, stellte die Tasse auf ein Tischchen und blickte verlegen und befangen rings um sich.

»Sehen Sie einmal diese Tassen, Lisaweta Prokofjewna«, sagte er mit seltsamer Hast; »diese Porzellantassen, die wohl von vorzüglichem Porzellan sind, hat Lebedjew immer in einer verschlossenen Chiffonière hinter Glas stehen; sie werden nie herausgegeben ... wie das so Sitte ist; sie haben zur Mitgift seiner Frau gehört ... das ist bei diesen Leuten so Sitte ... und nun hat er sie doch für uns herausgegeben, natürlich Ihnen zu Ehren; so hat er sich gefreut ...«

Er wollte noch etwas hinzufügen, konnte aber nicht gleich die richtigen Worte finden.

»Er ist ganz verlegen geworden; das hatte ich doch erwartet!« flüsterte Jewgeni Pawlowitsch dem Fürsten ins Ohr. »Das ist doch wohl gefährlich, nicht wahr? Ein ganz sicheres Anzeichen dafür, daß er jetzt aus Trotz irgendeine so arge Absonderlichkeit begehen wird, daß selbst Lisaweta Prokofjewna vielleicht nicht wird hierbleiben mögen.«

Der Fürst blickte ihn fragend an.

»Sie fürchten sich vor solchen Absonderlichkeiten nicht?« fügte Jewgeni Pawlowitsch hinzu. »Ich tue es auch nicht; ich wünsche dergleichen sogar herbei: es liegt mir besonders daran, daß unsere liebe Lisaweta Prokofjewna bestraft wird, und zwar gleich heute, gleich jetzt; vorher möchte ich gar nicht fortgehen. Aber Sie fiebern ja, wie es scheint?«

»Lassen wir das jetzt! Stören Sie nicht! Ja, ich bin nicht wohl«, antwortete der Fürst zerstreut und ungeduldig.

Er hörte seinen Namen; Ippolit sprach von ihm.

»Sie glauben es nicht?« lachte Ippolit krampfhaft. »Das war vorauszusehen; aber der Fürst wird es gleich beim ersten Wort glauben und gar nicht erstaunt darüber sein.«

»Hörst du wohl, Fürst?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an ihn. »Hörst du wohl?«

Ringsum wurde gelacht. Lebedjew drängte sich eifrig nach vorn und wendete und drehte sich dicht vor Lisaweta Prokofjewna hin und her.

»Er hat gesagt, daß dieser Grimassenschneider da, dein Hauswirt, jenem Herrn den Schmähartikel verbessert hat, der vorhin vorgelesen wurde.«

Der Fürst sah Lebedjew erstaunt an.

»Warum schweigst du denn?« fragte Lisaweta Prokofjewna den Fürsten und stampfte dabei sogar mit dem Fuß.

»Nun ja«, murmelte der Fürst, der seinen Blick immer noch auf Lebedjew gerichtet hielt, »ich sehe schon, daß er es getan hat.«

»Ist das die Wahrheit?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna schnell an Lebedjew.

»Die reine Wahrheit, Exzellenz!« antwortete Lebedjew in festem Ton ohne zu zaudern und legte dabei die Hand aufs Herz.

»Er rühmt sich dessen noch!« rief sie und war nah daran, vom Stuhl aufzuspringen.

»Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch!« murmelte Lebedjew, schlug sich gegen die Brust und ließ den Kopf immer tiefer und tiefer hängen.

»Was fange ich damit an, daß du ein gemeiner Mensch bist! Er denkt, wenn er sagt: ›Ich bin ein gemeiner Mensch!‹ dann hat er sich herausgeholfen. Schämst du dich nicht, Fürst, mit solchen jämmerlichen Menschen zu verkehren? frage ich dich noch einmal. Ich werde dir das nie verzeihen!«

»Mir wird der Fürst verzeihen!« sagte Lebedjew fest überzeugt und sehr gerührt.

»Lediglich aus Edelmut«, begann auf einmal mit lauter, volltönender Stimme Keller, der schnell herzugetreten war und sich nun unmittelbar an Lisaweta Prokofjewna wandte, »lediglich aus Edelmut, gnädige Frau, um nicht einen Freund durch Verrat zu kompromittieren, habe ich vorhin von den Verbesserungen, die er vorgenommen hatte, geschwiegen, obgleich er vorschlug, uns aus der Tür zu werfen, wie Sie selbst gehört haben. Zur Ehre der Wahrheit gestehe ich nun, daß ich mich tatsächlich an ihn gewendet und ihm sechs Rubel bezahlt habe, aber durchaus nicht dafür, daß er meinen Stil verbessert hätte, sondern dafür, daß er als eine kompetente Persönlichkeit mir Tatsachen mitteilte, die mir größtenteils unbekannt waren. Das von den Gamaschen, von dem Appetit bei dem Schweizer Professor und von den fünfzig Rubeln statt der zweihundertfünfzig Gesagte, kurz diese ganze Partie stammt von ihm her und ist mit sechs Rubeln honoriert worden; aber den Stil hat er nicht korrigiert.«

»Ich muß bemerken«, unterbrach ihn Lebedjew mit fieberhafter Ungeduld und in kriecherischem Ton, während das Lachen ein immer allgemeineres wurde, »daß ich nur die erste Hälfte des Artikels verbessert habe; aber da wir in der Mitte uns veruneinigten und wegen eines Satzes in Streit gerieten, so habe ich die zweite Hälfte nicht mehr verbessert, und es darf daher alles, was darin gegen die gute Schreibart verstößt (und dessen ist vieles!), mir nicht zur Last gelegt werden ...«

»Also das ist es, worauf es ihm ankommt!« rief Lisaweta Prokofjewna.

»Gestatten Sie die Frage«, wandte sich Jewgeni Pawlowitsch an Keller, »wann denn diese Verbesserungen des Artikels stattgefunden haben.«

»Gestern vormittag«, antwortete Keller. »Wir hatten eine Zusammenkunft und versprachen uns gegenseitig mit unserem Ehrenwort, das Geheimnis zu bewahren.«

»Das war also fast zu derselben Zeit, wo er sich gegen dich so kriecherisch benahm und dich seiner Ergebenheit versicherte. Nein, diese jämmerlichen Menschen! Ich brauche deinen Puschkin nicht, und deine Tochter soll auch nicht zu mir kommen!«

Lisaweta Prokofjewna wollte schon aufstehen; aber plötzlich wandte sie sich gereizt an den lachenden Ippolit:

»Wie ist denn das, mein Lieber? Du hast mich wohl hier lächerlich machen wollen?«

»Gott bewahre!« erwiderte Ippolit mit einem schiefen Lächeln. »Aber mich interessiert außerordentlich Ihr exzentrisches Wesen, Lisaweta Prokofjewna, und ich muß gestehen, daß ich die Geschichte von Lebedjew absichtlich aufs Tapet gebracht habe, weil ich wußte, wie das auf Sie wirken würde; auf Sie allein; denn der Fürst wird ihm gewiß verzeihen und hat ihm wahrscheinlich schon verziehen ... er hat vielleicht schon im stillen eine Entschuldigung für ihn gesucht; es ist doch wohl so, Fürst, nicht wahr?«

Er war ganz außer Atem gekommen; seine seltsame Aufregung wuchs mit jedem Wort.

»Oh, oh ...!« sagte Lisaweta Prokofjewna zornig; sie wunderte sich über seinen Ton. »Nun, und weiter?«

»Ich hatte über Sie schon viel von dieser Art gehört ... mit großer Freude gehört ... ich habe Sie sehr schätzengelernt«, fuhr Ippolit fort.

Das waren seine Worte; aber er sprach sie in einer Weise, als ob er mit ihnen etwas ganz anderes sagen wollte. Er sprach mit einem Beiklang von Spott und regte sich gleichzeitig unverhältnismäßig auf, sah mißtrauisch um sich und geriet bei jedem Wort mehr in die Verwirrung und Verlegenheit hinein, so daß all dies im Verein mit seinem schwindsüchtigen Aussehen und seinem sonderbaren funkelnden und beinah wütenden Blick unwillkürlich die allgemeine Aufmerksamkeit fesselte.

»Ich würde mich sonst, obwohl ich die Gebräuche der vornehmen Welt gar nicht kenne (das gebe ich zu), darüber wundern, daß Sie nicht nur selbst in unserer für Sie unpassenden Gesellschaft geblieben sind, sondern auch diesen ... jungen Mädchen erlaubt haben, eine solche Skandalgeschichte mitanzuhören; allerdings werden sie wohl all dergleichen schon in Romanen gelesen haben; ich weiß das übrigens vielleicht nicht ... denn ich befinde mich in großer Verwirrung. Aber jedenfalls, wer außer Ihnen hätte es fertiggebracht ..., auf die Bitte eines Knaben hin (nun ja, eines Knaben, auch das will ich wieder zugeben), mit ihm einen Teil des Abends zu verbringen und ... und an allem solchen Anteil zu nehmen und ... mit der Aussicht, sich dessen am nächsten Tag zu schämen ... (ich gebe übrigens zu, daß ich mich unrichtig ausdrücke). Ich lobe das alles sehr und schlage es sehr hoch an, obgleich schon an dem Gesicht Seiner Exzellenz, Ihres Gemahls, deutlich zu sehen ist, wie wenig das nach seinem Urteil zu seinem Rang paßt ... Hihi!« kicherte er; er hatte sich in seinem Reden völlig verrannt und bekam nun auf einmal einen solchen Hustenanfall, daß er mehrere Minuten lang nicht weitersprechen konnte.

»Er ist ja ganz außer Atem gekommen!« sagte Lisaweta Prokofjewna in kaltem, scharfem Ton, indem sie ihn mit ernster Neugier betrachtete. »Aber nun, mein lieber Junge, müssen wir unser Gespräch abbrechen. Es ist Zeit.«

»Erlauben Sie auch mir, mein Herr, Ihnen meinerseits zu bemerken«, begann auf einmal Iwan Fjodorowitsch gereizt, der den letzten Rest von Geduld verloren hatte, »daß meine Frau sich hier bei dem Fürsten Ljow Nikolajewitsch, unserm gemeinsamen Freund und Nachbarn, befindet, und daß es jedenfalls Ihnen, junger Mann, nicht zusteht, über Lisaweta Prokofjewnas Handlungen ein Urteil zu fällen, ebensowenig wie es Ihnen zusteht, sich laut und mir ins Gesicht darüber zu äußern, was auf meinem Gesicht geschrieben steht. Jawohl. Und wenn meine Frau hiergeblieben ist«, fuhr er fort, indem er fast mit jedem Wort in eine gereiztere Stimmung hineinkam, »so hat sie das vorwiegend aus Verwunderung getan und aus einer begreiflichen modernen Neugier, so sonderbare junge Leute kennenzulernen. Und ich für meine eigene Person bin in ähnlicher Weise hiergeblieben, wie ich manchmal auf der Straße stehenbleibe, wenn da etwas zu sehen ist, so eine ... eine ...«

»So eine Kuriosität«, half ihm Jewgeni Pawlowitsch.

»Ganz recht, sehr richtig!« sagte erfreut Seine Exzellenz der General, der mit seinem Vergleich nicht ganz hatte zurechtkommen können; »so eine Kuriosität. Aber jedenfalls ist es mir höchst erstaunlich und sogar betrübend, daß Sie, junger Mensch, nicht einmal das haben begreifen können, daß Lisaweta Prokofjewna jetzt nur deswegen bei Ihnen geblieben ist, weil Sie krank sind (wenn anders Sie wirklich bald sterben werden), sozusagen aus Mitleid, wegen Ihrer kläglichen Reden, mein Herr, und daß ihrem Namen, ihren persönlichen Eigenschaften und ihrem Rang in keinem Fall irgendwelcher Makel anhaften kann ... Lisaweta Prokofjewna«, schloß der General, der ganz rot geworden war, »wenn du gehen willst, so wollen wir uns von unserm guten Fürsten verabschieden und ...«

»Ich danke Ihnen für die Lektion, die Sie mir erteilt haben, General«, unterbrach ihn Ippolit ernst, indem er ihn nachdenklich ansah.

»Kommen Sie, Mama! Wie lange soll denn das noch dauern?« sagte Aglaja ungeduldig und zornig und stand von ihrem Stuhl auf. »Noch zwei Minuten, lieber Iwan Fjodorowitsch, wenn du erlaubst!« wandte sich Lisaweta Prokofjewna mit würdiger Ruhe an ihren Gatten. »Mir scheint, er fiebert vollständig und redet geradezu irre; ich sehe es ihm an den Augen an; es muß etwas für ihn geschehen. Ljow Nikolajewitsch! Könnte er nicht bei dir übernachten, damit er heute nicht nach Petersburg zurückgeschleppt zu werden braucht? Cher prince, Sie langweilen sich doch nicht?« wandte sie sich ohne verständlichen Grund auf einmal an den Fürsten Schtsch. »Komm einmal her, Alexandra, und bring dein Haar in Ordnung, mein Kind!«

Sie brachte ihr das Haar in Ordnung, an dem nichts in Ordnung zu bringen war, und küßte sie; letzteres war der einzige Grund gewesen, warum sie sie zu sich gerufen hatte.

»Ich habe Sie für entwicklungsfähig gehalten«, begann Ippolit von neuem, indem er aus seiner Versunkenheit wieder zu sich kam. »Ja! Das war es, was ich noch sagen wollte!« rief er erfreut, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen wäre. »Da wünscht nun Burdowski aufrichtig, seine Mutter zu beschützen, nicht wahr? Aber das Resultat ist, daß er sie in Unehre bringt. Da wünscht nun der Fürst, Burdowski zu helfen, und bietet ihm aus gutem Herzen seine Freundschaft und eine große Summe Geldes an und ist vielleicht von Ihnen allen der einzige, der gegen ihn keinen Widerwillen empfindet, und doch stehen gerade sie beide einander als wahre Feinde gegenüber ... Hahaha! Sie hassen alle Burdowski, weil er nach Ihrer Anschauung sich gegen seine Mutter unschön und unzart benimmt; so ist es doch? Nicht? Nicht? Sie legen ja alle einen enormen Wert auf Schönheit und Feinheit der Formen; nur darauf kommt es Ihnen an, nicht wahr? (Ich habe schon lange den Verdacht gehabt, daß es sich so verhält!) Nun, so mögen Sie denn wissen, daß vielleicht keiner von Ihnen seine Mutter so liebt wie Burdowski! Sie, Fürst, haben, wie ich weiß, durch Ganja der Mutter Burdowskis im stillen Geld geschickt, und nun möchte ich darauf wetten ... hihihi!« lachte er hysterisch, »... ich möchte darauf wetten, daß Burdowski Ihnen dies jetzt als unzarte Form und als eine Respektlosigkeit gegen seine Mutter zum Vorwurf machen wird. Bei Gott, so ist es! Hahaha!«

Hier bekam er wieder keine Luft mehr und mußte husten.

»Nun, bist du fertig? Hast du jetzt alles gesagt, was du sagen wolltest? Na, dann geh jetzt schlafen; du hast Fieber«, unterbrach ihn ungeduldig Lisaweta Prokofjewna, die ihren unruhigen Blick nicht von ihm abwandte. »Ach Gott, da fängt er schon wieder an zu reden!«

»Sie lachen wohl? Was haben Sie immer über mich zu lachen? Ich habe bemerkt, daß Sie fortwährend über mich lachen!« wandte er sich plötzlich unruhig in gereiztem Ton an Jewgeni Pawlowitsch.

Dieser hatte tatsächlich gelacht.

»Ich wollte Sie nur fragen, Herr ... Ippolit ... Entschuldigen Sie, ich habe Ihren Familiennamen vergessen ...«

»Herr Terentjew«, sagte der Fürst.

»Ja, Terentjew; ich danke Ihnen, Fürst; der Name wurde vorhin genannt, war mir aber wieder entfallen ... Ich wollte Sie fragen, Herr Terentjew, ob das wahr ist, was ich gehört habe: Sie seien der Ansicht, Sie brauchten nur eine Viertelstunde lang aus dem Fenster zum Volk zu reden, dann sei es sogleich mit Ihnen in allen Stücken einverstanden und folge Ihnen sofort?«

»Gut möglich, daß ich das gesagt habe«, antwortete Ippolit, wie wenn er in seinem Gedächtnis nachsuchte. »Ich habe es sicher gesagt«, fügte er auf einmal hinzu, indem er wieder lebhafter wurde und einen festen Blick auf Jewgeni Pawlowitsch heftete. »Nun, und was folgern Sie daraus?«

»Nichts; ich fragte nur, weil ich es gern wissen wollte; zur Vervollständigung meiner Kenntnisse.«

Jewgeni Pawlowitsch schwieg; aber Ippolit blickte ihn immer noch ungeduldig wartend an.

»Nun also, bist du fertig?« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Jewgeni Pawlowitsch. »Komm schnell zu Ende, lieber Freund; es ist für ihn Zeit, sich schlafen zu legen. Oder verstehst du nicht, das Ende zu finden?«

Sie ärgerte sich gewaltig.

»Ich würde gern noch hinzufügen«, fuhr Jewgeni Pawlowitsch lächelnd fort, »daß alles, was ich von seiten Ihrer Kameraden gehört habe, und alles, was Sie soeben auseinandergesetzt haben, und zwar mit so zweifellosem Talent, meiner Ansicht nach zur Theorie vom Triumph des Rechtes gehört, vor allem andern und sogar mit Übergehung alles andern und vielleicht sogar, ohne daß untersucht worden wäre, worin denn eigentlich das Recht besteht. Vielleicht irre ich mich?«

»Gewiß, Sie irren sich; ich verstehe Sie nicht einmal ... Und weiter?«

Auch in der Ecke wurde gemurrt. Lebedjews Neffe murmelte etwas halblaut.

»Weiter habe ich eigentlich kaum etwas zu sagen«, fuhr Jewgeni Pawlowitsch fort; »ich wollte nur noch bemerken, daß infolge dieses Verfahrens die Sache geradezu in das Recht der Gewalt umschlagen kann, das heißt in das Recht der einzelnen Faust und des persönlichen Beliebens, was übrigens in der Welt sehr oft der Ausgang gewesen ist. Auch Proudhon ist bei dem Recht der Gewalt stehengeblieben. Im amerikanischen Krieg haben viele der ersten Koryphäen des Liberalismus sich für die Pflanzer erklärt, auf Grund der Anschauung, daß die Neger eben nur Neger seien und tiefer ständen als die weiße Rasse, und daß folglich das Recht der Gewalt auf seiten der Weißen sei ...«

»Nun?«

»Das heißt also: Sie verwerfen das Recht der Gewalt nicht?«

»Weiter?«

»Sie sind jedenfalls konsequent; ich wollte nur bemerken, daß es von dem Recht der Gewalt zu dem Recht der Tiger und Krokodile und sogar zu Männern wie Danilow und Gorski nicht weit ist.«

»Ich weiß nicht. Weiter?«

Ippolit hörte kaum zu, was Jewgeni Pawlowitsch sagte, und wenn er ein »Nun« und ein »Weiter« dazwischenwarf, so schien er das mehr aus einer alten, bei Gesprächen angenommenen Gewohnheit und nicht aus Aufmerksamkeit und Neugier zu tun.

»Weiter wollte ich nichts sagen ... das ist alles.«

»Ich bin Ihnen übrigens nicht böse«, sagte Ippolit zum Schluß plötzlich ganz unerwartet und streckte, wohl ohne sich dessen selbst recht bewußt zu werden, dem andern die Hand hin, wobei er sogar lächelte.

Jewgeni Pawlowitsch war zuerst erstaunt, ergriff dann aber mit ganz ernstem Gesicht die ihm hingehaltene Hand, als nähme er die angebotene Verzeihung an.

»Ich muß noch hinzufügen«, sagte er in demselben zweideutig respektvollen Ton, »daß ich Ihnen dankbar bin für die Aufmerksamkeit, mit der Sie mich haben reden lassen; denn nach meinen zahlreichen Beobachtungen können unsere Liberalen niemanden seine eigene Meinung aussprechen lassen, ohne ihrem Opponenten sofort mit Schimpfworten oder sogar mit noch Schlimmerem zu antworten ...«

»Da haben Sie vollkommen recht«, bemerkte General Iwan Fjodorowitsch und zog sich, die Hände auf den Rücken legend, mit gelangweilter Miene zum Ausgang der Veranda zurück, wo er vor Ärger gähnte.

»Na, nun aber Schluß, lieber Freund!« wandte sich Lisaweta Prokofjewna energisch an Jewgeni Pawlowitsch. »Ich habe eure Gespräche satt bekommen ...«

»Es ist Zeit!« sagte Ippolit, der sich besorgt und fast erschrocken erhob und verwirrt um sich blickte. »Ich habe Sie aufgehalten; ich wollte Ihnen alles sagen ... ich meinte, daß Sie alle ... zum letztenmal ... es war eine törichte Einbildung ...«

Es war deutlich, daß er manchmal wie mit einem Ruck wieder lebendiger wurde und aus einem an wirkliches Irrereden streifenden Zustand auf einmal für einige Augenblicke frei kam, sich mit vollem Bewußtsein erinnerte und redete, und zwar größtenteils in abgerissenen Sätzen, die er sich vielleicht schon vor längerer Zeit in langen, öden Krankheitsstunden, wenn er einsam und schlaflos im Bett lag, in Gedanken zurechtgelegt und auswendig gelernt hatte.

»Nun also, leben Sie wohl!« sagte er plötzlich schroff. »Sie meinen wohl, es wird mir leicht, Ihnen Lebewohl zu sagen? Haha!« lachte er selbst ärgerlich über seine »ungeschickte« Frage. Dann fügte er, wie ergrimmt darüber, daß es ihm nicht recht gelang zu sagen, was er wollte, laut und gereizt hinzu: »Exzellenz, ich habe die Ehre, Sie zu meinem Begräbnis einzuladen, wenn anders Sie mich dieser Ehre würdigen wollen, und nach dem General auch Sie alle, meine Herrschaften ...!« Er lachte wieder auf; aber das war schon das Lachen eines Irren. Lisaweta Prokofjewna trat erschrocken an ihn heran und faßte ihn an der Hand. Er sah sie starr an, mit demselben Lachen, das aber nicht mehr hörbar fortdauerte, sondern innehielt und auf seinem Gesicht erstarrte.

»Wissen Sie wohl, daß ich hierher gekommen bin, um Bäume zu sehen? Diese Bäume hier ...« Er wies auf die Bäume des Parks. »Ist das nicht lächerlich, wie? Eigentlich ist dabei doch nichts lächerlich?« fragte er Lisaweta Prokofjewna ernst und überließ sich wieder seinen Gedanken. Dann, einen Augenblick darauf, hob er den Kopf in die Höhe und begann eifrig mit den Augen unter den Anwesenden zu suchen. Er suchte Jewgeni Pawlowitsch, der ganz in der Nähe, rechts von ihm, auf demselben Fleck stand wie vorher; aber er hatte das schon vergessen und suchte ihn ringsumher. »Ah, Sie sind nicht fortgegangen!« sagte er, als er ihn endlich gefunden hatte; »Sie haben sich vorhin darüber lustig gemacht, daß ich eine Viertelstunde lang aus dem Fenster sprechen wollte ... Aber wissen Sie, daß ich noch nicht achtzehn Jahre alt bin: ich habe so viel auf dem Bett gelegen und so viel durch dieses Fenster geschaut und so viel nachgedacht ... über alles mögliche ... daß ... Ein Toter hat kein Alter, wie Sie wissen; noch in der vorigen Woche habe ich darüber nachgedacht, als ich in der Nacht aufgewacht war ... Wissen Sie aber, was Sie am meisten fürchten? Am meisten fürchten Sie unsere Aufrichtigkeit, obwohl Sie uns verachten! Auch das habe ich damals in der Nacht im Bett überlegt ... Sie meinen, ich hätte mich vorhin über Sie lustig machen wollen, Lisaweta Prokofjewna? Nein, ich habe mich nicht über Sie lustig gemacht; ich wollte Sie nur loben ... Kolja hat mir gesagt, der Fürst habe Sie ein Kind genannt ... Das ist eine richtige Bezeichnung ... Ja, was hatte ich doch noch ... ich wollte noch etwas sagen ...« Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und dachte nach. »Das war's: als Sie vorhin Abschied nahmen, da dachte ich auf einmal: da sind nun diese Menschen, und sie werden für immer vergehen, für immer! Und diese Bäume auch. Nur die Backsteinwand wird bestehen bleiben, die rote Backsteinwand des Meyerschen Hauses meinem Fenster gegenüber ... Nun, sprich ihnen einmal von alledem ... versuche es, rede davon; da ist ein schönes Mädchen ... du bist ja ein Toter; stelle dich als einen Toten vor; sage, daß ein Toter alles sagen darf ... und daß es ihn nicht mehr kümmert, ob die Fürstin Marja Alexejewna schilt1, haha ...! Sie lachen doch nicht?« Er ließ seinen Blick mißtrauisch über alle hinschweifen. »Wissen Sie, wenn ich so im Bett lag, da kamen mir viele Gedanken ... wissen Sie, ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß die Natur sehr spottlustig ist ... Sie sagten vorhin, ich sei ein Atheist; aber wissen Sie, die Natur ... Warum lachen Sie wieder? Sie sind furchtbar grausam!« sagte er traurig und unwillig, indem er alle ringsumher ansah. »Ich habe Kolja nicht verdorben«, schloß er in völlig verändertem, ernstem Ton, im Ton fester Überzeugung, als ob ihm auch dies eben einfiele ...

»Niemand, niemand lacht hier über dich; beruhige dich!« sagte Lisaweta Prokofjewna; man konnte ihr die innere Qual anhören. »Morgen wird ein neuer Arzt zu dir kommen; dein bisheriger hat sich geirrt. Aber so setze dich doch; du kannst ja nicht auf den Beinen stehen! Du redest wirr ... Ach, was sollen wir jetzt mit ihm anfangen?« sagte sie, indem sie ihn eifrig veranlassen wollte, sich auf einen Lehnstuhl zu setzen ...

Eine Träne glitzerte auf ihrer Wange.

Ippolit blieb überrascht stehen; dann hob er den Arm in die Höhe, streckte ihn furchtsam aus und berührte mit der Hand diese Träne. Er lächelte in kindlicher Art.

»Ich ... habe Sie ...«, begann er erfreut, »Sie wissen nicht, wie ich Sie ... er hat immer mit solcher Begeisterung mit mir von Ihnen gesprochen, er, Kolja ... ich liebe seine Begeisterung. Ich habe ihn nicht verdorben! Er ist der einzige Freund, den ich zurücklasse ... ich hätte gern alle Menschen als meine Freunde zurückgelassen, alle; aber ich habe keinen zum Freund gewinnen können, keinen ... Ich wollte wirken und schaffen; ich hatte ein Recht darauf ... Oh, wie vieles wollte ich! Jetzt will ich nichts mehr; ich will nichts mehr wollen; ich habe mir das Wort darauf gegeben, nichts mehr zu wollen; mögen Sie jetzt ohne mich die Wahrheit suchen! Ja, die Natur ist spottlustig! Warum«, fuhr er, plötzlich lebhafter werdend, fort, »warum schafft sie die besten Wesen, um sich dann über sie lustig zu machen? Sie hat den Menschen das einzige Wesen gezeigt, das auf der Erde als vollkommen anerkannt wurde, und hat gerade dieses Wesen dazu prädestiniert, Lehren zu verkünden, infolge deren so viel Blut vergossen worden ist, daß, wenn es alles auf einmal vergossen worden wäre, die Menschen darin hätten ertrinken können! Oh, es ist gut, daß ich sterbe! Ich hätte auch vielleicht irgendeine furchtbare Lüge gesagt; die Natur würde es schon so eingerichtet haben ...! Ich habe niemand verdorben ... Ich wollte leben, um das Glück aller Menschen zu fördern, um die Wahrheit zu entdecken und zu verkünden ... Ich blickte durch das Fenster nach der Meyerschen Mauer und dachte, ich brauchte nur eine Viertelstunde zu reden, dann würde ich alle, alle überzeugen; und nun bin ich einmal im Leben mit Menschen zusammengekommen, wenn auch nicht mit vielen Menschen, so doch mit Ihnen, und was ist nun das Resultat? Nichts! Das Resultat ist, daß Sie mich verachten! Also bin ich ein Dummkopf; also tauge ich nichts; also ist es Zeit, daß ich gehe! Und ich habe es nicht verstanden, irgendwelche Erinnerung an mich zurückzulassen! Kein Laut, keine Spur, keine Tat bleibt von mir zurück; keine einzige Überzeugung habe ich verbreitet ...! Lachen Sie nicht über den Toren! Vergessen Sie mich! Vergessen Sie alles ... vergessen Sie, bitte; seien Sie nicht so grausam! Wissen Sie, wenn sich diese Schwindsucht nicht eingestellt hätte, hätte ich mir selbst das Leben genommen ...«

Er schien noch vieles sagen zu wollen; aber er sprach nicht zu Ende, warf sich in den Lehnstuhl, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte wie ein kleines Kind.

»Na, nun sagen Sie bloß, was soll man nun mit ihm anfangen?« rief Lisaweta Prokofjewna, stürzte auf ihn zu, faßte seinen Kopf und drückte ihn fest, ganz fest gegen ihre Brust. Er schluchzte krampfhaft. »Nun, nun, nun! Nun, weine nur nicht; nun, laß nur gut sein; du bist ein guter Junge; Gott wird dir wegen deiner Unwissenheit verzeihen; nun, hör nur auf; zeige dich mannhaft ...! Sonst mußt du dich ja auch schämen!«

»Ich habe da bei uns zu Hause«, redete Ippolit weiter, indem er mit Anstrengung den Kopf ein wenig in die Höhe hob, »ich habe einen Bruder und zwei Schwestern, kleine, arme, unschuldige Kinder ... Sie wird sie verderben! Sie sind eine Heilige; Sie sind selbst ein Kind; retten Sie sie! Entreißen Sie sie dieser ... sie ist ... es ist eine Schande ... Oh, helfen Sie ihnen, helfen Sie ihnen; Gott wird es Ihnen hundertfach vergelten. Helfen Sie um Gottes willen, um Christi willen ...!«

»Nun sagen Sie doch endlich, Iwan Fjodorowitsch, was jetzt geschehen soll!« rief Lisaweta Prokofjewna in gereiztem Ton. »Tun Sie mir den Gefallen und brechen Sie Ihr majestätisches Schweigen! Wenn Sie keine Entscheidung treffen, so mögen Sie wissen, daß ich selbst hierbleiben und hier übernachten werde; Sie haben mich genug mit Ihrer Herrschsucht tyrannisiert!«

Solche lebhaften, zornigen Fragen waren bei Lisaweta Prokofjewna nichts Seltenes; sie erwartete dann eine sofortige Antwort. Aber in ähnlichen Fällen pflegen die meisten Anwesenden, auch wenn ihrer viele sind, mit Stillschweigen und passiver Neugier zu antworten, ohne daß sie Verlangen trügen, eine verantwortliche Tätigkeit zu übernehmen; ihre Gedanken sprechen sie dann erst lange nachher aus. Unter den hier Anwesenden befanden sich auch einige, die bereit waren, ohne ein Wort zu sagen, nötigenfalls bis zum Morgen da zu sitzen, zum Beispiel Warwara Ardalionowna, die den ganzen Abend über schweigsam in einiger Entfernung gesessen und während der ganzen Zeit mit außerordentlichem Interesse zugehört hatte, wozu sie vielleicht ihre besonderen Gründe hatte.

»Meine Meinung, liebe Frau«, versetzte der General, »geht dahin, daß hier jetzt sozusagen eine Krankenwärterin besser angebracht wäre als wir mit unserer Aufregung, und vielleicht außerdem noch ein zuverlässiger, nüchterner Mensch für die Nacht. Jedenfalls müssen wir den Fürsten danach fragen und ... ihm dann sofort Ruhe gönnen. Morgen können wir ja unsere Teilnahme weiter betätigen.«

»Es ist gleich zwölf Uhr; wir wollen fahren. Soll er nun mit uns mitfahren oder bei Ihnen bleiben?« wandte sich Doktorenko gereizt und ärgerlich an den Fürsten.

»Wenn Sie wollen, können auch Sie bei ihm hierbleiben«, antwortete der Fürst. »Es wird Platz genug da sein.«

»Exzellenz«, sagte unerwartet Herr Keller, der rasch und eifrig an den General herantrat, »wenn ein zuverlässiger Mensch für die Nacht erforderlich ist, so bin ich bereit, für meinen Freund dieses Opfer zu bringen ... er ist eine ganz herrliche Seele! Ich halte ihn schon lange für einen bedeutenden Menschen, Exzellenz! Meine eigene Bildung ist ja natürlich nur mangelhaft; aber wenn er etwas kritisiert, so ist jedes Wort von ihm eine Perle; er streut die Perlen nur so um sich, Exzellenz ...!«

Der General wandte sich mit einer Miene der Verzweiflung von ihm weg.

»Ich werde mich sehr freuen, wenn er hierbleibt; das Fahren würde für ihn natürlich eine böse Sache sein«, erklärte der Fürst auf Lisaweta Prokofjewnas erregte Fragen.

»Aber wirst du denn dann selbst zum Schlafen kommen? Wenn du ihn nicht hierbehalten magst, lieber Freund, dann werde ich ihn zu uns transportieren lassen! O Gott, er kann sich ja kaum selbst auf den Beinen halten! Du bist wohl krank, wie?«

Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten nicht auf dem Sterbebett fand, hatte sie, nach dem äußeren Aussehen urteilend, seinen Gesundheitszustand für viel befriedigender gehalten, als er in Wirklichkeit war; aber die soeben überstandene Krankheit, die peinlichen mit ihr verbundenen Erinnerungen, die Ermüdung von dem unruhigen Abend, die Affäre mit dem »Sohn Pawlischtschews« und der jetzige Vorfall mit Ippolit, alles dies hatte zusammengewirkt, um die krankhafte Empfindsamkeit des Fürsten bis zu einem fieberhaften Zustand zu steigern.

Aber außerdem beunruhigte ihn jetzt noch eine andere Sorge, ja eine Befürchtung; er beobachtete ängstlich Ippolit, als ob er von seiner Seite noch etwas erwartete.

Plötzlich erhob sich Ippolit; er war schrecklich blaß, und sein verzerrtes Gesicht trug den Ausdruck furchtbarer, verzweifelter Scham. Das trat namentlich in seinem Blick zutage, der voll Haß und Furcht auf die Anwesenden gerichtet war, und in dem verlegenen, schiefen, umherirrenden Lächeln auf seinen zuckenden Lippen. Die Augen schlug er sofort wieder nieder und ging mit schwankenden Schritten, immer noch in gleicher Weise lächelnd, auf Burdowski und Doktorenko zu, die am Ausgang der Veranda standen; er wollte mit ihnen mitfahren.

»Das war es, was ich befürchtete!« rief der Fürst. »So mußte es kommen!«

Mit rasendem Ingrimm wandte sich Ippolit schnell zu ihm um; jeder Muskel seines Gesichtes zitterte und schien zu sprechen. »Ah, Sie haben das befürchtet! So mußte es nach Ihrer Meinung kommen! So mögen Sie denn wissen«, heulte er heiser und kreischend, und Speicheltröpfchen flogen ihm dabei aus dem Mund, »daß, wenn ich jemand hier hasse (und ich hasse Sie alle, alle!), ich Sie von allen und von allem, was es auf der Welt gibt, am meisten hasse, Sie Jesuit, Sie Sirupsseele, Sie Idiot, Sie Millionär und Wohltäter! Ich habe Sie schon lange durchschaut und gehaßt, schon damals, als ich Sie nur erst vom Hörensagen kannte; ich habe Sie gehaßt mit dem ganzen Haß meiner Seele ... Das haben Sie jetzt alles hier kunstvoll arrangiert! Sie haben meinen Krankheitsanfall herbeigeführt! Sie haben einen Sterbenden dahin gebracht, sich zu schämen; Sie, Sie, Sie sind an meinem unwürdigen Kleinmut schuld! Ich würde Sie ermorden, wenn ich am Leben bliebe! Ich brauche Ihre Wohltaten nicht; ich nehme von niemand Wohltaten an; hören Sie wohl? von niemand und nichts! Ich habe vorhin im Delirium gesprochen; erdreisten Sie sich nicht zu triumphieren ...! Ich verfluche Sie alle ein für allemal!« Hier ging ihm die Luft völlig aus.

»Er schämt sich seiner Tränen!« flüsterte Lebedjew der Generalin zu. »›So mußte es kommen!‹ Ja, ja, der Fürst! Der hat in seiner Seele gelesen ...«

Aber Lisaweta Prokofjewna würdigte ihn keines Blickes. Sie stand stolz aufgerichtet mit zurückgeworfenem Kopf da und betrachtete mit geringschätziger Neugier »diese jämmerlichen Menschen«. Als Ippolit schwieg, zuckte der General die Schultern; aber seine Frau sah ihn zornig vom Kopf bis zu den Füßen an, als wolle sie ihn wegen dieser Bewegung zur Rechenschaft ziehen, und wandte sich sogleich zum Fürsten.

»Ich danke Ihnen, Fürst, Sie exzentrischer Freund unseres Hauses, für den angenehmen Abend, den Sie uns allen bereitet haben. Gewiß sind Sie jetzt im Herzen froh darüber, daß es Ihnen gelungen ist, auch uns in Ihre Dummheiten zu verwickeln ... Machen wir Schluß, lieber Freund unseres Hauses; ich danke Ihnen, daß Sie uns Gelegenheit gegeben haben, wenigstens Sie genau kennenzulernen ...!«

Mit allen Zeichen des Unwillens brachte sie ihre Mantille in Ordnung und wartete darauf, daß die Burdowskische Gesellschaft aufbräche. Für diese fuhr in diesem Augenblick eine Droschke vor, die Doktorenko schon vor einer Viertelstunde durch Lebedjews Sohn, den Gymnasiasten hatte holen lassen. Der General fügte dem, was seine Gattin gesagt hatte, sofort auch seinerseits ein Wort hinzu.

»In der Tat, Fürst, ich hatte nicht erwartet ... nach allem Früheren ... nach all den freundschaftlichen Beziehungen ... und schließlich hat Lisaweta Prokofjewna ...«

»Aber wie ist es nur möglich, wie ist es nur möglich!« rief Adelaida, indem sie schnell an den Fürsten herantrat und ihm die Hand reichte.

Der Fürst lächelte sie mit verwirrter Miene an. Plötzlich drang ein erregtes, hastiges Flüstern an sein Ohr.

»Wenn Sie nicht augenblicklich den Verkehr mit diesen garstigen Menschen abbrechen, werde ich Sie mein Leben lang, mein ganzes Leben lang hassen«, flüsterte Aglaja.

Sie war ganz außer sich vor Empörung; aber sie wandte sich ab, ehe der Fürst Zeit fand, sie anzusehen. Übrigens hatte er zu einem Abbruch des Verkehrs nicht mehr die Möglichkeit: der kranke Ippolit war mittlerweile, so gut es eben ging, in die Droschke gepackt worden, und diese fuhr eben ab.

»Nun, wird das noch lange dauern, Iwan Fjodorowitsch? Wie denken Sie darüber? Werde ich noch lange unter diesen bösen Buben zu leiden haben?«

»Ja, liebe Frau, ich ... ich bin natürlich bereit, und ... der Fürst ...«

Iwan Fjodorowitsch streckte dennoch dem Fürsten die Hand hin, lief aber, ohne daß es zu einem Händedruck gekommen wäre, hinter Lisaweta Prokofjewna her, die geräuschvoll und zornig die Stufen vor der Veranda hinunterstieg. Adelaida, ihr Bräutigam und Alexandra verabschiedeten sich freundlich und herzlich vom Fürsten. Jewgeni Pawlowitsch machte es ebenso; er war der einzige, der sich in heiterer Stimmung befand.

»Es ist so gegangen, wie ich es mir gedacht hatte! Nur schade, daß auch Sie Armer dabei zu leiden gehabt haben!« flüsterte er mit dem liebenswürdigsten Lächeln. Aglaja ging weg, ohne sich zu verabschieden.

Aber die Ereignisse dieses Abends waren damit noch nicht zu ihrem Ende gelangt; Lisaweta Prokofjewna sollte noch eine sehr unerwartete Begegnung durchmachen.

Sie war noch nicht ganz die Stufen nach dem Weg hinuntergestiegen, der sich um den Park herumzog, als eine elegante Equipage, ein mit zwei Schimmeln bespannter Landauer, neben dem Landhaus des Fürsten vorbeirollte. In dem Wagen saßen zwei schöngekleidete Damen. Aber als der Wagen kaum zehn Schritte vorbeigefahren war, hielt er plötzlich an; eine der Damen wendete sich schnell um, als ob sie plötzlich einen Bekannten erblickt hätte, mit dem sie notwendig sprechen müßte.

»Jewgeni Pawlowitsch! Bist du es?« rief eine wohltönende, helle Stimme, bei deren Klang der Fürst und vielleicht sonst noch jemand zusammenfuhr. »Wie freue ich mich, daß ich dich endlich gefunden habe! Ich hatte einen expressen Boten an dich nach der Stadt geschickt, und dann einen zweiten! Den ganzen Tag haben sie dich gesucht!«

Jewgeni Pawlowitsch stand auf den Treppenstufen wie vom Donner gerührt. Lisaweta Prokofjewna war ebenfalls stehengeblieben, aber nicht in starrem Schreck wie Jewgeni Pawlowitsch; sie schaute die dreiste Dame ebenso stolz und mit derselben kalten Verachtung an wie fünf Minuten vorher die »jämmerlichen Menschen« und wandte dann ihren forschenden Blick sofort nach Jewgeni Pawlowitsch.

»Eine Neuigkeit!« fuhr die helle Stimme fort. »Wegen der Kupferschen Wechsel kannst du unbesorgt sein; Rogoschin hat sie für dreißigtausend Rubel aufgekauft; ich habe ihn dazu überredet. Wenigstens für drei Monate kannst du beruhigt sein. Und mit Biskup und dieser ganzen Bande werden wir uns gewiß einigen, auf Grund unserer alten Bekanntschaft! Nun, du siehst also, es steht alles gut. Freue dich! Auf Wiedersehen morgen!«

Die Equipage setzte sich wieder in Bewegung und verschwand schnell.

»Das ist eine Irrsinnige!« rief Jewgeni Pawlowitsch endlich; er war vor Entrüstung ganz rot geworden und blickte erstaunt rings um sich. »Ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagte! Was sollen das für Wechsel sein? Wer ist die Person?«

Lisaweta Prokofjewna sah ihn noch ein paar Sekunden an; dann drehte sie sich kurz um und ging schnell nach ihrem Landhaus; die andern folgten ihr. Aber einen Augenblick darauf kehrte Jewgeni Pawlowitsch in großer Aufregung wieder zu dem Fürsten in die Veranda zurück. »Fürst, sagen Sie mir die Wahrheit: wissen Sie nicht, was das zu bedeuten hat?«

»Ich weiß nichts davon«, antwortete der Fürst, der sich ebenfalls in einer höchst peinlichen Aufregung befand.

»Nein?«

»Nein.«

»Ich verstehe auch nichts davon«, sagte Jewgeni Pawlowitsch, plötzlich auflachend. »Bei Gott, ich habe mit diesen Wechseln nichts zu schaffen; glauben Sie meinem Ehrenwort ...! Aber was ist mit Ihnen? Fallen Sie in Ohnmacht?«

»O nein, nein, ich versichere Ihnen, nein ...«


XI


Erst am dritten Tag erbarmten Jepantschins sich des Fürsten und verziehen ihm vollständig. Obgleich der Fürst sich nach seiner Gewohnheit viel Schuld beimaß und in vollem Ernst eine Strafe erwartete, so war er doch von vornherein innerlich völlig davon überzeugt, daß Lisaweta Prokofjewna ihm nicht allzusehr zürnen konnte und in der Hauptsache nur auf sich selbst böse war. Daher war er am dritten Tag durch die unerwartet lange Dauer der Feindschaft in eine sehr trübe, ratlose Stimmung versetzt. Dazu hatten auch noch andere Umstände beigetragen, und einer von ihnen in besonders hohem Grad. Dieser hatte während der drei Tage für ihn infolge seines mißtrauischen Wesens immer mehr an Bedeutung gewonnen. (Der Fürst beschuldigte sich nämlich seit einiger Zeit zweier fehlerhafter Extreme: einer übermäßigen »sinnlosen, aufdringlichen« Zutraulichkeit und gleichzeitig eines »finsteren, unwürdigen« Mißtrauens.)

Kurz, am Ende des dritten Tages, hatte das Erlebnis mit der exzentrischen Dame, die aus ihrer Kutsche mit Jewgeni Pawlowitsch gesprochen hatte, in seinem Kopf ganz rätselhafte, beängstigende Dimensionen angenommen. Der Kernpunkt des Rätsels, abgesehen von anderen Seiten der Angelegenheit, bestand für den Fürsten in der betrüblichen Frage, ob auch er an dieser neuen »Ungeheuerlichkeit« schuld sei oder nur ... Aber er ließ unausgesprochen, wer dabei noch in Betracht kam. Was die Buchstaben N.F.B. anlangte, so war das nach seiner Anschauung nur unschuldiger Mutwille, rein kindlicher Mutwille, so daß es lächerlich und in gewisser Hinsicht sogar nicht ehrenhaft sei, darüber nachzudenken.

Gleich am ersten Tag nach dem häßlichen Abend, an dessen ungehörigen Vorgängen er die »Hauptschuld« trug, hatte der Fürst am Vormittag das Vergnügen, den Fürsten Schtsch. und Adelaida in seiner Wohnung zu empfangen; sie waren nach ihrer Angabe »hauptsächlich« gekommen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, und zwar auf einem Spaziergang zu zweien. Adelaida hatte soeben im Park einen Baum bemerkt, einen wundervollen alten Baum, mit langen, gekrümmten Ästen, ganz mit jungem, grünem Laub bedeckt, mit einer Höhlung und einem Spalt; sie hatte sich fest, ganz fest vorgenommen, diesen Baum zu malen! So sprach sie denn die ganze halbe Stunde, die ihr Besuch dauerte, fast nur hiervon. Fürst Schtsch. war wie gewöhnlich angenehm und liebenswürdig, befragte den Fürsten nach weiter zurückliegenden Dingen und erwähnte einige Umstände aus der Zeit ihrer ersten Bekanntschaft, so daß von den Ereignissen des vorhergehenden Tages fast gar nicht gesprochen wurde. Endlich konnte sich Adelaida nicht mehr beherrschen und gestand lächelnd, daß sie ohne Wissen der Eltern gekommen seien; aber damit war auch das Bekenntnis zu Ende, wiewohl schon aus dieser Heimlichkeit zu ersehen war, daß die Eltern, das heißt besonders Lisaweta Prokofjewna, sich in einer gewissen Mißstimmung befanden. Aber weder von ihr, noch von Aglaja, noch selbst von Iwan Fjodorowitsch sagten Adelaida und Fürst Schtsch. bei ihrem Besuch ein Sterbenswörtchen.

Als sie wieder fortgingen, um ihren Spaziergang fortzusetzen, luden sie den Fürsten nicht ein, sich ihnen anzuschließen. Eine Aufforderung, doch zu ihnen in ihre Wohnung zu kommen, fand auch nicht einmal andeutungsweise statt; in dieser Hinsicht ließ sich Adelaida sogar eine sehr bezeichnende Wendung entschlüpfen: sie erzählte von einem Aquarell, das sie gemalt hatte, und äußerte den lebhaften Wunsch, es ihm zu zeigen.

»Wie könnten wir das nur möglichst bald machen? Warten Sie! Ich werde es Ihnen entweder heute noch durch Kolja schicken, wenn er zu uns kommen sollte, oder es morgen selbst bringen, wenn ich wieder mit dem Fürsten spazierengehe«, so erledigte sie schließlich diese Schwierigkeit, erfreut, daß es ihr gelungen war, diese Aufgabe in einer so geschickten und für alle Beteiligten so bequemen Weise zu lösen.

Endlich, als sie sich schon empfahlen, fragte Fürst Schtsch., wie wenn ihm das plötzlich einfiele:

»Ach ja, wissen Sie vielleicht, lieber Ljow Nikolajewitsch, was das für eine Person war, die gestern unsern Jewgeni Pawlowitsch aus dem Wagen anrief?«

»Das war Nastasja Filippowna«, antwortete der Fürst.

»Haben Sie denn noch nicht erfahren, daß sie es war? Aber wer ihre Begleiterin war, das weiß ich nicht.«

»Ja, ja, ich habe es gehört!« sagte Fürst Schtsch. »Aber was bedeutete das, was sie ihm zurief? Ich muß gestehen, das ist mir ein reines Rätsel ... mir und den andern.«

Fürst Schtsch. sprach offenbar in völliger Verständnislosigkeit.

»Sie hat von Wechseln Jewgeni Pawlowitschs geredet«, erwiderte der Fürst schlicht, »die Rogoschin auf ihre Bitte von einem Wucherer erworben habe, und hat gesagt, Rogoschin werde mit Jewgeni Pawlowitsch Geduld haben.«

»Das habe ich gehört, das habe ich gehört, mein teurer Fürst; aber das ist ja doch unmöglich! Jewgeni Pawlowitsch hat keine Wechsel ausgestellt; das ist unmöglich! Bei einem solchen Vermögen ... Allerdings ist es ihm früher einmal aus Leichtsinn begegnet, und ich habe ihm sogar selbst aus der Klemme geholfen ... Aber bei einem solchen Vermögen einem Wucherer Wechsel auszustellen und sich deswegen zu beunruhigen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Auch kann er sich nicht mit Nastasja Filippowna duzen und in solchen freundschaftlichen Beziehungen zu ihr stehen ... das ist das allergrößte Rätsel. Er schwört, er verstehe von der ganzen Geschichte gar nichts, und ich glaube ihm vollkommen. Aber ich wollte doch auch Sie, lieber Fürst, fragen, ob Sie vielleicht etwas davon wissen. Ich meine: ist vielleicht durch irgendeinen wunderlichen Zufall ein Gerücht zu Ihren Ohren gelangt?«

»Nein, ich weiß nichts, und ich versichere Ihnen, daß ich an der Sache in keiner Weise beteiligt bin.«

»Ach, wie wunderlich reden Sie da, Fürst! Ich erkenne Sie heute geradezu nicht wieder! Konnte ich denn überhaupt auf den Gedanken kommen, daß Sie an einer derartigen Sache beteiligt seien ...? Na, Sie sind heute angegriffen.«

Er umarmte und küßte ihn.

»Was meinen Sie denn mit ›an einer derartigen Sache beteiligt‹? Ich sehe hier keine ›derartige‹ Sache.«

»Ohne Zweifel beabsichtigte diese Person unserm Jewgeni Pawlowitsch irgendwie bei irgend etwas dadurch hinderlich zu sein, daß sie ihm vor Zeugen Eigenschaften beilegte, die er nicht besitzt und nicht besitzen kann«, versetzte Fürst Schtsch. in ziemlich trockenem Ton.

Fürst Ljow Nikolajewitsch wurde verlegen, fuhr aber doch fort, den Fürsten Schtsch. unverwandt und fragend anzusehen; aber dieser schwieg nun.

»Könnten es nicht doch einfach Wechsel sein? Könnte es sich nicht buchstäblich so verhalten, wie gestern gesagt wurde?« murmelte Fürst Myschkin endlich in einer Art von Ungeduld.

»Aber ich bitte Sie, sagen Sie selbst: was kann es zwischen Jewgeni Pawlowitsch und ... ihr Gemeinsames geben, obendrein wenn dabei noch Rogoschin ins Spiel kommt? Ich wiederhole Ihnen: er besitzt ein kolossales Vermögen, wie mir ganz genau bekannt ist, und ein zweites Vermögen hat er von seinem Onkel zu erwarten. Nastasja Filippowna hat einfach ...«

Fürst Schtsch. verstummte plötzlich wieder, augenscheinlich, weil er dem Fürsten Myschkin nichts weiter über Nastasja Filippowna sagen mochte.

»Jedenfalls ist sie doch mit ihm bekannt?« fragte der letztere plötzlich nach einem kurzen Stillschweigen.

»Es scheint allerdings, daß das einmal der Fall gewesen ist; er ist ein Windhund! Wenn es übrigens der Fall gewesen ist, so ist es schon lange her; es müßte noch in früherer Zeit gewesen sein, vor zwei, drei Jahren. Er war ja noch mit Tozki bekannt. Jetzt aber kann nichts von der Art vorliegen, und auf dem Duzfuß können sie niemals gestanden haben! Sie wissen ja selbst, daß auch sie die ganze Zeit her nicht hier gewesen ist und ihr Aufenthaltsort unbekannt war. Viele wissen auch jetzt noch nicht, daß sie wieder hier erschienen ist. Ich habe ihre Equipage vor drei Tagen zum erstenmal gesehen.«

»Eine prächtige Equipage!« bemerkte Adelaida.

»Ja, wundervoll!«

Beide brachten übrigens beim Fortgehen dem Fürsten Ljow Nikolajewitsch ihre durchaus freundschaftliche, ja sozusagen geschwisterliche Gesinnung zum Ausdruck.

Aber für unseren Helden war dieser Besuch von außerordentlich hoher Bedeutung. Allerdings hatte er auch selbst, schon seit dem vorhergehenden Abend und vielleicht auch schon noch früher, gar vieles geargwöhnt; aber bis zu diesem Besuch hatte er sich nicht dazu entschließen mögen, seine Befürchtungen für begründet zu halten. Jetzt aber war alles klargeworden: Fürst Schtsch. deutete den Vorfall gewiß irrig, kam jedoch insofern der Wahrheit nahe, als er begriff, daß es sich hier um eine Intrige handelte. (»Übrigens«, dachte der Fürst, »faßt er die Sache vielleicht im stillen ganz richtig auf, will es aber nicht aussprechen und deutet sie darum absichtlich irrig.«) Am allerklarsten war, daß die beiden (besonders Fürst Schtsch.) jetzt zu ihm gekommen waren, weil sie gehofft hatten, von ihm irgendwelche Aufklärungen zu erlangen; wenn dem so war, so meinten sie offenbar, er sei an der Intrige mitbeteiligt. Wenn sich ferner all dies so verhielt und von solcher Wichtigkeit war, so mußte »sie« irgendein furchtbares Ziel im Auge haben; aber was war das für ein Ziel? Entsetzlich! »Und wie soll man sie aufhalten? Sie aufzuhalten ist keine Möglichkeit, wenn sie sich etwas einmal in den Kopf gesetzt hat!« Das wußte der Fürst aus Erfahrung. »Sie ist eine Irrsinnige, eine Irrsinnige!«

Aber es kamen an diesem Morgen noch eine Menge anderer schwieriger Fragen hinzu, die alle gleichzeitig auf ihn einstürmten und sofortige Entscheidung verlangten, so daß der Fürst in recht trübe Stimmung geriet. Ein wenig Zerstreuung verschaffte ihm Wjera Lebedjewa, die mit der kleinen Ljubow auf dem Arm zu ihm kam und ihm längere Zeit etwas unter vielem Lachen erzählte. Ihr folgte ihre Schwester, die immer den Mund so weit aufriß, und beiden folgte dann Lebedjews Sohn, der Gymnasiast, welcher versicherte, der Wermutstern der Offenbarung des Johannes, der auf die Wasserquellen der Erde gefallen sei, sei nach der Deutung seines Vaters das Eisenbahnnetz, welches Europa bedecke. Der Fürst glaubte nicht recht, daß Lebedjew es so erklärt habe, und sie nahmen sich vor, ihn selbst bei der ersten passenden Gelegenheit danach zu fragen. Von Wjera Lebedjewa erfuhr der Fürst, daß Keller sich bei ihnen seit gestern einquartiert habe und, nach allen Anzeichen zu urteilen, so bald nicht wieder fortgehen werde; denn er habe hier an General Iwolgin Gesellschaft gefunden und mit ihm Freundschaft geschlossen; er habe übrigens erklärt, er bleibe einzig und allein, um seine Bildung zu vervollständigen, bei ihnen. Überhaupt gefielen Lebedjews Kinder dem Fürsten von Tag zu Tag mehr. Kolja war den ganzen Tag nicht anwesend; er hatte sich ganz früh am Morgen nach Petersburg begeben. (Auch Lebedjew war beim Morgengrauen in Geschäftsangelegenheiten weggefahren.) Aber der Fürst wartete ungeduldig auf einen Besuch Gawrila Ardalionowitschs, der unbedingt heute bei ihm vorsprechen mußte.

Dieser kam zwischen sechs und sieben Uhr nachmittags, gleich nach Tisch. Sowie der Fürst ihn erblickte, kam ihm der Gedanke, wenn jemand, so müsse er den ganzen Zusammenhang haarklein und irrtumslos kennen; es sei ja auch nicht anders möglich, da er solche Gehilfen wie Warwara Ardalionowna und ihren Mann habe. Aber das Verhältnis des Fürsten zu Ganja war von ganz besonderer Art. Der Fürst hatte ihm zum Beispiel die Erledigung der Burdowskischen Angelegenheit anvertraut gehabt und ihn dringend darum gebeten; aber ungeachtet des ihm hierbei bezeigten Vertrauens und trotz manchem, was vorhergegangen war, blieben zwischen ihnen beiden doch immer noch gewisse Punkte bestehen, über die sie wie nach wechselseitigem Übereinkommen nicht miteinander sprachen. Es schien dem Fürsten manchmal, daß Ganja vielleicht seinerseits den Wunsch hege, es möge doch zwischen ihnen beiden die vollste, freundschaftlichste Aufrichtigkeit herrschen; jetzt zum Beispiel unmittelbar nach Ganjas Eintritt hatte der Fürst den Eindruck, als sei Ganja der bestimmten Überzeugung, in diesem Augenblick müsse notwendigerweise das Eis zwischen ihnen auf allen Punkten brechen. Gawrila Ardalionowitsch hatte es aber eilig; in Lebedjews Wohnung erwartete ihn seine Schwester; sie hatten beide zusammen eine schleunige geschäftliche Besorgung vor.

Aber wenn Ganja wirklich eine ganze Reihe ungeduldiger Fragen, freiwilliger Mitteilungen und freundschaftlicher Herzensergießungen erwartet haben sollte, so hatte er sich sehr geirrt. Während der ganzen zwanzig Minuten, die sein Besuch dauerte, war der Fürst in seine Gedanken versunken und unaufmerksam, und es fiel ihm gar nicht ein, die vielen Fragen oder, richtiger gesagt, die eine wichtige Frage zu stellen, auf die Ganja wartete. Da entschied sich auch Ganja dafür, mit größter Zurückhaltung zu sprechen. Er erzählte die ganzen zwanzig Minuten lang, ohne eine Pause eintreten zu lassen, dieses und jenes, lachte, führte eine leichte, nette, muntere Konversation, berührte aber den Hauptpunkt nicht.

Ganja erzählte unter anderm, Nastasja Filippowna sei erst seit vier Tagen hier in Pawlowsk, ziehe aber bereits die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Sie wohne in der Matroskaja-Straße in einem kleinen, plumpen Häuschen bei Darja Alexejewna, habe aber beinah die feinste Equipage in ganz Pawlowsk. Es habe sich bereits eine ganze Schar alter und junger Verehrer um sie gesammelt; ihre Equipage werde manchmal von Reitern begleitet. Nastasja Filippowna sei, wie in früheren Zeiten, sehr wählerisch und vergönne nur einer Auslese den Zutritt. Dennoch aber habe sich um sie eine ordentliche Truppe gebildet, auf deren Schutz sie sich im Notfall verlassen könne. Ein Verlobter aus der Zahl der Sommerfrischler sei bereits um ihretwillen mit seiner Braut zerfallen; ein alter General habe seinen Sohn beinah verflucht. Sie nehme auf ihren Spazierfahrten oft ein reizendes, eben erst sechzehnjähriges Mädchen mit, eine entfernte Verwandte Darja Alexejewnas; dieses Mädchen singe wunderschön, so daß abends das betreffende Häuschen die Aufmerksamkeit auf sich ziehe. Nastasja Filippowna benehme sich übrigens höchst anständig; sie kleide sich nicht luxuriös, aber außerordentlich geschmackvoll, und alle Damen seien wegen ihres Geschmacks, ihrer Schönheit und ihrer Equipage auf sie neidisch.

Hier aber ließ sich Ganja etwas mehr entschlüpfen, als er dem Fürsten eigentlich hatte mitteilen wollen. »Ihr gestriges auffälliges Benehmen«, sagte er, »war natürlich vorher überlegt und darf selbstverständlich nicht mitgerechnet werden. Um ihr etwas am Zeug zu flicken, müßte man sie schon absichtlich belauern oder verleumden, was übrigens nicht lange ausbleiben wird«, schloß Ganja und erwartete nun, daß der Fürst jetzt unbedingt fragen werde, warum er ihr gestriges Verhalten ein vorher überlegtes nenne; und warum die Verleumdung nicht lange ausbleiben werde.

Aber der Fürst stellte diese Fragen nicht.

Über Jewgeni Pawlowitsch ließ sich Ganja von selbst, ohne danach gefragt zu sein, ausführlich aus, was sehr sonderbar war, da er ohne jeden äußeren Anlaß das Gespräch auf ihn brachte. Nach Gawrila Ardalionowitschs Ansicht hatte Jewgeni Pawlowitsch Nastasja Filippowna früher nicht gekannt; er kenne sie auch jetzt kaum und nur daher, daß er ihr vor vier Tagen durch irgend jemand auf dem Spaziergang vorgestellt worden sei; er sei aber schwerlich auch nur ein einziges Mal bei ihr im Haus gewesen, wie andere. Was die Wechsel anlange, so sei die Sache allerdings möglich (hierüber glaubte Ganja sogar Zuverlässiges zu wissen); Jewgeni Pawlowitsch besitze freilich ein großes Vermögen; aber manches auf seinem Gut sei tatsächlich in Unordnung. Bei diesem interessanten Punkt brach Ganja plötzlich ab. Über Nastasja Filippownas auffälliges Benehmen vom vorhergehenden Tag sagte er kein Wort außer der flüchtigen Bemerkung, die ihm vorher entschlüpft war. Endlich kam Warwara Ardalionowna, um Ganja abzuholen; sie blieb einen Augenblick da, teilte (ebenfalls ungefragt) mit, daß Jewgeni Pawlowitsch sich heute und vielleicht auch morgen in Petersburg aufhalten werde, daß ihr Mann, Iwan Petrowitsch Ptizyn, gleichfalls in Petersburg sei, und zwar fast ausschließlich in geschäftlichen Angelegenheiten Jewgeni Pawlowitschs, und daß da wirklich etwas passiert sein müsse. Beim Weggehen fügte sie hinzu, Lisaweta Prokofjewna befinde sich heute in einer gräßlichen Stimmung; aber, was das Seltsamste sei, Aglaja habe sich mit der ganzen Familie überworfen, nicht nur mit dem Vater und der Mutter, sondern sogar mit ihren beiden Schwestern, und das sei ganz und gar nicht schön von ihr. Nachdem sie, anscheinend nur so beiläufig, dem Fürsten diese letzte, für ihn so bedeutsame Mitteilung gemacht hatte, entfernten sich Bruder und Schwester. Der Geschichte mit »Pawlischtschews Sohn« hatte Ganja mit keinem Wort Erwähnung getan, vielleicht aus erheuchelter Diskretion, vielleicht »um die Gefühle des Fürsten zu schonen«; aber der Fürst sprach ihm doch noch einmal für die sorgsame Erledigung der Angelegenheit seinen Dank aus.

Der Fürst war sehr froh, daß sie ihn endlich allein gelassen hatten; er stieg von der Veranda hinab, schritt quer über den Weg und ging in den Park hinein; er wollte nachdenken und über einen wichtigen Schritt ins klare kommen. Aber dieser Schritt war nicht einer von denen, die man überlegt, sondern zu denen man sich ohne Überlegung einfach entschließt: es hatte ihn auf einmal ein heftiges Verlangen ergriffen, alles, was ihn hier umgab, zu verlassen, dahin zurückzukehren, von wo er gekommen war, irgendwohin, recht weit weg, in die Einsamkeit zu fahren, und zwar sofort, ohne auch nur von jemand Abschied zu nehmen. Er sah vorher, daß, wenn er hier auch nur noch ein paar Tage bliebe, er mit Sicherheit unwiederbringlich in diese Welt werde hineingezogen werden, und daß es dann künftig sein Los sein werde, ganz in ihr aufzugehen. Aber er hatte noch nicht zehn Minuten darüber nachgedacht, als er zu der Einsicht gelangte, daß es unzulässig sei, so davonzulaufen; daß das Kleinmut sein würde; daß ihm Aufgaben gestellt seien, deren Erfüllung abzulehnen er jetzt in keiner Weise berechtigt sei; daß er sich jedenfalls nicht weigern dürfe, zu ihrer Erfüllung all seine Kräfte anzustrengen. Mit solchen Gedanken beschäftigt, kehrte er nach Hause zurück, nachdem er kaum eine Viertelstunde spazierengegangen war. Er fühlte sich in diesem Augenblick tief unglücklich.

Lebedjew war immer noch nicht zu Hause, so daß gegen Abend Keller die Gelegenheit benutzte, zum Fürsten einzudringen; er war zwar nicht betrunken, aber sehr zu Herzensergießungen und Bekenntnissen geneigt. Er erklärte geradeheraus, er sei gekommen, um dem Fürsten sein ganzes Leben zu erzählen, und sei speziell zu diesem Zweck in Pawlowsk geblieben. Ihn hinauszujagen, war schlechterdings unmöglich; er wäre unter keinen Umständen gegangen. Keller setzte zu einer sehr langen, sehr abgeschmackten Erzählung an, sprang aber gleich von den ersten Worten zum Schluß hinüber, indem er erklärte, er habe dermaßen »jeden Schatten von Moralität« verloren (einzig und allein infolge mangelnden Glaubens an die Existenz Gottes), daß er sogar gestohlen habe.

»Können Sie sich das vorstellen?«

»Hören Sie mal, Keller, ich würde das an Ihrer Stelle ohne besondere Not lieber nicht bekennen«, erwiderte der Fürst. »Aber vielleicht wollen Sie sich absichtlich verleumden?«

»Ihnen, einzig und allein Ihnen sage ich es, und einzig und allein, um meine sittliche Entwicklung zu fördern. Keinem andern werde ich es sagen; ich werde mein Geheimnis, wenn ich sterbe, unter meinem Totenhemd mitnehmen. Aber wenn Sie wüßten, Fürst, wenn Sie nur wüßten, wie schwer es in unserer Zeit ist, Geld zu bekommen! Woher soll unsereiner welches nehmen? wenn Sie mir die Frage gestatten wollen. Ich bekam immer ein und dieselbe Antwort: ›Bringen Sie uns Goldsachen und Brillanten als Pfand, dann werden wir Ihnen Geld geben‹; aber das waren gerade die Dinge, die ich nicht hatte. Können Sie sich so etwas vorstellen? Ich wurde schließlich ärgerlich und stand da und zauderte. ›Geben Sie auch für Smaragde Geld?‹ fragte ich. – ›Ja, auch für Smaragde‹, antwortete er. – ›Nun, das ist ja vorzüglich!‹ erwiderte ich, setzte meinen Hut auf und ging weg; hol euch der Teufel, ihr nichtswürdigen Schurken!«

»Hatten Sie denn Smaragde?«

»Woher hätte ich denn Smaragde haben sollen? O Fürst, was haben Sie noch für eine sonnige, unschuldige, ja sozusagen idyllische Lebensanschauung!«

Es kam schließlich so heraus, daß der Fürst ihn nicht sowohl bemitleidete als vielmehr sich für ihn schämte. Es ging ihm sogar der Gedanke durch den Kopf: »Könnte nicht aus diesem Menschen noch etwas Ordentliches werden, wenn jemand einen guten Einfluß auf ihn ausübte?« Seinen eigenen Einfluß hielt er aus gewissen Gründen für sehr ungeeignet, nicht weil er von sich selbst zu gering gedacht hätte, sondern wegen seiner besonderen Art, die Dinge anzuschauen. Allmählich kamen sie beide so eifrig ins Gespräch hinein, daß sie sich gar nicht mehr voneinander trennen mochten. Keller bekannte mit einer seltenen Offenherzigkeit von sich Dinge, von denen man nicht begreifen konnte, wie er es fertigbrachte, sie zu erzählen. Jedesmal, wenn er sich zu einer solchen Erzählung anschickte, versicherte er hoch und heilig, er empfinde Reue und sei »innerlich voll Tränen«; aber trotzdem erzählte er in einer Weise, als sei er auf sein Benehmen stolz, und zugleich manchmal so komisch, daß er und der Fürst schließlich wie die Unsinnigen lachten.

»Die Hauptsache ist, daß Sie sich eine kindliche Zutraulichkeit und eine große Aufrichtigkeit bewahrt haben«, sagte der Fürst endlich. »Wissen Sie, daß Sie schon allein dadurch sehr vieles wiedergutmachen?«

»Ja, ich bin ein edler Mensch, ein edler Mensch, ein ritterlich edler Mensch!« bestätigte Keller gerührt. »Aber wissen Sie, Fürst, das bin ich immer nur, wenn ich mich so meinen Phantasien überlasse und sozusagen besondere Courage habe; in Wirklichkeit jedoch wird nie etwas daraus! Wie geht das nur zu? Mir ist das unbegreiflich.«

»Verzweifeln Sie deswegen nicht! Man kann jetzt mit Bestimmtheit sagen, daß Sie mir Ihr ganzes Inneres gezeigt haben; wenigstens scheint mir, daß es unmöglich ist, zu dem, was Sie erzählt haben, noch etwas hinzuzufügen, nicht wahr?«

»Unmöglich?!« rief Keller gewissermaßen mitleidig. »O Fürst, wie schweizerisch, wenn ich mich so ausdrücken darf, beurteilen Sie den Menschen noch!«

»Sollte es wirklich möglich sein, noch etwas hinzuzufügen?« erwiderte der Fürst mit schüchternem Erstaunen. »Also nun, bitte, sagen Sie, Keller, was Sie eigentlich von mir wollten, und warum Sie mit Ihrer Beichte zu mir gekommen sind!«

»Was ich wollte? Von Ihnen wollte? Erstens ist es schon allein ein Vergnügen, Ihre Herzenseinfalt anzusehen; es ist ein Vergnügen, so mit Ihnen zu sitzen und zu plaudern; ich weiß wenigstens, daß ich einen höchst tugendhaften Menschen vor mir habe. Und zweitens ... zweitens ...«

Er stockte.

»Vielleicht wollten Sie Geld von mir leihen?« half ihm der Fürst in ganz ernstem, schlichtem, ja sogar etwas schüchternem Ton.

Keller fuhr ordentlich zusammen; erstaunt blickte er dem Fürsten rasch gerade in die Augen und schlug mit der Faust kräftig auf den Tisch.

»Na, Sie bringen einen ja ganz und gar aus der Fassung! Ich bitte Sie, Fürst: einerseits diese Herzenseinfalt und Harmlosigkeit, wie sie selbst im goldenen Zeitalter unerhört wäre, und andrerseits durchschauen Sie einen gleichzeitig, wie wenn man von Glas wäre, durch und durch, mit der feinsten, psychologischen Beobachtungsgabe! Aber erlauben Sie, Fürst, das bedarf einer Erklärung, da ich ... Ich bin ganz in Verwirrung geraten! Allerdings hatte ich die Absicht, mir zu guter Letzt von Ihnen Geld zu leihen; aber nun haben Sie mich danach in einer Weise gefragt, wie wenn Sie darin nichts Tadelnswertes fänden, wie wenn das so sein müßte.«

»Ja ... bei Ihnen muß das auch so sein.«

»Und Sie sind darüber nicht entrüstet?«

»Worüber sollte ich entrüstet sein?«

»Hören Sie mal, Fürst, ich bin seit gestern abend hiergeblieben, erstens aus besonderer Hochachtung gegen den französischen Erzbischof Bourdaloue2, von welchem Lebedjew erzählte (wir haben in Lebedjews Wohnung bis drei Uhr morgens eine Flasche nach der andern entkorkt), und zweitens und hauptsächlich (ich schwöre Ihnen bei allem, was heilig ist, daß ich die reine Wahrheit rede), weil ich Ihnen eine vollständige, aufrichtige Beichte ablegen und dadurch sozusagen meine eigene sittliche Entwicklung fördern wollte; mit diesem Gedanken schlief ich zwischen drei und vier Uhr, von Tränen überströmt, ein. Werden Sie nun einem höchst edeldenkenden Menschen glauben? In demselben Augenblick, als ich einschlief, sozusagen innerlich von aufrichtigen Tränen überströmt und desgleichen auch äußerlich (denn ich schluchzte zuletzt, wie ich mich recht wohl erinnere), in demselben Augenblick kam mir ein teuflischer Gedanke: ›Wie wär's? Könnte ich nicht zu guter Letzt, nach der Beichte, mir Geld von ihm leihen?‹ Auf diese Weise machte ich meine Beichte zurecht, um mich so auszudrücken, wie ein ragoût fin mit Tränen, in der Absicht, mir mit diesen Tränen den Weg zu bahnen und, wenn Sie sich dann geschmeichelt fühlten, mir von Ihnen hundertfünfzig Rubelchen auszahlen zu lassen. Meinen Sie nicht, daß das eine Gemeinheit ist?«

»Aber so ist das doch gewiß nicht wahr; sondern es ist nur ganz einfach eines zum andern hinzugekommen. Zwei Gedanken sind zusammengetroffen; das kommt sehr oft vor. Mir begegnet das fortwährend. Ich glaube übrigens, daß das nicht schön ist, und wissen Sie, Keller, ich mache mir deswegen die größten Vorwürfe. Mir war, als ob Sie mir mich selbst schilderten. Manchmal habe ich sogar gedacht«, fuhr der Fürst sehr ernst und mit aufrichtigem starkem Interesse fort, »daß alle Menschen von dieser Art sind, und wollte dann schon aufhören, mich zu schelten; denn gegen diese doppelten Gedanken anzukämpfen ist furchtbar schwer; ich weiß es aus Erfahrung. Gott weiß, woher sie kommen, und wie sie heranwachsen. Aber da nennen Sie das nun geradezu eine Gemeinheit! Jetzt werde auch ich wieder anfangen, mich vor diesen Gedanken zu fürchten. Jedenfalls steht es mir nicht zu, Sie zu verdammen. Aber man darf das doch meiner Ansicht nach nicht so geradezu eine Gemeinheit nennen; meinen Sie nicht auch? Sie haben sich einer Lust bedient, um durch Tränen Geld von mir herauszulocken; aber dabei schwören Sie doch selbst, daß Ihre Beichte noch einen andern Zweck hatte, einen edlen Zweck, nicht nur jenen pekuniären. Was aber das Geld anlangt, so wollen Sie es doch gewiß haben, um es zu verzechen, nicht? Das ist aber nach einer solchen Beichte selbstverständlich eine Schwachheit. Aber wie soll man andrerseits die Neigung zum Trinken so im Handumdrehen ablegen? Das ist ja nicht möglich. Was ist da nun zu tun? Das beste ist wohl, wir stellen es Ihrem eigenen Gewissen anheim; meinen Sie nicht?«

Der Fürst blickte Keller mit dem lebhaftesten Interesse an. Das Thema von den doppelten Gedanken hatte ihn offenbar schon lange beschäftigt.

»Na, warum man Sie bei alledem einen Idioten nennt, das ist mir unverständlich!« rief Keller.

Der Fürst errötete ein wenig.

»Der Prediger Bourdaloue, der würde mit einem Menschen wie ich keine Nachsicht gehabt haben; aber Sie haben es getan und haben mich menschlich gerichtet! Um mich zu bestrafen und um zu zeigen, daß ich gerührt bin, verzichte ich jetzt auf die hundertfünfzig Rubel; geben Sie mir nur fünfundzwanzig, und damit basta! Mehr brauche ich nicht, wenigstens nicht für zwei Wochen. Vor Ablauf von zwei Wochen werde ich nicht wieder um Geld zu Ihnen kommen. Ich wollte eigentlich meiner Agaschka etwas schenken; aber sie verdient es gar nicht. O lieber Fürst, Gott segne Sie!«

Endlich kam Lebedjew herein, der soeben zurückgekehrt war, und als er in Kellers Händen den Fünfundzwanzigrubelschein erblickte, runzelte er die Stirn. Aber sowie Keller das Geld hatte, beeilte er sich wegzukommen und verschwand schleunigst. Lebedjew begann sofort auf ihn zu schimpfen.

»Sie sind ungerecht«, bemerkte der Fürst endlich. »Er bereute wirklich aufrichtig.«

»Aber was hat die Reue für einen Wert! Das ist gerade, wie ich gestern sagte: ›Ich bin ein gemeiner Mensch, ich bin ein gemeiner Mensch!‹ Das sind doch bloße Worte!«

»Also bei Ihnen waren es bloße Worte? Ich dachte schon ...«

»Na, Ihnen, Ihnen allein will ich die Wahrheit sagen, weil Sie ja doch einen Menschen ganz durchschauen: die Worte und das Tun, die Lüge und die Wahrheit, das ist alles zusammen in mir enthalten und ist alles vollkommen aufrichtig. Die Wahrheit und das Tun bestehen bei mir in aufrichtiger Reue, ob Sie es nun glauben oder nicht, ich kann's beschwören; und die Worte und die Lüge bestehen in dem teuflischen, mir immer gegenwärtigen Gedanken, wie ich auch bei einer solchen Gelegenheit jemanden hinter das Licht führen und durch die Reuetränen profitieren könnte! Bei Gott, so ist es! Einem andern würde ich es nicht sagen; der würde mich auslachen oder mich verachten; aber Sie, Fürst, Sie urteilen human.«

»Nun, sehen Sie, das ist ganz genau dasselbe, was auch er mir soeben gesagt hat!« rief der Fürst. »Und beide rühmen Sie sich dessen gewissermaßen! Sie setzen mich beide dadurch in Erstaunen; nur ist er aufrichtiger als Sie; Sie aber haben die Sache zu einer Art von Gewerbe gemacht. Nun genug davon! Runzeln Sie nicht die Stirn, Lebedjew, und legen Sie nicht die Hände aufs Herz! Haben Sie mir nichts zu sagen? Sie werden doch nicht ohne Zweck zu mir gekommen sein ...«

Lebedjew begann Grimassen zu schneiden und sich hin und her zu krümmen.

»Ich habe den ganzen Tag über auf Sie gewartet, um Ihnen eine Frage vorzulegen; antworten Sie wenigstens einmal in Ihrem Leben gleich mit den ersten Worten die Wahrheit: waren Sie an der gestrigen Geschichte mit der Equipage irgendwie beteiligt?«

Lebedjew schnitt wieder Grimassen und kicherte, rieb sich die Hände, nieste sogar zuletzt, konnte sich aber immer noch nicht dazu entschließen, etwas zu sagen.

»Ich sehen Ihnen an, daß Sie daran beteiligt waren.«

»Aber nur indirekt, durchaus nur indirekt! Ich sage die reine Wahrheit! Ich bin nur insofern daran beteiligt gewesen, als ich die betreffende Person rechtzeitig davon benachrichtigte, daß sich bei mir eine Gesellschaft zusammengefunden habe, und daß gewisse Leute anwesend seien.«

»Ich weiß, daß Sie Ihren Sohn dorthin geschickt hatten; er hat es mir selbst vorhin gestanden; aber was hat diese ganze Intrige zu bedeuten?« rief der Fürst ungeduldig.

»Es ist nicht meine Intrige, nicht meine Intrige«, wehrte Lebedjew mit lebhaften Gestikulationen ab. »Da stecken andere Leute dahinter, ganz andere Leute; und es ist auch eher sozusagen ein phantastischer Einfall als eine Intrige.«

»Aber um was handelt es sich denn eigentlich? Das erklären Sie mir, um des Himmels willen! Begreifen Sie denn nicht, daß die Sache mich direkt angeht? Jewgeni Pawlowitsch wird ja dadurch angeschwärzt.«

»Fürst! Durchlauchtigster Fürst!« erwiderte Lebedjew, sich wieder hin und her krümmend. »Sie erlauben mir ja nicht, die ganze Wahrheit zu sagen; ich habe Ihnen ja schon früher eine wahrheitsgemäße Mitteilung machen wollen, sogar mehrmals; aber Sie gestatteten mir nicht fortzufahren ...«

Der Fürst schwieg ein Weilchen und überlegte.

»Nun gut; sagen Sie die Wahrheit!« brachte er, offenbar nach schwerem Kampf, mühsam heraus.

»Aglaja Iwanowna ...«, begann Lebedjew sofort.

»Schweigen Sie, schweigen Sie!« rief der Fürst grimmig; er war vor Empörung, vielleicht auch vor Scham, ganz rot geworden. »Das ist unmöglich; das ist ein Unsinn! Das haben Sie alles selbst ausgedacht oder Leute, die ebenso verrückt sind wie Sie. Ich will das nie wieder von Ihnen hören!«

Spät am Abend, erst nach zehn Uhr, erschien Kolja mit einem ganzen Sack voll Nachrichten. Seine Nachrichten waren von zwiefacher Art: Petersburger und Pawlowsker. Er erzählte zunächst rasch das Wichtigste aus Petersburg (namentlich von Ippolit und der Affäre vom vorhergehenden Tag), indem er sich vorbehielt, nachher noch einmal darauf zurückzukommen, und ging dann möglichst schnell zu den Pawlowsker Ereignissen über. Er war vor drei Stunden aus Petersburg zurückgekehrt und hatte sich, ohne zu dem Fürsten zu kommen, geradewegs zu Jepantschins begeben. »Da geht es schrecklich zu!« In erster Linie stehe natürlich die Geschichte mit der Kutsche; aber gewiß sei dort noch etwas anderes passiert, das ihm und dem Fürsten unbekannt sei. »Ich habe selbstverständlich nicht spioniert und wollte niemanden ausfragen; übrigens nahmen sie mich freundlich auf, so freundlich, wie ich es gar nicht erwartet hatte; aber Ihrer, Fürst, wurde mit keinem Wort Erwähnung getan!« Das Wichtigste und Interessanteste sei, daß Aglaja sich vorhin mit den Ihrigen Ganjas wegen überworfen habe. Wie das im einzelnen zugegangen sei, wisse er nicht, nur daß der Streit sich um Ganja gedreht habe (»Stellen Sie sich so etwas vor!«), und daß sie heftig aneinandergeraten seien; also müsse der Grund ein wichtiger sein. Der General sei erst spät und in mürrischer Stimmung nach Hause gekommen, mit Jewgeni Pawlowitsch zusammen, den sie sehr gut aufgenommen hätten, und Jewgeni Pawlowitsch selbst sei erstaunlich heiter und liebenswürdig gewesen. Ferner sei eine besonders auffällige Nachricht, daß Lisaweta Prokofjewna ohne alles Aufsehen Warwara Ardalionowna, die bei den jungen Mädchen gewesen sei, auf ihr Zimmer gerufen und ihr ein für allemal das Haus verboten habe, übrigens in der höflichsten Form – »ich habe es von Warja selbst gehört«. Als Warja aber aus Lisaweta Prokofjewnas Zimmer wieder herausgekommen sei und sich von den jungen Mädchen verabschiedet habe, da hätten diese gar nicht gewußt, daß ihr das Haus für alle Zeit verboten worden sei und sie ihnen für immer Lebewohl sage.

»Aber Warwara Ardalionowna war noch um sieben Uhr bei mir! Wie geht das zu?« fragte der Fürst erstaunt.


»Aus dem Haus gewiesen wurde sie zwischen sieben und acht Uhr oder um acht. Warja tut mir sehr leid, auch Ganja tut mir leid ... Die beiden intrigieren zweifellos fortwährend; ohne das können sie gar nicht leben. Ich habe nie dahinterkommen können, was sie eigentlich im Schilde führen; und ich will es auch gar nicht wissen. Aber ich versichere Ihnen, mein lieber, guter Fürst, daß Ganja ein gutes Herz hat. Allerdings haften ihm manche schlechten Eigenschaften an; aber andrerseits besitzt er viele Charakterzüge, denen nachzuforschen wirklich der Mühe lohnt, und ich werde es mir nie verzeihen, daß ich ihn früher nicht verstanden habe ... Ich weiß nicht, ob ich jetzt nach der Geschichte mit Warja den Verkehr bei Jepantschins fortsetzen soll. Allerdings habe ich dort gleich von Anfang an eine ganz unabhängige, rein persönliche Stellung eingenommen; aber ich muß mir die Sache doch erst noch überlegen.«

»Sie bedauern Ihren Bruder unnötigerweise so sehr«, erwiderte ihm der Fürst. »Wenn es schon so weit gekommen ist, daß Lisaweta Prokofjewna eine derartige Maßregel für notwendig hält, so muß Gawrila Ardalionowitsch in ihren Augen gefährlich sein, und folglich erscheinen gewisse Hoffnungen, die er hegt, nicht unbegründet.«

»Was denn für Hoffnungen?« rief Kolja erstaunt. »Sie glauben doch nicht, daß Aglaja ... Das ist nicht möglich!«

Der Fürst schwieg.

»Sie sind ein schrecklicher Skeptiker, Fürst«, fügte Kolja ein paar Minuten darauf hinzu. »Ich habe bemerkt, daß Sie seit einiger Zeit außerordentlich skeptisch geworden sind; Sie fangen an, an nichts zu glauben und alles für möglich zu halten ... Habe ich die Bezeichnung ›ein Skeptiker‹ in diesem Fall richtig angewendet?«

»Ich glaube: ja. Genau weiß ich es allerdings selbst nicht.«

»Aber nun widerrufe ich selbst die Bezeichnung als Skeptiker!« rief Kolja auf einmal. »Sie sind kein Skeptiker, sondern eifersüchtig! Sie sind auf Ganja eines gewissen stolzen Mädchens wegen höllisch eifersüchtig!«

Nach diesen Worten sprang Kolja auf und lachte so herzlich, wie er es vielleicht in seinem Leben noch nie getan hatte. Als er sah, daß der Fürst ganz rot geworden war, steigerte sich sein Lachen noch; der Gedanke, daß der Fürst Aglajas wegen eifersüchtig war, machte ihm den größten Spaß; aber er verstummte sofort, als er bemerkte, daß dieser sich wirklich gekränkt fühlte. Darauf führten sie noch eine oder anderthalb Stunden lang ein sehr ernstes, beratendes Gespräch miteinander.

Am andern Tag verbrachte der Fürst wegen eines unaufschiebbaren Geschäfts den ganzen Vormittag in Petersburg. Als er (es war schon bald fünf Uhr nachmittags) nach Pawlowsk zurückkehrte, traf er auf dem Bahnhof mit Iwan Fjodorowitsch zusammen. Dieser ergriff ihn schnell bei der Hand, blickte sich ringsum, wie wenn er etwas fürchtete, und zog den Fürsten mit sich in einen Waggon erster Klasse, um mit ihm zusammen zu fahren. Er brannte vor Verlangen, mit ihm über einen wichtigen Punkt zu sprechen. »Erstens, lieber Fürst, sei nicht böse auf mich, und wenn ich mich meinerseits nicht richtig verhalten habe, so vergiß das! Ich wäre gestern schon selbst zu dir gekommen; aber ich wußte nicht, wie Lisaweta Prokofjewna das aufnehmen würde. Bei mir zu Hause ist die reine Hölle; eine rätselhafte Sphinx hat sich da niedergelassen, und ich gehe umher, ohne etwas zu verstehen. Was aber dich anlangt, so trägst du meines Erachtens weniger Schuld als wir alle, wiewohl natürlich vieles um deinetwillen so gekommen ist. Du siehst, Fürst, es ist ein Vergnügen, ein Philanthrop zu sein, aber kein sehr großes. Du hast wohl selbst schon die Früchte davon zu schmecken bekommen. Ich habe natürlich Herzensgüte sehr gern und schätze Lisaweta Prokofjewna sehr hoch, aber ...«

Der General fuhr noch lange fort, in dieser Weise zu reden; aber seine Worte waren in wunderlicher Weise unzusammenhängend. Es war klar, daß er durch etwas ihm völlig Unverständliches stark erschüttert und in arge Verwirrung versetzt worden war.

»Für mich unterliegt es keinem Zweifel, daß du damit nichts zu schaffen hast«, drückte er sich endlich deutlicher aus. »Aber ich bitte dich in aller Freundschaft, uns eine Zeitlang nicht zu besuchen, bis sich der Wind gedreht haben wird. Was aber Jewgeni Pawlowitsch anbetrifft«, rief er mit ungewöhnlicher Wärme, »so ist das alles sinnlose Verleumdung, Verleumdung schlimmster Art! Es ist Anschwärzung; da steckt eine Intrige dahinter, der Wunsch, alles über den Haufen zu stürzen und uns zu entzweien. Siehst du, Fürst, ich sage dir im Vertrauen: zwischen uns und Jewgeni Pawlowitsch ist noch kein deutliches Wort gesprochen worden. Wir sind in keiner Weise gebunden; aber ein solches Wort kann gesprochen werden und sogar vielleicht sehr bald! Darum wollte man ihm schaden! Aber welchen Zweck das Ganze eigentlich verfolgt, das kann ich nicht begreifen! Sie ist ein wunderbares Weib, ein exzentrisches Weib; ich fürchte mich vor ihr so sehr, daß ich kaum schlafen kann. Und was hat sie für eine Equipage! Diese Schimmel! Das ist ja großartig; das ist genau das, was man im Französischen chic nennt! Wer bezahlt das für sie? Ich habe mich wahrhaftig versündigt und vorgestern gedacht, am Ende tue es Jewgeni Pawlowitsch. Aber es stellt sich heraus, daß das unmöglich ist; wenn das aber unmöglich ist, warum will sie dann diese Sache hintertreiben? Das ist das Rätsel! Um Jewgeni Pawlowitsch für sich zu behalten? Aber ich wiederhole dir und bekreuze mich dabei, daß er mit ihr nicht bekannt ist, und daß diese Wechsel pure Erfindung sind! Und mit welcher Frechheit sie ihn über die Straße weg duzte! Das ist ja die reine Tücke! Es ist klar, daß man diese Verleumdung verächtlich zurückweisen und dem beleidigten Jewgeni Pawlowitsch mit verdoppelter Achtung begegnen muß. Das habe ich auch zu Lisaweta Prokofjewna gesagt. Jetzt will ich dir meinen allergeheimsten Gedanken mitteilen: ich bin fest überzeugt, daß sie das getan hat, um sich an mir persönlich zu rächen, du erinnerst dich wohl, wegen meiner früheren Beziehungen zu ihr, wiewohl ich mir nie ihr gegenüber auch nur das geringste habe zuschulden kommen lassen. Ich erröte bei der bloßen Erinnerung. Jetzt ist sie nun wieder aufgetaucht; ich hatte schon gedacht, sie wäre für immer verschwunden. Sag mal, bitte, wo steckt denn eigentlich dieser Rogoschin? Ich dachte, sie wäre schon längst seine Frau.«

Kurz, der Mann war mit seinem Denken völlig in Unordnung geraten. Fast die ganze Stunde über, die die Fahrt dauerte, redete er allein, warf Fragen auf, die er dann selbst beantwortete, drückte dem Fürsten die Hand und überzeugte diesen wenigstens davon, daß er nicht daran dachte, ihn irgendwie im Verdacht zu haben. Das war dem Fürsten wichtig. Zuletzt erzählte er von Jewgeni Pawlowitschs Onkel, dem Chef einer Ministerialabteilung in Petersburg; »er bekleidet ein hohes Amt, ist siebzig Jahre alt, ein Lebemann, ein Gourmand und läßt sich trotz seiner Jahre noch leicht verlocken. Haha! Ich weiß, daß er von Nastasja Filippowna gehört und sich sogar um sie bemüht hat. Ich sprach vorhin bei ihm vor; aber er empfängt nicht, er ist unpäßlich. Aber er ist reich, schwerreich, besitzt großen Einfluß und ... Nun, Gott gebe ihm Gesundheit und noch ein langes Leben; aber irgendeinmal fällt doch alles Jewgeni Pawlowitsch zu ... Ja, ja ... aber doch ängstige ich mich! Ich weiß nicht, wovor; aber ich ängstige mich ... Es ist, als ob etwas in der Luft schwebte wie eine Fledermaus; es ist ein Unheil im Anzug, und ich ängstige mich, ich ängstige mich ...!«

Endlich, erst am dritten Tag, wie schon oben gesagt, erfolgte die förmliche Aussöhnung der Familie Jepantschin mit dem Fürsten Ljow Nikolajewitsch.

XII


Es war sieben Uhr abends; der Fürst wollte eben in den Park gehen.

Auf einmal kam Lisaweta Prokofjewna ganz allein zu ihm in die Veranda.

»Erstens, bilde dir nicht ein«, begann sie, »daß ich gekommen wäre, dich um Verzeihung zu bitten! Unsinn! Du allein trägst die ganze Schuld.«

Der Fürst schwieg.

»Trägst du die Schuld?«

»In demselben Maße wie Sie. Übrigens haben weder Sie noch ich in irgendeiner Hinsicht uns absichtlich schuldig gemacht. Ich hielt mich vorgestern für schuldig; aber jetzt bin ich doch anderer Ansicht geworden und meine, daß dem nicht so ist.«

»Also so denkst du darüber! Nun gut; höre zu und setze dich; denn ich beabsichtige nicht zu stehen.«

Beide setzten sich.

»Zweitens, kein Wort von den boshaften Burschen! Ich werde zehn Minuten hierbleiben und mit dir reden; ich bin hergekommen, um dich nach etwas zu fragen (du dachtest wohl schon, ich sei aus Gott weiß was für einem Grund gekommen?), und wenn du der dreisten Burschen auch nur mit einem Wort Erwähnung tust, so stehe ich auf und gehe weg und breche jeden Verkehr mit dir ab.«

»Gut«, antwortete der Fürst.

»Gestatte die Frage: hast du vor zwei oder eineinhalb Monaten, um Ostern herum, an Aglaja einen Brief geschrieben?«

»J-ja, das habe ich getan.«

»Was hattest du dabei für eine Absicht? Was stand in dem Brief? Zeige mal den Brief her!«

Lisaweta Prokofjewnas Augen blitzten; sie zitterte vor Ungeduld.

»Den Brief habe ich nicht«, versetzte der Fürst sehr erstaunt und sehr schüchtern. »Wenn er überhaupt noch existiert, muß ihn Aglaja Iwanowna haben.«

»Keine Ausflüchte! Was hast du ihr geschrieben?«

»Ich mache keine Ausflüchte; ich habe keinen Grund, mich zu fürchten. Ich sehe nicht ein, warum ich ihr nicht hätte schreiben dürfen ...«

»Schweig! Du kannst nachher reden. Was stand in dem Brief? Warum bist du so rot geworden?«

Der Fürst überlegte ein Weilchen.

»Ich kenne Ihre Gedanken nicht, Lisaweta Prokofjewna. Ich sehe nur, daß Ihnen dieser Brief sehr mißfällt. Sie werden zugeben müssen, daß ich die Beantwortung einer solchen Frage ablehnen könnte; aber um Ihnen zu zeigen, daß ich mich wegen des Briefes nicht fürchte und es nicht bedaure, ihn geschrieben zu haben, und um seinetwillen ganz und gar nicht erröte« (hier wurde der Fürst dunkelrot), »will ich Ihnen diesen Brief hersagen, da ich ihn, wie ich meine, auswendig weiß.«

Hierauf sagte der Fürst den Brief fast Wort für Wort so her, wie er ihn geschrieben hatte.

»So ein törichtes Gerede! Was soll dieser Unsinn denn nach deiner Meinung bedeuten?« fragte Lisaweta Prokofjewna in scharfem Ton, nachdem sie bei dem Hersagen des Briefes sehr aufmerksam zugehört hatte.

»Ich weiß es selbst nicht ganz; ich weiß nur, daß meine Empfindung wahr und echt war. Ich hatte dort Augenblicke, in denen ich wahrhaft lebte und von außerordentlichen Hoffnungen erfüllt war.«

»Von was für Hoffnungen?«

»Das ist schwer zu erklären, aber nicht von denen, an die Sie jetzt vielleicht denken. Von Hoffnungen ... nun, kurz von Hoffnungen auf die Zukunft und von Freude darüber, daß ich vielleicht in Rußland kein Fremder, kein Ausländer war. Es gefiel mir auf einmal sehr gut in der Heimat. An einem sonnigen Morgen ergriff ich die Feder und schrieb einen Brief an sie; warum gerade an sie, das weiß ich nicht. Es überkommt einen ja manchmal ein Verlangen, einen Freund neben sich zu haben; auch ich sehnte mich offenbar nach einem Freund ...«, fügte der Fürst nach kurzem Stillschweigen hinzu.

»Bist du verliebt, ja?«

»N-nein. Ich ... ich habe wie an eine Schwester geschrieben; ich habe mich auch als Bruder unterzeichnet.«

»Hm! Absichtlich; ich verstehe.«

»Es ist mir sehr peinlich, Ihnen auf diese Fragen zu antworten, Lisaweta Prokofjewna.«

»Ich weiß, daß es dir peinlich ist; aber das kümmert mich nicht. Höre mal, antworte mir die Wahrheit, wie wenn du vor Gott ständest: lügst du mir auch nichts vor?«

»Ich lüge nicht.«

»Sagst du die Wahrheit, daß du nicht verliebt bist?«

»Ich glaube, daß das die volle Wahrheit ist.«

»Sieh mal an: ›Ich glaube!‹ Wer hat ihr den Brief überbracht? Der dumme Junge?«

»Ich hatte Nikolai Ardalionowitsch gebeten ...«

»Ein dummer Junge ist er! Ein dummer Junge!« unterbrach ihn Lisaweta Prokofjewna. »Ich kenne keinen Nikolai Ardalionowitsch! Ein dummer Junge ist er!«

»Nikolai Ardalionowitsch ...«

»Ein dummer Junge, sage ich dir!«

»Nein, kein dummer Junge, sondern Nikolai Ardalionowitsch«, antwortete der Fürst in festem Ton, wiewohl ziemlich leise.

»Na, schön, lieber Freund, schön! Das werde ich dir aufs Kerbholz schneiden.«

Sie kämpfte ihre Aufregung für ein Weilchen nieder und erholte sich.

»Und was hat es mit dem ›armen Ritter‹ für eine Bewandtnis?«

»Das ist mir völlig unbekannt; ich bin nicht dabeigewesen, als es aufkam; es ist irgendein Scherz.«

»Mir sehr angenehm, das zu erfahren! Aber konnte sie sich denn wirklich für dich interessieren? Sie hat dich ja selbst einen Krüppel und einen Idioten genannt.«

»Das hätten Sie mir nicht sagen sollen«, bemerkte der Fürst vorwurfsvoll, aber beinah flüsternd.

»Sei nicht böse! Sie ist ein eigensinniges, verrücktes, verzogenes Mädchen; wenn sie sich verliebt, so wird sie unbedingt laut über den Geliebten räsonieren und ihm ins Gesicht spotten; ich bin ganz ebenso gewesen. Nur, bitte, triumphiere nicht, lieber Freund; sie wird nicht die Deine werden; ich glaube nicht daran; es wird nie geschehen! Ich sage das, damit du dich schon jetzt danach einrichtest. Höre mal, schwöre mir, daß du nicht mit jener Frauensperson verheiratet bist!«

»Lisaweta Prokofjewna, ich bitte Sie, was reden Sie da!« rief der Fürst und sprang vor Erstaunen beinah auf.

»Aber es fehlte nicht viel, daß du sie geheiratet hättest?«


»Nein, es fehlte nicht viel daran«, flüsterte der Fürst und ließ den Kopf sinken.

»Also in die bist du doch verliebt, wenn es so ist? Bist du jetzt um ihretwillen hergereist? Um dieser Frauensperson willen?«

»Ich bin nicht hergereist, um zu heiraten«, versetzte der Fürst.

»Ist dir etwas auf der Welt heilig?«

»Ja.«

»Dann schwöre mir, daß du nicht hergereist bist, um sie zu heiraten.«

»Ich schwöre es bei allem, was Sie wollen!«

»Ich glaube dir; küsse mich! Endlich kann ich wieder frei atmen. Aber wisse: Aglaja liebt dich nicht; danach richte dich; solange ich auf der Welt bin, wird sie nicht deine Frau werden! Hast du gehört?«

»Ja, ich habe es gehört.«

Der Fürst errötete so stark, daß er Lisaweta Prokofjewna nicht gerade in die Augen sehen konnte.

»Nun, dann merke es dir! Ich habe auf dich gewartet wie auf die Vorsehung (was du übrigens nicht wert warst!); ich habe mein Kissen nachts mit meinen Tränen benetzt – nicht deinetwegen, lieber Freund; mach dir keine Sorgen; ich habe meinen eigenen, anderen Kummer, immer und ewig denselben. Aber der Grund, weshalb ich auf dich mit solcher Ungeduld gewartet habe, ist der: ich glaube immer noch, daß Gott selbst dich mir als meinen Freund und Bruder gesandt hat. Ich habe keinen Menschen als die alte Bjelokonskaja, und auch die ist jetzt ausgeflogen und ist überdies infolge ihres hohen Alters dumm wie ein Schaf. Jetzt antworte einfach ja oder nein: weißt du, warum sie neulich die seltsamen Worte aus dem Wagen gerufen hat?«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich nicht dabei beteiligt war und nichts davon weiß!«

»Genug, ich glaube dir. Jetzt fasse ich die Sache anders auf; aber noch vorgestern vormittag maß ich Jewgeni Pawlowitsch an allem die Schuld bei. Den ganzen vorgestrigen Tag und gestern vormittag war ich dieser Meinung. Jetzt allerdings kann ich nicht umhin, den andern beizustimmen: es ist offenbar, daß sie sich über ihn wie über einen Dummkopf lustig gemacht hat, aus irgendeinem Grund, zu irgendeinem Zwecke in irgendeiner Absicht. (Schon das allein ist verdächtig und ganz ungehörig!) Aber Aglaja wird er nicht zur Frau bekommen, das sage ich dir! Er mag ja ein ganz guter Mensch sein; aber es wird doch so geschehen, wie ich gesagt habe. Früher habe ich noch geschwankt; aber jetzt habe ich mit aller Bestimmtheit erklärt: ›Legt mich erst in den Sarg und vergrabt mich in die Erde; dann könnt ihr meine Tochter zur Frau geben, wem ihr wollt!‹ Das habe ich heute meinem Mann gegenüber ausgesprochen. Siehst du wohl, daß ich dir vertraue? Siehst du das wohl?«

»Ja, ich sehe es und verstehe es.«

Lisaweta Prokofjewna blickte den Fürsten prüfend an: vielleicht hätte sie gern gewußt, welchen Eindruck die Mitteilung über Jewgeni Pawlowitsch auf ihn gemacht hatte.

»Von Gawrila Iwolgin weißt du nichts?«

»Das heißt ... ich weiß von ihm vieles.«

»Hast du gewußt, daß er mit Aglaja Beziehungen unterhält?«

»Davon habe ich nicht das geringste gewußt«, erwiderte der Fürst erstaunt; er war sogar zusammengezuckt.

»Wie? Sie sagen, Gawrila Ardalionowitsch unterhalte Beziehungen mit Aglaja Iwanowna? Unmöglich!«

»Erst seit kurzer Zeit. Seine Schwester hat ihm den ganzen Winter über den Weg gebahnt; wie eine Ratte hat sie gewühlt und genagt.«

»Ich glaube es nicht«, wiederholte der Fürst mit fester Stimme, nachdem er ein Weilchen in Aufregung nachgedacht hatte. »Wenn das der Fall wäre, so würde ich es sicher wissen.«

»Na ja, er wäre wohl selbst gekommen, wäre dir an die Brust gesunken und hätte es dir unter Tränen gestanden! O du Einfalt, du Einfalt! Alle betrügen sie dich ja wie ... wie ... Schämst du dich denn gar nicht, ihm zu vertrauen? Siehst du denn nicht, daß er dich beständig hinters Licht führt?«

»Ich weiß sehr wohl, daß er mich manchmal betrügt«, antwortete der Fürst nur ungern und halblaut, »und er weiß, daß ich das weiß; aber ...«, fügte er hinzu, sprach jedoch den Satz nicht zu Ende.

»Es zu wissen und doch zu vertrauen! Das ist das Nonplusultra! Übrigens konnte man das von dir erwarten. Worüber wundere ich mich da noch? Mein Gott! Hat es je so einen Menschen gegeben? Nein, so etwas! Und weißt du, daß dieser Ganja oder diese Warja sie mit Nastasja Filippowna in Verkehr gebracht haben?«

»Wen?« rief der Fürst.

»Aglaja.«

»Das glaube ich nicht! Das ist nicht möglich! Was sollten sie dabei für eine Absicht gehabt haben?«

Er sprang vom Stuhl auf.

»Auch ich glaube es nicht, wiewohl sichere Anzeichen dafür vorhanden sind. Sie ist ein eigenwilliges Mädchen, ein phantastisches Mädchen, ein verrücktes Mädchen! Und boshaft ist sie, boshaft! Lebenslänglich werde ich behaupten, daß sie boshaft ist! Alle meine Töchter haben sich jetzt in dieser Weise verändert, sogar die mattherzige Alexandra; aber bei Aglaja ist es rein zum Tollwerden. Aber ich glaube es auch nicht! Vielleicht deswegen, weil ich es nicht glauben will«, fügte sie wie für sich hinzu.

»Warum bist du denn nicht zu uns gekommen?« wandte sie sich plötzlich wieder an den Fürsten. »Warum bist du die ganzen drei Tage nicht gekommen?« rief sie ihm ungeduldig zum zweitenmal zu.

Der Fürst begann seine Gründe anzuführen; aber sie unterbrach ihn von neuem.

»Alle halten sie dich für einen Dummkopf und betrügen dich! Du bist gestern nach der Stadt gefahren; ich möchte wetten, du hast auf den Knien gelegen und diesen Schuft gebeten, die zehntausend Rubel anzunehmen!«

»Keineswegs; ich habe gar nicht daran gedacht. Ich habe ihn überhaupt nicht besucht, und außerdem ist er kein Schuft. Ich habe einen Brief von ihm erhalten.«

»Zeig ihn mal her!«

Der Fürst nahm einen Zettel aus seiner Brieftasche und reichte ihn Lisaweta Prokofjewna hin. Auf dem Zettel stand:


»Geehrter Herr! Ich habe freilich in den Augen der Menschen nicht das geringste Recht, Ehrgefühl zu besitzen; nach der Meinung der Leute stehe ich dazu zu niedrig. Aber so ist das nur in den Augen der Menschen, nicht in den Ihrigen. Ich bin zu der bestimmten Überzeugung gelangt, daß Sie, geehrter Herr, besser als andere sind. Ich bin darin nicht Doktorenkos Meinung und trenne mich in diesem Punkt von ihm. Ich werde von Ihnen nie auch nur eine Kopeke annehmen; aber Sie haben meine Mutter unterstützt, und dafür muß ich Ihnen dankbar sein, wenn auch nur aus Schwäche. Jedenfalls sehe ich Sie jetzt mit anderen Augen an und hielt für nötig, Ihnen das mitzuteilen. Des weiteren aber bin ich der Ansicht, daß zwischen uns keinerlei Beziehungen mehr bestehen können. Antip Burdowski.

P.S. Die an den zweihundertfünfzig Rubeln fehlende Summe wird Ihnen im Laufe der Zeit sicher zurückgezahlt werden.«


»So ein Blödsinn!« rief Lisaweta Prokofjewna nach dem Durchlesen und warf dem Fürsten das Blatt wieder hin.

»Es lohnte nicht der Mühe, es durchzulesen. Was schmunzelst du?«

»Geben Sie doch zu, daß auch Sie es mit Vergnügen gelesen haben!«

»Wie? Diesen von Eitelkeit durchtränkten Unsinn? Siehst du denn nicht, daß diese Menschen alle vor Stolz und Eitelkeit geradezu verrückt geworden sind?«

»Ja, aber er hat sich schuldig bekannt, hat mit Doktorenko gebrochen, und je eitler er ist, um so schwerer muß das seiner Eitelkeit gefallen sein. Ach, was sind Sie für ein kleines Kind, Lisaweta Prokofjewna!«

»Du möchtest wohl zum Schluß eine Ohrfeige von mir bekommen, was?«

»Nein, das möchte ich nicht. Ich sage das, weil Sie sich über den Brief freuen und es verbergen. Warum schämen Sie sich Ihrer Empfindungen? So machen Sie es immer.«

»Untersteh dich nicht, je wieder den Fuß über meine Schwelle zu setzen!« rief Lisaweta Prokofjewna und sprang, ganz blaß vor Zorn, auf. »Laß dich nie wieder bei mir blicken!«

»Aber nach drei Tagen werden Sie selbst herkommen und mich zu sich rufen ... Sie sollten sich schämen! Das sind ja Ihre besten Empfindungen; warum schämen Sie sich ihrer denn? Sie quälen sich ja nur selbst damit.«

»Ich will eher sterben, als daß ich dich jemals rufe! Ich werde deinen Namen vergessen! Ich habe ihn schon vergessen!«

Sie stürzte von dem Fürsten weg.

»Es war mir sowieso schon verboten worden, zu Ihnen zu gehen!« rief ihr der Fürst nach.

»Wa-as? Wer hat es dir verboten?«

Sie wandte sich augenblicklich um, wie wenn jemand sie mit einer Nadel gestochen hätte. Der Fürst zauderte zu antworten; er merkte, daß er unbedachtsamerweise sich arg verplappert hatte.

»Wer hat es dir verboten?« rief Lisaweta Prokofjewna wütend.

»Aglaja Iwanowna hat es mir verboten ...«

»Wann? So – re-de – doch!«

»Heute vormittag hat sie mir die Weisung zugehen lassen, ich möchte mich nie wieder erdreisten, zu Ihnen zu kommen.«

Lisaweta Prokofjewna stand wie versteinert da; aber sie suchte sich die Sache zurechtzulegen. »Was hat sie dir geschickt? Wen hat sie geschickt? Den dummen Jungen? Mit einer mündlichen Bestellung?« rief sie wieder.

»Ich habe ein Billett erhalten«, versetzte der Fürst.

»Wo ist es? Gib es her! Augenblicklich!«

Der Fürst überlegte einen Augenblick, zog dann aber aus der Westentasche ein gewöhnliches Stückchen Papier heraus, auf dem geschrieben stand:


»Fürst Ljow Nikolajewitsch! Wenn Sie nach allem, was vorgefallen ist, beabsichtigen sollten, mich durch einen Besuch in unserem Landhaus in Erstaunen zu versetzen, so mögen Sie wissen, daß ich nicht zu denjenigen gehören werde, die sich darüber freuen. Aglaja Jepantschina.«


Lisaweta Prokofjewna dachte ein Weilchen nach; dann stürzte sie plötzlich auf den Fürsten zu, ergriff ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her.

»Komm! Sofort! Nun gerade sofort, augenblicklich!« rief sie in einem Anfall starker Aufregung und Ungeduld.

»Aber Sie setzen mich ja der Gefahr aus ...«

»Was für einer Gefahr? Du harmloser Tropf! Gerade als ob du kein Mann wärst! Na, jetzt werde ich selbst alles mit eigenen Augen sehen ...«

»Aber lassen Sie mich doch wenigstens meinen Hut nehmen ...«

»Da ist dein garstiger Hut, komm! Du hast nicht einmal so viel Geschmack gehabt, dir eine ordentliche Fasson auszusuchen ...! Das hat sie ... das hat sie infolge des Auftritts von heute vormittag getan ... in der Aufregung«, murmelte Lisaweta Prokofjewna, indem sie den Fürsten hinter sich herzog und seine Hand keinen Augenblick losließ. »Vorhin habe ich dich noch verteidigt und habe laut erklärt, es sei dumm von dir, daß du nicht kämst ... Sonst hätte sie ja auch nicht einen so sinnlosen Brief geschrieben! Einen so unpassenden Brief, ganz unpassend für ein anständiges, wohlerzogenes, kluges, kluges Mädchen ...! Hm«, fuhr sie fort, »oder ... oder vielleicht ... vielleicht hat sie sich selbst darüber geärgert, daß du nicht kamst, und nur nicht recht bedacht, daß man an einen Idioten so nicht schreiben kann, weil er es wörtlich auffaßt, wie es ja auch geschehen ist. Warum horchst du denn?« rief sie, da sie merkte, daß sie zu viel gesagt hatte. »Sie braucht einen Hansnarren, wie du einer bist; so einen hat sie schon lange nicht gesehen; darum lädt sie dich ein zu kommen! Und ich freue mich, ich freue mich, daß sie dich jetzt bei den Ohren kriegen wird, ich freue mich! Das geschieht dir ganz recht! Und sie versteht das, oh, das versteht sie vorzüglich!«


Fußnoten


1 Eine Anspielung auf die Schlußworte von Gribojedows Lustspiel »Verstand schafft Leiden«. (A.d.Ü.)


2 Jesuit, berühmter Kanzelredner und Beichtvater, 1632-1704. (A.d.Ü.)


Загрузка...