«Ich befürchte», sagte Colonel Race liebenswürdig, «Miss Pettigrews Bleistift ist abgebrochen.»

Er nahm den Bleistift aus ihrer Hand und spitzte ihn sorgfältig. Sir Eustace und ich starrten ihn an. In seiner Stimme schwang etwas mit, das mich stutzig machte.

22

Aus dem Tagebuch von Sir Eustace Pedler

Ich hätte die größte Lust, mein Tagebuch nicht weiterzuführen und stattdessen einen Artikel zu schreiben mit dem Titel: «Meine Sekretäre». Was Sekretäre anbelangt, scheine ich vom Pech verfolgt zu sein. Einmal habe ich gar keinen Sekretär, im nächsten Moment wieder zu viele. Augenblicklich gondle ich mit einem ganzen Sack voll Frauenzimmern nach Rhodesien. Natürlich nimmt Race die beiden hübschen für sich in Anspruch und überlässt mir die Ausschussware. Und das, obgleich dies doch mein Wagen und nicht derjenige von Race ist. Aber so ergeht es mir immer.

Jetzt ist Anne Beddingfeld also doch noch zu uns gestoßen. Eigentlich sollte sie meine Sekretärin sein, aber den ganzen Nachmittag saß sie mit Race auf der Aussichtsplattform und bewunderte die Schönheiten der Landschaft. Vielleicht fürchtet sie sich vor Miss Pettigrew, was ich verstehen würde. Diese Frau mit ihren großen Plattfüßen ist geradezu abstoßend.

Es ist etwas Geheimnisvolles um diese Anne Beddingfeld. Sie ist im allerletzten Augenblick auf den Zug aufgesprungen – und dabei hatte Pagett doch behauptet, er habe sie am Vorabend zum Zug nach Durban gebracht und sie abfahren sehen. Entweder muss Pagett wieder betrunken gewesen sein, oder die Kleine kann hexen.

Ja, das Thema «Meine Sekretäre», wäre recht ergiebig. Nummer eins: Ein heimlicher Säufer, der in Italien irgendetwas verbrochen hat; Nummer zwei: Ein Mörder auf der Flucht vor der Gerechtigkeit; Nummer drei: Ein hübsches Mädchen, das die Fähigkeit besitzt, gleichzeitig an zwei Orten zu sein; Nummer vier schließlich: Miss Pettigrew, die ich für ein besonders gefährliches Exemplar halte. Wahrscheinlich ist sie sogar Pagetts Verbündete; ich würde mich gar nicht wundern, eines Tages zu erfahren, dass Pagett mich schmählich hintergeht. Alles in allem war Rayburn noch der Beste.

Soeben war ich auf der Plattform und hoffte auf eine begeisterte Begrüßung. Aber o nein! Beide Frauen lauschten fasziniert einer Reiseschilderung von Race. Ich werde meinen Wagen umtaufen müssen. Statt «Sir Eustace Pedler und Gesellschaft», müsste er «Colonel Race und sein Harem» heißen.

«Ich bin so froh, dass wir das alles bei Tageslicht sehen», rief Anne Beddingfeld. «Ich darf gar nicht daran denken, dass mir dies alles entgangen wäre, wenn ich jetzt im Zug nach Durban säße!»

«Ja», sagte Race lächelnd, «Sie wären morgen früh in der Karru aufgewacht, in einer heißen, dunstigen Einöde aus Stein und Fels.»

«Das ist wohl der beste Tageszug nach Rhodesien?», fragte Anne Beddingfeld naiv.

Race lachte. «Der beste Tageszug? Meine liebe Miss Anne, es fahren nicht mehr als drei Züge in der Woche: Montag, Mittwoch und Samstag. Können Sie sich vorstellen, dass wir erst am Samstag zu den großen Wasserfällen kommen?»

«Wie lange wollen Sie dort bleiben, Sir Eustace?», fragte Mrs Blair.

«Das hängt ganz davon ab, wie sich die Dinge in Johannesburg entwickeln. Eigentlich wollte ich ein paar Tage bei den Victoriafällen bleiben, die ich noch nie gesehen habe, und dann nach Johannesburg weiterfahren, um an Ort und Stelle die Situation im Rand zu studieren. Aber nach allem, was ich höre, dürfte Johannesburg in der nächsten Zeit kein sehr gemütliches Pflaster sein. Ich habe keine Lust, politische Verhältnisse zu studieren, während rings um mich eine Revolte tobt.»

Race lächelte überheblich.

«Ich glaube, Ihre Befürchtungen sind übertrieben, Sir Eustace. Es wird keine große Gefahr für Sie in Johannesburg geben.»

Die Frauen blickten ihn schmachtend an. Das ärgerte mich maßlos. Ich bin mindestens so tapfer wie Race, wenn ich auch nicht danach aussehe.

«Ich darf wohl annehmen, dass Sie ebenfalls dort sein werden», sagte ich kühl.

«Höchstwahrscheinlich. Vielleicht fahren wir zusammen hin.»

«Vielleicht, aber es ist auch möglich, dass ich doch etwas länger bei den Fällen bleibe», entgegnete ich unverbindlich. Was geht es Race an, ob und wann ich nach Johannesburg fahre? Mir scheint, er ist hinter Anne her. «Was sind eigentlich Ihre Pläne, Miss Anne?»

«Das hängt ganz davon ab…», kopierte sie mich.

«Und ich dachte, Sie seien meine Sekretärin», warf ich ein.

«Oh, ich bin überflüssig geworden. Sie haben doch jetzt Miss Pettigrew!»

Donnerstagnacht

Wir haben soeben Kimberley verlassen. Race wurde bedrängt, die Geschichte von dem Diamantendiebstahl nochmals in allen Einzelheiten zu wiederholen. Warum sind Frauen eigentlich so interessiert an allem, was mit Diamanten zusammenhängt?

Endlich hat Anne Beddingfeld den Schleier ihres Geheimnisses gelüftet. Sie scheint eine Zeitungsreporterin zu sein. Heute früh hat sie ein ellenlanges Telegramm nach London gesandt. Nach all dem, was ich in der Nacht aus Mrs Blairs Abteil hörte, muss sie ihr eine ganze Artikelserie vorgetragen haben.

Anscheinend ist sie die ganze Zeit hinter dem «Mann im braunen Anzug», her gewesen. Aber auf der Kilmorden hat sie ihn dennoch nicht erkannt. Nun, ich muss zugeben, dass sie auch wenig Gelegenheit dazu hatte. Doch jetzt ist sie eifrig beschäftigt mit einem Bericht mit dem Titel «Meine Reise mit dem Mörder an Bord», und natürlich erfindet sie Märchen über Gespräche, die sie mit ihm geführt haben will. Ich weiß, wie so etwas vor sich geht.

Immerhin ist das Mädchen gescheit. Ganz auf eigene Faust hat sie herausgefunden, dass die Frau, die in meinem Haus ermordet wurde, eine russische Tänzerin namens Nadina ist. Ich habe Anne gefragt, ob sie ihrer Sache sicher sei. Sie meinte, es sei lediglich eine Schlussfolgerung. Doch der Zeitung hat sie es natürlich als feststehende Tatsache gekabelt. Frauen haben manchmal solche Intuitionen – ich zweifle nicht daran, dass Anne Beddingfeld völlig Recht hat –, aber es ist schon ein starkes Stück, das eine «Schlussfolgerung», zu nennen.

Langsam geht mir Verschiedenes auf. Race sprach davon, dass die Polizei glaube, Rayburn sei nach Rhodesien geflohen. Möglicherweise hat er sich im Montag-Zug versteckt. Er ist zwar telegrafisch avisiert worden, und man hat keinen Menschen entdeckt, der auf seine Beschreibung passt, aber das will natürlich nichts heißen. Er ist ein listiger Bursche, und er kennt Südafrika zur Genüge. Wahrscheinlich hat er sich als altes Kaffernweib verkleidet, während die einfältigen Polizisten nach einem hübschen jungen Mann Ausschau hielten.

Wie dem auch sei, Anne Beddingfeld ist hinter ihm her. Sie will ihm auf eigene Faust nachspüren und den Triumph für sich und das Daily Budget einheimsen. Die jungen Mädchen von heute sind sehr kaltblütig. Ich habe ihr zu verstehen gegeben, dass ich ihr Benehmen für unweiblich halte – sie lachte mich nur aus. Ihr Glück sei gemacht, wenn sie ihn zur Strecke bringe, erklärte sie. Race gefällt diese Art auch nicht, das konnte ich deutlich sehen. Vielleicht fährt Rayburn sogar in unserem Zug mit? Dann kann es uns passieren, dass wir alle in unseren Betten umgebracht werden. Das sagte ich auch zu Mrs Blair, aber sie fand den Gedanken sehr spaßhaft und meinte, es wäre ein fabelhafter Treffer für Anne, wenn sie als Erste meine Ermordung dem Daily Budget melden könnte. Frauen sind brutal.

23

Annes Bericht

Die Fahrt nach Rhodesien war herrlich. Jeden Tag gab es etwas Neues zu sehen. Erst die prächtige Szenerie des HexRiver-Tales, dann die einsame Größe der Karru, und schließlich den weiten Horizont des Betschuanalandes. Suzanne erwarb an jeder Station eine ganze Kollektion der reizenden geschnitzten Holztiere, die die Eingeborenen zum Verkauf anboten, und ich musste einfach ihrem Beispiel folgen.

Suzannes Staunen, als ich in Kapstadt plötzlich in ihrem Abteil erschien, war unvorstellbar. Doch erst, als wir in unseren Betten lagen, konnten wir uns aussprechen. Dafür dauerte die Unterhaltung die halbe Nacht.

Mir war klar, dass ich nun nicht nur eine Angriffs-, sondern auch eine Verteidigungstaktik planen musste. Solange ich mit Sir Eustace und Colonel Race reiste, war ich einigermaßen in Sicherheit. Beide waren gewichtige Persönlichkeiten, und meine Feinde würden wohl kaum wagen, hier in ein Wespennest zu stechen. In der Nähe von Sir Eustace blieb ich auch gewissermaßen in Verbindung mit Guy Pagett – und Pagett war der Mittelpunkt, um den sich alles drehte. Ich habe Suzanne gefragt, ob sie ihn für den mächtigen Colonel halte. Seiner untergeordneten Stellung nach war das zwar unwahrscheinlich, doch war mir ein paarmal aufgefallen, dass sich Sir Eustace stark von seinem Sekretär beeinflussen lässt. Die scheinbare Bedeutungslosigkeit dieser Stellung mochte eine gute Tarnung sein.

Doch Suzanne verwarf diese Überlegung. Sie konnte nicht glauben, dass ein Guy Pagett der leitende Kopf eines solchen gewaltigen Unternehmens war. Ihrer Meinung nach hielt sich der «Colonel», viel mehr im Hintergrund und war wohl schon lange vor uns in Südafrika.

Es sprach vieles für ihre Auffassung, und dennoch befriedigte sie mich nicht ganz, denn jedes Mal, wenn etwas Verdächtiges geschah, war Pagett daran beteiligt. Allerdings fehlte ihm die Autorität, die man bei einer leitenden Persönlichkeit voraussetzen dürfte.

«Vielleicht ist er auch nur der Großwesir des Allerhöchsten», sagte ich, als ich an diesem Punkt angelangt war. «Ich wüsste übrigens gerne, wie Sir Eustace sein Vermögen gemacht hat.»

«Verdächtigst du ihn schon wieder?»

«Nicht unbedingt, aber immerhin ist er Pagetts Herr und Meister, und außerdem gehört ihm das Haus zur Mühle.»

«Ich weiß, dass er nicht gern über sein Geld spricht», meinte Suzanne nachdenklich. «Aber das bedeutet nicht unbedingt Verbrechen – eher hat er ein sensationelles Haarwuchsmittel auf den Markt gebracht.»

Auch von Pagetts Schuld war Suzanne noch immer nicht restlos überzeugt. Ich mochte jedoch nicht mehr mit ihr darüber streiten, denn es gab Vordringlicheres zu besprechen.

Es schien notwendig, dass ich mich endlich zu irgendeiner Position bekannte, denn ich konnte nicht länger allen Fragen über meine Absichten ausweichen. Die Lösung dieser Schwierigkeit lag klar auf der Hand: das Daily Budget! Mein weiteres Schweigen konnte Harry Rayburn nichts mehr nützen; er war bereits ohne mein Zutun überall als der «Mann im braunen Anzug», bekannt. Am ehesten half ich ihm noch, indem ich mich scheinbar gegen ihn stellte. Der «Colonel», und seine Leute durften nicht wissen, dass zwischen mir und dem Mann, den sie als Sündenbock für den Mord in Marlow ausersehen hatten, eine Freundschaft bestand.

Soviel mir bekannt war, hatte man die Frau im Haus zur Mühle noch nicht identifiziert. Ich würde Lord Nasby kabeln, dass es sich um die russische Tänzerin Nadina handle, die über eine so lange Zeit in Paris Triumphe gefeiert hatte. Eigentlich schien es mir ganz unfassbar, dass niemand sie erkannt haben sollte. Später erst erfuhr ich die Gründe: Nadina war nie in England aufgetreten und dem Londoner Publikum daher unbekannt. Die Aufnahmen, die man von dem Opfer in Marlow gemacht hatte, waren wie üblich verzerrt. Und Nadina hatte keinem Menschen gegenüber ihre Reise nach England erwähnt. Am Tag nach dem Mord hatte ihr Manager einen Brief erhalten, in dem sie ihm mitteilte, sie müsse aus privaten Gründen dringend für kurze Zeit nach Russland.

Ich sandte also ein langes Telegramm an das Daily Budget. Wie ich hinterher erfuhr, wurden meine Angaben geprüft und für richtig befunden, und die Zeitung veröffentlichte sie als die Sensation des Jahres. Die Artikel selbst gerieten erst viel später in meine Hände, doch in Bulawajo erreichte mich ein Telegramm. Lord Nasby gratulierte mir höchstpersönlich, nahm mich in den Stab seiner Mitarbeiter auf und übertrug mir offiziell die Jagd nach dem Mörder. Und ich, nur ich allein wusste, dass Harry Rayburn nicht der Mörder war! Doch mochte die Welt glauben, was sie wollte, für den Moment war es so am besten.

24

Am Samstagvormittag trafen wir in Bulawajo ein. Die Stadt gefiel mir gar nicht; es war entsetzlich heiß und das Hotel scheußlich. Sir Eustace war ebenfalls schlechter Laune. Ich glaube, unsere Holztiere ärgerten ihn, besonders die große Giraffe. Wir hatten unsere liebe Mühe mit ihnen, denn natürlich konnten wir sie nicht allein schleppen. Colonel Race half uns nach Kräften, und die große Giraffe drückte ich Sir Eustace in den Arm. Selbst die tüchtige Miss Pettigrew entkam uns nicht, obwohl ich das Gefühl hatte, dass sie mich nicht mochte. Sie vermied es nach Möglichkeit, mit mir zusammenzutreffen. Und das Komische dabei war, dass mir ihr Gesicht so bekannt vorkam, obgleich ich mir absolut nicht vorstellen konnte, sie schon mal gesehen zu haben.

Wir faulenzten den ganzen Vormittag und fuhren nach dem Lunch zu den Matopobergen, zum Grab von Cecil Rhodes. Das heißt, wir hatten alle die Absicht, dorthin zu fahren, aber plötzlich setzte Sir Eustace sein Schmollgesicht auf und hatte keine Lust dazu. Miss Pettigrew, als perfekte Angestellte, schloss sich natürlich sofort an. Und im letzten Augenblick erklärte auch Suzanne, zu müde zu sein. Also fuhren Colonel Race und ich allein.

Er ist ein eigentümlicher Mensch. Besonders wenn man mit ihm allein ist, wirkt seine Persönlichkeit erdrückend. Er spielt den großen Schweiger, aber sein Schweigen sagt mehr als tausend Worte.

So war es auch an diesem Tag, als wir durch das gelblich braune Buschwerk auf die Berge zurollten. Unser Wagen schien das allerälteste Modell eines Ford zu sein. Seine Polster hingen in Fetzen, von Federung gar keine Rede, und auch mit dem Motor war offensichtlich etwas nicht in Ordnung.

Nach und nach veränderte sich das Landschaftsbild. Riesige Felsblöcke in phantastischen Formen tauchten auf, und ich hatte das Gefühl, mich mitten in der Steinzeit zu befinden.

Endlich erreichten wir den Platz, wo Cecil Rhodes ruhte. Lange Zeit saßen wir schweigend da. Dann begannen wir den Abstieg von einer anderen Stelle aus. Es war eine mühsame Kletterei, und einmal kamen wir zu einer steilen Felsspalte, die fast senkrecht in die Tiefe stürzte.

Colonel Race überquerte sie zuerst, dann drehte er sich zu mir um. «Es ist besser, wenn ich sie hinüberhebe», sagte er und schwang mich mit einer raschen Bewegung auf den sicheren Grund. Ich fühlte seine Kraft, als er mich niedersetzte und losließ. Und wieder wurde mir angst in seiner Nähe, denn er trat nicht zur Seite, sondern blieb dicht vor mir stehen und blickte mir in die Augen.

«Was tun Sie eigentlich hier, Anne Beddingfeld?», fragte er.

«Ich bin eine Zigeunerin und sehe mir die Welt an.»

«Ja, das stimmt. Reporterin? Das ist nur ein Vorwand. Sie ziehen auf eigene Faust los und versuchen das Leben zu packen. Doch das ist nicht alles.»

Was für Bekenntnisse erwartete er von mir? Ich hatte Angst. Doch mein Blick war offen, als ich ihn ansah. «Ich gebe die Frage zurück: Was tun Sie hier, Colonel Race?», entgegnete ich.

Erst glaubte ich, er würde nicht antworten; jedenfalls schien er verblüfft. Doch dann lag in seinen Worten ein grimmiges Vergnügen.

«Meinem Ehrgeiz nachjagen», sagte er. «Ja, das ist der richtige Ausdruck.»

«Man behauptet», fuhr ich langsam fort, «dass Sie mit dem Geheimdienst zu tun haben – ist das wahr?»

Bildete ich es mir nur ein, oder zögerte er wirklich?

«Ich kann Ihnen versichern, Miss Beddingfeld, dass ich ausschließlich als Privatperson hier bin und zu meinem eigenen Vergnügen reise.»

Als ich später über diese Worte nachdachte, erschienen sie mir ziemlich zweideutig. Vielleicht war das seine Absicht.

Wir sprachen nicht mehr, bis wir zum Wagen kamen, und schweigend verlief auch die erste Hälfte der Rückfahrt. Plötzlich ergriff er meine Hand.

«Anne», sagte er mit sanfter Stimme, «ich brauche Sie – wollen Sie mich heiraten?»

Ich war völlig bestürzt.

«O nein», stammelte ich, «nein, das kann ich nicht.»

«Weshalb nicht?»

«Weil… weil ich Sie nicht liebe.»

«Ich verstehe. Ist das der einzige Grund?»

Die Frage musste ehrlich beantwortet werden, mindestens das schuldete ich ihm.

«Nein», sagte ich. «Es ist nicht der einzige Grund. Ich liebe einen anderen Mann.»

«Ich verstehe», wiederholte er. «Und war das schon so, als ich Sie kennen lernte? Ganz zu Beginn, auf der Kilmorden?»

«Nein», flüsterte ich. «Es geschah… später.»

«Ich verstehe», sagte er zum drittenmal, doch jetzt war ein entschlossener Klang in seiner Stimme, der mich erschreckte. Sein Gesicht war grimmiger denn je.

«Was… wollen Sie… damit… sagen?», stammelte ich.

Er blickte mich an, rätselhaft, beherrscht.

«Nun, jetzt weiß ich wenigstens, was ich zu tun habe.»

Seine Worte ließen mich erschauern. Es lag eine Entschlossenheit darin, die ich nicht begriff und die mich ängstigte.

Wir sprachen kein Wort mehr, bis wir im Hotel waren. Ich ging sofort zu Suzanne. Sie lag auf ihrem Bett und las und sah nicht im Geringsten müde aus.

«Hier ruht die taktvolle Anstandsdame», begrüßte sie mich. «Aber Anne, was ist denn los mit dir?»

Ich war in Tränen ausgebrochen.

«Nichts, nichts, nur die Nerven», murmelte ich. Nein, über Colonel Race konnte ich nicht sprechen, das wäre nicht anständig ihm gegenüber. Aber Suzanne ist klug; sie fühlte natürlich sofort, dass ich ihr etwas verheimlichte.

«Du hast dich hoffentlich nicht erkältet, Anne? Das klingt zwar lächerlich bei dieser Hitze, aber du hast ja einen richtigen Schüttelfrost.»

Ich versuchte zu lachen. «Es sind wirklich nur die Nerven. Ich habe das Gefühl, dass etwas Furchtbares geschehen wird.»

«Das ist Unsinn, Anne», sagte Suzanne entschieden. «Wir wollen lieber über wirkliche Dinge reden, über diese Diamanten…»

«Was ist mit ihnen?»

«Sie sind bei mir nicht mehr in Sicherheit. Jetzt, da wir befreundet sind, verdächtigt man mich genauso wie dich.»

«Kein Mensch weiß, dass sie in dieser Filmkapsel sind», wandte ich ein. «Das ist ein ausgezeichnetes Versteck, ein besseres könnten wir niemals finden.»

Zögernd stimmte sie mir zu; doch dann meinte sie, wir müssten über die Sache noch einmal sprechen, sobald wir bei den Victoriafällen seien.

Unser Zug fuhr um neun Uhr. Sir Eustace befand sich noch immer in schlechter Laune, und Miss Pettigrew sah sehr bedrückt aus. Colonel Race verhielt sich wie immer, und ich hatte das Gefühl, ich müsse unsere Unterhaltung nur geträumt haben.

Ich schlief schlecht in dieser Nacht auf meiner harten Bank und träumte von drohenden Gefahren. Mit bösen Kopfschmerzen wachte ich auf und tastete mich zur Aussichtsplattform unseres Wagens. Die Luft war frisch und angenehm, und so weit der Blick reichte, erhoben sich wellige, bewaldete Hügel.

Um halb drei riss mich Colonel Race aus meiner Versunkenheit und wies auf einen weißen Nebel, der über einem Hügel aufstieg.

«Der Wasserstaub der Victoriafälle», sagte er. «Bald werden wir dort sein.»

Noch immer hüllte mich das seltsame, erregende Traumgefühl ein, das mir einreden wollte, ich sei heimgekommen! Und doch hatte ich dieses Land noch nie gesehen.

Wir gingen zu Fuß vom Bahnhof zum Hotel, einem großen weißen Gebäude, dessen Fenster mit Moskitonetzen abgedichtet waren. Wir traten auf die Terrasse hinaus – und ich stieß einen Ausruf des Entzückens aus. Vor uns sprühten und brausten die Fälle, wenige hundert Meter entfernt. Noch nie hatte ich etwas so Großartiges, so Herrliches gesehen.

«Anne, du bist wie verzaubert», sagte Suzanne, als wir uns zu Tisch setzten.

Sie blickte mich verwundert an.

«Bin ich wirklich verzaubert?», fragte ich lachend, aber mein Lachen klang gezwungen. «Es ist so unaussprechlich herrlich.»

«Ja, das ist es.»

Ich war nicht nur glücklich – ich hatte auch das bestimmte Gefühl, dass sich hier bald etwas ereignen würde. Und ich wartete, unruhig, erregt, voller Spannung.

Nach dem Tee gingen wir zu den Fällen, überschritten die Brücke und folgten einem Pfad, der, beidseitig mit weißen Steinen markiert, die tiefe Kluft entlangführte. Schließlich erreichten wir eine Lichtung, von der links ein schmaler Weg zur Schlucht hinunter abbog.

Wir beschlossen jedoch, uns den Abstieg bis morgen aufzusparen, und unternahmen stattdessen noch einen Spaziergang bis zum Regenbogenwald.

Erst kurz vor dem Abendessen erreichten wir das Hotel. Sir Eustace schien eine geheime Abneigung gegen Colonel Race gefasst zu haben. Nach dem Essen zog er sich in sein Zimmer zurück und befahl Miss Pettigrew, ihm zu folgen. Wir anderen blieben noch eine Weile sitzen. Doch bald erklärte Suzanne gähnend, sie sei zum Umfallen müde und wolle schlafen gehen. Da ich keine Lust hatte, mit Colonel Race allein zu bleiben, schloss ich mich ihr an.

Zum Schlafen war ich jedoch viel zu aufgeregt; ich zog mich nicht einmal aus, sondern lehnte mich in meinen Sessel zurück und träumte. Und ständig hatte ich das Gefühl, dass etwas geschehen würde – bald – jetzt – gleich…

Ein Klopfen an meiner Tür ließ mich auffahren. Ich öffnete. Ein kleiner schwarzer Junge hielt mir einen Brief hin. Er war in einer mir unbekannten Handschrift an mich adressiert. Ich nahm ihn, kehrte ins Zimmer zurück und riss den Umschlag auf. Sein Inhalt war sehr kurz:

Ich muss Sie sehen, doch ich wage es nicht, ins Hotel zu kommen. Wollen Sie mich bei der Lichtung oberhalb der Fälle treffen? Bitte, kommen Sie in Erinnerung an Kabine siebzehn. Der Mann, den Sie als Harry Rayburn kennen.

Mein Herz hämmerte wild. Er war hier! Oh, ich hatte es ja geahnt!

Ich wand einen Schal um meinen Kopf und stahl mich hinaus. Es hieß vorsichtig sein, denn er wurde verfolgt, und man durfte mich nicht sehen.

Vor Suzannes Tür hielt ich kurz inne. Ich hörte ihr ruhiges, gleichmäßiges Atmen; sie schlief fest.

Sir Eustace? Er war immer noch beim Diktieren; wiederholte Miss Pettigrew seine letzten Worte: «Ich schlage daher vor, dass das Problem der schwarzen Arbeiter…» Sie wartete auf eine Fortsetzung, und gleich darauf brummte Sir Eustace ein paar undeutliche Sätze.

Ich stahl mich weiter. Colonel Race war nicht in Zimmer, und ich entdeckte ihn auch nicht in der Halle. Und er war der Mann, den ich am meisten fürchtete! Aber ich durfte keine Zeit mehr verlieren. Ungesehen schlüpfte ich aus dem Hotel und schlug den Weg zur Brücke ein.

Auf der anderen Seite blieb ich stehen und verharrte im Schatten. Wenn mir jemand gefolgt war, so musste ich ihn jetzt auf der Brücke sehen. Doch die Minuten verflossen, niemand näherte sich. Ich war also nicht beobachtet worden. Vorsichtig bewegte ich mich auf die Lichtung zu. Nach wenigen Schritten hörte ich ein Rascheln hinter mir; ich verhielt mich ganz ruhig. Vom Hotel war mir keiner gefolgt, doch jemand wartete bereits hier!

Und plötzlich wusste ich, dass ich in großer Gefahr war. Es war derselbe Instinkt, der mich auf der Kilmorden gewarnt hatte.

Ich blickte über meine Schulter. Völlige Stille. Ich tat wieder zwei Schritte – und wieder hörte ich das Rascheln. Im Gehen sah ich nochmals zurück. Aus dem Schatten hob sich die Gestalt eines Mannes ab, doch es war zu dunkel, um ihn zu erkennen. Ich sah nur, dass er groß und ein Weißer sein musste.

Er merkte, dass ich ihn entdeckt hatte, und sprang direkt auf mich zu. Ich lief um mein Leben; die weißen wiesen mir den Weg. Doch plötzlich trat mein Fuß ins Leere. Ich hörte den Mann hinter mir lachen, ein böses unheilvolles Lachen. Es hallte in meinen Ohren nach, als ich kopfüber in die Tiefe stürzte – tiefer, immer tiefer ins Nichts.

25

Mein Erwachen war langsam und schmerzhaft. Mein Kopf brummte, und scharfe Stiche durchzuckten meinen linken Arm, wenn ich ihn zu bewegen versuchte. Alles erschien mir unwirklich, wie ein böser Traum. Wieder hatte ich das Gefühl zu fallen. Einmal war mir, als beuge sich Harry Rayburn über mich. Dann zerfloss sein Gesicht wieder in der Dunkelheit. Irgendjemand hielt mir eine Schale an den Mund, und ich trank gierig. Ein schwarzes Gesicht grinste mich an wie ein Teufel. Ich schrie laut auf. Dann wieder Träume. Dunkle Fieberträume, in denen ich vergeblich versuchte, Harry Rayburn zu warnen. Wovor? Ich wusste es nicht. Doch rings um ihn lauerte Gefahr, und nur ich allein konnte ihn retten. Wieder zerfloss alles in Dunkelheit, doch diesmal in eine ruhige Zuversicht, und ich schlief ein, tief und fest.

Endlich kam ich zu mir, der lange Alpdruck war vorbei. Ich erinnerte mich wieder, was geschehen war: Meine Flucht aus dem Hotel, um Harry Rayburn zu treffen, der Mann im Schatten, und dieser letzte, entsetzliche Sturz ins Leere…

Auf wundersame Weise hatte ich mir nicht den Hals gebrochen. Ich war zerschlagen und sehr müde, aber ich lebte! Doch wo befand ich mich? Mühsam bewegte ich den Kopf und blickte mich um. Ich war in einem kleinen Raum mit rohen Holzwänden, an denen Tierfelle und Elfenbeinzähne hingen. Mein Lager war ebenfalls mit Fellen bedeckt. Mein linker Arm war verbunden. Erst glaubte ich allein im Zimmer zu sein, doch dann entdeckte ich, dass ein Mann zwischen mir und dem Fenster saß. Er drehte mir den Rücken zu und schien unbeweglich wie eine Holzfigur. Sein kurzgeschorener dunkler Kopf kam mir bekannt vor, aber ich wagte es nicht, meiner Einbildung zu trauen. Doch auf einmal wandte er sich um, und ich hielt den Atem an: Es war Harry Rayburn, wirklich und wahrhaftig.

Er erhob sich und trat neben mein Lager.

«Fühlen Sie sich jetzt besser?», fragte er etwas verlegen.

Ich konnte nicht antworten, die Tränen strömten über mein Gesicht.

«Nicht weinen, Anne! Bitte, nicht weinen. Sie sind in Sicherheit, niemand wird Ihnen etwas tun.»

Er holte eine Schale und hielt sie mir hin. «Trinken Sie etwas von dieser Milch.»

Gehorsam trank ich. Er redete weiter, in dem leisen, beruhigenden Ton, mit dem man zu einem Kind spricht.

«Stellen Sie keine weiteren Fragen; Sie müssen jetzt schlafen, Anne, dann werden Sie sich wieder kräftiger fühlen. Soll ich weggehen?»

«Nein!», flüsterte ich flehend. «O nein!»

«Dann bleibe ich bei Ihnen.»

Er holte einen kleinen Hocker und setzte sich neben mich. Ich spürte seine Hand auf der meinen, warm und besänftigend, und ruhig schlief ich wieder ein.

Es musste heller Tag sein, als ich erwachte; die Sonne stand hoch am Himmel. Ich war allein in der Hütte, doch als ich mich regte, erschien eine alte Negerin. Sie war hässlich wie die Sünde, aber sie lachte mich aufmunternd an, brachte Wasser in einer Schüssel und half mir, Gesicht und Hände zu waschen. Dann kam sie mit einem großen Teller voll Suppe, und ich aß, bis nichts mehr übrig war. Auf alle meine Fragen grinste sie nur, nickte und schnatterte in einer gutturalen Sprache, so dass ich annehmen musste, sie verstünde kein Englisch.

Plötzlich erhob sie sich und trat respektvoll zur Seite. Harry Rayburn war eingetreten. Er nickte ihr freundlich zu; sie zog sich zurück und ließ uns allein. Er lächelte mich an.

«Jetzt geht es Ihnen aber bedeutend besser!»

«Ja, doch ich bin sehr verwirrt. Wo bin ich eigentlich?»

«Auf einer kleinen Insel im Sambesi, etwa vier Meilen oberhalb der Victoriafälle.»

«Wissen meine Freunde, wo ich bin?»

Er schüttelte den Kopf.

«Wie lange bin ich schon hier?»

«Nahezu einen Monat.»

«Oh!», rief ich erschrocken. «Ich muss unbedingt Suzanne benachrichtigen. Sie wird in großer Angst um mich sein.»

«Wer ist Suzanne?»

«Mrs Blair. Ich wohnte mit ihr im Hotel, mit ihr und Colonel Race und Sir Eustace. Doch das wissen Sie ja.»

Er schüttelte den Kopf. «Ich weiß gar nichts – außer, dass ich sie in der Gabel eines Baums fand, ohnmächtig und mit einem ausgerenkten Arm.»

«Wo stand dieser Baum?»

«Er hing dicht über der Schlucht. Wenn sich Ihre Kleider nicht in den Ästen verfangen hätten, wären Sie in die Tiefe gestürzt.»

Ich schauderte. Dann kam mir ein schrecklicher Gedanke.

«Sie sagen, Sie hätten nicht gewusst, dass ich hier sei. Was hat es dann mit dem Brief auf sich?»

«Was für ein Brief?»

«Sie schrieben mir doch, ich sollte Sie bei der Lichtung an den Fällen treffen.»

Er starrte mich verblüfft an.

«Ich habe Ihnen keinen Brief geschrieben.»

Ich fühlte, dass ich bis zu den Haarwurzeln errötete. Glücklicherweise schien er es nicht zu bemerken.

«Wie kam es dann, dass Sie gerade im richtigen Moment dort auftauchten?» Meine Frage sollte möglichst leicht klingen. «Und was tun Sie überhaupt in dieser Gegend?»

«Hier wohne ich», sagte er schlicht.

«Auf dieser Insel?»

«Ja. Ich kam nach dem Krieg hierher. Manchmal fahre ich Gäste des Hotels in meinem Boot herum, aber das Leben kostet mich hier fast nichts, und meistens tue ich einfach, wozu ich Lust habe.»

«Sie leben ganz allein?»

«Ich habe nicht die geringste Sehnsucht nach Gesellschaft», versicherte er kalt.

«Oh, es tut mir Leid, dass ich Ihnen die meine aufgedrängt habe», erwiderte ich. «Doch mir scheint, ich hatte wenig zu sagen in dieser Angelegenheit.»

Zu meinem Erstaunen zwinkerte er vertraulich.

«Überhaupt nichts. Ich habe Sie über die Schultern geworfen wie einen Sack Kohlen und Sie in mein Boot getragen.»

«Sie haben mir aber immer noch nicht erklärt, wie es kam, dass Sie mich wie einen Sack abschleppen konnten?»

«Ich war an diesem Abend unruhig und nervös. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass etwas geschehen würde. Schließlich fuhr ich mit dem Boot zum Ufer, ging an Land und dann zu den Fällen hinüber. Da hörte ich Ihren Aufschrei.»

«Und weshalb haben Sie nicht versucht, Hilfe aus dem Hotel zu holen, statt mich den ganzen langen Weg hierherzuschaffen?» Sein gebräuntes Gesicht überzog sich mit tiefer Röte.

«Ich weiß, Sie müssen mich für unglaublich eigenmächtig halten, aber Sie machen sich immer noch nicht klar, in welcher Gefahr Sie schweben 1 Sie sind der Ansicht, ich hätte Ihre Freunde informieren sollen! Nette Freunde, die Sie in den Tod locken wollten. Nein, ich habe mir geschworen, dass ich besser auf Sie aufpassen werde. Hierher kommt keine Seele. Ich habe die alte Batani, die ich einmal vom Fieber kurierte, gebeten, mir bei Ihrer Pflege zu helfen. Sie ist treu und wird nie ein Wort verlauten lassen. Ich könnte Sie monatelang bei mir versteckt halten, ohne dass ein Mensch eine Ahnung davon hätte.»

«Sie haben vollständig richtig gehandelt», sagte ich ruhig, «und ich werde auch niemanden benachrichtigen. Ein paar Tage machen keinen Unterschied mehr aus. Schließlich sind sie alle nur flüchtige Bekannte, selbst Suzanne. Und wer diesen Brief geschrieben hat, der muss sehr viel wissen. Das war nicht das Werk eines Außenstehenden.»

Ich brachte es fertig, die Worte des Briefs ohne Erröten zu wiederholen.

«Wenn Sie einen guten Rat von mir annehmen wollen…», sagte er zögernd.

«Ich bezweifle, dass ich das tun werde», meinte ich aufrichtig, «aber lassen Sie nur hören.»

«Sie folgen wohl stets Ihrem eigenen Kopf, Miss Beddingfeld?»

«Meistens», entgegnete ich vorsichtig. Zu jedem anderen Menschen hätte ich gesagt: «Immer!»

«Ihr Mann kann mir Leid tun», kam es unerwartet zurück.

«Dazu besteht keine Veranlassung. Ich werde nie heiraten ohne die ganz große Liebe. Und es gibt nichts Schöneres für eine Frau, als alles zu tun für den Mann, den sie liebt. Je eigenwilliger sie sonst ist, desto glücklicher wird sie dabei sein.»

«Da kann ich Ihnen nicht zustimmen; meistens ist es umgekehrt.» Seine Worte klangen verbittert.

«Leider!», rief ich eifrig. «Und deshalb sind so viele Ehen unglücklich. Immer sind die Männer daran schuld. Entweder lassen sie ihrer Frau jeden Willen, und dann werden sie von ihr verachtet. Oder sie sind maßlos selbstsüchtig und haben nie ein Wort des Dankes. Kluge Ehemänner wissen ihre Frau so zu leiten, dass sie alle ihre Wünsche erfüllt, und loben sie dann sehr dafür. Frauen ordnen sich gern unter, aber sie möchten wenigstens eine Anerkennung. Außerdem schätzen es die Männer gar nicht, wenn eine Frau immer unterwürfig ist. Wenn ich einmal heiraten sollte, werde ich meinem Mann von Zeit zu Zeit die Hölle heiß machen, damit er danach erkennt, was für ein Engel ich im Grunde bin.»

Harry lachte hellauf. Dann wandte er sich zur Feuerstelle um.

«Wollen Sie noch etwas Suppe haben?», fragte er.

«Ja, bitte. Ich bin hungrig wie ein Nilpferd.»

«Fein!»

«Sobald ich aufstehen kann, werde ich für Sie kochen», versprach ich.

«Sie werden wohl kaum viel davon verstehen.»

«Ich kann genauso gut die Sachen aus den Büchsen wärmen wie Sie», begehrte ich auf.

Er lachte wieder. Sein ganzes Gesicht wandelte sich, wenn er lachte. Er wurde kindlich froh, ein völlig neuer Mensch.

Die Suppe schmeckte herrlich. Während des Essens erinnerte ich ihn daran, dass er mir seinen guten Rat noch schuldete.

«Richtig! Ich bin der Meinung, Sie sollten sich vorerst hier ganz ruhig verhalten, bis Sie sich gründlich gestärkt haben. Ihre Feinde glauben, dass Sie tot sind. Dass Ihr Körper nicht gefunden wurde, kann sie nicht erstaunt haben. Sie wären auf den Felsen zerschmettert worden, und der Strom hätte Sie mit fortgerissen.»

Ich erschauderte bei dem Gedanken daran.

«Sobald Sie wieder bei Kräften sind, können Sie ruhig und unbehelligt nach Beira fahren und dort ein Schiff nach England nehmen.»

«Nein, so gefügig bin ich nicht!», entgegnete ich wütend.

«Eigensinnig wie in Kind!» Er schüttelte den Kopf und ging hinaus.

Meine Genesung machte rasche Fortschritte. Die beiden Verletzungen, die ich davongetragen hatte, waren ein Loch im Kopf und ein verstauchter Arm. Der Arm brauchte länger zur Heilung; zuerst hatte mein Retter geglaubt, er sei gebrochen. Doch eine genaue Untersuchung hatte ergeben, dass dem nicht so war, und obwohl ich immer noch Schmerzen hatte, ging es mir doch von Tag zu Tag besser.

Es war eine seltsame Zeit. Ich bestand darauf, mit meinem gesunden Arm so gut wie möglich zu kochen. Harry war oft fort, doch dann lagen wir wieder stundenlang im Schatten der Palmen vor der Hütte, plauderten und stritten und versöhnten uns. Wir zankten uns sehr häufig, und doch wuchs zwischen uns eine echte und dauerhafte Freundschaft, wie ich sie nie für möglich gehalten hätte. Freundschaft – und noch etwas anderes.

Mit Riesenschritten näherte ich mich dem Tag, an dem ich kräftig genug sein würde, um fortzugehen. Der Gedanke daran machte mir das Herz schwer. Würde er mich wirklich ziehen lassen? Ohne ein Wort, ohne ein Zeichen? Manchmal hatte er schweigsame Phasen, manchmal Momente, in denen er aufsprang und einfach davonlief. Und eines Abends kam die Krisis. Wir hatten unser einfaches Mahl beendet und saßen auf der Schwelle der Hütte. Die Sonne sank bereits.

Haarnadeln gehörten zu den Dingen, die mir Harry nicht verschaffen konnte; mein Haar hing offen herunter. Ich stützte mein Kinn in die Hand und fühlte, wie Harry mich anblickte.

«Sie sehen aus wie eine kleine Hexe, Anne», sagte er schließlich, und in seiner Stimme klang ein Ton mit, den ich noch nie gehört hatte.

Er streckte die Hand aus und berührte mein Haar. Plötzlich sprang er auf. «Morgen müssen Sie von hier fort, Anne», rief er. «Sie wissen schließlich selbst, dass dies nicht ewig so weitergehen kann.»

«Nein, wahrscheinlich nicht», sagte ich langsam. «Wenn Sie wollen, dass ich gehe, gehe ich morgen. Doch wenn Sie möchten, dass ich bleibe, dann bleibe ich!»

«Führen Sie mich nicht in Versuchung, Anne!», rief er. «Wissen Sie denn, wer ich bin? Ein Verbrecher, der von der Polizei gehetzt wird – ein Verfolgter. Man kennt mich hier als Harry Parker, und die Leute glauben, ich hätte einen weiten Treck durch das Land gemacht. Aber eines Tages zählen sie vielleicht zwei und zwei zusammen – und dann ist es mit einem Schlag aus. Anne, Sie sind so jung und schön. Die ganze Welt steht Ihnen offen – Liebe, Leben, alles. Mein Leben liegt hinter mir, versengt, zerstört…»

«Wenn Sie mich nicht brauchen…»

«Sie wissen, wie sehr ich Sie brauche! Sie wissen, dass ich mein Seelenheil dahingäbe, um Sie für immer hierzubehalten. Aber ich muss Sie retten – vor sich selbst und vor mir. Sie werden noch heute fortgehen. Sie werden nach Beira fahren…»

«Ich gehe niemals nach Beira», unterbrach ich ihn.

«Sie werden! Und wenn ich Sie selbst hinschleppen müsste. Glauben Sie, ich will jede Nacht mit der fürchterlichen Angst erwachen, dass man Sie vielleicht wieder erwischt hat? Sie müssen nach England zurückkehren, Anne – und heiraten und glücklich sein.»

«Und was geschieht mit Ihnen?»

Sein Gesicht wurde hart.

«Ich habe mein Werk zu vollenden. Fragen Sie mich nicht danach; wahrscheinlich können Sie es erraten. Eines kann ich Ihnen sagen: Ich will meinen Namen reinwaschen oder daran sterben. Und ich werde den Mann umbringen, der versuchte, Sie zu ermorden.»

«Wir müssen gerecht sein, er hat mich eigentlich nicht in den Abgrund gestoßen.»

«Das hatte er gar nicht nötig. Ich bin später dem Pfad gefolgt. Alles sah ganz harmlos aus, doch ich konnte an den Zeichen deutlich sehen, dass die Markierungssteine und versetzt worden waren, so dass sie direkt zum Abgrund hinführten.»

Er hielt inne und fuhr dann in völlig verändertem Ton fort: «Wir haben nie davon gesprochen, Anne, aber jetzt ist die Zeit gekommen, da Sie meine ganze Lebensgeschichte hören sollen – von Anfang bis Ende.»

«Wenn es Ihnen wehtut, von der Vergangenheit zu sprechen, dann lassen Sie es», sagte ich leise.

«Ich möchte, dass Sie alles wissen.»

Einige Zeit saß er schweigend da. Die Sonne war untergegangen, und der samtene Mantel der afrikanischen Nacht hüllte uns ein.

«Einiges weiß ich bereits», sagte ich zaghaft.

«Und was?»

«Ihr wirklicher Name ist Harry Lucas.»

26

«Sie haben Recht», begann er, «mein Name ist Harry Lucas. Mein Vater übernahm als ehemaliger Offizier eine Farm in Rhodesien. Er starb, als ich mein zweites Jahr in Cambridge verbrachte.»

«Haben Sie ihn sehr geliebt?», wollte ich wissen.

«Warum fragen Sie das, Anne? Natürlich liebte ich meinen Vater. Wir sagten uns bittere Dinge, als wir uns zum letztenmal sahen, und wir hatten oft Streit wegen meines ausgelassenen Lebens und meiner Schulden, aber ich hing sehr an dem alten Mann.

Wie sehr, das weiß ich erst jetzt, da es zu spät ist», fuhr er ruhiger fort. «In Cambridge habe ich auch meinen Freund kennen gelernt…»

«Den jungen Eardsley?»

«Ja, Eardsley. Sein Vater war einer der prominentesten Männer in Südafrika. Wir verstanden uns von Anfang an sehr gut, mein Freund und ich. Unsere Liebe zu Rhodesien brachte uns zusammen, und beide hatten wir eine Vorliebe für unbetretene Landstriche. Nachdem er Cambridge verlassen hatte, entzweite er sich endgültig mit seinem Vater. Mehrmals hatte dieser seine Schulden beglichen, doch diesmal weigerte er sich energisch. Es kam zu einem bösen Streit zwischen ihnen. Sir Laurence erklärte, er sei am Ende seiner Geduld und würde keinen Finger mehr für seinen Sohn rühren.

Er solle ihm jetzt beweisen, dass er auf eigenen Füßen stehen könne. Das Ergebnis war, dass wir gemeinsam nach Südamerika fuhren, um dort nach Diamanten zu suchen. Ich will mich nicht über Einzelheiten auslassen, aber wir hatten eine herrliche Zeit. Viel Mühsal und Härte natürlich, doch wir waren glücklich. Wir lebten von der Hand in den Mund und kämpften oft ums nackte Dasein. Bei Gott, dabei lernt man einen Freund kennen! Das Band zwischen uns vermochte nur der Tod zu lösen. – Nun, Colonel Race hat Ihnen ja erzählt, dass unsere Mühen nicht umsonst waren. Wir entdeckten eine Art von neuem Kimberley mitten im Dschungel von Britisch-Guayana. Ich kann Ihnen unsere Erregung nicht schildern. Es war nicht eigentlich der Wert des Fundes, der uns so glücklich machte. Eardsley war an Geld gewöhnt und wusste, dass er von seinem Vater Millionen erben würde, und ich war, weiß Gott, schon immer arm gewesen und kannte nichts anderes.

Nein, es ging nicht um Geld, es handelte sich einfach um das Glück des Entdeckens.

Wir kamen nach Kimberley frohlockend über unseren Fund. Eine prächtige Kollektion Diamanten brachten wir mit, um sie den Experten zu zeigen. Und dann, im Hotel in Kimberley, trafen wir – sie.»

Ich erstarrte, meine Finger krampften sich um den Türpfosten.

«Anita Grünberg hieß sie. Sie war Schauspielerin, sehr jung und sehr schön. Ihre Heimat war Südafrika, doch ihre Mutter war Ungarin, soviel ich weiß. Irgendein Geheimnis umschwebte sie, und das war natürlich ein Anziehungspunkt mehr für zwei junge Burschen, die aus der Wildnis kamen. Wir verliebten uns beide Hals über Kopf in sie, und ihre Aufgabe wurde dadurch sehr erleichtert. Ein erster Schatten senkte sich über unsere Freundschaft, doch nicht einmal das vermochte uns zu entzweien. Jeder von uns war ehrlich gewillt, zurückzutreten, wenn sie sich für den andern entscheiden sollte.

Doch sie war überhaupt nicht auf Heirat aus, o nein! Später habe ich mich öfter gefragt, weshalb dies nicht ihr Ziel war, denn Sir Laurence Eardsleys einziger Sohn durfte ja wohl eine gute Partie genannt werden. Und dann habe ich erfahren, dass sie schon verheiratet war, mit einem Aufseher im Diamantenlager. Kein Mensch wusste davon. Sie bekundete größeres Interesse für unseren Fund; wir erzählten ihr alles darüber und zeigten ihr sogar die Steine.

Der Diebstahl der De-Beers-Diamanten wurde entdeckt, und kurz darauf tauchte plötzlich die Polizei bei uns auf und nahm unsere Steine mit. Zuerst lachten wir darüber, die ganze Sache erschien uns so absurd. Doch dann wurden die Diamanten dem Gericht vorgelegt – und es wurde eindeutig nachgewiesen, dass es sich um die gestohlenen handelte. Anita Grünberg war verschwunden. Auf schlaue Weise hatte sie den Austausch der Steine zustande gebracht, und unsere heiligen Eide, es handle sich bei den Diamanten gar nicht um unsere Steine, fanden natürlich keinen Glauben.

Sir Laurence Eardsley hatte einen gewaltigen Einfluss. Es gelang ihm, den Fall zu unterdrücken – aber zwei junge Menschen waren vernichtet, ihre Namen auf ewig gebrandmarkt. Und dem alten Sir Eardsley brach das Herz. Er hatte eine letzte, bittere Unterredung mit seinem Sohn, in der er ihm die schlimmsten Vorwürfe ins Gesicht schleuderte. Seinen Namen hatte er, soweit er konnte, zu schützen versucht, doch sein Sohn existierte von da an für ihn nicht mehr. Mein Freund aber war zu stolz, um vor seinem Vater seine Unschuld zu beteuern. Eine Woche später wurde der Krieg erklärt; wir meldeten uns beide als Freiwillige. Was dann geschah, das wissen Sie. Der Tod zerbrach eine Freundschaft, die ihresgleichen nicht wiederfindet.

Ich schwöre Ihnen, Anne, dass ich nur um seinetwillen diese Frau derart gehasst habe. Er hat den Tod gesucht, er war tollkühn und gleichgültig gegen jede Gefahr. Die Enttäuschung, die er an ihr erlebt hatte, traf ihn schwerer als mich. Ich war wohl kurze Zeit irrsinnig verliebt – ein Strohfeuer, das rasch erlosch. Für ihn aber bedeutete sie den ganzen Lebensinhalt, ihr Verrat traf ihn bis ins Mark. An diesem Schlag ist er zerbrochen.»

Er schwieg, und ich überließ ihn seinen Gedanken an den toten Freund. Nach einer Weile fuhr er fort: «Sie wissen, dass ich als vermisst gemeldet wurde. Mir war es gleichgültig, ich ließ es dabei bewenden. Ich nahm den Namen Parker an und kam auf die Insel, die ich von Kindheit an kannte. Zu Beginn des Kriegs hatte ich noch die ehrgeizige Hoffnung gehegt, meine Unschuld eines Tages beweisen zu können. Doch nach dem Tod meines Freundes hatte mich jede Energie verlassen.

Wozu? fragte ich mich. Er war gefallen, und nähere Verwandte besaßen wir beide nicht mehr. Auch mich hielt man für tot – sollte es dabei bleiben! Ich führte ein friedliches Leben hier, weder glücklich noch besonders unglücklich. Jedes Fühlen in mir war erstorben.

Dann geschah eines Tages etwas, das mich aufrüttelte. Ich sollte eine Gesellschaft auf meinem Boot herumfahren und stand am Landungssteg, um den Leuten beim Einsteigen zu helfen, als ich plötzlich einen erschrockenen Ausruf vernahm. Ich wandte mich um und bemerkte einen kleinen Mann, der mich anstarrte, als ob ich ein Gespenst wäre. Sein Entsetzen war so auffallend, dass es meine Neugier erregte. Ich erkundigte mich im Hotel nach ihm und erfuhr seinen Namen. Er hieß Carton, kam aus Kimberley und war Aufseher im Diamantenlager De Beers’. In dieser Sekunde überfiel mich auf einmal wieder der ganze Jammer meiner verpfuschten Existenz. Ich verließ die Insel und fuhr nach Kimberley.

Dort konnte ich nicht viel über ihn erfahren. Schließlich entschied ich mich dafür, ihn direkt zu stellen. Ich nahm meinen Revolver und ging zu ihm. Sehr bald erkannte ich, dass er Angst vor mir hatte – weniger vor meiner Waffe als vor meiner Person. Bald hatte ich alles erfahren, was ich wissen wollte. Er war es, der damals den Diebstahl der Diamanten bei De Beers ausgeführt hatte, und Anita Grünberg war seine Frau. Einmal hatte er uns gesehen, als wir mit Anita im Hotel saßen. Er hatte gelesen, dass ich gefallen sei, und mein Wiederauftauchen musste ihn daher zu Tode erschrecken. Sie hatten sehr jung geheiratet, doch ihr Zusammenleben dauerte nur kurze Zeit. Anita verließ ihn und geriet in schlechte Gesellschaft. Als er davon erzählte, erfuhr ich zum ersten Mal von der Existenz des geheimnisvollen ‹Colonels›. Carton selbst wurde nur ein einziges Mal in dessen Machenschaften verwickelt, nämlich bei diesem Diamantendiebstahl. Dies versicherte er mir nachdrücklich, und ich war geneigt, ihm zu glauben. Er war ganz entschieden nicht der Mann für eine Verbrecherlaufbahn.

Aber trotzdem war ich überzeugt, dass er mir noch etwas verheimlichte. Um das herauszufinden, bedrohte ich ihn mit der Pistole. In seiner Todesangst erzählte er die ganze Geschichte. Anscheinend war Anita Grünberg dem ‹Colonel› gegenüber misstrauisch gewesen. Statt ihm, wie vereinbart, alle unsere Diamanten auszuhändigen, hatte sie einen Teil davon zurückbehalten. Die Fachkenntnisse von Carton waren ihr dabei von Nutzen gewesen, denn sie hatte nur solche Steine unterschlagen, bei denen eine genaue Prüfung sofort ergeben musste, dass sie niemals aus den Minen von De Beers stammen konnten.

Hier lag eine Möglichkeit für mich! Meine Behauptung, man habe uns andere Steine untergeschoben, konnte nun bewiesen werden; ich würde den Fall noch einmal vor Gericht aufrollen, unsere Namen könnten rehabilitiert werden, und der Verdacht würde in die richtigen Bahnen gelenkt. Nach Cartons Erzählung war der ‹Colonel› persönlich beteiligt, denn Anita hatte ihn offenbar in der Hand. Carton schlug mir vor, ein Abkommen mit seiner Frau zu treffen, die sich jetzt Nadina nannte. Er glaubte, sie würde für eine hohe Geldsumme bereit sein, sich von den Diamanten zu trennen und ihren früheren Verbündeten zu verraten. Er erklärte sich sogar bereit, ihr sofort in dieser Sache zu telegrafieren.

Doch ich hatte noch so meine Zweifel bezüglich Carton. Wohl ließ er sich leicht einschüchtern, aber in seiner Angst mochte er mir so viele Lügen aufgetischt haben, dass sich die Wahrheit schwer herausschälen ließ. Am folgenden Abend begab ich mich wiederum zu ihm, in der Hoffnung, er habe inzwischen Antwort auf sein Kabel erhalten. Man teilte mir mit, er sei verreist, würde aber bestimmt am nächsten Tag zurückkehren. Mein Misstrauen verstärkte sich. Ich zog Erkundigungen ein und erfuhr, dass er sich am übernächsten Tag in Kapstadt auf der Kilmorden einschiffen werde, um nach England zu fahren. Es gelang mir noch rechtzeitig, ebenfalls an Bord des Schiffs zu kommen.

Ich hatte nicht die Absicht, Carton durch meine Anwesenheit auf dem Schiff zu verängstigen. In Cambridge war ich öfter als Schauspieler aufgetreten, und es fiel mir nicht schwer, einen älteren, bärtigen Herrn mit Brille zu mimen. Ich ging ihm auf dem Schiff aus dem Weg, indem ich vorgab, seekrank zu sein, und meine Kabine kaum verließ.

In London war es leicht, ihm auf den Fersen zu bleiben. Er fuhr direkt zu einem Hotel und ging erst am nächsten Tag kurz vor ein Uhr wieder aus. Ich folgte ihm. Er fuhr zu einem Häusermakler in Knightsbridge und erkundigte sich dort nach einem Haus, das am Ufer des Flusses zu vermieten sei. Ich stand am nächsten Tisch und sprach mit einem anderen Angestellten, als plötzlich Anita Grünberg – oder Nadina erschien, anmaßend und schön wie immer. Gott, wie ich sie hasste! Hier stand die Frau, die mein Leben zerstört hatte, meines – und ein anderes, weit wertvolleres. Es zuckte mir in den Fingern, ihr jetzt, sofort, meine Hände um den Hals zu legen und sie zu erwürgen. Ich sah rot und hörte kaum, was der Angestellte zu mir sagte. Dann vernahm ich ihre Stimme, hell und mit übertrieben fremdländischem Akzent: ‹Das Haus zur Mühle in Marlow, Eigentum von Sir Eustace Pedler. Das scheint mir das Richtige zu sein; auf jeden Fall werde ich hingehen und es ansehen.›

Der Makler stellte ihr eine Bescheinigung aus, und sie entfernte sich ebenso stolz, wie sie gekommen war. Kein Wort, kein Zeichen, dass sie Carton erkannt hatte, und dennoch war ich überzeugt, dass das Treffen beabsichtigt war. Aber dann ließ ich mich zu einem Trugschluss verleiten. Da ich nichts von der Abwesenheit von Sir Eustace wusste, hielt ich die Geschichte mit der Hausbesichtigung für einen bloßen Vorwand, um mit ihm zusammenzutreffen. Mir war bekannt, dass sich Sir Eustace zur Zeit des Diamantendiebstahls in Afrika aufgehalten hatte, und da ich ihn nie gesehen hatte, nahm ich an, er müsse der geheimnisvolle ‹Colonel› sein.

Ich folgte meinen beiden Verdächtigen. Nadina ging direkt zum Hotel Hyde Park und begab sich in das Restaurant. Ich wollte nicht riskieren, von ihr erkannt zu werden, und blieb daher Carton auf den Fersen, in der Hoffnung, dass er auf dem Weg sei, die Steine zu holen. Dann wollte ich mich ihm überraschend zu erkennen geben, um so die Wahrheit von ihm zu erfahren. Ich folgte ihm zur Untergrundbahn am Hyde Park Corner. In seiner Nähe stand nur ein junges Mädchen, sonst niemand. Daher entschloss ich mich, ihn jetzt direkt zu stellen.

Sie wissen, was dabei herauskam, Anne. In seinem Entsetzen, plötzlich einen Menschen vor sich zu sehen, den er in Afrika wähnte, verlor er den Kopf und fiel auf die Schienen. Ich gab mich als Arzt aus, und so gelang es mir, seine Taschen zu durchsuchen. Ich fand eine dünne Brieftasche mit ein paar Geldscheinen, einen oder zwei unwichtige Briefe, einen Film, den ich später irgendwo wieder verloren haben muss, und einen Zettel, auf dem Ort und Zeit einer Verabredung auf der Kilmorden Castle gekritzelt waren. In der Eile verlor ich auch diesen Zettel, doch glücklicherweise hatte ich mir die Ziffern gemerkt.

Ich ging schnell zur nächstgelegenen Garderobe und entledigte mich meiner Verkleidung, um nicht als Taschendieb verhaftet zu werden. Dann kehrte ich zum Hotel Hyde Park zurück. Nadina saß noch immer beim Essen. Es ist wohl nicht nötig, Ihnen genau zu schildern, auf welche Weise ich ihr nach Marlow folgte. Sie ging in das Haus, und ich erlangte ebenfalls Einlass, indem ich der Pförtnerin gegenüber behauptete, ein Freund der Dame zu sein.»

Harry hielt inne. Eine Weile herrschte Schweigen.

«Sie werden mir doch glauben, Anne? Ich schwöre vor Gott, dass alles wahr ist, was ich Ihnen jetzt noch zu sagen habe. Ich folgte ihr mit Mordlust im Herzen – und fand sie tot! Es war entsetzlich. Tot – und ich war nur drei Minuten nach ihr ins Haus gegangen! Kein einziges Zeichen, dass außer mir noch ein anderer Mensch dort war. Natürlich erkannte ich sofort, in welch furchtbarer Lage ich mich befand. Mit einem einzigen Schlag hatte sich der ‹Colonel› von seiner Erpresserin befreit und gleichzeitig ein Opfer gefunden, das für seinen Mord herhalten sollte.

Ich weiß kaum, was ich danach tat. Es gelang mir, das Haus zu verlassen und einen einigermaßen normalen Eindruck zu machen. Doch es war mir völlig klar, dass der Mord über kurz oder lang entdeckt wurde und bald jeder Polizist in ganz England meine Beschreibung in Händen haben würde.

Ein paar Tage verhielt ich mich ruhig und wagte nichts zu unternehmen. Schließlich kam mir ein Zufall zu Hilfe. Ich hörte ein Gespräch zwischen zwei Herren, und ich bekam mit, dass der eine von ihnen Sir Eustace Pedler war und in Kürze nach Südafrika zu reisen beabsichtigte. Sofort tauchte der Gedanke in mir auf, mich ihm als Sekretär für die Reise anzubieten. Die Möglichkeit dazu gab mir das erlauschte Gespräch. Nach allem glaubte ich nicht mehr daran, dass Sir Eustace und der ‹Colonel› identisch seien. Sehr wahrscheinlich handelte es sich um einen bloßen Zufall, dass gerade in seinem Haus das Zusammentreffen zwischen Carton und Nadina stattfinden sollte.»

«Wissen Sie nicht», unterbrach ich ihn, «dass Guy Pagett zur Zeit des Verbrechens in Marlow war?»

«Das macht vieles klar; ich glaubte immer, er habe sich mit Sir Eustace an der Riviera aufgehalten.»

«Er hatte Urlaub, um nach Florenz zu fahren – aber er ist nie dort gewesen, das habe ich herausgefunden. Ich bin ziemlich sicher, dass er in Marlow war, aber ich kann es natürlich nicht beweisen.»

«Und dabei habe ich Pagett nicht eine Sekunde verdächtigt, bevor er den Versuch unternahm, Sie über Bord zu werfen. Der Mann muss ein perfekter Schauspieler sein.»

«Nicht wahr? Der Meinung bin ich ebenfalls.»

«Das erklärt auch, weshalb gerade das Haus in Marlow gewählt wurde. Pagett konnte dort aus und ein gehen, ohne dass ihn jemand sah. Natürlich machte er keine Einwendungen, als Sir Eustace meine Begleitung akzeptierte. Man wünschte nicht, dass ich sofort verhaftet würde, denn Nadina hatte offenbar die Diamanten zu der Verabredung nicht mitgebracht. Vielleicht waren sie auch von Anfang an in Cartons Händen, und er hat sie irgendwo auf der Kilmorden versteckt, und der ‹Colonel› hoffte, über Pagett durch mich an dieses Versteck heranzukommen. Jedenfalls fühlte er sich, solange er nicht im Besitz der Steine war, immer noch gefährdet – daher seine Anstrengungen, sich ihrer um jeden Preis zu bemächtigen. Doch wo zum Teufel Carton diese Diamanten versteckt haben mag – wenn er es tat –, das übersteigt meine Vorstellungskraft.»

«Hier beginnt eine andere Geschichte – meine nämlich», warf ich ein. «Und ich werde sie Ihnen sogleich erzählen.»

27

Harry hörte aufmerksam zu, während ich ihm mit knappen Worten alle Vorkommnisse schilderte. Am meisten verblüffte ihn die Tatsache, dass seine Steine schon lange Zeit in meinem Besitz waren – oder genauer gesagt, in Suzannes Besitz. Das wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Jetzt, da ich seine Geschichte kannte, begriff ich natürlich Cartons und Nadinas Plan: Die Diamanten sollten nicht bei ihnen gefunden werden, falls die beabsichtigte Erpressung fehlschlug. Der ‹Colonel›, würde nie auf die Vermutung kommen, dass die Steine einem einfachen Schiffssteward anvertraut waren.

Harrys Freispruch vom Verdacht des Diamantendiebstahls schien gesichert. Doch der Mordverdacht lastete noch immer auf ihm. Bevor wir ihn nicht entkräften konnten, durfte er sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen.

Die wichtigste Frage erwogen wir immer und immer wieder: Wer war der ‹Colonel›? Konnte es tatsächlich Guy Pagett sein?

«Aus einem Grund glaube ich noch nicht recht daran», sagte Harry. «Er war auf dem Schiff, und er konnte versuchen, Sie über Bord zu werfen, das ist richtig. Wie er es jedoch fertig gebracht haben sollte, am ersten Abend Ihrer Anwesenheit hier bei den Fällen aufzutauchen und einen erneuten Mordversuch zu unternehmen, das ist mehr, als ich mir vorstellen kann. Sie sahen ihn ja noch bei Ihrer Abfahrt in Kapstadt auf dem Bahnsteig stehen.»

Wir saßen eine Weile schweigend da, dann fuhr Harry zögernd fort: «Sie sagen, dass Mrs Blair fest geschlafen hat, als Sie das Hotel verließen. Sir Eustace hat diktiert – wo aber war Colonel Race? Könnte er nicht der geheimnisvolle ‹Colonel› sein?»

«Das wäre nicht ausgeschlossen», meinte ich. «Er ist eine sehr starke Persönlichkeit, aber ich glaube es eigentlich nicht. Ich vermute eher, er gehört zum britischen Geheimdienst.»

«Es ist nicht schwer, dieses Gerücht auszustreuen. Niemand vermag es zu kontrollieren, es zieht immer weitere Kreise, und schließlich ist jedermann überzeugt davon. Natürlich wäre es eine ideale Tarnung für zweifelhafte Unternehmungen. Anne, mögen Sie Race?»

«Ja und nein. Manchmal stößt er mich ab, aber gleichzeitig fasziniert er mich. Sicher ist, dass ich immer ein wenig Angst vor ihm habe.»

«Er war zurzeit des Kimberley-Diebstahls in Afrika, wussten Sie das?», fragte Harry langsam.

«Aber er war es, der Suzanne alles über den ‹Colonel› erzählt hat, auch, dass er versuchte, ihn in Paris aufzustöbern.»

«Das könnte ein besonders geschicktes Manöver sein.»

«Und was hätte dann Pagett damit zu tun? Steht er vielleicht in Colonel Races Sold?»

«Es wäre denkbar, dass er überhaupt nichts mit der ganzen Sache zu tun hat», meinte Harry gedehnt.

«Wie?»

«Überlegen Sie gut, Anne. Haben Sie jemals Pagetts Version über die Geschehnisse jener Nacht auf der Kilmorden gehört?»

«Ja, durch Sir Eustace.»

Ich wiederholte, was mir dieser erzählt hatte, und Harry lauschte aufmerksam.

«Pagett behauptete also, einen Mann gesehen zu haben, der aus der Richtung von Sir Eustaces Kabine kam. Nun, wer bewohnte die Kabine gegenüber von Sir Eustace? Colonel Race. Stellen wir uns nun folgende Situation vor: Colonel Race klettert an Deck und unternimmt den Anschlag auf Sie. Er misslingt. Race flieht rings um das Deck und trifft dabei auf Pagett, der eben aus dem Salon kommt. Was bleibt ihm übrig, als ihn niederzuschlagen und selbst durch den Salon nach unten zu eilen? Dann biegen wir um die Ecke und finden Pagett. Was halten Sie von dieser Version?»

«Sie vergessen dabei eines: Pagett soll steif und fest behauptet haben, dass Sie ihn niederschlugen.»

«Das wäre nicht schwierig zu erklären. Er kommt wieder zu sich – und sieht mich im selben Moment um die Ecke verschwinden. Muss er da nicht annehmen, ich sei sein Angreifer gewesen? Besonders, da er überzeugt war, mir gefolgt zu sein.»

«Das wäre denkbar», sagte ich. «Aber es würde alle unsere Überlegungen auf den Kopf stellen. Außerdem haben wir noch andere Beweise, denken Sie an Kapstadt.»

«Auch dies ließe sich erklären. Der Mann, der Ihnen dort folgte, sprach mit Pagett auf der Straße, und dieser blickte auf seine Uhr. Wie, wenn er ihn bloß nach der Zeit gefragt hätte?»

«Sie halten es also für ein zufälliges Zusammentreffen?»

«Nicht unbedingt; die ganze Sache hat Methode. Möglicherweise wollte man Pagett in die Geschichte verwickeln. Weshalb fand der Mord an Nadina ausgerechnet im Haus zur Mühle statt, wo Pagett aus und ein gehen konnte? War es deshalb, weil er zur Zeit des Diamantendiebstahls ebenfalls in Kimberley war? Sollte er den Sündenbock abgeben, wenn ich nicht durch eine günstige Fügung auf dem Schauplatz erschienen wäre?»

«Ihrer Meinung nach könnte er also völlig unschuldig sein?»

«Es sieht beinahe so aus, aber erst müssen wir herausfinden, was er zur fraglichen Zeit in Marlow gemacht hat. Wenn er eine glaubwürdige Erklärung dafür hat, sind wir auf der richtigen Fährte.»

Er erhob sich.

«Mitternacht ist vorüber, Anne. Sie müssen jetzt schlafen. Kurz vor Tagesanbruch bringe ich Sie im Boot ans Festland hinüber, damit Sie den Zug in Livingstone erreichen. Sie fahren nach Bulawajo und nehmen dann die Bahn nach Beira.»

«Beira…», sagte ich nachdenklich.

«Ja, Anne, es muss dabei bleiben.»

«Gut, wenn es denn sein soll…»,flüsterte ich und ging an ihm vorbei in die Hütte.

Ich hatte mich auf dem fellbedeckten Lager ausgestreckt, doch an Schlaf war nicht zu denken. Ich hörte, wie draußen auf und ab ging, auf und ab, all die langen Stunden.

Endlich rief er: «Anne, kommen Sie! Es ist Zeit.»

Es war noch dunkel, doch die Morgendämmerung nicht mehr fern.

«Wir nehmen das Kanu, nicht das Motorboot…»,begann Harry, doch plötzlich brach er ab und hielt, Schweigen gebietend, den Arm hoch.

«Still! Was ist das?»

Ich lauschte, doch ich vernahm keinen Laut. Seine Ohren waren schärfer als meine, die Ohren eines Menschen, der lange Zeit in der Wildnis gelebt hat. Doch dann hörte ich es auch: Ein leises Plätschern von Rudern im Wasser, das sich vom rechten Ufer her deutlich unserem kleinen Landungssteg näherte.

Wir strengten unsere Augen an und konnten unklar einen Fleck auf dem Strom ausmachen. Ein Boot, das rasch näher kam. Dann eine kleine Flamme – jemand zündete ein Streichholz an. In seinem Licht erkannte ich den rotbärtigen Holländer aus jener Villa. Die übrigen Insassen waren Eingeborene.

«Rasch zurück in die Hütte!»

Harry riss mich mit sich. Er nahm ein paar Gewehre und einen Revolver von der Wand.

«Können Sie ein Gewehr laden?»

«Ich habe es noch nie versucht; zeigen Sie mir, wie es gemacht wird.»

Bald hatte ich seine Anweisungen begriffen. Wir verschlossen die Tür, und Harry stellte sich ans Fenster, von wo aus man den Landungssteg überblicken konnte. Gerade legte das Boot an.

«Wer ist da?», rief Harry.

Wenn wir noch Zweifel über die Absicht unserer Besucher gehabt hätten, wären sie jetzt behoben worden. Ein Hagel von Geschossen ergoss sich über uns. Glücklicherweise wurde keiner von uns verletzt. Harry hob das Gewehr. Ein weiterer Kugelregen. Ein Geschoss streifte Harrys Wange. Ich schaffte es, das Gewehr wieder zu laden, ehe er danach griff. Plötzlich stieß er einen Freudenschrei aus. «Sie fliehen, Anne – sie haben genug!»

Er warf das Gewehr hin und riss mich in seine Arme.

«Anne, du warst wundervoll.» Er küsste mich. «Und jetzt an die Arbeit! Bring die Petroleumkannen her.»

Ich tat, wie er befahl, während er auf dem Dach herumkletterte. Gleich darauf war er wieder bei mir.

«Jetzt zum Boot hinunter; wir müssen es auf die andere Inselseite tragen.»

Wir rannten zum Fluss.

Am Ufer sahen wir zu unserem Schrecken, dass die Leinen der beiden Boote gekappt waren. Sie trieben weit draußen auf dem Strom. Harry stieß einen leisen Pfiff aus.

«Wir sitzen bös in der Klemme, Liebes. Schlimm?»

«Nicht wenn du bei mir bist.»

Fast in der gleichen Sekunde schoss aus der Hütte eine hohe Flamme empor. Ihr Schein beleuchtete zwei zusammengekauerte Gestalten auf dem Dach.

«Meine alten Kleider, mit Decken ausgestopft. Es wird einige Zeit dauern, bis sie dahinter kommen. Los, Anne, jetzt müssen wir einen Ausweg suchen.»

Hand in Hand rannten wir quer über die Insel. Dort trennte sie nur ein schmaler Kanal vom Festland.

«Wir müssen hinüberschwimmen. Kannst du schwimmen?»

«Gibt es hier Krokodile?»

«Ja. Denk nicht dran – oder sprich ein Stoßgebet. Was du vorziehst.»

Wir warfen uns ins Wasser. Meine Gebete müssen wirksam gewesen sein, denn wir erreichten unversehrt das andere Ufer und zogen uns nass und tropfend zur Sandbank hinauf.

«Jetzt heißt es für uns auf nach Livingstone. Es ist ein langer Marsch, und unsere nassen Kleider erleichtern ihn nicht gerade. Aber es hilft nichts. Wir müssen es schaffen.»

Als wir in Livingstone ankamen, hing ich über Harrys Schulter wie ein nasser Sandsack. Gerade begann sich der Himmel zu lichten.

Wir suchten Zuflucht bei Harrys Freund Ned, der ein kleines Geschäft mit Eingeborenenarbeiten führte.

Er gab uns zu essen und brachte heißen Kaffee. Wir hüllten uns in Wolldecken, während er unsere nassen Kleider zum Trocknen aufhängte. In dem kleinen Hinterzimmer seiner Hütte waren wir vor neugierigen Blicken sicher, und er verließ uns, um Erkundigungen über Sir Eustace und die anderen sowie deren Verbleib einzuziehen.

Hier gestand ich Harry, dass nichts, absolut nichts mich veranlassen könnte, nach Beira zu fahren. Natürlich hatte ich nie die Absicht gehabt, aber jetzt waren auch seine Gründe hinfällig geworden. Meine Gegner wussten nun, dass ich lebte, also war auch meine Flucht sinnlos. Sie konnten mir mit Leichtigkeit nach Beira folgen und mich dort ermorden, wo mich niemand schützte.

Schließlich beschlossen wir, dass ich mich mit Suzanne – wo immer sie sich auch befinden mochte – treffen und mich nur noch um meine Sicherheit kümmern sollte. Ich versprach, keine Abenteuer mehr zu suchen und den ‹Colonel›, einzig und allein Harry zu überlassen. Die Diamanten sollten auf der Bank in Kimberley unter dem Namen Parker deponiert werden.

«Wir müssen ein geheimes Erkennungszeichen vereinbaren», sagte ich. «Es darf nicht wieder vorkommen, dass wir durch falsche Botschaften in eine Falle getrieben werden.»

«Das ist ganz einfach. Jede Botschaft, die wirklich von mir stammt, wird irgendwo ein durchgestrichenes und haben.»

«Ohne Erkennungszeichen – eine Falle», murmelte ich. «Und bei Telegrammen?»

«Ich unterzeichne jedes Telegramm mit dem Namen Andy.»

Ned steckte den Kopf herein. «Der Zug wird gleich eintreffen», verkündete er und zog sich rasch wieder zurück.

Ich stand auf.

«Und soll ich nun einen netten Mann heiraten, wenn ich einem begegne?», fragte ich geziert.

Harry kam auf mich zu.

«Großer Gott, Anne, wenn du jemals einen anderen Mann heiratest als mich, dann drehe ich ihm den Hals um. Und dich…»

«Ja?», fragte ich selig.

«Dich schleppe ich fort und schlage dich grün und blau!»

28

Aus dem Tagebuch von Sir Eustace Pedler

Ich habe schon einmal bemerkt, dass ich in erster Linie ein Mann der Ruhe bin. Ich sehne mich nach einem friedlichen Leben – und anscheinend ist gerade dies das einzige Ziel, das ich nie erreiche. Immer ist Trubel und Aufregung um mich herum. Es war eine wahre Erlösung für mich, Pagett mit seiner ewigen Schnüffelei und Suche nach Intrigen los zu sein. Und Miss Pettigrew ist eine recht brauchbare Kreatur. Sie ist zwar keine Schönheit, aber sie besitzt ein paar unschätzbare Vorzüge. Leider hatte ich in Bulawajo eine Leberattacke. Auch wurde meine Nachtruhe im Zug gründlich gestört. Um drei Uhr früh kam ein schneidig gekleideter junger Mann in mein Abteil, der sich erkundigte, wohin ich führe. Mein gemurmeltes «Tee, und zwar mit Zucker», beachtete er gar nicht, sondern wiederholte seine Frage und betonte, er sei von der Einwanderungsbehörde und wünsche Auskunft über mein Woher und Wohin. Schließlich gelang es mir, ihn zufrieden zu stellen durch meine Angaben, dass ich an keinen ansteckenden Krankheiten leide, Rhodesien nur aus den reinsten Motiven besuche, und indem ich ihm meinen vollen Namen sowie meinen Geburtsort nannte.

Dann versuchte ich ein wenig zu schlafen, doch um halb sechs erschien so ein uniformierter Kerl mit einer Tasse heißem Zuckerwasser, das er großartig als Tee bezeichnete. Ich hatte große Lust, es ihm an den Kopf zu schütten. Um sechs Uhr brachte er mir ungezuckerten Tee, der eiskalt war. Völlig erschöpft fiel ich wieder in Schlaf und erwachte kurz vor Bulawajo, wo man mir eine scheußliche Holzgiraffe in den Arm legte.

Doch außer diesen Zwischenfällen verlief die Reise ruhig, bis eine neue Kalamität auftauchte.

Es geschah an dem Abend, als wir bei den Victoriafällen eintrafen. Ich diktierte Miss Pettigrew in meinem Hotelzimmer, als plötzlich Mrs Blair ohne ein Wort der Entschuldigung hereinplatzte.

«Wo ist Anne?», schrie sie aufgeregt.

Nette Frage, das! Als ob ich für das Mädchen verantwortlich wäre. Was soll Miss Pettigrew davon halten? Dass ich die Gewohnheit habe, Anne Beddingfeld um Mitternacht herum einfach aus meiner Tasche zu ziehen? Sehr kompromittierend für einen Mann in meiner Position.

«Ich darf wohl annehmen», sagte ich kalt, «dass sie in ihrem Bett liegt.»

Dabei räusperte ich mich und blickte Miss Pettigrew an, um zu zeigen, dass ich weiterdiktieren wollte. Aber Mrs Blair verstand den Wink nicht. Sie sank auf einen Stuhl und wippte aufgeregt mit dem Fuß.

«Sie ist nicht in ihrem Zimmer, ich habe nachgesehen. Ich habe einen fürchterlichen Traum gehabt und stand auf, nur um mich zu vergewissern, dass ihr nichts fehlt. Sie war nicht im Zimmer, ihr Bett ist noch unberührt.»

Flehend blickte sie mich an.

«Was soll ich nur tun, Sir Eustace?»

Ich unterdrückte die Antwort, die ich ihr gern gegeben hätte: Zu Bett gehen und sich um nichts kümmern. Ein so energisches Geschöpf wie Anne Beddingfeld wird wohl imstande sein, auf sich selbst aufzupassen. Statt dessen runzelte ich die Stirn und fragte: «Was meint Race dazu?»

«Ich kann ihn nirgends finden.»

Ich seufzte und setzte mich. «Ich verstehe den Grund Ihrer Aufregung nicht», sagte ich geduldig.

«Mein Traum…»

«Sie haben zu schwer gegessen.»

«Oh, Sir Eustace!»

Sie war ganz entrüstet. Und doch weiß jedermann, dass Alpdrücken von schwerem Essen herrührt.

«Schließlich ist es doch kein Verbrechen», sagte ich, «wenn Anne Beddingfeld und Race noch einen kleinen Mondscheinspaziergang unternehmen, ohne es gleich dem ganzen Hotel mitzuteilen.»

«Glauben Sie, dass dies möglich wäre? Es ist doch bereits nach Mitternacht.»

«Wenn man jung ist, begeht man leicht eine solche Narretei», antwortete ich. «Allerdings hätte ich Race für vernünftiger gehalten.»

«Meinen Sie das wirklich im Ernst?»

«Wahrscheinlich sind sie durchgebrannt, um rasch zu heiraten», fuhr ich lächelnd fort, obgleich ich mir völlig klar darüber war, was für einen Unsinn ich redete. Denn wohin sollten sie von einem Ort wie diesem schon durchbrennen?

Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch hätte zusammennehmen müssen, aber in diesem Moment erschien Race. Es erwies sich, dass ich zum Teil Recht hatte: Er hatte einen Spaziergang gemacht, allerdings allein, ohne Anne. Dagegen war es falsch von mir, die Situation auf die leichte Schulter zu nehmen. Das erwies sich schon bald. Race stellte in drei Minuten das Hotel auf den Kopf. Ich habe noch nie einen Menschen so aufgeregt gesehen.

Die Sache ist wirklich sehr seltsam. Wohin ist das Mädchen verschwunden? Sie spazierte um zehn Minuten nach elf aus dem Hotel – und wurde seither nicht mehr gesehen. Der Gedanke an Selbstmord scheint ausgeschlossen. Sie gehört zu den unternehmungslustigen jungen Frauen, die das Leben lieben und nicht daran denken, es wegzuwerfen. Sie konnte auch nicht auf und davon gehen, weil vor morgen Mittag kein Zug fährt. Wo zum Teufel ist sie geblieben?

Race ist völlig außer sich, der arme Kerl. Jeden Stein hat er umgedreht. Jeden Menschen im ganzen Distrikt hat er aufgeboten. Die eingeborenen Spürhunde kriechen auf allen Vieren herum. Und trotzdem: nicht das geringste Anzeichen von Anne Beddingfeld. Man neigt zu der Vermutung, dass sie geschlafwandelt hat. Gewisse Anzeichen auf dem Pfad bei der Brücke deuten darauf hin, dass sie dort über den Rand gefallen sein könnte. Wenn das stimmt, besteht keine Hoffnung mehr. Leider sind bereits alle Fußabdrücke durch die Gesellschaft, die heute in aller Herrgottsfrühe dort herumgetrampelt ist, verwischt worden.

Ich halte das für keine sehr befriedigende Theorie. Man spricht doch immer davon, dass Schlafwandler einen sechsten Sinn besitzen, der sie vor allem Ungemach schützt. Auch Mrs Blair scheint nicht recht befriedigt davon.

Diese Frau ist mir unverständlich. Ihr ganzes Verhalten Race gegenüber hat sich gewandelt. Sie beobachtet ihn wie die Katze ihre Maus und muss sich offensichtlich anstrengen, wenigstens höflich zu ihm zu sein. Dabei waren sie bisher die engsten Freunde. Sie ist überhaupt nicht mehr sie selbst, ist nervös, hysterisch geworden, fährt beim leisesten Laut in die Höhe.

Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass ich nach Johannesburg abreise.

Gestern tauchte ein Gerücht auf über eine geheimnisvolle Insel mitten im Strom, die von einem Mann und einem jungen Mädchen bewohnt sein soll. Race wurde ganz aufgeregt. Die Sache erwies sich jedoch als harmlos, denn der Mann auf der Insel lebt seit Jahren dort und ist in dem Hotel gut bekannt. Er fährt Gesellschaften auf seinem Boot herum und zeigt ihnen, wo es Krokodile und dergleichen gibt. Wahrscheinlich hat er eines darauf abgerichtet, dass es von Zeit zu Zeit Stücke aus dem Boot beißt. Dann wird er es mit dem Haken verjagen, und die ganze Gesellschaft ist selig, weil sie ein echtes, gefräßiges Krokodil gesehen hat. Ich weiß, wie solche Dinge gedreht werden. Man hat nicht herausgefunden, wie lange das Mädchen schon bei ihm lebt; aber es scheint ziemlich sicher, dass es sich nicht um Anne handelt. Auch darf man sich nicht so einfach in das Privatleben des jungen Mannes einmischen. Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich mir das hübsch verbitten und Race mit Fausthieben von der Insel jagen. Liebesgeschichten gehen uns nichts an.

Später

Es ist beschlossen, dass ich morgen nach Johannesburg fahre. Race hat mich ebenfalls dazu gedrängt. Hoffentlich werde ich nicht von einem Streikenden niedergeschossen. Mrs Blair hatte vor, mich zu begleiten, aber jetzt hat sie plötzlich ihre Absicht geändert und will hier bleiben. Es sieht fast so aus, als ob sie Race nicht aus den Augen lassen will. Heute Abend erschien sie bei mir und bat mich zögernd, ihr einen Gefallen zu erweisen. Ob ich wohl ein paar ihrer kleinen Andenken mitnehmen würde?

«Doch nicht etwa die Holztiere?», fragte ich erschrocken. Komischerweise hatte ich schon lange das Empfinden, dieses Viehzeug würde mich noch einmal in Verlegenheit bringen.

Schließlich einigten wir uns auf einen Kompromiss. Ich erklärte mich bereit, zwei kleinere Holzkisten mit zerbrechlichen Artikeln für sie in Verwahrung zu nehmen, während die Tiere in große Kisten gepackt und mit der Post nach Kapstadt gesandt werden sollen, wo Pagett für ihre weitere Unterbringung Sorge tragen kann.

Pagett zerrt wie wild an seiner Leine; er möchte unbedingt nach Johannesburg fahren und mich dort treffen. Mrs Blairs Kisten geben einen guten Vorwand ab, ihn in Kapstadt zurückzuhalten. Ich habe ihm bereits geschrieben, dass er vorläufig dort bleiben muss, um sie in Empfang zu nehmen und in sichere Verwahrung zu bringen, da sie von unermesslichem Wert seien.

Alles ist also gut vorbereitet, und ich werde mit Miss Pettigrew zusammen ins Blaue hinausfahren. Wer Miss Pettigrew einmal gesehen hat, kann nicht an der völligen Harmlosigkeit dieser Fahrt zweifeln!

29

Johannesburg, den 6. März

Ich habe unendlich viele Ausreden erfunden, um Pagett in Kapstadt zurückzuhalten. Schließlich ist meine Einbildungskraft versiegt. Morgen kommt er her, um wie ein treuer Hund an der Seite seines Herrn zu sterben. Und dabei bin ich während seiner Abwesenheit mit meinen Erinnerungen eines Politikers so schön vorwärts gekommen.

Heute Morgen interviewte mich ein hoher Regierungsbeamter. Er zeigte sich zugleich höflich, überredend und geheimnisvoll. Bereits zu Beginn sprach er von meiner exponierten Stellung und meiner Wichtigkeit, um zu betonen, dass es besser für mich wäre, so schnell wie möglich nach Pretoria abzureisen. Er würde mir gern dabei behilflich sein.

«Sie erwarten also hier größere Schwierigkeiten?», fragte ich.

Seine Antwort war so gewunden, dass sich nichts daraus entnehmen ließ. Und das bestärkte mich in meiner Annahme. Ich bemerkte höflich, dass seine Regierung dem Streik leider zu lange zugesehen habe, ohne einzugreifen.

«Es sind ja gar nicht die Streikenden allein», verteidigte er sich. «Hinter ihnen ist eine ganze Organisation am Werk. Plötzlich sind Waffen und Munition in Mengen vorhanden. Wir sind in den Besitz von Dokumenten gelangt, die Licht auf die Methoden werfen, wie sie ins Land kommen konnten. Ein regelrechter Kode wurde verwendet: Kartoffeln bedeutet Sprengstoffe, Kohl Gewehre, und so geht es weiter, alle Waffen sind mit dem Namen eines Gemüses bezeichnet.»

«Das ist höchst interessant», erwiderte ich.

«Mehr als das, Sir Eustace, weit mehr als das! Wir haben sogar Grund zu der Annahme, dass der Mann, der diese ganzen Unruhen angestiftet hat – der Spiritus Rector sozusagen –, zurzeit in Johannesburg weilt.»

Er starrte mich so lange an, dass ich beinahe den Eindruck gewann, er halte mich für diesen Staatsverbrecher. Kalter Schweiß brach mir bei dem Gedanken aus, und ich begann meine Neugier zu verwünschen, die mich in diesem dramatischen Augenblick nach Johannesburg geführt hatte.

Doch dann fuhr er fort: «Momentan verkehren keine Züge zwischen Johannesburg und Pretoria, aber ich könnte Ihnen einen Privatwagen zur Verfügung stellen. Und für den Fall, dass man Sie unterwegs anhalten sollte, würde ich Ihnen zwei Pässe ausstellen, den einen von der Regierung der Südafrikanischen Union, den anderen mit einer offiziellen Bestätigung, dass Sie ein englischer Tourist sind, der mit der Union nicht das Geringste zu schaffen hat.»

«Mit anderen Worten, einen für Ihre Regierungsleute, den anderen für die Streikenden?»

«Genau so, Sir Eustace.»

Der Vorschlag sagte mir gar nicht zu – ich weiß, was in solchen Fällen nur allzuleicht geschieht. Im kritischen Moment wird man verwirrt und bringt alles durcheinander. Ich würde bestimmt den falschen Pass den falschen Leuten aushändigen und schließlich entweder von einem blutdürstigen Rebellen oder von einem Vertreter des Rechts kurzerhand erschossen werden. Außerdem, was soll ich in Pretoria? Die Regierungsgebäude bewundern und das Echo der Zeitungen über die Schießereien in Johannesburg studieren? Gott weiß, wie lange ich dort eingepfercht wäre. Die Eisenbahnschienen sind bereits in die Luft gesprengt, wie ich gehört habe. Und über die Stadt selbst ist seit zwei Tagen der Ausnahmezustand verhängt worden.

«Aber, mein lieber Freund», wandte ich ein, «Sie sind sich nicht klar darüber, dass ich eigens hierher gekommen bin, um die politischen Verhältnisse zu studieren. Wie zum Teufel kann ich die Sache von Pretoria aus verfolgen? Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfsbereitschaft, aber Sie brauchen sich wirklich nicht um mich zu sorgen.»

«Ich muss Sie warnen, Sir Eustace, die Lebensmittel werden knapp.»

«Etwas fasten wird meiner Figur gut tun.»

Wir wurden durch einen Boten unterbrochen, der mir ein Telegramm aushändigte. Ich las mit Verblüffung: «Anne bei mir in Kimberley – Suzanne Blair.»

In diesem Moment wurde mir klar, dass ich nie ernstlich daran geglaubt hatte, Anne Beddingfeld sei umgekommen. Das Mädchen ist ein Stehaufmännchen, sie hat ein ganz besonderes Geschick, lächelnd wiederaufzutauchen, als ob nichts geschehen wäre. Ich verstehe immer noch nicht, weshalb sie mitten in der Nacht das Hotel verließ und wie sie überhaupt nach Kimberley gelangte. Jedenfalls fuhr zu dieser Zeit kein Zug. Sie muss ein Paar Engelsflügel besessen haben. Und wie ich sie kenne, wird sie nicht daran denken, die Sache aufzuklären – wenigstens mir gegenüber nicht. Gegen mich hüllt sich alles in Schweigen, ich bin immer nur aufs Raten angewiesen. Und das wird auf die Dauer langweilig.

Nun gut, sie ist also wiederaufgetaucht. Ich faltete das Telegramm zusammen und konnte schließlich auch den Regierungsbeamten loswerden. Es sagt mir nicht besonders zu, hungern zu müssen, aber um meine persönliche Sicherheit bin ich nicht besorgt. General Smuts wird mit diesem Revolutiönchen schon fertig werden. Doch ich würde viel darum geben, jetzt eine Flasche Whisky zu bekommen! Hoffentlich ist Pagett gescheit genug, morgen eine mitzubringen.

Ich setzte meinen Hut auf und ging aus, um ein paar kleine Andenken zu kaufen. Die Antiquitätengeschäfte in Johannesburg führen recht originelle Sachen. Ich blieb an einem Schaufenster stehen und betrachtete die Auslage, als ein Mann herauskam. Zu meiner Überraschung erkannte ich in ihm Race.

Ich kann nicht behaupten, dass er glücklich schien, mich zu sehen. Er machte im Gegenteil ein recht verstörtes Gesicht, aber ich bestand darauf, dass er mich zum Hotel zurückbegleitete. Es ist etwas eintönig, wenn man immer nur Miss Pettigrew zur Unterhaltung hat.

«Ich hatte keine Ahnung, dass Sie in Johannesburg sind», sagte ich. «Wann sind Sie eingetroffen?»

«Gestern Abend.»

«Und wo wohnen Sie?»

«Bei Freunden.»

Er spielte wieder einmal den großen Schweiger, und meine Frage schien ihn in Verlegenheit zu bringen.

Als wir im Hotel waren, sagte ich: «Sie werden wohl bereits gehört haben, dass Miss Beddingfeld wiederaufgetaucht und höchst lebendig ist?»

Er nickte.

«Sie hat uns allen einen tüchtigen Schrecken eingejagt», fuhr ich fort. «Wohin zum Teufel ist sie eigentlich in jener Nacht verschwunden?»

«Sie war die ganze Zeit auf der Insel versteckt.»

«Auf welcher Insel? Doch nicht etwa bei diesem jungen Mann?»

«Doch.»

«Das gehört sich einfach nicht! Mein guter Pagett wird sehr schockiert sein. Weiß man, wer dieser Bursche ist?»

«Ich vermute, es handelt sich dabei um einen jungen Mann, den wir alle sehr gern in die Finger bekämen.»

«Meinen Sie etwa…?», rief ich in steigender Erregung.

Er nickte.

«Harry Rayburn alias Harry Lucas, wie er wirklich heißt. Einmal ist er uns durch die Lappen gegangen, aber diesmal soll er uns nicht entkommen.»

«Du liebe Zeit!», murmelte ich.

«Es ist nicht anzunehmen, dass das Mädchen seine Komplizin ist. Bei ihr handelt es sich höchstwahrscheinlich nur um eine Liebesgeschichte.»

Ich war immer der Meinung gewesen, Race sei selbst in das Mädchen verliebt. Die Art, wie er die letzten Worte sagte, bestärkte mich darin.

«Sie ist nach Beira gefahren», fuhr er hastig fort.

«Tatsächlich?» Ich blickte ihn erstaunt an. «Woher wissen Sie das?»

«Sie schrieb mir ein paar Zeilen von Bulawajo aus, in denen sie mir mitteilte, sie fahre direkt nach England zurück. Das Beste, was sie tun kann, die Arme.»

«Ich glaube nicht recht daran, dass sie in Beira ist», erwiderte ich nachdenklich.

«Als sie mir schrieb, befand sie sich auf dem Weg dorthin.»

Ich war sehr verblüfft. Irgendetwas lag in der Luft. Ohne zu überlegen, dass Anne wahrscheinlich einen guten Grund für ihre Täuschungsmanöver besaß, zog ich das Telegramm aus der Tasche und reichte es Race.

«Wie erklären Sie sich dann das?», fragte ich.

«Beide Damen in Kimberley», sagte Race kopfschüttelnd. «Was tun sie dort?»

«Ja, das frage ich mich auch. Ich hätte eher angenommen, dass Miss Anne schleunigst hierher nach Johannesburg käme, um aus erster Hand Berichte über die Revolte ans Daily Budget zu liefern.»

«Kimberley!», wiederholte er. «Dort gibt es überhaupt nichts zu sehen – in den Minen wird nicht gearbeitet.»

Er ging noch immer kopfschüttelnd davon. Ich hatte ihm anscheinend etwas zum Nachdenken aufgegeben.

Kaum war er fort, erschien mein Regierungsbeamter wieder auf dem Plan.

«Verzeihen Sie, wenn ich Sie nochmals störe, Sir Eustace», entschuldigte er sich. «Aber ich muss Ihnen leider noch eine kleine Frage stellen.»

«Fragen Sie, fragen Sie ruhig, mein Freund», sagte ich herzlich.

«Es betrifft Ihre Sekretärin…»

«Miss Pettigrew?», rief ich erstaunt.

«Jawohl, Sir Eustace. Man hat sie gesehen, als sie aus Agrasatos Antiquitätengeschäft kam und…»

«Du lieber Himmel», unterbrach ich ihn, «ich selbst wollte heute Nachmittag ebenfalls bei Agrasato einkaufen. Sie hätten also auch mich dort entdecken können.»

Anscheinend kann man in Johannesburg nicht den harmlosesten Schritt tun, ohne bespitzelt zu werden.

«Sie ist aber mehr als einmal dort gesehen worden, und zwar unter recht eigenartigen Umständen. Ich möchte Ihnen im Vertrauen sagen, Sir Eustace, dass gerade dieses Geschäft im Verdacht steht, ein geheimer Treffpunkt der Organisation zu sein, die hinter der Rebellion steckt. Ich wäre Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie mir genauere Auskünfte über Ihre Sekretärin geben könnten. Auf welche Weise ist sie in Ihre Dienste gekommen?»

«Sie wurde mir durch Ihre eigene Regierung in Kapstadt empfohlen», sagte ich kalt.

Er fiel beinahe in Ohnmacht.

30

Annes Bericht

Sobald ich in Kimberley eintraf sandte ich Suzanne ein Telegramm. Sie folgte mir mit dem nächsten Zug und meldete mir ihre Ankunft telegrafisch. Ihre Eile verriet mir, dass sie mich wirklich ins Herz geschlossen hatte. Das überraschte und rührte mich sehr, denn ich war immer der Meinung gewesen, ich bedeute bloß eine kurzweilige Sensation für sie. Aber bei ihrer Ankunft fiel sie mir um den Hals und brach in Tränen aus.

Als wir uns etwas beruhigt hatten, erzählte ich ihr die ganze Geschichte haarklein von A bis Z.

«Du hast Colonel Race stets im Verdacht gehabt», sagte sie nachdenklich, als ich geendet hatte. «Ich war anderer Ansicht – bis zu dem Abend, als du verschwunden bist. Ich habe so viel von ihm gehalten und dachte, er wäre ein guter Ehemann für dich. O Anne, sei mir nicht böse, aber woher willst du wissen, dass dein junger Freund die volle Wahrheit sagt? Du scheinst an jedes Wort von ihm wie an das Evangelium zu glauben.»

«Selbstverständlich tue ich das!», rief ich voller Empörung.

Suzanne zuckte mit den Schultern. Dann sagte sie: «Ich muss dir ebenfalls einiges erzählen, Anne. Siehst du, als auch ich Colonel Race verdächtigte, wurde ich sehr unruhig wegen der Diamanten. Ich wusste nicht, wie ich die Steine loswerden sollte. Ich wagte nicht, sie länger bei mir zu behalten…»

Suzanne blickte sich ängstlich um, als ob sie einen Lauscher befürchtete, und dann flüsterte sie mir etwas ins Ohr.

«Ein ausgezeichneter Gedanke», stimmte ich ihr zu. «Was hat Sir Eustace mit den Kisten gemacht?»

«Die großen sind nach Kapstadt gesandt worden. Pagett hat mir berichtet, dass sie gut eingetroffen sind, und hat mir gleichzeitig die Quittung für die Lagerung zugestellt. Übrigens verlässt er heute Kapstadt, um sich mit Sir Eustace in Johannesburg zu treffen.»

«Das scheint also in Ordnung», meinte ich. «Und wo befinden sich die kleinen Holzkisten?»

«Ich nehme an, dass Sir Eustace sie bei sich hat.»

Ich dachte über die Sache nach. «Schön», sagte ich schließlich. «Es ist zwar keine Ideallösung, aber ich glaube, wir lassen es im Augenblick dabei.»

Ich sah im Fahrplan nach, wann Guy Pagetts Zug durch Kimberley fuhr. Ich fand heraus, dass er am nächsten Tag um 5 Uhr 40 eintreffen und um 6 Uhr weiterfahren sollte. Ich hatte meine Gründe, Pagett so bald wie möglich zu sprechen, und dies schien mir eine günstige Gelegenheit. Die Lage in Johannesburg wurde immer kritischer, und es war ungewiss, wann ich wieder eine Gelegenheit zu einer Unterhaltung mit ihm finden würde.

Das Einzige, das diesen Tag für mich lebenswert machte, war ein Telegramm aus Johannesburg, ein kurzer, harmlos scheinender Bericht:

Glücklich eingetroffen. Alles geht gut, Eric hier, ebenso Eustace, jedoch nicht Guy. Verhalte dich ruhig, Andy.

«Eric», war unser Pseudonym für Colonel Race. Ich hatte diesen Namen gewählt, weil er mir von jeher äußerst unsympathisch war.

Mit nur zehn Minuten Verspätung fuhr der Zug ein. Sämtliche Reisenden stürzten sich auf den Bahnsteig, um sich etwas Bewegung zu verschaffen. Es war nicht schwierig, Pagett zu entdecken. Ich war bereits gewohnt, dass er nervös zusammenzuckte, wenn er mich sah, doch diesmal geschah es noch auffallender als sonst.

«Guter Gott – Miss Beddingfeld! Man hat mir gesagt, Sie seien verschwunden.»

«Ich bin wieder aufgetaucht», entgegnete ich. «Wie geht es Ihnen?»

«Danke, danke, sehr gut. Ich freue mich, die Arbeit mit Sir Eustace wieder aufnehmen zu können.»

«Mr Pagett», sagte ich, «ich möchte Sie etwas fragen und hoffe, dass Sie nicht gekränkt sein werden. Aber es hängt viel mehr von Ihrer Antwort ab, als Sie vermuten können. Würden Sie mir sagen, weshalb Sie am 8. Januar in Marlow waren?»

Er fuhr erschrocken zurück.

«Aber Miss Beddingfeld… ich… wirklich…»

«Sie waren doch dort, nicht wahr?»

«Ja… das heißt… aus ganz bestimmten privaten Gründen hielt ich mich in der Nachbarschaft auf.»

«Wollen Sie mir diese Gründe nicht verraten?»

«Hat Sie Sir Eustace nicht aufgeklärt?»

«Sir Eustace? Weiß er es denn?»

«Ich bin dessen fast sicher. Ursprünglich glaubte ich, er habe mich nicht erkannt, aber seine spöttischen Bemerkungen beweisen mir, dass es doch der Fall war. Ich war bereits entschlossen, ihm alles zu sagen und um meine Entlassung zu bitten. Er hat einen eigentümlichen Humor, und es macht ihm Vergnügen, mich auf die Folter zu spannen. Ich bin überzeugt, dass er mein Geheimnis kennt – wahrscheinlich seit vielen Jahren.»

Früher oder später würde sich hoffentlich herausstellen, worüber Pagett eigentlich sprach. Vorläufig begriff ich keine Silbe davon.

«Ein Mensch wie Sir Eustace kann sich natürlich nur schwer in meine Lage versetzen. Ich weiß, dass ich Unrecht tat, aber die Täuschung schien so harmlos. Es wäre weniger peinlich für mich gewesen, wenn er mich direkt gestellt hätte, als dass er mich ständig mit Andeutungen quälte…»

Eine Pfeife schrillte, die Reisenden begaben sich auf ihre Plätze zurück.

«Ja, ja, Mr Pagett. Sie haben sicherlich Recht», unterbrach ich ihn. «Aber Sie haben mir noch immer nicht gesagt, weshalb Sie damals in Marlow waren.»

«Es war unrecht von mir, zugegeben, aber ich dachte, dass unter diesen Umständen…»

«Was für Umstände, Mr Pagett?», rief ich verzweifelt.

Endlich schien Pagett zu merken, dass ich ihm eine klare Frage stellte.

«Entschuldigen Sie, Miss Beddingfeld», sagte er steif, «aber ich sehe nicht ein, was Sie das angeht.»

Er bestieg hastig den Zug. Ich war verzweifelt; was konnte man mit einem solchen Menschen anfangen?

«Natürlich – wenn Ihr Geheimnis so schmachvoll ist, dass Sie sich schämen, darüber zu sprechen», rief ich ihm nach.

Endlich hatte ich den richtigen Ton gefunden. Pagett kam zurück.

«Schmachvoll? Ich verstehe Sie nicht!»

«Dann reden Sie! Reden Sie doch endlich!»

In drei kurzen Sätzen klärte er alles auf. Jetzt kannte ich sein Geheimnis, doch es war nicht das, was ich erwartet hatte.

Langsam ging ich zum Hotel zurück. Dort wurde mir ein Telegramm ausgehändigt; es enthielt genaue Anweisungen, wie ich sogleich nach Johannesburg fahren sollte, oder vielmehr bis zu einer Station in der Nähe der Stadt, wo ich mit einem Wagen abgeholt würde. Doch das Telegramm war nicht mit Andy unterzeichnet, sondern mit Harry.

Ich setzte mich in einen Sessel, um sehr ernsthaft nachzudenken.

31

Aus dem Tagebuch von Sir Eustace Pedler

Johannesburg, den 7. März

Pagett ist eingetroffen, natürlich in Todesängsten. Schlug mir sofort vor, wir sollten so schnell wie möglich nach Pretoria fahren. Ich unterbrach sein Geschwätz mit dem Befehl, die große Schreibmaschine auszupacken. Es war anzunehmen, dass sie auf der langen Reise gelitten hatte, und ich hoffte, dass ihre Instandsetzung ihn einige Zeit beschäftigen würde. Aber ich hatte Pagett wieder einmal verkannt.

«Die Kisten sind bereits ausgepackt, Sir, und die Maschine ist kontrolliert. Alles in bester Ordnung.»

«Von welchen Kisten sprechen Sie?»

«Ich habe die beiden kleinen Holzkisten geöffnet.»

«Zum Teufel, wenn Sie doch bloß nicht so übereifrig wären! Diese beiden Kisten gehen Sie gar nichts an, sie gehören Mrs Blair.»

Pagett schien sehr niedergeschlagen; er hasst es, Fehler zu machen.

«Packen Sie sie also wieder ein», fuhr ich fort. «Danach können Sie ausgehen und sich ein wenig umsehen. Morgen wird Johannesburg wahrscheinlich nur noch eine rauchende Trümmerstätte sein; es ist also Ihre letzte Gelegenheit.» Auf diese Weise hoffte ich, ihn loszuwerden.

«Ich möchte Ihnen noch etwas mitteilen, Sir, wenn Sie die Geduld haben, mir zuzuhören…»

«Nicht jetzt», unterbrach ich ihn hastig. «Im Augenblick verspüre ich nicht die leiseste Lust dazu.»

Pagett zog sich zurück.

«Übrigens», rief ich hinter ihm her, «was befindet sich eigentlich in diesen Kisten von Mrs Blair?»

«Ein paar Felldecken und Pelzhüte, glaube ich.»

«Das hat sie alles unterwegs gekauft. Sonst nichts?»

«Oh, einige Filme und ein paar Kleinigkeiten wie Handschuhe und Schleier und solches Zeug.»

«Wenn Sie kein ausgemachter Dummkopf wären, Pagett, hätten Sie doch sofort merken müssen, dass diese Sachen nicht mir gehören.»

«Ich nahm an, einiges davon stamme aus dem Besitz von Miss Pettigrew.»

«Apropos Miss Pettigrew, was fiel Ihnen eigentlich ein, mir eine derart verdächtige Person als Sekretärin anzuschleppen?»

Ich erzählte ihm von dem Kreuzverhör, das ich gestern durchzustehen hatte. Allerdings bereute ich dies sogleich, denn damit hatte ich Pagetts Schleusen geöffnet. Er witterte schon wieder eine Spur und ließ es sich nicht nehmen, mich mit einer langatmigen Geschichte über eine Begebenheit auf der Kilmorden anzuöden. Es handelte sich um einen Rollfilm und um eine Wette. Der Film sei von einem Steward mitten in der Nacht durch den Ventilator auf ein Bett geworfen worden. Ich hasse jede Art von Wetten, und als ich dies sagte, begann Pagett die ganze Geschichte noch einmal von vorne. Seine Redeweise ist sehr unklar, und es dauerte eine Weile, ehe ich begriff.

Bis zur Essenszeit sah ich ihn nicht mehr. Dann aber stürzte er ganz aufgeregt auf mich zu. Das Ergebnis seines Gestammels war, dass er Rayburn gesehen hatte.

«Was?», rief ich überrascht.

Jawohl, er hatte ihn auf der Straße sofort erkannt. Und natürlich war er ihm gefolgt, das war von Pagett nicht anders zu erwarten.

«Und können Sie sich vorstellen, mit wem er gesprochen hat, Sir? Mit Miss Pettigrew!»

«Was?», rief ich wiederum.

«Ja, Sir. Und dann ist er mit Miss Pettigrew in das Antiquitätengeschäft an der Ecke gegangen…»

Ohne es zu wollen, stieß ich einen Ausruf der Überraschung aus. Pagett sah mich fragend an.

«Es ist nichts», sagte ich. «Fahren Sie fort!»

«Ich blieb draußen stehen und habe eine ganze Ewigkeit gewartet, aber sie kamen nicht mehr heraus. Schließlich ging ich ebenfalls in das Geschäft. Sir Eustace, kein Mensch war dort! Es muss einen zweiten Ausgang auf der Rückseite haben.»

Ich starrte ihn ungläubig an.

«Dann kehrte ich zum Hotel zurück und zog ein paar Erkundigungen über Miss Pettigrew ein.» Pagett senkte seine Stimme wie immer, wenn er vertraulich wird. «Sir Eustace, letzte Nacht sah man einen Mann aus ihrem Zimmer herauskommen!»

Ich hob erstaunt die Brauen. «Und dabei habe ich sie für eine höchst anständige Dame gehalten.»

Pagett fuhr fort, ohne meinen Einwurf zu beachten. «Ich bin hinaufgegangen und habe ihr Zimmer durchsucht. Und was, glauben Sie, habe ich gefunden?»

Ich schüttelte nur den Kopf.

«Dies hier!»

Pagett hielt mir einen Rasierapparat unter die Nase.

«Was tut eine Frau mit einem Rasierapparat?»

Wahrscheinlich liest Pagett die Anzeigen in den Frauenzeitschriften nicht. Ich aber lese sie: Doch ich hatte keine Lust, mich mit Pagett in einen Streit über Miss Pettigrews Geschlecht einzulassen, sondern antwortete nur, der Besitz eines Rasierapparates beweise nicht das Geringste. Pagett ist so entsetzlich rückständig! Es hätte mich keineswegs erstaunt, wenn er auch ein Zigarettenetui als verdächtiges Indiz ausgegraben hätte.

«Ich habe noch mehr Beweise, Sir, was sagen Sie hierzu?» Er zog triumphierend eine Perücke aus der Tasche. «Glauben Sie nun endlich, dass Miss Pettigrew ein verkleideter Mann ist?»

«Mag sein, dass Sie Recht haben, Pagett. Wenn ich an ihre großen Füße denke…»

Da er mich nun überzeugt zu haben schien, schnitt er unvermittelt ein neues Thema an.

«Und jetzt, Sir Eustace, möchte ich mit Ihnen über eine Privatangelegenheit reden. Alle Ihre spitzen Bemerkungen beweisen mir, dass Sie mein Geheimnis entdeckt haben; jawohl, ich war nicht in Florenz! Doch ich hatte immer gehofft, ich sei von Ihnen nicht bemerkt worden.»

«Wo sollte ich Sie bemerkt haben, Pagett?»

«Natürlich in Marlow, Sir!»

«In Marlow? Was zum Teufel haben Sie denn dort zu suchen gehabt?»

«Ich hoffte, dass Sie es verstehen würden…»

«Ich verstehe immer weniger. Können Sie sich nicht etwas klarer ausdrücken? Sie waren also gar nicht in Florenz – und weshalb nicht? Und wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt?»

«Sie wussten es also wirklich nicht – und Sie haben mich doch nicht erkannt?»

«Ihr schlechtes Gewissen hat Ihnen offenbar einen Streich gespielt. Mehr weiß ich vorläufig nicht. Also wo waren Sie, wenn nicht in Florenz?»

«Ich fuhr heim – nach Marlow. Ich wollte meine Frau besuchen…»

«Ihre Frau? Ich wusste gar nicht, dass Sie verheiratet sind!»

«Nein, Sir Eustace. Deshalb erzähle ich Ihnen ja die ganze Sache. Ich habe Sie getäuscht! Ich konnte es mir nicht leisten, meinen Posten zu verlieren. Und ich wusste, dass Sie einen ledigen Sekretär vorziehen würden…»

«Das verschlägt mir den Atem. Wo hat denn Ihre Frau all die Jahre gelebt?»

«Wir hatten ein kleines Häuschen am Fluss bei Marlow, ganz in der Nähe Ihres Hauses.»

«Du meine Güte», murmelte ich. «Haben Sie Kinder?»

«Vier Kinder, Sir Eustace.»

Ich starrte ihn an. Das war echt Guy Pagett – heimlich eine Frau und vier Kinder zu haben.

«Wem haben Sie sonst noch von diesem Besuch erzählt?», fragte ich endlich, als ich mich etwas erholt hatte.

«Nur Miss Beddingfeld. Sie stand in Kimberley am Bahnhof, um mich auszufragen.»

32

Annes Bericht

Suzanne widersetzte sich anfangs meinem Plan. Als ich jedoch darauf beharrte, versprach sie, meine Anweisungen genauestens auszuführen. Sie begleitete mich zum Bahnhof und verabschiedete sich tief besorgt.

Am nächsten Morgen erreichte ich meinen Bestimmungsort. Ein unbekannter Mann erwartete mich und brachte mich zu einem Wagen. In der Ferne grollte Kanonendonner. Wir fuhren zu einem etwas baufälligen Haus am Stadtrand. Der Mann führte mich durch eine schäbige Halle und öffnete eine Tür.

«Die junge Dame, die Mr Harry Rayburn zu sehen wünscht», meldete er mich an und grinste.

Ich trat in einen spärlich möblierten Raum. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann und schrieb. Er blickte auf.

«Du liebe Zeit», sagte er, «das ist doch Miss Beddingfeld!»

«Verzeihen Sie bitte die Frage», sagte ich kühl, «aber soll ich Sie nun mit ‹Reverend Chichester› oder mit ‹Miss Pettigrew› anreden?»

«Wie es Ihnen beliebt. Ich habe allerdings gerade meine Unterröcke ausgezogen. Wollen Sie nicht Platz nehmen?»

Ruhig zog ich einen Stuhl heran.

«Sie verstehen es wirklich großartig, in die verschiedensten Rollen zu schlüpfen», sagte ich anerkennend. «Solange Sie Miss Pettigrew spielten, hatte ich Sie nie im Verdacht, nicht einmal damals in Kapstadt, als Sie vor Schreck über mein Erscheinen im Zug Ihren Bleistift zerbrachen.»

Auch diesmal hielt er wieder einen Bleistift in der Hand und klopfte damit ärgerlich auf den Tisch.

«Das ist alles gut und schön, Miss Beddingfeld, doch wir müssen zum Geschäft kommen. Vielleicht ahnen Sie bereits, weshalb wir Sie unbedingt hier haben wollten.»

«Ich muss schon um Entschuldigung bitten», sagte ich liebenswürdig, «aber ich spreche über Geschäfte prinzipiell nur mit dem Chef. Ich denke gar nicht daran, mit Untergebenen zu verhandeln. Sie würden sich viel Ärger ersparen, wenn Sie mich gleich zu Sir Eustace Pedler führen würden.»

«Zu…?» Er war sprachlos.

«Ja», wiederholte ich, «zu Sir Eustace Pedler.»

Er eilte aus dem Zimmer. Als er zurückkehrte, hatte sich sein Ton wesentlich geändert.

«Wollen Sie bitte mit mir kommen, Miss Beddingfeld?»

Ich folgte ihm die Treppe hinauf. Er klopfte an eine Tür, worauf ein kurzes «Herein!», erscholl und ich gelassen eintrat.

Sir Eustace Pedler sprang auf, um mich herzlich und lächelnd wie immer zu begrüßen.

«Miss Anne – wirklich, ich freue mich, Sie zu sehen.» Warm drückte er mir die Hand. «Setzen Sie sich bitte. Hat Sie die Reise nicht ermüdet?»

Er nahm mir gegenüber Platz, immer noch strahlend und lächelnd. Das verwirrte mich einigermaßen, denn er wirkte so vollkommen natürlich und ungezwungen.

«Sehr richtig von Ihnen, dass Sie verlangten, direkt zu mir geführt zu werden», sagte er munter. «Minks ist ein Narr – ein ganz guter Schauspieler, aber trotzdem ein Narr. Das war Minks, den Sie eben sahen.»

«Wirklich?», erwiderte ich schwach.

«Und nun lassen Sie uns Tatsachen besprechen, meine Liebe», fuhr er fort. «Seit wann wissen Sie, dass ich der ‹Colonel› bin?»

«Leider erst seit dem Moment, da mir Mr Pagett in aller Harmlosigkeit verriet, dass er Sie in Marlow sah zu einer Zeit, als Sie eigentlich an der Riviera sein sollten.»

«Ja, und dem Trottel ist nicht mal aufgegangen, was das zu bedeuten hatte. Alle seine Gedanken kreisten nur darum, ob ich ihn gesehen hätte. Keinen Augenblick überlegte er, was ich eigentlich in Marlow zu suchen hatte. Das Ganze war wirklich großes Pech für mich, und dabei war alles so sorgfältig geplant! Ich hatte ihn nach Florenz geschickt und im Hotel hinterlassen, dass ich für einen oder zwei Tage nach Nizza fahren würde. Und als der Mord entdeckt wurde, befand ich mich längst an der Riviera, ohne dass auch nur ein Mensch ahnte, dass ich nicht die ganze Zeit dort war.»

Immer noch sprach er vollkommen ungezwungen. Ich musste mich in den Arm kneifen, um zu merken, dass ich nicht bloß träumte – dass der Mann mir gegenüber wirklich und wahrhaftig der lang gesuchte Verbrecher war.

Ich ließ die Geschehnisse noch einmal an mir vorüberziehen. «Sie waren es also», sagte ich langsam, «der mich auf der Kilmorden über Bord zu werfen versuchte. Und Ihnen ist Pagett gefolgt.»

Er zuckte mit den Schultern. «Es tut mir Leid, meine Liebe, wirklich sehr Leid! Ich habe Sie immer gern gemocht, aber Sie sind mir überall in den Weg getreten. Ich konnte Sie doch nicht meine ganzen Pläne durchkreuzen lassen.»

«Großartig haben Sie das in jener Nacht an den Victoriafällen gemacht», sagte ich. «Ich hätte jeden Eid darauf geschworen, dass Sie im Hotel beim Diktat waren, als ich mich hinausstahl.»

«Ja, Minks hatte großen Erfolg als Miss Pettigrew, und außerdem ist er ein vorzüglicher Stimmenimitator. Meine Stimme hat er jedenfalls ausgezeichnet getroffen.»

«Eines möchte ich gern wissen: Wie haben Sie es fertig gebracht, dass Pagett ausgerechnet Miss Pettigrew engagierte?»

«Oh, das war ganz einfach, sie passte Pagett auf dem Korridor der Handelskammer ab, machte ihm weis, dass ich vor ein paar Minuten dort angerufen hätte und dass man sie für die Stelle ausgewählt habe. Pagett schluckte den Köder.»

«Sie sind sehr offen zu mir», sagte ich und sah ihn scharf an.

«Es besteht nicht der geringste Grund für mich, es nicht zu sein.»

Sein Ton missfiel mir sehr.

«Anscheinend glauben Sie fest an den Erfolg Ihrer Revolution? Sonst hätten Sie nicht alle Brücken hinter sich abgebrochen.»

«Für eine so kluge junge Dame ist das eine sehr dumme Bemerkung. Nein, mein liebes Kind, ich glaube nicht an diese Revolution. Ich gebe ihr höchstens noch ein paar Tage, dann wird sie schmählich verpuffen und im Sande verlaufen.»

«Also ein Misserfolg für Sie?», fragte ich spöttisch.

«Sie sind wie alle Frauen: vom Geschäft keine Ahnung. Meine Aufgabe war es, Waffen und Sprengstoffe zu liefern, und ich versichere Ihnen, ich bin gut dafür bezahlt worden. Außerdem sollte ich gewisse Personen bis zum Halse belasten, und auch das habe ich erfolgreich durchgeführt. Im Übrigen ließ ich mir meine Bezahlung natürlich im Voraus anweisen. Ich bin in der Tat sehr überlegt vorgegangen, denn ich gedenke, mich nach diesem letzten Coup endgültig vom Geschäft zurückzuziehen.»

«Und was geschieht mit mir?», fragte ich.

«Das ist eine gute Frage», sagte Sir Eustace sanft. «Was geschieht mit Ihnen? Der einfachste Weg – und für mich der angenehmste – wäre, Sie zu heiraten. Eine Frau kann, wie Sie wissen, nicht gegen ihren Ehegatten aussagen. Sehen Sie mich bitte nicht so böse an. Dieser Plan sagt Ihnen also nicht zu?»

«Nein!»

«Schade, ewig schade! Sie hätten eine so entzückende Lady Pedler abgegeben. Die anderen Möglichkeiten sind leider recht grausam.»

Ich fühlte ein leises Kribbeln auf dem Rücken. Natürlich hatte ich genau gewusst, welch großes Risiko ich einging. Würde alles so verlaufen, wie ich es geplant hatte, oder würde ich scheitern?

«Ich habe tatsächlich eine gewisse Schwäche für Sie», fuhr Sir Eustace fort, «und würde nur ungern zum Äußersten greifen. Ich bin nämlich ein gutmütiger Mensch, solange ich nicht bedroht werde. Aber denken Sie an Nadina. Auch Nadina wusste zu viel. Nadina hat mich bedroht und verraten, als ich kurz vor dem Gipfel meines Erfolgs stand. Erst wenn sie tot war und die Diamanten sich in meiner Hand befanden, durfte ich mich wieder sicher fühlen.

Aber leider habe ich die Sache selber verpfuscht. Dieser Idiot von Pagett mit seinen vier Kindern! Ich hatte seit Jahren das Gefühl, dass es besser wäre, ihn los zu sein, aber ich konnte mich nie entschließen, ihn zu entlassen. Für diese meine Gutmütigkeit wurde ich nun gestraft.

Doch ich bin schon wieder abgeschweift. Kommen wir zur Hauptfrage zurück, nämlich was mit Ihnen geschehen soll. Wie gesagt, ich würde höchst ungern… Am besten, Sie erzählen mir Ihre ganze Geschichte von Anfang an, aber bitte die Wahrheit!»

Es kam mir gar nicht in den Sinn, etwas anderes zu sagen, denn ich hatte einen gewaltigen Respekt vor seiner Schlauheit. Ich erzählte ihm alles bis zu meiner Rettung durch Harry. Als ich geendet hatte, nickte er beifällig.

«Ihr Bericht war bewundernswert klar, aber eines haben Sie vergessen: Wo befinden sich die Diamanten jetzt?»

«Harry Rayburn hat sie», sagte ich und beobachtete ihn genau. Sein Gesicht blieb gleichmütig.

«Hm – ich brauche sie aber.»

«Ich sehe nicht recht, wie sie in Ihren Besitz gelangen könnten, Sir Eustace», erwiderte ich.

«Nein? Da bin ich aber anderer Meinung. Ich möchte Sie nicht erschrecken, doch ich gebe Ihnen zu bedenken, dass es hier keineswegs auffallen wird, wenn man ein totes Mädchen findet. Einer meiner Männer ist Fachmann auf diesem Gebiet. Aber Sie sind doch eine vernünftige junge Dame. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Setzen Sie sich an den Schreibtisch, und senden Sie Harry Rayburn ein paar Worte des Inhalts, dass er sich hier mit Ihnen treffen soll und die Steine mitbringt…»

«Ich werde nichts dergleichen tun!», rief ich mit gespielter Empörung.

«Ich schlage Ihnen einen Tauschhandel vor: die Diamanten gegen Ihr Leben. Und eines müssen Sie dabei ganz klar sehen: Ihr Leben befindet sich völlig in meiner Gewalt.»

«Und Harry?»

«Ich bin viel zu weichherzig, um zwei junge Liebende zu trennen. Auch er soll frei ausgehen, natürlich unter der Bedingung, dass Sie beide nie mehr meinen Weg kreuzen.»

«Was für eine Garantie habe ich denn, dass Sie Ihr Wort halten werden?»

«Überhaupt keine, meine Liebe. Sie müssen sich einfach auf mein Versprechen verlassen. Doch vielleicht ziehen Sie einen heroischen Tod vor?»

Ich tat so, als ginge ich nur ungern auf seinen Vorschlag ein. Erst allmählich gab ich seinen schmeichlerischen Worten nach und schrieb schließlich nach seinem Diktat:

Lieber Harry,

ich habe eine Möglichkeit entdeckt, deine völlige Unschuld zu beweisen. Dazu musst du Folgendes tun: Geh in Agrasatos Antiquitätengeschäft und verlange dort ‹etwas ganz Besonderes für eine spezielle Gelegenheit› zu sehen. Der Besitzer wird dich sogleich in das Hinterzimmer führen. Dort wartet ein Bote, der dich zu mir bringen wird. Mach alles, was er dir sagt, und vergiss nicht, unbedingt die Diamanten mitzubringen. Doch vor allem: Kein Wort darüber zu irgendeinem Menschen!

Sir Eustace streckte seine Hand nach dem Brief aus und las ihn aufmerksam durch. Dann drückte er auf einen Knopf an seinem Schreibtisch. Chichester/Pettigrew alias Minks kam herein.

«Dieser Brief ist sofort zu überbringen.»

«Sehr wohl, Colonel.»

Minks schaute auf die Adresse. Sir Eustace beobachtete ihn.

«Ein Freund von Ihnen, wie es scheint?»

«Von mir?» Minks blickte verwirrt auf.

«Hatten Sie nicht gestern eine längere Unterredung mit ihm?»

«Ein Mann folgte mir und wollte Verschiedenes über Sie und über Colonel Race wissen. Ich gab ihm natürlich falsche Auskünfte.»

«Ausgezeichnet, mein lieber Freund, ganz ausgezeichnet», sagte Sir Eustace. «Ich habe mich geirrt.»

Als Chichester/Pettigrew hinausging, sah ich ihn kurz an. Er war kreideweiß, und sein Blick verriet tödliche Angst. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, hob Sir Eustace den Telefonhörer ab und sagte kurz: «Sind Sie am Apparat, Schwart? Minks ist unter Beobachtung zu stellen; er darf das Haus ohne strikten Befehl von mir nicht verlassen.»

Er legte den Hörer wieder auf und klopfte nachdenklich mit den Fingern auf den Tisch.

«Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Sir Eustace?»

«Aber gewiss, meine Liebe! Ich muss Ihnen das Kompliment machen, dass Sie ausgezeichnete Nerven besitzen. In der Lage, in der die meisten Mädchen jammern und betteln würden, sind Sie imstande, ein gelassenes, sachliches Interesse zu zeigen.»

«Weshalb haben Sie Harry Rayburn als Sekretär angenommen, statt ihn sofort der Polizei zu übergeben?»

«Ich wollte doch diese verfluchten Diamanten haben! Nadina, dieser kleine Satan, hat Ihren Harry gegen mich ausgespielt. Sie drohte mir, ihm die Steine zu verkaufen, wenn ich ihr nicht einen enormen Preis dafür bezahlte. Damals habe ich einen zweiten Fehler begangen: Ich war überzeugt, dass sie die Diamanten bei sich habe. Aber sie war zu schlau dazu. Dann kam auch Carton, ihr Mann, ums Leben, und ich hatte keine Ahnung mehr, wo sich die Steine befinden könnten. Doch ich hatte bei Nadina die Abschrift eines Telegramms gefunden, das ihr jemand von Bord der Kilmorden geschickt hatte und das die Worte siebzehn eins zweiundzwanzig enthielt. Ich vermutete, dass es sich um eine Verabredung mit Rayburn handle, und fand meine Ansicht bestätigt, als er alles versuchte, um mit der Kilmorden zurückzufahren. Daher gab ich mir den Anschein, als würde ich seinen Worten glauben, und nahm ihn als zweiten Sekretär mit. Ich hoffte, durch ihn zu dem Versteck zu gelangen. Dann entdeckte ich Minks auf dem Schiff, der sein eigenes Spiel versuchte und mir dadurch in die Quere kam. Das habe ich rasch abgestellt, und er kroch ganz brav zu Kreuze. Es war sehr unangenehm für mich, dass ich mir die Kabine siebzehn nicht sichern konnte. Und außerdem tauchten plötzlich Sie auf, und ich wusste Sie nirgends unterzubringen. Als Rayburn in der Nacht vom Zweiundzwanzigsten seine Kabine verließ, um die Verabredung einzuhalten, ist ihm Minks auf meinen Befehl gefolgt. Doch er hat die Sache natürlich gründlich vermasselt.»

«Wieso aber stand in dem Telegramm siebzehn statt einundsiebzig?»

«Ich habe darüber nachgedacht. Es kann sich nur um einen Fehler des Schiffstelegrafisten handeln.»

«Was hat Colonel Race mit der Sache zu tun?»

«Ja, das war ein ganz schöner Schock für mich. Als Pagett mir erzählte, er sei ein höheres Tier im Geheimdienst, da lief es mir eiskalt über den Rücken. Ich erinnerte mich, dass er während des Kriegs in Paris hinter Nadina her war – und jetzt schien er mich selbst zu beargwöhnen. Und dann seine Art, sich an meine Fersen zu heften! Er ist unzweifelhaft ein stilles Wasser.»

Ein leises Summen ertönte. Sir Eustace ergriff den Hörer und lauschte eine Weile, ehe er antwortete: «Schön, ich werde sofort mit ihm reden.»

«Entschuldigen Sie mich, Miss Anne», wandte er sich an mich, «eine kleine geschäftliche Besprechung. Ich werde Sie inzwischen in Ihr Zimmer führen.»

Er brachte mich in einen kleinen, schäbigen Raum, ein junger Kaffer trug meinen Handkoffer, und Sir Eustace zog sich zurück – das Vorbild eines höflichen Gastgebers. Eine Kanne mit heißem Wasser stand im Waschbecken. Ich packte mein Handtuch und den Toilettenbeutel aus, um mich etwas zu erfrischen. Im Beutel fühlte ich einen harten Gegenstand, der nicht hineingehörte. Zu meiner größten Überraschung zog ich einen kleinen, handlichen Revolver heraus, der sich ganz bestimmt in Kimberley noch nicht dort befunden hatte. Er schien geladen zu sein.

Mit einem Gefühl der Beruhigung wog ich ihn in der Hand. In einem Haus wie diesem war eine solche Waffe unschätzbar. Doch wo sollte ich sie verstecken? Schließlich schob ich sie in meinen Strumpf. Es sah zwar hässlich aus, und ich befürchtete jeden Moment, der Revolver könnte losgehen, aber das war die einzige Stelle, wo ich ihn unterbringen konnte.

33

Erst am späten Nachmittag wurde ich wieder zu Sir Eustace gerufen. Tee und ein ausgiebiger Lunch waren mir ins Zimmer gebracht worden, und ich fühlte mich nun stark genug, um gegen weitere Konflikte gewappnet zu sein.

Sir Eustace war allein; er schritt im Raum auf und ab, und es entging mir nicht, dass er aus irgendeinem Grund innerlich frohlockte. Sein Ton mir gegenüber hatte sich leicht verändert.

«Ich habe Neuigkeiten für Sie. Ihr Freund ist auf dem Weg hierher. Dämpfen Sie Ihre Freude, ich habe Ihnen noch einiges mitzuteilen. Heute früh versuchten Sie mich zu hintergehen. Ich hatte Sie gewarnt, mir die Wahrheit zu sagen, und bis zu einem gewissen Grade haben Sie es auch getan. Aber in einem sehr wichtigen Punkt haben Sie mich belogen. Sie versuchten mir weiszumachen, dass Harry Rayburn im Besitz der Diamanten sei. Für den Moment ließ ich es dabei bewenden, weil mir sehr viel daran lag, den jungen Mann hierherzukriegen. Aber Sie dürfen mich nicht für dumm halten. Ich weiß, dass die Steine in meiner eigenen Obhut sind, seit ich die Victoriafalle verlassen habe – allerdings gebe ich zu, dass ich es erst gestern erfuhr.»

«Sie wissen…!» Ich rang nach Atem.

«Vielleicht interessiert es Sie zu hören, dass es Pagett war, dem ich diese Kenntnis verdanke. Der Idiot erzählte mir eine langatmige Geschichte über Rollfilme und eine Wette auf dem Schiff. Da genügte es, zwei und zwei zusammenzuzählen Mrs Blairs Verdacht gegen Race, ihre Angst und ihr Drängen, ich möge ihre Andenken in Verwahrung nehmen. In seinem Arbeitseifer hat Pagett die beiden Kisten ausgepackt, und ehe ich das Hotel heute verließ, steckte ich die Filme in meine Tasche. Ich hatte allerdings noch nicht die Zeit, sie zu öffnen, aber ich bemerkte sofort das besondere Gewicht des einen Films, der zu allem Überfluss beim Schütteln klirrt.

Der Fall liegt klar, nicht wahr? Und nun habe ich Sie also samt Ihrem geliebten Harry hübsch in der Falle. Wirklich schade, jammerschade, dass Sie absolut nicht Lady Pedler werden wollen!»

Auf der Treppe ertönten hastige Schritte, die Tür flog auf, und Harry stürzte ins Zimmer, eskortiert von zwei Männern.

Sir Eustace warf mir einen Blick des Triumphes zu.

«Alles verläuft plangemäß», sagte er grinsend.

«Was soll das alles heißen?», schrie Harry.

«Willkommen in meinem Haus, begrüßte die Spinne die Fliege», scherzte Sir Eustace. «Mein lieber Rayburn, Sie haben wirklich Pech.»

«Anne, du hast mir geschrieben, ich könne unbesorgt hierher kommen!»

«Sie dürfen ihr keinen Vorwurf machen, mein Guter. Dieser Brief wurde nach meinem Diktat geschrieben, und die Dame vermochte nichts dagegen zu unternehmen. Allerdings wäre es klüger gewesen, wenn sie nicht geschrieben hätte – aber ich hielt es nicht für nötig, ihr das zu sagen.»

Harry warf mir einen Blick zu. Ich verstand und trat näher zu Sir Eustace.

«Ja», fuhr dieser fort, «Sie haben entschieden kein Glück! Dies ist, wenn ich mich recht entsinne, unser dritter Zusammenstoß.»

«Stimmt», sagte Harry. «Zweimal haben Sie mich übertölpelt – haben Sie noch nie davon gehört, dass sich beim drittenmal das Blatt wendet? Dies ist meine Runde – Anne, halt ihn in Schach!»

Ich war bereit. In einer Sekunde hatte ich den Revolver herausgezogen und hielt ihn Sir Eustace an die Schläfe. Die beiden Wachen sprangen vor, doch Harry befahl ihnen, stehen zu bleiben.

«Einen Schritt weiter – und er ist ein toter Mann! Schieß, Anne, sobald sie sich bewegen, zögere nicht!»

«Du kannst dich darauf verlassen, wenn ich auch vor dem Abdrücken ein wenig Angst habe.»

Sir Eustace schien meine Angst zu teilen, er zitterte am ganzen Körper.

«Stehenbleiben!», rief er seinen Leuten zu, und sie gehorchten blind.

«Schicken Sie sie fort!», befahl Harry.

Sir Eustace tat es ohne langes Zögern, und Harry verschloss die Tür hinter ihnen.

«So, jetzt wollen wir uns unterhalten», sagte er mit grimmiger Miene, während er zu mir herüberkam und mir den Revolver aus der Hand nahm.

Sir Eustace seufzte erleichtert auf und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch.

«Ich bin in keiner guten Verfassung», klagte er. «Eine kleine Herzschwäche, wissen Sie. Mir ist wohler, den Revolver in einer geübten Hand zu wissen. Zu Miss Anne hatte ich wenig Vertrauen. Und nun, mein junger Freund, können wir uns unterhalten, wie Sie es wünschen. Ich gebe zu, dass Sie eine Runde gewonnen haben. Der Teufel mag wissen, wo diese Waffe herkommt. Das Gepäck des Mädchens ist genau untersucht worden – und vor einer Minute noch war sie nicht in ihrem Besitz.»

«O doch», gab ich zu, «ich hatte sie im Strumpf versteckt.»

«Ich weiß viel zu wenig über Frauen», sagte Sir Eustace. «Ob Pagett wohl darauf verfallen wäre?»

Harry klopfte auf den Tisch. «Spielen Sie nicht den Narren! Sie dürfen es Ihren grauen Haaren danken, dass ich Sie nicht zum Fenster hinauswerfe, Sie verdammter Schuft. Aber graue Haare oder nicht, ich…»

Er trat einen Schritt vor, und Sir Eustace duckte sich behände hinter seinen Schreibtisch.

«Ihr jungen Leute seid gleich so heftig», beschwerte er sich. «Lassen Sie uns vernünftig reden. Im Augenblick haben Sie die Oberhand, doch das wird nicht so bleiben. Überall im Haus sind meine Leute, und Sie sind in der Minderheit. Ihr augenblicklicher Vorteil ist bloß ein Zufall…»

«Wirklich?», sagte Harry. «Ich glaube, diesmal haben Sie das Spiel verloren. Hören Sie das?» Er machte eine leichte Kopfbewegung zur Tür.

Ein lautes Hämmern an der Haustür, Schreie, Flüche, dann das Geräusch von Schüssen. Sir Eustace wurde bleich.

«Was bedeutet das?»

«Race und seine Leute. Sie konnten natürlich nicht wissen, dass Anne und ich Geheimzeichen vereinbart hatten, um sofort zu erkennen, ob briefliche oder telegrafische Mitteilungen echt waren oder nicht. Telegramme sollten mit Andy unterzeichnet werden und Briefe ein durchgestrichenes und aufweisen. Anne wusste also sofort, dass Ihr Telegramm eine Fälschung war. Sie kam aus freiem Willen her und tappte absichtlich in die Falle, in der Hoffnung, Sie in Ihrer eigenen Schlinge zu fangen. Ehe sie jedoch Kimberley verließ, sandte sie sowohl an Colonel Race als auch an mich ein Telegramm. Seitdem hat Mrs Blair ständig in Verbindung mit uns gestanden. Annes Brief war genau das, was ich erwartet hatte. Sie sehen, Sir Eustace – das Spiel ist aus!»

Sir Eustace wandte sich heftig um.

«Sehr schlau, meine Hochachtung! Doch ich habe noch ein Wort zu sagen. Gut, ich habe das Spiel verloren – aber Sie ebenfalls. Sie werden niemals den Beweis erbringen können, dass ich Nadina umgebracht habe. Sie können höchstens sagen, ich sei an dem betreffenden Tag in Marlow gewesen, und Pagett wird es wohl bestätigen – das ist aber auch alles. Kein Mensch weiß, ob ich diese Frau überhaupt kannte. Sie aber kannten sie genau. Sie hatten ein Motiv, sie zu töten, und haben obendrein einen schlechten Ruf. Sie gelten noch immer als Dieb, vergessen Sie das nicht! Und vielleicht ist Ihnen eine Kleinigkeit noch unbekannt: Die Diamanten sind in meinem Besitz.

Ich bin jedoch bereit, ein Abkommen mit Ihnen zu treffen. Sie haben mich in die Enge getrieben. Wenn Race mich in diesem Haus findet, ist es aus mit mir – mit Ihnen aber auch, mein Freund. Im nächsten Zimmer befindet sich eine Dachluke; geben Sie mir ein paar Minuten Vorsprung, und ich bin in Sicherheit. Meine Vorbereitungen für den Notfall sind längst getroffen. Lassen Sie mir diesen Ausweg, und ich gebe Ihnen dafür ein unterzeichnetes Dokument, dass ich Nadinas Mörder bin.»

Das Krachen von splitterndem Holz ertönte, und eilende Füße jagten die Treppe herauf. Harry zog den Riegel zurück. Colonel Race war der Erste, der ins Zimmer stürzte. Sein Gesicht hellte sich auf, als er uns erblickte.

«Gott sei Dank, Anne, Sie sind unverletzt! Ich hatte solche Angst.» Er wandte sich an Sir Eustace. «Ich bin lange hinter Ihnen her gewesen, Pedler. Endlich haben wir Sie.»

«Hier scheint alles verrückt zu spielen!», rief Sir Eustace. «Diese beiden jungen Leute bedrohen mich mit einem Revolver und erheben die unsinnigsten Anschuldigungen. Ich verstehe nicht, was das alles bedeuten soll.»

«Nein, verstehen Sie wirklich nicht? Dann will ich es Ihnen erklären. Es bedeutet zum einen, dass wir den ‹Colonel› zur Strecke gebracht haben. Es bedeutet ferner, dass Sie am 8. Januar nicht an der Riviera, sondern in Marlow waren. Es bedeutet, dass Sie Ihr Werkzeug, Madame Nadina, ermordeten, als sie Ihnen gefährlich wurde – und dass wir endlich die Beweise dafür erbringen können.»

«Tatsächlich? Und wer hat Ihnen all diese interessanten Informationen verschafft? Der junge Mann hier, der von der Polizei gesucht wird? Seine Aussage wird nicht sehr glaubhaft klingen.»

«Wir haben andere Zeugen – einen Mann, der wusste, dass Nadina eine Verabredung mit Ihnen im Haus zur Mühle in Marlow hatte.»

Sir Eustace blickte erstaunt auf, und Colonel Race machte eine Handbewegung. Arthur Minks alias Reverend Chichester alias Miss Pettigrew trat einen Schritt vor. Er war bleich und erregt, aber er sprach klar und deutlich: «Ich traf Nadina am Vorabend ihrer Abreise nach England. Damals trat ich als russischer Graf auf. Sie sagte mir, was sie vorhatte. Ich warnte sie, weil ich wusste, mit wem sie sich einlassen wollte, aber sie schlug meine Warnung in den Wind. Als sie tot war, versuchte ich selber an die Diamanten heranzukommen; deshalb fuhr ich mit der Kilmorden. In Johannesburg trat Mr Rayburn an mich heran, und ich entschloss mich, auf die Seite des Rechts überzugehen.»

Sir Eustace starrte ihn an. «Die Ratten verlassen das sinkende Schiff», murmelte er.

«Auch ich habe noch eine Überraschung für Sie, Sir Eustace», sagte ich. «Der Film, den Sie in Ihrem Besitz haben, enthält keineswegs Diamanten, sondern nur gewöhnliche Kieselsteine. Die Diamanten sind an einem sicheren Ort. Um es Ihnen genau zu sagen, sie stecken im Bauch der großen Giraffe. Mrs Blair hat sie ausgehöhlt, die Steine in Watte verpackt, damit sie nicht klirren, und den Hals wieder festgeklebt.»

Sir Eustace sah mich eine Weile an, dann sagte er: «Ich habe dieses Vieh schon immer gehasst, das muss geradezu Vorahnung gewesen sein.»

34

In dieser Nacht konnten wir nicht nach Johannesburg zurückkehren, weil die Rebellen einen Teil des Vororts besetzt hatten. Unsere Zufluchtsstätte war eine Farm, die etwa zwanzig Meilen von Johannesburg entfernt lag. Ich fiel vor Erschöpfung beinahe um. All die Aufregungen und Ängste der letzten Tage waren doch zu viel für mich gewesen.

Sir Eustace war unter sicherer Bewachung in die entgegengesetzte Richtung abtransportiert worden.

Immer wieder sagte ich mir, dass unsere Sorgen vorüber seien, doch ich vermochte es noch nicht wirklich zu glauben. Harry und ich waren wieder vereint, und nichts sollte uns mehr trennen. Und dennoch fühlte ich eine Schranke zwischen uns, eine Zurückhaltung von seiner Seite, die mir unverständlich war.

Am folgenden Morgen stand ich schon frühzeitig auf der Terrasse und blickte über das Buschland nach Johannesburg. Ich hörte das dumpfe Grollen der Geschütze. Die Revolution war noch nicht beendet.

Die Farmersfrau rief mich zum Frühstück. Sie war eine warmherzige, mütterliche Seele, die mich bereits ins Herz geschlossen hatte. Wie sie mir berichtete, war Harry schon vor Stunden weggegangen und noch nicht zurückgekehrt. Wieder überfiel mich die Unsicherheit. Was für ein Schatten hatte sich zwischen uns geschlichen?

Später setzte ich mich erneut auf die Terrasse und nahm ein Buch zur Hand; doch zu lesen vermochte ich nicht. Ich war so in meine trüben Gedanken versunken, dass ich nicht bemerkte, wie Colonel Race heransprengte und von seinem Pferd stieg. Erst als er mir «Guten Morgen, Anne!», zurief, kehrte ich in die Wirklichkeit zurück.

«Oh», sagte ich errötend, «Sie sind es.»

«Ja. Darf ich mich setzen?»

Seit unserem Ausflug zu Cecil Rhodes’ Grab war dies das erste Mal, dass wir allein waren. Und auch jetzt wieder überkam mich das eigenartige Gefühl von Bewunderung und Angst zugleich, das dieser Mann mir ständig einflößte.

«Was gibt es Neues?», fragte ich.

«General Smuts wird morgen in Johannesburg eintreffen. Bis dahin wird weitergekämpft. Aber ich habe noch eine andere Nachricht für Sie, Anne: Pedler ist entwischt.»

«Was sagen Sie da?»

«Er ist ausgebrochen. Man hatte ihn über Nacht auf einer Farm in Gewahrsam gehalten. Doch heute früh war der Vogel ausgeflogen, obschon das Zimmer im oberen Stockwerk lag.»

Ganz im Geheimen fühlte ich eine leichte Befriedigung. Bis heute ist es mir nicht gelungen, eine gewisse Sympathie für Sir Eustace zu überwinden. Er hatte versucht, mich umzubringen – und dennoch! Er war so amüsant und liebenswürdig. Natürlich verschwieg ich meine Empfindungen, denn Colonel Race musste sicherlich anderer Auffassung sein. Er wünschte, dass der Gerechtigkeit Genüge getan würde. Wenn ich es mir jedoch richtig überlegte, war Sir Eustaces Entkommen nicht besonders erstaunlich. Rings um Johannesburg musste er Dutzende von Agenten und Spione haben, und was auch Colonel Race darüber denken mochte, ich war beinahe sicher, dass man ihn nie fassen würde.

Unser Gespräch flaute ab. Doch dann erkundigte sich Colonel Race plötzlich nach Harry. Ich vermochte ihm nur zu sagen, dass ich ihn an diesem Morgen noch nicht gesehen hatte. «Sie wissen natürlich, Anne, dass seine völlige Unschuld bereits festgestellt ist? Es wird noch einige Untersuchungen geben, doch die Schuld von Sir Eustace ist erwiesen. Nichts braucht Sie mehr von Harry zu trennen.»

«Ja, ich verstehe», sagte ich dankbar.

«Und es besteht kein Grund mehr für ihn, unter falschem Namen zu leben.»

«Natürlich nicht.»

«Sie kennen seinen richtigen Namen?»

Die Frage überraschte mich.

«Selbstverständlich – Harry Lucas.»

Er gab keine Antwort, doch sein Schweigen verwirrte mich.

«Anne, erinnern Sie sich noch meiner Worte bei unserem Ausflug? Ich sagte Ihnen damals, jetzt wisse ich wenigstens, was ich zu tun hätte.»

«Ich erinnere mich genau.»

«Ich glaube, mein Versprechen gehalten zu haben. Der Mann Ihrer Liebe ist frei von jedem Verdacht.»

Ich senkte den Kopf, beschämt über meinen damaligen Argwohn.

Nachdenklich sprach er weiter: «Als ich ein junger Kerl war, verliebte ich mich in ein Mädchen, das mich betrog. Und dann lebte ich nur noch für meine Arbeit – bis ich Ihnen begegnete, Anne. Aber es war zu spät für mich, Jugend drängt zu Jugend… und mir bleibt immer noch mein Beruf.»

Eine Weile schwiegen wir beide. Dann sah ich ihn an und sagte: «Sie haben noch eine große Zukunft vor sich. Sie werden eine wichtige Persönlichkeit sein, eine hohe Stellung einnehmen.»

«Aber ich werde einsam sein.»

In diesem Moment schlenderte Harry um die Hausecke. Colonel Race erhob sich.

«Guten Morgen – Lucas», sagte er.

Aus einem mir unverständlichen Grund errötete Harry.

«Ja», rief ich fröhlich, «jetzt darfst du wieder deinen eigenen Namen tragen.»

Harry blickte nicht mich, sondern Colonel Race an.

«Sie wissen es also?», sagte er.

«Ich vergesse kein Gesicht. Ich kannte Sie, als Sie ein Junge waren.»

«Was bedeutet das alles?», fragte ich verwirrt.

Die beiden Männer fochten einen wortlosen Kampf aus. Schließlich gab Harry nach.

«Sie haben Recht, Sir. Sagen Sie ihr, wie ich heiße.»

«Anne, das ist nicht Harry Lucas. Harry Lucas fiel im Krieg. Der Mann, der vor Ihnen steht, heißt Harold John Eardsley.»

35

Mit diesen letzten Worten wandte sich Colonel Race um und ließ uns allein.

«Anne, verzeih! Sag, ob du mir verzeihen kannst.» Harry ergriff meine Hand, doch fast mechanisch zog ich sie fort.

«Weshalb hast du mich getäuscht?»

«Ich weiß nicht, ob ich es dir begreiflich machen kann. Ich hatte Angst, Angst vor der Macht des Geldes. Du solltest mich nur um meiner selbst willen lieben, nur den schlichten Harry Rayburn – ohne äußere Vergoldung.»

Ich blickte ihm in die Augen und lachte. «Harry, du Narr! Ich will doch nur dich, dich und nichts anderes.»

Wir kehrten so bald wie möglich nach Kapstadt zurück. Dort erwartete uns Suzanne, und gemeinsam weideten wir die dicke Giraffe aus. Als die Revolte niedergeschlagen war, traf auch Colonel Race in Kapstadt ein. Auf seinen Vorschlag hin zogen wir alle in die große Villa, die Sir Eustace gehört hatte, und richteten uns dort ein.

In dieser Villa schmiedeten wir auch unsere Pläne für die Zukunft. Ich sollte mit Suzanne nach England zurückkehren; in ihrem Haus sollte meine Hochzeit stattfinden. Und die Aussteuer wollten wir in Paris kaufen. Suzanne machte es viel Vergnügen, all dies zu planen, und mir ebenfalls. Und trotzdem schien mir alles irgendwie unwahr, und oft überfiel mich ein Gefühl der Enge, des Erstickens, als ob ich nie wieder frei würde atmen können.

Es war in der letzten Nacht vor unserer Abfahrt. Ich konnte nicht schlafen, fühlte mich elend und wusste nicht, weshalb. Ich fand den Gedanken, Afrika verlassen zu müssen, schrecklich. Würde es jemals wieder so werden wie jetzt – so herrlich und unbeschwert?

Ein gebieterisches Klopfen an die Fensterläden schreckte mich aus meinem Grübeln. Ich sprang auf und öffnete; Harry stand draußen auf der Terrasse.

«Zieh dich rasch an, Anne. Ich muss mit dir sprechen.»

Ich schlüpfte in ein Kleid und rannte in die kühle Nacht hinaus. Harry fasste mich bei der Hand. Sein Gesicht war bleich und entschlossen.

«Anne, erinnerst du dich daran, wie du mir einmal sagtest, eine Frau sei bereit, für den Mann ihrer Liebe alles zu tun?»

«Natürlich», antwortete ich.

Er riss mich heftig an sich.

«Anne, komm mit mir fort – jetzt – heute Nacht! Zurück nach Rhodesien, zurück auf unsere Insel. Ich ertrage all diesen Unsinn nicht mehr, ich will nicht länger auf dich warten.»

Er ging mit Riesenschritten voran. Ich folgte ihm. Er lief so rasch, dass ich ihn kaum einzuholen vermochte.

«Harry», rief ich schließlich, «werden wir denn den ganzen Weg nach Rhodesien zu Fuß gehen müssen?»

Er, drehte sich um und brach in ein helles, glückliches Lachen aus, während er mich in seine Arme schloss.

36

Dies alles geschah vor zwei Jahren, und wir leben immer noch auf unserer Insel. Vor mir liegt ein alter Brief:

Meine liebe Anne Beddingfeld,

ich kann nicht widerstehen, Ihnen zu schreiben, weniger aus Freude am Schreiben als aus dem Bewusstsein des Vergnügens, das ich Ihnen damit bereite. Unser alter Freund Race war doch nicht ganz so klug, wie er dachte, nicht wahr?

Ich setze Sie zu meinem literarischen Nachlassverwalter ein, indem ich Ihnen mein Tagebuch sende. Race kann es nicht interessieren, doch Ihnen machen gewisse Passagen darin sicherlich Spaß. Ich überlasse es Ihnen, welchen Gebrauch Sie davon machen wollen. Ich würde einen Artikel im Daily Budget vorschlagen: Verbrecher, mit denen ich zu tun hatte. Eine einzige Bedingung knüpfe ich daran: Ich möchte die Hauptfigur sein.

Wenn Sie mein Schreiben erhalten, werden Sie bestimmt nicht mehr Anne Beddingfeld, sondern Lady Eardsley heißen und im vornehmsten Viertel von London residieren. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich Ihnen nichts nachtrage. Es ist natürlich schwer, in meinem Alter wieder ganz von vorne beginnen zu müssen, aber, unter uns gesagt, ich hatte für einen solchen Fall bereits eine kleine Reserve angelegt.

Sollten Sie einmal unseren komischen Freund Minks treffen, so richten Sie ihm doch bitte aus, ich hätte ihn keineswegs vergessen. Das wird ihm einen hübschen Schreck einjagen.

Alles in allem habe ich eigentlich eine recht christliche Denkart bewiesen und meinen Feinden vergeben – selbst Pagett. Kürzlich hörte ich, dass seine Frau bereits das sechste Kind auf die Welt gebracht hat. England wird bald von lauter kleinen Pagetts bevölkert sein. Ich habe dem Kind einen silbernen Becher gesandt und mich bereit erklärt, ihm Pate zu stehen. Ich sehe schon den braven Pagett mit Brief und Becher schnurstracks zur Polizei rennen, ohne auch nur zu lächeln über meinen Scherz.

Eines Tages werden Sie erkennen, welchen Fehler Sie begingen, mich nicht zu heiraten.

Für immer Ihr

Eustace Pedler

Harry war wütend. In diesem einen und einzigen Punkt verstehen wir uns nicht. Für ihn bleibt Sir Eustace stets der Mann, der mich zu ermorden versuchte. Sir Eustaces Angriffe auf mein Leben haben mich immer verwirrt – sie passten so gar nicht ins Bild. Denn ich bin fest überzeugt, dass er mich eigentlich gern hatte.

Mein Sohn liegt in der Sonne und spielt mit seinen Füßchen. Er könnte als kleiner «Mann im braunen Anzug», gelten, wenn auch sein Anzug aus seiner eigenen Haut besteht. Ständig buddelt er in der Erde herum – ich glaube, er schlägt seinem Großvater nach. Er zeigt schon jetzt die gleiche Vorliebe für diluvialen Lehm.

Bei seiner Geburt hat mir Suzanne ein Telegramm geschickt:

Herzliche Glückwünsche und all meine Liebe dem jüngsten Ankömmling auf der Mondsüchtigen-Insel. Ist er nun langschädelig oder rundköpfig?

Das durfte ich mir von Suzanne nicht bieten lassen! Ich habe ein einziges Wort zurückgekabelt, das meine Ansicht klar ausdrückte: «Glatzköpfig!»

* Der Rand ist der Goldminendistrikt um Johannesburg.

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