Nachdem sie einige Stunden geritten waren, weitete sich das Tal und gab den Blick nach vorne frei. Der Fluß, dem sie gefolgt waren, mündete hier in einen breiteren, wilderen Strom, der nach Osten floß. Dahinter lag eine wunderschöne, sanft bis zu den nördlichen Bergen ansteigende Hügellandschaft. Zur Rechten erhoben sich schroffe Felsen, einige davon mit schneebedeckten Gipfeln, links sah man, so weit das Auge reichte, mit Nadelbäumen bewachsene Hänge, finstere Grate, enge Schluchten und blaue Hügelkämme. Den Berg Pire konnte Shasta nicht mehr sehen. Geradeaus sank die Bergkette zu einem bewaldeten Sattel ab. Das mußte der Paß sein, der von Archenland nach Narnia führte.
„Broo-hoo-hoo, der Norden, der grüne Norden!“ wieherte Bree. Und tatsächlich waren die niedrigen Hügel grüner als alles, was sich Aravis und Shasta je hätten vorstellen können. Und so faßten sie wieder Mut, während sie zu der Stelle hinunterritten, wo sich die beiden Flüsse trafen.
Der Fluß, der in Richtung Osten verlief und der am westlichen Ende der Bergkette von den höheren Bergen ins Tal strömte, war viel zu reißend und von so vielen Stromschnellen durchsetzt, daß nicht daran zu denken war, ihn zu durchschwimmen. Doch nachdem sie sich ein wenig umgesehen hatten, fanden sie eine Stelle, an der man ans andere Ufer waten konnte. Das Tosen und Brausen des Wassers die Kraft, mit der es die Fesseln der Pferde umspülte, die kühle Brise und die umherschwirrenden Libellen erfüllten Shasta mit einer eigenartigen Erregung.
„Freunde, wir sind in Archenland!“ verkündete Bree stolz als er, um sich spritzend, am nördlichen Ufer ankam und sich schüttelte. „Ich glaube, der Fluß, den wir eben durchwatet haben, heißt Schlängelpfeil.“
„Hoffentlich kommen wir noch rechtzeitig“, murmelte Hwin.
Dann begannen sie aufwärts zu steigen. Es ging langsam voran, und oft mußten sie im Zickzack laufen, denn die Hügel waren steil. Es war ein offenes, parkähnliches Gelände, das sie gerade durchquerten. Weder Straßen noch Häuser waren zu sehen. Überall sah man vereinzelte Baumgruppen, aber es war kein richtiger Wald – dafür standen die Bäume nicht dicht genug. Shasta, der fast sein ganzes Leben in einer Gegend verbracht hatte, wo es kaum Bäume gab, hatte noch nie so viele verschiedene Baumarten gesehen und kannte nicht einmal ihre Namen. Er wußte nicht, daß das Eichen, Buchen, Silberbirken, Ebereschen und Kastanienbäume waren. Kaninchen stoben nach allen Seiten davon, als die beiden Pferde mit den Kindern näher kamen. Kurz darauf sahen sie eine Herde Damhirsche, die zwischen die Bäume flüchtete.
„Wie wunderschön es hier ist!“ sagte Aravis.
Auf dem ersten Hügelkamm wandte sich Shasta um und schaute zurück. Tashbaan war nicht mehr zu sehen. Bis zum Horizont erstreckte sich die Wüste, lediglich unterbrochen von dem schmalen grünen Streifen des Tales, durch das sie gekommen waren.
„Na so was!“ sagte Shasta plötzlich. „Was ist denn das?“
„Was meinst du?“ fragte Bree und drehte sich ebenfalls um. Auch Hwin und Aravis wandten den Kopf.
„Dort!“ Shasta zeigte ihnen, was ihm aufgefallen war. „Sieht aus wie Rauch. Ob dort wohl ein Feuer brennt?“
„Es könnte auch ein Sandsturm sein“, meinte Bree.
„Dafür ist der Wind nicht stark genug“, wandte Aravis ein.
„Oh!“ rief Hwin. „Schaut! Da glitzert etwas. Seht nur! Es sind Helme – und Rüstungen. Sie bewegen sich: sie kommen in unsere Richtung.“
„Bei Tash!“ rief Aravis. „Es sind Truppen! Das ist Rabadash!“
„Natürlich“, sagte Hwin. „Das habe ich befürchtet. Rasch! Wir müssen vor ihnen in Anvard sein!“ Ohne ein weiteres Wort wirbelte sie herum und begann nordwärts zu galoppieren. Bree warf den Kopf zurück und raste hinterher.
„Los, Bree, los!“ schrie Aravis über die Schulter zurück.
Dieser Ritt war mörderisch für die beiden Pferde. Jedesmal, wenn sie auf dem Kamm eines Hügels angekommen waren, lag ein weiteres Tal und ein weiterer Hügelkamm vor ihnen. Zwar wußten sie, daß sie ungefähr in die richtige Richtung galoppierten, aber sie hatten keine Ahnung, wie weit es bis Anvard noch sein mochte. Als sie auf der Spitze des nächsten Hügels angekommen waren, schaute Shasta noch einmal zurück. Statt der Staubwolke weit draußen in der Wüste sah er jetzt eine schwarze, sich vorwärts bewegende, ameisenähnliche Masse am jenseitigen Ufer des Schlängelpfeils. Zweifellos suchten die Soldaten nach einer Furt.
„Sie sind am Fluß!“ rief er aufgeregt.
„Beeilt euch! Beeilt euch!“ rief Aravis. „Wenn wir Anvard nicht vor ihnen erreichen, hätten wir überhaupt nicht zu kommen brauchen! Renn, Bree, renn! Denk dran, daß du ein Streitroß bist!“
Shasta dachte: Das arme Vieh tut schon, was es kann! Aber das stimmte nicht ganz. Bree hatte Hwin inzwischen eingeholt, und sie rasten Seite an Seite über das Gras. Es hatte fast den Anschein, als könne Hwin dieses Tempo nicht mehr lange durchhalten.
Ein Laut, den sie hinter sich hörten, veränderte die Situation auf einen Schlag. Es war nicht der Lärm, den sie eigentlich erwartet hatten – nämlich das Donnern der Hufe, das Klirren der Rüstungen und dazwischen vielleicht kalormenische Schlachtrufe. Shasta erkannte ihn sofort. Es war das wilde Gebrüll, das er in jener Mondnacht gehört hatte, als Hwin und Aravis zu ihnen gestoßen waren. Bree erkannte es ebenfalls. Seine Augen leuchteten rot, und er legte die Ohren flach. Jetzt merkte Bree, daß er nicht so schnell galoppiert war, wie er eigentlich konnte – längst nicht so schnell. Shasta spürte sogleich den Unterschied. Jetzt rannte Bree wirklich, als wäre der Teufel hinter ihm her. Nach ein paar Sekunden hatte er Hwin schon weit hinter sich gelassen.
Das ist nicht fair! dachte Shasta. Ich habe gemeint, wenigstens hier hätten wir Ruhe vor den Löwen!
Er schaute über die Schulter zurück und sah eine riesige, gelbbraune Kreatur, die hinter ihnen hersetzte, geduckt wie eine Katze zum Sprung.
Shasta schaute wieder geradeaus. Doch er begriff kaum, was er da sah. Vor ihnen kreuzte eine etwa zehn Fuß hohe, glatte grüne Mauer den Weg. In der Mitte dieser Mauer war ein offenes Tor. Und in diesem Tor stand ein großer Mann, der ein wallendes Gewand in der Farbe von Herbstblättern trug, das ihm bis auf die bloßen Füße hinunterfiel. Er stützte sich auf einen Stab, und sein Bart reichte ihm fast bis zu den Knien.
All das nahm Shasta mit einem Blick wahr. Dann schaute er wieder zurück. Der Löwe hatte Hwin inzwischen fast eingeholt. Er schnappte nach ihren Hinterbeinen, und in ihrem schaumbespritzten Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen lag keine Hoffnung mehr.
„Halt an!“ schrie Shasta in Brees Ohr. „Zurück. Wir müssen Hwin helfen!“
Bree sagte hinterher, er habe Shasta nicht gehört, oder zumindest habe er ihn nicht verstanden. Und da er gewöhnlich sehr wahrheitsliebend war, müssen wir ihm das wohl glauben.
Shasta nahm die Füße aus den Steigbügeln, ließ sich mit beiden Beinen auf Brees linker Seite hinuntergleiten, zögerte einen klitzekleinen, aber schrecklichen Augenblick lang und sprang dann ab. Es tat entsetzlich weh, und er bekam kaum noch Luft: aber ungeachtet des Schmerzes taumelte er zurück, um Aravis zu helfen.
Ein markerschütternder Schrei brach zwischen Hwins Lippen hervor. Aravis beugte sich tief über den Nacken der Stute, als wolle sie versuchen, das Schwert zu ziehen. Da erhob sich der Löwe auf die Hinterbeine und war nun plötzlich unvorstellbar groß. Er versetzte Aravis mit der rechten Vordertatze einen Hieb. Shasta sah, daß er seine schrecklichen Krallen ausgestreckt hatte. Aravis schrie auf und wankte. Der Löwe hatte sich in ihrer Schulter festgekrallt. Shasta verlor vor Entsetzen fast den Verstand, doch es gelang ihm, sich auf das Scheusal zu stürzen. Aber er hatte keine Waffe, nicht einmal einen Stock oder einen Stein, deshalb schrie er den Löwen an, wie man sonst vielleicht einen Hund anschreit: „Zurück da! Verschwinde!“ Für den Bruchteil einer Sekunde starrte er direkt in den weitgeöffneten Rachen des wütenden Tieres. Dann ließ der Löwe zu Shastas Erstaunen plötzlich von Aravis ab, überschlug sich, kam wieder auf die Beine und rannte davon.
Shasta glaubte keine Sekunde lang, der Löwe könne endgültig verschwunden sein. Er drehte sich um und raste auf die grüne Mauer zu. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, daß er dort ein Tor gesehen hatte. Hwin stolperte, gerade dem Zusammenbruch nahe, hinein. Aravis hielt sich noch im Sattel aber ihr Rücken war voller Blut.
„Komm herein, meine Tochter, komm herein“, sagte der bärtige Mann mit dem wallenden Gewand. „Komm herein mein Sohn“, fügte er hinzu, als Shasta angekeucht kam. Shasta hörte, wie sich hinter ihm das Tor schloß. Der bärtige Fremde half Aravis vom Pferd. Shasta sah sich um. Sie befanden sich auf einem großen, kreisrunden Gelände, eingesäumt von einer hohen Wand aus grünem Gras. Ein Teich, so voll, daß das Wasser fast auf gleicher Höhe mit der Erde stand, lag völlig unbeweglich und von Zweigen überschattet vor ihm. An einem Ende des Teiches wuchs der größte und schönste Baum, den Shasta je gesehen hatte. Hinter dem Teich stand ein kleines, niedriges Steinhaus mit einem weit heruntergezogenen, uralten Strohdach. Ein Meckern war zu hören. Auf der anderen Seite des Geländes weideten ein paar Ziegen. Überall wuchs weiches Gras.
„Seid Ihr ...“, keuchte Shasta. „Seid Ihr König Lune von Archenland?“
Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte er ruhig. „Ich bin der Einsiedler der Südmark. Und nun, mein Sohn, vergeude nicht die Zeit mit Fragen, sondern tu, was ich dir sage. Die junge Dame ist verwundet. Eure Pferde sind erschöpft. Rabadash hat eben eine Furt über den Schlängelpfeil gefunden. Wenn du jetzt losrennst, ohne auch nur einen Augenblick zu rasten, dann kommst du noch rechtzeitig, um König Lune zu warnen.“
Shasta wurde ganz weich in den Knien, als er diese Worte hörte. Er hatte absolut keine Kraft mehr. Trotzdem fragte er: „Wo ist der König?“
Der Einsiedler wandte sich um und deutete mit dem Stab. „Schau!“ sagte er. „Dort ist wieder ein Tor. Genau gegenüber von dem, durch das du hereingekommen bist. Öffne es und geh geradeaus: immer geradeaus, ob eben oder steil, weich oder hart, trocken oder naß. Ich weiß durch meine Kunst daß du dort König Lune finden wirst. Aber renn, renn: bleib nicht stehn!“
Shasta nickte, rannte zum nördlichen Tor und verschwand. Nun nahm der Einsiedler Aravis, die er mit dem linken Arm gestützt hatte, und führte sie behutsam ins Haus. Lange Zeit später kam er wieder heraus.
„So, meine Neffen“, sagte er zu den Pferden. „Jetzt seid ihr dran.“
Ohne auf eine Antwort zu warten – die Pferde waren sowieso zu müde zum Reden –, nahm er ihnen Zaumzeug und Sättel ab. Dann rieb er die beiden so gut ab, daß es selbst der erste Pferdeknecht an einem königlichen Stall nicht besser gemacht hätte.
„So, meine Neffen“, sagte er. „Streicht alles aus eurem Gedächtnis, und macht es euch bequem. Hier ist Wasser, und da ist Gras. Ich werde euch einen heißen Brei bringen, sobald ich meine Ziegen gemolken habe.“
„Herr“, sagte Hwin, die endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Wird die Tarkheena am Leben bleiben? Hat der Löwe sie tödlich verletzt?“
„Ich, der ich durch meine Kunst viele Dinge weiß, die sich in der Gegenwart ereignen“, entgegnete der Einsiedler lächelnd, „habe nur geringe Kenntnis von den Dingen, die in der Zukunft liegen. Deshalb weiß ich nicht, ob auf der ganzen Welt heute abend bei Sonnenuntergang noch ein einziger Mann, eine einzige Frau oder einziges Tier am Leben ist. Aber sei guter Hoffnung. Die junge Dame wird vermutlich genauso alt werden wie jeder andere ihrer Altersgenossen.“
Als Aravis zu sich kam, entdeckte sie, daß sie in einem kühlen, kahlen Raum mit rohen Steinwänden auf einem weichen, niedrigen Bett lag. Sie verstand nicht, warum sie auf dem Bauch lag; aber als sie sich umdrehen wollte und den stechenden Schmerz am Rücken verspürte, fiel ihr alles wieder ein. Sie hatte keine Ahnung, was dieses wunderbar federnde Zeug sein mochte, aus dem ihr Lager gemacht war. Es bestand aus Heidekraut, dem allerbesten Bettzeug, doch davon hatte sie noch nie gehört.
Die Tür ging auf, und der Einsiedler kam herein. Er trug eine große hölzerne Schale in der Hand. Nachdem er diese vorsichtig abgesetzt hatte, trat er zum Bett und fragte: „Wie geht es dir, meine Tochter?“
„Mein Rücken tut sehr weh, Vater“, sagte Aravis. „Aber sonst ist alles in Ordnung.“
Er kniete sich neben sie, legte seine Hand auf ihre Stirn und fühlte ihren Puls. „Du hast kein Fieber“, sagte er. „Es geht dir gut. Es gibt wirklich keinen Grund, warum du nicht morgen wieder aufstehen solltest. Doch jetzt trink.“
Er holte die hölzerne Schale und führte sie an ihre Lippen. Aravis verzog das Gesicht, als sie den ersten Schluck genommen hatte, denn Ziegenmilch ist ein ziemlicher Schock, wenn man nicht an sie gewöhnt ist. Aber Aravis war sehr durstig, und so schaffte sie es, die Schale leerzutrinken. Danach ging es ihr schon besser.
„So, meine Tochter, du kannst jetzt schlafen, wenn du magst“, sagte der Einsiedler. „Deine Wunden sind ausgewaschen und verbunden, und obwohl sie schmerzen, sind sie doch nicht schlimmer als die Kratzer einer Katze. Das muß ein ganz eigenartiger Löwe gewesen sein; denn anstatt dich aus dem Sattel zu zerren und die Zähne in dich zu schlagen, hat er dir nur die Krallen über den Rücken gezogen. Zehn Striemen – schmerzhaft, aber weder tief noch gefährlich.“
„O je!“ rief Aravis. „Da habe ich aber Glück gehabt!“
„Tochter“, sagte der Einsiedler. „Ich lebe jetzt seit einhundertundneun Jahren in dieser Welt, und so etwas wie Glück ist mir noch nie über den Weg gelaufen. An dieser Sache ist einiges, was ich nicht verstehe, aber wenn es jemals sein soll, daß wir es verstehen, dann werden wir es auch verstehen – da kannst du sicher sein.“
„Und was ist mit Rabadash und seinen zweihundert berittenen Männern?“ erkundigte sich Aravis.
„Sie werden vermutlich nicht hier vorbeikommen“, entgegnete der Einsiedler. „Sie müssen inzwischen ein gutes Stück östlich eine Furt gefunden haben. Von dort aus werden sie geradewegs nach Anvard reiten.“
„Armer Shasta!“ rief Aravis. „Muß er weit gehen? Wird er es schaffen, vor ihnen anzukommen?“
„Gut möglich“, sagte der alte Mann.
Aravis legte sich wieder zurück – auf die Seite diesmal – und sagte: „Habe ich lange geschlafen? Es scheint dunkel zu werden.“
Der Einsiedler schaute aus dem einzigen, nach Norden gewandten Fenster. „Dies ist nicht die Dunkelheit der Nacht“, sagte er nach einem Weilchen. „Die Wolken rollen vom Sturmkopf herunter. Das schlechte Wetter in dieser Gegend kommt immer von dort. Heute nacht wird dichter Nebel aufkommen.“
Abgesehen von ihrem schmerzenden Rücken fühlte sich Aravis am nächsten Tag so wohl, daß ihr der Einsiedler nach dem Frühstück, das aus Hafergrütze mit Sahne bestand, die Erlaubnis zum Aufstehen gab. Natürlich ging sie gleich nach draußen, um mit den Pferden zu reden. Das Wetter hatte umgeschlagen, und das ganze Gelände war mit Sonnenlicht erfüllt, wie eine riesige grüne Tasse. Es war ein sehr friedlicher, einsamer und stiller Ort.
Hwin kam sofort angetrottet und gab Aravis einen Pferdekuß.
„Aber wo ist Bree?“ fragte Aravis, nachdem sie sich nach dem gegenseitigen Wohlbefinden erkundigt hatten.
„Da drüben“, antwortete Hwin und deutete mit der Nase zur anderen Seite des kreisrunden Geländes. „Ich wollte, du würdest mit ihm reden. Irgend etwas stimmt nicht mit ihm Ich kann kein Wort aus ihm herauskriegen.“
Aravis schlenderte hinüber. Bree lag da mit dem Gesicht zur Mauer. Obwohl er sie gehört haben mußte, drehte er nicht einmal den Kopf zu ihr um.
„Guten Morgen, Bree“, sagte Aravis. „Wie geht es dir heute früh?“ Bree brummte etwas Unverständliches.
„Der Einsiedler meint, Shasta habe König Lune vermutlich noch rechtzeitig erreicht“, fuhr Aravis fort. „Es sieht also so aus, als hätten wir das Ganze hinter uns. Jetzt sind wir bald in Narnia, Bree!“
„Ich werde Narnia nie sehen“, sagte Bree leise.
„Geht es dir nicht gut, Bree, mein Lieber?“ erkundigte sich Aravis.
Jetzt drehte sich Bree endlich um. Er machte ein so kummervolles Gesicht, wie es das nur ein Pferd fertigbringt. „Ich werde nach Kalormen zurückkehren“, sagte er.
„Was?“ sagte Aravis. „Zurück in die Sklaverei?“
„Ja“, antwortete Bree. „Ich tauge nur für die Sklaverei. Wie kann ich den freien, narnianischen Pferden jemals ins Gesicht sehen? Ich, der ich eine Stute und ein Mädchen den Löwen zum Fraß überließ, während ich im Galopp davonjagte, um meine eigene Haut zu retten!“
„Wir sind beide um unser Leben gerannt“, sagte Hwin.
„Shasta nicht!“ schnaubte Bree. „Er ist zurückgelaufen. Und ich, der ich mich als Schlachtroß rühmte und mit meinen hundert Schlachten prahlte, ich lasse mich von einem kleinen Menschenjungen beschämen – einem Kind, einem Fohlen, das noch nie ein Schwert in der Hand hielt, nie eine gute Erziehung genoß und dem nie jemand mit gutem Beispiel voranging!“
„Ich weiß“, sagte Aravis. „Mir geht es wie dir. Shasta war wunderbar. Ich habe ihn verächtlich behandelt und auf ihn herabgeschaut, seit wir euch trafen, und jetzt stellt sich heraus, daß er der Mutigste von uns allen ist. Aber ich finde, es ist besser, du bleibst hier und entschuldigst dich, statt nach Kalormen zurückzukehren.“
„Für dich mag das ja angehen“, sagte Bree. „Du hast dich nicht unehrenhaft verhalten. Aber ich habe meine Ehre verloren.“
„Mein liebes Pferd“, sagte der Einsiedler, der sich auf dem taubenetzten Gras lautlos genähert hatte. „Mein gutes Pferd, du hast lediglich deinen Hochmut verloren. Nein, nein, mein Neffe. Es besteht kein Grund, die Ohren zurückzulegen und die Mähne gegen mich zu schütteln. Wenn du dich wirklich so gedemütigt fühlst, wie es sich vor einer Minute noch anhörte, dann mußt du lernen, deine Ohren der Vernunft zu öffnen. Du bist nicht das großartige Pferd, für das du dich hieltest, als du noch mit den armen, stummen Pferden zusammenlebtest. Natürlich warst du mutiger und klüger als sie. Das ist ganz natürlich. Aber deshalb bist du in Narnia noch lange nichts Besonderes. Solange du aber weißt, daß du nichts Besonderes bist, wirst du alles in allem doch ein recht annehmbares Pferd sein. Und wenn du jetzt mit deiner vierbeinigen Gefährtin nach hinten zur Küchentür kommst, dann gebe ich euch die andere Hälfte vom Brei.“