14. November 1841
Fluch und Segen
Ab Mitte November wurde es sehr kalt. Früh setzten heftige Schneefälle ein, und Vicky musste sich durch hohe Verwehungen kämpfen. Wenn Rob J. bei schlimmem Wetter draußen war, rief er die Stute manchmal Margaret, und sie stellte beim Klang ihres alten Namens die kurzen Ohren auf. Ross und Reiter wussten, wohin sie wollten: Auf das Pferd warteten warmes Wasser und ein voller Sack Hafer, der Mann freute sich auf seine Hütte mit all der Wärme und dem Licht, die mehr von der Frau und dem Kind kamen als von der Feuerstelle und den Öllampen. Wenn Sarah nicht schon in der Hochzeitsnacht empfangen hatte, dann kurz danach. Doch die heftige morgendliche Übelkeit konnte ihre Leidenschaft nicht dämpfen.
Ungeduldig warteten sie, bis Alex eingeschlafen war, und dann fielen sie übereinander her, mit einer Begierde, die nie nachließ. Je weiter Sarahs Schwangerschaft fortschritt, desto zärtlicher und behutsamer wurde er. Einmal im Monat nahm er Bleistift und Notizbuch, um sie nackt neben dem wärmenden Feuer zu zeichnen, Entwicklungsstadien einer Schwangeren, die nichts von ihrem wissenschaftlichen Wert verloren, nur weil Gefühle in die Zeichnungen mit einflossen. Er fertigte auch architektonische Entwürfe an, denn sie hatten sich auf ein Haus mit drei Schlafzimmern, einer großen Küche und einem Wohnzimmer geeinigt. Er zeichnete maßstabsgetreue Pläne, damit Alden zwei Zimmerleute anstellen und im Frühjähr nach der Aussaat mit dem Hausbau beginnen konnte.
Sarah sah es nicht gern, dass Makwa-ikwa an einem Aspekt des Lebens ihres Mannes teilhatte, der ihr selbst verschlossen war. Als wärmere Tage die Prärie zuerst in einen riesigen Sumpf und dann in einen zarten grünen Teppich verwandelten, kündigte sie an, wenn das Frühlingsfieber ausbreche, werde sie mit ihm gehen und die Kranken pflegen. Doch Ende April war ihr Körper bereits so unförmig, dass sie gequält von Eifersucht und von der Schwangerschaft wütend zu Hause saß, während die Indianerfrau mit dem Doktor ausritt und erst viele Stunden oder manchmal auch Tage später zurückkehrte. Erschöpft, wie Rob J. nach solchen Strapazen war, aß er nur schnell, badete wenn möglich, stahl sich ein paar Stunden Schlaf und ritt dann mit Makwa-ikwa wieder hinaus.
Bis zum Juni, Sarahs letztem Monat der Schwangerschaft, war die Fieberepidemie so weit abgeklungen, dass Rob J. Makwa-ikwa zu Hause lassen konnte. Eines Morgens, als er gerade bei heftigem Regen zu einer Farmersfrau ritt, die im Sterben lag, kam zu Hause in seiner Hütte seine Frau nieder. Makwa-ikwa steckte Sarah das Beißholz zwischen die Zähne, band ein Seil an der Tür fest und gab ihr das verknotete Ende in die Hand, damit sie daran ziehen konnte. Es dauerte Stunden, bis Rob J. seinen Kampf gegen die brandigen Wundrosen verlor - wie er später Oliver Wendeil Holmes in einem Brief berichten sollte, war die tödliche Krankheit Folge einer vernachlässigten Verletzung am Finger, die sich die Frau beim Saatkartoffelstecken zugezogen hatte -, doch als er nach Hause zurückkehrte, war sein Kind noch immer nicht geboren. Die Augen Sarahs funkelten wild. »Es reißt mir den Körper auseinander. Mach, dass es aufhört, du Saukerl!« fauchte sie ihn an, kaum dass er durch die Tür trat. Als Holmes’ gelehriger Schüler schrubbte er seine Hände, bis sie rot waren, bevor er sich seiner Frau näherte. Nachdem er sie untersucht hatte, nahm er Makwa-ikwa zur Seite. »Das Kind kommt sehr langsam«, sagte sie. »Das Kind kommt mit den Füßen zuerst.«
Ihr Blick verschattete sich, doch sie nickte und kehrte zu Sarah zurück. Die Wehen ließen nicht nach. Mitten in der Nacht zwang er sich, Sarahs Hände in die seinen zu nehmen, denn er fürchtete sich vor dem, was sie ihm sagen mochten. »Was ist?« fragte sie mit belegter Stimme. Er spürte ihre Lebenskraft, wenn auch vermindert, doch unauslöschlich in ihr verwurzelt. Er flüsterte ihr Liebesworte zu, doch sie hatte zu starke Schmerzen, um auf Worte oder Küsse zu reagieren. Es dauerte und dauerte. Sie stöhnte und schrie. Er ertappte sich dabei, wie er betete, doch dann bekam er es mit der Angst zu tun, weil er, ungläubig wie er war, von Gott nichts verlangen konnte, und er fühlte sich zugleich arrogant und heuchlerisch: Wenn ich unrecht habe und Du existierst, dann bestrafe mich, aber bitte nicht, indem Du dieser
Frau etwas tust. Oder diesem Kind, das sich so abmüht, in die Welt zu kommen, fügte er hastig hinzu. Kurz vor Tagesanbruch zeigten sich kleine, rote Extremitäten, große Füße für ein Neugeborenes mit der richtigen Anzahl Zehen. Rob flüsterte aufmunternd, erzählte dem Kleinen, dass das ganze Leben ein Kampf sei. Zentimeter um Zentimeter schoben sich Beine heraus, strampelnde, lebendige Beine, wie er erfreut feststellte.
Dann der süße kleine Penis eines Jungen. Hände, die richtige Anzahl Finger. Ein gut entwickeltes Baby. Doch die Schultern steckten fest, er musste Sarah schneiden, ihr noch mehr Schmerzen zufügen. Das kleine Gesicht drückte gegen die Scheidenwand. Aus Angst, der Junge könne im mütterlichen Fleisch ersticken, schob er zwei Finger hinein und dehnte den Geburtskanal, bis das entrüstet blickende kleine Gesicht in das Chaos des Lebens plumpste und sofort einen dünnen Schrei ausstieß.
Mit zitternden Händen band er die Nabelschnur ab, durchtrennte sie und nähte dann seine schluchzende Frau.
Als er ihr schließlich über den Bauch strich, damit die Gebärmutter sich zusammenziehe, hatte Makwa-ikwa den Kleinen bereits gewaschen, gewickelt und der Mutter an die Brust gelegt. Dreiundzwanzig schwere Stunden hatten die Wehen gedauert, und jetzt schlief Sarah lange und wie eine Tote. Er hielt ihre Hand fest in den seinen, bis sie die Augen wieder aufschlug. »Gute Arbeit!« sagte er.
»Er ist so groß wie ein Büffel. Ungefähr so groß, wie Alex war«, erwiderte sie heiser. Als Rob J. ihn wog, zeigte die Waage sieben Pfund und vierhundertvierzig Gramm. »Ein gutes bairn?« fragte sie, musterte sein Gesicht und grinste, als er sagte, es sei ein Teufelsbraten. »Ein verflucht gutes bairn.«
Dann brachte er seine Lippen an ihr Ohr. »Weißt du noch, was du mich gestern genannt hast?« flüsterte er. »Was denn?«
»Einen Saukerl.«
»Nie!« rief sie entsetzt und wütend und wollte fast eine Stunde lang nicht mehr mit ihm reden.
Robert Jefferson Cole, so nannten sie den Jungen, weil in der Cole-Familie jeder erstgeborene Junge den Taufnamen Robert erhielt und einen zweiten Namen, der mit J begann. In Robs Augen war der dritte amerikanische Präsident ein Genie gewesen, und Sarah sah in dem Namen Jefferson eine Verbindung zu Virginia. Sie hatte befürchtet, dass Alex eifersüchtig sein werde, aber der ältere Junge zeigte nichts anderes als Faszination. Er war nie weiter als ein oder zwei Schritte von seinem Bruder entfernt und passte immer auf ihn auf. Von Anfang an machte er deutlich, dass sie getrost das Baby pflegen, ihm die Windeln wechseln, mit ihm spielen, es küssen und liebkosen konnten; seine Aufgabe aber war es, auf den Kleinen aufzupassen. In vieler Hinsicht erwies sich 1842 als ein gutes Jahr für die kleine Familie. Für den Hausbau hatte Alden Otto Pfersick, den Müller, und einen Siedler aus dem Staat New York namens Mort London angeheuert. London war ein guter, erfahrener Zimmermann. Pfersick hatte zwar für die Holzarbeiten nicht die geschicktesten Hände, dafür aber für das Mauern, und die drei Männer brachten Tage damit zu, am Fluss die besten Steine auszusuchen und sie mit Ochsen zum Bauplatz hochzukarren. Die Grundmauern, der Schornstein und die Feuerstellen wurden stattlich und solide. Die Männer arbeiteten langsam, denn es war ihnen bewusst, dass sie in einem Land der Holzhütten etwas Dauerhaftes bauten. Doch als bei Herbstbeginn Pfersick in seine Mühle und die beiden anderen Männer zur Farmarbeit mussten, waren die Wände hochgezogen und die Dachflächen gedeckt. Aber das Haus war noch lange nicht fertig, und deshalb saß Sarah vor der Hütte und putzte gerade grüne Bohnen, als ein gedeckter Planwagen hinter zwei müde aussehenden Pferden den Weg entlangschaukelte. Sie musterte den stattlichen Mann auf dem Kutschbock und entdeckte ein freundliches Gesicht und viel Straßenstaub auf den dunklen Haaren und dem Bart.
»Ist das vielleicht das Haus von Doktor Cole, Ma’am?«
»Das ist es - nicht nur vielleicht. Aber er ist unterwegs zu einem Hausbesuch. Ist der Patient verletzt oder schwer krank?«
»Wir haben keinen Patienten, dem Herrn sei Dank! Wir sind Freunde des Doktors, die sich hier niederlassen wollen.« Bei diesen Worten lugte eine Frau hinten aus dem Wagen heraus. Sarah sah ein blasses, ängstliches Gesicht unter einem ungestärkten Häubchen. »Sie sind doch nicht... Sind Sie vielleicht die Geigers?«
»Das sind wir- nicht nur vielleicht.« Der Mann hatte schöne Augen, und sein herzhaftes, freundliches Lächeln ließ ihn noch größer erscheinen.
»Ach, wir haben euch so erwartet, Nachbarn! Jetzt aber schnell herunter von diesem Wagen!« Vor Aufregung verschüttete Sarah die Bohnen, als sie von der Bank aufstand. Drei Kinder befanden sich noch hinten auf dem Wagen. Das Kleinste, Hermann, schlief, doch Rachel, die schon beinahe vier war, und der zweijährige David schrien, als man sie herunterhob, und Sarahs Baby stimmte, ohne lang zu zögern, in den Chor mit ein.
Sarah fiel auf, dass Mrs. Geiger gut zehn Zentimeter größer war als ihr Gatte, und nicht einmal die Erschöpfung der langen, beschwerlichen Reise konnte verdecken, wie fein geschnitten und anmutig ihre Züge waren. Als Mädchen aus Virginia hatte Sarah einen Blick für dergleichen. Zwar hatten die Züge der Ankommenden eine exotische Note, die Sarah noch nie gesehen hatte, doch sie begann sich sofort nervös Gedanken darüber zu machen, welches Essen sie ihnen vorsetzen konnte, das ihr keine Schande machen würde. Dann sah sie, dass Lillian weinte, und ihre eigene schier unendlich lange Reise in einem solchen Wagen fiel ihr wieder ein. Sie nahm die Frau in die Arme und merkte erstaunt, dass sie nun auch weinte, während Geiger recht verwirrt inmitten weinender Frauen und Kinder stand. Schließlich löste sich Lillian aus Sarahs Armen und flüsterte verlegen, dass ihre ganze Familie dringend einen geschützten Bach brauche, um sich zu waschen. »Dieses Problem können wir sofort lösen«, sagte Sarah und fühlte sich stark und mächtig.
Als Rob J. nach Hause kam, waren die Haare der Geigers noch nass vom Bad im Fluss. Als all das Händeschütteln und Rückenklopfen vorbei war, hatte er Gelegenheit, seine Farm einmal mit den Augen eines Neuankömmlings zu sehen. Jay und Lillian waren erschrocken über die Indianer und beeindruckt von Aldens Fähigkeiten. Jay war sofort einverstanden, als Rob vorschlug, Vicky und Bess, die ehemalige Monica Grenville, zu satteln und zu dem Land zu reiten, das den Geigers gehören sollte. Gerade rechtzeitig zu einem köstlichen Abendessen kehrten die beiden zurück, und Jay Geigers Augen strahlten vor Glück, als er seiner Frau die Vorzüge des Landes zu beschreiben versuchte, das Rob J. für sie erworben hatte. »Du wirst schon sehen! Warte nur, bis du es siehst!« sagte er. Nach dem Essen ging er zu seinem Wagen und kam mit der Fiedel zurück. Das Tafelklavier von Babcock hätten sie nicht mitnehmen können, sagte er, aber seine Frau habe es an einem sicheren, trockenen Ort in Verwahrung gegeben und hoffe, es sich eines Tages nachschicken lassen zu können.
»Hast du den Chopin gelernt?« fragte er, und als Antwort nahm Rob J. die Gambe zwischen die Knie und spielte die ersten satten Töne der Mazurka. Die Musik, die er und Jay damals in Ohio hervorgebracht hatten, war klangvoller gewesen, da Lillian mit dem Piano ihren Teil dazu beigetragen hatte, doch auch jetzt harmonierten die Fiedel und die Gambe hervorragend. Als Sarah die Hausarbeit beendet hatte, setzte sie sich zu den dreien und lauschte. Ihr fiel auf, dass Mrs. Geiger, während die Männer spielten, ihre Finger bewegte, als würden sie Tasten berühren. Sie wollte Lillians Hand fassen und sie mit Worten und Versprechungen trösten, saß dann aber einfach nur neben ihr auf dem Boden und hörte zu, wie die Musik an- und abschwoll und ihnen allen Trost und Hoffnung schenkte.
Solange Jason Geiger Bäume für eine Hütte fällte, campierte die Familie neben einer Quelle auf ihrem eigenen Land. Sie waren so fest entschlossen, sich den Coles nicht aufzudrängen, wie Sarah und Rob entschlossen waren, ihnen Gastfreundschaft zu gewähren. Man besuchte sich häufig gegenseitig. Als sie an einem kühlen Abend um das Lagerfeuer der Geigers saßen, begannen draußen in der Prärie Wölfe zu heulen, und Jay entlockte seiner einfachen Geige ein ähnlich langgezogenes, bebendes Heulen. Es wurde erwidert, und eine Zeitlang hielten der Mensch und die unsichtbaren Tiere Zwiesprache, bis Jason bemerkte, dass seine Frau nicht nur wegen der Kälte zitterte. Er legte die Fiedel weg und warf ein neues Holzscheit ins Feuer. Jason war kein erfahrener Zimmermann. So verzögerte sich die Vollendung des Cole-Hauses erneut, denn sobald Alden neben der Farmarbeit dazu Zeit fand, begann er, den Geigers eine Hütte zu bauen. Bald kamen auch Otto Pfersick und Mort London dazu, um ihm zu helfen. In kurzer Zeit hatten die drei Männer eine gemütliche Hütte errichtet, und sie bauten noch einen Schuppen an, der als Lager für die Kräuter und Arzneien aus Jays Wagen dienen sollte. Jay nagelte eine kleine Blechröhre an den Türstock, die eine Pergamentrolle mit Sprüchen aus dem Deuteronomium enthielt, ein jüdischer Brauch, wie er sagte, und am 18. November bezog die Familie ihre Hütte, wenige Tage bevor aus Kanada schneidende Kälte herunterzog.
Zwischen dem Anwesen der Coles und Geigers Hütte rodeten Jason und Rob J. einen Pfad durchs Gehölz. Sie nannten ihn bald den Langen Weg, um ihn von dem Kurzen Weg zu unterscheiden, den Rob schon früher zwischen dem Haus und dem Fluss angelegt hatte. Nun konnten sich die Bauleute wieder dem Haus der Coles widmen. Da sie den ganzen Winter für die Innenausstattung Zeit hatten, zündeten sie in den Kaminen ein Feuer aus Sägespänen an und machten sich frohen Mutes an die Arbeit. Sie schnitten Simse und Wandvertäfelungen aus Eichenkanthölzern und brachten Stunden damit zu, Magermilchfarbe zu mischen, bis sie genau die Tönung hatte, die Sarah wollte. Der Büffel-Sumpf in der Nähe des Bauplatzes war zugefroren, und manchmal unterbrach Alden die Arbeit, schnallte sich Kufen an die Stiefel und führte seine Fertigkeiten als Eisläufer vor, die er in seiner Kindheit in Vermont gelernt hatte. Rob J. war in Schottland jeden Winter Schlittschuh gelaufen und hätte sich gern Aldens Kufen geborgt, aber sie waren viel zu klein für seine großen Füße. Drei Wochen vor Weihnachten fiel der erste Schnee. Der Wind trieb ihn wie weißen Rauch vor sich her, und die winzigen Kristalle brannten auf der Haut. Später fielen große, schwerere Flocken, die die Welt in Weiß erstickten, und so blieb es auch. Mit wachsender Aufregung plante Sarah ihr Weihnachtsessen und besprach mit Lillian althergebrachte Rezepte aus Virginia. Dabei entdeckte sie erste Unterschiede zwischen ihrer Familie und der der Geigers, denn Lillian teilte die Aufregung über das bevorstehende Fest nicht. Sarah war sehr erstaunt, als sie erfuhr, dass ihre neuen Nachbarn die Geburt Christi nicht feierten und statt dessen ein höchst eigenartiges Andenken an irgendeine urzeitliche Schlacht im Heiligen Land pflegten, indem sie Kerzen anzündeten und Kartoffelpfannkuchen buken. Trotzdem schenkten die Geigers den Coles etwas zu Weihnachten, Pflaumenmarmelade, die sie aus Ohio mitgebracht hatten, und warme Socken, die Lillian für alle gestrickt hatte.
Das Geschenk der Coles für die Geigers war eine schwere eiserne Bratpfanne auf einem Dreifuß, die Rob J. im Gemischtwarenladen in Rock Island gekauft hatte.
Sie luden die Geigers zum Weihnachtsessen ein, und am Ende kamen sie auch, obwohl Lillian außerhalb ihres Hauses kein Fleisch aß. Sarah servierte Zwiebelcremesuppe, Wels mit Pilzsoße, Gänsebraten mit Innereien, Kroketten, englischen Plumpudding aus Lillians Marmelade, Kräcker, Käse und Kaffee. Sarah schenkte den Ihren Wollpullover. Von Rob erhielt sie eine Reisedecke aus Fuchsfell, das so dicht und glänzend war, dass ihr der Atem stockte und alle anderen bewundernd aufschrien. Alden bekam von Rob J. eine neue Pfeife und eine Dose Tabak, und der Knecht überraschte ihn mit scharf geschliffenen Schlittschuhkufen, die er selber geschmiedet hatte - und die groß genug waren für Robs Füße. »Jetzt liegt zwar Schnee auf dem Eis, aber nächstes Jahr werden Sie Ihren Spaß daran haben«, bemerkte Alden lachend.
Nachdem die Gäste gegangen waren, klopfte Makwa-ikwa an die Tür und brachte ihnen Fäustlinge aus Hasenfell, ein Paar für Sarah, eins für Rob und eins für Alex. Sie war wieder verschwunden, bevor sie sie ins Haus bitten konnten.
»Sie ist eine komische Frau«, sagte Sarah nachdenklich. »Wir hätten ihr auch etwas schenken sollen.«
»Das habe ich bereits«, erwiderte Rob und erzählte seiner Frau, dass er Makwa die gleiche Bratpfanne wie den Geigers geschenkt habe. »Soll das heißen, dass du dieser Indianerin ein so kostspieliges, in einem Geschäft gekauftes Geschenk gemacht hast?« Als er nicht antwortete, fuhr sie mit schneidender Stimme fort: »Du musst aber eine ganze Menge von dieser Frau halten!« Rob sah sie an. »Das tue ich«, erwiderte er dünn.
In der Nacht stieg die Temperatur, und statt Schnee fiel Regen. Gegen Morgen klopfte ein tropfnasser fünfzehnjähriger Junge an ihre Tür, Freddy Gruber. Der Ochse, Paul Grubers wertvollster Besitz, hatte eine Öllampe umgestoßen, und der Stall war trotz des Regens in Flammen aufgegangen. »Mein Gott, ich hab’ so was noch nie gesehen. Wir konnten das Feuer einfach nicht löschen. Immerhin haben wir das Vieh retten können, bis auf den Maulesel. Aber mein Pa hat sich bös verbrannt, am Arm, am Hals und an beiden Beinen. Sie müssen mitkommen, Doc!« Der Junge war bei diesem Unwetter vierzehn Meilen geritten, und Sarah wollte ihm etwas zu essen und zu trinken geben, doch er schüttelte den Kopf und ritt sofort wieder zurück. Sie packte die Überreste des Festessens in einen Korb, während Rob J. sich saubere Stofffetzen und die Salben, die er brauchen würde, zusammensuchte und dann zum Langhaus ging, um Makwa-ikwa zu holen. Wenige Minuten später sah Sarah die beiden in die regnerisch trübe Dämmerung verschwinden: Rob J. auf Vicky, die Kapuze über dem Kopf, den großen Körper vorgebeugt gegen den Regen, die Indianerin in eine Decke gewickelt auf Bess. Auf meinem Pferd macht sie sich mit meinem Mann davon, dachte sie und beschloss dann, Brot zu backen, da sie keinen Schlaf mehr finden würde.
Den ganzen Tag wartete sie auf die Rückkehr der beiden. Als die Nacht hereinbrach, saß sie lange neben dem Feuer und sah zu, wie die Mahlzeit, die sie für ihn warm gehalten hatte, sich in etwas verwandelte, das er nicht mehr essen würde. Später im Bett fand sie keinen Schlaf, und sie sagte sich, wenn die beiden sich wirklich in ein Tipi, eine Höhle oder ein anderes warmes Nest verkrochen hatten, dann sei sie selber schuld, weil sie ihren Mann mit ihrer Eifersucht davongetrieben habe. Am nächsten Morgen saß sie am Tisch und quälte sich mit ihren Einbildungen, als Lillian Geiger, der das Stadtleben fehlte und die die Einsamkeit in den Regen hinausgetrieben hatte, sie besuchen kam. Sarah hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah sehr schlecht aus, doch sie begrüßte Lillian fröhlich und unterhielt sich mit ihr, bis sie plötzlich mitten im Gespräch über Blumensamen in Tränen ausbrach. Einen Augenblick später lag sie in Lillians Armen und musste verwirrt feststellen, dass sie dieser ihre schlimmsten Ängste mitteilte. »Bevor er kam, ging es mir so schlecht. Und jetzt geht es mir so gut. Wenn ich ihn je verlieren sollte...«
»Sarah«, sagte Lillian sanft. »Natürlich kann niemand wissen, was in der Ehe anderer vorgeht, aber du sagst doch selbst, dass deine Angst wahrscheinlich grundlos ist. Ich bin sicher, sie ist es. Rob J. scheint mir nicht der Mann zu sein, der einen Ehebruch begeht.« Sarah ließ sich von der anderen Frau trösten und beschwichtigen. Als Lillian sie wieder verließ, war der Gefühlssturm vorüber. Zur Mittagszeit kam Rob J. nach Hause. »Wie geht’s Paul Gruber?« fragte Sarah.
»Ach, furchtbare Verbrennungen«, antwortete er müde. »Und starke Schmerzen. Ich hoffe, dass er wieder in Ordnung kommt. Ich habe Makwa dortgelassen, damit sie ihn pflegt.«
»Das ist gut«, sagte sie.
Während er den ganzen Nachmittag und den Abend über schlief, hörte es auf zu regnen, und die Temperatur sank wieder. Er wachte mitten in der Nacht auf und zog sich an, um auf das Aborthäuschen zu gehen. Auf dem Weg dorthin rutschte und schlitterte er, denn der regennasse Schnee war beinhart gefroren. Nachdem er seine Blase entleert hatte und ins Bett zurückgekehrt war, konnte er nicht mehr einschlafen. Er hatte ursprünglich gehofft, am Morgen wieder zu den Grubers reiten zu können, doch jetzt fürchtete er, dass die Hufe seines Pferdes auf dem Eis keinen Halt finden würden. Er zog sich in der Dunkelheit wieder an und schlich sich aus dem Haus, um festzustellen, ob seine Bedenken zutrafen. Als er, so fest er konnte, auf dem Schnee aufstampfte, konnten seine Stiefel die harte, weiße Kruste nicht durchbrechen.
Im Stall fand er die Kufen, die Alden für ihn geschmiedet hatte, und er schnallte sie sich an. Der Pfad, der zum Haus führte, war wegen der vielen Spuren unregelmäßig überfroren und bot eine nur schlechte Gleitfläche, doch dahinter begann die offene Prärie, deren vom Wind blankgewehte Schneedecke glatt und hart war wie Glas. Er glitt über einen funkelnden Mondpfad, zuerst noch zögernd, doch dann, als die alte Sicherheit zurückkehrte, mit immer weiter ausholenden und freieren Bewegungen. Wie ein riesiges arktisches Meer breitete sich die Ebene vor ihm aus, und die einzigen Geräusche, die er hörte, waren das Zischen seiner Kufen und sein eigenes Keuchen. Schließlich ging ihm die Luft aus. Er blieb stehen und betrachtete die fremdartige Welt der gefrorenen Prärie bei Nacht. Ziemlich nah und erschreckend laut erklang das gespenstische Heulen eines Wolfes, und Rob J.
stellten sich die Nackenhaare auf. Wenn er stürzte, wenn er sich vielleicht ein Bein brach, dann wäre er schon nach wenigen Minuten von ausgehungerten Raubtieren umringt, das wusste er. Der Wolf heulte noch einmal, vielleicht war es diesmal auch ein anderer, und in diesem Schrei schwang etwas mit - Einsamkeit, Hunger, Wildheit -, das Rob J. angst machte. Er kehrte um und machte sich wieder auf den Heimweg, nun vorsichtiger und zurückhaltender dahingleitend als zuvor, aber doch fliehend wie ein Verfolgter.
In der Hütte angekommen, sah er zuerst nach, ob Alex und der Kleine noch gut zugedeckt waren. Beide schliefen fest. Als er dann ins Bett stieg, drehte seine Frau sich um und wärmte sein eiskaltes Gesicht mit ihren Brüsten. Sie schnurrte und stöhnte sanft, Geräusche der Liebe und der Reue, und umschlang ihn einladend mit Armen und Beinen. Der Arzt war wegen des schlechten Wetters nicht verfügbar; Gruber werde schon ohne ihn zurechtkommen, solange nur Makwa-ikwa bei ihm war, dachte Rob und überließ sich der Wärme des Mundes, des Fleisches und der Seele seiner Frau. Er ging auf in einer vertrauten Beschäftigung, die geheimnisvoller war als das Mondlicht und noch angenehmer als das Gleiten über Eis ohne Wölfe.
Veränderungen
Wäre Robert Jefferson Cole in Schottland zur Welt gekommen, hätte man ihn von Geburt an Rob J. genannt, und sein Vater, Robert Judson Cole, wäre Big Rob, der alte Rob oder einfach Rob ohne die Initiale geworden. Bei den Coles in Schottland behielt der erstgeborene Sohn das J. nur so lange, bis er selbst Vater eines Sohnes wurde, dann gab er den Buchstaben würdevoll und bereitwillig an seinen Erstgeborenen weiter. Rob J. hatte nicht die Absicht, eine jahrhundertealte Familientradition zu durchbrechen, aber er befand sich in einem neuen Land, und die, die er liebte, hielten sich nicht an diese uralten Bräuche. Sooft er es ihnen auch zu erklären versuchte, sie nannten den neuen Sohn nie Rob J. Für Alex war der kleine Bruder am Anfang einfach nur
»Baby«. Für Alden hieß er »der Junge«. Makwa-ikwa gab ihm schließlich den Namen, der ein Teil seiner Persönlichkeit werden sollte. Eines Vormittags saß der Junge, der damals noch nicht laufen konnte und gerade erst zu plappern begonnen hatte, mit zwei der drei Kinder von Mond und Der singend einhergeht auf dem Lehmboden des hedonoso-te. Die beiden anderen Kinder hießen Anemoha, Kleiner Hund, und Cisaw-ikwa, Vogelfrau; sie waren drei beziehungsweise zwei Jahre alt. Sie spielten mit Maiskolbenpuppen, doch der kleine Junge kroch von ihnen weg. In dem trüben Licht, das durch die Rauchabzüge fiel, entdeckte er die Wassertrommel der Medizinfrau, schlug mit der Hand darauf und brachte einen Ton hervor, der jeden im Langhaus den Kopf heben ließ.
Der Junge kroch, von dem Geräusch verstört, weg, aber nicht wieder zurück zu den anderen Kindern. Wie bei einer Inspektion krabbelte er zu Makwa-ikwas Kräuterlager, hielt mit wichtiger Miene bei jedem Stapel an und betrachtete ihn höchst interessiert. Makwa-ikwa lächelte. »Du bist ubenu migegee-ieh, ein kleiner Schamane«, sagte sie.
Seit diesem Vorfall nannte sie ihn nur noch Shaman - Schamane -, und auch die anderen verwendeten den Namen ziemlich bald, denn er schien irgendwie zu passen, und der kleine Rob reagierte sofort auf ihn. Es gab natürlich Ausnahmen. Alex nannte ihn inzwischen einfach »Bruder« und wurde von ihm »Bigger« genannt, der Größere, weil ihre Mutter von Anfang an nur vom kleinen Bruder und vom größeren Bruder sprach. Einzig Lillian Geiger versuchte, das Kind Rob J. zu nennen, denn ihr Nachbar hatte ihr von dem Familienbrauch erzählt, und sie hielt sehr viel auf Familie und Tradition. Aber sogar Lillian vergaß es manchmal und nannte den Jungen Shaman, und Rob J. Cole, der Vater, gab den Kampf schließlich auf und behielt seine Initiale. Doch ob nun mit J. oder nicht, vom Hörensagen wusste er, dass einige seiner Patienten ihn »Injun Cole«, Indianer-Cole, nannten oder auch »diesen verdammten, Indianer vögelnden Bauchaufschneider«. Aber alle, die Toleranten und die Bornierten, wussten, dass er ein guter Arzt war. Und wenn er gerufen wurde, ging er zu ihnen, ob sie ihn mochten oder nicht.
War Holden’s Crossing früher nur eine Bezeichnung auf Nick Holdens Handzetteln gewesen, so besaß es jetzt eine Hauptstraße mit Läden und Geschäftshäusern, die alle nur »The Village«, das Dorf, nannten. Dort fand man das Rathaus, Haskins Gemischtwarenladen, N.B. Reimers Futtermittel- und Saatguthandlung, ein Spar- und Kreditinstitut, Mrs. Anna Wileys Pension, in der man auch warme Mahlzeiten bekam, Jason Geigers Apotheke, Nelsons Saloon (der in Nicks frühen Plänen eigentlich ein richtiges Gasthaus hätte werden sollen, wegen der Konkurrenz durch Mrs. Wiley aber nie über einen niederen Raum mit einer langen Theke hinauskam) sowie die Stallungen und die Schmiede von Paul Williams, dem Hufschmied. Roberta Williams, seine Frau, betrieb in ihrem Holzhaus eine Maßschneiderei. Einige Jahre lang kam der Versicherungsmakler Harold Ames jeden Mittwochnachmittag aus Rock Island und hielt im Gemischtwarenladen Geschäftsstunden ab. Doch nachdem der Großteil des von der Regierung parzellierten Landes an Siedler abgegeben war und einige der Möchtegernfarmer sich ihr Versagen eingestehen und ihren Grund wieder verkaufen mussten, zeigte sich, dass der Ort ein Maklerbüro brauchte, und deshalb ließ sich Carroll Wilkenson als Immobilien- und Versicherungsmakler nieder.
Charlie Anderson, der später auch Chef der Bank werden sollte, wurde bei der ersten Wahl zum Bürgermeister gewählt und in den folgenden Jahren immer wieder in diesem Amt bestätigt. Anderson war allgemein beliebt, doch jeder wusste, dass er Nick Holdens Kandidat war und tat, was der verlangte. Das gleiche galt für den Sheriff. Mort London brauchte nicht länger als ein Jahr, um zu erkennen, dass er kein Farmer war. Auch als Zimmermann fand er in der Gegend nicht genügend Aufträge, um sich den Lebensunterhalt zu sichern, da die Siedler Schreinerarbeiten soweit möglich selber erledigten. Als deshalb Nick Holden ihm anbot, ihn bei der Wahl zum Sheriff zu unterstützen, nahm Mort die Hilfe bereitwillig an. Er war ein friedfertiger Mann, der still seine Arbeit tat, und das hieß vor allem, die Betrunkenen in Nelsons Saloon zu beschwichtigen. Für Rob J. war es nicht gleichgültig, wer Sheriff war, denn jeder Landarzt war gleichzeitig Deputy Coroner, Stellvertreter des Bezirksleichenbeschauers, und der Sheriff entschied, wer bei einem Todesfall infolge eines Verbrechens oder eines Unfalls die Autopsie durchführen sollte. Oft stellten Autopsien die einzige Möglichkeit dar, die Sezierungen vorzunehmen, die nötig waren, um als Chirurg in Übung zu bleiben. Rob J. bemühte sich dabei um einen wissenschaftlichen Standard, wie er in Edinburgh üblich gewesen war; er wog alle wichtigen Organe und führte darüber Buch. Zum Glück war er mit Mort London immer gut ausgekommen, so dass er viele Autopsien durchführen konnte. Nick Holden war dreimal als Abgeordneter des Distrikts in die Legislative gewählt worden.
Manchmal ärgerten sich die Bürger des aufstrebenden Ortes über sein selbstherrliches Auftreten, und sie riefen sich dann gegenseitig ins Gedächtnis, dass er zwar über den Großteil der Bank, Anteile an der Mühle, dem Gemischtwarenladen und diesem Saloon und wer weiß über wie viele Morgen Grund verfügte, aber bei Gott nicht über sie und ihr Land. Aber im allgemeinen sahen sie es mit Stolz und Erstaunen, dass er in Springfield auftrat wie ein richtiger Politiker, mit dem aus Tennessee stammenden Gouverneur Bourbon trank, in gesetzgebenden Ausschüssen mitarbeitete und so schnell und geschickt Fäden knüpfte, dass sie nur ausspucken, grinsen und den Kopf schütteln konnten.
Nick hatte zwei Ziele, über die er auch ganz offen sprach. »Ich will die Eisenbahn nach Holden’s Crossing bringen, damit aus dem Kaff vielleicht mal ‘ne Stadt wird«, sagte er zu Rob J. eines Morgens, während er auf der Veranda vor Haskins Laden saß und sich eine königliche Zigarre schmecken ließ. »Und ich will unbedingt in den Kongress gewählt werden. Die Eisenbahn krieg’ ich nämlich nie hierher, wenn ich in Springfield bleibe.«
Seit Nick versucht hatte, Rob J. die Heirat mit Sarah auszureden, taten sie nicht mehr so, als seien sie die besten Freunde, aber sie unterhielten sich freundlich, wenn sie sich trafen. Jetzt sah Rob J. ihn zweifelnd an. »Es ist schwer, ins Repräsentantenhaus zu kommen, Nick. Da brauchen Sie Stimmen aus einem viel größeren Wahlbezirk, nicht nur die von hier aus der Gegend. Und der alte Singleton ist auch noch da.« Der gegenwärtige Kongressabgeordnete Samuel Turner Singleton, den alle im Rock Island County nur »unseren alten Sammil«
nannten, saß politisch noch fest im Sattel.
»Sammil Singleton ist alt. Er wird bald sterben oder zurücktreten. Wenn es soweit ist, mache ich jedem im Distrikt klar, dass eine Stimme für mich eine Stimme für den Wohlstand ist.« Nick grinste ihn an. »Ihnen habe ich doch auch auf die Sprünge geholfen, was Doktor?« Rob J. musste zugeben, dass das stimmte. Er hielt jetzt Anteile sowohl an der Mühle wie an der Bank. Bei der Finanzierung des Gemischtwarenladens und des Saloons hatte Nick Rob J. aber nicht mehr eingeladen. Rob verstand. Er war inzwischen in Holden’s Crossing fest verwurzelt, und Nick verschwendete keine Wohltaten, wenn sie nicht nötig waren.
Jay Geigers Apotheke und der ständige Zuzug von Siedlern in die Region lockten bald einen zweiten Arzt nach Holden’s Crossing. Dr. Thomas Beckermann war ein blasser Mann mittleren Alters mit schlechtem Atem und geröteten Augen. Er kam aus Albany in New York und ließ sich in einem kleinen Holzhaus in The Village unweit der Apotheke nieder. Er besaß kein Diplom einer medizinischen Fakultät und sprach nur recht allgemein über seine Ausbildung, die er seinen Angaben zufolge bei einem gewissen Dr. Cantwell in Concord genossen hatte. Anfangs war Rob J. froh über seine Ankunft. Es gab genug Patienten für zwei Ärzte, sofern diese nicht habgierig waren, und Rob hätte diesem zweiten Mediziner gern einen Teil der langwierigen Hausbesuche überlassen, die ihn oft weit in die offene Prärie hinaus führten. Aber Beckermann war ein schlechter Arzt und ein starker Trinker, und beides merkten die Leute sehr schnell. Also musste Rob J. weiterhin zu weit reiten und zu viele Patienten betreuen. Über den Kopf wuchs ihm diese Aufgabe nur im Frühling, wenn die jährlichen Epidemien ausbrachen, das Sumpffieber an den Ufern der Flüsse, die Illinois-Krätze in den Farmen der Prärie und andere ansteckende Krankheiten, die sich über das ganze Land ausbreiteten. Sarah wollte immer an der Seite ihres Mannes den Kranken helfen, und im Frühjahr nach der Geburt ihres zweiten Sohnes drängte sie Rob J., sie doch als seine Assistentin mitzunehmen. Doch sie hatte sich einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht. In diesem Jahr waren Milchfieber und Masern besonders bedrohlich, und als sie begann, ihm mit ihren Bitten zuzusetzen, hatte er bereits viele Schwerkranke, darunter einige Sterbende, und so konnte er ihr kaum Aufmerksamkeit schenken. Also musste Sarah wieder zusehen, wie Makwa-ikwa den ganzen Frühling über mit ihm ausritt, und ihre Seelenqualen kehrten zurück. Mit dem Beginn des Hochsommers klangen die Epidemien ab, und Rob J.
konnte den üblichen, gemächlicheren Lebensrhythmus wiederaufnehmen. Eines Abends, nachdem er mit Jay Geiger ein Mozart-Duo für Violine und Viola gespielt hatte, brachte Jay das heikle Thema von Sarahs Unglück zur Sprache. Die beiden waren inzwischen gute, enge Freunde geworden, und doch war Rob überrascht, dass Jay es wagte, in eine Welt einzudringen, die er als seine Intimsphäre betrachtete.
»Woher weißt du so gut über Sarahs Gefühle Bescheid?«
»Sie redet mit Lillian. Und Lillian redet mit mir«, erwiderte Jay und hielt dann einen Augenblick verlegen inne.
»Ich hoffe, du verstehst mich. Ich sage das... aus echter Zuneigung zu euch beiden.«
»Ich verstehe. Aber hast du neben deiner freundlichen Anteilnahme auch... einen Rat für mich?«
»Deiner Frau zuliebe musst du dich von dieser Indianerin trennen.«
»Zwischen uns ist nichts außer Freundschaft«, erwiderte Rob, ohne seine Verärgerung unterdrücken zu können.
»Das ist egal. Ihre bloße Anwesenheit macht Sarah schon unglücklich.«
»Sie kann doch nirgendwohin. Keiner von ihnen kann irgendwohin. Die Weißen betrachten sie als Wilde und lassen sie nicht so leben, wie sie es früher getan haben. Mond und Der singend einhergeht sind die besten Farmarbeiter, die man sich wünschen kann, aber keiner hier in der Gegend ist bereit, einen Sauk einzustellen, Makwa, Mond und Der singend einhergeht bringen mit dem wenigen, was sie bei mir verdienen, den ganzen Clan durch. Makwa arbeitet schwer, und ich kann mich auf sie verlassen. Ich kann sie doch nicht wegschicken und dem Hungertod oder noch Schlimmerem ausliefern.« Jay seufzte und nickte und sprach nie mehr davon.
Das Eintreffen eines Briefes war eine Seltenheit. Fast schon ein Ereignis. Eines Tages kam einer für Rob J. Der Postmeister in Rock Island hatte den Brief, nachdem er fünf Tage bei ihm gelegen hatte, dem Versicherungsmakler Harold Ames mitgegeben, der geschäftlich nach Holden’s Crossing fahren musste.
Rob riss den Umschlag neugierig auf. Es war ein langer Brief von Dr. Harry Loomis, seinem Freund in Boston.
Er las ihn einmal und dann ein zweitesmal langsamer. Und dann noch einmal. Er war am 20. November 1846
geschrieben worden und hatte den ganzen Winter gebraucht, um seinen Bestimmungsort zu erreichen. Harry war offensichtlich auf dem besten Wege zu einer erstklassigen Karriere. Er berichtete, dass er kürzlich zum Assistenzprofessor für Anatomie in Harvard ernannt worden sei, und deutete seine bevorstehende Heirat mit einer Dame namens Julia Salmon an. Aber der Brief war insgesamt mehr ein medizinischer denn ein persönlicher Bericht. Eine neue Entdeckung lasse nun schmerzfreie Chirurgie Wirklichkeit werden, schrieb Harry mit unverkennbarer Begeisterung. Es sei ein Gas namens Äther, das seit Jahren bei der Herstellung von Wachsen und Parfüms als Lösungsmittel benutzt werde. Harry erinnerte Rob J. an die Experimente, die in Bostoner Krankenhäusern zur Erprobung von Stickstoffoxydul, dem sogenannten Lachgas, als Betäubungsmittel durchgeführt worden waren. Anspielungsreich fügte er hinzu, dass Rob sich vielleicht an gewisse Freizeitbeschäftigungen mit diesem Stoff erinnere, die außerhalb der Krankenhäuser stattgefunden hatten. Rob erinnerte sich noch gut, wenn auch mit etwas gemischten Gefühlen, daran, wie er sich mit Meg Holland ein Fläschchen des Lachgases genehmigt hatte, dessen Spender Harry gewesen war. Vielleicht ließen die Zeit und die Entfernung das Erlebnis schöner und lustiger erscheinen, als es tatsächlich gewesen war.
Für den 5. Oktober dieses Jahres, schrieb Loomis, war im Operationssaal des Massachusetts General Hospital ein weiteres Experiment geplant, diesmal jedoch mit Äther. Vorangegangene Versuche, den Schmerz mit Stickstoffoxydul zu betäuben, waren komplette Fehlschläge gewesen, bei denen die Studenten und Ärzte auf den Galerien regelmäßig gejohlt und »Humbug! Humbug!« gerufen hatten. Die Experimente waren zu einer allgemeinen Belustigung geworden, und die geplante Operation im Massachusetts General versprach den früheren in nichts nachzustehen. Der Chirurg war Dr. John Collins Warren. Sie werden sich sicher noch daran erinnern, dass Dr. Warren ein abgebrühter, grober Operateur ist, der eher für seine Geschicklichkeit mit dem Skalpell denn für seine Geduld mit Dummköpfen berühmt ist. Also strömten wir an diesem Tag in den Operationssaal, als wäre er ein Kabarett.
Stellen Sie sich das vor, Rob! Der Mann, der den Äther liefern soll, ein Zahnarzt namens Morton, verspätet sich.
Warren ist in höchstem Maße verärgert, nutzt aber die Verzögerung, um in allen Einzelheiten darzulegen, wie er einen großen Tumor aus der krebsbefallenen Zunge eines jungen Mannes namens Abbott entfernen wird, der bereits halb tot vor Angst auf dem roten Operationsstuhl sitzt. Nach fünfzehn Minuten gehen Warren die Worte aus, und er zieht missmutig seine Uhr aus der Tasche. Auf der Galerie hat man bereits zu kichern begonnen, als endlich der auf Abwege geratene Zahnarzt eintrifft. Morton verabreicht das Gas und erklärt kurze Zeit später, der Patient sei nun bereit. Dr. Warren nickt, immer noch wütend, rollt die Ärmel hoch und sucht sich ein Skalpell aus. Assistenten öffnen Abbott den Mund und ziehen die Zunge heraus. Andere drücken den Patienten auf den Operationsstuhl, damit er nicht um sich schlägt. Warren beugt sich über ihn und setzt mit einer blitzschnellen Bewegung den ersten tiefen Schnitt, der Blut aus Abbotts Mundwinkel quellen lässt.
Der Patient rührt sich nicht.
Auf der Galerie herrscht absolutes Schweigen. Noch das leiseste Seufzen oder Aufstöhnen wäre zu hören.
Darren macht sich wieder an die Arbeit. Er setzt einen zweiten Schnitt, dann einen dritten. Sorgfältig und schnell entfernt er den Tumor, kratzt die Wunde aus, vernäht sie und drückt einen Schwamm auf die Zunge, um die Blutung zu unterbinden.
Der Patient schläft. Der Patient schläft! Warren richtet sich auf. Auch wenn Sie es mir nicht glauben, Rob, aber die Augen dieses selbstherrlichen Zynikers waren feucht! »Gentlemen«, sagte er. »Das ist kein Humbug.« Die Entdeckung von Äther als Betäubungsmittel in der Chirurgie ist in der medizinischen Presse von Boston veröffentlicht worden. Unser Holmes, wie immer in vorderster Reihe mit dabei, hat bereits vorgeschlagen, die Anwendung »Anästhesie« zu nennen, nach dem griechischen Wort für Empfindungslosigkeit.
Geigers Apotheke führte Äther nicht.
»Aber ich bin kein ungeschickter Chemiker«, sagte Jay nachdenklich. »Ich kann ihn herstellen, wahrscheinlich.
Dazu muss ich Äthylalkohol mit Schwefelsäure destillieren. Meinen metallenen Destillierkolben kann ich dazu allerdings nicht benutzen, den würde die Säure durchfressen. Aber ich habe noch eine Glasspirale und eine große Flasche.« Als sie seine Regale absuchten, fanden sie jede Menge Alkohol, aber keine Schwefelsäure.
»Kannst du auch Schwefelsäure herstellen?« fragte ihn Rob. Geiger kratzte sich am Kinn, die Sache machte ihm offensichtlich Spaß. »Dazu muss ich Schwefel mit Sauerstoff verbinden. Ich habe genügend Schwefel, aber der chemische Prozess ist ein bisschen kompliziert. Wenn man Schwefel oxidiert, erhält man zunächst Schwefeldioxid. Ich muss dann das Schwefeldioxid noch mal oxidieren, um Schwefelsäure zu erhalten. Aber...
klar, warum eigentlich nicht?« Wenige Tage später hatte Rob J. einen Vorrat an Äther. Harry Loomis hatte ihm beschrieben, wie man aus Draht und Stoffstreifen eine Äthermaske anfertigt. Zunächst probierte Rob J. das Gas an einer Katze aus, die zweiundzwanzig Minuten besinnungslos blieb. Dann raubte er einem Hund für über eine Stunde das Bewusstsein und erkannte an dieser langen Zeitspanne, dass Äther ein gefährlicher Stoff und mit Vorsicht anzuwenden ist. Zum Abschluss gab er das Gas einem männlichen Lamm vor der Kastration, und die Hoden wurden entfernt, ohne dass das Tier ein einziges Mal blökte. Schließlich wies er Geiger und Sarah in die Benutzung des Äthers ein, und sie verabreichten ihm das Gas. Er blieb nur ein paar Minuten bewusstlos, da sie vor Nervosität zu spärlich dosierten, aber es war trotzdem eine einzigartige Erfahrung.
Einige Tage später geriet Gus Schroeder, der ohnehin nur noch achteinhalb Finger hatte, mit dem Zeigefinger seiner guten, der rechten Hand, unter einen schweren Stein und zerquetschte ihn sich. Rob gab ihm Äther, und Gus wachte mit siebeneinhalb Fingern wieder auf und fragte, wann die Operation beginne.
Rob war überwältigt von den neuen Möglichkeiten, er kam sich vor, als sei ihm ein Blick in die endlosen Weiten hinter den Sternen gewährt worden, und er erkannte, dass der Äther noch wertvoller war als seine Gabe. Diese Gabe besaßen nur wenige Mitglieder seiner Familie, aber mit dem Äther konnte von nun an jeder Arzt der Welt operieren, ohne dem Patienten mörderische Schmerzen zuzufügen. Mitten in der Nacht ging Sarah in die Küche hinunter und sah ihren Mann allein am Tisch sitzen. »Geht es dir gut?« Er betrachtete nachdenklich die farblose Flüssigkeit in der Glasflasche. »Wenn ich das gehabt hätte, Sarah, dann hätte ich dir damals bei den Operationen nicht so weh getan.«
»Du hast es auch so sehr gut gemacht. Du hast mir das Leben gerettet, das weiß ich ganz genau.«
»Dieses Zeug« - er hielt die Flasche in die Höhe; für sie sah es nicht anders aus als Wasser - »wird viele Leben retten. Es ist ein Schwert gegen den Schwarzen Ritter.«
Sarah mochte es nicht, wenn er vom Tod wie von einer Person sprach, die jeden Augenblick die Tür öffnen und ihr Haus betreten konnte. Sie verschränkte die weißen Arme vor ihren schweren Brüsten und fröstelte in der nächtlichen Kühle. »Komm ins Bett, Rob J.«, sagte sie. Tags darauf begann Rob, den Ärzten der Gegend zu schreiben und sie zu einer Konferenz einzuladen. Sie fand einige Wochen später in einem Zimmer über der Futtermittelhandlung in Rock Island statt. In der Zwischenzeit hatte Rob J. den Äther noch dreimal benutzt.
Sieben Ärzte und Jason Geiger saßen beisammen und hörten, was Loomis geschrieben und was Rob J. aus eigener Erfahrung zu berichten hatte. Die Reaktionen schwankten zwischen großem Interesse und unverhüllter Skepsis. Zwei der Anwesenden bestellten bei Jay Äther und Betäubungsmasken. »Das ist doch bloß ‘ne Modeerscheinung«, sagte Dr. Thomas Beckermann, »wie dieser Unsinn mit dem Händewaschen.« Ein paar der Ärzte lächelten, denn jeder wusste von Rob J.s ausführlichem Gebrauch von Seife und Wasser. »Die Krankenhäuser in den Großstädten können sich vielleicht mit so was abgeben. Aber kein Arzt aus Boston soll uns erzählen, wie wir hier im Westen Medizin zu praktizieren haben.«
Die anderen Ärzte waren taktvoller als Beckermann. Tobias Barr meinte, er halte viel von einem solchen Gedankenaustausch unter Kollegen, und regte die Gründung einer Rock Island Medical Society an. Die Anregung wurde aufgenommen und Dr. Barr zum Präsidenten dieser Ärztevereinigung gewählt. Rob J. wurde zum korrespondierenden Sekretär ernannt, eine Ehre, die er nicht ablehnen konnte, da alle Anwesenden ein Amt oder den Vorsitz eines Ausschusses, den Tobias Barr als höchst wichtig bezeichnete, erhielten.
In diesem Jahr kam es unerwartet im Herbst zu einer Epidemie, obwohl doch die kühle Luft für Lebenskraft und gute Gesundheit hätte sorgen sollen. In der ersten Oktoberwoche brach in acht Familien eine Krankheit aus, die Rob J. nicht diagnostizieren konnte. Es war von galligem Auswurf begleitetes Fieber, wie es eigentlich für Typhus typisch war, doch Rob J. vermutete, dass es sich nicht um Typhus handelte. Als man ihm dann täglich mindestens einen neuen Fall meldete, wusste er, dass es wieder einmal soweit war. Er wollte schon zum Langhaus gehen, um Makwa-ikwa zu sagen, sie solle sich fertig machen, änderte jedoch die Richtung und betrat die Küche seines Hauses.
»In der Gegend ist ein schlimmes Fieber ausgebrochen, das sich mit Sicherheit weiter ausbreiten wird. Kann sein, dass ich wochenlang unterwegs bin.«
Sarah nickte ernst, als Zeichen, dass sie verstand. Als er sie fragte, ob sie mit ihm kommen wolle, kam so schlagartig Leben in ihr Gesicht, dass seine Zweifel verschwanden.
»Aber du wirst dann die Jungen nicht sehen«, warnte er sie.
»Makwa wird sich um sie kümmern, solange wir weg sind. Sie kann das wirklich gut«, sagte Sarah.
Noch am selben Nachmittag brachen sie auf. In einem so frühen Stadium einer Epidemie ritt Rob gewöhnlich zu jedem Haus, von dem er wusste, dass die Krankheit ausgebrochen war, denn er wollte versuchen, das Feuer zu löschen, bevor es zu einem Großbrand wurde. Er sah, dass jeder neue Fall mit den gleichen Symptomen begann: mit plötzlich erhöhter Temperatur oder einem entzündeten Hals und darauf folgendem Fieber. Für gewöhnlich kam sehr früh Durchfall und grünlichgelber Galleauswurf dazu. Im Mund jedes Patienten bildeten sich kleine Bläschen, unabhängig davon, ob die Zunge trocken oder feucht, schwärzlich oder weiß belegt war.
Wenn sich innerhalb einer Woche keine weiteren Symptome zeigten, wusste Rob J., dass der Tod bevorstand.
Kamen jedoch heftige Schüttelfröste und Gliederschmerzen hinzu, wie es oft der Fall war, schien eine Genesung wahrscheinlich. Auch Furunkel und andere Abszesse, die gegen Ende des Fiebers auftraten, waren günstige Zeichen. Er hatte keine Ahnung, wie er die Krankheit behandeln sollte. Da früh auftretender Durchfall häufig das Fieber senkte, versuchte er diesen in einigen Fällen mit Abführmitteln herbeizuführen. Wenn die Patienten Schüttelfrost bekamen, gab er ihnen Makwa-ikwas Pflanzentonikum mit etwas Alkohol versetzt, um sie zum Schwitzen zu bringen, dazu legte er ihnen blasenziehende Senfpflaster auf. Bald nach Ausbruch der Epidemie trafen er und Sarah Thomas Beckermann, der ebenfalls zu Fieberpatienten ritt.
»Mit Sicherheit Typhus«, sagte Beckermann. Rob glaubte das nicht. Es zeigten sich keine roten Flecken am Bauch, und niemand schied blutigen Stuhl aus. Aber er ließ sich auf keinen Disput ein. Was es auch war, was die Leute da befiel, es wurde nicht weniger besorgniserregend, wenn man es mit dem einen oder dem anderen Namen bezeichnete. Beckermann berichtete ihnen, dass am Vortag zwei Patienten trotz ausgedehnten Schröpfens gestorben waren. Rob versuchte, ihm das Schröpfen als Heilmittel gegen Fieber auszureden, aber Beckermann war nicht der Mann, der den Rat des einzigen Kollegen am Ort annahm. So verabschiedeten sie sich schon nach wenigen Minuten wieder. Nichts ärgerte Rob J. mehr als ein schlechter Arzt.
Zunächst war es eigenartig für Rob, Sarah anstelle von Makwa-ikwa bei sich zu haben. Sarah gab sich die allergrößte Mühe und beeilte sich, alles zu tun, was er verlangte. Doch der Unterschied war, dass er die einzelnen Verrichtungen von ihr verlangen und sie ihr beibringen musste, während Makwa wusste, was zu tun war, ohne dass er es sagte. Bei den Patienten oder während des Reitens zwischen den einzelnen Besuchen hatten er und Makwa oft lange geschwiegen, was sie beide als angenehm empfanden. Sarah dagegen, die froh war, bei ihm zu sein, redete und redete, zumindest am Anfang, denn je mehr Patienten sie behandelten und je erschöpfter sie wurden, desto stiller wurde auch sie.
Die Krankheit breitete sich schnell aus. Wenn in einem Haushalt einer erkrankte, steckten sich für gewöhnlich alle anderen Familienmitglieder an. Doch Rob J. und Sarah gingen von Haus zu Haus und infizierten sich nicht, als wären sie von einem unsichtbaren Panzer geschützt. Alle drei oder vier Tage versuchten sie, nach Hause zurückzukehren, um zu baden, die Kleider zu wechseln und ein paar Stunden zu schlafen. Das Haus war warm und sauber und duftete nach den heißen Mahlzeiten, die Makwa für sie kochte. Nur kurz widmeten sie sich ihren Söhnen, dann packten sie das Pflanzentonikum ein, das Makwa während ihrer Abwesenheit gebraut und auf Robs Anweisung hin mit ein wenig Wein vermischt hatte, und ritten wieder hinaus. Zwischen den Abstechern nach Hause schliefen sie zusammengekuschelt, wo sie Platz fanden, meistens in Heuschobern oder auf dem Boden vor dem Kamin eines Patientenhauses.
Eines Morgens kam ein Farmer namens Benjamin Haskell in seine Scheune und bekam Stielaugen, als er den Doktor mit dem Arm unter den Röcken seiner Frau überraschte. Das war ihr einziger Versuch eines ehelichen Verkehrs während der gesamten Dauer der Epidemie, sechs Wochen lang. Die Blätter hatten sich eben verfärbt, als sie begonnen hatte, und an ihrem Ende war der Boden bereits mit Schnee bestäubt.
An dem Tag, als sie heimkehrten und ihnen bewusst wurde, dass sie nicht mehr würden hinausreiten müssen, schickte Sarah die Kinder mit Makwa-ikwa im Buckboard zu Muellers Farm, um Körbe mit Winteräpfeln zum Kompottkochen zu holen. Sie lag lange vor dem Kamin in der Wanne und erhitzte dann neues Wasser für Rob.
Als er in dem Blechzuber lag, kam sie zurück und wusch ihn langsam und zärtlich, so wie sie es mit den Patienten gemacht hatte - und doch ganz anders, denn statt eines Lappens benutzte sie ihre bloßen Hände.
Dampfend und fröstelnd lief er ihr anschließend durch das kalte Haus nach bis hinauf ins Schlafzimmer, wo sie unter der warmen Decke blieben, bis Stunden später Makwa mit Rob und Alex zurückkehrte. Einige Monate später war Sarah wiederum schwanger, doch sie erlitt sehr früh eine Fehlgeburt, und Rob bekam es mit der Angst, da sie dabei äußerst heftig blutete. Er erkannte, dass es für seine Frau gefährlich werden würde, wenn sie noch einmal empfing, und traf von da an seine Vorkehrungen. Besorgt beobachtete er sie, ob sich nicht dunkle Schatten über ihr Gesicht legten, wie es bei Frauen nach einer Fehlgeburt oft der Fall war. Doch abgesehen von einer gewissen Blässe und Phasen der Nachdenklichkeit in denen sie mit geschlossenen Augen still dasaß, schien sie sich so schnell zu erholen, wie er nur hoffen konnte.
»Keine Tochter«, sagte sie eines Abends, nachdem er Asche aufs Feuer gestreut hatte, nahm seine Hand und legte sie auf ihren flachen Bauch. »Nein«, erwiderte er, »aber im Frühjahr kannst du wieder mit mir zu den Patienten reiten.« Und diesen Trost konnte sie nicht ablehnen.
Frühlingsmusik
So kam es, dass die Cole-Jungen häufig und für lange Zeiträume in der Obhut der Sauk-Frau blieben. Shaman war der Duft Makwa-ikwas nach zerdrückten Beeren bald so vertraut wie der weiße Geruch seiner leiblichen Mutter, ihre Dunkelheit so vertraut wie Sarahs milchigweiße Blondheit - und schließlich vertrauter. Wenn Sarah ihre Kinder abgab, ergriff Makwa freudig die Gelegenheit und drückte den Jungen, den Sohn von Cawso wabeskiou, dem weißen Schamanen, mütterlich an ihre warme Brust. Es schenkte ihr eine Erfüllung, die sie nicht mehr erlebt hatte, seit sie ihren kleinen Bruder in den Armen gehalten hatte. Sie belegte den kleinen weißen Jungen mit einem Liebeszauber, und manchmal sang sie ihm vor.
Ni-na ne-gi-se ke-wi-to-se-me-ne ni-na,
Ni-na ne-gi-se ke-wi-to-se-me-ne ni-na,
Wi-a-ya-ni,
Ni-na ne-gi-se ke-wi-to-se-me-ne ni-na.
Ich gehe mit dir, mein Sohn,
Ich gehe mit dir, mein Sohn,
Wohin du auch gehst,
Ich gehe mit dir mein Sohn,
Manchmal sang sie, um ihn zu beschützen:
Tti-la-ye ke-wi-ta-mo-ne i-no-ki,
Tti-la-ye ke-wi-ta-mo-ne i-no-ki-i-i.
Me-ma-ko-te-si-ta
Ki-ma-ma-to-me-ga.
Ke-te-ma-ga-yo-se.
Geist, ich rufe dich heute,
Geist, ich spreche zu dir.
Einer, der deiner sehr bedarf,
Wird dich anbeten.
Gewähre mir deine Gnade.
Bald summte Shaman diese Lieder, während er ihr auf Schritt und Tritt folgte. Alex trottete bedrückt nebenher, denn er musste zusehen, wie ein weiterer Erwachsener Anspruch auf seinen Bruder erhob. Er gehorchte Makwa-ikwa, doch sie erkannte, dass der Argwohn und die Abneigung, die manchmal in seinen jungen Augen aufblitzten, Spiegelbilder der Gefühle waren, die seine Mutter ihr gegenüber hegte. Es machte ihr nicht viel aus.
Alex war noch ein Kind, und sie konnte sich bemühen, sein Vertrauen zu gewinnen. Und was Sarah anging- die Sauks hatten Feinde gehabt, solange Makwa-ikwa sich erinnern konnte.
Jay Geiger, der zu sehr mit seiner Apotheke beschäftigt war, hatte Mort London angestellt, damit der die ersten Felder seiner Farm pflügte. Es war eine langwierige und sehr beschwerliche Arbeit. Von April bis Ende Juli hatte Mort gebraucht, um die tiefe, schwere Krume aufzubrechen. Es war aber auch eine teure Angelegenheit, denn die umgedrehten Soden mussten nun zwei bis drei Jahre ruhen und verrotten, bevor man neu pflügen und endlich ansäen konnte, und außerdem hatte Mort die Illinois-Krätze aufgeschnappt, die fast alle Männer befiel, die in der Prärie Felder bearbeiteten. Einige glaubten, die verfaulenden Soden würden giftige Dämpfe freisetzen, die den Farmer krank machten, während andere behaupteten, die Krätze komme von den Bissen der winzigen Insekten, die die Pflugschar aufscheuchte. Es war ein unangenehmes Leiden, denn auf der Haut bildeten sich kleine, juckende und nässende Pusteln. Mit einer Schwefelbehandlung konnte die Krätze so weit eingedämmt werden, dass sie nur noch lästig, aber nicht mehr gefährlich war, doch bei Vernachlässigung entwickelte sich aus ihr ein lebensbedrohendes Fieber, wie es zum Beispiel Alexander Bledsoe, Sarahs ersten Mann, getötet hatte.
Jay bestand darauf, dass auch die Ecken seines Felds sorgfältig gepflügt und später besät wurden. Entsprechend dem uralten jüdischen Gesetz erntete er im Herbst die Ecken nicht ab, sondern überließ sie den Armen. Als seine ersten Felder anfingen, gute Maiserträge abzuwerfen, konnte er den zweiten Abschnitt in Angriff nehmen, auf dem er Weizen anbauen wollte. Zu dieser Zeit war Mort London bereits Sheriff, und keiner der anderen Siedler war bereit, für Lohn zu arbeiten. Es war eine Zeit, in der chinesische Kulis es nicht wagten, ihre Eisenbahntrupps zu verlassen, da sie Gefahr liefen, gesteinigt zu werden, wenn sie einer Stadt zu nahe kamen. Gelegentlich kam ein Ire und manchmal auch ein Italiener nach Holden’s Crossing, meistens auf der Flucht vor der Sklavenarbeit beim Bau des Illinois and Mississippi Canal, aber Papisten wurden vom Großteil der Bevölkerung mit Argwohn betrachtet und schleunigst wieder weitergeschickt. Jay hatte mit einigen Sauks flüchtige Bekanntschaft geschlossen, denn sie waren die Armen, die seine Feldecken abernten durften. Schließlich kaufte er vier Ochsen und einen Stahlpflug und stellte zwei der Krieger, Kleines Hörn und Steinhund, ein, damit sie für ihn die Prärie umpflügten. Die Indianer wussten um Geheimnisse, wie man die Ebenen aufbrach und ihr Fleisch und Blut bloßlegte: die schwarze Erde. Bei der Arbeit entschuldigten sie sich beim Boden, weil sie ihn verletzten, und sie sangen Lieder, um die entsprechenden Geister günstig zu stimmen. Sie wussten auch, dass der weiße Mann zu tief pflügte. Als sie die Pflugschar für eine flachere Bearbeitung einstellten, verrottete das Wurzelgeflecht unter der umgepflügten Erde tatsächlich schneller als zuvor, und sie konnten auf diese Weise zwei Morgen pro Tag bearbeiten anstatt eineinhalb. Außerdem bekamen weder Kleines Hörn noch Steinhund die Krätze.
Jay staunte über die Ergebnisse und versuchte, die Methode auch seinen Nachbarn nahezubringen, doch er fand nirgends ein offenes Ohr.
»Das ist nur, weil diese ignoranten Arschlöcher mich als Ausländer betrachten, obwohl ich in South Carolina geboren bin, ein paar von denen aber in Europa«, beschwerte er sich erregt bei Rob J. »Die trauen mir nicht. Sie hassen die Iren und die Juden, und die Chinesen, und die Italiener, und Gott weiß wen sonst noch, weil die zu spät nach Amerika gekommen sind. Die Franzosen und die Mormonen hassen sie aus Prinzip. Und die Indianer hassen sie, weil die zu früh in Amerika waren. Zum Teufel, wen mögen sie eigentlich?« Rob lachte. »Aber, Jay...
sich selber mögen sie! Sie glauben, dass sie genau richtig sind, nur weil sie zufällig gerade zur rechten Zeit hier angekommen sind«, sagte er.
In Holden’s Crossing war es eine Sache, gemocht zu werden, eine ganz andere aber, akzeptiert zu werden. Rob J.
Cole und Jay Geiger wurden widerstrebend akzeptiert, weil ihre Berufe dringend benötigt wurden. Während sie allmählich zu markanten Flecken in der Patchworkdecke der Gemeinde wurden, hielten die beiden Familien eng zusammen und unterstützten und ermutigten sich gegenseitig. Die Kinder wurden vertraut mit den Werken großer Komponisten, und oft lagen sie abends im Bett und lauschten dem wunderbaren Klang der Saiteninstrumente, die ihre Väter mit Liebe und Leidenschaft spielten. Als Shaman fünf Jahre alt war, wüteten im Frühling die Masern. Der unsichtbare Panzer, der Sarah und Rob beschützt hatte, wirkte nicht mehr, und so schwand auch das Glück, das ihnen bis dahin beigestanden hatte. Sarah brachte die Krankheit mit nach Hause und musste einen leichten Anfall durchstehen, Shaman ebenfalls. Rob J.s Ansicht nach hatte jeder Glück, der sich nur geringfügig ansteckte, denn seiner Erfahrung nach bekam man die Masern nur einmal im Leben. Alex allerdings befiel die Krankheit in ihrer ganzen schrecklichen Heftigkeit. Während seine Mutter und sein Bruder nur leicht erhöhte Temperatur hatten, glühte er im Fieber. Während sie nur schwachen Juckreiz spürten, kratzte er sich die Haut blutig. Rob J. wickelte ihn in welke Kohlblätter und musste ihm zu seinem eigenen Besten die Hände fesseln.
Im darauffolgenden Frühjahr war Scharlach die vorherrschende Krankheit. Die Sauks steckten sich an, und auch Makwa-ikwa wurde krank, so dass Sarah missmutig zu Hause bleiben und die Indianerfrau pflegen musste, anstatt als Assistentin mit ihrem Mann mitzureiten. Nach einer Weile steckten sich auch die beiden Jungen an.
Diesmal holte Alex sich die leichtere Version, während Shaman glühte, erbrach, vor Ohrenschmerzen schrie und einen so heftigen Ausschlag bekam, dass er sich an vielen Stellen schälte wie eine Schlange. Nachdem die Epidemie abgeklungen war, ließ Sarah die warme Mailuft ins Haus und erklärte, dass die Familie einen Feiertag nötig habe. Sie briet eine Gans, ließ die Geigers wissen, dass sie willkommen seien, und am Abend erklang wieder Musik, nachdem seit Wochen keine mehr zu hören gewesen war.
Die Kinder der Geigers durften auf Feldbetten im Zimmer von Alex und Shaman schlafen. Kurz bevor sie einschliefen, schlüpfte Lillian Geiger ins Zimmer und gab jedem Kind einen Gutenachtkuss. An der Tür blieb sie noch einmal stehen und wünschte ihnen eine gute Nacht. Alex antwortete, und auch ihre eigenen Kinder: Rachel, Davey, Herrn und Cubby, der noch zu jung war, um bei seinem richtigen Namen- Lionel - gerufen zu werden.
»Gute Nacht, Rob J.« sagte sie. Doch es kam keine Antwort, und Lillian sah, dass der Junge geradeaus starrte, als wäre er tief in Gedanken versunken.
»Shaman? Mein Lieber?« Als wieder keine Reaktion kam, klatschte sie laut in die Hände. Fünf Gesichter wandten sich ihr zu, doch eines nicht.
Im anderen Zimmer spielten die Musiker jenes Mozart-Duo, das sie am besten gemeinsam spielten und in dem sie als Künstler glänzten. Rob war sehr erstaunt, als Lillian sich plötzlich vor ihn stellte und seinen Bogen mitten in einer Passage anhielt, die er besonders liebte. »Dein Sohn«, sagte sie, »der kleine. Er hört nichts.«
Das stille Kind
Während seines lebenslangen Kampfes um die Linderung von Leiden, die körperliche und seelische Defekte mit sich bringen, wunderte Rob J. sich immer wieder, wie sehr es ihn traf, wenn der Patient jemand war, den er liebte. Er hatte für alle Sympathie, die er behandelte, auch für solche, die die Krankheit böse gemacht hatte, und sogar für jene, die schon vor ihrer Krankheit böse gewesen waren, denn indem sie seine Hilfe suchten, wurden sie in gewisser Weise zu den Seinen. Als junger Arzt in Schottland hatte er seine Mutter immer schwächer werden und auf den Tod zugehen sehen, und das hatte ihm schmerzhaft vor Augen geführt, wie machtlos er letztlich als Mediziner war. Jetzt schmerzte ihn tief, was diesem starken, stämmigen Jungen widerfahren war, der seinem Samen und seiner Seele entsprungen war. Shaman lag nur benommen da, während sein Vater in die Hände klatschte, schwere Bücher zu Boden fallen ließ und ihn anschrie. »Kannst... du... etwas... hören... Sohn?«
schrie Rob und deutete auf seine eigenen Ohren, doch der kleine Junge starrte ihn nur verwirrt an. Shaman war vollkommen taub geworden. »Wird es wieder vergehen?« fragte Sarah ihren Mann. »Vielleicht«, antwortete Rob, doch er sorgte sich noch mehr als sie, weil er mehr wusste und Tragödien miterlebt hatte, die sie sich kaum vorstellen konnte.
»Du wirst schon dafür sorgen, dass es wieder vergeht.« Sie hatte absolutes Vertrauen in ihn. So, wie er einst sie gerettet hatte, würde er auch ihr Kind heilen.
Rob J. wusste zwar nicht, wie er vorgehen sollte, aber er versuchte es. Er goss Shaman warmes Öl in die Ohren.
Er badete ihn heiß, legte Kompressen an. Sarah betete zu Jesus. Die Geigers beteten zu Jahwe. Makwa-ikwa schlug ihre Wassertrommel und sang zu ihren Manitus und Geistern. Weder Gott noch Geist schienen darauf zu achten. Weder Gott noch Geist erhörten das Flehen.
Am Anfang war Shaman zu verblüfft, um Angst zu haben. Doch schon wenige Stunden später begann er zu wimmern und zu schreien. Er schüttelte den Kopf und griff sich an die Ohren. Sarah glaubte schon, die schrecklichen Ohrenschmerzen würden wieder einsetzen, doch Rob wusste, es war etwas anderes, denn er kannte das von früheren Fällen. »Er hört Geräusche, die wir nicht hören können. In seinem Kopf.«
Sarah erbleichte. »Stimmt mit seinem Kopf etwas nicht?«
»Nein, nein.« Er konnte ihr sagen, wie man das Symptom nannte- Tinnitus -, aber er konnte ihr nicht sagen, was die Geräusche hervorrief, die nur Shaman hörte und sonst niemand.
Shaman hörte nicht auf zu weinen. Sein Vater, seine Mutter und Makwa lagen abwechselnd in seinem Bett und drückten ihn an sich. Erst später sollte Rob erfahren, dass sein Sohn eine Vielzahl von Geräuschen hörte: Knistern, Rauschen, Dröhnen, Zischen. Sie alle waren sehr laut, und Shaman lebte in beständiger Angst. Doch dieser innerliche Höllenlärm verschwand nach drei Tagen. Shaman war mehr als erleichtert, und die wiedergefundene Stille tröstete ihn sehr, aber die Erwachsenen, die ihn liebten, waren gepeinigt von der Verzweiflung in dem kleinen, blassen Gesicht. An diesem Abend schrieb Rob an Oliver Wendell Holmes in Boston und fragte ihn, ob er eine Therapie gegen Taubheit kenne. Darüber hinaus bat er Holmes, für den Fall, dass es keine Behandlungsmöglichkeit gab, ihm Informationen zur Erziehung eines tauben Sohnes zu schicken.
Keiner wusste, wie sie Shaman behandeln sollten. Während Rob J. nach einer medizinischen Lösung suchte, war Alex es, der die Verantwortung übernahm. Obwohl das Unglück, das seinem Bruder widerfahren war, ihn verwirrte und ängstigte, passte er sich der Situation schnell und geschickt an. Er nahm Shamans Hände und ließ sie nicht mehr los. Wohin der ältere Junge auch ging, folgte ihm der jüngere. Wenn ihre Finger sich verkrampften, wechselte Alex die Seite und nahm die andere Hand. Shaman gewöhnte sich sehr schnell an die Sicherheit, die Biggers schweißige, oft schmutzige Hände ihm boten. Alex passte sehr genau auf ihn auf. »Er will noch etwas«, bemerkte er häufig bei Tisch, und streckte seiner Mutter Shamans leere Schüssel hin, damit sie ihm nachfüllte.
Sarah beobachtete ihre Söhne und merkte, wie sie beide litten. Shaman hörte auf zu reden, und Alex leistete ihm in seiner Stummheit Gesellschaft. Er sprach kaum noch und kommunizierte mit Shaman mit einer Reihe deutlicher Gesten und mit Blicken, denn die beiden jungen Augenpaare waren in ständigem Kontakt.
Sie quälte sich mit der Vorstellung von Situationen, in denen Shaman ein schreckliches Schicksal erlitt, weil er ihre besorgten Warnrufe nicht hören konnte. Sie befahl den Jungen, immer in der Nähe des Hauses zu bleiben.
Das langweilte die beiden bald, und sie saßen mürrisch auf der Erde und spielten dumme Spiele mit Nüssen und Kieseln oder zeichneten mit Zweigen in den Staub. Sie konnte es zwar kaum glauben, doch hin und wieder hörte sie die zwei sogar lachen. Da Shaman seine eigene Stimme nicht hörte, neigte er dazu, zu leise zu sprechen, und sie mussten ihn dann bitten zu wiederholen, was er gemurmelt hatte, doch er verstand sie nicht. Er gewöhnte sich an, zu grunzen anstatt zu sprechen. Wenn Alex der Geduldsfaden riss, vergaß er die Gegebenheiten. »Was?« rief er dann. »Was, Shaman?« Doch dann erinnerte er sich an die Taubheit seines Bruders und verlegte sich wieder aufs Gestikulieren. Mit der Zeit übernahm er von Shaman die schlechte Gewohnheit zu grunzen, um etwas zu verdeutlichen, das er mit seinen Händen ausdrückte. Sarah konnte diese schnaubenden Geräusche nicht ertragen, denn die ließen ihre Söhne in ihren Augen wie Tiere erscheinen. Auch sie nahm eine schlechte Gewohnheit an, denn sie stellte sich oft hinter sie und klatschte in die Hände, schnippte mit den Fingern oder rief ihre Namen, um auszuprobieren, ob Shaman wirklich noch taub war. Wenn sie im Haus mit dem Fuß aufstampfte, brachte die Erschütterung des Bodens Shaman dazu, den Kopf zu drehen. Ansonsten war Alex’ böser Blick die einzige Reaktion auf ihre Einmischung. Sie war eine unbeständige Mutter gewesen, hatte sie es doch oft vorgezogen, mit Rob J. auszureiten, anstatt sich um ihre Kinder zu kümmern. Sie musste sich eingestehen, dass ihr Mann das Wichtigste in ihrem Leben war, so wie sie einsah, dass für ihn die Medizin die Hauptantriebskraft in seinem Leben war, wichtiger noch als seine Liebe zu ihr; aber so war es eben. Weder für Alexander Bledsoe noch für einen anderen Mann hatte sie je empfunden, was sie für Rob J. Cole empfand. Jetzt, da einer ihrer Söhne bedroht war, wandte sie ihre Liebe wieder mit ganzer Kraft ihren Kindern zu, doch es war zu spät. Alex war nicht bereit, ein Quentchen von seinem Bruder abzurücken, und Shaman hatte sich daran gewöhnt, von Makwa-ikwa abhängig zu sein.
Makwa hatte nicht die Absicht, etwas gegen diese Abhängigkeit zu tun, im Gegenteil, sie nahm ihn für lange Zeitspannen mit in ihr hedonoso-te und wachte über jede seiner Bewegungen. Einmal sah Sarah, wie sie zu der Stelle lief, wo Shaman Wasser gelassen hatte, und etwas von der nassen Erde in eine Schale schaufelte, als sammle sie die Reliquien eines Heiligen ein. Sarah hielt die Frau für einen Sukkubus, der versuchte, den Teil ihres Gatten für sich zu beanspruchen, den sie selbst am meisten schätzte, und der jetzt auch noch versuchte, ihr Kind in seine Gewalt zu bekommen. Sie wusste, dass Makwa-ikwa Zauberworte sprach, sang und wilde Rituale vollzog, bei denen sie eine Gänsehaut bekam, wenn sie nur daran dachte, doch sie traute sich nicht, etwas dagegen zu sagen. Sosehr sie sich auch wünschte, dass jemand - wer auch immer und womit auch immer - ihrem Kind helfe, empfand sie doch eine gewisse selbstgerechte Bestätigung, eine Bekräftigung in dem einen, wahren Glauben, als die Tage vergingen und nichts von dem heidnischen Unsinn den Zustand ihres Sohnes besserte.
Nachts lag Sarah wach und quälte sich mit Gedanken an Taubstumme, die sie kannte. Sie erinnerte sich vor allem an eine schwachsinnige, zerlumpte und sehr fette Frau, die sie und ihre Freundinnen durch die Straßen ihres Heimatdorfes in Virginia gejagt und wegen ihrer Korpulenz und ihrer Taubheit verspottet hatten. Bessie, hatte sie geheißen, Bessie Turner. Sie hatten Zweige und Steine nach ihr geworfen, denn in ihrem Übermut wollten sie sehen, wie Bessie auf körperliche Schmerzen reagierte, wenn sie schon die schlimmen Beleidigungen nicht mitbekam, die sie ihr nachriefen. Sie fragte sich, ob grausame Kinder auch Shaman durch die Straßen jagen würden.
Langsam dämmerte es Sarah, dass auch Rob Shaman nicht helfen konnte - nicht einmal er. Jeden Morgen verließ er das Haus und ritt zu seinen Hausbesuchen, die Krankheiten anderer Leute nahmen ihn ganz in Anspruch.
Doch er ließ dabei seine eigene Familie nicht im Stich. Es kam ihr nur manchmal so vor, da sie Tag für Tag zusehen musste, wie ihre Söhne sich abmühten.
Die Geigers, die hilfsbereit sein wollten, luden sie öfters zu Abenden ein, wie die beiden Familien sie früher häufig verbracht hatten, doch Rob J. lehnte ab. Er spielte nicht mehr auf seiner Gambe, und Sarah glaubte, er könne es einfach nicht ertragen, Musik zu machen, die Shaman nicht hören konnte.
Sie stürzte sich in die Farmarbeit. Alden Kimball grub ihr ein neues Stückchen Erde um, und sie legte einen höchst ehrgeizigen Gemüsegarten an. Meilenweit suchte sie das Flussufer nach gelben Taglilien ab, die sie in ein Beet vor dem Haus verpflanzte. Sie half Alden und Mond, kleine Herden blökender Schafe auf ein Floß zu treiben, in die Flussmitte zu staken und dann ins Wasser zu stoßen, damit sie ans Ufer schwimmen mussten, wobei die Wolle vor dem Scheren gereinigt wurde. Nach dem Kastrieren der Frühlingslämmer sah Alden sie schief an, als sie den Kübel mit den abgeschnittenen Hoden verlangte, den Prärieaustern, die Alden so gerne aß.
Sarah schälte die sehnige Hülle ab und fragte sich dabei, ob die Hoden eines Mannes unter der runzeligen Haut genauso aussahen. Dann halbierte sie die zarten kleinen Bällchen und briet sie mit wilden Zwiebeln und in Scheiben geschnittenen Bofisten in ausgelassenem Speck. Alden aß seine Portion mit großem Appetit, erklärte sie für ausgezeichnet, und beklagte sich von da an nicht mehr.
Sie hätte beinahe glücklich sein können. Bis auf das eine. Eines Tages kam Rob J. nach Hause und erzählte ihr, dass er mit Tobias Barr über Shaman gesprochen habe. »In Jacksonville wurde eine Schule für Taube eröffnet, aber er weiß nur wenig darüber. Ich könnte hinfahren und sie mir ansehen. Aber... Shaman ist noch so jung.«
»Jacksonville ist hundertundfünfzig Meilen weit weg. Wir würden ihn kaum noch sehen.«
Er berichtete ihr, dass der Arzt aus Rock Island ihm seine Unwissenheit, was die Behandlung tauber Kinder betraf, gestanden habe. Erst vor einigen Jahren habe er ein achtjähriges Mädchen und ihren sechsjährigen Bruder ihrem Schicksal überlassen müssen. Die beiden Kinder seien schließlich als Mündel des Staates in die Irrenanstalt von Springfield in Illinois gesteckt worden.
»Rob J.«, sagte sie. Durch das offene Fenster drang das kehlige Grunzen ihrer Söhne herein, ein irrsinniges Geräusch, und plötzlich sah sie Bessie Turners leeren Blick wieder vor sich. »Ein taubes Kind zu Verrückten in eine Anstalt zu stecken - das ist böse.« Der Gedanke an das Böse ließ sie erschauern, wie immer. »Glaubst du«, flüsterte sie, »dass Shaman für meine Sünden bestraft wird?«
Er nahm sie in seine Arme, und sie schöpfte Mut aus seiner Kraft, wie sie es stets tat.
»Nein«, antwortete er. Er hielt sie lange. »Ach, meine Sarah. Das darfst du nie denken.« Aber er sagte ihr nicht, was sie tun konnten.
Eines Morgens saßen die beiden Jungen zusammen mit Kleiner Hund und Vogelfrau vor dem hedonoso-te und schälten die Rinde von Weidenruten ab, damit Makwa ihre Medizin daraus brauen konnte, als ein fremder Indianer auf einem knochigen Pferd aus dem Wald am Flussufer geritten kam. Er war vom Aussehen her ein Sioux, alles andere als jung und so dürr, schäbig und abgerissen wie sein Pferd. Seine Füße waren nackt und schmutzig. Er trug Gamaschen und ein Lendentuch aus Hirschleder, und um den Oberkörper den zerfetzten Überrest eines Bisonfells, das ein Gurt aus verknoteten Stofffetzen zusammenhielt. Seine langen, angegrauten Haare waren mit Streifen von Otterhaut nachlässig zu einem kurzen Zopf am Hinterkopf und zwei längeren Zöpfen an den Seiten geflochten. Noch vor ein paar Jahren hätte ein Sauk einen Sioux nur mit der Waffe begrüßt, doch inzwischen wussten beide Stämme, dass sie von einem gemeinsamen Feind bedroht waren, und als der Reiter Makwa-ikwa in der Zeichensprache begrüßte, die die Präriestämme mit unterschiedlichen Dialekten untereinander benutzten, erwiderte sie den Gruß mit ihren Händen.
Sie vermutete, dass er den Wisconsin überquert hatte und dann dem Waldgürtel entlang des Masesibowi gefolgt war. Seine Zeichen gaben ihr zu verstehen, dass er in Frieden komme und der untergehenden Sonne zu den Sieben Nationen folge. Er bat sie um Essen. Die vier Kinder waren fasziniert. Sie kicherten und ahmten das Essen-Zeichen mit ihren kleinen Händen nach.
Er war ein Sioux, also konnte sie ihm nicht einfach etwas ohne Gegenleistung geben. Er tauschte ein geflochtenes Seil gegen einen Teller Eichhörncheneintopf und ein großes Stück Maiskuchen sowie einen kleinen Sack getrocknete Bohnen für unterwegs ein. Der Eintopf war kalt, aber der Sioux stieg ab und aß mit offensichtlichem Hunger. Dann bemerkte er die Wassertrommel und fragte sie, ob sie eine Geisterbeschwörerin sei. Als sie bejahte, setzte er eine unbehagliche Miene auf. Ihre Namen nannten sie nicht, um dem anderen nicht Macht über sich zu geben. Nachdem er gegessen hatte, warnte sie ihn, keine Schafe zu jagen, da die weißen Männer ihn sonst töten würden, und er stieg wieder auf sein dürres Pferd und ritt davon. Die Kinder spielten noch immer mit ihren Händen und machten Zeichen, die nichts bedeuteten, außer Alex, der sich das Essen-Zeichen gemerkt hatte. Makwa brach ein Stück von dem Maiskuchen ab, gab es ihm und zeigte dann den anderen, wie man es machte. Hatten sie es begriffen, erhielten sie zur Belohnung ebenfalls ein Stückchen. Diese zwischen den Stämmen benutzte Sprache war etwas, das die Sauk-Kinder eigentlich beherrschen sollten, deshalb brachte sie ihnen auch das Zeichen für Weide bei. Die weißen Kinder ließ sie aus Freundlichkeit am Unterricht teilhaben. Doch dann sah sie, dass Shaman die Zeichen sehr schnell zu begreifen schien, und ihr kam ein aufregender Gedanke, der sie dazu brachte, sich auf ihn mehr zu konzentrieren als auf die anderen.
Zusätzlich zu den Zeichen für Essen und Weide zeigte sie ihnen die für Mädchen, Junge, Waschen und Anziehen. Das war in ihren Augen genug für den ersten Tag, doch sie hielt sie dazu an, sie immer wieder zu üben, bis sie die Zeichen perfekt beherrschten. Für die Kinder war das ein aufregendes, neues Spiel.
Als Rob J. an diesem Nachmittag heimkehrte, brachte Makwa-ikwa die Brüder zu ihm und zeigte ihm, was sie gelernt hatten. Rob J. sah seinem tauben Sohn nachdenklich zu. Er sah, dass Makwas Augen vor Stolz über das Erreichte leuchteten, und er lobte die Kinder und dankte Makwa, die versprach, ihnen noch weitere Zeichen beizubringen. »Wozu soll denn das gut sein?« fragte Sarah bitter, als sie alleine waren. »Was bringt es, wenn unser Sohn mit seinen Händen reden kann, aber nur von einem Haufen Indianer verstanden wird?«
»Es gibt eine ähnliche Zeichensprache für die Taubstummen«, erwiderte Rob J. nachdenklich. »Ich glaube, ein Franzose hat sie erfunden. An der Universität habe ich selber gesehen, wie sich zwei Taubstumme mit Gebärden problemlos verständigt haben. Wenn ich mir ein Buch mit diesen Zeichen schicken lasse und wir sie mit Shaman lernen, können wir mit Shaman reden und er mit uns.« Widerstrebend gab sie zu, dass es einen Versuch wert sei.
In der Zwischenzeit, beschloss Rob J., würde es dem Jungen nicht schaden, wenn er die indianischen Zeichen lernte.
Von Oliver Wendeil Holmes kam ein langer Brief. Mit der für ihn typischen Gründlichkeit hatte er die Literatur in der Bibliothek der Harvard Medical School durchforstet und einer Reihe von Autoritäten Shamans Fall, soweit er ihn aus Rob J.s Schreiben kannte, vorgelegt. Er sah nur wenig Hoffnung für eine Besserung von Shamans Zustand. Manchmal, schrieb er, erlangen Patienten ihr Gehör wieder, die in der Folge von Krankheiten wie Masern, Scharlach oder Gehirnhautentzündung vollständig taub wurden. Aber oft hat eine massive Infektion während der Krankheit zu Beschädigung und Vernarbungen des Gewebes geführt, wodurch höchst sensible und komplizierte Prozesse außer Funktion gesetzt werden. Eine Wiederherstellung durch Behandlung ist nicht möglich.
Sie schreiben, dass Sie die beiden äußeren Gehörgänge mit einem Spekulum untersucht haben. Ich würde Ihnen empfehlen, mit Hilfe eines Handspiegels das Licht einer Kerze in das Ohr zu lenken. Mit ziemlicher Sicherheit liegt die Beschädigung tiefer als der Bereich, den Sie untersuchen konnten. Da wir beide seziert haben, wissen wir um die Empfindlichkeit und Komplexität des Mittel- und des Innenohres. Wir werden wohl nie erfahren, ob das Problem des jungen Robert im Trommelfell oder den Gehörknöchelchen oder in der Schnecke liegt. Wir wissen nur, mein lieber Freund, dass Ihr Sohn, falls er bei Eintreffen dieses Briefes noch taub ist, aller Wahrscheinlichkeit nach auch für den Rest seines Lebens taub bleiben wird.
Das Problem, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken müssen, ist also die Frage nach der bestmöglichen Ausbildung.
Holmes hatte sich mit Dr. Samuel G. Howe aus Boston unterhalten, der mit zwei taubstummen und blinden Kindern gearbeitet und ihnen beigebracht hatte, mit anderen zu kommunizieren, indem sie mit ihren Fingern buchstabierten. Drei Jahre zuvor hatte Dr. Howe Europa bereist und dabei beobachten können, wie tauben Kindern beigebracht wurde, deutlich und verständlich zu reden.
Aber in Amerika bringt man Kindern nicht das Reden bei, schrieb Holmes weiter, sondern nur die Zeichensprache. Wenn Ihr Sohn die Zeichensprache lernt, wird er sich nur mit anderen Tauben unterhalten können. Wenn er aber lernt, zu sprechen und von den Lippen der anderen abzulesen, was sie sagen, gibt es keinen Grund, warum er nicht auch in der Gesellschaft normaler Menschen leben könnte.
Dr. Howe empfiehlt Ihnen deshalb, Ihren Sohn zu Hause zu behalten und ihn selbst zu unterrichten, und ich stimme ihm zu.
Die befragten Ärzte hatten davor gewarnt, dass Shaman, wenn man ihn nicht zum Sprechen zwinge, auf Grund mangelnder Übung der Sprechorgane mit der Zeit stumm werden könne. Und Holmes fügte noch hinzu, wenn die Sprechfähigkeit erhalten werden solle, dürfe die Familie Cole im Umgang mit dem jungen Robert keine formalisierten Zeichen benutzen und von ihm auch nie solche Zeichen akzeptieren.
Die Fesselung
Zunächst verstand es Makwa-ikwa nicht, als Cawso wabeskiou ihr sagte, sie dürfe den Kindern die Zeichen der Stämme nicht mehr beibringen. Aber Rob J. erklärte ihr, warum diese Zeichen für Shaman schlechte Medizin waren. Der Junge hatte bereits sechzehn Zeichen gelernt. Er kannte die Geste für Hunger, er konnte um Wasser bitten und anzeigen, dass ihm heiß oder kalt war und ob er sich wohl oder krank fühlte, er konnte seine Zustimmung oder sein Missfallen ausdrücken, grüßen und sich verabschieden, konnte Größen beschreiben und schließlich deutlichmachen, ob er etwas für klug oder für töricht hielt. Für die anderen Kinder war die indianische Zeichensprache nur ein Spiel, aber für Shaman, der ja von der normalen Kommunikation ausgeschlossen war, bedeutete sie den wiederhergestellten Kontakt zur Welt.
Seine Hände sprachen weiter.
Rob J. verbot den anderen, sich darauf einzulassen, doch es waren Kinder, und wenn Shaman ein Zeichen machte, konnten sie der Versuchung, darauf zu reagieren, manchmal nicht widerstehen. Nachdem Rob J.
mehrmals zusehen musste, dass weiterhin Zeichen ausgetauscht wurden, nahm er einen weichen Stoffstreifen, den Sarah zu einer Binde zusammengerollt hatte, und fesselte damit Shaman die Hände an den Gürtel. Shaman schrie und weinte.
»Du behandelst deinen Sohn... wie ein Tier«, flüsterte Sarah. »Es ist vielleicht schon zu spät für ihn. Vielleicht ist das seine letzte Chance.« Rob fasste die Hände seiner Frau und versuchte, sie zu trösten. Aber sosehr sie ihn auch anflehte, er blieb standhaft und die Hände seines Sohnes blieben gefesselt, als wäre er ein kleiner Gefangener.
Alex wusste noch gut, wie er sich gefühlt hatte, als sein Körper während der Masern so schrecklich gejuckt und sein Vater ihm die Hände gefesselt hatte, damit er sich nicht kratzen konnte. Er vergaß dabei, dass sein Körper bereits geblutet hatte, und erinnerte sich nur noch an das ungelinderte Jucken und das entsetzliche Gefesseltsein.
Bei der ersten Gelegenheit holte er deshalb die Sichel aus der Scheune und zerschnitt die Fessel seines Bruders.
Als Rob J. Alex Hausarrest auferlegte, hielt der sich nicht daran. Er packte ein Küchenmesser, ging hinaus und befreite seinen Bruder noch einmal von den Fesseln, nahm ihn bei der Hand und führte ihn weg. Zur Mittagszeit wurde ihre Abwesenheit bemerkt, und jeder auf der Farm ließ seine Arbeit im Stich, um sich auf die Suche zu machen. In den Wäldern, am Flussufer und auf den Weiden der Prärie suchte man sie und rief ihre Namen, die freilich nur einer der Jungen würde hören können. Niemand erwähnte den Fluss selbst, doch in diesem Frühling waren zwei Franzosen mit einem Kanu bei Hochwasser umgekippt und ertrunken, weshalb die Bedrohung, die dieser Fluss darstellte, allen noch frisch im Gedächtnis war.
Es gab keine Spur von den beiden Jungen, bis kurz vor Einbruch der Nacht Jay Geiger auf die Farm der Coles geritten kam, Shaman vor sich im Sattel, Alex hinter sich. Er habe sie mitten in seinem Maisfeld gefunden, berichtete er, vollkommen verweint und sich gegenseitig an den Händen haltend, seien sie zwischen den Pflanzen gesessen. »Wenn ich das Feld nicht gerade nach Unkraut abgesucht hätte, würden sie immer noch dort sitzen«, sagte Jay. Rob J. wartete, bis die tränennassen Gesichter gewaschen waren und die Jungen gegessen hatten. Dann nahm er Alex und ging mit ihm zum Fluss. Die Strömung kräuselte sich glucksend an den Steinen am Ufer, und das Wasser war bereits dunkler als der Himmel. Die hereinbrechende Nacht spiegelte sich in ihm.
Mauersegler stiegen hoch und stießen dann wieder herunter, bis sie beinahe die Wasseroberfläche berührten.
Hoch oben zog zielstrebig wie ein Postboot ein Kranich vorbei.
»Weißt du, warum ich dich hierher gebracht habe?«
»Wirst mich verprügeln wollen.«
»Ich habe dich bis jetzt noch nie geprügelt, oder? Und ich fange auch jetzt nicht damit an. Nein, ich will mich mit dir beratschlagen.« Der Junge sah ihn mit ängstlich aufgerissenen Augen an, denn er wusste nicht genau, ob dieses Beratschlagen nicht schlimmer war als Prügel. »Was is’n das?«
»Weißt du, was Tauschen ist?«
Alex nickte. »Klar. Hab’ schon oft Sachen getauscht.«
»Na, und ich will mit dir Gedanken austauschen. Über deinen Bruder. Shaman hat großes Glück, dass er einen großen Bruder hat wie dich, jemanden, der sich um ihn kümmert. Deine Mutter und ich... wir sind stolz auf dich.
Wir danken dir.«
»Du behandelst ihn aber gemein, Pa, fesselst ihm die Hände...«
»Alex, wenn ihr euch weiter mit Zeichen verständigt, braucht er nicht zu reden. Und ziemlich bald hat er dann das Reden verlernt, und du wirst nie wieder seine Stimme hören. Nie wieder. Glaubst du mir das?« Die Augen des Jungen wurden noch größer, die Last der Verantwortung spiegelte sich in ihnen. Er nickte.
»Ich will, dass du ihm die Hände gefesselt lässt, und ich bitte dich, dich mit ihm nie wieder mit Zeichen zu verständigen. Wenn du mit ihm redest, deute erst auf deinen Mund, damit er auf deine Lippen sieht! Dann sprich langsam und deutlich! Du musst wiederholen, was du sagst, bis er anfängt, von deinen Lippen zu lesen.« Rob J.
sah Alex in die Augen. »Verstehst du das, mein Sohn? Willst du uns helfen, damit er das Reden nicht verlernt?«
Alex nickte. Rob J. zog ihn an seine Brust und drückte ihn. Der Junge stank, wie eben ein Zehnjähriger riecht, der den ganzen Tag lang schwitzend und weinend in einem gedüngten Maisfeld gesessen hat. Zu Hause wollte Rob ihm gleich helfen, Badewasser in die Stube zu tragen.
»Ich liebe dich, Alex.«
»...dich auch, Pa«, flüsterte der Junge.
Jedem wurde das gleiche eingeschärft: Zieh Shamans Aufmerksamkeit auf dich! Deute auf deine Lippen! Sprich langsam und deutlich! Sprich zu seinen Augen anstatt zu seinen Ohren!
Jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen fesselte Rob J. seinem Sohn die Hände. Bei den Mahlzeiten band Alex Shaman los, damit er essen konnte. Danach fesselte er seinen Bruder wieder und achtete darauf, dass keins der anderen Kinder Zeichen machte. Doch Shamans Blick wurde immer gepeinigter, das sowieso schon abgehärmte Gesicht verschloss sich vor dem Rest der Welt. Er konnte nicht verstehen. Und er sagte kein einziges Wort.
Hätte Rob J. von einem anderen Vater gehört, der seinem Jungen die Hände fesselte, hätte er alles getan, um dem Kind zu helfen. Grausamkeit lag ihm fern, und er sah, was Shamans Leiden bei den anderen in seinem Haushalt anrichtete. So war es eine willkommene Flucht für ihn, wenn er seine Tasche nehmen und davonreiten konnte, um seinem Beruf nachzugehen.
Die Welt außerhalb der Farm nahm ihren Lauf, ohne sich groß um die Sorgen der Coles zu kümmern. In diesem Sommer bauten drei weitere Familien solide Holzhäuser als Ersatz für ihre Sodenhütten. Man sprach viel davon, eine Schule zu bauen und einen Lehrer zu engagieren, und Rob J. und Jason Geiger befürworteten das Vorhaben.
Die beiden unterrichteten ihre Kinder zu Hause und halfen sich in Notfällen gegenseitig aus, aber sie waren übereinstimmend der Meinung, dass es besser wäre, wenn die Kinder in eine richtige Schule kämen. Als Rob J.
einmal die Apotheke aufsuchte, merkte er deutlich, dass Jay unbedingt etwas loswerden wollte. Schließlich platzte der Freund mit der Nachricht heraus, dass Lillians Babcock-Klavier unterwegs sei. Es war in Columbus verpackt und eingeschifft worden und hatte auf Floß und Flussdampfer bereits mehr als tausend Meilen zurückgelegt. »Den Scioto hinunter bis zum Ohio, den Ohio hinunter bis Cairo, und unseren Mississippi hoch zum Pier der Great Southern Transport Company in Rock Island, wo es jetzt auf meinen Buckboard und meine Ochsen wartet.«
Alden Kimball hatte Rob gebeten, einen Bekannten von ihm zu behandeln, der krank in der verlassenen Mormonenstadt Nauvoo lag. Alden begleitete ihn als Führer. Auf der Reise Flussabwärts wollten sie es sich gemütlich machen und bezahlten deshalb für sich und ihre Pferde die Fahrt auf einem Flachboot. Nauvoo war eine gespenstische, zum größten Teil verlassene Stadt, ein Netzwerk breiter Straßen an einer hübsch gelegenen Flussbiegung, mit soliden Häusern und den steinernen Ruinen eines Tempels in der Mitte, der aussah, als wäre er von König Salomon erbaut. Nur eine Handvoll Mormonen lebte noch dort, erzählte ihm Alden, alte Leute und Rebellen, die mit der Führung gebrochen hatten, als die Heiligen der letzten Tage nach Utah gezogen waren. Es war ein Ort, der Freigeister anzog. So war ein Winkel der Stadt an eine kleine Kolonie von Franzosen vermietet worden, die sich selbst die Ikarier nannten und genossenschaftlich zusammenlebten. Mit verächtlich erhobenem Kopf, aufrecht in seinem Sattel sitzend, führte Alden Rob J. durch das französische Viertel und schließlich zu einem Haus aus verwittertem Backstein an einem freundlichen Sträßchen.
Eine ernst blickende Frau mittleren Alters öffnete auf sein Klopfen hin und nickte ihm grüßend zu. Sie nickte auch Rob J. zu, nachdem Alden sie als Mrs. Bidamon vorgestellt hatte. Etwa ein Dutzend Leute standen oder saßen im Salon, aber Mrs. Bidamon führte Rob nach oben in ein Zimmer, in dem ein etwa sechzehnjähriger Junge mit Masern im Bett lag. Es war kein schwerer Fall. Rob gab der Mutter Senfsamen und zeigte ihr, wie sie ihm damit Bäder bereiten konnte. Aus einem Päckchen mit getrockneten Holunderbeeren sollte sie Tee kochen.
»Ich glaube nicht, dass Sie mich noch einmal brauchen werden«, sagte er. »Aber Sie müssen mich sofort holen lassen, wenn es zu einer Entzündung der Ohren kommt.«
Mrs. Bidamon war schon voraus ins Erdgeschoss gegangen und hatte den Leuten im Salon offensichtlich die beruhigende Nachricht bereits überbracht, denn als Rob J. über die Schwelle trat, erwarteten sie ihn mit Geschenken: einem Topf Honig, drei Gläsern Marmelade, einer Flasche Wein - und mit dankbarem Geplapper.
Danach stand er beladen vor dem Haus und starrte Alden verwirrt an. »Sie sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie den Jungen behandelt haben«, sagte Alden. »Mrs. Bidamon war die Witwe von Joseph Smith, dem Propheten der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage, dem Mann, der die Religion begründet hat. Der Junge ist sein Sohn, und er heißt ebenfalls Joseph Smith. Sie glauben, dass der Jüngling auch ein Prophet ist.« Während sie wegritten, betrachtete Alden die Stadt und seufzte. »Das war doch wirklich ein schöner Ort zum Leben. Und alles ist ruiniert, nur weil Joseph Smith seinen Schwanz nicht in seiner Hose behalten konnte. Der und seine Vielweiberei! Gattinnen im Geiste, hat er sie genannt. War aber nichts Geistiges dran, der hat nur gern rumgehurt.« Rob J. wusste, dass man die Heiligen aus Ohio, Missouri und schließlich auch aus Illinois vertrieben hatte, weil Gerüchte über ihre Mehrfachheiraten die Gemüter der ortsansässigen Bevölkerung erregt hatten. Er hatte Alden noch nie mit Fragen über sein früheres Leben bedrängt, doch jetzt konnte er nicht widerstehen. »Haben Sie selber auch mehr als eine Frau gehabt?«
»Drei. Als ich dann mit der Kirche Jesu Christi gebrochen hab’, wurden sie unter den anderen Heiligen verteilt, zusammen mit ihren Kindern.«
Rob wagte nicht zu fragen, wie viele Kinder es gewesen waren. Aber ein Dämon reizte seine Zunge zu einer letzten Frage: »Hat Ihnen das was ausgemacht?«
Alden dachte einen Augenblick nach und spuckte dann aus. »Die Abwechslung war schon interessant, das will ich gar nicht leugnen. Aber der Friede ohne sie ist wunderbar«, erwiderte er.
In dieser Woche reichte die Skala der Patienten, die Rob behandelte, von dem jungen Propheten bis zu einem Kongressabgeordneten. Er wurde nach Rock Island gerufen, um das Mitglied des Repräsentantenhauses Samuel T. Singleton zu untersuchen, der bei der Rückkehr aus Washington eine Herzattacke erlitten hatte.
Als Rob Singletons Haus betrat, verließ es gerade Thomas Beckermann, und der erzählte ihm, dass auch Tobias Barr den Abgeordneten bereits untersucht habe. »Der braucht aber ‘ne Menge medizinischer Autoritäten, was?«
meinte Beckermann verdrießlich. Der Aufwand zeigte nur das Ausmaß von Samuel Singletons Angst, und als Rob J. ihn untersuchte, erkannte, er, dass diese Angst wohlbegründet war. Singleton war neunundsiebzig. Der kleine Mann hatte eine fast vollständige Glatze, schwammiges Fleisch und einen riesigen Bauch. Sein Herz schlug unregelmäßig, Rob J. hörte Pfeif- und Gurgelgeräusche.
Er nahm die Hände des alten Mannes in die seinen und starrte in das Antlitz des Schwarzen Ritters.
Singletons Assistent, ein Mann namens Stephen Hume, und sein Sekretär, Billy Rogers, saßen am Fußende des Bettes. »Wir waren das ganze Jahr in Washington. Jetzt muss er in Illinois Reden halten und seine Position wieder festigen. Er hat einen Riesenberg Arbeit vor sich«, sagte Hume vorwurfsvoll, als sei es Rob J.s Schuld, dass Singleton in so schlechter Verfassung war. Hume war zwar ein schottischer Name, doch Rob J. wurde mit dem Mann nicht so recht warm. »Sie müssen im Bett bleiben«, sagte er unverblümt zu Singleton. »Vergessen Sie Ihre Reden und Ihre Position! Essen Sie leicht und bekömmlich! Und trinken Sie nur sehr wenig Alkohol!«
Rogers starrte ihn böse an. »Die beiden anderen Ärzte haben uns aber etwas ganz anderes gesagt. Dr. Barr meinte, nach der langen Reise wäre jeder erschöpft. Und der andere aus Ihrer Stadt, Dr. Beckermann, war der gleichen Ansicht und sagte, alles, was der Abgeordnete brauche, sei Hausmannskost und gute Prärieluft.«
»Wir hielten es für richtig, mehrere Ärzte zu Rate zu ziehen«, sagte Hume, »falls es verschiedene Ansichten gibt.
Und die haben wir jetzt ja auch, nicht? Die anderen beiden sind nicht Ihrer Meinung, also steht’s zwei zu eins.«
»Sehr demokratisch. Aber das hier ist keine Wahl.« Rob J. wandte sich an Singleton. »Wenn Sie überleben wollen, sollten Sie tun, was ich Ihnen sage.«
Die kalten alten Augen sahen ihn amüsiert an. »Sie sind ein Freund des Abgeordneten Holden. Und sein Partner in diversen Geschäften, wenn ich richtig informiert bin.«
Hume gluckste vergnügt. »Nick kann’s ja kaum noch erwarten, dass unser Boss zurücktritt.«
»Ich bin Arzt. Um Politik kümmere ich mich nicht. Sie haben mich gerufen, Mr. Singleton.«
Der Kongressabgeordnete nickte und warf den beiden anderen einen vielsagenden Blick zu. Billy Rogers führte Rob aus dem Zimmer. Als der versuchte, die Bedrohlichkeit von Singletons Zustand darzulegen, erhielt er vom Sekretär ein Nicken und vom Assistenten ein glattzüngiges Dankeschön. Rogers bezahlte das Honorar, als gebe er einem Stalljungen ein Trinkgeld, und Rob J. wurde schnell und ohne Umschweife hinauskomplimentiert. Als Rob J. ein paar Stunden später auf Vicky die Main Street in Holden’s Crossing entlangritt, sah er, wie gut Nick Holdens Nachrichtendienst funktionierte. Nick wartete auf der Veranda vor Haskins Laden, den Stuhl gegen die Wand gekippt, einen Stiefel auf dem Geländer. Als er Rob J. entdeckte, winkte er ihn zu sich. Nick zog ihn schnell in den hinteren Lagerraum des Ladens und versuchte erst gar nicht, seine Aufregung zu verbergen.
»Und?«
»Was und?«
»Ich weiß, dass Sie direkt von Samuel Singleton kommen.«
»Über meine Patienten rede ich nur mit ihnen selbst. Und manchmal mit ihren Lieben. Sind Sie einer von Singletons Lieben?«
Holden lächelte. »Also, ich mag ihn schon.«
»Mögen reicht nicht, Nick.«
»Keine Spielchen, Rob J.! Ich möchte nur eins wissen: Muss er zurücktreten?«
»Wenn Sie das wissen wollen, fragen Sie ihn doch selber!«
»Mein Gott!« schnarrte Holden verärgert.
Rob J. wich einer aufgestellten Mausefalle aus, als er den Lagerraum verließ. Mit dem Geruch lederner Pferdegeschirre und verfaulender Saatkartoffeln verfolgte ihn Nicks Zorn. »Cole, Ihr Problem ist, dass Sie nicht wissen, wer Ihre wirklichen Freunde sind!«
Vermutlich musste Haskins jeden Abend darauf achten, dass der Käse gut verpackt und das Kräckerfass sorgfältig verschlossen war. Wo wie hier Lebensmittel sind, können Mäuse große Verheerung anrichten, überlegte Rob, während er durch den Laden ging. Und wenn man so nahe an der Prärie wohnte, waren Mäuse eine unvermeidliche Plage.
Vier Tage später saß Samuel T. Singleton mit zwei Stadträten aus Rock Island und drei Stadträten aus Davenport an einem Tisch, um ihnen die steuerliche Situation der Chicago and Rock Island Railroad zu erklären, die vorhatte, zwischen diesen beiden Städten eine Eisenbahnbrücke über den Mississippi zu bauen. Er sprach eben über Wegerechte, als er plötzlich wie verärgert leicht aufseufzte und auf seinem Stuhl zusammensackte. Bis Dr.
Tobias Barr im Saloon eintraf, wusste schon die ganze Nachbarschaft, dass Samuel Singleton tot war. Es dauerte eine Woche, bis der Gouverneur einen Nachfolger bestimmt hatte. Direkt nach dem Begräbnis war Nick Holden nach Springfield gefahren, um zu versuchen, sich den Posten zu sichern. Rob J. konnte sich gut vorstellen, wie er dort an diversen Stellen Druck ausübte, und zweifellos erhielt er auch Unterstützung von seinem gelegentlichen Saufkumpanen, dem aus Kentucky stammenden Vizegouverneur. Doch offensichtlich hatten auch die Leute um Singleton ihre Saufkumpane, denn der Gouverneur bestimmte Singletons Assistenten Stephen Hume dazu, die verbleibenden achtzehn Monate der Wahlperiode an die Stelle des Verstorbenen zu treten. »Jetzt ist Nick unten durch«, bemerkte Jay Geiger. »Bis zum Ende der Wahlperiode wird Hume sich eine sichere Position geschaffen haben. Er geht dann als Amtsinhaber ins Rennen, und Nick hat kaum noch Chancen, ihn zu schlagen.«
Rob war es gleichgültig. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, was in seinen eigenen vier Wänden vor sich ging.
Nach zwei Wochen hörte er auf, seinem Sohn die Hände zu fesseln. Shaman versuchte nicht mehr, Zeichen zu machen, aber er sprach auch nicht. Etwas Totes und Graues lag in dem Blick des kleinen Jungen. Sie nahmen ihn oft in die Arme, aber das war nur ein vorübergehender Trost für das Kind. Sooft Rob den Kleinen ansah, überfielen ihn Selbstzweifel und Hilflosigkeit.
Unterdessen folgten die anderen seinen Anweisungen, als wäre er unfehlbar in der Behandlung von Taubheit.
Wenn sie mit Shaman redeten, sprachen sie langsam und deutlich und zeigten dabei auf ihre Münder, um ihn zum Lippenlesen zu ermutigen. Makwa-ikwa war es schließlich, der eine neue Lösungsmöglichkeit des Problems einfiel. Sie erzählte Rob, wie man ihr und den anderen Sauk-Mädchen in der evangelischen Schule schnell und effektiv das Englischsprechen beigebracht hatte: Bei Tisch hatten sie nur etwas zu essen bekommen, wenn sie auf englisch darum baten. Sarah explodierte vor Wut, als Rob mit ihr darüber sprach. »Es war schon schlimm genug, dass du ihn gefesselt hast wie einen Sklaven. Und jetzt willst du ihn auch noch hungern lassen!«
Aber Rob J. wusste nicht, was er sonst noch ausprobieren sollte, und er verzweifelte langsam. Er sprach lang und ernsthaft mit Alex, der versprach, ihm zu helfen, und bat dann seine Frau, etwas Besonderes zu kochen. Shaman hatte ein Vorliebe für Süßsaures, und Sarah bereitete ein Hähnchen-Stew mit Mehlklößen zu und als Nachtisch warmen Rhabarberkuchen.
Als die Familie an diesem Abend bei Tisch saß und Sarah den ersten Gang hereinbrachte, lief alles ganz ähnlich ab wie an jedem Abend der vorangegangenen Wochen. Rob hob den Deckel von der dampfenden Schüssel und ließ den verführerischen Duft von süß-saurem Hühnchen, Klößen und Gemüsen über den Tisch wehen. Er gab zuerst Sarah, dann Alex. Anschließend winkte er, bis er Shamans Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, und deutete dann auf seinen Mund. »Hühn-chen«, sagte er und hob die Schüssel in die Höhe. »Klö-ße.«
Shaman starrte ihn schweigend an. Rob füllte seinen eigenen Teller und setzte sich. Shaman sah zu, wie seine Eltern und sein Bruder mit Appetit aßen, hob seinen Teller und grunzte verärgert.
Rob deutete auf seinen Mund und hob die Schüssel: »Hühn-chen.« Shaman streckte ihm seinen Teller hin.
»Hühn-chen«, sagte Rob J. noch einmal. Als sein Sohn stumm blieb, stellte er die Schüssel ab und aß weiter.
Shaman fing an zu schluchzen. Er sah seine Mutter an, die eben ihren Teller leer gegessen hatte, obwohl sie sich dazu hatte zwingen müssen. Sie deutete auf ihren Mund und hielt ihrem Mann den Teller entgegen. »Hühnchen, bitte«, sagte sie, und er bediente sie. Auch Alex bat um eine zweite Portion und bekam sie. Shaman saß da und zitterte vor Verzweiflung, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen angesichts dieses neuen Angriffs, dieses neuen Alptraums: Entzug der Nahrung.
Nachdem Hühnchen und Mehlklöße gegessen waren, wurden die Teller abgeräumt, und dann brachte Sarah den noch ofenwarmen Nachtisch und einen Krug Milch herein. Sie war sehr stolz auf ihren Rhabarberkuchen, den sie nach einem alten Rezept aus Virginia buk. Reichlich Ahornsirup warf Bläschen auf der Oberfläche und karamelisierte langsam mit dem Rhabarbersaft zu einer Kruste, die die darunterliegenden Köstlichkeiten erahnen ließ.
»Ku-chen«, sagte Rob, und Sarah und Alex wiederholten das Wort. »Ku-chen«, sagte Alex, direkt an Shaman gewandt. Es funktionierte nicht. Rob J. schnürte es das Herz zusammen. Er konnte doch nicht zulassen, dass sein Sohn verhungerte! Ein stummes Kind war immer noch besser als ein totes. Verzagt schnitt er sich selber ein Stück ab. »Kuchen!«
Es war ein Aufschrei der Entrüstung, ein Aufbegehren gegen alle Ungerechtigkeit der Welt. Und es war die vertraute, geliebte Stimme, die sie schon so lange nicht mehr gehört hatten. Dennoch saß Rob einen Augenblick lang wie betäubt da und versuchte, sich zu vergewissern, dass es nicht Alex gewesen war, der geschrien hatte.
»Kuchen! Kuchen! Kuchen!« kreischte Shaman. »Kuchen!« Der kleine Körper bebte vor Wut und Verzweiflung.
Das Gesicht war tränennass. Als seine Mutter versuchte, ihm die Nase zu putzen, riss Shaman sich los.
Höflichkeit ist im Augenblick unwichtig, dachte Rob J., für bitte und danke ist auch später noch Zeit. Er deutete auf seinen Mund. »Ja«, sagte er zu seinem Sohn, nickte und schnitt gleichzeitig ein großes Stück vom Rhabarberkuchen ab. »Ja, Shaman: Kuchen!«
Politik
Die flache, mit hohem Gras bewachsene Landparzelle südlich der Geigerschen Farm hatte ein schwedischer Einwanderer namens August Lund von der Regierung erworben. Drei Jahre mühte er sich ab, die dicke Grasnarbe aufzubrechen, doch im Frühling des vierten erkrankte seine junge Frau an Cholera und starb sehr schnell. Der Verlust verleidete ihm das Land und verdüsterte sein Gemüt. Jay kaufte seine Kuh und Rob J. seine Pferdegeschirre und einige Werkzeuge, und beide zahlten ihm mehr als nötig, da sie wussten, wie dringend er wegwollte. Er kehrte nach Schweden zurück, und zwei Jahre lang blieb sein, frisch gepflügtes Land ohne Frucht wie eine verlassene Frau, und die Natur nahm wieder Besitz davon. Dann wurde der Grund über einen Makler in Springfield verkauft, und einige Monate später brachte ein aus zwei Wagen bestehender Treck einen Mann und fünf Frauen auf dieses Land. Wären sie ein Zuhälter und seine Huren gewesen, hätten sie in Holden’s Crossing nicht mehr Aufmerksamkeit erregt. Es handelte sich um einen Priester und Nonnen des römisch-katholischen Franziskanerinnenordens, und im Rock Island County verbreitete sich schnell das Gerücht, sie seien gekommen, um eine Schule zu errichten und Kinder zum Papismus zu verführen. Holden’s Crossing brauchte sowohl eine Schule wie eine Kirche. Über beide Vorhaben hätte man wahrscheinlich noch jahrelang nur geredet, doch die Ankunft der Franziskanerinnen brachte neuen Schwung in die Sache. Nach einer Reihe von abendlichen Zusammenkünften in den Wohnzimmern der Farmer wurde ein Bauausschuss ins Leben gerufen, der die Mittel für einen Kirchenbau beschaffen sollte.
Aber Sarah war verärgert. »Die können sich einfach nicht einigen - wie streitende Kinder. Die einen wollen sparsam sein und nur eine Blockhütte errichten. Andere wollen ein richtiges Holzhaus, einen Ziegel- oder einen Steinbau.« Sie bevorzugte einen Steinbau nebst Glockenturm mit einer richtigen Kirchturmspitze und bemalten Fenstern, eine richtige Kirche eben. Man stritt sich den ganzen Sommer, den Herbst und den Winter, doch im März kam es schließlich zu einer Einigung. Da die Bevölkerung auch noch die Mittel für ein Schulhaus aufbringen musste, beschloss der Ausschuss den Bau einer einfachen, weißgestrichenen Holzkirche.
Die architektonische Kontroverse verblasste neben dem wütenden Streit über das Bekenntnis, dem die Kirche als Gotteshaus dienen sollte. Doch in Holden’s Crossing gab es mehr Baptisten als Anhänger einer anderen Glaubensrichtung, und die Mehrheit setzte sich durch. Der Ausschuss wandte sich an die Kongregation der First Baptist Church in Rock Island, die der im Entstehen begriffenen Schwestergemeinde mit guten Ratschlägen und ein wenig Geld auf die Beine half. Eine Sammlung wurde veranstaltet, und Nick Holden überraschte jeden, weil er die größte Spende gab: fünfhundert Dollar. »Menschenliebe allein bringt den nie und nimmer in den Kongress«, sagte Rob J. zu Jay. »Hume hat hart gearbeitet und die Nominierung der Demokratischen Partei bereits in der Tasche.«
Offensichtlich dachte Holden genauso, denn bald darauf wurde bekannt, dass er mit den Demokraten gebrochen hatte. Einige erwarteten, dass er sich der nationalrepublikanischen Opposition zuwenden würde, doch statt dessen trat er der American Party bei.
»American Party? Die kenn’ ich ja gar nicht«, sagte Jay. Rob klärte ihn auf, denn er erinnerte sich noch gut an die antiirischen Predigten und Hetzartikel dieser »wahren Amerikaner«, die er überall in Boston gehört und gelesen hatte. »Es ist eine Partei, die den im Land geborenen weißen Amerikaner verherrlicht und für die Unterdrückung der Katholiken und aller im Ausland Geborenen eintritt.«
»Welche Ängste und Vorurteile die Leute auch haben, Nick nutzt sie für seine Politik aus«, sagte Jay. »Vor ein paar Tagen stand er auf der Veranda des Gemischtwarenladens und warnte die Leute vor Makwas kleiner Sauk-Gruppe, als wären sie Schwarzer Falke und seine Schar. Er hat einige der Männer ganz schön aufgestachelt.
Wenn wir nicht aufpassen, meinte er, käme es zu Blutvergießen, und Farmern würden die Kehlen durchgeschnitten.« Er verzog das Gesicht. »Unser Nick. Der große Staatsmann!«
Eines Tages erhielt Rob J. einen Brief von seinem Bruder aus Schottland. Es war die Antwort auf den Brief, den Rob acht Monate zuvor abgeschickt und in dem er seine Familie, seine Praxis und seine Farm beschrieben hatte.
Er hatte ein plastisches Bild seines Lebens in Holden’s Crossing gezeichnet und seinen Bruder gebeten, ihm von den Lieben im alten Land zu berichten. Was sein Bruder nun schrieb, war zwar traurig, aber nicht unerwartet, denn bei Robs Flucht aus Schottland war seine Mutter bereits nicht mehr die Kräftigste gewesen. Sie sei drei Monate nach seiner Abreise gestorben, schrieb der Bruder, und liege neben dem Vater unter dem Moos des Kirchhofs von Kilmarnock begraben. Im Jahr darauf sei auch der Bruder des Vaters, Onkel Ranald, gestorben.
Robs Bruder berichtete, dass er die Herde erweitert und mit großen Steinen vom Fuß der Klippe einen neuen Stall gebaut habe. Er blieb eher zurückhaltend in seiner Beschreibung, denn offensichtlich wollte er Rob zwar wissen lassen, dass er mit dem Land gut zurechtkam, andererseits aber jede Andeutung von Wohlstand vermeiden. Rob erkannte, dass es Zeiten gegeben haben musste, zu denen sein Bruder seine Rückkehr gefürchtet hatte. Erbrechtlich stand Rob J. als Ältestem das Land zu, doch am Abend vor seiner Flucht aus Schottland hatte er dem Bruder, der ein leidenschaftlicher Schaffarmer war, den Besitz überschrieben. Er habe, berichtete der Bruder weiter, Alice Broome geheiratet, die Tochter von John Broome, einem Preisrichter bei der Lammschau von Kilmarnock, und dessen Frau Elsa, einer geborenen McLarkin. Rob erinnerte sich noch schwach an Alice Broome, ein dünnes, mausgraues Mädchen, das sein unsicheres Lächeln hinter vorgehaltener Hand versteckte, weil seine Zähne zu lang waren. Er habe mit ihr drei Töchter, schrieb sein Bruder, aber Alice sei wieder in anderen Umständen, und diesmal hoffe er auf einen Sohn, denn die Schafherde werde immer größer, und er brauche Hilfe.
Jetzt, da, sich die politische Situation beruhigt hat, denkst du vielleicht daran, nach Hause zurückzukehren?
An der verkrampften Handschrift merkte Rob, wieviel Angst und Unsicherheit in dieser Formulierung lag und wie sehr sich sein Bruder seiner Befürchtungen schämte.
Er setzte sich sofort hin und schrieb einen Brief, um ihn zu beruhigen. Er werde nicht mehr nach Schottland zurückkehren, außer vielleicht im Alter als Besucher, wenn die Gesundheit und die Mittel es ihm gestatten sollten. Er bestellte Grüße an seine Schwägerin und seine Nichten und gratulierte dem Bruder zu dem Erfolg, den er hatte. Man merke deutlich, schrieb er, dass die Cole-Farm in den richtigen Händen sei.
Nachdem er den Brief abgeschlossen hatte, unternahm er einen langen Spaziergang entlang des Flussufers bis zu dem Steinhaufen, der das Ende seines Landes und den Beginn von Jays Besitz markierte. Diese Cole-Farm hier stand auf besserem Grund als das Anwesen in Kilmarnock: Die Erde war tiefer, das Gras fetter, und es gab mehr Wasser. Inzwischen fühlte er sich für dieses Land verantwortlich. Er kannte seine Gerüche und Geräusche, und er liebte es im Sommer, wenn an heißen, zitronengelben Morgen der Wind das hohe Gras zum Flüstern brachte, aber auch im Winter, wenn es in der kalten, brutalen Umarmung des Schnees lag. Es war sein Land.
Als er ein paar Tage später zu einer Versammlung der Medical Society nach Rock Island fuhr, ging er ins Gerichtsgebäude, um einen Antrag auf Einbürgerung zu stellen.
Roger Murry, der Gerichtsdiener, las den Antrag umständlich durch. »Drei Jahre Wartezeit, das wissen Sie, Doktor, bevor Sie ein Bürger werden können.« Rob J. nickte. »Ich kann warten. Ich gehe sonst nirgendwohin.«
Je mehr Tom Beckermann trank, desto einseitiger verteilte sich die ärztliche Arbeit in Holden’s Crossing. Rob J.
hatte die Hauptlast zu tragen. Er verfluchte Beckermanns Alkoholismus und wünschte sich, ein dritter Arzt würde in den Ort ziehen. Stephen Hume und Billy Rogers vergrößerten ungewollt noch sein Problem, indem sie überall herumerzählten, dass Doc Cole der einzige Arzt gewesen sei, der Samuel Singleton gesagt hatte, wie krank er wirklich war. Wenn Samuel nur auf Cole gehört hätte, sagte sie, könnte er noch am Leben sein. Rob J.s Ruf wuchs auf diese Art, und immer neue Patienten suchten ihn auf.
Er gab sich größte Mühe, Zeit für Sarah und die Jungen zu erübrigen. Shaman verblüffte ihn, er war wie ein pflanzlicher Organismus, dessen Gedeihen gefährdet gewesen war, der dann aber mit einem neuen Wachstumsschub reagiert hatte und nun überall grüne Triebe zeigte. Er machte vor ihren Augen die schönsten Fortschritte. Sarah, Alex, die Sauks, Alden, alle, die auf der Cole-Farm lebten, übten lange und gewissenhaft mit ihm das Lippenlesen - es war beinahe schon eine Hysterie, so erleichtert waren sie, dass er nicht mehr schwieg -, und nachdem der Junge erst einmal zu sprechen begonnen hatte, redete und redete er. Ein Jahr vor dem Beginn seiner Taubheit hatte er lesen gelernt, und jetzt hatten seine Eltern Schwierigkeiten, ihn mit immer neuen Büchern zu versorgen.
Sarah brachte ihren Söhnen alles bei, was sie konnte, doch sie hatte nur eine sechsklassige Dorfschule besucht und war sich ihrer Grenzen bewusst. In Latein und Rechnen unterrichtete Rob J. die Jungen. Alex hielt sich gut, er war intelligent und fleißig. Shaman aber verblüffte alle mit seiner schnellen Auffassungsgabe. Rob J. gab es einen Stich, wenn er an die angeborene Intelligenz des Jungen dachte. »Er wäre ein guter Arzt geworden, das weiß ich«, sagte er eines Nachmittags bedauernd zu Jay, als sie im Schatten vor dem Haus der Geigers saßen und Ingwerwasser tranken. Er gestand Jay, dass jeder Cole fest hoffe, sein Sohn werde einmal ein Arzt werden. Jay nickte mitfühlend. »Na, da ist doch noch Alex. Der ist doch ein intelligenter Bursche.«
Rob J. schüttelte den Kopf. »Es ist wie verhext. Shaman, der nie Arzt werden kann, weil er taub ist, ist derjenige, der mich immer bei meinen Hausbesuchen begleiten will. Alex dagegen, dem einmal alle Türen offenstehen, wenn er erwachsen ist, folgt lieber Alden Kimball wie ein Schatten über die Farm. Er sieht lieber dem Knecht beim Einschlagen von Zaunpfosten oder beim Kastrieren der Lämmer zu als mir bei meiner Arbeit.«
Jay lachte. »Aber das würdest du doch auch - in seinem Alter, oder? Vielleicht bewirtschaften die Brüder die Farm einmal gemeinsam. Sie sind beide ordentliche Jungen.«
Im Haus übte Lillian das Klavierkonzert Nummer dreiundzwanzig in A-Dur von Mozart. Sie nahm ihre Fingerübungen sehr ernst, und es war nervenaufreibend, sie immer wieder die gleiche Passage spielen zu hören, bis sie genau den richtigen Ausdruck und die richtige Klangfarbe hatte. War sie dann aber zufrieden und ließ die Töne laufen, war es die schönste Musik. Das Babcock-Piano war wohlbehalten eingetroffen, allerdings störte ein langer, flacher Kratzer die polierte Perfektion eines der schlanken Nussholzbeine. Lillian hatte geweint, als sie es sah, doch ihr Gatte sagte, der Kratzer werde nie ausgebessert werden, »damit er noch unsere Enkel daran erinnert, wie wir hierher gekommen sind«.
Die Kirche von Holden’s Crossing wurde so spät im Juni eingeweiht, dass die Feierlichkeiten direkt in die zum Unabhängigkeitstag übergingen. Sowohl der Kongressabgeordnete Stephen Hume wie Nick Holden, der Kandidat für dieses Amt, sprachen bei der Einweihung. Hume wirkte auf Rob J. entspannt und selbstsicher, während Nick den Eindruck eines Mannes erweckte, der sich verzweifelt bewusst ist, dass er kaum noch gewinnen kann.
Am Sonntag nach dem Fest hielt ein Wanderprediger - der erste von vielen, die den Ort aufsuchen sollten - den Gottesdienst ab. Sarah gestand Rob J., dass sie nervös sei, und er wusste, dass sie an den Baptistenprediger dachte, der damals bei der Großen Erweckung Frauen mit unehelichen Kindern das Höllenfeuer prophezeit hatte.
Ein sanftmütigerer Hirte wie etwa Arthur Johnson, der Methodistenprediger, der sie getraut hatte, wäre ihr lieber gewesen, doch die Geistlichen wurden von der gesamten Gemeinde ausgewählt. So kamen den ganzen Sommer lang Prediger jeder Art nach Holden’s Crossing. Rob besuchte in Begleitung seiner Frau einige Gottesdienste, doch meistens blieb er weg.
Im August kündigte ein Flugblatt an der Vorderfront des Gemischtwarenladens den Besuch eines gewissen Ellwood R. Patterson an, der am Samstag, den zweiten September, um neunzehn Uhr einen Vortrag mit dem Titel »Die Flut, die die Christenheit bedroht« halten und am Sonntagvormittag den Gottesdienst feiern und predigen würde. Am Vormittag dieses Septembertages kam ein fremder Mann in Rob J.s Praxis. Er saß geduldig im kleinen Wohnzimmer, das als Warteraum diente, während Rob sich um den Ringfinger von Charley Haskins rechter Hand kümmerte, den er zwischen zwei Baumstämmen eingeklemmt hatte. Der zwanzigjährige Sohn des Ladenbesitzers war Holzfäller von Beruf. Er hatte starke Schmerzen und ärgerte sich über seine Unachtsamkeit, die zu dem Unfall geführt hatte, aber er hatte ein loses Mundwerk und ließ sich durch nichts bremsen. »Na, Doc, werd’ ich deswegen nicht mehr heiraten können?«
»Nach einer Weile wird der Finger wieder sein wie eh und je«, erwiderte Rob trocken. »Du wirst den Nagel verlieren, aber der wächst wieder nach. Und jetzt raus hier! Aber komm in drei Tagen wieder, damit ich den Verband wechseln kann!« Noch immer lachend, bat er dann den Mann aus dem Wartezimmer herein, der sich als Ellwood Patterson vorstellte. Der Wanderprediger, dachte Rob, der den Namen von dem Flugblatt her kannte. Er sah einen etwa vierzigjährigen Mann vor sich, übergewichtig, aber aufrecht und straff in der Haltung, mit einem großflächigen, arroganten Gesicht, langen schwarzen Haaren, leicht geröteter Haut und kleinen, aber deutlich hervortretenden blauen Adern auf Nase und Wangen. Mr. Patterson sagte, dass er an Geschwüren leide. Er entblößte den Oberkörper, und Rob J. sah auf seiner Haut die Pigmentflecken verheilter Stellen und dazwischen ein Dutzend offene Wunden, Pusteln, schorfige und granulierte Bläschen und weiche, gummiartige Geschwüre.
Er sah den Mann mitfühlend an. »Wissen Sie, dass Sie an einer Infektion leiden?«
»Man hat mir gesagt, dass es Syphilis ist. Im Saloon haben sie erzählt, dass Sie ein besonderer Arzt sind. Und da hab’ ich mir gedacht, ich schau’ mal, ob Sie was für mich tun können.«
Vor drei Jahren habe eine Hure in Springfield es ihm französisch besorgt, und er habe daraufhin einen harten Schanker und Schwellungen hinter den Hoden bekommen, erzählte er Rob. »Ich bin dann noch einmal zu ihr zurück. Die steckt keinen mehr an.« Einige Monate später hätten ihn Fieber und kupferfarbene Beulen sowie heftige Schmerzen in den Gelenken und im Kopf gequält. Die Symptome seien von selbst wieder verschwunden, und er habe schon geglaubt, er sei wieder gesund, doch dann seien diese Beulen und Knötchen aufgetaucht.
Rob schrieb seinen Namen auf ein Patientenblatt und daneben: Syphilis im dritten Stadium. »Woher kommen Sie, Sir?«
»...aus Chicago.«
Das kurze Zögern weckte in Rob J. den Verdacht, dass sein Patient log. Doch das war gleichgültig. »Dafür gibt es kein Heilmittel, Mr. Patterson.«
»Hm... Und was passiert jetzt?«
Ihm die Wahrheit vorzuenthalten brachte den Mann auch nicht weiter. »Wenn die Krankheit Ihr Herz angreift, sterben Sie. Wenn sie ins Gehirn geht, werden Sie wahnsinnig. Und wenn sie in Knochen und Gelenke eindringt, werden Sie zum Krüppel. Aber oft passiert nichts von diesen schrecklichen Dingen. Manchmal verschwinden die Symptome und kehren nicht mehr zurück. Sie können nur hoffen, dass Sie zu den Glücklicheren gehören.«
Patterson verzog das Gesicht. »Bis jetzt sieht man die Geschwüre noch nicht, solange ich angezogen bin.
Können Sie mir etwas geben, damit sie sich nicht im Gesicht und am Hals ausbreiten? Ich führe ein Leben in der Öffentlichkeit.«
»Ich kann Ihnen eine Salbe verkaufen. Aber ich weiß nicht, ob sie bei dieser Art von Geschwüren hilft«, erwiderte Rob sanft, und Mr. Patterson nickte und griff nach seinem Hemd.
Am nächsten Morgen kurz nach Sonnenaufgang kam ein barfüßiger Junge in zerrissenen Hosen auf einem Maulesel auf den Hof geritten und sagte, seiner Mammy gehe es sehr schlecht, ob der Doktor nicht kommen könne? Es war Malcolm Howard, der älteste Sohn einer Familie, die wenige Monate zuvor aus Louisiana in die Gegend gekommen war und sich in der Niederung sechs Meilen Flussabwärts angesiedelt hatte. Rob sattelte Vicky und folgte dem Maulesel über holprige Wege zu einer Hütte, die kaum besser war als der Hühnerstall, der an ihr lehnte. Drinnen lag Mollie Howard in ihrem Bett, um das ihr Mann Julian und ihre Kinder standen. Die Frau steckte mitten in einem Malariaanfall, aber Rob sah sofort, dass es nichts Bedrohliches war. Ein paar aufmunternde Worte und eine kräftige Dosis Chinin linderten die Angst der Patientin und die der Familie. Julian Howard machte keinerlei Anstalten zu bezahlen, und Rob J. verlangte auch nichts, da er sah, wie wenig die Familie hatte. Howard folgte ihm nach draußen und verwickelte ihn in ein Gespräch über den letzten Erfolg ihres Senators, Stephen A. Douglas. Der hatte vor kurzem den Kansas-Nebraska-Act durch den Kongress gebracht, der im Westen zwei neue Territorien begründete. Nach Douglas’ Gesetzesvorlage blieb es den Territorialregierungen überlassen, ob sie in ihrem Gebiet Sklaverei zuließen oder nicht, und deshalb regte sich im Norden heftiger Protest gegen das Gesetz.
»Diese verdammten Nordlichter, was wissen denn die über Nigger? Ein paar von uns Farmern ham sich zusammengetan, weil wir wollen, dass Illinois endlich aufwacht und ‘nem Mann erlaubt, Sklaven zu halten.
Wolln Sie vielleicht bei uns mitmachen? Diese Dunkelhäutigen sind doch dazu bestimmt, auf den Feldern des weißen Mannes zu arbeiten. Sie ham ja auch ein paar rote Nigger, die bei Ihnen arbeiten.«
»Das sind Sauks, keine Sklaven. Sie arbeiten für Lohn. Ich persönlich halte nichts von der Sklaverei.«
Die beiden Männer sahen sich an. Howard errötete. Er schwieg, und offensichtlich hielt ihn nur die Tatsache, dass Rob kein Honorar verlangt hatte, davon ab, diesem hochnäsigen Doktor die Meinung zu sagen. Rob dagegen war froh, dass die Unterhaltung beendet war. Er ließ der Frau noch etwas Chinin da und konnte anschließend, ohne aufgehalten zu werden, nach Hause reiten. Doch als er dort eintraf, wartete bereits Gus Schroeder in panischer Angst auf ihn, denn Alma war beim Reinigen des Stalls zwischen die Wand und den großen, scheckigen Bullen geraten, auf den sie so stolz waren. Der Bulle hatte sie gerade zu Boden gestoßen, als Gus den Stall betrat. »Und dann rührte sich das gottverdammte Vieh nicht mehr. Steht einfach da über ihr und senkt die Hörner, und ich musste ihn schließlich mit der Heugabel wegscheuchen. Sie sagt zwar, sie war’ nicht schlimm verletzt, aber Sie kennen ja Alma.« Also ritt er, noch immer ohne Frühstück, zu den Schroeders. Alma schien in Ordnung, war allerdings blass und etwas verstört. Sie zuckte zusammen, als er gegen die fünfte und sechste Rippe auf der linken Seite drückte, und er beschloss, lieber kein Risiko einzugehen, sondern ihr einen Verband anzulegen. Er wusste, wie sehr es sie demütigte, sich vor ihm ausziehen zu müssen, und er bat deshalb Gus, nach seinem Pferd zu sehen, damit der Ehemann nicht Zeuge ihrer Erniedrigung würde. Er ließ sie selbst ihre großen, schwabbeligen, blau geäderten Brüste hochheben und achtete darauf, ihr weißes Fleisch beim Verbinden sowenig wie möglich zu berühren. Zur Ablenkung unterhielt er sich mit ihr über Schafe und Weizen und erzählte ihr von seiner Frau und seinen Kindern. Danach lächelte sie ihn etwas verlegen an und ging in die Küche, um eine frische Kanne aufzugießen. Anschließend saßen sie zu dritt am Tisch und tranken Kaffee.
Gus erzählte Rob, dass Ellwood Pattersons samstäglicher »Vortrag« nur eine schlecht verhüllte Wahlkampfrede für Nick Holden und die American Party gewesen sei. »Die Leute glauben, dass Nick ihn herbestellt hat.«
Besagte »Flut, die die Christenheit bedroht« bestand nach Patterson aus den Katholiken, die in die Vereinigten Staaten einwanderten. Die Schroeders waren an diesem Sonntagmorgen zum erstenmal nicht in die Kirche gegangen. Sowohl Alma wie Gus waren als Lutheraner erzogen worden, doch von Patterson hatten sie schon nach dessen Vortrag genug gehabt. Er hatte behauptet, dass die im Ausland Geborenen - und das hieß: auch die Schroeders - dem amerikanischen Arbeiter das Brot stahlen, und war dafür eingetreten, dass die Wartezeit bei der Einbürgerung um achtzehn Jahre verlängert werde. Rob J. schnitt eine Grimasse. »So lange möchte ich eigentlich nicht warten.« Da sie alle drei an diesem Sonntag noch Arbeit vor sich hatten, dankte er Alma für den Kaffee und machte sich auf den Weg. Er musste fünf Meilen Flussaufwärts zur Farm von John Ashe Gilben reiten, dessen bejahrter Schwiegervater, Fletcher White, sich eine böse Erkältung zugezogen hatte. White war dreiundachtzig und ein zäher alter Vogel; er hatte schon öfters Bronchienerkrankungen überstanden, und Rob war zuversichtlich, dass er es auch diesmal wieder schaffen werde. Fletchers Tochter Suzy hatte er aufgetragen, dem greisen Mann heiße Getränke einzuflößen und Wasser zum Kochen zu bringen, damit er den Dampf inhalieren konnte. Rob besuchte Fletcher öfter, als eigentlich notwendig war, aber seine alten Patienten lagen ihm besonders am Herzen, da er nur wenige hatte. Pioniere waren meist kräftige junge Leute, die die Alten zurückließen, wenn sie nach Westen aufbrachen.
Fletcher war bereits wieder auf dem Wege der Besserung. Suzy Gilbert setzte Rob ein Mittagessen aus einer gebratenen Wachtel und Kartoffelpfannkuchen vor und bat ihn, bei ihren Nachbarn, den Bakers, vorbeizusehen, da einer der Söhne eine entzündete Zehe hatte, die geöffnet werden musste. Rob ritt auch dorthin und fand den neunzehnjährigen Donny Baker in einem sehr schlechten Zustand vor. Der junge Mann fieberte und hatte heftige Schmerzen von einer böse aussehenden Entzündung. Die halbe Sohle seines rechten Fußes war schwarz verfärbt.
Rob amputierte zwei Zehen, öffnete dann den Fuß und führte einen Gazetampon ein, aber er zweifelte, ob er den Fuß würde retten können. Er kannte zahlreiche Fälle, bei denen eine solche Infektion nur durch die Amputation des ganzen Fußes hatte gestoppt werden können.
Es war später Nachmittag, als er sich auf den Heimweg machte. Etwa auf halber Strecke hörte er hinter sich jemanden rufen. Er hielt Vicky an und wartete, bis Mort London ihn auf seinem großen kastanienbraunen Wallach eingeholt hatte. »Sheriff?«
»Doc, ich...« Mort nahm seinen Hut ab und schlug gereizt nach einer herumsummenden Fliege. Er seufzte. »Eine schlimme Sache. Ich fürchte, wir brauchen einen Leichenbeschauer.« Auch Rob J. war gereizt. Suzy Gilberts Kartoffelpfannkuchen lagen ihm schwer im Magen. Wenn Calvin Baker ihn eine Woche früher benachrichtigt hätte, hätte er Donnys Zehen problemlos heilen können. Jetzt gab es große Probleme, vielleicht sogar eine Tragödie. Er fragte sich, wie viele seiner Patienten auf dem offenen Land es wohl schlecht erging, ohne dass sie es ihn wissen ließen, und beschloss, noch vor Einbruch der Nacht bei mindestens dreien vorbeizusehen. »Da holen Sie sich besser Beckermann«, sagte er. »Ich habe heute noch viel zu tun.«
Der Sheriff drehte den Hut in seinen Händen. »Hm. Ich kann mir vorstellen, dass Sie es selber übernehmen wollen, Dr. Cole.«
»Einer meiner Patienten?« Er ging im Geiste die möglichen Kandidaten durch.
»Es ist diese Sauk-Frau.«
Rob J. sah ihn an.
»Die Indianerin, die für Sie gearbeitet hat«, ergänzte London.
Die Verhaftung
Er redete sich ein, dass es Mond sei. Nicht, dass Mond entbehrlich war oder er sie nicht mochte und schätzte, aber er hatte nur zwei Sauk-Frauen, die für ihn arbeiteten, und wenn es nicht Mond war, dann war die Alternative nicht auszudenken.
»Die, die Ihnen beim Behandeln geholfen hat«, sagte Mort London aber unerbittlich. »Erstochen. Ziemlich viele Einstiche. Und zuvor hat man sie zusammengeschlagen. Und ihr die Kleider heruntergerissen. Ich glaube, sie wurde auch vergewaltigt.«
Ein paar Minuten lang ritten sie schweigend. »Kann gut sein, dass es mehrere waren. Die ganze Lichtung, wo sie gefunden wurde, ist nämlich voller Hufspuren«, sagte der Sheriff. Dann verstummte er wieder, und sie ritten stumm.
Als sie die Farm erreichten, hatte man Makwa-ikwa bereits in den Schuppen gebracht. Vor der Tür hatte sich, zwischen Praxis und Stall, eine kleine Gruppe versammelt: Sarah, Alex, Shaman, Jay Geiger, Mond, Der singend einhergeht und die Kinder der beiden. Die Indianer trauerten nicht laut, aber ihre Augen verrieten ihren Kummer und ihr Wissen um die Sinnlosigkeit und die Schlechtigkeit des Lebens. Sarah weinte leise, und Rob J. ging zu ihr und küsste sie. Jay Geiger führte ihn von den anderen weg. »Ich habe sie gefunden.« Er schüttelte den Kopf, als wollte er ein Insekt verscheuchen. »Lillian hat mich mit ein paar Gläsern Pfirsichmarmelade zu euch geschickt. Und unterwegs habe ich dann Shaman unter einem Baum schlafen sehen.«
Das schockierte Rob J. »Shaman war dort? Hat er Makwa gesehen?«
»Nein, hat er nicht. Sarah sagt, Makwa hat ihn heute morgen zum Beerensuchen in den Wald mitgenommen, wie sie es öfters getan hat. Als er dann müde wurde, hat sie ihn wohl einfach im Schatten ein Nickerchen machen lassen. Und du weißt doch, dass Geräusche, Schreie oder sonstwas Shaman nicht stören. Ich hab’ gedacht, der ist bestimmt nicht allein hier draußen, und bin weitergeritten, bis zu dieser Lichtung. Und da hab’ ich sie gefunden.... Sie sieht furchtbar aus, Rob. Ich selber hab’ ein paar Minuten gebraucht, bis ich mich wieder in der Gewalt hatte. Ich bin dann zurückgeritten und habe den Jungen geweckt. Aber gesehen hat er nichts. Ich hab’ ihn erst hierher gebracht und bin dann zu London geritten.«
»Anscheinend bringst du dauernd meine Jungen nach Hause.«
Jay sah ihn prüfend an. »Wirst du’s durchstehen?«
Rob nickte.
Dafür sah Jay blass und elend aus. Er schnitt eine Grimasse. »Ich fürchte, du musst dich an die Arbeit machen.
Die Sauks werden sie waschen und begraben wollen.«
»Halt mir mal für eine Weile alle vom Leib!« bat Rob, ging dann in den Schuppen und schloss die Tür hinter sich.
Sie war mit einem Tuch bedeckt. Hereingebracht hatten sie offensichtlich weder Jay noch die Sauks. Eher schon Londons Männer, denn jemand hatte sie beinahe nachlässig auf den Seziertisch geworfen, wie einen leblosen Gegenstand ohne großen Wert, ein Stück Holz - oder eben eine tote Indianerin. Sie lag auf der Seite, und als er das Tuch wegzog, sah er zuerst ihren Hinterkopf und den nackten Rücken, das Gesäß und die Beine.
Die bläuliche Verfärbung deutete an, dass sie zum Zeitpunkt des Todes auf dem Rücken gelegen hatte, der Rücken und die plattgedrückten Hinterbacken waren fleckig von ausgetretenem Kapillarblut. In der Gesäßfalte bemerkte er dunkelrote Verkrustungen und eine eingetrocknete weißliche Substanz, die sich an manchen Stellen mit dem Blut zu hellen scharlachroten Flecken vermischt hatte. Behutsam drehte er sie auf den Rücken.
Auf ihren Wangen waren Kratzer, vermutlich von Zweigen verursacht, als sie mit dem Gesicht nach unten auf den Waldboden gedrückt wurde.
Rob J. hatte eine große Vorliebe für den weiblichen Hintern. Seine Frau hatte das sehr früh gemerkt. Sarah bot sich ihm gelegentlich so dar, das Gesicht im Kissen, die Brüste auf die Matratze gedrückt, ihre schmalen, elegant geformten Füße ausgestellt, die beiden birnenförmigen Wölbungen weiß und rosa über ihrem goldenen Busch.
Es war eine nicht gerade bequeme Stellung, die sie aber manchmal einnahm, weil seine sexuelle Erregung auch ihre Leidenschaft befeuerte. Für Rob J. war der Koitus ein Ausdruck der Liebe und nicht nur ein Akt der Fortpflanzung, und deshalb war für ihn keine Körperöffnung tabu. Aber als Arzt wusste er, dass der Schließmuskel seine Elastizität verlieren kann, wenn er missbraucht wird, und so achtete er beim Liebesspiel mit Sarah darauf, nichts zu tun, was sie verletzen konnte. Bei Makwa war jemand nicht so rücksichtsvoll gewesen.
Ihr von der Arbeit gestählter Körper wirkte um einige Jahre jünger, als sie vermutlich gewesen war. Schon vor Jahren waren er und Makwa mit der körperlichen Anziehung, die sie beide empfanden, ins reine gekommen, sie hatten sie immer sorgfältig in Schach gehalten. Aber es hatte Zeiten gegeben, da hatte er von ihrem Körper geträumt und sich vorgestellt, wie es wäre, sie zu lieben. Jetzt hatte der Tod sein Zerstörungswerk begonnen. Der Bauch war angeschwollen, und ihre Brüste waren schlaff, denn der Gewebezerfall hatte bereits eingesetzt. Die Muskelversteifung war beträchtlich, und er streckte die Beine, solange das noch möglich war. Ihre Schamhaare glichen schwarzer Drahtwolle und waren blutverschmiert. Vielleicht war es gut, dass sie nicht überlebt hatte, denn sie hätte ihre Zauberkraft verloren gehabt. »Schweinehunde! Ihr dreckigen Schweinehunde!« Er wischte sich die Augen, und plötzlich wurde ihm bewusst, die draußen konnten ihn hören und wussten, dass er mit Makwa-ikwa alleine war. Ihr Oberkörper schien nur noch eine unförmige Masse aus Wunden und Prellungen zu sein, und ihre Unterlippe war zerschlagen, wahrscheinlich von einer großen Faust.
Auf dem Boden neben dem Seziertisch lagen die Beweisstücke, die der Sheriff aufgesammelt hatte: ihr zerrissenes und blutverschmiertes Kleid (ein altes Baumwollkleid, das Sarah ihr geschenkt hatte), ihr Korb, halbvoll mit Minzeblättern, Kresse und irgendwelchem Laub -Vogelkirsche, wie er vermutete -, und ein Hirschlederschuh. Nur ein Schuh? Er suchte den anderen, fand ihn aber nirgends. Ihre kantigen braunen Füße waren nackt, es waren harte, viel benutzte Füße, der zweite Zeh des linken verkrüppelt von einer alten Fraktur.
Er hatte sie oft barfuss gesehen und sich immer gewundert, wie sie sich diesen Zeh wohl gebrochen hatte, doch er hatte sie nie danach gefragt.
Er blickte hoch zu ihrem Gesicht und sah seine gute Freundin. Die Augen waren offen, doch die Glaskörper hatten Druck verloren und waren trocken, so dass die Augen das Lebloseste an ihr waren. Er schloss sie schnell und beschwerte die Lider mit Pennymünzen, er wurde jedoch auch so das Gefühl nicht los, als starre sie ihn an.
Ihre Nase trat im Tod noch stärker hervor und wirkte hässlich. Im Alter wäre sie keine Schönheit gewesen, aber ihr Gesicht strahlte bereits jetzt große Würde aus. Er erschauderte und faltete die Hände wie ein Kind beim Gebet.
»Es tut mir so leid, Makwa-ikwa.« Er machte sich keine Illusionen, dass sie ihn hören könnte, aber es tröstete ihn, wenn er zu ihr sprach. Er nahm Feder, Tusche und einen Bogen Papier zur Hand und zeichnete die runenähnlichen Narben auf ihren Brüsten ab, denn er hatte das Gefühl, dass sie wichtig seien. Er wusste nicht, ob irgend jemand die Linien verstehen würde. Da Makwa-ikwa geglaubt hatte, noch viele Jahre vor sich zu haben, hatte sie sich noch keinen Nachfolger herangezogen und in ihre Geheimnisse eingeweiht. Rob vermutete, dass sie gehofft hatte, eins der Kinder von Mond und Der singend einhergeht würde sich eines Tages als geeignet erweisen. Schnell zeichnete er ihr Gesicht, so wie es gewesen war. Etwas Schreckliches war ihr und damit auch ihm widerfahren. So wie er stets von dem Henker und Medizinstudenten träumte, der den Kopf seines Freundes Andrew Gerould in die Höhe hielt, würde er immer von diesem Tod träumen. Er wusste zwar nicht genau, was an der Freundschaft so Besonderes war, das sie von der Liebe unterschied, aber irgendwie waren er und diese Frau wirkliche Freunde geworden, und ihr Tod war ein großer Verlust für ihn. Einen Augenblick lang vergaß er sein Gelübde der Gewaltlosigkeit: Wenn er die Täter jetzt in den Händen gehabt hätte, er hätte sie zerdrückt wie Ungeziefer. Der Augenblick verging wieder. Rob J. band sich gegen den Gestank ein Tuch vor Mund und Nase und griff zum Skalpell. Er öffnete den Leichnam in U-form von Schulter zu Schulter und schnitt dann zwischen den Brüsten hindurch in gerader Linie bis zum Nabel, so dass ein blutloses Y entstand. Seine Finger waren gefühllos und gehorchten seinem Verstand nur widerwillig. Es war gut, dass er nicht an einem lebenden Patienten schnitt. Bevor er die drei Hautlappen zurückgeklappt hatte, war die schauerliche Leiche Makwa gewesen, doch als er nach der Knochensäge griff, um das Brustbein von den Rippen zu lösen, zwang er sich, auf einer Bewusstseinsebene zu denken, auf der nichts Platz hatte außer der vor ihm liegenden Arbeit. Er verfiel in die berufliche Routine und tat, was getan werden musste.
Bericht über Tod durch Gewaltanwendung:
Opfer: Makwa-ikwa
Adresse: Colesche Schaffarm, Holden’s Crossing, Illinois
Beruf: Assistentin von Dr. Robert J. Cole
Alter: ca. 29 Jahre
Größe: ca. 1,75 Meter
Gewicht: ca. 63 Kilogramm
Todesumstände: Leiche des Opfers, eine Frau des Sauk-Stammes, wurde am Nachmittag des 3. September 1851
in einem Waldstück auf der Coleschen Schaffarm von einem Vorbeireitenden entdeckt. Festzustellen waren elf Stichwunden, die in unregelmäßiger Linie vom Jugulum am Sternum entlang bis zu einer Stelle etwa zwei Zentimeter unterhalb des Sternfortsatzes verliefen. Die Wunden waren zwischen 0,947 und 0,952 Zentimeter breit. Zugefügt wurden sie mit einem spitzen Gegenstand, vermutlich einer Dreiecksklinge aus Metall mit drei sehr scharfen Kanten.
Das Opfer, das noch Jungfrau gewesen war, wurde vergewaltigt. Reste des Hymens deuten daraufhin, dass es nicht perforiert gewesen war, die Membran zeigte sich dick und nicht mehr geschmeidig. Vermutlich konnte(n) der(die) Vergewaltiger die Penetration mit dem Penis nicht vollziehen. Die Defloration wurde mit einem stumpfen Gegenstand mit rauer Oberfläche oder scharfkantigen Vorsprüngen bewerkstelligt, wobei es zu massiven Verletzungen der Vulva kam, darunter tiefe Kratzer im Perineum, Risse in den großen und kleinen Schamlippen und dem Vestibulum der Vagina. Entweder vor oder nach dieser blutigen Defloration wurde das Opfer auf den Bauch gedreht. Quetschungen an den Schenkeln deuten darauf hin, dass es festgehalten wurde, während dann der Analverkehr vollzogen wurde, was wiederum nahelegt, dass es sich um mindestens zwei, wenn nicht mehr Täter gehandelt haben muss. Als Folge des Analverkehrs kam es zu einer Überdehnung und zum Einreißen des Analkanals. Im Rektum fand sich Sperma, im Mastdarm waren Spuren ausgedehnter Blutungen festzustellen. Quetschungen an Körper und Gesicht deuten daraufhin, dass das Opfer heftig geschlagen wurde, vermutlich von Männerfäusten.
Es gibt Anzeichen, dass das Opfer sich gewehrt hat. Unter den Nägeln des zweiten, dritten und vierten Fingers der rechten Hand fanden sich Hautpartikel und zwei schwarze Haare, vermutlich von einem Bart. Die Stiche wurden mit solcher Wucht ausgeführt, dass die dritte Rippe eingekerbt und das Sternum mehrfach durchstoßen wurde. Der linke Lungenflügel wurde zweimal, der rechte dreimal durchstoßen, wobei die Pleura aufgeschlitzt und das innere Lungengewebe zerrissen wurden. Beide Flügel kollabierten vermutlich sofort. Drei Stiche drangen in das Herz, zwei davon in den rechten Vorhof, wo sie Wunden von 0,799 Zentimeter und 0,887
Zentimeter Breite hinterließen. Die dritte Wunde, in der rechten Kammer, wies eine Breite von 0,803 Zentimeter auf. Als Folge dieser Herzverletzungen kam es zu einer ausgedehnten Blutansammlung in der Bauchhöhle.
Die Organe waren unauffällig bis auf die erwähnten Verletzungen. Beim Abwiegen ergaben sich für das Herz 263 Gramm, das Gehirn 1,43 Kilogramm, die Leber 1,62 Kilogramm, die Milz 199 Gramm.
Schlussfolgerung: Mord mit vorausgehender sexueller Misshandlung, verübt von unbekanntem(n) Täter(n).
( unterzeichnet) Dr. Robert Judson Cole
Beigeordneter Leichenbeschauer
Rock Island County, Illinois
An diesem Abend blieb Rob J. lange auf und schrieb den Bericht für die Akten des Bezirksgerichts und für Mort London ab. Am nächsten Morgen kamen die Sauks zur Farm und holten Makwa-ikwa, um sie hoch über dem Fluss neben ihrem hedonoso-te zu begraben. Rob hatte ihnen diese Grabstätte angeboten, ohne es vorher mit Sarah zu besprechen.
Sie wurde wütend, als sie davon erfuhr. »Auf unserem Land! Was hast du dir denn dabei gedacht! Ein Grab ist für die Ewigkeit, jetzt wird sie für alle Zeiten hiersein. Wir werden sie nie mehr los!« rief sie aufgebracht.
»Halt den Mund, Weib«, sagte Rob J. leise, und sie drehte sich um und ließ ihn stehen.
Mond wusch Makwa und zog ihr das Schamaninnenkleid aus Hirschleder an. Alden bot an, einen Sarg zu zimmern, doch die Indianerin sagte, es sei bei ihnen Brauch, die Toten nur in ihre beste Decke eingewickelt zu begraben. Also half Alden statt dessen Der singend einhergeht beim Grabschaufeln. Mond ließ sie schon in aller Frühe mit dem Graben beginnen. So schreibe es die Tradition vor, sagte sie: Grabschaufeln am frühen Morgen, die Beerdigung am frühen Nachmittag. Außerdem müssten Makwas Füße nach Westen zeigen, ergänzte sie und ließ dann aus dem Sauk-Lager den Schwanz eines Büffelweibchens holen, der mit ins Grab gelegt werden sollte.
Er werde Makwa-ikwa helfen, sicher über den Fluss aus Schaum zu kommen, der das Land der Lebenden von dem Land im Westen trennte, erklärte sie Rob J.
Das Begräbnis war nur eine karge Zeremonie. Die Indianer, alle Coles und Jay Geiger versammelten sich um das Grab, und Rob J. wartete, dass jemand mit dem Ritual beginne, doch keiner rührte sich. Die Sauks hatten keinen Schamanen mehr, und er musste bestürzt feststellen, dass sie ihn erwartungsvoll ansahen. Wenn sie eine Christin gewesen wäre, hätte er vermutlich nachgegeben und etwas gesagt, woran er nicht glaubte. Doch so wusste er überhaupt nicht, was er tun sollte. Von irgendwoher kamen ihm einige Zeilen ins Gedächtnis:
»Die Bark«, in der sie saß, ein Feuerthron,
Brannt auf dem Strom: getriebnes Gold der Spiegel,
Die Purpursegel duftend, dass der Wind
Entzückt nachzog, die Ruder waren Silber,
Die nach der Flöten Ton Takt hielten, dass
Das Wasser, das sie trafen, schneller strömte,
Verliebt in ihren Schlag. Doch sie nun selbst
Zum Bettler wird Bezeichnung.«
Jay Geiger starrte ihn an, als wäre er verrückt geworden. Kleopatra? Rob J. aber wurde bewusst, welch eine düstere Majestät sie für ihn besessen hatte, einen königlich heiligen Schein, eine ganz besondere Art der Schönheit. Sie war noch mehr als Kleopatra; Kleopatra hatte nichts von persönlichem Opfer gewusst, nichts von Treue und nichts von Kräutern. Er würde sie nie mehr wiedersehen, und John Donne lieh ihm weitere Worte, die er dem Schwarzen Ritter entgegenschleudern konnte:
»Tod, sei nicht stolz, auch wenn es heißt, du seist
Mächtig und schrecklich, bist du’s doch nicht.
Denn der, den du bereits bezwungen meinst,
Stirbt nicht, elend’ Tod, noch töten kannst du mich.«
Als offensichtlich wurde, dass Rob J. nichts mehr sagen wollte, räusperte sich Jay und sagte ein paar Worte auf hebräisch. Einen Augenblick lang fürchtete Rob J., Sarah werde Jesus mit ins Spiel bringen, aber sie traute sich nicht. Makwa hatte den Sauks einige Gebetslieder beigebracht, und eins davon sangen sie jetzt in einem etwas holperigen Gleichklang.
Tti-la-ye-ke-wi-ta-mo-ne i-no-ki,
Tti-la-ye ke-wi-ta-mo-ne i-no-ki-i-i
Me-ma-ko-te-si-ta
Ke-te-ma-ga-yo-se.
Es war ein Lied, das Makwa oft Shaman vorgesungen hatte, und Rob J. sah, dass sein Sohn zwar nicht mitsang, aber doch die Lippen zu den Worten bewegte. Als das Lied zu Ende war, war es auch das Begräbnis. Mehr gab es nicht zu tun.
Danach ging er zu der Lichtung im Wald, wo es geschehen war. Die Stelle war übersät mit Hufspuren. Er hatte Mond gefragt, ob einer der Sauks Fährten lesen könne, aber sie hatte erwidert, alle guten Fährtenleser seien tot.
In der Zwischenzeit waren auch schon Londons Männer hiergewesen. Pferdehufe und Stiefel hatten die Spuren zertrampelt. Rob J. wusste, wonach er suchte. Er fand den Stock im Unterholz, wo man ihn hingeworfen hatte.
Er sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Stock, bis auf die rostig-rötliche Verfärbung an dem einen Ende. Der zweite Schuh lag auf der anderen Seite der Lichtung im Wald, wohin ihn offensichtlich jemand mit kräftigen Armen geworfen hatte. Da er sonst nichts mehr fand, wickelte er die beiden Gegenstände in ein Tuch und ritt zum Büro des Sheriffs.
Morton London nahm den Obduktionsbericht und die Beweisstücke kommentarlos in Empfang. Er war kühl und etwas kurz angebunden, vielleicht weil seine Männer den Stock und den Schuh bei ihrer Suche übersehen hatten.
Rob J. hielt sich nicht lange bei ihm auf. Gleich neben dem Büro des Sheriffs, auf der Veranda des Gemischtwarenladens, begrüßte ihn Julian Howard. »Hab’ was für Sie«, sagte Howard. Er wühlte in seiner Tasche, und Rob J. hörte das satte Klimpern großer Münzen. Howard streckte ihm einen Silberdollar hin.
»Das hatte doch keine Eile, Mr. Howard.«
Aber Howard fuchtelte mit der Münze vor seinem Gesicht herum. »Ich zahle meine Schulden«, sagte er herausfordernd, und Rob nahm die Münze, ohne zu erwähnen, dass noch fünfzig Cents für die Medizin, die er dortgelassen hatte, fehlten. Howard hatte sich bereits barsch abgewandt, da fragte ihn Rob: »Wie geht es Ihrer Frau?«
»Schon viel besser. Sie braucht Sie nicht mehr.« Das war eine gute Nachricht, denn sie ersparte Rob einen langen und mühsamen Ritt. Statt dessen ritt er zur Farm der Schroeders, wo Alma bereits mit dem herbstlichen Hausputz begonnen hatte. Ihre Rippen konnten also nicht gebrochen sein. Sein nächster Besuch galt Donny Baker. Der Junge hatte noch immer Fieber, und der Entzündung an seinem Fuß sah man nicht an, ob sie sich zum Guten oder zum Schlechten hin entwickeln würde. Rob konnte nichts anderes tun, als den Verband wechseln und etwas Laudanum gegen die Schmerzen geben.
Ein schlimmer und unglücklicher Vormittag ging nun langsam zu Ende. Robs letzter Besuch galt der Farm der Gilberts, wo er Fletcher White in einer sehr schlechten Verfassung vorfand. Seine Augen waren trübe und blicklos, sein dürrer, alter Körper wurde von Hustenanfällen geschüttelt, jeder Atemzug war für ihn eine Qual.
»Es ging ihm schon besser«, flüsterte Suzy Gilbert.
Rob J. wusste, dass Suzy eine Schar Kinder und unendlich viel Arbeit hatte, also hatte sie wohl zu früh mit dem Wasserdampf und den heißen Getränken aufgehört. Als er Fletchers Hände in die seinen nahm, spürte er, dass der alte Mann nur noch sehr wenig Zeit zu leben hatte, und er wollte auf keinen Fall Suzy das Gefühl geben, sie sei schuld am Tod ihres Vaters. Er gab ihr etwas von Makwas starkem Tonikum, damit sie Fletcher Erleichterung verschaffen konnte. Dabei merkte er, dass er nur noch wenig von dem Tonikum hatte. Er war oft dabeigewesen, wenn sie es zusammenbraute, und glaubte, die wenigen Kräuteringredienzien zu kennen. Jetzt musste er versuchen, es selber herzustellen.
Eigentlich hätte er am Nachmittag Sprechstunde in seiner Praxis halten sollen, doch als er zur Farm zurückkehrte, herrschte dort ein wahres Chaos. Sarah war bleich im Gesicht. Mond, deren Augen bei Makwas Tod trocken geblieben waren, weinte bitterlich, und alle Kinder schauten ängstlich und verschüchtert drein.
Während Rob J.’s Abwesenheit waren Mort London und Fritz Graham, sein regulärer Hilfssheriff, sowie der extra für diesen Anlass vereidigte Otto Pfersick auf die Farm gekommen. Sie hatten ihre Gewehre auf Der singend einhergeht gerichtet, und Mort hatte ihn verhaftet. Dann hatten sie ihm die Hände auf den Rücken gebunden, ihm ein Seil umgelegt und ihn wie einen Ochsen hinter ihren Pferden hergezogen.
Die letzten Indianer in Illinois
»Sie haben einen Fehler gemacht, Mort«, sagte Rob.
Mort London sah in verlegen an, schüttelte aber den Kopf. »Nein, wir glauben, dass dieser Riese von einem Hurensohn es war, der sie getötet hat.«
Als Rob J. wenige Stunden zuvor im Büro des Sheriffs gewesen war, hatte London nichts davon erwähnt, dass er vorhabe, auf die Colesche Farm zu reiten und einen der Arbeiter zu verhaften. Irgend etwas stimmte nicht. Die Schwierigkeiten, in denen Der singend einhergeht jetzt steckte, waren wie eine Krankheit ohne erkennbare Ursache. Auf das »wir« reagierte Rob überhaupt nicht. Er wusste, wer »wir« waren, und er erkannte, dass Nick Holden aus Makwas Tod politischen Profit schlagen wollte. Aber er beherrschte seinen Zorn.
»Ein schlimmer Fehler, Mort.«
»Es gibt einen Zeugen, der den großen Indianer auf der Lichtung gesehen hat, wo sie gefunden wurde, kurz bevor es passierte.«
Das sei nicht überraschend, erwiderte Rob J., da Der singend einhergeht einer seiner Arbeiter sei und jenes Waldstück zu seiner Farm gehöre. »Ich möchte eine Kaution für ihn stellen.«
»Ich kann keine Kaution akzeptieren. Wir müssen warten, bis aus Rock Island ein Richter kommt.«
»Wie lange wird das dauern?« London zuckte die Achseln.
»Eins der wenigen guten Dinge, die wir von den Engländern übernommen haben, ist das Gebot der unverzüglichen Rechtssprechung. Das sollte man doch hier anwenden.«
»Ich kann doch wegen eines Indianers keinen Richter zur Eile treiben! Fünf, sechs Tage wird es noch dauern.
Vielleicht eine Woche.«
»Ich will Der singend einhergeht sehen.«
London führte Rob in den Arrestbau mit den zwei Zellen, der sich an sein Büro anschloss. Die Hilfssheriffs saßen in dem düsteren Korridor zwischen den beiden Zellen, die Flinten auf dem Schoß. Fritz Graham sah aus, als mache es ihm großen Spaß. Otto Pfersick dagegen machte den Eindruck, als kehre er lieber in seine Mühle zurück und mahle Mehl. Die eine Zelle war leer. Der singend einhergeht füllte die andere Zelle fast vollständig aus.
»Binden Sie ihn los«, sagte Rob J. mit dünner Stimme. London zögerte. Rob merkte, dass sie alle drei Angst hatten, sich dem Gefangenen zu nähern. Der singend einhergeht hatte einen schlimm aussehenden Bluterguss über dem rechten Auge, vielleicht von einem Gewehrschaft. Seine Körpergröße war wirklich furchterregend.
»Lassen Sie mich zu ihm hinein! Ich binde ihn selber los.« London schloss die Zelle auf, und Rob J. betrat sie allein. »Pyawanegawa«, sagte er, um ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen, und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er stellte sich hinter den Indianer und versuchte, den Knoten seiner Fessel zu lösen, doch der war zu fest gebunden. »Den muss ich aufschneiden«, sagte er zu London, »geben Sie mir ein Messer!«
»Den Teufel werde ich tun.«
»Dann die Schere aus meiner Arzttasche!«
»Als ob das keine Waffe wäre!« murmelte London, ließ aber Graham die Schere holen, worauf Rob J. den Strick durchschneiden konnte. Er massierte dem Indianer die Handgelenke, sah ihm dabei in die Augen und redete wie zu seinem tauben Sohn. »Cawso wabeskiou wird Pyawanegawa helfen. Wir sind Brüder von der gleichen Hälfte, den Langen Haaren.«
Er ignorierte die spöttischen, verächtlichen Blicke der zuhörenden Weißen auf der anderen Seite des Gitters. Er konnte nicht erkennen, ob Der singend einhergeht verstanden hatte, was er gesagt hatte. Die Augen des Sauks waren dunkel und trübe, doch als Rob J. sie studierte, entdeckte er eine Veränderung in ihnen, ein Ungewisses Aufblitzen, das Zorn oder auch das Wiederaufkeimen von Hoffnung sein konnte.
Nachmittags brachte er Mond zu ihrem Mann. Sie dolmetschte, während London ihn verhörte.
Pyawanegawa schien das Verhör zu verblüffen. Er gab ohne Zögern zu, an diesem Vormittag auf der Lichtung gewesen zu sein. Es sei an der Zeit, Holz für den Winter zu holen, sagte er und sah dabei den Mann an, der ihn dafür bezahlte. Außerdem habe er nach Ahornbäumen Ausschau gehalten, die man im Frühjahr wegen des Sirups anzapfen könne.
Er habe doch im gleichen Langhaus wie die tote Frau gewohnt, bemerkte London.
Ja. Ob er je Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt habe? Mond zögerte mit der Übersetzung. Rob J. warf London einen vorwurfsvollen Blick zu, berührte dann aber Monds Arm und nickte. Sie übersetzte die Frage, und Der Singend einhergeht antwortete sofort und ohne erkennbare Verärgerung: Nein, niemals. Nach dem Verhör folgte Rob J. Mort London in sein Büro. »Können Sie mir sagen, warum Sie diesen Mann verhaftet haben?«
»Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt! Ein Zeuge hat ihn auf der Lichtung gesehen, kurz bevor die Frau getötet wurde.«
»Wer ist dieser Zeuge?«
»Julian Howard.«
Rob fragte sich, was Julian Howard auf seinem Land zu suchen gehabt hatte. Er erinnerte sich noch an das Klimpern der Dollars in Howards Tasche, als der ihn für den Hausbesuch bezahlte. »Sie haben ihn für diese Zeugenaussage bezahlt«, sagte er, als wisse er das ganz sicher.
»Hab’ ich nicht. Nein«, erwiderte London auffahrend. Aber in der Rolle des Schurken war er ein Amateur, die Empörung über den Vorwurf wollte ihm nicht so recht gelingen.
Wahrscheinlich hatte Nick Julian das Geld gegeben, ihm geschmeichelt und versichert, dass er ja nur ein gottesfürchtiger Mann sei, der seine Pflicht tue.
»Der singend einhergeht war genau dort, wo er als mein Arbeiter zu sein hatte. Da können sie genausogut mich verhaften, weil mir das Land gehört, auf dem Makwa getötet wurde, oder Jay Geiger, weil er sie gefunden hat.«
»Wenn es der Indianer nicht getan hat, wird sich das im Laufe des Verfahrens herausstellen. Er hat mit der Frau zusammengelebt...«
»Sie war seine Schamanin. Das ist so, als wäre sie sein Priester gewesen. Und weil sie im selben Langhaus zusammengelebt haben, war Sex zwischen ihnen etwas Verbotenes wie zwischen Bruder und Schwester.«
»Was das angeht: Leute haben schon ihre Priester getötet - und ihre Schwestern gevögelt.«
Rob J. wandte sich empört von ihm ab, drehte sich dann aber noch einmal um. »Es ist noch nicht zu spät, um das wieder in Ordnung zu bringen, Mort. Dieses Sheriffamt ist auch nur irgendeine verdammte Arbeit, und Sie werden überleben, auch wenn Sie die verlieren. Ich halte Sie für einen anständigen Mann. Aber wenn Sie so was einmal tun, ist es leicht, es immer wieder zu tun.«
Das war ein Fehler. Mort konnte damit leben, dass der ganze Ort wusste, wie sehr er von Nick Holdens Gunst abhängig war, solange es ihm niemand ins Gesicht sagte.
»Ich habe diesen Scheißmist gelesen, den Sie einen Autopsiebericht nennen, Doktor Cole. Sie dürften es ziemlich schwer haben, einem Richter und einer Jury aus sechs anständigen Weißen weiszumachen, dass die Frau noch Jungfrau war. Eine gutaussehende Indianerin in ihrem Alter! Und jeder in der Umgebung weiß doch, dass sie Ihr Weib war. Sie haben vielleicht Nerven, mir eine Predigt zu halten. Und jetzt raus hier! Und kommen Sie nie wieder, wenn Sie nichts Offizielles mit mir zu besprechen haben!«
Mond sagte, Der singend einhergeht habe Angst.
»Ich glaube nicht, dass sie sich an ihm vergreifen werden«, erwiderte Rob J.
Sie sagte, er habe nicht Angst davor, dass man sich an ihm vergreife. »Er weiß, dass die Weißen manchmal Leute aufhängen. Wenn ein Sauk aufgehängt wird, kann er den Fluss aus Schaum nicht überqueren und kommt nie in das Land im Westen.«
»Niemand wird ihn aufhängen«, entgegnete Rob J. fast unwirsch. »Sie haben keine Beweise gegen ihn. Es ist eine politische Angelegenheit, und in ein paar Tagen werden sie ihn wieder freilassen müssen.« Aber die Angst war ansteckend. Der einzige Anwalt in Holden’s Crossing war Nick Holden. In Rock Island gab es zwar mehrere Anwälte, aber Rob J. kannte keinen von ihnen persönlich. Am folgenden Morgen kümmerte er sich nur um jene Patienten, deren Behandlung sich nicht aufschieben ließ, dann ritt er in die Bezirkshauptstadt. Im Wartezimmer des Kongressabgeordneten Stephen Hume saßen noch mehr Leute als gewöhnlich in seinem eigenen, und er musste beinahe neunzig Minuten warten, bis er an die Reihe kam. Hume hörte ihm aufmerksam zu. »Warum sind Sie gerade zu mir gekommen?« fragte er schließlich.
»Weil Sie wiedergewählt werden wollen und Nick Holden Ihr Konkurrent ist. Aus Gründen, die ich noch nicht kenne, versucht Nick, den Sauks im allgemeinen und Der singend einhergeht im besonderen so viele Schwierigkeiten zu machen, wie es nur geht.« Hume seufzte. »Nick hat sich mit einem üblen Haufen eingelassen, und ich kann seine Kandidatur nicht auf die leichte Schulter nehmen. Die American Party impft den im Land geborenen Arbeitern Angst vor Einwanderern und Katholiken ein und Hass auf sie. In jeder Stadt haben sie eine Geheimloge mit einem Guckloch an der Tür, um Nichtmitglieder fernhalten zu können. Man nennt sie die Nichtswisser-Partei, weil die Mitglieder darauf gedrillt sind, auf die Frage nach den Aktivitäten ihrer Partei nur zu antworten, sie wüssten von nichts. Sie propagieren Gewalt gegen im Ausland Geborene und wenden sie auch an, und ich schäme mich, sagen zu müssen, dass sie das Land politisch im Sturm erobern. Es strömten zwar beständig Einwanderer nach Illinois, aber im Augenblick seien noch siebzig Prozent der Bevölkerung im Land geboren, und von den restlichen dreißig seien die meisten keine amerikanischen Bürger und dürften nicht wählen. Im letzten Jahr habe die Nichtswisser-Partei in New York beinahe den Gouverneur gestellt, und in der gesetzgebenden Versammlung hätten sie bereits neunundvierzig Abgeordnete. Eine Koalition aus Nichtswissern und Nationalrepublikanern konnte in Pennsylvania und Delaware problemlos gewinnen, und Cincinnati ging nach hartem Kampf an die Nichtswisser-Partei.
»Aber warum ist Nick hinter den Sauks her? Die sind doch wirklich nicht im Ausland geboren?«
Hume schnitt eine Grimasse. »Ich glaube, dass sein politisches Gespür sehr gut entwickelt ist. Erst vor neunzehn Jahren wurden die Leute hier in der Gegend von Indianern massakriert und haben selber auch nicht schlecht gewütet. Im Krieg des Schwarzen Falken kamen viele Leute um. Neunzehn Jahre, das ist eine sehr kurze Zeit.
Jungen, die Indianerangriffe überlebt haben, und eine Menge Indianerhasser sind jetzt Wähler, und die Angst vor den Indianern ist immer noch sehr verbreitet. Mein geschätzter Konkurrent gießt also nur Öl ins Feuer. Erst vor ein paar Abenden hat er hier in Rock Island Whiskey ausschenken lassen und dann alte Geschichten zum besten gegeben, wobei er keinen einzigen Skalp und keine angebliche Grausamkeit ausgelassen hat. Dann erzählte er, dass die letzten blutdürstigen Indianer in Illinois in Ihrem Ort verhätschelt würden und dass er, wenn er erst mal im Repräsentantenhaus sitze, sie schon in ihr Reservat in Kansas zurückschicken werde, denn da gehörten sie ja hin.«
»Können Sie etwas unternehmen, um den Sauks zu helfen?«
»Etwas unternehmen?« Hume seufzte. »Dr. Cole, ich bin Politiker. Indianer sind keine Wähler, also werde ich mich hüten, mich öffentlich für einen oder für alle einzusetzen. Aber in politischer Hinsicht kann es mir helfen, wenn wir die Angelegenheit entschärfen, da mein Gegner versucht, auf diese Weise mein Amt zu gewinnen. Die beiden für Ihren Distrikt zuständigen Richter sind Honourable Daniel P. Allan und Honourable Edwin Jordan.
Richter Jordan hat eine gemeine Ader und ist außerdem ein Nationalrepublikaner. Dan Allan ist ein ziemlich guter Richter und ein noch besserer Demokrat. Ich kenne ihn aus langjähriger Zusammenarbeit, und wenn er diesen Fall verhandelt, wird er nicht zulassen, dass Nicks Leute einen Zirkus veranstalten, damit Ihr Sauk-Freund wegen irgendwelcher Pseudobeweise verurteilt wird, und so Nick helfen, die Wahl zu gewinnen. Man kann unmöglich wissen, ob er den Fall bekommt oder Jordan. Wenn es Allen ist, wird er kaum mehr als gerecht sein, aber gerecht wird er sein. Kein Anwalt in der Stadt wird von sich aus einen Indianer vertreten, das können Sie mir glauben. Der beste Verteidiger hier in der Stadt ist ein junger Kerl namens John Kurland. Lassen Sie mich mit ihm sprechen. Mal sehen, ob ich ihm nicht ein bisschen gut zureden kann.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Abgeordneter.«
»Na, dann zeigen Sie es, indem Sie mich wählen.«
»Ich gehöre zu den besagten dreißig Prozent. Ich habe die Einbürgerung bereits beantragt, aber da gibt es diese dreijährige Wartezeit...«
»Dann können Sie mich ja beim nächstenmal wählen«, bemerkte Hume pragmatisch. »Und in der Zwischenzeit empfehlen Sie mich Ihren Freunden.«
Lang hielt sich in Holden’s Crossing die Aufregung über den Tod der Indianerin nicht. Viel interessanter war die bevorstehende Eröffnung der Schule. Jeder im Ort wäre bereit gewesen, ein kleines Stück seines Landes als Bauplatz für die Schule herzugeben, um sich damit das Eintrittsrecht für die eigenen Kinder zu sichern, doch man hatte sich darauf geeinigt, dass eine solche Einrichtung an zentraler Stelle stehen sollte, und schließlich akzeptierte die Ratsversammlung vier Morgen Land von Nick Holden, was Nick sehr freute, denn so entstand die Schule genau an der Stelle, die er in seiner »Traumkarte« von Holden’s Crossing für sie vorgesehen hatte.
Mit vereinten Kräften hatte man ein Schulhaus errichtet, das aus einem einzigen großen Klassenzimmer bestand.
Alle waren mit Feuereifer bei der Sache. Anstatt des üblichen Holzpflasterbodens wurde ein Bretterboden eingezogen, für den die Stämme sechs Meilen bis zum Sägewerk geschleppt werden mussten. Entlang der einen Wand wurde ein langes Brett befestigt, das als gemeinschaftlicher Schreibtisch dienen sollte, und davor stellte man eine lange Bank, so dass die Schüler beim Schreiben mit dem Gesicht zur Wand sitzen und sich dann umdrehen und beim Lesen den Lehrer ansehen konnten.
Man beschloss, dass das Schuljahr jeweils nach der Ernte beginnen und in drei Abschnitte von jeweils zwölf Wochen unterteilt sein sollte. Der Lehrer sollte pro Abschnitt neunzehn Dollar sowie freie Kost und Logis erhalten. Das Gesetz schrieb vor, dass ein Lehrer in Lesen, Schreiben und Rechnen qualifiziert sein musste, in Geographie, Grammatik oder Geschichte zumindest bewandert. Viele Bewerber für den Posten gab es nicht, denn das Gehalt war niedrig, und die Schwierigkeiten waren groß, doch schließlich konnte die Versammlung Marshall Byers anstellen, einen Cousin des Schmieds Paul Williams. Mr. Byers war ein schlanker junger Mann von einundzwanzig Jahren mit vorstehenden Augen, der, bevor er nach Illinois gekommen war, in Indiana unterrichtet hatte und deshalb wusste, was es hieß, jede Woche bei der Familie eines anderen Schülers Unterkunft zu finden. Sarah gestand er, er sei froh, auf einer Schaffarm unterzukommen, da er Lamm und Karotten lieber esse als Schweinefleisch und Kartoffeln. »Wenn es sonst irgendwo Fleisch gibt, dann ist es immer Schwein mit Kartoffeln, Schwein mit Kartoffeln«, sagte er. Rob J. grinste ihn an. »Dann werden Sie sich bei den Geigers wohl fühlen«, sagte er. Rob J. war von dem Lehrer nicht sonderlich begeistert. Es lag etwas Hinterhältiges in der Art, wie er Mond und Sarah verstohlen musterte und Shaman anstarrte, als wäre der Junge ein Krüppel.
»Ich freue mich schon, Alexander in meiner Schule zu haben«, sagte Mr. Byers.
»Auch Shaman freut sich schon auf die Schule«, entgegnete Rob J. ruhig.
»Aber das wird wohl kaum gehen. Der Junge kann nicht normal sprechen. Und wie soll ein Kind, das nichts hört, in der Schule etwas lernen?«
»Er liest von den Lippen ab. Und er begreift sehr schnell, Mr. Byers.« Mr. Byers runzelte die Stirn. Er wollte schon weiter protestieren, doch als er Rob J.’s Gesichtsausdruck sah, überlegte er es sich anders. »Natürlich, Dr.
Cole«, sagte er steif. »Natürlich.«
Am nächsten Morgen klopfte Alden Kimball vor dem Frühstück an die Hintertür. Er war schon sehr früh im Futtermittelladen gewesen und platzte vor Neuigkeiten. »Diese blöden Indianer! Jetzt haben sie es getan«, sagte er. »Haben sich gestern Abend besoffen und dann den Stall von diesen papistischen Nonnen angesteckt.«
Mond bestritt das sofort, als Rob mit ihr redete. »Ich war den ganzen Abend bei meinen Freunden im Sauk-Lager, und wir haben uns über Der singend einhergeht unterhalten. Das, was Alden da gehört hat, ist eine Lüge.«
»Vielleicht haben sie erst getrunken, nachdem du gegangen bist.«
»Nein. Es ist eine Lüge.« Ihre Stimme klang ruhig, aber ihre zitternden Finger lösten bereits ihre Schürze. »Ich muss zu meinem Stamm.« Rob seufzte. Am besten, er stattete den Franziskanerinnen einen Besuch ab. Er hatte gehört, dass die Leute sie »diese verdammten braunen Käfer« nannten. Und er begriff auch, weshalb, als er sie sah, denn sie trugen eine braune, wollene Ordenstracht, die für den Herbst zu warm war und in der Hitze des Sommers ein Qual gewesen sein musste. Vier von ihnen arbeiteten in den Brandruinen des hübschen kleinen schwedischen Stalls, den August Lund und seine Frau voller jugendlicher Hoffnung und Entschlossenheit gebaut hatten. Sie schienen in den verkohlten, in der einen Ecke noch schwelenden Überresten nach Heilgebliebenem zu suchen. »Guten Morgen!« rief er.
Sie hatten sein Näherkommen nicht bemerkt. Den Saum ihrer langen Kutten hatten sie in den Gürtel gesteckt, um bei der Arbeit mehr Bewegungsfreiheit zu haben, und jetzt beeilten sie sich, die Röcke wieder herunterzulassen, denn vier Paar kräftiger, russfleckig-weißbestrumpfter Beine waren entblößt gewesen.
»Ich bin Dr. Cole«, sagte er und stieg ab. »Ein entfernt lebender Nachbar.« Sie starrten ihn stumm an, und ihm fiel ein, dass sie vielleicht seine Sprache nicht verstanden. »Könnte ich bitte mit der verantwortlichen Person sprechen?«
»Das wäre die Schwester Oberin«, erwiderte eine von ihnen, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Mit einer kleinen Bewegung des Kopfes, die ihn wohl zum Mitkommen aufforderte, ging sie auf das Haus zu.
Neben einem neu an das Gebäude angebauten Schuppen jätete ein alter Mann in Schwarz den frostkahlen Gemüsegarten. Der alte Mann zeigte kein Interesse an Rob. Die Nonne klopfte zweimal, ein sanftes, leises Geräusch, das zu ihrer Stimme passte. »Herein!«
Die braune Kutte schlüpfte an ihm vorbei und knickste. »Dieser Herr möchte Euch sprechen, ehrwürdige Mutter, ein Arzt und ein Nachbar«, sagte die flüsternde Nonne, knickste noch einmal und war verschwunden.
Die Schwester Oberin saß auf einem Holzstuhl an einem kleinen Tisch. Das vom Schleier umrahmte Gesicht war großflächig, die Nase fleischig und breit, die leicht spöttisch blickenden Augen von einem durchdringenden Blau, das heller war als das von Sarahs Augen und eher herausfordernd als freundlich. Er stellte sich vor und sagte, dass ihm das wegen des Feuers leid tue. »Können wir Ihnen irgendwie helfen?«
»Ich vertraue auf Gott. Er wird uns helfen.« Ihr Englisch klang perfekt, aber er glaubte, einen deutschen Akzent zu erkennen, obwohl ihrer anders als der der Schroeders klang. Vielleicht stammten sie aus verschiedenen Gegenden Deutschlands.
»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte sie und wies zu dem einzigen bequemen Sessel im Zimmer, einem thronähnlichen Möbel mit Lederpolsterung.
»Haben Sie diesen Sessel in einem Wagen bis hierher geschleppt?«
»Ja. Wenn der Bischof uns besucht, können wir ihm wenigstens eine anständige Sitzgelegenheit anbieten«, antwortete sie ernst. Die Männer seien während des Nachtoffiziums gekommen, berichtete sie. Die Gemeinschaft sei in Andacht versunken gewesen und habe anfangs das Grölen und das Knistern nicht gehört, doch bald hätten sie den Rauch gerochen.
»Man hat mir gesagt, es seien Indianer gewesen.«
»Die Art von Indianer, die schon bei der Boston Tea-Party dabei waren«, erwiderte sie trocken.
»Sind Sie sicher?«
Sie verzog das Gesicht zu einem humorlosen Lächeln. »Es waren betrunkene Weiße, und sie haben geflucht und gegrölt wie betrunkene Weiße.«
»Es gibt hier eine Loge der American Party.«
Sie nickte. »Die Nichtswisser. Vor zehn Jahren kam ich frisch aus Württemberg in das Franziskanerinnenkloster in Philadelphia. Die Nichtswisser haben mich mit einem einwöchigen Aufruhr empfangen, bei dem zwei Kirchen überfallen, zwei Katholiken zu Tode geprügelt und unzählige Häuser der Katholiken niedergebrannt wurden. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich erkannte, dass nicht alle Amerikaner so sind.«
Rob J. nickte. Er bemerkte, dass sie diesen einen der beiden Räume in August Lunds ehemaliger Behausung in ein spartanisches Dormitorium umgewandelt hatten. Hier war ursprünglich Lunds Getreidespeicher gewesen.
Jetzt waren in der Ecke Schlafpritschen aufgestapelt. Neben dem Schreibtisch und dem Holzstuhl sowie dem Bischofsthron vervollständigten ein großer, schöner Refektoriumstisch und Bänke aus frischem Holz die Einrichtung des Raumes, und Rob lobte die Tischlerarbeit. »Hat Ihr Priester die gezimmert?« Sie lächelte und erhob sich. »Vater Rüssel ist unser Kaplan. Schwester Mary Peter Celestine ist unser Tischler. Möchten Sie unsere Kapelle sehen?«
Er folgte ihr in das Zimmer, in dem die Lunds gegessen, geschlafen und sich geliebt hatten und in dem Greta Lund gestorben war. Die Nonnen hatten es getüncht. An einer Wand stand ein hölzerner Altar und davor eine Andachtsbank. Vor dem Kruzifix auf dem Altar brannte, flankiert von kleineren Kerzen, eine große Tabernakelkerze in einem roten Glasgefäß. Er sah vier Gipsstatuen, die offensichtlich nach dem Geschlecht getrennt waren. Ganz rechts erkannte Rob die Heilige Jungfrau. Die Oberin erklärte ihm, dass die Statue neben Maria die heilige Klara darstelle, die Gründerin ihres Nonnenordens, und die Figuren auf der anderen Seite des Altars seien der heilige Franziskus und der heilige Joseph.
»Man sagt, Sie haben vor, eine Schule zu eröffnen.«
»Da sind Sie falsch unterrichtet.«
Er lächelte. »Und dass Sie vorhaben, unsere Kinder zum Papismus zu verführen.«
»Nun ja, das ist nicht ganz unrichtig«, erwiderte sie ernsthaft. »Wir hoffen immer, eine Seele zu erretten, ob nun Kind, Frau oder Mann. Wir bemühen uns natürlich, neue Katholiken zu gewinnen, aber hauptsächlich sind wir ein Pflegeorden.«
»Ein Pflegeorden! Und wo wollen Sie pflegen? Wollen Sie hier ein Krankenhaus bauen?«
»Ach«, sagte sie bedauernd, »wir haben leider kein Geld. Die heilige Mutter Kirche hat dieses Land gekauft und uns hierher gesandt. Aber jetzt sind wir allein auf uns gestellt. Wir sind sicher, dass der Herr uns helfen wird.«
Rob J. war sich da weniger sicher. »Darf ich Ihre Krankenschwestern rufen, wenn Patienten sie brauchen?«
»Damit sie in deren Häuser gehen? Nein, das steht ganz außer Frage«, antwortete sie streng.
Er fühlte sich unbehaglich in der Kapelle und wollte sich zurückziehen.
»Ich vermute, Sie sind kein Katholik, Dr. Cole.« Er schüttelte den Kopf. Doch plötzlich fiel ihm noch etwas ein.
»Falls es den Sauks etwas nützt, würden Sie bezeugen, dass die Männer, die Ihren Stall angesteckt haben, Weiße waren?«
»Natürlich«, sagte sie ungerührt, »da es die Wahrheit ist.« Er hatte plötzlich das Gefühl, dass ihre Novizinnen in beständiger Angst vor ihr leben mussten. »Vielen Dank...« Er zögerte, denn es schien ihm unmöglich, sich vor dieser stolzen Frau zu verbeugen und sie ehrwürdige Mutter zu nennen. »Wie heißen Sie, Schwester Oberin?«
»Ich bin Mater Miriam Ferocia.«
Er hatte in der Schule Latein gelernt, hatte sich mit Cicero abgemüht und Caesar auf seinen gallischen Kriegen begleitet, und er wusste noch genug, um den Namen mit Maria die Mutige übersetzen zu können. Für sich aber, und nur für sich, nannte er die Oberin von diesem ersten Besuch an Ferocious Miriam - die grimmige Miriam.
Er nahm den langen Ritt nach Rock Island auf sich, um Stephen Hume zu besuchen, und wurde sofort dafür belohnt, denn der Kongressabgeordnete hatte gute Nachrichten: Daniel P. Allan würde den Prozess führen. Da keine schlüssigen Beweise vorlagen, sah Richter Allan keinen Grund, Der singend einhergeht nicht auf Kaution freizulassen. »Es geht allerdings um ein Kapitalverbrechen - da konnte er die Kaution nicht unter zweihundert Dollar festsetzen. Wenn Sie einen Kredit brauchen, müssen Sie nach Rockford oder Springfield.«
»Ich bringe das Geld selber auf. Mir läuft Der singend einhergeht bestimmt nicht davon«, sagte Rob J.
»Gut. Der junge Kurland hat versprochen, ihn zu verteidigen. Unter den gegebenen Umständen wird es das beste sein, wenn Sie nicht selbst zum Gefängnis gehen. Rechtsanwalt Kurland wird sie in zwei Stunden vor Ihrer Bank treffen. Ist das die in Holden’s Crossing?«
»Ja.«
»Stellen Sie einen Scheck für das Rock Island County aus, unterschreiben Sie ihn, und geben Sie ihn Kurland!
Der erledigt dann den Rest. Dan Allan und John Kurland werden gemeinsam dafür sorgen, dass Nick ziemlich dumm dasteht, falls er versucht, aus diesem Prozess eine Schau zu machen.« Sein Händedruck war fest und kam einer Gratulation gleich.
Rob J. ritt nach Hause und spannte den Buckboard an, denn er hatte das Gefühl, Mond sollte dabeisein, wenn er ihren Mann abholte. In ihrem normalen Hauskleid und einem Häubchen, das Makwa gehört hatte, saß sie aufrecht und selbst für ihre Verhältnisse außergewöhnlich schweigsam auf dem Wagen. Rob merkte, dass sie sehr nervös war. Er band das Pferd vor der Bank an, und sie wartete auf dem Wagen, während er den Scheck ausstellte und ihn John Kurland gab, einem ernsthaften jungen Mann, der Mond bei der Vorstellung höflich, aber ohne jede Herzlichkeit begrüßte.
Nachdem der Anwalt gegangen war, setzte sich Rob J. neben Mond auf den Wagen. Er ließ das Pferd angebunden, wo es war, und sie saßen da und sahen hinüber zur Tür von Mort Londons Büro. Obwohl es September war, brannte die Sonne noch heiß.
Die Wartezeit kam ihnen ungewöhnlich lang vor. Schließlich berührte Mond seinen Arm, denn die Tür ging auf und Der singend einhergeht trat heraus, gebückt, damit er unbeschadet unter dem Türstock hindurchkam.
Kurland folgte dich hinter ihm.
Sie bemerkten Mond und Rob J. sofort und kamen auf sie zu. Der singend einhergeht fing an zu rennen, vielleicht, weil er sich über die neugewonnene Freiheit freute, vielleicht auch, weil er instinktiv vor diesem Gefängnis fliehen wollte, doch schon nach wenigen federnden Sätzen bellte etwas über und hinter ihm auf, und dann knallte es von zwei Dächern auf der anderen Straßenseite.
Pyawanegawa der Jäger, der Führer, der Held des Stock-und-Ball-Spiels, hätte eigentlich mit Würde fallen müssen - wie ein riesiger Baum -, doch er stolperte und strauchelte wie ein gewöhnlicher Mann und stürzte dann mit dem Gesicht nach vorne in den Staub. Rob J. sprang vom Wagen und rannte zu ihm, doch Mond konnte sich nicht bewegen. Als er bei ihm war und ihn umdrehte, sah er, was Mond bereits wusste. Eine Kugel hatte ihn genau ins Genick getroffen und zwei andere in die Brust, kaum drei Zentimeter voneinander entfernt. Zwei Herzschüsse, wie es aussah - beide tödlich. Auch Kurland kam herbeigelaufen und stand nun in hilflosem Entsetzen daneben. Einige Augenblicke später kamen London und Holden aus dem Büro des Sheriffs. Mort ließ sich von Kurland erklären, was passiert war, und befahl dann seinen Leuten, die Dächer zu beiden Seiten der Straße abzusuchen. Niemand schien sonderlich überrascht, sie leer zu finden.
Rob J. war neben Der singend einhergeht knien geblieben, doch jetzt stand er auf und sah Nick Holden in die Augen. Der war etwas bleich, doch entspannt und wie auf alles vorbereitet. Obwohl es ganz und gar nicht zur Situation passte, war Rob aufs neue von seiner männlichen Schönheit beeindruckt. Er bemerkte, dass Nick einen Revolver trug, und er wusste, dass das, was er ihm zu sagen hatte, ihn selbst in Gefahr bringen konnte und deshalb mit Bedacht formuliert werden musste. Doch gesagt werden musste es.
»Ich will nie wieder etwas mit Ihnen zu tun haben. Nie mehr, solange ich lebe«, sagte er.
Der singend einhergeht wurde in den Schuppen der Schaffarm gebracht, und Rob J. ließ seine Familie dort mit ihm alleine. Bei Einbruch der Dunkelheit wollte er Mond und ihre Kinder zum Abendessen ins Haus holen, doch sie waren verschwunden und die Leiche ebenfalls. Später an diesem Abend entdeckte Jay Geiger den Buckboard und das Pferd der Coles angebunden an einem Pfosten vor seinem Stall, und er brachte Rob sein Eigentum zurück. Er berichtete, dass Kleines Horn und Steinhund seine Farm ebenfalls verlassen hätten. Mond und ihre Kinder kehrten nicht zurück. In dieser Nacht lag Rob J. schlaflos in seinem Bett und dachte an Der singend einhergeht, der jetzt wahrscheinlich in einem unmarkierten Grab irgendwo am Fluss lag. Oder auf dem Land eines anderen, das früher den Sauks gehört hatte. Was in der Nacht passiert war, erfuhr Rob J. erst am nächsten Vormittag, als Jay noch einmal auf die Farm geritten kam und ihm erzählte, dass Nick Holdens riesiger Viehstall niedergebrannt worden sei. »Diesmal waren es wirklich die Sauks, das ist sicher. Sie sind alle davongelaufen.
Nick hat die halbe Nacht gebraucht, um die Flammen von seinem Haus abzuhalten, und drohte ständig, er werde die Miliz und die Army alarmieren. Er ist auch bereits mit fast vierzig Mann hinter ihnen her, mit den erbärmlichsten Indianerkämpfern, die man sich vorstellen kann. Mort London ist dabei, Dr. Beckermann, Julian Howard, Fritz Graham - die meisten Stammgäste aus Nelsons Kneipe, also die Hälfte aller Suffköpfe aus dieser Gegend, und alle tun so, als wären sie hinter Schwarzer Falke her. Die können von Glück sagen, wenn sie sich nicht gegenseitig in den Fuß schießen.«
An diesem Nachmittag ritt Rob J. zum Sauk-Lager hinaus. So wie es aussah, hatten sie es endgültig verlassen.
Die Büffelfelle vor den Eingängen der hedonoso-te waren verschwunden, die schwarzen Löcher gähnten wie Zahnlücken, und auf dem Boden lagen die Überreste des Lagerlebens verstreut. Er hob eine Blechbüchse auf, an deren zerfurchtem Deckel er erkannte, dass sie mit einem Messer oder einem Bajonett geöffnet worden war.
Dem Etikett nach hatte sie Pfirsichhälften aus Georgia enthalten. Er hatte es nie geschafft, die Sauks vom Wert einer Latrine zu überzeugen, und jetzt bewahrte ihn der Geruch menschlicher Exkremente, den der Wind vom Außenbezirk des Lagers hereintrug, vor allzu großer Sentimentalität, ein letzter, stinkender Hinweis darauf, dass etwas sehr Wertvolles von diesem Ort verschwunden war und weder durch Zaubersprüche noch durch Politik zurückgebracht werden konnte.
Vier Tage lang verfolgten Nick Holden und sein Trupp die Sauks, doch wirklich nahe kamen sie ihnen nie. Die Indianer blieben in den Wäldern am Ufer des Mississippi und flohen nach Norden. Sie fanden sich in der Wildnis zwar nicht so gut zurecht wie einige ihres Stammes, die nun tot waren, aber auch die Schlechtesten von ihnen waren immer noch besser als die weißen Männer, und sie schlugen Haken und legten falsche Fährten, denen die Weißen auch prompt folgten. Die Verfolgung führte die Weißen weit nach Wisconsin hinein. Es wäre natürlich besser gewesen, wenn sie mit Trophäen, einigen Skalps und Ohren hätten zurückkehren können, aber sie redeten sich auch so ein, dass sie einen großen Sieg errungen hätten. In Prairie du Chien hielten sie an und ließen sich mit Whiskey vollaufen. Fritzie Graham bekam Streit mit einem Kavalleristen und landete im Gefängnis, doch Nick holte ihn wieder heraus, indem er den Sheriff davon überzeugte, dass bei einem durchreisenden Hilfssheriff eine gewisse kollegiale Nachsicht angebracht sei. Nach ihrer Rückkehr schwärmten sofort achtunddreißig Getreue aus und verbreiteten die frohe Botschaft, dass Nick Holden den Staat vor der roten Bedrohung gerettet habe und ein durch und durch anständiger Kerl sei.
Der Herbst war mild in diesem Jahr und angenehmer noch als der Sommer, denn einige frühe Fröste machten den Insekten den Garaus. Es war eine goldene Zeit mit kühlen Nächten, die das Laub am Flussufer bunt verfärbten, und warmen, sanften Tagen. Im Oktober berief die Kirchengemeinde einen Reverend Joseph Hills Perkins zu ihrem Priester. Er hatte zusätzlich zum Gehalt ein Pfarrhaus verlangt, und so wurde nach der Ernte ein kleines Blockhaus errichtet, das der Priester mit seiner Frau Elizabeth bezog; die beiden hatten keine Kinder. Im Begrüßungskomitee war Sarah eine der eifrigsten. Rob J. fand am Flussufer abgestorbene Lilien und pflanzte die Knollen auf Makwas Grab. Bei den Sauks war es zwar nicht üblich, Gräber mit Steinen zu markieren, aber er bat trotzdem Alden, eine Tafel aus witterungsbeständigem Robinienholz glattzuhobeln. Da es ihm unpassend schien, mit englischen Worten an sie zu erinnern, ließ er Alden die runenähnlichen Symbole auf die Tafel schnitzen, die er von ihrem Körper abgezeichnet hatte. Die Tafel stellte er an ihrem Grab auf. Er unternahm einen Versuch, Mort London zu einer weitergehenden Untersuchung ihres und Pyawanegawas Todes zu überreden, doch der Sheriff sagte, er sei überzeugt, dass Makwa-ikwas Mörder getötet worden sei, und zwar vermutlich von anderen Indianern. Im November gingen in den ganzen Vereinigten Staaten männliche Bürger über einundzwanzig zur Wahl. Überall im Land reagierten die Arbeiter auf die Konkurrenz, die die Einwanderer auf dem Stellenmarkt darstellten. Rhode Island, Connecticut, New Hampshire, Massachusetts und Kentucky wählten Nichtswisser-Gouverneure. In acht Staaten kamen Nichtswisser-Regierungen an die Macht. In Wisconsin unterstützten die Nichtswisser im Wahlkampf republikanische Anwälte, die nach der Wahl darangingen, die Einwanderungsbehörden ihres Staates abzuschaffen. Nichtswisser gewannen in Texas an Stimmen, in Tennessee, Kalifornien und Maryland, und sie sicherten sich in fast allen Südstaaten einen hohen Anteil.
In Illinois stellten sie die Mehrheit in Chicago und in den südlichen Landesteilen. Im Rock Island County verfehlte der amtierende Kongressabgeordnete Stephen Hume die Wiederwahl um einhundertdreiundachtzig Stimmen; er musste seinen Sitz an den Indianerkämpfer Nicholas Holden abtreten, der fast unmittelbar nach der Wahl die Heimat verließ, um seinen Distrikt in Washington, D. C. zu vertreten.