Die intensiv rote Blase der Explosion verblaßte allmählich, zerfiel in zahlreiche durchscheinende Splitter, die sich auflösten wie Glas in Flußsäure. Im Infrarot sah man die sich nach oben ausweitende Masse heißen, ionisierten und doch hochverdünnten Gases. Das sichtbare Licht stammte hauptsächlich von Sauerstoffatomen.
Die HOME RUN entfernte sich von der Erde. Die gewaltige Kugel, blauweiß mit großen braunen Flächen, die sogar aus dreißigtausend Kilometern Höhe noch mit bloßem Auge auszumachen waren, fiel hinter ihnen, unter ihnen, über ihnen zurück. Auf diesem Abschnitt der Bahn lagen sie nicht mehr im Erdschatten, aber die Sonne befand sich auf der anderen Seite des Schiffes. Der schwarze Samt des Himmels war gesprenkelt mit kalten weißen Sternen, die außerhalb der Lufthülle der Erde weder blinzelten noch zitterten.
Charity Laird, ehemals beschäftigt im Rang eines Capitains bei der Space Force, wandte den Blick von der provisorisch installierten Bildschirmreihe ab und sah aus der acht Meter durchmessenden Kuppel aus Panzerglas auf die Erde hinab. Der Nordpol lag außer Sicht. Sie hatten die polare Umlaufbahn, in die sie von der Schwarzen Festung aus gestartet waren, mit erheblichem Aufwand an Treibstoff und Energie in achthundert Kilometern Höhe verändert. Das ionisierte Gas aus den Triebwerken hatte sie vor den Ortungsgeräten der Moroni abgeschirmt, und das diskusförmige Kampfschiff, das sich ihnen von einem afrikanischen Standpunkt aus genähert hatte, war von einer Lenkbombe zerstört oder zumindest aufgehalten worden. Die Reste des nuklearen Feuerballs machten eine Ortung für sie genauso unmöglich wie für ihre Gegner, ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf die abgeschirmte Elektronik.
Sie ließ ihren Blick über die sogenannte Brücke wandern. Die HOME RUN war ein ehemaliger US-amerikanischer Lastentransporter, eine riesige Kapsel mit einhundertzwanzig Metern Durchmessern an der Basis und einer Höhe von neunzig Metern. Sie hatte nicht erwartet, noch einmal eine dieser behäbigen Konstruktionen zu Gesicht zu bekommen, aber zu ihrer Überraschung hatten sich in einer der unterirdischen Startbuchten der Schwarzen Festung zwei dieser Transporter befunden. Sie hatte sie beinahe nicht wiedererkannt. Das Grundgerüst war erhalten geblieben, aber eine zusätzliche Panzerung bedeckte den alten Hitzeschild. Die neuen Triebwerksblöcke waren einfach in die neue Panzerung hineingegossen worden, und die Laserkanonen ragten wie gedrungene, borstige Insektenbeine hervor. Das Innere dagegen sah aus, als wäre es von einem kurzsichtigen, betrunkenen Innenarchitekten mit einer starken Abneigung gegen gerade Linien und rechte Winkel entworfen worden. Es gab keine Trennwände mehr und keine durchgehenden Decks.
Charity erwartete beinahe, daß sich einige der lose aufgehängten Plattformen jeden Moment aus ihren spindeldürren Verankerungen lösen konnten. Jetzt, da die Triebwerke nicht mehr arbeiteten und die HOME RUN nicht mehr schlingerte und schwankte, fühlte sie sich ein wenig sicherer, aber ihre Augen irrten ziellos in dem Wirrwarr hin und her, und unwillkürlich stellte sich eine Übelkeit ein, die sie seit ihren ersten Shuttleflügen vergessen geglaubt hatte.
»Alles in Ordnung?« fragte Skudder. Er hatte sich einfach neben ihr zwischen die Träger einer der Plattformen näher am Bug gehängt. Die bizarre Form der so zerbrechlich wirkenden und doch stahlharten Fasern schien ihm nichts auszumachen.
»Ja«, schnappte sie. »Wenn du die Güte besitzen würdest, mich nicht kopfüber wie eine Fledermaus anzusprechen, dann verspreche ich sogar, daß ich mein karges Frühstück bei mir behalten werde.«
»Wäre wohl besser«, sagte er und zog sich grinsend um eine Querstrebe herum. »Die Sauerei kriegen wir hier nie wieder weg, und wir haben noch einen langen Weg vor uns.«
»Er kommt mir plötzlich länger vor«, versetzte sie.
Das Grinsen verschwand. »Hey, ich dachte, du wärest hier der Raumfahrer von uns beiden.«
»Ich bin in einer anständigen Welt aufgewachsen, mit rechten Winkeln und Böden, auf denen man einfach so herumlaufen konnte.« Sie seufzte. »Tut mir leid. Der Feuerzauber dahinten hat mich ziemlich mitgenommen.«
»Wir sind raus«, versetzte Skudder. »Und die nächsten vier Tage halten wir durch.« Er wies mit einer Kopfbewegung in Richtung Kuppel. »Sieh mal.«
Die Nordpolfläche hatte sich, aufgrund ihrer Bahn, ihnen entgegengeneigt und bot einen guten Blick auf das Inferno. Scheinbar bewegungslos hatte sich eine graue Masse über die Erdoberfläche gelegt. Das Polarmeer war weißgesprenkelt, jeder der winzigen Flecken eine gewaltige Eisscholle, die von dem Polarmassiv abgebrochen war. Die dichte Decke aus Staub und Ruß schirmte die Reste der Schwarzen Festung vor ihren Blicken ab. Die Erschütterungen in der Region waren noch in Köln zu spüren gewesen, und die Hangars, in denen sie die HOME RUN erbeutet hatten, existierten vielleicht nicht mehr.
»Die Frage ist, ob die da unten durchhalten«, erklärte sie erbittert.
»Gurk meint, daß sie das Loch in den Griff bekommen werden«, sagte Skudder mit deutlichem Zweifel in der Stimme.
»Gurk«, wiederholte sie nur. »Wir haben zu Hause schon zu viele Probleme. Und jetzt machen wir uns auf einen verdammt weiten Weg, nur weil uns irgendein Idiot, von dem wir nicht einmal den Namen kennen, eine Botschaft von der Rückseite des Mondes geschickt hat.«
»Der Idiot hat ein Space-Force-Funkalphabet benutzt«, meinte Skudder ungerührt. »Und er kannte deinen Namen. Vielleicht solltest du bei deinen Bekanntschaften etwas mehr Sorgfalt walten lassen.«
Sie musterte ihn spöttisch von Kopf bis Fuß. »Kann schon sein.«
»Das Moronischiff ist anscheinend schwer beschädigt worden.« Einige Markierungen auf einem Radarbild verdeutlichten die Bewegungen des diskusförmigen Kampfschiffes. Der Beobachter, ein Mann namens Henderson, folgte der Bahn mit einem Lichtmarker. »Sieht so aus, als ob sie in einer elliptischen Bahn bleiben. In zwanzig Minuten verschwinden sie hinter dem Erdhorizont.«
»Und dann?« fragte Skudder.
»Kommt drauf an. Wenn der Antrieb hin ist, bleiben sie in dieser Umlaufbahn, und nach einem halben Dutzend Umläufen sind sie in der Atmosphäre.« Er deutete mit dem Daumen nach unten.
»Und wenn der Antrieb okay ist?«
»Dann werden sie im Schatten der Erde ihre Bahn drastisch verändern, und wir haben sie in ein, zwei Stunden wieder auf dem Hals.« Henderson zuckte die Achseln. »Zumindest würde ich das so machen.«
Skudder blickte zu Charity.
»Er hat recht«, sagte sie. »Wir sind sie noch nicht los.«
»Wir passieren in elf Minuten die geostationäre Umlaufbahn«, warf Bender ein, der vor der zweiten Bildschirmgruppe saß. HOME RUN bot genug Platz, also hatten sie alle wichtigen Systeme doppelt installiert. Tatsächlich standen ihnen weit mehr Geräte als Menschen zur Verfügung. Von der Mittelachse ausgehend waren eine große und eine kleinere Plattform eingebaut worden. Einige Träger und ein paar aufgespannte Stahltrossen hielten sie an den glatten Innenwänden der Kapsel, aber bei jedem Beschleunigungsmanöver begann die größte Plattform zu schwingen, und während des kurzen Gefechts hatten sie mehrfach das Gleichgewicht verloren. Die meisten Geräte, die Computerbänke, Bildschirme und Kabelverteiler waren an den Plattformen befestigt. Es hatte Wochen gedauert, die Moroni-Schaltpulte mit neuen Geräten zu verbinden, zu ergänzen oder zu ersetzen. Die Bedienungselemente waren eine angsterregende Mischung aus Hebeln und Tastern, die nur mit Zangenhänden korrekt benutzt werden konnten, simplen Computer-Tastaturen und provisorischen Pulten mit Kippschaltern, Schiebereglern und anderen Kontrollen, für die sie nicht einmal einen Namen hatten. Etiketten, größtenteils von Hand beschriftet, klebten überall auf den Pulten. Seit Beginn der Startvorbereitung vor drei Tagen, als Charitys Mannschaft die HOME RUN übernommen hatte, hatten sie immer wieder Schilder versetzt, geändert oder einfach weggeworfen. Die Bewaffnung war eine ähnliche Mischung aus bizarrer Moroni-Technik und robusten Museumsstücken aus NATO-Arsenalen. Die drei Lasersysteme an der Außenhaut waren Beutestücke, und ihre Ansteuerung erfolgt über ein Moroni-Kontrollpult, an dem sie vorsichtshalber keine Änderungen durchgeführt hatten. Zusätzlich waren außen zwölf Raketenbehälter angebracht worden, die zugleich als Abschußrohre dienten. Nur vier wiesen in Richtung Bug, also zur Kapselspitze, und einer der Behälter war leer. Die Raketen wickelten nach dem Start eine Signalleitung ab, die eine weitere Lenkung gestattete. Sie konnten die Raketen starten oder abwerfen, wie sie es während des ersten Gefechts gemacht hatten. Die Raketen waren nicht für die Schwerelosigkeit gebaut worden. Der Feststoff-Treibsatz konnte, war er erst gezündet worden, nicht abgeschaltet werden. Einmal verbraucht, stellten die Geschosse nicht mehr dar als Lenkbomben, und ohne die kleinen Korrekturdüsen drifteten sie wie Minen auf ihrer festgelegten Bahn. Der Antrieb dagegen war ausschließlich Moroni-Technik, während die Lebenserhaltungssysteme von den Menschen stammten. Charity hatte darauf bestanden. Die Moroni-Systeme waren zwar noch vorhanden, aber nicht eingeschaltet, ein wenig vertrauenerweckendes Gebilde, das entfernt an eine überdimensionale Himbeere erinnerte, wobei einige der fleischigen roten Blasen nur faustgroß waren, andere fast einen Meter maßen. Wie einige andere beunruhigende Maschinen, deren Zweck sie nur erraten konnten, war auch diese Maschine zur Luftaufbereitung unter der großen Plattform verschwunden. Eine Luke nahe der Mittelachse gestattete den Zugang in diesen unbeleuchteten Teil der HOME RUN, den sie alle nur den ›Keller‹ nannten. Neben der Luke begann die Leiter, die hinauf zur kleineren Plattform führte, welche bis zu einer der drei transparenten Kuppeln reichte und ›Brücke‹ genannt wurde. »Dreihundertachtzigtausend Kilometer«, sagte Marie Dubois. Die Waffenoffizierin stand in der Nähe des Feuerleitpultes.
»Was ist mit der geostationären Umlaufbahn?« fragte Charity.
»Leergefegt«, versetzte Henderson. »Da draußen ist nichts mehr, was größer wäre als ein Mülleimer.«
»Minen?«
»Möglich.« Die Antwort war wenig ermutigend.
Charity sah zu den sogenannten Mannschaftsquartieren hinüber, kokonartigen Gebilden, die an gepolsterte Schlafsäcke erinnerten und am Rand der großen Plattform aufgestellt worden waren. Die vier Soldaten, zwei Männer und zwei Frauen, hatten sich nach dem Gefecht ein wenig Bewegungsfreiheit verschafft, aber sie blieben in ihrer ›Verpackung‹. Über der Plattform trieben Bruchstücke von Gurten und Halterungen und einzelne Ausrüstungsgegenstände herum, die sich während der heftigen Ausweichmanöver gelöst hatten. Die pulsierenden, blutroten Alarmtafeln an der Unterseite der Brücke verliehen dem Raum ein gespenstisches Aussehen. Sie hatten den akustischen Alarm nach dreißig Sekunden abgeschaltet, weil das infernalische Geheul jedes Wort übertönt hatte. Inzwischen glaubte Charity sogar das Einrasten einzelner Schalter hören zu können. Einer der Ausrüstungsgegenstände war ihre Atemmaske, die sich in einem besonders kritischen Moment losgerissen hatte. Ihre Reflexe waren schlechter geworden, dachte sie mißmutig. Früher wäre ihr so eine Panne nicht passiert.
»Schäden?«
»Das Heckradar ist hin. Die Reserveantenne funktioniert leidlich.« Bender zuckte die Achseln. »Wir haben ein wenig Strahlung abbekommen. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob wir in diesem Wirrwarr wirklich feststellen können, weshalb ein System gerade nicht funktioniert.«
»Geschweige, es zu reparieren«, murmelte Skudder.
»Die Ortung ist okay«, erwiderte Henderson beleidigt.
Charity warf ihm einen Blick zu. »Wir bleiben in Bereitschaft«, entschied sie. »Laßt um Himmels willen diesen verdammten Alarm abgeschaltet. Und auch die Innenbeleuchtung.« Sie grinste mürrisch. »Ich traue diesem zusammengeflickten Radar nicht. Und ich weiß nicht, über welche Antiradar-Technologien die Moroni-Schiffe verfügen.«
»Welche Schiffe?« fragte Henderson verwirrt.
»Die, die wir nicht sehen«, erwiderte Dubois mit bestechender Logik.
Charity lächelte der Frau zu. »Schlimmstenfalls sind wir auf unsere Augen angewiesen«, sagte sie. »Vielleicht sind diese verdammten Sichtkuppeln wirklich noch nützlich.«
»Wir könnten ein paar Raketen abwerfen«, sagte Dubois. »Nur ein kleiner Schubs, damit sie ein paar Kilometer seitlich abdriften und uns zweihundert Kilometer vorauseilen.«
»Oder hinterherhinken«, fügte Charity hinzu und dachte an das Verfolgerschiff.
»Genau. Wir lassen sie einfach an unseren Drähten hängen und warten, bis etwas in ihre Nähe kommt, und dann lösen wir aus.«
»Sprengen uns den Weg frei.« Skudder nickte. »Das klingt gut.«
»Alte Indianerlist«, spottete Charity. »Okay. Drei Raketen aus den heckwärtigen Rohren, eine aus dem Bug. Lassen Sie sich Zeit, aber machen Sie es richtig.«
»Kein Problem«, erwiderte Dubois geschäftig. Charity musterte sie nachdenklich. Ohne Dubois' Fähigkeiten mit der kargen Bewaffnung der HOME RUN wäre ihre Rettungsmission bereits innerhalb der Erdatmosphäre rasch und feurig beendet worden.
»Diese Frau legt eine ungesunde Begeisterung an den Tag«, sagte sie leise zu Skudder, als sie zu den Soldaten hinübergingen.
»Feuereifer«, witzelte Skudder, dann wurde er ernst. »Sie zeigt Initiative, das ist alles.«
»Und schießt auf alles, was sich bewegt.« Charity tat den Gedanken mit einem Schulterzucken ab. »Unsere Munition macht mir Sorgen. Das nächste Gefecht wird irgendwo im Vakuum stattfinden. Keine Atmosphärenausläufer, die wir aufheizen können, um uns dahinter zu verstecken. Könnte sein, daß wir nach einer Minute nackt dastehen.«
»Das ist nicht ihre Schuld.«
»Ich weiß«, sagte Charity. »Diese Konservendose macht mich unruhig. Zu viele Teile, die ich nicht kenne.«
»Das tut niemand«, sagte Harris, der den letzten Satz mitgehört hatte. Er hatte gewissermaßen die Mittlerrolle zwischen Charity einerseits und der kleinen, vierköpfigen Mannschaft andererseits übernommen. Keiner der Soldaten hatte Vakuumausbildung oder ein Training in niedriger Schwerkraft oder Schwerelosigkeit absolviert. Sie hatten Erfahrungen mit Schutzanzügen und Atemgeräten, und sie waren in die Benutzung der Schlitten und Tornister eingewiesen worden, die in einem der Container unterhalb der Plattform lagen, aber für einen Einsatz auf dem Mond war das mehr als dürftig. Und drei Tage boten wenig Möglichkeit, an diesem Umstand etwas zu ändern.
Charity erklärte ihm die Situation. Die Soldaten waren erstaunlich geduldig und ruhig, obwohl sie sich auf einem Himmelfahrtskommando befanden, auf dessen Ablauf sie noch weniger Einfluß hatten als die dreiköpfige Besatzung der HOME RUN.
»Keine weiteren Schiffe?« fragte Harris am Ende.
»Henderson hat keine gesehen«, erwiderte Skudder.
»Hmmm«, machte Harris. Er schaffte es, das Geräusch besonders vielsagend klingen zu lassen.
»Was ist mit dem Mond?« fragte Charity. »Gibt es dort Abwehranlagen?«
»Nicht von Bedeutung«, erwiderte Harris. »Ich meine, aus unserer Zeit. Die Moroni werden daran arbeiten.«
»Die Industrieanlagen auf dem Mond sind groß, aber alt und nur für den Bergbau geeignet.«
»Sie könnten die Anlagen verbessert haben«, wandte Harris ein.
»So wie dieses Schiff?« fragte Skudder ernsthaft.
»Die Originalversion wäre über die geostationäre Umlaufbahn nicht hinausgekommen«, erwiderte Charity knapp. »Sie haben recht. Schätze, wir werden es genau wissen, wenn wir erst dort angekommen sind.«
»Sobald wir dort angekommen sind«, korrigierte Harris mit einem charmanten Lächeln.
»Drei Tage«, sagte Charity. »Sobald wir über der Rückseite sind, haben wir Aufnahmen vom Krater.«
»Und die haben Aufnahmen von uns«, versetzte Harris. »Zielfotos, gewissermaßen.«
Charity reagierte mit einem Achselzucken. »In den nächsten Stunden kann nicht viel passieren«, sagte sie. »Unser Abflug hat eine Menge Staub aufgewirbelt, aber im Moment sind wir die einzigen hier oben.« Sie tippte auf die würfelförmige Konsole eines taktischen Computers, der direkt neben einem Bildschirm stand. »Wie wäre es mit einer kurzen Einweisung?«
Harris musterte sie. »Wozu?«
»Hören Sie, ich bin auf dieser Fahrt vielleicht nur der Lastwagenfahrer, aber ich bin schon da draußen gewesen, als Sie und Ihre Männer noch Speisequark in den Tiefkühltruhen eines Supermarktes gewesen sind.« Die Bemerkung war nicht gerade glücklich gewählt, und die Anspannung der letzten Tage ließ sie beinahe die Beherrschung verlieren. »Ich erzähle Ihnen, was ich weiß, und Sie erzählen mir, was ich wissen will, und vielleicht kann ich dafür sorgen, daß Sie nicht in irgendeinem Loch im Mare Moscoviense versacken. Kapiert?«
Im Gesicht des Offiziers zeigte sich Anerkennung; ob für ihre Ansicht oder für ihren professionell vorgebrachten Wutausbruch, war nicht auszumachen. Er setzte sich kommentarlos auf eine am Deck befestigte Munitionskiste und schaltete die Konsole ein. Es handelte sich um einen tragbaren Taktikcomputer, komplett mit Empfangsgerät für nicht mehr vorhandene Positionssatelliten, das nun vollkommen nutzlos war, aber immer noch drei Kilogramm Gewicht zu dem integrierten Gerät beitrug. Der insgesamt zentnerschwere Brocken konnte den Überdruck kleinerer Explosionen vertragen, die Schaltkreise waren gegen Strahlung und Störsender gesichert worden, und der Energiespeicher reichte für acht Wochen. Alles in allem hatte dieser unansehnliche Würfel mehr Aussichten, den Trip auf die Rückseite des Mondes zu überleben, als irgendeiner von ihnen.
»TACCOM 370/98 - Selbsttest abgeschlossen.« Die Stimme klang etwas blechern, aber durchaus kräftig. Charity schwieg ebenso überrascht wie Skudder.
»Hey, ich bin soweit.« Auf dem Bildschirm flackerte es nachdrücklich.
Sie sah den Offizier an. Harris hob die Schultern. In der Schwerelosigkeit führte diese Bewegung nicht selten dazu, daß man den Kontakt mit dem Deck verlor.
»Prototyp der US Army. Schätze, Sie wissen mehr darüber als ich.« Er verzog die Mundwinkel.
»Entzückend«, sagte Skudder. »Ein Blechkumpel.«
»370/98«, versetzte der Würfel mit Würde.
»In Ordnung«, warf Harris ein und hinderte Skudder an einer weiteren bissigen Bemerkung. »Ich wünsche Zugriff auf die Datei INFERNO.«
»Autorisierungscode?« schnappte der Würfel.
»Weiter Abschlag«, erwiderte Harris gehorsam. Skudder blickte verwundert, und Charity mußte gegen ihren Willen lächeln.
»Akzeptiert«, sagte der Würfel. »Wiedergabe oder interaktiver Zugriff?«
»Interaktiv.«
»Euer Wunsch ist mir Befehl.« Ein Auswahlmenu erschien auf dem Bildschirm.
Skudder wandte sich mit hochgezogenen Brauen an Charity.
»Möchte wissen, ob der Hersteller für die Wortwahl verantwortlich ist.«
»Prototyp«, erinnerte sie ihn. »Die Techniker in den großen Computer-Zentren sind ziemlich seltsame Gestalten gewesen.«
Harris hatte inzwischen eine Karte auf den Bildschirm werfen lassen. »Okay«, sagte er geschäftsmäßig. »Das ist das Mare Moscoviense, unser Operationsgebiet, und da ist MacDonald-Basis.« Er deutete auf eine Markierung, die sich ziemlich genau in der Mitte der Region befand.
»Was verbirgt sich dahinter nun wieder für ein Unsinn?« fragte Skudder.
»Die Namensgebung MacDonalds«, dozierte der Würfel, »geht auf einen Scherz der Montagetrupps zurück. Das Gelände ist von der Sowjetunion kartographiert und benannte worden. Die Basis wurde von amerikanischen Space-Force-Truppen errichtet. Das Gelände trug damals den Codenamen ›Roter Platz‹, weil es die größte Ebene auf der Rückseite des Mondes ist.«
»Und?« fragte Skudder.
»Die vollständige Redewendung«, erläuterte der Würfel geduldig, »besagte, daß man sich freue, ein MacDonald auf dem Roten Platz errichten zu können.«
»MacDonald?«
»Archaische amerikanische Schnellimbißkette, die ...«
»Ausgabe unterbrechen«, sagte Harris, der leichte Anzeichen von Ungeduld zeigte.
»Sehr wohl.«
»Ich erkläre es dir«, versprach Charity. »Bei Gelegenheit.«
»Um nun auf die Basis zurückzukommen«, sagte Harris betont deutlich, »in den letzten acht Jahren vor der Invasion ist MacDonald zur größten Bergwerksanlage auf dem Mond ausgebaut worden. Der lange zurückliegende Einschlag und der nachfolgende Austritt von Magma haben große und leicht zugängliche Erzlager entstehen lassen, die im Tagebau ausgebeutet wurden. MacDonald war vor dem Krieg die umfangreichste Anlage der Vereinigten Staaten, und die Space Force unterhielt dort eine ausgedehnte Anlage zur Waffenentwicklung.« Er wandte den Kopf wieder zum Würfel.
»Übersichtskarte«, sagte er. Diesmal gehorchte der Würfel schweigend. Charity fragte sich unwillkürlich, ob er sich einem Programm gemäß an den Sprecher anpaßte und dessen Gewohnheiten annahm. Sie nahm sich vor, den Würfel nicht längere Zeit in die Hände Gurks zu geben. »Insgesamt wurden zwei sogenannte Massetreiber errichtet.« Er bemerkte Skudders Blick und kam der Frage zuvor, vermutlich um eine weitere Auseinandersetzung mit 370/98 zu vermeiden. »Das sind große Magnetschienenbahnen, mit denen Frachtschiffe in eine Mondumlaufbahn katapultiert werden konnten.«
»Schienen?«
Charity nickte. »Die Betonung liegt auf groß«, erklärte sie ihm. »Die Katapultstrecke hat eine Länge von achtzig beziehungsweise zweihundert Kilometern, und die Boosterschlitten haben eine Kapazität von mehreren hunderttausend Tonnen.«
»Das ist etwa so, als wenn man einen Öltanker mit Raketen antreibt, um ihn über einen Staudamm zu werfen«, verdeutlichte Harris. »Die Kraftwerksanlage umfaßt drei Fusionsreaktoren, und die Energie wurde in großen Speichern über Monate gesammelt, um einen Start zu ermöglichen. Die kürzere Bahn behandelte Transportschiffe wie dieses ...« Er verzog das Gesicht, als ihm einfiel, daß die HOME RUN wenig gemeinsam hatte mit den Transportern, die dort gestartet worden waren.
»Die große Anlage transportierte große Container mit eingeschmolzenem Erz.«
»BigMacs«, warf der Würfel ein. Harris überging es zu Charitys Erstaunen. Dieser Computer war ihr ein Rätsel.
»Die Anlagen sind vermutlich voll funktionsfähig«, faßte Harris mehrere Tage fieberhafter und panischer Suche und Auswertung in der zerstörten Nordpolbasis und in Köln zusammen. »Wir haben nicht die geringste Ahnung, was die Moroni da oben eigentlich verloren haben. Vielleicht waren sie an den Kraftwerken interessiert. Die Reaktoren sind wahrscheinlich die letzte intakte Kraftquelle dieser Art, und die Uranlagerstätten garantieren ihnen Brennstoff für eine lange Zeit, aber ich weiß nicht, was sie mit der ganzen Kapazität eigentlich anfangen wollen.«
»Sicherlich keinen Bergbau betreiben«, warf Skudder ein.
Harris nickte. »Vermutlich haben die Moroni die Anlagen umgebaut und die Kapazität noch gesteigert. Wir haben keine aktuellen Bilder.« Er deutete auf die Übersichtskarte, die im Norden drei Kraftwerke zeigte, die große und die kleine Schleife von etwas, das aussah wie eine riesige Achterbahn, und ein großes Landefeld sowie eine Menge Kleinkram, der sich bei näherer Betrachtung als Fährenstartrampen, Treibstofflager, Wohnbaracken und unterirdische Hangars erwies. »Und die Nachricht sagte nichts darüber aus, was sie dort eigentlich treiben. Nur, daß es gefährlich sei.«
»Ich weiß«, sagte Charity. »In welchem Zustand war die Basis, nachdem die Moroni sie eingenommen haben?«
Harris zuckte die Achseln und sah den Würfel an. Charity bemerkte erst jetzt das runde Kameraauge an der Frontseite.
»Keine Unterlagen«, sagte der Würfel.
»Warum?«
»Keine Überlebenden.« Die Antwort kam im selben heiteren Tonfall wie die vorhergehenden Auskünfte, und Charity schauderte plötzlich.
»Wie viele Leute waren dort?« fragte Skudder.
»Nach den Akten der Sozialversicherung zweitausendeinhundertfünfundachtzig Männer und Frauen. Wünschen Sie genaue Aufschlüsselung nach Beruf, Geschlecht, Hautfarbe ...«
»Nein, danke«, sagte sie heftig.
»Ich bin verpflichtet, Sie darauf hinzuweisen«, fuhr der Würfel ungerührt fort, »daß der Aktenstand des Sozialversicherungsamtes etwa elf Monate hinter dem aktuellen Zustand zurückblieb. Die genannte Zahl muß daher nicht den Tatsachen entsprechen.«
Niemand sagte etwas.
»Versetzungs- und Bestandsunterlagen der Space Force liegen nicht vor«, schloß 370/98 seine Ausführungen.
»Wieviel von diesem Mist steckt in dieser Kiste noch drin?« fragte Skudder plötzlich.
»Der Inhalt des Festdatenspeichers beträgt 98.2 Terabyte bei einer Kapazitätsauslastung von ...«
»Ausgabe unterbrechen«, sagte Harris. »Falls wir die paar Bruchstücke der Botschaft richtig verstehen, dann sind die Moroni irgendwo dort in der Nähe. Unsere Aufgabe ist es zunächst, Informationen zu sammeln und sicherzugehen, daß wir auf die richtige Ente schießen.«
»Das heißt, wir machen genau eine Umkreisung, und wir haben einen halben Umlauf Zeit, die Bilder auszuwerten und eine Entscheidung über unser weiteres Vorgehen zu treffen.« Charity blickte auf den Bildschirm, der noch immer die Bergwerksanlage zeigte. »Verflucht knapp.«
»Wenn es die richtige Ente ist«, fügte Skudder sarkastisch hinzu, »dann wird sie wohl nicht mehr bloß dasitzen, wenn wir noch mal vorbeikommen.«
»Das ist korrekt.« Harris grinste freudlos. »Deshalb werden wir die Aufnahmen vom Boden erst an die Erde senden, bevor wir sie auswerten. Für den Fall, daß uns die Ente gar nicht mehr weglassen will.«
Charity nickte kurz. »Angenommen, es ist der richtige Vogel, und wir überleben den ersten Umlauf. Was machen wir dann?«
»Das hängt von uns ab und von dem, was wir finden.« Harris grinste. »Wir wissen ja nicht einmal, was wir eigentlich suchen.«
»Und wenn wir dahintergekommen sind?«
Er zuckte die Achseln. »Wir können weglaufen. Wir können landen und versuchen, irgend etwas zu zerstören.«
»Wie?« Sie deutete auf den Bildschirm. »Das ist ein verdammt großes Areal, und wir sind Fußgänger. Wo fangen wir mit der Suche an?«
»Hängt davon ab, wo wir runterkommen und was von uns noch übrig ist.« Harris bediente die Konsole, die vor dem Würfel stand, und das Bild drehte sich ein wenig. »Dort im Westen und Südwesten sind die Gruben. Wenn wir dort landen, können wir uns buchstäblich eingraben lassen. Da ist nichts außer diesen riesigen Robotbaggern und kilometerlangen Förderbändern, die den Abraum wegschaffen.«
»Was sind die geraden Linien?« fragte Skudder.
»Das sind Transportschienen. Die Magnetschienenbahnen bedecken das ganze Gebäude bis an die Schleifen. Wenn sie noch in Betrieb sind, dann haben wir viel größere Chancen. Wir könnten dann versuchen, die Kraftwerke zu erreichen oder die unterirdischen Speicherbänke. Oder das, was die Moroni dort errichtet haben.«
»Was?«
»Keine Ahnung.« Er zuckte die Achseln. »Schätze, wir werden es erkennen, sobald wir es sehen.«
Charity nickte besorgt.
»Diese ganze Anlage ist so gewaltig«, sagte Skudder. »Wenn die Moroni dort oben wirklich irgend etwas aufgebaut haben, das uns auf der Erde gefährlich werden könnte, dann wird es mindestens genauso groß sein. Wir könnten nur ein paar Beulen hineinbomben, mehr nicht.«
»Irrtum«, sagte Harris. »Deshalb haben wir dieses kleine Ungeheuer hier dabei«, fügte er erklärend hinzu und tätschelte die Kiste, auf der er saß. »Zwölf Megatonnen Deuterium-Tritium. Das gute Stück stammt aus einem russischen Arsenal; es war ursprünglich für Kanalausschachtungen im Ural gedacht. Bevor sich jemand Gedanken über Fallout gemacht hat. Die Moroni kamen, ehe die Russen das Baby wieder auseinandernehmen konnten.« Er lächelte den Würfel an, und zum ersten Mal zeigte sich aufrichtige Freude auf seinem Gesicht. »Und unser liebenswerter Helfer hier wird so nett sein, die Rolle des Zünders zu übernehmen.«
»Wie?« fragte Charity knapp.
»Mit ein wenig Improvisation und der entsprechenden Begeisterung für die Sache.« Harris deutete auf ein Bauteil an der Frontseite der Kiste, das im Vergleich zum angelaufenen Metall drumherum neu und sauber wirkte. »Wir haben einen Adapter gebastelt.«
Sehr zuverlässig, dachte Charity mißmutig. Ich vertraue diesem sogenannten Adapter genausowenig wie den Leuten, die ihn gebastelt haben.
»Einen Moment mal«, sagte Skudder, der unwillkürlich einen Meter zurückgewichen war. »Das da ist eine Bombe?«
»Aber natürlich«, sagte Harris liebenswürdig. »Eine erstklassige Wasserstoffbombe aus sowjetischer Produktion, solide und zuverlässig, nicht dieser neumodische Moroni-Schnickschnack.« Er warf dem Indianer einen Blick zu, und an seinen Augenwinkel zeichneten sich winzige Falten ab. »Ich verstehe, man hat versäumt, Sie über unsere Fracht zu unterrichten.«
Charity seufzte und ignorierte den düsteren Blick, den ihr Skudder zuwarf. »Mach nicht so ein Gesicht«, sagte sie. »Wie transportieren wir das Ding?«
»Keine Ahnung.« Harris schien sich großartig zu amüsieren. »Ich glaube, bei diesem Unternehmen ist zuviel gehandelt und zuwenig geplant worden. Notfalls werden wir sie tragen müssen.«
»Nichts leichter als das«, murmelte Skudder.
»Auf dem Mond wird es leichter sein«, erwiderte Harris. »Ziemlich genau fünf Sechstel leichter. Wir haben diesen Transportschlitten außen an der Hülle, den wir aus einem havarierten Moroni-Gleiter gebaut haben.«
Charity nickte. »Wieviel von unserer Ausrüstung ist eigentlich auf der Hülle, und wieviel bei uns im Inneren?«
»Das meiste ist draußen. Tut mir leid, aber während Sie in Köln waren, hatten wir ein paar Probleme mit dem Umbau. Es war wesentlich weniger Platz hier im Inneren als erwartet. Die Jared sind wohl mit der Moroni-Konstruktion nicht so vertraut, wie sie sagen.« Er grinste. »Ganz zu schweigen von militärischer Taktik und Planung. Ich bin ganz froh darüber, daß wir sie nicht bei uns haben.«
»Ja«, stimmte Charity einsilbig zu. Das war ein Streitpunkt gewesen, und ein Grund, warum sie vom Pol aus nach Köln geflogen war, um sich die Daten über MacDonald persönlich zu holen. Seit Stone innerhalb der Jared aufgestiegen war, vertraute sie ihren seltsamen Verbündeten noch weniger als den Moroni. In Köln hatte sie ein wenig Ruhe zum Nachdenken gehabt, aber während ihrer Abwesenheit waren am Pol einige Entscheidungen getroffen worden, die ihr nicht gefallen hatten.
So, wie es Stone nicht gefallen hatte, daß sie keine Jared an Bord genommen hatte.
Sie dachte an Hartmann, dessen Sachverstand ihr jetzt fehlte. Eine Pilotenausbildung befähigte sie dazu, Soldaten und Ausrüstung von A nach B zu transportieren, aber sie half ihr wenig dabei, sicherzustellen, daß hinterher auch etwas von B nach A zurücktransportiert werden konnte. Und sie dachte an Kyle. Es war dringend an der Zeit, einem Jared einige Fragen über die Jared zu stellen, aber es gab nur einen Jared, dessen Antworten sie zumindest ansatzweise Vertrauen schenken würde. Sie verzog unwillkürlich das Gesicht zu einem Lächeln. Es war wohl typisch für diese wirren Zeiten, daß sie ausgerechnet einem Mann vertraute, der schon alles gewesen war, Mensch, Moroni und schließlich Jared, und dessen Menschlichkeit von Beginn an in Zweifel zu ziehen war. Sie sah auf und bemerkte Skudders besorgten Blick. »Ich bin nur müde«, beruhigte sie ihn. »Laß uns ein paar Stunden schlafen.«