1 Der Erwecker

Der Notar erklärte, das Haus sei als Baudenkmal eingestuft und während der Renaissance hätten Gelehrte darin gewohnt. Wer genau, wisse er nicht mehr.

»Die Wohnung selbst ist ein wenig sonderbar, es handelt sich nämlich um ein Kellergeschoß. Aber alle Achtung, sie ist geräumig! Zweihundert Quadratmeter!«

Sie stiegen die Treppe hinunter, gelangten in einen dunklen Flur, in dem der Notar lange herumtappte, bis er hervorstieß: »Ah, verflixt! Das funktioniert nicht.«

Sie drangen in die Finsternis vor, tasteten sich geräuschvoll an den Wänden entlang. Als der Notar endlich die Tür gefunden, sie geöffnet und, diesmal erfolgreich, auf den Lichtschalter gedrückt hatte, sah er, daß sein Klient blaß geworden war.

»Stimmt etwas nicht, Monsieur Wells?«

»Eine Art Phobie. Nicht so schlimm.«

»Angst vor der Dunkelheit?«

»Genau. Aber es geht schon wieder.«

Sie besichtigten die Räumlichkeiten. Obwohl die Wohnung nur durch einige schmale und in Höhe der Decke gelegene Kellerfenster mit der Außenwelt verbunden war, gefiel sie Jonathan.

Sämtliche Wände waren in einem einheitlichen Grau tapeziert, und überall war Staub ... Aber er wollte nicht mäkelig sein.

Die Wohnung, in der er zur Zeit wohnte, war nur ein Fünftel so groß. Außerdem verfügte er nicht über die Mittel, künftig die Miete zu zahlen: Das Schlüsseldienstunternehmen, für das er arbeitete, hatte vor kurzem beschlossen, auf seine Dienste zu verzichten.

Diese Hinterlassenschaft seines Onkels Edmond war wirklich ein Glücksfall.

Zwei Tage später zog er mit seiner Frau Lucie, seinem Sohn Nicolas und ihrem Hund Ouarzazate, einem geschorenen Zwergpudel, in das Haus Nummer 3 an der Rue des Sybarites ein.

»Ich finde das gar nicht so schlecht«, erklärte Lucie und reckte ihren dichten roten Haarschopf hoch. »Bei den grauen Wänden hier können wir uns so einrichten, wie wir wollen. Hier muß alles neu gemacht werden. Als müßte man ein Gefängnis in ein Hotel verwandeln.«

»Wo ist mein Zimmer?« fragte Nicolas.

»Hinten rechts.«

»Wuff, wuff«, machte der Hund und begann nach Lucies Waden zu schnappen, ohne zu berücksichtigen, daß sie das Hochzeitsgeschirr auf dem Arm hatte.

Aus diesem Grund wurde er prompt in die Toilette geschickt und eingesperrt, denn er schaffte es, zur Türklinke hochzuspringen und sie herunterzudrücken.

»Kanntest du den gut, deinen spendablen Onkel?« fragte Lucie.

»Onkel Edmond? Nein, ich kann mich nur erinnern, daß er mich wie ein Flugzeug durch die Luft gewirbelt hat, als ich ganz klein war. Einmal hatte ich solche Angst, daß ich ihn vollgepinkelt habe.«

Sie lachten.

»Warst schon immer ein Angsthase, was?« neckte ihn Lucie.

Jonathan tat so, als hätte er nichts gehört.

»Er war mir nicht böse. Er hat bloß zu meiner Mutter gesagt: >Schön, jetzt wissen wir wenigstens, daß aus ihm nie ein Flieger wird . < Später hat mir Mama immer erzählt, daß er meine Entwicklung aufmerksam verfolgt hat, aber ich habe ihn nie mehr wiedergesehen.«

»Was war er von Beruf?«

»Er war Wissenschaftler. Biologe, glaube ich.«

Jonathan blickte nachdenklich drein. Im Grunde war ihm sein Wohltäter vollkommen unbekannt.

1 Meter hoch

50 Etagen unterhalb der Erde 50 Etagen über der Erde Größte Stadt der Region Geschätzte Einwohnerzahl: 18 Millionen

Jährliche Produktion:

50 Liter Blattlaushonigtau 10 Liter Schildlaushonigtau 4 Kilogramm Lamellenpilze Kiesausstoß: 1 Tonne Benutzbare Gänge: 120 km Fläche am Boden: 2 m2

Ein Sonnenstrahl ist eingedrungen. Ein Bein hat sich bewegt. Die erste Bewegung seit Beginn des Winterschlafs vor drei Monaten. Ein anderes Bein, das in zwei Krallen endet, die sich allmählich spreizen, rückt langsam vor. Ein drittes entspannt sich. Dann ein Thorax. Dann ein Wesen. Dann zwölf Wesen.

Sie zittern, um ihr durchsichtiges Blut durch das Netz ihrer Adern zirkulieren zu lassen. Es geht von zähflüssigem in likörartigen, dann in flüssigen Zustand über. Nach und nach setzt sich die kardiale Pumpe wieder in Gang. Sie treibt den Lebenssaft bis in die Enden der Glieder. Die Biomechanismen erwärmen sich. Die hyperkomplexen Gelenke drehen sich. Überall verschieben sich die Kniescheiben mit ihren schützenden Platten, um ihre äußerste Biegung zu finden.

Sie stehen auf. Ihre Körper schöpfen Luft. Ihre Bewegungen sind langsam, entstellt. Ein Zeitlupentanz. Sie räkeln sich leicht, schütteln sich. Ihre Vorderbeine vereinen sich wie zum Gebet, aber nein, sie befeuchten ihre Krallen, um ihre Antennen zu reinigen.

Die zwölf, die aufgewacht sind, reiben sich gegenseitig ab. Dann versuchen sie, ihre Nachbarn zu wecken. Aber sie haben kaum Kraft, ihre eigenen Körper zu bewegen, sie können noch keine Energie weitergeben. Sie lassen davon ab.

Und so bahnen sie sich mühsam einen Weg inmitten der statuengleichen Körper ihrer Schwestern. Sie krabbeln auf die Große Außenwelt zu. Ihr Organismus mit dem noch kalten Blut muß die Kalorien des Tagesgestirns aufnehmen.

Ermattet rücken sie vor. Jeder Schritt schmerzt. Sie haben größte Lust, sich wieder hinzulegen, friedlich dazuliegen wie Millionen ihresgleichen! Aber nein. Sie sind die ersten, die aufgewacht sind. Es ist nun ihre Pflicht, die ganze Stadt wiederzubeleben.

Sie durchdringen die Hülle der Stadt. Das Sonnenlicht blendet sie, aber der Kontakt mit der puren Energie ist dermaßen stärkend!

Sonne, geh ein in unsre hohlen Körper Bewege unsre schmerzenden Muskeln Und vereine unsre geteilten Gedanken.

Das ist ein altes Morgenlied der roten Ameisen aus dem hundertsten Jahrtausend. Schon damals hatten sie Lust, beim ersten Kontakt mit der Wärme innerlich zu jubilieren.

Kaum draußen, beginnen sie sich methodisch zu waschen. Sie sondern einen weißen Speichel ab und bestreichen ihre Kiefer und ihre Beine.

Sie bürsten sich ab. Das ist eine einzige, immergleiche Zeremonie. Zuerst die Augen. Die eintausenddreihundert kleinen »Bullaugen«, die jedes Auge kugelrund formen, werden entstaubt, befeuchtet, getrocknet. Genauso gehen sie bei den Antennen vor, bei den unteren Gliedern, den mittleren Gliedern, den oberen Gliedern. Zum Schluß putzen sie ihre schönen roten Panzer, bis sie glänzen wie Tropfen aus Feuer.

Unter den zwölf, die aufgewacht sind, ist ein zur Fortpflanzung bestimmtes Männchen. Es ist ein wenig kleiner als der Durchschnitt der belokanischen Bevölkerung. Es hat schmale Oberkiefer, und es ist darauf programmiert, nicht länger als einige Monate zu leben, aber es ist auch mit Vorzügen ausgestattet, die seinen Mitbrüdern vorenthalten sind.

Erstes Privileg seiner Kaste: Da es geschlechtlich differenziert ist, besitzt es fünf Augen. Zwei große, kugelförmige Augen, die ihm ein Sichtfeld von hundertachtzig Grad verleihen. Plus drei kleine Ozellen, die in Form eines Dreiecks auf der Stirn angeordnet sind. Diese überzähligen Augen sind in Wirklichkeit Infrarotsensoren, die es ihm erlauben, aus der Ferne jegliche Wärmequelle zu registrieren, selbst in völliger Dunkelheit.

Dieses Charakteristikum erweist sich als um so wertvoller, als die meisten Bewohner der großen Städte dieses hunderttausendsten Jahrtausends vollständig blind geworden sind, da sie ihr ganzes Leben unter der Erde verbringen.

Aber das ist nicht seine einzige Besonderheit. Er verfügt auch (wie die Weibchen) über Flügel, die es ihm eines Tages möglich machen, zu fliegen, um die Liebe zu vollziehen.

Sein Thorax ist durch einen speziellen Schild geschützt: das Mesotonum.

Seine Antennen sind länger und sensibler als die der übrigen Bewohner.

Dieses junge Männchen bleibt eine ganze Weile auf der Kuppel und lädt sich mit Sonne auf. Dann, als es wohlaufgewärmt ist, kehrt es in die Stadt zurück. Einstweilen gehört es zur Kaste der »Wärmeboten«.

Es bewegt sich durch die Gänge der dritten unteren Etage. Hier schläft alles noch tief. Die erfrorenen Körper sind erstarrt.

Die Antennen hängen schlaff herab.

Die Ameisen träumen noch.

Das junge Männchen schiebt sein Bein auf eine Arbeiterin zu, um sie mit der Wärme seines Körpers aufzuwecken. Der lauwarme Kontakt löst einen angenehmen elektrischen Schlag aus.

Nach dem zweiten Klingeln war ein Tippeln wie von einer Maus zu hören. Die Tür öffnete sich mit leichter Verzögerung, weil Großmutter Augusta erst die Sicherheitskette lösen mußte.

Seit dem Tod ihrer beiden Kinder lebte sie zurückgezogen auf diesen dreißig Quadratmetern, ließ sie die alten Erinnerungen vorbeiziehen. Das war sicher nicht gut für sie, hatte jedoch nichts an ihrer Liebenswürdigkeit geändert.

»Ich weiß, es ist lächerlich, aber zieh bitte die Filzpantoffeln an. Ich habe gerade das Parkett gebohnert.«

Jonathan gehorchte. Sie huschte voraus, führte ihn in ein Wohnzimmer, dessen zahlreiche Möbel mit Schonbezügen versehen waren. Jonathan setzte sich auf die Kante des Sofas, scheiterte jedoch bei dem Versuch, der Plastikhülle kein Quietschen zu entlocken.

»Ich freu mich so, daß du gekommen bist ... Ob du’s glaubst oder nicht, ich hatte vor, dich in den nächsten Tagen anzurufen.«

»Aha?«

»Stell dir vor, Edmond hat mir etwas für dich dagelassen. Einen Brief. Er hat gesagt: >Wenn ich sterbe, mußt du Jonathan unbedingt diesen Brief geben.<«

»Ein Brief?«

»Ein Brief, ja, ein Brief ... Hmm, wenn ich nur wüßte, wo ich ihn gelassen habe. Warte mal ... Er gibt mir den Brief, ich sag noch, ich werde ihn wegtun, lege ihn in eine Dose. Das muß eine dieser Blechdosen in dem großen Schrank gewesen sein.«

Sie begann Schlittschuh zu laufen, hielt jedoch nach dem dritten Gleichschritt inne.

»Nein, was bin ich dumm! Was ist das nur für ein Empfang! Du trinkst doch sicher ein Täßchen Tee?«

»Gern.«

Sie verschwand in der Küche, und man hörte Töpfe scheppern.

»Erzähl mir doch, wie’s dir geht, Jonathan!« rief sie.

»Puh, nicht so toll. Ich hab meinen Arbeitsplatz verloren.«

Großmutter steckte kurz ihren weißen Mäuschenkopf durch die Tür, dann erschien sie ganz, mit ernster Miene, eingepackt in eine lange, blaue Schürze.

»Haben sie dich entlassen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weißt du, der Schlüsseldienst ist ein eigenartiges Gewerbe. Unser Unternehmen, >SOS Schlüssel<, ist rund um die Uhr in ganz Paris tätig. Na ja, und nachdem einer meiner Kollegen überfallen worden ist, habe ich mich geweigert, abends in zwielichtigen Vierteln herumzufahren. Daraufhin haben sie mich gefeuert.«

»Das war richtig von dir. Besser keine Arbeit und gesund als umgekehrt.«

»Außerdem habe ich mich mit meinem Chef nicht besonders verstanden.«

»Und deine Erfahrungen mit den utopischen Gesellschaften? Zu meiner Zeit nannte man das die New-Age-Gesellschaften.« (Sie lachte verhalten, sie hatte das ausgesprochen wie »’ne Waage«.)

»Das habe ich nach dem Reinfall mit dem Bauernhof in den Pyrenäen aufgegeben. Lucie war es leid, ständig für alle zu kochen und zu spülen. Es gab ein paar Parasiten unter uns.

Lucie und ich sind sauer geworden. Jetzt lebe ich nur noch mit Lucie und Nicolas ... Und wie geht’s dir, Großmutter? «

»Mir? Ich lebe. Damit hat man genug zu tun.«

»Du Glückliche! Du hast noch die Jahrtausendwende erlebt .«

»Och, weißt du, am meisten wundert es mich, daß sich nichts geändert hat. Früher, als ich noch blutjung war, da haben wir geglaubt, nach der Jahrtausendwende würden sich außergewöhnliche Dinge ereignen, und wie du siehst, hat sich nichts geändert. Es gibt immer noch alte, einsame Leute, immer noch Arbeitslose, immer noch Autos, die Rauch erzeugen. Nicht einmal die Ideen haben sich weiterentwickelt. Guck mal, letztes Jahr hat man den Surrealismus wieder entdeckt, vorletztes Jahr den Rock’n Roll, und für diesen Sommer kündigen die Zeitungen das große Comeback des Minirocks an. Wenn das so weitergeht, werden bald noch die Erfindungen vom Beginn des letzten Jahrhunderts wieder hervorgeholt: der Kommunismus, die Psychoanalyse und die Relativitätstheorie .«

Jonathan lächelte.

»Einige Fortschritte gibt es aber doch: die durchschnittliche Lebensdauer des Menschen ist gestiegen, ebenso die Anzahl der Scheidungen, der Grad der Luftverschmutzung, die Länge der Metro-Linien .«

»Na fein. Ich hab geglaubt, wir hätten alle unser eigenes Flugzeug und könnten vom Balkon abheben. Weißt du, als ich jung war, hatten die Leute Angst vor dem Atomkrieg. Das war eine tolle Angst. Mit hundert Jahren in der Glut eines gigantischen Atompilzes zu sterben, gemeinsam mit dem Planeten unterzugehen, das hatte schon was. Statt dessen werde ich wie eine alte verfaulte Kartoffel enden. Und alle Welt wird sich ’nen Dreck darum scheren.«

»Aber nein. Großmutter, aber nein.«

Sie wischte sich über die Stirn.

»Außerdem wird es immer heißer. Zu meiner Zeit war es nicht so heiß. Da gab es noch richtige Winter und richtige Sommer. Jetzt fängt die Gluthitze schon im März an.«

Sie ging wieder in ihre Küche, hüpfte dorthin, um mit seltener Gewandtheit sämtliche Utensilien zu angeln, die für die Zubereitung eines richtig guten Kräutertees erforderlich waren. Man hörte ein Streichholz aufflammen und kurz darauf das Gas, das durch die altmodischen Düsen ihres Herdes zischte, dann kehrte sie, um einiges entspannter, wieder zurück.

»Nun denn, du bist sicher aus einem bestimmten Grund gekommen. Heutzutage schaut man nicht einfach so bei alten Leuten vorbei.«

»Sei nicht zynisch, Großmutter.«

»Ich bin nicht zynisch, ich weiß nur, in was für einer Welt ich lebe, das ist alles. Komm, Schluß mit dem Getue, sag schon, was dich zu mir führt.«

»Ich möchte, daß du mir von >ihm< erzählst. Er vermacht mir seine Wohnung, dabei kenne ich ihn nicht mal ...«

»Edmond? Erinnerst du dich nicht mehr an ihn? Dabei hat er so gern Flieger mit dir gespielt. Ich weiß noch, einmal, da hat er .«

»Ja, das weiß ich auch, aber davon abgesehen ist nur gähnende Leere .«

Sie setzte sich in einen großen Sessel, achtete darauf, den Schonbezug nicht allzusehr zu zerknittern.

»Edmond, hmm, Edmond war eine Persönlichkeit. Dein Onkel war noch ganz jung, da hat er mir schon Kummer gemacht. Es war kein Zuckerschlecken, seine Mutter zu sein. Weißt du, er hat zum Beispiel all seine Spielsachen kaputtgemacht, einfach, um sie auseinanderzunehmen, und nicht etwa, um sie wieder zusammenzubauen. Und wenn es nur seine Spielsachen gewesen wären! Alles mögliche hat er auseinandergenommen: Uhren, Plattenspieler, die elektrische Zahnbürste. Einmal hat er sogar den Kühlschrank in alle Einzelteile zerlegt.«

Wie zur Bestätigung begann die alte Wanduhr düster zu schlagen. Auch sie hatte bei dem kleinen Edmond allerhand mitgemacht.

»Und dann hatte er noch eine andere Marotte: Höhlen. Das ganze Haus hat er auf den Kopf gestellt, um sich seine Schlupfwinkel zu bauen. Eine hat er sich mit Decken und Schirmen auf dem Speicher gebaut, eine andere mit Stühlen und Pelzmänteln in seinem Zimmer. Darin hauste er dann den ganzen Tag, einfach so, inmitten der Schätze, die er dort hortete. Einmal hab ich nachgeschaut, beide waren voll von Kissen und dem ganzen Zeug, das er aus den Geräten geklaubt hatte. Das sah gar nicht so ungemütlich aus.«

»Das machen doch alle Kinder ...«

»Vielleicht, aber bei ihm nahm das wundersame Ausmaße an. Er weigerte sich, ins Bett zu gehen, er schlief nur noch in einer seiner Höhlen. Manchmal blieb er tagelang darin. Als wollte er überwintern. Deine Mutter hat mal behauptet, in einem früheren Leben müsse er ein Eichhörnchen gewesen sein.«

Jonathan lächelte ihr aufmunternd zu.

»Eines Tages wollte er seine Bude unter dem Wohnzimmertisch bauen. Das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Dein Großvater, eigentlich ein friedlicher Mensch, hat einen Tobsuchtsanfall bekommen. Er hat ihm den Hintern versohlt, seine Höhlen zerstört und ihn gezwungen, im Bett zu schlafen.«

Sie seufzte.

»Von diesem Tag an hat er sich uns völlig entzogen. Als hätte jemand die Nabelschnur durchtrennt. Wir gehörten nicht mehr zu seiner Welt. Aber ich glaube, diese Prüfung war nötig, er mußte begreifen, daß sich die Welt nicht ewig seinen Launen beugt. Später, als er größer wurde, hat das Probleme gegeben. Er ertrug die Schule nicht mehr. >Wie alle Kinder<, wirst du wieder sagen. Aber bei ihm ging das darüber hinaus. Kennst du viele Kinder, die sich mit ihrem Gürtel in der Toilette aufhängen, weil sie von ihrem Lehrer einen Rüffel bekommen haben? Er, er hat sich mit sieben Jahren aufgehängt. Der Hausmeister hat ihn runtergeholt.«

»Vielleicht war er zu sensibel .«

»Zu sensibel? Von wegen! Ein Jahr später hat er versucht, einen seiner Lehrer mit einer Schere zu erstechen. Mitten ins Herz hat er gezielt. Zum Glück hat er nur sein Zigarettenetui erwischt.«

Sie blickte zur Decke. Erinnerungen rieselten ihr wie Schneeflocken kunterbunt in den Sinn.

»Danach hat sich das ein wenig gelegt, weil es einige Lehrer geschafft haben, seine Begeisterung zu wecken. Er hatte eine Eins in allen Fächern, die ihn interessierten, und eine Sechs in allen andern. Eins oder Sechs, sonst gab es nichts.«

»Mama hat gesagt, er sei ein Genie.«

»Deine Mutter schwärmte für ihn, weil er ihr erklärt hat, er versuche das »absolute Wissen« zu erlangen. Deine Mutter glaubte seit ihrem zehnten Lebensjahr an ein früheres Leben, und sie hat gedacht, er sei die Reinkarnation von Einstein oder Leonardo da Vinci.«

»Also nicht nur ein Eichhörnchen?«

»Warum nicht auch das. >Es braucht viele Leben, um eine Seele zu schaffen<, hat Buddha gesagt.«

»Hat er IQ-Tests gemacht?«

»Ja. Die waren ein totaler Reinfall. Dreiundzwanzig von hundertachtzig Punkten hat er erreicht, was leichten Schwachsinn bedeutet. Seine Lehrer haben gedacht, er sei verrückt und man müsse ihn in eine Anstalt stecken. Ich aber wußte, daß er nicht verrückt war. Er war nur »daneben«. Ich erinnere mich, daß er einmal, oh, da war er keine elf Jahre alt, mit mir gewettet hat, daß ich es nicht schaffen würde, vier gleichseitige Dreiecke mit nur sechs Streichhölzern zu bilden.

Das ist nicht einfach, hier, versucht doch mal ...«

Sie ging in die Küche, warf einen Blick auf ihren Teekessel und brachte sechs Streichhölzer mit. Jonathan zögerte einen Moment. Das schien machbar. Er ordnete die sechs Stäbchen auf unterschiedliche Weise an, aber nach einigen Minuten mußte er aufgeben.

»Wie ist denn die Lösung?«

Großmutter Augusta konzentrierte sich.

»Na ja, ich glaube, die hat er mir nie verraten. Das einzige, woran ich mich noch erinnere, ist, was er mir als Hilfestellung gesagt hat: »Man muß anders denken; wenn man so überlegt, wie man es gewohnt ist, erreicht man nichts.« Stell dir vor, ein Balg von elf Jahren, der solche Sachen von sich gibt! Ah, ich glaube, da pfeift der Teekessel. Ich glaube, das Wasser kocht.«

Sie kehrte mit zwei Tassen zurück, die mit einer gelblichen, duftenden Flüssigkeit gefüllt waren.

»Weißt du, ich freue mich, daß du dich so für deinen Onkel interessierst. Heutzutage sterben die Leute, und man vergißt sogar, daß sie auf der Welt waren.«

Jonathan ließ die Streichhölzer fallen und trank vorsichtig einige Schlucke Kräutertee.

»Und wie ging es dann weiter?«

»Ich weiß es nicht. Kaum hatte er sein Studium an der Naturwissenschaftlichen Fakultät aufgenommen, haben wir nichts mehr von ihm gehört. Ich habe nur andeutungsweise von deiner Mutter erfahren, daß er mit Bravour habilitiert und anschließend für eine Nahrungsmittelgesellschaft gearbeitet hat, die er dann verließ, um nach Afrika zu gehen, und daß er wieder zurückgekehrt ist, um sich in der Rue des Sybarites niederzulassen. Danach hat bis zu seinem Tod niemand mehr etwas von ihm gehört.«

»Woran ist er gestorben?«

»Ja, weißt du das denn nicht? Eine unglaubliche Geschichte. Sie stand in sämtlichen Zeitungen. Stell dir vor, er ist von Wespen getötet worden.«

»Von Wespen? Wie das?«

»Er ist allein durch den Wald spaziert. Er muß aus Unachtsamkeit ein Nest umgestoßen haben. Sie sind allesamt über ihn hergefallen. >Ich habe noch nie so viele Stiche an einem einzigen Menschen gesehen<, hat der Gerichtsmediziner gesagt. Er ist mit 0,3 Gramm Gift pro Liter Blut gestorben. Absoluter Rekord.«

»Gibt es ein Grab?«

»Nein. Er hat darum gebeten, unter einer Kiefer im Wald beerdigt zu werden.«

»Hast du ein Foto von ihm?«

»Da, schau mal, an der Wand, über der Kommode. Rechts: Suzy, deine Mutter (hast du schon mal ein Bild von ihr gesehen, als sie noch so jung war?). Und links: Edmond.«

Er hatte eine kahle Stirn, einen spitzen Schnurrbart, Ohren ohne Ohrläppchen wie Kafka, die bis über die Augenbrauenhöhe reichten. Er lächelte spöttisch. Ein wahres Teufelchen.

Suzy neben ihm sah in ihrem weißen Kleid wunderschön aus. Sie hatte einige Jahre zuvor geheiratet, aber stets darauf bestanden, ihren Familiennamen Wells beizubehalten. Als wollte sie nicht, daß ihr Gefährte die Spur seines Namens auf ihren Sprößlingen hinterließ.

Jonathan trat näher und erkannte, daß Edmond zwei ausgestreckte Finger über den Kopf seiner Schwester hielt.

»Er war ein richtiger Schelm, oder?«

Augusta gab keine Antwort. Trauer hatte ihren Blick verschleiert, als sie das strahlende Gesicht ihrer Tochter gesehen hatte. Suzy war vor sechs Jahren gestorben. Ein Fünfzehntonner, gesteuert von einem betrunkenen Fahrer, hatte ihren Wagen in eine Schlucht gestoßen. Der Todeskampf hatte zwei Tage gedauert. Sie hatte nach Edmond verlangt, aber Edmond war nicht gekommen. Wieder einmal war er woanders gewesen .

»Kennst du noch mehr Leute, die mir von Edmond erzählen könnten?«

»Hmm ... Da war ein Jugendfreund, den hat er öfters gesehen. Sie waren sogar zusammen an der Universität. Jason Bragel. Seine Nummer müßte ich noch haben.«

Augusta sah rasch in ihrem Computer nach, dann gab sie Jonathan die Adresse. Sie schaute ihren Enkel liebevoll an. Er war der letzte Überlebende der Familie Wells. Ein braver Junge.

»Komm, trink deinen Tee aus, sonst wird er kalt. Ich hab auch noch Sandplätzchen, wenn du willst. Ich backe sie selbst, mit Wachteleiern.«

»Nein, danke, aber ich muß wieder los. Besuch uns doch mal in unserer neuen Wohnung, wir sind fertig mit dem Umzug.«

»Gerne. Warte, geh nicht ohne den Brief.«

Sie durchsuchte fieberhaft den großen Wandschrank, die eisernen Schubladen, schließlich fand sie einen weißen Umschlag, auf dem in eilig dahingeschriebenen Buchstaben stand: »Jonathan Wells.« Die Klappe des Umschlags war mit mehreren Klebestreifen verstärkt, um zu verhindern, daß er von selbst aufging. Jonathan riß ihn vorsichtig auf. Ein zerknittertes Blatt, wie aus einem Schulheft, fiel heraus. Nur ein einziger Satz war darauf notiert:

Niemals den Keller betreten!

Die Ameise zittert mit den Antennen. Sie ist wie ein Wagen, der lange im Schnee gestanden hat und nur mühsam wieder anspringt. Das Männchen versucht es mehrfach. Es reibt sie ein. Bestreicht sie mit warmem Speichel.

Leben. Da ist es, der Motor springt wieder an. Eine Jahreszeit ist vorüber. Alles beginnt von vorn, als hätten sie nie diesen »kleinen Tod« erfahren.

Es reibt sie weiter, um ihr Kalorien zu übertragen. Sie fühlt sich wohl jetzt. Während sich das Männchen weiter abmüht, richtet sie ihre Antennen in seine Richtung. Sie kitzelt es ganz sanft. Sie will wissen, wer es ist.

Sie berührt das von seinem Kopf aus gesehen erste Segment und liest sein Alter: hundertdreiundsiebzig Tage. Auf dem zweiten erkennt die blinde Arbeiterin seine Kaste: zur Fortpflanzung bestimmtes Männchen. Auf dem dritten seine Rasse und seine Herkunft: rote Waldameise aus der Hauptstadt Bel-o-kan. Auf dem vierten entdeckt sie die Legenummer, die ihm als Benennung dient: es ist das 327. Männchen, das seit Herbstanfang geboren wurde.

Dort bricht ihre olfaktorische Identifizierung ab. Die restlichen Segmente sind nicht fürs »Senden« bestimmt. Das fünfte dient dazu, die Pistenmoleküle aufzunehmen. Das sechste ist für einfache Dialoge bestimmt. Das siebte ermöglicht komplexere Dialoge geschlechtlicher Art. Das achte ist den Dialogen mit der Königin vorbehalten. Die drei letzten schließlich dienen als kleine Keulen.

So, sie ist sämtliche elf Segmente der zweiten Hälfte der Antenne durchgegangen. Aber sie hat ihm nichts zu sagen. Also rückt sie von ihm ab und macht sich auf den Weg, um sich ihrerseits auf dem Dach der Stadt zu wärmen.

Das Männchen tut es ihr nach. Schluß mit der Arbeit als Wärmebotschafter, jetzt beginnen die Instandsetzungsarbeiten!

Oben angekommen, konstatiert das Männchen Nr. 327 die Schäden. Die Stadt ist kegelförmig gebaut, um den Unbilden der Witterung möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Dennoch war der Winter verheerend. Wind, Schnee und Hagel haben die oberste Schicht der Zweige weggefegt. Vogelmist verstopft die Ausgänge. Sie müssen sich schnell ans Werk machen. Nr. 327 huscht auf einen großen gelben Fleck zu und fällt mit seinen Mandibeln über die harten, übelriechenden Fäkalien her. Auf der anderen Seite erscheinen bereits die Umrisse eines Insekts, das von innen her gräbt.

Der Spion hatte sich verdunkelt. Jemand betrachtete ihn durch die Tür.

»Wer ist da?«

»Mein Name ist Gougne ... Ich komme wegen des Einbands.«

Die Tür öffnete sich halb. Gougnes Blick fiel auf einen blonden Jungen von ungefähr zehn Jahren, dann, tiefer noch, auf einen winzigen Hund, der seine Nase durch die Beine des Kindes schob und anfing zu knurren.

»Papa ist nicht da!«

»Sind Sie sicher? Professor Wells wollte bei mir vorbeikommen, und .«

»Professor Wells ist mein Großonkel. Er ist aber tot.«

Nicolas wollte die Tür wieder schließen, doch Gougne trat hartnäckig näher.

»Aufrichtiges Beileid. Aber sind Sie sicher, daß er nicht einen dicken Aktendeckel voller Blätter hinterlassen hat? Ich bin der Buchbinder. Er hat mich im voraus dafür bezahlt, daß ich seine Aufzeichnungen in Leder binde. Ich glaube, er hatte vor, eine Enzyklopädie anzulegen. Er wollte bei mir vorbeikommen, aber jetzt habe ich lange nichts mehr von ihm gehört .«

»Ich hab doch gesagt, er ist tot.«

Der Mann schob seinen Fuß weiter vor und drückte mit dem Knie gegen die Tür, als wollte er den Jungen umstoßen und eintreten. Der Miniaturhund begann wütend zu kläffen. Der Mann blieb stehen.

»Verstehen Sie, es wäre mir ungeheuer peinlich, wenn ich meinen Verpflichtungen nicht nachkäme, und sei es posthum.

Schauen Sie doch bitte nach. Irgendwo muß hier ein großer roter Ordner sein.«

»Eine Enzyklopädie, sagten Sie?«

»Ja, er hat dem Ganzen sogar einen Namen gegeben: >Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissensc, aber es sollte mich wundern, wenn das auf dem Deckel stünde ...«

»Wir hätten sie sicher gefunden, wenn sie hier wäre.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich nicht lockerlasse, aber ...«

Der Zwergpudel begann wieder zu zetern. Der Mann wich einen kleinen Schritt zurück, was dem Jungen reichte, um ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen.

Mittlerweile ist die ganze Stadt aufgewacht. Die Gänge sind voller Wärmeboten, die sich beeilen, die Bevölkerung zu wecken. An einigen Kreuzungen liegen jedoch noch reglose Städterinnen. Die Boten können sie noch so schütteln, ihnen Schläge versetzen, sie rühren sich nicht.

Sie werden sich nie mehr rühren. Sie sind tot. Der Winterschlaf ist ihnen zum Verhängnis geworden. Man kann nicht gefahrlos drei Monate mit einem praktisch nicht vorhandenen Herzschlag leben. Sie haben nicht gelitten. Sie sind im Schlaf verschieden, während eines plötzlichen Windstoßes, der die Stadt eingehüllt hat. Ihre Körper werden abtransportiert und auf die Deponie geworfen. Auf diese Weise schafft die Stadt jeden Morgen ihre toten Zellen mit dem anderen Abfall weg.

Kaum hat die Insektenstadt ihre Adern von allem Unrat gereinigt, beginnt ein buntes Treiben. Überall krabbeln Beine. Kiefer wühlen. Antennen zucken vor Informationen. Alles ist wieder wie zuvor. Wie vor dem einschläfernden Winter.

Das Männchen Nr. 327 transportiert gerade einen Zweig, der bestimmt sechzigmal soviel wiegt wie es selbst, als sich eine Kriegerin von über fünfhundert Tagen nähert. Sie klopft ihm mit ihren keulenartigen Segmenten auf den Schädel, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Es hebt den Kopf. Sie drückt ihre Antennen der Länge nach gegen seine.

Sie will, daß es die Instandsetzungsarbeiten aufgibt, um mit einer Gruppe von Ameisen ... auf eine Jagdexpedition zu gehen.

Er berührt ihren Mund und ihre Augen.

Was für eine Jagdexpedition?

Sie läßt ihn an einem ziemlich trockenen Fleischstückchen riechen, das in einer Falte eines Gelenks ihres Thorax verborgen war.

Das hat man anscheinend kurz vor Winteranfang im Westen gefunden, und zwar in einem Winkel von 23° zur Mittagssonne.

Das Männchen probiert. Käfer, kein Zweifel. Blattkäfer, genauer gesagt. Komisch. Normalerweise müßten die Käfer noch im Winterschlaf sein. Wie jeder weiß, wachen die roten Ameisen bei 12° Außentemperatur, die Termiten bei 13°, die Fliegen bei 14° und die Käfer bei 15° auf.

Die alte Kriegerin läßt sich von diesem Argument nicht aus der Fassung bringen. Sie erklärt ihm, daß dieses Fleischstückchen aus einer ungewöhnlichen Gegend stammt, die von einer unterirdischen Quelle künstlich erwärmt wird. Dort gibt es keinen Winter. Das ist ein Mikroklima, in dem sich eine spezielle Fauna und Flora entwickelt hat.

Außerdem hat die Stadt immer großen Hunger, wenn sie wach wird. Sie braucht dringend Proteine, um wieder in Gang zu kommen. Die Wärme allein reicht nicht.

Nr. 327 willigt ein.

Die Expedition besteht aus achtundzwanzig Ameisen aus der Kaste der Kriegerinnen. Die meisten sind geschlechtslose alte Damen, so auch die, die Nr. 327 zum Mitkommen bewegt hat. Das Männchen Nr. 327 ist das einzige Mitglied aus der Kaste der Fortpflanzungsfähigen. Es mustert seine Gefährtinnen von weitem durch das Sieb seiner Augen.

Mit ihren Tausenden von Facettenaugen sehen die Ameisen kein tausendfach wiederholtes Bild, sondern eine Art Gitter. Sie haben Schwierigkeiten, Details zu erkennen. Dafür nehmen sie die feinsten Bewegungen wahr.

Die Kundschafterinnen dieser Expedition machen einen kampfeserprobten, weitgereisten Eindruck. Ihre schweren Bäuche sind mit Säure angefüllt. Ihre Köpfe sind mit überaus mächtigen Waffen behangen. Ihre Panzer weisen die Spuren feindlicher Mandibeln auf.

Seit einigen Stunden gehen sie schnurgerade voran. Sie kommen an mehreren Städten der Förderation vorbei, die sich hoch in den Himmel oder unter Bäumen erheben. Töchterstädte aus der Ni-Dynastie: Jodu-lu-baikan (der größte Getreideproduzent), Giu-li-aikan (dessen Killerinneneinheiten vor zwei Jahren eine Koalition der Termiten des Südens besiegt haben), Zedi-bei-nakan (berühmt für seine Chemielabors, in denen hochkonzentrierte Säuren hergestellt werden), Li-wiu-kan (dessen Schildlausalkohol einen köstlichen Harzgeschmack hat).

Die roten Ameisen schließen sich nämlich nicht nur in Städten, sondern auch in Koalitionen von Städten zusammen. Der Bund macht ihre Stärke aus. Im Jura hat man Föderationen von roten Ameisen angetroffen, die auf einem Gebiet von 80 Hektar 15 000 Ameisenhügel umfaßten und eine Gesamtbevölkerung von über 200 Millionen Individuen aufwiesen.

So weit ist Bel-o-kan noch nicht. Das ist eine junge Föderation, dessen erste Dynastie vor fünftausend Jahren gegründet wurde. Der einheimischen Legende zufolge soll eine von einem fürchterlichen Sturm verwehte junge Königin einst hier gelandet sein. Da es ihr nicht gelungen sei, zu ihrer eigenen Föderation zurückzufinden, habe sie Bel-o-kan gegründet, und aus Bel-o-kan seien die Föderation und die Hunderte von Generationen Ni-Königinnen, die die Föderation bilden, hervorgegangen.

Belo-kiu-kiuni lautete der Name dieser ersten Königin. Das bedeutet: »Verirrte Ameise«. Aber sämtliche Königinnen der Hauptstadt haben ihren Namen übernommen.

Einstweilen besteht Bel-o-kan nur aus dieser großen Zentralstadt und 64 mit ihr verbündeten Töchterstädten, die in der Umgebung verstreut sind. Aber schon jetzt hat sich Bel-o-kan zur größten politischen Kraft in diesem Teil des Waldes von Fontainebleau entwickelt.

Nachdem sie die verbündeten Städte, vor allem La-chola-kan, die westliche belokanische Stadt, hinter sich gelassen haben, erreicht die Gruppe kleine Erhebungen. Erdschollen ähnlich: die Sommernester oder »Vorposten«. Sie sind noch leer. Aber Nr. 327 weiß, daß sie sich, im Zuge der Jagdexpeditionen und der Kriege, mit Soldatinnen füllen werden.

Sie gehen in einer Linie weiter. Der Trupp hastet eine weite türkisfarbene Wiese und einen von Disteln gesäumten Hügel hinunter. Gen Norden zeichnet sich in der Ferne bereits die feindliche Stadt Shi-gae-pu ab. Aber ihre Bewohner dürften um diese Zeit noch schlafen.

Sie ziehen weiter. Die meisten Tiere ringsum liegen noch im Winterschlaf. Da und dort schieben ein paar Frühaufsteher den Kopf aus ihrem Bau. Kaum sehen sie die roten Panzer, verstecken sie sich verängstigt. Die Ameisen sind nicht gerade für ihre Geselligkeit bekannt. Vor allem nicht, wenn sie derart ausrücken, bewaffnet bis zu den Antennen.

Mittlerweile ist der Trupp an den Grenzen des vertrauten Terrains angelangt. Weit und breit ist keine einzige Tochterstadt mehr zu sehen. Am Horizont nicht der geringste Vorposten. Nicht der geringste von spitzen Beinen gegrabene Pfad. Höchstens noch einige kaum wahrnehmbare Spuren einer alten Piste, mit Duftnoten markiert, die darauf schließen lassen, daß früher einmal Belokanerinnen hier vorbeigekommen sind.

Sie zögern. Das Laubwerk, das vor ihnen aufragt, ist auf keiner Geruchskarte vermerkt. Es bildet ein dunkles Dach, durch das kein Licht dringt. Diese von allen möglichen Tieren bewohnte Pflanzenmasse scheint regelrecht nach ihnen zu schnappen.

Wie sollte er sie davon abhalten, da hinunterzugehen?

Er hängte sein Jackett auf und küßte seine Familie zur Begrüßung.

»Seid ihr fertig mit Auspacken?«

»Ja. Papa.«

»Schön. Übrigens, habt ihr die Küche gesehen? Ganz hinten ist eine Tür.«

»Das wollte ich dir gerade erzählen«, sagte Lucie. »Das muß ein Keller sein. Ich hab versucht, sie aufzumachen, aber sie ist abgeschlossen. Darunter ist ein großer Spalt. Man sieht nicht viel, aber anscheinend geht das dahinter tief hinunter. Du solltest das Schloß knacken. Dann hab ich auch mal was davon, einen Schlosser zum Mann zu haben.«

Sie lächelte und schmiegte sich in seine Arme. Lucie und Jonathan lebten seit dreizehn Jahren zusammen. Sie hatten sich in der Metro kennengelernt. Ein Rowdy hatte eines Tages aus reiner Langeweile eine Tränenbombe in den Wagen geworfen. Sämtliche Fahrgäste waren zu Boden gegangen und hatten sich tränenüberströmt fast die Lunge aus dem Hals gehustet. Lucie und Jonathan waren übereinander gestürzt. Als sie sich von ihrem Husten und Heulen erholt hatten, hatte Jonathan angeboten, sie nach Hause zu begleiten. Danach hatte er sie in eine seiner ersten utopischen Gesellschaften eingeladen, ein Squatt in Paris, in der Nähe der Gare du Nord. Drei Monate später hatten sie beschlossen zu heiraten.

»Nein.«

»Was heißt das, nein?«

»Nein, wir werden das Schloß nicht knacken, und wir werden auch diesen Keller nicht nutzen. Das Beste ist, wir reden nicht mehr davon, wir gehen gar nicht in seine Nähe und schlagen uns den Gedanken aus dem Kopf.«

»Das ist doch nicht dein Ernst! Erklär mir das mal!«

Jonathan hatte nicht daran gedacht, sich eine logische Erklärung für dieses Verbot zurechtzulegen. Unfreiwillig hatte er das Gegenteil dessen bewirkt, was er wollte. Jetzt waren seine Frau und sein Sohn neugierig geworden. Was sollte er tun? Ihnen erklären, den wohltätigen Onkel umgebe ein Geheimnis, letzterer habe sie vor der Gefahr, die im Keller lauerte, warnen wollen?

Das war keine Erklärung. Das war bestenfalls Aberglaube. Die Menschen lieben die Logik, nie im Leben würden Lucie und Nicolas darauf hereinfallen.

Er stammelte: »Der Notar hat mich gewarnt.«

»Wovor hat er dich gewarnt?«

»Der Keller ist von Ratten befallen!«

»Brrr! Ratten? Die schlüpfen garantiert durch den Spalt«, behauptete der Junge.

»Keine Bange, wir werden alles abdichten.«

Jonathan war mit Nicolas’ Reaktion nicht unzufrieden. Ein Glück, daß er auf die Idee mit den Ratten gekommen war.

»Na schön, niemand nähert sich dem Keller, abgemacht? «

Er ging ins Badezimmer. Lucie kam nach.

»Du warst bei deiner Großmutter?«

»Stimmt.«

»Und das hat den ganzen Vormittag gedauert?«

»Ganz genau.«

»Du wirst doch nicht deine Zeit mit Herumlungern vertun. Erinnere dich, was du auf dem Hof in den Pyrenäen gesagt hast: >Müßiggang ist aller Laster Anfang. < Du mußt wieder Arbeit finden. Unsere Rücklagen schmelzen.«

»Wir haben gerade eine Wohnung von zweihundert Quadratmetern in einem feinen Viertel am Waldrand geerbt, und du redest von einem Job! Kannst du denn den Augenblick nicht genießen?«

Er wollte sie umarmen, sie wich zurück.

»Doch, das kann ich, aber ich kann dabei auch an die Zukunft denken. Ich habe keine Stellung, du bist arbeitslos, wovon sollen wir in einem Jahr leben?«

»Wir haben noch Reserven.«

»Sei nicht dumm, wir haben noch genug, um uns einige Monate über Wasser zu halten, aber dann ...«

Sie stemmte ihre kleinen Fäuste in die Hüften und streckte die Brust heraus.

»Hör zu, Jonathan, du hast deinen Job verloren, weil du nachts nicht durch gefährliche Gegenden fahren wolltest. Okay, das versteh ich, aber du müßtest doch woanders etwas finden können!«

»Natürlich. Ich werde mir Arbeit suchen, laß mich nur erst auf andere Gedanken kommen. Ich verspreche dir, danach, sagen wir in einem Monat, stürze ich mich auf die Annoncen.«

Ein blondes Köpfchen schaute herein, alsbald gefolgt von einem Plüschtier auf Beinen, Nicolas und Ouarzazate.

»Papa, vorhin ist ein Mann gekommen, um ein Buch zu binden.«

»Ein Buch? Was für ein Buch?«

»Ich weiß nicht, er hat von einer großen Enzyklopädie geredet, die Onkel Edmond geschrieben hat.«

»Ach nein, sieh an . War er in der Wohnung? Habt ihr sie gefunden?«

»Nein, der sah nicht nett aus, und weil sowieso kein Buch da ist ...«

»Bravo, mein Sohn, das hast du gut gemacht.«

Jonathan war zunächst perplex ob dieser Kunde, dann wurde er stutzig. Er durchwühlte das ganze Untergeschoß. Vergeblich. Danach blieb er eine ganze Weile in der Küche und untersuchte die Kellertür, das große Schloß und den breiten Spalt. Welches Geheimnis verbarg sich dahinter?

Sie müssen in diesen Busch hinein.

Eine der alten Kundschafterinnen äußert einen Vorschlag. Sich zu einer »Schlange mit dickem Kopf« formieren, der beste Weg, auf ungastlichem Terrain vorzurücken. Sofortige Zustimmung, sie hatten alle die gleiche Idee.

Fünf in einem umgedrehten Dreieck angeordnete Aufklärerinnen bilden die Augen der Truppe. Mit kleinen, gemessenen Schritten tasten sie den Boden ab, beschnuppern den Himmel, inspizieren das Moos. Wenn alles in Ordnung ist, sondern sie eine olfaktorische Botschaft ab mit dem Inhalt: »Vorne nichts!«. Dann reihen sie sich am Ende des Zugs ein, um von »neuen« Individuen ersetzt zu werden. Dieses Rotationssystem verwandelt die Gruppe in eine Art langes Tier, dessen »Nase« stets hypersensibel bleibt.

Zwanzigmal kommt das »Vorne nichts!« klar und deutlich. Beim einundzwanzigsten Mal wird es von einem widerlichen falschen »Ton« unterbrochen. Eine der Aufklärerinnen hat sich unbesonnen einer fleischfressenden Pflanze genähert. Eine Dionaea. Ihr betörender Duft hat sie angelockt, ihr Leim hat die Beine der Ameise umschlossen.

Von da an ist alles verloren. Der Kontakt mit den Härchen löst den Mechanismus des organischen Scharniers aus. Die beiden breiten Blätter, durch Gelenke miteinander verbunden, schließen sich unerbittlich. Die langen »Fransen« dienen als Zähne. Sie verschränken sich und werden zu festen Stäben. Wenn das Opfer gänzlich platt gedrückt ist, sondert das pflanzliche Raubtier seine gefräßigsten Enzyme ab, die imstande sind, die härtesten Panzer zu verdauen.

Und so schmilzt die Ameise. Ihr ganzer Körper verwandelt sich in einen schäumenden Saft. Sie stößt einen Duft von Verzweiflung aus.

Aber man kann nichts mehr für sie tun. Das gehört zu den Unwägbarkeiten sämtlicher Expeditionen, die über weite Strecken führen. Es bleibt nur noch, die Umgebung der natürlichen Falle mit »Achtung, Gefahr« zu markieren.

Sie vergessen den Zwischenfall und machen sich wieder auf den von Duftstoffen gekennzeichneten Weg. Die Pistenpheromone zeigen die Richtung an. Nachdem sie das Gestrüpp durchquert haben, ziehen sie gen Westen weiter. Immer noch in einem Winkel von 23° zur Mittagssonne. Sie ruhen sich kaum aus, wenn es zu kalt oder zu warm wird. Sie müssen sich beeilen, wenn sie nicht mitten in einen Krieg zurückkehren wollen.

Es ist bereits vorgekommen, daß Kundschafterinnen bei ihrer Rückkehr feststellen müssen, daß ihre Stadt von feindlichen Truppen eingeschlossen ist. Und eine solche Blockade zu durchbrechen ist kein Kinderspiel.

Da ist es, sie haben das Pistenpheromon gefunden, das den Eingang der Höhle anzeigt. Wärme steigt aus dem Boden auf. Sie dringen in die Tiefen der steinigen Erde ein.

Je tiefer sie kommen, um so deutlicher nehmen sie das leise Plätschern einer Abflußrinne wahr. Das ist die warme Quelle. Sie dampft und verströmt einen starken Schwefelgeruch.

Die Ameisen löschen ihren Durst.

Kurz darauf entdecken sie ein komisches Tier: eine Kugel mit Beinen, könnte man glauben. In Wirklichkeit ist das ein Skarabäus, ein Pillendreher, der eine Kugel aus Kuhmist und Sand, in der seine Eier luftdicht gelagert sind, vor sich herschiebt. Wie der legendäre Atlas trägt er seine »Welt«. Wenn die Neigung des Geländes günstig ist, rollt die Kugel von allein, und er braucht ihr nur zu folgen. Wenn nicht, muß er sich abrackern, er rutscht aus und muß sie oft unten wieder holen. Erstaunlich, einen Skarabäus hier anzutreffen. Normalerweise hält der sich eher in wärmeren Zonen auf ...

Die Belokanerinnen lassen ihn ziehen. Sein Fleisch ist ohnehin nicht besonders schmackhaft, und sein Panzer ist zum Transport viel zu schwer.

Links von ihnen huscht eine schwarze Gestalt davon, um sich in einem Felsspalt zu verstecken. Ein Ohrwurm. Der allerdings, der ist lecker. Die älteste Kundschafterin reagiert am schnellsten. Sie klemmt ihren Hinterleib unter ihren Hals, begibt sich in Schußposition, indem sie sich auf die Hinterbeine stützt, zielt mit untrüglichem Gespür und feuert aus weiter Entfernung einen Tropfen Ameisensäure ab. Der ätzende, zu über vierzig Prozent konzentrierte Saft schießt durch den Raum.

Treffer.

Der Ohrwurm bricht in vollem Lauf, wie vom Blitz erschlagen, zusammen. Vierzigprozentige Säure, das ist kein Fruchtsaft. Die beißt schon bei vierzig Promille, bei vierzig Prozent verätzt sie alles! Das Insekt bleibt tot liegen, und alle stürzen herbei, um sein verbranntes Fleisch zu verschlingen. Die Herbstkundschafterinnen haben gute Pheromone hinterlassen. Die Ecke scheint reich an Wild. Die Jagd wird gut ausfallen.

Sie steigen in einen artesischen Brunnen hinab und terrorisieren alle möglichen Arten von bislang unbekannten unterirdischen Bewohnern. Eine Fledermaus versucht zwar, ihrer Visite ein Ende zu machen, aber sie vertreiben sie, indem sie sie in eine Wolke von Ameisensäure hüllen.

In den folgenden Tagen lassen sie nicht davon ab, die warme Höhle zu durchkämmen. Sie stapeln die Kadaver kleiner weißer Tiere und die Überreste hellgrüner Pilze. Mit ihrer analen Drüse streuen sie weitere Pheromone aus, die es ihren Schwestern ermöglichen werden, hier ungehindert zu jagen.

Die Mission ist gelungen. Das Territorium hat einen Arm bis hierher, über das Dickicht im Westen hinaus, ausgestreckt. Schwerbeladen mit Nahrungsmitteln, setzen sie, kurz bevor sie sich auf den Rückweg machen, die chemische Flagge der Föderation. Ihr Duft schwingt durch die Lüfte: »Bel-o-Kan!«

»Wie war der Name?«

»Wells, ich bin der Neffe von Edmond Wells.«

Die Tür geht auf, und es erscheint ein großer Kerl von fast zwei Metern. »Monsieur Jason Bragel ...? Entschuldigen Sie die Störung, aber ich würde gern mit Ihnen über meinen Onkel reden. Ich habe ihn nicht gekannt, und meine Großmutter hat mir erzählt. Sie seien sein bester Freund gewesen.«

»Treten Sie ein ... Was möchten Sie über Edmond wissen?«

»Alles. Ich habe ihn nicht gekannt, und ich bedaure es ...«

»Hm. Verstehe. Auf jeden Fall gehörte Edmond zu den Leuten, die ein lebendiges Geheimnis darstellen.«

»Kannten Sie ihn gut?«

»Wer kann schon behaupten, jemanden zu kennen? Sagen wir, daß unsere Körper oft Seite an Seite gingen und daß keiner von uns etwas dagegen hatte.«

»Wo sind Sie einander begegnet?«

»An der Universität, am Institut für Biologie. Ich habe mich mit Pflanzen herumgeplagt, er mit Bakterien.«

»Immerhin zwei ähnlich gelagerte Welten.«

»Ja, nur daß meine trotz allem wilder ist«, korrigierte ihn Jason Bragel und deutete auf das Wirrwarr von Pflanzen, das sich über das ganze Eßzimmer erstreckte. »Sehen Sie die? Die sind allesamt Kontrahenten, bereit, sich gegenseitig für einen Lichtstrahl oder einen Tropfen Wasser umzubringen. Kaum ist ein Blatt im Schatten, stößt die Pflanze es ab, und die benachbarten Blätter wachsen breiter. Die Pflanzen, das ist wirklich eine Welt ohne Erbarmen ...«

»Und Edmonds Bakterien?«

»Er selbst hat erklärt, daß er nur seine Vorfahren studiere. Sagen wir, daß er seinen Stammbaum etwas weiter zurückverfolgte als andere ...«

»Und weshalb Bakterien? Warum nicht Affen oder Fische?«

»Er wollte die Zelle in ihrem Urzustand verstehen. Da der Mensch nur ein Konglomerat von Zellen ist, meinte er die >Psychologie< einer Zelle von Grund auf verstehen zu müssen, um daraus das Funktionieren des Ganzen abzuleiten. >Ein großes, komplexes Problem ist in Wirklichkeit nur die Summe kleiner, einfacher Probleme.< Er hat diese Weisheit wörtlich genommen.«

»Hat er nur über Bakterien gearbeitet?«

»Nein, nein. Er war eine Art Mystiker, ein wahrer Generalist, am liebsten hätte er alles gewußt. Er hatte auch seine Schrullen ... Zum Beispiel wollte er seinen eigenen Herzschlag kontrollieren.«

»Das ist doch unmöglich!«

»Angeblich bringen einige hinduistische und tibetanische Yogis dieses Wunder zustande.«

»Und was hat man davon?«

»Keine Ahnung ... Er wollte dahin gelangen, um jederzeit Selbstmord begehen zu können, indem er nur mit seiner Willenskraft sein Herz anhalten würde. Auf diese Weise glaubte er in der Lage zu sein, das Spiel jederzeit abzubrechen.«

»Und zu welchem Zweck?«

»Vielleicht hatte er Angst vor den Schmerzen, die mit dem Alter einhergehen.«

»Hmm ... Und was hat er nach seiner Habilitation in Biologie gemacht?«

»Er hat in der Wirtschaft gearbeitet, in einer Firma, die lebende Bakterien für Joghurts herstellte. Die >Sweetmilk Corporations Das hat sich für ihn gelohnt. Er hat eine Bakterie entdeckt, die nicht nur einen Geschmack, sondern auch noch einen Geruch entwickelte! Er hat dafür den Preis für die beste Erfindung des Jahres 1963 erhalten ...«

»Und danach?«

»Danach hat er eine Chinesin geheiratet. Ling Mi. Ein sanftes, fröhliches Mädchen. Er, der Brummbär, ist auf der Stelle umgänglicher geworden. Er war sehr verliebt. Von da an habe ich ihn seltener gesehen. Das ist geradezu klassisch.«

»Ich habe gehört, er sei nach Afrika gegangen.«

»Ja, aber erst danach.«

»Wonach?«

»Nach dem Drama. Ling Mi hatte Leukämie. Blutkrebs, da war nichts zu machen. Innerhalb von drei Monaten hat sie der Tod ereilt. Der Ärmste ... Da hatte er nun bekundet, nur die Zellen seien spannend und die Menschen Nebensache ... Die Lektion war grausam. Und er hatte nichts dagegen tun können. Parallel zu diesem Desaster bekam er Streit mit seinen Kollegen in der > Sweetmilk Corporations Er hat die Arbeit aufgegeben und sich, schwer deprimiert, in seiner Wohnung eingeschlossen. Ling Mi hatte ihm den Glauben an die Menschheit wiedergeschenkt, und ihr Verlust ließ ihn endgültig in seine Misanthropie zurückfallen.«

»Ist er nach Afrika gegangen, um Ling Mi zu vergessen?«

»Vielleicht. Zumindest hat er gehofft, die Wunde werde vernarben, wenn er sich Hals über Kopf in seine Arbeit als Biologe stürzen würde. Er muß einen anderen, ebenso fesselnden Gegenstand gefunden haben. Ich weiß nicht genau, was das war, aber die Bakterien waren es nicht mehr. Wahrscheinlich hat er sich in Afrika niedergelassen, weil der Gegenstand dieser Arbeit dort leichter zu untersuchen war. Er hat mir eine Postkarte geschickt mit der Mitteilung, daß er dort unten mit einem Team des Nationalen Forschungszentrums sei und mit einem gewissen Professor Rosenfeld zusammenarbeite. Ich kenne diesen Herrn nicht.« »Haben Sie Edmond anschließend wiedergesehen?«

»Ja, einmal zufällig auf den Champs-Elysées. Wir haben ein wenig miteinander geplaudert. Er hatte offenkundig neuen Lebensmut geschöpft. Aber seine Antworten waren sehr vage, allen Fragen, die seinen Beruf betrafen, ist er geschickt ausgewichen.«

»Es heißt, er habe eine Enzyklopädie geschrieben.«

»Jaja, das wollte er schon immer. Das war sein großer Traum. All seine Kenntnisse in einem Werk vereinigen.«

»Haben Sie sie schon gesehen?«

»Nein. Und ich glaube auch nicht, daß er sie jemals irgendwem gezeigt hat. So wie ich Edmond kenne, hat er sie im entlegensten Winkel von Alaska mit einem feuerspeienden Drachen als Wächter versteckt. Er hatte so eine geheimnisvollskurrile Art.«

Jonathan wollte sich schon verabschieden.

»Ach, noch eine Frage: Wissen Sie, wie man vier gleichseitige Dreiecke mit sechs Streichhölzern legt?«

»Natürlich. Das war sein liebster Intelligenztest.«

»Und, wie ist die Lösung?«

Jason lachte laut auf.

»Nein, das verrate ich Ihnen bestimmt nicht! Wie sagte Edmond? >Jeder muß allein seinen Weg finden. < Und Sie werden sehen, die Befriedigung, wenn Sie es entdeckt haben, wird zehnmal so groß sein.«

Mit all diesem Fleisch auf dem Rücken kommt ihnen die Strecke länger vor als auf dem Hinweg. Die Truppe schreitet kräftig aus, um nicht von den Unwegbarkeiten der Nacht überrascht zu werden.

Ameisen sind in der Lage, von März bis November vierundzwanzig Stunden am Tag ohne die geringste Pause zu arbeiten; jeder Temperatursturz schläfert sie jedoch ein. Aus diesem Grund kommt es selten zu Expeditionen, die länger als einen Tag dauern.

Die Stadt der roten Ameisen hatte lange über dieses Problem nachgedacht. Man wußte, wie wichtig es war, die Jagdgebiete auszudehnen und ferne Länder kennenzulernen, in denen andere Pflanzen wuchsen und andere Tiere mit anderen Sitten lebten.

Im achthundertfünfzigsten Jahrtausend hatte Bi-stin-ga, eine rote Königin aus der Ga-Dynastie (eine Dynastie im Osten, die seit hunderttausend Jahren verschwunden war), den wahnwitzigen Plan verfolgt, die »äußersten Enden« der Welt kennenzulernen. Sie hatte Hunderte von Expeditionen in alle vier Himmelsrichtungen losgeschickt. Keine war je zurückgekehrt.

Die derzeitige Königin, Belo-kiu-kiuni, war nicht so ehrgeizig. Ihre Neugierde beschränkte sich auf die Entdeckung dieser kleinen goldfarbenen Käfer, die wie kostbare Steine aussahen (und die tief im Süden zu finden waren), oder auf die Betrachtung der fleischfressenden Pflanzen, die man ihr zuweilen lebendig, mit Wurzel, brachte und die sie eines Tages zu zähmen hoffte.

Belo-kiu-kiuni wußte, der beste Weg, neue Territorien kennenzulernen, bestand darin, die Föderation weiter zu vergrößern. Noch mehr Expeditionen in ferne Gegenden, noch mehr Tochterstädte, noch mehr Vorposten, und all denen, die sich diesem Vorrücken entgegenstemmen, den Krieg erklären.

Sicher, bis zur Eroberung des Randes der Welt war es noch ein langer Weg, aber diese Politik der kleinen, hartnäckigen Schritte stand im Einklang mit der allgemeinen Ameisenphilosophie: »Langsam, aber stetig voran.«.

Die Föderation von Bel-o-kan umfaßte mittlerweile vierundsechzig Tochterstädte. Vierundsechzig Städte mit dem gleichen Duft. Vierundsechzig Städte, die mit einem Netz von insgesamt einhundertfünfundzwanzig Kilometern gegrabener Pfade und siebenhundertachtzig Kilometern Geruchspisten verbunden waren. Vierundsechzig Städte, die in Schlachten und Hungersnöten zusammenhielten.

Das Konzept der Föderation ermöglichte es einigen Städten, sich zu spezialisieren. Und Belo-kiu-kiuni träumte sogar davon, daß eines Tages eine Stadt nur Getreide produzierte, eine andere den Rest mit Fleisch versorgte, eine dritte sich ausschließlich mit dem Krieg befaßte.

Noch war man nicht soweit.

Jedenfalls war das ein Konzept, das mit einem anderen Grundsatz der Ameisenphilosophie übereinstimmte: »Die Zukunft gehört den Spezialisten.«

Die Kundschafterinnen sind noch weit von den Vorposten entfernt. Sie beeilen sich. Als sie an der fleischfressenden Pflanze vorbeikommen, schlägt eine der Kriegerinnen vor, sie samt Wurzel auszurupfen, um sie Belo-kiu-kiuni mitzubringen.

Allgemeine Antennenberatung. Sie diskutieren, indem sie winzige Geruchsmoleküle senden und empfangen. Die Pheromone. In Wirklichkeit Hormone, die aus ihrem Körper austreten. Man könnte jedes dieser Moleküle visualisieren wie ein Goldfischglas, in dem jeder Fisch ein Wort wäre.

Dank dieser Pheromone sind die Ameisen einer Kommunikation fähig, deren Nuancen praktisch unendlich sind. Den nervösen Antennenbewegungen nach zu urteilen, scheint die Diskussion lebhaft zu sein.

Das ist zu hinderlich.

Mutter kennt diese Art von Pflanze nicht.

Wir riskieren Verluste, außerdem haben wir dann weniger Arme, um die Beute zu transportieren.

Wenn die fleischfressenden Pflanzen erst einmal gezähmt sind, werden sie hervorragende Waffen sein. Man könnte ganze Fronten halten, indem man sie einfach in einer Reihe anpflanzt.

Wir sind müde, und es wird bald Nacht.

Sie beschließen, davon abzusehen, krabbeln um die Pflanze herum und setzen ihren Weg fort. Als sich die Gruppe einer Wiese nähert, erblickt das Männchen Nr. 327, das sich am Ende des Zuges befindet, ein rotes Gänseblümchen. Ein solches Exemplar hat es noch nie gesehen. Da gibt es kein Zögern.

Auf die Dionaea haben wir verzichtet, aber das da nehmen wir mit.

Es läßt sich ein wenig zurückfallen und schneidet vorsichtig den Stengel der Blume durch. Klick! Es drückt seinen Fund an sich und läuft los, um seine Kolleginnen wieder einzuholen.

Nur diese Kolleginnen, die gibt es nicht mehr. Die Expedition Nr. 1 des neuen Jahres ist zwar noch vor ihm, aber in welchem Zustand ... Emotionaler Schock. Streß. Die Beine von Nr. 327 beginnen zu zittern. Sie hatten nicht einmal Zeit, sich in Gefechtsposition zu begeben, sie sind alle noch zu der »Schlange mit dickem Kopf« formiert.

Das Männchen mustert die Kadaver. Kein einziger Säurestrahl ist abgefeuert worden. Die Ameisen sind nicht einmal dazu gekommen, ihre Alarmpheromone auszustoßen.

Nr. 327 nimmt die Ermittlungen auf.

Es untersucht die Antennen des Kadavers einer Schwester. Olfaktorischer Kontakt. Keinerlei chemisches Bild ist aufgezeichnet. Sie zogen dahin, und plötzlich: Exitus.

Unbegreiflich, unbegreiflich. Und doch muß es eine Erklärung geben. Zunächst einmal die Rezeptoren reinigen. Mit Hilfe der beiden gebogenen Krallen seines Vorderbeins schabt Nr. 327 die Stengel auf seiner Stirn ab, entfernt den Säureschaum, der sich durch den Anflug von Streß gebildet hat. Es biegt sie zu seinem Mund und leckt sie ab. Wischt sie an dem kleinen bürstenartigen Sporn ab, den die Natur klugerweise über seinem dritten Ellbogen angebracht hat.

Danach senkt es seine Antennen auf Augenhöhe und bringt sie langsam, mit 300 Schwingungen pro Sekunde, in Bewegung. Nichts. Es erhöht die Frequenz: 500, 1000, 2000. 5000, 8000 Schwingungen pro Sekunde. Es ist bei zwei Dritteln seiner rezeptiven Fähigkeit angelangt.

Sogleich nimmt es die feinsten Gerüche wahr, die durch die Luft schweben: der Dunst des Taus, Pollen, Sporen sowie ein schwacher Duft, den es schon gerochen hat, den zu identifizieren jedoch schwerfällt.

Es beschleunigt weiter. Maximale Frequenz: 12 000 Schwingungen pro Sekunde. In ihrem Wirbel erzeugen seine Antennen einen Saugeffekt, der sämtliche Staubkörnchen anzieht.

Da, es hat diesen schwachen Duft identifiziert. Das ist der Geruch der Schuldigen. Ja, sie müssen es sein, die unerbittlichen Nachbarn im Norden, die ihnen schon letztes Jahr so viele Sorgen bereitet haben.

Sie: die Zwergameisen aus Shi-gae-pu.

Sie sind also auch schon wach. Sie müssen einen Hinterhalt gelegt und eine neue, unheimliche Waffe benutzt haben.

Das Männchen Nr. 327 darf keine Sekunde verlieren, es muß unverzüglich die ganze Föderation alarmieren.

»Sie sind alle von einem Laserstrahl mit sehr starker Amplitude getötet worden, Chef.«

»Von einem Laserstrahl?«

»Ja, eine neue Waffe, die unsere schwersten Raumschiffe aus großer Entfernung in nichts auflöst.«

»Und Sie denken, das waren ...«

»Ja. Chef, das können nur die Venusianer gewesen sein. Das trägt ihre Handschrift.«

»In diesem Fall werden wir Vergeltung üben. Wieviel Gefechtsraketen haben wir noch im Gürtel des Orion?«

»Vier, Chef.«

»Das wird nicht reichen. Wir müssen Hilfstruppen anfor...« »Willst du noch ein wenig Suppe?«

»Nein, danke«, sagte Nicolas, der wie gebannt auf den Bildschirm starrte.

»Jetzt schau mal auf deinen Teller, sonst wird der Fernseher ausgeschaltet!«

»Och, Mama! Bitte .«

»Hast du immer noch nicht die Nase voll von diesen kleinen grünen Männchen und diesen Planeten, die Namen haben wie Waschmittelmarken?« fragte Jonathan.

»Ich finde das spannend. Ich bin sicher, eines Tages begegnen wir außerirdischen Wesen.«

»Na ja ... Das ist doch ein alter Hut!«

»Die haben eine Sonde zu dem Stern geschickt, der der Erde am nächsten ist. Die heißt Marco Polo, die Sonde, und bald werden wir wissen, wer unsere Nachbarn sind.«

»Das wird genauso in die Hose gehen wie mit all den anderen Sonden, die man losgeschickt hat, um den Weltraum zu verschmutzen. Das ist zu weit, glaub’s mir.«

»Vielleicht, aber woher willst du wissen, daß die Außerirdischen nicht uns besuchen? Man hat längst nicht alle Rätsel um die Ufos geklärt.«

»Und wenn schon ... Was hätten wir davon, wenn wir anderen intelligenten Wesen begegneten? Eines Tages würden wir unweigerlich mit ihnen im Krieg liegen, und findest du nicht auch, daß wir schon genug Probleme unter uns Erdbewohnern haben?«

»Das wäre exotisch. Vielleicht hätten wir dann neue Gegenden, in die man in Urlaub fahren kann.«

»Wir hätten vor allem neue Sorgen.«

Er faßte Nicolas am Kinn. »Wenn du groß bist, mein Junge, wirst du auch so denken wie ich: Das einzig wirklich interessante Wesen, das einzige Wesen, dessen Intelligenz sich wirklich von unserer unterscheidet, das ist ... die Frau!«

Lucie protestierte der Form halber, dann stimmte sie in Jonathans Lachen ein. Nicolas verzog das Gesicht. Einen seltsamen Humor hatten die, diese Erwachsenen ... Seine Hand machte sich auf die Suche nach dem beruhigenden Fell des Hundes.

Unter dem Tisch war nichts.

»Wo ist denn Ouarzazate?«

Er war nicht im Eßzimmer.

»Ouarzi! Ouarzi!«

Nicolas pfiff durch die Finger. Gewöhnlich wirkte das sofort: als Antwort ein Bellen, dann ein Tapsen. Er pfiff erneut. Keine Antwort. Er stand auf und schaute in den zahlreichen Zimmern der Wohnung nach. Seine Eltern folgten ihm. Kein Hund zu sehen. Die Wohnungstür war abgeschlossen. Und aus eigener Kraft hatte er sich nicht davonstehlen können, noch wissen Hunde nicht, wie man mit einem Schlüssel umgeht.

Unwillkürlich gingen sie alle in die Küche, genauer gesagt: zu der Kellertür. Der Spalt war immer noch nicht abgedichtet. Und für ein Tier von Ouarzazates Größe war er gerade breit genug.

»Er ist da drin, ich bin sicher, er ist da drin!« wimmerte Nicolas. »Wir müssen ihn rausholen.«

Wie zur Antwort drang ein abgehacktes Kläffen aus dem Keller nach oben. Es schien von weit her zu kommen.

Sie gingen auf die verbotene Tür zu. Jonathan griff ein: »Papa hat dir gesagt, wir gehen nicht in den Keller!«

»Aber Schatz«, sagte Lucie. »wir müssen ihn doch holen. Vielleicht haben ihn die Ratten angefallen. Du hast gesagt, da unten seien Ratten ...«

Sein Gesicht wurde hart.

»Pech für den Hund. Wir kaufen morgen einen anderen.«

Der Junge war entsetzt.

»Aber Papa, ich will keinen anderen. Ouarzazate ist mein Freund, du kannst ihn doch nicht einfach so sterben lassen.«

»Was ist denn in dich gefahren?« fragte Lucie. »Laß mich gehen, wenn du Angst hast!«

»Hast du Angst. Papa, bist du feige?«

Jonathan beherrschte sich mühsam, er murmelte ein »Schon gut, ich guck nach« und holte eine Taschenlampe. Er leuchtete durch den Spalt. Es war schwarz dahinter, absolut schwarz, ein Schwarz, das alles verschluckte.

Er schauderte. Am liebsten wäre er davongerannt. Aber seine Frau und sein Sohn drängten ihn zu diesem Abgrund. Herbe Bilder schossen ihm durch den Kopf. Seine Angst vor der Dunkelheit gewann die Oberhand.

Nicolas brach in ein Schluchzen aus. »Er ist tot! Er ist ganz bestimmt tot! Und du bist schuld!«

»Vielleicht ist er nur verletzt«, beschwichtigte Lucie, »wir müssen schnell nachsehen.«

Jonathan dachte an Edmonds Botschaft. Der Ton war kategorisch. Nur, was sollte er tun? Eines Tages würde sowieso einer von ihnen schwach werden und hinuntersteigen. Er mußte den Stier bei den Hörnern packen. Jetzt oder nie. Er fuhr sich mit der Hand über seine schweißnasse Stirn.

Nein, so würde das nicht ablaufen. Endlich hatte er die Gelegenheit, seine Ängste zu überwinden, sich einen Ruck zu geben, sich der Gefahr zu stellen. Würde ihn die Dunkelheit verschlingen? Um so besser. Er war bereit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren.

»Ich gehe!«

Er holte sein Werkzeug und knackte das Schloß.

»Ganz gleich, was passiert, rührt euch nicht fort. Versucht auf keinen Fall, nachzukommen oder die Polizei zu rufen. Wartet auf mich!«

»Du redest so sonderbar. Das ist doch nur ein Keller, wie es in jedem Haus einen gibt.«

»Da bin ich mir nicht so sicher ...«

Angestrahlt von dem orangefarbenen Oval einer untergehenden Sonne läuft das Männchen Nr. 327, einziger Überlebender der ersten Jagdexpedition des Frühjahrs, allein weiter. Unerträglich allein.

Seit einer Weile schon waten seine Beine durch Pfützen. Schlamm und schimmelige Blätter. Der Wind hat all seine Lippen ausgetrocknet. Staub hat seinen Körper in einen bernsteinfarbenen Mantel gehüllt. Es spürt seine Muskeln nicht mehr. Einige seiner Krallen sind abgebrochen.

Aber am Ende der olfaktorischen Bahn, über die es zieht, erkennt es allmählich sein Ziel. Unter den Anhöhen, welche die belokanischen Städte bilden, ist eine, die mit jedem seiner Schritte größer wird, die riesige Pyramide von Bel-o-kan, die Mutterstadt, der duftende Leuchtturm, der es in seinen Bann schlägt und anzieht.

Endlich kommt Nr. 327 am Fuße dieses imposanten Ameisenhügels an, hebt den Kopf. Seine Stadt ist noch größer geworden. Man hat mit der Konstruktion einer neuen Schutzschicht begonnen. Der Gipfel des Berges aus Zweigen kitzelt den Mond.

Das junge Männchen läuft einen Augenblick suchend umher, dann findet es dicht über dem Boden einen noch offenen Eingang und zwängt sich hinein.

Es war höchste Zeit. Sämtliche Arbeiterinnen und Soldatinnen, die draußen gearbeitet hatten, sind bereits zurück. Die Wärterinnen wollten schon die Ausgänge verstopfen, um die Wärme im Innern zu bewahren. Kaum hat es die Schwelle überschritten, machen sich die Maurerinnen an die Arbeit, und das Loch hinter ihm ist im Nu verschlossen. Fast wie eine Tür, die zuschlägt.

Von der barbarischen und kalten Außenwelt ist nichts mehr zu sehen. Das Männchen Nr. 327 ist wieder in den Schoß der Zivilisation zurückgekehrt. Es kann wieder mit der beruhigenden Menge verschmelzen. Es ist nicht mehr allein, es ist zahlreich.

Schildwachen kommen auf das Männchen zu. Sie haben es unter seinem Staubfilm nicht erkannt. Schnell stößt es seine Identifizierungsdüfte aus, die Posten sind beruhigt.

Eine Arbeiterin bemerkt seine Müdigkeitsgerüche. Sie schlägt ihm eine Trophallaxie vor, diese rituelle Nahrungsübermittlung aus ihrem Körper.

Jede Ameise besitzt in ihrem Hinterleib eine Art Tasche, in Wirklichkeit ein zweiter Magen, in dem die Nahrung nicht verdaut wird. Der Sozialkropf. Dort kann sie Vorräte anlegen, die unbegrenzt frisch und einwandfrei bleiben und die sie jederzeit in ihren »normalen« Magen zurückbefördern kann. Oder sie würgt sie wieder hoch, um sie einer Artgenossin anzubieten.

Die Gesten sind stets die gleichen. Die Spenderin spricht das Objekt ihres Trophallaxiewunsches an, indem sie gegen dessen Kopf klopft. Wenn jenes einverstanden ist, senkt es die Antennen. Reckt es sie ganz nach oben, bedeutet das Ablehnung, es hat keinen Hunger.

Das Männchen Nr. 327 zögert nicht. Seine Energiereserven sind so sehr erschöpft, daß es kurz davor steht, in Katalepsie zu fallen. Sie pressen ihre Münder aufeinander. Die Nahrung steigt hoch. Die Spenderin befördert zunächst Speichel, dann Honigtau und einen Getreidebrei in seinen Mund. Das schmeckt gut und ist sehr stärkend.

Die Gabe geht zu Ende. Sogleich löst sich Nr. 327. Ihm fällt alles wieder ein. Die Toten. Der Hinterhalt. Keine Sekunde zu verlieren. Er hebt seine Antennen und versprüht die Information in kleinen Tröpfchen in die Runde.

Alarm. Es ist Krieg. Die Zwerginnen haben unsere erste Expedition vernichtet. Sie haben eine neue Waffe von verheerender Wirkung. Klarmachen zum Kampf. Der Krieg ist ausgebrochen.

Die Schildwache weicht zurück. Diese Alarmierungsdüfte reizen ihr Hirn. Schon umringt eine Schar von Ameisen das Männchen Nr. 327.

Was ist los?

Was geht vor?

Er sagt, der Krieg sei ausgebrochen.

Hat er Beweise?

Von überall strömen Ameisen herbei.

Er spricht von einer neuen Waffe und einer dezimierten Expedition.

Das ist schwerwiegend.

Hat er Beweise?

Nr. 327 befindet sich jetzt inmitten eines ganzen Klumpens von Ameisen.

Alarm, Alarm, der Krieg ist ausgebrochen, klarmachen zum Kampf!

Hat er Beweise?

Diese Frage wird von allen gestellt.

Nein, er hat keine Beweise. Er war dermaßen entsetzt gewesen, daß er nicht daran gedacht hatte, welche mitzubringen. Antennen rühren sich. Zweifelnde Kopfbewegungen.

Wo ist das passiert?

Westlich von La-chola-kan, zwischen dem neuen Jagdgebiet, das unsere Kundschafterinnen entdeckt haben, und unseren Städten. Eine Gegend, durch die die Zwerginnen häufig streifen.

Das ist unmöglich, unsere Spioninnen sind zurück. Sie berichten ausdrücklich: Die Zwerginnen sind noch nicht aufgewacht!

Eine anonyme Antenne hat diesen Pheromonensatz von sich gegeben. Die Menge zerstreut sich. Ihr, ihr glaubt man. Ihm glaubt man nicht. Obwohl einiges davon wahr klingt, ist sein Bericht zu unwahrscheinlich. Die Frühjahrskriege beginnen niemals so früh. Die Zwerginnen wären verrückt, jetzt anzugreifen, wo sie nicht einmal alle aufgewacht sind. Jeder macht sich wieder an seine Arbeit, ohne sich über die Botschaft des Männchens Nr. 327 Gedanken zu machen.

Der einzige Überlebende der ersten Jagdexpedition ist wie vor den Kopf geschlagen. Diese Toten, meine Güte, die hat er doch nicht erfunden! Irgendwann werden sie merken, daß Mitglieder innerhalb der Kaste fehlen.

Seine Antennen sinken schlaff auf seine Stirn zurück. Das Männchen hat das erniedrigende Gefühl, daß seine Existenz überflüssig ist. Als lebe es nicht mehr für die anderen, sondern nur noch für sich selbst.

Bei dieser Vorstellung erschaudert er vor Entsetzen. Stürmt los, läuft fieberhaft umher, macht die Arbeiterinnen auf sich aufmerksam und nimmt sie zu Zeugen. Doch man zögert sogar, stehenzubleiben, als er die heilige Formel aufsagt:

Als Kundschafter war ich Bein

Am Ort war ich Auge

Wieder zurück, bin ich nervlicher Stimulus.

Niemand schert sich darum. Man hört hin, ohne ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Dann geht man weiter, ohne sich verrückt zu machen. Soll er doch aufhören zu stimulieren!

Jonathan war jetzt schon vier Stunden in dem Keller. Seine Frau und sein Sohn schwitzten Blut und Wasser.

»Mama, sollen wir die Polizei rufen?«

»Nein, noch nicht.« Sie ging auf die Kellertür zu.

»Ist Papa tot? Sag schon. Mama, ist Papa genauso gestorben wie Ouarzi?«

»Aber nein, aber nein, mein Schatz, was erzählst du denn für einen Unsinn!«

Lucie verzehrte sich vor Angst. Sie beugte sich vor, um den Spalt zu untersuchen. Ihr war, als könnte sie im Licht der starken Halogenlampe, die sie gekauft hatte, ein Stück weiter etwas erkennen ... Eine Wendeltreppe.

Sie setzte sich auf den Boden. Nicolas gesellte sich zu ihr. Sie umarmte ihn.

»Er kommt schon zurück, wir müssen nur Geduld haben. Er hat gesagt, wir sollen warten, also warten wir.«

»Und wenn er gar nicht mehr kommt?«

Nr. 327 ist müde. Er hat den Eindruck, als kämpfe er im Wasser. Man bewegt sich, aber man kommt nicht voran.

Er beschließt, sich an Belo-kiu-kiuni persönlich zu wenden. Mit ihren vierzehn Wintern (die geschlechtslosen Ameisen, die den Großteil der Bevölkerung bilden, leben höchstens drei Jahre) verfügt die Königin über eine unvergleichliche Erfahrung. Sie allein kann ihm helfen, die Botschaft unter das Volk zu bringen.

Das junge Männchen nimmt die Hauptstraße, die ins Zentrum der Stadt führt.

Einige Tausend von Eiern beladene Arbeiterinnen trotten durch diesen breiten Gang. Sie tragen ihre Last vom vierzigsten Untergeschoß in die Krippen des Solariums, die im fünfunddreißigsten Stock oberhalb der Erde angesiedelt sind. Das ist eine breite Flut von weißen, auf den Fußspitzen getragenen Schalen, die von oben bis unten und von rechts nach links reicht.

Er muß rückwärts gehen. Nicht einfach. Nr. 327 rempelt einige Ammen an, die ihn sogleich einen Wandalen schimpfen. Er wird selbst gestoßen, getreten, zurückgeschoben, zerkratzt. Zum Glück ist der Gang nicht völlig verstopft. Es gelingt ihm, sich einen Weg durch die wimmelnde Masse zu bahnen.

Danach zweigt er in die kleinen Tunnel ab, eine Strecke, die zwar länger, aber wenig mühselig ist. Er trottet rasch voran. Er wechselt von den Hauptverkehrsadern in die Arteriolen über, von den Arteriolen in die Venen und von den Venen in die kleinsten Äderchen. So legt er Kilometer um Kilometer zurück, überquert Brücken, Brückenbögen, leere und überfüllte Plätze.

Dank seiner drei Infrarot-Ozellen orientiert er sich mühelos in der Dunkelheit. Je mehr er sich der Verbotenen Stadt nähert, um so stärker wird der süßliche Geruch der Königin, und die Anzahl der Wachen nimmt zu.

Sie stammen aus allen möglichen Unterkasten der Kriegerinnen. Kriegerinnen unterschiedlichster Größe, mit allen möglichen Waffen: kleine mit langen, geschliffenen Mandibeln, kräftige mit stahlharten Brustpanzern, gedrungene mit kurzen Antennen, Artilleristinnen, deren Hinterleiber vor Gift fast platzen.

Das Männchen Nr. 327 verfügt über einen gültigen »Paß«, sprich die richtigen Düfte, und passiert ohne Schwierigkeiten die Kontrollposten. Die Soldatinnen sind gelassen. Man spürt, daß die großen Territorialkriege noch nicht begonnen haben.

Inzwischen schon ganz nah an seinem Ziel, weist sich Nr. 327 bei den Pförtnerinnen aus, dann biegt er in den letzten Gang ein, der zum königlichen Gemach führt.

Auf der Schwelle bleibt er stehen, überwältigt von der Schönheit dieses einzigartigen Ortes. Das ist ein großer, kreisrunder Saal, der nach den architektonischen und geometrischen Regeln gebaut worden ist, die die Königinnen ihren Töchtern von Antenne zu Antenne übermitteln.

Das Hauptgewölbe ist zwölf Kopf hoch bei einem Durchmesser von sechsunddreißig Kopf (der Kopf ist das Längenmaß der Förderation; ein Kopf entspricht drei Millimetern nach der gängigen menschlichen Bezeichnung). Pilaster aus seltenem Zement stützen diesen Insektentempel, der mit der konkaven Form seines Bodens so konstruiert ist, daß die von den einzelnen Wesen freigesetzten Geruchsmoleküle so lange wie möglich abprallen, ohne in die Wände einzudringen. Das Ganze ist ein bemerkenswertes olfaktorisches Amphitheater.

In der Mitte ruht eine schwere Dame. Sie liegt auf dem Bauch und streckt von Zeit zu Zeit ein Bein nach einer gelben Blume aus. Manchmal schnappt die Blume unfreundlich zu. Aber das Bein ist schon wieder fort.

Diese Dame ist Belo-kiu-kiuni.

Belo-kiu-kiuni, die letzte rote Ameisenkönigin der Hauptstadt.

Belo-kiu-kiuni, die bereits während des großen Krieges mit den Bienen regierte, während die Eroberung der Termitenhügel im Süden, während der Befriedung der Spinnenterritorien, während des schrecklichen Zermürbungskrieges, der ihnen von den Eichenwespen auf gezwungen wurde. Und seit dem letzten Jahr koordiniert sie die Bemühungen der Städte, dem Druck der Zwergenameisen an der Nordgrenze zu widerstehen.

Belo-kiu-kiuni, die sämtliche Rekorde an Langlebigkeit schlägt.

Belo-kiu-kiuni, seine Mutter.

Dieses lebende Denkmal liegt da, ganz nah vor ihm, wie früher. Nur daß sie jetzt von rund zwanzig jungen Dienerinnen angefeuchtet und gestreichelt wird, während sie sich einst von seinen kleinen, noch ungeschickten Beinen hat pflegen lassen.

Die junge fleischfressende Pflanze klappert mit den Kiefern, und die Königin stößt eine schwach duftende Klage aus. Niemand weiß, woher ihre Leidenschaft für die pflanzlichen Raubtiere kommt.

Nr. 327 tritt näher. Aus der Nähe betrachtet, ist die Königin nicht besonders schön. Ihr länglicher Schnabel ist mit zwei großen, hervortretenden Augen versehen, die in alle Richtungen auf einmal zu schauen scheinen. Ihre Infrarot-Ozellen liegen eng beieinander mitten auf der Stirn. Ihre Antennen hingegen sitzen übertrieben weit auseinander. Sie sind sehr lang, sehr leicht und vibrieren in kurzen Stößen, die vermutlich bestens kontrolliert sind.

Seit einigen Tagen ist Belo-kiu-kiuni aus dem großen Schlaf erwacht, und seitdem hat sie nicht aufgehört. Eier zu legen. Ihr Hinterleib, zehnmal größer als üblich, wird regelmäßig von Zuckungen erschüttert. Im gleichen Augenblick legt sie acht magere, hellgraue, wie Perlmutt schimmernde Eier, die neuste Generation von Belokanerinnen. Die kreisrunde und klebrige Zukunft entweicht ihren Gedärmen, um durch das Zimmer zu kullern und sogleich von den Ammen aufgelesen zu werden.

Das junge Männchen erkennt den Geruch dieser Eier. Das sind unfruchtbare Soldatinnen und Männchen. Es ist noch kalt, und die Drüse, die die »Mädchen« erzeugt, ist noch nicht aktiv. Sobald es das Wetter zuläßt, wird die Königin für jede Kaste legen, ganz nach den Bedürfnissen der Stadt. Arbeiterinnen werden ihr sagen, daß »Getreidebrecherinnen und Artilleristin-nen fehlen«, und sie wird wunschgemäß liefern. Es kommt auch vor, daß Belo-kiu-kiuni ihre Loge verläßt und den Geruch der Gänge aufnimmt. Ihre Antennen sind fein genug, um das geringste Defizit in dieser oder jener Kaste zu registrieren. Dann füllt sie umgehend das Personal auf.

Die Königin legt noch fünf kümmerliche Einheiten, dann wendet sie sich ihrem Besucher zu. Sie berührt ihn und beleckt ihn. Der Kontakt mit dem königlichen Speichel ist stets ein außergewöhnlicher Moment. Dieser Speichel ist nicht nur allgemein desinfizierend, sondern auch ein wahres Wundermittel, das alle Wunden heilt, ausgenommen die im Innern des Kopfes.

Wenn Belo-kiu-kiuni auch nicht imstande ist, ein einziges ihrer unzähligen Kleinen persönlich wiederzuerkennen, zeigt sie doch durch diesen Speichel, daß sie ihre Düfte identifiziert hat. Es ist ihr Kind.

Der Antennendialog kann beginnen.

Willkommen im Schoß des Volkes. Du hast mich verlassen, aber du kannst nicht umhin, zurückzukehren. Der rituelle Satz einer Königin zu ihren Kindern. Kaum hat sie ihn übermittelt, nimmt sie mit einer Gelassenheit, die dem jungen Männchen imponiert, die Pheromone der elf Segmente auf ... Sie hat den Grund seines Kommens bereits erfaßt ... Die erste Expedition in den Westen ist vollständig aufgerieben worden. In der Umgebung schwebte der Geruch der Zwergameisen. Wahrscheinlich haben sie eine Geheimwaffe entdeckt.

Als Kundschafter war er Bein

Am Ort war er Auge

Wieder zurück, war er nervlicher Stimulus.

Sicher. Nur, das Problem ist, daß es ihm nicht gelingt, die Bevölkerung zu stimulieren. Seine Düfte überzeugen niemanden. Er ist der Ansicht, daß allein sie, Belo-kiu-kiuni, weiß, wie man die Botschaft durchsetzt und Alarm schlägt.

Die Königin empfängt seine Pheromone mit gesteigerter Aufmerksamkeit. Sie erfaßt die geringsten, noch so flüchtigen Moleküle an seinen Gelenken und Beinen. Ja, da sind Spuren von Tod und von Geheimnis. Das könnte der Krieg sein ... Das könnte aber auch sehr gut etwas ganz anderes sein.

Sie erklärt ihm, daß sie, wie dem auch sei, keinerlei politische Macht habe. In der Stadt werden sämtliche Beschlüsse durch ständige Absprache gefaßt, und zwar durch die Bildung von Arbeitsgruppen, die auf frei gewählte Projekte ausgerichtet sind. Wenn das Männchen nicht in der Lage ist, eines dieser nervlichen Zentren zu erzeugen, kurz: eine Gruppe aufzustellen, wird ihm ihre Erfahrung nichts nutzen.

Sie kann ihm nicht einmal helfen.

Das Männchen Nr. 327 bleibt hartnäckig. Endlich hat er eine Gesprächspartnerin, die bereit scheint, bis zum Ende zuzuhören. Also stößt er mit aller Macht seine verführerischsten Moleküle aus. Seiner Meinung nach sollte diese Katastrophe die vorrangige Sorge sein. Man muß unverzüglich Spioninnen losschicken, um zu erfahren, was für eine Waffe das ist.

Belo-kiu-kiuni antwortet, daß das Volk vor lauter »vorrangigen Sorgen« fast zusammenbricht. Nicht nur, daß längst nicht alle Ameisen erweckt worden sind, auch das Dach der Stadt ist noch eine einzige Baustelle. Und solange die letzte Schicht von Zweigen nicht angebracht ist, wäre es tollkühn, in den Krieg zu ziehen. Schließlich darf man auch nicht vergessen, das Fest der Wiedergeburt vorzubereiten. All das erfordert ungeheure Energien. Selbst die Spioninnen sind überlastet. Das ist auch der Grund, weshalb seine Botschaft nicht gehört wurde.

Pause. Man hört nur die Lippen der Arbeiterinnen, die den Panzer der Königin lecken, die ihrerseits wieder begonnen hat, mit ihrer fleischfressenden Pflanze zu spielen. Sie windet sich, bis ihr Hinterleib unter ihrem Thorax liegt und ihre Vorderbeine baumeln. Sie zieht ihr Bein rasch zurück, wenn sich die pflanzlichen Kiefer schließen, dann nimmt sie Nr. 327 zum Zeugen, welch gewaltige Waffe das sein könnte.

Man könnte eine Mauer aus fleischfressenden Pflanzen errichten, um die gesamte Nordwestgrenze zu schützen. Das einzige Problem ist, daß diese kleinen Monster keinen Unterschied machen zwischen den Bewohnern der Stadt und den Fremden ...

Nr. 327 kommt auf das Thema zurück, von dem er besessen ist. Belo-kiu-kiuni fragt, wieviel Tote es bei dem »Unfall« gegeben habe. Achtundzwanzig. Alle aus der Unterkaste der Kundschafterinnen? Kein Zweifel, Nr. 327 war das einzige Männchen der Expedition. Daraufhin konzentriert sie sich und legt nacheinander achtundzwanzig Perlen.

Achtundzwanzig Ameisen sind gestorben, diese achtundzwanzig Eier werden sie ersetzen.


eines tages, unweigerlich: Eines Tages werden sich unweigerlich Finger auf diese Seiten legen. Augen werden diese Worte aufsaugen, Gehirne ihren Sinn interpretieren.

Ich will nicht, daß dieser Augenblick zu früh kommt. Die Folgen könnten fürchterlich sein. Und zu dieser Stunde, da ich diese Sätze schreibe, kämpfe ich noch, um mein Geheimnis zu wahren.

Dennoch wird man eines Tages erfahren müssen, was geschehen ist. Selbst die am tiefsten vergrabenen Geheimnisse steigen zu guter Letzt zur Oberfläche des Sees auf. Die Zeit ist ihr ärgster Feind.

Wer immer Sie sind, als erstes grüße ich Sie. Zu dem Zeitpunkt, da Sie dies lesen, bin ich wahrscheinlich schon seit zehn oder vielleicht sogar hundert Jahren tot. Zumindest hoffe ich es.

Manchmal bedauere ich, daß ich zu diesem Wissen vorgedrungen bin. Aber ich bin ein menschliches Wesen, und selbst wenn meine Verbundenheit mit meinen Artgenossen zur Zeit auf ihrem tiefsten Punkt angelangt ist, weiß ich doch um die Pflichten, die mir der schlichte Umstand auferlegt, daß ich eines Tages unter Euch, Menschen dieses Universums, geboren wurde.

Ich muß meine Geschichte weitergeben.

All diese Geschichten ähneln sich, wenn man sie ein wenig genauer betrachtet. Am Anfang gibt es ein Subjekt »im Werden«, das schläft. Es erlebt eine Krise. Diese Krise zwingt es, zu reagieren. Seinem Verhalten gemäß wird es sterben oder sich entwickeln.

Die erste Geschichte, die ich Ihnen erzählen werde, ist die Geschichte unseres Universums. Weil wir darin leben. Und weil sämtliche Dinge, ob groß oder klein, den gleichen Gesetzen folgen und die gleichen Bezeichnungen wechselseitiger Abhängigkeit kennen.

Wenn Sie zum Beispiel diese Seite umblättern, reiben Sie an einer Stelle Ihren Zeigefinger am Zellstoff des Papiers. Bei dieser Berührung entsteht eine verschwindend geringe Erwärmung. Dennoch ist diese Erwärmung durchaus real. Im Bereich des unendlich Kleinen bewirkt sie dadurch den Sprung eines Elektrons, das sein Atom verläßt und gegen ein anderes Teilchen prallt.

Aber tatsächlich ist dieses Teilchen, in Relation zu sich selbst, sehr groß. So daß der Aufprall des Elektrons für dieses Teilchen eine regelrechte Erschütterung bedeutet. Vorher war es träge, leer, kalt. Wegen dieses Umblätterns gerät es in eine Krise. Gigantische Funken stieben an ihm empor. Durch diese schlichte Bewegung haben Sie etwas ausgelöst, dessen Folgen Sie niemals vollständig kennen werden. Vielleicht entstehen dabei ganze Welten mit Wesen darauf, und diese Wesen werden die Metallurgie, die provenzalische Küche und die Raumfahrt entdecken. Vielleicht erweisen sie sich sogar als intelligenter als wir. Und sie hätten niemals existiert, wenn Sie nicht dieses Buch in die Hand genommen hätten und Ihr Finger nicht eine Erwärmung an ebendieser Stelle des Papiers bewirkt hätte.

Ebenso findet unser Universum sicher seinen Platz auf der Ecke einer Buchseite, einer Schuhsohle oder dem Schaum einer Bierflasche einer anderen riesigen Zivilisation.

Unsere Generation wird wahrscheinlich niemals die Möglichkeit haben, dies zu bestätigen. Aber so viel wissen wir: daß unser Universum oder zumindest das Teilchen, das unser Universum enthält, vor langer Zeit leer, kalt, schwarz, träge war.

Bis irgend jemand oder irgend etwas die Krise ausgelöst hat. Man hat eine Seite umgeblättert, ist auf einen Stein getreten, hat den Schaum einer Bierflasche abgestrichen. Fest steht, daß es einen Schock gegeben hat. Unser Teilchen ist aufgewacht. Bei uns, das weiß man, war das eine gewaltige Explosion. Man hat sie Urknall genannt.

Jede Sekunde vielleicht entsteht im unendlich Großen, im unendlich Kleinen, im unendlich Weiten ein neues Universum, so wie unser Universum vor über fünfzehn Milliarden Jahren entstanden ist. Wir kennen diese anderen Universell nicht.

Aber von unserem wissen wir, daß alles mit der Explosion des »kleinsten« und »einfachsten« Atoms angefangen hat: des Wasserstoffs.

Stellen Sie sich also diesen weiten, stillen Raum vor, der plötzlich von einer gewaltigen Explosion geweckt wird. Weshalb hat man da oben die Seite umgeblättert? Weshalb hat man den Schaum des Bieres weggewischt? Unwichtig. Sicher ist, der Wasserstoff brennt, explodiert, knallt. Ein ungeheures Licht zerschrammt den makellosen Raum. Krise. Krise.

Die reglosen Dinge geraten in Bewegung. Die kalten Dinge werden warm. Die stillen Dinge dröhnen.

In der Feuersglut, die am Anfang steht, verwandelt sich der Wasserstoff in Helium, ein nur unwesentlich komplexeres Atom. Aber schon aus dieser Umwandlung kann man die erste große Spielregel unseres Universums ableiten: immer komplexer.

Diese Regel erscheint evident. Aber nichts beweist, daß das in unseren Nachbaruniversen nicht anders ist. Woanders heißt es vielleicht »IMMER wärmer« oder »immer härter« oder »immer komischer«.

Auch bei uns werden die Dinge wärmer oder härter oder komischer, aber das ist nicht das Gesetz, das am Anfang steht.

Das sind nur Begleiterscheinungen. Unser Grundgesetz, um das sich alle anderen Gesetze ranken, lautet: »IMMER KOMPLExER«.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Nr. 327 irrt durch die südlichen Gänge der Stadt. Er ist nicht beruhigt. Er kommt nicht von dem berühmten Satz los:

Als Kundschafter war er Bein,

Am Ort war er Auge,

Wieder zurück, ist er nervlicher Stimulus.

Warum klappt das nicht? Wo ist der Fehler? Sein Körper brodelt ob dieser unbeachteten Botschaft. Das Männchen ist der Meinung, daß das Volk verletzt wurde und es nicht einmal bemerkt hat. Nun, der Schmerzstimulus ist niemand anders als er selbst, Nr. 327. Es ist also seine Aufgabe, die Stadt zu einer Reaktion zu bewegen.

Ah, wie ist das doch schwer, eine Leidensbotschaft zu tragen, sie in sich zu behalten, ohne eine Antenne zu finden, die sie empfangen möchte. Er würde sich so gern von diesem Gewicht befreien, dieses furchtbare Wissen mit anderen teilen.

Eine Wärmebotschafterin begegnet ihm. Sie spürt seine Niedergeschlagenheit, glaubt, er sei schlecht aufgewacht, und bietet ihm ihre Sonnenkalorien an. Das verleiht ihm wieder ein wenig Kraft, die er sofort zu dem Versuch nutzt, sie zu überzeugen.

Alarm, eine Expedition ist in einem Hinterhalt, den die Zwerginnen gelegt haben, vernichtet worden, Alarm!

Aber das klingt nicht mehr so überzeugend wie am Anfang. Die Wärmebotschafterin geht weiter, als ob nichts wäre. Nr. 327 gibt nicht auf. Er läuft durch die Gänge und verbreitet seine Alarmbotschaft.

Zuweilen bleiben einige Kriegerinnen stehen, hören ihm zu, treten sogar mit ihm in einen Dialog, aber seine Geschichte von der verheerenden Waffe ist zu unglaubwürdig. Es bildet sich keine Gruppe, die fähig wäre, eine militärische Mission zu übernehmen.

Bedrückt geht Nr. 327 weiter.

Plötzlich, er läuft gerade durch einen verlassenen Tunnel im vierten Untergeschoß, registriert er hinter sich ein Geräusch. Jemand folgt ihm.

Nr. 327 dreht sich um. Er inspiziert mit seinen Infrarot-Ozellen den Gang. Rote und schwarze Punkte. Niemand da. Seltsam. Er muß sich geirrt haben. Aber wieder ertönt hinter ihm das Geräusch von Schritten. Skritsch ... tssss, skritsch ... tssss. Das muß jemand sein, der auf zweien seiner sechs Beine hinkt. Und der näher kommt.

Um sich Gewißheit zu verschaffen, biegt er bei jeder Kreuzung ab, dann bleibt er einen Moment stehen. Das Geräusch verstummt. Kaum geht das Männchen weiter, ist es wieder da: Skritsch . tss, skritsch, tss, skritsch . tss.

Kein Zweifel: jemand folgt ihm.

Jemand, der sich versteckt, wenn es sich umdreht. Ein sonderbares Verhalten, völlig abwegig. Warum sollte eine Zelle des Volkes einer anderen nachschleichen, ohne sich auszuweisen? Hier gehört jeder zu jedem und hat vor niemandem etwas zu verbergen.

Die seltsame »Gegenwart« dauert indes an. Immer auf Distanz, immer versteckt. Skritsch ... tss, skritsch ... tss. Wie soll er reagieren? Als er noch eine Larve war, haben ihn die Ammen gelehrt, sich der Gefahr stets zu stellen. Er bleibt stehen und tut so, als würde er sich säubern. Die Gegenwart ist nicht mehr weit. Er spürt sie beinahe. Während er seinen Säuberungsvorgang mimt, bewegt er seine Antennen. Da, er nimmt die Geruchsmoleküle des Verfolgers wahr. Eine kleine Kriegerin, ein Jahr alt. Sie verströmt einen eigenartigen Duft, der die üblichen Identifizierungsmerkmale überlagert. Nicht leicht zu definieren. Ein Felsengeruch, könnte man meinen.

Die Kriegerin versteckt sich nicht mehr. Skritsch ... tssss ... Jetzt sieht er sie in Infrarot. Sie hat tatsächlich zwei Beine verloren. Ihr Felsengeruch wird stärker.

Nr. 327 sendet.

Wer da?

Keine Antwort.

Warum folgen Sie mir?

Keine Antwort.

Er will den Vorfall vergessen und macht sich wieder auf den Weg, aber bald registriert er eine zweite Gegenwart, die ihm entgegenkommt. Eine schwere Kriegerin diesmal. Der Gang ist schmal, er wird nicht vorbeischlüpfen können.

Umkehren? Das hieße, sich mit der Hinkenden anzulegen, die überdies hastig näher kommt.

Nr. 327 ist eingekeilt.

Jetzt ist es deutlich zu spüren: das sind zwei Kriegerinnen. Und sie haben den gleichen Felsengeruch. Die Große öffnet ihre langen Scheren.

Eine Falle! Es ist undenkbar, daß eine Ameise der Stadt eine andere töten will. Sollte das eine Störung des Immunsystems sein? Haben sie seine Identifizierungsdüfte nicht erkannt? Halten sie ihn für einen Fremdkörper? Das ist doch verrückt, das ist, als wollte sein Magen seinen Darm umbringen ...

Nr. 327 erhöht die Stärke seines Ausstoßes:

Ich bin wie ihr eine Zelle des Volkes. Wir gehören zum gleichen Organismus.

Das sind junge Soldatinnen, sie müssen sich irren. Aber seine Äußerungen beschwichtigen die beiden keineswegs. Die kleine Hinkende springt ihm auf den Rücken und packt ihn an den Flügeln, während die Große seinen Kopf zwischen ihre Mandibeln nimmt. Und so schleifen sie das Männchen in Richtung Deponie.

Nr. 327 wehrt sich. Mit seinem Segment für sexuelle Dialoge stößt er alle möglichen Emotionen aus, die die Geschlechtslosen nicht einmal kennen. Sein Unverständnis weicht der Panik.

Um nicht von diesen »abstrakten« Gedanken besudelt zu werden, schabt ihm die Hinkende, die immer noch auf seinem Rücken sitzt, mit ihren Mandibeln die Antennen ab. Dadurch beraubt sie ihn aller Pheromone und vor allem seines »Passes«. Dort, wo sie es hinbringen, wird er ihm ohnehin nicht mehr viel nutzen ...

Das unheimliche Trio schleppt sich durch die einsamsten Gänge. Die kleine Hinkende setzt systematisch ihre Säuberungsaktion fort. Anscheinend will sie keinerlei Information auf diesem Kopf lassen. Das Männchen wehrt sich nicht mehr. Resigniert bereitet es sich darauf vor, zu entschlummern, indem es seinen Herzschlag verlangsamt.

»Brüder, warum all diese Gewalt, warum all dieser Haß? Warum?

Eins sind wir, eins, wir sind allesamt Kinder der Erde und Gottes.

Lassen wir von unserem eitlen Streiten ab. Das 22. Jahrhundert wird ein Jahrhundert im Geiste sein oder gar nichts. Verzichten wir auf unsere alten Zwistigkeiten, die sich auf Stolz und Falschheit gründen.

Der Individualismus, das ist der wahre Feind! Ein Bruder leidet Not, und ihr laßt ihn Hungers sterben, ihr seid nicht mehr würdig, der großen Gemeinschaft der Welt anzugehören. Ein in die Irre gegangenes Geschöpf bittet euch um Hilfe und Beistand, und ihr schlagt ihm die Tür zu. Ihr gehört nicht zu den Unsern.

Ich kenne euch, ihr mit eurem ruhigen, in Seide gepacktem Gewissen! Ihr denkt nur an eure persönliche Bequemlichkeit, ihr wünscht nur den individuellen Ruhm. Glück ja, aber nur das eure und das eurer Nächsten. Ich sage, ich kenne euch. Dich, dich, und dich! Hört auf, vor euren Bildschirmen zu lächeln, ich rede von ernsten Dingen zu euch. Ich rede von der Zukunft der Menschheit. Das kann so nicht andauern. Dieser Lebensweg hat keinen Sinn. Wir verschwenden, zerstören alles. Die Wälder werden gerodet, um wegwerfbare Taschentücher herzustellen. Alles ist wegwerfbar geworden: Geschirr, Federhalter. Kleidung, Fotoapparat. Fahrzeuge. Und ohne daß ihr es merkt, werdet auch ihr wegwerfbar. Verzichtet auf diese oberflächliche Lebensform. Verzichtet noch heute darauf, bevor man euch morgen dazu zwingt.

Kommt zu uns, reiht euch in unser Heer von Getreuen ein. Wir sind alle Soldaten Gottes, Bruder.«

Das Bild einer Ansagerin. »Diese Sendung des Evangelismus wurde für Sie übertragen im Auftrag von Pater Mac Donald von der Neuen Adventistenkirche des 45. Tages und von der Firma für Gefriergut >Sweetmilk<. Sie wurde über Satellit in alle Welt ausgestrahlt. Und jetzt, vor unserer Serie >Außerirdisch und stolz, es zu sein<, noch ein wenig Werbung.«

Im Gegensatz zu Nicolas vermochte Lucie vor dem Fernseher nicht völlig abzuschalten. Acht Stunden war Jonathan nun da unten, und immer noch keine Nachricht!

Ihre Hand langte nach dem Telefon. Er hatte gesagt, sie solle nichts unternehmen, aber wenn er nun tot war oder unter Schutt begraben?

Sie hatte noch nicht den Mut, in den Keller zu gehen. Sie hob den Hörer ab und wählte den Polizeinotruf.

»Hallo, ist dort die Polizei?«

»Ich hatte dich gebeten, nicht anzurufen«, sagte eine schwache und tonlose Stimme, die aus der Küche kam.

»Papa! Papa!«

Sie legte auf, während es aus dem Hörer noch klang: »Hallo, reden Sie, geben Sie uns Ihre Adresse.« Klack.

»Aber ja, klar doch, ich bin’s, ihr brauchtet euch keine Sorgen zu machen. Ich hab doch gesagt, ihr sollt ruhig auf mich warten.«

Sich keine Sorgen machen? Der hatte Nerven!

Jonathan hatte auf dem Arm, was von Ouarzazate übriggeblieben war, ein blutiger Klumpen Fleisch. Und auch er selbst war verändert, wie verklärt. Er war keineswegs bedrückt, er erschien sogar eher heiter. Nein, nicht heiter, wie sollte man es nennen? Man hatte den Eindruck, er sei gealtert oder er sei krank. Seine Augen blickten fiebrig, seine Haut war aschfahl, er zitterte und wirkte abgehetzt.

Nicolas brach in Tränen aus, als er den zerhackten Körper seines Hundes sah. Man hätte meinen können, der arme Pudel sei mit Rasiermessern zerfetzt worden.

Sie legten ihn auf eine ausgebreitete Zeitung.

Nicolas weinte bitterlich über den Verlust seines Freundes. Es war vorbei. Nie wieder würde er ihn gegen die Wand springen sehen, wenn man »Katze« sagte. Nie wieder würde er sehen, wie er mit einem fröhlichen Hüpfer eine Türklinke herunterdrückte. Nie wieder würde er ihn vor den großen homosexuellen Schäferhunden retten müssen.

Es gab keinen Ouarzazate mehr.

»Morgen bringen wir ihn zum Hundefriedhof von Père-Lachaise«, meinte Jonathan resignierend. »Wir kaufen ihm dieses Grab zu viertausendfünfhundert Francs, an dem man ein Foto von ihm anbringen kann.«

»Ja! Au ja!« sagte Nicolas schluchzend. »Das ist das mindeste, was er verdient.«

»Und danach gehen wir zum Tierschutzverein, und da suchst du dir einen anderen Hund aus. Was hältst du von einem kleinen Malteser? Die sind auch sehr niedlich.«

Lucie konnte es immer noch nicht fassen. Sie wußte nicht, was sie als erstes fragen sollte. Warum war er so lange fortgeblieben? Was war mit dem Hund geschehen? Und was mit ihm selbst? Wollte er etwas essen? Hatte er nicht bedacht, wieviel Angst sie um ihn haben mußten?

»Was gibt es denn da unten?« fragte sie schließlich mit matter Stimme.

»Nichts, nichts.«

»Guck dir doch an, in welchem Zustand du zurückgekommen bist! Und der Hund ... Der sieht aus, als wäre er durch den Fleischwolf gedreht worden. Was ist mit ihm passiert?«

Jonathan wischte sich mit seiner schmutzigen Hand über die Stirn.

»Der Notar hatte recht, es wimmelt von Ratten da unten. Ouarzazate ist von ihnen in Stücke gerissen worden.«

»Und du?«

Er grinste.

»Ich bin ein großes Tier, vor mir haben sie Angst.«

»Das ist doch verrückt! Was hast du denn acht Stunden lang da unten getrieben? Was ist in diesem verdammten Keller?« brauste sie auf.

»Ich weiß es nicht genau. Ich bin nicht ganz hinuntergestiegen.«

»Du bist nicht ganz hinuntergestiegen?«

»Nein, das ist sehr, sehr tief.«

»In acht Stunden hast du es nicht bis zum Ende ... zum Ende unseres Kellers geschafft?«

»Nein. Ich bin nicht mehr weitergegangen, als ich den Hund gefunden habe. Da war überall Blut. Weißt du, Ouarzazate hat sich verzweifelt gewehrt. Es ist unglaublich, daß ein so kleiner Hund so lange standhalten kann.«

»Und wie weit bist du gekommen? Bis zur Hälfte?«

»Woher soll ich das wissen? Jedenfalls konnte ich nicht mehr weiter. Ich hatte auch Angst. Du weißt, ich kann Dunkelheit und Gewalt nicht ausstehen. Jeder an meiner Stelle wäre umgekehrt. Man kann nicht ewig ins Ungewisse gehen. Außerdem habe ich an dich, an euch denken müssen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das da ist ... Das ist so finster. Das ist der Tod.«

Bei seinen letzten Worten erfaßte ein Zucken seinen linken Mundwinkel. So hatte sie ihn noch nicht erlebt. Sie erkannte, daß sie ihn nicht noch mehr bedrängen durfte. Sie legte ihre Arme um seine Taille und küßte seine kalten Lippen.

»Beruhige dich, es ist vorbei. Wir werden diese Tür zumauern, und dann reden wir nicht mehr davon.«

Er wich zurück.

»Nein. Es ist nicht vorbei. Ich habe mich da unten von diesem Blut abschrecken lassen. Jeder wäre zurückgeschreckt. Gewalt erschreckt einen immer, selbst wenn sie sich gegen Tiere richtet. Aber ich kann jetzt nicht aufgeben, vielleicht ganz kurz vor dem Ziel .«

»Du willst doch nicht etwa dahin zurück?«

»Doch. Edmond ist dahin gegangen, also werde ich es auch.«

»Edmond? Dein Onkel Edmond?«

»Er hat irgend etwas da unten gemacht, und ich will wissen, was.«

Lucie unterdrückte ein Stöhnen.

»Bitte, um meinet- und um Nicolas’ willen, geh nicht mehr da runter.«

»Ich habe keine Wahl.«

Wieder hatte er dieses Zucken am Mundwinkel.

»Ich habe immer alles nur halb gemacht. Immer bin ich stehengeblieben, wenn mir mein Verstand sagte, daß Gefahr droht. Sieh doch, was aus mir geworden ist. Ein Mann, der zwar der Gefahr aus dem Weg gegangen ist, der es aber auch zu nichts gebracht hat. Nie bin ich den Dingen auf den Grund gegangen, weil ich ständig auf halbem Weg stehengeblieben bin. Ich hätte weiter als Schlosser arbeiten sollen, und wenn ich überfallen worden wäre, Pech für den Boß. Das wäre eine Art Feuertaufe gewesen, ich hätte die Gewalt erlebt und gelernt, mit ihr umzugehen. Statt dessen bin ich wie ein Baby ohne jede Erfahrung, weil ich Schwierigkeiten immer ausgewichen bin.«

»Du spinnst.«

»Nein, ich spinne nicht. Man kann nicht ewig in Watte leben. Dieser Keller ist die Gelegenheit, den Schritt zu wagen. Wenn ich es nicht tue, werde ich nie mehr in den Spiegel schauen können, ich müßte mir immer sagen, daß ich ein Feigling bin. Außerdem, erinnere dich, du selbst hast mich gedrängt, da runterzugehen.«

Er zog sein blutbeflecktes Hemd aus.

»Na schön, dann komme ich aber mit!« erklärte sie und packte die Taschenlampe.

»Nein, du bleibst hier!«

Er hatte ihre Handgelenke gepackt.

»Laß mich los, was ist in dich gefahren?«

»Entschuldige, aber du mußt einsehen, dieser Keller geht nur mich etwas an. Das ist mein Sprung ins kalte Wasser, das ist mein Weg. Und niemand darf sich da einmischen, verstehst du?«

Hinter ihnen weinte Nicolas immer noch über Ouarzazates Überresten. Jonathan ließ Lucies Handgelenke los und ging zu seinem Sohn.

»Na komm, mein Junge, ist ja gut!«

»Ich hab’s satt. Ouarzi ist tot, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als euch zu streiten.«

Jonathan versuchte ihn abzulenken. Er nahm eine Schachtel Streichhölzer, entnahm ihr sechs Stück und legte sie auf den Tisch.

»Da, guck mal, ich zeig dir ein Rätsel. Man kann mit diesen sechs Streichhölzern vier gleichseitige Dreiecke bilden. Denk gut nach, dann bekommst du’s raus.«

Der Junge trocknete überrascht seine Tränen und zog die Nase hoch. Dann fing er an, die Streichhölzer auf unterschiedliche Weise anzuordnen.

»Ich geb dir noch einen Tip. Um die Lösung zu finden, mußt du anders denken. Wenn man überlegt, wie man es gewohnt ist, kommt man nicht darauf.«

Nicolas schaffte es, drei Dreiecke zu bilden. Keine vier. Er blickte auf, blinzelte mit seinen großen blauen Augen.

»Hast du die Lösung gefunden, Papa?«

»Nein, noch nicht, aber ich spüre, daß ich nicht mehr lange brauche.«

Jonathan hatte seinen Sohn vorläufig beruhigt, nicht jedoch seine Frau. Lucie warf ihm wütende Blicke zu. Und am Abend hatten sie einen ziemlich heftigen Streit. Es nutzte nichts, Jonathan wollte nichts über diesen Keller und sein Geheimnis sagen.

Am nächsten Morgen stand er früh auf und brachte den ganzen Vormittag damit zu, eine Eisentür mit einem schweren Vorhängeschloß am Eingang des Kellers anzubringen. Den einzigen Schlüssel hängte er um seinen Hals.

Die Rettung kommt unerwartet in Form eines Erdbebens.

Als erstes erhalten die Wände einen schweren seitlichen Schlag. Sand beginnt, einem Wasserfall gleich, von den Decken zu rieseln. Ein zweiter Stoß folgt fast unmittelbar danach, dann ein dritter, ein vierter . Die dumpfen Erschütterungen folgen immer schneller aufeinander, kommen dem ungewöhnlichen Trio immer näher. Das ist ein gewaltiges Grollen, das nicht aufhört und alles erzittern läßt.

Von diesem Vibrieren wiederbelebt, beschleunigt das junge Männchen wieder seinen Herzschlag, kneift zweimal mit seinen Mandibeln zu, was seine Peiniger überrascht, und verdrückt sich in einem beschädigten Tunnel. Es bewegt seine noch unentwickelten Flügel, um seine Flucht zu beschleunigen und seine Sprünge über den Schutt zu verlängern.

Jeder neue, noch stärkere Stoß zwingt es, stehenzubleiben und, auf den Boden gepreßt, das Ende der Sandlawinen abzuwarten. Ganze Wandstücke prasseln mitten in die Gänge, Brücken, Brückenbögen, Krypten stürzen ein, reißen Millionen benommener Gestalten mit.

Die Gerüche höchsten Alarms steigen auf und verbreiten sich. In der ersten Phase erfassen diese stimulierenden Pheromone die oberen Gänge. Wer diesen Duft wahrnimmt, beginnt augenblicklich zu zittern, kreuz und quer zu laufen und noch aufreizendere Pheromone zu produzieren. So daß die Aufregung nach dem Schneeballprinzip wächst.

Die Alarmwolke verbreitet sich wie Nebel, kriecht in sämtliche Äderchen des »schmerzenden« Bereichs, dringt in die Hauptschlagadern. Das fremde Element, das den Körper des Volkes infiltriert hat, bewirkt, was das junge Männchen vergeblich auszulösen versucht hat: Schmerztoxine.

Schlagartig beginnt das von den Massen von Belokanerinnen gebildete schwarze Blut schneller zu pulsieren. Die in der Nähe der geschädigten Zone liegenden Eier werden fortgeschafft. Die Soldatinnen schließen sich zu Kampfeinheiten zusammen.

Als sich das Männchen Nr. 327 auf einer breiten, vom Sand und der Menge halb verstopften Kreuzung befindet, nehmen die Stöße ein Ende. Es folgt eine beängstigende Stille. Jeder bleibt reglos stehen, fürchtet den weiteren Gang der Ereignisse. Die aufgerichteten Antennen zucken. Warten.

Plötzlich wird das quälende Pochen von vorhin durch eine Art dumpfes Fauchen abgelöst. Alle spüren, daß die Füllung zwischen den Zweigen durchlöchert worden ist. Irgend etwas Riesiges ist in die Kuppel eingedrungen, zermalmt die Wände, zwängt sich durch die Zweige.

Ein feiner rosiger Fangarm taucht mitten über der Kreuzung auf. Er peitscht durch die Luft und fährt auf der Suche nach möglichst vielen Bewohnern der Stadt irrsinnig schnell über den Boden. Als sich die Soldatinnen darauf stürzen, um mit ihren Mandibeln zuzubeißen, bildet sich bloß eine große schwarze Traube an seinem Ende. Reich garniert zieht sich die Zunge nach oben zurück und verschwindet, um die Menge in einen Schlund zu entleeren, dann erscheint sie wieder, immer länger, immer gieriger, tödlicher.

Die zweite Alarmstufe wird ausgelöst. Die Arbeiterinnen trommeln mit dem Ende ihres Hinterleibs auf den Boden, um die Soldatinnen in den unteren Etagen, die von dem Drama noch nichts gemerkt haben, herbeizurufen.

Die ganze Stadt hallt unter diesem simplen Getrommel wider. Man meint, der ganze Organismus hechele: »Tac, tac, tac!« »Tok . tok . tok . «, antwortet der Fremdling, der wieder begonnen hat, die Kuppel zu behämmern, um tiefer einzudringen. Alles drängt sich gegen die Wände, um dieser hellroten, entfesselten Schlange zu entkommen, die die Gänge peitscht. Wenn ihr ein Happen zu kümmerlich erscheint, dreht sich die Zunge noch mehr. Ein Schnabel folgt ihr, dann ein gigantischer Kopf.

Ein Grünspecht! Der Schrecken des Frühjahrs ... Diese gefräßigen, insektenverzehrenden Vögel schlagen bis zu sechzig Zentimeter lange Löcher in das Dach der Ameisenstädte und stopfen sich mit ihrer Bevölkerung voll.

Es ist höchste Zeit, die dritte Alarmstufe einzuläuten. Einige Arbeiterinnen, dem Wahnsinn nahe, beginnen in ihrer Übererregung, die nicht in Aktivität umgesetzt werden kann, den Tanz der Angst zu tanzen. Die Bewegungen sind sehr ruckartig: Sprünge, Mandibelknallen, Spucken ... Andere, vollkommen hysterisch, laufen durch die Gänge und beißen alles, was ihnen in den Weg kommt. Perverser Effekt der Angst: die Stadt, die das angreifende Objekt nicht vernichten kann, zerstört sich schließlich selbst.

Die Katastrophe findet im fünfzehnten westlichen Obergeschoß statt, aber jetzt, da der Alarm seine drei Stufen durchlaufen hat, ist die ganze Stadt zum Krieg gerüstet. Die Arbeiterinnen suchen die untersten Etagen auf, um die Eier in Sicherheit zu bringen. Sie begegnen Kolonnen von Soldatinnen, die mit aufgerichteten Mandibeln nach oben hasten.

Die Ameisenstadt hat über zahllose Generationen hinweg gelernt, sich gegen derlei Unannehmlichkeiten zur Wehr zu setzen. Inmitten des ganzen Aufruhrs formieren sich die Ameisen aus der Kaste der Artilleristinnen zu Kommandos und teilen die zu treffenden Maßnahmen unter sich auf.

Sie umzingeln den Grünspecht an seiner verwundbarsten Stelle: dem Hals. Dann drehen sie sich um und begeben sich in nächster Nähe in Schußposition. Ihre Hinterleiber sind auf das gefiederte Tier gerichtet. Feuer! Mit aller Kraft ihrer Schließmuskeln stoßen sie Strahlen hyperkonzentrierter Säure aus.

Der Vogel hat plötzlich das unangenehme Gefühl, daß sich ein Schal aus Nadeln um seinen Hals legt. Er kämpft, will sich befreien. Aber ist zu weit vorgedrungen. Seine Flügel sind in der Erde und den Zweigen der Kuppel gefangen. Erneut streckt er seine Zunge vor, um möglichst viele dieser winzigen Gegner zu töten.

Eine neue Welle von Soldatinnen rückt vor. Feuer! Der Grünspecht zuckt zusammen. Diesmal sind das keine Nadeln, sondern Dornen. Er klopft nervös mit dem Schnabel. Feuer! Die Säure spritzt abermals. Der Vogel zittert, langsam fällt ihm das Atmen schwer, Feuer! Die Säure verätzt seine Nerven, und er ist vollkommen eingeklemmt.

Das Feuer wird eingestellt. Von überall laufen Soldatinnen mit langen Mandibeln herbei, beißen in die Wunden, die die Ameisensäure gefressen hat. Zudem begibt sich eine Einheit nach draußen, auf das, was von der Kuppel noch übrig ist, ortet den Schwanz des Tieres und macht sich daran, die meistriechende Stelle anzubohren: den Anus. Diese Pioniere haben schon bald den Eingang verbreitert und zwängen sich in die Gedärme des Vogels.

Der ersten Einheit ist es gelungen, die Haut der Kehle aufplatzen zu lassen. Als das erste Blut fließt, endet der Ausstoß von Alarmpheromonen. Der Kampf wird als gewonnen betrachtet. Der Schlund steht weit offen, sie stürzen sich mit Bataillonsstärke hinein. Im Kehlkopf sind noch lebende Ameisen. Sie werden gerettet.

Dann dringen Soldatinnen in das Innere des Kopfes ein, suchen die Öffnungen, die es ihnen ermöglichen, das Hirn zu erreichen. Eine Arbeiterin findet einen Durchgang: die Halsschlagader. Allerdings muß man die richtigen erwischen: die, die vom Herzen zum Hirn führt, nicht umgekehrt. Da ist sie! Vier Soldatinnen schlitzen die Röhre auf und stürzen sich in die rote Flüssigkeit. Sie lassen sich von der vom Herzen kommenden Strömung tragen und landen rasch mitten in den Großhirnhemisphären. Dort sind sie am rechten Platz, um die graue Masse zu zerhacken.

Der Grünspecht, wahnsinnig vor Schmerz, flattert hin und her, aber er hat keine Chance, diese Eindringlinge abzuschütteln, die ihn von innen in Stücke schneiden. Ein Zug von Ameisen pfercht sich in die Lunge und läßt dort Säure ab. Der Vogel hustet fürchterlich.

Andere, ein ganzes Armeekorps, dringen in die Speiseröhre ein, um sich im Verdauungsapparat mit ihren Kolleginnen, die durch den Anus gekommen sind, zusammenzuschließen. Letztere steigen schnell den großen Grimmdarm hinauf. Auf ihrem Weg verletzen sie sämtliche Organe, die in Reichweite ihrer Mandibeln sind. Sie wühlen sich durch das lebende Fleisch, wie sie sich sonst durch die Erde wühlen, machen sich über Magen, Leber, Herz, Milz und Bauchspeicheldrüse her, als wären es sturmreife Festungen.

Mitunter spritzt ungewollt Blut oder Lymphe heraus und ertränkt einige Ameisen. Das passiert jedoch nur den Ungeschickten, die nicht wissen, wo und wie man sauber zubeißt.

Die anderen rücken systematisch inmitten des roten und schwarzen Fleisches vor. Sie springen geschickt zurück, bevor sie von einem Zucken erdrückt werden. Sie meiden die Bereiche, die mit Galle oder Magensäure gefüllt sind.

Schließlich vereinigen sich die beiden Armeen in Höhe der Nieren. Der Vogel ist immer noch nicht tot. Sein von den Mandibeln zerkratztes Herz pumpt weiter Blut in das kaputte Röhrensystem.

Ketten von Arbeiterinnen haben sich gebildet, die, ohne den letzten Atemzug ihres Opfers abzuwarten, noch zuckende Fleischstückchen von Bein zu Bein reichen. Nichts widersteht den kleinen Chirurginnen. Als sie beginnen, das Hirn abzubauen, wird der Vogel von einem Krampf geschüttelt, dem letzten.

Die ganze Stadt läuft herbei, um das Ungetüm zu zerlegen. Die Gänge wimmeln von Ameisen, die alle etwas transportieren, diese eine Feder, jene ein wenig Flaum.

Die Maurerinnen sind bereits am Werk. Sie werden die Kuppel und den beschädigten Tunnel wieder aufbauen.

Von weitem könnte man glauben, der Ameisenhaufen verspeise einen Vogel. Erst verschlingt er ihn, dann wird er verdaut, und sein Fleisch und sein Fett, seine Federn und seine Haut werden an die Stellen verteilt, wo sie der Stadt am meisten nützen.


GENESIS: Wie ist die Ameisenzivilisation entstanden? Um es zu

VERSTEHEN, MUß MAN EIN PAAR HUNDERT MILLIONEN JAHRE ZURÜCKGEHEN, ZU JENER ZEIT, DA SICH DAS LEBEN AUF DER ERDE ENTWICKELT HAT.

Unter den ersten Ankömmlingen waren die Insekten.

Offenbar waren sie an ihre Welt schlecht angepaßt. Sie waren klein, schwach, die idealen Opfer für alle möglichen Räuber. Um sich am Leben zu halten, wählten einige, so die Heuschrecken, den Weg der Reproduktion. Sie legten dermaßen viele Eier, daß es zwangsläufig Überlebende geben mußte.

Andere, wie die Wespen oder die Bienen, wählten das Gift, rüsteten sich im Laufe der Generationen mit Giftstacheln aus, die Furcht einflößten.

Wieder andere, wie beispielsweise die Schaben, wurden ungenießbar. Eine spezielle Drüse verlieh ihnen einen solch üblen Geschmack, daß niemand sie verzehren mochte.

Noch andere, wie die Gottesanbeterinnen oder die Nachtfalter, wählten die Tarnung. Gräsern oder Baumrinden ähnlich, fleuchten sie unerkannt durch die unwirtliche Natur.

Viele Insekten jedoch hatten in diesem Dschungel der ersten Tage keinen »Trick« gefunden, um zu überleben und schienen zum Aussterben verdammt.

Unter diesen Benachteiligten waren zunächst die Termiten. Diese »Holzfresser«, vor ungefähr einhundertfünfzig Millionen Jahren auf der Erdkruste erschienen, hatten keine Aussicht auf ein langes Leben. Zu viele Räuber, nicht genügend natürliche Trümpfe, um ihnen zu widerstehen ...

Was sollte aus den Termiten werden?

Viele starben, und die Überlebenden steckten arg in der Klemme, bis sie rechtzeitig auf eine originelle Lösung verfielen: »Nicht mehr allein kämpfen, sondern solidarische Gruppen bilden. Es wird unseren Feinden schwerer fallen, zwanzig Termiten auf einmal anzugreifen, die eine gemeinsame Front bilden, als eine einzige, die zu fliehen versucht.« Und so erschloß die Termite einen der Königspfade der Komplexität: den sozialen Bund.

Diese Insekten begannen in kleinen Zellen, zunächst auf Familienebene, zu leben: alle um die eierlegende Mutter geschart. Dann wurden die Familien zu Dörfern, die Dörfer nahmen an Größe zu und verwandelten sich in Städte. Schon bald erhoben sich ihre Städte aus Sand und Zement auf der ganzen Erdoberfläche.

Die Termiten waren die ersten intelligenten Herren unseres Planeten, und seine erste Gesellschaft.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Nr. 327 sieht die beiden Killerinnen mit dem Felsengeruch nicht mehr. Er hat sie tatsächlich abgeschüttelt. Mit ein wenig Glück sind sie sogar tot unter dem Geröll begraben.

Nicht träumen. Und selbst wenn, wäre er längst nicht aus dem Schneider. Er hat keinen »Paß« mehr. Sobald er irgendeiner Kriegerin begegnet, ist er geliefert. Er würde von seinen Schwestern automatisch als Fremdkörper betrachtet. Man würde ihm nicht einmal die Möglichkeit geben, sich zu rechtfertigen. Säurestrahl oder Mandibelbiß ohne Vorwarnung, so die Behandlung, die für diejenigen vorgesehen ist, die nicht die Duftmerkmale der Föderation ausstoßen können.

Das ist verrückt. Wie konnte es nur dazu kommen? Das ist alles die Schuld dieser beiden verfluchten Kriegerinnen mit den Felsenausdünstungen. Was war in sie gefahren? Sie müssen wahnsinnig sein. Auch wenn es nur selten der Fall ist, es kommt vor, daß Fehler im genetischen Programm psychologische Störungen dieser Art nach sich ziehen, ein Phänomen, das ähnlich gelagert ist wie das dieser hysterischen Ameisen, die während der dritten Alarmstufe über alle Welt herfallen.

Die beiden wirkten jedoch weder hysterisch noch degeneriert. Sie schienen sogar sehr genau zu wissen, was sie taten. Als ob ... Man kennt nur einen einzigen Fall, in dem Zellen bewußt andere Zellen des gleichen Organismus zerstören. Die Ammen nennen das Krebs. Als ob ... irgendwelche Zellen von Krebs befallen wären.

Dieser Felsengeruch wäre demzufolge der Geruch von Krankheit. Auch da müßte er Alarm schlagen. Nr. 327 hat fortan zwei Rätsel zu lösen: die Geheimwaffe der Zwergameisen und die Krebszellen von Bel-o-kan. Und er kann mit niemandem reden. Er muß nachdenken. Es könnte gut sein, daß er in sich irgendeine verborgene Ressource hat ... eine Lösung.

Er macht sich daran, seine Antennen zu waschen. Anfeuchten (ein merkwürdiges Gefühl, Antennen zu lecken, ohne den charakteristischen Geruch der »Paß«-Pheromone aufzunehmen), abbürsten, glätten an der Ellbogenbürste, abtrocknen.

Was tun, verflixt?

Zunächst einmal überleben.

Nur ein einziges Wesen kann sich seines Infrarotbildes erinnern, ohne auf die Bestätigung der Identifikationsdüfte angewiesen zu sein: Mutter. Allerdings wimmelt es in der Verbotenen Stadt von Soldatinnen. Auch gut. Wie lautet der alte Satz von Belo-kiu-kiuni: Oft ist man im Zentrum der Gefahr am sichersten aufgehoben.

»An Edmond Wells erinnert man sich hier nicht gern. Als er gegangen ist, hat ihn niemand aufgehalten.«

Der da so redete, war ein alter Mann mit einem liebenswürdigen Gesicht, einer der stellvertretenden Direktoren der »Sweetmilk Corporation«.

»Dabei hat er doch, wie es heißt, eine neue Bakterie entdeckt, die einen intensiven Joghurtgeruch verströmt .«

»Ja, als Chemiker, das muß man ihm lassen, hatte er geniale Eingebungen. Aber sie kamen nicht regelmäßig, sondern stoßweise.«

»Hatten Sie Schwierigkeiten mit ihm?«

»Ehrlich gesagt, nein. Sagen wir so: Er hat sich nicht in das Team eingefügt. Er hielt sich abseits. Und auch wenn seine Bakterie Millionen eingebracht hat, ich glaube, geschätzt hat ihn hier niemand.«

»Könnten Sie das genauer erklären?«

»In einem Team gibt es Chefs. Edmond mochte keine Vorgesetzten, überhaupt ertrug er keinerlei Form von Hierarchie. Für die Geschäftsführer, die, wie er sagte, >nur um des Dirigierens willen dirigieren und nichts produzierenc, hatte er nur Verachtung übrig. Nun, wir sind alle gezwungen, die Stiefel unserer Vorgesetzten zu lecken. Was ist schon dabei? Das System will es so. Er hingegen spielte den Stolzen. Ich glaube, uns, seine Kollegen, ärgerte das noch mehr als die Vorgesetzten selbst.«

»Weshalb ist er gegangen?«

»Er hat sich mit einem unserer stellvertretenden Direktoren gestritten, und zwar einer Sache wegen, in der er, wie ich zugeben muß, vollkommen recht hatte. Dieser stellvertretende Direktor hatte sein Büro durchsucht, worauf Edmond einen Anfall bekam. Als er merkte, daß alle zu dem anderen hielten, mußte er wohl oder übel gehen.«

»Aber Sie sagten doch, er hatte recht ...«

»Mitunter bringt es mehr, sich feige auf die Seite von womöglich unsympathischen Leuten zu schlagen, die man kennt, als mutig einen vielleicht sogar sympathischen Unbekannten zu unterstützen. Edmond hatte keine Freunde hier. Er aß nicht mit uns, trank nicht mit uns, er schien stets mit den Gedanken woanders.«

»Warum gestehen Sie mir dann Ihre >Feigheit

»Hm, seitdem er tot ist, sage ich mir, daß wir uns doch recht mies verhalten haben. Sie sind sein Neffe, es erleichtert mich ein wenig, Ihnen das zu erzählen .«

Am hinteren Ende des engen Gangs erkennt man eine Festung aus Holz. Die Verbotene Stadt.

Dieses Bauwerk ist in Wirklichkeit ein Kiefernstumpf, um den herum die Kuppel errichtet worden ist. Der Stumpf dient als Herzstück und Wirbelsäule von Bel-o-kan. Als Herzstück, weil er das königliche Gemach und die kostbaren Nahrungsmittelvorräte beherbergt. Als Wirbelsäule, weil die Stadt dank ihm Sturm und Regen trotzt.

Aus der Nähe betrachtet sind die Wände der Verbotenen Stadt mit komplizierten Motiven verziert, die wie barbarische Schriftzeichen aussehen. Das sind die Gänge, die einst von den ersten Bewohnern des Stumpfs gegraben wurden: den Termiten.

Als die erste Belo-kiu-kiuni vor fünftausend Jahren in der Gegend landete, war sie sofort mit ihnen aneinandergeraten. Der Krieg hatte sehr lange gedauert, über tausend Jahre, aber schließlich hatten die Belokanerinnen gesiegt. Daraufhin hatten sie staunend eine »harte« Stadt entdeckt, eine Stadt mit holzfarbenen Gängen, die nie zusammenstürzten. Dieser Kiefernstumpf eröffnete ganz neue städtebauliche und architektonische Perspektiven.

Oben das flache, hochgelegene Plateau; unten die tiefen Wurzeln, die sich in der Erde verliefen. Das war ideal. Schon bald reichte der Stumpf jedoch nicht mehr, um die wachsende Bevölkerung der roten Ameisen zu schützen. Also hatte man unter der Erde in der Verlängerung der Wurzeln weitergegraben. Und man hatte kleine Zweige auf den geköpften Baum geschichtet, um die Spitze zu vergrößern.

Jetzt ist die Verbotene Stadt so gut wie verlassen. Außer der Königin und ihren Elitewachen lebt alle Welt in den Randgebieten.

Nr. 327 nähert sich dem Stumpf mit vorsichtigen, unregelmäßigen Schritten. Gleichmäßige Erschütterungen deuten auf die Anwesenheit einer Person hin, während ungleichmäßige Töne als leichtes Geröll durchgehen können. Er kann nur hoffen, daß er keiner Soldatin begegnet. Er beginnt zu kriechen. Er ist nur noch zweihundert Kopf von der Verbotenen Stadt entfernt. Allmählich erkennt er die vielen Eingänge, die den Stumpf durchlöchern, genauer gesagt die Köpfe der »Pförtnerinnen«, die den Zugang verstopfen.

Infolge irgendeiner unbekannten genetischen Abartigkeit haben jene einen breiten, kreisrunden und flachen Kopf, der ihnen das Aussehen eines großen Nagels verleiht, der genau dem Umfang des Loches entspricht, das sie zu überwachen haben.

Diese lebenden Türen haben ihre Wirksamkeit in der Vergangenheit bereits bewiesen. Während des »Erdbeer-krieges« vor siebenhundertneunzig Jahren fielen die gelben Ameisen in die Stadt ein. Alle überlebenden Belokanerinnen hatten sich in die Verbotene Stadt geflüchtet, und die Pförtnerinnen hatten zurückweichend sämtliche Zugänge hermetisch geschlossen.

Die gelben Ameisen hatten zwei Tage gebraucht, bis es ihnen gelang, diese Riegel zu sprengen. Die Pförtnerinnen verstopften nicht nur die Löcher, sondern bissen auch mit ihren langen Mandibeln zu. Die gelben Ameisen formierten sich zu Hundertschaften, um gegen eine einzige Pförtnerin zu kämpfen. Schließlich gelang es ihnen, das Chitin der Köpfe zu durchbohren und ins Innere zu gelangen. Aber das Opfer der »lebenden Türen« war nicht vergebens. Die anderen föderierten Städte hatten Zeit gehabt. Hilfstruppen aufzustellen, und einige Stunden später war die Stadt befreit.

Nr. 327 hat gewiß nicht die Absicht, sich allein mit einer Pförtnerin anzulegen, aber er hofft, das Öffnen einer dieser Türen auszunutzen, wenn zum Beispiel eine mit den Eiern der Königin beladene Amme herausgelassen wird. Er könnte hineinhuschen, bevor sich die Tür wieder schließt.

Da, gerade bewegt sich ein Kopf, gibt den Durchgang frei, und es erscheint ... eine Schildwache. Pech, nichts zu machen, die Schildwache würde sofort umkehren und ihn töten.

Erneute Kopfbewegung der Pförtnerin. Nr. 327 krümmt seine sechs Beine, bereit loszusprinten. Nein! Falscher Alarm, die Pförtnerin hat nur eine andere Haltung eingenommen. Da muß man schließlich Krämpfe bekommen, wenn man ständig ein solches Kollier aus Holz um den Hals hat.

Was soll’s, Nr. 327 verliert die Geduld, er rennt auf das Hindernis zu. Kaum ist er in Reichweite der Antennen, bemerkt die Pförtnerin das Fehlen der Identifikationspheromone. Sie weicht noch weiter zurück, um die Öffnung vollständig zu versperren, dann stößt sie die Alarmmoleküle aus.

Fremdkörper in der Verbotenen Stadt! Fremdkörper in der Verbotenen Stadt! wiederholt sie wie eine Sirene.

Sie läßt ihre Scheren kreisen, um den unerwünschten Gast einzuschüchtern. Sie würde gern vortreten, um ihn zu bekämpfen, aber die Weisung lautet strikt: erst einmal blockieren!

Nr. 327 muß sich beeilen. Er hat einen Vorteil: Er kann in der Dunkelheit sehen, die Pförtnerin hingegen ist blind. Er stürzt vor, meidet die wütenden Mandibeln, die aufs Geratewohl zuschnappen, und springt hoch, um sie an den Wurzeln zu packen. Er trennt sie eine nach der andern ab. Transparentes Blut fließt. Was sich da noch bewegt, sind nur mehr zwei ungefährliche Stümpfe.

Dennoch kommt Nr. 327 immer noch nicht hindurch, der Körper seiner Gegnerin blockiert den Eingang. Die wie im Wundstarrkrampf gelähmten Beine stemmen sich sogar reflexartig weiter gegen das Holz. Was tun? Das Männchen drückt seinen Hinterleib gegen die Stirn der Pförtnerin und schießt. Der Körper zuckt, das von der Ameisensäure zerfressene Chitin beginnt in einer grauen Rauchwolke zu schmelzen. Aber der Kopf ist sehr dick. Es bedarf drei weiterer Strahlen, bis sich Nr. 327 einen Weg über den flachen Schädel bahnen kann.

Er kommt durch. Auf der anderen Seite erblickt er einen Thorax und einen verkümmerten Hinterleib. Die Ameise war nur eine Tür, nichts als eine Tür.


KONKURRENTEN: Als fünfzig Millionen Jahre später die ersten Ameisen erschienen, hatten sie Schwierigkeiten, sich zu halten. Als entfernte Abkömmlinge einer wilden und einsamen Wespe, hatten sie weder mächtige Mandibeln noch einen Stachel. Sie waren klein und schwächlich, aber nicht dumm, und sie begriffen schnell, daß es für sie von Nutzen war, die Termiten nachzuahmen. Sie mußten sich zusammenschließen.

Sie schufen ihre Dörfer; sie erbauten plumpe Städte. Die Termiten wurden bald unruhig wegen dieser Konkurrenz. Ihrer Meinung nach war auf der Erde nur für eine Art von sozial lebenden Insekten Platz.

Fortan war Krieg angesagt. Überall auf der Welt, auf den Inseln, auf Bäumen und Bergen, kämpften die Armeen der Termitenstädte gegen die jungen Armeen der Ameisenstädte.

Das hatte es im Reich der Tiere noch nie gegeben. Millionen von Mandibeln, die Seite an Seite nicht der Ernährung wegen metzelten, sondern zu »politischen« Zwecken!

Anfangs gewannen die erfahreneren Termiten sämtliche Schlachten. Aber die Ameisen paßten sich an. Sie kopierten die Waffen der Termiten und erfanden neue. Die weltweiten Kriege zwischen Termiten und Ameisen entfachten zwanzig Millionen Jahre lang den Planeten. Schließlich erlangten die Ameisen einen entscheidenden Vorteil, als sie die Waffe des Säurestrahls entdeckten.

Die Schlachten zwischen den beiden Arten dauern bis heute an, aber selten nur tragen die Einheiten der Legionen den Sieg davon.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


»Sie kannten ihn aus Afrika, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete der Professor. »Edmond hatte Kummer. Seine Frau war gestorben, wenn ich mich recht entsinne. Er hat sich mit Feuereifer in das Studium der Insekten gestürzt.«

»Und weshalb Insekten?«

»Warum nicht? Die Insekten schlagen uns seit Menschengedenken in ihren Bann. Schon unsere frühesten Vorfahren fürchteten die Mücken, die ihnen das Fieber übertrugen, die Flöhe, die Juckreiz verursachten, die Spinnen, die sie stachen, die Rüsselkäfer, die ihre Nahrungsvorräte auffraßen. Das hat Spuren hinterlassen.«

Jonathan befand sich im entomologischen Labor Nr. 326 des Nationalen Forschungszentrums in Fontainebleau und unterhielt sich mit Prof. Daniel Rosenfeld, einem gutaussehenden, freundlichen, überaus redegewandten alten Herrn mit einem Pferdeschwanz.

»Das Insekt verunsichert uns, es ist kleiner und zarter als wir, und dennoch trotzt es uns, es bedroht uns sogar. Im übrigen, wenn man es recht bedenkt, landen wir zu guter Letzt alle in den Mägen der Insekten. Denn es sind die Maden, die Larven der Fliegen also, die sich an unseren sterblichen Überresten gütlich tun ...«

»Daran hatte ich nicht gedacht.«

»Das Insekt wurde lange als die Inkarnation des Bösen angesehen. Beelzebub, eine der Ausgeburten der Hölle, wird zum Beispiel mit einem Fliegenkopf dargestellt. Das ist kein Zufall.«

»Die Ameisen haben einen besseren Ruf als die Fliegen.«

»Je nachdem. Das ist von Kultur zu Kultur verschieden. Im Talmud sind sie das Symbol der Rechtschaffenheit. Im tibetanischen Buddhismus repräsentieren sie die Lächerlichkeit des materiellen Strebens. Die Bauli (??) an der Elfenbeinküste glauben, daß eine schwangere Frau, die von einer Ameise gebissen wird, ein Kind mit einem Ameisenkopf zur Welt bringt. Manche polynesischen Stämme hingegen halten sie für winzige Gottheiten.«

»Edmond hatte doch vorher über Bakterien gearbeitet. Weshalb hat er damit aufgehört?«

»Weil er seine Forschungen auf dem Gebiet der Insekten, und ganz besonders der Ameisen, tausendmal spannender fand. Und wenn ich >Forschungen< sage, dann meine ich damit ein totales Engagement. Niemand anders als er hat das Gesuch zum Verbot der Spielzeugameisenhaufen eingereicht, jener Plastikdosen mit einer Königin und sechshundert Arbeiterinnen, die in den Supermärkten verkauft wurden. Und er hat sich dafür eingesetzt, Ameisen als >Insektizide< zu verwenden. Er wollte, daß systematisch Städte roter Ameisen in den Wäldern eingerichtet werden, um sie von Parasiten zu befreien. Das war gar nicht so dumm. Schon früher hat man Ameisen benutzt, um die Raupen des Prozessionsspinners an den italienischen Kiefern und die Pamphiliide (??) der polnischen Tannen zu bekämpfen, zwei Schädlinge, die ganze Wälder heimsuchen.«

»Die Insekten gegeneinander aufzuhetzen, war das seine Idee?«

»Mmmh ... Er nannte das >sich in ihre Diplomatie einmischen<. Im letzten Jahrhundert ist mit den chemischen Insektiziden dermaßen viel Unfug angestellt worden. Man darf die Insekten nie frontal angreifen, und erst recht darf man sie nicht unterschätzen und hoffen, sie zu bezwingen, wie man es mit den Säugetieren gemacht hat. Das Insekt hat beispielsweise eine Parade gegen sämtliche chemischen Giftstoffe: den Mithridatismus. Daß man es immer noch nicht geschafft hat, der Heuschreckenplage Herr zu werden, wissen Sie, das liegt daran, daß sie sich an alles gewöhnen, diese Teufelchen. Pumpen Sie sie mit Vertilgungsmittel voll, zu neunundneunzig Prozent krepieren sie, aber ein Prozent überlebt. Und dieses eine Prozent ist nicht nur immunisiert, sondern bringt kleine Heuschrecken zu Welt, die zu hundert Prozent gegen dieses Insektizid >geimpft< sind. So hat man vor zweihundert Jahren den Fehler begangen, ständig die Giftigkeit der Produkte zu erhöhen. So daß sie mehr Menschen als Insekten töteten. Und wir haben hyperresistente Insektenstämme geschaffen, die imstande sind, die giftigsten Stoffe ohne jeden Schaden zu konsumieren.«

»Wollen Sie damit sagen, daß es kein wirksames Mittel gibt, die Insekten zu bekämpfen?«

»Überzeugen Sie sich selbst. Es gibt immer noch Mücken, Heuschrecken, Rüsselkäfer, Tsetsefliegen - und Ameisen. Sie widerstehen allem. 1945 hat man festgestellt, daß einzig die Ameisen und die Skorpione die nukleare Explosion überlebt haben. Sogar daran haben sie sich gewöhnt!«

Nr. 327 hat das Blut einer Zelle des Volkes vergossen. Er hat seinem eigenen Organismus schlimmste Gewalt angetan. Das hinterläßt einen bitteren Beigeschmack. Aber hatte er eine andere Wahl, wo er doch überleben mußte, um als Hormon der Information seinen Auftrag zu erfüllen?

Nur weil man versucht hat, es zu töten, hat es selbst getötet. Das ist eine Kettenreaktion. Wie der Krebs. Wenn sich das Volk ihm gegenüber unnormal verhält, ist es gezwungen, ebenso zu handeln. Es muß sich mit diesem Gedanken vertraut machen.

Es hat eine Schwesterzelle getötet. Es wird vielleicht weitere töten.

»Aber was hat er in Afrika gewollt? Ameisen gibt es doch überall, wie Sie selbst sagen.«

»Sicher, aber nicht die gleichen Ameisen ... Ich glaube, nach dem Verlust seiner Frau war ihm alles einerlei; heute frage ich mich sogar, ob er nicht darauf wartete, daß die Ameisen seinen Selbstmord besorgten.«

»Wie bitte?«

»Sie haben ihn um ein Haar aufgefressen, verdammt noch mal! Die afrikanischen Seidenameisen ... Haben Sie nie den Film Wenn die Marabunta grollt gesehen?«

Jonathan schüttelte den Kopf.

»Die Marabunta nennt man die Masse von Seidenameisen, oder auch annoma nigricans, die durch das Flachland zieht und auf ihrem Weg alles zerstört.«

Prof. Rosenfeld stand auf, als wollte er sich einer unsichtbaren Welle entgegenstemmen.

»Zuerst hört man eine Art gewaltiges Rauschen, das sich aus den Schreien und dem Kreischen, dem Flügelschlagen und Stampfen sämtlicher Kleintiere zusammensetzt, die die Flucht ergreifen. In diesem Stadium ist von den Seidenameisen noch nichts zu sehen. Dann tauchen einige Kriegerinnen auf einem Hügel auf. Nach diesen Kundschafterinnen kommen die anderen ganz schnell, in Kolonnen, so weit das Auge reicht. Das ist wie ein Lavastrom, der alles einschmelzt, was er berührt.«

Der Professor ging gestikulierend, von seinem Gegenstand hingerissen, auf und ab.

»Das ist das giftige Blut Afrikas. Lebende Säure. Ihre Anzahl ist erschreckend. Eine Kolonie von Seidenameisen legt Tag für Tag durchschnittlich fünfhunderttausend Eier. Ganze Eimer könnte man damit füllen ... Und dieser Strom aus schwarzer Schwefelsäure fließt dahin, klettert Böschungen und Bäume hinauf, nichts kann ihn aufhalten. Die Vögel, Eidechsen oder insektenfressenden Säugetiere, die das Pech haben, ihnen zu nahe zu kommen, werden sogleich zerstückelt. Die reinste Apokalypse! Die Seidenameisen haben vor keinem Tier Angst. Einmal habe ich eine zu neugierige Katze gesehen, die sich im Handumdrehen in nichts auflöste. Sie überqueren sogar Flüsse, indem sie Pontonbrücken mit ihren eigenen Kadavern errichten . ! An der Elfenbeinküste, in der Gegend, die an das ökologische Institut von Lamto grenzt, in dem wir arbeiteten, hat die Bevölkerung immer noch kein Mittel gegen ihre Invasion gefunden. Sobald es heißt, daß diese winzigen Attilas ihr Dorf durchqueren werden, raffen die Leute ihr wertvollstes Hab und Gut zusammen und fliehen. Sie stellen Tisch- und Stuhlbeine in Eimer voll Essig und beten zu ihren Göttern. Wenn sie zurückkommen, ist alles blitzblank, als wäre ein Taifun hindurchgefegt. Es gibt nicht mehr das kleinste Bröckchen Nahrung oder irgendeiner organischen Substanz. Auch kein Ungeziefer mehr. Letztlich sind die Seidenameisen das beste Mittel, seine Hütte von Grund auf zu reinigen.«

»Und wie haben Sie sie dann studieren können, wenn sie so blutdürstig sind?«

»Wir haben gewartet, bis es Mittag war. Die Insekten haben keinen Wärmehaushalt wie wir. Ist es draußen 18°, ist es auch in ihrem Körper 18°, und wenn Hitze herrscht, fängt ihr Blut an zu kochen. Das ist unerträglich für sie. Also graben sich die Seidenameisen bei den ersten heißen Strahlen ein Nest, sozusagen ein Biwak, in dem sie eine mildere Witterung abwarten. Das ist eine Art Miniwinterschlaf, nur daß sie nicht von der Kälte, sondern von der Hitze lahmgelegt werden.«

»Und dann?«

Jonathan hatte Schwierigkeiten, ein richtiges Zwiegespräch zu führen. Für ihn waren solche Gespräche wie kommunizierende Röhren. Es gibt einen, der Bescheid weiß, die volle Röhre, und einen, der nicht Bescheid weiß, die leere Röhre, in der Regel er selbst. Jener, der nichts weiß, sperrt die Ohren auf und kurbelt von Zeit zu Zeit den Redeschwung seines Gesprächspartners mit einem »Und dann?«, einem »Erzählen Sie mir davon« und einem Kopfnicken an.

Wenn es andere Mittel gab, sich zu unterhalten, so kannte er sie nicht. Außerdem kam es ihm vor, wenn er seine Zeitgenossen betrachtete, als hielte ein jeder nur parallele Monologe und benutzte den anderen als kostenlosen Psychiater. Unter diesen Umständen zog er seine eigene Technik vor. Es hatte vielleicht den Anschein, als wüßte er nichts, aber zumindest lernte er so unaufhörlich dazu. Besagt nicht ein chinesisches Sprichwort: Wer eine Frage stellt, ist fünf Minuten dumm, wer keine stellt, ist es sein Leben lang?

»Und dann? Wir sind hingegangen, verflixt! Und das war was, glauben Sie mir. Wir hatten vor, diese verfluchte Königin zu finden. Besagtes dickes Tierchen, das fünfhunderttausend Eier am Tag legt. Wir wollten sie nur sehen und fotografieren. Wir haben dicke Kanal arb ei ter stiefel angezogen. Pech für Edmond, er hatte Größe 43, und es war nur noch ein Paar in 40 da. Er ist in Pataugas mitgekommen ... Ich erinnere mich, als wäre das gestern gewesen. Um 12.30 Uhr haben wir die vermutliche Form des Nest-Biwaks auf den Boden gekratzt und haben ringsum einen Graben von einem Meter Tiefe gebuddelt.

Um 13.30 Uhr haben wir die äußeren Kammern erreicht. Eine schwarze und knisternde Flüssigkeit kam uns entgegen. Tausende höchst aufgeregte Kriegerinnen knallten mit ihren Mandibeln, die bei dieser Art scharf sind wie Rasierklingen. Sie pflanzten sie in unsere Stiefel, während wir uns mit Schaufel und Hacke weiter in Richtung Königin vorkämpften. Schließlich haben wir unseren Schatz gefunden. Ein Insekt, zehnmal größer als unsere europäischen Königinnen. Wir haben sie von allen Seiten genauestens fotografiert, während sie in ihrer Duftsprache sicher ein ums anderemal God save the Queen rief ... Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. Von überall her tauchten Kriegerinnen zusammen und bildeten Klumpen auf unseren Füßen. Einigen gelang es sogar, über ihre Kolleginnen hinweg, die sich in das Gummi verbissen hatten, nach oben zu klettern. Von dort krabbelten sie uns unter die Hose, dann unters Hemd. Wir wurden alle zu Gullivern, aber unsere Liliputaner hatten nur den einen Gedanken, uns in mundgerechte Portionen zu zerlegen! Wir mußten vor allem aufpassen, daß sie nicht in unsere Körperöffnungen eindrangen: Nase, Mund, Anus, Trommelfell. Sonst ist es aus, sie graben sich innen durch!«

Jonathan schwieg beeindruckt. Der Professor schien die ganze Szene noch einmal zu erleben, er führte sie mit der Kraft des jungen Mannes vor, der er nicht mehr war.

»Wir gaben uns heftige Klapse, um sie zu vertreiben. Sie, sie ließen sich von unserem Atem und unserem Schweiß leiten. Wir hatten allesamt Yogaübungen gemacht, um langsam zu atmen und unsere Angst zu kontrollieren. Wir haben versucht, nicht zu denken, diese Trauben von Kriegerinnen zu vergessen, die uns töten wollten. Und wir haben zwei ganze Filme verknipst, zum Teil mit Blitz. Kaum waren wir damit fertig, sprangen wir alle aus dem Graben. Außer Edmond. Die Ameisen hatten ihn von Kopf bis Fuß eingehüllt, sie schickten sich an, ihn aufzufressen! Wir haben ihn schnell an den Armen herausgezogen, haben ihn entkleidet und mit dem Buschmesser sämtliche Kiefer und Köpfe abgeschabt, die in seinem Körper steckten. Wir waren alle zerschunden, aber nicht so wie er mit seinen Pataugas. Und vor allem: er war in Panik geraten, er hatte Angstpheromone ausgeschieden.«

»Schrecklich.«

»Nein, prima, daß er mit dem Leben davongekommen ist. Das hat ihm die Ameisen überdies nicht verleidet. Im Gegenteil, er hat sie noch besessener erforscht.«

»Und danach?«

»Er ist nach Paris zurückgekehrt. Wir haben nichts mehr von ihm gehört. Er hat seinen alten Rosenfeld kein einziges Mal angerufen, der Schuft. Schließlich habe ich in der Zeitung gelesen, daß er tot ist. Frieden seiner Asche.«

Er ging zum Fenster, um den Vorhang zur Seite zu schieben und ein altes Thermometer in emailliertem Blech zu betrachten.

»Hm, 30° mitten im April, unglaublich. Es wird von Jahr zu Jahr heißer. Wenn das so weitergeht, ist Frankreich in zehn Jahren ein tropisches Land.«

»Steht es so schlimm?«

»Man merkt es kaum, weil das langsam fortschreitet. Aber wir Insektenforscher stellen es an einigen ganz präzisen Details fest: Plötzlich gibt es im Pariser Becken Insektenarten, die für die Äquatorgegenden typisch sind. Ist Ihnen nie aufgefallen, daß die Schmetterlinge immer schillernder werden?«

»In der Tat, gestern habe ich einen auf einem Wagen gesehen, rot und schwarz schimmernd .«

»Wahrscheinlich eine Zygäne mit fünf Flecken. Ein Giftschmetterling, der bislang nur in Madagaskar zu finden war. Wenn das so weitergeht . Können Sie sich vorstellen, Seidenameisen in Paris? Bonjour Panique. Das wäre ein lustiger Anblick ...«

Nachdem er sich die Antennen gesäubert und einige warme Stücke der »eingetretenen« Pförtnerin verzehrt hat, huscht Nr. 327 durch die hölzernen Gänge. Das königliche Gemach ist in der Nähe, er kann es riechen. Zum Glück ist es 25°, bei dieser Temperatur ist in der Verbotenen Stadt nicht allzuviel Betrieb. Er dürfte sich ohne Schwierigkeiten hindurchschlängeln können.

Plötzlich nimmt er den Geruch von zwei Kriegerinnen wahr, die ihm entgegenkommen. Eine große und eine kleine. Und der Kleinen fehlen zwei Beine ...

Sie saugen aus der Ferne gegenseitig ihre Düfte auf.

Unglaublich, das ist das Männchen!

Unglaublich, das sind die beiden!

Nr. 327 nimmt schleunigst Reißaus, um sie abzuhängen. Er kreist durch dieses dreidimensionale Labyrinth. Er verläßt die Verbotene Stadt. Die Pförtnerinnen halten ihn nicht auf, da sie nur darauf programmiert sind, zu verhindern, daß jemand von draußen nach drinnen eindringt. Seine Beine treten jetzt auf lockeren Boden. Er nimmt Kurve um Kurve.

Aber die beiden anderen sind auch sehr schnell und lassen sich nicht abschütteln. In diesem Moment rempelt das Männchen eine mit einem Grashalm beladene Arbeiterin an und stößt sie um. Das war keine Absicht, aber die Killerinnen mit dem Felsenduft werden in ihrem Schwung gebremst.

Er muß diese Atempause ausnutzen. Er versteckt sich schnell in einer Spalte. Die Hinkende nähert sich. Er zwängt sich noch ein wenig weiter in sein Versteck.

»Wo ist er hin?«

»Er ist wieder unten.«

»Wie, wieder unten?«

Lucie nahm Augustas Arm und führte sie zu der Kellertür.

»Seit gestern abend steckt er da drin.«

»Und er ist immer noch nicht zurück?«

»Nein, ich weiß nicht, was da unten vorgeht, aber er hat mir strikt verboten, die Polizei anzurufen ... Er ist schon ein paarmal da runtergegangen, und er ist jedesmal zurückgekommen.«

Augusta war verblüfft.

»Das ist verrückt! Sein Onkel hat es ihm doch ausdrücklich verboten .«

»Jetzt nimmt er schon Berge von Werkzeugen mit, Stahlteile, große Betonplatten. Keine Ahnung, was er sich da unten zurechtbastelt .«

Lucie schlug die Hände vors Gesicht. Sie war am Ende, sie spürte, daß sie wieder depressiv wurde.

»Und wir können ihm nicht nachgehen und ihn suchen?«

»Nein. Er hat ein Schloß angebracht und von innen abgeschlossen.«

Augusta setzte sich mit betretener Miene.

»O wei, o wei ... Wenn ich gewußt hätte, daß Edmonds Geist soviel Scherereien macht ...«


Spezialisten: Die über Millionen von Jahren vollzogene

Arbeitsaufteilung in den großen modernen Ameisen Städten hat genetische Mutationen erzeugt.

So kommen bestimmte Ameisen mit riesigen, scherenförmigen Mandibeln zu Welt, um Soldaten zu werden; andere haben stumpfe Mandibeln, um Getreidemehl herzustellen; wieder andere sind mit hochentwickelten Speicheldrüsen ausgestattet, um die jungen Larven zu befeuchten und zu desinfizieren.

Das ist ein wenig so, als kämen bei uns die Soldaten mit Fingern in Form von Messern zur Welt, die Bauern mit zangenartigen Füßen, damit sie die Obstbäume hinaufklettern können, die Ammen mit zehn Brüsten.

Aber von allen »berufsbedingten« Mutationen ist die der Liebe am eindrucksvollsten.

Damit sich die Masse der Arbeiterinnen nicht durch erotische Triebe ablenken läßt, werden sie geschlechtslos geboren. Sämtliche Fortpflanzungsorgane sind auf Spezialisten konzentriert: Männchen und Weibchen, die Prinzen und Prinzessinnen dieser parallelen Zivilisation.

Jene kommen einzig der Liebe wegen zur Welt, einzig zu diesem Zweck sind sie ausgerüstet. Sie verfügen über allerlei »Zubehör«, das ihnen bei ihrer Paarung dienlich ist. Das geht von den Flügeln über die zum Senden und Empfangen abstrakter Emotionen fähigen Antennen bis hin zu den Infrarot-Ozellen.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Das Versteck ist keine Sackgasse, es führt zu einer kleinen Grotte. Nr. 327 kriecht hinein. Die Kriegerinnen mit dem Felsenduft gehen vorbei, ohne es zu entdecken. Die Grotte ist jedoch nicht unbewohnt. Jemand ist darin, warm und duftend. Jemand, der deutlich, klipp und klar wissen will:

»Wer sind Sie?«

Dank seiner Infrarot-Ozellen nimmt das Männchen das Tier wahr, das ihn befragt. Ein großes Tier, das schätzungsweise neunzig Sandkörner wiegt. Mindestens. Aber eine Soldatin ist das nicht. Das ist etwas, was es bislang noch nie gerochen, noch nie gesehen hat.

Ein Weibchen.

Und was für ein Weibchen! Feine Härchen, angenehm mit Sexualhormonen versehen, zieren die anmutig geschwungenen Beine. Die kräftigen Antennen knistern vor starken Düften. Die Augen mit den roten Reflexen sind wie Blaubeeren. Sie hat einen wuchtigen, glatten, stromlinienförmigen Hinterleib. Einen breiten Brustschild, darüber ein wunderbar körniges Mesotonum. Und schließlich lange Flügel, doppelt so groß wie seine.

Das Weibchen spreizt seine niedlichen kleinen Mandibeln und . springt dem Männchen an die Kehle, um es zu enthaupten.

Nr. 327 kann kaum schlucken, er bekommt keine Luft. In Anbetracht des fehlenden Duftausweises hat das Weibchen nicht vor, seinen Würgegriff zu lockern. Es hat einen Fremdkörper vor sich, den es zu vernichten gilt.

Aufgrund seines kleinen Wuchses kann sich Nr. 327 letztlich doch befreien. Er klettert auf die Schultern des Weibchens, preßt seinen Kopf. Das Blatt wendet sich. Jetzt ist es an ihr, sich Sorgen zu machen. Sie wehrt sich.

Als ihre Kräfte schwinden, schiebt Nr. 327 seine Antennen vor. Er will sie nicht töten, will nur, daß sie ihm zuhört. Die Sache ist nicht einfach. Er will eine AK mit ihr. Ja, eine absolute Kommunikation.

Das Weibchen (Nr. 327 identifiziert ihre Legenummer, sie ist die Nr. 56) spreizt die Antennen, meidet den Kontakt. Dann bäumt sie sich auf, um sich von ihm zu befreien. Aber das Männchen bleibt wie verwurzelt auf ihrem Mesotonum und verstärkt den Druck seiner Mandibeln. Wenn er so weitermacht, wird er ihr den Kopf ausrupfen wie Unkraut.

Sie hält still. Nr. 327 auch.

Mit ihren Ozellen, die ein Blickfeld von hundertachtzig Grad haben, kann sie den auf ihrem Thorax sitzenden Peiniger deutlich sehen. Er ist ganz klein.

Ein Männchen.

Sie erinnert sich an die Lektionen der Ammen:

Die Männchen sind Halbwesen. Im Gegensatz zu allen anderen Zellen der Stadt sind sie nur mit der Hälfte der Chromosomen ausgestattet. Sie gehen aus unbefruchteten Eiern hervor. Sie sind also große Eizellen oder vielmehr große Samenzellen, die im Freien leben.

Sie hat also eine Samenzelle auf dem Rücken, die sie erwürgen möchte. Die Vorstellung amüsiert sie fast. Warum werden bestimmte Eier befruchtet und andere nicht? Wahrscheinlich aufgrund der Temperatur. Unterhalb von 20° kann die Spermathek nicht aktiviert werden, und die Königin legt unbefruchtete Eier. Die Männchen sind also aus der Kälte hervorgegangen. Wie der Tod.

Zum erstenmal sieht sie einen aus Fleisch und Chitin. Was hat er hier zu suchen, im Gemach der Jungfrauen? Dieser Bereich ist tabu, den weiblichen Zellen vorbehalten. Wenn irgendeine fremde Zelle in ihr zerbrechliches Heiligtum einbrechen kann, dann steht die Tür sämtlichen Infektionen offen!

Das Männchen Nr. 327 versucht erneut, den Antennenkontakt herzustellen. Aber das Weibchen läßt sich nicht überrumpeln.

Kaum spreizt er seine Antennen, klappt sie ihre auf den Kopf; kaum streift er das zweite Segment, zieht sie sie unverzüglich zurück. Sie will nicht.

Er erhöht den Druck seiner Kiefer, und es gelingt ihm, sein siebtes Antennensegment mit ihrem siebten in Berührung zu bringen. Das Weibchen Nr. 56 hat noch nie mit jemandem auf diese Weise in Verbindung gestanden. Man hat sie gelehrt, jeglichen Kontakt zu meiden, lediglich Düfte auszuscheiden oder aus der Luft zu empfangen. Aber sie weiß, daß diese ätherische Kommunikation trügerisch ist. Belo-kiu-kiuni hat eines Tages ein diesbezügliches Pheromon ausgestoßen:

Zwischen zwei Gehirnen gibt es stets allerlei Unverständnis und Lügen, hervorgerufen durch parasitäre Düfte, Luftströme und die schlechte Qualität von Sender und Empfang.

Das einzige Mittel, diese Unannehmlichkeiten abzustellen: die absolute Kommunikation. Der direkte Kontakt der Antennen. Der ungestörte Übergang der Informationen von einem Gehirn zum andern.

Für sie ist das wie eine Entjungferung ihres Geistes. Jedenfalls etwas Hartes und Unbekanntes.

Aber sie hat keine Wahl. Wenn er weiter so zudrückt, wird er sie töten. Sie zieht die Antennen auf ihre Schultern zurück zum Zeichen der Unterwerfung.

Die AK kann beginnen. Die beiden Antennenpaare rücken entschlossen zusammen. Leichter elektrischer Schlag. Die Nervosität. Langsam, dann immer schneller, reiben die beiden Insekten ihre gezackten elf Segmente aneinander. Ein Schaum bildet sich, mit konfusen Äußerungen gefüllt und voller Bläschen. Diese fette Substanz schmiert die Antennen ein und ermöglicht es, den Rhythmus des Reibens noch zu beschleunigen. Die beiden Insektenköpfe beben eine Weile unkontrolliert, dann beenden die Antennenstengel ihren Tanz und pressen sich der Länge nach aneinander. Jetzt gibt es nur ein Wesen mit zwei Köpfen, zwei Körpern und einem einzigen Antennenpaar.

Das natürliche Wunder vollzieht sich. Die Pheromone wandern über die tausend und abertausend kleinen Poren und Kapillaren der Segmente von einem Körper in den anderen. Das Denken vereint sich. Die Gedanken werden nicht mehr kodiert oder dekodiert. Sie werden in ihrem Zustand ursprünglicher Schlichtheit überreicht: Bilder, Musik, Gefühle, Düfte.

Und in dieser ganz und gar unmittelbaren Sprache erzählt das 327. Männchen dem 56. Weibchen sein ganzes Abenteuer: die Vernichtung der Expedition, die Duftspuren der Zwerginnen, sein Treffen mit der Mutter, wie man versucht hat, ihn auszuschalten, den Verlust seines Duftausweises, sein Kampf mit der Pförtnerin, die Killerinnen mit dem Felsengeruch, die immer noch hinter ihm her sind.

Kaum ist die AK beendet, zieht sie ihre Antennen zum Zeichen des Wohlwollens zurück. Er steigt von ihrem Rücken.

Jetzt ist er ihr ausgeliefert, sie kann ihm mühelos den Garaus machen. Sie kommt näher. Mandibeln weit aufgesperrt, und ... überträgt ihm einige ihrer »Paß«-Pheromone. Damit ist er vorläufig aus dem Schneider. Sie schlägt ihm eine Trophallaxie vor. Er willigt ein. Dann läßt sie ihre Flügel kreisen, um sämtliche Ausdünstungen ihrer Unterhaltung zu verwehen.

Endlich. Er hat es geschafft, jemand zu überzeugen. Die Information ist angekommen, ist von einer anderen Zelle verstanden, akzeptiert worden.

Er hat seine Arbeitsgruppe gegründet.


zeit: Die Wahrnehmung des Ablaufs der Zeit ist bei Menschen und Ameisen völlig verschieden. Für die Menschen ist die Zeit absolut. Die Dauer einer Sekunde ist stets und immer wieder gleich, einerlei, was passiert.

Bei den Ameisen hingegen ist die Zeit relativ. Wenn es warm ist, sind die Sekunden sehr kurz. Wenn es kalt ist, dehnen sie sich endlos in die Länge, bis hin zum winterlichen Bewußtseinsverlust.

Diese elastische Zeit verleiht ihnen eine Wahrnehmung der Geschwindigkeit der Dinge, die sich von unserer grundlegend unterscheidet. Um eine Bewegung zu definieren, zählt für die Insekten nicht nur der Raum und die Zeit, sie fügen eine dritte Dimension hinzu: die Temperatur.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


Fortan sind sie zu zweit darum bemüht, möglichst viele Schwestern von der Bedeutung der »Affäre der zerstörerischen Geheimwaffe« zu überzeugen. Es ist noch nicht zu spät. Sie müssen jedoch zwei Punkte in Betracht ziehen. Zum einen wird es ihnen vor dem Fest der Wiedergeburt, das sämtliche Energien in Anspruch nehmen wird, nicht gelingen, genügend Arbeiterinnen auf ihre Seite zu ziehen. Sie brauchen also einen dritten Komplizen. Zum andern müssen sie Vorsorge treffen für den Fall, daß die Kriegerinnen mit dem Felsenduft wieder auftauchen. Sie brauchen ein Versteck.

Nr. 56 schlägt ihr Gemach vor. Sie hat dort einen Geheimgang gegraben, der ihr im Notfall die Flucht ermöglicht. Nr. 327 ist nicht sonderlich überrascht. Das ist zur Zeit schwer in Mode, Geheimgänge zu graben. Angefangen hat das vor hundert Jahren, während des Krieges gegen die Leimspuckerinnen. Eine Königin einer föderierten Stadt, Ha-yekte-duni, hatte sich in einen Sicherheitswahn gesteigert. Sie hatte sich eine »gepanzerte« verbotene Stadt bauen lassen. Die Seitenwände waren mit dicken Kieselsteinen bewehrt, die wiederum mit Termitenzement zusammengefügt waren!

Das Problem war, daß es nur einen Ausgang gab. So daß sie in ihrem eigenen Palast festsaß, als ihre Stadt von den Einheiten der leimspuckenden Ameisen umzingelt wurde. Die Leimspuckerinnen hatten keine Schwierigkeiten, sie zu fangen und in ihrem ekelhaften, schnell trocknenden Klebstoff zu ersticken. Die Königin Ha-yekte-duni wurde in der Folge gerächt und ihre Stadt befreit, aber ihr schreckliches und dummes Ende prägte auf lange Zeit das Denken der Belokanerinnen.

Da die Ameisen das ungeheure Glück haben, mit einem Mandibelhieb die Form ihrer Behausung zu verändern, begann jeder, seinen Geheimgang zu bohren. Eine Ameise, die ihr Loch gräbt, das mag noch angehen, aber wenn sich eine Million daranmacht, ist das eine Katastrophe. Die »offiziellen« Gänge brachen zusammen, so sehr waren sie von den »Privatgängen« unterhöhlt. Man benutzte seinen Geheimgang und landete dabei in einem wahren Labyrinth, das von »denen der anderen« gebildet wurde. Das ging so weit, daß ganze Viertel baufällig wurden und sogar die Zukunft von Bel-o-kan gefährdet war.

Belo-kiu-kiuni hatte dem einen Riegel vorgeschoben. Niemand durfte mehr auf eigene Faust graben. Aber wie sollte man sämtliche Gemächer kontrollieren?

Nr. 56 schiebt einen kleinen Stein zur Seite, der eine dunkle Öffnung freigibt. Dort ist es. Nr. 327 untersucht das Versteck, findet es perfekt. Bleibt nur noch, einen dritten Komplizen aufzustöbern. Sie gehen hinaus, verschließen das Loch sorgfältig. Das Weibchen Nr. 56 meint:

Wir nehmen die erstbeste. Laß mich machen.

Schon bald begegnen sie jemandem, einer großen geschlechtslosen Soldatin, die ein Stück eines Schmetterlings mit sich schleift. Das Weibchen redet sie von weitem mit emotionsgeladenen Botschaften an, spricht von einer großen Bedrohung für das Volk. Sie bedient sich der Sprache der Emotionen mit solch virtuoser Feinheit, daß das Männchen baß erstaunt ist. Die Soldatin läßt augenblicklich ihr Wildbret fallen und kommt herbei.

Eine große Bedrohung für das Volk? Wo, wer, inwiefern, warum?

Das Weibchen schildert ihr kurz die Katastrophe, die die erste Expedition des Frühjahrs ereilt hat. Ihre Art, sich auszudrücken, verströmt köstliche Düfte. Sie hat bereits den Anmut und das Charisma einer Königin. Die Kriegerin ist schnell gewonnen.

Wann ziehen wir los? Wieviel Soldatinnen brauchen wir, um die Zwerginnen anzugreifen?

Sie stellt sich vor. Sie ist die geschlechtslose Nr. 103 683 aus dem Gelege des vergangenen Sommers. Ein großer leuchtender Schädel, lange Mandibeln, Augen kaum vorhanden, kurze Beine, kurzum, eine mächtige Verbündete. Und eine geborene Enthusiastin. Das Weibchen Nr. 56 muß ihren Feuereifer sogar zügeln.

Sie erklärt ihr, daß es unter ihnen, inmitten des Volkes, Spioninnen gibt, womöglich Söldnerinnen, die für die Zwergameisen arbeiten und verhindern sollen, daß die Belokanerinnen das Rätsel der geheimen Waffe lösen.

Man erkennt sie an ihrem charakteristischen Felsengeruch. Wir müssen schnell machen.

Verlaßt euch auf mich.

Sie teilen untereinander die Stadt in Einflußzonen auf. Nr. 327 wird sich bemühen, die Ammen des Solariums zu überzeugen, die im allgemeinen recht naiv sind.

Nr. 103 683 wird versuchen. Soldatinnen anzuheuern. Wenn es ihr gelingt, ein Heer aufzustellen, wäre das schon toll.

Ich kann auch die Kundschafterinnen befragen, um weitere Informationen über diese Geheimwaffe der Zwerginnen zu erhalten.

Nr. 56 wird ihrerseits die Pilzkulturen und die Stallungen aufsuchen, um strategische Unterstützung zu erlangen.

Treffpunkt 23°-Zeit an gleicher Stelle, um Bilanz zu ziehen.

Diesmal lief im Fernsehen, im Rahmen der Serie »Kulturen der Welt«, ein Bericht über die japanischen Sitten:

»Die Japaner, ein Inselvolk, leben seit Jahrtausenden in Autarkie. Die Welt ist für sie zweigeteilt: die Japaner und die anderen, die Fremden mit den unbegreiflichen Bräuchen, die Barbaren, bei ihnen Gai jin genannt. Die Japaner haben seit jeher einen sehr ausgeprägten Nationalsinn. Läßt sich beispielsweise ein Japaner in Europa nieder, wird er automatisch aus der Gruppe ausgeschlossen. Kommt er dann ein Jahr später zurück, sehen ihn seine Eltern nicht mehr als einen der Ihren an. Bei den Gai jin leben heißt ihren Geist annehmen, mit anderen Worten: ein Gai jin werden. Selbst seine Freunde aus der Kindheit werden ihn behandeln wie irgendeinen Touristen.«

Auf dem Bildschirm zogen die Bilder verschiedener Tempel und der geheiligten Orte von Shinto vorbei. Die Stimme aus dem Off fuhr fort:

»Ihre Vorstellung vom Leben und vom Tod unterscheidet sich von unserer. Hier hat der Tod eines Individuums keine große Bedeutung. Besorgniserregend ist der Verlust einer produktiven Zelle. Um den Tod zu zähmen, lieben es die Japaner, die Kunst des Kampfes zu kultivieren. Der Kendo wird von der Grundschule an gelehrt .«

Zwei Kämpfende, gekleidet wie alte Samurai, tauchten auf dem Bildschirm auf. Ihre Oberkörper waren mit schwarzen, beweglichen Platten bedeckt. Auf dem Kopf trugen sie einen ovalen, mit zwei langen Federn in Ohrhöhe geschmückten Helm. Sie stürzten mit einem Kriegsschrei aufeinander zu, begannen mit ihren langen Säbeln zu fechten.

Neue Bilder. Ein Mann sitzt auf seinen Fersen und hält mit beiden Händen ein kurzes Schwert gegen seinen Bauch.

»Der rituelle Selbstmord, Seppuku, ist ein weiteres Kennzeichen der japanischen Kultur. Es ist für uns sicher schwer zu verstehen, was .«

»Fernsehen, immer nur Fernsehen! Da wird man blöd von! Ständig werden einem die gleichen Bilder in den Kopf gepfropft. Die erzählen doch nur irgendwas. Habt ihr nicht langsam die Nase voll?« rief Jonathan, der seit einigen Stunden zurück war.

»Laß ihn. Das beruhigt ihn. Seit dem Tod des Hundes ist er nicht ganz auf der Höhe ...«, sagte Lucie mit mechanischer Stimme.

Er streichelte seinem Sohn über das Kinn.

»Geht’s dir nicht gut, Großer?«

»Pst, ich kann nichts hören.«

»Hoppla! Wie redet der jetzt mit uns!«

»Wir redet er mit dir! Du mußt zugeben, er sieht dich nicht sehr oft. Kein Wunder, daß er dir ein wenig die kalte Schulter zeigt.«

»He, Nicolas! Hast du die vier Dreiecke geschafft?«

»Nein, das geht mir auf die Nerven. Ich will zuhören.«

»Na schön, wenn dir das auf die Nerven geht ...«

Jonathan spielte nachdenklich mit den Streichhölzern, die auf dem Tisch liegen.

»Schade. Das ist ... lehrreich.«

Nicolas hörte nicht hin, sein Verstand war direkt an den Fernseher angeschlossen. Jonathan ging in sein Zimmer.

»Was machst du?« fragte Lucie.

»Das siehst du doch, ich packe meine Sachen. Ich gehe wieder hinunter.«

»Was? O nein!«

»Ich habe keine Wahl.«

»Jonathan, sag mir endlich, was gibt es da unten, was dich so fasziniert? Immerhin bin ich deine Frau!«

Er gab keine Antwort. Seine Augen wichen ihr aus. Und immer wieder dieses unschöne Zucken. Des Streitens müde, seufzte sie:

»Hast du die Ratten getötet?«

»Meine bloße Gegenwart reicht, um sie auf Distanz zu halten. Wenn nicht, dann komme ich ihnen damit.«

Er zückte ein großes Küchenmesser, das er ausgiebig geschärft hatte. Mit der anderen Hand ergriff er seine Taschenlampe und ging zur Kellertür, einen Rucksack mit reichlich Proviant und modernstem Schlosserwerkzeug umgeschnallt. Er sagte lediglich:

»Auf Wiedersehen, Nicolas. Auf Wiedersehen, Lucie.«

Lucie wußte nicht, was sie tun sollte. Sie packte Jonathans Arm.

»So kannst du nicht gehen! Das ist zu einfach. Du mußt mit mir reden!«

»Ah, ich bitte dich!«

»Wie soll ich’s dir nur sagen? Du bist nicht mehr derselbe, seit du in diesen verdammten Keller gegangen bist. Wir haben kein Geld mehr, und du kaufst für mindestens fünftausend Francs Material und Bücher über Ameisen.«

»Ich interessiere mich für die Schlosserei und für Ameisen. Das ist mein gutes Recht.«

»Nein, das ist nicht dein Recht. Nicht, wenn du einen Sohn und eine Frau zu ernähren hast. Wenn du das ganze Arbeitslosengeld für Bücher über Ameisen ausgibst, werde ich mich noch .«

»Scheiden lassen? Wolltest du das sagen?«

Niedergeschlagen ließ sie seinen Arm los.

»Nein.«

Er faßte sie an den Schultern. Zuckender Mundwinkel.

»Du mußt mir vertrauen. Ich darf nicht auf halbem Weg stehenbleiben. Ich bin nicht verrückt.«

»Ach nein? Schau dich doch an! Du bist leichenblaß, man könnte meinen, du hast ständig Fieber!«

»Mein Körper altert, mein Kopf wird jünger.«

»Jonathan, sag mir, was da unten vorgeht!«

»Aufregende Dinge. Man muß tiefer gehen, immer tiefer, wenn man eines Tages wieder hinaufkommen will ... Weißt du, das ist wie ein Schwimmbad, erst auf dem Grund findet man Halt, um nach oben zu gelangen.«

Und er brach in ein irres Lachen aus, das noch dreißig Sekunden später unheimlich die Wendeltreppe heraufschallte.

35. OG. Die feine Schicht aus dünnen Zweigen hat die Wirkung eines Kirchenfensters. Die Sonnenstrahlen dringen gleißend durch diesen Filter, um wie ein Sternenregen auf den Boden zu fallen. Wir sind im Solarium der Stadt, der »Fabrik«, in der die belokanischen Bürger erzeugt werden.

Es herrscht eine fürchterliche Hitze. 38°. Das ist normal, das Solarium liegt nach Süden, damit es so lange wie möglich der Glut des weißen Gestirns ausgesetzt ist. Manchmal steigen die Temperaturen durch den Katalysatoreffekt der Zweige auf bis zu 50° an.

Hunderte von Beinen sind in emsiger Bewegung. Am zahlreichsten ist die Kaste der Ammen vertreten. Sie schichten die Eier auf, die Belo-kiu-kiuni gelegt hat. Vierundzwanzig Stapel bilden einen Haufen, vierzig Haufen eine Reihe. Die Reihen verlieren sich in der Ferne. Wenn eine Wolke für Schatten sorgt, verschieben die Ammen die Stapel. Die jüngsten müssen stets gut gewärmt sein. »Feuchte Hitze für die Eier, trockene Hitze für die Kokons«, so ein altes Ameisenrezept, um schöne Junge zu erzeugen.

Links sieht man Arbeiterinnen, die damit beschäftigt sind, schwarze Holzbröckchen zu stapeln, in denen sich die Hitze speichert, und kompostierte Humusstückchen, die Hitze erzeugen. Dank dieser beiden »Radiatoren« weist das Solarium ständig eine Temperatur zwischen 25° und 40° auf, selbst wenn die Außentemperatur nur 15° beträgt.

Artilleristinnen gehen auf und ab. Für den Fall, daß sich ein Grünspecht blicken läßt ...

Rechts erkennt man ältere Eier. Eine lange Metamorphose: Durch das dauernde Lecken der Ammen und der Zeit werden die kleinen Eier größer und gelb. Nach ein bis sieben Wochen verwandeln sie sich in Larven mit goldfarbenen Härchen. Auch das hängt von der Witterung ab.

Die Ammen sind äußerst konzentriert. Sie sparen weder mit ihrem antibiotischem Speichel, noch lassen sie in ihrer Aufmerksamkeit nach. Nicht der geringste Dreck darf die Eier besudeln. Sie sind so zerbrechlich. Selbst die Dialogpheromonen werden auf das Allernötigste beschränkt.

Hilf mir, sie in diese Ecke zu tragen ... Achtung, dein Stapel droht einzustürzen ...

Eine Amme transportiert eine Larve, die doppelt so groß ist wie sie selbst. Bestimmt eine Artilleristin. Sie setzt die »Waffe« in einer Ecke ab und beleckt sie.

In der Mitte dieses weitläufigen Brutkastens schreien Haufen von Larven, deren zehn Körpersegmente sich allmählich abzeichnen, nach ihrem Futter. Sie schütteln den Kopf hin und her, recken den Hals und lamentieren so lange, bis sich die Ammen dazu bequemen, ihnen ein wenig Honigtau oder ein Stück Insektenfleisch zu übergeben.

Nach drei Wochen, wenn sie genügend »gereift« sind, hören die Larven auf zu fressen und sich zu bewegen. Es folgt eine Pause der Lethargie, in der sie sich auf die große Anstrengung vorbereiten. Sie sammeln ihre Energien, um den Kokon auszuscheiden, der sie in Puppen verwandeln wird.

Die Ammen schleppen diese dicken gelben Pakete in einen benachbarten Saal, der mit Sand gefüllt ist, um die Luftfeuchtigkeit zu absorbieren. »Feuchte Hitze für die Eier, trockene Hitze für die Kokons«, man kann es nicht oft genug wiederholen.

In diesem Brutofen wird der weiße Kokon mit dem bläulichen Schimmer gelb, dann grau, schließlich braun. Der Stein der Weisen in umgekehrter Richtung. Unter der Schale vollzieht sich das Wunder der Natur. Alles ändert sich. Nervensystem, Atmungs- und Verdauungsapparat, Sinnesorgane, Panzer .

Die in diesem Brutkasten untergebrachte Puppe wird in wenigen Tagen anschwellen. Das Ei kocht, der große Augenblick naht. Die Puppe, die kurz davor ist, auszuschlüpfen, wird zur Seite gezogen, zu den anderen, die im gleichen Zustand sind. Die Ammen schlitzen behutsam den Schleier des Kokons auf, legen eine Antenne frei, ein Bein, bis eine Art weiße Ameise erscheint, die zittert und wankt. Ihr noch weiches und helles Chitin wird in einigen Tagen so rot sein wie das der anderen Belokanerinnen.

Nr. 327, der inmitten dieses Trubels steht, weiß nicht, an wen er sich wenden soll. Er stößt einen schwachen Duft in Richtung einer Amme aus, die einem Neugeborenen hilft, die ersten Schritte zu tun.

Es geschieht etwas Wichtiges.

Die Amme wendet nicht einmal den Kopf. Sie gibt einen Satz von sich, dessen Duft kaum wahrnehmbar ist.

Pst. Es gibt nichts Wichtigeres als die Geburt eines Wesens.

Eine Artilleristin stößt ihn zur Seite, indem sie mit den keulenartigen Enden ihrer Antennen auf ihn einklopft. Tip, tip, tip.

Sie dürfen nicht stören. Gehen Sie.

Er hat nicht das richtige Niveau an Energie, er vermag andere nicht zu überzeugen. Ah, wenn er die Begabung von Nr. 56 hätte! Dennoch versucht er sein Glück bei anderen Ammen, doch sie schenken ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit. Allmählich fragt er sich, ob seine Mission wirklich so bedeutsam ist, wie er glaubt. Vielleicht hat Belo-kiu-kiuni recht. Es gibt wichtigere Aufgaben. Zum Beispiel das Leben zu erhalten, fortzupflanzen, statt einen Krieg vom Zaun zu reißen.

Während er noch bei diesem merkwürdigen Gedanken ist, streift ein Strahl Ameisensäure seine Antennen! Eine Amme hat ihn abgefeuert. Sie hat den Kokon fallen lassen, der ihr anvertraut war, und auf ihn angelegt. Zum Glück hat sie schlecht gezielt.

Er saust los, um die Terroristin zu fassen, aber sie ist bereits in die erste Krippe davongelaufen und hat einen Stapel Eier umgestoßen, um ihm den Weg zu versperren. Die Schalen zerbrechen und geben eine transparente Flüssigkeit frei.

Sie hat Eier zerstört! Was ist in sie gefahren? Es herrscht helle Aufregung, die Ammen laufen kreuz und quer, voller Sorge, die im Entstehen begriffene Generation zu schützen.

Nr. 327 erkennt, daß er die Flüchtige nicht einholen kann. Also schiebt er den Hinterleib unter seinen Thorax und legt seinerseits an. Aber bevor er zum Schießen kommt, wird sie bereits von einer Artilleristin getroffen, die sie beobachtet hat, als sie die Eier umstieß.

Ein Auflauf bildet sich um den von der Ameisensäure verätzten Körper. Nr. 327 neigt seine Antennen über den Kadaver. Kein Zweifel, er verströmt einen schwachen Geruch. Einen Felsenduft.


Soziabilität: Bei den Ameisen wie bei den Menschen ist die Soziabilität vorherbestimmt. Die neugeborene Ameise ist zu schwach, um den Kokon, der sie umhüllt, allein zu durchbrechen. Das menschliche Baby ist nicht einmal in der Lage, zu gehen oder sich allein zu ernähren.

Ameisen und Menschen sind zwei Arten, die sich so entwickelt haben, daß sie auf die Hilfe ihrer Umgebung angewiesen sind; sie können nicht allein, von sich aus lernen.

Diese Abhängigkeit von den Erwachsenen ist sicher eine Schwäche, aber sie leitet einen anderen Prozeß ein: den der Suche nach Wissen. Wenn die Erwachsenen überleben können, die Jungen jedoch nicht, sind letztere von Beginn an gezwungen, von den älteren die Vermittlung von Kenntnissen zu verlangen.

Edmond Wells

Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens


20. UG. Das Weibchen Nr. 56 ist noch nicht dazu gekommen, mit den Bäuerinnen über die Geheimwaffe der Zwerginnen zu reden, denn was sie da sieht, fesselt sie viel zu sehr, als daß sie irgend etwas äußern könnte.

Da die Kaste der Weibchen besonders wertvoll ist, bleiben diese während ihrer ganzen Kindheit in ihrer Kammer eingesperrt. Oft kennen sie von der Welt nicht viel mehr als ein paar hundert Gänge, und nur wenige von ihnen haben sich bereits über das 10. Ober- oder das 10. Untergeschoß hinausgewagt.

Einmal hat Nr. 56 versucht, hinauszugehen und die Große Außenwelt zu betrachten, von der ihr die Ammen erzählt hatten, aber die Schildwachen haben sie zurückgedrängt. Man könne mehr oder weniger ihre Gerüche tarnen, nicht aber ihre langen Flügel. Also haben ihr die Wachen erzählt, daß draußen riesige Ungetüme lauerten. Sie fräßen die kleinen Prinzessinnen auf, die vor dem Fest der Wiedergeburt hinauswollten. Seitdem war Nr. 56 zwischen Neugier und Schrecken hin- und hergerissen.

Im 20. Untergeschoß angelangt, wird ihr klar, daß sie, bevor sie die wilde Große Außenwelt erkundet, noch viele Wunder in ihrer eigenen Stadt zu entdecken hat. Hier sieht sie zum erstenmal die Pilzkulturen.

In der belokanischen Mythologie heißt es, daß die ersten Pilzkulturen im fünfzigtausendsten Jahrtausend, während des Getreidekrieges, entdeckt wurden. Ein Artilleristinnen-kommando hatte eine Termitenstadt eingenommen. Plötzlich stießen sie auf einen Saal mit kolossalen Ausmaßen. In der Mitte erhob sich ein riesiger weißer Kuchen, den die Termitenarbeiterinnen unaufhörlich polierten.

Sie hatten ihn probiert und äußerst schmackhaft gefunden. Das war ... das war wie ein ganzes eßbares Dorf! Gefangene gestanden, daß es sich um Pilze handelte. Tatsächlich leben die Termiten nur von Zellulose; da sie diese jedoch nicht verdauen können, greifen sie auf diese Pilze zurück, um sie assimilierbar zu machen.

Die Ameisen verdauen Zellulose zwar sehr gut und sind nicht auf derlei Tricks angewiesen, aber den Vorteil, solche Kulturen innerhalb ihrer Stadt zu haben, erfaßten sie nichtsdestoweniger: Das gab ihnen die Möglichkeit, Belagerungen und Hungersnöten zu trotzen.

Heute werden in den großen Sälen im 20. UG von Bel-o-kan die Stämme ausgewählt. Die Ameisen verwenden allerdings nicht mehr die gleichen Pilze wie die Termiten, in Belo-kan werden vor allem Lamellenpilze angebaut. Und ausgehend von diesen landwirtschaftlichen Tätigkeiten hat sich eine ganze Technologie entwickelt.

Nr. 56 irrt zwischen den Beeten dieses weißen Gartens umher. Auf einer Seite bereiten Arbeiterinnen das »Bett« vor, auf dem der Pilz wachsen wird. Sie schneiden Blätter in kleine Vierecke, die anschließend zerkratzt, zerstoßen, durchgeknetet und zu einer Paste verarbeitet werden. Die Blätterpaste wird auf einem aus Exkrementen gebildeten Kompost aufgetragen (die Ameisen sammeln ihre Exkremente in dafür vorgesehenen Becken) und mit Speichel befeuchtet. Die Arbeit, dieses Erzeugnis zum Keimen zu bringen, wird der Zeit überlassen.

Die bereits vergorenen Pasten sind von einem Knäuel weißer eßbarer Fasern umgeben. Dort links sind welche zu sehen. Die Arbeiterinnen begießen sie daraufhin mit ihrem desinfizierenden Speichel und schneiden alles ab, was über den kleinen weißen Kegel hinausragt. Wenn man die Pilze wachsen ließe, würden sie bald den Saal sprengen. Aus den von den Arbeiterinnen mit den flachen Mandibeln abgeschnittenen Fasern wird ein ebenso schmackhaftes wie stärkendes Mehl gewonnen.

Auch dort sind die Arbeiterinnen höchst konzentriert. Nicht das geringste Unkraut, nicht der geringste parasitäre Pilz darf von ihren Anstrengungen profitieren.

Unter diesen nicht gerade günstigen Umständen versucht Nr. 56, einen Antennenkontakt mit einer Gärtnerin herzustellen, die gerade sorgfältig einen der weißen Kegel beschneidet.

Eine große Gefahr bedroht die Stadt. Wir brauchen Hilfe. Wollt ihr euch unserer Arbeitszelle anschließen?

Was für eine Gefahr?

Die Zwerginnen haben eine Geheimwaffe von verheerender Wirkung entdeckt. Wir müssen so schnell wie möglich handeln.

Die Gärtnerin fragt sie sanftmütig, was sie von ihrem Pilz hält, einem schönen Lamellenpilz. Nr. 56 beglückwünscht sie dazu. Die andere bietet ihr an, davon zu kosten. Das Weibchen beißt in die weiße Paste und verspürt sogleich ein heftiges Brennen in ihrer Speiseröhre. Gift! Der Lamellenpilz ist mit Myrmikazin getränkt worden, einer tödlichen Säure, die normalerweise in verdünnter Form als Unkrautvertilgungsmittel verwendet wird. Nr. 56 hustet und spuckt die giftige Speise rechtzeitig wieder aus. Die Gärtnerin hat ihren Pilz fahrenlassen und springt ihr mit geöffneten Mandibeln an die Brust.

Sie wälzen sich in dem Kompost, biegen ihre Antennenkeulen ruckartig zurück und schlagen einander auf den Schädel. Klack! Klack! Klack! Die Schläge geschehen in der eindeutigen Absicht zu töten. Die Bäuerinnen trennen die beiden.

Was ist denn mit euch los?

Die Gärtnerin flieht. Nr. 56 öffnet ihre Flügel, setzt ihr mit einem wunderbaren Sprung nach und preßt sie auf den Boden. In diesem Augenblick identifiziert sie einen schwachen Felsengeruch. Kein Zweifel, auch sie ist an ein Mitglied dieser unerhörten Mörderbande geraten.

Sie kneift ihr in die Antennen.

Wer bist du? Warum hast du versucht, mich zu töten? Woher kommt dieser Felsenduft?

Schweigen. Sie verdreht ihr die Antennen. Das ist sehr schmerzhaft, die Gärtnerin beginnt zu strampeln, antwortet jedoch nicht. Es ist an sich nicht die Art von Nr. 56, einer Schwesterzelle weh zu tun, dennoch verdreht sie die Antennen weiter.

Die andere rührt sich nicht. Sie ist in die freiwillige Starre eingetreten. Ihr Herz schlägt kaum noch, sie wird bald sterben. Verärgert trennt ihr Nr. 56 beide Antennen ab, aber sie ereifert sich nur noch an einem Kadaver.

Die Bäuerinnen umringen sie erneut.

Was ist los? Was haben Sie mit ihr gemacht?

Nr. 56 denkt, daß dies nicht der Moment ist, sich zu rechtfertigen. Es ist besser, sich aus dem Staub zu machen, was ihr mit einem Flügelschlag auch gelingt. Nr. 327 hat recht. Es spielt sich etwas Unglaubliches ab, Zellen innerhalb des Volkes sind verrückt geworden.

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