Am Morgen des 15. Juni erwachte Guy Burckhardt schreiend aus einem Traum. Er war realer gewesen als jeder Traum, den er je in seinem Leben gehabt hatte. Er konnte immer noch die Explosion hören, konnte immer noch fühlen, wie das Metall zerbarst, spürte die heftige Bewegung, die ihn aus dem Bett warf, die sengende Hitzewelle.
Ruckartig setzte er sich auf, blickte sich ungläubig in dem stillen Zimmer um, das von hellem Sonnenschein erfüllt war.
»Mary?« rief er heiser.
Seine Frau lag nicht neben ihm. Ihre Decke war zerknüllt, als wäre sie eben erst aufgestanden, und die Erinnerung an den Traum war so lebendig, daß er unwillkürlich auf dem Boden nachschaute, um festzustellen, ob seine Traumexplosion sie aus dem Bett geschleudert hatte.
Aber da lag sie nicht. Natürlich nicht, sagte er sich, als er auf den vertrauten Toilettentisch mit dem Hocker blickte, auf die unzerbrochenen Fensterscheiben, die unversehrten Wände. Es war nur ein Traum gewesen.
»Guy?« rief seine Frau vom Fuß der Treppe herauf. »Alles okay?«
»Ja«, erwiderte er mit schwacher Stimme.
Eine kleine Pause entstand. Dann sagte Mary mit leicht skeptischem Unterton: »Das Frühstück ist fertig. Geht es dir auch wirklich gut? Du hast doch vorhin geschrien.«
»Ich hatte nur einen bösen Traum, Liebling«, entgegnete Guy, nun etwas zuversichtlicher. »Ich komme gleich hinunter!« Unter der lauwarmen Dusche sagte er sich, daß es ein unheimlicher Traum gewesen war. Aber Alpträume waren ja nichts Besonderes - und daß man dabei von Explosionen heimgesucht wurde, war durchaus normal. Wer hatte in den vergangenen Jahrzehnten, seit es die H-Bombe gab, nicht von Explosionen geträumt?
Sogar Mary hatte davon geträumt, wie sich herausstellte, als er ihr von dieser schlimmen Nacht erzählen wollte. Aber sie unterbrach ihn. »Wirklich?« fragte sie. »Stell dir vor, ich habe das gleiche geträumt. Nun ja - fast das gleiche. Ich habe nichts gehört. Ich träumte, daß ich von irgend etwas geweckt wurde, und dann hatte ich das Gefühl, einen Schlag auf den Kopf zu bekommen. Das war alles. Hast du das auch geträumt?«
Burckhardt räusperte sich. »Hm - nein.« Mary gehörte nicht zu den Frauen, die stark wie Männer und tapfer wie Tiger waren. Er fand, daß es nicht nötig war, ihr die Einzelheiten zu schildern, die seinem Traum eine so reale Atmosphäre gegeben hatten. Sie brauchte nichts zu wissen von den zerbrochenen Rippen, den salzigen Blasen in seinem Hals, von dem Wissen, daß dies der Tod sein müßte. »Vielleicht ist wirklich irgend etwas in der Stadt explodiert«, sagte er. »Wahrscheinlich haben wir es gehört, und das hat unseren Traum ausgelöst.«
Mary tätschelte geistesabwesend seine Hand. »Vielleicht«, stimmte sie zu. »Es ist schon fast halb neun, Liebling. Solltest du dich nicht lieber beeilen? Du willst doch nicht zu spät zur Arbeit kommen.«
Er schlang den Rest seines Frühstücks hinunter, küßte sie und rannte aus dem Haus. So spät war er nun auch wieder nicht dran, daß er nicht noch nachsehen könnte, ob seine Vermutung zutraf.
Aber das Stadtzentrum von Tylerton sah unverändert aus. Als Burckhardt im Bus saß, blickte er aufmerksam aus dem Fenster und hielt nach irgendwelchen Anzeichen einer Explosion Ausschau.
Aber da war nichts. Tylerton sah sogar besser aus als je zuvor. Es war ein schöner, kalter Tag. Der Himmel war wolkenlos, die Gebäude wirkten sauber und einladend. Wie er feststellte, hatten sie das Power & Light-Gebäude, den einzigen Wolkenkratzer der Stadt, einer Dampfwäsche unterzogen. Es hatte eben auch gewisse Nachteile, wenn das Hauptwerk der Contro Chemical am Stadtrand stand. Der Rauch der Brennereien hinterließ seine Spuren auf den Steinhäusern.
Burckardt saß allein im Bus, und so konnte er niemanden nach der Explosion fragen. Und als er an der Ecke der Fifth Street und der Lehigh Street ausstieg und der Bus mit einem gedämpften Dieselstöhnen davonrollte, war er schon fast überzeugt, daß er sich alles nur eingebildet hatte.
Er blieb vor dem Zigarettenkiosk in der Halle des Bürogebäudes stehen, in dem er arbeitete. Aber Ralph war nicht da. Ein Fremder verkaufte ihm die Zigarettenpackung.
»Wo ist denn Mr. Stebbins?« fragte Burckhardt.
»Er ist krank, Sir«, antwortete der Mann höflich. »Morgen wird er wieder kommen. Eine Packung Marlins?«
»Chesterfields«, verbesserte Burckhardt.
»Gewiß, Sir«, sagte der Mann. Aber was er dann aus einem Regal nahm und auf die Theke legte, war eine grüngelbe Packung, die Burckhardt noch nie zuvor gesehen hatte. »Versuchen Sie die mal, Sir«, schlug er vor. »Sie enthalten einen Anti-Husten-Faktor. Haben Sie noch nie gemerkt, daß Sie von den gewöhnlichen Zigaretten einen starken Hustenreiz kriegen?«
»Von dieser Marke habe ich noch nie gehört«, erwiderte Burckhardt mißtrauisch.
»Natürlich nicht. Das ist ganz was Neues.«
Burckhardt zögerte, und der Mann sagte einschmeichelnd: »Versuchen Sie's doch! Ich trage das Risiko. Wenn Ihnen die Zigaretten nicht schmecken, bringen Sie mir die leere Packung zurück, und Sie bekommen Ihr Geld wieder. Das ist doch fair, nicht wahr?«
Burckhardt zuckte mit den Schultern. »Was kann ich schon dabei verlieren? Aber geben Sie mir trotzdem auch eine Packung Chesterfields, ja?«
Er öffnete die grüngelbe Packung und zündete sich eine Zigarette an, während er auf den Aufzug wartete. Der Glimmstengel schmeckte gar nicht schlecht - wenn er auch Zigaretten mißtraute, deren Tabak chemisch behandelt worden war. Aber in Ralphs Kiosk würde man mit diesem neuen Zeug keinen Erfolg haben. Die Leute würden ihm die Hölle heiß machen, wenn er versuchen sollte, ihnen so was aufzuschwatzen.
Die Lifttür öffnete sich mit leiser Musik. Burckhardt und drei andere Männer stiegen ein, und er nickte ihnen zu, als sich die Tür schloß. Die Musik verstummte, und aus dem Lautsprecher an der Decke der Kabine drangen die üblichen Reklamesprüche.
Nein, es waren nicht die üblichen, wie Burckhardt nun feststellte. Er war der auditivsuggestiven Werbung schon so lange ausgesetzt gewesen, daß sie kaum noch in sein Bewußtsein drang. Aber was jetzt auf dem Tonbandgerät im Erdgeschoß des Hauses ablief, erregte seine Aufmerksamkeit. Nicht nur, daß er die angepriesenen Waren nicht kannte - auch das Schema der Werbung war völlig neu.
Da wurde mit rhythmischem Geklingel von Drinks geschwärmt, die er noch nie gekostet hatte. Da fand ein Schnatter-Dialog zwischen zwei etwa zehnjährigen Jungs über einen Schokoladeriegel statt, worauf ein autoritärer Baß befahl: »Dann lauft mal los und holt euch einen köstlichen Schokohappen und eßt euren Tangy-Riegel ganz schnell auf!« Dann rief eine weinerliche Frauenstimme: »Wenn ich nur einen Feckle-Kühlschrank hätte! Ich würde alles tun, wenn ich einen Feckle-Kühlschrank bekäme...« Burckhardt erreichte seine Etage und verließ den Lift, während die Frauenstimme immer noch jammerte. Ein leichtes Unbehagen erfüllte ihn, weil er die Artikel nicht kannte, die da in den höchsten Tönen gelobt wurden.
Aber das Büro sah ganz normal aus - abgesehen von der Tatsache, daß Mr. Barth nicht da war. Miß Mitkin, die gähnend im Empfangszimmer saß, wußte nicht genau, warum Mr. Barth fehlte.
»Vielleicht ist er ins Werk gegangen. Das liegt ja in der Nähe seines Hauses.«
»Mag sein«, erwiderte sie desinteressiert.
Plötzlich fiel Burckhardt etwas ein. »Aber heute ist doch der 15. Juni! Heute kommt die vierteljährliche Steuererklärung. Er muß das Formular unterschreiben.«
Miß Mitkin zuckte mit den Schultern, um anzuzeigen, daß das Burckhardts Problem sei und nicht ihres, und widmete sich wieder ihrer Maniküre.
Beunruhigt ging Burckhardt zu seinem Schreibtisch. Nicht daß er das Formular nicht ebenso gut unterzeichnen könnte wie Barth. Aber das war ganz einfach nicht sein Job. Diese Verantwortung mußte Barth tragen, der Büromanager des Stadtbüros von Contro Chemical.
Er überlegte, ob er Barth in seinem Haus anrufen oder versuchen sollte, ihn in der Fabrik zu erreichen, aber diesen Plan ließ er rasch wieder fallen. Die Leute in der Fabrik waren ihm nicht sonderlich sympathisch, und je weniger Kontakt er mit ihnen hatte, desto besser.
Er war einmal mit Barth in der Fabrik gewesen - ein verwirrendes und in gewisser Weise auch beängstigendes Erlebnis. Abgesehen von ein paar leitenden Angestellten und Ingenieuren gab es dort keine Menschenseele - zumindest keine lebende Menschenseele, korrigierte sich Burckhardt, als er sich an Barths Erläuterungen erinnerte - nur die Maschinen.
Barth hatte ihm erklärt, daß jede Maschine von einem Computer kontrolliert wurde, der in seinem elektronischen Kauderwelsch den Gedächtnisinhalt und den Verstand eines menschlichen Wesens reproduzierte. Das war ein unangenehmer Gedanke. Barth hatte lachend versichert, es hätte überhaupt nichts mit Frankenstein zu tun, wenn man die Friedhöfe plünderte und menschliche Gehirne in Maschinen verpflanzte. Man würde nur menschliche Denkprozesse von Gehirnzellen in Vakuumröhrenzellen transferieren. Dem betreffenden Menschen tat das nicht mehr weh, und es würde die Maschine keineswegs in ein Monstrum verwandeln.
Trotzdem war Burckhardt sehr unbehaglich zumute, wenn er sich das alles vorstellte.
Er verbannte Barth und die Fabrik und all die anderen kleinen irritierenden Faktoren aus seinem Gehirn und widmete sich dem Steuererklärungsformular. Es war schon Mittag, als er endlich alle Zahlen überprüft hatte, eine Arbeit, die Barth mit Hilfe seines Gedächtnisses und seiner privaten Akten in zehn Minuten erledigt hätte, wie sich Burckhardt verdrossen klarmachte.
Er steckte das Formular in einen Umschlag und ging zu Miß Mitkin hinaus. »Da Mr. Barth nicht hier ist, gehen wir besser nacheinander essen«, sagte er. »Ich lasse Ihnen den Vortritt.«
»Danke.« Miß Mitkin nahm ihre Handtasche aus der Schreibtischschublade und begann ihr Make-up zu erneuern.
Burckhardt reichte ihr das Kuvert. »Werfen Sie das in den Briefkasten, ja? Oh, Moment mal. Ich habe mir überlegt, ob ich Mr. Barth anrufen soll. Hat seine Frau gesagt, daß er Telefongespräche entgegennehmen kann?«
»Nein.« Miß Mitkin preßte ihre bemalten Lippen auf ein Kleenex-Tuch. »Seine Frau war gar nicht am Apparat. Es war seine Tochter.«
»Die Kleine?« Burckhardt runzelte die Stirn. »Aber die müßte doch in der Schule sein.«
»Ich weiß nur, daß sie angerufen hat.«
Burckhardt kehrte in sein Büro zurück und betrachtete angewidert die ungeöffnete Post, die auf seinem Schreibtisch lag. Er haßte Alpträume. Sie konnten einem den ganzen Tag verderben. Er hätte im Bett bleiben sollen - wie Barth.
Auf dem Heimweg hatte er ein merkwürdiges Erlebnis. An der Ecke, wo er gewöhnlich auf den Bus wartete, herrschte ein Riesenwirbel. Irgend jemand schrie etwas von einem neuen Tiefkühlgerät, und so ging er einen Häuserblock weiter. Aber hinter ihm rief jemand seinen Namen. Er blickte über die Schulter.
Ein kleiner Mann, der ziemlich unglücklich aussah, rannte ihm nach.
Burckhardt zögerte, dann erkannte er ihn. Es war ein flüchtiger Bekannter namens Swanson. Burckhardt stellte mürrisch fest, daß er seinen Bus verpaßt hatte.
»Hallo«, sagte er.
Verzweifelter Eifer verzerrte Swansons Gesicht. »Burckhardt?« fragte er mit seltsamer Eindringlichkeit. Und dann stand er ganz still da und beobachtete Burckhardts Mienenspiel, mit einem lebhaften Interesse, das sich zu einer schwachen Hoffnung verringerte und schließlich in düsterem Bedauern erstarb. Er sucht irgend etwas, wartet auf irgend etwas, dachte Burckhardt. Aber was immer Swanson auch wollte, Burckhardt wußte nicht, wie er diesen Wunsch erfüllen sollte. Er räusperte sich und sagte noch einmal: »Hallo! Hallo, Swanson!«
Swanson erwiderte den Gruß nicht. Er seufzte nur tief auf.
»Nichts«, murmelte er, offenbar zu sich selbst. Er nickte Burckhardt geistesabwesend zu und wandte sich ab.
Burckhardt beobachtete, wie die hängenden Schultern des kleinen Mannes in der Menge verschwanden. Ein seltsamer Tag ist das, dachte er, ein Tag, der mir ganz und gar nicht gefallt. Heute läuft einfach alles schief.
Als er im nächsten Bus nach Hause fuhr, grübelte er darüber nach. Es war nichts Schreckliches, nichts Katastrophales - es war etwas, das nicht zu seinem Erfahrungsbereich gehörte. Man lebt sein Leben, wie jeder Mensch, und man bildet ein Netzwerk aus Eindrücken und Reaktionen. Man erwartet gewisse Dinge. Wenn man seinen Badezimmerschrank aufmacht, erwartet man, daß der Rasierapparat auf dem zweiten Regal steht. Wenn man seine Haustür absperrt, erwartet man, daß man zusätzlich am Griff ziehen muß, um sicherzugehen, daß das Schloß zuschnappt.
Es sind nicht die makellosen, vollkommenen Dinge des Lebens, die einem das Gefühl des Vertrauten geben. Es sind die fehlerhaften Dinge, das Schloß, das nicht richtig schließt, der Lichtschalter an der Treppe, auf den man zweimal drücken muß, weil die Feder alt und ausgeleiert ist, der Teppich, der einem immer wieder unter den Füßen wegrutscht.
Es lag nicht daran, daß irgendwelche Dinge in Burckhardts Leben nicht stimmten. Es lag daran, daß die falschen Dinge nicht stimmten. Zum Beispiel war Barth nicht ins Büro gekommen, obwohl Barth sonst immer kam.
Auch beim Dinner dachte Burckhardt darüber nach, obwohl seine Frau versuchte, ihn für eine Bridge-Partie mit den Nachbarn zu interessieren. Er dachte den ganzen Abend darüber nach. Die Nachbarn waren ihm sympathisch - Anne und Farley Dennerman. Er kannte sie schon sein Leben lang. Aber an diesem Abend waren sie auch so merkwürdig und nachdenklich, und er hörte kaum auf Dennermans Klagen über die schlechten Telefonleitungen und die Bemerkung seiner Frau, daß das Werbefernsehen in letzter Zeit widerlich sei.
Burckhardt war nahe daran, in einen chronischen Zustand der Geistesabwesenheit zu verfallen, als ihm gegen Mitternacht mit überraschender Plötzlichkeit bewußt wurde - es war ihm tatsächlich seltsam bewußt, während es geschah -, daß er sich in seinem Bett umdrehte und ziemlich schnell in einen tiefen Schlaf fiel.
Am Morgen des 15. Juni wachte Burckhardt schreiend auf. Es war realer als jeder Traum, den er jemals in seinem Leben gehabt hatte. Er konnte die Explosion immer noch hören, spürte die Kraft, die ihn gegen eine Wand schleuderte. Es schien ihm nicht richtig, daß er nun aufrecht in seinem Bett saß, in einem unversehrten Zimmer.
Seine Frau kam die Treppe heraufgerannt. »Liebling!« rief sie. »Was ist denn los?«
»Nichts«, murmelte er. »Nur ein böser Traum.«
Sie atmete auf und preßte eine Hand auf ihr Herz. »Ich bin so erschrocken.«, begann sie in vorwurfsvollem Ton.
Aber ein Lärm von draußen unterbrach sie. Sirenen heulten, Glocken läuteten - es klang laut und furchterregend.
Einen Herzschlag lang starrten die Burckhardts einander an, dann rannten sie angstvoll zum Fenster.
Keine Feuerwehrautos fuhren durch die Straßen, nur ein kleiner Laster, der langsam dahinrollte. Aus einem Lautsprecher auf seinem Dach drangen kreischende Sirenentöne, immer lauter, vermischt mit dem Rumpeln von Hochleistungsmaschinen und Glockenklängen. Es war die perfekte Tonbandaufnahme eines Feuerwehreinsatzes.
»Mary, das ist verboten«, sagte Burckhardt erstaunt. »Weißt du, was die da machen? Sie lassen die Bandaufnahme eines Feuerwehreinsatzes ablaufen. Was hat das zu bedeuten?«
»Vielleicht soll es ein Scherz sein«, meinte seine Frau.
»Ein Scherz? Findest du es etwa komisch, daß die um sechs Uhr morgens die ganze Nachbarschaft wecken?« Er schüttelte den Kopf. »In zehn Minuten wird die Polizei da sein«, prophezeite er. »Wart's nur ab!«
Aber die Polizei kam nicht - weder nach zehn Minuten noch zu einem späteren Zeitpunkt. Wer immer die Witzbolde waren, die da im Laster saßen, sie besaßen offenbar eine polizeiliche Erlaubnis.
Der Wagen bezog mitten auf einem Platz Stellung, wo er ein paar Minuten lang stehenblieb. Es knisterte im Lautsprecher, und dann sang eine gigantische Stimme:
»Feckle-Kühlschränke!
Feckle-Kühlschränke!
Sie brauchen einen
Feckle-Kühlschrank!
Feckle, Feckle, Feckle,
Feckle, Feckle, Feckle...«
Und so ging es immer weiter. Aus fast allen Fenstern ringsum starrten Leute herab. Die Stimme war nicht nur laut, sie war ohrenbetäubend.
Burckhardt mußte seine Frau anschreien, um den Lärm zu übertönen. »Was ist denn ein Feckle-Kühlschrank, zum Teufel?«
»Ich nehme an, irgendein Kühlschrank, Liebling!« brüllte sie zurück, womit ihm auch nicht geholfen war.
Plötzlich verstummte die schreckliche Stimme, und der Laster stand ganz still da. Es war ein nebliger Morgen. Die Sonnenstrahlen schienen horizontal über die Dächer. Es war unvorstellbar, daß noch vor wenigen Sekunden der Name eines Kühlschranks von den friedlichen Hauswänden widergehallt war.
»Ein verrückter Werbegag«, sagte Burckhardt verbittert. Gähnend wandte er sich vom Fenster ab. »Ich werde mich mal anziehen. Wahrscheinlich ist der Zirkus jetzt vorbei.«
Das Gebrüll erwischte ihn von hinten. Es war fast so, als hätte ihm jemand einen kräftigen Schlag auf die Ohren versetzt. Eine heisere spöttische Stimme, lauter als die Trompete des Erzengels, begann zu heulen:
»Haben Sie einen Kühlschrank? Der stinkt!
Wenn es kein Feckle-Kühlschrank ist, stinkt er!
Wenn es ein Feckle-Kühlschrank vom letzten Jahr ist, stinkt er!
Nur die Feckle-Kühlschränke aus diesem Jahr sind wirklich gut!
Kennen Sie jemanden, der einen Aja-Kühlschrank hat?
Schwule haben Aja-Kühlschränke!
Kennen Sie jemanden, der einen Triplecold-Kühlschrank hat?
Kommunisten haben Triplecold-Kühlschränke!
Jeder Kühlschrank stinkt -wenn er kein brandneuer Feckle-Kühlschrank ist.«
Die Stimme schrie immer lauter vor Zorn und überschlug sich beinahe.
»Ich warne Sie!
Laufen Sie los und kaufen Sie sofort einen Feckle-Kühlschrank!
Beeilen Sie sich!
Kaufen Sie einen Feckle!
Schnell, schnell, schnell!
Feckle, Feckle, Feckle, Feckle, Feckle, Feckle.«
Dann verstummte die Stimme, Burckhardt fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und begann gerade zu seiner Frau zu sagen: »Vielleicht sollten wir die Polizei anrufen.«, als die Stimme wieder losbrüllte:
»Feckle, Feckle, Feckle, Feckle, Feckle,
Feckle. Feckle, Feckle, Feckle!
Billige Kühlschränke ruinieren Ihre Lebensmittel!
Sie werden krank und müssen sich übergeben,
Sie werden krank und müssen sterben!
Kaufen Sie einen Feckle, Feckle, Feckle, Feckle!
Haben Sie schon mal ein Stück Fleisch aus ihrem alten Kühlschrank genommen und gesehen, wie häßlich und verfault es ist?
Kaufen Sie einen Feckle, Feckle, Feckle, Feckle, Feckle! Wollen Sie stinkendes, faules Fleisch essen?
Oder wollen Sie klug sein und einen Feckle, Feckle, Feckle kaufen?«
Das reichte. Mit zitternden Fingern, die immer wieder auf die falschen Tasten drückten, gelang es Burckhardt schließlich, die Nummer der lokalen Polizeistation zu wählen. Das Besetztzeichen ertönte - offenbar war er nicht er einzige, der diese Idee hatte. Und während er bebend ein zweitesmal wählte, verstummte der Lärm. Er ging zum Fenster. Der Laster war verschwunden.
Burckhardt lockerte seine Krawatte und bestellte noch einen Frosty-Flip. Wenn es im Crystal Cafe nur nicht so heiß wäre. Die neu gestrichenen Wände - grelles Rot und blendendes Gelb -waren schon schlimm genug, und jetzt litt offenbar irgend jemand unter dem Wahn, daß Januar war und nicht Juni. Hier drin war es um mindestens zehn Grad wärmer als draußen.
Mit zwei Schlucken leerte er sein Glas. Der Frosty-Flip schmeckt irgendwie komisch, dachte er, aber nicht schlecht. Jedenfalls war das Getränk erfrischend, genauso, wie es der Kellner versprochen hatte. Er beschloß, einen Kasten davon mitzunehmen. Mary würde sich sicher darüber freuen. Sie interessierte sich für alle neuen Artikel, die auf den Markt kamen.
Verlegen stand er auf, als das Mädchen quer durch das Lokal auf ihn zukam. Sie war das schönste Geschöpf, das er je in Tylerton gesehen hatte. Sie ging ihm ungefähr bis ans Kinn, hatte honigblondes Haar und eine Figur, die nichts zu wünschen übrig ließ. Es gab gar keinen Zweifel, daß sie außer dem Kleid, das sich eng an ihren Körper schmiegte, nichts trug. Als sie ihn begrüßte, spürte er, wie ihm das Blut in den Kopf stieg.
»Mr. Burckhardt!« Die Stimme klang wie ein ferner Gong. »Es ist wunderbar, daß Sie sich mit mir treffen - nach dem heutigen Morgen.«
Er räusperte sich. »Es ist mir ein Vergnügen. Wollen Sie sich nicht setzen, Miß.«
»April Horn«, murmelte sie und nahm Platz - neben ihm, nicht auf dem Stuhl gegenüber, auf den er gezeigt hatte. »Nennen Sie mich doch April!«
Sie benutzte ein tolles Parfüm, wie Burckhardt feststellte - mit dem kleinen Teil seines Gehirns, der noch funktionierte. Es erschien ihm nicht fair, daß sie sich zu allem Überfluß auch noch parfümiert hatte. Dann zuckte er zusammen, und es wurde ihm bewußt, daß der Kellner soeben davongegangen war, nachdem April zwei Filets Mignon bestellt hatte.
»He!« protestierte er.
»Bitte, Mr. Burckhardt.« Ihre Schulter rieb sich an der seinen, ihr Gesicht war ihm zugewandt, ihr Atem war warm, der Ausdruck ihrer Augen zärtlich und besorgt. »Das geht doch alles auf Kosten der Feckle Corporation. Lassen Sie die Leute gewähren. Das ist das mindeste, was sie tun können.«
Er spürte ihre Hand in seiner Hosentasche.
»Ich habe Ihnen das Geld für das Essen hineingesteckt«, wisperte sie im Verschwörerton. »Bitte, erledigen Sie das für mich, ja? Ich meine - ich würde es begrüßen, wenn Sie die Rechnung begleichen. In solchen Dingen bin ich ziemlich altmodisch.«
Sie lächelte schmelzend, dann wurde sie geschäftsmäßig, wobei es spöttisch in ihren Augen funkelte.
»Sie müssen das Geld nehmen«, beharrte sie. »Wenn Sie es nicht tun, würden Sie es Feckle viel zu leicht machen. Sie könnten die Leute verklagen und ihnen den letzten Cent abnehmen, nachdem sie Ihre Nachtruhe so grausam gestört haben.«
Er fühlte sich leicht betäubt, als hätte er soeben beobachtet, wie ein Kaninchen in einem Zylinder verschwand. »So schlimm war es ja auch wieder nicht - eh - April. Das bißchen Lärm.«
»O Mr. Burckhardt!« Tiefste Bewunderung strahlte aus ihren blauen Augen. »Ich wußte ja, daß Sie Verständnis dafür haben würden. Es ist nur - nun ja, es ist so ein herrlicher Kühlschrank, daß sich ein paar von unseren Werbeleuten einfach hinreißen ließen. Als das Hauptbüro herausfand, was geschehen war, wurden in jedes Haus rings um den Platz Vertreter unserer Firma geschickt, und die mußten sich überall entschuldigen. Ihre Frau hat uns gesagt, wo wir Sie telefonisch erreichen können. Ich bin ja so froh, daß Sie sich mit mir zum Lunch verabredet haben. Nun kann ich mich auch entschuldigen. Aber - es ist wirklich ein großartiger Kühlschrank, Mr. Burckhardt. Eigentlich sollte ich Ihnen das gar nicht sagen.« Sie senkte schüchtern den Blick. »Aber - für Feckle-Kühlschränke würde ich fast alles tun. Für mich ist das viel mehr als nur ein Job.« Sie hob den Kopf und sah entzückend aus. »Jetzt denken Sie sicher, daß ich sehr dumm bin, nicht wahr?«
Burckhardt hüstelte. »Nun, ich.«
»Natürlich wollen Sie nicht unfreundlich sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, machen Sie mir nichts vor! Sie finden, daß ich dumm bin. Aber so würden Sie nicht mehr denken, wenn Sie etwas mehr über Feckle wüßten, Mr. Burckhardt. Wenn ich Ihnen diese Broschüre zeigen darf.«
Burckhardt kam nach der Mittagspause um eine ganze Stunde zu spät ins Büro. Nicht nur das Mädchen hatte ihn aufgehalten. Er hatte auch noch ein seltsames Gespräch mit einem kleinen Mann namens Swanson geführt, den er kaum kannte und der ihn an einer Straßenecke aufgehalten und mit verzweifelter Eindringlichkeit auf ihn eingeredet hatte - um ihn dann plötzlich stehenzulassen.
Aber das spielte keine große Rolle. Zum erstenmal, seit Burckhardt bei dieser Firma arbeitete, fehlte Mr. Barth den ganzen Tag, und Burckhardt mußte sich mit der vierteljährlichen Steuererklärung herumplagen.
Was allerdings eine große Rolle spielte, war die Tatsache, daß er einen Zwölf-Kubikfuß-Feckle-Kühlschrank bestellt hatte, ein mannshohes Modell, selbstenteisend, Listenpreis 625 Dollar, minus zehn Prozent »Freundschaftsrabatt« -»wegen der schrecklichen Affäre heute morgen, Mr. Burckhardt«, hatte sie gesagt.
Er wußte nicht so recht, wie er das seiner Frau erklären sollte.
Er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Als er zur Haustür hereinkam, sagte seine Frau: »Ich habe mir überlegt, ob wir uns nicht einen neuen Kühlschrank leisten können, Liebling. Da war ein Mann, der sich wegen des Lärms entschuldigt hat - wir kamen ins Gespräch und.«
Sie hatte auch einen Kühlschrank bestellt.
Ein verfluchter Tag, dachte Burckhardt, als er zum Schlafzimmer hinaufging. Aber der Tag war noch nicht zu Ende. Der Schalter über der obersten Stufe weigerte sich zu klicken.
Wütend schlug er darauf, und nach wenigen Sekunden ging im ganzen Haus das elektrische Licht aus.
»Verdammt!« sagte Guy Burckhardt.
»Ein Kurzschluß?« Seine Frau zuckte schläfrig mit den Schultern. »Darum können wir uns ja morgen kümmern.«
Burckhardt schüttelte den Kopf. »Geh schon mal ins Bett. Ich werde nachschauen.«
Er war nicht besonders daran interessiert, den Kurzschluß zu beheben, aber er war so nervös, daß er ohnehin nicht einschlafen könnte. Er löste den kaputten Schalter mit Hilfe eines Schraubenziehers von der Wand, stolperte in die stockdunkle Küche, holte sich eine Taschenlampe und stieg vorsichtig die Kellertreppe hinab. Er fand eine Sicherung, schob eine leere Kiste vor den Sicherungskasten, stieg hinauf und schraubte die alte Sicherung heraus.
Als die neue im Kasten war, hörte er, wie es zu klicken begann und wie der Kühlschrank in der Küche über seinem Kopf wieder dröhnte.
Er ging zur Treppe zurück - und blieb abrupt stehen.
Der Kellerboden schimmerte so seltsam - genau an der Stelle, wo die alte Kiste gestanden hatte.
»Heiliges Kanonenrohr«, sagte Guy Burckhardt und schüttelte ungläubig den Kopf. Er sah genauer hin, fuhr mit dem Daumen über die Kante des Metallflecks und schnitt sich prompt ins Fleisch. Die Kante war verdammt scharf.
Der fleckige Zementboden des Kellers bestand nur aus einer dünnen Schicht. Er fand einen Hammer und zerhackte den Zement an mehreren Stellen. Überall war Metall.
Der ganze Keller war eine Kupferzelle. Die Ziegelwände bestanden nur aus dünnen Schichten, hinter denen sich das Metall verbarg.
Verwirrt attackierte er einen Stützpfeiler in den Grundmauern. Der war wenigstens aus gutem festem Holz. Und das Glas in den Kellerfenstern war echtes Glas.
Er sog an seinem blutenden Daumen und inspizierte die Kellerstufen. Richtiges Holz. Er schabte an den Ziegeln unter dem Ölofen. Echte Ziegel. Die übrigen Wände und der Boden waren verkleidetes Metall.
Es war, als hätte jemand das Haus mit einem Metallrahmen umgeben und dann sorgfaltig die Spuren dieser Tat verwischt.
Die größte Überraschung war der umgedrehte Bootsrumpf, der die hintere Kellerhälfte blockierte, ein Relikt aus einer kurzen Bastelperiode, die Burckhardt vor ein paar Jahren absolviert hatte. Von oben betrachtet, sah der Rumpf völlig normal aus. Aber drinnen, wo die Ruderbänke sein sollten, befand sich ein Gewirr aus Streben und Balken, roh gezimmert und unvollendet.
»Aber dieses Boot habe ich doch selbst gebaut!« rief Burckhardt und vergaß seinen Daumen. Halb betäubt lehnte er sich an den Rumpf und versuchte klar zu denken. Aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen hatte man sein Boot und seinen Keller weggeschafft, vielleicht sogar das ganze Haus, und das alles durch raffinierte Attrappen ersetzt.
»Das ist verrückt«, sagte er zu dem leeren Keller und blickte sich im Licht der Taschenlampe um. »Warum um Himmels willen sollte irgend jemand so etwas tun?« flüsterte er.
Sein Gehirn weigerte sich, eine Antwort zu geben. Minutenlang zweifelte Burckhardt an seinem Verstand.
Er starrte wieder in das Boot und hoffte, er hätte sich alles nur eingebildet. Aber da war noch immer das seltsame Durcheinander aus Streben und Balken. Er kroch darunter, um es aus der Nähe zu betrachten, befühlte ungläubig das rauhe Holz. Unmöglich.
Er schaltete die Taschenlampe aus und wollte wieder hinauskriechen. Aber er schaffte es nicht. In dem Augenblick, wo sein Gehirn seinen Beinen den Befehl gab, sich in Bewegung zu setzen, wurde er von einer überwältigenden Müdigkeit befallen.
Sein Bewußtsein verließ ihn - nicht von selbst, es war eher, als würde es ihm genommen. Und dann schlief Guy Burckhardt ein.
Am Morgen des 16. Juni erwachte Guy Burckhardt in einer verkrampften Stellung, zusammengekauert unter dem Bootsrumpf im Keller, und raste die Stufen hinauf - um festzustellen, daß es der 15. Juni war.
Die erste Tat dieses Tages bestand aus einer hastigen Inspektion des Bootes, des Kellerbodens und der Kellerwände - wobei er feststellte, daß alles ganz genauso war, wie es seinen Erinnerungen entsprach. Genauso unglaublich.
Die Küche war so wie immer, still und kein bißchen aufregend. Die elektrische Uhr surrte fröhlich. Es war schon beinahe sechs. Seine Frau würde jeden Augenblick aufwachen.
Burckhardt stieß die Haustür auf und starrte auf die ruhige Straße hinaus. Die Morgenzeitung lag auf den Stufen. Er hob sie auf und las das Datum - der 15. Juni.
Aber das war unmöglich. Gestern war doch der 15. Juni gewesen. Das war ein Datum, das er nie vergessen würde, denn an diesem Tag fand die vierteljährliche Steuererklärung statt.
Er ging in die Diele zurück und nahm den Telefonhörer von der Gabel, dann wählte er die Nummer des Wetterdienstes und vernahm eine melodische Stimme. ».kühler, vereinzelte Schauer. Luftdruck 30,04, ansteigend. Die Vorhersage des Wetterbüros der USA für den 15. Juni. Warm und sonnig.« Er legte auf. Der 15. Juni.
»Heiliger Himmel«, betete Burckhardt. Das war in der Tat äußerst seltsam. Er hörte den Wecker seiner Frau schrillen und rannte die Stufen hinauf.
Mary Burckhardt saß im Bett, mit einem entsetzten, verständnislosen Blick, als wäre sie soeben aus einem Alptraum erwacht.
»Oh!« rief sie, als ihr Mann ins Zimmer stürzte. »Liebling! Ich hatte einen schrecklichen Traum. Es war wie eine Explosion und.«
»Schon wieder?« fragte Burckhardt, ohne besonderes Mitleid zu zeigen. »Mary, da stimmt was nicht. Ich wußte es schon gestern und.«
Er erzählte ihr von der Kupferzelle, in die sich der Keller verwandelt hatte, von der seltsamen Holzmasse, die sich in seinem Boot befand. Mary sah ihn zuerst erstaunt an, dann alarmiert und schließlich besänftigend und etwas unbehaglich.
»Bist du ganz sicher, Liebling?« fragte sie. »Ich habe diese alte Kiste nämlich erst letzte Woche saubergemacht, und dabei ist mir nichts aufgefallen.«
»Ich bin ganz sicher«, sagte Guy Burckhardt. »Ich rückte sie vor den Sicherungskasten und stieg darauf, um die neue Sicherung einzuschrauben, weil wir gestern den Kurzschluß hatten, und da.«
»Nachdem wir - was?« Nun war Mary ernsthaft erschrocken.
»Nachdem das Licht ausging. Du weißt doch, als der Schalter an der Treppe streikte. Ich ging in den Keller und.«
Mary setzte sich kerzengerade im Bett auf. »Guy, der Schalter hat nicht gestreikt. Ich habe doch gestern abend selber das Licht ausgemacht.«
Burckhardt starrte seine Frau an. »Aber ich weiß doch, daß du das nicht getan hast. Komm mal mit und schau dir das an!«
Er stapfte in den Flur hinaus, zeigte dramatisch auf den kaputten Schalter an der Treppe, den er gestern abend losgeschraubt und hängen gelassen hatte.
Aber der Schalter sah so aus wie immer. Ungläubig drückte Burckhardt darauf, und das Licht ging an.
Mary ging bleich und mit gerunzelter Stirn in die Küche hinunter, um das Frühstück zu machen. Burckhardt stand minutenlang vor dem Schalter und starrte ihn an. Seine Denkprozesse hatten die Grenze des Unglaubens und des Schreckens längst überschritten.
Er rasierte sich, zog sich an und aß sein Frühstück, in dumpfes Grübeln versunken. Mary störte ihn nicht. Sie beobachtete ihn nur besorgt und lächelte ihm hin und wieder beruhigend zu. Sie gab ihm einen Abschiedskuß, und dann rannte er zum Bus hinaus, ohne ein einziges Wort geäußert zu haben.
Miß Mitkin, die im Vorraum an ihrem Schreibtisch saß, begrüßte ihn mit einem Gähnen. »Guten Morgen«, murmelte sie schläfrig. »Mr. Barth kommt heute nicht.«
Burckhardt wollte etwas sagen, aber er schluckte es gerade noch rechtzeitig hinunter. Sie konnte ja nicht wissen, daß Barth auch gestern nicht da gewesen war, weil sie gerade das Kalenderblatt mit der Aufschrift ,14. Juni' abriß. Der ,15. Juni' kam zum Vorschein.
Er taumelte zu seinem Schreibtisch und starrte ohne etwas sehen auf die Morgenpost. Sie war noch nicht geöffnet worden, aber er wußte, daß der Umschlag vom Verteilerbüro der Firma eine Bestellung für zwanzigtausend Fuß von den neuen akustischen Röhren enthielt und der Brief von Finebeck & Söhne eine Beschwerde.
Nach einiger Zeit zwang er sich, die Umschläge zu öffnen. Der Inhalt entsprach seinen Erwartungen.
Zu Mittag veranlaßte Burckhardt, getrieben von einer seltsamen Verzweiflung, daß Miß Mitkin zuerst essen ging. Am gestrigen 15. Juni war er als erster gegangen. Sie verließ ihr Zimmer, vage besorgt, weil er mit ungewohnter Beharrlichkeit auf dieser Regelung bestanden hatte. Aber es war ihm völlig gleich, was sie dachte.
Das Telefon klingelte, und Burckhardt griff nach dem Hörer. »Contro Chemical-Stadtbüro, Burckhardt.«
»Hier ist Swanson«, sagte eine Stimme und verstummte dann.
Burckhardt wartete. Als die Stimme nicht weitersprach, rief er: »Hallo?«
Eine lange Pause entstand. Dann fragte Swanson in trauriger Resignation: »Noch immer nichts, eh?«
»Was soll denn sein? Swanson, wollen Sie irgendwas? Sie sind gestern schon auf mich zugekommen und haben diese komische Nummer abgezogen. Sie.«
»Burckhardt!« unterbrach ihn die heisere Stimme. »Oh, du lieber Himmel, Sie erinnern sich! Bleiben Sie, wo Sie sind - ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.«
»Was hat das denn zu bedeuten?«
»Regen Sie sich nicht auf!« jubelte der kleine Mann. »Ich erkläre Ihnen alles, wenn ich bei Ihnen bin. Sagen Sie nichts mehr am Telefon - vielleicht wird das Gespräch mitgehört. Warten Sie auf mich. Moment mal, werden Sie allein in Ihrem Büro sein?«
»Nein. Wahrscheinlich wird Miß Mitkin.«
»Verdammt! Hören Sie mal, Burckhardt, wo essen Sie zu Mittag? Bekommt man dort einen guten Lunch? Und ist das Lokal sehr laut?«
»Nun, ich nehme es an. Im Crystal Cafe nur einen Häuserblock weiter.«
»Ich weiß, wo das ist. Wir treffen uns dort, in einer halben Stunde.« Und es klickte in der Leitung.
Das Crystal Cafe war nicht mehr rot gestrichen, aber es war immer noch ziemlich warm. Und neuerdings gab es Musik mit Werbeeinschaltungen. Man machte Reklame für Frosty-Flip und Mariin-Zigaretten - »Gesundheitszigaretten«, flötete der Sprecher - und für irgendwelche »Schokoladehappen«, von denen Burckhardt noch nie gehört hatte. Aber er sollte sehr bald sehr viel davon hören.
Während er auf Swanson wartete, kam ein Mädchen ins Restaurant, im Celophanröckchen einer NachtklubZigarettenverkäuferin. Sie trug ein Tablett mit winzigen, in scharlachrotes Papier eingewickelten Süßigkeiten.
»Schokohappen schmecken toll«, murmelte sie, als sie auf seinen Tisch zukam. »Schokohappen schmecken toller als toll.«
Burckhardt, der nach dem seltsamen kleinen Mann Ausschau hielt, schenkte ihr keine Beachtung. Aber als sie eine Handvoll Schokohappen auf den Nebentisch warf und die Leute anlächelte, die dort saßen, schaute er zu ihr hinüber - und blinzelte.
»Miß Horn!« rief er überrascht.
Das Mädchen ließ das Tablett fallen.
Burckhardt sprang besorgt auf. »Stimmt was nicht?«
Aber da ergriff sie schon die Flucht.
Der Manager des Restaurants starrte mißtrauisch auf Burckhardt, der nun auf seinen Sessel zurücksank und möglichst unbeteiligt dreinzuschauen versuchte. Er hatte dem Mädchen doch nichts getan. Vielleicht war sie eine streng erzogene junge Dame, trotz der langen nackten Beine unter dem Cellophanröck-chen, und als er sie angesprochen hatte, war sie wohl der Meinung gewesen, daß er was Unanständiges von ihr wollte.
Lächerlich. Burckhardt runzelte unbehaglich die Stirn.
»Burckhardt!« Es war ein schrilles Wispern.
Burckhardt blickte über den Rand der Speisekarte hinweg und zuckte zusammen. Ihm gegenüber saß der kleine Mann namens Swanson, sichtlich nervös.
»Burckhardt!« wisperte er noch einmal. »Verschwinden wir von hier! Die sind hinter Ihnen her! Wenn Sie am Leben bleiben wollen, dann kommen Sie mit mir!«
Es hatte keinen Sinn, mit dem Mann zu debattieren. Burckhardt bat den Manager, der drohend herannahte, mit einem kraftlosen Lächeln um Entschuldigung und folgte Swanson nach draußen. Der kleine Mann schien genau zu wissen, wohin er wollte. Auf der Straße angelangt, packte er Burckhardts Ellenbogen und zerrte ihn eilig zur nächsten Ecke.
»Haben Sie das Mädchen gesehen?« fragte er. »Diese Miß Horn
- da drüben in der Telefonzelle? Glauben Sie mir, in fünf Minuten sind die anderen hier. Wir müssen uns beeilen.«
Obwohl die Straße voller Menschen und Autos war, achtete niemand auf Burckhardt und Swanson. Es war kalt, fast wie im Oktober. Und das trotz der Wettervorhersage, dachte Burckhardt. Und er kam sich wie ein Narr vor, weil er diesem verrückten kleinen Mann die Straße hinab folgte und vor irgendwelchen mysteriösen Leuten davonlief. Wohin führte ihn der Kerl? Er mochte irrsinnig sein, aber er hatte Angst. Und Angst ist ansteckend.
»Da hinein!« stieß der kleine Mann keuchend hervor.
Es war ein Restaurant - eher eine Bar, von der zweitklassigen Sorte, die Burckhardt nicht zu frequentieren pflegte.
»Geradeaus!« raunte Swanson. »Quer durchs Lokal!« Und Burckhardt wandte sich wie ein gehorsamer kleiner Junge zwischen den Tischen hindurch, zum anderen Ende des Raumes.
Das Restaurant war L-förmig. Beide Fronten lagen an zwei Straßen, die im rechten Winkel zueinanderführten. Sie traten auf die Seitenstraße, und Swanson warf einen kühlen Blick zum Kassierer zurück, der fragend die Brauen hob, dann lief er zum gegenüberliegenden Gehsteig.
Als sie unter der Markise eines Kinos standen, begann sich das Gesicht des kleinen Mannes zu entkrampfen.
»Wir haben sie abgeschüttelt«, frohlockte er. »Und wir sind schon fast da.«
Er ging an den Schalter und kaufte zwei Eintrittskarten. Burckhardt folgte ihm in das Kino, wo gerade eine WochenendMatinee ablief. Der Zuschauerraum war fast leer. Von irgendwo kamen die Geräusche von Pferdehufen und Revolverschüssen. Ein einsamer Platzanweiser lehnte an einem Messinggeländer, sah die beiden kurz an und starrte dann wieder gelangweilt auf die Leinwand, während Swanson seinen Begleiter eine mit Teppichen bedeckte Marmortreppe hinabführte.
Sie betraten ein leeres Foyer. Burckhardt entdeckte eine Tür für Herren und eine für Damen. Und da war noch eine dritte Tür, mit der Aufschrift »Manager«, in goldenen Lettern. Swanson lauschte an dieser Tür, dann machte er sie lautlos auf und spähte hinein.
»Okay«, sagte er und gestikulierte.
Burckhardt folgte ihm durch ein leeres Büro zu einer weiteren Tür. Vermutlich war es eine Schranktür, weil sie keine Aufschrift hatte.
Aber es war kein Schrank. Vorsichtig öffnete Swanson die Tür, blickte hinein, dann bedeutete er Burckhardt, ihm zu folgen.
Es war ein Tunnel mit Metallwänden, hell erleuchtet und leer, und er erstreckte sich in beide Richtungen.
Burckhardt blickte sich verwundert um. Eines wußte er jedenfalls ganz genau.
Unter Tylerton gab es keinen solchen Tunnel.
Auf der anderen Seite des Tunnels lag ein Raum mit Stühlen und einem Schreibtisch und seltsamen Gebilden, die wie Fernsehschirme aussahen. Swanson ließ sich keuchend in einen Sessel fallen.
»Wir können ruhig eine Weile hierbleiben«, sagte er ächzend. »Sie kommen nicht mehr oft her. Und wenn sie kommen, werden wir sie rechtzeitig hören und können uns verstecken.«
»Wer sollte denn kommen?« fragte Burckhardt.
»Die Marsmenschen«, sagte der kleine Mann. Seine Stimme schien an diesen beiden Worten zu zerbrechen, alles Leben schien aus ihm zu weichen. In düsterem Ton fuhr er fort: »Zumindest glaube ich, daß es Marsmenschen sind. Obwohl Sie natürlich auch recht haben könnten. In diesen letzten paar Wochen hatte ich viel Zeit zum Nachdenken - nachdem diese Leute Sie erwischt hatten - und es ist immerhin möglich, daß es trotz allem die Russen sind.«
»Fangen Sie doch mal von Anfang an! Wer hat mich erwischt?«
Swanson seufzte. »Also müssen wir das ganze noch einmal durchkauen. Okay. Vor etwa zwei Monaten klopften Sie spät abends an meine Tür. Sie waren ganz zerschlagen und hatten schreckliche Angst. Sie baten mich um Hilfe und.«
»Ich!«
»Natürlich können Sie sich nicht daran erinnern. Hören Sie mir zu, dann werden Sie alles verstehen. Sie redeten wirres Zeug und behaupteten, man hätte Sie gefangengehalten und bedroht, und Ihre Frau wäre tot und wieder zum Leben erwacht - lauter solchen Quatsch. Ich dachte, Sie wären verrückt. Aber - nun, ich hatte immer großen Respekt vor Ihnen. Sie baten mich, Sie zu verstecken, und ich habe ja diese Dunkelkammer. Man kann die Tür nur von innen zusperren. Ich habe das Schloß selbst angebracht. Ich ging also mit Ihnen hinein, um Ihnen den Gefallen zu tun, und um Mitternacht, nur fünfzehn oder zwanzig Minuten später, verloren wir die Besinnung.«
»Wir wurden bewußtlos?«
Swanson nickte. »Alle beide. Es war, als hätte man uns mit einem Sandsack niedergeschlagen. Hören Sie mal - ist Ihnen das gestern abend nicht auch passiert?«
Burckhardt zuckte unsicher mit den Schultern. »Ich nehme es an. Natürlich ist es passiert. Danach waren wir plötzlich wieder wach, und Sie sagten, daß Sie mir was Komisches zeigen müßten. Wir gingen hinaus, kauften eine Zeitung und schauten uns das Datum an. Es war der 15. Juni.«
»Der 15. Juni? Aber das ist doch heute! Ich meine.«
»Sie haben es erfaßt, mein Freund. Es ist immer der 15. Juni.« Es dauerte eine Weile, bis Burckhardt diese Information verdaut hatte.
Dann fragte er verwundert: »Wie lange haben Sie sich denn in der Dunkelkammer versteckt? Wie viele Wochen haben Sie da drin gesessen?«
»Wie kann ich das wissen? Vielleicht vier oder fünf. Ich habe jedes Gefühl für die Zeit verloren. Jeden Tag passierte das gleiche - es war immer der 15. Juni, und Mrs. Keefer, meine Zimmerwirtin, fegte immer die Eingangsstufen, und auf der Zeitung stand immer die gleiche Schlagzeile. Das wird allmählich langweilig, mein Freund.«
Es war Burckhardts Idee, und Swanson hielt nichts davon, aber er war bereit, mitzumachen. Er war der Typ, der immer mitmachte.
»Aber es ist gefahrlich«, murmelte er besorgt. »Wenn nun jemand vorbeikommt? Sie könnten uns sehen und.«
»Was haben wir denn zu verlieren?«
Swanson hob die Schultern. »Es ist gefährlich«, sagte er noch einmal. Aber er machte mit.
Burckhardts Plan war ganz einfach. Er konnte sich nur auf eine einzige Tatsache stützen - der Tunnel führte irgendwohin. Ob es nun Marsmenschen oder Russen waren, phantastische Verschwörungen oder verrückte Halluzinationen - was immer mit Tylerton los war, es mußte eine Erkläruno dafür geben. Und nach dieser Erklärung mußte man am Ende des Tunnels suchen.
Sie stapften dahin, und sie hatten schon über eine Meile zurückgelegt, als sie das Ende sahen. Sie hatten Glück -zumindest war ihnen niemand begegnet. Aber Swanson hatte gesagt, daß der Tunnel zu gewissen Zeiten benutzt wurde.
Immer der 15. Juni. Warum, fragte sich Burckhardt. Um das Wie kümmerte er sich nicht. Er interessierte sich nur ür das Warum.
Und alle schliefen ein, ohne es zu wollen, anscheinend immer um die gleiche Zeit. Und danach konnten sie sich an nichts erinnern. Swanson hatte erzählt, wie sehnsüchtig er auf Burckhardt gewartet hatte - an jenem Morgen, als sich Burckhardt unvorsichtigerweise um fünf Minuten verspätet hatte, bevor er in die Dunkelkammer zurückgekehrt war. Und als Swanson das Bewußtsein wiedererlangt hatte, war Burckhardt verschwunden. Swanson hatte ihn erst an jenem Nachmittag auf der Straße wiedergesehen, aber da hatte sich Burckhardt an nichts mehr erinnern können.
Und Swanson hatte wochenlang seine Mäuse-Existenz fortgesetzt, hatte sich nachts in der Dunkelkammer versteckt, hatte sich tagsüber hinausgeschlichen, um in bemitleidenswerter Hoffnung nach Burckhardt zu suchen, war am Rand des Lebens dahinvegetiert, um »ihren« tödlichen Augen zu entkommen.
Wer waren »sie«? Eine von »ihnen« war das Mädchen namens April Horn. Nachdem Swanson beobachtet hatte, wie sie sorglos in eine Telefonzelle gegangen und nicht mehr herausgekommen war, hatte er den Tunnel gefunden. Der Mann am Zigarettenkiosk im Bürogebäude der Contro Chemical gehörte auch dazu. Es gab noch mehr - mindestens ein Dutzend, wie Swanson vermutete.
Sie waren leicht zu erkennen, wenn man nur wußte, wo a:h man Ausschau halten mußte, denn sie waren die einzigen in Tylerton, die täglich ihre Rollen wechselten. Burckhardt sah immer gleich aus, wenn er jeden Morgen an jedem 15 Juni im 8-Uhr-51-Bus saß. Aber April Horn trug manchmal ein neckisches Zellophanröckchen und verkaufte Süßigkeiten und Zigaretten, oder sie war schlicht gekleidet, und manchmal konnte Swanson sie nirgends entdecken.
Russen? Marsmenschen? Was auch immer sie waren - was wollten sie mit dieser verrückten Maskerade erreichen?
Burckhardt wußte es nicht, aber vielleicht war die Antwort auf diese Frage hinter der Tür am Ende des Tunnels verborgen. Sie lauschten mit angehaltenem Atem und hörten ferne Geräusche, aber sie hatten nicht das Gefühl, in Gefahr zu schweben. Sie schlüpften durch die Tür.
Nachdem sie einen großen Raum durchquert hatten und eine Treppe hinaufgestiegen waren, stellte Burckhardt fest, daß sie sich im Contro Chemical-Werk befanden.
Niemand war zu sehen. Das war nicht ungewöhnlich, denn in der automatisch betriebenen Fabrik war kaum jemand anzutreffen. Burckhardt erinnerte sich noch gut an jenen Besuch, den er dem Werk abgestattet hatte, an die endlose, unaufhörliche Tätigkeit der Maschinen, an die Ventile, die sich öffneten und schlössen, an die Behälter, die sich selbst entleerten und füllten und schüttelten und erhitzten und die gurgelnden Flüssigkeiten, die sie enthielten, chemisch analysierten. Das Werk war niemals übervölkert - aber es war niemals still.
Nur jetzt war es still. Abgesehen von jenen fernen Geräu. sehen war kein Lebensatem wahrzunehmen. Die elektronischen Gehirne sandten keine Befehle aus. Die Spulen und Relais waren stillgelegt.
»Kommen Sie!« sagte Burckhardt.
Swanson folgte ihm widerstrebend durch eine riesige Halle, zwischen fleckenlosen, glatten Stahlsäulen und Tanks hindurch.
Sie gingen angstvoll dahin, als wären sie sich der Gegenwart des Todes bewußt. Und das waren sie in gewisser Weise auch, denn die Automaten, die das Werk einst in Gang gehalten hatten, waren nichts weiter als Leichen. Die Maschinen wurden von Computern kontrolliert, die keine richtigen Computer waren, sondern die elektronischen Analoga lebender Gehirne. Und wenn sie abgeschaltet wurden - waren sie dann nicht tot? Denn jeder dieser Computer war einst ein menschliches Gehirn gewesen.
Stellen wir uns einmal einen Rohölchemiker vor, der die Teilung des Naturöls in seine Bestandteile auf vollendete Weise beherrscht. Fesseln wir ihn, dringen wir mit elektronischen Suchnadeln in sein Gehirn ein. Die Maschine zeichnet seine Denkprozesse auf, übersetzt ihre Forschungsergebnisse in Sinuswellen. Wenn man diese Wellen auf einen RoboterComputer überträgt, hat man einen Chemiker. Oder tausend Kopien des Chemikers, mit all seinem Wissen, mit all seinen Erfahrungen, ohne Nachteile menschlicher Grenzen.
Wenn man ein Dutzend Kopien in einer Fabrik installiert, werden sie alle Maschinen in Gang halten, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage pro Woche, sie werden niemals ermüden, nichts übersehen, nichts vergessen.
Swanson rückte näher an Burckhardt heran. »Ich fürchte«, sagte er.
Sie waren jetzt am Ende der Halle angelangt, und die Geräusche waren lauter geworden. Es waren keine Maschiengeräu-sche, sondern Stimmen. Burckhardt ging vorsichtig zu einer halb offenen Tür und spähte hindurch.
Er blickte in einen kleineren Raum, in dem sich mindestens ein Dutzend Fernsehschirme befanden. Vor jedem saß ein Mann oder eine Frau, starrte auf den Bildschirm und diktierte Daten in ein Magnetophon. Jeder Monitor zeigte eine andere Szene.
Die Bilder schienen nur wenig gemeinsam zu haben. Eines zeigte einen Laden, wo ein Mädchen, gekleidet wie April Horn, Kühlschränke vorführte. Auf einem anderen Fernsehschirm waren mehrere Fotos von Küchen zu sehen. Und auf einem dritten erblickte Burckhardt den Zigarettenkiosk in der Halle des Contro Chemical-Bürohauses.
Es war verwirrend, und Burckhardt wäre gern noch eine Weile geblieben, um herauszufinden, was das alles zu bedeuten hatte. Aber in dem Raum saßen zu viele Leute, und die Gefahr, entdeckt zu werden, war zu groß.
Sie fanden ein weiteres Zimmer, ein großes, protziges Büro, in dem sich niemand aufhielt. Der Schreibtisch war mit Papieren übersät. Burckhardt warf zuerst nur einen flüchtigen Blick darauf, aber als die Worte, die auf einem der Blätter standen, seine Aufmerksamkeit erregten, weiteten sich seine Augen in ungläubiger Faszination.
Er griff nach dem Papier, das zuoberst lag, überflog es, nahm sich dann ein anderes vor, während Swanson hastig die Schubladen durchsuchte.
Burckhardt fluchte leise und ließ die Blätter auf den Schreibtisch fallen.
Swanson schenkte ihm kaum Beachtung und schrie entzückt: »Schauen Sie mal!« Er zog einen Revolver aus einem Schubfach. »Er ist sogar geladen!«
Burckhardt starrte ihn mit leerem Blick an und versuchte zu begreifen, was er da gelesen hatte. Als ihm bewußt geworden war, was Swanson gesagt hatte, begannen seine Augen zu leuchten. »Gut! Den nehmen wir mit. Wenn wir bewaffnet sind, werden wir hier ungehindert rauskommen. Aber wir gehen nicht zur Polizei. Nein, wir gehen nicht zu den Bullen von Tylerton, wir gehen zum FBI. Sehen Sie sich das mal an!«
Auf dem Blatt, das er Swanson reichte, stand die Überschrift: Bericht aus dem Testgebiet - Thema: Mariin-Zigaretten-Kampagne. Darunter waren Zahlentabellen zu sehen, die für Burckhardt und Swanson keinen Sinn ergaben. Um so interessanter war die Zusammenfassung am unteren Ende des Blattes.
Obwohl beim Test 47-K3 fast doppelt so viele neue Benutzer geworben wurden wie bei den anderen durchgeführten Tests, kann dieses Verfahren wahrscheinlich nicht in großem Umfang angewandt werden, und zwar wegen der örtlichen Lärmkontrollen. Die Tests der Gruppe 47-K12 erzielten die zweitbesten Ergebnisse, und wir empfehlen, mit diesem Appeal Wiederholungstests durchzuführen, wobei die drei besten Kampagnen mit und ohne zusätzliche Verkaufsförderungstechnik ablaufen sollten.
Ein Alternativvorschlag: Man könnte direkt mit dem Top Appeal der K12-Serien beginnen, wenn der Kunde nicht auf die zusätzlichen Tests reagiert.
Alle diese Prognosen werden mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit einem halben oder einem Prozent der im voraus berechneten Resultate entsprechen und werden mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit an fünf Prozent herankommen.
Swanson blickte von dem Papier auf und in Burckhardts Augen. »Ich verstehe das nicht«, klagte er.
»Das kann ich Ihnen nicht übelnehmen, Swanson«, sagte Burckhardt. »Es ist verrückt - aber es paßt alles zusammen. Das sind keine Russen und auch keine Marsmenschen. Das sind Werbefachleute. Irgendwie - der Himmel mag wissen, wie -haben sie Tylerton in ihre Gewalt bekommen. Uns alle, Sie und mich und noch zwanzig- oder dreißigtausend andere. Vielleicht hypnotisieren sie uns - vielleicht bedienen sie sich anderer Mittel. Aber was immer sie auch machen, sie richten es so ein, daß wir jeden Tag das gleiche Datum haben. Am Ende eines Tages analysieren sie, was passiert ist, und fangen am nächsten Tag mit einer neuen Werbekampagne an.«
Swansons Kinnlade klappte nach unten. Dann gelang es ihm, die Kiefer wieder zu schließen und zu schlucken. »Verrückt«, sagte er tonlos.
Burckhardt schüttelte den Kopf. »Natürlich - es klingt verrückt. Die ganze Sache ist verrückt. Wie sollte man es sonst erklären? Sie können nicht leugnen, daß die Bewohner von Tylerton immer wieder den gleichen Tag erleben. Sie haben es doch gesehen! Das ist das Verrückte an der ganzen Angelegenheit, aber wir müssen zugeben, daß es den Tatsachen entspricht - es sei denn, wir sind verrückt. Und wenn Sie sich einmal klargemacht haben, daß irgend jemand irgendeinen Weg gefunden hat, so etwas zustande zu bringen, dann ergibt alles Übrige einen Sinn. Denken Sie doch mal nach, Swanson! Sie testen jedes winzige Detail, bevor sie auch nur einen Cent für ihre Werbekampagnen ausgeben Haben Sie eine Ahnung, was das bedeutet? Gott allein weiß wieviel Geld da drin steckt, aber ich weiß, daß manche Firmen im Jahr zwanzig oder dreißig Millionen für die Werbung ausgeben. Multiplizieren Sie das mit - sagen wir mal - hundert Firmen. Und dann stellen Sie sich vor, daß jede einzelne Firma herausfindet, wie man die Werbungskosten nur um zehn Prozent verringern kann. Das ist der springende Punkt, glauben Sie mir! Wenn sie schon vorher wissen, auf was die Kunden positiv reagieren werden, können sie ihre Kosten auf die Hälfte senken. Vielleicht sogar auf weniger als die Hälfte, ich weiß es nicht. Sie würden also zwei- oder dreihundert Millionen pro Jahr sparen -und wenn sie davon nur zehn oder zwanzig Prozent bezahlen, um Tylerton benutzen zu dürfen, ist das immer noch spottbillig, und die Aktion bringt den Leuten, die Tylerton jetzt in ihrer Gewalt haben, ein Vermögen ein.«
Swanson fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Sie meinen also, daß wir eine Art - unfreiwilliges Publikum sind?«
Burckhardt runzelte die Stirn. »Nicht direkt.« Er dachte eine Weile nach, dann fügte er hinzu: »Sie wissen doch, wie ein Arzt ein Medikament testet - zum Beispiel Penicillin? Er legt eine Reihe kleiner Bakterienkolonien auf Gallertscheiben an und probiert das Zeug hintereinander an allen Kolonien aus, wobei er es jeweils ein bißchen verändert. Nun, das sind wir - wir sind die Bakterien, Swanson. Aber in unserem Fall ist das Verfahren noch viel wirksamer. Sie brauchen nur eine einzige Kolonie zu testen, weil sie die immer wieder benutzen können.«
Das ging über Swansons Begriffsvermögen hinaus. Er fragte nur: »Und was sollen wir dagegen unternehmen?«
»Wir gehen zum FBI. Sie können menschliche Wesen nicht als Versuchskaninchen mißbrauchen.«
»Und wie kommen wir zum FBI?« Burckhardt zögerte. »Ich glaube.«, begann er langsam. »Klar - das ist das Büro eines großen Tieres. Wir haben eine Waffe. Wir bleiben hier, bis der Typ kommt. Und der wird uns dann hier rausbringen.«
So einfach war das. Swanson war einverstanden und setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, so daß er von der Tür aus nicht gesehen werden konnte. Burckhardt bezog hinter der Tür Stellung. Und wartete.
Sie brauchten nicht lange zu warten. Vielleicht eine halbe Stunde. Dann hörte Burckhardt, wie sich Stimmen näherten, und hatte gerade noch Zeit, Swanson einen kurzen Befehl zuzuflüstern, bevor er sich an die Wand preßte.
Es waren die Stimmen eines Mannes und eines Mädchens. Der Mann sagte: »Ich verstehe nicht, warum Sie uns keinen telefonischen Bericht geben konnten. Sie ruinieren alle Ihre heutigen Tests. Was zum Teufel ist denn los mit Ihnen, Janet?«
»Es tut mir leid, Mr. Dorchin«, sagte sie mit ihrer süßen, hellen Stimme. »Aber ich dachte, es wäre wichtig.«
Der Mann seufzte. »Wichtig! Eine lausige Einheit von einundzwanzigtausend!«
»Aber es ist die Burckhardt-Einheit, Mr. Dorchin. Schon wieder. Da er von der Bildfläche verschwunden ist, muß ihm irgend jemand geholfen haben.«
»Also gut, es ist ja nicht so schlimm, Janet. Das Schokohappenprogramm ist dem Zeitplan ohnehin um einiges voraus. Solange Sie so gut im Rennen sind, können Sie ins Büro kommen, wann Sie wollen, und Ihren Arbeitsbericht schreiben. Und um Burckhardt machen Sie sich keine Sorgen. Wahrscheinlich läuft er nur irgendwo herum. Heute abend werden wir ihn schnappen und.«
In diesem Augenblick gingen sie durch die Tür. Burckhardt warf sie zu und hob den Revolver.
»Das bilden Sie sich ein, was?« sagte er triumphierend.
Die schrecklichen Stunden, das quälende Gefühl, verrückt zu werden, die Verwirrung und die Angst hatten sich gelohnt. Noch nie in seinem Leben hatte Burckhardt eine so tiefe Befriedigung empfunden. Das Gesicht des Mannes zeigte einen Ausdruck, dessen Beschreibung Burckhardt schon oft in Romanen gelesen, den er aber noch nie gesehen hatte. Der Mund und die Augen wurden unnatürlich groß, und obwohl er einen Laut hervorbrachte, der wie eine Frage klang, waren seine Lippen unfähig, Worte zu bilden.
Das Mädchen war fast genauso überrascht. Burckhardt sah sie an und wußte, warum ihm ihre Stimme so bekannt vorgekommen war. Es war das Mädchen, das sich ihm als April Horn vorgestellt hatte.
Dorchin erholte sich ziemlich rasch von seinem Schrecken.
»Ist er das?« fragte er scharf.
»Ja«, sagte das Mädchen.
Dorchin nickte. »Ich nehme alles zurück. Sie hatten recht. Eh -Burckhardt, was wollen Sie?«
Swanson sprang auf. »Seien Sie vorsichtig! Vielleicht hat er eine Waffe.«
»Untersuchen Sie ihn!« befahl Burckhardt. »Ich werde Ihnen sagen, was wir wollen, Dorchin. Wir möchten, daß Sie uns zum FBI begleiten und den Beamten erklären, woher Sie das Recht genommen haben, zwanzigtausend Leute zu kidnappen.«
»Wieso kidnappen?« Dorchin schnaufte verächtlich. »Das ist doch lächerlich, Mann! Stecken Sie die Kanone weg! So leicht werden Sie nicht davonkommen.«
Burckhardt umklammerte die Waffe noch fester. »Ich glaube schon.«
Dorchin sah wütend und gequält aus, aber er schien seltsamerweise keine Angst zu haben. »Verdammt.«, begann er zu brüllen, dann klappte er den Mund zu und schluckte. »Hören Sie mal«, sagte er in sanfterem Ton, »Sie irren sich. Wir haben niemanden gekidnappt, glauben Sie mir.«
»Ich glaube Ihnen nicht«, entgegnete Burckhardt. »Warum sollte ich?«
»Aber es ist wahr! Ich schwöre es Ihnen!«
Burckhardt schüttelte den Kopf. »Erzählen Sie das mal dem FBI. Wir werden die Wahrheit schon noch herauskriegen. Also -wie kommt man hier raus?«
Dorchin öffnete den Mund, um zu protestieren.
»Stellen Sie sich mir nur ja nicht in den Weg!« schrie Burckhardt. »Wenn Sie mich dazu zwingen, werde ich Sie töten. Verstehen Sie mich? Ich habe zwei Tage lang in einer Hölle gelebt, und Sie sind für jede einzelne Sekunde dieser Tage verantwortlich. Es wäre mir ein Vergnügen, Sie umzubringen, und ich habe nichts zu verlieren. Bringen Sie uns jetzt raus!«
Dorchins Gesicht wurde plötzlich ausdruckslos. Er sah aus, als wollte er eine Bewegung machen, aber da schob sich das blonde Mädchen namens Janet zwischen den Mann und den Revolver.
»Bitte!« flehte sie Burckhardt an. »Sie verstehen das nicht. Sie dürfen nicht schießen.«
»Gehen Sie mir aus dem Weg!«
»Aber Mr. Burckhardt.«
Sie konnte den Satz nicht mehr beenden. Dorchin wandte sich zur Tür um, immer noch mit ausdrucksloser Miene. Burckhardt sah sich bis zum Äußersten getrieben. Brüllend richtete er die Waffe auf Dorchin. Das Mädchen schrie auf. Er drückte ab. Wieder schob sich Janet zwischen den Mann und den Revolver, die Augen voller Mitleid.
Burckhardt hatte instinktiv nach unten gezielt, um nur zu verwunden und nicht zu töten. Aber er hatte nicht besonders gut gezielt.
Die Kugel traf das Mädchen in den Bauch. Dorchin war draußen, die Tür fiel hinter ihm ins Schloß, seine Schritte verhallten in der Ferne.
Burckhardt schleuderte den Revolver quer durch den Raum und rannte zu dem Mädchen.
Swanson stöhnte. »Jetzt sind wir erledigt, Burckhardt. Oh, warum haben Sie das getan. Wir hätten entkommen können. Wir hätten zum FBI gehen können. Wir waren praktisch schon draußen. Wir.«
Burckhardt hörte ihm nicht zu. Er kniete neben dem Mädchen. Sie lag auf dem Rücken, mit wirr ineinanderverschlungenen Armen. Aber da war kein Blut zu sehen - und kaum eine Wunde. Und kein menschliches Wesen wäre imstande, die Position einzunehmen, in der sie da auf dem Boden lag.
Und sie war nicht tot.
Sie war nicht tot - und Burckhardt kniete wie erstarrt neben ihr und dachte: Aber sie lebt auch nicht.
Da war kein Puls, aber ein rhythmisches Ticken in den ausgestreckten Fingern einer Hand.
Da war kein Atem zu hören - aber ein zischendes Geräusch.
Ihre Augen waren offen und blickten Burckhardt an. Weder Furcht noch Schmerz lagen darin, nur ein unendlich tiefes Mitleid.
Mit heftig zuckenden Lippen sagte sie: »Machen Sie - sich keine Sorgen um mich, Mr. Burckhardt. Ich - bin okay.«
Burckhardt setzte sich auf die Fersen und starrte sie an. An der Stelle, wo Blut herausquellen sollte, war ein Loch in einer Substanz, die kein Fleisch war. Und eine Kupferspirale ragte heraus.
Burckhardt fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Sie sind ein Roboter«, sagte er.
Das Mädchen versuchte zu nicken, der zuckende Mund flüsterte: »Ja, das bin ich. Genauso wie Sie.«
Nachdem Swanson einen einzigen, unartikulierten Laut ausgestoßen hatte, ging er zum Schreibtisch hinüber, setzte sich und starrte die Wand an. Burckhardt kauerte noch immer neben der zerstörten Puppe auf dem Boden.
»Es - tut mir leid, daß das alles geschehen ist«, sagte das Mädchen. Die schönen Lippen verzerrten sich zu einem krampfhaften, spöttischen Lächeln, das beängstigend auf dem jungen glatten Gesicht wirkte, bis sie ihren Mund wieder unter Kontrolle hatte. »Es tut mir leid. Die Kugel hat mitten ins Nervenzentrum getroffen. Dadurch fallt es mir schwer - diesen Körper zu beherrschen.«
Burckhardt nickte automatisch und akzeptierte die Entschuldigung.
Roboter. Es war so offensichtlich - jetzt, wo er es wußte. Wenn er jetzt zurückblickte, hatte es von Anfang an gar keine andere Möglichkeit gegeben. Und er hatte an irgendeine mystische Hypnose gedacht, an Marsmenschen oder andere Fremdlinge. Idiotisch, denn die Robotertheorie paßte viel besser ins Bild.
Er hatte die Beweise ständig vor Augen gehabt. Die automatisierte Fabrik mit ihren transplantierten Gehirnen - warum sollte man ein solches Gehirn nicht auch in einen humanoiden Roboter verpflanzen und dem Automaten die Gesichtszüge und die Gestalt des ursprünglichen Eigentümers geben?
Aber könnte ein solches Geschöpf wissen, daß es ein Roboter war?
»Wir alle«, sagte Burckhardt und merkte kaum, daß er seine Gedanken in Worte faßte. »Meine Frau und meine Sekretärin und Sie und die Nachbarn. Wir sind alle gleich.«
»Nein.« Nun klang ihre Stimme energischer. »Wir sind nicht gleich. Ich habe Sie ausgesucht, verstehen Sie? Ich.« Diesmal waren die verzerrten Lippen kein zufälliges Produkt des zerstörten Nervenapparats. »Ich war eine häßliche Frau, Mr. Burckhardt, und schon fast sechzig Jahre alt. Das Leben war an mir vorbeigegangen. Und als mir Mr. Dorchin die Gelegenheit bot, noch einmal zu leben, als schönes Mädchen, war ich sofort einverstanden. Ich nutzte diese Chance, trotz aller Nachteile, die damit verbunden waren. Mein natürlicher Körper ist immer noch am Leben - er schläft, während ich hier bin. Ich könnte in diesen Körper zurückkehren - aber das werde ich niemals tun.«
»Und wir?«
»Sie sind ganz anders, Mr. Burckhardt. Ich arbeite hier, befolge Mr. Dorchins Befehle, katalogisiere die Testergebnisse, beobachte die anderen, während sie das Leben führen, das er ihnen zugedacht hat. Ich mache das freiwillig, aber Sie haben keine Wahl. Weil Sie tot sind.«
»Tot?« schrie Burckhardt.
Die blauen Augen sahen ihn an, ohne zu blinzeln, und er wußte, daß es keine Lüge war. Er schluckte, wunderte sich über den komplizierten Mechanismus, der ihn schlucken und schwitzen und essen ließ.
»Oh - die Explosion in meinem Traum«, sagte er.
»Das war kein Traum. Die Explosion hat tatsächlich stattgefunden - hier in der Fabrik. Die Lagertanks gingen in die Luft, und wer die Explosion überlebte, starb kurz darauf in den Flammen. Fast alle starben - einundzwanzigtausend Menschen. Sie starben mit ihnen, und das war Dorchins Chance.«
»Dieses verdammte Monstrum!« sagte Burckhardt.
Die verkrümmten Schultern zuckten mit seltsamer Anmut. »Warum? Sie waren tot, Mr. Burckhardt. Und Sie und all die anderen waren genau das, was Dorchin brauchte - eine ganze Stadt, ein perfektes Stück Amerika. Einem toten Gehirn kann man ebenso leicht Denkprozesse entnehmen wie einem lebenden. Bei Toten ist es sogar noch einfacher - sie können nicht mehr nein sagen. Oh, es kostete natürlich viel Zeit und Geld. Die Stadt war ein Trümmerhaufen, aber es war möglich, sie vollständig wieder aufzubauen, vor allem, weil es nicht nötig war, die Einzelteile exakt nachzubilden. Da waren die Häuser der Menschen, deren Gehirne völlig zerstört worden waren. Die sind innen leer - und brauchten nicht vollkommen zu sein, und bei gewissen Dingen mußte man sich auch nicht allzusehr anstrengen. Die Stadt kann nur einen Tag lang bestehen - den ganzen 15 Juni, und das immer wieder. Wenn jemand merkt, daß irgend etwas nicht stimmt, würde die Zeit nicht ausreichen, um diese kleine Entdeckung zur Lawine anwachsen zu lassen, die den Test stören würde, denn alle Fehler werden jeweils um Mitternacht ausgemerzt.«
Das Gesicht versuchte zu lächeln. »Dieser 15. Juni ist ein Traum, Mr. Burckhardt, denn Sie haben ihn niemals wirklich erlebt. Er ist ein Geschenk von Mr. Dorchin, ein Traum, den er Ihnen schenkt und den er Ihnen am Ende des Tages wieder wegnimmt, wenn er alle Daten darüber hat, wie viele von Ihnen aufweiche Variation welcher Anreize ansprechen. Die Instandhaltungs-Crew geht regelmäßig durch den Tunnel, um die ganze Stadt zu kontrollieren und den Traum mit ihren kleinen Elektronenrohren herauszusaugen, wenn er zu Ende geträumt ist, und ihn noch einmal von vorn ablaufen zu lassen. Am 15. Juni. Es ist immer der 15. Juni, denn der 14. ist der letzte Tag, an den Sie sich alle erinnern können. Manchmal geht der Crew der eine oder der andere Roboter durch die Lappen - so wie Sie, als Sie unter Ihrem Boot hockten. Aber das spielt keine Rolle. Die Roboter, die übersehen wurden, verraten sich selbst, und wenn sie das nicht tun, wird der Test nicht beeinflußt. Die Leute, die für Dorchin arbeiten, werden nicht ständig mit dem gleichen Traum gefüttert. Wir schlafen ein, wenn unsere Energiezufuhr gestoppt wird, und wenn wir erwachen, erinnern wir uns an alles.«
»Und das alles, um Waren zu verkaufen!« sagte Burckhardt. »Das muß doch Millionen gekostet haben.«
»Ja«, bestätigte der Roboter namens April Horn. »Aber es hat Dorchin auch Millionen eingebracht. Und das ist noch nicht das Ende. Wenn er ein Mittel gefunden hat, um die Leute zu manipulieren - glauben Sie, daß er sich damit zufriedengeben wird? Glauben Sie.«
Sie brach ab, als die Tür aufging, und Burckhardt wirbelte herum, erinnerte sich zu spät an Dorchins Flucht, während er nach dem Revolver griff.
»Schießen Sie nicht!« befahl eine ruhige Stimme. Es war nicht Dorchin. Es war ein anderer Roboter, der sich nicht hinter Plastik und raffinierter Kosmetik versteckte, sondern seltsam glänzte. Und er sagte mit metallischer Stimme: »Lassen Sie das, Burckhardt. Sie werden nichts damit erreichen. Geben Sie mir den Revolver, bevor Sie noch mehr Schaden anrichten! Geben Sie ihn mir sofort!«
Burckhardt schrie wütend auf. Der Körper des Roboters war aus Stahl, und Burckhardt war sich nicht sicher, ob eine Kugel durch die Oberfläche dringen oder den Automaten überhaupt verletzen konnte. Er würde es ausprobieren müssen.
Aber da raste hinter ihm ein wimmernder Wirbelwind namens Swanson heran, hysterisch vor Angst, stieß gegen Burckhardt, warf ihn zu Boden, und die Waffe fiel ihm aus der Hand.
»Bitte!« flehte Swanson und stand geduckt vor dem stählernen Roboter. »Er hätte Sie erschossen - bitte, tun Sie mir nichts! Erlauben Sie mir, für Sie zu arbeiten - wie dieses Mädchen. Ich werde alles machen, was Sie wollen.«
»Wir brauchen Ihre Hilfe nicht«, entgegnete die Roboterstimme. Die Gestalt machte zwei gemessene Schritte, blieb vor der Waffe stehen und versetzte ihr einen Fußtritt.
Der ruinierte blonde Roboter sagte emotionslos: »Ich bezweifle, daß ich noch lange durchhalten werde, Mr. Dorchin.«
»Dann schalten Sie sich aus«, erwiderte der Stahlroboter unbewegt.
Burckhardt blinzelte. »Aber Sie sind doch nicht Dorchin!«
Die stählerne Gestalt richtete ihre unergründlichen Augen auf ihn. »Doch. Ich bin allerdings nicht Dorchin in Fleisch und Blut. Dies ist der Körper, den ich zur Zeit benutze. Ich nehme nicht an, daß Sie ihn mit dieser Waffe verletzen können. Der andere Roboterkörper war verwundbarer. Werden Sie jetzt mit diesem Unsinn aufhören? Ich möchte Sie nicht vernichten. Dazu sind Sie zu teuer. Werden Sie sich jetzt hinsetzen und es dem Instandhaltungs-Team gestatten, Sie zu regulieren?«
»Sie - Sie werden uns nicht bestrafen?« fragte Swanson unterwürfig.
Das Stahlgesicht zeigte keinen Ausdruck, aber die Stimme klang fast überrascht. »Bestrafen? Wie sollte ich Sie denn bestrafen?«
Swanson erzitterte, als hätten ihn die Worte wie Peitschenhiebe getroffen. Burckhardt schrie wutentbrannt: »Sie können ja ihn regulieren, wenn er das zuläßt - aber mich nicht! Sie werden mich ganz schön beschädigen müssen, Dorchin. Es ist mir egal, wie teuer ich Sie zu stehen komme oder wieviel Mühe es kostet, mich wieder zusammenzusetzen. Ich gehe jetzt durch diese Tür hinaus. Wenn Sie mich aufhalten wollen, müssen Sie mich töten.«
Der Stahlroboter machte einen halben Schritt auf ihn zu, und Burckhardt blieb unwillkürlich stehen. Er zitterte am ganen Körper, bereit, dem Tod ins Auge zu blicken, bereit zu kämpfen, auf alles vorbereitet, was da kommen mochte.
Auf alles war er vorbereitet - nur auf das nicht, was jetzt geschah. Denn Dorchins Stahlkörper trat beiseite, stellte sich zwischen Burckhardt und den Revolver, gab aber die Tür frei.
»Gehen Sie nur«, forderte die Stahlstimme ihn auf. »Niemand hält Sie zurück.«
Burckhardt ging über die Schwelle, dann blieb er stehen. Es war verrückt von Dorchin, ihn laufenzulassen. Ob er nun ein Roboter war oder ein Körper aus Fleisch und Blut, ob ein Opfer oder ein Günstling des Schicksals - nichts würde ihn daran hindern, zum FBI zu gehen oder zu irgendeiner anderen Behörde außerhalb von Dorchins künstlichem Reich und seine Geschichte zu erzählen. Sicher hatten die Firmen, die Dorchins Test finanzierten, keine Ahnung von der gespenstischen Methode, die er anwandte. Dorchin würde diese Technik vor seinen Auftraggebern geheimhalten, denn sonst würde die Öffentlichkeit Zeter und Mordio schreien. Burckhardt überlegte blitzschnell. Vielleicht bedeutete es den sicheren Tod, jetzt hinauszugehen. Aber in diesem Augenblick seines Pseudo-Lebens konnte ihn der Tod nicht erschrecken.
Niemand war auf dem Korridor zu sehen. Burckhardt fand ein Fenster und starrte hinaus. Da lag Tylerton, eine Ersatzstadt, aber sie wirkte so real und vertraut, daß er fast glaubte, die ganze Episode sei nur ein Traum gewesen. Doch es war kein Traum. Davon war er fest überzeugt, und er wußte auch, daß ihm niemand in dieser Stadt helfen konnte.
Er mußte die andere Richtung einschlagen.
Es dauerte eine Viertelstunde, bis er einen Weg fand, aber er fand ihn. Er schlich durch Korridore, wich dem Klang von Schritten aus und wußte, daß sein Versteckspiel überflüssig war, denn Dorchin würde zweifellos jede Bewegung beobachten, die er machte. Aber niemand hielt ihn auf, und er fand eine weitere Tür.
Von innen sah sie ganz harmlos aus. Aber als er sie öffnete und hinaustrat, erwartete ihn ein Anblick, wie er ihn noch nie gesehen hatte.
Zuerst nahm er nur dieses Licht wahr - ein helles, unwahrscheinliches, blendendes Licht. Burckhardt blinzelte ungläubig und voller Angst.
Er stand am Rand einer glatten Metallfläche. Keine Dutzend Yards von seinen Füßen entfernt fiel eine Wand steil nach unten ab. Er wagte es nicht, sich diesem Abgrund zu nähern. Von seinem Standort aus sah er nur bodenlose Tiefe - und die riesige Schlucht erstreckte sich nach beiden Seiten hin, verlor sich im grellen Licht.
Kein Wunder, daß Dorchin ihm so bereitwillig die Freiheit geschenkt hatte. Es gab keinen Fluchtweg. Aber wie unglaublich war diese phantastische Schlucht, wie unmöglich waren die hundert weißen, strahlenden Sonnen, die darüber hingen.
An seiner Seite sagte eine Stimme in fragendem Ton: »Burckhardt?«
Burckhardt befeuchtete seine Lippen. »J-ja?« stotterte er.
»Hier ist Dorchin. Diesmal bin ich kein Roboter, sondern Dorchin in Fleisch und Blut. Ich spreche durch ein Mikrofon zu Ihnen. Nun haben Sie es gesehen, Burckhardt. Werden Sie jetzt vernünftig sein und sich in die Obhut des Instandhaltungs-Teams begeben?«
Burckhardt stand da wie gelähmt. Einer der beweglichen Berge in dem blendenden Licht kam auf ihn zu.
Er ragte viele Hundert Fuß hoch über seinem Kopf auf. Burckhardt starrte zum Gipfel hinauf, blinzelte hilflos in die grellen Strahlen.
Es sah aus wie.
Unmöglich!
Die Stimme, die aus dem Lautsprecher über der Tür kam, fragte drängend: »Burckhardt?« Aber er war unfähig zu antworten.
Ein tiefer Seufzer klang auf. »Ich sehe, daß Sie es verstanden haben.« sagte die Stimme. »Es gibt keinen Ort, wohin Sie gehen könnten. Das wissen Sie jetzt. Ich hätte es Ihnen sagen können, aber Sie hätten mir nicht geglaubt. Deshalb ist es besser, wenn Sie es mit eigenen Augen sehen. Und warum sollte ich die Stadt auch genauso wiederaufbauen, wie sie früher war? Ich bin ein Geschäftsmann. Wenn etwas seine natürliche Größe haben müßte, würde ich es so aufbauen. Aber das war in diesem Fall nicht nötig.«
Machtlos sah Burckhardt zu, wie sich eine Klippe vom Berghang löste und langsam zu ihm herabsank. Sie war lang und dunkel, und an einem Ende leuchtete etwas Weißes, Fünffingriges.
»Armer kleiner Burckhardt«, säuselte der Lautsprecher, und die Echos hallten durch den ungeheuren Abgrund, der nur eine Fabrikhalle war. »Es war sicher schrecklich für Sie, als Ihnen bewußt wurde, daß Sie in einer Stadt gelebt haben, die auf einer Tischplatte steht.«
Es war am Morgen des 15. Juni, und Guy Burckhardt erwachte schreiend aus einem Traum.
Es war ein unheimlicher, unbegreiflicher Traum gewesen, von Explosionen und Schattengestalten, die keine Menschen waren, von einem Grauen, für das es keine Worte gab.
Er schauderte und öffnete die Augen.
Vor seinem Schlafzimmerfenster heulte eine Stimme, von einem gewaltigen Lautsprecher verstärkt.
Burckhardt stand auf, taumelte zum Fenster und starrte hinaus. Es war kalt für die Jahreszeit - wie im Oktober. Aber der Anblick, der sich ihm bot, war relativ normal - abgesehen von dem Laster, der auf dem Platz stand und auf dessen Dach ein Lautsprecher montiert war.
»Sind Sie ein Feigling?« hallte es aus dem Trichter. »Sind Sie ein Narr? Werden Sie es zulassen, daß verbrecherische Politiker Ihr Land stehlen? Nein! Werden Sie diese Kriminalität, diese Korruption vier weitere Jahre lang dulden? Nein! Werden Sie hingehen und die Föderalistische Partei wählen? Ja! Wetten, daß Sie das tun werden?«
Manchmal schreit er, manchmal schmeichelt er, oder er droht, fleht, winselt - aber die Stimme dröhnt unablässig, Tag für Tag, jeden 15. Juni.