3. Der große Unbekannte

Ein Bedienter unterbrach uns. „Die Frau Gräfin von Langsdorf läßt sich ein Buch ausbitten“, sprach er.

„Was für eine Nummer?“

„Das hat sie nicht gesagt. Aber ich glaube, sie will eine Geistergeschichte.“

„Geistergeschichte?“ fragte der kleine Bibliothekar umhersuchend, „darf es auch eine Rittergeschichte sein? Die Geister sind alle ausgeblieben.“

„Ja, nur etwas recht Schauerliches, das hat sie gerne,“ erwiderte der Diener, „so wie das letzthin: ‚Die schwarzen Ruinen oder das unterirdische Gefängnis‘. Das hat uns sehr gut gefallen.“

„Liest Er denn auch mit?“ fragte der kleine Mann mit Staunen.

„Nachher, wenn die Frau Gräfin einen Band durchhat, lesen wir ihn auch im Bedientenzimmer.“

„Gut. Will Er lieber das Geisterschloß, die Auferstehung im Totengewölbe oder das feurige Racheschwert von Hildebrand?“

„Da tut mir die Wahl weh“, erwiderte er. „Was müssen das für schöne Bücher sein! Nu - ich will diesmal das feurige Racheschwert nehmen. Behalten Sie das Geisterschloß für das nächste Mal auf.“

Kaum hatte sich der Diener der Gräfin, die gern Schauergeschichten las, entfernt, so trat gemessenen Schrittes ein Soldat ein.

„Für den Herrn Leutnant Flunker beim fünfzehnten Regiment den blinden Torwart vom alten Schott.“

„Freund, hat Er auch recht gehört?“ fragte der Leihbibliothekar.

„Den blinden Torwart vom alten Schott? Ich kenne keinen Autor dieses Namens.“

„Es soll auch kein Auditor sein,“ entgegnete der Soldat vom Fünfzehnten, „sondern ein Buch. Der Herr Leutnant sind auf der Wache und wollen lesen.“

„Wohl! Aber vom alten Schott? Es steht weder ein alter noch ein junger im Katalog.“

„Es ist, glaub’ ich, derselbe, der soviel gedruckt hat und den sich alle Korporals und Wachtmeister um zwei Groschen gekauft haben.“

„Walter Scott!“ rief der Kleine mit Lachen. „Und das Buch wird Quentin Durward heißen.“

„Ach ja, so wird es heißen!“ sprach der Soldat. „Aber ich darf den Herrn Leutnant nichts zweimal fragen, sonst hätte ich den Namen wohl gemerkt. Er hat sich das undeutliche Sprechen vom Kommandieren angewöhnt.“ Er empfing seinen blinden Torwart und ging. Aber der Himmel hatte ihn in diesem Augenblick in die Leihbibliothek gesandt, und seine Worte hatten einen Lichtstrahl in meine Seele geworfen. „So ist es denn wahr,“ sprach ich, „daß die Werke dieses Briten beinahe so verbreitet sind wie die Bibel, daß alt und jung und selbst die niedrigsten Stände von ihm bezaubert sind.“

„Gewiß, man kann rechnen, daß allein in Deutschland sechzigtausend Exemplare verbreitet sind, und er wird täglich noch berühmter. In Scheerau hat man jetzt eine eigene Übersetzungsfabrik angelegt, wo täglich fünfzehn Bogen übersetzt und sogleich gedruckt werden.“

„Wie ist das möglich?“

„Es scheint beinahe so unmöglich, als daß Walter Scott diese Reihe von Bänden in so kurzer Zeit sollte geschrieben haben. Aber es ist so; denn erst vor kurzem hat er sich öffentlich als Autor bekannt. Die Fabrik habe ich aber selbst gesehen.“

„Wird vielleicht durch die Verteilung der Arbeit Zeit ge-wonnen?“ fragte ich.

„Einmal dies,“ entgegnete er, „und sodann wird alles mechanisch betrieben. Der Professor Lux ist sogar gegenwärtig beschäftigt, eine Dampfmaschine zu erfinden, die Französisch, Englisch und Deutsch versteht. Dann braucht man gar keine Menschen mehr. Die Fabrik ist folgendermaßen beschaffen: Hinten im Hof ist die Papiermühle, die unendliches Papier macht, das, schon getrocknet, wie ein Lavastrom in das Erdgeschoß des Hauptgebäudes hinüberrollt. Dort wird es durch einen Mechanismus in Bogen zerschnitten und in die Druckerei bis unter die Pressen geschoben. Fünfzehn Pressen sind im Gang, wovon jede täglich zwanzigtausend Abdrucke macht. Nebenan ist der Trockenplatz und die Buchbinderwerkstätte. Man hat berechnet, daß der Papierbrei, der morgens fünf Uhr noch flüssig ist, den andern Morgen um elf Uhr, also innerhalb dreißig Stunden, ein elegantes Büchlein wird. Im ersten Stock ist die Übersetzungsanstalt. Man kommt zuerst in zwei Säle. In jedem arbeiten fünfzehn Menschen. Jedem wird morgens acht Uhr ein halber Bogen von Walter Scott vorgelegt, den er bis Mittag übersetzt haben muß. Das nennt man dort: ‚aus dem Groben arbeiten‘. Fünfzehn Bogen werden auf diese Weise jeden Morgen übersetzt. Um drei Uhr bekommen diese Leute ein gutes Mittagsbrot. Um vier Uhr wird jedem wieder ein halber Bogen gedruckte Übersetzung vorgelegt, die durchgesehen und korrigiert werden muß.“

„Aber was geschieht dann mit den übersetzten Bogen vom Vormittag?“

„Wir werden es sogleich sehen. An die zwei Säle stoßen vier kleine Zimmer. In jedem sitzt ein Stilist und sein Sekretär. Stilisten nennt man dort diejenigen, welche die Übersetzung der Dreißig durchgehen und aus dem Groben ins Feine arbeiten. Sie haben das Amt, den Stil zu verbessern. Ein solcher Stilist verdient täglich zwei Taler, muß aber seinen Sekretär davon bezahlen. Je sieben bis acht Grobarbeiter sind einem Stilisten zugeteilt. Sobald sie eine Seite geschrieben haben, wird sie dem Stilisten geschickt. Er hat das englische Exemplar in der Hand, läßt sich vom Sekretär das Übersetzte vorlesen und verbessert hier und dort die Perioden. In einem fünften Zimmer sind zwei poetische Arbeiter, welche die Mottos über den Kapiteln und die im Texte vorkommenden Gedichte in deutsche Verse übersetzen.“

Ich staunte über diesen wunderbaren Mechanismus und bedauerte nur, daß die dreißig Arbeiter und vier Stilisten notwendig ihr Brot verlieren müssen, wenn der Professor Lux die Übersetzungsmaschine erfindet.

„Gott weiß, wie es dann gehen wird“, antwortete der kleine Mann. „Schon jetzt kostet das Bändchen in der Scheerauer Fabrik nur einen Groschen. In Zukunft wird man zwei Bändchen um einen Silbergroschen geben, und alle Tage wird eins erscheinen.“

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