Teil drei Turbulenz

Achtzehn

Die Zeit ist wie ein Pfeil, hatte Sue Chopra einmal erklärt. Sie fliegt in eine Richtung. Bringt man Feuer und Brennholz zusammen, ist Asche das Resultat. Bringt man Feuer und Asche zusammen, ist aber nicht Brennholz das Resultat.

Auch die Moral ist wie ein Pfeil. Lässt man zum Beispiel einen Film über den Zweiten Weltkrieg rückwärts laufen, stellt man sie auf den Kopf. Die Alliierten unterzeichnen ein Friedensabkommen mit Japan und bombardieren gleich darauf Hiroshima und Nagasaki. Nazis ziehen Geschosse aus den Köpfen ausgemergelter Juden, die man hernach wieder gesund pflegt.

Das Problem bei der Tau-Turbulenz, sagte Sue, sei nun, dass sie solche Paradoxa unter die alltägliche Erfahrung mische.

In der Nachbarschaft eines Chronolithen könnte ein Heiliger zum Mörder und ein Sünder zum Wohltäter werden.

Sieben Jahre nach Portillo und Dank der Tatsache, dass das Militär den gesamten Ausstoß der Kommunikations- und Computerindustrie an sich riss, brachte ein gebrauchtes Prozessorsubstrat von guter Volksqualität auf dem offenen Markt locker seine zweihundert Dollar. Ein Strat-Board von Marquis Instruments, Baujahr 2025, steckte seine modernen Gegenstücke an Schnelligkeit und Zuverlässigkeit in die Tasche; Unze für Unze war es mehr wert als Gold. Fünf davon hatte ich im Kofferraum meines Wagens.

Ich kutschierte mich, meine Strat-Boards und meine Kollektion an überschüssigen Steckverbindungen, Bildschirmen, Parabolantennen, Modems und Außenzubehör zum freien Markt in der Nicollet Mall. Es war ein strahlender, heiterer Sommermorgen und selbst die leeren Fenster des Halprin Tower — eine Bauruine, seit die Finanzierung letzten Januar geplatzt war — hatten etwas Fröhliches da oben in ihren luftigen und relativ sauberen Gefilden.

An meinem angestammten Platz am Springbrunnen hatte ein Obdachloser seine Decke ausgerollt, räumte aber anstandslos das Feld. Er kannte die Regeln. Die Standplätze wurden eifersüchtig gehütet, ältere Rechte peinlich respektiert. Viele der Nicollet-Händler waren schon seit Beginn der Rezession hier, als die Ortspolizei bereits dafür bekannt war, das Hausierverbot mit Waffengewalt durchzusetzen. Not schweißt zusammen. Wir Händler kannten einander und, obwohl Konflikte nicht gerade etwas Ungewöhnliches waren, respektierten und verteidigten in der Regel den Standplatz des anderen. Alte Veteranen behaupteten die besten Plätze; Anfänger mussten sehen, wo sie blieben, und nicht selten Monate oder Jahre auf eine Vakanz warten.

Ich rangierte irgendwo zwischen den Veteranen und den Anfängern. Der Platz mit dem Springbrunnen lag abseits der Hauptpassagen, war aber so groß, dass ich keinen Handkarren brauchte: Ich konnte vor Ort parken, um Klapptisch und Ware auszuladen… immer vorausgesetzt, dass ich früh genug kam und meinen Stand aufbaute, bevor es voll wurde.

Diesen Morgen war ich ein bisschen spät dran. Der Händler neben mir, ein Mann namens Duplessy, der gebrauchte Kleidung verkaufte und änderte, hatte seinen Stand bereits fertig. Er schlenderte herüber, während ich mit Auspacken beschäftigt war.

Er besah sich die neue Ware. »Donnerwetter, Strat-Boards«, sagte er. »Originale?«

»Klar.«

»Sieht nach Qualität aus. Hast du einen Lieferanten?«

»Nur Glück gehabt.« In der Tat hatte ich die Boards von einem ahnungslosen Hobby-Liquidator für Büroeinrichtungen und Beleuchtungskörper. Eine günstige Gelegenheit, mein Gott.

»Lust auf ein Tauschgeschäft. Ein hübscher, eleganter Anzug für eins von diesen Boards?«

»Was soll ich mit einem Anzug, Dupe?«

Er zuckte die Achseln. »War nur eine Frage. Hoffe, wir haben Kundschaft heute. Trotz der Parade.«

Ich runzelte die Stirn. »Noch eine Parade?« Ich hätte besser aufpassen sollen bei den Nachrichten.

»Wieder eine A&P-Parade. Nur Fahnen und Arschlöcher, keine Bonbons. Nicht mal Clowns… im engeren Sinne, meine ich.«

Adapt & Prosper war trotz ihres mitunter versöhnlichen Tons eine radikale Splittergruppe der Kuinisten und jedes Mal, wenn sie ihre blauroten Banner durch St. Paul und Minneapolis trugen, gab es unweigerlich Gegendemonstrationen und ein paar fotogene Kopfverletzungen. An Paradetagen zog es die Friedliebenden nicht auf die Straße.[30] Vermutlich hatten die Copperheads nach wie vor das Recht, ihre Meinung zu sagen. Niemand hatte die Verfassung außer Kraft gesetzt. Aber es war eine Schande, dass sie sich einen Tag wie diesen ausgesucht hatten — blauer Himmel, kühle Brise, das perfekte Shoppingwetter.

Ich passte auf Dupes Ware auf, während er zu einem Karren lief, um sich sein Frühstück zu holen. Bis er wieder zurück war, hatte ich einem anderen Händler eins meiner Boards verkauft, und bis zum Lunch, obwohl nicht viel zu tun war, gingen noch zwei mehr weg, alle zu Höchstpreisen. Ich hatte einen anständigen Schnitt gemacht und als sich gegen eins die Passagen leerten, packte ich zusammen. »Angst vor einem guten alten Straßenkämpfchen?«, tönte Duke zwischen seinen Maulwurfshügeln aus Baumwollstoffen und Denim.

»Angst vor dem Verkehr.« Die Polizei war längst dabei, überall im Stadtkern Straßensperren zu errichten. Noch während der Strom der Passanten dünner wurde, war mir aufgefallen, wie sich auf den Gehsteigen grimmige junge Männer mit A&P-Armbinden und »K+«-Tattoos sammelten.

Was mir Sorgen machte, war allerdings weniger der Verkehr oder die Gewaltbereitschaft als der hagere, bärtige Mann, der zweimal an meinem Stand vorbeigekommen war, sich immer noch in der Nähe herumtrieb und mit beharrlich vorgetäuschter Gleichgültigkeit beiseite sah, wann immer ich in seine Richtung blickte. Mir waren schüchterne oder unschlüssige Kunden nicht fremd, doch dieser Gentleman hatte meiner Ware nur einen flüchtigen und oberflächlichen Blick gegönnt und schien es weit interessanter zu finden, wiederholt auf seine Uhr zu blicken. Er war bestimmt nur ein harmloser Spasti, aber er machte mich nervös.

Für gewöhnlich konnte ich mich auf meinen Instinkt verlassen.


Bevor es zu ernsthaften Auseinandersetzungen kam, hatte ich den Stadtkern verlassen. Pro- und Anti-K-Schlägereien waren in letzter Zeit an der Tagesordnung und die Polizei hatte sich darauf eingestellt. Die Reste des Beruhigungsgases (das wie eine Mischung aus verpisster Katzenstreu und vergorenem Knoblauch riecht) würden noch tagelang herumgeistern, und es kostete die Stadt ein kleines Vermögen, die oxidierenden Rückstände des Sperrschaums vom Pflaster zu kratzen.

Vieles hatte sich in den sieben Jahren nach Ankunft des Portillo-Chronolithen verändert.

Lange Jahre: sieben an der Zahl, nervöse Vorkriegsjahre, pessimistische Jahre. Jahre, in denen es mit uns bergab ging, selbst wenn man die wirtschaftliche Krise, die kuinistische Jugendbewegung und die schlechten Nachrichten aus aller Welt ausklammerte. Die Mississippi-Atchafalaya-Katastrophe zog sich hin. Hinter Baton Rouge hatte sich der Mississippi in seinen neuen Lauf in Richtung Meer geschickt. Industrie und Schifffahrt waren zerstört, ganze Städte überschwemmt oder ohne Trinkwasser. Nichts Bedrohliches, nur dass die Natur eine Runde gegen die US-Pioniertruppe gewonnen hatte. Die Sedimentation verändert das Flussgefälle und die Gravitation besorgt den Rest. Doch alles das erschien seinerzeit seltsam symbolisch. Der Kontrast war offenkundig: Kuin hatte die Zeit besiegt, und uns das Wasser.

Vor sieben Jahren hätte ich mir nicht träumen lassen, einmal ein Schrotthändler von Gottes Gnaden zu werden. Heute zählte ich mich zu den Privilegierten. Normalerweise verdiente ich jeden Monat genug, um Miete und Essen zu finanzieren. Was man von einem Großteil der Menschen nicht sagen konnte. Viele waren auf Stütze und Suppenküchen angewiesen, eine dankbare Reserve für die Pro- und Anti-K-Milizen.

Ich versuchte, Janice vom Auto aus anzurufen. Nach ein paar Fehlstarts bekam ich eine Verbindung, sie war aber so mickrig, dass Janice sich anhörte, als schreie sie durch eine Rolle Toilettenpapier. Ich sagte ihr, wir wollten Kait und David zum Dinner einladen, ins Restaurant.

»Es ist Davids letzte Nacht«, sagte Janice.

»Ich weiß. Deshalb wollen wir die beiden ja treffen. Ich hätte früher angerufen, aber ich wusste nicht, ob ich rechtzeitig fertig werden würde.« Oder ob ich mir, wenn überhaupt, eine Einladung zu uns nach Hause leisten konnte, was ich aber für mich behielt. Diesen kleinen Luxus hatten die Marquis-Boards ermöglicht.

»In Ordnung«, sagte sie, »aber bring sie nicht zu spät zurück. David muss morgen in aller Herrgottsfrühe raus.«

Im Juni hatte David seinen Einberufungsbescheid bekommen und musste zur Grundausbildung nach Arkansas, in ein Lager der Vereinigten Streitkräfte. Er und Kaitlin waren gerade mal sechs Monate verheiratet gewesen, aber das scherte die Musterungskommission nicht. Die Chinesische Intervention verschlang Bodentruppen, die in Schiffsladungen gezählt wurden.

»Richte Kait aus, ich bin um fünf da«, sagte ich, als die Verbindung prasselte, um sich gleich darauf in Wohlgefallen aufzulösen. Ich rief Ashlee an und sagte ihr, wir hätten Gäste zum Dinner. Ich bot mich an, die Einkäufe zu machen.

»Ich wünschte, wir könnten uns Fleisch leisten«, sagte sie sehnsüchtig.

»Können wir.«

»Du machst Witze. Doch nicht die Strat-Boards?«

»Erraten.«

Sie hielt inne. »Scott, es gibt so viel, wofür wir das Geld brauchen könnten.«

Ja, gab es, aber ich war nun einmal entschlossen, zum Metzger zu gehen und vier kleine Lendensteaks zu kaufen. Und beim Lebensmittelhändler kaufte ich Basmati-Reis und frischen Stangenspargel und richtige Butter. Damit das Leben sich lohnt, muss man gelegentlich leben, oder?


Kait und David hatten sich in einem ehemaligen Lagerraum über Whits Garage eingerichtet. So schlimm es sich anhört, sie hatten aus einer kalten Spitzdachmansarde ein verhältnismäßig warmes und gemütliches Nest gemacht, möbliert mit Whits ausrangiertem Sofa und einem großen schmiedeeisernen Bett, das David von seinen Eltern geerbt hatte.

Die Mansarde erlaubte ihnen außerdem ein bisschen Distanz zu Whit, auf dessen Großzügigkeit sie natürlich angewiesen waren. Whit war ein ehrbarer Copperhead und lehnte Straßenkämpfe ab; nahm aber seine Politik ernst und ergriff, wann immer die Unterhaltung erlahmte, das Wort zu einer kleinen versöhnlichen Predigt.

Ich holte Kait und David ab. Auf der Fahrt zu dem kleinen Apartment, das ich mir mit Ashlee teilte, war Kait still, machte eine tapfere Miene, hatte aber unverkennbar Angst um ihren Mann. David versuchte, die Schatten zu verscheuchen, indem er über die Nachrichten plapperte (die Schlappe der Föderalisten, die Kämpfe in San Salvador), doch nach seiner Stimme und seiner Gestik zu urteilen, war er nicht minder nervös. Mit Recht. Keinem von uns kam das Wort China über die Lippen.

Im letzten Jahr hatte Kait mir den Jungen vorgestellt und David Courtney hatte keinen besonderen Eindruck auf mich gemacht. Was sich dann ins Gegenteil verkehrte. Er war erst zwanzig und zeigte jenen Gleichmut (oder »Gefühlsmangel«, wie die Psychologen sagen), der typisch ist für diese Generation, die im Schatten Kuins aufgewachsen ist. Unter der Oberfläche allerdings erwies David sich als der warmherzige und rücksichtsvolle junge Mann, dessen Zuneigung zu Kait außer Frage stand.

Er war nicht besonders hübsch — in den Lower-town-Bränden von 2028 hatte er sich eine Narbe im Gesicht zugezogen — und Geld oder gute Beziehungen hatte er auch nicht. Aber Arbeit hatte er gehabt, bis zur Einberufung: Er fuhr eine Laderampe im Flughafen und er war aufgeweckt und vielseitig, wichtige Eigenschaften in diesen dunklen Zeiten eines dunklen Jahrhunderts.

Die Hochzeit war winzig gewesen, bezuschusst von Whit und vollzogen in einer Kirche in Whits Pfarrbezirk, wo die Hälfte der Diakone vermutlich Copperheads waren. Kait hatte das alte Hochzeitskleid von Janice getragen, was ein paar peinliche Erinnerungen weckte. Doch nach heutigen Begriffen war es ein schönes Fest, dessen Feierlichkeit Janice und Ashlee zu Tränen rührte. Kaitlin ging schon nach oben in die Wohnung, während David und ich uns um die Alarmanlage und das Sicherheitssystem des Wagens kümmerten. Ich fragte ihn, wie Kait denn mit seiner bevorstehenden Abreise fertig würde.

»Sie weint manchmal. Gut findet sie es nicht, aber sie wird es schon packen.«

»Und du?«

Er streifte sich die Haare aus den Augen und entblößte ganz kurz das Narbengewebe, das seine Stirn entstellte. Er zuckte die Achseln.

»So weit ganz gut.«


Ich wollte die Steaks braten, aber Ashlee war dagegen. Wir hatten fast das ganze Jahr über keine Steaks mehr in der Pfanne gehabt, und sie wollte sie auf keinen Fall meinen Kochkünsten aussetzen. Ich sollte Zwiebeln schneiden, schlug sie vor, oder besser noch bei Kait und David bleiben und um Himmels willen aus der Küche.

Vielleicht waren die Steaks keine so gute Idee gewesen. Steaks waren ein Festschmaus, doch an diesem Abend gab es nichts zu feiern. Kait und David wechselten bekümmerte Blicke und strengten sich ehrlich an, ihre Ängste zu überspielen, was ihnen nicht einmal im Ansatz gelang. Bis Ash das Essen auftischte, spielten wir alle das Spiel wechselseitiger Selbstverleugnung.

Ashlee und ich hatten das im fünften Stock gelegene Apartment kurz nach unserer Heirat gemietet. Das war im Juli vor sechs Jahren gewesen. Die Stoppard-Verfügung regelte zwar die Mietpreisbindung, aber die Instandhaltung war zögerlich bis schlampig. Die Wasserleitung des Nachbarn über uns war undicht gewesen und drohte unsere Küchenschränke zu ruinieren, bis Ash und ich mit Klempnerwerkzeug und PVC nach oben gingen und die Sache selbst in Ordnung brachten. Doch unsere Wohnzimmerfenster blickten nach Südwesten über die niedrigen Vororte hinweg — Dächer, Solarzellen, Baumwipfel — und heute Abend saß ein großer Mond auf dem Horizont, fast so hell wie eine Leselampe.

»Ich kann das kaum glauben«, sagte Kait hingerissen. »Da oben haben wirklich mal Menschen gelebt.«

Vieles aus der Vergangenheit konnte man kaum mehr glauben. Im vorigen Jahr hatte ich durch eben dieses Fenster mitangesehen, wie sich die aufgegebene Corning-Gentell-Orbitalfabrik ihren Weg durch die Atmosphäre gebrannt und flüssiges Metall versprüht hatte wie eine Wunderkerze. Vor zehn Jahren noch hatte es fünfundsiebzig Menschen im erdnahen Weltraum gegeben. Heute gab es dort niemanden mehr.

Ich stand auf, um die Vorhänge ein bisschen weiter zu öffnen und bemerkte das alte GM-Hybrid-Modell, das vor der vergitterten Tür des Mukerjee-Dollar-Bargain-Store parkte, und das bärtige Profil hinter dem Seitenfenster, beleuchtet vom grellgelben Schein der Straßenlaterne, bevor der Mann in eine andere Richtung blickte.

Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es der Spasti war, der schon meinen Stand in der Nicollet Mall heimgesucht hatte, aber ich hätte einen Eid geschworen, dass er es war.

Ich behelligte nicht die Familie damit, setzte mich wieder hin und setzte ein Lächeln auf — heute Abend war jedes Lächeln aufgesetzt. Der Kaffee machte David ein bisschen gesprächiger: Was ihn wohl nach der Grundausbildung bei den Vereinigten Streitkräften erwarte? Wenn es ihm nicht gelinge, aufs Büro oder zur technischen Wartung zu kommen, dann lande er höchstwahrscheinlich bei der Infanterie in China, sagte er. Was aber weiter nicht schlimm sei, beruhigte er Kait, denn viel länger könnten die Kämpfe nicht mehr dauern. Und wir alle taten so, als würden wir diesen Unsinn glauben.

Wäre Kait schwanger gewesen, wäre David natürlich zurückgestellt worden, aber die Infektion, die sie sich in Portillo zugezogen hatte, hatte ihren Uterus geschädigt und sie unfruchtbar gemacht. Sie und David hätten zwar Kinder haben können, aber eben nur in vitro, und das konnte sich keiner von uns leisten. Soviel ich weiß, hat David das Thema auch nie angesprochen — ich meine, eine Zurückstellung wegen zu erwartendem Nachwuchs. Ich glaube, er hat sie sehr geliebt. Ehen, die geschlossen wurden, um eine Zurückstellung zu erwirken, waren derzeit an der Tagesordnung — ein Grund, der für David und Kaitlin ausschied.

Ashlee goss Kaffee nach und verstand es, die Unterhaltung ein wenig aufzulockern, derweil ich versuchte, nicht an den Mann auf der anderen Straßenseite zu denken. Ich ertappte mich dabei, wie ich Kait beobachtete, die unauffällig David beobachtete. Ich war stolz auf Kait. Sie hatte es nicht einfach gehabt (das ging allen Zeitgenossen der Chronolithen so), doch sie hatte im Laufe der Zeit eine Würde gewonnen, die mitunter wie ein inneres Licht durch ihre Haut zu brechen schien. Es war das Wunder unserer kurzen Zweisamkeit, dass Janice und ich nichtsahnend diese kraftvolle menschliche Seele freigesetzt hatten. Wir hatten — ohne unser Zutun — Güte geschaffen.

Kait und David brauchten aber ihre letzten Stunden für sich. Ich bat Ashlee, sie heimzufahren. Ash bedachte mich mit einem scharfen, neugierigen Blick, willigte aber ein.

Ich gab David die Hand und wünschte ihm alles Gute. Ich schloss Kait in die Arme. Und als die drei weg waren, ging ich ins Schlafzimmer, holte oben aus dem Wäscheschrank die Pistole und entsicherte sie.


Ich habe wohl bereits erwähnt, dass in den frühen Dekaden dieses Jahrhunderts, in denen ich aufgewachsen bin, Waffen strikt abgelehnt wurden. (Besagtes Jahrhundert schwebt, während ich diese Worte schreibe, am Rand seines letzten Viertels… doch ich will mich nicht selbst überholen.)

Während der Unruhen waren Handfeuerwaffen wieder in Mode gekommen. Die meine ging mir gegen den Strich — nebenbei kam ich mir wie ein Pharisäer vor —, doch ich war zu der Überzeugung gekommen, dass es nur vernünftig war, eine zu besitzen. Also hatte ich die erforderlichen Kurse absolviert, alle Formulare ausgefüllt, den Waffenbesitz und mein Genom bei ATF[31] registrieren lassen und mir eine kleinkalibrige Handfeuerwaffe besorgt, die meine (und sonst niemandes) Fingerabdrücke erkannte, wenn ich sie anfasste. Ich besaß die Waffe seit gut drei Jahren und hatte sie bis jetzt nur auf dem Schießplatz abgefeuert.

Ich steckte sie ein, stieg vier Treppen zum Hausflur hinunter und ging über die Straße auf das geparkte Auto zu.

Der Bärtige auf dem Fahrersitz zeigte sich unbefangen. Er lächelte, nein, grinste mir entgegen. Als ich nahe genug war, um mich verständlich zu machen, sagte ich: »Sie müssen mir erklären, was Sie hier machen.«

Sein Grinsen wurde breiter. »Sie erkennen mich wirklich nicht, stimmt's? Sie haben nicht den leisesten Schimmer.«

Womit ich nicht gerechnet hatte. Die Stimme klang tatsächlich vertraut, aber ich konnte sie nicht zuordnen.

Er streckte die Hand aus dem Seitenfenster. »Ich bin es, Scott — Ray Mosely. Früher war ich fünfzig Pfund schwerer. Der Bart ist neu.«

Ray Mosely. Sue Chopras Vertretung und glücklose Hofschranze.

Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit… das war noch vor Kaits Abenteuer in Portillo gewesen — seit ich mich aus alledem herausgehalten hatte, um ein neues Leben mit Ashlee zu beginnen.

»Ja, zum Kuckuck«, war alles, was ich herausbrachte.

»Sie haben sich kaum verändert«, sagte er. »Gott sei Dank, da war es nicht so schwer, Sie aufzustöbern.«

Ohne die Pfunde sah er fast ausgemergelt aus, daran konnte auch der Bart nichts ändern. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. »Sie hätten mich nicht belauern brauchen, Ray. Sie hätten raufkommen und Hallo sagen können.«

»Naja, Menschen verändern sich. Wen hätte es gewundert, wenn Sie sich zu einem feuerspeienden Copperhead entwickelt hätten?«

»Arschloch.«

»Nein, es ist wichtig. Wir brauchen nämlich Ihre Hilfe.«

»Wir?«

»Vor allem Sue. Sie braucht fürs Erste eine Bleibe.«

Ich war noch mit der Informationsverarbeitung beschäftigt, als das hintere Seitenfenster herunterschnurrte und Sue höchstpersönlich ihren klobigen erdnussförmigen Kopf aus dem Dunkel ins Laternenlicht steckte.

Sie grinste. »He, Scotty«, sagte sie. »So sieht man sich wieder.«

Neunzehn

In den vergangenen sieben Jahren hatte ich Ashlee eine Menge über Sue Chopra und ihre Clique erzählt. Was nicht heißt, dass Ash sich freute, als sie heimkam und gleich zwei von diesen Auserwählten auf ihrer Wohnzimmercouch saßen.

Nach Portillo war mir klar geworden, dass mein Leben mit Ashlee und meine Arbeit für Sue Chopra einander ausschlossen; ich musste mich entscheiden. Sue glaubte weiterhin fest daran, den Vormarsch der Chronolithen nicht nur stoppen, sondern auch umkehren zu können, vorausgesetzt, wir verfügten über die geeignete Technik oder verstanden wenigstens die zugrundeliegende Physik. Was ich ehrlich gesagt bezweifelte. Schon der Begriff an sich: »Chronolith« — ein hässliches Kurzwort, dass irgendein völlig unmusikalischer Journalist kurz nach Chumphon geprägt hatte, ein Wort, das ich nie gemocht, aber wegen seiner Trefflichkeit schätzen gelernt hatte. Chronos, Zeit, und lithos, Stein: Traf das nicht genau ins Schwarze?

Versteinerte Zeit. Eine Zone absoluter Determiniertheit, umgeben von einem schaumigen Mantel aus kurzlebigen Erscheinungen (Menschen zum Beispiel), die zurechtgemorpht wurden, bis sie saßen.

Ich wollte nicht zurechtgemorpht werden. Das Leben, das ich mit Ashlee führen wollte, war dasjenige, das mir die Chronolithen gestohlen hatten. Ashlee und ich waren von Tucson zurückgekehrt, um unsere Wunden zu lecken und einander zu geben, was wir an Kraft zu bieten hatten. Für Ashlee wäre nicht viel geblieben, wenn ich weiter für Sulamith Chopra gearbeitet hätte, wenn ich mich weiterhin der Tau-Turbulenz ausgesetzt und nicht aufgehört hätte, mich vom Schicksal instrumentieren zu lassen.

Nicht, dass wir keine Verbindung mehr hatten. Sue rief gelegentlich an, um sich Rat zu holen, obwohl ich professionell wenig ausrichten konnte ohne Zugang zu ihren Mil-Spec-Codebrütern.[32] Meist rief sie aber an, um mich auf dem Laufenden zu halten, ihren Optimismus oder Pessimismus mit mir zu teilen oder einfach nur zu plaudern. Sie fand, glaube ich, ihre helle Freude an dem Leben, das ich mir zurechtgezimmert hatte — als sei es etwas Exotisches; als gebe es nicht Millionen solcher Familien, die zusehen mussten, wie sie über die Runden kamen. Ich hatte aber nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass sie mir in einer solchen Nacht- und-Nebel-Aktion auflauern würde.

Sicher, Ash hatte am Telefon ein paar Worte mit Sue gewechselt, aber die beiden waren sich nie vorgestellt worden, und Ray war ihr völlig fremd. Ich übernahm die Vorstellung mit einer Begeisterung, die vielleicht zu dick aufgetragen war. Ashlee nickte, schüttelte Hände und zog sich in die Küche zurück, »um Kaffee zu machen«, das hieß, um Zeit zu schinden und um die Anwesenheit der beiden zu verdauen.

Es sei wirklich nur ein Besuch, versicherte Ray. Sue unterhielt immer noch ihr Netzwerk an Verbindungen zu den übrigen Chronolithenforschern und hatte auf ihrer Fahrt in den Westen ein paar Kontakte aufgefrischt. Und sie hing trotz diverser Widersacher im Kongress längst wieder am Tropf der Bundesmittel. Ihre Arbeit, meinte sie, leide aber kolossal unter der ganzen Geheimniskrämerei, die neuerdings sogar zwischen den Behörden greife und von schwer durchschaubaren bürokratischen Rivalitäten bestimmt werde. Ja, sie sei geschäftlich in Minneapolis, wolle aber eigentlich nichts weiter als ein weiches Kopfkissen für nicht mehr als zwei, drei Nächte.

»Du hättest vorher anrufen können.«

»Ja, hätte ich, Scotty, aber man weiß nie, wer mithört. Zwischen den heimlichen Copperheads im Kongress und den Fanatikern auf der Straße…« Sie zuckte die Achseln. »Wenn wir ungelegen kommen, gehen wir ins Hotel, kein Problem.«

»Ihr bleibt«, sagte ich. »Ich bin einfach nur neugierig.«

Dass es nicht nur um ein nettes Wiedersehen ging, lag auf der Hand. Doch weder sie noch Ray wollten Einzelheiten preisgeben, und vermutlich war mir das auch ganz recht so, zumindest für heute Abend. Sue und ihr ganzer Enthusiasmus, ihre Besessenheit schienen eine Ewigkeit her zu sein. Seit Portillo hatte sich so viel verändert.

O ja, wenn die Bandbreite es erlaubte, verfolgte ich immer noch die Nachrichten von Kuins Vormarsch und fragte mich manchmal immer noch, was Tau-Turbulenz wohl bedeutete und was sie wohl mit mir angestellt hatte, aber das waren Nachtmahre, Dinge, die einen überkommen, wenn man nicht schlafen kann und der Regen wie ein ungebetener Besucher ans Fenster klopft. Ich hatte es aufgegeben, Sues Kauderwelsch zu verstehen — ihre Unterhaltungen mit Ray landeten immer wieder bei dunklen Quarks, C-Y-Geometrie und anderen esoterischen Dingen. Und was die Chronolithen selbst betraf… warum nicht zugeben, dass ich meinen ureigenen Separatfrieden mit ihnen geschlossen hatte? Dass ich vor meiner Unfähigkeit kapituliert hatte, diese gewaltigen und mysteriösen Ereignisse zu beeinflussen? Vielleicht war es ein kleiner Hochverrat. Aber mir kam es wie gesunder Menschenverstand vor.

Ich empfand es damals als störend, Sue wieder in meiner Nähe zu haben. Ihre fixen Ideen loderten immer noch lichterloh. Sie war artig, wenn wir über alte Zeiten oder gemeinsame Bekannte redeten. Aber ihre Augen leuchteten auf und ihre Stimme gewann an Lautstärke, sobald die Sprache auf den noch dampfenden Freetown-Chronolithen oder den Einmarsch der kuinistischen Streitkräfte in Nigeria kam.

Ich beobachtete sie, während sie redete. Dieser herrlich unbändige Schopf aus Kraushaar bekam graue Spitzen. Wenn sie lächelte, bekam sie fein verzweigte Krähenfüße. Wann immer ihr Temperament Atem holte, wirkte sie mager und ein bisschen abgehärmt.

Und Ray Mosely war sage und schreibe immer noch in sie verliebt. Was er natürlich nicht sagte. Ich glaube fast, Ray erlebte diese Liebe zu Sulamith Chopra als eine ganz private Demütigung, die Außenseitern für immer verborgen blieb. Ich war kein Außenseiter. Und vielleicht hatte er seinen eigenen Frieden damit geschlossen: Unerwiderte Gefühle waren immer noch besser als gar keine. So bärtig, wie er war, inzwischen so dünn, dass man an Magersucht denken konnte, das Haar so weit zurückgewichen wie Erinnerungen an Kindertage, bedachte er Sue immer noch mit jenen rücksichtsvollen Blicken, lächelte, wenn sie lächelte, lachte, wenn sie lachte, holte bei jedem Anflug von Kritik sofort zu ihrer Verteidigung aus.

Und als Sue in der Küche zu Ashlee hinübernickte und sagte: »Ich beneide dich, Scotty. Ich wollte immer schon eine gute Frau an meiner Seite haben«, da gluckste Ray gehorsam. Und zuckte sofort zusammen.

Bevor ich schlafen ging, zog ich die Bettcouch aus und legte zwei Reservedecken zurecht. Es muss für Ray eine Qual gewesen sein, in absoluter und fragloser Abstinenz neben Sue zu liegen und zuzuhören, wie sie atmete. Aber es war die einzige Schlafgelegenheit, die ich ihnen anbieten konnte, wenn man vom Boden absah.

Ich nahm Sue beiseite. »Es tut gut, dich wiederzusehen«, sagte ich. »Ehrlich. Aber wenn du mehr von mir willst als ein paar Nächte auf dem Gästebett, dann lass es mich wissen.«

»Darüber reden wir später«, sagte sie ruhig. »Gute Nacht, Scotty.«

Im Bett war Ash stiller als sonst. Es sei toll, diese Leute kennen zu lernen, die mir einmal so viel bedeutet hätten, sagte sie — sie würden die ganzen Episoden, die ich ihr erzählt hatte, mit Leben erfüllen. Aber sie machten ihr auch Angst.

»Angst?«

»Ja, so wie Kait vor der Einberufung Angst hat. Aus demselben Grund. Scott, die wollen was von dir.«

»Mach dir keine Gedanken.«

»Aber ich muss. Das sind intelligente Leute. Die wären nicht hier, wenn sie nicht davon ausgingen, sie könnten dich zu — was weiß ich — überreden.«

»Ich bin nicht so leicht zu überreden, Ash.«

Sie rollte sich auf ihre Bettseite und seufzte.


In sieben Jahren war noch kein Chronolith auf amerikanischem Boden gelandet, zumindest nicht nördlich der mexikanischen Grenze. Wir blieben Teil eines Archipels der Vernunft in einer vom Wahnsinn heimgesuchten Welt: Zu diesem Archipel gehörten außerdem Nordeuropa, Südafrika, Brasilien, Kanada, die Karibischen Inseln und diverse andere Außenposten. Kuins Auswirkungen auf die beiden Amerikas waren weitgehend ökonomischer, nicht so sehr politischer Natur. Das globale Chaos, insbesondere in Asien, hatte die Auslandsnachfrage für Fertigwaren versiegen lassen. Kapital wurde aus der Verbrauchsgüterindustrie abgezogen und in die Rüstung investiert, was eine relativ niedrige Arbeitslosigkeit (abgesehen von den Flüchtlingen aus Louisiana), aber eben auch eine ganze Reihe lokaler Engpässe und Rationierungen zur Folge hatte. Die Copperheads reklamierten, die Wirtschaft werde langsam, aber sicher sowjetisiert, und darin, denke ich, haben sie ausnahmsweise einmal Recht gehabt. Weder im Kongress noch im Weißen Haus hatte sich bis jetzt eine Pro-Kuin-Haltung etabliert. Unsere Kuinisten (und ihre radikalen Gegner) waren Straßenkämpfer und keine Organisatoren. Bis jetzt zumindest. Achtbare Copperheads wie Whit Delahunt waren eine andere Sache — sie gab es überall, aber sie kamen ausgesprochen leise daher.

Ich hatte das eine oder andere an Copperhead-Literatur gelesen, akademische Schriftsteller (Daudier, Pressinger, die Pariser Gruppe) und populistische Schreiberlinge (den Bestseller Clothing the Emperor von Forrestall). Ich hatte sogar Werke von Musikern und Romanciers gelesen, die das Image des kuinistischen Untergrunds waren. Zu den beeindruckendsten gehörte Prima jacie, das mir aber bestenfalls wie Wunschdenken und schlimmstenfalls wie der Versuch vorkam, die Nation oder eher noch sich (den Schreiber) einer unausweichlichen kuinistischen Autokratie anzubiedern.[33]

Und immer noch gab es keinen konkreten Beleg für die Existenz eines Kuin. Dass er existierte, stand fest, vielleicht irgendwo auf dem südchinesischen Festland, aber der größte Teil von Asien war für Medien und jegliche Telekommunikation gesperrt, die Infrastruktur völlig zusammengebrochen und Millionen waren Hunger oder Gewalt zum Opfer gefallen. Das Chaos, in dem Kuin gezeugt worden war, bewahrte ihn vor einem verfrühten Auftritt.

Hielt Kuin denn die Technik zur Erzeugung eines Chronolithen bereits in Händen?

Ja, wahrscheinlich, meinte Sue.

Es war Sonntagmorgen. Ashlee, noch immer nervös, hatte sich aufgemacht, ihre Cousine Alathea in St. Paul zu besuchen. (Alathea schlug sich durch, indem sie von Haus zu Haus ging und dekorative Kupfertöpfe verkaufte. Sonntags Alathea zu besuchen, war von Ashlees Seite Ausdruck familiärer Pietät, denn Alathea war eine unangenehme Person mit exzentrischen religiösen Überzeugungen, in deren Haushalt es drunter und drüber ging.) Ich saß mit Sue am Küchentisch, stocherte im Frühstück herum und genoss wie üblich meinen freien Tag, derweil Ray unterwegs war, um Kaffee aufzutreiben — unseren Vorrat hatten wir nämlich aufgebraucht.

Es gebe, so Sue, weltweit nur eine Hand voll Menschen, die die gegenwärtige Chronolithentheorie gut genug verstünden, um Mittel und Wege zu finden, einen solchen auch zu verwirklichen. Sie gehörte zufällig dazu. Weshalb die Bundesregierung ein so ambivalentes Interesse an ihr gezeigt und ihre Arbeit abwechselnd gefördert und behindert hatte. Aber das war zur Zeit nicht das Problem. Das bestehe, so Sue, darin, dass die zunehmend verzweifelte chinesische Führung vor Jahren ihre eigenen, intensiven Forschungsprogramme in Sachen Tau-Beugungs-Technologie etabliert und diese Einrichtungen vor der internationalen Gemeinschaft abgeschottet habe.

Wieso das ein Problem war?

Weil die marode chinesische Regierung schließlich unter der Last ihrer Insolvenz zusammengebrochen war und eben diese Forschungseinrichtungen vermutlich in die Hände der kuinistischen Rebellen gefallen waren.

»Alles passt zusammen«, sagte sie. »Irgendwo in Asien gibt es einen Kuin, und der verfügt über die erforderliche Chronolithentechnik. Wir sind nur noch ein paar Jahre von der Eroberung Chumphons entfernt, und die erscheint uns völlig plausibel. Wir können nichts daran ändern. Ganz Südostasien ist in den Händen diverser kuinistischer Rebellen — es brauchte eine riesige Armee, um die Berge nördlich von Chumphon zu besetzen, und das hieße nur wieder, Truppen und Nachschub von China einzusetzen, was niemand will. Also fügt sich eins zum anderen — man könnte beinah sagen: unausweichlich.«

»Das sind wohl die Schatten der Dinge, die sein müssen.«[34]

»Ja.«

»Und wir haben keine Möglichkeit, sie aufzuhalten.«

»Na ja, ich weiß nicht, Scotty. Ich glaube, es gibt vielleicht doch etwas, was ich tun kann.« Sie lächelte schelmisch und traurig zugleich.

Doch das ganze Thema bereitete mir Unbehagen, und ich versuchte, sie abzulenken, indem ich sie fragte, ob sie in letzter Zeit etwas von Hitch Paley gehört habe. (Seit Portillo hatten wir keinen Kontakt mehr gehabt.)

»Wir stehen noch in Verbindung«, sagte sie. »Er kommt in ein, zwei Tagen hier durch.«


Es war vermutlich ein Beweis für Sues angeborenen (wenn auch sperrigen) Charme, dass Ashlee am folgenden Abend neben ihr auf dem Sofa saß und ganz versunken zuhörte, was Sue über die Epoche der Chronolithen zu sagen hatte.

Als ich mich dazusetzte, sagte Ash gerade: »Ich verstehe immer noch nicht, warum es so wichtig sein soll, einen zu zerstören.«

Sue legte sich eine Antwort zurecht und sah dabei so konzentriert aus wie ein religiöser Eiferer.

Der sie vielleicht auch war, auf ihre Weise zumindest. In ihrem Debattierclub (Physikseminar) in Cornell hatte sie den Teilchenzoo (Hadronen, Fermionen und die bunte Gesellschaft von Quarks, aus denen sie bestanden) gerne mit den Hindu-Göttern verglichen — alle wohlverschieden, aber jeder ein Aspekt der einen umfassenden Gottheit.

Sue war nicht im herkömmlichen Sinne religiös und hatte noch nicht einmal ihre Vaterstadt Madras besucht; Sue benutzte dieses Bild eher spielerisch, auflockernd. Doch ich erinnerte mich an ihre Beschreibung des doppelgesichtigen Shiva: Zerstörer und Bringer des Lebens, asketische Jugend und phallusschwingender Schwängerer — in jeder Dualität, jeder Quantensymmetrie hatte Sue die Präsenz von Shiva gesehen.

Sie stellte die Fingerspitzen gegeneinander. »Ashlee, sagen Sie mir, wie sie das Wort ›Monument‹ definieren.«

»Na ja«, sagte Ash zaudernd, »ein Monument ist etwas Gebautes, ein Bauwerk. Es ist ein Stück Architektur.«

»Und was unterscheidet es von einem Haus oder Tempel?«

»Ich würde sagen, es wird nicht benutzt, jedenfalls nicht wie man ein Haus oder eine Kirche benutzt. Es steht nur da und sagt: Seht her!«

»Aber es hat doch einen Zweck, richtig? So wie ein Haus einen Zweck hat?«

»Ich weiß nicht, ob ich sagen würde, es ist nützlich… aber es dient einem Zweck, ja. Aber keinem sehr praktischen.«

»Genau. Es ist ein Bauwerk mit einem Zweck, aber der Zweck ist nicht praktisch, er ist spirituell… symbolisch zumindest. Ein Monument demonstriert Macht, Vorrangstellung; oder erinnert an ein Ereignis, das viele Menschen betrifft. Es ist eine physische Angelegenheit, aber seine ganze Bedeutung, sein ganzer Nutzen ist geistiger Natur.«

»Das gilt auch für die Chronolithen?«

»Das ist die Frage. Als Waffe ist der Chronolith relativ bedeutungslos. Der Chronolith an sich erfüllt keinen besonderen Zweck. Er ist ein toter Gegenstand. Sein wirklicher Zweck gehört dem Reich von Bedeutung und Auslegung an. Und da wird auch die Schlacht geschlagen, Ashlee.« Sie klopfte sich mit drei Fingerspitzen an die Stirn. »Die eigentliche Architektur ist hier oben. Nichts in der materiellen Welt lässt sich mit den Monumenten und Kathedralen vergleichen, die wir in unseren Köpfen bauen. Manches von dieser Architektur ist schlicht und stimmig, manches barock und manches schön und anderes hässlich und gefährlich unsolide. Aber diese Architektur zählt mehr als jede andere, weil sie der Stoff ist, aus dem wir die Zukunft machen. Die Geschichte besteht nur aus den fossilen Rückständen dessen, was sich Männer und Frauen haben einfallen lassen. Verstehen Sie? Und die Genialität eines Kuin hat nichts mit den Chronolithen zu tun; die Chronolithen sind nur Technik, Menschen lassen die Natur durch den Reifen springen. Die Genialität eines Kuin besteht darin, dass er sie benutzt, um die Gedankenwelt zu kolonisieren, um seine Architektur direkt in unsere Köpfe zu bauen.«

»Er bringt uns dazu, an ihn zu glauben.«

»An ihn, seine Macht, seine Herrlichkeit und sein Wohlwollen. Doch vor allem an seine Zwangsläufigkeit. Und genau das will ich ändern. Denn nichts, was mit Kuin zu tun hat, ist zwangsläufig, rein gar nichts. Jeden Tag bauen wir Kuin, wir fabrizieren ihn aus unseren Hoffnungen und Ängsten. Er ist ein Teil von uns. Er ist ein Schatten, den wir alle werfen.«

Das war an sich nichts Neues. Die Presse hatte schon immer die Politik der Erwartungen debattiert. Aber etwas an Sues Erörterung sträubte mir die Härchen auf den Armen. Es war der Grad ihrer Überzeugung, ihre selbstverständliche Eloquenz. Aber ich glaube, es war mehr. Ich glaube, ich verstand zum ersten Mal, dass sie Kuin einen privaten und ganz persönlichen Krieg erklärt hatte. Mehr noch: Sie glaubte, im Zentrum des Konflikts zu stehen — gesalbt von der Tau-Turbulenz und direkt in die eine Gottheit gebeamt.


Ich traf mich mit Kaitlin zu einem Dinner außer Haus, Fastfood natürlich, was mich den Rest des Reibachs vom Wochenende kostete.

Kait kam aus dem Apartment über Whits Garage, sie sah tapfer, aber untröstlich aus. Sie hatte die ersten zwei Nächte ohne David verbracht. Die Augen waren mangels Schlaf umschattet, der Teint fahl. Ihr Lächeln wirkte fast verstohlen, als habe sie kein Recht zu lächeln, solange David im Krieg war.

In einer früher mal farbenfrohen, aber seit kurzem heruntergekommenen Volksküche aßen wir Sandwiches mit Bohnenpaste. Kait wusste, dass Sue Chopra und Ray Mosely in der Stadt waren, aber sie zeigte wenig Interesse an »den alten Tagen«. Sie habe schlecht geträumt. Im Traum sei sie wieder in Portillo gewesen, diesmal aber mit David, und David war in Lebensgefahr, und sie konnte ihn nicht retten. Sie steckte knietief im Sand und über ihr dräute der Kuin von Portillo, grimmig und boshaft, nahezu lebendig.

Der Traum war nicht schwer zu deuten. Ich hörte zu, bis sie sich alles von der Seele geredet hatte. Schließlich sagte ich: »Hat David von sich hören lassen?«

»Ein Anruf, als der Bus vor Little Rock war. Seitdem nichts mehr. Ich glaube, das Ausbildungslager hält ihn ganz schön auf Trab.«

Ja, vermutlich hatte sie Recht. Dann wollte ich wissen, wie ihre Mutter und Whit damit umgingen.

»Mom ist eine Stütze. Und Whit…« Sie wedelte mit der Hand. »Du kennst ihn ja. Er ist gegen den Krieg und tut manchmal so, als wäre David persönlich dafür verantwortlich — als hätte David ablehnen können. Bei Whit geht es immer ums Ganze, Menschen sind nicht darin verwickelt außer als Hindernis oder abschreckendes Beispiel.«

»Ich bin mir auch nicht sicher, ob der Krieg viel Sinn ergibt, Kait. Hätte David sich drücken wollen, uns wär schon was eingefallen.«

Sie lächelte traurig. »Ich weiß, und David wusste es auch. Das Verrückte ist, Whit wollte nichts davon hören. Er lehnt den Krieg ab, aber das Gesetz zu brechen und die Familie in Schwierigkeiten zu bringen? Um Himmels willen! Tatsache ist, David hatte Angst, Whit könnte ihn anzeigen, wenn er untertaucht.«

»Und? Hätte Whit das getan?«

Sie zögerte. »Ich will ihn nicht schlecht machen…«

»Ich weiß.«

»Ja, vielleicht. Ich glaube, er wäre fähig dazu.«

Es war nicht weiter verwunderlich, dass sie Albträume hatte.

Ich sagte: »Janice ist doch jetzt viel mehr zu Hause, seit sie ihre Stelle verloren hat.«

»Gott sei Dank. Ich weiß, sie vermisst David auch. Aber sie redet nicht über Krieg oder Kuin oder Whits Einstellung. Das ist vermintes Gelände.«

Die Loyalität, die Janice ihrem zweiten Mann entgegenbrachte, war bemerkenswert und wohl auch bewundernswert, obwohl ich lange gebraucht habe, um es so zu sehen. Wann wird Loyalität zum Martyrium, und wie gefährlich war Whitman Delahunt überhaupt? Doch solche Fragen durfte ich Kait nicht stellen.

Kait hätte sie auch nicht beantworten können, genauso wenig wie ich.

Als ich nach Hause kam, lag Ashlee schon im Bett. Sue und Ray saßen am Küchentisch über einer Karte der westlichen Bundesstaaten gebeugt und unterhielten sich leise. Ray verstummte jählings, als ich eintrat, doch Sue lud mich ein, mich dazuzusetzen. Ich lehnte höflich ab, sehr zu Rays Erleichterung, und gesellte mich lieber zu Ashlee, die zusammengerollt auf ihrer Seite lag, das Laken nach unten gestrampelt, die nächtliche Brise lockte eine Gänsehaut auf ihren Oberschenkel.

Sollte ich mich am Ende schuldig fühlen, weil ich kein privates Martyrium gesucht oder gefunden hatte: wie Janice, die von ihrem Pflichtgefühl an Whit gefesselt war; wie David, der nach China unterwegs war wie eine Kugel ins Ziel, gerade so ersetz- und austauschbar; oder wie mein Vater, der sein Leben als Martyrium rechtfertigte? (Ich war bei ihr, Scotty.)

Als ich mich aufs Bett rollte, regte sich Ashlee, murmelte und presste sich an mich, warm in der nächtlichen Kühle.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sein musste, wenn Martyrium rückwärts lief. Wie wunderbar, der Göttlichkeit zu entsagen, vom Kreuz herunterzusteigen, von der Verklärtheit zur schlichten Weisheit zu reisen, um zu guter Letzt bei der Unschuld zu landen.

Zwanzig

Hitch fehlten zwei Finger der linken Hand, und er humpelte. Und das Lächeln schien ihm auch nicht mehr so leicht zu fallen, obwohl er Sue anlächelte und mich mit einem durchaus freundlichen Blick taxierte. Natürlich zauberte er kein Lächeln auf Ashlees Gesicht.

Ashlee arbeitete in der städtischen Wasseraufbereitungsanlage, schrieb die Zustandsberichte für die Behörden und bearbeitete die Außenstände für die Finanzverwaltung. Sie kam müde nach Hause und wäre beim Anblick von Hitch Paley beinahe ohnmächtig geworden, und das, obwohl Hitch einen passablen Anzug trug und sich sogar an einem Schlips versucht hatte. Hitch blieb eine schlechte Erinnerung für Ashlee — er war dabei gewesen, als sie Adam verloren hatte.

Sie erkannte natürlich nicht den früheren FBI-Papiertiger Morris Torrance, der inzwischen noch kahler war als Ray Mosely und ebenfalls mit dem Lieferwagen gekommen war, der jetzt vor dem Haus parkte. Ich wollte Ashlee mit ihm bekannt machen, aber sie meinte nur in einem flachen Tonfall: »So viele können wir nicht unterbringen, Scott. Auch nicht für eine Nacht.«

Der Aussetzer in ihrer Stimme spiegelte ein bisschen Angst und eine Menge Unmut.

»Wo denkst du hin«, sagte Hitch hastig. »Die Zimmer im Marriott sind schon reserviert. Schön, dich zu sehen, Ashlee.«

»Dich auch«, sagte sie.

»Und danke, dass wir bleiben durften«, warf Sue Chopra ein. »Ich weiß, wir haben euch Umstände gemacht.«

Ashlee nickte, vielleicht besänftigt durch den Anblick von Sue mit ihrem geschnürten Bündel. »Das Marriott?«

»Wir können nicht klagen«, meinte Sue.

Derweil Sue und Ray fertig packten, ging ich mit Hitch zum Lieferwagen. Hitch verstaute Sues Bündel, dann legte er mir die Hand auf die Schulter. »Wenn du Zeit hast, Scotty, ich könnte morgen ein bisschen Hilfe brauchen.«

»Hilfe? Wobei?«

»Schweres Gerät kaufen. Dieselgeneratoren zum Beispiel.«

»Ich kenn mich nicht aus mit Maschinen.«

»Hauptsache, du kommst mit.«

»Morgen ist Werktag.«

»Wegen dem Stand auf dem Flohmarkt? Nimm dir frei.«

»Kann ich mir nicht leisten, Hitch.«

»Doch, kannst du. Das ist eingeplant.«

Er nannte einen Stundenlohn. Bei acht Stunden eine fürstliche Summe, nur um den Beifahrer zu spielen; und das, wo seine Freunde bei mir Asyl gesucht hatten. Hitch war offensichtlich mit Geld in die Stadt gekommen und das Angebot war verlockend. Aber ich zögerte.

»Überleg mal«, sagte er. »Wir verfügen über ein Kreditkonto des Verteidigungsministeriums, nicht ewig, versteht sich. Die Knete ist da, und ich kann mir denken, dass du nicht einfach blaumachen kannst. Und es sind wirklich ein paar Sachen zu bereden.«

»Hitch…«

»Und was kann es schaden?«

Das war die entscheidende Frage. »Mein Gefühl sagt, da steckt mehr dahinter.«

»Ja, sicher. Tut es, tut es. Darüber reden wir morgen. Ich rufe vom Hotel aus an, dann sehen wir weiter.«

Ich sagte: »Warum ich?«

»Weil der Pfeil auf dich zeigt, mein Freund.« Er hievte sich hinters Steuer, zog eine Grimasse, als er das lädierte Bein nachzog. »Meint Sue.«


So kam es, dass ich am sonnigen Morgen mit Hitch Paley in die schäbigen Industrieparks am Westufer fuhr. Die Klimaanlage des Lieferwagens war kaputt. (Was nicht anders zu erwarten war: Ersatzteile standen hoch im Kurs, die meisten gingen ans Militär.)

Die Luft draußen war trocken und kletterte Richtung Ofenhitze, und Hitch hielt die getönten Seitenfenster geschlossen, aber die Lüftungen weit geöffnet. Bis wir am Ziel waren, stank es im Wagen nach heißem Vinyl, Motoröl und Schweiß.

Hitch hatte einen Termin beim Verkaufsleiter von Tyson Brothers, einem Großhandel für Maschinen und Maschinenteile. Ich folgte Hitch durch den Empfang ins Büro des Mannes, machte es mir bequem und musterte die welke Zierfeige und den nichtssagenden Wandschmuck, derweil Hitch den Direktkauf von kleinen Erdbewegungsmaschinen, Generatoren und reichlich Ersatzteilen verhandelte: Zwei von den Erstgenannten, das ging ja noch, aber die Anzahl der Generatoren hätte gereicht, den Strombedarf einer Kleinstadt zu decken. Der Verkaufsleiter war unverkennbar neugierig und fragte zweimal, ob wir unabhängige Unternehmer seien; er schien verstört, als Hitch der Frage auswich. Doch er war ebenso unverkennbar entzückt, als er den Auftrag schrieb. Ich will es nicht beschwören, aber Hitch hat meines Wissens die Tyson Brothers vor dem Bankrott gerettet oder wenigstens geholfen, das Unvermeidliche hinauszuschieben.

Jedenfalls gab er in wenigen Stunden mehr Geld aus, als ich im letzten Jahr eingenommen hatte. Er hinterließ eine Telefonnummer mit dem Hinweis, es werde sich jemand melden, um die näheren Einzelheiten der Lieferung abzusprechen, winkte der Empfangsdame mit der unversehrten Rechten zu und schlenderte an ihr vorbei in die Hitze hinaus. Im Lieferwagen sagte ich: »Was habt ihr vor — ein großes Loch graben und es mit Licht fluten?«

»Ein bisschen ehrgeiziger sind wir schon, Scotty. Wir haben vor, einen Chronolithen zu Fall zu bringen.«

»Mit zwei Flachbaggern?«

»Die sind nur zum Auffüllen da. Ganz in der Nähe liegt ein Pionierbatallion mit Gerät, das nur auf Sues Stichwort wartet.«

»Ihr wollt also wirklich einen Chronolithen schleifen?«

»Sue sagt, wir können. Glaubt sie.«

»Und welchen?«

»Den in Wyoming.«

»Da ist keiner.«

»Noch keiner.«


Hitch erklärte alles so, wie er es verstand. Die Details wurden von Sue nachgeliefert.

Ein paar arbeitsreiche Jahre lagen hinter Sulamith Chopra.

»Du hast dich rausgetan«, sagte Hitch. »Hast dir dein kleines Leben mit Ashlee zurechtgezimmert. Respekt, Scotty, aber der Rest von uns hat nicht stillgestanden, nur weil du nicht mehr in die Tasten gegriffen hast.«

Die Physik der Chronolithen verstehe ich, außer im populärwissenschaftlichen Sinne, bis auf den Tag nicht. Ich weiß, dass die Technologie mit der Manipulation der Calabi-Yau-Räume zu tun hat, der kleinsten Bestandteile von Materie und Energie, und dass es einer Technik mit der Bezeichnung »langsame fermionische Dekohäsion« bedarf, damit sich diese Manipulation auf vernünftigen Energieniveaus abspielt. Aber was wirklich da unten im verfilzten Origami der Raumzeit geschieht, begreife ich so wenig wie ein Neugeborenes die Oberwelt. Es heißt, die neun-dimensionale Geometrie sei eine Art Selbstgespräch. Schade, dass ich die Sprache nicht verstehe.

Doch Sue verstand sie, und ich glaube, die Tiefe ihres Verständnisses wurde nie gebührend gewürdigt.

Die Bundesregierung hatte sie einerseits wie einen Verbündeten und andererseits wie eine Bürde behandelt, doch man hatte sie auch permanent unterschätzt. Sie war derart zu Hause in der Calabi-Yau-Geometrie, dass ich zu der Überzeugung kam, sie müsse mit wenigstens einem Fuß in dieser Welt stehen — sie hauste in diesen Abstraktionen, wie ein Astronaut in der Fremde eines fernen Planeten hausen mochte. Es gebe kein Paradoxon, meinte Sue einmal. Ein Paradoxon sei nur die Illusion, die man zu sehen bekomme, wenn man ein n-dimensionales Problem durch ein dreidimensionales Schlüsselloch betrachte. »Alles steht in Verbindung, Scotty, auch wenn wir die Schleifen und Knoten nicht sehen können. Vergangenheit und Zukunft, Gut und Böse, hier und dort. Alles ist eins.«

Deutlicher gesagt, war es Sues Mitstreitern bereits gelungen, tau-turbulente Mini-Ereignisse zu produzieren. Zwar nur Sandkörner im Vergleich zu Kuins Chronolithen, aber prinzipiell das Gleiche. Und nun glaubte Sue, die Ankunft eines Chronolithen vereiteln zu können, indem sie die gleiche Manipulation in eben dem Raumbereich durchführte, in dem sich der Chronolith manifestieren sollte.

Fast ein Jahr lang hatte sie das Projekt vorangetrieben, doch die globalen Überwachungssysteme, die die Ankunft von Chronolithen vorhersagten, waren entweder streng geheim oder in einem desolaten Zustand (oder beides) und die Militärbürokratie hatte lange gebraucht, um Sues Pläne zu prüfen und schließlich zu genehmigen. Wyoming sei die erste wirkliche Gelegenheit, meinte Hitch — und vielleicht auch die letzte. Und auch Wyoming hatte seine Tücken; der Bundesstaat war inzwischen ein Mekka für Copperhead-Milizen unterschiedlicher (häufig unverträglicher) politischer Richtungen. Gut dagegen war ein sattes dreiwöchiges Vorlauffenster und volle militärische Unterstützung. Das Projekt wurde nicht öffentlich gemacht, um nicht noch mehr Kuinisten anzulocken; es wurde geheimgehalten, aber halbherzig würde es nicht sein.

Gut und schön, sagte ich zu Hitch, aber das erkläre nicht, warum ich in einem Truck sitze und mir anhöre, was sich immer mehr wie ein Werbespot anhöre.

Hitch wurde feierlich: »Scotty«, sagte er, »das ist kein Werbespot. Nichts liegt mir ferner. Ich kann dich gut leiden, aber ich bin überzeugt, du wärst kein Gewinn für dieses Kommando. Was du hier erreicht hast, ist großartig, und es ist, weiß Gott, nicht leicht, in solchen Zeiten eine Familie zusammenzuhalten, aber was wir brauchen, sind Techniker und Ingenieure und Burschen, die mit schwerem Gerät umgehen können, und keinen, der gebrauchten Plunder auf einem Flohmarkt verhökert.«

»Sauber.«

»Entschuldige, aber sag doch selbst.«

»Nein, du hast ja Recht.«

»Sue will dich dabei haben, aus Gründen, die sie nur andeutet.«

»War nicht die Rede von einem Pfeil?«

»Na ja, es ist mehr wie dieser Zeitvertreib, wo man die Punkte verbindet. Willst du eine Geschichte hören?«

»Wenn du auf die Straße achtest.« Die Hälfte aller Straßen in Minneapolis wurde längst nicht mehr überwacht. Um Unfälle zu vermeiden, war man ganz auf die Bordsysteme angewiesen. Die Abstandsmelder schrillten, als Hitch zu nahe am Karren eines Hausierers vorbeifuhr.

»Ich hasse Verkehr«, sagte er.


Vor sechs Monaten war er im Auftrag von Sue in El Paso gewesen, um Morddrohungen nachzugehen, die sie per E-Mail bekommen hatte, obwohl ihre Adresse nur ein paar nahen Mitarbeitern hätte bekannt sein dürfen.

Morris Torrance war mit Sues Sicherheit betraut, aber nur theoretisch — praktisch oblag sie Hitch. Hitch unterhielt gute Beziehungen zu kuinistischen Kreisen und pflegte ein Image, das Gangstern auch dann noch imponierte, wenn sie zu mehreren waren. Er war kampferprobt und es gab ganz bestimmt (ich sollte vielleicht vermutlich sagen, denn ich habe ihn nie gefragt) keine Waffe, mit der er sich nicht auskannte.

Morris hatte die Drohungen bis zu einer großen kuinistischen Zelle zurückverfolgt, die von Texas aus agierte, und Hitch fuhr nach El Paso, um sich bei den örtlichen Straßengangs umzuhören. »Mein Fehler war«, sagte er, »dass ich zu viele Fragen auf einmal gestellt habe. Das kannst du dir erlauben, solange die Leute gut drauf sind. Aber diese Texaner sind verdammt paranoid. An der übernächsten Straßenecke kam jemand zu dem Schluss, ich sei ein Risiko.«

Am Ende hatten ihn zwei kuinistische Stoßtrupps auf den Hinterhof einer Autowerkstatt geschleppt und mit Hilfe einer gezähnten Machete verhört.

Hitch hielt die Linke hoch. Zeige- und Mittelfinger fehlten; den sorgfältig vernähten Stümpfen war die Brutalität der Verletzung anzusehen. Allein das Hinsehen tat schon weh.

»Mach kein Gesicht«, sagte er. »Ich habe Glück im Unglück gehabt.«

»Und das mit dem Bein?«

»Kleinkaliber im Muskel. Passierte, als ich mich davonmachte. Sie hatten so eine uralte Pistole, ein Schrottstück aus dem vorigen Jahrhundert, halb weggerostet. Und weißt du was, Scotty? Ich hab den Kerl erkannt, der geschossen hat.«

»Du hast ihn erkannt?«

»Er mich auch, glaube ich. Ich muss ihm jedenfalls bekannt vorgekommen sein, sonst hätte er besser getroffen. Es war Adam. Adam Mills.«

Ich floh instinktiv an die Beifahrertür und schob mich mit dem Rücken daran hoch und fror trotz Sommerhitze.

»Das kann doch nicht sein«, sagte ich.

»Scheiße, Mann, er war's. Er ist nicht in Portillo gestorben — er muss bei den Flüchtlingen gewesen sein.«

»Und dann lauft ihr euch in El Paso über den Weg? Einfach so?«

»Das sei kein Zufall, meint Sue. Das war die Tau-Turbulenz. Eine bedeutsame Synchronizität. Und du wärst unsere Verbindung zu Adam, Scotty. Adam Mills ist der Pfeil, und er zeigt direkt auf dich.«

»Das akzeptiere ich nicht.«

»Musst du nicht, wenn du mich fragst. Meinst du, ich hätte die Kugel in meinem Bein akzeptiert? Ganz nebenbei musste ich ein paar Leute umlegen, damit Sue diese Information bekam. Was sie draus macht, was du draus machst, geht mich nichts an.«

»Du hast Menschen umgebracht?«

»Was meinst du wohl, was ich so mache, Scotty? Im Land herumfahren und den Moralapostel spielen? Ich habe Leute umgelegt, ja.« Er schüttelte den Kopf. »Siehst du, und das regt mich auf. Du siehst mich an und siehst diesen großen, bunten Freund, mit dem du dich früher in Chumphon herumgetrieben hast. Aber ich hatte schon jemanden umgebracht, da kannte ich noch gar keinen Scotty. Sue weiß das. Ich habe damals mit Drogen gehandelt und nicht mit Angelzeug. Man kommt eben manchmal in Situationen. Damals wie heute. Deine Art von Gewissen habe ich nicht. Ich weiß, du hältst dich für einen moralischen Versager, weil du die Sache mit Janice und Kait versaut hast, aber ganz tief innen, Scotty, da bist du ein Familienmensch. Das ist so.«

»Was hat Sue mit mir vor?«

»Wenn ich das wüsste?«

Einundzwanzig

Es waren schlechte Zeiten für das Marriott. Sue war allein im Pool- und Saunabereich, während Morris Torrance draußen vor dem Eingang Wache schob. Sie sah aus dem quirlenden Wasser zu mir auf. Weder der löschzugrote Einteiler noch die gelbe Badekappe standen ihr besonders, aber sie hatte sich noch nie für Mode interessiert. Selbst im Whirlpool trug sie ihre riesige Brille mit einem Gestell, das an abgenutztes schwarzes Bakelit erinnerte. Sie sagte: »Du solltest das auch mal versuchen, Scotty, es ist ganz schön entspannend.«

»Ich bin nicht in der Stimmung.«

»Hitch hat mit dir geredet, hab ich Recht?«

»Ja.«

Sie seufzte: »Gib mir eine Minute.«

Sie hob ihren birnenförmigen Leib aus der Unterwassermassage und schälte die Kappe vom Kopf, wobei das Haar heraussprang wie ein Tier aus dem Käfig. »Ich mag die Deckchairs am Fenster«, sagte sie. »Oder bist du zu warm angezogen?«

»Kein Problem«, sagte ich, obwohl die Luft tropisch war und nach Chlor stank. Diese Unannehmlichkeit schien irgendwie angemessen.

Sie breitete das Badetuch aus, setzte sich und ruckelte sich genüsslich zurecht. »Er hat dir von Adam Mills erzählt?«

»Ja, hat er. Ashlee weiß noch nichts.«

»Lass es, Scotty.«

»Ich soll Ashlee nichts sagen? Wieso, willst du das übernehmen?«

»Bestimmt nicht, und ich hoffe, du lässt es auch.«

»Sie rechnet damit, dass er tot ist. Sie hat ein Recht, die Wahrheit zu erfahren.«

»Adam lebt, soviel steht fest. Aber hast du dich schon mal gefragt, was sie davon hat, wenn sie es erfährt? Wenn Sie erfährt, dass ihr Sohn lebt und dass er ein Mörder ist?«

»Ein Mörder?«

»Ja. Es besteht nicht der leiseste Zweifel. Adam Mills gehört zum harten Kern der Kuinisten; er ist mehrfacher Mörder, er macht den Killer für eine der übelsten PK-Gangs im ganzen Land. Glaubst du wirklich, das sollte Ashlee wissen? Willst du ihr erzählen, ihr Sohn führt ein Leben, das ihn über kurz oder lang das Leben kosten wird oder hinter Gitter bringt? Und willst du zusehen, wie sie sich wieder und wieder grämt?«

Ich zögerte. Ich hatte mich an Ashlees Stelle versetzt: Hätte ich sieben Jahre lang nicht gewusst, ob Kait Portillo überlebt hatte oder nicht, wäre mir jede Information recht gewesen.

Aber Adam war nicht Kaitlin.

»Überleg mal, was sie seit Portillo erreicht hat. Job, Familie, ein richtiges Leben — Gleichgewicht, Scotty, in einer Welt, die nicht eben überfließt davon. Du kennst sie bestimmt besser als ich. Aber denk drüber nach, bevor du ihr alles wieder wegnimmst.«

Ich stellte die Frage zurück. Ich war nicht deswegen gekommen, nicht in erster Linie. »Ich würde ihr auch dann alles nehmen, wenn ich mit euch nach Westen ziehe — deine Idee, sagt Hitch.«

»Ja, aber nicht für lange. Bitte setz dich, Scotty. Ich rede nicht gerne nach oben. Das bringt mich um.«

Ich zog einen zweiten Deckchair heran und drehte ihn so, dass ich in die andere Richtung blickte. Hinter dem dampfbeschlagenen Fenster brütete die Stadt in der Nachmittagshitze. Fenster, Dachantennen und glimmerdurchsetzte Gehsteige gleißten in der Sonne.

»Jetzt hörst du mir mal zu«, sagte sie. »Es ist wichtig, und ich möchte, dass du unvoreingenommen bist, auch wenn es dir schwer fällt. Ich weiß, wir haben dir eine ganze Menge vorenthalten, aber nimm uns das bitte nicht übel, wir mussten vorsichtig sein. Wir mussten uns vergewissern, dass du deine Meinung über Kuin nicht geändert hast — nein, nun tu nicht beleidigt, es sind schon ganz andere Dinge passiert — und dass du nicht in Copperheadkreisen verkehrst wie der Mann von Janice, dieser Dingsda, der Whitman. Morris handelt strikt nach dem Motto Vertraue keinem, obwohl ich gesagt habe, ich würde meine Hand für dich ins Feuer legen. Ich kenne dich schließlich, Scotty. Du warst von Anfang an der Tau-Turbulenz ausgesetzt. Genau wie ich.«

»Ja, wir sind tau-verwandt. So ein Blödsinn, Sue.«

»Es ist kein Blödsinn. Es ist auch nicht bloß Spekulation. Zugegeben, ich interpretiere, aber die Mathematik legt nahe…«

»Mir ist egal, was die Mathematik nahe legt.«

»Dann hör mir einfach zu, und ich sage dir, was ich für die Wahrheit halte.«

Sie blickte beiseite, in eine imaginäre Ferne. Ich mochte diesen Gesichtsausdruck nicht. Er war ernst und reserviert, beinah unmenschlich.

»Scotty«, sagte sie, »ich glaube nicht an Vorsehung. Vorsehung ist ein archaisches Konzept. Das Leben eines Menschen ist ein unglaublich komplexes Phänomen, weit weniger vorhersehbar als das Leben eines Sterns. Aber ich weiß auch, dass Tau-Turbulenz die Kausalität in beide Richtungen des Zeitstrahls versprengt. Ist es wirklich Zufall, dass ihr beide, du und Hitch, am Ende für mich arbeitet, oder dass Adam Mills, Ashlee, Hitch und du allesamt die Turbulenz in Portillo erlebt habt. Die Ereignisse in Chumphon stifteten eine Verbindung zwischen Hitch Paley und mir, das war nicht bloß Zufall; du kamst mit Ashlee zusammen, weil eure Kinder beim selben Hadsch mitmachten. Also, Scotty! Nimm mal ein paar Schritte Abstand. Alles verknüpft sich viel zu perfekt. Die Antezedenzien reichen nicht als Erklärung. Es muss ein Postzedens geben.«[35]

Dass Hitch sich mit Adam verheddert hatte. Mehr als Zufall. Aber auch nicht erklärbar. »Das ist Glaubenssache«, sagte ich leise.

»Dann sieh mich an, Scotty! Siehst du die Macht, die ich in diesen Händen halte!« Dabei drehte sie die hellen Handteller nach oben. »Die Macht, einen von diesen Scheiß-Chronolithen zu stürzen! Das macht mich wichtig. Das macht mich buchstäblich zum Mitbegründer dieser Ereignisse. Ich bin ein Postzedens!«

»Es gibt so etwas wie Größenwahn«, sagte ich.

»Oder ich habe Recht! Stimmt es etwa nicht, dass ich zufällig in Sachen Chronolithenphysik weltweit zu den Besten zähle — das bilde ich mir doch nicht bloß ein. Stimmt es etwa nicht, dass du mit Hitch in Chumphon und Portillo gewesen bist oder dass wir beide in Jerusalem waren? Das sind Fakten, Scotty, und sie schreien nach einer Erklärung, die über blinden Zufall hinausgeht.«

»Warum willst du mich in Wyoming dabei haben?«

Sie blinzelte. »Will ich ja gar nicht. Ich brauche dich da nicht. Hier bist du wahrscheinlich besser aufgehoben. Aber ich darf auch nicht die Fakten ignorieren. Ich glaube… und, ja, es ist Intuition, vielleicht unwissenschaftlich, aber das ist mir schnuppe — ich glaube, du hast im letzten Akt der Chronolithen eine Rolle zu spielen. Zum Guten oder zum Schlechten, ich weiß es wirklich nicht, obwohl ich mir sicher bin, dass du nichts tun würdest, was mir schadet oder im Interesse von Kuin wäre. Ich denke, es wäre besser, du kämst mit, weil es nämlich mit dir eine Bewandtnis hat. Das mit Adam Mills ist wie eine Reklametafel. Chumphon, Jerusalem, Portillo, Wyoming. Immer du. Ob es dir gefällt oder nicht, Scotty, du spielst eine Rolle.« Sie zuckte die Achseln. »Davon bin ich überzeugt und zwar felsenfest. Aber wenn ich dich nicht überzeugen kann mitzukommen, wirst du nicht mitkommen, und vielleicht ist genau das unser Los, verbunden zu sein durch deine Verweigerung.«

»Eine solche Verantwortung darfst du mir nicht aufbürden.«

»Sagen wir so: Ich kann sie dir nicht abnehmen.«

Das klang alles reichlich verrückt. Es ist sicher meiner Mutter zu verdanken, dass ich ein besonderes Gespür für das Irrationale entwickelt habe. Schon als Kind hatte ich gleich gemerkt, wenn ihr Verstand abirrte. Ich erkannte sie wieder, die grandiosen Begründungen, das übersteigerte Selbstbewusstsein, die überall und nirgends lauernden Gefahren. Und so etwas provozierte bei mir immer die gleiche Reaktion: ein Zurückscheuen, das an Abscheu grenzte, eine jähe emotionale Vereisung.

»Erinnerst du dich an Jerusalem?«, sagte Sue. »An die jungen Leute, die getötet wurden? Ich muss oft an sie denken, Scotty. An das Mädchen, das zu mir kam, gerade als der Chronolith ankam und die Tau-Turbulenz ihren Höhepunkt erreichte. Sie hieß Cassie. Weißt du noch, was sie gesagt hat?«

»Bedankt hat sie sich bei dir.«

»Sie bedankte sich für etwas, das ich nicht getan hatte, und dann wurde sie getötet. Ich glaube, sie war so tief in der Tau-Turbulenz, wie man nur sein konnte, und dass die Tatsache ihres Todes sich über die letzten Minuten ihre Lebens ergossen hat. Ich weiß nicht genau, wofür sie sich bedankt hat, Scotty, und bin mir nicht einmal sicher, ob sie es wusste. Aber sie muss etwas geahnt haben… etwas von großer Tragweite.«

Beinah schuldbewusst wandte Sue den Blick ab, ein Ausdruck, der uns auf den Boden des rein Menschlichen herabholte. »Damit muss ich leben«, sagte sie. »Ob ich will oder nicht.«


Verliebte bevorzugen immer ein besonderes Plätzchen. Einen Strand, einen Hinterhof, eine Parkbank in der Nähe einer Bibliothek. Für Ashlee und mich war es ein wohlgepflegter Park ein paar Seitenstraßen östlich von unserem Apartment, ein gewöhnlicher Vorstadtpark mit einem betongefassten Ententeich, einem Spielplatz und einem Softballrasen. In den Tagen nach Portillo, als Ash den Verlust von Adam verwinden musste und ich mit Sue und Konsorten Schluss gemacht hatte, da waren wir oft hierher gekommen.

Hier hatte ich ihr einen Heiratsantrag gemacht. Wir hatten alles für ein Picknick dabei, aber dunkle Wolken zogen auf und plötzlich setzte Regen ein, ein heftiger Regen. Wir liefen über das Softballfeld und suchten Schutz auf den überdachten Tribünen. Die Temperatur fiel, und der nasse Wind veranlasste Ashlee, sich an meine Schulter zu kuscheln. Die riesigen Ulmen bäumten sich auf unter dem Sturm, die Äste wie Finger verschränkt, und in genau diesem Moment fragte ich Ashlee, ob sie meine Frau werden wolle, und sie küsste mich und sagte ja. So einfach und so perfekt war das.

Wir kehrten dorthin zurück.

Das manische Bestreben des frühen Jahrhunderts, die urbane Lebensqualität zu verbessern, hatte vielleicht zu viele Parks geschaffen. Aus etlichen hatte man Massenquartiere für die Armen gemacht, nicht wenige hatte man bis zur Nutzlosigkeit verkommen lassen. Unser Park war eine Ausnahme, eisern beansprucht von den örtlichen Familien, verteidigt durch eine Menge lokaler Bestimmungen und einen ehrenamtlichen Wachdienst, der nach Einbruch der Dunkelheit auf Streife ging. Wir kamen am späten Nachmittag eines Tages, der kühler war als der sengende Tag zuvor, ein Sommertag so schön, dass man ihn am liebsten zusammenfalten und in die Tasche hätte stecken mögen. Am Teich lagerten die Menschen und machten Picknick, kleine Kinder umschwärmten die kürzlich neu gestrichenen Schaukeln und Klettergerüste.

Wir gingen auf die menschenleere offene Tribüne. Unterwegs hatten wir uns zu essen gekauft, sehniges Hühnchenklein in Eierkuchenteig frittiert. Ashlee stocherte lustlos in ihrer Portion. Mit jeder Bewegung verriet sie ihr Unbehagen. Und ich das meine vermutlich auch.

Ursprünglich hatte ich mir vorgenommen, ihr von Adam zu erzählen. Vor kurzem hatte ich mich dagegen entschieden. Kampflos. Mangels Mut wahrscheinlich. Ich war immer noch der Meinung, Ash verdiene es zu erfahren, dass Adam lebte. Aber Sue hatte auch Recht.

Was es zu sagen gab, würde alles nur noch schlimmer machen.

So sehr mein Gewissen protestierte, ich konnte mich nicht überwinden, ihr derart wehzutun. Aus solchen Entscheidungen ist das Schicksal vermutlich zusammengezimmert, Balken und Nägel, wie ein Galgen.

»Erinnerst du dich noch an den Jungen?«, fragte Ashlee und betupfte ihre Lippen mit einer Serviette. »Der Kleine beim Baseball?«

Es war an einem Samstag nicht lange nach der Hochzeit gewesen. Als wir herkamen, war ein Trainingsspiel der Little League im Gange. Wir teilten uns die Tribüne mit zwei Trainern und ein paar Eltern. Der Schlagmann war ein kleiner Junge, der aussah, wie er aufgewachsen war, mit Steaks und Steroiden, einer von den Elfjährigen, die sich morgens vor der Schule rasieren mussten. Der Werfer dagegen war ein blonder Streuner mit einem Talent für Bälle, die kurz vor der Home-Plate plötzlich absinken. Unglücklicherweise ging sein Wurf zu hoch über die Home-Plate. Der Ball prallte vom Schlagholz ab und kam zurück zum Werferhügel — etwas Richtung First-Base hatte den blonden Knirps abgelenkt, und noch ehe er den Handschuh oben hatte, traf ihn der Ball genau an der Schläfe.

Stille, dann hörte man sie Luftholen, dann ein paar Schreie. Der Werfer stürzte mit aufgerissenen Augen zu Boden und blieb reglos auf dem kahlen Fleck Erde liegen, der als Werferhügel diente.

Und jetzt das Komische. Wir waren weder Eltern noch Beteiligte, nur zufällige Zuschauer an einem faulen Samstag, aber ich rief bereits den Rettungsdienst an, als noch niemand nach seinem Handy griff; und Ashlee, eine ausgebildete Krankenschwester, war noch eher bei dem Jungen als der Trainer.

Die Verletzung war nicht ernst. Ash hielt den Jungen still und beruhigte die fassungslose Mutter, bis die Sanitäter eintrafen. Nichts Ungewöhnliches an dem Unfall, außer dass Ash und ich so schnell reagiert hatten.

»Ja, ich weiß noch.«

»An dem Tag habe ich etwas begriffen«, sagte Ashlee. »Ich habe begriffen, dass wir beide auf das Schlimmste gefasst sind. Immer. Als würden wir es erwarten. Es muss an meinem Dad liegen.« Ashlees Vater war Alkoholiker gewesen, was Kinder allzu früh erwachsen macht; er war an Leberkrebs gestorben, als Ashlee gerade mal fünfzehn war. »An meinem Dad und an deiner Mom.« Auf das Schlimmste gefasst sein? Na, klar doch. Mir war, als hörte ich sie sagen: Scotty, hör auf, mich so anzusehen!

»Und das sagt mir«, Ashlee wählte ihre Worte mit Bedacht, mied aber meine Augen, »dass wir ziemlich starke Typen sind. Wir haben schon ein paar üble Sachen durchgestanden.«

So etwas Übles wie ein mordendes, von den Toten auferstandenes Kind?

»Also ist alles im Lot«, sagte Ashlee. »Ich vertraue dir, Scott. Mach, was du für richtig hältst. Du musst es nicht erst in Watte packen. Du gehst mit ihnen, hab ich Recht?«

»Ich bin bald wieder zurück«, sagte ich.

Zweiundzwanzig

Wir überquerten die Staatsgrenze nach Wyoming an dem Tag, da der Gouverneur zurücktrat.

Eine der sogenannten Omega-Milizen hatte seit knapp einer Woche die Legislative besetzt gehalten und eine der sechzig Geiseln war Gouverneur Atherton gewesen. Die Nationalgarde hatte die Situation schließlich klären können, doch Atherton hatte gleich nach seiner Freilassung abgedankt, aus gesundheitlichen Gründen. (Guten Gründen: Der Schuss hatte seine Leiste durchschlagen und die Wunde hatte sich entzündet.)

Es gärte im »Land des weiten Himmels«, doch davon war von der Straße aus nichts zu sehen. Der grenznahe Highway war voller Schlaglöcher und das weite Farmland auf beiden Seiten war verwildert und ausgedörrt — weil sich das Oglalla Aquifer langsam aber sicher zurückzog. Starenschwärme bevölkerten das verrostete Gerippe der künstlichen Bewässerung.

»Zu dem Problem trägt auch bei«, sagte Sue eben, »dass viele die Chronolithen als etwas Magisches betrachten — aber dem ist nicht so, es handelt sich um etwas Technisches, und die Dinger verhalten sich auch so.«

Sie ließ sich nun schon seit fünf Stunden über die Chronolithen aus. Ich war aber nicht der einzige Zuhörer. Sue hatte darauf bestanden, das letzte Fahrzeug im Konvoi zu fahren, der unsere persönliche Habe sowie ihre Aufzeichnungen und Pläne enthielt. Wir — also Hitch, Ray und ich — wechselten uns auf dem Beifahrersitz ab. Sue hatte ihr normales obsessives Verhalten um eine nervöse Redseligkeit erweitert. Man musste sie ans Essen erinnern.

»Magie kennt keine Grenzen«, sagte sie, »Magie ist bekanntlich nur durch die Erfahrung des Magiers oder die Launen der übernatürlichen Welt begrenzt. Aber die Grenzen der Chronolithen werden durch die Natur bestimmt, sie sind streng gezogen und völlig berechenbar. Kuin sendet seine Monumente ungefähr zwanzig Jahre in die Vergangenheit, weil dahinter die technische Barriere unüberwindlich wird — noch ein Stück weiter, und der Energiebedarf steigt logarithmisch, schnellt schon bei der winzigsten Masse gegen unendlich.«

Unser Konvoi bestand aus acht großen geschlossenen Militär-Lkws und doppelt so vielen Vans und Mannschaftswagen. Sue hatte im Laufe der Jahre eine kleine Truppe gleichgesinnter Individuen zusammengestellt — mit einem harten Kern aus Hochschullehrern und graduierten Studenten, die die Tau-Interventionsapparaturen zusammengebaut hatten; als flankierende Maßnahme kam bei dieser Expedition noch das Militär hinzu. Alle Fahrzeuge waren im Blau der Vereinigten Streitkräfte gespritzt, so dass wir wie jeder andere Militärkonvoi aussahen, ein alltäglicher Anblick selbst auf diesen beinah entvölkerten Highways im Westen.

Ein paar Meilen hinter der Grenze fuhren wir auf ein Zeichen des Leitfahrzeugs an den Straßenrand und standen Schlange, um an einer verwaisten kleinen Sunshine-Volatiles-Station aufzutanken. Sue schaltete die Klimaanlage aus, und ich fuhr mein Seitenfenster herunter. Der Himmel war grenzenlos blau, hier und da ein paar hohe Wolkenfetzen. Die Sonne stand fast im Zenit. Hinter einer braunen Wiese schwirrten Spatzen um einen rostigen Bohrturm. Die Luft roch nach Hitze und Staub.

»Die Chronolithen unterliegen vielerlei Beschränkungen«, fuhr Sue in einem schläfrigen, leiernden Tonfall fort. »Die Masse zum Beispiel oder präziser die Masse-Äquivalenz, wenn man davon ausgeht, dass die Chronolithen nicht aus herkömmlicher Materie bestehen. Wisst ihr, dass es bis jetzt noch keinen Chronolithen mit einer Masse-Äquivalenz von mehr als zweihundert metrischen Tonnen gibt. Und das bestimmt nicht, weil es Kuin am nötigen Ehrgeiz fehlt. Er würde sie bis an den Mond bauen, wenn er könnte. Aber noch mal: Ab einem bestimmten Punkt schießt der Energiebedarf exponentiell in die Höhe. Auch die Stabilität leidet. Nebenwirkungen kumulieren. Weißt du, was aus einem Chronolithen wird, Scotty, der nur eine Winzigkeit über dem theoretischen Massenlimit liegt?«

Ich verneinte.

»Er würde instabil werden und sich selbst zerstören. Womöglich auf spektakuläre Weise. Seine Calabi-Yau-Geometrie würde sich entfalten. Man stelle sich das mal vor — praktisch eine Katastrophe.«

Aber eine solche Dummheit hätte Kuin nicht begangen. Kuin, sagte ich mir, war die ganze Zeit über ziemlich clever gewesen. Und das versprach nichts Gutes für unsere kleine spinnerte Expedition in diesen von der Sonne heimgesuchten Westen.

»Ich brauche 'ne Cola«, sagte Sue unvermittelt. »Ich bin staubtrocken. Könntest du mir eine besorgen, ich meine, falls es so was hier zu kaufen gibt.«

Ich nickte, kletterte aus dem Van auf den gekiesten Straßenrand hinunter und marschierte an den wartenden Lkws vorbei. Das Sunshine-Depot war ein einsamer Außenposten, eine alte Halbkuppel, die einen Laden und eine Reihe stark verrosteter Benzintanks beschattete. Die Teerdecke wurde von feinen Staubverwehungen gesäumt. In der Tür stand ein alter Mann, beschattete die Augen mit der Hand und blickte an der Fahrzeugschlange entlang. Das war vermutlich mehr Kundschaft, als er in den letzten zwei Wochen gesehen hatte. Aber besonders glücklich schien ihn das nicht zu machen.

Vollautomatische Service-Module orientierten sich unter dem Chassis des Leitfahrzeugs, tankten es auf und reinigten die Unterseite. Auf einer hoch angebrachten großen Tafel wurden Menge und Preis angezeigt, Sonne und Sand hatten das Acrylglas getrübt.

»Heh«, sagte ich. »Hat wohl länger nicht geregnet hier.«

Der Tankwart nahm die Hand herunter und starrte mich schief an. »Nicht seit Mai«, sagte er.

»Haben Sie kalte Getränke im Laden?«

Er zuckte die Achseln. »Paar Sorten Limo.«

»Kann ich mal sehen?«

Er machte mir den Weg frei. »Ist Ihr Geld.«

Nach der sengenden Hitze kam einem das schattige Innere fast kalt vor. Es war nicht eben viel in den Regalen. In der Kühltheke lag Coca Cola, Root-Beer und Orangenlimonade. Ich griff drei Büchsen heraus.

Der Tankwart tippte die Artikel ein und starrte so intensiv auf meine Stirn, dass ich mir irgendwie gebrandmarkt vorkam. »Stimmt was nicht?«, fragte ich ihn.

»Ich fahnde nach der Zahl.«

»Zahl?«

»Des Tieres«, sagte er und zeigte auf einen Aufkleber, mit dem er die Stirnseite der Kasse verziert hatte:

I'M READY FOR THE RAPTURE! HOW ABOUT YOU?[36]

»All I'm ready for is a cold drink«, parierte ich. »Dachte ich mir.«

Er folgte mir aus dem Laden und blickte mit zusammengekniffenen Augen an der Kolonne entlang.

»Sieht aus, als kam der Zirkus in die Stadt.« Er spuckte geistesabwesend in den Staub.

»Gibt's 'nen Toilettenschlüssel?«

»Am Haken um die Ecke.« Er zeigte mit dem Daumen nach links. »Wär'n Traum, wenn Sie anschließend spülen würden.«


Der Standort des zu erwartenden Chronolithen — durch Satellitenüberwachung ermittelt und durch Strahlenmessungen vor Ort präzisiert — war so rätselhaft und so unplausibel wie so viele Chronolithenorte.

Ländliche, kleinstädtische oder sonstwie relativ harmlose Chronolithen wurden gemeinhin mit »strategisch« und Katastrophen wie der Bangkok- oder Jerusalem-Chronolith mit »taktisch« etikettiert. Wie sinnvoll diese Unterscheidung war, darüber ließ sich streiten.

Der Wyoming-Chronolith zählte jedenfalls zur Kategorie strategisch. Wyoming ist im Grunde ein hohes, unfruchtbares Tafelland, das von Bergen unterbrochen wird — the land of high altitudes and low multitudes, wie ein Gouverneur des zwanzigsten Jahrhunderts gesagt hatte. Ölreserven und Viehbestand waren nicht gerade anfällig für Chronolithen, zumal der Ort des Geschehens weder das eine noch das andere zu bieten hatte — höchstens ein paar Präriehundbaue und zerfallende Farmgebäude. Die nächste Stadt war Modesty Creek, nicht mehr als ein Dorf mit Postamt, fünfzehn Meilen eine zweispurige Teerstraße hinunter durch braunes Grasland mit Basaltbuckeln und vereinzelten Pappelgehölzen. Wir verließen die Straße mit der gebotenen Vorsicht und während wir uns dem Ziel näherten, unterbrach Sue immer wieder ihren Monolog, um die dichten Flecken von Salbei und wilden Nesseln zu bewundern.

»Was hat hier ein Chronolith verloren?«, dachte ich laut.

»Gute Frage«, sagte Sue. »Irgendetwas muss dahinterstecken. Das ist wie beim Schach, wenn dein Gegner plötzlich und scheinbar grundlos seinen Läufer an den Rand zieht. Entweder macht er einen unglaublich dummen Fehler oder es ist eine Finte.«

Eine Finte also: ein Ablenkungsmanöver, eine Täuschung, eine Provokation, eine Falle. Aber das sei völlig egal, meinte Sue. Was immer der Chronolith bezwecke, er würde damit nicht zum Zuge kommen. »Aber die Kausalität ist extrem verschlungen«, gab sie zu. »Ein Knoten im anderen. Kuin hat den Vorteil, dass er uns zeitlich voraus ist. Wie er gegen uns vorgeht, bleibt uns verborgen. Wir wissen sehr wenig über ihn, aber er weiß wahrscheinlich sehr viel über uns.«

Bis zum Einbruch der Dunkelheit hatten wir alle Fahrzeuge von der Straße abgezogen. Eine Vorhut hatte bereits den fraglichen Ort erkundet und die Peripherie mit Absteckpfählen und gelbem Band markiert. Der Himmel war noch so hell, dass Sue mit kleiner Besetzung eine Erhebung erklomm, von wo aus wir Grasland überblicken konnten, das etwa so attraktiv war wie der abgesteckte Bereich für ein geplantes Einkaufszentrum.

Verwildertes Land, ursprünglich mal Teil einer privaten Parzelle, nie urbar gemacht und nur selten aufgesucht. In der Dämmerung ein todernster Ort, wellige Prärie, die im Osten von einem Felssturz begrenzt wurde. Der Boden war steinig und der Beifuß grau nach dem trockenen Sommer. Es wäre absolut still gewesen, wenn die Pioniere nicht dabei gewesen wären, die Skelette von einem Dutzend selbsttragender Unterkünfte mit Druckluft aufzupumpen.

Über dem Felssturz und vor dem schwindenden Blau des Himmels stand die Silhouette einer Antilope. Sie hob den Kopf, witterte uns und trottete außer Sicht.

Ray Mosely trat hinter Sue und fasste sie beim Ellbogen. »Man kann es irgendwie fühlen«, sagte er. »Finden Sie nicht?«

Wenn er die Tau-Turbulenz meinte, dann war ich immun dagegen. Es hing vielleicht ein schwacher Ozongeruch in der Luft, doch das Einzige, was ich mit Gewissheit spürte, war die kühle Brise im Rücken.

»Der Ort hat was«, sagte Sue. »Aber hier sagen sich die Präriehunde Gute Nacht.«

Im Laufe des Morgens rückten wir ihm mit Baggern und Planierraupen zu Leibe und radierten weg, was er hatte.


Wie so viele öffentliche Systeme stand auch die zivile Telekommunikation kurz vor dem Blackout. Satelliten fielen aus dem Orbit und wurden nicht ersetzt; Glasfaserkabel wurden alt und brüchig; die alten Kupferleitungen korrodierten. Ich konnte von Glück sagen, dass ich nachts darauf eine Telefonverbindung mit Ashlee bekam.

Der erste Tag war hektisch, aber erstaunlich produktiv verlaufen. Sues Techniker hatten durch Triangulation das Zentrum der Landung bestimmt, wo zur Zeit die Pioniere planierten und eine Betonplatte gossen, die als Fundament für die tau-empfindliche Apparatur, den sogenannten »Reaktor«, dienen sollte. Es handelte sich natürlich nicht um einen nuklearen Reaktor, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne, aber das Quäntchen an exotischer Materie, das er produzieren sollte, erforderte ganz ähnliche Abschirmungen, thermische wie magnetische.

Viele kleinere Fundamente wurden gegossen: einmal für die Dieselgeneratoren, die Strom für den Reaktor bereitstellen sollten, und dann noch für die kleinen Generatoren, die unsere Lampen und die Elektronik versorgen sollten. Bis zum zweiten Sonnenuntergang hatten wir unser abgeschiedenes Stück Hochland in eine Großbaustelle von beinah viktorianischer Trostlosigkeit verwandelt und eine erstaunliche Anzahl an Eselhasen, Präriehunden und Schlangen vertrieben. Unsere Lampen glühten in der Finsternis wie die Wachfeuer der Crow, Blackfoot, Sioux oder Cheyenne; allgegenwärtig die Gerüche von flüchtigen Substanzen und Kunststoff.

Sue hatte mich zum Beobachtungsposten befördert, doch das war so offensichtlich eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, dass ich den Job gegen den nicht so bezaubernden, aber unendlich viel nützlicheren des Latrinenaushebens und Kalkschleppens eingetauscht hatte. Knapp vor Sonnenuntergang und betäubt vor Erschöpfung, ging ich mit meinem Palmtop unter den Felssturz, wo der Boden anstieg, und stellte die Verbindung mit Ashlee her. Für eine Bildübertragung reichte die Bandbreite nicht, was aber weiter nicht schlimm war. Wenn ich nur ihre Stimme hörte.

Alles sei in Ordnung, sagte sie. Mit dem Geld, das Hitch vorgeschossen hatte, waren längst überfällige Rechnungen bezahlt worden, und sie hatte Kaitlin zweimal ins Kino eingeladen. Sie verstehe nicht, warum es nötig gewesen sei, ihr Morris Torrance als Aufpasser dazulassen — er sitze draußen vor dem Apartment in seinem Wagen. Nicht, dass er ihr zur Last falle, aber sie fühle sich überwacht.

Sie wurde überwacht. Sue hatte geargwöhnt, kuinistische Elemente könnten ihr bis Minneapolis nachgespürt haben, und ich hatte mir daraufhin Schutz für Ash ausbedungen — der die Gestalt des ehrwürdigen, aber gut geschulten Morris Torrance angenommen hatte, der ohne zu jubeln seine Pflicht tat. Solange auch nur der leiseste Zweifel an Ashlees Sicherheit bestand, wollte ich sie nicht schutzlos ausgeliefert wissen; Sue hatte Morris damit beauftragt.

»Er ist ja ganz nett«, meinte Ash. »Trotzdem nervt es, wenn du von früh bis spät beschattet wirst.«

»Wenn ich zurück bin, ist der Spuk vorbei.«

»Und wenn ich das nicht aushalte?«

»Denk an meinen Seelenfrieden.«

»Und du an meinen.«

»Ich tu, was ich kann.«

»Und? Wie… denn Wyoming?«

Der Signalausfall verschluckte ein, zwei Silben, aber ich wusste, was gemeint war. »Schade, das du es nicht sehen kannst. Eben ist die Sonne untergegangen. Es riecht nach Beifuß.« Es roch nach Kreosot und Kalk und heißem Metall, doch ich zog es vor zu lügen. »Der Himmel ist fast so schön wie du.«

»… ödsinn.«

»Ich habe den ganzen Tag Latrinen ausgehoben.«

»Das klingt… istischer.«

»Du fehlst mir, Ash.«

»Du mir auch.« Sie hielt inne, und ich hörte ein Geräusch wie von einem Bewegungsmelder; dann sagte sie: »Ich glaube, da ist jemand an der Tür.«

»Ich rufe morgen wieder an.«

»… morgen«, hörte ich noch, dann riss die Verbindung endgültig ab.

Am nächsten Tag konnte ich sie nicht erreichen. Was östlich der beiden Dakotastaaten lag, war wie abgeschnitten, obwohl es in den Netzen immer noch reichlich Redundanz gab. Ein ganzes Rudel von Knotenservern müsse abgeschmiert sein, erklärte Ray Mosely. Möglich, das es sich dabei um einen weiteren Sabotageakt der Kuinisten handle.

Auf Grund des Kommunikationsproblems entschied der Medienguru des Verteidigungsministeriums, die Presse einen Tag früher als geplant zu informieren. In Cheyenne gab es zwar immer noch eine Menge Korrespondenten, die über die Unruhen berichteten, aber sie würden mindestens vierundzwanzig Stunden brauchen, um dahin zu kommen, wo sie gebraucht wurden — nach Modesty Creek.

In der folgenden Nacht errichteten die Pioniere einen Kreis aus schmerzhaft grellen Schwefelpunktlampen. Wir arbeiteten, während die Luft kühl war und der Mond am Himmel stand, stachen eine Meile von der Landestelle einen Beobachtungsbunker aus dem trockenen Erdreich, verlegten Kabel unter die Erde und entrollten ungezählte Meter Maschendrahtzaun. Die Umzäunung sollte Touristen und Kuinisten fern halten, die auf uns aufmerksam wurden. Hitch meinte, der Zaun würde zwar Antilopen zurückhalten, aber keine Horden größerer Säugetiere. Aber wozu hatten wir Soldaten?

Bei Sonnenaufgang krabbelte ich mit blutigen Händen auf mein Feldbett.

Wir waren bereit zum Angriff.

Dreiundzwanzig

Bis jetzt hatten wir das Areal für uns gehabt. In Kürze würden wir es teilen müssen.

Nicht bloß mit Presseleuten, sondern auch mit Kuinisten aller Schattierungen — obwohl wir davon ausgingen, dass es durch die Abgeschiedenheit der Gegend und die kurzfristige Bekanntgabe nicht zu einem massiven Hadsch kommen würde. (»Das ist unser Hadsch«, hatte Sue mehr als einmal gesagt. »Der gehört zu uns.«)

Also bezog unser Teil der Vereinigten Streitkräfte Posten am Zaun und auf dem Felsen, und wir setzten die Highway-Patrol und die Behörden in Kenntnis, die uns zutiefst verübelten, dass wir unsere Arbeit publik machten, aber nicht die Autorität besaßen, uns daran zu hindern. Ray Mosely ging davon aus, dass uns höchstens noch zwölf Stunden blieben, bis uns die ersten Außenseiter auf die Pelle rückten. Über dem Betonfundament für den Tau-Reaktor hatten wir bereits einen kranartigen Aufbau errichtet; auch hatten wir bereits unser komplettes technisches Zubehör getestet und in Stellung gebracht. Aber fertig waren wir noch nicht.

Sue wich nicht aus der Nähe des großen Tiefladers, auf dem sich der Reaktor befand, und machte den Pionieren das Leben schwer, bis Ray und ich sie zum Lunch überreden konnten. Wir hockten unter einer Zeltleinwand und würgten unsere Militärrationen hinunter, derweil Ray eine Checkliste mit uns durchging. Die Arbeit war dem Zeitplan voraus, was einige von Sues Befürchtungen zerstreute.

Fürs Erste zumindest. Sue war, was die Ärzte »hochgradig erregt« nannten. Tatsächlich deutete alles darauf hin, dass sie am Rand eines Nervenzusammenbruchs stand. Sie bewegte sich rastlos und ziellos, trommelte mit den Fingern, blinzelte und gab zu, dass sie nicht schlafen konnte. Selbst wenn sie mitten in einer Unterhaltung war, wanderte ihr Blick immer wieder zu der Stelle hinüber, wo die glänzende Stahlrohrkonstruktion auf den Reaktor wartete.

Sie redete unausgesetzt über das Projekt. Vor allem machte sie sich Sorgen, die Presse könne zu spät oder der Chronolith zu früh kommen. »Es kommt nicht so sehr darauf an, was wir hier tun«, sagte sie, »sondern was man uns tun sieht. Wir haben nur Erfolg, wenn die Welt sieht, dass wir Erfolg haben.«

(Und ich musste darüber nachdenken, wie dünn dieser Strohhalm in Wirklichkeit war. Wir hatten lediglich Sues Zuversicht, die Zerstörung eines im Entstehen begriffenen Chronolithen könne diesen Schattenkrieg für uns entscheiden — könne die Feedbackschleife destabilisieren, auf die Kuin angeblich so angewiesen war. Doch wie viel war Kalkül und wie viel Wunschdenken? Kraft ihrer Position und ihres temperamentvollen Engagements hatte Sue uns die ganze Zeit bei der Stange halten können, auch dank der Autorität ihrer Mathematik und ihrer profunden Kenntnis der Tau-Turbulenz. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie auch Recht hatte. Was, wenn sie verrückt war?)

Nach dem Lunch sahen wir zu, wie eine Crew von Technikern zusammen mit einem Kranführer den Tau-Reaktor aus seiner Riesenkiste hob und ihn so behutsam an seinen Bestimmungsort bugsierte, als sei er mit Nitroglyzerin gefüllt. Die Kugel hatte einen Durchmesser von drei Metern, war schwarz eloxiert und übersät mit elektronischen Schnittstellen und Kabelports. Sues Erklärungen hatte ich so viel entnommen, dass es sich im Grunde um eine magnetische Flasche handelte, in der sich bereits die exotische Variante eines kalten Plasmas befand. Wurde der Reaktor angeworfen, würde ein Aggregat interner Hochenergiegeräte eine fermionische Dekohäsion einleiten, woraufhin ein paar nahezu masselose Teilchen unbestimmter Materie entstünden.

Dieses Material, behauptete Sue, reiche aus, einen im Entstehen begriffenen Chronolithen daran zu hindern, seinen Raum einzunehmen. Was das konkret bedeutete, war noch unklar — mir jedenfalls. Sue meinte, die Wechselwirkung zwischen den konkurrierenden Tau-Räumen werde zwar heftig, aber nicht »übermäßig energiereich« ausfallen, was uns der Sorgen enthebe, das gesamte Modesty-County (samt uns) könne dabei ausradiert werden. Ihr Wort in Gottes Ohr.

Bis Sonnenuntergang war der Reaktor verankert und über ein mit flüssigem Stickstoff ummanteltes Bündel an licht- und stromführenden Leitern mit unserer Elektronik verbunden. Es blieb zwar noch viel zu tun, aber die Schwerstarbeit lag hinter uns. Wir Zivilisten feierten das mit Grillsteaks und großzügigen Bierrationen. Eine Gruppe älterer Pioniere traf sich nach dem Abendessen an der Straße, redete über bessere Zeiten und sang alte Lux-Ebone-Lieder (sehr zum Verdruss der jungen Soldaten). Bei den Refrains sang ich mit.

In dieser Nacht hatten wir unser erstes Opfer zu beklagen.

So abgeschieden die Gegend war, die zweispurige County-Straße, auf der wir gekommen waren, war nicht gänzlich ausgestorben. Wir hatten Männer nördlich und südlich entlang der Straße, Soldaten mit der orangeroten Armbinde von Highway-Arbeitern. Sie trugen kaltleuchtende Taschenlampen und winkten jeden weiter, der mehr als beiläufiges Interesse an unseren Lkws und Maschinen zeigte. Diese Strategie hatte bislang funktioniert.

Nicht lange nach Mondaufgang passierte dann Folgendes: Auf dem nördlichen Buckel der Straße ließ ein Mann seinen patinagrünen Landau ohne Motor und Licht in den Pannenstreifen keine fünfzig Fuß weit von unserem Leittruck rollen, wo die Lagerbeleuchtung kaum noch hinreichte.

Der Mann stieg auf das Kiesbankett hinaus, mit dem Rücken zu zwei sich nähernden Wachleuten, und als er sich umdrehte, trug er etwas Wuchtiges und Undefinierbares in den Händen, das sich als uralte halbautomatische Schrotflinte entpuppte. Er feuerte auf die Soldaten, tötete den einen und schoss den anderen unheilbar blind.

Zum Glück war der leitende Wachhabende in dieser Nacht eine kluge und erfahrene Frau namens Marybeth Pearlstein, die auf ihrem Posten fünfzig Fuß entfernt Zeuge dieses Vorfalls wurde. Nur wenige Sekunden später kam sie mit schussbereitem Gewehr um die Stoßstange des nächsten Lkws herum und streckte den Angreifer mit einem wohlgezielten Schuss nieder.

Es stellte sich heraus, dass der Angreifer ein der örtlichen Polizei wohlbekannter Copperhead-Spinner war. Zwei Stunden später hielt der Truck eines County-Coroners und fuhr die Leichen ab; eine Ambulanz brachte den Überlebenden ins Medical Center von Modesty County. Es hätte vermutlich eine Untersuchung gegeben, hätten sich die Dinge anders entwickelt.


Was ich nicht wusste…

Und was ich später dann erfuhr…

Entschuldigung, aber zum Teufel mit diesen dämlichen und impotenten Worten…

Hören Sie, wie sie unter der bedruckten Seite zerrieben wird, diese Gräueltat, die ich nach so vielen Jahren exhumiere.

Was ich nicht wusste, war, dass einige dieser texanischen PK-Milizen — die Leute, von denen Hitch mir erzählt hatte, die Leute, die ihm zwei Finger abgehackt hatten — längst einem Pfad heimlicher Verbindungen gefolgt waren, der sie bis an die Schwelle von Whitman Delahunts Haus brachte.

Seit ich nach Portillo aufgebrochen war, um Kaitlin zu suchen, muss Whit seine Gesinnungsgenossen über mein Kommen und Gehen auf dem Laufenden gehalten haben. Damals schon hatten sich PK- und Copperhead-Eliten für Sue Chopra interessiert: Die einen sahen in ihr einen ernstzunehmenden Gegner, die anderen sogar einen potenziellen Selbstbedienungsladen.

Ich will nicht behaupten, Whit hätte die Konsequenzen seines Handelns vorhersehen müssen. Er teilte im Grunde nur ein paar interessante Informationen mit seinen Copperhead-Kumpels (die sie mit ihren Freunden teilten und so weiter und so fort, von Whits Provinzuniversum bis zu den militanten Untergrundkadern). In Whits Welt lagen die Konsequenzen immer in weiter Ferne; Belohnungen gab es auf der Stelle, sonst waren es keine. Whit Delahunts Sympathie für Copperheads war nicht politisch motiviert. Für Whit war die Bewegung eine Art Rotary- oder Kiwanis-Club, Beitragswährung war die Information. Ich bezweifle, ob er jemals an einen leibhaftigen Kuin geglaubt hat. Wäre Kuin vor ihm aufgetaucht, Whit wäre so sprachlos gewesen wie ein Kirchgänger, dem der Zimmermann von Galiläa erscheint.

Was, wie ich mich hinzuzufügen beeile, keine Entschuldigung ist.

Doch ich bin mir sicher, Whit hat es zu keiner Zeit für möglich gehalten, dass diese texanischen Milizionäre weit nach Mitternacht an seine Tür klopfen und sein Haus betreten könnten, als wäre es das ihre (weil er schließlich einer von ihnen war), um ihm mit vorgehaltener Waffe die Adresse von Ashlee und mir abzupressen.

Janice war dabei, als die Invasion stattfand. Sie versuchte Whit zu bewegen, die Fragen der Eindringlinge nicht zu beantworten, und wollte, als er sie ignorierte, die Polizei verständigen. Für ihre vergeblichen Anstrengungen schlug man mit der Pistole auf sie ein, was ihr einen gebrochenen Kiefer und ein gebrochenes Schlüsselbein eintrug. Hätte man Whit nicht noch für potenziell nützlich gehalten und hätte er nicht glaubhaft machen können, Janice zur Vernunft zu bringen, ich bin überzeugt, man hätte sie beide umgebracht; zudem hätte Whit nichts davon gehabt, wenn er alles zu Protokoll gegeben hätte, und stoppen, muss er sich gesagt haben, konnte er die Sache sowieso nicht mehr.

Weder Whit noch Janice hatten wissen können, dass sich einer der Milizionäre schon länger für die Aktivitäten von Sue Chopra und Hitch Paley interessierte, und zwar aus ganz persönlichen Gründen:

Adam Mills. In einer ekstatischen Antinostalgie war Adam in seine Heimatstadt zurückgekehrt, entzückt, dass seine Lebensfäden auf so merkwürdige und befriedigende Weise wieder zu sich selbst gefunden hatten. Er muss das wohl als Fügung erlebt haben; er muss sich eminent wichtig vorgekommen sein.

Hätte er die Formulierung gekannt, er hätte sich »tief in der Tau-Turbulenz« gewähnt. In den Wirren nach dem Portillo-Ereignis hatte Adam durch Erfrierungen zwei Fingerspitzen verloren — nicht zufällig die gleichen Fingerspitzen, die er Hitch später mit der Machete abtrennen sollte —, und das hatte ihm ein Gefühl von Auserwähltsein gegeben, als sei er von Kuin persönlich gesalbt worden.

Bei der Auseinandersetzung in Whits Haus ging es nicht eben leise zu. Doch Kait, die im Apartment über der Garage schlief, wurde Gott sei Dank nicht wach davon. Sie blieb verschont.

Vorerst.


Da ich nach der Schießerei an der Straße nicht schlafen konnte, vertrat ich mir mit Ray Mosely in dem aufgewühlten Bereich zwischen Reaktor und Unterkünften die Füße.

Das Lager kam wieder zur Ruhe, und abgesehen vom gedämpften Summen der Generatoren war nicht mehr viel zu hören. Schließlich wurde die Stille geradezu hörbar — man wurde sich ihrer bewusst, einer tiefen und starken Stille da draußen jenseits des Einzugsbereichs der Lampen.

Mein Umgang mit Ray war nie besonders vertraut gewesen, doch wir waren uns im Laufe dieses Unternehmens ein wenig näher gekommen. Kennen gelernt hatte ich ihn als unheimlich belesenen, unsicheren Tiefstapler, der nichts mehr fürchtete als seine Verwundbarkeit. Das hatte ihn defensiv und spröde gemacht. Und so war er immer noch. Doch er war auch das Endergebnis jahrelanger zwanghafter Selbstverleugnung, mittleren Alters inzwischen, und kannte durchaus die eine oder andere seiner Unzulänglichkeiten.

»Sie machen sich Sorgen wegen Sue«, sagte er.

Ich war mir nicht sicher, ob ich darüber reden sollte. Aber wir waren allein, niemand hörte mit. Höchstens ein paar Eselhasen.

Ich sagte: »Sie steht deutlich unter Stress. Und sie geht nicht besonders um damit.«

»Würden Sie es besser machen? An ihrer Stelle?«

»Wahrscheinlich nicht. Aber wie sie schon redet. Wissen Sie, was ich meine. Mir kommt sie allmählich ein bisschen stur vor. Und dann fängt man an, sich zu fragen…«

»Ob sie noch bei Verstand ist?«

»Ob die Logik, die uns hergebracht hat, wirklich so wasserdicht ist, wie Sue behauptet.«

Ray schien nachzudenken. Er grub die Hände in die Hosentaschen und bedachte mich mit einem traurigen Lächeln. »Man kann der Mathematik schon trauen.«

»Nicht die Mathematik macht mir Sorgen. Wir sind nicht wegen der Mathematik hier, Ray. Wir sind schon zehn bis fünfzehn Saltos darüber hinaus.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie ihr nicht mehr trauen?«

»Was heißt das schon? Halte ich sie für ehrlich? Ja. Meint sie es gut? Natürlich meint sie es gut. Aber traue ich auch ihrem Urteilsvermögen? Und da bin ich mir nicht mehr so sicher.«

»Sie waren bereit mitzukommen.«

»Sie kann sehr überzeugend sein.«

Ray hielt inne und blickte in die Dunkelheit hinaus, am stählernen Gerüst des Tau-Reaktors vorbei, über das Gestrüpp und die mondbeschienenen Wildgräser hinweg bis zu den Sternen. »Vergessen Sie nicht, was sie aufgegeben hat, Scott. Was hätte sie für ein Leben haben können. Sie hätte geliebt werden können.« Er lächelte matt. »Ich weiß, dass alle wissen, was ich für sie empfinde. Ich weiß auch, wie lächerlich das ist. Ich bin ein verdammter Clown. Ein Hornochse. Sie ist ja nicht mal heterosexuell. Aber wenn nicht ich, dann eben jemand anders. Eine von diesen Frauen, mit denen sie sich verabredet, um sie gleich wieder fallen zu lassen, die zu ihrem Leben gehören wie Textpassagen, die man einfügt und wieder streicht. Aber sie hat sie vor den Kopf gestoßen, weil ihr die Arbeit mehr bedeutete, und je härter sie arbeitete, umso wichtiger wurde ihre Arbeit und jetzt hat sie sich total ihrer Arbeit verschrieben, sie ist Teil ihrer Arbeit. Jeder Schritt, den sie jemals getan hat, war ein Schritt nach hier, Scott.

Jetzt und hier muss selbst Sue sich fragen, ob sie noch bei Sinnen ist.«

»Heißt das, wir schulden ihr den Zweifel?«

»Nein«, sagte Ray. »Wir schulden ihr mehr als Zweifel. Wir schulden ihr unsere Loyalität.«

Wie immer bedacht, das letzte Wort zu haben, wählte er diesen Augenblick, um sich abzuwenden und zu den Unterkünften zurückzukehren.

Ich blieb zurück, stand stumm zwischen Mond und Flutlicht. Von hier aus wirkte der Tau-Reaktor reichlich klein. Ein Winzling, um damit derart Gewaltiges auszuhebein.

Als ich erst einmal schlief, schlief ich tief und fest. Gegen Mittag wachte ich auf; unter dem durchscheinenden Dach der aufgepumpten Unterkunft lagen außer mir noch ein paar Wachleute der Frei- und Nachtschicht.

Niemand hatte daran gedacht, mich zu wecken. Alle hatten zu viel um die Ohren.

Ich trat aus dem gedämpften Licht der Unterkunft in die brennende Sonne hinaus. Der Himmel war scheußlich hell, eine dünne blaue Glasschale zwischen Prärie und Sonne. Aber der Lärm war schlimmer. Wer schon einmal in der Nähe eines gut besetzten Baseballstadions war, der kennt diese Kulisse aus raunenden Stimmen.

Im Kantinenzelt stieß ich auf Hitch Paley.

»Mehr Presse als verabredet, Scotty«, sagte er. »Ein ganzer Mob verstopft die Straße. Die Highway-Patrol versucht die Fahrbahn zu räumen. Weißt du, dass man uns im Kongress schon anprangert? Es gibt Leute, die gehen jetzt schon in Deckung, für alle Fälle.«

»Glaubst du, wir haben eine Chance?«

»Vielleicht. Wenn man uns Zeit lässt.« Aber die ließ man uns nicht. Eine Lkw-Ladung kuinistischer Milizen rückte an, und als der nächste Tag heraufdämmerte, hatte die Schießerei schon begonnen.

Vierundzwanzig

Ich weiß, wonach die Zukunft riecht.

Die gegenwärtige Zukunft, die der Vergangenheit aufgezwungene; diese Mischung aus Vergangenheit und Zukunft, aus zwei an sich harmlosen Substanzen, die vermischt giftig sind. Die Zukunft riecht wie alkalischer Staub und ionisierte Luft, wie heißes Metall und Gletschereis. Und kein bisschen nach Schießpulver.

Die Nacht war relativ ruhig gewesen. Heute, am Tag der Ankunft, weckte mich sporadisches Gewehrfeuer aus einem kurzen Erschöpfungsschlaf — es war nicht so nahe, dass ich gleich in Panik geriet, aber so nahe, dass ich mich mit dem Anziehen beeilte.

Hitch saß wieder im Kantinenzelt und leerte eine Pappschüssel mit kalten Bohnen. »Setz dich«, sagte er selbstgefällig. »Alles unter Kontrolle.«

»Hört sich aber nicht so an.«

Er streckte sich und gähnte. »Was du da hörst, ist ein Haufen Kuinisten weiter südlich an der Straße, die Zoff mit unseren Sicherheitskräften haben. Ein paar sind bewaffnet, aber alles, was sie wollen, ist in die Luft ballern und mit der Faust drohen. Eigentlich sind sie Zuschauer. Hinzu kommen etwa genauso viel Journalisten, die näher heran wollen, als der Zaun es erlaubt. Unsere Soldaten machen sie zur Schnecke. Sue will sie nahe dabei haben, aber eben nicht zu nah.«

»Wie nah ist zu nahe?«

»Gute Frage. Die Studenten und Techniker sind alle unten am Bunker. Die Presseleute richten sich ein bisschen weiter östlich ein.«

Der sogenannte Bunker war eine Art Schützengraben mit Holzdach gut eine Meile vom Reaktor entfernt; hier hatte Sue die Apparate zur Überwachung und Einleitung des Tau-Ereignisses installieren lassen. Der Graben war mit Heizöfen ausgerüstet, um wenigstens ein bisschen Schutz vor dem Kälteschock zu bieten; außerdem ließ sich die Anlage gegen den Beschuss mit leichten Handfeuerwaffen verteidigen.

Der Reaktor selbst stand groteskerweise völlig schutzlos da; allerdings wollten ihn unsere Soldaten so lange verteidigen, wie man den Zaun halten konnte. Zum Glück, meinte Hitch, sei der bunt zusammengewürfelte Haufen Kuinisten unten an der Straße alles andere als eine überlegene Streitmacht.

»Vielleicht kommen wir gerade noch hin, Scotty«, sagte er. »Mit ein bisschen Glück.«

»Wie geht es Sue?«

»Ich habe sie seit Sonnenaufgang nicht gesehen, aber… wie es ihr geht? Zu viel Adrenalin. Würd mich nicht wundern, wenn sie der Schlag trifft.« Er sah mich seltsam an. »Sag mir eins. Wie gut kennst du sie?«

»Ich kenne sie seit meiner Studentenzeit.«

»Ja schon, aber wie gut? Ich arbeite auch schon lange für sie, aber ich kann nicht behaupten, dass ich sie wirklich kenne. Sie redet über ihre Arbeit — und über mehr nicht, bei mir jedenfalls. Fühlt sie sich jemals einsam, kennt sie Angst, Wut?«

Diese Unterhaltung schien mir so gar nicht zu dem Gewehrfeuer zu passen, das nach wie vor aufbellte. »Was soll das?«

»Wir wissen nichts über sie, aber da sind wir und tun, was sie sagt. Was mir reichlich komisch vorkommt, wenn ich drüber nachdenke.«

Auch mir kam das komisch vor, im Moment jedenfalls. Was hatte ich hier verloren? Nichts. Ich riskierte mein Leben, und nützlich machte ich mich bestimmt nicht. Aber Sue sah das anders. Du wartest, bis deine Zeit gekommen ist, würde sie sagen. Du wartest auf die Turbulenz.

Mir fiel ein, was Hitch mir in Minneapolis unmissverständlich erklärt hatte: dass er nämlich Menschen getötet habe. »Wie gut konnte man einen Menschen überhaupt kennen?«

»Heute früh ist es kühler«, sagte Hitch. »Selbst in der Sonne. Schon gemerkt?«

Wenige Tage zuvor tauchte Adam Mills vor der Tür seiner Mutter auf — zusammen mit fünf brutalen Typen und einem Sortiment verdeckter Waffen.

Ich will nicht lange drumherum reden.

Adam war natürlich psychotisch. Klinisch psychotisch, meine ich. Die Symptome waren vollzählig. Er war antisozial, ein Tyrann und auf eine gewisse perverse Weise sogar eine Führernatur. Sein geistiges Universum war eine Mansarde, vollgestopft mit Secondhand-Ideologie und großkotzigen Phantasiegebilden, allesamt ausgerichtet auf Kuin oder was immer er sich unter Kuin vorstellte. Er hatte nie die natürlichen menschlichen Bindungen an Familie oder Freunde entwickelt. Alles deutete darauf hin, dass er keinerlei Gewissen hatte.

Wenn Ashlee in gedrückter Stimmung ist, sucht sie die Schuld bei sich; doch Adam war das Produkt seiner Hirnchemie und nicht seiner Erziehung. Ein Genomprofil und ein paar simple Blutuntersuchungen zur rechten Zeit hätten sein Problem deutlich gemacht. Vielleicht wäre er bis zu einem gewissen Grad therapierbar gewesen, ja. Doch eine so anspruchsvolle medizinische Intervention hätte Ash sich zu keiner Zeit leisten können.

Ich kann und will mir nicht vorstellen, was Ashlee in den wenigen Stunden mit Adam ausgestanden hat. Am Ende hat sie den fraglichen Ort in Wyoming preisgegeben, ihn und die Tatsache, dass ich, Hitch Paley und Sue Chopra dort waren, um — und das war das Entscheidende — den Chronolithen zu sabotieren.

Man darf ihr keinen Vorwurf machen.

Die Folge war, dass Adam bereits achtundvierzig Stunden früher als die Presse über den Chronolithen und unser Vorhaben informiert war.

Adam fuhr sofort Richtung Westen, ließ aber zwei seiner Schergen zurück, um unbequeme Telefonate seitens Ashlee zu unterbinden. Er hätte sie einfach töten können, entschied sich aber, sie in Reserve zu halten, als Geisel womöglich.

So schlimm das alles war, es kam noch schlimmer.

Nicht lange, nachdem Adam weg war, kam Kaitlin vorbei: Sie hatte immer noch keine Ahnung, was sich bei Janice und Whit abgespielt hatte, und wollte Ashlee Gesellschaft leisten — bei einem gemütlichen Mittagessen und abends vielleicht noch bei einem Film.


Nach Jerusalem und Portillo waren die Messmethoden für niedrige Streustrahlung verfeinert worden. Sues Mitarbeiter konnten den Countdown diesmal viel genauer ausrichten. Doch wir konnten die Ankunft förmlich spüren, auch ohne Countdown.

Hier nun die Lage, als ich aus dem Bunker kletterte, um ein letztes Mal frische Luft zu schöpfen, gut zwanzig Minuten, ehe der Reaktor aktiviert werden sollte.

Weiter südlich am Highway hatte es noch mehr Scharmützel gegeben und sporadisch auch an verschiedenen Punkten des Hauptzauns. Bis jetzt hatten Orts- und Staatspolizei die Kuinisten im Zaum halten können — der Sturm auf das Parlamentsgebäude von Wyoming hatte die Kuinisten viel Sympathie gekostet, nicht zuletzt bei Verwaltung und Polizei. Ein Soldat der Vereinigten Streitkräfte war von einem Omega-Milizionär verletzt worden, der versucht hatte, den Zaun mit einem Geländewagen zu durchbrechen, und am frühen Nachmittag waren vier bewaffnete Kuinisten unbekannter Zugehörigkeit erschossen worden, die versucht hatten, den nördlichen Kontrollpunkt zu stürmen. Seitdem war es bei Drohgebärden und vereinzelten Festnahmen geblieben… obwohl die Menschenmenge immer noch wuchs.

Sue hatte einem Trupp von Journalisten die Genehmigung erteilt, ein gutes Stück hinter dem Bunker ihre Aufnahmetechnik zu installieren, und ich konnte sie von meinem Standort aus sehen, eine Phalanx von Trucks und Stativen, die sich so lang wie ein Footballfeld Richtung Osten erstreckte. Es gab Dutzende von diesen Leuten, die meisten aus Cheyenne hierherbeordert, und sie repräsentierten alle größeren Newsprovider und nicht wenige von den seriöseren Unabhängigen. Aber so viele es auch waren, sie schienen sich in der braunen Weite des Landes zu verlieren. Ein zweites Kontingent aus unabhängigen Journalisten hatte sich über dem Felssturz aufgebaut, näher als Sue lieb war, aber unsere Kooperation mit den Medien nannte diese Leute »sehr engagiert und beharrlich« — was gleichbedeutend war mit penetrant und stur. Auch diese Kameras konnte ich sehen, die Felskante strotzte davon.

Viele von unseren Maschinenführern und Bauarbeitern hatten den Schauplatz bereits verlassen. Die verbleibenden technischen und wissenschaftlichen Kräfte wurden jetzt entweder in den Bunker gepfercht oder hinter die Linien der Journalisten geschickt.

Der Tau-Reaktor hing in seinem Stahlgerüst wie ein riesiges schwarzes Ei. Die Staubwolke auf der planierten Zugangsstraße stammte von Hitch Paley, der den letzten Laster des ursprünglichen Konvois heraufbrachte, um ihn beim Bunker abzustellen. Alle diese Fahrzeuge waren auf Kälteresistenz getrimmt.

Nicht mehr zu leugnen war auch die Tau-Frische, jener herbe Vorbote in der Luft — aber auch im Boden, Fleisch und Blut und Knochen. Bis jetzt war die Temperatur erst um den Bruchteil eines Grades gefallen. Der Kälteschock kroch eben erst aus den Startlöchern und machte sich schon bemerkbar, als leises Prickeln auf der Haut.

Ich nahm mein Handy heraus und versuchte erneut, Ashlee zu erreichen. Der Anruf kam nicht durch, so wie alle meine Anrufe seit fast einer Woche. Manchmal bekam ich eine allgemeine Fehlermeldung, dann wieder (wie jetzt) nur ein leeres Display und ein verzerrtes Raunen. Ich steckte das Handy wieder weg.

Ich war überrascht, als Sue Chopra die Stahltür des Bunkers öffnete und hinter mir ins Freie stieg. Sie war blass und zitterte. Sie beschattete die Augen.

Ich sagte: »Müsstest du nicht unten sein?«

»Die Uhr ist aufgezogen«, sagte sie. »Sie läuft von selbst.«

Sie stolperte über eine Mesquitwurzel, und ich schnappte sie beim Ellbogen. Sie fühlte sich kalt an.

»Scotty«, sagte sie, als habe sie mich erst jetzt erkannt.

»Tief durchatmen«, sagte ich. »Bist du okay?«

»Nur müde. Und nichts gegessen.« Sie schüttelte verstört den Kopf. »Die Frage, die mir nicht aus dem Kopf geht — bin ich eine Marionette? Oder bin ich aus freien Stücken hier? Das ist das Merkwürdige bei der Tau-Turbulenz. Sie gibt uns eine Bestimmung. Aber eine Bestimmung ohne Gott. Eine Vorsehung, für die niemand verantwortlich zeichnet.«

»Es sei denn Kuin.«

Sie runzelte die Stirn. »O nein, Scotty, sag nicht so was.«

»Es dauert nicht mehr lange. Wie sieht es unten aus?«

»Wie ich sagte. Alles läuft von selbst. Gut, solide Zahlen. Du hast Recht, ich muss wieder runter… aber komm doch mit.«

»Warum?«

»Weil die ionisierende Strahlung hier draußen ziemlich stark ist. Weil du alle zwanzig Minuten einen Kübel Röntgenstrahlung abkriegst.« Und dann lächelte sie. »Aber hauptsächlich, weil ich deine Gegenwart beruhigend finde.«

Die Begründung hätte gereicht, um mit ihr zu gehen, doch im nächsten Augenblick spürten wir den dumpfen Schlag einer fernen Explosion. Gewehrfeuer flackerte auf, viel näher als es hätte sein dürfen.

Sue ließ sich instinktiv auf die Knie fallen. Ich blieb idiotischerweise stehen. Das Schießen, das als stotterndes Stakkato begonnen hatte, ging spontan in ein nahezu lückenloses Dauerfeuer über. Der Hauptzaun und ein großes Tor lagen nur wenige Meter hinter uns. Ich blickte in diese Richtung und sah unsere Soldaten in Deckung gehen und die Gewehre heben, doch die Quelle des Beschusses war nicht sofort zu erkennen.

Sue fixierte indessen den Felssturz. Ich folgte ihrem Blick.

Aus dem Beobachtungsposten der Vereinigten Streitkräfte stiegen Rauchfetzen.

»Die Journalisten«, zischte sie.


Die keine waren. Es waren Kuinisten — eine Gruppe von Milizionären, die pfiffig genug gewesen waren, außerhalb von Modesty Creek einen Sendetruck zu kapern und bei unseren Medienbetreuern an der Schranke keinerlei Verdacht zu erregen. (Später fand man die fünf echten Medienleute erschlagen und erdrosselt im Hasenpinsel zwanzig Meilen die Straße hinunter.) Ein Dutzend weniger vorzeigbarer Kuinisten in neutralen Fahrzeugen gaben sich als Techniker aus; die Waffen lagen gut kaschiert inmitten einer Ladung aus Objektiven, Sendeapparaturen und Bildaufzeichnungsgeräten.

Diese Leute hatten sich da eingenistet, wo sie einen unverstellten Blick auf den Tau-Reaktor hatten — oben auf dem Steilfelsen, ganz in der Nähe des VS-Beobachtungspostens. Als Hitch den letzten Laster zum Bunker gebracht hatte, hieß das für sie, dass der Chronolith dicht bevorstand. Sie setzten den Beobachtungsposten mit einer Sprengladung außer Gefecht, sorgten dafür, das es keine Überlebenden gab, und konzentrierten ihre Anstrengungen auf den Tau-Reaktor.

Die Rauchstöße aus ihren Gewehren hoben sich kaum gegen den blauen Himmel ab. Die Saboteure waren zu weit entfernt, um zielgenau zu treffen, Funken stoben, wo die Kugeln das Stahlgerüst trafen. Die Soldaten am Tor hinter uns erwiderten das Feuer und forderten über Funk Verstärkung an. Leider war das Hauptkontingent am Südtor zusammengezogen worden, wo der kuinistische Mob ernsthaft zu schießen begonnen hatte.

Reichlich spät duckte ich mich neben Sue an den Boden. »Der Reaktor ist ziemlich gut gepanzert…«

»Der Reaktor ja, aber Kabel und Anschlüsse nicht — die Instrumente, Scotty!«

Sie kam hoch und rannte auf den Bunker zu. Mir blieb nichts, als ihr zu folgen, doch erst wies ich Hitch mit ein paar Gesten ein — er war eben angekommen und musste das Sperrfeuer vom Steilfelsen mit dem Geplänkel weiter südlich verwechselt haben. Als er Sue Hals über Kopf losstürzen sah, fiel bei ihm der Groschen.

Die Luft war plötzlich viel kälter, und ein Wind fegte in Böen über die verdorrte Prärie, Staubteufel marschierten wie Pilger in das Herz des Tau-Ereignisses.

Während sich der thermische Schock aufbaute, wurde es im Bunker trotz Heizung und Betonfutter empfindlich kalt, kälter, als Sue erwartet hatte. Die Kälte kroch in die Glieder, kühlte das Blut herunter und verlieh einer Reihe schrecklicher Ereignisse eine seltsam zähflüssige Langsamkeit. Während Hitch die Tür hinter sich versiegelte, kämpften wir uns mit tauben Fingern in selbstregulierende Thermojacken und Kopfbedeckungen.

Mit der Zuverlässigkeit eines Uhrwerks nahmen die Startvorbereitungen für den Tau-Reaktor ihren Lauf; der Prozess war inzwischen immun gegen menschliche Eingriffe. Techniker saßen mit geballten Fäusten an ihren Monitoren und konnten nur hoffen, dass keine verirrte Kugel den Datenstrom unterbrach.

Ich hatte mir die Anschlüsse und Kabel am Reaktor angesehen, letztere waren mit Teflon isoliert und mit Kevlar armiert und so dick wie Feuerwehrschläuche. Entgegen Sues Befürchtungen konnte ich mir nicht vorstellen, dass ihnen herkömmliche, aus großer Entfernung abgefeuerte Gewehrkugeln viel anhaben konnten.

Doch die Milizionäre hatten nicht nur Gewehre dabei.

Die Countdown-Uhr passierte die Fünf-Minuten-Marke, als wir das Rumpeln einer entfernten Detonation hörten. Staub rieselte von den Deckenbolen und die Bunkerbeleuchtung blinzelte und erlosch.

»Volltreffer. Ein Generator«, hörte ich Hitch sagen und jemand heulte: »Scheiße, wir sind geliefert!«

Ich konnte Sue nicht sehen — ich sah überhaupt nichts. Es war stockfinster. Im Bunker waren fast vierzig von uns zusammengepfercht hinter raffinierten Erdbefestigungen.

Unser Reservegenerator hatte offensichtlich versagt. Die Kontrollleuchten der Elektronik waren batteriegepuffert, gaben aber zu wenig Licht ab. Vierzig Menschen in einem dunklen, allseits geschlossenen Raum. Ich stellte mir den Ausgang vor, eine Stahltür, zu der ein paar Betonstufen hinaufführten, vielleicht einen Meter von mir entfernt — ich legte mir die Richtung zurecht.

Und dann — kam der Chronolith.

Er langte tief ins Grundgestein.

Ein Chronolith absorbiert Materie und verdrängt sie nicht; doch der Kälteschock sprengt alle feuchtigkeitsführenden Adern und jagt damit eine Druckwelle durch die Erde… Der Boden schien sich zu heben und zu senken. Diejenigen unter uns, die keinen Halt fanden, fielen zu Boden. Alle schrien, ich glaube nicht, dass einer nicht geschrien hat. Ein schreckliches Geräusch, viel schlimmer als jeder physische Schaden, der entstand.

Die Kälte nahm zu. Das Gefühl wich aus meinen Fingerspitzen.

Es war einer von unseren Ingenieuren, der die Nerven verlor und sich den Weg zur Tür bahnte. Ich denke mal, alles, was er brauchte, war Tageslicht — und zwar so dringend, dass seine Vernunft keine Chance hatte. Ich war ihm so nahe, dass ich ihn im vagen Schimmer der vielen Konsolen erkennen konnte. Er fand die Stufen, stürzte sich auf allen vieren hinauf, packte den Hebel — der Hebel muss entsetzlich kalt gewesen sein — der Mann schrie noch, als er sich mit seinem ganzen Gewicht darauf warf. Der Hebel gab ruckartig nach, und die Tür fegte nach außen.

Kein blauer Himmel, statt seiner kreischende, wallende Vorhänge aus Staub.

Der Ingenieur taumelte hinaus. Wind und Sand und Graupeln schlugen herein. Hatte Sue mit einer so wüsten Ankunft gerechnet? Wahrscheinlich nicht — die Journalisten, die sich östlich von uns postiert hatten, mussten inzwischen am Boden herumkriechen. Und ich bezweifelte, ob es auf dem Felsen noch irgendjemanden gab, dem nach Schießen zumute war.

Der thermische Schock hatte seinen Höhepunkt erreicht, aber unsere Körpertemperatur fiel immer noch. Es ist schon ein komisches Gefühl. Kalt, ja, unbeschreiblich kalt, aber so träge, trügerisch, einlullend. Ich zitterte unter meiner überforderten Schutzkleidung. Das Zittern lud zum Schlafen ein.

»Bleibt im Bunker!«, brüllte Sue von irgendwo tief im Grabensystem hinter mir. »Im Bunker sind wir am sichersten! Scotty, mach die Tür zu!«

Doch nur wenige Ingenieure und Techniker befolgten ihren Rat. Die anderen stürzten an mir vorbei in den kreischenden Wind hinaus, liefen — oder besser — tanzten und stolperten in Zeitlupe auf die geparkten Automobile zu.

Einigen gelang es, einzusteigen und den Motor zu starten. Diese Fahrzeuge waren gegen den Kälteschock getrimmt, doch sie brüllten wie verwundete Tiere, als sich die Kolben durch die Zylinder fraßen. Sturmböen hatten den Zaun entwurzelt und die Zivilfahrzeuge unseres Konvois verschwanden eins ums andere im tobenden Sturm.

Westlich von uns, da wo der Chronolith sein musste, war nichts zu sehen als eine Wand aus Nebel und Staub. Ich stemmte mich die Stufen hinauf und zog die Tür ins Schloss. Am eiskalten Hebel klebte Haut. Sie stammte nicht nur von mir.

Sue fand ein paar batteriegespeiste Lampen und schaltete eine nach der anderen ein. Etwa ein Dutzend von uns waren noch im Bunker.

Kaum dass wir einander sehen konnten, sah ich, wie Sue gegen einen der inaktiven Telemetrieapparate sackte. Ich schwamm im Freistil durch den Raum und hätte sie fast umgerissen. Ihre Haut war entsetzlich kalt (und meine bestimmt auch). Ray stand ganz in der Nähe, hielt aber die Augen geschlossen und schien nur noch periodisch bei Bewusstsein. Hitch hockte an der Tür, wacher denn je.

Sue legte den Kopf an meine Schulter.

»Es hat nicht funktioniert, Scotty«, flüsterte sie.

»Darüber denken wir später nach.«

»Aber es hat nicht funktioniert. Und wenn es nicht funktioniert hat…«

»Psch.«

Der Chronolith war gelandet. Der erste Chronolith auf amerikanischem Boden… und kein kleiner, nach den Nebenwirkungen zu urteilen. Sue hatte Recht. Wir hatten versagt.

»Aber Scotty«, sagte sie konfus, und ihre Stimme klang unendlich müde, »wenn es nicht funktioniert hat… was hab ich dann hier verloren? Was soll ich hier?«

Ich hielt das für eine rhetorische Frage. Doch Sue hatte noch nie eine Frage so ernst gemeint.

Fünfundzwanzig

Ich nehme an, wenn die Geschichte eine gewisse Objektivität zulässt, wird sich auch jemand finden, der die ästhetische Seite der Chronolithen zu würdigen weiß.

So obszön diese Vorstellung erscheinen mag, diese Monumente sind durchaus Objekte der Kunst, ein jedes auf seine Weise, keine zwei, die einander völlig gleichen.

Manche wirken primitiv, wie der Kuin von Chumphon: vergleichsweise klein, arm an Detail, wie in Sand gegossener Schmuck; das Werk eines Anfängers. Andere sind feiner gearbeitet und sorgfältiger konzipiert (aber noch so stereotypisch wie der Sowjetische Realismus). Zum Beispiel der Kuin von Islamabad oder der von Capetown: Kuin als gutmütiger Riese, freundlich männlich.

Doch die unverkennbarsten Chronolithen sind die monströsen Kolosse, die Stadtzerstörer. Der Kuin von Bangkok, breitbeinig über der braunen Flut des Chao Phrya stehend; der Gewandete Kuin von Bombay; der gestrenge und patriarchalische von Jerusalem, der die Weltreligionen zu umarmen scheint, obwohl die Trümmer religiöser Zeugnisse verstreut zu seinen Füßen liegen.

Der Kuin von Wyoming übertraf sie alle. Sue hatte Recht behalten, was die Bedeutsamkeit dieses Monuments betraf. Es war der erste amerikanische Chronolith, ein Symbol des Triumphs im Herzland der westlichen Großmacht, und sollte seine Manifestation in diesem Brachland ein Akt der Ehrerbietung gegenüber den großen amerikanischen Städten sein, blieb die Symbolik, was sie war: unverschämt und unmissverständlich.

Der Griff der Kälte lockerte sich schließlich. Wir erwachten aus unserer Apathie — uns dämmerte, was sich zugetragen hatte und was uns nicht gelungen war.

Typisch Hitch. Sein erster Gedanke war praktischer Natur. »Kommt in die Gänge«, krächzte er. »Nichts wie weg, ehe sich die Banditen an uns erinnern. Und auf keinen Fall den Highway benutzen.«

Sue zögerte, fixierte die batteriegepufferten Konsolen an der Bunkerwand. Die Messinstrumente blinzelten unzusammenhängend, lechzten nach Daten.

»Sie auch, Madam«, sagte Hitch.

»Das könnte wichtig sein«, sagte sie. »Ein paar von diesen Werten kleben förmlich an der Decke.«

»Zum Teufel mit den Werten.« Er torkelte vor uns zur Tür.

Sue schluchzte auf angesichts des Chronolithen, der den Himmel beherrschte.

Ray schloss auf; ich folgte Hitch. Einer von den wenigen Ingenieuren, die nicht auf und davon waren, ein grauhaariger Mann namens MacGruder, trat ins Freie und fiel in einem Akt schierer, wenn auch unfreiwilliger Verehrung auf die Knie.

Der Kuin war… nun, es lässt sich kaum mit Worten beschreiben.

Riesig war er — und schön. Er überragte die nächste Landmarke, den Steilfelsen, auf dem sich die Milizionäre eingenistet hatten. Der Tau-Reaktor samt Unterbau war natürlich von der Bildfläche verschwunden. Die Eislasur des Chronolithen wurde bereits dünner — die hiesige Luftfeuchtigkeit war normalerweise niedrig — und die Details des Monuments traten offen zutage, abgesehen von den dünnen Nebelschwaden, die sich da und dort von der Oberfläche lösten. Er stand da, bekränzt mit seiner eigenen Wolke, majestätisch, überwältigend und hoch wie ein Berg. Aus unserem Blickwinkel war sein Gesicht angeschnitten, suggerierte aber selbstgefällige Zufriedenheit und ungetrübten Optimismus.

Eiskristalle schmolzen und kamen rings um uns her als feiner, kalter Nebel herunter. Der Wind wechselte sprunghaft die Richtung, mal war er warm, mal kalt.

Das Hauptkontingent der Kuinisten war in den Süden des Geländes gesickert. Der Kälteschock musste viele von ihnen außer Gefecht gesetzt haben, aber der Hauptzaun dort verlief gut zwei Meilen abseits vom Chronolithen, und nach dem neuerlich aufgeflammten Gewehrfeuer zu urteilen waren sie durchaus in der Lage, unsere Soldaten dort zu binden. Die Soldaten, die uns näher waren, hatten in ihrer Thermomontur überlebt, schienen aber desorientiert und verunsichert — ihr Sprechfunk funktionierte nicht mehr, und sie sammelten sich am Osttor, beziehungsweise was davon noch übrig war.

Keine Spur von den Milizionären, die sich den Tau-Reaktor vorgenommen hatten.

Ray riet den unbeholfen aus dem Bunker kletternden Ingenieuren und Technikern, sich den Soldaten anzuschließen. Die Journalisten im Schutz des Bunkers hatten sich wohl anders entschieden. Sie preschten in ihren kugelsicheren Vans über den gestürzten Zaun, hatten dieses atemberaubende Bild im Kasten und waren bestimmt schon auf Sendung damit: der gigantische neue Kuin von Wyoming. Der unübersehbare Beweis für unser schmähliches Versagen.

Ray sagte: »Komm, wir bringen Sue in den Wagen.«

Sue hatte aufgehört zu heulen, starrte aber wie gebannt auf den Chronolithen. Ray stützte sie. Sie flüsterte: »Da stimmt doch was nicht…«

»Da stimmt eine ganze Menge nicht. Komm jetzt. Wir müssen weg hier.«

Sie schüttelte Rays Hand ab. »Nein, den Chronolithen meine ich. Die Werte kleben an der Decke. Ich brauche einen Sextanten. Und eine Karte. Im Wagen ist eine topografische Karte, aber — Hitchl«

Hitch kam zurück.

»Ich brauche einen Sextanten! Fragen Sie einen Ingenieur!«

»Was brauchen Sie?«, fragte Hitch.

»Einen Sextantenl«

Hitch forderte Ray auf, den Wagen zu starten, holte einen Digitalsextanten samt Stativ aus dem Vermessungswagen und eilte damit zurück. Ungeachtet der Windböen brachte Sue das Gerät in Stellung. Sie kritzelte Zahlen in ihr Notizbuch. Ray sagte ruhig, aber bestimmt: »Ich glaube nicht, dass das noch wichtig ist.«

»Was?«

»Messungen vorzunehmen.«

»Ich mache das nicht zum Spaß«, sagte sie hitzig, doch beim Zusammenklappen des Stativs erlitt sie einen Schwächeanfall — Ray konnte sie auffangen und wir trugen sie zum Wagen.

Ich pflückte ihr Notizbuch aus dem eisigen Morast.

Hitch fuhr, derweil Ray und ich ihr ein Kissen unter den Kopf schoben und sie zudeckten. Die Soldaten wollten uns aufhalten. Eine Wache mit Gewehr und nervöser Miene bückte sich ans Fenster und funkelte Hitch an: »Sir, ich kann nicht für Ihre Sicherheit garantieren…«

»Okay«, sagte Hitch, »verstehe«, und gab Gas.

Lebenswichtig für uns — vor allem aber für Sue — war es, ein gutes Stück Entfernung zwischen uns und diesen Ort zu bringen. Auf unbefestigten Straßen brauste Hitch über Land; solche Straßen endeten meist an einer verfallenen Ranch oder einer längst ausgetrockneten Viehtränke. Keine vielversprechende Route. Doch Hitch hatte ein Faible für solche Routen.


Kälteresistenz hin oder her, der Motor hatte den thermischen Schock nicht schadlos überstanden. Er schüttelte und rüttelte schon eine Zeit lang, als bei Einbruch der Dunkelheit ein Blocksteinschuppen mit einem primitiven Blechdach in Sicht kam. Hier machten wir Halt, nicht weil der Schuppen auch nur im Entferntesten einladend wirkte — ungezählte Male hatte es durch die leeren Fenster geregnet, Generationen von Feldmäusen hatten hier genistet —, aber er machte uns aus der Ferne unverdächtig und schützte den Wagen vor fremden Blicken. Und wir hatten auch schon ein paar Meilen zurückgelegt.

Hinter der jetzt fernen, aber immer noch dominierenden Gestalt des Kuin von Wyoming ging die Sonne unter, der Wind frischte auf und kämmte durchs wilde Gras. Da es nichts mehr zu tun gab, kauerten wir im Wagen und versuchten zu schlafen. Der Erfolg blieb nicht aus. Wir waren alle erschöpft. Auch Sue, die sich rasch von ihrem Schwächeanfall erholt hatte und unterwegs ziemlich munter gewesen war.

Sie schlief die Nacht durch und war beim ersten Tagesschimmer auf den Beinen.


Nächster Morgen. Hitch öffnete den Motorraum und ließ das eingebaute Diagnoseprogramm laufen. Ray Mosely blinzelte bei dem Krach, zog die Knie an und schlief weiter.

Ich wachte hungrig auf, blieb hungrig (wir hatten nur Notrationen dabei) und ging an der verwitterten, schorfigen Wand des Schuppens vorbei zu der Stelle im Grasland, wo Sue erneut den Sextanten in Stellung gebracht hatte.

Das Vermessungsgerät zielte auf den fernen Chronolithen. Ausgebreitet zu ihren Füßen lag eine topografische Karte, die vier Ecken mit Steinen beschwert. Ein frischer Wind zauste ihr Kraushaar. Ihre Kleidung war verdreckt, und die gewaltige Brille verschmiert; aber sie brachte sage und schreibe ein Lächeln zustande, als sie mich bemerkte.

»Morgen, Scotty«, sagte sie.

Der Chronolith war eine Eissäule vor dem dunstblauen Horizont. Er fiel auf, wie es unpassende oder unerhörte Dinge nun mal an sich haben. Der Kuin von Wyoming stand auf seinem Sockel und blickte gen Osten, ziemlich genau in unsere Richtung.

Als hätte er uns auf dem Kieker, ging es mir durch den Kopf.

Ich bemühte mich, nicht ironisch zu klingen: »Gibt es Neuigkeiten?«

»Ja, eine Menge.« Sie sah mich an. Ihr Lächeln war so sonderbar — glücklich und traurig zugleich. Ihre Augen waren groß und nass. »Zu viele. Viel zu viele.«

»Sue…«

»Nein, sag jetzt nichts Vernünftiges. Darf ich dich was fragen?«

Ich zuckte die Achseln.

»Wenn du eine Reise in die Zukunft machen würdest — was würdest du mitnehmen, Scotty?«

»Was ich mitnehmen würde? Keine Ahnung. Was würdest du denn mitnehmen.«

»Ich würde… ein Geheimnis mitnehmen. Kannst du etwas für dich behalten?«

Ich fand die Frage alarmierend. Das hatte meine Mutter immer gefragt, wenn sie in den Wahnsinn abdriftete. Sie stand wie ein böser Schatten über mir und sagte: »Kannst du etwas für dich behalten, Scotty?«

Das Geheimnis bestand unweigerlich in irgendeiner paranoiden Behauptung: dass Katzen ihre Gedanken lesen könnten; dass Vater ein Betrüger sei; dass die Regierung sie vergiften wolle.

»Nun guck nicht so«, sagte Sue. »Ja oder nein.«

»Wenn du mir dein Geheimnis verrätst, ist es keins mehr.«

»Kann schon sein. Aber ich muss es jemandem erzählen. Ray kommt nicht in Frage, weil Ray in mich verliebt ist. Und Hitch kommt nicht in Frage, weil Hitch nicht mal ›Liebe‹ buchstabieren kann.«

»Das klingt rätselhaft.«

»Ja. Kann ich nichts dafür.« Sie warf einen Blick auf die ferne blaue Säule. »Viel Zeit bleibt uns wohl nicht mehr.«

»Zeit wozu?«

»Ich meine, er wird nicht standhalten. Der Chronolith. Er ist instabil. Er ist einfach zu schwer. Sieh ihn dir an, Scotty. Siehst du nicht, wie er zittert?«

»Das ist die Hitze, die aus der Prärie kommt. Eine optische Täuschung.«

»Auch, aber nicht nur. Ich habe gerechnet und gerechnet. Die roten Werte drüben im Bunker. Und die hier.« Ihr Notizbuch. »Ich habe Höhe und Radius vermessen, grob zumindest. Und egal, wie vorsichtig ich bei den Schätzungen bin, der Grenzwert wird überschritten.«

»Der Grenzwert?«

»Weißt du noch? Wenn ein Chronolith zu massiv ist, ist er nicht stabil — hätte ich die Arbeit veröffentlichen dürfen, wäre die Rede vom Chopra-Wert.« Ihr sonderbares Lächeln verlor sich, und sie blickte beiseite. »Vielleicht bin ich zu eitel für diese Aufgabe. Ich darf das nicht zulassen. Ich muss zu Kreuze kriechen, Scotty. Denn man wird mich, weiß Gott, kreuzigen.«

»Soll das heißen, der Chronolith zerstört sich selbst?«

»Ja. Heute noch.«

»Das ist dann aber kein Geheimnis mehr.«

»Die Zerstörung nicht, aber die Ursache, Scotty. Die Ursachel Der Chopra-Wert ist meine Arbeit. Nur ich weiß Bescheid. Und ich bezweifle, dass außer mir noch jemand den Sextanten benutzt. Für exakte Messungen ist es schon zu spät.«

Das machte mich nervös. »Sue, selbst wenn das alles stimmt, die Leute wissen doch…«

»Was wissen die Leute? Alles, was die Leute wissen, ist, dass der Chronolith zerstört wurde und dass wir hier waren, um ihn zu zerstören. Es liegt doch auf der Hand. Unsere Mission war — mit ein bisschen Verspätung — erfolgreich. Und die Wahrheit bleibt unser Geheimnis.«

»Aber warum denn?«

»Weil ich es nicht ausplaudern darf, Scotty, und du auch nicht. Wir müssen dieses Geheimnis mindestens zwanzig Jahre und drei Monate für uns behalten oder es funktioniert nicht.«

»Verdammt, Sue — oder es funktioniert was nicht?«

Sie blinzelte. »Armer, Scotty. Du bist ganz durcheinander. Hör zu!«


Nicht, dass ich alles verstanden hätte, aber so viel schon: Wir hatten nicht verloren.

Die Kameras waren nach wie vor auf den Kuin von Wyoming gerichtet und würden binnen Stunden, wenn nicht Minuten Zeuge seines spektakulären Einsturzes werden. Dieses rund um die Welt gesendete Bild würde, so Sue, die besagte Rückkopplung unterbrechen und Kuins Aura der Unbezwingbarkeit zerschlagen. Siegen oder verlieren, Ausgang offen. Kuin war wieder auf den Status eines Gegners reduziert.

Und der Welt blieb nur eins: zu glauben, dass uns gelungen war, was wir vorgehabt hatten. Der Chopra-Wert hingegen musste unser Geheimnis bleiben…

Denn, so Sue, es sei kein Zufall, dass dieser Chronolith die physikalische Grenze der Stabilität überschritten hatte.

Dabei handle es sich, erklärte sie, ganz offensichtlich um einen Sabotageakt.

Moment mal: hausgemachte Sabotage eines Chronolithen? Wer würde so etwas tun? Ein Insider natürlich. Jemand, der nicht nur in die Physik der Chronolithen eingeweiht, sondern mit ihren feinsten Nuancen vertraut war. Jemand, der sich mit den physikalischen Grenzen auskannte und wusste, wie man sie manipulieren konnte.

»Der Pfeil«, sagte Sue beinah verlegen, erschüttert von der Verwegenheit ihrer Worte und kein bisschen erschrocken: »Dieser Pfeil zeigt auf mich


Das war nichts anderes als Wahnsinn.

Das war Megalomanie, Selbstverherrlichung und Selbstverleugnung zugleich. Sue hatte sich zum Rang eines Shiva erhöht. Schöpferin, Zerstörerin.

Doch ein Teil von mir wollte, dass sie Recht hatte.

Ich glaube, ich wollte, dass dieses endlose und zerrüttende Drama der Chronolithen ein Ende fand — nicht nur meinetwegen, nein, auch wegen Ashlee und Kaitlin.

Und ich wollte Sue vertrauen. Nach einem Leben voller Zweifel musste ich ihr einfach vertrauen.

Ich staune ja selbst, aber ich wollte ihren Wahnsinn geläutert, verherrlicht wissen.


Hitch werkelte immer noch am Motor herum, als die zwölf Motorräder in einer grauen Staubwolke die Zufahrtsstraße heraufkamen. Sie kamen aus der Richtung des Chronolithen.

Sue und ich hasteten sofort in den Schuppen zurück. Inzwischen war Hitch von Ray gewarnt worden.

Hitch war schon unter dem Motorblock heraus und lud unsere vier Schusswaffen.

So dankbar ich die Waffe entgegennahm, so unangenehm fühlte sie sich an — kalt und entfernt fettig. Ich hatte mehr Angst vor der Pistole als vor den sich nähernden Fremden, bei denen es sich wahrscheinlich (aber nicht unbedingt) um Kuinisten handelte. Eine Waffe soll das Selbstvertrauen stärken, doch in meinem Fall betonte sie lediglich, wie verwundbar, wie hoffnungslos ausgeliefert wir waren.

Ray Mosely steckte sein Schießeisen in den Gürtel und fing an, wie wild auf seinem Handy herumzutasten. Dabei hatten wir seit Tagen keine Verbindung mehr bekommen und daran änderte sich auch jetzt nichts. Der Versuch kam mir wie ein Reflex vor. Ray konnte einem Leid tun.

Hitch hielt Sue die Waffe hin, doch sie legte die Hände an die Oberschenkel. »Nein, danke«, sagte sie.

»Machen Sie keine Dummheiten.«

Das Grummeln der Motoren wurde lauter, ein Geräusch wie von Heuschrecken, wenn sie in Schwärmen kommen.

»Behalten Sie die Waffe«, sagte sie. »Ich wüsste nichts damit anzufangen. Ich würde bestimmt den Falschen erschießen.«

Bei diesen Worten trafen sich unsere Blicke, und ich fühlte mich unerklärlicherweise an die junge Frau in Jerusalem erinnert, die sich kurz vor ihrem Tod bei Sue bedankt hatte. Ihre Augen, ihre Stimme hatten die gleiche rätselhafte Eindringlichkeit vermittelt.

»Wir haben keine Zeit zum Diskutieren.«

Hitch hatte das Heft in der Hand. Er war hellwach und konzentriert, runzelte die Stirn wie ein Schachspieler, der sich auf einen respektablen Gegner einstellt.

Der Blocksteinschuppen hatte eine Tür und drei schmale Fenster, war gut zu verteidigen, aber auch eine Mausefalle, falls wir unterlagen. Doch der Van wäre keinen Deut sicherer gewesen.

»Vielleicht ahnen sie noch nichts von uns«, gab Ray zu bedenken. »Vielleicht donnern sie ja vorbei.«

»Vielleicht«, sagte Hitch, »aber darauf ist kein Verlass.«

Ray legte die Hand auf den Pistolenknauf. Er blickte zur Tür, zu Hitch, zur Tür… als versuche er eine komplizierte mathematische Aufgabe zu lösen.

»Scotty«, sagte Sue. »Ich verlass mich auf dich.«

Hätte ich wissen müssen, wie sie das meinte?

»Sie fahren langsamer«, sagte Hitch.

»Vielleicht sind es keine Kuinisten«, sagte Ray.

»Vielleicht Nonnen, die einen Ausflug machen. Aber wie gesagt.«


Ihr Nachteil war, dass sie keine Deckung hatten.

Das Land war flach, überall Salbei. Die Biker mussten sich ihrer Verwundbarkeit bewusst sein, denn sie machten im Leerlauf Halt — ein gutes Stück noch vom Schuppen entfernt, in Schussweite zwar, aber nur für Scharfschützen mit Zielfernrohr.

Während ich durch den Spalt lugte, den man als Westfenster bezeichnen durfte, stieß mir die Ungereimtheit all dessen auf. Der Tag war schön und kühl, der Himmel kristallklar. Und selbst der (vielleicht instabile) Chronolith am Horizont wirkte solide, in sich ruhend. Das unbefangene Konzert der Sperlinge und Grillen hing in der Luft und dennoch gab es da ein Dutzend bewaffneter Biker, die breitbeinig die Straße blockierten — und weit und breit keine Hilfe.

Einer der Biker nahm den Helm ab, schüttelte die schmutzig blonde Mähne aus und kam fast gemächlich die unbefestigte Straße herauf.

Und:

»Hol mich der Teufel«, sagte Hitch, »wenn das nicht Adam Mills ist.«

Wir seien tief in der Tau-Turbulenz, hätte Sue wohl gesagt; da, wo der Zeitpfeil kreiselt und kreiselt; da, wo es keinen Zufall gibt.


»Wir wollen nur die Lady«, rief Adam Mills aus kurzer Entfernung.

Die Stimme klang scharf und hoch. War in gewisser Weise eine Parodie auf Ashlees Stimme. Allerdings ohne Wärme und Einfühlungsvermögen.

(»Wir haben schon merkwürdige Zeiten hinter uns«, hatte Ash einmal gesagt. »Deine verrückte Mutter. Mein verrückter Sohn.«)

»Welche Lady soll das sein?«, rief Hitch zurück.

»Sulamith Chopra.«

»Ich bin der Einzige hier.«

»Ja, ich glaube, ich kenne die Stimme. Mr. Paley, nicht wahr? Jaja, ich erinnere mich. Haben Sie nicht zuletzt geschrien?«

Hitch verkniff sich die Erwiderung, aber ich sah ihn die linke, verstümmelte Hand zur Faust ballen.

»Schicken Sie sie raus und Sie sind uns los. Hören Sie mich, Ms. Chopra? Sie haben nichts zu befürchten.«

»Erschießen sie ihn«, zischelte Ray. »Erschießen Sie den Scheißkerl.«

»Ray, wenn ich ihn erschieße, dann jagen die uns eine Rakete ins Fenster. Das tun sie vielleicht sowieso.«

»Lasst mal gut sein«, sagte Sue unerwartet und besonnen. »Alles nicht nötig. Ich gehe.«

Was Hitch und Ray schockierte, mich dagegen weniger, denn ich begann zu ahnen, was sie im Sinn hatte.

»Ich höre wohl nicht richtig«, schnaubte Hitch. »Sie haben ja keine Ahnung — das sind Söldner. Schlimmer noch, die haben eine Pipeline direkt nach Asien. Die würden keine Sekunde zögern, Sie meistbietend an irgendeinen Möchtegernkuin zu verkaufen. In deren Augen sind Sie Ware

»Ich weiß, Hitch.«

»Teure Ware, und das aus gutem Grund. Wollen Sie wirklich ihr ganzes Wissen einem chinesischen Warlord zur Verfügung stellen? Eigenhändig erschießen würde ich Sie, wenn ich wüsste, dass Sie das vorhaben.«

Sue wirkte so ruhig wie ein Märtyrer auf einem mittelalterlichen Gemälde. »Aber genau das habe ich vor.«

Hitch sah beiseite. Sein Kopf hob sich deutlich vom hellen schmalen Rechteck des Fensters ab. Wenn Adam Mills gewollt hätte, er hätte ihn mit einem gut gezielten Kopfschuss töten können.

Ray war entsetzt. »Sue, nein«, und dann wurde alles für einen zerbrechlichen Augenblick zum Standbild: Hitch mit offenem Mund, Ray außer sich. Sue warf mir einen raschen und vielsagenden Blick zu.

Unser Geheimnis, Scotty. Hüte es wie deinen Augapfel.

Hitch sagte: »Ist das Ihr Ernst?«

»Das ist mein Ernst.«

Er nahm die Mündung seiner Waffe aus dem Fenster.


Der Schuppen, in dem wir festsaßen, stammte vermutlich aus einem der zyklischen Ölbooms in Wyoming; vielleicht hatte er Bohr- und anderes Gerät vor Regen schützen sollen — obwohl es hier nicht viel zu regnen schien. Auf dem Betonboden lag alles herum, was der Wind in fünfzig oder fünfundsiebzig Jahren durch die Öffnungen geweht hatte: Staub, Sand und die verdorrten Reste von Pflanzen, Schlangen und Vögeln.

Hitch stand an der Westwand, wo die Blocksteine fleckig und erodiert waren. Sue und Ray standen in der Nordwestecke, und ich stand Hitch gegenüber an der Ostwand.

Trotz des strahlend hellen Morgens war es düster hier drinnen; und auch ein bisschen kühler als draußen in der trockenen Prärieluft; was sich ändern würde, sobald die Sonne hoch genug stand, um das Blechdach aufzuheizen. Durchzug trug Staub und den Geruch von Schimmel und Moder in die Nase.

Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Die morschen Deckenbalken und das schräg durchs leere Fenster fallende Licht und der vertrocknete Salbeistrauch draußen vor der Türöffnung und der glänzende Schweißfilm auf Hitch Paleys Stirn, als er — nur zögernd zwar — mit der Pistole auf Sue zielte.

Sue war blass. Ihre Halsvene pulsierte, aber sie blieb ruhig.

»Nimm die Kanone runter«, sagte Ray.

Ray sah mit seinem struppigen Bart und den Schweißrändern im T-Shirt wie ein Akademiker mittleren Alters aus, der gleich Amok laufen würde. In seinen Augen lag ein irrer Glanz. Doch ich fand es bewundernswert, wie wild entschlossen er seinen Widerstand bekundete, eine grimmige, wenn auch zerbrechliche Courage.

»Ich meine es ernst«, sagte Hitch. »Sie setzt keinen Fuß nach draußen.«

»Ich muss«, sagte Sue. »Tut mir Leid, Ray, aber…«

Sie hatte einen einzigen Schritt getan, als Ray sie in die Ecke zurückstieß und mit seinem Körper einsperrte. »Keiner geht hier irgendwohin!«

»Willst du sie bis zum jüngsten Tag da festhalten?«, fragte Hitch.

»Nimm die Kanone runter!«

»Ich kann nicht, Ray, du weißt, dass ich es nicht kann.«

Und jetzt hob Ray seine Waffe. »Hör auf, sie zu bedrohen, oder ich…«

Aber das ging Hitch Paley über die Hutschnur.

Zu seiner Verteidigung will ich anführen, dass er Adam Mills kannte. Er wusste, was uns da draußen unter der unbarmherzigen Sonne erwartete. Er dachte nicht daran, Sue auszuliefern, und ich glaube, er wäre lieber gestorben, als sich zu ergeben.

Er traf Ray in die rechte Schulter — aus dieser Nähe ein tödlicher Schuss.

Mir ist, als hätte ich die Kugel durch Ray hindurchgehen hören; als sie den Stein traf, klang es wie ein Hammerschlag auf Granit. Ein ohrenbetäubendes Geräusch. Vielleicht war es auch nur der Widerhall des Schusses. Ringsherum stieg Staub auf. Ich war wie gelähmt, fassungslos.

Draußen stotterten Schüsse, eine Kugel prallte singend von den Blocksteinen am Westfenster ab. Sue, die plötzlich mit Rays Körpergewicht zu kämpfen hatte, schob ihn keuchend beiseite. »O Ray«, flüsterte sie. »Es tut mir Leid. Es tut mir so Leid!«

Sie hatte Tränen in den Augen. Die zerrissene gelbe Bluse war blutig, die Wand dahinter war es auch.

Ray atmete nicht. Die Wunde oder der Schock hatten sein Herz angehalten. Auf seinen Lippen bildete sich eine blutrote Blase und blieb dort stehen.

Er war hoffnungslos in sie verliebt gewesen, hoffnungslos und selbstlos, viele Jahre hindurch. Doch als sie ihren Fuß einmal über seine bewegungslosen Beine hinweggesetzt hatte, blickte sie nicht mehr zurück.

Sie ging auf die Tür zu — schwankte, blieb aber auf den Füßen.

Es stank nach Blut und Schießpulver. Draußen schrie Adam Mills etwas, doch das Klingen in meinen Ohren ertränkte die Worte.

Der Kuin von Wyoming besah sich das alles aus der Ferne. Ich konnte ihn im Fenster hinter Hitch sehen, blau in blau stand er da, schläfrig in der wachsenden Hitze.

»Stopp«, blaffte Hitch.

Sie schauderte beim Klang seiner Stimme, tat aber noch einen Schritt.

»Ich warne Sie nicht noch einmal. Sie wissen, dass ich schieße.«

Und ich hörte mich sagen: »Nein, Hitch, lass sie gehen.«


Unser Geheimnis, hatte Sue gesagt.

Und: Es ist keins mehr, wenn du es mir verrätst. Warum nur hatte sie mich eingeweiht? Jetzt glaubte ich es zu wissen. Die Erkenntnis war bitter und schrecklich.


Sue machte noch einen Schritt auf die Tür zu.

Draußen im Sonnenschein schoss eine Schwalbe aus dem trockenen Gras hoch und schnitt durch die Luft wie eine Klaviernote.

»Halt dich da raus«, riet mir Hitch.

Doch ich war mit Handfeuerwaffen vertrauter, als ich es noch in Portillo gewesen war.

Als Hitch in die Mündung meiner Pistole blickte, sagte er: »Du bist doch total durchgeknallt.«

»Sie muss da rausgehen.«

Hitch zielte weiterhin auf Sue. Sue nickte und näherte sich der Tür, als brauche jeder Schritt ein immer größeres Quantum an Kraft und Mut. »Danke, Scotty«, flüsterte sie.

»Ich schieße«, sagte Hitch, »wenn Sie nicht auf der Stelle stehen bleiben.«

»Nein«, sagte ich, »wirst du nicht.«

Er knurrte — genau wie ein in die Enge getriebenes Tier. »Scotty, du feiges Miststück, ich erschieße dich genauso, wenn es sein muss. Nimm deine Waffe runter! Und Sie, Miss Chopra, stehen bleiben, habe ich gesagt, auf der Stellel«

Sie krümmte die Schultern, wie um sich kleiner zu machen, war bereits im Türrahmen. Sie tat noch einen Schritt.

Einen Moment lang schwankte die Mündung von Hitchs Waffe zwischen Sue und mir. Dann mit einem Mal zielte er fest entschlossen auf ihren Rücken, die Halswirbelsäule, ihren großen, vorgebeugten Kopf.

Er begann — und ich weiß, wie absurd die Behauptung klingt, es wirklich gesehen zu haben, doch in der überspannten Stille dieses Augenblicks, im Schatten dieses strahlenden, arglosen Nachmittags, wir alle im labilen Gleichgewicht über dem Drehpunkt der Zeit: Ich schwöre, ich sah, wie er seinen fleischigen, dunklen Finger um den Abzug zu krümmen begann.

Doch ich war schneller.

Der Rückstoß warf mir die Hand zurück.


Habe ich Hitch Paley getötet?

Ich bin kein unbefangener Zeuge. Ich sage zu meiner eigenen Entlastung aus. Doch ich will jetzt, am Ende meines Lebens, alles sagen, was ich weiß. Ich muss nun nichts mehr für mich behalten.

Die Pistole schlug zurück. Die Kugel war also unterwegs, doch dann…

Doch dann schien plötzlich alles unterwegs zu sein.

Blockstein, Mörtel, Holz, Blech, der Staub von Generationen. Ich, ein Projektil. Hitch und der Körper von Ray Mosely. Ray, der Sue viel zu sehr geliebt hatte, als dass er sie hätte tun lassen, was sie tun musste; und Hitch, der nicht wusste, wie man »Liebe« buchstabierte.

Habe ich (wie mich viele gefragt haben) die Zerstörung des Kuin von Wyoming gesehen? War ich Zeuge seines feurigen Zusammenbruchs? Habe ich das Gleißen gesehen und habe ich die Hitze gespürt?

Nein. Aber als ich die Augen wieder aufmachte, regnete es Stücke des Chronolithen — wo ich auch hinsah. Stücke so groß wie Kieselsteine, Schmelze aus der Gluthitze des Fiaskos, rehabilitierte Materie, die zu glasigen blauen Tränen erstarrt war.

Sechsundzwanzig

Der Zusammenbruch des Chronolithen setzte eine Unmenge an Energie frei, eine ringförmige Druckwelle fegte in alle Himmelsrichtungen — mehr Wind als Wärme, aber sehr viel Wärme; mehr Wärme als Licht, aber Licht so hell, dass es blind machte.

Der Blocksteinschuppen büßte sein Dach ein und die Nord- und die Westwand. Ich wurde ins Freie geschleudert und fand mich, als ich aufwachte, ein paar Meter von den Ruinen entfernt.

Ich muss wohl eine Zeit lang nicht ganz beieinander oder noch nicht voll bei Bewusstsein gewesen sein. Mein erster Gedanke galt Sue, doch Sue war nirgends zu sehen. Nirgends zu sehen war auch Adam Mills, nirgends auch seine Leute und die Motorräder — obwohl ich (später) im Gestrüpp eine verwaiste Daimler fand, die sich überschlagen hatte, mit aufgerissenem Tank. Nicht weit davon einen Helm und eine zerfetzte Ausgabe des Fifth Horseman.

Ob ich glaube, dass Sue sich im Chaos nach der Explosion den Kuinisten gestellt hat? Ja, das glaube ich. Die Druckwelle hatte wohl kaum jemanden umgebracht, der sich im Freien aufhielt. Für meine Gehirnerschütterung und die verrenkte Schulter war in erster Linie der Steinschuppen verantwortlich und nicht die Druckwelle. Und Sue hatte in der Türöffnung gestanden, die auch jetzt noch intakt war.

Ich fand Hitch und Ray; sie waren zwar nicht völlig von den Trümmern begraben worden, aber es war kein Funken Leben mehr in ihnen.

Ich mühte mich stundenlang, die beiden mit dem unversehrten Arm freizulegen, bevor ich einsah, dass ich es nicht schaffen konnte. Ich gab auf. Dann barg ich aus dem Van, der mit dem Fahrwerk nach oben lag, ein paar Notrationen. Ich würgte an dem Trockenzeug, brachte aber wenigstens ein paar Bissen hinunter.

Als ich mein Handy ausprobierte, gab es nur ein Prasseln von sich und ein »no Signal« zog über das Display, die Buchstaben verzerrt, als spüle die Flut darüber.

Die Sonne ging unter. Der Himmel wurde indigoblau, dann dunkel. Am westlichen Horizont, da wo der Chronolith gestanden hatte, loderten Buschfeuer.

Ich machte kehrt und ging in die andere Richtung.

Siebenundzwanzig

Neulich habe ich zwei weltbekannte Orte besucht: den Wyoming-Krater und die Schiffswerften von Boca Raton in Florida. Der eine ein See, belastet mit Erinnerung; der andere das Tor zu den Sternen.

Und…

Nein. Erst das noch.


Bevor ich es nach Minneapolis schaffte, hatte man Ashlee wieder aus dem Krankenhaus entlassen.

Ich selbst war auch im Krankenhaus gewesen, oder besser in der Notaufnahme einer kleinen Klinik in Pine Ridge.

Ich war drei Tage mit einer Kopfverletzung durchs Hinterland von Wyoming gepilgert: Sonne und Hunger hatten mich so zugerichtet, dass ich die drei Stufen nicht mehr hinaufkam. Den linken Arm trug ich in einer Schlinge.

Ashlee hatte es, weiß Gott, schlimmer erwischt.

Ashlee hatte mich natürlich gewarnt, aber auf das, was ich zu sehen bekam, als ich die Wohnung aufschloss und sie mich ans Bett rief, darauf war ich nicht gefasst gewesen.

Die Verbrennungen und Blutergüsse am Körper wurden vom schneeweißen Bettzeug bedeckt. Aber beim Anblick ihres Gesichts fuhr ich zusammen.

Ich werde jetzt nicht ins Detail gehen. Ich sagte mir, dass alles heilen würde, dass sich das Blut in den Prellungen verziehen und die geplatzte Haut rings um die Nähte verheilen und Ash schon bald wieder die Augen ganz aufbekommen würde.

Sie sah mich aus purpurroten Schlitzen an. »So schlimm?«, sagte sie.

Es fehlten ihr einige Zähne.

»Ashlee«, sagte ich, »es tut mir ja so Leid.«

Sie küsste mich trotz ihres Zustands und ich hielt sie trotz meines Arms.

Jetzt begann Ash sich zu entschuldigen. Sie hatte Angst gehabt, ich würde ihr nicht verzeihen, dass sie schließlich zu Kreuze gekrochen war und Adam Mills verraten hatte, wo ich zu finden war. Gott ist mein Zeuge, dass ich Abbitte leisten wollte, weil ich sie in diese Lage gebracht hatte.

Doch ich legte meine Finger unendlich behutsam auf ihre geschwollenen Lippen.

Warum das Scheußliche noch mit Selbstbezichtigungen überhöhen?

Wir hatten es überstanden. Wir waren zusammen. Das war genug.


Was ich nicht gewusst hatte, aber schließlich von Ashiee erfuhr: Morris Torrance hatte seinen Posten unten auf der Straße nicht verlassen.

Adam Mills hatte ihn als Leibwächter identifiziert und seine Leute über einen Hintereingang ins Haus gebracht. Kurz bevor Adam bei Ashiee aufgetaucht war, hatte Morris sie angerufen, um sicherzugehen, dass sie in ihrer Wohnung war. Seitdem hatte er nichts Verdächtiges bemerkt. Nach Mitternacht hatte er sich abgesetzt und war zum Marriott zurückgefahren, um ein paar Stunden zu schlafen. Er trug einen elektronischen Signalgeber für den Fall, dass Ashiee in der Zwischenzeit Hilfe benötigte. Es hatte keinen Alarm gegeben. Am Morgen hatte er Ash wieder angerufen, hatte aber keine Antwort bekommen. Er war sofort zu ihrer Wohnung gefahren, nicht lange nachdem Kaitlin dort angekommen war, und hatte noch einmal vergeblich bei Ashiee angerufen. Zutiefst beunruhigt hatte Morris bei ihr geklingelt.

Sie hatte verspätet reagiert und sich in der Sprechanlage sehr undeutlich angehört. Morris gab vor, er sei von der Zustellung, habe ein Paket für sie und brauche ihre Unterschrift.

Ash, die seine Stimme erkannt haben musste, erklärte, sie könne jetzt nicht aufmachen. Ob er nicht noch einmal wiederkommen könne.

Er erwiderte, er könne zwar wiederkommen, aber das Paket trage einen Aufkleber mit »verderblich«.

Das sei egal, hatte Ashiee gesagt.

Dann hatte Morris den Kamerabereich verlassen, die Polizei angerufen und Gefahr im Verzug gemeldet. Er hatte sich mit dem Hausschlüssel, den ich ihm gegeben hatte, Zutritt verschafft, sich beim Hausverwalter als FBI-Beamter ausgegeben und von diesem einen Zweitschlüssel für Ashlees Apartment verlangt.

Er wusste, wie lange es dauern konnte, bis die Polizei vor Ort war, und entschloss sich, nicht zu warten. Er fuhr mit dem Aufzug in unsere Etage, rief noch einmal bei Ash an, um mit dem Läuten des Telefons das Drehen des Schlüssels im Schloss zu kaschieren, und betrat unser Apartment mit gezogener Waffe. Er war, wie er mir so oft erklärt hatte, ein pensionierter FBI-Beamter ohne Fronterfahrung. Aber er war geschult und er hatte nichts verlernt.

Kaitlin saß zu diesem Zeitpunkt eingesperrt im Schlafzimmerschrank und Ashlee lag ausgestreckt auf dem Sofa, wo man sie nach den Misshandlungen hatte liegenlassen.

Ohne zu zögern erschoss Morris den Mann, der über Ash stand, dann richtete er die Waffe auf den zweiten Kuinisten, der eben aus der Küche kam.

Dieser hatte bei dem Schuss auf seinen Komplizen die Bierflasche fallen lassen und seine Waffe gezogen. Er streckte Morris mit einem einzigen Schuss nieder, doch Morris konnte, schon am Boden, noch zurückschießen. Der Wohnzimmertisch bot ihm ein wenig Deckung. Er schoss zweimal und traf den Gegner in Kopf und Hals.

Morris war am Bein verletzt — das Projektil hatte eine Schneise in den Oberschenkel gepflügt, ähnlich wie die Kugel, die Sue Chopra in Jerusalem getroffen hatte —, konnte aber, bevor er die Besinnung verlor, Ashlee noch beruhigen und Kaitlin aus dem Schrank befreien.

Kait — geschlagen und vergewaltigt, aber immer noch beherzt — legte Morris noch vor Eintreffen der Polizei einen provisorischen Druckverband an. Ashlee raffte sich vom Sofa auf und torkelte ins Bad.

Sie tränkte ein Tuch mit Wasser und versuchte erst Morris, dann Kaitlin und zuletzt sich selbst das Blut aus dem Gesicht zu tupfen.


»Das war leichtsinnig«, sagte Morris, als ich ihn im Krankenhaus besuchte.

»Es war das einzig Richtige.«

Er zuckte die Achseln. »Na ja, ich denke schon.« Er saß im Rollstuhl, das in Gel und Gips gelegte Bein auf einer freitragenden Schiene. »Da vorne fehlt das rote Tuch«, scherzte er.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

»Werden Sie nicht sentimental, Scotty«, sagte er, wobei seine Augen verdächtig glitzerten. »Wie geht es Ihrer Frau?«

»Sie ist auf dem Weg der Besserung.«

»Und Kaitlin?«

»Schwer zu sagen. Man bringt David nach Hause.«

Er nickte. Wir saßen eine Zeit lang da und schwiegen.

Dann sagte er: »Ich habe es in den Nachrichten gesehen. Das mit dem Wyoming-Chronolithen. Hat ein bisschen gedauert, aber Sue hat erreicht, was sie wollte, oder?«

»Sie hat erreicht, was sie wollte.«

»Schande über Hitch und Ray.«

Ich gab ihm Recht.

»Und Sue.« Er sah mich vielsagend an. »Schwer zu glauben, dass sie wirklich gegangen ist.«

»Glauben Sie es«, sagte ich.

Denn ein Geheimnis ist nur so lange ein Geheimnis, wie du es nicht verrätst.

»Sie wissen, dass ich ein altmodischer Christ bin, Scotty. Ich weiß nicht genau, woran Sue geglaubt hat, außer an diesen hinduistischen Shiva. Aber sie war ein guter Mensch, finden Sie nicht?«

»Der beste.«

»Sehen Sie. Ich konnte mir nicht erklären, warum sie wollte, dass ich hierbleibe, und Sie mit nach Wyoming sollten. Nichts für ungut, aber da war ich stinksauer. Doch jetzt denke ich, ich war richtig hier.«

»Das können Sie laut sagen.«

»Glauben Sie, sie hat das von Anfang an vorgehabt? Ich meine, sie hatte es ja mit der Zukunft.«

»Ich glaube, sie hat uns ganz gut gekannt.«

Mich wird sie gewählt haben, weil ihr Morris nichts genutzt hätte. Er hätte sie niemals in die Löwengrube gehen lassen. Und er hätte bestimmt nicht Hitch Paley erschossen.

Morris war ein guter Mensch.

Achtundzwanzig

Neulich habe ich zwei weltbekannte Orte besucht, Sie wissen schon.

Das Reisen fällt mir immer schwerer. Medikamente halten meine verschiedenen Altersbeschwerden in Schach — ich bin mit siebzig gesünder als mein Vater mit fünfzig —, doch das Alter bringt seine eigene Müdigkeit hervor. Wir sind, glaube ich, regelrechte Gramkübel und am Ende sind wir randvoll damit.

Ich fuhr allein nach Wyoming.

Der Wyoming-Krater ist heute eine eher kleine, aber einzigartige Gedenkstätte. Für die meisten Amerikaner war Wyoming nur der Anfang des zwanzigjährigen Chronolithenkrieges. Die denkwürdigen Schlachten dieser Generation, der Generation von Kait und David, sind mit dem Persischen Golf, Canberra, First Beijing und Kwangtung verbunden. — Hier in Wyoming war doch fast niemand gestorben.

Fast niemand.

Der Krater ist eingezäunt und wird jetzt als Nationaldenkmal geführt. Touristen können auf eine Plattform oben auf dem Steilfelsen klettern und aus einiger Entfernung auf die Ruinen hinunterstarren. Ich aber wollte näher heran. Ich fühlte mich dazu berechtigt.

Der Wachmann am Haupteingang meinte, das sei unmöglich, bis ich ihm erklärte, ich sei schon 2039 hier gewesen, und ihm die Narbe zeigte, die vom linken Ohr bis zum fliehenden Haaransatz reichte. Der Mann war ein Veteran — Panzertruppe, Kanton, Blutwinter 2050. Er riet mir, in der Nähe zu bleiben, bis das Besucherzentrum um 17.00 Uhr schloss; dann wollte er sehen, was sich machen ließe.

Schließlich war er bereit, mich auf seiner abendlichen Inspektionsfahrt mitzunehmen. Wir fuhren mit einem kleinen Zweisitzer von der Größe eines Golfmobils den steilen Pfad hinunter und parkten am Rand des Kraters. Der Mann scrollte eine Tageszeitung durchs Lesegerät und gab vor, ich könne ein paar Minuten unbeobachtet in den langen Schatten herumspazieren.

Es hatte fast einen Zoll geregnet in diesem Mai. Im flachen Krater stand ein winziger brauner Teich, Salbeisträucher blühten an den gefurchten, erodierten Hängen.

Einige wenige Fragmente des Kuin-Monuments waren erhalten geblieben.

Sie waren ebenfalls erodiert. Die Tau-Instabilität, das Aufdröseln komplizierter Calabi-Yau-Knoten, hatte die exotische Substanz des Chronolithen in gewöhnliche Silikatschmelze verwandelt: kiesiges blaues Glas, beinah so brüchig wie Sandstein.

Als amerikanische Kuinisten diesen Teil des Landes kontrolliert hatten, war es hier im Laufe der Westlichen Sezession zu Luftangriffen gekommen. In den dunkelsten Stunden des Krieges hatten die Milizen Wyoming beansprucht, hatten vermutlich (es gab keine lebenden Zeugen mehr) den Versuch unternommen, die Geschichte zu korrigieren, indem sie den riesigen Kuin von Wyoming rekonstruiert und die Bilder rund um die Welt geschickt hatten. Aber sie waren schlecht beraten gewesen. Von wem? Von jemandem, der sie dazu gebracht hatte, die Hüllkurve der Stabilität zu überdehnen.

Die Geschichtsschreibung kennt keinen Namen für diesen Wohltäter.

Ein Geheimnis ist ein Geheimnis.

Doch, wie Sue auch zu sagen pflegte, es gibt keinen Zufall.

Ich stand eine Zeit lang an einem Fragment von Kuins Kopf, ein verwittertes Stück der Stirn und ein intaktes Auge. Die Pupille war eine konkave Vertiefung von der Größe eines Lkw-Reifens. Staub und Regen hatten sich darin gesammelt, und eine wilde Distel hatte Fuß gefasst.

An den Chronolithen ist die Geschichtsschreibung ebenso gescheitert wie die Logik. Die Inszenierung eines Chronolithen ist derart mit Tau-Turbulenz und offenkundigen Paradoxa befrachtet — Ursache und Wirkung derart wechselseitig verflochten —, dass sich keine stringente Erklärung ergeben hat. Die Vergangenheit (Rays Minkowski-Eis vermutlich) ist zwar unveränderlich, aber ihrer Struktur wurden feine Risse beigebracht, Schichten wurden komprimiert und aufgeworfen, so dass sie stellenweise chaotisch und uninterpretierbar wurde.

Das Material fühlte sich kalt an.

Schwer zu sagen, ob ich richtig gebetet habe. Ich weiß nicht, wie man betet. Aber ich habe im Stillen ein paar Namen gesprochen, Worte an die Tau-Turbulenz gerichtet, falls noch etwas von ihr übrig ist. Unter den Namen war auch Sues Name. Ich habe ihr gedankt.

Dann habe ich die Toten angefleht, mir zu vergeben.

Der Wachmann wurde schließlich ungeduldig. Als die Sonne den Horizont berührte, brachte er mich zum Elektromobil zurück. »Sie müssen eine Menge zu erzählen haben«, sagte er.

Sicher. Und einiges habe ich für mich behalten. Bis jetzt.


Hat es jemals einen leibhaftigen Kuin gegeben — ich meine, einen einzelnen Menschen diesen Namens?

Wenn, dann bleibt er anonym, überschattet von den Armeen, die in seinem Namen kämpften und ihn zur Ideologie erhoben. Sicher, es wird einen ersten Kuin gegeben haben, der aber unter unzähligen Nachfolgern verschüttet wurde. Vielleicht, wie Sue spekuliert hatte, hatte jeder Chronolith seinen eigenen Kuin.

Schließlich stand der Name »Kuin« nur noch für die Leere im Auge des Wirbelsturms. Der König ist tot; lang lebe der König.

Nach Ashlees Tod Ende letzten Jahres musste ich ihre Sachen durchforsten. Tief unten in einer Schachtel mit uralten Papieren (abgelaufenen Lebensmittelkarten; Steuerformularen; vergilbten, längst überholten Mitteilungen der städtischen Versorgungsbetriebe), da stieß ich auf die Geburtsurkunde von Adam. Das Verblüffende war nur, dass sein zweiter Vorname Quinn war, und dass Ashlee mir gegenüber nie ein Wort darüber verloren hat.

Doch diese Lautverwandtschaft zwischen Quinn und Kuin ist nun wirklich ein Zufall. Das jedenfalls will ich glauben. Ich bin jetzt alt genug, um zu glauben, was ich glauben will. Und nicht zu glauben, was ich unerträglich fände.


Kait ließ David zu Hause und fuhr mit mir nach Bota Raton, ein ungeplanter Sommerurlaub. Wir hatten uns seit Ashlees Begräbnis im Dezember nicht mehr gesehen. Bota Raton war ein spontaner Einfall gewesen: Ich wollte mir, solange ich noch reisen konnte, die Werften ansehen.

Heutzutage spricht jeder vom Frieden. Wir sind wie unheilbar Kranke, denen man eine Wunderheilung versprochen hat. Die Sonne scheint sonniger, die Welt steht uns offen (wie es aussieht) und die Zukunft ist grenzenlos hell. Wir alle werden unweigerlich enttäuscht sein. Doch hoffentlich nicht allzu sehr.

Natürlich gibt es einige Dinge, auf die wir stolz sein dürfen — die Schiffswerften zum Beispiel.

Ich erinnere mich, dass Sue Chopra um die Zeit des Portillo-Ereignisses behauptet hatte, die Technologie der Calabi-Yau-Manipulation werde eine Fülle von Wundern hervorbringen, an deren Seite sich die Chronolithen wie Eintagsfliegen ausnahmen. (»Interstellare Raumfahrt, Scotty: eine reale Möglichkeit!«) Und hatte wie gewöhnlich Recht behalten. Sie hatte ein untrügliches Gespür für die Zukunft.

Kait und ich spazierten die lange Promenade hinauf; vom Aussichtsplateau konnte man die Startrampen überblicken, einen riesigen halbmondförmigen Komplex aus Glas und Stahl.

Kait hakte sich unter — ich brauche ein bisschen Hilfe bei langen Spaziergängen. Wir redeten, aber nicht über die großen Angelegenheiten unseres Daseins. Nicht im Urlaub.

Es hatte sich so viel geändert. Erst einmal hatte ich natürlich Ashlee verloren. Ash war Ende letztes Jahr an einem unverdächtigen Aneurisma gestorben, und nun war ich Witwer. Aber wir hatten trotz kriegsbedingter Entbehrungen und ständiger Geldnöte viele glückliche Jahre miteinander verbracht. Ich vermisse sie jeden Tag aufs Neue, aber ich sprach nicht mit Kaitlin darüber. Wir sprachen auch nicht über Kaits Mutter, die zurückgezogen und recht gut in Washington lebte; oder über Whit Delahunt, der seinen Lebensabend in einem Bundesprojekt außerhalb von St. Paul verbrachte, wo er wegen Volksverhetzung einen zwanzigjährigen Sozialdienst mit Hausarrest ableistete. Das alles gehörte der Vergangenheit an.

Heute glaubten wir wieder an die Möglichkeit einer Zukunft.

Auf dem Aussichtsplateau wimmelte es von Kindern, ein Schulausflug zum jüngsten unbemannten Start. Die Sonde wartete eine halbe Meile entfernt auf ihrem Gerüst. Ein blauer Juwel so groß wie ein Gletscher, eine Skulptur aus Eis. »Zeit ist Raum«, sagte die Stewardess. »Wenn wir diese Sonde fliegen können, können wir auch die anderen fliegen.«

Sue hätte mit dem Wort »fliegen« gehadert. Doch die Kinder hatten kein Problem damit. Sie wollten ein Schauspiel erleben, keine Schulstunde. Sie quasselten und traten von einem Fuß auf den anderen; sie drückten die Handflächen (und manche ihre Nase) gegen die Scheibe.

»Die haben keine Angst«, wunderte sich Kaitlin.

Und sie erschraken auch nicht (zumindest nicht sehr), als die Tau-Ceti-Sonde wie von Zauberhand abhob und geräuschlos in den Himmel stieg. Sie waren beeindruckt, denke ich, dass man ein solches Mordsding mir nichts dir nichts wie einen Ballon in den wolkenlosen Himmel über Florida schicken konnte. Ein paar Nachdenkliche mögen so etwas wie Ehrfurcht empfunden haben. Aber Angst? Nein.

Sie wissen so wenig über die Vergangenheit.

Aber das Wenige sollten sie wenigstens behalten. Kaum ein alter Veteran, der sich das nicht wünscht. Aber sie werden es vergessen. Natürlich werden sie das. Und ihre Kinder werden noch weniger über uns wissen. Und für deren Kinder werden wir kaum noch vorstellbar sein.

Das ist der Lauf der Dinge. Man kann die Zeit nicht anhalten. Das hat Sue mir beigebracht (und Ashlee auf ihre Weise). Man kann sich der Zeit überlassen. Oder von ihr mitgenommen werden.

Das alles ist nicht so schlimm, wie es sich anhört — nicht an einem so schönen Tag.

»Geht es dir gut?«, fragte Kaitlin.

»Prima«, sagte ich. »Bisschen außer Atem.« Es war ein heißer Tag und der Fußweg lang gewesen.


ENDE
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