6

Allanon erwartete Andor, als dieser aus dem erleuchteten Studierzimmer trat, und zusammen eilten sie durch den Park und dann durch das kleine Seitentor auf die Straße hinaus. Allanon bat Andor, ihn zu den Stallungen zu führen. Schweigend folgten beide einem dunklen Pfad, der sie durch ein Wäldchen zu den Koppeln führte und von dort zu den Stallungen. Mit einem sanften Wort der Beschwichtigung entließ Andor den alten Knecht, und Allanon und er traten hinein. Öllampen erhellten schwach eine Doppelreihe von Boxen, und langsam schritt Allanon an den Boxen entlang, und sein Blick wanderte prüfend von Pferd zu Pferd. Andor folgte ihm abwartend. Schließlich blieb der Druide stehen und wandte sich nach Andor um. »Den da«, sagte er und wies auf das Pferd. »Der ist der richtige für mich.« Andor blickte voll Unbehagen auf das Pferd, das Allanon gewählt hatte. Es war ein mächtiger, rabenschwarzer Hengst namens Artaq, groß und kräftig genug, einen Reiter von Allanons Größe zu tragen, ein Pferd, das große Strapazen ertragen konnte. Es war ein Jagdroß, mehr auf Ausdauer denn auf Schnelligkeit gezogen. Doch Andor wußte, daß er auf kurzen Strecken auch hoher Geschwindigkeit fähig war. Der Hengst hatte einen schmalen Kopf, klein im Verhältnis zu seinem gewaltigen, breitbrüstigen Körper. Die weit auseinanderliegenden Augen strahlten in einem verblüffenden Himmelblau. Intelligenz lag in diesen Augen ; Artaq war kein Pferd, das sich willig von jedem führen ließ.

Genau da lag das Problem. Artaq war eigenwillig und unberechenbar. Er machte sich einen Spaß daraus, mit seinem Reiter zu spielen, und diese Spiele endeten im allgemeinen damit, daß die Reiter abgeworfen wurden. Nicht wenige hatten bei diesen Abwürfen mehr oder minder schwere Verletzungen davongetragen. Wenn der Reiter auf Artaqs Rücken nicht kraftvoll und flink war, es zu verhindern, gelang es Artaq unweigerlich, ihn innerhalb weniger Sekunden nach dem Aufsitzen aus dem Sattel zu werfen. Es gab kaum jemanden, der sich noch auf dieses Risiko einließ. Selbst der König ritt den Hengst nur noch selten, obwohl er einst sein Lieblingspferd gewesen war.

»Es sind andere Pferde da…« meinte Andor etwas zaghaft, doch Allanon schüttelte ablehnend den Kopf.

»Dieser Hengst ist der richtige. Wie heißt er?«

»Artaq«, antwortete der Elfenprinz.

Allanon musterte das Pferd eine Weile peinlich genau, dann klappte er den Riegel hoch und trat in die Box. Andor kam näher, um zu sehen, wie die Dinge sich entwickelten. Der Druide blieb ruhig vor dem großenRappen stehen, hob dann lockend eine Hand. Zu Andors Überraschung kam Artaq zu ihm. Allanon streichelte mit langsamen und behutsamen Bewegungen den seidig glänzenden Hals und neigte den Kopf, um dem Pferd etwas ins Ohr zu flüstern. Dann legte er ihm ein Halfter an und führte es aus der Box, den Gang dorthin hinunter, wo Sättel und Zaumzeug aufgehängt waren. Kopfschüttelnd folgte Andor. Der Druide wählte Sattel und Zügel und zäumte das Pferd, nachdem er ihm das Halfter abgenommen hatte. Mit einem Wort der Aufmunterung schwang er sich dann auf den Rücken des Hengstes.

Andor hielt den Atem an. Gemächlichen Schrittes ließ Allanon den Rappen den Gang hinuntertrotten und den anderen wieder hinauf. Artaq gehorchte ihm willig und aufmerksam; mit diesem Reiter konnte man nicht spielen. Allanon ritt ihn zu Andor zurück und schwang sich aus dem Sattel.

»Während meiner Abwesenheit, Elfenprinz«, sagte er, die schwarzen Augen fest auf Andor gerichtet, »vertraue ich Euch die Sorge um Euren Vater an. Seht darauf, daß er keinen Schaden nimmt.« Er machte eine Pause. »Ich verlasse mich auf Euch.«

Andor nickte, erfreut, daß Allanon ihm solches Vertrauen entgegenbrachte. Der Druide blickte ihn noch einmal forschend an, dann wandte er sich ab. Gefolgt von dem Elfenprinzen, führte er Artaq zum rückwärtigen Teil des Stalles und stieß die breite zweiflügelige Tür auf.

»Lebt wohl, Andor Elessedil«, grüßte er Abschied nehmend, bestieg wieder das Pferd und ritt in schnellem Trab davon.

Andor blickte ihm nach, bis ihn die Dunkelheit verschluckt hatte.

Zwei Nächte und zwei Tage ritt Allanon gen Osten, Paranor entgegen. Sein Weg führte ihn durch die tiefen Wälder von Westland zur Pforte des historischen Rhenn-Tales und von dort in das weite, leere Ödland der Streleheim-Ebene. Er ritt in zügigem Tempo, legte nur kurze Pausen ein, um Artaq zu füttern und zu tränken und achtete darauf, sich wo immer möglich auf geschütztem Gebiet zu halten und das offene Land zu meiden. Um Handelsstraßen und vielbereiste Marschwege schlug er einen großen Bogen. Bisher wußten nur der Elfenkönig und sein Sohn, daß er in die vier Länder zurückgekehrt war. Keiner außer ihnen hatte Kenntnis von den alten Geschichtsbüchern der Druiden in Paranor; keiner außer ihnen ahnte, daß es eine siebente Erwählte gab. Wenn die Mächte des Bösen, welche die Mauer der Verfemung durchbrochen hatten, von alledem etwas erfahren sollten, würde das Gelingen seiner Mission gefährdet sein. Absolute Verschwiegenheit und Heimlichkeit waren seine verläßlichsten Verbündeten, und so sollte es bleiben.

Am Abend des zweiten Tages erreichte er Paranor. Der Druide war sicher, daß ihm niemand gefolgt war.

Noch ein gutes Stück von der alten Festung entfernt, ließ er Artaq in einem kleinen Tannenwäldchen zurück, wo es saftiges Gras und Wasser genug gab, und ging den Rest des Weges zu Fuß. Nichts war mehr so, wie es sich zur Zeit des Dämonen-Lords dargeboten hatte. Die Wolfsrudel, die in den umgebenden Wäldern umhergestrichen waren, gab es nicht mehr. Die giftige Dornenhecke, welche die Burg wie eine unüberwindbare Mauer eingeschlossen hatte, war verschwunden. Still und friedlich lag das Land in der Dämmerung des frühen Abends, und die Wälder waren erfüllt von den anheimelnden Lauten der Tiere, die sich auf die hereinbrechende Nacht vorbereiteten.

Minuten später stand er am Fuß der Druiden-Burg. Die alte Festung thronte auf der Höhe eines massigen Felsblocks, so hoch über den Wipfeln der umliegenden Wälder, als sei sie von Riesenhand aus den Tiefen der Erde emporgeschleudert worden. Einen atemberaubenden Anblick bot sie, einem Märchenschloß kindlicher Phantasie gleich mit der vielgezackten Silhouette der spitzen Türme und zinnenbewehrten Mauern, den Erkern und Brustwehren, deren verwittertes weißes Gestein sich scharf von dem tiefen Blau des Nachthimmels abhob.

Allanon blieb stehen. Die Geschichte Paranors war die Geschichte der Druiden, die Geschichte seiner Vorfahren. Sie begann vor tausend Jahren, nachdem die Großen Kriege die Rasse der Menschen ausgerottet und das Gesicht der alten Welt für immer verändert hatten. Sie begann nach Jahren primitiven, unzivilisierten Lebens, nach einer Zeit, währendder die Überlebenden der großen Katastrophe einen verzweifelten Kampf führten, sich in einer tödlichen neuen Welt zurechtzufinden, in der der Mensch nicht länger die beherrschende Gattung war. Sie begann, nachdem die eine Rasse der Menschen wiedergeboren wurde in den neuen Rassen von Menschen, Zwergen, Gnomen und Trollen — nachdem die Elfen wieder auftauchten. Sie begann in Paranor, wo der erste Druidenrat in dem verzweifelten Bemühen zusammentrat, die neue Welt vor der totalen Anarchie zu bewahren. Galaphile rief vor Urzeiten den Rat zusammen — Galaphile, der größte der Druiden. Hier nun wurden die geschichtlichen Überlieferungen der alten Welt in den Büchern der Druiden festgehalten, um allen kommenden Menschengenerationen erhalten zu bleiben. Hier erforschte man die Geheimnisse der alten Wissenschaften, mühte sich, aus Fragmenten ein Ganzes zu formen, nahm die Geheimnisse einiger weniger in den neuen Wissensschatz auf. Hunderte von Jahren lebten und arbeiteten die Druiden in Paranor, Weise einer neuen Welt, die bemüht waren, Zerstörtes wieder aufzubauen.

Doch ihre Anstrengungen schlugen fehl. Einer von ihnen wurde das Opfer von Ehrgeiz und unbedachter Ungeduld, ließ sich dazu verführen, mit magischen Kräften zu spielen, die so gewaltig und so böse waren, daß sie ihn am Ende verzehrten. Sein Name war Brona. Im ersten Krieg der Rassen führte er ein Heer von Menschen gegen die anderen Rassen, um auf diesem Weg die Herrschaft über die vier Länder zu gewinnen. Die Druiden schlugen diesen Aufstand nieder und jagten ihn fort. Sie hielten ihn für tot. Doch fünfhundert Jahre später kehrte er zurück — nicht mehr Brona, sondern der Dämonen-Lord. Er schloß die arglosen Druiden in ihre Burg ein und metzelte sie nieder — alle bis auf einen. Dieser eine war Brimen, Allanons Vater. Brimen schmiedete ein Zauberschwert und gab es dem Elfenkönig Jerle Shannara — einen Talisman, gegen den der Dämonen-Lord nichts auszurichten vermochte. Dieses Zauberschwert verhalf den Elfen und ihren Verbündeten in dem zweiten Krieg der Rassen zum Sieg; wieder wurde der Dämonen-Lord aus der Welt der Menschen vertrieben.

Als Brimen starb, wurde Allanon der letzte der Druiden. Er verschloß die Burg für immer. Paranor wurde Geschichte, ein Denkmal einer anderen Zeit, einer Zeit großer Menschen und großer Taten.

Der Druide schüttelte den Kopf. All dies war Vergangenheit; sein Denken durfte jetzt nur der Gegenwart gelten.

Langsam ging er um den steinernen Sockel der Burg herum und musterte aufmerksam die tiefen Spalten und zackigen Felsvorsprünge. Schließlich blieb er stehen, und seine Hände streckten sich dem Fels entgegen, ihn zu berühren. Ein Steinquader schwang langsam nach innen, und dahinter öffnete sich ein geheimer Gang. Der Druide glitt rasch durch die schmale Lücke, und der Stein verschloß sich wieder hinter ihm.

Drinnen herrschte schwarze Finsternis. Allanons Hände glitten suchend an der Mauer entlang, bis sie auf ein Bündel Fackeln stießen, die in eisernen, im Fels verankerten Haltern steckten. Nachdem er eine herausgenommen hatte, arbeitete er so lange mit dem Feuerstein, den er in einem Beutel an seinem Gürtel trug, bis ein Funke das Pech am Kopf der Fackel entzündete. Mit der brennenden Fackel in der Hand wartete er noch eine Weile, damit seine Augen sich auf den schwachen Fackelschein einstellen konnten. Ein langer Gang erstreckte sich vor ihm, und in der Ferne verloren sich in den Felsboden gehauene Stufen in der Finsternis. Er folgte dem Gang und stieg aufwärts. Ein Geruch nach Staub und Moder wehte ihm ins Gesicht. Es war kalt in den finsteren Steingewölben, und der Druide zog seinen schweren Umhang enger um sich. Hunderte von Stufen schritten seine Füße hinunter, und immer weiter wand sich der Gang durch die Finsternis.

Er endete schließlich vor einer schweren Holztür. Allanon blieb stehen und neigte sich nahe zur Tür, um die schweren eisernen Beschläge zu prüfen. Dann berührte er mit den Fingern mehrere glänzende Nagelköpfe, und die Flügel der Tür schwangen auf.

Er trat über die Schwelle und befand sich in der Feuerkammer der Burg, einem runden, höhlenartigen Raum, in dem ein schmaler Fußsteg rund um eine tiefe, dunkle Grube herumführte. Ein niedriges Eisengitter begrenzte den Rand der Grube. In die Mauer der Feuerkammer waren mehrere massive Holztüren mit eisernen Schlössern und Beschlägen eingelassen, alle verschlossen und verriegelt.

Der Druide trat zu dem niedrigen Gitter und spähte im Schein der Fackel in die Grube hinunter. Das schwache Licht des Feuers tanzte flackernd über geschwärzte Mauern, die mit Asche und Ruß verkrustet waren. Die Feuerkammer war jetzt kalt; die Vorrichtung, die einst die Hitze zu den Türmen und Sälen der Burg hinaufgepumpt hatte, ruhte. Aber tief unten, jenseits des blassen Fackelscheins, unter schweren eisernen Zugklappen, brannten die natürlichen Feuer der Erde. Selbst jetzt war das Zucken und Knistern der Flammen wahrnehmbar.

Er erinnerte sich eines anderen Tages. Vor mehr als fünfzig Jahren war er aus dem Zwergendorf Culhaven nach Paranor gekommen. Freunde hatten ihn begleitet — die Brüder Ohmsford, Shea und Flick; Balinor Buckhanna, der Prinz von Callahorn; Menion, der Prinz von Leah; Durin und Dayel Elessedil; und der tapfere Zwerg Höndel. Sie waren hierhergekommen, um das legendäre Schwert von Shannara zu suchen, denn der Dämonen-Lord war in die vier Länder zurückgekehrt, und nur die Macht des Schwertes konnte ihn besiegen. Allanon also war mit seinen Begleitern auf die Burg zurückgekehrt, und beinahe hätte er sie nie wieder verlassen. In eben diesem Raum hatte er auf Tod und Leben mit einem der Schädelträger gerungen. Der Dämonen-Lord hatte gewußt, daß er kommen würde. Und hatte ihm eine Falle gestellt.

Mit einem Ruck hob er den Kopf und lauschte in das tiefe Schweigen hinein. Eine Falle. Das Wort beunruhigte ihn; es weckte einen Instinkt, einen sechsten Sinn der Warnung. Etwas war nicht so, wie es sein sollte. Etwas …

Unschlüssig verharrte er einen Moment lang. Dann wurde er wieder ruhig. Das war töricht. Es war die Erinnerung, die ihn beunruhigte, weiter nichts.

Die Fackel hoch erhoben, schritt er den Steg entlang, bis er eine enge Wendeltreppe erreichte, die nach oben führte. Ohne einen Blick zurück schritt er eilig die Stufen hinauf und trat in die oberen Gemächer der Druidenfestung.

Alles war so, wie es vor fünfzig Jahren gewesen war. Sternen-licht fiel in zarten silbernen Streifen durch die hohen Fenster und strich über die hölzernen Paneele und schimmernden Balken, welche die hohe gewölbte Decke des Korridors trugen. Gemälde und Wandteppiche, deren satte Farben im Abendlicht zu sanften Grau- und tiefen Blautönen gedämpft wurden, schmückten den breiten Gang. Standbilder aus Stein und Eisen wachten stumm und unbewegt vor schweren Türen mit blitzenden Messinggriffen. Und überall lag der Staub wie ein dicker, weicher Teppich, und lange, zarte Girlanden aus Spinnweben fielen von der Decke zum Marmorboden hinunter.

Langsamen Schrittes ging Allanon durch den Korridor, und das Licht seiner Fackel brannte Löcher in den Dunst modriger Luft, die schwer und lastend überall in den Sälen und Gemächern hing. Alles war erfüllt von einem tiefen, durchdringenden Schweigen. Das Echo seiner Schritte klang gespenstisch durch die Hallen, und kleine Staubwölkchen quollen bei jedem Schritt hinter ihm in die Höhe. Vorüber ging es an Türen, die alle geschlossen waren und deren Metallbeschläge wie Feuer aufblitzten, wenn das Licht der Fackel sie traf.

Der Gang kreuzte sich mit einem anderen, und hier wandte sich Allanon nach rechts. Beinahe bis zum Ende des Korridors ging er, bis er schließlich vor einer ziemlich kleinen Tür aus weißem Eichenholz und Eisen den Schritt verhielt. Ein schweres Schloß sicherte diese Tür. Der Druide wühlte in dem Beutel an seinem Gürtel und zog einen großen eisernen Schlüssel heraus. Er schob ihn in das Schloß und drehte ihn zweimal um. Das rostige Metall knirschte protestierend, doch der Riegel sprang zurück. Die eiserne Klinke gab nach. Allanon trat über die Schwelle und schloß die Tür hinter sich.

Der Raum, in dem er sich nun befand, war klein und fensterlos. Früher einmal hatte er als Studierzimmer gedient. Regale mit verstaubten, in Leinen gebundenen Büchern standen an allen vier Wänden. Die Farben der Einbände waren längst verblaßt, die Seiten staubtrocken und vergilbt. Der Tür gegenüber standen zwei kleine Lesetische an der Wand und Stühle davor, die aus Rohr geflochten waren. So steif und unnahbar standen sie da wie zwei strenge Wachposten. Näher an der Tür warteten zwei einladender wirkende Ledersessel. Ein alter handgewebter Teppich bedeckte die Holzdielen, die mit Eisennägeln verankert waren.

Der Druide ließ den Blick nur flüchtig durch den kleinen Raum wandern, um dann an die Mauer zu seiner Linken zu treten. Hinter den Büchern am Ende des dritten Bords fanden seine Finger zwei große Eisenknöpfe. Als er diese berührte, schwenkte ein Teil des Bücherregals lautlos nach außen. Er schob es noch ein wenig weiter auf, um sich durch die Lücke hindurchzwängen zu können, dann zog er die Verkleidung wieder hinter sich zu.

Er stand in einem Gewölbe, das aus massigen Granitblöcken errichtet war. Ritzen und Spalten zwischen den ineinandergreifenden Quadern waren mit Mörtel verstrichen. Abgesehen von einem langen Holztisch und einem halben Dutzend hochlehniger Stühle war die Steinkammer leer und fensterlos. Und die einzige Tür war die, durch die Allanon soeben eingetreten war. Die Luft in dem Gemach stand muffig.

Mit der Flamme in seiner Hand entzündete Allanon die Fackeln, die zu beiden Seiten der Tür in Wandhaltern steckten sowie dicke Kerzen, die auf dem Tisch standen. Als das getan war, trat er an die Mauer rechts von der Tür und ließ seine Hände leicht über den glatten Stein gleiten. Nach einer Weile drückte er Finger und Daumenspitzen fest gegen den Granit, wölbte beide Hände nach außen und senkte den Kopf in tiefer Konzentration. Zunächst geschah nichts, dann aber breitete sich plötzlich von seinen Fingern ein tiefblaues Glühen aus und durchzog den Stein in blau schimmernden Adern. Einen Augenblick später stand die Wand in lautlosen blauen Flammen, und dann lösten sich Mauer und Feuer plötzlich in Luft auf.

Allanon trat zurück. Dort, wo die Granitmauer errichtet gewesen war, standen jetzt endlose Reihen dicker Bücher, auf deren Ledereinbänden kunstvoll geschwungene goldene Buchstaben schimmerten. Dieser Bücher willen war der Druide nach Paranor gekommen, denn sie bargen die geschichtlichen Aufzeichnungen der Druiden, die Gesamtheit des Wissens der alten und der neuen Welt, das man aus der Katastrophe der Großen Kriege gerettet und seit der Einberufung des ersten Druidenrats gewissenhaft zu Papier gebracht hatte.

Allanon hob den Arm und zog vorsichtig einen der schweren Bände heraus. Er war noch in gutem Zustand; das Leder war weich und biegsam, die Ränder der Seiten scharf, der Einband unversehrt. Die Zeit hatte diesen Büchern nichts anhaben können. Fünf Jahrhunderte zuvor, nach Brimens Tod, nachdem ihm klar geworden war, daß er der letzte der Druiden war, hatte er diese Kammer gebaut, um die Bücher zu schützen und den Generationen von Männern und Frauen zu erhalten, die eines Tages auf dieser Erde leben und das Wissen brauchen würden, das die Bücher enthielten. Von Zeit zu Zeit pflegte er auf die Burg zurückzukehren, um pflichtgetreu alles aufzuschreiben, was er während seiner Reisen durch die vier Länder gehört und gesehen hatte, um die Geheimnisse der Jahrhunderte festzuhalten, die sonst vielleicht auf immer verloren gehen würden. Ein großer Teil dessen, was in diesen Büchern enthalten war, befaßte sich mit den Geheimnissen der Zauberkunst, mit Kräften, die keiner, sei er nun Druide oder gewöhnlicher Mensch, je ganz zu verstehen hoffen konnte — geschweige denn praktisch anzuwenden erwägen konnte. Den Druiden war es angelegen gewesen, diese Geheimnisse vor den Menschen zu bewahren, die geneigt sein könnten, sich ihrer leichtsinnig und töricht zu bedienen, doch außer Allanon waren nun alle Druiden tot, und eines Tages würde auch er vergehen. Wer würde dann die Geheimnisse der Macht erraten? Die Frage machte Allanon schwer zu schaffen, und er hatte noch immer keine Lösung gefunden.

Eilig blätterte er das Buch durch, das er herausgenommen hatte, stellte es dann wieder zurück und wählte ein anderes. Nachdem er diesen zweiten Band durchgesehen hatte, setzte er sich an den langen Tisch und begann zu lesen.

Beinahe drei Stunden lang saß er völlig reglos, das Gesicht über die gestochen scharfen Schriftzüge geneigt. Nur zum Umblättern hob er die Hand.

Nach einer Stunde angestrengter Studien entdeckte er den Ort, wo Sichermal zu finden war. Doch er las weiter. Er wollte noch mehr wissen.

Endlich löste er seinen Blick von den Seiten des Buches und lehnte sich erschöpft zurück. Eine Zeitlang saß er ruhig auf dem hochlehnigen Stuhl und blickte unbewegt auf die Reihen von Büchern, die das vollständige geschichtliche Wissen der Druiden enthielten. Er hatte gefunden, wonach er geforscht hatte, und dennoch wünschte er, er hätte es nicht gefunden.

Seine Gedanken wanderten zurück zu dem Gespräch, das er vor zwei Tagen Eventine Elessedil geführt hatte. Er hatte dem Elfenkönig berichtet, daß er zunächst in die Gärten des Lebens gegangen war und dort der Ellcrys zu ihm gesprochen hatte. Aber er hatte dem König nicht alles kundgetan, was der Baum ihm offenbart hatte. Er hatte es einerseits deshalb nicht getan, weil viel von dem, was der Ellcrys mitgeteilt hatte, verwirrend und unklar gewesen war, Erinnerungen an eine Zeit und ein Leben, die sich im Lauf der Zeit zur Unkenntlichkeit verändert hatten. Ein Bild jedoch hatte er geschaut, das er nur allzugut verstanden hatte. Und doch war das, was er da gesehen hatte, so unglaublich gewesen, daß er nicht bereit gewesen war, es zu akzeptieren, ohne zuvor die Geschichtsbücher der Druiden einzusehen. Dies hatte er nun getan. Und jetzt wußte er, daß es der Wahrheit entsprach und geheimgehalten werden mußte — besonders vor Eventine. Ein Gefühl unendlich tiefer Verzweiflung übermannte ihn. Es war so, wie es vor fünfzig Jahren mit dem jungen Shea Ohmsford, gewesen war; die Wahrheit mußte sich in einem unerbittlichen Ablauf von Ereignissen von selbst zeigen. Ihm stand es nicht zu, über Zeit und Ort ihrer Offenbarung zu bestimmen. Ihm stand es nicht zu, in die natürliche Ordnung der Dinge einzugreifen.

Und doch stellte er eine entscheidende Frage. Allem mit den Geistern seiner Vorfahren, der letzte seiner Art, stellte er diese Entscheidung in Frage. Damals hatte er sich entschieden, Shea Ohmsford die Wahrheit zu verschweigen, und nicht nur dem jungen Shea, ihnen allen, die zu der kleinen Gesellschaft von Abenteurern aus Culhaven gehörten, allen denen, die auf der Suche nach dem Schwert von Shannara ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, weil er sie davon überzeugt hatte, daß sie das tun mußten. Am Ende war er zu der Überzeugung gekommen, daß es falsch gewesen war, die Wahrheit zu verbergen. War es auch dieses Mal falsch? Sollte er nicht wenigstens diesmal von Anfang an aufrichtig sein?

Noch immer in Gedanken verloren, schlug er das Buch zu, das vor ihm lag, stand auf und trug den schweren Band an seinen Platz zurück. Er vollführte mit einer Hand eine rasche kreisförmige Bewegung vor den Bücherreihen, und die Granitmauer stand wieder da. Geistesabwesend starrte er auf den grauen Stein, dann wandte er sich ab. Er nahm die Fackel, die er mitgebracht hatte, löschte die übrigen Lichter im Gewölbe und betätigte den Mechanismus der Geheimtür.

Als er das Studierzimmer wieder erreicht hatte, drückte er den offenen Teil der Bücherwand wieder zu, so daß alles sich so zeigte, wie es zuvor gewesen war. Beinahe traurig sah er sich in dem kleinen Raum um. Aus der Burg der Druiden war eine Gruft geworden. Der Geruch des Todes haftete an ihr. Früher einmal war es ein Ort wissenschaftlicher Gelehrsamkeit und visionärer Phantasie gewesen. Aber die Zeiten waren unwiederbringlich vorüber. In diesen Mauern hatte das Leben keinen Platz mehr.

Unwillig runzelte er die Stirn. Seine Stimmung hatte sich beträchtlich verdüstert, seit er in den Seiten der Druidengeschichte gelesen hatte. Unstete Eile trieb ihn an, von Paranor fortzukommen. Dies war ein Ort des Unglücks — er allein mußte dieses Unglück auch anderen bringen.

Schnellen Schrittes verließ er das Studierzimmer, öffnete die Tür und trat hinaus in den Hauptkorridor.

Keine zehn Schritte entfernt wartete die bucklige Gestalt des Dagda Mor.

Allanon erstarrte. Der Dämon erwartete ihn allein, den harten Blick auf den Druiden gerichtet, den Stab der Macht locker im Arm liegend. Das zischende Geräusch seines Atems durchschnitt scharf die tiefe Stille, doch er sprach kein Wort. Er stand nur da und musterte aufmerksam den Mann, den zu vernichten er gekommen war.

Der Druide trat von der Tür weg, bewegte sich vorsichtig zur Mitte des Ganges, während seine Augen die dunstige Schwärze rundum zu durchdringen suchten. Fast augenblicklich sah er noch andere Dämonen — unbestimmte, geisterhafte Gestalten, die wie Tiere auf allen vieren aus dem Schatten krochen, während ihre schmalen Augen grünes Feuer sprühten. Unzählig schienen sie, und sie umringten ihn von allen Seiten. Unaufhaltsam drängten sie näher, umkreisten ihn, leicht von einer Seite zur anderen schwankend, wie Wölfe, die ein Beutetier in die Enge getrieben haben. Ein leises kreischendes Schreien ging von ihren gesichtslosen Köpfen aus, ein gräßliches katzenartiges Gekreische, das Vorfreude auszudrücken schien auf das, was sie erwarteten. Einige der dämonischen Geschöpfe glitten in den bleich flackernden Schein seiner Fackel. Es waren abscheuliche Geschöpfe mit schlangenhaft sich windenden Körpern, die von dichtem grauen Haar überwuchert waren. Ihre Gliedmaßen hatten etwas Menschliches, doch die vielen Finger waren zu scharfen Klauen gekrümmt. Als sie die Gesichter zu dem Druiden aufhoben, überlief es diesen eiskalt. Es waren die Gesichter von Frauen, deren Züge verzerrt waren von blutgieriger Grausamkeit. Die Münder erinnerten an die Mäuler riesiger Katzen.

Er wußte jetzt, wer sie waren, obwohl sie seit Tausenden von Jahren nicht mehr auf Erden gewandelt waren. Seit den ersten Anfängen der Menschheit waren sie hinter der Mauer der Verfemung eingekerkert gewesen, doch in den Geschichtsbüchern der alten Welt waren die Berichte über sie nachzulesen. Es waren Geschöpfe, die sich von Menschenfleisch nährten. Aus Raserei waren sie geboren, und zu Raserei trieb sie ihre Blutgier.

Es waren Furien.

Allanon sah bestürzt, wie sie ihn umkreisten, am Rande des Lichtrings lauerten, den seine Fackel warf, mit gierigem Vergnügen seines Todes harrend. Denn sein Tod schien unausweichlich. Allzu viele Furien lauerten da, als daß der Druide es mit ihnen hätte aufnehmen können. Seine Kraft reichte nicht aus, um sie alle abzuwehren. Sie würden vereint angreifen, sich von allen Seiten auf ihn stürzen und seinen Körper zerfetzen.

Er warf einen raschen Blick auf den Dagda Mor. Der Dämon stand noch immer außerhalb des Kreises seiner blutrünstigen Dienerinnen. Sein düsterer Blick ruhte unverwandt auf dem Druiden. Es war offensichtlich, daß er keine Notwendigkeit sah, seine eigenen Kräfte einzusetzen, die der Furien würden die Tat vollenden. Der Druide steckte in der Falle und war hoffnungslos unterlegen. Gewiß würde er sich zur Wehr setzen, doch sein Ende schien besiegelt.

Das Kreischen der Furien schwoll zu irrer Raserei an, widerhallte schrill und durchdringend in den steinernen Gängen und Sälen der Burg. Klauenscharfe Finger scharrten auf dem Marmorboden, und ganz Paranor schien in Entsetzen zu versteinern. Doch da verschwand Allanon plötzlich — er war einfach fort.

Es geschah so unversehens, daß die verwirrten Furien in ihrer Bewegung innehielten und ungläubig auf die Stelle stierten, wo der Druide soeben noch gestanden hatte. Ihr schrilles Gekreische erstarb. Die Fackel hing noch in der dunstigen Finsternis, einem Leuchtfeuer gleich, das die Furien in seinen Bann schlug. Dann fiel sie in einem Funkenregen auf den Boden des Ganges, und die Flamme erlosch, und der Gang war plötzlich in schwarze Finsternis getaucht.

Der Trug dauerte nur Sekunden, doch es währte lange genug, um Allanon zu ermöglichen, aus dem Todeskreis zu entfliehen, der ihn eingeschlossen hatte. Mit einem Sprung war er zwischen den Furien hindurch und hetzte zu einer Flügeltür aus massiver Eiche, die, verschlossen und verriegelt, am näheren Ende des Ganges die Flucht hinderte. Der Dagda Mor kreischte laut auf vor Wut und riß den Stab der Macht empor. Rote Feuersglut schoß den Korridor entlang, und die rasenden Furien stoben auseinander, als die Flammen züngelnd dem fliehenden Druiden nachjagten. Doch Allanon war zu schnell. Mit einer flinken Geste hob er seinen Umhang und wehrte den Angriff ab. Das Feuer aus dem Stab der Macht schoß an ihm vorbei und sprengte die schwere Eichentür, riß die beiden Flügel aus ihren Angeln, so daß sie krachend zu Boden stürzten und in Trümmer gingen. Der Druide hastete durch die Öffnung in den Raum auf der anderen Seite und verlor sich in der Dunkelheit.

Schon waren die Furien ihm auf den Fersen. Wie wilde Tiere jagten und verfolgten sie ihn mit gierigen Schreien. Die schnellsten unter ihnen drängten sich durch die offene Tür und holten den Druiden ein, als dieser sich noch abmühte, eine der hohen Fenstertüren zu öffnen, die zur Brustwehr führten.

Allanon fuhr herum und kauerte sich zusammen. Er packte die beiden, die ihm am nächsten waren, als sie ihm an die Kehle zu springen suchten, und schleuderte sie mitten unter die anderen Verfolger. Dann hob er beide Hände, blaues Feuer schoß aus seinen Fingern und errichtete zwischen ihm und den Furien eine lodernde Flammenwand. Aber noch immer gaben die Furien nicht auf. Verwegen stürzten sich jene, die ihm am nächsten waren, in die Flammen und verglühten. Als das Feuer einen Augenblick später erlosch, standen die Fenster weit offen, und der Druide war verschwunden.

Tausend Fuß über dem Dach der umliegenden Wälder schob Allanon sich, den Rücken an die steile Wand der Burg gepreßt, auf einem schmalen Steinsims vorwärts, unter ihm gähnende, schwarze Leere. Bei jedem Schritt drohte der Wind, der heulend Turm und Erker umtobte, ihn von der Mauer zu reißen. So schnell es ging, arbeitete er sich zu einer schmalen steinernen Galerie vor, die eine Brücke zu einem Turm bildete. Die Galerie war keine drei Fuß breit; und unter ihr wartete das Nichts. Der Druide zögerte nicht. Hier lag seine einzige Chance, den Mächten des Bösen zu entkommen. Er machte sich auf den Weg.

Hinter sich hörte er die gellenden Schreie der Wut und der Enttäuschung, mit denen die Furien ihm durch das offene Fenster folgten. Mit rasender Geschwindigkeit jagten sie ihm nach, viel sicherer als er auf dem glatten Stein, da ihre Klauen besser griffen.

Am Fenster hob der Dagda Mor wiederum den Stab der Macht, und das tödliche Feuer schoß züngelnd dem fliehenden Druiden nach. Doch Allanon hatte erkannt, daß es ihm nicht gelingen würde, auf die andere Seite zu gelangen, bevor die Furien ihn erreichten. Er ließ sich auf ein Knie fallen, hob beide Arme und beschrieb einen großen Kreis. Vor ihm erstand ein Schild aus blauem Feuer. Die Flammen aus dem Stab des Dämonen prallten dagegen und erloschen, ohne Schaden anzurichten. Doch von der Wucht des Ansturms wurde der Druide nach hinten geschleudert, und er stürzte hinunter auf die schmale Brücke. Im nächsten Augenblick schon hatten sich die ersten seiner Verfolger auf ihn geworfen.

Diesmal war Allanon nicht flink genug. Klauenscharfe Finger zerfetzten den Stoff seines Umhangs und gruben sich in sein Fleisch. Brennender Schmerz durchzuckte seine Schultern und seine Brust. Mit einem gewaltigen Aufbäumen schleuderte er die Furien, die ihn umklammert hielten, von sich, und sie stürzten kreischend von der schmalen gewölbten Brücke. Schwankend sprang er auf die Füße und rannte in Richtung auf das rettende Tor. Wieder jagten die Furien ihm nach, stolperten übereinander in ihrem blindwütigen Verlangen, ihr Opfer endlich zu stellen. Heulend vor Wut setzten sie ihm nach, und ihre entstellten Frauengesichter waren verzerrt von Haß. Wieder warf der Druide sie zurück, doch nicht, ohne daß sie ihm nicht noch weitere Wunden geschlagen hatten.

Dann endlich erreichte er das andere Ende der Brücke. Zu Tode erschöpft wankte er gegen die Mauer des Turms. Mit erhobenen Händen drehte er sich um. Blaue Flammen abwärts zur steinernen Galerie und sprengten die Brücke. Mit Getöse zerbarst das Gestein. Kreischend vor Angst und Entsetzen stürzten die Furien in das endlose Nichts der Nacht.

Rotglühendes Feuer aus dem Stab der Macht umzüngelte den Druiden von allen Seiten, doch es gelang ihm, der Glut zu entkommen, indem er hastig um die Mauer des Turmes lief, bis er aus dem Blickfeld des Dämonen war. Dort, auf der anderen Seite, fand er eine kleine verschlossene Eisentür. Mit einem kräftigen Stoß seiner Schulter sprengte er die Tür und entkam.

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