6

Es bereitete mir keine Mühe, den größten Zylinder Ars auszumachen, das Gebäude des Ubar Marlenus. Als ich näher herankam, sah ich, daß auf allen Brücken ein lebhaftes Treiben herrschte; viele der Feiernden mochten bereits vom Paga berauscht sein. Zwischen den Zylindern flogen Tarnkämpfer dahin und genossen offenbar Freiheiten des Festes, flogen miteinander um die Wette, veranstalteten spielerische Kämpfe, ritten Attacken gegen die Brücken und zogen ihre Tiere nur Zentimeter über den Köpfen der erschreckten Passanten hin. Kühn senkte ich meinen Tarn herab, steuerte ihn mitten Zwischen die Zylinder, einer von vielen wilden Tarnkämpfern der Stadt. Ich ließ mein Tier auf einer der Stahlstangen landen, die hier und da aus den Zylindern ragten und die für die Tarns bestimmt sind. Der große Vogel hob und senkte vorsichtig die Flügel, und seine stahl bewehrten Krallen schurrten über die Stange. Endlich war er im Gleichgewicht, faltete seine Flügel unter und blieb still sitzen, reglos bis auf die wachsamen Bewegungen des großen Kopfes und das Blitzen der bösen Augen, die die Menschenströme auf den nahegelegenen Brücken betrachteten. Mein Herz begann wild zu schlagen, und ich überlegte, wie leicht es noch war, aus Ar zu fliehen. Einmal flog ein betrunkener Krieger ohne Helm vorbei und wollte ebenfalls auf meiner Stange landen – ein wilder Tarnsmann von niedrigem Rang, der es auf einen Kampf abgesehen hatte. Ihm Platz zu machen, war unmöglich, denn das hätte sofort Mißtrauen erweckt. Auf Gor gibt es nur eine ehrenvolle Antwort auf eine Herausforderung – sie sofort anzunehmen.

»Die Priesterkönige mögen deine Knochen zerstreuen!« rief ich und fügte hinzu: »Und du sollst dich von den Exkrementen der Tharlarions ernähren!« Meine zweite Bemerkung, die sich auf die gehaßten Reittiere der niedrigen Clans bezog, schien dem Mann besonderen Spaß zu machen.

»Möge dein Tarn seine Federn verlieren!« dröhnte er, klatschte sich auf die Schenkel und landete seinen Tarn auf meiner Stange. Dann beugte er sich herüber und warf mir einen Beutel mit Paga herüber. Ich trank davon und warf ihm den Wein verächtlich zurück. Im nächsten Augenblick war er wieder in der Luft und schmetterte irgendein Lied heraus.

Wie die meisten Kompasse auf Gor, so enthielt auch der meine ein Chronometer. Ich drehte das Gerät herum, drückte auf den Hebel, der den rückwärtigen Deckel öffnete, und warf einen Blick auf die Zeiger. Es war zwei Minuten nach der zwanzigsten Stunde! Vergessen war jeder Gedanke an Desertation. Abrupt startete ich meinen Tarn und steuerte auf den Turm des Ubar zu.

Sekunden später tauchte das Gebäude unter mir auf. Ich lenkte den Tarn sofort hinab, denn ohne guten Grund darf man nicht in die Nähe dieses Turmes kommen. Im Anflug erblickte ich das große runde Dach des Zylinders. Es schien von unten beleuchtet – ein bläulicher S chimmer. In der Mitte des Kreises erhob sich eine niedrige runde Plattform, etwa drei Meter im Durchmesser, durch vier flache Stufen abgesetzt. Auf der Plattform stand eine einsame, dunkelgekleidete Gestalt. Als mein Tarn auf der Plattform landete und ich herabsprang, hörte ich ein Mädchen schreien.

Ich stürzte zur Mitte der Plattform und zerbrach dabei unter meinem Fuß einen kleinen Korb mit Korn und stieß einen Ka-la-na-Behälter aus dem Weg, der seine rote Flüssigkeit über die Steinfläche ergoß. Ich warf mich auf den Stapel von Steinen in der Mitte der Plattform; die Schreie des Mädchen gellten mir im Ohr. Ganz in der Nähe waren die Rufe von Männern und das Klirren von Waffen zu hören. Krieger hasteten die Treppe zum Dach herauf. Welches war der Heimstein? Ich stieß die Steine zur Seite. Einer mußte der Heimstein Ars sein – aber welcher? Wie konnte ich ihn von all den anderen Steinen unterscheiden – von den Heimsteinen der Städte, die unter Ars Macht standen? Ja! Es mußte der Stein sein, der voller Ka -la -na war, der Stein, an dem die kleinen Körner hafteten! Hastig betastete ich die Steine, doch mehrere waren feucht und mit Sa-Tarna übersät. Ich spürte, daß die vermummte Gestalt mich zurückzerrte, daß sie versuchte, ihre Fingernägel in meine Schultern und me inen Hals zu graben. Ich schwang herum und stieß sie zurück. Sie fiel auf die Knie und kroch plötzlich zu einem der Steine, packte ihn und wollte die Flucht ergreifen. Ein Speer klapperte neben mir über die Plattform. Die Wächter waren auf dem Dach!

Ich sprang hinter der vermummten Gestalt her, ergriff sie, wirbelte sie herum und entriß ihr den Stein, den sie trug. Sie schlug nach mir und verfolgte mich zu dem Tarn, der erregt seine Flügel schüttelte und das Dach des Zylinders verlassen wollte. Ich sprang hoch, griff nach dem Sattelring. Im nächsten Augenblick saß ich im Sattel und zerrte heftig am ersten Zügel. Die vermummte Gestalt versuchte die Sattelleiter zu erklimmen, wurde jedoch durch das Gewicht ihrer bestickten Roben behindert. Ich fluchte, als ein Pfeil meine Schulter streifte. Im gleichen Augenblick breiteten sich die gewaltigen Flügel des Tarn aus, und das Ungeheuer erhob sich in die Luft. Er schwebte davon, und das Surren der Pfeile klang mir in den Ohren, dazu die Schreie der aufgebrachten Männer und der lange, durchdringende Entsetzensschrei eines Mädchens.

Ich blickte verblüfft nach unten. Die vermummte Gestalt klammerte sich noch immer verzweifelt an der Sattelleiter fest. Sie pendelte frei unter dem Tarn hin und her, während die Lichter Ars schnell unter uns zurückblieben. Ich zog mein Schwert aus der Scheide, um die Leiter abzutrennen, doch dann hielt ich inne und stieß die Klinge ärgerlich wieder zurück. Ich konnte mir das zusätzliche Gewicht nicht erlauben, doch ich brachte es auch nicht über das Herz, das Mädchen in den Tod zu schicken.

Ich fluchte, als unten das wilde Konzert von Tarnpfeifen hörbar wurde. In der heutigen Nacht war bestimmt jeder Tarnkämpfer Ars unterwegs. Ich passierte die letzten Zylinder der Stadt und fand mich frei in der goreanischen Nacht, auf dem Wege nach Ko-ro-ba. Ich steckte den Heimstein in die Satteltasche, verriegelte sie und griff dann nach unten, um die Sattelleiter einzuziehen.

Das Mädchen wimmerte entsetzt, und ihre Muskeln und Finger schienen vor Kälte erstarrt.

Als ich sie längst vor mir in den Sattel gezogen und sicher am Ring festgeschnallt hatte, mußte ich ihre Finger gewaltsam von der Leitersprosse lösen. Ich faltete die Leiter zusammen und befestigte sie an der Seite des Sattels. Das Mädchen tat mir leid. Eine hilflose Figur in den ehrgeizigen politischen Plänen ihres Vaters. Die leisen Angstlaute, die sie ausstieß, rührten mich.

»Hab keine Angst«, sagte ich. »Ich werde dir nichts tun. Wenn wir über dem Sumpf hinaus sind, setzte ich dich an irgendeiner Straße ab.« Ich wollte sie beruhigen. »Morgen früh bist du wieder in Ar.« Hilflos stammelte sie ein unverständliches Wort des Dankes, drehte sich herum und legte die Arme um mich, wie um Schutz zu suchen. Ich spürte sie zittern, spürte ihren unschuldigen Körper, und dann schloß sie plötzlich die Arme um meine Hüften und stemmte mich mit einem Wutschrei aus dem Sattel. Als ich zu fallen begann, machte ich mir klar, daß ich bei der wilden Flucht meinen eigenen Sattelgurt nicht festgezogen hatte. Meine Hände versuchten zuzupacken, griffen ins Leere. Ich stürzte kopfüber ins Nichts.

Einen Sekundenbruchteil lang hörte ich ihr triumphierendes Gelächter, das sich schnell im Wind verlor. Ich spürte, wie sich mein Körper beim Sturz in Erwartung des Aufpralls versteifte. Ich fragte mich wohl auch, ob ich Schmerz verspüren würde, und kam zu dem Schluß, daß das wohl der Fall sein mußte. Absurderweise versuchte ich meinen Körper zu lockern und entspannte die Muskeln, als ob das noch einen Unterschied machen würde. Ich wartete auf den Aufprall, war mir des Schmerzes bewußt, als ich durch Äste raste und schließlich in einer weichen, nachgebenden Substanz untertauchte. Ich verlor das Bewußtsein. Als ich die Augen öffnete, haftete mein Körper an einem weitreichenden Netzwerk aus breiten elastischen Bahnen, die eine seltsame Struktur bildeten, etwa ein Pasang im Durchmesser, durch das in unregelmäßigen Abständen die gewaltigen Bäume des Sumpfwaldes ragten. Ich spürte das seltsame Gewebe zittern und versuchte aufzustehen. Doch das war unmöglich. Ich klebte an der Substanz, aus der das gewaltige Netz bestand. Von links näherte sich mit einer für ihre Größe erstaunlichen Geschwindigkeit eine der Sumpfspinnen Gors. Ich richtete meine Augen auf den blauen Himmel und wäre am liebsten im Sumpf versunken. Ich erschauerte, als das Ungeheuer neben mir verhielt, und ich spürte die leichte Berührung seiner Vorderbeine, ahnte die tastende Berührung der empfindlichen Haare. Ich sah auf, und das Tier starrte mich mit seinen acht schimmernden Knopfaugen an -fragend, wie mir schien. Dann hörte ich zu meinem Erstaunen eine mechanisch erzeugte Stimme fragen: »Wer bist du?« Ich begann zu zittern, glaubte ich doch, daß mich meine Sinne schließlich doch im Stich gelassen hätten. Gleich darauf wiederholte die Stimme ihre Frage mit erhöhter Lautstärke und fügte hinzu: »Bist du aus der Stadt Ar?«

»Nein«, sagte ich und stürzte mich kopfüber in diese phantastische Halluzination. »Nein, ich komme nicht aus Ar, sondern aus der Freien Stadt Ko-ro-ba.«

Als ich das sagte, beugte sich das monströse Insekt neben mir nieder, und ich erblickte seine Eßwerkzeuge, scharf wie gebogene Messer. Ich stählte mich gegen den tödlichen Zugriff dieser natürlichen Klingen. Statt dessen wurde Speichel oder eine ähnliche Ausscheidung rings um mich auf das Netz geträufelt, was sofort den Klebeeffekt beseitigte. Als ich wieder frei war, umfaßten mich die Eßwerkzeuge, und ich wurde an den Rand des Netzes getragen, wo die Spinne eine herabhängende Liane ergriff und sich zu Boden gleiten ließ. Ich wurde abgesetzt. Das Tier wich dann auf seinen acht Beinen vor mir zurück, ohne den schimmernden Blick von mir zu nehmen.

Wieder hörte ich die mechanische Stimme. »Ich heiße Nar und gehöre dem Spinnenvolk an.« Nun entdeckte ich auch das kleine Gerät, das unten an dem Körper befestigt war, eine Übersetzungsvorrichtung, wie ich sie auch schon in Ko-ro-ba gesehen hatte. Offensichtlich übersetzte der Apparat Lautimpulse, die unterhalb meiner Hörbarkeitsschwelle lagen. Meine Antworten wurden bestimmt entsprechend umgewandelt. Eines der Insektenbeine drehte an einem Knopf. »Kannst du mich hören?« fragte das Tier. »Ja«, sagte ich. Das Insekt schien erleichtert zu sein. »Das freut mich«, sagte es. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte ich. »Vielen Dank!« »Mein Netz hat dir das Leben gerettet«, berichtigte mich das Insekt. Es schwieg einen Augenblick und sagte dann, als spürte es meine Besorgnis: »Ich werde dir nichts tun. Das Spinnenvolk fügt einem intelligenten Wesen keinen Schaden zu.« »Dafür bin ich dir dankbar«, sagte ich. Der nächste Satz raubte mir den Atem. »Bist du der Mann, der den Heimstein Ars genommen hat?«

Ich antwortete erst nach einigem Zögern und bejahte dann die Frage. Offensichtlich hatte das Wesen wenig für die Menschen Ars übrig. »Das freut mich zu hören«, sagte das Insekt. »Denn die Bewohner dieser Stadt behandeln unser Spinnenvolk nicht gut. Sie jagen uns und lassen uns nur am Leben, damit sie das Cur-lon-Garn bekommen, das dann in den Webereien Ars verarbeitet wird. Wenn sie keine intelligenten Wesen wären, würden wir sie bekämpfen.«

»Woher weißt du, daß der Heimstein Ars gestohlen wurde?« fragte ich.

»Diese Nachricht hat sich schnell verbreitet. Alle intelligenten Wesen verbreiten sie – ob sie nun kriechen, fliegen oder schwimmen. Darüber herrscht große Freude auf Gor – allerdings nicht in Ar.«

»Ich habe den Heimstein wieder verloren«, sagte ich. »Ich wurde von einem Mädchen getäuscht, das vermutlich die Tochter des Ubar ist. Sie schleuderte mich von meinem Tarn, und ich wurde nur durch dein Netz gerettet. Ich möchte vermuten, daß heute abend auch in Ar wieder Freude herrscht, wenn nämlich die Tochter des Ubar den Heimstein zurückbringt.«

Wieder sprach die mechanische Stimme: »Wie kann es sein, daß die Tochter des Ubar den Heimstein zurückbringt, wenn du an deinem Gürtel den Tarnstab trägst?«

Ich war verblüfft, daß mir das nicht selbst eingefallen war. Ich stellte mir das Mädchen auf dem Rücken des wilden Tarn vor, ungeübt im Umgang mit einem solchen Tier, ohne Tarnstab, mit dem sie sich gegen den Vogel verteidigen konnte. Ihre Überlebenschancen kamen mir plötzlich sehr gering vor, denn bald war Fressenszeit für den Tarn. Es war bestimmt schon seit einigen Stunden hell.

»Ich muß nach Ko-ro-ba zurück«, sagte ich. »Ich habe meine Mission nicht erfüllt.«

»Wenn du einverstanden bist, bringe ich dich an den Rand des Sumpfes«, sagte das Insekt. Ich dankte ihm und wurde sanft auf den Rücken gehoben. Die Spinne bewegte sich nun schnell und geschickt durch den Sumpfwald.

Wir waren etwa eine Stunde unterwegs, als Nar plötzlich verharrte und die beiden Vorderbeine witternd in die Luft hob.

»Hier ist ein fleischfressender Tharlarion in der Nahe – ein wilder Tharlarion: Halt dich fest!«

Zum Glück gehorchte ich sofort, denn schon raste Nar zu einem nahestehenden Sumpfbaum und hastete am Stamm empor. Einige Minuten später hörte ich das hungrige Knurren eines wilden Tharlarion und gleich darauf den durchdringenden Entsetzensschrei eines Mädchens.

Von Nars Rücken aus konnte ich das Sumpfgebiet mit seinen Schilfinseln und Insektenschwärmen überblicken. In einer Schilfwand etwa fünfzig Schritt entfernt tauchte schreiend und stolpernd eine Menschengestalt auf. Mit ausgestreckten Armen floh sie blindlings in den Sumpf. Im gleichen Augenblick erkannte ich die bestickte Robe, die nun schlammbespritzt und zerfetzt war – es war die Tochter des Ubar!

Kaum hatte das Mädchen die Lichtung erreicht und hastete durch das seichte grüne Wasser zu unseren Füßen, als auch schon der furchterregende Kopf eines wilden Tharlarion im Schilf erschien. Die runden Augen schimmerten vor Erregung, das riesige Maul klaffte weit. Mit fast unvorstellbarer Geschwindigkeit zuckte eine lange braune Zuge aus diesem Maul und ringelte sich um die schlanke, hilflose Gestalt des Mädchens. Sie kreis chte hysterisch.

Ohne nachzudenken, kletterte ich von Nars Rücken, ergriff eine der langen, lianenähnlichen Ranken, die wie Parasiten in den Sumpfbäumen leben. Eine Sekunde später landete ich am Fuße des Baumes im Sumpfwasser und rannte mit erhobenem Schwe rt auf den Tharlarion zu. Ich stürzte mich zwischen das große Maul und das Mädchen und hieb mit schnellem Schwertschlag die braune Zunge durch. Ein ohrenbetäubender Schmerzensschrei schrillte durch die schwüle Sumpfluft, und der Tharlarion erhob sich schmerzgepeinigt auf die Hinterpranken und zog mit häßlichem Geräusch den Stumpf seiner Zunge in das Maul. Gleich darauf richteten sich seine bösen Augen auf mich, das Maul, das nun mit farblosem Schleim gefüllt war, öffnete sich und entblößte scharfe Zahnreihen.

Das Ungeheuer ging zum Angriff über. Ich kniete nieder, und der gewaltige Kopf fuhr über mich dahin; im gleichen Augenblick stieß ich das Schwert heftig nach oben und ließ die Klinge tief in den dicken Hals sinken. Der Tharlarion wich einige Schritte zurück, langsam, unsicher. Der Zungenstumpf zischelte mehrmals aus dem Mund, als verstünde das Wesen nicht, warum die Zunge nicht mehr vollständig war. Der Tharlarion sank ein wenig tiefer in den Sumpf und schloß halb die Augen. Da wußte ich, daß der Kampf v orüber war. Das Wesen glitt langsam in den Schlamm, und ringsum rührte sich das Wasser, und ich ahnte, daß sich nun bereits die kleinen Wasserechsen des Sumpfes an ihre scheußliche Arbeit machten. Ich bückte mich und wusch meine Schwertklinge ab. Vorsichtig

kehrte ich dann zum Stamm des Sumpfbaums zurück und erkletterte die kleine trockene Insel, die sich darum gebildet hatte. Ich sah mich um. Das Mädchen war geflohen. Das ärgerte mich etwas. Aber was hatte ich erwartet? Daß sie mir danken würde? Sie hatte mich zweifellos dem Tharlarion überlassen und sich darüber gefreut, daß sich ihre Gegner nun gegenseitig vernichteten, während sie ungeschoren davonkam. Ich fragte mich, wie weit sie wohl in den Sumpf vordringen konnte, ehe ein zweiter Tharlarion ihre Spur aufnahm. Ich rief: »Nar!« und sah mich nach meinem Spinnenfreund um, doch auch er war verschwunden. Erschöpft lehnte ich mich mit dem Rücken gegen den Baumstamm, ohne die Hand vom Schwertgriff zu nehmen. Angewidert beobachtete ich den Körper des toten Tharlarion. Er hatte sich gewendet, und die ersten Knochen wurden sichtbar. Die kleinen Echsen waren wirklich schnell.

Ein Geräusch ertönte. Ich sprang kampfbereit auf. Doch es war nur die Spinne, die mit hastigen Bewegungen näher kam. In ihren Eßwerkzeugen hielt sie die Tochter des Ubar Marlenus. Das Mädchen schlug mit ihren winzigen Fäusten auf Nar ein. Die Spinne kümmerte sich nicht darum und setzte sie vor mir ab, und ihre schimmernden Knopfaugen wirkten wie leere, ausdruckslose Monde an einem nächtlichen Himmel.

»Dies ist die Tochter des Ubar Marlenus«, sagte Nar und fügte ironisch hinzu: »Sie hat leider vergessen, dir für die Rettung ihres Lebens zu danken – was für ein intelligentes Wesen doch einigermaßen seltsam ist, nicht wahr?«

»Schweig, Insekt!« sagte die Tochter des Ubar flehend. Sie schien sich vor Nar nicht zu fürchten – vielleicht weil die Bewohner Ars mit dem Spinnenvolk vertraut waren. Allerdings konnte kein Zweifel bestehen, daß ihr die Berührung der Eßwerkzeuge zuwider war. Ich betrachtete sie, die nun wirklich keinen schönen Anblick mehr bot. Ihre schweren Roben waren schlammbespritzt, und an mehreren Stellen war der schwere Brokat gebrochen. Es mochte Stunden gedauert haben, sie für das Fest herauszuputzen. Durch den schmalen Schlitz der Schleier blitzten mich ihre Augen wütend an. Ich bemerkte, daß sie grünlich waren, die Augen einer Herrscherstochter, wild, ungezähmt, gewohnt zu befehlen. Es wurde mir auch zu meinem Mißvergnügen bewußt, daß die Tochter des

Ubar mehrere Zentimeter größer war als ich; es war fast, als stimmten ihre Körperproportionen nicht.

»Du läßt mich sofort frei«, verkündete sie, »und schickst das eklige Insekt fort.«

»Spinnen sind eigentlich bemerkenswert saubere Insekten«, sagte ich mit einem bezeichnenden Blick auf ihre verdreckten Roben.

Sie zuckte die Achseln.

»Wo ist der Tarn?« fragte ich.

»Du solltest lieber fragen, wo der Heimstein Ars ist«, erwiderte sie.

»Wo ist der Tarn?« wiederholte ich. Mein Tier interessierte mich in diesem Augenblick mehr als das lächerliche Stück Stein, für das ich mein Leben riskiert hatte.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Es ist mir auch egal.«

»Was ist geschehen?« wollte ich wissen.

»Ich wünsche nicht, daß dieses Verhör fortgesetzt wird«, verkündete sie.

Wütend ballte ich die Fäuste.

Sanft schlössen sich die Eßwerkzeuge Nars um den Hals des Mädchens. Angst überkam sie mit plötzlichem Zittern. »Es soll aufhören!« keuchte sie und wand sich in dem erbarmungslosen Griff.

Ihre Finger versuchten die harten Zangen vergeblich zur Seite zu schieben.

»Möchtest du ihren Kopf?« fragte die mechanische Stimme des Insekts.

Ich wußte, daß das Insekt keinem intelligenten Wesen weh tun konnte – also mußte es einen Plan verfolgen. Deshalb sagte ich: »Ja.« Die beiden Klingen begannen sich unbarmherzig wie eine gigantische Schere um den Hals des Mädchens zu schließen.

»Halt!« schrie sie. »Ich habe versucht, den Tarn nach Ar zurückzulenken. Aber ich habe noch nie einen geritten und hatte keinen Tarnstab!«

Ich machte eine Handbewegung, und Nar zog seine Esswerkzeuge zurück.

»Wir waren irgendwo über dem Sumpfwald«, fuhr das Mädchen fort, »als wir einem Schwärm wilder Tarns begegneten. Mein Tarn griff den Führer des Schwarms an.«

Sie erschauderte bei dem Gedanken, und ich hatte Mitleid mit ihr. Hilflos an den Sattel eines Riesentarns geschnallt, der sich in einen Kampf auf Leben und Tod einläßt – das mußte ein schreckliches Erlebnis gewesen sein.

»Mein Tarn brachte den anderen Vogel um«, fuhr das Mädchen fort, »und folgte ihm zu Boden, wo er seinen Gegner in Stücke riß.« Sie zitterte. »Ich löste den Sattelgurt und versteckte mich zwischen den Bäumen. Nach einigen Minuten flog dein Tarn wieder davon, Schnabel und Krallen waren voller Blut und Federn. Zuletzt sah ich ihn, wie er die Führung des Schwarms übernahm.«

Und damit war jede Hoffnung dahin, dachte ich. Der Tarn war wieder wild geworden. Seine Instinkte hatten über die Tarnpfeife und die Erinnerung an die Menschen triumphiert. »Und der Heimstein Ars?« fragte ich.

»In der Satteltasche«, bestätigte sie meine Befürchtung. Ich hatte die Tasche verschlossen, die fest mit dem Sattel verbunden war. Ihre Stimme hatte bedrückt geklungen, und ich spürte ihre Scham, daß sie den Heimstein nicht an sich gebracht hatte. Der Tarn war nun fortgeflogen, seine wilde Natur hatte die Oberhand gewonnen, der Heimstein war in der Satteltasche. Ich hatte versagt, die Tochter des Ubar hatte versagt, und so standen wir einander nun gegenüber auf der grünen Lichtung im Sumpfwald Ars.

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