Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes

Dies ist die Geschichte eines Mannes namens Neil Fisk, und sie erzählt, wie er lernte, Gott zu lieben. Das Schlüsselereignis in Neils Leben war so schrecklich wie alltäglich: der Tod seiner Frau Sarah. Nachdem sie gestorben war, wurde Neil von Trauer überwältigt, einer Trauer, die nicht nur wegen ihrer Heftigkeit entsetzlich war, sondern auch, weil sie das, was er früher erlitten hatte, wiederaufleben ließ und sogar verstärkte. Sarahs Tod zwang ihn dazu, seine Beziehung zu Gott noch einmal gründlich in Augenschein zu nehmen, und so begann er eine Reise, die ihn für immer verändern sollte.

Neil war mit einer angeborenen Anomalie zur Welt gekommen, durch die seine linke Hüfte nach außen verdreht und um einige Zentimeter kürzer war als die rechte. Der medizinische Name dafür lautete Femurdysplasie oder Proximal Femoral Focus Deficiency (PFFD). Die meisten Leute, die er kannte, waren der Meinung, Gott sei für diese Deformation verantwortlich, doch Neils Mutter war während der Schwangerschaft nicht Zeuge einer Erscheinung gewesen; sein Zustand war die Folge eines fehlerhaften Gelenkwachstums in der sechsten Schwangerschaftswoche. Auch wenn Neils Mutter es niemals aussprach, gab sie doch Neils abwesendem Vater die Schuld am Zustand ihres Sohnes, denn sein Einkommen hätte vielleicht einen chirurgischen Eingriff ermöglicht, um das Problem zu beheben.

Als Kind hatte sich Neil hin und wieder gefragt, ob Gott ihn bestrafte, aber meistens machte er seine Klassenkameraden für sein Unglück verantwortlich. Ihre beiläufige Grausamkeit, ihr Gespür für die Schwachstellen im emotionellen Panzer ihres Opfers, die Art und Weise, wie ihr Sadismus ihren Zusammenhalt stärkte, waren für Neil ein typisch menschliches, kein göttliches Verhalten. Auch wenn seine Klassenkameraden bei ihren Hänseleien oftmals Gottes Namen im Munde führten, wusste Neil es besser und legte ihre Taten nicht Gott zur Last.

Obwohl Neil es vermied, Gott an allem die Schuld zu geben, gelang es ihm nicht, ihn zu lieben. Weder seine Erziehung, noch seine Persönlichkeit veranlassten ihn dazu, sich mit Gebeten an Gott zu wenden, er möge ihm Kraft geben oder seine Leiden lindern. Die verschiedenen Prüfungen, mit denen er konfrontiert wurde, während er heranwuchs, beruhten auf zufälligen oder menschlichen Ursachen, und Neil verließ sich ausschließlich auf menschliche Mittel, um ihnen zu begegnen. Er wuchs zu einem Erwachsenen heran, für den – wie für so viele andere auch – die Taten Gottes so lange etwas Abstraktes waren, bis sie sich auf sein eigenes Leben auswirkten. Engelserscheinungen waren für ihn Ereignisse, die anderen widerfuhren und ihn selbst nur in Form von Zeitungsartikeln und Abendnachrichten erreichten. Sein Leben verlief in weltlichen Bahnen. Er arbeitete als Verwalter eines Gebäudes mit Wohnungen der höheren Preisklasse, trieb die Miete ein und kümmerte sich um Reparaturen. Ansonsten war er der Meinung, dass sich die Dinge ganz ohne göttliches Eingreifen zum Guten oder Schlechten entwickelten.

Bis zum Tod seiner Frau blieb das sein Erfahrungshorizont.

Die Erscheinung hatte ein geringeres Ausmaß als üblich, war aber völlig gewöhnlich, was ihre Auswirkungen anging, denn sie bescherte manchen Segnungen, anderen Unheil. In diesem Fall tauchte der Engel Nathanael in einem Einkaufszentrum in der Innenstadt auf. Der Besuch hatte vier Wunderheilungen zur Folge: Die Krebsgeschwüre von zwei Personen verschwanden, die Wirbelsäule eines Querschnittsgelähmten gesundete, und einer erst vor Kurzem erblindeten Person wurde ihr Augenlicht geschenkt. Zudem geschahen zwei Wunder, die keine Heilungen waren: Ein Lieferwagen, dessen Fahrer angesichts der Engelserscheinungen ohnmächtig geworden war, wurde aufgehalten, bevor er auf einem belebten Bürgersteig Schaden anrichten konnte, und als der Engel entschwand, wurde ein anderer Mann von dem himmlischen Licht getroffen, das ihm die Augen verbrannte, ihn aber mit gläubiger Ergebenheit erfüllte.

Sarah Fisk, Neils Frau, zählte zu den acht Opfern der Engelserscheinung. Als der lodernde Flammenmantel des Engels die Fensterscheibe des Cafés, in dem sie sich gerade aufhielt, zerschmetterte, trafen sie umherfliegende Glassplitter. Sie verblutete innerhalb weniger Minuten, und die anderen Cafébesucher – von denen keiner auch nur die leichtesten Verletzungen erlitten hatte – konnten nichts unternehmen, außer ihren Angst- und Schmerzensschreien zu lauschen und schließlich Zeuge zu werden, wie ihre Seele zum Himmel aufstieg.

Nathanael hatte keine besondere Botschaft überbracht. Die mächtig dröhnenden Abschiedsworte des Engels, die den Erscheinungsort erfüllten, waren das übliche Sehet die Macht des Herrn gewesen. Verglichen mit dem Durchschnitt von Todesfällen im Allgemeinen wurden von den acht an diesem Tag Verunglückten verhältnismäßig wenige, nämlich nur drei, in den Himmel aufgenommen. Zweiundsechzig Personen mussten medizinisch versorgt werden. Ihre Verletzungen reichten von leichten Gehirnerschütterungen über geplatzte Trommelfelle bis hin zu Verbrennungen, die Hauttransplantationen nötig machten. Der Gesamtschaden vor Ort belief sich auf 8,1 Millionen Dollar, für den die Versicherungen aufgrund der Ursache nicht aufkamen. Viele wurden infolge dieser Erscheinung zu gottesfürchtigen Gläubigen, sei es aus Dankbarkeit oder aus Angst.

Neil Fisk gehörte leider nicht zu ihnen.


Diejenigen, die Zeuge einer Erscheinung geworden sind, gehen für gewöhnlich zu Gruppentreffen, um darüber zu sprechen, wie das gemeinsame Erlebnis ihr Leben verändert hat. Die Zeugen von Nathanaels jüngster Erscheinung organisierten ebenfalls solche Zusammenkünfte, zu denen sie die Angehörigen der Verstorbenen willkommen hießen, und so nahm auch Neil teil. Die Treffen fanden einmal monatlich im Keller einer der großen Kirchen der Innenstadt statt. Klappstühle aus Metall waren in Reihen aufgestellt, und am hinteren Ende des Raumes stand ein Tisch mit Kaffee und Doughnuts. Alle trugen mit Filzstift ausgefüllte Namensschildaufkleber auf der Brust.

Bis zum Beginn des Treffens standen die Teilnehmer überall im Raum herum, warteten, tranken Kaffee und plauschten miteinander. Die meisten Leute, mit denen Neil sprach, nahmen an, dass der Zustand seines Beines eine Folge der Erscheinung war, und er musste erklären, dass er nicht Zeuge gewesen, sondern der Gatte eines der Opfer war. Das machte ihm nicht allzu viel aus, denn er war es gewohnt, über sein Bein zu sprechen. Was ihn jedoch störte, war die Atmosphäre der Gespräche bei den Zusammenkünften: Die meisten erzählten von ihrem neugefundenen Glauben an Gott und bemühten sich, die Trauernden davon zu überzeugen, ihrem Beispiel zu folgen.

Wie Neil auf solche Überzeugungsversuche reagierte, hing davon ab, wer mit ihm sprach. War es jemand, der die Erscheinung miterlebt hatte, davon aber nicht betroffen gewesen war, fand er es bloß lästig. War es jemand, dem eine Wunderheilung zuteil geworden war, musste Neil sich zurückhalten, dieser Person nicht an den Hals zu gehen. Am meisten entrüstete es ihn allerdings, wenn ein Mann namens Tony Crane ihn zu überzeugen suchte. Auch Tonys Frau war bei der Erscheinung ums Leben gekommen, und jede seiner Bewegungen hatte nun etwas Unterwürfiges. Mit gedämpfter, den Tränen naher Stimme erklärte er, wie er gelernt hatte zu akzeptieren, dass er ein Kind Gottes war, und er riet Neil, es ihm gleichzutun.

Neil besuchte diese Versammlungen weiterhin – er glaubte es Sarah schuldig zu sein, dabei zu bleiben –, aber er hatte eine weitere Gruppe gefunden, an der er teilnehmen konnte, und zwar eine, die eher seiner emotionalen Verfassung entsprach: Bei dieser Gruppe trafen sich Personen, die einen geliebten Menschen durch eine Erscheinung verloren hatten und die nun Gott zürnten. Die Mitglieder dieser Gruppe sahen einander alle zwei Wochen in einem örtlichen Gemeindezentrum, und sie sprachen dort über die Wut und die Trauer, die in ihnen brodelte.

Die Teilnehmer dieser Gruppe kamen trotz ihrer verschiedenen Einstellungen Gott gegenüber gut miteinander aus. Von jenen, die vor ihrem Verlust gläubig gewesen waren, rangen einige damit, sich diesen Glauben zu bewahren, während andere sich ohne zu zögern von ihrer Frömmigkeit abwandten. Von jenen, die bis zu ihrem Schicksalsschlag Atheisten gewesen waren, fühlten sich einige in ihren Ansichten bestätigt, während sich andere wiederum mit der schier unlösbaren Herausforderung konfrontiert sahen, nun im Glauben Halt zu finden. Zu seiner eigenen Bestürzung gehörte Neil zu dieser letzten Gruppe.

Wie alle anderen Ungläubigen hatte Neil nie viel Zeit darauf verschwendet sich auszumalen, wo seine Seele einmal enden würde. Er hatte immer angenommen, dass er in der Hölle landen würde, und sich längst damit abgefunden. So war der Lauf der Dinge, und die Hölle war schließlich kein schlimmerer Ort als die Welt der Sterblichen.

Die Hölle verhieß eine permanente Verbannung aus der Gegenwart Gottes, nicht mehr und nicht weniger. Das war immer dann, wenn die Hölle sich offenbarte, für jeden klar ersichtlich geworden. Dies geschah öfters; dann schien der Erdboden durchsichtig zu werden, und man konnte, als würde man durch ein Loch im Boden blicken, die Hölle sehen. Die verlorenen Seelen unterschieden sich nicht von den Lebenden; ihre unsterblichen Leiber glichen denen der Sterblichen. Sprechen konnte man nicht mit ihnen – ihre Verbannung aus Gottes Gegenwart hatte zur Folge, dass sie die Welt der Sterblichen, wo Sein Wirken immer noch zu spüren war, nicht wahrnehmen konnten –, aber solange die Erscheinungen der Hölle andauerten, konnte man hören, wie die Höllenbewohner sprachen, lachten oder weinten, ganz so, wie sie es getan hatten, als sie noch am Leben gewesen waren.

Auf die Höllenerscheinungen reagierten die Menschen in unterschiedlichster Weise. Die meisten Gläubigen waren wie elektrisiert, nicht weil sie etwas Furchtbares sahen, sondern weil ihnen vor Augen geführt wurde, dass es möglich war, die Ewigkeit außerhalb des Paradieses zu verbringen. Neil gehörte jedoch zu denen, die der Anblick der Höllenerscheinungen unbeeindruckt ließ. Soweit er erkennen konnte, waren die verlorenen Seelen nicht unglücklicher als er selbst und ihr Dasein nicht schlimmer als das in der Welt der Sterblichen. In mancher Hinsicht ging es den Höllenbewohnern sogar besser, denn ihre Körper litten nicht länger unter angeborenen Missbildungen.

Natürlich wusste jeder, dass der Himmel ungleich schöner war als die Hölle oder die Welt der Sterblichen, doch für Neil blieb er immer etwas Unfassbares, das er sich nicht vorstellen konnte, so wie Reichtum, Ruhm oder Glamour. Für jemanden wie ihn war die Hölle einfach ein Ort, an dem es einen nach seinem Tod verschlägt, und er sah keinen Grund, sein Leben umzukrempeln, in der Hoffnung, dem zu entgehen. Und da Gott bisher keine Rolle in Neils Leben gespielt hatte, hatte er keine Angst, von ihm verstoßen zu werden. Die Aussicht, in einer Welt zu leben, in der es von Natur aus keine segensreichen oder leidbringenden Eingriffe von außen gab, barg keinen Schrecken für ihn.

Seit Sarah im Himmel war, hatte sich seine Situation jedoch von Grund auf geändert. Nichts wünschte sich Neil mehr, als wieder mit ihr zusammen zu sein, und der einzige Weg, dieses Ziel zu erreichen, bestand darin, Gott von ganzem Herzen zu lieben.


Dies ist Neils Geschichte, doch um sie richtig zu erzählen, muss noch von zwei anderen Menschen berichtet werden, die seinen Weg kreuzten. Die erste dieser Personen ist Janice Reilly.

Janice war tatsächlich widerfahren, was die Leute von Neil glaubten. Als Janices Mutter im achten Monat mit ihr schwanger war, verlor sie die Kontrolle über ihr Auto und raste während eines Hagelsturms gegen einen Telefonmast. Faustgroße Eisklumpen stürzten aus einem strahlend blauen Himmel herab und bedeckten die Straße, als ob riesige Kugellager geborsten wären. Janices Mutter saß zitternd, aber unverletzt in ihrem Auto, als sie eine silberne Flammenwucherung – von der man später zu sagen wusste, dass es der Engel Bardiel war – über den Himmel tanzen sah. Dieser Anblick ließ Janices Mutter vor Schreck erstarren; dennoch bemerkte sie, dass sich in ihrem Schoß etwas verändert hatte. Eine Ultraschalluntersuchung ergab, dass die noch ungeborene Janice keine Beine mehr hatte. Stattdessen wuchsen ihr delphinartige Flossen unmittelbar aus den Hüftgelenken.

Das Leben von Janice wäre womöglich wie das von Neil verlaufen, wäre nicht zwei Tage nach der Ultraschalluntersuchung Folgendes geschehen. Ihre Eltern saßen am Küchentisch, weinten und fragten sich, womit sie verdient hätten, was ihnen widerfahren war, als ihnen eine Vision zuteil wurde: Die geretteten Seelen von vier ihrer Verwandten erschienen ihnen und tauchten die Küche in goldenes Licht. Die Geretteten sprachen kein Wort, aber ihr glückseliges Lächeln erfüllte jeden, der sie sah, mit heiterer Gleichmut. Von diesem Augenblick an waren sich die Reillys sicher, dass der Zustand ihrer Tochter keine Strafe war.

So kam es, dass Janice in der Gewissheit aufwuchs, dass ihre Beinlosigkeit ein Segen war. Ihre Eltern erklärten ihr, dass Gott sie mit einer besonderen Aufgabe betraut hatte, die zu vollbringen Er Janice für fähig hielt, und so schwor sie, Gott nicht zu enttäuschen. Für Janice bestand ihre Aufgabe darin, anderen ohne Stolz oder Trotz vorzuleben, dass ihr Zustand kein Zeichen der Schwäche, sondern eines der Stärke war.

Als Kind wurde sie von ihren Klassenkameraden rückhaltlos akzeptiert. Wenn man so hübsch, selbstsicher und charismatisch ist, wie es Janice war, ist es für andere Kinder nicht von Bedeutung, dass man im Rollstuhl sitzt. Als Jugendliche stellte Janice fest, dass sie die körperlich Gesunden an ihrer Schule nicht überzeugen musste. Für sie wurde wichtiger, ein Vorbild für andere Behinderte zu sein, egal, ob ihr Zustand auf einem Eingriff Gottes beruhte oder nicht, egal, wo sie lebten. Janice begann, öffentlich Vorträge zu halten, bei denen sie Behinderten versicherte, dass sie über die innere Stärke verfügten, die Gott von ihnen verlangte.

Im Laufe der Jahre wuchs ihr Ansehen und ihre Anhängerschaft. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt, indem sie schrieb und Reden hielt, und gründete eine gemeinnützige Gesellschaft, die sich der Verbreitung ihrer Botschaft widmete. Janice erhielt Dankesbriefe von Menschen, deren Leben sie verändert hatte, und das erfüllte sie mit einer Zufriedenheit, die Neil nie zuteil geworden war.

Das war Janices Leben, bis zu dem Tag, als sie selbst Zeuge einer Erscheinung des Engels Rashiel wurde. Sie wollte gerade ihr Haus betreten, als das Beben begann. Obwohl sie nicht in einem geologisch aktiven Gebiet lebte, dachte sie im ersten Augenblick, es wäre ein gewöhnliches Erdbeben, und wollte im Hauseingang abwarten, bis es vorüber war. Kurz darauf sah sie ein silbernes Schimmern am Himmel, und unmittelbar bevor sie ohnmächtig wurde, begriff sie, dass es sich dabei um einen Engel handelte.

Als Janice wieder erwachte, wurde sie mit der größten Überraschung ihres Lebens konfrontiert: dem Anblick ihrer beiden neuen, langen, muskulösen und gesunden Beine.

Als sie sich das erste Mal aufrichtete, erschrak sie, denn sie war größer, als sie erwartet hatte. In dieser Höhe ohne die Hilfe ihrer Arme das Gleichgewicht zu bewahren, verunsicherte sie, aber sie fand es auf seltsame Weise anregend, die Struktur des Bodens unter ihren Füßen zu spüren. Verdutzt schlenderte sie die Straße entlang, und als Rettungskräfte sie fanden, war man der Meinung, sie stünde unter Schock. Erstaunt darüber, dass sie den Sanitätern auf Augenhöhe gegenübertreten konnte, erklärte sie ihnen, was vorgefallen war.

Bei der statistischen Auswertung der Engelserscheinung wurde die Wiederherstellung von Janices Beinen als Gnade verbucht, und sie nahm es mit demütiger Dankbarkeit hin. Bei dem ersten Treffen von Betroffenen beschlichen sie aber dann doch Schuldgefühle. Janice begegnete dort zwei Zeugen von Rashiels Erscheinung, die an Krebs erkrankt waren und geglaubt hatten, dass ihre Heilung bevorstand, und die bitter enttäuscht wurden, als ihnen klar wurde, dass sie übergangen worden waren. Janice fragte sich, warum diese beiden nicht geheilt worden waren, sie aber schon.

Für die Familie und Freunde von Janice war die Wiederherstellung ihrer Beine die Belohnung dafür, dass Janice die ihr von Gott auferlegte Prüfung bestanden hatte. Diese Interpretation der Ereignisse stellte Janice jedoch vor ein neues Rätsel. War es Sein Wille, dass sie aufhören sollte, ihre Botschaft zu verbreiten? Gewiss nicht, denn die Verkündung der frohen Botschaft gab ihrem Leben seinen eigentlichen Sinn, und es würde immer Menschen geben, die darauf angewiesen waren, ihre Botschaft zu vernehmen. Das Beste, was sie sowohl für sich selbst als auch für andere tun konnte, war, weiterhin zu predigen.

Bei einem Vortrag vor einer Gruppe von Menschen, die vor Kurzem gelähmt worden und nun auf einen Rollstuhl angewiesen waren, wuchsen ihre Zweifel. Janice verkündete ihre übliche Botschaft und versicherte ihren Zuhörern, dass sie über die Kraft verfügten, die vor ihnen liegenden Herausforderungen zu meistern. Bei der abschließenden Frage-und-Antwort-Runde wollte jemand von ihr wissen, ob die Wiederherstellung ihrer Beine bedeutete, dass sie ihre Prüfung bestanden hatte. Janice wusste nicht, was sie erwidern sollte. Sie konnte den Zuhörern kaum versprechen, dass ihre Leiden eines Tages Linderung erfahren würden. Sie begriff, dass die Möglichkeit, dass sie vielleicht belohnt worden war, für andere, die immer noch leidend waren, wie ein Tadel erscheinen mochte, und das wollte sie nicht. Sie konnte ihnen nur sagen, dass sie nicht wusste, warum sie geheilt worden war, und diese Antwort stellte ihre Zuhörer offensichtlich nicht zufrieden.

Beunruhigt kehrte Janice in ihre Wohnung zurück. Sie selbst glaubte immer noch an ihre Botschaft, doch in den Augen ihres Publikums hatte sie die wirkungsvollste Quelle ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt. Wie sollte sie andere, die von Gott berührt worden waren, dazu beflügeln, ihren Zustand als Auszeichnung der Stärke zu begreifen, wenn sie selbst nicht mehr zu ihnen gehörte?

Sie dachte darüber nach, ob das eine Herausforderung war, eine Prüfung ihrer Fähigkeit, Sein Wort zu verkünden. Gott hatte sie vor eine schwerere Aufgabe gestellt, daran bestand kein Zweifel. Vielleicht war die Wiederherstellung ihrer Beine, wie zuvor ihr Fehlen, eine Hürde, die sie zu meistern hatte.

Diese Auslegung der Ereignisse stürzte bei ihrem nächsten Vortragstermin wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Das Publikum bestand aus Zeugen einer Erscheinung des Engels Nathanael. Sie wurde oftmals eingeladen, zu solchen Leuten zu sprechen, in der Hoffnung, dass sie denen, die gelitten hatten, Mut spenden würde. Statt dem Problem auszuweichen, begann sie damit, von der Engelserscheinung zu berichten, die sie selbst vor Kurzem erlebt hatte. Sie erklärte ihren Zuhörern, dass sie mit einer Herausforderung zu ringen habe, auch wenn es so schien, als sei sie belohnt worden. So wie alle hier sei auch sie gezwungen, Stärke aus einer bisher unbekannten Quelle zu schöpfen.

Zu spät wurde ihr klar, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. Ein Zuhörer mit einem missgebildeten Bein stand auf und stellte sie zur Rede: Ob sie die Wiederherstellung ihrer Beine allen Ernstes mit dem Tod seiner Frau vergleichen wolle? Ob sie ihre eigene Prüfung tatsächlich auf eine Stufe mit der seinen stellte?

Janice versicherte dem Mann sofort, dem sei nicht so, und sie könne sich natürlich nicht ausmalen, welchen Schmerz er zu ertragen hatte. Aber es sei nicht Gottes Wille, so sagte sie, dass alle Menschen den gleichen Prüfungen unterworfen würden, sondern jedem Menschen werde eine eigene, besondere Prüfung auferlegt, worin auch immer diese bestehen mochte. Die Härte der Prüfung werde durch die Einzigartigkeit der Person bestimmt, weshalb sich verschiedene Fälle keinesfalls miteinander vergleichen ließen. Er solle also Mitgefühl mit jenen haben, deren Prüfungen ihm milder erschienen als die seine, so wie jene mit schwereren Prüfungen Mitgefühl mit ihm haben sollten.

Damit ließ sich der Mann jedoch nicht abspeisen. Janice war etwas zuteil geworden, was für jeden anderen Menschen eine Gnade gewesen wäre – sie aber beklagte sich. Während Janice immer noch versuchte, ihre Sicht der Dinge zu erklären, verließ der Mann hastig die Versammlung.

Bei diesem Mann handelte es sich natürlich um niemand anderen als Neil Fisk. Im Laufe seines Lebens hatte Neil ziemlich oft Janices Namen gehört, meist aus dem Mund von Leuten, die davon überzeugt waren, dass Neils missgebildetes Bein ein Zeichen Gottes war. Diese Leute führten Janice als Beispiel an, dem er folgen sollte, denn ihre Einstellung sei die angemessene Reaktion auf eine Behinderung. Neil konnte nicht abstreiten, dass Janices Beinlosigkeit ein weitaus schlimmeres Los war als sein deformierter Oberschenkelknochen. Allerdings blieb ihm Janices Einstellung derart fremd, dass er auch dann, wenn es ihm leidlich gut ging, nicht in der Lage war, etwas von ihr zu lernen. Jetzt, in tiefster Trauer und verwirrt darüber, dass Janice ein Segen zuteil wurde, den sie nicht nötig hatte, empfand er ihre Worte als unverschämt.

In den darauffolgenden Tagen wurde Janice mehr und mehr von Zweifeln geplagt, und sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was die Wiederherstellung ihrer Beine bedeutete. War sie undankbar? Waren ihre Beine zugleich Segen und Prüfung? Vielleicht waren sie eine Strafe, ein Hinweis darauf, dass sie sich ihrer Aufgabe nicht innig genug hingegeben hatte. Mehrere Möglichkeiten standen im Raum, und sie wusste nicht, welcher sie Glauben schenken sollte.


Noch jemand spielte eine wichtige Rolle in Neils Geschichte, auch wenn Neil ihm erst begegnete, als seine Reise fast zu Ende war. Der Name dieser Person ist Ethan Mead.

Ethan wuchs in einer frommen, wenn auch nicht strenggläubigen Familie auf. Ethans Eltern führten ihre überdurchschnittliche Gesundheit und ihr gutes finanzielles Auskommen auf Gott zurück, auch wenn sie niemals Zeuge einer Erscheinung gewesen waren oder Visionen gehabt hatten. Sie vertrauten einfach darauf, dass Gott, direkt oder indirekt, für ihr Glück verantwortlich war. Ihr Glaube war niemals einer ernsthaften Prüfung unterzogen worden und hätte bei einer solchen womöglich auch nicht standgehalten. Ihre Liebe zu Gott gründete auf ihrer Zufriedenheit mit dem Status Quo.

Ethan allerdings glich seinen Eltern nicht. Seit seinen Kindertagen war er überzeugt, dass Gott ihn für etwas Besonderes auserkoren hatte, und so wartete er auf ein Zeichen, das ihm zeigen würde, was er tun sollte. Gerne wäre er Prediger geworden, aber er hatte das Gefühl, dass er kein überzeugendes Bekenntnis zu bieten hatte, und seine unbestimmte Erwartungshaltung schien ihm zu wenig. Er sehnte sich nach einer Begegnung mit dem Göttlichen, die ihm die Richtung weisen würde.

Er hätte sich zu einer der heiligen Stätten begeben können, einem der Orte, an denen – aus unbekannten Gründen – Engelserscheinungen fast regelmäßig stattfanden, aber Ethan war der Meinung, dass ein derartiges Vorgehen anmaßend gewesen wäre. Die heiligen Stätten waren normalerweise die letzte Zuflucht für Verzweifelte, jene, die sich eine Wunderheilung für ihren Leib erhofften oder das Himmelslicht sehen wollten, um ihre Seelen zu retten, und Ethan war nicht verzweifelt. Er kam zu dem Schluss, dass ihm ein eigener Weg bestimmt worden war und sich mit der Zeit schon klären würde, wohin ihn dieser führen sollte. Solange er darauf wartete, gab er sich Mühe, so gut zu leben, wie er es vermochte. Er arbeitete als Bibliothekar, heiratete eine Frau namens Claire und zog mit ihr zwei Kinder groß. Dabei hielt er aufmerksam Ausschau nach Zeichen einer höheren Bestimmung.

Ethan war sich sicher, dass seine Zeit gekommen war, als er Zeuge einer Erscheinung von Rashiel wurde, derselben Erscheinung, bei der einige Kilometer weiter entfernt Janice ihre Beine erhielt. Ethan war alleine, als es geschah. Als der Boden zu beben anfing, ging er gerade über einen Parkplatz zu seinem Auto. Instinktiv wusste er, dass es sich um eine Erscheinung handelte. Er kniete nieder, wobei er keine Angst verspürte, sondern nur Verzückung und Ehrfurcht, da er hoffte, endlich seine Bestimmung zu erfahren.

Nach einer Weile beruhigte sich die Erde wieder, und Ethan sah sich um, blieb aber ansonsten reglos. Erst einige Minuten später stand er wieder auf. Genau vor ihm klaffte ein großer Riss im Asphalt und führte im Zickzack die Straße hinab. Der Riss schien Ethan eine bestimmte Richtung zu weisen, und so folgte er ihm einige Häuserblocks entlang, bis er auf andere Überlebende stieß, einen Mann und eine Frau, die aus einem kleineren Spalt herauskletterten, der sich unmittelbar unter ihnen aufgetan hatte. Ethan blieb bei den beiden, bis Rettungskräfte eintrafen, und begleitete sie, bis sie in Sicherheit waren.

Bei den Treffen der Selbsthilfegruppe, die nach Rashiels Erscheinung zusammenkam, lernte Ethan andere kennen, die Zeuge der Ereignisse gewesen waren. Nach einigen Gruppentreffen fiel ihm ein gewisses Muster im Verhalten der Besucher auf. Da gab es natürlich jene, die Verletzungen erlitten hatten oder mit Wunderheilungen gesegnet worden waren. Aber es gab auch solche, deren Leben sich auf andere Weise verändert hatte: Der Mann und die Frau, die er zuerst getroffen hatte, verliebten sich ineinander und verlobten sich bald; eine Frau, die unter einer zusammengestürzten Mauer eingeklemmt worden war, hatte sich nach ihrer Rettung entschlossen, selbst Sanitäterin zu werden. Ein Ladeneigentümer gründete eine Gemeinschaft, um die drohende Zahlungsunfähigkeit dieser Frau abzuwenden, während ein anderer, dessen Laden zerstört worden war, die Erscheinung als Zeichen auffasste, dass er sein Leben ändern sollte. Alle außer Ethan hatten auf ihre Weise zu deuten verstanden, was ihnen zugestoßen war.

Er selbst war offensichtlich weder gesegnet noch bestraft worden, und er wusste nicht, was für eine Botschaft er empfangen hatte. Seine Frau Claire war der Meinung, die Erscheinung solle Ethan daran erinnern wertzuschätzen, was er besaß. Das aber stellte ihn nicht zufrieden, denn er war der Ansicht, dass jede Erscheinung – egal, wo sie geschah – diesen Zweck erfüllte, und dass seine unmittelbare Zeugenschaft eine tiefere Bedeutung haben musste. Seine Gedanken kreisten um die fixe Idee, dass er eine Gelegenheit verpasst hatte und es einen weiteren Zeugen gab, den er kennenlernen sollte, aber noch nicht getroffen hatte. Diese Erscheinung musste das Zeichen sein, auf das er gewartet hatte. Er konnte es nicht einfach missachten. Trotzdem wusste er nicht, was er tun sollte.

Ethan verfiel schließlich darauf, eine Möglichkeit nach der anderen abzuhaken. Er besorgte sich eine Liste aller Zeugen und strich alle durch, die ihre Erfahrung schlüssig zu deuten wussten. Von den verbliebenen Personen musste nach Ethans Überlegung eine irgendwie mit seinem Schicksal verstrickt sein. Von denen, die von der Erscheinung verunsichert worden oder sich über ihre Bedeutung unklar waren, musste eine die Person sein, die ihm zu treffen bestimmt war.

Als Ethan damit fertig war, die Namen auf seiner Liste durchzugehen, blieb nur noch einer übrig: JANICE REILLY.


Neil hatte sich so weit im Griff, um seine Trauer in der Öffentlichkeit hinter einer Maske zu verbergen, doch in der Abgeschiedenheit seiner Wohnung konnte er die Flut seiner Tränen nicht immer zurückhalten. Wenn ihn der Schmerz darüber überwältigte, dass Sarah nicht mehr bei ihm war, kauerte er sich auf den Boden und weinte. Er krümmte sich dann wie ein Fötus zusammen, sein Körper wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt, Tränen und Rotz rannen ihm über das Gesicht, Welle um Welle wuchs seine Seelenqual, bis er sie nicht mehr ertragen konnte, bis sie schlimmer wurde, als er sich vorzustellen vermochte. Später, nach Minuten oder Stunden, war es vorbei und er schlief erschöpft ein. Am nächsten Morgen wachte er auf und hatte einen weiteren Tag ohne Sarah durchzustehen.

Eine ältere Frau in Neils Mietshaus versuchte ihn zu trösten, indem sie ihm versicherte, dass der Schmerz mit der Zeit nachlassen und er, auch wenn er seine Frau nicht vergessen könnte, zumindest darüber hinwegkommen würde. Neil würde eine andere Frau kennenlernen und mit ihr glücklich werden, und er würde lernen, Gott zu lieben, und in den Himmel aufsteigen, wenn seine Zeit gekommen sei.

Neil war nicht in der Lage, in den Worten dieser Frau Trost zu finden, auch wenn sie in bester Absicht gesprochen waren. Sarahs Abwesenheit war wie eine offene Wunde, und dass er den Schmerz ihres Verlustes eines Tages überwinden würde, schien ihm nicht nur unwahrscheinlich, sondern geradezu körperlich unmöglich. Wenn Selbstmord ein Weg gewesen wäre, seine Pein zu beenden, hätte er sich ihm ohne zu zögern hingegeben, doch das hätte nur zur Folge gehabt, dass er auf ewig von Sarah getrennt bleiben würde.

Bei den Selbsthilfegruppen wurde immer wieder über Selbstmord gesprochen, was unweigerlich dazu führte, dass jemand Robin Pearson erwähnte, eine Frau, die einige Monate, bevor Neil zur Gruppe gestoßen war, an den Treffen teilgenommen hatte. Robins Ehemann hatte durch die Erscheinung des Engels Makatiel Magenkrebs bekommen. Tagelang war sie im Krankenhaus an seiner Seite geblieben, bis er plötzlich unerwartet verschied, als sie sich gerade zu Hause um die Wäsche kümmerte. Eine Krankenschwester hatte Robin erzählt, die Seele ihres Mannes sei in den Himmel aufgestiegen, und Robin begann, die Treffen der Selbsthilfegruppe zu besuchen.

Monate später war Robin aufgebracht vor Zorn zu einem Treffen gekommen. In der Nähe ihres Hauses hatte es eine Höllenerscheinung gegeben, und sie hatte ihren Gatten unter den verlorenen Seelen erkannt. Sie stellte die Krankenschwester zur Rede, und diese gab zu, gelogen zu haben, in der Hoffnung, Robin würde dadurch ihre Liebe zu Gott entdecken und so wenigstens selbst erlöst werden. Zum nächsten Treffen war Robin nicht erschienen, und bei dem darauffolgenden Treffen hatte die Gruppe erfahren, dass Robin sich umgebracht hatte, um wieder bei ihrem Mann zu sein.

Niemand konnte sagen, wie es Robin und ihrem Mann im Nachleben erging, aber sie wussten, dass Paare durch Selbstmord tatsächlich wieder glücklich vereint wurden. Einige der Gruppenteilnehmer hatten Partner, die in die Hölle gekommen waren, und diese Teilnehmer erzählten davon, dass sie hin und her gerissen waren zwischen dem Wunsch, am Leben zu bleiben, und der Sehnsucht, wieder bei ihren Partnern zu sein. Auch wenn es Neil nicht so erging, überkam ihn Neid, wenn er diesen Berichten zuhörte. Wäre Sarah in die Hölle gekommen, würde Selbstmord die Lösung all seiner Probleme darstellen.

Für Neil führte das zu einer beschämenden Selbsterkenntnis. Vor die Wahl gestellt, alleine in der Hölle zu sein und Sarah im Himmel zu wissen, oder mit ihr gemeinsam in die Hölle zu kommen, würde er sich für Letzteres entscheiden. Er könnte es leichter ertragen, sie von Gott getrennt zu wissen als von ihm selbst. Ihm war klar, wie egoistisch das war, aber ändern konnte er seine Haltung nicht. Er war überzeugt davon, dass Sarah sowohl im Himmel als auch in der Hölle glücklich sein könnte, und wusste, dass er es selbst nur mit ihr zusammen wäre.

Neils frühere Erfahrungen mit Frauen waren nicht die besten. Zu oft hatte er in einer Bar angefangen, mit einer Frau zu flirten, und kaum stand er auf und sie sah sein verkürztes Bein, fiel ihr ein, dass sie anderswo zu einer Verabredung musste. Eine Frau hatte nach einigen Wochen die Beziehung beendet und erklärt, dass sein Bein sie selbst nicht störe. Aber wenn sie zusammen waren, gingen andere Leute automatisch davon aus, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung sei, und Neil würde sicherlich einsehen, wie unfair das ihr gegenüber war.

Sarah war die erste Frau gewesen, deren Einstellung sich kein bisschen geändert hatte, deren Ausdruck keine Spur von Mitleid, Schrecken oder Überraschung gezeigt hatte, als sie zum ersten Mal sein Bein sah. Alleine schon deshalb war vorhersehbar, dass sich Neil in sie verlieben würde, und als er im Lauf der Zeit andere Seiten ihres Charakters kennenlernte, war alles zu spät. Und da seine besten Eigenschaften zum Vorschein kamen, wenn er mit ihr zusammen war, verliebte sie sich auch ihn.

Neil reagierte erstaunt, als Sarah ihm sagte, dass sie fromm war. Viele Anzeichen für ihren Glauben gab es nicht. Wie Neil ging sie nicht in die Kirche, und wie er hegte sie eine Abneigung gegenüber den meisten, die es taten. Doch auf ihre eigene, stille Art und Weise war sie Gott für ihr Leben dankbar. Nie hatte sie versucht, Neil zu bekehren, denn sie war der Meinung, dass Glauben entweder von innen kam oder gar nicht. Für die beiden gab es kaum Anlässe, Gott zu erwähnen, und die meiste Zeit wäre es Neil ein Leichtes gewesen, sich auszumalen, dass Sarah die gleichen Ansichten über Gott hätte wie er.

Das heißt nicht, dass Sarahs Glaube gar keinen Einfluss auf Neil hatte. Ganz im Gegenteil – Sarah selbst war der bei Weitem überzeugendste Grund, Gott zu lieben, dem Neil je begegnet war. Wenn ihre Liebe zu Gott Sarah zu der Person gemacht hatte, die sie war, dann erschien es Neil sinnvoll, Gott zu lieben. In den Jahren, in denen Sarah und Neil verheiratet waren, wurde Neils Weltbild immer positiver, und es hätte sich, wenn sie zusammen alt geworden wären, wahrscheinlich so weiter entwickelt, bis er Gott dankbar gewesen wäre.

Diese Möglichkeit war durch Sarahs Tod zunichte gemacht worden, was aber nicht bedeuten musste, dass Neil Gott für immer undankbar blieb. Es hätte Neil daran erinnern können, dass niemand sich gewiss sein durfte, wie viele Jahrzehnte er oder sie noch vor sich hatte. Ihn hätte die Erkenntnis aufrütteln können, dass seine Seele, sofern er zusammen mit Sarah gestorben wäre, verloren gewesen wäre und sie beide für immer getrennt worden wären. Sarahs Tod hätte ein Warnruf für ihn sein können, der ihn dazu ermunterte, seine Liebe zu Gott zu finden, solange er dazu in der Lage war.

Stattdessen aber begann Neil Gott vorsätzlich zu hassen. Sarah war die größte Gnade seines Lebens gewesen, und Gott hatte sie ihm weggenommen. Sollte er Ihn nun dafür lieben? Das erschien Neil so, als würde ein Entführer als Gegenleistung dafür, seine Frau wieder freizulassen, von ihm Zuneigung erwarten. Vielleicht wäre es ihm eines Tages gelungen, Gehorsam gegenüber Gott aufzubringen, aber aufrichtige, von Herzen kommende Liebe? Das war ein Lösegeld, über das er nicht verfügte.

Für einige Besucher der Selbsthilfegruppe stellte dieses Paradox eine Herausforderung dar. Einer der Teilnehmer, ein Mann namens Phil Soames, wies ganz richtig darauf hin, dass man von vornherein zum Scheitern verurteilt war, wenn man davon als eine Bedingung dachte, die es zu erfüllen galt. Nicht als Mittel zum Zweck durfte man Gott lieben, sondern bedingungslos um Seiner selbst willen. Wenn der eigentliche Grund, Gott zu lieben, darin bestand, mit seinem Partner wiedervereint zu werden, dann bewies man keine wahrhaftige Frömmigkeit.

Eine Teilnehmerin der Gruppe namens Valerie Tommasino meinte, man solle es noch nicht einmal versuchen. Sie hatte ein Buch der Humanistischen Bewegung gelesen, deren Anhänger es für falsch hielten, einen Gott, der solches Leid verursachte, lieben zu wollen. Stattdessen traten die Autoren dafür ein, dass Menschen entsprechend ihrer eigenen moralischen Überlegungen handeln sollten, statt der Vorgabe von Zuckerbrot und Peitsche zu folgen. Wenn solche Leute starben, fuhren sie mit stolzem Trotz gegenüber Gott zur Hölle.

Neil hatte einmal eine Broschüre der Humanistischen Bewegung gelesen, und woran er sich am besten erinnern konnte, war, dass darin die gefallenen Engel zitiert wurden. Erscheinungen gefallener Engel waren selten und hatten weder gute noch schlechte Auswirkungen. Sie waren nicht Gottes Weisungen unterworfen, sondern durchquerten die Welt der Sterblichen lediglich, wenn sie in eigener Sache unterwegs waren. Wenn sie denn erschienen, stellten die Menschen ihnen Fragen: Kannten sie die Absichten Gottes? Warum hatten sie aufbegehrt? Die Antwort der gefallenen Engel war immer dieselbe: Entscheidet selbst. Das haben auch wir getan. Wir raten euch, unserem Beispiel zu folgen.

Die Anhänger der Humanistischen Bewegung hatten sich entschieden, und wenn Sarah nicht gewesen wäre, hätte sich Neil ihrer Wahl angeschlossen. Aber er wollte zu Sarah zurück, und das konnte er nur, wenn er einen Grund fand, Gott zu lieben.

Auf der Suche nach irgendeinem Fundament, auf dem sie ihren Glauben gründen konnten, trösteten sich einige Teilnehmer der Selbsthilfegruppe damit, dass die von ihnen geliebten Menschen, als Gott sie zu sich rief, nicht gelitten hatten, sondern sofort gestorben waren. Doch damit konnte sich Neil nicht beruhigen. Die Glasscherben, von denen Sarah getroffen worden war, hatten ihr schreckliche Schnittwunden zugefügt. Es hätte natürlich auch noch schlimmer kommen können. Ein Ehepaar hatte einen Sohn im Teenageralter, der von einem Feuer eingeschlossen wurde, das durch eine Engelserscheinung verursacht worden war. Achtzig Prozent seines Körpers waren von Verbrennungen dritten Grades entstellt worden, bevor Rettungskräfte ihn herausholen konnten. Als er schließlich starb, war das letztlich eine Erlösung. Verglichen damit hatte Sarah noch Glück gehabt, aber nicht so viel Glück, dass es Neil gelungen wäre, Gott zu lieben.

Nur eine Sache fiel Neil ein, die es ihm ermöglichen würde, Gott dankbar zu sein – Gott sollte Sarah gestatten, ihm zu erscheinen. Allein schon, sie noch einmal lächeln zu sehen, hätte ihm unfassbaren Trost gespendet. Ihn hatte noch nie eine gerettete Seele aufgesucht, aber jetzt würde ihm eine Vision mehr bedeuten als irgendwann sonst in seinem Leben.

Eine Vision erscheint einem aber nicht einfach deshalb, weil man ihrer sehr bedarf, und so wurde Neil keine zuteil. Er musste selbst seinen Weg zu Gott finden.

Als Neil die Selbsthilfegruppe der Zeugen von Nathanaels Erscheinung das nächste Mal besuchte, ging er auf Benny Vasquez zu, den Mann, der durch das himmlische Licht geblendet worden war. Benny kam nicht immer zu den Treffen, denn er wurde inzwischen öfters von anderen Gruppen eingeladen. Nur wenige Erscheinungen ließen augenlose Menschen zurück, da das himmlische Licht die Welt der Sterblichen nur für einen kurzen Augenblick streifte, wenn ein Engel vom Himmel kam oder dorthin zurückkehrte. Augenlose Menschen waren fast schon so etwas wie Prominente und bei Kirchengruppen als Vortragende sehr gefragt.

Benny war so blind wie ein sich durch das Erdreich windender Wurm. Seine Augen und Augenhöhlen waren nicht einfach nur verschwunden, sein Schädelknochen bot keinerlei Hinweis mehr darauf, dass er jemals welche gehabt hatte, da seine Wangenknochen nahtlos in seine Stirn übergingen. Das Licht, das seine Seele der Vollkommenheit so nahe gebracht hatte, wie es in der Welt der Sterblichen nur möglich war, hatte auch seinen Körper verändert. Man nahm allgemein an, dass dies darauf hindeutete, wie überflüssig eine leibliche Gestalt im Himmel war. Mit der eingeschränkten mimischen Ausdrucksfähigkeit, die ihm geblieben war, zeigte Benny der Welt stets ein glückselig verzücktes Lächeln.

Neil hoffte, Benny könne ihm etwas erzählen, das ihm dabei helfen würde, Gott zu lieben. Benny beschrieb das himmlische Licht als unendlich schön, als einen derart überwältigenden, majestätischen Anblick, dass es jeglichen Zweifel auslöschte. So klar und schlüssig, wie eins plus eins gleich zwei ergibt, war es ein unumstößlicher Beweis dafür, dass man Gott lieben sollte. Benny konnte die Wirkung des himmlischen Lichts zwar mit vielen Vergleichen beschreiben, aber leider mit seinen Worten nicht die Wirkung selbst hervorrufen. Für jene, die bereits gläubig waren, waren Bennys Beschreibungen ergreifend, aber für Neil klangen sie frustrierend undeutlich. Also suchte er anderswo Rat.

Bejahe das Mysterium, sagte der Pfarrer einer örtlichen Kirche. Wenn du Gott lieben kannst, auch wenn deine Fragen unbeantwortet bleiben, wird es zu deinem Besten sein.

Gestehe dir ein, dass du Ihn brauchst, erklärte der erfolgreiche spirituelle Ratgeber, den er gekauft hatte. Du wirst so weit sein, wenn du begriffen hast, dass Selbstgenügsamkeit eine Illusion ist.

Unterwerft euch vollständig und ohne Rückhalt Seinem Ratschlag, sagte der Fernsehprediger. Indem ihr Leid ertragt, zeigt ihr eure Liebe zu Ihm. Eure Qualen duldsam hinzunehmen ist keine Garantie für Linderung in diesem Leben, aber eure Strafen werden nur härter, wenn ihr euch Ihm widersetzt.

Für die unterschiedlichsten Menschen hat sich der eine oder andere dieser Ratschläge als sinnhaft erwiesen. Hatte jemand einen dieser Ratschläge verinnerlicht, konnte er diese Person zum wahren Glauben führen. Es ist aber nicht immer leicht, eine dieser Weisungen zu akzeptieren, und für Neil war es schlicht unmöglich.

Zuletzt wandte sich Neil an Sarahs Eltern, was deutlich machte, wie verzweifelt er war, denn seine Beziehung zu ihnen war von Beginn an angespannt gewesen. Auch wenn sie Sarah liebten, hatten sie sie oft dafür gerügt, dass sie ihren Glauben nicht energisch genug zeigte, und es hatte sie bestürzt, dass Sarah einen Mann geheiratet hatte, der überhaupt nicht gläubig war. Sarah wiederum hielt ihre Eltern für zu voreingenommen, und dass sie Neil ablehnten, bestätigte sie nur in ihrer Ansicht. Nun hatte Neil das Gefühl, dass ihn etwas mit Sarahs Eltern verband – immerhin betrauerten sie alle Sarahs Hinscheiden –, und so besuchte er sie in ihrem Vorstadtviertel, in der Hoffnung, dass sie ihm in seinem Leid beistehen würden.

Wie hatte er sich geirrt! Sarahs Eltern brachten Neil kein Mitgefühl entgegen, sondern gaben ihm stattdessen die Schuld an Sarahs Tod. In den Wochen nach ihrer Beerdigung waren sie zu der Auffassung gelangt, dass Sarah ihnen genommen worden war, um Neil seinen Unglauben vor Augen zu führen, und sie waren nun gezwungen, mit ihrem Verlust zu leben. All seinen früheren Erklärungsversuchen zum Trotz sei Neils missgebildetes Bein in der Tat das Werk Gottes, und wenn sich Neil angemessen demütig verhalten hätte, wäre Sarah vielleicht noch am Leben.

Diese Reaktion hätte Neil nicht überraschen dürfen. Sein ganzes Leben lang hatten diese Leute seinem Bein eine moralische Bedeutung beigemessen, obwohl Gott nicht dafür verantwortlich war. Jetzt, da Neil einen Schicksalsschlag erlitten hatte, dessen Ursache zweifelsohne göttlichen Ursprungs war, schien es unausweichlich, dass jemand annahm, Neil hätte es verdient. Wie es der Zufall wollte, kam Neil diese Auslegung zu Ohren, als er am verwundbarsten war, und so entfaltete sie die größtmögliche Wirkung.

Neil stimmte den Ansichten seiner Schwiegereltern nicht zu, aber er begann sich zu fragen, ob es für ihn nicht besser wäre, wenn er es denn täte. Vielleicht, so dachte er bei sich, würde es ihm leichter fallen, in einer Geschichte zu leben, in der die Rechtschaffenen belohnt und die Sünder bestraft wurden, selbst wenn ihm schleierhaft war, wie zwischen Rechtschaffenen und Sündern unterschieden wurde, statt in einer Geschichte, in der es überhaupt gar keine Gerechtigkeit gibt. Wenn er dem folgen wollte, musste Neil seine Rolle als Sünder akzeptieren, was kaum mehr als eine tröstliche Lüge war, aber eine Möglichkeit in Reichweite rückte, die Neils eigene moralische Ansichten nicht boten: den Glauben, dass dieses Vorgehen ihn und Sarah wieder zusammenführen würde.

Manchmal kann auch schlechter Rat einem Menschen den richtigen Weg weisen. Und so führten die Beschuldigungen seiner Schwiegereltern Neil letztendlich näher zu Gott.


Als Janice ihre frohe Botschaft verkündete hatte, wurde sie mehr als einmal gefragt, ob sie sich je gewünscht hatte, Beine zu haben, und stets hatte sie ehrlich geantwortet, dass dem nicht so sei. Sie sei zufrieden, wie sie war. Ab und zu hatte jemand das Argument vorgebracht, dass sie nicht vermissen konnte, was sie nicht kannte, und dass es ihr anders ergangen wäre, wenn sie mit Beinen geboren worden wäre und diese dann später eingebüßt hätte. Das bestritt Janice nicht. Allerdings hatte sie aufrichtig erwidern können, dass ihr keineswegs etwas fehlte und dass sie keinen Neid gegenüber Menschen mit Beinen empfand. Keine Beine zu haben, war Teil ihrer Persönlichkeit gewesen. Sie hatte nie einen Gedanken auf Prothesen verschwendet, und wenn es ein chirurgisches Verfahren gegeben hätte, um ihr Beine zu geben, hätte sie dieses abgelehnt. Die Möglichkeit, dass Gott ihr Beine schenken könnte, war ihr nie in den Sinn gekommen.

Dass sie nun Beine hatte, führte unter anderem dazu, dass ihr Männer mehr Aufmerksamkeit entgegenbrachten. Früher hatten sich meist nur Männer mit einem Fetisch für Amputierte oder solche mit einem Märtyrerkomplex für sie interessiert. Jetzt aber schienen alle möglichen Männer sie attraktiv zu finden. Als sie bemerkte, dass sich Ethan Mead für sie interessierte, dachte sie anfänglich, dass er romantische Gefühle für sie hegte, was sie ziemlich beunruhigend fand, da er offensichtlich verheiratet war.

Ethan hatte Janice bei einem Treffen der Selbsthilfegruppe angesprochen und danach begonnen, ihre Vorträge zu besuchen. Als er sie zu einem gemeinsamen Restaurantbesuch einlud, wollte sie Näheres über seine Absichten wissen, und er legte ihr seine Theorie dar. Er konnte nicht sagen, wie ihr Schicksal mit dem seinen verbunden war, er wusste nur, dass es das war.

Sie blieb zwar skeptisch, lehnte aber seine Theorie nicht vollständig ab. Ethan gestand, dass er keine Antworten auf ihre Fragen hatte, aber bestrebt war, ihr zu helfen, welche zu finden. Vorsichtig willigte Janice ein, ihm bei seiner Sinnsuche zu helfen, und er versprach, ihr nicht zur Last zu fallen. Sie verabredeten sich regelmäßig, um sich über die Bedeutung von Engelserscheinungen auszutauschen.

Inzwischen machte sich Ethans Frau Claire immer mehr Sorgen. Ethan versicherte ihr, dass er gegenüber Janice keine romantischen Gefühle hegte, was Claire jedoch keineswegs beruhigte. Ihr war klar, dass außergewöhnliche Umstände zwei Personen einander näher bringen konnten, und sie befürchtete, dass Ethans Beziehung zu Janice – sei sie nun romantisch oder nicht – ihre Ehe gefährden würde.

Ethan bot Janice an, ihr mit seiner Erfahrung als Bibliothekar zu helfen. Beide hatten noch nie davon gehört, dass Gott etwas, das er einem Menschen bei einer Erscheinung geschenkt hatte, bei einer zweiten Erscheinung wieder genommen hatte. Ethan suchte nach früheren Vorkommnissen dieser Art, in der Hoffnung, dadurch besser verstehen zu können, was Janice widerfahren war. In einigen Fällen waren Personen im Laufe ihres Lebens mehrmals Wunderheilungen beschieden worden, doch deren Krankheiten oder Behinderungen waren immer natürlichen Ursprungs gewesen und nicht Folge einer Erscheinung. Sie stießen nur auf eine unbestätigte Anekdote über einen Mann, der wegen seiner Sünden mit Blindheit geschlagen worden war, und dem, nachdem er sein Leben geändert hatte, sein Augenlicht wieder geschenkt worden war.

Selbst wenn dieser Bericht ein Fünkchen Wahrheit enthielt, stellte er keinen brauchbaren Präzedenzfall dar, denn Janices Beine waren ihr vor ihrer Geburt genommen worden, es konnte sich dabei also nicht um eine Strafe für etwas handeln, das sie getan hatte. War es möglich, dass Janices Zustand eine Strafe für etwas war, das ihre Mutter oder ihr Vater getan hatte? Und konnte es sein, dass die Wiederherstellung ihrer Beine ein Zeichen dafür war, dass ihre Eltern ihre Heilung schließlich verdient hatten? Dieser Gedanke überzeugte Janice nicht.

Eine Vision ihrer verstorbenen Verwandten hätte Janice Gewissheit über die Wiederherstellung ihrer Beine bringen können. Aber es gab keine Vision, und so vermutete sie, dass etwas nicht stimmte, obwohl sie nicht glauben mochte, dass sie bestraft worden war. Vielleicht war alles nur ein Irrtum, und ihr war ein Wunder widerfahren, das für jemand anderen bestimmt gewesen war. Vielleicht war es auch nur eine Prüfung, um herauszufinden, wie sie reagieren würde, wenn ihr zu viel zuteil wurde. Jedenfalls schien es nur einen Ausweg zu geben: Sie würde mit größtmöglicher Dankbarkeit und Demut anbieten, das Geschenk zurückzugeben. Um das zu tun, würde sie sich auf eine Wallfahrt begeben.

Wallfahrer reisten weite Strecken, um heilige Stätten aufzusuchen und dort auf eine Erscheinung zu warten, in der Hoffnung, durch ein Wunder geheilt zu werden. Während man fast überall auf der Welt ein Leben lang vergeblich auf eine Erscheinung warten konnte, dauerte es an einem heiligen Ort vielleicht nur Monate, manchmal nur Wochen. Die Pilger wussten, dass die Chancen auf eine Wunderheilung trotzdem gering waren. Von denen, die lange genug an einer heiligen Stätte ausharrten, um Zeuge einer Erscheinung zu werden, wurden die meisten dennoch nicht geheilt. Doch allein schon einen Engel gesehen zu haben, machte sie glücklicher. Gestärkt kehrten sie nach Hause zurück und traten gefasst ihrem Schicksal entgegen, gleichgültig, ob es sich dabei um ihren bevorstehenden Tod oder um das Leben mit einer Behinderung handelte. Da bei jeder Engelserscheinung unweigerlich einige Wallfahrer verunglückten, wussten die Überlebenden fürderhin ihr Leben mehr zu schätzen.

Janice war bereit zu akzeptieren, was auch immer geschehen mochte. Wenn Gott meinte, es sei für sie an der Zeit zu sterben, dann sollte es so sein. Wenn Gott ihr die Beine wieder nahm, dann würde sie wie zuvor ihrer Mission nachgehen. Und falls Gott ihr ihre Beine ließ, erhoffte sie sich eine Eingebung, damit sie mit Überzeugung von dem Wunder berichten konnte, das ihr widerfahren war.

Janice wünschte sich jedoch, dass ihre Wunderheilung rückgängig gemacht und jemand mit ihr bedacht würde, der ihrer wirklich bedurfte. Allerdings bat sie auch niemanden, sie zu begleiten, damit das Wunder, das sie rückgängig machen wollte, auf diese Person übergehen würde, denn das hielt sie für vermessen. Aber im Stillen betrachtete sie ihre Wallfahrt als Bitte im Namen derer, die Hilfe dringend nötig hatten.

Janices Entscheidung verstörte ihre Freunde und ihre Familie, denn sie hatten den Eindruck, Janice würde Gott infrage stellen. Als sich herumsprach, was sie vorhatte, erhielt sie viele Briefe von Zuhörern, die ihrer Bestürzung, Verblüffung und Bewunderung darüber Ausdruck verliehen, dass sie Willens war, solch ein Opfer zu bringen.

Ethan stand voll und ganz hinter Janices Entscheidung und war deshalb selbst ganz aufgeregt. Er verstand nun, was für eine Bedeutung Rashiels Erscheinung für ihn hatte: Für ihn war nun die Zeit gekommen zu handeln. Sein Frau Claire war vehement dagegen, dass er sich auf den Weg machte, vor allem, weil sie keine Ahnung hatte, wie lange er fortbleiben würde, und weil sie und die Kinder ihn ebenfalls brauchten. Doch auch wenn es ihn schmerzte, ohne ihre Zustimmung aufzubrechen, blieb ihm keine andere Wahl. Ethan wollte eine Pilgerfahrt antreten, und die nächste Erscheinung würde ihm offenbaren, was Gott mit ihm vorhatte.


Der Besuch bei Sarahs Eltern veranlasste Neil, noch einmal über seine Unterhaltung mit Benny Vasquez nachzudenken. Obwohl er nicht viel mit Bennys Worten anzufangen wusste, hatte ihn Bennys unerschütterlicher Glaube beeindruckt. Egal, welches Missgeschick ihm auch in Zukunft zustoßen mochte, Bennys Liebe zu Gott würde niemals wanken, und wenn er sterben sollte, würde er in den Himmel aufsteigen. Dieser Umstand lenkte Neils Aufmerksamkeit auf eine Möglichkeit, die er bisher nicht in Betracht gezogen hatte, weil sie ihm zu riskant erschien, die er aber nun, da seine Verzweiflung immer schlimmer wurde, für zweckmäßig hielt.

An jeder heiligen Stätte gab es Wallfahrer, die nicht auf der Suche nach einer Wunderheilung waren, sondern die es vielmehr zum himmlischen Licht drängte. Alle, die es geschaut hatten, kamen, wenn sie starben, in den Himmel, ganz gleich, wie egoistisch ihre Motive sein mochten. Manche wollten auf diese Weise ihre Zweifel ausmerzen und wieder mit ihrem geliebten Partner zusammenkommen, andere hatten ein sündhaftes Leben geführt und trachteten danach, den Konsequenzen aus dem Weg zu gehen.

Früher hatte es einige Zweifel daran gegeben, ob das Himmelslicht tatsächlich alle spirituellen Hindernisse zu beseitigen und somit eine Seele zu retten vermochte. Der Fall des Vergewaltigers und Serienmörders Barry Larsen wischte jedoch alle Einwände hinfort. Barry war gerade dabei gewesen, die Leiche seines jüngsten Opfers zu beseitigen, als er Zeuge einer Engelserscheinung wurde und das himmlische Licht erblickte. Es versetzte die Hinterbliebenen seiner Opfer in maßlose Wut, als man bei Barrys Hinrichtung beobachtete, wie seine Seele in den Himmel aufstieg. Priester bemühten sich, die Angehörigen zu beruhigen, indem sie ihnen – obwohl sie dafür keinerlei Beweise vorbringen konnten – versicherten, dass das himmlische Licht Barry in der kurzen Zeit, in der er es sah, die Schmerzen der Buße abverlangt haben musste, die für mehrere Lebensspannen gereicht hätten. Doch die Worte der Priester spendeten kaum Trost.

Neil bot das himmlische Licht ein Schlupfloch, mit dem er Phil Soames Einwand außer Kraft setzen konnte. So konnte er Sarah mehr lieben als Gott und dennoch mit ihr wiedervereint werden. Nur so durfte er eigennützig handeln und trotzdem in den Himmel kommen. Andere vor ihm hatten es geschafft, und vielleicht würde es auch ihm gelingen. Gerecht mochte das nicht sein, aber immerhin vorhersehbar.

Innerlich aber sträubte sich Neil gegen diese Idee, denn sie klang für ihn wie der Vorschlag, sich bei Depressionen einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Er stellte sich vor, dass es seine Persönlichkeit so drastisch verändern würde, dass er aufhören würde, er selbst zu sein. Dann fiel ihm ein, dass jeder Mensch, der in den Himmel gekommen war, sich derart verwandelt hatte; die Geretteten waren wie die Augenlosen, nur dass sie keine Körper mehr hatten. Das ließ Neil klarer erkennen, welches Ziel er eigentlich anstrebte: Egal, ob er seinen Glauben fand, indem er das himmlische Licht sah oder indem er sich den Rest seines Lebens abmühte – letztlich würde keine Wiedervereinigung mit Sarah das zurückbringen, was sie in der Welt der Sterblichen miteinander geteilt hatten. Sie beide würden im Himmel jemand anderer werden, und ihre Liebe füreinander würde aufgehen in der Liebe, die alle Erretteten für alles empfanden.

Diese Erkenntnis minderte Neils Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung mit Sarah nicht, sondern spornte ihn sogar noch an, das himmlische Licht zu sehen. Seine Belohnung wäre dieselbe, ganz gleich, auf welchem Weg er sie erreichte. Die Abkürzung führte zu dem gleichen Ziel wie der übliche Weg.

Das himmlische Licht sehen zu wollen war andererseits um einiges schwieriger und auch gefährlicher als eine gewöhnliche Wallfahrt. Das Licht erschien nur, wenn ein Engel auf die Erde herabstieg oder wieder in den Himmel zurückkehrte, und da niemand wissen konnte, wo und wann ein Engel auftauchen würde, mussten Lichtsucher sich nach der Ankunft eines Engels um diesen scharen und ihm folgen, bis er die Sterblichen wieder verließ. Um ihre Chancen zu erhöhen, blieben die Lichtsucher einem Engel so dicht auf den Fersen wie nur möglich, was je nach Engel bedeutete, sich in der Nähe eines Tornados, einer Flutwelle oder eines sich auftuenden Abgrunds aufzuhalten. Den wenigsten Lichtsuchern glückte ihr Vorhaben, die meisten kamen dabei ums Leben.

Da es den Umständen entsprechend nur wenige Zeugen von solchen Expeditionen gab, waren die Statistiken darüber, was den gescheiterten Suchern widerfuhr, nur dürftig, aber ernüchternd waren die Zahlen dennoch. Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Wallfahrern, deren Versuch, eine Wunderheilung zu empfangen, fehlgeschlagen war, und von denen etwa die Hälfte in den Himmel aufstieg, kamen alle Lichtsucher, die scheiterten, in die Hölle. Gut möglich, dass nur Menschen, die bereits verloren waren, überhaupt in Betracht zogen, das himmlische Licht zu suchen. Vielleicht galt der Tod unter diesen Umständen aber auch als Selbstmord. Neil war auf jeden Fall klar, dass er sich darauf einstellen musste, die Folgen eines solchen Vorgehens zu tragen.

Dass es bei diesem Vorhaben um alles oder nichts ging, gefiel Neil ebenso, wie es ihm Furcht einflößte. Die Vorstellung aber, dass er einfach weiterleben und versuchen sollte, seine Liebe zu Gott zu finden, trieb ihn zunehmend in den Wahnsinn. Es konnte durchaus sein, dass ihm das auch nach Jahrzehnten nicht gelingen würde, wenn ihm denn überhaupt so viel Zeit blieb, denn wie ihm immer wieder vor Augen geführt worden war, dienten Erscheinungen als Ermahnung, sich seelisch darauf vorzubereiten, dass der Tod einen schon im nächsten Moment ereilen mochte. Schon morgen konnte er sterben, und es bestand keine Chance, dass es ihm in absehbarer Zeit gelingen würde, auf herkömmliche Weise gläubig zu werden.

Angesichts von Neils früherer Weigerung, Janices Beispiel zu folgen, mag es paradox erscheinen, dass er aufhorchte, als sie ihre Ansichten revidierte. Er frühstückte gerade, als er eine Zeitungsmeldung über Janices Wallfahrtspläne las, und seine erste Reaktion war Wut: Wie viele Segnungen waren nötig, um diese Frau zufriedenzustellen? Nach einigem Nachdenken kam er zu dem Ergebnis, dass es, wenn Janice es für angemessen hielt, Gottes Beistand zu erbitten, um mit ihrem Schicksal zurande zu kommen, nur recht und billig wäre, wenn er selbst, an den Folgen eines Unglücks leidend, ebenso handelte. Das reichte aus, um ihn dazu zu bringen, seinen Entschluss in die Tat umzusetzen.


Heilige Stätten befanden sich ausnahmslos in unwirtlichen Gegenden, zum Beispiel mitten im Ozean auf einem Atoll oder auf gut 6000 Meter Höhe im Gebirge. Neil reiste zu einer, die in der Wüste lag, einer weiten Fläche rissiger Erde, die sich meilenweit in alle Richtungen erstreckte; zwar lag sie weitab vom Schuss, war aber noch verhältnismäßig zugänglich, weshalb diese Stätte unter Pilgern vergleichsweise beliebt war. Das Gelände um die heilige Stätte herum konnte als Anschauungsunterricht dazu dienen, was geschah, wenn sich die himmlische und die irdische Sphäre zu nahe kamen: Die Landschaft war auf vielerlei Weise von erkalteten Lavaströmen, klaffenden Rissen und Einschlagskratern gezeichnet. Vegetation war hier eine Seltenheit und überdauerte nicht lange, denn ihr Wachstum war auf den Zeitraum beschränkt, nachdem fruchtbare Erde von Flutwassern und Sturmwinden zurückgelassen und bevor sie wieder hinfortgeschwemmt oder verweht wurde.

Pilger errichteten hier überall ihr Lager und bildeten mit ihren Zelten und Wohnwägen provisorische Dörfer. Sie alle mutmaßten, wo genau die Wahrscheinlichkeit, einen Engel zu sehen, am höchsten, und wo die Gefahr, schwer oder tödlich zu verunglücken, am niedrigsten wäre. Halbrunde Wälle aus Sandsäcken, die es hier seit Jahren gab und die immer wieder ausgebessert wurden, boten ein wenig Schutz. Ortseigene Sanitäts- und Feuerwehrkräfte kümmerten sich darum, dass die wichtigsten Wege freigehalten wurden, damit Rettungsfahrzeuge im Ernstfall schnell dorthin gelangen konnten, wo sie gebraucht wurden. Die Wallfahrer brachten entweder ihr eigenes Essen und Wasser mit, oder versorgten sich bei Händlern, die unverschämt hohe Preise verlangten. Alle mussten eine Gebühr für die Abfallbeseitigung entrichten.

Lichtsucher fuhren prinzipiell Geländewagen, um besser querfeldein rasen zu können, wenn sie einem Engel folgten. Wer es sich leisten konnte, war allein unterwegs, die anderen bildeten Teams aus zwei bis vier Leuten. Neil wollte sich weder auf jemand anderen verlassen, noch als Fahrer für andere verantwortlich sein. Er hielt es für besser, seine letzte Unternehmung auf Erden alleine zu bestreiten. Sarahs Beerdigung hatte seine und ihre Ersparnisse aufgebraucht, sodass Neil seine Besitztümer verkaufte, um sich ein geeignetes Fahrzeug anzuschaffen: einen Pickup mit starkem Reifenprofil und Hochleistungsstoßdämpfern.

Kaum angekommen, tat Neil das, was auch alle anderen Lichtsucher machten: Er fuhr mit seinem Fahrzeug in der Gegend umher, um ein Gespür für die Beschaffenheit des Geländes zu bekommen. Bei einer seiner Rundfahrten traf er auf Ethan, der ihm signalisierte anzuhalten, weil sein eigener Wagen auf dem Rückweg vom achtzig Meilen entfernten nächsten Lebensmittelladen liegen geblieben war. Neil half ihm, seinen Wagen wieder zum Laufen zu bringen, und Ethan bestand darauf, dass Neil ihm anschließend zu seinem Lager folgte, und lud ihn zum Abendessen ein. Als sie eintrafen, war Janice gerade nicht da – sie besuchte andere Wallfahrer, die ein paar Zelte weiter weg wohnten. Während Ethan auf einem Propangaskocher Fertiggerichte aufwärmte, lauschte Neil höflich, wie Ethan erzählte, was ihn zu der heiligen Stätte geführt hatte.

Neil konnte seine Überraschung nicht verbergen, als Ethan Janice Reilly erwähnte. Neil war nicht danach, ihr noch einmal zu begegnen, und er wollte unverzüglich wieder aufbrechen. Gerade, als er dem verwunderten Ethan erklärte, dass er noch eine andere Verabredung hatte, kehrte Janice zurück.

Sie war überrascht, Neil hier anzutreffen, bat ihn jedoch zu bleiben. Ethan erzählte ihr, warum er Neil eingeladen hatte, und sie schilderte Neil, wie sie und Ethan einander begegnet waren. Dann fragte sie Neil, was ihn zur heiligen Stätte geführt hatte. Als er ihnen erklärte, dass er ein Lichtsucher war, versuchten sie sofort, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Ethan hielt Neils Plan für Selbstmord und war der Meinung, dass es immer Besseres gab, als Selbstmord zu begehen. Und Janice meinte, dass die Lösung des Problems nicht darin lag, das himmlische Licht zu sehen, denn das konnte nicht Gottes Wille sein. Neil bedankte sich steif für ihre Anteilnahme und ging.

Während des wochenlangen Wartens fuhr Neil jeden Tag in der Gegend umher. Zwar gab es Karten, die nach jeder Erscheinung aktualisiert wurden, aber sie waren kein wirklicher Ersatz dafür, sich selbst ein Bild zu machen. Ab und zu begegnete er einem Lichtsucher – die meisten Lichtsucher waren Männer –, der offensichtlich mehr Erfahrung hatte, und er bat ihn um Rat, wie man in einem bestimmten Gelände am besten vorankam. Manche waren bereits seit mehreren Erscheinungen vor Ort, und ihre Versuche waren bisher weder von Erfolg gekrönt worden, noch waren sie gescheitert. Gerne teilten sie ihre Erfahrungen, wie man einem Engel am besten auf der Spur blieb; niemals aber erzählten sie etwas Persönliches. Neil fand die Art und Weise, wie sie sprachen, sonderbar, zugleich hoffnungsvoll und hoffnungslos, und fragte sich, ob er selbst auch so klang.

Ethan und Janice verbrachten die Zeit damit, andere Pilger kennenzulernen. Die Reaktionen auf das, was Janice vorhatte, waren geteilt: Einige hielten sie für undankbar, andere für selbstlos. Die meisten fanden Ethans Geschichte interessant, denn er gehörte zu den seltenen Wallfahrern, die nicht auf der Suche nach einer Wunderheilung hier waren. In erster Linie einte sie alle jedoch ein Gefühl der Kameradschaft, das ihnen während der langen Wartezeit Kraft verlieh.

Neil war gerade mit seinem Pickup unterwegs, als sich im Südosten Wolken zusammenzuziehen begannen, und über den CB-Funk verbreitete sich die Nachricht, dies sei der Beginn einer Erscheinung. Er hielt an, um Ohrstöpsel ein- und einen Helm aufzusetzen. Als er damit fertig war, waren bereits Blitze zu sehen, und ein Lichtsucher, der sich in der Nähe des Engels aufhielt, meldete, dass es sich um Barakiel handelte, der sich offenbar in Richtung Norden bewegte. Neil lenkte seinen Wagen in Richtung Osten, um den Engel einzuholen, und gab Vollgas.

Es war windstill und regnete auch nicht, nur dunkle Wolken, aus denen Blitze hervorzuckten, hingen am Himmel. Andere Lichtsucher tauschten via Funk ihre Vermutungen über Richtung und Geschwindigkeit des Engels aus, und Neil fuhr nach Nordosten, um ihn abzufangen. Anfangs konnte er seine Entfernung zu dem Gewitter noch abschätzen, indem er den Zeitraum zwischen Blitz und Donner abzählte, aber schon bald blitzte es zu oft und zu regelmäßig, um den Donner noch irgendeinem Blitz zuzuordnen.

Er sah, wie sich die Fahrzeuge zweier weiterer Lichtsucher näherten. Sie schwenkten auf einen gemeinsamen Kurs nach Norden ein, der über eine kraterzerfurchte Strecke führte. Die Fahrzeuge wurden von den kleineren Kratern heftig durchgeschüttelt, und den größeren wichen sie in Schlangenlinien aus. Blitze gingen jetzt überall nieder, aber ihr Ursprung schien sich südlich von Neils Standort zu befinden. Der Engel war unmittelbar hinter ihm und kam immer näher.

Obwohl er Ohrstöpsel trug, war das Getöse ohrenbetäubend. Neil spürte, wie sich ihm die Haare aufstellten, je stärker die elektrische Spannung in seiner Umgebung wurde. Er behielt den Rückspiegel im Blick, um zu sehen, wo genau der Engel war, und versuchte abzuschätzen, wie nahe er ihm kommen musste.

Vor seinen Augen flimmerten inzwischen so viele Nachbilder von Blitzen, dass er kaum noch die eigentlichen Blitze erkennen konnte. Als er mit zusammengekniffenen Augen in das blendende Geflacker seines Spiegels blickte, erkannte er, dass sich hinter ihm ein Blitzstrahl befand, der Himmel und Erde ohne Unterbrechung miteinander verband. Er kippte den Rückspiegel nach oben, um einen besseren Blick auf ihn erhaschen zu können, und sah den Ursprung dieses Blitzes, einen brodelnden, sich windenden Flammenkörper, der sich silbern vor den dunklen Wolken abzeichnete: der Engel Barakiel.

Neil war von diesem Anblick so gelähmt, dass sein Pickup einen steilen Felsvorsprung hinaufraste und in die Luft geschleudert wurde. Der Wagen krachte gegen einen Felsen, wobei sich die Wucht des Aufpralls auf die vordere linke Seite des Fahrzeugs konzentrierte und diese wie Aluminiumfolie zusammenknüllte. Die Deformation der Fahrgastzelle brach ihm beide Beine und ritzte seine linke Oberschenkelschlagader. Langsam, aber unausweichlich verblutete er.

Er versuchte nicht, sich zu bewegen. Noch hatte er keine körperlichen Schmerzen, ahnte jedoch, dass die geringste Bewegung schreckliche Folgen haben würde. Er war in dem Pickup eingeklemmt, so viel stand fest, und selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte Neil Barakiel unmöglich folgen können. Hilflos sah er zu, wie sich das Blitzgetöse immer weiter von ihm entfernte.

Neil begann zu weinen. Reue und Selbstverachtung drohten ihn zu überwältigen, und er verfluchte sich dafür, geglaubt zu haben, dass so ein Plan jemals Erfolg haben könnte. Wenn ihm nicht klar gewesen wäre, dass es zu spät war, Gott anzuflehen, und er sich nur selbst die Schuld geben konnte, hätte er alles dafür getan, sich anders entschieden zu haben, und sein restliches Leben dem Versuch gewidmet, seine Liebe zu Gott zu finden. Er bat Sarah um Verzeihung, dass er sein Leben vertan hatte, dass er alles auf eine Karte gesetzt hatte, anstatt einem sichereren Pfad zu folgen, und jetzt keine Möglichkeit mehr hatte, je wieder mit ihr zusammenzukommen. Er betete, sie möge ihm vergeben und verstehen, dass es seine Liebe zu ihr war, die ihn geleitet hatte.

Durch seine Tränen sah er, dass eine Frau auf ihn zulief, und er erkannte, dass es Janice Reilly war. Ihm wurde klar, dass sein Wagen keine hundert Meter von Janices und Ethans Lager entfernt verunglückt war. Trotzdem gab es nichts, was Janice unternehmen konnte. Neil spürte, wie das Blut aus ihm herausrann – er würde nicht mehr lange genug am Leben bleiben, bis ein Rettungsfahrzeug bei ihm eintraf. Er meinte zu hören, wie Janice nach ihm rief, aber in seinen Ohren rauschte und pfiff es zu heftig, als dass er irgendetwas verstanden hätte. Hinter Janice bemerkte er Ethan, der ebenfalls in seine Richtung rannte.

Ein helles Licht erstrahlte, und Janice wurde von den Füßen gerissen, als hätte ein Vorschlaghammer sie getroffen. Einen Moment lang dachte Neil, ein Blitz hätte sie getroffen, sah aber dann, dass das Gewitter bereits vorübergezogen war. Als Janice sich wieder aufrichtete, sah er, wie Dampf von ihrer jetzt völlig glatten Haut aufstieg, und da begriff er, dass sie vom himmlischen Licht getroffen worden war.

Neil blickte nach oben, doch er konnte nur Wolken sehen. Der Lichtstrahl war fort. Es schien ihm, als wollte Gott ihn verhöhnen, nicht nur, indem er ihm das zeigte und doch vorenthielt, was ihn sein Leben gekostet hatte, sondern indem er es jemandem gewährte, der es weder brauchte noch wollte. Gott hatte bereits einmal ein Wunder an Janice verschwendet und tat es nun wieder.

In diesem Augenblick durchbrach ein weiterer Strahl des himmlischen Lichts die Wolken und traf Neil, der reglos in seinem Wagen lag.

Wie tausend Nadeln durchbohrte das Licht sein Fleisch und schrammte über seine Knochen. Das Licht tilgte seine Augen, verwandelte ihn nicht etwa in ein Wesen, das früher hatte sehen können, sondern in eines, das niemals dafür gemacht gewesen war zu sehen. Und indem es das tat, offenbarte das Licht Neil alle Gründe dafür, warum er Gott lieben sollte.

Er liebte Ihn mit einer Hingabe, die alles übertraf, was Menschen füreinander empfinden können. Diese Liebe als uneingeschränkt zu bezeichnen, wäre unzureichend, denn das Wort »uneingeschränkt« verweist auf eine Beschränkung, und diese Vorstellung hatte für Neil seine Bedeutung verloren: Alles, was innerhalb des Universums geschah, war für ihn nun nicht weniger als ein unzweideutiger Grund dafür, Ihn zu lieben. Nichts konnte mehr ein Hindernis oder auch nur eine Unerheblichkeit sein, sondern lediglich ein weiterer Anlass, dankbar zu sein, eine weitere Ermunterung, Gott zu lieben. Neil gedachte seiner Trauer, die ihn zu diesem selbstmörderischen Draufgängertum getrieben hatte, und an die Qualen und Schrecken, die Sarah erduldet hatte, als sie starb, und dennoch liebte er Gott, nicht trotz ihrer Leiden, sondern wegen ihnen.

Er schwor all seinem früheren Ärger, seiner Unentschlossenheit und seinem Verlangen nach Antworten ab. Er war dankbar für all die Schmerzen, die er ertragen hatte, voller Reue, dass er sie nicht schon früher als die Gnade verstanden hatte, die sie waren, und jubelte innerlich, dass ihm nun Einsicht in Gottes wahren Willen gewährt worden war. Er begriff, dass das Leben ein unverdientes Geschenk war, und dass auch die Tugendhaftesten es nicht verdienten, die Herrlichkeit des sterblichen Lebens genießen zu dürfen.

Für Neil waren alle Geheimnisse gelüftet, denn er verstand nun, dass alles im Leben eigentlich Liebe war, auch Schmerzen – vor allen Dingen Schmerzen.

Einige Minuten später, als Neil schließlich verblutete und starb, hatte er es wahrhaftig verdient, errettet zu werden.

Und Gott ließ ihn trotzdem zur Hölle fahren.


Ethan hatte all das beobachtet. Er sah, wie Neil und Janice durch das himmlische Licht neu erschaffen wurden, sah die gottesfürchtige Liebe auf ihren augenlosen Gesichtern. Er sah, wie der Himmel sich klärte und das Licht der Sonne zurückkehrte. Er hielt Neils Hand und wartete auf die Sanitäter, bis Neil starb, und er sah, wie Neils Seele seinen Körper verließ und anfänglich gen Himmel aufstieg, nur um dann doch zur Hölle hinabzugleiten.

Janice sah nichts von alledem, denn zu dem Zeitpunkt hatte sie bereits keine Augen mehr. Ethan war der einzige Zeuge, und er begriff nun, dass es diese Rolle war, die Gott ihm zugedacht hatte: Janice Reilly bis zu diesem Ereignis zu begleiten und für sie zu sehen, was sie nicht mehr schauen konnte.

Nachdem die Statistiken von Barakiels Erscheinung zusammengetragen worden waren, lautete das Ergebnis, dass es insgesamt zehn Opfer gegeben hatte, sechs davon Lichtsucher, die anderen gewöhnliche Pilger. Neun Wallfahrer hatten Wunderheilungen erfahren. Neil und Janice waren die Einzigen, die das himmlische Licht gesehen hatten. Es gab keine Zahlen darüber, wie viele Pilger gespürt hatten, dass die Erscheinung ihr Leben für immer verändert hatte, aber Ethan rechnete sich dieser Gruppe zu.

Seit ihrer Rückkehr nach Hause verbreitete Janice weiter ihre frohe Botschaft, doch das Thema ihrer Reden hat sich gewandelt. Sie spricht nicht mehr davon, dass die körperlich Behinderten über die Mittel verfügen, ihre Beeinträchtigungen zu überwinden. Wie die anderen Augenlosen predigt sie stattdessen über die unfassbare Schönheit von Gottes Schöpfung. Von jenen, für die sie einst eine Quelle der Inspiration gewesen war, wenden sich viele enttäuscht von ihr ab, denn sie haben das Gefühl, eine spirituelle Führerin verloren zu haben. Die Janice von einst, die als Behinderte von der ihr eigentümlichen inneren Kraft gesprochen hatte, war etwas Besonderes, etwas Seltenes gewesen. Nun aber, als Augenlose, klingt ihre Botschaft banal. Es bekümmert sie nicht, dass ihr Publikum schrumpft, denn nun ist sie vollkommen überzeugt von dem, was sie predigt.

Ethan hat seinen Beruf als Bibliothekar aufgegeben und ist Prediger geworden, um ebenfalls von seinen Erfahrungen berichten zu können. Seine Frau Claire konnte sich mit seiner neuen Sendung nicht abfinden und hat sich schließlich von ihm getrennt und die Kinder mitgenommen. Ethan aber war gewillt, seinen Weg alleine zu gehen. Indem er den Menschen berichtet, wie es Neil Fisk ergangen ist, versammelt er eine beträchtliche Gefolgschaft um sich. Ethan predigt den Menschen, dass man sich für das Leben nach dem Tode genauso wenig Gerechtigkeit erhoffen kann wie für die Welt der Sterblichen, aber er predigt das nicht, um irgendjemanden davon abzubringen, Gott zu verehren. Ganz im Gegenteil – er ermuntert seine Zuhörer, genau das zu tun. Eindringlich warnt er sie davor, sich bei ihrer Gottesliebe von irrigen Vorstellungen leiten zu lassen, denn sie müssten sich darauf gefasst machen, Ihn zu lieben, ohne Rücksicht darauf, was Sein Wille ist. Gott ist nicht gütig. Gott ist nicht gnädig. Und das ist ein grundlegender Bestandteil jedes wahren Glaubens.

Obwohl Neil Ethans Predigten nicht mehr zur Kenntnis nehmen kann, hätte er ihnen vorbehaltlos zugestimmt. Neils verlorene Seele ist die Verkörperung von Ethans Lehre.

Für die meisten ihrer Bewohner unterscheidet sich die Hölle nicht wesentlich von der Erde. Die hauptsächliche Strafe besteht darin zu bereuen, Gott nicht innig genug geliebt zu haben, als man noch am Leben war, und für viele ließ sich das leicht ertragen. Für Neil allerdings gleicht die Hölle in keiner Weise seinem vergangenen Dasein in der Welt der Sterblichen. Sein unsterblicher Körper hat wohlgeformte Beine, was er aber kaum bemerkt, und er hat seine Augen wiedererhalten, erträgt es aber nicht, sie zu öffnen. Der Anblick des himmlischen Lichts hat ihm ein Bewusstsein für die Allgegenwart Gottes in der Welt der Sterblichen verliehen, und ebenso hat es ihm vor Augen geführt, dass Gott in der Hölle völlig abwesend ist. Alles, was Neil sieht, hört oder berührt, erfüllt ihn mit Verzweiflung, und anders als auf der Erde ist dieses Leid keine Folge von Gottes Liebe, sondern beruht auf Seiner Abwesenheit. Neil erduldet nun größere Qualen, als es Sterblichen wie ihm je möglich gewesen war, doch seine einzige Reaktion besteht darin, Gott zu lieben.

Neil liebt Sarah noch immer, und er vermisst sie wie eh und je. Sein Wissen, dass er es fast geschafft hätte, wieder bei ihr zu sein, macht alles nur noch schlimmer. Er weiß, dass nicht seine eigenen Taten schuld daran sind, dass er in die Hölle gekommen ist – dass es keinen Grund dafür gibt und dass es keinem höheren Ziel dient. Doch das alles kann seine Liebe zu Gott nicht schmälern. Wenn es für ihn eine Möglichkeit gäbe, doch noch in den Himmel zu kommen und sein Leiden zu beenden, so würde er sich das nicht erhoffen. Solche Sehnsüchte suchen ihn nicht mehr heim.

Neil ist sich auch darüber im Klaren, dass seine Liebe zu Gott von Ihm nicht erwidert wird, denn Gott nimmt ihn gar nicht wahr. Auch das beeinträchtigt seine Gefühle für Gott nicht, denn uneingeschränkte Liebe verlangt nichts, auch nicht, dass sie erwidert wird.

Und so kommt es, dass Neil, obwohl er seit vielen Jahren von Gott vergessen in der Hölle darbt, Gott immer noch liebt. Das ist das wahre Wesen echter Frömmigkeit.


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