Dritter Teil

Darauf beschlossen die Granden, die Jüdin zu töten. Sie begaben sich dorthin, wo sie verweilte, und brachten sie um auf der Estrade ihres Gemaches und ebenso alle, die mit ihr waren.

Alfonso el Sabio, Crónica General

Um 1270

Es beschlossen nun die Seinen,

Dieses Treiben zu beenden,

Das dem König Schande machte.

Sie begaben sich zum Orte,

Wo die Jüdin war, und fanden

Sie auf prächtiger Estrade,

Und sie töteten die Jüdin

Und die um sie waren, alle.

Aus der Romanze des Sepúlveda

Erstes Kapitel

Vom Norden her, den Pyrenäen zu, durch ihre ausgedehnten fränkischen Länder zog mit großem Gefolge die alte Königin Ellinor.

Am gleichen Tage noch, da sich in Engelland Nachricht verbreitet hatte vom Absterben König Heinrichs, ihres Mannes, war sie aus den Toren des Turmes von Salisbury, ihres Gefängnisses, herausgetreten mit der alten Gewalt, niemand hatte ihr zu wehren gewagt, und hatte die Herrschaft in ihre Hände genommen für ihren Lieblingssohn Richard, der nun König war. Dieser selber, der ungestüme Soldat, die Staatsgeschäfte gerne der klugen, energischen Mutter überlassend, hatte sich bald nach der Krönung eingeschifft zur Kriegsfahrt ins Morgenland. Sie aber durchzog ihr großes Reich, Engelland und die riesigen Besitzungen im Fränkischen, zwang störrische Barone nieder, trieb von widerwilligen Grafen, Prälaten, Städten große Gelder ein, hielt Gau- und Gerichtstage ab, ordnete mit schneller Hand die verworrenen Geschäfte.

Verließ die Grafschaften und Herzogtümer des Nordens, die ihr durch die Heirat mit Heinrich zugefallen waren, zog ein in ihre Erblande, das Poitou, die Guienne, die Gascogne. Hörte die vertrauten Laute der Sprache ihrer Jugend, des Provençalischen, der klingenden Langue d’Oc, atmete die milde Luft der Heimat. Im Norden hatte sich dem unterwürfigen Willkomm, den man ihr bot, viel Angst beigemengt; hier begrüßten die Leute, welche die Straße säumten, die alte Fürstin mit unverstellter Freude. Ihnen war sie mehr als die berühmte Königin des Nordens und Erste Dame der Christenheit, ihnen war sie Ellinor de Guienne, die angestammte Herrin ihres Landes, die rechte Erbin.

Fast neunundsechzig Jahre alt war sie jetzt, und die letzten fünfzehn Jahre hatte sie in Gefangenschaft verbracht; aber stattlich saß sie zu Pferde, sorgfältig gekleidet, kunstvoll geschminkt, das Haar gut frisiert und gefärbt. Vielleicht machte es ihr manchmal Mühe, sich aufrecht zu halten, diese ganze Reise in die noch verschneiten Berge hinein und über die Pässe war Strapaze und Wagnis, aber die alte Frau schrak nicht zurück vor Mühe und Gefahr. Sie spürte, die fünfzehn Jahre Haft hatten sie nicht gelähmt, und das Bewußtsein, daß sie, die vor kurzem noch hilflos zornig im Turm von Salisbury gesessen hatte, jetzt wieder mit festen, geschickten Händen ihr Pferd und ihre Länder lenken konnte, mehrte ihre Kraft. Hell schauten ihre blauen, etwas harten Augen in das vertraute Land. Sie drängte voran, sie befahl lange Tagesreisen und verschmähte es, ihr Pferd gegen Sänfte oder Tragsessel zu tauschen, auch wenn es gegen Abend ging und alle müde waren.

Sie war auf dem Weg nach Kastilien, nach Burgos, um Doña Leonor zu besuchen, ihre Tochter, der Vermählung ihrer Enkelin Berengaria beizuwohnen und das Verlöbnis einer zweiten Enkelin in die Wege zu leiten.

Je tiefer nach dem Süden sie vorstieß, um so größer wurde ihr Gefolge, ihre »Mesnie«. Als man in die Pyrenäen hineintauchte, waren es an die fünfhundert Ritter und zweihundert Frauen und Fräuleins, preux chevaliers et dames choisies, stolze Ritter und erlesene Damen, Prälaten und Barone aus allen ihren Ländern, dazu eine Leibwache von ausgesuchten Routiers, erprobten Söldnern, Brabançons und Cottereaux, die begleitet waren von wohlabgerichteten, scharfen Wachhunden. Ein Troß von mehr als tausend Wagen folgte, Gepäck, notwendigster Hausrat und Proviant, dazu Geschenke für die Bevölkerung. Reitknechte und Wärter führten Pferde und Jagdhunde der Königin und ihrer großen Herren, Falkeniere trugen ihre Lieblingsfalken. So wand sich der Zug bunt und langsam durch die hier und dort noch verschneiten Berge.

An der kastilischen Grenze holten Alfonso und Leonor, Don Pedro von Aragon und die Infantin Berengaria die alte Königin ein. Vor den Toren von Burgos kamen ihr die angesehensten Prälaten und Höflinge der beiden Könige entgegen. Feierlich zog sie in Burgos ein, überall wehten Fahnen, von den Fenstern und Balkonen hingen Gobelins und Tücher, alle Glocken der kirchenreichen Stadt läuteten, die Wege waren bedeckt mit Zweigen und Blumen, die Duft verströmten unter den Hufen der Pferde und den Schuhen der Schreitenden.

Sie war, die wilde und glänzende Ellinor, Jahrzehnte hindurch die am meisten bewunderte und gescholtene Frau Europas gewesen, und nun man sie in der alten Herrlichkeit einherziehen sah, lebten die zahllosen Geschichten auf von ihren Abenteuern im Kriege, in der Staatskunst und in der Liebe. Wie sie der Sporn und das Herz des Zweiten Kreuzzugs gewesen war, einherreitend an der Spitze der Kreuzfahrer, kriegerisch und prächtig gleich der Penthesilea, der Führerin der Amazonen. Wie in der glorreichen Stadt Antiochien König Raymond, ihr jugendlicher Onkel, in uferlose Liebesleidenschaft gefallen war. Wie er und ihr Mann, der König von Francien, der Siebente Louis, sich um sie stritten, bis schließlich ihr Mann sie dem andern mit Gewalt zurück übers Meer entführte. Wie sie diese Gewalt nicht duldete und den Papst bewog, sie von dem König von Francien zu scheiden. Wie sogleich der junge Graf von Anjou zur Stelle war und um sie warb, eben der spätere König Heinrich von Engelland. Wie sie und er das gewaltige Reich schmiedeten. Wie sie Gelehrte an ihren Hof zog, Doktoren und Magister der sieben Wissenschaften und Künste, und Troubadours, Trouvères und Conteurs ohne Zahl. Und wie sie wohl auch dem oder jenem dieser Dichter ihre Gunst schenkte, dem Bernard von Ventadour etwa, obschon er nur der Sohn eines Ofenheizers war. Wie seinesteils Heinrich seine Königin hinterging mit vielen, vor allem aber mit einer, und wie Ellinor ihm diese seine schöne Geliebte Rosamund umbrachte. Wie er dann Ellinor einsperrte und wie sich ihre Söhne für sie erhoben und den Vater bekämpften. Und viele von den Liedern klangen wieder auf, fränkische, provençalische, katalanische, die ihren Hof rühmten, wo edelste Dichtkunst und zierlichste Sitte ihre Stätte hatten. Da sang der Dichter Philipp von Thaün: »Die süße junge Königin zieht alle Gedanken auf sich, wie die Sirene den sinnberaubten Fischer zur Klippe lockt.« Da sang Benoît de Sainte-Maure: »Du Hochgeborene, Erlesene, du Stolze und Kühne, der keine andere Fürstin gleicht, des größten Königs größere, freigebigere Gattin.« Und selbst ein rauher Deutscher hatte gedichtet: »Wär die Welt alle mein / Von dem Meer bis an den Rhein / Ich wollte ihrer darben / Wenn nur die Königin von Engelland / Läge in meinen Armen.«

Diese Lieder und Berichte und Romanzen der Bewunderer, vermischt mit den wilden, von Verwünschungen erfüllten Versen und Erzählungen der Feinde, hatten den meisten aus Ellinor de Guienne etwas Unwirkliches gemacht, eine Gestalt der fernsten Ferne oder eines andern Zeitalters, und sogar jetzt, da sie höchst wirklich in die Stadt Burgos einzog, leibhaft, in Fleisch und Blut, umgeben von ihren Rittern, Damen, Söldnern, Pferden, Hunden, Falken und Schätzen, war es vielen der kastilischen und aragonischen Herren, als ritte sie in einer goldenen Wolke einher. Wie schal und schäbig erschien ihnen ihr Heute, maßen sie es an dem Damals dieser großen Frau. Leuchtend bei ihrem Anblick stieg ihnen empor, was sie vom Zweiten Kreuzzug gehört hatten, der in Wahrheit Königin Ellinors Kreuzzug gewesen war. Damals verließen sich Ritter und Könige nicht krämerhaft auf die Übermacht, es stak nicht Geldgier und schlaue Berechnung hinter dem Kampf, vielmehr kämpfte man nach genauen, edlen Regeln, aus schierer Lust am Kampf, und die Schlacht war nichts anderes als das Tournier, ein edles Spiel auf Leben und Tod. Vierzig Tage lang war der Vasall seinem Herrn verpflichtet, vierzig Tage kämpfte er, und war eine Burg am vierzigsten Tage nicht erobert, dann zog der Ritter ab, auch wenn Gewißheit bestand, sie am einundvierzigsten zu nehmen. Damals gab es keine Routiers, keine gemieteten Söldner aus dem Pöbel, die ohne feine Lebensart nur für den Sieg kämpften. Damals bezeigte man auch dem Feind Courtoisie, selbst wenn dieser dem fremden Gott anhing. Der belagernde Kalif schickte der belagerten christlichen Königin Urraca höflich seinen Leibarzt, damit er ihr in ihrer Krankheit beistehe. Und Krieg fand statt nur von Montag bis Donnerstag; Freitag, Sonnabend und Sonntag war Waffenstillstand, damit ein jeder, Moslem, Jud und Christ, ungestört seinen Ruhetag feiern konnte.

Jetzt werde, glaubten die aragonischen und kastilischen Herren, eine ähnliche große Zeit anbrechen. Im Geist der Dame Ellinor war damals der Zweite Kreuzzug geführt worden; in ihrem Geist wird jetzt hier auf der Halbinsel der Heilige Krieg geführt werden, und sie, die hispanischen Edelleute, werden Gelegenheit haben, sich als wahre Erben der Ritter des Artus und des Charlemagne zu betätigen.

Der junge König Don Pedro ging umher wie schwebend. Welche Gnade Gottes, daß er eine Enkelin dieser glorreichen Fürstin zu seiner Königin machen durfte. Voll der Seligkeit des christlichen Ritters wird er in den Krieg ziehen, ledig der Bosheit und Rachsucht gegen Don Alfonso.

Auch der Schildknappe Alazar verfiel dem Zauber der berühmten alten Königin. In Toledo hatte er manches Mal hämische Blicke in seinem Rücken zu spüren geglaubt, und als der König ihn nach Burgos mitnahm, hatte er gefürchtet, Doña Leonor werde ihn seine verfängliche Verwandtschaft entgelten lassen. Aber sie war von höchster Milde und Freundlichkeit, der König behandelte ihn wie einen jüngeren Bruder, und in Gegenwart der großen Frau Ellinor schmolzen ihm die letzten Zweifel. Die edeln Damen fanden ihn wert, des Königs Don Alfonso Schildknappe zu sein, er war aufgenommen in die christlich ritterliche Welt.

Die ganze Stadt Burgos feierte den Besuch der alten Königin; Tausende waren gekommen, an der Feier teilzunehmen oder aus der festlichen Ansammlung Nutzen zu ziehen. Wirte machten fliegende Schenken auf, Händler boten kostbare Weine und Gewürze an. Die offenen Bogen und Gewölbe, die Fenestrae, in welchen die Kaufleute ihre Waren feilhielten, zeigten Putz und Schmuck aus flämischen, levantinischen, moslemischen Ländern. Pferdehändler und Waffenschmiede machten Geschäfte. Bänker und Wechsler waren da, die Güter der Ritter, die in den Krieg zogen, zu kaufen oder zu beleihen. Und ein Meer von Zirkusvolk war da, Amuletthändler, Huren, Taschendiebe. Das alles lärmte, feilschte, liebelte und liebte, lief in die Kirchen und in die Schenken, war fromm, frech, gutartig, brutal, spreizte sich bunt fröhlich, stank, machte Kinder, sang Hymnen und Sauflieder, freute sich des Lebens, verfluchte den Kalifen und den Sultan und rühmte die glorreiche Königin Ellinor.

Auch bei Hofe hatten die Kämmerer schwere Arbeit, die Gäste geziemend unterzubringen und zu verköstigen, die von überallher aus Kastilien und Aragon kamen, der Vermählung Don Pedros und der Infantin beizuwohnen und der alten Fürstin ihre Aufwartung zu machen. Viele dieser Prälaten, Barone, hohen Räte brachten Bediente mit, Jäger, Stallmeister. Dazu stellten sich wie bei jedem solchen Fest abenteuernde Ritter ein, arme, junge Edelleute, die sich von den Tournieren Geld und Ehre erhofften. Auch an Troubadours fehlte es nicht, an Trouvères, Conteurs; sie wußten, sie waren Doña Leonor und der Dame Ellinor stets willkommen.

Die alte Königin erholte sich nicht erst lange von den Mühsalen der Reise, sie hielt schon am zweiten Tage Hof im großen Saale der Burg. Im Lichte vieler Kerzen saß sie auf der Estrade, auf erhöhtem Stuhl, aufrecht, damenhaft. Etwas dicklich war sie geworden, manchmal fiel ihr das Atmen schwer, sie mußte ein Hüsteln unterdrücken, und unter der Schminke, die im Lauf der Stunden abbröckelte, zeigte sich ein altes Gesicht; aber die sehr blauen, hellen Augen schauten hart und klar, und mit kräftigen, wohlüberlegten, freundlichen Worten nahm sie unermüdlich teil an der Unterhaltung.

Der alte aragonische Graf Ramón Barbastro, der damals mit in Ellinors Heiligen Krieg gezogen war, sprach sehnsüchtig von jenen herrlichen Jahren, und klagte über die traurige Kahlheit der neuen Zeit. Der Krieg hatte seinen Adel verloren, er wurde im Rate vorbereitet und wurde mehr mit der Feder geführt als mit dem Schwert. Nicht die Tapferkeit der Ritter entschied die Schlacht, sondern die Anzahl der Routiers.

Auch zu der Zeit, da sie und der edle Don Ramón jung gewesen seien, antwortete Ellinor, sei der Krieg nicht immer nur Glanz und prächtiges Spiel gewesen. »Wenn ich’s recht überlege«, meinte sie, »dann waren die großen, herzwärmenden Schlachten und Feiern die Ausnahme, die Regel waren die kleinen Leiden: die Märsche durch das endlose, weglose, unbekannte, gefährliche Gelände, die wunden Füße, das überhitzte Blut, der schreckliche Durst, die schlaflosen Nächte mit den giftigen Stechmücken, den juckenden Flöhen und Läusen. Und das Schlimmste: die Acedia, die grauenvolle Langeweile, die endlose Seefahrt, die wochenlangen Märsche ins Unbekannte, das quälende Warten auf die Abteilungen, die morgen kommen sollten oder übermorgen und nach einer Woche noch nicht da waren.« Sie sah die Enttäuschung ihrer Hörer und übermalte lächelnd und kundig das trübe Bild. »Freilich«, sagte sie, »war dann der Lohn um so reicher: die wilde Lust der Schlacht, die Feier in einer eroberten Stadt.« Und sie erzählte von den Festen des Morgenlandes, wie sich da christliche mit moslemischer Pracht gemischt und Gesänge der Troubadours abgewechselt hatten mit Künsten arabischer Tänzerinnen. Die Worte strömten ihr willig zu, aber noch beredter waren ihre Augen. Lächelnd dachte der alte Graf an die beiden Männer, die damals in Antiochien um ihre Gunst gekämpft hatten, der christliche König Raymond und Prinz Saladin, der Neffe und Gesandte des Sultans. »Was diesen Festen ihre Lust gab«, schloß voll sehnsüchtiger Erinnerung die alte Königin, »war, daß wir sie zwischen Schlachten feierten. Gestern war man einem seligen Tode entgangen, morgen vielleicht wird man diesen seligen Tod sterben.«

Erzbischof Don Martín genoß mit ganzem Herzen den Anblick und die Reden der Dame Ellinor. Er war in den Monaten des langen Wartens mürrisch herumgegangen, voll hilflosen Zornes, jetzt, da diese Debora, diese Jaël, die letzten Hindernisse niederriß, die dem guten Krieg noch im Wege standen, blühte er fromm und fröhlich auf. Beschwingt ging er einher; die Rüstung, die er jetzt ständig unter seinem Priestergewand sehen ließ, drückte ihn nicht. Er nahm alle seine Courtoisie zusammen und sagte mit ungelenker, schallender Höflichkeit: »Das Heilige Land hat herrliche Taten gesehen, erhabene Frau, als du dort hinkamst, die Heiden zu zertreten, und wieder stehen ihm gute Zeiten bevor, nun dein strahlender Sohn auf dem Weg ist. Schon füllt der Ruhm deines Richard, sich mit dem deinen mengend, die Moslems mit Entsetzen. Ich habe zuverlässige Nachricht von einem Freunde, dem Bischof von Tyrus. Schon drohen arabische Mütter, wenn ihre Kinder nicht folgen wollen: ›Sei still, du Fratz, sonst kommt der König Richard, der Melek Rik, und holt dich.‹«

Ellinor verbarg nicht ihre Freude an dem Lob ihres Lieblings Richard. »Ja, er ist ein großer Soldat«, stimmte sie bei, »ein rechter Miles Christianus. Aber leicht wird er’s im Morgenland nicht haben«, erzählte sie mit jenem Freimut, den nur sie sich erlaubte. »Ich denke da nicht an den Feind, an den Sultan, ich denke an den Bundesgenossen meines Richard, an unsern lieben Verwandten, den Allerchristlichsten König von Francien. Glanz und Freude sind dessen Sache nicht, er möchte den Krieg so billig wie möglich haben, unser guter Philipp August, er ist ein wenig schäbig, rundheraus. Jetzt möchte er dem Kreuzheer die Damen und Troubadours verbieten. Aber da wird er kein Glück haben bei meinem Richard. Der liebt nun einmal Buntheit und Lärm, das hat er vom Vater, vielleicht ein wenig auch von der Mutter. Wie soll man denn einen Kreuzzug führen ohne Damen und ohne Troubadours? Eines habt ihr uns voraus hier auf der Halbinsel«, wandte sie sich an Alfonso und Pedro. »Ihr müßt nicht wie wir, bevor ihr an den Feind herankommt, die lange, langweilige Meerfahrt überstehen, ihr müßt nicht hundert krumme Verhandlungen führen mit tückischen Griechen und anderm christlichen Gesindel. Der Feind und die Beute liegen greifbar nahe vor euch: Córdova, Sevilla, Granada.«

Lockend vor den Augen aller stieg das Bild der wunderbaren Städte auf, der prächtigen Beute. Und im Geiste des Erzbischofs Don Martín klangen jubelnd ineinander die Namen der moslemischen Städte: Córdova, Sevilla, Granada, und die Worte des Evangeliums: »Ich bringe nicht den Frieden, sondern das Schwert. Allà máchairan.«

Doña Leonor war dem Himmel aus tiefstem Herzen dankbar für den Besuch Ellinors. Sie hatte des Vaters Staatsklugheit bewundert, sein kriegerisches Genie, sie hatte ihn wohl auch ein wenig beneidet um der Bedenkenlosigkeit willen, mit der er seinen Leidenschaften frönte. Die Mutter aber liebte sie über alle Bewunderung hinaus, und die Vorstellung, wie die überaus lebendige, immer nach neuen Taten gierige Frau in Mauern eingeschlossen lag, hatte sie oft und bitter gequält. Als gar diese wüste Liebesverwirrung über Alfonso gekommen war, hatte sie sich brennend danach gesehnt, Ellinor ihren Jammer zu klagen, die Tochter der Mutter, die Königin der Königin, die Gekränkte der Gekränkten, und sich Rats bei ihr zu holen. Nun war Alfonso zwar zu ihr zurückgekehrt, ausgefüllt, wie es schien, von Begeisterung für den Feldzug, und hatte wohl die Jüdin vergessen. Aber wenn auch Leonor ehrlich gewillt war, Alfonsos Betrug und Wortbruch zu verzeihen, so hatten sich ihr doch Erfahrung, Erkenntnis, Enttäuschung zu tief eingebrannt, als daß sie der neuen Verbundenheit getraut hätte, und sie war beglückt, daß sie nun mit der Mutter ihre Hoffnungen und Ängste bereden konnte.

Als Ellinor vom Pferde stieg, als Leonor ihr die Hand küßte, als die alten Lippen der Mutter ihre eigenen jungen berührten, spürte sie leibhaft die tiefe Gemeinschaft. Scharf und hart mit einemmal stand vor ihr lang Versunkenes, Menschen und Begebenheiten, welche sie als Kind gesehen und erlebt hatte in Domfront oder an dem üppigen Hof ihrer Mutter in Poitiers oder auch im Kloster Fontevrault, wo sie heiter und sehr weltlich erzogen worden war. Da war ihre Hofmeisterin, die Dame Agnes von Fronsac. Leonor hatte sie bedrängt, ihr von den Geliebten ihres Vaters Heinrich zu erzählen, und schließlich hatte die Dame Agnes willfahrt; und dann hatte das Kind Leonor verlangt, man solle diese Dame Agnes wegschicken, sie habe ihr, der Prinzessin Leonor, nicht genügend Ehrerbietung bezeigt. Und überaus deutlich vor sich sah sie jene hölzerne Statue des heiligen Georg im Schlosse Domfront. Wenn die Abendsonne auf ihn schien, schaute er besonders drohend aus, und Leonor hatte sich oft vor ihm gefürchtet. Aber mehr noch hatte sie ihn geliebt; es war gut, sich von einem so starken Heiligen beschützt zu wissen, vor allem, da ihr Vater so selten da war. Sie hatte diesen heiligen Georg lebendig gemacht, hatte ihn sich gerettet aus dem Lande ihrer Jugend, da stand er neben ihr und hieß Alfonso. Sie hatten ihn ihr stehlen wollen, die Juden, der Satan oder wer immer. Aber sie hatte sich ihn nicht stehlen lassen. Noch war sie nicht sicher, noch waren die Feinde am Werk, aber hier hatte sie ihn, hier an ihrer Seite, und auch ihre Mutter hatte sie hier, und mit deren Hilfe wird sie die Jüdin für immer vertreiben.

Allein es dauerte eine Weile, ehe sie mit der Mutter reden konnte. Die Geschäfte der Ankunft und der Einrichtung, der Hofhaltung und Repräsentation nahmen die ganzen beiden ersten Tage in Anspruch. Endlich, am dritten Tage, inmitten einer großen Versammlung, sagte unvermittelt Königin Ellinor, nun wolle sie einmal ihre Tochter eine Weile für sich haben, und schickte ohne Umschweife alle andern hinaus.

Als sie allein waren, hieß sie Doña Leonor sich ihr gegenüber setzen, ins volle Licht der Sonne, und musterte sie. Ruhig tauchten ihre harten, sehr blauen Augen in die grünen, prüfenden der Tochter. In der prallen Sonne schien Leonor die Mutter älter und schärfer von Zügen als bisher, doch auch fürstlicher, so recht die Mutter ihres Geschlechts. Im Geiste beugte sie sich vor ihr, liebend, ehrfürchtig, und beschloß, ihr blindlings zu gehorchen.

Die Alte, nach einer Weile, sagte anerkennend zu der Jungen: »Du hast dich gut erhalten.«

Dann, sogleich, begann sie, von den Staats- und Familiengeschäften zu reden. Sie war hier, nicht nur um ihre Tochter zu sehen, sondern vor allem auch, um eine zweite ihrer kastilischen Enkelinnen zu vermählen. »Über den Platz, den ich für sie ausgesucht habe«, sagte sie, »wirst du nicht zu klagen haben. Der Erbprinz dieses Philipp August ist ein netter Junge, dem Vater auf erfreuliche Art unähnlich. Es war kein Osterfest, mit diesem fränkischen König den Heiratsvertrag auszuhandeln, das darf ich wohl sagen. Er hält sich für einen großen Herrscher, er träumt davon, der zweite Charlemagne zu werden, aber er hat keine Größe, er versteht sich nur auf Advokatenmätzchen; damit schmiedet man kein Reich. Immerhin hat er mir viel zu schaffen gemacht, er ist schlau und krumm wie ein Jud. Ich hab ihm schließlich die Grafschaft Evreux ablassen müssen und das Vexin, das ist ein schöner Teil meiner Normandie, dazu dreißigtausend Dukaten. Das alles geht aus meiner Tasche, Kind, du brauchst nichts zu zahlen und hast nur den Vorteil. Du wirst Schwiegermutter des künftigen Königs von Francien, dein Bruder Richard ist Herr in den Ländern, die zwischen deinem Spanien und dem Francien deiner Tochter liegen; eine Zeit wird kommen, da du, wenn du’s nur willst, deine Hand spielen lassen kannst über einen guten Teil der Welt.«

Doña Leonor hörte verhaltenen Atems zu, wie die Mutter mit beiläufigen Worten Pläne vor ihr ausbreitete, die in solche Weite und in solche Zukunft griffen. Es war Leonor klar, daß die Mutter, als sie die normannischen Grafschaften abtrat, vor allem ihr eigenes Reich sichern wollte vor dem Zugriff des gefährlichen Philipp August für die Zeit, da ihr Lieblingssohn Richard auf seiner Kriegsfahrt war. Aber welche Gründe immer hinter diesem Ehevertrag standen, sie, Leonor – damit hatte die Mutter recht –, hatte den Vorteil davon: diese Heirat öffnete ihr einen lockenden Weg zur Macht.

Da hatte sie sich für eine große Regentin gehalten, ihrem Alfonso weit überlegen, weil sie hartnäckig daran arbeitete, Kastilien und Aragon zu vereinigen. Aber über die Pyrenäen hinaus waren ihre Träume nie gegangen. Wie karg und armselig waren ihre Strebungen, maß sie sie an dem staatsmännischen Spiel ihrer Mutter. Die setzte Länder ein vom Westen der Welt bis weit in den Osten, Irland und Schottland und Navarra und Sizilien und das Königreich Jerusalem. Ihr Spielbrett war die Welt.

»Ich habe mir deine Töchter angeschaut, meine Liebe«, sagte jetzt Ellinor. »Sie scheinen gut geraten, sowohl die ältere mit dem häßlichen Namen, heißt sie nicht Urraca?, als auch die jüngere. Ich habe mich noch nicht entschieden, welche wir wählen. Du wirst mir an einem der nächsten Tage beide vorstellen in großer Zeremonie. Wir müssen da wohl auch den Bischof von Beauvais zuziehen als Vertreter Philipp Augusts und seines Erben; aber das ist reine Formalität.«

Was die Mutter sagte, bewegte Leonor. Doch tiefer in ihr war die heiße Erwartung, was ihr die Mutter über Alfonso und die Jüdin sagen werde.

Und nun, endlich, sagte sie: »Ich hörte in meinem Turm von Salisbury allerlei über das, was du mit deinem Alfonso durchzumachen hattest. Es war nichts Genaues, und eins widersprach dem andern, aber ich konnte es mir zusammenreimen; du weißt, ich bin selber nicht ohne Erfahrung in diesen Dingen.« Sie nahm die eine Hand Leonors zwischen ihre beiden, und nun, wohl zum erstenmal, faßte sie in Worte, was sie fühlte. »Dir kann ich es ja sagen«, vertraute sie der Tochter an, »natürlich bin ich froh, daß mein Heinrich in der Erde liegt unter seiner schönen Grabschrift« – und genießerisch zitierte sie:

»König Heinrich war ich von Engelland,

Über ein groß Stück Welt hielt ich die Hand.

Bedenke, der du dieses liest,

Wie klein zuletzt der Größte ist.

Ich kriegte der Erde nie genug,

Jetzt hab ich hier zweimal sieben Schuch.

Er liegt gut dort in seinen zweimal sieben Schuch. Trotzdem wünsche ich, die Erde möge ihm leicht sein. Es ist mir leid um ihn. Ich hab ihm nach dem Leben getrachtet, mehrere Male; einmal wär es mir um ein Haar geglückt, und er wäre hingewesen. Er hat recht gehabt, als er mich einsperrte; ich hätte es an seiner Stelle ebenso gemacht. Ich habe ihn sehr geliebt. Er war der einzige Mann, den ich liebte. Außer einem. Außer zweien. Er war der gescheiteste Mann der Christenheit. Er hatte Vernunft genug, seine Leidenschaft manchmal durchgehen zu lassen. Denn wie soll man sonst leben?« meinte sie duldsam und weise. »Andernteils hat freilich auch meine Freundin recht, die Äbtissin Konstanze: die irdische Liebe ist ein Honiglecken an Dornen.«

Doña Leonor, unvermittelt, sagte: »Mutter, was soll ich mit der Jüdin tun?« Die alte Königin schaute hoch. Lächelnd, fast gemütlich riet sie: »Warte ab, bis die Zeit reif ist, kleine Tochter, ehe du sie aus dem Weg schaffst. Ich habe viel leiden müssen, weil ich nicht warten konnte. Wahrscheinlich wird er sie ohnehin vergessen im Krieg.«

Doña Leonor sagte: »Er hat ein Kind von ihr, einen Sohn.« Sie sprach leise, hilflos.

Die alte Königin überlegte sachlich: »Dem Kind würde ich nichts tun an deiner Stelle. Sie hängen an ihren Bastarden, mehr als an den Müttern. Sogar mein Richard, dem weiß Gott nichts liegt an seinen Weibern, seine Bastarde hat er gern. Heinrich muß ihrer eine Menge gehabt haben. Zwei kenne ich, einen William und einen Geoffrey. Dieser Geoffrey ist ehrgeizig und schielt nach dem Thron. Ich muß ihn an der Leine halten, solang Richard außer Landes ist. Aber er ist ein netter Mensch und tüchtig. Ich hab ihn zum Bischof von York gemacht.«

Leonor sagte: »Ich habe sehr gelitten. Ich hoffe, du hast recht und der Krieg spült sie vollends aus seinem Blut. Aber wer will das wissen? Er hat mir bei seiner Seele geschworen, er werde sie lassen, und kaum hatte er Burgos hinter sich, lief er zu ihr zurück.«

Ellinor sagte: »Kein Feind hat’s mir so schwer gemacht wie dein Vater Heinrich, und er hat mich doch geliebt und ich ihn. Und dein Vater hat seine Söhne geliebt, und sie haben ihn gehaßt, weil er größer war als sie, und er hat sie verzogen, und sie haben ihm mehr Leid zugefügt als er mir, und sicherlich mehr als dir dein Alfonso. Und er hat ihnen verziehen wieder und wieder, und sie haben ihn verlacht und sich von neuem gegen ihn empört. Er hat, als ich noch mit ihm lebte, in Manchester drei Wände unseres Schlafzimmers mit Fresken bemalen lassen, die vierte blieb leer. Als ich jetzt Manchester wiedersah, war auch die vierte Wand bemalt. Da ist zu sehen ein großer, alter Adler mit vier Jungen. Zwei reißen mit ihren Schnäbeln Wunden in seine Flügel, der dritte schlägt ihm die Krallen in die Brust, der vierte hockt ihm auf dem Hals und haut nach seinen Augen.«

Sie hustete, vor Leonor unterdrückte sie den Husten nicht, der sie in den letzten Jahren quälte. Sie schloß die Augen, sie war auf einmal eine alte Frau. Mit geschlossenen Augen und seltsam gleichmäßiger Stimme, als leierte sie ein Gebet, meditierte sie: »Mit Louis habe ich nur Töchter gehabt, das schien mir ein Unglück. Mit Heinrich hatte ich Söhne, aber ob es ein Glück war, weiß ich nicht. Söhne machen Sorgen, wenn sie gut und wenn sie schlecht geraten. Keine Mutter möchte sie sanft haben, ich möchte keinen Heiligen zum Sohn. Doch wenn sie Helden sind, dann schlagen sie um sich, und die andern schlagen nach ihnen, und so soll es wohl auch sein, und sie kommen einem um. Die ersten zweie sind mir umgekommen, und mein dritter Nestling, dein Bruder Richard, macht mir das Herz schwer. Er ist ein lieber Sohn, aber er haust wild, und es ist keine Nacht mehr, da ich nicht schlaflos liege, weil ich Sorgen um ihn habe.«

Sie riß sich zusammen. »Komm näher«, sagte sie, »ganz nahe!« Und mit wilder Vertraulichkeit, leise, befahl sie: »Auf keinen Fall darfst du etwas tun, bevor Alfonso tief verstrickt in seinen Krieg ist. Sowie er im Feld steht, tu, was naheliegt. Geh nach Toledo, übernimm die Regentschaft. Die Moslems sind zähe Feinde, dein Alfonso wird nicht nur Siege erleben. Jedes Unglück hat sein Glück, jede Niederlage bietet Möglichkeiten. Da beschuldigt der General den Minister, der Bischof den General, der Christ den Juden, jeder ist jedem ein Verräter, vielen wird dein jüdischer Escrivano der Schuldige und Verräter sein. Du wirst ihn natürlich verteidigen. Du wirst dich decken vor Alfonso und vor der Welt. Du wirst dich mühen, dem Zorn des Volkes Einhalt zu tun. Aber wer kann das? In solchen Tagen läßt es sich nicht verhüten, daß da und dort Gewalt über das Gesetz siegt, und viele kommen um, Verdächtige und die einem Verdächtigen nahestehen.«

Doña Leonor trank jedes der leisen, harten Worte ein. »Warten«, sagte sie vor sich hin, »warten«, und es war nicht klar, ob sie klagte oder ob sie sich einen Befehl gab. »Ja, warten!« befahl scharf die Mutter. Und: »Geh nach Toledo!« befahl sie. »Das ist eine gute Stadt, und die weiß, wie man mit Feinden umgeht. Schon die alten Könige von Toledo haben es verstanden, die rechte Nacht abzuwarten, bevor sie die Köpfe springen ließen. Una Noche Toledana, eine Toledanische Nacht, sagen sie auch bei uns. Warte ab, und decke dich gut.«

Sie hustete, das leise, scharfe Sprechen strengte sie an. Sie lächelte, schlug um, die kalte Leidenschaft der wilden Greisin wandelte sich in die Courtoisie der Dame, und hatte sie bis jetzt provençalisch gesprochen, so ging sie jetzt ins Lateinische über. »Vielleicht«, meinte sie leichthin, »solltest du den Liebeshandel deines Alfonso einmal auch von seiner andern Seite betrachten. Er hat nämlich auch sein Gutes. Dieser dein Alfonsus Rex Castiliae ist ein großer Ritter, ein wahrer Miles Christianus, aber in der Liebe scheint er mir – nimm mir’s nicht übel – ein wenig verschlafen. Da ist es wohl ein Glück auch für dich, daß er in seinen Mannesjahren noch aufgewacht ist. Ich habe zu meiner Freude gesehen, daß du Funken geben kannst. Ich denke, was du erlebt hast, wird nicht so bald wieder Asche werden.« Don Alfonso fühlte sich wohl in der Hauptstadt seiner Väter, in der alten, strengen, verwinkelten Burg. Er fühlte sich eins mit Doña Leonor, er hatte vergessen, daß jemals zwischen ihnen Streit gewesen war. Er wurde zum früheren Alfonso, liebenswürdig, generös, strotzend jung.

Die Galiana lag hinter ihm in Vergangenheit und Dunst. Er begriff nicht mehr, wie er es so lange in ihrem faulen, üppigen Frieden hatte aushalten können. Er dachte nur mehr an den gesegneten Krieg, den er jetzt führen wird. Wie es ihn wohl auf der Jagd, an einem heißen Tage, nach einem Bad verlangte, so jetzt sehnte er sich nach diesem Krieg. Für den Krieg war er geboren, der Krieg war sein Geschäft. Der Ruhm seines Schwagers, des Königs Richard, des Melek Rik, spornte ihn an. Ihm, Alfonso, war schon aus den kleinen Feldzügen, die er hatte führen dürfen, Ruhm entsprungen; jetzt wird, im großen Krieg, aus diesem jungen, zarten Schößling seines Ruhmes ein starker Baum werden.

Enthusiastisch, vor dem Erzbischof, erging er sich in Entwürfen seines Krieges. Sie waren wieder vertraute Freunde, Don Martín und er – hatten sie jemals Zerwürfnisse gehabt? Er berief die kriegskundigen Barone Vivar und Gomaz; seine Begeisterung machte sie erfindungsreich. Und ständig gingen Boten hin und her zwischen ihm und Nuño Perez, dem Großmeister von Calatrava, seinem vorzüglichsten General.

Ein Jammer nur, daß er nicht seinen ganzen Tag den Vorbereitungen des Krieges widmen konnte, sondern lange Stunden hindurch ödes Gewäsch anhören mußte über Wirtschaft, Werkstätten, Bürger, Bauern, Zölle, Pfänder, Stadtrechte, Darlehen. Denn leider hatten die beiden Ibn Esras recht gehabt: die vielen Händel Kastiliens mit Aragon waren in der Tat schier unlöslich verfilzt. Gewiß, über das Heiratsgut der Infantin Berengaria hatte man sich rasch geeinigt, so daß die Vermählung stattfinden konnte; aber die Abmachungen, die dem Abschluß der Allianz vorangehen mußten, bereiteten immer neue Schwierigkeiten.

Da war ihm denn der Besuch der Dame Ellinor sehr willkommen. Er hoffte, sie, die erfahrene, staatskluge, tatkräftige Fürstin, werde die Schwierigkeiten in kürzester Zeit lösen.

Freilich schuf ihm ihre Gegenwart auch einiges Mißbehagen. Ihr Gefolge ärgerte ihn, die Mesnie, die sie mitführte, dieses Pack geckenhafter Hofleute. Ließ er den Damen das gezierte Wesen zur Not noch durchgehen, so waren ihm unverständlich und höchst widerwärtig diese Ritter, die, auf ihrem Weg in den Kreuzzug, sich die meiste Zeit in modische, überfeine Tracht kleideten; dazu trugen sie die Gesichter glatt rasiert, als wären sie Joglares, Seiltänzer.

Allein er verzieh, was immer ihn am Wesen der Dame Ellinor verdrießen mochte, über der Umsicht, mit welcher sie die Hindernisse aus dem Weg räumte, die der Allianz entgegenstanden. Souverän beurteilte und entschied sie das Ganze und die Einzelheiten. Sie hatte recht, wenn sie auch heute noch verlangte, als Haupt der Familie angesehen zu werden.

Alfonso war denn auch nur wenig überrascht, als sie ihn eines Tages ohne Federlesens fragte: »Und nun, mein Sohn, erzähl mir einmal, was für eine Art Frau ist sie eigentlich, deine Jüdin, die Schöne?« Gewiß war der König von Kastilien befugt, sich solche Neugier sogar von der Dame Ellinor zu verbitten. Andernteils hatte sie das Recht zu ihrer Frage. Überdies war die Galiana Vergangenheit, er konnte aufrichtig, ruhig und sachlich von Raquel erzählen.

Aber als er sich dazu anschickte, merkte er erstaunt: er wußte nichts von Doña Raquels Wesen und Art; was er wußte, war ungenau, locker, spärlich, es ergab kein Bild. Er, der so stolz war auf sein gutes Gedächtnis, konnte sich seiner Liebsten nur mehr undeutlich erinnern.

»Sie ist in Wahrheit sehr schön«, sagte er endlich. »Es ist keine Schmeichelei, wenn alle sie ›Die Schöne‹ nennen. Sie ist zauberhaft und hat mich eine ganze Weile lang bezaubert«, gab er offen zu. »Aber das ist aus«, fuhr er fort. »Abest, sie ist fort. Sie ist fort aus meinem Geblüt«, schloß er entschieden, endgültig.

Ellinor antwortete freundlich: »Ich hatte gehofft, du würdest sie mir deutlicher schildern können. Liebesgeschichten haben mich von jeher interessiert. Aber ich sehe, zum Troubadour oder zum Conteur eignest du dich wenig. Eines kannst du mir vielleicht klarer beantworten: Wie bist du mit deinem Söhnchen zufrieden? Ist es ein erfreulicher kleiner Bastard?« Alfonso sagte stolz: »Ja, da muß ich ihr und dem Himmel dankbar sein. Einen wohlgeratenen Sohn hat sie mir geboren, schön und fest und groß, wiewohl sie selber eher zart und klein ist. Und klug scheint das Söhnchen; ungewöhnlich lebendige, gescheite Augen hatte es schon vom ersten Tage an.« – »Kein Wunder«, meinte Ellinor, »da ja die Mutter eine Jüdin ist. Wie heißt er übrigens, dein Bastard?« – »Sancho«, sagte Don Alfonso, »und ich will ihm die Grafschaft Olmedo geben.« Vollkommen vergessen hatte er, daß das Söhnchen noch nicht getauft war. »Findest du es richtig, Dame und Mutter«, fragte er, »daß ich ihm die Grafschaft gebe?« – »Hat sie viel Landgut, diese Grafschaft«, erkundigte sich Ellinor, »oder nur eine schöne Burg und ein paar hundert Bauern?« – »Es ist eine sehr reiche Grafschaft, soweit ich unterrichtet bin«, antwortete Alfonso. Ellinor erläuterte: »Es macht nämlich jetzt einen Mann stärker, ertragreiches Landgut zu besitzen als eine turmreiche Burg. Ich habe viele meiner Burgen gegen Landgüter vertauscht. Und wenn dein Bastard groß geworden ist, werden Schlösser noch weniger und Landgüter noch mehr wert sein.« – »Du hast also nichts dagegen einzuwenden, Dame und Königin«, vergewisserte sich Alfonso, »daß ich das Söhnchen zum Grafen von Olmedo mache?« – »Wenn dein Sancho ein erfreulicher Bastard ist«, antwortete bedächtig und entschieden die Königin Ellinor, »dann gehört es sich, daß du ihn gut hältst.« Zwei Tage später wurden in feierlicher Zeremonie die beiden Prinzessinnen, deren eine die künftige Königin von Francien sein sollte, der alten Ellinor vorgeführt.

Die Versammlung war groß und glänzend. Anwesend waren die Granden und Prälaten Kastiliens und Aragons, dazu die Barone der Königin Ellinor und der Sondergesandte Philipp Augusts von Francien, der Bischof von Beauvais.

Wochenlang hatten beflissene Hände an den Kleidern der beiden Infantinnen gewirkt, genäht und gewoben. So traten sie schön geschmückt vor die edle, wählerische Versammlung, nette Mädchen mit hübschen, weiß und rosigen, fleischigen Kindergesichtern, wohlgeraten, ausgezeichnet erzogen. Sie legten das damenhaft gelassene Betragen an den Tag, das die Courtoisie erforderte und das sie mit viel Mühe erlernt hatten. Innerlich waren sie voll von Befangenheit und dem Bewußtsein ihrer Wichtigkeit; nicht nur ihr eigenes Schicksal, auch das vieler Christenmenschen in manchen Ländern hing vom Ausgang dieser Prüfung ab.

Berengaria, Infantin von Kastilien, Königin von Aragon, auf bevorzugtem Platz auf der Estrade sitzend, betrachtete herablassend die Schwestern. Eine wird also Königin von Francien sein. Was ist das schon? Sie selber, Berengaria, wird einmal Kastilien mit ihrem Aragon vereinigen, vielleicht, wahrscheinlich wird es ihr glücken, León dazuzuschlagen, vielleicht auch Navarra, ja, vielleicht wird ihr Don Pedro, wenn sie ihn anfeuert, ein Gutteil des moslemischen Andalús dazu erobern. Das Gebiet des Königs von Francien ist eingeschnürt, rings an seinen Grenzen sitzt ihr großer Onkel Richard, der sein Engelland hat und einen sehr viel größeren Teil des fränkischen Gebiets als dieser arme König von Francien. Nein, ihre Schwester von Francien wird nicht viel Staat machen können neben ihr selber.

Don Alfonso freute sich seiner schönen Töchter. Er war der alten Königin Ellinor dankbar, daß sie diese Verschwägerung mit Francien in die Wege geleitet hatte; es war gut, daß in dieser Zeit des großen Krieges die Verbundenheit der christlichen Fürsten gefestigt wurde. Er sah das nicht schöne, doch kühne und gescheite Gesicht seiner Ältesten, seiner Berengaria, sah mit einer kleinen Heiterkeit, doch auch mit leisem Ärger den unbändigen Hochmut darauf. Sie verschloß sich jetzt vor ihm noch strenger als früher. Sie verdachte es ihm, daß er »sich verlegen« hatte, sie fühlte sich sichtlich schon als Königin von Aragon und sah in ihrem Vater einen Mann, der ihr Erbe sträflich schlecht verwaltete.

Doña Leonor trug ein rotes Gewand aus schwerem Damast mit einem silbernen Saum, in den Löwen eingewirkt waren; sie wußte, dieses Kleid stand ihr nicht gut, aber heute legte sie’s darauf an, sich von ihren Töchtern überstrahlen zu lassen. Sie war stolz auf diese Töchter, von denen nun zweie auf hohen Thronen Europas sitzen werden. Die Welt wurde klein ohne die Länder, über welche sie, ihre Mutter, ihr Bruder, ihre Töchter Gewalt hatten.

Die alte Ellinor betrachtete mit harten, hellen Augen, die sich nichts vormachen ließen, ihre beiden Enkelinnen. Im stillen hatte sie bereits ein neues Projekt ausgedacht. Diejenige, die sie nicht nach Francien vergibt, wird sie auf den Thron von Portugal setzen; Portugal, infolge seiner guten Häfen, war wichtig für Engelland. Sie wog also: welche paßt besser nach Paris, welche nach Lissabon? Sie prüfte die beiden Mädchen mit fast ungeschliffener Gründlichkeit. Richtete unverblümte Fragen an sie, hieß sie näher kommen, um ihren Gang zu beobachten, hieß sie ein weniges singen, fragte sie aus lateinisch und provençalisch. »Nette Mädchen«, sagte sie schließlich zu Doña Leonor, doch so laut, daß jeder es hören konnte, »erfreuliche Prinzessinnen. Sie haben einiges von Alfonsos kastilischen Vätern, mehr von meinen Vätern von Poitou und merkwürdig wenig von den Plantagenets.« Dann wandte sie sich nochmals an die Infantinnen und fragte die ältere: »Wie heißt du doch, Prinzessin?« – »Urraca, Frau Großmutter und Königin«, erwiderte sie, und die andere sagte: »Ich bin Doña Blanca, Frau Königin.«

Später waren Ellinor, Alfonso und Leonor allein mit dem Bischof von Beauvais, dem Sondergesandten des Königs von Francien. »Welche hat dir besser gefallen, Hochwürdigster?« fragte Ellinor den Bischof. Höflich und vorsichtig antwortete der Prälat: »Jede verdient, Königin zu sein.« – »Das finde ich auch«, sagte Ellinor. »Aber da ist eines zu erwägen. In Francien wird man Schwierigkeiten haben, den Namen Urraca auszusprechen. Das mindert die Popularität dieser Infantin. Ich denke, wir geben deinem Erbprinzen Louis unsere Doña Blanca.«

So wurde entschieden. Kaum ein Tag verging, ohne daß der Hof von Burgos ein Fest zu Ehren der Dame Ellinor und der Neuvermählten gab. Die alte Königin zog sich besser an und richtete sich geschickter her als viele Damen, welche ihre letzten Jahre nicht im Gefängnis verbracht hatten, sondern in Kreisen, welche Stoffe, Kleider, Schmuck und Schminke gründlich studierten und diskutierten. Sie schritt im Tanz kundig und geschmeidig wie eine Junge. Sie hatte kennerische Freude an Speisen und Weinen. Sie saß gut zu Pferde und bewährte sich auf der Jagd. Auch wenn sie auf der Tribüne den Kampfspielen zuschaute, bezeigte sie Sachverständnis. Und unbestritten war ihr Urteil, wenn die Damen die Dichtungen der Troubadours und Conteurs zu werten hatten.

So viel Kraft sie brauchte für Jagd und Tanz und Fest und Lied, die Aufmerksamkeit und Energie, mit der sie den Anschluß der Allianz betrieb, wurde dadurch nicht geringer. Sie ging methodisch vor. Erst einmal hatten sich Don Alfonso und Don Pedro feierlich durch Unterschrift und Siegel verpflichten müssen, sich ihrem, Ellinor de Guiennes, Schiedsspruch zu fügen; sie hatte sich eine solche Erklärung auch von Doña Leonor und vorsichtshalber sogar von Doña Berengaria ausstellen lassen. Dann beschied sie die vornehmsten Räte der beiden Könige zu sich, jeden zunächst einzeln, stellte ihnen kurze, gescheite Fragen, konfrontierte die Minister, deren Aussagen und Meinungen einander widersprachen, erkundete, was immer zur Sache gehörte.

Berief einen Kronrat ein, alle Minister der Länder Aragon und Kastilien. Es fehlten nur Don Jehuda und Don Rodrigue; sie wurden in Toledo festgehalten durch die Verwaltung des Reiches.

»Ich gebe jetzt mein Arbitrium bekannt«, erklärte Ellinor. Sie nahm vor jenes alte, ehrwürdige Schriftstück, welches die Lehenshoheit Kastiliens über Aragon festsetzte, und entfaltete das nun gebrechliche, vergilbte Pergament, von welchem groß die beiden Siegel hingen und das alle sogleich erkannten. »Zuerst einmal«, verkündete sie, »erkläre ich das hier für ungültig. Non valet, deleatur«, und mit festen Händen zerriß sie das Pergament in zwei Fetzen. »Deletum est«, stellte sie fest.

Don Alfonso hatte seinerzeit, als Jehuda den König Heinrich zum Schiedsrichter vorschlug, dessen Urteil mit schlechtem Gewissen angerufen; Ellinor hingegen war ihm als die von Gott geschickte Richterin erschienen. Nun aber, da er sah, wie das teure Pergament, das ihm Macht gab über den Fant, vernichtet wurde, dieses berühmte, verhängnisvolle Schriftstück, um welches so viele Ritter und Pferde hatten sterben müssen, war ihm, als rissen die Hände dieser alten Frau an seinem lebendigen Leib.

Ellinor ging jetzt ein auf jene neunzehn wirtschaftlichen Streitfragen, von denen damals Jehuda erklärt hatte, ihre Entscheidung bestimme, welchem der beiden Länder die Vorherrschaft auf der Halbinsel zufallen werde. Auf den Sueldo genau grenzte sie Rechte und Pflichten Kastiliens und Aragons ab. Kastilien und Aragon hörten zu, bald zufrieden, bald unmutig.

Zuletzt verkündete die alte Fürstin ihr Urteil über die Ansprüche des Gutierre de Castro. Don Alfonso solle ihm eine Buße – sie vermied nicht das harte Wort – von zweitausend Goldmaravedi zahlen. Das war eine außerordentlich hohe Buße, die Hörer verbargen kaum ihre Erregung. »Andernteils«, fuhr Ellinor beiläufig fort, »bleibt jenes Castillo in Toledo, auf welches der Castro Rechte zu haben glaubt, Eigentum Don Alfonsos, beziehungsweise des Mannes, der es mittels gültigen Kaufvertrags erworben hat. Es bleibt Castillo Ibn Esra.« Doña Leonor konnte nicht verhindern, daß ihr Gesicht blaß wurde vor Empörung. Alfonso aber, der diesen Bescheid nicht zu erhoffen gewagt hatte, atmete erleichtert auf; es wäre ihm eine sehr unwillkommene Verpflichtung gewesen, dem Juden gerade jetzt das Castillo wegzunehmen.

»Ich denke, wir sind zu Ende«, sagte die Dame Ellinor. »Ich habe die einzelnen Schriftstücke ausarbeiten lassen und bitte die zuständigen Herren, sie ihren Königen zur Unterzeichnung vorzulegen. Es ist aber, was darin verfügt wird, durch meine Unterschrift unter dem Schiedsspruch schon heute Gesetz.«

Später – sie hatte die zornige Überraschung Doña Leonors sehr wohl bemerkt – erklärte sie ihr: »Du bist immer noch nicht klug geworden, kleine Tochter. Dir schwemmt noch immer Leidenschaft die Vernunft weg. Versuche doch zu begreifen, daß es der Gipfel der Torheit wäre, wenn wir, du und ich, dem Juden Krieg ansagten. Und wünschest du etwa, daß der Castro versöhnt werde? Sieh lieber zu, daß er auch in Zukunft dem Juden an den frech herausgestreckten Hals will.«

Sie wartete, bis sich ihre Worte in Leonor eingesenkt hatten. »Mach dir’s zum Grundsatz, Tochter von Kastilien«, mahnte sie dann, »einem Fordernden niemals alles zu geben, was er verlangt. So hab ich’s von der Mutter meines Heinrich gelernt, der hochseligen Kaiserin Mathilde. Sie hat mir’s eingeprägt: ›Wer von seinem Falken guten Dienst haben will, darf ihm den Fraß nicht geben, er muß den Fraß vor ihm baumeln lassen.‹ Laß das Castillo vor dem Castro baumeln, Doña Leonor.«

Eine Weile später sagte sie: »Sei nicht böse, wenn ich dich manchmal hart anfasse und dich schelte. Ich weiß genau, was du gut gemacht hast und daß du viel Hindernis hast aus dem Weg räumen müssen, ehe diese Heirat und diese Allianz zustande kam. Du hast Talent zur Politik. Es ist wohl das letztemal, daß ich dich sehe, und ich möchte gerne deine Lust an der Politik höher schüren. Lust an der Macht ist unter den Leidenschaften die haltbarste.« Sie schloß die Augen und sprach aus ihrem Innern: »Es ist ein gewaltiger Spaß, Menschen hierhin jagen und dorthin, Städte bauen, Länder zusammenschmieden und wieder auseinanderreißen. Was aufrichten, ist Freude, und was zerstören, ist Freude. Ein rechter Sieg ist Freude, aber ich möchte auch meine Niederlagen nicht missen. Sag es nicht weiter: ich habe sogar an der Exkommunikation meinen Spaß gehabt. Wenn da der Bannfluch kommt mit Buch, Glocke und Kerze, wenn die Altäre dunkel werden und die Bilder verhängt und die Glocken verstummen, dann wächst einem ein reißender Wille, die Kerzen wieder anzuzünden und die Glocken wieder zu läuten, ein unbändiger Wille, der den Witz schärft. Alle Mittel und Wege überlegt man: soll man’s mit dem Papst halten, der ist, und ihn schlau sänftigen? Oder soll man einen Gegenpapst einsetzen, der dem andern die Kerzen löscht und die Glocken stumm macht?«

Doña Leonor trank hingegeben die leisen Worte ein. Sie war der Mutter dankbar, daß sie sie in ihr Vertrauen einließ. Sie wird sich bewähren.

Ellinor öffnete die Augen und schaute der Tochter voll ins Gesicht. »Ein großes Herz«, sagte sie, »hat notwendig viele leere Stellen. Da nistet sich leicht die Langeweile ein, die Melancholie, die große Feindin, die Acedia. Man braucht eine gute Menge Leidenschaft, die leeren Stellen zu füllen. Nach Macht jagen, nach mehr Macht, ist ein großes, gutes, haltbares Feuer. Glaub es mir, Tochter, Politik kann einem das Blut hitzen wie die schönste Liebesnacht.«

Zweites Kapitel

Es hatte sich am Hofe von Burgos auch der Clerc Godefroi de Leigni eingefunden, um als Vertreter der Prinzessin Marie von Troyes an der Vermählungsfeier der Infantin Berengaria teilzunehmen. Godefroi war ein enger Freund des vor kurzem verstorbenen Chrétien de Troyes, des berühmtesten unter den Conteurs, und wo immer Godefroi sich zeigte, lagen die Ritter und Damen ihm an, aus den Verserzählungen seines toten Freundes vorzutragen.

Nun hatte der große Dichter Chrétien de Troyes eine ganze Reihe von schönen, wunderlichen und vieldeutigen Versromanen geschrieben. Er hatte erzählt von den bunten, märchenhaften und dennoch sinnvollen Schicksalen des Guillaume d’Angleterre, von der dunkeln, herrlichen Liebesverzauberung des Tristan und der Ysault, von den wunderbaren Abenteuern des Ritters Yvain in geheimnisvollen Schlössern, von den Fahrten und Grübeleien des treuherzigen, ahnungsvollen Knaben Perceval. Lieber aber als diese Geschichten hörten die Damen und Herren aus des Chrétien Erzählung von dem Ritter Lanzelot auf dem Karren. Vergebens wies Godefroi darauf hin, daß Chrétien diese Dichtung für nicht recht geglückt gehalten und sie auch nicht vollendet habe; der »Lanzelot« war nun einmal das populärste seiner Werke, und die Ritter und Damen wollten immer wieder gerade daraus hören.

Was sich aber in der Erzählung »Lanzelot auf dem Karren« zuträgt, ist dies: Lanzelot, der beste Ritter der Christenheit, liebt die Dame Genièvre, und da sie in Bedrängnis gerät, zieht er aus, sie zu befreien. Er verliert sein Pferd und verzweifelt daran, den Entführer der Dame weiter zu verfolgen. Da kommt ein Karren vorbei, ein Schinderkarren, und der Besitzer, ein scheußlicher Zwerg, lädt Lanzelot unter vielen höflichen, lächerlichen Verbeugungen ein, das Gefährt zu besteigen; keinen schlimmeren Schimpf aber gibt es für einen Ritter, als auf einem solchen Karren gesehen zu werden. Lanzelot zögert zwei Augenblicke; dann besteigt er den Karren und zieht auf ihm weiter, von den Bürgern verhöhnt. Er befreit seine Dame. Sie jedoch läßt ihn nicht vor sich, sondern trägt ihm auf, im nächsten Tournier seine Kraft und Geschicklichkeit zu verbergen und sich besiegen zu lassen. Er tut es und nimmt auch mancherlei weiteren Schimpf auf sich, weil es seine Dame so befiehlt. Sie aber bleibt ungnädig und läßt ihm zuletzt auch den Grund nennen: er wisse nicht, was wahre Liebe sei; er habe, bevor er den Karren bestieg, zwei Augenblicke gezögert.

Da Königin Ellinor und Doña Leonor den Vorträgen der Troubadours und Conteurs selten fernblieben, verlangte die Courtoisie, daß sich auch Don Alfonso manchmal einfand. Da hörte er denn eines Tages den Clerc Godefroi aus dem »Lanzelot« vorlesen.

Gemeinhin langweilten den Alfonso die Versromane. Die Abenteuer dieser erfundenen Ritter schienen ihm blödsinnig, ihr Liebesgegirr und -gestöhne affektiert. Diese Geschichte aber, gegen seinen Willen, fing ihn ein. Das Verhalten des Lanzelot, so aberwitzig es war, ging ihn an, es kratzte ihn, zwang ihn, nachzudenken, sich damit auseinanderzusetzen.

Noch als er spät nachts auf seinem Bette lag, dachte er nach. Mit geschlossenen Augen lag er, zu müde, um wach zu sein, zu wach, um einzuschlafen, und er sah den Ritter Lanzelot auf seinem Karren. Plötzlich aber war Lanzelot nicht mehr auf dem Karren, er saß hier, auf seinem, Alfonsos, Bett.

»Was suchst du hier?« fragte Alfonso streitbar. »Willst du vielleicht behaupten, wir gehören zusammen?« Lanzelot nickte heftig. »Das verbitte ich mir«, herrschte Alfonso ihn an. »Ich bin nicht dein Bruder und Kamerad.« Lanzelot erwiderte nichts, aber er schaute Alfonso immerzu an, und der wußte, was der Stumme sagte. »Gewiß bist du mein Bruder und Kamerad«, sagte er, »eques ad fornacem, Ritter Ofenhocker.« Alfonso wollte kräftig erwidern, alle die zwingenden militärischen und politischen Gründe anführen, aus denen er dem Kreuzzug so lange ferngeblieben war. Mit einem Male aber wurde ihm schmerzhaft klar: das war alles Schein und falsch. Es gab einen einzigen wahren Grund, weshalb er nicht gekämpft hatte – er hatte bei Raquel bleiben wollen. Er war der Bruder und Kamerad des Lanzelot, er hatte Schimpf auf sich geladen, er hatte »sich verlegen«.

Er spürte heiße Scham.

Bald indes, mit einem süßen Schreck, merkte er, wie sich diese Hitze in eine andere wandelte, in eine sehr vertraute, verfluchte und willkommene Schwüle. Leibhaft roch er den schweren Duft der Gärten der Galiana, seine Adern klopften, kitzelnd rieselte es ihm durchs Geblüt, in ihm arbeitete süß und fein das liebe Gift Raquel.

Er suchte sich loszureißen. Atmete heftig, stieß kindisch gewalttätig den nackten Fuß gegen die Bettdecke. Dieser Lanzelot soll sich nicht mehr lange lustig machen über ihn. Der Krieg ist da, und sowie er erst im Felde ist, liegt Raquel hinter ihm und für immer. Absit! Absit! beschloß er. Es soll aus sein mit ihr! Sowie er nach Toledo zurückkommt, wird das erste sein, daß er das Söhnchen taufen läßt, und dann geht er an seine Südgrenze, nach Calatrava und nach Alarcos, und es ist aus mit Raquel.

»Dann habe ich nichts mehr mit dir zu tun, Weiberknecht, trauriger«, erklärte er heftig dem Lanzelot, »und überhaupt bist du lächerlich mit deiner kriechenden Liebe.« Aber Lanzelot war bereits verschwunden. Sowenig Gunst Don Alfonso den Troubadours und Conteurs bezeigte, einer war unter ihnen, der ihm gefiel, ein Baron aus dem Limousinischen, Bertran de Born.

Dieser Bertran war, wiewohl er sich Vizegraf von Hautefort nannte, nicht eigentlich ein großer Herr, es unterstanden ihm nur wenige hundert Mann. Aber er war berühmt um seiner wilden Verse willen, er war hinreißend von Wesen, er hatte von frühester Jugend an Menschen bezaubert und durcheinandergewirbelt. Es hieß, er habe sich seinerzeit, ein halber Knabe noch, der Gunst der blühenden Königin Ellinor erfreut. Später dann, als Herr seiner beiden Burgen, hatte er mit Wort und Schwert an jeder Fehde teilgenommen, nicht lange prüfend, welche Sache die bessere sei, und es immer verstanden, seiner Sache viele Menschen zu gewinnen. Er war streitbar und jähzornig. Mit seinem Bruder hatte er sich über die Teilung des Erbes entzweit und ihn, obgleich des Bruders Forderungen mäßig waren, mit Versen und Waffen bekämpft. König Heinrich, der Lehnsherr, hatte eingegriffen und dem Bruder zu seinem Recht verholfen. Bertran hatte darauf durch seine Verse den jungen König Heinrich gegen den Vater aufgehetzt, bis dieser junge König vor einem Schloß Bertrans durch einen Bolzen den Tod fand. Auch weiterhin hatte Bertran die Barone des Limousin angespornt, Krieg gegen ihren König zu führen, den alten Heinrich, und Krieg auch untereinander; seine Hand war gegen alle, die Hand aller gegen ihn. Schließlich hatte der junge Richard die Schlösser Bertrans niedergebrannt und ihn gefangengenommen. Bald aber hatten sie sich wieder ausgesöhnt, und jetzt war Bertran im Begriff, nach Sizilien zu fahren und sich dem Kreuzheer Richards anzuschließen.

Die Kunde von Bertran de Born war auch über die Pyrenäen gedrungen. Man wußte in Hispanien vor allem von seinen politischen Liedern, seinen Sirventés. Wo immer eine Fehde oder ein Krieg heranzog, sang man seine wilden Verse. Seine Devise: »Den Frieden halt ich ungeehrt. / Mir gilt ein einzig Recht, mein Schwert«, war bekannt wie die Bitten des Vaterunsers.

Bertran war jetzt wohl schon um die sechzig Jahre alt, doch ritterlich und höfisch wie kaum ein zweiter. Er hatte Alfonso sogleich gefallen, und wiewohl der König manchmal Mühe hatte, Bertrans Provençalisch zu verstehen, spürte er, diese wilden Streitlieder waren aus sehr anderm Stoff als die lahmen Verse der hispanischen Sänger; sie waren elegant und gefährlich wie scharfe córdovanische Degen.

Don Alfonso zeichnete Bertran aus, schickte ihm reiche Geschenke, verwöhnte ihn, nahm ihn in sein Jagdgefolge auf, pflegte mit ihm vertrautes Gespräch.

Bertran hatte die Gabe, Menschen und Geschehnisse rund und leuchtend zu machen, daß man sie leibhaft vor sich sah.

Da erzählte er etwa von dem alten König Heinrich. Mit seinem Wort malte er den toten König, die grauen, blutunterlaufenen Augen, die hohen Backenknochen, das mächtige Kinn mit dem kleinen Spitzbart, den wilden, gierigen Mund. Er war fast ein Held, König Heinrich, aber doch kein ganzer Held. Es fehlte ihm an der wahren Largesse, an der Generosität, er knauserte. Bertran war dem König zuletzt als Gefangener gegenübergestanden, er hatte keine Waffe, nichts als sein Wort, aber mit diesem seinem Wort hatte er den Sieger besiegt, daß er ihn freiließ und ihm die verbrannte Burg wieder aufbaute. Aber auch da hatte er gespart. Er war eben kein rechter König, so königlich er sich gab. Er eroberte nichts aus bloßer Lust am Erobern, sondern um zu haben und zu halten. Immer wieder konnte man ihm an kleinen Zügen und Gesten absehen, daß er gierig war, ein Krämer. Seine Finger etwa verrieten ihn, gierige Finger, die er nicht ruhig halten konnte, er bog und streckte sie, daß sie seine Würde Lügen straften, oder aber er skribbelte und zeichnete. Er versprach vieles, er hielt auch, aber immer nur zum Teil; »Ja und Nein« hatte Bertran ihn genannt, und dieser Name wird ihm bleiben. Don Alfonso, da Bertran so erzählte, sah den Vater seiner Frau vor sich, sah ihn deutlicher, als da er ihn mit leiblichen Augen gesehen hatte.

»Da war mein junger König Heinrich ein anderer«, erzählte Bertran weiter. »›Rassa‹ hieß ich ihn, und Rassa war er. Er lebte aus dem vollen, er verschwendete, was er hatte, die Schätze von Chinon, seine Ritter und Routiers, sich selber. Herrlich war er, Rassa war er, und darum war es eine doppelte Niedertracht des alten Königs, ihn so knappzuhalten. Warum hatte er ihn zum König gemacht, wenn er’s ihm verwehrte, wie ein König zu leben? Ja, ich hab ihn gehetzt gegen den Vater, und als er sich mit ihm versöhnte, hab ich ihn von neuem gehetzt. Er ist daran gestorben, sagen sie. Ich habe nie geglaubt, daß ein Mensch einen so höllischen Schmerz spüren kann wie ich, als mein junger König starb. Und vielleicht ist er wirklich an meinen Versen gestorben. Ich bereu es trotzdem nicht.« Er fuhr fort, leise, wild, und jetzt sprach er wohl mehr für sich: »Ich habe viele Frauen geliebt und viele verloren, und ich war wohl auch traurig, wenn ich diese verlor oder jene. Aber wirklich getrauert hab ich nur um den jungen König. Nur ihn hab ich geliebt.« Und er begann, halb singend, die Verse vor sich hin zu sprechen, die er beim Tod des jungen Königs gedichtet hatte, jenes Klagelied, von dem es hieß, nie sei einem Helden ein schöneres gesungen worden, seitdem David geklagt hatte um Jonathan. »Si tuit li dol e’lh plor e’lh marrimen«, sang er.

»Wär’n alle Qualen, Tränen, Herzeleid,

Der Kummer, der Verlust, die ärgste Pein,

Die man gefühlt in dieser Zeitlichkeit,

In eins gesammelt, schienen sie noch klein

Vorm Tod des jungen Herrn von Engelland.«

Don Alfonso schaute auf Bertran, wie der vor sich hin sprach, wild, versunken; über der dünnen, stark gekrümmten Nase, einer richtigen Habichtsnase, leuchteten stark die weiten, heftigen, grauen Augen. So tief aus der Brust heraus holte der Mann die klagenden Verse, daß es Alfonso war, als entstünden sie jetzt, und es bewegte den König, daß Bertran vor ihm auf solche Art sein Herz nach außen kehrte. Es trieb ihn, sein Vertrauen zu erwidern. Bertran, dieser wahre Ritter, hatte die Gabe, auszusagen, was einem Manne wirr, unausgesprochen und schier unaussprechlich durch die Brust ging; wenn einer, dann wird er Verständnis haben für die Dunkelheiten, die Alfonso bedrängten.

»Du sagst«, fragte er, gegen seine Art zaghaft, »du habest niemals eine Frau wirklich geliebt?« Bertran schaute hoch. »So bündig möchte ich es nicht fassen«, antwortete er lächelnd, »doch ist eine Spur Wahrheit in deinem Satz.« – »Aber du hast doch herrliche Verse auf Frauen gedichtet«, wandte Alfonso ein. »Gewiß hab ich das«, erwiderte Bertran. »Ein Mann muß einer Frau schöne Dinge sagen, das verlangt die Courtoisie und manchmal auch das Herz. Ich hab den Frauen das Blaue vom Himmel herunter geschworen. Aber die Schwüre einer Liebesnacht gelten nur bis zum Morgen. Sie zu brechen, ist läßliche Sünde, das hat mir sogar mein Beichtvater zugegeben. Schließlich war es die Frau, die uns verführt hat mit dem Apfel.«

Alfonso lachte, forschte aber sogleich weiter: »Und du bist immer weggekommen über die Liebe? Über die Liebe zu jeder Frau bist du weggekommen?« Der alte Ritter merkte die Gespanntheit des andern, er sah, daß Alfonso an seinen Liebeshandel mit der Jüdin dachte, er spürte eine fast väterliche Neigung für den jungen König, der auf so naive, kindlich verkleidete Art von ihm Trost verlangte. »Ja, ich bin darüber weggekommen«, antwortete er. Er schaute ihn an, lustig freundlich, und: »Weiber!« fuhr er fort mit hochmütiger, leichtsinniger Handbewegung, »sie mögen unserm Blute nahekommen, unserer Seele bleiben sie fern. Ich sag dir was, Alfonso: das Leben eines Ritters ist ein reißender Fluß, er fließt und fließt und zerreibt alles nicht ganz Feste, alles, was nicht in die Seele gegangen ist. Jene Frauen meiner Verse, sie sind längst zerrieben, leere Erinnerungen, im Nebel verschwommen. Das ist was anderes mit einer guten Schlacht. Ihre Spürung dauert, ihre Erinnerung macht einem heiß und stark. Die Schlachten, in denen ich kämpfte, haben mir den Sinn jung gehalten.« Er lachte scherzhaft, übermütig. »Und wohl auch den Leib. Du wirst gleich sehen, was ich meine«, sagte er fröhlich und geheimnisvoll.

Er rief seinen Schildknappen heran, Papiol, der kaum jünger war, sich aber nicht minder stramm hielt als er selber, und den König aus seinen heftigen, tiefliegenden Augen lustig anfunkelnd, befahl er: »Los, Papiol, mein Knabe! Sing uns das Lied von alt und jung!«

Und Papiol, sich auf der kleinen Harfe begleitend, sang das freche, kecke Lied:

»Joves es om que lo seu be engatge,

Jung ist, wer seine Burg und sein Hab verpfändet

Und glänzend auszieht zum Tournier.

Jung ist, wer ohne Geld die reichsten Gaben spendet,

Und wen die Schar der Gläubiger nicht verdrießt.

Jung ist, wer sich beim Spiel ausgibt und in den Fehden,

Und jung ist, wer sich in der Lieb nicht schont.

Alt ist, wer seine Burg niemals und nie sein Land belastet,

Wer Korn aufspeichert, Wein und Speck.

Wer, wenn er satt, sich nicht mehr traut, zu essen,

Und wenn es regnet, zag zum Mantel greift.

Alt ist, wen’s lüstet, einen Rasttag einzulegen,

Alt, wer das Spiel aufgibt, eh er’s gewann.«

Nun hatte die Wildheit seines Lebens an Bertran gezehrt, und wenn er sich auch stattlich und hochfahrend gab und fast immer in der Rüstung einherklirrte, so konnte er’s doch kaum verbergen, daß in dieser Rüstung ein etwas wackeliger Körper stak, und der und jener hätte vielleicht gelächelt über den alternden Ritter und seinen alternden Schildknappen und ihre Verse. Alfonso lächelte nicht. Er hörte und spürte den federnden Elan der Verse, die Herausforderung an die fließende Zeit, das rinnende Leben. »Dank dir, Bertran«, sagte er entzückt. »Das ist Ritterschaft, das ist Kunst!«

Das Entzücken des jungen Königs tat dem alten Bertran wohl. Hätte irgendwer auch nur mit einem Blick oder einer Geste seine Rüstigkeit bezweifelt, so hätte er ihn ausgefordert. Aber dieser Alfonso war ein Freund, ein Bruder, ihm gestand er: »Leider sind auch die kühnsten Verse kein Schutz vor dem Verfall des Leibes. Dir, Herr König, sag ich’s: der Krieg, in den ich jetzt gehe, ist mein letzter. Ich mache mir nichts vor, ich weiß: noch ein Jahr oder zweie, dann versagt mir der dumme Leib, und ein gebrechlicher Ritter ist ein Kinderspott. Ich habe schon mit dem Abt von Dalon gesprochen; wenn ich aus diesem Kriege heil zurückkomme, geh ich ins Kloster.«

Es machte den König stolz, daß ihm Bertran sein Inneres aufschloß, und es kam ihm eine Eingebung und ein Entschluß: Dieser gute Ritter und Dichter soll seine letzten Taten nicht als Kriegsmann König Richards tun. Mein Schwager Richard soll mir nicht auch diesen wegnehmen. Bertran soll an meiner Seite sein und meinen Krieg singen. Der Domherr Don Rodrigue kam nach Burgos.

Er war voll trüber Erregung. Don Alfonso hatte offenbar seinem Söhnchen die Taufe, die Aufnahme in die christliche Gemeinschaft, vorenthalten, er hatte tödliche Schuld auf sich geladen, und er war, als er Toledo verließ, einer Aussprache ausgewichen. Er selber aber, Rodrigue, war froh darüber gewesen, er selber verspürte schimpfliche Scheu vor der Aussprache, er drückte sich von seiner Pflicht. Erst jetzt, nach Wochen, hatte er sich aufgerafft, den König aufzusuchen.

Doch auch hier, in Burgos, mußte er’s erleben, daß Alfonso ein Zwiegespräch vermied. Und wiederum fügte er sich.

Um sich von seinen Sorgen, seiner Reue und Scham abzulenken, trieb er mit in dem höfischen Leben von Burgos. Beobachtete mit Interesse, wie sehr sich die höfischen Manieren des Nordens verfeinert hatten. Eifrig jetzt studierten die Damen und Herren die Regeln der Courtoisie, sie debattierten die spitzfindigen Gesetze der Minne und bezeigten der Kunst der Dichter sachverständige Teilnahme.

Bald indes erkannte er, daß das anmutig höfische Getue nichts war als leeres, verlogenes Spiel. Was die Damen und Herren in Wahrheit beschäftigte, was sie ganz ausfüllte, war der bevorstehende Krieg. Auf ihn warteten sie mit taumeliger, rauschhafter Ungeduld.

Don Rodrigue sah es mit Trauer. Er verwies sich den Kummer. Der Krieg, den sie ersehnten, war heilig, ihre Begeisterung fromm; an ihr teilzunehmen, war Pflicht, sie zu mißbilligen, Sünde.

Aber er konnte die fromme Entzückung nicht teilen. In ihm lebten die wunderbaren Lobpreisungen des Friedens aus dem Jesaja, aus dem Evangelium, die fanatischen Friedensreden seines Schülers Don Benjamín. Er dachte nur mit Trübsal und Schauder an den Krieg und das Elend, das er der Halbinsel bringen mußte. Er fühlte sich grausam allein inmitten des lauten, frohen Treibens, der blutdürstende Enthusiasmus dieser gepflegten, gebildeten Menschen stieß ihn ab, rief ihm ins Gedächtnis die Betrachtungen seines Freundes Musa über den Jezer Hara, den bösen Trieb.

Vor den andern widerwärtig war ihm der Mann, dem es gegeben war, ihrer wilden, gewalttätigen Freude Stimme zu leihen, dieser Bertran de Born. Beim ersten Anblick war er ein nicht eben ansehnlicher, alternder Herr wie viele andere. Aber Don Rodrigue wußte Bescheid um sein Dichten, Trachten, Tun, und sah man näher zu, dann konnte man auch dem Gesicht des Ritters mit den wilden Augen unter den dichten Brauen ablesen, was er wirklich war: der leibgewordene Krieg. Ein klein wenig lächerlich mochte der Ritter sein, wenn er mit bemühter Strammheit schritt und ritt und stolzierte; aber das Entsetzen, das von dem Manne ausging, erstickte die Spottlust des Domherrn. Da war nichts zu lächeln. Dies war der böse Gott Mars in seiner ganzen Furchtbarkeit. So wie dieser mußten die Reiter ausgeschaut haben, die der Evangelist Johannes erblickt hatte, als ihm die letzten Dinge geoffenbart wurden.

Dabei konnte Don Rodrigue selber sich dem Zauber der stürmischen Verse dieses Bertran kaum entziehen, der Kenner Rodrigue mußte ihm zugestehen, daß seine Kriegslieder herrlich waren, hinreißend, ziervoll in all ihrer Wildheit. Voll Trauer und Zorn nahm Rodrigue wahr, mit wieviel Kunst Gott diesen wüsten Menschen begabt hatte. Sein Zorn wuchs, als er mitansehen mußte, wie sein geliebter Alfonso ihm, Rodrigue, auswich, während er den greulichen, unbändigen Ritter nicht von der Seite ließ. Der eifersüchtige Rodrigue spürte schmerzhaft die innere Verwandtschaft der beiden, und immer blasser wurde seine Hoffnung, den König auf den rechten Weg zurückzuführen.

Eine Freude blieb dem Domherrn inmitten seines Kummers: der Umgang mit dem Clerc Godefroi. Don Rodrigue liebte und bewunderte die Erzählungen des Chrétien de Troyes, und das Wesen des Godefroi schien ihm die seltsame, innige Frömmigkeit widerzuspiegeln, welche Chrétien seinen Geschichten einzudichten verstand. Häufig denn auch, dem Domherrn zuliebe, wählte Godefroi, wenn er aus den Werken des Chrétien vorlas, stille, abseitige Kapitel, welche die einmalige, wunderliche, dem irdisch Gemeinen abgekehrte Art des Chrétien erkennen ließen.

So las er einmal vor vielen Hörern das Abenteuer des Ritters Yvain mit den Pauvres Pucelles, den Armen Fräuleins.

Da gerät der Ritter Yvain in die Behausung der Pauvres Pucelles, da sieht er sie, diese Armen Fräuleins. Sie nähen und weben Fäden von Gold und Seide zu Kleidern; sie selber aber sind überaus schäbig anzuschauen, Latz und Kleid löcherig, zerfetzt, die Hemden voll Schweiß und Schmutz, grobhäutig der Hals, das Gesicht blaß von Hunger und Elend. Yvain sieht sie, und sie sehen ihn, und sie senken voller Scham das Gesicht zur Erde und weinen.

Und erheben ihre Klage:

»Wir nähen Seide, Brokat und Putz,

Sind aber selber halbnackt und verschmutzt.

Das kommt: unser Lohn ist nicht genug,

Er kauft uns weder Fleisch noch Tuch.

Einteilen wir genau und voll Angst

Unser täglich Brot, aber niemals langt’s,

Des Morgens zuwenig, noch weniger zur Nacht.

Wer von uns in der Woch zwanzig Sous macht,

Dünkt sich eine Gräfin und Herzogin,

Und zwanzig Sous langt nicht her und nicht hin.

Dabei wird, wer den elenden Lohn uns bereit’t,

Reich von unserer Arebeit,

Und treibt uns trotzdem und hetzt immerzu

Und läßt uns auch des Nachts keine Ruh.

Wenn eine von uns todmüd eindöst,

Gleich ist er da und schlägt und stößt.

Wir haben das Elend, wir haben die Hölle,

Wir Armen Fräuleins, wir Pauvres Pucelles.«

Es war dem Don Rodrigue Genugtuung, daß der Dichter Chrétien de Troyes über dem Glanz und der Glorie der Ritter und Damen die Finsternis und das Elend derer nicht vergaß, die sich in der Tiefe abmühten. Die andern Hörer aber, die preux chevaliers und dames choisies, welche die Kleider trugen, die jene Pauvres Pucelles gefertigt hatten, waren erstaunt und unwillig. Was für eine närrische Anwandlung hatte da dieser tote Conteur gehabt? Wie konnte einer, der so süß und edel von erlesener Minne und heldischen Abenteuern gesungen hatte, seinen Mund derart verunreinigen? Wie konnte er Vers und Reim haben für diese armseligen Schneidermädchen? Die einen machten die Kleider, die andern trugen sie; die einen schmiedeten die Schwerter, die andern schlugen damit zu; die einen bauten die Burgen, die andern bewohnten sie: das war nun einmal so, das hatte Gott in seiner Weisheit so eingerichtet. Wenn sich diese traurigen Geschöpfe, die Pauvres Pucelles, dagegen auflehnten, dann mochte ihr Herr ihnen gut und gern die Glieder brechen.

Wiederum war es Bertran de Born, der den Gefühlen aller Stimme gab. Die Sprache des Nordens, die Langue d’Oïl, in welcher dieser Chrétien dichtete, schien ihm ohnehin plumpes Gelalle, das milchherzige Reimgeklingel gar, das er soeben hatte hören müssen, dünkte ihm reine Tollheit. Er hatte denn auch schon während des Vortrags mehrmals hell auflachen müssen, und nun Godefroi zu Ende war, meinte er: »Ihr Herren im Norden habt ja erstaunlich viel übrig für den Pöbel und seinen Gestank. Willst du wissen, guter Meister Godefroi, wie wir hier im Süden darüber denken?« Die Damen und Herren, sich freuend auf die männliche Antwort, die Bertran dem Gewinsel des toten Chrétien sicher geben wird, baten: »Laß hören, edler Bertran!« Und: »Laß uns nicht warten! Laß hören!« drängten sie. Und: »Sing uns den Sirventés vom Vilain, mein Knabe Papiol«, befahl lachend und grimmig Bertran seinem Spielmann.

Dieser trat vor, kühn und jugendlich, klimperte auf der kleinen Harfe und sang das Lied vom Vilain, vom Lumpigen Bürger und Bauern. Er sang:

»Das Bürger-, Händler-, Bauernpack

Ist nicht nach meinem Strich und Schmack,

Ich mag es gar nicht leiden.

Sie haben sich auf Schweinesart,

Und ihre Art und feine Art,

Das will sich übel reimen.

Kriegt so ein Lump erst Geld und Gut,

Dann packt ihn gar der Übermut

Und macht sein Hirn verbrennen.

Drum haltet ihm den Trog fein leer,

Und zieht ihm ab das Hemde.

Der Regen gerb sein schäbig Fell.

Wer das Gelump nicht mager hält,

Mehrt nur die Pöbelei der Welt.

Drum wenn sich solch ein Bauernschuft,

Ein Bürgerschuft, ein Händlerschuft

Erdreistet und euch seinen Schein

Vor Augen hält, brecht ihm das Bein

Ja, brecht ihm alle Knochen!

Dann ist die Schmach gerochen.

Sperrt das Geziefer ins Verlies,

In eure tiefsten Grotten,

Und laßt sie dort verrotten!

Laßt euch ihr Schrein nicht dauern!

Verderben über das Geschmeiß

Der Wuchrer, Bürger, Bauern!«

Stürmischen Beifall riefen die Hörer dem Ritter. Das Gesindel in der Tiefe wurde wirklich zu übermütig. Die Herren, die im Begriff waren, in den Heiligen Krieg zu ziehen, dachten an die Händler und Bänker, die ihnen ihre Güter weit unterm Preis abhandelten; sie mußten darauf eingehen, weil sie aus ihren Bauern nicht genug herausgeholt hatten. Wer dem Geschmeiß auf kräftige Art die Wahrheit sagte, sprach ihnen aus dem Herzen.

Don Rodrigue sah, wie die verbrecherisch hochfahrenden Verse des Bertran das unheilige Feuer der preux chevaliers noch höher schürten. Was der Mann da in gottlosem Übermut gesungen hatte, erfüllte den sanften Domherrn mit reißendem Kummer. Inmitten all seiner heiligen Betrübnis aber bedachte der Gelehrte Rodrigue, wie sich da wieder einmal die Sprache lasterhaft den bösen Trieben der Sprechenden anschmiegte und langsam aus dem sachlichen »Vilain«, aus dem Dorf- und Städtebewohner, den Lumpen und Schuft machte.

Don Alfonsos Gesicht war überstrahlt von glückhafter Erregung; die stolzen, klirrenden Verse waren ihm aus dem Herzen gesprochen. Aus diesen Versen klang der Groll des rechten Ritters gegen das Gelump der Händler und Bänker, die Wut, die er selber, Alfonso, oft gespürt hatte, wenn er mit seinem Jehuda hatte herumfeilschen und seine gute, kostbare Königszeit hatte vertun müssen. Dieser Bertran war sein Bruder.

»Höre, edler Bertran«, sagte er, »willst du nicht den Krieg an meiner Seite mitmachen? Ich gebe dir den Handschuh, und du sollst guten Teil an meiner Beute haben.« Bertran lachte sein lustiges, grimmiges Lachen. »Wie du die paar Verse belohntest, die ich dir gemacht habe«, antwortete er, »hat mir deine Großherzigkeit gezeigt, Herr König. Ich hatte vor, einen rechten Sirventés für dich zu dichten.« – »Kommst du also mit mir, Bertran?« fragte der König. »Ich bin Lehnsmann König Richards und ihm versprochen«, erwiderte Bertran. »Aber ich will die Dame Ellinor fragen.«

Er fragte. »Gehst du wieder einmal zu einem andern Herrn über?« sagte Ellinor. Sie schauten einander an mit heitern Augen, die alte Fürstin und der alte Ritter, und sie sagte: »Bleib also bei Alfonso. Ich will’s bei meinem Richard vertreten.« Ellinor wollte Burgos nicht verlassen, bevor in einem gründlichen Kriegsplan Rechte und Pflichten der beiden Könige genau abgegrenzt waren.

Mehrmals lagen Alfonso und Pedro ihr an, ihnen ein paar Fähnlein ihrer bewährten Routiers abzugeben, ihrer Brabançons und Cottereaux. Aber Ellinor wollte davon nichts hören. »Ihr habt genug, ihr beiden Knaben«, wehrte sie ab. »Glaubt ihr, ich würde mir meine teuern Routiers halten, wenn ich sie nicht dringlich gegen meine rebellischen Barone bräuchte? Manchmal kann ich nicht schlafen, weil ich nicht weiß, wovon ich sie zahlen soll.« – »Aber ›In Chinon ist Geld‹ heißt es doch in der ganzen Christenheit«, wandte Don Alfonso ein. »Dieses dumme Sprichwort«, wies ihn Ellinor zurück, »haben die Juden meines seligen Heinrich in die Welt gesetzt, um seinen Kredit zu heben. Ich jedenfalls habe kein Geld in Chinon vorgefunden. Ich habe Schwierigkeiten gehabt, die Rechnung zu zahlen für die Beerdigung meines Heinrich. Nichts da, meine Lieben! Ein paar Soldaten müßt ihr einer alten Frau schon lassen, ihre Haut zu schützen.«

Der Kriegsplan gründete sich auf die Annahme, man könne unter Umständen den Kalifen Jakúb Almansúr dem Krieg fernhalten. Mächtige Stammeshäuptlinge an seiner Ostgrenze rebellierten; auch hieß es, es stehe nicht gut um seine Gesundheit. Zu vermuten war, er werde jeden halbwegs guten Vorwand benutzen, seine Emire im Andalús sich selber zu überlassen. Nun war da eines: der Kalif nahm, genau wie Sultan Saladin, Vertragsbruch unter keinen Umständen hin, und da war dieser lästige Waffenstillstand Alfonsos mit Sevilla. Kastilien mußte also für die erste Zeit neutral bleiben. Dagegen sollte Aragon, das durch keinen Vertrag gebunden war, schon in allernächster Zeit unter Vorwänden ins moslemische Valencia einfallen und sehr bald die Waffenhilfe Kastiliens anrufen. Griff daraufhin der Krieg schließlich auch nach Córdova und Sevilla über, dann würde man den Kalifen wahrscheinlich überzeugen können, es handle sich nicht um einen bösartigen Bruch des Waffenstillstands.

Alfonso murrte, daß dem jungen Don Pedro der Ruhm des ersten Vorstoßes zufallen sollte, wich indes den guten Gründen der alten Königin und verpflichtete sich, unter keinen Umständen gegen Córdova und Sevilla vorzugehen, ehe Aragon Waffenhilfe verlangte. Don Pedro seinesteils versprach, solche Waffenhilfe binnen längstens eines halben Jahres zu fordern und dann seine ansehnliche Heeresmacht dem Oberbefehl Don Alfonsos zu unterstellen.

Die Dame Ellinor gab sich so schnell nicht zufrieden. Sie fürchtete, Eifersucht oder falsch verstandene Ritterpflicht könne Alfonso oder Pedro verleiten, sich über den Vertrag hinwegzusetzen; ein solcher Pakt war schließlich nur Tinte auf Tierhaut, das Blut, das durchs menschliche Herz floß, war stärker. So berief sie denn die beiden Könige und deren Frauen vor sich und erläuterte an Hand des umständlich aufgezeichneten Kriegsplanes in einer kurzen, herzhaften Ansprache, was Alfonso und was Pedro tun und was sie lassen müßten. Dann fiel sie aus dem Feierlichen ins Gemütliche und meinte, schelmisch mit dem Finger drohend: »Ich weiß schon, ihr gönnt einer dem andern immer noch allerlei Ungemach. Aber solche Launen könnt ihr euch nicht leisten in diesem großen und wichtigen Krieg. Wenn er aus ist, dann ärgert einander wieder nach Herzenslust. Vorläufig ärgert mir die Moslems.« Und, wieder sehr königlich, schloß sie: »Ich beschwöre euch, reißet allen Groll aus euren Herzen mit der Wurzel, so wie der Stier das Gras mit der Wurzel ausrauft.«

Alfonso stand verlegenen, grimmigen Gesichtes; auch Don Pedro schien befangen. Plötzlich aber, in die Stille hinein, sagte mit ihrer harten, noch kindlichen Stimme Berengaria: »Wir verstehen dich, Frau Großmutter und Königin. Entweder sind die beiden Fürsten, mein Herr Vater und mein Herr Gemahl, völlig und von Herzen einig, oder sie werden von den Heiden geschlagen. Tertium non datur – Ein Drittes gibt es nicht.«

»Du hast es begriffen, kleine Enkelin«, sagte Ellinor. »Und jetzt«, wandte sie sich an die Könige, »in Gegenwart von uns drei Frauen, küsset euch brüderlich und schwört auf das Evangelium, daß ihr es halten werdet, wie ihr’s unterschrieben und gesiegelt habt.« Am Tage, bevor die Versammlung auseinandergehen und ein jeder seine Straße ziehen sollte, feierte man Abschied im Castillo von Burgos.

An diesem Tage erfüllte Bertran de Born eine Bitte, die er bisher geflissentlich überhört hatte. Er sang selber sein Lied zum Preise des Krieges, das Lied vom Sterben in der Schlacht, das berühmte Lied: »Be’m platz lo gais temps de Pascor.«

Er sang:

»Der süße Lenz gefällt mir wohl,

Wenn Blatt und Blüte neu entspringt;

Es freut mich, höre ich den Chor

Der Vögel, deren Lied verjüngt

Erschallet in den Wäldern.

Mehr aber freut’s mich, seh ich weit

Gezelte an Gezelt gereiht

Und ringsum auf den Feldern

Ritter und Roß zum nahen Streit

Bewaffnet stehen und bereit.

Mich freut’s auch, wenn die Plänkler nahn

Und furchtsam Mensch und Herde flieht

Und dann statt ihrer auf den Plan

Ein rauschend Heer von Kriegern zieht.«

Die alte Königin Ellinor, der Bertran einmal nahegestanden war, hörte mit heiterer Rührung zu, wie der alte Mann die wilden, grimmig fröhlichen Verse sang. Schon damals, da er sich, ein halber Knabe noch, ungestüm an sie heranmachte, hatte er sie fast ebenso erheitert wie gerührt. Er war der gleiche geblieben, der liebe Bertran, eine einmalige Mischung von Mut, Frechheit und Dichtergabe. Er hatte sein Leben lang nein gesagt zu jeder Niederlage und war sichtlich noch jetzt entschlossen, zu kämpfen und zu singen und nicht aufzugeben, eh ihm der Tod die Schulter klopfte – genauso wie sie selber nicht aufgeben wird.

Sang Bertran:

»Es ist mir Augenweide,

Wenn man ein festes Schloß berennt,

Die Mauer klafft, das Pfahlwerk brennt.

Auch hab ich meine Freude dran,

Wenn auf der weiten Heide

Die wackern Reiter sprengen an.

Es rinnt das Blut, es bricht der Speer,

Und Lanz und Schwert sind Splitter.

Die Rosse rennen wild umher,

Gefallen sind die Ritter.

Macht kein Gewese davon her.

Solch Sterben ist nicht bitter

Besser, wer tot vorm Feinde liegt,

Als wer entläuft und lebt, besiegt.«

Das rote Gesicht des Erzbischofs Don Martín rötete sich noch tiefer, er atmete stark, er bewegte die Lippen, die Verse leise mitsprechend. Der junge Alazar starrte verzückt auf den Sänger, seine Augen rissen Bertran jedes Wort von den Lippen. Bisher hatte Alazar von der Herrlichkeit des Krieges nur geträumt: jetzt sah er, hörte er, fühlte er sie mit jeder Faser. Dieser Ritter Bertran sprach aus, was Alazar durch die Brust ging, seitdem er in Kastilien war. Aus dem Munde dieses Mannes klirrte der Krieg. Was dieser Ritter Bertran sang, dafür lebte er, Alazar.

Sang Bertran:

»Nicht Speis noch Trank, nicht Schlaf noch Weib

Ist mir solch süßer Zeitvertreib,

Als wenn ich’s höre schallen:

A lor! A lor! Schlagt drauf! Haut ein!

Und große Herrn und Knechte klein

Todwund zur Erde fallen.

Die Pferde wiehern reiterleer.

Getroffne schrein: Aidatz! Hilf! Her!

Von allen Seiten übers Feld

Das herrlich wilde Schreien gellt,

Geschrei des Siegs, Geschrei der Not.

Das grüne Gras ist rot von Tod.

Ein Leichenhauf die Erde deckt,

Und in so mancher Brust noch steckt,

Dieweil der Leib weit offen klafft,

Bewimpelt bunt der Lanzenschaft.«

Hingerissen hörten die Versammelten zu. A lor! Aidatz! Schlagt drauf! Hilf! Her! Die ganze alte Burg klang wider von der blutigen Begeisterung des Ritters Bertran, von der Lust des Tötens.

Mehr noch als die andern schätzte und schmeckte der Domherr Don Rodrigue die federnde Kraft der klingenden provençalischen Verse. Aber nicht Enthusiasmus erregten sie ihm, sie erregten ihm Schauder. Mit Entsetzen sah er das Gesicht des Königs, den er liebte wie einen Sohn. Ja, »vultu vivax« war Don Alfonso, da hatte Rodrigue die rechten Worte gefunden: das Gesicht spiegelte die Seele erschreckend treu wider. Was es aber jetzt spiegelte, das war schiere Lust am Dreinhaun, am Zerstören, jener Jezer Hara, der böse Trieb, von dem Musa immer wieder redete.

Don Rodrigue schloß die Augen; er konnte die Gesichter dieser Ritter und Damen nicht länger sehen. Bestürzt erkannte er: er hätte seinen Alfonso lieber noch Monate und Jahre hindurch in der sündigen Gemeinschaft der verstockten Jüdin gesehen als in der fromm und blutig begeisterten Verbundenheit mit den Kriegern Gottes.

Der Domherr hatte im Gefolge des Königs nach Toledo zurückreisen wollen. Er hatte sich vorgenommen, auf dieser Reise endlich seine Pflicht zu tun, den König zu mahnen. Jetzt gab er’s auf.

Noch in der gleichen Nacht, in Hast, machte er sich auf den Weg und ritt zurück nach Toledo, noch tiefer bedrückt, als er gekommen war, schuldhaft infectis rebus, unverrichteterdinge.

Drittes Kapitel

Seitdem Don Jehuda Ibn Esra Nachricht vom Tode König Heinrichs erhalten hatte, wußte er: nun wird binnen Wochen, vielleicht binnen Tagen der große Krieg mit den Moslems ausbrechen, den zu verhindern er Sevilla und sein altes Leben aufgegeben hatte. Jetzt rollte das ungeheure Rad heran, unaufhaltsam. Der Kalif wird seine Heere ins Andalús führen, Niederlagen Alfonsos waren unausbleiblich, und die Bürger Toledos werden die Schuld daran nicht dem König, sie werden sie ihm, Jehuda, und den Juden zuschreiben. Was er als Knabe in Sevilla hat mitansehen müssen, wird sich hier wiederholen. Und die volle Wut Edoms wird die sechstausend fränkischen Flüchtlinge treffen, die er ins Land gezogen hat. Wie hatte er triumphiert, als er das Privileg für sie erlistete; wie ein Oker Harim, ein Mann, der Berge versetzen kann, war er sich vorgekommen. Und nun werden seine Siedler hier Schlimmeres erleiden, als sie es je in Deutschland hätten erdulden müssen. Auf sich gerichtet sah er die frommen, besessenen, verachtungsvollen Augen des Rabbi Tobia.

Meldungen aus Engelland mehrten seine Angst. Anläßlich der Krönung Richards hatte auch eine jüdische Delegation unter Führung des Aaron von Lincoln und des Baruch von York dem König im Dome von Westminster Geschenke überreichen und ihn um Bestätigung der alten Privilegien bitten wollen. Es war aber den Juden der Einlaß in die Kirche verwehrt worden, und das Gerücht hatte sich verbreitet, der König gebe ihr Leben und ihre Habe dem guten Volk von London preis. Geführt von Kreuzfahrern, hatte die Menge die Häuser der Juden geplündert, sie mißhandelt, viele in die Kirchen geschleppt, sie zu taufen, und solche, die widerstrebten, getötet. Ähnliches war in Norwich geschehen, in Lynn und Stamford, in Lincoln und York. Aaron von Lincoln war es geglückt, heil aus London zu fliehen, doch nur um bei den Unruhen in Lincoln umzukommen. Baruch von York hatte sich der Taufe gefügt. Den Tag darauf hatte König Richard ihn gefragt, ob er denn nun auch im Herzen Christ sei. Baruch hatte erwidert, er habe nur sein Leben retten wollen, im Herzen sei er Jude geblieben. »Was fangen wir mit dem Manne an?« hatte Richard den Erzbischof von Canterbury gefragt. »Wenn er Gott nicht dienen will«, hatte mürrisch der Prälat geantwortet, »mag er in Gottes Namen im Dienst des Teufels bleiben.« So war denn Baruch als Jude nach York zurückgekehrt; dort war er mitsamt seiner Familie erschlagen worden.

Wenn sich, erwog Jehuda, solche Dinge in dem vernünftigen Engelland hatten ereignen können, was wird, wenn das Volk nach einer Niederlage aufgehetzt ist, hier in Kastilien geschehen?

Don Ephraim stellte sich bei Jehuda ein. Berichtete, der Graf de Alcalá habe sich an ihn gewandt um ein Darlehen auf seine Güter, er habe ihn aber abgewiesen. »Er ist verschuldet«, führte Ephraim aus, »er verschwendet, vermutlich wird ihn der Krieg vollends aufzehren, und die Güter werden dem Gläubiger billig zufallen. Trotzdem habe ich’s abgelehnt, Alcalá zu beleihen; denn ein Jude, der aus den Nöten eines Kreuzfahrers Vorteil zieht, schafft sich und aller Judenheit Feinde. Ich nehme an, der Graf wird sich jetzt an dich wenden.« – »Ich danke dir für Mitteilung und Rat«, sagte unverbindlich Jehuda.

Eine zweite, wichtigere Mitteilung hatte Don Ephraim. Die Aljama hatte beschlossen, dem König ein Hilfskorps von dreitausend Mann zu stellen.

Jehuda fühlte sich grausam gedemütigt. So nackt und verloren war er schon, daß die Aljama in dieser dringlichsten Not Entschlüsse traf, ohne ihn zu befragen. »Glaubst du, so könnt ihr euch retten?« höhnte er. »Denk an das, was in Engelland geschehen ist.« – »Wir betrauern es, und wir haben es bedacht«, antwortete Don Ephraim. »Gerade darum wollen wir tun, was in unserer Macht steht, König Alfonso – Gott schütze ihn – zum Sieg zu verhelfen. Überdies hatten wir immer geplant, und du selber hast es dem König versprochen, ihm ein Hilfskorps zu stellen.« – »Ich an eurer Stelle«, erwiderte Don Jehuda, »hätte Geld gegeben, Routiers zu werben. Vielleicht auch, zum Zeichen eures guten Willens, hättet ihr zwei- oder dreihundert Mann aus den eigenen Reihen stellen können. Aber die Masse der kräftigen, waffengeübten Männer der Aljama hättet ihr besser zurückbehalten. Ich fürchte, ihr werdet sie nötig haben«, schloß er voll Bitterkeit.

»Ich begreife, daß du so denkst«, entgegnete ruhig Ephraim. »Aber deine Lage, Don Jehuda, ist anders als die unsere, und auch ein so kluger Mann wie du hat es schwer, unter deinen Umständen unsere Situation unbefangen zu beurteilen.« Da er sah, wie schmerzhaft seine Worte den andern trafen, fuhr er nicht ohne Wärme fort: »Ich bin nicht dein Feind, Don Jehuda. Ich vergesse nicht, was alles du für uns getan hast in der Großheit deines Herzens. Wenn jetzt Tage kommen, da du unsere Hilfe brauchst, glaub es mir, wir sind bereit.« Jehuda, trocken, grimmig, antwortete: »Ich danke euch.«

Er ging, nachdem ihn Ephraim verlassen hatte, prüfend durch sein Haus. Beschaute die Kunstwerke, die Bücher, die Schriftrollen, nahm die eine, die andere heraus, betastete die Urschrift der Lebensdarstellung des Avicenna. Ging in den Saal seiner Schreiber. Nahm Briefe heraus, überlas sie. Man bot ihm in ehrerbietigen Wendungen Verträge an, Geschäfte, fragte um Rat; sichtlich hielt man ihn nach wie vor für den mächtigsten Mann der Halbinsel. Er überschlug die Aufstellungen seiner Repositarii, um zu errechnen, wie groß sein Vermögen sei. Die Kriegsrüstungen, die vielen Verkäufe und Beleihungen, die Gewinne aus neu ausgegebenem Geld hatten seinen Reichtum vermehrt. Er rechnete, überprüfte, rechnete von neuem. Es waren an die dreihundertfünfzigtausend Goldmaravedí, die er besaß. Er sprach die ungeheure Summe vor sich hin, langsam, arabisch, beinahe ungläubig. Aus seiner großen Schmucktruhe suchte er hervor die Brustplatte des Familiars, betastete sie. Schüttelte lächelnd den Kopf. Da stand er, ertrinkend in Schätzen, Ehren, Macht – es war die Tünche eines Grabes.

Mit heftiger Bewegung tat er das dunkle Geträume ab. Don Ephraim sollte ihn nicht zaghaft machen.

Er belieh die Güter des Grafen de Alcalá.

Allein die Worte des Párnas hatten sich tief in ihn eingesenkt. Es war so, wie Don Ephraim nüchtern festgestellt hatte: er, Jehuda Ibn Esra, war mehr bedroht als jeder andere. Wenn er vernünftig war, machte er sich so schnell wie möglich fort und rettete sich, Raquel und den Enkel in den Bereich der östlichen Moslems, den Bereich des Sultans Saladin, der den Juden freund war.

Raquel wird widerstreben, wird bei Alfonso bleiben wollen. Und wenn es ihm gelingen sollte, sie zu überreden, dann wird ihn Alfonso verfolgen lassen. Und wie sollten sich so auffällige Flüchtlinge durch die ganze feindliche, christliche Welt in den Osten durchschlagen?

Und durfte er auch nur den Versuch machen, sich und die Seinen zu retten? Durfte er die fränkischen Siedler hilflos in der Gefahr zurücklassen? Helfen freilich konnte er ihnen nicht; im Gegenteil, sein Bleiben gefährdete sie nur, sie und alle Judenheit. Aber das werden sie nicht wahrhaben wollen. Sie werden, wenn er sich fortmachte, jeden Schimpf auf seinen Namen häufen. Der Mann der großen Sendung, werden sie höhnen, der Wohltäter Israels, Jehuda Ibn Esra, sei davongelaufen, als er einstehen sollte für sein Wort und sein Werk. Und er wird als Feigling und Verräter dastehen für alle Zukunft.

In den Sinn kam ihm ein Satz des Mose Ben Maimon: in jedem Juden sei etwas von einem Propheten, und dieses Prophetische in der Seele zu fördern, sei Pflicht. In ihm haftengeblieben, ihm schmeichelnd, waren die Worte des Ephraim, er habe viel für die Juden getan in Großheit des Herzens. Nein, er wird das Prophetische in seinem Herzen nicht ersticken, er wird nicht trachten, seiner Sendung davonzulaufen. Er wird in Toledo bleiben.

Er mühte sich, aufrichtig zu ergründen, was ihn denn nun, gegen die Vernunft, am Orte der Gefahr zurückhielt. War es Angst vor den Gefahren der Flucht? War es Liebe zu Raquel, welche die Trennung von Alfonso nicht überstehen würde? War es Ehrgeiz und Hoffart, weil er den Namen Ibn Esra nicht beflecken wollte? War es Treue zu seiner Sendung? Alles das war in ihm, er konnte seine Gründe nicht auseinanderflechten.

Inmitten der Zweifel und Sorgen wuchs ihm ein Entschluß. Sich selber helfen konnte er nicht, auch Raquel konnte er nicht helfen. Wohl aber dem Enkelsohn.

Er hat geschworen, den Enkel nicht zum Juden zu machen, und er wird den wahnwitzigen, abscheulichen Schwur halten. Doch kein Gelübde zwingt ihn, das Kind hier in Toledo zu lassen. Nun er ins Feld zieht, wird Alfonso darauf bestehen, den Knaben vorher zu taufen; die Rücksicht auf Raquel wird ihn nicht länger abhalten. Er, Jehuda, mußte das Kind fortschaffen, bevor der König in Toledo zurück war. Raquel verbrachte die meiste Zeit in der Galiana.

Es war ihr bekannt, daß in den nächsten Wochen der große, furchtbare Krieg ausbrechen mußte, aber sie fürchtete sich nicht. Seitdem Gott ihr das glückhafte Geschenk ihres Immanuel gemacht hatte, war sie voll einer tiefen Sicherheit, warm und geschützt in der Hand Adonais oder, wie Onkel Musa es nannte, im Mantel des Schicksals.

Sie sehnte sich nach Alfonso, doch nicht mit der fieberigen, aus Jubel in Verzweiflung und wieder in Jubel umschlagenden Sehnsucht wie früher. Vielmehr war sie aus eben jenem tiefen Vertrauen heraus gewiß, daß er aus seiner Ritterwelt immer wieder zu ihr zurückkehren werde. Was ihn rief, war nicht nur die ungemessene Lust, die sie einander gaben, es war noch ein anderes: er liebte die Mutter seines Sohnes, sein Sancho wurde auch ihm zum Immanuel, sie wuchsen, Raquel und Alfonso, einander zu.

Oftmals schaute sie minutenlang reglos, selig hingegeben, in das zarte, längliche Gesicht ihres Söhnchens, ihres Immanuel, des Messias. Sie hatte nur ein vages Bild des Messias, eine undeutliche Vorstellung von etwas Hohem, Hellem, und sie hatte keine leise Ahnung, auf welche Art dieser ihr kleiner Sohn der Welt das Heil bringen sollte; aber sie wußte: er wird es bringen. Doch hielt sie dieses Wissen auch weiter in ihrer Brust; es erschien ihr lästerlich, davon zu reden.

Nicht einmal mit Don Benjamín sprach sie davon, wiewohl sich ihre Freundschaft vertieft hatte. Es war eine Freundschaft ohne viele Worte. Er las ihr aus einem Buch vor, oder sie gingen still die Wege des Gartens entlang.

Den Sabbat verbrachte Raquel nach wie vor bei ihrem Vater im Castillo.

Einmal nach dem Ausgang eines solchen Sabbats – der Geruch der Gewürze und der im Wein gelöschten Kerze war noch in der Luft – fragte Jehuda die Tochter: »Wie geht es deinem Sohn, meinem Enkel?« Er hatte den Enkel nie gesehen, die Galiana nie betreten. Raquel wußte, wie sehr er sich nach dem Anblick des Knaben sehnte, aber sie hatte Scheu, Immanuel aus der Galiana wegzubringen. Wiewohl er ihr gehörte, wäre sie Alfonso zu nahe getreten, wenn sie das Kind, und sei es nur auf eine Stunde, ohne seine Zustimmung weggebracht hätte.

Leise, behutsam, doch nicht ohne glücklichen Stolz, denn sie fürchtete und hoffte, der Vater werde sie nach ihrem heimlichsten Wissen fragen, antwortete sie: »Immanuel ist gesund und gedeiht herrlich in der Gnade Gottes.« Jehuda, mühsam, er mußte alle Kraft zusammennehmen für diese Unterredung, sagte: »Er wird der Gnade Gottes sehr bedürfen, dein Sohn, mein Enkel, in der nächsten Zeit.« Und da Raquel verwundert hochsah, setzte er ihr auseinander: »Wäre er nur Alfonsos Sohn, dann wäre er nicht gefährdet, und er wäre nicht gefährdet, wäre er nur dein Sohn. Ihn gefährdet, daß er dein und Alfonsos Sohn ist. Als Sohn Alfonsos ist er zu Großem bestimmt; das wissen alle, und sie billigen es. Doch viele sehen es nicht gern, daß ein Sohn von dir zu Großem bestimmt ist. Im Castillo von Burgos sind jetzt zahlreiche versammelt, die es nicht gerne sehen. Wir haben diesen Mächtigen nichts entgegenzustellen als das Vertrauen auf Gott.«

Raquel wurde aus den Worten des Vaters nicht klug. Er sprach wohl von Alfonsos Absicht, den Knaben taufen zu lassen, und nahm an, Alfonso werde auf ihre Wünsche keine Rücksicht mehr nehmen, schon um das Kind vor den Nachstellungen der Gegner zu schützen. Ja, einen Atemzug lang wünschte sie’s. Sogleich aber kam ihr die ganze Sündhaftigkeit des Wunsches zu Bewußtsein; es war nicht denkbar, daß Immanuel entweiht werden sollte durch das Wasser des Götzendienstes. Und der Vater kannte ihren Alfonso nicht. Alfonso liebte sie, Alfonso wuchs ihr zu, niemals wird er sie derart in die Seele hinein kränken. Sie sagte fast bittend: »Alfonso hat mir nur ein einziges Mal davon gesprochen, daß er unsern Immanuel taufen lassen wolle. Dann nie mehr. Ich bin gewiß, er hat verzichtet.« Jehuda wollte ihr den Glauben nicht nehmen, er ging darauf nicht ein. Er sagte: »Don Alfonso hat Papiere vorbereitet, die deinen Sohn zum Grafen von Olmedo machen. Ich kann mir nicht denken, daß eine gewisse Dame, die dem König nur Töchter geboren hat, das hinnehmen wird. Don Alfonso ist ein mutiger Mann und ohne Arg und Vorsicht. Er ist nicht geneigt, einer so großen und ihm nahestehenden Dame ein Verbrechen zuzutrauen. Ich fürchte, er irrt sich.«

Raquel war erblaßt. Sie dachte an die vielerlei Geschichten von bösen, eifersüchtigen Frauen, welche die Lieblingssklavin des Mannes quälten und umbrachten. Und hatte nicht sogar die Stammesmutter Sara, die eine große, fromme Frau war, aus Neid und Eifersucht das Kebsweib Hagar mit dem kleinen Ismael in die Wüste getrieben, auf daß sie verdursten sollten? Raquel schwieg lange, eine volle Minute lang. Dann fragte sie: »Was rätst du, mein Vater?« Der antwortete: »Wir könnten versuchen, zu fliehen, du, ich und das Kind. Aber es wäre gefährlich. Wir sind auffällige Leute, wir können uns schwer verbergen, und das Volk ist erregt, es denkt an den Krieg, es sieht Feinde in allen Fremden.«

Raquel, mit blassen Lippen, fragte: »Ich soll vor Alfonso fliehen?« – »Nicht doch«, beruhigte sie Jehuda. »Sagte ich nicht, es wäre gefährlich? Besser ist es, das Kind allein wegzubringen in sichere Hut.« Raquel sagte, und ihr ganzer Leib war Abwehr: »Ich soll das Kind vor Alfonso verstecken?« Jehuda, vorsichtig, beschwichtigend, antwortete: »Dein Alfonso weiß es nicht, aber er kann den Knaben nicht schützen. Der Knabe ist sicher nur in Alfonsos Gegenwart, und er zieht in den Krieg und kann das Kind nicht mitnehmen. Niemand kann das Kind schützen hier in Kastilien. Du rettest das Leben unseres Immanuel, wenn du dich für die Dauer des Krieges von ihm trennst.« Da sie schwieg, fuhr er fort: »Ich hätte das Kind wegbringen lassen können, ohne dich zu fragen, und dir hinterher erklären, warum es so sein mußte, und ich weiß, du hättest mich verstanden und mir verziehen. Aber du bist eine Ibn Esra. Ich will keine Heimlichkeiten haben vor dir, ich will dir keine Verantwortung abnehmen. Ich bitte dich, alles gut zu bedenken, und dann sag mir: So geschehe es, oder: So geschehe es nicht.«

Raquel, in ungeheurer Not, sagte: »Du willst das Kind aus Kastilien fortbringen?« Und nochmals: »Du willst Immanuel aus Kastilien fortbringen?« Jehuda sah ihre Not, Erbarmen schnürte ihm die Brust, er sagte zärtlich und konnte nicht verhindern, daß er ein wenig lispelte: »Hab keine Angst, Raquel, meine Tochter. Vertraue mir. Ich lasse das Kind wegbringen durch einen geschickten und sichern Mann, den sichersten, den ich kenne, und den treuesten. Niemand soll wissen, wo das Kind ist, nur dieser Getreue. Niemand soll hier in Toledo sein, der dem König sagen könnte, wo das Kind ist. Wenn er dir droht, wenn er eine Antwort erzwingen will, dann sollst du erwidern: ›Ich weiß es nicht‹, und es soll die Wahrheit sein.« Und da Raquel hilflos und verlöscht dasaß, sagte er: »Auf solche Art ist das Kind nicht gefährdet, und du bist es nicht, meine Raquel. Der einzige, der sich gefährdet, bin ich. Ich will diesen Knaben retten, deinen Sohn, meinen Enkel. Wenn der Krieg vorbei ist, wenn das Land wieder ruhig ist, wenn Alfonso ruhig geworden ist, dann holen wir Immanuel zurück.« Er wartete lange. Dann sagte er: »Ich will nicht, meine Tochter, daß du in dieser Sache irgend etwas tust. Du sollst nichts davon wissen, wie diese Tat geschieht. Ich bitte dich nur: sag nicht nein. Alles andere falle auf mein Haupt.«

Für eine ganz kurze Weile stellte sich Raquel vor, was es bedeutete, daß der Vater den Zorn Alfonsos auf sich zu ziehen bereit war. Sie wußte, wie furchtbar Alfonso in seinem Zorn war; es war sehr wohl möglich, daß er den Vater tötete in seiner Wut. Dies alles nahm der Vater auf sich, um Immanuel zu retten. Dabei hatte er sich’s aus geheimnisvollen Gründen versagt, den Knaben auch nur zu sehen. Er war tapfer. Er ließ immer die hohe Vernunft, die Gott ihm gegeben hatte, siegen über seine Gefühle. Sie konnte das nicht. Nicht einmal ihrem Gefühl konnte sie vertrauen. War sie nicht vor einer halben Stunde noch ihres Glückes sicher gewesen, geborgen im Mantel des Schicksals? Und jetzt hatte sie Angst um das Kind und um den Mann. Wenn sie sich jetzt weigerte, Immanuel fortzugeben, gefährdete sie dann nicht sein Leben? Und wenn sie ihn fortgab, verlor sie dann nicht die Liebe des Mannes? Laut plötzlich, als würden sie hier und jetzt gesprochen, hörte sie die Worte ihrer Freundin Layla: »Du Arme.«

Sie versuchte, die Trümmer der früheren seligen Gewißheit zusammenzustücken. Die Trennung von Immanuel wird nur kurze Zeit dauern. Und Alfonso mußte sie verstehen, Alfonso wuchs ihr zu.

Nach einer ewigen Minute sagte sie: »Es geschehe, wie du es für recht hältst, mein Vater.«

Dann aber fiel sie um, in Ohnmacht. Der Vater, um sie bemüht, dachte: So war sie umgefallen, damals, als ich sie beredete, zu diesem König zu gehen. Er spürte grenzenloses Mitleid mit der Ohnmächtigen, und er beneidete sie. Ihm war es versagt, in solche Ohnmacht zu flüchten, er mußte sein Elend in Bewußtsein zu Ende kosten. Alfonso war auf dem Weg von Burgos nach Toledo. In seiner Begleitung waren der Erzbischof Don Martín, der Ritter Bertran de Born, der Schildknappe Alazar.

Das Land, durch welches sie ritten, rüstete zum Feldzug. Auf allen Straßen zogen junge Männer den Burgen ihrer Lehnsherren zu, überall waren kleine Gruppen Bewaffneter auf dem Weg nach dem Süden. Alfonso und seine Begleiter musterten sie sachkundig, muntere Zurufe, Scherze flogen hin und her zwischen den Herren und ihren künftigen Soldaten.

Der König war fröhlich wie ein Fohlen. Er freute sich auf den Krieg, er freute sich darauf, das Söhnchen wiederzusehen, den lieben Bastard Sancho, das Gräflein von Olmedo. Er spürte für das Söhnchen eine fröhliche, kräftige, väterliche Liebe, der kleine Sancho sollte sie zu spüren bekommen. Er selber war ohne Vater aufgewachsen; er war mit drei Jahren König geworden, und niemand hatte gewagt, den Knaben, der König war, ernstlich zurechtzuweisen. Das Kind sollte kein Muttersöhnchen werden, es sollte die Hand des Vaters spüren. Sowie er zurück ist, wird er die Hand auf den Sohn legen. Sogleich, schon am ersten Tag, wird er Sancho taufen lassen. Raquel wird ihn verstehen. Er wird auch sie der Gnade zuführen, wenn es sein muß, mit Strenge, und sie wird ihm dankbar sein.

Er ritt ein in Toledo, säuberte sich, zog sich um, ritt zu Raquel. Alafia, Heil, Segen, grüßte es vom Tor der Besitzung. Im Eingang des Hauses stand Raquel. Ungestüm, stolz und zärtlich riß er sie an sich. Sie spürte nichts als strömendes Glück, daß er wieder da war. Sie gingen ins Haus, er den Arm fest um ihre Schulter. Er ließ sie los, stellte sie vor sich hin, schaute sie an von Kopf zu Fuß, lachend, glücklich.

Dann sagte er: »Und jetzt zu dem kleinen Sancho.«

Raquel sagte: »Er ist nicht da.«

Alfonso trat einen kleinen Schritt zurück, er begriff nicht, er starrte sie an, beinah dumm vor Staunen. Fragte: »Wo ist er denn?« Ein böser Verdacht stieg ihm auf. War das Kind im Castillo?

Sie nahm allen Mut zusammen und sagte tapfer und der Wahrheit gemäß: »Ich weiß es nicht.« Seine Augen wurden hell von jenem Zorn, den sie kannte. »Du weißt nicht, wo mein Kind ist?« fragte er leise, wild. Raquel sagte: »In Sicherheit. Unser Sohn ist in Sicherheit, das ist alles, was ich weiß. Mein Vater hat ihn in Sicherheit gebracht.«

Alfonso packte sie am Arm, so fest, daß sie einen kleinen Schrei nicht unterdrücken konnte. Packte sie an den Schultern, schüttelte sie. Das Gesicht ganz nah an dem ihren, bewarf er sie mit wütigen Worten: »Du hast meinen Sohn, meinen Sohn Sancho hast du deinem Vater überlassen? Er hat seinen heiligen Eid gebrochen, der Hund, und du hast es geduldet? Hast ihm noch geholfen, was?«

Raquel, mit Mühe, sagte: »Ich habe nicht geholfen, ich habe meinem Vater das Kind nicht übergeben. Aber ich weiß, und ich sag es dir: mein Vater hat recht.«

Alfonsos Hirn war überschwemmt mit Schelt- und Schimpfreden aus den Sendschreiben des Papstes gegen die Juden, aus den Haßpredigten der Geistlichen: Das Gezücht der Hölle, der Sturmvogel des Satans. Es riß ihm die Hand zur Faust zusammen, auf sie einzuschlagen.

Da sah er sie.

Sie hatte Brust und Kopf zurückgebogen und die eine Hand leicht gehoben, in Abwehr, nicht in Furcht. Aus dem blaßbräunlichen Gesicht schauten ihm noch größer als sonst die blaugrauen Augen entgegen. In ihnen war Staunen, Schreck, Enttäuschung, Erschütterung, Zürnen, Trauer, Liebe; alles, was ihre Lippen nicht sagten, vielleicht nicht sagen konnten, das sagten Blick und Gebärde mit solcher Gewalt, daß er, der Welt und Menschen mit den Augen begriff, es wider Willen sogleich spürte, erkannte.

Er ließ die Hand sinken. Schnaubte, ein kleines, verächtliches, böswilliges Schnauben. »Ihr habt mir also das Kind gestohlen, ihr Juden«, sagte er. »Ich hätte mir’s denken sollen.« Er lachte. Ein helles, zerhacktes, häßliches Lachen, das Raquel in den Kopf drang wie ein Messer.

Er drehte sich unvermittelt um, verließ das Haus, ritt zurück nach Toledo.

Befahl Jehuda in die Burg. »Du hast also deinen Eid gebrochen«, stellte er sachlich fest. Jehuda antwortete: »Das hab ich nicht, Herr König. Es fiel mir nicht leicht, den übeln Eid zu halten, aber ich hab ihn gehalten. Ich habe meinen Enkel nicht zum Juden gemacht, Gott verzeih mir das Verbrechen.«

Alfonso brach aus: »Du hast meinen Sohn gestohlen, du Hund! Du hältst ihn als Geisel. Du willst mich zwingen, meinen Feldzug aufzugeben, deine Moslems zu schonen. Hund! Verräter! Ich lasse dich hängen!«

Jehuda erwiderte still: »Niemand hält deinen Sohn als Geisel, Herr König. Das Kind ist in Sicherheit vor dem Krieg, vor den Christen und vor den Moslems, das ist alles. Hier in Toledo ist das Kind gefährdet, wenn deine Majestät nicht da ist. Überdenk es in Ruhe, Herr König, und du wirst das gleiche finden. Jetzt ist der Knabe in zuverlässigen Händen. Raquel weiß nicht, wo er ist. Das ist hart für sie. Auch ich weiß es nicht genau, und es ist hart auch für mich.« Mit der alten Überlegenheit und unterwürfigen Dreistigkeit fügte er hinzu: »Ich begreife, daß es dich verlangt, mich hängen zu lassen. Aber dadurch würdest du den Mund stumm machen, der dir einmal wird sagen können, wie es um deinen Sohn steht.« Und mit ehrerbietiger Vertraulichkeit schloß er: »Wenn der Krieg vorbei und keine Gefahr mehr ist, hole ich das Kind zurück. Sei du des gewiß, Herr König. Ich habe meinen Enkel nie gesehen; ich möchte ihn sehen, bevor ich hinuntergehe. Auch Raquel könnte es schwerlich tragen, das Kind zu verlieren.«

Würgend überfiel den Alfonso die Erkenntnis seiner Hilflosigkeit. Unlöslich verknüpft mit dem Juden war er. Der Jude hielt ihn an der Leine.

Ohne ein Wort, mit einer zornigen, herrischen Gebärde wies er ihn aus dem Raum.

Ruhiger geworden sagte er sich, daß ihm Jehuda den Sohn nicht aus reiner Bosheit gestohlen hatte. Raquel hatte nicht gelogen; sie wußte offenbar wirklich nicht, wo das Kind versteckt war, und sicherlich nicht hatte sie es dem Jehuda leichten Herzens überlassen.

Das Bild der stumm beredten Raquel, ihrer zürnenden, trauernden, klagenden, liebenden Gebärde wollte ihm nicht aus dem Sinn. Voll kindlichen Zornes suchte er’s zu vertreiben. Rief sich zurück Gesten und Reden Raquels, die irgendwann sein Mißfallen erregt hatten, eine nach der andern, mit bösartiger Vollständigkeit. Wie unbehaglich ihr zumute gewesen war, als er sie vor sich aufs Pferd gehoben und mit ihr galoppiert hatte. Auch für seine Hunde, seine Falken hatte sie niemals Teilnahme gezeigt. »Wer die Tiere nicht liebt, und wen die Tiere nicht lieben, ist verflucht«, hieß es mit Recht. Sie hatte kein Aug und kein Herz für seine ritterlichen Tugenden, seine königlichen Gaben, eher waren sie ihr verdächtig. Sie haßte den Krieg. Sie gehörte zu den Schwachen, zu den Feigen, welche nur die Tapfern behindern auf ihrem von Gott vorgeschriebenen Weg. Eine Vilaine war sie von Wesen, Jüdin durch und durch. Sie vorenthielt seinem Sohne Taufe, Gnade, Seelenheil.

Er flüchtete in die Geschäfte. Besichtigte Soldaten, verhandelte mit Baronen, Feldhauptleuten. Aß und trank mit dem Erzbischof, mit Bertran.

Abend kam, Nacht. Er sehnte sich nach Raquel. Nicht nach ihrer Umarmung, das nicht: nach einer Auseinandersetzung. Er wollte ihr in das reine, unschuldige, verlogene Gesicht hinein sagen, was er von ihr dachte, was für eine sie war. Aber er verharrte in kindischem Trotz und blieb, wiewohl es ihn zog und riß, in seiner Burg.

So verlief auch der nächste Tag.

Als aber die zweite Nacht einfiel, ritt er in die Galiana. Übergab sein Pferd den Knechten, ließ sich nicht melden, ging durch den Garten. Lobte sich, daß er die Zisternen des Rabbi Chanan hatte zuschütten lassen. Sah befriedigt, daß das Glas der Mesusa fehlte.

Stand vor Raquel. Sie leuchtete auf. Er hatte sich all das Böse zurechtgelegt, das er ihr sagen wollte, lateinisch, einiges auch arabisch, damit sie es bestimmt verstehe. Er sagte es nicht, er gab sich nur mürrisch, einsilbig.

Später dann, im Bett, fiel er mit wütiger Lust über sie her. Haß, Liebe, Gier mischten sich ihm. Er wollte, daß sie das spüre. Sie spürte es wohl auch, und das machte ihm Freude. Eine moslemische Gesandtschaft traf in Toledo ein, um dem König von Kastilien eine Botschaft des Kalifen zu überbringen. Es verlautete, die Gesandten sollten den König an seinen Vertrag mit Sevilla erinnern. Man hatte also in Burgos richtig vermutet: der Kalif wollte dem Kriege fernbleiben, wenn nur Don Alfonso den Waffenstillstand mit Sevilla nicht offen verletzte.

Don Manrique de Lara und fast alle andern Berater des Königs freuten sich von Herzen, daß sich Kastilien und Aragon nicht mit der ganzen Macht des Kalifen würden messen müssen. Dem Domherrn Rodrigue gar war das Eintreffen der Delegierten ein großes Licht in seiner Trübsal. Wenn nur Don Alfonso sich zähmte und die Gesandten mit einigem Takt behandelte, dann wird sich der Krieg auf Schlachten und Scharmützel mit den Emiren von Córdova und Sevilla beschränken, er wird nicht die ganze Halbinsel in Blut und Elend tauchen.

Dem König selber war die Ankunft der Gesandten keineswegs willkommen. Er war ungeduldig und gereizt. Er wollte Toledo, wollte den Frieden hinter sich haben. Wollte auch die Galiana hinter sich haben. Wollte endlich, endlich! seinen Krieg beginnen. Und da kamen nun diese Beschnittenen, um von neuem zu schwatzen und zu verhandeln. Aber er hatte in Burgos Konzessionen genug gemacht, er war nicht gewillt, nun auch noch diesem Jakúb Almansúr demütigende Versicherungen abzugeben. Er dachte daran, die Gesandten grob abzufertigen oder sie gar nicht erst zu empfangen.

Der Erzbischof und Bertran bestärkten ihn in seinem Trotz. Don Manrique indes hatte mit dem Domherrn alle die hellen Aussichten erwogen, welche das Eintreffen der Gesandtschaft öffnete, und er stellte dem König in dringlichen Worten vor, das Wohl des Reiches und der ganzen Christenheit verlange, daß er auf das Spiel des Kalifen eingehe und dessen Warnung mit ernsten Beteuerungen erwidere. Wenn er sich weigere, wenn er Jakúb Almansúr herausfordere und kränke, statt ihn zu sänftigen, dann ziehe er die Heere des ganzen westlichen Islams ins Andalús, dann werfe er den Kriegsplan von vornherein über den Haufen und breche den Vertrag, den er in Burgos feierlich beschworen habe. Alfonso erwiderte störrisch, er widerstrebte lange und setzte erst auf unablässiges Zureden Don Manriques mürrisch eine Stunde fest, die Gesandtschaft zu empfangen.

Die moslemischen Herren wurden geführt von dem Prinzen Abul-Asbag, einem Verwandten des Kalifen, sie traten glänzend auf. Alfonso empfing sie, umgeben von seinen Räten und Granden, in dem mit Wandteppichen und Standarten geschmückten Großen Audienzsaal.

Es wurden unter mancherlei Zeremoniell die üblichen, umständlichen Einführungsreden ausgetauscht. Alfonso, fürstlich lässig auf seinem erhöhten Sitz, hörte das feierlich förmliche Geschwatze. Er sah das finstere Gesicht des Erzbischofs, das spöttische Bertrans, das sorgenvolle Don Rodrigues. Und immer wieder suchte sein Aug den Juden, der sich bescheiden in einer hinteren Reihe hielt. Dieser Jehuda war schuld daran, wenn er, Alfonso, früher der Erste Ritter der Christenheit, heute kläglich zurückstand hinter Richard von Engelland. Mit diesem, dem Melek Rik, drohten die moslemischen Weiber ihren Kindern; ihm, Alfonso, vermutlich infolge gewisser Ränke des Jehuda, schickten die Moslems einen Gesandten, um ihn zu verwarnen. Seine Räte, mit ihrer kläglichen Vernünftelei, hatten ihn beschwatzt, daß er das Gerede dieses Beschnittenen über sich ergehen ließ. Aber sie sollten seiner nicht zu sicher sein, der Jude nicht, und seine alten vorsichtigen Herren nicht. Sie werden seine innere Stimme nicht zum Schweigen bringen. Nur ihr wird er folgen.

Prinz Abul-Asbag, der Führer der Gesandtschaft, trat vor, verneigte sich tief, begann seine Botschaft. Der Prinz war ein gepflegter älterer Herr, der blaue Mantel des Gesandten stand ihm gut, die arabischen Worte kamen ruhig und tönend aus seinem Munde.

Der Beherrscher der westlichen Gläubigen, führte er aus, habe mit Besorgnis gehört von umfänglichen Rüstungen des Herrn Königs von Kastilien. Der Kalif nehme an, diese Rüstungen richteten sich nicht gegen den Emir von Sevilla, seinen Vasallen, der ja durch den Waffenstillstand geschützt sei. Leider aber habe sich in letzter Zeit in den Ländern der Christen die verbrecherische, aberwitzige Lehre verbreitet, es sei ein Vertrag, wenn er gegen die Interessen der christlichen Priester verstoße, für Christen nicht bindend. Christliche Fürsten des Morgenlandes hätten frech nach diesen Lehren gehandelt, Sultan Saladin sei dadurch genötigt gewesen, den Heiligen Krieg auszurufen, Allah habe den Herrscher der östlichen Gläubigen glorreich bestätigt und ihm die Stadt Jerusalem wieder in die Hand gegeben, die christlichen Fürsten aber hätten den Eidbruch mit Verlust ihrer Länder und ihres Lebens büßen müssen.

Don Alfonso, in lockerer Haltung und doch sehr königlich, hörte der ernsten, strengen Rede zu. Sein mageres, wie aus Holz geschnittenes Gesicht blieb so ruhig, daß man zweifeln mochte, ob er die arabischen Worte verstehe. Ein wenig vielleicht, inmitten des rotblonden, kurzen Vollbarts, zuckte der ausrasierte, lange, schmale Mund, und die tiefen Furchen der Stirn furchten sich tiefer. Die hellen Augen aber schauten von dem sprechenden Gesandten auf die Versammlung, und immer wieder suchten sie Don Rodrigue, und immer wieder Don Jehuda.

Rede du nur zu, Beschnittener, dachte er, und schwatze dich aus. Belle, Hund, belle zu, ich weiß, ihr beißt nicht, du und dein Herr, ihr bleibt in euerm sichern Afrika, jenseits des Meeres. Ich habe Geduld, ich hab mir’s versprochen, ich laß mich nicht reizen, ich setze nicht auf dein Geprotze die Ohrfeige, die es verdient. Aber dann, wenn du erst zurück bist, dann fall ich her über Córdova und Sevilla, und dann werdet ihr gebellt haben, und ich habe den Knochen.

Der Gesandte sprach weiter. Der Beherrscher der westlichen Gläubigen, erklärte er, brauche den Herrn König von Kastilien, der ja als besonnener Mann bekannt sei, wohl nur darauf hinzuweisen, daß er, der Kalif, vieles vergeben könne, aber unter keinen Umständen einen Vertragsbruch. Der Herr König von Kastilien habe keine guten Erfahrungen gemacht, als er’s nur mit dem Heere von Sevilla zu tun hatte; es werde ihm, falls er ein zweites Mal über Sevilla herfalle, die gesamte Macht des Kalifen gegenüberstehen. Kastilien werde, wenn es das Feuer anfache, viele Tränen weinen müssen, die Flammen zu löschen.

Don Alfonso, während er nach wie vor sehr genau zuhörte, nahm deutlich alles wahr, was im Saale vorging, er sah sehr gut, wie jene beiden, Rodrigue sowohl wie Jehuda, mit immer größerer Sorge auf ihn schauten, fast beschwörend. Ja, sogar das Amtszeichen des Jehuda nahm er wahr, die Brustplatte mit den drei Türmen, und während er sich wunderte, daß er jedes einzelne Wort des gewählten Arabisch dieses Beschnittenen verstand, dachte er an die Goldmünzen, die der Jude hatte schlagen lassen, ihm, Alfonso, zur Freude, und die sein Antlitz tief hinein in das Reich des Kalifen getragen hatten. Von ihrer ersten Begegnung an war er mit dem Juden verknüpft gewesen, manchmal zur Freude, manchmal zum Schmerz. Aber jetzt hatte er die Bindung satt, sie scheuerte ihn, sie sollte ein Ende haben. Er sah Jehudas Augen, diese dringlichen, mahnenden Augen, sie erinnerten an Raquels Augen. Aber: Das hilft dir nichts, dachte er, du sollst mich nicht länger an der Leine halten. Ich lasse mich nicht von deinem Prinzen Abul-Asbag am Barte zupfen. Ich zerreiße die Leine.

Tiefes Schweigen war, als der Prinz geendet hatte. In das Schweigen hinein klang die helle Stimme Bertran de Borns. »Hat er frech dahergeredet, dieser da?« fragte er lateinisch.

Der kastilische Sekretär näherte sich ehrerbietig dem Throne, um mit dem Vortrag der Übersetzung zu beginnen. Alfonso aber winkte ihm ab, und: »Es ist nicht nötig, daß du übersetzest«, sagte er. »Ich habe jedes Wort verstanden, und ich werde dem Herrn so antworten, daß auch er jedes Wort versteht.« Und in langsamem Arabisch – grimmig fröhlich dachte er, Don Rodrigue werde sich wundern, wie gut sein Arabisch in der Galiana geworden sei – erwiderte er: »Sage deinem Herrn, dem Kalifen, folgendes: Nach dem Gutachten meiner Gelehrten ist mein Vertrag mit Sevilla nicht mehr gültig, schon seitdem der Sultan das Grab unseres Erlösers geschändet und den Heiligen Vater gezwungen hat, den Heiligen Krieg auszurufen. Trotzdem habe ich den Waffenstillstand gehalten. Jetzt aber haben die frechen Worte deines Herrn das Siegel des Vertrags weggeschmolzen.«

Er stand auf. Jung, kühn, sehr fürstlich stand er da, und: »Bestelle dem Kalifen«, sagte er mit seiner hellen, unbekümmerten Stimme, »er soll herüberkommen ins Andalús auf seinen Schiffen und mit seinen Soldaten. Er wird auf dieser Halbinsel nicht gegen wilde Horden zu kämpfen haben wie gegen die Rebellen an seiner Ostgrenze. Die Männer, die ihm hier gegenüberstehen, sind geschulte Krieger des allmächtigen Gottes. Deus vult!« rief er, und der Erzbischof und die andern fielen mächtig ein.

Jetzt ging von Alfonsos hellen, grauen Augen jener gewitterige Schein aus, den viele fürchteten und den Doña Leonor so liebte. »Und nun mach dich fort!« schmetterte er den Prinzen Abul-Asbag an. »Das Recht des Gesandten schützt dich noch zwei Tage. Wenn du dann nicht über der Grenze bist, sieh dich vor. Sei froh, daß ich die Zunge nicht ausreißen lasse, die so dreiste Worte gesprochen hat!«

Der Gesandte war erbleicht, doch faßte er sich schnell. In würdigen Worten bat er, der Herr König möge geruhen, ihm seinen Bescheid schriftlich zu übergeben. Sonst würde der Beherrscher der Gläubigen annehmen, Allah habe ihm, dem Boten, den Sinn verwirrt. Alfonso, jungenhaft lachend, sagte: »Den Gefallen will ich dir tun.«

Er behielt aber, als die Versammlung sich auflöste, Don Jehuda zurück und befahl ihm: »Du schreibst den Brief, und in deinem besten Arabisch. Und daß du mir nichts sänftigst. Ich würde dir draufkommen. Du hast vielleicht gemerkt, mein Arabisch ist jetzt recht gut. Und du setzt dein Siegel neben das meine.« Don Rodrigue lag auf seinem harten Bett in einer Mattigkeit und Trübsal, die ihm alle Kraft aus den Knochen sog. Er war schuld daran, daß Alfonso gleich einem ungebärdigen Kind alles zertrümmert hatte, was in Burgos mühevoll aufgebaut worden war. Wenn jetzt der Kalif mit ungeheurer Heeresmacht in Hispanien einfallen wird, war es seine, Rodrigues, Schuld. Er hätte es nicht Manrique allein überlassen dürfen, den König zur Vernunft zu mahnen, er hätte rechtzeitig alle Kraft zusammennehmen und selber sprechen müssen.

Es war nichts als Schwäche und Zagheit, was ihn gehindert hatte. Seitdem der Liebeshandel mit Raquel seinen Anfang nahm, hatte der Erzbischof ihm wieder und wieder vorgehalten, es fehle ihm jener wilde Unmut, jene saeva indignatio, die so oft aus den Worten der Propheten und der Kirchenväter töne. Don Martín tadelte ihn zu Recht. Sein, Rodrigues, Herz ließ sich beschwatzen von der ritterlichen, jugendlichen, königlichen Anmut Alfonsos; er hatte Verständnis, wo er nicht verstehen und verzeihen durfte. In den letzten Wochen gar hatte er noch tiefere Schuld auf sich geladen. Er hatte es in seinem Heimlichsten begrüßt, daß der König das Sündenleben in der Galiana wieder aufgenommen hatte; es werde sich dadurch, hatte er gehofft, der Beginn des Krieges trotz allem verzögern.

Mit heißer Inbrunst hatte er getrachtet, sich in jene Verzückung zu retten, die früher seine Zuflucht gewesen war. Hatte gefastet und sich kasteit. Hatte es sich verboten, ins Castillo Ibn Esra zu gehen, hatte sich die Gespräche mit dem weisen Freunde Musa versagt. Allein es war ihm keine Verzeihung geworden. Die Gnade blieb ihm versperrt. Die Tür in sein letztes Refugium war zugefallen.

Und jetzt, aus Schwäche, hatte er’s zugelassen, daß das Reich hineintrieb in den sinnlosen Krieg. Denn nur aus Zagheit hatte er verabsäumt, den König zu besonnener Antwort an den Kalifen zu mahnen. In der Aussprache hätte er auch von der währenden Liebschaft mit Raquel reden müssen, und das auf sich zu nehmen, war er zu feig gewesen.

Niemals in seinem Leben hatte dem Domherrn Schuld so schmerzhaft die Seele zerfressen. In ihm klangen Worte des Abaelard: »Das waren die Tage, da ich erfahren habe, was es heißt: leiden, was es heißt: sich schämen, was es heißt: verzweifeln.«

Er erhob sich mit zerschlagenen Gliedern. Versuchte, sich abzulenken. Holte seine Chronik vor, um an ihr weiterzuarbeiten. Es war ein großer Haufen beschriebenen Pergaments. Er las dieses Blatt, jenes. Ach, was er da mit liebendem Eifer aufgezeichnet hatte, blieb kahl und leer; kein Sinn war zu finden in den Ereignissen, die er mit so viel Mühe zusammengetragen hatte. Wie grundverkehrt war seine Darstellung des Alfonso! Welche Vermessenheit, wenn einer, der nicht einmal dieses Nächste deutlich sehen konnte, den Finger Gottes sichtbar machen wollte in den großen Geschehnissen!

Er holte ein Buch her, das man ihm gerade aus Francien geschickt hatte und das dort viel Aufsehen erregte. Es hieß »L’Arbre des Batailles«, »Der Baum der Schlachten«, der Autor war Honoré Bonet, Prior des Klosters von Sellonet, und es befaßte sich mit dem Sinn des Krieges und mit seinen Rechten und Bräuchen.

Rodrigue las. Ach, dieser Prior von Sellonet war ein braver Mann, wohlmeinend, fest im Glauben. An Hand der Heiligen Schrift erörterte er und stellte mit Entschiedenheit fest, ob man an Feiertagen kämpfen durfte, in welchen Fällen man den Feind erschlagen, in welchen man sich damit begnügen sollte, ihn gefangenzunehmen, desgleichen, wie hoch das Lösegeld sein sollte, das ein Christ von einem andern guten Christen verlangen durfte.

Er drückte sich vor keinem Problem, der Prior Bonet. Wacker schlug er sich auch mit den schwierigsten Fragen herum und löste sie schlicht und platt und nüchtern.

Da war etwa seine Antwort auf die Fragen derer, die da zweifelten, ob nicht der Krieg nach dem Gesetze Gottes von vornherein verboten sei. »Viele schlichte Leute«, führte der Prior von Sellonet aus, »halten den Krieg für verwerflich, weil in ihm notwendigerweise viel Übel getan wird, und Übel zu tun, hat Gott verboten. Ich sage euch, das ist Unsinn. Krieg ist kein Übel, er ist gut und recht; denn Krieg sucht nur das Unrecht zu Recht zu machen und Unfrieden in Frieden zu kehren, genau wie die Schrift es vorschreibt. Und wenn im Krieg viel Übel geschieht, so rührt das nicht vom Wesen des Krieges her, sondern von falscher Führung durch den einzelnen, als wenn zum Beispiel ein Krieger ein Weib hernimmt und ihr Gewalt antut oder eine Kirche niederbrennt. Dergleichen liegt nicht notwendig im Wesen des Krieges, sondern nur in falscher Führung durch einzelne. Ähnlich steht es zum Beispiel um die Gerechtigkeit, deren Wesen zufolge der Richter vernünftig urteilen soll, gemäß seiner Erleuchtung. Aber wenn nun ein Richter ungerecht urteilt, dürfen wir deshalb sagen: die Gerechtigkeit an sich ist ein Übel? Doch sicher nicht. Das Übel rührt nicht her vom Wesen der Gerechtigkeit, sondern von falschem Gebrauch und von schlechter Interpretierung und vom schlechten Richter.«

Der Domherr seufzte. Er machte sich’s einfach, der Prior Bonet. Der Gelehrte Rodrigue wußte, daß sich nicht alle so schnell mit dem Problem abgefunden hatten. Die frühchristliche Sekte der Montanisten zum Beispiel hatte den Kriegsdienst für unvereinbar mit dem Christentum erklärt. Der Domherr schlug den Montanisten Tertullian auf: »Ein Christ wird nicht Soldat«, hieß es da, »und wenn ein Soldat Christ wird, tut er am besten, den Dienst zu verlassen.« Viele solcher Beispiele gab es. Der junge Maximilianus, da er sich in die Werbelisten eintragen lassen sollte, hatte dem Prokonsul erklärt: »Ich kann nicht dienen, ich kann das Böse nicht tun, ich bin Christ.« Der tapfere, in vielen Schlachten erprobte Soldat Typasius hatte sich nach seiner Bekehrung geweigert, weiterzudienen. Er sagte seinem Zenturio: »Ich bin Christ, ich kann unter deinem Befehl nicht weiterkämpfen.« Und hier, in diesem Hispanien, hatte der Zenturio Marcellus angesichts der Feldzeichen seiner Legion sein Schwert zu Boden geworfen und erklärt: »Ich diene nicht länger dem Kaiser. Von heut an dien ich Jesus Christus, dem König der Ewigkeit.« Und die Kirche hatte Maximilianus und hatte Marcellus heiliggesprochen.

Später freilich, unter dem Kaiser Konstantin, hatte das Konzil von Arles diejenigen, die den Militärdienst verweigerten, exkommuniziert.

Der subtile, lockende, gefährliche Abaelard stellte in »Ja und Nein« zusammen, was die Schrift für und was sie gegen den Krieg sagte, und überließ es dem Leser, die Schlüsse zu ziehen. Aber wer war weise genug, sich da zurechtzufinden? Wie sollte man es anfangen, die Lehren der Bergpredigt zu befolgen, wie sollte man dem Übel nicht widerstreben – und dennoch Krieg führen? Wie sollte man den Feind lieben – und ihn totschlagen? Wie reimte sich der Aufruf zum Kreuzzug mit der Lehre des Erlösers: »Wer das Schwert zieht, soll durch das Schwert umkommen.«

Die Gedanken verschwammen Rodrigue, die Seiten der Bücher, in denen er las, wurden ihm groß und größer, die Schriftzeichen verwirrten sich. Wurden zum Gesichte Don Alfonsos. »Vultu vivax«, damit hatte er recht. Er hatte gesehen, wie sich, kaum hatte der moslemische Prinz zu sprechen begonnen, ein wildes Feuer hinter der herrscherhaften Maske Alfonsos entzündete, wie die Funken durch die Maske schlugen, wie die ganze Flamme durchschlug, wie zuletzt das Gesicht vollends verwilderte in Gewalttätigkeit, in der Lust, zu kränken, zuzuschlagen, zu zerstören. Noch bei der Erinnerung an dieses Gesicht faßte den Domherrn Entsetzen.

Aus diesem Entsetzen aber kam ihm Entschuldigung. In allen entscheidenden Stunden brach die Gewalttätigkeit dieses Mannes an den Tag. Niemand konnte dagegen aufkommen. Gott hatte Rodrigue eine unlösbare Aufgabe aufgeladen, als er ihm gebot, diesen König zu betreuen.

Allein er durfte nicht die eigene Schuld und Schwäche mit solchen Sophismen verschminken. Er durfte sich auch jetzt nicht etwa sagen, es sei doch alles verloren. Er hatte nun einmal den Auftrag, Alfonso zu mahnen, und mußte es Gott überlassen, ob ihm Erfolg beschieden war oder nicht. Er mußte Alfonso aufsuchen, noch heute, sogleich; denn zweifellos wird der König, nun er den Kalifen auf solche Art herausgefordert hatte, ohne Verzug nach dem Süden aufbrechen.

Er ging in die Burg.

Er fand einen fröhlichen, aufgeschlossenen Alfonso. Der fühlte sich, seitdem er den moslemischen Prinzen auf so königliche Art heimgeschickt hatte, leicht und frei. Er hatte seiner innern Stimme gehorcht, das Gewarte war zu Ende, sein Krieg war da; er war voll fürstlich heiterer Zuversicht.

Ein wenig freilich störten ihn die besorgten Mienen seiner Räte; sie erinnerten ihn an die Gesichter seiner Erzieher, wenn sie den königlichen Knaben Alfonso mißbilligt und nicht gewagt hatten, ihn zurechtzuweisen. Und der da kam, sein Freund Rodrigue, war offenbar auch nicht einverstanden mit der Antwort, die er dem Kalifen erteilt hatte.

Vielleicht aber war es gut, daß Rodrigue gerade jetzt kam. Die Aussprache ließ sich nicht vermeiden; auch über das, was in der Galiana geschehen war, hätte Alfonso mit dem väterlichen Freunde längst schon reden müssen, und keine bessere Stunde, ihm alles zu erklären und sich zu rechtfertigen, gab es als diese, da er so glücklich gelösten Mutes war.

Schnell entschlossen also, ohne lange Einleitung und Beschönigung, erzählte er, was sich zwischen ihm, Raquel und ihrem Vater zugetragen hatte, daß nämlich der Jude das Kind geflüchtet hatte, bevor er’s hatte taufen können. »Ich habe Schuld auf mich geladen, mein Freund und Vater«, sagte er, »aber ich gestehe dir’s offen, sie drückt nicht schwer. Morgen geh ich in den Kreuzzug, und es wird nicht lange dauern, dann kehr ich zurück, rein und entsühnt. Und dann werde ich nicht nur das Söhnchen taufen, ich werde auch Raquel auf den Weg der Gnade führen. Ich werde stark sein nach dem Sieg, ich weiß es.«

Rodrigue hatte gefürchtet, das Kind sei noch in der Galiana, in täglicher Atemnähe des Vaters, der ihm nach wie vor die Gnade der Taufe vorenthalte, und er atmete auf, weil dem nicht so war. Überdies war sich der König des Umfangs seiner Schuld offenbar nicht bewußt, und Rodrigue dachte an das tiefe und gefährliche Wort des Abaelard: Non est peccatum nisi contra conscientiam – Sündig ist nur, wer sich seiner Sünde bewußt ist. Wiederum, gegen seinen Willen, fühlte er sich in den König ein und verstand ihn.

Aber wenn Alfonsos Bericht den Kummer des Domherrn über das Ärgernis in der Galiana linderte, so erzürnte ihn um so heißer die Leichtfertigkeit, mit welcher Alfonso von dem kommenden Kriege sprach. Dieser König, dem Gott hellen Verstand mitgegeben hatte, stellte sich blind, tat, als sei er eines schnellen, sichern Sieges gewiß, wollte nicht wahrhaben, welch ungeheure Gefahr er über das Land gebracht hatte. Ungewohnt hart und streng fuhr der Domherr ihn an: »Du betrügst dich, König Alfonso. Dieser Krieg wäscht dir keine Sünde fort. Es ist kein Heiliger Krieg. Du hast ihn von Anfang an befleckt durch verbrecherischen Jähzorn und Hochmut.«

Alfonso sah den schwächlichen Leib des Priesters, seine weißen, zarten Hände, die niemals ein Schwert gezogen, nie einen Bogen gespannt hatten. Gepanzert aber in sein herrscherhaftes Selbstvertrauen, war er mehr verwundert als zornig über den erregten Rodrigue. »Dinge des Krieges und des Rittertums sind deine Sache nicht, mein Vater«, antwortete er freundlich, und er belehrte ihn liebenswürdig überlegen: »Siehst du, ich durfte es dem Beschnittenen nicht hingehen lassen, daß er mich in meiner eigenen Burg am Bart zupfte. Es war meine innere Stimme, die mich hieß, ihn zurechtzuweisen.«

»Innere Stimme!« erwiderte nicht laut, doch heftig der Domherr; die freche Sicherheit des Königs hatte ihm endlich jenen wilden Unmut erweckt, dessen Mangel ihm Don Martín so oft vorgeworfen hatte. »Innere Stimme! Wann immer du deinem verbrecherischen Hochmut die Zügel läßt, berufst du dich auf deine innere Stimme! Mach die Augen auf, und sieh auf das, was du getan hast. Der Kalif hat dich merken lassen, daß er dem Krieg fernbleiben will. Er hat dir die Hand geboten, du hast ihm hineingespuckt. Du hast die Armeen Afrikas, die zahllos sind wie der Sand am Meer, ins Land gerufen, aus schierer Eitelkeit und Vermessenheit. Die vier Reiter der Apokalypse hast du ins Land gerufen. Du hast gehandelt, als wäre der Kreuzzug nichts als ritterliches Spiel und Tournier. Du hast deinen Vertrag mit Aragon gebrochen, kaum daß er geschlossen war. Du hast ganz Hispanien an den Rand des Abgrunds gerissen.« Der magere Mann stand aufgerichtet, drohend, die stillen Augen schauten wild und klägerisch auf Alfonso.

Den machte der heilige Zorn des Priesters betreten. Doch schon nach einem Atemzug fand er zurück ins Gehege seiner Sicherheit. Sein heller Blick wich nicht dem zürnenden des andern. Er lächelte, er lachte, ein lautes, häßliches Lachen. Er höhnte: »Wo bleibt dein Gottvertrauen, Priester? Seit Hunderten von Jahren haben die Ungläubigen die Übermacht, und trotzdem hat uns Gott mehr und mehr von unserm Land zurückgegeben. Du tust, als wären wir eine Herde Schafe. Ich habe meine guten Festungen im Süden, ich habe meine Calatrava-Ritter. An die vierzigtausend Ritter hab ich, ohne Aragon. Willst du mir’s verbieten, den gleichen Mut zu zeigen wie meine Väter? Soll ich mich verstecken hinter Lügen und Listen, statt zu vertrauen auf mein gutes Schwert?«

Er stand da, frech, wild, ritterlich, und hinter seinem Gesicht sah der Domherr das des Bertran, der seine wüsten Lieder sang. »Lästere nicht!« rief er ihn an. »Du bist kein Ritter, der auf Abenteuer zieht, du bist der König von Kastilien. Deine Festungen! Bist du sicher, daß sie den Kriegsmaschinen des Kalifen standhalten? Deine vierzigtausend Ritter! Ich sage dir, ihrer die Mehrzahl wird erschlagen werden von den Horden der Moslems. Es wird Verwüstung sein, Brand und Gemetzel über deinem ganzen Land. Zusammenbruch wird sein. Und du bist der Schuldige. Du wirst Gott danken müssen, wenn er dir dein Toledo läßt.«

Die seherische Wildheit des Priesters schauerte Alfonso an. Er schwieg. Rodrigue aber fuhr fort: »Dein gutes Schwert! Vergiß nicht, daß es Gott ist, der den Königen ihr Schwert verleiht. Du tust, als wärest du der Herr über Krieg und Frieden. Vergiß nicht, daß dieser Krieg ausgerufen und erlaubt ist nur als ein Krieg Gottes. Du bist in diesem Krieg nichts Besseres als dein letzter Troßbub: ein Knecht Gottes.«

Alfonso hatte das unheimliche Gefühl abgeschüttelt. Mit der alten, kühlen, leichtfertigen Hoffart antwortete er: »Und vergiß du nicht, Priester, daß Gott mich mit den Reichen Kastilien und Toledo belohnt hat. Gott ist mein Lehnsherr. Ich bin nicht sein Knecht, ich bin sein Vasall.« Es hielt den König nicht länger in Toledo, die besorgten Gesichter seiner Herren und das zornig fromme Gerede des Don Rodrigue verdarben ihm die Freude an seiner ritterlichen Haltung vor dem Kalifen. Er beschloß, schon andern Tages nach dem Süden aufzubrechen. Seine Ordensritter in den Festungen Calatrava und Alarcos werden mehr Sinn und Verständnis für ihn haben.

Die letzte Nacht vor der Abreise verbrachte er in der Galiana. Er war heiterster Laune, sehr gnädig, er trug Raquel nichts nach. Er stolzierte vor ihr auf und ab und rühmte sich seiner Antwort an den Kalifen.

Er dehnte sich, reckte die Arme. »Ich habe lange gefeiert«, sagte er, »aber ich bin nicht eingerostet. Jetzt endlich wirst du sehen, wer dein Alfonso ist. Es wird ein kurzer, glorreicher Feldzug sein, das spüre ich. Geh nicht erst nach Toledo, meine Raquel. Bleib hier in der Galiana, versprich mir das. Du wirst hier nicht lange auf mich zu warten haben.«

Raquel saß halb liegend auf ihren Polstern, den Kopf in die Hand gestützt, und schaute und hörte ihm zu, wie er auf und nieder lief und die Taten verkündete, die er zu tun gedachte.

»Wahrscheinlich übrigens«, sagte er jetzt, »werde ich dich, noch bevor ich zurückkehre, bitten, zu mir nach Sevilla zu kommen. Du mußt mich dann in deiner Heimatstadt herumführen. Und du mußt dir aus meiner Beute aussuchen, was dir am besten gefällt.«

Sie ließ den Arm sinken, der den Kopf gestützt hatte, richtete sich ein wenig hoch, angefrostet von seinen Reden. Da machte er gedankenlos grausam vor ihr aufsteigen das Bild ihrer Heimatstadt, die er berennen und niedertreten wollte, um dann sie über die Trümmer zu führen.

»Mein Sieg wird dich auch überzeugen«, fuhr er fröhlich fort, »wessen Gott der rechte ist. Bitte, antworte nicht, streite nicht heute. Es ist ein festlicher Tag, wir gehören an diesem Tage zusammen, du mußt teilhaben an meiner Freude.«

Sie hatte ihm jetzt die großen, blaugrauen Augen voll zugewandt; ihr lebendiges Gesicht und all ihre Gebärde gestaltete Staunen, Abwehr, Befremdung.

Er hielt inne, er spürte das Trennende, das zwischen ihnen aufgestanden war. Aus der Stummheit Raquels klang ihm fernher die Anklage Rodrigues. Er wandelte sich aus dem wild einherfahrenden Feldherrn in den großartig verzeihenden. »Glaub aber nun ja nicht«, redete er heiter auf sie ein, »daß etwa dein Alfonso hart sein wird zu den Besiegten. Meine neuen Untertanen werden einen milden Herrn haben. Ich werde es ihnen nicht verbieten, ihren Allah und ihren Mohammed anzubeten.« Ein weiterer großmütiger Einfall kam ihm. »Und von den moslemischen Rittern, die ich gefangennehme, werde ich tausend ohne Lösegeld freigeben – Alazar soll sie mir aussuchen, das wird ihm Freude machen. Und ich werde sie in Ehren mitkämpfen lassen in dem großen Tournier, das ich zur Siegesfeier gebe.«

Raquel konnte sich seinem Stürmen und Schimmern nicht entziehen. So war er, sinnlos tapfer, nur des Sieges denkend und keiner Gefahr, sehr jung, ganz Ritter, Krieger, König. Sie liebte ihn. Sie war ihm dankbar, daß er die letzte Nacht vor seinem Feldzug mit ihr teilte.

Es war alles wie früher. Sie aßen in hoher Fröhlichkeit zu Abend. Er, gemeinhin mäßig, trank dieses Mal ein wenig mehr als sonst. Er sang, was er sonst nur tat, wenn er allein war. Sang kriegerische Lieder. Sang jenes Lied des Bertran: »Es ist mir Augenweide, wenn man ein festes Schloß berennt.« Und: »Schade, daß du meinen Freund Bertran nicht hast sehen wollen«, meinte er. »Er ist ein guter Ritter, der beste, den ich kenne.«

Nach dem Essen zog sie sich zurück, wie sie es von jeher gehalten hatte. Sie wollte sich noch immer nicht vor seinen Augen auskleiden. Dann kam er zu ihr, und es war wie in der ersten Zeit, Ineinanderströmen, Erfüllung, Seligkeit.

Später, müde, glücklich, schwatzten sie noch. Er, doch jetzt nicht befehlerisch, eher bittend, sagte abermals: »Bleib hier in der Galiana in der Zeit meiner Abwesenheit. Geh zu deinem Vater, so oft du willst, aber zieh nicht zu ihm ins Castillo. Wohne hier. Hier ist dein Haus, unser Haus. Hodie et cras et in saecula saeculorum«, fügte er lästerlich hinzu.

Sie, lächelnd, halb schlafend schon, wiederholte: »Hier ist mein Haus, unser Haus, in saecula saeculorum.« Sie dachte noch: Wenn ich einschlafe, wird er gehen. Schade, daß ich es so gewollt habe. Aber am Morgen werde ich mit ihm frühstücken. Und dann reitet er fort in seinen Krieg. Und von seinem Pferd wird er sich noch einmal herunterbücken zu mir, und wo der Weg sich wendet, wird er sich nach mir umschauen. Sie lag mit geschlossenen Augen, sie dachte nichts mehr, sie schlief ein.

Alfonso, da sie eingeschlafen war, blieb eine kleine Weile liegen. Dann stand er auf, räkelte sich, gähnte. Nahm einen Schlafrock um. Sah auf die Frau, die dalag mit geschlossenen Augen, um den Mund ein kleines Lächeln. Betrachtete sie wie etwas Fremdes, einen Baum oder ein Tier. Schüttelte verwundert den Kopf. War nicht soeben noch, vor wenigen Minuten, von dieser ein Glück ausgeströmt, wie keine Frau es ihm je hatte schaffen können? Und jetzt spürte er Unbehagen, etwas wie Verlegenheit, daß er mit ihr in einem Raum war und die Nackte, Schlafende belauschte. Im Geist war er schon in Calatrava, bei seinen Rittern.

Bevor er mit ihr schlief, hatte er daran gedacht, in aller Frühe nach Toledo zu reiten, seine Rüstung anzulegen, die wirkliche, die er im Felde trug, in die Galiana zurückzukehren und sich von Raquel zu verabschieden, angetan mit dieser seiner Rüstung und gegürtet mit seinem guten Schwert Fulmen Dei. Er gab es auf.

Am nächsten Morgen wartete sie, daß er sich von ihr verabschiede. Sie war glücklichen Mutes, auch sie voll Zuversicht, alles werde gut werden.

Sie stellte sich vor, wie der Morgen verlaufen werde. Frühstücken wird er mit ihr im Hauskleid. Dann wird er die Rüstung anlegen. Und dann wird er fortreiten, und sie wird die große, selige, herzzerreißende Minute erleben, von der in den Liedern die Rede ist: der fortziehende Liebste wird sich vom Pferde neigen, sie küssen, ihr zuwinken.

Sie wartete, erst glücklich, dann mit leiser Angst, dann immer ängstlicher.

Endlich fragte sie nach Don Alfonso. »Der König Unser Herr ist schon vor Stunden fortgeritten«, antwortete der Gärtner Belardo.

Viertes Kapitel

Der Kalif Jakúb Almansúr war nicht mehr jung, er kränkelte, er hätte seine letzten Jahre gern im Frieden verbracht und hatte sich verpflichtet geglaubt, den König von Kastilien an den Vertrag zu mahnen. Doch hatte er, über die Natur des Königs wohl unterrichtet, von vornherein wenig Hoffnung gehabt, daß seine Botschaft fruchten werde. Eine so dummdreiste Antwort indes hatte er nicht erwartet. Die Frechheit des Unbeschnittenen schien dem tiefgläubigen Manne eine Mahnung Allahs, vor seinem Ende noch einmal das Schwert zu ziehen, die Ungläubigen zu züchtigen und den Islam weiterzuverbreiten.

Zunächst ließ er den Brief Alfonsos in zehntausend Abschriften kopieren und in seinem ganzen, weiten Reiche bekanntmachen. Die Mohaden, die Araber, die Kabilen, alle Völkerschaften, die ihm botmäßig waren, sollten wissen, wie gemein der christliche König den Herrscher der Gläubigen beschimpfte. Auf den Märkten wurde der Brief von öffentlichen Ausrufern verlesen, und im Anschluß daran die Worte des Korans: »So spricht Allah, der Allmächtige: Ich werde mich kehren wider sie und werde Staub und Verwüstung aus ihnen machen durch Heere, wie sie noch nie gesehen worden sind. Ich werde sie in den tiefsten Abgrund werfen und sie vernichten.«

Aufflammte Glaubenswut im ganzen westlichen Islam. Sogar die widerspenstigen Stämme im Tripolitanischen ließen ab von ihrer Fehde wider den Kalifen, um ihm beizustehen in diesem Heiligen Kriege.

Helle Begeisterung war im moslemischen Andalús, nun man der Hilfe des Kalifen gewiß war. Zudem übertrug dieser den Oberbefehl der gesamten Armee einem Andalusier, dem bewährten General Abdullah Ben Senanid.

In der neunzehnten Woche des Jahres 591 nach der Flucht des Propheten brach Jakúb Almansúr von seinem Hoflager in Fez auf, um sich zu der Armee zu begeben, die er an der Südküste der Meerenge versammelt hatte. In seiner Begleitung waren sein Kronprinz Cid Mohammed und zwei andere seiner Söhne, sein Großwesir und vier seiner Geheimen Räte, ferner seine beiden Leibärzte sowie sein Chronist Ibn Jachja.

Am zwanzigsten Tage des Monats Redsched befahl der Kalif die Überfahrt. Als erste setzten über die Meerenge die Araber, es folgten die Sebeten, die Masamuden, die Gomaras, die Kabilen, ihnen folgten die Bogenschützen, die Mohaden; den Beschluß bildeten die Leibregimenter des Kalifen. Mit der Gnade Allahs vollzog sich die Überfahrt binnen drei Tagen, und das riesige Heer lagerte weitum in der Gegend von Alchadra, von Cádiz bis Tarifa.

Und nun der Kalif auf dem Boden des Andalús stand, gab er ein großes Schauspiel. Seit urdenklichen Zeiten ragte vor Cádiz, im Westen der Meerenge, ein riesiger Säulenbau aus dem Wasser. Gekrönt war er von einer gewaltigen goldenen Statue, die auf viele Meilen hinaus über die See glänzte; sie stellte einen Mann dar, der seinen rechten Arm gegen die Meerenge ausstreckte, in der Hand hielt er einen Schlüssel. Römer und Goten hatten den Bau »Die Säulen des Herkules«, genannt, die Moslems nannten die Statue »Das Götzenbild von Cádiz«; alle hatten sie, die Jahrtausende hindurch, das drohende, glitzernde Wesen gescheut und geschont. Jetzt gab der Kalif Befehl, es zu zerstören. Furchtsam, mit angehaltenem Atem schauten die Zehntausende, als die ersten Schläge geführt wurden. Der Goldene, Drohende wehrte sich nicht, er stürzte, und voll ungeheuern Triumphes schrien sie: Allah ist groß und Mohammed ist sein Prophet.

Der Kalif zog nach Sevilla. Um diese Stadt zu ehren, welche der ungläubige König trotz des Waffenstillstandes so ruchlos bedrohte, hatte Jakúb Almansúr für ihre Hauptmoschee einen Gebetturm gestiftet. Der hochberühmte Architekt Dschabir hatte die Pläne entworfen. Gleichnishaft sollte der Turm den Sieg des Islams über den Unglauben darstellen. Bestimmt hatte der Kalif, daß alles, was sich noch finden lasse an Statuen und Reliefs aus den römischen und gotischen Zeiten des Landes, in diesen Turm hineingebaut werde. Verwendet werden sollte ferner außer der Golddecke jenes Götzenbildes von Cádiz das Gold und Silber der Kirchengeräte, die der Kalif in diesem Krieg erbeuten werde.

Er selber, Jakúb Almansúr, legte den Grund für das Minarett. Und wie ungezählte Tausende gejubelt hatten beim Sturz des Goldenen Mannes, so jubelten jetzt ungezählte Tausende, da der Grund ausgehoben wurde für den Turm, der zum Himmel steigen sollte in bisher nie gesehener Höhe und Schönheit zum Preise Allahs.

Don Alfonso, in Calatrava, war glücklich. Hier war eitel Jubel darüber, daß er dem unverschämten Kalifen Bescheid gesagt hatte, und unbändige Freude auf den Krieg. Das geistliche Wesen des Ritterordens verschwand hinter seinem kriegerischen. Die Ritter feierten Bertran de Born als ihren großen Bruder und Kameraden; »A lor, a lor – Schlagt drauf, haut ein«, schmetterte es durch ihre Träume.

Zwischen Alfonso und dem Erzbischof war wieder die alte, fröhliche Kameradschaft. Es hatte den tapferen Priester schwer bekümmert, daß er Alfonso nicht seine rechte, christliche, ritterliche Meinung hatte sagen dürfen über seine Liebschaft mit der Jüdin. Jetzt, mit der alten Aufrichtigkeit, eröffnete er ihm: »Dein Schwiegervater von Engelland ist wahrlich gerade noch zur rechten Zeit gestorben. Denn daß ich’s dir nur sage, mein lieber Sohn und Freund: länger hätte ich dem Unwesen in der Galiana nicht mehr zugeschaut. Ich hätte, und wenn ich vor Kummer darüber gestorben wäre, vom Heiligen Vater verlangen müssen, daß er dich exkommuniziert. Ich war schon dabei, den Brief aufzusetzen. Jetzt liegt das alles so weit hinter uns wie die heidnische Vergangenheit unserer Väter. Man sieht’s ja geradezu mit Augen, wie dir jetzt der Krieg die letzten Vapores aus der Brust treibt.« Er lachte schallend; Alfonso lachte mit, laut, jung, gutartig.

Späher berichteten von der Größe des moslemischen Heeres. Fünfhundert mal tausend Mann sollten es sein. Auch war viel Gemunkel von schrecklichen neuen Waffen, die der Kalif mitführe, von riesigen Angriffs-Türmen, Geschützen, die gewaltige Felsen weithin schleudern könnten, von verderblichem Griechischem Feuer. Die Ritter blieben zuversichtlich. Sie glaubten an ihre uneinnehmbaren Festungen, ihren Santiago, ihren König.

Alfonso hatte eine kühne Eingebung. Alle hielten es für selbstverständlich, daß man sich angesichts der Übermacht der Moslems auf die Verteidigung beschränke. Mußte man das wirklich? Warum nicht dem Feind eine Schlacht auf offenem Felde bieten? Das Unterfangen schien wahnwitzig, doch gerade darum konnte es Erfolg haben. Und war da nicht im Süden von Alarcos jenes Gelände, dessen Vorteile und Tücken er besser kannte als jeder andere, »Das Gebreite der Arroyos«? Warum sollte er nicht eine zweite Schlacht von Alarcos gewinnen?

Er sprach Bertran und dem Erzbischof von seinem Vorhaben. Don Martín, dem es sonst an raschen Worten nicht fehlte, starrte ihn an, offenen Mundes. Dann war er begeistert. »Das alte Israel«, sagte er, »war ein kleiner Haufen, gemessen an dem zahllosen Pack der Kanaaniter, Midianiter, Philister, und sie haben sie trotzdem geschlagen und ausgetilgt. Da wird ihnen wohl der Herr Schlachtfelder gezeigt haben, so günstig wie dein ›Gebreite der Arroyos‹.« Bertran seinesteils meinte fröhlich und sachverständig: »Diese Schlacht wird dich viele Tote kosten, Herr König – aber die Ungläubigen noch mehr.«

Die jüngeren Herren, wenn ihnen Alfonso von seinem Plan sprach, waren zuerst erstaunt, ja, betreten, dann entzückt. Den älteren Feldhauptleuten von seinem Vorhaben zu reden, unterließ der König. Doña Leonor war länger in Burgos geblieben, als sie beabsichtigt hatte. Von hier aus war es leichter, den Granden des nördlichen Kastiliens und den Räten von Aragon zuzusetzen, daß sie Alfonso bald die nötigen Hilfskräfte stellten. Sie brannte danach, daß er seinen Feldzug beginne. Seitdem sie erkannt hatte, wie tief sich jenes geile Fieber für die Jüdin in ihn eingefressen hatte, war ihr Argwohn niemals völlig eingeschlafen. Ganz genesen von seiner höllischen Krankheit wird Alfonso erst durch den Krieg.

Dann hatte sie Nachricht erhalten – er selber hatte ihr’s fröhlich mitgeteilt –, wie kühn er den frechen moslemischen Prinzen zu seinem Kalifen heimgeschickt hatte. Das erste, was sie spürte, war eine wilde Freude gewesen: nun war der Krieg da. Gleich darauf hatte sie die ganze Gefahr erkannt, die aus Alfonsos Kühnheit wachsen mußte. Niederlage, hatte sie gedacht, nun wird Niederlage sein. Vielleicht nicht die Niederlage, aber Niederlage. Das schuf ihr, neben Zorn und Sorge, finstere Genugtuung. In ihr festgehakt hatte sich, was die Mutter von den wohltätigen Folgen einer Niederlage gesagt hatte. Niederlage mehrte die Kraft, heizte die Energie, Niederlage öffnete zehn neue Möglichkeiten; es bereitete ihr einen wunderlichen Kitzel, an Niederlage zu denken.

Sie war sogleich nach Toledo aufgebrochen. »Geh nach Toledo«, hatte die Mutter befohlen. Die verbrecherische Unbesonnenheit, mit welcher Alfonso den moslemischen Gesandten herausgefordert hatte, mehrte nur ihre Liebe. Und immer mischte sich in ihre heiße Sehnsucht nach Alfonso jenes leise, dunkle Frohlocken: Jetzt kommt Niederlage. Jetzt ist es aus mit der andern. Actum est de ea – Es ist um sie geschehen.

Da sie den König in Toledo nicht mehr antraf, hatte sie einen Vorwand gefunden, ihm in den Süden nachzureisen. Don Pedro, der plangemäß ins Gebiet von Valencia eingefallen war und seinen Vormarsch gegen die Hauptstadt Valencia nicht aufgeben wollte, hatte gezögert, Alfonso vor der vertraglich festgesetzten Frist Hilfstruppen zu stellen. Sie aber hatte ihm nun ein bindendes Versprechen abgerungen: er wird binnen längstens sechs Wochen zehntausend Mann schicken, und achthundert Mann schon jetzt, um seinen guten Willen zu zeigen. Dem Alfonso diese glückliche Nachricht zu bringen, reiste sie selber nach Calatrava.

Er kam ihr entgegen, sie zu begrüßen. Sie verbarg nicht ihre helle Freude an seinem Anblick. Hier unter seinen Rittern in der strengen Luft der Festung Calatrava war er ganz der Alfonso, den sie sich wünschte.

Sie berichtete strahlend, wie sie den widerstrebenden Don Pedro dazu vermocht hatte, Verstärkungen schon in wenigen Wochen zu senden. Alfonso dankte ihr herzlich. Verschwieg ihr, daß ihm ihre Botschaft keineswegs willkommen war. Sein Vorhaben, sich dem Kalifen in offener Feldschlacht zu stellen, hatte sich gefestigt. Wenn nun bekannt wurde, daß aragonische Verstärkungen schon in naher Zukunft zu erwarten waren, werden seine Räte und Offiziere seinem Plan noch heftiger widerstreben.

Der betagte Ordensmeister Nuño Perez und Don Manrique de Lara suchten Doña Leonor auf. Der Plan des Königs war trotz seiner Zurückhaltung ruchbar geworden und machte den Umsichtigen unter seinen Freunden große Sorge. Die alten Herren stellten Doña Leonor vor, wie gefährlich das Unterfangen sei und wie wichtig es sei, die aragonischen Truppen abzuwarten. Sie baten die Königin, sie möge Don Alfonso bewegen, von seinem Vorhaben abzustehen.

Doña Leonor erschrak. Sie verstand nichts von Strategie, sie wollte nichts davon wissen, sie und Alfonso waren stillschweigend übereingekommen, daß sie teilhabe an den Staatsgeschäften, doch nicht an der Kriegführung. Dieses Mal aber, das begriff sie, ging es um den Bestand des Reiches. Sie erinnerte sich, wie Alfonso damals gegen die Warnung seiner Ratgeber Sevilla angegriffen hatte, sie ahnte, sie wußte, es war ihm Ernst mit diesem tollkühnen Projekt. Ihre Vernunft sagte ihr, sie müsse sich mit Alfonso aussprechen. Aber sie wollte sich ihm gerade jetzt nicht unlieb machen, sie wollte ihm nicht mit verhaßten Ratschlägen kommen; überdies flüsterte es kitzelnd tief in ihrem Innern: Niederlage.

Liebenswürdig und doch ganz Königin antwortete sie den besorgten Herren: sie verstehe nichts von Fragen der Strategie, sie habe alle die Jahre her niemals mit Alfonso über derlei Fragen gesprochen, sie bewundere seinen kriegerischen Genius, und es stünde der Königin von Kastilien schlecht an, den fürstlichen Mut und die fromme Zuversicht ihres Gemahls mit kleinmütigen Bedenken anzunagen.

Sie blieb zwei Tage und Nächte in der Festung. Es war ihr in aller Eile prächtiges Quartier bereitet worden; denn es ziemte sich nicht, daß sie mit Alfonso im gleichen Hause schlief. Die Kreuzfahrer, so wollte es die Sitte, enthielten sich der Frauen. Doch nahmen nur wenige der Ritter diesen Brauch ernst, und Leonor, nachdem Alfonso bei ihr zu Abend gegessen hatte, erwartete, er werde bleiben. Allein er sagte ihr auf herzliche Art gute Nacht, küßte ihr die Stirn und ging. Und so hielt er’s am zweiten Abend.

Als sie zurückritt, begleitete er sie eine gute Stunde lang.

Sie, als er sich verabschiedet hatte, beantwortete nur einsilbig das Gerede ihrer Begleiter. Bald auch, obwohl eine gute Reiterin, befahl sie ihre Sänfte.

Geschlossenen Auges saß sie in der Sänfte. Alfonso war erfüllt von seinem Krieg, auch war er kein Mann der schnellen, gelegentlichen Liebe. Sie brauchte sich nicht verschmäht zu fühlen. Und bestimmt nicht war es das Gedächtnis der Jüdin, das ihn ihr ferngehalten hatte.

In Toledo hatte sie sich viel mit der andern beschäftigt, mit der Jüdin. Die andere war dort sehr nahe, man mußte an sie denken. Sie saß da unten, die andere, kühn und dumm, sie war in Leonors Gewalt gegeben wie die Stadt und alles ringsum, Leonor brauchte nur zuzugreifen. Das hatte sie nicht eben gedacht, aber gespürt, und jetzt, in der Sänfte, auf dem Weg nach Toledo, dachte sie es. Jetzt auch, in der Sänfte, gegen ihren Willen, trachtete sie, sich die andere deutlich zurückzurufen, Gesicht, Gestalt, Bewegung. Stellte sich vor, wie Raquel nackt ausschauen mochte. Maß sich mit ihr. Sie, Leonor, hatte sich gut gehalten; das hatte sogar die Dame Ellinor anerkannt, die scharf und bös von Urteil war. Daß die andere zehn oder zwölf Jahre nach ihr aus ihrer Mutter Leib gekrochen war, das war es sicher nicht, was Alfonso von Leonor zu der andern gezogen hatte. Es war Hexerei gewesen, ein Fieber, eine böse Krankheit. Und sowie Alfonso wieder ganz er selber ist, nach seiner großen Schlacht, ob sie nun Sieg bringt oder Niederlage, wird er die andere vergessen haben. Sie wäre eine Närrin gewesen, wenn sie sich von den alten Herren hätte bereden lassen, Alfonso von seiner Schlacht abzuraten.

Sie war keine Närrin. Sie war klug, sie war jung, sie war schön, sie war ihrer Sache sicher. Meldung kam, das moslemische Heer rücke in drei Säulen nach Nordosten vor. Alfonso konnte nicht länger warten, er mußte seinen Räten und Feldhauptleuten seinen Plan eröffnen.

Er berief den Kriegsrat. Enthusiastisch legte er den Plan dar. Er wolle den Moslems entgegenrücken, ins »Gebreite der Arroyos«. Dort, zwischen den tiefen Rissen der ausgetrockneten Bergbäche, habe er die Schlacht geschlagen, die ihm seinen ersten großen Erfolg und die Festung Alarcos gebracht habe. Niemand in Hispanien kenne dieses Gelände so gut wie er. In kühnen, überzeugten Worten stellte er dar, wie er den Kalifen nötigen werde, den tiefern Teil der langsam sich senkenden Ebene einzunehmen, wie er große Teile des feindlichen Heeres, gerade weil es so zahlreich sei, ins Unterholz und in den Wald hineinzwingen werde. Er zweifle nicht am Sieg. Und dann liege das ganze südliche Andalús offen vor ihnen, Córdova, Sevilla, Granada, und der Krieg sei zu Ende, kaum daß er begonnen habe.

Die jüngeren Herren stimmten begeistert zu.

Der alte Don Manrique aber warnte ehrerbietig und dringlich. Es sei mehr als gewagt, einem Heere von so ungeheurer Übermacht eine offene Feldschlacht anzubieten. Erringe man keinen entscheidenden Sieg, dann sei Toledo verloren. Der kriegskundige Baron Vivar pflichtete Manrique bei. »Deine Majestät«, führte er aus, »hat mit Mühe und Kunst die Festungen Calatrava und Alarcos zu den stärksten der Halbinsel gemacht. Im Schutz ihrer Mauern können wir in Ruhe die Ankunft unserer Verbündeten abwarten. Das moslemische Heer ist gerade infolge seiner riesigen Zahl schwer zu verproviantieren; die Belagerung wird es sehr vermindern. Treffen dann die Aragonier ein, so wird unsere Armee der des Kalifen an Stärke nicht mehr so verzweifelt unterlegen sein. Dann, Herr König, wenn Gott es dich heißt, schlage du deine Feldschlacht.«

Don Alfonsos gefurchte Stirn furchte sich noch tiefer. Sein Verstand gab zu: die Argumente des Manrique und des Vivar hatten Hand und Fuß. Aber es war unerträglich, faul hinter den Mauern der Festung zu hocken und abzuwarten, daß der Jüngere, der Fant, ihm Hilfe bringe. Er ließ sich nicht einen Teil seines Sieges wegstehlen. »Es ist mir nicht unbekannt«, antwortete er, »daß ein schlauer Feldherr eine Schlacht gegen eine dreifache oder fünffache Übermacht besser vermeidet. Aber ich kann nicht untätig zuschauen, wie sich der Feind im Land ausbreitet. Mir hitzt sich das Blut. Ein rechter Krieg ist kein Schachspiel, er ist ein Tournier, und den Ausschlag gibt nicht klügelnder Verstand, sondern das starke, fromme Herz. Ein rechter Feldherr riecht sein Schlachtfeld. Mein Schlachtfeld ist das ›Gebreite der Arroyos‹.«

Die Ritter stimmten stürmisch zu.

Nun aber warnte selbst der alte Maëstre Nuño Perez: »Wenn die Armee der Ungläubigen so riesig ist, wie die Späher fest behaupten, dann kann ohne Hilfstruppen kein kastilisches Heer ihr standhalten. Warte auf Aragon, Herr König!«

Alfonso hatte es satt, sich von seinen alten Feldhauptleuten belehren zu lassen; die waren ja lahmherziger als sein Rodrigue. »Ich warte nicht, Don Nuño«, erklärte er. »Begreift mich doch! Ich lasse nicht mein Alarcos, dieses Alarcos, das ich dem Reiche zugefügt habe, umzingeln von den Beschnittenen. Ich werde mit ihnen fertig auch ohne Aragon.«

Allein Don Manrique ließ nicht ab. »Schicke wenigstens erst einen Kurier an Don Pedro!« bat er dringlich. »Wenn man deinen Vertrag mit Aragon engherzig auslegt, dann schreibt er dir vor, zu warten.«

»Ich bin aber nicht engherzig«, antwortete heftig Don Alfonso, »und auch der König von Aragon ist es nicht. Er ist ein christlicher Ritter. Ich brauch ihn nicht erst lange um Erlaubnis zu bitten!« Ruhiger fuhr er fort: »Ich ehre eure Bedenken, aber ich darf mich nicht darum kümmern. Mag der Kalif dreimal mehr Männer haben oder auch fünfmal, wir haben auf unserer Seite das Recht und den allmächtigen Gott. Wir schlagen uns auf dem ›Gebreite der Arroyos‹.« Nun sich der König entschieden hatte, förderten auch die Zweifler treu und eifrig das Unterfangen. Das Lager wurde auf dem von Alfonso gewählten Gebreite aufgeschlagen. Die Zelte dehnten sich auf dem sanften Hang eines Berges, im Rücken geschützt durch eine immer steiler steigende Höhe, die Flanken gedeckt von den Arroyos, die der Gegend den Namen gaben, tiefen Erdrissen, den Betten reißender Bergbäche, die jetzt ausgetrocknet waren und weithin bedeckt mit weißem und rotem Oleander.

Die moslemische Armee rückte mittlerweile in guter Ordnung näher, in regelmäßigen, kurzen Tagemärschen. Als sie noch zwei Tagemärsche entfernt war, konnte ein jeder ausrechnen, daß die Entscheidungsschlacht am 19. Juli stattfinden werde, am 9. Schawan moslemischer Rechnung.

Es war aber der 9. Schawan ein Sabbat.

Das schuf den jüdischen Soldaten Don Alfonsos große Not. Die dreitausend hatten sich dem König nicht ohne Gewissensqualen zur Verfügung gestellt. Sie wußten, der Kriegsdienst werde sie zwingen, verbotene Speisen zu essen und am Sabbat verbotene Arbeit zu verrichten; in der großen Vorzeit aber hatten sich jüdische Soldaten lieber von Griechen und Römern erschlagen lassen, als daß sie am Sabbat gekämpft hätten. Nun hatten zwar, gemäß einer Jahrhunderte alten Verfügung des Synhedrions, die Doktoren der Aljama die jüdischen Freiwilligen durch den Akt des »Mutar Lach – Es sei dir erlassen« feierlich der Verpflichtung entbunden, die Sabbat- und Speisegesetze zu halten; diese Dispensation galt aber nur für den Fall äußerster Not, und war dieser Fall wirklich gegeben? Mußte sich der König gerade am Sabbat schlagen?

Sie sandten eine Delegation an Don Alfonso, die geführt war von Don Simeon Bar Abba, einem Verwandten des Ephraim. Wenn seine jüdischen Soldaten, setzte dieser dem König auseinander, anders als in äußerster Not heilige Verbote überträten, dann forderten sie Gottes Zorn heraus und beschworen Gefahr und Niederlage herunter auf sich und ihre christlichen Kameraden. Sie fragten die Majestät mit gebührender Ehrfurcht, ob nicht ein anderer Tag für die Schlacht gewählt werden könnte.

Alfonso klopfte dem Don Simeon die Schulter und meinte jovial: »Ich kenne euch als tapfere Soldaten und würde euch gern den Gefallen tun. Aber seht, länger als um einen Tag kann ich die Schlacht nicht verzögern. Ich müßte also am Sonntag kämpfen. Das wäre nun wieder euern christlichen Kameraden nicht recht, und die sind viel zahlreicher. Lassen wir’s also beim Sabbat, und wir alle wollen beten, daß euer Gott euch die Sünde verzeihe.«

Der König, nachdenklich geworden durch die Frömmigkeit der Juden, beriet mit Don Martín, was er selber tun könne, um sich und seinem Heer die Gnade des Allmächtigen zu sichern. Nun hatte auch der Erzbischof jenen »Baum der Schlachten« des Priors Bonet gelesen. Dort war empfohlen, am Tag der Schlacht zu fasten, unter Hinweis darauf, daß der große Ritter und König Saul, ehe er gegen die Feinde focht, einen jeden, der vor Einfall der Nacht esse oder trinke, mit der Strafe des Todes bedroht hatte. Der Erzbischof schlug also vor, es sollten die christlichen Soldaten am Tage der Schlacht fasten; der König Unser Herr könne ihnen ja, um sie nicht zu schwächen, am Abend vorher ein reichliches Mahl vorsetzen. So verfügte denn auch Don Alfonso.

Don Martín seinesteils schickte Kuriere durchs ganze Land bis nach Toledo mit der Weisung, es sollten am Morgen des Schlachttages in Toledo und in allen Ortschaften zwischen Alarcos und Toledo die Glocken geläutet werden.

Am Abend des 18. Juli beschaute der König von der Höhe, von der aus er am nächsten Tage die Schlacht leiten wollte, das eigene Lager und das des Feindes. Dort, wo die Ebene abfiel, lagerte das Heer des Kalifen. Zelt an Zelt reihte sich endlos, und Alfonso und seine Herren wußten: wo der Wald die weitere Sicht verwehrte, bog das feindliche Lager nach dem Westen und weit in den Westen hinein. Lange schaute der König, die Augen mit der Hand beschattend, schweigend, in den Abend über das feindliche Lager.

Die Herren ritten zurück, von den Soldaten überall mit fröhlichem, ehrerbietigem Zuruf begrüßt. Die Soldaten freuten sich des reichen Mahles.

Dann setzten sich die Herren selber zu Tisch in dem Kriegszelt des Königs. Es glänzte prächtig rot und golden, mit Wimpeln und Standarten; auch das Innere war kostbar geschmückt mit Teppichen und Wandbehängen, dem Krieg zu Ehren, dem edelsten Geschäft des Ritters und Königs. Man war gehobenen Mutes, man aß und trank mit Genuß, Bertran sang seine wildesten Lieder.

Doch trennte man sich bald, um sich durch frühen Schlaf für den kommenden Tag zu stärken.

Den König begleiteten freundliche Bilder und Gedanken in den Schlaf. Raquel war da, und er erläuterte ihr die Einzelheiten seines Schlachtplans. Bewies ihr, daß man ein auch an Zahl unterlegenes Heer so aufstellen könne, daß der Sieg gewiß sei. Setzte ihr auseinander, wie er sich den weitern Verlauf des Feldzugs dachte. Wenn er die Armee des Kalifen zerschlagen hat, wird er bis ans Meer vorstoßen. Dann wird er Frieden schließen. Die Küste und Granada wird er dem Kalifen lassen; aber Córdova und Sevilla muß der Beschnittene ihm herausgeben. Sevilla wird er zu einer Grafschaft machen, zur größten des Reiches, und zum Grafen von Sevilla ernennt er den lieben kleinen Bastard Sancho.

Er hörte die leisen Rufe der Wachen, die das nächtliche Lager abschritten. Seine innere Stimme sagte ihm: Das wird ein großer Tag werden, morgen, dieser 19. Juli – er suchte sich auf das Jahr zu besinnen, aber die hispanische Zeitrechnung und die der andern Christenheit gerieten ihm durcheinander, er fand das Jahr nicht und ärgerte sich, daß er dem Rodrigue recht gegeben hatte gegen seinen lieben Freund Don Martín. Aber in seinen Ärger hinein tönten Glocken und feierlicher Jubelgesang, sie sangen das Tedeum seines Sieges, und er schlief ein inmitten von Siegesgeläute. Er wachte auf inmitten von Glockengeläute. Denn noch vor der Sonne hatten, wie der Erzbischof es befahl, alle Glocken im Lande zu läuten begonnen von Alarcos bis Toledo.

Gleich nach Sonnenaufgang wurde den Soldaten Messe gelesen. Sehr viele empfingen die heilige Kommunion. Feierlich dann wurden die Reliquien gezeigt, welche die einzelnen Abteilungen in die Schlacht begleiten sollten. Die kostbarste, kräftigste Reliquie hatten die Calatrava-Ritter, die Cruz de los Angeles, ein Kreuz, das dem Dritten Alfonso zwei überirdische Pilger auf geheimnisvolle Weise zugestellt hatten. Eine jede Abteilung, Ritter und Knechte, kniete und küßte ihre Reliquie.

Auch vom Lager der Moslems her tönten Gebete. Dort riefen Priester und Offiziere die Krieger an mit den Versen des Korans: »O ihr Gläubigen, fasset Herz! Seid frohen Mutes! Fürchtet niemand außer Allah! Er hilft euch. Er stärkt euch den Fuß, daß er feststeht. Er gibt euch den Sieg.« Und die moslemischen Soldaten warfen sich zur Erde, die Hunderttausende, in der Richtung gegen Mekka, und beteten gellend die Erste Sure des Korans, das Siebengebet: »Im Namen Allahs, des Allbarmherzigen. Preis sei Allah, dem Herrn der Welten, / Dem Wohltätigen, dem Allbarmherzigen, / Dem Richter am Tage des Gerichts. / Du allein bist Unser Gott, dich allein rufen wir um Hilfe an. / Zeig uns den rechten Weg, / Den Weg derer, denen du gnädig bist, / Und nicht den Weg derer, denen du zürnst und die in die Irre gehen.«

Die Schlacht begann.

Die Calatrava-Ritter hatten Befehl, als erste anzugreifen und das Zentrum des Feindes zu durchbrechen. In guter Ordnung hielten sie, ihrer achttausend, auf ihren erlesenen Pferden, weithin glänzend in ihren Rüstungen. Schallend sangen sie ihr Kriegsgebet, den sechzigsten Psalm Davids: »Wer führt mich in eine feste Stadt? Wer geleitet mich bis nach Edom? Mit Gott wollen wir Taten tun. Er wird unsere Feinde untertreten.«

Sie preschten los gegen das Zentrum des Feindes.

»Mit solcher Furie«, berichtet der Chronist Ibn Jachia, »stürmten die Verfluchten, daß ihre Pferde in die Spitzen der moslemischen Lanzen rannten. Zurückgeworfen, wichen sie nur eine kurze Strecke, dann stürmten sie von neuem. Wurden abermals zurückgeworfen. Ein drittes Mal ritten sie ihre schreckliche, wahnwitzige Attacke. ›Haltet aus, ihr Freunde!‹ rief Abu Hafas, der General, der das Zentrum kommandierte. ›Fasset Herz, ihr Gläubigen! Allah von seinem hohen Thron aus steht euch bei.‹ Allein die Verfluchten stürmten jetzt mit solcher Raserei, daß die Reihen der tapfern Moslems brachen. Abu Hafas selber, der General, hielt stand mit Löwenmut, starb kämpfend und erwarb die Märtyrerkrone. Die Verfluchten richteten ein fürchterliches Gemetzel an unter den Truppen des Zentrums; alle moslemischen Soldaten, die dort kämpften, waren von Allah erlesen für die Märtyrerkrone und gingen an diesem 9. Schawan ein in die zehntausend Freuden des Paradieses.«

Alfonso, von seiner Höhe aus, überschaute das Schlachtfeld. Sah, wie die Calatrava-Ritter stürmten, zurückgeworfen wurden, ein zweites Mal stürmten, ein zweites Mal wichen, dann aber die Reihen der Feinde brachen. Und nun drangen sie vor, seine Calatrava-Ritter, unaufhaltsam, und bald werden sie das rote Kriegszelt des Kalifen erreicht haben und den Siegesboten schicken, und dann wird er seinesteils vorstürmen und den Feind vollends aufreiben.

Da schauten sie also, der König und die Seinen, warteten, genossen die Schau. Dort unten, auf dem »Gebreite der Arroyos«, erfüllte sich der Traum des Sängers Bertran de Born; da waren die Stürmenden, die Fallenden und Gefallenen, da war jenes Geschrei: A lor, a lor!, und da hinein: Allah! und: Mohammed!, da war das Wiehern der reiterlosen, todwunden Pferde. Alazars Herz schwoll vor Lust. Er nahm in sich auf die herrliche Wirrnis von Tod, Ruhm, Sieg, Märtyrertum, und es war ihm nur leid, daß Staub und Dunst aufwölkte und ihm den Kampf verhüllte. Aber er sah um sich die wilden, glühenden, freudigen Gesichter des Königs und seiner Ritter, und sein Gesicht war freudig wie das ihre, und er wischte sich die tränenden Augen, nieste sich den Staub aus der Nase und lachte.

Da aber ereignete sich Unerwartetes. Staub und Dunst waren jetzt so dicht, daß man kaum mehr recht erkennen konnte, was geschah. Doch soviel war gewiß: Kampf war plötzlich schon ziemlich nahe an ihrer Höhe, weit also im Rücken der Calatrava-Ritter. Beturbante Reiter tauchten auf in naher Nähe des Lagers. Griffen die jüdischen Abteilungen an, die zur Verteidigung des Lagers bestellt waren. Ja, die Juden waren im Kampf, sie hielten sich wacker, man hörte deutlich ihren geilen, uralten, hebräischen Schlachtruf: »Hedad, hedad!«, sie gaben nicht Raum, sie hielten stand. Aber ihrer waren nur dreitausend, der Feind war sichtlich in der Überzahl, und dunkel, einen Augenblick lang, dachte Alfonso an die Vorhersage Don Simeons, es werde Unheil bringen, am Sabbat zu kämpfen.

Aber wie in aller Welt war es möglich, daß moslemische Reiter so weit vorgedrungen waren? Und in solcher Zahl? Und wo blieben die Calatrava-Ritter?

Der König ahnte, was geschehen war, aber er verbot sich, es zu glauben. Fünfhundert mal tausend Mann, hatten die Späher berichtet, zähle das Heer des Kalifen, und Alfonso hatte gelacht. Aber da wälzte es sich heran, endlos, und aus dem Staub kamen immer neue, beturbante Krieger, zu Fuß und zu Pferde. Alfonso lachte nicht mehr.

Was sich aber ereignet hatte, war dieses. Die Calatrava-Ritter, siegberauscht, waren weitergestürmt in das dichte Gewimmel. Sie achteten nicht der Hitze und des Staubes, der ihnen das Atmen schwer machte. Aus dem dumpfen Lärm, von dem das Schlachtfeld dröhnte, hörten sie nur ihr eigenes Geschrei und das Geschrei derer, die sie töteten. Benommen, halb irr von Kampfgier, wütig um sich hauend, drangen sie immer weiter vor in den sonnverhüllenden Dunst.

Der Oberkommandierende der Moslems, Abdullah Ben Senanid, der Andalusier, der Kriegskundige, Schlachtenkluge, hatte das vorhergesehen. Er ließ die Ritter vordringen, ja, er setzte ihnen dünneren Widerstand entgegen. Auf beiden Flanken aber ließ er mohadische Regimenter vorrücken und jene unheimlichen, weithin treffenden Schleudergeschütze in Stellung bringen. Die mohadischen Soldaten, berühmt als ausgezeichnete Armbrustschützen, schlossen sich, unbemerkt von den stürmenden Calatrava-Rittern, in ihrem Rücken und riegelten sie ab von ihrer Hauptmacht und von ihrem Lager. Und nun geschah hier vor Alarcos, was damals in der Schlacht von Al Hattin geschehen war. Die moslemischen Armbrustschützen beschossen die Pferde der christlichen Ritter, und sowie das Pferd fiel, war der Ritter in seiner schweren Rüstung hilflos. Jetzt auch schleuderten die Geschütze des Kalifen ihre gewaltigen Blöcke in die dichten Reihen der Christen. »Es begann«, berichtet der Chronist Ibn Jachja, »ein fürchterliches Schlachten. Alle waren sie stahlbekleidet, die Ungläubigen, auch ihre Pferde trugen Rüstungen, und sie waren die Blüte ihres Heeres, aber es half ihnen zu nichts. Vor der Schlacht hatten sie ihre drei Götter angerufen und bei ihren Kreuzen geschworen, sie würden in diesem Kampfe nicht den Rücken kehren, solange unter ihnen noch einer am Leben sei. Jetzt, zum Segen der Gläubigen, fügte es Allah, daß sie ihr Gelübde auf den Buchstaben erfüllten.«

Und gleichzeitig, um das feindliche Heer vollends zu vernichten, hatte der moslemische Feldherr, seine ungeheure Übermacht nützend, im Rücken der kämpfenden Ritter seine eigene, erlesene, andalusische Reiterei vorgeschickt zu einem Angriff auf das Lager der Christen.

Das also, dieser Angriff auf das Lager, war es, was Alfonso von seiner Höhe wahrnahm. »Jetzt ist es wohl an uns«, erklärte er grimmig fröhlich. Sie sprengten hinunter, dem Lager zu. Sie waren zahlreich, aber doch zu wenig. Die Massen der Moslems schwollen und schluckten sie ein, sie mußten zurück, bevor sie das Lager erreichten, die Höhe wieder hinauf. Sie hielten indes ihre Reihen geschlossen und ließen es nicht zu, daß die Moslems sie überflügelten. Auch gelang es ihnen immer wieder, sich durch kleine Vorstöße Raum und Luft zu schaffen.

Don Alfonso war mitten im Getümmel. Er dachte nicht mehr an das Ganze der Schlacht, nur mehr an den Kampf in seiner nächsten Nähe. Er atmete nur mit Mühe in dem Staub und in der Hitze, und der mattleuchtende Dunst machte alles vor seinen Augen flirren. Er hörte das Gellen der Hörner, das Schlagen der Trommeln, das wüste Geschrei der Moslems und das: Haut ein! Hilf! Her! der Freunde und über dem allem den dunklen Lärm, der ständig von jeder Richtung her rollte und dröhnte. Er war erfüllt von einer dumpfen Wut, die nicht ohne Wohlgefühl war. Er genoß es, mit seinem guten Schwerte Fulmen Dei zuzuschlagen; er genoß es, wenn der Feind fiel, und auch wenn der Freund fiel, spürte er etwas wie Lust.

Langsam wurden sie zurückgedrängt bis zur Hälfte ihrer eigenen Höhe. Der König befahl einen neuen Vorstoß. Sie preschten – es mochten ihrer noch um die Achthundert sein – hinein in feindliches Fußvolk. Einer der Moslems, aus nächster Nähe, zielte mit dem Speer nach Alfonso. Ehe er werfen konnte, haute Alazar ihn nieder. Der Knabe lachte hell. »Das ist ihm nicht geglückt, Herr König«, rief er in den wüsten Lärm hinein. Aber in der Minute darauf stürzte er selber vom Pferd, getroffen, sein Fuß verfing sich im Steigbügel, er wurde eine kleine Strecke geschleift.

Die andern waren weiter vorgedrungen, vor sich her trieben sie das feindliche Fußvolk den Berg hinunter. Ein wenig Luft entstand um den König und die ihm Nächsten.

Er stieg vom Pferde, noch immer in wütiger Dumpfheit, fast ohne Willen und Bewußtsein. Er bemühte sich um Alazar. Er hob das Visier, er wußte kaum, warum, er nahm dem Knaben den Helm ab und wußte kaum, warum, auch nicht, ob der Knabe ihn noch erkannte. Er dachte vorwurfsvoll, daß Alazar ihm doch die tausend Ritter hätte aussuchen sollen, die er ohne Lösegeld freigeben wollte. Der Knabe atmete hart, sein sonst blaßbräunliches Gesicht sah gerötet und verschwollen aus und inmitten all des Schmutzes, des Blutes, der Hitze, der sichtlichen Qual sehr jung. Alfonso beugte sich tiefer über ihn, sah ihn, sah ihn nicht, sah ihn, sagte mit einer Stimme, die heiser vom vielen Schreien war: »Alazar, mein Junge, mein Treuer.« Alazar hob die Hand, mit Mühe, Alfonso verstand nicht, wozu; später deutete er sich’s so, daß Alazar ihm hatte den Handschuh zurückgeben wollen, und es war ihm leid, daß er’s nicht verstanden hatte. Alazar bewegte die Lippen, Alfonso wußte nicht, ob er sprach. Er glaubte zu hören: »Sag meinem Vater –«, aber er erinnerte sich erst viel später, daß er geglaubt habe, das zu hören; auch hätte er nicht sagen können, in welcher Sprache der Knabe diese Worte gesprochen hatte.

Es schwemmte aber, während er über Alazar gebeugt war, zum erstenmal an diesem Tage und auch jetzt nur sehr trüb inmitten des Geschreies und Geklirres der Gedanke herauf an Raquel, und sogleich auch der Gedanke an Manrique und Nuño Perez, die ihm geraten hatten, innerhalb der Mauern der Festung zu bleiben, und der Gedanke an den zornigen Don Rodrigue. Aber er verweilte nicht bei diesen Gedanken, es war keine Zeit. Auch war keine Zeit, sich länger mit dem Knaben zu befassen; nur schnell noch das Zeichen des Kreuzes über ihn machen konnte er.

Denn nun wälzte es sich abermals herauf durch den Staub und Dunst, und wieder in ungeheuern Massen. Stumpf, in finsterer Wut, schaute Don Alfonso dem Gewimmel entgegen. Endete das niemals? Fünfhundert mal tausend Mann, hatten die Späher gesagt, sie hatten nicht gelogen. »Bisher haben wir es nur mit der Vorhut zu tun gehabt«, scherzte böse der Erzbischof, »jetzt erst kommt der rechte Feind.« Und: »Gut«, sagte Bertran, »so mehr Mütter und Weiber werden um sie klagen.« Und: »Zurück, langsam zurück!« drängten alle. Bertran aber stimmte eines seiner Lieder an:

»Keiner von uns ist Sohn eines Manns,

Der feig im Bette starb.

Und wir selber wünschen nicht andern Tod

Als im Feld und durch kalten Stahl.«

So, langsam, die Gesichter dem Feinde zugekehrt, auf tänzelnden Pferden, wichen sie die Höhe hinauf.

Getümmel war, unübersichtlicher Kampf. Doch als sie am Fuß des letzten, steilsten Teils der Höhe angelangt waren, hatten sie sich von neuem Raum geschaffen, und hier konnte ihnen keiner in den Rücken kommen. Sie atmeten, schauten sich um, suchten, zählten. Es waren ihrer nun um die zweihundert. »Wo ist Don Martín?« fragte Alfonso. »Er ist getroffen«, sagte Garcerán. »Schwer, wie es scheint. Sie suchen ihn über die Höhe zu schaffen, ins Eichengehölz. Sie wollen ihn über den Arroyo bringen.« Und: »Du solltest zurück, Herr König«, bat er dringlich, »solang sie den Weg über den Arroyo noch nicht entdeckt haben.« Es führte nämlich unmittelbar jenseits der Höhe ein gedeckter Pfad ins Eichengehölz und zu einem Übergang über den nördlichen Teil des Arroyos. »Nach ihrem nächsten Sturm«, entschied Don Alfonso, da sich der Feind schon wieder, und dieses Mal sehr nahe, zum Angriff sammelte. Und: »Was ist mit dir, Herr Bertran?« fragte er. »Bist du verwundet?« – »Es sind nur ein paar Finger«, antwortete Bertran mit einer Stimme, die sich mühte, unbefangen zu klingen, und: »Wahrscheinlich werde ich dir nur ein Stück des Handschuhs zurückgeben können«, spaßte er. Dann war man wieder im Getümmel.

Hier, am Fuß der letzten Höhe, löste sich jetzt die Schlacht in verbissene Einzelkämpfe auf. Ein jeder schlug um sich, wild, sinnlos, keiner hielt Fühlung mit keinem. »Und Alfonso, der Verfluchte«, berichtet der Chronist Ibn Jachia, »hob seine Augen von dem Gemetzel und sah die weiße Fahne des Beherrschers der Gläubigen – Allah schütze ihn – schon in nächster Nähe, und er sah die goldenen Buchstaben darauf: ›Allah ist Allah, und Mohammed ist der Prophet Allahs.‹ Da erzitterte das Herz des Verfluchten in großer Angst, und er floh. Und alle die Seinen flohen, und die Moslems verfolgten sie. Der Verfluchte selber entkam über die Höhe, aber die Moslems töteten Unzählige aus seinem Volke und ließen nicht ihre Lanzen von den Hüften der Fliehenden und ihre Schwerter nicht von ihrem Nacken, ehe sie den Durst ihrer Waffen gestillt hatten im Blute der Ungläubigen und sie gezwungen, den bittern Becher des Todes bis zur Neige zu leeren.«

Auf der Höhe, für den Bruchteil eines Augenblicks, sah Alfonso zurück auf das »Gebreite der Arroyos«, sein Schlachtfeld. Staub lag darüber, in Staub war er selber und die Seinen, Staub war auf den Helmen, den Rüstungen. So dicht über dem ganzen Felde war der Staub, daß in ihm der wüste Lärm gedämpft klang, das Klirren und Schreien der Männer, das Stampfen, Trappeln und Wiehern der Pferde, das Schmettern der Trompeten. Auch der König von Kastilien mit seinen hellen Augen konnte in diesem grauen Gespinst von Hitze, Dunst und Staub nur mehr undeutlich unterscheiden, was vor sich ging. Aber er wußte, hier in diesem Staub und Geschrei verreckte sein Ruhm, verreckte Kastilien. Doch ehe er das in Worten ausdenken oder auch nur recht spüren konnte, rissen die Seinen ihn weiter.

Die Moslems mittlerweile plünderten das kastilische Lager. Sie erbeuteten Waffen, Schätze, Kriegswerkzeug, Vorräte jeder Art, auch mehrere hundert edle Jagdfalken, auch viel Kirchengerät, dazu die Galakleider, welche die Calatrava-Ritter bei der Siegesfeier hatten tragen wollen. »Die Zahl der Christen, welche von den Gläubigen erschlagen wurden«, berichtet der Chronist, »kann ich nicht nennen. Niemand konnte sie errechnen. Es waren der toten Christen so viele, daß nur Allah, der auch sie erschaffen hat, ihre Zahl weiß.«

Seit der Schlacht von Zallaka, seit einhundertundzwölf Jahren, hatten die Moslems keinen solchen Sieg auf der Halbinsel erfochten. So ungeheuer war der Schreck der Christen, daß er auch den Verteidigern von Alarcos das Herz lähmte. Schon nach wenigen Tagen übergaben sie diese stärkste Festung Kastiliens. Die Sieger aber, um den Schrecken weiterzuverbreiten, zerstörten mit ihren gewaltigen Kriegsmaschinen die Mauern und die Häuser der Stadt und Festung Alarcos bis in den Grund und bestreuten den Grund mit Salz.

Fünftes Kapitel

Wenige Tage vor der Schlacht von Alarcos waren in Toledo jene ersten achthundert Mann aragonischer Hilfstruppen angelangt, welche Don Pedro versprochen hatte. Ihr Befehlshaber meldete sich bei der Königin. Es war Gutierre de Castro.

Ja, der Castro hatte verlangt, als der erste nach Toledo geschickt zu werden. Die Castros, begründete er seine Forderung, hätten hervorragenden Anteil gehabt an der Eroberung Toledos, wovon heute noch ihr Castillo in dieser Stadt Zeugnis ablege, er wolle teilhaben auch an der Eroberung Córdovas und Sevillas. Der zögernde Don Pedro hatte dem mächtigen Vasallen die dringliche Bitte nicht abschlagen können. Da war er also in Toledo mit seinen ansehnlichen achthundert Mann und machte Doña Leonor seine Aufwartung.

Sie war tief und glücklich erstaunt. Mit fast abergläubischer Verehrung gedachte sie der weisen Mutter, die dem Castro seine Burg vorenthalten hatte, ihn zu reizen und zu locken. Sie begrüßte ihn strahlend liebenswürdig: »Ich freue mich, daß von unsern aragonischen Freunden du, Don Gutierre, der erste bist in Toledo.«

Don Gutierre stand vor ihr, gerüstet, in Haltung, wie alter Brauch es vorschrieb, mit gespreizten Beinen, beide Hände auf den Griff seines Schwertes gestützt. Der stämmige Herr rühmte sich, Abkömmling jener gotischen Fürsten zu sein, die, als die Moslems die ganze Halbinsel überschwemmten, in den Bergen Asturiens und Kantabriens ihre Unabhängigkeit bewahrt hatten. Es saß ihm denn auch auf überaus breiten Schultern der runde Schädel, wie ihn viele Bewohner jener Berge aufwiesen, die Sattelnase, die tiefliegenden Augen. So stand er und schaute nieder auf die sitzende Königin, schaute ihr unverlegen ins Gesicht, nachdenkend, was ihre Worte bedeuten mochten.

»Ich hoffe«, fuhr Doña Leonor fort, »die Entscheidung, welche die Könige in deiner Streitfrage mit Kastilien trafen, hat dich befriedigt.« Sie sah zu ihm auf, sie prüften einander mit den Augen, fast unziemlich lange. Schließlich, die Worte wägend, sagte mit seiner etwas quäkenden Stimme Don Gutierre: »Mein Bruder Fernán de Castro war ein großer Ritter und Held, meine Seele hing an ihm. Keine Buße ersetzt ihn mir, und schon gar nicht ersetzt ihn mir das Geld, das man mir zahlte. Als ich das Kreuz nahm, schwor ich, allen Haß aus meinem Herzen zu reißen, und so will ich’s halten und will dem König von Kastilien gehorchen, nach dem Auftrag meines Herrn von Aragon. Aber ich sag’s dir offen, Frau Königin, leicht fällt mir das nicht. Es kränkt mich, unter den ersten Dienern Don Alfonsos einen Mann zu wissen, der den Speichel nicht wert ist, den ich ihm ins Gesicht spucken möchte, und der sich spreizt in der Burg meiner Väter.«

Doña Leonor, die grünen Augen immer voll auf ihm, erwiderte sanft, entschuldigend: »Die Könige haben reiflich beraten, ehe sie sich entschlossen, dem Manne das Castillo zu lassen.« Und sie erläuterte: »Kriege, edler Don Gutierre, können heute nicht mehr geführt werden wie in den Tagen der Väter. Ein Krieg erfordert viel Geld, es zu beschaffen viel List, manchmal böse List, und der Mann, von dem du sprichst, verfügt über solche List. Glaub mir, mein lieber, edler Don Gutierre, ich verstehe deine Gefühle, ich fühl es mit, wenn es dich kränkt, daß dieser Mann in deinem Castillo sitzt.« Sie sah seine aufmerksamen, erwartungsvollen Augen. Jetzt laß ich den Fraß vor dem Falken baumeln, dachte sie, und langsam schloß sie: »Wenn erst der Krieg recht im Gange ist, dann wird man den Mann und seine List kaum mehr nötig haben.«

Er fragte nach ihren Aufträgen. »Vorläufig wird es gut sein«, sagte sie, »wenn du mit deinen Leuten hier in Toledo bleibst. Ich werde dem König von deiner Ankunft berichten und seine Weisung einholen. Wenn es nach mir geht, dann bleibt ihr hier. Die Stadt ist von Truppen entblößt, und es wäre mir Beruhigung, gute Männer hier zu wissen, denen ich vertraue.« Don Gutierre verneigte sich tiefer, als er’s gewohnt war. »Ich danke dir für deine gnädigen Worte, Dame«, sagte er.

Er verabschiedete sich voll Verehrung und hohen Mutes. Diese Doña Leonor war in Wahrheit eine große Königin.

Triumphierend ritt er durch die engen, steilen Gassen Toledos, ein geehrter Gast und Held in der Stadt, aus der er verbannt worden war, und oft in dieser heißen Sommerwoche, mit Augen des Hasses und der Hoffnung, ritt er vorbei am Castillo de Castro.

Es kam der Tag, da schon am frühen Morgen alle Glocken läuteten in Toledo, der Tag der großen Schlacht. Und es kam die Nacht, und noch in der Nacht finstere, verworrene Gerüchte, die Schlacht sei verloren. Und es kam der nächste Morgen und mit ihm erschreckte Flüchtlinge aus dem Süden, immer mehr, und aus den Teilen Toledos, die außerhalb der Mauern lagen, drängte es herein in die überfüllte Stadt, und es häuften sich die schauerlichen Nachrichten. Der Ordensmeister von Calatrava erschlagen, der Erzbischof schwer verletzt, achttausend Calatrava-Ritter erschlagen, über zehntausend andere Ritter, Fußvolk unzähliges.

Doña Leonor wahrte Ruhe. Die Gerüchte waren Wahnwitz. So konnte es nicht sein. So durfte es nicht sein. So hatte sie sich die Niederlage nicht gedacht.

Don Rodrigue, unter den Kronräten der einzige, der in Toledo geblieben war, kam zu ihr, das magere Gesicht verbissen in Leid und Wut. Sie mühte sich, ihn gelassen zu empfangen. »Man berichtet mir«, sagte sie, »der König Unser Herr habe bei seinem Ausfall aus der Festung Alarcos schwere Verluste erlitten. Hast du genauere Nachricht, Hochwürdiger?« – »Wach auf, Frau Königin!« rief Rodrigue sie an, zürnend. »Don Alfonso hat eine große Schlacht verloren. Der Feldzug ist verspielt, bevor er anfing. Die Blüte der kastilischen Ritterschaft ist hin. Der Großmeister von Calatrava ist tot, der Erzbischof von Toledo schwer verwundet, der weitaus größte Teil der Barone und Ritter liegt erschlagen auf dem ›Gebreite der Arroyos‹. Was die christlichen Könige dieser Halbinsel in hundert Jahren mit einem Meer von Schweiß und Blut erkämpft haben, wurde an einem einzigen Tage vertan um einer ritterlichen Laune willen.«

Die Königin war erblaßt. Mit einem Male erkannte sie: so war es. Aber sie wollte es vor diesem nicht wahrhaben; sie wurde Fürstin ganz und gar. »Du vergißt dich, Don Rodrigue«, wies sie ihn zurecht. »Aber ich begreife deinen Kummer und will nicht mit dir rechten. Sag mir lieber: was soll ich tun, was kann ich tun?«

Rodrigue sagte: »Die Kriegskundigen nehmen an, Don Alfonso werde Calatrava eine kleine Weile halten. Laß es deine Sorge sein, Frau Königin, in dieser Zeit Toledo vorzubereiten für die Belagerung. Du bist klug und bewährt in Dingen der Verwaltung. Halte die Stadt ruhig. Sie fließt über von Flüchtlingen und Verzweifelten. Sie wollen um sich schlagen, wollen totschlagen. Sie bedrohen die christlichen Araber. Sie bedrohen die Juden.«

In ihrem Innersten hatte Doña Leonor darauf gewartet, dergleichen zu hören, vielleicht hatte sie sich danach gesehnt. Sie antwortete: »Ich werde tun, was ich kann, Toledo ruhig zu halten.« Don Ephraim, der Párnas der Aljama, saß in schwerer Sorge. Der Sieg von Alarcos öffnete dem Kalifen die Straßen der Halbinsel. Toledo lag den Moslems preisgegeben, die die Juden aus Córdova und Sevilla ausgetrieben hatten. Seit den Zeiten der Gotenkönige war kein solches Unheil über die Juden des Sepharad gekommen.

Und was wird die nächste Zukunft bringen? Wüste Gerüchte gingen um in Toledo. Niemals, hieß es, hätte das glänzende christliche Heer geschlagen werden können, wäre nicht Tücke und Verräterei am Werk gewesen. Der Jude, der Freund des Emirs von Sevilla, hatte mit den Moslems gezettelt, ihnen die Kriegspläne der Christen verraten, die Stärke der einzelnen Heeresgruppen, die Stellungen. Der König hatte sich nicht losgemacht aus den Schlingen der Jüdin, die eine Abgesandte des Teufels war, und nun hatte die Strafe des Himmels ihn erreicht, ihn und das Land.

In der Judería drückten sich die Menschen noch enger aneinander als sonst. Die Juden, die außerhalb lebten, drängten herein in den Schutz ihrer festen Mauern. Schwere Angst lag über der Aljama.

Don Ephraim bat die Königin um gnädiges Gehör. Die waffenfähigen Bürger waren aufgerufen worden, die Mauern der Stadt zu verteidigen. Don Ephraim bat, es möge der Aljama erlaubt sein, die fünfzehnhundert Mann, über die sie noch verfüge, zur Verteidigung der Judería zurückzuhalten. Er führte aus, die große Anzahl der jüdischen Soldaten, die in der Schlacht vor Alarcos gefallen seien, beweise die Bereitschaft der Juden von Toledo, das Leben für den König zu opfern. Nun aber sei die Aljama bedroht von solchen, die sich durch unsinnige Gerüchte hätten aufhetzen lassen, und benötige dringend ihre Männer und ihre Waffen.

Hinter Doña Leonors hoher Stirn jagten sich die Gedanken. Der einmalige, ersehnte Tag war da; jetzt galt es, vorsichtig zu sein, anzudeuten, doch sich nicht preiszugeben.

Das Volk von Toledo, antwortete sie, erblicke in dem unseligen Ausgang der Schlacht eine Strafe Gottes und suche nach den Schuldigen. Niemand verdächtige die Männer der Aljama, die bekannt seien als treue Freunde des Königs. Nichts aber wisse man von den Fremden, von jenen fränkischen Flüchtlingen, welche der König Unser Herr in übergroßer Güte ins Land gelassen habe, und mit unguten Augen schaue man auf den Mann, der den schlechten Rat erteilt habe, auf den Escrivano Don Jehuda Ibn Esra. Überdies sei Don Jehuda bei all seinen Verdiensten ein stolzer, um nicht zu sagen hoffärtiger Herr, und sein Glanz in währendem Heiligem Krieg entfache den Zorn vieler einfacher Bürger. Das müsse ein so kluger Mann wie der Vorstand der Aljama verstehen.

Den Párnas verdroß es, daß die Königin den Mann verleugnete, der, von ihr selber gerufen, dem Lande Segen gebracht hatte. »Du rätst uns, Frau Königin«, fragte er behutsam, »uns loszusagen von Don Jehuda Ibn Esra?« – »Nicht doch, Don Ephraim«, antwortete schnell Doña Leonor. »Ich versuche nur, zu ergründen, gegen welche unter den Juden sich der Unmut des Volkes richtet.« – »Verzeih, Frau Königin, dem lästigen Frager«, bestand Don Ephraim, »aber ich möchte deine Majestät in dieser wichtigen Sache nicht mißverstehen. Geht deine Meinung dahin, daß wir uns trennen sollen von Don Jehuda?« Die Königin, frostig, unverbindlich, erwiderte: »Eure Gefahr scheint mir gering, und wäre nicht Don Jehuda, dann wäre auch nicht der Schatten einer Gefahr.« Und nach einem etwas peinlichen Schweigen, mit leiser Ungeduld, schloß sie: »Sei dem, wie ihm sei, Don Ephraim, verwende du deine waffenfähigen Männer zum Schutz der Judería oder zum Schutze Toledos; ich überlasse es deinem Gutdünken.« Ephraim verneigte sich tief und ging.

Er ging zu Jehuda. »Es tut mir leid, Don Jehuda«, begann er, »dich noch im Castillo Ibn Esra vorzufinden. Es gibt schwerlich einen Ort, der dir heute weniger Schutz böte.« Sie wollen mich aus den Mauern haben, dachte Jehuda bitter, sie wollen mich los sein, und mit spöttischer Höflichkeit erwiderte er: »Seit deiner ersten gütigen Warnung habe ich mehrmals bedacht, ob ich mich nicht mit meiner Tochter und meinem Freunde Musa aus dem Lande machen sollte. Aber der König Unser Herr ließe mich verfolgen. Glaubst du das nicht auch, Don Ephraim? Und ich sehe nicht, wie ich mich durch das riesige Gebiet der Christenheit heil in den Bereich des Sultans durchschlagen könnte. Ihr müßt meine Anwesenheit in Toledo verzeihen, du und die Aljama.«

Ephraim sagte: »Die Judería hat gute Mauern und fünfzehnhundert waffenfähige junge Männer, sie zu verteidigen. Sie scheint mir heute die rechte Stätte für dich, Don Jehuda.«

Jehuda verbarg nicht seine Überraschung; er erkannte sogleich die ganze Großmut dieses Angebots. »Vergib mir meinen törichten Spott«, sagte er mit ungewohnter Wärme. »Ich habe nicht viele Freunde gefunden in meinem Leben, ich hatte so viel Menschlichkeit nicht erwartet.« Erregt, der sonst so Beherrschte, ging er auf und ab. Blieb vor Ephraim stehen, redete auf ihn ein, und nun sprach er hebräisch: »Aber hast du auch bedacht, mein Herr und Lehrer Don Ephraim, wie viel von ihrer Sicherheit die Judería verliert, wenn sie mich beherbergt?« Ephraim antwortete: »Es sei ferne von uns, einem Manne, der uns so viel Gutes erwiesen hat, unsere Tore zu verschließen in den Tagen der Bedrängnis.«

Jehuda, voll von zwiespältigen Gefühlen, fragte: »Gilt diese Einladung auch für Doña Raquel?« Ephraim, nach einem winzigen Zögern, erwiderte: »Sie gilt auch für deine Tochter.« Er drängte: »Es geht um dein Leben, Don Jehuda; du bist klug und weißt es so gut wie ich. Wir werden vielleicht für deine Rettung mit Blut zahlen müssen; du hast es gesagt, und ich widerspreche dir nicht. Aber wir sind überzeugt, das Opfer wird Gott wohlgefällig sein. Du hast dich zu uns bekannt freien Willens und als es hohen Einsatz kostete. Ich bitte dich, sei nicht stolz in dieser Stunde. Gib uns Gelegenheit, dir zu vergelten.«

Jehuda sagte. »Ihr seid opferwillige Leute, und ich bin versucht, eure Einladung anzunehmen. Denn mein Herz ist voll Angst, ich leugne es nicht. Aber etwas in mir hält mich zurück. Ich könnte mir und dir vormachen, ich möchte euch nicht gefährden; aber das ist der Grund nicht. Auch mein Stolz ist nicht der Grund; bitte, glaub es mir. Es ist ein Tieferes. Sieh, noch ganz zuletzt hat dieser König mich gezwungen, mein Siegel zu setzen neben das seine unter jenes freche Schreiben an den Kalifen. Da hab ich von neuem erkannt: mein Schicksal ist nun einmal verflochten mit dem dieses Königs von Edom. Ich habe ein hohes Spiel gespielt, aber ich will nicht davonlaufen am Tage der Rechenlegung.« – »Bedenk es noch einmal«, beschwor ihn Ephraim. »Du läufst Adonai nicht davon, wenn du untertauchst in seinem Volke, zu dem du dich bekannt hast unter Opfern. Es ist spät, Don Jehuda. Morgen wird vielleicht keine Zeit mehr sein, dieses Haus zu verlassen. Komm mit mir. Nimm deine Tochter und komm.«

Jehuda sagte: »Du bist ein mutiger, gütevoller Mann, Don Ephraim, und ich danke dir, Gott erhöhe deine Kraft. Aber ich kann mich jetzt nicht entscheiden. Ich weiß, die Stunde verrinnt. Aber ich kann nur meinem eigenen Herzen folgen, ich kann jetzt nicht mit dir gehen.«

Ephraim, in schwerer Trübsal, sagte: »Ich schicke dir später nochmals einen Boten, und ich hoffe, du besinnst dich anders und kommst zu uns, du und deine Tochter. Der Allmächtige lenke dein Herz zur rechten Entscheidung.«

Jehuda, sich überwindend, sagte: »Bevor du gehst, mein Herr und Lehrer Ephraim, laß mich dich noch um eines bitten. Mein Enkelkind ist in Sicherheit, doch weiß ich nicht, wie lange diese Sicherheit währt. Ich weiß nicht einmal genau, wo das Kind heute ist. Der einzige, der darum weiß, ist mein Ibn Omar, den du kennst. Du wirst ihn ausfindig machen, wenn die Läufte ruhiger sind. Ibn Omar ist ein verständiger Mann, er weiß um meine Absicht und um meinen Willen, er wird dir Rede stehen. Der König von Edom will sein Söhnchen, meinen Enkel, zum Grafen von Olmedo machen. Sieh zu, daß der Knabe vor ihm verborgen bleibt. Sieh zu, daß er kein Meschummad wird. Laß den Knaben nicht wissen, wes Vaters Sohn er ist. Schütze ihn vor Edom und dem Glauben Edoms.«

»Das werde ich tun, Don Jehuda«, versprach ihm Ephraim. »Und wenn die rechte Zeit kommt, werde ich den Knaben wissen lassen, daß er ein Ibn Esra ist.« Er wandte sich, zu gehen. »Der Herr sei mit dir, Jehuda«, sagte er. »Ich bin dir sehr freund. Wenn wieder einmal Hader zwischen uns sein sollte, dann denk an diese Stunde, und auch ich will daran denken. Und wenn wir uns nicht wiedersehen sollten, dann wisse, daß viele Tausende deines Volkes dein Andenken segnen. Sei Friede mit dir, Jehuda.« – »Mit dir sei Friede, Ephraim«, sagte Jehuda. Jehuda, nachdem ihn Ephraim verlassen hatte, hockte lange wie ausgeleert. Er bereute es nicht, daß er Ephraims Angebot abgelehnt hatte, er war ein mutiger Mann. Aber er hatte viele Menschen sterben sehen und wußte genau, worum es ging. Er wußte: das arabische Wort, welches den Tod den Vernichter aller Dinge nannte, war mehr als hohler Schall, und schämte sich nicht, zu zittern, wenn er an die schwarze Leere dachte, in die er fallen sollte.

Es war ihm Erleichterung, daß Ephraim seine Antwort nicht als endgültig ansah. Immer neue Bedenken kamen ihm. Riß er nicht die Tochter mit in den Untergang? Er mußte sie fragen, bevor er endgültig wählte. Ihrer Entscheidung wird er sich fügen.

In dürren Worten sprach er ihr von dem Tod, der jetzt hier in Toledo überall nach ihnen griff, und von dem Angebot Ephraims, sie in die Sicherheit der Judería aufzunehmen.

Raquel hatte von der Niederlage Alfonsos gewußt, aber erst jetzt, da der Vater sprach, erkannte sie ihren ganzen, furchtbaren Umfang. Sie spürte grauenvolle Angst für sich und den Vater, aber mehr noch Mitleid mit Alfonso. Dieser Mann, dieser König, der nichts war als Strahlen und Sieg, konnte er den Zusammenbruch überstehen? Und während sie spöttisch und zärtlich dachte: Nun wird er mir nicht mein Sevilla zeigen, der Arme, Unselige, sah sie vor sich sein Gesicht, trotzig, wütend, voll von fressendem Leid. Und gleichzeitig jubelte es in ihr: Nun wird er bald, sehr bald wird er in der Galiana zurück sein. Er hat es mir versprochen. Und kein Panzer und Eisen wird mehr um ihn sein, und meine Worte werden eingehen in seine Brust.

Ohne Zögern, sowie Jehuda zu Ende gesprochen hatte, antwortete sie: »Es ist mir nicht erlaubt, in die Judería zu gehen, mein Vater. Don Alfonso hat mir aufgetragen, in der Galiana auf ihn zu warten.«

Es traf den Jehuda ins Herz, daß sie an nichts anderes dachte als an den Wunsch Don Alfonsos. Er sagte: »Da es so dein Wille ist, meine Tochter, gehe auch ich nicht in die Judería.« Doch sprach er nicht mit der gewohnten Entschiedenheit, vielmehr schaute er ihr prüfend in das stille Gesicht. Noch war in ihm eine kleine Hoffnung, sie werde widersprechen: Nein, mein Vater, ich will nicht, daß du untergehst. Ich will, daß du lebst. Ich folge dir, wie immer du entscheidest. Aber sie sagte nichts, und er dachte bitter: Ich selber habe sie dem Manne übergeben. Ich habe sie dem Manne zugetrieben. Ich darf nicht klagen, wenn sie mich jetzt sterben läßt, ehe sie handelt gegen den Wunsch des Mannes.

Plötzlich, aufleuchtend, bat sie: »Komm doch du zu mir, mein Vater. Komm du zu mir in die Galiana.« Er ahnte, was in ihr vorging, ihr lebendiges Gesicht ließ es ihn wissen. Sie hatte begriffen, in welcher Gefahr sie beide waren, aber trotzdem glaubte sie, in der Galiana sei Sicherheit; sonst hätte Alfonso ihr nicht aufgetragen, dort zu bleiben. Er, Jehuda, wußte: dies war Traum und Wahn; er wußte: sie gefährdete ihn, er sie, keiner konnte keinem helfen. Aber es war eine tröstliche Vorstellung, zusammenzusein in der äußersten Stunde, und er zerstörte nicht ihren Traum.

Er willigte ein, noch in dieser Nacht mit ihr in die Galiana zu gehen.

Er forderte Musa auf, mitzukommen. Der fand es begreiflich, daß Raquel in der Galiana bleiben, und auch, daß Jehuda die Tochter begleiten wollte. Für ihn selber aber, meinte er, habe es keinen rechten Sinn, in solcher Lage den Ort zu wechseln. »Laß mich hier bei unsern Büchern«, bat er. »Es wäre ein Unrecht, sie ohne Hüter zu lassen. Vielleicht wäre es gut«, erwog er und belebte sich, »zwei oder drei der kostbarsten Manuskripte in die Judería zu schaffen. Wie gut, daß der Sefer Hillali schon dort ist.«

Jehuda und Musa saßen nach dem frühen Abendessen noch zusammen, redend, trinkend. Um sie war der Duft der vielen Jahre, die sie gemeinsam verbracht hatten. Sie sprachen von ihrer Bedrängnis mit der Sachlichkeit erfahrener Männer. Sie sprachen mit leiser, spöttischer Ehrerbietung vom Tode.

Musa stand an seinem Schreibtisch, kritzelte Kreise und Arabesken und meinte: »Es sind nicht Alfonsos Sterne, die ihn und uns in diese peinliche Situation gebracht haben: es ist sein Wesen, es ist sein Rittertum. Das Rittertum und die Pest sind die schlimmsten Geißeln, mit denen Gott seine Geschöpfe züchtigt.«

Jehuda konnte nicht anders, er mußte dem Freunde noch erzählen, mit welcher Wärme Don Ephraim seine Verdienste gerühmt hatte. »Nun haben es die Juden doch noch eingesehen«, sagte er bescheiden stolz, »daß es nicht Sucht nach Ehre, Reichtum und Glanz war, was mich ihnen helfen hieß.« Musa pflichtete wohlwollend bei: »Ich habe es miterlebt und weiß, daß du oft nicht nur aus Ehrsucht, sondern auch aus Großheit des Herzens gehandelt hast.« In seiner freundlich lehrhaften Art erläuterte er: »Gleich ihren Krankheiten, heißt es bei Hippokrates, haben auch die Handlungen der Menschen selten nur einen Grund, es hat vielmehr jede einzelne Handlung mannigfache Wurzeln.« Jehuda erwiderte lächelnd: »Verschwenderisch mit Lob bist du nicht, mein Freund Musa.«

Ihr Gespräch vertröpfelte. Sie, denen sonst das Wort so leicht vom Munde floß, wurden immer ärmer an Worten, je näher die Minute rückte, da Jehuda gehen mußte. Als er aufbrach, schwiegen sie vollends und drückten einander nur die Hand.

Dann aber, unversehens und ungeschickt, umarmte Musa den Jehuda; niemals hatte er dergleichen getan. Und als Jehuda gegangen war, stand er noch lange an derselben Stelle, mit hängenden Armen, vor sich hin zur Erde schauend. Als Jehuda des andern Morgens in der Galiana erwachte, fand er sich einen Augenaufschlag lang nicht zurecht. Dann wußte er, wo er war und was gegen dieses Haus andrängte. Doch nun fürchtete er sich nicht mehr; in ihn eingekehrt war eine große Ruhe, er spürte jene Ergebung in das Schicksal, die Musa ihm so oft gepriesen hatte.

Er schloß die Augen und lag noch eine Weile still. Vom Patio her kamen Vogelstimmen, ein paar dünne Sonnenstrahlen kletterten durch die Ritzen der Fensterläden ihm übers Gesicht. Er lag, labte sich an der Stille. Bis jetzt hatte er immer geglaubt, rechnen und planen zu müssen, für sich und die andern; nun endlich, zum erstenmal, spürte der ruhende Mann, was Frieden ist, spürte es mit allen Gliedern, weidete sich daran.

Er stand auf, badete, machte sich zurecht, langsam, sorgfältig. Ging auf leisen Sohlen durch Haus und Garten. Nahm wahr die hebräischen und arabischen Spruchbänder an den Wänden. Nahm wahr, daß einer das Glas der Mesusa zerschlagen und die Zisternen des Rabbi Chanan zugeschüttet hatte. Für einen Augenblick war eine wilde, zornige Eifersucht in ihm. Sogleich aber schüttelte er den Kopf über sich selber, und aus seinem Unmut wurde wissende Freude, daß in den Tagen, die noch blieben, Raquel ihm gehörte, nicht dem andern.

Er saß am Rande des kleinen Teiches, halb liegend, wie er damals auf den Stufen der Fontäne gesessen war. Genoß es, daß er an keine Zukunft mehr denken, keine Entschlüsse mehr fassen mußte. Wog, was geschehen war, und in der Erinnerung war alles gut, das Frohe und das Üble. Er dachte an die frommen, besessenen, verachtungsvollen Augen des Rabbi Tobia, und der Gedanke erzürnte ihn nicht und beschämte ihn nicht.

Auch seines Sohnes Alazar dachte er. Bisher, mit hartem Willen, hatte er die Erinnerung nicht in sein Bewußtsein emporsteigen lassen. Unbewegten Gesichtes hatte er gehört, daß des Königs Schildknappe getötet worden war in der Schlacht von Alarcos, er hatte nicht weiter gefragt, ihm war der Knabe seit langem gestorben. Jetzt, sitzend am Rande des Teiches in der Galiana, gedachte er des Sohnes mit Trauer und ohne Groll.

Ein Diener kam, ihn zu Raquel zu rufen. Sie frühstückten unter gutem, gleichmäßigem Gespräch. Mit keinem Wort erwähnten sie ihre Gefahr. Hierher in die Galiana drang nicht die Unordnung der Stadt Toledo. Friede war um sie. Haus und Garten waren gepflegt, Speisen in reicher Auswahl standen bereit, lautlose Diener warteten auf Befehle.

Nach wenigen Stunden war ihnen, als hätten sie hier in wochenlanger Gemeinsamkeit gelebt. Sie ergingen sich im Garten, oder sie genossen die Kühle des Hauses, sie suchten einander und ließen sich wieder allein.

Sie hatten noch drei Tage zu leben, aber das wußten sie nicht. Sie sahen, wie die Sonnenuhr die Stunden zählte, wie die Schattenweiser vorrückten, und tief in seinem Innern wußte Jehuda: es waren ihre letzten Stunden, die da gezählt wurden; allein er ließ diese Wissenschaft ihre erfüllte Stille nicht beunruhigen.

Raquel ihresteils hatte jenes Gespräch mit ihrem Vater gut und mehrmals überdacht und wußte um ihre Bedrohtheit. Aber sie glaubte nicht daran. Alfonso hatte gesagt: Warte auf mich. Alfonso wird kommen. Es konnte nicht sein, daß der Tod, der Zerstörer aller Dinge, sie anrührte, bevor Alfonso kam. Sie stieg hinauf zu dem Ausblick, von dem sie die Straße übersehen konnte, die von Toledo herunterführte. Sie wartete heiß und zuversichtlich.

Am zweiten Tag kam Don Benjamín in die Galiana, mit Gefahr des Lebens, als Bote Don Ephraims. In glühenden Worten beschwor er Jehuda und Raquel, sich in den festen Schutz der Judería zu begeben. Es quälte und beglückte Jehuda, daß sie ein letztes Mal versucht wurden. Aber Raquel sagte sanft und bestimmt: »Don Alfonso hat mir befohlen, hier zu bleiben. Ich bleibe. Du, mein Freund Don Benjamín, wirst mich begreifen.«

Benjamín, so scharf ihn ihre Worte peinigten, verstand sie. Ihre Seele blieb verbunden mit diesem Ritter, dem König von Edom, dem Manne des Krieges. Das Elend, das sein ruchlos verspieltes Heldentum über die Halbinsel gebracht hatte, trübte ihr nicht seinen Glanz. Sie liebte ihn weiter, sie glaubte weiter an ihn, sie lehnte, weil er ihr herrscherhaft ein paar freundliche Worte hingeworfen hatte, die Zuflucht der Judería ab. Mehr als das: Doña Raquel, diese Raquel, wie er sie sanft und stolz dastehen sah, schien ihm gar nicht mehr denkbar unter dem Volk der Judería. Neid, Bosheit, widerwillige Bewunderung, Schmähsucht, Neugier würde dort um sie herum sickern und sudeln. Nein, sie war nicht denkbar inmitten all des kleinen Unflats.

Er sagte: »Ich werde nicht weiter in dich drängen, Doña Raquel, und nicht in dich, Don Jehuda. Aber laßt mich hierbleiben bis zur Nacht. Dann will ich zurückkehren ohne euch.«

Er blieb und erwies sich als unaufdringlicher, einfühlsamer Gast. Er spürte es, wenn Jehuda mit Raquel allein sein wollte, und war zur rechten Zeit wieder da. Bald waren sie zu dreien, bald saß Jehuda mit Raquel in ihrem Zimmer, bald ging Benjamín mit ihr die Kieswege des Gartens entlang.

Raquel war einsilbig, aber ihre Stummheit schien Benjamín beredter als Worte. Er versuchte, sie zu zeichnen. Gab es auf. Es war Vermessenheit, mit Gott wetteifern zu wollen, der diese geschaffen hatte. Wer durfte, und wäre er der Meister der Meister, daran denken, Raquels innere Harmonie wiederzugeben, die tiefe Übereinstimmung von Gestalt, Gesicht, Bewegung? An ihr offenbarte sich die Lehre des Plato: »Die Schönheit steht nicht höher als die andern Ideen, aber sie leuchtet durch das Auge, den hellsten unserer Sinne, heller als alle andern Urbilder durch die Körperlichkeit.« Sie war ein Gleichnis, Raquel, ein Gleichnis dessen, was den Menschen beglückt und erhöht. Ein jeder, wenn er sie nur vorübergehen sah, mußte besser werden. Dieser rohe und ritterliche König war der einzige, der nicht besser geworden war durch sie – und darum der einzige, den Benjamín an diesem Tage haßte. Er spürte schmerzhaft, wie Raquel noch immer hoffte, den Un-Menschen zu vermenschlichen, und er liebte sie noch mehr um diesen ihren kindlichen, unzerstörbaren Glauben.

Am späten Nachmittag saßen Jehuda und Benjamín am Rande des Teiches. Es war sehr heiß, doch hier schien die Hitze weniger drückend; sie kühlten die Füße im Wasser und erfreuten sich der Kühlung. Es war dies aber am zweitletzten Tage vor Jehudas Tod.

Und Jehuda bat: »Sag mir doch, mein junger, der Schrift und vielen andern Wißtums kundiger Don Benjamín: wie denken deine Lehrer, und wie denkst du selber über das Fortleben nach dem Tode?«

Don Benjamín schaute zu, wie die Mücken über dem Teich tanzten, sah ein Blatt ins Wasser fallen, schwimmen, ein wenig treiben. Legte sich seine Antwort zurecht. Sagte: »Es lehrt Unser Herr und Lehrer Mose Ben Maimon: Anteil an der Unsterblichkeit hat nur ›der erkennende Teil‹ des Menschen. Nur ›der erworbene Verstand‹ überlebt den Körper, nur jener kleine, edelste Teil der menschlichen Seele, der sich ehrlich und mit Erfolg um die Erforschung der Wahrheit bemüht hat. So lehrt Mose Ben Maimon.«

Er schwieg eine Weile, dann fügte er hinzu: »Aber im Talmud heißt es: Um des Friedens willen darf sogar die Wahrheit geopfert werden.«

Der Abend fiel ein. Benjamín verzögerte den Abschied. Doch der blasse, dünne Mond färbte sich stärker, und nun mußte er wohl gehen.

Jehuda und Raquel begleiteten ihn zum Tor. »Sei Friede mit euch«, sagte er. An der Biegung des leise ansteigenden Weges wandte er sich um. Im unsichern Licht flirrte die Inschrift Alafia, Heil, Segen. Jehuda und Raquel waren nicht mehr da. Immer heißer wurde die Gier des Volkes von Toledo, die Niederlage von Alarcos an den Schuldigen zu rächen. Nur wenige konnten sich dem heilig wilden Eifer entziehen, dessen die Luft voll war. Wo sich Juden außerhalb der festen Mauern der Judería sehen ließen, wurden sie mißhandelt; mehrere wurden erschlagen. Auch von den christlichen Arabern wurden einige übel zugerichtet. Strengere Schutzmaßnahmen waren geboten.

Die Königin berief Don Gutierre de Castro.

Sie habe Bedenken, eröffnete sie ihm süß und tückisch, die Sicherheit der vielen Bedrohten weiter kastilischen Offizieren anzuvertrauen; diese seien gereizt durch den Verlust von Brüdern und Söhnen und nicht geneigt, Menschen zu verteidigen, welche das Volk, zu Unrecht, für schuldig an dem Unglück halte. Es sei deshalb ein Aragonier wohl besser geeignet, Unruhen in der Stadt zu verhüten. »Tu du mir den Dienst, Don Gutierre!« verlangte sie. Sie schaute ihm mit den grünen Augen voll ins Gesicht und nestelte an ihrem Handschuh. »Ich weiß«, fuhr sie fort, »es ist keine leichte Aufgabe, und vielleicht wird es nicht möglich sein, unter den vielen Tausenden einen jeden zu schützen. Ich kann mir Fälle vorstellen, da man besser einen einzelnen preisgibt im Interesse der vielen Tausende.«

Der Castro dachte nach. Dann, auf seine langsame Art, antwortete er: »Ich glaube, ich verstehe dich, Dame. Ich will mein Bestes tun, mich deines Vertrauens würdig zu zeigen.« Er neigte sich tief und ehrerbietig und nahm, zärtlich geradezu, den Handschuh.

Kaum hatte der Castro die Königin verlassen, als ihr der Domherr gemeldet wurde. Jener wilde Unmut, der Don Rodrigue schon einmal zu ihr getrieben hatte, war nicht von ihm gewichen. Er sah mit Zorn und Schmerz, wie hilflos er war vor der wüsten Tollheit, welche die Stadt durchbrannte. Er mußte Doña Leonor von neuem mahnen und treiben.

In dringlichen Worten forderte er sie auf, die Unschuldigen zu schützen. Sie, mit fürstlich liebenswürdigem Vorwurf, erwiderte: »Glaubst du wirklich, mein sehr verehrter Vater und Freund, Gott habe eine so Unfähige auf den Thron von Kastilien gesetzt, daß sie einer solchen Mahnung bedarf? Was geschehen konnte, ist geschehen. Ich habe von der Aljama keinen einzigen Mann für die Stadtmauern verlangt, so daß die Juden ihre ganze starke Schutztruppe zur eigenen Verteidigung verwenden können. Im übrigen habe ich zu guter Vorsicht den Schutz aller Bedrohten den Aragoniern anvertraut, damit nicht etwa ein kastilischer Ritter mild und langsam gegen die Unruhestifter vorgehe. Hab ich dir’s recht gemacht, Don Rodrigue?«

Der Domherr wußte, daß sich der Zorn der Leute von Toledo vor allem gegen Don Jehuda richtete, und er hätte gern auch nach ihm gefragt. Am liebsten wäre er ins Castillo gegangen und nicht nur aus Freundschaft für Jehuda; immer heißer verlangte es ihn, mit dem weisen Musa die wüsten Dinge zu bereden, die sich ringsum ereigneten. Aber hatte er nicht zur Kasteiung für jene Menschlichkeit, die ihm in dieser Zeit untersagt war, sich’s auferlegt, das Castillo zu meiden? Und wenn er sich jetzt um Jehuda Sorgen machte, war dies nicht vielleicht nur ein Vorwand, ins Castillo zu gehen? Wenn einer, dann war der weltkundige Don Jehuda Manns genug, sich selber zu schützen. Überdies war es undenkbar, daß sich ein Kastilier vergreifen sollte an Leib und Habe eines Kronrats des Königs. Vor den fürstlichen, etwas spöttischen Augen Doña Leonors schien es ihm doppelt lächerlich, Angst um den Escrivano zu bezeigen. Er dankte der Königin für ihre Umsicht und ging. Don Gutierre de Castro, sich seines Auftrages wachsam und genau befleißend, vergewisserte sich zunächst, wie es um die christlichen Araber stand. Sie lebten in ihren gesonderten Quartieren um ihre drei Kirchen herum, zumeist kleine Leute. Es konnte die Menge kaum reizen, sich mit ihnen abzugeben, man hatte denn auch von ihnen abgelassen. Immerhin, ihre Mauern und Tore waren schwach, der Castro legte zwei Fähnlein in ihre Quartiere. Sodann überzeugte er sich von der Festigkeit der Mauern und Tore der Judería. Sie waren fest, ungeordnete Massen konnten sich hier schwerlich Eingang erzwingen. Trotzdem fragte der Castro den Párnas, ob er ihm welche von seinen Bewaffneten abgeben solle; Don Ephraim lehnte höflich dankend ab.

Die Judenviertel vor dem Tor waren geräumt, nur ein paar Alte und Kinder waren geblieben. In vielen der leeren Häuser hatten sich christliche Flüchtlinge einquartiert. Die Häuser, aus denen es etwas zu holen gab, waren geplündert. In der Synagoge war alles kurz und klein geschlagen. Auf dem Almemor, der Estrade, von der am Sabbat die Heilige Schrift verlesen wurde, hatte ein Spaßvogel eine Puppe aufgestellt, die Spottfigur eines alten Juden; der Castro lachte herzlich.

Gab es hier wenig für ihn zu tun, so schien ihm der übernommene Auftrag verfänglicher, wenn er vor dem Castillo stand.

Er stand dort oft. Viele standen oft dort. Da sie in die Judería nicht hineinkonnten und es nicht der Mühe wert war, über die paar kläglichen Verdächtigen außerhalb der Mauern herzufallen, lockte es die Leute von Toledo immer stärker, ihren heiligen kastilischen Zorn an dem üppigen Haus und seinen märchenhaften Schätzen auszulassen. Man mußte das frech glänzende Castillo in Trümmer schlagen. Man mußte den Betrüger und Verräter, der, eine schwarze Spinne, darin saß, fangen und zertreten, mitsamt seiner Tochter, der Hexe, die den König behext hatte. Das war ein gottgefälliges Werk und die rechte Labe für Herz und Gemüt in diesen trübseligen Zeiten. Der Castro fand also, wann immer er an dem Haus vorbeikam, Haufen Volkes, die gierig und gelockt die Mauern anstarrten.

Langsam und plump wälzten sich in dem Castro die Gedanken. War der Jud frech genug und wohnte noch in dem Haus? Der Jud war ein Feigling, aber eingebildet auf seine Stellung und ein Prahler, es konnte sehr wohl möglich sein, daß er noch da war. Das Haus gehörte ihm, dem Castro, es war das Castillo de Castro, seine Väter hatten es erobert vor hundert Jahren, von den Moslems. Es war nach wie vor sein, des Castro, Haus, das hatte auch Doña Leonor gesagt. Wenn erst der Krieg recht im Gang sei, hatte sie gesagt, dann werde man den Juden hinauswerfen. Mehr im Gang sein als jetzt konnte der Krieg schwerlich, und wenn die Schlacht verloren worden war, dann durch die Übeltaten des Juden, und es war unerträglich, daß sich dieser weiter frech in dem Castillo spreizte. Alle andern Juden, viele Tausende, waren bedroht wegen dieses einen Lumpen und Erzverräters. Nicht als ob es schad um sie gewesen wäre, aber er hatte nun einmal den Auftrag übernommen, sie zu retten, und Doña Leonor hatte ihm ausdrücklich befohlen, lieber einen einzelnen preiszugeben, als die Tausende zu gefährden.

Wenn der Castro an dem Haus vorbeikam, verzog er wie die andern und wartete. Sie warteten, alle, warteten bedrohlich. Keiner wollte der erste sein, Hand zu legen an das Haus des mächtigen Escrivanos.

Immer öfter kam der Castro an dem Haus vorbei. Das Haus zog ihn. Er sah stets das gleiche: sie standen vor dem Haus, murrten dumpf, warteten.

Einmal aber hörte er schon von der Ferne helles, wüstes Geschrei. Er beeilte sich. Und siehe da, mehrere, ziemlich viele, schlugen gegen das riesige Tor. Auch mit dem mächtigen Klöppel schlugen sie gegen das Eisen, daß es ungestüm und herrisch durch das Geschrei klang. Doch kein Pförtner zeigte sich. Schließlich stieg einer auf die Schulter eines andern und kletterte die Mauer hinauf. Rasch, unter dem Jubel der vielen, war er oben. Er verschwand im Innern. Und da öffnete sich schon der Ausschnitt des Tores, in ihm erschien das lachende, triumphierende Gesicht des Eindringlings, und mit scherzhafter, höflicher Gebärde lud er die andern, einzutreten.

Der Castro stand und überlegte. Er hatte ein paar seiner Leute mit sich, er hätte ohne viel Mühe das Tor verteidigen und es halten können, bis Verstärkung herbeigerufen war. Aber lautete nicht sein Auftrag, den einen preiszugeben und die vielen zu retten? Er stand und tat nichts, und immer mehr drangen durch den kleinen Ausschnitt des Tores ins Innere.

Schließlich folgte er selber. Die Schreier waren still geworden, nun sie im ersten Hofe standen. Kein Mensch von den Inwohnern zeigte sich, keiner von den vielen Dienern, Schreibern, Hausbeamten. Das Volk schob sich verlegen die Wände entlang, öffnete zögernd ein zweites Tor, das ins Innere führte. Staunend, betreten, dümmlich lachend standen sie inmitten der schweigenden Pracht. Schoben sich weiter. Stießen versehentlich eine Vase um, eine zweite. Sie zerbrach. Einer nahm einen Pokal aus einer Nische, ein kunstvolles Glas, schmiß es zu Boden; es zerbrach nicht auf dem dicken Stoffbelag. Der Mensch, zornig jetzt, riß den Belag zurück, Steinboden zeigte sich, er schmetterte das Glas auf den Stein, es zersplitterte mit Lärm.

Ein erschreckter Diener kam zum Vorschein, ein Moslem. Er wollte etwas sagen, sänftigen, Vernunft zureden, vielleicht auch wollte er mitteilen, daß der Herr des Hauses nicht da sei. Man hörte ihn nicht in dem allgemeinen Geschrei, man wollte ihn nicht hören, man schlug ihm über den Mund, man stieß ihn, erst zaghaft, dann bösartiger. Da lag er, blutig, japsend. Die Menge freute sich. Wurde wild. Zerriß, zerschlug, zerschmiß, was sich zerreißen und zerschlagen ließ.

Der Castro schaute zu, wie benommen. Dies ist sein Haus. Der Krieg ist im Gang, und Doña Leonor hat gesagt, dies ist sein Haus. Der Jud, der sich hereingesetzt hatte, scheint nicht da zu sein; vielleicht auch hat er sich in einen Winkel verkrochen, das wird sich noch herausstellen. Es ist sein, des Castro, Haus, endlich. Und es ist ein sehr reiches Haus. Es ist ein lästerliches, heidnisches Haus. Was hat der Jud sich erdreistet! Was hat er aus seinem guten, ritterlichen, christlichen Castillo gemacht!

Der Castro, langsam, mit wuchtigen Schritten, klirrend, ging durch den Saal, stieg auf die kleine Estrade, stand in der Öffnung des Geländers, welches die Estrade abtrennte. Er stand, der stämmige Mann, in Haltung, wie alter Brauch sie vorschrieb, mit gespreizten Beinen, beide Hände auf sein Schwert gestützt, breit, wuchtig; aus den tiefliegenden Augen beschaute er genießerisch die Menschen, die sein Haus befreiten von dem Unrat, mit dem der Jud es besudelt hatte.

Inzwischen waren immer mehr eingedrungen; sie hatten das große Haupttor ganz geöffnet. Das weite, stille Haus, seine Säle und seine kleinen Zimmer, seine Höfe und seine Kammern waren mit einemmal voll von schreienden, wütigen Menschen. Einige steckten, was ihnen wertvoll schien, in ihre Taschen. Den meisten aber war daran nichts gelegen; ihre Lust ging dahin, zu zerschlagen, zu zerstören. Sie suchten nach dem Juden, doch der war nicht da, der Feigling, der hatte sich davongemacht. Nur ein paar armselige Diener fand man, auf die man losprügeln konnte. Aber wenigstens des Juden Habe war da, die kostbaren, verruchten Dinge, um derentwillen er das Land ausgeplündert und verraten hatte. Die Wut aller richtete sich gegen diese Dinge. Sie zerrissen, zerbrachen, zerschlugen, zertrümmerten, zornig, hingegeben, jubelnd.

Ihre Raserei griff auf den Castro über. Auch in ihm tobte es: Hin muß es sein, das da! Tot muß es sein! In Trümmern muß es sein, all das Feine, Üppige, Jüdische, Weibische, Heidnische! Und mit der Scheide seines Schwertes schlug er los auf das Gebrechliche, Liebliche, und: »A lor! A lor!« schrie er und haute ein auf die Inschriften an den Wänden, daß die zierlichen, farbigen Steine sich lösten.

Ein stiller, dünner Herr im Priestergewand kam auf ihn zu, rührte ihm den Arm: Don Rodrigue.

Gemeinhin machte der Domherr lieber einen Umweg, als daß er an dem Castillo vorbeiging; er fürchtete die Versuchung. Heute aber hatte er das helle, wüste Geschrei gehört, Angst hatte ihn herbeigezogen. Er hatte das weitoffene Tor gesehen, hatte gesehen, wie sich die Menschen hineinwälzten, wütig schreiend. War ihnen gefolgt. Sie hatten dem Priester Platz gemacht, und nun also fiel er diesem wohlgerüsteten Manne, der, obgleich sichtlich ein Ritter, an dem übeln Werke teilnahm, in den Arm.

Da der Mann ihm ein wildes, unwilliges Gesicht zukehrte, sagte er: »Ich bin Don Rodrigue, Mitglied des Kronrats.« Der Castro lächelte breit, herausfordernd: »Und ich, hochwürdigster Herr, bin Don Gutierre de Castro, Haupt des Geschlechtes, nach dem dieses Haus genannt ist.« Rodrigue erinnerte sich der Schutzmaßnahmen der Königin. Ein vager Verdacht stieg ihm auf. »Du läßt es zu, daß diese da plündern und zerstören?« fragte er. »Sollen gute Kastilier viel Federlesens machen«, fragte der Castro zurück, »wenn sie Verräter suchen? Nachdem die Blüte der christlichen Ritterschaft erschlagen ist, kommt es wohl auf ein paar jüdische Teppiche und Pergamentrollen nicht an.« Rodrigue fragte: »Bist nicht du es, der Weisung hat, die Bedrohten zu schützen?« Gutierre schaute dem Priester ruhig ins Gesicht. »Ja«, erwiderte er, »und ich werde der Frau Königin den Handschuh guten Gewissens zurückgeben können. Ich habe ihre Weisungen aufs Wort erfüllt. Ich habe den Zorn des Volkes sich austoben lassen gegen den einzelnen, Schuldigen, und der großen Masse jener geholfen, die man zu Unrecht verdächtigt.« Rodrigue, bestürzt, ungläubig, fragte: »Das wäre dein Auftrag?« – »So geht der Befehl der Königin«, sagte Gutierre.

Rodrigue, in jäher Angst, fragte: »Was ist es mit Don Jehuda? Ist dem Escrivano was geschehen?« Der Castro hob die Schultern, ausdrucksvoll, verächtlich. »Hier jedenfalls nicht«, antwortete er. »Der Hund hat sich verdrückt, scheint es.« Rodrigue atmete auf. Es war, wie er vermutet hatte: Don Jehuda hatte sich in Sicherheit gebracht.

Er raffte sich zusammen. »Du bist Kreuzritter«, sagte er. »Ich ermahne dich im Namen der Kirche, dem schändlichen Unfug Einhalt zu tun.« Der Castro schaute um sich und sah, daß nicht mehr viel da war, was hätte zerstört werden können. »Es steht dem Priester an, milde zu sein«, sagte er mit gutartigem Spott und gab seinen Leuten Befehl, die Gäste aus dem Haus zu treiben. Es geschah.

Don Gutierre verabschiedete sich höflich von dem Domherrn, beschaute noch einmal das getane Werk und ging, voll der freudigen Erwartung, diese Stätte heidnischer Üppigkeit ins Castillo de Castro zurückzuverwandeln. Rodrigue blieb zurück in dem verwüsteten Haus. Er hörte, wie die letzten abzogen, wie das große Tor mit dumpfem Lärm geschlossen wurde. Fast quälend drang die plötzliche Stille auf ihn ein. Er hockte nieder inmitten der Trümmer und Scherben, voll schwerer, schmerzhafter Müdigkeit. Hockte lange. Stand auf, schleppte sich durch die vertrauten Räume. Risse, Löcher, Trümmer starrten ihn an, von allen Seiten. Er ging weiter herum in dem öden Haus; er mühte sich, leise aufzutreten, er wußte nicht, warum. Er klaubte Scherben vom Boden, Stücke von Möbeln, Stoffen, beschaute sie, schüttelte den Kopf. Verschmutzt, zerrissen lag da ein Buch. Er nahm es auf, versuchte die Blätter zu glätten, die zerrissenen Seiten zusammenzustücken, er las mechanisch, es war die »Ethik« des Aristoteles.

Er kam in die Rundhalle des Musa. Hier waren die Polster gewesen, in denen der Freund so oft behaglich zurückgelehnt gesessen hatte, mit ihm schwatzend, und was war aus Musa geworden? Da war das Schreibpult gestanden, von dem aus er so gerne über die Schulter seine klugen, milden, spöttischen Sätze gesprochen hatte. Es war zerhackt; einer mußte sich die Mühe gemacht haben, das feste, edle Holz mit der Axt zu zerhacken. Von den farbigen Buchstaben der Sprüche an den Wänden waren viele zerschlagen und heruntergefallen. Mechanisch starrte er auf den Satz: »Nicht besser ist der Mensch als das Vieh.« Nahm wahr, daß von dem Worte »Habehemah – Das Vieh« die Buchstaben »Bet« und »Mem« ausgeschlagen waren, die drei Buchstaben »He« waren merkwürdigerweise stehengeblieben.

Rodrigue kauerte sich wieder auf den Boden, schloß die Augen. Von außen herein klang das gleichmäßige Plätschern der Fontäne.

Täuschte er sich da, oder schlurften vorsichtige Schritte durch den Garten? Er hörte recht. Und auf einmal war vor ihm ein liebes, häßliches, gescheites, wohlvertrautes Gesicht, über allem Kummer schon wieder leise spöttisch, und: »Es fügt sich trefflich«, sagte die ruhige, marklose Stimme des Musa, »daß nach so vielen lauten Besuchern nur du geblieben bist, mein stiller, hochwürdiger Freund.« Der beglückte Rodrigue war zu erregt, als daß er hätte sprechen können; er nahm die Hand des andern und tätschelte sie. »Ich bin zu spät gekommen«, sagte er schließlich. »Auch wäre ich wohl nicht geschickt genug gewesen, den Aufruhr zu stillen. Aber du lebst!« sagte er; niemals hätte Musa geglaubt, daß die Stimme des andern so warm klingen könnte. Noch immer hielt Rodrigue die Hand des Freundes, sie schauten einander an, lächelten, lachten.

Später fragte der Domherr nach Jehuda. Als Musa ihm mitteilte, er sei bei seiner Tochter in der Galiana, atmete Rodrigue auf. »Im Hause des Königs ist er wohl sicher«, meinte er. »Trotzdem, vorsichtshalber, geh ich noch heute zu Doña Leonor und verlange eine starke Wache für die Galiana. Und jetzt, mein Musa«, sagte er ungewöhnlich befehlerisch, »kommst du mit mir, und bis die Stadt sich beruhigt hat, lebst du in meinem Hause.« – »Ich hätte schon früher zu dir kommen sollen«, erwiderte Musa, »aber ich sagte mir: in dieser Zeit ist ein alter, ketzerischer Moslem kein bequemer Gast.« – »Entschuldige, mein weiser Freund«, entgegnete Rodrigue, »dieses ist die erste törichte Erwägung, die ich dich habe anstellen hören. Gehen wir«, forderte er ihn auf.

Doch Musa bat, noch eine kurze Weile zu verziehen. »Ich muß noch meine Chronik holen und ein paar Bücher«, erklärte er. Voll schlauen Triumphes teilte er dem andern mit, daß er die beiden kostbarsten Handschriften, den Avicenna und jene athenische Handschrift der »Republik« des Plato, in die Judería habe schaffen lassen. Dann schlurfte er hinunter in den Keller und kam zurück, fröhlich grinsend übers ganze Gesicht, unterm Arm das Manuskript seiner Chronik. Diejenigen, die im Castillo gewüstet hatten, zögerten, sich zu zerstreuen. Sie waren enttäuscht, daß man den Verräter und die Hexe nicht hatte mitzerstören können. Sie zogen vor die Judería und verlangten, daß man ihnen Jehuda und Raquel herausgebe, aber verlässige Leute erklärten, die beiden seien nicht in der Judería.

Die Wut, daß sie entschlüpft waren, wuchs. Solange die beiden atmeten, ging Gift und Übel von ihnen aus; es war einfache Pflicht eines jeden guten Christen und Kastiliers, sie aus der Welt zu schaffen. Ihnen selber, den beiden, hatte Gott die Strafe bereits angekündigt. War nicht der Sohn, den die Jüdin dem König Unserm Herrn geboren hatte – man wußte das von dem Gärtner der Galiana, einem gewissen Belardo –, war nicht dieser Sohn auf rätselhafte Art verschwunden? Vermutlich hatte Gott auch ihn weggerafft zur Strafe für die Todsünde. Und hatte nicht die Jüdin schon vor Monaten einen Totenschädel aus dem Tajo gefischt?

Einer sagte, jener gleiche Gärtner Belardo habe verlauten lassen, die Hexe wohne nach wie vor in der Galiana, als ob nichts geschehen sei; ja, sie habe sich auch noch ihren Vater hingeholt. Die meisten wollten an so viel satanische Frechheit nicht glauben. Man könnte vielleicht einmal nachschauen, schlug einer vor. Man war verblüfft, gelockt. Aber man zögerte; das Castillo war das Haus des Juden gewesen, die Galiana war das Haus des Königs. Hingehen in die Galiana könnte man ja einmal, meinten einige; wenn man dort sei, werde man weitersehen. Der Vorschlag gefiel.

Schon machten sich die ersten auf den Weg hinunter zur Brücke. Sie gingen gemächlich, viele schlossen sich an, schon waren es Hunderte, vielleicht tausend.

Langsam in der Hitze, schlendernd, zogen sie über den Hauptplatz, den Zocodovér. Man fragte, was sie vorhätten, sie erzählten, man lachte zustimmend, erheitert. Am großen Haupttor der Stadt fragten die Wächter: »Wohin wollt ihr?« Sie antworteten: »Wir wollen nachschauen, wo sie sind, die Gewissen«; auch die Torwächter lachten. Von den Türmen der großen Brücke herunter fragten die Soldaten, wohin es gehe, und als man ihnen Bescheid gab, lachten auch sie.

So zogen die tausend hinunter in der schweren Hitze. Immer mehr schlossen sich an, sie mochten jetzt wohl an die zweitausend sein.

Der Castro hörte von dem Unternehmen. Mit einigen seiner Begleiter ritt er den Leuten nach, überholte sie, ließ sie wieder vorbei, überholte sie von neuem, ließ sie abermals vorbei. Langsam, nicht sehr deutlich gingen ihm die Gedanken. Ich muß das Eigentum des Königs schützen, erwog er, und: Wenn die Strafe des Herrn auf dem Weg ist, darf sich ihr ein christlicher Ritter nicht entgegenstellen, und: Ich werde handeln nach meinem Auftrag. Ich werde nicht den Verräter und die Hexe schützen und die hunderttausend Juden von Toledo gefährden. Aber das Eigentum des Königs werde ich schützen, beschloß er, das ist Pflicht. Jehuda und Raquel hatten, nachdem Don Benjamín gegangen war, ihr feierlich heiteres Leben weitergeführt. Sie zogen sich sorgfältig an, hielten lange Mahlzeiten, ergingen sich, wenn die Sonne sank, im Garten, pflegten ruhiges Gespräch.

Es war die Amme Sa’ad, die, Schrecken über dem ganzen, dicken Gesicht, als erste die Nachricht brachte, daß die Ungläubigen – Allah verdamme sie – heranzögen, und was solle man tun? Jehuda sagte: »Stille sein und sich fügen in den Ratschluß.«

Sie gingen tiefer ins Haus, in Raquels Raum, ein nicht großes Zimmer mit einer Estrade, wie sie dem Wohnraum einer Dame angemessen war. Jehuda hatte die Brustplatte umgelegt, das Zeichen seines Amtes. Der Raum war dämmerig, und der feuchte Filzbelag der Wand gab ihm Kühle. Hier saßen sie und erwarteten die Anziehenden.

Die waren angelangt vor der weißen Mauer, welche das Besitztum umgab. Im Ausschnitt des Tores zeigte sich ein Türhüter, auf sein Wams eingestickt war das Wappen des Königs, die drei Türme. Die Menge zögerte, wußte nicht, was tun. Alle schauten auf den Castro. Dieser, mit seinem breiten, schweren Schritt, trat vor, sagte: »Wir wollen nachschauen. Das ist es, was wir wollen. Wir wollen das Eigentum des Königs nicht schädigen. Ich habe meine Wache mit, auf daß niemand das Eigentum der Majestät schädigt und daß niemand die Beete des Gartens betritt.« Der Türhüter war unentschlossen. Inzwischen aber waren einige über die nicht hohe Mauer geklettert, sie zogen den Türhüter zur Seite, ohne Gewalt, der Castro ging durch das Tor, ihm nach seine Bewaffneten, ihnen nach die Menge.

Die Leute schoben sich langsam voran, die Gärten bewundernd, über die bekiesten Wege, dem Schlosse zu. Auf einmal war Belardo da. Er trug das Lederkoller, die Lederkappe und die Hellebarde des Großvaters. »Der edle Herr belieben, Doña Raquel sprechen zu wollen?« fragte er beflissen. »Unsere Herrin ist in ihrem Gemach auf der Estrade«, plapperte er. »Ist der edle Herr angemeldet? Soll ich ihn melden?« – »Führ uns zu ihr«, sagte der Castro.

Sie folgten Belardo ins Haus, der Castro, seine Soldaten, einige aus der Menge, nicht viele. Gelangten in den Raum Raquels. Mit einemmal lag die Hitze des Gartens, die blendende Weiße der Mauer, der Staub der Straße, die man schwitzend und lärmend gezogen war, meilenweit hinter ihnen, und um sie war die Stille des kühlen, dämmerigen, fremdartigen Raumes. Sie hielten sich in der Nähe des Eingangs, ernüchtert, leicht verwirrt.

Die Estrade, auf der Jehuda und Raquel saßen, war durch ein niedriges, in der Mitte weit offenes Geländer von dem übrigen Raum getrennt. Jehuda, als sie kamen, erhob sich langsam; da stand er, eine Hand leicht auf das Geländer gestützt, und musterte die Eindringlinge, gelassen, fast spöttisch, wie es dem Castro schien. Raquel war nicht aufgestanden. Sie saß, die Stirne halb bedeckt von dem kleinen Schleier, auf ihrem Diwan und schaute, auch sie ruhigen Auges, auf den Castro und die Seinen. Vom Pátio her hörte man das leise Plätschern des Springbrunns und, sehr weit und gedämpft von der Straße her, den Lärm der Menge. Sie wiederholten immer das gleiche, die draußen, doch konnte man’s nicht verstehen. Der Castro verstand; er wußte, sie schrien: »Gott will es!« Und: »Matad, matad! Schlagt tot!«

Jehuda sah die rohen Gesichter der Soldaten und ihres Führers, er sah den schlauen, furchtsamen, höflichen, dummen Gärtner Belardo und sogar auf dessen Gesicht die Gier, zu töten, er ahnte, was das Geschrei draußen bedeutete, er wußte, er hatte nicht mehr viele Minuten zu leben. Furcht würgte ihn. Er suchte sie zu vertreiben durch Denken. Zu einem jeden kommt der Zerstörer aller Dinge, und er selber hat es so gewollt, daß er hier und jetzt zu ihm komme. Er hat schon vor Tagen seine Rechnung abgeschlossen. Er hat viel Eitles getan, und manches Gute nur deshalb, weil er mehr hat sein wollen als die andern. Aber es war ihm erlaubt: er war mehr als die andern. Er sah die Spruchbänder ringsum, sie rühmten den Frieden. Er hat der Halbinsel Jahre hindurch Frieden und Blüte bewahrt. Und noch sein Sterben wird manchem zum Segen. Diese armen Mörder werden sehr bald bereuen, was sie tun; sie werden sich nicht an andere heranwagen, er wird gestorben sein zum Segen seiner fränkischen Flüchtlinge. Dann würgte von neuem eisige Furcht ihm das Denken ab. Sein Gesicht aber blieb die gleiche stille, leicht spöttische Maske.

Auch Raquels Gesicht blieb ruhig. Alfonso hatte ihr aufgetragen, in der Galiana zu bleiben, Alfonso war hier der Herr, was konnte dieser fremde Mensch ihr tun? Sie befahl sich, furchtlos zu sein, würdig Alfonsos; er wollte es, daß die Frau, die er liebte, furchtlos sei. Und er hatte ihr versprochen, zu kommen. Sie blieb reglos. Aber ihr Körper spürte den herannahenden Tod, und Angst schnürte ihr das Herz ab.

Die Eindringlinge standen noch immer an den Wänden und wußten nicht, was tun. Eine halbe Minute hindurch, eine Ewigkeit hindurch, tat keiner den Mund auf.

Da, mit einem Male, pludderte Belardo: »Der edle Herr wollte nicht gemeldet werden, Dame.«

Und jetzt sprach auch der Castro: »Stehst du nicht auf, Jüdin, wenn ein Ritter zu dir kommt?« sagte er mit seiner derben, quäkenden Stimme. Raquel antwortete ihm nicht. Plötzlich überkam ihn Zweifel. »Oder bist du Christin?« fragte er. Dann hätte er hier nicht eindringen dürfen. Aber Belardo beruhigte ihn. »Unsere Herrin Doña Raquel ist keine Christin«, sagte er.

Der Castro rötete sich. Es verdroß ihn, daß er sich von ihrer gespielten Vornehmheit hatte hereinlegen lassen. Raquel gewahrte seine aufsteigende Wut, und plötzlich war ihr, als stehe ihr der wütende Alfonso gegenüber – ja, das war das in maßloser Wut verzerrte Gesicht Alfonsos. Sofort aber verwehte es, und sie sah jenen Alfonso, der gegen den Stier gekämpft hatte, strahlend, wunderbar. Sie darf ihrem Alfonso keine Schande machen in dieser entscheidenden Stunde. Wenn sie ihm erzählen, wie der wüste Mensch dort auf sie losging, dann sollen sie ihm auch erzählen müssen: Aber Raquel hat keine Furcht gehabt.

Langsam, mit kindlicher und doch sehr damenhafter Bewegung, erhob sie sich.

Es war aber nicht der wüste Ritter, vor dem sie aufstand, es war der Tod.

Da stehst du, Doña Raquel Ibn Esra, du Schöne, La Fermosa, Sturmvogel des Satans, Kebsweib des Alfonso von Kastilien, selber aus dem Geschlechte David, Mutter des Immanuel. Dein herzförmiges Gesicht ist wissender als früher, und wenn es jetzt die Farbe der Angst haben sollte, so ist sie verborgen unter dem matten Braun deiner Haut. Deine blaugrauen Augen, noch größer als sonst, schauen ins Weite, vielleicht in ein schauerlich Leeres, vielleicht in ein sehr Helles, Hohes, Erwünschtes.

Der Castro trachtete, sich zurechtzufinden. Es war alles sehr anders, als er sich’s vorgestellt hatte, und dies war das Haus des Königs, und die Frau, wenngleich eine Jüdin, war das Kebsweib des Königs und hatte ihm einen Bastard geboren.

Da aber sprach endlich Don Jehuda. Gelassen fragte er, und er sprach lateinisch: »Wer bist du? Und was wünschest du?«

Der Castro schaute auf den Mann, den Juden, der ihm sein Haus gestohlen und sich hineingesetzt hatte, und der schuld war am Untergang seines Bruders, und der auf der Brust die Platte mit dem Wappen Kastiliens trug, und der sich erdreistete, höflich, hochmütig und lateinisch zu ihm zu reden, als spräche ein Ritter zum Ritter. Er warf sich in die Brust und antwortete in einem Gemisch von Aragonisch und Kastilisch: »Ich bin der Castro, Jud, und damit weißt du alles.« Jehuda schaute ihn an mit ganz leisem Spott, wie es in seiner stolzesten Zeit seine Art gewesen war, und sagte freundlich: »So hab ich mir dich vorgestellt.«

Dann kehrte er sein Gesicht von dem Castro ab und vergaß ihn sogleich. Er sah auf seine Tochter, trank ihren Anblick ein, dachte an seinen Enkelsohn, den kleinen Immanuel. Alazar hatte er verloren, diese seine liebe Tochter verliert er in wenigen Minuten, nach wenigen Atemzügen wird er sterben: aber der Knabe Immanuel Ibn Esra lebt, den Feinden unerreichbar.

Auch Raquel dachte an ihren Sohn. Sie hatte Alfonso nicht verwandeln können, aber was an ihm gut war, lebte weiter. Wirr und von neuem, nicht in Worten, tauchte in ihr die Vorstellung des Messias auf, der das Wilde besiegt, den Stier, und der Frieden bringt über die Erde. Und sie sah den Blick ihres Vaters, und sie gab ihn zurück und sie sagte: »Du hast recht gehabt, mein Vater, da du Immanuel gerettet hast. Unser Immanuel wird leben. All mein Inneres ist voll Dank für dich.«

Eine Welle von Zärtlichkeit, Befriedigung, Stolz schwoll hoch in Jehuda. Allein sie brach sogleich. Und nun von neuem schnürte ihn die kalte Angst. Er fand noch Kraft, sich dem Osten zuzuwenden. Dann senkte er den Kopf, wehrte sich nicht länger und wartete darauf, den Schlag zu empfangen; er sehnte sich danach.

Der Castro hatte die hebräischen Worte Raquels nicht verstanden, aber er spürte: sie hatten keine Furcht vor ihm, diese da, sie verhöhnten ihn, und die Wut zerriß ihm die letzten Bedenken. »Will denn keiner ein Ende machen mit dem Gesindel?« schrie er. »Sind wir hergekommen, mit ihnen zu disputieren?« Er zog sein Schwert, stieß es aber sogleich zurück. »Ich will mein Schwert nicht beflecken mit dem hündischen Blut«, sagte er ungeheuer verächtlich. Gemessen, mit der flachen Scheide, schlug er dem abgewandten Jehuda den Schädel ein.

Raquel hatte all die Zeit her gewußt, daß sie und der Vater untergehen würden; ihr Verstand hatte es gewußt, ihr Körper hatte es gewußt, ihre schnelle Phantasie hatte aus hundert Märchen hundert Bilder des Untergangs zusammengetragen und verknüpft. Aber in ihrem Tiefsten hatte sie nicht an ihren Tod geglaubt. Noch als der Castro vor ihnen stand, hatte sie nicht daran geglaubt. Jetzt erst erkannte ihr Innerstes, daß kein Alfonso zu ihrer Rettung kommen, daß sie in den nächsten Minuten sterben werde, und es packte sie ein Grauen, grauenhaft über alle Namen. Sie erlosch, sie wurde zur leeren Hülle, in ihr war nichts als Angst. Es riß ihr den Mund auf, aber kein Schrei kam aus der erstickten Brust.

Alles, was sich in dem Zimmer mit der Estrade ereignet hatte, war ohne Lärm geschehen, dämmernd und seltsam gedämpft. Die finstern Begleiter des Castro waren, als er auf den Juden zuschritt, unwillkürlich noch weiter zurückgewichen, noch näher an die Wand. In das lautlose Sterben Jehudas hinein hörte man ihr starkes Atmen und, noch immer, das Plätschern des Springbrunns und den fernen Lärm derer an der weißen Mauer.

Da begann plötzlich die Amme Sa’ad zu schreien, schrill, sinnlos. Und nun, unversehens, hob der Gärtner Belardo die Waffe, und besessen, hingegeben, schlug er mit der heiligen Hellebarde seines Großvaters auf Raquel ein. Und nun drangen auch die andern vor, sie schlugen los auf Raquel, auf die Amme, auf Jehuda, schlugen noch, als sie sich längst nicht mehr regten, trampelten auf ihnen herum, keuchend.

»Genug!« befahl plötzlich der Castro. Sie verließen den Raum, sie warfen keinen Blick mehr zurück. Benommen, ein wenig taumelnd, dümmlich lachend, verließen sie das Haus. Einer der Soldaten des Castro, nicht ohne Mühe, löste die Mesusa von der Tür und steckte sie ein; er wußte noch nicht, ob er das Amulett zertreten oder zum eigenen Schutz behalten sollte. Sonst etwas im Hause des Königs anzutasten, wagte keiner.

Die draußen hatten gewartet in Hitze und Glast. Jetzt verkündete ihnen der Castro: »Es ist getan. Sie sind hin. Die Hexe und der Verräter sind hin.« Sie hörten es, wahrscheinlich mit Genugtuung. Aber sie zeigten diese Genugtuung nicht, sie schrien nicht, sie jubelten nicht. Eher waren auch sie betreten. »Ja«, brummelten sie, »nun ist also die Fermosa hin.«

Als sie die heiße, staubige Straße nach Toledo wieder hinaufstiegen, verflog ihnen Lust und Wut vollends. Die Torwächter fragten: »Nun, habt ihr nachgeschaut? Habt ihr sie gefunden?« Und: »Ja«, antworteten sie, »wir haben sie gefunden. Sie sind hin.« – »Recht so«, sagten die Torwächter. Aber ihr Vergnügen dauerte kurz, auch ihnen war die Wut verweht, sie waren für den Rest des Tages nachdenklich und eher verdrossen.

Niemand dachte mehr daran, den Juden etwas zuleide zu tun. Gutmütig verspottete man die in der Judería: »Warum verschanzt ihr euch denn so? Habt ihr Angst vor uns? Jedermann weiß doch, wie gut sich die Euern gehalten haben vor Alarcos. Wir gehören doch zusammen, wir und ihr, in dieser Not.«

Sechstes Kapitel

Don Alfonso hielt die Festung Calatrava unerwartet lange. Er war an der Schulter verwundet, nicht eben gefährlich, doch schmerzhaft, er fieberte häufig. Trotzdem lief und ritt er herum, kletterte in Rüstung die steilen Treppen der Wälle hinauf und hinunter, überwachte jede Einzelheit der Verteidigung. Die Offiziere beschworen ihn, er solle sich endlich nach seiner Hauptstadt durchschlagen; denn schon schwärmten die Moslems weit nach dem Norden vor, und die Straßen nach Toledo waren unterbrochen. Aber erst als es am Äußersten war, gab Alfonso die Festung auf, um sich mit dem größten Teil der Besatzung nach Toledo durchzukämpfen.

Das war ein Unternehmen, das Umsicht und Tapferkeit erforderte. Von seinen nahen Freunden war nur Estéban Illán bei ihm; den Erzbischof Don Martín und Bertran de Born, die beide verwundet waren, hatte man nach Toledo geschafft. Alfonso ließ sich nicht anmerken, wie verzweifelt er unter der Niederlage litt; er zeigte raschen Blick, Findigkeit, Entschlußkraft. Des Nachts aber, allein mit Estéban, stürmte und wütete er: »Hast du gesehen, wie sie alles verwüstet haben? Jetzt spür ich es: was da verheert und verbrannt ist, das bin ich selber; es ist ein Teil von mir wie mein Arm oder mein Fuß.«

Er stellte sich vor, wie es sein wird, wenn er jetzt nach Toledo kommt. Er dachte an das ruhige, hochmütige Gesicht Doña Leonors, und wieviel Widerwille und Verachtung wird hinter dieser klaren Stirn sein, wenn er nun nach seiner stolzen Ausfahrt so jämmerlich und mit Schande bedeckt vor sie hintritt. Er dachte hilflos rasend an die stille, spöttisch ehrerbietige Miene Jehudas. Er dachte an das beredte Gesicht Raquels. Hatte er nicht versprochen, ihr Sevilla zu schenken? Wo war Sevilla? Sie wird nicht danach fragen; zärtlich, demütig wird sie vor ihm stehen, ohne ein Wort des Vorwurfs, aber um sie werden matt und höhnisch ihre Inschriften vom Frieden glänzen.

Unversehens faßte ihn eine sinnlose Wut. Don Martín hatte recht, Raquel war eine Hexe, sie war es, die bewirkte, daß er dem Sohn die Taufe vorenthielt, sie hat seine innere Stimme in Lüge verwandelt. Aber sie soll ihn nicht länger behexen. Mag sie sich stumm winden und drehen und schmerzhafte Gesichter schneiden: er wird den Jehuda zwingen, den Sohn herbeizuschaffen, er wird den Knaben taufen, und wenn dann Raquel nicht länger in der Galiana bleiben will, die Tür steht weit offen, Alafia, Heil, Segen.

Während sich Alfonso auf solche Art mit Raquel auseinandersetzte, war Don Rodrigue auf dem Weg, ihm die finstere Botschaft zu bringen.

Es war nach dem Untergang des Jehuda und der Raquel eine sonderbare Lähmung über Rodrigue gekommen. Nun war ihm alles eingestürzt, woran er in dieser Welt hing, das Reich brach zusammen, die lieben Freunde waren grausig ermordet worden, und er selber, Rodrigue, trug mit die Schuld, weil er den König so lang auf dem übeln Weg hatte gehen lassen. Das Gefühl seines Versagens, seiner Nichtigkeit erdrückte ihn.

In seinem Innern überhäufte er Don Alfonso, dessen Leichtfertigkeit dem ganzen Lande Unheil brachte und Unheil einem jeden, der ihm nahekam, mit bitterer Schelte. Er wollte ihn nicht mehr sehen, wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Aber er liebte den Unseligen noch immer, und Pflicht und Mitleid trieben ihn, die grausige Nachricht selber zu überbringen. Vielleicht wird das Übermaß des Unglücks den Mann lehren, was Reue ist, und Rodrigue wollte ihn nicht allein lassen in der Stunde der Verzweiflung.

Ein abgezehrter, fieberischer Alfonso trat ihm entgegen. Wies ihn, da er sich nach seiner Verwundung erkundigte, ungeduldig ab. Stand vor ihm, gereizt, finster, höhnisch, und forderte ihn heraus: »Du hast recht gehabt, mein weiser Vater und Freund. Mein Heer ist vernichtet, mein Reich eingestürzt. Ich habe die vier Reiter der Apokalypse übers Land gebracht, genau wie du mir’s vorausgesagt hast. Das zu hören, bist du doch da. Nun also, ich geb dir’s zu. Bist du zufrieden?«

Rodrigue, gegen seinen Willen, spürte ein heißes Erbarmen mit dem Mann, der ihm da krank, zerfetzt und zerlumpt an Seele und Ansehen gegenüberstand. Aber er durfte nicht schwach werden, er mußte rütteln an der Seele dieses Alfonso, der, Gottes hadernder, rebellischer Vasall, noch immer nicht wußte, was Schuld und was Reue war. Rodrigue sagte: »Es hat sich Schlimmes ereignet in Toledo. Dein Volk hat Unschuldige haftbar gemacht für deine Niederlage, und niemand war da, die Unschuldigen zu schützen.« Und da ihn der König ohne Verständnis anstarrte, sagte er ihm ins Gesicht: »Sie haben Doña Raquel und Don Jehuda umgebracht.«

Was das Unglück nicht und nicht der Verrat, was die große Niederlage nicht hatte bewirken können, bewirkte diese Nachricht: Don Alfonso schrie. Er schrie auf, kurz und schrecklich. Dann fiel er um.

Eine große Welle Freundschaft schwemmte alle andern Überlegungen Rodrigues fort, er liebte ihn wie eh und je. Erschreckt bemühte er sich um ihn und rief nach dem Arzt.

Alfonso, nach einer langen Weile, erwachte aus der Ohnmacht, schaute sich um, fand sich zurecht, sagte: »Es ist nichts, es ist diese dumme Wunde.« Er hatte auch noch nichts gegessen an diesem Tag. In hastigen Schlucken trank er die Brühe, die man ihm brachte, und trieb den Arzt, der den Verband erneuerte, zur Eile. Dann schickte er alle fort und hielt nur Rodrigue zurück.

»Verzeih, mein Vater und Freund«, sagte er. »Ich sollte mich schämen, daß ich mich so gehenließ.« Und böse fuhr er fort: »Nachdem ich das Reich zerstört habe, sollte es mir auf einen Mann und eine Frau mehr nicht ankommen.« Und: »Ich hätte die beiden ohnedies weggeschickt«, sagte er grimmig. Aber sogleich widerrief er: »Niemals, niemals hätte ich Raquel weggeschickt! Und ich schäme mich auch nicht!« Er stöhnte, wütete, knirschte. »Es tut unchristlich weh. Ich sag es dir, Rodrigue, mein Freund: ich habe sie geliebt. Du kannst das nicht verstehen, du weißt nicht, was das ist, niemand weiß es. Ich selber hab es nicht gewußt, bevor sie mir in den Weg kam. Ich habe sie mehr geliebt als Leonor, mehr als meine Kinder, mehr als mein Reich, mehr als Christus, mehr als alles. Vergiß es, Priester, vergiß es gleich, aber einmal muß es heraus, einmal muß ich es sagen, dir muß ich es sagen: ich hab sie mehr geliebt als meine unsterbliche Seele.«

Er preßte die Zähne zusammen, die rasenden Worte zurückzuhalten, die ihm die Brust füllten. Hockte nieder, erschöpft. Rodrigue sah bestürzt, wie sich sein Antlitz verändert hatte. Hager grinste es ihn an, scheu, verzerrt, die Backenknochen sprangen stark hervor, die Lippen waren zwei schmale Striche, die Augen schienen kleiner und glitzerten fahrig.

Alfonso, nach einer langen Weile, trachtete sein Gesicht zu glätten. Bat Rodrigue, ihm zu sagen, was er wisse. Es war nicht viel. Eine Menge Volkes, das den Don Jehuda vergeblich im Castillo Ibn Esra gesucht hatte, war in die Galiana gezogen. Wer Doña Raquel getötet hatte, wußte man nicht. Den Don Jehuda hatte der Castro mit eigener Hand erschlagen.

»Der Castro?« stammelte der König. »Der Castro«, antwortete Don Rodrigue. »Er hatte den Auftrag, Bedrohte zu schützen; denn das Volk war wild geworden, und viele waren bedroht. Er hatte Auftrag, lieber den einzelnen preiszugeben, als die Gesamtheit zu gefährden.« Der König dachte lange und mühsam nach. »Von wem hatte der Castro den Auftrag?« fragte er heiser. Don Rodrigue, langsam und klar, antwortete: »Von Doña Leonor.«

Alfonso knurrte wie ein verwundetes Tier. »Die Hunde und Geier fallen über mich her, als wäre ich schon ein Aas«, sagte er. Don Rodrigue erläuterte, sachlich, gerecht, mit fast unmerklicher Ironie: »Maßnahmen waren geboten. Arabische Christen waren umgekommen, auch Juden in der Siedlung vor den Mauern, eine ganze Reihe, an die hundert, heißt es.«

»Verteidige sie nicht!« brach Alfonso aus, wild, sinnlos. »Verteidige Leonor nicht! Verteidige keinen, auch dich selber nicht! Auch du bist schuldig, alle seid ihr schuldig. Vielleicht nicht so wie ich, aber schuldig seid ihr. Und ich werde strafen. Ich werde euch züchtigen. Glaubt ihr, ich sei machtlos, weil ich die Schlacht verloren habe? Noch bin ich der König. Ich werde untersuchen, ich werde richten, ich werde fürchterlich strafen!« Er brach plötzlich ab, stöhnte, fiel zusammen, winkte dem Rodrigue heftig, ihn allein zu lassen. Noch ehe die Stunde um war, befahl er, aufzubrechen. Auch auf dieser letzten Strecke Weges traf er seine Anordnungen aufmerksam und mit Umsicht. Erst als alle seine Abteilungen innerhalb der Mauern waren, ritt er in Toledo ein.

Ritt hinauf in seine Burg. Diener, Kämmerer liefen herbei, erschraken über sein Aussehen, fragten, ob er sich nicht umkleiden, nicht baden wolle, ob sie nicht den Arzt rufen dürften. Er wies sie zurück, unwirsch, gab strengen Befehl, niemand vorzulassen, auch die Königin nicht.

Hockte auf dem Spannbett, noch in Rüstung, verschwitzt und verschmutzt, leidend, in unbequemer Haltung, allein. Brütete. Er verstand den Zusammenhang nicht. Wie war Jehuda in die Galiana gekommen, der Schlaue, der Fuchs, der jede Gefahr auf Meilen witterte? Und warum waren sie nicht hinter die festen Mauern der Judería geflüchtet, die beiden, die sich doch so wildgläubig zu ihrem Judentum bekannten?

Tot waren sie, umgebracht waren sie, soviel war gewiß. Und die sie umgebracht haben, das waren Leonor und der Castro, Leonor mit ihrer Zunge und der Castro mit seiner Faust. Und er hat Raquel nicht einmal Lebwohl gesagt; fremd, blind, böse ist er von ihr fortgerannt. Und nun hat Leonor sie ihm erschlagen und ihm dazu seinen Sohn gestohlen, seinen Sancho, denn nun wird er niemals erfahren, was aus dem Kind geworden ist.

Ein betäubender Zorn faßte ihn. Leonor hat ihn gehaßt von dem Augenblick an, da Gott ihm Raquel geschickt hat. Sie hat ihn in den Krieg gehetzt, damit sie freie Hand habe, Raquel umzubringen. Alle haben ihn gewarnt vor der Schlacht, aber sie, sonst so freigebig mit Warnungen, hat ihre Worte verschluckt, sie hat ihn in seine Niederlage hineinrennen lassen, wissend, nur damit sie die andere umbringen könne. Leonor ist die Hexe, nicht Raquel. Sie ist die rechte Tochter ihrer Mutter, die Enkelin jener Ahnin, welche der Satan aus der Kirche in die Hölle geholt hatte.

Er freute sich seines Zornes, er freute sich, daß seine Wunde ihn schmerzte. Wie er war, in der dickverstaubten Rüstung, ungewaschen, ohne den Verband zu wechseln, lief er durch die Korridore, in die Zimmer Leonors. Drängte die erschreckten Hofdamen zurück. Trat ungestüm in Leonors Zimmer.

Sie saß auf der Estrade, sauber, gepflegt, damenhaft wie stets. Sie stand auf, ging ihm ein paar Schritte entgegen, nicht zu schnell, nicht zu langsam, lächelnd. Er hob die Hand, sie aufzuhalten, und noch bevor sie ihn begrüßen konnte, sagte er leise und wild: »Da bin ich. Nicht sehr lieblich anzusehen. Nicht angenehm zu riechen. Ich stinke nach Krieg, Arbeit, Niederlage. Nichts an mir ist nach den Vorschriften der Courtoisie. Aber du hast dich auch nicht eben nach den Regeln der Courtoisie geführt, scheint mir, Doña Leonor, meine Königin, meine Liebe.« Und plötzlich schrie er los, rasend, ohne Sinn: »Du hast mein Leben kaputt geschlagen, du Verfluchte! Du hast mir keinen Sohn geboren, und der, den du geboren hast, war krank und gezeichnet schon in deinem Leibe. Und als mir die Frau, die ich liebte, einen Sohn gebar, hast du sie umgebracht. Ihr Vater, mein weisester, treuester Ratgeber, hat mit Engelszungen auf mich eingeredet, die rechte Zeit abzuwarten für den Krieg. Aber du hast mich gehetzt. Du hast mir dein Hui und Pfui ins Gesicht geschrien, um mich in den Krieg zu jagen mit deinem Gehöhne. Und dann hast du geschwiegen, du Beredte, zu meinem dummen Plan und hast mich in meine verlorene Schlacht rennen lassen, damit du mir die Liebste erschlagen könnest, die mir Gott gesandt hat. Du hast mich zugrund gerichtet, mich und mein Kastilien. Da stehst du, weiß und lieblich und königlich, aber innen ist alles wüst und krumm. Du bist wie deine Mutter, zerfressen von höllischer Bosheit, du Verderberin!«

Doña Leonor hatte eine Sturzwelle von Zorn erwartet; aber daß Alfonso so ohne Maß rasen werde, so sinnlos aus seinen Tiefen heraus, darauf war sie nicht bereitet. Er war imstande, sie mit diesen seinen schmutzigen, unbehandschuhten Händen anzupacken, zu würgen, ihr den Atem abzudrehen. Aber es ging ihr ins Blut, daß er auf so wüste Art drohte und schimpfte, abgründig gemein, ein rechter »Vilain«. Er war gefährlich, und so wollte sie ihn.

Sie trat zurück, leichten Schrittes, trat hinter sich auf ihre Estrade, setzte sich, musterte ihn mit ihren großen, grünen, prüfenden Augen. »Darf ich dich erinnern«, sagte sie gelassen, »daß wir dir einen Vertrag vorlegten, meine Mutter und ich, in Burgos, einen Vertrag mit deinem Schwiegersohn Don Pedro? In diesem Vertrag hast du dich verpflichtet, nicht in den Krieg einzutreten, bevor die aragonischen Truppen da seien. Wir haben alles getan, dich von deinem übereilten Heldentum zurückzuhalten. Meine Mutter hat dir zugeredet wie einem störrischen Kinde. Niemand hat dich gehetzt, nur du selber. Soll ich dir sagen, was schuld war an dem Zusammenbruch? Du hast glänzen wollen, vor mir, vor deinen Freunden, und besonders vor deiner Jüdin. Darum hast du den Kalifen herausgefordert, gegen unsern Vertrag und gegen allen Sinn und Verstand. Darum hast du diese tollkühne Schlacht geschlagen. Darum hast du unser Land und das ganze christliche Hispanien in den Abgrund geritten.«

Don Alfonso stand vor ihr, unterhalb der Estrade. Er schaute ihr in das weiße Gesicht mit der hohen, klaren Stirn und dem dichten, blonden Haar, und er haßte sie wild um der bösen, folgerichtigen Gedanken willen, die hinter dieser Stirn gingen. »Jetzt begreif ich es«, knirschte er leise, bitter, »warum Heinrich deine Mutter gefangenhielt und sie nicht freigab trotz aller Befehle des Papstes. Glaube du nicht, daß ich schwächer bin als er. Ich kann dich nicht umbringen, weil du eine Frau bist. Aber ungestraft laß ich es nicht, daß du mir meine liebe Liebste getötet hast. Ich werde richten, ich werde fragen und weiterfragen, ich werde deine dünnen, schlauen Weisungen an den Tag bringen und die mörderischen Gedanken dahinter, und mag dann alle Christenheit auf dich deuten als die Mörderin. Und deine blutigen Diener, den Castro und die andern, die laß ich nicht heil davonkommen. Du wirst es erleben, meine Liebe, wie ich sie packe. Auf dem Schinderkarren sollen sie mir zum Zocodovér fahren. Und du wirst zusehen, meine Königin, an meiner Seite, auf der Tribüne, wie sie hängen, deine galanten Ritter, deine Lanzelots.«

Leonor schaute ihn unentwegt an. Er schwitzte und war entstellt. Der blonde, kurze Bart war verklebt, da war nichts Junges, Strahlendes mehr, keiner konnte ihn dem Sankt Georg von Domfront vergleichen. Aber es war gut, daß nun endlich das gewalttätige Leben herauskam, das in ihm war; verschlafen wird diesen Mann niemand mehr schelten, auch ihre Mutter nicht.

Sie sagte: »Du redest Worte ohne Sinn, Don Alfonso, weil deine Beischläferin tot ist. Ich bin der Frau in der Galiana nicht zu nahe getreten. Kein Richter wird mich schuldig sprechen, und wenn er alles Kleinste prüft, was ich getan und was ich nicht getan habe.«

Mit einem Male aber war sie der Würde und der Hoheit überdrüssig. Sie verließ ihre Estrade, trat vor ihn hin, ganz nahe, sie roch seinen wilden Geruch, sie sagte ihm ins Gesicht: »Dir aber, und dieses einzige Mal, sag ich es: ich hab es doch getan. Ich hab mir diese ›Noche Toledana‹ gegönnt. Ich sah die tödlichen Gedanken im Kopfe des Castro, ich hab ihn nicht gehalten, ich hab das Castillo vor ihm baumeln lassen. Und Gott hat mir geholfen. Gott hat es gewollt, daß sie untergehen. Warum haben sie sich nicht hinter den Mauern der Judería versteckt bei den andern, dein Kebsweib und ihr Vater? Gott hat sie mit Blindheit geschlagen. Und in deine wütigen, mordgierigen Augen hinein sag ich es: mein Herz war voll Jubel, als sie tot war.«

Alfonso stöhnte, er kehrte den Blick von ihr ab, er tat einen Schritt zurück, in seinem Gesicht war jetzt mehr Qual als Wut.

Leonor hatte ihren Triumph zu Ende geschmeckt. Sie spürte Mitleid mit Alfonso. Sie ging ihm nach, war wieder ganz nahe an ihm. »Laß uns nicht länger rechten, Don Alfonso«, bat sie, und ihre Stimme war ungewöhnlich sanft. »Du bist verwundet, du bist erschöpft. Laß mich dich pflegen; ich schicke dir meinen Meister Reinero, er ist besser als deine Ärzte. Und laß mich dir noch dieses sagen: ich hab es meinethalb getan, aber bestimmt auch deinethalb. Ich liebe dich, Alfonso, du weißt es. Ich war dir treuer als die Mauern deiner Burg alle die Jahre her, und auch, als ich dir diese aus dem Weg räumte. Ich konnte es nicht länger mit anschauen, wie der König von Kastilien, der Vater meiner Kinder, im Schlamm versank. Du kannst mich bloßstellen vor der ganzen Welt. Du kannst mich töten. Aber so war es.«

Alfonso wußte: so war es, aber er befahl sich, es nicht zu glauben. Er konnte Leonor begreifen, doch nur mit dem Verstand. Alles in ihm sträubte sich gegen sie. Er wollte ihre Liebe nicht; die Liebe der Mörderin widerte ihn an.

Er kehrte sich ab, rannte aus dem Zimmer. Er war nach dieser Unterredung matt auf den Tod, und seine Wunde schmerzte mehr als sonst. Er ließ es zu, daß die Seinen ihn badeten, ihn verbanden, ihn zu Bett brachten. Er schlief lange, tief, traumlos.

Dann ritt er in die Galiana.

Er ritt die engen, steilen Straßen zum Tajo hinunter, ohne Begleitung. Die Leute erkannten ihn, machten ihm Raum, sahen erschreckt das hagere, versteinte Gesicht, entblößten die Häupter und neigten sich tief, viele knieten nieder. Er sah nicht, hörte nicht, er ritt weiter, langsam, vor sich hin starrend; mechanisch, blicklos erwiderte er die Grüße.

Er näherte sich der weißen Mauer. Es war sehr heiß, über der Galiana wob schweres, dunstiges Sonnengeflirr, alles war verzaubert still.

Der Gärtner Belardo schob sich heran. Küßte zaghaft Alfonsos Hand. »Ich bin sehr unglücklich, Herr König«, sagte er. »Ich habe Unsere Herrin nicht schützen können. Aber es waren viele, wohl mehr als zweitausend, und der sie führte, war ein großer Ritter, und ich hatte nur die heilige Hellebarde meines Großvaters, damit konnte ich wenig ausrichten gegen die vielen. Sie schrien: Gott will es!, und dann ist es geschehen. Aber sonst haben sie keinen Schaden angerichtet. Es ist alles in bester Ordnung, Herr König, im Haus und in den Gärten.«

Alfonso sagte: »Ihr habt sie hier in der Galiana begraben, nicht wahr? Führ mich hin!«

Die Stätte war nicht weiter gekennzeichnet. Sie war nahe den Zisternen des Rabbi Chanan, kahl, aufgerissener Rasen. »Wir haben nicht gewußt, was wir tun sollen«, entschuldigte sich Belardo. »Da Unsere Herrin Raquel keine Christin war, habe ich nicht gewagt, ein Kreuz hinzustellen.« Der König winkte ihm, ihn allein zu lassen.

Er hockte auf der Erde, ungelenk, benommen von dem grauen Gespinst aus Hitze, Dunst, Glast. Der Rasen war nachlässig zusammengescharrt, die Stätte sah verwahrlost aus, er hätte keinen Hund so begraben.

Er trachtete sich zu erinnern, wie er hier mit Raquel herumgegangen war, wie sie nackt mit ihm am Rande des Teiches gesessen hatte, trachtete, sich ihr herzförmiges Gesicht zurückzurufen, ihren Gang, ihre Stimme, ihren Leib. Allein er fand nur einzelne Züge; sie selber, Raquel, blieb flirrend, entfernt, ein ungewisses Schimmern. Wenn irgendwo, dann sollte hier ihr Geist umgehen, aber er konnte ihn nicht heraufbeschwören; Geister erschienen wohl nur ungerufen. Vielleicht auch hatte Bertran recht, und Frauen kamen nur dem Blut des Mannes nahe, nicht seiner Seele.

Hier unter ihm lag, was ihm uferloses Glück und wildeste Aufwühlung gebracht hatte, und war Verwesung und Wurmfraß. Aber die Vorstellung ließ ihn merkwürdig stumpf. Was suchte er hier, an diesem kläglichen, häßlichen Grab? Er schuldete ihnen nichts, den beiden, die hier unten lagen. Sie schuldeten ihm. Schuldeten ihm seinen Sohn. Niemals jetzt wird er erfahren, was aus seinem Sancho geworden ist. Es war, als läge das Kind da unten mit den andern, als läge da unten seine, Alfonsos, Zukunft verscharrt und verwesend. Er hätte nicht hierherkommen sollen. Er hatte einen schlechten Geschmack im Mund, die Lippen verzogen sich ihm.

Er schleppte sich fort in den Schatten des nächsten Baumes. Streckte sich hin. Da lag er mit geschlossenen Augen, die Sonne fleckte sein Gesicht. Wieder suchte er sich Raquel zurückzurufen. Doch wieder sah er nur Hüllen, sie selber blieb vag. Er sah sie in einem hemdartigen Gewand, wie sie ihn in ihrem Schlafzimmer erwartete. Sah sie in jenem grünen Kleid, in welchem sie ihm das erstemal begegnet war in Burgos, da sie sich lustig gemacht hatte über das alte Schloß seiner Väter. Und es war Hexerei und schwarze Magie, daß sie ihn damals, wiewohl sie doch gar nicht da war, gezwungen hatte, ihr diese Galiana zu bauen. Noch jetzt zieht sie ihn hierher, während die Geschäfte des Krieges und des Reiches auf ihn warten.

Ein Geschäft freilich hatte er übernommen, dessen er sich nun hier entledigen konnte: er mußte Jehuda die Botschaft des Knaben bestellen. Er verfältete das Gesicht in scharfem Nachdenken, was denn nun der sterbende Alazar gesagt hatte. Ganz deutlich hörte er: »Sag meinem Vater –«, aber was er ihm sagen sollte, fiel ihm und fiel ihm nicht ein.

Er erschlaffte. Dunst war um ihn, alles verschwamm, nichts war greifbar. Auf einmal aber war Raquel da. Aus dem Dunst heraus trat sie, ungeheuer leibhaft mit dem blaßbräunlichen Gesicht und den taubenfarbenen Augen, und war da. So hatte sie ihn angeschaut, in aller Stummheit überaus beredt, als sie sich ihm versagte und er sich auf sie stürzte, und so, als er sie anschrie, sie habe ihm sein Kind gestohlen, und ihr Schweigen war lauter gewesen als jede Anklage.

Mit geschlossenen Augen lag er. Er wußte, es war ein Espejismo, ein Luftbild, ein Fieberbild, er wußte, Raquel war tot. Aber die tote Raquel war heißer lebendig als jemals die lebende. Und während sie ihn unverwandt ansah, begriff er: in seinem Innern hatte er ihre stumme Beredsamkeit immer verstanden, er hatte sich nur verhärtet, er hatte sich zugesperrt und ihre Mahnung und Wahrheit nicht verstehen wollen.

Jetzt öffnete er sich ihrer Wahrheit. Jetzt begriff er, was ihm Raquel eh und je und vergeblich hatte klarmachen wollen: was Verantwortung hieß, was Schuld hieß. Er hatte ungeheure Macht in Händen gehabt und sie mißbraucht; er hatte ruchlos, gedankenlos damit gespielt wie ein Knabe. Er hatte seinen Wein zu Essig gemacht.

Raquels Bild wurde undeutlich. »Geh nicht, geh noch nicht!« bat er, aber hier war nichts, was er hätte halten können. Das Bild verwehte.

Er war erschöpft und plötzlich sehr hungrig. Mühsam erhob er sich, ging ins Haus. Befahl, daß man ihm zu essen bringe. An dem Tisch, an dem er oft mit Raquel gefrühstückt hatte, saß er und aß. Mechanisch, gierig, wölfisch. Dachte an nichts als an Sättigung.

Kraft kehrte ihm zurück. Er stand auf. Er fragte nach der Amme Sa’ad; er wollte sich gewisse Bleibsel Raquels zeigen lassen. Man drückte herum, sagte ihm schließlich, daß Sa’ad tot war. Er schluckte. Wollte mehr wissen. »Sie hat furchtbar geschrien«, erzählte Belardo. »Aber Unsere Herrin Doña Raquel hat keine Furcht gehabt. Sie ist dagestanden wie eine richtige große Dame.«

Alfonso ging durchs Haus. Stand vor jener Inschrift, deren altarabische Lettern er nicht lesen konnte und die sie ihm übersetzt hatte: »Eine Unze Frieden ist mehr wert als eine Tonne Sieg.« Ging weiter. Öffnete Schränke, Truhen. Betastete Kleider Raquels. Dieses helle Kleid hatte sie angehabt damals, als sie mit ihm Schach spielte, und dieses ganz zarte Zeugs, das ihm beinahe in den Fingern zerriß, hatte sie getragen, als die Hunde an ihr hinaufsprangen. Aus der Truhe kam der Duft der Kleider, Raquels Duft. Er warf den Deckel zu. Er war nicht Lanzelot.

Er fand jene Briefe, an ihn gerichtet und nie abgesandt. »Du setzest dein Leben ein für törichte Dinge, weil ein Ritter so tun soll, und das ist sinnlos und hinreißend, und darum liebe ich dich.« Er fand Zeichnungen, die Benjamín gemacht hatte. Er betrachtete sie aufmerksam, er fand Züge, die er an der lebendigen Raquel nie entdeckt hatte. Aber trotzdem: dieser Benjamín hat nur einen Teil von Raquel gesehen, die wahre Raquel hat nur er gesehen, Alfonso, und erst jetzt, da sie nicht mehr auf der Erde war.

Aber in der Welt war sie. In ihm lebte weiter das erfüllte Wissen, das ihm vorhin jenes stumme Antlitz mitgeteilt hatte. Die Mahnungen Rodrigues hatten ihm nur gesagt, was Schuld und Reue sei, sie hatten es ihn nicht spüren machen. Auch seine innere Stimme hatte es ihn nicht spüren machen. Erst jenes stumme Gesicht hatte ihm ins Herz geprägt, was das ist: Verantwortung, Schuld, Reue.

Er raffte sich zusammen. Betete. Ein lästerliches Gebet. Betete zu der Toten, sie möge ihm erscheinen in Stunden der Entscheidung, auf daß ihre Stummheit ihm sage, was er tun und was er lassen müsse. Gutierre de Castro stand vor dem König mit gespreizten Beinen, die Hand auf dem Knauf des Schwertes, in Haltung.

»Was willst du, Herr König?« fragte er mit seiner etwas quäkenden Stimme. Alfonso schaute dem Mann in das breite, derbe Gesicht. Der Castro schaute ruhig zurück; Furcht hatte er nicht, soviel war gewiß. Dem König war alle Wut verflogen, er wußte nicht mehr, warum er sich mit so grimmiger Wollust danach gesehnt hatte, den Mann hängen zu sehen. Er sagte: »Du hattest Auftrag, das Volk meiner Stadt Toledo zu schützen. Warum hast du es nicht getan?« Der Castro, frech und kalt, erwiderte: »Die Leute waren gereizt durch deine Niederlage, Don Alfonso, sie waren streitlustig, mordlustig. Sie wollten die Schuldigen erschlagen, und sie hielten sehr viele für schuldig. Aber es sind nur wenige umgekommen, keine hundert. Ich konnte der Frau Königin den Handschuh guten Mutes zurückgeben, gewärtig ihrer Zufriedenheit und ihres Dankes.«

Don Alfonso sagte: »Du bist in die Galiana gezogen an der Spitze eines Haufens von Gesindel und hast meinen Escrivano erschlagen und die Mutter meines Sohnes.« Er sprach hart und bündig, doch sehr ruhig. Der Castro antwortete: »Dein Volk verlangte Bestrafung des Verräters. Die Kirche verlangte seine Bestrafung. Mein Amt war, Unschuldige zu schützen. Dieser da war ein Schuldiger.« Der König wartete darauf, daß sich der Castro nun auf jenen dünnen und blutigen Hinweis der Königin berufen und die Verantwortung von sich abschieben werde. Der Castro tat es nicht. Vielmehr fuhr er fort: »Ich sag dir’s offen: ich hätte ihn hingemacht, auch wenn er kein Verräter gewesen wäre. Ich bin Gutierre de Castro und habe seit Jahren mir selber und der Ritterschaft Hispaniens versprochen, den beschnittenen Hund zu züchtigen, der mein Castillo besudelt hat.« Der König sagte: »Der Streit zwischen dir und der Krone Kastiliens war bereinigt, die Buße für deinen Bruder bezahlt. Der Vertrag war unterzeichnet und besiegelt, dein Anspruch beglichen.« Der Castro sagte: »Ich will nicht rechten mit dir, Herr König von Kastilien. Wenn du glaubst, eine gute Klage wider mich zu haben, dann klage bei meinem Lehnsherrn, dem König von Aragon, daß er, der nicht mehr ist als ich, das Gericht der mir Gleichen einberufe. Eines aber laß mich dir sagen, als Ritter dem Ritter. Durch dich ist mein Bruder umgekommen, der ein großer Held war im Krieg und im Tournier, du weißt es, und du hast mir eine Buße Geldes bezahlt, und ich war es zufrieden, weil Heiliger Krieg ist. Jetzt hat es sich gefügt, daß ich einen Menschen erschlug, der mir Schimpf angetan hatte und nichts war als dein Bänker und ein alter Jude. Ich glaube, du fährst nicht schlecht, wenn du die Rechnung abschließt.«

Der König ging darauf nicht ein. Er forderte ihn auf: »Sag mir, wie es hergegangen ist.« Der Castro antwortete: »Ich habe mein Schwert nicht mit dem schlechten Blut besudeln wollen. Ich habe den Menschen mit der Scheide totgeschlagen.« Alfonso, mit Mühe, er mußte Pausen machen zwischen den einzelnen Worten, fragte: »Und wie ist sie umgekommen?« – »Ich kann es dir nicht sagen«, antwortete der Castro. »Mein Aug war auf den Juden gerichtet, als sie sie hinmachten.« Er sprach gleichgültig, seine Rede trug die Farbe der Wahrheit. Und derb, aufrichtig, fast gutartig fuhr er fort: »Es ist Heiliger Krieg, und ich habe den Groll meines Herzens unterdrückt und bin hierhergekommen, um für dich zu kämpfen. Laß es gut sein, Herr König von Kastilien. Es ist harte Arbeit zu tun ringsum. Ein Ritter sollte kein Wort mehr verlieren über den Unrat, der ausgekehrt ist. Sorge für deine Stadt und ihre Wälle.«

Alfonso merkte mit Verwunderung, daß ihn die Frechheit des Mannes nicht erzürnte. Der Mann hatte wirklich nichts erwähnt von dem zweideutigen Auftrag Doña Leonors, er schob der Dame keine Schuld zu, er stand selber ein für alles, was geschehen war. Sieh an, er ist ein Ritter, dieser Castro, dachte Alfonso. Der früher so rege, immer tätige Domherr Don Rodrigue besorgte seine Amtsgeschäfte lustlos, raffte sich selten auf, zu lesen oder zu schreiben, hockte herum, trüb und einsam.

Musa konnte ihm nur wenig Gesellschaft leisten. Es gab viele Kranke und Verwundete in Toledo, Musas ruhiges, sicheres Wesen flößte Vertrauen ein, und trotz des Argwohns gegen den Moslem verlangten viele nach seiner berühmten Heilkunst.

Rodrigue beneidete den Freund um die stete Tätigkeit, die ihn von quälenden Gedanken ablenkte, er selber versank immer tiefer in triste Meditationen über die Vergeblichkeit alles Tuns, er war gelähmt im Innersten.

Aus Italien hatte man ihm eine Schrift gesandt, die seiner eigenen Verzweiflung Wort gab; ein junger Prälat hatte sie verfaßt, Lotario de Conti, sie hieß: »De conditione humana – Von der Beschaffenheit des Menschen.« Eine Stelle vor allem drückte sich ihm ein: »Wie nichtig bist du, o Mensch. Wie übel steht es um deinen Leib. Schau auf die Pflanzen und Bäume. Sie bringen Blüten hervor, Blätter, Früchte; du aber, weh dir, du bringst hervor Läuse, Ungeziefer, Gewürm. Jene scheiden aus Öl, Wein, Balsam; du scheidest aus Harn, Speichel, Kot. Jene hauchen aus liebliche Düfte; du gibst Gestank von dir.« Die Sätze ließen Rodrigue nicht los, sie verfolgten ihn bis in seinen Schlaf.

Er sehnte sich kaum mehr nach der stillen Verzückung, die ihm früher letzte Zuflucht gewesen war. Jener inbrünstige, vollkommene Glaube schien ihm jetzt nicht mehr Gnade, sondern billige Betäubung, armselige Flucht aus der Wirklichkeit.

Erleichterung war ihm, daß sich zuweilen Don Benjamín einstellte. Der junge Mensch führte inmitten des eigenen und des allgemeinen Elends das Werk der Akademie mit zäher Gelassenheit weiter. Der Domherr staunte über Benjamíns Willenskraft, seine Besuche verscheuchten ihm die ätzende Melancholie.

Einmal bat er den Schüler: »Wenn es dich nicht zu tief aufwühlt, dann laß mich doch wissen, was geschah und was gesprochen wurde, als du das letztemal in der Galiana warst.«

Benjamín schwieg. Schwieg so lange, daß Don Rodrigue bereits glaubte, er werde nicht antworten. Dann aber fand er heiße Worte, Raquel zu preisen, wie schön sie gewesen sei an diesem ihrem letzten Tag. Und er trug keinen Anstand zu erzählen, daß sie den Schutz der Judería nur deshalb verschmäht hatte, weil ihr vom König aufgetragen war, in der Galiana auf ihn zu warten. Aus seinen Worten sprach der Grimm über die ergebene Glut, mit der sie an ihren Ritter und Liebsten geglaubt hatte.

Den Domherrn erschütterte der Bericht. »Du weißt nicht, was das ist: Liebe«, hatte der König zu ihm gesagt, aber er selber wußte es nicht. Alfonso hatte Raquel »geliebt«, es war Sturm, Gewalt, Gewitter gewesen, aber er war eingesperrt geblieben in sich selber, er hatte nicht mit ihr gefühlt. Da hatte dieser unheilvolle Mensch, dieser Ritter ganz und gar, ein Wort hingeworfen, wahrscheinlich hatte er’s vergessen, kaum daß es gesprochen war, und das flüchtige Wort hatte Raquel in den Tod getrieben. Was immer seine leichtfertige Kühnheit unternahm, schlug zum Unheil aus.

Ein paar Tage später, ein wenig befangen, brachte Benjamín dem Domherrn eine Zeichnung. Er hatte den König aus der Nähe gesehen, er hatte wahrgenommen, wie sehr sich Alfonso verändert hatte; das im einzelnen zu ergründen, hatte er den König gezeichnet, und nun, verlegen und gespannt, brachte er das Bild dem Domherrn.

Der beschaute es, lange. Sah den Kopf eines Mannes, der vieles erfahren und vieles gelitten hatte, aber doch eines Ritters Kopf, eines unbedenklichen, ja, harten und grausamen Mannes Kopf. Er dachte an das Bild des Königs, wie er selber es, in Worten, in seiner Chronik gezeichnet hatte, er dachte an den Kopf des Königs, wie er geprägt war auf den Goldmünzen des Jehuda. Er legte die Zeichnung beiseite. Ging auf und ab. Nahm sie von neuem auf und beschaute sie. Sagte, wunderlich angerührt: »Das also ist König Alfonso von Kastilien.«

Benjamín, betroffen über die Wirkung seiner Zeichnung, sagte: »Ich weiß nicht, ob Alfonso so ist. In meinem Kopfe ist er so.« Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich glaube nun einmal, daß es besser um die Welt stünde, wenn sie von Weisen geführt würde statt von Kriegern.«

Der Domherr bat ihn, die Zeichnung dazulassen, und lange noch, nachdem Benjamín gegangen war, grübelte er über dem Blatt.

Seine Freundschaft mit Benjamín wurde immer enger. So vertraut mit ihm wurde er, daß er ihn in den eigenen Kleinmut hineinschauen ließ. »Jung an Jahren, wie du bist«, sagte er, »hast du gleichwohl zur Genüge erfahren, wie Dummheit und wüste Wut immer von neuem wegspült, was die Erkenntnis und die Arbeit von Jahrhunderten aufgerichtet haben. Trotzdem läßt du nicht ab, zu grübeln, zu forschen, dich zu plagen. Scheint es dir noch der Mühe wert? Und wem nützt deine Mühe?«

Auf dem Gesicht Benjamíns leuchtete jene fröhliche Verschmitztheit auf, die es früher so jung und liebenswert gemacht hatte. »Du willst mich prüfen, mein hochwürdiger Vater«, antwortete er, »aber du weißt meine Antwort voraus. Gewiß, die Finsternis ist das Übliche und das Licht die Ausnahme. Doch gerade in der ungeheuern Masse Unlicht ist das bißchen Licht doppelte Freude. Ich bin nicht viel, aber ich wäre gar nichts, wenn ich diese Freude nicht spüren könnte. Ich habe die Zuversicht, daß das Licht bleiben und daß es sich mehren wird. Und meine Schuldigkeit ist, daß ich mein Winziges dazu beitrage.«

Den Domherrn beschämte die Zuversicht Benjamíns. Er holte seine Chronik heraus, zwang sich zur Sammlung, versuchte, zu arbeiten. Allein sogleich wieder wurde er inne, wie nichtig seine Bemühung war. Er hatte schaubar machen wollen das Walten der Vorsehung, er hatte tapfer und naiv das Sinnlose dargestellt, als ob Sinn darin wäre. Aber er hatte die Geschehnisse nur zerdacht und zerredet: erklärt hatte er sie nicht.

Wie beneidete er den Musa. Der hatte leicht arbeiten an seiner Chronik. Er hatte einen Leitsatz gefunden, die Ereignisse daran zu messen, den Satz vom Werden und Vergehen der Völker, von ihrer Jugend und ihrem Altern, und sein Allah und sein Prophet bestätigten ihn. In seinem Koran konnte er lesen: »Und ein jedes Volk hat seine Zeit, und wenn diese Zeit kommt, kann keiner sie keine Stunde verschieben noch beschleunigen.«

Ihm, Rodrigue, war es nicht geglückt, Sinn und Ordnung in den Ereignissen zu finden. Ihm wollte scheinen, als ob der rechte Glaube es verbiete, auch nur danach zu suchen. Hatte nicht Paulus den Korinthern geschrieben: »Die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind – Quod stultum est Dei, sapentius est hominibus«? Und hatte nicht Tertullian gelehrt, das größte Ereignis in der Geschichte, das Sterben des Gottessohnes, sei glaubwürdig, weil es ungereimt sei? Wenn nun aber die Wege Gottes nicht die der Menschen waren, wenn sie, mit Menschenaugen gesehen und mit Menschenverstand gemessen, närrisch erschienen, war dann nicht schon das bloße Bestreben sündhaft, mit Menschenworten das Walten der Vorsehung darzustellen?

Seit hundert Jahren kämpfte die Christenheit um das Heilige Land, tausend mal tausend Ritter waren umgekommen in diesen Kreuzzügen: gewonnen war so gut wie nichts. Was durch so viel blutiges Sterben erreicht war, das hätten drei vernünftige Gesandte durch die sachlichen Verhandlungen einer einzigen Woche erreichen können. Vor solchem Geschehen versagte freilich alle menschliche Weisheit und nahm jener Satz des Paulus, die Narrheit Gottes, to moron tu theu, τὅ μωϱὅν τοῦ ϑεοῦ, sei weiser als die Menschen, seine ganze höhnische Bedeutung an.

Gebeugt über seine Chronik, leise, böse, sagte Rodrigue vor sich hin: »Es ist alles eitel. Es ist kein Sinn in dem, was geschieht. Es gibt keine Vorsehung.«

Er erschrak vor seinen eigenen Worten. »Absit, absit! Fort damit! Das sei ferne von mir!« befahl er sich.

Aber wenn sein Zweifel an der Vorsehung Ketzerei war, so nicht die Erkenntnis von der Vergeblichkeit der eigenen Bemühung. Da war er am Pult gestanden und hatte gekritzelt und geschmiert den Tag hindurch, auch viele Nächte hindurch, und hatte den Finger Gottes aufzeigen wollen in Ereignissen, deren Sinn nun einmal unergründlich blieb. Da hatte er sich vermessen, die großen Toten der Halbinsel neu zu beleben: den heiligen Ildefonso und den heiligen Julian, die Könige der Goten und die Kalifen der Moslems und die asturischen und kastilischen Grafen und den Kaiser Alfonso und den Cid Compeador. Er hatte sich eingebildet, er sei ein zweiter Prophet Ezechiel, auserwählt, diese Toten zu beschwören, daß sie aufstünden: »Ich will euch Adern geben und Fleisch über euch wachsen lassen und euch mit Haut überziehen und euch Odem einhauchen, daß ihr wieder lebendig werdet.« Aber die Gebeine, die er beschwor, hatten sich nicht wieder zusammengefügt. Sie lebten nicht, die Menschen seiner Chronik; was sie vollführten, war ein klappernder Tanz angestrichener Gerippe.

»Du sollst den Blinden nicht irreführen«, mahnte die Schrift. Genau das hatte er getan. Seine Chronik führte die Blinden noch tiefer ins Dunkle.

Ächzend stand er auf. Holte Scheiter zusammen, häufte sie an der Feuerstätte, zündete sie an. Suchte zusammen die zahllosen Blätter seiner Chronik und seiner Aufzeichnungen. Warf sie ins Feuer, schweigend, mit sehr schmalen Lippen. Sah zu, wie sie verbrannten, Blatt um Blatt. Stocherte in den verkohlenden Pergamenten und Papieren, bis sie Asche waren, die niemand mehr lesen konnte. Bertran de Born, da ihm seine Verwundung die weitere Teilnahme am Krieg verbot, begehrte fort aus Toledo in seine Heimat. Er wollte seine letzten Jahre als Mönch verbringen, im Kloster Dalon.

Aber seine übel zerhaute Hand schwoll, der Arm schwoll. Er konnte nicht daran denken, sich in solchem Zustand durch die Moslems durchzuschlagen, die die Wege weit hinauf nach dem Norden beherrschten.

Die Wunde brannte, tobte. Der König bat, er möge Musa zu Rate ziehen. Der erklärte, es gebe kein anderes Mittel, als den Arm abzunehmen. Bertran wehrte sich. Spaßte: »Im Kampf habt ihr mir die Hand nicht abnehmen können, ihr Moslems. Jetzt wollt ihr’s mit List machen und mit Gelehrsamkeit.« – »Behalte du den Arm, Herr Bertran«, antwortete gelassen Musa. »Aber dann wird in einer Woche von dir nichts mehr dasein als deine Verse.« Lachend, fluchend fügte sich Bertran.

Er lag auf dem Spannbett, festgebunden. In Augenweite, auf einem kleinen Tisch, lag der Handschuh des Auftrags, den ihm Alfonso gegeben hatte, und neben dem Tisch stand der alte Schildknappe und Sänger Papiol. Musa und der Meister Reinero, nachdem sie Bertran einen starken, schmerzbetäubenden Trank gegeben hatten, machten sich mit Eisen und Feuer an ihr Werk. Bertran aber, während sie an ihm herumhantierten, diktierte seinem Papiol ein Gedicht an Alfonso, den »Sirventés vom Handschuh«.

Der alte Musa hatte viel erlebt, aber kaum je ein so greulich großartiges Schauspiel. Da lag der alte Ritter, aufs Spannbett festgebunden, in dem von verbranntem Fleisch stinkenden Raum, und in Ohnmacht fallend, wieder aufwachend, stöhnend vor Schmerz, Schreie unterdrückend, wieder bewußtlos, wieder aufwachend, diktierte er seine Verse, lustige, grimmige. Manche mißlangen, andere glückten. »Sag’s nach, Papiol, du Dummkopf!« befahl Bertran, und: »Hast du’s begriffen? Wirst du dir’s merken? Hast du die Weise?« fragte er. Der alte Papiol sah, wie begierig sein Herr auf die Wirkung seiner Verse wartete, er bemühte sich, fröhliche, stürmische Anerkennung zu zeigen. Er wiederholte voll Anerkennung die Verse, lachte krampfhaft, konnte nicht aufhören, bis unvermittelt sein Lachen in Geheul und Geschluchze überging.

Alfonso, den Tag darauf, besuchte Bertran. Fragte nach seinem Befinden. Bertran wollte leicht abwinken, aber die Hand war nicht da. »Nun ja«, sagte er, und er berichtete: »Der Arzt glaubt, in zwei Wochen werde ich so weit sein, daß ich verreiten kann. Dann laß ich dich also allein, Herr König, und geh in mein Kloster Dalon. Mein wackerer Papiol ist den Strapazen des Krieges nicht mehr gewachsen. Er besteht darauf, daß wir uns zu Gott zurückziehen.«

Alfonso hatte viel Ruhm und Preis übrig für den »Sirventés vom Handschuh« und versprach eine hohe Schenkung für das Kloster Dalon. »Eine Liebe mußt du mir tun«, bat er. »Sing du mir selber den Sirventés.«

Und Bertran sang:

»Den Handschuh geb ich dir zurück

Nach stolz erfüllter Pflicht.

Wohl stritt ich diesmal ohne Glück.

Doch grämt’s mich nicht

Und macht mich nicht geschämig.

Daß mir die Hand verlorenging

Im Streit für dich, acht ich gering.

Du bist ein großer König.

Drum acht auch du es wenig,

Daß, Herr Alfonso, dieses Mal

Die Überzahl

Den Tag dir stahl.

Ein andrer Tag, ein andres Glück.

Mir fiel die Hand,

Dir fiel ein Stück

Von deinem Land.

Du holst’s zurück.

Mir ist es um die Hand nicht leid,

Sie kam mir ab in gutem Streit,

Ich mag um sie nicht klagen.

Sie hat, da sie den Handschuh trug,

Mit Mut und Fug

Viel Dutzend Feind’ erschlagen.

Jetzt kehr ich in mein Kloster ein

Und will den Rest der Tage mein

In Gottes Zucht verbringen.

Und hab ich auch die Hand nicht mehr,

So will ich doch fürs Christenheer

Noch manche Lieder singen.

Und übers Land und übers Meer

Soll’s allen Rittern klingen:

Auf, Ritter gut und Christenmut!

Haut ein! Stürmt vor!

A lor! A lor!«

Alfonso hörte aufmerksam zu; er spürte den Schwung der Verse, sie gingen ihm ins Blut. Aber sie übertönten nicht die Stimme der Vernunft, die ihm redete von dem Vergeblichen, ein wenig Lächerlichen des alten Ritters. Überall rings um Toledo schwärmten moslemische Truppen, sie riegelten alle Verbindungsstraßen ab. Aber der umsichtige Kalif ließ sich Zeit, ehe er die Stadt ernstlich und mit ganzer Macht einschloß. Dafür rückte er weit nach Norden vor und unterwarf sich einen großen Teil Kastiliens. Eroberte Talavera, eroberte Maqueda, Escalona, Santa Cruz, Trujillo, eroberte Madrid. Die Kastilier hielten sich mutig. Kräftig wehrten sich vor allem die geistlichen Fürsten; es fielen die Bischöfe von Avila, Segovia, Sigüenza. Aber die ungeheure Überzahl der Moslems warf jeden Widerstand nieder, die Heftigkeit der Abwehr reizte nur ihre Wut. Sie verwüsteten das Land, zerstampften die Äcker, schnitten die Weinreben ab, trieben das Vieh fort.

Unterwarfen auch den größern Teil des Königreichs León. Drangen vor bis zum Flusse Duëro. Zerstörten die alte glorreiche Hauptstadt Salamanca. Besetzten auch in Portugal weite Gebiete. Nahmen das heilige, hochberühmte Kloster Alcobaza. Plünderten es, machten die meisten Mönche nieder. Überall im christlichen Hispanien war Hungersnot, Seuche, Elend. Seit Beginn der Rückeroberung war das Land nicht in solcher Bedrängnis gewesen wie jetzt, nach der sinnlosen Schlacht von Alarcos.

Die christlichen Könige maßen Alfonso die ganze Schuld bei. León und Navarra verhandelten mit den Moslems. Der König von Navarra ging so weit, dem Kalifen ein Bündnis gegen die andern christlichen Fürsten anzubieten. Sein Erbprinz sollte eine Tochter Jakúb Almansúrs heiraten, er wollte den Kalifen als Lehnsherrn anerkennen und alles Gebiet, das die Moslems den andern christlichen Ländern abgenommen hatten, als Vasall des Kalifen verwalten.

Und nun, da er den Norden gesichert hatte, machte sich der Kalif an die Einschließung Toledos. Von den Zinnen der Königsburg sah Alfonso die Mauerbrecher und Belagerungstürme näher rücken, langsam, immer gewaltiger.

Der Castro verlangte Urlaub, um sein eigenes Land, die Markgrafschaft Albarracín, zu verteidigen. Alfonso hatte kein Wort der Widerrede. »Und wie ist es mit meinem Dank, Herr König?« fragte der Castro. »Dank wofür?« antwortete Alfonso.

Doña Leonor war all die Zeit her in Toledo geblieben. Sie glaubte, Alfonsos Wut habe sich in jenem furchtbaren Ausbruch erschöpft, und nun sein Sinn ausgefüllt sei von den Geschäften des Krieges, werde die Erinnerung an die Jüdin schnell verblassen. Wohl vermied er jede persönliche Aussprache und beschränkte sich auf kühle Höflichkeit, aber Leonor war sicher, sie werde ihn zurückgewinnen, wenn sie nur lang genug warte. Sie wartete. Jetzt aber, da der Feind Toledo einschloß, konnte sie’s nicht länger. Hier störte ihre Anwesenheit, in Burgos brauchte man sie.

Im stillen hoffte sie, Alfonso werde sie bitten, zu bleiben.

Sie suchte ihn auf. Nahm ihren ganzen, starken Willen zusammen, jung zu sein, schön zu sein. Sie wußte, ihr ferneres Leben hing ab von dieser Zusammenkunft.

Alfonso, wie die Courtoisie es verlangte, führte sie zu einem Sitz, ließ sich ihr gegenüber nieder, sah ihr höflich aufmerksam in das weiße, schöne Gesicht. Sie, mit ihren ruhigen, grünen Augen, prüfte ihn. Es war nichts mehr in ihm von dem Knabenhaft-Ungestümen, das sie hingerissen hatte; was ihr jetzt entgegenschaute, war ein hartes, scharfzügiges Männergesicht, tief verfurcht, das Gesicht eines Mannes, der viel Pein erfahren hatte und kaum lange Bedenken trug, Pein zuzufügen. Aber auch diesen Alfonso begehrte sie mit ihrem ganzen Wesen.

Hier in Toledo, begann sie, könne sie ihm nicht mehr von Nutzen sein. Sie kehre wohl am besten, solang das noch möglich sei, nach Burgos zurück, um dort für die Töchter zu sorgen und den weitern Verlauf des Krieges abzuwarten. Dort auch könne sie verhandeln mit den wankelmütigen Königen von León und Navarra.

Alfonso hatte viel zugelernt. Er sah in sie hinein, er überblickte ihre innere Landschaft, als wäre sie ein Gelände, auf welchem er eine Schlacht zu schlagen hatte. Mit ihren eigenen Worten hätte er ihr sagen können, was sie dachte und wie sie rechnete. Sie habe – so glaubte sie bestimmt – die andere mit gutem Recht aus dem Weg geschafft, ihm und dem Reich zum Nutzen, und er müsse das einsehen und müsse ihr’s danken. Sie sei jung, sie sei schön, er werde sie in sein Bett zurücknehmen, und Gott werde gnädig sein, und sie werde ihm noch einen Erben gebären. Sicher dachte sie so und wartete darauf, daß er sie auffordern werde, zu bleiben. Aber sie rechnete falsch. Und wenn es gewiß wäre wie das Amen in der Kirche, daß sie ihm einen Sohn gebären wird, er wird die Mörderin Raquels nicht mehr anrühren.

Sie saß aufrecht und doch locker und gelassen. Wartete.

»Ich freue mich deines Entschlusses, Doña Leonor«, antwortete er und lächelte höflich mit seinen schmalen Lippen. »Du erweisest mir und aller Christenheit einen großen Dienst, wenn du nach Burgos gehst und deine erprobte Klugheit nützest, mit den feigen und abtrünnigen Königen zu verhandeln. Auch ich bin froh, unsere Töchter in deiner Hut zu wissen. Ich stelle dir gern ein starkes Geleite zur Verfügung.«

Leonor hörte zu, wog. Seine Leidenschaft für die Jüdin schien fort. Wenn er trotzdem so kalt und nicht ohne Spott zu ihr redete, dann wohl nur, weil er’s für seine Ritterpflicht hielt, sich vor die Tote hinzustellen. Leonor fühlte sich stark genug, mit der Toten um ihn zu kämpfen.

Sie sagte: »Ich höre, du hast keinen Versuch gemacht, den Castro zu halten.« Alfonsos Augen wurden gefährlich hell. Sie war recht dreist, diese da, jenes üble Gespräch wiederaufzunehmen. Aber er bezähmte sich. »Du hast recht gehört«, antwortete er. »Ich dachte nicht daran, einem Menschen lange zuzureden, der mir davonläuft, wenn ich in Bedrängnis bin.« Leonor erwiderte, auch sie mit gleichmütiger Stimme: »Ich glaube, Don Alfonso, du beurteilst den Ritter zu hart. Seine Markgrafschaft ist in der Tat bedroht von dem Emir von Valencia. Ich hatte ihm Lohn in Aussicht gestellt, und du hast ihn lange warten lassen. Er war nicht im Unrecht, wenn er sich in seinem Dank gekürzt fühlte.«

Alfonso wurde sehr blaß, die Backenknochen sprangen ihm noch härter aus dem abgezehrten Gesicht. Aber es gelang ihm, die höfliche Maske zu wahren. »Mit Gottes Hilfe«, sagte er, »werde ich Toledo auch ohne den Castro halten.« – »Es geht nicht darum«, erwiderte Leonor, »du weißt es. Wir müssen verhüten, daß er’s macht wie unsere Vettern von León und Navarra und mit den Moslems zettelt. Oder sich geradezu auf ihre Seite schlägt, wie es der Cid Compeador getan hat, als dein Ahn Alfonso ihn zu kärglich lohnte. Es ist nicht das erstemal, daß wir ihn kränken, und er ist empfindlich. Ihn zu den Moslems zu jagen scheint mir nicht zu unserm Nutzen. Willst du ihm nicht das Castillo überschreiben, Don Alfonso?«

Wieder, und jetzt mit bösem Triumph, spürte Alfonso, was in ihr vorging. Raquel war tot, sie, Leonor, lebte und stand vor ihm, kühl, fürstlich und doch verführerisch, und wollte, daß er der Toten abschwöre, und dann sollte alles sein wie früher. Aber sie täuschte sich, die Tochter der Dame Ellinor. Raquel lebte. »Du wirst mir nicht im Ernst zumuten, Doña Leonor«, sagte er, »daß ich den Verräter auch noch belohne, der mich in der Gefahr verläßt. Ich kaufe mir Routiers, aber keine Ritter. Auch scheint es mir nicht ratsam, meine Juden von Toledo in dieser Zeit der Not zu verstimmen; das aber täte ich, wenn ich den Mörder ihres besten Mannes also ehrte. Meine staatskluge Leonor wird das sicher verstehen.«

In seiner hellen Stimme war nur ein ganz kleiner Hohn. Doch diese kleine Schwingung Hohnes vertrieb Leonor alle Besonnenheit. »Ich habe dem Manne das Castillo versprochen«, sagte sie schrill. »Willst du mich Lügen strafen? Willst du deine Königin bloßstellen, um deinen Juden zu schmeicheln?«

Alfonso, in seinem Innern, jubelte: Hörst du’s, Raquel, wie sie wütet? Aber ich setze mein Siegel nicht unter das, was sie tat. Ich heiße ihren Mord nicht gut. Ich gebe deinem Mörder das Haus nicht. Er sagte: »Ich würde an deiner Stelle von jenem Versprechen lieber nicht reden, Leonor.«

Erst jetzt gab sich Leonor zu, daß sie nichts erreicht hatte durch die Beseitigung Raquels. So wie die Mutter durch die Tötung jener Frau, der Geliebten Heinrichs, nur das eigene Leben zerstört hatte, so war auch sie von der toten Jüdin für immer besiegt. Eisig wehte sie die Angst an, sie werde nun ihr ganzes Leben unfruchtbar und einsam verbringen müssen. Vor ihr dehnte sich die graue Ödnis, von welcher die Mutter gesprochen hatte, die herzzerreibende Acedia, die lange, leere Zeit.

Sie weigerte sich, die grausame Gewißheit anzunehmen. Sie sah den Mann, sie liebte ihn, sie hatte nichts, nur den Mann. Sie mußte sich ihn erhalten. Sie sagte bittend, mit verzweifelter Demut: »Ich erniedrige mich, wie sich noch nie eine Frau meines Geschlechtes erniedrigt hat. Laß mich in Toledo bleiben, Alfonso! Wir wollen nicht mehr von dem Castro reden, aber laß mich bei dir bleiben! Laß uns zusammenbleiben in dieser Not!«

Alfonso erwiderte, und ein jedes Wort fiel klar und kalt von seinen Lippen: »Es hätte keinen Zweck, Leonor. Ich sag es dir, wie es ist: du hast mein Herz verdorren machen, als du sie erschlugst.«

Ein alter, trüber, lateinischer Vers klang in Leonor auf, eine Dichterin aus Graecia hatte ihn gedichtet. »Der Mond ist aufgegangen, auch das Siebengestirn, die Mitternacht ist da, die Stunde verrinnt, ich aber schlafe allein.«

Sie riß sich zusammen. Sie stand sehr aufrecht und sprach: »Du sagst mir das, und es macht mich zu Stein. Und trotzdem: ich habe recht getan, und ich hab es deinethalb getan, und ich täte es nochmals.«

Andern Tages fuhr sie nach Burgos.

Siebtes Kapitel

Als Musa hörte, daß der Domherr die Chronik verbrannt hatte, machte er dem Freund milde Vorwürfe. Er stellte ihm vor, die von den Chronisten aufgezeichnete Weltgeschichte sei das Gedächtnis der Menschheit. Die großen Alten hätten eine Göttin der Geschichtsschreibung verehrt, und Juden, Christen, Moslems nähmen zu Recht an, Gott habe Wohlgefallen an dem Werk der Chronisten.

»Mein Werk war Gott nicht wohlgefällig«, antwortete grimmig der Domherr. »Mir ist die Gabe versagt, den Finger Gottes in den Geschehnissen wahrzunehmen. Ich habe die Ereignisse nicht verstanden; alles, was ich aufzeichnete, war falsch. Ich durfte mein Werk nicht fortsetzen, ich durfte es nicht bestehen lassen. Selber blind, durfte ich die Blinden nicht irreführen. Du hast es leicht, mein Musa«, fuhr er trüb und bitter fort. »Du hast deine Richtlinien, du hast noch nicht eingesehen, daß sie falsch sind, du darfst ruhig weiterschreiben.« Musa versuchte, ihn zu trösten: »Auch du wirst neue Prinzipien finden, mein sehr würdiger und verehrter Freund, welche dir auf einige Jahre richtig scheinen.«

Der alte Gelehrte war jetzt den ganzen Tag unterwegs. Hunger und Seuche herrschten in der belagerten Stadt, immer mehr Kranke verlangten nach seiner Kunst und seiner Kur.

Er selber freilich war sich der Grenzen seiner Kunst bewußt. Die moslemische Heilkunde, setzte er dem Domherrn auseinander, habe seit langer Zeit nichts zugelernt. Seitdem der unduldsame Alghazali alles Wissen, das nicht aus dem Koran stamme, für Ketzerei erklärt habe, sei auch die ärztliche Wissenschaft der Moslems im Abstieg, und die Führung in der Medizin sei nun endgültig auf die Juden übergegangen. »Der Sultan hat recht«, erklärte er, »daß er sich den Juden Mose Ben Maimon als Leibarzt verschrieb. Wir Moslems haben niemand, der sich ihm vergleichen könnte. Unsere Kultur hat eben ihre Blüte hinter sich. Im übrigen«, schloß er, »sind aller ärztlichen Kunst von der Natur Grenzen gesetzt, und viel vermag auch der beste Meister nicht. Es ist, wie Hippokrates gelehrt hat: die Medizin tröstet häufig, lindert manchmal, heilt selten.«

Dem Erzbischof Don Martín jedenfalls vermochte kein Arzt zu helfen; seine Verwundung war tödlich. Alle wußten es, er selber wußte es. Doch inmitten des großen Sterbens ringsum hielt er zäh am Leben fest. Versuchte weiterzuarbeiten. Verlangte, daß Don Rodrigue ihn täglich besuche, um ihn über die Geschäfte zu unterrichten.

Es geschah jedoch aus einem tiefern Grund, daß der Erzbischof die Gesellschaft Don Rodrigues so dringlich begehrte. Er wollte sich in der Zeit, die ihm noch vergönnt war, zur Buße seiner Sünden recht oft und heiß über seinen allzu milden Sekretär ärgern. Da lag er, roch an einer Zitrone, stöhnte und forderte den andern heraus. Gab etwa seiner Genugtuung Ausdruck über das verdiente böse Ende des Juden Ibn Esra und seiner Tochter. Wie er’s erwartete, verwies ihm der Domherr die unchristliche Freude, und er seinesteils konnte, daran anknüpfend, dem Rodrigue vorhalten, daß dessen übergroße Barmherzigkeit schlecht angebracht sei im Heiligen Krieg.

Ein andermal wieder sprach er vor sich hin jenen wilden Satz aus dem Kriegslied des Mose: »Dominus vir pugnator – Der Herr ist ein rechter Kriegsmann«, und bat mit freundlicher Tücke: »Sag mir doch den hebräischen Text, mein lieber und gelehrter Bruder.« Und da der andere diesen Text nicht auswendig wußte, tadelte er ihn sanft: »Solche Verse, mein mildherziger Freund, sind dir natürlich nicht gegenwärtig. Aber ist er nicht herrlich, der Vers, auch auf lateinisch?« Und: »Dominus vir pugnator«, sagte er vor sich hin, mehrmals, genießerisch, wartend auf eine Entgegnung des Domherrn. Der aber hatte nicht das Herz, dem todnahen, streitbaren Freund Friedensverse der Schrift entgegenzuhalten. Er schwieg.

Don Martíns schwerste Sorge war, wen ihm wohl der König zum Nachfolger geben werde. Der Erzbischof von Toledo nämlich, der Primas von Hispanien, war nächst dem König der mächtigste Mann in Kastilien; seine Einkünfte waren größer als die des Königs, sein Einfluß ungemessen. Ständig also setzte Don Martín dem König zu, den rechten Mann zu wählen. »Höre auf die Worte eines Sterbenden, mein Sohn«, beschwor er ihn. »Unser lieber Don Rodrigue ist weise und fromm, fast ein Heiliger, und du kannst keinen bessern Ratgeber finden in deinen Geschäften mit Gott. Aber für die Geschäfte dieser Welt, für die Geschäfte des Krieges, ist er nicht der rechte Mann, und als Erzbischof von Toledo würde er dir für dein Heer kein Geld geben oder doch zuwenig. Setze du mir also, mein lieber Sohn und König, ich bitte dich, auf den Stuhl des heiligen Ildefonso keinen Waschlappen, sondern einen rechten christlichen Ritter, wie ich selber einer war in aller Bescheidenheit und mit all meinen Fehlern.«

Noch am gleichen Tage bereute Don Martín, daß er dem Domherrn in den Rücken gefallen war. Er schickte nach ihm. Bekannte. Klagte: »Oh, warum hat mich Gott zum Priester gemacht und nicht zum Feldhauptmann!« Don Rodrigue hatte Mühe, ihn zu trösten.

Eine grimmige, unverhoffte Freude wurde dem Sterbenden noch zuteil. Auf mancherlei Umwegen, behindert durch die überall streifenden Moslems, traf, um viele Wochen verspätet, ein Bote ein mit einem Schreiben des Papstes. Der Heilige Vater erteilte dem König schärfsten Befehl, endlich seinen jüdischen Escrivano, den unheilvollen Ibn Esra, zu entlassen. Wie solle Don Alfonso seinen Heiligen Krieg zum guten Ende führen, wenn er einen Ungläubigen zum wichtigsten Ratgeber habe? »Da siehst du es, mein lieber, würdiger Bruder«, frohlockte Don Martín vor dem Domherrn. »Unsere fromm und tapfern Kastilier haben im Sinn des Statthalters Christi gehandelt, als sie den Juden züchtigten. War also mein Herz wirklich böse, daß es sich daran weidete?«

Die frohe Erregung zehrte die letzte Kraft des Erzbischofs auf. Es begann sein Todeskampf, er war lang und hart. Im Geiste war Don Martín in der Schlacht, er versuchte zu schreien: A lor, a lor! Er röchelte, er stritt und litt.

Musa meinte, das Menschlichste wäre, dem Sterbenden einen starken Betäubungstrank zu geben. »Das Leben zu verkürzen ist nicht menschlich«, wies ihn der Domherr zurück, und der Erzbischof hatte noch zwei Stunden zu leiden, ehe er starb. In der Gegend von Tripolis waren neue Aufstände ausgebrochen, und der Kalif, um dort, an seiner afrikanischen Ostgrenze, Ordnung zu schaffen, mußte Truppen aus Hispanien abziehen. Er verzichtete auf seine Eroberungen im Norden der Halbinsel. Er zog sich mitten im Siege zurück.

Tief aufatmete Don Alfonso. Wurde von einem Tag zum andern zu dem Ritter und König, der er vorher gewesen war. Vor dem Domherrn ließ er seinem Jubel freien Lauf. Jetzt wird er die Schande von Alarcos austilgen. Wird, was er noch an Truppen hat, zusammenraffen. Wird den Feind zurückwerfen. Wird tief in den Süden vorstoßen, Córdova nehmen, und, trotz allem, Sevilla!

Der Domherr erschrak. Ihm schien, was er da hören mußte, verbrecherischer Wahnsinn. Seitdem er den König bei der Nachricht von Raquels Ermordung hatte zusammenbrechen sehen, hatte Rodrigue in all seiner Verzweiflung die leise Hoffnung gehegt, Alfonso werde sich nach so harten Schlägen das wilde Rittertum aus der Brust reißen. Ja, es war dem Domherrn eine solche Erlösung des Königs zur eigenen Sache geworden. Wenn sich Alfonso infolge seiner Strafe wandelte, dann war zuletzt doch Sinn gewesen in all dem Übel und Unheil. Und nun war die erste Prüfung da, und Alfonso versagte.

Rodrigue war nicht gewillt, dieses Versagen ohne Kampf hinzunehmen. War nicht – hielt er dem König entgegen – der ganze moslemische Süden unversehrt und in Blüte? Waren die Heere des Kalifen nicht auch jetzt den Christen an Zahl um ein Vielfaches überlegen? Wenn Kastilien, als es noch in voller Kraft stand, so schwer geschlagen worden war, wie sollte es jetzt, grausam geschwächt, erfolgreich angreifen können? »Schlage keine zweite Schlacht vor Alarcos!« warnte er. »Danke Gott in Demut für deine Rettung. Offenbar ist der Kalif zu Verhandlungen bereit. Schließ Frieden zu jeder annehmbaren Bedingung!«

In seinem Innersten hatte Alfonso von Anfang an gewußt, daß dieser Weg der einzig richtige war. Sowie indes Rodrigue das Wort Alarcos aussprach, bäumte sich der alte Stolz des Königs auf. Er soll die Flügel hängenlassen in dem guten Wind, den Gott ihm so unverhofft gesandt hatte! Er soll seine innere Stimme schweigen heißen, die ihm zurief: Greif an, greif an!

Leichthin, mit dem alten Übermut, freundlich überlegen, antwortete er: »Jetzt, mein Vater und Freund, spricht aus dir der Priester und Heilige, vor dessen Rat Don Martín mich gewarnt hat. Du mahnst mich an Alarcos. Doch dieses Mal liegen die Dinge sehr anders. Der Kalif ist im Rückzug, und es ist alte, gute Feldherrnregel, nachzustoßen, wenn der Feind im Weichen ist. Gewiß, die Moslems haben nach wie vor die Übermacht, und es erfordert Mut, sie anzugreifen. Aber willst du mir’s verwehren, mutig zu sein?!«

Vultu vivax. Rodrigue sah schmerzhaft und empört durch das Antlitz Alfonsos das Gesicht des unbändigen Bertran. »Bist du blind?« rief er Alfonso an. »Waren dir die Zeichen Gottes nicht deutlich genug? Willst du seine Langmut ein zweites Mal auf die Probe stellen?«

Alfonso, immer mit der gleichen, lächelnden Sicherheit, sagte: »Du mußt es dem König von Kastilien zugute halten, daß er die Zeichen anders deutet als du. Ich war vermessen, als ich mich vor Alarcos schlug, ich geb dir’s zu, ich habe Züchtigung verdient, und Gott hat mich gezüchtigt. Er hat die bittere Niederlage über mich verhängt, er hat mir die Reiter der Apokalypse geschickt, und das war gerechte Strafe, ich nehme sie an. Dann aber hat er mir Raquel getötet, und du willst behaupten, auch ihr Tod gehöre zur Strafe für Alarcos und für meine Kühnheit? Nein, Gott hat mich so übergrausam gestraft, gerade weil ich ihm mehr am Herzen liege als andere. Gott wollte, daß er etwas gutzumachen habe an mir. Und jetzt hat er’s gutgemacht, und darum hat der Kalif abziehen müssen, und darum werde ich siegen.«

Ein großer Zorn faßte den Rodrigue. Dieser Ritter durch und durch kniff die Augen zusammen, um in seiner Blindheit zu verharren. Aber er, Rodrigue, wird sie ihm öffnen. Er mußte jetzt hart sein; er war mitleidig, wenn er hart war. An die Wirkung denkend, die der Bericht Benjamíns auf ihn selber gemacht hatte, sagte er voll strengen Triumphes: »Der Tod Raquels gehört zu deiner Strafe. Was du so stolz bestreitest, ist die genaue Wahrheit. Raquel hat sterben müssen um deiner ritterlichen Leichtfertigkeit willen.« Und er erzählte ihm, was er von Benjamín wußte, daß Raquel und ihr Vater den Schutz der Judería nur deshalb verschmäht hatten, weil Alfonso sie geheißen hatte, in der Galiana auf ihn zu warten.

Erinnerung und Erkenntnis überstürzten Alfonso in jäher, ungeheurer Flutung. Der zürnende Priester hatte recht: es war seine Schuld. »Warum sind sie nicht in die Judería gegangen?« hatte höhnisch Leonor ihn gefragt, hatte er selber sich gefragt. Er hatte es nicht mehr gewußt, daß er Raquel jene Weisung gegeben hatte, er hatte es ganz und gar vergessen. Nun stand es vor ihm auf, scharf und klar. Zweimal hatte er ihr die Weisung gegeben, leichthin, beiläufig. Er hatte vieles und sehr Übermütiges geschwatzt in jener letzten Nacht, sie aber hatte all sein Geschwatz und Geprahle ernst genommen, auch seine beiläufige Weisung, sie hatte sie tief in sich einsinken lassen. Und daran war sie gestorben. Er aber hatte ihr nicht einmal Lebwohl gesagt, er war fortgeritten, ausgefüllt von seinem frivolen Heldentum, er hatte sie vergessen und war in seine dumme Schlacht gerannt. Und darüber waren seine Calatrava-Ritter untergegangen, und ihr Bruder Alazar war gefallen, und sein halbes Reich war verlorengegangen, und sie selber und ihr Vater waren umgekommen.

Und nun hatte er sich bereitet, eine neue, dumme Schlacht zu schlagen!

Er starrte töricht ins Leere. Aber er sah. Sah jenes Gesicht, das vor ihm aufgestiegen war bei dem vernachlässigten Grab in der Galiana, das stumme, beredte Gesicht Raquels.

Seine Versunkenheit wurde zerrissen von der Stimme Rodrigues. »Überhebe dich nicht länger, Don Alfonso«, sagte er. »Mach dir nicht vor, daß du Gott näher am Herzen lägest als die andern. Nicht deinethalben hat Gott den Rückzug des Kalifen bewirkt. Du bist nur ein Instrument, dessen Er sich bedient. Halte dich nicht für die Mitte der Welt, Don Alfonso. Du bist nicht Kastilien. Du bist einer von den tausend mal tausend Bewohnern Kastiliens. Lerne Demut.«

Alfonso schaute vor sich hin, abwesend, aber er hörte. Er sagte: »Ich will deine Worte gut bedenken, mein Freund Rodrigue. Ich will tun nach deinen Worten.« Er ließ dem Kalifen erklären, er sei willens, in Friedensverhandlungen einzutreten. Allein der Kalif war der Sieger, er stellte viele Bedingungen, bevor er Verhandlungen auch nur begann. Er verlangte unter anderm, daß Alfonso Delegierte nach Sevilla sende; alle Welt sollte wissen, daß Alfonso, der den Waffenstillstand mit Sevilla gebrochen und den Krieg heraufbeschworen hatte, nun als Besiegter zu dem Überfallenen kam, ihn um Frieden zu bitten. Alfonso widersetzte sich lang und heftig. Der Kalif bestand. Alfonso fügte sich.

Wer aber sollte als Unterhändler nach Sevilla gehen? Wer besaß die Umsicht, Schnelle, Schmiegsamkeit und List, wer die Haltung und innere Würde für das heikle und demütigende Amt? Manrique war zu alt; den Priester Rodrigue zu den Ungläubigen zu schicken ging nicht an.

Rodrigue schlug vor, Don Ephraim Bar Abba, den Vorsteher der Aljama, mit der Sendung zu betrauen.

Alfonso selber hatte das schon erwogen. Ephraim hatte sich in schwierigen Geschäften als kluger Mann bewährt; auch konnte er, der Jude, bestimmt besser als ein Grande und Ritter die Erniedrigungen auf sich nehmen, denen der Gesandte Kastiliens in Sevilla ausgesetzt sein mochte. Aber Alfonso dachte nur mit Unbehagen an Ephraim. Er hatte es all die Zeit her vermieden, mit ihm zusammenzukommen, wiewohl mancherlei Geschäfte eine Aussprache erfordert hätten. Von den dreitausend Mann, welche die Aljama ihm gestellt hatte, waren die meisten umgekommen. Werden die Juden ihm das nicht nachtragen? Und werden sie ihm den Untergang ihres Ibn Esra nicht nachtragen?

Nun Rodrigue den Ephraim vorgeschlagen hatte, sprach ihm der König von diesen Spürungen. Langsam redete er sich in Zorn, und nun ließ er seinen geheimsten Argwohn laut werden. »Alle«, grollte er, »sind sie verknüpft, diese Juden. Bestimmt hat sich Jehuda mit dem Ephraim verschworen. Ganz sicher wissen sie, wo mein Sohn ist, mein lieber Sancho. Und wenn sie ihn mir nicht in Güte herausgeben, dann werde ich sie zwingen. Schließlich bin ich der König, und die Juden sind mein Eigentum. Ich kann mit ihnen machen, was ich will, das hat mir Jehuda selber erklärt. Ich dulde nicht, daß sie sich rächen an meinem Kinde.«

Rodrigue, bestürzt über diesen Ausbruch, drang nicht länger auf die Bestallung Don Ephraims.

Alfonso indes spürte eine wachsende Lockung, Ephraim zu sehen und mit ihm zu reden. Dabei wußte er nicht, ob er von ihm verlangen werde, daß er ihm seinen Sohn herausgebe, oder ihn bitten, sein Gesandter zu sein. Er berief ihn zu sich.

»Es ist dir bekannt, Don Ephraim«, begann er, »daß der Kalif über den Frieden verhandeln will.« Und da sich Ephraim nur schweigend verneigte, forderte er ihn sogleich heraus: »Wahrscheinlich weißt du mehr als ich und kennst bereits seine Bedingungen.«

Don Ephraim stand vor ihm, dünn, alt, gebrechlich. Es war beunruhigend, daß Don Alfonso ihn seit der Niederlage von Alarcos und der Ermordung Jehudas nicht hatte kommen lassen, und es war sehr wohl möglich, daß sich des Königs Schuldgefühl in neuen Gewalttätigkeiten gegen die Juden entlud. Ephraim mußte vorsichtig sein.

»Wir haben«, antwortete er, »Dankgottesdienste abgehalten, als der Feind von Toledo abzog, und Gott gebeten, weiteren Segen auf dein Haupt herabzuschicken.«

Don Alfonso fuhr fort, ihn zu hänseln: »Findest du es nicht ungerecht, daß der Himmel mir wieder so große Gnade zeigt? Ihr werdet ja wohl mir die Schuld zuschreiben an dem Untergang eurer Männer und an der Ermordung eures Ibn Esra.«

»Wir haben gelitten und gebetet«, antwortete Don Ephraim.

Alfonso fragte geradezu: »Was also weißt du von den Friedensbedingungen?« Ephraim erwiderte: »Genaues wissen wir so wenig wie du. Der Kalif, vermuten wir, wird alles Gebiet südlich des Guadiana behalten wollen. Sicher wird er für seinen Schatz eine reichliche Jahresabgabe verlangen und für den Emir von Sevilla eine hohe Kriegsentschädigung. Auch wird er wohl für den neuen Friedensvertrag eine sehr lange Dauer fordern.«

Alfonso, sehr finster, sagte: »Soll ich nicht doch, ehe ich dergleichen annehme, den Krieg weiterführen? Oder findet ihr solche Bedingungen angemessen?« fragte er hämisch.

Ephraim zögerte mit der Antwort. Wenn er jetzt für Vertrag und Frieden sprach, dann konnte es geschehen, daß der König seine ohnmächtige Wut an der Aljama ausließ und an ihm selber. Es lockte ihn, auszuweichen, etwas ehrerbietig Nichtssagendes zu erwidern. Das aber wird Alfonso als Zustimmung auffassen, er wartete ja nur auf die leiseste Aufmunterung, und er wird seinen sinnlosen Krieg fortsetzen. Und Gott wird kein zweites Wunder tun, Toledo wird verloren sein, und mit Toledo die Aljama. Der tote Jehuda, in ähnlichen Zweifeln und ähnlicher Beklommenheit, hatte es oft und abermals gewagt, diesem Christenkönig zum Frieden und zur Vernunft zu raten. Ein Jahrhundert lang hatten jüdische Ratgeber ihre kastilischen Könige zur Vernunft gemahnt.

»Wenn du die offene Meinung eines alten Mannes hören willst, Herr König«, sagte er schließlich mit seiner morschen Stimme, »dann rat ich dir: mach Frieden. Du hast diesen Krieg verloren. Wenn du ihn weiterführst, werden eher die Moslems an die Pyrenäen vorstoßen als du ans südliche Meer. Welche Bedingungen immer der Kalif stellt, solang er sich mit einer Grenze südlich von Toledo bescheidet, mach Frieden.«

Alfonso ging auf und ab, in den Augen jenen gefährlichen hellen Schein, die Stirne tief verfurcht. Was der Jude da sagte, war eine Frechheit. Er wird ihn greifen lassen und in sein unterstes Verlies sperren, bis ihm die Frechheit vergeht und er ihm seinen Sancho herausgibt. Und er wird, was er noch an Mann und Roß besitzt, zusammenraffen, er wird die Moslems überraschend angreifen und ihre Linien durchstoßen. Er wußte, solches Geplane war sinnlos, er mußte um den Frieden verhandeln, und zwar durch diesen Ephraim. Aber nein, nein, nun gerade nicht! Er wird es dem Rodrigue und diesem Juden zeigen, daß Don Alfonso noch lebt. Aber er war ein geschlagener Alfonso, und der Jude hatte recht, und er war kein Narr und Verbrecher, und er wird nach Sevilla schicken und um Frieden betteln. Er lief auf und ab, heftigen Schrittes, eine kurze Minute lang, eine endlose Minute lang, und wechselte dreimal den Entschluß.

Don Ephraim stand schweigend, in ehrerbietiger Haltung, furchtlosen Gesichtes, doch in seinem Innern ängstlich gespannt. Seine Augen folgten dem König, er sah, wie es in dessen Gesicht arbeitete.

Plötzlich blieb Alfonso vor ihm stehen, sehr nahe, und sagte, herausfordernd, böse: »Höre! Da du so warm für den Frieden eintrittst, würdest du als mein Unterhändler nach Sevilla gehen?«

Ephraim hatte von dem unberechenbaren Mann viel erwartet im guten oder im bösen, doch nicht dieses Angebot. Er verbarg nicht seine Überraschung, er wich, gegen allen höfischen Anstand, ein wenig zurück und hob abwehrend die alte Hand. Bevor er indes sprechen konnte, beschwor ihn Alfonso, nun unerwartet freundlich: »Bitte, sag nicht gleich nein. Setze dich und überlege!«

Sie saßen einander gegenüber. Ephraim rieb sich mit den Fingern der einen Hand die Fläche der andern. All sein Leben hindurch hat er’s vermieden, aufzufallen. Wie hat er sich bemüht, dem Jehuda vor glänzenden Ämtern abzuraten, und nun soll er selber diese Gesandtschaft übernehmen, auf die alle Augen gerichtet sind. Und was immer er erwirkt, das dumme, undankbare Toledo wird Verrat schreien, und wenn der König ihn bestätigt, dann werden ihm tausend Neider erstehen. Andernteils kann er, wenn er jetzt einen dauernden Frieden zurückbringt, dem Land und der Judenheit einen Dienst leisten wie selten einer vor ihm. Der sonst so kühle Rechner war erregt, verwirrt. Sein ganzes Wesen sträubte sich gegen diese Gesandtschaft. Das Nein zog ihn mächtig an, aber er dachte an Jehuda und hielt das Ja für seine Pflicht.

»Der Kalif liebt nicht die Juden«, gab er schließlich zu bedenken. »Er liebt auch die Christen nicht sehr«, antwortete Alfonso.

Ephraim sagte: »Die Verhandlungen werden umständlich sein, und ich bin alt und kränklich.«

Der König überwand sich und erwiderte: »Es ist nicht wegen deines Alters und nicht wegen deiner Kränklichkeit, daß du mir nein sagst. Du fürchtest, ich sei zu hartnäckig und zu stolz. Ich bin es nicht. Ich habe eingesehen, daß ein Mann, der so geschlagen wurde wie ich, nicht lange fackeln und feilschen kann. Ich werde dich nicht behindern, ich werde dir weite Vollmachten mitgeben. Ich bin bereit, eine hohe Kriegsentschädigung an den Emir von Sevilla zu zahlen und auch eine jährliche Abgabe an den Kalifen. Einen Tribut«, schloß er grimmig.

Don Ephraim, vorsichtig, unverbindlich, antwortete: »Ich glaube, dein Unterhändler könnte in diesen Fragen ein Einverständnis erzielen. Aber laß mich wissen, Herr König, wie denkst du über jenen andern, wichtigsten Punkt: die Dauer des Waffenstillstands? Ich glaube nicht, daß sich der Kalif mit einem Frieden von weniger als zwölf Jahren begnügte. Würdest du einen solchen Vertrag unterzeichnen? Und bist du willens, ihn zu halten?«

Wieder wollte Alfonso aufbrausen. Der Jude tat, als wäre er sein Beichtvater. Doch wiederum zügelte des Königs Vernunft seinen Groll. Als er damals die Worte, in octo annos, auf acht Jahre, in den Vertrag mit Sevilla hatte aufnehmen lassen, waren sie ihm von Anfang an nichts anderes gewesen als Tinte auf Pergament. Aber diese drei Worte hatten den Kalifen ins Land gerufen, sie hatten seine Calatrava-Ritter erschlagen. Don Ephraim hatte recht, ihn zu erinnern, daß, wenn er jetzt einen Frieden auf zwölf Jahre schließt, er wirklich zwölf lange Jahre wird stillhalten müssen.

»Ich sehe«, sagte er leise und bitter, »du hast dir die Interessen des Kalifen lange überlegt.« Ephraim hatte einen schlimmeren Ausbruch befürchtet; er antwortete erleichtert: »So tat wohl ein jeder, dem die öffentlichen Dinge am Herzen liegen.«

Alfonso schwieg vor sich hin, brütend. Ephraim redete ihm zu: »Ein langer Friede wird dir nützlicher sein als den Moslems. Du kannst, und wenn du’s noch so heiß wünschest, einen großen Krieg so bald nicht führen. Du brauchst Zeit, das ganze, arg verwüstete christliche Hispanien braucht Zeit, sich zu erholen.«

Alfonso sagte: »Zwölf Jahre. Du verlangst vieles, alter Mann.«

Ephraim erwiderte empfindlich, fast schroff: »Ich bitte dich, Herr König, schick mich nicht nach Sevilla.«

Alfonso sagte: »Ich gebe dir die zwölf Jahre.«

Er erhob sich, lief wieder auf und ab. »Ich wünsche«, sagte er, »daß du so bald wie möglich nach Sevilla gehst. Laß mich wissen, welche Vollmachten du brauchst, und wähle deine Begleiter.« – »Da du es befiehlst«, sagte Ephraim, »will ich an der Delegation teilnehmen, aber nur als ihr Finanzberater oder ihr Sekretär. An die Spitze der Gesandtschaft geruhe einen deiner Granden zu stellen. Wenn nicht, werden die Moslems von Anfang an verstimmt sein.« Alfonso erwiderte: »Es sollen zwei meiner Barone in der Gesandtschaft sein oder auch drei. Aber Vollmacht haben sollst nur du.« Ephraim neigte sich tief. »Ich will mit Gottes Hilfe versuchen«, sagte er, »dir einen nicht zu schlechten Frieden heimzubringen«, und er schickte sich an, Urlaub zu nehmen.

Doch Don Alfonso entließ ihn noch nicht. Er sagte, zögernd: »Da ist noch eine andere Sache, Don Ephraim, in der ich um deinen Rat bitte. Die Hinterlassenschaft meines toten Freundes und Escrivanos Don Jehuda muß sehr beträchtlich sein. Ich glaube nicht, daß es Verwandte gibt, die mit Fug darauf Anspruch machen können. Oder weißt du von solchen?« Don Ephraim, nun wieder sehr auf der Hut, entgegnete: »Da wäre in Saragossa Don Joseph Ibn Esra, ein Vetter des Don Jehuda – das Andenken des Gerechten zum Segen. Nach unserem Gesetz und Brauch hätte er Anspruch auf ein Zehntel des Erbes. Ich würde deiner Majestät raten, Don Joseph diesen Anteil zu überlassen. Er wird dir gute Dienste leisten bei dem schwierigen Geschäft, die Außenstände einzutreiben, die Don Jehuda überall in der Welt hatte.« Alfonso sagte: »Es soll geschehen, wie du vorschlägst. Ich habe auch daran gedacht, einen Teil des Nachlasses der Aljama von Toledo zur Verfügung zu stellen.« – »Du bist sehr großmütig, Herr König«, sagte Don Ephraim. »Ist dir bewußt, daß es sich um sehr hohe Summen handelt? Nächst dem Erzbischof von Toledo war Don Jehuda der reichste Mann deines Landes.«

Der König sagte, nicht ohne Befangenheit: »Was sonst an Vermögen vorhanden ist, will ich von den Beamten meines Kronschatzes verwalten lassen, bis sich der Haupterbe gefunden hat, der Sohn Doña Raquels. Es liegen übrigens«, schloß er ohne rechten Zusammenhang, »Dokumente bereit, die diesem Sohne Doña Raquels alle Rechte und Titel der Grafschaft Olmedo übertragen. Don Jehuda selber hat sie noch ausfertigen lassen.« Ephraim erwiderte trocken: »Es ist dein gutes Recht, Herr König, aus der Hinterlassenschaft Don Jehudas für deinen Kronschatz einzuziehen, was immer dir beliebt, und niemand kann dich darum tadeln.«

Alfonso, mit Anlauf, ein wenig heiser, sagte: »Mein toter Freund Jehuda war oft mit dir zusammen, und wahrscheinlich weißt du vieles. Ich will nicht in dich dringen, alter Mann, und dich fragen, wieviel du weißt. Aber der Gedanke, daß mein Sohn unter euch herumgeht und ich kenne ihn nicht, bedrückt mich. Das mußt du verstehen. Willst du mir nicht helfen?«

Er sprach bittend, er sprach zart, das schmeichelte dem Ephraim und beängstigte ihn. Es war eine gefährliche Aufgabe, die sein toter Freundfeind ihm aufgeladen hatte. Er sagte: »Niemand weiß, Herr König, und niemand kann mehr erforschen, ob Don Jehuda Ibn Esra mit dem Verschwinden seines Enkels zu tun hatte. Wenn es so war, dann hat er in einer so heikeln Angelegenheit sicherlich nicht mehr als einen Helfer zugezogen, und einen verlässigen, verschwiegenen.«

Alfonso fühlte sich erniedrigt und vereitelt. Aber, gegen seinen Willen, ließ er nicht ab und sagte: »Ich glaube dir, und ich glaube dir nicht. Ich fürchte: auch wenn ihr was wißt, werdet ihr mir’s nicht sagen. Es nagt mir an der Seele, ich gesteh es dir, daß mein Sohn unter euch groß werden soll und in euern Sitten. Ich sollte euch hassen dafür, und manchmal hab ich euch gehaßt.«

Ephraim sagte: »Nochmals frag ich dich, Herr König, willst du wirklich, daß ein Mann, über den du so denkst, deine und deines Landes Geschäfte in Sevilla führt?«

Der König sagte: »Ich hegte manchmal auch vor Don Jehuda Argwohn und habe doch gewußt, daß er mein Freund war. Du bist alt und erfahren und kennst die Menschen und verstehst, wie das ist. Ich will, daß du für mich nach Sevilla gehst. Ich weiß, ich habe keinen Besseren zu schicken.«

Ephraim spürte ein Mitleid, das nicht ohne Genugtuung war. Er sagte: »Es kommt vielleicht einmal die Zeit, da sich der oder jener melden wird und behauptet, er sei der Verschwundene. Ich rate dir, Herr König, kümmere dich nicht darum. Wahrscheinlich wird Betrug dahinterstecken. Überlaß es uns, zu erforschen, ob es so ist, und beschwere du dich zu deinen vielen andern Sorgen nicht noch mit dieser. Bescheide dich, Don Alfonso. Du hast wohlgeratene Töchter, edle Infantinnen, die einmal große Königinnen sein werden. Deine Enkel werden sitzen auf den Thronen Hispaniens und mit der Hilfe Gottes die Länder der Halbinsel vereinigen.« Und dunkel, doch der König verstand ihn, schloß er: »Don Jehuda Ibn Esra ist tot, sein Sohn und seine Tochter sind tot. Wenn wer aus seinem Geschlecht geblieben ist, dann nur dieser Enkel. Und Don Jehuda ist aus dem Islam zurückgekehrt in das Judentum seiner Väter, und das ist sein Vermächtnis.« Don Alfonso spürte, was es bedeutete, daß er den Krieg, mit dem er nicht fertig geworden war, durch Ephraim abwickeln ließ, den Juden, den Kaufmann. Er hatte sein bedenkenloses Rittertum fahrenlassen, hatte Abschied genommen von Bertran, hatte seine Vergangenheit, seine Jugend abgetan. Er bereute es nicht, aber er spürte fast leibhaft den Verzicht, die Leere.

Auf der Straße, die er jetzt einschlug, lockten keine geheimnisvollen Nebenwege, sie führte zu keiner blauen, schimmernden Ferne, sie lief kahl und nüchtern geradeaus zu einem braven, soliden Ziel. Aber nun er sie einmal eingeschlagen hatte, war er willens, sie zu Ende zu gehen. Er wird sich selber Ketten anlegen, auf daß er den bittern Frieden, den er auf sich nahm, nicht durch süße und heldische Abenteuer gefährde.

Eine Nacht lang schlief er nicht. Wog, verwarf, wog von neuem, beschloß, verwarf.

Beschloß.

Eröffnete dem Rodrigue, mit einem ganz kleinen Lächeln, er wolle nun endlich die erledigten Bistümer von Avila, Segovia, Sigüenza neu besetzen, und zwar wolle er ihm, Rodrigue, das Bistum Sigüenza übertragen.

Rodrigue, unwillig erstaunt, fragte: »Willst du den lästigen Warner los sein?« Alfonso lächelte stärker, und es stand in seinen Zügen die abgelebte knabenhafte Anmut und Schalkheit wieder auf. »Dieses Mal«, sagte er, »mißtraust du mir zu Unrecht, mein ehrwürdiger Vater. Nicht fort will ich dich haben, ich will dich enger an mich binden. Aber wenn ich recht unterrichtet bin, erlauben es die Kirchengesetze nicht, daß ein Domherr ohne Zwischenstufe zum Erzbischof von Toledo aufsteigt.«

Stürmisch und widerspruchsvoll jagten sich dem Rodrigue die Gedanken. Ihn wollte Alfonso zum Primas von Hispanien machen! Er war gut im Rate, doch von einer solchen Erhöhung hatte der bescheidene Mann niemals geträumt; es hatte ihn höchlich gewundert, daß damals Don Martín dergleichen befürchtet hatte. Fortan also sollte er nicht nur raten und meinen: er sollte verfügen über die reichsten Einkünfte des Landes, er sollte gewichtig mitentscheiden über Krieg und Frieden. Die Vorstellung betäubte ihn. Was da auf ihn niederging, war Segen und Gnade und schwerste Last.

Alfonso sah Rodrigues bewegtes Gesicht, und halb scherzhaft, halb im Ernst sagte er: »Auf ein paar Monate freilich wirst du nach Sigüenza gehen müssen, und ich werde dich nicht sehen können. Der Heilige Vater ist ein harter Händler; so schnell krieg ich ihn nicht dazu, daß er dir das Pallium gibt. Aber ich will mir’s was kosten lassen, und am Ende werde ich es schaffen. Ich will dich zum zweiten Mann im Reich haben«, fuhr er fort mit knabenhaftem Eigensinn. »Du hast mir die hispanische Zeitrechnung abgeschafft, aber ich will dich zum Primas von Hispanien haben.«

Musa, als er von der neuen Wendung erfuhr, war bestürzt. Rodrigue wird nach Sigüenza gehen. Wie soll er, Musa, der Moslem, der von vielen angefeindete, in Toledo weiterleben ohne den Schutz des Domherrn? Er wird unstet und flüchtig sein und freundlos, nicht das erstemal. Kahl und unwirtlich lag die letzte Strecke seines Lebens vor ihm.

Allein der weise, menschenkundige Mann vergaß über der eigenen Bedrängnis nicht den Segen, den der Umschwung dem Domherrn brachte, und er fand Worte warmer Teilnahme. »Die vielerlei Geschäfte deines neuen Amtes«, sagte er, »werden dich schnell der Acedia entreißen, dem trübseligen Brüten dieser letzten Monate. Du wirst Entscheidungen treffen und Taten tun, die viele Schicksale bewegen. Und diese Arbeit«, fuhr er angeregt fort, »wird dich, hoffe ich, anspornen, auch deine Chronik wieder aufzunehmen. Ja, mein hochwürdiger Freund«, schloß er nachdenklich heiter, »wer Geschichte macht, wird bestimmt auch versucht sein, sie darzustellen.«

Nun hatte sich in der Tat, kaum hatte der König ihm das Erzbistum angeboten, im Kopfe Rodrigues eine solche Versuchung geregt. Erst hatte sich Don Alfonso belastet mit dem bedächtigen Mahner Ephraim, jetzt machte er sich aus eigenem Antrieb abhängig von ihm, Rodrigue, dem unritterlichen, friedliebenden Manne. Nur ein Alfonso, der sich von innen her gewandelt hatte, konnte sich eine solche zwiefache Rute binden. Aus dieser Erkenntnis aber war dem Rodrigue eine kleine neue Zuversicht gewachsen und ein seliges Spüren und Ahnen, daß, all seiner trüben Klügelei zum Trotz, Sinn gewesen sein mochte in dem grauenvollen Geschehen dieses letzten Jahres. Allein er verwehrte sich’s, diesen Empfindungen nachzuhängen, er erlaubte ihnen nicht, sich zu klaren Gedankengängen zu verdichten, er wollte keine zweite Enttäuschung erleben.

Geradezu hitzig erwiderte er dem Musa: »Auch nicht im entferntesten denke ich daran, meine Chronik wieder aufzunehmen. Ich habe all mein Material zerstört, du weißt es.« – »Deine Akademie kann dir Material binnen nicht zu langer Frist neu beschaffen«, antwortete gelassen Musa. »Auch aus meinem Material kann dir vieles dienlich sein. Ich stell es dir gerne zusammen. Leicht freilich«, fuhr er fort, erlöschenden Gesichtes, »wird es nicht sein, mit dir in Verbindung zu bleiben. Wer weiß, in welchem Erdenwinkel ich mich verbergen muß, wenn ich deinen Schutz nicht mehr habe.«

Zuerst verstand ihn Rodrigue nicht. Dann ereiferte er sich: »Aber was hast du dir denn gedacht? Selbstverständlich kommst du mit nach Sigüenza.«

Musa leuchtete auf. Seine moslemische Höflichkeit indes gebot ihm, Einwände zu machen. »Werde ich nicht«, sagte er, »im Bischofspalast von Sigüenza sehr befremdlich wirken? Die unter deinem Krummstab wohnen, werden sich wundern über den beschnittenen Hausgenossen.« – »Mögen sie!« antwortete kurz und grimmig Rodrigue.

Musa, noch immer das breite, glückliche Lächeln über dem häßlichen Gesicht, fuhr fort: »Auch muß ich dich darauf aufmerksam machen, daß du jetzt erst recht deine liebe Not mit mir haben wirst. Denn fortan werde ich dir bestimmt keine Ruhe lassen, ehe du dich wieder an deine Chronik machst.«

Schon jetzt, noch in Toledo, wetzte er dem Freund den Appetit und verwickelte ihn immerzu in weitläufige geschichtsphilosophische Debatten. Da stand er an seinem Schreibpult, kritzelte und sagte über die Schulter: »Es ist kein Zufall, daß wir Moslems Toledo wieder haben aufgeben müssen, nachdem wir es schon so gut wie in der Hand hatten. Unsere Zeit, die große Zeit unserer Macht, ist eben leider vorbei, und die innern Zwistigkeiten, die den Kalifen mitten im Sieg zurückriefen, werden sich wiederholen. Das ist so gewiß wie die mathematischen Regeln des Alcharesmi. Das Weltreich der Moslems, so mächtig es ausschaut, ist zu alt. Es ist brüchig.«

Wie sich’s Musa erhofft hatte, biß Rodrigue an. »Eure Zeit vorbei, wagst du zu sagen!« antwortete er. »Aber ihr habt doch gesiegt! Unser Heer ist vernichtet, eure Grenze läuft unmittelbar vor Toledo, unser stolzer Don Alfonso zahlt euch Tribut.« Er ereiferte sich. »Die Herrschaft der Moslems im Abstieg! Die große Zeit der Moslems vorbei! Dreimal in diesem Jahrhundert sind wir gegen euch angelaufen mit Heeresmassen, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Fünfhundert mal tausend christliche Ritter sind in diesen Kreuzzügen umgekommen, und tausend mal tausend Mann andern christlichen Volkes, von Tod, Seuchen und Elend in der Heimat zu schweigen. Und die Heilige Stadt ist heute genauso in euerm Besitz wie vor hundert Jahren. Und da klagst du, euer Reich verfällt!«

Musa erwiderte höflich: »Du stellst dich weniger weise, als du bist, mein hochwürdiger Freund. Du spannst die Historie weniger Jahrzehnte oder eines Jahrhunderts in einen Rahmen und tust, als wäre sie etwas Geschlossenes. Aber wir, du und ich, wir wollen doch nicht nur das Heute beschreiben und das bißchen Gestern, wir trachten doch, den Sinn der Ereignisse festzuhalten, wir wollen die Richtung der Geschehnisse erkennen und in die Zukunft weisen als wahre Kundschafter Gottes. Und da stellt sich denn, leider, heraus, daß eure Kreuzzüge keineswegs Mißerfolge waren. Gewiß, was ihr in diesem letzten Jahrhundert an Gebiet erobert habt, war die Opfer nicht wert. Aber dafür habt ihr wirtschaftliche Einsichten die Fülle gewonnen, das weißt du doch so genau wie ich, und unschätzbare politische und wissenschaftliche Erfahrungen. Wir haben euch gutmütig und eitel in unseren Fabriken herumgeführt, wir haben euch gezeigt, wie wir unsere Jugend erziehen, wie wir unsere Städte verwalten, wie wir Recht sprechen. Ihr seid eifrige Schüler gewesen und macht uns gut nach, was wir Gutes haben. Ihr habt begriffen, daß es in diesem Jahrhundert weniger auf die Ritter ankommt als auf die Wissenden und auf die Sachverständigen, auf Baumeister und Waffenschmiede und Ingenieure und Kunstfertige aller Art und gelernte Landwirte. Und ihr seid jung, ihr seid im Aufstieg, bald werdet ihr uns eingeholt und überflügelt haben. Ihr habt fünfhundert mal tausend Ritter verloren, aber die Besiegten seid nicht ihr.«

Er hatte die marklose Stimme gehoben. Aus seinen stillen, wissenden, etwas spöttischen Augen schaute er auf den Freund. Der schwieg. Er gab sich geschlagen, nicht ohne Genugtuung.

Solcher Gespräche führten die beiden noch manche, Streitgespräche, in denen, zu seiner Verwunderung, Rodrigue den Triumph der Ungläubigen behauptete, während Musa am Endsieg der Moslems verzweifelte.

Je länger aber Rodrigue über die Argumente des Freundes nachdachte, so stärker leuchteten sie ihm ein, so mehr Zuversicht gaben sie ihm. Er fühlte sich jung und neu. Nicht mehr quälte ihn jener Satz des Paulus an die Korinther, der die Torheit Gottes ausspielte gegen die Weisheit der Weisen. Statt dessen jubelte in ihm das andere Wort des Apostels: »Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.« Statt des blinden Glaubens, der in seliger Verzückung aufging, war jetzt in ihm ein ahnendes Wissen, ein immer dichteres Gefühl: es ist trotz allem ein erkennbarer Sinn im Weltgeschehen. Noch konnte er dieses Gefühl nicht in folgerichtige Sätze umdenken. Er trachtete auch nicht nach Klarheit. Es genügte ihm, um den Sinn des Weltgeschehens so viel zu wissen, wie Augustin um das Wesen der Zeit gewußt hatte: »Wenn du mich nicht fragst, weiß ich es; wenn du mich fragst, weiß ich es nicht.«

Immer tiefer indes wirkten die Worte Musas in Rodrigue nach, und immer heißer verlangte es ihn, ein Kundschafter Gottes zu sein und die sinnvollen Wege des Geschehens aufzuspüren.

Trotzdem zögerte er, sich wieder an seine Chronik zu machen. Ein neues Bedenken hielt ihn ab. »Ich fürchte«, erklärte er dem Freund, »was mich zu diesem Werke lockt, ist weniger das Bestreben, Gott zu dienen, als schriftstellerischer Ehrgeiz.«

Musa machte sein listigstes Gesicht. Er schleppte ein Buch heran, »Das Leben des heiligen Augustin«, und las dem Rodrigue vor, was Possidius, ein Schüler des Heiligen, über dessen letzte Tage aufgezeichnet hatte. Augustin war damals Erzbischof der Stadt Hippo, die von den Vandalen belagert wurde; er sah von seinem Palast aus das karthagische Land weithin brennen. Er war sechsundsiebzig Jahre alt, sehr schwach und wußte, daß er sterben werde. Er trug Sorge für die belagerte Stadt und für die ganze, vom Feind überschwemmte Provinz. Gleichzeitig aber überlas er nochmals seine zahlreichen Bücher, korrigierte und änderte, auf daß von jedem seiner Werke ein als fehlerfrei befundenes Exemplar in der Bibliothek von Hippo hinterlegt werde. Auch suchte er noch ein Buch zu vollenden, bestimmt, die Schriften des Julian zu widerlegen. »Augustin, der heiligste aller Bischöfe«, berichtete Possidius, »starb am fünften Tage des Monats September, noch auf seinem Sterbelager bemüht, die Angriffe der Vandalen abzuwehren, und arbeitend an seiner großen Streitschrift gegen den Ketzer Julian.«

Musa sah von dem Buche hoch und fragte verschmitzt: »Willst du heiliger sein, mein hochwürdiger Freund, als der heilige Augustin? Lausche in die eigene Brust und prüfe, ob deine Zweifel anderes sind als fromme Hoffart.«

Am Abend dieses Tages legte sich Rodrigue eine dicke Schicht weißen, kostbaren Papiers zurecht, und langsam, genießerisch, fing er an zu schreiben: »Es beginnt die Geschichte Hispaniens – Incipit chronicon rerum Hispanarum.«

Musa aber meinte lächelnd: »Kein Laster sitzt tiefer als das der Schriftstellerei.« Der Friede, den Don Ephraim nach Hause brachte, war besser, als man erwartet hatte. Doch nicht hatte er erreichen können, und vielleicht hatte er’s nicht wollen, daß die Dauer des Waffenstillstands auf weniger als zwölf Jahre festgesetzt wurde.

Don Alfonso, nachdem ihm Ephraim ausführlich Bericht erstattet hatte, sagte: »Ich weiß, ich sollte dir dankbar sein. Ich bin es auch. Ich will meine Granden berufen, daß sie Zeugen seien, wenn du mir den Handschuh deines Auftrags zurückgibst.« Don Ephraim wehrte fast ängstlich ab: »Ich glaube nicht, daß mir solcher Glanz anstünde. Auch würde es der Aljama von Toledo viele Neider schaffen und wenig Freunde.«

Alfonso fragte augenblinzelnd, ob nach Ephraims Meinung denn nun wirklich die ganzen zwölf Jahre zum Wiederaufbau der Wirtschaft nötig sein würden.

Ephraim verspürte Unmut. Er hatte diesen Mann beizeiten und dringlich gemahnt, daß er innerlich bereit sein müsse auf den langen Frieden. Er hatte, Ephraim, die Übernahme des bösen Auftrags abhängig gemacht von dieser Bereitschaft, und nun, kaum daß Don Alfonso den Vertrag geschlossen hatte, sann er darauf, ihn zu brechen. Er antwortete trocken: »Der Zustand deines Reiches, Herr König, ist derart, daß du vermutlich länger wirst stillhalten müssen als die zwölf Jahre. Ich werde deinen neuen Feldzug nicht mehr erleben, und auch du wirst nicht mehr jung sein, wenn du ihn beginnst.«

Da Don Alfonso verdrossen schwieg, mahnte er: »Finde dich darein, Herr König. Don Jehuda hat für dich gute Arbeit getan. Er hat Verbindungen angeknüpft, die selbst nach diesem Zusammenbruch noch halten, er hat der ganzen Welt die vielen Möglichkeiten deines Kastiliens sichtbar gemacht, er hat dir Kredit geschaffen. Aber wenn du daraus Nutzen ziehen willst, dann mußt du an seinem Grundplan festhalten, und er hat für den Frieden gebaut. Denke in den nächsten Jahren nicht an deine Ritter und Barone, die das Land nur arm machen, denk an deine Bürger und Bauern, denk an deine Städte. Ihnen gib Privilegien, gib ihnen Fueros, stärke sie gegen deine Granden.«

Don Alfonso hörte zu, ablehnend, doch mit Teilnahme. Seine Welt war nun einmal die der Ritter. Die Wahrheit eines Königs war eine andere als die eines alten Juden und Bänkers. Seine, Alfonsos, Philosophie waren die Lieder Bertrans. Dabei hat dieser Ephraim vermutlich recht, und wenn er, Alfonso, in zwölf Jahren seinen Krieg erfolgreich führen will, muß er jetzt die Untern verhätscheln. Er muß dem Bürger und Bauern, dem Vilain einen Platz geben in seinem Rat und den Ritter in Strafe nehmen, wenn er seinen Bauern verprügelt oder dem Bürger mit guter Waffe den Pfeffersack wegnimmt. Es wird eine öde, langweilige Welt sein, es wird ein trauriges Kastilien sein, das er regiert.

Don Ephraim jetzt erklärte den ganzen Jammer der Wirtschaft. Der Bergbau war übel heruntergekommen, die Tuchmanufakturen, die Don Jehuda zu solcher Blüte gebracht hatte, waren zerstört oder zerrüttet, die Viehherden weggetrieben, die Schafzucht, vor dem Krieg eine der Haupteinnahmequellen des Landes, gänzlich verwahrlost. Der kastilische Maravedí war entwertet; man mußte sechs kastilische für einen aragonischen Maravedí zahlen. Sollten Landwirtschaft und Gewerbefleiß nicht gänzlich verfallen, dann mußte man mit Steuernachlässen und der Gewährung vieler neuer Rechte nachhelfen. Er ging ins einzelne. Schlug vor, welche Zölle und Abgaben erleichtert, welche gänzlich aufgehoben werden sollten. Nannte Ziffern, immer neue Ziffern.

Wenn Don Jehuda von Ähnlichem sprach, hatte sich Alfonso manchmal auf kurze Zeit fesseln lassen; dann aber hatte ihn Widerwille gegen das trockene, eines Königs unwürdige Geschäft gepackt, und es war vorgekommen, daß er eine solche Unterredung gröblich abbrach. Nun aber, und obgleich Ephraim ohne den Schwung und Glanz des Jehuda redete, nahm Alfonso wachsenden Anteil an den Ziffern, sie woben sich ihm ineinander, er fand Gefallen an der Folgerichtigkeit, mit welcher der Jude rechnete. Alfonso wollte es nicht wahrhaben und war es doch zufrieden. Es nützte nichts, die Augen zu schließen vor der neuen, widerwärtigen Zeit, man mußte sich wohl darein schicken. Andere vor ihm hatten es auch tun müssen, sehr Große und Mächtige, König Heinrich zum Beispiel, und er, Alfonso, hatte teuer bezahlt für seine Blindheit. »Ein Glück ist es, Herr König«, führte jetzt Ephraim aus, »daß du damals Jehuda erlaubt hast, die sechstausend fränkischen Flüchtlinge in deinem Reich anzusiedeln. Aus der Zahl dieser fähigen Männer kannst du viele Sachverständige ersetzen, die gefallen sind oder sonstwie verschwunden. Du mußt es Don Jehuda – das Andenken des Gerechten zum Segen – zugestehen, daß er –«

Der König unterbrach ihn unvermittelt. »Ich habe dich einmal aufgefordert«, sagte er, »meinen Kronschatz zu verwalten. Du hast es abgelehnt. Wahrscheinlich hast du recht daran getan; es gab damals wenig zu verwalten, und ich hab es meinen Ratgebern schwer gemacht. Jetzt ist wohl noch weniger da, aber ich bin mittlerweile klüger geworden, das hast du vielleicht gemerkt. Ich bitte dich ein zweites Mal, mein Alfakim zu werden, oder besser mein Alfakim Mayor.«

Ephraim hatte dieses Angebot erwartet, er hatte es gefürchtet. Er wehrte sich dagegen mit ganzer Seele. Er hatte öffentliche Ämter stets gescheut, er war alt, er wollte in den Tagen, die ihm noch blieben, in seinem Hause am Feuer sitzen, von wenigen gesehen und betreut, und in Ruhe veratmen. All sein Unwille und Haß gegen Don Alfonso stand auf. Der Mann hatte den größten Teil der Dreitausend, welche die Aljama ihm gestellt hatte, in den Tod gejagt, aus hirnloser, ritterlicher Abenteuerlust. Er hatte dem treuen Diener Ibn Esra die Tochter weggenommen und den Sohn und ihn nicht gerettet in seiner Not. Und jetzt wollte er ihn, Ephraim, vor seinen Wagen spannen für den steilen, qualvollen Weg, der vor ihm lag.

Er sagte: »Du ehrst mich hoch. Aber die Verhandlungen in Sevilla waren aufreibend. Die Geschäfte der Aljama warten auf mich, ich bin sehr alt. Erlaß es mir, Herr König.«

Alfonso, knabenhaft schmollend, sagte: »Ich möchte gern einen Juden zum Alfakim haben.« Die Worte kamen ungeschickt, geradezu täppisch, aber es klang in ihnen die Liebenswürdigkeit des früheren Alfonso. Ephraim, mit einem Male, sichtete das Innere des Mannes. Begriff, daß dieser willens war, seinem toten Escrivano Genugtuung zu geben und, sich überwindend, dessen Weg weiterzugehen. Dieser Alfonso rief, und nicht ohne Angst, nach einem neuen Führer. Es wird eine lebenkürzende Aufgabe sein, das Amt zu übernehmen, da fortzufahren, wo Jehuda aufgehört hatte. Aber Ephraim gedachte der glänzenden, dringlichen, spöttischen Augen des Jehuda, er hörte seine schmiegsame, wohltönende Stimme, er gedachte ihrer letzten Zusammenkunft. Einer mußte dasein, die ausgestreckte unsanfte, unreine Hand dieses Christenkönigs zu nehmen und ihn mühevoll weiterzuzerren auf der schmalen, strengen Straße des Friedens.

Ephraim, fröstelnd in seinen vielen Kleidern, sah wirklich sehr alt und gebrechlich aus. Er sagte, und er mußte sich jedes Wort aus der Kehle zwingen: »Da du es befiehlst, Herr König, werde ich versuchen, die Geschäfte deines Landes in Ordnung zu bringen.«

»Ich danke dir«, sagte Don Alfonso.

Zögernd fuhr er fort: »Da ist noch ein anderes, das ich mit dir besprechen möchte, Don Ephraim Bar Abba. Ich habe meinem toten Escrivano nicht immer so großen Dank bezeigt, wie ich es hätte tun sollen und wie ihn mein Großvater seinem Ibn Esra bezeigte. Es drückt mich, daß man die Toten nicht einmal würdig begraben hat, sondern armselig, notdürftig. Mehrmals hab ich daran gedacht, sie auf meine Art zu bestatten und gemäß ihrem Stande. Aber ich habe es besser überlegt, und es scheint mir richtiger, daß ihr meinen toten Escrivano begrabt auf eure Weise und mit euern Ehren, ihn und auch Doña Raquel, seine Tochter, die mir sehr nahestand. Sie gehören zu euch, beide, sie gehörten bis zuletzt zu euch, und ich werde dir dankbar sein, wenn du es mit ihrer Bestattung so hältst, wie sie selber es wünschten.«

Don Ephraim sagte: »Du bist meiner Bitte zuvorgekommen, Herr König. Ich werde für alles Sorge tragen. Wolle mir aber in Gnaden vergönnen, mit der Bestattung noch eine Zeit zu warten, damit die vielen, die Don Jehuda Ibn Esra zu ehren wünschen, davon erfahren.« Bald nach Friedensschluß genas Doña Berengaria eines Knaben. Dieser künftige König von Aragon und Kastilien wurde auf den Namen Fernán getauft. Die Taufe wurde mit höchstem Prunk gefeiert; die fünf christlichen Herrscher der Halbinsel hatten sich in Saragossa versammelt, daran teilzunehmen.

Beim Festbankett saßen Alfonso und Leonor nebeneinander auf erhöhten Stühlen. Doña Leonor war schön, damenhaft liebenswürdig und hochmütig wie stets, und sie tauschte, wie die Courtoisie es verlangte, mit ihrem Manne viele höfliche Worte.

Alfonso durfte sich an diesem Tage als König der Könige fühlen und war sich seines Wertes und seiner Ehre bewußt. Vor einem Jahr war sein Land unter den Waffen der Feinde gewesen, er selber eingeschlossen in seiner Hauptstadt. Wie grimmig hatte er sich damals geschämt, wenn er an Richard von Engelland dachte. Der hatte sich in Wahrheit bewährt als der Miles Christianus, der Schrecken der Moslems, der Melek Rik. Hatte die uneinnehmbare Feste Akko erstürmt, hatte in offener Feldschlacht glorreich gesiegt über das Heer des Sultans Saladin. Wie anders heute. Die ungeheuern Verluste des Kreuzheeres waren so gut wie umsonst gewesen, ein ärmlicher Waffenstillstand war abgeschlossen, die Heilige Stadt war nach wie vor in den Händen der Ungläubigen, Richard selber, entzweit mit seinen Alliierten, saß hilflos in einem österreichischen Gefängnis. Er aber, Alfonso, thronte hier, nach wie vor der mächtigste König der Halbinsel. Und sein Enkel, den sie heute aus der Taufe gehoben haben, dieser kräftige, kleine Fernán, der wird, das war so gut wie gewiß, Aragon und Kastilien vereinigen, und vielleicht wird er sich Kaiser nennen dürfen wie sein Ahn, der Siebente Alfonso.

Allein inmitten dieses Glanzes und dieser Blüte wuchs nur die Wüste in Alfonsos Innerem. Er sah Doña Leonor und sah ihre Ödnis. Er sah seine Tochter Berengaria und sah in ihren Augen, den großen, grünen Augen der Mutter, die wilde Hoffart, den Hunger nach immer mehr Macht und Ansehen. Er war sicher, daß sie ihren Mann für schwach hielt, weil er nach seiner, Alfonsos, Niederlage nicht die Vorherrschaft der Halbinsel an sich gerissen hatte. Er war sicher, daß all ihr Sein und Denken jetzt ihrem kleinen Sohne galt, diesem künftigen Emperador Fernán, und daß sie für ihn selber, ihren Vater, nichts fühlte als Widerstreben, verächtliche Gleichgültigkeit. Er stand ihrem Sohn und ihrem Ehrgeiz im Wege, er hat aus Wollust seine Königspflicht vernachlässigt, er hat das Land, das ihr und ihrem Sohne gehörte, schon einmal fast verloren und wird es vielleicht endgültig verspielen, ehe sich ihr kleiner Fernán die Kaiserkrone aufsetzt.

Die Edelknaben, die dem König Speise, Wein, Mundtuch anboten, standen und warteten hilflos. Er sah sie nicht. Er war sich plötzlich sehr bewußt, wie einsam er war inmitten seiner fünftausend mal tausend Kastilier und ihrer Verehrung. Er starrte vor sich hin, sehr allein, in eine leere Welt.

Don Rodrigue merkte bekümmert, wie Alfonso hinter der gleichmütig freudlichen königlichen Maske starr und stolz vor sich hin sinnierte. Er war voll heißen Mitleids, doch erfüllt auch von der Neugier und Besessenheit des Chronisten, und er studierte den König mit sachlicher Beflissenheit. Don Alfonso war in der Tat memoria tenax, intellectu capax, vultu vivax. Er bewahrte, Alfonso, in seinem Gedächtnis gut die Geschehnisse, er begriff sie mit seinem scharfen Verstand, er hielt sie fest und gab sie wieder durch seine Miene. Ja, eingezeichnet in Don Alfonsos Gesicht waren seine Erfahrungen, seine wilden Süchte, seine schweren, stürmischen Siege, seine bittern Niederlagen, seine Überwindungen und Erkenntnisse. Tief zerschnitten Furchen die Stirn, zerkerbten Falten die Wangen. Sein Gesicht war zur Chronik seines Lebens geworden. Heute schon schaute durch das Antlitz des Vierzigjährigen das Gesicht des Greises, der er einmal sein wird. Im Norden des Reiches, nahe der Grenze von Navarra, auf dem Gebiet der Barone de Haro, lebte ein Eremit, der sich härtesten geistlichen Übungen unterwarf. Er lebte in einer Höhle hoch oben in den schroffen Abhängen der Sierra de Neïla. Wie er dort sein Leben fristete, war ein Wunder. Denn er war blind. Offenbar stand er in der besondern Obhut der Vorsehung. Sie bewahrte seine Füße vor dem Abgrund und schützte ihn vor den wilden Tieren; es hieß, die Wölfe kauerten vor ihm nieder und leckten ihm die Hand.

Büßende stiegen zu ihm hinauf und brachten ihm Gaben für seine kärglichen Bedürfnisse. Sie baten ihn, er möge ihnen die Hände auflegen; es ging Gnade aus von seinen Händen. Auch konnte er durch Berührung des Gesichtes ertasten, ob ein Sünder und wie weit Gottes Verzeihung erlangt habe.

Und der Ruhm des Einsiedlers und seiner frommen Fähigkeiten verbreitete sich übers Land.

Es war aber der Eremit jener Diego, den damals vor seiner ersten, siegreichen Schlacht bei Alarcos Alfonso hatte blenden lassen, weil er auf Wachtposten geschlafen hatte.

Nun waren die Barone de Haro, deren Dienstmann Diego war, schwierige Vasallen, dem König nicht gewogen. Sie erklärten, die Stadt Toledo sei durch die wüsten Ereignisse der letzten Jahre voll von Sünden, und forderten Diego auf, hinzugehen; der Besuch des Heiligen werde die Gewissen wecken. Die de Haros hofften aber, durch die Anwesenheit des Diego in der Hauptstadt dem König Ungelegenheiten zu bereiten.

Die Leute von Toledo strömten denn auch herbei, den gnadenreichen Mann zu sehen und zu verehren, und immer lauter wurde ihr Wunsch, es möge auch der König aus der Gegenwart des Wundertätigen Nutzen ziehen. Sie hatten, wenn Don Alfonso strahlend an der Seite der Fermosa durch die Straßen ritt, teilgehabt an seiner herzwärmenden, nicht erlaubten Lust, sie hatten sie selber mitgenossen, sie hatten ihm zugejubelt, und der Tag, an dem sie ihm begegneten, war ihnen ein Festtag gewesen. Wenn sie jetzt Alfonso sahen, spürten sie ehrfürchtiges Mitleid, Scheu, ein feines Grauen vor dem Gezüchtigten, Gezeichneten. Sie wünschten ihm volle Entsühnung und glaubten, der Heilige könne ihm dazu verhelfen.

Rodrigue sah in dem Gewese, das um Diego gemacht wurde, nichts als Aberglauben und Unfug, er witterte auch die böse Absicht der de Haros und riet dem König, sich nicht um Diego zu kümmern.

Diesem selber war der Mann lästig. Eine nachträgliche Scham brannte ihn, wenn er daran dachte, wie selbstgefällig er Raquel erzählt hatte von jener Blendung und von seinem Spruch für den Pflichtvergessenen. Er erinnerte sich, wie sich damals das lebendige Gesicht Raquels zugesperrt hatte, erst jetzt wußte er, warum.

Aber er hatte wahrgenommen, mit welcher Scheu die Leute auf ihn blickten, er begriff sie, er begriff ihren Wunsch, daß er mit dem Heiligen zusammenkomme. Auch wandelte ihn wachsende Neugier an, was denn nun aus diesem Diego geworden sei. Und hatte wirklich er, Alfonso, ohne es zu wissen und zu wollen, den Mann zu einem Heiligen gemacht?

Er erinnerte sich, da der Blinde vor ihm stand, genau des Diego von damals. Der war ein breiter Bursch gewesen, trotzig, selbstbewußt, ein wenig dem Castro ähnelnd, und war dieser hier wirklich der Diego, den er hatte blenden lassen? Alfonso wurde befangen, er bedauerte, daß er den Mann gerufen hatte, er wußte nichts zu sagen, und auch der andere schwieg.

Schließlich, halb gegen seinen Willen, scherzte er plump: »Wenigstens war der Spruch gut, den ich dir damals auf so strenge Art beigebracht habe.« Der andere antwortete: »Wer ich?« Alfonsos unmutige Verwunderung stieg. Hatten sie es dem Menschen nicht gesagt, zu wem er geführt wurde? Und hatte er’s nicht wissen wollen? »Ich, der König«, sagte er. Der Blinde, unerstaunt und unerregt, sagte: »Ich habe deine Stimme nicht erkannt. Es geht von dir nichts aus, was ich erkenne.« Alfonso fragte: »Hab ich dir unrecht getan, Diego, damals?« Der Blinde antwortete ruhig: »Es war Gott, der dich tun hieß, was du tatest. Aber auch der Schlaf, der damals über mich kam, war von Gott gesandt. Alarcos war eine Stätte harter Prüfung, für dich nicht minder als für mich. Es war jener Sieg von Alarcos, der dich verleitet hat, die zweite, übermütige Schlacht zu schlagen. Mir hat das Leid Segen gebracht, am Ende. Ich habe den Frieden gefunden.« Und, scheinbar ohne Zusammenhang, fuhr er fort: »Ich höre, Alarcos steht nicht mehr.«

Erst glaubte Alfonso, der Mann wolle sich im Schutze seiner Heiligkeit über ihn lustig machen. Aber die Worte kamen seltsam gleichmäßig von den Lippen des Blinden, sie kamen wie von einem Dritten, der sie beide aus hoher Ferne betrachtete, sie waren nicht bestimmt, ihn zu kränken.

»Ich habe gebetet«, sagte Diego, »daß das Unglück auch dir zum Heil ausschlage, Herr König.« Und: »Laß mich dich sehen«, verlangte er, die Hände ausstreckend. Alfonso begriff, was er wollte, er trat nah an ihn heran, und der Blinde betastete sein Gesicht. Der König spürte mit Unbehagen die knochigen Hände an seiner Stirn und seinen Wangen drücken und fingern. Alles an dem Mann war ihm widerwärtig: wie er aussah, wie er sprach, wie er roch. Es war in Wahrheit eine Prüfung, der er sich unterzog. Und war der Mann nicht doch ein Joglar, ein Jahrmarktsgaukler?

Diego sagte: »Sei getrost. Der Herr hat dir die Kraft gegeben, in Demut zu warten. Quien no cae, se no levanta – Wer nicht fällt, steht nicht auf. Vielleicht wirst du lange warten müssen, aber du hast die Kraft.«

Alfonso begleitete ihn zur Tür und überließ ihn denen, die ihn führten. Es kam der Tag, an dem man die Leichen des Jehuda Ibn Esra und seiner Tochter ausgrub, um sie in den Friedhof der Judería zu überführen. Es war ein Tag im frühen Herbst, warm, gewitterig; der Stadtfelsen von Toledo lag dunkel, in schwerem, schwärzlichgrünem Grau.

Sie hüllten Jehuda und Raquel in weißes Totenleinen. Sie legten sie in Särge, die einfach waren, wie der Brauch es verlangte; es war aber fette, schwarze, krümelnde Erde hineingestreut, Erde aus Zion. Auf Zions Erde also lag jetzt das Haupt des Jehuda, der gedichtet und getrachtet hatte zur größeren Ehre seines Volkes, und das Haupt der Raquel, die geträumt hatte vom Messias.

Alle jüdischen Gemeinden Hispaniens hatten Abordnungen gesandt, auch aus der Provence und aus Francien waren viele gekommen, und einige sogar aus Deutschland.

Die acht angesehensten Männer der Aljama von Toledo hoben die Särge auf ihre Schultern und trugen sie über die Kieswege der Galiana zwischen den Bäumen und Beeten hindurch zum Haupttor. Dort, wo die Inschrift Alafia grüßte, standen andere bereit, die Särge aufzunehmen. Sie trugen sie eine kurze Strecke, dann warteten neue Träger; denn Zahllose hatten sich um die Ehre beworben, die Toten zu Grabe zu tragen.

So, von Schulter zu Schulter, zogen die Särge die heiße Straße entlang zur Alcantara, zu der Brücke, die über den Tajo führte.

Eine kurze Strecke trug auch der junge Don Benjamín einen der beiden Särge, den zweiten, den Sarg Doña Raquels. Es war eine leichte Last, aber der junge Mensch hatte Mühe, die Beine zu heben; dicht und dumpf, leibhaft geradezu engte der Kummer ihn ein.

Er suchte die Enge zu durchstoßen mit Gedanken.

Dachte daran, wie nun die sechstausend fränkischen Flüchtlinge, die Jehuda gegen so viel wüsten Widerstand ins Land gerufen hatte, aus lästigen Eindringlingen zu hocherwünschten Mitbürgern geworden waren. Es war alles anders gekommen, besser, als er, Benjamín, erwartet hatte. Halb ungläubig hatte er’s mitangesehen, wie sein Onkel Ephraim nach Sevilla gesandt worden war, wie er den Frieden bewirkt hatte und wie er nun Maßnahmen traf, ihn zu wahren. Das Werk Jehudas bestand, es ging weiter. Und der König duldete es nicht nur, der König förderte es. Aber wieviel Tod und Elend war nötig gewesen, ehe dieser Ritter zur Vernunft kam. Und wird die Vernunft vorhalten?

Er durfte sich von seinem Widerwillen gegen den König nicht zu ungerechtem Urteil verleiten lassen. Der König hatte sich gewandelt. Raquel hatte es erreicht. Es war zugegangen wie in jenem Märchen, das sie so sehr liebte. Der Zauberer hatte dem Lehmkloß Leben eingehaucht, aber der Zauberer war darüber gestorben.

Langsam schritt Don Benjamín dahin, die leichte Last Raquel auf der Schulter, eingesponnen in seine Betrachtung, ungleichmäßigen Schrittes, die andern Träger behindernd.

Die Sechstausend werden nun sinnvoll leben können. Das war wenig, maß man es an dem sinnlosen Tod, den tausend mal tausend gestorben waren in den Kriegen dieser Jahrzehnte. Alles Erreichte war wenig, das bißchen Friede des Ephraim, das bißchen Vernunft des Königs. Es war nur ein winziges neues Licht in der großen Nacht. Aber da war es, das neue kleine Licht, es leuchtete, und wenn ihn Angst ankommen sollte, wird das kleine Licht sie ihm fortleuchten.

Es war an dem, daß er und die mit ihm trugen, den Sarg abzugeben hatten an neue Wartende. Doch nun er der Last ledig war und nicht mehr Schritt halten mußte mit den andern, schleppten sich seine Füße noch schwerer. Aber er raffte sich zusammen, hielt sich aufrecht, dachte. Dachte bitter, zäh und beharrlich: Es ist uns aufgetragen, am Werke zu arbeiten; es zu vollenden ist uns nicht aufgetragen.

Der Leichenzug hatte die Stadtgrenze erreicht, die Brücke über den Tajo. Weit öffneten sich die mächtigen Tore, die Toten einzulassen.

Don Alfonso hatte angeordnet, daß seinem Escrivano, dem Toledo so schlecht gedankt hatte, höchste Ehre erwiesen werde. Die Leute von Toledo gehorchten gerne. Alle Häuser waren mit schwarzen Tüchern ausgelegt. Dicht säumte das Volk, eine einförmig dunkle Masse, die sonst so bunten Straßen; der Lärm war gedämpft zu einem schweren Summen. Überall am Wege standen Soldaten des Königs in Haltung, und wo immer die Särge vorbeikamen, senkten sich die Fahnen mit dem Wappen Kastiliens. Die Leute entblößten die Köpfe, viele knieten, Frauen und Mädchen weinten laut um das Schicksal der Fermosa.

Die Toten zogen die steilen Straßen hinauf zur innern Stadt. Man nahm nicht die kürzeste Strecke, man führte die Särge auf einem Umweg über den Marktplatz, den Zocodovér, damit möglichst viele den Toten Ehre erweisen könnten.

An einem Fenster hoch oben in der Burg, von wo er den Weg des Trauerzuges weit verfolgen konnte, stand Alfonso, allein.

Er dachte:

Ich bin nicht einmal traurig. Ich bin ruhig geworden. Ich bin frei von heftigen Süchten. Ich bin ein besserer König geworden. Ich sollte es zufrieden sein. Ich bin es nicht.

Ich werde wohl meinen großen Feldzug noch erleben, und ich werde ihn führen können an der Spitze eines geeinigten Hispaniens. Aber auch in der Minute, da ich den Sieg in der Hand habe, werde ich nichts Heißeres fühlen als: Jetzt ist es soweit, ich habe meine Pflicht getan, und wenn es hoch kommt, wird es Erleichterung sein, Glück wird es nicht sein. Was mir an Glück zugemessen war, liegt hinter mit. Es war da, ich hab es in meinen Armen gehalten, es hat sich mir angeschmiegt, weich und betäubend süß. Aber ich war leichtsinnig und bin davongegangen. Und jetzt tragen sie, was mir an Glück bestimmt war, dort unten vorbei.

Zwölf Jahre soll ich warten auf meinen Feldzug. Ich habe nie warten können; das Leben ist mir gerannt wie ein Pferd. Jetzt kriecht es mir wie eine Schnecke. Das Jahr dehnt sich, der Tag dehnt sich. Und ich halte es aus, ich werde nicht einmal zornig. Und daß ich so warten kann, das ist das Schlimmste.

Ich werde auch den Feldzug mit Bedacht führen. Nichts wird dasein von dem wilden, seligen Mut von früher. Sie werden schreien: A lor, a lor!, und ich werde nicht mitschreien.

Er mühte sich, an denjenigen zu denken, für den er den Feldzug führen wird, an den kleinen Fernán; aber er sah kein klares Bild, und keine Wärme ging aus von dem Bild des Enkels. Alles, was jetzt um Alfonso war, blieb sonderbar vag, nebelhaft, unwirklich.

Er dachte:

Ich bin vierzig, aber mein Leben liegt hinter mir. Nichts ist mir wirklich als meine Vergangenheit. Mein Heute liegt in Dunst und Staub wie ein Schlachtfeld in währendem Kampf. Und auch wenn ich einmal siege, wird darüber nichts sein als Dunst und Dumpfheit. Ja, wenn ich für meinen Sohn siegen könnte, für meinen Sancho, für meinen lieben Bastard! Aber wer weiß, wo dann mein Sancho sein wird. Wahrscheinlich unter denjenigen, denen der Friede mehr gilt als sogar der Sieg.

Der Leichenzug mittlerweile war an seinem Ziel angelangt.

Drei Friedhöfe hatten die Juden von Toledo, zwei außerhalb der Mauern, einen in der Judería selber. In diesem, der klein war und sehr alt, hatten nur die Mitglieder der vornehmsten Geschlechter Grabstätten, unter ihnen die Ibn Esras. Es lagen unter diesen toten Ibn Esras solche, die ihr Geschlecht zurückführten auf einen Nachfahr König Davids, der zusammen mit dem Adoniram, dem Steuereinnehmer König Salomos, nach der Halbinsel gekommen war, und so auch war es vermerkt auf ihren Grabsteinen. Es lagen ferner unter diesen toten Ibn Esras solche, die zur Zeit der Römer Kaufleute gewesen waren, Bänker, Steuereinnehmer, und solche, die unter den Gotenkönigen in Toledo gelebt hatten, gejagt und verfolgt, und solche, die unter den Moslems Wesire gewesen waren und große Ärzte und Poeten. Es lag hier auch jener Ibn Esra, der einstmals das Castillo gebaut hatte, das ihren Namen trug, sowie jener, der dem Kaiser Alfonso Calatrava gehalten hatte, der Oheim Jehudas.

Auf diesen Friedhof also brachte man die Leichen.

Eng aneinandergedrückt standen die Trauernden; so dicht standen sie, erzählt der Chronist, daß man über ihre Schultern hätte hinweglaufen können.

Im Bezirk der toten Ibn Esras hatte man zwei neue Gräber ausgeschachtet. Da hinein legten sie Jehuda Ibn Esra und seine Tochter Raquel und versammelten sie zu ihren Ahnen.

Dann wuschen sie sich die Hände und murmelten den Segensspruch.

Und Don Joseph Ibn Esra als der nächste Verwandte sprach das Gebet der Trauernden, welches beginnt: Gerühmt und geheiligt werde der erhabene Name, und welches endet: Der Frieden stiftet in seinen Höhen, Er gebe Frieden uns und allem Israel, und darauf sprechet amen.

Und dreißig Tage lang in allen jüdischen Gemeinden der Halbinsel und in denen der Provence und Franciens sprachen sie dieses Gebet, zum Andenken Don Jehuda Ibn Esras Unseres Herrn und Lehrers, und der Doña Raquel.

Wo aber auf Märkten und in Schenken Kastiliens viele Leute zusammenkamen, sangen die Joglares, die Bänkelsänger, Balladen von dem König Don Alfonso und seiner heißen, verhängnisvollen Liebe zu der Jüdin Fermosa. Tief ins Volk drangen die Lieder, und am Werktag und am Feiertag, bei der Arbeit und beim Essen und in den Schlaf hinein sang und summte es in Kastilien:

Und der König

Ward verblendet durch die Liebe

Und verschaute sich in eine

Jüdin, und sie hieß Fermosa.

Ja, Fermosa hieß, »Die Schöne«

Hieß sie, und sie hieß zu Recht so.

Und mit ihr vergaß der König

Seine Königin.

Don Alfonso selber betrat niemals mehr das Gebiet der Huerta del Rey.

Langsam verwilderten die Gärten und verfiel die Galiana. Auch die weiße Mauer zerbröckelte, die den ausgedehnten Besitz umgab. Am längsten hielt das große Haupttor, durch welches der Castro und die Seinen gezogen waren, um Raquel und ihren Vater zu erschlagen.

Ich selber bin noch vor diesem Tor gestanden und habe die verwitternde arabische Inschrift gesehen, mit welcher die Galiana den Gast begrüßte: Alafia, Heil, Segen.

Загрузка...