DRITTER TEIL Die letzte Generation

1

„Sieh dir das an!“ fuhr George Greggson auf und schleuderte Jean die Zeitung zu. Das Blatt legte sich, obwohl Jean sich bemühte, es zu verhindern, müde auf den Frühstückstisch. Jean schabte geduldig die Marmelade ab und las die beanstandete Stelle, wobei sie ihr Bestes tat, Mißbilligung zu zeigen. Sie war darin nicht sehr geschickt, weil sie allzu oft mit den Kritikern übereinstimmte. Gewöhnlich behielt sie diese ketzerischen Ansichten für sich, und nicht nur, um Frieden und Ruhe zu haben. George war durchaus bereit, Lob von ihr — oder irgend jemandem — entgegenzunehmen, aber wenn sie seine Arbeit zu kritisieren wagte, hielt er ihr einen vernichtenden Vortrag über ihre künstlerische Unwissenheit. Sie las die Kritik zweimal, dann gab sie es auf. Sie fand sie recht günstig und äußerte das auch.

„Ihm scheint die Vorstellung doch gefallen zu haben. Worüber brummst du?“

„Hier“, fauchte George und deutete mit dem Finger auf die Mittelspalte. „Lies es nur noch einmal.“

„Besonders wohltuend für das Auge war das zarte Pastellgrün des Hintergrundes bei den Balletteinlagen. Ja, und?“

„Es war nicht grün. Ich habe viel Zeit darauf verwendet, gerade diese blaue Schattierung herauszubekommen. Und was geschieht? Irgendein verdammter Techniker im Kontrollraum bringt das Farbgleichgewicht durcheinander, oder dieser Idiot von einem Kritiker hat einen farbenblinden Apparat. Was für eine Farbe hatte es auf unserm Bildschirm?“

„Tja — daran kann ich mich nicht erinnern“, gestand Jean. „Püppi fing gerade an zu schreien, und ich mußte nachsehen, was mit ihr los war.“

„Oh!“ sagte George und verfiel in eine leise kochende Ruhe. Jean wußte, daß jeden Augenblick ein neuer Ausbruch zu erwarten war. Als er jedoch erfolgte, war er ziemlich sanft.

„Ich habe eine neue Definition für das Fernsehen gefunden“, murmelte George düster. „Ich bin der Meinung, daß es ein Mittel ist, die Verbindung zwischen Künstler und Publikum zu verhindern.“

„Was willst du dagegen tun?“ gab Jean zurück. „Zum lebenden Theater zurückkehren?“

„Und warum nicht?“ fragte George. „Genau daran habe ich gedacht. Du erinnerst dich an den Brief, den ich von den NeuAthenern bekommen habe? Sie haben mir wieder geschrieben. Diesmal werde ich antworten.“

„Wirklich?“ sagte Jean, etwas beunruhigt. „Ich denke, sie sind eine Gruppe von Verschrobenen?“

„Nun, das kann man nur auf eine einzige Art und Weise feststellen. Ich werde sie innerhalb der nächsten vierzehn Tage aufsuchen. Ich muß sagen, daß die Schriften, die sie herausbringen, durchaus vernünftig wirken. Und sie haben einige sehr gute Leute.“

„Wenn du erwartest, daß ich anfangen soll, auf einem Holzfeuer zu kochen oder mich in Felle zu hüllen, dann mußt du.“

„Oh, sei nicht so albern! Diese Erzählungen sind doch Unsinn. Die Kolonie hat alles, was für das zivilisierte Leben notwendig ist. Sie glauben nicht an unnötige Kinkerlitzchen, das ist alles. Übrigens ist es Jahre her, seit ich den Pazifik besucht habe. Es wird für uns beide ein netter Ausflug sein.“

„Darin bin ich deiner Meinung“, sagte Jean, „aber ich habe nicht die Absicht, unsern Sohn und Püppi zu polynesischen Wilden werden zu lassen.“

„Das wird nicht geschehen“, erwiderte George, „das kann ich dir versprechen.“

Er hatte recht, wenn auch nicht so, wie er es erwartet hatte.

„Wie Sie beim Ausflug bemerkt haben werden“, sagte der kleine Mann auf der andern Seite der Veranda, „besteht die Kolonie aus zwei Inseln, die durch einen Damm verbunden sind. Dies ist Athen, die andere Insel haben wir Sparta getauft. Sie ist ziemlich wild und bergig und wundervoll für Sport oder Wanderungen geeignet.“

Seine Augen glitten für einen Moment über die Gürtellinie seines Besuchers, und George beugte sich auf dem Rohrsessel leicht vor. „Sparta ist übrigens ein erloschener Vulkan. Wenigstens behaupten die Geologen, daß er erloschen ist, haha!

Aber zurück zu Athen. Der Gedanke der Kolonie ist, wie Sie wohl erraten haben, eine unabhängige, beständige kulturelle Gruppe mit eigenen künstlerischen Traditionen aufzubauen. Ich möchte daraufhinweisen, daß wesentliche Forschungen unternommen wurden, bevor wir dies Unternehmen begonnen haben. Es ist wirklich so etwas wie angewandte Sozialkunde, auf außerordentlich verwickelten Berechnungen beruhend, die zu verstehen ich mir nicht anmaßen würde. Ich weiß nur, daß die mathematischen Soziologen berechnet haben, wie groß die Kolonie sein müßte, wie viele Typen von Menschen sie einschließen sollte und vor allem, welche Verfassung sie haben muß, um langfristig Bestand zu haben.

Wir werden von einem Rat von acht Direktoren regiert, die Produktion, Kraftmittel, Sozialverwaltung, Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport und Philosophie vertreten. Es gibt keinen ständigen Vorsitzenden oder Präsidenten. Dieses Amt wird von jedem der Direktoren der Reihe nach ein Jahr lang ausgeübt.

Unsere jetzige Bevölkerung beträgt etwas über fünfzigtausend, also etwas weniger als die gewünschte Höchstzahl. Deshalb sehen wir uns nach Zuwachs um. Und natürlich gibt es gewisse Verluste: Wir sind in bezug auf die spezialisierten Talente noch nicht ganz autark.

Hier auf dieser Insel versuchen wir, etwas von der Unabhängigkeit der Menschheit, ihre künstlerischen Überlieferungen, zu retten. Wir empfinden keine Feindschaft gegen die Overlords; wir wollen nur das Recht haben, unsern eigenen Weg zu gehen. Als sie die alten Nationen und die Lebensweise zerstörten, die der Mensch seit Beginn der Geschichte gekannt hat, haben sie mit den schlechten auch viele gute Dinge beseitigt. Die Welt ist jetzt ruhig, ohne charakteristische Merkmale und in kultureller Beziehung tot. Seit die Overlords gekommen sind, ist nichts wirklich Neues geschaffen worden. Die Ursache liegt auf der Hand. Es gibt nichts mehr, wofür man kämpfen muß, und es gibt zu viele Ablenkungen und Zerstreuungen. Sind Sie sich darüber klar, daß täglich etwa fünfhundert Stunden Rundfunk und Fernsehen durch die verschie denen Kanäle strömen? Wenn Sie nicht schliefen und nichts anderes täten, könnten Sie doch nur weniger als ein Zwanzigstel der Unterhaltung verfolgen, die bei einem Druck auf den Knopf verfügbar ist. Kein Wunder, daß die Menschen gleichgültige Schwämme werden, die alles aufnehmen, aber niemals etwas schaffen. Wußten Sie, daß die Menschen jetzt im Durchschnitt drei Stunden täglich fernsehen? Bald werden sie überhaupt nicht mehr ihr eigenes Leben leben. Es wird eine Vollbeschäftigung sein, die verschiedenen Familienserien im Fernsehen zu verfolgen.

Hier in Athen nimmt die Unterhaltung ihren angemessenen Platz ein. Außerdem ist sie Leben, nicht Konserve. In einer Gemeinschaft dieser Größe ist es möglich, eine fast vollständige Publikumsbeteiligung mit allem, was das für die Veranstalter und Künstler bedeutet, zu erreichen. Zum Beispiel haben wir ein sehr gutes Symphonieorchester, wahrscheinlich gehört es zu den fünf oder sechs besten der Welt.

Aber ich will nicht, daß Sie sich in all diesen Dingen auf mein Wort verlassen. Es geht meistens so vor sich, daß Anwärter einige Tage hier bleiben, um Fühlung zu gewinnen. Wenn sie beschließen, sich zu uns zu gesellen, müssen sie all die psychologischen Prüfungen über sich ergehen lassen, die in der Tat unsere Hauptverteidigung sind. Etwa ein Drittel der Bewerber wird abgelehnt, gewöhnlich aus Gründen, die kein schlechtes Licht auf sie werfen und außerhalb der Kolonie keine Rolle spielen würden. Diejenigen, die alle Prüfungen bestehen, begeben sich nach Hause, um ihre Angelegenheiten zu ordnen, und schließen sich uns dann wieder an. Zuweilen ändern sie in dieser Zeit ihren Entschluß, aber das kommt sehr selten vor und ist immer auf persönliche Gründe zurückzuführen, auf die sie keinen Einfluß haben. Unsere Prüfungen sind heute hundertprozentig verläßlich: Die Menschen, die sie bestehen, wollen wirklich herkommen.“

„Und wenn nun jemand später seine Meinung ändert?“ fragte Jean besorgt.

„Dann könnte er weggehen. Da gibt es keine Schwierigkeit. Es ist ein- oder zweimal vorgekommen.“

Ein langes Schweigen folgte. Jean sah George an, der sich nachdenklich die Bartkoteletten rieb, die augenblicklich in Künstlerkreisen beliebt waren. Jean war nicht übermäßig beunruhigt, solange sie ihre Schiffe nicht hinter sich verbrannten. Die Kolonie schien ein interessanter Ort zu sein und bestimmt nicht so närrisch, wie sie gefürchtet hatte. Und den Kindern würde es hier gefallen. Und schließlich kam es darauf in der Hauptsache an.

Sechs Wochen später zogen sie ein. Das einstöckige Haus war klein, aber völlig ausreichend für eine Familie, die nicht die Absicht hatte, sich über ihre vier Mitglieder hinaus zu vergrößern. Alle wichtigen arbeitssparenden Apparate waren vorhanden. Wenigstens gab Jean zu, daß keine Gefahr bestand, in die dunklen Zeitalter der häuslichen Plackerei zurückversetzt zu werden. Es war jedoch etwas störend, zu entdecken, daß eine Küche vorhanden war. In einer Gesellschaft von dieser Größe hätte man unter normalen Umständen erwarten müssen, daß man die Ernährungszentrale anriefe, fünf Minuten wartete und dann das Essen bekäme, das man bestellt hatte. Individualismus war ja sehr schön, aber dies könne doch die Dinge allzu weit treiben, fürchtete Jean. Sie überlegte mit düsteren Gefühlen, ob man wohl von ihr erwartete, daß sie die Bekleidung der Familie anfertigte, so wie sie die Mahlzeiten bereiten mußte. Aber es stand kein Spinnrad zwischen der selbsttätigen Abwaschmaschine und dem Radargerät, also ganz so schlimm war es wohl nicht.

Natürlich sah das Haus noch sehr kahl und nüchtern aus. Sie waren die ersten Bewohner, und es würde einige Zeit dauern, bis diese keimfreie Neuheit in ein warmes, menschliches Heim verwandelt war. Die Kinder würden zweifellos diesen Vorgang sehr wirksam beschleunigen.

Jean trat an das noch nicht mit Vorhängen versehene Fenster und blickte über die Kolonie hin. Es war ein schöner Ort, daran gab es keinen Zweifel. Das Haus stand am Westhang des niedrigen Hügels, der, in Ermangelung irgendwelcher Rivalen, die Insel Athen beherrschte. Zwei Kilometer weiter nördlich konnte sie den Damm sehen, eine schmale Messerschneide, die das Wasser teilte und nach Sparta führte. Jene felsige Insel mit ihrem brütenden Vulkankegel bildete einen solchen Gegensatz zu diesem friedlichen Fleck, daß es sie bisweilen erschreckte. Sie fragte sich, wie die Gelehrten so sicher sein konnten, daß der Vulkan niemals wieder erwachen und sie alle vernichten würde. Eine schwankende Gestalt, die den Hang heraufkam und sich sorgsam im Schatten der Palmen hielt, erregte ihre Aufmerksamkeit. George kehrte von seiner ersten Konferenz zurück. Es war Zeit, mit den Träumereien aufzuhören und sich um das Hauswesen zu kümmern.

Ein metallisches Gerassel verkündete die Ankunft von Georges Fahrrad. Jean fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie beide fahren gelernt hatten. Dies war noch eine andere unerwartete Seite des Lebens auf der Insel. Privatautos waren nicht erlaubt und ja auch unnötig, da die größte Entfernung, die man in gerader Linie zurücklegen konnte, weniger als fünfzehn Kilometer betrug. Es gab verschiedene Fahrzeuge, die der Gemeinde gehörten: Lastautos, Krankenwagen und Feuerspritzen, die alle, außer in wirklichen Notfällen, nur fünfzig Stundenkilometer fahren durften. Infolgedessen hatten die Bewohner von Athen viel Bewegungsfreiheit, keine verstopften Straßen — und keine Verkehrsunfälle.

George gab seiner Frau einen flüchtigen Kuß und sank mit einem Seufzer der Erleichterung auf den nächsten Stuhl. „Puh!“ sagte er und wischte sich die Stirn. „Alle haben mich auf dem Weg bergauf überholt; wahrscheinlich gewöhnen sich die Leute also wirklich daran. Ich glaube, ich habe schon zehn Kilo verloren.“

„Wie ist es dir ergangen?“ fragte Jean pflichtschuldig. Sie hoffte, George würde nicht zu erschöpft sein, um beim Auspacken zu helfen.

„Sehr anregend. Natürlich kann ich mich nicht mehr auf die Hälfte der Leute besinnen, die ich getroffen habe, aber sie schienen sehr angenehm zu sein. Und das Theater ist genauso gut, wie ich gehofft habe. Wir beginnen die Arbeit nächste Woche mit Shaws ›Zurück zu Methusalem’. Man hat mir die ganze Ausstattung und die Entwürfe übertragen. Das ist etwas anderes, als wenn ständig ein Dutzend Leute mir sagen will, was ich nicht tun soll. Ja, ich glaube, es wird uns hier gefallen.“

„Trotz der Fahrräder?“

George brachte eine Art Lächeln zustande. „Ja“, sagte er, „in einigen Wochen werde ich unsern kleinen Hügel nicht einmal bemerken.“

Das glaubte er in Wirklichkeit nicht, aber es entsprach der Wahrheit. Es dauerte jedoch noch einen weiteren Monat, bis Jean das Auto wirklich verschmerzt und all die Dinge entdeckt hatte, die man mit seiner eigenen Küche machen konnte.

Neu-Athen war nicht natürlich und folgerichtig entstanden wie die Stadt, deren Namen es trug. Alles in der Kolonie war sorgfältig geplant und das Ergebnis langjähriger Studien einer Gruppe sehr bemerkenswerter Männer. Es hatte als offene Verschwörung gegen die Overlords begonnen, als eine stillschweigende Auflehnung gegen ihre Politik, wenn nicht gegen ihre Macht. Zunächst waren die Gründer der Kolonie mehr als zur Hälfte überzeugt gewesen, daß Karellen ihre Pläne durchkreuzen würde, aber der Oberkontrolleur hatte nichts unternommen, überhaupt nichts. Das war nicht ganz so beruhigend, wie man hätte erwarten können. Karellen hatte viel Zeit: Er konnte einen späteren Gegenschlag vorbereiten. Oder er war so fest von dem Mißlingen des Plans überzeugt, daß er es nicht für notwendig hielt, irgend etwas dagegen zu unternehmen.

Daß die Kolonie Schiffbruch erleiden würde, hatten die meisten Leute vorausgesagt. Aber in der Vergangenheit, lange bevor man etwas über soziale Dynamik wußte, hatte es ja auch viele Gemeinden gegeben, die besondere religiöse oder philosophische Ziele verfolgten. Gewiß, ihre Sterblichkeitsziffer war hoch gewesen, aber einige hatten weitergelebt. Und die Grundlagen von Neu-Athen waren so sicher, wie die moderne Wissenschaft sie machen konnte.

Es gab viele Gründe dafür, eine Insel als Sitz zu wählen. Nicht die unwichtigsten waren psychologischer Art. In einem Zeitalter des universalen Luftverkehrs bedeutete der Ozean als physikalische Grenze nichts, gab aber doch ein Gefühl der Abgeschlossenheit. Überdies machte eine begrenzte Landfläche es unmöglich, daß zu viele Menschen in der Kolonie lebten. Die Höchstzahl der Bevölkerung war auf etwa hunderttausend festgesetzt; wenn sie größer wäre, würden die Vorteile einer kleinen, engverbundenen Gemeinde verlorengehen. Eines der Ziele der Gründer war, daß jeder Bürger von Neu-Athen alle andern Bürger, die seine Interessen teilten, kennen sollte und auch ein oder zwei Prozent der übrigen.

Der Mann, der die treibende Kraft bei der Gründung von NeuAthen gewesen war, hatte die Verwirklichung seines Traumes nicht mehr erlebt, denn er war drei Jahre vor der Entstehung der Kolonie gestorben.

Er war in Israel geboren, einer der letzten unabhängigen Nationen, die sich noch bildeten, und die also auch die kürzeste Lebensdauer gehabt hatten. Das Ende der nationalen Unabhängigkeit war hier vielleicht bitterer empfunden worden als anderswo, denn man trennt sich schwer von einem Traum, den man erst nach jahrhundertelangen Kämpfen verwirklicht hat.

Ben Salomon war kein Fanatiker, aber die Erinnerungen seiner Kindheit mochten in nicht geringem Umfang die Philosophie bestimmt haben, die er in die Praxis umsetzte. Er konnte sich noch erinnern, wie die Welt vor Ankunft der Overlords gewesen war, und er hatte nicht den Wunsch, zu jenem Zustand zurückzukehren. Gleich vielen andern klugen und wohlmeinenden Menschen wußte er alles zu schätzen, was Karellen für die menschliche Rasse getan hatte, während er über die endgültigen Pläne des Oberkontrolleurs noch immer besorgt war. Konnte es möglich sein, fragte er sich bisweilen, daß die Overlords, trotz all ihrer ungeheuren Intelligenz, die Menschheit nicht wirklich verstanden und aus besten Beweggründen einen furchtbaren Irrtum begingen? Vielleicht hatten sie in ihrer Leidenschaft für Gerechtigkeit und Ordnung beschlossen, die Welt zu reformieren, dabei aber nicht erkannt, daß sie die Seele des Menschen zerstörten.

Der Niedergang hatte kaum erst begonnen, aber die ersten Anzeichen des Verfalls waren nicht schwer zu entdecken. Salomon war kein Künstler, aber er hatte ein sicheres künstlerisches Urteil und wußte, daß sein Zeitalter die Leistungen früherer Jahrhunderte auf keinem einzigen Gebiet zu erreichen vermochte. Vielleicht würden sich die Dinge im Lauf der Zeit einrenken, wenn der Schock bei der Begegnung mit der Zivilisation der Overlords sich gemildert hätte. Aber es konnte auch anders kommen, und ein vorsichtiger Mann würde daran denken, eine Versicherungspolizze zu erwerben.

Neu-Athen beruhte auf dieser Politik. Seine Errichtung hatte zwanzig Jahre und einige Milliarden Dezimalpfund erfordert, also einen verhältnismäßig geringen Bruchteil des Gesamtreichtums der Welt. In den ersten fünfzehn Jahren war nichts geschehen, in den letzten fünf alles.

Salonions Aufgabe wäre undurchführbar gewesen, hätte er nicht eine Handvoll der berühmtesten Künstler der Welt davon überzeugen können, daß sein Plan vernünftig wäre. Sie hatten ihm zugestimmt, weil es ihrem Ich zusagte, nicht weil es für die Rasse wichtig war. Aber nachdem sie einmal überzeugt worden waren, hatte die Welt auf sie gehört und den Plan moralisch und wirtschaftlich unterstützt. Hinter dieser Reklamefassade launi scher Talente hatten die wirklichen Erbauer der Kolonie ihre Pläne entworfen.

Eine Gesellschaft besteht aus menschlichen Wesen, deren Verhalten als Einzelpersonen nicht voraussehbar ist. Aber wenn man genügend grundlegende Einheiten nimmt, beginnen sich gewisse Gesetze zu offenbaren, wie es vor langer Zeit von den Lebensversicherungsgesellschaften bemerkt wurde. Niemand kann sagen, welche Einzelpersonen in einem bestimmten Zeitraum sterben werden, aber die Gesamtzahl der Todesfälle kann man mit erheblicher Genauigkeit voraussagen.

Es gibt andere, feinere Gesetze, die zuerst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von Mathematikern wie Weiner und Raschavesky aufgespürt wurden. Sie behaupteten, daß Ereignisse wie Wirtschaftskrisen, die Folgen des Wettrüstens, die Beständigkeit sozialer Gruppen, politische Wahlen und so weiter durch sorgfältige mathematische Berechnungen analysiert werden könnten. Die große Schwierigkeit war die ungeheure Zahl der veränderlichen Größen, von denen viele sich kaum in zahlenmäßigen Begriffen ausdrücken ließen. Man konnte nicht bestimmte Kurven zeichnen und endgültig feststellen: „Wenn diese Linie erreicht wird, bedeutet es Krieg!“ Und man konnte nie vollständig so ganz unvorhergesehene Ereignisse berücksichtigen wie zum Beispiel die Ermordung einer Schlüsselfigur oder die Wirkungen irgendeiner neuen wissenschaftlichen Entdeckung — noch weniger Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Überschwemmungen, die eine tiefgreifende Wirkung auf viele Menschen und die sozialen Gruppen, in denen sie lebten, haben konnten.

Dennoch konnte man viel tun, dank den in den vergangenen hundert Jahren geduldig gesammelten Erkenntnissen. Die Aufgabe wäre unausführbar gewesen ohne die Hilfe der riesigen Rechenmaschinen, die in wenigen Sekunden die Arbeit von tausend rechnenden Menschen verrichten konnten. Solche Hilfen waren bei der Planung der Kolonie in höchstem Maße benutzt worden.

Trotz allem aber konnten die Gründer von Neu-Athen nur den Boden und das Klima bereitstellen, in dem die Pflanze, die sie heranzuziehen wünschten, vielleicht zur Blüte kommen würde. Wie Salonion selbst bemerkt hatte: „Wir können des Talents sicher sein; um das Genie können wir nur beten.“ Aber es war eine vernünftige Hoffnung, daß in einer so konzentrierten Gesellschaft ir gendwelche interessante Reaktionen erfolgen würden. Wenige Künstler gedeihen in der Einsamkeit, und nichts ist anregender als ein Meinungsstreit bei ähnlichen Interessen.

Bisher hatte dieser Zusammenprall nennenswerte Ergebnisse auf dem Gebiet der Bildhauerei, der Musik, der literarischen Kritik und der Filmproduktion erbracht. Es war noch zu früh, festzustellen, ob die mit historischen Forschungen beschäftigte Gruppe die Hoffnungen ihrer Begründer erfüllen würde, die offen danach strebten, den Stolz der Menschheit auf ihre eigenen Leistungen wiederherzustellen. Die Malerei kränkelte noch, was manche in ihrer Ansicht bestärkte, zweidimensionale, statische Kunstformen hätten keine weiteren Möglichkeiten.

Es war bemerkenswert, obwohl man eine befriedigende Erklärung dafür noch nicht gefunden hatte, daß Bewegung eine wesentliche Rolle bei den erfolgreichsten künstlerischen Schöpfungen der Kolonie spielte. Selbst die Plastiken waren selten unbeweglich. Andrew Carsons aufsehenerregende Formgebilde und Bögen veränderten sich langsam, während man sie betrachtete, gemäß verwickelten Mustern, die der Geist anerkennen konnte, auch wenn er sie nicht völlig verstand. Tatsächlich beanspruchte Carson, mit einiger Berechtigung, die „Mobiles“ des vorigen Jahrhunderts zu ihrer letzten Vollendung gebracht und auf diese Weise Bildhauerkunst und Ballett vermählt zu haben.

Die musikalischen Experimente der Kolonie beschäftigten sich zum großen Teil ganz bewußt mit dem, was man „Zeitspanne“ nennen könnte. Welches war der kürzeste Ton, den der Geist erfassen konnte, oder der längste, den er ohne Langeweile zu ertragen vermochte? War das Ergebnis durch Variationen oder durch die Anwendung einer geeigneten Instrumentierung zu verändern? Solche Probleme wurden endlos erörtert, und die Auseinandersetzungen waren nicht nur akademisch. Sie hatten zu mehreren interessanten Kompositionen geführt.

Aber die erfolgreichsten Experimente hatte Neu-Athen in der Kunst des Zeichenfilms mit seinen grenzenlosen Möglichkeiten gemacht. Die hundert Jahre seit Disneys Zeit hatten auf dem Gebiet dieses nachgiebigsten Kunstmittels noch vieles ungetan gelassen. Von den strengen Realisten konnten Ergebnisse erzielt werden, die von echten Fotografien nicht zu unterscheiden waren, sehr zur Verachtung aller, die den Zeichenfilm auf der abstrakten Linie wei ter entwickelten.

Die bisher untätigste Gruppe der Künstler und Wissenschaftler erregte gerade das größte Interesse und die größte Beunruhigung. Diese Arbeitsgruppe befaßte sich mit der „völligen Identifikation“. Die Geschichte des Films lieferte den Schlüssel zu ihren Unternehmungen. Zuerst der Ton, dann die Farbe, dann der stereoskopische Film, dann Cinerama hatten das alte liebe Stumm-„Kintopp“ mehr und mehr der Wirklichkeit gleich gemacht. Wo war das Ende davon? Sicherlich würde die Endstufe erreicht sein, wenn das Publikum vergaß, daß es Publikum war und an der Handlung teilnahm. Um das zu erreichen, mußten alle Sinne angeregt werden, und vielleicht mußte man sogar Hypnose anwenden, indessen viele hielten es für möglich. Wenn dieses Ziel erreicht war, würde es eine ungeheure Bereicherung der menschlichen Erfahrung bedeuten. Ein Mensch konnte, wenigstens für eine Weile, ein anderer werden und an irgendeinem wirklichen oder eingebildeten Abenteuer teilnehmen. Er konnte sogar eine Pflanze oder ein Tier sein, wenn es sich als möglich erwies, die Sinneseindrücke anderer Lebewesen einzufangen und wiederzugeben. Und wenn die „Vorstellung“ vorbei war, würde er eine Erinnerung mitnehmen, die ebenso lebhaft wie irgendein Erlebnis seines Daseins und nicht mehr von der Wirklichkeit zu unterscheiden war.

Die Aussicht war betörend. Viele fanden sie auch erschreckend und hofften, das Unternehmen würde mißglücken. Aber sie wußten im Innersten, daß es, wenn die Wissenschaft einmal etwas für möglich erklärt hatte, vor seiner schließlichen Verwirklichung kein Entrinnen gab.

So war es damals um Neu-Athen und einige seiner Träume bestellt. Es hoffte das zu werden, was die alten Athener hätten sein können, wenn sie Maschinen statt Sklaven besessen hätten, Wissenschaft statt Aberglauben. Aber es war noch viel zu früh, um zu sagen, ob dieses Experiment glücken würde.

2

Jeffrey Greggson war ein Inselbewohner, der bisher noch kein Interesse für Ästhetik oder Wissenschaft hatte, die beiden Haupt beschäftigungen der Älteren. Aber aus rein persönlichen Gründen schätzte er die Kolonie sehr. Die in keiner Richtung weiter als wenige Kilometer entfernte See faszinierte ihn. Den größten Teil seines kurzen Lebens hatte er tief im Binnenland verbracht und hatte sich an die neue Situation, von Wasser umgeben zu sein, noch nicht gewöhnt. Er war ein guter Schwimmer und pflegte oft auf dem Rad mit anderen jungen Freunden an den Strand zu fahren, um mit Flossen und Gesichtsmaske das seichtere Wasser der Lagune zu durchforschen. Anfangs war Jean nicht sehr glücklich darüber, aber nachdem sie selbst ein paarmal getaucht war, verlor sie die Furcht vor der See und ihren seltsamen Geschöpfen und ließ Jeffrey nach Belieben herumtollen, unter der Bedingung, nie allein zu schwimmen.

Das andere Mitglied des Greggsonschen Haushalts, das die Veränderung begrüßte, war Fey, die schöne, goldfarbene Jagdhündin, die dem Namen nach George gehörte, aber selten ohne Jeffrey zu sehen war. Die beiden waren unzertrennlich, bei Tage und, wenn Jean nicht dazwischengetreten wäre, bei Nacht. Nur wenn Jeffrey auf seinem Fahrrad davonfuhr, blieb Fey zu Haus und lag regungslos vor der Tür, um, die Schnauze auf die Pfoten gelegt, mit feuchten, traurigen Augen den Weg entlangzustarren. Das war ziemlich kränkend für George, der einen hohen Preis für Fey und ihren Stammbaum bezahlt hatte. Es sah aus, als müsse er auf die in drei Monaten zu erwartende nächste Generation warten, bis er einen eigenen Hund haben würde. Jean war darüber anderer Meinung. Sie mochte Fey gern, fand aber, daß ein Hund genüge.

Nur Jennifer Anne war sich noch nicht ganz klar, ob ihr die Kolonie gefiel. Das war jedoch kaum überraschend, denn sie hatte bisher nichts von der Welt gesehen außer den Kunststoffwänden ihres Bettchens und hatte noch kaum eine Ahnung, daß es einen Ort wie die Kolonie gab.

George Greggson dachte nicht oft an die Vergangenheit; er war zu sehr mit Plänen für die Zukunft beschäftigt, zu sehr durch seine Arbeit und seine Kinder in Anspruch genommen. Es kam selten vor, daß seine Gedanken durch die Jahre zu jenem Abend in Afrika zurückwanderten, und er sprach nie mit Jean darüber. In gegenseitigem Einvernehmen wurde dieses Thema vermieden, und seit jenem Tage hatten sie trotz wiederholter Einladungen nie wieder die Familie Boyce besucht. Sie riefen Rupert mit immer neuen Ent schuldigungen mehrmals in jedem Jahr an, und in letzter Zeit hatte er sie in Ruhe gelassen. Seine Ehe mit Maja schien zur Überraschung aller noch immer gut zu gehen.

Eine Folge jenes Abends war, daß Jean jedes Verlangen verloren hatte, sich mit den Rätseln an den Grenzen der bekannten Wissenschaft zu befassen. Das einfältige und unkritische Staunen, das sie zu Rupert und seinen Experimenten hingezogen hatte, war völlig verschwunden. Vielleicht war sie überzeugt worden und bedurfte keiner weiteren Beweise mehr. George zog es vor, sie nicht zu fragen. Vielleicht hatten auch ihre Mutterpflichten solche Interessen aus ihrem Geist verbannt.

George wußte, daß es keinen Zweck hatte, sich über ein Rätsel Gedanken zu machen, das nie gelöst werden konnte, und doch erwachte er bisweilen in der Stille der Nacht und grübelte. Er entsann sich seines Zusammentreffens mit Jan Rodricks auf dem Dach von Ruperts Haus und der wenigen Worte, die er mit dem einzigen menschlichen Wesen gesprochen hatte, das erfolgreich dem Verbot der Overlords getrotzt hatte. Nichts im Reich des Übernatürlichen, dachte George, könnte unheimlicher sein als die einfache wissenschaftliche Tatsache, daß, obwohl fast zehn Jahre seit seinem Gespräch mit Jan verstrichen waren, jener weit entfernte Reisende jetzt erst um wenige Tage älter geworden war.

Das Universum war ungeheuer groß, aber diese Tatsache erschreckte ihn weniger als dessen Geheimnisse. George war kein Mensch, der lange über solche Dinge nachdachte, doch bisweilen kam es ihm vor, als wären die Menschen wie Kinder, die sich auf einem abgeschlossenen Spielplatz belustigten, beschützt vor den harten Wirklichkeiten der Außenwelt. Jan Rodricks hatte sich gegen diesen Schutz empört und war ihm entflohen, niemand wußte wohin. Aber in dieser Sache stand George völlig auf Seiten der Overlords. Er hatte nicht den Wunsch, das zu sehen, was in der unbekannten Finsternis lauerte, jenseits des kleinen Lichtkreises, den die Lampe der Wissenschaft warf.

„Wie kommt es“, beklagte sich George, „daß Jeff immer irgendwo anders ist, wenn ich zufällig zu Hause bin? Wo ist er heute hin?“

Jean sah von ihrer Strickerei auf, einer vorweltlichen Beschäftigung, die neuerdings mit viel Erfolg wieder aufgenommen war.

Solche Moden kamen und gingen auf der Insel ziemlich schnell. Das Hauptergebnis dieser seltsamen Laune war, daß die Männer jetzt alle vielfarbige Pullover geschenkt bekamen, viel zu warm, um sie bei Tage zu tragen, aber nach Sonnenuntergang ganz nützlich.

„Er ist mit einigen Freunden nach Sparta hinüber“, erwiderte Jean. „Er hat versprochen, zum Essen zurück zu sein.“

„Ich bin eigentlich nach Hause gekommen, um zu arbeiten“, sagte George nachdenklich, „aber es ist ein schöner Tag, und ich glaube, ich gehe selbst zum Schwimmen hinaus. Was für einen Fisch soll ich dir mitbringen?“

George hatte nie irgend etwas gefangen, und die Fische in der Lagune waren viel zu schlau, um sich fangen zu lassen. Jean wollte gerade auf diese Tatsache hinweisen, als die Stille des Nachmittags durch einen Ton zerrissen wurde, der noch in diesem friedlichen Zeitalter dazu angetan war, das Blut erstarren zu lassen und einen Angstschauer durch das Gehirn zu jagen.

Es war das an- und abschwellende Geheul einer Sirene, die ihr Gefahrensignal in konzentrischen Kreisen aufs Meer hinaussandte.

Seit fast hundert Jahren hatte sich hier in der brodelnden Finsternis tief unter dem Grunde des Ozeans der Druck vermehrt. Obwohl die Unterwasserschlucht vor geologischen Zeitaltern gebildet war, hatten sich die gemarterten Felsen nie an ihre neue Lage gewöhnt. Unzählige Male waren die Schichten zerbrochen und hatten sich verschoben, wenn das unvorstellbare Gewicht des Wassers ihr empfindliches Gleichgewicht störte. Jetzt waren sie bereit, sich wieder zu bewegen.

Jeff untersuchte die Felsbuchten an dem schmalen Strand von Sparta, eine Beschäftigung, die er unendlich interessant fand. Man wußte nie, was für exotische Geschöpfe man hier finden würde. Es war ein Märchenland für jedes Kind, und im Augenblick gehörte es ihm ganz allein, denn seine Freunde waren auf die Berge hinaufgestiegen.

Der Tag war still und friedlich. Kein Windhauch regte sich, und selbst das ständige Murmeln am Fuß der Klippe hatte sich zu einem dumpfen Unterton gemäßigt. Eine blendende Sonne hing in halber Höhe am Himmel, aber Jeffs mahagonibrauner Körper war jetzt völlig unempfindlich gegen ihre Angriffe.

Der Strand war hier ein schmaler Sandstreifen, der steil zur Lagune abfiel. Wenn Jeff in das glasklare Wasser hinunterblickte, konnte er die überspülten Felsen sehen, die ihm ebenso vertraut waren wie irgendwelche Felsformationen an Land. Etwa zehn Meter tief wölbten sich die mit Pflanzen bewachsenen Spanten eines alten Schoners zu der Welt empor, die er vor fast zwei Jahrhunderten verlassen hatte. Jeff und seine Freunde hatten das Wrack oft untersucht, aber ihre Hoffnungen, einen verborgenen Schatz zu finden, waren enttäuscht worden. Sie hatten nichts weiter erbeutet als einen mit Muscheln bedeckten Kompaß.

Da wurde der Strand auf einmal gepackt und bekam einen einzigen plötzlichen Stoß. Die Erschütterung verging so schnell, daß Jeff sich fragte, ob er es sich eingebildet habe. Vielleicht war es ein plötzlicher Schwindelanfall gewesen, denn alles um ihn her blieb völlig unverändert. Das Wasser der Lagune war unbewegt, der Himmel ohne Wolken oder drohende Anzeichen. Und dann begann etwas sehr Sonderbares zu geschehen.

Schneller als irgendeine Flut verebben konnte, wich das Wasser von der Küste zurück. Jeff beobachtete, tief verwundert und nicht im geringsten ängstlich, wie der nasse Sand hervortrat und in der Sonne blinkte. Er folgte dem zurückweichenden Ozean, entschlossen, sich dieses Wunder, das die Unterwasserwelt seiner Untersuchung erschloß, zunutze zu machen. Jetzt war das Wasser so weit gesunken, daß der zerbrochene Mast des alten Wracks in die Luft ragte und die an ihm wachsenden Pflanzen schlaff herabhingen, da sie ihre Stütze durch das Wasser verloren hatten. Jeff eilte vorwärts, voll eifriger Wißbegier, welche Wunder wohl jetzt enthüllt werden würden.

Da hörte er den Ton vom Felsen her. Er hatte nie etwas Ähnliches gehört, und er blieb stehen, um darüber nachzudenken, wobei seine nackten Füße langsam in den feuchten Sand einsanken. Ein großer Fisch wand sich wenige Meter entfernt im Todeskampf, aber Jeff achtete kaum darauf. Er stand aufmerksam lauschend da, während das Geräusch vom Felsen her immer stärker wurde.

Es war ein ächzender, gurgelnder Ton, als ob ein Fluß durch einen engen Kanal strömt. Es war die Stimme der widerstrebend zurückweichenden See, die zornig darüber war, auch nur für einen Augenblick ihr rechtmäßig besessenes Land hergeben zu müssen. Zwischen den anmutigen Korallenzweigen hindurch, durch die verborgenen Unterwasserhöhlen strömten Millionen Tonnen Wasser aus der Lagune in die Weite des Pazifiks. Sehr bald und sehr schnell würden sie zurückkehren.

Eine der Rettungsgruppen fand Stunden später Jeff auf einem großen Korallenblock, der zwanzig Meter über den normalen Wasserstand hinaufgeschleudert worden war. Jeff schien nicht besonders verängstigt zu sein, aber über den Verlust seines Fahrrades war er ganz aufgebracht. Er war auch sehr hungrig, da die teilweise Zerstörung des Dammes ihn von zu Hause abgeschnitten hatte. Als er gerettet war, überlegte er, ob er nach Athen zurückschwimmen solle, und wenn sich die Strömung nicht völlig verändert hätte, würde er zweifellos ohne große Mühe hinübergekommen sein.

Jean und George hatten den ganzen Ablauf der Ereignisse mit angesehen, als der Tsunami die Insel traf. Obwohl die tieferliegenden Teile von Neu-Athen schwer beschädigt waren, hatte es keine Verluste an Menschenleben gegeben. Die Seismographen hatten nur fünfzehn Minuten vorher ihr Warnungssignal geben können, aber dieser Zeitraum hatte ausgereicht, alle aus der Gefahrenzone zu bringen. Jetzt heilte die Kolonie ihre Wunden und sammelte eine Menge Legenden, die in den kommenden Jahren immer haarsträubender werden würden.

Jean brach in Tränen aus, als ihr Sohn ihr zurückgegeben wurde, denn sie war völlig überzeugt gewesen, daß er ins Meer hinausgerissen worden wäre. Sie hatte mit entsetzten Augen beobachtet, wie die schwarze, schaumgekrönte Wasserwand sich brüllend vom Horizont herangewälzt hatte, um die Felsen von Sparta zu zerschmettern. Es schien unglaublich, daß Jeff sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben könnte.

Es war kaum überraschend, daß er keinen sehr vernünftigen Bericht über das Geschehene geben konnte. Als er gegessen hatte und im Bett lag, standen Jean und George neben ihm.

„Schlaf jetzt, Liebling, und vergiß das ganze“, sagte Jean. „Du bist jetzt ganz in Ordnung.“

„Aber es hat Spaß gemacht, Mammi“, widersprach Jeff. „Ich habe nicht wirklich Angst gehabt.“

„Das ist gut“, sagte George. „Du bist ein tapferer Junge, und es ist gut, daß du vernünftig warst und rechtzeitig davongelaufen bist.

Ich habe schon früher von diesen Sturmfluten gehört. Eine Menge Leute ertrinken, weil sie auf den freigelegten Strand hinausgehen, um zu sehen, was geschehen ist.“

„Das habe ich auch getan“, gestand Jeff. „Ich möchte wissen, wer mir geholfen hat.“

„Was meinst du? Du warst allein. Die anderen Jungen waren oben auf dem Berg.“

Jeff sah verwundert aus. „Aber jemand hat mir gesagt, ich solle weglaufen!“

Jean und George sahen sich etwas beunruhigt an. „Du meinst — du hast dir eingebildet, etwas zu hören?“

„Ach, laß ihn jetzt“, sagte Jean besorgt und etwas zu hastig. Aber George war hartnäckig.

„Ich möchte der Sache auf den Grund gehen. Erzähle mir, was geschehen ist, Jeff.“

„Also ich war unten am Strande, neben dem alten Wrack, als die Stimme sprach.“

„Was sagte sie?“

„Das weiß ich nicht mehr, aber es war so etwas wie: Jeffrey, laufe so schnell du kannst auf den Berg. Du ertrinkst, wenn du hier bleibst.‹ Ich weiß genau, daß die Stimme mich Jeffrey nannte, nicht Jeff. Es kann also keiner gewesen sein, den ich kenne.“

„War es eine Männerstimme? Und wo kam sie her?“

„Sie war ganz nahe bei mir, und es klang, als ob ein Mann spräche.“ Jeff zögerte einen Augenblick, und George trieb ihn an.

„Weiter! Stelle dir vor, daß du wieder dort am Strand stehst, und erzähle uns genau, was geschehen ist.“

„Ja, es war nicht ganz so wie irgendeine Stimme, die ich je gehört habe. Ich glaube, es war ein sehr großer Mann.“

„War das alles, was die Stimme gesagt hat?“

„Ja — bis ich den Berg hinaufstieg. Da geschah noch etwas Merkwürdiges. Du kennst den Weg, der an der Klippe hinaufführt?“

„Ja“

„Ich lief dort entlang, weil es der kürzeste Weg ist. Ich wußte, was jetzt geschehen würde, denn ich hatte die große Woge herankommen sehen. Sie machte auch einen furchtbaren Lärm. Und dann sah ich, daß auf dem Pfad ein großer Felsblock lag. Er war vorher nicht dagewesen, und ich konnte nicht daran vorbeikom men.“

„Das Erdbeben wird ihn dorthin geschleudert haben“, sagte George.

„Still! Erzähle weiter, Jeff!“

„Ich wußte nicht, was ich machen sollte, und ich konnte die Woge näher kommen hören. Dann sagte die Stimme: ›Mach die Augen zu, Jeffrey, und leg deine Hand vor dein Gesicht.‹ Das kam mir merkwürdig vor, aber ich versuchte es. Und dann kam ein großer Blitz — ich konnte ihn richtig fühlen! — und als ich meine Augen öffnete, war der Felsblock verschwunden.“

„Verschwunden?“

„Jawohl. Er war einfach nicht da. Da fing ich wieder an zu rennen, und da habe ich mir die Füße fast verbrannt, weil der Weg schrecklich heiß war. Das Wasser zischte, als es darüberflutete, aber es konnte mich nicht mehr einholen — ich war schon zu hoch auf der Klippe. Und das ist alles. Ich stieg wieder hinunter, als keine Wogen mehr kamen. Da sah ich, daß mein Fahrrad verschwunden war, und der Nachhauseweg war abgeschnitten.“

„Mach dir keine Sorgen um das Fahrrad, Liebling“, sagte Jean und drückte ihren Sohn voll Dankbarkeit an sich. „Wir besorgen dir ein anderes. Das einzige, worauf es ankommt, ist, daß du gerettet bist. Wir wollen uns nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie es zugegangen ist.“

Das war natürlich nicht die Wahrheit, denn die Diskussion begann sofort, nachdem sie das Kinderzimmer verlassen hatten. Sie brachte keine Entscheidung, hatte aber zwei Folgen. Am nächsten Tage nahm Jean, ohne George etwas davon zu sagen, ihren kleinen Sohn mit zu dem Kinderpsychologen der Kolonie. Er hörte aufmerksam zu, während Jeff seine Erzählung wiederholte, ohne im geringsten von der neuen Umgebung eingeschüchtert zu sein. Dann, während sein ahnungsloser Patient die Spielsachen im Nebenzimmer der Reihe nach ablehnte, beruhigte der Arzt Jean.

„Es liegt kein Grund vor, irgendeine geistige Störung anzunehmen. Sie müssen bedenken, daß er ein schreckliches Erlebnis gehabt hat und verhältnismäßig gut davongekommen ist. Er ist ein sehr phantasiebegabtes Kind und glaubt wahrscheinlich seine eigene Geschichte. Also tun Sie es auch, und machen Sie sich keine Sorgen, falls nicht noch andere Symptome auftreten. Dann teilen Sie es mir sofort mit.“

An diesem Abend machte Jean ihren Mann mit dem Ausspruch des Arztes bekannt. Er schien nicht so erleichtert zu sein, wie sie gehofft hatte, und sie schob das auf seine Sorge über die Beschädigung seines geliebten Theaters. Er brummte nur: „Das ist ja gut“ und vertiefte sich in die neueste Nummer von „Bühne und Studio“. Es sah aus, als habe er das Interesse an der ganzen Sache verloren, und Jean ärgerte sich irgendwie über ihn.

Aber drei Wochen später, am ersten Tage, als der Damm wieder eröffnet war, begab sich George auf seinem Fahrrad nach Sparta. Der Strand war noch mit Unmengen zerschmetterter Korallen übersät, und an einer Stelle schien das Riff selbst zerschmettert worden zu sein. George überlegte, wie lange die Myriaden von geduldigen Polypen wohl brauchen würden, um den Schaden auszubessern.

Es rührte nur ein Pfad die Klippe hinauf, und nachdem George wieder zu Atem gekommen war, begann er den Anstieg. Einige vertrocknete Pflanzenteile, die sich in den Felsen verfangen hatten, bezeichneten die Grenze der Flut.

Lange Zeit stand George Greggson auf dem einsamen Pfad und starrte auf den geschmolzenen Felsen zu seinen Füßen. Er versuchte sich zu sagen, daß es ein Streich des lange erloschenen Vulkans sei, gab aber bald diesen Versuch der Selbsttäuschung auf. Seine Gedanken wanderten zu jener viele Jahre zurückliegenden Nacht zurück, als er und Jean an dem törichten Experiment bei Rupert Boyce teilgenommen hatten. Niemand hatte jemals wirklich begriffen, was damals geschehen war, aber George wußte, daß in unerforschlicher Weise diese beiden seltsamen Ereignisse miteinander verknüpft waren. Zuerst war es Jean gewesen, jetzt ihr Sohn. George wußte nicht, ob er froh oder furchtsam sein sollte, und in seinem Herzen sprach er ein stilles Gebet: „Ich danke Ihnen, Karellen, für alles, was die Ihren für Jeff getan haben. Aber ich wollte, ich wüßte, warum sie es taten.“

Er ging langsam an den Strand hinunter, und die großen weißen Möwen umkreisten ihn, ärgerlich, weil er kein Futter für sie mitgebracht hatte.

3

Karellens Ansuchen schlug, obwohl es seit der Gründung der Kolonie jederzeit zu erwarten gewesen war, wie eine Bombe ein. Es stellte, wie jeder sofort begriff, eine Krise für Neu-Athen dar, und niemand konnte entscheiden, ob sich Gutes oder Schlimmes daraus ergeben würde.

Bis jetzt war die Kolonie ohne jede Einmischung der Overlords ihren Weg gegangen; sie hatten sie völlig sich selbst überlassen, wie sie ja in der Tat die meisten menschlichen Tätigkeiten unbeachtet ließen, die nicht umstürzlerisch waren und ihre Verhaltensmaßregeln nicht verletzten. Ob man die Ziele der Kolonie umstürzlerisch nennen konnte, war ungewiß. Sie waren unpolitisch, gingen aber auf geistige und künstlerische Unabhängigkeit hinaus. Und wer wußte, was sich daraus entwickeln konnte? Die Overlords konnten vielleicht die Zukunft Neu-Athens klarer voraussehen als seine Gründer, und sie mochten nicht damit einverstanden sein. Natürlich, wenn Karellen einen Beobachter, Inspektor oder wie man ihn sonst nennen wollte, zu entsenden wünschte, so war dagegen nichts zu machen. Vor zwanzig Jahren hatten die Overlords angekündigt, daß sie ihre ganzen Überwachungsmittel ausgeschaltet hätten, so daß die Menschheit sich nicht länger beobachtet zu fühlen brauche. Jedoch die Tatsache, daß solche Mittel noch immer vorhanden waren, bedeutete, daß den Overlords nichts verborgen bleiben konnte, wenn sie es wirklich wissen wollten.

Manche auf der Insel begrüßten diesen Besuch als eine Gelegenheit, etliche der kleineren Rätsel der Overlord-Psychologie zu lösen, nämlich ihr Verhältnis zur Kunst. Betrachteten sie Kunst als eine kindische Verirrung der menschlichen Rasse? Besaßen sie selbst irgendeine Form von Kunst? War in diesem Falle der Zweck des Besuchs rein ästhetisch, oder hatte Karellen weniger harmlose Beweggründe?

All diese Angelegenheiten wurden endlos erörtert, während man die Vorbereitungen traf. Man wußte nichts über den Overlord, dessen Besuch erwartet wurde, aber man nahm an, daß er Kultur in unbegrenztem Umfang in sich aufnehmen könne. Wenigstens würde das Experiment versucht und das Verhalten des Opfers von einer Schar sehr kluger Köpfe beobachtet werden.

Der jetzige Ratspräsident war der Philosoph Charles Yan Sen, ein ironischer, aber im Grunde heiterer Mann, noch nicht sechzig Jahre alt und daher noch in der Blüte des Lebens. Plato hätte in ihm das Beispiel des Philosophen-Staatsmannes gesehen, obwohl Sen keineswegs mit Plato einverstanden war, den er im Verdacht hatte, Sokrates gröblich mißzuverstehen. Sen war einer der Inselbewohner, die entschlossen waren, den Besuch nach Möglichkeit auszunutzen, wenn auch nur, um den Overlords zu zeigen, daß die Menschen noch sehr viel Initiative besaßen und noch nicht, wie er es ausdrückte, völlig gezähmt waren.

Nichts in Neu-Athen wurde ohne eine Kommission getan, dieses letzte Merkmal der Demokratie. Tatsächlich hatte irgend jemand einmal die Kolonie als ein System von ineinandergreifenden Kommissionen bezeichnet. Aber das System funktionierte, dank der geduldigen Studien der Sozialpsychologen, die die wirklichen Gründer Neu-Athens gewesen waren. Da die Gemeinschaft nicht allzu groß war, konnte jeder an der Verwaltung Anteil nehmen und im besten Sinne des Wortes ein Bürger sein.

Es war fast unvermeidlich, daß George, als führendes Mitglied der Künstlerhierarchie, dem Empfangskomitee angehörte. Aber er traf seine Maßnahmen. Wenn die Overlords die Kolonie studieren wollten, wünschte George sie gleichfalls zu studieren. Jean war nicht sehr glücklich darüber. Seit jenem Abend bei Rupert Boyce empfand sie eine gewisse Feindseligkeit gegen die Overlords, obwohl sie keinen Grund dafür angeben konnte. Sie wünschte nur, so wenig wie möglich mit ihnen zu tun zu haben, und für sie war einer der Hauptanziehungspunkte der Insel die erhoffte Unabhängigkeit gewesen. Jetzt fürchtete sie, daß diese Unabhängigkeit bedroht sein könne.

Der Overlord traf ganz zwanglos in einem gewöhnlichen, von Menschen gebauten Flugzeug ein, zur Enttäuschung derjenigen, die etwas Sensationelles erwartet hatten. Es hätte Karellen selbst sein können, denn niemand war jemals imstande gewesen, mit einiger Zuverlässigkeit einen Overlord von einem anderen zu unterscheiden. Sie schienen alle mit Hilfe des gleichen Prägestocks hergestellt worden zu sein. Vielleicht waren sie es sogar — durch einen unbekannten biologischen Vorgang.

Nach dem ersten Tage hörten die Inselbewohner auf, dem Regierungswagen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, wenn er auf seinen Besichtigungsfahrten vorbeibrummte. Der richtige Name des Besuchers, Thanthalteresco, erwies sich für den allgemeinen Gebrauch als zu schwierig, und er wurde bald „der Inspektor“ genannt. Das war ein recht passender Name, denn seine Wißbegier und sein Verlangen nach statistischem Material waren unersättlich.

Charles Yan Sen war ganz erschöpft, als er lange nach Mitternacht den Inspektor zu dem Flugzeug zurückbegleitet hatte, das als sein Stützpunkt diente. Dort würde er zweifellos die Nacht durcharbeiten, während seine menschlichen Gastgeber sich der Schwäche des Schlafes hingaben.

Frau Sen begrüßte ihren Mann bei seiner Rückkehr voller Sorge. Sie hingen sehr aneinander, obwohl er sie scherzhaft Xanthippe nannte, wenn sie Gäste hatten. Sie hatte vor langer Zeit gedroht, die passende Rache zu nehmen, indem sie ihm einen Schierlingsbecher braute, aber glücklicherweise war dieses Kraut im neuen Athen weniger alltäglich als im alten.

„War es ein Erfolg?“ fragte sie, als ihr Mann sich zu einer verspäteten Mahlzeit niederließ.

„Ich glaube schon, aber man kann nie sagen, was in diesen merkwürdigen Köpfen vorgeht. Er war bestimmt interessiert und machte uns sogar Komplimente. Ich habe mich übrigens dafür entschuldigt, daß ich ihn nicht hierher eingeladen habe. Er sagte, das verstehe er durchaus, und er habe keine Lust, sich den Kopf an unserer Zimmerdecke zu stoßen.“

„Was hast du ihm heute gezeigt?“

„Die geschäftliche Seite der Kolonie, die er nicht so langweilig zu finden schien, wie ich es immer tue. Er stellte jede Frage, die du dir nur vorstellen kannst, über Produktion, über unser Budget, unsere Erzvorkommen, die Geburtenziffer, wie wir unsere Nahrung bekommen und so weiter. Glücklicherweise hatte ich Sekretär Harrison bei mir, und er hatte alle Jahresberichte seit Bestehen der Kolonie mitgebracht. Du hättest hören müssen, wie sie mit den Statistiken um sich warfen. Der Inspektor hat sich die Akten ausgeliehen, und ich möchte wetten, daß er, wenn wir ihn morgen sehen, uns alle Zahlen nennen kann. Ich empfinde diese Art geistiger Leistungen sehr bedrückend.“

Er gähnte und begann lustlos in seinem Essen zu stochern.

„Morgen dürfte es interessanter werden. Wir besichtigen die Schulen und die Akademie. Dann werde ich zur Abwechslung einige Fragen stellen. Ich möchte wissen, wie die Overlords ihre Kinder erziehen, angenommen natürlich, daß sie überhaupt Kinder haben.“

Diese Frage sollte Charles Sen nie beantwortet bekommen, aber in anderen Punkten war der Inspektor auffallend gesprächig. Er pflegte unangenehmen Fragen in einer Art auszuweichen, die erfreulich anzusehen war, doch dann wurde er wieder, ganz unerwartet, geradezu vertrauensselig.

Das erste wirklich intime Gespräch hatten sie, als sie von der Schule, die der Hauptstolz der Kolonie war, wegfuhren. „Es ist eine große Verantwortung“, hatte Dr. Sen bemerkt, „diese jungen Gemüter für die Zukunft zu schulen. Glücklicherweise sind menschliche Wesen widerstandsfähig. Nur eine sehr schlechte Erziehung kann dauernden Schaden anrichten. Selbst wenn unsere Ziele mißverstanden werden, dürften unsere kleinen Opfer wahrscheinlich darüber hinwegkommen. Und wie Sie gesehen haben, scheinen sie völlig glücklich zu sein.“ Er hielt einen Augenblick inne, dann blickte er verschmitzt auf die hochaufragende Gestalt seines Begleiters. Der Inspektor war völlig in ein die Sonnenstrahlen zurückwerfendes, silberiges Gewand gehüllt, so daß nicht ein Zentimeter seines Körpers dem starken Sonnenlicht ausgesetzt war. Dr. Sen bemerkte, daß die großen Augen hinter der großen Brille ihn gefühllos beobachteten oder vielleicht auch mit Gefühlen, die er nicht verstehen konnte.

„Unser Problem bei der Erziehung dieser Kinder muß, nehme ich an, sehr ähnlich sein wie das Ihre, wenn Sie mit der menschlichen Rasse zu tun haben. Meinen Sie nicht auch?“

„Gewissermaßen“, gab der Overlord ernst zu. „Aber man kann vielleicht einen noch besseren Vergleich in der Geschichte Ihrer Kolonialmächte finden. Das Römische und das Britische Reich sind uns aus diesem Grunde immer sehr interessant gewesen. Der Fall Indien ist besonders lehrreich. Der Hauptunterschied zwischen uns und den Briten in Indien war, daß sie keine wirklichen Beweggründe hatten, dorthin zu gehen — keine bewußten Ziele, das heißt, abgesehen von so alltäglichen und vorübergehenden wie Handel oder Feindschaft gegen andere europäische Mächte. Sie fanden sich als Besitzer eines Reiches, ehe sie wußten, was sie damit anfangen sollten, und waren nie wirklich glücklich, bis sie es wieder losgeworden waren.“

„Und möchten Sie“, fragte Dr. Sen, nicht imstande, dieser Gelegenheit zu widerstehen, „Ihr Reich loswerden, wenn die Zeit kommt?“

„Ohne jedes Zögern“, erwiderte der Inspektor.

Dr. Sen ging nicht weiter auf die Sache ein. Die Unumwundenheit der Antwort war nicht schmeichelhaft; außerdem waren sie jetzt bei der Akademie angekommen, wo die versammelten Pädagogen warteten, um ihre geistigen Fähigkeiten an einem wirklichen, lebenden Overlord zu schärfen.

„Wie unser hervorragender Kollege Ihnen gesagt haben wird“, bemerkte Professor Chance, Dekan an der Universität von NeuAthen, „ist es unsere Hauptaufgabe, den Geist unserer Menschen wachzuhalten und sie zu befähigen, alle ihre Möglichkeiten zu erkennen. Außerhalb dieser Insel“ — seine Handbewegung umschrieb die übrige Erdkugel — „hat die menschliche Rasse, fürchte ich, ihre Initiative verloren. Sie hat Frieden, sie hat Überfluß, aber sie hat keinen Horizont.“

„Aber hier, natürlich.?“ unterbrach ihn der Overlord sanft.

Professor Chance, der keinen Sinn für Humor hatte und sich dessen irgendwie bewußt war, sah seinen Besucher argwöhnisch an. „Hier“, fuhr er fort, „leiden wir nicht an der alten Anfechtung, daß Muße etwas Böses ist. Aber wir sind nicht der Meinung, daß es genügt, passive Empfänger von Unterhaltung zu sein.

Jeder einzelne auf dieser Insel hat seinen Ehrgeiz, der sich sehr einfach in Worte fassen läßt. Er besteht darin, irgend etwas, so klein es auch sein mag, besser zu machen als irgendein anderer. Natürlich ist das ein Ideal, das wir nicht alle erreichen. Aber in dieser modernen Welt ist die Hauptsache, ein Ideal zu haben. Es zu erreichen ist erheblich weniger wichtig.“

Der Inspektor schien nicht geneigt, hierzu etwas zu bemerken. Er hatte die Schutzbekleidung abgelegt, trug aber noch immer die dunkle Brille, selbst in dem gedämpften Licht des Versammlungsraums. Der Dekan fragte sich, ob sie notwendig oder bloße Tarnung wäre. Tatsächlich machte sie die ohnehin schwierige Aufgabe, die Gedanken des Overlords zu lesen, völlig unmöglich. Der Overlord schien jedoch keine Einwendungen gegen die etwas herausfordernden Erklärungen zu haben, die ihm vorgetragen worden waren, oder gegen die in ihnen enthaltene Kritik an der Politik seiner Rasse hinsichtlich der Erde.

Der Dekan war im Begriff, den Angriff fortzusetzen, als Professor Sperling, der Leiter der Wissenschaftlichen Abteilung, beschloß, sich als Dritter in den Kampf einzumischen. „Wie Sie zweifellos wissen, mein Herr, war eines der großen Probleme unserer Kultur die Spaltung zwischen Kunst und Wissenschaft. Ich möchte sehr gerne Ihre Ansicht über diese Frage hören. Sind Sie der Meinung, daß alle Künstler anomal sind? Daß ihre Arbeit, oder auf jeden Fall der Antrieb dazu, das Ergebnis eines tiefwurzelnden seelischen Unbefriedigtseins ist?“

Professor Chance räusperte sich nachdrücklich, aber der Inspektor kam ihm zuvor. „Man hat mir gesagt, daß alle Menschen in gewissem Maße Künstler sind, so daß jeder fähig ist, irgend etwas zu schaffen, wenn auch nur in einem primitiven Stadium. Zum Beispiel ist mir gestern in Ihren Schulen aufgefallen, wieviel Wert auf den eigenen Ausdruck im Zeichnen, Malen und Modellieren gelegt wird. Der Antrieb dazu schien ganz allgemein zu sein, selbst unter denen, die offenbar bestimmt sind, wissenschaftliche Spezialisten zu werden. Wenn also alle Künstler anomal und alle Menschen Künstler sind, so haben wir eine interessante Schlußfolgerung.“

Alle warteten darauf, daß er den Satz vollende, aber wenn es ihren Zwecken diente, konnten die Overlords untadelig taktvoll sein.

Der Inspektor überstand das Symphoniekonzert glänzend, was erheblich mehr war, als man von vielen der menschlichen Zuhörer sagen konnte. Das einzige Zugeständnis an den Publikumsgeschmack war Strawinskis „Psalmensymphonie“ gewesen; das übrige Programm war aggressiv modernistisch. Wie man auch sonst darüber denken mochte — die Darbietung war hervorragend, denn der Stolz der Kolonie, einige der besten Musiker der Welt zu haben, war nicht unbegründet. Es hatte unter den Komponisten allerhand Streit um die Ehre gegeben, in das Programm aufgenommen zu werden, obwohl einige Zyniker bezweifelten, daß es überhaupt eine Ehre wäre. Da nichts über das Gegenteil bekannt war, schien es nicht ausgeschlossen, daß die Overlords überhaupt kein Ohr für Musik hatten.

Es wurde jedoch beobachtet, daß Thanthalteresco nach dem Konzert die drei Komponisten aufsuchte, die anwesend gewesen waren, und sie alle zu ihrer „großen Genialität“, wie er es nannte, beglückwünschte. Das veranlaßte sie, sich mit geschmeichelten, aber sehr verdutzten Mienen zurückzuziehen.

Erst am dritten Tage hatte George Greggson Gelegenheit, dem Inspektor zu begegnen. Das Theater hatte eine Art „gemischte Platte“ angerichtet statt eines einzelnen Gerichts: zwei Einakter, einen Sketch von einem weltberühmten Darsteller und ein Ballett. Auch diese Darbietungen wurden hervorragend durchgeführt, und die Prophezeiung eines Kritikers: „Jetzt werden wir wenigstens entdecken, ob die Overlords gähnen können“, erwies sich als falsch. Tatsächlich lachte der Inspektor mehrmals und an den richtigen Stellen.

Und doch konnte man es nicht bestimmt wissen. Vielleicht spielte er selbst eine glänzende Rolle vor und folgte der Aufführung nur mit der Logik, während seine eigenen seltsamen Empfindungen völlig unberührt blieben, so wie ein Anthropologe an einem primitiven Ritus teilnimmt. Die Tatsache, daß er die angemessenen Töne hervorbrachte und die erwarteten Antworten gab, bewies in Wirklichkeit überhaupt nichts.

Obwohl George entschlossen gewesen war, mit dem Inspektor zu sprechen, mißlang ihm das völlig. Nach der Aufführung wechselten sie einige Begrüßungsworte, dann wurde der Besucher weggedrängt. Es war völlig unmöglich, ihn von seiner Umgebung abzusondern, und George ging in größter Enttäuschung nach Hause. Er wußte keineswegs genau, was er sagen wollte, selbst wenn er die Gelegenheit gehabt hätte, aber irgendwie war er überzeugt, daß er das Gespräch auf Jeff hätte bringen können. Und jetzt war die Gelegenheit vorbeigegangen.

Seine schlechte Laune dauerte zwei Tage. Das Flugzeug des Inspektors war inmitten vieler Versicherungen gegenseitiger Freundschaft abgeflogen. Niemand hatte daran gedacht, Jeff zu fragen, und der Junge mußte lange überlegt haben, ehe er sich an George wandte.

„Paps“, sagte er kurz vor dem Schlafengehen, „du kennst den Overlord, der hier zu Besuch gewesen ist?“

„Ja“, erwiderte George grimmig.

„Er war in unserer Schule, und ich hörte ihn mit einigen der Lehrer sprechen. Ich habe nicht richtig verstanden, was er sagte, aber ich glaube, ich habe seine Stimme erkannt. Das ist der, der mir gesagt hat, daß ich weglaufen solle, als die große Flutwelle kam.“

„Weißt du das ganz bestimmt?“

Jeff zögerte einen Augenblick. „Nicht ganz. Aber wenn er es nicht war, so war es ein anderer Overlord. Ich überlegte, ob ich ihm danken solle. Aber jetzt ist er weg, nicht wahr?“

„Ja“, sagte George, „das fürchte ich. Aber vielleicht haben wir noch einmal eine andere Gelegenheit. Sei jetzt ein guter Junge, geh schlafen, und zerbrich dir den Kopf nicht mehr darüber.“

Als Jeff glücklich zu Bett gebracht und auch Jennifer versorgt war, kam Jean zurück, setzte sich auf den Teppich neben Georges Stuhl und lehnte sich gegen seine Beine. Das war eine Gewohnheit, die er ärgerlich sentimental fand, aber es lohnte nicht, deswegen Streit anzufangen. Er machte nur seine Knie so knochig wie möglich.

„Was denkst du jetzt darüber?“ fragte Jean mit müder, bedrückter Stimme. „Glaubst du, daß es wirklich geschehen ist?“

„Es ist geschehen“, erwiderte George, „aber vielleicht ist es töricht, daß wir uns darüber Gedanken machen. Schließlich würden die meisten Eltern dankbar sein, und ich bin natürlich dankbar. Die Erklärung kann ganz einfach sein. Wir wissen, daß die Overlords sich für die Kolonie interessieren; deshalb haben sie sie zweifellos mit ihren Instrumenten beobachtet, ungeachtet des Versprechens, das sie gegeben haben. Vielleicht hat gerade einer an ihrem Fernsehgerät gedreht und hat die Flut kommen sehen. Es wäre ganz natürlich, jemanden zu warnen, der in Gefahr ist.“

„Aber er kannte Jeffs Namen, vergiß das nicht. Nein, wir werden beobachtet. Es ist irgend etwas Sonderbares an uns, etwas, was ihre Aufmerksamkeit erregt. Das habe ich seit Ruperts Gesellschaft gespürt. Es ist merkwürdig, wie das unser Leben verändert hat.“

George blickte mit Sympathie, aber mit keinem anderen Gefühl auf sie nieder. Es war sonderbar, wie sehr man sich in so kurzer Zeit verändern konnte. Er hatte sie gern. Sie hatte seine Kinder geboren und war ein Teil seines Lebens. Aber wieviel war von der Liebe, die eine nicht deutlich in Erinnerung gebliebene Person namens George Greggson einstmals für einen entschwindenden Traum namens Jean Morrel empfunden hatte, übriggeblieben? Seine Liebe war jetzt zwischen Jeff und Jennifer einerseits und Carolle andererseits geteilt. Er glaubte nicht, daß Jean von Carolle wußte, und er hatte die Absicht, mit ihr darüber zu sprechen, ehe jemand anders es tat. Aber irgendwie hatte er sich nie dazu entschließen können.

„Also gut, Jeff wird beobachtet, beschützt sollte man eher sagen. Meinst du nicht, das sollte uns stolz machen? Vielleicht haben die Overlords für ihn eine große Zukunft geplant. Ich frage mich, was das wohl sein mag.“

Er war sich bewußt, daß er so redete, um Jean zu beruhigen. Er war selbst nicht sehr besorgt, sondern nur verwundert und erstaunt, und ganz plötzlich kam ihm ein neuer Gedanke, der ihm eigentlich schon früher hätte einfallen müssen. Seine Augen wanderten automatisch zum Kinderzimmer. „Ich möchte wissen, ob es nur Jeff betrifft“, sagte er.

Zu gegebener Zeit legte der Inspektor seinen Bericht vor. Die Inselbewohner hätten viel darum gegeben, ihn zu sehen. Alle Statistiken und Berichte wanderten in die unersättlichen Gedächtnisse der großen Rechenmaschinen, die einige der unsichtbaren Kräfte hinter Karellen, aber längst nicht alle, darstellten. Noch bevor diese unpersönlichen elektrischen Gehirne jedoch zu ihren Schlußfolgerungen gekommen waren, hatte der Inspektor seine eigenen Ratschläge gegeben. In den Gedanken und der Sprache der menschlichen Rasse ausgedrückt, hätten sie etwa folgendermaßen gelautet:

„Wir brauchen keine Schritte hinsichtlich der Kolonie zu unternehmen. Es ist ein interessantes Experiment, kann aber in keiner Weise die Zukunft berühren. Ihre künstlerischen Bemühungen gehen uns nichts an, und es gibt keinen Beweis dafür, daß irgendwelche wissenschaftlichen Forschungen gefährliche Bahnen einschlagen.

Wie geplant, konnte ich die Schulberichte über den Untertan Zero sehen, ohne Aufsehen zu erregen. Die darauf bezüglichen Statistiken sind hier angefügt, und man wird sehen, daß bisher noch keine Anzeichen einer ungewöhnlichen Entwicklung zu bemerken sind. Aber wie wir wissen, kündigt sich ein Durchbruch selten vor her an.

Ich bin auch dem Vater des Untertans begegnet und hatte den Eindruck, daß er mit mir zu sprechen wünschte. Glücklicherweise vermochte ich das zu vermeiden. Ohne Zweifel argwöhnt er irgend etwas, obwohl er natürlich niemals die Wahrheit erraten oder den Verlauf irgendwie beeinflussen kann.

Ich bekomme immer mehr Mitleid mit diesen Menschen.“

George Greggson hätte dem Urteil des Inspektors zugestimmt, daß Jeff nichts Ungewöhnliches an sich hatte. Da war nur dieser verblüffende Vorfall, so erstaunlich wie ein vereinzelter Donnerschlag an einem langen, ruhigen Tag. Und danach — nichts mehr.

Jeff besaß die ganze Energie und Wißbegierde, die alle andern Siebenjährigen haben. Er war intelligent, wenn er es sein wollte, war aber nicht in Gefahr, ein Genie zu werden. Bisweilen dachte Jean etwas müde, daß er vollkommen der klassischen Definition eines kleinen Jungen entspräche: Lärm, von Schmutz umgeben, wobei es gar nicht so einfach war, den Schmutz zu entdecken, der sich erst beträchtliche Zeit ansammeln mußte, bis er auf Jeffs sonnverbrannter Haut sichtbar wurde.

Abwechselnd konnte er zärtlich oder mürrisch sein, zurückhaltend oder überströmend. Er bevorzugte weder Mutter noch Vater, und die Ankunft seiner kleinen Schwester hatte keine Anzeichen von Eifersucht in ihm hervorgerufen. Seine Gesundheit war einwandfrei; er war in seinem Leben nicht einen einzigen Tag krank gewesen. Aber in diesen Zeiten und in solchem Klima war das auch nichts Ungewöhnliches.

Jeff war keiner von den Jungen, die sich in Gesellschaft ihres Vaters langweilen und ihn möglichst bald verlassen, um zu Gleichaltrigen zu gehen. Offenbar hatte er die gleichen künstlerischen Anlagen wie George, und sobald er laufen konnte, war er regelmäßig hinter den Kulissen des Theaters der Kolonie zu finden. Beinahe sah das Theater ihn als heimlichen Talisman an, und er war schon sehr geschickt darin, Berühmtheiten von Bühne und Film, die zu Besuch kamen, Sträuße zu überreichen.

Ja, Jeff war ein durchaus normaler Junge. Damit beruhigte sich George, wenn sie zusammen über das ziemlich begrenzte Gebiet der Insel wanderten. Sie sprachen miteinander, wie Söhne und Väter es seit Anbeginn der Zeit getan haben, außer daß es in die sem Zeitalter soviel mehr zu besprechen gab. Obwohl Jeff die Insel nie verließ, konnte er durch die allgegenwärtigen Augen der Bildschirme von der umgebenden Welt alles sehen, was er sehen wollte. Er empfand, wie alle Angehörigen der Kolonie, eine leise Verachtung für die übrige Menschheit. Die Kolonie war die Auslese, die Vorhut des Fortschritts. Sie würde die Menschheit zu Höhen führen, die die Overlords erreicht hatten, und vielleicht darüber hinaus. Sicherlich nicht morgen, aber eines Tages.

Sie ahnten nicht, daß dieser Tag viel zu bald kommen würde.

4

Die Träume begannen sechs Wochen später. In der Dunkelheit der subtropischen Nacht schwamm George Greggson langsam aufwärts, dem Bewußtsein entgegen. Er wußte nicht, was ihn aufgeweckt hatte, und einen Augenblick lang lag er in verwirrter Betäubung da. Dann begriff er, daß er allein war. Jean war aufgestanden und lautlos ins Kinderzimmer gegangen.

Sie sprach leise mit Jeff, zu leise, als daß er hätte hören können, was sie sagte.

George schwang sich aus dem Bett, ging ihr nach, und überlegte, was Jean gestört haben mochte.

Das einzige Licht im Kinderzimmer kam von den mit Leuchtfarbe gemalten Mustern an den Wänden. Bei ihrem matten Schimmer konnte George Jean neben Jeffs Bett sitzen sehen. Sie drehte sich um, als er hereinkam, und flüsterte: „Stör Püppi nicht!“

„Was ist los?“

„Ich wußte, daß Jeff mich brauchte. Dadurch bin ich aufgewacht.“

Die nüchterne Einfachheit dieser Erklärung rief in George ein Gefühl banger Befürchtung hervor. ›Ich wußte, daß Jeff mich brauchte.‹ Wie konnte sie das wissen? fragte er sich, sagte aber nur: „Hat er Alpträume gehabt?“

„Ich weiß es nicht genau“, sagte Jean. „Er scheint jetzt wieder ganz in Ordnung zu sein. Aber er war verängstigt, als ich hereinkam.“

„Ich war gar nicht ängstlich, Mammi“, sagte eine kleine, em pörte Stimme. „Aber es war so ein merkwürdiger Platz.“

„Was war es?“ fragte George. „Erzähle mir alles darüber.“

„Da waren Berge“, sagte Jeff verträumt. „Sie waren sehr hoch, aber es lag kein Schnee auf ihnen, so wie auf den Bergen, die ich sonst gesehen habe. Einige von ihnen brannten.“

„Du meinst — Vulkane?“

„Nicht eigentlich. Sie brannten ganz und gar, mit merkwürdigen, blauen Flammen. Und während ich sie betrachtete, ging die Sonne auf.“

„Weiter. Warum hörst du auf?“

Jeff sah seinen Vater verwirrt an. „Das ist das andere, was ich nicht verstehe, Paps. Sie ging so schnell auf, und sie war viel zu groß. Und. es war nicht die richtige Farbe. Es war so ein schönes Blau.“

Ein langes Schweigen, bei dem das Herz zu frösteln begann, folgte. Dann sagte George ruhig: „Ist das alles?“

„Ja, ich begann mich einsam zu fühlen, und dann kam Mammi und weckte mich.“

George zauste das wirre Haar seines Sohnes mit einer Hand, während er mit der andern den Schlafanzug fester um sich zog. Er fühlte sich plötzlich sehr kalt und sehr klein. Aber in seiner Stimme war nichts davon zu spüren, als er jetzt zu Jeff sagte: „Das ist nur ein dummer Traum. Du hast zum Abendbrot zuviel gegessen. Vergiß das alles, schlafe weiter und sei ein guter Junge!“

„Das will ich, Paps“, erwiderte Jeff. Er hielt einen Augenblick inne, dann fügte er nachdenklich hinzu: „Ich glaube, ich versuche, wieder dorthin zu gehen.“

„Eine blaue Sonne?“ sagte Karellen wenige Stunden später. „Das muß die Identifizierung sehr leicht gemacht haben.“

„Ja“, erwiderte Raschaverak. „Es ist zweifellos Alphanidon Zwei. Die Schwefelberge bestätigen das. Und es ist interessant, die Verzerrung der Zeitmaße zu beobachten. Der Planet dreht sich ziemlich langsam, er muß also in wenigen Minuten viele Stunden beobachtet haben.“

„Das ist alles, was Sie entdecken können?“

„Ja, ohne das Kind unmittelbar zu fragen.“

„Das dürfen wir nicht tun. Die Ereignisse müssen ohne unsere Einmischung ihren natürlichen Gang gehen. Wenn seine Eltern an uns herantreten, können wir ihn vielleicht fragen.“

„Sie werden wohl nie zu uns kommen, und wenn sie es tun, kann es zu spät sein.“

„Ich fürchte, dagegen können wir nichts machen. Wir sollten nie vergessen, daß unsere Wißbegier in diesen Dingen ohne Bedeutung ist. Sie ist nicht wichtiger als das Glück der Menschheit.“ Er streckte die Hand aus, um die Verbindung zu unterbrechen. „Sie setzen natürlich die Überwachung fort und berichten mir alle Ergebnisse. Aber mischen Sie sich in keiner Weise ein.“

Als Jeff erwachte, schien er ganz wie immer. Dafür wenigstens, dachte George, sollten sie dankbar sein. Aber in seinem Herzen wuchs die Furcht.

Für Jeff war es nur ein Spiel. Es hatte noch nicht begonnen, ihn zu ängstigen. Ein Traum war nur ein Traum, so sonderbar er sein mochte. Er war nicht mehr einsam in den Welten, die der Schlaf ihm erschloß. Nur in jener ersten Nacht hatte sein Geist über unbekannte Schluchten hinweg, die ihn von ihr getrennt hatten, nach Jean gerufen.

Jetzt wanderte er allein und furchtlos in das Universum hinein, das sich ihm auftat.

Am Morgen pflegten sie ihn zu fragen, und dann erzählte er das, woran er sich erinnern konnte. Manchmal stammelte er und fand die Worte nicht, wenn er Landschaften zu beschreiben versuchte, die offenbar nicht nur jenseits all seiner Erfahrungen lagen, sondern weit über die Einbildungskraft des Menschen hinausgingen. Dann halfen sie ihm mit neuen Wörtern und zeigten ihm Bilder und Farben, um sein Gedächtnis aufzufrischen, und sie versuchten aus seinen Antworten Formen aufzubauen. Oft konnten sie mit den Ergebnissen nichts anfangen, obwohl in Jeffs eigenem Geist seine Traumwelten völlig deutlich und scharf zu sein schienen. Er war einfach unfähig, sie seinen Eltern mitzuteilen. Einige jedoch waren klar genug.

Raum. Kein Planet, keine Landschaft ringsum, keine Welt unter den Füßen. Nur die Sterne in der samtenen Nacht und vor ihnen schwebend eine große rote Sonne, die wie ein Herz schlug. Groß und schimmernd in einem Augenblick, schrumpfte sie im nächsten langsam zusammen und wurde gleichzeitig heller, als würde ihren inneren Feuern neuer Brennstoff zugeführt. Sie wanderte das Spektrum hinauf und verweilte am Rande des Gelb, und dann ging der Kreislauf rückwärts, die Sonne dehnte sich aus, kühlte sich ab und wurde wieder zu einer zackigen, flammend roten Wolke.

„Das typische variable Pulsieren“, sagte Raschaverak eifrig, „in einer gewaltigen Zeitbeschleunigung gesehen. Ich kann es nicht genau bestimmen, aber der nächste Stern, auf den diese Beschreibung paßt, ist Rhamsandron 9. Oder es kann Pharanidon 12 sein.“

„Welcher es auch sein mag“, erwiderte Karellen, „das Kind entfernt sich weiter von daheim.“

„Viel weiter“, sagte Raschaverak.

Es hätte die Erde sein können. Eine weiße Sonne hing an einem blauen, mit Wolken gefleckten Himmel, die vor einem Sturm dahinrasten. Ein Berg fiel sanft zu einem Ozean ab, der von dem tosenden Orkan zu Gischt zersprüht wurde. Und doch bewegte sich nichts. Das Bild war erstarrt, wie im Aufzucken eines Blitzes gesehen. Und fern am Horizont war etwas, was nicht irdisch war — eine Reihe von nebligen Säulen, die leise schwankten, als sie aus dem Meer emporstiegen und sich zwischen den Wolken verloren. Sie standen in völlig gleichen Abständen am Rande des Planeten und waren zu riesig, um künstlich, aber zu regelmäßig, um natürlich zu sein.

„Sideneus Vier und die Pfeiler der Dämmerung“, sagte Raschaverak, und in seiner Stimme lag Ehrfurcht. „Er hat den Mittelpunkt des Universums erreicht.“

„Und er hat seine Reise erst begonnen“, erwiderte Karellen.

Der Planet war völlig flach. Seine ungeheure Schwerkraft hatte längst die Berge seiner feurigen Jugend, Berge, deren mächtigste Gipfel nie mehr als wenige Meter hoch gewesen waren, zu einer gleichförmigen Ebene zerdrückt. Dennoch war hier Leben, denn die Oberfläche war mit einer Myriade geometrischer Linien bedeckt, die umherkrochen, sich bewegten und ihre Farbe änderten. Es war eine zweidimensionale Welt, von Wesen bewohnt, die nicht mehr als Bruchteile eines Zentimeters dick sein konnten.

Und an seinem Himmel stand eine Sonne, wie sie kein Opium esser sich in seinen wildesten Träumen hätte vorstellen können. Zu heiß, um weiß zu sein, war sie ein sengender Geist an den Grenzen des Ultravioletts und verbrannte ihren Planeten mit Strahlen, die für alle irdischen Lebensformen sofort tödlich gewesen wären. Über Millionen von Kilometern rings umher dehnten sich große Gas- und Dunstschleier aus, die in zahllosen Farben schillerten, wenn die Stürme des Ultravioletts durch sie hindurchrasten. Es war eine Sonne, gegen die die bleiche Sonne der Erde so schwach gewesen wäre wie ein Glühwürmchen um Mittag.

„Hexanerax Zwei und nirgends sonst im bekannten Universum“, sagte Raschaverak. „Nur eine Handvoll unserer Schiffe ist je dorthin gekommen, und niemals hat eines eine Landung versucht, denn wer hätte denken können, daß auf solchen Planeten Leben zu existieren vermöchte?“

„Offenbar“, sagte Karellen, „seid ihr Wissenschaftler nicht so gründlich gewesen, wie ihr geglaubt hattet. Wenn diese — Linien — intelligent sind, ist es interessant zu erfahren, wie sie sich verständigen. Ich möchte wissen, ob ihnen die Dritte Dimension bekannt ist.“

Es war eine Welt, die nie die Bedeutung von Nacht und Tag, von Jahren oder Jahreszeiten kennen konnte. Sechs farbige Sonnen teilten ihren Himmel, so daß nur ein Wechsel der Beleuchtung eintrat, niemals Dunkelheit. Durch den Zusammenprall und Kampf widerstreitender Gravitäten hindurch wanderte der Planet die Schleifen und Windungen seiner unfaßlich verwickelten Bahn entlang, ohne jemals auf den gleichen Pfad zurückzukehren. Jeder Augenblick war einzig! Die Stellung zueinander, die die sechs Sonnen jetzt am Himmel einnahmen, würde sich diesseits der Ewigkeit nicht wiederholen.

Und selbst hier war Leben. Obwohl der Planet von den zentralen Feuern in einem Zeitalter versengt werden und an den äußeren Grenzen in einem anderen Zeitalter erstarren mochte, gab es hier doch Intelligenz. Die großen, vielfacettigen Kristalle waren zu schwierigen geometrischen Mustern geformt und standen regungslos in den Zeitaltern der Kälte, während sie langsam an den mineralischen Adern entlangwuchsen, wenn die Welt wieder warm war. Es kam nicht darauf an, ob sie tausend Jahre brauchten, um einen einzigen Gedanken zu denken. Das Universum war noch jung, und die Zeit dehnte sich endlos vor ihnen.

„Ich habe alle unsere Aufnahmen durchsucht“, sagte Raschaverak. „Wir wissen nichts von so einer Welt oder einer solchen Zusammenfassung von Sonnen. Wenn sie innerhalb unseres Universums existierte, hätten die Astronomen sie entdeckt, selbst wenn sie außerhalb der Reichweite unserer Schiffe läge.“

„Also hat er die Milchstraße verlassen.“

„Ja. Sicherlich kann es jetzt nicht mehr lange dauern.“

„Wer weiß? Er träumt nur. Wenn er erwacht, ist er noch der gleiche. Es ist nur die erste Phase. Wir werden bald genug erfahren, wann die Veränderung beginnt.“

„Wir sind uns schon früher begegnet, Herr Greggson“, sagte der Overlord ernst. „Mein Name ist Raschaverak. Ohne Zweifel erinnern Sie sich.“

„Ja“, sagte George. „Jene Party bei Rupert Boyce werde ich kaum vergessen. Und ich nahm an, daß wir uns wiederbegegnen würden.“

„Sagen Sie, warum haben Sie um diese Unterredung gebeten?“

„Ich denke, das wissen Sie schon.“

„Vielleicht. Aber es wird uns beiden helfen, wenn Sie es mir in Ihren eigenen Worten sagen. Es wird Sie vielleicht überraschen, aber auch ich versuche zu verstehen, und in manchem ist meine Unwissenheit ebenso groß wie die Ihre.“

George sah den Overlord verwundert an. Dieser Gedanke war ihm nie gekommen. Er hatte unterbewußt angenommen, daß die Overlords alles Wissen und alle Macht besäßen, daß sie die Dinge, die Jeff geschahen, verstünden und wahrscheinlich dafür verantwortlich wären.

„Ich nehme an“, fuhr George fort, „daß Sie die Berichte kennen, die ich dem Psychologen der Insel übergeben habe, so daß Sie über die Träume Bescheid wissen.“

„Ja, darüber wissen wir Bescheid.“

„Ich habe nie angenommen, daß sie einfach Phantasien eines Kindes wären. Sie waren so unglaublich, daß sie — ich weiß, das klingt lächerlich — auf irgendeiner Wirklichkeit beruhen mußten.“

Er sah Raschaverak besorgt an und wußte nicht, ob er auf eine Bestätigung oder eine Verneinung hoffte. Der Overlord sagte nichts und sah ihn nur mit seinen großen, ruhigen Augen an. Sie saßen sich fast Auge in Auge gegenüber, denn der Raum, der offensichtlich für solche Unterredungen entworfen worden war, hatte zwei verschiedene Fußböden, und der mächtige Stuhl des Overlords stand einen guten Meter tiefer als Georges Stuhl. Es war als freundliche Geste gedacht, beruhigend für die Männer, die solche Zusammenkünfte erbaten und denen selten leicht ums Herz war.

„Wir waren anfangs besorgt, aber nicht wirklich beunruhigt. Jeff erschien, wenn er aufwachte, völlig normal, und seine Träume störten ihn offenbar nicht. Und dann eines Nachts.“ Er zögerte und sah den Overlord beschwörend an. „Ich habe nie an das Übernatürliche geglaubt. Ich bin kein Wissenschaftler, aber ich nehme an, daß es eine vernünftige Erklärung für alles gibt.“

„Die gibt es“, sagte Raschaverak. „Ich weiß, was Sie gesehen haben. Ich habe es beobachtet.“

„Das habe ich immer vermutet. Aber Karellen hatte versprochen, daß Sie uns nie mit Ihren Instrumenten belauern würden. Warum haben Sie dieses Versprechen gebrochen?“

„Ich habe es nie gebrochen. Der Oberkontrolleur sagte, die menschliche Rasse würde nicht länger unter Aufsicht stehen. Dieses Versprechen haben wir gehalten. Ich habe Ihre Kinder beobachtet, nicht Sie.“

Es dauerte mehrere Sekunden, bis George den Sinn von Raschaveraks Worten begriff. Dann wich langsam die Farbe aus seinem Gesicht. „Sie meinen.“, ächzte er. Seine Stimme versagte, und er mußte neu beginnen. „Ja, was in Gottes Namen sind meine Kinder?“

„Das“, sagte Raschaverak feierlich, „versuchen wir zu entdecken.“

Jennifer Anne Greggson, bisher Püppi genannt, lag mit fest geschlossenen Augen auf dem Rücken. Sie hatte sie nicht geöffnet; sie würde sie nie wieder öffnen, denn das Sehen war jetzt ebenso überflüssig für sie wie für die mit vielen Sinnen ausgestatteten Geschöpfe der lichtlosen Ozeantiefen. Sie nahm die Welt, die sie umgab, wahr, ja sie nahm viel mehr wahr als das.

Durch irgendeine unberechenbare Laune der Entwicklung war ein Reflex aus ihrer kurzen Säuglingszeit geblieben. Die Klapper, die sie einst entzückt hatte, ertönte jetzt unaufhörlich aus* ihrem Bettchen in einem verwickelten, immer wieder sich ändernden Rhythmus. Diese seltsame Synkopierung hatte Jean aus dem Schlaf gerissen und sie ins Kinderzimmer stürzen lassen. Aber nicht dieser Ton allein hatte sie veranlaßt, nach George zu schreien.

Schuld daran war der Anblick dieser gewöhnlichen bunten Klapper, die einen halben Meter entfernt in luftiger Höhe unentwegt klapperte, während Jennifer Anne, die drallen Finger fest zusammengepreßt, mit einem Lächeln dalag.

Sie hatte später begonnen, aber sie machte schnelle Fortschritte. Bald würde sie ihren Bruder überholen, denn sie brauchte weniger zu verlernen.

„Sie haben klug daran getan“, sagte Raschaverak, „ihr Spielzeug nicht zu berühren. Ich glaube nicht, daß Sie es hätten bewegen können. Aber wenn es Ihnen geglückt wäre, hätte es sie vielleicht geärgert, und ich weiß nicht, was dann geschehen wäre.“

„Meinen Sie“, fragte George dumpf, „daß Sie nichts tun können?“

„Ich will Sie nicht täuschen. Wir können studieren und beobachten, wie wir es bereits tun. Aber wir können uns nicht einmischen, weil wir es nicht verstehen können.“

„Was sollen wir denn machen? Und warum ist uns dies geschehen?“

„Es mußte irgend jemandem geschehen. Sie haben nichts Außergewöhnliches an sich, nicht mehr als das erste Neutron, das die Kettenreaktion einer Atombombe beginnt. Es ist einfach zufällig das erste. Jedes andere Neutron hätte dazu auch dienen können, genau wie es statt Jeffrey irgendein Knabe in der Welt hätte sein können. Wir nennen es den Völligen Durchbruch. Wir brauchen jetzt nichts geheimzuhalten, und darüber bin ich sehr froh. Wir haben, seit wir zur Erde gekommen sind, darauf gewartet, daß gerade dies geschehen würde. Man konnte nicht sagen, wann und wo es beginnt, bis wir uns rein durch Zufall auf der Party bei Rupert Boyce begegneten. Da wußte ich fast mit Sicherheit, daß die Kinder Ihrer Frau die ersten sein würden.“

„Aber wir waren damals noch nicht verheiratet. Wir hatten nicht einmal — “

„Ja, ich weiß. Aber Fräulein Morrels Geist war der Kanal, der, wenn auch nur für einen Augenblick, ein Wissen durchließ, das zu jener Zeit kein Lebender besitzen konnte. Es konnte nur von einem anderen Geist kommen, der eng mit dem ihren verbunden war. Die Tatsache, daß es ein noch ungeborener Geist war, hatte keine Bedeutung, denn Zeit ist sehr viel sonderbarer, als Sie annehmen.“

„Ich beginne zu begreifen. Jeff weiß diese Dinge. Er kann andere Welten sehen und kann sagen, woher Sie kommen. Und irgendwie hat Jean seine Gedanken aufgefangen, noch ehe er geboren war.“

„Es hängt noch viel mehr damit zusammen, aber ich glaube nicht, daß Sie der Wahrheit jemals viel näher kommen werden. In der ganzen Geschichte hat es immer wieder Menschen mit unerklärlichen Kräften gegeben, die Raum und Zeit zu durchdringen schienen. Sie haben diese Kräfte nie verstanden: fast ohne Ausnahme waren ihre Erklärungsversuche Unsinn. Ich dürfte es wissen — ich habe genug darüber gelesen.

Aber es gibt einen Vergleichsfall, der — nun sagen wir: suggestiv und hilfreich ist. Er kommt wieder und wieder in Ihrer Literatur vor. Stellen Sie sich vor, daß der Geist jedes Menschen eine vom Ozean umgebene Insel ist. Jeder erscheint isoliert, in Wirklichkeit aber sind alle verbunden durch das Fundament, von dem sie stammen. Wenn der Ozean verschwände, wäre es das Ende der Inseln. Sie würden alle Teile eines Kontinents sein, aber ihre Besonderheit wäre vergangen.

Gedankenübertragung, wie Sie es genannt haben, ist etwas Ähnliches. Unter angemessenen Umständen können die Gedankenwelten einiger Menschen miteinander verschmelzen und sich ihren Inhalt gegenseitig mitteilen; sie nehmen die Erinnerung an dieses Erlebnis mit, wenn sie wieder isoliert sind. In der höchsten Form ist diese Kraft nicht den gewöhnlichen Begrenzungen durch Zeit und Raum unterworfen. Daher konnte Jean aus dem Wissen ihres ungeborenen Sohnes schöpfen.“

Ein langes Schweigen folgte, während George mit diesen verblüffenden Gedanken rang. Die Idee begann Formen anzunehmen. Es war eine unglaubliche Idee, aber sie hatte ihre eigene, angestammte Logik. Und sie erklärte, wenn dieses Wort für et was so Unfaßliches anzuwenden war, alles, was seit jenem Abend in Rupert Boyces Hause geschehen war. Sie erklärte auch, wie er jetzt erkannte, Jeans eigene Neugier nach dem Übernormalen.

„Wodurch wurde dies in Gang gesetzt?“ fragte George. „Und wohin wird es führen?“

„Das können wir nicht beantworten. Aber es gibt viele Rassen im Universum, und einige von ihnen entdeckten diese Kräfte, lange bevor Ihre Art — oder die meine — auf dem Schauplatz erschien. Sie haben darauf gewartet, daß Sie sich ihnen anschließen, und jetzt ist diese Zeit gekommen.“

„Und wann kommt Ihr Auftritt?“

„Wahrscheinlich haben Sie, gleich den meisten Menschen, uns immer als Ihre Herren und Meister angesehen. Das stimmt nicht. Wir sind nie mehr als Wächter gewesen, die eine Pflicht erfüllt haben, die uns von — oben auferlegt worden war. Diese Pflicht ist schwer zu erklären. Vielleicht können Sie sich uns am besten als Hebammen vorstellen, die einer schwierigen Geburt beiwohnen. Wir helfen dabei, etwas Neues und Wundervolles zur Welt zu bringen.“

Raschaverak zögerte; einen Augenblick schien es, als fehlten ihm die Worte. „Ja, wir sind die Hebammen. Aber wir selbst sind unfruchtbar.“

In diesem Augenblick wußte George, daß er Zeuge einer Tragödie war, die seine eigene übertraf. Es war unglaublich, und doch irgendwie richtig. Trotz all ihrer Kräfte und ihrer Macht waren die Overlords in irgendeiner engen Sackgasse der Entwicklung gefangen. Hier war eine große, edle Rasse, in fast allen Dingen der Menschheit überlegen, und doch hatte sie keine Zukunft und war sich dessen bewußt. Angesichts dieser Tragödie erschienen George seine eigenen Probleme auf einmal alltäglich.

„Jetzt weiß ich“, sagte er, „warum Sie Jeffrey beobachtet haben. Er war das Versuchskaninchen bei diesem Experiment.“

„Sehr richtig, obwohl das Experiment außerhalb unserer Kontrolle war. Wir haben es nicht begonnen, wir haben nur versucht, es zu beobachten. Wir haben uns nicht eingemischt, außer wenn wir es mußten.“

Ja, dachte George, die Sturmflut. Man durfte nie ein wertvolles Exemplar zerstören lassen. Dann schämte er sich seiner selbst. Eine solche Bitterkeit war unwürdig.

„Ich habe nur noch eine weitere Frage“, sagte er. „Was sollen wir mit unseren Kindern machen?“

„Freuen Sie sich an ihnen, solange Sie können“, erwiderte Raschaverak sanft, „sie werden Ihnen nicht lange gehören.“

Das war ein Rat, den man allen Eltern zu jeder Zeit hätte geben können, aber jetzt barg er eine Drohung und ein Grauen wie niemals zuvor.

5

Es kam die Zeit, da die Welt von Jeffreys Träumen nicht mehr deutlich von seinem Alltagsleben getrennt war. Er besuchte die Schule nicht mehr, und auch für Jean und George waren die Lebensgewohnheiten völlig verändert, wie sie es bald in der ganzen Welt sein würden.

Sie gingen all ihren Freunden aus dem Wege, als wäre es ihnen schon jetzt bewußt, daß bald niemand mehr Sympathie für sie haben würde. In der Stille der Nacht, wenn wenige Menschen unterwegs waren, machten sie zuweilen lange Spaziergänge. Sie waren sich jetzt näher als je seit den ersten Tagen ihrer Ehe, wiedervereinigt angesichts der noch unbekannten Tragödie, die sie bald überwältigen würde.

Zuerst hatten sie sich schuldbewußt gefühlt, weil sie die schlafenden Kinder im Hause allein ließen, aber jetzt sahen sie ein, daß Jeff und Jennifer sich selbst helfen konnten, weit besser als ihre Eltern es vermochten. Und natürlich würden die Overlords sie auch bewachen. Dieser Gedanke war beruhigend. George und Jean fühlten, daß sie mit ihrem Problem nicht allein waren, sondern daß weise und teilnahmsvolle Augen ihre Wache teilten.

Jennifer schlief: Kein anderes Wort konnte den Zustand beschreiben, in dem sie sich befand. Dem Aussehen nach noch ein Säugling, strahlte sie eine so beängstigende Kraft aus, daß Jean es nicht mehr ertragen konnte, das Kinderzimmer zu betreten.

Sie brauchte es auch nicht zu tun. Das Wesen, das Jennifer Anne Greggson gewesen war, hatte sich noch nicht voll entwickelt, aber selbst in seinem Verpuppungszustand beherrschte es seine Umgebung so weit, daß es selbst für seine Bedürfnisse sorgen konnte. Jean hatte nur einmal versucht, Jennifer zu füttern, ohne Erfolg. Das Kind zog es vor, zu selbstgewählten Zeiten und auf seine eigene Art Nahrung aufzunehmen.

Denn die Nahrung verschwand in ständigem, gleichmäßigem Strom aus dem Kühlschrank, und doch verließ Jennifer Anne ihr Bett nie.

Das Klappern hatte aufgehört, und das verschmähte Spielzeug lag auf dem Fußboden des Kinderzimmers, wo niemand es anzurühren wagte, weil Jennifer Anne es vielleicht wieder benutzen wollte. Zuweilen ließ Jennifer die Möbel sich bewegen, so daß sie merkwürdige Muster bildeten, und George kam es vor, als ob die selbstleuchtenden Muster an der Wand jetzt heller schimmerten als früher.

Jennifer machte keine Unruhe. Sie bedurfte der Hilfe und Liebe ihrer Eltern nicht mehr. Es konnte nicht mehr sehr lange dauern, und in dieser Zwischenzeit klammerten sie sich verzweifelt an Jeff.

Er veränderte sich ebenfalls, aber er kannte sie noch. Der Knabe, dessen Wachstum sie seit den formlosen Nebeln seines Werdens beobachtet hatten, verlor seine Persönlichkeit, löste sich Stunde für Stunde vor ihren Augen auf. Aber manchmal sprach er noch mit ihnen wie früher und redete von seinen Spielsachen und Freunden, als wäre ihm nicht bewußt, was vor ihm lag. Aber oft sah er sie auch nicht, und kein Anzeichen verriet, ob er ihre Anwesenheit bemerkte. Er schlief nicht mehr, sie jedoch mußten schlafen, obwohl sie das überwältigende Verlangen hatten, von diesen letzten verbleibenden Stunden möglichst wenige zu verschwenden.

Anders als Jennifer schien er keine übernatürliche Macht über körperliche Gegenstände zu besitzen, weil er, da er schon fast erwachsen war, ihrer weniger bedurfte. Seine Eigenart lag ganz und gar in seinem geistigen Leben, von dem die Träume jetzt nur einen kleinen Teil bildeten. Er stand stundenlang ganz still, mit festgeschlossenen Augen, als lausche er auf Töne, die niemand sonst hören konnte. In seinen Geist strömte von irgendwoher ein Wissen ein, das bald das halbgeformte Wesen, das Jeffrey Angus Greggson gewesen war, überwältigen und zerstören würde.

Die Hündin Fey saß neben ihm, blickte mit traurigen, verwunderten Augen zu ihm auf und schien zu fragen, wohin ihr Herr ge gangen wäre und wann er zu ihr zurückkehren würde.

Jeff und Jennifer waren die ersten auf der Welt, aber bald waren sie nicht die einzigen. Wie eine Epidemie sich schnell von Land zu Land verbreitet, befiel die Verwandlung die ganze menschliche Rasse. Sie betraf praktisch keinen, der über zehn Jahre alt war, aber von denen, die jünger waren als zehn Jahre, entkam keiner.

Es war das Ende der Zivilisation, das Ende alles dessen, wofür Menschen seit Beginn der Zeit gekämpft hatten. Im Verlauf von wenigen Tagen hatte die Menschheit ihre Zukunft verloren, denn das Herz jeder Rasse wird zerstört, und ihr Wille, weiterzuleben, wird gebrochen, wenn ihr die Kinder genommen werden.

Es gab keine Panik, wie es noch vor einem Jahrhundert der Fall gewesen wäre. Die Welt war erstarrt, die großen Städte still und schweigsam geworden. Nur die lebenswichtigen Industrien arbeiteten weiter. Es war, als habe der Planet Trauer angelegt und klage um alles, was jetzt nie mehr sein konnte.

Und dann sprach Karellen, wie er es vor jetzt vergessenen Zeiten getan hatte, zum letztenmal zu der Menschheit.

6

„Mein Werk hier ist fast beendet“, sagte Karellens Stimme aus Millionen Radios. „Endlich, nach hundert Jahren, kann ich euch sagen, worin es bestand.

Viele Dinge mußten wir vor euch verbergen, wie wir uns selbst während unseres halben Aufenthalts auf der Erde verborgen haben. Einigen von euch — das weiß ich — erschien diese Geheimhaltung unnötig. Ihr seid an unsere Anwesenheit gewöhnt; ihr könnt euch nicht mehr vorstellen, wie eure Vorfahren sich bei unserm Anblick verhalten hätten. Aber wenigstens sollt ihr den Zweck der Geheimhaltung verstehen und erfahren, daß wir einen Grund für unser Tun hatten.

Das höchste Geheimnis, das wir euch vorenthielten, war der Zweck unseres Kommens, dieser Zweck, über den ihr so endlos gegrübelt habt. Wir konnten es euch nicht früher sagen, denn es war nicht unser eigenes Geheimnis.

Vor hundert Jahren kamen wir zu eurer Welt und retteten euch vor der Selbstzerstörung. Ich glaube nicht, daß irgend jemand diese Tatsache leugnen wird, aber worin diese Selbstzerstörung bestand, habt ihr nie erraten.

Da wir die Atomwaffen und alle anderen tödlichen Spielsachen verboten, die ihr in euren Arsenalen aufhäuftet, war die Gefahr der körperlichen Vernichtung beseitigt. Ihr hieltet das für die einzige Gefahr. Wir wollten euch in diesem Glauben erhalten, aber es war nie die Wahrheit. Die größte Gefahr, die euch drohte, war ganz anderer Art, und sie betraf nicht eure Rasse allein.

Viele Welten sind an den Scheideweg der Atomkraft gekommen, haben die Katastrophe vermieden, haben friedliche und glückliche Zivilisationen aufgebaut und sind dann durch Kräfte völlig zerstört worden, von denen sie nichts wußten. Im zwanzigsten Jahrhundert begannt ihr euch zuerst ernsthaft mit diesen Kräften zu befassen. Deshalb mußten wir handeln.

Das ganze Jahrhundert hindurch hat sich die menschliche Rasse dem Abgrund immer mehr genähert, ohne sein Vorhandensein auch nur zu ahnen. Über diesen Abgrund führt nur eine Brücke. Wenige Rassen haben sie ohne Hilfe je gefunden. Einige sind umgekehrt, solange es noch Zeit war, und haben sowohl die Gefahr als auch die Vollendung vermieden. Ihre Welten sind elyseische Inseln müheloser Zufriedenheit geworden, die in der Geschichte des Universums keine Rolle mehr spielen. Das wäre nie euer Schicksal oder euer Glück gewesen. Dazu war eure Rasse zu lebenskräftig. Sie wäre ins Verderben gestürzt und hätte andere mitgerissen, denn ihr hättet die Brücke nie gefunden.

Ich fürchte, daß fast alles, was ich euch jetzt zu sagen habe, in solchen Gleichnissen ausgedrückt werden muß. Ihr habt für viele der Dinge, die ich euch jetzt sagen möchte, keine Worte, keine Begriffe, und unser eigenes Wissen von ihnen ist auch bedauerlich unvollkommen.

Um zu verstehen, müßt ihr in die Vergangenheit zurückgehen und vieles von dem, was euren Vorfahren vertraut gewesen wäre, was ihr aber vergessen habt, und was wir euch absichtlich vergessen ließen, hervorholen. Denn unser ganzer Aufenthalt hier beruhte auf einer ungeheuren Täuschung, einer Geheimhaltung von Wahrheiten, denen ihr noch nicht ins Gesicht sehen konntet.

In den Jahrhunderten vor unserm Kommen entdeckten eure Gelehrten die Geheimnisse der physikalischen Welt und führten euch von der Dampfkraft zur Atomkraft. Ihr hattet den Aberglauben hinter euch gelassen; die Wissenschaft war die einzige wirkliche Religion der Menschheit. Sie war die Gabe der westlichen Minderheit an die übrige Menschheit, und sie hatte alle anderen Glaubensbekenntnisse zerstört. Die bei unserm Kommen noch vorhanden waren, lagen schon im Sterben. Man hatte das Gefühl, daß die Wissenschaft alles erklären könne: Es gab keine Kräfte, die nicht in ihrem Bereich lagen, keine Ereignisse, für die sie keine endgültige Erklärung geben konnte. Der Ursprung des Universums mochte für immer unbekannt sein, jedoch alles, was seitdem geschehen war, gehorchte den Gesetzen der Physik.

Aber eure Mystiker hatten, obwohl sie in ihren eigenen Wahnvorstellungen befangen waren, einen Teil der Wahrheit gesehen. Es gibt Kräfte des Geistes und Kräfte jenseits des Geistes, die eure Wissenschaft nie in ihren Bau hätte einfügen können, ohne ihn gänzlich zu zerstören. Immer wieder im Lauf der Zeiten hat es zahllose Berichte über seltsame Erscheinungen gegeben, über Poltergeister, Gedankenübertragung, Vorahnung, denen ihr Namen gegeben, die ihr aber nie erklärt habt. Zunächst ließ die Wissenschaft sie unbeachtet, ja, sie leugnete sogar ihr Vorhandensein, trotz allen Zeugnissen aus fünftausend Jahren. Aber sie sind vorhanden, und jede Theorie des Universums muß sie, wenn sie vollständig sein will, einbeziehen.

In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts begannen einige eurer Wissenschaftler diese Dinge zu erforschen. Sie wußten es nicht, aber sie spielten mit dem Deckel der Büchse der Pandora. Die Kräfte, die sie hätten entfesseln können, überstiegen alle Gefahren, die das Atom hätte bringen können. Denn die Physiker hätten nur die Erde zerstören können, die Paraphysiker hätten die Katastrophe auf die Sterne ausgedehnt.

Das durfte nicht zugelassen werden. Ich kann die ganze Beschaffenheit der Gefahr, die ihr darstelltet, nicht erklären. Für uns wäre es keine Bedrohung gewesen, daher verstehen wir es nicht. Sagen wir, ihr hättet ein telepathisches Krebsgeschwür werden können, eine bösartige Geistesveranlagung, die in ihrer unvermeidlichen Auflösung andere und größere Geister vergiftet hätte.

Und deshalb kamen wir zur Erde — wir wurden geschickt. Wir unterbrachen eure Entwicklung auf allen kulturellen Gebieten, be sonders aber verhinderten wir jede ernsthafte Arbeit auf dem Gebiet der übernatürlichen Erscheinungen. Ich bin mir der Tatsache bewußt, daß wir durch den Gegensatz zwischen unsern Zivilisationen auch alle Formen schöpferischer Leistungen unterbunden haben. Aber das war eine Nebenwirkung und ist nicht von Bedeutung.

Jetzt muß ich euch etwas sagen, was ihr vielleicht sehr überraschend, ja, fast unglaublich finden werdet. Alle diese Möglichkeiten, diese ruhenden Kräfte, besitzen wir nicht und verstehen wir auch nicht. Unser Intellekt ist weit mächtiger als der eure, aber in eurem Geist ist irgend etwas, was uns immer gefehlt hat. Seit wir zur Erde gekommen sind, haben wir euch studiert. Wir haben sehr viel gelernt, und werden noch mehr lernen, aber ich bezweifle, daß wir je die ganze Wahrheit entdecken werden.

Unsere Rassen haben vieles gemeinsam — deshalb wurden wir für diese Aufgabe ausgewählt. Aber in anderer Hinsicht stellen wir die Enden von zwei verschiedenen Entwicklungen dar. Unsere Geister haben das Ende ihrer Entwicklung erreicht, ebenso die euren in ihrer jetzigen Form. Aber ihr könnt den Sprung zur nächsten Stufe machen, und darin liegt der Unterschied zwischen uns. Unsere Möglichkeiten sind erschöpft, die euren aber sind noch ungenutzt. Sie sind in einer Art, die wir nicht verstehen, mit den von mir erwähnten Kräften verknüpft, den Kräften, die jetzt auf eurer Welt erwachen.

Wir haben die Uhr angehalten, wir ließen euch Zeit, während diese Kräfte sich entwickelten, bis sie in die für sie vorbereiteten Kanäle strömen konnten. Was wir getan haben, um euren Planeten zu verbessern, um euren Lebensstandard zu heben, um Gerechtigkeit und Frieden zu bringen, dies alles hätten wir auf jeden Fall getan, nachdem wir einmal gezwungen worden waren, uns in eure Angelegenheiten einzumischen. Aber all diese riesigen Umwandlungen lenkten euch von der Wahrheit ab und dienten daher unserm Zweck.

Wir sind eure Wächter, nichts weiter. Oft mögt ihr auch gefragt haben, welche Stellung meine Rasse in der Hierarchie des Universums einnimmt. Wie wir über euch stehen, so steht irgend etwas über uns und benutzt uns für seine eigenen Zwecke. Wir haben nie entdeckt, was es ist, obwohl wir seit langen Zeiten seine Werkzeuge sind und ihm nicht ungehorsam zu sein wagen. Wieder und im mer wieder haben wir unsere Befehle bekommen, haben uns zu irgendeiner Welt in der frühen Blüte der Zivilisation begeben und haben sie den Weg geführt, den wir nie verfolgen können, den Weg, den ihr jetzt gehen werdet.

Wieder und immer wieder haben wir den Prozeß studiert, den wir hervorrufen sollen, und haben immer gehofft, unseren eigenen Begrenzungen zu entrinnen. Aber wir haben nur die verschwommenen Umrisse der Wahrheit gesehen. Ihr habt uns die Overlords genannt, ohne die Ironie dieses Titels zu ahnen. Wir wollen sagen, daß über uns der Ubergeist steht, der uns benutzt, wie der Töpfer seine Drehscheibe benutzt.

Und eure Rasse ist der Ton, der auf dieser Drehscheibe geformt wird.

Wir glauben — das ist nur eine Theorie — daß der Übergeist versucht zu wachsen, seine Kräfte und seine Kenntnis des Universums zu erweitern. Jetzt muß er die Summe vieler Rassen sein, und vor langer Zeit hat er die Tyrannei der Materie hinter sich gelassen. Als er erfuhr, daß ihr fast bereit wart, schickte er uns hierher, um sein Geheiß auszuführen und euch für die Umwandlung vorzubereiten, die jetzt bevorsteht.

Alle früheren Veränderungen, die eure Rasse erlebte, haben zahllose Zeitalter erfordert. Dieses aber ist eine Umwandlung des Geistes, nicht des Körpers. Gemäß dem Stand der Entwicklung wird sie explosiv und unverzüglich sein. Ihr müßt euch mit der Tatsache vertraut machen, daß die eure die letze Generation des Homo sapiens ist.

Über die Art dieser Veränderung können wir euch sehr wenig sagen. Wir wissen nicht, wie sie erzeugt wird, welchen Hebel der Übergeist anwendet, wenn er die Zeit für reif erachtet. Alles, was wir entdeckt haben, ist, daß es mit einem Einzelwesen beginnt, immer einem Kind, und sich dann explosiv ausbreitet, gleich der Bildung von Kristallen um den ersten Kern einer gesättigten Lösung. Erwachsene werden nicht betroffen, denn ihre Geister haben schon eine unveränderliche Form angenommen.

In wenigen Jahren wird alles vorbei sein, und die menschliche Rasse wird sich geteilt haben. Es gibt keinen Weg zurück und keine Zukunft für die Welt, die ihr kennt. Alle Hoffnungen und Träume eurer Rasse sind jetzt beendet. Ihr habt eure Nachfolger geboren, und es ist eure Tragik, daß ihr sie nie verstehen, daß ihr nie auch nur imstande sein werdet, euch mit ihrem Geist in Verbindung zu setzen. Tatsächlich werden sie keinen Geist haben, wie ihr ihn kennt. Sie werden eine einzige Einheit sein, wie ihr selbst die Summe eurer Myriaden Zellen seid. Ihr werdet sie nicht für Menschen halten, und damit werdet ihr recht haben.

Ich habe euch diese Dinge gesagt, weil, ihr wissen sollt, was euch bevorsteht. In wenigen Stunden wird die Krise kommen. Meine Aufgabe und meine Pflicht liegt darin, diejenigen zu schützen, zu deren Bewachung ich hergekommen bin. Trotz ihrer erwachenden Kräfte könnten sie von den Massen um sie her vernichtet werden, ja sogar von ihren Eltern, wenn diese die Wahrheit begriffen. Ich muß sie wegführen und absondern, zu ihrem Schutz und zu eurem eigenen. Morgen werden meine Schiffe die Umsiedlung beginnen. Ich werde euch nicht tadeln, wenn ihr dazwischenzutreten versucht, aber es wird nutzlos sein. Größere Kräfte als die meinen halten jetzt Wache; ich bin nur eines ihrer Werkzeuge.

Und was soll ich mit euch tun, den Überlebenden, wenn euer Zweck erfüllt ist? Es wäre das einfachste und vielleicht barmherzigste, euch zu vernichten, wie ihr ein tödlich verwundetes Tier töten würdet, das ihr liebt. Aber das kann ich nicht tun. Ihr könnt eure Zukunft selber wählen, in den Jahren, die euch bleiben. Meine Hoffnung ist, daß die Menschheit in Frieden in ihre Ruhe eingehen wird, in dem Bewußtsein, nicht vergeblich gelebt zu haben.

Denn was ihr zur Welt gebracht habt, mag äußerst fern sein, es mag keine eurer Wünsche und Hoffnungen teilen, es mag eure größten Leistungen als kindische Spielereien ansehen, aber es ist doch etwas Wundervolles, und ihr habt es geschaffen!

Wenn unsere Rasse vergessen ist, wird ein Teil der euren noch bestehen. Verurteilt uns daher nicht, weil wir das getan haben, was wir tun mußten. Und vergeßt das eine nicht: Wir werden euch immer beneiden.“

Jean hatte vorher geweint, aber jetzt weinte sie nicht mehr. Die Insel lag golden in dem herz- und gefühllosen Sonnenlicht, als das Schiff über den Zwillingsgipfeln von Sparta langsam in Sicht kam. Auf jener felsigen Insel war vor nicht langer Zeit ihr Sohn dem Tode durch ein Wunder entronnen, das sie jetzt nur zu gut verstand. Bisweilen fragte sie sich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn die Overlords sich nicht eingemischt, sondern ihn sei nem Schicksal überlassen hätten. Der Tod war etwas, dem sie ins Auge sehen konnte, wie sie es schon früher getan hatte: Er gehörte zur natürlichen Ordnung der Dinge. Aber dies war seltsamer als der Tod — und endgültiger. Bis zu diesem Tage waren Menschen gestorben, aber die Rasse hatte weitergelebt.

Die Kinder gaben keinen Laut von sich und bewegten sich nicht. Sie standen in verstreuten Gruppen am Strande und schienen nicht mehr Interesse füreinander zu haben als für das Heim, das sie für immer verließen. Viele trugen Säuglinge, die zu klein waren, um zu gehen, oder die die Kräfte, die das Gehen unnötig machten, nicht zu betätigen wünschten. Denn wenn sie leblose Gegenstände bewegen konnten, dachte George, könnten sie doch auch ihre eigenen Körper bewegen. Warum mußten überhaupt die Schiffe der Overlords sie alle abholen?

Es war bedeutungslos. Sie gingen von dannen, und auf diese Weise sollte es eben geschehen. Und jetzt begriff George plötzlich, was sein Gedächtnis gemartert hatte. Irgendwo hatte er vor langer Zeit einen hundert Jahre alten Zeitungsbericht über so eine Auswanderung gesehen. Es mußte zu Beginn des Ersten oder Zweiten Weltkrieges gewesen sein. Da waren lange Reihen von Eisenbahnzügen gewesen, gedrängt voller Kinder, die langsam aus den bedrohten Städten hinausfuhren und Eltern zurückließen, die so viele von ihnen nie wiedersehen würden. Einige weinten, einige waren verwirrt und klammerten sich krampfhaft an ihre kleinen Habseligkeiten, die meisten aber schienen voller Eifer auf ein großes Abenteuer zu hoffen.

Und doch war der Vergleich falsch. Die Geschichte wiederholte sich nie. Die jetzt von hier aufbrachen, waren keine Kinder mehr, was immer sie auch sein mochten. Und diesmal würde es keine Heimkehr geben.

Das Schiff war am Ufer gelandet und tief in den weichen Sand eingesunken. In völliger Gleichmäßigkeit glitten die großen, gewölbten Seitenflächen nach oben, und die Laufstege streckten sich wie metallene Zungen zum Strand aus. Die verstreuten, unaussprechlich einsamen Gestalten begannen sich zu vereinigen und zu einer Menge zu sammeln, die sich genauso bewegte, wie eine Menschenmenge es tun würde.

Einsam? Warum hatte er das gedacht? fragte sich George. Denn das war das einzige, was sie nie wieder sein konnten. Nur Einzelwesen können einsam sein, nur menschliche Wesen. Wenn die Schranken endlich gefallen waren, würde die Einsamkeit verschwinden, so wie die Persönlichkeit verging. Die zahllosen Regentropfen hatten sich im Meer vereinigt.

Er fühlte Jeans Hand in plötzlicher Erregung die seine mit festerem Druck umfassen. „Sieh doch!“ flüsterte sie. „Ich kann Jeff sehen. Neben der zweiten Tür.“

Es war eine weite Entfernung, und man konnte es nicht genau erkennen. Vor Georges Augen lag ein Nebel, der das Sehen erschwerte. Aber es war Jeff, er war fest davon überzeugt: Jetzt konnte George seinen Sohn erkennen, der einen Fuß schon auf den metallenen Laufsteg gesetzt hatte.

Jeff drehte sich um und blickte zurück. Sein Gesicht war nur ein weißer Fleck; bei dieser Entfernung konnte man nicht sagen, ob irgendeine Spur von Erkennen darin lag, ein Erinnern an das, was er zurückließ. George würde auch nie erfahren, ob Jeff sich nur zufällig nach ihnen umgedreht hatte, oder ob er in diesen letzten Augenblicken, da er noch ihr Sohn war, wußte, daß sie ihn beobachteten, während er in das Land hinüberging, das sie nie betreten konnten.

Die großen Türen begannen sich zu schließen. Und in diesem Augenblick hob Fey die Schnauze und stieß ein leises, verzweifeltes Klagen aus. Sie wandte ihre schönen feuchten Augen George zu, und er wußte, daß sie ihren Herrn verloren hatte. George hatte jetzt keinen Rivalen mehr.

Für die Zurückgebliebenen gab es viele Wege, aber nur eine Bestimmung. Manche sagten: „Die Welt ist noch schön. Eines Tages müssen wir sie verlassen, aber warum sollten wir unsern Aufbruch beschleunigen?“

Andere aber, die mehr Gewicht auf die Zukunft als auf die Gegenwart gelegt und alles das verloren hatten, was ihnen das Leben lebenswert machte, hatten kein Verlangen, noch länger zu verweilen. Sie schieden aus dem Leben, allein oder mit Freunden, je nach Veranlagung.

So war es mit den Neu-Athenern. Die Insel war in Flammen geboren, in Flammen sollte sie sterben. Alle, die wegzugehen wünschten, taten es, die meisten aber blieben, um zwischen den zerbrochenen Trümmern ihrer Träume das Ende zu erwarten.

Niemand konnte wissen, wann es Zeit sein würde. Dennoch erwachte Jean in der Stille der Nacht und starrte einen Augenblick zu dem gespenstischen Schimmer an der Decke hinauf. Dann griff sie nach Georges Hand. Er hatte einen gesunden Schlaf. Doch diesmal erwachte er sofort. Sie sprachen nicht, denn die Worte, die nötig gewesen wären, gab es nicht.

Jean war nicht mehr ängstlich oder auch nur traurig. Sie war jetzt zu den stillen Wassern gekommen und über die Gefühlserregungen hinaus. Aber eines war doch zu tun, und sie wußte, daß kaum Zeit dafür blieb.

Noch immer wortlos folgte George ihr durch das stille Haus. Sie gingen über den Mondstreifen, der durch das Dach des Studios eingedrungen war, und bewegten sich so leise wie die Schatten, die sie warfen, bis sie in das verlassene Kinderzimmer kamen.

Nichts war verändert worden. Die selbstleuchtenden Muster, die* George so sorgfältig gemalt hatte, schimmerten noch immer an den Wänden. Und die Klapper, die einstmals Jennifer Anne gehört hatte, lag noch immer da, wo sie sie hingeworfen hatte, als ihr Geist sich der unerforschlichen Ferne zuwandte, in der er jetzt weilte.

Sie hat ihre Spielsachen zurückgelassen, dachte George, aber die unsern gehen mit uns dahin. Er dachte an die königlichen Kinder der Pharaonen, deren Puppen und Sächelchen vor fünftausend Jahren mit ihnen begraben worden waren. So würde es wieder sein. Kein anderer, sagte er sich, wird jemals unsere Schätze lieben; wir werden sie mit uns nehmen und uns nicht von ihnen trennen.

Langsam drehte sich Jean zu ihm um und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er nahm sie in die Arme, und die Liebe, die er früher einmal empfunden hatte, kehrte zu ihm zurück, matt, aber deutlich, wie ein Echo von fernen Berghängen. Es war jetzt zu spät, alles zu sagen, was ihr gebührte, und die Reue, die er empfand, galt weniger dem Bewußtsein, sie getäuscht zu haben, als seiner früheren Gleichgültigkeit.

Da sagte Jean leise: „Lebwohl, mein Liebling“, und schloß ihre Arme fester um ihn. George hatte keine Zeit zu antworten, denn selbst in diesem letzten Augenblick fühlte er ein kurzes Erstaunen bei dem Gedanken, wie sie wissen konnte, daß der entscheidende Moment gekommen war.

Tief unten in den Felsen begannen die Uraniumschichten auf der Suche nach der Vereinigung, die sie nie erreichen konnten, ineinander zu stürzen. Und die Insel hob sich empor, der Morgendämmerung entgegen.

7

Das Schiff der Overlords glitt vor seinem leuchtenden Meteorschweif langsam durch das Herz des Sternbildes Carina. Es hatte seine wahnsinnige Verlangsamung im Bereich der äußeren Planeten begonnen, aber selbst als es am Mars vorbeikam, hatte es noch einen erheblichen Teil der Lichtgeschwindigkeit besessen. Langsam nahmen die ungeheuren Felder, die die Sonne umgaben, seine Triebkraft auf, während eine Million Kilometer hinter ihm seine Strahlungsenergien die Himmel entflammten.

Jan Rodricks kehrte, sechs Monate älter geworden, in die Welt heim, die er vor achtzig Jahren verlassen hatte.

Diesmal war er kein blinder, in einer geheimen Kammer versteckter Passagier mehr. Er stand hinter den drei Piloten — warum hatten die so viele? fragte er sich — und beobachtete die Linien, die auf dem großen Bildschirm, der den Kontrollturm beherrschte, kamen und gingen. Die Farben und Formen, die auf dem Schirm erschienen, waren für ihn bedeutungslos: Er nahm an, daß sie Informationen gaben, die in einem von Menschen entworfenen Raumschiff an Meßgeräten abzulesen gewesen wären. Aber zuweilen zeigte der Bildschirm die umliegenden Sternenfelder, und bald, so hoffte er, würde die Erde zu sehen sein.

Er freute sich darauf, heimzukommen, obwohl er so viel Mühe aufgewendet hatte, um fortzukommen. In diesen wenigen Monaten war er erwachsen geworden. Er hatte so viel gesehen, war so weit gereist und hatte nun Verlangen nach seiner eigenen vertrauten Welt. Er begriff jetzt, warum die Overlords die Erde von den Sternen ferngehalten hatten. Die Menschheit hatte noch sehr weit zu gehen, bis sie irgendeine Rolle in der von ihm geschauten Zivilisation spielen könnte.

Es konnte sein, obwohl er sich weigerte, das zu glauben, daß die Menschheit nie mehr als eine untergeordnete Art sein würde, die mit den Overlords als Wärtern in einem abgelegenen zoologischen Garten erhalten wurde. Vielleicht hatte Vindarten das gemeint, als er Jan kurz vor der Abreise eine vieldeutige Warnung mit auf den Weg gab. „Vieles kann“, hatte der Overlord gesagt, „in der Zwischenzeit auf Ihrem Planeten geschehen sein. Sie werden vielleicht Ihre Welt nicht erkennen, wenn Sie sie wiedersehen.“

Vielleicht nicht, dachte Jan. Achtzig Jahre waren eine lange Zeit, und obwohl er jung und anpassungsfähig war, würde es ihm vielleicht schwerfallen, all die Veränderungen zu verstehen, die vorgegangen waren. Aber von einem war er fest überzeugt: daß die Menschen begierig darauf sein würden, seine Geschichte zu hören und zu erfahren, was er von der Zivilisation der Overlords gesehen hatte.

Sie hatten ihn gut behandelt, wie er es auch gehofft hatte. Von der Hinreise hatte er nichts bemerkt. Als die Spritze ihre Wirkung verloren hatte und er zum Bewußtsein gekommen war, befand sich das Schiff bereits im Sonnensystem der Overlords. Er war aus seinem phantastischen Versteck herausgeklettert und merkte zu seiner Erleichterung, daß der Sauerstoffapparat nicht erforderlich war. Die Luft war dick und schwer, aber er konnte ohne Schwierigkeiten atmen. Er hatte sich in dem riesigen, rotbeleuchteten Laderaum des Schiffes befunden, zwischen zahllosen Kisten und all den Geräten, die man in einem Raum- oder Ozeanschiff erwarten konnte. Er hatte fast eine Stunde gebraucht, um zum Kontrollraum hinzufinden und sich der Mannschaft vorzustellen.

Es hatte ihn verwirrt, daß sie überhaupt nicht überrascht waren; er wußte, daß die Overlords selten ihre Gefühle zeigten, aber eine gewisse Verwunderung hatte er doch erwartet. Statt dessen setzten sie einfach ihre Arbeit fort, beobachteten den großen Bildschirm und drehten an den zahllosen Knöpfen ihrer Schaltbretter. Da wußte er, daß sie landen würden, denn von Zeit zu Zeit glitt das Bild des Planeten, jedesmal größer, über den Schirm. Und doch war nicht die geringste Bewegung oder Bremsverzögerung zu spüren, nur eine völlig gleichbleibende Schwerkraft, die er auf etwa ein Fünftel der Erdschwerkraft schätzte. Die ungeheuren Kräfte, die das Schiff antrieben, mußten mit hervorragender Genauigkeit ausgeglichen sein.

Und dann hatten sich die drei Overlords gleichzeitig von ihren Sitzen erhoben, und er wußte, daß die Reise vorüber war. Sie sprachen nicht mit ihrem Passagier oder miteinander, und als einer ihm winkte, ihm zu folgen, fiel Jan etwas ein, woran er früher hätte denken müssen. Vielleicht war hier, an diesem Ende der ungeheuer langen Nachschublinie Karellens, niemand, der ein Wort Englisch sprach.

Sie beobachteten ihn ernst, während die großen Türen sich vor seinen begierigen Augen öffneten. Dies war der größte Augenblick seines Lebens; jetzt würde er der erste Mensch sein, der jemals eine von einer anderen Sonne erleuchtete Welt erblickte. Das rötliche Licht von NGS 549.672 strömte in das Schiff, und vor ihm lag der Planet der Overlords.

Was er erwartet hatte? Das wußte er nicht genau. Riesige Gebäude, Städte, deren Türme sich in den Wolken verloren, unvorstellbare Maschinen — das alles hätte ihn nicht überrascht. Aber was er sah, war eine fast einförmige Ebene, die sich bis zu einem unnatürlich nahen Horizont erstreckte und nur von drei weiteren Overlordschiffen, wenige Kilometer entfernt, unterbrochen war.

Einen Augenblick empfand Jan eine aufsteigende Enttäuschung. Dann zuckte er die Schultern und sagte sich, daß man wohl in einer so entlegenen und unbewohnten Region wie dieser hier einen Luftschiffhafen erwarten konnte.

Es war kalt, aber nicht unangenehm kalt. Das Licht der großen roten Sonne tief am Horizont war für menschliche Augen ausreichend, aber Jan fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er sich nach grünem und blauem Licht sehnte. Dann sah er jene ungeheure, oblatendünne Sichel aufsteigen, bis sie wie ein großer Bogen neben der Sonne stand. Er sah sie lange an, ehe er begriff, daß seine Reise noch nicht ganz beendet war. Das dort war die Welt der Overlords! Und dies hier mußte ihr Satellit sein, lediglich der Stützpunkt, von dem aus ihre Schiffe verkehrten.

Sie hatten ihn in ein Schiff gebracht, das nicht größer war als ein irdisches Verkehrsflugzeug. Er kam sich wie ein Zwerg vor, als er auf einen der großen Sitze kletterte, um den Versuch zu machen, durch die Beobachtungsfenster etwas von dem sich nähernden Planeten zu sehen.

Die Fahrt ging so schnell, daß er nur sehr wenige Einzelheiten auf der sich unter ihm ausdehnenden Himmelskugel sehen konnte. Selbst so nahe ihrer Heimat schienen die Overlords eine Abart des Sonnenantriebs zu benutzen, denn in wenigen Minuten durchdrangen sie eine tiefe, mit Wolken gefleckte Atmosphäre. Als die Türen des Flugzeugs sich öffneten, trat man in eine gewölbte Kammer mit einem Dach, das sich schnell hinter ihnen geschlossen haben mußte, denn über ihnen war keine Spur einer Öffnung zu sehen.

Erst nach zwei Tagen verließ Jan dieses Gebäude. Er war eine unerwartete Fracht gewesen, und sie hatten keinen Aufenthaltsraum für ihn. Um die Sache noch schlimmer zu machen, konnte keiner der Overlords Englisch. Eine Verständigung war praktisch unmöglich, und Jan sah voller Bitterkeit ein, daß es nicht so leicht war, wie es oft in Romanen geschildert wurde, sich mit einer fremden Rasse in Verbindung zu setzen. Die Zeichensprache erwies sich als besonders nutzlos, denn sie hing zu sehr von bestimmten Bewegungen, Mienen und Haltungen ab, die den Overlords und der Menschheit nicht gemeinsam waren.

Es wäre mehr als enttäuschend, dachte Jan, wenn die einzigen Overlords, die seine Sprache beherrschten, alle auf der Erde wären. Er konnte nur warten und das Beste hoffen. Sicherlich würde irgendein Gelehrter, ein Sachverständiger für fremde Rassen, sich seiner annehmen. Oder war er so unwichtig, daß man niemanden bemühen konnte?

Es gab keine Möglichkeit, aus dem Gebäude herauszukommen, da die großen Türen keine sichtbaren Klinken hatten. Wenn ein Overlord sich ihnen näherte, öffneten sie sich einfach. Jan hatte es auf die gleiche Weise versucht, hatte hoch in der Luft Gegenstände bewegt, um irgendeinen auslösenden Lichtstrahl zu unterbrechen, hatte alles probiert, was er sich ausdenken konnte, aber ohne jeden Erfolg. Er sagte sich, daß ein Mann aus der Steinzeit sich in einem modernen Hause und in einer modernen Stadt genauso hilflos fühlen würde. Einmal hatte er versucht, hinauszugehen, als einer der Overlords den Raum verließ, war aber sanft zurückgeschoben worden. Da er sehr darauf bedacht war, seine Gastgeber nicht zu erzürnen, hatte er sich gefügt.

Vindarten kam, bevor Jan in Verzweiflung geraten war. Dieser Overlord sprach sehr schlecht Englisch und viel zu rasch, lernte aber erstaunlich schnell eine Menge zu. Nach wenigen Tagen konnten sie sich mit geringer Mühe über alle Themen unterhalten, die nicht besondere Fachausdrücke erforderten.

Nachdem Vindarten sich seiner angenommen hatte, machte sich Jan keine Sorgen mehr. Er hatte keine Gelegenheit, die Dinge zu tun, die er gern getan hätte, denn fast seine ganze Zeit war damit ausgefüllt, mit Wissenschaftlern zusammenzutreffen, die mit komplizierten Geräten unverständliche Tests vorzunehmen bemüht waren. Jan stand diesen Apparaten sehr bedenklich gegenüber, und nach einer Sitzung mit einer Art Hypnose hatte er mehrere Stunden lang furchtbare Kopfschmerzen. Er war durchaus bereit, mit ihnen zusammenzuarbeiten, wußte aber nicht recht, ob seine Prüfer sich über seine Begrenzungen in geistiger und körperlicher Hinsicht klar waren. Es dauerte jedenfalls lange, bis er sie davon überzeugen konnte, daß er in regelmäßigen Zwischenräumen schlafen mußte.

Zwischen diesen Untersuchungen sah er zuweilen etwas von der Stadt und erkannte, wie schwierig — und gefährlich — es für ihn sein würde, sich dort zu bewegen. Straßen gab es eigentlich nicht, und es schien auch keinen oberirdischen Verkehr zu geben. Dies war die Heimat von Geschöpfen, die fliegen konnten und keine Angst vor der Schwerkraft hatten. Ohne weiteres konnte man vor einem schwindelnden Abgrund von mehreren hundert Metern stehen oder feststellen, daß sich der einzige Eingang zu einem Raum hoch oben in der Wand befand. Jan begann einzusehen, daß die Psychologie einer mit Flügeln versehenen Rasse grundlegend anders sein mußte als die erdgebundener Geschöpfe.

Es war ein seltsames Bild, die Overlords wie große Vögel zwischen den Türmen ihrer Stadt umherfliegen zu sehen, wobei sie ihre Flügel mit langsamen, kraftvollen Schlägen bewegten. Und hier gab es ein wissenschaftliches Problem. Dies war ein großer Planet, größer als die Erde, aber seine Schwerkraft war niedrig, und Jan fragte sich, warum er so eine dichte Atmosphäre habe. Er fragte Vindarten danach und erfuhr, wie er halbwegs erwartet hatte, daß dies nicht der ursprüngliche Planet der Overlords sei. Sie hatten sich auf einem viel kleineren Planeten entwickelt und dann diesen erobert, wobei sie nicht nur seine Atmosphäre, sondern auch seine Schwerkraft verändert hatten. Die Architektur der Overlords war traurig nüchtern. Jan sah keine Verzierungen, nichts, was nicht einem Zweck diente, auch wenn dieser Zweck oft für ihn nicht verständlich war. Wenn ein Mensch aus dem Mittelalter diese rotbeleuchtete Stadt und die sich darin bewegenden Wesen gesehen hätte, würde er sich bestimmt in der Hölle geglaubt haben. Selbst Jan fand sich trotz all seiner Wißbegier und wissenschaftlichen Abstraktionen bisweilen am Rande eines unvernünftigen Grauens. Das Fehlen eines einzigen vertrauten Anhaltspunktes kann auch für den kühlsten und klarsten Geist äußerst entmutigend sein.

Und da war so vieles, was er nicht verstand, und was Vindarten nicht erklären konnte oder wollte. Was waren diese zuckenden Lichter und sich verändernden Formen, diese Dinger, die sich so schnell durch die Luft bewegten, daß er nie sicher sein konnte, daß sie überhaupt vorhanden waren? Sie konnten etwas Furchtbares und Erschreckendes sein, oder auch nur irgendeine alltägliche Erscheinung wie die Neonlichter auf einem altmodischen Broadway.

Jan spürte auch, daß die Welt der Overlords voll von Tönen war, die er nicht hören konnte. Gelegentlich fing er rhythmische Tonfolgen auf, die im Hörspektrum auf- und niederglitten, um an der obersten oder untersten Hörgrenze zu verschwinden. Vindarten schien nicht zu begreifen, was Jan unter Musik verstand, er konnte dieses Problem also nie zu seiner Zufriedenheit lösen.

Die Stadt war nicht sehr groß. Sie war bestimmt viel kleiner, als London oder New York in ihrer Blütezeit gewesen waren. Nach Vindartens Aussage waren mehrere tausend solcher Städte auf dem Planeten verstreut, von denen jede einzelne einem bestimmten Zweck diente. Auf der Erde wäre diese Stadt am ehesten mit einer Universitätsstadt zu vergleichen gewesen, außer daß der Grad der Spezialisierung viel weiter ging. Diese ganze Stadt war, wie Jan bald entdeckte, dem Studium fremder Kulturen gewidmet.

Bei einem ihrer ersten Ausflüge aus der kahlen Zelle, in der Jan lebte, hatte Vindarten ihn zum Museum geführt. Es hatte Jan eine sehr nötige seelische Stärkung gegeben, sich an einem Ort zu befinden, dessen Zweck er völlig verstehen konnte. Abgesehen von den Ausmaßen, in denen es gebaut war, hätte es gut auf der Erde stehen können. Sie hatten lange gebraucht, hinzukommen, wobei sie sich auf einer ständig sinkenden großen Plattform befunden hatten, die sich wie ein Kolben in einem senkrechten Zylinder von unbekannter Länge bewegte. Es gab keine sichtbaren Schalter, und das Gefühl der Beschleunigung am Anfang und Ende des Abstiegs war durchaus bemerkbar. Wahrscheinlich verschwendeten die Overlords ihre Kompensationsfeldmethoden nicht für den Hausgebrauch. Jan überlegte, ob wohl das ganze Innere dieser Welt von Höhlen durchlöchert wäre und warum sie die Größe der Stadt dadurch beschränkt hatten, daß sie unterirdisch statt oberirdisch gebaut hatten. Das war wieder eines der Rätsel, die er nie löste.

Man hätte ein ganzes Leben damit zubringen können, diese ungeheuren Räume zu durchforschen. Hier befanden sich die Leitungen von mehr Zivilisationen, als Jan ahnen konnte. Aber es war keine Zeit, viel zu sehen. Vindarten hob ihn vorsichtig auf einen Streifen am Boden, der auf den ersten Blick wie ein Ornament wirkte. Dann erinnerte sich Jan, daß es hier keine Verzierungen gab. Gleichzeitig wurde er von etwas Unsichtbarem sanft gefaßt und vorwärts geschoben. Er glitt an den großen Ausstellungskästen vorbei, an Bildern von unvorstellbaren Welten, mit einer Geschwindigkeit von zwanzig oder dreißig Stundenkilometern.

Die Overlords hatten die Anstrengung einer Museumsbesichtigung beseitigt. Niemand brauchte zu Fuß zu gehen.

Sie mußten sich mehrere Kilometer weit bewegt haben, als Jans Führer ihn wieder erfaßte und mit einem Schlag seiner großen Flügel von der Kraft forttrug, die sie befördert hatte. Vor ihnen erstreckte sich eine riesige, halbleere Halle, die von einem vertrauten Licht erfüllt war, das Jan seit Verlassen der Erde nicht gesehen hatte. Es war schwach, um die empfindlichen Augen der Overlords nicht zu verletzen, aber es war unverkennbar Sonnenlicht. Jan hatte nie geglaubt, daß etwas so Einfaches oder so Allgemeines ein solches Verlangen in seinem Herzen wecken könnte.

Dies also war die Ausstellung „Erde“. Sie gingen einige Meter, vorbei an einem schönen Modell von Paris, vorbei an Kunstschätzen aus vielen Jahrhunderten, die widersinnig zusammengestellt waren, vorbei an modernen Rechenmaschinen und Steinzeitäxten, vorbei an Fernsehempfängern und Heron von Alexandriens Dampfturbine. Ein großes Tor öffnete sich vor ihnen, und sie befanden sich im Büro des Kurators für die Erde.

Ob dieser Kurator wohl zum erstenmal ein menschliches We sen sah? überlegte Jan. War er je auf der Erde gewesen, oder gehörte sie nur einfach zu den vielen Planeten, die seiner Obhut anvertraut waren und deren Stellung er nicht genau kannte? Sicherlich konnte er Englisch weder sprechen noch verstehen, und Vindarten mußte den Dolmetscher machen.

Jan hatte mehrere Stunden dort verbracht und ein Tonband besprochen, während die Overlords ihm verschiedene irdische Gegenstände zeigten. Viele davon konnte er, wie er zu seiner Beschämung entdeckte, nicht identifizieren. Seine Unkenntnis seiner eigenen Rasse und ihrer Leistungen war ungeheuer: Er fragte sich, ob die Overlords, trotz all ihrer überragenden Geistesgaben, wirklich den ganzen Komplex der menschlichen Kultur erfassen konnten.

Vindarten führte ihn auf einem andern Wege aus dem Museum hinaus. Wieder glitten sie mühelos durch gewölbte Gänge, aber diesmal kamen sie an Schöpfungen der Natur, nicht des denkenden Geistes vorbei. Sullivan, dachte Jan, hätte sein Leben dafür gegeben, hier zu sein und diese Wunder zu schauen, die die Entwicklung auf hundert Welten hervorgebracht hatte. Aber dann fiel ihm ein, daß Sullivan vermutlich schon gestorben war.

Dann befanden sie sich plötzlich auf einer Galerie hoch über einem großen, kreisrunden Raum, der vielleicht hundert Meter Durchmesser hatte. Wie gewöhnlich war kein schützendes Geländer vorhanden, und einen Augenblick zögerte Jan, an den Rand heranzutreten. Aber Vindarten stand unmittelbar an der Kante und blickte in aller Ruhe hinunter, so daß Jan vorsichtig vorwärtsging, um sich ihm anzuschließen.

Der Fußboden war nur zwanzig Meter unter ihnen, viel, viel zu nahe. Hinterher war Jan überzeugt, daß sein Führer nicht die Absicht gehabt hatte, ihn zu überraschen, und durch sein Verhalten völlig bestürzt war. Denn Jan hatte einen furchtbaren Schrei ausgestoßen und war vom Rande der Galerie zurückgesprungen, in einer unwillkürlichen Bemühung, das, was da unten lag, nicht mehr zu sehen. Erst als die erstickten Echos seines Aufschreis in der dicken Atmosphäre erstorben waren, hatte er Mut gefaßt, wieder vorwärtszugehen.

Es war natürlich leblos und starrte nicht bewußt zu ihm herauf, wie er in jenem ersten Augenblick der Panik angenommen hatte. Es füllte fast den ganzen großen, kreisrunden Raum, und das rötliche Licht glänzte und schillerte in seinen kristallenen Tiefen.

Es war ein einziges riesenhaftes Auge.

„Warum haben Sie solchen Lärm gemacht?“ fragte Vindarten.

„Ich war so erschrocken“, gestand Jan verlegen.

„Aber warum? Sie haben doch nicht geglaubt, daß hier irgendeine Gefahr sein könnte?“

Jan überlegte, ob er wohl erklären könne, was eine Reflexhandlung sei, beschloß aber, es nicht zu versuchen. „Alles völlig Unerwartete ist erschreckend. Bis man eine neue Situation analysiert hat, ist es am sichersten, das Schlimmste anzunehmen.“

Sein Herz klopfte noch heftig, während er noch einmal auf dieses ungeheuerliche Auge starrte. Natürlich konnte es einfach ein Modell sein, ungeheuer vergrößert, wie etwa Mikroben und Insekten in terrarischen Museen. Aber während er sich diese Frage stellte, wußte Jan mit quälender Gewißheit, daß es nicht vergrößert war.

Vindarten konnte ihm wenig sagen: dies war nicht sein Fachgebiet, und er war nicht besonders wißbegierig. Nach der Beschreibung des Overlords machte sich Jan ein Bild von einem zyklopischen Untier, das in den Asteroidenschwärmen irgendeiner fernen Sonne lebte, dessen Wachstum durch keine Schwerkraft behindert wurde und dessen Nahrung und Leben von der Reichweite und Sehkraft seines einzigen Auges abhingen.

Es schien keine Grenzen für das zu geben, was die Natur tun konnte, wenn sie dazu gedrängt wurde, und Jan empfand ein unwillkürliches Vergnügen bei dem Gedanken, daß es doch irgend etwas gab, was die Overlords nicht versuchten. Sie hatten einen ausgewachsenen Wal von der Erde hierhergebracht, aber bei diesem Untier hier hatten sie haltgemacht.

Und dann waren sie wieder hinaufgefahren, endlos aufwärts, bis die schimmernden Wände des Fahrstuhls in eine kristallene Durchsichtigkeit übergegangen waren. Er stand, anscheinend ungestützt, zwischen den höchsten Gipfeln der Stadt, ohne jeden Schutz vor dem Abgrund. Aber er empfand kein größeres Schwindelgefühl, als man in einem Flugzeug hat, denn hier hatte er gar keine Beziehung zu dem fernen Boden.

Er war über den Wolken und teilte den Himmel mit einigen metallenen oder steinernen Zinnen. Gleich einem rosenroten Meer wogte die Wolkenschicht träge unter ihm. Es standen zwei bleiche und kleine Monde am Himmel, nicht weit von der düsteren Sonne. Unweit des Mittelpunktes dieser roten Scheibe war ein kleiner, dunkler, völlig kreisrunder Schatten. Es konnte ein Sonnenfleck sein oder ein vorüberwandernder Mond.

Jan ließ seinen Blick langsam den Horizont entlanggleiten. Die Wolkendecke erstreckte sich deutlich bis zum Rande dieser ungeheuren Welt; aber in einer Richtung, in nicht abzuschätzender Entfernung, war ein anderer Fleck, der vielleicht die Türme einer andern Stadt bezeichnete. Jan blickte lange dorthin.

Als er eine halbe Drehung machte, sah er den Berg. Er lag nicht am Horizont, sondern dahinter, ein einziger, zerklüfteter Gipfel, der sich über den Rand der Welt erhob, und dessen untere Hänge verborgen waren, wie die Masse eines Eisbergs unter der Wasserlinie verborgen ist. Jan versuchte, seine Größe abzuschätzen, aber mit völligem Mißerfolg. Selbst auf einer Welt mit einer so geringen Schwerkraft wie dieser konnte man kaum glauben, daß es solche Berge geben konnte. Ob die Overlords wohl seine Hänge erstiegen und gleich Adlern um seine ungeheuren Felsen schwebten?

Und dann begann sich der Berg langsam zu verändern. Als Jan ihn erblickt hatte, war er von dunkel-, fast düsterroter Farbe gewesen, mit einigen schwachen Zeichen nahe dem Gipfel, die er nicht deutlich unterscheiden konnte. Er versuchte, sich auf sie zu konzentrieren, als er bemerkte, daß sie sich bewegten.

Zuerst traute er seinen Augen nicht. Dann zwang er sich, daran zu denken, daß all seine vorgefaßten Begriffe hier wertlos waren: Er durfte nicht zulassen, daß sein Geist irgendwelche Eindrücke verwarf, die seine Sinne in die geheime Kammer seines Gehirns trugen. Er durfte nicht versuchen, zu begreifen, er durfte nur beobachten. Das Verständnis würde später kommen oder überhaupt nicht.

Der Berg — er bezeichnete ihn noch immer als solchen, denn es gab kein anderes Wort dafür — schien lebendig zu sein. Er dachte an das ungeheuerliche Auge in der tiefen Grabkammer, aber nein, dies war unfaßlich. Es war nicht organisches Leben, was er hier beobachtete: Es war nicht einmal Materie, wie er sie kannte.

Das dunkle Rot erhellte sich zu einer grelleren Tönung. Strei fen von lebhaftem Gelb erschienen, so daß Jan für einen Augenblick das Gefühl hatte, einen Vulkan zu betrachten, aus dem sich Lavaströme auf das Land ergossen. Aber diese Ströme hier bewegten sich aufwärts, wie er an gelegentlichen Flecken und Änderungen erkennen konnte.

Jetzt erhob sich irgend etwas aus den roten Wolken am Fuß des Berges. Es war ein riesiger Ring, völlig waagerecht und völlig kreisrund, und er hatte die Farbe von allem, was Jan so weit hinter sich gelassen hatte, denn die Himmel der Erde hatten kein lieblicheres Blau gehabt. Nirgends in der Welt der Overlords hatte er solche Schattierungen gesehen, und seine Kehle schnürte sich zusammen, weil sie solche Sehnsucht und ein solches Einsamkeitsgefühl in ihm hervorriefen.

Der Ring dehnte sich aus, während er höher hinaufglitt. Jetzt stand er höher als der Berg, und die Jan zugekehrte Rundung näherte sich ihm schnell. Es mußte irgendein Wirbel sein, dachte Jan, ein Rauchring, der schon viele Kilometer breit war. Aber er zeigte keine Rotation, wie er sie erwartete, und schien gleich fest zu bleiben, obwohl sein Umfang sich vergrößerte.

Sein Schatten glitt vorbei, lange bevor der Ring selbst majestätisch über ihm schwebte und sich noch immer höher in den Raum erhob. Jan beobachtete ihn, bis er zu einem dünnen blauen Faden geworden war, den das Auge in der umgebenden Röte des Himmels kaum wahrzunehmen vermochte. Als er endlich verschwand, mußte er schon viele Kilometer breit gewesen sein. Und er war noch immer im Wachsen.

Er blickte zurück auf den Berg, der jetzt golden erschien und ohne alle Flecken war. Vielleicht war es Einbildung — Jan konnte jetzt fast alles glauben — aber er erschien höher und schmaler und schien sich zu drehen wie der Trichter eines Wirbelsturms. Erst jetzt erinnerte sich Jan, der noch immer wie betäubt und von seinen Verstandeskräften verlassen war, an seine Kamera. Er hob sie in die Augenhöhe und richtete sie auf jenes unmögliche, erschütternde Rätsel.

Vindarten trat schnell dazwischen. Mit unerbittlicher Festigkeit bedeckten seine großen Hände die Linse und zwangen Jan, die Kamera zu senken. Jan versuchte nicht, Widerstand zu leisten. Es wäre natürlich nutzlos gewesen, aber er empfand plötzlich eine tödliche Furcht vor jenem Etwas da draußen am Rande der Welt und wollte nichts mehr damit zu tun haben.

Auf all seinen Ausflügen hatte es nichts gegeben, was er nicht hatte fotografieren dürfen, und Vindarten gab keine Erklärungen. Statt dessen nahm er sich viel Zeit, Jan dazu zu bringen, in den kleinsten Einzelheiten das Gesehene zu beschreiben.

Da begriff Jan, daß Vindartens Augen etwas ganz anderes gesehen hatten, und jetzt ahnte er zum erstenmal, daß auch die Overlords ihre Herren und Meister hatten.

Er kehrte heim, und alles Staunen, alle Furcht und Geheimnisse lagen weit hinter ihm. Es war dasselbe Schiff, vermutete er, aber sicherlich nicht dieselbe Mannschaft. Wie lang auch ihr Leben sein mochte, es war kaum anzunehmen, daß die Overlords sich freiwillig all die Jahrzehnte, die eine Intersternenfahrt beanspruchte, von ihrer Heimat trennen würden.

Die Relativitäts-Zeitausdehnung wirkte natürlich beiderseitig. Die Overlords würden auf der Rundreise nur vier Monate altern, aber wenn sie zurückkehrten, wären ihre Freunde achtzig Jahre älter geworden.

Wenn Jan es gewünscht hätte, so hätte er zweifellos für den Rest seines Lebens hier bleiben können. Aber Vindarten hatte ihm gesagt, daß mehrere Jahre lang kein anderes Schiff zur Erde fahren würde, und hatte ihm geraten, diese Gelegenheit zu benützen. Vielleicht hatten die Overlords erkannt, daß sein Geist selbst in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit fast am Ende seiner Möglichkeiten angelangt war. Oder er wäre vielleicht nur lästig geworden, und sie konnten nicht mehr Zeit an ihn verschwenden.

Das war jetzt bedeutungslos, denn die Erde lag vor ihm. Er hatte sie Hunderte von Malen so gesehen, aber immer durch das ferne, mechanische Augen der Fernsehkamera. Jetzt endlich war er selbst hier draußen im Weltraum, während sich der Schlußakt seines Traums abspielte und die Erde auf ihrer ewigen Bahn dort unten kreiste.

Die große, blaugrüne Scheibe war in ihrem ersten Viertel: mehr als die Hälfte der sichtbaren Scheibe lag noch in Dunkelheit. Es waren wenige Wolken da, nur einige Streifen zogen in der Linie der Passatwinde entlang. Die arktische Kappe glitzerte und blinkte, wurde aber durch die blendenden Sonnenreflexe im nördlichen Pazifik weit überstrahlt.

Man hätte es für eine Wasserwelt halten können: Auf dieser Halbkugel war fast gar kein Land. Der einzige sichtbare Kontinent war Australien, ein dunkler Nebel in dem atmosphärischen Dunst am Rande des Planeten.

Das Schiff glitt in den großen Schattenkegel der Erde hinein: die leuchtende Sichel wurde kleiner, schrumpfte zu einem brennenden Feuerbogen zusammen und verschwand. Unten waren Dunkelheit und Nacht. Die Welt schlief.

In diesem Augenblick erfaßte Jan, was nicht stimmte. Dort unten war Land — aber wo waren die glänzenden Lichterketten, wo die glitzernden Diamanten, die die Städte der Menschen gewesen waren? Auf dieser ganzen, in Schatten gehüllten Halbkugel gab es keinen einzigen Lichtfunken, um die Nacht zu verscheuchen. Spurlos verschwunden waren die Millionen Kilowatt, die einstmals sorglos zu den Sternen emporgeschleudert worden waren. So wie er die Erde jetzt sah, mochte sie vor dem Kommen der Menschen gewesen sein.

Dies war nicht die Heimkehr, auf die er gehofft hatte. Hier konnte er nichts tun als beobachten, während die Furcht vor dem Unbekannten in ihm wuchs. Irgend etwas war geschehen, irgend etwas Unvorstellbares. Und doch senkte sich das Schiff zielsicher in einer langen Kurve, die es wieder über die von der Sonne beleuchtete Halbkugel führte.

Er sah nichts von der tatsächlichen Landung, denn das Bild der Erde verschwand plötzlich und machte dem sinnlosen Muster von Linien und Lichtern Platz. Als das Bild wieder klar war, befanden sie sich auf dem Boden. In der Ferne standen große Gebäude. Maschinen bewegten sich, und eine Gruppe von Overlords beobachtete sie.

Irgendwo hörte man das dumpfe Getöse der Luft, als das Schiff den Druck ausglich, dann das Geräusch der großen, sich öffnenden Türen. Er wartete nicht. Die schweigenden Riesen betrachteten ihn mit Nachsicht oder Gleichgültigkeit, als er aus dem Kontrollraum hinauseilte.

Er war daheim, sah endlich wieder das funkelnde Licht seiner eigenen vertrauten Sonne, atmete die Luft, die zuerst durch seine Lungen geflutet war. Der Laufsteg war schon heruntergelassen, aber er mußte einen Augenblick warten, bis das Licht draußen ihn nicht mehr blendete.

Karellen stand etwas abseits von seinen Gefährten neben einem großen, mit Kisten beladenen Lastwagen. Jan wunderte sich nicht, daß er den Oberkontrolleur erkannte, noch war er überrascht, ihn völlig unverändert zu finden. Das war fast das einzige, was so war, wie er es sich vorgestellt hatte.

„Ich habe auf Sie gewartet“, sagte Karellen.

8

„Anfangs“, sagte Karellen, „konnten wir uns ruhig unter ihnen bewegen. Aber sie brauchten uns nicht mehr. Unsere Arbeit war getan, als wir sie zusammengeführt und ihnen einen eigenen Kontinent gegeben hatten. Sehen Sie!“

Die Wand vor Jan verschwand. Statt dessen blickte er von einer Höhe von einigen hundert Metern auf eine liebliche waldige Landschaft. Die Illusion war so vollendet, daß er gegen einen plötzlichen Schwindel ankämpfen mußte.

„Dies ist fünf Jahre später, als der zweite Abschnitt begonnen hatte.“

Dort unten bewegten sich Gestalten, und die Kamera stürzte sich wie ein Raubvogel auf sie.

„Es wird Sie quälen“, sagte Karellen. „Aber Sie müssen bedenken, daß Ihre Maßstäbe nicht mehr anwendbar sind. Sie betrachten keine menschlichen Kinder.“

Und doch war das der unmittelbare Eindruck, den Jan hatte, und keine Logik konnte ihn zerstreuen. Es konnten Wilde sein, die sich verworrenen rituellen Tänzen hingaben. Sie waren nackt und schmutzig, und wirre Haare verdeckten ihre Augen. Soviel Jan sehen konnte, waren alle Altersstufen von Fünf bis Fünfzehn vertreten, aber alle Kinder bewegten sich mit der gleichen Schnelligkeit, Genauigkeit und völligen Gleichgültigkeit gegen ihre Umgebung.

Dann sah Jan ihre Gesichter. Er schluckte heftig und zwang sich, nicht wegzusehen. Sie waren leerer als die Gesichter von Toten, denn selbst ein Leichnam trägt in seinem Gesicht Spuren, die der Meißel der Zeit eingegraben hat, und die zu einem sprechen, wenn auch die Lippen selbst verstummt sind. Diese Gesichter hatten nicht mehr Gefühl oder Ausdruck als die von Schlangen oder Insekten. Die Overlords selbst waren menschlicher als diese hier.

„Sie suchen nach etwas, was es nicht mehr gibt“, sagte Karellen. „Sie müssen bedenken, jene dort haben nicht mehr Persönlichkeit als die Zellen in Ihrem eigenen Körper. Aber zusammengefaßt sind sie etwas viel Größeres als Sie.“

„Warum bewegen sie sich so?“

„Wir haben es den Langen Tanz genannt“, erwiderte Karellen. „Sie schlafen nie, müssen Sie wissen, und dies hat fast ein Jahr gedauert. Dreihundert Millionen von ihnen bewegen sich in einem kontrollierten Muster über einen ganzen Kontinent. Wir haben dieses Muster endlos analysiert, aber es bedeutet nichts, vielleicht weil wir nur den körperlichen Teil davon sehen können, den kleinen Teil, der sich hier auf der Erde befindet. Vielleicht werden sie noch von dem, den wir den Übergeist genannt haben, geschult und zu einer einzigen Einheit geformt, bevor er sie ganz in sein Wesen aufnehmen kann.“

„Aber wie bekommen sie Nahrung? Und was geschieht, wenn sie auf Hindernisse wie Bäume, Felsblöcke oder Wasser stoßen?“

„Wasser macht ihnen nichts aus: Sie können nicht ertrinken. Wenn sie auf Hindernisse stießen, haben sie sich zuweilen verletzt, aber sie haben es nie bemerkt. Und was die Nahrung betrifft — nun, da war so viel Obst und Wild, wie sie brauchten. Aber jetzt haben sie dieses Bedürfnis hinter sich gelassen, wie so vieles andere auch. Denn Nahrung ist hauptsächlich eine Quelle der Energie, und sie haben größere Quellen benutzen gelernt.“

Das Bild zuckte, als wäre eine Hitzewelle darüber hingegangen. Als es wieder deutlich wurde, hatte die Bewegung unten aufgehört.

„Geben Sie wieder acht“, sagte Karellen. „Es ist drei Jahre später,“

Die kleinen Gestalten, die so hilflos und traurig wirkten, wenn man die Wahrheit nicht kannte, standen regungslos in Wäldern, auf Lichtungen und Ebenen. Die Kamera glitt rastlos von einem zum andern. Schon jetzt, dachte Jan, bekamen ihre Gesichter ein gemeinsames Gepräge. Er hatte einmal Fotos gesehen, die durch Übereinanderschichtung von Dutzenden von Aufnahmen entstan den waren, um ein Durchschnittsgesicht zu zeigen. Das Ergebnis war ebenso leer, so ohne jeden Charakter gewesen, wie diese Aufnahmen.

Sie schienen zu schlafen oder in Trance versenkt zu sein. Ihre Augen waren fest geschlossen, und sie schienen sich ihrer Umgebung ebensowenig bewußt wie die Bäume, unter denen sie standen. Welche Gedanken, fragte sich Jan, gingen durch das verwickelte Netz, in dem ihre Geister jetzt nicht mehr und doch nicht weniger waren als die einzelnen Fäden eines großen Gobelins? Eines Gobelins, der, wie er jetzt erkannte, viele Welten und viele Rassen umfaßte und immer noch größer wurde.

Es geschah mit einer Schnelligkeit, die das Auge blendete und das Hirn verwunderte. Eben jetzt schaute Jan noch auf eine schöne, fruchtbare Landschaft, die nichts Sonderbares an sich hatte außer den zahllosen kleinen Figuren, die, aber nicht aufs Geratewohl, weit und breit darüber verstreut waren. Und dann im nächsten Augenblick waren alle Bäume und Gräser, alle lebenden Geschöpfe, die dieses Land bewohnt hatten, weg und verschwunden. Übrig geblieben waren nur die stillen Seen, die gewundenen Flüsse, die wogenden braunen Hügel, die jetzt ihres grünen Teppichs entkleidet waren, und die schweigenden, gleichgültigen Gestalten, die all diese Zerstörung herbeigeführt hatten.

„Warum haben sie es getan?“ ächzte Jan.

„Vielleicht weil die Anwesenheit anderer Geister sie störte, selbst die kümmerlichen Geister von Pflanzen und Tieren. Eines Tages, nehmen wir an, werden sie die materielle Welt ebenfalls störend finden. Und wer weiß, was dann geschehen wird. Jetzt begreifen Sie, warum wir uns zurückzogen, als wir unsere Pflicht getan hatten. Wir versuchen noch immer, sie zu studieren, aber wir betreten ihr Land nie und schicken auch unsere Geräte nicht dorthin. Wir wagen nichts weiter zu tun, als sie vom Weltraum aus zu beobachten.“

„Das ist vor vielen Jahren geschehen“, sagte Jan. „Was hat sich seitdem ereignet?“

„Sehr wenig. Sie haben sich in der ganzen Zeit nie bewegt und kümmern sich nicht um Tag oder Nacht, um Sommer oder Winter. Sie erproben noch immer ihre Kräfte: Einige Flüsse haben ihren Lauf verändert, und einer fließt bergauf. Aber sie haben nichts getan, was irgendeinen Zweck zu haben scheint.“

„Und sie haben Sie völlig unbeachtet gelassen?“

„Ja, obwohl das nicht überraschend ist. Die — Einheit — von der sie ein Teil sind, weiß alles über uns. Sie scheint sich nicht darum zu kümmern, wenn wir sie zu studieren versuchen. Wenn sie wünscht, daß wir von hier fortgehen, oder wenn sie irgendwo eine neue Aufgabe für uns hat, wird sie uns ihre Wünsche sehr deutlich kundtun. Bis dahin werden wir hier bleiben, damit unsere Wissenschaftler so viele Kenntnisse sammeln können wie nur möglich.“

Das also, dachte Jan mit einer Ergebung, die jenseits aller Trauer lag, war das Ende des Menschen. Es war ein Ende, das kein Prophet je vorausgesehen hatte, ein Ende, das Optimismus und Pessimismus in gleicher Weise verwarf.

Dennoch war es würdig. Es hatte die erhabene Unvermeidlichkeit eines großen Kunstwerks. Jan hatte das Universum in all seiner furchtbaren Größe geschaut und wußte jetzt, daß es kein Ort für Menschen war. Er begriff endlich, wie vergeblich letzten Endes der Traum gewesen war, der ihn zu den Sternen gelockt hatte.

Denn der Weg zu den Sternen war eine Straße, die sich nach zwei Richtungen gabelte, und keine führte zu einem Ziel, das irgendeine Rücksicht auf menschliche Hoffnungen oder Befürchtungen nahm.

Am Ende des einen Weges standen die Overlords. Sie hatten sich ihre Eigenpersönlichkeit, ihr unabhängiges Ich erhalten; sie besaßen Selbsterkenntnis, und das Fürwort „Ich“ hatte eine Bedeutung in ihrer Sprache. Sie hatten Gefühle, von denen wenigstens einige von der Menschheit geteilt wurden. Aber sie waren, wie Jan jetzt erkannte, in einer Sackgasse gefangen, der sie nie entrinnen konnten. Ihre Gedanken waren zehn- oder vielleicht hundertmal so mächtig wie die der Menschen. Das machte jedoch in der Schlußrechnung keinen Unterschied. Sie waren ebenso hilflos, ebenso überwältigt angesichts des unvorstellbaren Gewirrs einer Milchstraße von hunderttausend Millionen Sonnen und eines Kosmos von hunderttausend Millionen Milchstraßen.

Und am Ende des anderen Weges? Dort waltete der Übergeist, was er auch sein mochte, der im gleichen Verhältnis zum Menschen stand wie der Mensch zur Amöbe. Wie lange hatte er, in sich unendlich, jenseits der Sterblichkeit, eine Rasse nach der andern in sich aufgenommen, als er sich über die Sterne ausbreite te? Hatte auch er Wünsche, hatte er Ziele, die er dunkel spürte, aber vielleicht nie erreichen würde? Jetzt hatte er alles, was die menschliche Rasse je erreicht hatte, in sich aufgenommen. Dies war keine Tragödie, sondern eine Erfüllung. Die Milliarden flüchtiger Bewußtseinsfunken, die die Menschheit bedeutet hatten, flatterten nicht mehr wie Leuchtkäfer gegen die Finsternis. Aber sie hatten nicht völlig vergeblich gelebt.

Der letzte Akt, das wußte Jan, würde noch kommen. Es konnte morgen geschehen oder erst in Jahrhunderten. Selbst die Overlords konnten es nicht mit Sicherheit wissen.

Jetzt verstand er ihre Absicht, verstand, was sie mit den Menschen getan hatten und warum sie noch auf der Erde verweilten. Ihnen gegenüber empfand er eine große Demut und ebenso auch Bewunderung für die unveränderliche Geduld, mit der sie hier so lange gewartet hatten.

Er erfuhr nie alle Zusammenhänge über die seltsame Symbiose zwischen dem Übergeist und seinen Dienern. Nach Raschaveraks Äußerung hatte es in der Geschichte seiner Rasse nie eine Zeit gegeben, in der der Übergeist nicht dagewesen war, obwohl er keinen Gebrauch von ihnen gemacht hatte, bis sie eine wissenschaftliche Zivilisation aufgebaut hatten und den Weltraum durchmessen konnten, um seine Befehle auszuführen.

„Aber warum braucht er Sie?“ fragte Jan. „Bei seiner gewaltigen Macht könnte er doch sicherlich alles tun, was ihm gefällt.“

„Nein“, sagte Raschaverak, „er hat Grenzen. In der Vergangenheit hat er, wie wir wissen, versucht, unmittelbar auf den Geist anderer Rassen einzuwirken und ihre kulturelle Entwicklung zu beeinflussen. Das ist immer mißlungen, vielleicht, weil die Kluft zu groß ist. Wir sind die Vermittler, die Wächter. Oder um eines Ihrer anderen Gleichnisse zu benutzen: Wir bestellen das Feld, bis die Ernte reif ist. Der Übergeist bringt die Ernte ein, und wir gehen an eine andere Aufgabe. Dies ist die fünfte Rasse, deren Aufstieg zur Vollendung wir beobachtet haben. Jedesmal lernen wir etwas mehr.“

„Und es kränkt Sie nicht, daß Sie von dem Übergeist als Werkzeug benutzt werden?“

„Diese Ordnung hat einige Vorteile; außerdem: Niemand mit Intelligenz nimmt Unvermeidliches übel auf.“

Diese Theorie, dachte Jan verschmitzt, war von der Menschheit nie so recht gutgeheißen worden. Es gab Dinge jenseits der Logik, die die Overlords nie verstanden hatten.

„Es erscheint merkwürdig“, sagte Jan, „daß der Übergeist Sie ausgewählt hat, seine Arbeit zu tun, wenn Sie die in der Menschheit ruhenden paraphysischen Kräfte nicht erspüren können. Wie setzt er sich mit Ihnen in Verbindung und macht seine Wünsche bekannt?“

„Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann, und ich kann Ihnen auch nicht sagen, aus welchem Grunde ich Ihnen diese Tatsachen vorenthalten muß. Eines Tages werden Sie vielleicht etwas von der Wahrheit erfahren.“

Jan grübelte einen Augenblick hierüber, wußte aber, daß es nutzlos war, weitere derartige Fragen zu stellen. Er mußte das Thema wechseln und hoffen, später Anhaltspunkte zu finden. „Aber da ist noch etwas anderes, was Sie nie erklärt haben“, fuhr er fort. „Als Ihre Rasse in ferner Vergangenheit das erstemal auf die Erde kam — was ist damals schiefgegangen? Warum sind Sie für uns das Symbol des Bösen und des Schreckens geworden?“

Raschaverak lächelte. Er konnte das nicht so vollendet wie Karellen, aber es war eine gute Nachahmung. „Das hat niemand je erraten, und Sie werden jetzt begreifen, warum wir es Ihnen nie sagen konnten. Nur ein einziges Ereignis konnte einen solchen Eindruck auf die Menschheit gemacht haben. Und dieses Ereignis lag nicht am Morgen der Geschichte, sondern an ihrem Ende.“

„Was meinen Sie?“ fragte Jan.

„Als unsere Schiffe vor anderthalb Jahrhunderten an Ihrem Himmel erschienen, war es die erste Begegnung unserer beiden Rassen, obwohl wir Sie natürlich aus der Entfernung studiert hatten. Und doch fürchteten und erkannten Sie uns, wie wir es vorausgesehen hatten. Es war nicht eigentlich eine Erinnerung. Sie haben schon Beweise dafür bekommen, daß Zeit etwas Verwickelteres ist, als Ihre Wissenschaft es sich je vorgestellt hat. Denn diese Erinnerung betraf nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft, also jene letzten Jahre, als Ihre Rasse wußte, daß alles beendet war. Wir taten, was wir konnten, aber es war kein leichtes Ende. Und weil wir dabei waren, wurden wir mit dem Tode Ihrer Rasse in Verbindung gebracht. Ja, auch wenn es zehntausend Jahre später geschah! Es war, als ob ein verzerrtes Echo den geschlossenen Kreis der Zeit zurückgelaufen wäre, von der Zukunft in die Vergangenheit. Nennen Sie es nicht eine Erinnerung, sondern eine Vorahnung.“

Dieser Gedanke war kaum zu fassen, und einen Augenblick schlug sich Jan schweigend mit ihm herum. Und doch hätte er vorbereitet sein müssen, denn er hatte bereits Beweise genug bekommen, daß Ursache und Wirkung ihre normale Folge umkehren konnten.

Es mußte so etwas wie ein Rassengedächtnis geben, und dieses Gedächtnis war irgendwie unabhängig von der Zeit. Für dieses Gedächtnis waren Zukunft und Vergangenheit ein Ganzes. Daher hatten vor Tausenden von Jahren die Menschen schon ein verzerrtes Bild der Overlords in einem Nebel von Angst und Schrecken gesehen.

„Jetzt verstehe ich“, sagte der letzte Mensch.

Der letzte Mensch! Jan fand es sehr schwer, sich als den letzten Menschen zu sehen. Als er in den Weltraum aufgebrochen war, hatte er die Möglichkeit einer ewigen Verbannung von der menschlichen Rasse in Kauf genommen, und die Einsamkeit hatte ihn noch nicht überwältigt. Im Lauf der Jahre würde ihn vielleicht die Sehnsucht, ein anderes menschliches Wesen zu sehen, überkommen, aber im Augenblick hinderte ihn die Gesellschaft der Overlords, sich völlig einsam zu fühlen.

Noch vor zehn Jahren hatte es Menschen auf der Erde gegeben, aber sie waren entartete Überlebende gewesen, und Jan hatte nichts verloren, daß er ihnen nicht begegnete. Aus Gründen, die die Overlords nicht erklären konnten, die aber Jan auf psychologischem Gebiet vermutete, waren keine Kinder geboren worden, die die fortgegangenen ersetzt hätten. Der Homo sapiens war ausgestorben.

Vielleicht lag in einer der noch erhaltenen Städte das Manuskript irgendeines späten Langarmaffen, eines Gibbon, der über die letzten Tage der menschlichen Rasse berichtete. Wenn es sich so verhielt, wußte Jan nicht einmal, ob er sich die Mühe machen würde, es zu lesen. Raschaverak hatte ihm bereits alles erzählt, was er zu wissen wünschte.

Die Menschen, die sich nicht selbst vernichteten, hatten Vergessen in immer fieberhafterer Tätigkeit, in wildem und selbstmörderischem Sport gesucht, der oft von kleineren Kriegen nicht zu unterscheiden war. Da die Bevölkerung rasch abnahm, hatten sich die alternden Überlebenden zusammengefunden, eine geschlagene Armee, die ihre Reihen fester schloß, als sie ihren letzten Rückzug antrat.

Dieser Schlußakt, ehe der Vorhang sich für immer senkte, mußte von aufflammendem Heldentum und Aufopferung erhellt und von Grausamkeit und Selbstsucht verdunkelt worden sein. Ob er in Verzweiflung oder Ergebung geendet hatte, würde Jan nie erfahren.

Es gab viele Dinge, die seinen Sinn beschäftigten. Der Stützpunkt der Overlords befand sich etwa einen Kilometer von einer verlassenen Villa, und Jan brachte Monate damit zu, diese mit Gegenständen auszustatten, die er aus der etwa dreißig Kilometer entfernten nächsten Stadt holte. Er war mit Raschaverak, dessen Freundschaft er nicht für ganz selbstlos hielt, dorthin geflogen. Dieser Psychologe studierte noch immer das letzte Exemplar des Homo sapiens.

Die Stadt mußte vor dem Ende geräumt worden sein, denn die Häuser und viele von den öffentlichen Einrichtungen waren noch in gutem Zustand. Es hätte wenig Mühe gemacht, die Generatoren wieder in Betrieb zu setzen, so daß die breiten Straßen noch einmal in der Illusion des Lebens geglüht hätten. Jan spielte mit diesem Gedanken, dann ließ er ihn als zu krankhaft fallen. Das einzige, was er nicht tun wollte, war, über die Vergangenheit zu brüten. Hier war alles, was er brauchte, um sich für den Rest seines Lebens zu erhalten, aber das größte Verlangen hatte er nach einem elektronischen Klavier und gewissen Bach-Übertragungen. Er hatte für Musik nie so viel Zeit gehabt, wie er gewünscht hätte, und jetzt wollte er sich dafür entschädigen. Wenn er nicht selbst spielte, ließ er Tonbänder von den großen Symphonien und Konzerten ablaufen, so daß die Villa nie still war. Musik war sein Talisman gegen die Einsamkeit geworden, die ihn eines Tages sicher überwältigen mußte.

Oft pflegte er lange Wanderungen über die Hügel zu machen, wo er an alles dachte, was in den wenigen Monaten, seit er die Erde zuletzt gesehen hatte, geschehen war. Er hätte, als er sich von Sullivan vor achtzig irdischen Jahren verabschiedete, nie gedacht, daß bereits die letzte Generation der Menschheit geboren war.

Was für ein junger Narr war er doch gewesen! Und dennoch war er sich nicht sicher, daß er seine Haltung bereute: Wäre er auf der Erde geblieben, so würde er die letzten Jahre miterlebt haben, über die jetzt die Zeit einen Schleier gezogen hatte. Statt dessen war er mit einem Hechtsprung an ihnen vorbei in die Zukunft hineingesprungen und hatte auf seine Fragen Antworten bekommen, die kein anderer Mensch je erfahren würde. Seine Wißbegier war fast befriedigt, doch bisweilen fragte er sich, warum die Overlords noch warteten, und was geschehen würde, wenn ihre Geduld endlich belohnt würde.

Aber den größten Teil der Zeit saß er, in einer stillzufriedenen Ergebenheit, die für gewöhnlich einen Menschen erst am Ende eines langen und geschäftigen Lebens überkommt, vor den Tasten und erfüllte die Luft mit seinem geliebten Bach. Vielleicht täuschte er sich selbst, vielleicht war dies eine gnädige List seines Geistes, aber jetzt kam es Jan vor, als habe er sich immer das zu tun gewünscht. Sein geheimer Ehrgeiz hatte sich endlich an das volle Licht des Bewußtseins gewagt.

Jan war immer ein guter Klavierspieler gewesen; jetzt war er der beste der Welt.

9

Raschaverak brachte Jan die Nachricht, doch Jan hatte sie bereits erwartet. In den frühen Morgenstunden hatte ein Alptraum ihn geweckt, und er hatte nicht wieder einschlafen können. Er vermochte sich nicht auf den Traum zu besinnen, was sehr seltsam war, denn er glaubte, daß alle Träume sich zurückrufen ließen, wenn man es nur unmittelbar nach dem Aufwachen energisch genug versuchte. Er konnte sich nur daran erinnern, daß er wieder ein kleiner Junge gewesen war und auf einer weiten, leeren Ebene einer mächtigen Stimme gelauscht hatte, die in einer unbekannten Sprache rief.

Der Traum hatte ihn beunruhigt. Er fragte sich, ob es der erste Angriff der Einsamkeit auf seinen Geist sei. Ruhelos verließ er die Villa und ging zu dem vernachlässigten Rasenplatz.

Der Vollmond übergoß die Landschaft mit einem so hellen goldenen Licht, daß er alles deutlich sehen konnte. Der riesige, glänzende Zylinder von Karellens Schiff lag hinter den Gebäuden, die den Stützpunkt der Overlords bildeten, ragte hoch über ihnen auf und ließ ihre Proportionen als Menschenwerk erscheinen. Jan sah das Schiff an und versuchte sich die Gefühle zurückzurufen, die es einst in ihm erweckt hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, da es ein unerreichbares Ziel gewesen war, ein Symbol alles dessen, was er nie wirklich zu erreichen erwartet hatte. Und jetzt bedeutete es nichts.

Wie ruhig und still es war! Die Overlords natürlich würden ebenso tätig sein wie immer, aber im Augenblick war nichts von ihnen zu sehen. Er hätte allein auf der Erde sein können, wie er es in einem sehr wirklichen Sinne ja auch war. Er blickte zum Mond empor, auf der Suche nach irgendeinem vertrauten Anblick, an dem seine Gedanken Halt finden könnten.

Dort auf dem Mond waren die alten Meere, an die er sich gut erinnerte. Er war vierzig Lichtjahre weit in den Raum vorgedrungen, und doch war er niemals auf diesen weniger als zwei Lichtsekunden entfernten, staubigen Ebenen umhergewandert. Einen Augenblick unterhielt er sich damit, den Krater Tycho zu suchen. Als er ihn entdeckte, sah er zu seinem Erstaunen, daß jener glänzende Fleck weiter von der Mittellinie der Scheibe entfernt war, als er gedacht hatte. Und in diesem Augenblick bemerkte er, daß das dunkle Oval des Mare Crisium völlig fehlte. Das Antlitz, das ihr Satellit jetzt der Erde zukehrte, war nicht dasselbe, das seit dem Morgen des Lebens auf die Welt niedergeschaut hatte. Der Mond hatte sich um seine Achse zu drehen begonnen.

Das konnte nur eines bedeuten. Auf der anderen Seite der Erde, in dem Lande, das sie so plötzlich des Lebens beraubt hatten, erwachten jene jetzt aus ihrer langen Trance. Wie ein erwachendes Kind die Arme ausstreckt, um den Tag zu begrüßen, spannten auch sie die Muskeln und spielten mit ihren neuentdeckten Kräften.

„Sie haben recht geraten“, sagte Raschaverak. „Es ist für uns nicht mehr sicher, hierzubleiben. Noch werden sie uns vielleicht nicht beachten, aber wir können uns dieser Gefahr nicht aussetzen. Wir brechen auf, sobald unsere Ausrüstung verladen ist — wahrscheinlich in zwei oder drei Stunden.“

Er blickte zum Himmel hinauf, als fürchte er, daß irgendein neues Wunder auftauchen werde. Aber alles war friedlich: Der Mond war untergegangen, und nur einige Wolken segelten hoch oben mit dem Westwind.

„Es macht nicht viel aus, wenn sie mit dem Mond allerlei anstellen“, fügte Raschaverak hinzu, „aber wenn sie sich nun an die Sonne heranmachen? Wir werden natürlich hier Apparate zurücklassen, damit wir erfahren können, was hier geschieht.“

„Ich bleibe hier“, sagte Jan unvermittelt. „Ich habe genug vom Universum gesehen. Es gibt nur eines, was mir jetzt wissenswert erscheint, nämlich das Schicksal meines eigenen Planeten.“

Ganz leise bebte der Boden unter ihren Füßen.

„Das habe ich erwartet“, fuhr Jan fort. „Wenn sie die Drehung des Mondes verändern, muß sich der Ausschlag irgendwo bemerkbar machen. Die Erde wird ihr Tempo also verlangsamen. Ich weiß nicht, was mich dabei mehr erregt: Wie sie es machen oder warum.“

„Sie spielen noch immer“, sagte Raschaverak. „Was für eine Logik liegt in den Handlungen eines Kindes? Und in mancher Hinsicht ist die Einheit, zu der Ihre Rasse geworden ist, noch ein Kind. Sie ist noch nicht bereit, sich mit dem Ubergeist zu vereinen. Aber sehr bald wird sie dazu reif sein, und dann werden Sie die Erde für sich allein haben.“

Er vollendete seinen Satz nicht, aber Jan tat es für ihn: „… Natürlich nur, wenn die Erde noch vorhanden ist.“

„Sie sind sich über diese Gefahr klar — und doch wollen Sie hier bleiben?“

„Ja. Ich bin jetzt seit fünf — oder sind es sechs? — Jahren wieder daheim: Was auch geschieht, ich werde mich nicht beklagen.“

„Wir hofften“, begann Raschaverak langsam, „daß Sie den Wunsch haben würden, hier zu bleiben. Sie können hier etwas für uns tun.“

Die Leuchtspur des Schiffes wurde matter und erstarb irgendwo jenseits der Bahn des Mars. Diesen Weg, dachte Jan, war von allen Milliarden Menschen, die auf der Erde gelebt hatten und hier gestorben waren, er allein entlanggefahren. Und niemand würde ihn jemals wieder fahren.

Die Welt gehörte ihm. Alles was er brauchte, alle materiellen Besitztümer, die irgend jemand sich wünschen konnte, standen ihm zur Verfügung. Aber er hatte kein Interesse mehr daran. Er fürchtete weder die Einsamkeit des verlassenen Planeten noch diejenigen, die in den letzten Augenblicken hier verweilten, bevor sie ihre unbekannte Erbschaft antreten würden. Jan erwartete nicht, daß er und seine Probleme in dem unfaßlichen Schwall jenes Aufbruchs noch lange vorhanden sein würden.

Das war gut. Er hatte alles getan, was er gern tun wollte, und ein zielloses Leben auf dieser leeren Welt hinzuziehen, wäre unerträglich. Er hätte mit den Overlords weggehen können, aber zu welchem Zweck? Denn er wußte, wie kein anderer je, daß Karellen recht hatte, wenn er sagte: „Die Sterne sind nicht für den Menschen.“

Er machte kehrt und ging durch den riesigen Eingang des Overlord-Stützpunktes. Die Größe machte auf ihn gar keinen Eindruck: Das Riesenhafte hatte keine Gewalt mehr über seinen Geist. Die Lichter brannten rötlich, gespeist von Energien, die sie noch jahrhundertelang in Betrieb erhalten konnten. Zu beiden Seiten standen Maschinen, die die Overlords bei ihrem Rückzug hiergelassen hatten und deren Geheimnisse er nie erfahren würde. Er ging an ihnen vorbei und stieg unbeholfen die großen Stufen hinauf, bis er den Kontrollraum erreicht hatte.

Hier weilte noch der Geist der Overlords: Ihre Maschinen lebten noch und führten die Befehle ihrer jetzt weit entfernten Herren aus. Jan überlegte, was er den Informationen, die sie bereits in den Raum hinausschleuderten, hinzufügen könne.

Er stieg auf den großen Stuhl und machte es sich so bequem wie möglich. Das schon in Betrieb genommene Mikrophon wartete auf ihn. Irgend etwas wie eine Fernsehkamera mußte ihn beobachten, aber er konnte ihren Standort nicht entdecken.

Hinter dem Pult mit seinem ausdruckslosen Armaturenbrett blickten die breiten Fenster in die sternenhelle Nacht hinaus, über ein Tal, das unter einem runden Mond schlummerte, und bis zu der fernen Kette der Berge. Ein Fluß wand sich durch das Tal, da und dort aufglitzernd, wo das Mondlicht auf eine Stelle wirbelnden Wassers traf. Es war alles so friedlich. Es mochte bei der Geburt des Menschen so gewesen sein, wie es jetzt bei seinem Ende war.

Da draußen, hinter unbekannten Millionen Kilometern, wartete Karellen. Es war ein sonderbarer Gedanke, daß das Schiff der Overlords fast so schnell von der Erde wegstürmte, wie Jans Signal ihm nacheilen konnte. Fast, aber nicht ganz so schnell. Es würde eine lange Jagd sein, aber seine Worte würden den Oberkontrolleur einholen, und damit hätte er seine Schuld abgetragen.

Wieviel von diesen Geschehnissen, fragte sich Jan, hatte Karellen geplant, und wieviel war eine meisterhafte Improvisation? Hatte der Oberkontrolleur ihn absichtlich vor fast einem Jahrhundert in den Weltraum entkommen lassen, damit er zurückkehren und die Rolle spielen könne, die er jetzt verkörperte? Nein, das erschien zu phantastisch. Aber Jan war jetzt davon überzeugt, daß Karellen in einen ungeheuren und schwierigen Plan verwickelt gewesen war. Selbst während er ihm diente, studierte Karellen den Übergeist mit allen ihm zur Verfügung stehenden Apparaten. Jan vermutete, daß nicht nur wissenschaftliche Forscherlust den Oberkontrolleur antrieb. Vielleicht träumten die Overlords davon, eines Tages ihrer sonderbaren Knechtschaft zu entrinnen, wenn sie genug über die Mächte, denen sie dienten, erfahren hätten.

Daß Jan durch das, was er jetzt tat, dieses Wissen vermehren könnte, erschien kaum glaublich. „Berichten Sie uns, was Sie sehen“, hatte Raschaverak gesagt. „Das Bild, das Ihre Augen erreicht, wird durch unsere Kameras verdoppelt werden. Aber die Botschaft, die in Ihr Gehirn eindringt, kann ganz anders sein und könnte uns viel sagen.“ Nun, er würde sein Bestes tun.

„Noch nichts zu berichten“, begann er. „Vor wenigen Minuten sah ich die Spur Ihres Schiffes am Himmel verschwinden. Der Mond ist jetzt gerade voll, und fast die Hälfte der gewohnten Seite hat sich jetzt von der Erde abgewandt, aber ich vermute, das wissen Sie schon.“

Jan hielt inne und kam sich etwas töricht vor. In dem, was er jetzt tat, war etwas Ungereimtes, ja fast Widersinniges. Diese Stunde war die Klimax der ganzen geschichtlichen Zeit, und doch hätte er ebensogut ein Rundfunksprecher bei einem Rennen oder einem Boxkampf sein können. Dann zuckte er die Schultern und schob diesen Gedanken beiseite. In allen großen Augenblicken, nahm er an, hatte das Pathos nie gefehlt, und sicherlich konnte nur er jetzt seine Anwesenheit spüren.

„In der letzten Stunde hat es drei leichte Erdbeben gegeben“, fuhr er fort. „Die Herrschaft über die Drehung der Erde muß wunderbar sein, aber nicht ganz vollkommen. Sie müssen wissen, Karellen, ich finde es sehr schwer, irgend etwas zu sagen, was Ihre Instrumente Ihnen nicht schon gemeldet haben. Es wäre nützlich gewesen, wenn Sie mir angedeutet hätten, was zu erwarten ist, und wenn Sie mir gesagt hätten, wie lange ich vielleicht warten muß. Wenn sich nichts ereignet, berichte ich in sechs Stunden wieder, wie wir vereinbart haben.

Hallo! Jene müssen darauf gewartet haben, daß Sie fortgehen. Hier geschieht etwas. Die Sterne werden matter. Es ist, als ob eine große Wolke heraufzöge und sehr schnell den ganzen Himmel bedeckte. Aber es ist keine gewöhnliche Wolke. Sie scheint irgendein Gerippe zu haben. Ich sehe ein dunstiges Netz von Linien und Bändern, die dauernd ihre Stellung ändern. Es ist fast, als hätten die Sterne sich in einem gespenstischen Spinnennetz verfangen.

Das ganze Netz beginnt zu glühen, von Lichtern zu zucken, als wäre es lebendig. Und ich vermute, das ist es auch: Oder ist es irgend etwas, so hoch über dem Leben, wie das Leben über der organischen Welt steht?

Das Leuchten scheint auf einen anderen Teil des Himmels überzugreifen — warten Sie eine Minute, während ich mich ans andere Fenster begebe.

Ja, ich hätte es mir denken können. Das ist eine große, brennende Säule, wie ein Feuerbaum, die über dem westlichen Horizont aufragt. Sie ist weit entfernt, direkt auf der anderen Seite der Welt. Ich weiß, wo es herrührt: ›Sie‹ sind endlich unterwegs, um ein Teil des Übergeistes zu werden. Ihre Probezeit ist beendet; sie lassen die letzten stofflichen Überbleibsel zurück.

Während sich das Feuer von der Erde aufwärts ausbreitet, kann ich sehen, wie das Netz fester und weniger dunstig wird. An manchen Stellen sieht es fast geschlossen aus, aber die Sterne scheinen noch matt hindurch.

Eben habe ich etwas begriffen. Es ist nicht genau das gleiche, aber das, was ich über Ihrer Welt emporsteigen sah, war diesem hier sehr ähnlich. War das ein Teil des Übergeistes? Ich nehme an, Sie haben die Wahrheit vor mir geheimgehalten, damit ich keine vorgefaßte Meinung habe und ein vorurteilsloser Beobachter bin. Ich möchte wissen, was Ihre Kameras Ihnen jetzt zeigen, um es mit dem zu vergleichen, was mein Geist mir vorspiegelt.

Spricht es so zu Ihnen, Karellen, in Farben und Formen wie diesen? Ich erinnere mich an die Bildschirme in Ihrem Schiff und die Muster, die sich darauf zeigten und zu Ihnen in irgendeiner visuellen Sprache redeten, die Ihre Augen lesen konnten.

Jetzt sieht es genau aus wie die Wolken der Morgenröte, die über die Sterne hintanzen und flimmern. Und das ist es ja auch in Wirklichkeit, davon bin ich überzeugt: Ein großer Morgensturm. Die ganze Landschaft ist erleuchtet, es ist heller als am Tag. Rote, grüne und goldene Tönungen jagen einander über den Himmel — oh, es ist mit Worten nicht zu schildern, es erscheint mir ungerecht, daß ich der einzige bin, der es sieht. Ich habe solche Farben nie für möglich gehalten.

Der Sturm erstirbt, aber das große dunstige Netz ist noch da. Ich glaube, daß die Morgenröte nur eine Begleiterscheinung von irgendwelchen Energien war, die dort an der Grenze des Weltraums entfesselt werden.

Einen Augenblick: Ich habe soeben etwas anderes bemerkt. Mein Gewicht nimmt ab. Was bedeutet das? Ich habe einen Bleistift auf den Boden geworfen — er fällt langsam. Irgend etwas ist mit der Schwerkraft geschehen. Jetzt kommt ein starker Wind auf. Ich sehe die Bäume unten im Tal ihre Äste schütteln.

Natürlich — die Atmosphäre entweicht. Stock und Stein steigen zum Himmel auf, fast als wollte die Erde selbst versuchen, ›jenen‹ in den Weltraum zu folgen. Eine große Staubwolke wird vom Sturm aufgewirbelt. Es ist jetzt schwer, irgend etwas zu sehen — vielleicht wird es gleich wieder heller werden, so daß ich sehen kann, was sich ereignet.

Ja, jetzt ist es besser. Alles Bewegliche ist entfernt, die Staubwolken sind verschwunden. Ich frage mich, wie lange dieses Gebäude noch stehen wird. Und es ist schwer zu atmen. Ich muß versuchen, langsamer zu sprechen.

Ich kann wieder deutlich sehen. Die große, brennende Säule ist noch da, aber sie zieht sich zusammen, wird schmaler, sieht aus wie der Trichter eines Tornados, der sich in die Wolken zurückziehen will. Und — dies ist schwer zu beschreiben, aber gerade in diesem Augenblick fühlte ich eine Woge der Erregung über mich hinfluten. Es war nicht Freude oder Trauer, es war ein Gefühl der Erfüllung, der Vollendung. Habe ich es mir eingebildet? Oder kam es von außen? Ich weiß es nicht.

Und jetzt. dies kann nicht alles Einbildung sein. die Welt erscheint leer. Völlig leer. Es ist, als lauschte man auf einen Radioapparat, der plötzlich tot ist. Und der Himmel ist wieder hell. das dunstige Gewebe ist verschwunden. Zu welcher Welt wird es nun gehen, Karellen? Und werden Sie auch dort sein, um ihm weiter zu dienen?

Sonderbar: Alles um mich her ist unverändert. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie hätte ich gedacht, daß.“

Jan hielt inne. Einen Augenblick suchte er nach Worten, dann schloß er die Augen, um seine Selbstbeherrschung zurückzugewinnen. Jetzt war nicht Zeit für Furcht oder Panik: Er hatte eine Pflicht zu erfüllen, eine Pflicht gegen den Menschen und eine Pflicht gegen Karellen.

Zuerst langsam, wie einer, der aus einem Traum erwacht, begann er zu sprechen: „Die Gebäude um mich her, der Boden, die Berge, alles ist wie Glas. Ich kann hindurchsehen. Die Erde löst sich auf. Mein Gewicht ist fast verschwunden. Sie hatten recht: ›Jene‹ haben aufgehört, mit ihrem Spielzeug nur zu spielen.

Es ist nur wenige Sekunden später. Jetzt zergehen die Berge wie Rauchschwaden. Leben Sie wohl, Karellen, Raschaverak. Es tut mir leid um Sie. Obwohl ich es nicht begreifen kann, habe ich gesehen, was aus meiner Rasse geworden ist. Alles, was wir je geleistet haben, ist zu den Sternen emporgestiegen. Vielleicht ist es das, was die alten Religionen zu sagen versuchten. Aber sie sagten es alle falsch: Sie dachten, die Menschheit wäre so wichtig, und doch sind wir nur eine einzige Rasse von — wissen Sie, wie vielen? Jetzt aber sind wir etwas geworden, was Sie nie sein könnten.

Jetzt verschwindet der Fluß. Aber keine Veränderung am Himmel.

Ich kann kaum atmen. Sonderbar, daß der Mond dort oben noch immer scheint. Ich freue mich, daß sie ihn zurückgelassen haben, aber es wird jetzt einsam sein.

Das Licht! Von unten her — aus dem Innern der Erde — leuchtet es herauf, durch die Felsen, durch den Boden, durch alles, und wird heller, heller, blendend hell.“

In einer geräuschlosen Lichtflut gab der Kern der Erde seine aufgespeicherten Energien frei. Für eine kleine Weile kreuzten die Schwerkraftwellen das Sonnensystem und störten die Bahn der Planeten. Dann setzten die übrigbleibenden Kinder der Sonne ihre alten Wege fort, wie Korken, die auf einem friedlichen See schwimmen, den feinen Kreisen folgen, die durch einen hineinfallenden Stein in Bewegung gesetzt werden.

Von der Erde blieb nichts übrig: Jene hatten die letzten Atome der Substanz aufgesaugt. Die Erde hatte sie in allen Augenblicken ihrer unfaßlichen Verwandlung genährt, wie die in einem Weizenkorn aufgespeicherte Nahrung die junge Pflanze nährt, während sie der Sonne zustrebt.

Sechstausend Millionen Kilometer jenseits der Bahn des Pluto saß Karellen vor einem plötzlich verdunkelten Bildschirm. Der Bericht war vollständig, die Mission beendet. Er reiste heimwärts zu der Welt, die er vor so langer Zeit verlassen hatte. Die Last von Jahrhunderten lag auf ihm und eine Betrübnis, die keine Logik zu zerstreuen vermochte. Er trauerte nicht um den Menschen; seine Trauer galt seiner eigenen Rasse, die von der Größe für immer abgesperrt war durch Kräfte, die sie nicht zu überwinden vermochte.

Trotz aller Leistungen, dachte Karellen, trotz aller Beherrschung des physikalischen Universums war sein Volk nicht besser als ein Stamm, der sein ganzes Dasein auf irgendeiner flachen und staubigen Ebene verbracht hatte. Weit entfernt waren die Berge, wo Kraft und Schönheit wohnten, wo der Donner über den Gletschern dröhnte und die Luft klar und frisch war. Dort war auch die Sonne und vergoldete die Gipfel, wenn alles Land unten in Dunkelheit gehüllt war. Und sie konnten nur beobachten und staunen; sie konnten niemals diese Höhen ersteigen.

Und doch wußte Karellen, daß sie bis zum Ende standhalten würden. Sie würden ohne Verzweiflung ausharren, welches Schicksal auch immer ihrer wartete. Sie würden dem Übergeist dienen, weil sie keine Wahl hatten, aber selbst in diesem Dienst würden sie ihre Seelen nicht verlieren.

Der große Bildschirm erglühte für einen Augenblick in einem dunkelroten Licht. Ganz in Gedanken las Karellen die Botschaft, die diese wechselnden Linien brachten. Das Schiff verließ die Grenzen des Sonnensystems: Die Energien, die es antrieben, verebbten schnell, aber sie hatten ihre Arbeit getan.

Karellen hob die Hand, und wieder veränderte sich das Bild. Ein einziger heller Stern leuchtete im Mittelpunkt des Schirms. Niemand hätte aus dieser Entfernung sagen können, daß die Sonne je Planeten besessen hatte oder daß einer von ihnen jetzt verlorengegangen war. Lange blickte Karellen über die schnell breiter werdende Kluft zurück, während viele Erinnerungen durch seinen ungeheuren, labyrinthischen Geist glitten. In schweigendem Abschied grüßte er die Menschen, die er gekannt hatte, ob sie ihn nun bei seinen Zielen gehindert oder ihm geholfen hatten.

Niemand wagte ihn zu stören oder seine Gedanken zu unterbrechen, und dann kehrte er der entschwindenden Sonne den Rücken.

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