12

»Du solltest im Tempel bleiben!«, erklärte Illidan. »Malfurion hielt es für das Beste – und ich auch!«

Aber Tyrande ließ sich nicht umstimmen. »Ich muss wissen, was vorgeht! Du hast gesehen, wie viele Männer ihnen nachgeritten sind! Wenn sie sie gefangen haben …«

»Sie werden sie nicht fangen!« Er blinzelte. Die blendende Sonne war gar nicht nach seinem Geschmack. Er fühlte, wie seine Kräfte nachließen, wie der Rausch der Magie schwand, und Illidan mochte solche Empfindungen nicht. Er genoss die Magie in all ihren Facetten. Das war einer der Gründe dafür gewesen, dass er versucht hatte, dem Pfad des Druiden zu folgen – das und die Tatsache, dass Cenarius’ Lehren angeblich nicht von Nacht oder Tag beeinflusst wurden.

Sie standen seiner Meinung nach gefährlich nahe am Marktplatz. Tyrande hatte hierher zurückkehren wollen, sobald sich die Lage ein wenig beruhigt hatte. Die Mondgarde und die Soldaten waren fortgeritten und verfolgten Malfurion. Nur zwei der Zauberer waren zurückgeblieben, um den Käfig zu untersuchen – was sie getan und dabei keinerlei Spur der Täter gefunden hatten. Genau wie Illidan es erwartet hatte. Er war mindestens ebenso fähig wie irgendeiner der ach so ehrwürdigen Magier, wenn nicht sogar noch fähiger.

»Ich sollte ihnen nachreiten!«

Würde sie denn niemals aufgeben? »Wenn du das tust, bringst du uns alle in Gefahr! Willst du, dass sie dein Haustierchen nach Black Rook Hold und zu Lord Ravencrest schaffen? Dann könnten sie genauso gut auch uns dorthin bring …«

Plötzlich schloss Illidan den Mund. Am anderen Ende des Marktplatzes erschienen mehrere Reiter in Rüstungen … angeführt von Lord Kur’talos Ravencrest persönlich.

Es war zu spät, um sich noch zu verstecken. Als der Nachtelfen-Kommandant an ihnen vorbei ritt, fiel sein finsterer Blick erst auf Tyrande, dann auf ihren Begleiter.

Ravencrest brachte seinen Panther abrupt zum Stehen und fixierte Illidan.

»Ich kenne dich, junger Mann … Illidan Stormrage, nicht wahr?«

»Jawohl, Milord. Ich hatte einmal die Ehre, Euch kennen lernen zu dürfen.«

»Und das Mädchen?«

Tyrande verbeugte sich. »Tyrande Whisperwind, Novizin im Tempel der Elune …«

Die Nachtelfen auf ihren Reittieren machten ehrerbietig das Zeichen des Mondes, und auch Ravencrest neigte respektvoll den Kopf. Dann wandte der Edelmann sich wieder Illidan zu. »Ich erinnere mich an unsere Begegnung. Du hast damals die magischen Künste studiert.« Er rieb sich das Kinn. »Du bist noch kein Mitglied der Mondgarde, oder?«

Die Art, wie Ravencrest die Frage stellte, machte klar, dass er die Antwort bereits kannte. Offensichtlich hatte er seit ihrem ersten Zusammentreffen ein Auge auf Illidan gehabt, und das machte den jungen Nachtelfen sowohl stolz, als auch besorgt. Er war sich nicht bewusst, irgendetwas getan zu haben, das das Wohlwollen des Kommandanten verdient hätte. »Nein, Milord.«

»Dann bist du auch nicht durch ihre Beschränkungen gebunden, nicht wahr?« Die Beschränkungen, von denen der Kommandant sprach, bezogen sich auf die Eide, die jeder Zauberer ablegen musste, wenn er dem berühmten Orden beitrat. Die Mondgarde war ein vollkommen eigenständiges Gebilde, das niemandem Treue schuldete außer der Königin … Und das bedeutete, dass selbst ein Mann wie Lord Ravencrest nicht über sie verfügen konnte.

»Ich denke nicht.«

»Gut. Sehr gut. Prächtig. Dann möchte ich, dass du mit uns reitest.«

Jetzt schauten sowohl Tyrande als auch Illidan verwirrt drein. Die junge Priesterin, die sich offenbar um Illidans Sicherheit sorgte, sagte: »Milord Ravencrest, wir würden uns geehrt fühlen …«

Weiter kam sie nicht. Der Nachtelfen-Lord hob höflich eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Nicht Ihr, Schwester, obwohl der Segen von Mutter Mond stets willkommen ist. Nein, ich will jetzt nur mit dem Jungen sprechen.«

Illidan, der versuchte, seine wachsende Nervosität zu verbergen, fragte: »Aber wofür könntet Ihr einen wie mich brauchen, Milord?«

»Im Augenblick für eine Untersuchung. Die Kreatur, die hier eingesperrt war, ist entkommen, wie auch ihr mit Sicherheit gehört habt. Ich selbst habe erst vor wenigen Minuten von dieser Flucht erfahren. Falls sie noch nicht wieder eingefangen ist, habe ich ein paar Ideen, wie man sie finden könnte. Ich könnte aber gut die Hilfe eines Zauberers gebrauchen, und obwohl die Mondgarde sehr fähig ist, würde ich jemanden vorziehen, der meinen Befehlen folgt.«

Einem Nachtelfen von so hohem Rang wie Ravencrest ihn bekleidete eine Bitte zu verweigern, wäre mehr als verdächtig gewesen. Aber wenn Illidan sich ihm anschloss, brachte er Malfurion in Gefahr. Tyrande musterte Illidan verstohlen und versuchte, seine Gedanken zu erraten. Er wiederum wünschte sich, sie könnte ihm sagen, was er Ravencrest zur Antwort geben sollte.

Im Grunde blieb ihm keine Wahl. »Es wäre mir eine große Ehre, mich euch anschließen zu dürfen, Milord.«

»Prächtig! Rol’tharak! Ein Reittier für unseren jungen Zaubererfreund hier!«

Der angesprochene Offizier führte einen in Reserve gehaltenen Nachtsäbel heran. Fast schien es, als hätte Ravencrest erwartet, hier auf Illidan zu treffen. Das Tier kauerte sich nieder, damit der neue Reiter seinen Rücken besteigen konnte.

»Die Sonne geht gleich auf, Milord«, wandte sich Rol’tharak an seinen Herrn, während er Malfurions Bruder die Zügel des Tieres übergab.

»Wir kommen schon klar … und du auch, was, Zauberer?«

Illidan verstand den versteckten Sinn ganz genau. Seine Kräfte würden im Tageslicht schwächer sein, doch der Kommandant war offensichtlich zuversichtlich, dass er sich trotzdem würde nützlich machen können. Das Vertrauen, das Ravencrest ihm damit bewies, ließ Illidans Brust vor Stolz schwellen.

»Ich werde Euch nicht enttäuschen, Milord.«

»Prächtig, Junge!«

Als er sich auf den Panther schwang, warf Illidan Tyrande einen kurzen Blick zu, der ihr sagen sollte, dass sie sich um Malfurion und den Orc keine Sorgen machen musste. Er würde mit Ravencrest reiten und dem Edelmann helfen, so gut er konnte – so lange dadurch die Flucht des Paares nicht gefährdet wurde.

Eine größere Belohnung als Tyrandes kurzes, aber dankbares Lächeln hätte er sich nicht vorstellen können. Illidan war gehörig stolz auf sich und nickte dem Kommandanten zu, dass er nun bereit sei.

Mit einem Winken und einem lauten Ruf führte Lord Ravencrest seine bewaffnete Truppe dem Wald entgegen. Illidan lehnte sich vor, entschlossen, mit dem Edelmann Schritt zu halten. Irgendwie würde es ihm gelingen, Ravencrest zu gefallen und gleichzeitig zu verhindern, dass sein altruistischer Bruder im Kerker von Black Rook Hold endete. Malfurion kannte sich in den Wäldern aus, was bedeutete, dass es ihm wahrscheinlich gelingen würde, Soldaten und Mondgardisten abzuhängen. Aber wenn die Verfolger seinen Zwillingsbruder und Tyrandes Geschöpf doch eingeholt haben sollten, würde Illidan ernsthaft darüber nachdenken müssen, Brox zu opfern, um wenigstens seinen Bruder zu retten. Selbst Tyrande würde das verstehen müssen. Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um diese Situation zu vermeiden, aber das eigene Blut ging ihm über alles andere …

Wie so oft hatte sich ein Morgennebel über die Landschaft gesenkt. Die Luft würde bald aufklaren, aber noch erhöhte der Dunst Malfurions Chancen. Illidan hielt seine Augen auf den Pfad vor sich gerichtet und fragte sich, ob es der gleiche war, den auch sein Bruder benutzt hatte. Vielleicht war die Mondgarde ja in die falsche Richtung geritten, und dann wäre auch Lord Ravencrests Suche zum Scheitern verurteilt gewesen. Der junge Nachtelf nährte diese Hoffnung in sich.

Als sie auf ihren schnellen Nachtsäbeln tiefer und tiefer in das Waldland vordrangen, legte sich der Nebel allmählich. Die Morgensonne nagte bald ebenso eifrig an Illidans Kräften, wie sie den Nebel fraß. Aber er biss die Zähne zusammen und versuchte, nicht zu sehr darüber nachzudenken. Wenn es dazu kam, dass er seine Zauberkräfte unter Beweis stellen musste, wollte er den Edelmann keinesfalls enttäuschen. Die Jagd nach dem Orc war zu Illidans großer Chance geworden, wertvolle neue Beziehungen in der Nachtelfen-Welt zu knüpfen.

Doch gerade als sie die Spitze eines Kamms erreichten, sah Illidan etwas, das ihn die Stirn runzeln ließ. Lord Ravencrest fluchte und zügelte seinen Nachtsäbel. Der Rest der Truppe tat es ihm gleich.

Vor ihnen lagen seltsame Haufen über den Pfad verteilt. Die Nachtelfen ritten vorsichtig zur anderen Seite des Kamms hinab und hielten ihre Waffen bereit. Illidan betete, dass er seine Fähigkeiten bei Tage nicht überschätzt hatte.

»Bei den Augen der Gesegneten Azshara!«, entfuhr es Ravencrest.

Illidan konnte gar nichts sagen. Er hatte nur noch Augen für das unfassbare Gemetzel, das sich ihnen im Näherreiten enthüllte.

Mindestens ein halbes Dutzend Nachtelfen, darunter zwei Mitglieder der Mondgarde, lagen tot vor den Neuankömmlingen, ihre Leichen in Stücke gerissen und im Fall der beiden Zauberer offenbar von irgendeiner vampirischen Kraft ausgesaugt. Der Anblick der beiden Magier erinnerte Illidan an vertrocknete Früchte, die zu lange in der Sonne gedörrt hatten. Ihre ausgemergelten Leiber lagen in Haltungen, die extreme Qual ausdrückten, auf dem Waldboden, und offensichtlich hatten sie sich während ihrer gesamten Tortur mit aller Kraft gewehrt.

Fünf Nachtsäbel waren ebenfalls tot, drei mit heraus gerissenen Kehlen, die anderen beiden mit aufgeschlitzten Bäuchen. Von den überlebenden Panthern war nichts zu sehen.

»Ich hatte Recht!«, schnappte Ravencrest. »Diese grünhäutige Bestie war nicht allein! Es müssen zwei Dutzend oder mehr von ihrer Sorte gewesen sein, die das hier angerichtet haben … und die Mondgarde war dabei!«

Illidan achtete nicht auf ihn, sondern machte sich mehr Sorgen um Malfurion. Dies konnte nicht das Werk seines Bruders oder eines einzelnen Orcs sein. Hatte Lord Ravencrest vielleicht doch Recht? Hatte Brox Malfurion verraten und ihn zu seinen wilden Kameraden geführt?

Ich hätte die Bestie töten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte! Er ballte die Fäuste und fühlte, wie die Wut seine Kräfte verstärkte. Wenn er jetzt ein Ziel gehabt hätte, einen Gegner, er hätte dem Edelmann seine magischen Fähigkeiten bewiesen.

Da bemerkte einer der Soldaten etwas, das rechts etwas abseits des Gemetzels lag. »Milord! Schaut Euch das an! So etwas habe ich noch nie gesehen!«

Illidan und Ravencrest wendeten ihre Panther und starrten mit großen Augen auf das Tier, das der andere Nachtelf entdeckt hatte.

Es war eine Kreatur aus einem Alptraum. Die Gestalt erinnerte vage an einen Wolf, doch war sie auf eine monströse Art verzerrt, als habe irgendein wahnsinniger Gott sie in den Tiefen seines kranken Geistes geschaffen. Selbst im Tod hatte sie nichts von ihrer Grauenhaftigkeit verloren.

»Was hältst du davon, Zauberer?«

Für einen Augenblick vergaß Illidan, dass er hier der Quell magischer Weisheit war. Er schüttelte den Kopf und antwortete in aller Offenheit: »Ich habe nicht die geringste Ahnung, Lord Ravencrest … nicht die geringste Ahnung.«

So Furchterregend dieses Monster auch sein mochte, jemand hatte es getötet und einen behelfsmäßigen Speer in seinen Rachen gerammt, woran es wahrscheinlich erstickt war.

Wieder wandten sich Illidans Gedanken seinem Bruder zu, den er zuletzt auf dem Weg in diesen Wald gesehen hatte. War dies Malfurions Werk? Unwahrscheinlich. Lag sein Zwillingsbruder stattdessen irgendwo in der Nähe, in Fetzen gerissen wie die anderen Nachtelfen?

»Sehr seltsam«, murmelte Ravencrest. Dann richtete er sich plötzlich in seinem Sattel auf und blickte sich um. »Wo ist der Rest der ersten Gruppe?«, fragte er, an niemand Bestimmten gewandt. »Wir hätten eigentlich doppelt so viele Männer finden müssen!«

Wie zur Antwort auf seine Frage erklang ein klagender Hornruf von Süden her, wo das Waldgelände abrupt abfiel.

Der Kommandant wies mit seiner Klinge in die Richtung, aus der das Horn erklungen war. »Dort entlang … aber seid vorsichtig. Vielleicht sind hier noch mehr von diesen Monstern unterwegs!«

Die Gruppe arbeitete sich das Gelände hinab, und jeder Nachtelf, auch Illidan, beobachtete den dichter werdenden Wald mit Beklemmung. Das Horn ertönte nicht wieder. Kein gutes Zeichen.

Bald trafen sie auf einen weiteren toten Nachtsäbel, dessen gesamte linke Körperhälfte von furchtbaren Klauen aufgerissen war. Nicht weit davon entfernt lag die ausgemergelte Leiche eines dritten Mitglieds der Mondgarde gegen einen großen Felsen gepresst, und der in grenzenlosem Schrecken erstarrte Gesichtsausdruck ließ selbst die Hartgesottensten unter Lord Ravencrests Männern erschaudern.

»Ruhig …«, befahl der Edelmann mit leiser Stimme. »Ordnung wahren …«

Ein weiteres Mal erklang das Horn, jetzt viel näher und direkt vor ihnen.

Die Neuankömmlinge ritten auf den klagenden Ruf zu, und Illidan hatte das scheußliche Gefühl, dass irgendetwas sie beobachtete – insbesondere ihn! Doch wann immer er sich umblickte, sah er nur Bäume.

»Noch einer, Milord!«, rief der Nachtelf namens Rol’tharak und zeigte auf den Weg voraus.

Und tatsächlich lag dort noch eine weitere der höllischen Bestien. Sie war tot, aber ihr Körper lag in einer seltsamen Haltung ausgebreitet, als habe sie noch im Sterben nach weiteren Opfern gesucht. Zusätzlich zu der zerschmetterten Nase und einer Schulter, aus der große Fleischbatzen gerissen waren, hatte sie seltsame Striemen an den Beinen, als sei sie mit Stricken gefesselt worden. Was sie jedoch getötet hatte, waren eine Reihe gut gezielter Hiebe von Nachtelfenklingen gewesen. Eines der Schwerter steckte noch immer im Rachen der Kreatur.

Sie fanden zwei weitere Soldaten in der Nähe. Die gut ausgebildeten Krieger des Reiches lagen wie weggeworfene Stoffpuppen über den Waldboden verstreut. Illidan runzelte verwirrt die Stirn. Wenn es den Nachtelfen gelungen war, die beiden Monster zu töten, wo waren dann die Überlebenden?

Wenige Sekunden später fanden sie, was noch von der Gruppe übrig war.

Ein Soldat saß gegen einen Baum gelehnt. Sein linker Arm war abgerissen worden, und jemand hatte einen kläglichen Versuch unternommen, die riesige Wunde zu verbinden. Der Mann starrte vor sich hin, ohne die Ankömmlinge wahrzunehmen, das Horn in der einen Hand, die ihm geblieben war. Blut besudelte seinen Oberkörper.

Neben ihm lag der andere Überlebende – wenn man bei einem Mann, dem die rechte Gesichtshälfte abgerissen war und dessen linkes Bein am Knie in einem unmöglichen, Übelkeit erregenden Winkel abstand, noch von Überleben sprechen konnte. Sein Atem ging stoßweise und hob kaum den Brustkorb.

»Du da, Mann!«, bellte Ravencrest den Nachtelf, der das Horn hielt, an. »Sieh her zu mir!«

Der Überlebende blinzelte, dann zwang er seine Blick zu dem Edelmann hinauf.

»Ist das alles? Gibt es noch mehr Überlebende?«

Der verstümmelte Soldat öffnete den Mund, aber nur ein Röcheln drang aus seiner Kehle.

»Rol’tharak! Kümmere dich um seine Wunden! Gib ihm Wasser, wenn er es braucht!«

»Jawohl, Milord!«

»Der Rest von euch sichert das Gelände! Verteilt euch! Sofort!«

Illidan blieb bei Ravencrest und sah skeptisch zu, wie sich die Krieger in weitem Bogen verteilten und so eine Grenze absteckten, von der sie hofften, dass sie sicher war. Dass so viele ihrer Kameraden, darunter drei Zauberer, offenbar problemlos massakriert worden waren, hob ihre Moral in keiner Weise.

»Sprich!«, brüllte Ravencrest. »Ich befehle es dir! Wer ist für dieses Gemetzel verantwortlich? Der entflohene Gefangene?«

Bei diesen Worten brach aus dem blutverschmierten Soldaten wildes Gelächter hervor. Es erschreckte Rol’tharak so sehr, dass er einen Schritt zurückwich.

»D-Den haben wir nie zu Gesicht bekommen, M-Milord!«, antwortete die verstümmelte Gestalt. »Der ist wohl selbst g-ge-fressen worden!«

»Also waren es diese Monster? Diese Hunde?«

Der schwer verletzte Nachtelf nickte.

»Was ist mit den Mondgardisten passiert? Warum haben sie die Dinger nicht aufgehalten? Sicher konnten sie selbst bei Tage …«

Und wieder lachte der verwundete Soldat. »Milord! Die Zauberer waren die leichteste B-Beute …«

Mit einiger Mühe brachte er seine Geschichte schließlich heraus. Die Soldaten und die Mondgarde hatten die entflohene Kreatur und eine weitere, nicht identifizierte Gestalt durch den Wald gejagt. Sie waren ihren Spuren gefolgt, sogar durch den Nebel und die aufgehende Sonne hindurch. Sie hatten das Paar niemals wirklich zu Gesicht bekommen, glaubten aber, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis sie sie eingeholt hätten.

Dann waren sie vollkommen unerwartet auf die erste tote Bestie gestoßen.

Keiner der Männer hatte je zuvor solch eine Kreatur gesehen. Selbst im Tod hatte sie den Nachtelfen noch Angst eingeflößt. Hargo’then, der Anführer der Zauberer, hatte etwas Magisches an ihr wahrgenommen und den anderen Männern befohlen, ein paar Schritte hinter ihm zu warten, während er an den Kadaver heran ritt, um ihn zu untersuchen. Niemand hatte etwas dagegen eingewandt.

»Das ist ein Geschöpf wider die Natur«, hatte Hargo’then erklärt, als er von seinem Nachtsäbel stieg. »Tyr’kyn …«, hatte er sich sodann an ein anderes Mitglied der Mondgarde gewandt, »ich will, dass du …«

In diesem Moment war das zweite Monster über ihn hergefallen.

»Es kam zwischen den Bäumen hervor, M-Milord … und es stürzte sich direkt auf … auf Hargo’then! T-Tötete seinen Nachtsäbel mit einem einzigen Prankenhieb und dann … d-dann …«

Der Zauberer hatte keine Chance gehabt. Bevor seine entsetzten Kameraden reagieren konnten, hatten sich zwei schreckliche Tentakel wie Blutegel an Hargo’thens Brust und Stirn geheftet. Der Anführer der Mondgarde hatte geschrien, wie noch keiner der Männer je einen anderen Nachtelfen hatte schreien hören, und vor ihren Augen war sein Körper zu einer welken Hülle vertrocknet, deren Schreie rasch erstarben. Die sabbernde, vierbeinige Monstrosität hatte seinen Leichnam fortgeschleudert wie einen abgenagten Knochen.

Schließlich hatten die anderen Nachtelfen sich von ihrem Schreck erholt und waren auf die Bestie eingestürmt, um wenigstens Hargo’thens Tod zu rächen. Zu spät hatten sie erkannt, dass sie von hinten von einer dritten Bestie angegriffen wurden. So waren sie zwischen zwei dämonischen Kreaturen geraten.

Das Ergebnis des darauf folgenden Gemetzel hatten die Ankömmlinge bereits gesehen. Die Zauberer der Mondgarde waren zuerst gefallen, ihre geschwächte Magie machte sie zu einer äußerst leichten Beute – und einer offenbar delikaten dazu. Den Soldaten war es wenig besser ergangen, doch zumindest hatten ihre Klingen eine gewisse Wirkung bei den Dämonen gezeigt.

Während sich der Überlebende dem Ende seines Berichts näherte, wurden seine Worte immer unzusammenhängender. Als er schließlich davon erzählte, wie er und drei andere Männer sich an diesem Ort zusammengetan hatten, um gemeinsam gegen die Bestie vorzugehen, konnten Lord Ravencrest und Illidan seine Sätze kaum noch verstehen. Dann brach seine Stimme vollständig ab, und sein Kopf sank ihm auf die Brust.

Rol’tharak untersuchte den Soldaten. »Er ist wieder ohnmächtig geworden, Milord. Ich fürchte, er wird nicht wieder erwachen.«

»Sieh zu, was du tun kannst, um seinen Schmerz zu lindern. Und untersuch’ auch den anderen da.« Der Edelmann fürchte die Stirn. »Ich möchte noch mal einen Blick auf diesen ersten Kadaver werfen. Zauberer, begleite mich.«

Illidan folgte Ravencrest den Pfad zurück. Zwei Soldaten lösten sich von der Truppe, um sich ihnen anzuschließen. Die anderen Männer fuhren fort, den Ort des Gemetzels zu untersuchen und hielten erfolglos nach weiteren Überlebenden Ausschau.

»Was hältst du von dieser Geschichte?«, wandte sich der Kommandant an Illidan. »Hast du jemals von solchen Monstern gehört?«

»Noch nie, Milord … doch ich gehöre auch nicht der Mondgarde an, und so bin ich nicht in deren gesamtes arkanes Wissen eingeweiht.«

»Ein Wissen, dass ihnen wenig genützt hat! Hargo’then war immer zu sehr von sich selbst überzeugt. Wie die meisten Angehörigen der Mondgarde.«

Illidan kommentierte dies nicht.

»Hier ist es …«

Das grässliche Geschöpf sah aus, als versuche es noch immer, sich den Keil aus dem Rachen zu reißen. Trotz der offenen Wunden an seinem Körper hatte sich noch keiner der üblichen Aasfresser auf den Kadaver gestürzt, selbst die Fliegen waren ausgeblieben. Es schien, als fühlten sich sogar die Tiere des Waldes von dem toten Eindringling abgestoßen.

Ravencrest wandte sich an die beiden Soldaten und befahl ihnen: »Überprüft den Weg, den wir genommen haben. Seht nach, ob der Pfad noch weiter führt. Ich will immer noch diese Grünhaut … jetzt mehr denn je!«

Während die beiden Männer davonritten, stiegen Illidan und der Edelmann von ihren Panthern. Der Kommandant zog sein Schwert. Den Nachtsäbeln schien es bei der Leiche überhaupt nicht zu gefallen, und so führten ihre Reiter sie zu einem dicken Baum in einiger Entfernung und banden sie fest.

Sobald sie wieder bei der Leiche waren, kniete sich Lord Ravencrest nieder. »Einfach scheußlich! In all meinen Jahren als Soldat bin ich noch nie auf eine Kreatur gestoßen, die so gut für das reine Töten geschaffen ist wie diese …« Er hob einen der ledrigen Tentakel. »Seltsames Ding … Damit hat das andere Monster also Hargo’then ausgesaugt. Was hältst du davon?«

Illidan versuchte, nicht vor dem abscheulichen Fangarm zurückzuweichen, den der Edelmann ihm vor das Gesicht hielt, und es gelang ihm herauszubringen: »Von vampirischer Art, Milord. Manche Tiere trinken Blut, doch dieses hier nährt sich offenbar von magischer Energie.« Er blickte sich um. »Der andere Tentakel wurde abgerissen.«

»Ja, so scheint es. Wahrscheinlich von einem Tier …«

Während der Edelmann seine schaurige Untersuchung fortsetzte, dachte Illidan über den Tod der Monstrosität nach. Der Soldat hatte berichtet, dieses erste Tier sei bereits tot gewesen, als sie es fanden, und der scharfe Verstand des jungen Nachtelfen schloss, dass nur Malfurion oder Brox es getötet haben konnten … Und angesichts der heftigen Kampfes, der hier offensichtlich stattgefunden hatte, tippte Illidan eher auf den Orc.

Die an den Baum gebundenen Katzen wurden zunehmend unruhiger und protestierten heftig dagegen, der Kreatur so nahe zu sein. Illidan versuchte, ihr Fauchen zu ignorieren, denn er machte sich immer noch Sorgen um seinen Bruder. Sie hatten keine anderen Leichen gefunden als die der ersten Gruppe und den Kadaver der zweiten der drei Bestien, von denen der Soldat gesprochen hatte, aber …

Plötzlich schnellte Illidans Kopf hoch, als fahre er aus einem tiefen Schlaf auf. »Milord Ravencrest! Wir haben keine Spuren von der dritten –«

Das Fauchen der Nachtsäbel erreichte einen neuen Höhepunkt.

Illidan spürte etwas hinter sich.

Er warf sich zur Seite und stieß unbeabsichtigt mit dem ahnungslosen Edelmann zusammen. Beide Männer stürzten zu Boden, und der jüngere Nachtelf kam über dem Kommandanten zum Liegen. Durch den Aufprall entglitt Ravencrest sein Schwert, flog wild durch die Luft und landete weit außerhalb seiner Reichweite.

Die riesige, krallenbewehrte Gestalt, die gerade auf Illidan losgesprungen war, flog über die Überreste ihres Artgenossen hinweg.

»Was im Namen der …?«, stieß Ravencrest hervor – und brach jäh ab.

Die Nachtsäbel wollten das Ungetüm angreifen, doch ihre um den Baum geschlungenen Zügel hielten und verhinderten, dass die Katzen ihnen zu Hilfe eilen konnten.

Illidan erholte sich als Erster von dem Schreck, und als er aufblickte, sah er, wie sich die höllische Kreatur umwandte, um einen zweiten Angriff zu unternehmen. Die toten Tiere waren schon furchtbar genug gewesen, doch eines dieser Monster lebend zu sehen, das sich noch dazu auf ihn stürzen wollte, brachte Illidan beinahe dazu, in blinder Panik zu fliehen.

Anstatt aber ein weiteres Mal zu springen, ließ der entsetzliche Hund seine beiden Tentakel nach Illidan peitschen. Erinnerungen an die vertrockneten Leichen, die einst mächtige Mitglieder der Mondgarde gewesen waren, fielen über den Geist des jungen Nachtelfen her. Doch als die schleimigen Fangarme seine eigene Magie suchten, seinen Körper aussaugen wollten, übernahm sein Selbsterhaltungstrieb die Regie. Es gelang ihm im letzten Moment, den vorschießenden Tentakeln auszuweichen und sich zur Seite zu werfen.

Während die Bestie ihre Saugarme zurück zog, um für einen weiteren Schlag Schwung zu nehmen, erinnerte sich Illidan daran, dass ein Tentakel der toten Bestie abgerissen gewesen war, und sein wacher Verstand entwickelte blitzschnell einen Plan.

Er versuchte gar nicht erst, das Monster direkt zu treffen, ahnte er doch, wie wenig er damit erreichen würde. Das Tier würde einfach Illidans Zauber verschlingen und ihn vielleicht sogar als »Brücke« missbrauchen, um den jungen Nachtelfen direkt auszusaugen. Stattdessen entschied sich Illidan, seinen Zauber auf Lord Ravencrests verlorene Klinge zu richten, die außerhalb des Blickfelds der höllischen Kreatur lag.

Noch während die Bestie ihre Fangarme bereit machte, erhob sich das Schwert wie von selbst in die Luft und begann, sich zu drehen, schneller und schneller zu wirbeln. Illidan richtete es auf den Rücken der Kreatur und zielte auf die parasitären Tentakel.

Mit höchstmöglicher Genauigkeit schoss die wirbelnde Klinge über die Schultern des Ungetüms hinweg und durchtrennte beide Tentakel so mühelos, als seien es Grashalme.

Ein markerschütterndes Heulen schüttelte das hundeähnliche Monster, während eine dicke, grüne Flüssigkeit über Schultern und Rücken spritzte. Es knurrte, und seine bösartigen Augen konzentrierten sich auf den Mann, der es verletzt hatte.

Ermutigt durch diesen Erfolg und weniger angsterfüllt, nun, da die akute Gefahr für seine Magie beseitigt war, richtete Illidan Ravencrests Schwert erneut auf das Monster. Als das Tier auf ihn zusprang, schenkte der junge Nachtelf ihm ein dunkles Lächeln.

Mit einer Kraft, die durch seinen brennenden Willen verstärkt wurde, grub er die Waffe in den harten Schädel der Kreatur.

Der Sprung des Monsters stockte. Es stolperte unbeholfen. Ein glasiger Blick füllte die schrecklichen Augen. Der riesigen Bestie gelangen noch zwei weitere Schritte auf Illidan zu … dann brach sie zu einem schlaffen Haufen zusammen.

Eine unglaubliche Erschöpfung überkam den jungen Nachtelf, doch sie war gemischt mit extremster Genugtuung und schwindelerregendem Triumph. Ohne große Probleme hatte er gesiegt, wo drei Mitglieder der Mondgarde versagt hatten. Dass er aus ihren Fehlern gelernt hatte, focht Illidan nicht an. Er wusste nur, er hatte sich allein einem Dämonen gestellt – und gewonnen!

»Gut gemacht!« Eine schwere Hand klatschte auf seine Schulter und schickte ihn stolpernd in Richtung seines monströsen Feindes. Während Illidan um sein Gleichgewicht kämpfte, trat Lord Ravencrest an ihm vorbei, um das Werk seines Gefährten zu bewundern. »Ein prächtiger Gegenangriff! Entferne die größte Gefahr, dann führe den Todesstoß, noch bevor der Feind sich erholen kann! Prächtig!«

Der Edelmann platzierte einen Stiefel auf dem Nacken des toten Dämons und bemühte sich, seine Klinge aus dem Schädel des Monsters zu ziehen. Vom Weg her kamen die beiden Soldaten angeritten, und weiter hinten hörte Illidan Rufe, als die restlichen Männer schließlich erkannten, welche Bedrohung sich ihnen genähert hatte.

»Milord!«, rief einer der beiden Soldaten. »Wir haben gehört …«

Rol’tharak eilte herbei. »Lord Ravencrest! Ihr habt eine der Bestien erschlagen!«

Illidan erwartete, dass Ravencrest den Ruhm für sich beanspruchen würde – schließlich steckte immer noch die Waffe des Edelmannes im Schädel der Bestie …. doch stattdessen streckte der Kommandant eine Hand aus und wies auf Malfurions Bruder. »Nein! Dort steht der Mann, der erst sein Leben riskierte, um mich vor der Kreatur zu schützen, und dann mit Todesmut die Gefahr beseitigte! Ich hatte dich von Anfang an richtig eingeschätzt, Illidan Stormrage! Du bist tüchtiger als ein Dutzend Männer der Mondgarde!«

Illidans Wangen verdunkelten sich, als er das Lob des mächtigen Kommandanten vernahm. All die Jahre, in denen die Leute immer davon gesprochen hatten, dass er einmal ein großer Held, ein Champion seines Volkes werden würde, hatten eine schwere Last auf seine Schultern geladen. Doch jetzt fühlte er sich, als habe sich ihm sein Schicksal endlich enthüllt … und zwar durch seine eigene angeborene Magie, die er beinahe zugunsten von Cenarius’ subtilerem Pfad des Druiden aufgegeben hätte.

Ich war ein Narr, mein Erbe abzulehnen, erkannte Illidan. Malfurions Weg war niemals für mich bestimmt. Selbst im Licht des Tages gehorcht mir die Magie der Nachtelfen

Das ermutigte ihn, denn er hatte sich niemals wohl dabei gefühlt, den Weg seines Bruders zu beschreiten. Welche Legenden erzählten schon von Helden, die anderen Helden folgten? Illidan war stets dazu bestimmt gewesen zu führen.

Die Soldaten – Lord Ravencrests kampferprobte, erfahrene Männer – betrachteten ihn mit neuem Respekt.

»Rol’tharak!«, rief der Edelmann. »Ich fühle, dass das Glück heute auf meiner Seite ist! Nimm die Hälfte der Männer und führe sie weiter den Pfad hinab! Vielleicht kriegen wir den Gefangenen und den Verräter, der ihn befreit hat, ja doch noch! Los! Geh!«

»Jawohl, Milord!« Rol’tharak rief mehrere Soldaten zu sich, dann ritten sie in die Richtung davon, die Malfurion und Brox wahrscheinlich eingeschlagen hatten.

Illidan dachte kaum noch an seinen Bruder. Wahrscheinlich hatte die Verzögerung Malfurion all die Zeit gegeben, die er benötigte, um seine Verfolger abzuschütteln. Aber er dachte an Tyrande. Sie würde nicht nur hoch zufrieden sein, weil es aussah, als habe er die Jäger zurückgehalten, sondern auch sehr von dem Lob beeindruckt sein, mit dem Lord Ravencrest ihn überhäuft hatte.

Und es schien, als wolle der Kommandant dem Mann, von dem er glaubte, er habe ihm das Leben gerettet, noch mehr schenken.

Ravencrest kam auf Illidan zu und legte ihm eine schwere Hand auf die Schulter. Dann erklärte er: »Illidan Stormrage, die Mondgarde mag deine Fähigkeiten nicht kennen, aber ich kenne sie. Ich ernenne dich hiermit zu einem Mann von Black Rook Hold … und zu meinem persönlichen Zauberer! Als solcher wirst du einen Rang außerhalb der Mondgarde haben. Du wirst mit ihren Besten auf einer Stufe stehen, und keiner aus dem Orden kann dir Befehle erteilen! Gehorsam schuldest du nur mir und der Königin, dem Licht der Lichter, Azshara!«

Die anderen Nachtelfen legten sich die linke Hand auf die Brust und senkten huldigend den Kopf, als der Name der Königin fiel.

»Ich bin … geehrt … Milord …«, stammelte Illidan.

»Komm! Wir reiten sofort zurück! Ich will eine größere Truppe sammeln, um diese Kadaver nach Black Rook Hold zu schaffen! Die Angelegenheit muss genau untersucht werden! Wenn uns die Invasion irgendeiner höllischen Horde bevorsteht, müssen wir in Erfahrung bringen, was wir können, und Ihre Majestät alarmieren.«

Angesteckt von der Begeisterung des Edelmanns, schenkte Illidan der Erwähnung Azsharas kaum Aufmerksamkeit. Hätte er es getan, so hätte er sich zumindest leichte Sorgen gemacht, denn war es nicht ihretwegen gewesen, dass Malfurion sich dem Zorn von Illidans neuem Gönner gestellt hatte? Sie war es, von der Malfurion behauptete, sie sei an einem Wahnsinn beteiligt, der das ganze Volk der Nachtelfen in eine Katastrophe stürzen könne.

Doch für den Augenblick konnte Illidan nur an eines denken. Ich habe endlich meine Bestimmung gefunden

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