Denis Scheck Wann waren Sie zuletzt am Meer?
Rita Mae Brown Vor vier Monaten, das heißt, ich habe das Meer gesehen, aber nicht am Strand gesessen. Virginia grenzt an den Atlantik. Von meiner Farm am Fuß der Ostseite des Blue-Ridge-Gebirges ist man bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 9 5 Stundenkilometern in zweieinhalb Stunden am Meer. Dank meiner Lesereisen bekomme ich auch wenigstens einmal im Jahr den Pazifik zu sehen.
DS Was löst der Anblick des Meers in Ihnen emotional aus? Beruhigung/Bedrohung/Entspannung?
RMB Das Meer ist ein großes Hotel, das Fische, Krebse, Aale und andere Lebewesen beherbergt, die mich faszinieren, aber mit denen ich nie ins Gespräch kommen konnte. Da ich für Muße nichts übrighabe, kann ich nicht unter einem Sonnenschirm sitzen, und ehrlich gesagt, langweile ich mich am Strand zu Tode. DS Sie sind ja eine Beobachtungskünstlerin. Welche Rolle spielte bei der Entstehung Ihrer Geschichten die eigene Wahrnehmung -mit anderen Worten, müssen Sie reisen, um zu schreiben?
RAAB Die Welt wirbelt in und auf einem Grashalm. Wer wachsam ist, muss nur beobachten. Reisen ist nicht notwendig, wiewohl ich bei Besuchen im Ausland gelernt habe, dass jede Kultur ihre Methode hat, Dinge besser zu machen als wir, und damit meine ich Amerika.
DS Reisen Sie, um von sich selbst Abstand zu gewinnen - oder verhält es sich gerade andersherum: reisen Sie, um sich selbst zu finden? RMB Eine Reise bedeutet für mich eine Lesereise, was in den USA auf eine Art Trainingslager ohne Essen und Schlaf hinausläuft. Wenn ich privat unterwegs bin, dann in Pferdegeschäften, überwiegend in Kentucky und Wyoming, oder zur Fuchsjagd (in Amerika töten wir die Füchse nicht, wohlgemerkt) als Gast bei anderen Jagdvereinen. Bin ich mir selbst überlassen, bleibe ich am liebsten auf der Farm, weil es dort außergewöhnlich schön ist und weil ich meine Pferde, Jagdhunde, Haushunde, Katzen und sogar Hühner ungern verlasse. DS Können Sie einem Text ablesen, ob sein Verfasser ein Mann oder eine Frau war?
RMB Ich kann es nur erkennen, wenn sie es zum Prinzip erheben, eine Haltung, die ich beklagenswert finde. Wer sein Geschlecht oder seine Sexualität hinausposaunen muss, ist schwach und ängstlich. DS Oder eine Katze?
RMB O ja, einen Text, der von einer Katze geschrieben wurde, erkenne ich immer. Er enthält zu viele schwärmerische Hinweise auf Katzenminze und Thunfisch. DS Gibt es in Ihren Augen so etwas wie Frauenliteratur?
RMB Nein, aber die Verleger möchten gerne, dass wir das denken, und das möchten auch einige Frauen, die sich eine Sonderbehandlung wünschen. Die großen Themen Leben und Tod, Freiheit und Knechtschaft, Tragödie und Komödie kennen kein Geschlecht. Ich glaube nicht mal, dass die Interpretation geschlechtsabhängig ist. Ich spreche hier von der HOHEN LITERATUR, nicht von den großartigen Unterhaltungsromanen, die tatsächlich vom Geschlecht beeinflusst sind, z.B.The Queen of the Turtle Derby.
DS Hätte Adolf Hitler auch eine Frau sein können? Oder sind Frauen die besseren Menschen?
RMB Ja, aber ohne den albernen Schnurrbart, das ist ein schwacher Trost. Hiermit haben Sie die Antwort auf Ihre nächste Frage sicher schon erraten. Nein, ich bin nicht der Meinung, dass Frauen die besseren Menschen sind, aber ich denke, dass Frauen infolge von sieben- bis zehntausend Jahren konsequenter patriarchalischer Unterdrückung oftmals mitfühlen können mit denen, die entweder en masse leiden, z.B. unter Rassismus, oder individuell, wenn z.B. Leukämie diagnostiziert wird. Was nicht bedeutet, dass Männer diese Gefühle nicht haben können, nur glaube ich, dass Frauen in größerem Maße viel schneller auf derartige Nöte reagieren als Männer.
DS Warum schreiben Sie Bücher mit und über Katzen statt über Steuererklärungen und Sozialabbau? Was stand am Anfang Ihrer Katzenbücher? RMB Ich kann politische Sachbücher schreiben und habe es in meiner Jugend auch getan, aber ich fand es einschränkend. Es scheint zum Zeitpunkt des Schreibens schrecklich wichtig zu sein, dabei ist es nur der Ölfilm auf der Wasseroberfläche. Ich wollte tiefer dringen, und der einzig wahre Weg dahin ist die Belletristik. Auch der gehobensten Sachliteratur wie z. B.Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches von Edward Gibbon sind strenge emotionale Grenzen gesetzt. (Ich finde, dies ist vielleicht das großartigste Sachbuch in englischer Sprache.)
Ja älter ich werde, je mehr ich schreibe, desto deutlicher empfinde ich es als Gesang auf dem Blatt, als Musik, und wenn man seine Sprache innig liebt, dann ist es Musik. Ich liebe das Englische mit allen Fasern meines Seins. Nicht, dass ich Deutsch nicht wunderbar finde, vor allem wie es in der Gegend um Hannover gesprochen wird, aber ich liebe meine Muttersprache, finde in ihr Lachen, Erhabenheit, die Geschichte eines Volkes, eines bemerkenswerten Volkes im Guten wie im Bösen. Ob es einem passt oder nicht, ich gehöre diesem Volk an. Die Katzenromane erblickten dank der Klugheit von Sneaky Pie mitten im Streik des Schriftstellerverbandes Writer's Guild im Jahre 1988 das Licht der Welt. Ich hatte das große Glück, in Hollywood genug Arbeit zu finden, aber durch den Streik, der fast ein Jahr anhielt, waren alle Fördergelder ausgesetzt. Ich schrieb weiter an meinen Romanen, doch dazu brauchte ich eine ganze Weile. Die Katze schlug Krimis vor. Der Gedanke an Genre-Literatur war mir zuwider (so was Snobistisches), aber ich begriff rasch die Absicht. Ein Krimi war schneller zu schreiben, besonders wenn ich tippte, was sie diktierte. Bantam zeigte sich wenig begeistert, veröffentlichte aber den ersten Katzenkrimi,Schade, dass du nicht tot bist, um mir einen Gefallen zu tun. Den Rest der Geschichte kennen Sie, und es wird immer besser; denn Jahre später habe ich mit einer Fuchsjagdserie begonnen, die ebenfalls gut läuft. So gern ich mit Sneaky zusammenarbeite, ich muss gestehen, dass ich meine NichtKrimis noch ein kleines bisschen lieber schreibe. Nur dauert das dann wieder viel länger.
DS Ich lese ja Bücher, um die Welt einmal durch die Augen eines anderen zu sehen, in eine fremde Haut oder in diesem Fall in ein fremdes Fell zu schlüpfen. Geht's Ihnen auch so?
RMB Ich kann diese Frage nicht beantworten, weil ich lese, wie ich atme: Ich weiß nicht recht, ob ich einen Grund habe.
DS Ein beliebter Aufkleber lautete einmal: «Die Wirklichkeit ist der Fluchtort jener Menschen, die mit der Welt der Phantasie nicht zurechtkommen.» Sehen Sie das auch so?
RMB Nein, beileibe nicht. Die Menschheit krankt daran, dass wir uns der Wirklichkeit nicht stellen können. Wir entwickeln Theologien und Ideologien, um die Natur in Abrede zu stellen, um, und das ist wahrhaft schmerzlich, unsere eigene animalische Natur in Abrede zu stellen. Indem wir das tun, besudeln wir die Erde, bringen uns gegenseitig um, weil uns die Götter oder die Regierung der anderen nicht gefallen, und wundern uns, warum wir trinken, Drogen nehmen, Wege suchen, um uns vor unseren eigenen entsetzlichen Missetaten zu verstecken. Man muss immer bedenken, wir haben den Garten Eden verlassen. Die Tiere nicht.
DS Das Böse spielt in Ihren Büchern eine große Rolle. Wie kommt das Böse in die Welt?
RMB Wenn ein Eichhörnchen eine Eichel vom Baum pflückt, hat das Eichhörnchen dann dem Baum Schaden zugefügt? Wenn ein Bär einen Lachs fängt, hat der Bär dem Lachs geschadet, aber nur, um zu leben. Das Tier namens Mensch und die Ameisen sind offenbar die einzigen Lebewesen, die Krieg führen. Noch einmal: Je mehr wir unser animalisches Ich und andere Tiere in Abrede stellen, desto befähigter sind wir, Böses zu tun. Unsere Ichbezogenheit geht über jede Vorstellung hinaus.
DS In Ihren Romanen wird das Tier vom Objekt zum Subjekt. Essen Sie eigentlich Fleisch?
RMB Ich esse Fleisch. Ich bin ein Allesfresser, genau wie ein Fuchs. Ich lebe meiner Natur gemäß.
DS Patricia Highsmith forderte einmal, Literatur müsse amoralisch sein. Teilen Sie diese Ansicht?
RMB Nein, aber ich verstehe, was sie meint. Shakespeare hat uns die ganze Welt oft urteilslos dargestellt, aber ich würde seine Werke nicht als amoralisch klassifizieren. Das Problem entsteht, wenn Schriftsteller die Handhabe eines Moralkompasses damit verwechseln, ein Propagandist zu sein. Literatur ist keine Propaganda, und das erklärt auch, warum sie so selten in totalitären Staaten entsteht oder von Menschen geschaffen wird, die unter streng kontrollierten theokratischen Regimen zu leiden haben.
DS Welche Einwirkungsmöglichkeiten auf die Gesellschaft versprechen Sie sich von Literatur, welche Grenzen sehen Sie?
RMB So gern ich glauben möchte, dass Literatur auf die Gesellschaft einwirken kann, das zwanzigste Jahrhundert hat mir diese Vorstellung ausgetrieben. DS Strebt ein Schriftsteller nach Macht?
RMB Wenn ein Schriftsteller nach Macht strebt, möchte ich vermuten, es geht um Macht über Sprache, Stil, Handlung und Gestalt. Das Streben nach jeder anderen Form von Macht ist eine aberwitzige Verblendung, und ich denke, je unsicherer das Ego, desto stärker die Verblendung.
DS Hat der Schriftsteller in den USA seit Fitzgeralds oder Hemingways Zeiten an Macht verloren?
RMB Wie kommen Sie auf die Idee, Schriftsteller in meinem Land hätten jemals zu irgendeiner Zeit in der Geschichte Macht besessen? Ich glaube das nicht. Aber Neru-da schrieb einmal, die Literatur habe eine geheime Macht, die entspringen kann wie eine Quelle, und ich wollte, ich könnte mich genau an das Zitat erinnern, weil es so knapp und schön ist wie alle seine Werke, die ich bewundere. (Ich bewundere auch Surtees, der als Sport-Autor des neunzehnten Jahrhunderts gilt, wohingegen ich ihn für einen Satiriker ersten Ranges halte.) Ein einmal gewecktes Bewusstsein kann nicht mehr schweigen, und vielleicht vermag das die Literatur zu bewirken. Jedoch regt sie die Menschen nicht unbedingt zum Handeln an. Wenn alles gesagt und getan ist, ist viel mehr gesagt als getan. DS Woher nimmt man die Kraft für Kunst im Kapitalismus? RMB Wo sie seit Aristophanes (Athen, fünftes, frühes viertes Jahrhundert v. Chr.) hergekommen ist. Für jeden Schriftsteller wurde eine wohlhabende Persönlichkeit als Mäzen bestimmt, und dieser finanzierte die Produktion von Stücken für die großen Festspiele. Das ist heutzutage nicht sehr viel anders, insofern als Leute mit Geld beispielsweise für eine Symphonie bürgen oder ein Konzern bezahlt, dessen Geschäft darin besteht, Bücher zu verkaufen. Es ist keineswegs vulgär, Geld im Verhältnis zu Kunst zu betrachten. Es wäre vielmehr dämlich, es nicht zu tun. Wenn irgendjemand das wusste, dann war es ganz bestimmt Charles Dickens. Mit anderen Worten, Kunst und Kapitalismus sind nicht antithetisch. Dummheit, Engstirnigkeit und Kunst sind antithetisch.
DS Vermögen Sie Trost aus Literatur zu ziehen? Sich sogar über den Tod zu trösten?
RMB Literatur ist die Luft, die ich atme. Was nicht bedeutet, dass sie mich mit meinem Tod versöhnt. Sie versöhnt mich vielleicht mit Ihrem Tod. Ich persönlich wäre gern unsterblich.
DS Es gibt ja nicht mehr nur eine Wirklichkeit, aus der Romane entstehen, also die primäre Erfahrung der Endlichkeit, von Liebe oder Natur. Längst ist da eine zweite, eine virtuelle Wirklichkeit hinzugetreten, der Schriftsteller hört Radio oder sieht fern. Welche Rolle spielt diese Medien-Wirklichkeit für Ihr Schreiben? RMB Gar keine. Ich sehe nicht fern, außer den Wetterbericht (ich bin Farmerin, nicht zu vergessen) und Football (den ich liebe). Leider kann ich nicht allzu oft Football gucken, weil ich nicht selten sogar im Dunkeln draußen bin und arbeite. Ansonsten meide ich das Fernsehen. Radio höre ich nur, wenn ich in meinem Transporter sitze, und dann meistens den Klassiksender; allerdings lasse ich mich ab und zu verleiten, Country-Musik zu hören: Die vielen Leiden und Schwierigkeiten lassen einem das eigene Leben in einem viel milderen Licht erscheinen. (Ich nehme an, dass die Leser Country-Musik gehört haben. Ich nehme außerdem an, vielleicht unfairerweise, dass sie sie nicht ausstehen können.)
Mein Schreiben kommt aus dem, was ich sehe, fühle, berühre, höre, rieche und schmecke und was ich bei anderen wachsamen Geschöpfen beobachte. Ich schließe die Pflanzenwelt mit ein; denn dort gibt es zweifellos eine Intelligenz, die wir nicht verstehen. Wenn ein lebendiger Organismus sich anpasst, ist er intelligent. Das ist mein Credo.
DS InDie Sandburg taucht am Ende auch der Vietnamkrieg auf. Wie ist Ihre Haltung dazu?
RAAB Meine Generation ist in Vietnam gestorben. Wir wurden belogen, wurden hintergangen, als wir heimkehrten, und ich möchte wissen, ob es irgendeinen unter uns gibt, der je wieder einer Regierungsmacht vertraut. Ich hoffe nicht. Man muss die Augen weit offen halten.
DS Was hat Sie bewogen, nach so langer Zeit eine Geschichte über vertraute Gestalten zu schreiben - Julia, Louise und Nickel?
RAAB Sie sind in meinem Herzen lebendig. Sie fehlen mir so sehr. Es gibt Zeiten, da würde ich alles darum geben, um Mutter und ihre Schwester zu hören, wie sie sich gegenseitig zur Weißglut bringen.
Manchmal denke ich, meine Romane sind Partys. Sie sind alle eingeladen mitzufeiern.