Alexander Kent Die Seemannsbraut Sir Richard und die Ehre der Bolithos

FÜR KIM mit all meiner Liebe

Mourn, England, mourn and complain

For the brave Nelson's men

Who died upon that day

All on the main…

Broadsheet Ballad, 1805

Antigua 1804

I Erinnerungen

English Harbour und die ganze Insel Antigua schienen sich unter der Mittagssonne wie festgeklebt zu ducken. Die Luft war feucht und drückend heiß, so daß die vielen verstreuten Ankerlieger im Dunst wie in einem beschlagenen Spiegel verschwammen.

In diesem Oktober des Jahres 1804 war man, obwohl der Monat schon einige Tage alt war, noch mitten in der Hurrikansaison, und zwar in einer der schlimmsten bisher gekannten. Mehrere Schiffe waren auf See verloren gegangen oder gestrandet, wenn das Unwetter sie in einem gefährlichen Fahrwasser überfallen hatte.

English Harbour war ein wichtiger — einige sagten lebenswichtiger — Stützpunkt für die in der Karibik und in den Inseln Über und Unter dem Winde operierende Flotte. Hier hatte sie einen hurrikansicheren Ankerplatz und eine Werft, auf der selbst schwere Schäden repariert und die Schiffe wieder instand gesetzt werden konnten. Doch im Krieg oder Frieden, die See und das Wetter waren ständige Feinde, und obgleich fast jede ausländische Flagge ebenfalls als feindlich angesehen werden mußte, wurden die Gefahren dieser Gewässer niemals gering geachtet.

English Harbour war nur zwölf Meilen von der Hauptstadt St. John's entfernt und sein gesellschaftliches Leben daher beschränkt. Auf der gefliesten Terrasse eines der besseren Häuser, die den Hang hinter dem Hafen flankierten, stand eine Gruppe von Personen, meist Beamte und ihre Damen, und beobachtete die Ankunft eines Kriegsschiffes. Der Neuling schien eine Ewigkeit zu brauchen, um in dem flimmernden Dunst Umfang und Gestalt zu gewinnen. Doch nun lag er endlich mit dem Bug nach Land zu, obwohl die Segel schlaff an Stagen und Rahen hingen. Kriegsschiffe waren hier häufig und kaum erwähnenswert. Nach dem jahrelangen Konflikt mit Frankreich und seinen Verbündeten gehörte ihr Anblick zum täglichen Leben der Einwohner.

Dieses hier war ein Linienschiff, ein Zweidecker. Sein voller, schwarz und ocker gestrichener Rumpf bildete einen scharfen Kontrast zum milchigen Wasser und dem Himmel, der in der Hitze farblos schien. Die Sonne stand direkt über Monk's Hill und war von einem silbernen Schleier umgeben. Draußen auf See würde bald wieder ein Sturm entstehen. Doch in einer Beziehung unterschied sich dieses Schiff von anderen, die hier kamen und gingen: Ein Wachboot hatte die Nachricht gebracht, daß es aus England kam. Für jene, die sein mühsames Einlaufen beobachteten, bedeutete der bloße Name England schon sehr viel. Wie ein Brief von zu Hause oder der Bericht eines durchreisenden Seemannes: unbeständiges Wetter, Verknappungen, die tägliche Furcht einer französischen Invasion, aber auch saftige Weiden und anregendes Stadtleben. Unter denen, die den Zweidecker beobachteten, gab es kaum einen, der Antigua für einen bloßen Blick auf England nicht eingetauscht hätte.

Abseits von den anderen stand eine Frau, regungslos bis auf eine Hand, die mit angemessener Sorgfalt in der schweren Luft einen Fächer bewegte. Sie war der sprunghaften Unterhaltung ihrer Umgebung längst müde. Einige Stimmen waren bereits durch den warmen Wein beflügelt, und man hatte sich noch nicht einmal zu Tisch gesetzt. Sie wandte sich ab, um ihr Unbehagen zu verbergen. Und die ganze Zeit beobachtete sie das Schiff. Aus England…

Der Zweidecker schien sich überhaupt nicht zu rühren, wäre nicht die winzige Feder weißen Schaumes unter seiner vergoldeten Galionsfigur gewesen. Zwei Langboote bugsierten ihn herein, eines an jeder Seite. Man konnte noch nicht sagen, ob sie mit ihm durch eine Schleppleine verbunden waren oder nicht. Auch sie bewegten sich kaum, und nur das anmutige Auf und Nieder ihrer Ruder, hell wie Flügel, deutete zielstrebige Mühe an.

Die Frau wußte eine Menge über Schiffe. Sie war schon viele tausend Meilen über See gereist und hatte ein Auge für Einzelheiten. Eine Stimme der Vergangenheit erklang in ihrem Gedächtnis, die das Schiff als des Mannes schönstes Werk bezeichnet und hinzugefügt hatte: und so anspruchsvoll wie eine Frau. Hinter ihr bemerkte jemand:»Vermutlich wieder ein offizieller Besuch. «Niemand antwortete, denn auch für Spekulationen war es zu heiß. Schritte klapperten über Steinstufen, und sie hörte den Sprecher sagen:»Laßt mich wissen, wenn es weitere Nachrichten gibt.»

Der Bedienstete eilte davon, während sein Herr eine gekritzelte Botschaft aus dem Hafen öffnete.»Es ist die Hyperion mit vierundsiebzig Kanonen, unter Kapitän Haven.»

Die Frau besah sich das Schiff näher, ihre Gedanken kreisten um den Namen. Wieso machte er sie stutzig?

Ein anderer murmelte:»Guter Gott, Aubrey, ich dachte, die wäre eine ausgemusterte Hulk in Plymouth!»

Gläser klangen, aber die Frau bewegte sich nicht. Kapitän Haven? Der Name sagte ihr nichts.

Das Wachboot ruderte müde dem hohen Zweidecker entgegen. Die Frau liebte es, einlaufenden Schiffen zuzuschauen, das Durcheinander an Deck wahrzunehmen, die nach außen hin konfus erscheinenden Vorbereitungen, bis der große Anker ins Wasser platschte. Neue Seeleute würden die Insel betreten, viele zum erstenmal. Ein ferner Gruß von den Häfen und Ortschaften Englands.

Der Sprecher erklärte weiter:»Ja, die Hyperion war schon außer Dienst gestellt. Aber in diesem Krieg, der sich mit jedem Tag ausweitet, sind unsere Oberen in Whitehall so unvorbereitet wie immer. Ich nehme an, daß sogar noch die Wracks an unserer Küste wieder in Dienst gestellt werden.»

Eine schon schwere Zunge sagte:»Ich erinnere mich jetzt: Sie griff damals allein an und erbeutete einen verdammt großen Dreidecker. Kein Wunder, daß das arme alte Mädchen danach aufgelegt werden mußte. He, was ist das?»

Die Frau wagte kaum zu blinzeln, als der Umfang des Zweideckers sich vergrößerte, während seine Segel sich blähten und das Schiff jeden Hauch einer Brise nützte, den es aufzuspüren vermochte.

Den Sprecher hatte es an die Balustrade getrieben.»Das ist ein besonderes Schiff, Aubrey. Immerhin führt es eine Admiralsflagge.»

«Vizeadmiral«, verbesserte sein Gastgeber.»Anscheinend die Flagge von Sir Richard Bolitho, Vizeadmiral der Roten Flotte. «[1]

Die Frau stützte eine Hand auf die Balustrade, der heiße Stein gab ihr Halt. Doch ihr Mann mußte es bemerkt haben.»Was hast du, kennst du ihn? Ein wahrer Held, wenn die Hälfte von dem, was ich gelesen habe, zutrifft.»

Sie packte den Fächer fester und drückte ihn gegen die Brust. Das war es also, was ihr bevorstand: Er kam hierher nach Antigua. Nach all der Zeit und nach allem, was er durchgemacht hatte.

Kein Wunder, daß sie sich des Schiffsnamens entsann. Er hatte oft so herzlich von seiner alten Hyperion gesprochen, einem der ersten Schiffe, die er als Kommandant geführt hatte. Ihre plötzliche Erregung überraschte sie, mehr noch ihre Fähigkeit, sie zu verbergen.»Ich traf ihn vor Jahren.»

«Noch ein Glas Wein, Gentlemen?»

Sie entspannte sich, Muskel für Muskel. Wurde sich der Feuchtigkeit ihres Kleides bewußt und ihres Körpers, der sich darin so beengt fühlte. Dann verwünschte sie sich ob ihrer Dummheit. Es konnte nie wieder so sein wie damals, niemals. Sie drehte dem Schiff den Rücken zu und lächelte die anderen an. Doch selbst ihr Lächeln war eine Lüge.

Richard Bolitho stand unentschlossen in der Mitte der großen Heckkajüte, mit schiefem Kopf dem plötzlichen Stampfen bloßer Füße auf dem Achterdeck über sich lauschend. Vertraute Geräusche drangen in den Raum: der gedämpfte Chor der Kommandos, das prompt folgende Quietschen der Blöcke beim Brassen der Rahen. Und doch bewegte sich das Schiff kaum. Nur die hohen, schimmernden Streifen goldenen Sonnenlichts, die langsam durch die Kajüte wanderten, wiesen daraufhin, daß Hyperion mühsam in den ablandigen Wind drehte.

Das Land lag als grünes Panorama vor den Heckfenstern. Antigua. Schon der Name war für ihn wie ein Stich ins Herz. Er beschwor so viele Erinnerungen herauf, so viele Gesichter und Stimmen.

Es war hier in English Harbour gewesen, wo er als eben beförderter Commander sein allererstes Schiff übernommen hatte: die kleine wendige Korvette Sparrow. Eine ganz andere Art von Schiff, aber damals war der Krieg mit den rebellierenden Amerikanern auch ganz anders gewesen. Wie lange schien das alles schon zurückzuliegen! Die Schiffe und Gesichter von damals, der Schmerz und die Freuden der Jugend.

Er bedachte ihre Überfahrt von England. Man konnte sich keine schnellere wünschen: dreißig Tage. Die alte Hyperion hatte reagiert wie ein Vollblut und einen Konvoi von Handelsschiffen begleitet. Mehrere davon waren vollgestopft mit Soldaten: Verstärkungen oder Ersatz für die englischen Kompanien in der Karibik. Eher letzteres, dachte er düster. Soldaten starben hier draußen wie die Fliegen an dem einen oder anderen Fieber, ohne jemals den Knall einer französischen Muskete gehört zu haben.

Bolitho trat langsam an die Heckfenster, seine Augen gegen die grelle Sonne abschirmend. Wieder wurde er sich seines Grolls bewußt, seiner Abneigung gegen diese Garnison und seiner Verärgerung darüber, daß die Situation Diplomatie und Prunk verlangen würde, die aufzubieten er keine Lust hatte. Es hatte bereits mit dem vorgeschriebenen Salut begonnen. Sie wechselten Schuß um Schuß mit der nahen Küstenbatterie, über der sich die Unionsflagge in der feuchten Hitze nicht einmal kräuselte.

Er sah das Wachboot über seinem eigenen Spiegelbild dahingleiten, die Ruder eingelegt, während der Bootsoffizier auf das Ankern des Zweideckers wartete.

Ohne selbst oben an Deck zu sein, konnte Bolitho sich alles ausmalen: die Männer an den Brassen und Fallen, andere, die zu beiden Seiten auf den großen Rahen auslegten, um die gewaltigen Segel zu bändigen und zu falten, was von Land dann so aussah, als ob jeder Streifen Leinwand durch den Griff einer einzigen Hand verschwunden sei.

Land! Für den Seemann war es immer ein Traum, ein neues Abenteuer.

Bolitho warf einen Blick auf seine Galauniform, die auf einer Stuhllehne bereit hing. Als er vor Jahren hier das Kommando auf der Sparrow erhielt, hätte er nie eine Admiralsuniform für sich erwartet. Tod durch Unglücksfall oder durch eine Kanonenkugel, das ja, sogar Versagen. Denn Mangel an Gelegenheit sich auszuzeichnen oder die Gunst eines Admirals zu gewinnen, machte jede Beförderung zu einer schwer zu nehmenden Hürde.

Nun aber war der Admiralsrock eine Realität, geschmückt mit zwei Goldepauletten und den dazugehörenden Silbersternen. Und doch. Er strich die Haarsträhne über seinem rechten Auge zurück. Wie die tiefe Narbe auf seiner Stirn, wo ein Entermesser sein Leben beinahe beendet hätte, hatte sich nichts verändert. Nicht einmal die Ungewißheit.

Er hatte geglaubt, er würde in seine Rolle hineinwachsen, obgleich der Schritt vom Kommandanten zum Flaggoffizier der größte von allen war. Sir Richard Bolitho, Ritter des Bath-Ordens, Vizeadmiral der Roten Flotte und nach Nelson der jüngste auf der Admiralsliste. Er lächelte schwach. Der König hatte sich nicht einmal an seinen Namen erinnert, als er ihn adelte. Bolitho hatte es hingenommen, daß er nicht mehr mit dem täglichen Borddienst konfrontiert war, auch nicht auf den Schiffen, die seine Flagge trugen. Als Leutnant hatte er oft achtern die ferne Gestalt des Kommandanten gemustert, mit Ehrfurcht, wenn auch nicht immer mit Respekt. Als er dann selbst Kommandant war, hatte er oft wachgelegen, besorgt dem Wind und den Bordgeräuschen lauschend, und sich eisern zurückgehalten, um nicht an Deck zu stürzen, wenn er dachte, der Wachoffizier wäre den Gefahren nicht gewachsen. Es war ihm schwergefallen, Aufgaben an andere zu übertragen; aber wenigstens war er auf seinem eigenen Schiff gewesen. Für die Besatzung eines Kriegsschiffes kam der Kommandant gleich nach dem Herrgott. Und einige sagten unfreundlicherweise, daß dem nur wegen Gottes höherem Dienstalter so sei.

Doch als Flaggoffizier, als Admiral, hatte er über allem zu stehen, Kommandanten seines Geschwaders zu kontrollieren und ihre Kräfte dort einzusetzen, wo sie die beste Wirkung erzielten. Seine Macht war größer, aber auch seine Verantwortung. Nur wenige Flaggoffiziere erlaubten sich jemals zu vergessen, daß Admiral Byng wegen Feigheit von einem Exekutionskommando an Deck seines eigenen Flaggschiffes erschossen worden war.

Vielleicht hätte er sich mit dem hohen Rang und dem neuen Adelstitel zufriedengegeben und wäre seßhaft geworden, wenn sein Privatleben glücklicher gewesen wäre. Doch sofort wies er diese Gedanken von sich. Er tastete nach seinem linken Auge, massierte das Lid und starrte gezielt auf die vorbeischwenkende grüne Küste. Gottlob, er sah sie wieder scharf und klar. Doch das würde nicht so bleiben. Der Arzt in London hatte ihn gewarnt: Sein Auge benötige Ruhe, Behandlung und regelmäßige Fürsorge. Das hätte aber bedeutet, daß er an Land bleiben — schlimmer noch, daß er einen Posten im Innendienst der Admiralität annehmen mußte.

Warum also hatte er seine weitere Verwendung auf See erbeten, fast gefordert? Drei seiner Vorgesetzten hatten ihm bedeutet, daß er schon vor seinem letzten großen Sieg einen Posten in London mehr als verdient gehabt hätte. Und dennoch hatte er gefühlt, daß sie froh waren, als er ihre Angebote ablehnte.

Schicksal — das mußte es wohl sein. Er drehte sich in der großen Kajüte um und musterte die niedrige weiße Decke, die grünen Lederstühle, die Lamellentüren, die zu seinem Schlafraum führten oder auf den Vorraum hinaus, wo ein Wachtposten seinen Privatbereich rund um die Uhr abschirmte.

Er konnte sich gut an das letzte Mal erinnern, als er die Hyperion mit Mühe nach Plymouth gebracht hatte. An die starrende Menge, die sich am Ufer drängte, und an das Jubelgeschrei, mit dem man den heimkehrenden Sieger empfing. So viele waren gefallen, noch mehr für ihr Leben verkrüppelt nach dem Triumph über Lequillers Geschwader in der Biskaya. Und er dachte auch an die Eroberung seines großen HundertKanonen-Flaggschiffs Tornado, das er später als Flaggkapitän eines anderen Admirals führen sollte.

Aber es war dieses Schiff, dessen er sich am besten entsann: die Hyperion mit ihren vierundsiebzig Geschützen. Er war zu ihrem Liegeplatz in Plymouth gegangen, um ihr zum letztenmal Lebewohl zu sagen, wie er jedenfalls glaubte. Da lag sie, zerschlagen und von Kugeln aufgerissen, Takelage und Segel zerfetzt, die gesplitterten Decks von Blut befleckt. Es hieß, sie würde nie wieder kämpfen. Während sie sich bei schlechtem Wetter heimwärtsgequält hatte, sah es mehrmals so aus, als würde sie doch noch sinken. Als er sie im Dock so daliegen sah, hatte er fast gewünscht, sie hätte ihren Frieden auf dem Meeresgrund gefunden. Im weiteren Verlauf des Krieges, der sich verschärfte und ausweitete, hatte man sie zu einem schwimmenden Vorratslager gemacht. Mastenlos, ihre einstmals so belebten Batteriedecks mit Kisten und Kästen vollgepackt, war sie zu einem Teil des Arsenals geworden.

Die Hyperion war das erste Linienschiff gewesen, das Bolitho kommandierte. Damals wie heute war er im Herzen ein Mann der wendigeren Fregatten geblieben. Die Vorstellung, Kommandant eines Zweideckers zu werden, hatte ihn entsetzt. Aber er hatte trotzdem nicht gezögert, wenn auch aus anderen Gründen. Von einem Fieber heimgesucht, das ihn in der Südsee fast umgebracht hätte, war er an Land stationiert gewesen und hatte Mannschaften rekrutiert. Die Französische Revolution fegte wie ein Flächenbrand über den Kontinent. Als ob es gestern gewesen wäre, entsann er sich auch des Tages, als er sein Schiff in Gibraltar betreten hatte. Die Hyperion war alt und müde gewesen, trotzdem hatte sie ihn fasziniert, als hätten sie einander auf irgendeine Weise gebraucht.

Bolitho hörte das Trillern der Pfeifen und das Platschen, mit dem der Anker in dieses Gewässer fiel, das er so gut kannte. Bald würde sein Flaggkapitän weitere Befehle erbitten. So sehr er es auch versuchte, Bolitho vermochte in Kapitän Haven weder einen inspirierenden Kommandanten noch seinen persönlichen Berater zu sehen. Er war ein zu farbloser, sachlicher Mensch. Trotzdem wußte Bolitho, daß er Haven unrecht tat, denn er war nur wenige Tage vor der Überfahrt nach Westindien an Bord gekommen und hatte sich in den folgenden dreißig Tagen in seinen Räumen fast völlig isoliert, so daß sich sogar sein Bootssteurer Allday sorgte.

Das lag wahrscheinlich an Havens Verhalten bei ihrem ersten gemeinsamen Rundgang durchs Schiff an dem Tag, bevor sie in See stachen. Haven hatte es offenbar als merkwürdig empfunden, daß sein Admiral mehr zu sehen wünschte als nur seine Kajüte und das Achterdeck, ganz zu schweigen von seinem Interesse für die Batterien und den untersten Raum im Schiff, das Orlopdeck. Wie sollte Haven auch verstehen? Es war nicht seine Schuld.

Bolitho hatte Havens offensichtliche Unzufriedenheit mit diesem alten Schiff wie eine persönliche Kränkung aufgenommen.»Sie mag alt sein, Kapitän Haven, aber sie hat schon viele weit jüngere besiegt«, rügte er.»In der Chesapeake Bay, bei den Saintes, vor Toulon und in der Biskaya — ihre Verdienste im Kampf lesen sich wie eine Geschichte der Navy selbst!«Seine Reaktion war ungerecht gewesen, aber Haven hätte es besser wissen sollen.

Jeder Schritt auf diesem Rundgang hatte seine Erinnerungen wieder aufleben lassen. Die Gesichter und Stimmen paßten nicht mehr, aber das Schiff war noch immer dasselbe. Sie hatte neue Masten bekommen, auch die Kanonen, mit denen sie die Breitseiten von Lequillers Tornado erwidert hatte, waren zum größten Teil durch schwerere ersetzt, dazu leuchtende Farbe und sauber geteerte Decksnähte; doch nichts konnte ihm seine Hyperion entfremden. Er blickte sich um und sah sie wie zuvor. Dabei war sie immerhin zweiunddreißig Jahre alt. Als sie in Deptford von Stapel lief, war sie aus bester, abgelagerter kentischer Eiche gebaut. Aber die großen Tage des Schiffbaus waren für immer vorbei; heute waren die meisten Wälder ihres edelsten Holzes beraubt.

Ironischerweise war ihr großer Gegner Tornado noch neu gewesen, und trotzdem hatte man ihn vor vier Jahren zur Gefangenenhulk gemacht. Bolitho fühlte wieder sein linkes Auge und fluchte, als ein Schleier es zu trüben schien. Er dachte an Haven und an all die andern, die seinem alten Schiff Tag und Nacht dienten. Wußten sie, daß der Mann, dessen Flagge im Vortopp wehte, auf dem linken Auge fast blind war? Bolitho ballte die Fäuste, als er sich jenes Augenblicks entsann, da ihn Sand, von einer feindlichen Kanonenkugel verspritzt, an Deck warf und blendete. Dann beruhigte er sich wieder. Nein, Haven schien außer auf seine Obliegenheiten auf nichts zu achten.

Bolitho stützte sich auf einen der Stühle und grübelte. Soviel von ihm steckte in diesem Flaggschiff. Sein Bruder war auf dem Achterdeck gestorben, gefallen, um seinen einzigen Sohn Adam zu retten. Und der gute Inch, der es bis zum Ersten Leutnant der Hyperion gebracht hatte. Er sah ihn wieder vor sich mit dem offenen Grinsen auf seinem Pferdegesicht. Nun war auch er tot wie so viele. Wie Cheney — sie war ebenfalls über diese Decksplanken gegangen. Er stieß den Stuhl beiseite und trat verärgert an die Heckfenster.

«Sie haben gerufen, Sir Richard?»

Das war Ozzard, sein Steward. Was wäre das Schiff ohne ihn? Bolitho drehte sich um. Er mußte Cheneys Namen laut ausgesprochen haben. Wie oft und wie lange würde er sie noch so vermissen?

Er sagte:»Ich. Tut mir leid, Ozzard.»

Ozzard faltete seine Hände unter der Schürze wie Pfötchen und blickte auf die glitzernde Reede hinaus.»Alte Zeiten, Sir Richard?»

«Aye. «Bolitho seufzte.»Wir sollten lieber in der Gegenwart bleiben.»

Ozzard hielt ihm den schweren Rock mit den glänzenden Epauletten hin. Draußen vor der Tür hörte Bolitho das Trillern der Pfeifen und das Knarren der Taljen, als die Boote ausgeschwungen wurden.

Landgang! Das war auch für ihn einmal ein Zauberwort gewesen.

Ozzard beschäftigte sich mit dem Rock, nahm aber keinen der beiden Degen aus dem Gestell. Er und Allday waren enge Freunde, obwohl manche sie eher für Feuer und Wasser hielten. Allday erlaubte es keinem anderen, Bolitho den Degen umzuschnallen. Er war wie das alte Schiff, dachte Bolitho, ein Herz aus bester englischer Eiche; wenn er einmal abtrat, würde keiner seinen Platz einnehmen.

Ozzard schien bestürzt darüber, daß er den alten Zweidecker gewählt hatte, obwohl er ein Schiff der Ersten Klasse hätte haben können. Auf der Admiralität hatten sie leise angedeutet, daß Hyperion, nach dreijähriger Reparatur und Ausrüstung wieder seetüchtig, sich von der letzten Schlacht trotzdem nie ganz erholen würde.

Merkwürdigerweise war es Nelson gewesen, den Bolitho niemals getroffen hatte, der die Angelegenheit entschied. Irgendjemand mußte dem kleinen Admiral geschrieben und von Bolithos Ersuchen berichtet haben. Nelson hatte Ihren Lordschaften mit der für ihn typischen Kürze in einer Depesche mitgeteilt:»Man gebe Bolitho jedes Schiff, das er verlangt. Er ist Seemann, kein Landmann!»

Es hätte» Nel «amüsiert, dachte Bolitho. Hyperion war bis zu ihrer Wiederverwendung vor wenigen Monaten eine ausgemusterte Hulk gewesen. Aber Nelson selbst hatte seine Flagge auf der Victory gesetzt, einem Schiff der Ersten Klasse, das er als eine vor sich hinfaulende Gefangenenhulk vorgefunden hatte. Seltsamerweise hatte er gewußt, daß nur sie als Flaggschiff für ihn in Frage kam. Soweit sich Bolitho entsann, war die Victory sogar acht Jahre älter als seine Hyperion. Irgendwie schien es nur richtig, daß die beiden alten Schiffe wieder auflebten, nachdem man sie trotz allem, was sie geleistet hatten, gedankenlos verstoßen hatte.

Die Tür öffnete sich, und Daniel Yovell, Bolithos Sekretär, trat verdrossen ein. Bolitho wurde wieder weich. Wegen seiner schlechten Stimmung war es für keinen von ihnen leicht gewesen. Sogar Yovell, rundlich, gebeugt und so penibel in seiner Arbeit, hatte sich während der vergangenen dreißig Tage sorgfältig auf Distanz gehalten.

«Der Kommandant wird gleich hier sein, Sir Richard.»

Bolitho schlüpfte mit den Armen in den Galarock und zwängte sich schulterzuckend in die bequemste Haltung.

«Wo ist mein Flaggleutnant?«Er mußte lächeln. Anfangs war es ihm schwergefallen, einen persönlichen Adjutanten zu akzeptieren. Jetzt, nach zwei Vorgängern, fand er sich leichter mit diesem hier ab.

«Wartet auf die Offiziersbarkasse. Danach — , «Yovells Schultern hoben sich,»- danach müssen Sie die örtlichen Würdenträger aufsuchen. «Er deutete Bolithos Lächeln als Wende zum Besseren, denn nach der einfachen Denkart seiner Landsleute aus Devon sollte alles so sein wie immer.

Bolitho erlaubte es Ozzard, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und seine Halsbinde zurechtzurücken. All die Jahre war er vom Wort der Admiralität oder des jeweiligen Vorgesetzten abhängig gewesen, wo immer er sich auch befand. Es fiel ihm noch schwer zu glauben, daß diesmal keine übergeordnete Instanz zu fragen oder zufriedenzustellen war. Jetzt war er der ranghöchste Offizier. Natürlich würde sich am Ende der ungeschriebene Marinekodex durchsetzen: Wenn er erfolgreich war, würden andere das Verdienst beanspruchen. Lag er falsch, konnte er ebensogut gleich die Schuld auf sich nehmen.

Bolitho besah sich im Spiegel und schnitt eine Grimasse. Sein Haar war noch schwarz, abgesehen von der silbernen Strähne, welche die alte Narbe bedeckte. Die Falten in den Mundwinkeln hatten sich vertieft. Sein Spiegelbild erinnerte ihn an das Ölporträt seines älteren Bruders Hugh, das in Falmouth hing wie so viele ehemalige Bolithos aus dem großen grauen Steinhaus. Jetzt stand es bis auf seinen treuen Verwalter Ferguson und die Diener leer. Er unterdrückte einen plötzlichen Anfall von Depression.

Nun war er hier und hatte, was er sich gewünscht hatte: Hyperion. Sie wären beinahe zusammen gestorben.

Yovell trat beiseite, sein rotbäckiges Gesicht wurde wachsam.»Der Kommandant, Sir Richard.»

Haven kam herein, den Hut unterm Arm.»Schiff liegt vor Anker, Sir.»

Bolitho nickte. Er hatte Haven angewiesen, ihn nicht mit seinem Titel anzureden, es sei denn, die Etikette verlangte es. Die Kluft zwischen ihnen war ohnehin groß genug.

«Ich komme.»

Ein Schatten verdunkelte die Tür, und Bolitho entging nicht der Anflug von Ärger auf Havens Gesicht.

Doch Allday drückte sich am Flaggkapitän vorbei.»Die Barkasse liegt bereit, Sir Richard. «Nachdenklich betrachtete er die Degen in ihrer Halterung.»Den richtigen heute?»

Bolitho lächelte; Allday hatte zwar eigene Probleme, aber die behielt er für sich. Bootssteurer? Ein echter Freund wäre die bessere Bezeichnung für ihn gewesen. Sicherlich mißbilligte es Haven, daß ein Untergebener kommen und gehen konnte, wie es ihm gefiel.

Allday beugte sich vor und schnallte Bolitho den alten Familiendegen um. Die Lederscheide war schon mehrmals erneuert worden, aber der verfärbte Griff war noch derselbe und die blanke, veraltete Klinge so scharf wie eh und je.

Bolitho tätschelte den Degen an seiner Hüfte.»Noch ein guter Freund. «Ihre Augen trafen sich. Aller Einfluß seines Ranges zählte nichts im Vergleich zu ihrer engen Bindung.

Haven war mittelgroß, fast untersetzt, mit lockigem rotblo ndem Haar. Erst Anfang der Dreißig, hatte er doch schon das Aussehen eines seriösen Anwalts oder eines Kaufmanns in der Londoner City. Seine Miene drückte zurückhaltende Erwartung aus. Bolitho hatte ihn gelegentlich in seiner Kajüte aufgesucht und dort das kleine Porträt einer hübschen Frau mit lockigem Haar in einem Blumenkranz bewundert.

«Meine Frau«, hatte Haven entgegnet, aber in einem Tonfall, der weitere Fragen ausschloß. Ein seltsamer Mann, dachte Bolitho. Doch das Schiff wurde von ihm geschickt geführt, trotz der vielen neuen Leute und einer Überzahl von Landratten. Es schien aber, daß auch dem Ersten viel Verdienst daran zukam.

Bolitho schritt durch die Tür, an dem strammstehenden Seesoldaten vorbei und in das gleißende Sonnenlicht hinaus. Es war sonderbar, das Ruder verlassen und in Mittschiffsstellung festgelascht zu sehen. Auf See hatte Bolitho täglich seine einsamen Spaziergänge an der Windseite des Achterdecks absolviert, hatte sein kleines Geleit und die dazugehörende Fregatte beobachtet, während er über die abgenutzten Planken schritt ohne nachzudenken, den Geschütztaljen und Ringbolzen automatisch ausweichend.

Augen sahen ihn vorübergehen, um sich schnell abzuwenden, wenn er in ihre Richtung blickte. Damit mußte er leben, aber er würde es nie leiden können.

Nun lag das Schiff still. Taue wurden heruntergegeben, Decksoffiziere beaufsichtigten halbnackte Matrosen, damit das Flaggschiff des Admirals so schmuck aussah, wie man es erwarten konnte. Hoch oben im schwarzen Gewirr der Stage, Pardunen und festgemachten Segel bewegten sich perspektivisch verkürzte Gestalten und sicherten eifrig alles.

Einige der Leutnants gingen dem Admiral aus dem Weg, als er übers Achterdeck schritt, um herunterzuschauen auf die Reihen der Achtzehnpfünder, welche die Originalbatterie der Zwölfpfünder ersetzt hatten.

Geisterhaft tauchten Gesichter vor ihm auf, Kanonendonner übertönte die gebrüllten Anweisungen und das Geklapper der Blöcke. Die Decks schienen durch Einschläge wieder wie von Riesenkrallen zerkratzt. Darauf Männer, die fielen und starben und nach Hilfe flehten, wo es keine gab. Sein eigener Neffe Adam, damals vierzehn Jahre alt, mitten drin, bleich und doch wild entschlossen, als die kämpfenden Schiffe zu einem letzten Ringen zusammenprallten.

Havens Stimme riß Bolitho aus seinen Erinnerungen.

«Das Boot lieg bereit, Sir.»

Bolitho wies an ihm vorbei.»Wieso haben Sie keine Windhutzen aufriggen lassen, Kapitän?»

Warum konnte er es nicht über sich bringen, Haven mit Vornamen anzureden? Was war mit ihm los?

Der zuckte mit den Achseln.»Sie sind von Land aus kein schöner Anblick, Sir.»

«Aber sie fuhren den Leuten in den Batteriedecks frische Luft zu. Also hoch damit.»

Er gab sich Mühe, seinen Ärger zu unterdrücken, daß Haven nicht der Backofenhitze in den übervölkerten Decks Rechnung trug. Die Hyperion war hundertachtzig Fuß lang und trug eine Besatzung von sechshundert Offizieren, Matrosen und Seesoldaten. In dieser Hitze mußten sie sich wie doppelt so viele vorkommen.

Er sah, wie Haven dem Ersten Leutnant die Anordnung kurz weitergab. Letzterer warf Bolitho einen dankbaren Blick zu. Frische Luft!

Der Erste war auch so ein komischer Vogel. Mit über dreißig etwas alt für seinen Rang, war er schon Kommandant einer Brigg gewesen. Als man die Brigg auflegte, wurde seine Ernennung nicht bestätigt, man stufte ihn auf den alten Dienstgrad zurück. Er war schlank und im Gegensatz zu seinem Kommandanten ein Mann von sichtbarem Eifer und Enthusiasmus. Sein gutes, zigeunerhaftes Aussehen erinnerte Bolitho an ein Gesicht aus der Vergangenheit, er wußte nur nicht, an welches. Bei seinen Untergebenen war er anscheinend beliebt und alles in allem jene Sorte Offizier, der die Fähnriche nachzueifern strebten.

Unterhalb des schön geschwungenen Bugsprits waren die breiten Schultern der Galionsfigur zu sehen. Sie hatte sich ihm eingeprägt, als er das Schiff in Plymouth verlassen mußte. Hyperion war damals so angeschlagen und beschädigt gewesen, daß er sich kaum vorstellen konnte, wie sie davor ausgesehen hatte. Nur die Galionsfigur erzählte eine andere Geschichte.

Ihre Goldfarbe mochte Schrammen davongetragen haben, aber die stechenden blauen Augen unter der Krone aus Sonnenstrahlen starrten so anmaßend wie immer in die Welt. Ein muskulöser Arm streckte noch den gleichen Dreizack dem Horizont entgegen. Sogar von achtern wirkte der Anblick auf Bolitho vertraut. Hyperion, einer der Titanen, hatte die Schmach eines Lebens als Invalide abgeworfen.

Allday beobachtete Bolitho scharf. Er hatte den nachdenklichen Blick erkannt und erriet, was er bedeutete. Der Vizeadmiral war mit seinen Gedanken wieder mal ganz woanders. Ob er mit ihm übereinstimmte oder nicht, er hing an ihm wie an keinem anderen und wäre für ihn ohne Zögern gestorben.»Die Barkasse ist bereit, Sir Richard. «Gern hätte er hinzugefügt, daß die Bootscrew noch nicht perfekt war. Noch nicht…

Bolitho ging langsam zur Pforte. Das Boot lag unten längsseits. Jenour, sein neuer Flaggleutnant, saß schon darin, desgleichen Yovell mit einer Dokumentenmappe auf den fetten Schenkeln. Ein Fähnrich stand steif wie ein Ladestock im Heck. Bolitho vermied es, die jugendlichen Gesichtszüge zu studieren. Das war alles vorbei. Er kannte keinen auf diesem Schiff.

Schnell blickte er in die Runde und sah, wie die Pfeifer der Ehrenwache ihre Instrumente an die feuchten Lippen hoben, sah die Seesoldaten die Gewehre präsentieren. Er sah Haven und seinen Ersten Leutnant, dazu all die anderen anonymen Gesichter, das Blau und Weiß der Offiziere, das Scharlachrot der Seesoldaten, die gebräunten Körper der Seeleute. Am liebsten hätte er ihnen gesagt:»Ich bin hier zwar Admiral, aber die Hyperion ist noch immer mein Schiff.»

Er hörte Allday ins Boot klettern und wußte, daß er ängstlich auf ihn achtete, auch wenn er es verbarg, immer bereit zuzugreifen, falls sein Auge sich wieder verschleierte und er den Halt verlor. Bolitho lüftete den Hut, und sofort stimmten Trommeln und Pfeifen ihre lebhafte Weise an, die Royal Marines präsentierten die Gewehre, während der Degen ihres Majors grüßend funkelte.

Bolitho kletterte das steile Fallreep hinunter ins Boot. Sein letzter Blick auf Haven überraschte ihn: Die Augen des Kommandanten waren kalt und feindlich. Es würde gut sein, sich dessen zu erinnern.

Das Wachboot glitt heran und wartete, um die Barkasse durch die vor Anker liegenden Schiffe und den Verkehr der Hafenfahrzeuge zu geleiten.

Bolitho beschattete seine Augen und schaute zum Land. Wieder eine neue Herausforderung. Aber im Augenblick war ihm eher nach Flucht zumute.

II Ein Wiedersehen

John Allday lugte unter der Krempe seines Hutes hervor und sah die einlaufende Strömung das Wachboot aus dem Kurs drängen. Er legte die Pinne, und Bolithos frisch gestrichene grüne Barkasse folgte dem anderen Boot ohne eine Unterbrechung im Takt der Ruderer. Alldays Ruf als des Admirals persönlicher Bootssteurer war legendär.

Er sah über die Bootscrew hinweg, die Gesichter sagten ihm nichts. Das Boot selbst war von ihrem letztem Schiff, der Argonaute, einer französischen Prise, übernommen worden; Bolitho hatte es seinem Bootssteurer überlassen, eine neue Mannschaft auf der Hyperion zu rekrutieren. Allday musterte die Männer im Heck. Das waren Yovell, den man vom Schreibergehilfen zum Sekretär befördert hatte, und der neue Flaggleutnant. Der junge Offizier schien recht annehmbar, kam aber nicht aus einer seefahrenden Familie. Die meisten sahen diese besonders anstrengende Stellung als einen sicheren Weg zur Beförderung an. Für ein Urteil über Jenour war es noch zu früh, beschloß Allday. Auf einem Schiff, in dem sich sogar die Ratten fremd waren, tat man gut daran, keine vorschnellen Meinungen zu äußern.

Seine Augen blieben auf Bolithos breiten Schultern haften, und er versuchte die Besorgnis zu unterdrücken, die ihn seit ihrer Rückkehr nach Falmouth begleitete. Trotz der Schmerzen und des Blutzolls der Schlacht hätte es eine stolze Heimkehr sein sollen. Sogar die Verletzung von Bolithos linkem Auge schien weniger schlimm im Vergleich zu dem, was sie zusammen durchgemacht hatten. Das war vor ungefähr einem Jahr passiert, an Bord des kleinen Kutters Supreme. Allday entsann sich jedes einzelnen Tages, der qualvollen Gesundung, der moralischen Stärke des Mannes, dem er diente und den er verehrte. Bolitho hatte ihn immer wieder in Erstaunen versetzt, obwohl sie nun über zwanzig Jahre zusammen waren.

Sie kamen vom Hafen in Falmouth und hielten an der Kirche, die zu einem Teil von Bolithos Familiengeschichte geworden war. Generationen waren mit ihr verbunden, durch Hochzeiten und Geburten, durch Dank für die Siege auf See, aber auch durch gewaltsamen Tod. Allday war an jenem Sommertag am großen Portal der stillen Kirche stehengeblieben und hatte mit Erstaunen und Trauer gehört, wie Bolitho ihren Namen aussprach:

Cheney…

Nur ihren Namen, nichts weiter; und doch hatte ihm das vieles erklärt. Allday hatte bis dahin geglaubt, es würde alles wieder gut, sobald sie erst das graue Haus erreicht hatten. Die schöne Lady Belinda, die zumindest im Aussehen so sehr seiner ersten Frau Cheney glich, würde es schon schaffen, Bolitho zu trösten, wenn sie erst das Ausmaß seines Schmerzes begriff. Vielleicht würde sie seine Qual heilen, die er nie erwähnte, die aber Allday nicht entging. Angenommen, das andere Auge würde in einer Schlacht ebenfalls verletzt? Die Angst so vieler Seeleute und Soldaten, als Krüppel unerwünscht zu sein, quälte auch Bolitho.

Alle hatten sie gewartet, um ihn zu begrüßen: Ferguson, der Verwalter, der einen Arm bei den Saintes verloren hatte, was schon eine Million Jahre zurückzuliegen schien; seine rotbäckige Frau Grace, die Haushälterin, und das andere Personal. Es gab Lachen, Hochrufe und eine Menge Tränen obendrein. Doch

Belinda und die kleine Elizabeth waren nicht dagewesen. Ferguson sagte, sie hatte in einem Brief ihre Abwesenheit erklärte. Oft genug fand ein heimkehrender Seemann seine Familie in Unkenntnis über sein Kommen, aber hier hätte es in keinem schlimmeren Augenblick geschehen oder Bolitho härter treffen können.

Nicht einmal sein junger Neffe Adam, der nun die Brigg Firefly befehligte, war dagewesen, um ihn aufzumuntern. Er war an Bord zurückgerufen worden, um Ausrüstung und Trinkwasser zu übernehmen.

Aber Hyperion war nun die Gegenwart. Allday achtete auf den Schlagmann, dessen Riemen schlecht eintauchte und Spritzwasser übers Dollbord warf. Verdammte Stümper! Sie würden das eine oder andere noch zu lernen haben, und wenn er sich jeden einzelnen persönlich vornehmen mußte.

Die alte Hyperion war für sie keine Fremde, nur ihre Leute waren das. Entsprach das Bolithos Wünschen? Allday wußte es nicht. Wenn Keen hier Flaggkapitän gewesen wäre oder auch der arme Inch, hätten die Dinge besser ausgesehen. Aber Kapitän Haven war ein kalter Fisch. Dessen Bootssteurer, ein Waliser namens Evans, hatte ihm bei einem Glas Rum anvertraut, sein Herr hätte keinen Humor und ließe niemanden an sich heran.

Allday grübelte weiter über Bolitho nach. Wie er sich doch verändert hatte! Ein Schiff folgte dem anderen, sie befuhren verschiedene Meere, aber gewöhnlich blieb der Feind sich gleich. Und Bolitho hatte ihn immer wie einen Freund behandelt, wie einen, der zur Familie gehörte. Das hatte er einmal beiläufig gesagt, aber Allday hatte es wie etwas Kostbares im Gedächtnis bewahrt.

Es war schon seltsam, wenn man darüber nachdachte. Einige seiner alten Messegefährten hätten ihn vielleicht sogar damit geneckt, hätte der Respekt vor seinen Fäusten sie nicht zurückgehalten. Aber Allday wie auch Ferguson waren einmal in den Dienst des Königs gepreßt und auf Bolithos Schiff, die Fregatte Phalarope, gesteckt worden — kaum die rechte Basis für eine Freundschaft. Trotzdem war Allday seit dem Gefecht bei den Saintes freiwillig bei Bolitho geblieben, als dessen alter Bootssteurer Stockdale getötet wurde. Er war sein ganzes Leben Seemann gewesen, nur kurze Zeit hatte er an Land ausgerechnet als Schäfer gearbeitet. Er wußte wenig über seine Abstammung und die Leute, die ihn großgezogen hatten, was ihn mit zunehmendem Alter zuweilen beunruhigte.

Er studierte Bolithos altmodischen Nackenzopf, der unter seinem goldbetreßten Hut hervorsah. Noch war er rabenschwarz. Seine Erscheinung blieb jugendlich, so daß er manchmal irrtümlich für Adams älteren Bruder gehalten wurde. Sofern Allday es überhaupt wußte, hatte er das gleiche Alter: siebenundvierzig. Doch während er voller wurde und sein dickes braunes Haar graue Streifen bekam, schien Bolitho nicht zu altern. Allday kannte ihn von allen Seiten: als einen Tiger im Gefecht, aber auch als einen Mann, den es fast zu Tränen rührte, wenn er Schiffe und Menschen in einer Seeschlacht sterben sah.

Das Wachboot schwenkte unter dem ausladenden Klüverbaum eines hübschen Schoners durch. Allday beugte sich über die Pinne und hielt den Atem an, als er seine alte Wunde in der Brust brennen fühlte. Nur selten konnte er sie vergessen: die spanische Klinge, die wie aus dem Nichts gekommen war, und Bolitho, der ihn deckte, ihm das Leben rettete.

Die Wunde machte ihm Mühe, und es fiel ihm oft schwer, seine Schultern zu straffen, ohne daß Schmerz ihn durchschoß. Bolitho hatte ihm nahegelegt, an Land zu bleiben, wenigstens vorübergehend. Längst bot er ihm nicht mehr die Chance einer Freistellung von der Navy an, der er so gut gedient hatte. Denn er wußte, das hätte Allday fast mehr geschmerzt als die Wunde selbst.

Die Barkasse strebte der nächsten Anlegepier zu. Bolithos Finger umklammerten die Scheide seines alten Degens, den er zwischen den Knien hielt. So viele Gefechte hatten sie gemeinsam bestanden, so oft hatten sie sich gefragt, weshalb sie wieder einmal verschont geblieben waren, obwohl so viele andere fielen.

«Klar bei Bootshaken!«Allday beobachtete kritisch, wie der Bugmann den Riemen einzog, aufstand und mit dem bereitgehaltenen Haken nach der Pierkette tastete. In ihren geteerten Hüten und karierten Hemden sahen die Leute forsch und schmuck aus, aber es brauchte mehr als Farbe, damit ein Schiff segeln konnte. Auch Allday selbst war eine stattliche Erscheinung, obwohl er sich dessen kaum bewußt war, wenn er nicht gerade das Auge des einen oder anderen Mädchens auf sich zog, was öfter geschah, als er zugab. In seinem blauen Rock mit den goldenen Knöpfen, den ihm Bolitho spendiert hatte, und in seinen Nankingbreeches war er jeder Zoll ein alter Salzwasserbuckel.

Das Wachboot machte Platz, der verantwortliche Offizier zog aufstehend den Hut, während die Ruderer zum Gruß ihre Riemen hochstellten. Allday bekam einen Schreck, als sich Bolitho ihm zuwandte, eine Hand überm Auge, um es vor der Helligkeit zu schützen. Er sagte nichts, aber sein Blick war so deutlich, als ob er laut gerufen hätte: eine dringende Bitte, die alle anderen ausschloß. Allday war eine simple Seele, aber er erinnerte sich dieses Blickes noch lange, nachdem Bolitho die Barkasse verlassen hatte. Er machte ihm Sorge und rührte ihn zugleich.

Er sah, daß die Bootscrew ihn anstarrte, und brüllte:»Ich hab' schon geschicktere Kerls als ihr aus'm Puff geschmissen. Bei Gott, nächstes Mal strengt euch lieber mehr an, sonst sollt ihr mich kennenlernen!»

Flaggleutnant Jenour stieg an Land und lächelte über den Fähnrich, der bei der Schimpfkanonade des Bootssteurers verlegen errötete. Der Flaggleutnant war erst einen Monat bei Bolitho, begann aber schon, die ungewöhnliche Ausstrahlung des Mannes, dem er beigeordnet war, zu begreifen. Wie für den Fähnrich war er auch für ihn ein Held.

Bolithos Stimme riß ihn aus seinen Gedanken.»Kommen Sie, Mr. Jenour, das Boot kann warten, der Krieg nicht.»

«Aye, aye, Sir Richard. «Jenour grinste und dachte an seine Eltern in Hampshire, die den Kopf geschüttelt hatten, als er ihnen seine Absicht eröffnete, eines Tages Bolithos Adjutant zu werden.

Bolitho sah Jenour lächeln und merkte, wie seine Melancholie zurückkehrte. Er wußte, was der junge Leutnant fühlte, weil er früher selbst so gewesen war. In der begrenzten Welt der Navy hing man sehr stark an Freunden. Wenn sie fielen, ging mit ihnen etwas verloren, und das eigene Überleben ersparte einem nicht die Trauer um ihr Verschwinden.

Bolitho blieb abrupt an der Treppe zur Pier stehen. Der Erste Leutnant der Hyperion war ihm eingefallen. Sein zigeunerhaft gutes Aussehen. Natürlich, es erinnerte ihn an Keverne, an Charles Keverne, einst sein Erster auf der Euryalus, der vor Kopenhagen als Kommandant gefallen war.

«Ist Ihnen nicht wohl, Sir Richard?»

«Verflucht noch mal, doch!»

Aber Bolitho drehte sich sofort um und berührte bedauernd Jenours Ärmel.»Entschuldigen Sie. Mein Rang bringt viele Vorrechte, doch schlechte Manieren gehören nicht dazu.»

Er stieg die Treppe hoch, während Jenour ihm nachstarrte. Yovell seufzte, als er schwitzend hinterherkletterte. Der arme Leutnant, er hatte noch eine Menge zu lernen. Man konnte nur hoffen, daß ihm die Zeit dazu vergönnt wurde.

Der große Raum war nach der Hitze draußen bemerkenswert kühl. Bolitho saß auf einem Stuhl mit steifer Lehne, nippte an einem Glas Rotwein und wunderte sich, daß er so kalt blieb. Leutnant Jenour und Yovell saßen an einem Nebentisch, der mit Akten und Folianten bedeckt war. Sonderbar, daß in einem anderen Teil desselben Gebäudes Bolitho einmal besorgt auf die Beförderung zum Kommandanten gewartet hatte.

Der Wein war gut und sehr leicht. Er merkte, daß sein Glas von einem farbigen Diener sofort nachgefüllt wurde, und nahm sich vor, auf der Hut zu sein. Bolitho genoß einen guten Schluck, doch war es ihm bisher leicht gefallen, dem verbreiteten Laster der Navy, der Trunksucht, zu entgehen. Es führte zu oft zur Schande und dem Kriegsgericht.

Er hatte es nur in jenen schwarzen Tagen in Falmouth, als er erwartungsvoll zurückkam, nicht geschafft. Trotzdem — was hatte er eigentlich erwartet? Wie konnte er bestürzt sein und verbittert über Belindas Kälte, wenn in Wahrheit sein Herz bei Cheney geblieben war?

Wie still das Haus dalag, als er ruhelos durch seine tiefen Schatten wanderte, mit einer Hand die Kerze vor den strengen Porträts hochhaltend, die er schon kannte, seit er so klein wie Elizabeth gewesen war.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, ruhte seine Stirn in vergossenen Weinlachen auf dem Tisch. Mit trockenem Mund bemerkte er die leeren Flaschen, konnte sich aber nicht erinnern, sie aus dem Keller geholt zu haben. Das Personal mußte Bescheid gewußt haben. Ferguson hatte ihn noch in Reisekleidung vorgefunden und war hin und her geeilt, um ihm zu helfen. Bolitho mußte die Wahrheit später fast mit Gewalt aus Allday herausholen. Er entsann sich nicht, ihn fortgeschickt zu haben, weil er in seinem Elend allein sein wollte, hörte aber, daß Allday die Nacht gleichfalls vertrunken hatte, in jener Taverne, wo die Wirtstochter immer noch auf ihn wartete.

Er hörte, daß der andere Offizier auf ihn einsprach. Das war Kommodore Aubrey Glassport, Direktor der Marinewerft von Antigua und bis zu Hyperions Einlaufen der ranghöchste Marineoffizier am Ort. Er erläuterte ihm die Standorte und unterschiedlichen Aufgaben der hiesigen Streitkräfte.

«Bei einem so ausgedehnten Seegebiet, Sir Richard, tun wir uns schwer, Blockadebrecher oder Piraten zu verfolgen und aufzubringen. Die Franzosen und ihre Verbündeten andererseits…»

Bolitho zog die Seekarte heran. Dieselbe alte Geschichte. Nicht genug Fregatten, zu viele Linienschiffe weggeschickt, um die Flotten im Kanal und im Mittelmeer zu verstärken. Über eine Stunde lang hatte er jetzt die Berichte durchgesehen, den tage-und wochenlangen Patrouillen zwischen den zahllosen Inseln die mageren Resultate gegenübergestellt. Gelegentlich riskierte ein wagemutiger Kommandant Leib und Leben, erschien mit seinem Schiff auf einem feindlichen Ankerplatz, brachte eine Prise auf oder veranstaltete ein schnelles Bombardement. Das las sich gut, trug aber wenig dazu bei, den überlegenen Feind ernstlich zu lahmen. Bolithos Mund wurde hart. Nur zahlenmäßig überlegen.

Glassport hielt Bolithos Schweigen für Zustimmung und redete weiter. Er war ein rundlicher, bequemer Herr mit gelichtetem Haupthaar und einem Mondgesicht, das mehr von gutem Leben zeugte als vom Kampf gegen die Elemente oder die Franzosen. Er sollte längst verabschiedet sein, wußte Bolitho, aber er hatte Beziehungen im Stützpunkt, also ließ man ihn hier. Seinem Weinkeller nach zu urteilen, unterhielt er ebenso gute Beziehungen zu den Zahlmeistern.

Glassport sagte gerade:»Angesichts Ihrer früheren Erfolge, Sir Richard, fühle ich mich geehrt durch Ihren Besuch. Bei Ihrem ersten Hiersein war Amerika wohl ebenfalls gegen uns aktiv? Mit vielen Freibeutern und auch mit der französischen Flotte.»

«Die Tatsache, daß wir uns mit Amerika nicht länger im Krieg befinden«, entgegnete Bolitho,»verhindert nicht zwangsläufig internationale Einmischung, auch nicht die zunehmenden amerikanischen Nachschublieferungen an den Feind. «Er legte die Karte aus der Hand.»In den nächsten Wochen wünsche ich mit jeder Patrouille Kontakt aufzunehmen. Haben Sie zur Zeit eine Kurierbrigg hier?«Er bemerkte Glassports plötzliches Erstaunen und seine Unsicherheit. Eine ruhige Existenz ging hier wohl zu Ende.»Ich möchte jeden Kommandanten persönlich sprechen. Können Sie das einrichten?»

«Ah, hm — jawohl, Sir Richard.»

«Gut.»

Bolitho ergriff sein Weinglas und beobachtete die Sonnenreflexe im Stiel. Er neigte es ein wenig nach links und wartete, fühlte Yovells Augen auf sich gerichtet. Und Jenours Neugier. Er fügte hinzu:»Man hat mir gesagt, daß sich Seiner Majestät Generalinspekteur noch in Westindien befindet?»

Glassport murmelte unglücklich:»Mein Flaggleutnant weiß genaueres.»

Bolitho stutzte, als sich das Bild des Glases zu verwischen begann. War der trübe Schleier diesmal schneller gekommen, oder hatte das ständige Drandenken.

«Meine Frage war einfach genug, glaube ich«, fuhr er auf.»Ist er noch hier oder nicht?»

Zitterte seine Hand? War er hartherzig, verärgert? Keines von beiden. Nur unsicher wie auf der Pier, als er Jenour angefahren hatte. Ruhiger sprach er weiter:»Er ist doch mehrere Monate hier draußen gewesen, glaube ich.»

«Viscount Somervell befindet sich noch in Antigua«, erwiderte Glassport und setzte defensiv hinzu:»Ich habe Grund anzunehmen, daß er mit dem Vorgefundenen zufrieden ist.»

Bolitho sagte nichts. Der Generalinspekteur konnte ihm eine zusätzliche Last bei seiner Aufgabe sein. Es schien absurd, jemanden mit so hochtrabend klingendem Titel zu einer Inspektionsreise nach Westindien zu schicken, wenn England, allein im Kampf gegen Frankreich und die Flotten Spaniens stehend, täglich eine Invasion erwartete.

Bolithos Instruktionen besagten klar, daß er Viscount Somervell ohne Verzögerung zu treffen hätte, auch wenn dies bedeutete, daß er sich sofort zu einer anderen Insel begeben mußte, Jamaika eingeschlossen.

Doch der Gesuchte befand sich hier. Immerhin etwas.

Bolitho fühlte sich müde. Er hatte die meisten Offiziere und Beamten des Stützpunkts kennengelernt, zwei Schoner besichtigt, die für die Navy umgebaut wurden, und war bei den Batterien gewesen, wobei Jenour und Glassport Mühe gehabt hatten, mit ihm Schritt zu halten.

Er lächelte schwach. Dafür büßte er jetzt.

Glassport wartete, bis er an seinem Wein nippte, und bemerkte dann:»Es gibt einen kleinen Empfang für Sie heute abend, Sir Richard. «Er unterbrach sich, als er in die grauen Augen blickte.»Kaum dem Anlaß angemessen, aber er wurde erst arrangiert, nachdem man Ihr. äh, Flaggschiff gemeldet hatte.»

Bolitho merkte das Zögern. Noch einer, der an seinem Schiff zweifelte.

Glassport mochte eine Absage befürchtet haben, denn er haspelte weiter:»Viscount Somervell erwartet Sie.»

«Verstehe. «Ein Wink zu Jenour.»Informieren Sie den Kommandanten.»

Als der Leutnant sich abmeldete, sagte Bolitho:»Mein Bootssteurer soll es ihm ausrichten. Sie bleiben bei mir.»

Jenour nickte. Er lernte heute eine ganze Menge.

Bolitho wartete, bis Yovell ihm den nächsten Stapel Papiere brachte. Glassport sah ihm beim Umblättern zu.

Dies also war der Mann hinter der Legende, ein zweiter Nelson, sagten manche. Doch alle Welt wußte, daß Nelson höherenorts nicht sehr beliebt war. Er war der richtige Mann, um eine Flotte zu fuhren. Notwendig. Aber hinterher? Glassport studierte Bolithos gesenkten Kopf, die Strähne über dem Auge. Ein ernstes, empfindsames Gesicht, dachte er, das man sich in den Gefechten, über die er soviel gelesen hatte, schwer vorzustellen vermochte. Er wußte, Bolitho war mehrmals schwer verwundet worden und am Fieber fast gestorben. Aber insgesamt waren das nicht viele Informationen. Ritter des Bath-Ordens, aus einer guten alten Seefahrerfamilie stammend — und England sah in ihm einen Helden: all das, was Glassport gern gewesen wäre und gehabt hätte. Warum war er nach Antigua gekommen? Es bestand wenig oder gar keine Aussicht für ein Unternehmen zur See, selbst vorausgesetzt, die einzelnen Flottillen wurden verstärkt und ein Ersatz für die.

Er erschrak, als Bolitho gerade diesen Punkt berührte, als könnten die grauen, zwingenden Augen Gedanken lesen.

«Die Spanier haben uns die Fregatte Consort weggenommen?«Es hörte sich wie ein Vorwurf an.

«Vor zwei Monaten, Sir Richard. Sie strandete unter Beschuß. Einer meiner Schoner konnte den größten Teil ihrer Besatzung abbergen, ehe der Feind bei ihr war. Der Schoner machte seine Sache gut. Ich dachte, daß.»

«Und der Kommandant der Consort!».

«Befindet sich in St. John's, Sir Richard. Steht zur Verfügung des Kriegsgerichts.»

«Wirklich?«Bolitho erhob sich und wandte sich an den eintretenden Jenour.»Wir begeben uns nach St. John's.»

Jenour schluckte hart.»Gibt es eine Kutsche, Sir Richard?«Hilfesuchend schaute er Glassport an.

Bolitho griff zum Degen.»Aber bestimmt zwei Pferde, mein Junge.»

Sein plötzlicher Eifer überraschte ihn selber. War er lediglich ein Ablenkungsmanöver von anderen Sorgen?» Sie sind doch aus Hampshire, richtig?»

Jenour nickte.»Jawohl, das heißt.»

«In Hampshire kann man reiten. Zwei Pferde — sofort!»

Glassport starrte vom einen zum andern.»Aber der Empfang, Sir Richard. «Er schien entsetzt.

«Der Ausflug wird mir Appetit machen. «Bolitho lächelte.»Ich bin rechtzeitig zurück.»

Bolitho musterte forschend sein Gesicht im Wandspiegel, dann strich er sich die lose Strähne aus der Stirn. Im Spiegel sah er auch Allday und Ozzard, die ihn besorgt beäugten, während sich Stephen Jenour nach ihrem Ritt das Hinterteil massierte.

Der Ausflug war heiß und staubig gewesen, aber zunächst unerwartet heiter. Allein schon die Gesichter der Passanten, als sie an ihnen vorüber durch den diesigen Sonnenschein galoppierten, waren sehenswert.

Nun war es dunkel, die Dämmerung setzte auf den Inseln früh ein. Bolitho musterte sich sorgfältig, während sein Ohr schon den Klang der Violinen und das dumpfe Gemurmel aus dem Salon auffing, in dem der Empfang stattfand. Ozzard hatte ihm frische Strümpfe von Bord gebracht, Allday den Repräsentationsdegen und ihn gegen das alte Erbstück, das Bolitho trug, ausgewechselt.

Bolitho seufzte. Die meisten Kerzen wurden durch hohe Sturmgläser geschützt, daher war die Beleuchtung nicht zu grell.

So blieben vielleicht sein zerknittertes Hemd und die Schmutzflecken, die der Sattel auf seinen Breeches hinterlassen hatte, unbemerkt. Sie hatten keine Zeit gefunden, noch zur Hyperion zurückzukehren. Verdammter Glassport und sein Empfang! Bolitho hätte viel lieber in seiner Kajüte alles durchdacht, was der Fregattenkommandant ihm mitgeteilt hatte.

Commander Matthew Price war für die Führung eines so schönen Schiffes noch reichlich jung. Die Consort mit ihren sechsunddreißig Geschützen hatte sich zwischen einigen Untiefen vor Venezuela durchgewunden, als sie von einer Küstenbatterie unter Feuer genommen wurde. Unglücklicherweise stand sie so dicht unter Land, daß sie auf Grund geriet. Es war schon so, wie Glassport berichtet hatte: Ein Schoner hatte den Großteil der Besatzung abgeborgen, mußte sich aber davonmachen, als ein spanisches Kriegsschiff auf der Bildfläche erschien.

Commander Price saß in seinem Alter noch auf keiner Kapitänsplanstelle, und wenn das Kriegsgericht gegen ihn entschied, was sehr wahrscheinlich war, mußte er alles verlieren. Bestenfalls würde man ihn zum Leutnant zurückstufen. Der schlimmste Fall war nicht auszudenken.

Während Price in einem kleinen, regierungseigenen Haus die Verhandlung erwartete, hatte er viel zu bedenken. Nicht zuletzt, daß Gefangenschaft oder gar der Tod im Gefecht besser für ihn gewesen wären. Denn sein Schiff war wieder flottgemacht worden und gehörte nun zum Geschwader Seiner Allerkatholischsten Majestät in La Guaira auf dem spanischen Festland. Fregatten aber waren ihr Gewicht in Gold wert, und England bedurfte ihrer immer dringender. Als Bolitho noch im Mittelmeer diente, waren zwischen Gibraltar und der Levante nur sechs Fregatten verfügbar gewesen. Der Vorsitzende der Kriegsgerichtsverhandlung würde dies bei seinen Erwägungen nicht ignorieren können.

In seiner Verzweiflung hatte der junge Kommandant den Vizeadmiral gefragt, was wohl bei der Verhandlung herauskommen würde. Bolitho hatte ihm gesagt, er müsse erwarten, die Spitze des Degens auf dem Tisch gegen sich gerichtet zu sehen. Sein Schiff aufs Spiel zu setzen, war eine Sache, es an den verhaßten Feind zu verlieren, war eine völlig andere. Er konnte Price nichts vormachen, das Urteil vermochte er nicht zu beeinflussen. Price hatte viel riskiert, um die spanische Stärke zu erkunden. Zusammen mit dem, was Bolitho schon wußte, konnten seine Informationen äußerst wertvoll sein. Aber dem Kommandanten der Consort würde das jetzt nicht helfen. Eine Standuhr schlug.

Bolitho sagte:»Ich glaube, es ist Zeit. Sind unsere Offiziere schon da?»

Jenour nickte und zuckte zusammen, als der Schmerz wieder durch seine Schenkel und Hüften schoß. Der Admiral war ein prächtiger Reiter, und das gleiche hatte er auch von sich selbst gedacht. Bolithos kleiner Scherz über die Leute aus Hampshire hatte ihn angespornt, doch zu keiner Zeit hatte er Bolithos Tempo halten können. Er entgegnete:»Der Erste Leutnant traf mit ihnen ein, als Sie sich umkleideten, Sir Richard.»

Bolitho schaute auf seine makellosen Strümpfe hinunter und dachte an die Zeit, als er noch ein kleiner Leutnant mit nur einem feinen Paar Strümpfe für derartige Anlässe gewesen war. Die anderen waren über und über gestopft, ein Wunder, daß sie überhaupt noch zusammengehalten hatten. Dann fiel ihm wieder ein, daß Kapitän Haven ersucht hatte, an Bord bleiben zu dürfen. Haven hatte dies damit begründet, ein Sturm könne ausbrechen und seine rechtzeitige Rückkehr an Bord verhindern. Die Luft war wirklich schwer und feucht und die Sonne blutrot untergegangen.

Der Segelmeister der Hyperion, Isaac Penhaligon aus Cornwall, bestand allerdings darauf, daß ein Sturm sehr unwahrscheinlich wäre. Vielleicht zog Haven es vor, sich abseits zu halten, auch wenn ihm jemand auf dem Empfang seine Abwesenheit verübeln sollte.

Wenn nur Keen sein Flaggkapitän gewesen wäre! Bolitho hätte ihn nur zu fragen brauchen, und Keen wäre mit ihm gekommen, aus Treue, Freundschaft, Zuneigung. Aber Bolitho hatte Keen genötigt, in England zu bleiben, bis dieser seine Probleme mit der reizenden Zenoria gelöst hatte. Mehr als alles andere hatte Keen sich nämlich gewünscht, das dunkeläugige Mädchen mit dem vollen kastanienbraunen Haar zu heiraten. Sie waren so sehr ineinander verliebt, daß Bolitho es nicht über sich brachte, die beiden wieder zu trennen, kaum daß sie sich gefunden hatten.

Verglich er ihre Liebe mit seiner eigenen Ehe? Da hörte er lieber auf, sich Gedanken zu machen. Es war jetzt nicht die rechte Zeit dazu. Vielleicht würde es das niemals mehr sein.

Jenour fragte höflich:»Sollen wir gehen, Sir Richard?»

Bolitho betastete sein linkes Auge, hielt dann aber inne und starrte statt dessen auf das nächste Sturmglas und seinen zarten Rauchfaden, der kerzengerade zur Decke stieg. Alles war hell und klar. Keine Trübung, keine Schatten, die ihn manchmal so plötzlich behinderten.

Zwei Lakaien, die sich bisher zurückgehalten hatten, rissen die hohen Türflügel auf. Musik und Stimmengewirr brandeten in den Raum. Bolitho spannte seine Muskeln, als gälte es, einer Musketenkugel zu widerstehen. Den von Pfeilern flankierten Korridor hinuntergehend, rätselte er über Sinn und Zweck dieses stattlichen Gebäudes auf einer so kleinen Insel. Aber es war eben ein Platz, der durch den Krieg schon öfter ein wichtiger Angelpunkt in Englands Strategie geworden war.

Er hörte Jenours Sohlen über die Dielen tappen und lächelte halb über des Leutnants Eifer, mit ihm Kopf an Kopf zu reiten. Sie hatten mehr wie Landjunker ausgesehen als wie Offiziere des Königs.

Dann sah er die reichen Farben der Damengewänder, die nackten Schultern und neugierigen Blicke, die ihn empfingen. Sie hatten kaum Zeit seit seiner Ankunft gehabt, wie schon Kommodore Glassport erklärte, aber wahrscheinlich war jeder offizielle Besucher oder ein Schiff aus England hier willkommener Anlaß zum Feiern. Er bemerkte einige Offiziere von der Hyperion. Ihr Blau und Weiß bot einen deutlichen Kontrast zum Rot und Scharlach der Armee und der Seesoldaten.

Wieder einmal mußte er sich beherrschen, um nicht nach vertrauten Gesichtern zu suchen oder nach Stimmen; es durfte nicht so aussehen, als ob er einen Handschlag erwarte oder ein Zeichen des Wiedererkennens.

Zwischen zwei Pfeilern, einige Stufen erhöht, stand Glassport und blickte ihn an, zweifellos erleichtert, daß Bolitho nach seinem Ritt doch noch gekommen war. Im Mittelpunkt, elegant und unbeschwert, stand eine von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidete Gestalt. Bolitho wußte wenig über den Mann, den zu treffen er gekommen war. Der Sehr Ehrenwerte Viscount Somervell, Seiner Majestät Generalinspekteur in der Karibik, schien nicht viel an sich zu haben, das ihn für diesen Posten empfahl. Er war ein bekanntes Gesicht bei Hofe und auf den richtigen Empfängen, ein rücksichtsloser Spieler, wie einige meinten, und ein Fechter von Ruf. Letzterer war wohlbegründet. Man wußte, daß der König sich seinetwegen eingeschaltet hatte, als Somervell einen Mann im Duell tötete. Für Bolitho war das ein vertrautes und zugleich schmerzliches Milieu, für das er nicht bestimmt war.

Ein Lakai klopfte mit seinem langen Stab auf die Dielen und verkündete:»Sir Richard Bolitho, Vizeadmiral der Roten Flotte!»

Die plötzliche Stille war fast körperlich spürbar. Bolitho sah aller Augen auf sich gerichtet, als er über den Teppich ging. Die Musiker mit ihren Instrumenten standen stockstill, ein junger Marineoffizier, der seinen Partner knuffte, erstarrte, als ihn Bolithos Blick streifte. Dann der kühne Blick einer Lady in so tief ausgeschnittener Robe, daß sie sich überhaupt nicht hätte anzuziehen brauchen, und der eines jungen Mädchens, welches scheu lächelte und dann das Gesicht hinter einem Fächer verbarg.

Der Viscount kam ihm zur Begrüßung nicht entgegen. Er stand wie zuvor, eine Hand nachlässig in die Hüfte gestemmt, die andere an der Seite baumelnd. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, das sowohl Belustigung als auch Langeweile bedeuten konnte. Seine Gesichtszüge waren die eines Jüngeren, aber er besaß die trägen Augen eines Lebemannes, der schon alles gesehen hatte.

«Willkommen in…«Somervell stockte und drehte sich ungehalten um, als ein fahrbarer Kandelaber hinter ihm in den Saal gerollt wurde und ihn um seine elegante Pose brachte.

Der überraschend grelle Lichtschein in Augenhöhe kostete Bolitho die Balance, als er eben einen Fuß auf die erste Stufe setzen wollte. Eine Dame in Schwarz, die neben dem Viscount gestanden hatte, ergriff stützend seinen Arm. Durch die vielen Kerzen lugten überraschte und neugierige Gesichter wie auf einem Gemälde.

«Pardon, Ma'am!«Bolitho gewann sein Gleichgewicht wieder und versuchte gar nicht erst, sein Auge zu beschatten, als der Schleier darüber hinwegzog. Es war, als fiele er in tiefes Wasser, tiefer und tiefer.

«Es geht schon«, versicherte er. Die Robe der Dame war gar nicht schwarz, sondern von dunkelgrün schillernder Seide, die ihre Farbe in Falten und Kurven zu wechseln schien, was das blendende Licht erst jetzt enthüllte. Der Rock war weit geschnitten, das Mieder mit dem tiefen Dekollete eng. Das Haar — soweit er sich entsann, war es lang und so dunkel wie sein eigenes gewesen. Jetzt trug sie es über den Ohren zu Locken aufgetürmt.

Die neugierigen Gesichter, das wieder einsetzende Gemurmel, das mutwillige Geschwätz, alles schien vor seinen Augen zu verblassen. Er hatte sie einmal als Catherine Pareja gekannt, als Kate.

Er vergaß seine momentane Behinderung, als er ihre Augen sah, in denen Besorgnis einer erzwungenen Ruhe wich. Sie hatte gewußt, daß er kommen würde. Die Überraschung war nur auf seiner Seite.

Somervells Stimme schien von weither zu dringen. Auch er tat gelassen, hatte seine Haltung wiedergewonnen.»Natürlich, ich vergaß. Sie beide kennen sich von früher.»

Bolitho beugte sich über ihre ausgestreckte Hand. Sogar ihr Parfüm war noch das gleiche. Er hörte sie erwidern:»Das ist lange her.»

Als Bolitho sich aufrichtete, wirkte Kate seltsam fern und selbstsicher, fast gleichgültig. Sie setzte hinzu:»Aber einen Helden vergißt man nicht.»

Dann bot sie ihrem Gatten den Arm und wandte sich den übrigen Gästen zu.

Bolitho war wie ins Herz getroffen. Sie trug die langen, goldenen Filigranohrringe, die er ihr in jener anderen unwirklichen Welt einmal gekauft hatte — in London.

Lakaien näherten sich mit Tabletts voll funkelnder Gläser. Das kleine Orchester erwachte wieder zum Leben. Doch über die erhitzten, erregten Gesichter hinweg trafen sich ihre Blicke und schlossen alles andere aus.

Glassport sprach ihn an, aber er hörte nicht hin. Trotz allem, was geschehen war, bestand das Band zwischen ihnen immer noch. Aber es mußte zerrissen werden, bevor ihre Gefühle sie beide zerstörten.

III Um hohen Einsatz

Bolitho lehnte sich in seinem Stuhl zurück, als ein weißer Handschuh den erst halb geleerten Teller fortriß und schnellstens durch einen anderen ersetzte. Er wußte nicht mehr, wie viele Gänge ihm schon angeboten oder wie oft die geschliffenen Pokale nachgefüllt worden waren.

Die Luft vibrierte vom Stimmengewirr der Anwesenden: schätzungsweise vierzig Offiziere, Beamten mit Damen und das kleine Kontingent aus der Offiziersmesse der Hyperion. Die lange Tafel wurde durch hunderte von Kerzen erhellt. Am äußeren Rand wogten die Schatten der vielen Diener und Lakaien mit dem ständigen Nachschub von Speisen und Wein hin und her.

Man mußte Bedienstete aus mehreren Häusern zusammengezogen haben, dachte Bolitho, und aus dem gelegentlich wütenden Unterton des Butlers konnte er entnehmen, daß es zwischen Küche und Tafel Reibereien gegeben hatte.

Er saß rechts von Catherine. Im Wirbel von Konversation und Gelächter wurde er sich ihrer Nähe sehr bewußt, obwohl sie über ihre eigenen Gefühle in seiner Gegenwart wenig verriet. Am anderen Ende der Tafel saß ihr Gatte, Viscount Somervell, schlürfte seinen Wein und lauschte sichtlich gelangweilt dem mit schwerer Zunge redenden Kommodore Glassport. Gelegentlich fixierte er über die Länge der Tafel hinweg, alles andere ausschließend, seine Frau und Bolitho. War es Interesse oder Wachsamkeit? Schwer zu sagen. Wenn sich die Flügeltüren von Zeit zu Zeit für eine Prozession schwitzender Diener schwungvoll öffneten, flackerten die Kerzen in der verräucherten Atmosphäre. Bolitho mußte an Haven denken und stellte sich vor, wie er in der Kajüte über seine mögliche Zukunft brütete. Er würde bald mehr Anteilnahme zeigen, wenn er erst erfuhr, was man von ihm erwartete.

Die Frau drehte sich um und richtete das Wort direkt an ihn.»Sie sind sehr still, Sir Richard.»

Er hielt ihrem Blick stand und fühlte, wie seine Abwehr nachgab. Sie war ebenso attraktiv, sogar noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Die Sonne hatte ihrem Nacken und den Schultern eine zarte Röte verliehen, und er bemerkte den leisen Pulsschlag an ihrem Hals.

Eine ihrer Hände lag wie verloren neben einem geschlossenen Fächer. Er hätte sie gern berührt, um sich selbst zu beruhigen oder seine eigene Dummheit zu enthüllen. Bin ich so dünkelhaft, dachte er, bilde ich mir wirklich ein, sie könnte sich nach so langer Zeit wieder zu mir hingezogen fühlen?

Stattdessen sagte er nur:»Es müssen sieben Jahre her sein.»

Ihr Gesicht blieb unbewegt. Wer sie beide beobachtete, hätte annehmen können, sie unterhielten sich über England oder das Wetter.

«Sieben Jahre und einen Monat, um genau zu sein.»

Bolitho blickte auf, weil der Viscount über etwas lachte, das Glassport gesagt hatte.

«Und dann hast du ihn geheiratet. War er dir so wichtig?«Es hörte sich wie ein bitterer Vorwurf an. Ihre Finger bewegten sich unruhig.

«Du täuschst dich, Richard«, gab sie hastig zurück,»es war nicht so. «Allein schon der Klang seines Namens aus ihrem Mund riß alte Wunden auf.»Ich brauchte Sicherheit, so wie du es brauchst, geliebt zu werden.»

Trotz, Schmerz, beides stand in ihren dunklen Augen. Bolitho wagte kaum zu atmen, als die Unterhaltung um sie herum vorübergehend verstummte. Er glaubte, daß der Erste Leutnant sie beobachtete, daß ein Oberst mit halb erhobenem Glas innehielt, als lausche er ihren Worten. Für ihn war es wie eine Verschwörung.

«Liebe?»

Sie nickte langsam, ihre Augen ließen nicht von ihm ab.»Du brauchst sie wie die Wüste den Regen.»

Er wollte sich ihrem Blick entziehen, aber sie schien ihn zu hypnotisieren, als sie im gleichen Ton gelassen fortfuhr:»Ich habe dich damals gewollt, aber am Ende beinahe gehaßt. Beinahe. Ich habe während all der Jahre dein Leben und deine Laufbahn verfolgt — zwei ganz verschiedene Dinge. Ich hätte alles hingenommen, was du mir geboten hättest, denn du warst der einzige Mann, den ich liebte, ohne nach Ehe und Sicherheit zu fragen.»

Sie spielte leicht mit dem Fächer.»Stattdessen nahmst du eine andere. Eine, von der du glaubtest, sie wäre ein vollwertiger Ersatz für. «Das hatte gesessen.»Ich wußte es!»

Bolitho erwiderte schwach:»Ich habe oft an dich gedacht.»

Sie lächelte, was sie nur trauriger aussehen ließ.»Wirklich?»

Er wandte den Kopf, um sie besser sehen zu können. Andere mochten meinen, er blicke sie direkt an, aber sein linkes Auge wurde durch den flackernden Glanz beeinträchtigt.

«Deine letzte Schlacht — wir hörten vor einem Monat davon«, sagte sie.

«Wußtest du, daß ich herkommen würde?«Sie verneinte.»Er erzählt mir wenig von seinen Regierungsgeschäften. «Mit einem vertraulichen Lächeln schaute sie zum anderen Ende der Tafel. Bolitho fragte sich, weshalb dieses Einvernehmen mit ihrem Gatten ihm so weh tat, als sie sich wieder an ihn wandte.»Deine Wunden, sind sie. «Er fuhr zusammen.»Ich half dir einmal, erinnerst du dich nicht?»

Bolitho senkte die Lider. Es zog ihm wie ein Alptraum durch den Kopf: seine damalige Verwundung, der Rückfall in das Fieber, das ihn fast umbrachte. Ihre bleiche Nacktheit, als sie die Kleider fallen gelassen und sich an seinen keuchenden, zitternden Körper gepreßt hatte, während sie unhörbare Worte flüsterte und ihn an ihre Brust nahm, um seine Qualen zu lindern.

«Ich werde es nie vergessen.»

Sie beobachtete ihn still. Ihre Blicke wanderten über seinen geneigten Kopf und seine baumelnde Haarsträhne, über seine ernsten, sonnenverbrannten Gesichtszüge und die Lider, die seine Augen verbargen, so daß er nicht den Schmerz und die Sehnsucht in ihrem Blick sehen konnte.

Nebenan erläuterte Major Sebright Adams von den Seesoldaten der Hyperion seine Erlebnisse vor Kopenhagen und die blutigen Folgen der Schlacht. Parris, der Erste Leutnant, hörte ihm auf einen Ellenbogen gestützt scheinbar zu, neigte sich aber über die junge Frau eines Hafenbeamten. Sein Arm drückte gegen ihre Schulter, doch sie machte keinen Versuch, ihn abzuschütteln. Auch die anderen Offiziere schienen sich augenblicklich frei von jeder Verantwortung zu fühlen.

Bolitho spürte mehr denn je seine plötzliche Isolierung. Es drängte ihn, Kate seine Gedanken und Ängste mitzuteilen, gleichzeitig verabscheute er seine Schwäche.

So sagte er nur:»Es war ein harter Kampf. Wir verloren viele gute Männer.»

«Und du, Richard? Konntest du wirklich noch mehr verlieren als das, was du schon aufgegeben hattest?»

Er erwiderte heftig:»Laß gut sein, Catherine, es ist vorbei!«Und schärfer:»Es muß vorbei sein!»

Eine Seitentür ging auf, und mehrere Lakaien schwärmten aus, aber diesmal ohne neue Speisen. Es wurde Zeit für die Damen, sich zurückzuziehen und die Herren bei Portwein und Brandy allein zu lassen. Bolitho dachte an Allday, der mit seiner Crew in der Barkasse auf ihn warten würde. Jeder Unteroffizier hätte dafür genügt, aber er kannte Allday. Dieser wäre jetzt in seinem Element gewesen. Bolitho wußte keinen, der imstande war, seinen Bootssteurer unter den Tisch zu trinken.

Somervells Stimme drang durch die angeheiterten Reihen, er hatte keine Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen.

«Ich hörte, daß Sie Commander Price besucht haben, Sir Richard?»

Bolitho fühlte, daß die Frau an seiner Seite den Atem anhielt, als ob sie in der beiläufigen Frage eine Falle wittere. War ihre Schuld so offenbar?

Glassport murmelte:»Der ist nicht mehr lange Commander, möchte ich wetten. «Einige Gäste lachten unterdrückt.

Ein schwarzer Lakai betrat den Salon, streifte Somervell mit einem flüchtigen Blick, eilte zu Bolithos Stuhl und präsentierte ihm auf silbernem Tablett ein Kuvert. Bolitho nahm es und hoffte im stillen, daß ihn sein Auge jetzt nicht im Stich lassen möge.

Glassport hub wieder an zu lamentieren.»Meine einzige Fregatte, bei Gott! Ich möchte wirklich wissen.»

Somervell unterbrach ihn unsanft.»Was gibt es, Sir Richard? Betrifft es uns?»

Bolitho faltete das Papier zusammen und schaute den Schwarzen an. Dessen Gesicht zeigte Mitgefühl, als ob er Bescheid wüßte.

«Kommodore Glassport, das Schauspiel bleibt Ihnen erspart, einen tapferen Offizier in Schmach und Schande untergehen zu sehen. «Seine Worte waren klar und hart. Obwohl nur an einen Mann gerichtet, ergriffen sie die ganze Tafel, der es den Atem verschlug.»Commander Price ist tot, er hat sich erhängt. «Bolitho konnte sich nicht versagen hinzuzufügen:»Sind Sie nun zufrieden?»

Mit einem Ruck erhob sich Somervell.»Ich denke, dies ist der richtige Augenblick für die Damen, sich zurückzuziehen. «Es war keine Geste der Höflichkeit, eher schon ein Befehl.

Bolitho sah Catherine an. In ihren Augen las er das Verlangen, sich mit ihm auszusprechen. Statt dessen sagte sie nur:»Wir sehen uns wieder. «Und als er sich aus einer schnellen Verbeugung aufrichtete:»Bald.»

Mit raschelnder Seide tauchte sie in den Schatten.

Bolitho setzte sich wieder. Man hatte ihm ein frisches Glas gebracht. Prices Tod war nicht seine Schuld, nicht einmal die des gedankenlosen Glassport. Was hätte er machen sollen?

Es konnte jedem von ihnen zustoßen. Insgeheim verglich er den jungen Adam mit dem armen Teufel Price, wie er allein vor dem grimmigen Kriegsgericht saß und die Spitze des Degens auf dem grünen Tisch gegen sich gerichtet sah.

Merkwürdig, daß die Nachricht vom Selbstmord Prices aus St. John's unmittelbar zur Hyperion gelangt war. Haven mußte sie gelesen und erwogen haben, bevor er sie ihm nachsandte. Wahrscheinlich durch einen Fähnrich, der sie wiederum einem Lakaien übergab. Es hätte Haven nicht geschadet, wenn er sie persönlich überbracht hätte.

Überrascht merkte Bolitho, daß die anderen bereits aufgestanden waren und ihm ihre Gläser entgegenhielten. Glassport rief heiser:»Auf unseren Vizeadmiral, Sir Richard Bolitho! Möge er uns neue Siege bringen!»

Selbst sein beträchtlicher Rausch vermochte nicht die Beschämung in seiner Stimme zu verbergen.

Bolitho stand ebenfalls auf und verbeugte sich dankend. Er bemerkte, daß die weißgekleidete Gestalt am anderen Ende der Tafel ihr Glas nicht anrührte, und fühlte sein Blut zornig aufwallen. Wie in dem Augenblick, da die Toppsegel des Feindes dessen Angriffsabsicht enthüllten, oder wie bei einem Duell im Morgengrauen. Dann dachte er an ihre Augen und an ihr letztes Wort: bald!

Er griff zum Glas. So sei es denn, dachte er.

Die sechs Tage nach Ankunft der Hyperion in English Harbour waren hektisch und arbeitsreich, zumindest für Bolitho.

Jeden Morgen, nachdem das Wachboot die Depeschen oder Briefe vom Land abgeliefert hatte, kletterte Bolitho in seine Barkasse und widmete sich mit einem verwirrten Leutnant an seiner Seite den Angelegenheiten der ihm unterstehenden Schiffe und Seeleute. Auf den ersten Blick war es keine beeindruckende Streitkraft. Selbst wenn man die drei kleinen Schiffe mit einbezog, die zur Zeit als Aufklärer unterwegs waren, schien die Flottille für die vorliegenden Aufgaben einfach ungeeignet. Bolitho wußte, daß die in seiner Stahlkassette eingeschlossenen und sehr allgemein gehaltenen Befehle Ihrer Lordschaften alle Risiken, alle Verantwortung seinem Urteil überließen.

Das Gros des Antigua-Geschwaders, aus sechs Linienschiffen bestehend, war Berichten zufolge weit im Nordwesten bei den Bahamas verstreut. Wahrscheinlich sondierten sie dort feindliche Streitkräfte oder demonstrierten Macht, um eventuelle Blockadebrecher abzuschrecken. Bolitho kannte ihren Admiral, Sir Peter Folliot, einen ruhigen, würdevollen Offizier, dem seine schlechte Gesundheit zu schaffen machte. Das waren nicht gerade die besten Voraussetzungen für einen Angriff gegen die Franzosen oder deren spanische Verbündete.

Am sechsten Morgen, während Bolitho über das kaum gekräuselte Wasser zum letzten der ihm unterstellten Schiffe gerudert wurde, überdachte er die Ergebnisse seiner Besichtigungen. Abgesehen von der Obdurate, einem älteren Vierundsiebziger, wegen Sturmschäden noch in der Werft, verfügte er über insgesamt fünf Briggs, eine Korvette und über Thor, ein Mörserschiff, das er sich bis zuletzt vorbehalten hatte. Er hätte sich jeden Kommandanten zum Flaggschiff bestellen können, wie man das von einem Admiral erwartete, und erst recht von einem mit seinem Ruf. Sie erfuhren aber bald, daß er es vorzog, sich selbst zu informieren, daß er den Kontakt mit den Menschen suchte, die er führen und anspornen sollte.

Er dachte an Somervell und dessen immer noch ausstehenden

Gegenbesuch auf der Hyperion. Ließ er ihn absichtlich warten, um ihn an seinen Rang zu erinnern, oder stand er Bolithos Plänen gleichgültig gegenüber?

Die Riemen tauchten ein und aus. Die Augen der Ruderer mieden seinen Blick, wenn er sie ansah. Über den geschrubbten Duchten lag Alldays Schatten. So glitten sie an den verankerten Schiffen vorbei. Antigua war zwar britischer Besitz, doch gab es viele Händler und Küstenschiffer, die bereit waren, für ihre eigene freie Passage den Feind mit Informationen zu beliefern, ohne wirklich Spione zu sein.

Auf dem nahen Abhang, nur durch eine Brustwehr und eine schlaffe Flagge kenntlich, war eine Batterie schwerer Geschütze stationiert. Zur Verteidigung — gut und schön, aber man gewann Kriege, indem man angriff. Bolitho sah den Staub der Küstenstraße aufsteigen, als dort eine Kutsche fuhr, und dachte wieder an Catherine. Sie war ihm kaum aus dem Sinn gekommen, und er hatte hart arbeiten müssen, um seine Gefühle im Zaum zu halten.

Vielleicht hatte sie Somervell alles erzählt, was zwischen ihnen gewesen war? Oder er hatte es ihr entlockt? Letzteres verwarf er sofort. Dafür war Catherine zu stark. Er entsann sich ihres früheren Ehemannes, der zweimal so alt gewesen war wie sie, aber erstaunlichen Mut bewiesen hatte, als er Bolithos Leuten half, ein Handelsschiff gegen Korsaren zu verteidigen. Damals hatte Catherine ihn gehaßt. Ihre Gefühle füreinander waren aus jenem Haß gewachsen wie Stahl in der Esse einer Schmiede. Er wußte immer noch nicht genau, was ihnen damals zugestoßen war oder wohin ihre Liebe hätte führen können. So aber hatten sie nur einen kurzen Höhepunkt in London erlebt, nach ihrer zufälligen Begegnung vor der Admiralität, als Bolitho gerade zum Kommodore eines eigenen Geschwaders ernannt worden war.

Das war vor sieben Jahren und einem Monat. Catherine hatte es nicht vergessen. Es erregte ihn, daß sie es fertig gebracht hatte, sein Leben und seine Karriere zu verfolgen, ihrer Meinung nach zwei ganz verschiedene Dinge.

Allday flüsterte:»Sie sind am Fallreep angetreten, Sir Richard.»

Bolitho setzte den Hut auf. Vor ihnen lag die Bombarde, Seiner Britannischen Majestät Mörserschiff Thor. Verglichen mit einem Linienschiff oder einer Fregatte war es klein, aber ausgesprochen stabil und stark konstruiert zum Bombardieren von Küstenbefestigungen und dergleichen. Seine Bewaffnung bestand in der Hauptsache aus zwei schweren Dreizehn-Zoll-Mörsern. Das Schiff mußte kräftig gebaut sein, um dem Rückstoß der Mörser zu widerstehen, die fast senkrecht feuerten. Dazu zehn schwere Karronaden — kurzläufige, aber großkalibrige Geschütze — und einige kleinere Sechspfünder obendrein. Thor mußte ein langsamer Segler sein. Immerhin hatte sie drei Masten und eine handliche Takelage, die sich bei launischem Wind bewähren mochte.

Ein Schatten verdunkelte Bolithos Überlegungen. Hatte nicht Francis Inch das Kommando über eine Bombarde erhalten, nachdem er Hyperion verließ? Das war schon fast unheimlich. Allday beobachtete ihn und sagte leise:»Wie die alte Hekla, Sir Richard, erinnern Sie sich?»

Bolitho bejahte. Immer noch konnte er nicht glauben, daß Inch tot war — wie so viele andere.

«Oberdeck — stillgestanden!»

Pfeifen trillerten. Bolitho ergriff mit beiden Händen das Fallreep und schwang sich durch die Pforte.

Auf den von ihm bisher besuchten Schiffen schien man von seinem Anbordkommen überrascht zu sein, aber bis auf einen waren alle Kommandanten vor kurzem noch Leutnants gewesen. Beim Kommandanten der Thor dagegen war keinerlei Nervosität zu spüren, als Bolitho den Hut zog.

Commander Ludovic Imrie war ein schlanker, schmalschultriger Mann, weshalb seine einzelne Goldepaulette so aussah, als wolle sie jeden Augenblick abfallen. Aber er war über sechs Fuß groß. Wenn man die Stehhöhe in einigen Abteilungen seines Schiffes bedachte, nämlich vier Fuß und sechs Zoll, mußte er sich hier wie in einem Käfig vorkommen.

«Herzlich willkommen, Sir Richard. «Seine Stimme war auffallend tief, mit einem schottischen Zungenschlag, der Bolitho an seine Mutter denken ließ. Es wurden ihm zwei Leutnants und einige junge Offiziersanwärter vorgestellt. Eine kleine Besatzung. Er hatte sich schon ihre Namen gemerkt und ahnte, daß ihre Zurückhaltung jetzt von Neugier verdrängt wurde.

Imrie ließ die Ehrenwache wegtreten und geleitete Bolitho nach kurzem Zögern in seine kleine Heckkajüte. Als sie sich unter den massiven Decksbalken ducken mußten, entsann sich der Admiral seines ersten selbständigen Kommandos, einer Korvette, deren Erster Leutnant sich für den Raummangel entschuldigt hatte. Bolitho aber war fast außer sich vor Freude gewesen. Nach der engen Leutnantsunterkunft auf seinem bisherigen Linienschiff war ihm die Kajüte wie ein Palast vorgekommen.

Thor war sogar noch kleiner. Sie saßen einander gegenüber, während ein wettergegerbter Seemann Flasche und Gläser brachte. Welch ein Kontrast zu Somervells Tafel, dachte Bolitho.

Imrie sprach ungezwungen über sein Kommando, das er seit zwei Jahren innehatte. Er war sehr stolz auf Thor, und Bolitho spürte sofort seinen Protest, als er erwähnte, Bombarden hätten auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen bisher wenig erreicht.

«Wenn man ihnen die Chance gibt. «Er brach ab und zuckte mit den Achseln.»Ich bitte um Entschuldigung, Sir Richard, ich hätte es wissen müssen.»

Bolitho nippte an dem Wein.»Was wissen?»

«Wie ich hörte, prüfen Sie Ihre Kommandanten mit ein oder zwei Fangfragen«, erwiderte Imrie.

Bolitho lächelte.»Es klappt meistens.»

Er dachte an einige der anderen Kommandanten in Antigua, bei denen er so etwas wie Abneigung, wenn nicht sogar Feindschaft zu spüren bekommen hatte. Vielleic ht wegen Price? Schließlich waren sie ihm verbunden gewesen, hatten eng mit ihm zusammengearbeitet. Vermutlich nahmen sie an, daß er sich umgebracht hatte, weil Bolitho es abgelehnt hatte, sich für ihn einzusetzen. Es gab ähnliche Fälle.

Imrie starrte durch das Oberlicht in den wolkenlosen Himmel.»Wenn ich dicht vor dem Ziel liege, Sir, kann ich ein solches Bombardement loslassen, daß der Feind glaubt, die Hölle wäre ausgebrochen. Die Spanier haben noch nie Mörser zu Gesicht bekommen…«Er stockte und fügte entschuldigend hinzu:»Ich meine, wenn wir wirklich gegen die Dons losschlagen würden.»

Imrie hatte seine eigenen Schlüsse gezogen. Warum sollte sich auch sonst ein Vizeadmiral die Mühe machen, ihn aufzusuchen? Prices kühner Vorstoß und katastrophales Ende, die Vorteile der flachgehenden Thor in den seichten Gewässern, wo die Fregatte Consort auf Grund gelaufen war — die Erklärung bot sich von alleine an.

«Das ist schon richtig, Commander Imrie«, sagte Bolitho.»Aber ich vertraue darauf, daß Sie Ihre Meinung für sich behalten. «Eigenartig, daß sich keiner der anderen, nicht einmal Haven, bisher gefragt hatte, warum sie eigentlich in Antigua waren.

Bolitho rieb sich wieder das linke Auge, zog seine Hand aber schnell zurück.»Ich habe alle Berichte gelesen und auch die Notizen, die mein Adjutant machte, als ich mit Commander Price sprach.»

Imrie hatte ein langes Gesicht mit spitzem Kinn und sah aus, als könne er ein energischer Gegner sein. Aber seine Züge lockerten sich, als er Bolitho zuhörte, vielleicht weil dieser das Andenken des Toten respektierte. Es gab dem einsamen Grab unterhalb der Ostbatterie ein wenig Würde.

«Die Zufahrten sind zu gut geschützt für das, was ich im Sinn habe«, fuhr Bolitho fort.»Geschickt plazierte Artillerie könnte ein langsames Schiff mit Leichtigkeit aufhalten, und mit glühenden Kugeln wäre die Wirkung noch katastrophaler.»

Imrie rieb sich das Kinn, seine Augen waren weit weg. Sie stimmten übrigens in der Farbe nicht überein. Das eine war dunkel-, das andere blaßblau. Er entgegnete:»Wir denken beide an denselben Küstenstrich, Sir Richard, aber natürlich können wir nicht ganz sicher sein, daß.»

Jenour hörte gebannt zu. Zwei Offiziere, jeder ein Veteran auf seinem Gebiet, diskutierten und lachten wie zwei Verschwörer über etwas, das er nicht begriff. Es war unglaublich.

Bolitho nickte.»Aber wenn…»

«Auch Thor käme nicht nahe genug heran, um ihre Mörser einzusetzen. «Imrie prüfte das Gesicht seines Gegenübers, als erwarte er Einwände oder ein Zeichen der Enttäuschung.»Zudem ist unser Tiefgang nicht sehr viel geringer als der von Consort.»

Ein Boot stieß dumpf an die Bordwand, und man hörte Allday jemanden anschnauzen. Kurz darauf erschien sein Kopf im Oberlicht.»Pardon, Sir Richard, eine Meldung von der Hyperion: Der Generalinspekteur kommt an Bord.»

Bolitho verbarg seine Aufregung. Hatte Somervell aus Neugier schließlich nachgegeben? Begriff er, daß es zwischen ihnen so etwas wie einen Wettbewerb gab?

Er stand auf und verzog das Gesicht, als sein Kopf an einen Decksbalken stieß. Imrie meinte:»Au verdammt, Sir Richard, ich hätte Sie warnen sollen.»

Er griff nach seinem Hut.»Das war nur eine Mahnung und weniger schmerzhaft als die Erinnerung.»

Oben hatte sich die Fallreepswache versammelt. Allday kletterte wütend in die wartende Barkasse hinunter und fauchte die Ruderer an:»Klar bei Riemen, verdammt noch mal!»

Bolitho faßte einen Entschluß.»Commander Imrie, sagen Sie Ihrem Ersten, er soll Sie vertreten. Ich möchte, daß Sie mich begleiten.»

Imrie blieb der Mund offen stehen.»Aber, Sir Richard.»

Bolithos Blick fiel auf den Ersten Leutnant der Thor. »Er brennt schon darauf, das Kommando zu übernehmen, wenn auch nur für einen Tag.»

Seine gute Laune erstaunte ihn selbst. Sie war wie ein Damm, der alle Sorgen zurückhielt.

Er beugte sich vor, als wolle er eine der kurzläufigen Karronaden näher betrachten. Das ließ ihm Zeit, sein Auge wieder zu massieren und jene Unscharfe zu vertreiben, die ihm das grelle Sonnenlicht verursachte.

Imrie flüsterte Jenour zu:»Das is t ein Mann, was? Ich würde mit ihm durch dick und dünn gehen.»

«Aye, Sir.»

Bis auf Allday und das Kajütpersonal sah Jenour mehr von Bolitho als jeder andere, und ihm war etwas aufgefallen. Jenours Onkel war Arzt in Southampton und hatte schon von dergleichen gesprochen. Jenour hatte beobachtet, daß Bolitho manchmal das Gleichgewicht verlor wie in jenem Augenblick, als die schöne Viscountess zulangte, um ihn zu stützen. Auch zuvor war das mehrmals passiert, doch wurde nie darüber gesprochen. Vielleicht irrte er sich auch.

Unterwegs grübelte Bolitho über seine Mission. Wenn er Fregatten gehabt hätte, wenigstens eine, hätte er das eine gewaltige Hindernis ausräumen können. Doch La Guaira, der Hafen auf dem spanischen Festland und das Tor zu Venezuelas Hauptstadt Caracas, galt als uneinnehmbar. Aber nur, weil es niemand bisher versucht hatte. Er merkte Imries Interesse und freute sich, die Thor besucht zu haben, ehe er das Wagnis mit Haven und den anderen erörterte.

Imrie würde zuversichtlich, aber nicht sorglos sein. Price hatte gedacht, daß er es schaffen könne, wenn auch aus anderen Gründen. Doch wäre sein Unternehmen erfolgreich verlaufen, hätte hinterher nicht einmal mehr ein Fischerkahn durch die Abwehr der Dons schlüpfen können.

Allday rief:»Wir müssen zur anderen Seite, Sir Richard. «Er schien gereizt, und Bolitho wußte, daß er über seinen kürzlich entdeckten und ebenso schnell wieder verlorenen Sohn nachdachte. Jenour erhob sich schwankend.»Die Wasserleichter gehen längsseit. Soll ich sie wegscheuchen?»

Bolitho rückte seinen Rock zurecht.»Setzen Sie sich wieder hin, junger Heißsporn. Wir haben Frischwasser nötig, und Hyperion hat schließlich zwei Seiten.»

Sie pullten um den Bug herum, der grimmige Blick der

Galionsfigur glitt über sie hinweg. Schon mancher mußte im Pulverdampf diese stechenden Augen gesehen und Furcht empfunden haben.

Haven war aufgeregt und besorgt.»Es tut mir leid wegen der Leichter, Sir Richard, aber ich hatte Sie noch nicht zurückerwartet.»

Bolitho überquerte das Deck mit gesenktem Blick. Er wollte sich an den Schatten in der Kajüte gewöhnen.

«Macht nichts. «Da Haven Imrie mit Mißtrauen betrachtete, fügte er hinzu:»Der Commander ist mein Gast.»

Unten hatten die Leic hter festgemacht, ungeschlachte Fahrzeuge mit flachem Boden und offenen Rümpfen, in denen Reihen von Wasserbehältern standen. Eine ganze Menge war bereits mit Flaschenzügen hochgeholt und in der Hyperion verstaut worden. Parris, der Erste Leutnant, stützte sich mit einem Bein am Lukenrand ab und sah zu, wie der hakennasige Zahlmeister Sheargold jeden Behälter kontrollierte, bevor er übernommen wurde. Bolitho wollte sich gerade umdrehen, als ihm etwas auffiel.

«Dieser Leichter liegt noch auf ebenem Kiel, nicht schief, obwohl die Fässer jetzt alle auf einer Seite stehen.»

Haven beobachtete ihn vorsichtig.»Die sind eben so gebaut, Sir. Nichts kann sie umkippen.»

Bolitho richtete sich auf und wandte sich an Imrie.»Da haben wir es, Imrie: eine flachgehende Plattform für Ihre Mörser.»

Er ignorierte das allgemeine Erstaunen.

«Jetzt muß ich aber den Generalinspekteur begrüßen.»

Der Sehr Ehrenwerte Viscount Somervell räkelte sich, von den einfallenden Sonnenstrahlen beschienen, in einem ledergepolsterten Sessel und hörte aufmerksam zu. Diesmal war er in ein sehr helles Grün mit Brokatbesatz und Stickereien gekleidet, die jeden Prinzen beschämt hätten. Im grellen Licht wirkte er jünger, knapp Mitte der Dreißig. Bolitho bemühte sich, nur an sein Vorhaben zu denken, aber trotzdem schien Catherine wie ein Schemen in der großen Kajüte zu schweben und Vergleiche zwischen den beiden Männern anzustellen.

Der Admiral trat zu den Heckfenstern und schaute auf einige Fischerboote hinaus. Die Reede war noch glatt und windstill, doch der Dunst trieb schon seewärts, und der Wimpel einer ankernden Brigg lüftete sich hin und wieder in einem schwachen Hauch.

«Commander Price hatte die Angewohnheit. «sagte Bolitho und hielt inne, als erwarte er Somervells Einspruch oder beißende Kritik,». hatte die Angewohnheit, jenen Küstenstrich zu erkunden, an dem er schließlich mit Consort scheiterte. Er machte sich sorgfältige Notizen von allem, was er sah, und durchsuchte oder zerstörte in der Folge etwa zwanzig feindliche Fahrzeuge. Wenn er Zeit gehabt hätte.»

Das war Somervells Stichwort.»Die war für ihn abgelaufen. «Er beugte sich vor, ohne daß seine fahlen Augen im Sonnenschein blinzelten.»Und Sie haben wirklich diese geheime Angelegenheit mit einem. äh. mit Commander Imrie erörtert?«Er sprach den Namen so gleichgültig aus wie ein Gutsherr den eines Landarbeiters.»Das schafft ein zusätzliches Risiko.»

Bolitho erwiderte:»Imrie ist ein intelligenter Offizier und diskret dazu. In den vorangegangenen Gesprächen mit meinen anderen Kommandanten gewann ich den Eindruck, daß sie erwarteten, ich würde versuchen, die Consort — oder die Intrepido, wie sie jetzt heißt — zurückzuholen.»

Somervell preßte die Fingerspitzen zusammen.»Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Sir Richard.»

Ungerührt sprach Bolitho weiter.»Nur Imrie ahnte sofort, daß ich etwas anderes im Sinn hatte. Er wußte, daß seine Thor für derartige Unternehmen zu schwer und zu langsam ist.»

«Es beruhigt mich, daß Sie ihm nicht mehr gesagt haben.»

Bolitho blickte auf die Seekarte und ärgerte sich, daß Somervell ihn so leicht provozieren konnte.

«Jedes Jahr gehen Geleitzüge vom spanischen Festland ab, wobei jedes Schiff Riesensummen befördert. Die Kirche und die Armee haben den südamerikanischen Kontinent schon lange vergewaltigt und geplündert, und jetzt braucht der König von Spanien noch mehr Gold. Seine französischen Herren wollen ihren Anteil.»

Somervell stand auf und ging wie beiläufig zur Karte. Alles, was er unternahm, sah gelangweilt und träge aus, doch sein Ruf als Fechter strafte das Lügen.

«Als ich hier ankam, auf Befehl Seiner Majestät«, er betupfte sich den Mund mit einem seidenen Taschentuch, als wolle er ein Lächeln verbergen,»hielt ich das Kapern eines spanischen Schatzschiffes lediglich für einen Traum. Ich weiß, daß Nelson dabei viel Glück gehabt hat, besonders auf See, wo eine derartige Beute noch schwerer aufzuspüren ist. «Sein Finger fuhr an der Küstenlinie entlang.»La Guaira ist gut befestigt. Sie werden die Consort dorthin gebracht haben.»

«Mit Respekt, Mylord, das bezweifle ich. La Guaira ist wohl das Tor zur Hauptstadt Caracas, aber nicht geeignet, ein Kriegsschiff neu herzurichten. Wahrscheinlich wird die Fregatte nach der Grundberührung Schäden davongetragen haben. «Ehe Somervell sich äußern konnte, berührte Bolitho die Karte.»Hier, Mylord: Puerto Cabello, siebzig Meilen westlich, wäre ein viel geeigneterer Ort.»

«Hm. «Somervell sah näher hin, und Bolitho entdeckte eine blaue Narbe unterhalb seines Ohrs. Das war haarscharf daneben gegangen, dachte er düster.

Der Viscount meinte:»Es liegt ziemlich nahe an Ihrem vorgesehenen Operationsgebiet. Ich bin noch nicht überzeugt. «Er ging langsam durch die Kajüte.»Price sah Schiffe vor Anker liegen, und nach meinen Informationen laufen die Schatzschiffe La Guaira an. Der Ort wird von mindestens drei Forts verteidigt und, wie Consort zu ihrem Schaden entdeckte, obendrein wahrscheinlich von beweglicher. Feldartillerie. «Er schüttelte den Kopf.»Mir gefällt das nicht. Wenn wir die Fregatte noch hätten, könnte es — und ich betone könnte es — anders aussehen. Würden

Sie nun angreifen und von den Dons zurückgeschlagen, hätten wir den Vorteil der Überraschung vertan. Der König von Spanien verliert lieber eine ganze Flotte als sein Gold. Nein, ich bin noch nicht überzeugt.»

Bolitho blieb eigenartig ruhig und zuversichtlich. In seiner Vorstellung gewann der verschwommene Plan plötzlich Substanz wie eine Küste im Morgendunst. Der Krieg auf See war immer ein Risiko. Er verlangte mehr als Geschick und Mut, es brauchte dazu, was sein Freund Thomas Herrick als die Hand Fortunas umschrieben hätte. Aber war er nach allem noch sein Freund?

«Ich bin bereit, es darauf ankommen zu lassen, Mylord.»

Somervell fuhr herum.»Ich aber nicht. Hier steht mehr als Ihr Ruhm auf dem Spiel — es geht um einen hohen Einsatz.»

«Daran habe ich nie gezweifelt, Mylord.»

Sie sahen einander an, als suchten sie ihre Absichten zu erraten.

Somervell sagte unvermittelt:»Als ich an diesen verdammten Ort kam, bildete ich mir ein, man würde mir einen erfahrenen und tapferen Kapitän schicken, um eine Schatzgaleone aufzuspüren und zu kapern. «Es hörte sich an, als spucke er die Worte aus.»Dann wurde mir mitgeteilt, daß möglicherweise ein Geschwader kommen und die Fluchtwege der Spanier zu den Kanaren und ihren Heimathäfen blockieren würde. «Er wedelte mit der Hand, wie um sich zu verbeugen.»Statt dessen schickte man Sie, einen Admiral, sozusagen als Vorläufer, um der Sache mehr Gewicht zu verleihen. Aber wenn wir nun verlieren, wird der Sieg des Feindes um so größer aussehen. Was sagen Sie dazu?»

Bolitho zuckte die Achseln.»Ich denke, wir können gewinnen. «Die Erkenntnis überfiel ihn wie ein Schrei in der Nacht: Somervell brauchte den Erfolg mehr als jeder andere. Vielleicht weil er bei Hofe in Ungnade gefallen war, oder weil er sich anderweitig in Schwierigkeiten befand, die nur ein hoher Anteil an Prisengeld bereinigen würde.

Er sagte sachlich:»Mylord, wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn wir so lange warten, bis Verstärkung aus England eintrifft — und ich weise darauf hin, daß es nur drei Linienschiffe sein werden — , dann ist hier alle Welt hinter uns her. Gewiß, ein Sieg hilft unseren Finanzen, aber vor allem wird er das französischspanische Bündnis ernsthaft schädigen.»

Somervell setzte sich wieder und strich sorgfältig seinen Rock glatt, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Schließlich meinte er gereizt:»Das Geheimnis wird ohnehin bald bekannt sein.»

Bolitho sah ihn die Lippen spitzen und wollte nicht daran denken, daß diese Catherines Hals berührten, ihre Brüste.

Dann lächelte Somervell, als lenke er ein.»Gut, ich stimme zu. Es soll so ablaufen, wie Sie planen. Ich bin ermächtigt, Ihnen jede Unterstützung zu gewähren. «Sein Lächeln verschwand abrupt.»Aber ich kann Ihnen nicht helfen, wenn.»

Bolitho nickte zufrieden.»Gewiß, Mylord, das Wort >wenn< kann für einen Marineoffizier alles bedeuten.»

Er vernahm, daß jemand ein Boot anrief, und vermutete, daß Somervell seinen Abgang wie seine Ankunft auf die Minute genau arrangiert hatte.

«Ich werde sofort Kapitän Haven informieren.»

Somervell hörte nur noch halb hin, meinte aber:»So vage wie möglich. Wenn zwei ein Geheimnis teilen, ist es kein Geheimnis mehr.»

Die Tür ging auf und Ozzard trat ein, Somervells Hut mit größter Sorgfalt balancierend.

Somervell bemerkte noch:»Es freut mich, daß wir uns kennengelernt haben. Aber ich kann mir um nichts in der Welt vorstellen, warum Sie darauf bestanden, diese Aufgabe selbst zu übernehmen. «Er verbeugte sich spöttisch.»War es etwa Todessehnsucht? Denn noch mehr Ruhm haben Sie bestimmt nicht nötig.»

Damit drehte er sich auf dem Absatz um und verließ die Kajüte.

Über die strammstehenden Seesoldaten an der Relingpforte sah er hinweg, desgleichen über Imries schlaksige Gestalt an der Pooptreppe.»Ich könnte mir denken, daß Lady Belinda diesen Drang zu weiteren Siegen, so bald nach dem letzten, ausgesprochen mißbilligt. «Mit einem schiefen Lächeln ging er von Bord.

Bolitho blickte der hübschen, von der Hyperion fortrudernden Barkasse nach. Was hatten sie besprochen und, mehr noch, was war ungesagt geblieben? Was hatte sich beispielsweise Somervell bei seinem Hinweis auf Belinda, seine Frau, gedacht? Wollte er ihn nur reizen, oder konnte er sich nicht zurückhalten, da keiner von beiden auch nur einmal Catherine erwähnt hatte? Haven näherte sich und tippte an seinen Hut.»Irgendwelche

Befehle, Sir Richard?»

Bolitho zog seine Uhr und ließ den Deckel aufspringen. Es war genau Mittag. Ihre Augen trafen sich, und Bolitho fühlte fast körperlich des anderen Zurückhaltung, ja Vorsicht. Er zögerte.»Alle Kommandanten sollen sich im Anschluß an die Nachmittagswache zur Besprechung bei mir melden. Führen Sie sie in meine Kajüte.»

Haven schluckte.»Der Rest unseres Geschwaders ist aber noch auf See, Sir.»

Bolitho sah sich um. Die Ehrenwache war schon weggetreten, nur der Unteroffizier vom Dienst war noch in der Nähe. Er sagte:»Ich habe die Absicht, innerhalb der Woche und sobald genügend Wind unsere Segel füllt, ankerauf zu gehen. Wir segeln nach Südwesten zum Festland und beziehen vor La Guaira Station.»

Havens rötliche, sonnengebräunte Wangen, die zu seiner Haarfarbe paßten, schienen zu erbleichen.»Das sind sechshundert Seemeilen, Sir! Mit diesem Schiff, ohne Unterstützung? Ich weiß nicht, ob.»

Bolitho fixierte ihn scharf.»Haben Sie keinen Mumm oder möchten Sie eine vorzeitige Verabschiedung?«Doch er zügelte sich, weil Haven nicht zurückschlagen konnte, und setzte ruhiger hinzu:»Ich brauche Sie, und auch dieses Schiff braucht Sie. Das ist alles.»

Beim Fortgehen bemerkte er Imrie.»Kommen Sie mit, ich möchte Sie Ihrer Ideen berauben. «Als ein Sonnenstrahl durch die Besanwanten auf ihn fiel, zuckte er zurück. Für Sekunden war sein linkes Auge völlig blind, und er mußte sich zusammennehmen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien.

Von Todessehnsucht hatte Somervell gesprochen. Bolitho ertastete sich den Weg ins Achterschiff, wobei ihn Bitterkeit überfiel. Zu viele hatten schon seinetwegen sterben müssen, und auch seine Freunde erlitten durch den Umgang mit ihm nur Schaden.

Imrie duckte sich unnötigerweise und begleitete ihn in das Dunkel des Achterdecks.»Ich habe nachgedacht, Sir Richard, und ein paar Einfalle.»

Seine einfachen Worte waren eine Art Rettungsleine für den Admiral.

Bolitho entgegnete:»Dann wollen wir unseren Durst löschen, während ich zuhöre.»

Als sie verschwunden waren, rief Haven nach dem Signalfähnrich und erklärte dem Jungen Art und Zeit der Übermittlung, wodurch die anderen Kommandanten an Bord gerufen werden sollten. Danach wandte er sich dem erst jetzt herbeieilenden Ersten Leutnant zu. Bevor dieser den Mund aufmachen konnte, fuhr ihn Haven an:»Muß ich auch noch Ihre Aufgaben übernehmen, verdammt noch mal?«Noch im Weggehen schimpfte er:»Bei Gott, wenn Sie sich nicht bessern, lasse ich Sie an Land setzen, für immer!»

Parris starrte ihm nach, nur seine geballten Fäuste verrieten seinen Groll.»Gott verdamme dich!»

Er sah, daß der Fähnrich große Augen machte. Hatte er sich etwa laut ausgelassen? Er grinste müde.»Der Seemann hat ein feines Leben, Mr. Mirrielees, vorausgesetzt, er hält sein Maul!»

Um acht Glasen nachmittags, also um vier Uhr, wurde das Signal an der Rah vorgeheißt. Es fing an.

IV Sturmwarnung

Bolitho stand im leeren Bootsschuppen und gewöhnte seine Augen an die Formen und Schatten. Es war ein großes, baufälliges Gebäude, von einigen wenigen Lampen schwach erleuchtet. Um die Feuersgefahr zu verringern, hingen die

Laternen an langen Ketten und pendelten jetzt leise, was den Eindruck erweckte, als bewege sich der Schuppen wie ein Schiff.

An diesem Abend war die Dunkelheit lebendig und voller Geräusche: dem Rascheln und Klatschen der Palmwedel, dem unruhigen Plätschern des Wassers unter der groben Aufschleppe, wo man den Leichter für seine Reise in den Süden hergerichtet hatte. Der Bootsschuppen war ein wimmelnder Bienenkorb gewesen, in dem Schiffbauer und Seeleute gegen die Zeit arbeiteten, um zusätzliche Bilgepumpen einzubauen und Scharniere entlang der Verschanzung einzusetzen, damit man diese bei Bedarf niederlegen konnte.

Bolitho fühlte losen Sand vom Strand in seinen Schuhen, während er zum hundersten Mal seine Pläne durchdachte. Jenour hatte ihm Gesellschaft geleistet, aber sein Verlangen nach Alleinsein respektiert.

Bolitho lauschte dem Plätschern des Wassers, dem sanften Stöhnen des Windes über dem vom Wetter zerrissenen Dach. Sie hatten um Wind gebetet, aber nun konnte er zunehmen und sich gegen sie kehren. Wenn der Leichter vollschlagen sollte, bevor er sein Ziel erreichte, mußte er sich zu einer Planänderung entschließen. Entweder würde er dann Thor ohne Unterstützung an die Küste schicken oder den Angriff abbrechen müssen. Er dachte an den Zweifel in Somervells Augen. Nein, er würde nicht umkehren, es war sinnlos, andere Möglichkeiten zu erwägen.

Er sah sich im dräuenden Schatten des Schuppens um: Skelette alter Boote, Spanten von neuen, der Geruch nach Farbe, Teer und Tauwerk. Eigenartig, daß er nach so vielen Jahren auf See seine anregende Wirkung auf ihn immer noch nicht verfehlte.

Bolitho entsann sich der Schuppen in Falmouth, wo er und sein Bruder und manchmal auch seine Schwestern alle Winkel erforscht hatten und sich wie Piraten und Prinzessinnen vorgekommen waren. Er fühlte einen Stic h im Herzen, als er an seine Tochter Elizabeth dachte, wie sie, unbeholfen auf den Arm genommen, an seinen Epauletten und blanken Knöpfen gezupft hatte.

Doch statt ihn und Belinda wieder zu vereinen, war das Gegenteil geschehen. Eine ihrer Auseinandersetzungen hatte sich um Belindas Absicht gedreht, eine Gouvernante und ein passendes Kindermädchen für ihre Tochter zu engagieren. Dies und ihr Vorschlag, nach London zu ziehen, hatten den Streit entzündet. Sie hatte ihm erklärt:»Nur weil du selbst in Falmouth mit den Dorfkindern aufgewachsen bist, kannst du nicht von mir verlangen, daß ich Elizabeth die Möglichkeit vorenthalte, sich im Leben zu verbessern und von deinen Leistungen zu profitieren.»

Es war eine schwierige Geburt gewesen, während Bolithos Abwesenheit auf See. Die Ärzte hatten Belinda vor einem zweiten Kind gewarnt, und als Folge davon war eine Entfremdung zwischen den Eheleuten eingetreten, die Bolitho nicht verstand und als ungerecht empfand. Ein andermal hatte Belinda spitz geäußert:»Ich habe dir von Anfang an erklärt, ich bin nicht Cheney. Hätte ich ihr nicht so ähnlich gesehen, wären wir jetzt wohl kaum verheiratet.»

Bolitho hatte versucht, die Barriere zwischen ihnen niederzureißen, Belinda an sich zu ziehen und ihre Angst zu beschwichtigen. Er wollte ihr von seiner Augenverletzung erzählen und von dem, was sie bedeuten konnte. Statt dessen hatten sie sich in London getroffen, und es war zu unerklärlichen, bitteren Feindseligkeiten zwischen ihnen gekommen, die beide später bedauerten.

Bolitho tippte an seine blanken Knöpfe und dachte wieder an das Kind. Es war jetzt sechzehn Monate alt. Verzweifelt fragte er sich, ob Elizabeth nie in Falmouth spielen, im Sand tollen und schmutzig nach Hause kommen würde, um gescholten und geliebt zu werden.

Jenour hörte ihn seufzen, zog aber die falschen Schlüsse daraus. »Thor müßte schon ziemlich weit weg sein, Sir Richard«, meinte er aufmunternd.

Bolitho nickte. Das Mörserschiff war in der vergangenen Nacht heimlich ausgelaufen, aber Gott allein wußte, ob nicht Spione längst Einzelheiten über den beabsichtigten Einsatz weitergemeldet hatten. Zur Täuschung hatte man Gerüchte in Umlauf gesetzt, wonach Thor den Leichter nach St. Christopher schleppen sollte. Sogar Glassport war genötigt worden, seinen Widerstand aufzugeben, und hatte eine Decksladung mit dem deutlich sichtbaren Namen dieses Bestimmungshafens besorgt.

Wie auch immer, jetzt war es zu spät für Alternativen. Vielleicht war es dafür schon zu spät gewesen, als er darauf bestanden hatte, seinem neuen Geschwader vorauszusegeln und mit des spanischen Königs Gold auf seine Weise umzugehen. Todessehnsucht? Somervells Wort steckte in seinem Kopf wie ein Widerhaken.

Er sagte:»Imrie wird sich zweifellos freuen, wieder auf See zu sein.»

Jenour musterte besorgt die aufrechte Gestalt, die den Hut abgelegt und die Halsbinde gelockert hatte. Bolitho merkte es nicht, er dachte an seine anderen Kommandanten. Haven hatte in einem Punkt recht behalten: Die drei patrouillierenden Fahrzeuge seiner kleinen Streitmacht waren noch nicht nach English Harbour zurückgekehrt. Entweder hatten Glassports Schoner sie nicht zu finden vermocht, oder es hatte jeder für sich beschlossen, die Zeit anderswo totzuschlagen. Er stellte sich die Gesichter vor, als die Kommandanten in der großen Kajüte versammelt waren. Thynne von der Obdurate, die noch ihre Sturmschäden reparierte, war der einzige etatmäßige Kommandant unter ihnen. Bolitho behandelten sie mit einer höflichen Wachsamkeit. Sie alle hatten den toten Price gekannt, und vielleicht sahen sie in Bolithos Strategie einen Diebstahl seiner Ideen.

Diese Befürchtung hatte er Jenour gegenüber geäußert, nicht etwa, weil der junge Flaggleutnant schon über genug Erfahrung und Klugheit als Kritiker verfügte, sondern weil er sie mit einem teilen wollte, dem er vertrauen konnte.

Aber Jenour hielt das bezeichnenderweise für ausgeschlossen und hatte beharrlich erklärt:»Sie kennen Ihre bisherigen Leistungen, Sir Richard, das genügt jedem. «Jenour war ein angenehmer, eifriger junger Mann, der ihn an niemanden erinnerte. Vielleicht hatte er ihn sich deshalb ausgesucht. Deshalb und wegen seiner verblüffenden Kenntnisse über Bolithos bisherige Unternehmen, seine Schiffe und Gefechte.

Die drei Briggs Upholder, Tetrarch und Vesta sollten morgen die Anker lic hten und mit dem Flaggschiff auslaufen. Blieb nur zu hoffen, daß sie nicht auf feindliche Fregatten stießen, bevor sie das Festland erreichten. Alle drei zusammen trugen sie nur zweiundvierzig Kanonen. Wenn doch wenigstens ihre einzige Korvette aufsein Rückrufsignal reagiert hätte! Denn die Phaedra sah wie eine kleine Fregatte aus, und in den richtigen Händen konnte sie auch als eine solche kämpfen. Oder maß er sie schon wieder an seiner ersten Korvette und dem damit verbundenen

Glück?

Bolitho schritt langsam zum Ende der Aufschleppe, dorthin, wo sie in die unruhigen Wellen tauchte. Das Wasser war dunkel wie Ebenholz, betupft mit gelegentlichen Reflexen der Ankerlaternen oder, wie im Fall der Hyperion, von den Spiegelbildern der erleuchteten offenen Stückpforten. Er fühlte die warme Brise an seinen Wangen und versuchte sich die Seekarte mit allen Unwägbarkeiten vorzustellen, die ihnen auf jeder der sechshundert Seemeilen zustoßen konnten.

Er wollte sich nicht aufregen, wenn er an Haven dachte. Haven war kein Feigling, aber von anderen, tieferen Sorgen besessen. Was er auch von seiner Kommandierung auf einen Veteranen wie Hyperion hielt, Bolitho sah es anders. Das Schiff mochte alt sein, gewiß, aber es war noch immer ein weit besserer Segler als die meisten seiner Sorte. Ungewöhnlich, daß ein Flaggkapitän sich zum Gegner seines Admirals machte, ob er ihn nun haßte oder nicht. Die Karriereleiter war schwer genug zu erklettern, ohne daß man sich noch selbst Hindernisse in den Weg legte. Doch Haven wies jeden persönlichen Kontakt zurück, und als auf der Überfahrt von England traditionsgemäß seine Gegenwart an der Tafel nötig war, wo Bolitho einige jüngere Offiziere bewirtete, hatte er sich abseits gehalten. Bolitho dachte an das Bildnis von Havens hübscher Frau. War sie die Ursache seiner Probleme? Das allerdings hätte er gut verstehen können.

Der Schatten eines Fischerboots glitt an der ihnen am nächsten liegenden Brigg vorüber. Brachte es dem Feind eine Nachricht? Falls die Dons herausbekamen, was er beabsichtigte, konnte der Admiral in Havanna wenige Stunden nach Erhalt der Nachricht ein ganzes Geschwader in See haben.

Es wurde Zeit, zur Anlegebrücke zu gehen, wo die Barkasse wartete, aber Bolitho zögerte noch. Es war so friedlich hier, ein Aufschub vor der Gefahr und dem Ruf der Pflicht.

Der Fischer war verschwunden, ohne zu ahnen, welche Gedankengänge er ausgelöst hatte. Bolitho starrte auf die leuchtenden Reihen offener Stückpforten der Hyperion. Das sah aus, als ob sie innerlich brannte. In ihrem rundlichen Rumpf drängten sich sechshundert Seelen — alle ihm überantwortet. Sie verlangten nicht viel, aber oft wurden ihnen selbst noch die einfachsten Bequemlichkeiten vorenthalten. Er konnte sich die anonymen Seesoldaten in ihrer Sektion des Decks vorstellen, wo sie wohnten und auch ihre Ausrüstung reinigten und putzten. Er sah andere Quartiere vor sich, wo die Seeleute zwischen Kanonen ihre Freiwachen verbrachten, an traditionellen Kleinigkeiten bastelten oder winzige Schiffsmodelle aus Knochen und Muscheln schnitzten. Wie konnten ihre von schwerer Arbeit groben Hände solch feine Arbeiten hervorbringen? Dann die Fähnriche der Hyperion, acht an der Zahl, die den Lehrstoff für ihr Leutnantsexamen studierten, manchmal bei schwächster Beleuchtung, einem Docht in einer alten Kartusche.

Die Offiziere hatten sich noch nicht hervorgetan, aber mit der Zeit würden sie zeigen, was sie konnten oder was nicht. Bolitho schlug mit seinem Hut nach einem durch die Dunkelheit summenden Insekt. Führerschaft, darauf kam es an. Alles beruhte auf guter Führerschaft.

Als er sich wieder dem Bootsschuppen zuwandte, hörte er Jenours Schritte davoneilen. Eine Kutsche rollte heran, ein Pferd stampfte unruhig, und die Stimme eines Mannes suchte es zu besänftigen.

Jenour kam zurück und wisperte:»Eine Dame, Sir Richard.»

Bolithos Herz erriet ihren Namen. Er fragte sich keinen Moment, wer da zu dieser späten Stunde kommen mochte. Vielleicht hatte er sie unbewußt erwartet, in der Hoffnung, daß sie ihn schon finden würde. Und trotzdem fühlte er sich unvorbereitet.

Sie begegneten einander unter dem aufgepallten Rumpf eines alten Bootes. Catherine war von Kopf bis Fuß in einen Umhang gehüllt, dessen Kapuze lose über ihrem Haar hing. Hinter ihr sah man die Kutsche warten, den Mann neben dem Pferd stehen, beleuchtet von zwei kleinen Laternen, die ihren gelben Schein auf die Straße warfen. Jenour wollte sich zurückziehen, aber sie winkte seine Entschuldigung beiseite.»Lassen Sie nur, ich habe ja auch meine Zofe bei mir.»

Bolitho trat näher, doch sie kam ihm nicht entgegen. Der Umhang verbarg sie völlig, lediglich das Oval ihres Gesichts und eine goldene Halskette waren erkennbar.

Sie sagte:»Du verläßt uns bald. «Das klang wie eine Feststellung.»Ich kam, um dir Glück zu wünschen, was auch immer. «Die Stimme versagte ihr. Bolitho streckte die Hand aus, doch sie protestierte schnell:»Nein, das wäre unfair. «Nach einer Pause fragte sie ohne Gemütsbewegung:»Du hast meinen Mann getroffen?»

Bolitho versuchte, ihr in die Augen zu sehen, aber auch diese lagen im tiefen Schatten.»Ja. Aber ich möchte lieber von dir reden und erfahren, wie es dir ergangen ist.»

Sie hob das Kinn und drehte sich halb um.»Seit dem Empfang? Mein Mann spricht viel von dir. Du hast ihn beeindruckt, und er bewundert andere nicht oft. Die Tatsache, daß du den neuen Namen der Consort kanntest.»

Bolitho beharrte:»Wir wollen über dich reden, Kate.»

Sie erschauerte und entgegnete leise:»Ich habe dich einmal gebeten, mich nicht Kate zu nennen.»

«Ich weiß. Ich habe nichts vergessen. «Er zuckte die Achseln und merkte, daß er etwas falsch machte.

«Ich auch nicht. Ich habe alles über dich gelesen, was ich nur bekommen konnte, weil ich fürchtete, mit der Zeit meine Erinnerungen an dich zu verlieren. Ich war verletzt, habe deinetwegen gelitten.»

«Das ahnte ich nicht.»

Sie hörte nicht hin.»Hast du angenommen, dein Leben bedeute mir so wenig, daß ich es jahrelang verfolgen könnte, ohne zu leiden? Sieben Jahre, an denen ich nicht teilhaben durfte — hast du gedacht, ich liebte dich nicht?»

«Ich war der Meinung, du hättest dich von mir abgewendet.»

«Vielleicht tat ich das auch, eine Zeitlang. Und doch wünschte ich mir mehr als alles andere, daß du Erfolg haben würdest, daß man erkennen würde, wer du wirklich bist. Oder hättest du es lieber gesehen, die Leute hätten im Vorbeigehen höhnisch über mich gelächelt wie über Nelsons Hure? Wie hättest du diesen Sturm abgewettert, sag?»

Bolitho hörte Jenour davongehen, doch es war ihm egal.

«Bitte gib mir Gelegenheit, zu erklären…»

Sie schüttelte den Kopf.»Du bist mit einer anderen verheiratet und hast ein Kind, da gibt es nichts zu erklären.»

Bolitho ließ die Arme sinken.»Und was ist mit dir? Du hast ebenfalls geheiratet.»

«Ihn?«antwortete sie gedehnt.»Lacey brauchte mich, ich konnte ihm helfen. Und ich brauchte Sicherheit, wie schon gesagt.»

Sie betrachteten einander schweigend. Dann bat sie:»Sei vorsichtig, auf was du dich einläßt. Ich werde dich wahrscheinlich nicht wiedersehen.»

Bolitho erwiderte:»Ich segle morgen, aber das weißt du wahrscheinlic h schon.»

Zum erstenmal hob sie die Stimme.»Sprich mit mir nicht in diesem Ton! Ich bin gekommen, weil ich noch immer an unsere Liebe glaube. Nicht aus Trauer oder Mitleid. Wenn du denkst.»

Durch den Umhang packte er ihren Arm.»Geh nicht im Zorn, Kate. «Er erwartete, daß sie sich losreißen und zur Kutsche eilen würde. Aber etwas in seiner Stimme zwang sie zu bleiben.

Er setzte von neuem an.»Den Gedanken, daß ich dich niemals wiedersehen sollte, könnte ich nicht ertragen.»

«Es war dein Entschluß«, flüsterte sie.

«Nicht ganz.»

«Würdest du deiner Frau erzählen, daß du mich gesehen hast? Wie ich höre, ist sie eine Schönheit. Könntest du ihr das antun?«Sie trat ein wenig zurück.»Dein Schweigen ist auch eine Antwort.»

Bolitho sagte bitter:»Das stimmt nicht. »

Sie wandte sich zum Gehen. Dabei glitt die Haube von ihrem Kopf, und der Schein der Lampen fiel auf die Ohrringe, die er ihr einst geschenkt hatte.

Als er sie wieder festhalten wollte, wich sie zurück und bedeckte ihr Gesicht.»Morgen werde ich dir nachsehen, wenn sich dein Schiff entfernt. Wie die Dinge liegen, wird mein Herz mit dir segeln, Richard. Aber jetzt geh!»

Dann lief sie mit schwingendem Umhang davon, bis sie die Kutsche erreichte.

Jemand räusperte sich, es war Jenour.»Tut mir wirklich leid, Sir Richard…»

Bolitho schnitt ihm das Wort ab.»Es ist Zeit, daß Sie erwachsen werden, Mr. Jenour.»

Jenour eilte hinter ihm her, den Kopf noch voll von dem, was er unfreiwillig gehört und gesehen hatte.

Auf der Pier blickte Bolitho noch einmal zurück. Die Lampen ihrer Kutsche hatten sich nicht bewegt. Sie sah ihm noch in der Dunkelheit nach.

Er hörte, daß sich die Barkasse näherte, und fühlte sich plötzlich erleichtert. Die See forderte ihn wieder für sich.

Am Mittag des dritten Tages auf See schritt Bolitho an Deck in Luv auf und ab. Es war ein Tag wie jeder andere, als ob nichts, nicht einmal die Wache, gewechselt hätte. Er beschattete seine Augen, um nach dem Wimpel an der Mastspitze zu schauen. Der Wind war stetig wie zuvor und schob eine lange, gleic hmäßige Dünung vor sich her. Er hörte den Rudergänger:»Recht so, wie sie geht, Sir, Südwest zu West!«rufen und wußte, daß es mehr zu seiner Information gedacht war als für den Wachoffizier.

In der langen Dünung lüftete Hyperion wiegend ihr Heck und ließ die Bugwelle an ihrer Bordwand entlangrauschen. Hoch oben arbeiteten die Toppgasten mit gebräunten Oberkörpern, die sich vom Sonnenbrand häuteten. Die Arbeit hörte nie auf: spleißen, neue Leinen einscheren, Tauwerk teeren oder die Boote mit Wasser füllen, damit sich ihre Nähte in der Tropensonne nicht öffneten.

Bolitho merkte, daß der Wachoffizier ihn anstarrte, und suchte sich an alles über ihn zu erinnern. Vernon Quayle war Vierter Leutnant der Hyperion, und wenn man ihn nicht kontrollierte oder im Kampf nicht tötete, würde er sich, einmal fest im Sattel, zu einem Tyrann entwickeln. Er kam aus einer Marinefamilie, sah gut, aber übellaunig aus, war zweiundzwanzig und von vorschneller Wesensart. Seit sie England verlassen hatten, waren bereits drei Mann seiner Division ausgepeitscht worden. Haven sollte da wirklich ein Machtwort sprechen. Vielleicht hatte er es schon getan? Aber der Kommandant und sein dafür zuständiger Erster schienen nur selten miteinander zu sprechen.

Bolitho stellte sich an die Querreling des Achterdecks und blickte in die Kühl, sozusagen den Marktplatz jedes Kriegsschiffes. Der Segelmacher und seine Gehilfen rollten unten geflickte Tuchbahnen ein und legten Handschuh und Nadeln fort. Aus dem Kombüsenschornstein kam der widerliche Geruch gekochten Schweinefleisches. Wie man so was in dieser Hitze essen konnte, war Bolitho schleierhaft. Er schmeckte noch Ozzards starken Kaffee auf der Zunge. Seit dem Verlassen von English Harbour hatte er kaum etwas zu sich genommen. Aus

Sorge, Überlastung oder wegen seiner Schuldgefühle Catherine gegenüber?

Leutnant Quayle salutierte.»Upholder ist auf Station, Sir Richard, der Ausguck meldet sie uns alle halbe Stunde. «Es hörte sich an, als wolle er hinzufügen:»Wenn nicht, geht's ihm schlecht.»

Upholder steckte recht voraus schon mit dem Rumpf unterm Horizont, sie mußte als erste Thor am Treffpunkt sichten. Bolitho hatte die Brigg wegen ihres jungen Kommandanten als Vorhut losgeschickt. William Trotter war ein aufmerksamer Mann aus Devon, der ihn bei ihren wenigen Begegnungen durchaus beeindruckt hatte. Er brauchte sowohl Kommandanten mit Köpfchen als auch gute Ausguckleute, wenn vom ersten Insichtkommen so viel abhing.

Tetrarch stand etwas luvwärts, bereit vorzustoßen und einzugreifen, wenn nötig, und die dritte Brigg, Vesta, segelte weit hinten. Sie sollte sicherstellen, daß ihnen kein wißbegieriger Fremder folgte. Bisher hatten sie nichts gesehen. Es war, als ob irgendeine Warnung die See leergefegt hätte. Morgen würden sie dem Festland nahe genug sein, um es vom Masttopp aus zu sichten.

Bolitho hatte mit dem Segelmeister der Hyperion gesprochen, mit Isaac Penhaligon. Haven konnte sich glücklich schätzen, einen solch erfahrenen Mann an Bord zu haben. Penhaligon kam aus Cornwall, man hatte ihn im zarten Alter von sieben Jahren als Schiffsjungen abgeschoben, und er war seitdem selten an Land gewesen. Jetzt war er um die Sechzig, mit einem lederfarbenen, faltigen Gesicht und blitzenden Augen, die einem Jüngeren zu gehören schienen. Er war auf einem Postschiff gefahren, hatte auf Ostindienfahrern gedient und schließlich, wie er es ausdrückte, als Steuermann des Königs Rock angezogen. Sein Wissen über die Eigenarten aller sieben Meere war schwer zu übertreffen. Obendrein hatte er gerade diese Gewässer hier oft befahren und gegen Sklavenhändler und Bukaniere gekämpft, bis ihn nichts mehr erschrecken konnte. Bolitho hatte beim Errechnen der

Mittagsbreite zugesehen, wie er ein Auge auf die versammelten Fähnriche warf, deren Navigation und maritime Ausbildung ihm oblag. Immer war er bereit zu einem offenen Kommentar, wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie sollten. Doch war er niemals sarkastisch zu den jungen Herren, und sie hatten sichtlich Achtung vor ihm.

Penhaligon hatte seine Karten und Notizen mit den Beobachtungen von Price verglichen und nur bemerkt:»Der wußte, wie man navigiert. «Das war ein großes Lob aus seinem Mund.

Ein Decksoffizier näherte sich Leutnant Quayle mit gesenkter Stirn. Bolitho war froh, allein zu sein, als Quayle hinwegeilte. Er hatte das Gesicht des Seemanns gesehen; es zeigte nicht nur Respekt vor dem Offizier, sondern schon Furcht.

Seine Hand strich über die abgenutzte, von der Sonne heiße Reling. Er dachte an das letzte Treffen mit Catherine im Bootsschuppen, an ihre Stimme und Leidenschaftlichkeit. Er mußte sie wiedersehen, wenn auch nur, um ihr alles zu erklären. Aber was erklären? Es nützte nichts, würde sie nur quälen — und ihnen beiden schaden. Sie schien unzugänglich, nur bestrebt, ihm zu sagen, was er ihr angetan hatte. Und doch.

Er erinnerte sich noch lebhaft an ihr erstes Treffen, als sie ihn für den Tod ihres Ehemannes verflucht hatte. Das war schon ihr zweiter gewesen. Es hatte auch einen ersten gegeben, den sie kaum erwähnte, einen haltlosen Glücksritter, der in Spanien bei einem trunkenen Streit umgekommen war. Wer war sie damals, und woher kam sie überhaupt? Bezaubernd und beeindruckend, wie sie heute war, konnte man sie nur schwer in jener Gosse sehen, von der sie in einem Augenblick der Intimität einmal gesprochen hatte.

Und Somervell. War er wirklich so kühl und distanziert, wie er sich gab? Amüsierte ihn das Erwachen ihrer alten Erinnerungen, das er je nach Belieben ignorieren oder ausnutzen konnte? Würde er jemals erfahren, daß sie Bolitho aus der Ferne beobachtet hatte, um zu hören, was er tat oder ob er im Gefecht gefallen war?

Quayle war zum Ruder gegangen und maßregelte den Fähnrich der Wache. Dieser war wie alle anderen vorschriftsmäßig gekleidet, mußte aber bei der Hitze Blut und Wasser schwitzen. Wäre Keen Flaggkapitän gewesen, hätte er. Entschlossen rief Bolitho:»Lassen Sie meinen Diener holen!»

Ozzard entstieg dem Dunkel unter Deck und stand blinzelnd in der Helle, mehr denn je einem Maulwurf ähnelnd: klein, treu und immer bereit zu dienen, wenn er gebraucht wurde. Er hatte Bolitho sogar vorgelesen, als dieser teilweise erblindet war, denn er war gebildet und früher Gehilfe in einer Anwaltskanzlei gewesen. Dann war er zur See gegangen, um einer Anklage zu entfliehen; manche sagten, dem Strick des Henkers.

Bolitho winkte ihn heran.»Hier, mein Rock.»

Ozzard zuckte nicht mit der Wimper, als der Vizeadmiral ihm das Kleidungsstück über den Arm warf und den Hut reichte. Andere sahen zu. Ab morgen konnte auch Haven seinen Offizieren erlauben, sich an Deck in Hemdsärmeln zu bewegen. Wenn es erst einer Uniform bedurfte, um aus einem Mann einen Offizier zu machen, dann gab es für sie alle keine Hoffnung mehr.

Ozzard deutete ein Lächeln an und hastete dankbar wieder in den Schatten. Er kannte Bolithos freudige und trübe Stimmungen. Zuviel der letzteren, dachte er. Er eilte am Wachposten vorbei und betrat die große Tageskajüte, jenes Reich, das er mit Bolitho teilte. Dort untersuchte er den Rock nach Spuren von Teer oder Talg. Dann erblickte er sein Spiegelbild und hielt sich den Rock vor. Er reichte ihm fast bis zu den Fußknöcheln. Ozzard lächelte schmerzlich.

Unwillkürlich packte er den Uniformstoff fester, als er sich jenes furchtbaren Tages erinnerte, an dem der Anwalt ihn früher nach Hause geschickt hatte. Deshalb überraschte er seine junge Frau nackt in den Armen eines Mannes, den er seit Jahren kannte und respektierte. Sie hatten versucht, ihn zu täuschen, aber etwas war in ihm gestorben, als er sie so daliegen sah. Später, als er das kleine Haus an der Themse in Wapping Wall verließ, war ihm das Schild des Ladeninhabers gegenüber ins Auge gefallen: Tom

Ozzard, Schreiber. Auf der Stelle hatte er sich entschlossen, daß dies seine neue Identität sein solle.

Nicht einmal hatte er sich umgesehen nach jenem Zimmer, wo er ihre Lügen mit einer Axt beendet, wo er sie zerhackt und zerschnitten hatte, bis sie unkenntlich waren. Am Tower Hill war er dann auf eine Preßgang gestoßen. Sie waren nie weit entfernt, immer auf Freiwillige hoffend oder auf einen Betrunkenen, der Handgeld nahm und sich dann auf einem Kriegsschiff wiederfand, bis er abmustern konnte oder getötet wurde.

Der Leutnant hatte ihn zweifelnd angesehen. Erstklassige Seeleute, starke junge Männer, die brauchte der König damals! Jetzt sahen sie das anders. Jetzt hätten sie auch einen Krüppel auf zwei Krücken genommen.

Tom Ozzard, Steward des Vizeadmirals, hängte den Rock sorgfältig fort. Er war ein Mann ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, furchtsam, ja zu Tode erschrocken in der Schlacht, wenn das Schiff um ihn herum erbebte.

Tief in seinem Herzen ahnte Ozzard, daß er eines Tages in das kleine Haus in Wapping Wall zurückkehren würde. Dann, aber erst dann, würde er seine Tat gestehen.

Alle Gedanken an Bord waren auf morgen gerichtet. Vom Ausguck hoch oben im Masttopp bis zu Allday, der in seiner Hängematte unter Deck einen gewaltigen Kater ausschlief, von Ozzard bis zu dem Mann in der Achterkajüte, dem er diente, dachten alle an morgen.

Hyperion hatte in all den Jahren und Weltgegenden, in die sie gesegelt war, schon viele Männer kommen und gehen gesehen. Weit vor dem Dreizack ihrer Galionsfigur lag der Horizont. Und jenseits davon konnte nur das Schicksal erkennen, was auf sie zukam.

V Dem Feind entgegen

Bolitho schritt über die nassen Planken des Achterdecks und suchte an den Finknetzen der Luvseite Halt. Es war noch dunkel, nur vereinzelt durchbrachen überkommende Spritzer die Schwärze der See.

Wie Schemen eilten Leute an ihm vorbei und zu einer kleinen Gruppe an der Reling, wo Haven und zwei seiner Leutnants Meldungen empfingen und neue Befehle erteilten.

Aus dem Batteriedeck drangen Stimmen. Dort arbeiteten die Matrosen an den Achtzehnpfündern, während im Deck darunter die schwere Batterie der Zweiunddreißigpfünder, obwohl ebenso geschäftig, noch still blieb. Dort unten waren es die Geschützbedienungen gewohnt, in ständiger Düsternis zu hantieren.

Daß man die Leute zu einem vorverlegten Frühstück gepfiffen hatte, war vermutlich unnötige Vorsicht, denn bei Tagesanbruch würden sie noch immer außerhalb der Sichtweite des Landes sein — bis auf die Ausgucksleute im Mast, wenn sie Glück hatten. In der ersten Stunde hatte Hyperion Kurs geändert und steuerte nun genau West. Ihre Rahen waren hart angebraßt, die Leinwand war auf Vor- und Marssegel verringert. Das erklärte die unruhigen Schiffsbewegungen. Aber Bolitho hatte schon den Wetterumschwung gespürt, als seine Füße den feuchten Läufer vor seiner Schwingkoje berührten. Der Wind wehte stetig, hatte aber zugenommen. Nach der Windstille und glasigen Dünung kam er ihm ungewohnt stark vor.

Jeder in der Nähe hatte den Admiral an Deck bemerkt und war stillschweigend zur Leeseite ausgewichen, um ihm Platz zu machen. Er sah nach oben zu den Marssegeln. Sie flatterten so geräuschvoll, als wollten sie ihre Unzufriedenheit ausdrücken.

Den größten Teil der Nacht hatte er wachgelegen. Dann, als die Leute gerufen wurden, um das Schiff vorzubereiten, hätte er endlich schlafen können. Doch Allday war in die Kajüte getappt, und während Ozzard herumhantierte, hatte ihn der große Bootssteurer beim Licht einer schwankenden Laterne rasiert.

Allday hatte sich noch nicht wieder über seinen Sohn ausgelassen. Bolitho erinnerte sich an Alldays gehobene Stimmung, als er entdeckte, daß er einen zwanzigjährigen Sohn hatte. Einer, von dem er nichts wußte und der zu ihm gekommen war, als seine Mutter, eine alte Liebe Alldays, starb. Auf dem Kutter Supreme, als Bolitho niedergemacht wurde und fast erblindet wäre, hatten Allday allerdings Zorn und Verzweiflung gepackt, weil sein Sohn, nach ihm John genannt, sich als Feigling entpuppte. Just in jenem Augenblick, als Bolitho seiner am meisten bedurfte, war er unter Deck geflohen. Inzwischen dachte Allday anders darüber. Wohl hatte sich John vor dem Feuer der Schlacht gefürchtet, aber war er deshalb schon ein Feigling? Es erforderte ein tapferes Herz, um die Angst zu verbergen, wenn des Feindes Eisen die Decks beharkte.

Aber John hatte gebeten, das Schiff verlassen zu dürfen. Um Alldays und des lieben Friedens willen hatte Bolitho mit dem Offizier der Küstenwache bei Falmouth gesprochen und ihn gebeten, eine Stelle für den jungen Mann zu finden. John, der den Namen seiner Mutter Bankart trug, war ein guter Seemann gewesen, konnte reffen, spleißen und steuern wie eine erfahrene Teerjacke. Bolitho liebte es nicht, jemanden um einen Gefallen zu bitten, schon wegen seines Dienstgrads, und war nicht sicher, ob er das Richtige getan hatte. Allday grübelte über all dem, und wenn er nicht gebraucht wurde, verbrachte er zuviel Zeit alleine oder mit einem Grog in der Hand in Ozzards Anrichte. Trotzdem brauchten sie beide einander. Jeder fürchtete, daß der andere zuerst sterben würde.

Eine jugendliche Stimme rief:»Sonnenaufgang, Sir!»

Haven entgegnete Undeutliches und schritt zur Windseite. Er salutierte in der Dunkelheit.»Die Boote sind klar zum Aussetzen, Sir Richard. «Erwirkte förmlicher denn je.»Wenn Upholder auf Station ist, müßte sie uns rechtzeitig warnen.»

«Das stimmt. «Bolitho fragte sich, was wohl hinter Havens

Förmlichkeit steckte. Hoffte er, Upholder würde signalisieren, daß Thor in Sicht wäre? Oder bevorzugte er eine leere See, damit sich alle Mühe als vergeudet erwies?

Zusammen erwarteten sie das erste Sonnenlicht, das den Horizont mit feinem Golddraht säumte. Bolitho sagte:»Ich werde dieses Augenblicks nie überdrüssig. «Beim jetzigen Kurs der Hyperion würde die Sonne fast direkt in ihrem Kielwasser aufgehen, von oben nach unten jedes Segel anstrahlen und über sie hinweg weit vorausschießen, als wolle sie ihnen den Weg zum Festland zeigen. Haven meinte:»Ich hoffe nur, die Dons wissen nicht, wie nahe wir ihnen sind.»

Bolitho lächelte im stillen. Gegen Haven hätte sich Job wie ein Optimist ausgenommen. Eine andere Gestalt tauchte auf und wartete, daß der Kommandant aufmerksam wurde. Es war sein Erster Leutnant. Haven ging einige Schritte beiseite.»Na, was gibt's jetzt schon wieder?«Seine Stimme war eher ein Flüstern, aber unverkennbar abwehrend.

Parris sagte gelassen:»Es geht um die zwei zu bestrafenden Männer, Sir. Darf ich den Profoß anweisen, die Vollstreckung auszusetzen, bis.»

Die Antwort kam heftig.»Sie dürfen nicht, Mr. Parris! Disziplin ist Disziplin, und ich will nicht, daß diese Männer ihrer gerechten Strafe entgehen, nur weil wir vielleicht bald Feindberührung haben — oder auch nicht.»

Parris gab noch nicht klein bei.»Ihr Vergehen war nicht so schwerwiegend, Sir.»

Haven nickte selbstzufrieden.»Natürlich, einer der beiden gehört zu Ihrer Division. Matrose Laker, er war frech zu einem Feldwebel.»

Parris' Augen schienen zu glühen, als der erste schwache Sonnenschein auf die Decksplanken fiel.

«Sie haben alle beide die Beherrschung verloren, Sir. Der Feldwebel nannte Laker einen Hurenbastard. «Der Erste schien seine Sache schon als verloren anzusehen, setzte aber noch hinzu:»Ich, Sir, hätte ihm dafür in die Schnauze geschlagen.»

Haven zischte:»Sie… Mit Ihnen rede ich später! Und diese Leute werden um sechs Glasen ausgepeitscht!»

Parris tippte an seinen Hut und entfernte sich.»Verdammter Hund!«warf ihm der Kommandant leise nach.

Bolitho wurde der Sonnenaufgang durch das Gehörte vergällt. Doch war es nicht klug, sich einzumischen. Er würde später mit Haven sprechen, wenn sie allein waren. Düster blickte er zum Kreuzmast auf, wo das Sonnenlicht die Takelage erhellte. Aber wenn er wartete, bis der Kampf begann, konnte es zu spät sein.

Wenn ich fallen sollte. Diese Worte schossen ihm wie ein Echo durch den Kopf. Jedes Schiff war nur so stark wie sein Kommandant. Falls hier irgend etwas nicht stimmte. Er schaute auf und verbannte Haven aus seinen Gedanken, als der Ausgucksmann im Topp gellend schrie:»Segel in Sicht — im Südwesten!»

Bolitho ballte die Fäuste. Das konnte, nein, mußte Upholder am Treffpunkt sein. Er hatte das richtige Schiff für die Vorhut gewählt.»Klar zum Wenden, Kapitän Haven.»

Dieser nickte.»Pfeifen Sie die Leute an die Brassen, Mr. Quayle.»

Wieder ein Gesicht, das ins Bild paßte: Quayle, Bolithos Gesellschafter auf der gestrigen Vormittagswache. Diese Sorte Offizier kannte kein Mitleid, wenn es ums Auspeitschen ging.

Bolitho fragte:»Haben Sie einen guten Ausguck oben?»

Haven starrte ihn an, sein Gesicht lag noch im Schatten.

«Ich — ich glaube schon, Sir.»

«Schicken Sie einen erfahrenen Mann nach oben, einen Gehilfen des Segelmeisters.»

«Aye, Sir. «Das klang gepreßt. Haven ärgerte sich, daß er nicht an das Nächstliegende gedacht hatte. Aber Parris konnte er dafür kaum tadeln.

Die Schatten nahmen Formen an und bekamen Sinn. Da standen zwei junge Fähnriche, beide auf ihrem ersten Schiff, der Wachoffizier und an Vorkante Achterdeck die große, starke Figur des Segelmeisters Penhaligon.

Abermals ein Ruf von oben:»Achtung, Deck — Upholder in

Sicht!»

Bolitho meinte, die Stimme gehöre Reimer, dem

Meistergehilfen der Wache. Das war ein schmächtiger, gebräunter Mann mit derart faltigem Gesicht, daß er wie aus einem vergangenen Zeitalter entsprungen aussah. Das gemeldete Schiff war kaum mehr als ein verschwommener Fleck im beginnenden Tageslicht, aber Reimers Erfahrung und scharfes Auge sagten ihm alles, was er wissen mußte.

Bolitho winkte seinem Adjutanten.»Jenour, entern Sie mit einem Glas auf. Ich bin sicher, daß Sie ebenso schnell klettern, wie Sie reiten.»

Er trat beiseite, als der junge Leutnant ihn mit blitzenden Zähnen angrinste und zu den Wanten eilte. Dann war er fort, Arme und Beine mit der Leichtigkeit eines gewandten Toppgasten bewegend.

Haven kam über Deck heran und schaute Janours weißen Breeches nach.»Es wird bald hell genug sein, Sir.»

Bolitho bejahte und ballte die Fäuste, als Jenours Stimme von oben erschallte:»Signal von Upholder, Sir: Thor ist in ihrer Begleitung!»

Also hatte Imrie es geschafft! Bolitho wollte sich keine Aufregung oder Überraschung anmerken lassen.

«Verstanden!«Er rief es durch die gewölbten Hände, um das Flattern der Segel und das Sausen des Windes zu übertönen. Von Upholder kam kein weiteres Signal. Das hieß, bisher war nichts schiefgelaufen, und der Leichter wurde immer noch sicher geschleppt.

Er blickte in die Höhe, in die von der Sonne beschienene Takelage. Merkwürdig, daß er seine Schwindelanfälligkeit niemals überwunden hatte. Als Fähnrich hatte er jedes Aufentern zum Setzen oder Reffen der Segel immer als persönliche Schikane empfunden. Besonders nachts auf den schwankenden Rahen, wenn das Deck wenig mehr war als ein verschwommener Streifen tief unter seinen Füßen, hatte er ständig Angst gehabt.

Beim Kreuzmast standen einige Seesoldaten in ihren grellroten Waffenröcken. Sie lehnten sich an die Reling und warteten auf die Brigg Upholder. Bolitho wäre gern über ihren Köpfen nach oben geklettert zu Jenour. Er berührte sein linkes Augenlid und blinzelte ins Sonnenlicht. Im Moment war alles trügerisch klar, doch die Sorge blieb.

Sein Blick schweifte über Deck, wo die Geschützbedienungen bereitstanden, ihre tägliche Arbeit zu verrichten, sobald die erste Spannung mit der Nacht verschwunden war.

So viele Meilen, so viele Erinnerungen. Als er während der Nacht in seiner Schwingkoje wachlag, dem Knarren und Quietschen des Ruders lauschend, hatte er einer anderen Zeit gedacht: der Hyperion unter seinem Kommando. Sie hatten sich in der Dunkelheit an den Pascua-Inseln vorbeigeschlichen und bei Tagesanbruch die dort ankernden französischen Schiffe angegriffen. Das lag neun Jahre zurück. Die Hyperion war dasselbe Schiff. Aber war er noch derselbe Mann?

Plötzlich war er mit sich selbst uneins.»Reichen Sie mir das Fernglas, bitte. «Er nahm es einem erschrockenen Fähnrich aus der Hand und trat entschlossen zu den Luvwanten. Haven beobachtete ihn. Parris, der an Backbord mit dem Bootsmann Sani Linton diskutierte, versuchte nicht herzusehen. Wahrscheinlich besprachen sie, wann die Gräting aufzustellen war, damit die Bestrafung wie befohlen erfolgen konnte. Vom Großdeck schielte Allday herauf, noch an einem Zwieback kauend und sichtlich erstaunt.

Bolitho schwang sich ins Want und fühlte bei jedem Schritt die Webeleinen unter sich zittern, während das große Signalglas wie ein schwerer Köcher gegen seine Hüfte schlug. Es war leichter als gedacht, aber auf der Marssaling ließ er es genug sein. Die Marines hier oben machten ihm Platz, knufften einander und grinsten. Bolitho kannte den Korporal bei Namen, einen grimmig aussehenden Mann, der Wilderer gewesen war, ehe er in das Korps der Seesoldaten eintrat. Keinen Moment zu früh, hatte Major Adams dunkel angedeutet.

«Wo ist die Upholder, Korporal Rogate?»

«Dort drüben, Sir, an Backbord!»

Bolitho stützte das lange Teleskop auf und sah die Rahen und das kleine Achterdeck der Brigg in sein Blickfeld gleiten. Gestalten bewegten sich schief an Deck, indes das Schiff so weit überholte, daß man den im frühen Sonnenschein glänzenden Kupferboden erblickte. Bolitho wartete, bis sich Hyperion im Seegang aufrichtete und der Kreuzmast nicht mehr zitterte. Dann enthüllte das scharfe Glas jenseits von Upholder eine bräunliche Segelpyramide: die wartende Thor.

Er setzte das Fernglas ab und ordnete seine Gedanken. War er von Anfang an entschlossen gewesen, den Angriff selbst zu führen? Wenn die Sache schiefging, würde man ihn gefangennehmen oder… Er verzog den Mund. Das Oder war es nicht wert, daran zu denken.

Bolitho wußte sehr wohl, auch wenn er einen anderen Offizier mit dem Kommando betraute und der Angriff mißglückte, würde man ihm die Schuld zuschreiben. Die nächsten Monate waren für England zu wichtig, besonders für die Flotte. Und Führerschaft und Vertrauen gingen Hand in Hand. Aber für die meisten Seeleute unter seinem Befehl war er noch ein Fremder und mußte ihr Vertrauen erst erwerben. Gehörte Todessehnsucht etwa auch zu seinen Motiven? Unwillig verwarf er den Gedanken.

Er richtete sein Augenmerk wieder auf die stämmige Brigg, wie sie sich duckte und über die steilen Wellen stieg. In Gedanken sah er bereits das Land. Der Ankerplatz von La Guaira bestand hauptsächlich aus einer offenen Reede vor der Stadt. Sie wurde durch mehrere Forts verteidigt. Einige davon waren wegen der kommenden und gehenden Schatzschiffe ganz neu angelegt. Obwohl La Guaira nur etwa sechs Meilen von der Hauptstadt Caracas entfernt war, konnte man diese einzig über eine gewundene und etwa viermal so lange Bergstraße erreichen.

Sobald man die Hyperion und ihre Begleitschiffe von Land aus sichtete, würden die Spanier schleunigst die Hauptstadt benachrichtigen. Aber wegen der damit verbundenen Verzögerung könnte La Guaira ebensogut eine Insel sein, dachte Bolitho. Alle die von Handelsschiffen und Blockadebrechern gesammelten Informationen wiesen darauf hin, daß man die gekaperte Fregatte Consort nach Puerto Cabello gebracht hatte, siebzig Meilen weiter westlich an der Küste. Sie hatte er absichtlich als sein Motiv herausstellen lassen. Doch wenn die Spanier nicht glaubten, daß die britischen Kriegsschiffe allein wegen der Fregatte gekommen waren? Es hing so viel von Prices Karten und Beobachtungen ab — und vor allem vom Glück.

Er schaute zum Deck hinunter und biß sich auf die Lippen. Auch vor neun Jahren, als er die alte Hyperion geführt hatte, hätte er keinen Untergebenen mit einer solchen Mission beauftragt. Er wandte sich an die Seesoldaten.»Bald gibt es Arbeit für euch, Kinder.»

Als er sich von der Saling hinunterschwang, sah er immer noch ihre grinsenden Gesichter vor sich. Es war ja so leicht: ein gutes Wort, ein Lächeln, und sie würden für ihn sterben. Das machte ihn traurig und bescheiden zugleich.

Bis er unten ankam, war er sich über alles klar geworden.

«Gut denn, in einer Stunde ändern wir Kurs nach Südwest. Upholder und Tetrarch sollen dichter unter Land kreuzen. Wir selbst wollen den Dons nicht so nahekommen, daß sie unsere Stärke erkennen.»

Alle nickten beifällig, nur Segelmeister Penhaligon lächelte sauer. Bolitho setzte hinzu:»Oder unsere Schwäche. Thor soll sich zusammen mit Vesta in Luv von uns halten. Geben Sie mir Bescheid, wenn es hell genug ist, um zu signalisieren.»

Er schritt zum Poopdeck und blieb noch einmal stehen.»Kapitän Haven, einen Augenblick, wenn ich bitten darf.»

In der großen Kajüte fiel das zunehmende Sonnenlicht durch das getrocknete Salz auf den Heckfenstern und malte seltsame Muster auf den Boden. Das Schiff hatte bereits vor Tagesanbruch klar zum Gefecht gemacht. In Bolithos Unterkunft waren Vorhänge, Verkleidungen und spanische Wände abgenommen und das Mobiliar zur Sicherheit in die unteren Räume gebracht worden. Er musterte die schwarzen Rohre der Neunpfünder vor den geschlossenen Stückpforten zu beiden Seiten der Kajüte. Diese zwei Schönen hatten nun den Raum für sich.

Haven stand breitbeinig da, den Hut in beiden Händen. Bolitho hatte ihm den Rücken zugekehrt und sah durch das verschmierte Glas auf die See hinaus.

«Ich habe die Absicht, mich in der Abenddämmerung auf Thor einzuschiffen«, begann Bolitho.»Sie übernehmen die Hyperion, zusammen mit Vesta und Tetrarch. Beim ersten Tageslicht morgen früh sollten Sie vor Puerto Cabello stehen. Der Feind wird überzeugt sein, daß Sie einen Angriff beabsichtigen. Man wird Ihre volle Kampfkraft nicht erkennen — bisher sind wir noch unentdeckt geblieben.»

Er drehte sich um und sah gerade noch rechtzeitig, daß der Kommandant seinen Hut zerknüllte. Bolitho hatte einen Gefühlsausbruch oder Gegenvorschlag erwartet, doch Haven sagte nichts, sondern starrte ihn nur an, als ob er sich verhört hätte.

Bolitho sprach ruhig weiter.»Es gibt keinen anderen Weg. Wenn wir ein Schatzschiff kapern oder vernichten wollen, geht das nur, während es vor Anker liegt. Denn wir haben zu wenig Schiffe für eine ausgedehnte Suche, sollte es an uns vorbeischlüpfen.»

Haven schluckte hart.»Sie wollen selbst mit nach La Guaira gehen, Sir? In meinem Leben habe ich so was noch nicht gehört.»

«Mit Gottes Hilfe und einem bißchen Glück, Kapitän Haven, sollte ich bei den Untiefen westlich von La Guaira stehen, wenn Sie Ihre Scheinattacke gegen Puerto Cabello fahren. «Er sah ihn fest an.»Setzen Sie aber nicht Ihre Schiffe aufs Spiel. Sollte ein feindlicher Verband erscheinen, werden Sie das Unternehmen abbrechen und sich entfernen. Noch ist der Wind ein stetiger Nordwest. Mr. Penhaligon glaubt aber, daß er räumen wird, das wäre zu Ihrem Vorteil.»

Haven sah sich um, als suche er einen Ausweg.»Er könnte sich irren, Sir.»

Bolitho erklärte achselzuckend:»Ich würde nicht wagen, anderer Meinung zu sein als er. «Doch sein Versuch, die Spannung zu durchbrechen, war vergeblich; Haven stieß hervor:»Wenn ich zum Rückzug gezwungen werde, wer wird mir glauben, daß.»

Bolitho verbarg seine Enttäuschung.»Ich lasse Ihnen die entsprechenden Befehle schriftlich ausstellen. Man wird Ihnen keine Schuld geben.»

«Danke. Aber ich habe es nicht nur zu meinem eigenen Besten erwähnt, Sir.»

Bolitho setzte sich.»Ich wünsche dreißig Seeleute aus Ihrer Mannschaft, ferner einen Offizier, den sie gut kennen und der sie kommandiert.»

Haven reagierte rasch.»Darf ich den Ersten Leutnant vorschlagen, Sir?»

Ihre Blicke trafen sich. Bolitho bejahte, das hatte er erwartet.»Einverstanden.»

Draußen an Deck erklangen Befehle, und Haven wollte zur Tür. Bolitho rief ihn abrupt zurück:»Ich bin noch nicht fertig.»

Havens Betragen brachte ihn fast um seine Selbstbeherrschung.»Wenn der Feind mit einer Übermacht gegen Sie vorgeht, haben Sie keine Möglichkeit, meinen Rückzug aus La Guaira zu decken.»

Haven hob trotzig das Kinn.»Wie Sie meinen, Sir Richard.»

«In diesem Falle schreiben Sie uns ab und übernehmen die Führung der Flottille.»

«Darf ich fragen, was Sie tun werden, Sir?»

Bolitho erhob sich.»Das, wozu ich hergekommen bin.»

Er ahnte, daß Allday hinter der Tür mithörte. Nun, er wußte, weshalb er ihn nicht zur Thor begleiten sollte.

«Bevor Sie gehen, Kapitän Haven. «Bolitho unterdrückte ein Blinzeln, denn der Schleier zog sich wieder über sein linkes Auge.»Auf ein Wort noch: Lassen Sie diese beiden Männer nicht auspeitschen. Ich kann mich nicht offen einmischen, weil dann jeder an Bord sofort merken würde, daß ich Partei gegen Sie ergriffen habe. Was Sie natürlich schon wußten, als Sie in meiner Gegenwart mit Ihrem Ersten die Klingen kreuzten.»

Haven wurde ein wenig blaß.

«Gott weiß, diese Menschen verlangen wenig genug. Aber mit ansehen zu müssen, wie ihre Kameraden ausgepeitscht werden, ehe man sie in die Schlacht schickt, das kann nur Schaden anrichten. Ihre Treue und Loyalität sind für uns lebenswichtig. Aber denken Sie daran: Solange sie unter meiner Flagge stehen, gilt diese Loyalität für beide Seiten.»

Haven trat zur Tür zurück.»Ich hoffe doch, meine Pflichten zu kennen, Sir Richard.»

«Das hoffe ich auch. «Er wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, und rief dann aus:»Gott verdamme ihn!»

Jenour trat ein und wischte sich mit einem Lappen den Teer von den Fingern. Er taxierte Bolithos Stimmung.»Schöne Aussicht von dort oben. Ich kam nur, um zu melden, daß Ihre Signale übermittelt und bestätigt wurden. «Als Schritte über ihren Köpfen laut wurden und Stimmen vom Großdeck widerhallten, erklärte er:»Wir sind dabei, über Stag zu gehen, Sir Richard.»

Der hörte kaum hin.»Was ist los mit dem Mann, eh?»

Jenour begriff sofort.»Jetzt weiß er wenigstens, was ihm bevorsteht.»

Bolitho nickte.»Ich dachte, daß jeder Flaggkapitän nur zu gern die Gelegenheit ergreifen würde, unabhängig von seinem Admiral zu operieren. Ich jedenfalls hätte es. «Er sah sich in der Kajüte nach den Geistern der Vergangenheit um.»Statt dessen denkt er an nichts anderes als.»

Er zügelte sich. Undenkbar, mit Jenour über den Flaggkapitän zu debattieren. War er denn schon so isoliert, daß er keinen anderen Trost fand?

Jenour sagte schlicht:»Ich bin nicht so unverschämt und sage, was ich denke, Sir Richard. Aber ich würde mein Letztes geben, wenn Sie es mir befehlen.»

Bolitho entspannte sich und klopfte ihm auf die Schulter.»Man sagt, daß der Glaube Berge versetzen kann, Stephen!»

Jenour stockte der Atem. Bolitho hatte ihn mit Vornamen angeredet. Ein Versehen?

Bolitho sagte weiter:»Wir lassen uns vor der Abenddämmerung auf Thor übersetzen, Stephen. Es muß schnell gehen, denn wir haben noch einen weiten Weg vor uns.»

Es war also doch kein Versehen! Jenour stotterte gerührt:»Ihr Bootssteurer wartet draußen, Sir Richard.»

Er sah Bolitho durch die Kajüte schreiten und erschrak, als der Admiral mit einem Stuhl kollidierte, den Haven verrückt haben mußte.»Geht es Ihnen gut, Sir Richard?»

Er wich zurück, als Bolitho herumfuhr. Doch stand kein Ärger in dessen Gesicht.»Mein Auge stört mich ein bißchen, aber es ist nichts weiter. Schicken Sie jetzt Allday rein.»

Doch Allday hastete schon an Jenour vorbei.»Jetzt muß ich meinen Spruch aufsagen, Sir Richard! Wenn Sie auf die Bombarde übersteigen. «Er spuckte das Wort fast aus.»Dann will ich bei Ihnen sein, wie immer. Und sonst schert mich nichts, mit Verlaub, Sir Richard.»

Bolitho entgegnete:»Du hast wieder mal getrunken, Allday.»

«Ein bißchen, Sir, nur ein paar Kleine, bevor wir von Bord gehen, zusammen natürlich. «Er legte den Kopf schräg wie ein zottiger Hund.»Wir gehen doch zusammen, nicht wahr, Sir?»

Die Antwort fiel ihm überraschend leicht.»Ja, alter Freund, wir gehen zusammen — wieder mal.»

Allday betrachtete ihn ernst, er ahnte etwas.»Was is' los, Sir?»

Bolitho sagte zögernd wie zu sic h selbst:»Fast hätte ich es dem jungen Jenour erzählt: Ich fürchte mich entsetzlich, blind zu werden.»

Allday befeuchtete sich die Lippen.»Der Junge sieht in Ihnen so was wie einen Helden, Sir.»

«Du nicht?«Aber keiner von beiden lächelte.

Allday machte sich Vorwürfe, daß er nicht zur Stelle gewesen war, als er gebraucht wurde. Obendrein ärgerte er sich, wenn er Haven mit Kapitän Keen oder mit Herrick verglich. Er sah sich in der Kajüte um, wo sie soviel miteinander geteilt und auch verloren hatten. Jetzt hatte Bolitho niemanden, mit dem er teilen konnte. Unten, in den Mannschaftsdecks, dachten sie, der Admiral brauche sich nichts zu wünschen, er hätte alles. Aber bei Gott, das war es gerade, er hatte nichts.

Allday meinte:»Ich weiß, es ziemt mir nicht, es auszusprechen, aber.»

Bolitho schüttelte den Kopf.»Wann hat dich das jemals abgehalten?»

Allday blieb hartnäckig.»Ich weiß eben nicht, wie man es in der Sprache der Offiziere ausdrückt, Sir. «Er holte tief Atem.»Aber Käpt'n Havens Frau kriegt ein Baby, wahrscheinlich hat sie es jetzt schon. Würde mich nicht wundern.»

«Na und, Mann?«drängte Bolitho.

Allday mußte nach Luft schnappen, als er die Ungeduld in den grauen Augen sah.»Er glaubt, daß ein anderer der Vater ist. «Bolitho war überrascht, was Allday wußte.»Ich verstehe.»

Es war das alte Lied: ein Schiff auf See, eine gelangweilte Ehefrau und ein passender Liebhaber. Ausgerechnet Allday mußte ihn daraufbringen.

Bolitho betrachtete ihn nachdenklich. Wie hätte er ihn zurücklassen können? Welch ein Paar sie abgaben! Der eine durch einen spanischen Säbelhieb verwundet, der andere langsam erblindend.

Er sagte:»Ich muß Briefe schreiben.»

Er sah Cornwall im späten Oktober vor sich: grauer Himmel und die leuchtenden Farben des Herbstlaubs. Axthiebe auf den Feldern, wo sich die Farmer nun Zeit nahmen, ihre Zäune und Tore zu reparieren. Die ältliche Heimwehr exerzierte auf dem Platz vor der Kirche, in der Bolitho geheiratet hatte.

Allday schob sich sachte in Ozzards Anrichte. Er wollte den kleinen Mann bitten, für ihn einen Brief an die Wirtstochter in Falmouth zu schreiben. Doch Gott allein wußte, ob sie ihn jemals erhalten würde.

Er dachte an Lady Belinda und den Tag, als man sie in der umgekippten Kutsche gefunden hatte. Und an die andere namens Catherine, die ihre Liebe zu Bolitho bewahrt hatte. Eine gutaussehende Frau, aber mit dem Teufel im Leib. Er grinste. Eben eine Seemannsbraut, egal welche Flagge sie an ihrer Rahnock zeigte. Wenn sie nur die Richtige für Bolitho war, allein das zählte.

Allein am Schreibtisch sitzend, legte sich Bolitho das Briefpapier zurecht. Sonnenlicht fiel auf die Feder. In seinem Kopf kreisten die Worte, die er schon so oft geschrieben hatte: Meine liebste Belinda…

Mittags machte er seinen Spaziergang an Deck. Als Ozzard die Kajüte betrat, um aufzuräumen, erblickte er das Briefpapier und daneben die Feder.

Keines von beiden war benutzt worden.

VI Im Krieg gibt es keine Neutralität

Das Übersetzen von der Hyperion zum Mörserschiff Thor verlief kurz vor Sonnenuntergang ohne Zwischenfälle. Männer, Waffen und zusätzliche Munition wurden ebenfalls hinübergerudert. In der hohen Dünung stiegen und fielen die Boote so stark, daß sie zwischen den Wellenkämmen fast verschwanden.

Bolitho stand auf dem Achterdeck, während Hyperion mit killenden Segeln beigedreht lag, und bewunderte wieder einmal die elementare Schönheit des Sonnenuntergangs. Die lange, schwingende Dünung glühte wie rauhe Bronze, die Boote und ihre Ruderer schienen vergoldet. Sogar die Gesichter um ihn herum sahen in diesem Licht unwirklich aus.

Nachdem zwei von Hyperions Booten mit dreißig Mann sicher abgelegt hatten, machte Bolitho in einer Jolle die letzte Überfahrt. Kaum hatte er die Thor erreicht, schwangen die Rahen der Hyperion herum. Ihre Silhouette schrumpfte, als sie abdrehte und im letzten Sonnenlicht den beiden Briggs nachsegelte.

Wenn Commander Ludovic Imrie sich durch die Anwesenheit des Admirals an Bord seines bescheidenen Schiffes bedrängt fühlte, zeigte er es jedenfalls nicht. Es überraschte ihn jedoch, als Bolitho seine Epauletten ablegte und vorschlug, daß Imrie als

Kommandant der Thor seinem Beispiel folge.»Ihre Leute kennen Sie gut genug«, meinte er dazu.»Und ich wette, daß sie auch mich kennen, wenn erst alles vorbei ist.»

Bolitho verdrängte Hyperion und alles andere aus seinen Gedanken, als sie sich La Guaira näherten. Auch an Bord stieg die Spannung, sobald Thor noch mehr Segel setzte und die unsichtbare Küste ansteuerte. Stunde auf Stunde verging. Von den Rüsten vorne, wo zwei Mann ständig loteten, kamen unterdrückte Rufe. Was sie aussangen, wurde sorgsam mit der Seekarte und den Notizen verglichen, die sich Bolitho nach seinem Gespräch mit Kapitän Price gemacht hatte.

Der plumpe Leichter an der Schleppleine wurde unablässig ausgepumpt; es war ein Wettlauf mit der Zeit, der, wie Imrie zugab, innerhalb weniger Stunden nach Verlassen des Hafens begonnen hatte. Jede steile See drohte, ihn zu überfluten. Der Verlust des Leichters aber, der die schweren Mörser der Thor und ihre Bedienungen trug, hätte eine Katastrophe bedeutet.

Bolitho streifte ruhelos auf dem engen Achterdeck umher und hielt sich das Land vor Augen, wie er es am Spätnachmittag gesehen hatte. Er hatte sich noch einmal aufgerafft und war aufgeentert, diesmal in den Großmast. Von da oben hatte er im zunehmenden Dunst die charakteristischen Landmarken von La Guaira, die weite, blaugraue Kette der Caracasberge und weiter westlich davon die sattelförmigen Gipfel der Silla de Caracas erblickt. Penhaligon konnte auf seine Navigation wirklich stolz sein.

Allday war Bolitho kaum von der Seite gewichen, seit sie an Bord gekommen waren. Jetzt hörte Bolitho seinen unruhigen Atem und das Trommeln seiner Finger am Griff des schweren Entermessers. Bolitho betastete die ungewohnte Form des eigenen Gehänges. Er hoffte, daß Allday seinen Entschluß, den alten Familiendegen auf Hyperion zurückzulassen, verstand. Er hatte ihn schon einmal beinahe verloren. Allday würde annehmen, er hätte ihn nur deshalb bei Ozzard gelassen, weil er nicht an seine Rückkehr glaubte. Immerhin handelte es sich um ein

Unternehmen auf feindlichem Territorium. Und eines Tages sollte Adam den Degen tragen. Er durfte nie wieder in Feindeshand fallen.

Später, in Imries kleiner Kajüte und hinter den geschlossenen Läden der Heckfenster, hatten sie eingehend die Seekarte studiert. Thor war gefechtsklar, aber ihre Chance würde erst kommen, wenn der erste Teil des Plans gelang.

Bolitho griff die Untiefen und die Fahrwasserwindungen mit dem Zirkel ab, wie es wohl auch Price getan hatte, ehe sein Schiff hier auf Grund lief. Die anderen standen dicht um ihn herum: Imrie und sein Segelmeister, Leutnant Parris und der Zweite Leutnant, der den Angriff decken sollte.

Der Admiral überlegte, ob Parris sich wohl fragte, warum das Auspeitschen auf Havens Befehl hin aufgeschoben wurde. Und weshalb Haven darauf bestanden hatte, die beiden Delinquenten mit den dreißig anderen von Bord zu schicken. Vermutlich meinte er, alle schlechten Eier gehörten in einen Korb.

Bolitho zog seine Uhr heraus und legte sie unter die niedrig hängende Lampe.

«Wir werden mit Thor in der nächsten halben Stunde ankern. Unmittelbar darauflegen alle Boote ab, die Jolle an der Spitze. Es muß gelotet werden, aber leise. Heimlichkeit ist lebenswichtig. Wir müssen bei Tagesanbruch auf Position sein.»

Alle machten entschlossene Gesichter.»Noch Fragen?»

Dalmaine, der Zweite Leutnant der Thor, hob die Hand.»Was ist, wenn der Don schon weg ist?»

Wie leicht es für sie jetzt war, mit ihm zu reden, ohne die einschüchternden Epauletten eines Vizeadmirals vor Augen. Selbstsicher auf ihrem eigenen Schiff, hatten sie offen von ihren Erwartungen und Bedenken gesprochen.

«Dann haben wir eben Pech gehabt«, lächelte Bolitho.»Aber es liegen mir keine Meldungen vor, wonach ein so großes Schiff die Heimreise angetreten hat.»

Der Leutnant fragte nochmals:»Und die Batterie, Sir?

Angenommen, wir können sie nicht in einem Überraschungsangriff erobern?»

Es war Imrie, der jetzt antwortete.»Dann, Mr. Dalmain, war all Ihr Stolz auf die Mörser unangebracht.»

Alle lachten, ein gutes Zeichen.

Bolitho erklärte:»Wir zerstören die Batterie als erstes, dann kann Thor durch die Untiefen folgen. Ihre Karronaden werden mit den Wachbooten aufräumen. Und danach greifen wir an.»

Er stand vorsichtig auf, achtete auf die niedrigen Decksbalken.

Parris sagte:»Und wenn wir zurückgeschlagen werden?»

Ihre Blicke trafen sich über dem kleinen Tisch. Bolitho bemerkte wieder das zigeunerhaft gute Aussehen des Leutnants, die unbekümmerte Aufrichtigkeit in seiner Stimme. Ein Westengländer, vermutlich aus Dorset. Alldays indiskreter Hinweis kam Bolitho in den Sinn und das Frauenporträt in Havens Kajüte.

Er entgegnete:»Das Schatzschiff muß auf jeden Fall versenkt werden, am besten durch Brandstiftung. Das kann zwar seine spätere Bergung nicht verhindern, aber die Dons doch beträchtlich aufhalten.»

«Verstehe, Sir. «Parris rieb sich das Kinn.»Der Wind kommt mehr von achtern, das könnte uns helfen. «Er sprach gelassen, nicht wie ein Mann, der am nächsten Morgen tot sein oder unter dem Messer eines spanischen Chirurgen schreien konnte; eben wie ein Mann, der zu befehlen gewohnt war. Er erwog Alternativen: angenommen, wenn, vielleicht.

Bolitho beobachtete ihn.»Wären wir dann soweit, Gentlemen?»

Sie hielten seinem Blick stand. Wußten sie alles Notwendige? fragte er sich. Würden sie seinem Urteil trauen? Haven jedenfalls traute keinem.

Imrie scherzte:»Tja, Sir Richard, zu Mittag werden wir alle reiche Leute sein.»

Sie verließen die Kajüte, in der Enge vornübergebeugt und tastend. Bolitho wartete, bis Imrie allein zurückblieb.

«Auch das muß noch gesagt werden: Wenn ich falle, müssen Sie sich zurückziehen, sobald Sie dazu in der Lage sind.»

Imrie schaute ihn nachdenklich an.»Wenn Sie fallen sollten, Sir Richard, dann nur, weil ich versagt habe. «Und mit einem Blick in die Runde:»Aber wir werden Sie stolz auf uns machen, warten Sie's nur ab, Sir!»

Bolitho trat in die Dunkelheit hinaus, die funkelnden Sterne beruhigten ihn. Warum konnte er sie noch immer nicht für selbstverständlich nehmen? Simple Treue und Ehrlichkeit. Von so vielen Menschen daheim wurden sie gering geschätzt.

Thor ließ den Anker fallen. Als die Trosse steifkam und das Schiff sich in die Strömung drehte, wurden die Boote außenbords gesetzt. Das geschah so schnell, daß Bolitho mutmaßte, der Kommandant hätte seine Leute seit dem Verlassen von English Harbour für diesen Augenblick gedrillt.

Er selbst setzte sich ins Heck der Jolle, die auch in der Dunkelheit sichtbar niedrig im Wasser lag, bei dem Gewicht von Menschen und Waffen. Er hatte Hut und Rock weggelassen und hätte als einfacher Leutnant wie Parris durchgehen können. Allday und Jenour zwängten sich neben ihn, und während Allday die Ruderer kritisch musterte, äußerte der Flaggleutnant aufgeregt:»Das werden die mir niemals glauben.»

Mit» die «meinte er wohl seine Eltern, nahm Bolitho an. Er hörte den Schlag langer Riemen und sah Spritzer auffliegen, als der Leichter mit den schweren Mörsern von Thor losgeworfen wurde und abtrieb, bis ihn mehrere Boote mit ihren Leinen einfingen und abschleppten. Bolitho zupfte sich das feuchte Hemd von der Haut. Feucht von Schweiß oder Wasser, da war er nicht sicher. Er konzentrierte sich auf die verstreichende Zeit, auf die flüsternd geloteten Tiefen, das stete Auf und Ab der Riemen. Er wagte nicht, sich umzusehen, ob die anderen auch folgten.

Die Boote waren der Gezeit und ihrer Strömung auf den unsichtbaren Sandbänken ausgeliefert. In der einen Minute machten sie flotte Fahrt, in der nächsten hatten alle Ruderer hart zu pullen, um den Rumpf aus der falschen Richtung zu reißen. Er stellte sich Parris mit dem Gros der Männer in den Booten vor und Dalmain auf dem Leichter, wie er ihn lenzen ließ, um das Fahrzeug schwimmfähig zu halten. So dicht unter Land wagten sie nicht, die Pumpen zu benutzen.

Vom Bug hörte man Laute der Überraschung, und der Bootssteurer rief heiser:»Riemen auf! Vorsicht, Jungs!»

Mit tropfenden Ruderblättern tanzte das Boot im Fahrwasser. Ein Mann kam nach hinten geklettert, starrte Bolitho sekundenlang an und keuchte:»Schiff vor Anker, recht voraus, Sir!«Er stotterte, als ob er erst jetzt gewahr würde, daß er mit dem Admiral sprach.»Ein kleines, Sir, kann ein Schoner sein!»

«Blendet die Laterne ab!«Bolitho betete im stillen, daß Parris den Ankerlieger rechtzeitig bemerken würde. Ein Alarm mußte sie entlarven. Es war schon zu spät, um zurückzurudern.

Er hörte sich selbst sagen:»Na gut, Steuermann, machen wir weiter. Nur keine Aufregung. «Er entsann sich der ruhigen Stimme Keens, wenn der vor einem Gefecht zu seinen Geschützbedienungen gesprochen hatte: wie ein Reiter, der ein nervöses Pferd besänftigte.

«Es liegt jetzt an uns, ein Zurück gibt es nicht. «Er ließ jedes Wort wirken, aber es war, als spräche er zu einem leeren Boot.»Haltet ein bißchen mehr nach Backbord…»

Man hörte das Kratzen von Stahl und den Feldwebel heftig flüstern:»Nein, nicht laden! Der erste Mann, der einen Schuß auslöst, hat meinen Dolch im Bauch!»

Plötzlich sahen sie es: schlanke, steile Masten, festgemachte Segel, ein abgeschirmtes Ankerlicht, das einen schwachen Goldschimmer auf die Wanten warf. Steven und Klüverbaum traten hervor. Sollte es schon hier und auf diese Weise enden?

Die Riemen wurden stillschweigend eingezogen. Vorne im Boot, wo die scharfäugigen Seeleute den unerwarteten Fremden zuerst gesehen hatten, rührte sich etwas. Allday brummte ungeduldig:»Nun macht schon, ihr Memmen, gleich geht's los!»

Bolitho erhob sich. Der lange Klüverbaum strich über ihn hinweg, als die Strömung sie wie Treibholz gegen den

Schiffsrumpf schwemmte. Jenour kauerte neben ihm, seinen Entersäbel schon gezogen, den Kopf seitwärts geneigt, als erwarte er einen Schuß.»Enterhaken!»

Dumpf krachte das Boot an die Bordwand.»Auf, ihr Burschen!»

Die Wut der Leute wirkte aufrüttelnd wie eine Fanfare. Bolitho selbst fühlte sich gestoßen und über die Seite gehoben, griff nach Leinen und suchte mit den Füßen nach einem Halt, bis sie wie blind auf dem Deck des Schiffes landeten.

Vom Vormast rannte eine Gestalt herbei, ihr gellender Alarmruf wurde vom Knüppel eines Seemanns erstickt. Zwei andere Schemen schienen vor ihren Füßen emporzuwachsen. In diesem Augenblick wurde Bolitho klar, daß die Ankerwache an Deck geschlafen hatte. Um sich herum spürte er das Ungestüm seiner Leute, den wütenden Haß gegen alles, was sich bewegte oder auch nur sprach.

Unter Deck ertönten Stimmen. Bolitho schrie:»Langsam, Burschen, haltet inne!«Er horchte besonders auf eine, die sich in einer ihm fremden Sprache über den Rest erhob.

Jenour keuchte:»Schwedisch, Sir!»

Die Enterparty stieß die Besatzung des Schoners nach achtern, die einzeln oder in kleinen Gruppen durch zwei Luken geklettert kam und vor Überraschung wie gelähmt war. Bolitho hörte stetige Ruderschläge nahebei, das mußte Parris mit seinem Boot sein.

«Fragt Mr. Parris, ob er einen schwedischen Matrosen an Bord hat. «Wie andere Kriegsschiffe auch, hatte Hyperion das übliche Völkergemisch unter ihrer Besatzung, sogar einige französische Seeleute, die den Dienst beim alten Feind dem Aufenthalt auf einem Gefangenenschiff vorzogen.

Eine Person schritt über Deck, bis Allday grollte:»Keinen Schritt weiter, Musjöh, oder was Sie sind!»

Der Mann verhielt und spuckte aus.»Wir brauchen keinen Dolmetscher. Ich spreche englisch — wahrscheinlich besser als du!»

Bolitho steckte seinen Degen fort, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Den Schoner hatten sie hier nicht erwartet. Er war ihnen buchstäblich im Weg und ein Problem. Britannien befand sich nicht im Krieg mit Schweden, obwohl es unter dem Druck von Rußland kurz davorstand. Ein Zwischenfall jetzt, und.

Er sagte kurz angebunden:»Ich bin ein britischer Offizier — und

Sie?»

«Ich bin der Kapitän dieses Schiffes, Rolf Aasling. «Er betonte das» ich«.»Und ich versichere Ihnen, daß Sie ihn noch bedauern werden, diesen — diesen Akt der Piraterie!»

In diesem Augenblick warf Parris ein Bein über die Reling und sah sich um. Er war nicht einmal außer Atem.»Es ist der Schoner Spica, Sir Richard«, sagte er gleichmütig.

Aasling fuhr zurück.»Sir Richard?»

Parris beäugte ihn näher.»So ist es. Darum achten Sie auf Ihre Manieren.»

Bolitho sagte:»Ich bedaure diesen Zwischenfall, Kapitän, aber Sie ankern in feindlichen Gewässern. Ich hatte keine Wahl.»

Der Mann beugte sich vor, bis sein Rock Alldays unerbittliches Entermesser berührte.

«Ich gehe hier friedlichen Geschäften nach! Sie haben kein Recht.»

«Ich habe jedes Recht«, unterbrach ihn Bolitho.

Er hatte natürlich nichts dergleichen, aber die Minuten rannten ihm davon. Sie mußten die Mörser in Stellung bringen. Sobald es hell genug war, um auf die Reede vorzustoßen, mußte der Angriff beginnen. Jeden Augenblick konnte eine Feldwache an der Küste merken, daß auf dem kleinen Schoner etwas nicht stimmte. Oder sie konnten von einem Wachboot angerufen werden. Selbst wenn Parris' Leute dann den Rufer überwältigten, würde dies Alarm auslösen. Der hilflose Leichter — man würde sie alle in die Luft jagen.

Bolitho dämpfte seine Stimme und befahl Parris:»Nehmen Sie einige Leute und sehen Sie unten nach. «Der Schoner trug mehrere Geschütze und Drehbassen, aber sie hatten noch Glück gehabt, daß sie sich nicht mit einem Freibeuter herumzuschlagen brauchten. Die Schweden suchten Verwicklungen mit den Flotten Frankreichs und Englands zu vermeiden. Ein Handelsschiff also? Zu gut bewaffnet für ein solches Fahrzeug.

Kapitän Aasling ereiferte sich:»Würden Sie endlich mein Schiff verlassen, Sir, und Ihren Leuten befehlen, meine freizugeben?»

«Was machen Sie überhaupt hier?»

Diese plötzliche Frage traf ihn unvorbereitet.»Ich treibe Handel, das ist legal. Ich dulde nicht…»

Parris, der zurückgekommen war, stellte sich neben Jenour und bemerkte fast beiläufig:»Abgesehen von gewöhnlichem Stückgut, Sir, hat das Schiff spanisches Silber geladen. Für die Franzosen, soweit ich's beurteilen kann.»

Bolitho verschränkte die Hände auf dem Rücken. Spanisches Silber, das ergab einen Sinn. Wie nahe sie einem Reinfall gewesen waren!

Er sagte:»Sie haben also gelogen! Ihr Schiff ist bereits für die Heimfahrt beladen. Sie warten nur ab, um sich dem spanischen Schatzkonvoi anzuschließen.»

Der Mann schrak zurück, zögerte und murmelte dann:»Dies ist ein neutrales Schiff. Sie sind nicht ermächtigt.»

Bolitho winkte ab.»Im Augenblick bin ich das wohl, Kapitän. Antworten Sie!»

Der Kapitän der Spica entgegnete achselzuckend:»Na und? Es gibt eben viele Piraten in diesen Gewässern und feindliche Kriegsschiffe.»

«Sie beabsichtigen also, in Begleitung der Spanier zu segeln. «Bolitho fühlte, daß seine scharfen Worte den Mann einschüchterten.»Es wäre besser für Sie, wenn Sie jetzt reden würden. Wann also.»

«Übermorgen«, platzte der Schwede heraus.»Die spanischen Schiffe werden übermorgen auslaufen, wenn.»

Bolitho unterdrückte seine Aufregung. Also mehr als nur ein

Schiff. Die bewaffneten Geleitfahrzeuge wurden aus Havanna erwartet, konnten aber auch bereits in Puerto Cabello sein. Haven würde direkt in sie hineinlaufen!

Parris sah ihn aufmerksam an. Wie würde er sich verhalten?

Bolitho wies den Schweden an:»Machen Sie alles klar zum Ankerhieven, Kapitän. «Dessen Protest übergehend, wandte er sich an Parris:»Übermitteln Sie Mr. Dalmain, daß wir ihn in den Hafen schleppen werden. Ihre Boote nehmen wir auch mit.»

Der Kapitän der Spica brüllte:»Das lasse ich nicht zu! So was Verrücktes mache ich nicht mit!«Seine Stimme bekam einen triumphierenden Klang.»Die spanischen Kanonen schießen Sie in Grund und Boden, sobald Sie versuchen, ohne Erlaubnis einzulaufen!»

«Aber Sie haben doch ein Erkennungssignal?»

Aas ling gab es kleinlaut zu.

«Dann benutzen Sie es, wenn's gefällig ist.»

Jenour flüsterte warnend:»Schweden mag darin eine Kriegshandlung sehen, Sir Richard.»

Bolitho spähte zum dunklen Land hinüber.»Neutralität im Krieg gibt es nicht, Stephen. Ehe Stockho lm davon erfährt, ist hoffentlich alles vorbei und vergessen. «Grob fügte er hinzu:»Ich habe schon eine Menge dieser angeblich neutralen Krämer erlebt, darum bewacht den Mann gut.»

Und mit erhobener Stimme, die den schwedischen Kapitän aufhorchen ließ:»Nur ein verräterisches Zeichen, und ich lasse ihn an der Rah hängen!»

Weitere Seeleute kamen mit ihren Waffen an Bord geklettert. Was scherten sie sich um Neutralität und jene, die sich dahinter verbargen, solange sie davon profitierten? Für ihr einfaches Denken war man entweder Freund oder Feind.

Parris grinste in der Dunkelheit mit weißen Zähnen.»Hiernach, Sir Richard, überrascht mich nichts mehr.»

Bolitho massierte sein Auge.»Gut für Sie.»

Parris schritt davon, man hörte ihn jeden Mann beim Namen rufen. Sie antworteten ihm in vertrautem Ton. Kein Wunder, daß die kleine Besatzung des Schoners eingeschüchtert war. Die britischen Matrosen hantierten auf ihrem Deck herum, als ob sie es ihr ganzes Leben gekannt hätten. Bolitho entsann sich dessen, was ihm sein Vater einmal über britische Seeleute gesagt hatte:»Setze sie in völliger Dunkelheit auf ein fremdes Schiff, und sie werden in wenigen Minuten oben auf den Rahen auslegen, so gut beherrschen sie ihr Handwerk. «Was hätte er wohl hierzu gesagt?» Ankerspill besetzt, Sir!»

Das war ein Fähnrich namens Hazlewood, dreizehn Jahre alt und in seiner ersten Stellung. Bolitho hörte, wie ihn Parris scharf anwies, in Rufweite zu bleiben.»Ich wünsche keine verdammten Helden, Mr. Hazlewood.»

Genauso war Adam gewesen.

«Hievt, ihr Burschen!»

Aus der Dunkelheit kam die Stimme eines Spaßvogels:»Unser Dick besorgt uns heute spanisches Gold für Grog, eh?«Er wurde von einem Feldwebel schnell zur Ordnung gerufen.

Bolitho stand neben dem schwedischen Kapitän und versuchte, sein Mitgefühl zu unterdrücken, das er trotz allem für den Mann empfand. Nach dieser Nacht würde sich sein ganzes Leben ändern. Eines war sicher: Er würde nie wieder ein Schiff führen.

«Anker ist auf, Sir!»

«Setzt die Segel, Jungs!»

Bloße Füße klatschten auf die feuchten Planken, als der vom Ankerkabel befreite Schoner abfiel. Die Stagen zitterten und summten, das Großsegel blähte sich über geduckten Gestalten. Bolitho hielt sich an den Wanten fest und faßte sich in Geduld, bis der Schoner in Gang kam und mit Booten und Leichter im Schlepp seinen Bugspriet nach Osten richtete.

Parris schien überall zugleich zu sein. Hatte der Überfall Erfolg, konnte er leicht der ranghöchste Überlebende sein. Bolitho war überrascht, daß er der Möglichkeit seines eigenen Todes ohne Gefühlsregung ins Auge sah. Nun bat Parris, die Geschütze laden zu dürfen.»Ich denke, es ist das Beste, die Sechspfünder mit Doppelkugeln laden zu lassen, Sir, und das braucht seine Zeit.»

Bolitho war einverstanden, es schien ihm eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme.»Und, Mr. Parris, schärfen Sie Ihren Leuten ein, die Schonerbesatzung gut zu bewachen. Ich möchte sie nicht auf ihrem eigenen Schiff eingesperrt untergehen lassen, falls die Spanier uns beschießen, aber ich traue keinem von ihnen auch nur einen Finger breit.»

Parris lächelte.»Bootsmannsgehilfe Dacie ist gut darin, Sir Richard.»

Um die Geschütze flitzten Gestalten. Bolitho hörte sie flüstern, während sie Pulverladungen und Kugeln in die Rohre rammten. Nun taten sie etwas, das sie verstanden und das man ihnen täglich eingepaukt hatte, seit sie des Königs Schiff betreten hatten.

Jenour schien ein wenig Schwedisch zu können und wechselte hin und wieder ein Wort mit dem Steuermann der Spica. Schließlich wurden zwei große Flaggen gebracht und von Fähnrich Hazlewood an die Leine geknüpft.

Es wurde langsam heller. Bolitho bewegte sich an Deck, prägte sich Gesichter ein, sah nach, wo jeder Mann seine Station hatte. Spica zog gut unter dem Druck der Segel. Zunehmende Erregung erfüllte ihn, die auch der Singsang des Lotgasten nicht dämpfen konnte. Er sah den schlanken Rumpf des Schoners vor sich, der sich unablässig zwischen versteckten Sandbänken hindurchwand, zuweilen mit nur wenigen Fuß Wasser unterm Kiel. Bei Tage hätten sie den Schatten der Spica auf dem Meeresboden gesehen.

«Alle Geschütze geladen, Sir!»

«Sehr gut.»

Bolitho fragte sich, wie es wohl Leutnant Dalmain mit seinen zwei Mörsern auf dem geschleppten Leichter ging. Für den Fall, daß der Angriff fehlschlug und Thor nicht mehr in der Lage war, die Leute abzuholen, sollte sich Dalmain an die Küste treiben lassen und sich ergeben. Bolitho schnitt eine Grimasse. Er wußte, was er unter solchen Umständen getan hätte. Seeleute hegten Mißtrauen gegen das Land. Während andere die See als Feind oder als Hindernis ansahen, würden Männer wie Dalmain die

Fluchtchance ergreifen, die sie bot, selbst in einem so untauglichen Fahrzeug wie einem Leichter.

Jenour gesellte sich zu ihnen am Ruder und meldete:»Der schwedische Steuermann sagt, wir sind schon an der Batterie vorbei. Das größte Schatzschiff ankert in Linie mit dem ersten Fort. Es ist die Ciudadde Sevilla.»

Bolitho klopfte ihm auf die Schulter.»Das haben Sie gut gemacht. «Er sah die Karte vor sich. Es war genauso wie von Price beschrieben: das neue Fort erhob sich auf einem Felsensockel aus der See.

Der Lotgast rief plötzlich:»An der zweiten Marke!»

Parris murmelte:»Allmächtiger Gott, so flach!»

Bolitho befahl:»Einen Strich abfallen!«Er starrte ins Kompaßgehäuse.»Wer steht am Ruder?»

«Laker, Sir.»

Bolitho drehte sich wieder um. Der Seemann, der ausgepeitscht werden sollte.

Laker meldete:»Südost liegt an, Sir!»

Der Lotgast vorn gab Entwarnung:»An der Marke sieben!»

Bolitho öffnete die geballten Fäuste. Spica hatte also die Untiefen hinter sich gelassen und tieferes Wasser erreicht. Doch wehe, wenn die Karte mit ihren spärlichen Daten unrecht hatte.

«Marke fünfzehn!«Der Jubel in des Mannes Stimme war nicht zu überhören. Die Karte war nicht falsch, sie waren durch.

Bolitho ging zur Heckreling und spähte nach ihrem Schleppzug aus. Die weißen Bugwellen leuchteten wie Flaumfedern auf dunklem Grund.

Allday bemerkte:»Sonnenaufgang jede Minute, Sir Richard. «Es klang gereizt.»Ich wäre wirklich froh, sie wieder untergehen zu sehen.»

Bolitho lockerte den Degen in seiner Scheide; er vermißte seine alte Waffe. Er malte sich aus, wie Adam sie trug, dazu Belindas beherrschtes Gesicht, wenn sie die Nachricht von seinem Tod erhielt.

Laut aber brummte er:»Genug der Melancholie, alter Freund! Wir haben schon Schlimmeres überstanden.»

Allday beobachtete ihn unbewegt in der Dämmerung.»Ich weiß, Sir Richard, ich werde nur manchmal.»

Seine Augen leuchteten auf, Bolitho ergriff ihn am Arm.

«Die Sonne! Unser Freund oder Feind? Das fragt sich noch.»

«Klar zum Wenden!«Parris' Stimme klang sorglos.»Zwei Mann mehr an die Vorbrasse, Keats!»

«Aye, aye, Sir.»

Bolitho versuchte, sich Keats' Gesicht vorzustellen. Statt dessen kamen andere, ältere zum Vorschein: die Toten der Hyperion. Standen sie auf, um ihn, der zu ihnen gehörte, nun zu sich zu holen? Der Gedanke ließ ihn erschauern. Er schnallte die Scheide ab und warf sie fort, während er den Degen in der Hand balancierte.

Tageslicht floß golden übers Wasser. An Steuerbord dehnte sich die noch formenlose Masse des Landes. Irgendwo reflektierte ein Glasfenster kurz einen Sonnenstrahl, der Wimpel an ihrer Mastspitze glühte im ersten Licht wie eine Lanzenspitze auf. Das Fort lag fast in Linie mit dem Klüverbaum: ein Viereck, das sich deutlich vom Land abhob und auf das sie direkt zuhielten.

Bolitho ließ den Arm mit dem Degen baumeln, die andere Hand steckte im Ausschnitt seines Hemdes. Unter der heißen, feuchten Haut spürte er seinen Herzschlag; und doch war ihm kalt.

«Da ist es!»

Er hatte die Mastspitzen des großen Schiffes unterhalb des Forts entdeckt. Es konnte gar nichts anderes sein als die von Somervell erwähnte Galeone. Er sah Catherines Augen auf sich gerichtet, stolz und fordernd. Und sehr fern.

Da ließ er das Grübeln sein und hob langsam den linken Arm, bis das Sonnenlicht die Klinge streifte, als hätte er sie in geschmolzenes Gold getaucht.

Auf allen Seiten umgaben ihn die Geräusche von See, Wind und Gischt, dazu das lebhafte Geklapper des laufenden Guts und das

Knarren der Wanten, als sich das Deck beim Überstaggehen neigte.

Bolitho schrie:»Da vom liegt sie, Jungs! Bald sind wir quitt!«Doch niemand antwortete; denn nur die Toten der Hyperion hatten ihn verstanden.

VII Die Schatzschiffe

Das schwache Tageslicht erschwerte es Bolithos Augen, die Einzelheiten der Faltkarte zu erkennen. Er wünschte, er hätte noch Zeit gehabt, in der winzigen Schonerkajüte alles genau zu überprüfen, doch war jede Sekunde kostbar. Wenn er vom schrägen Kompaßgehäuse aufschaute, öffnete sich vor ihm die große Reede wie ein Amphitheater. Da lagen noch mehr Schiffe vor Anker, aber aus der Entfernung wirkten sie wie beim Zentralfort zusammengedrängt. Dahinter lag die Küste mit weißen Häusern und dem Anfang einer gewundenen Straße, die ins Binnenland führte. Jeder Berggipfel wurde vom Sonnenlicht bestrichen. Die blaugrauen Massen überschnitten sich und verblaßten in der Ferne, wo sie mit dem Himmel verschmolzen.

Er starrte das spanische Schiff an, das in seiner Größe der Hyperion gleichkam. Es mußte einen Monat oder mehr gedauert haben, es mit dem Gold und Silber zu beladen, das auf Packeseln und in Karren hergebracht wurde, wobei es Soldaten auf jeder Meile bewachten.

In Kürze, ehe die Sonne höherstieg und die ankernde Thor verriet, würde Leutnant Dalmain das Feuer auf die Batterie eröffnen.

Auf dem Deck des Schoners Spica saß die alte Mannschaft an der Luvverschanzung und betrachtete die britischen Seeleute. Kein Wunder, daß sie keinen Widerstand geleistet hatte. Im Gegensatz zu den sauberen Schweden sahen die Männer der Hyperion wie Piraten aus. Dacie, der Bootsmannsmaat, hielt den Kopf schief, so daß er gleichzeitig seine Männer und den Kapitän der Spica beobachten konnte. Über einer leeren Augenhöhle trug er eine schwarze Binde, die ihm ein schurkisches Aussehen verlieh. Parris' Vertrauen in ihn war offenbar gerechtfertigt. Skilton, einer der Meistergehilfen, war der einzige, der mit seinem biesenbesetzten Rock so etwas wie eine Uniform trug.

Auch Jenour war dem Beispiel seines Admirals gefolgt und hatte Hut und Rock abgelegt. Er trug einen Degen mit feiner blauer Klinge aus deutschem Stahl, den seine Eltern ihm mitgegeben hatten.

Bolitho suchte sich zu lockern. Es war ein weiter Weg aus jenem stillen Zimmer der Admiralität, wo man diesen Plan mit aller Gründlichkeit erörtert hatte, bis hierher.

Parris trug das Hemd bis zur Taille offen. In der frischen Landbrise fiel ihm sein dunkles Haar über die Augen. Hatte Haven ein Recht, ihn zu verdächtigen? Schwer zu sagen. Man hätte es verstehen können, wenn Mrs. Haven ihn dem farblosen Kapitän vorzog.

Eine Möwe flog über das Toppsegel. Ihr wilder Schrei mischte sich mit dem Geschmetter einer fernen Trompete. An Land oder vor Anker, überall regten sich Männer, griffen Köche nach ihren Pötten und Pfannen. Parris grinste Bolitho über die Länge des Decks hinweg zu und rief:»Gleich gibt's ein unsanftes Erwachen, Sir Richard!»

Trotzdem war der Knall, als er kam, eine Überraschung. Es war ein doppelter Donnerschlag, der über das Wasser rollte und wie ein Gegensalut als Echo zurückkam. Die Mörser!

Bolitho sah plötzlich Francis Inch vor sich, dem man als erstes Kommando eine Bombarde wie die Imries gegeben hatte. Er konnte fast seine Stimme hören wie damals, als er mit seinem Pferdegesicht aufmerksam an den Mörsern entlanggegangen war, jede Richtung abwägend und jeden Schuß.

Als die beiden Mörser aufs neue feuerten, vergaß er Inch. Die Druckwelle der Detonation prallte gegen ihr Schiff. Bolitho faßte seinen Degen fester, als sich an des großen Spaniers Rahen Flaggen entfalteten.

«Setzt das Erkennungssignal, Mr. Hazlewood!»

Die zwei Flaggen flitzten hoch und flatterten träge. Jetzt fehlte nur noch, daß der Wind nachließ und sie hilflos dalagen.

Parris brüllte:»Springt umher, ihr faulen Brüder! Schwenkt die Arme, zeigt achteraus! Aber aufgeregt!«Er lachte wild, als einige Seeleute die Verfolgten zu markieren begannen.

Bolitho schnappte sich ein Fernglas und richtete es auf den verankerten Spanier. Etwa eine halbe Kabellänge dahinter lag ein zweites Schiff. Zwar kleiner als die Ciudad de Sevilla, aber wahrscheinlich mit genügend Beute, um eine Armee monatelang zu unterhalten.

Parris rief:»Sie haben Enternetze aufgezogen, Sir Richard!«Der nickte.»Wir ändern Kurs und laufen ihm vor den Bug!«Es sollte so aussehen, als ob sie den Schutz des nächsten Forts suchten.»Ruder nach Lee, Sir!«»Stütz! Recht so!»

Bolitho hielt sich fest. Der Schoner lag hart am Wind, die Segel killten und schlugen. Er zuckte zusammen, als die Mörser wieder einsetzten. Die Küstenbatterie schwieg noch immer. Vielleicht hatte schon die erste Salve gewirkt, waren die schweren Kugeln wie tödliche Dreschflegel auf sie niedergegangen und hatten Eisensplitter und Schrappnells verspritzt.

Achteraus von Spica zogen Rauchschwaden dahin, auch war Dunst aufgekommen, der den Weg durch die Untiefen völlig verbarg. Das konnte die Einfahrt der nachkommenden Thor verzögern, aber so war sie wenigstens vor der Batterie sicher.

Bolitho sagte:»Unsere Leute sollen sich ja nicht sehen lassen, Mr. Parris!»

Jemand schrie:»Wachboot an Steuerbord, Sir!»

Bolitho schwenkte das Fernglas und sah einen dunklen Bootsrumpf um ein ankerndes Handelsschiff biegen. Vielleicht hatten seine Leute eben noch an ihre Siesta gedacht, an etwas Wein im Sonnenschein. Er sah die glänzend rot gemalten Riemen eifrig pullen, um das Boot möglichst eng zu drehen.

Weiter hinten konnte er die Umrisse einer spanischen Fregatte mit leeren Masten erkennen. Vermutlich wurde sie neu ausgestattet oder besserte nach dem Sturm ihre Schäden aus.

«Zwei Strich Steuerbord, Mr. Parris!«Bolitho hielt das Glas fest, als sich das Deck wieder neigte. Er hörte weitere Trompetenstöße, wahrscheinlich vom neuen Fort, und konnte sich ausmalen, wie die aufgeschreckten Artilleristen an ihre Geschütze rannten, noch ungewiß, was eigentlich geschah. Kanonendonner. Doch nichts war in Sicht außer einem schwedischen Schoner, der verständlicherweise Schutz suchte; keine feindliche Flotte, kein kühner Vorstoß. Schließlich hätten die äußeren Forts solch verwegene Dummheit aufgehalten.

Der Klüverbaum der Spica schwang seitwärts, als ob er die Back des Schatzschiffes aufspießen wollte, obwohl sie noch immer eine Kabellänge entfernt waren. Das Wachboot pullte ihnen ohne sonderliche Eile entgegen. Ein Offizier erhob sich und spähte durch Rauch und Dunst.

Bolitho sagte:»Das Wachboot wird sich dazwischenschieben. Tut so, als ob ihr Segel refft.»

Ein plötzlicher Windstoß füllte das Toppsegel, und hoch über Deck riß knallend eine Leine. Dacie stieß einen Matrosen mit der Faust an.»Hoch mit dir, Junge! Sieh nach!»

Er richtete nur sekundenlang den Blick nach oben, aber es genügte, daß der schwedische Kapitän vorspringen und einem kauernden Seemann das Gewehr entreißen konnte. Er legte es auf die Verschanzung und feuerte dem Wachboot entgegen. Der Pulverdampf hatte sich noch nicht verzogen, da lag der Kapitän schon an Deck, von einem Engländer niedergeschlagen.

Das Wachboot ruderte hastig zurück, die Riemen wühlten das Wasser zu Schaum. Es war keine Zeit zu verlieren.

Bolitho brüllte:»Rammt sie! Schnell!»

Er vergaß das Brüllen, überhörte sogar den Knall eines weiteren Gewehrschusses, als der Schoner drehte und wie eine Galeere gegen das Wachboot stieß.

Es war ein markerschütternder Aufprall. Bolitho sah Riemen und Plankenstücke vorbeitreiben, Menschen mühten sich im

Wasser ab, deren Schreie im auffrischenden Wind und dem Killen der Segel untergingen.

Das Schatzschiff überragte sie turmhoch. Einige Gestalten, die sich soeben noch nach der Ursache der Detonationen umgesehen hatten, rannten die Reling entlang, andere zeigten gestikulierend auf den angreifenden Schoner.

«Klar zum Entern!«Bolitho griff zum Degen und zog den um seine Taille gebundenen Tampen enger. Als sie die letzten hundert Meter zurücklegten, hatte er die Gefahr und auch die Sorge um sein unzuverlässiges Auge vergessen.

«Ruder hart über! Runter mit dem Toppsegel!»

Gewehrkugeln flogen über ihre Köpfe, eine meißelte einen langen Splitter aus dem Deck.

«Feuer einstellen!«Parris schritt vorwärts und achtete auf seine Männer, die geduckt den Zusammenstoß mit dem Spanier erwarteten.

Bolitho erblickte die aufgehängten Netze, die sie am Entern hindern sollten, sah Gesichter durch die Maschen peilen, eine einzelne Figur ein Gewehr laden, und hielt sich mit einem Bein am Vorwant fest.

In der Bordwand des Spaniers klappte wie das Auge eines erwachenden Mannes eine Stückpforte auf. Dann wurde die Mündung des Rohrs sichtbar, und Sekunden später zuckte die Feuerzunge hervor, der ein ohrenbetäubender Knall folgte. Doch war es nur eine trotzige Geste, die Kugel landete harmlos im Wasser wie ein springender Delphin.

Als auch das letzte Segel den Wind verlor, stieß der Klüverbaum des Schoners durch die Backbordwanten des Spaniers und zersplitterte. Zerrissenes Tauwerk und gebrochene Blöcke rieselten auf die Back, ehe beide Schiffsrümpfe mit einem fürchterlichen Krachen gegeneinander prallten. Der Vormast der Spica fiel wie ein abgesägter Zweig, aber durch seine zerfetzte Leinwand und wirre Takelage rannten Männer, blind für alles andere und nur bestrebt, den Feind zu entern.

«Drehbasse!«Bolitho riß den Fähnrich zur Seite, als die nächste

Basse in ihrem Pivot einruckte und ihre mörderische Ladung über die schnabelförmige Galion des Gegners prasselte. Männer fielen strampelnd ins Wasser. Ihre Schreie wurden unhörbar, als Parris mit den Sechspfündern feuern ließ.

Allday hielt sich keuchend an Bolithos Seite, das Entermesser baumelnd am Handgelenk, als er auf die Verschanzung des Spaniers sprang. Ihn von achtern zu entern, wäre unmöglich gewesen; das hohe Heck ragte mit dem vielen Schnitzwerk wie eine pompöse Klippe empor. Vorne ging es leichter. Männer erstiegen die Galion und hackten jeden Widerstand beiseite, während andere sich einen Weg durch die Netze schnitten.

Ein Spieß zuckte vor wie die Zunge eines großen Reptils.

Einer von Parris' Leuten fiel zurück, die Hände in den Bauch gekrallt, und stürzte mit entsetzten Augen ins Wasser hinunter. Ein anderer, der sich nach ihm umdrehte, fing an zu gurgeln, als der Spieß in seinen Hals drang und im Nacken wieder herausfuhr; er stürzte seinem Freund nach.

Dacie war mit einigen Seeleuten schon an Deck gelangt. Sie rissen die restlichen Netze weg. Bolitho fühlte, daß ihn jemand beim Handgelenk packte und durch eine Lücke hinüberzog. Ein anderer taumelte mit glasigen Augen gegen ihn, eine Kugel hatte ihm die Brust zerschmettert.

«Männer der Hyperion, her zu mir!«Parris schwenkte seinen bluttriefenden Säbel.»Aufs Steuerbord-Seitendeck!»

Schüsse krachten, Querschläger winselten über ihren Köpfen. Zwei weitere Leute fielen, im Todeskampf eine blutige Spur auf den Planken hinterlassend.

Bolitho starrte grimmig nach achtern, als die Drehbassen die hohe Poop bestrichen. Sie fegten eine Handvoll Männer weg, die wie durch Zauberhand dort aufgetaucht waren. In Sekundenschnelle bemerkte er, daß sie nur teilweise bekleidet oder gänzlich nackt waren: wahrscheinlich einige Schiffsoffiziere, die der plötzliche Überfall aus dem Schlaf gerissen hatte.

Parris besetzte mit seinen Leuten den Steuerbordgang, wo sie eine Drehbase nahmen und auf eine offene Luke richteten, aus der ihnen noch mehr Gesichter entgegenstarrten.

Als auch der Rest des englischen Enterkommandos den kleinen Schoner verlassen hatte, nahmen die Schweden die Gelegenheit wahr, um ihr Fahrzeug zusammen mit den Booten der Hyperion vom Schatzschiff freizuhacken.

Dacie schwang sein Enterbeil.»Auf sie, Jungs!»

Jede Teerjacke wußte, daß es kein Zurück gab, nur Sieg oder Tod. Für das, was sie angerichtet hatten, würden ihnen die Spanier kein Pardon gewähren. Bolitho hielt inne, vom beißenden Pulverdampf tränten ihm die Augen, aber er sah, daß die Matrosen sich in Gruppen aufteilten. Zwei stellten sich an das Doppelruderrad unterm Hüttendeck, andere schwärmten schon nach oben aus und setzten die Marssegel, während Dacie nach vorn eilte, um das dicke Ankerkabel zu kappen.

Aus den Niedergängen krachten Schüsse, die aber sofort von den Drehbassen erwidert wurden. Deren geballte Ladungen verwandelten die überfüllten Treppen in blutige Schlünde.

Aus dem Nichts erschien ein Spanier und stach auf einen bereits schwerverwundeten Seemann ein, der auf allen Vieren davonkroch. Ihm gegenüber stand mit einem Dolch in der Hand der kleine Fähnrich Hazlewood, als der Spanier von seinem Opfer abließ. Zwischen beide sprang Allday und brüllte heiser:»Hierher, Freundchen!«, als ob er einen Hund riefe. Der Spanier zögerte mit erhobener Klinge, zu spät erkannte er die Gefahr. Alldays schweres Entermesser traf ihn mit einer derartigen Wucht überm Schlüsselbein, daß es aussah, als wolle er ihm den Kopf abschlagen. Der Mann flog herum, sein Säbel fiel klirrend an Deck, und Allday schlug erneut zu. Hinterher grollte er:»Holen Sie sich eine vernünftige Klinge, Mr. Hazlewood, mit dem Piekser da können Sie nicht mal eine Ratte töten!»

Bolitho eilte achteraus ans Ruder. Er sah, wie sich der Steven aufs nächste Fort richtete, gleic hzeitig kam der Ruf:»Ankerkabel ist los!»

«Setzt die Marssegel! Beeilt euch, ihr Hunde!»

Dacies einziges Auge leuchtete wie eine Glasperle im Sonnenlicht. Parris wischte sich mit einem zerfetzten Ärmel den Mund.»Wir sind in Fahrt!«jubelte er dann.»Wir segeln! Über das Ruder!»

Außenbords platschte es, dann sahen sie einige spanische Seeleute vom Schiff fortschwimmen. Sie mußten aus den Stückpforten gesprungen sein, um dem Abschlachten an Deck zu entgehen.

Fähnrich Hazlewood taumelte mit niedergeschlagenen Augen zu Bolitho, voller Angst vor dem furchtbaren Anblick, der sich ihm bot. Bei den Speigatten lagen Leichen, getroffen von den doppelten Sechspfünderkugeln, und andere, welche die Eindringlinge hatten abwehren wollen, als die Drehbassen das Deck mit ihren mörderischen Schrapnells bestrichen.

Ein Klüver blähte sich im Wind, das große Schiff begann anzuluven. Seinem Tiefgang nach zu urteilen, mußte es seine kostbare Ladung schon übernommen haben. Wie würde der Kommandant des Forts sich verhalten? Würde er auf sie schießen, oder ließ er sie lieber davonsegeln, als sie zu versenken?

Das zweite Schatzschiff schien ihnen entgegenzugleiten. Wie blitzende Nadelstiche kam Gewehrfeuer aus seinen Masten, aber bei dieser Entfernung wäre es ein Wunder gewesen, wenn die Toppgasten oder gar die an Deck Stehenden getroffen worden wären.

Bolitho drängte:»Reicht mir ein Glas!«Hazlewood fummelte damit herum, seine Hand zitterte noch vor Schreck. Er war um Haaresbreite dem Tod entronnen, als ihn Alldays Entermesser vor dem Schlimmsten bewahrt hatte.

Bolitho schwenkte das Glas auf das andere Schiff, das nun zwischen ihnen und dem Fort lag. War es erst aus dem Weg, würde jedes Geschütz der Batterie auf sie gerichtet sein. Wenn ich Kommandant des Forts wäre, würde ich trotzdem schießen, dachte Bolitho. Ein Schiff zu verlieren, war schon schlimm genug, aber einen solchen Schatz ohne weiteres entwischen zu lassen, dürfte wenig Gnade vor dem Oberbefehlshaber in Caracas finden.

Man hörte einen rauhen Jubelschrei, und Parris rief:»Bei Gott, da kommt Imrie!»

Die Thor hatte jedes bißchen Leinwand gesetzt, so daß ihre Segel im frühen Morgenlicht wie eine große, rotgoldene Pyramide leuchteten. Alle ihre kurznasigen Karronaden waren zu beiden Seiten des schwarz- und ockergestreiften Rumpfes wie ein Gebiß ausgefahren. Ihr Anstrich glänzte, als sie Ruder legte und auf die beiden Schatzschiffe zudrehte. Im Vergleich zur langsamen Ciudad de Sevilla bewegte sich die Thor leichtfüßig wie eine Fregatte.

Der Handstreich mußte jedermann in den Forts und an der Küste völlig überrascht haben. Zuerst war ein schwedischer Schoner aufgetaucht, dem ein Kriegsschiff folgte, und das innerhalb ihres eigenen schwerbestückten Territoriums. Bolitho dachte flüchtig an Kapitän Price. Dies wäre seine Stunde gewesen.

«Signal an Thor: Das andere Schatzschiff versenken!»

Obwohl es ursprünglich eine Bootsattacke werden sollte, hatten sie auch diese Möglichkeit in Betracht gezogen. Bolitho schaute auf das blutverschmierte Deck nieder, auf die offenen Mundes daliegenden Toten und die stöhnenden Verwundeten. Wie es aussah, hätten sie ohne den Schoner wahrscheinlich keinen Erfolg gehabt.

Er griff wieder zum Fernglas. An Bord des anderen Schiffes strömten die Spanier zusammen, Bajonette und Spieße funkelten im Sonnenlicht. Sie erwarteten eine Entermannschaft der Thor, und diesmal wollten sie vorbereitet sein. Als sie Imries wahre Absicht erkannten, war es zu spät. Eine Trompete schmetterte, Pfeifen schrillten, sie rannten in Panik hierhin und dorthin und prallten schließlich wie konfuser Seegang aufeinander.

Fast graziös umrundete der gedrungene Rumpf der Thor das andere Schiff, bis sein ungeschütztes hohes Heck ihm zugekehrt war. Dann feuerten die Karronaden eine langsame Breitseite ab.

Schuß für Schuß löste sich mit dem ohrenbetäubenden, für Karronaden so typischen kurzen Donnerschlag. Vom hohen Kastell des Gegners rieselte es golden, die schimmernden Schnitzereien klatschten in die See oder wurden hoch in die Luft gewirbelt. Als der Wind den Rauch forttrieb, klaffte anstelle des Heckaufbaus eine schwarze Höhle in der Bordwand. Die schweren Kartätschen hatten den Rumpf der Länge nach wie eine eiserne Woge durchschlagen und alles unter Deck hinweggefegt.

Thor drehte abermals. Als die Spanier versuchten, das Ankertau ihres zerschlagenen Schiffes zu kappen, kreuzte sie wieder auf und feuerte mit der anderen Batterie eine Breitseite ab. Der Spanier verschwand im Rauch. Sein Besan und Großmast waren mit wirrem Durcheinander längst über Bord gefallen, und die Taue lagen an Deck und im Wasser wie Lianen verstreut.

Bolitho, der das Schauspiel direkt vor Augen hatte, mußte schlucken und räusperte sich.

«Setzt die Breitfock, Mr. Parris.»

Er packte die Schulter des Fähnrichs, der wie angeschossen hochsprang.»Signal an Thor: Her zu mir!«Als er den Griff lockerte, fügte er hinzu:»Du hast dich gut gehalten. «Dann sah er die Männer am Ruder, ihre rauchverschmierten Gesichter und bloßen Füße, ihre blutigen Entermesser.»Ihr habt es alle gut gemacht!»

Das große Vorsegel füllte sich, das Deck neigte sich ein wenig, und ein Leichnam rollte vor die Speigatten, als ob er sich bisher nur totgestellt hätte.

Auf dem Vordeck stand Jenour. Dort bewachten zwei bewaffnete Seeleute eine offene Luke, weil niemand wußte, wie viele Feinde noch im Innern des Schiffes steckten. Jenour spürte, daß Bolitho ihn ansah, und hob seinen schönen Degen wie zum Salut. Wie für den dreizehnjährigen Hazlewood war es auch für ihn wahrscheinlich das erste Blutvergießen gewesen.

«Thor zeigt verstanden, Sir!»

Bolitho wollte seinen Degen ablegen und erinnerte sich, daß er die Scheide vor dem Handgemenge weggeworfen hatte. Nun lag sie auf dem kleinen Schoner, der soeben im Dunst verschwand und nur noch eine Erinnerung war.»Nordost zu Ost liegt an, Sir!»

Vor ihnen, milchblau im frühen Licht, dehnte sich die offene See. Männer jubelten — verblüfft, verstört, voller Freude und auch, weil sie das Ganze noch gar nicht fassen konnten.

Parris grinste breit und drückte die Hand des Meistergehilfen so kräftig, daß dieser zusammenzuckte.»Sie gehört uns, Mr. Skilton! Gott verdamm' mich, wir haben ihnen das Schiff unter ihrer Nase weggenommen!»

Skilton schnitt eine Grimasse.»Wir sind noch nicht daheim,

Sir.»

Bolitho hob das Glas wieder, es dünkte ihn schwer wie Blei. Weniger als eine Stunde war verflossen, seit sie das verankerte Schatzschiff überfallen hatten. Eine Unmenge kleiner Boote verließ die Küste, eine Brigg setzte Segel, um sich ihnen anzuschließen. Sie alle strömten zu dem spanischen Wrack. Die letzte Breitseite muß es wie ein Sieb durchlöchert haben. Jedes Boot und jede Hand würde nötig sein, um zu bergen, was noch zu bergen war, ehe es kenterte und unterging. Es nicht zu entern, hatte sich gelohnt. Wenn sie versucht hätten, beide zu nehmen, hätten sie keines bekommen, sondern beide verloren. Der Meistergehilfe hatte schon recht: Bis daheim war noch ein langer

Weg.

Er ließ den Degen an Deck fallen, er war ungebraucht wie der Dolch des kleinen Fähnrichs. Todessehnsucht? Er hatte keine Furcht empfunden, wenigstens nicht für sich selbst. Er sah die Matrosen an den Backstagen heruntergleiten. Hundert Mann Besatzung hatte er für die Ciudad de Sevilla, das reichte. Sie vertrauten ihm, und das war vielleicht der größte Sieg.

Bolitho nahm sich eine Kaffeetasse und schob sie gleich wieder fort: leer. Das hätte Ozzard unter diesen Umständen nie zugelassen. Müde rieb er sich die Augen und sah sich in der überreichlich ausgestatteten Kajüte um. Im Vergleich zu einem britischen Kriegsschiff war es ein Palast, sogar für einen Vizeadmiral. Er lächelte dünn.

Es war Nachmittag. Trotzdem konnten sie vom Großmast immer noch das spanische Festland sehen. Aber Geschwindigkeit war so wichtig wie die Entfernung, deshalb ließ er bei dem stetigen Nordwestwind jeden Fetzen setzen, den das Schiff tragen konnte. Er hatte ein ebenso kurzes wie feindseliges Gespräch mit dem spanischen Kapitän gehabt, einem arroganten, bärtigen Mann mit dem Gesicht eines alten Conquistadors. Schwer zu sagen, was diesen Spanier mehr ärgerte: daß ihm sein Schiff unter den Kanonen des eigenen Forts weggenommen wurde oder daß ihn ein Mann befragte, der sich zwar als englischer Admiral ausgab, aber in seinem zerlumpten Hemd und den rauchgeschwärzten Kniehosen eher wie ein Landstreicher aussah.

Er nannte Bolithos Absicht, das Schiff in friedlichere Gewässer zu segeln, aussichtslos. Wenn die Abrechnung kam, würde es ein Ende ohne Gnade sein, hatte er in merkwürdig eintönigem Englisch gesagt. Da hatte Bolitho das Gespräch beendet und gelassen erklärt:»Niemand erwartet Gnade von einem Land, das sogar die eigenen Leute wie Tiere behandelt.»

Bolitho hörte, wie Parris einem Mann im Besanmast etwas zurief. Er war unermüdlich und nicht zu stolz, beim Brassen oder Heißen mit anzupacken. Mit ihm hatte Bolitho eine gute Wahl getroffen.

Thor war dem schwerfälligen Schatzschiff gefolgt, wahrscheinlich ebenso erstaunt über ihren Erfolg wie alle. Doch so groß dieser auch war, er hatte seinen Preis gefordert und Trauer hinterlassen wie nach jedem Gefecht.

Leutnant Dalmain war ums Leben gekommen, aber seine Leute waren von Thor abgeborgen worden. Die beiden Mörser mußten aufgegeben werden, ihr wuchtiger Rückstoß hatte den lecken Leichter bis auf den Kiel zerschlagen. Dalmain hatte seine Leute in Sicherheit gebracht und war noch einmal zurückgekehrt, um etwas zu holen. Dabei war der Leichter plötzlich vollgelaufen und weggesackt. Nun lag Dalmain bei seinen geliebten Mörsern.

Vier Mann waren beim Angriff gefallen, drei weitere schwerverwundet worden. Einer der letzteren war Seemann Laker, der einen Arm und ein Auge verloren hatte, als eine Muskete ihn auf Nahschußdistanz beschoß. Bolitho hatte gesehen, wie Parris über ihm kniete, als der Mann krächzte:»Besser als ausgepeitscht, nicht wahr, Sir?«Dann hatte er nach der Hand des Leutnants getastet.»Konnte ein kariertes Fell noch nie leiden, schon gar nicht seinetwegen.»

Wahrscheinlich meinte er Haven. Wenn sie die Hyperion bald trafen, würde deren Chirurg ihn vielleicht retten können.

Bolitho dachte an die Fracht unter seinen Füßen: Kisten und Kästen voll Gold und Silber, juwelenbesetzten Kruzifixen und Schmuckstücken. Im Licht von Alldays Laterne glitzerten die Schätze fast ordinär. Sie hatten Glück gehabt, dachte er müde. Dem spanischen Kapitän war eine Information entschlüpft: An eben jenem Morgen sollte sich eine Kompanie Soldaten auf der Ciudad einschiffen, um den Schatz zu begleiten, bis er in spanischen Gewässern entladen wurde. Eine Kompanie regulärer, disziplinierter Soldaten aber hätte ihren Handstreich zum Gespött gemacht.

Er dachte an den kleinen Schoner Spica und seinen Kapitän, der versucht hatte, Alarm auszulösen. Sein Schiff war heil, aber die Spanier würden kaum andere Schiffe abstellen, um ihn in sichere Gewässer zu geleiten. Vielleicht sahen sie in ihm sogar den Schuldigen. Eines war sicher: Er würde nie wieder mit dem Feind Handel treiben, ob neutral oder nicht.

Bolitho gähnte herzhaft und massierte seine Stirnnarbe. Samuel Lintott, der imponierende Bootsmann der Hyperion, würde einige Flüche loslassen, wenn er den Verlust der Jolle und der beiden Kutter entdeckte. Vielleicht konnte ihn das hohe Prisengeld trösten, das allen winkte. Der Admiral bemühte sich, nicht einzunicken. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt ungestört geschlafen hatte.

Das Schiff und seine reiche Ladung würden in der City von London Freude auslösen, und natürlich bei seiner Britannischen

Majestät, dem König, der sich nicht einmal an seinen Namen erinnert hatte, als er ihn mit dem Schwert zum Ritter schlug. Doch vielleicht bedeutete der Schatz für diejenigen, die so viel besaßen, gar nichts Besonderes.

Man konnte einen Krieg auch anders führen, als mit Kanonen Blut zu vergießen. Aber weder das eine noch das andere schien ihm richtig zu sein; er fühlte sich unbehaglich. Nur der Stolz ließ ihn durchhalten und der Gedanke an seine Männer. An solche, die ihre Leute retteten und selbst untergingen wie Dalmain. Oder an jene wie Seemann Laker, der Schulter an Schulter mit seinen Freunden gefochten hatte, weil sie mehr für ihn bedeuteten als irgendeine Flagge oder Beute.

England kam ihm in den Sinn, und er fragte sich, wie Belinda wohl ihre Zeit in London verbrachte. Er sah ihr Bild wie durch ein salzbeflecktes Teleskop, farblos und verschwommen, und fühlte sich vage schuldig. Dann schweiften seine Gedanken zu Viscount Somervell, obwohl das nur ein Umweg war, der ihn wieder zu Catherine führte. Würden sie nun Westindien verlassen, nachdem der Schatz oder doch ein großer Teil davon erbeutet war?

Seine Stirn berührte den Unterarm, und er fuhr jäh hoch, weil er am Tisch eingenickt war. Gleichzeitig hörte er die Stimme des Ausgucks im Masttopp. Als Parris antwortete und der Ausguck abermals brüllte, war er schon auf den Füßen und blickte durchs Oberlicht.

«Achtung, Deck! Zwei Segel in Nordwest!»

Bolitho durchschritt ihm fremde Türen und passierte eine Reihe verlassener Kabinen. Die Reste der spanischen Schiffsbesatzung waren im Laderaum eingeschlossen, wo sie weder das Schiff zurückerobern noch den Rumpf beschädigen konnten, ohne ihr eigenes Leben zu gefährden. Alle Leute der Hyperion befanden sich an Deck oder hoch oben in der Takelage. Neben einem Bücherbord hing das Porträt eines spanischen Edelmannes, den er für den Vater des Kapitäns hielt. Vielleicht war es auch bei ihm so wie in dem alten grauen Haus in Falmouth, auch er hatte Gemälde, die eine Familiengeschichte erzählten.

An der Backbordseite des Achterdecks standen Parris, Jenour und Skilton, der Meistergehilfe, jeder mit einem Fernglas. Parris sah ihn und grüßte.»Noch nichts Neues, Sir Richard.»

Der Horizont bildete eine scharfe Linie, er glich der Krone eines Deiches, hinter der man nichts sehen konnte. Bis es dunkel war, würden noch Stunden vergehen. Das alles dauerte viel zu lange.

«Vielleicht ist's die Hyperion, Sir Richard.»

Doch beide glaubten es nicht. Bolitho meinte:»Bei diesem günstigen Wind hätten wir schon mittags mit ihr zusammentreffen müssen«, und setzte nach einer Pause hinzu:»Benachrichtigt Thor, Imrie dürfte die Fremden noch nicht gesehen haben.»

Er machte ein paar Schritte hierhin und dorthin, das Kinn in der Halsbinde vergraben. Das gab ihm Zeit zum Überlegen. Er mußte sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß der Feind ihm auf den Fersen war. Bei der Ciudad de Sevilla aber handelte es sich weder um ein Kriegsschiff, noch verfügte sie über die Bewaffnung eines Indienfahrers. Die Geschütze mit ihren verzierten Lafetten und demonstrativen Bronzemäulern machten zwar einen kriegerischen Eindruck, waren aber nutzlos außer gegen Piraten und Freibeuter.

Er musterte einige Seeleute in seiner Nähe. Das Gefecht hatte ihnen genug abverlangt. Freunde waren verwundet und getötet worden, doch ihr Überleben und der Traum vorn Prisengeld hatten sie in Hochstimmung versetzt. Nun kam es wieder anders. Ein Wunder, daß sie nicht nach achtern eilten, sich alles aneigneten und flohen. Nur Bolitho und zwei Leutnants hätten sie daran hindern können.

Der Ausguck rief:»Zwei Fregatten, Sir! Dem Aussehen nach Spanier!»

Bolitho stockte der Atem, alle sahen ihn an. Irgendwie hatte er geahnt, daß Haven mit der Hyperion nicht rechtzeitig kommen und ihm helfen würde. Es mutete wie ein Witz an, daß er ihm selbst einen ehrenvollen Ausweg eröffnet hatte.

Parris sagte gleichmütig:»Nun, wie man hört, ist die See unter unserm Kiel zwei Meilen tief. Die Dons kriegen das Gold nicht wieder, es sei denn, daß sie so tief tauchen können. «Niemand lachte.

Bolitho schaute Parris an. Die Entscheidung liegt allein bei mir, dachte er. Sollte Thor sie und das Gold an Bord nehmen? Da sie nur noch die Hälfte der Boote verfügbar hatten, würde das zu lange dauern. Sollte man das große Schiff mit all seinen Schätzen anbohren und auf Thor fliehen, in der Hoffnung, die Fregatten aussegeln zu können, wenigstens bis zum Anbruch der Nacht?

Ein Sieg, der sozusagen in die Binsen ging.

Jenour trat näher.»Laker ist eben gestorben, Sir.»

Bolitho drehte sich mit blitzenden Augen um.»Für wen — das wollten Sie doch fragen? Müssen jetzt alle sterben, nur wegen der Arroganz eines Vizeadmirals?»

Überraschenderweise wich Jenour nicht zurück.»Lassen Sie uns kämpfen, Sir Richard.»

Bolitho ließ die Arme fallen.»Mein Gott, Stephen, Sie meinen es wirklich ernst, wie?«Er lächelte, sein Ärger war verraucht.»Aber ich will nicht, daß noch mehr sterben. «Sein Blick ging zum Horizont. »Thor soll beidrehen, dann holt die Gefangenen an Deck.»

Der Ausguck schrie:»Zwei spanische Fregatten und ein anderes Segel dahinter!»

Parris murmelte:»Allmächtiger Gott! Na, Mr. Heißsporn, wollen Sie noch immer kämpfen?»

Statt einer Antwort griff Jenour zum Degen. Das sagte mehr als alle Worte.

Allday beobachtete die Offiziere und versuchte auszuloten, was falsch gelaufen war. Nicht das Scheitern allein bedrückte Bolitho, eher schon, daß die alte Hyperion ihn im Stich gelassen hatte. Allday knirschte mit den Zähnen. Wenn er jemals wieder den Hafen erreichte, würde er mit dem verdammten Haven ein für allemal abrechnen, und das mit Schwung obendrein.

Bolitho mußte es die ganze Zeit geahnt haben. Warum sonst hatte er den alten Degen für Adam an Bord zurückgelassen?

Allday fühlte einen Schauder im Rücken. Auch er hätte es wissen müssen.

Alle starrten in die Höhe, als der bis dahin vergessene Vormastausguck brüllte:»Segel in Nordost, Sir!»

Bolitho verschränkte die Finger. Das neue Schiff war aufgekommen, als aller Augen auf die anderen gerichtet waren. Er sagte:»Entern Sie auf, Stephen. Mit einem Glas.»

Jenour zögerte einige Sekunden, als denke er nach. Dann aber war er auch schon fort und zog sich bald Hand über Hand an den Vorwanten empor, wo er sich zum Ausguck auf die unsichere Sitzstange der Saling gesellte.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Andere waren ebenfalls aufgeentert oder klammerten sich an die Webeleinen, um den Horizont abzusuchen. Bolitho fühlte einen Kloß in der Kehle. Es war gewiß wieder nicht die Hyperion, denn ihre Masten und Rahen hätten sie jetzt schon klar erkannt.

Jenour schrie etwas herunter. In den Geräuschen der Takelage drang seine Stimme fast nicht bis zum Achterdeck.

«Es ist ein Engländer, Sir! Zeigt seine Nummer!»

Parris kletterte in die Besanwanten und richtete sein Glas auf die beiden Verfolger.

«Sie teilen sich, um uns in die Zange zu nehmen, Sir Richard. Sie müssen den Engländer ebenfalls gesichtet haben. «Wütend setzte er hinzu:»Nicht, daß er uns jetzt noch helfen könnte, verflucht noch mal!»

Jenour meldete sich wieder:»Es ist die Phaedra, unsere Korvette.»

Bolitho fühlte, daß Parris ihn ansah. Die vermißte Korvette hatte sich endlich eingefunden, aber nur, um Zeugin ihres Endes zu werden.

Jenour meldete sich aufs neue, brach ab und versuchte es wieder. Seine Stimme war kaum noch verständlich.

«Phaedra hat ein Signal gesetzt, Sir! Es lautet: Feind in Sicht!»

Bolitho schaute zu Boden, auf die dunkle Stelle an Deck, wo ein spanischer Seemann gestorben war. Dieses Signal würde von allen anderen Schiffen verstanden werden, auch von den fremden. Er dachte an seine alte Hyperion, wie dort die Männer beim Trommelklang auf Gefechtstationen gerannt waren.

Voll ungläubigem Erstaunen meldete Parris:»Die Dons drehen ab, Sir Richard!«Er wischte sich das Gesicht, vielleicht sogar die Augen.»Verdammt, macht es nächstes Mal nicht so spannend!»

Indessen verblaßten die spanischen Bramsegel im Dunst, und die flinke Korvette näherte sich dem Schatzschiff und seinem einzigen Begleiter. Bald stellte sich heraus, daß sie ganz allein war.

Das ungleiche Trio rollte beigedreht in der Dünung, als der jugendliche Kommandant der Phaedra in seiner Gig herübergerudert wurde. Hastig kletterte er an der hohen Bordwand empor und lüftete den Hut vor Bolitho; kaum konnte er sein Grinsen zurückhalten.

«Wo sind die anderen Schiffe?«Bolitho starrte den jungen Mann verblüfft an.»Wem galt Ihr Signal?»

Der Commander riß sich zusammen.»Mein Name ist Dunstan, Sir Richard.»

Bolitho dankte.»Und woher kennen Sie mich?»

Das Grinsen leuchtete wieder auf wie ein Sonnenstrahl in einer Wolkenlücke.

«Ich hatte die Ehre, auf der Euryalus unter Ihnen zu dienen, Sir Richard. «Sichtlich stolz schaute er um sich.»Als Fähnrich. Und da entsann ich mich, wie Sie selbst einmal den Feind mit diesem Signal getäuscht und vertrieben haben. «Er holte tief Luft.»Aber ich war nicht sicher, ob es auch mir gelingen würde«, setzte er kleinlaut hinzu.

Bolitho ergriff Dunstans Hand und hielt sie einige Augenblicke fest.»Jetzt weiß ich, daß wir gewinnen werden«, sagte er schließlich.

Er wandte sich ab, und nur Allday sah, wie bewegt er war. Der alte Bootssteurer blickte zur Phaedra mit ihren Achtzehnpfündern hinüber. Vielleicht merkte Bolitho jetzt, was er für andere bedeutete? Aber er bezweifelte es.

VIII Ein bitterer Abschied

Der Sehr Ehrenwerte Viscount Somervell blickte von einem Stapel Geschäftspapiere hoch und musterte Bolitho aufmerksam.

«Also akzeptieren Sie Kapitän Havens Erklärung?»

Bolitho lehnte an der kühlen Wand neben einem Fenster.

Trotz des stetigen Windes, der sie die ganze Strecke bis English Harbour begleitet hatte, war die Luft hier drückend und feucht. Die Brandung vor dem Hafen draußen schäumte nicht mehr weiß, sondern floß in der Abendsonne wie geschmolzene Bronze über den Sandstrand.

Von hier aus konnte er die Ciudad de Sevilla deutlich sehen. Nach dem tumultuösen Willkommen hatten sie sofort begonnen, die Ladung zu löschen. Leichter und Boote pullten ständig hin und her. Bolitho hatte noch nie so viele Rotröcke jeden Meter ihres Weges bewachen gesehen. Das mußte sein, wie ihm Somervell erklärte, bis man die reiche Beute auf mehrere kleine Fahrzeuge verteilt und das Risiko verringert hatte.

Bolitho blickte über die Schulter. Somervell hatte Haven schon wieder vergessen. Der Admiral bemerkte erst jetzt, daß er noch dieselben Kleider trug wie auf der Ciudad de Sevilla, als sie tags zuvor hier vor Anker gegangen waren.

Die Hyperion und zwei der Briggs waren erst vor Antigua zu ihnen gestoßen. Bolitho hatte es vorgezogen, Haven zu sich auf die Ciudad zu rufen, anstatt aufsein Flaggschiff zu gehen, wo es schon genug Spekulationen gegeben haben mußte.

Haven war merkwürdig selbstsicher gewesen, als er Rede und Antwort stand. Um sein Verhalten zu erklären, wenn schon nicht zu entschuldigen, hatte er seinen Bericht auch schriftlich vorgelegt. Hyperion und die kleine Flottille waren vor Puerto Cabello dicht unter Land gesegelt, damit es aussah, als wollten sie in den Hafen eindringen, und dabei in das Feuer einer Küstenbatterie geraten. Haven war überzeugt gewesen, daß sich die Fregatte Consort noch im Hafen befand, und hatte trotz der Kanonen des Forts die Brigg Vesta zur Aufklärung entsandt. Die Spanier aber hatten vor dem Hafen eine schwimmende Balkensperre liegen, und Vesta war mit dieser kollidiert. Die Batterie brauchte nur wenige Minuten, um sich auf Vesta einzuschießen, und da sie glühende Kugeln verwendete, ging die hilflose Brigg bald in Flammen auf, bis sie schließlich von einer gewaltigen Explosion vernichtet wurde.

Haven hatte gleichmütig weiterberichtet:»Andere Feindschiffe kamen auf uns zu. Ich handelte nach eigenem Ermessen, wie Sie mir befohlen hatten, Sir Richard, und zog mich zurück. Ich nahm an, daß Sie bis zu diesem Zeitpunkt entweder erfolgreich oder unverrichteter Dinge auf dem Heimweg waren. Jedenfalls habe ich die Spanier planmäßig abgelenkt, nicht ohne Gefahr für mein

Schiff.»

Bolitho konnte Haven nicht tadeln. Eine Balkensperre mochte man einkalkulieren oder auch nicht. Er hatte eben nach Ermessen gehandelt. Eine andere Brigg, die Tetrarch, hatte aber alles riskiert und war trotz Rauch und Beschuß in die Hafeneinfahrt gesegelt, um Leute der Vesta zu retten. Einer der Überlebenden war ihr schwerverwundeter Kommandant, Commander Murray. Er lag in einem angrenzenden Gebäude bei den verwundeten Enterern und den Resten der Vesta-Crew, die man aus Feuer und Wasser gerettet hatte, den beiden schlimmsten Feinden des Seemanns.

«Einstweilen akzeptiere ich sie, Mylord«, antwortete Bolitho.

Somervell blätterte lächelnd in den Frachtpapieren der Ciudad de Sevilla. »Tod und Teufel, damit muß selbst Seine Majestät zufrieden sein. «Er schaute wieder hoch.»Ich weiß, Sie trauern der Brigg nach, wie es der Navy geziemt. Doch gemessen an dem, was wir gewonnen haben, war es ein kleines Opfer.»

Bolitho zuckte die Achseln.»Vielleicht für jene, die nicht ihre kostbare Haut zu Markte tragen müssen. Offen gesagt, ich hätte lieber die Consort herausgeholt.»

Bedächtig verschränkte Somervell die Arme.»Sie haben Glück gehabt. Aber wenn Sie Ihren Ärger nicht zügeln oder ihm ein anderes Ziel geben, wird Sie das Glück verlassen, fürchte ich. Machen Sie also das Beste draus.»

Die Tür öffnete sich, und Jenour spähte suchend herein.

Bolitho entschuldigte sich, doch Somervell schien gar nicht hinzuhören. Er tauchte schon wieder in einer Welt von Gold und Silber unter.

Jenour flüsterte:»Ich fürchte, Commander Murray macht es nicht mehr lange, Sir Richard.»

Bolitho folgte ihm über die breite, fliesenbedeckte Terrasse, die zum Behelfslazarett führte. Immerhin hatten sie eins. Männer, die sic h mit im Kampf erlittenen Wunden abquälten, sollten nicht das Lager mit Soldaten teilen, die am ansteckenden Gelben Fieber starben.

Bolitho blickte flüchtig auf die See hinaus, bevor er das Gebäude betrat. Sie wirkte bedrohlich, der Himmel ebenfalls. Zog ein Sturm auf? Er würde sich mit dem Segelmeister der Hyperion beraten müssen.

Murray lag mit geschlossenen Augen da, als wäre er bereits tot. Obwohl er auf der westindischen Station zwei Jahre gedient und eine Haut wie Leder hatte, war sein Gesicht jetzt kreideweiß. Der Chirurg der Hyperion, George Minchin, weniger zynisch als die meisten seiner Kollegen, hatte geäußert:»Ein Wunder, daß er bisher überlebte. Sein rechter Arm war fort, als sie ihn auffischten, und ich mußte ihm noch ein Bein abnehmen. Er hat eine kleine Chance, aber…»

Das war tags zuvor gewesen. Doch Bolitho hatte genügend vom Tode gezeichnete Gesichter gesehen, um zu erkennen, daß es jetzt mit Murray zu Ende ging.

Minchin räumte seinen Stuhl und trat ans Fenster. Durch ein anderes schaute Jenour aufs Meer. Vielleicht hatte auch Murray es bis zuletzt angestarrt, wie einen Ausblick auf das Leben selbst. Bolitho nahm Platz.

Er entsann sich an den Vornamen des jungen Commanders.»Ruhen Sie sich aus, James. Ich bin hier.»

Murray jedoch strengte sich an, um noch einmal die Augen zu öffnen.»Es war die Balkensperre, Sir. «Er schloß sie wieder.»Sie riß der armen Vesta fast den Kiel heraus. «Er versuchte zu lächeln, was gespenstisch aussah.»Sie haben sie aber nicht gekriegt — die nicht…»

Bolitho nahm Murrays verbliebene Hand.»Ich werde dafür sorgen, daß man sich um Ihre Angehörigen kümmert. Wen haben Sie zu versorgen?«Seine Worte kamen ihm so leer vor, daß er hätte weinen mögen.

Murray strengte sich noch einmal an, aber seine Augen glichen nur noch flimmernden Schlitzen.»Ich — ich. «Das Bewußtsein verließ ihn langsam.»Meine Mutter — sonst niemand. «Seine Stimme wurde nahezu unverständlich.

Wie eine verlöschende Kerze, dachte Bolitho. Jenour schluckte schwer, als müsse er sich übergeben. Draußen vor der Tür regte sich Allday. Mit bemerkenswert klarer Stimme meldete sich Murray noch einmal.»Jetzt ist es dunkel, Sir. Da kann ich schlafen. «Seine Faust verkrampfte sich zwischen Bolithos Händen.»Danke für. «Und dann verstummte er endgültig.

Bolitho erhob sich langsam.»Ja, schlaf jetzt, mein Junge. «Er zog das Laken über das Gesicht des Toten und starrte so lange in das Sonnenlicht, bis es ihn blendete. Dunkel für immer.

Er ging zur Terrassentür. Jenour wollte etwas Tröstliches sagen, doch Bolitho drehte sich nicht um.»Laßt mich allein, bitte!»

Die steinerne Balustrade, auf die er beide Hände stützte, war heiß wie die Sonne auf seinem Gesicht. Er hob den Kopf und starrte erneut in die blendende Helligkeit. Er sah sich wieder als kleinen Jungen vor dem in Stein gemeißelten Familienwappen über dem großen Kamin in Falmouth stehen. Dann war sein Vater hinzugekommen und hatte ihn auf den Arm genommen. Die Worte unter dem Wappen, die er ihm vorlas, hatten sich ihm für immer eingeprägt: pro libertate patria — für die Freiheit des Vaterlandes. Dafür waren junge Männer wie Murray, Dunstan und Jenour bereit zu sterben. Dabei hatten sie noch nicht einmal richtig zu leben begonnen.

Er ballte die Fäuste, bis sie schmerzten. Als er zu seiner Linken Schritte hörte, drehte er sich rasch um. Er hatte so lange in die Sonne geblickt, daß er nur einen undeutlichen Schatten zu erkennen vermochte.»Wer ist da? Was wünschen Sie?«fragte er scharf und ärgerlich ob seiner Hilflosigkeit.

Die Frau sagte:»Ich wollte zu dir. «Sie blieb auf der obersten Stufe der großen Steintreppe ganz still stehen.»Ich hörte von meinem Mann, was geschah. «Nach einer Pause, die Bolitho endlos vorkam, setzte sie hinzu:»Geht es dir gut?»

Er blickte zu Boden und sah die Fliesen Kontur gewinnen. Der Schmerz und der Schleier in seinem Auge ließen langsam nach.

«Ja. Einer meiner Offiziere ist gestorben«, sagte er heiser.

Sie hielt sich noch immer von ihm fern, als ob sie ihn fürchte.»Ich weiß. Es tut mir ja so leid.»

Bolitho sah sich um wie nach einem Fluchtweg. Dann aber ging es mit ihm durch.»Wie konntest du ausgerechnet diesen Mann heiraten! Ich habe schon manchen gefühllosen Bastard in meinem Leben gesehen, aber. «Er rang um Fassung. Sie hatte wieder seinen wunden Punkt getroffen. Gleichsam nackt und bloß, konnte er sich weder verteidigen noch erklären.

Sie antwortete nicht direkt.»Hat er auch nach dem zweiten Schatzschiff gefragt?»

Bolitho fühlte, daß ihn der Kampfgeist verließ. Auch er hatte beinahe erwartet, daß Somervell ihn danach fragen würde. Zum Glück für sie beide hatte er sich aber zurückgehalten. So erwiderte er nur:»Entschuldige, das war unverzeihlich. Ich habe kein Recht, in dieser Sache deine oder seine Motive zu erforschen.»

Sie betrachtete ihn nachdenklich, während sie mit einer Hand die Spitzenmantilla auf ihrem dunklen Haar festhielt, als ein heißer Windstoß über die Terrasse fegte. Dann trat sie näher und sah ihm ins Gesicht.»Du siehst erschöpft aus, Richard.»

Endlich wagte er, sie anzusehen. Sie trug ein seegrünes Kleid, aber sein Herz sank, als er ihre feingeschnittenen Gesichtszüge und ihre erregenden Augen nur verschwommen erkannte. Er mußte verrückt gewesen sein, so lange in die grelle Sonne zu starren. Der Londoner Arzt hatte ihn gewarnt, es war das Schlimmste, was er tun konnte.

Er erwiderte:»Ich habe sehr viel an dich gedacht. Mehr als ich durfte, weniger als du verdienst.»

Sie spannte ihren Fächer auf und bewegte ihn im Wind wie den Flügel eines Vogels.»Ich reise bald ab. Vielleicht hätten wir uns besser nicht wiedergesehen. Wir müssen beide versuchen.»

Er griff nach ihrem Handgelenk, ungeachtet eines möglichen Zuschauers, aus Angst, auch sie noch zu verlieren, nachdem er schon so vieles verloren hatte.

«Ich kann nicht! Es ist die Hölle, die Frau eines anderen zu lieben. Aber bei Gott, so steht es um mich!»

Sie zog sich nicht zurück, versteifte nur ihr Handgelenk in seinem Griff.

«Du sprichst von Hölle? Du weißt ja nicht, was das heißt! Das weiß nur eine Frau, die einen verheirateten Mann liebt. «Sie ließ alle Vorsicht fallen.»Ich sagte dir einmal, daß ich für dich hätte sterben mögen. Jetzt scheinst du zu denken, daß du einfach wieder zurückkommen kannst, nachdem dein Leben offenbar ruiniert ist. Weißt du denn nicht, was du mir damit antust, verdammt noch mal? Ja, ich habe Lacey geheiratet, weil wir einander brauchten, aber aus Gründen, die du nie verstehen wirst. Ich kann kein Kind bekommen, und auch das hast du damals gewußt. Dagegen hat dir deine Frau eine Tochter geschenkt. Also, für wen ist es die Hölle — für wen?»

Sie riß sich los. Ihre Augen blitzten, und unter der Mantilla fielen lockere Haarsträhnen hervor.

«Ich werde dich nie vergessen, Richard, Gott steh mir bei. Aber ich bete darum, daß wir uns nie wieder begegnen, damit wir nicht auch noch jenen Augenblick des Glücks zerstören, der mir so teuer ist.»

Sie drehte sich um und rannte davon. Bolitho betrat das Gebäude und nahm seinen Hut von einem Lakai entgegen. Er sah, daß Parris auf ihn zukam, und wäre stillschweigend vorbeigegangen, hätte der Leutnant nicht gegrüßt und ihn angesprochen.»Wir haben die letzten Schatzkisten verladen, Sir

Richard. Noch kann ich kaum glauben, was wir durchgemacht haben, um sie zu kriegen.»

«Ich werde Ihre Leistungen in meinem Bericht an Ihre Lordschaften erwähnen«, entgegnete Bolitho zerstreut. Es hörte sich hohl an, aber seine Gedanken waren anderswo. Er mußte an Murrays Mutter und Dalmains Witwe schreiben und die Formalitäten erledigen, damit das Prisengeld an die Hinterbliebenen aller Gefallenen ausgezahlt wurde. Seine Depesche konnte ihnen dazu verhelfen.

Parris betrachtete ihn irritiert.»Ich sagte das nicht, um gelobt zu werden, Sir Richard. Ist etwas nicht in Ordnung?»

Bolitho schüttelte den Kopf und fühlte noch ihr Handgelenk zwischen seinen Fingern. War er enttäuscht? Aber was, in Teufels Namen, hatte er eigentlich erwartet?

Er ging weiter. Als sein Bootssteurer mit großen Schritten aufkreuzte, mahnte ihn Parris:»Sir Richard wird das Boot haben wollen, Allday.»

Aber der verneinte.»Er wird jetzt ein Stück zu Fuß gehen. Erst wenn er mit sich im reinen ist, wird er nach dem Boot fragen.»

Parris, der die beiden vielleicht zum erstenmal begriff, nickte.»Ihr seid zu beneiden.»

Allday schlenderte gemächlich zur Balustrade, von der aus er den größten Teil der Reede überblicken konnte. Der Seegang wurde zusehends gröber. Er biß in einen Apfel, den ihm der Koch des Hafenkommodore gegeben hatte. Der hatte einen verdammt guten Job.

Er sah, wie das große Boot von der Anlegebrücke Abstand hielt, um sich nicht die Farbe abzuscheuern; denn der unruhige Wellenschlag überspülte schon die Steinstufen. Just als er glaubte, die Dinge würden sich arrangieren, schien sich für Bolitho alles verschlechtert zu haben. Die verdammten Weiber! Das hatte er auch zu Ozzard gesagt, als sie im Triumph mit dem Schatzschiff zurückgekehrt waren. Der hatte widersprochen, worauf Allday müde und ärgerlich entgegnete:»Was, zum Teufel, weißt du denn schon? Du warst niemals verheiratet!«Das aber hatte den kleinen

Mann dermaßen aufgeregt, daß sich Allday genötigt sah, ihm zur Versöhnung eine seiner wertvollen Knochenschnitzereien zu schenken.

Er warf das Apfelgehäuse ins sonnverbrannte Gras und wollte gehen. Da sah er sie auf der Terrasse stehen und ihn mit einem jener Blicke bedenken, die einen Eisblock schmelzen lassen konnten. Während er noch gaffte, kam sie näher und fragte:»Erinnerst du dich nicht an mich? Du bist doch Allday.»

Allday erwiderte vorsichtig:»Natürlich erinnere ich mich an Sie, Madam. Keiner könnte vergessen, was Sie damals für den Admiral getan haben.»

Sie überhörte das Unausgesprochene in seinen Worten.»Ich brauche deine Hilfe. Willst du mir vertrauen?»

Allday fühlte sein Widerstreben schwinden. Sie bat ihn, ihr zu vertrauen! Ihr, der Frau des mächtigen Generalinspekteurs, eines Mannes, vor dem man sich sehr in acht nehmen mußte, wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was man sich über ihn erzählte. Aber sie hatte den ersten Schritt getan. Sie war es, die das Risiko einging.

Er lächelte schwach. Eine richtige Seemannsbraut.»Ich vertraue Ihnen.»

Sie kam näher, und Allday bemerkte das hastige Atmen ihrer Brust unter dem feinen Stoff. Sie ist keineswegs so kühl und gelassen, wie sie scheinen möchte, dachte er.

«Vizeadmiral Bolitho ist nicht er selbst. «Sie zögerte; vielleicht war sie schon zu weit gegangen? Alldays Lächeln war wie weggewischt, in den Augen des großen Mannes stand plötzlich Feindschaft.

«Ich — ich möchte ihm helfen, weißt du. «Ihre Lippen zuckten.»Um Gottes willen, Allday, muß ich erst bitten? Was fehlt ihm?»

«Tut mir leid, Madam, wir haben neuerdings eine Menge Feinde, daher. «Allday gewann seine Sicherheit zurück. Was konnte ihm schon passieren? Also sagte er nach kurzem Überlegen:»Er wäre beinahe erblindet. «Trotz des heißen Windes wurde ihm eiskalt, aber nun konnte er nicht mehr zurück. Er schloß:»Er fürchtet, daß er die Sehkraft seines linken Auges verliert.»

Sie starrte Allday an und sah das schlimme Bild wieder vor sich: Er hatte in die Sonne geblickt, als sie hinzukam. Dabei hatte er so niedergeschlagen, so verloren ausgesehen, daß sie ihn gern in ihre Arme genommen hätte, ungeachtet ihrer Sicherheit, ja ihres Lebens, wenn sie ihn nur wenige Augenblicke hätte trösten können. Sie rief sich seine Stimme ins Gedächtnis zurück, die Art, wie er sie angeschaut hatte, ohne sie zu erkennen, und flüsterte:»O mein Gott!»

Allday fuhr fort:»Vergessen Sie nicht, Madam, ich habe Ihnen nichts erzählt. So wie die Dinge liegen, stecke ich bei ihm oft genug bis zum Hals in heißem Wasser, ohne daß Sie es noch anzuheizen brauchen. «Er hielt inne, von ihrem Schmerz gerührt, der sie alle Haltung verlieren ließ.»Aber wenn ich helfen kann. «Er brach ab und berührte ehrerbietig seinen Hut. Dabei wisperte er heiser:»Ihr Mann kommt über die Kimm, Madam, ich muß gehen!»

Dann verschwand er mit großen Schritten, eine kernige Gestalt in flatternder blauer Jacke und Nankinghose, narbenbedeckt und so schwer blessiert, daß man es seinem schlichten Gesicht ansah. Aber trotz allem so sanft und liebevoll, daß sie um ihn, um alle seinesgleichen, hätte weinen können.

Ihr Mann wollte nicht zu ihr, sie sah ihn mit dem Leutnant namens Parris über die Terrasse gehen. Als sie zum Hafen hinunterschaute, war es Allday, der sich nach ihr umdrehte und seinen Hut lüftete: nur eine kleine Geste, und doch zeigte sie ihr, daß er sie als Verbündete akzeptierte.

Die Hängelampen in der großen Kajüte der Hyperion beschrieben wilde Spiralen und warfen irre Schatten auf den karierten Bodenbelag und die festgezurrten Neunpfünder zu beiden Seiten.

Bolitho nippte an einem Glas Weißwein und wartete, während Yovell ein weiteres Schreiben beendete und es ihm über den

Tisch zur Unterschrift hinschob. Wie Schauspieler auf einer Bühne, dachte er, als Ozzard geschäftig die Gläser nachfüllte und Allday, der keinen Text zu sprechen hatte, wie ein Statist kam und ging.

Kapitän Haven stand bei den halb abgeblendeten Heckfenstern. Man hatte sie vorsorglich geschützt, weil der in der Dunkelheit noch bedrohlicher wirkende Wind Gischt über die ankernden Schiffe wehte. Bolitho fühlte, wie das ganze Schiff erzitterte, wenn es ins Ankertau einruckte.

Haven beendete seinen Bericht mit den Worten:»Das ist alles, was ich zu bemerken habe. Der Zahlmeister ist mit der Versorgung zufrieden, und mit einer Ausnahme sind alle Arbeitsgruppen von Land abgezogen worden. «Er sprach so überlegt wie ein Schüler, der vor seinem Lehrer eine schwierige Lektion wiederholt.»Es ist mir auch gelungen, die drei Boote zu ersetzen, allerdings muß noch einiges an ihnen getan werden.»

Ein versteckter Hinweis, daß es sein Admiral gewesen war, der sie verloren hatte. Aber Haven hütete sich, seine wahren Gefühle zu offenbaren.

«Wer führt die letzte Arbeitsgruppe an?»

Haven überflog eine Liste.»Der Erste Leutnant, Sir Richard.»

Nach ihrem kürzlichen Zusammenstoß nannte er ihn immer bei seinem Titel. Bolitho schwenkte den Wein im Glas. Gut denn, wenn er es so haben wollte? Haven war ein Narr, er hätte wissen sollen, daß sein Admiral wie jeder andere Flaggoffizier seine Karriere fördern oder zerstören konnte. Oder war das seine Art, Bolithos Sinn für Fairneß auszunutzen?

Yovell schaute über seine Stahlbrille.»Bitte um Verzeihung, Sir Richard, aber soll die Order an die Obdurate in diesem Wortlaut abgehen?»

Bolitho lächelte schwach.»Sie soll. «Er brauchte ihn nicht daran zu erinnern. Der Text lautete kurz und bündig:»Es wird Ihnen dringend befohlen, sofort auslaufbereit zu sein!»

Kapitän Robert Thynne, der Kommandant ihres einzigen Vierundsiebzigers, mochte denken, was er wollte. Aber die

Obdurate wurde jetzt mehr denn je gebraucht. Die Fahrzeuge mit dem spanischen Schatz waren durch die gefährlichen Gewässer zu eskortieren, bis sie auf Sir Peter Folliots Geschwader stießen oder genügend freien Seeraum erreicht hatten, um für sich selbst zu sorgen. Bolitho hätte lieber gewartet, bis sein eigenes kleines Geschwader eintraf, aber der Wetterumschlag verzögerte dies.

Er trat beiseite und massierte im milden Licht der Laternen sein Auge. Seit dem törichten Test mit dem Sonnenlicht schmerzte es. Oder bildete er sich das bloß ein? Jedenfalls war er froh, wieder an Bord seines alten Schiffes zu sein. Somervell hatte das angedeutet, als Bolitho sich verabschiedete.

Der Generalinspekteur hatte erklärt, daß auch er und seine Frau nach dem Abgang des Goldtransports die Insel verlassen würden. An Bord eines großen Indienfahrers, den man täglich erwartete. Persönlicher Komfort wurde bei Somervell großgeschrieben. Bolitho bekam die andere Seite des Mannes zu sehen, als er ihn bat:»Ich würde mich gern auch von Lady Somervell verabschieden.»

«Unmöglich. Sie ist nicht mehr hier. «Somervell war seinem Blick herausfordernd begegnet. Bolitho konnte sich gut vorstellen, wie die gleichen kalten Augen bei Tagesanbruch über den Lauf einer Duellpistole zielten. Allerdings wußte man, daß er für derartige Abrechnungen den Degen vorzog.

Antigua war eine kleine Insel. Wenn Kate gewollt hätte, wäre es ihr leicht gefallen, ihn noch einmal zu sehen. Es sei denn, Somervell wäre des Katz-und-Maus-Spiels müde geworden und hätte es verhindert. Wie auch immer, es tat nichts mehr zur Sache.

Es klopfte, und Leutnant Lovering, der Offizier vom Dienst, trat ein.»Verzeiht, Sir Richard«, sein Blick wechselte zwischen Bolitho und Haven hin und her,»aber es ist eine Kurierbrigg gemeldet, die den Hafen ansteuert.»

Bolitho schlug die Augen nieder. Vielleicht von England, mit Briefen von zu Hause, mit neuen Nachrichten vom Krieg. Er dachte an seinen Neffen Adam, der selber eine Kurierbrigg führte und wahrscheinlich noch immer Depeschen für Nelson beförderte.

Das war eine andere Welt, weit weg von der Hitze und dem Fieber Westindiens.

Haven beugte sich gierig vor.»Falls es Post für mich gibt…«Er faßte sich wieder, und Bolitho dachte daran, daß Havens Frau ein Baby erwartete.

Er unterschrieb mehrere Briefe. Empfehlungen zur Beförderung wegen Tapferkeit, zur Versetzung auf andere Schiffe, Beileidsschreiben an Hinterbliebene. Der Leutnant zögerte.»Soll noch Post an Land, Sir Richard?»

Bolitho sah ihn an. Lovering war der Zweite Leutnant, der ebenfalls auf seine Beförderung wartete. Wenn Parris fiel…

Er verwarf den Gedanken sofort.»Ich glaube nicht.»

Das ging ihm leicht von den Lippen. War es denn so einfach, etwas zu beenden, das ihm einst so kostbar gewesen war?

Haven wartete, bis sich der Leutnant zurückgezogen hatte.

«Beim ersten Tageslicht also, Sir Richard.»

«Jawohl. Wecken Sie die Besatzung, wann Sie es für nötig halten, und teilen Sie unser Vorhaben der Obdurate und dem Hafenkommodore mit.»

Wenn Hyperion nach Antigua zurückkam, würde Somervells Indienfahrer schon auf und davon sein. Würden sie sich jemals wiedersehen, auch nur zufällig?

«Es wird den ganzen Tag in Anspruch nehmen, um aus dem Hafen zu gelangen, die Leute zu mustern und das Schiff wieder auf Vordermann zu bringen. Alles weitere hängt dann vom Wind ab.»

Wenn die Ciudad de Sevilla und ihr Geleit noch viel länger im Schutz von English Harbour blieben, konnten die Spanier oder ihre französischen Verbündeten vielleicht einen Gegenangriff versuchen, ehe das neue Geschwader eintraf.

Allein in der Kajüte, trank Bolitho noch mehr Wein. Zwar war sein Magen leer, aber er war außerstande, das von Ozzard zubereitete Mahl zu essen. Das ächzende alte Schiff, die anscheinend alle paar Minuten gerufene Wache, die immer wieder loses Zubehör sichern und festlaschen mußte, machten ihm Schlaf unmöglich. Aber der Wein war gut, und Bolitho fragte sich, wie Ozzard ihn so kühl hielt.

Er spielte mit der Idee, doch noch einen Brief an Catherine zu senden, ließ sie aber sofort wieder fallen. Solch ein Papier in den falschen Händen konnte sie ruinieren. Daß es seiner eigenen Karriere schaden würde, interessierte ihn nicht sonderlich.

Er hörte das Quietschen der Pumpen, ein Zeichen des Alters der Hyperion und ihrer vielen Einsätze. Es war wie eine zusätzliche Mahnung.

In seinem Lieblingssessel überfiel ihn schließlich der Schlummer. Trotzdem war er sofort wach, als ihn Ozzard am Arm berührte. Das Schiff lag noch im Dunkeln, es lärmte und stöhnte wie zuvor.

«Der Erste Leutnant möchte Sie sprechen, Sir Richard. «Bolitho wurde hellhörig. Warum nicht der Kommandant? Parris trat ein, durchnäßt von Spritzwasser. Sein braunes Gesicht war gerötet, aber er hatte nichts getrunken.»Was gibt's?»

Parris stützte sich auf einen Stuhl, als das Deck wieder schwankte.»Ich dachte, daß Sie es wissen sollten, Sir Richard. Das Wachboot meldet, daß ein Schoner den Hafen verlassen hat. Dem Anschein nach ist er eines von Kommodore Glassports Fahrzeugen.»

«Na und?«Bolitho ahnte, daß Schlimmeres kam.

«Lady Somervell ist an Bord. Ich fand heraus, daß sie beabsichtigt, nach St. John's zu segeln.»

Der Admiral fuhr auf. Der Wind war zum Sturm angewachsen, und das Wasser brandete wie bei Flut an den Schiffsrumpf.»Bei diesem Wetter, Mann!«Er tastete nach seinem Überrock.»Viscount Somervell muß benachrichtigt werden.»

Parris sah trübe zu.»Er weiß es. Ich habe es ihm selbst gesagt.»

Im Türrahmen erschien Haven mit einem Bootsmantel über dem Schlafgewand. Wütend fuhr er Parris an:»Was höre ich da? Darüber sprechen wir noch!»

Bolitho setzte sich. Wie konnte Somervell das zulassen? Als er ihm den Abschiedsbesuch bei ihr verweigert hatte, mußte er es schon gewußt haben. Ein so kleiner, vielleicht falsch gehandhabter Schoner konnte bei diesem Sturm leicht stranden.

Er versuchte sich zu erinnern, wer Glassports Kapitäne waren. Auch bei ruhigem Wetter war Unachtsamkeit zwischen den Inseln schon gefährlich. Und Piraten gehörten so zum Alltag, daß man sie kaum noch erwähnte. Für jeden Bukanier, der in Ketten oder am Galgen verfaulte, wuchsen in diesen Gewässern hundert andere nach. Er sagte:»Vor Tagesanbruch kann ich nichts tun. «Haven schien zu überlegen, empfahl sich dann aber.»Ich muß nach der Wache an Deck sehen, Sir Richard.»

Bolitho machte sich Vorwürfe. Das hatte er ihr angetan, seine Schroffheit war schuld. Plötzlich glaubte er, von den Wänden der Kajüte erdrückt zu werden. Er rief nach Ozzard.»Meinen Flaggleutnant, bitte. «Er wollte Jenour mit einer Botschaft zu Somervell schicken, egal ob der im Bett lag oder nicht. Wenn ich selber ginge, dachte er, würde es einer von uns beiden wahrscheinlich mit dem Leben büßen.

IX Die Korvette

Bolitho trat aufs Achterdeck hinaus. Der Sturm zerrte an seinem Bootsmantel, und über die Luvreling brach die Gischt wie Tropenregen herein. Er hielt sich an den Finknetzen fest und kniff die Augen zusammen. Der Sturm war heftig, aber feucht-kalt und tat seinen müden Knochen nicht gut. Vor zwei Tagen hatten sie sich mühsam aus English Harbour herausgewunden, um ihren kleinen, kostbaren Konvoi zusammenzustellen. Und seither waren sie kaum fünfzig Meilen vorangekommen.

Nachts hatten sie den Sturm mit wenig mehr als einem gerefften Großmarssegel abgeritten, während die vier Transporter und kleineren Fahrzeuge beigedreht lagen, so gut sie es unter den harten Wetterverhältnissen vermochten.

Geheimhaltung war nun zweitrangig. Hyperion brannte Flackerfeuer ab und setzte die Topplichter des Flaggschiffs, um den Konvoi beieinander zu halten. Nach der Morgendämmerung hatten sie stets den ganzen Tag gebraucht, um die weit verstreuten Schiffe aufs neue zu formieren. Alles und jeder war naß. Viele von denen, die sich oben mit den windzerzausten Segeln plagten oder taumelnd ihre Gefährten an den Bilgepumpen ablösten, mußten sich gefragt haben, was sie eigentlich noch über Wasser hielt.

Querab erschienen schwach die Umrisse der Bramsegel einer Korvette. Phaedra stand windwärts und legte sich jedesmal schwer auf die Seite, wenn die Seen ihren schlanken Rumpf wie ein Spielzeug anhoben. Die Brigg Upholder, als Vorhut weit voraus, war nicht zu sehen, und ihre andere Brigg Tetrarch stand gleich weit entfernt achteraus.

Bolitho erklomm die Leiter zum Poopdeck. Sein Rock klebte ihm am Körper, und sein Hemd war durchnäßt von Gischt. Die Obdurate befand sich eine halbe Meile hinter ihnen. Im Seegang glänzte ihr nasser Rumpf, schwarz und ockerfarben, wie Glas. Es kam ihm ungewohnt vor, wieder ein Linienschiff derselben Klasse als Begleiter neben sich zu wissen, und er zweifelte auch daran, daß Thynne es ihm dankte. Nach dem langen Aufenthalt im Hafen, wo sie ihre letzten Sturmschäden repariert hatten, fluchten wahrscheinlich die Leute der Obdurate über ihren neuen Einsatz.

Bolitho stieg wieder hinunter. Am großen Steuerrad mühten sich vier Seeleute ab, und nahebei unterhielt sich Penhaligon, der Segelmeister, eingehend mit einem seiner Gehilfen.

Der Wind war auf Südwest umgesprungen und hatte sie viele Meilen aus ihrem Kurs geworfen. Aber falls der Segelmeister deswegen besorgt war, zeigte er es nicht.

Überall arbeiteten Matrosen und besserten Sturmschäden aus. Sie wechselten oder spleißten Tauwerk und nahmen Segel herunter, die geflickt und fortgelegt wurden. Bolitho schaute zum Niedergang, wo ein Bootsmannsmaat das Abtakeln einer Gräting beaufsichtigte. Wieder war ein Mann ausgepeitscht worden. Es war schlimmer als sonst gewesen, auch nachdem Ozzard das Oberlicht geschlossen hatte: das Kreischen des Sturms in der Takelage, das gelegentliche Knallen der gerefften Marssegel, und die ganze Zeit hindurch das Rattern der Trommeln und das widerliche Klatschen der Peitsche auf dem nackten Rücken eines

Mannes. Bolitho sah Blut auf den Planken, schon verwaschen von dem überkommenden Spritzwasser. Drei Dutzend Hiebe. Ein auf der Höhe des Sturms überforderter Mann, dazu ein Offizier, der unfähig war, die Angelegenheit auf der Stelle zu bereinigen.

Haven hielt sich in seinen Räumen auf, und Bolitho war froh, daß er ihm nicht an Deck begegnet war. Die Männer sahen erschöpft und verärgert aus. Sogar Jenour, der noch nicht lange auf See diente, hatte es bemerkt.

Der Admiral erbat sich das Fernglas des Signalfähnrichs und sah dank der starken Linse die Korvette klar vor sich, dazu die jedesmal aufschäumende Gischt, wenn sie mit ihren Stückpforten in die hochgehende See tauchte. Er fragte sich, was ihr Kommandant wohl denken mochte, während er Wind und Wellen abritt, um in der Nähe seines Admirals zu bleiben. Es war ein weiter Weg für den einstigen Fähnrich der Euryalus.

Weit voraus an Backbord lag mit grünen Büschen bestandenes Land, die Insel Barbuda. Sie hätten sie schon am ersten Tag passieren sollen. Er dachte wieder an den Schoner und an Catherine; statt die Straße zu benutzen, hatte sie den Skipper gebeten, sie die kurze Strecke von Antigua nach St. John's zu segeln.

Ein kleines Schiff hatte gegen einen derartigen Sturm keine Chance. Sein Skipper mußte entweder vor dem Wind ablaufen oder Schutz suchen. Selbst größere Schiffe hatten schwer unter diesem Wetter zu leiden und konnten stranden. Bolitho umfaßte das Teleskop so fest, daß seine Finger schmerzten. Warum hatte sie das nur getan? Vielleicht klammerte sie sich jetzt verzweifelt an ein Wrackstück oder lag schon tief unten auf dem Meeresboden. Sie konnte die Topplaternen der Hyperion gesehen und gewußt haben, daß es sein Schiff war, das sich entfernte.

Der Segelmeister riet dem Wachoffizier:»Ich schlage vor, daß Sie die Bramsegel setzen, Mr. Mansforth.»

Der Leutnant nickte. Sein Gesicht war ziegelrot vom Gischthagel.»Ich informiere den Kommandanten.»

Er warf einen Blick auf die hohe Gestalt des Vizeadmirals an der Windseite. Ohne Hut, mit dem in die Stirn geklatschten schwarzen Haar, sah er einem Straßenräuber ähnlicher.

Jenour grüßte.»Irgendwelche Befehle, Sir Richard?»

Bolitho gab dem Fähnrich das Glas zurück.»Der Wind läßt nach. Bitte signalisieren Sie den Transportern, dicht beieinander zu bleiben. Wir sind noch nicht außer Gefahr.»

Die vier Schiffe, die sich die Ladung teilten, standen in Lee der zwei Vierundsiebziger. Mit einer vorausspähenden und einer wie ein Wachhund hinterdrein ziehenden Brigg mußten sie rechtzeitig gewarnt werden, sollte sich ein verdächtiges Segel zeigen. Dann konnten die beiden Linienschiffe Hyperion und Obdurate entscheiden, wann sie sich dem Konvoi zu nähern oder aufzukreuzen und sich mit Phaedra zu vereinigen hatten.

Bunte Flaggen schwirrten zur Rah empor und standen so steif im Wind wie bemaltes Metall.»Signal bestätigt, Sir Richard.»

Jenour wisperte:»Der Kommandant kommt.»

Bolitho fühlte aufsteigenden Ärger. Sie verhielten sich eher wie Verschwörer statt wie eine Mannschaft.

Haven schritt langsam das Deck ab. Seine Blicke überflogen die Reihe der Kanonen, die aufgeschossenen Taue, alles. Dann war er anscheinend überzeugt, daß er sich dessen, was er sah, nicht zu schämen brauchte, und näherte sich Bolitho.

Er salutierte mit ausdruckslosem Gesicht, Bolithos nasses Hemd und die von den Spritzern fleckige Hose musternd.»Ich beabsichtige, mehr Segel zu setzen, Sir Richard. Wir können sie jetzt vertragen.»

Bolitho war einverstanden.»Signalisieren Sie der Obdurate, sie soll sich uns anpassen. Ich möchte nicht, daß wir auseinandergeraten.»

Kapitän Thynne hatte in der vergangenen Nacht zwei Mann über Bord verloren und bei backgebraßtem Kreuzmarssegel ein Boot ausgesetzt. Aber keiner der Unglücklichen wurde gefunden. Entweder waren sie von ganz oben gefallen und hatten beim Aufschlagen aufs Wasser die Besinnung verloren, oder aber sie konnten wie die meisten Seeleute nicht schwimmen. Bolitho wollte den Zwischenfall nicht mehr erwähnen.

Doch Haven schnaubte übellaunig:»Ich setze das Signal sofort, Sir Richard. Thynne sollte seine Leute wirklich besser drillen, dann muß er auch nicht trödeln, wenn irgendein Narr durch eigene Unvorsichtigkeit über Bord geht. «Er winkte dem Leutnant der Wache.»Vorwärts! Aufentern und Bramsegel losmachen, Mr. Mansforth. «Dann befahl er dem Fähnrich:»Signal an alle: mehr Segel setzen.»

Er schaute sich suchend um. Plötzlich schnellte sein Zeigefinger vor.»Der Mann da! Was, zum Teufel, untersteht er sich?«geiferte er.

Der Betreffende war dabei, sein nasses Hemd auszuwringen. Er stand vor Schreck stocksteif, während andere sich seitwärts verdrückten, damit sie nicht Havens Zorn auf sich zogen.

In diesem Moment rief ein Bootsmannsmaat:»Das geht in Ordnung, Sir, ich hab's ihm erlaubt.»

Zornig wandte sich Haven ab.

Aber Bolitho hatte die Dankbarkeit in den Augen des Matrosen gesehen und ahnte, daß der Bootsmannsmaat nichts dergleichen erlaubt hatte. War die Crew Havens schon so überdrüssig, daß sich sogar die Unteroffiziere gegen ihn stellten?

«Kapitän Haven!«rief er.

Havens Ärger schien verraucht. Es war widerwärtig zu sehen, wie schnell er in Wut geriet und sich vor dem Admiral wieder zu beherrschen wußte.

«Auf ein Wort, wenn's beliebt. «Bolitho fuhr fort:»Dieses Schiff ist unter Ihrem Befehl oder unter meiner Flagge noch nie im Gefecht gewesen. Ich lege Ihnen nahe, daran zu denken, wenn Sie demnächst wieder einen Mann beschimpfen, der seit zwei Tagen und Nächten ununterbrochen schuftet. «Es fiel ihm schwer, ruhig zu sprechen.»Wenn die Zeit kommt, alle Mann auf Gefechtstation zu rufen, werden Sie unbedingte Loyalität brauchen.»

Haven stotterte:»Ich kenne diese Unruhestifter.»

«Hören Sie zu, Kapitän Haven. Alle diese Männer, gute und schlechte, Geduldige und Unruhestifter, wird man zum Kampf aufrufen. Habe ich mich klar ausgedrückt? Loyalität aber will verdient werden. Einem Kommandanten mit Ihrer Erfahrung sollte man das nicht erst sagen müssen. Ebensowenig sollten Sie mich zwingen, Sie daran zu erinnern, daß ich keine sinnlosen Brutalitäten dulde.»

Haven starrte ihn an, seine Augen glühten vor Entrüstung.»Ich habe keine Unterstützung, Sir Richard! Einige in meiner Offiziersmesse sind so grün wie Gras, und mein Erster, Mr. Parris, ist mehr damit beschäftigt, sich selbst in günstiges Licht zu setzen, als die Besatzung zu drillen. Bei Gott, ich könnte Ihnen Dinge über ihn erzählen…»

Bolitho fuhr auf.»Schluß damit! Sie sind mein Flaggkapitän und haben meine Unterstützung. «Er ließ die Worte wirken, ehe er fortfuhr:»Ich weiß, was Sie quält, aber wenn Sie mein Vertrauen noch einmal mißbrauchen, schicke ich Sie mit dem nächsten Schiff nach England!»

In diesem Augenblick erschien Parris an Deck. Während die Toppgasten wieder einmal herausgepfiffen wurden, um mehr Segel zu setzen, schaute er erst den Admiral an und dann seinen Kommandanten. Haven drückte seinen Hut fester und sagte nur:»Machen Sie weiter, Mr. Parris.»

Parris schien überrascht, daß es keinen Anpfiff gab.

Die Seeleute enterten behende wie Affen auf, und Haven sagte steif:»Auch ich habe meine Maßstäbe, Sir Richard.»

Doch Bolitho entließ ihn wortlos und wandte sich wieder der fernen Insel zu. Allday stand wenige Schritte entfernt, er schien ihn neuerdings nicht mehr allein zu lassen. Jetzt meinte er:»Diese Inselschoner sind kräftige Fahrzeuge, Sir Richard.»

Bolitho klopfte ihm auf den Arm.»Du kannst wohl Gedanken lesen, alter Freund. «Zwei Möwen schwangen sich über die Schaumkronen, Sonnenlicht fiel durch ihre gespreizten Flügel. Wie damals durch Catherines Fächer. Bolitho sagte:»Ich komme mir so machtlos vor. «Dann besann er sich.»Entschuldige, ich sollte meine Sorgen nicht auf dich abwälzen.»

Mit schmalen Augen beobachtete Allday die langen Schaumkronen. Es war wie das Abschätzen einer Kanonade. Ein Schuß zu hoch, einer zu niedrig, der nächste würde treffen.

Er sagte:»Übrigens, sie sprach mich an, bevor wir den Hafen verließen.»

Bolitho staunte.»Sie sprach dich an?»

Allday war verletzt.»Nun, einige Frauen sind eben so frei, mit unsereinem zu reden.»

Bolitho beschwichtigte ihn.»Bitte keine Späßchen, Alter.»

Allday fuhr fort:»Sie war aufrichtig um Sie besorgt und wollte Sie das irgendwie wissen lassen.»

Bolitho hieb die Faust auf die verwitterte Reling.»Und ich habe nicht einmal versucht, sie zu verstehen! Jetzt habe ich sie verloren!«brach es aus ihm heraus.

Allday guckte ins Leere.»Ich kannte mal ein Mädel in meinem Dorf. Es war richtig verschossen in den Sohn des Gutsherrn. Ein junges Blut war sie, wie für ihn gemacht, aber sie war überhaupt nicht vorhanden für ihn, diesen Bastard — 'tschuldigung, Sir Richard. Eines Tages warf sie sich vor seine Kutsche. Ich vermute, sie konnte es nicht länger ertragen, übersehen zu werden. «Er studierte seine verarbeiteten Hände.»Sie wurde überfahren und starb.»

Bolitho rührten diese schlichten Worte, und er fragte sich, was Allday ihm damit sagen wollte. Hatte Catherine etwa seinetwegen diese Reise unternommen? Warum hatte er nicht erkannt, daß ihre Liebe nicht auf die leichte Art zu gewinnen war? Er dachte an Valentine Keen und an sein Mädchen mit den Mondscheinaugen. Der hatte viel riskiert und darum auch alles gewonnen.

Allday entschuldigte sich und ging, wahrscheinlich um mit seinen Freunden oder mit Ozzard in der Anrichte einen Schluck zu trinken. Mr. Penhaligon, die breiten Hände in die Hüften gestemmt, begutachtete den Stand jedes neu gesetzten Segels. Haven schmollte und spähte auf den Kompaß. Hinter ihm wartete Parris, er wollte die

Wache wegtreten lassen. Von unten kam das regelmäßige Quietschen der Pumpen, die alte Hyperion hatte alle in Betrieb. Dennoch — Bolitho lauschte — , da war ein neues Geräusch, das sich vordrängte.»Geschützfeuer!«rief er plötzlich.

Die Schärfe in seiner Stimme ließ mehrere Männer zusammenzucken. Allday, der sich noch auf der Treppe befand, drehte sich um. Dann meldete der Signalfähnrich aufgeregt:»Aye, Sir Richard, ich höre es auch!»

Haven schritt ebenfalls zur Reling und drehte den Kopf in die Richtung, offenbar ohne etwas zu vernehmen. Jenour kam angerannt.

Bolitho beschattete die Augen, als der Fähnrich rief:»Signal von Phaedra, Sir! Segel im Nordwesten!»

Männer kletterten in die Wanten. Ihr Unbehagen schien vergessen, jedenfalls im Moment.

Jenour fragte:»Was hat das zu bedeuten, Sir Richard?»

Bolitho befahl, daß Phaedra sich absetzen und aufklären sollte. Minuten später, als das Signal bestätigt war, kam er auf Jenours Frage zurück:»Das war ein kleines Kaliber, Stephen, Drehbassen oder dergleichen.»

Wieso hatte er es gehört, viele andere um ihn herum aber nicht? Er sagte:»Signal an die Brigg Tetrarch, sie soll zu uns aufschließen.»

Allday sah der Korvette nach und bemerkte beifällig:»Donnerwetter, seht mal, wie die dahingeht. »

Ihr Kupferboden glänzte im diesigen Sonnenlicht, als sie schnittig wendete und mehr Segel setzte, bis sie auf Steuerbordbug hart am Wind lag.

Allday fügte hinzu:»Wie Ihre Sparrow damals, Kapitän.»

Schnell verbesserte er verlegen:»Sir Richard, meine ich.»

Bolitho nahm ein Teleskop aus dem Gestell.»Ich erinnere mich. Hoffentlich weiß Jung-Dunstan sie zu schätzen. «Dann senkte er das Fernrohr; zuviel Gischt und Dunst.

War es vielleicht ein Freibeuter, der mit einem Barbudahändler die Klingen kreuzte? Oder einer der Lokalpatrioten, der Wind und See trotzte und eine feindliche Korvette verfolgte? Phaedra würde es bald wissen. Es konnte auch ein Köder sein, um sie vom

Schatz fortzulocken. Er lächelte grimmig. Wie würde Haven nun reagieren?

«Nordwest zu Nord, Sir!«Der Rudergänger mußte schreien, um sich bei dem heulenden Wind Gehör zu verschaffen. Er drückte die Korvette so weit auf die Seite, daß es fast unmöglich wurde, aufrecht an Deck zu stehen.

Commander Alfred Dunstan suchte Halt an der Reling und schob den Zweispitz auf dem rotblonden Haar zurecht. Er führte die Phaedra jetzt achtzehn Monate. Es war sein erstes selbständiges Kommando, und wenn das Glück ihm treu blieb, würde demnächst die begehrte Epaulette seine rechte Schulter schmücken. Das wäre dann der erste Schritt zum Vollkapitän.

Er brüllte:»Zwei Strich mehr nach Luv, Mr. Meheux! Verflucht noch mal, er soll uns nicht entgehen, egal, was er ist!»

Erster Leutnant und Segelmeister tauschten schnelle Blicke. Phaedra segelte schon so hoch am Wind, wie man es nur wagen konnte, ihre hart angebraßten Rahen und flachen Segel schienen fast längsschiffs zu stehen. Das Schiff lag so weit über, daß die See um die Lafetten der Decksgeschütze kochte und die Seeleute näßte, bis deren bloße Oberkörper wie Bronzeskulpturen glänzten.

Dunstan strengte die Augen an, damit ihm nur ja kein fremdes Segel entging. Seine Toppsgasten ritten auf den Rahen und dachten zweifellos an die beiden über Bord Gegangenen von der Obdurate.

«Voll und bei, Sir! Nordwest zu West!»

Deck und Takelage schienen sich heftig zu wehren, als das Schiff noch mehr überholte, und die Stagen vibrierten wie straffe Saiten einer Baßgeige.

Der Erste Leutnant, mit seinen dreiundzwanzig Jahren gerade ein Jahr jünger als der Kommandant, meldete:»Viel mehr kann das Schiff nicht aushalten, Sir.»

Dunstan grinste fröhlich. Er hatte ein offenes Gesicht und einen spöttischen Mund. Einige hatten ihm eingeredet, er sähe wie

Nelson aus. Dunstan mochte diese Schmeichelei, denn er hatte die Ähnlichkeit schon längst selbst entdeckt.

«Pfeif drauf! Was bist du, ein altes Weib?»

Sie lachten beide wie Schuljungen; denn Meheux war der Vetter des Kommandanten, und jeder wußte, was der andere dachte.

Als eine Leine mit dem Knall eines Pistolenschusses brach, preßte Dunstan die Lippen zusammen. Aber zwei Mann waren bereits am Spleißen, und er sagte nur:»Wir müssen so hoch an den Wind wie möglich, falls die Burschen uns die Hacken zeigen und davonlaufen wollen.»

Meheux mochte nicht streiten, er kannte ihn zu gut. Die See brauste übers Deck und schleuderte zwei fluchende Matrosen in die Speigatten. Einer schlug gegen ein festgelaschtes Geschütz und bewegte sich nicht mehr. Er war besinnungslos, hatte vielleicht einige Rippen gebrochen. Kameraden zerrten ihn zur Luke. Die anderen duckten sich wie Sportler vor dem Start, um dem nächsten überkommenden Sturzbach zu entgehen.

Meheux genoß die Aufregung, und auch Dunstan fühlte sich niemals wohler, als wenn er sich von der Autorität des Admirals und vom Schürzenzipfel der Flotte lösen konnte. Sie kannten weder die Herkunft noch die Bedeutung des Kanonendonners. Es konnte sogar ein anderes britisches Kriegsschiff sein, das einen feindlichen Blockadebrecher aufbrachte. Wenn das der Fall war, würde es diesmal kein Prisengeld zu teilen geben. Der andere Kommandant würde schon dafür sorgen.

Dunstan kletterte in die Webeleinen. Die Seen schienen nach seinen Füßen zu greifen, als er das Teleskop einstellte und auf den nächsten Schrei aus dem Masttopp wartete.

Da brüllte der Ausguck auch schon:»An Steuerbord voraus, Sir!«Er verstummte, als das Schiff sich hob und dann in ein langes Wellental glitt. Tief hinab, bis seine verzierte Galionsfigur so weit unterschnitt, als sei Phaedra schon auf dem Weg zum Meeresboden. Der Anprall mußte den Ausguck fast von seiner wackeligen Sitzstange gerissen haben.

Endlich kam sein Ruf:»Zwei Schiffe, Sir! Eines davon entmastet!»

Dunstan kletterte lachend herunter und schüttelte Wasser von seinem Hut.»Tüchtiger Ausguck, Mr. Meheux! Der hat eine Guinea verdient!»

Der Erste lächelte.»Einer von meiner Abteilung, Sir.»

Dunstan wischte das Teleskop trocken.»Oh, gut! Dann gib' du dem Burschen die Guinea.»

Man hörte unregelmäßigen Kanonendonner, aber wegen der hochgehenden See war es schwer, die kämpfenden Schiffe von Deck aus zu erkennen.

Phaedra wälzte sich in die Senkrechte. Das Großbramsegel schlug wild, als es den Wind verlor.

«An die Brassen! Drei Strich abfallen!»

Dunstan lockerte seinen Griff um die Reling. Der Wind ließ merklich nach, so daß der Kurs ihm angepaßt werden mußte.»Nordnordwest liegt an, Sir!»

Meheux schnappte nach Luft.»Bei Gott, da sind sie!»

Dunstan hob das Glas wieder an die Augen.»Aber das ist ja der verdammte Schoner, nach dem wir suchen.»

Mit einem Seitenblick studierte Meheux das Profil seines Vetters. Unter dem zerknautschten Hut lugte das krause Haar hervor. Als sie einmal angeheitert gewesen waren, hatte Dunstan ihm anvertraut, daß er sich erst einen neuen Hut kaufen wolle, wenn er eine Planstelle bekäme. Er fragte:»Der Schoner, mit dem die Lady des Generalinspekteurs segelt?»

Dunstan grinste breit. Meheux war ein zuverlässiger und vielversprechender Offizier, aber naiv, wenn es sich um Frauen handelte.

Ein Mann rief:»Sie treiben steuerlos, Sir! Haben uns aber gesehen.»

Dunstans Lächeln verging.»Alles klar an Deck! Ladet die Steuerbordbatterie — aber noch nicht ausfahren!«Er packte des Leutnants Arm.»Soweit ich's beurteilen kann, ist der andere ein verdammter Pirat, Josh. «Der Vorname des Ersten Leutnants war

Joshua. Dunstan benutzte ihn nur, wenn er erregt war.»Wir werden ihn entern. Schick ein paar Scharfschützen in den Topp. Es ist eine hübsche kleine Brigantine und einige Guineas Prisengeld wert, oder?»

Meheux eilte fort. Blanker Stahl glänzte, als aus den Geschützbedienungen ein Enterkommando zusammengestellt wurde. Der hinter der Brigantine torkelnde Schoner war offenbar vom Sturm entmastet worden. Dann hatten sie versucht, einen Notmast aufzutakeln. Die Verfolgung durch die Piraten mußte ein Alptraum gewesen sein.

Meheux kam zurück, einen Entersäbel umgeschnallt, und musterte die beiden Schiffe.»Der Schoner muß warten. Erst rechnen wir mit den Piraten ab.»

Auf der Brigantine erschien eine Rauchwolke, der ein Knall folgte. Die Piraten hatten auf sie geschossen.

«Der Teufel soll sie holen«, fluchte Dunstan. Er hob den Arm, wie es Bolitho immer zu tun pflegte, wenn es ins Gefecht ging.»Öffnet die Stückpforten! Rennt aus!»

Während er sich nochmals prüfend umschaute, feuerte der Pirat abermals, und die Kugel platschte längsseits ins Wasser. Das Match konnte beginnen.

Dunstan zog seinen Degen und hob ihn hoch über den Kopf. Er fühlte Kälte in seinen Arm kriechen, als ob die Klinge aus Eis wäre. Er entsann sich, wie er mit einem anderen Fähnrich auf dem Achterdeck der Eutyalus krank vor Entsetzen dagestanden hatte, aber unfähig gewesen war, seine Augen von der über ihnen emporwachsenden Segelpyramide des Gegners loszureißen. Wie Bolitho, auf dem ungeschützten Deck stehend, den Degen erhoben hatte, an dem die Blicke der feuerbereiten Stückmeister hingen. Da hatten sich Sekunden zu Stunden gedehnt.

Dunstan riß den Arm herunter.

«Feuer!»

Die kleine Brigantine drehte als Wrack in den Wind. Ihr Vormast war dahin, ihr Deck mit Segeln und zertrümmerten Spieren übersät. Die gutgezielte Breitseite hatte auch das Ruder zerschossen und die Rudergasten getötet. Das Schiff war außer Kontrolle geraten. Ein Mann, der mit einem Gewehr zur Poop lief, wurde von einem Scharfschützen der Phaedra niedergestreckt.

Dunstan steckte seinen Degen in die Scheide. Der Kampf war schon vorbei.»Nehmt das Großsegel fort — klar zum Entern!»

Es war selten, einen Piraten zu fangen. Einige Seeleute stiegen mit gespannten Gewehren in die Wanten, während andere wie gierige Hunde aufs Zubeißen warteten. Der Erste Leutnant stand sprungbereit da, als die Korvette zur Brigantine trieb. Nur ein Verrückter würde sich dort noch verteidigen wollen. Englands Seeleute waren schnell mit dem Entermesser bei der Hand und gaben kein Pardon, wenn auch nur einer von ihnen niedergemacht wurde.

Die See lief noch hoch, und es war riskant, ein Boot auszusetzen. Trotzdem rief Dunstan:»Bringt die Jolle zu Wasser, aber macht schnell! Paßt auf, falls die Kerle auf euch schießen!»

Das Boot legte ab, der Leutnant darin bemühte sich um aufrechte Haltung. Als er sich einmal umdrehte, gestikulierte er wild zur Phaedra. Dunstan schaute verständnislos hoch, mußte dann aber laut lachen. Seine Spannung ließ nach, er brüllte vergnügt:»Heißt die Nationale — wir haben ohne Flagge gefochten, verflucht noch mal!»

Bolitho hätte dazu einiges zu sagen gehabt.

Es gab vereinzelte Jubelrufe, als die britische Flagge auch auf dem stehengebliebenen Großmast der Brigantine gehißt wurde.

Aus dem zurückkehrenden Boot kletterte Meheux wieder an Bord. Dunstan blickte ihm ins Gesicht und fragte:»Wie war es, Josh?»

Der Leutnant steckte den Degen weg und stieß einen langen Seufzer aus.»Einer der Bastarde machte einen Ausfall und erwischte den armen Tom Makin quer über der Brust. Aber er wird überleben. «Beide sahen auf einen Leichnam hinab, der zwischen den Schiffen trieb.»Aber der andere wird's nicht noch mal versuchen.»

Nachdem sie ein Prisenkommando auf der Brigantine zurückgelassen hatte, schob sich die Phaedra mit verkleinerten Segeln dem Schoner entgegen. Sturmzerzaust und ohne Masten dümpelte das Unglücksschiff mit Schlagseite in Lee. Das Enterkommando bestieg sein schiefes Deck, und zwei von der Brigantine zurückgelassene Piraten leisteten Widerstand. Leutnant Grant erschoß den einen mit der Pistole, der andere duckte sich und flüchtete zum Niedergang. Ein Seemann wirbelte sein Entermesser durch die Luft und warf es nach ihm wie einen Speer. Durchs Teleskop gesehen ging das alles lautlos vor sich, aber Dunstan hätte schwören mögen, daß er den Schrei des Mannes hörte, als er fiel, das Entermesser im Rücken.

Grant rief durch die hohlen Hände:»Macht euch bereit, von Bord zu gehen!»

Dunstan, der das alles aus der Ferne mit ansah, senkte sein Glas. Er wollte nicht indiskret sein. Trotz ihres zerrissenen Kleides hielt sich die Frau merkwürdig stolz, während die Seeleute sie zur Jolle geleiteten. Sie verharrte nur einmal, nämlich als sie an dem von Leutnant Grant erschossenen Piraten vorbeikam. Dunstan sah, daß sie ihn anspuckte und das Entermesser mit dem Fuß fortstieß. Haß, Ekel und Zorn — aber kein Zeichen von Furcht.

Dunstan befahl dem Ersten Leutnant:»Bemannt die Seite, Josh, und begrüßt sie mit allen Ehren an Bord. Dies ist etwas, an das wir uns alle erinnern werden.»

Später, als die Phaedra mit ihrer Prise mühsam das Flaggschifferreichte, ereignete sich noch etwas, das Dunstan nie vergessen sollte.

Die Frau stand neben ihm, in einen Ölmantel gehüllt, den ihr ein Seemann geliehen hatte. Mit großen Augen und erhobenem Kinn beobachtete sie, wie die Hyperion mit schwingenden Rahen und wieder gefüllten Segeln über Stag ging und auf sie zukam.

Dunstan fragte:»Mylady, ich lasse jetzt ein Signal absetzen. Darf ich Ihren Namen übermitteln?»

Den Blick auf den alten Zweidecker gerichtet, hatte sie langsam den Kopf geschüttelt. Ihre Antwort wurde vom Knarren der

Takelage fast übertönt, sie klang wie Flüstern:»Nein, Kapitän, er kennt ihn. Trotzdem vielen Dank. «Und nach einer Pause:»Er wird mich sehen, ich weiß es.»

Nur einmal schien sie gerührt. Das war, als der Meistersgehilfe rief:»Jungs, seht, da geht der alte Kahn hin.»

Der Schoner hatte sein Heck gehoben und drehte sich nun in einem Kreis von Schaum und Blasen, Treibgut und Toten. Er mußte ziemlich durchlöchert sein und sank schnell. Plötzlich tauchte er kopfüber weg und verschwand immer schneller, als ob er sich eilig von jenen entfernen wollte, die ihn mißhandelt hatten.

Dunstan sah mit einem Seitenblick, daß die Frau einen Fächer an die Brust drückte. Er war nicht sicher, glaubte aber drei Worte zu verstehen:»Ich danke dir.»

Als alles vorbei war, sagte Dunstan zu seinem Vetter:»Gib dem Ausguckposten zwei Guineas, Josh. Es war viel wichtiger, als ich ahnte.»

X Im Hafen

Zwei Wochen, nachdem die Phaedra die Piratenbrigantine gekapert und die Gefangenen befreit hatte, kehrten Hyperion und Obdurate nach Antigua zurück. Die Insel wurde bei Tagesanbruch gesichtet, doch wie um ihre Anstrengungen in die Länge zu ziehen, erstarb der Wind. Der Abend begann schon zu dämmern, ehe sie sich nach English Harbour hineinschlängeln und Anker werfen konnten.

Bolitho hatte fast den ganzen Nachmittag müßig an Deck verbracht und die Segelmanöver beobachtet, während die Insel kaum näher zu kommen schien. Zu jeder anderen Zeit wäre es ein stolzer Augenblick für ihn gewesen. Sie hatten Sir Folliots Geschwader getroffen, das jetzt den Schatzkonvoi nach England geleitete. Die Ausguckleute hatten schließlich drei weitere Linienschiffe im Hafen gemeldet, und Bolitho vermutete, daß es sich um die restlichen Schiffe seines eigenen Geschwaders handelte. Nach dem anstrengenden Geleitdienst und dem täglichen Kampf mit dem Wetter hätte ihn ihr Anblick aufmuntern sollen. Trotzdem war Bolitho froh, daß er seine neuen Kommandanten erst am nächsten Tag zu treffen brauchte.

Als die beiden Zweidecker endlich vor Anker lagen, hatte er sich in seine Kajüte begeben, die durch mehrere Laternen anheimelnd erhellt wurde. Aus einem Heckfenster gebeugt, bewunderte er einen farbenprächtigen Sonnenuntergang, aber seine Gedanken waren noch immer bei jenem Tag, als man die in grobes Ölzeug gehüllte Catherine an Bord gehievt hatte.

Es schien ihm kaum mehr glaubhaft, daß sie hier in dieser Kajüte gewesen war, allein mit ihm. Allein mit ihm und doch angemessen fern. Er ging umher und schaute in seinen Schlafraum, den er ihr während ihres kurzen Aufenthaltes an Bord überlassen hatte. Es mußte doch noch irgendein Zeichen ihrer Anwesenheit vorhanden sein? Ein Hauch ihres Parfüms, vielleicht ein Kleidungsstück, das sie vergessen hatte, als man sie auf Admiral Folliots Flaggschiff übersetzte, nachdem sich die beiden Kampfgruppen getroffen hatten?

Bolitho ließ die Finger über das polierte Weinschränkchen gleiten. Von einem der besten Handwerker hergestellt, hatte sie es ihm geschenkt, als er London verließ. Er entsann sich der Mißbilligung seines Flaggkapitäns Thomas Herrick beim Anblick des Schränkchens an Bord der Lysander. Herrick war ihm immer ein treuer Freund gewesen und mißtraute allem, was Bolithos Namen und Karriere schaden konnte.

Sogar Jung-Adam war in Bolithos sogenannte Liaison kurz verwickelt worden. Um seines Onkels Reputation zu verteidigen, hatte er sich mit einem anderen hitzköpfigen Leutnant in Gibraltar duelliert. Jeder, der Bolitho nahestand, schien durch seinen Kontakt mit Catherine berührt worden zu sein.

Er drehte sich um und sah hinter der Lamellentür den Schatten des Kajütpostens. Dort hatte auch sie gestanden, ganz still, nur unwillkürlich schneller atmend und den Ölmantel wie frierend am Hals zusammengefaßt. Dann hatte sie das Schränkchen erblickt, und einen Augenblick zitterten ihre Lippen.

«Ich nehme es überall mit«, hatte er leise gesagt.

Da war sie direkt auf ihn zugegangen und hatte eine Hand an seine Wange gelegt. Als er jedoch Anstalten machte, sie in die Arme zu schließen, hatte sie den Kopf geschüttelt.»Nein! Es ist schon schlimm genug, daß ich unter diesen Umständen hier bin. Mach es nicht noch schlimmer. Ich wollte dir nur sagen, was es für mich bedeutet, durch dich zu leben. Gott oder das Schicksal — ich weiß nicht, wer oder was — brachte uns einmal zusammen. Aber nun fürchte ich, daß es uns etwas antun könnte.»

Er hatte ihr zerrissenes Kleid gesehen und gefragt:»Kann das nicht ausgebessert werden? Wo ist deine Zofe?»

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, trat sie zurück.»Maria ist tot. Die Piraten versuchten, sie zu vergewaltigen. Als sie sich mit bloßen Händen wehrte, brachten sie sie um, stachen sie tot wie ein hilfloses Tier. «Langsam fügte sie hinzu:»Was mich betrifft, so kam dein kleines Schiff noch zur rechten Zeit. Aber ich habe dafür gesorgt, daß einige dieser Schweine nicht mehr unsere Luft atmen.»

Sie blickte auf ihre Hände nieder, auf den befleckten Fächer, den sie noch umklammerte.»Ich wünschte zu Gott, ich könnte dabei sein, wenn man den Rest dieses Ungeziefers am Seil tanzen läßt.»

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und Jenour schaute ihn an.

«Das Boot des Kommodore nähert sich uns, Sir Richard. «Sein Blick huschte durch die Kajüte, vielleicht dachte auch er an Catherine.

«Danke. «Bolitho setzte sich, froh darüber, daß er sein eigenes Deck unter den Füßen hatte. Aber Glassport war wohl der letzte, den er jetzt gebrauchen konnte.

Er dachte an ihren Abschied, als er Catherine zu Sir Peter Folliots großem Dreidecker hinübergebracht hatte. Der Admiral war zwar ein schmächtiger, kränklicher Mann, aber schnellen Geistes. Trotz der spärlichen Nachrichtenübermittlung schien er alles über den Handstreich von La Guaira zu wissen, auch die tatsächliche Höhe der Beute bis aufs letzte Goldstück.

«Eine Rettung in letzter Stunde, wie?«Er begrüßte Catherine mit überschwenglicher Höflichkeit und erklärte, daß er sie der Obhut seines besten Fregattenkommandanten überantworten wolle, der sie mit größter Eile zu ihrem Gatten nach Antigua bringen würde. Vielleicht wußte er auch über Catherine einiges, dachte Bolitho.

Er hatte die starke Fregatte Segel setzen und sie ihm endgültig entführen sehen und war an Deck geblieben, bis sich nur noch ihre Oberbramsegel wie rosa Muscheln über dem Abendhorizont zeigten.

Der große Indienfahrer mit den Somervells hatte inzwischen den Hafen verlassen. Bolitho malte sich aus, wie sich Catherine mit jedem Wechsel des Stundenglases mehr und mehr von ihm entfernte.

Die Tür öffnete sich abermals, und Kapitän Haven trat ein.»Ich bin dabei, den Kommodore zu begrüßen, Sir Richard. Darf ich Ihre Kommandanten anweisen, sich morgen vormittag an Bord einzufinden?»

«Ja. «Wie eine Mauer stand kühle Förmlichkeit zwischen ihnen. Trotzdem versuchte Bolitho es nochmals.»Ich habe gehört, daß Ihre Frau ein Kind erwartet, Kapitän Haven.»

Seit Haven Post mit der Kurierbrigg erhalten hatte, benahm er sich wie in Hypnose. Er hatte sogar Parris die Obliegenheiten des Schiffes überlassen.

Havens Augen verengten sich.»Von wem gehört, Sir Richard, wenn ich fragen darf?»

Bolitho seufzte.»Tut das was zur Sache?»

Haven blickte beiseite.»Es ist ein Junge. «Seine Finger zerknautschten den Zweispitz.

«Ich gratuliere Ihnen. Die Sorge um Ihre Frau muß Sie sehr beschäftigt haben.»

Haven schluckte schwer.»Jawohl. Vielen Dank, Sir Richard.»

Wie eine Erlösung drangen Befehle von Deck herein. Haven verließ fast fluchtartig die Kajüte, um Kommodore Glassport zu empfangen.

Bolitho stand auf, als Ozzard ihm den Galarock brachte. War das Kind wirklich von Parris, fragte er sich, und wie würden sie sich arrangieren?

Er schaute auf Ozzard hinunter.»Habe ich dir eigentlich schon für die gute Betreuung unseres Gastes an Bord gedankt?»

Ozzard bürstete einen Staubfleck von der Uniform. Er hatte Catherines zerrissenes Kleid genäht, denn seine Geschicklichkeit kannte keine Grenzen. Der kleine Mann lächelte scheu.

«Es war mir ein Vergnügen, Sir Richard. «Dabei langte er in eine Schublade und zog den Fächer heraus, den Lady Somervell von dem sinkenden Schoner mitgebracht hatte.

«Sie hat dies zurückgelassen. «Er duckte sich unter Bolithos bohrenden Blicken.»Ich habe — ich habe ihn saubergemacht. Es war Blut daran, also…»

«Zurückgelassen?«Bolitho drehte den Fächer in seinen Händen, sah im Geist ihr Gesicht dahinter. Im Lampenlicht trübte sich sein Auge schon wieder.»Zurückgelassen?«wiederholte er.

Ozzard beobachtete ihn aufmerksam.»Ich nehme an, sie hat ihn in der Eile vergessen.»

Bolitho packte den Fächer fester. Nein, sie hatte ihn bestimmt nicht vergessen.

Schritte kamen näher, dann betrat Kommodore Glassport die Kajüte, gefolgt von Jenour und Haven. Glassports Gesicht war hochrot, als ob er bergauf gehastet wäre.

Bolitho machte eine einladende Bewegung.»Nehmen Sie Platz. Ein Glas Rotwein gefällig?»

Glassport schien bei diesen Worten aufzuleben.»Ich wüßte ein Gläschen zu schätzen. Gott verdamme diese Aufregung! Ich hätte mich schon längst pensionieren lassen sollen.»

Ozzard servierte, und Bolitho hob sein Glas:»Auf den Sieg!»

Glassport streckte die dicken Beine aus und leckte sich die Lippen.»Ein sehr guter Claret, Sir Richard.»

Haven unterbrach:»Wir haben einige Briefe, Sir Richard, sie sind mit dem letzten Paketschiff gekommen. «Auf seinen Wink hin brachte Jenour ein kleines Bündel und legte es vor Bolitho auf den Tisch.

Bolitho deutete auf die Gläser.»Nachfüllen, Ozzard. «Und zu den anderen gewandt:»Entschuldigen Sie mich, Gentlemen.»

Er schlitzte einen Brief auf und erkannte sofort Belindas Handschrift. Sein Auge überflog den Text zu schnell, so daß er aufhörte und von vorne begann.

«Mein lieber Gatte…«, schrieb sie wie an einen Fremden. Dann berichtete sie kurz über ihren letzten Besuch in London, und daß sie nun in einem gemieteten Haus lebe und seine Zustimmung erwarte. Elizabeth war von einer Erkältung genesen und hatte sich an das neu eingestellte Kindermädchen gewöhnt. Der Rest des Briefes beschäftigte sich mit Nelson, der zwischen England und Frankreich stünde. Wie sehr das Land doch von ihm abhinge, schrieb Belinda.

Jenour fragte leise:»Hoffentlich keine schlechten Nachrichten, Sir Richard?»

Bolitho steckte den Brief in seinen Rock.»Tja, Stephen, das weiß ich selber nicht.»

Sie schrieb nichts über Falmouth und die Menschen dort, mit denen er aufgewachsen war. Kein Wort, weder Ärger noch Reue, über die Art, wie sie sich getrennt hatten.

Glassport sagte schwerfällig:»Es ist jetzt viel ruhiger hier, seit der Generalinspekteur abgereist ist. «Und tief in sich hineinlachend:»Ich möchte nicht auf die falsche Seite Somervells geraten.»

Haven erklärte steif:»Seine Welt ist eine andere und ganz gewiß nicht meine.»

Bolitho lenkte ab.»Ich möchte die Kommandanten morgen sehen. «Und mit einem Seitenblick auf Glassport:»Wie lange wurde der Viscount denn hier aufgehalten?»

Glassport blinzelte ihn an, sein Verstand war schon wieder durch mehrere Gläser getrübt.»Bis der Sturm nachließ, Sir Richard. Dann reiste er ab.»

Unwillkürlich erhob sich Bolitho. Er mußte sich verhört haben.»Ohne auf Lady Somervell zu warten? Welches Schiff benutzte sie denn für die Rückreise, nachdem sie mit der Fregatte angekommen war?»

So sehr er auch darauf erpicht war, Seiner Majestät den Schatz persönlich zu präsentieren, hatte Somervell doch bestimmt gewartet, um sich von Catherines Wohlergehen zu überzeugen?

Glassport bemerkte Bolithos plötzliche Erregung und sagte beschwichtigend:»Aber sie hat die Insel doch gar nicht verlassen, Sir Richard. Ich erwarte noch immer ihre Anweisungen. «Irritiert schloß er:»Lady Somervell wohnt jetzt in der Residenz.»

Bolitho nahm wieder Platz und schaute zum Fächer hin, der auf dem Weinschränkchen lag. Er sagte:»Entschuldigen Sie mich bitte für heute, Gentlemen. Wir sprechen uns morgen wieder.»

Später, als das Trillern der Pfeifen und das Poltern von Glassports Boot an der Bordwand verklang, starrte er durch die Heckfenster auf die Hafenlichter, so fein wie Nadelstiche. Von der offenen See kam eine träge, glasige Dünung herein, die den schweren Rumpf der Hyperion eben rührte. Am Himmel standen einige wenige Sterne. Bolitho begann sie zu zählen, und dabei wurde ihm auf einmal klar, was er Augenblicke früher noch nicht mal hatte denken wollen.

Würdest du alles riskieren? Eine — ihre — Stimme schien das laut gefragt zu haben.

Im dicken Glas neben sich erblickte Bolitho ein Spiegelbild. Jenour war lautlos eingetreten.

«Seien Sie so gut, Stephen, und sagen Sie Allday, er soll mein Boot klarmachen, ich gehe gleich an Land.»

Jenour zögerte. Er hatte zugehört, als Glassport mit der Geschichte von Lady Somervell herausplatzte.

Er setzte an:»Darf ich etwas sagen, Sir Richard?»

«Habe ich Sie jemals daran gehindert, Stephen? Worum geht es, wollen Sie mein Schiff verlassen?«Halb ihm zugewandt, fühlte er des jungen Leutnants Unbehagen.

Jenour erwiderte heiser:»Es gibt nicht einen Mann unter Ihrer Flagge, Sir Richard, der nicht für Sie sterben würde.»

«Das bezweifle ich aber. «Bolitho musterte den bestürzten Jenour.»Sprechen Sie trotzdem weiter.»

Jenour setzte abermals an:»Sie haben die Absicht, die Lady zu besuchen, Sir Richard. «Als die erwartete Zurechtweisung ausblieb, fuhr er fort:»Aber morgen wird es das Geschwader wissen, und im nächsten Monat wird ganz England davon hören. «Er schaute zu Boden.»Es — es fällt mir schwer, so mit Ihnen zu reden. Ich habe kein Recht dazu, es ist nur, weil ich sehr besorgt bin.»

Bolitho nahm seinen Arm und schüttelte ihn leicht.»Es erforderte Mut, Stephen. Ich danke Ihnen. Einem alten Feind, John Paul Jones, wird das Wort zugeschrieben: >Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Was auch immer seine Fehler gewesen sein mögen, Mangel an Mut gehörte nicht dazu. «Er wurde ernst:»Ich kenne das Risiko, Stephen. Und nun rufen Sie Allday.»

Auf der anderen Seite der Pantrytür zog Ozzard den Kopf zurück und nickte langsam. Er freute sich, daß er den Fächer entdeckt hatte.

Bolitho merkte kaum etwas von seiner Umgebung, als er den Hafen hinter sich ließ und durch die Schatten schritt. Er hielt nur einmal an, um Atem zu schöpfen und seine Gefühle zu prüfen. Er sah zu den ankernden Schiffen hinaus, deren offene Stückpforten auf der leichten Dünung glitzerten, unter ihnen die dunkle, massige Ciudad de Sevilla. Was würde aus ihr werden? Würde man sie irgendeiner reichen Handelsgesellschaft verkaufen oder sie den Spaniern zum Tausch anbieten und versuchen, die Consort dafür zurückzugewinnen? Letzteres war unwahrscheinlich. Die Dons waren durch den Verlust des Schatzschiffes gedemütigt und durch die Versenkung eines weiteren unter ihren eigenen Kanonen erst recht verbittert.

Vor den weißen Mauern der Residenz blieb er abermals stehen. Sein Herz pochte. Was hatte er eigentlich im Sinn? Vielleicht würde sie ihn überhaupt nicht empfangen. Er schritt über die Auffahrt und ging durch den Haupteingang, der wegen der erfrischenden Seebrise weit offenstand. Ein in einem Korbstuhl schlafender Diener rührte sich nicht einmal.

Er befand sich in einer von Säulen gestützten Halle, deren schwere Gobelins im Widerschein zweier Kandelaber glühten. Es war ganz ruhig, selbst die Luft schien stillzustehen.

Über der geschnitzten Truhe bei einer anderen Tür entdeckte Bolitho einen Klingelzug und spielte mit der Idee zu läuten.

Während des letzten Gefechts auf dem Schatzschiff war der Tod sein Begleiter gewesen, und er war ihm auch sonst nicht fremd. Aber er hatte sich nicht gefürchtet, nicht einmal hinterher. Hatte der Mut ihn jetzt verlassen? Er faßte seinen Degen fester. Vielleicht hatte Glassport sich geirrt, und sie war wieder nach St. John's gegangen, wo sie Freunde besaß, diesmal über Land. Er dachte an Jenours Befürchtungen, an Alldays verdächtiges Schweigen, als er ihn zur Anlegebrücke rudern ließ. Einige Wachposten waren in eine Art Ehrenbezeugung verfallen, als sie den Vizeadmiral erkannten, der ohne Vorwarnung an Land gekommen war.

Allday hatte gemeint:»Ich werde warten, Sir Richard.»

«Nein. Wenn ich ein Boot brauche, kann ich eins rufen.»

Allday hatte ihm nachgesehen, wahrscheinlich genauso besorgt wie Jenour.

«Wer ist da?»

Bolitho drehte sich um und sah sie auf der breiten Treppe stehen, mit einer Hand am Geländer, die andere in den Falten ihres Gewandes verborgen. Sie trug einen hellen Überwurf und wirkte gegen die dunklen Wandbehänge wie eingerahmt. Sie bewegte sich nicht.

Endlich erkannte sie ihn.»Du! Ich — ich ahnte nicht…»

Sie machte noch immer keine Anstalten, sich ihm zu nähern, deshalb stieg Bolitho langsam die Stufen empor, ihr entgegen.

«Ich habe angenommen, du wärest abgereist. Aber wie ich dann hörte, segelte der Indienfahrer ohne dich. «Er hütete sich, den Namen Somervell zu erwähnen. Einen Fuß auf der nächsten Stufe, verhielt er aus Sorge, sie könnte sich zurückziehen.»Ich ertrage es nicht, dich hier allein zu wissen. «Sie machte eine Bewegung, und er entdeckte eine Pistole in ihrer Hand.»Gib sie mir.»

Er kam näher und streckte die Hand aus.»Bitte, Kate. «Die Pistole war gespannt und feuerbereit, er entwand sie ihren Fingern.»Jetzt hast du nichts mehr zu befürchten.»

Sie erschauerte.»Komm ins Wohnzimmer, dort ist es heller.»

Bolitho folgte ihr und wartete, bis sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Der Raum war anheimelnd, aber sehr unpersönlich. Er wurde zu oft von Besuchern, von Fremden benutzt.

Bolitho legte die Pistole auf den Tisch. Sie schloß die Fensterläden, vom Licht angezogene Motten tappten gegen das Glas.

«Setz dich, Richard. «Ohne ihn anzusehen, tastete sie nach ihrem Kopf.»Ich habe geruht und müßte mein Haar ordnen. «Doch dann wandte sie sic h ihm zu, mit einem sehnsüchtigen, nachdenklichen Blick, als suche sie Antwort auf eine unausgesprochene Frage.

«Ich wußte, daß er nicht warten würde«, berichtete sie.»Er nahm seinen Auftrag sehr ernst, er ging ihm über alles. Es war also mein Fehler. Ich wußte, daß ihm die Angelegenheit sehr am Herzen lag, und hätte nicht auf den Schoner gehen sollen. «Sie wiederholte:»Ich wußte, daß er nicht warten würde.»

«Warum hast du es dann getan?»

Sie blickte fort und berührte den Knopf der anderen Tür, die im tiefen Schatten lag.

«Ich hatte Lust dazu«, war ihre einfache Antwort.

«Es hätte dich das Leben kosten können, und dann.»

Sie fuhr herum, ihre Augen funkelten.»Was dann?«Verärgert warf sie den Kopf zurück.»Hast du dir die gleiche Frage gestellt, als du hinter der Ciudad de Sevilla her warst?«Der Name des Schiffes ging ihr glatt von der Zunge und gemahnte ihn rücksichtslos daran, daß sie mit einem Spanier verheiratet gewesen war.»Du mußt dir doch darüber klar gewesen sein, daß du ein furchtbares Risiko eingingst. Du wußtest es, ich sehe es dir an. Du hast auch gewußt, daß man einen Juniorkapitän damit hätte beauftragen können. So wie du damals ein Schiff gekapert hast, auf dem ich an Bord war — als ich dich zum erstenmal zu Gesicht bekam.»

Bolitho sprang auf. Mehrere Sekunden standen sie sich schweigend gegenüber, beide gekränkt und deswegen beschämt. Sie sagte abrupt:»Geh nicht fort«, und verschwand durch die Tür, ohne daß Bolitho es sah.

Was hatte er erwartet? Er war ein Narr und mehr als das. Aber als sie zurückkam, klang ihre Stimme versöhnlicher.»Ich mußte mein Haar aufmachen. «Sie wartete, bis er sie ansah.»Es sitzt immer noch nicht richtig. Gestern und heute bin ich am Ufer spazieren gegangen, und die Seeluft ist zu uns eitlen Frauen unnachsichtig.»

Sie trug noch den langen hellen Umhang und kam wie ein Geist durch den Schatten.»Du hast mir einmal ein Band für mein Haar geschenkt. Siehst du es, oder hast du es vergessen?»

Sie schüttelte den Kopf, so daß eine Schulter unter der langen, dunklen Haarfülle verschwand.

Er entgegnete leise:»Vergessen? Niemals! Du hattest Grün so gern, ich mußte es dir einfach schenken.»

Er brach ab, als sie mit ausgebreiteten Armen auf ihn zulief. Es geschah von einem Augenblick zum anderen. Eben noch stand sie, ein blasser Schemen, an der anderen Tür. Eine Sekunde später klammerte sie sich an seine Schultern, das Gesicht an seiner Brust versteckt, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

«Sieh mich an, Richard. Ich habe dich belogen, merkst du's nicht?»

Bolitho senkte seine Wange auf ihr Haar. Es war nicht das Band, das er ihr in London gekauft hatte. Dieses hier glänzte blau.

Ihre Hand streichelte seinen Nacken und berührte dann sein Gesicht. Ihre Augen waren voll Mitgefühl. Sie flüsterte:»Ich habe es nicht gewußt, Richard. Erst bevor der Geleitzug auslief, hörte ich — einiges davon, wie du — wie du. «Nun hielt sie sein Gesicht zwischen ihren Händen.»Oh, liebster Mann, ich mußte es doch wissen.»

Bolitho zog sie an sich. Es konnte nur Allday gewesen sein, er allein würde zwischen ihnen vermitteln.

«Wie schlimm ist es?«hörte er sie flüstern.

«Ich habe mich daran gewöhnt«, entgegnete er.»Nur manchmal läßt mich das Auge im Stich, so als du vorhin im Schatten standest. «Er lächelte.»Ich habe dich noch nie überlisten können.»

Sie lehnte sich in seinen Armen zurück und musterte ihn.»Auch als du beim Empfang fast über die Stufen gestolpert wärst. Schon damals hätte ich es merken müssen.»

Ihr Gesicht gab ihre Gefühle preis. Sie war groß und schlank, und er wurde sich ihrer körperlichen Nähe sehr bewußt. Deshalb sagte er schnell:»Ich gehe, wenn du es wünschst.»

Aber sie schob wortlos eine Hand unter seinen Arm. Wie ein Liebespaar durch einen stillen Park schritten sie durch den Raum. Sie überlegte:»Es muß doch Leute geben, die uns helfen können.»

Er drückte ihre Hand fester an seine Rippen.»Mach dir nichts vor.»

Sie wandte sich ihm zu.»Versuchen wir's! Es gibt doch immer eine Hoffnung.»

Bolitho erwiderte:»Zu wissen, daß dir soviel an mir liegt, bedeutet mir schon alles. «Sie unterbrach ihn nicht, sondern blieb still stehen, ihre Hände in den seinen. Ihre verschmolzenen Schatten schienen über die Wände zu tanzen.

«Jetzt, da wir endlich wieder zusammen sind, will ich dich nicht mehr verlieren. Das mag sich verrückt anhören, wie das Gestammel eines närrischen Jungen. «Die Worte flossen ihm von den Lippen, sie merkte, daß ihn lange Unausgesprochenes gequält hatte.»Ich dachte, mein Leben wäre ruiniert, und erkannte, was ich dir angetan hatte. «Da setzte sie zum Sprechen an, aber er ließ sie noch nicht zu Wort kommen.»Doch, es ist wahr. Ich war verliebt in Cheneys Geist, und diese Erkenntnis zerriß mich. Jemand meinte, ich litte an Todessehnsucht.»

Sie nickte.»Ich kann mir denken, wer das war. «Sein forschender Blick vermochte sie nicht zu verwirren.»Aber ist dir auch klar, was du sagst, Richard? Wieviel auf dem Spiel steht?»

Auch er nickte.»Für dich ist es noch schlimmer, Kate. Ich erinnere mich, was du über Nelsons Liaison sagtest.»

Zum erstenmal lächelte sie.»Eine Hure genannt zu werden, ist eine Sache, aber eine zu sein, ist etwas ganz anderes.»

Er drückte ihre Hände noch fester.»Es gibt so vieles.»

Sie entzog sich seinem Griff.»Das kann warten. «Ihre Augen glänzten.»Aber wir können es nicht.»

Leise bat er:»Nenn mich noch einmal wie vorhin.»

«Liebster Mann. «Sie nahm das Band aus ihrem Haar und legte es sich lose um den Nacken.»Was ich auch bin und was ich getan habe, das bist du mir immer gewesen: mein liebster Mann. «Und mit einem fragenden Blick:»Willst du mich?»

Er griff nach ihr, aber sie wich zurück.»Das ist mir Antwort genug. «Sie schritt zur anderen Tür.»Ich brauche nur einen Augenblick — allein.»

Ohne sie kam ihm der Raum fremd und feindlich vor. Er entledigte sich seines Rockes und seines Degens; nach kurzem Besinnen schob er den Riegel vor die Außentür. Er entspannte ihre Pistole und entsann sich dabei ihres Gesichts, bis sie ihn schließlich erkannt hatte. Gewiß hätte sie beim kleinsten Anzeichen einer Gefahr geschossen.

Dann ging er ihr nach. Alle Befürchtungen waren vergessen, als er sie im Kerzenlicht auf dem Bett sitzen sah. Die Knie bis zum Kinn hochgezogen wie ein Kind, lächelte sie ihm zu.

«Also ist der stolze Vizeadmiral verschwunden, und mein Kapitän kommt mich besuchen.»

Bolitho setzte sich neben sie und drückte ihre Schultern sanft auf die Kissen.

Sie trug ein elfenbeinfarbenes Seidenneglige, das am Hals nur mit einem Bändchen zusammengehalten wurde. Sie sah, daß seine Augen ihren Körper abtasteten und sich vielleicht erinnerten, wie er einst gewesen war. Da nahm sie seine Hand und führte sie an ihre Brust, preßte seine Finger, bis sie ihr wehtaten.

Sie flüsterte:»Nimm mich, Richard. «Und als er zögerte, drängte sie:»Ich weiß, was du befürchtest. Aber ich sage dir, ich tue es nicht aus Mitleid. Es ist Liebe, wie ich sie noch nie für einen anderen Mann empfunden habe.»

Als er das Bändchen aufknüpfte und sie zu entkleiden begann, breitete sie die Arme wie eine Gekreuzigte auf dem Bett aus. Bolitho fühlte sein Blut im Kopf brausen, während er ihre Brüste entblößte.

Er hielt den Atem an.»Wer hat dir das angetan?»

Ihre rechte Schulter war blaugrün verfärbt, eine der schlimmsten Prellungen, die er je gesehen hatte. Aber sie griff nach ihm und zog seinen Mund zu sich herunter. Ihr Atem ging so heftig wie seiner.»Eine Braune Bess tritt eben nach hinten aus wie ein Maulesel«, keuchte sie.

Sie mußte sich mit einer Muskete gegen die Piraten verteidigt haben. So wie sie vorhin fast die Pistole abgefeuert hätte.

Ihr Kuß nahm kein Ende, es war, als wollten sie mit einem Mal alles Versäumte nachholen. Er hörte sie aufstöhnen, als er ihr den Umhang über die Hüften streifte, sah ihre geballten Fäuste, als er sie berührte. Da legte er die Hand über ihre Scham, als wolle er das Verlangen noch verlängern.

Sie beobachtete ihn, als er seine Kleider fallen ließ, erkannte die Narbe an seiner Schulter und erinnerte sich an das Fieber, das sie einmal besiegt hatte.

Heiser sagte sie:»Ich frage nicht, was später sein wird, Richard. «Sein Schatten deckte sie zu wie ein Mantel.»Es ist so lange her. «Mit einem spitzen Aufschrei bog sie sich ihm entgegen, als er in sie eindrang. Ihre Finger packten ihn, rissen ihn näher und tiefer, bis sie eins waren.

Nachher, als sie einander ermattet in den Armen lagen und dem schwelenden Rauch der Kerzen nachsahen, flüsterte sie weich:»Du hattest Liebe nötig. Meine Liebe.»

Er drückte sie fester an sich, und sie fügte hinzu:»Da kümmert es mich nicht, was morgen sein wird.»

Er sagte in ihr Haar:»Auch das Morgen soll uns gehören.»

Unten an der Anlegebrücke hockte Allday auf einem Steinpoller und fing an, eine neue Pfeife zu stopfen. Er hatte das Boot zum Schiff zurückgeschickt.

Bolitho würde es vorerst nicht brauchen, dachte er paffend. Der Tabak war aromatisch, mit Rum getränkt. Er hatte zwar das Boot entlassen, wollte selber aber lieber noch an Land bleiben. Für den

Fall, daß.

Er setzte den irdenen Rumkrug auf die Erde und war mit sich und der Welt zufrieden. Vielleicht gab es doch einen gerechten Gott im Himmel? Er schaute zu dem verdunkelten Haus mit den hellen Mauern hinauf. Wenn, dann mochte er wissen, wie dies enden würde, aber im Moment, und das war alles, worauf ein armseliger Mensch hoffen konnte, standen die Dinge für Bolitho wieder besser.

Er grinste vor sich hin und bückte sich nach dem Tonkrug.

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