»Was?«

»Dass wir Sie in diese Situation gebracht haben«, sagte Mike. »Sie hätten auf Ihre innere Stimme hören und uns davonjagen

sollen. Wir hatten kein Recht, Sie um Hilfe zu bitten.«

»Es war meine Entscheidung«, antwortete Kanuat. »Außerdem ist es sinnlos, einmal gemachte Fehler zu bejammern.«

Mike war ein bisschen enttäuscht. Er hatte gehofft, dass Kanuat ihm heftiger widersprechen würde. Stattdessen fuhr der Inuit fort:

»Es muss einen Weg in diesen Berg hinein geben. Jetzt, da wir wissen, dass es ihn gibt, werden wir ihn auch finden.«

»Wenn die Deutschen uns nicht vorher einfangen.« Mike stand auf. »Aber Sie haben Recht. Je eher wir mit der Suche anfangen, desto –«

Der Boden unter ihm gab nach. Das vermeintlich massive Eis, auf das er den Fuß setzte, erwies sich als kaum fingerdicke Schicht, die unter seinem Gewicht wie Glas zersplitterte. Darunter kam ein gut metergroßer, kreisrunder Schacht zum Vorschein, der im steilen Winkel in eine bodenlose Tiefe hinabführte.

Mike schrie auf, warf sich in einer verzweifelten Bewegung zurück und griff nach irgendeinem Halt. Kanuat seinerseits griff mit beiden Händen zu, bekam im buchstäblich allerletzten Moment Mikes Handgelenk zu fassen – und machte die Katastrophe damit komplett.

Kanuat war alles andere als ein Schwächling, aber auf dem spiegelglatten Boden fand er einfach nicht den Halt, der notwendig gewesen wäre, um Mike aufzufangen. Statt seinen Sturz zu bremsen, wurde er ebenfalls aus dem Gleichgewicht gerissen und stürzte zusammen mit ihm hilflos in die Tiefe.

Der Aufprall hätte zweifellos ihr Ende bedeutet, wäre der Schacht bis zum Ende so senkrecht verlaufen wie oben. Seine Neigung nahm jedoch mehr und mehr ab, sodass sie bald mehr durch die Röhre schlitterten als stürzten, und am Ende gab es nur noch eine sanfte Neigung. Der Schacht endete in weniger als einem halben Meter Höhe in einer senkrechten Wand aus Stein. Statt des tödlichen Aufpralls, auf den Mike gefasst war, plumpsten sie nur unsanft zu Boden. Trotzdem blieb Mike fast eine Minute lang reglos liegen und lauschte in sich hinein. Es dauerte eine Weile, bis er sich eingestand, noch am Leben zu sein.

Vorsichtig öffnete er die Augen, richtete sich behutsam auf und sah sich um. Im ersten Moment war er dann doch nicht mehr sicher, noch am Leben zu sein; oder doch zumindest nicht mehr bei klarem Verstand. Was er sah, war so unglaublich, dass es ebenso gut aus einem Traum hätte stammen können.

Sie befanden sich in einer riesigen, ganz aus bläulich schimmerndem Eis bestehenden Höhle, deren Decke an ihrem höchsten Punkt sicher hundert oder mehr Meter über ihnen war.

Und diese Höhle war keineswegs leer.

Rings um sie herum erhoben sich mächtige, uralte Gebäude aus gewaltigen Steinquadern. Ihre Architektur war unheimlich, durch und durch fremd und bizarr und doch auf sonderbare Weise vertraut. Viele der Gebäude glichen wuchtigen Steinpyramiden, aber es gab auch Türme, gewaltige, quadratische Bauten und Gebäude von einer Form, die er nicht einmal in Worte fassen konnte, geschweige denn schon einmal gesehen hatte. Und trotzdem hatte er das unheimliche Gefühl,

dass ihm diese Stadt nicht fremd war.

»Bei den Geistern des Nordwinds«, flüsterte Kanuat erschüttert. »Was ist das?«

Statt zu antworten – was er ohnehin nicht wirklich gekonnt hätte – stand Mike ganz auf und sah sich ein zweites Mal um. Die riesigen, rechteckigen Steinquadern, aus denen die Gebäude bestanden, mussten jeder für sich mindestens eine Tonne wiegen und waren von unheimlicher, dunkelgrüner Farbe. Früher einmal mussten ihre Oberflächen kunstvoll gearbeitete Reliefs und Bilder aufgewiesen haben, aber die Zeit hatte die Schriftzeichen und Verzierungen nahezu unkenntlich gemacht.

Die Stadt musste unvorstellbar alt sein. Viele Gebäude lagen trotz ihrer massiven Bauweise in Trümmern, viele andere waren halb vom Eis eingeschlossen oder ragten gar nur noch zu kleinen Teilen aus den Wänden. Mehr als einmal konnte Mike nicht mit Sicherheit sagen, ob er nun Stein oder Eis betrachtete.

Das vielleicht Unheimlichste überhaupt aber war, dass diese Stadt keineswegs leer und verlassen war, sondern ganz offensichtlich Bewohner hatte. Ein Teil des Lichtes, das die im ewigen Eis eingeschlossene Stadt erhellte, kam direkt aus den Wänden, die zwar dick waren, das Sonnenlicht aber doch nicht vollkommen verscheuchten. In zahlreichen Gebäuden brannte aber auch Licht. Außerdem war es erstaunlich warm. Mike hatte schon nach einigen Augenblicken das Bedürfnis, seine Jacke auszuziehen.

»Unglaublich«, murmelte Kanuat. »Das ist ... Zauberei. Kein Mensch hat so etwas je gesehen!«

»Das stimmt nicht«, antwortete Mike. Plötzlich wusste er es.

Als hätten seine eigenen Worte die Erinnerungen heraufbeschworen, wusste er jetzt, wo er diese Gebäude schon einmal gesehen hatte. Sie waren nicht annähernd so gut erhalten gewesen, sondern beinahe nur noch Trümmer, und es war sehr lange her, aber es war dieselbe fremdartige Architektur.

»Atlantis«, sagte er.

Kanuat sah ihn fragend an. »Was soll das sein?«

»Das ist eine Stadt der Atlanter«, sagte Mike. »Genau so sah es auf der Insel aus, auf der wir die NAUTILUS gefunden haben. Würdest du glauben, dass diese Stadt mindestens zehntausend Jahre alt ist? «

»Eine Stadt des Alten Volkes?«

»Ihr wisst davon?«, fragte Mike überrascht.

»So wie ihr auch«, antwortete Kanuat. »Jedes Volk kennt die Legende von denen, die vor uns da waren. Auch eure.« Er machte eine Geste, als Mike etwas sagen wollte. »Jetzt ist nicht der Moment für alte Geschichten. Jemand kommt.«

Mike verschwendete keine Zeit damit, sich von der Wahrheit dieser Behauptung zu überzeugen, sondern lief auf das nächste Gebäude zu und huschte durch die Tür. Kanuat folgte ihm dichtauf und sie pressten sich nebeneinander an die Wand. Mike legte den Zeigefinger über die Lippen.

Das Innere des Gebäudes bot einen kaum weniger bizarren Anblick als sein Äußeres. Sie befanden sich in einem sehr großen, asymmetrisch geformten Raum ohne Decke, in dem gleich mehrere Treppen in die Höhe führten. Oder auch nicht. Jede dieser Treppen hatte unterschiedlich große und breite Stufen und zumindest eine davon führte in eine Richtung, die er einfach nicht benennen konnte. Mike sah allerdings auch nicht sehr aufmerksam hin. Er hatte mehr als einmal erlebt, was die atlantische Architektur einem menschlichen Geist antun konnte, wenn man den Fehler beging, sie aufmerksam zu studieren.

Stattdessen konzentrierte er sich lieber auf das, was sich draußen vor dem Gebäude abspielte. Er hörte Stimmen und näher kommende Schritte. Einige Männer unterhielten sich auf Deutsch. Nach einigen weiteren Augenblicken konnte sie diese dann auch sehen.

Er war kein bisschen überrascht, als er erkannte, dass es sich um deutsche Marinesoldaten handelte. Die Männer gingen ohne Hast nebeneinander her und kamen ihrem Versteck dabei so nahe, dass Mike sogar den Schriftzug auf ihren Schirmmützen erkennen konnte. Er lautete: »U37«.

Er wartete, bis die beiden Männer wieder außer Hörweite waren, dann wandte er sich mit grimmigem Gesichtsausdruck an Kanuat. »Da haben Sie Ihre Geister«, sagte er. »Die Männer kommen von Berghoffs Schiff. Wahrscheinlich haben sie diese Stadt schon vor einer ganzen Weile entdeckt. Kein Wunder, dass sie sich solche Mühe geben, dieses Geheimnis um jeden Preis zu bewahren!«

»Warum?«, fragte Kanuat.

»Sie haben die NAUTILUS doch gesehen«, antwortete Mike. »Die alten Atlanter waren technisch viel weiter als wir! Unvorstellbar, wenn sie hier auch so etwas gefunden hätten!«

»Wer sagt dir, dass sie es nicht haben?«, fragte Kanuat.

»Die Tatsache, dass wir noch am Leben sind«, antwortete Mike. »Kommen Sie! Die Kerle sind weg! Vielleicht finden wir

ja heraus, wo sie Trautman hingebracht haben.«

Nach einem letzten, sichernden Blick in die Runde verließen sie ihr Versteck und bewegten sich vorsichtig auf das Zentrum der Stadt zu; genauer gesagt das, was Mike dafür hielt.

Zuerst trafen sie auf keine weiteren Menschen, aber ihre Spuren waren unübersehbar. Hier und da lagen Papierfetzen, leere Konservendosen oder achtlos liegen gelassene Ausrüstungsteile, leere Zigarettenschachteln und abgebrannte Streichhölzer, einmal sogar ein Paar Schuhe, das jemand einfach in einem Winkel abgestellt und offensichtlich vergessen hatte. Mike fand den Anblick aber weniger komisch, als dass er ihn regelrecht wütend machte. Diese Stadt hatte zehntausend Jahre unberührt im Eis gelegen und sie hatte diese unendlich lange Zeit nahezu schadlos überstanden. Und wie es schien, zu dem einzigen Zweck, den deutschen Soldaten als Müllkippe zu dienen.

Was er für das Stadtzentrum gehalten hatte, das mochte es früher auch einmal gewesen sein. Nun aber konzentrierten sich die meisten Lichter und die Quelle der größten Aktivitäten auf einen Bereich am anderen Ende der Stadt. Der Weg dorthin betrug sicher eine Viertelstunde und sie würden schon verdammt viel Glück brauchen, um nicht einem deutschen Soldaten in die Arme zu laufen oder auf irgendeine andere Weise aufzufallen. Trotzdem zögerte Mike nicht einmal eine Sekunde. Sie mussten irgendwie hier heraus und sie mussten Trautman finden und beides war nur möglich, wenn sie sich ersteinmal einen Überblick verschafften, wo sie waren und mit wem sie es überhaupt zu tun hatten. Eines wurde Mike schon bald klar: In dieser Stadt hielt sich nicht nur die Besatzung von Berghoffs »U37« auf. Der Ort musste einmal Platz für Tausende von Menschen geboten haben. Jetzt standen zwar die meisten Gebäude leer, aber Mike schätzte, dass immer noch mindestens zwei-bis dreihundert Menschen hier lebten; eine Menge Soldaten, aber auch viele Zivilisten. Einige davon waren mit Dingen beschäftigt, die Mike zwar nicht ganz verstand, aber einen irgendwie wissenschaftlichen Eindruck machten. Offenbar nutzte das Kaiserreich diese Station nichtnurzu militärischen Zwecken.

Aber ein großer Trost war das nicht.

Im Großen und Ganzen durchquerten sie die Stadt unbehelligt. Einige Male mussten sie sich verstecken, um nicht entdeckt zu werden. Aber schließlich hatten sie die im Eis eingeschlossene Stadt zur Gänze durchquert.

Mike war kein bisschen überrascht, als sie auf der anderen Seite auf einen künstlich angelegten Hafen stießen; ein lang gestrecktes, rechteckiges Becken, das vor einer Wand aus schimmerndem Eis endete. Oder etwas, was wenigstens wie Eis aussah.

Was ihn hingegen wie ein Faustschlag traf und ihn für einen Moment selbst das Atmen vergessen ließ, das war der Anblick der beiden Schiffe, die darin lagen. Eines davon war die »U37«, Berghoffs Unterseeboot, das sie schon im Hafen von Sadsbergen gesehen hatten. Das Schiff ragte jetzt ein gutes Stück weiter aus dem Wasser, sodass Mike seine erstaunliche Größe und die wuchtige Form deutlicher erkennen konnte. Das Schiff war viel größer, als er bisher geglaubt hatte.

Trotzdem wirkte es wie ein Zwerg gegen den graugrünen, bizarr geformten Koloss, der unmittelbar daneben aus dem Wasser ragte, riesig, glotzäugig und von einem gezackten Stahlkamm gekrönt, der von dem gefährlichen Rammsporn am Bug bis zu der an einen Haifischschwanz erinnernden Heckflosse reichte.

»Großer Gott!«, flüsterte Mike. »Aber das ist doch... unmöglich!« »Das ist euer Schiff«, sagte Kanuat verwirrt. Mike starrte das gigantische U-Boot aus weit aufgerissenen Augen an. Seine Gedanken rasten,

überschlugen sich und drehten sich im Kreis, ohne zu einem wie auch immer gearteten Ergebnis zu kommen. Aber dann schüttelte er den Kopf.

»Nein«, murmelte er. »Das ist nicht die NAUTILUS. Siekannes nicht sein!« »Da hast du Recht, mein lieber Junge«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Das ist die WOTAN. Aber siekönntees sein, das musst du zugeben. Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend.«

Während Vom Dorff redete, hatten sich Mike und Kanuat langsam herumgedreht. Der deutsche Handelsattaché stand keine drei Schritte hinter ihm und er war keineswegs allein gekommen. Gleich vier Soldaten hatten rechts und links von ihm Aufstellung genommen und zielten mit ihren Gewehren auf sie.

»Wie lange beobachten Sie uns eigentlich schon?«, fragte Mike.

Vom Dorff zuckte die Achseln. »Lange genug«, sagte er. »Ich hoffe doch, eure kleine Rutschpartie war nicht zu unsanft. Du hättest wirklich auf einem leichteren Weg hier hereinkommen können. Warum hast du nicht einfach

geklopft?«

Mike sah sich verstohlen um. Abgesehen von Vom Dorff und seinen vier Soldaten war die Kaimauer vollkommen leer. Mit ein bisschen Glück konnte er den Sprung ins Wasser schaffen. »Versuch es erst gar nicht«, sagte Vom Dorff, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Selbst wenn dich

meine Soldaten nicht erschießen, kämst du nicht sehr weit. Das Fluttor reicht unter Wasser bis zum Grund des Hafenbeckens und es gibt keinen anderen Ausgang aus der Stadt. Du würdest dir nur vollkommen sinnlos eine Erkältung einhandeln.«

»Spielt das eine Rolle?«, fragte Mike. »Ich meine: Es ist doch eigentlich egal, ob Sie mich mit oder ohne Triefnase erschießen lassen.« »Erschießen lassen?« Vom Dorff blinzelte. »Wie kommst du darauf, dass ich so etwas vorhabe?«

»Sie werden mich bestimmt nicht einfach laufen lassen, oder?« »Bestimmt nicht«, antwortete Vom Dorff. »Aber ich habe auch nicht vor, dich und deine Freunde umzubringen. Du hörst anscheinend viel zu oft den britischen Propagandasender, wie?«

»Was haben Sie denn mit uns vor?«, fragte Kanuat. Vom Dorff seufzte. »Wenn ich das wüsste. Ich muss gestehen, dass ihr mich vor große Probleme stellt. Ich kann euch nicht laufen lassen, wie ihr bestimmt einsehen werdet, aber ich kann euch auch nicht umbringen. Ich fürchte, ich werde euch für eine Weile bitten müssen, mit unserem Gästequartier vorlieb

zu nehmen. Wenigstens, bis ich mich entschieden habe, was mit euch geschieht.«

»Und wie lange wird das sein?«, fragte Mike. »So ungefähr zwanzig oder dreißig Jahre? Oder nur so lange, bis Deutschland mit Hilfe der WOTAN den Krieg gewonnen hat?«

»Du urteilst wieder vorschnell«, sagte Vom Dorff.

»Aber dieser Fehler ist verständlich.«

»Was haben Sie mit Trautman gemacht?«, fragte Mike.

»Was nötig war«, antwortete Vom Dorff. »Euer Freund ist ziemlich übel verletzt, aber das habt ihr ja bestimmt schon selbst gemerkt. Wir haben ihn in die Krankenstation gebracht. Macht euch keine Sorgen.Wir haben sehr gute Ärzte hier.« Er machte eine auffordernde Geste. »Muss ich euch in Ketten legen lassen oder erspart ihr uns allen diese Peinlichkeit?«

Mike starrte ihn wütend und wortlos an, trat dann aber gehorsam auf Vom Dorff zu und folgte ihm. Auf dem ersten Stück bewegten sie sich genau den Weg zurück, den sie gekommen waren, dann aber steuerten sie auf eines der großen Gebäude in der Nähe des Hafens zu: eine gewaltige, leicht asymmetrisch wirkende Pyramide, hinter deren zahlreichen Fenstern weiße und gelbe Lichter brannten.

Sie wurden getrennt, als sie das Haus betraten. Vom Dorff versicherte ihm noch einmal, dass Kanuat kein Haar gekrümmt würde, bestand aber darauf, den Inuit von seinen Soldaten in den Keller der Pyramide bringen zu lassen. Mike musste ihm die Treppe hinauf in einen kleinen, erstaunlich gemütlicheingerichteten Raum folgen. Zu Mikes Überraschung ließ Vom Dorff die beiden Soldaten draußen auf dem Flur zurück, als er die Tür hinter sich und Mike schloss.

»Nur Sie und ich?«, fragte Mike spöttisch. »Ganz allein?

Haben Sie gar keine Angst?«

»Ich bin dreißig Jahre älter als du, mein Junge«, sagte Vom Dorff, während er um den Schreibtisch herum ging und sich setzte.

»Vielleicht kann ich ja Judo«, antwortete Mike. »Oder Karate.«

»Ja und ich trage den schwarzen Gürtel in Mikado«, sagte Vom Dorff spöttisch. »Lass uns doch mit diesem Unsinn aufhören, Mike. Bitte setz dich. Wir haben zu reden.«

Mike rührte sich nicht, sondern starrte Vom Dorff nur weiter böse an. Nach ein paar Sekunden wurde ihm jedoch selbst klar, wie albern dieses Benehmen war. Widerwillig zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich.

»Bist du hungrig?«, fragte Vom Dorff.

Mike wollte schon aus reinem Trotz den Kopf schütteln, nickte aber dann. Schließlich hatte er nichts zu verlieren, wenn er damit aufhörte, den Trotzkopf zu spielen.

»Das ist gut«, sagte Vom Dorff. »Ich nämlich auch.« Er drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch. An der Wand hinter ihm leuchtete ein winziger Bildschirm auf und ein ernst dreinblickender Mann fragte nach Vom Dorffs Wünschen. Der Attaché bestellte zwei Mahlzeiten und schaltete das Gerät dann wieder ab. Grinsend wandte er sich an Mike.

»Diese atlantische Technik ist schon etwas Tolles«, sagte er. »Unvorstellbar, dass dieses Volk trotz seiner Macht so einfach untergegangen ist, findest du nicht auch?«

»Vielleicht geht es Deutschland ja auch so«, sagte Mike böse. »Dem Kaiserreich?« Vom Dorff lächelte nachsichtig. »Du verstehst offenbar immer noch nicht, wie? Wir haben nichts mit dem Kaiserreich zu schaffen.«

»Aber die >U37< und die PRINZ FERDINAND –« »Kapitänleutnant Berghoff und Hansen sind gute alte Freunde von mir«, unterbrach ihn Vom Dorff. »Die Regierung in Berlin hat keine Ahnung von alledem hier.« Mike starrte ihn mit offenem Mund an. »Die Regierung –?« »Weiß nichts davon«, wiederholte Vom Dorff. »Und das sollte auch noch eine ganze Weile so bleiben.

Aus diesem Grund hoffe ich ja auch, dass wir uns auf einer vernünftigen Basis einigen.« »Und wie ... soll diese Basis aussehen?«, fragte Mike stockend. Er war vollkommen perplex. Er hatte mit allem gerechnet – aber nichtdamit.»Ich will ganz ehrlich zu dir sein«, antwortete Vom Dorff. »Wir

haben gewisse Schwierigkeiten, diese erstaunliche Technik in allen Einzelheiten zu verstehen. Wir könnten uns sozusagen gegenseitig von Nutzen sein.« »Ich soll Ihnen helfen, atlantische Technologie zu verstehen?«, vergewisserte sich Mike. »Warum sollte

ich das wohl tun?«

»Zum Beispiel, um die Bedingungen deines Aufenthaltes hier zu verbessern«, antwortete Vom Dorff. »Und natürlich das deiner Freunde.« »Abgesehen von Trautman sind sie nicht einmal hier«, antwortete Mike. »Und Trautman würde mir den

Kopf abreißen, wenn ich seinetwillen die anderen verrate.« »Was mich gleich zur nächsten Frage bringt«, sagte Vom Dorff ungerührt. »Wo ist die NAUTILUS?« »Weg«, antwortete Mike. »Trautman und ich sind auf eigene Faust losgezogen.« Vom Dorff machte sich nicht einmal die Mühe, auf diese lächerliche Ausrede zu reagieren. »Früher oder

später erwischen wir sie ja doch«, sagte er. »Wenn du deinen Freunden einen Gefallen tun willst, dann

solltest du eher dafür sorgen, dass es ihnen nicht so ergeht wie dem alten Trautman.« Diese Wortwahl kam Mike irgendwie seltsam vor, aber er war über Vom Dorffs Vorschlag viel zu empört, um mehr als einen einzigen flüchtigen Gedanken daran zu verschwenden. Mike ließ alle Vorsicht

fahren und gab Vom Dorff die scharfe Antwort, die ihm gebührte. »Ich will Trautman sehen«, endete er. »Vorher rühre ich mich nicht hier weg.«

»Dann dürfte es dir schwer fallen, mich in die Krankenstation zu begleiten«, antwortete Vom Dorff lächelnd.

»Die Krankenstation?«

»Natürlich. Du wolltest doch Trautman sehen, oder?«

Vom Dorff hielt tatsächlich Wort. Die beiden Soldaten, die Mike abholten, brachten ihn nicht sofort in eine Gefängniszelle, sondern eskortierten ihn zur Krankenstation der Stadt, wo er Trautman fand, aber er konnte nicht mit ihm reden. Trautman schlief und Mike wollte ihn nicht eigens wecken. Aber immerhin überzeugte er sich mit eigenen Augen davon, dass Trautman tatsächlich die beste Pflege bekam, die hier möglich war.

Nicht dass ihn diese Erkenntnis irgendwie sanfter stimmte. Vom Dorff würde ihm wahrscheinlich jeden Wunsch erfüllen, bis er ihm gesagt hatte, was er wissen wollte.

Nach seinem Abstecher zu Trautman brachten ihn die Soldaten in den Keller des Gebäudes, wo die Gefängniszellen lagen – unddieentsprachen nun wirklich voll und ganz Mikes Erwartungen. Es waren winzige, fensterlose Löcher mit vergitterten Türen, die kaum Platz für zwei Gefangene geboten hätten, im Allgemeinen aber mit vier oder auch fünf Männern belegt waren. Mikes Befürchtungen, in eine dieser überfüllten Zellen gesteckt zu werden, erfüllten sich allerdings nicht. Er wurde vorbei an einer langen Doppelreihe überbelegter Gitterkäfige zu einem Raum ganz am Ende des Korridors geführt, der ihm offensichtlich allein zugedacht war. Vermutlich nahm Vom Dorff auch noch an, dass er ihm mit dieser Sonderbehandlung einen Gefallen tat!

Die Stadt unter dem Eis schien eine eigene Zeitrechnung zu haben, die sich von der draußen gehörig unterschied, denn die allermeisten Gefangenen lagen auf ihren Pritschen oder auch auf dem nackten Fußboden und schliefen. Nur einige wenige hoben müde den Kopf oder blinzelten in seine Richtung, ohne ihm auch nur einen zweiten Blick zu gönnen. Die Ankunft eines neuen Gefangenen schien hier unten nichts Besonderes zu sein.

Mike war ganz froh darüber. Er war sehr müde und hatte keine Lust mehr zu reden. Hinter seiner Stirn überschlugen sich die Gedanken. Er war noch nicht so weit es sich einzugestehen, aber Tatsache war, dass er sich in einer nahezu aussichtslosen Lage befand. Sicher, nicht zum ersten Mal – aber es war selten so schlimm gewesen wie heute. Vom Dorff und die anderen hatten eindeutig alle Vorteile auf ihrer Seite. Um sich von seinen düsteren Gedanken abzulenken, wälzte er sich auf der unbequemen Pritsche auf die Seite und sah sich um. Durch die Gitterstäbe seines Gefängnisses konnte er in etliche der anderen Zellen hineinsehen. Bei einigen Gefangenen handelte es sich sicherlich um Mitglieder der verschollenen Expedition, aber er sah auch Männer in Marineuniformen und schmuddeligen Lumpen. Ungeachtet seiner zur Schau getragenen Großmut schien Vom Dorff ein ziemlich strenges Regime zu führen. Mit diesem Gedanken schlief er ein.

Und erwachte, als jemand seine Zelle betrat und derart laut mit etwas herumklapperte, dass man meinen konnte, der ganze Berg über ihnen wäre zusammengebrochen. Mike öffnete verschlafen die Augen, setzte sich gähnend auf und bekam gerade noch mit, wie seine Zellentür wieder zugeschlagen wurde. Als er die Beine von der Pritsche schwang, wäre er um ein Haar in einen flachen Blechteller getreten, den der Mann zurückgelassen hatte.

Jedenfalls wusste er jetzt, was der Grund für die Aufregung war. Die unappetitliche wässrige Brühe, die in dem Teller schwappte, stellte offensichtlich sein Frühstück dar.

Abgesehen von ihm selbst waren alle anderen Gefangenen schon emsig damit beschäftigt, ihre Suppe lautstark auszuschlürfen – wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, Suppe zu sich zu nehmen, wenn man keinen Löffel hatte. Der Gefangenenwärter hatte kein Besteck dazugetan.

Der Anblick der Suppe regte nicht unbedingt Mikes Appetit an, sodass er die Gelegenheit nutzte, sich gründlich umzusehen. Der Mann, der in der Zelle neben ihm saß, kam ihm auf sonderbare Weise bekannt vor, obwohl er sein Gesicht gar nicht richtig erkennen konnte, denn er saß so auf dem Rand seiner Pritsche, dass er nicht in Mikes Richtung sah. Außerdem war es vollkommen ausgeschlossen, dass sie sich kannten. Seine Erinnerung spielte ihm wohl einen Streich. Mike wandte sich den Männern in der Zelle auf der anderen Seite zu.

Er war ziemlich sicher, es dabei mit Mitgliedern genau der Expedition zu tun zu haben, die sie suchten. Sie trugen zerschlissene, vollkommen verdreckte Winterkleidung, die ganz den Eindruck machte, als hätten sie sie seit einem Jahr nicht mehr gewechselt, und auch ihr Haar und ihre Barte waren lang und ungepflegt.

Nach einer Weile schien sein Starren den Männern wohl aufzufallen, denn plötzlich ließ einer von ihnen seinen Teller sinken, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und deutete dann mit einer Kopfbewegung auf Mikes eigene Suppe.

»Du solltest lieber essen«, sagte er.

»Ich habe keinen Appetit«, antwortete Mike. »Nichtdarauf.«

Der Mann schlürfte den Rest seiner Suppe aus, fuhr sich noch einmal mit dem Handrücken über den Mund und stellte den Teller zu Boden. »Du bist verwöhnt, wie?«, fragte er. »Das legt sich. In spätestens drei Tagen sehnst du dich nach dem Fraß, mein Wort darauf. Ich habe sogar das Gefühl, dass heute Sonntag sein muss. So was Gutes gibt's nicht jeden Tag. Also iss lieber.«

»Und wenn du es wirklich nicht willst, dann gib es mir«, sagte

der Mann in der anderen Nebenzelle. »Es ist zu schade zum Wegschütten.«

Mike drehte langsam den Kopf – und riss ungläubig die Augen auf. »Trautman?«, keuchte er. »Aber das ist doch ...«

Es war nicht nur unmöglich, es war auch nicht Trautman. Aber die Ähnlichkeit war wirklich frappierend. Der Mann war viel jünger als Trautman und auch ein gutes Stück größer. Er hatte einen dichten schwarzen Vollbart und schulterlanges Haar, aber abgesehen davon hätte er eine dreißig Jahre jüngere Version Trautmans sein können. Wie sein jüngerer Bruder. Oder ...

Und endlich begriff Mike. Mit einem Mal ergab alles einen Sinn. »Kennen wir uns?«, fragte der Schwarzhaarige. »Nein«, stotterte Mike. »Ich dachte nur ... Es war ein Irrtum. Bitte entschuldigen Sie. Ich habe Sie

verwechselt.«

»Mit jemandem, der genauso aussieht wie ich?«, fragte der andere zweifelnd. »Und zufällig auch genau so heißt? Wer soll dir das wohl glauben?« »Wer bist du überhaupt?«, fragte der Mann, der ihn zuerst angesprochen hatte. »Lässt Berghoff jetzt

schon Kinder kidnappen?« »Ich bin freiwillig hier«, antwortete Mike. »Na ja, beinahe ...« »Das ist keine Antwort«, sagte Trautman. Trautman? Trautman .. »Das stimmt«, gestand Mike. »Aber ich bin ... überrascht. Und es ist nicht so leicht, die Sache zu

erklären.« »Oh, das macht nichts«, antwortete der Mann, dessen Namen

er nicht kannte. »Wir haben viel Zeit.«

»Oder hast du etwas vor?«, fügte der Mann mit Trautmans Gesicht hinzu.

»Wir sind hier, weil wir Sie gesucht haben«, antwortete Mike. »Sie und Ihre Freunde.«

»Wer istwir?«,fragte Trautman rasch.

Der andere fügte hinzu: »Und was glaubst du, wer wir sind?«

»Sie gehören zu der Expedition, die letztes Jahr aus Sadsbergen aufgebrochen ist, um das Geheimnis des

Berges zu ergründen.«

»Das stimmt«, antwortete der Mann verblüfft. »Aber woher wisst ihr davon? Wir haben es niemandem

gesagt. Ganz im Gegenteil. Die ganze Expedition war streng geheim.«

»Wir haben euren Funkspruch aufgefangen«, antwortete Mike. »Vor ungefähr einer Woche.«

»Was für einen Funkspruch?«, fragte der andere Mann. »Siehst du hier irgendwo ein Funkgerät?«

»Wir haben einen SOS-Ruf empfangen«, beharrte Mike. »Allerdings verstümmelt. Und auf Norwegisch.«

»Auf Norwegisch?«

»Sörensen«, sagte Trautman. »Das muss Sörensen gewesen sein. Sieht so aus, als hätten wir ihm unrecht

getan.« In Mikes Richtung gewandt fügte er hinzu: »Nicht alle von uns sitzen im Gefängnis, musst du

wissen. Einige haben sich mit Vom Dorff und Berghoff zusammengetan. Jedenfalls dachten wir das bis

jetzt ... Also gut. Jetzt wissen wir, wie ihr hierher kommt. Aber wir wissen immer noch nicht, wer ihr

seid.« »Mein Name ist Mike«, antwortete Mike. »Ich gehöre zur Besatzung der NAUTILUS. Und ich glaube, ich bin zusammen mit Ihrem Vater hier.«

Es wurde sehr still. Nicht nur Trautman starrte ihn fassungslos an. Für drei, vier Atemzüge war es so ruhig, dass man die sprichwörtliche Stecknadel hätte fallen hören können.

»Was ... sagst du da?«, murmelte Trautman schließlich. »Jedenfalls glaube ich, dass es Ihr Vater ist«, sagte Mike. »Er muss es sein. Er hat Kopf und Kragen riskiert, um hierher zu kommen. Wir konnten uns gar nicht erklären, warum. Bis jetzt.«

»Ist er hier?«, fragte Trautman. »Mein Vater ist hier? Hier in der Stadt?«

»In der Krankenstation«, sagte Mike und fügte hastig hinzu: »Keine Angst. Er ist verletzt, aber ich glaube, nicht allzu schlimm.« »Und die anderen?«, fragte Trautman. »Ich meine, ihr seid doch bestimmt nicht allein gekommen.« »Du hast von der NAUTILUS gesprochen«, erinnerte der andere. Mike schwieg. Statt die Frage zu beantworten, warf er einen bezeichnenden Blick in die Runde. Sie

waren nicht allein. »Sprichst du Französisch?«, fragte Trautman, wobei er bereits zu dieser Sprache wechselte. Mike nickte.»Oui«,sagte er.»Un petit.«Trautman junior machte ein Gesicht, als hätte er plötzlich Zahnschmerzen bekommen. »Autsch«, sagte er,

fuhr aber trotzdem in derselben Sprache fort: »Es wird schon irgendwie gehen. Die Typen hier sprechen jedenfalls kein Wort

Französisch, da bin ich ziemlich sicher.« Mike war ganz und gar nicht sicher, ob er dieser Sprache mächtig genug war, um wirklich eine Unterhaltung führen zu können. Nach einigen Minuten jedoch und unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen gelang es ihnen tatsächlich, eine entsprechende Basis zu finden.

Das Gespräch dauerte sehr lange. Natürlich wollten Trautman und die anderen haarklein wissen, wie sie hergekommen waren und wie ihre Chancen aussahen, vielleicht doch noch von hier wegzukommen. Aber Mike erfuhr auch eine Menge über Trautman und sein Verhältnis zu seinem Sohn. Wie sich herausstellte, hatten sich die beiden seit über zwanzig Jahren nicht gesehen, und auch wenn Trautmans Sohn entsprechenden Fragen geschickt aus dem Weg ging, so war Mike doch nach einer Weile ziemlich sicher, dass die beiden nicht im Guten auseinander gegangen waren.

Sie redeten, bis das Mittagessen gebracht wurde. Während der Gefangenenwärter die dünne Suppe ausschenkte, die sich im Übrigen in nichts von der vom Morgen unterschied, versanken sie wieder in Schweigen, und während sie darauf warteten, dass die geleerten Teller wieder abgeholt wurden, ging die Tür am Ende des Ganges auf und Vom Dorff und Kapitänleutnant Berghoff erschienen.

»Wie ich sehe, hast du ja schon neue Freunde gefunden«, begann Vom Dorff. »Die Überraschung ist mir gelungen, wie?« Mike sagte nichts und auch Trautman junior schwieg, spießte Vom Dorff aber mit Blicken regelrecht auf. »Also gut«, seufzte Vom Dorff. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Hast du dir mein Angebot überlegt?«

»Meine Freunde zu verraten?« »Dir wenigstens anzuhören, was wir zu sagen haben, mein Junge«, sagte Berghoff. »Vielleicht urteilst du vorschnell.«

»Was haben sie dir erzählt?«, fragte Trautman böse. »Dass sie diese Anlage und die WOTAN benützen wollen, um der Welt den himmlischen Frieden zu bringen?« Er machte ein abfälliges Geräusch. »Glaub ihnen kein Wort. Sie sind nichts als habgierige Piraten.«

»Das hat die Welt über Mikes Vater auch gedacht«, sagte Vom Dorff ruhig. »Ist Ihnen noch nie in den

Sinn gekommen, dass Sie sich irren könnten?« »Mir ist alles Mögliche in den Sinn gekommen, in den Monaten, in denen ich jetzt in diesem Loch sitze«, grollte Trautman.

Vom Dorff setzte zu einer Antwort an, beließ es aber dann bei einem wertlosen Kopfschütteln und

wandte sich wieder an Mike. »Könnenwirwenigstens vernünftig miteinander reden?«, fragte er. Mikes erster Impuls war natürlich, empört den Kopf zu schütteln. Aber dann zögerte er, dachte einen Moment nach und sagte schließlich: »Ich kann das nicht allein entscheiden. Ich muss mit Trautman reden. Und ich will, dass er dabei ist.« Er deutete auf Trautmans Sohn.

Berghoffs Gesicht verdüsterte sich. »Du bist wohl kaum in der Position, Forderungen zu –«

»Moment!« Vom Dorff unterbrach ihn mit einer Geste. »Warum eigentlich nicht? Als kleine Geste des guten Willens sozusagen ... Wenn Sie einverstanden sind.« Trautman junior wirkte kaum weniger verblüfft und er zögerte auch ein kleines bisschen länger, als

eigentlich gut war. Aber dann nickte er.

»Wunderbar!«, freute sich Vom Dorff. »Das ist doch schon einmal ein Anfang. Ich lasse euch dann in einer halben Stunde abholen.« Die Eskorte, die sie zu Trautman bringen sollte, erschien fast auf die Minute pünktlich. Aber sie wurden

nicht sofort in die Krankenstation geführt. Stattdessen wiesen die Männer sie in ein anderes Gebäude, in

dem eine Badewanne mit heißem Wasser, frische Kleider und sogar ein Frisör auf Trautmans Sohn warteten.

Als er – nach einer guten halben Stunde – wieder aus dem angrenzenden Zimmer kam, hatte er sich totalverändert. Mike war trotz allem überrascht. Schon am Morgen war ihm die verblüffende Ähnlichkeit zwischen dem schwarzhaarigen Mann und seinem Vater aufgefallen. Jetzt, mit kurz geschnittenem Haar, sorgsam gestutztem Bart und frischen Kleidern, hätten die beiden – abgesehen vom Alter – eineiige Zwillinge sein können. Sein Gesicht sah erstaunlich frisch aus für einen Mann, der fast ein Jahr lang in einer Gefängniszelle gesessen hatte.

»Großer Gott, hat das gut getan!«, seufzte er. »Jetzt noch eine anständige Mahlzeit und ein riesiges Glas Bier und ich fühle mich fast wieder wie ein Mensch!« Er setzte sich schwer in einen der bequemen Stühle, mit denen das Zimmer ausgestattet war. »Es ist schon erstaunlich, wie sehr man die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen lernt, wenn man sie erst einmal eine

Weile nicht hat.«

»Vielleicht bekommen Sie sie ja bald wieder«, sagte Mike.

Trautman lachte vollkommen humorlos. »Ich habe dich für klüger gehalten«, sagte er. »Du fällst doch nicht wirklich auf diesen Vom Dorff herein?«

»Natürlich nicht«, antwortete Mike. »Aber ich habe Ihnen nicht alles erzählt.«

Trautman warf einen raschen Blick zur Tür und Mike tat dasselbe, ehe er weitersprach. Aber sie waren allein.

»Ich war unten nicht ganz sicher, ob uns nicht doch jemand belauscht«, fuhr Mike fort.

»Das war sehr vernünftig«, pflichtete ihm Trautman bei. »Aber ich habe mir so etwas schon fast gedacht. Euer Schiff ist in der Nähe, nicht wahr? Die NAUTILUS.«

»Gut kombiniert«, bestätigte Mike.

»Das war nicht schwer zu erraten«, sagte Trautman. »Und du glaubst, deine Freunde werden herkommen, um uns zu befreien?«

»Darauf verwette ich mein Leben«, sagte Mike überzeugt. »Ihr Vater hat Singh zwar befohlen, nicht länger als zwei Tage auf uns zu warten, aber ich kenne Singh. Und auch die anderen. Sie werden wahrscheinlich die zwei Tage abwarten und dann herkommen, um nach uns zu suchen.«

»Dann sind sie jetzt noch draußen vor der Küste?«, fragte Trautman.

Mike nickte. »Sie spielen Fangen mit Kapitän Hansen und seinem Zerstörer. Singh beherrscht die NAUTILUS perfekt. Er wird diesen Hansen schön weit weglocken, da bin ich sicher. Die NAUTILUS schafft die Entfernung, für die die PRINZ FERDINAND einen Tag braucht, in weniger als einer Stunde.«

»Dann muss sie ein gutes Stück schneller sein als die WOTAN«, sagte Trautman. »Woher wissen Sie das?« Trautman winkte ab. »Ich war der Leiter dieser Expedition, mein Junge. Vom Dorff hat mir dasselbe

Angebot gemacht wie dir. Und ich bin natürlich zum Schein darauf eingegangen und habe mich hier umgesehen. So lange, bis ich dachte, ich hätte einen sicheren Fluchtweg entdeckt. Leider habe ich mich getäuscht.«

»Und seitdem sitzen Sie im Kerker.«

»Ja«, sagte Trautman. »Genau wie du und mein Vater – wenn es deinen Freunden nicht gelingt, uns hier herauszuholen. Ich hoffe, sie kommen auch wirklich.« »Hundertprozentig«, versicherte Mike. Draußen auf dem Gang wurden Schritte laut und sie verstummten abrupt. Nach einigen Augenblicken

traten Vom Dorff, Berghoff und zwei Soldaten ein. Mike fiel auf, dass die Soldaten nicht bewaffnet waren. »Nun?«, fragte Berghoff, an Trautman gewandt. »Sind Sie so weit?« »Ja.« Trautman stand auf. »Sie können die WOTAN zum Auslaufen bereitmachen, Herr Kapitän.« Mike blinzelte. Was? Was?! »Sie wollen nicht vorher zu Ihrem Vater?«, fragte Vom Dorff. »Das muss warten«, antwortete Trautman kopfschüttelnd. »Ich fürchte, wir haben nicht allzu viel Zeit. Die NAUTILUS kreuzt draußen vor der Küste und versucht

im Moment Hansen wegzulocken. Funken Sie ihn an, dass er nicht darauf hereinfallen soll. Wir sind in

spätestens drei Stunden bei ihm.« Mikes Atem stockte schier und sein Herz begann zu rasen. Er hörte, was Trautman sagte, aber er weigerte sich einfach, es zu glauben.

»Was ... was bedeutet ... das?«, krächzte er. »Ich würde sagen, dass du zu vertrauensselig bist, mein Junge«, sagte Trautman lächelnd.

»Sie haben ... gelogen«, stammelte Mike. »Es war alles gelogen! Von Anfang an!« »Nicht alles«, sagte Trautman. »Eigentlich nur das Allerwenigste, um genau zu sein. Ich habe dir doch gesagt, dass sich ein paar von uns mit Vom Dorff und den anderen zusammengetan haben. Um genau zu sein, sogar die meisten. Auch wenn anscheinend einer unserer Kameraden falsch spielt.« Er wandte sich an Vom Dorff. »Lassen Sie Sörensen verhaften. Offenbar funkt er seit einiger Zeit heimlich nach Hilfe.«

»Wir sollten ihm dankbar sein«, sagte Vom Dorff. »Ohne ihn wäre die NAUTILUS wahrscheinlich niemals hier aufgetaucht.« Er gab einem Soldaten einen Wink. »Erledigen Sie das.«

Der Mann ging und Mike starrte wieder Trautman an. Er spürte, wie sich seine Augen mit brennenden Tränen füllten. »Sie ... Sie haben mich die ganze Zeit über belogen«, sagte er. »Wahrscheinlich sind Sie nicht einmal Trautmans Sohn, sondern sehen ihm nur ähnlich.«

»O nein, er ist schon mein Vater«, sagte Trautman. »Wir haben sogar eine Menge mehr gemein, als du vielleicht ahnst.« Er lachte. »Wir haben sogar denselben Beruf. Wir kommandieren beide ein atlantisches Unterseeboot. Nur unsere Ziele sind ein bisschen unterschiedlich.«

»Haben Sie den Mut, das Ihrem Vater ins Gesicht zu sagen?«,fragte Mike.»Selbstverständlich«,antworteteTrautman.»Sobaldichzurück bin.«»Siesindverrückt,wennSieglauben,dassSiedie

NAUTILUS so leicht aufbringen können«, sagte Mike. »Ich habe nicht gesagt, dass es leicht wird«,antwortete Trautman. »Aber wir haben den Vorteil der Überraschung auf unserer Seite. Dein Freund Singh erwartet vielleicht die >U37<, aber bestimmt nicht so etwas wie die WOTAN.«

»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Mike. »Wollen Sie Singh und die anderen umbringen?«

»Gott bewahre!«, sagte Trautman. »Wir brauchen die NAUTILUS. Einen solchen Schatz versenkt man doch nicht einfach.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein. Keine Angst, Mike. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um die NAUTILUS unbeschädigt in meine Gewalt zu bringen.«

Mike sagte nichts mehr, sondern starrte Trautman nur an. Er war enttäuscht, wütend und verletzt wie selten zuvor in seinem Leben. Aber das war nicht einmal das Schlimmste.

Das Allerschlimmste ist, dachte Mike, dass Trautman durchaus gute Chancen hatte, erfolgreich zu sein.

»Ich bin nicht überrascht.« Trautman hatte sich in seinem Bett aufgesetzt und sah ihn traurig an. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe und er war noch immer blass, aber ansonsten hatte er sich ganz gut erholt. Er war eben zäh. »Enttäuscht, ja, aber nicht überrascht. Was du mir erzählt hast, passt genau zum Charakter meines Sohnes.«

»Und ich habe ihm alles verraten!«, sagte Mike. »Wenn es ihm jetzt gelingt, die NAUTILUS zu kapern, dann ist das ganz allein meine Schuld.«

»Ist es nicht«, widersprach Trautman. »Woher hättest du es wissen sollen? Wenn jemanden die Schuld trifft, dann mich. Ich hätte dich warnen müssen.«

»Warum haben Sie uns eigentlich nie erzählt, dass Sie einen Sohn haben?«, fragte Mike.

Trautman setzte sich weiter auf. Seine Linke spielte mit kleinen, nervösen Bewegungen an den weißen Mullbinden, mit denen sein rechter Arm und seine Schulter bandagiert waren, während er antwortete. »Ja, warum habe ich nie darüber geredet? Ich weiß es nicht. Vielleicht weil kein Vater stolz darauf ist, zuzugeben, dass sein einziger Sohn ein gewissenloser Verbrecher geworden ist.«

»Das wissen Sie doch gar nicht«, widersprach Mike. »Vielleicht hat Vom Dorff ihn ja gezwungen, ihm zu helfen.«

»Gezwungen?« Trautman schnaubte. »Du kennst Thomas nicht. Es sollte mich wundern, wenn er nicht in spätestens einem Jahr der Chef hier ist.«

Mike war ziemlich sicher, dass er es jetzt schon war. Als er mit Vom Dorff und Berghoff gesprochen hatte, da hatte er jedenfalls nicht den Eindruck gemacht, mit einem Vorgesetzten

zu reden. Aber das behielt er im Moment lieber für sich. Es

hatte keinen Zweck, Trautman noch mehr wehzutun.

»Was ist passiert?«, fragte Mike. »Zwischen Ihrem Sohn und Ihnen, meine ich.«

Trautman zuckte mit den Achseln, verzog dann schmerzhaft die Lippen und hob die Hand an seine verletzte Schulter. »Die übliche Geschichte eben«, sagte er. »Die, die oft zwischen Vätern und Söhnen vorkommt – wir wollten einander ununterbrochen beweisen, wer der Bessere ist.«

Mike verstand das nicht ganz – wie auch? Schließlich hatte er seinen Vater niemals kennen gelernt. Er sagte nichts und Trautman fuhr mit leiser, beinahe abwesend klingender Stimme fort: »Es war auch meine Schuld. Vielleicht habe ich ein paar Mal zu oft den starken Mann herausgekehrt. Wir waren uns nie einig. Als ich mich damals entschlossen habe, bei Nemo zu bleiben, kam es schließlich zum großen Streit.«

»Er wusste davon?«

»Nicht alles, aber eine Menge, ja«, bestätigte Trautman. »Er war immerhin mein Sohn. Warum sollte ich Geheimnisse vor ihm haben? Eine Weile hatte ich sogar die Hoffnung, dass wir ... zusammenbleiben könnten.«

»Auf der NAUTILUS?«

Trautman nickte. »Ich war Ingenieur, während Thomas sich entschloss, die wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Natürlich faszinierten ihn die Geheimnisse der alten Atlanter und ich zeigte ihm davon, was immer ich zu verantworten können glaubte. Nicht alles – aber ich fürchte, trotzdem zu viel.«

Mike hörte schweigend zu, während Trautman von sich und seinem Sohn erzählte – wie sie gemeinsam die faszinierende Technik der NAUTILUS zu enträtseln versucht hatten, wie sie darüber spekuliert hatten, welche Wunder das untergegangene Volk der Atlanter noch hinterlassen haben mochte, wie sie zu finden sein würden und vor allem, wie man sie zum Segen der Menschheit einsetzen konnte. Mike brannten tausend Fragen auf der Zunge, aber er hütete sich, Trautman auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen. Er spürte genau, wie wichtig es für Trautman war, ihm all dies zu erzählen. In all den Jahren, die sie jetzt zusammen waren, hatte Trautman niemals auch nur erwähnt, dass er einen Sohn hatte. Aber während er Trautman zuhörte, wurde ihm klar, wie sehr der alte Mann darunter gelitten haben musste; und wie sehr es ihn erleichterte, nun endlich einmal darüber reden zu können.

»Der endgültige Bruch kam wohl, als ich an Bord der NAUTILUS ging«, schloss Trautman, nachdem er sicher eine halbe Stunde geredet hatte, wenn nicht länger. »Thomas wollte die Geheimnisse der Atlanter ergründen. Er suchte überall auf der Welt nach ihren Hinterlassenschaften, aber er war nicht sehr erfolgreich. Das Wenige, was von ihrer Welt übrig geblieben ist, liegt zumeist tief unter Wasser auf dem Meeresgrund. Um es zu finden, hätte er die NAUTILUS gebraucht.«

»Und die wollte Nemo ihm nicht geben«, vermutete Mike.

»Natürlich nicht. Dein Vater hat Thomas nie wirklich getraut. Damals war ich ziemlich verletzt. Heute muss ich gestehen, dass er Recht hatte.«

Er brach ab. Seine Stimme war bei den letzten Worten immer leiser geworden und der Ausdruck auf seinem Gesicht brach Mike schier das Herz. Er musste sich ein paar Mal räuspern, um überhaupt weiterreden zu können. »Und ... dann?«, fragte er.

»Wir haben uns aus den Augen verloren«, sagte Trautman. »Ein paar Mal habe ich noch etwas über ihn gehört, aber wir haben uns seit gut zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Ich habe gehört, dass er eine archäologische Laufbahn eingeschlagen hat.«

»Um auf diese Weise mehr über die Atlanter herauszufinden«, vermutete Mike.

»Ja. Und dann hat Chris diesen SOS-Ruf aufgefangen. Nachdem ich ihn übersetzt hatte, war mir sofort klar, dass Thomas endlich Erfolg gehabt hat.«

»Aber warum haben Sie uns nichts davon erzählt?«, fragte Mike.

»Weil ich Angst hatte, dass genau das passiert, was jetzt auch passiert ist«, antwortete Trautman. »Was zwischen Thomas und mir ist, ist meine Sache. Ich wollte euch nicht in Gefahr bringen.«

»Das sehe ich anders«, antwortete Mike. »Es ist nicht Ihre Sache. Jetzt nicht mehr, wo sie die WOTAN und ... und all das hier haben! Wir müssen sie aufhalten oder die Folgen sind unabsehbar.«

Trautman lächelte traurig. »Ich fürchte, dafür ist es zu spät«, sagte er. »Thomas versteht fast so viel von der Technik der alten Atlanter wie ich. Und diese Anlage hier gleicht der, in der wir damals die NAUTILUS gefunden haben. Nur dass diese hier vollkommen intakt zu sein scheint, während die Stadt auf der

Vergessenen Insel damals wenig mehr als eine Ruine war.«

»Ich verstehe«, sagte Mike, aber Trautman schüttelte den Kopf.

»Nein, du verstehstnicht«,sagte er betont. »Du machst dir anscheinend immer noch keine Vorstellung davon, was das hier ist. Mit dieser Festung und der WOTAN sind Vom Dorff und die anderen in der Lage, die Welt zu beherrschen! Und Thomas wird ihnen dabei helfen.«

»Ein Grund mehr, ihn aufzuhalten«, sagte Mike.

»Dazu ist es zu spät«, sagte Trautman traurig. »Es ist alles meine Schuld, Mike. Ich kann nur noch

versuchen, es nicht noch schlimmer werden zu lassen.« Mike verstand nicht genau, was Trautman mit diesen Worten meinte, aber sie lösten ein sehr ungutes Gefühl in ihm aus. »Was genau meinen Sie damit?«, fragte er.

Statt ihm direkt zu antworten, richtete sich Trautman etwas weiter im Bett auf und rief mit erhobener

Stimme: »Ist da irgendjemand?« Eine ziemlich überflüssige Frage, wie Mike fand. Sie wussten beide, dass vor der Tür des Krankenzimmers zwei bewaffnete Soldaten standen, die den Befehl hatten, sie zu bewachen. Einer von ihnen streckte den Kopf herein und sah Trautman wortlos und fragend an.

»Vom Dorff«, sagte Trautman. »Ich muss ihn sprechen. Es ist dringend. Sagen Sie ihm, dass ich ihm

einen Vorschlag zu machen habe.« »Was für einen Vorschlag?«, fragte Mike, kaum dass der Mann gegangen war. »Was haben Sie vor?« »Das Einzige, was mir noch übrig bleibt«, antwortete Trautman. »Du und die anderen an Bord der NAUTILUS habt nichts mit alledem zu tun. Ich will nicht, dass ihr für meine Fehler büßen müsst.«

»Was soll das heißen?«, fragte Mike scharf. »Trautman!«

Aber Trautman antwortete nicht mehr. Er sah ihn nur wortlos an und schließlich drehte er mit einem Ruck den Kopf zur Seite und starrte zu Boden, bis Vom Dorff kam. Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, was Mike zu dem Schluss brachte, dass der Deutsche wohl

regelrecht darauf gewartet haben musste, von Trautman gerufen zu werden. »Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen«, begann Trautman. »Was für einen Vorschlag?«, fragte Mike noch einmal. Er schrie fast, aber sowohl Trautman als auch

Vom Dorff ignorierten ihn.

»Ich höre«, sagte Vom Dorff. Er wirkte sehr angespannt. Anders als bisher trug er jetzt nicht mehr seinen eleganten Anzug, sondern eine dunkelblaue Uniform, die ihm ausgezeichnet stand. »Sie haben gewonnen, Vom Dorff«, sagte Trautman. »Ich gebe auf. Ich kann nicht gegen meinen eigenen Sohn kämpfen.« »Und was genau soll das bedeuten?«, fragte Vom Dorff. Sein Misstrauen war nicht zu übersehen. »Ich werde Ihnen alles erzählen, was Sie wissen wollen«, antwortete Trautman. »Alles, was ich selbst

über die atlantische Technik weiß.« »Das hat Ihr Sohn bereits getan«, antwortete Vom Dorff, aber Trautman machte nur eine abfällige Geste mit der gesunden Hand.

»Sie glauben doch wohl nicht, dass ich ihm alles beigebracht habe«, sagte er. »Ich habe ihm nie völlig getraut, und wenn Sie sich mit ihm unterhalten haben, dann wissen Sie das auch. Wäre es nicht so, würden Sie sich wahrscheinlich gar nicht mit mir abgeben.«

Vom Dorff antwortete nicht darauf, aber sein Schweigen schien Trautman auch Antwort genug zu sein, denn er fuhr nach einigen Sekunden fort: »Ich kenne all diese Maschinen und Apparate hier. Geben Sie mir eine Woche und ich erwecke diese gesamte Anlage wieder zum Leben. Dann haben Sie eine Festung, die alle Armeen der Welt zusammen nicht einnehmen könnten.«

Wieder starrte Vom Dorff ihn lange und schweigend an. In seinem Gesicht arbeitete es. Mike konnte regelrecht sehen, wie sich die Gedanken hinter seiner Stirn jagten. Ihn selbst erfüllten Trautmans Worte mit einer Mischung aus Entsetzen und hysterischer Erleichterung, aber für Vom Dorff mussten sie eine kolossale Verlockung darstellen.

»Ich würde Ihnen ja gerne glauben«, sagte er schließlich. »Aber es fällt mir schwer, diesen plötzlichen Sinneswandel zu akzeptieren. Warum sollte ich Ihnen glauben?«

»Weil ich eine Gegenleistung verlange«, sagte Trautman. Er deutete auf Mike. »Sie werden ihn freilassen.

Ihn und die anderen, sollte es meinem Sohn tatsächlich gelingen, die NAUTILUS zu kapern. Ihre Freiheit gegen mein Wissen. Das ist mein Angebot. Ich werde nicht darüber verhandeln.«

»Das klingt fair«, sagte Vom Dorff. »Aber ich kann es nicht allein entscheiden. Und ich brauche einen Beweis, dass Sie es auch wirklich ernst meinen.«

»Bringen Sie mich in die Schaltzentrale und ich zeige Ihnen Dinge, von denen Sie bisher noch nicht einmal geträumt haben«, sagte Trautman.

Vom Dorff schürzte die Lippen. »Für wie dumm halten Sie mich, alter Mann? Sie glauben doch nicht wirklich, ich bringe Sie ins Herz dieser Anlage und lasse Sie an allen möglichen Knöpfen und Schaltern herumspielen –«

»Um was zu tun?«, unterbrach ihn Trautman. »Die ganze Stadt in die Luft zu jagen? Kaum. Das würde auch unseren Tod bedeuten. Nicht, dass ich noch so sehr an meinem Leben hänge. Ich bin ein alter Mann, der seine letzten Jahre längst hinter sich hat. Aber ich würde niemals Mikes Leben in Gefahr bringen.«

Das überzeugte Vom Dorff. Er zögerte zwar noch einmal ein paar Sekunden, nickte aber dann und trat zwei Schritte von Trautmans Bett zurück. »Also gut«, sagte er. »Sie bekommen Ihre Chance. Aber tun Sie nichts Unüberlegtes. Wenn Sie versuchen, mich reinzulegen, dann muss Ihr junger Freund hier darunter leiden.«

Es verging noch einmal fast eine Stunde, nachdem Vom Dorff gegangen war, bis sie von zwei Soldaten abgeholt und in die Schaltzentrale der atlantischen Festung gebracht wurden. Sie befand sich in einem großen, würfelförmigen Gebäude unmittelbar am Hafen, das zahlreiche Balkone und

Außentreppen hatte, und Mike bekam den Mund vor Staunen

gar nicht wieder zu, kaum dass sie es betraten.

Von außen wirkte das Gebäude klotzig, aber sein Inneres entpuppte sich als wahres technisches Labyrinth. Der Raum, in den die Soldaten sie brachten, wirkte wie eine dutzendfach vergrößerte und hundertfach kompliziertere Version des Kommandopultes an Bord der NAUTILUS. Die Wände waren mit Bildschirmen, Monitoren und tausend verschiedenen Kontroll-und Messinstrumenten übersät und vor drei der vier Wände standen verwirrende Kontrollpulte, deren bloßer Anblick Mike schon fast schwindeln ließ.

Vom Dorff saß in einem bequemen Ledersessel mit übergroßer Lehne, stand aber bei ihrem Eintreten auf. »Nun, Herr Trautman«, begann er. »Sie sehen, ich habe mein Wort gehalten. Das hier ist das Herz dieser ganzen Stadt.«

»Eher ihr Gehirn«, antwortete Trautman. Er trat langsam auf Vom Dorff zu, blieb einen Schritt vor ihm stehen und ließ seinen Blick nachdenklich über das komplizierte Durcheinander von Instrumenten und Gerätschaften gleiten. Er runzelte die Stirn. Mike fand, dass er ein bisschen hilflos aussah.

»Sie erkennen also unser Problem«, sagte Vom Dorff spöttisch. »Das alles ist wirklichsehrkompliziert. Aber Sie kennen sich ja damit aus – hoffe ich.«

»Für den Anfang wird es reichen«, sagte Trautman. »Wenn ich das hier richtig sehe, dann ist es Ihnen nicht einmal gelungen, die Heizung richtig einzustellen. Es ist zu warm hier. In drei Jahren schmilzt Ihnen der Himmel über dem Kopf weg.«

»Können Sie das korrigieren?«, fragte Vom Dorff. »Das wäre schon ein guter Anfang.«

»Kein Problem«, sagte Trautman. »Aber ich glaube, ich weiß sogar noch etwas Besseres.«

Vom Dorff machte ein fragendes Gesicht und Trautman lächelte, drehte sich fast gemächlich zu ihm um und verpasste ihm einen Kinnhaken.

Sein rechter Arm hing noch immer in der Schlinge und er war mindestens dreißig Jahre älter als Vom Dorff, aber alter Mann oder nicht, verletzter Arm hin oder her, seine Linke war immer noch so gut wie in seinen besten Jahren. Vom Dorff wurde ein gutes Stück von den Füßen und in die Höhe gerissen, verdrehte die Augen und stürzte rücklings in seinen Sessel zurück. Noch während er fiel, wirbelte Trautman mit einer schier unglaublich schnellen Bewegung herum, sprang zum Kontrollpult und senkte den Finger auf eine große, orangerot leuchtende Taste.

Mike hielt vor Entsetzen die Luft an, als die beiden Soldaten ihre Gewehre hoben und auf Trautman richteten.

»Das würde ich mir überlegen«, sagte Trautman. »Ich zweifle nicht daran, dass Sie mich mit dem ersten Schuss treffen, meine Herren. Aber Sie sollten schon sehr sicher sein, dass ich keine Gelegenheit mehr finde, diesen Knopf zu drücken. Denn wenn es mir gelingt, dann hat Grönland in Zukunft eine neue Attraktion ... einen künstlichen Vulkan.«

Die Männer zögerten. Ihre beiden Gewehre waren weiter auf Trautmans Kopf gerichtet und ihre Finger spielten nervös an den Abzügen. Aber Mike sah auch den Ausdruck in ihren Augen. Sie hatten Angst. Er übrigens auch.

»Die Gewehre runter!«, befahl Trautman. »Ich habe nichts mehr zu verlieren, meine Herren!«

Einer der Soldaten senkte zögernd sein Gewehr, sah dann noch einmal unschlüssig von Vom Dorff zu Trautman und dem roten Knopf, über dem seine Hand schwebte – und legte die Waffe dann zu Boden. Einen Moment später folgte sein Kamerad seinem Beispiel.

»Mike!«, sagte Trautman.

Mike trat rasch zu den beiden Männern hin, schleuderte eines der beiden Gewehre mit einem Fußtritt in die gegenüberliegende Ecke des Raumes und hob das andere auf. Hastig wich er wieder ein paar Schritte zurück und richtete die Waffe auf die beiden Männer. »Alles in Ordnung?«, fragte Trautman.

Mike nickte. Natürlich war nichts in Ordnung. Das Gewehr lag schwer und irgendwie unangenehm in seiner Hand und er war sich sehr deutlich der Tatsache bewusst, wie wenig ihm diese Waffe nutzte, wenn es hart auf hart kam. Er würde niemals auf einen Menschen schießen.

Aber das konnten die beiden Soldaten natürlich nicht wissen.

»Gut.« Trautman seufzte tief und hörbar erleichtert – und drückte den roten Schalter mit aller Kraft in die Fassung. Mike fuhr erschrocken zusammen und die beiden Soldaten wurden kreidebleich.

Ein leises, metallisches Schnappen erklang. Unter der Decke des Raumes öffnete sich eine Anzahl paralleler Schlitze und ein Strom eiskalter Luft fauchte herein.

»Hoppla«, sagte Trautman grinsend. »Da habe ich doch glatt die Klimaanlage erwischt. Bei all diesen Knöpfen kann man

aber auch wirklich zu leicht die Übersicht verlieren.«

Einer der beiden Soldaten riss die Augen auf und wurde noch blasser. Der andere machte einen halben Schritt vorwärts und blieb wieder stehen, als Mike drohend das Gewehr hob. Trautman grinste noch breiter, ging ohne das geringste Anzeichen von Hast zur anderen Seite des Raumes und hob das zweite Gewehr auf.

»Und jetzt raus!«, sagte er.

Die beiden Soldaten verschwanden wie der Blitz und Trautman wandte sich wieder zum Kontrollpult zu und blickte stirnrunzelnd über das Durcheinander von Skalen und Knöpfen. Nach ein paar Sekunden drückte er einen Knopf und mit einem dumpfen Knall senkte sich eine massive Eisenplatte aus der Decke und verschloss die Tür.

»So«, sagte Trautman erleichtert. »Das dürfte für den Anfang erst einmal reichen. Jetzt müssen sie sich schon etwas einfallen lassen, um hier hereinzukommen.«

»Ich wusste es!«, sagte Mike.

»Was?«

»Dass Sie sich niemals mit diesen Verbrechern einlassen würden«, antwortete Mike. »Ich wusste nur nicht genau, was Sie vorhatten.«

»Freu dich nicht zu früh«, sagte Trautman. »Wir sind hier drinnen zwar halbwegs in Sicherheit, aber wir sind zugleich auch gefangen.«

Vom Dorff regte sich stöhnend. Trautman legte rasch das Gewehr beiseite und bedeutete Mike, ihm zu helfen. Gemeinsam fesselten sie Vom Dorffs Arme und Beine an den Stuhl, und sie waren kaum damit fertig, als der Deutsche die Augen aufschlug. Mike hatte damit gerechnet, dass Vom Dorff sich mit aller Kraft gegen seine Fesseln wehren oder sie zumindest mit Beschimpfungen und Drohungen überschütten würde, aber Vom Dorff saß einfach nur da und starrte Trautman und ihn abwechselnd an. Es verging fast eine Minute, bis er das Schweigen brach.

»Das war nicht besonders klug von Ihnen, Herr Trautman«, sagte er.

Trautman ballte die linke Hand vor dem Gesicht zur Faust und blickte nachdenklich auf seine Knöchel hinab. »Möglicherweise«, gestand er. »Aber es hat verdammt gut getan.«

»Mir nicht«, sagte Vom Dorff. »Und was haben Sie jetzt vor, wenn ich fragen darf?«

»Sie dürfen«, antwortete Trautman. Er zog sich einen zweiten Stuhl heran, setzte sich und begann sich am Kontrollpult zu schaffen zu machen. Schon nach wenigen Augenblicken erwachte ein Großteil derBildschirme und Kontrollinstrumente an den Wänden zum Leben. Überall auf den Pulten flackerten Lämpchen und bewegten sich Zeiger über fremdartig beschriftete Skalen und für einen kurzen Moment hatte Mike das Gefühl, ein machtvolles Vibrieren zu spüren, das durch den Boden unter ihren Füßen lief. »In einem Punkt haben Sie ja offenbar die Wahrheit gesagt«, sagte Vom Dorff. »Sie kennen sich mit diesen Geräten aus.«

»Besser, als Ihnen wahrscheinlich lieb ist«, grollte Trautman.

»Das nutzt Ihnen nichts«, beharrte Vom Dorff. »Sie kommen hier nicht heraus. Und der Junge auch nicht.«

»Da wäre ich nicht so sicher«, sagte Trautman.

»Wenn Sie darauf spekulieren, dass meine Leute auf mich Rücksicht nehmen, könnten Sie eine böseÜberraschung erleben«, sagte Vom Dorff. »Weder Berghoff noch Hansen werden sich erpressen lassen. Und Ihr Sohn schon gar nicht. Also, was zum Teufel glauben Sie mit dieser Wahnsinnsaktion eigentlich erreichen zu können?«

»Ich gehe nur sicher, dass Sie auch Ihr Wort halten«, sagte Trautman. »Mike, siehst du die beiden großen grünen Schalter dort drüben? Drück sie nacheinander, wenn ich dir das Zeichen gebe.«

Mike gehorchte, und kaum hatte er es getan, da begann der Boden unter ihnen wieder zu vibrieren. Diesmal hörte das Zittern nicht wieder auf. Trautman nickte zufrieden und fuhr fort, in rascher Folge Knöpfe zu drücken und Buchstaben-und Zahlenkombinationen in Tastaturen zu hämmern. Eine Alarmsirene begann zu heulen und verstummte mit einem misstönenden Quietschen wieder, als Trautman ärgerlich auf eine Taste schlug. Schließlich lehnte er sich in seinem Sessel zurück und ließ einen langen, zufriedenen Seufzer hören.

»Was haben Sie getan?«, fragte Vom Dorff misstrauisch.

»Ich will versuchen, es einfach auszudrücken«, antwortete Trautman. »Diese ganze Stadt wird von einer Energiequelle der gleichen Art gespeist, die es auch an Bord der NAUTILUS und der WOTAN gibt. Es ist ein Reaktor, der dieselben Kräfte freisetzt, wie sie zum Beispiel im Inneren der Sonne herrschen. Können Sie mir noch folgen?«

Vom Dorff nickte. Er war sehr blass geworden.

»Sie können sich vorstellen, dass es nicht leicht ist, diese Kräfte zu bändigen«, fuhr Trautman fort. »Und was passiert, wenn sie außer Kontrolle geraten. Es gibt hochkomplizierte Mechanismen, die sie unter Kontrolle halten. Ich habe diesen Mechanismus gerade außer Kraft gesetzt.«

»Wie?« Vom Dorff riss entsetzt die Augen auf. »Was ... was bedeutet das?«

»Wenn ich die Grafitstäbe nicht wieder hineinschiebe«, antwortete Trautman lächelnd, »dann gibt es eine Kernschmelze. In genau sechs Stunden. Das sagt Ihnen wahrscheinlich nichts, aber Sie können sicher sein, dass im Umkreis von zwanzig Kilometern hier kein Stein auf dem anderen bleibt.«

»Das meinen Sie nicht ernst!«, keuchte Vom Dorff. Plötzlich begann er doch wie verrückt an seinen Fesseln zu zerren. »Das würde auch Ihren eigenen Tod bedeuten! Und den Mikes!«

»Nur, wenn ich es nicht stoppe«, erklärte Trautman. »Das ist kein Problem. Ich muss nur ein paar ganz bestimmte Knöpfe drücken. Leider fürchte ich, dass ich der Einzige bin, der genau weiß, welche.«

»Dann tun Sie es!«, verlangte Vom Dorff.

»Gerne«, antwortete Trautman. »Sobald Sie Mike freigelassen haben und ich sicher bin, dass er weit genug weg ist.«

»Sie bluffen«, behauptete Vom Dorff.

Trautman hob die unverletzte Schulter. »Warten Sie einfach sechs Stunden ab, dann wissen Sie es. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Und Mike auch nicht. Sie bringen uns beide sowieso um, sobald Sie haben, was Sie wollen. Oder stecken uns für den Rest unseres Lebens in den Kerker, was vielleicht noch schlimmer ist.«

»Was genau verlangen Sie?«

»Das wissen Sie«, sagte Trautman. »Lassen Sie Mike gehen. Sobald er in Sicherheit ist, stoppe ich den Reaktor.«

»Und wenn nicht, bringen Sie Hunderte von Menschen um?« Vom Dorff schüttelte heftig den Kopf.

»Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Ich behaupte nicht, dass ich es gerne tue oder es mir nichts ausmacht«, sagte Trautman. Auf dem Pult vor ihm begann eine rote Lampe zu flackern. Trautman sah sie einen Moment lang stirnrunzelnd an, dannfuhr er fort: »Aber es wäre das kleinere Übel. Wenn dieser verrückte Berghoff und mein missratener Sohn diese Anlage hier in ihre Hände bekommen, dann werden vielleicht Tausende sterben. Millionen, möglicherweise. Und Mike und die anderen von der NAUTILUS ganz sicher. Lassen Sie den Jungen gehen und ich schalte ab. Wenn nicht ...«

»Ich gehe nicht allein von hier weg!«, sagte Mike. »Und ob du das tun wirst«, erwiderte Trautman. »Willst du lieber zusammen mit mir hier sterben? Du verschwindest! Das ist ein Befehl!«

»Und Sie?«

Trautman schnaubte. »Du musst dir keine Sorgen um mich machen«, sagte er. »Sie werden mir nichts tun. Nicht, solange ich ihnen nicht alles über diese Apparate hier verraten habe, was ich weiß. Und das wird sehr, sehr lange dauern. Es sind eine Menge Knöpfe und mein Gedächtnis ist nicht mehr das beste.« Er wandte sich an Vom Dorff. »Also?«

Vom Dorff starrte ihn an. Seine Augen sprühten vor Hass. »Dafür werden Sie bezahlen, das schwöre ich!«

»Darf ich das als Ja interpretieren?«, fragte Trautman.

Vom Dorff nickte. »Binden Sie mich los. Niemand wird Ihnen etwas tun.«

Trautman gab Mike ein entsprechendes Zeichen, sagte aber: »Falls Sie jetzt etwa planen, uns von Ihren Leuten überwältigen zu lassen und die Lösung unseres kleinen ... Problems aus mir herauszupressen, denken Sie an zwei Dinge: Ich bin ein ziemlich sturer Mann und ein ziemlich alter Mann. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob und wie lange ich eine wirklich schlimme Folter durchstehe, ehe mein Herz aussetzt. Und Sie könnten niemals sicher sein, ob ich Ihnen auch wirklich die Wahrheit gesagt habe ... nicht vor Ablauf von sechs Stunden, meine ich.«

»Im Gegensatz zu Ihnen halte ich mein Wort«, sagte Vom Dorff wütend.

Trautman grinste. »Sie können sicher sein, dass das nicht der einzige Unterschied zwischen uns ist. Sind wir im Geschäft?«

»Habe ich denn eine Wahl?«

»Nein«, antwortete Trautman. Er gab Mike einen Wink. »Du kannst ihn jetzt losbinden.«

Während Mike die Fesseln des Deutschen endgültig löste, drückte Trautman einen Knopf und die fingerdicke Stahlplatte vor der Tür hob sich zischend wieder in die Decke zurück. Sofort stürmten mehr als ein Dutzend Soldaten herein, die Trautman und ihn sofort und mit weitaus mehr Gewalt als notwendig überwältigten.

»Lasst das!«, sagte Vom Dorff scharf. »Lasst sie los. Sofort!«

Die Männer gehorchten, wenn auch zögernd und nicht ohne Vom Dorff verwirrt-fragende Blicke zuzuwerfen. Vom Dorff stand auf und rieb sich die Handgelenke. Die Stricke, mit denen sie ihn gefesselt hatten, hatten sichtbare rote Streifen auf seiner Haut hinterlassen. »Das ist nicht nötig«, fuhr er fort. »Das Ganze war nur ein dummes Missverständnis, nicht mehr.«

Natürlich waren die Männer jetzt vollkommen verwirrt. Aber nachdem Vom Dorff seine Worte noch einmal in schärferem Tonfall wiederholt hatte, zogen sie sich zurück.

»Zufrieden?«, fragte Vom Dorff.

»Zufrieden bin ich erst, wenn ich Mike unbehelligt aus dieser Stadt hinausspazieren sehe«, antwortete Trautman.

Vom Dorff warf einen nervösen Blick auf das Instrumentenpult, an dem sich Trautman zu schaffen gemacht hatte. »Dann sollten wir uns lieber beeilen«, sagte er. »Wir haben nicht allzu viel Zeit.«

Sie verließen den Raum. Ganz wie Mike erwartet hatte, wimmelte es draußen auf dem Gang nur so von Soldaten. »Schicken Sie sie weg«, verlangte Trautman. »Wir wollen doch kein Aufsehen erregen, oder?« Vom Dorff tat, was er verlangt hatte, und als sie ihren Weg fortsetzten, waren sie auch tatsächlich allein. Mike sah sich noch ein paar Mal aufmerksam um, während sie das Labyrinth aus Gängen und Treppenschächten durchquerten, aber sie würden tatsächlich nicht verfolgt. Es schien, als hielte Vom Dorff wirklich Wort. Erst als sie ins Freie hinaustraten, sahen sie wieder einige Soldaten, die aber einen respektvollen Abstand hielten.

»Und wohin jetzt?«, fragte Trautman.

Vom Dorff deutete mit einer Kopfbewegung auf das

geschlossene Eistor am anderen Ende des Hafenbeckens. »Dort. Es gibt nur eine kleine Tür neben dem großen Fluttor. Sie ist der einzige Ausgang aus der Stadt. In einer kleinen Kammer daneben finden wir auch warme Kleidung.«

Sie marschierten los. Mike fiel unauffällig ein kleines Stück zurück, bis er direkt neben Trautman ging. »Was haben Sie jetzt vor?«, raunte er ihm zu. »Ich meine: Wie kommen wir hier weg?«

»Wir?«Trautman schüttelte den Kopf. »Wir kommen gar nicht von hier weg, Mike.Duwirst gehen.«

»Aber –«

»Kein Aber«, unterbrach ihn Trautman, scharf und so laut, dass Vom Dorff die Worte einfach hören musste. »Wir machen es so, wie ich es gesagt habe. Du bringst dich in Sicherheit. Das ist deine einzige Chance, versteh doch! Und meine übrigens auch. Wenn du davonkommst, dann könnt ihr später versuchen mich irgendwie zu befreien. Ende der Diskussion.«

Ein hohes, immer lauter werdendes Heulen erklang, steigerte sich binnen Sekunden bis fast an die Schmerzgrenze und brach dann abrupt ab. Das Wasser des Hafenbeckens begann zu zittern und im nächsten Augenblick konnte Mike sehen, wie die Wand aus nachgemachtem Eis am anderen Ende des Hafenbeckens zu vibrieren begann und sich dann in der Mitte teilte.

»Was bedeutet das?«, fragte Trautman alarmiert.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete Vom Dorff. Zumindest die Überraschung in seiner Stimme klang echt. »Jemand kommt. Ein ... Schiff. Aber ich verstehe nicht ...«

Aus der dünnen Linie in der Mitte des Fluttores war mittlerweile ein Spalt geworden, der sich rasch weiter verbreitete. Das Wasser schäumte hoch auf, als sich die beiden Torhälften immer schneller auseinander bewegten. Dahinter kam ein gewaltiges, graugrünes Etwas mit gezacktem Stachelkamm und riesigen Bullaugen zum Vorschein.

»Das ist die WOTAN!«, keuchte Trautman. »Vom Dorff, was haben Sie vor?«

»Ich verstehe das ja auch nicht!«, protestierte Vom Dorff. »Glauben Sie mir, ich habe keine Ahnung! Das Schiff ist vor zwei Stunden erst ausgelaufen! Irgendetwas muss an Bord vorgefallen sein!«

Mittlerweile hatten sich die Tore weit genug geöffnet, um das Schiff passieren zu lassen. Die WOTAN glitt behäbig durch die gewaltige Pforte und kam in der Mitte des Hafenbeckens zur Ruhe.

»Irgendetwas stimmt da nicht«, sagte Trautman. »Vom Dorff, wenn das ein Trick ist, werden Sie ihn in weniger als sechs Stunden bereuen. Mein Sohn ist nicht in der Lage, die Kernschmelze aufzuhalten, falls Sie darauf spekulieren.«

Hinter den mannsgroßen Bullaugen im Turm der WOTAN bewegte sich ein Schatten und nur Augenblicke später öffnete sich die Luke oben am Turm und eine schlanke Gestalt in schwarzer Kleidung stieg heraus.

Nicht nur Mike zog überrascht die Luft zwischen den Zähnen ein, als er sie erkannte. Es war niemand anderer als Ben. Und natürlich war es die NAUTILUS.

»Ahoi, da unten!«, rief Ben fröhlich. »Wie geht's denn so?«

Eine Sekunde lang regte sich überhaupt nichts, aber dann kam plötzlich hektische Betriebsamkeit unterdie Soldaten, die ihnen in einigem Abstand gefolgt waren. Und nicht nur in sie. Überall auf Balkonen und Simsen, hinter Türen und Fenstern erschienen plötzlich Soldaten, die ihre Gewehre auf die NAUTILUS und den Jungen auf ihrem Turm richteten.

Ben zeigte sich davon allerdings nicht besonders beeindruckt. Er griff nur nach unten, und als er weitersprach, hielt er ein kleines, an einer spiraligen Schnur hängendes Mikrofon in der Hand, das seine Stimme zigfach verstärkte.

»Ich an eurer Stelle würde mir das dreimal überlegen«, donnerte er. »Auf diese Entfernung ist es nicht ganz leicht, mich zu treffen. Aber selbst wenn: Unten im Kommandoraum steht mein guter Freund Singh und er hat einen Finger auf dem Feuerknopf. Ihr wisst, was die Torpedos dieses Schiffes anrichten können. Ein einziger Schuss und wir verwandeln eure hübsche kleine Stadt in Kleinholz!«

»Das wagt er nicht!«, flüsterte Vom Dorff. »Das würde die NAUTILUS genauso vernichten.«

»Vielleicht«, sagte Trautman. »Vielleicht aber auch nicht. Außerdem glaube ich nicht, dass Ben darauf Rücksicht nimmt. Er ist ein bisschen verrückt, müssen Sie wissen. Und keiner von uns würde zögern sein Leben zu riskieren, um einen der anderen zu retten. So sind wir nun einmal.«

Vom Dorff schwieg verbissen. Sein Blick tastete unsicher über die Kaimauer und die Gebäude dahinter. Die Anzahl der Soldaten war noch weiter gewachsen. Mike schätzte, dass mittlerweile mehr als hundert Waffen auf die NAUTILUS gerichtet waren.

»Was ist nun, Freunde?«, fragte Ben. »Singh hat einen nervösen Zeigefinger. Was soll ich ihm sagen?«

»Vom Dorff?«, fragte Trautman. Vom Dorff schluckte nervös. »Was ... was ist mit dieser Kernschmelze? «, fragte er.

»Ich sage Ihnen, was zu tun ist«, antwortete Trautman. »Sobald wir an Bord der NAUTILUS und in sicherer Entfernung sind. Sie haben mein Wort. Hier kann in zehn Sekunden ein Krieg ausbrechen, der uns alle das Leben kostet, zumindest aber das sehr vieler Ihrer Leute. Oder Sie vertrauen mir und niemand kommt zu Schaden.«

Vom Dorff überlegte. Zehn Sekunden. Fünfzehn. Dreißig. Und dann hob er den Arm und winkte Ben zu.

»Ahoi, NAUTILUS!«, rief er. »Lassen Sie das Beiboot zu Wasser! Wir kommen an Bord!«

Zehn Minuten später glitt die NAUTILUS rückwärts und sehr langsam wieder aus dem Hafen hinaus. Die Lücke im Eis, in der sie sich nun befand, war gerade groß genug, um dem gewaltigen Schiff Platz zu bieten. Wenn sie tauchten, um unter die Eisdecke des zugefrorenen Sees zu gelangen, würden sie senkrecht absteigen müssen.

»Es wird Zeit«, sagte Ben. »Wir sollten nicht zu lange an diesem gastlichen Ort bleiben. Die WOTAN ist zwar im Moment irgendwo auf hoher See und jagt Gespenster, aber ich möchte nicht hier sein, wenn sie ankommt. Dieses Schiff macht mir Angst.«

»Wo ist es überhaupt?«, fragte Trautman.

»Weit weg«, antwortete Ben ausweichend. »Keine Angst.

Ihrem Sohn ist nichts passiert.«

»Woher ... weißt du das?«, fragte Mike verblüfft, aber Ben antwortete nur mit einem Grinsen und Trautman unterbrach das Gespräch, indem er sich an Vom Dorff wandte und mit der unverletzten Hand zum Ufer hinunter wies.

»Sie sollten jetzt von Bord gehen, Herr Vom Dorff. Sie haben auch nicht mehr alle Zeit der Welt.«

Vom Dorff sah auf die schimmernde Eisfläche fünf Meter neben dem Deck der NAUTILUS hinab. »Sie haben mir etwas versprochen«, erinnerte er.

»Dass niemand zu Schaden kommen wird, wenn Sie uns gehen lassen, ja«, bestätigte Trautman. »Und das wird auch nicht geschehen. Sie haben Zeit genug, die Stadt zu evakuieren. Kanuat wird Ihnen zeigen, wie Sie auf dem kürzesten Weg hier wegkommen.«

Vom Dorff blinzelte. »Das war nicht unsere Vereinbarung. Ich habe Sie für einen Ehrenmann gehalten, Trautman!«

»Was ich getan, habe, ist nicht rückgängig zu machen«, sagte Trautman. »Der Reaktorkern wird schmelzen. Keine Macht der Welt kann das jetzt noch verhindern.«

»Auch ... Sie nicht?«

»Auch ich nicht«, bestätigte Trautman.

Vom Dorff schloss für einen Moment die Augen. Als er weitersprach, war seine Stimme ganz leise und klang auf eine fast unheimliche Art leer und flach. »Sie konnten das nie, habe ich Recht?«, fragte er.

Trautman nickte.

»Sie müssen wirklich an das glauben, was Sie sagen«, fuhr Vom Dorff kopfschüttelnd fort. »Sie hatten tatsächlich vor, Ihr eigenes Leben zu opfern, nur um den Jungen zu retten. Sie sind ein erstaunlicher Mann, wissen Sie das eigentlich? So ganz anders als Ihr Sohn. Ich bedaure es ehrlich, dass wir uns nicht unter anderen Umständen begegnet sind.« »Was jetzt nicht ist, kann ja noch werden«, antwortete Trautman. »Aber nur, wenn Sie nicht noch mehr Zeit verschwenden. Gehen Sie und warnen Sie Ihre Leute. In fünf Stunden bricht hier ein Vulkan aus, der alles Leben im Umkreis von zehn Kilometern vernichtet. Ich nehme an, dass der gesamte See auftauen wird. Sie sollten also sehen, dass Sie und Ihre Leute bis dahin nicht mehr auf dem Eis sind. Kanuat wird Ihnen helfen. Geben Sie mir Ihr Wort, dass ihm nichts geschieht?«

»Ja«, antwortete Vom Dorff. Dann drehte er sich herum, sprang mit einer erstaunlich kraftvollen Bewegung auf das Eis hinab und rannte mit weit ausgreifenden Schritten auf das offen stehende Fluttor zu.

»Glauben Sie, dass er Wort hält?«, fragte Mike.

»Was Kanuat angeht?« Trautman nickte. »Ja. Er ist trotz allem ein Ehrenmann – was man von meinem Sohn nicht unbedingt behaupten kann.«

»Ich schlage vor, dass ihr euch darüber später unterhaltet«, sagte Ben. »Wir müssen von hier verschwinden, und zwar schnell!«

Sie kletterten auf den Turm hinauf, quetschten sich nacheinander durch die Luke und machten sich auf den Weg zum Kommandoraum. Die NAUTILUS begann zu tauchen, noch bevor sie angekommen waren. Als sie in den Salon

stürmten, befand sich vor den großen Bullaugen schon nichts

mehr als die Dunkelheit des zugefrorenen Sees.

»Nichts wie weg hier!«, sagte Ben, während er bereits mit Riesenschritten auf das Kommandopult zustürmte. »Wenn wir die offene See nicht erreichen, bevor die WOTAN wieder in den Fluss einläuft, haben wir ein echtes Problem!«

»Wie kommt ihr überhaupt hierher?«, fragte Mike. »Und woher wisst ihr von der WOTAN und allem anderen?« Er fühlte sich ein wenig hilflos – und überflüssig. Im Steuerraum der NAUTILUS war eine hektische Aktivität ausgebrochen, aber jedermann war an seinem Platz und für Trautman und ihn gab es im Moment eigentlich nichts zu tun. In Ermangelung irgendeiner anderen Beschäftigung ging er zum Tisch und setzte sich. Die Tischplatte hatte sich nicht verändert. Sie lag noch immer so hoch voller Papiere und Karten wie in dem Moment, als Mike das letzte Mal hier gewesen war. Selbst das alberne Ouija-Brett lag noch an seinem Platz.

»Woher wohl?«, fragte Ben. »Von dir.« Das Schiff begann zu zittern und das Geräusch der Motoren wurde lauter, als sich die NAUTILUS auf der Stelle drehte und Fahrt aufnahm.

»Von ... mir?!«

»Astaroth«, erklärte Serena. »Er hat die ganze Zeit über deine Gedanken gelesen.« Sie deutete auf den schwarzen Kater, der zu Mikes Füßen auf dem Boden hockte und sich intensiv die Vorderpfoten leckte, so als ginge ihn das alles hier nichts an. »Wir waren sozusagen die ganze Zeit über dabei. Wäre es nicht so gewesen, dann hätte uns die WOTAN garantiert erwischt.«

»Ach so«, sagte Mike. Dann blinzelte er, sah zuerst Serena, dann den Kater und dann wieder Serena an. »Moment mal«, sagte er. »Das klingt ja alles ganz gut, aber wie zum Teufel hat Astaroth euch irgendetwas erzählen können? Ich bin der einzige Mensch an Bord, der mit ihm reden kann.«

»Stimmt«, sagte Serena fröhlich. Ben grinste noch breiter und Singh und Juan konzentrierten sich plötzlich vollkommen auf ihre Instrumente.

»Astaroth!«, sagte Mike scharf. »Würdest du mir freundlicherweise antworten!«

Astaroth blinzelte träge aus seinem einzigen Auge zu ihm hoch, gähnte herzhaft und sprang dann mit einem Satz auf den Tisch. Wahrscheinlich aus keinem anderen Grund als aus dem, Mike zu ärgern, begann er mit dem kleinen Zeigestab zu spielen, der zu dem Ouija-Brett gehörte.

»Ich verstehe«, sagte Mike beleidigt, »das Ganze geht mich offensichtlich nichts an, wie? Ihr habt jetzt Geheimnisse vor mir! Verratet ihr mir wenigstens, was wir tun, wenn wir diese ungemütliche Insel verlassen haben?«

Ben und die anderen antworteten immer noch nicht, aber Bens Grinsen wurde immer breiter und endlich begriff Mike auch, wohin der junge Engländer die ganze Zeit über geblickt hatte.

Nicht zu ihm. Er hatte den Tisch angesehen.

Genauer gesagt: Der Kater, der darauf saß und immer noch mit dem Ouija-Brett spielte.

Aber eigentlichspielteer gar nicht damit.

DANN, buchstabierte der einäugige Kater, SUCHEN WIR DIE WOTAN.

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