46 Fal Dara

Das Umland des Wegetores bestand aus bewaldeten Hügeln, aber von dem Tor selbst abgesehen gab es kein Anzeichen für einen Ogier-Hain. Die meisten Bäume wirkten wie graue Skelette, die in den Himmel griffen. Es waren weniger Nadelbäume zu sehen, als Rand das gewohnt war, und auch sie wiesen zum Teil nur tote, braune Nadeln auf. Loial sagte nichts dazu. Er schüttelte lediglich traurig den Kopf.

»Ebenso tot wie das Versengte Land«, sagte Nynaeve mit gerunzelter Stirn. Egwene zog den Umhang um sich zusammen und schauderte.

»Zumindest sind wir draußen«, sagte Perrin, und Mat fügte hinzu: »Aber wo draußen?«

»In Schienar«, sagte Lan. »Wir sind in den Grenzlanden.« In seiner harten Stimme schwang etwas mit, das ihnen sagte: beinahe zu Hause.

Rand raffte seinen Umhang um seine Schultern, weil es so kalt war. Die Grenzlande. Dann war auch die Fäule nah. Die Große Fäule. Das Auge der Welt. Und das, was sie dort tun mußten.

»Wir sind in der Nähe von Fal Dara«, sagte Moiraine. »Es ist nur ein paar Meilen entfernt.« Über den Baumwipfeln im Norden und im Osten erhoben sich Türme. Sie hoben sich dunkel vom Vormittagshimmel ab. Als sie über die Hügel und durch die Wälder ritten, verschwanden die Türme oftmals aus ihrer Sicht, tauchten aber wieder auf, wenn sie eine besonders hohe Erhebung überschritten.

Rand bemerkte Bäume, die wie vom Blitz gespalten schienen. »Es ist die Kälte«, antwortete Lan, als er ihn danach fragte. »Manchmal ist der Winter hier so kalt, daß der Saft der Bäume gefriert und die Baumstämme bersten. Es gibt Nächte, da kannst du sie wie Feuerwerk krachen hören, und die Luft ist dann so beißend, daß du glaubst, sie könne ebenfalls zerspringen. Im vergangenen Winter war das noch häufiger als sonst der Fall.«

Rand schüttelte den Kopf. Berstende Bäume? Und das in einem normalen Winter! Wie mußte es dann erst in diesem Winter ausgesehen haben? Für ihn unvorstellbar.

»Wer behauptet, daß der Winter vorbei sei?« fragte Mat mit klappernden Zähnen.

»Aber das hier ist doch ein schöner Frühling, Schafhirte«, sagte Lan. »Ein schöner Frühling, in dem man sich so richtig lebendig fühlt. Aber wenn dir Wärme lieber ist, na ja, in der Fäule ist es schon warm.«

Leise murmelte Mat: »Blut und Asche. Blut und blutige Asche!« Rand konnte ihn kaum verstehen, aber es klang, als komme es von Herzen.

Ihr Weg führte sie an Bauernhöfen vorbei, aber obwohl es Mittagessenszeit war, stieg kein Rauch aus den hohen gemauerten Schornsteinen. Auf den Feldern sah man weder Mensch noch Tier — nur manchmal stand ein verlassener Pflug oder Karren da, als könne der Eigentümer jede Minute zurückkommen.

Auf einem nahegelegenen Hof scharrte eine einsame Henne nach Futter. Ein Türflügel der Scheune wurde vom Wind hin und her gezerrt, der andere war am unteren Scharnier abgebrochen und hing schief. Das hohe Haus, das den Zwei-Flüsse-Augen Rands mit seinem spitzgiebligen, mit großen Holzschindeln gedeckten und beinahe bis zum Boden reichenden Dach eigenartig vorkam, lag still da. Kein Hund kam heraus, um sie anzukläffen. Mitten im Hühnerhof lag eine Sense. Neben dem Brunnen lagen umgeworfene Eimer.

Moiraine blickte im Vorbeireiten das Bauernhaus finster an. Sie hob Aldiebs Zügel, und die weiße Stute beschleunigte ihren Schritt.

Die Emondsfelder und Loial ritten in einer dichten Gruppe gleich hinter der Aes Sedai und dem Behüter.

Rand schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht vorstellen, daß hier überhaupt jemals etwas wuchs. Aber andererseits konnte er sich die Kurzen Wege ja auch nicht vorstellen. Selbst jetzt nicht, da er sie hinter sich hatte.

»Ich glaube nicht, daß sie dies erwartet hat«, sagte Nynaeve ruhig, und ihre Geste umfaßte alle die leeren Bauernhöfe, die sie gesehen hatten. »Wohin sind sie alle gegangen?« fragte Egwene. »Und warum? Sie können noch nicht lange weg sein.«

»Warum sagst du das?« fragte Mat. »Nach dem Aussehen dieses Scheunentors zu schließen, könnten sie schon den ganzen Winter weg sein.« Nynaeve und Egwene sahen ihn mitleidig an, als sei er geistig zurückgeblieben. »Die Vorhänge an den Fenstern«, sagte Egwene geduldig. »Sie sehen zu leicht aus für den Winter, selbst hier. So kalt, wie es hier ist, hätte keine Frau sie vor mehr als ein oder zwei Wochen aufgehängt — eher weniger.« Die Seherin nickte.

»Vorhänge.« Perrin lachte leise. Doch das Lächeln verschwand sofort aus seinem Gesicht, als ihn die beiden Frauen stirnrunzelnd anblickten. »Oh, ich bin der gleichen Meinung wie ihr. Auf dieser Sense befand sich nicht genug Rost, als daß sie mehr als eine Woche im Freien gelegen haben kann. Das hättest du bemerken müssen, Mat. Selbst wenn dir die Vorhänge nicht aufgefallen sind.«

Rand sah Perrin von der Seite her an. Er bemühte sich, nicht aufdringlich dreinzuschauen. Seine Augen waren schärfer als die Perrins — oder waren es gewesen, als sie noch zusammen Kaninchen jagten -, aber er hatte die Schneide der Sense nicht gut genug erkennen können, um Rost zu bemerken.

»Es ist mir wirklich gleich, wohin sie gegangen sind«, beklagte sich Mat. »Ich will nur irgendeinen Ort finden, an dem es ein Feuer gibt. Bald.«

»Aber warum sind sie weg?« fragte Rand mehr sich selbst. Die Große Fäule lag nicht weit weg von hier. Die Fäule, wo sich alle Blassen und Trollocs aufhielten, die nicht in Andor waren, um sie zu jagen. Die Fäule, und dorthin mußten sie.

Er erhob die Stimme, damit ihn die in seiner unmittelbaren Nähe Reitenden verstehen konnten. »Nynaeve, vielleicht solltest du und auch Egwene nicht unbedingt mit uns zum Auge weiterziehen.« Die beiden Frauen sahen ihn an, als fasele er Unsinn, aber da die Fäule nun schon so nahe war, mußte er doch einen letzten Versuch unternehmen. »Vielleicht reicht es, wenn ihr schon so nahe seid. Moiraine hat nicht gesagt, daß ihr dorthin gehen müßt. Oder auch du, Loial. Du könntest in Fal Dara bleiben, bis wir zurück sind. Oder dich auf den Weg nach Tar Valon machen. Möglicherweise findest du den Wagenzug eines Kaufmanns, oder Moiraine könnte für dich eine Kutsche mieten. Dann treffen wir uns in Tar Valon, wenn alles vorbei ist.«

»Ta'veren.« Loials Seufzer klang nach fernem Donnergrollen. »Du beeinflußt die Menschenleben in deiner Umgebung, Rand al'Thor — du und deine Freunde. Euer Schicksal bestimmt unseres.« Der Ogier zuckte die Achseln, und plötzlich überzog ein breites Grinsen sein Gesicht. »Außerdem ist es schon eine tolle Sache, wenn man den Grünen Mann treffen kann. Der Älteste Haman spricht immer davon, wie er den Grünen Mann einst getroffen hat, und mein Vater auch, wie die meisten unserer Ältesten.«

»So viele?« sagte Perrin. »In den Sagen heißt es, der Grüne Mann sei schwer zu finden, und niemand könne ihn ein zweites Mal aufspüren.«

»Kein zweites Mal, das ist richtig«, stimmte Loial zu. »Aber schließlich habe ich ihn noch nie getroffen und ihr auch nicht. Und er meidet die Ogier auch nicht in dem Maße wie euch Menschen. Er weiß soviel über Bäume. Er kennt sogar die Baumlieder.«

Rand sagte: »Was ich eigentlich sagen wollte, ist... «

Die Seherin unterbrach ihn. »Sie behauptet, Egwene und ich seien auch ein Teil des Musters. Alles sei mit euch dreien verwoben. Falls man ihr glauben kann, dann könnte vielleicht etwas dran sein, daß die Webart dieses Stücks Muster den Dunklen König aufhalten kann. Und ich fürchte, ich glaube ihr tatsächlich — zuviel ist schon eingetroffen, um ihr nicht zu glauben. Aber wenn Egwene und ich gehen, was können wir dann im Muster noch bewirken?«

»Ich wollte doch nur... «

Wieder unterbrach ihn Nynaeve in scharfem Ton: »Ich weiß, was du versuchen wolltest.« Sie sah ihn so lange an, bis er unruhig im Sattel umherzurutschen begann. Dann besänftigten sich ihre Zuge. »Ich weiß, was du versuchen wolltest, Rand. Ich habe wenig für die Aes Sedai übrig und für diese hier am wenigsten, denke ich. Noch weniger habe ich dafür übrig, in die Große Fäule zu gehen, aber am wenigsten überhaupt kann ich den Vater der Lügen leiden. Wenn ihr Jungen... ihr Männer, das vollbringen könnt, was getan werden muß, obwohl euch alles andere lieber wäre, na, glaubt ihr, daß ich dann weniger tun werde? Oder Egwene?« Sie schien keine Antwort zu erwarten. Sie raffte die Zügel und runzelte die Stirn, als sie nach vorn zu der Aes Sedai hinblickte. »Ich frage mich, ob wir diesen Ort — Fal Dara — bald erreichen werden. Oder will sie uns die Nacht hier draußen verbringen lassen?«

Als sie zu Moiraine hin trabte, sagte Mat: »Sie hat uns Männer genannt. Es scheint erst gestern gewesen zu sein, daß sie behauptet hat, wir sollten noch an Mamas Schürzenzipfel hängen, und nun nennt sie uns Männer.«

»Du solltest immer noch an Mamas Schürzenzipfel hängen«, sagte Egwene, aber Rand glaubte nicht, daß sie es wirklich so meinte. Sie brachte Bela ganz nahe an seinen Braunen heran und senkte die Stimme, damit sie keiner der anderen verstehen konnte, obwohl sich zumindest Mat bemühte. »Ich habe nur mit Aram getanzt, Rand«, sagte sie leise, wobei sie ihn nicht ansah. »Das nimmst du mir doch nicht übel, wenn ich mit jemandem tanze, den ich nie wiedersehen werde, oder?«

»Nein«, sagte er. Wie kommt sie jetzt gerade darauf? »Natürlich nicht.« Doch plötzlich erinnerte er sich an etwas, das Min in Baerlon gesagt hatte. Es schien schon hundert Jahre her zu sein. Sie ist nicht für dich bestimmt, und du nicht für sie; jedenfalls nicht so, wie ihr es beide wünscht.

Die Stadt Fal Dara war auf Hügeln erbaut, die sich über das umliegende Land erhoben. Sie war auch nicht annähernd so groß wie Caemlyn, aber die Stadtmauer war genauso hoch wie die dortigen. Ringsum vor der Mauer befand sich ein Streifen — eine ganze Meile breit -, auf dem nichts Höheres wuchs als Gras, und selbst das war kurzgeschnitten. Nichts konnte sich nähern, ohne von einem der vielen hohen Türme mit ihren hölzernen Wehrbauten an der Spitze gesehen zu werden. Wo die Mauer von Caemlyn eine gewisse Schönheit aufgewiesen hatte, da schienen die Erbauer von Fal Dara keinen Wert darauf gelegt zu haben, ob irgend jemand ihre Mauer schön fand. Der graue Naturstein wirkte wuchtig und unverrückbar und sagte durch seinen Anblick allen Betrachtern, daß er nur zu einem Zweck existierte: zu halten, zu widerstehen. Auf den Turmspitzen flatterten Flaggen im Wind, so daß der geduckte Schwarze Falke von Schienar die ganze Mauer entlangzufliegen schien.

Lan streifte die Kapuze an seinem Umhang nach hinten und bedeutete den anderen, es ihm trotz der Kälte gleichzutun. Moiraine hatte ihre bereits entfernt. »Das ist in Schienar Gesetz«, sagte der Behüter. »In allen Grenzlanden. Keiner darf innerhalb der Stadtmauern sein Gesicht verbergen.«

»Sehen sie alle derart gut aus?« lachte Mat.

»Ein Halbmensch kann sich nicht verbergen, wenn man sein Gesicht sehen kann«, sagte der Behüter mit teilnahmsloser Stimme.

Rand verging das Grinsen. Mat schob hastig seine Kapuze zurück.

Das Tor stand offen. Es war hoch und mit dunklem Eisen beschlagen. Ein Dutzend bewaffneter Männer stand Wache. Sie trugen gelbe Wappenröcke mit dem Schwarzen Falken darauf. Die Griffe von Langschwertern, die sie auf dem Rücken trugen, ragten über ihren Schultern hervor, und an jeder Hüfte hing ein Breitschwert oder ein Streitkolben oder eine Axt Ihre Pferde hatten sie gleich in der Nähe angebunden. Sie wirkten grotesk mit ihren von Roßpanzern bedeckten Köpfen und Hälsen, den Kampfdecken, Lanzen in Halterungen neben den Steigbügeln... alles bereit, um sofort loszureiten. Die Wachen machten keine Anstalten, Lan, Moiraine und die anderen aufzuhalten. Im Gegenteil:

Sie winkten und jubelten ihnen zu.

»Dai Shan!« rief einer und schüttelte seine in stahlbewehrten Handschuhen steckenden Fäuste über seinem Kopf, als sie vorüberritten. »Dai Shan!«

Einige unter den anderen schrien: »Ehre den Erbauern!« und »Kiserai ti Wansho!« Loial blickte überrascht drein, und dann grinste er über das ganze Gesicht und winkte den Wächtern zu.

Ein Mann rannte ein kurzes Stück neben Lans Pferd einher, als hindere ihn die Rüstung dabei überhaupt nicht. »Wird der Goldene Kranich wieder fliegen, Dai Shan?«

»Friede, Ragan«, war alles, was der Behüter darauf sagte, und der Mann blieb zurück. Er erwiderte das Winken der Wächter, doch sein Gesicht wirkte noch ernster als vorher.

Als sie durch gepflasterte Straßen ritten, die mit Menschen und Wagen angefüllt waren, blickte Rand sorgenvoll drein. Fal Dara platzte aus allen Nähten, doch diese Menschen glichen weder den neugierigen Menschenmassen von Caemlyn, die in der Drängelei noch die Pracht der Stadt bewundern konnten, noch den wimmelnden Menschenmengen Baerlons. Dicht gedrängt beobachteten diese Leute ihre vorbeireitende Gruppe mit bleischweren Blicken und ausdruckslosen Mienen. Karren und Wagen verstopften jede Gasse und die Hälfte der Straßen. Auf sie hatte man Möbel und andere Haushaltsutensilien und beschnitzte Truhen so hoch aufgestapelt, daß die Kleidung herausquoll. Obendrauf saßen die Kinder. Die Erwachsenen sorgten dafür, daß die Kleinen oben blieben, wo man sie sehen konnte, und sie ließen sie nicht einmal zum Spielen runter. Die Kinder waren noch stiller als die Erwachsenen, ihre Augen größer. Der Ausdruck ihrer Augen verfolgte Rand. Die Lücken und Durchgänge zwischen den Wagen waren mit zotteligen Rindern und schwarzgefleckten Schweinen in provisorischen Gehegen angefüllt. Käfige mit Hühnern und Enten und Gänsen sorgten in unregelmäßigen Abständen dafür, daß trotz des Schweigens der Menschen Lärm herrschte. Jetzt wußte er, wohin all die Bauern gegangen waren.

Lan führte sie zu der Festung in der Mitte der Stadt, einem wuchtigen Steinklotz auf dem höchsten Hügel. Ein trockener, tiefer und breiter Burggraben zog sich um die Festungsmauer mit ihren vielen Türmen. Im Boden des Burggrabens steckte ein mannshoher Wald von scharfen Stahldornen mit Spitzen wie Rasiermesser. Ein letzter Zufluchtsort, wenn der Rest der Stadt gefallen war. Von einem der Tortürme rief ein Mann in Rüstung herunter: »Willkommen, Dai Shan!« Ein anderer rief ins Innere der Festung hinein: »Der Goldene Kranich! Der Goldene Kranich!«

Die Hufe polterten auf den schweren Holzbohlen der heruntergelassenen Zugbrücke, als sie den Graben überquerten und unter den scharfen Spitzen der mächtigen Fallgitter hindurchritten. Als sie aus dem Torbau herauskamen, schwang sich Lan aus dem Sattel und führte Mandarb weiter. Er gab den anderen ein Zeichen, ebenfalls abzusteigen.

Der erste Innenhof war ein riesiger quadratischer Platz, mit großen Steinplatten gepflastert und von so wehrhaften Türmen und Zinnen umrahmt, daß sie denen draußen nicht nachstanden. So groß diese Fläche war, so erschien der Innenhof doch genauso überfüllt wie die Straßen der Stadt, und es herrschte die gleiche Betriebsamkeit. Doch hier war eine gewisse Ordnung spürbar. Überall sah man gerüstete Männer und Pferde in Kampfausrüstung. In einem halben Dutzend Schmieden rund um den Innenhof dröhnten die Hämmer, und große, jeweils von zwei Männern in Lederschürzen bediente Blasebälge ließen die Schmiedefeuer aufprasseln. Ein stetiger Strom von Jungen rannte dazwischen herum und brachte den Hufschmieden neue Hufeisen. Pfeilmacher waren fleißig am Werk, und jedesmal, wenn ein Korb voll war, wurde er sofort weggerissen und ein leerer hingestellt.

Uniformierte Lakaien in Schwarz und Gold erschienen, eifrig und lächelnd. Rand band schnell seine Besitztümer hinter dem Sattel los und übergab den Braunen einem der Lakaien. In dem Moment verbeugte sich ein ledergekleideter Mann mit einem Schuppenpanzer höflich vor ihnen. Über seiner Rüstung trug er einen hellgelben Umhang mit rotem Besatz. Auf der Brust prangten der Schwarze Falke und ein abgebildeter gelber Wappenrock mit einer grauen Eule darauf. Er trug keinen Helm, und sein Kopf war wahrhaftig kahl, denn er hatte sich die Haare abgeschoren bis auf einen Knoten obenauf, der mit einer Lederschnur zusammengebunden war. »Es ist lange her, Moiraine Aes Sedai. Es ist gut, Euch zu sehen, Dai Shan. Sehr gut.« Er verbeugte sich erneut, diesmal vor Loial, und murmelte: »Ehre den Erbauern. Kiserai ti Wansho.«

»Ich bin unwürdig«, erwiderte Loial dem Protokoll entsprechend, »und die Arbeit gering. Tsingu ma choba.«

»Ihr ehrt uns, Erbauer«, sagte der Mann. »Kiserai ti Wansho.« Er wandte sich wieder Lan zu. »Lord Agelmar wurde von Eurem Kommen benachrichtigt, Dai Shan, sobald man Euch sah. Er erwartet Euch. Hier entlang, bitte.«

Während sie ihm in die Festung hinein folgten und durch zugige Korridore mit bunten Wandbehängen und langen Seidenvorhängen gingen, die Jagd- und Schlachtenszenen zeigten, fuhr er fort: »Ich bin froh, daß Euch unsere Botschaft erreichte, Dai Shan. Werdet Ihr das Banner des Goldenen Kranichs noch einmal enthüllen?« Die Säle waren bis auf die Wandbehänge leer, und selbst auf diesen hatte man nur so wenige Figuren und so wenige Linien wie möglich verwendet, um die Bedeutung gerade noch klar werden zu lassen — aber alles in bunten Farben.

»Steht es wirklich so schlecht, wie es aussieht, Ingtar?« fragte Lan ruhig. Rand fragte sich, ob seine Ohren auch so zuckten wie die Loials.

Der Haarknoten des Mannes schwankte, als er den Kopf schüttelte, aber er zögerte, bevor er schließlich doch grinste. »Die Lage ist niemals so schlimm, wie es aussieht, Dai Shan. In diesem Jahr stehen die Dinge ein wenig schlimmer als gewöhnlich, das ist alles. Die Überfälle setzten sich den ganzen Winter hindurch fort, selbst in den kältesten Perioden. Aber sie waren nicht schlimmer als sonst irgendwo an den Grenzen. Sie kommen immer noch in den Nächten, aber was könnte man auch sonst im Frühling erwarten, falls man das Frühling nennen kann? Kundschafter kehren aus der Fäule zurück — diejenigen, die es zurück schaffen — und bringen Berichte über Trolloc-Lager mit. Immer neue Berichte über immer neue Lager. Aber wir werden am Tarwin-Paß auf sie warten, Dai Shan, und sie zurückschlagen, wie wir das immer getan haben.«

»Natürlich«, sagte Lan, aber es klang nicht überzeugend.

Ingtars Grinsen versagte, er riß sich aber gleich wieder zusammen. Schweigend führte er sie in Lord Agelmars Arbeitszimmer, und dann erklärte er, ihn riefen dringende Pflichten, und er entfernte sich.

Der Raum war genauso zweckmäßig angelegt wie der ganze Rest der Festung: Schießscharten in der Außenwand und ein schwerer Riegel für die dicke Tür, die ihre eigenen Schießscharten aufwies und mit Eisenbändern verstärkt war. Hier gab es nur einen einzigen Wandbehang. Er bedeckte eine ganze Wand und zeigte Männer, im Zeichenstil gerüstet wie die von Fal Dara, die auf einer Paßhöhe gegen Myrddraal und Trollocs kämpften.

Ein Tisch, eine Truhe und ein paar Stühle waren die einzigen Möbelstücke, abgesehen von zwei Halterungen an der Wand, und die zogen Rands Blicke genauso stark an wie der Wandbehang. An der einen hingen ein Zweihandschwert, größer als ein Mann, ein normaleres Breitschwert und darunter ein Morgenstern und ein langer, drachenförmiger Schild, auf dem drei Füchse abgebildet waren. An der anderen hing eine vollständige Rüstung ganz so, wie man sie sonst trug. Ein Helm mit Helmbusch und heruntergeklapptem Visier über einem mit zwei Schichten von Metallschuppen versehenen Halsschutz. Ein Kettenhemd mit Schlitzen zum Reiten und ein ledernes Wams, das vom vielen Tragen abgewetzt glänzte. Brustpanzer, Handschuhe mit aufgenähten Stahlstücken, Knie- und Ellenbogenkappen und offene Panzerplatten für Schultern, Arme und Beine. Selbst hier im Herzen der Festung schienen Waffen und Rüstungen bereitzustehen, um jeden Moment angelegt werden zu können. Wie die Möbel waren auch sie schlicht und würdig mit Gold verziert.

Agelmar selbst erhob sich bei ihrem Eintreten und kam um den Tisch herum zu ihnen herüber. Auf dem Tisch lagen Landkarten und Papiere und Federn in Tintenfässern durcheinander. Auf den ersten Blick erschien Agelmar für diesen Raum als zu friedlich — in seinem blauen Samtmantel mit dem hohen, weiten Kragen und den weichen Lederstiefeln -, aber ein zweiter Blick überzeugte Rand vom Gegenteil. Wie bei allen Kriegern, die Rand hier gesehen hatte, war auch Agelmars Kopf bis auf den Haarknoten kahlgeschoren, und sein Haar war von reinstem Weiß. Sein Gesicht wirkte ebenso hart wie das Lans. Die einzigen Falten befanden sich an den Augenwinkeln, und diese Augen blickten drein, als bestünden sie aus braunem Stein, obwohl jetzt ein Lächeln in ihnen lag.

»Friede! Es ist wirklich gut, Euch zu sehen, Dai Shan«, sagte der Herr von Fal Dara. »Und Euch, Moiraine Aes Sedai, vielleicht noch mehr! Eure Gegenwart erwärmt mich, Aes Sedai.«

»Ninte calichniye no domashita, Agelmar Dai Shan«, erwiderte Moiraine förmlich, aber ein Unterton in ihrer Stimme verriet, daß sie alte Freunde waren. »Euer Willkommen erwärmt mich, Lord Agelmar.«

»Kodome calichniye ga ni Aes Sedai hei. Eine Aes Sedai ist hier immer willkommen.« Er wandte sich Loial zu. »Ihr seid fern von Eurem Stedding, Ogier, aber Ihr ehrt Fal Dara mit Eurer Anwesenheit. Ewige Ehre den Erbauern. Kiserai ti Wansho hei.«

»Ich bin unwürdig«, sagte Loial mit einer Verbeugung. »Ihr seid es, der mir Ehre erweist.« Er blickte die kahlen Steinwände an und schien mit sich selbst zu kämpfen. Rand war froh, daß der Ogier es fertigbrachte, sich weitere Kommentare zu verkneifen.

Diener in Schwarz und Gold erschienen auf leisen Sohlen. Einige brachten heiße, feuchte, zusammengefaltete Tücher auf Silbertabletts, mit denen sie sich den Staub von Gesichtern und Händen wischen konnten. Andere trugen Glühwein und Silberschalen mit getrockneten Pflaumen und Aprikosen. Lord Agelmar beauftragte sie, Zimmer vorzubereiten und ihnen Bäder zu richten.

»Eine lange Reise von Tar Valon hierher«, sagte er. »Ihr müßt müde sein.«

»Der Weg, den wir nahmen, war nur kurz«, sagte Lan zu ihm, »doch anstrengender als die lange Reise.«

Agelmar blickte überrascht drein, als Lan nichts hinzufügte, sagte aber lediglich: »Ein paar Tage Ruhe werden Euch alle wieder in einen guten Zustand versetzen.«

»Ich bitte nur um Unterkunft für eine Nacht, Lord Agelmar«, sagte Moiraine, »für uns und unsere Pferde. Und frische Vorräte am Morgen, wenn Ihr sie entbehren könnt. Ich fürchte, wir müssen Euch frühzeitig verlassen.«

Agelmar runzelte die Stirn. »Aber ich dachte... Moiraine Sedai, ich habe kein Recht, das von Euch zu verlangen, aber am Tarwin-Paß wärt Ihr soviel wert wie tausend Krieger. Und Ihr, Dai Shan. Und tausend Männer werden kommen, wenn sie hören, daß der Goldene Kranich wieder fliegt.«

»Die Sieben Türme sind zerstört«, sagte Lan grob, »und Malkier ist tot. Die wenigen Menschen, die noch am Leben sind, sind über die ganze Erde verstreut. Ich bin Behüter, Agelmar, und habe auf die Flamme von Tar Valon geschworen, und ich bin auf dem Weg in die Fäule.«

»Natürlich, Dai — Lan. Natürlich. Aber sicher machen doch ein paar Tage oder höchstens ein paar Wochen Verzögerung nicht viel aus. Ihr werdet gebraucht. Ihr und Moiraine Sedai.«

Moiraine nahm von einem der Diener einen silbernen Pokal entgegen. »Ingtar scheint der Meinung zu sein, daß Ihr diese Bedrohung beseitigen werdet, wie Ihr im Laufe der Jahre schon viele beseitigt habt.«

»Aes Sedai«, meinte Agelmar trocken, »wenn Ingtar allein zum Tarwin-Paß reiten müßte, würde er den ganzen Weg über verkünden, daß die Trollocs erneut zurückgeschlagen würden. Er ist beinahe stolz genug, um zu glauben, daß er es allein schaffen könnte.«

»Diesmal ist er sich nicht so sicher, wie Ihr glaubt, Agelmar.« Der Behüter hielt einen Pokal in der Hand, trank aber nicht. »Wie schlimm sieht es aus?«

Agelmar zögerte und zog eine Landkarte aus dem Durcheinander auf dem Tisch. Einen Moment lang sah er sie an, ohne wirklich zu sehen, was da gezeichnet war, und dann warf er sie zurück. »Wenn wir zum Paß reiten«, sagte er ruhig, »dann werden die Menschen in den Süden nach Fal Moran geschickt. Vielleicht können wir die Hauptstadt halten. Friede, sie muß einfach. Etwas muß gehalten werden.«

»So schlimm?« fragte Lan, und Agelmar nickte müde.

Rand tauschte besorgte Blicke mit Mat und Perrin. Es war nicht schwer, sich einzureden, daß die Trollocs in der Fäule hinter ihm her waren — hinter ihnen. Agelmar fuhr ernst fort: »Kandor, Arafel, Saldaea — die Trollocs haben sie alle den ganzen Winter hindurch ständig überfallen. So etwas ist seit den Trolloc-Kriegen nicht mehr vorgekommen; die Überfälle wurden noch nie so brutal, mit so vielen Kriegern und derart hartnäckig durchgeführt. Jeder König und jede Ratsversammlung ist überzeugt, daß ein großer Angriff aus der Fäule heraus kommen wird, und jedes der Grenzlande glaubt, er werde ihm gelten. Keiner ihrer Kundschafter und keiner der Behüter berichtet über solche Massierungen von Trollocs wie hier, aber sie glauben es eben, und jeder hat zuviel Angst, um Kämpfer irgendwo anders hin zu entsenden. Die Leute flüstern sich zu, daß das Ende der Welt nahe und der Dunkle König wieder frei sei. Schienar reitet allein zum Tarwin-Paß, und sie werden uns zahlenmäßig mindestens zehn zu eins überlegen sein. Mindestens. Es könnte die letzte Musterung der Lanzenträger werden.

Lan — nein! — Dai Shan, denn was immer Ihr auch sagt, Ihr seid ein mit dem Diadem gekrönter Kriegsherr von Malkier. Dai Shan, das Banner des Goldenen Kranichs in der Vorhut würde die Männer ermutigen, die wissen, daß sie nach Norden reiten, um zu sterben. Die Nachricht wird sich wie ein Lauffeuer ausbreiten, und obwohl ihre Könige ihnen befohlen haben, zu bleiben, wo sie sind, werden aus Arafel und Kandor und sogar aus Saldaea Soldaten kommen. Auch wenn sie zu spät kämen, um uns auf dem Paß zu helfen, könnten sie doch Schienar retten.«

Lan starrte in seinen Wein. Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber Wein lief ihm über die Hand; der silberne Pokal wurde von seinem Griff zerdrückt. Ein Diener nahm ihm das zerstörte Gefäß ab und wischte die Hand des Behüters mit einem Tuch ab; ein zweiter drückte ihm einen neuen Pokal in die Hand, während der andere weggeschafft wurde. Lan schien es nicht zu bemerken. »Ich kann nicht!« flüsterte er heiser. Als er den Kopf hob, brannte eine wilde Flamme in seinen blauen Augen, doch seine Stimme klang wieder ruhig und teilnahmslos. »Ich bin Behüter, Agelmar.« Sein scharfer Blick strich über Rand und Mat und Perrin hinüber zu Moiraine. »Beim ersten Tageslicht reite ich zur Großen Fäule.«

Agelmar seufzte tief. »Moiraine Sedai, wollt Ihr nicht wenigstens kommen? Eine Aes Sedai könnte den Kampf entscheiden.«

»Ich kann nicht, Lord Agelmar.« Moiraine wirkte verstört. »Es muß wirklich eine Schlacht geschlagen werden, und es ist kein Zufall, daß sich die Trollocs in der Nähe von Schienar sammeln, doch unsere Schlacht, die wirkliche Schlacht mit dem Dunklen König, wird in der Fäule stattfinden, am Auge der Welt. Ihr müßt Eure Schlacht bestehen, und wir die unsere.«

»Ihr wollt doch nicht sagen, daß er frei ist!« Der felsengleiche Agelmar schien erschüttert, und Moiraine schüttelte schnell den Kopf.

»Noch nicht. Falls wir am Auge der Welt gewinnen, vielleicht nie mehr.«

»Könnt Ihr denn das Auge überhaupt finden, Aes Sedai? Falls es davon abhängt, ob der Dunkle König aufgehalten werden kann, könnten wir genausogut tot sein. Viele haben es versucht und sind gescheitert.«

»Ich kann es finden, Lord Agelmar. Noch ist die Hoffnung nicht verloren.«

Agelmar betrachtete erst sie und dann die anderen. Er schien mit der Anwesenheit von Nynaeve und Egwene nichts anfangen zu können; ihre Bauernkleidung bildete einen scharfen Kontrast zu Moiraines Seidenkleid, auch wenn alle von der Reise mitgenommen aussahen. »Sind sie auch Aes Sedai?« fragte er zweifelnd. Als Moiraine den Kopf schüttelte, schien er noch verwirrter. Sein Blick überflog die jungen Männer aus Emondsfeld und blieb bei Rand hängen, wobei er kurz das in Rot gehüllte Schwert an seiner Hüfte streifte. »Ihr führt eine eigenartige Leibwache mit Euch, Aes Sedai. Nur ein einziger Kämpfer.« Er musterte Perrin und die Axt, die an seinem Gürtel hing. »Vielleicht zwei. Aber beides kaum mehr als junge Burschen. Laßt mich Euch Männer mitgeben. Hundert Lanzen mehr oder weniger werden am Paß keinen Unterschied machen, aber Ihr werdet mehr als einen Behüter und drei Jungen brauchen. Und zwei Frauen werden keine Hilfe darstellen, außer es wären verkleidete Aiel. Die Fäule ist dieses Jahr noch schlimmer als gewöhnlich. Sie — rührt sich.«

»Hundert Lanzen wären zuviel«, sagte Lan, »und tausend wären nicht genug. Je größer die Gruppe, mit der wir in die Fäule hineinreiten, desto größer wäre die Wahrscheinlichkeit, daß wir Aufmerksamkeit erregen. Wir müssen das Auge möglichst ohne Kampf erreichen.

Ihr wißt, daß das Ergebnis schon vorher feststeht, wenn uns Trollocs in der Fäule den Kampf aufzwingen.«

Agelmar nickte grimmig, aber er weigerte sich, so schnell aufzugeben. »Also, dann eben weniger. Selbst zehn gute Männer würden Eure Aussichten verbessern, Moiraine Sedai und die anderen beiden Frauen zum Grünen Mann zu bringen — bessere Aussichten als nur mit diesen jungen Burschen.«

Rand wurde plötzlich klar, daß der Herr von Fal Dara annahm, es seien die beiden Frauen, die mit Moiraine zusammen gegen den Dunklen König kämpfen würden. Das war ein ganz natürlicher Irrtum. Diese Art von Kampf bedeutete, die Eine Macht einsetzen zu müssen, und das war Frauensache. Diese Art von Kampf bedeutet, daß man die Macht einsetzen muß. Er hakte seine Daumen hinter dem Schwertgürtel ein und packte die Schnalle ganz fest, damit seine Hände nicht zitterten.

»Keine Männer«, sagte Moiraine. Agelmar öffnete den Mund wieder, und sie fuhr fort, bevor er etwas sagen konnte. »Es ist die Natur des Auges und die Natur des Grünen Mannes. Wie viele aus Fal Dara haben den Grünen Mann und das Auge jemals gefunden?«

»Jemals?« Agelmar zuckte die Achseln. »Seit dem Hundertjährigen Krieg könntet Ihr sie an den Fingern einer Hand abzählen. Nicht mehr als einer in fünf Jahren, und das aus allen Grenzlanden zusammengenommen.«

»Keiner findet das Auge der Welt«, sagte Moiraine, »wenn nicht der Grüne Mann will, daß er es findet. Not -das ist der Schlüssel, und natürlich die damit verbundene Absicht. Ich weiß, wohin wir gehen müssen — ich war bereits zuvor dort.« Rands Kopf fuhr überrascht herum, und er war nicht der einzige Emondsfelder, der so reagierte. Doch die Aes Sedai schien es nicht zu bemerken. »Aber wenn nur einer von uns nach Ruhm strebt und seinen Namen diesen vieren hinzufügen will, werden wir es niemals finden, auch wenn ich uns genau zu dem Punkt führe, an den ich mich erinnere.«

»Ihr habt den Grünen Mann gesehen, Moiraine Sedai?« Der Herr von Fal Dara klang beeindruckt, aber im nächsten Augenblick runzelte er die Stirn. »Doch wenn Ihr ihn bereits einmal getroffen habt... «

»Die Not ist der Schlüssel«, sagte Moiraine leise, »und es kann keine größere Not geben als meine. Als unsere. Und ich habe etwas, das diese anderen Suchenden nicht haben.«

Sie wandte den Blick kaum von Agelmars Gesicht ab, und doch war Rand sicher, daß sie ganz kurz Loial angeblickt hatte — nur einen Augenblick lang. Rand sah dem Ogier in die Augen, und Loial zuckte die Achseln.

»Ta'veren«, sagte der Ogier leise.

Agelmar hob enttäuscht die Hände. »Wie Ihr wollt, Aes Sedai. Friede! Aber wenn die wirkliche Schlacht am Auge der Welt geschlagen wird, bin ich in Versuchung, das Banner des Schwarzen Falken dorthin zu bringen und nicht zum Paß. Ich könnte Euch den Weg freikämpfen... «

»Das würde zu einer Katastrophe führen, Lord Agelmar. Sowohl am Tarwin-Paß als auch am Auge. Ihr habt Eure Schlacht, und wir haben unsere zu schlagen.«

»Friede! Wie Ihr wollt, Aes Sedai.«

Nachdem er sich zu diesem Entschluß durchgerungen hatte, auch wenn es ihm schwergefallen war, schien der kahlgeschorene Herr von Fal Dara das Ganze zu vergessen. Er lud sie ein, mit ihm zu speisen, und machte die ganze Zeit über höfliche Konversation über Falken und Pferde und Hunde, erwähnte aber keine Trollocs, keinen Tarwin-Paß und kein Auge der Welt.

Das Zimmer, in dem sie aßen, war genauso kahl und einfach eingerichtet wie Lord Agelmars Arbeitszimmer.

Es gab kaum mehr Möbel als den Tisch und die Stühle. Auch sie waren in strenger Form gehalten. Schön, aber streng. Ein großer Kamin erwärmte den Raum, aber doch nicht so sehr, daß ein plötzlich nach draußen gerufener Mann von der dortigen Kälte betäubt worden wäre. Diener in Livree brachten Suppe und Brot und Käse, und man sprach über Bücher und Musik, bis es Lord Agelmar auffiel, daß die Emondsfelder so schweigsam waren. Wie ein guter Gastgeber fragte er sie ein wenig aus, um sie aus der Reserve zu locken.

Rand wetteiferte bald mit den anderen, von Emondsfeld und den Zwei Flüssen zu erzählen. Es kostete Mühe, nicht zuviel zu sagen. Er hoffte, die anderen würden ebenfalls ihre Zungen hüten, besonders Mat. Nur Nynaeve blieb zurückhaltend und aß und trank schweigend.

»Es gibt ein Lied in den Zwei Flüssen«, sagte Mat, »das heißt ›Rückkehr vom Tarwin-Paß‹.« Er endete zögernd, als werde ihm plötzlich klar, daß er von dem sprach, was sie alle gemieden hatten, doch Agelmar ging elegant darüber hinweg: »Kein Wunder. Nur wenige Länder haben keine Männer ausgesandt, um in all diesen Jahren die Fäule immer wieder zurückzudrängen.«

Rand sah Mat und Perrin an. Mat formte mit den Lippen lautlos das Wort Manetheren.

Agelmar flüsterte mit einem der Diener, und während andere den Tisch abdeckten, verschwand dieser Mann und tauchte bald darauf mit einem Behälter und Tonpfeifen für Lan, Loial und Lord Agelmar auf. »Tabak von den Zwei Flüssen«, sagte der Herr von Fal Dara, als sie ihre Pfeifen stopften. »Hier ist er schwer zu bekommen, aber er ist den Preis wert.«

Als Loial und die beiden älteren Männer zufrieden pafften, sah Agelmar den Ogier an. »Ihr wirkt besorgt, Erbauer. Doch nicht vom Heimweh gepackt, hoffe ich?

Wie lange seid Ihr schon von Eurem Stedding weg?«

»Es ist nicht das Heimweh — so lange bin ich noch nicht weg.« Loial zuckte die Achseln, und bei dieser Geste drehte sich eine blaugraue Rauchwolke aus seiner Pfeife spiralförmig über dem Tisch. »Ich erwartete — hoffte -, der Hain hier würde noch stehen. Wenigstens ein Überbleibsel von Mafal Dadaranell.«

»Kiserai ti Wansho«, murmelte Agelmar. »Die Trolloc-Kriege hinterließen nichts als Erinnerungen, Loial, Sohn des Arent, und Menschen, die darauf aufbauten. Sie konnten die Werke der Erbauer nicht nachmachen, genausowenig wie ich das könnte. Diese ausgefeilten Krümmungen und Muster, die Euer Volk erschuf, können von menschlichen Augen und menschlichen Händen nicht nachgeahmt werden. Vielleicht wollten wir es auch vermeiden, daß uns eine schlechte Imitation immer daran erinnern würde, was wir verloren hatten. Es liegt eine andere Art von Schönheit in der Schlichtheit, in einer einzelnen Linie, die gerade so verläuft, in einer einzelnen Blume zwischen den Felsen. Die Härte des Steins läßt die Blume noch wertvoller erscheinen. Wir versuchen, nicht zu sehr dem Vergangenen nachzutrauern. Unter dieser Belastung würde das stärkste Herz brechen.«

»Das Rosenblatt treibt auf dem Wasser«, zitierte Lan leise. »Der Eisvogel glitzert über dem Teich. Leben und Schönheit bewegen sich inmitten des Todes.«

»Ja«, sagte Agelmar. »Ja. Diese Zeilen haben auch für mich immer das Ganze symbolisiert.« Die beiden Männer nickten sich zu.

Poesie, und das von Lan? Der Mann war wie eine Zwiebel: Jedesmal, wenn Rand glaubte, etwas über den Behüter erfahren zu haben, entdeckte er darunter eine neue Schicht.

Loial nickte bedächtig. »Vielleicht hänge ich auch zu sehr am Vergangenen. Und doch, die Haine waren schön.« Doch er sah den kahlen Raum an, als sehe er ihn erst jetzt und als finde er ihn jetzt sehenswert.

Ingtar erschien und verbeugte sich vor Lord Agelmar. »Entschuldigt, Herr, aber Ihr wolltet informiert werden, wenn irgend etwas Ungewöhnliches geschieht, so unwichtig es auch sein mag.«

»Ja, was ist geschehen?«

»Eine Kleinigkeit, Herr. Ein Fremder versuchte, in die Stadt zu gelangen. Keiner aus Schienar. Nach seinem Akzent zu schließen, kommt er aus Lugard. Manchmal jedenfalls scheint er so zu sprechen. Als die Wächter am Südtor versuchten, ihn zu befragen, lief er weg. Er wurde gesehen, als er in den Wald lief, doch nur kurze Zeit später fand man ihn an der Mauer, als er gerade hochklettern wollte.«

»Eine Kleinigkeit!« Agelmars Stuhl schabte über den Boden, als er aufstand. »Friede! Die Turmwache vernachlässigt derart ihre Pflichten, daß ein Mann ungesehen die Mauer erreichen kann, und das nennt Ihr eine Kleinigkeit?«

»Es ist ein Verrückter, Herr.« In Ingtars Stimme klang Scheu mit. »Das Licht behütet Wahnsinnige. Vielleicht hat das Licht die Augen der Turmwache geblendet und ihm gestattet, die Mauer zu erreichen. Sicherlich kann ein armer Verrückter keinen Schaden anrichten.«

»Ist er schon zur Festung gebracht worden? Gut. Bringt ihn her zu mir. Jetzt gleich.« Ingtar verbeugte sich und ging. Agelmar wandte sich Moiraine zu. »Verzeiht mir, Aes Sedai, aber ich muß mich darum kümmern. Vielleicht ist es nur eine arme Kreatur, deren Verstand vom Licht geblendet wurde, aber... Vor zwei Tagen erst fand man fünf unserer eigenen Leute, wie sie die Scharniere eines der Reitertore ansägten. Nur ein wenig, aber genug, um Trollocs hereinzulassen.« Er verzog das Gesicht. »Schattenfreunde, denke ich, obwohl ich es hasse, das von Leuten aus Schienar anzunehmen. Sie wurden von der Menge in Stücke gerissen, bevor die Wachen sie gefangennehmen konnten, deshalb werde ich die Wahrheit nie erfahren. Wenn schon Schienarer Schattenfreunde sein können, muß ich mich gegen Ausländer heutzutage besonders vorsehen. Falls Ihr Euch zurückziehen möchtet, werde ich Euch zu Euren Räumen bringen lassen.«

»Schattenfreunde kennen weder Grenzen noch Abstammung«, sagte Moiraine. »Man kann sie in jedem Land finden, und doch gehören sie zu niemandem. Ich bin auch daran interessiert, diesen Mann zu sehen. Das Muster formt sich zu einem Gewebe, Lord Agelmar, doch die endgültige Form des Gewebes ist noch nicht festgelegt. Es könnte vielleicht die ganze Welt umfassen oder sich wieder auflösen und das Rad dazu zwingen, aufs neue zu weben. An diesem Punkt können selbst Kleinigkeiten die Form des Gewebes verändern. In dieser Zeit bin ich außergewöhnlichen Kleinigkeiten gegenüber sehr mißtrauisch.«

Agelmar sah Nynaeve und Egwene an. »Wie Ihr wünscht, Aes Sedai.«

Ingtar kehrte mit zwei Wachen zurück, die lange Hellebarden trugen und einen Mann begleiteten, der aussah wie ein Haufen schmutziger Lumpen. Sein Gesicht war dreckverkrustet, und Schmutz verklebte sein zotteliges Haar und den Bart. Er schlich geduckt in den Raum. Der Blick aus den eingesunkenen Augen huschte hierhin und dorthin. Ein ranziger Geruch wehte ihm voran.

Rand beugte sich aufmerksam vor und versuchte, durch all den Dreck hindurchzublicken. »Ihr habt keinen Grund, mich so festzusetzen«, jammerte der schmutzige Mann.

»Ich bin nur ein armer Bettler, vom Licht verlassen, der wie jeder andere einen Ort sucht, an dem er vor dem Schatten sicher ist.«

»Die Grenzlande sind ein komischer Ort, wenn man Sicherheit...«, begann Agelmar, als Mat ihn unterbrach.

»Der Händler!«

»Padan Fain«, stimmte Perrin zu und nickte.

»Der Bettler«, sagte Rand mit plötzlich heiserer Stimme. Er fiel unter dem plötzlich in Fains Augen aufblitzenden Haß auf seinen Stuhl zurück. »Das ist der Mann, der in Caemlyn nach uns gefragt hat. Das muß er sein.«

»Also hat diese Sache doch etwas mit Euch zu tun, Moiraine Sedai«, sagte Agelmar bedächtig.

Moiraine nickte. »Ich fürchte, ja.«

»Ich wollte es nicht.« Fain begann zu weinen. Dicke Tränen hinterließen ihre Spuren im Schmutz auf seinen Wangen, aber sie konnten die unterste Dreckschicht nicht erreichen. »Er hat mich dazu gezwungen! Er und seine brennenden Augen!« Rand zuckte zusammen. Mat hatte die Hand unter seinem Mantel, wo er zweifellos wieder den Dolch aus Shadar Logoth hielt. »Er hat mich zu seinem Spürhund gemacht! Sein Spürhund, der jagt und verfolgt, ohne einen Moment Ruhe. Nur sein Spürhund, selbst nachdem er mich weggeworfen hatte.«

»Es betrifft uns alle«, sagte Moiraine ernst. »Gibt es einen Ort, wo ich mit ihm allein sprechen kann, Lord Agelmar?« Ihr Mund verzog sich angewidert. »Und laßt ihn zuerst waschen. Ich muß ihn vielleicht berühren.« Agelmar nickte und sprach leise mit Ingtar, der sich verbeugte und durch die Tür verschwand.

»Ich lasse mich nicht zwingen!« Die Stimme war die Fains, aber er weinte nicht mehr, und das Jammern war von einem arroganten Tonfall abgelöst worden. Er stand aufrecht da und nicht mehr gebückt wie vorher. Er warf den Kopf in den Nacken und schrie die Decke an: »Niemals mehr! Ich — lasse — mich — nicht — zwingen!« Er stand Agelmar gegenüber, als seien die Männer an dessen Seite seine eigenen Leibwächter und der Herr von Fal Dara ihm gleichgestellt und nicht der, der ihn gefangengenommen hatte. Sein Tonfall wurde verbindlich und schleimig. »Hier liegt ein Mißverständnis vor, großer Herr. Ich werde manchmal von Anfällen überrascht, doch das vergeht bald. Ja, bald wird es vorüber sein.« Verächtlich schnippte er mit den Fingern nach den Lumpen, die er trug. »Laßt Euch von denen nicht täuschen, großer Herr. Ich mußte mich verkleiden, weil es die gab, die mich aufhalten wollten, und meine Reise war lang und beschwerlich. Aber endlich habe ich Länder erreicht, wo die Menschen immer noch die von Ba'alzamon ausgehende Gefahr einschätzen können und wo die Menschen immer noch gegen den Dunklen König kämpfen.«

Rand starrte ihn mit offenem Mund an. Es war Fains Stimme, aber seine Worte klangen überhaupt nicht nach dem Händler. »Also seid Ihr hierhergekommen, weil wir gegen Trollocs kämpfen«, sagte Agelmar. »Und Ihr seid so wichtig, daß Euch jemand aufhalten will. Diese Leute hier behaupten, daß Ihr ein Händler namens Padan Fain seid und daß Ihr ihnen folgt.«

Fain zögerte. Er blickte Moiraine an und riß den Blick dann sofort wieder von der Aes Sedai los. Er sah die Emondsfelder an und dann zurück zu Agelmar. Rand fühlte den Haß in diesem Blick und auch die Angst. Als Fain weitersprach, klang seine Stimme jedoch unbeeindruckt. »Padan Fain ist lediglich eine der vielen Verkleidungen, die zu tragen ich während der letzten Jahre gezwungen war. Freunde des Schattens verfolgen mich, denn ich habe erfahren, wie man den Schatten besiegt. Ich kann Euch zeigen, wie man ihn besiegt, großer Herr.«

»Wir tun, was wir können«, sagte Agelmar trocken. »Das Rad webt, wie es das Rad wünscht, aber wir haben beinahe seit der Zerstörung der Welt gegen den Dunklen König gekämpft, ohne daß uns Händler zeigen mußten, wie man das macht.«

»Großer Herr, Eure Macht ist unumstritten, doch kann sie auf ewig dem Dunklen König standhalten? Findet Ihr Euch nicht oft mit dem Rücken zur Wand? Vergebt mir meine Kühnheit, großer Herr, doch am Ende wird er Euch zerschmettern, wie Ihr dasteht. Ich weiß es; glaubt mir, ich weiß es. Doch ich kann Euch zeigen, wie Ihr den Schatten aus dem Land treibt, großer Herr.« Sein Tonfall wurde noch öliger, auch wenn die Stimme hochnäsig klang. »Wenn Ihr nur ausprobiert, was ich Euch rate, werdet Ihr es erleben, großer Herr. Ihr werdet das Land säubern. Ihr, großer Herr, könnt es schaffen, wenn Ihr Eure Macht in die richtige Richtung leitet. Vermeidet es, Euch von Tar Valon einwickeln zu lassen und Ihr könnt die Welt retten. Großer Herr, Ihr werdet der Mann sein, den die Geschichte feiert, weil er dem Licht den endgültigen Sieg gebracht hat.« Die Wachen standen unbeweglich da, aber ihre Hände glitten an den langen Schäften der Hellebarden entlang, als wollten sie sie gleich benutzen.

»Er hält große Stücke auf sich, jedenfalls für einen Händler«, sagte Agelmar nach hinten zu Lan gewandt. »Ich glaube, Ingtar hat recht. Er ist verrückt.«

Fains Augen zogen sich zornig zusammen, aber seine Stimme blieb weiterhin ölig. »Großer Herr, ich weiß, daß meine Worte Euch großspurig vorkommen mögen, doch falls Ihr nur... « Er brach mit einemmal ab und trat zurück, als Moiraine sich erhob und langsam um den Tisch herumkam. Nur die gesenkten Hellebarden der Wachen hielten Fain davon ab, sich nach hinten aus dem Raum zu schleichen.

Moiraine blieb hinter Mats Stuhl stehen, legte ihm eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Was sie auch gesagt haben mochte, jedenfalls wich die Anspannung aus seinem Gesicht, und er nahm die Hand unter seinem Mantel hervor. Die Aes Sedai ging weiter, bis sie neben Agelmar und genau Fain gegenüber stand. Als sie stehenblieb, sank der Händler wieder zu seiner gebückten Haltung in sich zusammen.

»Ich hasse ihn«, wimmerte er. »Ich will frei von ihm sein. Ich will wieder im Licht wandeln.« Seine Schultern bebten, und Tränen strömten ihm noch stärker als zuvor übers Gesicht. »Er hat mich dazu gebracht.«

»Ich fürchte, er ist mehr als nur ein Händler, Lord Agelmar«, sagte Moiraine. »Weniger als ein Mensch, schlimmer als das Böse, gefährlicher, als Ihr Euch ausmalen könnt. Er kann gebadet werden, nachdem ich mit ihm gesprochen habe. Ich wage es nicht, auch nur eine Minute zu verschwenden. Komm, Lan!«

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