Warum soll man die Armut, nichts als Armut und die Unvollkommenheit unseres Lebens schildern und zu diesem Zwecke die Menschen aus den entlegensten Winkeln des Reiches hervorholen? Was soll man aber machen, wenn der Verfasser einmal so veranlagt ist und, an seiner eigenen Unvollkommenheit krank, nichts anderes darzustellen vermag als die Armut, nichts als Armut und die Unvollkommenheit unseres Lebens, zu welchem Zweck er die Menschen aus den entlegensten Winkeln des Reiches hervorholt? Und so sind wir wieder in die Wildnis, in eine Sackgasse geraten. Was ist das aber da für eine Wildnis und was für eine Sackgasse!
Wie der Riesenwall einer unendlichen Festung mit Ecktürmen und Bastionen zog sich in Windungen mehr als tausend Werst weit eine Hügelkette hin. Majestätisch erhoben sich die Anhöhen über die grenzenlosen Räume der Ebene, bald als senkrechte Wände voller Löcher und Risse, mit Kalk und Ton an den Bruchstellen, bald als anmutig gerundete grüne Kuppen mit jungem Gebüsch, das zwischen umgehauenen Bäumen wucherte, wie mit krausem Lammfell bedeckt, und bald als dunkles Waldesdickicht, das wie durch ein Wunder von der Axt verschont blieb. Der Fluß blieb bald seinen Ufern treu und machte mit ihnen alle Windungen mit, bald verließ er sie, um sich über die Wiesen zu ergießen, um nach einigen in der Sonne wie Feuer leuchtenden Krümmungen in einem Gehölz von Birken, Espen und Erlen zu verschwinden und daraus wieder, in Begleitung von Brücken, Mühlen und Dämmen, die ihn bei jeder Wendung zu verfolgen schienen, im Triumph zum Vorschein zu kommen.
An einer Stelle war der steile Abhang besonders dicht mit grünem, lockigem Baumlaub geschmückt. Durch künstliche Anpflanzung hatten sich hier infolge der Unebenheit des Abhanges der Nord und der Süd des Pflanzenreiches zusammengefunden. Eichen, Tannen, wilde Birnen, Ahorne, Kirschbäume und Schlehen, Kleebäume und von Hopfen umrankte Ebereschen kletterten, einander bald im Wachstum unterstützend und bald erstickend, die ganze Anhöhe von unten bis oben hinauf. Und oben am Scheitel mischten sich unter die grünen Baumwipfel die roten Dächer der Gutsgebäude, die Giebelbalken und Dachfirste der sich hinter diesen verbergenden Bauernhäuser und das Obergeschoß des Herrenhauses mit dem geschnitzten Balkon und dem großen halbrunden Fenster. Und über dieser Versammlung der Bäume und Dächer ragte mit ihren fünf vergoldeten, in der Sonne funkelnden Kuppeln die alte hölzerne Kirche. Auf jeder der Kuppeln erhob sich ein durchbrochenes goldenes Kreuz, von goldenen durchbrochenen Ketten gehalten, so daß man aus der Ferne funkelndes und glühendes Dukatengold frei in der Luft, von nichts gestützt, zu sehen glaubte. Und dies alles spiegelte sich mit nach unten gewendeten Wipfeln, Dächern und Kreuzen anmutig im Flusse, wo die unförmigen hohlen Weiden, von denen die einen am Ufer und die anderen im Wasser standen, in das sie ihre vom schleimigen Flußschwamm, der auf dem Wasser zugleich mit den gelben Seerosen trieb, umsponnenen Zweige und Blätter tauchten, dieses herrliche Bild zu betrachten schienen.
Das Bild war sehr, sehr schön, doch die Aussicht von oben, vom Obergeschoß des Herrenhauses in die Ferne war noch schöner. Kein Gast, kein Besucher konnte auf diesem Balkon gleichgültig bleiben. Vor Staunen stockte ihm der Atem, und er rief bloß aus: »Gott, dieser schöne freie Raum!« Ohne Ende, ohne Grenzen dehnte sich die Ferne: hinter den mit Gehölz und Wassermühlen übersäten Wiesen grünten in mehreren Streifen die Wälder; hinter den Wäldern schimmerten durch die Luft, die allmählich neblig wurde, gelbe Sandflächen, und dann kamen wieder Wälder, aber schon so blau wie das Meer oder wie der sich weit ausbreitende Nebel. Und dann kamen wieder Sandflächen, immer blasser, aber immer noch gelb. Am fernen Horizonte erhob sich der Kamm eines Kreidegebirges, das auch bei trübem Wetter weiß schimmerte, wie von ewiger Sonne beleuchtet. Auf seiner blendenden Weiße, an seiner Sohle, die stellenweise aus Gips bestand, lagen hier und da rauchgraue Flecken. Das waren ferne Dörfer; aber kein Menschenauge vermochte sie zu unterscheiden. Nur der in der Sonne aufleuchtende Funken einer goldenen Kirchenkuppel ließ ahnen, daß da ein gut bevölkertes, großes Dorf war. Dies alles war in eine tiefe Stille gehüllt, die nicht einmal von dem das Ohr kaum erreichenden Widerhall der in der Ferne ersterbenden Lieder der Sänger der Lüfte gestört wurde. Mit einem Worte, der Gast, der auf dem Balkon stand, vermochte selbst nach einem zweistündigen Verweilen nichts anderes zu sagen als: »Gott, dieser schöne freie Raum!«
Wer war aber der Bewohner und Besitzer dieses Gutes, an das man von dieser Seite wie an eine unbezwingbare Festung gar nicht herankommen konnte und das nur von der anderen Seite zu erreichen war, wo die verstreuten Eichen den herannahenden Gast freundlich begrüßten, ihm wie Freundesarme ihre weitverzweigten Äste entgegenstreckend und ihn bis vor die Fassade jenes Hauses begleitend, dessen Obergeschoß wir schon von hinten gesehen haben und das nun ganz offen dalag zwischen einer Reihe von Bauernhäusern mit geschnitzten Giebelbalken und Dachfirsten einerseits und der Kirche mit den glänzenden goldenen Kreuzen und dem Gitterwerk der in der Luft hängenden goldenen Ketten andererseits. Welchem Glücklichen gehörte dieser versteckte Besitz?
Dem Gutsbesitzer des Tremalachanschen Kreises, Andrej Iwanowitsch Tjentjetnikow, einem jungen dreiunddreißigjährigen Glücklichen, der obendrein auch noch unverheiratet war.
Wer ist er, was ist er, wie sind seine Eigenschaften, wie sein Charakter? Darüber muß man die Nachbarn befragen, liebe Leserinnen. Ein Nachbar, der zu der Gattung der heute schon im Aussterben begriffenen schneidigen Stabsoffiziere a. D. und Draufgänger gehörte, äußerte sich über ihn: »Ein ganz gemeines Vieh!« Der General, der in einer Entfernung von zehn Werst von ihm wohnte, pflegte zu sagen: »Ein gar nicht dummer junger Mann, bildet sich aber zuviel ein. Ich könnte ihm nützlich sein, denn ich habe Verbindungen in Petersburg und sogar beim ...« Der General sprach diesen Satz nicht zu Ende. Der Polizeihauptmann gab aber seiner Antwort folgende Wendung: »Ich will ihn gleich morgen wegen der rückständigen Steuern besuchen!« Und wenn man einen Bauer aus dem Dorfe befragte, wie der Herr sei, so gab er überhaupt keine Antwort. Die Ansichten über ihn waren also gar nicht günstig.
Doch unbefangen betrachtet, war er kein schlechter Mensch, er lief aber unnütz in der Welt herum. Da es wahrlich genug Menschen gibt, die unnütz in der Welt herumlaufen, warum sollte auch Tjentjetnikow nicht dasselbe tun? Hier ist übrigens ein aufs Geratewohl herausgegriffener Tag aus seinem Leben, der jedem anderen Tag dieses Lebens gleicht; der Leser möge danach selbst urteilen, was er für ein Mensch war und inwiefern sein Leben den Naturschönheiten, die ihn umgaben, entsprach.
Des Morgens pflegte er recht spät zu erwachen, dann sehr lange im Bett zu sitzen und sich die Augen zu reiben. Und da seine Augen unglücklicherweise sehr klein waren, dauerte dieses Reiben sehr lange; währenddessen stand sein Diener Michailo mit einem Waschbecken und einem Handtuch in der Türe. Dieser arme Michailo mußte eine ganze Stunde, sogar zwei Stunden dastehen; dann ging er in die Küche und kam wieder zurück – sein Herr saß aber noch immer im Bett und rieb sich die Augen. Endlich stand er auf, wusch sich, zog seinen Schlafrock an und begab sich in den Salon, um Tee, Kaffee, Kakao oder sogar kuhwarme Milch zu trinken; er trank alles schluckweise, streute dabei eine Menge Brotkrumen umher und überschüttete alles ganz abscheulich mit Pfeifenasche. An die zwei Stunden saß er so bei seinem Morgentee. Aber auch das genügte noch nicht: er nahm die erkaltete Tasse und trat mit ihr ans Fenster, das auf den Hof hinausging. Vor diesem Fenster spielte sich alltäglich folgende Szene ab.
Zunächst brüllte Grigorij, der Leibeigene, der im Range eines Küchenverwalters stand, indem er sich an die Haushälterin Perfiljewna mit beiläufig folgenden Worten wandte: »Du empörendes Geschöpf, du elende Null! Du solltest lieber schweigen, gemeines Frauenzimmer!«
»Willst du nicht so etwas haben?« schrie die Null, auch Perfiljewna genannt, ihm eine Feige zeigend. Dieses Weib war in ihren Handlungen roh, obwohl sie große Liebhaberin von Rosinen, Fruchtpasten und sonstigen Näschereien war, die sie in der Speisekammer verschlossen hielt.
»Du wirst es noch mit dem Verwalter zu tun bekommen, du Kehricht«, brüllte Grigorij.
»Der Verwalter ist genau solch ein Dieb wie du. Glaubst du, der Herr kennt euch nicht? Er ist doch hier und hört alles.«
»Wo ist der Herr?«
»Da sitzt er ja am Fenster und sieht alles.«
Der Herr saß in der Tat am Fenster und sah alles.
Um die Hölle noch zu vervollständigen, brüllte ein leibeigenes Kind, das von seiner Mutter eine Ohrfeige bekommen hatte, und winselte ein junger Windhund, mit dem Hinterteil auf der Erde sitzend, nachdem er vom Koch mit heißem Wasser verbrüht worden war. Mit einem Worte, alles heulte und winselte unerträglich. Der Herr sah und hörte alles. Und nur wenn der Lärm so unerträglich wurde, daß er ihn selbst in seinem Nichtstun störte, schickte er jemand hinaus, den Leuten zu sagen, sie möchten doch etwas leiser lärmen.
Zwei Stunden vor dem Mittagessen zog er sich in sein Kabinett zurück, um sich ernsthaft an sein Werk zu machen, das ganz Rußland von allen möglichen Standpunkten behandeln sollte: vom bürgerlichen, vom religiösen und vom philosophischen; das ferner die schwierigen Aufgaben und Fragen, vor die die Zeit unser Rußland gestellt hatte, lösen und seine große Zukunft genau bestimmen sollte; mit einem Worte, er faßte die Aufgabe so auf, wie sie ein moderner Mensch gern auffaßt. Dieses kolossale Vorhaben beschränkte sich übrigens vorerst nur auf das Nachdenken: er kaute an seiner Feder, bedeckte das Papier mit Zeichnungen, schob dann alles beiseite und nahm statt dessen irgendein Buch in die Hand, das er bis zum Mittagessen nicht mehr fortlegte. In diesem Buche las er bei der Suppe, bei der Soße, beim Braten und selbst beim Kuchen, so daß manche Speisen kalt wurden und andere überhaupt unberührt blieben. Dann kam die Pfeife, eine Tasse Kaffee und eine Partie Schach mit sich selbst. Was er nachher bis zum Abendessen trieb, ist wirklich schwer zu sagen. Ich glaube, er trieb gar nichts.
So verbrachte seine Zeit mutterseelenallein der junge dreiunddreißigjährige Mann, unbeweglich, immer im Schlafrock und ohne Halsbinde. Er hatte keine Lust auszugehen, Spaziergänge zu machen, nicht einmal ins Obergeschoß hinaufzugehen, nicht einmal ein Fenster zu öffnen, um etwas frische Luft ins Zimmer hineinzulassen, und die schöne Aussicht auf das Dorf, die kein Besucher gleichgültig sehen konnte, schien für den Besitzer überhaupt nicht zu existieren. Daraus kann der Leser schließen, daß Andrej Iwanowitsch Tjentjetnikow zu der Gattung der Leute gehörte, die in Rußland nicht alle werden und die man früher Schlafmützen, Siebenschläfer und Faulenzer zu nennen pflegte; wie man sie heute nennt, weiß ich wirklich nicht. Werden solche Charaktere geboren oder bilden sie sich erst später als Folge trauriger Umstände, die das Leben des Menschen begleiten? Statt diese Frage zu beantworten, wollen wir lieber die Geschichte seiner Erziehung und Kindheit erzählen.
Alles schien darauf abzuzielen, daß aus ihm etwas Gescheites werden sollte. Der zwölfjährige Junge, scharfsinnig, nachdenklich und etwas kränklich, kam in eine Lehranstalt, die um jene Zeit von einem ungewöhnlichen Menschen geleitet wurde. Der Abgott der Jünglinge, das Wunder in den Augen aller Erzieher, der unvergleichliche Alexander Petrowitsch, war mit einem wunderbaren Spürsinn begabt . . . Wie gut kannte er die Eigentümlichkeiten des russischen Menschen! Wie gut kannte er die Kinder! Wie gut verstand er es, sie vorwärts zu bringen! Es gab keinen noch so ausgelassenen Bengel, der, nachdem er etwas angestellt hatte, nicht selbst zu ihm käme, um eine Beichte abzulegen. Und noch mehr als das: er bekam eine strenge . . ., doch der Bengel verließ ihn nicht mit hängender, sondern mit stolz erhobener Nase. Es lag etwas Ermunterndes in seinen Worten: »Vorwärts! Erhebe dich schnell wieder, und wenn du auch gefallen bist!« Nie sprach er zu ihnen vom guten Betragen. Gewöhnlich sagte er: »Ich verlange nur Vernunft und nichts anderes. Wer nur danach strebt, vernünftig zu sein, der stellt niemals böse Streiche an: jede Ausgelassenheit muß ganz von selbst schwinden.« Und die Ausgelassenheit schwand wirklich von selbst. Von allen seinen Kollegen wurde der Schüler verachtet, der nicht danach strebte, ein . . . Die erwachsenen Esel und Dummköpfe mußten sich seitens der Jüngsten die beleidigendsten Spitznamen gefallen lassen und wagten es nicht, sie auch nur anzurühren. »Das ist schon zuviel!« sagten manche: »Aus diesen klugen Kindern werden gar zu hochmütige Männer werden.« – »Nein, das ist nicht zuviel«, sagte er darauf. »Unbegabte Kinder behalte ich nicht lange; diesen genügt ein gewöhnlicher Kursus, für die Klugen habe ich aber noch einen zweiten Kursus.« Alle Begabten machten bei ihm in der Tat einen zweiten Kursus durch. Manche allzu lebhaften Regungen unterdrückte er nicht, da er in ihnen den Anfang der Entwicklung seelischer Eigenschaften sah; er pflegte zu sagen, er brauche sie, wie der Arzt die Ausschläge braucht, um mit Sicherheit zu erfahren, was im Menschen eigentlich steckt.
Wie liebten ihn die Knaben! Nein, niemals haben noch Kinder so an ihren Eltern gehangen. Selbst in den tollen Jahren der tollen Verirrungen gibt es keine so starke und unauslöschliche Leidenschaft, wie es die Liebe der Schüler zu ihm war. Bis zum Grabe, bis zu seinen letzten Tagen hob der dankbare Schüler am Geburtstage seines herrlichen Erziehers, der schon längst im Grabe lag, seinen Pokal . . ., schloß die Augen und vergoß Tränen. Ein einziges ermunterndes Wort aus seinem Munde ließ den Schüler vor Freude erzittern und weckte in ihm das ehrgeizige Streben, alle zu übertreffen. Die wenig Begabten behielt er nicht lange: für sie hatte er einen kurzen Lehrgang; doch die Begabten mußten die doppelte Lehrzeit absolvieren. Und die letzte Klasse, die aus lauter Auserwählten bestand, glich so gar nicht den letzten Klassen der anderen Lehranstalten. Erst hier verlangte er von seinen Schülern das, was andere Lehrer unvernünftigerweise von den Kindern verlangen: jenen höheren Verstand, der es fertigbringt, sich des Spottes zu enthalten, dabei aber jeden Spott zu ertragen, dem Dummen alles zu verzeihen, sich nicht aufzuregen, in keinem Falle Rache zu üben und die stolze Ruhe der unerschütterlichen Seele zu bewahren; alles, was geeignet ist, aus einem Menschen einen charakterfesten Mann zu machen, wandte er an und stellte selbst unaufhörliche Versuche mit seinen Zöglingen an. Oh, wie gut kannte er die Wissenschaft des Lebens!
Er hatte an seiner Anstalt nicht viele Lehrer. Die meisten Fächer dozierte er selbst. Ohne pedantische Fachausdrücke, ohne aufgeblasene Theorien und Anschauungen verstand er es, die Seele der Wissenschaft mitzuteilen, so daß auch der Jüngste sehen konnte, wozu er die betreffende Wissenschaft brauchte. Von allen Wissenschaften wählte er nur solche, die geeignet waren, den Menschen zu einem Staatsbürger zu machen. Der größte Teil seiner Vorlesungen bestand aus Erzählungen darüber, was den Jüngling in der Zukunft erwartete, und er verstand es, den Horizont dessen Lebensweges so zu umreißen, daß der Jüngling schon auf der Schulbank mit allen seinen Gedanken im Staatsdienste war. Nichts verheimlichte er vor ihm: alle Enttäuschungen und Hindernisse, die der Mensch auf seinem Lebenswege zu überwinden hat, alle Versuchungen und Lockungen, die ihn erwarten, zeigte er ihm in ihrer ganzen Nacktheit, ohne vor ihm etwas zu verbergen. Alles kannte er so genau, wie wenn er alle Ämter und Berufe schon ausgeübt hätte. Lag es am Ehrgeiz, der im Jüngling so früh angeregt wurde, oder daran, daß schon im Blicke dieses ungewöhnlichen Erziehers etwas war, was dem Jüngling »Vorwärts« zuzurufen schien, dieses jedem Russen wohl vertraute Wort, das an seiner empfindlichen Natur solche Wunder wirkt – kurz, der Jüngling strebte gleich am Anfang nach Schwierigkeiten und dürstete nach Handlungen, die die meisten Schwierigkeiten und Hindernisse boten, bei denen es galt, große Seelenkraft zu zeigen. Nur ganz wenige absolvierten diesen Kursus, dafür waren es lauter starke, gleichsam von Pulverrauch geschwärzte Menschen. Im Staatsdienste behaupteten sie sich auf den schwierigsten Posten, auf denen sich andere, die sogar klüger waren, infolge kleinlicher Unannehmlichkeiten nicht halten konnten: diese gaben die Stelle entweder auf oder gerieten, träge und gleichgültig geworden, in die Gewalt von bestechlichen Kollegen und Gaunern. Sie standen aber ohne zu wanken auf ihren Posten und hatten sogar, da sie das Leben und den Menschen kannten und durch Erfahrung gewitzigt waren, einen starken Einfluß selbst auf die Schlechten.
Das leicht entzündliche Herz eines ehrgeizigen Knaben pochte lange beim bloßen Gedanken, daß er endlich in diese Abteilung geraten würde. Unserem Tjentjetnikow konnte man einen besseren Erzieher gar nicht wünschen. Da mußte aber gerade um die Zeit, als er in die Abteilung dieser Auserwählten versetzt werden sollte, wonach er sich so sehr sehnte – der ungewöhnliche Erzieher eines plötzlichen Todes sterben! Was war das für ein harter Schlag! Wie schrecklich war dieser erste Verlust! Es war ihm, als hätte . . . Nun wurde in der Schule alles anders.
An Stelle des Alexander Petrowitsch kam ein gewisser Fjodor Iwanowitsch. Dieser verlegte sofort das Schwergewicht auf lauter Äußerlichkeiten und verlangte von den Kindern Dinge, die man nur von Erwachsenen verlangen darf. In ihrer freien Ungezwungenheit erblickte er Zügellosigkeit. Wie aus Bosheit gegen seinen Vorgänger erklärte er gleich am ersten Tage, daß der Verstand und die guten Fortschritte für ihn nichts bedeuten, daß er nur auf gutes Betragen Gewicht legen werde. Aber seltsam: gerade dieses gute Betragen vermochte Fjodor Iwanowitsch nicht durchzusetzen. Die Schüler gewöhnten sich verschiedene Laster an. Bei Tage ging alles wie am Schnürchen, doch bei Nacht gab es wüste Bummeleien.
Auch mit den Wissenschaften geschah etwas Sonderbares. Man stellte neue Lehrer mit neuen Prinzipien und neuen Gesichtspunkten und Gesichtswinkeln an. Sie erdrückten ihre Schüler mit einer Masse von neuen Fachausdrücken und Worten; sie zeigten zwar in ihrem Unterrichtssystem logische Zusammenhänge, eine Vertrautheit mit den neuesten Errungenschaften und das Fieber ihrer eigenen Begeisterung, doch eines fehlte ihrer Wissenschaft: nämlich das Leben. Die tote Wissenschaft klang aus ihrem Munde tot. Mit einem Worte, alles wurde anders. Der Respekt vor der Obrigkeit ging verloren; sie spotteten über ihre Lehrer und Erzieher; dem Direktor gaben sie die Spitznamen: »Fedjka«, »Semmel« und dergleichen. Sie gewöhnten sich Laster an, die nicht mehr kindlich waren: es kamen solche Dinge auf, daß man viele ausschließen mußte. In zwei Jahren war die Lehranstalt nicht mehr wiederzuerkennen.
Andrej Iwanowitsch hatte ein sanftes Gemüt. Die nächtlichen Orgien seiner Kameraden, die sich direkt vor den Fenstern der Direktorswohnung ein Dämchen hielten, und ihre blasphemischen Redensarten über das Allerheiligste aus dem bloßen Grunde, weil sie einen nicht allzu klugen Popen zum Religionslehrer hatten – vermochten ihn nicht mitzureißen. Nein, seine Seele fühlte selbst im Schlafe ihren himmlischen Ursprung. Es gelang den anderen nicht, ihn zu verderben; er ließ aber die Nase hängen. Sein Ehrgeiz war schon erregt, aber er hatte kein Feld, um ihn zu betätigen. Es wäre besser gewesen, wenn man ihn gar nicht geweckt hätte. Er hörte die Vorträge der Professoren, die auf dem Katheder aus der Haut fuhren, und gedachte seines früheren Lehrers, der es verstand, ohne sich zu ereifern, verständlich zu sprechen. Was hörte er nicht alles für Gegenstände und Kurse! Medizin, Philosophie, selbst Rechtswissenschaft und die allgemeine Geschichte der Menschheit in einem so gewaltigen Umfang, daß der Professor in den ersten drei Jahren nur mit der Einleitung und der Entwicklungsgeschichte einiger deutscher Stadtgemeinden fertig wurde – Gott allein weiß, was er nicht alles hörte! Doch alles ließ in seinem Kopfe nur formlose Bruchstücke zurück. Dank seinem angeborenen Verstand fühlte er, daß man die Wissenschaften ganz anders hätte vortragen sollen, doch wie – das wußte er nicht. Und er gedachte oft des verstorbenen Alexander Petrowitsch, und es wurde ihm dann so traurig zumute, daß er gar nicht wußte, was in seinem Gram anzufangen.
Die Jugend ist aber schon darum so glücklich, weil sie eine Zukunft hat. Je näher der Tag, an dem er die Schule verlassen sollte, heranrückte, um so heftiger pochte sein Herz. Er sagte sich: »Das ist ja noch nicht das Leben; es ist nur die Vorbereitung zum Leben; das echte Leben beginnt erst im Staatsdienste: da kann man Heldentaten vollbringen.« Ohne einen Blick auf den herrlichen Winkel zu werfen, der jeden Gast und Besucher in Erstaunen versetzte, ohne selbst die Gräber seiner Eltern besucht zu haben, eilte er wie alle ehrgeizigen Menschen nach Petersburg, wo bekanntlich die feurige Jugend aus allen russischen Gauen zusammenströmt – um zu dienen, zu brillieren, Karriere zu machen oder auch nur um den Rahm der farblosen, eiskalten, trügerischen gesellschaftlichen Bildung abzuschöpfen. Das ehrgeizige Streben Andrej Iwanowitschs wurde jedoch gleich am Anfang von seinem Onkel, dem wirklichen Staatsrat Onufrij Iwanowitsch gehemmt. Dieser erklärte, daß die Hauptsache eine gute Handschrift und nichts anderes sei und daß man ohne diese unmöglich Minister oder Staatsmann werden könne. Mit großer Mühe und dank der Protektion des Onkels bekam er endlich Stellung in irgendeinem Departement. Als man ihn in einen prachtvollen hellen Saal mit Parkettfußboden und lackierten Schreibtischen brachte, der den Eindruck erweckte, als säßen hier die ersten Würdenträger des Staates, die über das Schicksal des ganzen Reiches zu entscheiden hätten; als er Legionen hübscher schreibender Herren erblickte, die, den Kopf auf die Seite geneigt, mit ihren Federn einen großen Lärm machten; als man ihn selbst an einen Tisch setzte und beauftragte, irgendein Papier abzuschreiben, das zufällig einen ganz unbedeutenden Inhalt hatte – es war ein amtlicher Briefwechsel, der schon ein halbes Jahr währte und irgendwelche drei Rubel zum Gegenstand hatte –, da überkam den unerfahrenen Jüngling ein sehr merkwürdiges Gefühl: alle die Herren, die um ihn saßen, kamen ihm wie Schuljungen vor! Um diese Ähnlichkeit zu vervollständigen, lasen manche von ihnen dumme, aus fremden Sprachen übersetzte Romane, die sie in den großen Aktenbogen versteckt hielten; sie taten dabei so, als seien sie in ihre Arbeit vertieft und zuckten zusammen, sobald ein Vorgesetzter in den Saal trat. So seltsam kam ihm dies alles vor, so viel bedeutsamer erschien ihm seine bisherige Tätigkeit als diese neue, die Vorbereitung zum Staatsdienst schöner – als der Staatsdienst selbst! Er empfand Sehnsucht nach seiner Schule. Plötzlich stand Alexander Petrowitsch wie lebendig vor seinen Augen, und er fing beinahe zu weinen an. Das Zimmer drehte sich um ihn im Kreise, die Tische und die Beamten flimmerten ihm vor den Augen, und nur mit Mühe konnte er sich eines Ohnmachtsanfalls erwehren. »Nein,« sagte er sich, als er wieder zu sich kam, »ich will ans Werk gehen, wie unbedeutend es mir auch anfangs erscheinen mag!« Er faßte sich ein Herz und beschloß, den Staatsdienst wie die anderen Beamten zu versehen. Wo ist die Stadt, die keine Genüsse hätte? Auch in Petersburg sind sie trotz des düsteren, unfreundlichen Aussehens dieser Stadt zu finden. Draußen wütet ein böser Frost von dreißig Grad; es heult die Ausgeburt des Nordens, der teuflische Schneesturm, alle Bürgersteige mit Schnee verwehend, alle Augen blendend und die Pelzkragen, die Schnurrbärte der Männer und die zottigen Schnauzen der Tiere weiß überpudernd; doch durch die einander kreuzenden Schneeflocken leuchtet freundlich hoch oben in einem dritten Stock irgendein Fenster: in einem gemütlichen Zimmer wird hier beim Lichte bescheidener Stearinkerzen, beim Summen des Samowars ein das Herz und die Seele erwärmendes Gespräch geführt, ein herrliches Stück aus einem der durchgeistigten russischen Dichter vorgelesen, mit denen Gott Rußland gesegnet hat, und das Jünglingsherz bebt so begeistert und feurig, wie man es selbst unter dem Himmel des Südens nicht oft antrifft.
Tjentjetnikow gewöhnte sich bald an den Dienst; dieser wurde ihm aber nicht zur Hauptsache und zum Lebensziel, wie er anfangs gehofft hatte, sondern zu einer Angelegenheit zweiten Ranges. Er diente ihm zur besseren Einteilung seiner Zeit, indem er ihn zwang, die ihm bleibenden freien Stunden besonders zu schätzen. Sein Onkel, der wirkliche Staatsrat, glaubte schon, daß aus seinem Neffen etwas Gescheites werden würde, doch der Neffe machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Unter den Freunden Andrej Iwanowitschs, von denen er recht viele hatte, befanden sich zwei, die zu den sogenannten »verbitterten« Menschen zu zählen wären. Sie gehörten zu jenen unruhigen und seltsamen Charakteren, die nicht nur keine Ungerechtigkeit, sondern auch nichts, was ihnen als eine Ungerechtigkeit erschien, ruhig mitansehen können. Im Grunde gutmütig, doch in ihren Handlungen unordentlich, verlangten sie von den anderen jede Rücksicht, waren aber selbst unduldsam gegen alle anderen; durch ihre feurigen Reden und durch ihre edle Entrüstung gegen die Gesellschaft machten sie auf Tjentjetnikow einen starken Eindruck. Sie machten ihn nervös, weckten in ihm den Geist der Reizbarkeit und zwangen ihn, alle die Kleinigkeiten zu beachten, denen er früher auch nicht die geringste Beachtung geschenkt hatte. Fjodor Fjodorowitsch Ljenizyn, der Vorstand einer der Abteilungen, die sich im prunkvollen Saale befanden, mißfiel ihm plötzlich. Er fand an ihm plötzlich eine Menge Fehler. Es schien ihm, daß Ljenizyn sich bei den Gesprächen mit Vorgesetzten in ein Stück Zucker verwandelte und zu Essig werde, wenn sich an ihn ein Untergebener wandte; daß er nach Art aller kleinlichen Menschen gegen alle Beamten eingenommen sei, die an Feiertagen ihm nicht ihre Glückwünsche darbrachten, und an jenen Rache nehme, die ihre Namen nicht auf die beim Portier ausliegenden Gratulationslisten eintrugen; infolgedessen empfand er gegen ihn eine nervöse Abneigung. Ein böser Geist versuchte ihn, diesem Fjodor Fjodorowitsch eine Unannehmlichkeit zu bereiten. Mit besonderem Genuß suchte er nach einer Gelegenheit dazu, und er fand sie auch schließlich. Einmal hatte er mit ihm eine so heftige Auseinandersetzung, daß an ihn die Aufforderung erging, entweder Ljenizyn um Verzeihung zu bitten oder seinen Abschied zu nehmen. Er nahm seinen Abschied. Der Onkel, der wirkliche Staatsrat, kam zu ihm ganz erschrocken ins Haus und flehte ihn an: »Um Christi willen, Andrej Iwanowitsch! Was machst du für Sachen? Wie kann nur ein Mensch eine so glücklich angefangene Karriere aufgeben, bloß weil er einen Vorgesetzten bekommen hat, der ihm nicht paßt? Was fällt dir ein? Wenn man darauf sehen wollte, so bliebe bald niemand im Amte. Komme zu dir, gib deinen Stolz und Ehrgeiz auf, fahre zu ihm hin und setze dich mit ihm auseinander!«
»Es handelt sich nicht darum, Onkelchen«, sagte der Neffe. »Es würde mir nicht schwer fallen, ihn um Verzeihung zu bitten. Ich bin schuld: er ist mein Vorgesetzter, und ich habe mit ihm nicht so reden dürfen. Die Sache ist aber die. Mir steht ein anderer Dienst bevor: ich habe dreihundert Leibeigene, das Gut ist vernachlässigt, der Verwalter ein Dummkopf. Der Staat verliert nicht viel, wenn auf meinem Platze in der Kanzlei sich jemand anders hinsetzt, um die Papiere abzuschreiben; es ist aber für den Staat ein großer Verlust, wenn dreihundert Menschen keine Steuern entrichten. Ich bin – was glauben Sie wohl? – ein Gutsbesitzer, welcher ... der Dienst ... Wenn ich für die Erhaltung, Schonung und die Besserung der Lage der mir anvertrauten Menschen Sorge tragen und dem Staate dreihundert ordentliche, nüchterne, arbeitsame Untertanen liefere – ist dann mein Dienst weniger wert als der eines Abteilungsvorstandes Ljenizyn?«
Der wirkliche Staatsrat riß vor Erstaunen den Mund auf. Einen solchen Redestrom hatte er nicht erwartet. Nach kurzer Überlegung begann er folgendermaßen: »Aber immerhin ... trotzdem ... wie kann man sich nur auf dem Lande begraben? Was für eine Gemeinschaft kann zwischen dir und den Bauern bestehen? ... Hier begegnet man auf der Straße mal einem General oder einem Fürsten. Du kommst auch selbst an einem ... vorbei ... nun, die Gasbeleuchtung, das industrielle Europa ... dort aber ist alles, was du siehst, entweder ein Bauer oder ein Bauernweib. Für welches Vergehen hast du dich zum lebenslänglichen Umgang mit dem rohen Volke verurteilt?«
Alle diese überzeugenden Vorstellungen des Onkels machten auf den Neffen keinen Eindruck. Das flache Land erschien ihm als eine angenehme Zufluchtsstätte, als ein Nährboden für Träume und Gedanken, als das einzige Feld einer nutzbringenden Tätigkeit. Schon hatte er sich die allerneuesten Werke über Landwirtschaft angeschafft. Mit einem Worte, etwa zwei Wochen nach diesem Gespräch befand er sich schon in der Nähe der Gegend, wo er seine Kindheit verbracht hatte, in der Nähe jenes herrlichen Winkels, den die Gäste und Besucher gar nicht genug bewundern konnten. Ein neues Gefühl war in ihm erwacht. In seiner Seele regten sich die alten Eindrücke, die so lange nicht zum Ausbruch kommen konnten. Viele Plätze hatte er schon vergessen, und er betrachtete so neugierig wie ein Neuling die herrlichen Bilder, die sich seinem Auge boten. Und plötzlich begann sein Herz, er wußte selbst nicht warum, heftig zu pochen. Als die Straße als enge Schlucht ins Dickicht des großen verwilderten Waldes drang, als er oben und unten, über und unter sich dreihundertjährige Eichen, die drei Männer umfassen konnten, untermischt mit Fichten, Ulmen und Schwarzpappeln sah, die die Wipfel der Pappeln überragten; als man ihm auf die Frage: »Wem gehört dieser Wald?« antwortete: »Tjentjetnikow«; als die Straße dann den Wald verließ und zwischen Wiesen, an Espengehölz, jungen und alten Weiden vorbei, angesichts der fernen Hügelzüge vorüberzog und auf zwei Brücken über den gleichen Fluß führte, der ihr bald zur Rechten und bald zur Linken lag, und als er auf die Frage: »Wem gehören diese Wiesen?« die Antwort bekam: »Tjentjetnikow«; als die Straße dann bergauf ging und über eine flache Hochebene weiterzog, einerseits an den noch nicht gemähten Korn-, Weizen- und Gerstenfeldern, andererseits an allen den Plätzen vorbei, an denen er schon einmal vorbeigefahren war und die nun perspektivisch verkürzt dalagen; als die Straße, allmählich dunkel werdend, in den Schatten der mächtigen, weitverzweigten Bäume tauchte, die auf dem grünen Teppich bis dicht vor das Dorf verstreut dalagen, und als die mit Schnitzwerk verzierten Bauernhäuser und die roten Dächer der steinernen Gutsgebäude auftauchten und die goldenen Kirchenkuppeln erglänzten; als das glühend pochende Herz, auch ohne zu fragen, wußte, wo es sich nun befand – da kamen endlich die Gefühle, die sich in ihm während der ganzen Fahrt angesammelt hatten, in den lauten Worten zum Ausdruck: »War ich denn nicht ein Narr bisher? Das Schicksal hatte mich zum Besitzer des irdischen Paradieses gemacht, und ich verdammte mich zum Sklavendienst, der im Beschmieren toter Papiere bestand! Nachdem ich eine ordentliche Erziehung genossen, mir eine Bildung angeeignet und einen großen Vorrat von Kenntnissen angesammelt hatte, die man zur Verbreitung des Guten unter den Untergebenen, zur Hebung eines ganzen Bezirks, zur Erfüllung der verschiedenartigsten Pflichten des Gutsbesitzers brauchen kann, welcher zugleich Richter, Verwalter und Hüter der Ordnung ist – vertraute ich diesen Posten einem unwissenden Verwalter an und zog es vor, Angelegenheiten fremder Leute zu besorgen, die ich nie gesehen habe, deren Charaktere und Eigenschaften ich nicht kenne – habe der echten Verwaltung eine papierne, phantastische Verwaltung von Provinzen vorgezogen, die Tausende von Werst entfernt sind, die ich nie mit dem Fuße betreten habe und wo ich nur eine Menge von Unsinn und Dummheiten anstellen kann!«
Indessen erwartete ihn ein anderes Schauspiel. Als die Bauern von der Ankunft ihres Herrn erfuhren, versammelten sie sich alle vor dem Herrenhause. Er sah sich von allerlei Hauben, Kopftüchern, Bauernröcken und malerischen Vollbärten der hübschen Bevölkerung umgeben. Als die Worte erklangen: »Unser Ernährer! Hast dich doch unser erinnert ...« und als viele alten Männer und Frauen, die noch seinen Großvater und Urgroßvater gekannt hatten, unwillkürlich in Tränen ausbrachen, konnte er sich nicht mehr der Tränen enthalten. Und er dachte sich: – Soviel Liebe! Wofür? – Weil ich sie nie gesehen und mich um sie noch nie gekümmert habe? – Und er leistete das Gelübde, mit ihnen alle Arbeit und Mühe zu teilen.
Und er fing an, sein Gut zu verwalten. Er setzte den Erbzins herab und ließ die Bauern weniger Tage für den Gutsbesitzer und mehr Tage für sich selbst arbeiten. Den dummen Verwalter jagte er davon. Er begann, sich selbst um alles zu kümmern: er zeigte sich auf den Feldern, auf der Tenne, in den Getreidespeichern, in den Mühlen, am Landungsplatz beim Laden und bei der Abfahrt der Kähne, so daß die Faulen anfingen, sich den Nacken zu kratzen. Dies dauerte jedoch nicht lange. So ein Bauer ist gar nicht dumm: er begriff bald, daß der Herr zwar mit großem Eifer dabei war und auch den Willen hatte, alles anzufassen, daß er aber noch nicht wußte, wie es anzufassen sei, daß er gebildet rede und ihnen nichts einzupauken versuche. So kam es, daß der Herr und der Bauer – man kann nicht sagen, daß sie sich nicht verstanden – sich aber nicht einander anzupassen und den gleichen Ton zu treffen vermochten.
Tjentjetnikow merkte, daß auf seinem Boden alles viel schlechter gedieh als auf dem der Bauern. Es wurde zwar früher gesät, ging aber später auf; und doch schienen die Bauern ordentlich zu arbeiten. Er wohnte den Arbeiten selbst bei und ließ den Leuten sogar ab und zu ein Glas Schnaps für ihre Mühe reichen. Bei den Bauern aber wogte das Korn schon längst in hohen Halmen, der Hafer war aufgegangen, die Hirse wuchs in dichten Büscheln; bei ihm stand aber das Korn erst in dünnen Halmen mit noch leeren Ähren. Mit einem Worte, der Herr merkte, daß die Bauern trotz aller Erleichterungen einfach schwindelten. Er versuchte ihnen Vorwürfe zu machen, bekam aber folgende Antwort: »Ist’s denn möglich, Herr, daß wir nicht an den Nutzen der Herrschaft dächten? Sie beliebten doch selbst zu sehen, wie wir uns beim Ackern und Säen abgemüht haben – Sie haben uns ja auch je ein Glas Schnaps geben, lassen.« Was konnte er darauf entgegnen?
»Warum ist es nun so schlecht geraten?« fragte der Herr weiter.
»Wer kann das wissen? Die Würmer werden es wohl von unten angenagt haben. Und dann ist auch der Sommer so schlecht: es hat noch keinen Regen gegeben.«
Der Herr sah aber, daß das Getreide der Bauern unten von keinen Würmern angenagt war; auch hatte es so seltsam geregnet, in lauter Streifen: der Regen hatte nur die Felder der Bauern getroffen, aber die des Herrn mit keinem einzigen Tropfen bedacht.
Noch schwerer fiel es ihm, mit den Weibern auszukommen. Sie bettelten fortwährend um Befreiung von der Arbeit und beklagten sich über den schweren Frondienst. Eine merkwürdige Sache: er hatte alle Lieferungen von Leinwand, Beeren, Pilzen und Nüssen abgeschafft und ihre sonstigen Arbeiten um die Hälfte gekürzt, in der Annahme, daß die Weiber diese Zeit ihrem Haushalt widmen, die Kleidung ihrer Männer instand halten und die Gemüsegärten vergrößern würden. Doch gefehlt! Unter dem schönen Geschlecht kamen Faulheit, Schlägereien, Klatsch und Zank auf, so daß die Männer zu ihm jeden Augenblick mit solchen Worten kamen: »Herr, bring doch meine Hexe zur Raison! Sie ist ja ein wahrer Satan und läßt einen gar nicht leben!«
Er wollte schon, wenn auch mit Selbstüberwindung, zur Strenge greifen; wie konnte er aber streng sein? So ein Weib kam zu ihm als echtes Weib; es begann zu heulen, war krank und schwach und hatte ekelhafte, häßliche Lumpen an; wo es diese Lumpen hernahm, das weiß Gott allein. »Geh, geh mir aus den Augen! Gott sei dir gnädig!« sagte der arme Tjentjetnikow und sah gleich darauf, wie die Kranke, nachdem sie zum Tore hinaus war, mit einer Nachbarin wegen einer Rübe in Streit geriet und diese so verprügelte, wie es auch der kräftigste Bauer kaum fertigbringen kann.
Er versuchte für sie eine Schule zu gründen, doch daraus wurde solch ein Unsinn, daß er den Kopf hängen ließ: hätte er es lieber gar nicht angefangen! Wenn er ihre Streitigkeiten zu schlichten hatte, so zeigte es sich, daß ihm alle die juristischen Finessen, die ihm seine philosophischen Professoren beigebracht hatten, nichts nützten. Die eine Partei log, auch die andere Partei log, der Teufel allein konnte sich da auskennen! Er sah, daß einfache Menschenkenntnis viel nützlicher wäre als alle Feinheiten der philosophischen und juristischen Bücher; er sah wohl ein, daß ihm etwas fehlte, doch was, das wußte Gott allein. Und so kam es, was so oft kommt: weder verstand der Bauer den Herrn, noch der Herr den Bauern; der Bauer sah den Herrn von einer unvorteilhaften Seite, ebenso der Herr den Bauern. Dies alles kühlte erheblich den Eifer des Gutsbesitzers ab. Die Feldarbeiten verfolgte er nun ohne jede Aufmerksamkeit. Wenn die Sensen bei der Heuernte leise rauschten, das Heu zu Schobern aufgerichtet oder auf Wagen verladen wurde und die Arbeit sich dicht vor ihm abspielte – so blickten seine Augen in die Ferne; wurde aber die Arbeit in der Ferne verrichtet, so hefteten sich seine Augen auf irgendeinen Gegenstand in der Nähe oder blickten zur Seite; auf irgendeine Windung des Flusses, wo ein Martin mit roter Nase und roten Beinen spazierte, natürlich ein Vogel und kein Mensch. Er sah neugierig zu, wie der Vogel am Ufer einen Fisch fing und, ihn quer im Schnabel haltend, sich überlegte, ob er ihn verschlingen solle oder nicht; zugleich blickte er auf eine andere Stelle des Ufers, wo in der Ferne ein zweiter Eisvogel schimmerte, der noch keinen Fisch gefangen hatte, doch aufmerksam den ersten beobachtete, der schon einen hatte. Oder er kniff die Augen zusammen, wandte das Gesicht den Himmelsräumen zu und überließ es seiner Nase, den Duft der Felder aufzunehmen, und seinen Ohren, sich am Gesang der Bewohner der Lüfte zu erfreuen, der, von überall, vom Himmel und von der Erde kommend, sich zu einem einzigen harmonischen Chore ohne Mißton vereinte. Im Korn schlägt eine Wachtel, im Grase schnarrt ein Wiesenschnarrer, über ihnen zwitschern die Hänflinge, blökt eine in die Höhe gestiegene Sumpfschnepfe, trillert, im Lichte verschwindend, eine Lerche; wie Trompetentöne klingen die Schreie der Kraniche, die hoch in den Lüften ihre dreieckigen Züge bilden. Und alles weckt einen Widerhall in der ganzen Umgegend, die sich in Musik verwandelt hat. O Schöpfer! Wie herrlich ist deine Welt in der Wildnis, im kleinen Dorfe, fern von den gemeinen Landstraßen und Städten! Aber auch dies wurde ihm bald langweilig. Bald hörte er ganz auf, aufs Feld zu gehen, zog sich in seine Zimmer zurück und empfing nicht mal den Verwalter, wenn der mit einem Bericht zu ihm kam.
Früher besuchte ihn ab und zu mancher von seinen Nachbarn: ein Husarenleutnant a.D., ganz von Pfeifenrauch durchräuchert, oder irgendein radikaler Student, der die Studien nicht abgeschlossen und seine Weisheit aus den modernen Broschüren und Zeitschriften geschöpft hatte. Aber auch dies begann ihn zu langweilen. Ihre Gespräche erschienen ihm allzu oberflächlich, ihr europäisch-ungeniertes Benehmen, das Klopfen aufs Knie, ebenso ihre Schmeichelei und Familiarität kamen ihm allzu ungezwungen und unverblümt vor. Er entschloß sich, alle diese Bekanntschaften aufzugeben und machte das auf eine recht schroffe Weise. Als ihn nämlich einmal der in seinen oberflächlichen Gesprächen über alle möglichen Dinge so angenehme Warwar Nikolajewitsch Wischnepokromow, der den im Aussterben begriffenen Typus der draufgängerischen Obersten und zugleich auch die allerneueste Geistesrichtung repräsentierte, besuchte, um mit ihm nach Herzenslust über alles mögliche zu sprechen: über Politik, Philosophie, Literatur, Moral und sogar den Zustand der englischen Finanzen – ließ er ihm sagen, er sei nicht zu Hause, beging aber zugleich die Unvorsichtigkeit, sich am Fenster zu zeigen. Die Blicke des Hausherrn und des Gastes trafen sich. Der eine murmelte natürlich durch die Zähne: »So ein Vieh!«, und der andere rief ihm gleichfalls etwas wie »Schwein« nach. Damit endeten ihre Beziehungen. Seitdem besuchte ihn kein Mensch mehr.
Er war froh darüber und faßte den Plan zu einem großen Werk über Rußland. Wie er sich diesen Plan überlegte, hat der Leser schon gesehen. In seinem Leben stellte sich eine merkwürdige unordentliche Ordnung ein. Man kann jedoch nicht sagen, daß es keine Augenblicke gegeben hätte, wo er nicht gleichsam aus dem Schlafe erwachte. Wenn die Post ihm Zeitungen und Zeitschriften brachte und er irgendwo den ihm bekannten Namen eines ehemaligen Freundes las, der es im Staatsdienste zu einer ansehnlichen Stellung gebracht hatte oder nach Kräften den Wissenschaften oder der Sache der Menschheit diente, beschlich ein stummer, stiller Schmerz seine Seele, und ihm entrang sich eine traurige, stumme Klage über seine Tatenlosigkeit. In solchen Augenblicken erschien ihm sein Leben widerwärtig und häßlich. Mit ungewöhnlicher Deutlichkeit erstand vor ihm die entschwundene Schulzeit, und er sah vor sich Alexander Petrowitsch ... Ströme von Tränen stürzten ihm aus den Augen ...
Was bedeuteten diese Tränen? Deckte in ihnen seine krankende Seele das schmerzhafte Geheimnis ihrer Krankheit auf – daß der große Mensch, der im Begriffe war, sich in seinem Innern zu bilden, keine Zeit gehabt hatte, sich zu formen und zu erstarken; daß er, der nicht von Kind auf im Kampfe mit Mißerfolgen erprobt war, noch nicht jenen höheren Zustand erreicht hatte, wo der Mensch gerade durch Hindernisse und Mißerfolge wächst und erstarkt; daß sein reicher Vorrat an großen Gefühlen, der gleich glühendem Metall geschmolzen war, nicht die letzte Härtung bekommen hatte; daß ihm viel zu früh sein ungewöhnlicher Lehrer gestorben war und daß er nun niemand auf der ganzen Welt hatte, der die Kraft hätte, seinen durch ewiges Schwanken erschütterten und jeder Elastizität baren, kraftlosen Willen zu festigen, der seiner Seele anspornend das ermunternde Wort: »Vorwärts!« zuriefe, nach dem jeder Russe von jedem Rang und Stande, auf jeder Lebensstufe dürstet?
Wo ist der Mensch, der uns in der Muttersprache unserer russischen Seele das allmächtige Wort: »Vorwärts!« zuzurufen vermöchte? Der uns, mit allen Kräften und Eigenschaften und der ganzen Tiefe unserer Natur vertraut, mit einem einzigen Zauberwink zu einem höheren Leben lenken könnte? Mit welchen Tränen, mit welcher Liebe würde es ihm der dankbare russische Mensch bezahlen! Doch die Jahrhunderte vergehen, schmachvolle Faulheit und die sinnlose Geschäftigkeit eines unreifen Jünglings umfangen . . . und Gott schickt uns nicht den Mann, der dieses Wort zu sprechen vermöchte!
Ein Umstand hätte ihn beinahe geweckt, beinahe hätte sich sein Charakter von Grund auf verändert: er erlebte etwas wie Liebe. Doch die Sache führte zu nichts. In seiner Nachbarschaft, zehn Werst von seinem Gute entfernt, lebte ein General, der, wie wir es schon hörten, nicht allzu günstig über Tjentjetnikow sprach. Der General lebte wie ein richtiger General: hielt ein offenes Haus, liebte es, daß seine Nachbarn ihn besuchten, um ihm ihre Achtung zu bezeugen, erwiderte aber ihre Visiten nicht, sprach mit heiserer Stimme, las Bücher und hatte eine Tochter, ein ungewöhnliches, sonderbares Wesen. Sie war so lebendig wie das Leben selbst.
Ihr Name war Ulinjka. Sie hatte eine recht merkwürdige Erziehung genossen: durch eine englische Gouvernante, die kein Wort Russisch sprach. Ihre Mutter hatte sie sehr früh verloren. Der Vater hatte für sie niemals Zeit. Da er übrigens seine Tochter wahnsinnig liebte, hätte er sie nur verziehen können. Da sie in voller Freiheit herangewachsen war, war alles an ihr trotzig und eigensinnig. Wenn jemand gesehen hätte, wie bei einem plötzlichen Zornausbruch strenge Falten ihre herrliche Stirn durchfurchten und wie hitzig sie mit ihrem Vater stritt, hätte er glauben müssen, sie sei das launischste Geschöpf. Ihr Zorn entbrannte aber nur dann, wenn sie von irgendeiner Ungerechtigkeit oder einer bösen Tat hörte, ganz gleich, an wem sie verübt worden war. Niemals stritt sie aber um ihrer selbst willen, niemals suchte sie sich selbst zu rechtfertigen. Ihr Zorn würde sofort verpuffen, wenn sie den, gegen den sie zürnte, im Unglück sähe. Auf jede Bitte um ein Almosen war sie bereit, wem es auch sei, ihren Beutel mit seinem ganzen Inhalt zuzuwerfen, ohne erst irgendwelche Überlegungen oder Berechnungen anzustellen. Es war etwas Ungestümes an ihr. Wenn sie sprach, so schien sie mit ihrem ganzen Wesen ihren Gedanken nachzueilen, – mit ihrem Gesichtsausdruck, mit ihrem Tonfall, mit ihren Handbewegungen; selbst die Falten ihres Kleides strebten gleichsam in dieselbe Richtung, und man hatte den Eindruck, daß sie gleich selbst ihren eigenen Worten nachfliegen würde. Nichts blieb an ihr verborgen. Vor keinem Menschen scheute sie ihre Gedanken zu äußern, und keine Gewalt vermochte sie zum Schweigen zu bringen, wenn sie sprechen wollte. Ihr bezaubernder, nur ihr allein eigentümlicher Gang war dermaßen frei und sicher, daß ihr jeder unwillkürlich den Weg freigab. In ihrer Gegenwart fühlte sich jeder böse Mensch verlegen und mußte verstummen; der keckste und im Gespräch ungezwungenste Mensch fand in ihrer Gegenwart keine Worte und verlor jede Sicherheit; ein Schüchterner konnte aber mit ihr so lebhaft plaudern, wie er in seinem ganzen Leben noch mit niemand geplaudert hatte, und hatte gleich zu Beginn des Gesprächs den Eindruck, als sei er mit ihr schon einmal irgendwo bekannt gewesen, als hätte er ihre Züge schon einmal gesehen, als hätte er dies in den Tagen der schon vergessenen Kindheit erlebt, in seinem Vaterhause, an einem lustigen Abend, unter freudigen Kinderspielen; und nach einem solchen Gespräch erschien ihm lange noch das vernünftige Alter des Menschen so furchtbar langweilig.
Dasselbe erlebte mit ihr auch Tjentjetnikow. Ein unaussprechliches neues Gefühl drang in seine Seele. Sein langweiliges Leben wurde für einen Augenblick erhellt.
Der General nahm Tjentjetnikow anfangs recht gut und freundlich auf; intim wurden sie jedoch nicht. Ihre Gespräche endeten immer mit einem Streit und einem unangenehmen Gefühl auf beiden Seiten, denn der General liebte keinen Widerspruch; und Tjentjetnikow war auch seinerseits recht empfindlich. Der Tochter zuliebe vergab er natürlich dem Vater vieles, und der Friede zwischen ihnen blieb erhalten, bis einmal der General Besuch von zwei Verwandten erhielt: der Gräfin Bordyrjowa und der Fürstin Jusjakina, zwei Hofdamen des früheren Hofes, die aber noch einige Verbindungen behalten hatten, aus welchem Grunde der General sie auf eine recht gemeine Weise umschmeichelte. Gleich nach ihrer Ankunft kam es Tjentjetnikow vor, daß der General etwas kühler gegen ihn sei, ihn überhaupt nicht beachte oder wie ein stummes Geschöpf behandle; er apostrophierte ihn etwas wegwerfend mit: »Mein Lieber«, »Hör’ mal, Bruder«, und selbst mit »du«. Da riß seine Geduld. Er biß jedoch die Zähne zusammen und hatte noch so viel Geistesgegenwart, um mit einer ungemein höflichen und sanften Stimme zu sagen, während auf seinem Gesicht Flecken hervortraten und alles in ihm kochte: »Ich danke Ihnen, General, für Ihre Zuneigung. Mit dem Worte ›du‹ fordern Sie mich zu einer intimeren Freundschaft auf und verpflichten mich, auch zu Ihnen ›du‹ zu sagen. Doch der Unterschied im Alter steht einem solchen familiären Verkehr zwischen uns im Wege.« Der General fühlte sich verlegen. Seine Gedanken sammelnd und nach passenden Worten suchend, sagte er, daß er das Wort »du« nicht in diesem Sinne gebraucht habe und daß es einem alten Manne zuweilen erlaubt sei, einen jüngeren mit »du« anzureden (von seinem Rang sprach er aber kein Wort).
Selbstverständlich hörte darauf jeder Verkehr zwischen ihnen auf, und die Liebe endete gleich bei Beginn. Das Licht, das für eine Weile vor ihm aufgeleuchtet hatte, erlosch, und die nun folgende Dämmerung wurde noch düsterer. Sein Leben nahm die Gestalt an, wie es der Leser zu Beginn dieses Kapitels gesehen hat – er verbrachte es im Liegen und im Müßiggang. In seinem Hause kamen Schmutz und Unordnung auf. Die Bodenbürste blieb tagelang mit dem Kehricht mitten im Zimmer. Die Unterhosen zeigten sich selbst im Salon. Auf dem eleganten Tisch vor dem Sofa lagen schmutzige Hosenträger, gleichsam als Präsent für den Gast, und sein ganzes Leben wurde so unbedeutend und verschlafen, daß ihn nicht nur seine Leibeigenen nicht mehr achteten, sondern auch die Hühner nach ihm pickten. Mit der Feder in der Hand vor einem Blatt Papier sitzend, zeichnete er stundenlang Kringel, Häuschen, Hütten, Bauernwagen und Troikas. Zuweilen vergaß sich aber die Feder und zeichnete ganz von selbst, ohne Wissen ihres Herrn, ein kleines Köpfchen mit feinen Zügen, mit einem schnellen, durchdringenden Blick und einer emporfliegenden Haarflechte, und Tjentjetnikow sah mit Erstaunen das Bildnis des Mädchens erstehen, dessen Porträt wohl kein Künstler hätte malen können. Und es wurde ihm noch trauriger zumute; er glaubte, daß ein Glück auf Erden unmöglich sei, und wurde nur noch trauriger und schweigsamer.
So war der Gemütszustand Andrej Iwanowitschs Tjentjetnikows. Als er einmal nach seiner Gewohnheit am Fenster saß und wie immer hinausblickte, hörte er zu seinem Erstaunen weder den Grigorij noch die Perfiljewna, dafür machte sich im Hofe gegenüber eine gewisse Bewegung und Unruhe bemerkbar. Der Küchenjunge und die Spülfrau liefen hinaus, um das Tor zu öffnen. Im Tore zeigten sich Pferde, ganz wie man sie auf Triumphpforten sieht: eine Schnauze nach rechts, eine Schnauze nach links und eine Schnauze in der Mitte. Über ihnen ragten auf dem Bock ein Kutscher und ein Lakai in einem mit einem Taschentuch umgürteten weiten Rock. Hinter ihnen saß ein Herr in Mantel und Mütze, mit einem regenbogenfarbigen Tuch um den Hals. Als die Equipage vor dem Hauseingange umwendete, zeigte es sich, daß es nichts anderes als ein leichter Reisewagen auf Federn war. Der Herr von einem ungewöhnlich angenehmen Äußern sprang mit einer beinahe militärischen Behendigkeit und Gewandtheit aus dem Wagen.
Andrej Iwanowitsch bekam Angst: er hielt den Herrn für einen Beamten von der Regierung. Es muß erwähnt werden, daß er in seiner Jugend in eine sehr dumme Geschichte hineingeraten war. Zwei Philosophen aus dem Husarenstande, die allerlei Broschüren gelesen hatten, ein Ästhet, der seine Studien nicht abgeschlossen hatte, und ein verkrachter Spieler gründeten eine philanthropische Gesellschaft unter dem Vorsitz eines alten Gauners und Freimaurers, der gleichfalls Kartenspieler war, aber eine ungewöhnliche Rednergabe besaß. Die Gesellschaft verfolgte sehr weitgesteckte Ziele: nämlich der ganzen Menschheit von den Themseufern bis Kamtschatka ein dauerndes Glück zu verschaffen. Sie brauchte dazu kolossale Barmittel, und die großmütigen Mitglieder mußten unglaubliche Summen spenden. Was mit diesem Gelde geschah, wußte nur der Oberleiter allein. In diese Gesellschaft wurde Tjentjetnikow von zwei seiner Freunde hereingezogen, die zur Klasse der »verbitterten« Menschen gehörten; sie waren zwar gute Menschen, aber infolge der vielen Toaste auf die Wissenschaft, die Aufklärung und die der Menschheit in Zukunft zu erweisenden Dienste zu richtigen Säufern geworden. Tjentjetnikow kam bald zur Besinnung und trat aus diesem Kreise aus. Doch die Gesellschaft hatte sich schon auf andere Dinge verlegt, die eines Edelmannes unwürdig sind, und so bekam man es mit der Polizei zu tun ... Darum ist es auch kein Wunder, daß er, nach seinem Austritt aus der Gesellschaft und nach Abbruch aller Beziehungen zu ihr, nicht recht ruhig bleiben konnte: sein Gewissen war irgendwie belastet. Nicht ohne Angst blickte er darum auf die Türe, die sich vor ihm öffnete.
Seine Angst verflüchtigte sich aber sofort, als der Gast sich vor ihm mit einer ungewöhnlichen Gewandtheit verbeugte, wobei er den Kopf respektvoll zur Seite geneigt hielt, und ihm in kurzen, doch sicher vorgebrachten Worten erklärte, daß er, wie in Geschäften, so auch von Wißbegierde getrieben, schon seit längerer Zeit Rußland bereise; daß unser Reich, von der Verschiedenheit der Gewerbe und Bodenarten ganz abgesehen, eine ungeheure Menge von bemerkenswerten Dingen aufzuweisen habe; daß ihn die malerische Lage seines Gutes bezaubert habe; daß er aber trotz dieser malerischen Lage sich niemals erlaubt hätte, ihn mit seinem ungelegenen Besuch zu belästigen, wenn nicht seine Equipage infolge der Frühlingsüberschwemmung und der schlechten Straßen einen Bruch erlitten hätte, der die Hilfe von Schmieden und anderen Handwerkern erfordere; und daß er, selbst wenn mit seiner Equipage nichts passiert wäre, sich dennoch nicht das Vergnügen hätte versagen können, ihm persönlich seine Hochachtung zu bezeugen.
Nachdem der Gast diese Rede beendigt hatte, schlug er mit einer bezaubernden Anmut die Hacken seiner in eleganten Halbschuhen aus Glacéleder mit Perlmutterknöpfen steckenden Füße zusammen und prallte gleich darauf, trotz seiner Körperfülle, mit der Leichtigkeit eines Gummiballs etwas zurück.
Andrej Iwanowitsch wurde ruhig und sagte sich, daß es wohl ein wißbegieriger gelehrter Professor sei, der Rußland bereise, um vielleicht irgendwelche Pflanzen oder vielleicht auch Fossilien zu sammeln. Er erklärte sich sofort bereit, ihm in allen Dingen behilflich zu sein; er stellte ihm seine eigenen Handwerker, Wagenbauer und Schmiede zur Verfügung; bat ihn, sich’s so bequem zu machen wie im eigenen Hause; setzte ihn in einen bequemen Großvatersessel und machte sich bereit, seinen Vortrag über irgendein naturwissenschaftliches Thema anzuhören.
Der Gast berührte jedoch vorwiegend Erscheinungen der inneren Welt. Er verglich sein Leben mit einem Schiffe mitten im Meere, das von allen Seiten von unbeständigen Winden herumgetrieben wird; er erwähnte, daß er genötigt gewesen sei, mehrere Berufe zu wechseln, daß er für die Wahrheit viel Ungemach erlitten, daß ihm sogar seitens seiner Feinde Lebensgefahr gedroht habe; er erzählte noch viele andere Dinge, die eher von einem Mann des praktischen Lebens zeugten. Zum Schlüsse seiner Rede schneuzte er sich in ein weißes Batisttaschentuch so laut, wie es Andrej Iwanowitsch noch nie gehört hatte. Zuweilen gibt es im Orchester so eine verdammte Trompete: wenn die einen Ton von sich gibt, glaubt man, er sei nicht im Orchester, sondern im eigenen Ohre entstanden. Ein ähnlicher Ton erdröhnte in den aus dem Schlafe erwachten Zimmern, und gleich darauf verbreitete sich der Wohlgeruch von Kölnischem Wasser, der wohl unsichtbar dem Batisttaschentuch, mit dem der Gast fächelte, entströmte.
Der Leser hat vielleicht schon erraten, daß der Gast niemand anders war als unser verehrter, von uns schon so lange verlassener Pawel Iwanowitsch Tschitschikow. Er war etwas gealtert: diese Zeit war an ihm wohl nicht ohne Stürme und Unruhe vorübergegangen. Selbst sein Frack schien etwas abgetragen zu sein, auch der Wagen, der Kutscher, der Lakai, die Pferde und das Geschirr sahen etwas abgerieben aus. Man hatte den Eindruck, daß auch seine Finanzlage nicht beneidenswert sei. Doch der Gesichtsausdruck, der feine Anstand und die angenehmen Manieren waren noch dieselben. Er zeigte vielleicht sogar noch mehr Anmut, wenn er, sich in den Sessel setzend, die Füße kreuzte. In seiner Aussprache war noch mehr Weichheit, in seinen Worten und Wendungen noch mehr vorsichtige Mäßigung; er zeigte ein noch feineres Benehmen und noch mehr Takt in allen Dingen. Weißer und reiner als Schnee waren sein Kragen und Vorhemd, und obwohl er direkt aus dem Reisewagen stieg, war an seinem Frack auch nicht ein Federchen zu sehen: man könnte ihn auf der Stelle zu einem Geburtstagsessen einladen. Seine Wangen und sein Kinn waren so sorgfältig rasiert, daß nur ein Blinder ihrer angenehmen Fülle und Rundung seine Bewunderung versagen würde.
Sofort vollzog sich im Hause eine Veränderung. Die eine Hälfte, die bisher blind, mit zugenagelten Laden gelegen hatte, wurde plötzlich sehend und hell. In den nun erleuchteten Zimmern fand jedes Ding seinen Platz, und bald nahm alles folgendes Aussehen an: das Zimmer, das zum Schlafzimmer bestimmt war, nahm die Dinge auf, die man für die Nachttoilette braucht; das Zimmer, das zum Kabinett ausersehen war ... zunächst müssen wir aber erwähnen, daß es in diesem Zimmer drei Tische gab: einen Schreibtisch vor dem Sofa, einen Kartentisch zwischen den Fenstern unter dem Spiegel und einen Ecktisch im Winkel zwischen der Schlafzimmertüre und der Türe, die zu dem unbewohnten Saal mit invaliden Möbeln führte, welcher schon seit einem Jahr von niemand betreten worden war und jetzt als Vorzimmer dienen sollte. Auf diesem Ecktische fanden die aus dem Koffer hervorgeholten Kleidungsstücke Platz, und zwar: eine Frackhose, eine neue Hose, eine graue Hose, zwei Samt- und zwei Atlaswesten und ein Rock. Alle diese Gegenstände wurden zu einer Pyramide aufgeschichtet und oben mit einem seidenen Taschentuche zugedeckt. In der anderen Ecke, zwischen der Türe und dem Fenster, wurden in schöner Reihe die Stiefel aufgestellt: ein nicht ganz neues Paar, ein ganz neues Paar, ein Paar Lackhalbschuhe und ein Paar Morgenschuhe. Auch sie wurden schamhaft mit einem seidenen Taschentuch zugedeckt, so daß man von ihnen überhaupt nichts sah. Auf den Schreibtisch kamen in der schönsten Ordnung folgende Gegenstände: die Schatulle, eine Flasche Kölnisches Wasser, ein Kalender und zwei Romane; beides zweite Bände. Die reine Wäsche kam in die Kommode, die sich schon im Schlafzimmer befand; die Wäsche aber, die der Waschfrau übergeben werden sollte, wurde zu einem Bündel zusammengebunden und unter das Bett gesteckt. Auch der nun geleerte Koffer kam unter das Bett. Der Säbel, den er mitzuführen pflegte, um den Dieben Angst einzujagen, kam gleichfalls ins Schlafzimmer, auf einen Nagel in der Nähe des Bettes. Alles sah plötzlich ungewöhnlich sauber und ordentlich aus. Kein Papierchen, kein Federchen, kein Stäubchen lag auf dem Boden. Selbst die Luft wurde gleichsam edler: sie nahm den angenehmen Geruch eines gesunden, frischen Mannes an, der seine Wäsche nicht zu lange trägt, regelmäßig das Dampfbad besucht und sich an Sonntagen mit einem nassen Schwamm abreibt. Im Vorsaale wollte sich schon der Geruch des Lakaien Petruschka festsetzen, aber Petruschka wurde bald, so wie es sich gehörte, in die Küche umlogiert.
In den ersten Tagen fürchtete Andrej Iwanowitsch für seine Unabhängigkeit: der Gast könnte ihm seine Freiheit nehmen, irgendwelche Veränderungen in seine Lebensweise einführen und seine so glücklich aufgestellte Tagesordnung stören; diese Befürchtungen erwiesen sich aber als unbegründet. Unser Pawel Iwanowitsch zeigte eine ungewöhnliche Fähigkeit, sich an alles anzupassen. Er lobte die philosophische Bedächtigkeit seines Gastgebers und sagte, sie verspreche ein Leben von hundert Jahren. Über seine Vereinsamung äußerte er sich sehr glücklich, nämlich in dem Sinne, daß sie die großen Gedanken im Menschen nähre. Nachdem er einen Blick auf die Bibliothek geworfen und sich über die Bücher im allgemeinen sehr lobend ausgesprochen hatte, bemerkte er, daß sie den Menschen vor Müßiggang bewahren. Er verlor nicht viel Worte, aber alles, was er sagte, hatte Hand und Fuß. In seinen Handlungen war er noch tadelloser. Er kam und ging immer zur rechten Zeit; bemühte den Hausherrn mit keinen Fragen, wenn dieser nicht gern sprechen wollte; spielte mit Vergnügen mit ihm Schach und schwieg auch mit dem gleichen Vergnügen. Während der eine den Pfeifenrauch in schönen Wolken aufsteigen ließ, suchte sich der andere, welcher keine Pfeife rauchte, eine entsprechende Beschäftigung: er holte zum Beispiel seine Schnupftabakdose aus Tulasilber hervor, hielt sie zwischen zwei Fingern seiner linken Hand fest und versetzte sie mit einem Finger der rechten Hand in Rotation, die der des Erdballs um seine Achse glich; oder er trommelte auf ihr mit dem Finger und pfiff etwas dazu. Mit einem Wort, er störte den Hausherrn nicht im geringsten. »Ich sehe zum erstenmal einen Menschen, mit dem man leben kann,« sagte sich Tjentjetnikow. »Diese Kunst ist bei uns im allgemeinen wenig verbreitet. Es gibt unter uns wohl genug kluge, gebildete und gute Menschen, aber Menschen von stets gleichmäßigem Charakter, Menschen, mit denen man sein Leben lang auskommen kann, ohne sich mit ihnen zu entzweien – ich weiß nicht, ob es bei uns viele solche Menschen gibt. Dieser ist der erste, den ich sehe.« So äußerte sich Tjentjetnikow über seinen Gast.
Tschitschikow war seinerseits sehr froh darüber, daß er sich für eine Zeitlang bei einem so friedlichen und ruhigen Herrn niedergelassen hatte. Das Zigeunerleben hatte er nun ordentlich satt. Sich wenigstens einen Monat in dem schönen Dorfe, angesichts der Felder und des eben beginnenden Frühjahrs auszuruhen, war sogar in Hinsicht auf die Hämorrhoiden von Nutzen.
Einen schöneren Winkel zum Ausruhen hätte man schwer finden können. Der von Frösten spät aufgehaltene Frühling zeigte sich plötzlich in seiner ganzen Schönheit, und überall regte sich neues Leben. Schon blaute es in den Waldlichtungen, und auf dem frischen Smaragdgrün der Wiesen leuchtete gelber Löwenzahn und neigten lila und rosa Anemonen ihre zarten Köpfchen. Über den Sümpfen zeigten sich Schwärme von Eintagsfliegen und Mengen anderer Insekten; sie wurden schon von den Wasserspinnen gejagt, und allerlei Vögel versammelten sich im trockenen Schilfe. Alles versammelte sich, um einander in der Nähe zu sehen. Plötzlich war die Erde bevölkert, plötzlich waren die Wälder erwacht, und in den Wiesen begann es zu summen und zu tönen. Im Dorfe tanzte man Reigen. Es war ein Vergnügen, sich im Freien aufzuhalten. Wie grell leuchtete das Grün! Wie frisch war die Luft! Wie laut zwitscherten die Vögel in den Gärten! Ein Paradies, ein Jauchzen und Jubilieren der ganzen Kreatur! Das Dorf tönte und sang wie bei einer Hochzeit.
Tschitschikow ging viel spazieren. Für seine Spaziergänge hatte er eine große Auswahl. Bald war sein Ziel die Hochebene über den sich unten breitenden Tälern, auf denen noch überall ganze Seen, Reste der Überschwemmung, lagen und gleich Inseln die noch unbelaubten Wälder dunkelten; oder er ging ins Dickicht, stieg in bewaldete Gräben hinab, wo die von Vogelnestern beschwerten Bäume sich drängten . . . krächzende Raben, die kreuz und quer durch den Himmel flogen und ihn verdunkelten. Auf dem schon trockenen Wege konnte er auch zum Landungsplatz gehen, wo die ersten mit Erbsen, Gerste und Weizen beladenen Barken abgefertigt wurden, während das Wasser sich mit ohrenbetäubendem Dröhnen über die Räder der in Bewegung kommenden Mühle ergoß. Er ging auch hinaus, um den ersten Feldarbeiten beizuwohnen, um zu sehen, wie frisches Ackerland als schwarzer Streifen durch das Grün zog und wie der Sämann, mit der Hand auf das Sieb schlagend, das er auf der Brust hängen hatte, die Saat gleichmäßig ausstreute, ohne auch nur ein Körnchen zuviel auf die eine oder die andere Seite zu werfen.
Tschitschikow kam überall hin. Er führte lange Gespräche mit dem Verwalter, den Bauern und dem Müller. Er erfuhr alles: wie es mit der Wirtschaft gehe, für welchen Betrag Getreide verkauft werde, was man im Frühling und im Herbst am Mahlen von Getreide verdiene, wie jeder Bauer heiße und mit wem er verwandt sei, wo er seine Kuh gekauft habe und womit er sein Schwein füttere; mit einem Wort, er stellte alles fest. Er erkundigte sich auch, wieviel Bauern gestorben waren und erfuhr, daß es nur wenige seien. Als kluger Mensch merkte er sofort, daß die Wirtschaft Andrej Iwanowitschs sich in einem wenig beneidenswerten Zustand befand: vieles war vernachlässigt, es gab genug Schlamperei, Diebstahl und auch Trunksucht! Und er dachte sich: – Was für ein Vieh ist doch dieser Tjentjetnikow! Wie kann man nur so ein Gut so vernachlässigen! Er hätte ja ein Jahreseinkommen von fünfzigtausend Rubeln haben können. –
Mehr als einmal kam ihm bei solchen Spaziergängen der Gedanke, selbst einmal – d.h. natürlich nicht jetzt, sondern später, wenn die Hauptsache erledigt sein und er die nötigen Mittel in Händen haben würde –, selbst einmal ein friedlicher Besitzer eines ähnlichen Gutes zu werden. Natürlich dachte er dabei gleich auch an ein junges, frisches Weibchen mit weißem Gesicht, aus dem Kaufmanns- oder einem anderen reichen Stande, die sogar musikalisch wäre. Er stellte sich auch die junge Generation vor, die das Geschlecht der Tschitschikows verewigen sollte: einen lebhaften Jungen und eine hübsche Tochter oder sogar zwei Jungen und zwei oder sogar drei Töchter, damit alle wissen, daß er wirklich gelebt und existiert hatte und nicht als ein Schatten oder Gespenst über die Erde gezogen war – damit er sich auch vor seinem Vaterlande nicht zu schämen brauchte. Dann fiel ihm noch ein, daß auch eine Erhöhung seines Ranges gar nicht übel wäre: Staatsrat ist zum Beispiel ein von allen geachteter Titel ... Was kommt nicht alles einem Menschen beim Spaziergange in den Sinn, was ihn der langweiligen Gegenwart entreißt, seine Phantasie neckt und reizt, und wenn er auch selbst überzeugt ist, daß dies niemals eintreffen kann!
Auch den Leuten Tschitschikows gefiel das Dorf sehr gut. Sie fühlten sich darin gleich ihrem Herrn bald sehr heimisch. Petruschka schloß sich sehr schnell dem Küchenverwalter Grigorij an, obwohl sie beide zuerst sehr wichtig taten und die Nasen rümpften. Petruschka streute Grigorij Sand in die Augen, indem er ihm von seinen weiten Fahrten erzählte; Grigorij brachte ihn aber gleich mit der Erwähnung Petersburgs zum Schweigen, wo Petruschka noch nie gewesen war. Der letztere machte noch den Versuch, ihm mit der Entfernung der Gegenden, die er besucht hatte, zu imponieren; aber Grigorij nannte darauf einen solchen Ort, der auf keiner Karte zu finden war und der ganze dreißigtausend Werst weit liegen sollte, so daß der Diener Pawel Iwanowitschs vor Erstaunen den Mund aufriß und sofort vom ganzen Hausgesinde ausgelacht wurde. Trotzdem führte dieser Verkehr zu der allerengsten Freundschaft. Am Rande des Dorfes hielt Pimen der Kahle, der Onkel sämtlicher Bauern, eine Schenke, die den Namen »Akuljka« trug. In diesem Institut sah man sie zu allen Tageszeiten. Hier waren sie Stammgäste.
Sselifan fand hier andere Versuchungen. Im Dorfe wurden jeden Abend Lieder gesungen und Frühlingsreigen getanzt. Die rassigen schlanken Mädchen, wie man sie heute in den größeren Dörfern noch kaum finden kann, ließen ihn stundenlang mit aufgerissenem Munde dastehen. Es war schwer zu sagen, welche von ihnen die schönste war: sie alle hatten weiße Busen und weiße Hälse, schöne verschleierte Augen, Bewegungen von Pfauen und Zöpfe, die bis an den Gürtel reichten. Wenn er, sie bei ihren weißen Händen haltend, mit ihnen langsam den Reigen tanzte, oder mit den anderen Burschen als Mauer gegen sie vorrückte, wenn die Mädchen lächelnd sangen: »Ihr Herren, zeigt uns den Bräutigam!«; wenn die ganze Umgegend dunkel wurde und der Gesang weit jenseits des Flusses traurig widerhallte – so wußte er selbst nicht, wie ihm war. Im Schlafe und im Wachen, am Morgen und in der Dämmerung glaubte er dann immer in seinen beiden Händen weiße Mädchenhände zu halten und sich im Reigen zu bewegen.
Auch den Pferden Tschitschikows gefiel ihre neue Wohnung. Das Deichselpferd, der »Assessor«, und selbst der Schecke fanden den Aufenthalt bei Tjentjetnikow gar nicht langweilig, den Hafer vorzüglich und die Lage der Stallungen außerordentlich bequem: ein jedes hatte zwar seinen abgezäunten Stand, doch die Verschlage waren so niedrig, daß man über sie leicht die anderen Pferde sehen konnte; wenn es einem von ihnen, selbst einem, das am weitesten stand, einfiel, plötzlich zu wiehern, so konnte man ihm augenblicklich antworten.
Mit einem Worte, alle fühlten sich wie zu Hause. Was aber die Angelegenheit betrifft, in der Pawel Iwanowitsch das ganze weite Rußland bereiste, nämlich die toten Seelen, so war er in dieser Beziehung äußerst vorsichtig und heikel geworden, selbst wenn er es mit ausgesprochenen Dummköpfen zu tun hatte. Tjentjetnikow aber las doch immerhin Bücher, philosophierte und suchte verschiedene Zusammenhänge zu ergründen, warum und weshalb dies und jenes geschah. – Nein, ich fange vielleicht besser vom anderen Ende an, – dachte sich Tschitschikow. Aus seinen häufigen Gesprächen mit dem Hausgesinde erfuhr er, daß der Herr früher recht oft einen General in der Nachbarschaft besucht hatte, daß der General eine Fräulein Tochter habe, daß der Herr dem Fräulein und das Fräulein dem Herrn ... aus der Sache sei aber nichts geworden, und sie seien auseinandergegangen. Er sah auch selbst, daß Andrej Iwanowitsch mit Bleistift und Feder fortwährend Köpfchen zeichnete, die alle einander ähnlich sahen.
Eines Tages nach dem Essen, als er wie gewöhnlich seine silberne Schnupftabaksdose um ihre eigene Achse drehte, sagte er: »Eines fehlt Ihnen nur, Andrej Iwanowitsch.«
»Was denn?« fragte jener, indem er eine krause Rauchwolke in die Luft steigen ließ.
»Eine Lebensgefährtin«, sagte Tschitschikow.
Andrej Iwanowitsch entgegnete darauf nichts. Damit war das Gespräch zu Ende.
Tschitschikow gab aber die Sache nicht auf. Er wählte eine andere Zeit vor dem Abendessen und sagte während eines Gesprächs über dies und jenes ganz unvermittelt: »Sie sollten doch wirklich heiraten, Andrej Iwanowitsch.«
Tjentjetnikow reagierte darauf mit keinem Wort, als wäre ihm dieses Thema höchst unangenehm.
Tschitschikow ließ den Mut noch immer nicht sinken. Zum drittenmal wählte er eine Zeit nach dem Abendessen und sagte: »Wie ich Ihre Lebensumstände auch betrachte, so sehe ich, daß Sie heiraten müssen: Sie verfallen in Hypochondrie.«
Klangen die Worte Tschitschikows diesmal besonders überzeugend, oder war Tjentjetnikow diesmal besonders zur Aufrichtigkeit geneigt – kurz, er seufzte auf und sagte, indem er den Rauch aufsteigen ließ: »Für jede Sache muß man als Glückspilz geboren sein, Pawel Iwanowitsch«, und er erzählte ihm die ganze Geschichte seiner Bekanntschaft mit dem General und ihrer Entzweiung.
Als Tschitschikow die Sache mit allen Einzelheiten erfuhr und sah, daß die Geschichte wegen des einen Wortes »du« entstanden war, schien er im ersten Augenblick ganz verdutzt. Eine Minute lang sah er Tjentjetnikow unverwandt in die Augen, als suchte er sich klar zu werden, ob jener ein ausgesprochener Dummkopf oder nur etwas blöde sei, und schließlich ...
»Andrej Iwanowitsch! Erlauben Sie!« sagte er, seine beiden Hände ergreifend. »Was ist das für eine Beleidigung? Was ist denn in dem Worte ›du‹ so verletzend?«
»Im Worte selbst steckt natürlich nichts Verletzendes«, sagte Tjentjetnikow. »Die Beleidigung lag aber nicht im Sinne des Wortes, sondern im Ton, mit dem es gesprochen wurde! ›Du!‹ – das bedeutet: ›Merk es dir, daß du eine Null bist; ich verkehre mit dir nur, weil ich keinen besseren habe; wenn aber eine Fürstin Jusjakina gekommen ist, so sollst du wissen, wo dein Platz ist, und bei der Schwelle stehen.‹ Das bedeutet dieses Wort!« Bei diesen Worten sprühten die Augen unseres sanften und milden Andrej Iwanowitschs Funken; seine Stimme zitterte vor beleidigtem Ehrgefühl.
»Und selbst wenn er es in diesem Sinne gebraucht hat, was ist denn dabei?« fragte Tschitschikow.
»Wie? Sie wollen, daß ich mit ihm nach dieser Handlungsweise noch weiter verkehre?«
»Was ist denn das für eine Handlungsweise? Es ist überhaupt keine Handlungsweise«, sagte Tschitschikow kaltblütig.
»Wieso ist das keine Handlungsweise?« fragte Tjentjetnikow erstaunt.
»Es ist nur so eine Angewohnheit eines Generals und keine Handlungsweise: sie sagen zu allen ›du‹. Warum soll man das auch einem so verdienten und geachteten Mann nicht erlauben? ...«
»Das ist eine andere Sache«, sagte Tjentjetnikow. »Wäre er ein Greis und arm, weder stolz, noch eitel, noch General, so würde ich ihm erlauben, mir ›du‹ zu sagen und dies sogar mit Respekt aufnehmen.«
– Er ist ganz dumm – dachte sich Tschitschikow, – einem Bettler würde er es erlauben, aber einem General nicht! ... – »Schön!« sagte er laut. »Nehmen wir sogar an, daß er Sie beleidigt hat, Sie haben es ihm aber schon heimgezahlt: er hat Sie beleidigt, und Sie ihn. Aber sich mit einem Menschen entzweien und dabei eine persönliche Sache aufgeben, das ist, entschuldigen Sie ... Wenn man sich schon einmal ein Ziel gesteckt hat, so muß man es energisch verfolgen. Wer wird darauf achten, daß der andere spuckt! Der Mensch ist schon einmal so beschaffen, daß er immer spucken muß. Finden Sie doch in der ganzen Welt einen Menschen, der nicht spuckte!«
– Ein merkwürdiger Kauz ist dieser Tschitschikow! – dachte sich Tjentjetnikow verdutzt und von diesen Worten überrascht.
– Ein merkwürdiger Kauz ist dieser Tjentjetnikow! – dachte sich währenddessen Tschitschikow.
»Andrej Iwanowitsch, ich will mit Ihnen wie ein Bruder sprechen! Sie sind unerfahren, lassen Sie mich diese Sache in Ordnung bringen. Ich will zu Seiner Exzellenz hinfahren und ihm erklären, daß ein Mißverständnis vorliege, daß alles von Ihrer Jugend und mangelnden Menschen- und Weltkenntnis komme.«
»Ich bin nicht geneigt, mich vor ihm irgendwie zu erniedrigen!« sagte Tjentjetnikow verletzt. »Und ich kann auch Sie nicht dazu ermächtigen.«
»Auch ich bin nicht fähig, mich zu erniedrigen«, sagte Tschitschikow verletzt. »Ich kann mir wohl eine andere menschliche Schwäche zuschulden kommen lassen, doch werde ich mich niemals vor jemand erniedrigen ... Andrej Iwanowitsch, Sie müssen mir meine gute Absicht entschuldigen, ich hatte nicht erwartet, daß Sie meine Worte in einem beleidigenden Sinne auffassen werden.« Dies alles sagte er mit großer Würde.
»Ich bin schuld, entschuldigen Sie!« sagte Tjentjetnikow gerührt und ergriff ihn hastig bei beiden Händen. »Ich wollte Sie gar nicht beleidigen. Ich schwöre Ihnen, Ihre gütige Teilnahme ist mir sehr wertvoll! Brechen wir aber dieses Gespräch ab und sprechen wir nie wieder darüber!«
»In diesem Falle fahre ich ganz einfach zum General.«
»Wozu denn?« fragte Tjentjetnikow, ihm erstaunt in die Augen blickend.
»Um ihm meine Hochachtung zu bezeugen.«
– Ein merkwürdiger Mensch ist dieser Tschitschikow! – dachte sich Tjentjetnikow.
»Ich will ihn gleich morgen gegen zehn Uhr früh besuchen, Andrej Iwanowitsch. Ich bin der Ansicht, je schneller man einem seine Hochachtung bezeugt, um so besser. Da mein Reisewagen noch nicht im richtigen Zustande ist, so gestatten Sie mir, Ihren Wagen zu benützen. Ich würde schon morgen so gegen zehn Uhr früh zu ihm hinfahren.«
»Aber erlauben Sie, was ist das für eine Bitte? Sie sind hier der Herr, und die Equipage steht zu Ihrer Verfügung.«
Nach dieser Unterhaltung wünschten sie einander gute Nacht und zogen sich ein jeder auf sein Schlafzimmer zurück, nicht ohne über die Eigentümlichkeit des anderen nachzudenken.
Eine seltsame Sache! Als am anderen Morgen die Equipage vorfuhr und Tschitschikow mit einer beinahe militärischen Gewandtheit, in einem neuen Frack, weißer Binde und Weste hineinsprang und davonfuhr, um dem General seine Hochachtung zu bezeugen, geriet Tjentjetnikow in eine solche Aufregung, wie er sie schon lange nicht empfunden hatte. Alle seine eingerosteten und verschlafenen Gedankengänge wurden plötzlich lebhaft und unruhig. Eine nervöse Erregung bemächtigte sich plötzlich aller Gefühle des in sorglosen Müßiggang versunkenen Faulenzers. Bald setzte er sich aufs Sofa, bald trat er ans Fenster, bald nahm er ein Buch vor, bald versuchte er zu denken – ein vergebliches Bemühen: kein Gedanke kam ihm in den Kopf. Bald versuchte er, an nichts zu denken – vergebliche Mühe: Bruchstücke von Gedanken, Enden und Zipfel von Gedanken kamen ihm von allen Seiten in den Sinn. »Ein seltsamer Zustand!« sagte er und setzte sich ans Fenster, um auf die den Eichenwald durchschneidende Landstraße zu schauen, an deren Ende noch der Staub wirbelte. Wir wollen aber Tjentjetnikow verlassen und Tschitschikow folgen.
Die guten Pferde legten mit Tschitschikow die zehn Werst lange Strecke in kaum mehr als einer halben Stunde zurück: erst ging der Weg durch einen Eichenwald, dann an Getreidefeldern vorbei, die inmitten frischgepflügten Äckern grünten, dann am Rande der Anhöhe, von der aus sich immer neue Aussichten boten; dann führte er durch eine breite Allee von Linden, deren Knospen eben erst aufgingen, mitten ins Dorf. Hier machte die Allee eine Wendung nach rechts, verwandelte sich in eine Allee von Pappeln, die unten mit Flechtwerk eingefaßt waren, und endete vor einem gußeisernen Gittertor, durch das man die reich verzierte Fassade des Generalshauses mit den acht korinthischen Säulen sehen konnte. Überall roch es nach Ölfarbe, die alles verjüngt und keinem Ding Zeit läßt, alt zu werden. Der Hof war so sauber wie Parkett. Tschitschikow sprang mit Respekt aus dem Wagen, ließ sich beim General anmelden und wurde direkt ins Kabinett geführt. Der General setzte ihn mit seinem majestätischen Äußern in Erstaunen. Er trug einen gesteppten Atlasschlafrock von herrlicher Purpurfarbe. Ein offener Blick, ein männliches Gesicht, graumelierter Schnurr- und Backenbart, kurz geschnittenes Haar im Nacken, ein dicker, dreistöckiger, d. h. drei Falten bildender Hals mit einer Querfalte: mit einem Worte, es war einer von den malerischen Generalen, an denen das Jahr 1812 so reich gewesen war. General Betrischtschew hatte wie die meisten von uns eine Menge von Vorzügen und eine Menge von Mängeln. Die einen wie die anderen waren in ihm, wie es beim Russen so oft der Fall ist, in malerischer Unordnung durcheinandergewürfelt. In entscheidenden Augenblicken zeigte er Großmut, Tapferkeit, grenzenlose Freigebigkeit und Verstand in allen Dingen; daneben war er aber launisch, ehrgeizig, selbstsüchtig und zeigte alle die kleinen Empfindlichkeiten, ohne die kein Russe auskommen kann, wenn er ohne Arbeit dasitzt und keine entscheidenden . . . Er mochte alle, die ihn im Dienste überholt hatten, nicht leiden und äußerte sich über sie bissig in scharfen Epigrammen. Am meisten bekam von ihm einer seiner früheren Kameraden ab, der, nach seiner Ansicht, wie an Klugheit so an Fähigkeiten ihm nachstand, der ihn aber schon überholt hatte und Generalgouverneur zweier Gouvernements war, wie zum Trotz derselben, in denen sich seine Besitzungen befanden, so daß er von ihm gewissermaßen abhing. Um sich an ihm zu rächen, verspottete er ihn bei jeder Gelegenheit, tadelte jede seiner Anordnungen und sah in allen seinen Maßnahmen und Handlungen den Gipfel der Dummheit. Alles war an ihm höchst merkwürdig; so war er ein eifriger Vorkämpfer jeder Aufklärung und liebte es, Dinge zu wissen, die die anderen nicht wußten; diejenigen aber, die etwas wußten, was er nicht wußte, konnte er nicht leiden. Mit einem Worte, er liebte es, mit seinem Verstände zu brillieren. Obwohl er fast ausschließlich von Ausländern erzogen worden war, wollte er die Rolle eines echt russischen Grandseigneurs spielen. Es ist auch nicht zu verwundern, daß er bei diesem ungleichmäßigen Charakter und den auffallenden inneren Widersprüchen auf seiner Laufbahn vielen Unannehmlichkeiten begegnete, so daß er schließlich seinen Abschied nehmen mußte; dies schrieb er aber einer vermeintlichen feindlichen Partei zu und hatte nicht den Mut, auch nur einen Teil der Schuld auf sich selbst zu nehmen. Auch außer Dienst behielt er die gleiche malerische und majestätische Haltung. Ganz gleich, ob er einen Rock, einen Frack oder einen Schlafrock anhatte, er war immer derselbe. Von der Stimme bis zur kleinsten Gebärde war an ihm alles gebieterisch und befehlend und weckte in den ihm Untergebenen wenn nicht Achtung, so doch jedenfalls Furcht.
Tschitschikow empfand das eine wie das andere: Achtung und Furcht. Den Kopf ehrerbietig zur Seite geneigt, die Hände gespreizt, wie wenn er ein Tablett mit Tassen heben wollte, verbeugte er sich wunderbar elegant mit dem ganzen Rumpfe und sagte: »Ich hielt es für meine Pflicht, mich Eurer Exzellenz vorzustellen. Da ich hohe Achtung vor den Tugenden der Männer habe, die das Vaterland auf dem Schlachtfelde erretteten, hielt ich es für meine Pflicht, mich Eurer Exzellenz persönlich vorzustellen.«
Dem General schien diese Einleitung nicht zu mißfallen. Er nickte höchst gnädig mit dem Kopfe und sagte: »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Wollen Sie doch Platz nehmen. Wo haben Sie gedient?«
»Meine dienstliche Laufbahn«, begann Tschitschikow, sich setzend, doch nicht etwa in die Mitte des Sessels, sondern etwas schief und mit der Hand die Armlehne ergreifend, »begann im Rentamte, Exzellenz. Ihren weiteren Verlauf nahm dieselbe in verschiedenen Ressorts: ich war am Hofgericht, an einer Baukommission und am Zollamte angestellt. Mein Leben ließe sich mit einem Schiffe inmitten Meereswellen vergleichen, Exzellenz. Ich bin sozusagen mit Geduld großgezogen worden und bin, man kann wohl sagen, die personifizierte Geduld ... Was ich aber von meinen Feinden auszustehen hatte, die mir selbst nach dem Leben trachteten, das vermag weder ein Wort, noch eine Farbe, noch sozusagen ein Pinsel wiederzugeben, und so suche ich an meinem Lebensabend einen Winkel, um den Rest meiner Tage zu verbringen. Vorläufig wohne ich beim nächsten Nachbar Eurer Exzellenz ...«
»Bei wem denn?«
»Bei Tjentjetnikow, Exzellenz.«
Der General verzog das Gesicht.
»Exzellenz, er bereut es sehr, daß er Ihnen nicht den schuldigen Respekt erwiesen hat.«
»Respekt, wovor?«
»Vor den Verdiensten Eurer Exzellenz. Er findet keine Worte ... Er sagt: ›Wenn ich nur könnte, auf irgendeine Weise ... denn ich weiß‹, sagt er, ›die Männer wohl zu schätzen, die das Vaterland verteidigt haben.‹ So sagt er.«
»Aber erlauben Sie, was hat er denn? Ich bin ihm doch gar nicht böse«, sagte der General, viel milder werdend. »Ich habe in meinem Herzen eine aufrichtige Zuneigung zu ihm gefaßt und bin überzeugt, daß aus ihm mit der Zeit ein höchst nützlicher Mensch werden wird.«
»Euer Exzellenz haben just das richtige Wort gebraucht: in der Tat, ein höchst nützlicher Mensch; er versteht es, mit Worten zu kämpfen und kann auch gut schreiben.«
»Ich meine, er wird wohl irgendeinen Unsinn schreiben – macht er nicht Verse?«
»Nein, Eure Exzellenz, es ist kein Unsinn ... Es ist etwas sehr Vernünftiges ... Er schreibt ... eine Geschichte, Eure Exzellenz.«
»Eine Geschichte? Was für eine?«
»Eine Geschichte ...« Tschitschikow machte hier eine Pause, entweder weil vor ihm ein General saß, oder um einfach der Sache einen größeren Nachdruck zu verleihen. Er fuhr fort: »Eine Geschichte der Generale, Exzellenz.«
»Wieso, der Generale? Welcher Generale?«
»Der Generale im allgemeinen, Exzellenz. Das heißt eigentlich der vaterländischen Generale.«
Tschitschikow kam plötzlich ganz aus dem Konzept; er war nahe daran, auszuspucken und sagte zu sich selbst: – Mein Gott, was schwatze ich da zusammen? –
»Entschuldigen Sie, ich verstehe es nicht ganz ... Was soll es denn werden: die Geschichte einer bestimmten Epoche oder eine Reihe einzelner Biographien? Gedenkt er alle Generale aufzunehmen oder nur die, die an den Ereignissen des Jahres 1812 beteiligt waren?«
»Gewiß, Euer Exzellenz, nur solche, die im Jahre 1812 beteiligt waren!« Nachdem er dies gesagt, dachte er sich: – Man schlage mich tot, ich verstehe nichts! –
»Warum kommt er dann nicht mal zu mir? Ich könnte ihm recht viel interessantes Material liefern.«
»Er getraut sich nicht, Exzellenz.«
»Unsinn! Wegen eines dummen Wortes, das ich so ganz zwischen uns fallen gelassen habe ... Ich bin ja nicht so ein Mensch. Ich bin sogar bereit, selbst zu ihm hinzufahren.«
»Das wird er nicht zulassen, er wird selbst herkommen«, sagte Tschitschikow. Nun hatte er seine Selbstbeherrschung wieder und dachte sich: – Dieses Glück! Wie gut habe ich es mit den Generalen getroffen! Die sind mir aber ganz zufällig eingefallen. –
Im Kabinett raschelte es. Die Nußholztür eines geschnitzten Schrankes ging ganz von selbst auf, und auf ihrer Rückseite zeigte sich, die Hand an der Messingklinke, ein reizendes lebendes Bild. Wäre plötzlich in einem dunklen Zimmer ein von starken Lampen durchleuchtetes Transparentbild erschienen, so hätte es durch die Plötzlichkeit seines Erscheinens keinen so mächtigen Eindruck machen können, wie diese kleine Gestalt. Offenbar war sie ins Zimmer getreten, um etwas zu sagen, als sie aber einen Unbekannten sah . . . mit ihr zugleich war gleichsam ein Sonnenstrahl eingedrungen, und das ganze düstere Kabinett des Generals schien zu lächeln. Tschitschikow konnte sich im ersten Augenblick keine Rechenschaft darüber ablegen, was eigentlich vor ihm stand. Es war schwer zu sagen, aus welchem Lande sie stammte. Ein so reines, edles Gesichtsoval könnte man wohl nirgends finden, höchstens auf antiken Kameen. Schlank und leicht wie ein Pfeil, schien sie alles zu überragen. Es war aber nur eine Täuschung. Sie war gar nicht groß gewachsen. Die Täuschung beruhte auf dem ungewöhnlich harmonischen Verhältnis ihrer Glieder zueinander. Ihr Kleid saß so, als hätten sich die besten Schneiderinnen zusammengetan, um sich zu beraten, wie sie am besten zu kleiden wäre. Aber auch das war eine Täuschung. Ihr Kleid war ganz von selbst entstanden: die Nadel hatte ein nicht mal zugeschnittenes Stück einfarbigen Stoffes aufs Geratewohl an zwei oder drei Stellen zusammengerafft, und schon hatte er sich selbst in so wunderbaren Falten um sie geschmiegt, daß, wenn man sie auf einem Bilde darstellen wollte, alle nach der Mode gekleideten jungen Mädchen im Vergleich zu ihr wie bunte Puppen vom Trödelmarkte ausgesehen hätten. Hätte man sie aber mit allen Falten des sie umschmiegenden Gewandes in Marmor nachgebildet, so würde man das Werk einem genialen Künstler zuschreiben. Nur eines war nicht gut: sie war gar zu schlank und hager.
»Ich will Ihnen meinen Liebling vorstellen!« sagte der General, sich an Tschitschikow wendend. »Ihren Familiennamen, auch Ihren Vor- und Vaternamen weiß ich übrigens noch immer nicht.«
»Soll man denn den Vor- und Vaternamen eines Menschen kennen, der sich durch keinerlei Tugenden ausgezeichnet hat?« sagte Tschitschikow bescheiden, den Kopf auf die Seite neigend.
»Man muß doch immerhin wissen ...«
»Pawel Iwanowitsch, Exzellenz!« sagte Tschitschikow, indem er sich mit einer beinahe militärischen Gewandtheit verbeugte und mit der Leichtigkeit eines Gummiballs zurückprallte.
»Ulinjka!« wandte sich der General an die Tochter: »Pawel Iwanowitsch hat soeben eine höchst interessante Neuigkeit mitgeteilt. Unser Nachbar Tjentjetnikow ist doch nicht so dumm, wie wir es geglaubt haben. Er befaßt sich mit einer recht wichtigen Arbeit: er schreibt die Geschichte der Generale des Jahres 1812.«
»Wer hat denn geglaubt, daß er dumm sei?« entgegnete sie schnell. »Höchstens Wischnepokromow, dem du so vertraust, der aber ein hohler und gemeiner Mensch ist!«
»Warum denn gemein? Etwas hohl ist er allerdings«, sagte der General.
»Er ist auch etwas gemein und niederträchtig und nicht nur etwas hohl. Wer seine Brüder so schlecht behandelt und seine leibliche Schwester aus dem Hause gejagt hat, der ist ein gemeiner Mensch.«
»Das erzählt man sich nur.«
»Solche Dinge wird man nicht ohne Grund erzählen. Ich verstehe es wirklich nicht, Vater, wie du es mit deinem guten und edlen Herzen fertigbringst, mit einem Menschen zu verkehren, der von dir so verschieden ist wie die Erde vom Himmel, und von dem du selbst weißt, daß er schlecht ist.«
»Nun sehen Sie«, sagte der General lächelnd zu Tschitschikow: »So streiten wir uns immer herum.« Darauf wandte er sich an seine Opponentin und fuhr fort:
»Herzchen, ich kann ihn doch nicht hinausjagen!«
»Warum denn hinausjagen? Aber warum erweist du ihm soviel Aufmerksamkeit, warum liebst du ihn?«
Hier hielt es Tschitschikow für nötig, ins Gespräch einzugreifen.
»Alle Menschen verlangen nach Liebe, gnädiges Fräulein«, sagte Tschitschikow. »Was soll man machen? Auch das Haustier liebt es, daß man es streichelt; es steckt seine Schnauze aus dem Stalle heraus: bitte, streichle mich!«
Der General fing an zu lachen. »Ja, es steckt wirklich seine Schnauze heraus: bitte, streichle mich! ... Ha, ha, ha! Auch so ein Kerl hat nicht nur die Schnauze, sondern den ganzen Körper voll Dreck, und doch verlangt er Anerkennung ... Ha, ha, ha, ha!« Und der ganze Körper des Generals erbebte vor Lachen. Seine Schultern, die einst mit üppigen Epaulettes geschmückt waren, zitterten so, als ob sie auch jetzt noch die üppigen Epaulettes trügen.
Auch Tschitschikow gab eine Interjektion des Lachens von sich, doch aus Respekt vor dem General wandte er hierbei den Vokal »e« an: »He, he, he, he!« Auch sein Körper erzitterte vor Lachen, aber die Schultern zitterten nicht, da sie niemals üppige Epaulettes getragen hatten.
»So einer bestiehlt den Staat, und dann verlangt er noch eine Belohnung, diese Kanaille! Ich muß, sagt er, meine Anerkennung haben, denn ich habe mich so abgemüht ... Ha, ha, ha, ha!«
Das edle, liebreizende Gesicht des jungen Mädchens zeigte einen schmerzlichen Ausdruck. »Ach, Papa! Ich verstehe nicht, wie du bloß lachen kannst! Mich stimmen solche ehrlose Handlungen nur traurig. Wenn ich sehe, daß ein Betrug ganz öffentlich verübt wird und der Schuldige nicht von allgemeiner Verachtung bestraft wird, so weiß ich gar nicht, wie mir ist, ich werde dann zornig und sogar schlecht: ich denke, ich denke ...« Und sie brach beinahe in Tränen aus.
»Bitte, sei uns nur nicht böse«, sagte der General. »Wir können nichts dafür. Nicht wahr?« wandte er sich an Tschitschikow. »Gib mir einen Kuß und geh. Ich werde mich gleich zum Mittagessen umkleiden. Ich hoffe,« sagte er, Tschitschikow gerade in die Augen blickend, »daß du bei mir zu Mittag ißt?«
»Wenn es nur Eurer Exzellenz...«
»Bitte, ohne Rangordnung! Ich bin noch, Gott sei Dank, in der Lage, einen Gast zu bewirten. Eine Kohlsuppe wird es immer geben.«
Tschitschikow spreizte beide Arme und neigte den Kopf dankbar und ehrfurchtsvoll, so daß alle Gegenstände im Zimmer für eine Weile seinen Blicken entschwanden und er nur noch die Spitzen seiner Halbschuhe sehen konnte. Nachdem er eine Zeitlang in dieser ehrerbietigen Stellung verharrt hatte, hob er den Kopf wieder, sah aber Ulinjka nicht mehr. Sie war verschwunden. An ihrer Stelle stand ein riesenhafter Kammerdiener mit mächtigem Schnurr- und Backenbart, mit einer silbernen Schüssel und einem Waschbecken in der Hand.
»Du erlaubst doch, daß ich mich in deiner Gegenwart anziehe?«
»Sie dürfen sich in meiner Gegenwart nicht nur anziehen, sondern auch alles andere verrichten, was Euer Exzellenz beliebt.«
Der General zog den einen Arm aus dem Schlafrock heraus, krempelte die Hemdärmel auf den starken Armen auf und begann sich zu waschen, wobei er wie eine Ente um sich spritzte und prustete. Das Seifenwasser flog nach allen Seiten.
»Ja, sie lieben wirklich Anerkennung,« sagte er, während er sich seinen Hals rings herum abtrocknete ... »Ein jeder will gestreichelt sein! Ohne die Anerkennung wird er wohl gar nicht stehlen wollen! Ha, ha, ha!«
Tschitschikow war in einer unbeschreiblich guten Laune. Plötzlich kam über ihn Begeisterung. – Der General ist ein lustiger und gutmütiger Kerl, warum sollte ich es nicht versuchen?! – dachte er sich. Als er sah, daß der Kammerdiener mit der Schüssel hinausgegangen war, rief er aus: »Euer Exzellenz! Da Sie schon so gütig und aufmerksam gegen alle sind, wende ich mich an Sie mit einer großen Bitte.«
»Was ist’s für eine Bitte?« – Tschitschikow sah sich um.
»Ich habe, Exzellenz, einen alten Onkel, er besitzt dreihundert Seelen und zweitausend ... außer mir gibt es keine Erben. Infolge seines Alters kann er sein Gut nicht selbst verwalten, will es aber auch nicht mir anvertrauen. Und zwar mit einer sehr merkwürdigen Begründung! Er sagt: ›Ich kenne meinen Neffen nicht! Vielleicht ist er ein Verschwender. Er soll mir zuerst zeigen, daß er zuverlässig ist. Soll er sich erst dreihundert Seelen erwerben, dann werde ich ihm auch meine dreihundert überlassen.‹«
»Er ist also ganz dumm?« fragte der General.
»Daß er dumm ist, wäre noch nicht das schlimmste. Aber versetzen Sie sich in meine Lage, Exzellenz! Der Alte hat sich eine Haushälterin zugelegt, und die Haushälterin hat Kinder. Es kann leicht passieren, daß die alles erben.«
»Der dumme Greis hat seinen letzten Verstand verloren, das ist alles«, versetzte der General. »Ich sehe aber nicht ein, wie ich hier helfen könnte!« sagte er, Tschitschikow erstaunt anblickend.
»Ich habe mir folgendes ausgedacht. Wenn Sie mir alle toten Seelen Ihres Gutes in der Form überlassen, als ob sie noch am Leben wären, Exzellenz, durch einen Kaufvertrag, so könnte ich diesen Kaufvertrag dem Alten vorweisen, und dann würde er mir die Erbschaft ausfolgen.«
Der General fing hier so laut zu lachen an, wie wohl noch kein Mensch gelacht hat. So wie er stand, fiel er in den Sessel. Er warf den Kopf in den Nacken und schien am Ersticken. Das ganze Haus geriet in Unruhe. Der Kammerdiener erschien im Kabinett. Die Tochter kam erschrocken herbeigelaufen.
»Vater, was hast du?« fragte sie, ihm ganz ratlos in die Augen blickend.
Der General vermochte aber lange keinen Ton von sich zu geben.
»Es ist nichts, Liebling; hab nur keine Angst. Geh auf dein Zimmer; wir kommen gleich zu Tisch. Sei unbesorgt. Ha, ha, ha!«
Nachdem ihm noch einigemal der Atem ausgegangen war, brach er mit neuer Kraft in sein Generalslachen aus, das vom Vorzimmer bis zum entlegensten Zimmer widerhallte.
Tschitschikow geriet ernsthaft in Unruhe.
»Der Onkel, ach, der Onkel! Wird der ein dummes Gesicht machen! Ha, ha, ha! Statt der Lebenden wird er Tote kriegen! Ha, ha!«
– Er fängt schon wieder an! – dachte sich Tschitschikow. – Wie kitzlig er ist! Daß er nur nicht zerspringt! –
»Ha, ha, ha!« fuhr der General fort. »So ein Esel! Daß ein Mensch nur auf so eine Idee kommt: ›Soll er sich erst selbst dreihundert Seelen erwerben, dann werde ich ihm auch meine dreihundert überlassen!‹ Er ist doch ein Esel!«
»Es stimmt, Exzellenz, er ist ein Esel.«
»Aber auch dein Einfall, dem Alten Tote vorzusetzen, ist nicht schlecht! Ha, ha, ha! Ich würde, Gott weiß was alles hergeben, um dabei zu sein, wenn du ihm den Kaufvertrag bringst. Wie ist er sonst? Sehr alt?«
»Achtzig Jahre ...«
»Er bewegt sich aber noch, ist rüstig? Er muß doch noch rüstig sein, wenn er mit einer Haushälterin zusammenlebt!«
»Gar nicht rüstig, Exzellenz! Er zerfällt beinahe!«
»Dieser Dummkopf! Er ist doch ein Dummkopf?«
»Sehr recht, Exzellenz, ein Dummkopf.«
»Er fährt aber noch aus? Geht in Gesellschaft? Hält sich noch auf den Beinen?«
»Er hält sich noch, wenn auch mit Mühe.«
»Dieser Dummkopf! Ist aber noch rüstig? Hat noch Zähne?«
»Nur noch zwei Zähne, Exzellenz.«
»Dieser Esel! Nimm es mir nicht übel, Bruder ... Wenn es auch dein Onkel ist, er ist doch ein Esel.«
»Er ist ein Esel, Exzellenz. Er ist zwar mein Verwandter, und es fällt mir schwer, es einzugestehen, aber was soll ich machen!«
Tschitschikow log: es fiel ihm gar nicht schwer, es einzugestehen, um so weniger, als er wohl kaum je einen Onkel gehabt hat.
»Wollen also Exzellenz mir die ...«
»Ich soll dir die toten Seelen überlassen? Für eine so glänzende Idee will ich sie dir mit dem Boden und mit ihren Behausungen überlassen! Nimm dir den ganzen Friedhof! Ha, ha, ha, ha! Aber der Alte, der Alte! Ha, ha, ha, ha! Wird der zum Narren gehalten! Ha, ha, ha, ha! ...«
Und das Lachen des Generals widerhallte wieder in allen Zimmern des Generalshauses ...*)Das Ende des Kapitels fehlt. Prof. Schewyrjow, dem Gogol das Kapitel unter vier Augen vorgelesen hat, teilt mit, daß das Ende dieses II. Kapitels folgendes enthielt: Versöhnung des Generals Betrischtschew mit Tjentjetnikow: ein Mittagessen beim General und eine Unterhaltung über die Ereignisse des Jahres 1812; Verlobung Ulinjkas mit Tjentjetnikow; ihr Gebet am Grabe der Mutter; ein Gespräch der Verlobten im Garten. Tschitschikow begibt sich im Auftrage des Generals zu dessen Verwandten, um die Verlobung anzuzeigen; zunächst fährt er zu einem dieser Verwandten, dem Obersten Koschkarjow. Anm. d. Ü.
– Wenn der Oberst Koschkarjow wirklich verrückt ist, so wäre das gar nicht schlecht, – sagte sich Tschitschikow, als er sich wieder inmitten freier Felder befand, als alles verschwunden war und er nur noch das Himmelsgewölbe und zwei Wolken seitwärts sah.
»Sselifan, hast du dich auch ordentlich erkundigt, wie man zum Obersten Koschkarjow fährt?«
»Pawel Iwanowitsch, ich war so sehr mit dem Wagen beschäftigt, daß ich keine Zeit dazu hatte. Petruschka hat aber den Kutscher ausgefragt.« »Dummkopf! Ich habe dir schon so oft gesagt, daß man sich auf Petruschka nicht verlassen darf; Petruschka ist wohl auch jetzt besoffen.«
»Als ob es eine große Weisheit wäre!« sagte Petruschka, sich halb umwendend und nach Tschitschikow schielend. »Man fährt den Berg hinunter und schlägt dann den Weg durch die Wiesen ein – das ist alles.«
»Fusel ist wohl alles, was du im Munde gehabt hast? Du bist wirklich schön! Man kann wohl sagen: du setzt durch deine Schönheit ganz Europa in Erstaunen!« Nach diesen Worten streichelte sich Tschitschikow sein Kinn und dachte sich: – Was ist doch für ein Unterschied zwischen einem gebildeten Bürger und einer groben Lakaienphysiognomie! –
Die Equipage rollte indessen den Berg hinunter. Wieder zeigten sich weite Wiesen mit hier und da verstreutem Espengehölz.
Die bequeme Equipage fuhr, auf ihren elastischen Federn leise zitternd, vorsichtig die kaum merkliche Bodensenkung hinab und rollte dann über Wiesen, an Mühlen vorbei, laut auf den Brücken dröhnend und auf dem weichen Boden leicht schaukelnd. Der Körper des Fahrenden bekam aber auch nicht einen Erdbuckel zu spüren! Das reinste Vergnügen, und keine Equipage.
Weidengebüsch, dünne Espen und Silberpappeln flogen schnell an ihnen vorbei und peitschten mit ihren Zweigen die auf dem Bocke sitzenden Sselifan und Petruschka. Dem letzteren schlugen sie jeden Augenblick die Mütze vom Kopfe. Der mürrische Diener sprang dann jedesmal vom Bocke, schimpfte auf den Baum und auf dessen Besitzer, der ihn gepflanzt hatte, wollte aber trotzdem seine Mütze weder festbinden noch mit der Hand festhalten, da er immer noch hoffte, daß dies das letztemal gewesen sei und nicht mehr vorkommen werde. Zu den Bäumen gesellten sich bald Birken und hier und da Tannen. Unten an den Wurzeln wucherte dichtes Gras, und darin leuchteten blaue Schwertlilien und gelbe Waldtulpen. Im Walde wurde es immer dunkler, so daß man glaubte, es werde bald die Nacht einbrechen. Plötzlich drangen aber zwischen den Ästen und Baumstümpfen Lichtstrahlen durch, wie von hellen Spiegeln geworfen. Die Bäume standen nicht mehr so dicht beieinander, die Lichtreflexe nahmen zu ... und da liegt schon vor ihnen ein See, eine Wasserfläche von etwa vier Werst Durchmesser. Auf dem gegenüberliegenden Ufer erhob sich über dem See ein Dorf, das aus grauen Blockhäusern bestand. Auf dem Wasser tönten Schreie. An die zwanzig Mann, bis an den Gürtel, bis an die Schultern, bis an den Hals im Wasser stehend, schleppten ein Netz ans jenseitige Ufer. Es hatte sich ein seltsamer Unfall ereignet. Zugleich mit den Fischen war ein kugelrunder Herr in das Netz geraten, der ebenso breit als lang war und einer Wassermelone oder einem Fäßchen glich. Er befand sich in verzweifelter Lage und schrie aus vollem Halse: »Denis, du Tölpel, gib es doch dem Kusjma! Kusjma, nimm das Ende dem Denis ab! Foma der Große, dräng nicht so! Geh hin, wo Foma der Kleine steht! Ihr Teufel, ich sag’s euch ja, ihr werdet noch das Netz zerreißen!« Die Wassermelone war offenbar nicht um sich selbst besorgt: infolge seiner Dicke konnte er gar nicht ertrinken, und wenn er noch so sehr zappelte, um unterzutauchen, würde ihn das Wasser immer wieder heben; und wenn sich noch zwei Menschen auf seinen Rücken setzten, so bliebe er dennoch wie eine eigensinnige Schwimmblase auf der Oberfläche des Wassers und würde unter der Last nur ein wenig ächzen und aus der Nase Luftblasen aufsteigen lassen. Er hatte aber große Angst, das Netz könnte zerreißen, und die Fische würden entschlüpfen; aus diesem Grunde mußten einige Männer, die am Ufer standen, ihn mit eigens befestigten Stricken herausziehen.
»Das wird wohl der Herr Oberst Koschkarjow sein«, sagte Sselifan.
»Warum?«
»Weil sein Körper, wie Sie zu sehen belieben, weißer ist als bei den anderen, auch hat er die edle Körperfülle eines Herrn.«
Den Herrn, der ins Netz geraten war, hatte man indessen beträchtlich näher ans Ufer gezogen. Als er fühlte, daß er den Grund mit den Füßen erreichen konnte, richtete er sich auf und bemerkte im gleichen Augenblick die den Damm herunterfahrende Equipage und den in ihr sitzenden Tschitschikow.
»Haben Sie schon zu Mittag gegessen?« schrie der Herr, mit den gefangenen Fischen in der Hand ans Ufer tretend und noch ganz ins Netz verstrickt – er erinnerte dabei an ein Damenhändchen im durchbrochenen Sommerhandschuh. Die eine Hand hielt er zum Schutze gegen die Sonne über die Augen, die andere – etwas tiefer unten – wie die dem Bade entsteigende Venus von Medici.
»Nein«, entgegnete Tschitschikow, die Mütze lüftend und ihn aus dem Wagen begrüßend.
»Nun, dann danken Sie Gott!«
»Warum denn?« fragte Tschitschikow interessiert, die Mütze über dem Kopfe haltend.
»Das will ich Ihnen gleich zeigen! Foma der Kleine, laß das Netz und hol mal den Stör aus dem Bottich! Kusjma, du Tölpel, geh hin, hilf ihm!«
Die beiden Fischer hoben aus dem Bottich den Kopf eines Ungeheuers. – »Ist das ein Fürst! Ist aus dem Flusse in den See geraten!« schrie der kugelrunde Herr. »Fahren Sie doch in den Hof! Kutscher, nimm den Weg unten durch die Gemüsefelder! Foma der Große, du Tölpel, lauf hin und öffne das Gatter! Er wird Sie begleiten, ich komme gleich nach ...«
Der langbeinige und barfüßige Foma der Große lief, so wie er war, im bloßen Hemd vor dem Wagen her durch das ganze Dorf, wo vor jedem Hause allerlei Netze, Reusen und andere Fischereigeräte hingen: sämtliche Bauern waren Fischer; dann hob er ein Gatter, und der Wagen fuhr zwischen Gemüsegärten auf den Dorfplatz, wo die hölzerne Kirche stand. Hinter der Kirche waren in einiger Entfernung die Dächer der Gutsgebäude zu sehen.
– Ein Kauz ist dieser Koschkarjow! – dachte sich Tschitschikow.
»Da bin ich schon!« erklang eine Stimme von der Seite. Tschitschikow sah sich um. Der Herr fuhr schon neben ihm her, fertig angezogen, in einem grasgrünen Nankingrock und gelber Hose; sein Hals war aber unbekleidet wie bei einem Kupido. Er saß seitwärts in seiner Droschke, nahm aber die ganze Droschke ein. Tschitschikow wollte ihm etwas sagen, aber der Dicke war schon verschwunden. Die Droschke tauchte wieder an der Stelle auf, wo man die Fische aus dem Netze nahm. Wieder hörte man ihn schreien: »Foma der Große! Foma der Kleine! Kusjma! Denis!« Als aber Tschitschikow vor der Freitreppe des Herrenhauses anlangte, stand der dicke Herr zu seinem größten Erstaunen schon da und schloß ihn in seine Arme. Wie er es fertiggebracht hatte, so schnell hier und dort zu sein, war ein Rätsel. Sie küßten sich nach altrussischer Sitte dreimal übers Kreuz: der Herr war ein Mann vom alten Schrot und Korn.
»Ich bringe Ihnen die Grüße Seiner Exzellenz«, sagte Tschitschikow.
»Von welcher Exzellenz?«
»Von Ihrem Verwandten, dem General Alexander Dimitrijewitsch.«
»Wer ist Alexander Dimitrijewitsch?«
»Der General Betrischtschew«, antwortete Tschitschikow erstaunt.
»Ich kenne ihn nicht«, sagte jener erstaunt.
Tschitschikows Erstaunen wurde noch größer.
»Wie ist es nun? ... Ich hoffe wenigstens, das Vergnügen zu haben, mit dem Obersten Koschkarjow zu sprechen?«
»Nein, hoffen Sie lieber nicht. Sie sind nicht zu ihm, sondern zu mir gekommen. Pjotr Petrowitsch Pjetuch! Pjetuch, Pjotr Petrowitsch!« fiel ihm der Hausherr ins Wort.
Tschitschikow war ganz starr. »Was ist denn das?« wandte er sich an Sselifan und Petruschka, die gleichfalls ihre Münder aufsperrten und mit den Augen glotzten, der eine auf dem Bocke sitzend, der andere vor dem Wagenschlag stehend. »Was habt ihr angestellt, Dummköpfe? Ich habe euch doch gesagt: zum Obersten Koschkarjow ... Das ist aber Pjotr Petrowitsch Pjetuch!«
»Die Burschen haben es vorzüglich getroffen! Geht nur in die Küche, man wird euch dort ein Glas Schnaps geben«, sagte Pjotr Petrowitsch Pjetuch. »Spannt die Pferde aus und geht gleich in die Gesindestube!«
»Ich muß mich genieren: ein so unerwarteter Irrtum ...«« sagte Tschitschikow.
»Nein, das ist kein Irrtum. Kosten Sie erst das Mittagessen, und dann werden Sie sagen, ob es ein Irrtum ist. Ich bitte ergebenst«, sagte Pjetuch, Tschitschikow unterfassend und in die inneren Gemächer führend. Aus den inneren Gemächern kamen ihnen zwei Jünglinge in Sommerröcken entgegen, schlank wie Weidenruten; beide überragten ihren Vater um eine ganze Elle.
»Meine Söhne, Gymnasiasten, sind für die Feiertage hergekommen ... Nikolascha, du bleibst mit dem Gast, und du, Alexascha, kommst mit mir.« Mit diesen Worten verschwand er.
Tschitschikow widmete sich dem Nikolascha. Nikolascha versprach ein ziemlich gemeiner Mensch zu werden. Er erzählte Tschitschikow sofort, daß es sich gar nicht lohne, das Gymnasium in der Gouvernementsstadt zu besuchen, und daß er und sein Bruder die Absicht haben, nach Petersburg zu gehen, weil die Provinz es gar nicht verdiene, daß man in ihr wohne ...
– Ich verstehe wohl, – dachte sich Tschitschikow, – die Sache wird wohl mit den Konditoreien und Boulevards enden ... – »Übrigens,« sagte er laut, »in welchem Zustande befindet sich das Gut Ihres Herrn Vaters?«
»Es ist verpfändet«, sagte der Herr Vater, der plötzlich wieder im Salon war. »Es ist verpfändet!«
– Es ist schlimm, – dachte sich Tschitschikow. – So wird bald kein einziges Gut übrigbleiben. Ich muß mich beeilen. – »Es ist aber schade,« sagte er teilnahmsvoll, »daß Sie sich beeilt haben, es zu verpfänden.«
»Nein, das macht nichts«, sagte Pjetuch. »Man sagt, es sei vorteilhaft. Alle tun es: warum soll ich hinter den anderen zurückbleiben? Auch habe ich bisher immer hier gelebt; nun will ich mal versuchen, in Moskau zu leben. Auch meine Söhne raten mir dazu, sie wollen sich in der Residenzstadt bilden.«
– Ein Dummkopf, ein Dummkopf! – dachte sich Tschitschikow. – Er wird alles durchbringen und auch seine Söhne zu Verschwendern machen. Das Gut ist gar nicht übel. Wenn man so hinsieht, so haben es die Bauern gut, und auch die Besitzer haben es nicht schlecht. Wenn sie sich aber ihre Bildung aus den Restaurants und Theatern holen, so wird alles zum Teufel gehen. Dieser Fleischkuchen sollte doch lieber auf dem Lande bleiben. –
»Ich weiß aber, was Sie sich denken«, sagte Pjetuch.
»Was denn?« fragte Tschitschikow verlegen.
»Sie denken sich: ›Ein Dummkopf ist dieser Pjetuch: hat mich zum Mittagessen eingeladen, vom Essen ist aber noch nichts zu sehen.‹ Es wird schon fertig werden, Verehrtester. Ein geschorenes Mädel kann sich nicht so schnell den Zopf flechten, als das Essen auf den Tisch kommt.«
»Papachen! Platon Michailowitsch kommt gerade geritten!« sagte Alexascha, zum Fenster hinausblickend.
»Er kommt auf seinem Braunen!« sagte Nikolascha, sich zum Fenster beugend.
»Wo ist er denn, wo ist er denn?« schrie Pjetuch, ans Fenster tretend.
»Wer ist dieser Platon Michailowitsch?« fragte Tschitschikow Alexascha.
»Unser Nachbar, Platon Michailowitsch Platonow, ein vorzüglicher Mensch, ein herrlicher Mensch«, erwiderte Pjetuch selbst.
Indessen trat Platonow, ein hübscher, schlanker Mann mit hellblonden, glänzenden, lockigen Haaren, selbst ins Zimmer. Ihm folgte, mit dem messingbeschlagenen Halsband klirrend, ein gar schrecklich aussehender Hund, namens Jarb.
»Haben Sie schon zu Mittag gegessen?« fragte ihn der Hausherr.
»Ich habe schon gegessen.«
»Sind Sie gekommen, um über mich zu spotten? Was taugen Sie mir, wenn Sie schon gegessen haben?«
Der Gast versetzte lächelnd: »Ich will Ihnen zum Trost sagen, daß ich nichts gegessen habe: ich habe keinen Appetit.«
»Wenn Sie nur unseren Fang gesehen hätten! Den Riesenstör! Die Riesenkarpfen und Karauschen!«
»Man ärgert sich sogar, wenn man Ihnen zuhört. Warum sind Sie immer so lustig?«
»Warum sollte ich mich langweilen? Erlauben Sie doch!«
»Warum man sich langweilen soll? Weil es eben langweilig ist.«
»Sie essen zu wenig, das ist alles. Versuchen Sie mal ordentlich zu Mittag zu essen. Diese Langeweile hat man erst in der allerletzten Zeit erfunden; früher hat sich kein Mensch gelangweilt.«
»Prahlen Sie doch nicht! Als ob Sie sich niemals gelangweilt hätten!«
»Nein, niemals! Ich kenne das gar nicht, habe auch keine Zeit, um mich zu langweilen. Wenn ich am Morgen erwache, kommt gleich der Koch, und ich muß ihm das Mittagessen bestellen; dann trinke ich Tee; dann kommt der Verwalter; dann muß ich zum Fischfang, und dann ist es auch schon Zeit zum Mittagessen. Nach dem Essen habe ich kaum Zeit, ein Schläfchen zu machen: da kommt schon wieder der Koch, und ich muß ihm das Abendessen bestellen; nach dem Abendessen kommt wieder der Koch, und ich muß mit ihm das Essen für den anderen Tag bestellen ... Wann soll ich mich langweilen?«
Während dieses Gespräches betrachtete Tschitschikow den Gast, der ihn durch seine ungewöhnliche Schönheit, seinen schlanken Wuchs, die Frische der unverbrauchten Jugend und die jungfräuliche Reinheit des von keinem Pickel verunstalteten Gesichts in Erstaunen setzte. Weder Leidenschaft noch Kummer noch etwas wie Unruhe oder Sorge hatten es gewagt, sein jungfräuliches Gesicht zu berühren und darauf auch nur eine Runzel zu bilden; sie hatten es aber auch nicht belebt. Er blieb irgendwie verschlafen, trotz des ironischen Lächelns, das es zuweilen erhellte. »Auch ich kann, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten,« sagte Tschitschikow, »unmöglich verstehen, wie Sie mit Ihrem Äußern sich langweilen können. Natürlich, wenn man an Geldmangel leidet oder Feinde hat, die einem manchmal sogar nach dem Leben trachten ...«
»Glauben Sie mir«, unterbrach ihn der schöne Gast: »Zur Abwechslung möchte ich mal gerne irgendeine Aufregung erleben, daß mich zum Beispiel jemand in Wut versetzt – ich habe aber nicht mal das. Es ist mir einfach langweilig, das ist alles.«
»Also haben Sie nicht genug Land oder zu wenig Leibeigene?«
»Keine Spur. Mein Bruder und ich besitzen zusammen etwa zehntausend Deßjatinen und über tausend Bauern.«
»Seltsam. Das verstehe ich nicht. Vielleicht hat es bei Ihnen Mißernten oder Seuchen gegeben? Sind Ihnen viele Bauern männlichen Geschlechts gestorben?«
»Im Gegenteil, alles ist in der besten Ordnung, und mein Bruder versteht sich ausgezeichnet auf die Wirtschaft.«
»Und dabei langweilen Sie sich! Das verstehe ich nicht«, sagte Tschitschikow und zuckte die Achseln.
»Die Langeweile wollen wir gleich verjagen«, sagte der Hausherr. »Alexascha, lauf mal schnell nach der Küche und sag dem Koch, er möchte uns gleich einige Pastetchen herschicken. Wo stecken aber der Faulpelz Jemeljan und der Dieb Antoschka? Warum bringt man uns die Vorspeisen nicht?«
Da ging aber die Türe auf. Der Faulpelz Jemeljan und der Dieb Antoschka erschienen mit Servietten, deckten den Tisch und stellten ein Tablett auf mit sechs Karaffen mit Schnäpsen aller Farben. Um die Karaffen entstand bald eine Kette von Tellern mit allerlei appetitreizenden Speisen. Die Diener bewegten sich flink und brachten immerfort neue zugedeckte Teller, in denen man die geschmolzene Butter zischen hörte. Der Faulpelz Jemeljan und der Dieb Antoschka machten ihre Sache vorzüglich. Ihre Spitznamen hatten sie offenbar nur zur Ermunterung erhalten. Der Herr schimpfte sonst gar nicht gern und war höchst gutmütig; der Russe kann aber ohne ein kräftiges Wort gar nicht auskommen. Er braucht es wie ein Gläschen Schnaps zur Verdauung. Was soll man machen? So ist mal seine Natur: er liebt nichts Ungesalzenes und Ungepfeffertes.
Nach den Vorspeisen kam das eigentliche Mittagessen. Der gutmütige Hausherr wurde hier zu einem wahren Räuber. Sobald er bei jemand nur ein Stück auf dem Teller bemerkte, legte er gleich ein zweites Stück dazu mit der Bemerkung: »Weder ein Mensch noch ein Vogel kann auf der Welt allein leben.« Wenn jemand zwei Stück hatte, so legte er ihm ein drittes dazu und sagte: »Was ist zwei für eine Zahl? Gott liebt die Dreizahl.« Hatte der Gast drei Stücke verzehrt, so sagte er ihm: »Wo gibt’s einen Wagen auf drei Rädern? Wer baut ein Haus mit drei Ecken?« Für vier hatte er auch eine Redensart, für fünf – wieder eine andere. Tschitschikow hatte beinahe zwölf Stücke gegessen und dachte sich: – Jetzt wird der Hausherr wohl nichts mehr sagen können. – Doch gefehlt: der Hausherr legte ihm, ohne ein Wort zu sagen, den ganzen Rückenteil eines am Spieß gebratenen Kalbes mit den Nieren auf den Teller, und was für eines Kalbes!
»Zwei Jahre habe ich es mit Milch ernährt«, sagte der Hausherr. »Habe es wie ein eigenes Kind gepflegt!«
»Ich kann nicht mehr«, sagte Tschitschikow.
»Versuchen Sie es erst, und dann können Sie sagen: ›Ich kann nicht mehr.‹«
»Es ist kein Platz mehr in mir.«
»Auch in der Kirche war kein Platz, da kam aber der Stadthauptmann, und sofort fand sich Platz. Und doch war solch ein Gedränge, daß kein Apfel zu Boden fallen konnte. Versuchen Sie es nur: dieses Stück ist auch so ein Stadthauptmann.«
Tschitschikow versuchte – das Stück war in der Tat eine Art Stadthauptmann: es fand sich noch Platz dafür, obwohl er anfangs glaubte, es könne nichts mehr hinein.
– Wie kann nur so ein Mensch nach Petersburg oder nach Moskau ziehen? Bei seiner Gastfreundschaft ist er nach drei Jahren am Bettelstab! – Tschitschikow kannte nämlich den neuesten Fortschritt noch nicht: man kann, auch ohne so gastfrei zu sein, sein ganzes Vermögen nicht nur in drei Jahren, sondern auch in drei Monaten durchbringen.
Pjetuch füllte die Gläser fortwährend nach; was die Gäste nicht austranken, das mußten seine Söhne Alexascha und Nikolascha austrinken; diese tranken ein Glas nach dem anderen, und man konnte schon sehen, auf welches Gebiet des menschlichen Wissens sie sich in der Hauptstadt verlegen würden. Den Gästen ging es aber ganz anders: mit der größten Mühe schleppten sie sich auf den Balkon, wo sie mit der gleichen großen Mühe in Sessel sanken. Kaum hatte sich der Hausherr in seinen viersitzigen Sessel gesetzt, als er sofort einschlief. Sein massiver Körper verwandelte sieh in einen großen Blasebalg, und aus seinem offenen Munde und den Nasenlöchern kamen Töne, wie sie selbst den neueren Komponisten selten einfallen: man hörte zugleich eine Trommel, eine Flöte und ein eigentümliches abgerissenes Dröhnen, das am ehesten an Hundegebell erinnerte.
»Wie er pfeift«, sagte Platonow.
Tschitschikow mußte lachen.
»Natürlich, wenn man so gegessen hat, wie kann man sich da noch langweilen? Da kommt einfach der Schlaf, nicht wahr?«
»Gewiß. Und doch kann ich, Sie entschuldigen mich schon, nicht verstehen, wie man sich langweilen kann. Gegen die Langeweile gibt es so viele Mittel.«
»Was für Mittel?«
»Für so einen jungen Mann gibt es doch mancherlei. Er kann tanzen, irgendein Instrument spielen ... er kann auch heiraten.«
»Wen?«
»Gibt es denn in der Umgegend keine hübschen und reichen Mädchen?«
»Ich wüßte nicht.«
»Dann muß man eben anderswo suchen, eine kleine Reise machen.« Plötzlich kam Tschitschikow ein glänzender Gedanke. »Ja, das ist wirklich ein ausgezeichnetes Mittel!« sagte er, Platonow gerade in die Augen blickend.
»Was für eines?«
»Reisen.«
»Wohin soll man denn reisen?«
»Nun, wenn Sie freie Zeit haben, so fahren Sie doch mit mir«, sagte Tschitschikow. Er sah Platonow an und dachte sich: – Das wäre wirklich schön. Alle Auslagen werden dann geteilt, und die Reparatur des Wagens schreibe ich ihm ganz auf die Rechnung. –
»Wo fahren Sie denn hin?«
»Vorläufig fahre ich weniger in eigenen Geschäften als in einer fremden Angelegenheit. Der General Betrischtschew, mein naher Freund und, ich darf wohl sagen, Wohltäter, bat mich, seine Verwandten zu besuchen ... Verwandte hin, Verwandte her, doch ich fahre sozusagen zum Teil auch zum eigenen Nutzen: denn die Welt und den Strudel der Menschen sehen, ist, man mag sagen, was man will, gleichsam ein lebendiges Buch, eine eigene Wirtschaft.« Während er dies sagte, dachte er bei sich: – Das wäre wirklich schön. Ich könnte es auch so einrichten, daß er die ganzen Auslagen trägt und daß wir sogar mit seinen Pferden fahren; die meinen könnte er indessen auf seinem Gute verpflegen. –
– Warum soll ich nicht die kleine Reise machen? – dachte sich indessen Platonow. – Zu Hause habe ich nichts zu tun, die Wirtschaft wird ohnehin von meinem Bruder verwaltet; folglich kann nichts in Unordnung geraten. Warum soll ich nicht in der Tat die kleine Reise machen? – »Wären Sie einverstanden,« sagte er laut, »bei meinem Bruder an die zwei Tage zu Gast zu bleiben? Sonst läßt er mich nicht fort.«
»Mit dem größten Vergnügen, sogar drei Tage.«
»Also abgemacht! Wir fahren!« sagte Platonow, sichtbar lebhafter werdend. So wurde die Sache beschlossen. »Wir fahren!«
»Wohin denn, wohin?« rief der Hausherr, aus seinem Schlafe erwachend und sie anglotzend. »Nein, meine Herren! Ich habe schon die Räder von Ihren Wagen abnehmen lassen, und was Ihren Hengst betrifft, Platon Michailowitsch, so hat man ihn schon fünfzehn Werst weit von hier weggeführt. Nein, heute übernachten Sie bei mir, morgen essen wir ordentlich zum Frühstück, und dann können Sie fahren.«
Was war mit diesem Pjetuch zu machen? Man mußte bleiben. Dafür wurden sie mit einem wunderbaren Frühlingsabend belohnt. Der Hausherr veranstaltete eine Bootfahrt auf dem Flusse. Zwölf Ruderer mit vierundzwanzig Rudern führten sie unter Gesängen über die spiegelglatte Fläche des Sees. Aus dem See kamen sie in den Fluß, der zwischen flachen Ufern in die Unendlichkeit hinzog; in einemfort mußten sie unter den quer über den Fluß gespannten Tauen durchfahren, die irgendwie zum Fischfang dienten. Das Wasser war vollkommen unbeweglich; lautlos wechselten die Bilder ab, ein Gehölz nach dem anderen erfreute das Auge durch die verschiedenartige Anordnung der Bäume. Die Ruderer holten auf einmal kräftig mit allen vierundzwanzig Rudern aus, und das Boot flog ganz von selbst wie ein leichter Vogel über die unbewegliche Wasserfläche dahin. Der Vorsänger, ein breitschulteriger Bursche, der am dritten Platz vom Steuer saß, stimmte mit seiner reinen, glockenhellen Stimme die ersten Töne des Liedes an, die aus einer Nachtigallkehle zu kommen schienen; fünf andere fielen ein, die übrigen sechs vervollständigten den Chor, und das Lied floß dahin, grenzenlos wie Rußland. Pjetuch geriet in Ekstase und half mit wo dem Chor die Kraft fehlte, und selbst Tschitschikow fühlte sich als Russe. Nur Platonow allein dachte sich: – Was ist eigentlich an diesem traurigen Lied schön? Es macht einen nur noch trauriger. –
Sie fuhren in der Dämmerung zurück. Die Ruder schlugen das Wasser, das den Himmel nicht mehr spiegelte. In der Dunkelheit landeten sie am Ufer, wo überall Feuer brannten; die Fischer kochten auf Dreifüßen eine Suppe aus frischgefangenen Barschen. Alles war schon zu Hause. Das Vieh und das Geflügel der Bauern war schon längst in den Ställen, der Staub, den sie aufgewirbelt hatten, hatte sich schon gelegt, und die Hirten, die das Vieh heimgetrieben hatten, standen vor den Toren und warteten auf einen Topf Milch oder auf eine Einladung zur Fischsuppe. In der Dämmerung hörte man leise Gespräche der Menschen und Hundegebell, das aus einem anderen Dorfe herüberklang. Der Mond ging auf, und die dunkle Umgebung begann sich zu erhellen; alles erhellte sich. Herrliche Bilder! Es war aber niemand da, der sie bewundern konnte. Nikolascha und Alexascha verschmähten es, auf zwei wilde Hengste zu steigen und, einander überholend, an diesen Bildern vorbeizujagen, und zogen es vor, an Moskau, an die Konditoreien und die Theater zu denken, von denen ihnen ein aus der Hauptstadt zugereister Kadett soviel erzählt hatte; ihr Vater dachte daran, was er seinen Gästen zum Abendessen vorsetzen sollte; Platonow gähnte. Am lebhaftesten zeigte sich Tschitschikow: – Nein, wirklich, ich muß mir mal so ein Gut anschaffen! – Und er dachte auch sofort an das junge Weibchen und an die kleinen Tschitschikows.
Beim Abendessen überaßen sie sich wieder. Als Pawel Iwanowitsch in das ihm zum Schlafen angewiesene Zimmer kam und vor dem Zubettgehen seinen Bauch betastete, sagte er sich: »Die reinste Trommel! Da findet kein Stadthauptmann mehr Platz.« Zufällig befand sich gleich hinter der Wand das Zimmer des Hausherrn. Die Wand war so dünn, daß man alles hören konnte, was dort gesprochen wurde. Der Hausherr bestellte dem Koch unter dem Namen eines Frühstücks ein richtiges Mittagessen; und wie er es bestellte! Bei einem Toten müßte der Appetit erwachen.
»Die Pastete backst du mir mit vier Ecken«, sagte er, mit den Lippen schmatzend und die Luft einatmend. »In die eine Ecke tust du mir die Backen eines Störs und Hausensehnen, in die andere – Buchweizengrütze mit Schwämmen, Zwiebeln, süßer Fischmilch, Hirn und ähnlichen Sachen, du wirst schon selbst wissen ... Auf der einen Seite muß sie, verstehst du, schön braun werden, auf der anderen Seite darf sie aber heller sein. Unten soll sie aber so durchgebacken sein, so ganz durchgeschmort, daß sie, weißt du, nicht etwa auseinanderfällt, sondern im Munde wie Schnee zergeht, ohne daß man es merkt.« Bei diesen Worten schmatzte Pjetuch mit den Lippen.
– Hol ihn der Teufel! Er läßt mich nicht einschlafen! – dachte sich Tschitschikow und zog sich die Decke über den Kopf, um nichts zu hören. Aber er hörte es auch durch die Decke:
»Als Beilage zum Stör nimmst du Sternchen aus roten Rüben, Stinte, Pfefferschwämme; dann noch junge Rüben, Möhren, Bohnen und noch irgend so was, überhaupt recht viel Garnierung! Und in den Schweinsmagen tust du ein Stück Eis, damit er ordentlich aufquillt.«
Gar viele Gerichte bestellte noch Pjetusch. Man hörte nichts als: »Brat es ordentlich durch, backe es braun, laß es schön durchschmoren!« Tschitschikow schlief erst bei irgendeinem Truthahn ein.
Am nächsten Tage aßen sich die Gäste wieder so voll, daß Platonow gar nicht reiten konnte. Sein Hengst wurde mit einem Stallknecht Pjetuchs heimgeschickt. Die beiden setzten sich in die Equipage. Der dickschnauzige Hund folgte langsam dem Wagen: auch er hatte sich überfressen.
»Das war schon zuviel«, sagte Tschitschikow, als sie aus dem Hofe herausgefahren waren.
»Und er langweilt sich gar nicht: das ärgert mich am meisten!«
– Hätte ich wie du ein Jahreseinkommen von siebzigtausend, – dachte sich Tschitschikow, – so ließe ich die Langweile nicht über die Schwelle. So ein Branntweinpächter Murasow hat ganze zehn Millionen, leicht gesagt! So eine Summe! –
»Macht das Ihnen was, wenn wir unterwegs einen Besuch abstatten? Ich möchte gern von Schwester und Schwager Abschied nehmen.«
»Mit dem größten Vergnügen!« sagte Tschitschikow.
»Er ist unser bester Landwirt. Er hat, werter Herr, ein Einkommen von zweihunderttausend Rubeln von einem Gut, das vor acht Jahren auch keine zwanzigtausend einbrachte.«
»Das muß doch ein sehr achtbarer Mann sein! Es wird mich sehr interessieren, so einen Menschen kennenzulernen. Natürlich! Das ist ja sozusagen ... Wie heißt er denn?«
»Kostanschoglo.«
»Und mit seinem Vor- und Vaternamen, wenn ich fragen darf?«
»Konstantin Fjodorowitsch.«
»Konstantin Fjodorowitsch Kostanschoglo. Seine Bekanntschaft wird mich sehr interessieren. Es ist sicher sehr belehrend, so einen Menschen kennenzulernen.«
Platonow übernahm es, Sselifan zu beaufsichtigen und zu leiten: dies war auch sehr nötig, da jener sich kaum auf dem Bocke halten konnte. Petruschka flog zweimal vom Wagen, so daß man ihn schließlich mit einem Strick an den Bock festbinden mußte. »Dieses Vieh!« wiederholte Tschitschikow immer wieder.
»Schauen Sie, da beginnen seine Besitzungen,« sagte Platonow, »das sieht gleich ganz anders aus!«
Und in der Tat: die ganze Fläche war von einem angepflanzten Wald mit pfeilgeraden Bäumchen bedeckt; hinter ihnen erhob sich ein zweiter junger Wald mit etwas höheren Bäumen; dahinter ein alter Wald, und einer immer höher als der andere. Und dann kam wieder eine dicht bewaldete Strecke in der gleichen Anordnung: erst ein junger und hinter diesem ein alter Wald. So fuhren sie dreimal durch die Schonungen wie durch Tore in einer Mauer. »Das ist bei ihm alles in acht, höchstens zehn Jahren gewachsen; bei einem anderen wäre es auch in zwanzig Jahren nicht so weit.«
»Wie hat er es nur gemacht?«
»Fragen Sie ihn. Der versteht sich so auf die Bodenverhältnisse, daß bei ihm nichts verloren geht. Er kennt nicht nur den Boden, er weiß auch, was für eine Nachbarschaft jede Pflanze braucht und was für Bäume neben jeder Getreideart wachsen müssen. Jedes Ding erfüllt bei ihm zugleich drei und vier Bestimmungen. Der Wald dient ihm nicht nur als Wald, sondern auch dazu, um an einer bestimmten Stelle eine bestimmte Menge Feuchtigkeit den Feldern abzugeben, eine bestimmte Menge gefallenes Laub zum Dunge zu liefern und soundsoviel Schatten zu spenden ... Wenn bei allen anderen Trockenheit herrscht, gibt’s bei ihm keine Trockenheit; wenn alle von einer Mißernte heimgesucht sind, gibt’s bei ihm keine Mißernte. Schade, daß ich von diesen Dingen wenig verstehe und es nicht richtig erzählen kann, denn es gibt bei ihm so wunderbare Kunststücke ... Man nennt ihn auch einen Zauberer. Er hat viele solche Dinge ... Und doch ist es so langweilig ...«.
– Das muß wohl wirklich ein merkwürdiger Mann sein, – dachte sich Tschitschikow. – Es ist nur traurig, daß der junge Mensch so oberflächlich ist und nicht zu erzählen versteht. –
Endlich zeigte sich das Dorf. Es lag wie eine richtige Stadt auf drei Anhöhen, von denen eine jede von einer Kirche überragt wurde, und zwischen den vielen Häusern erhoben sich überall riesenhafte Getreide- und Heuschober. – Ja, man sieht, daß hier ein hervorragender Gutsbesitzer wohnen muß! – dachte sich Tschitschikow. – Die Bauernhäuser waren alle gut gebaut, die Straßen festgestampft; wenn irgendwo ein Wagen stand, so war er nagelneu und fest; die Bauern hatten alle kluge Gesichter; das Hornvieh war von ausgesuchter Schönheit; selbst die Bauernschweine sahen wie Edelleute aus. Man sah, daß hier die Bauern wohnten, die, wie es im Liede heißt, das Silber mit Schaufeln zusammenscharren. Es gab hier keine englischen Parkanlagen, keinen Rasen und sonstigen Firlefanz; dafür zog sich nach alter Sitte eine Straße von Speichern und Arbeitshäusern bis zum Herrenhause hin, so daß der Herr alles, was geschah, überblicken konnte; das hohe Hausdach wurde von einem Turm überragt; dieser diente aber nicht als Schmuck und nicht, um die Aussicht zu bewundern, sondern um es dem Hausherrn zu ermöglichen, die auf den entfernteren Feldern vor sich gehenden Arbeiten zu überwachen. Vor dem Hause wurden sie von flinken Dienern empfangen, die so ganz anders aussahen als der Saufbold Petruschka, obwohl sie keine Fräcke anhatten, sondern Kosakenröcke aus hausgewebtem, blauem Tuch.
Die Hausfrau selbst lief auf die Freitreppe hinaus. Sie war frisch wie Milch und Blut, schön – wie ein sonniger Tag; sie glich Platonow wie ein Tropfen dem anderen, doch nur mit dem Unterschied, daß sie nicht so fade war wie er, sondern gesprächig und lustig.
»Guten Tag, Bruder! Wie freue ich mich, daß du gekommen bist. Konstantin ist nicht zu Hause, muß aber gleich kommen.«
»Wo ist er denn?«
»Er hat im Dorfe mit einigen Aufkäufern zu tun«, sagte sie, die Gäste ins Zimmer geleitend.
Tschitschikow betrachtete neugierig die Behausung dieses ungewöhnlichen Menschen, der ein Einkommen von zweihunderttausend Rubel hatte, und hoffte an dieser die Eigenschaften des Hausherrn selbst zu erkennen, wie man nach einer leeren Muschelschale auf die Eigenschaften der Auster oder Schnecke schließt, die in ihr einst gewohnt und ihren Abdruck hinterlassen hat. Er konnte aber keinerlei Schlüsse ziehen. Die Zimmer waren einfach, sogar leer: es gab weder Fresken, noch Bilder, noch Bronzen, noch Blumen, noch Etageren mit Porzellan, nicht einmal Bücher. Mit einem Worte, alles wies darauf hin, daß das Leben des Wesens, das hier wohnte, sich gar nicht in den vier Wänden des Zimmers, sondern im Felde abwickelte; und daß es selbst seine Pläne nicht vorher, sybaritisch in einem bequemen Sessel vor dem Kaminfeuer sitzend, erwog, sondern daß sie ihm an Ort und Stelle in den Sinn kamen und sofort ins Werk umgesetzt wurden. In den Zimmern konnte Tschitschikow nur die Spuren der Tätigkeit einer Hausfrau erblicken: auf den Tischen und Stühlen lagen saubere Lindenbretter, und auf diesen waren irgendwelche Blumenblätter zum Trocknen ausgebreitet ...
»Was ist das für ein Dreck, der da herumliegt, Schwester?« fragte Platonow.
»Wieso Dreck!« rief die Hausfrau. »Das ist das beste Mittel gegen Fieber. Im vorigen Jahre haben wir damit alle Bauern kuriert. Dieses da ist für Likör bestimmt, dieses aber wird mit Zucker eingemacht. Ihr lacht alle über unser Eingemachtes und in Salz Eingelegtes, wenn ihr es aber eßt, lobt ihr es selbst.«
Platonow trat ans Klavier und blätterte in den Noten.
»Mein Gott! Dieses alte Zeug!« sagte er. »Schämst du dich denn nicht, Schwester?«
»Du mußt schon entschuldigen, Bruder, ich habe keine Zeit zum Musizieren. Ich habe eine achtjährige Tochter, die ich unterrichten muß. Sie einer ausländischen Gouvernante überliefern, um selbst freie Zeit zum Musizieren zu haben, so was tue ich nicht, du mußt schon entschuldigen, Bruder.«
»Wie langweilig du doch geworden bist, Schwester!« sagte Platonow, ans Fenster tretend. »Da kommt er ja schon, er kommt!« rief er plötzlich.
Auch Tschitschikow eilte ans Fenster. Dem Hause näherte sich ein etwa vierzigjähriger Mann, mit lebhaftem, gebräuntem Gesicht, in einem Rock aus Kamelhaartuch. Auf seine Kleidung gab er wohl nicht viel. Er trug eine Mütze aus Wollsammet. Rechts und links von ihm gingen zwei Männer niederen Standes, ohne Mützen, in ein Gespräch mit ihm vertieft; der eine war ein einfacher Bauer, der andere wohl ein zugereister Dorfwucherer, ein durchtriebener Kerl, in blauem Rock. Da sie alle vor dem Hause stehenblieben, konnte man ihre Unterhaltung im Zimmer hören.
»Macht es lieber so: kauft euch bei eurem Herrn los. Ich will euch auch das Geld vorstrecken, und ihr arbeitet es mir später ab.«
»Nein, Konstantin Fjodorowitsch, warum sollen wir uns loskaufen? Nehmen Sie uns so. Von Ihnen kann man ja jede Weisheit lernen. Einen so klugen Menschen findet man nicht so bald wieder. Heutzutage kann man sich selbst gar nicht in acht nehmen: es ist ein wahres Unglück. Die Branntweinschenker brauen solche Schnäpse, daß sich einem gleich nach dem ersten Glase der Magen umdreht und man hinterher einen ganzen Eimer Wasser aussaufen möchte; ehe man sich’s versieht, hat man sein ganzes Geld vertrunken. Es gibt viele Versuchungen. Man möchte glauben, daß der Böse die Welt regiert, bei Gott! Man führt allerlei Dinge ein, um die Bauern verrückt zu machen: Tabak und ähnliches Zeug ... Was soll man da machen, Konstantin Fjodorowitsch? Man ist nur ein Mensch und kann sich nicht beherrschen.« »Hör’ einmal: bei mir bleibt ihr doch immer Leibeigene. Ihr bekommt zwar gleich je eine Kuh und ein Pferd und alles andere zugewiesen, aber ich verlange von meinen Bauern mehr als jeder andere Gutsbesitzer. Bei mir mußt du arbeiten: ganz gleich, ob für mich oder für dich selbst; Müßiggang dulde ich nicht. Auch ich selbst arbeite wie ein Ochs, ebenso meine Bauern, denn ich habe das schon selbst erfahren: wenn man nicht arbeitet, so fallen einem allerlei Dummheiten ein. Überlegt es euch also in eurer Gemeinde und besprecht es miteinander.«
»Wir haben schon darüber gesprochen, Konstantin Fjodorowitsch. Das sagen auch die Alten: ›Was ist da noch viel zu reden?‹ Jeder Bauer ist bei Ihnen reich: das wird schon seinen Grund haben. Auch die Geistlichen sind mitleidig. Uns hat man aber unsere Geistlichen genommen, und wir haben niemand, der einen beerdigen kann.«
»Geh doch hin und besprich es mit deinen Leuten.«
»Zu Befehl!«
»Sie müssen schon so gut sein, Konstantin Fjodorowitsch, und ein wenig nachlassen«, sagte der zugereiste Dorfwucherer im blauen Rock, an der anderen Seite gehend.
»Ich hab’s schon, einmal gesagt: ich mag nicht handeln. Ich bin nicht wie mancher andere Gutsbesitzer, zu dem du gerade an dem Tage kommst, wo er der Leihkasse die Zinsen bezahlen muß. Ich kenne euch ja: ihr habt Listen, in denen vermerkt ist, wer und wieviel er zu zahlen hat. Ist das ein Kunststück? Wenn er das Geld dringend braucht, gibt er dir die Ware auch zum halben Preis her. Was brauche ich aber dein Geld? Die Ware kann bei mir auch drei Jahre liegen: ich brauche keine Zinsen an die Leihkasse zu zahlen.«
»Das ist auch vernünftig, Konstantin Fjodorowitsch. Ich mache das Geschäft doch nur, um auch in Zukunft mit Ihnen in Verbindung zu bleiben, und nicht aus Geldgier. Wollen Sie also die dreitausend Rubel Anzahlung nehmen.« Der Dorfwucherer holte aus dem Busen einen Pack fettiger Banknoten. Kostanschoglo nahm sie ihm höchst kaltblütig aus der Hand und steckte sie, ohne nachzuzählen, in die hintere Rocktasche.
– Hm! – dachte sich Tschitschikow, – ganz als ob es ein Taschentuch wäre! – Kostanschoglo zeigte sich in der Salontür. Er machte auf Tschitschikow jetzt einen noch größeren Eindruck durch sein sonnengebräuntes Gesicht, seine struppigen schwarzen Haare, die stellenweise vorzeitig ergraut waren, den lebhaften Ausdruck der Augen und sein ganzes etwas galliges südländisches Aussehen. Er war kein reiner Russe. Er wußte selbst nicht, woher seine Vorfahren stammten. Er interessierte sich nicht für seinen Stammbaum, da er der Ansicht war, daß dies unwichtig sei und für die Landwirtschaft keine Bedeutung habe. Er hielt sich für einen Russen und kannte auch keine andere, Sprache außer der russischen.
Platonow stellte ihm Tschitschikow vor. Die Schwäger küßten sich.
»Um mich von meiner Langweile zu kurieren, habe ich mich entschlossen, eine Reise durch einige Gouvernements zu machen, Konstantin«, sagte Platonow.
»Und Pawel Iwanowitsch machte mir den Vorschlag, mich ihm anzuschließen.«
»Sehr schön«, sagte Kostanschoglo. »Welche Gegenden«, fuhr er fort, sich freundlich an Tschitschikow wendend, »gedenken Sie auf Ihrer Reise zu besuchen?«
»Offen gestanden,« antwortete Tschitschikow, den Kopf höflich auf die Seite neigend und zugleich mit der Hand die Armlehne des Sessels streichelnd, »fahre ich weniger in eigenen Geschäften als in einer fremden Angelegenheit. Der General Betrischtschew, mein naher Freund und, ich darf wohl sagen, Wohltäter, bat mich, seine Verwandten zu besuchen. Verwandte hin, Verwandte her, doch ich fahre auch sozusagen im eigenen Interesse: ganz abgesehen vom Nutzen im Hinblick auf die Hämorrhoiden, ist auch die Bekanntschaft mit der Welt und dem Strudel der Menschen sozusagen ein lebendiges Buch, eine eigene Wissenschaft.«
»Ja, es schadet gar nicht, sich gewisse Winkel anzusehen.«
»Sie haben es ganz vortrefflich bemerkt: es schadet wirklich nicht, das ist das richtige Wort. Man sieht Dinge, die man sonst nicht zu Gesicht bekommt; man lernt Menschen kennen, die man sonst nicht kennenlernen würde. Das Gespräch mit manch einem Menschen ist einen Dukaten wert, wie zum Beispiel jetzt, wo ich die Gelegenheit habe ... Ich wende mich an Sie, verehrtester Konstantin Fjodorowitsch, lehren Sie mich, lehren Sie mich, stillen Sie meinen Durst durch Belehrung. Ich ersehne Ihre süßen Worte wie himmlisches Manna.«
»Ja, was soll ich Sie lehren?« sagte Kostanschoglo verlegen. »Ich habe ja selbst keine richtige Bildung genossen.«
»Lehren Sie mich Weisheit, Verehrtester, Weisheit: die Kunst, das schwierige Steuer der Landwirtschaft zu handhaben, die Kunst, sichere Gewinne zu erzielen, ein Vermögen zu erwerben, kein imaginäres, sondern ein greifbares Vermögen und damit die Bürgerpflicht zu erfüllen und die Achtung seiner Landsleute zu erlangen.«
»Wissen Sie was?« sagte Kostanschoglo, ihn nachdenklich anschauend: »Bleiben Sie einen Tag bei mir. Ich will Ihnen den ganzen Verwaltungsmechanismus zeigen und alles erklären. Sie werden sehen, daß gar nicht viel Weisheit dahintersteckt.«
»Natürlich, bleiben Sie doch!« sagte die Hausfrau. Darauf wandte sie sich an ihren Bruder und fügte hinzu: »Bruder, bleib doch da, du hast ja nichts zu versäumen.«
»Mir ist es gleich. Was meint Pawel Iwanowitsch?«
»Ich bleibe mit dem größten Vergnügen ... Aber es ist noch so ein Umstand: ein Verwandter des Generals Betrischtschew, ein gewisser Oberst Koschkarjow ...«
»Der ist ja verrückt!«
»Er ist allerdings verrückt. Ich würde ihn gar nicht besuchen, aber der General Betrischtschew, mein naher Freund und, ich darf wohl sagen, Wohltäter ...«
»In diesem Falle, wissen Sie was?« sagte Kostanschoglo. »Fahren Sie zu ihm hin, es sind keine zehn Werst von hier. Meine Droschke ist fertig angespannt – fahren Sie gleich zu ihm hin. Sie können zum Tee wieder zurück sein.«
»Ein ausgezeichneter Gedanke!« rief Tschitschikow und griff nach seinem Hut.
Die Droschke fuhr vor und brachte ihn in einer halben Stunde zum Obersten. Das Dorf war in einem chaotischen Zustand. Neubauten, Umbauten, Haufen von Ziegelsteinen, Mörtel und Balken in allen Straßen. Es gab einige Häuser, die wie Amtsgebäude aussahen. Auf dem einen stand in goldenen Lettern: »Depot der landwirtschaftlichen Geräte«; auf einem anderen: »Hauptrechnungsexpedition«; ferner: »Komitee für Bauernangelegenheiten«; »Schule für die Normalbildung der Landleute«. Mit einem Worte – weiß der Teufel, was es da nicht alles gab!
Er traf den Obersten mit einer Feder in den Zähnen vor einem hohen Schreibpult stehen. Der Oberst empfing Tschitschikow mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit. Er sah äußerst gutmütig und freundlich aus: er begann ihm zu erzählen, wieviel Mühe es ihn gekostet habe, das Gut in den jetzigen guten Zustand zu bringen; er beklagte sich mit Bedauern, wie schwer es sei, es dem Bauern verständlich zu machen, daß es höhere Triebe gebe, die der Mensch aus einem aufgeklärten Luxus, aus Kunst und Kunstgewerbe schöpfen könne; daß es ihm bisher noch nicht gelungen sei, die Bauernweiber so weit zu bringen, daß sie Korsetts tragen, während in Deutschland, wo er sich im Jahre 1814 mit einem Regiment aufhielt, die Müllerstochter Klavier spielen konnte; daß er es aber, trotz dieses hartnäckigen Verharrens in der Unbildung, erreichen werde, daß der Bauer, hinter dem Pfluge hergehend, zugleich ein Buch über Franklins Blitzableiter, oder Vergils »Georgika«, oder die »Chemische Untersuchung des Ackerbodens« lesen wird.
– Ja, freilich! – dachte sich Tschitschikow. – Und ich bin mit der »Gräfin Lavallière« noch immer nicht fertig: finde immer keine Zeit dazu. –
Vieles sprach noch der Oberst darüber, wie man die Menschen zum Wohlstande bringen könne. Er maß dabei eine große Bedeutung der Kleidung zu: er setzte seinen Kopf dafür ein, daß, wenn man nur auch eine Hälfte der russischen Bauern mit deutschen Hosen bekleiden wollte, die Wissenschaften und der Handel sich heben und in Rußland das goldene Zeitalter anbrechen würde.
Tschitschikow hörte lange zu, ihm aufmerksam in die Augen blickend, und sagte sich schließlich: – Mit dem brauche ich wohl keine großen Umstände zu machen! – Und er erklärte ihm ohne Umschweife, was er für Seelen brauche und was für Verträge und Formalitäten dabei nötig seien.
»Soviel ich aus Ihren Worten ersehe,« sagte der Oberst ohne das geringste Erstaunen, »ist das eine Bitte, nicht wahr?«
»Gewiß.«
»In diesem Falle wollen Sie sie schriftlich formulieren. Das Gesuch kommt an das ›Bureau zur Entgegennahme von Berichten und Meldungen‹. Das Bureau wird das Gesuch signieren und an mich weiterleiten; von mir kommt es an das ›Komitee für Bauernangelegenheiten‹; dort werden Ermittlungen angestellt, und dann kommt das Gesuch an den Verwalter. Der Verwalter wird aber gemeinsam mit dem Sekretär...«
»Erlauben Sie!« rief Tschitschikow: »So wird ja die Sache Gott weiß wie verschleppt! Wie kann man das auch schriftlich behandeln? Das ist ja so eine Sache... Die Seelen sind ja gewissermaßen... tot.«
»Sehr gut. Erwähnen Sie das in Ihrem Gesuch, daß die Seelen gewissermaßen tot sind.«
»Wie, daß sie tot sind? Das kann man doch nicht hinschreiben! Sie sind zwar tot, es soll aber den Anschein haben, als ob sie noch lebendig wären.«
»Sehr gut. Dann schreiben Sie: ›es ist aber nötig‹, oder: ›es wird verlangt, ersucht, gewünscht, daß es den Anschein habe, als ob sie noch lebendig wären‹. Ohne diese Schreibereien kann man da gar nichts machen. Als Beispiel kann ich Ihnen England oder selbst Napoleon anführen. Ich werde Ihnen einen Kommissionär mitgeben, der Sie an alle diese Stellen geleiten wird.«
Er schwang die Klingel. Sofort erschien irgendein Mann.
»Sekretär! Man schicke mir sofort den Kommissionär!« Darauf erschien der Kommissionär, der halb wie ein Bauer und halb wie ein Beamter aussah. »Er wird Sie an alle die in Betracht kommenden Stellen führen.«
Was war mit dem Obersten zu machen? Tschitschikow entschloß sich, aus bloßer Neugierde mit dem Kommissionär mitzugehen, um die in Betracht kommenden Stellen zu sehen. Das »Bureau zur Entgegennahme von Berichten und Meldungen« existierte nur auf dem Aushängeschild, die Türe war aber verschlossen. Der bisherige Vorstand dieses Bureaus, Chruljow, war an das neugebildete »Komitee für Dorfbauten« versetzt worden. Seine Stellung nahm jetzt der Kammerdiener Beresowskij ein, aber auch der war von der Baukommission irgendwohin abkommandiert worden. Sie klopften im »Komitee für Bauernangelegenheiten« an, aber das wurde gerade umgebaut; sie weckten irgendeinen Betrunkenen, konnten aber von ihm nichts Vernünftiges erfahren. »Bei uns herrscht die größte Unordnung«, sagte endlich der Kommissionär zu Tschitschikow. »Man führt den Herrn an der Nase herum. Die Baukommission hat die ganze Gewalt in Händen: sie nimmt die Leute von der Arbeit weg und schickt sie hin, wohin es ihr beliebt.« Offenbar war er mit der Baukommission unzufrieden. Tschitschikow wollte nichts mehr sehen. Zum Obersten zurückgekehrt, erzählte er ihm, wie die Dinge lagen, was für eine Unordnung bei ihm herrschte, daß man von keinem Menschen was erfahren konnte und daß die »Kommission zur Entgegennahme von Berichten« überhaupt nicht existiert.
Der Oberst schäumte vor edler Empörung und drückte Tschitschikow zum Zeichen des Dankes kräftig die Hand. Er griff sofort nach Papier und Feder und schrieb acht strenge Anfragen: Nach welchem Rechte hat die Baukommission eigenmächtig über die ihr nicht unterstehenden Beamten verfügt? Wie hat es der Hauptverwalter zulassen können, daß sein Vertreter, ohne seinen Posten jemand anderem abzugeben, sich zu einer Untersuchung begeben hat? Und wie hat es das »Komitee für Bauernangelegenheiten« gleichgültig sehen können, daß das »Bureau zur Entgegennahme von Berichten und Meldungen« gar nicht existiert?
– Nun wird es ein Donnerwetter geben! – dachte sich Tschitschikow und wollte schon wegfahren.
»Nein, ich lasse Sie nicht fort. Hier steht meine Ehre auf dem Spiele. Ich will Ihnen zeigen, was ein organisches, geregeltes Wirtschaftssystem ist. Ich will mit Ihrer Sache einen Mann betrauen, der allein mehr wert ist als alle anderen: er hat eine Universität absolviert. Ja, solche Leibeigene habe ich! Um die kostbare Zeit nicht zu verlieren, möchte ich Sie bitten, sich in meiner Bibliothek umzuschauen«, sagte der Oberst, eine Seitentüre öffnend. »Hier finden Sie Bücher, Papier, Federn, Bleistifte, alles. Sie dürfen über alles verfügen, Sie sind hier der Herr. Die Aufklärung muß allen offenstehen.«
So sprach Koschkarjow, indem er ihn in seine Bücherei geleitete. Es war ein großer, von unten bis oben mit Büchern angefüllter Saal. Es gab hier sogar ausgestopfte Tiere. Es gab Bücher über alle Zweige der Landwirtschaft: über Forstwissenschaft, Viehzucht, Schweinezucht, Gartenbau; Fachzeitschriften über alles mögliche, die man zugeschickt bekommt mit der Aufforderung, sie zu abonnieren, die man aber nicht liest. Als Tschitschikow sah, daß es keine Unterhaltungslektüre war, wandte er sich einem andern Schrank zu und geriet aus dem Regen in die Traufe: es waren lauter Werke über Philosophie. Sechs dicke Bände fielen ihm in die Augen mit dem Titel: »Vorbereitende Einleitung in das gesamte Gebiet des Denkens. Theorie der Gesamtheit, Gemeinsamkeit und Wesenheit mit Anwendung auf die Erkenntnis der organischen Grundlagen der Zweiteilung der sozialen Produktivität«. Was für ein Buch Tschitschikow auch aufschlug, auf jeder Seite las er: »Manifestation«, »Evolution«, »Abstraktion«, »Geschlossenheit« und weiß der Teufel, was noch alles! – Das ist nichts für mich! – sagte Tschitschikow und wandte sich einem dritten Schrank zu, in dem kunstwissenschaftliche Werke standen. Hier holte er einen riesengroßen Band mit leichtsinnigen mythologischen Abbildungen hervor und begann diese zu betrachten. Solche Bilder gefallen oft Junggesellen in mittleren Jahren, auch manchen alten Herren, die sich vom Ballett und ähnlichen gepfefferten Leckerbissen anregen lassen. Nachdem er mit dem einen Band fertig war, zog er einen andern von der gleichen Art heraus, als Oberst Koschkarjow mit strahlendem Gesicht und einem Papier in der Hand hereinkam.
»Alles ist erledigt, und zwar wunderbar erledigt! Der Mann, von dem ich vorhin sprach, ist ein wahres, Genie. Dafür werde ich ihn über alle setzen und für ihn allein ein eigenes Departement gründen. Schauen Sie nur, was das für ein heller Kopf ist und wie er das in den wenigen Minuten erledigt hat.«
– Na, Gott sei Dank! – dachte sich Tschitschikow und wurde ganz Ohr. Der Oberst las:
»Indem ich an die Überlegung des mir von Ew. Hochwohlgeboren erteilten Auftrages gehe, beehre ich mich, zu diesem folgendes zu melden:
»I. Schon im Gesuch des Herrn Kollegienrats und Ritters Pawel Iwanowitsch Tschitschikow ist ein Mißverständnis enthalten, da darin die in den Revisionslisten geführten Seelen versehentlich tote genannt werden. Darunter wird wohl der erwähnte Herr die dem Tode nahen, doch nicht toten Seelen gemeint haben. Auch weist eine solche Benennung auf ein empirisches Studium der Wissenschaften und auf einen Bildungsgang hin, der sich wahrscheinlich auf eine niedere Gemeindeschule beschränkt hat; denn die Seele ist unsterblich.«
»Dieser Schelm!« sagte Koschkarjow zufrieden, die Vorlesung unterbrechend: »Hier hat er Ihnen einen Seitenhieb versetzt. Aber Sie müssen gestehen, daß der Stil ausgezeichnet ist!«
»II. In unserm Gute sind keinerlei unverpfändete, weder dem Tode nahe noch sonstige Revisionsseelen vorhanden, denn alle Seelen ohne Ausnahme sind nicht nur mit einfachen, sondern auch, unter Nachzahlung von einhundertfünfzig Rubeln pro Seele, mit zweiten Hypotheken belastet, mit Ausnahme der Leibeigenen des kleinen Dorfes Gurmailowka, welches infolge des mit dem Gutsbesitzer Predischtschew schwebenden Prozesses strittig und infolgedessen vom Gericht mit Arrest belegt worden ist, worüber in Nr. 4a der »Moskauer Nachrichten« eine Anzeige erlassen worden ist.«
»Warum haben Sie es mir dann nicht gleich gesagt? Warum hielten Sie mich unnütz auf?« sagte Tschitschikow empört.
»Ja, ich wollte, daß Sie es durch die Formalitäten des schriftlichen Instanzenweges ersehen. Sonst ist es kein Kunststück. Unbewußt kann es auch ein Dummkopf sehen, man soll aber so was bewußt erfassen.«
Tschitschikow griff empört nach seiner Mütze und lief, alle Anstandspflichten außer acht lassend, aus dem Hause: er war aufs höchste aufgebracht. Der Kutscher hielt mit der Droschke vor der Tür, da er wußte, daß es keinen Zweck hatte, die Pferde auszuspannen: wollte man den Pferden Futter geben, so müßte man erst ein schriftliches Gesuch einreichen und die Resolution, den Pferden Hafer zu verabreichen, würde erst am nächsten Tage erfolgen. Der Oberst lief aber hinaus; er drückte Tschitschikow gewaltsam die Hand, drückte sie an sein Herz und dankte ihm dafür, daß er ihm Gelegenheit gegeben hatte, den Verwaltungsmechanismus in der Praxis zu sehen; er sagte, daß man den Leuten schon ordentlich einheizen müsse, weil sonst die Federn dieses Mechanismus verrosten und schlaff werden können; daß ihm anläßlich dieses Vorfalls die glückliche Idee gekommen wäre, eine neue Kommission zu bilden, welche »Kommission zur Beaufsichtigung der Baukommission« heißen würde; dann würde es schon niemand wagen, zu stehlen.
Tschitschikow kam böse und unzufrieden zurück, zu einer Stunde, als die Kerzen schon brannten.
»Warum kommen Sie so spät?« fragte Kostanschoglo, als er in der Tür erschien.
»So einen Dummkopf habe ich meinen Lebtag nicht gesehen!« entgegnete Tschitschikow. »Das ist noch gar nichts!« versetzte Kostanschoglo. »Koschkarjow ist noch eine tröstliche Erscheinung; So ein Mensch ist sogar nützlich, weil sich in ihm karikiert und auffallend alle Dummheiten unserer Klugen spiegeln – der Klugen, die, ohne ihre Heimat richtig zu kennen, sich im Auslande allerlei Unsinn in den Kopf setzen. Solche Gutsbesitzer sind jetzt aufgekommen: sie haben allerlei Bureaus, Manufakturen, Schulen und Kommissionen und weiß der Teufel was noch alles eingeführt! So sind diese Klugen! Kaum fing das Land an, sich nach der Franzoseninvasion von 1812 zu erholen, als sie es schon wieder ruiniert haben. Sie haben es noch mehr heruntergebracht als der Franzose, so daß ein Pjotr Petrowitsch Pjetuch noch als guter Gutsbesitzer erscheint.«
»Aber auch der hat schon alles verpfändet«, bemerkte Tschitschikow.
»Na ja, alles wird verpfändet.« Nach diesen Worten fing Kostanschoglo an, allmählich böse zu werden. »Da hat einer eine Hut- und eine Kerzenfabrik gegründet, hat sich die Meister aus London verschrieben, ist zu einem Krämer geworden! Gutsbesitzer ist doch ein ehrenvoller Beruf, aber er wird Manufakturist und Fabrikant! Spinnereien, um für die städtischen Dirnen Tüll herzustellen ...«
»Du hast aber doch auch Fabriken«, bemerkte Platonow.
»Wer hat sie eingeführt? Bei mir sind sie ganz von selbst entstanden. Als sich so viel Wolle angesammelt hatte, daß ich sie nicht mehr los werden konnte, fing ich an, Tuche zu weben, doch einfache, dicke Tuche – die werden zum billigen Preise auf meinen Dorfmärkten verkauft; der Bauer, mein Bauer braucht sie. Die Fischer hatten sechs Jahre lang die Fischschuppen einfach am Ufer liegen lassen, – nun, was soll ich mit dem Zeug machen? Da fing ich an, aus ihnen Leim zu sieden, und das hat mir Vierzigtausend abgeworfen. Alles ist bei mir so.«
– So ein Teufel! – dachte sich Tschitschikow, ihn unverwandt anblickend: – So eine glückliche Hand! –
»Und ich habe mich darauf nur darum verlegt, weil so viele Arbeiter zusammengelaufen waren, die sonst Hungers gestorben wären: es war ein Hungerjahr, und zwar dank den Herren Fabrikanten, die die Saat versäumt hatten. Solche Fabriken gibt’s bei mir genug, Bruder. Jedes Jahr entsteht eine andere, je nach dem, was für Abfälle und Reste sich gerade angesammelt haben. Wenn du dich nur aufmerksam in deiner Wirtschaft umsiehst, so kann dir jeder Dreck, den du als unnötig fortwirfst, etwas einbringen. Meine Fabriken sind auch keine Paläste mit Säulen und Frontons!«
»Es ist erstaunlich ... Am erstaunlichsten aber ist, daß man an jedem Dreck etwas verdienen kann«, sagte Tschitschikow.
»Ich bitte Sie! Wenn man die Sache nur ganz einfach auffaßt, wie sie ist. Jeder will aber gleich Mechaniker sein und das Kästchen, das ganz einfach aufgeht, mittels eines Instrumentes öffnen. Er wird zu dem Zweck zuerst nach England hinüberfahren, das ist die Sache! Diese Narren!« Nach diesen Worten spuckte Kostanschoglo aus. »Und wenn er zurückkommt, so ist er hundertmal dümmer, als er schon war!«
»Ach, Konstantin, du regst dich schon wieder auf!« sagte seine Frau besorgt. »Du weißt doch, daß dir das schadet.«
»Wie soll ich mich nicht aufregen? Wenn das noch eine fremde Angelegenheit wäre; aber es geht mir so furchtbar nahe! Es ärgert mich, daß der russische Charakter verdorben wird; im russischen Charakter ist jetzt eine Donquichotterie aufgekommen, die ihm früher fremd war! Wenn sich der Russe auf Volksaufklärung verlegt, so wird er zu einem Don Quichotte und führt gleich solche Schulen ein, wie sie auch einem Dummkopf nicht einfallen würden! Und diese Schulen ziehen Menschen heran, die zu gar nichts taugen, weder für die Stadt, noch fürs Land: die verstehen nur zu trinken und sich was auf ihre Menschenwürde einzubilden. Verlegt er sich auf Philanthropie – so wird er zu einem Don Quichotte der Philanthropie: er baut für eine Million Rubel ganz dumme Spitäler und ähnliche Anstalten mit Säulen und richtet sich selbst und die anderen zugrunde: das ist seine Philanthropie!«
Tschitschikow interessierte sich aber nicht für Volksaufklärung; er wollte von Kostanschoglo ausführlich erfahren, wie man aus jedem Dreck einen Nutzen ziehen kann; Kostanschoglo ließ ihn aber gar nicht zu Worte kommen: immer neue gallige Worte kamen von seinen Lippen, und er konnte sie nicht mehr aufhalten. »Die Leute zerbrechen sich den Kopf, wie man den Bauer aufklären soll ... mach ihn erst zu einem reichen, tüchtigen Landwirt, dann wird er schon selbst etwas lernen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie dumm heute die ganze Welt geworden ist! Was diese Federfuchser nicht alles schreiben! Wenn so einer ein Buch erscheinen läßt, stürzen sich gleich alle darauf. Jetzt sagen sie: ›Der Bauer führt ein viel zu einfaches Leben; man muß ihn mit dem Luxus bekannt machen und ihm Bedürfnisse einflößen, die sein Vermögen übersteigen ...‹ Da sie selbst dank diesem Luxus Waschlappen und keine Menschen sind, da sie sich weiß der Teufel was für Krankheiten zugelegt haben, und weil es keinen achtzehnjährigen Jungen mehr gibt, der nicht alles durchgekostet hätte, so daß er keine Zähne mehr hat und kahl ist wie eine Schweinsblase – so wollen sie auch die anderen anstecken. Gott sei Dank, daß wir noch einen gesunden Stand haben, der alle diese Errungenschaften nicht kennt! Dafür müssen wir wirklich Gott danken. Der Ackerbauer ist unser ehrbarster Stand; was rührt man ihn an? Gott gebe, daß alle Leute so wären wie der Ackerbauer!«
»Sie glauben also, daß der Ackerbau das lohnendste Unternehmen ist?« fragte Tschitschikow.
»Nicht das lohnendste, aber das rechtschaffenste. Es steht auch geschrieben: ›Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.‹ Da gibt es nichts zu klügeln. Es ist durch die Erfahrung der Jahrhunderte nachgewiesen, daß der Ackerbauer moralischer, edler und reiner ist und höher steht als jeder andere Mensch. Ich sage ja nicht, daß man nichts anderes anfangen soll; der Ackerbau soll aber allem andern zugrunde liegen, das ist es! Fabriken werden ganz von selbst entstehen, auf einer natürlichen Grundlage, um Dinge zu liefern, die der Mensch an Ort und Stelle braucht, und nicht zur Befriedigung von Bedürfnissen, die den Menschen heute so geschwächt haben. Es sind nicht die Fabriken, die zur Sicherung ihres Absatzes auf die gemeinste Weise vorgehen und das unglückliche Volk verderben und demoralisieren. Was mich betrifft, so werde ich nie so eine Fabrik gründen, die höhere Bedürfnisse weckt – und wenn man mir noch soviel von ihrem Nutzen erzählt –, also keinen Tabak und keinen Zucker erzeugen, und wenn ich auch eine Million verlieren müßte. Wenn schon die Demoralisation in die Welt kommen soll, dann nicht durch meine Hände! Ich will vor Gott gerecht dastehen ... Ich lebe schon seit zwanzig Jahren mit dem Volke; ich weiß, wozu das führt.«
»Mir erscheint es am erstaunlichsten, daß man bei einer vernünftigen Wirtschaftsführung aus jedem Dreck, aus allen Abfällen Nutzen ziehen kann.«
»Ja, und die Volkswirtschaftler!« fuhr Kostanschoglo mit einem gallig-sarkastischen Gesichtsausdruck fort, ohne auf ihn zu hören. »Das sind mir gute Volkswirtschaftler! Durch die Bank Dummköpfe, und keiner sieht weiter, als seine dumme Nase reicht. So ein Esel steigt aber aufs Katheder, setzt sich die Brille auf ... Idioten!« Und er spuckte ärgerlich aus.
»Das stimmt alles, aber rege dich bitte nicht so auf«, sagte seine Frau. »Als könnte man nicht über diese Dinge reden, ohne außer sich zu geraten.«
»Wenn man Ihnen zuhört, verehrtester Konstantin Fjodorowitsch, so dringt man sozusagen in den Sinn des Lebens ein, betastet gleichsam den Kern der Sache. Gestatten Sie mir aber, das Allgemein-Menschliche beiseite zu lassen und Ihre Aufmerksamkeit für eine Privatangelegenheit in Anspruch zu nehmen. Wenn ich, sagen wir, Gutsbesitzer geworden bin und die Absicht habe, in kurzer Zeit reich zu werden, um auf diese Weise sozusagen die wichtigste Bürgerpflicht zu erfüllen – was soll ich da anfangen?«
»Was man anfangen soll, um reich zu werden?« fiel ihm Kostanschoglo ins Wort. »Das will ich Ihnen gleich sagen ...«
»Wir wollen zu Abend essen«, sagte die Hausfrau, vom Sofa aufstehend; sie trat in die Mitte des Zimmers und hüllte ihre jungen, durchfrorenen Glieder in ein Tuch.
Tschitschikow sprang mit einer beinahe militärischen Gewandtheit vom Stuhle auf, bot ihr seinen Arm und führte sie feierlich durch zwei Zimmer ins Eßzimmer, wo schon die Terrine ohne Deckel auf dem Tisch stand, einen angenehmen Duft der Suppe aus frischem Grünzeug und den ersten Kräutern des Frühjahrs verbreitend. Alle nahmen Platz. Die Diener stellten flink sämtliche Gerichte zugleich nebst allem Zubehör in zugedeckten Schüsseln auf den Tisch und entfernten sich. Kostanschoglo liebte es nicht, daß die Lakaien den Gesprächen der Herrschaften zuhörten, und noch viel weniger, daß sie ihm in den Mund sahen, wenn er aß.
Nachdem Tschitschikow die Suppe ausgelöffelt und ein Glas von einem wunderbaren Getränk getrunken hatte, das an Ungarwein erinnerte, wandte er sich an den Hausherrn mit folgenden Worten: »Gestatten Sie mir, Verehrtester, zum Gegenstand unseres unterbrochenen Gesprächs zurückzukehren. Ich fragte Sie, was man anstellen muß, wie man es anfangen soll...« . . .
»Ein Gut, für das ich auch vierzigtausend Rubel bezahlen würde, wenn er soviel verlangte.«
»Hm!« Tschitschikow wurde nachdenklich. »Warum kaufen Sie es dann nicht selbst?« fragte er etwas schüchtern.
»Alles hat schließlich seine Grenzen. Ich habe mit meinen Gütern auch ohnehin genug zu tun. Außerdem schreien unsere Edelleute, daß ich ihre verzweifelte Lage und ihren Ruin ausnütze und ihre Güter für ein Spottgeld aufkaufe. Das habe ich endlich satt.«
»Was doch alle Menschen für eine Neigung haben, einander zu verleumden!« sagte Tschitschikow.
»Und erst in unserem Gouvernement, das können Sie sich gar nicht vorstellen! Sie nennen mich auch nicht anders als einen Filz und einen Geizhals. Sich selbst rechtfertigen sie natürlich in allen Dingen. ›Ich bin wohl an den Bettelstab gekommen,‹ sagt so einer, ›aber nur, weil ich mit höheren Bedürfnissen lebte, weil ich die Industriellen (d. h. die Gauner, welche . . . unterstützte; man kann ja auch wie ein Schwein leben, wie dieser Kostanschoglo.‹«
»Ich möchte gern selbst solch ein Schwein sein!« sagte Tschitschikow.
»Lauter Unsinn! Was sind das für höhere Bedürfnisse? Wen glauben sie zu betrügen? So einer schafft sich zwar Bücher an, liest sie aber nie. Die Sache endet mit Kartenspiel und . . . Und alles kommt daher, weil ich ihnen keine Diners gebe und kein Geld pumpe. Diners gebe ich nicht, weil dies mir lästig wäre: ich bin es nicht gewohnt. Wenn du aber zu mir kommst, um das zu essen, was ich selbst esse, so bist du mir willkommen. Daß ich kein Geld herleihe, ist Unsinn. Wenn du zu mir wirklich in Notlage kommst und mir ausführlich erzählst, was du mit dem von mir hergeliehenen Geld anfangen willst; wenn ich aus deinen Worten ersehe, daß du es vernünftig verwenden willst und daß mein Geld dir wirklich einen Nutzen abwirft, so schlage ich es dir nicht ab und verzichte sogar auf die Zinsen.«
– Das muß man sich merken! – dachte sich Tschitschikow.
»Niemals würde ich es in einem solchen Falle abschlagen«, fuhr Kostanschoglo fort. »Aber das Geld zum Fenster hinauswerfen – das tue ich nicht. Da muß man mich schon entschuldigen! Hol’s der Teufel! Er veranstaltet irgendein Diner für seine Geliebte, oder stattet sein Haus mit wahnsinnig teuren Möbeln aus, oder will mit einer Dirne einen Maskenball besuchen, oder feiert ein Jubiläum zum Andenken daran, daß er solange unnütz auf der Welt gelebt hat, und ich soll ihm das Geld dazu leihen! ...«
Hier spuckte Kostanschoglo aus und hätte beinahe in Gegenwart seiner Gattin einige unanständige Schimpfworte gebraucht. Ein Ausdruck finsterer Hypochondrie verdüsterte sein Gesicht. An seiner Stirne bildeten sich Längs- und Querfalten, Anzeichen einer zornigen Regung der Galle.
»Gestatten Sie mir, mein Hochverehrter, wieder auf den Gegenstand des unterbrochenen Gesprächs zurückzukommen«, sagte Tschitschikow, indem er noch ein Gläschen Himbeerlikör trank, der wirklich ganz ausgezeichnet war. »Wenn ich, sagen wir, in der Tat das Gut gekauft habe, von dem Sie eben sprachen, wieviel Zeit brauche ich dann, um so reich zu werden, daß ...«
»Wenn Sie schnell reich werden wollen,« fiel ihm Kostanschoglo rasch ins Wort, »so werden Sie niemals reich werden; wenn Sie dagegen reich werden wollen, ohne nach der Zeit zu fragen, so werden Sie schnell reich werden.«
»So verhält es sich also!« sagte Tschitschikow.
»Ja,« entgegnete Kostanschoglo kurz, als zürnte er Tschitschikow, »man muß die Arbeit lieben: ohne diese Liebe läßt sich nichts anfangen. Man muß die Wirtschaft liebgewinnen, ja! Glauben Sie mir, das ist gar nicht langweilig. Die Leute sagen, auf dem Lande ist es langweilig ... ich aber würde vor Langweile sterben, wenn ich einen Tag in der Stadt so verbringen müßte, wie sie die Zeit in ihren dummen Klubs, Wirtshäusern und Theatern verbringen. Narren, Dummköpfe, ein närrisches Geschlecht! Der Landwirt darf sich nicht langweilen, er hat keine Zeit dazu. In seinem Leben gibt es auch keinen Zoll leeren Raumes – alles ist angefüllt. Schon diese Abwechslung in der Tätigkeit, und was für einer Tätigkeit! – es sind Beschäftigungen, die wahrhaft den Geist erheben. Man mag sagen, was man will, der Mensch geht hier Hand in Hand mit der Natur, mit den Jahreszeiten, er ist gleichsam Mitarbeiter und Mitberater an allem, was in der Schöpfung geschieht. Betrachten Sie mal den Jahreszyklus seiner Arbeiten: wie schon vor Frühlingsbeginn alles auf der Lauer liegt und den Frühling erwartet; die Saat wird vorbereitet, das Getreide in den Scheunen wird durchgelesen, nachgemessen und getrocknet; die Arbeitsleistungen der Bauern werden neu festgesetzt. Alles wird im voraus nachgesehen und berechnet. Und wenn das Eis bricht und die Flüsse wieder frei dahinfließen, wenn alles trocken wird und die Erde sich lockern läßt – da arbeitet in den Gemüsepflanzungen und Gärten der Spaten, und im Felde der Pflug und die Egge; es wird gepflanzt, gesetzt und gesät. Verstehen Sie das? Eine Kleinigkeit: die künftige Ernte wird ausgesät! Die Nahrung von Millionen! Nun ist der Sommer angebrochen ... Es wird gemäht und gemäht ... Und schon ist man mitten in der Ernte; erst Roggen, dann wieder Roggen, dann Weizen, Gerste und Hafer ... Alles kocht; man darf keine Minute versäumen: und wenn man auch zwanzig Augen hat, so haben alle zwanzig genug zu tun. Und wenn man mit diesen Arbeiten fertig ist, heißt es, die Ernte in die Tennen zusammenfahren und zu Schobern aufschichten, die Äcker für die Wintersaat bestellen, die Scheunen, Schuppen und Viehställe für den Winter instand setzen; zugleich kommen alle die Weiberarbeiten; und wenn man hinterher das Fazit zieht und sieht, was man geschafft hat, so ist es ja ... Und der Winter! Auf allen Tennen wird gedroschen, und das gedroschene Getreide aus den Darren in die Speicher gebracht. Man geht in die Mühle, man geht auch in die Fabriken, man schaut in den Arbeitshof hinein, man schaut auch beim Bauern nach, was er für sich selbst arbeitet. Wenn ein Zimmermann richtig mit der Axt umgeht, so bin ich imstande, ihm zwei Stunden lang zuzusehen: solche Freude macht mir seine Arbeit. Und wenn man dabei sieht, wie zweckmäßig alles gemacht wird, wie alles sich mehrt und Frucht und Gewinn bringt, so kann ich Ihnen gar nicht sagen, wie dabei einem zumute ist. Und nicht weil sich das Geld vermehrt – Geld hin, Geld her –, sondern weil alles das Werk deiner Hände ist; weil du siehst, daß du die Ursache und der Schöpfer dieser Dinge bist und daß du wie ein Magier den Überfluß und Wohlstand ausstreust. Ja, wo finden Sie einen höheren Genuß?« sagte Kostanschoglo. Er hob sein Gesicht, und plötzlich waren die Falten verschwunden. Wie ein Zar am Tage seiner festlichen Krönung, so leuchtete er ganz, und sein Gesicht sandte Strahlen aus. »In der ganzen Welt werden Sie keinen ähnlichen Genuß finden! Hierin ahmt der Mensch den Schöpfer nach: Gott hat das Werk der Schöpfung als den höchsten Genuß auserkoren und verlangt auch vom Menschen, daß er gleich ihm der Schöpfer eines glückseligen Zustandes in seiner Umgebung sei. Und das nennt man eine langweilige Tätigkeit!«
Tschitschikow lauschte den süßtönenden Reden des Hausherrn wie dem Gesange eines Paradiesvogels. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Seine Augen leuchteten ölig und süß, und er wollte noch immer mehr hören.
»Konstantin, es ist Zeit, die Tafel aufzuheben!« sagte die Hausfrau und stand auf. Alle erhoben sich. Tschitschikow reichte der Hausfrau den Arm und führte sie zurück; aber seinen Bewegungen fehlte diesmal die gewohnte Eleganz, da seine Gedanken mit höchst gewichtigen Dingen beschäftigt waren.
»Du magst erzählen, was du willst, es ist aber doch so langweilig«, sagte Platonow, hinter ihnen hergehend.
– Der Gast ist wohl gar kein dummer Mensch, – dachte sich der Hausherr; – er ist aufmerksam, spricht gesetzt und ist kein Federfuchser. – Nachdem er sich dies gedacht hatte, wurde er noch lustiger: als hätte er bei dem Gespräch Feuer gefangen und als freue er sich, daß er einen Menschen gefunden habe, der es verstehe, so klugen Ratschlägen zuzuhören.
Als sie später in dem kleinen, gemütlichen, von Kerzen erleuchteten Zimmer, dem Balkon und der auf den Garten hinausgehenden Glastüre gegenüber Platz genommen hatten und zu ihnen die über den Wipfeln des schlafenden Gartens leuchtenden Sterne hereinblickten – da fühlte sich Tschitschikow so wohlig und gemütlich, wie schon lange nicht: als hätte ihn nach langen Fahrten sein heimatliches Dach aufgenommen, als hätte er seinen Wanderstab mit dem Worte: »Genug!« weggeworfen. In diese angenehme Stimmung hatte ihn das kluge Gespräch des gastfreien Hausherrn versetzt. Für jeden Menschen gibt es Worte, die ihm näher und vertrauter sind als alle anderen. Und oft begegnet man unerwartet in einem entlegenen, gottverlassenen Nest, in einer menschenleeren Einöde einem Menschen, dessen erwärmende Unterhaltung die unwegsamen Wege, die unbehaglichen Nachtquartiere, die Sinnlosigkeit des heutigen Lärms und die Verlogenheit des Trugs vergessen macht, mit dem die Menschen angeführt werden. Ein auf diese Weise verbrachter Abend prägt sich lebendig und für alle Ewigkeit der Erinnerung ein, und das treue Gedächtnis bewahrt alles: wer noch dabei war, wo ein jeder saß und was er in den Händen hielt – die Wände, die Ecken und jede Bagatelle.
So merkte sich auch Tschitschikow an diesem Abend alles: dieses kleine, nette, bescheiden ausgestattete Zimmer, den gutmütigen Gesichtsausdruck des klugen Hausherrn, sogar das Tapetenmuster ... auch die Pfeife mit dem Bernsteinmundstück, die man Platonow reichte, den Rauch, den er Jarb in die dicke Schnauze blies, Jarbs Schnauben, das Lachen der hübschen Hausfrau, das sie mit den Worten: »Laß es, quäl’ ihn nicht!« unterbrach, die lustig flackernden Kerzen, das Heimchen in der Ecke, die Glastüre und die Frühlingsnacht, die, auf die von den Sternen überschütteten Baumwipfel gelehnt, zu ihnen hereinblickte, von lautem Gesang erfüllt, den die Nachtigallen aus der Tiefe des grünen Dickichts schmetterten.
»Süß sind mir Ihre Worte, verehrter Konstantin Fjodorowitsch!« versetzte Tschitschikow. »Ich kann wohl sagen, daß ich in ganz Rußland noch keinen Menschen getroffen habe, der Ihnen an Klugheit gleichkäme.«
Der Hausherr lächelte. Er fühlte selbst, daß diese Worte nicht unberechtigt waren. »Nein, wenn Sie einen wirklich klugen Menschen kennenlernen wollen, so haben wir hier einen, von dem man wirklich sagen kann: das ist ein kluger Mensch; ich bin aber auch seines kleinen Fingers nicht wert.«
»Wer mag das wohl sein?« fragte Tschitschikow erstaunt.
»Es ist unser Branntweinpächter Murasow.«
»Diesen Namen höre ich schon zum zweitenmal!« rief Tschitschikow aus.
«Das ist ein Mann, der nicht bloß ein Gut, sondern auch einen ganzen Staat verwalten könnte. Hätte ich ein Kaiserreich, ich würde ihn sofort zu meinem Finanzminister machen.«
»Man sagt, es sei ein Mann, der jedes Maß der Wahrscheinlichkeit übersteigt: es heißt, er hätte sich zehn Millionen erworben.«
»Ach was, zehn! Mehr als vierzig! Bald wird ihm halb Rußland gehören.«
»Was Sie nicht sagen!« rief Tschitschikow aus, die Augen und den Mund aufreißend.
»Ganz bestimmt. Das ist ja klar. Langsam reich wird nur der, der Hunderttausende besitzt; aber einer, der Millionen hat, hat auch einen großen Wirkungsradius; was er auch errafft, so ist es gleich zwei- und dreimal soviel, als was er schon hat: der Wirkungsbereich ist allzu groß. Er hat auch keine Konkurrenten. Niemand kann mit ihm streiten. Was für einen Preis er auch nennt, bei dem bleibt es: es ist niemand da, der ihn überbieten könnte.«
»Du lieber Gott!« sagte Tschitschikow und bekreuzigte sich. Tschitschikow blickte Kostanschoglo in die Augen, und ihm stockte der Atem. »Es ist ja einfach unfaßbar! Das Denken steht vor Entsetzen still! Man bewundert die Weisheit der göttlichen Vorsehung, die sich im kleinsten Insekt kundgibt; mir aber erscheint es weit erstaunlicher, daß so große Summen durch die Hände eines Sterblichen gehen können. Gestatten Sie eine Frage: sagen Sie, sein Grundkapital hat er wohl auf eine nicht ganz einwandfreie Weise erworben?«
»Auf dem rechtmäßigsten Wege und mit den ehrlichsten Mitteln.«
»Das kann ich nicht glauben! Es ist ganz unwahrscheinlich! Wenn es noch Tausende wären, aber Millionen ...«
»Im Gegenteil, Tausende kann man nicht so leicht auf einwandfreie Weise verdienen wie Millionen. Ein Millionär braucht keine krummen Wege zu gehen: er geht den geraden Weg und nimmt alles, was vor ihm liegt. Ein anderer kann es gar nicht haben, es geht über seine Kraft; er aber hat keine Konkurrenten. Sein Wirkungsradius ist eben groß; ich sage ja: was er auch errafft, so ist es gleich zwei- und dreimal soviel als ... Was hat man aber von einem Tausend? – Zehn bis zwanzig Prozent.«
»Das Unfaßbarste ist, daß das Ganze mit einer Kopeke angefangen hat!«
»Anders kann es ja auch gar nicht sein. Das ist der natürlichste Lauf der Dinge,« sagte Kostanschoglo. »Wer mit Tausenden zur Welt gekommen ist, mit Tausenden aufgewachsen ist, der kann nichts mehr erwerben: der hat schon seine Bedürfnisse und weiß Gott was noch alles! Man muß vom Anfang und nicht von der Mitte beginnen – mit der Kopeke und nicht mit dem Rubel, von unten und nicht von oben: nur dann lernt man die Menschen und die Verhältnisse kennen, unter denen man sich später abplagen muß. Wenn man so manches an der eigenen Haut gespürt, wenn man erfahren hat, daß jede Kopeke, wie es im Sprichwort heißt, mit einem Dreikopekennagel befestigt ist, und wenn man alle Prüfungen durchgemacht hat – so ist man so klug und gewitzigt, daß man sich bei keinem Unternehmen verrechnet und niemals abstürzt. Glauben Sie mir, es ist so. Man muß vom Anfang beginnen und nicht von der Mitte. Wenn mir einer sagt: ›Geben Sie mir hunderttausend Rubel, ich werde gleich reich werden,‹ so traue ich ihm nicht: er spekuliert aufs Geratewohl und geht nicht sicher. Man muß mit der Kopeke anfangen.«
»In diesem Falle werde ich reich werden,« sagte Tschitschikow, dem unwillkürlich die toten Seelen in den Sinn kamen, »denn ich fange tatsächlich mit nichts an.«
»Konstantin, es ist für Pawel Iwanowitsch Zeit, zur Ruhe zu gehen,« sagte die Hausfrau, »du redest aber immer weiter.«
»Sie werden ganz bestimmt reich werden«, sagte Kostanschoglo, ohne auf die Hausfrau zu hören. »Ihnen wird das Gold in Strömen zufließen, in Strömen! Sie werden gar nicht wissen, was mit Ihren Einkünften anzufangen.«
Pawel Iwanowitsch saß wie verzaubert im goldenen Reiche der immer üppiger wuchernden Träume und Phantasien. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Seine Einbildungskraft kam in Schwung und stickte auf dem goldenen Teppich der künftigen Gewinne goldene Blumen, und in seinen Ohren klangen die Worte wider: »Ihnen wird das Gold in Strömen zufließen ...«
»Wirklich, Konstantin, für Pawel Iwanowitsch ist es Zeit, schlafen zu gehen ...«
»Was geht’s dich an? Geh selbst, wenn du schlafen willst«, sagte der Hausherr; da hielt er aber inne, weil durchs ganze Zimmer das Schnarchen Platonows tönte; gleich darauf hörte man auch Jarb noch lauter schnarchen. Der Hausherr sah ein, daß es wirklich Schlafenszeit war; er rüttelte Platonow auf, sagte ihm: »Laß das Schnarchen!« und wünschte Tschitschikow eine gute Nacht. Alle zogen sich in ihre Zimmer zurück und schliefen bald ein.
Tschitschikow allein fand keinen Schlaf. Seine Gedanken waren wach. Er überlegte sich, wie er der Besitzer eines wirklichen und keines phantastischen Gutes werden könnte. Nach dem Gespräch mit dem Hausherrn war ihm alles klar! Die Möglichkeit, reich zu werden, schien ihm so offensichtlich! Das schwierige Unternehmen der Landwirtschaft kam ihm jetzt so leicht und so verständlich vor, und obendrein wie geschaffen für seine Natur! Es gilt nur, alle die Toten zu verpfänden, um sich ein wirkliches Gut anzuschaffen! Er sah sich schon so handeln und wirtschaften, wie Kostanschoglo gelehrt hatte: umsichtig, gewandt, ohne Neues einzuführen, ehe er das Alte durch und durch erfaßt hätte, ehe er alles mit eigenen Augen gesehen, alle Bauern kennengelernt, auf jeden Luxus verzichtet und sich ausschließlich der Arbeit und der Landwirtschaft gewidmet haben würde. Schon im voraus durchkostete er das Vergnügen, das er empfinden würde, wenn in allen Dingen eine planmäßige Ordnung herrschen und alle Räder der Wirtschaftsmaschine in Bewegung kommen und ineinandergreifen würden. Die Arbeit wird munter vorwärtsgehen, und ebenso wie in einer Mühle das Korn zu Mehl zermahlen wird, so wird bei ihm auch aus jedem Abfall und Dreck Bargeld entstehen. Der wunderbare Landwirt stand unablässig vor seinen Augen. Er war der erste Mann in Rußland, für den er eine persönliche Hochachtung empfand. Bisher hatte er die Menschen nur wegen ihrer hohen Titel oder großen Vermögen geschätzt; des Verstandes wegen hatte er aber eigentlich noch keinen Menschen geachtet. Kostanschoglo war der erste. Er fühlte, daß er sich mit ihm auf keinerlei Kunststücke einlassen dürfte. Ihn beschäftigte ein anderes Projekt: das Gut Chlobujews zu kaufen. Zehntausend Rubel besaß er; fünfzehntausend wollte er sich von Kostanschoglo zu borgen versuchen, da ihm dieser doch selbst erklärt hatte, daß er bereit sei, einem jeden zu helfen, der die Absicht habe, reich zu werden; den Rest würde er von der Leihkasse für die toten Seelen bekommen; schließlich konnte er ihn auch schuldig bleiben. Das wäre ja auch ein Ausweg: soll jener nur prozessieren, wenn er Lust hat! Lange noch dachte er darüber nach. Endlich nahm der Schlaf, der das ganze Haus schon seit vier Stunden, wie man zu sagen pflegt, umfangen hielt, auch Tschitschikow in seine Arme auf. Er schlief fest ein.
Am folgenden Tage erledigte sich alles so, wie man es sich gar nicht besser wünschen konnte. Kostanschoglo gab ihm mit Freuden die zehntausend Rubel, ohne Zinsen und ohne Bürgschaft – gegen eine gewöhnliche Empfangsbestätigung: so gern half er jedem auf dem Wege zum Wohlstand. Und noch mehr als das: er erklärte sich bereit, Tschitschikow zu Chlobujew zu begleiten, um sich mit ihm zusammen das Gut anzusehen. Tschitschikow war in bester Laune. Nach einem ordentlichen Frühstück machten sie sich auf den Weg und nahmen alle drei in Pawel Iwanowitschs Wagen Platz; die Droschke des Hausherrn folgte leer hinten nach. Jarb lief voraus und scheuchte am Straßenrande die Vögel auf. Ganze fünfzehn Werst weit zogen sich zu beiden Seiten der Straße die Wälder und Äcker Kostanschoglos hin. Als sein Besitz aufhörte, wurde alles gleich anders: das Getreide wuchs spärlich, und statt Wälder gab es nur Baumstrünke. Das kleine Gut schien trotz seiner schönen Lage, auch aus der Ferne gesehen, arg vernachlässigt. Zuerst zeigte sich das noch unbewohnte neue, erst im Rohbau fertige steinerne Haus; dann erst erblickte man das andere bewohnte Haus. Den Hausherrn fanden sie zerzaust und verschlafen vor: er war erst eben aufgestanden. Er schien etwa vierzigjährig; seine Halsbinde war schief gebunden; der Rock hatte einen Flicken, der Stiefel – ein Loch.
Über die Ankunft der Gäste war er so erfreut wie über Gott weiß was: als hätte er nach langer Trennung seine Brüder wiedergesehen.
»Konstantin Fjodorowitsch! Platon Michailowitsch! Was für eine Freude haben Sie mir mit Ihrem Besuch bereitet! Erlauben Sie mir, daß ich mir erst die Augen reibe! Ich glaubte schon, daß mich niemand mehr besuchen will. Alle fliehen mich wie die Pest: ein jeder fürchtet, ich würde ihn anpumpen. Ach, es ist so schwer, Konstantin Fjodorowitsch! Ich sehe ja, daß ich selbst an allem schuld bin. Was soll ich machen? Ich bin mal so ein Schwein und lebe wie ein Schwein. Entschuldigen Sie, meine Herren, daß ich Sie in diesem Aufzuge empfange: die Stiefel sind, wie Sie sehen, durchlöchert. Womit darf ich Sie bewirten?«
»Bitte, ohne Umstände. Wir kommen in Geschäften. Ich bringe Ihnen einen Käufer – Pawel Iwanowitsch Tschitschikow,« sagte Kostanschoglo.
»Es freut mich herzlich, Sie kennenzulernen. Lassen Sie mich Ihre Hand drücken.«
Tschitschikow reichte ihm beide Hände.
»Wie gerne würde ich Ihnen, verehrtester Pawel Iwanowitsch, ein Gut zeigen, das wirklich Beachtung verdiente ... Übrigens, meine Herren, darf ich fragen, haben Sie schon Mittag gegessen?«
»Wir haben schon gegessen,« sagte Kostanschoglo, um diese Frage möglichst schnell zu erledigen. »Wir wollen keine Zeit verlieren und gleich mit der Besichtigung anfangen.«
»In diesem Falle wollen wir gehen.« Chlobujew nahm seine Mütze in die Hand. »Sie sollen meine Unordnung und Liederlichkeit sehen.«
Die Gäste setzten ihre Mützen auf und gingen alle die Dorfstraße entlang.
Von beiden Seiten starrten blinde Hütten mit kleinen Fenstern, die mit Fußlappen zugestopft waren.
»Sie sollen meine Unordnung und Liederlichkeit sehen,« sagte Chlobujew wieder. «Sie haben natürlich gut getan, daß Sie schon gegessen haben. Glauben Sie mir, Konstantin Fjodorowitsch, ich habe kein Krümchen im Hause, so weit ist es mit mir gekommen!«
Er seufzte auf, und da er wohl wußte, daß er von Konstantin Fjodorowitsch wenig Teilnahme zu erwarten hatte, nahm er Platonow unter den Arm und ging mit ihm voraus, dessen Hand kräftig an sein Herz drückend. Kostanschoglo und Tschitschikow folgten ihnen Arm in Arm in einiger Entfernung.
»Es ist schwer, Platon Michailowitsch, so furchtbar schwer!« sagte Chlobujew zu Platonow. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwer es ist! Kein Geld, kein Getreide, keine Stiefel – das sind für mich lauter unbekannte Fremdworte. Ich würde mir daraus gar nichts machen, wenn ich jung und alleinstehend wäre. Wenn man aber von diesem Ungemach im Alter betroffen wird und dazu eine Frau und fünf Kinder hat, so muß man traurig werden ...«
»Nun, und wenn Sie das Gut verkaufen – wird das Ihnen helfen?« fragte Platonow.
»Ach was, helfen!« sagte Chlobujew mit einer hoffnungslosen Handbewegung. »Alles werden die Gläubiger kriegen, und mir selbst bleiben keine tausend Rubel.«
»Was werden Sie dann anfangen?«
»Das weiß Gott allein.«
»Warum unternehmen Sie nichts, um aus dieser Klemme zu kommen?«
»Was soll ich bloß unternehmen?«
»Nun, nehmen Sie doch irgendeine Stellung.«
»Ich stehe doch nur im Range eines Gouvernementssekretärs. Was für eine Stellung kann man mir bieten? Doch nur eine ganz untergeordnete. Kann ich denn ein Gehalt von fünfhundert Rubel im Jahre annehmen? Ich habe ja eine Frau und fünf Kinder.«
»Werden Sie doch Gutsverwalter.«
»Wer wird mir sein Gut anvertrauen? Ich habe ja das meinige heruntergebracht.«
»Nun, wenn einem der Hungertod droht, so muß er doch was unternehmen. Ich will meinen Bruder fragen, ob er Ihnen nicht eine Stellung in der Stadt vermitteln kann.«
»Nein, Platon Michailowitsch«, sagte Chlobujew seufzend und ihm fest die Hand drückend. »Ich tauge jetzt zu nichts mehr: ich bin vorzeitig alt geworden, von alten Sünden habe ich Kreuzschmerzen und Rheumatismus in der Schulter. Wie kann ich daran auch nur denken! Was soll ich den Staat schädigen? Es gibt jetzt auch ohne mich genug Leute, die nur der Einkünfte wegen dienen. Gott behüte, daß meines Gehalts wegen den armen Ständen neue Steuern auferlegt werden!«
– Das sind die Früchte der liederlichen Lebensweise! – dachte sich Platonow. – Das ist noch schlimmer als mein ewiger Schlaf. –
Während sie miteinander so sprachen, regte sich Kostanschoglo, der mit Tschitschikow hinter ihnen herging, furchtbar auf.
»Schauen Sie nur,« sagte Kostanschoglo, mit dem Finger zeigend, »in welches Elend er die Bauern gestürzt hat! Keiner von ihnen hat einen Wagen oder ein Pferd. Wenn es mal eine Seuche gibt, so soll man doch an sein eigenes Hab und Gut nicht denken: da muß man alles verkaufen und den Bauern mit Vieh versehen, damit er auch nicht einen Tag der Arbeitstiere entbehrt. Jetzt kann man das auch in vielen Jahren nicht wieder gutmachen. Der Bauer ist inzwischen ein Faulenzer, Bummler und Säufer geworden. Wenn man ihn auch nur ein Jahr ohne Arbeit sitzenläßt, so hat man ihn für alle Ewigkeit demoralisiert: dann ist er schon gewöhnt, seine Lumpen zu tragen und sich arbeitslos herumzutreiben ... Und wie gut das Land dabei ist! Schauen Sie sich nur das Land an!« sagte er, auf die Wiesen zeigend, die gleich nach den Bauernhäusern kamen. »Alles ist Überschwemmungsgebiet! Ich würde da Flachs bauen und fünftausend Rubel am Flachs allein verdienen; würde Rüben bauen und an den Rüben viertausend verdienen. Aber schauen Sie nur her: dieser Roggen da am Abhang ist aus zufällig verschütteten Körnern gewachsen. Er hat ja gar keinen Roggen gesät, das weiß ich. Und hier diese Schluchten ... hier würde ich solche Wälder anpflanzen, daß keine Krähe die Baumwipfel erreichen könnte. Und einen so unschätzbaren Boden läßt er brachliegen! Wenn du schon keinen Pflug hast, um den Boden zu pflügen, so nimm doch einen Spaten und baue Gemüse an – dann holst du es am Gemüse nach. Nimm selbst den Spaten in die Hand, zwinge deine Frau, die Kinder, das Hausgesinde dazu; stirb ... bei der Arbeit! Dann stirbst du wenigstens bei der Erfüllung deiner Pflicht und nicht, weil du dich zu Mittag wie ein Schwein vollgefressen hast!« Kostanschoglo spuckte nach diesen Worten aus, und sein Gesicht wurde wieder von einem galligen Ausdruck umdüstert.
Als sie näher heran kamen und am Rande des mit Beifuß bewachsenen Abhanges standen; als in der Ferne eine glänzende Windung des Flusses und ein dunkler Bergvorsprung auftauchten und etwas näher ein Teil des im Gehölz versteckten Hauses des Generals Betrischtschew sichtbar wurde, hinter diesem aber ein kraus mit Wald bewachsener, in den bläulichen Dunst der Entfernung gehüllter Hügel, an dem Tschitschikow erriet, daß es wohl Tjentjetnikows Besitz sei – sagte er: »Wenn man hier Wälder anpflanzen wollte, so würde die Landschaft an Schönheit . . .
»Sie sind wohl ein Liebhaber schöner Aussichten!« sagte Kostanschoglo, ihn plötzlich streng anblickend. »Passen Sie auf, wenn Sie den schönen Aussichten nachjagen, so bleiben Sie ohne Brot und ohne Aussichten. Schauen Sie auf den Nutzen und nicht auf die Schönheit. Die Schönheit wird von selbst kommen. Das können Sie auch an den Städten sehen: am schönsten sind solche Städte, die von selbst entstanden sind, wo jeder nach seinen Bedürfnissen und nach seinem Geschmack gebaut hat; solche Städte aber, die man nach der Schnur errichtet hat, sind nur Kasernen ... Lassen Sie die Schönheit beiseite! Achten Sie nur auf das Nützliche ...«
»Es ist nur schade, daß man solange warten muß: man möchte gern alles so sehen, wie man es haben will ...«
»Sind Sie denn ein fünfundzwanzigjähriger Jüngling? . . . Ein Petersburger Beamter . . . Geduld! Arbeiten Sie sechs Jahre nacheinander: pflanzen Sie, säen Sie, graben Sie den Boden um und gönnen Sie sich keinen Augenblick Ruhe. Es ist wohl schwer. Wenn Sie aber den Boden ordentlich aufgerüttelt haben und er Ihnen selbst zu Hilfe kommt, so ist das etwas ganz anderes als ein . . . nein, Väterchen; bei Ihnen werden dann außer Ihren siebzig Arbeitshänden noch andere siebenhundert unsichtbare Hände mitarbeiten. Alles verzehnfacht sich. Bei mir braucht man jetzt keinen Finger zu rühren, alles geschieht ganz von selbst. Ja, die Natur liebt die Geduld: das ist ein Gesetz, das ihr der Schöpfer selbst gegeben hat, der die Geduldigen segnet.«
»Wenn man Ihnen zuhört, fühlt man den Zufluß neuer Kräfte. Es ist so erhebend für den Geist.«
»Sehen Sie nur, wie das Land gepflügt ist!« rief Kostanschoglo schmerzlich aus, auf den Abhang zeigend. »Ich kann hier nicht länger bleiben: eine solche Unordnung und Verwahrlosung zu sehen, ist für mich der Tod. Sie können mit ihm auch ohne mich handelseinig werden. Nehmen Sie diesem Dummkopf seinen Schatz so schnell als möglich ab. Er schändet nur die Gabe Gottes.« Nach diesen Worten nahm Kostanschoglo in düsterer und galliger Gemütsverfassung von Tschitschikow Abschied, holte dann Chlobujew ein und begann sich auch von ihm zu verabschieden.
»Ich bitte Sie, Konstantin Fjodorowitsch,« sagte jener erstaunt, »Sie sind erst eben gekommen und wollen schon wieder fort!«
»Es geht nicht anders. Ich muß dringend nach Hause«, sagte Kostanschoglo. Er verabschiedete sich, setzte sich in seinen Wagen und fuhr davon.
Chlobujew hatte anscheinend den Grund erraten, warum er ihn verließ.
»Konstantin Fjodorowitsch hat es nicht aushalten können«, sagte er. »Für einen solchen Landwirt ist es wirklich keine Freude, eine so liederliche Wirtschaft zu sehen. Glauben Sie mir, Pawel Iwanowitsch, ich habe in diesem Jahre nicht einmal Roggen gesät. Mein Ehrenwort! Ich hatte kein Saatgut, ganz abgesehen davon, daß ich weder Pflug noch Pferde habe. Ihr Bruder soll ein vortrefflicher Landwirt sein, Platon Michailowitsch; von Konstantin Fjodorowitsch gar nicht zu reden: er ist ein Napoleon in seinem Fach! Gar oft frage ich mich: warum wird einem einzigen Kopf soviel Verstand verliehen? Wäre doch nur ein Tropfen von seinem Verstand für meinen dummen Kopf geblieben! Hier auf der Brücke müssen Sie sich in acht nehmen, meine Herren, um nicht in die Pfütze zu plumpsen. Ich hatte im Frühjahr befohlen, die Bretter auszubessern . . . Am meisten tun mir die armen Bauern leid: sie brauchen ein gutes Vorbild, aber was können sie von mir lernen? Was soll ich machen? Nehmen Sie sie doch unter Ihre Obhut, Pawel Iwanowitsch. Wie soll ich sie an Ordnung gewöhnen, wenn ich selbst so unordentlich bin? Ich hätte sie schon längst freigelassen, aber auch das würde zu nichts führen. Ich sehe ja, daß man sie erst so weit bringen muß, daß sie leben können. Sie brauchen einen strengen und gerechten Herrn, der mit ihnen lange zusammenlebt und durch das eigene Beispiel einer unermüdlichen Tätigkeit . . . Der Russe kann, wie ich es an mir selbst sehe, nicht ohne einen Antreiber auskommen: sonst schläft er ein und versauert.«
»Seltsam,« sagte Platonow, »warum ist der Russe so geneigt, einzuschlafen und zu versauern, daß, wenn man den einfachen Mann nicht beaufsichtigt, er ein Taugenichts und Säufer wird?«
»Aus Mangel an Aufklärung«, bemerkte Tschitschikow.
»Gott allein weiß, woher das kommt. Wir zum Beispiel sind aufgeklärte Menschen, haben auf der Universität Vorlesungen gehört, doch wozu taugen wir? Was habe ich gelernt? Ich habe nicht nur nicht gelernt, ordentlich zu leben, sondern mir im Gegenteil die Kunst angeeignet, möglichst viel Geld für allerhand Raffinement und Komfort auszugeben; ich habe hauptsächlich solche Dinge kennengelernt, die Geld kosten. Kommt das daher, weil ich schlecht lernte? – Nein, ich lernte nicht schlechter als meine Kollegen. Zwei oder drei von ihnen haben aus dem Studium Nutzen gezogen, und das vielleicht auch nur darum, weil sie ohnehin kluge Menschen waren; die anderen suchen aber nur solche Dinge kennenzulernen, die die Gesundheit schädigen und einem Geld aus der Tasche locken. Bei Gott! Ich glaube nämlich folgendes: zuweilen scheint es mir fast, daß der Russe ein verlorener Mensch ist. Er will alles machen und kann nichts. Wir nehmen uns jeden Tag vor, morgen ein neues Leben zu beginnen und eine strenge Diät einzuführen; aber gefehlt: am Abend des gleichen Tages frißt man sich so voll, daß man nur noch träge Augenlider auf- und zuklappt und die Zunge nicht mehr bewegen kann – wie eine Eule sitzt man da und starrt die anderen Leute an – wahrhaftig! Und so sind alle.«
»Ja,« sagte Tschitschikow lächelnd, »so was kommt vor.«
»Wir sind nicht für die Vernunft geboren. Ich glaube nicht, daß einer von uns vernünftig sein könnte. Wenn ich sogar sehe, daß jemand ordentlich lebt und Geld verdient und zurücklegt, so traue ich dem nicht. Wenn der mal alt wird, so unterliegt auch er der Versuchung und bringt zuletzt alles auf einmal durch. Und so sind wir wirklich alle: die Gebildeten wie die Ungebildeten. Nein, es fehlt uns etwas anderes, aber was, das weiß ich selbst nicht zu sagen.«
Auf dem Rückwege boten sich ihnen die gleichen Bilder. Schmutz und Unordnung grinsten häßlich aus allen Dingen. Es war nur eine neue Pfütze mitten in der Straße hinzugekommen. Alles war vernachlässigt und verwahrlost, wie bei dem Besitzer, so auch bei den Bauern. Ein böses Bauernweib in einem fettigen groben Rock hatte ein armes kleines Mädchen halbtot geprügelt und schimpfte nun ganz abscheulich auf jemand in dritter Person, indem sie alle Teufel anrief. Zwei Bauern standen in einiger Entfernung und sahen mit stoischem Gleichmut dem Wüten des betrunkenen Weibes zu. Der eine kratzte sich die untere Rückenpartie, und der andere gähnte. Das gleiche Gähnen sah man auch an allen Bauten; auch die Dächer gähnten. Bei diesem Anblick mußte auch Platonow gähnen. Ein Flicken auf dem anderen. Auf einem der Bauernhäuser lag statt des Daches ein ganzes Tor; die eingefallenen Fenster waren von Stangen gestützt, die man aus der herrschaftlichen Scheune gestohlen hatte. Offenbar herrschte in dieser Wirtschaft das System von »Trischkas Kaftan« man schnitt die Aufschläge und die Schöße ab, um die Ellenbogen zu flicken.
»Ja, Ihre Wirtschaft befindet sich in einem wenig beneidenswerten Zustande«, sagte Tschitschikow, als sie nach Besichtigung vor dem . . . anlangten. In den Zimmern mußten sie über die merkwürdige Mischung von Armut mit dem glänzenden Firlefanz eines späten Luxus staunen. Auf dem Tintenfaß saß irgendein Shakespeare; auf dem Tische lag ein elegantes Elfenbeininstrument, mit dem man sich selbst den Rücken kratzen konnte. Die Hausfrau war mit Geschmack und nach der Mode gekleidet und sprach von der Stadt und vom Theater, das dort eben gegründet worden war. Die Kinder waren lebhaft und lustig. Die Knaben und die Mädchen waren sehr schön gekleidet – nett und mit Geschmack. Es wäre besser, wenn sie bunte hausgewebte Röckchen und einfache Hemdchen anhätten und im Hofe herumliefen, ohne sich irgendwie von den Bauernkindern zu unterscheiden. Die Hausfrau bekam bald Besuch von einer sehr geschwätzigen Dame und zog sich mit ihr in ihr Zimmer zurück. Die Kinder folgten ihnen. Die Männer blieben allein.
»Was wäre also Ihr Preis?« fragte Tschitschikow. »Offen gestanden, stelle ich diese Frage, um den alleräußersten Preis zu erfahren, denn das Gut ist in einem viel schlechteren Zustande, als ich es erwartet hatte.«
»Im allerschlechtesten Zustande, Pawel Iwanowitsch«, sagte Chlobujew. »Und das ist noch nicht alles. Ich werde es Ihnen nicht verheimlichen: von den hundert Seelen, die auf der Revisionsliste stehen, sind nur fünfzig am Leben. So furchtbar hat bei uns die Cholera gewütet; die übrigen sind ohne Paß entlaufen, so daß man sie auch zu den Toten zählen kann: wenn man sie mit Hilfe der Gerichte suchen wollte, so würden die Kosten das ganze Gut verschlingen. Darum verlange ich auch nur fünfunddreißigtausend.«
Tschitschikow versuchte natürlich zu handeln.
»Erlauben Sie doch, wie können Sie fünfunddreißigtausend verlangen? Für so etwas fünfunddreißigtausend Rubel! Ich biete Ihnen fünfundzwanzig.«
Platonow mußte sich genieren. »Kaufen Sie es doch, Pawel Iwanowitsch«, sagte er. »Für das Gut kann man immer noch diesen Preis bezahlen. Wenn Sie die fünfunddreißigtausend nicht geben wollen, so werde ich es gemeinsam mit meinem Bruder kaufen.«
»Sehr schön, einverstanden«, sagte Tschitschikow erschrocken. »Sehr schön, doch unter der Bedingung, daß ich die Hälfte des Kaufpreises erst nach einem Jahre erlege.«
»Nein, Pawel Iwanowitsch! Das geht wirklich nicht. Die Hälfte zahlen Sie mir gleich und den Rest nach . . . Den gleichen Betrag könnte ich ja auch von der Leihkasse bekommen: wenn ich nur so viel hätte, um . . .«
»Ja, wie soll ich das nur machen?« sagte Tschitschikow. »Ich habe im ganzen nur zehntausend Rubel.« Es war eine Lüge: er hatte mit dem Geld, das ihm Kostanschoglo geliehen, zwanzigtausend: er konnte es aber nicht übers Herz bringen, eine solche Summe auf einmal zu bezahlen.
»Nein, ich bitte Sie, Pawel Iwanowitsch! Ich sage Ihnen ja, daß ich fünfzehntausend jetzt gleich brauche.«
»Ich will Ihnen fünftausend Rubel leihen«, fiel ihm Platonow ins Wort.
»Das wäre auch die einzige Möglichkeit!« sagte Tschitschikow und dachte sich dabei: – Das kommt doch sehr gelegen, daß er das Geld leihen will! – Man brachte aus dem Wagen die Schatulle, und Tschitschikow holte aus ihr die zehntausend Rubel für Chlobujew heraus. Den Rest von fünftausend Rubel versprach er ihm morgen zu bringen; d. h. er versprach es nur, hatte aber die Absicht, nur dreitausend zu bringen, den Rest aber später, nach zwei oder drei Tagen; wenn möglich, wollte er die Zahlung noch länger hinausschieben. Pawel Iwanowitsch gab so ungern Geld aus der Hand! Und selbst wenn er sich um eine Bezahlung unmöglich drücken konnte, so schien es ihm immer noch besser, das Geld morgen und nicht heute zu erlegen. Mit anderen Worten, er machte es genau so wie wir alle. Wir lassen doch so gern einen Bittsteller warten: soll er sich nur seinen Rücken an der Wand im Vorzimmer abreiben! Als ob er nicht etwas warten könnte! Was kümmert es uns, daß ihm vielleicht jede Stunde teuer ist und daß seine Geschäfte deswegen leiden! Komm morgen, mein Lieber, heute habe ich keine Zeit.
»Und wo gedenken Sie nach dem Verkauf zu wohnen?« fragte Platonow Chlobujew. »Haben Sie noch ein anderes Gut?«
»Ich muß eben in die Stadt ziehen, dort habe ich ein Häuschen. Das müßte ich auch ohnehin tun, nicht für mich, sondern für meine Kinder: sie brauchen Lehrer für Religion, Musik und Tanzen. Das kann man sich auf dem Lande für kein Geld leisten.«
– Er hat kein Stück Brot und will seinen Kindern Tanzunterricht geben! – dachte sich Tschitschikow.
– Seltsam! – dachte sich Platonow.
»Man muß das Geschäft doch begießen«, sagte Chlobujew. »He, Kirjuschka! Bring mal eine Flasche Champagner her, mein Bester!«
– Er hat kein Stück Brot, hat aber Champagner, – dachte sich Tschitschikow.
Platonow wußte aber gar nicht, was er sich denken sollte.
Den Champagner hatte Chlobujew nur aus Not angeschafft. Er hatte in die Stadt geschickt: was ist zu machen? der Krämer will keinen Kwas auf Pump geben. Aber der französische Weinhändler, der vor kurzem aus Petersburg gekommen war, gab allen auf Pump. Es war nichts zu machen, er mußte eine Flasche Champagner nehmen.
Der Champagner wurde aufgetragen. Sie tranken je drei Glas und gerieten in eine lustige Stimmung. Chlobujew taute auf: er wurde plötzlich so nett und geistreich und schüttete Witze und Anekdoten nur so aus dem Ärmel. Seine Reden zeugten von einer großen Welt- und Menschenkenntnis! So gut und richtig beurteilte er viele Dinge, so treffend und geschickt zeichnete er mit wenigen Worten die Gutsbesitzer in der Nachbarschaft, so klar sah er alle ihre Mängel und Fehler, so genau kannte er die Geschichte aller heruntergekommenen Gutsbesitzer und wußte, warum und auf welche Weise ein jeder von ihnen sich ruiniert hatte; so originell und komisch wußte er von ihren kleinen Gewohnheiten zu erzählen, daß beide Gäste von seinen Worten ganz bezaubert waren; sie wären sogar bereit, ihn für den klügsten Menschen zu erklären.
»Ich muß mich nur wundern,« sagte Tschitschikow, »wie Sie bei Ihrer Klugheit keine Mittel finden, um aus der Klemme zu kommen.«
»Mittel habe ich wohl,« sagte Chlobujew und kramte vor ihnen sofort einen ganzen Haufen von Projekten aus. Alle waren aber dermaßen unsinnig und seltsam und verrieten so wenig Welt- und Menschenkenntnis, daß man nur die Achseln zucken und sagen konnte: »Gott! Wie wenig hat doch die Weltkenntnis mit der Kunst, sie auszunutzen, zu tun!« Alle seine Projekte beruhten auf der Notwendigkeit, sofort irgendwo hundert- oder zweihunderttausend Rubel zu beschaffen. Dann, glaubte er, würde sich alles ordnen, die Wirtschaft würde in Gang kommen, alle Löcher würden verstopft werden, die Einkünfte sich vervierfachen, und er würde alle seine Schulden bezahlen können. Er schloß seine Rede mit folgenden Worten: »Was soll ich aber machen? Ich finde doch nie den Wohltäter, der sich entschließen würde, mir zweihundert- oder wenigstens hunderttausend Rubel zu leihen. Gott will es wohl nicht haben.«
– Ja, natürlich! – dachte sich Tschitschikow, – einem solchen Dummkopf soll Gott zweihunderttausend Rubel zuschicken! –
»Ich habe allerdings eine Tante mit drei Millionen,« sagte Chlobujew, »eine fromme Alte: sie gibt viel für Kirchen und Klöster; wenn es aber gilt, einem zu helfen, so ist ihr schwer beizukommen. Es ist ein Tantchen aus der guten alten Zeit, es lohnt sich schon, sie anzusehen. Sie hat allein an die vierhundert Kanarienvögel, dazu Möpse, Gesellschafterinnen und Dienstboten, wie man sie heute nicht mehr findet. Der jüngste ihrer Diener ist an die sechzig Jahre alt, sie ruft ihn aber nicht anders als: ›He, Bursche!‹ Wenn ein Gast sich nicht so benimmt, wie es ihr paßt, so läßt sie beim Mittagessen die Schüssel an ihm vorbeitragen, und die Diener tun das auch. Ja, so ist sie!«
Platonow lächelte.
»Und wie ist ihr Familiennamen und wo wohnt sie?« fragte Tschitschikow.
»Sie wohnt in unserer Stadt und heißt Alexandra Iwanowna Chanassarowa.«
»Warum wenden Sie sich nicht an sie?« fragte Platonow teilnehmend. »Mir scheint, wenn sie sich in die Lage Ihrer Familie versetzte, könnte sie es Ihnen nicht abschlagen.«
»O nein, das kann sie! Tantchen hat eine kräftige Natur. Sie ist eine steinharte Alte, Platon Michailowitsch! Außerdem sind auch ohne mich genug Liebhaber da, die sie umschmeicheln. Da ist sogar einer, der Gouverneur werden will: auch der gibt sich für ihren Verwandten aus ... Tu mir den Gefallen,« wandte er sich plötzlich an Platonow, »in der nächsten Woche gebe ich ein Diner für die Vertreter aller städtischen Stände ...«
Platonow riß die Augen auf. Er wußte noch nicht, daß es in Rußland, in den Städten und Residenzen solche Weisen gibt, deren Leben ein unauflösliches Rätsel ist. So ein Mensch hat sein ganzes Vermögen durchgebracht, steckt tief in Schulden, hat nicht einen Pfennig Einkommen, gibt aber ein Diner: und alle Teilnehmer sagen, daß es sein letztes Diner sei und daß man den Hausherrn schon am nächsten Tag ins Gefängnis abführen werde. Es vergehen aber zehn Jahre, der Weise lebt noch immer in Freiheit, steckt noch tiefer in Schulden, gibt immer wieder ein Diner, und die Teilnehmer sind überzeugt, daß es das letzte sei und daß man den Gastgeber morgen ins Gefängnis abführen werde.
Das Haus Chlobujews in der Stadt stellte eine sehr merkwürdige Erscheinung dar. Heute zelebrierte darin ein Pope im Ornat einen Gottesdienst, und morgen hielten französische Schauspieler eine Probe ab. Manchmal war darin kein Krümchen Brot zu finden, aber am nächsten Tag gab es einen Empfang für alle Schauspieler und Künstler, die aufs gastfreundlichste bewirtet und beschenkt wurden. Es gab auch schwere Zeiten, wo sich ein anderer an seiner Stelle erhängt oder erschossen hätte; ihn rettete aber seine Religiosität, die sich in ihm merkwürdigerweise mit der Liederlichkeit seiner Lebensweise vertrug. In solchen schweren Stunden las er die Lebensgeschichten von Märtyrern und Heiligen, die ihren Geist erzogen, sich über jedes Ungemach zu erheben. Dann wurde seine Seele ganz weich, ihn überkam eine tiefe Rührung, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er betete, und seltsam! – fast immer kam dann eine unerwartete Hilfe: entweder erinnerte sich seiner jemand von seinen alten Freunden und schickte ihm Geld; oder eine zugereiste, fremde Dame, die zufällig seine Geschichte hörte, schickte ihm in einer plötzlichen Regung ihres Herzens ein reiches Geschenk; oder er gewann einen Prozeß, von dem er selbst noch nie etwas gehört hatte. Andächtig erkannte er dann die grenzenlose Barmherzigkeit der Vorsehung, ließ einen Dankgottesdienst abhalten und kehrte zu seinem liederlichen Lebenswandel zurück.
»Er tut mir leid, er tut mir wirklich leid«, sagte Platonow zu Tschitschikow, als sie von Chlobujew Abschied genommen hatten und sein Gut verließen.
»Ein verlorener Sohn!« sagte Tschitschikow. »Mit solchen Menschen soll man nicht Mitleid haben.«
Bald dachten sie nicht mehr an ihn: Platonow, weil er die Lage der Menschen mit ebenso trägen und verschlafenen Augen betrachtete, wie alles in der Welt. Sein Herz krampfte sich wohl zusammen, wenn er fremde Leiden sah, doch der Eindruck drang niemals tief in seine Seele. Schon nach einigen Minuten dachte er nicht mehr an Chlobujew. Er dachte nicht an ihn, weil er auch an sich selbst nicht dachte; Tschitschikow dachte aber nicht an Chlobujew, weil seine Gedanken ganz ernsthaft mit dem eben abgeschlossenen Kauf beschäftigt waren. Jedenfalls wurde er jetzt, wo er plötzlich kein phantastischer, sondern ein wahrer und echter Besitzer eines durchaus nicht phantastischen Gutes geworden war, nachdenklich, seine Gedanken und Absichten waren solider geworden und verliehen auch seinem Gesicht unwillkürlich einen bedeutenden Ausdruck. – Geduld, Arbeit! Die sind nicht so schwer: ich habe sie ja schon als Wickelkind kennengelernt. Mir bedeuten sie nichts Neues. Werde ich aber jetzt, in diesem Alter, so viel Geduld aufbringen können wie in der Jugend? – Von welcher Seite er den abgeschlossenen Kauf auch betrachtete, er sah, daß das Geschäft in jedem Falle sehr vorteilhaft war. Er konnte zuvor die besseren Parzellen verkaufen und dann auf den Rest eine Hypothek aufnehmen. Er konnte es auch so machen: das Gut selbst verwalten und ein Landwirt von der Art Kostanschoglos werden, wobei ihm die Ratschläge dieses Nachbarn und Wohltäters zugute kämen. Er konnte auch das Gut weiter verkaufen (natürlich nur, wenn er keine Lust hätte, es selbst zu bewirtschaften) und sich die Flüchtigen und Toten behalten. In diesem Falle bot sich ihm auch noch ein anderer Vorteil: er könnte diese Gegend verlassen und Kostanschoglo das entliehene Geld nicht zurückzahlen. Ein seltsamer Gedanke! Man kann nicht sagen, daß Tschitschikow ihn selbst gefaßt hätte – nein, er stand wie von selbst vor ihm da, ihn neckend, ihm zulächelnd und zublinzelnd. Dieser verführerische, liederliche Gedanke! Wer ist der Schöpfer solcher plötzlich über uns kommenden Gedanken? ... Er empfand eine Freude, die Freude, daß er nun ein Gutsbesitzer sei – kein phantastischer, sondern ein wirklicher Gutsbesitzer, der Ländereien und Leibeigene besaß, und zwar keine imaginären, bloß in der Phantasie existierenden, sondern wirkliche Leibeigene. Und er fing allmählich an, auf seinem Platze zu hüpfen, sich die Hände zu reiben, sich selbst zuzublinzeln; er führte die zusammengeballte Hand wie eine Trompete an die Lippen und blies einen Marsch; er richtete sogar laut an sich selbst einige ermunternde Worte und nannte sich »Schnäuzchen« und »Kapaunchen«. Aber er besann sich; daß er nicht allein war, wurde plötzlich still und bemühte sich, den maßlosen Ausdruck der Begeisterung zu unterdrücken; als Platonow, der einige von diesen Tönen für an ihn gerichtete Worte hielt, ihn fragte: »Wie?«, antwortete er: »Nichts.«
Jetzt erst sah er sich um und stellte fest, daß sie schon längst durch ein hübsches Gehölz fuhren; eine schöne Mauer von Birken zog sich rechts und links hin. Die weißen Stämme der Birken und Espen leuchteten wie ein schneeweißer Staketenzaun und hoben sich schlank und leicht vom zarten Grün der erst vor kurzem aufgegangenen Blätter ab. Die Nachtigallen schmetterten um die Wette aus dem Dickicht. Im Grase leuchteten gelbe Waldtulpen. Er konnte gar nicht begreifen, wie er so plötzlich an diesen herrlichen Ort gelangt war, wo er doch soeben erst offene Felder um sich gesehen hatte. Zwischen den Bäumen leuchtete eine weiße steinerne Kirche auf; und am anderen Ende zeigte sich ein Gitter. Am Ende der Straße wurde ein Herr in einer Mütze mit einem Knotenstock in der Hand sichtbar. Er ging ihnen entgegen, und ein englischer Hund auf langen dünnen Beinen lief vor ihm her.
»Das ist ja mein Bruder«, sagte Platonow. »Kutscher, halt!« Er stieg aus dem Wagen. Tschitschikow tat dasselbe. Die Hunde hatten schon einander begrüßt. Der dünnbeinige, schnelle Asor leckte den Jarb mit seiner schnellen Zunge die Schnauze; dann leckte er Platonow die Hand und sprang an Tschitschikow in die Höhe und leckte ihm das Ohr.
Die Brüder umarmten sich.
»Ich bitte dich, Platon, was stellst du an?« fragte der Bruder, den man Wassilij nannte.
»Was habe ich denn angestellt?« entgegnete Platon gleichgültig.
»Was ist denn das? Seit drei Tagen höre ich nichts von dir. Der Stallknecht hat deinen Hengst von Pjetuch heimgebracht und gesagt: ›Er ist mit irgendeinem Herrn weggefahren.‹ Hättest du mir doch nur ein Wort gesagt, wohin, wozu und auf wie lange! Ich bitte dich, Bruder, benimmt man sich so? Ich habe mir in diesen drei Tagen Gott weiß was für Gedanken gemacht!«
»Was soll ich machen? Ich habe es vergessen«, sagte Plantonow. »Wir waren bei Konstantin Fjodorowitsch eingekehrt: er läßt dich grüßen, die Schwester ebenfalls. Pawel Iwanowitsch, ich will Ihnen meinen Bruder Wassilij vorstellen. – Bruder Wassilij, das ist Pawel Iwanowitsch Tschitschikow.«
Die beiden leisteten der Aufforderung, sich kennenzulernen, Folge: sie drückten einander die Hand, nahmen die Mützen ab und küßten sich.
– Wer mag wohl dieser Tschitschikow sein? – dachte sich Bruder Wassilij. – Bruder Platon ist in seinen Bekanntschaften so gar nicht wählerisch. – Er musterte Tschitschikow, soweit es der Anstand erlaubte, und sah, daß es ein seinem Äußeren nach höchst ehrbarer Mensch war.
Auch Tschitschikow musterte seinerseits, soweit es der Anstand erlaubte, den Bruder Wassilij und stellte fest, daß er etwas kleiner, dunkelhaariger und viel weniger hübsch war als Platon, daß aber seine Gesichtszüge viel mehr Leben, Begeisterung und Herzensgüte zeigten. Es war ihm anzusehen, daß er nicht so verschlafen war wie sein Bruder. Dieser Umstand interessierte aber unseren Pawel Iwanowitsch recht wenig.
»Wassilij, ich habe mich entschlossen, mit Pawel Iwanowitsch eine kleine Reise durch das heilige Rußland zu machen. Vielleicht wird das meine ewige Langweile zerstreuen.«
»Wie hast du dich so plötzlich entschließen können?« sagte Bruder Wassilij ganz bestürzt; beinahe hätte er noch gesagt: – Und dazu noch mit einem Menschen, den du zum erstenmal in deinem Leben siehst, der vielleicht ein Schuft und weiß der Teufel was ist! – Er schielte mißtrauisch nach Tschitschikow und sah wieder ein erstaunlich ehrbares Gesicht.
Sie traten rechts in ein Tor. Der Hof war alt; auch das Haus war alt, wie man sie heute nicht mehr baut: es hatte ein hohes Giebeldach mit seitlichen Vorsprüngen. In der Mitte des Hofes erhoben sich zwei mächtige Linden, die ihn fast ganz mit ihrem Schatten bedeckten. Unter ihnen standen zahlreiche Holzbänke. Blühende Flieder- und Faulbeerbüsche umgaben den Hof wie ein Perlenhalsband zugleich mit dem Zaune, der unter ihren Blüten und Blättern ganz verschwand. Auch das Herrenhaus war ganz von den Bäumen verdeckt, nur die Türen und Fenster blickten freundlich zwischen den Ästen hervor. Durch die pfeilgeraden Baumstämme sah man die weißen Küchen, Keller und Vorratskammern schimmern. Alles befand sich mitten im Gehölz. Die Nachtigallen schlugen laut und erfüllten das ganze Gehölz mit ihrem Gesang. Unwillkürlich wurde das Herz von einem angenehmen und sorglosen Gefühl umfangen. Alles erinnerte an jene sorglosen Zeiten, als das Leben noch so gutmütig und einfach war. Bruder Wassilij forderte Tschitschikow auf, Platz zu nehmen. Sie setzten sich auf die Bänke unter den Linden.
Ein etwa siebzehnjähriger Bursche in einem hübschen rosa Kattunhemd stellte vor ihnen Karaffen mit Fruchtwässern aller Farben und aller Sorten auf; die einen waren dick wie Öl, die anderen schäumten wie Brauselimonade. Nachdem er die Karaffen aufgestellt hatte, griff er nach einem Spaten, der an einem Baum lehnte, und ging in den Garten. Die Brüder Platonow hatten genau so wie ihr Schwager Kostanschoglo keine eigentlichen Dienstboten: alle waren Gärtner, und das ganze Gesinde mußte dieses Amt der Reihe nach versehen. Bruder Wassilij behauptete immer, die Dienstboten stellten keinen eigenen Stand dar: ein Tablett hereinbringen könne ein jeder, und es lohne sich nicht, dazu besondere Leute zu halten; der Russe sei nur so lange ordentlich, geschickt und kein Faulenzer, als er ein Hemd und einen Bauernmantel trage; sobald er aber einen deutschen Rock anziehe, werde er sofort plump, ungeschickt und ein Faulenzer; er wechsle sein Hemd nicht mehr, gehe nicht mehr ins Bad, schlafe in seinem Rock und züchte unter seinem deutschen Rock eine Menge von Wanzen und Flöhen. Vielleicht hatte er auch recht. Auf dem Gute, das ihm und seinem Bruder gehörte, kleideten sich die Bauern besonders schön: der Kopfputz der Weiber war reich mit Gold besetzt, und die Ärmel ihrer Hemden glichen auf ein Haar den Rändern von türkischen Schals. »Diese Fruchtwässer sind schon seit langer Zeit ein Ruhm unseres Hauses«, sagte Bruder Wassilij.
Tschitschikow schenkte sich ein Glas aus der ersten Karaffe ein: es schmeckte genau wie jener Lindenmet, den er einst in Polen getrunken hatte: es schäumte wie Champagner, und das Gas schoß angenehm aus dem Munde in die Nase. »Wie Nektar!« sagte er. Dann kostete er ein Glas aus einer anderen Karaffe – das schmeckte noch besser.
»Das Getränk der Getränke!« sagte Tschitschikow. »Ich kann wohl sagen, bei Ihrem verehrten Schwager Konstantin Fjodorowitsch habe ich den besten Likör getrunken, bei Ihnen aber das beste Fruchtwasser.«
»Sein Likör stammt ja auch aus unserer Familie: unsere Schwester hat ihn eingeführt. Und nach welcher Richtung und in was für Gegenden gedenken Sie zu fahren?« fragte Bruder Wassilij.
»Ich fahre«, sagte Tschitschikow, sich auf der Bank leicht hin und herwiegend und sich mit der Hand über das Knie streichend, »weniger in eigenen Geschäften als in einer fremden Angelegenheit. Der General Betrischtschew, mein naher Freund und, ich darf wohl sagen, Wohltäter, bat mich, seine Verwandten zu besuchen. Verwandte hin, Verwandte her, doch ich fahre auch sozusagen in meinem eigenen Interesse; ganz abgesehen vom Nutzen im Hinblick auf die Hämorrhoiden, ist die Bekanntschaft mit der Welt und dem Strudel der Menschen sozusagen ein lebendiges Buch, eine eigene Wissenschaft.«
Bruder Wassilij wurde nachdenklich. Er dachte sich: – Der Mensch redet etwas geschraubt, aber in seinen Worten steckt auch Wahrheit. – Er schwieg eine Weile und wandte sich dann an Platon: »Ich fange zu glauben an, Platon, diese Reise könnte dich wirklich aufrütteln. Du leidest nur an einer seelischen Schlafsucht. Du bist einfach eingeschlafen, und zwar nicht aus Übersättigung oder Ermüdung, sondern aus Mangel an lebendigen Eindrücken und Empfindungen. Mir geht es gerade umgekehrt. Wie gern möchte ich weniger stark empfinden und mir die Dinge nicht so sehr zu Herzen nehmen!«
»Wer zwingt dich auch, alles so zu Herzen zu nehmen?« entgegnete Platon. »Du suchst selbst Aufregungen und erfindest dir selbst Sorgen.«
»Was braucht man sie noch zu erfinden, wenn man auch ohnehin auf Schritt und Tritt nichts als Unannehmlichkeiten hat?« sagte Wassilij. »Hast du gehört, was für einen Streich uns Ljenizyn in deiner Abwesenheit gespielt hat? – Er hat sich das unbebaute Stück Land, auf dem unsere Bauern den Sonntag nach Ostern feiern, einfach angeeignet. Erstens würde ich dieses Stück für kein Geld hergeben ... Meine Bauern feiern hier jedes Frühjahr ihr Fest, und mit dieser Stelle sind die schönsten Erinnerungen des Dorfes verbunden; mir ist aber jeder alte Brauch etwas Heiliges, und ich würde für ihn alles opfern.«
»Er wußte es wohl nicht, daß es uns gehört«, sagte Platon. »Der Mann ist ganz neu hier, kommt eben aus Petersburg; man müßte es ihm erklären.«
»Er weiß es sehr genau. Ich habe es ihm sagen lassen. Er aber hat mit einer Grobheit geantwortet.«
»Du müßtest eben selbst hinfahren und es ihm klarmachen. Sprich doch mit ihm selbst.«
»Nein, fällt mir nicht ein. Er tut viel zu stolz. Ich fahre zu ihm nicht hin. Fahr du zu ihm, wenn du Lust hast.«
»Ich würde schon hinfahren, aber ich mische mich nicht in Geschäfte ... Er kann mich ja auch anführen und betrügen.«
»Wenn Sie wünschen, so fahre ich zu ihm hin«, sagte Tschitschikow. »Erklären Sie mir nur den Sachverhalt.«
Wassilij blickte ihn an und dachte sich: – Wie gerne er doch herumfährt! –
»Erklären Sie mir nur, was er für ein Mensch ist,« sagte Tschitschikow, »und worum es sich handelt.« »Ich müßte mich genieren, Sie mit einem so unangenehmen Auftrag zu belästigen. Meiner Ansicht nach ist er ein Schuft: er stammt aus dem einfachen landarmen Adel unseres Gouvernements, hat in Petersburg Karriere gemacht, indem er dort die natürliche Tochter von irgend jemand geheiratet hat, und tut jetzt so stolz. Er will den Ton angeben. Unsere Leute sind aber nicht so dumm: die Mode ist für uns kein Gesetz und Petersburg keine Kirche.«
»Gewiß!« sagte Tschitschikow. »Worum handelt es sich aber?«
»Sehen Sie: er braucht wirklich das Land. Hätte er sich anders benommen, so hätte ich ihm gerne ein Stück Land an einer anderen Stelle geschenkt ... Jetzt könnte aber dieser händelsüchtige Mensch noch glauben ...«
»Ich meine, daß es immer besser ist, sich mit ihm zu verständigen: vielleicht ist die Sache ... Man hat mich schon mit manchen Aufträgen betraut und es nachher niemals bereut ... Auch der General Betrischtschew ...«
»Aber es ist mir peinlich, daß Sie mit einem solchen Menschen werden sprechen müssen . . .«
»... und sich besondere Mühe geben, daß die Sache geheimbleibt,« sagte Tschitschikow, »denn das Verbrechen selbst ist weniger schädlich, als das Ärgernis, das dadurch gegeben wird ...«
»Das stimmt, das stimmt«, sagte Ljenizyn, den Kopf ganz auf die Seite geneigt.
»Wie angenehm, einem Gleichgesinnten zu begegnen!« sagte Tschitschikow. »Ich habe eine Sache, die zugleich gesetzlich und ungesetzlich ist: von außen besehen, ist sie ungesetzlich, und ihrem Wesen nach gesetzlich. Ich brauche eine Hypothek, will aber niemand das Risiko aufbürden, zwei Rubel Steuer für die lebendige Seele zu zahlen. Ich kann ja, Gott behüte, Bankrott machen, und das wird dem Besitzer unangenehm sein. Darum habe ich mich entschlossen, mir die Toten und Flüchtigen, die in den Revisionslisten noch nicht gestrichen sind, zunutze zu machen, um zugleich auch ein Werk der christlichen Nächstenliebe zu tun und die armen Besitzer von der Notwendigkeit, für sie die Steuern zu entrichten, zu befreien. Wir wollen nur unter uns in aller Form einen Kaufvertrag abschließen, als ob die Seelen noch lebten.«
– Es ist doch eine höchst eigentümliche Sache! – dachte sich Ljenizyn und rückte mit seinem Stuhl etwas zurück. »Das Geschäft ist aber derartig ...« begann er.
»Es wird kein Ärgernis geben, weil alles geheim abgemacht wird,« sagte Tschitschikow, »und dabei unter anständigen Leuten ...«
»Die Sache ist aber doch immerhin irgendwie ...«
»Nicht das geringste Ärgernis!« entgegnete Tschitschikow sehr offen. »Das Geschäft wird, wie wir eben besprochen haben, zwischen anständigen Leuten reiferen Alters und in achtbarer Position abgeschlossen, dazu auch noch geheim.« Als er das sagte, blickte er ihm offen und treuherzig in die Augen. Wie gerieben Ljenizyn auch war, wie gut er Bescheid in allen Geschäftsformalitäten wußte – hier stand er auf einmal ganz ratlos da, um so mehr, als er sich auf eine eigentümliche Weise in sein eigenes Netz verstrickt hatte. Er war gar keiner unehrlichen Handlung fähig und wollte selbst in der Tiefe seiner Seele nichts Ungesetzmäßiges begehen. – Ist das ein schwieriger Fall! – dachte er sich. – Da soll man sich noch mit anständigen Menschen befreunden! Eine schwierige Sache! –
Das Schicksal und die Umstände waren aber Tschitschikow günstig. Wie um ihm in dieser schwierigen Sache zu helfen, trat die junge Gattin Ljenizyns ins Zimmer, eine blasse, schmächtige, kleingewachsene, nach Petersburger Mode gekleidete Dame, eine große Freundin von Menschen »comme il faut«. Ihr folgte die Amme mit dem erstgeborenen Söhnchen, der Frucht der zärtlichen Liebe der jungen Ehegatten, im Arm. Tschitschikow ging ihr hüpfend und den Kopf auf die Seite geneigt entgegen, wodurch er die Petersburger Dame und dann auch den Säugling völlig bezauberte. Das Kind fing erst zu heulen an, aber Tschitschikow brachte es fertig, es durch die Worte: »Ei, ei, Herzchen«, durch geschicktes Fingerschnalzen und durch die Schönheit eines Karneolsiegels, das er an der Uhrkette trug, in seine Arme zu locken. Dann hob er es bis zur Decke und entlockte dem Kind ein freundliches Lächeln, das die Eltern entzückte. Doch infolge dieser plötzlichen Freude oder aus einem anderen Grunde verübte das Kind plötzlich eine gewisse Ungezogenheit.
»Ach, mein Gott!« rief Frau Ljenizyna. »Er hat Ihnen den ganzen Frack verdorben!«
Tschitschikow sah hin: ein Ärmel des nagelneuen Fracks war gänzlich verdorben. – Daß dich der Teufel! – dachte er sich in seiner Wut.
Der Hausherr, die Hausfrau und die Amme liefen hinaus, um Kölnisches Wasser zu holen; dann drängten sie sich um ihn von allen Seiten, um ihn abzuwischen.
»Es macht nichts, es macht gar nichts!« sagte Tschitschikow, indem er sich bemühte, einen möglichst sorglosen Gesichtsausdruck zu zeigen. »Kann denn ein Kind in diesem goldenen Alter überhaupt etwas verderben?« sagte er immer wieder und dachte sich währenddessen: – Diese Bestie, daß dich doch die Wölfe auffressen! Das hast du geschickt gemacht, du verdammte Kanaille! –
Dieser anscheinend ganz geringfügige Vorfall stimmte den Hausherrn ganz zugunsten des von Tschitschikow vorgeschlagenen Geschäfts. Wie kann man nur etwas einem solchen Gaste abschlagen, der dem Kleinen so viel unschuldige Liebe erwiesen, die er großmütig mit seinem eigenen Frack bezahlen mußte? Um kein Ärgernis zu erregen, beschlossen sie, die Sache geheim zu machen, da doch nicht die Sache selbst, sondern nur das Ärgernis schädlich sei.
»Zum Dank für den mir erwiesenen Dienst gestatten Sie mir, auch Ihnen einen Dienst zu erweisen. Ich möchte gerne in Ihrem Streite mit den Brüdern Platonow den Vermittler machen. Sie brauchen Land, nicht wahr? ...«
Alles auf der Welt besorgt seine Geschäfte. »Was einer braucht, das sucht er zu erlangen«, sagt das Sprichwort. Die Untersuchung der Koffer wurde mit Erfolg durchgeführt, und nach dieser Expedition wanderte manches in seine eigene Schatulle. Mit einem Wort, das Ganze wurde aufs beste besorgt. Tschitschikow hatte nichts gestohlen, er hatte nur aus der Situation Nutzen gezogen. Ein jeder von uns sucht Nutzen zu ziehen: der eine aus Staatswaldungen, der andere aus ersparten Staatsgeldern; der eine bestiehlt seine eigenen Kinder wegen einer zugereisten Schauspielerin, der andere – seine Bauern wegen Möbeln von Hambs oder wegen einer Equipage. Was soll man machen, wenn es in der Welt so viel Verlockungen gibt? Teure Restaurants mit verrückten Preisen, Maskenbälle, Feste und Zigeunertänze. Es ist doch schwer, sich zu beherrschen, wenn alle ringsherum dasselbe tun und auch die Mode es so haben will – da soll man sich noch beherrschen! Tschitschikow hätte schon abreisen sollen, aber die Straßen waren unwegsam geworden. In der Stadt sollte eben der zweite Jahrmarkt beginnen, der hauptsächlich für den Adel bestimmt war. Auf dem ersten wurde mit Pferden, Vieh, Rohprodukten und allerlei Bauernwaren gehandelt, die von Viehhändlern und Dorfkrämern eingekauft wurden. Auf den zweiten Jahrmarkt kam aber alles, was die Kaufleute auf der Messe von Nishnij-Nowgorod an Luxuswaren eingekauft hatten. Alle Plünderer der russischen Geldbeutel, die Franzosen mit ihren Pomaden, die Französinnen mit ihren Hüten, die Plünderer des mit Blut und Mühe erworbenen Geldes kamen zusammengefahren, diese ägyptischen Heuschrecken, die, wie Kostanschoglo zu sagen pflegte, nicht nur alles auffressen, sondern auch noch ihre Eier in der Erde zurücklassen.
Nur die Mißernte und der unglückliche . . . hielten viele Gutsbesitzer auf dem Lande zurück. Dafür zeigten die Beamten, die ja unter den Mißernten nicht zu leiden haben, was sie sich leisten konnten; ihre Frauen leider ebenfalls. Nachdem sie alle die Bücher gelesen hatten, die in der letzten Zeit verbreitet werden, um in der Menschheit neue Bedürfnisse zu wecken, spürten sie einen heftigen Durst nach all den neuen Genüssen. Ein Franzose eröffnete ein neues Lokal, ein Vergnügungsetablissement, wie man es im Gouvernement noch nie gesehen hatte, mit angeblich ungemein billigen Soupers, wobei man die Hälfte auch noch schuldig bleiben durfte. Dies genügte, damit nicht nur die Abteilungsvorstände, sondern auch die kleineren Kanzleibeamten in der Hoffnung auf die künftigen Geldgeschenke der Bittsteller . . . Es kam das Bedürfnis auf, einander durch elegante Equipagen mit schönen Pferden und Kutschern zu übertrumpfen. Schon dieser Wettkampf der Stände in der Vergnügungssucht! ... Trotz des schlechten Wetters und des Straßenschmutzes flogen die elegantesten Equipagen nur so hin und her. Woher sie plötzlich gekommen waren, weiß Gott allein, aber sie würden auch das Petersburger Straßenbild nicht verderben ... Die Kaufleute und Kommis lüfteten elegant die Hüte und luden die vorbeigehenden Damen in ihre Geschäfte ein. Nur hier und da sah man bärtige Männer in altmodischen Pelzmützen. Sonst sah alles europäisch aus, rasierte sich den Bart, alles . . . und mit faulen Zähnen.
»Bitte, bitte! Belieben Sie doch nur in den Laden zu treten! Herr! Herr!« schrien hier und da die Lehrlinge.
Aber nur mit Verachtung blickten auf sie die schon mit Europa vertrauten . . . nur ab und zu sagten sie mit großer Würde: . . . oder: »Hier gibt es Tuche: clair, dunkel und schwarz!«
»Haben Sie preißelbeerfarbene Tuche mit Glanz?« fragte Tschitschikow.
»Wir haben vortreffliche Tuche«, sagte der Kaufmann, mit der einen Hand die Mütze lüftend und mit der anderen ins Innere des Ladens weisend. Tschitschikow trat in den Laden. Der Kaufmann hob geschickt das Brett und stand plötzlich auf der anderen Seite, mit dem Rücken zu den Waren, die Stück auf Stück bis zur Decke aufgeschichtet lagen, und mit dem Gesicht zum Kunden. Die Hände gegen die Tischplatte gestemmt, wiegte er sich mit dem Oberkörper hin und her und fragte: »Was für ein Tuch wünschen Sie?«
»Olivenfarben oder flaschengrün mit Glanz, mit einem Stich ins Preißelbeerfarbene«, sagte Tschitschikow.
»Ich darf wohl sagen, daß Sie etwas von der besten Sorte bekommen werden, wie Sie es höchstens in den aufgeklärten Residenzen finden können. He, Bursche! Reich’ mal das Tuch Nummer 34 herunter! Es ist nicht das richtige, Bester! Warum strebst du ewig über deine Sphäre hinaus, wie so ein Proletarier? Wirf es mal her. Das ist ein Tuch!« Der Kaufmann rollte das Stück vom anderen Ende auf und hielt es Tschitschikow dicht vor die Nase, daß jener den seidigen Glanz nicht nur befühlen, sondern auch beschnüffeln konnte.
»Es ist ganz schön, aber doch nicht das, was ich suche«, sagte Tschitschikow. »Ich habe ja im Zollamt gedient, also brauche ich die beste Sorte, die es überhaupt gibt. Außerdem mehr rötlich, eine Nuance, die weniger ins Flaschengrüne als ins Preißelbeerfarbene geht.«
»Ich verstehe: Sie wünschen gerade die Farbe, die jetzt in Mode kommt. Ich habe wohl ein Tuch von hervorragendster Güte da. Allerdings muß ich Sie aufmerksam machen, daß es nicht billig ist, dafür aber auch von bester Qualität.«
Der Europäer kletterte hinauf. Ein neuer Tuchballen fiel auf den Ladentisch. Er rollte ihn mit der Fixigkeit der guten alten Zeit auf und schien ganz vergessen zu haben, daß er einer späteren Generation angehörte. Er trug das Stück sogar aus dem Laden ans Licht, kniff die Augen zusammen und sagte: »Eine hervorragende Farbe! Pulverdampf von Navarino mit Flammenschein!«
Das Tuch gefiel; sie einigten sich über den Preis, obwohl dieser »prix fix« war, wie der Kaufmann behauptete. Das Stück wurde mit beiden Händen gewandt abgetrennt. Dann auf echt russische Manier, mit unglaublicher Geschwindigkeit, in Papier eingewickelt. Das Paket machte einige schnelle Drehungen unter dem dünnen Bindfaden, der es wie lebendig umschlang. Die Schere durchschnitt den Bindfaden, und das Paket befand sich schon im Wagen. Der Kaufmann lüftete die Mütze. Einer, der die Mütze zieht . . . die Gründe: Tschitschikow holte aus der Tasche das Geld.
»Zeigen Sie mir schwarzes Tuch«, sagte eine Stimme.
– Hol’s der Teufel, das ist Chlobujew, – sagte sich Tschitschikow und wandte ihm den Rücken, um ihn nicht zu sehen: er hielt es für vernünftiger, einer Auseinandersetzung wegen der Erbschaft aus dem Wege zu gehen. Chlobujew hatte ihn aber schon bemerkt.
»Pawel Iwanowitsch, fliehen Sie vielleicht absichtlich vor mir? Ich konnte Sie nirgends finden, die Dinge liegen aber so, daß wir ernsthaft sprechen müssen.«
»Verehrtester, Verehrtester,« sagte Tschitschikow, ihm beide Hände drückend, »glauben Sie es mir, auch ich möchte mit Ihnen sprechen, finde aber immer keine Zeit.« Dabei dachte er sich aber: – Hol’ dich der Teufel! – Plötzlich erblickte er den in den Laden tretenden Murasow. »Ach, mein Gott, Afanassij Wassiljewitsch! Wie ist das werte Befinden?«
»Und wie geht es Ihnen?« fragte Murasow und zog den Hut. Auch der Kaufmann und Chlobujew zogen ihre Hüte.
»Ich habe Kreuzschmerzen, auch schlafe ich nicht gut. Vielleicht kommt es daher, weil ich mir zu wenig Bewegung mache ...«
Murasow wandte sich aber, statt sich in Erörterungen über den Gesundheitszustand Tschitschikows einzulassen, an Chlobujew: »Ssemjon Ssemjonowitsch, als ich Sie in den Laden treten sah, ging ich Ihnen nach. Ich habe mit Ihnen etwas zu besprechen, wollen Sie mich nicht besuchen?«
»Gewiß, gewiß!« antwortete Chlobujew eilig und verließ mit ihm den Laden.
– Worüber mögen die wohl reden? – fragte sich Tschitschikow.
»Afanassij Wassiljewitsch ist ein ehrwürdiger und kluger Mann,« sagte der Kaufmann, »er kennt sein Geschäft, läßt aber in puncto Aufklärung viel zu wünschen übrig. Ein Kaufmann ist doch ein Negoziant und nicht bloß Kaufmann. Damit hängen auch das Budget und die Reaktion zusammen, sonst führt es zum Pauperismus.« Tschitschikow winkte nur mit der Hand.
»Pawel Iwanowitsch, ich suche Sie überall«, erklang hinter ihm die Stimme Ljenizyns. Der Kaufmann zog respektvoll den Hut.
»Ach, Fjodor Fjodorowitsch!«
»Um Gotteswillen, kommen Sie zu mir, ich muß mit Ihnen reden«, sagte er. Tschitschikow blickte ihn an: er sah ganz verstört aus. Nachdem er mit dem Kaufmann abgerechnet hatte, verließ er den Laden.
»Ich erwarte Sie, Ssemjon Ssemjonowitsch«, sagte Murasow, als er Chlobujew eintreten sah; »ich bitte Sie ins Nebenzimmer.« Und er geleitete Chlobujew ins kleine Zimmer, das dem Leser schon bekannt ist; ein bescheideneres Zimmer hätte man auch bei einem Beamten mit nur siebenhundert Rubel Jahresgehalt nicht finden können.
»Sagen Sie doch, ich meine, Ihre Verhältnisse haben sich jetzt wohl gebessert? Ihre Tante hat Ihnen doch sicher was hinterlassen?«
»Was soll ich Ihnen sagen, Afanassij Wassiljewitsch? Ich weiß selbst nicht, ob sich meine Verhältnisse gebessert haben. Ich habe nur fünfzig Leibeigene und dreißigtausend Rubel bar geerbt und mit diesen einen Teil meiner Schulden bezahlen müssen – so ist mir nichts geblieben. Die Hauptsache aber ist, daß die Geschichte mit der Erbschaft nicht ganz sauber ist. Es stecken manche Gaunereien dahinter, Afanassij Wassiljewitsch! Ich werde es Ihnen gleich erzählen, und Sie werden staunen, was für Dinge vorkommen. Dieser Tschitschikow ...«
»Verzeihen Sie, Ssemjon Ssemjonowitsch; ehe wir über diesen Tschitschikow reden, wollen wir erst Ihre Lage besprechen. Sagen Sie mir: welche Summe wäre wohl nach Ihrer Meinung erforderlich und hinreichend, um Ihnen vollkommen aus der Klemme zu helfen?«
»Meine Verhältnisse sind recht schwierig«, sagte Chlobujew. »Um ganz aus der Klemme zu kommen, alle Schulden zu bezahlen und die Möglichkeit zu haben, ganz bescheiden zu leben, brauche ich mindestens hunderttausend Rubel, wenn nicht mehr – mit einem Worte, ich kann mir nicht helfen.«
»Nun, wenn Sie aber das Geld hätten, wie würden Sie dann Ihr Leben gestalten?«
»Ich würde mir eine kleine Wohnung mieten und mich ganz der Erziehung meiner Kinder widmen. An mich selbst denke ich nicht mehr: meine Karriere ist abgeschlossen, ich kann auch nicht mehr dienen: ich tauge zu nichts mehr.«
»Dann wäre Ihr Leben doch müßig, und ein Müßiggänger unterliegt leicht Versuchungen, die einem beschäftigten Menschen gar nicht einfallen.«
»Ich kann nicht, ich tauge zu nichts mehr: ich bin ganz dumm geworden und habe Kreuzschmerzen.«
»Wie kann man nur ohne Arbeit leben? Wie kann man in der Welt ohne ein Amt, ohne eine Tätigkeit existieren? Ich bitte Sie! Beachten Sie doch jede Kreatur Gottes: eine jede dient zu etwas, eine jede hat ihre Bestimmung. Selbst der Stein existiert nur dazu, um zu etwas verwendet zu werden; ist es aber möglich, daß der Mensch, das vernünftigste Wesen, sein Leben nutzlos verbringe?«
»Nun, ich bleibe doch nicht ganz ohne Arbeit. Ich kann mich mit der Erziehung meiner Kinder befassen.«
»Nein, Ssemjon Ssemjonowitsch, nein! Das ist das allerschwierigste. Wie soll einer, der sich selbst nicht zu erziehen vermochte, seine Kinder erziehen? Man kann die Kinder nur durch das Beispiel seines eigenen Lebens erziehen. Kann aber Ihr Leben als ein Vorbild dienen? Damit sie lernen, ihre Zeit müßig zu verbringen und Karten zu spielen? Nein, Ssemjon Ssemjonowitsch, geben Sie Ihre Kinder mir: Sie können sie nur verderben. Bedenken Sie es doch ernstlich: Sie sind an Ihrem Müßiggang zugrunde gegangen – also müssen Sie ihn fliehen. Wie kann man nur auf der Welt ohne jeden Halt leben? Ein jeder muß doch irgendwelche Pflicht erfüllen. Selbst der Tagelöhner dient. Er ißt sein karges Brot, doch er verdient es mit eigenen Händen und hat Interesse an seiner Tätigkeit.«
»Bei Gott, Afanassij Wassiljewitsch, ich habe es schon probiert, ich habe mich selbst zu überwinden versucht! Was soll ich machen! Ich bin alt geworden und zu nichts mehr fähig. Was soll ich nun anfangen! Soll ich denn wirklich in den Staatsdienst treten? Wie kann ich mich mit meinen fünfundvierzig Jahren an den gleichen Tisch mit den jüngsten Kanzleibeamten zu setzen? Auch bin ich nicht fähig, mich bestechen zu lassen – ich werde nur mir selbst und auch den anderen schaden. In den Kanzleien haben sich schon eigene Kasten gebildet. Nein, Afanassij Wassiljewitsch, ich habe schon nachgedacht, ich habe alles versucht und alles durchgenommen, aber ich tauge zu nichts. Höchstens passe ich in ein Altersheim ...«
»Das Altersheim ist für solche bestimmt, die gearbeitet haben; denjenigen aber, die sich in ihrer Jugend nur amüsiert haben, sagt man dasselbe, was die Ameise in der Fabel zur Grille sagt: ›Geh und tanz’!‹ Und selbst im Altersheim wird gearbeitet und nicht Whist gespielt. Ssemjon Ssemjonowitsch,« sagte Murasow, ihm durchdringend ins Gesicht blickend, »Sie betrügen sich und mich.«
Murasow sah ihm unverwandt ins Gesicht; doch der arme Chlobujew konnte ihm nichts antworten, und Murasow spürte Mitleid mit ihm.
»Hören Sie mal, Ssemjon Ssemjonowitsch ... Sie beten doch, Sie gehen zur Kirche, Sie versäumen, wie ich weiß, keine Frühmesse und keinen Abendgottesdienst. Sie haben zwar wenig Lust, früh aufzustehen, aber Sie stehen doch auf und gehen zur Kirche um vier Uhr früh, wo alle schlafen.«
»Das ist eine andere Sache, Afanassij Wassiljewitsch. Ich weiß, daß ich es nicht für die Menschen tue, sondern für den, der uns allen das Leben befohlen hat. Was soll ich machen! Ich glaube, daß Er mir gnädig ist, daß Er, so schlecht und häßlich ich auch bin, mir verzeihen und mich aufnehmen wird, während die Menschen mich mit dem Fuße fortstoßen und der beste meiner Freunde mich verrät und hinterher noch sagt, er hätte mich eines guten Zwecks wegen verraten.«
Chlobujews Gesicht zeigte einen bitteren Ausdruck. Der Alte vergoß einige Tränen, ohne jedoch . . .
»Dienen Sie dann Dem, der so barmherzig ist. Ihm ist die Arbeit ebenso gefällig wie das Gebet. Übernehmen Sie irgendeine Beschäftigung, doch so, als täten Sie es für Ihn und nicht für die Menschen. Und wenn es auch die nutzloseste Tätigkeit ist, denken Sie aber dann, daß Sie es für Ihn tun. Das hat schon den einen Nutzen, daß Ihnen dann keine Zeit bleibt, Böses zu tun, keine Zeit, um Geld im Kartenspiel zu verlieren, mit Fressern zu schlemmen und sich in Salons herumzutreiben. Ach, Ssemjon Ssemjonowitsch! Kennen Sie den Iwan Potapytsch?«
»Ich kenne und schätze ihn.«
»Was war der für ein guter Kaufmann; er besaß eine halbe Million; als er aber sah, daß ihm alles gelang, ließ er sich gehen. Seinem Sohn gab er französischen Unterricht und verheiratete seine Tochter mit einem General. Nie saß er mehr in seinem Laden, nie sah man ihn auf der Börse; er suchte nur, einen Freund zu treffen und mit ihm ins Wirtshaus zum Teetrinken zu gehen; tagelang trank er Tee, und die Sache endete mit einem Bankerott. Da schickte ihm aber Gott ein Unglück: sein Sohn . . . Jetzt dient er bei mir im Geschäft als Kommis. Er hat ganz von Anfang angefangen. Jetzt geht es ihm besser. Er könnte wieder handeln und vielleicht auch fünfhunderttausend Rubel umsetzen. Aber er sagt: ›Ich war Kommis und will als Kommis sterben. Jetzt bin ich frisch und gesund, aber damals hatte ich einen dicken Bauch und hätte beinahe die Wassersucht gekriegt ... Nein!‹ sagt er. Jetzt nimmt er keinen Schluck Tee in den Mund. Ißt nichts als Kohlsuppe und Grütze, jawohl! Er betet so andächtig, wie keiner von uns; gibt auch Almosen, wie keiner von uns; ein anderer möchte wohl gerne den Armen helfen, hat aber schon sein ganzes Geld durchgebracht.«
Der arme Chlobujew wurde nachdenklich.
Der Alte ergriff seine beiden Hände. »Ssemjon Ssemjonowitsch! Wenn Sie nur wüßten, wie leid Sie mir tun! Ich habe die ganze Zeit an Sie gedacht. Hören Sie also. Sie wissen, hier im Kloster lebt ein Mönch, der sich keinem Menschen zeigt. Er ist ein Mann von großem Verstand, von einem solchen Verstand, daß ich es Ihnen gar nicht sagen kann. Er spricht nie, aber wenn er mal einem einen Rat gibt ... Ich fing ihm zu erzählen an, daß ich so einen Freund habe, doch seinen Namen . . . daß er daran kranke. Er hörte mir zu und unterbrach mich mit den Worten: ›Zuerst muß man an Gottes Sache denken und dann an die seinige. Man baut eine Kirche, hat aber kein Geld: man muß Geld für den Kirchenbau sammeln!‹ Und er schlug die Türe zu. Ich frage mich, was das wohl zu bedeuten habe. Offenbar will er keinen Rat geben. Nun ging ich zum Archimandriten. Kaum war ich bei ihm eingetreten, als er mich gleich fragte, ob ich nicht einen Menschen wüßte, dem man den Auftrag geben könne, Geld für den Kirchenbau zu sammeln; der Mann müßte entweder vom Adel oder aus dem Kaufmannsstande und wohlerzogener als die anderen sein; er müßte diesen Auftrag als seine Rettung auffassen. Ich war ganz bestürzt. Ach, mein Gott! Der Mönch hat ja dieses Amt für Ssemjon Ssemjonowitsch ausersehen. Die Wanderschaft ist für seine Krankheit sehr gut. Wenn er mit dem Sammelbuch vom Gutsbesitzer zum Bauern und vom Bauern zum Kleinbürger kommt, wird er erfahren, wie jedermann lebt und was jedermann braucht; wenn er einige Gouvernements durchwandert hat und heimkehrt, so wird er das Land besser kennen als alle Menschen, die in den Städten wohnen ... Solche Menschen brauchen wir jetzt. Da hat mir auch der Fürst neulich gesagt, er gäbe viel dafür, wenn er einen Beamten auftreiben könnte, der die Angelegenheit nicht aus den Akten kennt, sondern wie sie in Wirklichkeit ist, denn aus den Akten kann man, wie es heißt, nichts mehr ersehen: so verwickelt ist die ganze Geschichte.«
»Sie haben mich vollkommen verwirrt, Afanassij Wassiljewitsch«, sagte Chlobujew, ihn erstaunt anblickend. »Ich kann gar nicht glauben, daß Sie sich damit an mich wenden: dazu braucht man einen unermüdlichen, tatkräftigen Menschen. Und wie soll ich dann auch Frau und Kinder zurücklassen, die nichts zu essen haben?«
»Um Ihre Gattin und Ihre Kinder brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Die nehme ich auf mich, und Ihre Kinder sollen Lehrer bekommen. Es ist doch edler und besser, für Gott zu bitten, als für sich selbst zu betteln. Ich werde Ihnen einen einfachen Wagen geben; vor dem Rütteln brauchen Sie keine Angst zu haben: das ist gut für Ihre Gesundheit. Ich werde Ihnen auch Geld mitgeben, damit Sie unterwegs denen geben können, die mehr Not als die anderen leiden. Sie können viele gute Werke tun: Sie werden keine Fehler machen und nur solchen geben, die wirkliche Not leiden. Wenn Sie so durchs Land fahren, werden Sie alle genau kennenlernen, auch wer . . . Das ist doch was ganz anderes, als wenn es ein Beamter tut, den alle fürchten und von dem . . .; mit Ihnen aber wird man gerne ins Gespräch kommen, wenn man weiß, daß Sie für den Kirchenbau sammeln.«
»Ich sehe, es ist ein vortrefflicher Gedanke, und ich möchte sehr gern auch nur einen Teil davon ausführen; aber ich glaube wirklich, es geht über meine Kraft.«
»Was entspricht denn unserer Kraft?« sagte Murasow. »Es gibt doch nichts, was unseren Kräften entspräche; alles geht über unsere Kraft. Ohne Hilfe von oben kann man überhaupt nichts anfangen. Doch das Gebet verleiht uns Kräfte. Der Mensch bekreuzigt sich, sagt: ›Herr, sei mir gnädig!‹, rudert mit den Armen und schwimmt ans Ufer. Darüber soll man nicht lange nachdenken; man muß es einfach als Gottes Willen hinnehmen. Der Wagen wird für Sie gleich fertig sein; gehen Sie nur zum Archimandriten, um das Sammelbuch und seinen Segen zu holen, und machen Sie sich dann gleich auf den Weg.«
»Ich gehorche und nehme es als eine göttliche Fügung auf.« – Herr, segne mich! – sagte er zu sich selbst und fühlte, wie ihm Kraft und Mut ins Herz drangen. Sein Geist erwachte gleichsam aus dem Schlafe, von der Hoffnung auf einen Ausweg aus seiner traurigen Lage geweckt. Ein Licht winkte ihm in der Ferne ...
Wir wollen aber Chlobujew verlassen und uns zu Tschitschikow wenden.*)Hier endet der von Gogol überarbeitete Text und beginnt die ursprüngliche, nicht überarbeitete Fassung.
Indessen liefen bei den Gerichten immer neue Klagen und Gesuche ein. Es meldeten sich Verwandte, von denen niemand etwas gehört hatte. Wie die Vögel sich auf ein Aas stürzen, so stürzte sich alles auf das Riesenvermögen, das die Alte hinterlassen hatte; es kamen Anzeigen gegen Tschitschikow, man erklärte, daß das letzte Testament gefälscht sei, daß auch das erste gefälscht sei, man bezichtigte ihn des Diebstahls und der Unterschlagung großer Summen. Man brachte sogar Beweise vor, daß Tschitschikow tote Seelen gekauft und während seiner Anstellung im Zollamte Konterbande durchgeschmuggelt habe. Man wühlte alles auf und erfuhr sein ganzes Vorleben. Gott allein weiß, wie man das alles erfahren hatte, es kamen aber auch solche Dinge auf, von denen Tschitschikow glaubte, daß sie keinem Menschen außer ihm und seinen vier Wänden bekannt seien. Vorläufig wurde das alles vom Gericht geheimgehalten und kam ihm nicht zu Ohren, obwohl ihm ein vertrauliches Billett seines Rechtsbeistandes, das er bald darauf erhielt, zu verstehen gab, daß der Tanz begonnen hatte. Das Billett war ganz kurz: »Ich beeile mich, Sie zu benachrichtigen, daß es viele Scherereien geben wird, merken Sie sich aber, daß Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Die Hauptsache ist Ruhe. Wir werden schon alles machen.« Dieses Billett beruhigte ihn vollkommen. »Wirklich ein Genie!« sagte Tschitschikow. Um das Schöne noch zu vervollständigen, brachte ihm der Schneider den Anzug. Er verspürte große Lust, sich in dem neuen Frack von der Navarinoschen Flammenfarbe mit Pulverrauch zu sehen. Er zog die Hose an, die seine Beine so wunderbar umspannte, daß man sie malen könnte. Das Tuch schmiegte sich wunderbar um die Schenkel, um die Waden und um alle Details und verlieh ihnen eine noch größere Elastizität. Als er hinten die Schnalle anzog, wurde sein Bauch zu einer Trommel. Er schlug mit der Kleiderbürste darauf und sagte: »So ein Narr, wirkt aber im ganzen doch sehr malerisch.« Der Frack schien noch besser zu sitzen als die Hose: nirgends gab es eine Falte, die Hüften waren vollkommen umspannt, und die Taille war schön geschwungen. Auf Tschitschikows Bemerkung, daß es in der rechten Achsel etwas spanne, lächelte der Schneider bloß: deswegen sitzt der Frack in der Taille noch besser. »Sie können wegen der Arbeit ganz unbesorgt sein,« sagte der Schneider mit unverhohlenem Triumph, »außer in Petersburg wird man Ihnen nirgends so einen Frack machen können.« Der Schneider stammte selbst aus Petersburg und hatte auf seinem Schild stehen: »Ausländer aus London und Paris«. Er verstand keinen Spaß und wollte mit diesen beiden Städten allen anderen Schneidern den Mund verstopfen, damit in Zukunft keiner mit solchen Städten komme; sollen die anderen nur »Karlsruhe« oder »Kopenhagen« auf ihre Schilder setzen.
Tschitschikow rechnete mit dem Schneider auf die vornehmste Weise ab und begann, als er allein geblieben, mit Muße, sich wie ein Künstler mit ästhetischem Gefühl und con amore, im Spiegel zu betrachten. Alles schien jetzt noch viel schöner als früher: die Wangen noch interessanter, das Kinn noch verführerischer, der weiße Kragen unterstrich den schönen Ton der Wange, die blaue Atlasbinde – den Ton des Kragens, das Vorhemd mit dem modernen Fältchen – die Farbe der Binde, und die prachtvolle Samtweste die Schönheit des Vorhemdes; aber der Frack von der Navarinoschen Flammenfarbe mit Pulverrauch glänzte wie Seide und gab allem den Ton. Er drehte sich nach rechts – wunderschön! Er drehte sich nach links – noch schöner! Die Taille war so schlank wie bei einem Kammerherrn oder einem Mann, der nur Französisch redet und selbst im Zorne kein russisches Schimpfwort gebraucht, sondern auf Französisch flucht: diese Vornehmheit! Er versuchte, den Kopf etwas auf die Seite zu neigen und eine Pose anzunehmen, als wende er sich an eine Dame in mittleren Jahren von modernster Bildung: es war einfach zum Malen! Künstler, nimm deinen Pinsel und verewige es auf der Leinwand! Vor Freude machte er einen leichten Sprung. Die Kommode erzitterte, und die Flasche mit Kölnischem Wasser fiel zu Boden: dies verursachte aber nicht die geringste Störung. Er nannte die Flasche, wie es sich gehörte, eine dumme Gans und fragte sich: – Zu wem soll ich jetzt zuallererst gehen? Am besten ... – Plötzlich ertönte im Vorzimmer etwas wie Sporengeklirr, und ins Zimmer trat ein Gendarm in voller Bewaffnung, als verkörpere er das ganze Heer. »Sie sollen sofort zum Generalgouverneur kommen!« Tschitschikow erstarrte zu Stein. Vor ihm stand ein Schreckbild mit Schnurrbart, mit einem Pferdeschweif auf dem Helm, einem Säbelriemen über der einen Schulter, einem Säbelriemen über der anderen Schulter und einem mächtigen Pallasch an der Hüfte. Tschitschikow kam es vor, als hinge an der anderen Hüfte ein Gewehr und weiß der Teufel was alles: ein ganzes Heer steckte in diesem einen Mann! Er versuchte etwas zu entgegnen, doch das Schreckbild fuhr ihn grob ah: »Sofort!« Durch die Türe sah er im Vorzimmer ein anderes Schreckbild stehen; er warf einen Blick durchs Fenster: draußen wartete ein Wagen. Was war da zu machen? So wie er war, im Frack von Navarinoscher Flammenfarbe mit Pulverrauch, mußte er in den Wagen steigen und, am ganzen Leibe zitternd, in Begleitung der Gendarme zum Generalgouverneur fahren.
Im Vorsaal ließ man ihn gar nicht zu sich kommen. »Gehen Sie! Der Fürst wartet schon!« sagte der diensthabende Beamte. Wie durch einen Nebel sah er das Vorzimmer mit den Kurieren, welche Pakete in Empfang nahmen, dann den Saal, den er passierte, und dachte sich nur: – Wie, wenn er mich verhaftet und ohne jede Gerichtsverhandlung direkt nach Sibirien schickt! – Sein Herz klopfte so heftig, wie es selbst beim eifersüchtigsten Liebhaber nicht klopft. Endlich ging die verhängnisvolle Türe auf: er sah vor sich das Kabinett mit dem Portefeuilles, Schränken und Büchern und den Fürsten so zornig, wie der Zorn selbst.
– Es ist das Verderben! – sagte sich Tschitschikow. – Er wird mich umbringen wie der Wolf das Lamm. – »Ich habe Sie geschont, ich habe Ihnen erlaubt, in der Stadt zu bleiben, während Sie ins Zuchthaus gesperrt zu werden verdienten; Sie haben sich aber wieder durch die ruchloseste Missetat befleckt, mit der sich je ein Mensch befleckt hat!« Die Lippen des Fürsten bebten vor Zorn.
»Durch welche ruchlose Missetat, Durchlaucht?« fragte Tschitschikow, am ganzen Leibe zitternd.
»Die Frau,« sagte der Fürst, etwas näher tretend und Tschitschikow gerade in die Augen blickend, »die Frau, die das Testament nach Ihrem Diktat unterschrieben hat, ist verhaftet worden und wird mit Ihnen konfrontiert werden.«
Tschitschikow wurde es finster vor den Augen.
»Durchlaucht! Ich will Ihnen die reinste Wahrheit sagen. Ich bin schuldig, in der Tat schuldig, doch nicht so schuldig: meine Feinde haben mich verleumdet.«
»Niemand kann Sie verleumden, denn in Ihnen steckt viel mehr Niedertracht, als der größte Lügner erfinden kann. Ich meine, Sie haben in Ihrem ganzen Leben keine Tat vollbracht, die nicht ruchlos wäre. Jede Kopeke, die Sie erworben haben, haben Sie auf die ruchloseste Weise erworben; es liegt Diebstahl und ein gemeines Verbrechen vor, auf das die Knute und Sibirien stehen! Nein, jetzt ist’s genug! Du wirst sofort ins Zuchthaus abgeführt werden und mit den schlimmsten Verbrechern und Räubern auf die Entscheidung deines Schicksals warten. Und das ist auch noch eine Gnade: denn du bist viel schlimmer als sie; sie tragen einfache Bauernröcke, du aber ...« Er warf einen Blick auf den Frack von der Navarinoschen Flammenfarbe mit Pulverrauch und zog die Glockenschnur.
»Durchlaucht,« rief Tschitschikow, »lassen Sie Gnade walten! Sie sind doch Familienvater. Erbarmen Sie sich nicht meiner, sondern meiner alten Mutter!«
»Du lügst!« schrie der Fürst zornig. »Ebenso hast du mich damals bei deinen Kindern und deiner Familie angefleht, die du niemals besessen hast, und jetzt kommst du mit deiner Mutter!«
»Durchlaucht! Ich bin ein Schurke, ein ruchloser Schuft!« sagte Tschitschikow mit einer Stimme, die . . . »Ich habe wirklich gelogen, ich habe weder Kinder noch Familie gehabt; doch Gott sei mein Zeuge: ich hatte immer den Wunsch, mich zu verheiraten, die Pflicht des Menschen und des Bürgers zu erfüllen, um dann tatsächlich die Achtung der Bürger und der Obrigkeit zu verdienen ... Aber dieses unglückliche Zusammentreffen widriger Umstände! Durchlaucht! Mit meinem Blut mußte ich mir mein tägliches Brot verdienen. Auf Schritt und Tritt Versuchungen und Verführungen ... Feinde, Widersacher, Räuber. Mein ganzes Leben war wie ein wilder Sturmwind oder wie ein Schiff inmitten der Wellen, allen Winden preisgegeben. Ich bin nur ein Mensch, Durchlaucht!«
Tränenbäche stürzten plötzlich aus seinen Augen. Er fiel dem Fürsten zu Füßen, so wie er war: im Frack von der Navarinoschen Flammenfarbe mit Pulverrauch, in der Samtweste mit der Atlasbinde, in der wunderbar sitzenden Hose und mit der sorgfältigen Frisur, der ein süßer Wohlgeruch vom feinsten Kölnischen Wasser entströmte, und schlug mit dem Kopf gegen den Fußboden.
»Fort von mir! Man rufe Soldaten her, damit sie ihn abführen!« sagte der Fürst zu den Eintretenden.
»Durchlaucht!« rief Tschitschikow und umfaßte mit beiden Händen einen Stiefel des Fürsten.
Ein Beben lief durch alle Adern des Fürsten.
»Fort von mir, sage ich Ihnen!« rief er, indem er sich bemühte, seinen Fuß aus der Umarmung Tschitschikows zu befreien.
»Durchlaucht! Ich weiche nicht von diesem Fleck, bis ich Ihre Verzeihung erfleht habe!« sagte Tschitschikow, ohne den Stiefel des Fürsten loszulassen, und rutschte in seinem Frack von der Navarinoschen Flammenfarbe mit Pulverrauch zusammen mit dem Fuß des Fürsten über den Fußboden.
»Gehen Sie fort, sage ich Ihnen!« sagte der Fürst mit jenem unsagbaren Ekelgefühl, das der Mensch beim Anblick eines häßlichen Insekts empfindet, das er nicht zu zertreten wagt. Er schüttelte so heftig den Fuß, daß Tschitschikow einen Schlag mit dem Stiefel auf der Nase, den Lippen und dem rundlichen Kinn verspürte; aber er ließ den Stiefel nicht los und umklammerte ihn noch fester. Zwei kräftige Gendarmen schleppten ihn mit Mühe weg, nahmen ihn unter die Arme und führten ihn durch alle Zimmer. Er war blaß, wie erschlagen, und befand sich in jenem schrecklichen gefühllosen Zustand, in den der Mensch verfällt, wenn er vor sich den schwarzen, unabwendbaren Tod sieht, dieses Schreckbild, dem unsere ganze Natur widerstrebt.
In der Türe, die auf die Treppe führte, kam ihm Murasow entgegen. Es war wie ein Hoffnungsstrahl. Augenblicklich riß er sich mit einer beinahe unnatürlichen Kraft aus den Händen der beiden Gendarme und stürzte dem erstaunten Alten zu Füßen.
»Väterchen, Pawel Iwanowitsch! Was ist mit Ihnen los?«
»Retten Sie mich! Man führt mich ins Gefängnis, in den Tod ...« Die Gendarmen packten ihn und führten ihn weiter und ließen ihn gar nicht die Antwort Murasows hören.
Eine dumpfe feuchte Kammer mit dem Geruch von Stiefeln und Fußlappen der Garnisonsoldaten, ein ungestrichener Tisch, zwei elende Stühle, ein eisernes Gitter vor dem Fenster, ein baufälliger Ofen, aus dessen Ritzen nur Rauch, aber keine Wärme kam – das war die Behausung, in die unser Held kam, der schon begonnen hatte, die Süße des Lebens zu kosten und in seinem feinen neuen Frack von Navarinoscher Flammenfarbe mit Pulverrauch die Aufmerksamkeit der Mitbürger auf sich zu lenken. Man hatte ihm keine Zeit gelassen, seine Angelegenheiten zu ordnen, die notwendigen Sachen mitzunehmen, die Schatulle mit dem Geld, das er vielleicht . . . erworben hatte. Die Papiere, die Kaufverträge über die Toten – alles befand sich jetzt in Händen der Beamten. Er stürzte zu Boden, und eine hoffnungslose Trauer wand sich wie ein gieriger Wurm um sein Herz. Immer gieriger nagte sie an diesem wehrlosen Herzen. Noch solch ein Tag, nur noch ein Tag voll solcher Trauer, und Tschitschikow wäre vielleicht aus diesem Leben geschieden. Aber auch über ihm wachte eine rettende Hand. Nach einer Stunde ging die Kerkertüre auf, und vor Tschitschikow stand der alte Murasow.
Wenn man einem von brennendem Durst gequälten, mit dem Staube des Weges bedeckten, müden und erschöpften Wanderer frisches Brunnenwasser in die trockene Kehle gösse, so könnte ihn dies nicht so erquicken und erfrischen, wie der Besuch Murasows den armen Tschitschikow erquickte.
»Mein Retter!« sagte Tschitschikow, indem er plötzlich vom Fußboden aus, auf den er sich in seinem erdrückenden Schmerze hingeworfen hatte, nach seiner Hand griff, sie schnell küßte und an seine Brust drückte. »Gott lohne es Ihnen, daß Sie den Unglücklichen aufgesucht haben!«
Er brach in Tränen aus.
Der Alte sah ihn mit traurigen und schmerzlichen Blicken an und sagte bloß: »Ach, Pawel Iwanowitsch! Pawel Iwanowitsch, was haben Sie angestellt!«
»Was sollte ich machen! Sie hat mich zugrunde gerichtet, die Verfluchte! Ich konnte nicht Maß halten, ich konnte nicht zur rechten Zeit aufhören. Der verfluchte Satan hat mich verführt, hat mir die Vernunft genommen, hat mich aus den Grenzen der menschlichen Vernunft gelockt. Ich habe mich vergangen! Wie durfte aber er so handeln? Einen Edelmann, einen Edelmann ohne Gericht und ohne Untersuchung ins Gefängnis zu werfen! ... Einen Edelmann, Afanassij Wassiljewitsch! Durfte man mir denn keine Zeit lassen, nach Hause zu gehen und meine Sachen zu ordnen? Meine ganze Habe ist ja ohne jede Aufsicht geblieben. Meine Schatulle, Afanassij Wassiljewitsch, meine Schatulle! Mein ganzes Vermögen steckt doch in ihr. Ich habe es mit Schweiß und Blut erworben, durch viele Jahre von Mühe und Entbehrungen ... Meine Schatulle, Afanassij Wassiljewitsch! Man wird ja alles stehlen und fortschleppen! Oh, mein Gott!«
Er konnte den neuen Ansturm von Schmerz, der sein Herz zusammenpreßte, nicht überwinden und schluchzte laut mit einer Stimme, die durch die dicken Zuchthausmauern drang und dumpf in der Ferne widerhallte. Dann riß er sich die Atlasbinde vom Halse, ergriff mit der Hand den Kragen und zerriß den Frack von Navarinoscher Flammenfarbe mit Pulverrauch.
»Ach, Pawel Iwanowitsch! Wie hat Sie doch dieses Vermögen geblendet! Seinetwegen sahen Sie gar nicht das Schreckliche Ihrer Lage.«
»Wohltäter, retten Sie mich, retten Sie mich!« schrie der arme Pawel Iwanowitsch verzweifelt, ihm zu Füßen stürzend. »Der Fürst liebt Sie, für Sie wird er alles tun.«
»Nein, Pawel Iwanowitsch, ich kann es nicht, wie sehr ich es auch möchte. Sie sind unter die Gewalt eines unerbittlichen Gesetzes und nicht unter die eines Menschen geraten.«
»Er hat mich verführt, der listige Satan, der Verderber des Menschengeschlechts!«
Er schlug mit dem Kopf gegen die Wand und hieb so stark mit der Faust auf den Tisch, daß ihm die Hand blutete; er spürte aber weder den Schmerz im Kopfe noch den furchtbaren Schlag.
»Pawel Iwanowitsch, beruhigen Sie sich, denken Sie nur daran, wie Sie sich mit Gott aussöhnen könnten und nicht mit den Menschen; denken Sie doch an Ihre arme Seele.«
»Aber welch ein Schicksal, Afanassij Wassiljewitsch! Hat denn auch nur ein Mensch solch ein Schicksal erlebt? Ich habe doch sozusagen mit blutender Geduld jede Kopeke erworben, mit Mühe und Arbeit; ich habe niemand beraubt oder gar die Staatskasse bestohlen, wie es manche tun. Wozu habe ich aber Kopeke auf Kopeke gespart? Doch nur, um den Rest meiner Tage in Wohlstand zu verbringen, um meiner Frau und meinen Kindern, die ich zum Wohle des Vaterlandes, für den Staatsdienst hatte zeugen wollen, ein Vermögen zu hinterlassen. Nur das bewog mich, mich zu bereichern! Ich habe mich wohl vergangen, ich leugne es nicht ... Wie soll ich es auch? Aber ich tat es nur, als ich sah, daß man auf geradem Wege nichts erreichen kann und daß der krumme Weg der kürzere ist. Ich habe mich aber bemüht, ich habe meinen Geist angestrengt. Wenn ich etwas Fremdes genommen habe, so doch nur von den Reichen. Aber diese Schurken beim Gericht bestehlen den Staat um Tausende, berauben die Armen, nehmen einem, der nichts hat, die letzte Kopeke weg! ... Sagen Sie doch, was ist das für ein böses Verhängnis: jedesmal, wenn man die Früchte zu erreichen glaubt und sie sozusagen mit der Hand berührt, kommt ein Sturm, kommt ein Riff, an dem das ganze Schiff zerschellt! Ich besaß ja schon an die dreihunderttausend Rubel Kapital; einmal besaß ich auch ein zweistöckiges Haus; zweimal hatte ich mir Güter gekauft ... Ach, Afanassij, Wassiljewitsch! Wofür kommt denn dies . . . ? Wofür diese Schicksalsschläge? War denn mein Leben nicht schon ohnehin wie ein Schiff inmitten der Wellen? Wo bleibt die himmlische Gerechtigkeit? Wo der Lohn für die Geduld, für die beispiellose Ausdauer? Dreimal habe ich schon von neuem angefangen; nachdem ich alles verloren, fing ich immer wieder mit der Kopeke an, während ein anderer an meiner Stelle vor Verzweiflung dem Trunke verfallen und in der Schenke verfault wäre. Wieviel mußte ich in mir unterdrücken, wieviel ertragen! Jede Kopeke ist ja, sozusagen, mit allen Kräften meiner Seele erworben! ... Die anderen haben es leicht gehabt, für mich war aber ›jede Kopeke mit einem Dreikopekennagel festgenagelt‹, wie das Sprichwort sagt, und diese mit dem Dreikopekennagel festgenagelte Kopeke errang ich mir, bei Gott, mit einer eisernen Unermüdlichkeit! ...«
Er fing vor unerträglichem Herzweh laut zu schluchzen an, fiel vom Stuhl, riß den herabhängenden zerfetzten Frackschoß ganz ab, schleuderte ihn weit von sich, fuhr sich mit beiden Händen in die Haare, um deren Erhaltung er sonst so sehr besorgt war, und raufte unbarmherzig daran, sich am Schmerze weidend, mit dem er das unstillbare Herzweh betäuben wollte.
Murasow saß lange stumm vor ihm und blickte auf dieses ungewöhnliche . . ., das er zum erstenmal sah. Der unglückliche, erbitterte Mensch, der erst vor kurzem mit der ungezwungenen Gewandtheit eines Salonmenschen oder Militärs herumgesprungen war, warf sich jetzt zerzaust, in einem unanständigen Aufzug, im zerrissenen Frack, in aufgeknöpfter Hose, mit blutender Faust hin und her und stieß Lästerungen gegen die feindlichen Mächte aus, die dem Menschen alles verderben!
»Ach, Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch! Was wäre doch aus Ihnen für ein Mensch geworden, wenn Sie die gleiche Kraft und die gleiche Geduld auf ein nützlicheres Werk verwendeten und ein besseres Ziel verfolgten! Mein Gott, wieviel Gutes hätten Sie tun können! Wenn nur einer von den Menschen, die das Gute lieben, die Mühe darauf verwendete, mit der Sie jede Kopeke erwarben, und es verstünde, für das Gute seinen Ehrgeiz und seine Eigenliebe so selbstlos zu opfern, wie Sie es taten, als Sie jede Kopeke erwarben – mein Gott, wie würde dann unser Land aufblühen! ... Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch! Es ist weniger zu bedauern, daß Sie sich an den anderen, als daß Sie sich an sich selbst vergangen haben, an den reichen Gaben und Fähigkeiten, die Ihnen zuteil wurden. Ihre Bestimmung war, ein großer Mann zu werden, Sie aber haben sich selbst zugrunde gerichtet.«
Es gibt merkwürdige Rätsel in der Menschenseele: wie weit auch ein Mensch vom geraden Weg abgeirrt ist, wie verstockt ein unverbesserlicher Verbrecher in seinen Gefühlen auch ist, wie hartnäckig er an seinem verbrecherischen Leben auch festhält – wenn man ihm seine eigenen, von ihm geschändeten Tugenden vorhält, so kommt in ihm alles ins Wanken, und er wird unwillkürlich aufs tiefste erschüttert.
»Afanassij Wassiljewitsch«, sagte der arme Tschitschikow und ergriff mit beiden Händen seine Hände. »Oh, wenn es mir gelänge, freizukommen und mein Vermögen wiederzubekommen! Ich schwöre Ihnen, ich würde ein ganz neues Leben anfangen! Retten Sie mich, Wohltäter, retten Sie mich!«
»Wie kann ich das machen? Ich müßte gegen das Gesetz kämpfen. Selbst wenn ich mich dazu entschließen würde – der Fürst ist gerecht – er wird niemals nachgeben.«
»Wohltäter! Sie können alles erreichen. Das Gesetz schreckt mich nicht – gegen das Gesetz werde ich schon Mittel finden; aber daß ich unschuldig ins Gefängnis geworfen bin, daß ich hier wie ein Hund zugrunde gehe, daß mein ganzes Vermögen, meine Papiere, meine Schatulle ... Retten Sie mich!«
Er umschlang die Füße des Alten mit den Armen und benetzte sie mit seinen Tränen.
»Ach, Pawel Iwanowitsch, Pawel Iwanowitsch!« sagte der alte Murasow, den Kopf schüttelnd: »Wie furchtbar hat Sie dieses Vermögen geblendet! Seinetwegen dachten Sie nicht an Ihre arme Seele.«
»Ich werde auch an meine Seele denken, aber retten Sie mich!«
»Pawel Iwanowitsch!...« begann der alte Murasow und hielt inne. »Sie zu retten, liegt nicht in meiner Macht – das sehen Sie selbst. Ich werde aber jede Mühe aufwenden, um Ihr Los zu erleichtern und Sie zu befreien. Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, aber ich werde mir Mühe geben. Wenn es mir aber, was ich nicht glaube, gelingen wird, so werde ich Sie um eine Belohnung für meine Mühe bitten, Pawel Iwanowitsch: geben Sie ihre Jagd nach Erwerb auf. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort: wenn ich mein ganzes Vermögen verlöre – und es ist bedeutend größer als das Ihrige – ich würde nicht weinen. Bei Gott, es kommt nicht auf dieses Vermögen an, das man bei mir konfiszieren kann, sondern auf andere Dinge, die mir niemand stehlen und nehmen kann! Sie haben lange genug auf der Welt gelebt. Sie selbst nennen Ihr Leben ein Schiff inmitten der Wellen. Sie haben genug, um den Rest Ihrer Tage leben zu können. Lassen Sie sich in einem stillen Winkel, in der Nähe einer Kirche, in der Nähe von einfachen, guten Menschen nieder; oder, wenn Sie schon ein so großes Bedürfnis haben, Nachkommen zu hinterlassen, so heiraten Sie ein armes, gutes Mädchen, das an ein mäßiges und einfaches Leben gewöhnt ist. Vergessen Sie diese lärmende Welt und alle ihre verführerischen Launen: soll auch die Welt Sie vergessen; in der Welt können Sie keine Ruhe finden. Sie sehen: alles in der Welt ist uns feind, alles ist Versuchung oder Verrat.«
»Unbedingt, unbedingt! Ich hatte schon langst die Absicht, ein ordentliches Leben zu beginnen, mich der Wirtschaft zu widmen, meine Lebensweise einzuschränken. Doch der Dämon der Versuchung hat mich verführt, der Satan, der Teufel, die Ausgeburt der Hölle!«
Neue, ihm bisher unbekannte Gefühle, die er sich gar nicht erklären konnte, erfüllten plötzlich seine Seele, als wollte in ihm etwas erwachen, etwas Fernes, etwas . . . etwas, was in seiner frühesten Kindheit von den strengen toten Predigten, von der Freudlosigkeit der langweiligen Kinderjahre, der Öde des Vaterhauses, der Einsamkeit, der Armut der ersten Eindrücke erstickt worden war; als wollte sich das, was . . . war, vom strengen Auge des Schicksals, das ihn traurig durch ein trübes, schneeverwehtes Fenster angeblickt hatte, nun in die Freiheit drängen. Ein Stöhnen entrang sich seinen Lippen, er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und sagte mit schmerzlicher Stimme: »Es ist wahr, es ist wahr!«
»Auch die Menschenkenntnis und Ihre ganze Erfahrung haben Ihnen auf dem Wege des Unrechts nicht helfen können. Wenn Sie aber auf dem Wege des Rechts stünden! ... Ach, Pawel Iwanowitsch, warum haben Sie sich zugrunde gerichtet? Erwachen Sie doch: es ist noch nicht zu spät, es ist noch Zeit! ...«
»Nein, es ist zu spät, es ist zu spät!« stöhnte er mit einer Stimme, vor der Murasows Herz beinahe entzweiriß. »Ich fange an zu fühlen, daß ich einen falschen Weg gehe, daß ich mich vom wahren Wege weit entfernt habe, aber ich kann nicht mehr zurück! Nein, ich bin nicht so erzogen. Mein Vater erteilte mir Lehren, schlug mich, zwang mich schöne Moralvorschriften abzuschreiben; dabei stahl er vor meinen Augen bei den Nachbarn Holz und zwang mich, ihm dabei zu helfen. Vor meinen Augen strengte er einen falschen Prozeß an und verführte ein Waisenkind, dessen Vormund er war. Das Beispiel ist immer stärker als jede Vorschrift. Ich sehe, ich fühle, Afanassij Wassiljewitsch, daß ich nicht so lebe, wie man leben muß, doch mein Abscheu vor dem Laster ist nicht groß genug: meine Natur ist verroht, mir fehlt die Liebe für das Gute, jene schöne Neigung zu gottgefälligen Werken, die bald zur zweiten Natur, zur Gewohnheit wird ... Ich habe nicht den gleichen Eifer, für das Gute zu wirken, wie in meinem Streben nach Gewinn. Ich spreche die Wahrheit – was soll ich machen!«
Der Alte seufzte tief auf ...
»Pawel Iwanowitsch! Sie haben doch soviel Willenskraft, soviel Geduld. Die Arznei ist bitter, aber der Kranke nimmt sie, weil er weiß, daß er anders nicht genesen kann. Ihnen fehlt die Liebe für das Gute – tun Sie dann das Gute gewaltsam, ohne es zu lieben. Das wird Ihnen noch höher angerechnet werden, als einem, der das Gute aus Liebe für das Gute tut. Zwingen Sie sich nur einigemal dazu, dann wird auch die Liebe kommen. Glauben Sie mir, das kommt vor. Es ist uns gesagt worden: ›Jedermann dringt in das Reich Gottes mit Gewalt hinein.‹ Nur indem man es sich erkämpft ... Man muß gewaltsam nach ihm streben, man muß es mit Gewalt erzwingen. Ach, Pawel Iwanowitsch! Sie haben doch diese Kraft, Pawel Iwanowitsch! Sie haben doch diese Kraft, die die anderen nicht haben, diese eiserne Geduld – ist es möglich, daß Sie es nicht erringen? Sie würden, glaube ich, die Kräfte eines Helden aufbringen. Sonst sind die Menschen heute so willenlos und schwach.«
Man sah, wie diese Worte Tschitschikow tief in die Seele drangen und auf ihrem Grunde etwas wie Ehrgeiz weckten. Aus seinen Augen leuchtete etwas: wenn es auch kein Entschluß war, so war es doch etwas Mächtiges, was einem Entschlusse ähnlich sah ...
»Afanassij Wassiljewitsch!« sagte er mit fester Stimme. »Wenn Sie mir nur die Freiheit und die Möglichkeit erwirken, von hier auch mit dem kleinsten Vermögen zu entkommen, so gebe ich Ihnen mein Wort, daß ich ein neues Leben beginnen werde: ich kaufe mir damit ein kleines Gut, werde Landwirt; werde Geld sparen, doch nicht für mich, sondern um den anderen zu helfen, werde nach Kräften Gutes tun; ich werde mich selbst und alle die städtischen Schlemmereien und Trinkgelage vergessen und ein einfaches, nüchternes Leben führen.«
»Gott gebe Ihnen die Kraft zu diesem Entschluß!« sagte der Alte erfreut. »Ich will mein möglichstes tun, um beim Fürsten Ihre Befreiung zu erwirken. Ob es mir gelingen wird, weiß Gott allein. Jedenfalls wird Ihr Los erleichtert werden. Ach, mein Gott! Umarmen Sie mich! Lassen Sie sich umarmen. Eine große Freude haben Sie mir bereitet! Nun, mit Gott, ich gehe sofort zum Fürsten.«
Tschitschikow blieb allein.
Sein ganzes Wesen war erschüttert und erweicht. Selbst das Platin, das härteste der Metalle, das dem Feuer am längsten widersteht, schmilzt, wenn man die Flammen mit dem Blasebalg zur unerträglichen Glut anfacht – das eigensinnige Metall wird weiß und verwandelt sich in Flüssigkeit; auch der stärkste Mensch gibt im Schmelzofen der Schicksalsschläge nach, wenn sie, immer stärker werdend, seine verhärtete Natur mit ihren Flammen belecken ...
›– Ich verstehe und fühle es zwar nicht, werde aber alle Kräfte aufwenden, damit es die anderen fühlen; ich selbst bin schlecht und . . . nichts, werde aber alle Kräfte aufwenden, um die anderen umzustimmen; ich bin selbst ein schlechter Christ, werde aber alle Kräfte aufwenden, um kein Ärgernis zu geben. Ich werde mich bemühen, werde auf dem Lande im Schweiße meines Angesichts arbeiten und rechtschaffen sein, um einen guten Einfluß auf die anderen auszuüben. Tauge ich denn wirklich zu nichts mehr? Ich habe doch Fähigkeiten, die man in der Landwirtschaft braucht; ich bin sparsam, geschickt, vernünftig, sogar ausdauernd. Ich muß nur den Entschluß fassen ...‹ –
So dachte Tschitschikow und schien mit den halb erwachten Kräften seiner Seele etwas zu erfassen. Seine Natur schien dunkel zu ahnen, daß es eine Pflicht gibt, die der Mensch auf Erden erfüllen muß, die er überall, in jedem Winkel erfüllen kann, trotz aller widrigen Umstände, Verwirrungen und Einflüsse, die den Menschen umschwirren, wo er auch steht. Er sah schon das fleißige Leben, fern vom Lärm der Städte, fern von den Versuchungen, die der müßige, der Arbeit entwöhnte Mensch erfunden hat, so deutlich vor sich, daß er das Unangenehme seiner Lage beinahe vergaß und vielleicht auch bereit war, der Vorsehung für diesen harten Schlag zu danken, wenn man ihn nur herausließe und ihm auch nur einen Teil seines Vermögens zurückgäbe ... Die schmale Türe seiner schmutzigen Zelle ging aber auf, und herein trat eine beamtete Person – Ssamoswitow, ein Epikuräer, ein flotter Kerl mit breiten Schultern und langen Beinen, ein guter Kamerad, Bummler und eine geriebene Bestie, wie ihn seine Kollegen nannten. Zu Kriegszeiten hätte der Mensch wahre Wunder vollbringen können; ihn könnte man beauftragen, sich durch eine unwegsame und gefährliche Gegend durchzuschlagen, dem Feinde eine Kanone vor der Nase zu stehlen – das wäre was für ihn. Doch aus Ermanglung einer kriegerischen Schaubühne, auf der er vielleicht ein ehrlicher Mensch geworden wäre, verwendete er alle seine Kräfte auf schlechte Streiche. Eine seltsame Sache! So sonderbar waren seine Überzeugungen und Moralregeln: seinen Kameraden gegenüber benahm er sich tadellos; er verriet niemand und hielt stets sein Wort; doch die Vorgesetzten betrachtete er als eine Art feindliche Batterie, durch die er sich durchschlagen mußte, indem er sich jede schwache Stelle, jede Bresche und Nachlässigkeit zunutze machen durfte.
»Wir sind über Ihre Lage unterrichtet, wir haben alles gehört!« sagte er, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Türe hinter ihnen fest verschlossen war. »Macht nichts, macht nichts! Verzagen Sie nicht: alles kommt in Ordnung. Wir alle werden für Sie arbeiten und stehen zu Ihren Diensten. Dreißigtausend Rubel für alle, und fertig.«
»Wirklich?« rief Tschitschikow aus. »Und ich werde ganz freigesprochen?«
»Vollkommen! Sie werden sogar eine Entschädigung für Ihre Verluste bekommen.«
»Und für Ihre Mühe?«
»Dreißigtausend. Für alle: für die Unserigen, für die Beamten des Generalgouverneurs und für den Sekretär.«
»Aber erlauben Sie, wie kann ich es machen? ... Alle meine Sachen ... die Schatulle ... alles ist versiegelt und beschlagnahmt ...«
»In einer Stunde haben Sie alles wieder. Also abgemacht?«
Tschitschikow schlug ein. Sein Herz klopfte, und er traute nicht recht, daß es möglich sei ...
»Inzwischen leben Sie wohl! Unser gemeinsamer Freund ließ Ihnen sagen, daß das Wichtigste jetzt Ruhe und Geistesgegenwart sind.«
– Hm! – dachte sich Tschitschikow, – ich verstehe: der Rechtsbeistand! –
Ssamoswitow verschwand. Als Tschitschikow allein geblieben war, konnte er seinen Worten noch immer nicht trauen; aber es war keine halbe Stunde nach diesem Gespräch vergangen, als ihm seine Schatulle gebracht wurde: die Papiere, das Geld – alles war in der schönsten Ordnung. Ssamoswitow erschien in der Rolle eines Aufsichtsbeamten: er erteilte den Wachtposten eine Rüge, weil sie nicht wachsam genug seien, befahl dem Aufseher, noch einige Soldaten zur Verstärkung kommen zu lassen, nahm nicht nur die Schatulle, sondern auch alle Papiere, die Tschitschikow irgendwie kompromittieren konnten, zu sich, schnürte alles zusammen, versiegelte es und schickte das alles mit einem Soldaten zu Tschitschikow unter der Vorspiegelung, daß es Dinge seien, die der Verhaftete für die Nacht brauche; so erhielt Tschitschikow zugleich mit den Papieren auch noch warme Sachen, um seinen sterblichen Leib zu bedecken. Diese schnelle Zustellung machte ihm unsagbare Freude. Er faßte Hoffnung, und schon schwebten ihm allerlei schöne Dinge vor: am Abend Theater und die Tänzerin, der er die Cour machte. Das Landleben und die Stille erschienen ihm wieder blasser, die Stadt und der Lärm dagegen leuchtender und klarer ... Oh, Leben!
Unterdessen war in den Gerichten und Kanzleien eine Affäre von grenzenlosen Dimensionen entstanden. Die Federn der Schreiber arbeiteten unermüdlich; gewitzigte Rechtsverdreher mühten sich ab, hier und da eine Prise nehmend und jede knifflige Zeile mit einem geradezu künstlerischen Genuß betrachtend. Der Rechtsbeistand lenkte wie ein verborgener Magier den ganzen Mechanismus; ehe sich es jemand versah, hatte er schon alle mit seinen Netzen umgarnt. Der Wirrwarr wurde immer größer. Ssamoswitow übertraf sich selbst an Kühnheit und unerhörter Frechheit. Nachdem er in Erfahrung gebracht hatte, wo die verhaftete Frau saß, ging er direkt hin und trat so keck als Vorgesetzter auf, daß der Posten salutierte und stramm stand. »Stehst du schon lange hier?« – »Seit heute früh, Euer Wohlgeboren.« – »Wann kommt die Ablösung?« – »In drei Stunden, Euer Wohlgeboren.« – »Ich werde dich brauchen. Ich will dem Offizier sagen, daß er statt deiner einen anderen herkommandiert.« – »Zu Befehl, Euer Wohlgeboren!« Ssamoswitow fuhr sofort nach Hause und verkleidete sich selbst, um niemand anderen in die Sache zu verwickeln, als Gendarm; plötzlich hatte er Schnurr- und Backenbart – der Teufel selbst würde ihn nicht erkennen. Er ging ins Haus, wo Tschitschikow wohnte, packte das erste beste Weib, das ihm in die Hände fiel, übergab es zwei geschickten Beamten, die ebenso gerieben waren wie er selbst, und begab sich mit seinem Schnurrbart und mit dem Gewehr, ganz wie es sich gehört, zu dem Wachtposten: »Geh zu . . . Der Kommandant hat mich hergeschickt, um dich abzulösen!« Er löste ihn ab und stellte sich selbst mit dem Gewehr hin. Das war alles, was er brauchte. Währenddessen kam an die Stelle des früheren Weibes ein anderes, das nichts wußte und nichts verstand. Das erste Weib versteckte man inzwischen so gründlich, daß man auch später nicht mehr erfahren konnte, wo es hingekommen war. Während Ssamoswitow sich in der Verkleidung eines Kriegers auf diese Weise betätigte, vollbrachte der Rechtsbeistand wahre Wunder auf dem Gebiete der Zivilverwaltung: er ließ den Gouverneur auf Umwegen wissen, daß der Staatsanwalt eine geheime Anzeige gegen ihn schreibe; dem Gendarmerieoberst ließ er mitteilen, daß ein sich in der Stadt geheim aufhaltender Beamter gegen ihn Anzeigen schreibe; den sich geheim aufhaltenden Beamten überzeugte er, daß es einen noch geheimeren Beamten gebe, der ihn denunziere – so versetzte er alle in eine solche Lage, daß sie sich von ihm Ratschläge holen mußten. Es gab einen furchtbaren Wirrwarr: eine geheime Anzeige folgte der anderen, und es kamen solche Dinge an den Tag, wie sie die Sonne nie gesehen hatte, und selbst solche, die überhaupt nicht existierten. Alles kam auf und wurde mit verwertet: wer unehelich geboren war, aus welchem Stande wer stammte, wer eine Geliebte hatte und wessen Frau wem nachlief. Zahllose ärgerniserregende Skandalgeschichten wurden bekannt, und alles vermengte sich dermaßen mit dem Falle Tschitschikows und mit den toten Seelen, daß man unmöglich entscheiden konnte, welche von diesen Affären die unsinnigste war: beide schienen von gleicher Güte. Schließlich liefen auch beim Generalgouverneur allerlei Papiere ein, und der arme Fürst konnte nichts begreifen. Ein sehr kluger und geschickter Beamter, der beauftragt war, einen Auszug aus allen Akten zu machen, wurde beinahe verrückt, da er unmöglich den Kern der Sache erfassen konnte. Der Fürst hatte um jene Zeit auch noch verschiedene andere Sorgen, eine unangenehmer als die andere. In einem Teil des Gouvernements herrschte Hungersnot. Die Beamten, die man hingeschickt hatte, um Brot zu verteilen, führten diesen Auftrag nicht so aus, wie sie sollten. Im anderen Teil des Gouvernements regten sich die Sektierer. Jemand ließ unter ihnen das Gerücht los, daß der Antichrist erschienen sei, der auch die Toten nicht in Ruhe lasse und tote Seelen aufkaufe. Sie taten Buße und sündigten und brachten unter dem Vorwande, den Antichrist einfangen zu wollen, mehrere Nichtantichristen um. In einer anderen Gegend empörten sich die Bauern gegen die Gutsbesitzer und die Polizeihauptleute. Irgendwelche Vagabunden verbreiteten unter ihnen das Gerücht, daß die Zeit anbreche, wo die Bauern Gutsbesitzer werden und Fräcke anziehen müßten; die Gutsbesitzer würden aber Bauernkittel anziehen und Bauern werden; eine ganze große Gemeinde weigerte sich, ohne zu überlegen, daß es dann viel zu viele Gutsbesitzer und Polizeihauptleute geben würde . . . die Steuern zu bezahlen. Man mußte zu Zwangsmaßregeln greifen. Der arme Fürst war in der übelsten Laune. Da meldete man ihm den Besuch des Branntweinpächters. »Soll er nur kommen«, sagte der Fürst. Der Alte trat ein.
»Da haben Sie Ihren Tschitschikow! Sie sind immer für ihn eingetreten und haben ihn verteidigt. Jetzt hat man ihn aber bei einer Sache erwischt, für die auch der schlimmste Gauner nicht zu haben wäre.«
»Gestatten Sie mir die Bemerkung, Durchlaucht, daß ich diese ganze Angelegenheit nicht recht verstehe.«
»Die Fälschung eines Testaments, und was für eine! ... Darauf steht öffentliche Knutenstrafe!«
»Durchlaucht, ich will Tschitschikow nicht verteidigen, aber ich muß sagen, daß die Sache noch nicht bewiesen ist: die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen.«
»Es gibt Beweise: die Frau, die die Rolle der Verstorbenen spielen mußte, ist verhaftet. Ich will sie sofort in Ihrer Gegenwart vernehmen.« Der Fürst klingelte und befahl die Frau zu holen.
Murasow schwieg.
»Eine ganz ehrlose Sache! Zu unserer Schande sind auch die höchsten Beamten der Stadt verwickelt, sogar der Gouverneur. Er dürfte doch nichts mit den Dieben und Spitzbuben zu tun haben!« sagte der Fürst erregt.
»Der Gouverneur ist ja auch Erbe; er durfte wohl gewisse Ansprüche erheben; und daß die anderen sich von allen Seiten an die Affäre geklammert haben, ist doch nur menschlich, Durchlaucht! Eine reiche Frau ist, ohne eine kluge und gerechte letztwillige Verfügung zu hinterlassen, gestorben; nun sind von allen Seiten Leute herbeigestürzt, die gern einen Bissen erwischen möchten – das ist nur menschlich ...«
»Aber wozu alle die Gemeinheiten? ... Diese Schurken!« sagte der Fürst empört. »Ich habe keinen einzigen anständigen Beamten, alle sind Schurken!«
»Durchlaucht! Wer von uns ist denn wirklich anständig? Alle Beamten unserer Stadt sind nur Menschen; alle haben ihre Vorzüge, viele sind in ihrem Fach sehr tüchtig, sündigen kann aber ein jeder!«
»Hören Sie, Afanassij Wassiljewitsch: sagen Sie mir – ich kenne Sie als einen ehrlichen Menschen – was haben Sie für eine merkwürdige Leidenschaft, alle Schurken in Schutz zu nehmen?«
»Durchlaucht,« sagte Murasow, »wenn Sie jemand auch einen Schurken nennen, so ist er doch immerhin ein Mensch. Wie soll man den Menschen nicht verteidigen, wenn man weiß, daß er die Hälfte seiner Verbrechen aus Roheit und Unbildung verübt? Wir alle begehen auf Schritt und Tritt Ungerechtigkeiten und verschulden jeden Augenblick das Unglück unserer Mitmenschen, selbst ohne jede böse Absicht. Auch Eure Durchlaucht haben eine große Ungerechtigkeit begangen.«
»Wie!« rief der Fürst erstaunt aus, bestürzt über diese unerwartete Wendung des Gesprächs.
Murasow schwieg eine Weile, als überlegte er sich etwas und sagte schließlich: »Nun, zum Beispiel in der Affäre Djerpjennikow.«
»Afanassij Wassiljewitsch! Das war doch ein Verbrechen gegen die Grundgesetze des Staates, beinahe Landesverrat!«
»Ich verteidige ihn nicht. War es aber gerecht, einen Jüngling, der sich in seiner Unerfahrenheit von anderen hatte verführen und verlocken lassen, ebenso zu bestrafen, wie einen der Rädelsführer? Djerpjennikow hat ja dasselbe Schicksal erfahren, wie ein Woronnoj-Drjannoj; ihre Verbrechen waren aber nicht gleich.«
»Um Gottes willen ...« sagte der Fürst in sichtbarer Erregung. »Wissen Sie etwas darüber? Sagen Sie es mir. Ich habe erst kürzlich nach Petersburg geschrieben und um die Milderung seines Loses gebeten.«
»Nein, Durchlaucht, ich will nicht gesagt haben, daß ich etwas weiß, was Sie nicht wissen. Obwohl es wirklich einen Umstand gibt, der ihm nützen könnte; er wird aber von ihm keinen Gebrauch machen wollen, weil darunter ein anderer leiden könnte. Ich frage mich bloß, ob Sie damals nicht doch etwas voreilig gehandelt haben? Entschuldigen Sie, Durchlaucht, ich urteile nur nach meinem schwachen Verstande. Sie haben mich mehrmals aufgefordert, aufrichtig zu sprechen. Als ich noch selbst Vorgesetzter war, hatte ich allerlei Arbeiter unter mir, gute und schlechte. Man muß auch das Vorleben eines Menschen mit in Betracht ziehen. Wenn man nicht alles kaltblütig untersucht, sondern gleich zu schreien anfängt – so schüchtert man den Menschen nur ein und bekommt von ihm kein Geständnis zu hören; wenn man ihn aber mit Teilnahme, wie einen Bruder, ausfragt – so sagt er alles von selbst und bittet nicht mal um Milderung der Strafe; er ist auch gegen niemand erbittert, denn er sieht klar, daß nicht ich ihn bestrafe, sondern das Gesetz.«
Der Fürst wurde nachdenklich. In diesem Augenblick trat ein junger Beamter ins Zimmer und blieb respektvoll mit seinem Portefeuille in der Hand stehen. Sorge und Anstrengung spiegelten sich in seinem jugendlichen, noch frischen Gesicht. Offenbar wurde er nicht umsonst für besondere Aufträge verwendet. Er war einer der wenigen Beamten, die ihr Amt con amore versahen. Weder von Ehrgeiz noch von Habgier bewegt, auch nicht um es den anderen gleichzutun, tat er seinen Dienst nur aus dem Grunde, weil er überzeugt war, daß er für diese und keine andere Stellung geschaffen war, daß er überhaupt nur dazu lebte. Eine Sache erforschen, in allen Teilen untersuchen, alle Fäden eines verwickelten Falles entwirren – das war seine Sache. Er war für alle seine Mühen, alle schlaflosen Nächte und Anstrengungen reichlich belohnt, wenn die Sache sich zu klären begann, wenn die verborgensten Gründe ans Licht kamen und er sich imstande fühlte, das Ganze mit wenigen Worten deutlich und klar darzustellen, so daß es einem jeden offenbar und verständlich sein würde. Man kann wohl sagen, kein Schüler hat sich noch so sehr gefreut, wenn es ihm gelang, irgendeinen schwierigen Satz zu entwirren und den Sinn des Gedankens eines großen Schriftstellers zu erfassen, wie er sich freute, wenn sich vor seinen Blicken eine verworrene Sache klärte . . .
»... mit Brot in den Gegenden, die von der Hungersnot betroffen sind; ich kenne dieses Gebiet besser als alle Beamten; ich werde persönlich untersuchen, was jeder braucht. Wenn Eure Durchlaucht mir gestatten, will ich auch mit den Sektierern sprechen. Mit unsereinem, einem einfachen Mann, werden sie viel eher reden wollen, und so wird die Sache, so Gott will, vielleicht auf friedlichem Wege erledigt werden. Die Beamten werden es aber niemals fertigbringen: es wird gleich eine Schreiberei beginnen, und sie werden sich so in die Akten vergraben, daß sie die Sache selbst nicht mehr sehen werden. Das Geld werde ich aber von Ihnen nicht annehmen, denn es ist, bei Gott, eine Schande, an seinen eigenen Vorteil zu denken, zu einer Zeit, wo die Menschen Hungers sterben. Ich habe noch einige Getreidevorräte; auch habe ich schon meine Leute nach Sibirien geschickt, und zum nächsten Sommer werden sie mir neues Getreide bringen.«
»Gott allein kann Sie für diesen Dienst belohnen, Afanassij Wassiljewitsch. Ich aber werde Ihnen kein Wort sagen, denn jedes Wort ist, wie Sie es wohl selbst fühlen, ohnmächtig. Aber gestatten Sie mir nur eines zu Ihrer Bitte zu bemerken. Sagen Sie selbst: habe ich das Recht, an dieser Sache achtlos vorüberzugehen, und wird es gerecht und ehrlich von mir sein, wenn ich diesen Schurken verzeihe?«
»Durchlaucht, bei Gott, man darf sie so nicht nennen, um so mehr, als unter ihnen auch viele würdige Männer sind. Schwierig ist zuweilen die Lage des Menschen, Durchlaucht, furchtbar schwierig. Es kommt vor, daß der Mensch die ganze Schuld zu tragen scheint; wenn man aber genauer hinsieht, so ist er unschuldig.«
»Aber was werden sie selbst sagen, wenn ich die Sache niederschlage? Viele von ihnen werden noch hochnäsiger werden und sogar sagen, sie hätten uns Angst eingejagt. Sie werden die ersten sein, die allen Respekt verlieren ...«
»Durchlaucht, erlauben Sie mir, Ihnen meine Meinung zu sagen: Lassen Sie sie alle kommen, sagen Sie ihnen, daß Sie alles wissen; schildern Sie ihnen Ihre eigene Lage genau so, wie Sie sie soeben mir geschildert haben, und fragen Sie sie um Rat: was ein jeder von ihnen an Ihrer Stelle wohl tun würde.«
»Sie meinen wohl, daß ihnen edlere Regungen mehr eigen sind, als Ränke und Habgier? Glauben Sie mir: sie werden mich auslachen.«
»Das glaube ich nicht, Durchlaucht. Jeder Mensch, selbst der schlechte Mensch, hat doch einen Instinkt für die Gerechtigkeit. Vielleicht stimmt das nur bei einem Juden nicht, doch der Russe ... Nein, Durchlaucht, Sie haben nichts zu verheimlichen. Sprechen Sie zu ihnen genau so, wie Sie zu mir gesprochen haben. Sie schmähen Sie als einen stolzen, ehrgeizigen Menschen, der auf nichts hören will und selbstbewußt ist –, sollen sie nun sehen, wie es sich in Wirklichkeit verhält. Was kümmert Sie das? Ihre Sache ist doch gerecht. Sagen Sie das ihnen so, als beichteten Sie nicht ihnen, sondern dem Herrn selbst.«
»Afanassij Wassiljewitsch,« sagte der Fürst nachdenklich, »ich will es mir überlegen, einstweilen danke ich Ihnen aber für Ihren Rat.«
»Den Tschitschikow wollen Sie aber freilassen, Durchlaucht.«
»Sagen Sie diesem Tschitschikow, er soll sich aus dem Staube machen, und zwar so schnell als möglich, und je weiter, um so besser. Ihm würde ich niemals verzeihen.«
Murasow begab sich vom Fürsten direkt zu Tschitschikow. Er traf ihn bereits in guter Laune an, mit einem recht anständigen Mittagessen beschäftigt, das man ihm in einem Fayencegeschirr aus einer gleichfalls recht anständigen Garküche gebracht hatte. Schon aus seinen ersten Worten merkte der Alte, daß Tschitschikow inzwischen mit einigen von den beamteten Rechtsverdrehern gesprochen hatte. Er begriff sogar, daß auch der gerissene Rechtsbeistand unsichtbar mit hineinspielte.
»Hören Sie mal, Pawel Iwanowitsch,« sagte er, »ich bringe Ihnen die Freiheit unter der Bedingung, daß Sie sofort diese Stadt verlassen. Packen Sie alle Ihre Habseligkeiten und machen Sie sich mit Gott auf den Weg, ohne auch nur einen Augenblick zu säumen, denn Ihre Sache steht jetzt noch schlimmer. Ich weiß, Sie sind jetzt von einem gewissen Menschen beeinflußt; darum teile ich Ihnen vertraulich mit, daß eben noch eine Affäre an den Tag kommt, die so schlimm ist, daß Ihnen keine Macht auf Erden mehr helfen kann. Er ist natürlich froh, wenn er aus Zeitvertreib andere Menschen ins Verderben stürzen kann, doch die Sache kommt bald an den Tag. Als ich Sie verließ, waren Sie in einer guten Gemütsverfassung, in einer viel besseren als jetzt. Mein Rat ist vollkommen ernst gemeint. Bei Gott, es kommt wirklich nicht auf dieses Vermögen an, um dessentwillen die Menschen einander bekämpfen und umbringen: als ob es möglich wäre, sein irdisches Leben in Ordnung zu bringen, ohne an das künftige Leben zu denken! Glauben Sie es mir, Pawel Iwanowitsch: solange die Menschen nicht alles, um dessentwillen sie sich zerfleischen und auffressen, aufgeben, solange sie nicht daran denken, ihre geistige Habe in Ordnung zu bringen, kann auch die irdische Habe nicht in Ordnung gebracht werden. Es werden Zeiten des Hungers und der Armut kommen, wie für das ganze Volk, so auch für jeden einzelnen Menschen ... Das ist klar. Sie mögen sagen, was Sie wollen, der Leib hängt doch nur von der Seele ab. Wie kann man nur erwarten, daß alles nach Wunsch gehe? Denken Sie nicht an die toten Seelen, sondern an Ihre eigene lebendige Seele und betreten Sie mit Gottes Hilfe den neuen Weg! Ich reise auch morgen ab. Beeilen Sie sich! Sonst wird es in meiner Abwesenheit ein Unglück geben.«
Der Alte ging, nachdem er dies gesagt hatte, hinaus. Tschitschikow wurde nachdenklich. Der Sinn des Lebens erschien ihm wieder gar nicht so unwichtig. – Murasow hat recht – sagte er: – Es ist Zeit, einen neuen Weg zu beginnen! – Nach diesen Worten verließ er das Gefängnis. Der Wachtposten schleppte ihm seine Schatulle nach ... Sselifan und Petruschka freuten sich über die Befreiung ihres Herrn so, als ob es Gott weiß was für ein Glück wäre. »Nun, meine Lieben,« sagte Tschitschikow, sich gnädig an sie wendend, »wir müssen packen und abreisen.«
»Wie der Wind werden wir fahren, Pawel Iwanowitsch!« sagte Sselifan. »Der Weg ist jetzt wohl gut: es ist genug Schnee gefallen. Es ist wirklich Zeit, aus dieser Stadt herauszukommen. Ich habe sie so satt, daß ich sie nicht mehr ansehen mag.«
»Geh zum Wagenbauer und laß unseren Wagen auf Schlittenkufen setzen,« sagte Tschitschikow und begab sich in die Stadt; aber er hatte keine Lust, Abschiedsvisiten zu machen. Nach allen diesen Ereignissen wäre ihm dies auch unangenehm, um so mehr, als in der Stadt allerlei ungünstige Gerüchte über ihn umliefen. Er ging allen Begegnungen aus dem Wege und begab sich nur ganz still zu dem Kaufmann, bei dem er das Tuch von Navarinoscher Flammenfarbe mit Pulverrauch gekauft hatte; er kaufte wieder vier Arschin für Frack und Hose und ging dann zu demselben Schneider. Der Schneidermeister entschloß sich, für den doppelten Preis die Arbeit zu beschleunigen; die ganze Bevölkerung seiner Werkstatt mußte die ganze Nacht bei Kerzenlicht mit Nadeln, Bügeleisen und Zähnen arbeiten, und der Frack war auch wirklich am nächsten Tage, wenn auch etwas spät, fertig. Die Pferde waren schon angespannt. Tschitschikow probierte aber dennoch den Frack an. Er war schön, genau so schön, wie der erste. Doch wehe! Er bemerkte etwas Glattes und Weißes durch seine Haare hindurchschimmern und sagte traurig: »Warum ließ ich mich nur so von der Verzweiflung hinreißen? Am allerwenigsten durfte ich mir aber mein Haar ausraufen.« Er rechnete mit dem Schneider ab und verließ endlich die Stadt in einer sehr merkwürdigen Gemütsverfassung. Es war nicht mehr der alte Tschitschikow; es war nur eine Ruine des alten Tschitschikow. Sein Seelenzustand ließe sich mit einem in seine einzelnen Bestandteile zerlegten Gebäude vergleichen, welches aus diesen Bestandteilen neu aufgebaut werden soll; mit dem Neubau hat man aber noch nicht begonnen, weil der Architekt noch keinen endgültigen Plan geschickt hat, und die Arbeiter stehen ganz ratlos da. Eine Stunde vor Tschitschikows Abreise machte sich auch Murasow mit Potapytsch in einem einfachen, mit Bastmatten gedeckten Wagen auf den Weg, und eine Stunde nach Tschitschikows Abreise erging an alle Beamten der Befehl, zum Fürsten zu kommen, der sie vor seiner Abreise nach Petersburg noch sehen wolle.
Im großen Saale des Hauses des Generalgouverneurs versammelten sich sämtliche Beamte der Stadt, vom Gouverneur bis zum Titullarrat abwärts: die Kanzleivorstände, die Abteilungsvorstände, die Räte, die Assessoren, Kislojedow, Krasnonossow, Ssamoswitow, solche, die man bestechen konnte, solche, die man nicht bestechen konnte, Gauner, halbe Gauner und keine Gauner. Alle warteten nicht ohne Aufregung auf das Erscheinen des Generalgouverneurs. Der Fürst kam zu ihnen heraus; er war weder düster noch heiter: seine Blicke waren ebenso sicher wie seine Schritte. Die versammelten Beamten verneigten sich, viele sehr tief. Der Fürst dankte mit einer leichten Verbeugung und begann:
»Vor meiner Abreise nach Petersburg hielt ich es für angemessen, Sie alle noch einmal zu sehen und Ihnen zum Teil auch die Gründe zu erklären. Bei uns ist eine sehr ärgerniserregende Sache im Gange. Ich glaube, viele von den Anwesenden wissen, was für eine Sache ich meine. Diese Sache hat zur Aufdeckung anderer, nicht weniger schmachvoller Sachen geführt, in die schließlich auch solche Menschen verwickelt sind, die ich bisher für ehrlich hielt. Mir ist auch das geheime Ziel der Machenschaften bekannt: alles dermaßen zu verwirren, daß es gänzlich unmöglich werde, eine Entscheidung auf formalem Wege zu treffen. Ich weiß sogar, wer der Haupträdelsführer ist und durch wessen geheime . . . obwohl er seine Teilnahme sehr geschickt zu verheimlichen gewußt hat. Die Sache ist nun die, daß ich mich entschlossen habe, das Verfahren nicht auf formalem Aktenwege, sondern durch das schnelle Kriegsgericht wie in Kriegszeiten durchzuführen, und ich hoffe, vom Kaiser die Ermächtigung dazu zu erwirken, wenn ich ihm den ganzen Fall darlege. In einem solchen Falle, wo keine Möglichkeit besteht, die Sache mit Hilfe der bürgerlichen Gesetze zu erledigen, wenn Schränke mit Akten verbrennen und wenn man sich auch noch bemüht, durch eine Menge von falschen Aussagen, die mit der Sache nichts zu tun haben, und durch falsche Anzeigen diesen auch ohnehin dunklen Fall noch mehr zu verdunkeln – so halte ich das Kriegsgericht für das einzige Mittel. Nun möchte ich gerne auch Ihre Meinung darüber hören.«
Der Fürst hielt inne, als erwartete er eine Antwort. Alle standen da, den Blick zu Boden gesenkt. Viele waren blaß.
»Es ist mir auch noch eine andere Sache bekannt, obwohl die Beteiligten fest davon überzeugt sind, daß sie niemals an den Tag kommen wird. Auch dieser Fall wird nicht auf dem Aktenwege behandelt werden, weil ich hier selbst Bittsteller und Supplikant bin und offensichtliche Beweise vorlegen werde.«
In der Beamtenversammlung zuckte einer zusammen; auch manche andere von den Ängstlichen wurden verlegen.
»Es versteht sich von selbst, daß die Hauptschuldigen ihre Titel und Vermögen verlieren und dann auch ihrer Posten enthoben sein werden. Es versteht sich von selbst, daß dabei auch viele Unschuldige leiden werden. Aber was ist zu machen? Der Fall ist zu schmachvoll und schreit nach Gerechtigkeit. Obwohl ich weiß, daß dadurch nicht mal ein Exempel statuiert wird, weil an die Stelle der Bestraften sofort andere kommen werden, weil die, die bisher ehrlich waren, unehrlich werden und die, denen ich Vertrauen schenken werde, mich betrügen und verraten werden – trotz alledem muß ich hart vorgehen, denn die verletzte Gerechtigkeit schreit zum Himmel. Ich weiß, daß man mir Härte und Grausamkeit vorwerfen wird, aber ich weiß auch, daß diese . . . solche muß ich zu gefühllosen Werkzeugen der Gerechtigkeit machen, das auf die Häupter der . . . herabfallen soll ...«
Über alle Gesichter lief unwillkürlich ein Zittern.
Der Fürst war ruhig. Sein Gesicht drückte weder Zorn noch seelische Empörung aus.
»Derjenige, in dessen Hand das Schicksal vieler liegt und den keinerlei Bitten erweichen können, richtet jetzt selbst eine Bitte an euch. Alles soll vergessen, getilgt und vergeben werden, ich selbst will euer Fürsprecher sein, wenn ihr meine Bitte erfüllt. Ich bitte um folgendes. Ich weiß, daß man das Unrecht durch keinerlei Mittel, keinerlei Einschüchterung und keinerlei Strafen ausrotten kann: es hat schon zu tiefe Wurzeln gefaßt. Die schmachvolle Bestechlichkeit ist schon zu einer Notwendigkeit und einem Bedürfnis selbst bei solchen Leuten geworden, die nicht als Ehrlose geboren sind. Ich weiß, daß es vielen beinahe unmöglich ist, gegen den Strom zu schwimmen. Doch jetzt, in dem entscheidenden und heiligen Augenblick, wo es das Vaterland zu retten gilt, wo jeder Bürger alles trägt und seine ganze Habe opfert, muß ich wenigstens diejenigen anrufen, die noch ein russisches Herz in ihrer Brust haben und denen das Wort Edelmut verständlich ist. Was soll man noch davon reden, wer von uns die meiste Schuld hat? Vielleicht habe ich die größte Schuld; vielleicht habe ich euch anfangs zu streng empfangen; vielleicht habe ich durch übertriebenen Argwohn diejenigen abgestoßen, die aufrichtig bestrebt waren, mir nützlich zu sein, obwohl ich auch meinerseits hätte erreichen können, daß . . . Wenn es Ihnen tatsächlich um die Gerechtigkeit und um das Wohl Ihres Landes zu tun war, so hätten Sie sich durch meine hochmütige Haltung nicht verletzt fühlen dürfen; Sie hätten Ihren Ehrgeiz unterdrücken und alles Persönliche zum Opfer bringen müssen. Es wäre undenkbar, daß ich Ihre Selbstaufopferung und Ihre hohe Liebe zum Guten übersehen und Ihre nützlichen und klugen Ratschläge nicht angenommen hätte. Der Untergebene muß sich doch eher dem Charakter seines Vorgesetzten anpassen, als der Vorgesetzte dem des Untergebenen. Das wäre jedenfalls natürlicher und leichter, denn die Untergebenen haben nur einen Vorgesetzten, doch der Vorgesetzte hat hundert Untergebene. Aber lassen wir jetzt die Frage beiseite, wer der Schuldige ist. Es handelt sich darum, daß wir jetzt unser Land retten müssen; daß unser Land nicht an der Invasion von zwanzig feindlichen Völkern zugrunde geht, sondern an uns selbst; daß neben der rechtmäßigen Regierung eine andere Regierung entstanden ist, die viel mächtiger ist als jede rechtmäßige Regierung. Es sind bestimmte Satzungen aufgestellt worden, für alles hat man Preise festgesetzt, und diese Preise sind sogar allen bekannt. Kein Regent, und wäre er auch weiser als alle Gesetzgeber und Regenten, kann das Übel ausrotten, und wenn er auch die Willkür der schlechten Beamten dadurch zu beschränken suchte, daß er sie von anderen Beamten überwachen ließe. Alles wird vergeblich bleiben, solange nicht ein jeder von uns das Gefühl hat, daß er sich ebenso gegen das Unrecht erheben muß, wie er sich in der Zeit der Erhebung der Völker gegen . . . erhoben hat. Als Russe, der mit euch durch die Bande der Blutsverwandtschaft, durch das gleiche Blut verbunden ist, wende ich mich jetzt an euch. Ich wende mich an diejenigen unter euch, die eine Ahnung davon haben, was edle Gesinnung ist. Ich fordere euch auf, an die Pflicht zu denken, die der Mensch auf jedem Posten zu erfüllen hat. Ich fordere euch auf, auf die Pflicht und Schuldigkeit eures irdischen Amtes zu achten, weil wir es schon alle dunkel ahnen und weil wir kaum . . .