Das St.-Merryns-Spital lag an einer Hauptstraße, nahe einer verkehrsreichen Kreuzung; weshalb man es da hingebaut hatte und die Nerven der Patienten einer dauernden Belastung aussetzte, habe ich nie ergründen können. Den weniger empfindlichen Kranken mochte der ununterbrochene Verkehrslärm das Gefühl geben, daß sie auch in ihren Betten dem Leben nahe blieben.
Die Stille an diesem Morgen war befremdlich. Sie hatte etwas Beunruhigendes und Geheimnisvolles. Kein Räderknarren, kein Motorenlärm, überhaupt kein Fahrgeräusch. Kein Hupensignal war zu hören, nicht einmal der Hufschlag eines der seltenen Pferde, die noch zuweilen vorbeiklapperten. Auch nicht das Getrappel der Menge. Und es war doch die Zeit, wo alles zur Arbeit ging.
Je länger ich horchte, um so seltsamer und unheimlicher wirkte diese Lautlosigkeit. Innerhalb von, schätzungsweise, zehn Minuten gespannten Horchens unterschied ich fünf Paare von schlürfenden, zögernden Schritten, drei Stimmen, die in der Ferne Unverständliches riefen, und das hysterische Weinen einer Frau. Kein Taubengurren, kein Spatzengezwit-scher. Nichts. Nur das Harfen des Windes in den Drähten ...
Ein widriges, unheimliches Gefühl beschlich mich, ein Grauen, wie ich es manchmal als Kind empfun-den hatte, wenn ich Schreckgestalten in den finsteren Winkeln des Schlafzimmers lauern zu sehen glaubte.
Ich mußte dieses Grauen niederkämpfen, wie ich es einst als Kind niedergekämpft hatte. Und es war nicht leichter als damals. Noch immer waren die elementa-ren Ängste da und warteten auf eine günstige Gelegenheit, um mich unterzukriegen, und beinahe wäre es ihnen geglückt: bloß weil meine Augen verbunden waren und der Verkehr stillstand ...
Aber ich ließ mich nicht unterkriegen.
Die Versuchung, einen Blick zu tun, einen einzigen kleinen Blick, um zu sehen, was los war, war ungeheuer. Aber ich wehrte sie ab. Die Sache war nämlich gar nicht so leicht. Ich trug ja nicht einfach nur eine Binde vor den Augen, sondern einen komplizierten Verband. Und außerdem hatte ich Angst. Nach einer Woche vollkommenen Blindseins scheut man jedes Risiko. Gewiß, man wollte mir heute den Verband abnehmen, aber das würde nicht bei hellem Tageslicht geschehen, und die endgültige Entscheidung hing vom Ergebnis der Untersuchung ab. Und das war mir natürlich unbekannt. Mein Sehvermögen war vielleicht für immer geschädigt. Vielleicht konnte ich überhaupt nicht sehen. Ich wußte es nicht ...
Fluchend drückte ich auf den Klingelknopf.
Niemand kam. Mit der Unruhe wuchs auch der Ärger. Schlimm genug, wenn man auf fremde Hilfe angewiesen ist, schlimmer noch, wenn diese Hilfe ausbleibt.
Ich schlug die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Ich hatte das Zimmer, in dem ich lag, nie gesehen, glaubte aber nach dem Gehör gut genug orientiert zu sein; dennoch war es gar nicht leicht, die Türe zu finden. Ich hatte eine ganze Menge unerwarteter Hindernisse zu überwinden, stieß mir eine Zehe wund, auch das Schienbein bekam etwas ab, ehe ich mein Ziel erreichte. Ich öffnete die Tür und schrie in den Flur hinaus:
»Hallo! Frühstück auf Zimmer achtundvierzig!«
Einen Augenblick lang blieb es still. Dann brach Tumult los. Es war, als schrien Hunderte auf einmal, kein Wort ließ sich unterscheiden. Ein Alptraumge-fühl überkam mich. War ich noch im St. Merryns-Spital? Oder hatte man mich, während ich schlief, in eine Irrenanstalt geschafft? Dieses Geschrei konnte nicht von normalen, vernünftigen Menschen kommen. Hastig schlug ich die Tür zu und tappte mich in mein Bett zurück. Das Bett erschien mir in diesem Augenblick als der einzige sichere Zufluchtsort in einer unbegreiflich gewordenen Welt. Von der Straße herauf gellte ein wilder Aufschrei. Dreimal zerriß er die Stille. Und man glaubte ihn noch zu hören, als er längst verhallt war.
Da überwältigte mich das Grauen. Ich fühlte, wie mir unter dem Verband der Schweiß auf die Stirn trat. Ich wußte nun, es geschah etwas Furchtbares, etwas Entsetzliches. Ich konnte meine Verlassenheit und Hilflosigkeit nicht länger ertragen. Ich mußte Klarheit haben über das, was um mich vorging. Ich tastete nach den Bandagen und hatte die Finger schon an den Sicherheitsnadeln, als ich innehielt ...
Und wenn nun die Behandlung erfolglos geblieben war? Wenn sich, nachdem der Verband entfernt war, herausstellte, daß ich noch immer nicht sehen konnte? Das würde noch schlimmer sein, tausendmal schlimmer ...
Ich ließ die Hände sinken und legte mich zurück.
Erst nach einer Weile war ich wieder fähig, vernünftig zu denken; aufs neue grübelte ich nach einer möglichen Erklärung. Ich fand keine. Doch mehr und mehr festigte sich bei mir die Überzeugung, daß Mittwoch war, mochte sonst geschehen sein was immer. Denn der Vortag war ungewöhnlich gewesen.
Und daß seither nur eine einzige Nacht vergangen war, das konnte ich beschwören.
Den Berichten zufolge kreuzte Dienstag, den 7. Mai, eine Meteoritenwolke, der Überrest eines Kometen, die Erdbahn. Möglich. Millionen glaubten es jedenfalls. Mein Anteil an dem Ereignis beschränkte sich aufs Zuhören; ich lag im Bett und mußte den ganzen Abend die Augenzeugenberichte über ein Himmelsphänomen anhören, das als das unerhörteste seit Menschengedenken bezeichnet wurde.
Seltsam war, daß vor dem Einsetzen der Erscheinungen niemand ein Sterbenswort über den angebli-chen Kometen oder Kometenrest gehört hatte.
Warum die Radioübertragungen stattfanden, weiß ich nicht; es war ohnedies alles, was gehen, humpeln oder getragen werden konnte, vor den Türen oder an den Fenstern, um das großartigste Gratisfeuerwerk aller Zeiten zu bewundern. Auf mich wirkten diese Sendungen deprimierend, ich fühlte mit grausamer Klarheit, was es hieß, ohne Augenlicht zu sein. War die Behandlung erfolglos geblieben, dann schien es mir besser, ein Ende zu machen, als so weiterzuleben.
Schon tagsüber war gemeldet worden, daß man in der vorangegangenen Nacht rätselhafte grüne Blitze und Lichterscheinungen über Kalifornien beobachtet hatte.
Dann kamen aus dem ganzen pazifischen Raum Berichte über einen grünen Lichtregen, der die Nacht erhellt hatte, ungeheure Meteoritenschwärme waren gefallen, manchmal, so hieß es, in einer solchen Unzahl, daß es schien, als stürze der Himmel herab; und er stürzte ja auch wirklich herab, wie sich später herausstellte.
Als die Nacht westwärts rückte, blieb der Glanz der Erscheinung unvermindert. Schon vor dem Einbruch der Dunkelheit wurden vereinzelte grüne Lichtblitze sichtbar.
Als sei es mit den Radiosendungen nicht genug, mußte ich, als die Schwester mit dem Abendessen kam, einen weiteren Augenzeugenbericht über mich ergehen lassen.
»Der Himmel ist voller Sternschnuppen«, sagte sie.
»Alle hellgrün, ein förmlicher Regen. Die Leute haben dabei ganz fahle Gesichter. Alles ist auf und im Freien. Manchmal ist es taghell, nur die Farben sind anders. Hie und da ist das Licht so grell, daß es einem in den Augen weh tut. Aber der Anblick ist wunderbar. Etwas noch nie Dagewesenes, heißt es. Schade, daß Sie es nicht sehen können.«
»Schade«, antwortete ich etwas kurz.
Etwas später kam die Durchsage, daß die Erscheinung im Abflauen sei. Der Sprecher empfahl Eile, denn wer dieses Schauspiel versäumt habe, würde es sein Leben lang bedauern.
Es war, als sollte mir die Überzeugung eingehämmert werden, daß ich um das Hauptereignis meines Lebens gekommen sei.
Das alles war am vorigen Abend geschehen, das stand fest und außer Zweifel. Was aber war nachher passiert? Hatten sich das Spitalpersonal und die ganze Stadt von der nächtlichen Aufregung noch nicht erholt, lag alles in den Federn?
Da wurden meine Überlegungen unterbrochen, der Chor der Uhren begann fern und nah neun zu schlagen.
Ich läutete wieder. Und wartete. Vom Flur her kam ein unbestimmtes Geräusch, es hörte sich an wie ein Wimmern, Schlurfen und Tappen, hie und da übertönt von fernen Rufen.
Aber niemand kam.
Ich wurde rückfällig. Die Schrecken und Alp-traumgestalten der Kindheit waren wieder um mich.
Nein, ich bin kein Hasenfuß und Geisterseher, wirklich nicht ... Die verdammten Binden um die Augen und die Schreie im Flur waren schuld, daß meine Nerven versagten. Das Grauen hatte mich gepackt.
Zuletzt kam es auf die Frage an: was fürchtete ich mehr, die Gefährdung meines Augenlichts durch die vorzeitige Abnahme des Verbands, oder die Finsternis und die wachsende Angst?
Ich weiß nicht, welche Entscheidung ich ein, zwei Tage früher getroffen hätte – wahrscheinlich zuletzt die gleiche –, an diesem Morgen durfte ich mir wenigstens sagen:
»Verflucht nochmal, viel Schaden kann ich doch nicht anrichten, wenn ich Verstand gebrauche. Der Verband sollte ja heute herunter. Ich will es riskie-ren.«
Ich stieg aus dem Bett und ließ die Rollvorhänge herab, ehe ich daran ging, die Sicherheitsnadeln los-zumachen.
Sobald ich die Binden abgewunden hatte und merkte, daß ich im Dämmer sehen konnte, fühlte ich eine Erleichterung wie nie in meinem Leben. Ich begann meine Fassung wiederzugewinnen. Eine ganze Stunde ließ ich mir Zeit, um mich wieder an das volle Tageslicht zu gewöhnen. Als sie um war, fand ich, daß ich so gut sah wie immer; schnelle erste Hilfe und die Kunst der Ärzte hatten mir das Augenlicht gerettet.
Aber noch immer kam niemand.
Im unteren Fach des Nachtkästchens fand ich vor-sorglich eine dunkle Brille bereitgelegt. Vorsichtshalber setzte ich sie auf, ehe ich ans Fenster trat. Ich gewahrte ein, zwei Passanten, die auf eine wunderliche ziellose Art dahinzuwandern schienen. Was mir aber weit mehr und sogleich auffiel, war die klare Sicht, die Schärfe der Umrisse auch des fernen Dächerpan-oramas. Und dann entdeckte ich, daß nirgends Rauch aufstieg, kein Schornstein qualmte weit und breit ...
Ich fand meine Kleider fein säuberlich in den Schrank gehängt. Ich fühlte mich sofort dem Normalzustand näher, als ich sie angezogen hatte. Ein paar Zigaretten waren noch im Etui. Ich zündete eine davon an.
Langsam wurde ich ruhiger.
Dann öffnete ich die Tür und schritt vorsichtig hinaus.
Auf einer Seite endete der Flur vor einer verdun-kelten Glastür, auf der sich der Schatten eines Bal-kongeländers abzeichnete, ich schlug daher die ent-gegengesetzte Richtung ein. Als ich um eine Ecke ge-bogen war, hatte ich den Seitentrakt mit den Einzel-zimmern verlassen und befand mich in einem breite-ren Gang.
Auch er schien auf den ersten Blick leer, dann aber gewahrte ich eine Gestalt, die sich aus einem Schatten hervorbewegte. Es war ein Mann in dunkler Straßen-kleidung, nach dem weißen Mantel zu schließen, den er darüber trug, einer der Spitalärzte – seltsam war nur die Art, wie er tappend an der Wand entlang schlich.
»Herr Doktor«, sprach ich ihn an.
Er zuckte zusammen. Das Gesicht, das er mir zuwandte, war grau und angstvoll.
»Wer sind Sie?« fragte er unsicher.
»Mein Name ist Masen«, antwortete ich. »William Masen. Patient auf Zimmer 48. Ich möchte mich nur erkundigen, warum –«
»Sie können sehen?« unterbrach er mich rasch.
»Sicher. So gut wie früher«, erklärte ich. »Alles ist wunderbar geheilt. Da niemand gekommen ist, mir den Verband abzunehmen, habe ich es selbst getan.
Schaden, glaube ich, habe ich dabei nicht angerichtet.
Ich habe –«
Wieder unterbrach er mich.
»Bitte, führen Sie mich zu meinem Zimmer. Ich muß sofort anrufen.«
»Wo ist Ihr Zimmer?« fragte ich.
»Fünfter Stock, Westtrakt. Mein Name steht an der Tür – Doktor Soames.«
»Wo sind wir jetzt?« fragte ich.
»Wie zum Teufel soll ich das wissen?« sagte er bitter. »Sie haben Augen. Machen Sie sie auf, verdammt noch mal. Sehen Sie denn nicht, daß ich blind bin?«
Es war ihm nicht anzusehen. Er schien mich mit seinen weit offenen Augen anzublicken.
»Warten Sie hier eine Minute«, sagte ich. Ich schaute umher. Gegenüber dem Liftausstieg war eine große 5 an die Wand gemalt. Ich ging zurück und sagte ihm das.
»Gut. Fassen Sie meinen Arm«, unterwies er mich.
»Sie wenden sich, von der Lifttür kommend, nach rechts und biegen dann in den ersten Gang nach links ab. Meine Tür ist die dritte.«
Ich befolgte seine Anweisungen. Unterwegs trafen wir niemand. Im Zimmer führte ich ihn zu dem Schreibpult und übergab ihm den Apparat. Er horchte eine Weile. Dann tastete er nach der Hörer-gabel und rüttelte ungeduldig daran. Langsam wich der gereizte und gequälte Ausdruck aus seinem Gesicht. Er sah nur noch müde aus – sehr müde. Er legte den Hörer auf das Pult. Ein paar Augenblicke stand er reglos und schien die Wand vor sich anzustarren.
Dann wandte er den Kopf.
»Es ist zwecklos – alles still. Sind Sie noch da?«
fügte er hinzu.
»Ja«, antwortete ich. Seine Finger tasteten die Pult-kante entlang. »In welcher Richtung stehe ich jetzt?
Wo ist das verdammte Fenster?« fragte er mit neuauf-flackernder Gereiztheit. »Sie brauchen sich nur um-zudrehen«, sagte ich.
Er tat es und ging mit vorgehaltenen Händen darauf zu und befühlte sorgfältig Brett und Rahmen.
Dann trat er einen Schritt zurück. Ehe ich erkannte, was er vorhatte, war er mit voller Wucht vorge-sprungen und hinausgestürzt ...
Ich sah nicht hinunter. Es war der fünfte Stock.
Als ich wieder imstande war, mich zu bewegen, konnte ich mich nur in den Sessel fallen lassen. Auf dem Pult lag eine Schachtel mit Zigaretten, ich zündete mit flatternden Händen eine an. So blieb ich ein paar Minuten sitzen, um den Schock etwas verebben zu lassen. Dann verließ ich das Zimmer und ging zu der Stelle zurück, wo ich ihm begegnet war. Ich fühlte mich noch ganz schwach und elend, als ich hinkam.
Am Ende dieses breiten Ganges war ein Kranken-saal.
Ich öffnete die Tür.
»Schwester?« fragte ich.
»Ist nicht da«, antwortete eine Männerstimme. »Ist schon seit Stunden weg«, fuhr der Sprecher fort.
»Weiß der Kuckuck, was heut früh in der verflixten Bude los ist. Aber können Sie nicht etwas Licht zu uns 'reinlassen, Landsmann, und die verflixten Vorhänge zurückziehen?«
»Gern«, gab ich zur Antwort.
Wenn's hier schon drunter und drüber ging, so sah ich nicht ein, warum die armen Teufel von Patienten im Finstern liegen sollten.
Ich zog die Vorhänge vom nächsten Fenster zu-rück, und helles Sonnenlicht flutete in den Raum.
»Trödeln Sie nicht so lange herum, Mann«, sagte die Stimme von vorhin. »Ziehen Sie die Dinger einfach weg.«
Ich drehte mich um und sah den Sprecher an. Ein dunkelhaariger Mensch, stämmig, das Gesicht wet-tergebräunt. Er saß aufrecht im Bett, mir voll zugewendet – und dem Licht. Er schien mir unverwandt in die Augen zu blicken. Ebenso sein Nachbar und der nächste Mann ...
Ich starrte zurück. Eine gute Weile. Ich begriff nicht gleich. Dann stotterte ich: »Da, da scheint was kaputt zu sein. Warten Sie mal. Ich schicke jemand.«
Und dann machte ich, daß ich aus dem Saal kam.
Wieder packte es mich. Das war ja unmöglich. Die Leute im Saal konnten doch nicht alle blind sein, so blind wie der Arzt, und dennoch ...
Der Lift war nicht in Betrieb, ich mußte über die Stiegen hinunter.
Und dann stand ich auf dem letzten Treppenabsatz und konnte in die große Halle hinunterblicken. Anscheinend hatte alles was sich bewegen konnte, instinktiv hier Zuflucht gesucht, in der Hoffnung, Hilfe zu finden oder den Weg ins Freie. Vielleicht war es einigen gelungen. Beim Haupteingang stand eine Tür weit offen, nur konnten sie die meisten nicht finden.
Da unten war eine eng zusammengepreßte Menschenmasse, Männer und Frauen, meist noch in ihren Nachtkleidern, die sich langsam und hilflos im Kreise umherwälzte.
Ein, zwei Minuten. Länger konnte ich den Anblick nicht ertragen. Ich flüchtete wieder die Stiegen hinauf.
Ich setzte mich auf eine Treppenstufe, um mich etwas zu erholen, den Kopf zwischen beide Hände gepreßt. Dann suchte und fand ich einen anderen Stiegenabgang. Es war eine schmale Diensttreppe, die in den Hof hinunterführte.
Dieser Teil meines Berichts ist vielleicht schlecht erzählt. Alles kam so unerwartet und schockartig, ich wollte Einzelheiten gar nicht sehen. Ich war wie in einem Alptraum befangen. Als ich in den Hof hinaus-trat, glaubte ich noch immer nicht, daß das, was ich gesehen hatte, Wirklichkeit war.
Doch ob Wirklichkeit oder Alptraum, eins war sicher: ich hatte einen stärkenden Schluck dringend nötig.
Die kleine Seitengasse außerhalb des Hoftors war leer und verlassen, aber gerade gegenüber lag ein Gasthaus. Ich sehe das Wirtsschild ›Zum Helden von Alamein‹ noch vor mir. Die Tür darunter stand offen.
Ich trat ein.
»Heda, Wirtshaus!« rief ich. »Möcht' was zu trinken.«
Stille. Dann erkundigte sich eine Stimme vorsichtig:
»Wer ist da?«
»Vom Spital«, sagte ich. »Möcht' was zu trinken.«
»Kann mich an Ihre Stimme nicht erinnern. Können Sie sehen?«
Ich bejahte.
»Dann kommen Sie doch selber herüber, um Gottes willen, Doktor, und verhelfen Sie mir zu einer Flasche Whisky.«
»Das kann ich, wenn ich auch kein Doktor bin«, antwortete ich.
Im Nebenraum fand ich einen dickbauchigen Mann mit rotem Gesicht und angegrautem Seehunds-schnauzbart. Er war nur mit Hose und Hemd bekleidet und ziemlich angetrunken. In der Hand hielt er eine Flasche, unentschlossen, wie es schien, ob er sie öffnen oder als Waffe gebrauchen sollte. »Wenn Sie kein Doktor sind, wer sind Sie dann?« fragte er miß-
trauisch.
»War Patient«, sagte ich, »habe aber einen Schluck so nötig wie ein Doktor.«
Ich holte eine Flasche Whisky vom Regal herab, machte sie auf und gab sie ihm und ein Glas dazu. In den Brandy, den ich mir selber einschenkte, tat ich einen Spritzer Soda. Nach dem zweiten Glas zitterten meine Hände weniger.
Ich blickte zu meinem Gefährten hinüber. Er trank den Whisky unverdünnt und gleich aus der Flasche.
»Sie werden einen Schwips kriegen«, warnte ich ihn.
»Schwips?« knurrte er verächtlich. »Bin ja schon besoffen. Muß noch besoffener werden.« Er schob sich näher heran. »Merken Sie was? Bin blind, stockblind, sag ich Ihnen. Sind alle blind, stockblind. Nur Sie nicht. Wieso?«
»Das weiß ich nicht«, gab ich zur Antwort.
»Ist der verdammte Komet schuld. Gestern, die grünen Sternschnuppen – alles blind heut früh, stockblind. Haben Sie gestern zugeschaut?«
Ich verneinte.
»Da haben Sie's. Da haben Sie den Beweis. Sie haben nicht zugeschaut: Sie sind nicht blind. Alle anderen haben zugeschaut« – er schwenkte vielsagend den Arm – »alle stockblind. Hat alles der verdammte Komet angerichtet, sag' ich.«
»Alle blind?« wiederholte ich.
»Alle. Ohne Ausnahme. Wahrscheinlich auf der ganzen Welt.« Dann besann er sich. »Nur Sie nicht.
Sonst alle.«
Ich wollte fort von hier. Ich leerte mein letztes Glas und ging hinaus in die lautlose Gasse.
Dies sind private Aufzeichnungen. Vieles von dem, was sie enthalten, ist für immer verschwunden, dennoch kann ich hier nur die Worte gebrauchen, die wir für diese verschwundenen Dinge gebrauchten, ich sehe keine andere Möglichkeit. Damit alles klarer wird, muß ich weiter ausholen und tiefer in die Vergangenheit zurückgehen.
Ich bin in London aufgewachsen. Mein Vater war beim Finanzamt angestellt. Wir hatten in einem südlichen Stadtteil ein kleines Haus mit einem Garten, in dem mein Vater in den Sommermonaten hart arbeitete. Wir waren einfache Menschen.
Mein Vater war ein flinker Rechner. Er konnte eine Zahlenkolonne im Nu addieren; kein Wunder, daß er aus mir einen Buchhalter machen wollte. Leider war ich ein schlechter Rechner und für ihn eine Enttäuschung.
»Ich weiß wirklich nicht, was wir mit dir anfangen sollen. Was willst du denn eigentlich werden?« fragte er oft.
Noch ahnte ich nicht, daß der Gegenstand, der mich am meisten interessierte, mir eine Laufbahn eröffnen würde. Und mein Vater übersah es oder hielt es für unwichtig, daß meine Noten in Naturge-schichte und Biologie immer gut waren.
Die Entscheidung kam durch die Triffids. Ich ver-danke ihnen viel. Nicht nur Anstellung und Lebensunterhalt. Sie brachten mich wohl auch mehr als einmal in Lebensgefahr, aber am Ende waren sie dennoch meine Lebensretter, denn wegen einer Trif-fidsverletzung lag ich in den kritischen Tagen des ›Kometendurchgangs‹ im Spital.
Man findet in den Büchern eine Menge vager Spekulationen über das plötzliche Auftauchen der Triffids. Das meiste ist blanker Unsinn. Sie waren gewiß keine spontan, gleichsam durch Urzeugung, entstan-denen Naturgebilde. Auch nicht die warnenden Vorboten größerer Heimsuchungen für eine im argen verharrende Menschheit. Sie kamen auch nicht aus dem Weltraum als Zeugen für die erschreckenden Formen, die das Leben auf minder begünstigten Himmelskörpern annehmen konnte; ich jedenfalls bin überzeugt, daß die Erklärung anderswo zu suchen ist.
Und ich darf da schon mitreden, denn die Triffids waren mein Arbeitsgebiet, und die Firma, für die ich tätig war, spielte bei der Einführung der Spezies wenn schon keine rühmliche, so doch eine führende Rolle. Über die Herkunft der Triffids wissen wir auch heute noch nichts Genaues. Meiner Ansicht nach verdanken sie ihre Entstehung einer Reihe subtiler Kreuzungsexperimente und sind wahrscheinlich ein unbeabsichtigtes Zufallsergebnis. Wir wüßten zweifellos mehr über ihren Stammbaum, wären sie in einem uns zugänglichen Teil der Welt entwickelt worden. Da keine offizielle Mitteilung jemals die Öffentlichkeit erreichte, war das offensichtlich nicht der Fall. Die Gründe dafür waren wohl vor allem in der eigenarti-gen politischen Situation von damals zu suchen. Die Welt von damals war weit und offen und man konnte sich in ihr ohne viel Schwierigkeiten bewegen. Ein dichtes Netz von Straßen, von Bahn- und Schiffahrtslinien sicherte schnelle und bequeme Beförderung über jede Entfernung. Man konnte reisen, wohin man wollte, unbewaffnet und ohne besondere Vorsichts-maßregeln. Es waren nur eine Menge Formulare auszufüllen und viele Bestimmungen zu beachten. So standen die Dinge in fünf Sechsteln der Erde im restlichen Sechstel dagegen herrschten wieder ganz andere Verhältnisse.
Jahr für Jahr rückten die Anbaugrenzen für Nährpflanzen weiter hinauf nach Norden. Wo früher Tundra und Ödland war, dehnte sich nun Ernteland. Und Jahr für Jahr wurde altes und neues Wüstengebiet fruchtbar gemacht und in Acker- und Weideland verwandelt. Zweifellos stellte dieser Wandel des Interesses vom Schwert zum Pflug einen sozialen Fortschritt dar, aber es war ein Irrtum, ihn für ein Zeichen innerer Umkehr anzusehen, wie es die Optimisten deuten wollten. Die Menschen blieben im Kern unverändert: fünfundneunzig Prozent wollten nichts weiter, als in Frieden leben; und die übrigen fünf Prozent erwogen, ob sich ein Risiko lohnte. Und nur weil für jeden die Aussichten alles eher als vielver-sprechend waren, blieb der Frieden erhalten.
Da inzwischen die Zahl der Esser jährlich um rund fünfundzwanzig Millionen zunahm, wurde das Ernährungsproblem immer schwieriger, und nach jahrelanger erfolgloser Propaganda brachten einige Mißernten Unruhe in breite Bevölkerungsschichten.
Der Faktor, der die kriegslüsternen fünf Prozent eine Weile von Störungsversuchen zurückgehalten hatte, war die Satellitenwaffe. Die Raketenversuche hatten am Ende doch zu einem Erfolg geführt. Es war gelungen, Geschosse in so große Höhen zu senden, daß sie dort oben gehalten werden konnten und so die Erde zu umkreisen begannen: winzige Monde, unschädlich und harmlos, bis ein Druck auf einen Knopf den Rückstoß auslöste, der eine katastrophale Wirkung haben mußte.
Die erste Meldung über die erfolgreiche Absen-dung eines solchen Satelliten erregte allgemeine Begeisterung, noch allgemeiner aber waren die Besorgnisse, als ähnliche Meldungen von Staaten ausblieben, von denen man wußte, daß sie auf diesem Gebiet gleichfalls Erfolge erzielt hatten. Es war ein höchst unbehagliches Gefühl, wenn man an diese gefährlichen Trabanten dachte, die da oben in unbekannter Anzahl ruhig kreisten, bis es jemand einfiel, sie stürzen zu lassen. Und man konnte gar nichts dagegen unternehmen. Von Zeit zu Zeit flackerte Unruhe auf, wenn Meldungen kamen, daß es neben Satelliten mit Atomladungen auch solche mit anderer Fracht gab, mit Krankheitserregern aller Art, mit radioaktivem Staub, mit Viren und Bakterien, und zwar nicht nur den bekannten, sondern völlig neuartigen, in den La-boratorien hergestellten Gattungen. Ob es derlei unsichere, zweischneidige Waffen wirklich gab, ist schwer zu sagen. Aber wer weiß, wie weit der Wahn-sinn geht, wenn ihn die Angst vorwärtspeitscht? Irgendein virulenter Mikroorganismus, der nach ein paar Tagen seine Virulenz verlor und unschädlich wurde (und wer durfte behaupten, daß sich dergleichen nicht züchten ließ), konnte, an geeigneten Stellen abgeworfen, seinen strategischen Wert haben. Jedenfalls nahm die Regierung der Vereinigten Staaten die Sache ernst genug, um ein Dementi zu veröffentlichen: sie kontrolliere keine für direkte biologische Kriegsführung bestimmte Satelliten. Einige Klein-staaten, die sich diese Waffe wahrscheinlich gar nicht leisten konnten, gaben ähnliche Erklärungen ab. Andere, darunter Großmächte, blieben stumm. Dieses beredte Schweigen erregte Unruhe; man fragte, weshalb die Vereinigten Staaten es unterlassen hatten, für eine Kriegsführung zu rüsten, auf die andere Mächte vorbereitet waren; man wollte auch wissen, was unter dem Wort ›direkt‹ in dem amerikanischen Dementi zu verstehen sei? Als die Diskussion an diesem kritischen Punkt angelangt war, wurde sie mit dem schweigenden Einverständnis aller Beteiligten abgebrochen und das Interesse der Öffentlichkeit auf das ebenso wichtige und weniger heikle Problem der Lebensmittelknappheit abgelenkt.
Die Gesetze, die Angebot und Nachfrage regeln, hätten den Unternehmern die Errichtung von Handelsmonopolen ermöglicht, doch Monopole waren damals unpopulär; an ihrer Stelle gab es das Konzernsystem, das unauffälliger und geräuschloser arbeitete. Schwierigkeiten, die sich innerhalb des Systems von Zeit zu Zeit ergaben, wurden ohne viel Aufsehen bereinigt. Ein Mann wie Umberto Cristoforo Palanguez war daher der Öffentlichkeit so gut wie unbekannt. Auch ich hörte erst Jahre später im Laufe meiner Arbeit von ihm.
Umberto war von unklarer Herkunft, jedenfalls ein Romane, seiner Staatszugehörigkeit nach ein Latein-amerikaner. Er erschien erstmalig als eine mögliche Geschäftsstörung in dem wohlorganisierten Konzern für Speiseöle, als er die Büros der Arktisch – Europäischen Fischölverwertungsgesellschaft betrat und eine Flasche mit einem blaßrosa gefärbten Öl vorwies, mit dem er ins Geschäft kommen wollte.
Er fand kein großes Interesse für sein Angebot. Der Markt war fest. Immerhin entschloß sich die Firma nach einiger Zeit, die ihr übergebene Probe analysieren zu lassen.
Dabei fand man zunächst einmal, daß es sich nicht um Fischöl handelte, sondern um ein Pflanzenöl unbekannter Herkunft. Die zweite Entdeckung war die, daß sich daneben die besten Fischöle der Firma wie Schmierbüchsenfett ausnahmen. Bestürzt versandte man, was von der Probe übrig war, zur eingehenden Untersuchung und zog hastig Erkundigungen ein, ob Herr Palanguez noch an andere Firmen herangetreten war.
Bei seinem zweiten Besuch wurde Umberto vom leitenden Direktor mit großer Zuvorkommenheit empfangen.
»Ein bemerkenswertes Öl, das Sie uns da gebracht haben, Herr Palanguez«, sagte er.
Für Umberto war das augenscheinlich nichts Neues. Er neigte zustimmend den glatten schwarzen Kopf.
»Mir ist ähnliches noch nicht untergekommen«, bekannte der Direktor.
Umberto nickte wiederum.
»Nicht«, sagte er höflich. Dann fügte er in einem Nachsatz hinzu: »Aber ich glaube, es wird Ihnen unterkommen, Señor. Und in rauhen Mengen.« Er schien zu überlegen. »Es wird, glaube ich, in sieben, vielleicht auch acht Jahren auf den Markt kommen.«
Er lächelte.
Der leitende Direktor hielt das für unwahrscheinlich. Er erklärte offenherzig:
»Es ist besser als unsere Fischöle.«
»So hat man mir gesagt«, erwiderte Umberto.
»Sie haben die Absicht, es selbst auf den Markt zu bringen, Herr Palanguez?«
Umberto lächelte wieder.
»Würde ich es Ihnen in diesem Fall zeigen?«
»Wir könnten eines unserer Öle synthetisch verbessern«, bemerkte der Direktor nachdenklich.
»Mit dem einen oder dem anderen Vitamin – aber bei allen wäre das kostspielig, selbst wenn es sich machen ließe«, sagte Umberto sanft. Und nach einer Pause setzte er hinzu: »Meinen Informationen zufolge wird sich dieses Öl wesentlich billiger stellen als Ihre besten Fischöle.«
»Hm«, meinte der leitende Direktor. »Sie haben uns also einen Vorschlag zu unterbreiten, Herr Palanguez. Bitte.«
Umberto erklärte: »Es gibt zwei Wege, mit dieser Schwierigkeit fertig zu werden. Man könnte etwas unternehmen, damit es nicht so weit kommt, oder alles so lange hinziehen, bis das im jetzigen Betrieb investierte Kapital gerettet ist. Das wäre der eine Weg und natürlich der nächstliegende.«
Der Direktor nickte. Dieser Weg war ihm bekannt.
»Der andere Weg«, fuhr Umberto fort, »ist der, selber mit der Produktion zu beginnen, bevor die Krise ausbricht.«
»Ah!« warf der Direktor ein.
»Ich glaube, ich kann Ihnen in etwa sechs Monaten Samen dieser Pflanze verschaffen«, erklärte Umberto.
»Wenn Sie dann sogleich mit der Aufzucht beginnen, kann Ihre Ölproduktion in fünf Jahren anlaufen –
vielleicht werden es sechs sein, bis zum vollen Ertrag.«
»Also noch knapp zur rechten Zeit«, stellte der Direktor fest.
Umberto nickte.
»Der erste Weg wäre einfacher«, bemerkte der Direktor.
»Sicher«, gab Umberto zu. »Aber er ist ungangbar.
Ihre Konkurrenz läßt nicht mit sich handeln, und sie läßt sich auch nicht ausschalten.«
Er schien seiner Sache so gewiß zu sein, daß der Direktor stutzig wurde. Er sah ihn eine Weile nachdenklich und prüfend an.
»Ich verstehe«, meinte er dann. »Sie sind Sowjet-bürger, Herr Palanguez?«
»Durchaus nicht«, antwortete Umberto. »Ich habe im Leben Glück gehabt und verfüge über einige Verbindungen ...«
Das bringt uns in das restliche Sechstel der Welt, in den Teil der nicht so leicht zu bereisen war wie die anderen Länder. Die Einreise in die Sowjetunion war fast unmöglich, und wer die Erlaubnis erhielt, durfte von der vorgeschriebenen Reiseroute nicht abwei-chen. Alles in diesem Staat war Geheimnis und geschah im verborgenen. Dennoch ließ sich nicht von der Hand weisen, daß ungeachtet der wunderlichen Propaganda, die das Lächerliche verbreitete und alles nur im geringsten Grad Wichtige verschwieg, auf manchen Gebieten Bedeutendes geleistet wurde. Etwa auf dem der Biologie. Man wußte, daß Rußland, so wie die übrige Welt von der Lebensmittelknappheit bedroht, an umfangreichen Planungen arbeitete, um Wüsten- und Steppengebiete und die nördliche Tundra urbar zu machen und für den Anbau zu erschließen. Hie und da hatte man auch von Erfolgen in dieser Hinsicht gehört.
»Sonnenblumen«, überlegte der Direktor laut, »ich weiß zufällig, daß man jetzt wieder an einer Ertragssteigerung von Sonnenblumenöl arbeitet. Aber hier handelt es sich nicht um dieses Öl.«
»Gewiß nicht«, stimmte Umberto zu.
Der Direktor überlegte weiter:
»Sie sprachen doch von Samen. Dachten Sie dabei an eine neue Spezies? Denn wenn es sich nur um eine Verbesserung handelt, um eine Art, die leichter zu bearbeiten ist –«
»Nach meinen Informationen handelt es sich um eine neue Spezies, um etwas durchaus Neues.«
»Sie haben sie also nicht gesehen, ich meine, mit eigenen Augen? Es könnte sich am Ende ja doch um eine veredelte Sonnenblume handeln?«
»Ich habe ein Bild gesehen, Señor. Ich will nicht sagen, daß bei der Pflanze die Sonnenblume keine Rolle gespielt hat. Oder die Steckrübe. Ich will auch nicht sagen, daß nicht etwas von der Nessel oder einer Orchidee dabei ist. Das aber sage ich, keines von ihnen würde den Sprößling erkennen oder Freude an ihm haben.«
»Ich verstehe. Nun, an welche Summe haben Sie gedacht, wenn Sie uns Samen von diesem Gewächs verschaffen wollen?«
Umberto nannte eine Summe, die den Direktor aus seiner Nachdenklichkeit schreckte. Er nahm seine Gläser ab und musterte seinen Partner auf das genaueste. Umberto blieb ruhig.
»Denken Sie nach, Señor«, sagte er, die einzelnen Punkte an den Fingern abzählend, »die Sache ist schwierig. Und gefährlich sogar. Ich bin nicht furcht-sam – aber ich suche die Gefahr nicht zu meinem Vergnügen. Und dann ist da noch ein Mann, ein Russe. Ich muß ihn über die Grenze bringen. Er muß gut bezahlt werden. Da sind andere, die er zuerst bezahlen muß. Ein Flugzeug muß gekauft werden, ein Düsenflugzeug, es muß sehr schnell sein. Das alles kostet Geld.
Und es ist nicht leicht, sage ich Ihnen. Die Samen, die Sie kriegen, müssen einwandfrei sein. Der Same dieser Pflanze ist oft unfruchtbar. Ich muß Ihnen Samen bringen, der ausgesucht ist und kostbar. Und in Rußland ist alles Staatsgeheimnis und wird geschützt. Es wird bestimmt nicht leicht sein.«
»Zugegeben. Aber dennoch ...«
»Finden Sie den Preis so hoch, Señor? In ein paar Jahren werden die Russen mit ihrem Öl die Welt überschwemmen, und mit Ihrer Firma wird es aus sein; was werden Sie dann sagen?«
»Einige Bedenkzeit ist doch nötig, Herr Palanguez.«
»Selbstverständlich, Señor!« lächelte Umberto zustimmend.
»Ich kann warten – eine Weile wenigstens. Aber bei meinem Preis muß ich bleiben.«
Und er blieb auch dabei.
Er erhielt seinen Auftrag, denn seine Proben waren überzeugend, wenn schon alles übrige etwas vage blieb.
Seine Auftraggeber kamen sogar billiger davon, als sie veranschlagt hatten, denn nachdem Umberto sein Flugzeug und seinen Vorschuß bekommen hatte, verschwand er auf Nimmerwiedersehen.
Das soll nicht heißen, daß man nichts mehr von ihm hörte. Einige Jahre später erschien in den Büros der Ölverwertungsgesellschaft, wie sie sich nunmehr nannte, ein Mann namens Fedor. Ein Russe, wie er selber angab. Er wollte Geld, bitteschön, wenn die Kapitalisten so freundlich sein wollten.
Seinem Bericht nach war er an der Versuchsstation für Triffids im Distrikt von Elowsk auf Kamtschatka beschäftigt gewesen; einer gottverlassenen Gegend, die er verabscheute. Er war daher auf den Vorschlag seines Arbeitskameraden eingegangen, eines gewissen Towarisch Nikolai Alexandrowitsch Baltinoff, zumal bei diesem Vorschlag ein paar tausend Rubel zu verdienen waren.
Und nicht schwer zu verdienen waren. Es war weiter nichts zu tun, als ein Kästchen mit ausgesuch-tem fruchtbarem Triffidsamen aus seinem Fach zu nehmen und durch ein gleichartiges Kästchen mit unfruchtbarem Samen zu ersetzen. Das entwendete Kästchen war zu einer bestimmten Zeit an eine bestimmte Stelle zu schaffen. Praktisch war das alles ohne Risiko. Jahre mochten vergehen, ehe der Tausch entdeckt wurde.
Riskanter war das Weitere. Er sollte auf einem ein, zwei Meilen von der Station entfernten großen Feld Lichtsignale vorbereiten. In einer bestimmten Nacht.
Sobald er über sich ein Flugzeug hörte, sollte er die Lichter einschalten. Das Flugzeug würde landen. Für ihn würde es dann das rätlichste sein, möglichst rasch aus der Nachbarschaft zu verschwinden, bevor jemand kam, um Nachschau zu halten.
Für diese Dienstleistungen würde er nicht nur ein dickes Paket Rubel in die Hand kriegen, sondern auch, falls er aus Rußland herauskam, eine weitere Summe in den Büros der englischen Firma deponiert finden.
Seiner Darstellung nach war alles planmäßig verlaufen. Das Flugzeug war gelandet, er hatte die Lichter ausgeschaltet und war davongelaufen.
Der Landeaufenthalt des Flugzeugs hatte keine zehn Minuten gedauert. Es stieg sogleich wieder auf, in steiler Kurve, nach dem Düsengeräusch zu urteilen. Wenige Minuten, nachdem das Geräusch verklungen war, ließ sich neuerlich Motorenlärm hören.
Es waren andere Flugzeuge, ihr Kurs war der gleiche.
Er konnte nicht ausmachen, ob es zwei oder mehr waren. Sie flogen jedenfalls mit hoher Geschwindigkeit und heulenden Düsen ...
Am nächsten Tag war Genosse Baltinoff verschwunden. Große Aufregung. Zuletzt kam man überein, Baltinoff müsse allein gearbeitet haben. So blieb Fedor unbehelligt.
Vorsichtshalber hatte er ein Jahr gewartet, ehe er etwas unternahm. Nun aber war ihm die Überfahrt gelungen, er war in England und bat um das für ihn reservierte Geld.
Von Elowsk hatte man inzwischen gehört; die Flugzeuglandung war im Bereich der Möglichkeit.
Man gab ihm daher nicht nur Geld, sondern auch einen Posten und empfahl ihm Schweigen. Denn es war klar, wenn auch Umberto sein Versprechen nicht eingelöst hatte, so war doch er es, der die Situation gerettet hatte.
Die Firma hatte zuerst das Auftauchen der Triffids nicht mit Umberto in Verbindung gebracht; sie hatte sogar in mehreren Staaten nach ihm fahnden lassen.
Erst als ihr von anderer Seite Triffidöl zur Begutachtung vorgelegt wurde, entdeckte man die vollkommene Übereinstimmung mit den von Umberto gezeigten Proben; es war also Triffidsamen, den er hatte bringen wollen.
Über Umbertos Schicksal wird man wohl kaum Zuverlässiges erfahren können. Wahrscheinlich wurden er und Genosse Baltinoff über dem Pazifik, irgendwo hoch oben in der Stratosphäre, von den Flugzeugen angegriffen, die Fedor gehört hatten.
Vielleicht erkannten sie erst, daß sie verfolgt wurden, als die Salven sowjetrussischer Bordwaffen ihr Fahrzeug trafen.
Und vermutlich zersplitterte unter diesen Salven auch das teebüchsenähnliche Kästchen aus Sperrholz, in dem nach Fedors Aussage die Samen enthalten waren.
Umbertos Flugzeug explodierte oder brach einfach auseinander. Eins jedenfalls ist sicher: als die Trümmer ihren langen, langen Sturz hinab in den Ozean begannen, blieb in der unermeßlichen Höhe etwas hängen, das zunächst wie ein weißes Dunstwölkchen aussah.
Es war kein Dunstwölkchen. Es war ein Samenschwaden, so schwerelos, daß er selbst in dieser luftdünnen Höhe schweben blieb. Millionen spinnwebzarter Triffidsamen, die nun frei in der Luft hingen.
Ein Spiel aller Winde ...
Wochen, vielleicht Monate mochte es dauern, bevor sie die Erde erreichten, manche nach einem Flug von mehreren tausend Meilen.
Das ist alles, ich wiederhole es, Vermutung. Aber wie soll man es sonst erklären, daß diese bisher so sorgsam geheimgehaltene Pflanze auf einmal fast in allen Teilen der Welt auftauchte?
Ich bekam früh eine Triffid zu sehen. Eine der ersten in der Umgebung wuchs zufällig in unserem Garten. Als wir sie entdeckten, war sie schon recht gut entwickelt; sie hatte sich nämlich, mit ein paar anderen ungebetenen Gästen, hinter dem Stück Hekke angesiedelt, das den Müllhaufen abschirmte. Dort tat sie keinen Schaden und war niemand im Weg. Wir sahen daher, auch nachdem wir sie entdeckt hatten, nur dann und wann nach, wie sie gedieh, und ließen sie sonst in Ruhe. Heutzutage, da jeder weiß, wie eine Triffid aussieht, ist es schwierig, den fremdartig bizarren Eindruck zu beschreiben, den die ersten auf uns machten. Soviel ich weiß, ahnte man damals noch nichts Böses. Man verhielt sich ihnen gegenüber wohl allgemein auf die gleiche Art wie mein Vater.
Ich sehe ihn noch vor mir, wie er die unsere betrachtete und prüfte, als sie etwa ein Jahr alt war. Sie war halb so groß wie eine ganz ausgereifte Triffid, bot aber sonst in jeder Einzelheit das genaue Bild einer reifen, die damals noch kein Mensch gesehen und die auch noch keinen Namen hatte. Vorgebeugt, musterte sie mein Vater durch seine Hornbrille. Er untersuchte den geraden Schaft und den holzigen Strunk, aus dem er hervorwuchs. Ebenso die drei kurzen kahlen Stiele neben dem Stengel. Er rieb die kurzen, lederartigen, grünen Blätter zwischen Daumen und Zeigefinger, als könne ihm ihre Beschaffenheit irgendeinen Aufschluß geben. Dann spähte er in das sonderbare trichterartige Gebilde auf der Spitze des Stengels, kam aber auch hier zu keinem Ergebnis. Ich erinnere mich, wie er mich das erstemal emporhob, um mich in diesen Trichter hineinblicken zu lassen, so daß ich den dichtbefiederten Kolben sehen konnte, der, nicht unähnlich einem eng zusammengerollten Farnwedel, ein paar Zoll hoch im Grund des Kelches aus einer klebrigen Masse herausragte; ich rührte sie nicht an, merkte aber, daß sie klebrig sein mußte, an den Fliegen und kleinen Insekten, die darin zappelten.
Das Ding in unserem Garten hatte inzwischen eine Höhe von etwa vier Fuß erreicht. Es muß damals schon eine Menge gegeben haben; still und unauffällig wuchsen sie und von niemand besonders beachtet, es sah zumindest so aus. Und so wuchs sie in unserem Garten ungestört weiter wie tausend andere in den abgelegenen Winkeln der ganzen Welt.
Wenig später geschah es, daß die erste ihre Wurzeln hob und zu wandern begann.
Diese unwahrscheinliche Leistung muß natürlich in Rußland schon einige Zeit bekannt gewesen sein und galt dort zweifellos als Staatsgeheimnis. Innerhalb weniger Wochen kamen Meldungen über wandernde Pflanzen aus Sumatra, Borneo, Belgisch-Kongo, Ko-lumbien, Brasilien und anderen äquatornahen Ländern.
Diesmal tat auch die Presse mit. Doch ihre Berichte waren mit ironischer Distanz abgefaßt. Kein Leser konnte dabei auf den Gedanken verfallen, diese sen-sationelle Pflanze in irgendeine Verbindung zu bringen mit dem unbeachteten schlichten Gewächs neben unserem Müllhaufen. Erst an den Bildern erkannten wir, daß es, von der Größe abgesehen, die gleiche Pflanze war.
Viel brachten auch die Wochenschauen nicht. So kam es, daß das erste, was ich von einer sowohl für mich wie für viele andere entscheidenden und schicksalbestimmenden Entwicklung zu sehen bekam, nur ein sekundenschnell vorüberhuschendes Szenenbild war.
Solange die Szene lief, starrte ich wie gebannt auf die Leinwand. Da war ja unser geheimnisvolles Müllhaufengewächs. Allerdings sieben Fuß hoch, wenn nicht höher. Keine Frage, es war unsere Pflanze
– und sie konnte ›gehen‹!
Der Strunk, den ich nun zum erstenmal sah, war mit zottigen Wurzelhaaren bewachsen. Man hätte ihn beinahe kugelförmig nennen können, wären nicht an der Unterseite drei kurze Stumpen hervorgewachsen.
Durch sie wurde der Hauptkörper etwa einen Fuß hoch über den Boden gehoben. – Beim ›Gehen‹ bewegte sich die Pflanze wie ein Mensch auf Krücken.
Die zwei Vorderstumpen glitten vorwärts und dann ruckte der Hinterfuß nach, fast bis zur gleichen Linie, das ganze Gewächs kippte dabei nahezu um, dann rutschten die Vorderstumpen aufs neue vorwärts. Bei jedem ›Schritt‹ schwankte der lange Stengel heftig vor- und rückwärts. Die Geschwindigkeit entsprach ungefähr der eines Fußgängers.
Das war alles, was ich in der Wochenschau zu sehen bekam. Es war nicht viel, genügte aber, um meinen jugendlichen Forscherdrang in Bewegung zu bringen. Wenn das Gewächs in Ecuador so etwas leisten konnte, mußte es das Exemplar in unserem Garten doch auch imstande sein?
Ich war keine zehn Minuten daheim, da war ich schon dabei, rund um unsere Triffid den Boden zu lockern, um sie zum ›Gehen‹ zu ermuntern.
Leider hatte diese selbständig schreitende Pflanze eine fatale Eigenheit, die den Filmleuten entweder unbekannt geblieben war oder die sie aus irgendeinem Grund verschwiegen. Es erfolgte auch keine Warnung. Ich hatte mich eben gebückt, um die Erde zu lockern, ohne die Pflanze zu beschädigen, als ich plötzlich, ich wußte nicht woher, einen furchtbaren Schlag erhielt, der mich bewußtlos zu Boden warf ...
Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, lag ich im Bett; Vater, Mutter und der Arzt umstanden mich mit sorgenschweren Mienen. Mein Kopf fühlte sich an wie geborsten, der ganze Körper schmerzte und, wie ich später entdeckte, war eine Gesichtshälfte mit einer wulstigen roten Strieme geziert. Alles Fragen nach der Ursache meiner Ohnmacht im Garten führte zu keinem Ergebnis; ich hatte keine Ahnung, woher der Schlag gekommen war. Und es verging noch einige Zeit, ehe ich erfuhr, daß ich einer der ersten in England war, die den Stich einer Triffid überlebt hatten.
Natürlich nicht einer ausgereiften Triffid. Mein Vater entdeckte noch vor meiner völligen Genesung den Unheilstifter, und als ich wieder in den Garten durfte, war das Strafgericht schon vollzogen und die Triffid ins Feuer geworfen worden.
Nun, da die wandernden Pflanzen zu den erwiese-nen Tatsachen gehörten, sorgte die Presse für die ge-bührende Propaganda. Ein Name mußte gefunden werden. In irgendeiner Redaktion als geläufiges Schlagwort für eine Kuriosität entstanden, sollte er eines Tages etwas ganz anderes werden, das Lo-sungswort für eine Katastrophe, für Schmerz, Angst und Unheil: TRIFFID ...
Die erste Welle des öffentlichen Interesses verebbte bald. Zugegeben: Triffids waren etwas unheimlich.
Weil sie neu waren. Andere Neuheiten hatten ähnlich gewirkt: Känguruhs, Rieseneidechsen, schwarze Schwäne. Hier war eine Pflanze, die gehen gelernt hatte; warum nicht?
Freilich, nicht alles ließ sich so leicht abtun. Ihre Herkunft blieb unbekannt. Die Russen, die darüber hätten Auskunft geben können, hüllten sich in das gewohnte Schweigen. Umberto wurde auch von denen, die ihn kannten, noch nicht mit den Triffids in Verbindung gebracht. Ihr plötzliches Auftauchen, und mehr noch, ihre weltweite Verbreitung erregten Staunen. Denn sie reiften zwar in den Tropen schneller, fanden sich aber in den verschiedensten Ent-wicklungsstadien in allen Regionen der Erde, die Polarkreise und die Wüsten ausgenommen.
Überraschend und etwas widerwärtig wirkte es, als man feststellte, daß die Pflanze ein Fleischfresser war; die Fliegen nämlich und die anderen Insekten, die in den Kelch gerieten, wurden von der klebrigen Masse darin wirklich aufgelöst und verdaut. Wahrhaft erschreckend aber war die Entdeckung, daß der Kolben auf der Spitze des Stengels ein Giftstachel war, der zehn Fuß weit ausschwingen und eine tödliche Ladung Gift verspritzen konnte, wenn er die bloße ungeschützte Haut traf.
Diese Entdeckung löste ein Massaker unter den Triffids aus, bis jemand auf den Einfall kam, daß die Entfernung des Stachels genügte, um die Pflanze unschädlich zu machen. Danach flaute die Ausrottungswut ab; die Zahl der Pflanzen allerdings hatte merklich abgenommen. Kurz darauf wurde es Mode, die eine oder andere beschnittene Triffid als Gartenpflanze zu halten. Der Giftstachel brauchte zwei Jahre, um nachzuwachsen, also sicherte einen der jährlich wiederholte Schnitt vor jeder Gefahr, und die harmlos gewordenen Gewächse machten vor allem den Kindern großen Spaß.
In unseren Breiten, wo der Mensch fast die ganze Natur, außer seiner eigenen, gezähmt hat, bildeten die Triffids keine Bedrohung. Anders lagen die Dinge in den Tropen; dort wurden sie, besonders in unweg-samen Waldgebieten, eine wahre Geißel.
Im dichten Gestrüpp übersah sie der Reisende leicht, war er in Reichweite, schlug der Giftstachel zu.
Auch für den Eingeborenen war es schwierig, eine im Dickicht verborgen lauernde Triffid zu entdecken.
Die Pflanze spürte jede Bewegung in ihrer Nähe und ließ sich nicht leicht überrumpeln. Ihre Bekämpfung wurde in diesen Gegenden ein ernstes Problem. Die beliebteste Methode war, sie zu köpfen und so ihres Giftstachels zu berauben. Im Dschungel führten die Eingeborenen lange leichte Stangen mit sich, die an der Spitze mit einer krummen Klinge versehen waren. Eine wirksame Waffe, wenn man sie rechtzeitig gebrauchte, aber ganz unwirksam, wenn die Triffid einem zuvorkam, ausschwingen und die Distanz unerwartet um vier oder fünf Fuß verringern konnte.
Diese unzulänglichen Spieße wurden daher bald von richtigen Schußwaffen verdrängt, die mit Federkraft schwirrende kleine Metallplättchen oder Stahlscheiben abschnellten; sie boten über zehn Meter hinaus keine Treffsicherheit, wenn sie aber ihr Ziel erreichten, kappten sie eine Triffid auch noch auf zwanzig Meter Entfernung.
Inzwischen war die Wissenschaft nicht müßig gewesen, man untersuchte alles, was mit Triffids zu tun hatte, aufs genaueste.
Die größte in den Tropen beobachtete Triffid erreichte eine Höhe von fast zehn Fuß. In Europa wurde keine über acht Fuß hoch, die durchschnittliche Höhe betrug etwas über sieben Fuß. Sie nahmen anscheinend mit jedem Klima und jedem Boden vorlieb.
Ihr einziger natürlicher Feind war der Mensch.
Sie hatten indes noch die eine oder andere Eigenheit, auf die man anfangs nicht geachtet hatte. Erst nach einiger Zeit wurde man auf die unheimliche Zielsicherheit ihrer Stiche aufmerksam; sie zielten fast ausnahmslos auf den Kopf. Es fiel auch zuerst nicht auf, daß sie meist in der Nähe eines gefällten Opfers auf der Lauer blieben. Es stellte sich heraus, daß sie nicht nur Insekten, sondern auch Fleisch fraßen; die Geißel mit dem Giftstachel hatte zwar nicht Muskelkraft genug, um lebendes Fleisch zu packen, vermochte aber von verwesendem Stücke loszureißen und dem Trichter zuzuführen. Auch die drei Stiele neben dem Hauptstamm erweckten kein großes Interesse. Man suchte sie mit dem Fortpflanzungssystem in Verbindung zu bringen. Das Auffällige an diesen drei kurzen blattlosen Stielen bestand darin, daß sie plötzlich aus ihrer gewöhnlichen Reglosigkeit erwachten und schnell an den Hauptstamm trommelten; der erwähnten Theorie zufolge erklärte man dieses Trommeln als eine Art erotische Betätigung.
Vielleicht hielt mein frühes Erlebnis mein Interesse an den Triffids wach, eine Art Verbundenheit blieb jedenfalls bestehen. Ich verbrachte viel Zeit mit ihrer Beobachtung.
Es stellte sich später heraus, daß es keine verlorene Zeit war. Knapp vor meinem Schulaustritt reorganisierte sich die Fischölverwertungsgesellschaft, in der neuen Firmenbezeichnung fehlte das Wort ›Fisch‹, und man erfuhr, daß die Firma, wie ähnliche Unter-nehmungen im Ausland, sich auf Triffids umstellte, aus denen hochwertiges Öl und Tierfutter gewonnen werden sollte. Triffids rückten damit über Nacht in das ›große Geschäft‹ auf.
Da faßte ich den für meine Zukunft entscheidenden Entschluß. Ich bewarb mich bei der Ölfirma um eine Stelle und erhielt sie. In der Produktion. Jeder, der von Anfang an mit dabei war, hatte einen nach menschlichem Ermessen gesicherten Posten auf Lebensdauer.
Einen solchen hatte auch mein Freund Walter Lucknor.
Man wollte ihn zuerst nicht nehmen. Er verstand wenig vom Anbau, noch weniger vom Geschäft, und verfügte auch nicht über die für Laboratoriumsarbeit nötige Ausbildung. Über Triffids jedoch wußte er ei-ne Menge. Da hatte er einen sechsten Sinn und richtige Inspirationen.
Was aus ihm, Jahre nachher, in den verhängnisvollen Maitagen wurde, weiß ich nicht. Aber wenn irgend jemand sich auf Triffids verstand, war er es.
Ich weiß noch, wie er mich ein, zwei Jahre nach unserer Anstellung, das erstemal verblüffte.
Wir hatten Feierabend gemacht und betrachteten mit dem Gefühl der Befriedigung drei neue Felder mit fast ausgereiften Triffids. Sie waren damals noch nicht, wie später, einfach in eine Hürde eingeschlossen, sondern in Reihen aufgestellt, zumindest waren es die Stahlpflöcke, an die man sie gekettet hatte, denn den Pflanzen selber fehlte jeder Ordnungssinn.
Nach unserer Rechnung konnte etwa in einem Monat mit der Ölgewinnung begonnen werden. Es war ein ruhiger Abend, nichts störte die Stille, als hie und da das Trommeln der Triffids. Walter beobachtete sie mit schiefgehaltenem Kopf.
»Sie sind gesprächig heute abend«, bemerkte er.
»Ja, glaubst du denn, daß sie wirklich reden?« fragte ich.
»Warum nicht?«
»Unsinn. Sprechende Pflanzen!«
»Kein größerer Unsinn als gehende.«
Ich starrte auf die Triffids und dann auf ihn. »Ich kann mir nicht vorstellen –«, begann ich zweifelnd.
»Versuche es doch und beobachte sie – und sage mir, zu welchen Schlußfolgerungen du kommst«, schlug er vor.
Es war eigentlich seltsam, daß ich bei all meiner Beschäftigung mit Triffids nie an diese Möglichkeit gedacht hatte. Sobald ich aber auf sie aufmerksam gemacht worden war, ging sie mir nicht aus dem Kopf. Tauschten diese trommelnden Pflanzen wirklich geheime Signale aus?
Ich glaubte bisher, mit Triffids ziemlich vertraut zu sein, aber mit Walter verglichen, war ich ahnungslos.
Das Interesse der Öffentlichkeit war inzwischen abgeflaut. Für die Firma allerdings blieben sie interessant. Sie waren, ihrer Ansicht nach, ein Segen für alle Welt und insbesondere für das Unternehmen.
Walter teilte keine dieser Ansichten. Und manchmal begannen sich, wenn ich ihm zuhörte, auch bei mir unbestimmte Befürchtungen zu regen.
Er hatte die Überzeugung gewonnen, daß sie ›sprachen‹. »Und das heißt«, folgerte er, »daß irgendwo Intelligenz da sein muß. Nicht in einem Gehirn loka-lisiert, denn sie haben nichts, das einem Gehirn ähnlich sieht. Aber es kann ja etwas anderes die Funktion des Gehirns ausüben.
Und eine Art Intelligenz ist sicher vorhanden. Ist dir nicht aufgefallen, daß sie immer auf die ungeschützten Stellen zielen? Fast immer ist es der Kopf, hie und da sind es die Hände. Und noch etwas: beachte einmal in der Unfallstatistik, wie häufig die Augen getroffen wurden und Blindheit die Folge war. Das ist bemerkenswert und bezeichnend.«
»Bezeichnend wofür?« fragte ich.
»Dafür, daß sie wissen, wie man einen Menschen am sichersten erledigt. Angenommen, es handelt sich wirklich um intelligente Wesen; unsere einzige Überlegenheit ihnen gegenüber wäre unser Sehvermögen. Wir können sehen, sie nicht. Nimm uns dieses Sehvermögen, und die Überlegenheit ist fort.
Schlimmer: wir sind die Unterlegenen, denn sie können ohne Sehvermögen auskommen, wir nicht. Wenn ich sagen sollte, wer mehr Chancen hat, am Leben zu bleiben, eine Triffid oder ein Blinder, so fiele mir die Entscheidung nicht schwer.«
So konnte er stundenlang sprechen; zuletzt brachte er es so weit, daß ich jeden Maßstab verlor und die Triffids mir wie Rivalen und Konkurrenten erschienen. Was sie für Walter, wie er eingestand, auch wirklich waren.
»Glaubst du, daß die Dinger eine Gefahr darstel-len?« fragte ich ihn.
Er tat ein paar Züge aus seiner Pfeife, bevor er antwortete.
»Ganz sicher bin ich ja selbst nicht. Aber sie können eine Gefahr werden. Davon bin ich überzeugt. Es ließe sich leichter antworten wenn man wüßte, was es mit ihrem Trommeln auf sich hat. Sie trommeln und klappern, und niemand achtet darauf. Irgendwie macht es mich unruhig. Es hat etwas zu bedeuten. Fragt sich nur, was.«
Walter sprach sonst kaum über dieses Thema, und auch ich vermied es, davon zu reden; Spekulationen solcher Art wären höchst skeptisch aufgenommen worden, und wir wären bei der Firma als Phantasten in Verruf gekommen.
Nachher arbeiteten wir etwa noch ein Jahr zusammen. Dann mußten im Ausland neue Anbaumethoden studiert werden, und ich war viel auf Reisen. Er ließ sich in die Forschungsabteilung versetzen, wo er Untersuchungen im Auftrage der Firma mit solchen auf eigene Faust verbinden konnte. Von Zeit zu Zeit suchte ich ihn auf einen Sprung auf. Er experimentierte beständig mit seinen Triffids herum, ohne die erhoffte letzte Klarheit zu erreichen. Doch gelang es ihm, zumindest zu seiner eigenen Zufriedenheit, das Vorhandensein einer gut entwickelten Intelligenz zu beweisen; auch ich hatte den Eindruck, daß es sich um mehr als den bloßen Instinkt zu handeln schien.
Das Trommeln hielt er nach wie vor für ein Verständigungsmittel. Ein Ergebnis, das veröffentlicht wurde, war der Nachweis, daß nach Entfernung der trommelnden Stiele eine Triffid allmählich einging.
Eine andere Feststellung war, daß Triffidsamen zu fünfundneunzig Prozent unfruchtbar waren.
»Was ein wahrer Segen ist«, bemerkte er, »sonst gäbe es nur noch Triffids auf diesem Planeten.«
Auch dem mußte ich zustimmen. Reife Triffids waren etwas Sehenswertes. Prall angeschwollen, glänzte knapp unterhalb des Kelches der dunkelgrüne Fruchtknollen, um die Hälfte größer als ein großer Apfel. Er barst mit einem zwanzig Meter weit hörbaren Knall. Die weißen Samenschwaden wölkten wie Dampf in die Luft und wurden von der schwächsten Brise verweht. Ein Triffidfeld konnte Ende August den Eindruck machen, als sei da ein leichtes Bombardement im Gang.
Walter wies auch nach, daß die Qualität der Extrakte sich verbesserte, wenn die Pflanzen ihre Stacheln behielten. Sie blieben daher auf den Feldern der Firma unbeschnitten, und wir mußten bei unserer Arbeit eine Schutzkleidung tragen. Ich war, als ich den Unfall erlitt, der mich ins Spital brachte, mit Walter beisammen. Wir untersuchten an einigen Exemplaren auffällige Abweichungen, wobei wir die vorgeschriebenen engmaschigen Drahtmasken trugen. Ich sah nicht genau, was geschah. Soviel ich weiß, beugte ich mich vor, als ein bösartig gegen mein Gesicht peitschender Stachel an das Drahtgitter der Maske schlug. Neunundneunzigmal von hundert wäre nichts geschehen; dafür waren ja die Masken da.
Diesmal zerplatzten infolge der Gewalt des Schlages einige der kleinen Giftsäckchen und ein paar Tropfen spritzten mir in die Augen.
Im Nu hatte mich Walter in sein Labor zurückge-bracht und das Gegenmittel angewendet. Nur seiner schnellen Hilfe war es zu danken, daß überhaupt Aussicht bestand, mir das Augenlicht zu retten.
Ich war für Triffidgift ziemlich immun geworden, seit ich den ersten Stich im Garten bekommen hatte.
Ich hatte ohne besondere Schädigungen Stiche überlebt, die einem weniger Abgehärteten wohl das Leben gekostet hätten. Aber das alte Sprichwort vom Krug und vom Brunnen kam mir nicht aus dem Sinn. Ich war gewarnt.
Ich ließ die Gasthaustür offen und wanderte bis zur nächsten Straßenkreuzung. Dort machte ich halt.
Was tun? Ich fühlte mich verlassen und verloren.
Kein Verkehr weit und breit, auch keine Verkehrs-geräusche. Nichts Lebendiges zu sehen als hie und da eine vereinzelte Gestalt, die behutsam tastend an der Häuserfront entlangschlich.
Es war ein herrlicher Frühsommertag. Alles war blank und klar, bis auf eine dunkle Rauchsäule, die im Norden über den Dächern stand. Einige Minuten hielt ich unentschlossen. Dann wandte ich mich ostwärts, nach London ...
Ich weiß heute noch nicht, warum. Vielleicht lockte mich die vertraute Umgebung, vielleicht erwartete ich, in dieser Richtung wenn irgendwo, Autorität und Führung zu finden.
Der genossene Branntwein hatte mich hungrig gemacht, ich mußte etwas essen. Ein schwieriges Problem. Es gab zwar Läden genug, herrenlos und unbewacht, und Lebensmittel in den Schaufenstern, und ich war hungrig und hatte Geld, oder konnte, wenn ich nicht zahlen wollte, eine Scheibe einschlagen und nehmen, was ich brauchte.
Dazu aber konnte ich mich nicht entschließen.
Nachdem ich etwa eine Meile zurückgelegt hatte, löste sich das Problem von selber. Ein Taxi war auf den Gehsteig geraten und mit dem Kühler in einen Delikatessenladen. Ich kletterte an dem Fahrzeug vorbei in den Laden und holte mir alles, was zu einer guten Mahlzeit gehörte. Noch immer hatte ich meine gute Erziehung nicht vergessen und ließ gewissenhaft eine angemessene Summe als Kaufpreis auf dem Ladentisch zurück.
Auf der anderen Straßenseite war ein kleiner Park, und ich hielt auf einer der Bänke meine Mahlzeit.
Kein anderer Besucher störte meine Abgeschieden-heit.
Nach beendeter Mahlzeit zündete ich eine Zigarette an. Als ich so dasaß und rauchte und dabei überlegte, wohin ich gehen und was ich unternehmen solle, erklang in der Stille Klavierspiel. Es kam aus einem der Wohnhäuser um den Park. Und auf einmal begann eine Mädchenstimme zu singen.
Ich horchte und blickte auf. Der Gesang verstummte. Das Klavierspiel brach ab. Und dann wurde ein Schluchzen hörbar: leise, hilflos und hoffnungslos, herzbrechend. Still ging ich zurück in die Straße und sah sie eine Weile wie durch einen Flor.
Sogar Hyde Park Corner fand ich beinahe verlassen.
Ein paar herrenlose Autos und Lastwagen standen auf der Fahrbahn. Die einzigen Lebewesen, die man zu sehen bekam, waren wenige Männer und noch weniger Frauen, die sorgsam ihren Weg suchten, mit Händen und Füßen tastend, wo es Geländer gab, mit schützend vorgestreckten Armen umherirrend, wenn es fehlte. Ich wandte mich, noch immer vom alten Zentrum magnetisch angezogen, der Piccadilly zu.
Es waren nun mehr Leute zu sehen, und ich marschierte an Gruppen stillstehender Fahrzeuge vorbei, mitten auf der Straße, wo ich die Entgegenkommen-den weniger störte; denn die blieben, sobald sie einen nahen Schritt hörten, stehen, auf einen Zusammenstoß gefaßt.
Piccadilly Circus war die belebteste Stelle, die ich bisher gesehen hatte. Vergleichsweise herrschte hier ein förmliches Gedränge, mochten es auch im ganzen keine hundert Leute sein. Sie wanderten ruhelos hin und her.
Plötzlich war der taktmäßige Schritt einer mar-schierenden Gruppe zu hören.
Von meinem Standplatz aus konnte ich sie aus einer Seitengasse in die Shaftesbury Avenue einbiegen und auf uns zukommen sehen. Sie kamen im Gänsemarsch. Der zweite in der Reihe hatte seine Hände auf den Schultern des Anführers, der dritte auf denen des zweiten, und so ging es weiter; es mochten fünfundzwanzig bis dreißig Mann sein.
Sie marschierten bis in die Mitte des Platzes. Hier erhob der Anführer seine Stimme:
»Kompanie-ie-ie, halt!«
Alles auf dem Platz war regungslos, alle Gesichter gespannt und erwartungsvoll ihm zugewendet. Wieder erhob er die Stimme und verkündete in der Art eines routinierten Fremdenführers:
»Hier, meine Herrschaften, sind wir auf dem Piccabloodydilly Circus. Bekanntlich der Mittelpunkt der Welt, Achse des Universums. Wo die oberen Zehntausend ihren Spaß hatten. Mit Wein, Weib und Gesang.«
Er war nicht blind. Anscheinend hatte ihm, ähnlich wie mir, ein Zufall das Augenlicht erhalten. Er war angetrunken; ebenso die Männer hinter ihm.
»Und jetzt werden auch wir unseren Spaß haben«, fügte er hinzu. »Nächste Station: das bekannte Café Royal – alles gratis natürlich.«
»Bravo – aber wo bleiben die Weiber?« fragte eine Stimme.
Gelächter folgte.
»Weiber willst du?«
Der Anführer tat einen Schritt vor und packte ein Mädchen beim Arm. Ohne sich um ihr Schreien zu kümmern, schleppte er sie zu dem Mann.
»Da hast eine. Ein Täubchen, Mann, was Extrafeines, ein wahres Zuckerpüppchen, das ich dir da zukommen lasse.«
Ich habe nachher eingesehen, daß ich mich sehr unklug benahm. Ich bedachte nicht, daß ein Bandenmitglied mehr Aussicht hatte, am Leben zu bleiben, als ein Einzelgänger. Angefeuert von Schuljungenromantik und ritterlichen Gefühlen, trat ich herzu. Er sah mich erst, als ich schon in nächster Nähe war und zu einem Kinnhaken ausholte. Leider war er der Schnellere ...
Als ich mich wieder für die Außenwelt interessierte, entdeckte ich, daß ich auf dem Straßenpflaster lag.
In der Ferne verhallte der Lärm der Bande.
Die Schar war, wie mir einfiel, ins Café Royal marschiert; ich beschloß daher, zur Regeneration meiner Lebensgeister und zur gründlichen Erwägung meiner Lage das Regent Palace Hotel aufzusuchen.
Während ich Siesta hielt, vor mir einen Brandy und in der Hand eine Zigarette, rang ich mich endlich zu der Erkenntnis durch, daß das bisher Gesehene Wirklichkeit war, endgültige, unwiderrufliche Wirklichkeit. Ich sah, daß mein Dasein nun ohne jeden Schwerpunkt war. Alle meine Pläne, alle Ziele und Aussichten waren ausgelöscht, verschwunden mit der Welt, die ihnen Sinn gegeben hatte. Es war ein Augenblick der Verlassenheit und Vereinsamung, der vielleicht lebensbedrohend gewesen wäre, hätte ich den Verlust von Verwandten oder sonst Nahestehen-den betrauern müssen. Das zuzeiten recht leere Leben, das ich führte, erwies sich nun als ein Segen.
Niemand erwartete etwas von mir. Und seltsam, was ich fühlte, war nicht, was ich hätte fühlen müssen, Verlassenheit und Vereinsamung, sondern beinahe so etwas wie – Befreiung ...
Von nun an war ich mein eigener Herr, nicht mehr nur ein Rädchen im Getriebe. Es mochte eine Welt voller Schrecken und Gefahren sein, die ich vor mir hatte, aber ich konnte es mit ihr aufnehmen auf meine Art und nicht mehr im Dienst fremder Kräfte und Interessen, von denen ich nichts verstand und die mich nichts angingen.
Blieb noch die Frage: was sollte zuerst geschehen, wie und wo sollte mit diesem neuen Leben begonnen werden. Diese Sorge beschwerte mich im Augenblick nicht sonderlich. Ich trank aus und ging wieder ins Freie, um mich in dieser neuen, fremden Welt ein wenig umzusehen.
Die Stadtteile, die ich nun durchschritt, waren zweifellos die belebtesten auf meiner bisherigen Wanderung. Ständig kam es auf den Gehsteigen und in den schmalen Gassen zu Zusammenstößen, und auch die Ansammlungen vor den nun immer häufiger eingeschlagenen Schaufenstern erhöhten die Verwirrung.
Dabei schien niemand unter den sich Drängenden recht zu wissen, was für eine Art Laden er vor sich hatte. Die Vordersten suchten einen erkennbaren Gegenstand zu ertasten, die Verwegeneren drangen, ungeachtet der lebensgefährlich aufzackenden Scheibensplitter, ins Innere der Läden.
Ich fühlte mich verpflichtet, den Leuten bei ihrer Suche nach Lebensmitteln zu helfen. Sollte ich es wirklich? Führte ich sie zu einem noch ungeplünderten Laden, würden sie ihn innerhalb von fünf Minuten kahl machen und ein paar Schwächere in dem Gedränge niedertreten. Die Vorräte würden ohnedies bald erschöpft sein. Was dann? Wohin mit all den Hungernden? Vielleicht ließ sich eine kleine ausgewählte Gruppe eine Zeitlang durchbringen; aber nach welchen Gesichtspunkten sollte ausgewählt werden?
Soviel ich sann und grübelte, ich fand keinen gangbaren Weg.
Es war ein Geschehen ohne Gnade und Erbarmen.
Es hieß: rauben oder beraubt werden.
Ich näherte mich dem Golden Square und wollte eben um eine Ecke, da stockte ich, ein schriller Aufschrei erscholl.
Und da gellte er auch schon von neuem auf.
Angstvoll und in ein Stöhnen ausklingend. Diesmal hörte ich, aus welcher Richtung er kam. Ein paar Schritte brachten mich zur Einmündung eines Gäßchens.
Etwas weiter drinnen in dem Gäßchen entdeckte ich die Ursache. Auf dem Boden kauerte ein Mädchen, auf das ein stämmiger Mann mit einer dünnen Messingstange einschlug. Das Kleid der Geschlagenen war am Rücken aufgerissen, die Haut mit roten Striemen bedeckt, ihre Hände waren auf den Rücken gebunden und mit einem Strick an das linke Handgelenk des Mannes gefesselt.
Ich konnte gerade einen neuen Hieb abfangen. Es war leicht, dem Überraschten die Stange zu entwinden und sie auf seine Schulter niedersausen zu lassen.
Ehe er sein Gleichgewicht wieder erlangte, hatte ich den Strick, der die beiden verband, durchgeschnitten.
Ein leichter Stoß vor die Brust, und er taumelte zurück und verlor dabei die Orientierung. Als er daher zu einem gewaltigen Hieb ausholte, traf er nicht mich, sondern die Ziegelmauer. Ich half dem Mädchen auf, knüpfte die Fesseln los und führte sie, während er noch immer fluchte und schimpfte, aus dem Gäßchen.
Als wir in die Straße einbogen, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Sie wandte mir ein verschmiertes und verweintes Gesicht zu und blickte mich an.
»Sie sehen ja!« rief sie ungläubig.
»Gewiß«, bestätigte ich.
»Oh, Gott sei Dank! Gott sei Dank! Ich glaubte schon, ich sei die einzige«, sie brach wieder in Tränen aus.
Ich musterte die Gegend. Ein Stück weiter fand sich ein kleineres, noch heil gebliebenes Gasthaus. Ein kräftiger Stoß mit der Schulter sprengte die Tür in den Schankraum auf. Ich führte meine Begleiterin zu einem Sessel. Einen zweiten zertrümmerte ich, um mittels der Stuhlbeine die Türe vor weiteren Besu-chern zu sichern. Dann erst wandte ich meine Aufmerksamkeit den Stärkungsmitteln im Schankregal zu.
Ich ließ ihr Zeit, sich zu beruhigen.
Dann und wann warf ich einen verstohlenen Blick auf das Mädel. Die Kleider, oder was davon übrig war, schienen von guter Qualität. Das Haar war dunkelblond. Das jetzt noch entstellte, verweinte und beschmutzte Gesicht mochte hübsch sein. Sie war etwas kleiner als ich, schlank, doch nicht mager. Wohlge-formte Hände, gepflegte Fingernägel, alles mehr dekorativ als praktisch.
Nachdem sie das erste Glas, das ich ihr gereicht hatte, geleert hatte, begann sie:
»Lieber Gott, ich muß furchtbar aussehen.«
Sie stand auf und trat vor einen Wandspiegel.
»Richtig furchtbar«, stellte sie fest.
»Zigarette?« fragte ich und schob ihr ein zweites Glas hin.
Sie erholte sich zusehends, und wir tauschten inzwischen die Geschichten unserer Erlebnisse aus. Um ihr Zeit zu geben, erzählte ich als erster. Dann begann sie:
»Ich schäme mich ganz furchtbar. Ich bin nämlich gar nicht so, ich meine, nicht so, wie Sie mich gefunden haben. Ich kann mich sonst auf mich verlassen.
Aber es war einfach zuviel, und mir gingen die Nerven durch. Ich glaubte, ich sei die einzige auf der ganzen Welt, die noch sehen konnte. Der Schreck warf mich um.«
»Machen Sie sich nichts daraus«, tröstete ich sie.
»Wir werden bald noch ganz andere Überraschungen an uns erleben.«
»Ich mache mir aber etwas daraus. Wenn man gleich anfangs so versagt –«, sie ließ den Satz unvollendet.
»Ich war auch einer Panik ziemlich nahe«, sagte ich. »Wir sind eben Menschen und nicht Maschinen.«
Sie hieß Josella Playton. Der Name kam mir irgendwie bekannt vor, ich wußte aber nicht, woher.
Sie wohnte in der Dene Road, St. John's Wood. Ich kannte die Dene Road. Komfortable Häuser, häßlich zumeist, innen kostspielig. Auch sie verdankte ihr Augenlicht dem Zufall. Montag abends war sie auf einer Party gewesen.
»Irgendein Spaßvogel, der so etwas für lustig hält, muß unsere Drinks verstärkt haben«, erklärte sie.
»Mir war nie so übel wie diesmal am Ende der Party.
Und ich hatte wirklich nicht viel getrunken.«
Dienstag, erinnerte sie sich, war ihr hundeelend zumute. Um vier Uhr nachmittags hatte sie es endgültig satt. Sie klingelte und gab Anweisung, sie wolle nicht gestört werden, auch wenn die Welt untergehen und der Jüngste Tag anbrechen sollte. Nach diesem Ultimatum nahm sie ein starkes Schlafmittel, das auf den leeren Magen wie ein Keulenschlag wirkte.
Sie lag ausgelöscht da und wußte von nichts, bis sie heute früh von ihrem Vater geweckt wurde, der in ihr Zimmer stolperte.
»Josella«, sagte er, »suche um Gottes willen Doktor Mayle zu erreichen. Sage ihm, daß ich blind bin, stockblind.«
Hastig kleidete sie sich an. Kein Klingeln brachte das Dienstpersonal herbei. Zu ihrem Entsetzen fand sie, daß alle blind waren.
Auch das Telefon war gestört, es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich selbst ins Auto zu setzen, um den Arzt zu holen. Die lautlosen Straßen und die vollkommene Verkehrsstille hatten sie befremdet, erst nachdem sie fast eine Meile gefahren war, dämmerte ihr auf, was sich ereignet hatte. Im ersten Schreck wollte sie sogleich umkehren, dann besann sie sich, niemandem wäre damit geholfen gewesen. Vielleicht war der Arzt, ebenso wie sie selber, von dieser Krankheit oder was es war, verschont geblieben. Mit verzweifelter, aber schon sinkender Hoffnung hatte sie die Fahrt fortgesetzt.
Mitten in der Regent Street begann der Motor zu knattern und setzte aus; zuletzt stand er still.
Sie stieg aus dem Wagen, um den Rest des Weges zu Fuß zu gehen. Sie hatte die Wagentür eben hinter sich zugeschlagen, als sie angerufen wurde:
»Hallo! Nur eine Minute, Kamerad!«
Sie wandte sich um und sah einen Mann nähertappen.
»Was ist?« fragte sie, vom Aussehen des Näherkommenden nicht eben eingenommen.
Sein Verhalten änderte sich, als er ihre Stimme hörte.
»Habe mich verirrt. Weiß nicht, wo ich bin«, sagte er.
»Das ist hier Regent Street«, informierte sie ihn. Sie wandte sich um, um zu gehen.
»Führen Sie mich doch an den Randstein, Fräulein, bitte«, ersuchte er sie.
Sie zögerte, und da war er auch schon da. Seine ausgestreckte Hand berührte ihren Ärmel. Er schnellte vorwärts und umklammerte ihre Arme mit einem schmerzhaften Griff.
»Sie können also sehen!« rief er. »Wieso in 's Teufels Namen können Sie's und ich nicht und niemand sonst?«
Ehe sie wußte, was geschah, hatte er sie herumge-rissen und zum Sturz gebracht; sie lag auf der Straße und spürte sein Knie im Rücken. Er umfaßte ihre beiden Handgelenke mit einer seiner Pratzen und band sie mit einem Stück Schnur, das er in seiner Tasche fand, zusammen. Dann stand er auf und zerrte sie hoch.
»So«, sagte er. »Jetzt wirst du deine Augen für mich gebrauchen. Ich habe Hunger. Du führst mich hin, wo es was Gutes zu essen gibt. Also los.«
Josella suchte von ihm loszukommen.
»Ich will nicht. Lassen Sie meine Hände los. Ich –«
Ein Schlag ins Gesicht ließ sie stocken.
»Und ob du wollen wirst, Mädel«, erwiderte er.
Am Ende hatte sie sich fügen müssen.
»Ich muß einfach den Kopf verloren haben«, erklärte sie. »Jetzt sehe ich ein halbes Dutzend Möglichkeiten, wie ich ihn hätte loswerden können.
Wahrscheinlich hätte ich ihn getötet, wenn Sie nicht gekommen wären. Noch war ich es nicht imstande, man wird nicht im Handumdrehen ein Totschläger.
Er war vielleicht gar nicht so schlimm, wie er aussah«, meinte sie, »es war nur die Angst. Im Grunde hatte er weit mehr Angst als ich. Er ließ mich essen und trinken. Er begann mich zu schlagen, weil er betrunken war und weil ich nicht mit ihm nach Hause gehen wollte. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn Sie nicht eingegriffen hätten.«
Es war ihr anzusehen, daß sie sich besser fühlte, doch zuckte sie zusammen, als sie nach ihrem Glas griff.
»Jeder, der etwas Kostbares besitzt, ist in Gefahr«, sagte sie nachdenklich.
»Werde mir das für künftighin merken«, versprach ich. »Und was soll nun geschehen?« fragte ich.
»Ich muß nach Hause zurück. Mein Vater wartet.
Den Doktor zu suchen, hat ja nun keinen Sinn mehr – auch wenn er zu den Verschonten gehört.«
»Soll ich nicht mitkommen?« fragte ich. »Ich glaube nicht, daß es in dieser Zeit für uns ratsam ist, so allein umherzuwandern.«
Sie blickte mich dankbar an.
»Ich wollte schon fragen. Dann dachte ich, daß Sie vielleicht anderwärts erwartet werden.«
»Niemand erwartet mich«, gab ich zur Antwort.
»Das ist gut. Nicht daß ich Angst habe, noch einmal eingefangen zu werden – davor werde ich mich hüten. Ich fürchte aber die Verlassenheit, das Alleinsein.
Man kommt sich so verloren vor.«
Wiederum zeigten sich mir die Dinge in einem anderen neuen Licht. In das Gefühl der Befreiung mischte sich die Ahnung künftiger Schrecknisse. Anfangs mußte man Überlegenheit und daher Zuversicht empfinden. Wir hatten ja unendlich viel mehr Aussicht, die Katastrophe zu überleben, als die andern. Wo sie tasten, tappen und raten mußten, brauchten wir nur zuzugreifen. Aber darüber hinaus gab es noch vieles andere ...
Ich sagte: »Ich wüßte gern, wieviel Sehende es noch gibt. Scheint, daß das Sehvermögen eine große Seltenheit geworden ist. Einige von den anderen haben offenbar schon begriffen, daß sie, um am Leben zu bleiben, einen Sehenden brauchen. Sobald das alle begriffen haben, werden unsere Aussichten alles eher als gut.«
Die Zukunft schien mir nur zwei Möglichkeiten zu bieten: ein einsames Dasein unter ständiger Furcht, gefangen und versklavt zu werden, oder die Bildung einer Gruppe, die ausgesucht war und vor anderen Gruppen Schutz gewährte. Wir würden eine Doppelrolle spielen: Führer und Gefangene zugleich sein. Josella riß mich aus meinen Gedanken.
»Ich muß gehen«, sagte sie. »Mein armer Vater. Es ist vier vorüber.«
In der Regent Street hatte ich einen Einfall.
»Kommen Sie«, sagte ich. »Hier irgendwo muß ein Laden sein ...«
Er war noch da. Wir rüsteten uns darin mit ein paar handlichen Dolchmessern aus und den dazu nötigen Gürteln.
Ein Stück weiter fanden wir eine große funkelnde Limousine stehen. Wir fuhren nordwärts, wichen den herrenlos parkenden Fahrzeugen aus und den Wanderern, die bei unserer Annäherung mitten auf der Fahrbahn zur Reglosigkeit erstarrten und deren Gesichter, wenn sie uns kommen hören, hoffnungsvoll aufleuchteten und wieder erloschen, wenn wir uns entfernten. Ein Gebäude, an dem wir vorüberfuhren, stand in hellen Flammen, und eine Rauchwolke stieg über einer anderen Brandstelle auf, irgendwo in der Oxford Street. Und dann ging's am Rundfunkgebäude vorbei nach Norden zur Autostraße durch Regent's Park.
Endlich offenes Land und nicht mehr die Häuserzeilen mit den ziellos umherirrenden Unglücklichen.
Die einzigen Dinge, die wir auf den ausgedehnten Grasflächen in Bewegung sahen, waren zwei, drei kleine Gruppen von Triffids, die südwärts stelzten.
Irgendwie war es ihnen gelungen, die Pflöcke loszureißen, die sie nun an ihren Ketten nachschleiften.
Auf der restlichen Strecke hatten wir wenig Aufenthalt. Ein paar Minuten und ich bremste vor dem Haus, das sie mir zeigte. Wir stiegen aus dem Wagen, und ich machte das Tor auf. Ein kurzer Fahrweg bog um das Buschwerk, das die Straßenfront des Hauses verdeckte. An der Biegung schrie Josella plötzlich auf und lief vorwärts. Auf dem Kies lag ein Mann, den Rücken nach oben, aber den Kopf zur Seite gedreht, so daß eine Hälfte seines Gesichtes sichtbar war. Auf den ersten Blick erkannte ich die brandigrote Strieme über der Wange.
»Halt!« schrie ich.
Der Schreckensruf ließ sie stocken.
Ich war die Triffid nun gewahr geworden. Sie lauerte im Gebüsch in der Nähe des Gestürzten.
»Zurück! Schnell!« sagte ich.
Sie zögerte, noch immer auf den Hingestreckten blickend.
»Aber ich muß –«, begann sie und wandte sich mir zu. Sie stockte, mit schreckgeweiteten Augen. Dann schrie sie.
Ich fuhr herum und sah eine Triffid knapp hinter mir aufragen.
Mit einer automatischen Bewegung hielt ich die Hände vor meine Augen. Ich hörte den Stachel durch die Luft zischen – doch die lähmende Wirkung blieb aus, auch der brennende Schmerz. In solchen Augenblicken vermag der Geist blitzschnell zu reagieren, ich sprang auf die Pflanze los, ehe sie einen neuen Schlag tun konnte. Sie kippte um und ich fiel mit ihr, suchte aber noch im Sturz, den Kelch mit dem Stachel vom Stengel zu reißen. Der Stengel einer Triffid läßt sich zwar nicht abknicken, wohl aber zerknittern.
Der, den ich diesmal in Händen hatte, war gründlich zerknittert, als ich aufstand.
Josella stand erstarrt noch immer auf derselben Stelle.
»Kommen Sie hierher«, sagte ich. »Im Gebüsch hinter Ihnen ist noch eine.«
Erschreckt blickte sie sich um und kam.
»Sie sind doch getroffen worden!« rief sie ungläubig. »Wieso sind Sie –?«
»Ich weiß nicht. Eigentlich sollte ich«, gab ich zur Antwort.
Ich starrte auf die Triffid zu meinen Füßen. Da erinnerte ich mich an die Dolchmesser, die wir für ganz andere Gegner mitgenommen hatten, und schnitt mit dem meinen den Stachel aus dem Kelchboden. Ich untersuchte ihn genau.
»Das ist die Erklärung.« Ich wies auf den Giftbeutel. »Sehen Sie? Sie sind schlaff und leer. Wären sie voll gewesen, auch nur zum Teil, dann ...« Ich drehte den Daumen nach unten. Diesem Umstand und meiner Widerstandskraft gegen das Gift verdankte ich meine Rettung. Dennoch lief mir über Handrücken und Hals eine blaßrote, teuflisch juckende Strieme.
Ich rieb sie, während ich den Stachel besah.
»Sonderbar«, murmelte ich, mehr zu mir selber als zu meiner Begleiterin, doch sie hörte mich.
»Was ist sonderbar?«
»So leere Giftbeutel sind mir bisher nicht untergekommen. Die muß ja höllisch viel Stiche ausgeteilt haben.«
Es war zweifelhaft, ob sie mich hörte. Ihre Aufmerksamkeit galt wieder dem Mann auf dem Kiesweg und der neben ihm lauernden Triffid.
»Wie können wir ihn von hier wegschaffen?« fragte sie.
»Überhaupt nicht, solange das Ding dort nicht unschädlich gemacht worden ist«, erklärte ich. »Und dann, fürchte ich, kommt jede Hilfe zu spät.«
»Er ist tot?«
Ich nickte. »Wer war es?«
»Der alte Pearson. Er war unser Gärtner und Vaters Chauffeur. Ein so prächtiger alter Mann.«
»Es tut mir leid, daß –«, begann ich, da mir nichts Besseres einfiel, als sie mich unterbrach.
»Dort! Dort! Sehen Sie nur!« Sie deutete auf einen um das Haus biegenden Pfad. Ein schwarzbestrumpftes Bein mit einem Damenschuh war an der Ecke sichtbar.
Halb auf dem Weg, halb in einem Blumenbeet lag ein Mädchen in einem schwarzen Kleid. Über ihr frisches hübsches Gesicht zog sich eine blutrote Strieme.
Josella stockte der Atem. Tränen traten in ihre Augen.
»Oh, Annie! Arme, kleine Annie!« flüsterte sie.
Ich versuchte, sie ein wenig zu trösten.
»Sie haben kaum viel gelitten, die beiden«, sagte ich. »Ist der Stich tödlich, dann geht es schnell.«
Keine andere Triffid lauerte hier. Vermutlich waren die beiden von einer einzigen niedergestreckt worden. Wir überquerten gemeinsam den Pfad und traten durch eine Seitentür ins Haus. Josella rief. Keine Antwort. Sie rief noch einmal. Nichts regte sich. Still schritt sie mir voran durch einen Flur, der vor einer tuchbespannten Tür endete. Als sie öffnete, peitschte etwas knapp über ihren Kopf hinweg und traf klatschend den Türrahmen. Sie schlug hastig die Tür zu und sah mich mit entsetzten Augen an.
»Im Vorzimmer ist auch eine.«
Sie sagte es im Flüsterton, als fürchte sie, behorcht zu werden. Wir gingen den Flur zurück und um-schritten das Haus, auf dem Rasen, um kein Geräusch zu machen, bis wir zu einer Stelle kamen, wo man in das Vorzimmer blicken konnte. Die Glastür, die in den Garten führte, war offen, eine ihrer Scheiben eingeschlagen. Eine Fährte von Schlammspritzern lief über die Stufe und den Teppich. An ihrem Ende stand mitten im Zimmer eine Triffid, deren leise schwankende Stengelspitze fast die Decke streifte.
Neben ihrem erdigen, zottigen Strunk lag, mit einem hellfarbigen seidenen Schlafanzug bekleidet, der Körper eines älteren Mannes. Ich faßte Josella am Arm. Damit sie nicht hineinlief.
»Ist es – Ihr Vater?« fragte ich, obwohl ich die Antwort schon wußte.
Sie nickte und schlug die Hände vor das Gesicht.
Sie zitterte. Ich stand still und ließ die Triffid nicht aus den Augen, falls sie sich nähern sollte. Dann reichte ich Josella mein Taschentuch. Hier war nicht viel zu machen. Nach einer Weile gewann sie ihre Fassung zurück. Sie sah wieder hinein in das Zimmer. »Was sollen wir tun? Ich kann ihn doch nicht so–«
In diesem Augenblick glitt der Reflex einer Bewegung durch die heil gebliebene Scheibe der Glastür.
Als ich mich umblickte, sah ich eine Triffid aus dem Gebüsch hervorkommen. Sie stelzte über den Rasen gerade auf uns zu.
Da war keine Zeit zu verlieren. Wieder faßte ich Josella am Arm und lief mit ihr den Weg zurück, den wir gekommen waren; als wir im Wagen und in Sicherheit waren, begannen die Tränen zu strömen.
Weinen erleichtert das Herz.
Je länger ich über die neue Lage nachdachte, um so weniger gefiel sie mir. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Triffids es in London gab. In jedem Park waren zumindest ein paar zu finden. Gewöhnlich ohne Stachel. Die durften sich frei bewegen. Oft aber waren auch solche mit Stachel da, entweder angepflockt oder hinter engmaschigen Drahtgittern. Und die, die wir in Regent's Park gesehen hatten – wie viele wurden in den Hürden neben dem Tiergarten gehalten?
Und wie viele waren ausgebrochen? Und auch in Privatgärten gab es eine Anzahl; sicherheitshalber wahrscheinlich beschnitten – doch wer weiß, die Leute waren manchmal von einem unbegreiflichen Leichtsinn.
Außerdem gab es weiter draußen noch Zuchtanstalten und Versuchsstationen für die Dinger ...
Irgend etwas regte sich im Untergrund meines Gedächtnisses, während ich diese Überlegungen anstellte; eine Gedankenverbindung, die nicht recht zustande kommen wollte. Ich suchte eine Weile: und auf einmal war sie da. Ich glaubte förmlich, Walters Stimme zu hören:
»Eine Triffid, behaupte ich, hat mehr Aussicht, am Leben zu bleiben als ein Blinder.«
Ich rief mir das Gespräch ins Gedächtnis zurück ...
»Nimm uns unser Sehvermögen«, hatte er gesagt,
»und es ist aus mit unserer Überlegenheit ihnen gegenüber.«
Ein Knirschen im Kies brachte mich in die Gegenwart zurück. Eine Triffid schwankte den Fahrweg herunter und auf das Tor zu. Ich lehnte mich zurück und kurbelte das Wagenfenster hoch.
»Fahren wir! Fahren wir!« flüsterte Josella in panischer Angst.
»Hier drinnen kann uns doch nichts geschehen«, beruhigte ich sie. »Ich möchte nur sehen, was sie macht.«
Beim Tor blieb die Pflanze stehen. Man hätte schwören mögen, sie horche. Wir saßen vollkommen starr und lautlos. Ich erwartete einen Schlag auf den Wagen. Aber nichts geschah. Die kurzen kahlen Stiele begannen unvermittelt an den Hauptstamm zu trommeln. Das ganze Gebilde schwankte, torkelte schwerfällig seitwärts und verschwand hinter der nächsten Wegkurve.
Josella atmete auf.
»Oh, fahren wir, bevor sie zurückkommt«, bat sie.
Ich setzte den Motor in Gang, drehte um und dann fuhren wir wieder nach London zurück.
Allmählich gewann Josella wieder ihr seelisches Gleichgewicht. Offenbar suchte sie Ablenkung von dem eben Erlebten, als sie fragte:
»Wohin fahren wir jetzt?«
»Zuerst nach Clerkenwell«, antwortete ich. »Nachher wollen wir uns für Sie um Kleider umsehen. Bond Street, wenn Sie wollen. Aber Clerkenwell zuerst. Ich kenne dort eine Firma, die die besten Triffidflinten und Triffidmasken der Welt herstellt.«
Die Straßen um King's Cross Station waren ungewöhnlich belebt. Obwohl ich die Hand nicht mehr von der Hupe ließ, wurde das Fahren immer schwieriger. Und vor dem Stationsgebäude war ein Durchkommen ausgeschlossen. Ich habe keine Ahnung, was diese Menschenansammlung verursachte. Die gesamte Bevölkerung des Stadtteils schien an dieser Stelle zusammengeströmt zu sein. Die Menge vor uns war undurchdringlich, und ein Blick nach hinten zeigte, daß uns auch der Rückweg versperrt war. Die Leute, an denen wir vorbeigefahren waren, holten uns schon ein.
»Raus, schnell!« sagte ich. »Sonst haben sie uns.«
»Aber –«, begann Josella.
»Rasch«, drängte ich.
Ich betätigte noch einmal die Hupe, dann stieg ich auch aus, ohne den Motor abzustellen. Keine Minute zu früh; denn ein Mann klinkte bereits die hintere Wagentür auf und tastete umher. Die herandrängende Menge warf uns beinahe um. Wildes Geschrei erscholl, als die Vordertür geöffnet wurde und man auch hier die Sitze leer fand. Während so ringsum die Verwirrung wuchs, ergriff ich Josellas Hand und begann, so unauffällig wie möglich, aus dem Gedränge hinauszusteuern.
Als wir glücklich draußen waren, gingen wir eine Zeitlang zu Fuß weiter, hielten aber dabei Ausschau nach einem geeigneten Fahrzeug. Nach einer Meile Weges fanden wir eines: einen Lieferwagen, höchst zweckmäßig für den Plan, den ich im Sinn hatte.
In Clerkenwell hat man sich seit zwei, drei Jahr-hunderten mit der Erzeugung von Präzisionsinstrumenten befaßt. Die kleine Werkstätte, wo ich früher zuweilen von Berufs wegen zu tun hatte, brauchte ich nicht lange zu suchen, und ich hatte mir auch bald Einlaß verschafft. Als wir wegfuhren, geschah es mit dem Gefühl größerer Sicherheit, hatten wir doch im Laderaum unseres Wagens einige vortreffliche Triffidflinten samt der nötigen Munition, ein paar tausend Stück jener kleinen Stahlscheiben sowie einige Drahtmasken verstaut.
»Und jetzt – Kleider?« schlug Josella vor.
»Vorläufiger Plan, offen für Kritik und Verbesserung«, antwortete ich. »Punkt eins: eine Art Absteigequartier, wo wir ausruhen und sprechen können.
Ich habe an eine leerstehende Wohnung gedacht.
Sollte nicht schwer zu finden sein. Wir könnten uns dort etwas erholen und einen Feldzugsplan entwerfen.
Dann zu Punkt zwei: die Kleiderfrage. Hier ist es vielleicht besser, wenn jeder seine eigenen Wege geht.
Nur heißt es aufpassen, damit wir in unser Quartier zurückfinden.«
»Ja«, sagte sie etwas unsicher.
»Es wird schon gehen«, beruhigte ich sie. »Sie müssen sich's nur zur Regel machen, zu niemand zu sprechen, und man wird nicht merken, daß Sie sehen können. Nur weil Sie ganz unvorbereitet waren, sind Sie in die Patsche geraten.
Triffids werden Sie in der Innenstadt nicht treffen – wenigstens jetzt noch nicht.«
»Und nach den Kleidern?« fragte Josella zögernd.
»Punkt drei ist ganz eindeutig: Essen«, erklärte ich.
Wie ich erwartet hatte, gab es bei der Quartierbeschaffung keine besonderen Schwierigkeiten. Wir parkten, nachdem wir den Wagen versperrt hatten, mitten auf der Fahrbahn vor einem einigermaßen pompösen Wohnblock und stiegen in den dritten Stock hinauf. Der Vorgang war einfach. Wir klopften oder klingelten, antwortete jemand, gingen wir weiter. Beim viertenmal blieb es still. Ein kräftiger Stoß mit der Schulter sprengte das Türschloß, und wir waren in der Wohnung.
Wir befanden uns in einer modernst eingerichteten Wohnung. Höchste Eleganz war die Grundnote. Nirgends war gegen den guten Geschmack gesündigt.
Ich wandte mich zu Josella, die das alles mit großen Augen anstarrte.
»Nehmen wir vorlieb mit dem Gebotenen, oder suchen wir etwas anderes?«
»Oh, ich denke, wir bleiben hier«, gab sie zur Antwort. Und dann wateten wir zusammen über den kostbaren cremefarbenen Teppich auf Erkundung.
Ohne es zu beabsichtigen, hatte ich das beste Mittel entdeckt, Josella von den Ereignissen des Tages abzulenken. Immer wieder blieb sie mit einem Ausruf stehen; bald war es Bewunderung, bald Neid, Freude, Verachtung, hie und da – es soll nicht verheimlicht werden – auch Bosheit. An der Schwelle eines Zimmers, dessen Ausstattung eine aggressiv weibliche Note zeigte, erklärte sie:
»Hier werde ich schlafen.«
»Lieber Himmel!« sagte ich. »Nun, über Geschmack läßt sich nicht streiten.«
Wir beendeten unseren Rundgang; das übrige erwies sich als weniger sensationell. Dann ging sie, um die Kleiderfrage zu regeln. Ich prüfte die Wohnung nochmals auf ihre Vorzüge und Nachteile und startete danach ebenfalls zu meiner Expedition.
Ich brauchte länger, als ich vorausgesehen hatte, bis ich alles Nötige beisammen hatte. Erst nach etwa zwei Stunden kehrte ich zurück. Ich ließ ein, zwei Stücke aus meiner Ladung fallen, als ich die Tür aufmachte. Josella rief mit etwas Nervosität in der Stimme aus ihrem hyperfemininen Schlafzimmer.
»Nur ich«, beruhigte ich sie, als ich mit meiner Last den Flur entlangschritt.
Ich stellte sie in der Küche ab und ging zurück, um die Sachen zu holen, die mir heruntergefallen waren.
Vor dem Schlafzimmer hielt ich an.
»Sie können jetzt nicht herein«, sagte Josella durch die Tür. »Wollte ich auch nicht«, entgegnete ich. »Ich wollte nur wissen: können Sie kochen?«
»Bis zu gekochten Eiern reicht es«, ertönte ihre gedämpfte Stimme.
»Meine Ahnung! Wir werden eine ganze Menge lernen müssen«, warnte ich sie.
Ich kehrte in die Küche zurück. Stellte den mitgebrachten Petroleumkocher auf den nutzlosen Elektroherd und machte mich an die Arbeit.
Nachdem ich den kleinen Tisch im Salon für zwei Personen gedeckt hatte, war ich mit dem erreichten Effekt ziemlich zufrieden, verbesserte ihn noch mit ein paar Kerzen und Leuchtern, die ich bereitstellte.
Von Josella war noch immer nichts zu sehen, vor einer Weile allerdings hatte ich das Geräusch von fließendem Wasser gehört. Ich rief.
»Komme schon«, antwortete sie.
Ich schlenderte zum Fenster hinüber und sah hinaus. Ich begann, Abschied zu nehmen von all dem, was da sichtbar war. Die Sonne stand tief. Die steinernen Türme, Giebelspitzen und Fassaden schimmerten weiß oder rosig vor dem verdämmernden Himmel. Mehr Brände waren da und dort ausgebrochen. Dicker schwarzer Qualm schob sich in die Höhe; am Grunde züngelte manchmal eine Flamme auf.
Nicht lange, sagte ich mir, und ich sah dieses vertraute Bild zum letzten Male. Vielleicht schon morgen. Wohl mochte eine Zeit kommen, da man zurückkehren konnte. Aber man würde alles verändert finden.
Ich stand und schaute. Noch wollte das Herz nicht glauben, was dem Kopf einleuchtete. Noch immer wehrte sich mein Gefühl gegen die Ungeheuerlichkeit des Geschehens.
Ich sah noch immer hinaus, als ich hinter mir ein Geräusch hörte. Ich drehte mich um. Josella war eingetreten. Sie trug ein langes Abendkleid aus blaßblau getöntem Georgette und ein Jäckchen aus weißem Zobel. Im Ausschnitt ihres Kleides blitzte eine Dia-mantenbrosche und kleinere Steine funkelten an ihren Ohrgehängen. Haar und Gesicht schimmerten, als wäre sie eben aus einem Schönheitssalon gekommen.
Als sie über den Fußboden schritt, glitzerte es silbern von ihren Schuhen und ein Stück der spinnwebdünnen Strümpfe wurde sichtbar. Ich starrte sie wortlos an. Das Lächeln um ihren Mund erlosch.
»Gefällt es Ihnen nicht?« fragte sie kindlichenttäuscht.
»Doch, es gefällt mir – Sie sind schön«, sagte ich.
»Ich war nur nicht gefaßt auf so etwas ...«
Worte, die nicht genügten. Ich wußte, daß sie sich nicht für mich schön gemacht hatte. Ich fragte:
»Eine Abschiedsfeier?«
Ein anderer Ausdruck kam in ihre Augen.
»Sie verstehen mich also. Ich habe es gehofft.«
»Ich bin froh, daß Sie auf diesen Gedanken gekommen sind. Es wird später einmal eine schöne Erinnerung sein«, sagte ich. Ich nahm sie bei der Hand und führte sie ans Fenster.
»Ich habe auch Abschied genommen – von all dem.«
Lange schauten wir so hinaus, gedankenverloren.
Dann seufzte sie. Sie blickte an ihrem Kleid hinunter und streifte mit den Fingerspitzen über die zarte Seide.
»Ich bin wohl dumm? Götterdämmerung?« Um ihren Mund zuckte ein schmerzliches Lächeln.
»Nein«, sagte ich. »Sie haben einen guten Gedanken gehabt, und ich danke Ihnen. Es ist eine Mahnung, daß mit dem, was nun untergeht, auch vieles Schöne versinkt. Sie hätten mir kein schöneres Bild vor Augen bringen können.«
Der schmerzliche Ausdruck in ihrem Lächeln verschwand.
»Danke, Bill.« Sie schwieg. Dann sagte sie: »Habe ich mich bei Ihnen schon bedankt? Ich glaube nicht.
Wenn Sie nicht gewesen wären ...«
Ich fiel ihr ins Wort. »Und wenn Sie nicht gewesen wären, läge ich jetzt wahrscheinlich jämmerlich angetrunken in einer Bar. Ich bin Ihnen nicht weniger Dank schuldig. Alleinsein ist jetzt für uns nicht gut.«
Ich änderte das Thema und fügte hinzu: »Was Getränke anlangt, so gibt es hier noch einen famosen Amontillado und eine Reihe anderer Sorgenbrecher.
Mit dieser Wohnung haben wir einen Haupttreffer gemacht.« Ich schenkte den Sherry ein, und wir hoben die Gläser.
»Auf Gesundheit, Kraft und Glück«, sagte ich.
Sie nickte. Wir tranken.
Als wir eine offensichtlich sündteure Pastete in Angriff nahmen, fragte Josella: »Und wenn nun plötzlich der Wohnungsinhaber hereinkäme?«
»Wir wären ihm jedenfalls eine Erklärung schuldig.
Aber ich glaube, der Fall ist unwahrscheinlich. Und er oder sie wären sicher froh, jemand zu haben, der sehen kann, was in den verschiedenen Flaschen ist.«
»Ja«, stimmte sie nachdenklich zu, »der Fall ist unwahrscheinlich. Ich möchte nur wissen –« Sie ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, bis er an einer gerillten Konsole haften blieb. »Haben Sie schon das Radio probiert – das Ding dort ist ja wohl ein Radio, nicht?«
»Zugleich Fernsehempfänger«, erklärte ich. »Aber außer Betrieb. Kein Strom.«
»Richtig. Daran dachte ich nicht.«
»Unterwegs habe ich einen Batterieempfänger probiert«, sagte ich. »Nichts zu machen. Alle Rundfunk-sender sind still wie das Grab.«
»Es ist also überall so wie hier?«
»Ich fürchte es. Nur im Zweiundvierzigmeterband ließ sich ein unentwegtes Zirpen hören. Irgendein armer Teufel, der Funkverbindung zu kriegen versuchte. Sonst alles still.«
»Es – es wird furchtbar werden, Bill, nicht?«
»Es wird – nein, ich will mir nicht den Appetit verderben«, entgegnete ich. »Reden wir von etwas anderem. Erzählen Sie doch etwas von sich, bitte.«
»Gut«, antwortete sie. »Ich bin etwa drei Meilen von hier zur Welt gekommen. Zur lebhaften Enttäuschung meiner Mutter.«
Ich zog die Brauen in die Höhe.
»Sie wollte mich auf amerikanischem Boden zur Welt bringen. Aber der Wagen zum Flugplatz kam zu spät. Meine Mutter war immer voller Einfälle, und ich glaube, ich habe etwas von ihr.«
So plauderte sie weiter. Ihre Jugendgeschichte war nicht sehr bemerkenswert, aber das Erzählen heiterte sie auf und ließ sie für eine Weile vergessen, wo wir waren. So berichtete sie von ihren Kindertagen, der Schulzeit und ihren Mädchenjahren.
»Mit neunzehn hätte ich beinahe geheiratet«, gestand sie, »und wie froh bin ich jetzt, daß nichts daraus wurde. Damals freilich dachte ich anders. Es gab einen schrecklichen Krach mit Papa, er sorgte, daß die Sache ein Ende hatte; er durchschaute Lionel von Anfang an und ...«
»Lionel?« unterbrach ich sie.
»So hieß er; ein ganz billiger Salonschlurf. Nach dem Krach zog ich von daheim weg und quartierte mich bei einer Freundin ein, die eine eigene Wohnung hatte. Und meine Eltern sperrten mir jede Unterstützung. Aber bei meiner Freundin schmarotzen, das ging auch nicht. Ich mußte mir Geld verschaffen, und daher schrieb ich das Buch.«
Ich traute meinen Ohren nicht.
»Das Buch?«
»Ja, ich habe ein Buch geschrieben.«
Sie blickte mich an und lächelte.
»Es war natürlich kein sehr gutes Buch, wie Sie sich denken können, keine hohe Literatur, aber es erfüllte seinen Zweck.«
»Es wurde veröffentlicht?«
»Sicher. Und ich verdiente viel Geld damit. Die Filmrechte –«
»Was für einen Titel hatte es?« fragte ich neugierig.
»Es hieß: ›Liebe ist mein Abenteuer‹.«
Ich starrte sie an und schlug mir die Hand vor die Stirn.
»Natürlich: Josella Playton. Deshalb kam mir der Name so bekannt vor. Sie haben dieses Buch geschrieben?« fragte ich ungläubig.
Seltsam, daß sie mir das erst sagen mußte. Ihr Bild war überall zu sehen gewesen, und auch das Buch hatte man überall sehen können. Zwei große Lesezir-kel hatten es, vermutlich allein schon wegen des Titels, in Acht und Bann erklärt. Damit war der Erfolg gesichert, und die Auflagenziffer erklomm die Hunderttausendgrenze.
»Haben Sie es gelesen?« fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf. Sie seufzte.
»Komisch die Menschen. Sie kennen nur den Titel und die Sensation und sind schockiert. Der Titel allein ist doch nicht alles. In Wirklichkeit war es ein ganz harmloses Büchlein. Mischung aus himmelblauer Romantik und rosenrotem oder grasgrünem Zynismus, unreif und altklug. Gut war der Titel.«
»Fragt sich, was hier unter ›gut‹ zu verstehen ist«, warf ich ein. »Noch dazu veröffentlichten Sie es unter Ihrem eigenen Namen.«
»Das war ein Fehler«, gab sie zu. »Ich ließ mich von den Verlegern überreden. Sie behaupteten, es sei besser für die Propaganda. Von ihrem Standpunkt aus hatten sie ja auch recht. Eine Zeitlang stand ich wirklich im Rampenlicht. Leute, die mir ganz und gar unsympathisch waren, begannen mir förmlich die Tür einzurennen. Um sie loszuwerden und weil ich bewiesen hatte, daß ich unabhängig sein konnte, kehrte ich nach Hause zurück.
Aber mit dem Buch hatte ich mir doch etwas eingebrockt. Immer wieder suchten sich mir Leute zu nähern, die mir unsympathisch waren. Und die netten waren ängstlich oder schockiert. Und dabei war das Buch alles andere als ruchlos – eine billige Effekthascherei im Grunde; jeder vernünftige Mensch hätte das sehen müssen.«
Sie hielt inne. Es lag mir auf der Zunge, ihr zu sagen, daß die vernünftigen Leute wahrscheinlich dachten: wie das Buch, so der Autor. Ich unterdrückte diese Bemerkung.
»Nachher war alles wie verhext«, klagte sie. »Um eine Art Ausgleich zu schaffen, fing ich ein neues Buch an. Es blieb zum Glück liegen – es wäre bitter und unerquicklich geworden.«
»Und nun«, schlug ich vor, »ist es Zeit, eine Art Feldzugsplan zu entwerfen. Darf ich ein paar allgemeine Bemerkungen vorausschicken?«
Wir hatten es uns in zwei üppigen Lehnsesseln bequem gemacht. Auf dem niederen Tischchen zwischen uns standen die Mokkamaschine und zwei Gläser. Das Josellas war das kleine mit dem Cointreau.
Das plutokratische Kelchglas mit dem unbezahlbaren Brandy war für mich. Josella blies ein Rauchwölkchen in die Luft und nippte an ihrem Glas. Sie genoß das Aroma; dann sagte sie:
»Okay; schießen Sie los.«
»Wir dürfen uns nichts vormachen. Wir müssen fort. Und zwar möglichst bald. Man kann schon jetzt sehen, was hier passieren wird. Noch ist Wasser da.
Nicht mehr lange. Dann wird die ganze Stadt zu stinken anfangen wie eine Kloake. Schon jetzt liegen Leichen in den Straßen – jeden Tag werden es mehr sein.« Sie schauderte. Ich hatte vergessen, daß ich hier eine frische Wunde berührte. Rasch fügte ich hinzu:
»Cholera, Typhus, Gott weiß was, kann jederzeit ausbrechen. Wir müssen vorher fort.«
Sie nickte zustimmend.
»Die nächste Frage wäre: wohin? Haben Sie Vorschläge?« fragte ich.
»Jedenfalls irgendwohin, wo wir dem entgehen. An einen Ort, wo es Wasser gibt, etwa einen Brunnen.
Und dann, glaube ich, wird es gut sein, einen hochgelegenen Ort zu wählen mit reiner Luft und frischem Wind.«
»An Luft und Wind habe ich nicht gedacht«, sagte ich, »aber Sie haben recht. Hochgelegener Ort mit guter Wasserversorgung – so etwas läßt sich nicht im Handumdrehen finden.« Ich überlegte. Im Lake District? Zu weit weg. Und Wales? Exmoor oder Dartmoor vielleicht? Oder gleich nach Cornwall hinunter?
Um Land's End etwa, wo der vorherrschende Südwest reine Luft vom Atlantik brachte. Leider auch weit weg.
»In den Sussex Downs vielleicht?« meinte Josella.
»Ich kenne an der Nordseite ein nettes altes Bauernhaus, mit dem Blick nach Pulborough hinüber. Es liegt zwar nicht direkt auf der Höhe, aber doch ziemlich hoch. Ein Windrad pumpt das Wasser hinauf, auch haben sie eigenen Strom, glaube ich. Es ist alles umgebaut und modernisiert worden.«
»Das wäre das richtige. Aber den dicht besiedelten Gebieten zu nahe. Glauben Sie nicht, daß wir weiter weg sollten?«
»Ich überlege gerade. Wie lange wird es dauern, bis man eine Stadt wieder ohne Gefahr aufsuchen kann?«
»Keine Ahnung«, bekannte ich. »Etwa ein Jahr, meiner Meinung nach.«
»Wenn wir zu zweit weggehen, werden wir später mit der Versorgung Schwierigkeiten haben.«
»Das ist sicher zu berücksichtigen«, gab ich zu.
Wir vertagten die Erörterung dieser Frage und wandten uns den Einzelheiten unseres Umzugs zu.
Am nächsten Morgen sollte zuerst einmal ein geräumiges Lastauto herangeschafft werden, und nun stellten wir gemeinsam eine Liste der Gegenstände zusammen, die wir aufladen wollten. Die Abfahrt setzten wir auf den nächsten Abend fest, wenn wir es bis dahin schaffen konnten; wenn nicht – und der Umfang der Liste ließ das wahrscheinlicher erscheinen –, wollten wir noch eine Nacht in London riskieren und erst am folgenden Tag wegfahren.
Es ging schon auf Mitternacht, als die Liste fertig war. Sie hatte viel Ähnlichkeit mit einem Warenhauskatalog. Sie hätte ihren Zweck erfüllt, wenn sie uns auch nur an diesem Abend Beschäftigung und Ablenkung gegeben hatte.
Josella gähnte und erhob sich.
»Schläfrig«, meinte sie. »– Und Daunendecken warten in einem phantastischen Bett.«
Sie schien über den dicken Teppich zu schweben.
Die Hand am Türgriff, hielt sie inne, um sich feierlich in einem großen Wandspiegel zu betrachten.
»Schön war es doch«, sagte sie, ihrem Spiegelbild eine Kußhand zuwerfend.
»Gute Nacht, Sie schönes Traumbild«, verabschiedete ich mich. Ein schwaches Lächeln erhellte ihr Gesicht, dann verschwand sie hinter der Türe wie ein Nebelstreif.
Ich schenkte mir noch einen letzten Schluck des wundervollen Brandys ein, wärmte das Glas in meiner Hand und schlürfte es leer.
»Nie wieder wirst du so etwas zu sehen bekommen«, monologisierte ich. »Nie wieder. Sic transit ...«
Und dann, bevor mich der Trübsinn endgültig überwältigte, suchte ich mein bescheidenes Nachtlager auf.
Ich war schon behaglich ausgestreckt, am Einschlummern, als es an die Tür klopfte.
»Bill«, ertönte Josellas Stimme, »kommen Sie rasch.
Ein Licht ist da!«
»Was für ein Licht?« fragte ich, aus dem Bett kletternd.
»Draußen. Kommen Sie und sehen Sie sich's an.«
Es war ein Licht. Von ihrem Schlafzimmerfenster, das, meiner Schätzung nach, nach Nordost ging, konnte ich einen hellen Lichtkegel sehen, dem eines Scheinwerfers ähnlich, der unverrückt nach oben zeigte.
»Dort muß doch jemand sein, der sehen kann«, erklärte Josella.
»Sicher«, stimmte ich zu.
Ich versuchte, die Stelle zu bestimmen, von der das Licht ausging, aber die ringsum herrschende Finsternis vereitelte diesen Versuch. Weit weg war es nicht, dessen war ich sicher, und da es mitten im Luftraum zu entstehen schien, kam es vermutlich von einem hohen Gebäude. Ich zögerte.
»Warten wir, bis es Tag ist«, entschied ich.
Eine Wanderung durch die finsteren Straßen hatte nichts Verlockendes.
Ich hockte mich nieder, die Augen in der Höhe des Fensterbretts, und kerbte mit einer Nagelfeile in der Richtung der Lichtquelle eine Linie in das Holz. Dann kehrte ich in mein Zimmer zurück.
Eine Stunde oder länger lag ich wach. Die Nacht vertiefte die Stille und machte die Laute, die sie unterbrachen, trostloser. Von Zeit zu Zeit klangen Stimmen von der Straße herauf, schrill und hysterisch. Einmal gellte ein bluterstarrender Schrei auf, in dem der Irrsinn zu frohlocken schien. Irgendwo in der Nähe ging ein Schluchzen endlos und hoffnungslos fort. Zweimal hörte ich den scharfen Knall von Pistolenschüssen ... Ich fühlte meine Dankesschuld gegenüber dem – was immer es war –, das Josella und mich zusammengeführt hatte.
Alleinsein war jetzt das fürchterlichste. Allein war man nichts. Gemeinschaft hieß, ein Ziel haben, und ein Ziel verscheuchte Angst und Panik.
Um die Laute nicht zu hören, dachte ich an das, was morgen und übermorgen und an den folgenden Tagen getan werden mußte; ich grübelte nach, was wohl der Lichtstrahl bedeuten konnte. Aber das im Hintergrund andauernde Schluchzen mahnte mich an die Dinge, die ich tagsüber gesehen hatte und morgen sehen würde ...
Als die Tür aufging, fuhr ich erschreckt empor. Es war Josella, sie trug eine brennende Kerze. Ihre Augen waren groß und umschattet; sie hatte geweint.
»Ich kann nicht schlafen«, sagte sie. »Ich habe Angst, entsetzliche Angst. Hören Sie sie – all die armen Menschen? Ich kann es nicht ertragen ...«
Sie kam wie ein Kind, das Trost sucht. Ich weiß nicht, wer von uns beiden trostbedürftiger war.
Sie schlief früher ein als ich, mit dem Kopf an meiner Schulter.
Noch immer ließen mir die Bilder des vergangenen Tages keine Ruhe. Endlich kam auch für mich der Schlaf.
Als ich aufwachte, konnte ich Josella schon in der Küche rumoren hören. Auf meiner Uhr war es knapp vor sieben. Während ich mich rasierte und anzog, verbreitete sich der Duft von gerösteten Brötchen und von Kaffee durch die Wohnung. Ich fand Josella bei der Vorbereitung des Frühstücks; sie hielt eine Pfanne über den Petroleumofen. Etwas Selbstsicheres und Praktisches war in ihrem Wesen; keine Spur von den Schrecken der vergangenen Nacht war zurückgeblieben. »Wir müssen mit Kondensmilch vorliebnehmen«, informierte sie mich. »Die Eismaschine steht. Sonst ist alles in Ordnung.« Einen Augenblick lang war es schwierig, in dem zweckmäßig gekleideten Mädchen die Ballsaalerscheinung des vergangenen Abends zu erkennen. Sie trug nun einen dunkelblauen Skianzug, weiße Socken, die über festen Schuhen aufgerollt waren. An einem dunklen Ledergürtel hing ein trefflich gearbeitetes Jagdmesser.
»Tauglich?« fragte sie.
»Und ob«, antwortete ich. Ich sah an mir herunter.
»Ich wollte, ich hätte auch so viel Voraussicht gehabt.
Ein Modeanzug ist nicht das richtige für den Job.«
»Das meine ich auch«, bestätigte sie mit einem kritischen Blick auf meinen zerknüllten Anzug.
»Das Licht von gestern nacht«, fuhr sie fort, »kam vom Turm der Universität; ich bin dessen ziemlich sicher. Es gibt sonst nichts Auffälliges in dieser Richtung. Auch die Entfernung stimmt.«
Ich ging in ihr Zimmer und visierte nach dem Strich, den ich in das Fensterbrett geritzt hatte. Er zeigte wirklich auf den Turm. Und ich gewahrte noch etwas. Vom Fahnenmast auf dem Turm wehten zwei Flaggen. Eine konnte zufällig hängen geblieben sein, bei zweien war das ausgeschlossen; sie ersetzten tagsüber das Signallicht. Beim Frühstück beschlossen wir, das in Aussicht genommene Programm zu ver-tagen und zunächst einmal eine Erkundungsfahrt zu dem Turm zu unternehmen.
Wir verließen die Wohnung eine halbe Stunde später. Wie ich es erwartet hatte, stand unser Lieferwagen unangetastet in der Mitte der Fahrbahn. Wir verstauten Josellas Gepäck hinten unter der Triffidausrüstung und fuhren los.
Wir sahen wenig Leute. Diejenigen, die schon unterwegs waren, hielten sich mehr an den Außenrand der Gehsteige und nicht, wie am Vortag, an die Mauern. Die meisten hatten Stöcke oder Latten in den Händen und tappten auf diese Art die Randsteine entlang.
Unsere Fahrt verlief ohne Zwischenfall, und nach kurzer Zeit bogen wir in die Store Street ein, an deren Ende der Universitätsturm aufragte.
»Langsam«, warnte mich Josella, als wir in die leere Straße einbogen. »Ich glaube, beim Tor stehen Leute.«
Es war so. Als wir näher kamen, sahen wir, daß es eine recht große Anzahl von Leuten war. Solche Ansammlungen waren uns seit dem Vortag unsympathisch. Ich schwenkte in die Gower Street ab, fuhr etwa fünfzig Meter und hielt. »Was glauben Sie, kann dort los sein?« fragte ich. »Rekognoszieren wir, oder hauen wir ab?«
»Ich bin fürs Rekognoszieren«, antwortete Josella prompt.
»Gut. Ich auch«, willigte ich ein.
»Ich kenne mich hier aus«, fügte sie hinzu. »Hinter diesen Häusern gibt es einen Garten, von dem aus wir die Sache beobachten könnten, ohne mit hineingezogen zu werden.« Wir kletterten aus dem Wagen und hielten Ausschau nach einer offenen Tür in den Kellergeschossen. Im dritten fanden wir eine. Ein Flur führte durch das Haus in den Garten, der mehreren Häusern gemeinsam und seltsam angelegt war; er lag zum Teil in der Höhe der Kellergeschosse, also unterhalb des Straßenniveaus, stieg aber auf der der Universität zugekehrten Seite zu einer Art Terrasse an, die von der angrenzenden Straße durch ein hohes eisernes Gittertor und eine niedrige Mauer getrennt wurde. Das Geräusch der Menge war hier als ein dumpfes Gemurmel vernehmlich. Wir überschritten die Rasenfläche, gingen einen Kiesweg empor und fanden hinter einem Gebüsch einen günstigen Spähplatz.
Die Menge, die sich vor dem Universitätseingang staute, zählte nach Hunderten. Sie war viel größer, als man nach dem Geräusch erwartete. Zum erstenmal fiel mir auf, um wieviel stiller und passiver sich Blinde verhalten als eine gleiche Zahl von Sehenden. Sie können sich eben nur auf ihr Gehör verlassen, um etwas von den äußeren Vorgängen zu erfahren, so daß die Stille jedes einzelnen allen zugute kommt.
Was hier vorging, geschah ganz vorn. Wir entdeckten einen kleinen Hügel, von dem aus man über die Köpfe der Menge hinweg auf das Tor sehen konnte. Vor dessen Gitterstäben stand ein Mann mit einer Kappe, der heftig auf einen anderen, hinter den Stäben befindlichen Mann einredete. Er schien aber bei diesem nicht viel zu erreichen, denn der Anteil des anderen an dem Gespräch beschränkte sich auf ein wiederholtes verneinendes Kopfschütteln.
»Worum geht es?« fragte Josella im Flüsterton.
Ich half ihr, so daß sie neben mich zu stehen kam.
Der eifrige Sprecher wandte uns sein Profil zu. Ich schätzte ihn auf etwa dreißig, er hatte ein knochiges Gesicht, eine schmale gerade Nase und dunkles Haar.
Doch das Auffällige an ihm war nicht sein Aussehen, sondern sein heftiges Gebaren.
Anscheinend führte das Gespräch durch die Gitterstäbe zu keinem Ergebnis, denn seine Stimme wurde lauter und schärfer – ohne aber auf den anderen Eindruck zu machen. Daß dieser andere sehen konnte, stand außer Zweifel; er blickte wachsam durch seine Hornbrille. Über die ein Stück hinter ihm stehende Gruppe von drei Männern gab es ebenfalls keinen Zweifel. Auch sie beobachteten die Menge und deren Wortführer mit gespannter Aufmerksamkeit. Der Mann auf unserer Seite ereiferte sich. Er erhob seine Stimme, als seien seine Worte ebenso an sein Gefolge wie an die Leute hinter den Gitterstäben gerichtet.
»Jetzt hören Sie mir einmal zu«, sagte er zornig.
»Die Leute hier haben, verdammt noch mal, dasselbe Recht zu leben wie ihr. Oder nicht? Ist es ihre Schuld, daß sie blind sind? Niemand ist schuld. Aber ihr seid schuld, wenn sie hungern. Ich habe sie hingeführt, wo Nahrung zu haben war. Ich habe für sie getan, was in meiner Macht war. Aber, Herrgott, ich bin ja nur einer und ihrer sind Tausende. Auch ihr könnt ihnen zeigen, wo es Lebensmittel gibt – aber tut ihr es? Fällt euch gar nicht ein! Ihr kümmert euch nur um das eigene lausige Fell. Ich kenne euch. Erst komm ich, ist euer Motto, und nach mir die Sintflut.«
Er spuckte verächtlich aus und hob rhetorisch den Arm.
Er schwenkte die Hand. »Da draußen warten Tausende armer Teufel, daß ihnen jemand zeigt, wo sie Essen finden. Denn Essen ist da. Ihr braucht nichts weiter zu tun, als sie hinzuführen. Tut ihr es? Nicht ums Verrecken! Ihr sperrt euch hier ein und laßt sie hungern. Und dabei könnte jeder von euch Hunderte am Leben erhalten, wenn er bloß herauskäme und den armer. Tröpfen zeigte, wo sie sich sattessen können. Herrgott, seid ihr denn keine Menschen?«
Der Mann vertrat eine Sache. Und er vertrat sie mit Überzeugung und Leidenschaft. Ich spürte, wie Josella unbewußt meinen Arm umklammerte; ich legte meine Hand auf die ihre. Der Mann hinter dem Gitter sagte etwas, das wir auf unserem Standplatz nicht hören konnten.
»Wie lange?« schrie der Mann auf unserer Seite.
»Woher, zum Teufel, soll ich wissen, wie lange die Vorräte reichen? Ich weiß nur eins: wenn Kerle wie ihr alle Fünfe grad sein lassen, werden nicht viele leben, wenn Hilfe und Rettung kommt.« Er hielt erbittert inne. »Die Sache ist nämlich die: ihr habt Angst.
Angst, daß für euch nicht genug in der Futterkrippe bleibt, wenn ihr die armen Teufel mitessen laßt. Das ist der Grund. Das ist die Wahrheit, die einzugeste-hen ihr zu feige seid.«
Wieder konnten wir die Antwort der anderen nicht hören; sie schien jedenfalls den Anführer der Blinden nicht zu besänftigen. Er starrte eine Weile grimmig durch das Gitter. Dann sagte er:
»Also gut – ihr wollt es nicht anders haben!«
Er langte blitzschnell zwischen die Stäbe, faßte den Arm des anderen und zerrte ihn mit einem Ruck und einer Drehung durch das Gitter. Die Hand eines neben ihm stehenden Blinden ergreifend, klappte er sie auf den Arm.
»Halt fest, Kamerad«, sagte er und war mit einem Sprung beim Torriegel.
Der Überfallene erholte sich schnell. Mit der freien Hand schlug er wild zwischen die Stäbe. Dabei traf er zufällig das Gesicht des Blinden. Der schrie auf und packte noch fester zu. Der Anführer werkte am Torverschluß. In diesem Augenblick krachte ein Gewehrschuß. Die Kugel traf einen Gitterstab und schwirrte als Querschläger ab. Der Anführer stockte. Hinter ihm wurden Flüche laut, ein, zwei Aufschreie gellten.
Die Menge wogte vorwärts und wieder zurück, unentschieden, ob zur Flucht oder zum Angriff. Die Entscheidung kam durch die Gruppe im Hof. Ich gewahrte, wie ein jung aussehender Mann etwas unter den Arm klemmte, und warf mich, Josella mitreißend, zu Boden. Eine Maschinenpistole begann zu rattern.
Es waren offensichtlich in die Luft abgefeuerte Schreckschüsse. Aber das Prasseln und Schwirren der Kugeln tat seine Wirkung. Ein kurzer Feuerstoß genügte. Als wir die Köpfe hoben, war die Menge schon in Auflösung begriffen; die Blinden tappten nach allen Seiten davon, um sich in Sicherheit zu bringen.
Der Anführer schrie noch etwas Unverständliches, bevor er ebenfalls kehrtmachte.
Ich blieb sitzen, wo ich saß, und sah Josella an. Sie blickte mich nachdenklich an und sah dann zu Boden. Wir schwiegen einige Minuten.
»Nun?« fragte ich zuletzt.
Sie hob den Kopf, blickte über die Straße hinüber und dann auf die letzten, kläglich davonschleichenden Nachzügler der Menge.
»Er hatte recht«, sagte sie. »Sie müssen zugeben, daß er recht hatte?«
Ich nickte.
»Er hatte recht ... Und doch auch unrecht. Es wird nämlich keine Hilfe und Rettung kommen. Davon bin ich jetzt überzeugt. Wir können tun, was er vorschlägt. Könnten einige, aber nur einige der Blinden, mit Nahrung versorgen. Einige Tage lang, vielleicht ein paar Wochen. Und dann? Was dann?«
»Aber es kommt mir so furchtbar vor, so herzlos...«
»Wir haben, soviel ich sehe, zwei Alternativen«, erklärte ich. »Entweder versuchen wir zu retten, was zu retten ist – also auch uns selber: oder wir bemühen uns, das Leben der Blinden etwas zu verlängern. Das sind, objektiv betrachtet, unsere Möglichkeiten.
Ich kann mir aber nicht verhehlen, daß der humanere Weg wahrscheinlich eine Art Selbstmord ist. Wir verlängern das Elend von Menschen, von denen wir wissen, daß wir sie am Ende doch nicht retten können. Ist das der beste Gebrauch, den wir von unserem Leben machen können?«
Sie nickte langsam.
»Wenn man es so betrachtet, scheint uns nicht viel Wahl zu bleiben. Fragt sich noch, wen sollen wir retten? Dürfen wir das bestimmen? Und wie lange wird es überhaupt möglich sein, sie zu versorgen?«
»Das ist schwer zu sagen«, antwortete ich. »Ich ha-be keine Ahnung, wie hoch der Prozentsatz an nicht ganz Arbeitsfähigen sein darf, wenn einmal die sofort greifbaren Vorräte erschöpft sind. Ich glaube, hoch wird man ihn nicht ansetzen dürfen.«
»Sie haben sich schon für eine Alternative entschieden«, stellte sie mit einem Blick auf mich fest.
War etwas wie Vorwurf in ihrem Ton? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
»Verstehen Sie mich recht«, sagte ich. »Mir mißfällt das alles nicht weniger als Ihnen. Ich habe nichts weiter getan, als die Möglichkeiten nüchtern dargestellt. Helfen wir den Überlebenden der Katastrophe, wieder eine Art Leben aufzubauen? Oder machen wir eine moralische Geste, die nach der Lage der Dinge kaum mehr sein kann als eine Geste? Die Leute da drüben haben offenbar ihre Entscheidung schon getroffen.«
Sie scharrte mit den Fingern am Boden und ließ Erde aus der Hand rieseln.
»Ich glaube ja, daß Sie recht haben«, sagte sie.
»Aber Sie haben auch recht, wenn Sie sagen, daß es mir mißfällt.«
»Gefallen oder Mißfallen haben aufgehört, entscheidende Faktoren zu sein«, bemerkte ich.
»Vielleicht. Aber ich habe nun einmal Bedenken gegen alles, was mit Schüssen beginnt.«
»Es waren Schreckschüsse – und sie haben wahrscheinlich Blutvergießen verhütet«, entgegnete ich.
Die Menge hatte sich inzwischen völlig verlaufen.
Ich kletterte über die Mauer und half Josella beim Heruntersteigen auf der anderen Seite. Ein Mann beim Tor öffnete und ließ uns ein.
»Wie viele seid ihr?« fragte er.
»Nur wir zwei. Wir sahen euer Signal gestern nacht«, erklärte ich.
»Okay. Kommt mit zum Oberst.« Er führte uns über den Vorhof.
Der Oberst hatte sein Quartier in einem kleinen Raum unweit des Eingangs, offenbar in der Portierloge, aufgeschlagen. Er mochte an die Fünfzig sein, ein rundlicher Herr mit dichtem, kurzgeschnittenem grauem Haar. Der Schnurrbart streng militärisch, jedes einzelne Haar gleichsam in Reih und Glied. Er saß an einem Tisch, auf dem Schreibpapier in mathematisch genau gekanteten Stapeln bereitlag, vor sich ein großes, sauberes Löschblatt.
Als wir eintraten, musterte er uns, einen nach dem anderen, mit einem scharfen prüfenden Blick, den er etwas länger als nötig verweilen ließ. Ich kannte die Technik. Sie soll andeuten, daß man einen guten Menschenkenner vor sich hat, dem man nichts vormachen kann, der einen durchschaut, aber auch volles Vertrauen verdient. Am besten erwidert man diesen Blick mit einem von gleicher Qualität, der beweist, daß man ein ›tüchtiger Bursche‹ ist. Das tat ich.
Der Oberst nahm die Feder in die Hand.
»Die Namen, bitte?«
Wir nannten sie.
»Und die Adressen?«
»Ich sehe zwar nicht ein, was sie unter den gegenwärtigen Umständen nützen können«, wandte ich ein, »aber wenn Sie sie brauchen –« Wir gaben sie ihm.
Er schrieb sie auf, etwas von System, Organisation und Verwandten murmelnd. Alter, Beschäftigung und alles übrige folgten. Er sah uns nochmals prüfend an, versah jedes Blatt mit einer Notiz und reihte es in eine Kartei ein.
»Tüchtige Leute nötig. Scheußliche Sache das. Gibt aber viel zu tun hier. Viel. Mr. Beadley wird Ihnen sagen, was.«
Wir kehrten in die Einfahrt zurück.
Michael Beadley erwies sich als ein entschieden andersartiger Typ. Er war hager, groß, breitschulterig, hatte eine leicht gebeugte Haltung und etwas von einem verabschiedeten Athleten. Die großen dunklen Augen verliehen seinem Gesicht in Momenten der Ruhe einen etwas düsteren Ausdruck, aber Ruhe war bei ihm selten. Das angegraute Haar ließ keinen Schluß auf sein Alter zu. Er konnte alles zwischen Fünfunddreißig und Fünfzig sein. Im Augenblick erschwerte auch seine sichtbare Übermüdung eine Schätzung. Er mußte die ganze Nacht auf gewesen sein; dennoch begrüßte er uns heiter. Mit einer Handbewegung wies er uns zu einer jungen Frau, die unsere Namen nochmals aufschrieb.
»Sandra Telmont«, stellte er sie vor. »Sandra ist unsere Listenführerin. Ein Geschäft, das sie versteht; wir dürfen es daher als eine besondere Gunst der Vorsehung betrachten, daß wir sie haben. Mit Jacques habt ihr schon gesprochen?«
»Falls das der Oberst ist, der Civil Service spielt, ja«, antwortete ich.
Er grinste.
»Müssen im Bild sein. Können keinen Schritt tun, ohne den Verpflegungsstand zu kennen«, ahmte er den Oberst nach. Dann fügte er hinzu: »Es ist aber auch ganz richtig. Damit Sie wissen, wie es hier steht.
Zur Zeit sind wir fünfunddreißig Personen. Aus allen Schichten. Wir erhoffen und erwarten noch Zuzug während des heutigen Tages. Achtundzwanzig von den Anwesenden können sehen. Die anderen, meist Ehepartner, auch zwei, drei Kinder, sind blind. Geplant ist, daß wir morgen wegfahren, falls wir bis dahin fertig sind – sicherheitshalber, Sie verstehen mich.«
Ich nickte. »Wir wollten heute abend aus dem gleichen Grund weg.«
»Haben Sie Fahrzeuge?«
Ich berichtete, wo wir den Lieferwagen zurückgelassen hatten.
»Wir beabsichtigen, uns heute zu verproviantieren«, erklärte ich. »Bis jetzt haben wir praktisch nichts weiter im Wagen als Material zur Triffidabwehr.«
Er zog die Brauen hoch. Auch das Mädchen Sandra blickte mich erstaunt an.
»Damit haben Sie sich zuerst versorgt? Seltsam«, bemerkte er. Ich legte ihnen meine Gründe dar. Der Bericht schien nicht viel Eindruck auf sie zu machen, vielleicht war meine Darstellung nicht überzeugend.
Er ging mit einem Kopfnicken darüber hinweg und fuhr fort:
»Gut. Wenn ihr mit uns kommen wollt, schlage ich folgendes vor. Bringt euren Wagen her, ladet hier aus, fahrt dann nochmals los und vertauscht ihn für einen guten geräumigen Lkw. Und dann – versteht eins von euch etwas von Medizin?« fragte er unvermittelt.
Wir verneinten.
Er runzelte die Stirn. »Schade. Wir haben bis jetzt keinen Mediziner unter uns. Sollte mich wundern, wenn wir nicht bald einen brauchten. Und geimpft müssen wir jedenfalls alle werden. Aber euch zum Organisieren von Arzneimitteln auszuschicken, hätte nicht viel Sinn. Was wär's mit Lebensmitteln und allgemeinen Gebrauchsartikeln? Einverstanden?«
Er durchblätterte ein Büschel zusammengehefteter Zettel, nahm einen heraus und reichte ihn mir. Er trug die Nummer 15 und enthielt ein mit Schreibmaschine getipptes Verzeichnis von Lebensmittelkonserven, Kochgeschirr und Bettzeug.
»Nehmt nur die beste Qualität«, erklärte er. »Bei den Nahrungsmitteln geht Nährwert vor Masse: ich meine, waren Haferflocken bisher die Passion eures Lebens, so müßt ihr sie aufgeben. Ich rate euch, nur Speicher und Großhandlungen aufzusuchen.« Er notierte zwei, drei Adressen auf unsere Liste. »Ihr seid auf Dosen und Kisten aus; laßt euch nicht etwa durch Mehlsäcke ablenken. Das ist Aufgabe einer anderen Gruppe.« Er blickte Josella nachdenklich an. »Viel Anstrengung, fürchte ich, aber es ist die nützlichste Arbeit, die wir euch zur Zeit geben können Seht zu, daß ihr vor dem Dunkelwerden fertig seid. Heute abend wird hier um halb zehn eine allgemeine Diskussion abgehalten.«
Als wir uns zum Gehen wandten:
»Habt ihr Pistolen?« fragte er.
»Daran habe ich nicht gedacht«, gestand ich.
»Besser – im Fall des Falles. Schreckschüsse, einfach in die Luft abgefeuert, tun ihre Wirkung«, sagte er. Er nahm zwei Pistolen aus einer Tischlade und schob sie zu uns herüber. »Einfacher zu handhaben als das«, fügte er mit einem Blick auf Josellas Hirschfänger hinzu. »Glück auf und reiche Beute.«
Auch als wir nach Entladung des Lieferwagens ausfuhren, fanden wir noch immer weniger Leute auf den Straßen als am Vortag. Sie zeigten auch, sobald sie den Motor hörten, eher Neigung, auf die Gehsteige zu flüchten, als uns zu belästigen.
Der erste Lkw, der uns gefiel, erwies sich als Niete, er war mit Kisten beladen, die wir nicht bewegen konnten. Bei unserem nächsten Fund hatten wir mehr Glück: es war ein leerer und fast neuer Fünftonner.
Wir stiegen um und überließen den Lieferwagen seinem Schicksal.
An der ersten Adresse auf unserer Liste waren die Rolläden vor dem Verladeraum herabgelassen, aber ich verschaffte mir mit einem aus dem Nachbarlokal geholten Brecheisen bald Zugang. Drinnen machten wir einen Fund. Drei Lkw standen fahrbereit an der Laderampe. Einer davon mit einer Ladung Fleischkonserven.
»Getrauen Sie sich, so etwas zu chauffieren?« fragte ich Josella.
Sie musterte den Wagen.
»Warum nicht? Die Apparatur ist doch im allgemeinen die gleiche, nicht? Und Verkehrsprobleme gibt's ja keine mehr.«
Wir beschlossen, den Wagen später abzuholen, und fuhren mit dem leeren Fünftonner zu einem anderen Lagerhaus, wo wir Decken, Tücher und anderes Bettzeug aufluden, und dann ging es zu einer dritten Stelle, wo wir eine klirrende und klappernde Fracht von Töpfen, Pfannen, Kannen und Kesseln auf unser Fahrzeug schafften. Als wir den Laderaum gefüllt hatten, empfanden wir einige Genugtuung. Wir hatten ein gutes Stück Arbeit hinter uns gebracht, und es war schwerer, als wir es uns vorgestellt hatten. Nach diesen Anstrengungen stillten wir unseren Hunger in einem kleinen, noch unbeschädigten Gasthaus.
Wir holten nach der Stärkungspause den schon beladenen Lkw aus dem Lebensmittelspeicher und fuhren die beiden langsam und ohne Zwischenfall zur Universität. Dort parkten wir sie im Vorhof und brachen zu einer neuen Expedition auf. Um halb sieben etwa kamen wir mit zwei weiteren, wohlbeladenen Fahrzeugen und dem Gefühl, das unsere geleistet zu haben, zurück.
Michael Beadley trat herbei, um unsere Beiträge zu besichtigen. Er war mit allem einverstanden, nur nicht mit dem halben Dutzend Kisten, die ich mit der zweiten Fuhre gebracht hatte.
»Was habt ihr da drinnen?« fragte er.
»Triffidflinten und die dazugehörigen Bolzen«, berichtete ich.
Er blickte mich nachdenklich an.
»Ach ja. Ihr seid mit dem Material für Triffidabwehr hergekommen«, erinnerte er sich.
»Wir werden es wahrscheinlich brauchen«, sagte ich.
Er überlegte. Ich sah ihm an, daß ich als eine hinsichtlich Triffids etwas fragwürdige Person eingestuft wurde. Er mochte meine bisherige Beschäftigung und die zuletzt erlittene Verletzung als Entschuldigungsgründe gelten lassen; doch konnte diese Idiosynkrasie auch auf andere, minder harmlose Schrullen hindeuten.
»Wir haben zusammen vier Ladungen herangeschafft«, erklärte ich. »Ich brauche nur in einem der Wagen Platz für diese Kisten. Wenn Sie glauben, daß Sie ihn nicht entbehren können, hole ich einen Anhänger oder noch einen Lkw.«
»Gut, lassen Sie die Kisten, wo sie sind«, entschied er. »Sie nehmen ja nicht viel Platz weg.«
Wir gingen in das Gebäude und tranken Tee in einer improvisierten Kantine, die eine freundlich aussehende Frau mittleren Alters dort errichtet hatte.
»Er hält mich für schrullig, was Triffids anlangt«, bemerkte ich zu Josella.
»Er wird, fürchte ich, umlernen müssen«, erwiderte sie. »Seltsam, daß hier noch niemand auf sie gestoßen ist.«
»Die Leute sind nicht über das Stadtzentrum hinausgekommen, es ist also kein Wunder. Wir haben heute ja auch keine zu Gesicht bekommen.«
»Sie glauben nicht, daß sie mitten in der Stadt auftauchen können?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht, wenn sie sich verirren.«
»Wie können sie eigentlich ausgebrochen sein?« fragte sie.
»Wenn sie lange genug an dem Pflock zerren, ziehen sie ihn gewöhnlich heraus. Die Ausbrüche auf den Plantagen kamen meist so zustande, daß alle gegen einen Teil der Umzäunung drängten, bis sie nachgab.«
»Konnten die Umzäunungen nicht verstärkt werden?«
»Doch, aber es kam nur selten zu solchen Ausbrüchen, und wenn, dann drangen die Triffids nur in das Nachbarfeld; wir scheuchten sie zurück und richteten die Zäune wieder auf. Ich wüßte nicht, was sie hierher locken könnte. Vom Standpunkt einer Triffid muß sich eine Stadt wie eine Wüste ausnehmen. Sie werden, glaube ich, eher ins offene Land ausschwärmen. Haben Sie jemals eine Triffidflinte in der Hand gehabt?« setzte ich hinzu.
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich gehe mich umkleiden. Nachher können wir eine kleine Schießübung veranstalten, wenn Sie wollen«, schlug ich vor. Eine Stunde später erschien ich in Skidreß und Bergschuhen – ich hatte mir ihre Idee zunutze gemacht – und fand sie in einem hübschen grünen Frühlingskostüm. Mit einem Paar Triffidflinten ausgerüstet, begaben wir uns in die nahe Gartenanlage auf dem Russell Square. Wir hatten etwa eine Stunde lang die Spitzen der umliegenden Sträucher abgeschnippt, als eine junge Frau in ziegelrotem Lumberjack und eleganten grünen Hosen über den Rasen geschlendert kam und eine kleine Kamera auf uns richtete.
»Wer sind Sie – die Presse?« erkundigte sich Josella.
»So etwas Ähnliches«, lautete die Antwort. »Ich führe das Journal. Mein Name ist Elspeth Cary.«
»Das geht aber schnell«, sagte ich. »Ich erkenne den überdimensionalen Ordnungssinn des Obersten in dieser Einrichtung.«
»Sie haben es erraten«, bestätigte sie. Sie wandte sich zu Josella. »Und Sie sind Miß Playton. Ich wollte schon oft –«
Josella unterbrach sie. »Mein schriftstellerischer Ruf ist, scheint es, das einzige, das den allgemeinen Zusammenbruch überdauert hat. Bitte, sprechen wir von etwas anderem.«
»Ach so«, sagte Miß Cary nachdenklich. »Nun gut.« Sie wechselte das Thema. »Was ist mit den Triffids los?« fragte sie.
Wir berichteten.
»Man scheint zu glauben«, ergänzte Josella, »daß Bill Angst hat oder eine fixe Idee.«
Miß Cary blickte mich an. Ihr Gesicht war eher interessant als hübsch zu nennen, gebräunt von einer heißeren Sonne als der unseren. Ihre Augen waren ruhig, wachsam und von dunkelbrauner Farbe.
»Sie fürchten die Triffids?« fragte sie.
»Ich glaube, sie können sehr unangenehm werden, wenn sie außer Kontrolle geraten«, verteidigte ich mich.
Sie nickte. »Das ist richtig. Ich war in Gegenden, wo sie außer Kontrolle geraten sind. Eine böse Sache.
Aber hier in England – man kann es sich schwer vorstellen.«
»Wer soll hier die Kontrolle ausüben?« wandte ich ein.
Ihre Antwort, falls sie eine geben wollte, wurde von Motorenlärm aus der Höhe gehemmt. Wir blickten empor und sahen einen Hubschrauber über das Dach des British Museum hinwegschweben.
»Das ist Ivan«, rief Miß Cary. »Er hat also doch einen aufgestöbert. Ich muß ihn beim Landen knipsen.
Auf später.« Und sie eilte davon.
Josella legte sich, die Hände unterm Kopf verschränkt, ins Gras und starrte hinauf in den Himmel.
Nach dem Verstummen des Motorenlärms schien die Stille tiefer als vorher.
»Ich kann es nicht glauben«, sagte sie. »Ich versuche es, aber ich kann es noch immer nicht glauben. Es kann nicht sein, daß alles, alles aus und vorbei ist ...
Es muß ein Traum sein. Morgen wird dieser Garten wieder voll Lärm und Leben sein. Die roten Autobusse werden da drüben vorüberbrausen, ein Menschenstrom wird über die Gehsteige dahinfluten, die Verkehrssignale werden aufleuchten ... Eine Welt geht doch nicht so zu Ende – es kann nicht sein – es ist nicht möglich ...«
Auch ich hatte das gleiche Gefühl. Die Häuser, die Bäume, die Hotels mit ihrem sinnlosen Prunk auf der anderen Seite des Platzes: alles sah so normal aus – so vertraut, jeder Augenblick konnte es beleben ...
Von Zeit zu Zeit hatten wir an der anderen Seite des Gebäudes Lastautos vorfahren gehört. Die meisten Organisierkommandos mußten jetzt schon zu-rück sein. Ich blickte auf meine Uhr und griff nach den neben mir im Gras liegenden Triffidflinten.
»Wenn wir noch essen wollen, bevor wir uns anhören, was andere Leute zu all dem zu sagen haben, ist es Zeit, daß wir hineingehen«, mahnte ich.
Wir alle, glaube ich, hatten nichts weiter als eine kurze Lagebesprechung erwartet. Informationen über Fahrzeiten, Strecke, Tagesziel. Ich jedenfalls hatte keine Ahnung, welche Probleme hier angeschnitten werden sollten.
Ort der Versammlung war ein kleiner Hörsaal, zu diesem Zweck durch ein Arrangement von Autoscheinwerfern und Batterien beleuchtet. Als wir eintraten, konferierte hinter dem Vortragspult eine Gruppe von etwa einem halben Dutzend Männern und zwei Frauen, anscheinend das Komitee. Zu unserem Erstaunen fanden wir im Zuhörerraum an die hundert Personen sitzen. Zumeist junge Frauen, ungefähr im Verhältnis vier zu eins. Josella machte mich aufmerksam – mir war es zunächst nicht aufgefallen –, wie wenige davon sehen konnten.
Michael Beadley beherrschte die konferierende Gruppe durch seine Länge. Neben ihm erkannte ich den Oberst. Die anderen waren mir unbekannt, bis auf Elspeth Cary, die nun, offenbar zur Information der Nachwelt, ihre Kamera mit einem Protokollbuch vertauscht hatte. Mittelpunkt der Gruppe aber war ein alter Herr von häßlichem, doch leutseligem Aussehen, mit goldgefaßter Brille und schlohweißem Haar, um den alle etwas besorgt zu sein schienen.
Das zweite weibliche Wesen in der Gruppe war ein junges Ding von vielleicht zwei- oder dreiundzwanzig Jahren. Sie schien sich in dieser Umgebung nicht sehr wohl zu fühlen und blickte hie und da nervös und unsicher auf die Zuhörerschaft.
Sandra Telmont trat ein mit einem Bogen Papier in der Hand. Sie warf einen Blick auf das Blatt und wies schnell die einzelnen Personen der Gruppe zu ihren Sitzplätzen. Dann gab sie Michael ein Zeichen, und er trat an das Vortragspult.
Etwas vorgebeugt, seine düsteren Augen auf die Zuhörer gerichtet, wartete er auf das Ende des Gemurmels. Er sprach mit einer angenehmen, geschulten Stimme und im Plauderton. »Viele unter uns«, begann er, »werden noch immer gelähmt sein von der Katastrophe, die uns betroffen hat. Die Welt, die wir gekannt haben, ist mit einem Schlag versunken. Einigen von uns mag das als das Ende aller Dinge vorkommen. Das ist eine Täuschung. Doch will ich gleich jetzt sagen: es kann das Ende sein, wenn wir es zulassen.
So ungeheuerlich das Urteil ist, so besteht doch noch immer eine begründete Aussicht auf ein Weiterleben. Es ist vielleicht nicht unangebracht, hier daran zu erinnern, daß wir keineswegs die einzigen sind, die ein Unglück so umfassender Art erlebt haben. Die Sagen von der Sintflut sind nicht nur Sagen; weit zurück in der Menschheitsgeschichte hat es wirklich eine große Überflutung gegeben. Die Überlebenden von damals müssen einem Unheil gegenübergestanden sein, das an Größe dem unseren nichts nachgab, ja vielleicht in mancher Hinsicht noch schrecklicher war. Dennoch verzweifelten sie nicht: sie begannen wieder von vorn, so wie wir wieder beginnen können.
Mit Selbstbemitleidung und tragischen Mienen ist nichts getan. Verzichten wir ein für allemal auf sie.
Wir müssen Bauende werden.
Und dann möchte ich, um keine romantische Untergangsstimmung aufkommen zu lassen, auch noch darauf hinweisen, daß das, was geschehen ist, keineswegs das Schlimmste von dem ist, was hätte geschehen können. Ich und wahrscheinlich viele von euch haben Schlimmeres erwartet. Und ich bin noch immer der Meinung, wäre diese Katastrophe nicht eingetreten, dann wäre dieses Schlimmere über uns hereingebrochen.
Seit dem 6. August 1945 haben sich die Lebensaussichten auf unserem Planeten erschreckend verringert. Ja, man kann sagen, sie waren vor zwei Tagen geringer als in diesem Augenblick. Wer dramatische Situationen sucht, der kann in den Jahren nach 1945 reiches Material finden, als der Weg, auf dem wir gehen mußten, zum Seil über einem Abgrund einschrumpfte und man nur mit geschlossenen Augen weiterwandern konnte.
In jedem einzelnen Augenblick der Jahre seither konnte der verhängnisvolle Fehltritt erfolgen. Es ist ein Wunder, daß es nicht geschah. Es ist ein doppeltes Wunder, daß dieses Wunder Jahre hindurch geschah.
Aber früher oder später mußte es zu dem Fehltritt kommen. Gleichviel, ob durch Absicht, Leichtsinn oder bloßen Zufall: das Gleichgewicht war verloren und die Vernichtung entfesselt.
Wie schlimm es geworden wäre, können wir nicht sagen. Wie schlimm es hätte werden können – nun, vielleicht hätte es keinen einzigen Überlebenden gegeben, vielleicht keinen Planeten ... Und jetzt, zum Vergleich, unsere Lage: die Erde heil und unversehrt, fruchtbar wie immer. Nahrung und Rohstoffe vorhanden, die Archive des Wissens erhalten. Wir haben die Möglichkeit, alles zu lernen, was vor uns gelehrt und gelernt wurde, aber manches davon wollen wir lieber vergessen. Und wir haben die Mittel, die Gesundheit und die Kraft, noch einmal von vorne anzufangen.«
Die Rede war nicht lang, doch sie tat ihre Wirkung.
Sie mochte nicht wenigen der Versammelten das Gefühl geben, eher vor einer Art von Anfang zu stehen als vor dem Ende aller Dinge. Wenn er auch kaum mehr zu bieten hatte als Allgemeines, die Stimmung im Saal war zuversichtlicher, als er sich setzte.
Nach ihm sprach der Oberst, der sich dem Kon-kreten und Aktuellen zuwandte. Er erinnerte, daß, aus gesundheitlichen Gründen, das bebaute Gebiet möglichst bald verlassen werden sollte – der Abmarsch sei für morgen 12.00 Uhr angesetzt. Alles, was zur Aufrechterhaltung eines einigermaßen erträglichen Lebensstandards notwendig sei, sei herangeschafft worden. Unsere Vorräte sollten uns für mindestens ein Jahr von der Außenwelt unabhängig machen. Während dieses Zeitraums würden wir praktisch wie im Belagerungszustand leben. Zweifellos wäre es uns allen erwünscht, außer den in den Listen verzeichneten Gegenständen noch das eine oder andere mitzunehmen, doch müsse damit gewartet werden, bis der Sanitätsstab (hier errötete die zweite Dame des Komitees tief) die Isolierung für aufgehoben und die Ausfahrt von Organisierkommandos für zulässig erkläre. Was den Ort dieser Isolierung anlange, so sei das Komitee nach reiflicher Erwägung alles dessen, was von einer solchen Zufluchtsstätte verlangt werden müsse, zu dem Schluß gekommen, daß ein Provinzinternat oder ein größerer Gutshof sich am besten für unsere Zwecke eignen würde.
Ob sich das Komitee wirklich noch nicht für einen bestimmten Ort entschieden hatte oder ob der Oberst aus alter militärischer Gewohnheit am Grundsatz der Geheimhaltung festhielt, kann ich nicht sagen; ich bin aber überzeugt, daß es der schwerste an diesem Abend begangene Fehler war, uns weder den in Aussicht genommenen Ort oder wenigstens die Gegend bekanntzugeben. Ansonsten wirkte die praktische Art des Obersten durchaus günstig und beruhigend.
Als er sich setzte, ergriff Michael nochmals das Wort. Er sprach der verlegenen jungen Dame Mut zu und stellte sie vor. Es sei, sagte er, eine unserer größten Sorgen gewesen, daß wir niemand unter uns hatten, der über medizinische Kenntnisse verfügte, er begrüße daher Miß Berr mit besonderer Erleichterung. Sie besitze zwar keinen akademischen Grad, dafür aber eine gründliche Ausbildung als Pflegerin.
Er selber halte von einem erst jüngst erlangten Wissen mehr, als von einem vor Jahren erworbenen Diplom.
Neuerdings errötend, sagte das Fräulein mit wenigen Worten, sie wolle ihr Bestes tun, woran sie ziemlich abrupt die Mitteilung schloß, daß sie uns alle gegen eine ganze Reihe von Dingen impfen würde, bevor wir den Saal verließen.
Dann kam ein kleiner Mann, der etwas Spatzenartiges hatte, und schärfte uns ein, daß die Gesundheit jedes einzelnen von uns das Interesse aller berühre, jede Erkrankung sei sofort zu melden, da der Ausbruch einer ansteckenden Krankheit unter uns die ernstesten Folgen haben würde.
Als er zu Ende war, erhob sich Sandra, um dem letzten Redner der Gruppe das Wort zu erteilen: Dr. E. H. Vorless, D. Sc., aus Edingburgh, Professor der Soziologie an der Universität Kingston.
Der alte Herr mit dem schlohweißen Haar trat an das Pult. Einige Augenblicke stand er schweigend, den Kopf gesenkt, die Fingerspitzen auf dem Pult, als prüfe er es. Die hinter ihm sitzenden Mitglieder des Komitees beobachteten ihn aufmerksam und nicht ohne Unruhe. Der Oberst lehnte sich seitwärts, um Michael etwas zuzuflüstern. Der nickte, ohne seinen Blick von dem Professor abzuwenden. Der alte Herr blickte auf. Er strich sich über das Haar.
»Meine Freunde«, sagte er, »ich darf wohl annehmen, daß ich hier der älteste bin. Im Laufe von fast siebzig Jahren habe ich vieles gelernt, auch vieles wieder verlernen müssen – und doch nicht genug, wie mich dünkt. Und wenn mich bei meinem Studium menschlicher Einrichtungen und Organisationsformen etwas noch stärker gefesselt hat als ihre Zähigkeit, so ist es ihre Vielfalt.
Mit Recht sagt man: andere Zeiten, andere Sitten.
Bei einigem Nachdenken müssen wir alle erkennen, daß das, was in der einen Gemeinschaft als Tugend gilt, in einer anderen Verbrechen sein kann: daß das, was hier abgelehnt und verworfen wird, anderswo als lobenswert und rühmlich gelten kann; daß man in dem einen Jahrhundert Dinge verurteilt, die man in einem anderen verzeihlich findet. Aber wir dürfen auch nicht übersehen, daß in jeder Gemeinschaft und in jeder Periode ein weitverbreiteter Glaube an die moralische Richtigkeit der eigenen Satzungen besteht.
Da indessen viele dieser Satzungen einander widersprechen, ist es klar, daß sie nicht alle in einem absoluten Sinn ›richtig‹ sein können. Das objektivste Urteil, das hier möglich ist – wenn überhaupt geurteilt werden soll –, wäre, zu sagen, daß sie zu einer bestimmten Zeit ›richtig‹ waren für die Gemeinschaften, die sich zu ihnen bekannten. Vielleicht haben sie diese Gültigkeit auch noch heute, aber oft findet man, daß sie sie eingebüßt haben und daß die Gemeinschaften, die ihnen auch weiterhin blindlings folgen, ohne Rücksicht auf die veränderten Umstände, sich damit Schaden zufügen, ja vielleicht den Untergang bereiten.«
Die Zuhörer, die nicht wußten, worauf diese Ein-leitung abzielte, wurden unruhig. »Niemand«, fuhr er fort, »wird sich wundern, wenn er in einem vergessenen indischen Dorf, wo Not und Hunger herrschen, andere Lebensformen, Sitten und Gebräuche findet als etwa im Villenviertel einer modernen Großstadt.
Ebenso wird sich die Bevölkerung eines heißen Landes, wo das Leben mühelos ist, von den Bewohnern dichtbesiedelter Industriegebiete hinsichtlich ihrer obersten Tugenden und Leitsätze unterscheiden. Mit anderen Worten: veränderte Umwelt, veränderter Standard.
Ich erwähne das, weil die Welt, die wir gekannt haben, nicht mehr besteht – sie ist verschwunden.
Und mit ihr die Bedingungen und Voraussetzungen, auf die sich unsere Standards gründen. Da unsere Bedürfnisse andere geworden sind, müssen sich auch unsere Ziele ändern. Ein Beispiel. Wir alle haben heute mit vollkommen ruhigem Gewissen Dinge getan, die man vorgestern noch als Einbruch und Diebstahl bezeichnet hätte. Die alte Ordnung ist zerstört; unsere Aufgabe ist es nun, die für die neue Lage zweckmäßigste Lebensform zu finden. Nicht nur aufbauen müssen wir, sondern auch umdenken – was schwieriger ist und weitaus unangenehmer.
Der Mensch ist noch immer ungemein anpassungsfähig. Aber jede Gemeinschaft hat die Tendenz, die heranwachsende Generation nach bestimmten Formen zu modeln und sie mit dem Bindemittel ihrer Vorurteile zu festigen. Das Ergebnis ist ein Gebilde, das äußerst zäh ist und sich auch gegen den Andrang tiefwurzelnder Neigungen und Triebe zu behaupten vermag. So entsteht der Held, der, allem Selbsterhaltungstrieb entgegen, sein Leben freiwillig einem Ideal opfert – so entsteht aber auch der selbstsichere Dummkopf, der immer ›recht‹ hat.
In Zukunft werden viele der uns anerzogenen Vorurteile fallen, oder doch von Grund aus geändert werden müssen. Ein fundamentales Vorurteil allerdings können und müssen wir aufrechterhalten: die menschliche Gemeinschaft muß weiterleben. Diesem obersten Leitsatz hat sich, zumindest für einige Zeit, alles andere unterzuordnen. Wir müssen uns bei allem, was wir unternehmen, fragen: ›Ist es lebensfördernd oder lebenshemmend?‹ Ist es fördernd, müssen wir es tun, gleichviel, ob es mit unseren gewohnten Vorstellungen übereinstimmt oder nicht. Ist es hemmend, müssen wir es vermeiden, auch wenn diese Unterlassung allen unseren alten Begriffen von Pflicht, ja selbst von Recht widerspricht.
Es wird nicht leicht sein: alte Vorurteile haben ein zähes Leben. Der Einfältige verläßt sich auf die bequeme Schutzwehr von Regeln und Vorschriften, ebenso der Unselbständige und der Geistesträge – ja, wir alle vertrauen dieser Schutzwehr weit mehr, als wir wissen und ahnen. Nun, da die Organisation aufgelöst ist, geben uns ihre Tabellen keine richtigen Auskünfte. Wir müssen den moralischen Mut aufbringen, selbständig zu denken und zu planen.«
Er blickte nachdenklich auf seine Zuhörerschaft.
Nach einer Pause sagte er:
Eines muß Ihnen ganz klar sein, bevor Sie sich zum Beitritt zu unserer Gemeinschaft entschließen. Jeder von uns wird seinen Beitrag zur Bewältigung der gemeinsamen Aufgabe zu leisten haben. Die Männer müssen arbeiten – die Frauen müssen Babys haben.
Wer sich damit nicht einverstanden erklären kann, für den ist in unserer Gemeinschaft kein Platz. Nach einer Pause, in der Totenstille herrschte, fügte er hinzu:
»Wir können eine beschränkte Anzahl Frauen, die das Augenlicht verloren haben, miterhalten, denn sie werden Babys haben, die sehen können. Wir können es uns nicht leisten, Männer zu erhalten, die nicht sehen können. In unserer neuen Welt also werden Babys viel wichtiger sein als Ehemänner.«
Nachdem er aufgehört hatte zu reden, blieb es einige Augenblicke still, dann erhob sich vereinzeltes Gemurmel, aus dem bald ein allgemeines Summen wurde.
Ich sah Josella an. Zu meinem Erstaunen schmunzelte sie spitzbübisch.
»Was kommt Ihnen hier komisch vor?« fragte ich etwas kurz.
»Die Gesichter der Leute vor allem«, erwiderte sie.
Das war ein Grund, den ich gelten lassen mußte.
Ich schaute im Saal umher und dann zu Michael, der seine Blicke durch die Reihen der Zuhörerschaft wandern ließ, um ihre Reaktion festzustellen.
»Michael sieht etwas besorgt aus«, bemerkte ich.
»Hat er nicht notwendig«, meinte Josella. »Was Brigham Young Mitte des vorigen Jahrhunderts zuwege brachte, ist heute ein Kinderspiel.«
»Manchmal muß ich mich über Sie wundern, Josella«, sagte ich. »Haben Sie hier Informationen erhalten?«
»Eigentlich nicht, aber wissen Sie, ganz dumm bin ich nicht. Und dann hat man, während Sie weg waren, die meisten dieser blinden Mädchen in einem Autobus hergebracht. Alle aus einem Blindenheim.
Ich habe mich gefragt: weshalb sie extra von dort, holen, wo man in den nächsten Straßen Tausende auflesen kann? Die Antwort darauf war, daß sie, erstens, da sie schon seit langem blind waren, eine Art Schulung erhalten haben, und, zweitens, daß es ausnahmslos Mädchen waren. Nicht schwer, einen Schluß zu ziehen.«
»Hm«, sagte ich. »Kommt, vermute ich, auf die Einstellung an. Ich muß gestehen, daß mir das alles nicht aufgefallen wäre. Glauben Sie –?«
»St! St!« unterbrach sie mich, als Stille im Saal entstand.
Die Frau, die sich erhoben hatte, war groß, dunkel, noch jung und sah energisch und zielbewußt aus. Sie wartete, den Mund zusammengekniffen, als sei er gar nicht zu öffnen, aber sie öffnete ihn.
»Haben wir den letzten Redner so zu verstehen«, fragte sie mit messerscharfer Stimme, »daß er für freie Liebe plädiert?« Und sie setzte sich mit einer Entschiedenheit, die Befürchtungen für ihr Rückgrat erregte.
Professor Vorless sah sie an und glättete sein Haar.
»Ich nehme an, die Fragestellerin erinnert sich, daß von Liebe nicht die Rede war, weder von freier, noch käuflicher oder verkäuflicher. Darf ich um eine präzisere Fragestellung bitten?«
Die Frau stand nochmals auf.
»Ich nehme an, der Redner hat mich verstanden.
Ich frage, ob er vorschlägt, die Ehegesetze abzuschaffen?«
»Die Gesetze, die wir bisher gekannt haben, sind durch die Umstände abgeschafft worden. Unsere Aufgabe ist es nun, Gesetze aufzustellen, die der neuen Lage entsprechen, und ihnen, nötigenfalls mit Gewalt, Geltung zu verschaffen.«
»Die Gesetze Gottes und des Anstands gelten aber noch immer.«
»Gnädige Frau. Salomon hatte dreihundert – oder waren es fünfhundert? – Frauen, und anscheinend hat Gott ihm das nicht übelgenommen. Der sittenstrengste Mohammedaner kann vier Frauen haben.
Das sind Fragen des lokalen Herkommens. Welche Gesetze in diesen und anderen Dingen gelten sollen, darüber werden wir, zum Wohl der Gemeinschaft, später alle entscheiden.
Das Komitee hat nach eingehender Beratung beschlossen, daß zur Sicherung eines ungestörten Aufbaus und um die sehr nahe liegende Gefahr eines Rückfalls in die Barbarei auszuschalten, alle Beitretenden sich mit gewissen Verpflichtungen einverstanden erklären müssen.
Keiner von uns wird wiederfinden, was wir verloren haben.
Was wir bieten, ist ein arbeitsreiches Leben unter den uns erreichbaren günstigsten Bedingungen und das Glücksgefühl, das eine unter widrigen Umständen vollbrachte Leistung verleiht. Dafür verlangen wir Willigkeit und Fruchtbarkeit. Niemand wird gezwungen. Jeder kann wählen. Allen, denen unser Angebot nicht zusagt, steht es vollkommen frei, anderswohin zu gehen und eine Gemeinschaft nach ihrem Gutdünken zu gründen.
Aber ich bitte jeden, sich sehr sorgfältig zu überlegen, ob er von Gott das Recht hat oder nicht, einer Frau das Glück zu nehmen, das sie in der Erfüllung ihrer natürlichen Bestimmung finden kann.«
Die sich anschließende weitläufige Diskussion glitt häufig zu Mutmaßungen und Detailfragen ab, auf die es jetzt noch keine Antworten geben konnte. Aber niemand stellte einen Antrag auf Abkürzung. Je länger man über die Sache sprach, um so mehr würde sie ihren befremdlichen Charakter verlieren.
Josella und ich begaben uns zu dem Tisch, wo Nurse Berr ihres Amtes waltete. Nachdem wir mehrere Injektionen in den Arm erhalten hatten, kehrten wir auf unsere Plätze zurück, um dem Wortgefecht weiter zuzuhören.
»Wie viele, glauben Sie, werden mitmachen?« fragte ich Josella.
Sie tat einen Rundblick.
»Fast alle – bis es Tag ist«, erklärte sie.
Ich bezweifelte das. Immer neue Einwände und Bedenken wurden laut. Josella sagte:
»Sie müssen sich an die Stelle einer Frau versetzen, die sich heute vor dem Einschlafen eine Stunde oder zwei überlegt, wofür sie sich entscheiden soll. Für Babys und eine Organisation, die sich um einen kümmert, oder für ein Prinzip, bei dem es wahrscheinlich keine Babys gibt und niemanden, der sich um einen kümmert. Sie wird nicht lange im Zweifel sein.«
Nach etwa einstündiger Dauer wurde die Debatte beendet. Michael gab bekannt, daß die Namen aller, die mittun wollten, bis zehn Uhr morgens in seinem Büro sein mußten. Der Oberst forderte diejenigen, die einen Lkw fahren konnten, auf, sich bis 7.00 Uhr bei ihm zu melden; damit schloß die Versammlung.
Josella und ich schlenderten ins Freie. Es war ein milder Abend. Das Licht auf dem Turm strahlte wieder hoffnungsvoll zum Himmel. Der Mond stand eben über dem Dach des Museums. Wir setzten uns auf eine niedere Mauer, sahen in die Schatten des Gartens vor uns und horchten auf das leise Rauschen in den Baumwipfeln. Wir rauchten jeder eine Zigarette und schwiegen. Als ich mit der meinen zu Ende war, warf ich sie fort und holte tief Atem.
»Josella«, sagte ich.
»Mm?« antwortete sie, kaum aus ihrer Versunken-heit erwachend.
»Josella«, wiederholte ich. »Diese – Babys. Ich würde ganz schrecklich stolz und glücklich sein, wenn sie mir so gut wie Ihnen gehören könnten.«
Einen Augenblick saß sie ganz still und sagte nichts. Dann wandte sie den Kopf. Das blonde Haar schimmerte im Mondlicht, aber ihr Gesicht und ihre Augen blieben im Schatten. Ich wartete, einen hämmernden Schmerz in meinem Innern. Mit überraschender Ruhe sagte sie:
»Danke, Bill. Ich glaube, ich würde es auch sein.«
Hand in Hand blieben wir auf dem Mauerstück sitzen und schauten auf die Schattengestalten der Bäume – ohne sie richtig zu sehen, zumindest muß ich das von mir sagen. Dann schaltete jemand in dem Gebäude hinter uns ein Grammophon ein und spielte einen Straußwalzer. Heimweh weckend klangen die Töne durch den leeren Hof und verwandelten die Straße vor uns für einen Augenblick in einen gespenstischen Ballsaal; ein buntes Gewimmel, mit dem Mond als Kronleuchter.
Josella glitt von ihrem Sitz. Die Arme ausgebreitet, Gelenke und Finger im Takt bewegend, schwebte sie leicht wie Distelflaum in einem großen, vom Mondlicht erhellten Kreis. Sie tanzte zu mir heran, winkend und mit leuchtenden Augen.
Und so tanzten wir. Tanzten am Rand einer unbekannten Zukunft zum Echo einer versunkenen Vergangenheit.
Ich durchschritt eine unbekannte verödete Stadt bei dumpfem Glockengeläut, während die hohle Grabstimme ins Leere rief: »Das Tier ist los! Seid auf der Hut! Das Tier ist los!« als ich erwachte und wirklich eine Glocke läuten hörte. Es war eine Handglocke, die so erschreckend gellte und klirrte, daß ich mich zuerst gar nicht entsinnen konnte, wo ich war. Noch ganz schlaftrunken setzte ich mich auf, da erscholl der Ruf ›Feuer‹, und ich sprang, so wie ich war, von meiner Schlafstätte und lief in den Flur. Dort spürte ich Brandgeruch und hörte hastige Schritte und das Zuschlagen von Türen. Der Hauptlärm schien von rechts zu kommen, wo das Glockengeläut und das Geschrei andauerten. Ich lief in diese Richtung. Das am Ende des Flurs durch hohe Fenster sickernde Mondlicht verbreitete so viel Dämmerung, daß ich mich in der Mitte des Korridors halten konnte und nicht den Leuten in den Weg lief, die an den Wänden entlangtappten. Ich erreichte den Stiegenabgang. In der Halle unten gellte die Glocke noch immer. Ich eilte hinunter, so schnell ich konnte, in immer dickeren Qualm geratend. Beinahe am Ende der Treppe stolperte ich und stürzte nach vorn. Die Dämmerung wurde plötzlich schwärzeste Finsternis, aus der Licht aufstach wie eine Wolke von Nadeln, und das war alles ...
Das erste war ein hämmernder Schmerz im Kopf, das zweite etwas Blendendes, als ich die Augen öffnete. Was aber beim ersten Blick grell wie ein Scheinwerfer zu leuchten schien, erwies sich, als ich die Augenlider vorsichtig hob, als ein ganz gewöhnliches, noch dazu ziemlich schmutziges Fenster. Ich sah, daß ich in einem Bett lag, weitere Erkundungen ließ das schmerzhafte Kolbengestampf in meinem Kopf nicht zu. Ich blieb reglos liegen und starrte zur Zimmerdecke empor – bis ich plötzlich entdeckte, daß meine Handgelenke zusammengeschnürt waren.
Das schreckte mich, trotz des Hämmerns in meinem Kopf, aus meiner Lethargie. Die Fesselung war zwar nicht schmerzhaft eng, aber vollkommen zwekkentsprechend. Einige Wicklungen von Isolierdraht um jedes Handgelenk und ein komplizierter Knoten an einer Stelle, wo man mit den Zähnen nicht hin konnte. Ich fluchte ein wenig und schaute umher. Ein kleines Zimmer, ganz leer, bis auf das Bett, wo ich lag.
»Heda!« rief ich. »Ist da niemand?«
Nach einer halben Minute etwa schlurften draußen Schritte. Die Tür ging auf, und in der Öffnung erschien ein Kopf. Ein eher kleiner Kopf mit einer Tweedkappe, einer strickartigen Krawatte um den Hals, das Gesicht übersät mit dunklen Bartstoppeln.
Es war nur ungefähr in meine Richtung gedreht.
»Hallo, Chef«, sagte der Mann nicht unfreundlich.
»Sind wir wieder auf dem Damm? Gedulden Sie sich ein Weilchen. Ich bringe gleich eine Tasse Tee.« Und er verschwand.
Ich brauchte wirklich nicht lange zu warten. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück, eine Teekanne in der Hand.
»Wo sind Sie denn?« fragte er.
»Gerade vor Ihnen, im Bett«, erklärte ich.
Er tappte mit der Linken vorwärts bis ans Fußende des Bettes, tastete weiter und hielt mir die Kanne hin.
»Da haben Sie, Kollege. Wird ein bißchen komisch schmecken. Der alte Charlie hat nämlich einen Schuß Rum hineingetan. Schätze aber, es wird Ihnen nicht schaden.«
Ich nahm ihm die Kanne ab; es war schwierig, mit meinen zusammengeschnürten Händen das Gefäß zu halten. Der Tee war stark und süß und mit dem Rum war nicht gespart worden. Das Getränk schmeckte wohl etwas merkwürdig, aber es wirkte wie ein Lebenselixier.
»Danke«, sagte ich. »Sie sind ein Wundertäter. Bill ist mein Name.«
Der seine war Alf.
»Was wird hier gespielt, Alf?« fragte ich ihn.
Er setzte sich auf die Bettkante und hielt mir ein Paket Zigaretten und eine Schachtel Zündhölzer hin.
Ich nahm eine, zündete zuerst die seine und dann die meine an und gab ihm die Schachtel zurück.
»Die Sache ist die, Kamerad«, begann er. »Gestern früh ist es vor der Universität zu einem kleinen Radau gekommen. Waren Sie vielleicht dort?«
Ich sagte ihm, daß ich zugesehen hatte.
»Nachher war Coker – das war der Mann, der geredet hat – richtig böse. ›Okay‹, sagte er bissig. ›Die Hundsfötter wollen es nicht anders. Ich habe es zuerst im guten probiert. Jetzt müssen sie ausfressen, was sie sich eingebrockt haben.‹ Wir haben noch zwei Burschen und eine Alte bei uns gehabt, die sehen konnten, und die haben miteinander die Sache gedeichselt. Ist ein Kerl, der Coker.«
»Es war also eine Falle – kein Feuer?« fragte ich.
»Feuer – keine Spur! Die haben nichts weiter getan, als ein bißchen Stolperdraht gelegt, eine Menge Papier und Späne in der Halle angebrannt und dann mit der alten Glocke Alarm geläutet. Wir rechneten, daß die, die sehen konnten, als erste kommen würden, weil noch etwas Mondlicht da war. Und sie kamen auch. Coker und noch einer nahmen sie in Empfang, wie sie herunterstolperten, und machten sie k.o., und wir schleppten sie ab und hinaus zu unserem Lkw.«
»Hm«, sagte ich etwas bitter. »Scheint tüchtig zu sein, dieser Coker. Wie viele von uns Schafsköpfen sind ihm denn in die Falle geschlittert?«
»Glaube, wir haben zwei Dutzend erwischt, aber fünf, sechs Blinde darunter; das haben wir erst später bemerkt. Wir luden auf, was auf unserem Wagen Platz hatte, den Rest ließen wir liegen und hauten ab.«
Was immer Coker von uns halten mochte, Alf schien uns gegenüber keine Gehässigkeit zu fühlen.
Er schien die ganze Angelegenheit als eine Art Ulk anzusehen. Ich war zwar anderer Meinung, lüftete aber im Geist meinen Hut vor Alf. In seiner Lage hätte mir jeder Sinn für Humor gefehlt. Ich trank den Tee aus und ließ mir noch eine zweite Zigarette spendieren.
»Und wie lautet das weitere Programm?« fragte ich ihn.
»Cokers Idee ist, uns alle in Gruppen aufzuteilen, und einer von euch soll bei jeder Gruppe sein. Ihr sollt uns beim Organisieren helfen, sozusagen unsere Augen sein. Sollt uns so lange über Wasser halten, bis Rettung kommt.«
»Ich verstehe«, antwortete ich.
Alf hob den Kopf. Ihm konnte man nichts vormachen. Er hatte aus dem Tonfall meiner Antwort mehr herausgehört als aus den Worten.
»Sie glauben, das wird lange dauern?« sagte er.
»Keine Ahnung. Was meint Coker?«
Coker hatte sich anscheinend auf keine Details ein-gelassen. Doch Alf hatte sich eine eigene Meinung gebildet.
»Ich sage: es wird niemand kommen. Die müßten sonst schon da sein. Wäre was anderes, wenn sich's um irgendein Provinznest handelte. Aber London! Ist ja ganz klar, daß sie hier zuerst sein würden. Nein, wie ich es sehe, ist bis jetzt niemand gekommen, wird nie jemand kommen. Und warum? Weil keiner da ist, der kommen könnte. Menschenskind, wer hätte gedacht, daß so etwas passiert!«
Ich erwiderte nichts. Alf gehörte nicht zu denen, die man mit billigem Trost aufmuntern kann.
»So sehen Sie es doch auch?« fragte er nach einer kleinen Pause.
»Rosig sieht es ja nicht aus«, gestand ich. »Aber eine Möglichkeit ist immer noch da – vielleicht kommt Hilfe von auswärts ...«
Er schüttelte den Kopf.
»Müßte schon da sein. Lautsprecherwagen würden durch die Straßen fahren, und man würde uns Anweisungen geben, was wir tun sollen. Nein, Kollege, diesmal hat's uns erwischt: niemand wird von irgendwoher kommen. So steht die Sache.« Wir schwiegen eine Weile.
»Vorbei ist vorbei«, meinte er. »War gar nicht so übel, das alte Leben, hat sich gelohnt, solange es dauerte.«
Wir unterhielten uns noch ein wenig über das Leben, das er geführt hatte. Er hatte sich in mehr als einem Beruf versucht, jeder war, wie es schien, mit einer interessanten Untergrundtätigkeit verbunden gewesen. Er zog die Bilanz:
»Im großen und ganzen bin ich auf meine Rechnung gekommen. Was haben Sie getan?«
Ich sagte es ihm. Imponierte ihm nicht sehr.
»Triffids, puh! Scheußliche Dinger, eigentlich unnatürlich, kommt mir vor.«
Damit ließen wir es gut sein.
Alf ging, und ich blieb mit meinen Gedanken und einem Paket Zigaretten allein. Ich dachte über die Lage nach. Sie gefiel mir nicht. Gern hätte ich gewußt, was die anderen dazu sagten. Insbesondere Josella.
Ich stieg aus dem Bett und trat ans Fenster. Keine erfreuliche Aussicht. Ein schmaler Lichthof, glatte, weiße Mauern ringsum, vier Stock tief unten ein Glasdach. In dieser Richtung war nicht viel zu machen. Alf hatte zwar die Tür hinter sich abgesperrt, ich probierte auf alle Fälle. Nichts in dem Zimmer brachte mich auf einen Einfall. Ein leeres Zimmer in einem drittrangigen Hotel. Vollkommen leer bis auf das Bett. Ich setzte mich wieder auf das Bett und überlegte. Ich konnte es vielleicht mit Alf aufnehmen; auch mit meinen gebundenen Händen. Falls er kein Messer hatte. Aber wahrscheinlich hatte er eins, und das konnte unangenehm werden. Ein Blinder durfte mit einem Messer nicht bloß drohen, das war klar, er mußte es gebrauchen. Und vorher mußte ich mich vergewissern, welch weitere Hindernisse zu überwinden waren, ehe ich ins Freie gelangte. Überdies hatte ich nichts gegen Alf. Das klügste schien: ab-warten. Für einen Sehenden unter Blinden mußte sich doch einmal eine Gelegenheit ergeben.
Eine Stunde später kam Alf wieder mit einem Teller voll Essen, einem Löffel und weiterem Tee.
»Rauh, aber herzlich«, entschuldigte er sich. »Messer und Gabel sind verboten. Müssen sich eben so behelfen.«
Beim Essen erkundigte ich mich nach den anderen.
Er kannte keine Namen und konnte mir daher nicht viel sagen, aber er berichtete, daß man auch Frauen hergebracht hatte. Nachher blieb ich einige Stunden allein; ich verschlief sie, um auf die Art meine Kopfschmerzen loszuwerden.
Als Alf wieder aufkreuzte mit weiterem Essen und der unvermeidlichen Teekanne, kam er nicht allein.
Coker begleitete ihn. Er sah etwas müder aus als an dem Tag, da ich ihn das erstemal erblickt hatte. Er trug ein Bündel Papiere unter dem Arm. Er schaute mich prüfend an.
»Sie wissen Bescheid?« fragte er.
»Was Alf mir erzählt hat«, antwortete ich.
»Gut.« Er legte den Stoß Papier aufs Bett, nahm das oberste Blatt und entfaltete es. Es war eine Straßenkarte von London und Umgebung. Er wies auf eine mit dicken blauen Bleistiftstrichen eingerahmte Stelle, die einen Teil von Hampstead und Swiss Cottage umschloß.
»Das ist euer Gebiet«, erklärte er. »In diesem Revier arbeitet Ihre Gruppe und wechselt in kein anderes hinüber. Nicht alle können die gleiche Stelle abgrasen. Ihre Aufgabe ist es, innerhalb dieses Reviers Lebensmittel aufzustöbern für Ihre Gruppe – und was sie sonst braucht. Verstanden?«
»Oder?« entgegnete ich, ihn anblickend.
»Oder Ihre Gruppe wird hungrig. Wäre schlimm für Sie. Sind Jungens darunter, die keinen Spaß verstehen. Seien Sie also vorsichtig. Morgen früh werden Sie und Ihre Schar in Lkw hingefahren. Sehen Sie zu, daß Sie die Leute durchbringen, bis Hilfe kommt.«
»Und wenn keine kommt?« fragte ich.
»Es muß Hilfe kommen«, sagte er verbissen. »Auf jeden Fall: Sie wissen, was Sie zu tun haben – und bleiben Sie in Ihrem Revier.«
Als er sich zum Gehen wandte, fragte ich:
»Ist eine Miß Playton hier?«
»Eure Namen kenne ich nicht«, erwiderte er.
»Blond, etwa eins siebzig groß, graublaue Augen«, beharrte ich.
»Eine Blonde von der Größe ist da, glaube ich. Die Augen habe ich mir nicht angeschaut. Habe Wichtigeres zu tun.« Und damit ging er.
Ich studierte die Karte. Sehr begeistert war ich von dem mir zugewiesenen Distrikt nicht. Vorstadt, gute Luft; aber für unsere Zwecke wäre ein Bezirk mit Magazinen und Lagerhäusern besser gewesen. Es war fraglich, ob da überhaupt größere Lebensmitteldepots zu finden waren. Nun, »es kann nicht jeder einen Haupttreffer machen«, wie Alf es zweifellos ausgedrückt hätte – und ich hatte ja auch nicht die Absicht, länger zu bleiben, als unbedingt nötig war.
Als Alf wieder erschien, fragte ich ihn, ob er Josella eine Nachricht überbringen könne. Er schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, Chef. Ist nicht erlaubt.«
Obwohl ich ihm versprach, daß der Zettel harmlos sein würde, blieb er fest. Was ich ihm im Grunde nicht verargen konnte. Er hatte keine Ursache, mir zu vertrauen, und lesen konnte er den Zettel nicht, um festzustellen, ob er wirklich so harmlos war, wie ich behauptete. Nichts zu wollen, zumal ich ja auch weder Papier noch Bleistift hatte. Nach einigem Drängen versprach er, Josella von meiner Anwesenheit zu benachrichtigen und sich zu erkundigen, in welchen Distrikt sie gesendet wurde. Er gab dieses Versprechen ungern, sah aber ein, falls eine Rettungsaktion startete, würde es für mich leichter sein, Josella zu finden, wenn ich wußte, wo mit der Suche begonnen werden konnte.
Nachher blieb ich eine Weile mit meinen Gedanken allein.
Das Übel war: ich hatte mich noch immer nicht klar und endgültig für einen bestimmten Weg entschieden. Mich überzeugten die Argumente beider Seiten.
Auf lange Sicht sprach der gesunde Menschenverstand für Michael Beadley und seine Schar. Und zweifellos hätten Josella und ich, wenn alles gut gegangen wäre, uns ihr angeschlossen. Aber ich wußte auch: ganz wohl hätte ich mich nicht gefühlt. Nie wäre ich ganz überzeugt gewesen, daß nichts für das sinkende Schiff hatte geschehen können; nie ganz sicher, daß es nicht rein egoistische Erwägungen waren, von denen ich mich hatte leiten lassen. Bestand keine Aussicht auf eine organisierte Rettungsaktion, dann war der Plan, zu bergen, was geborgen werden konnte, das Vernünftige. Nur ist leider das Vernünftige nicht die einzige Triebkraft im Bereich des Menschlichen. Ich sah mich jener Grundvorausset-zung gegenüber, von der der alte weißhaarige Professor gesagt hatte, es sei so schwer gegen sie anzu-kämpfen. Er hatte nur allzu recht: die Anwendung neuer Prinzipien war schwierig. Angenommen, ein Wunder brachte Rettung, dann wußte ich genau, als welche Laus ich mir vorkommen würde, daß ich, gleichviel aus welchen Gründen, desertiert war; wie ich mich und die anderen verachten würde, daß wir nicht in London ausgeharrt und geholfen hatten, solange zu helfen war.
Kam aber, andererseits, keine Hilfe, mit welchen Gefühlen würde ich dann auf die vergeudete Zeit, die verschwendete Mühe blicken, wenn stärkere Charaktere aus dem Zusammenbruch zu retten suchten, was gerettet werden konnte?
Ich wußte, ich hätte sofort und ein für allemal eine Entscheidung treffen und dann dabei bleiben sollen.
Aber ich vermochte es nicht. Ich war unschlüssig.
Und ich war immer noch unschlüssig, als ich einige Stunden später einschlief.
Es gab kein Mittel, zu erfahren, wozu Josella sich entschlossen hatte. Ich hatte keinerlei persönliche Nachricht von ihr erhalten. Nur einmal während des Abends hatte Alf den Kopf hereingesteckt. Seine Mitteilung war kurz.
»Westminster«, meldete er. »Menschenskind!
Schätze, die werden im Parlamentsgebäude kaum viel Futter finden.«
Am nächsten Morgen wurde ich zeitig von Alf geweckt. Er kam in Begleitung eines großen kräftigen Mannes mit unsteten Augen, der ostentativ an einem Schlächtermesser fingerte. Alf trat zu mir und ließ einen Armvoll Kleider auf mein Bett fallen. Sein Ge-fährte schloß die Tür, lehnte sich an sie und beobachtete mich, mit dem Messer spielend.
»Reichen Sie einmal die Hände her, Kamerad«, sagte Alf.
Ich hielt sie ihm hin. Er tastete nach dem Draht um die Gelenke und zwickte ihn mit einer Beißzange durch.
»Und jetzt ziehen Sie die Sachen da an, Kollege«, erklärte er, zurücktretend.
Ich kleidete mich an, während der Mann mit dem Messer jeder meiner Bewegungen mit Falkenblicken folgte. Als ich fertig war, brachte Alf ein Paar Handschellen zum Vorschein. »Und jetzt noch die«, bemerkte er.
Ich zögerte. Der Mann bei der Tür lehnte nicht mehr an ihr und sein Messer hatte sich etwas gehoben. Für den Kerl war das offensichtlich der interessanteste Moment. Ich entschied, daß die Zeit, etwas zu unternehmen, noch nicht gekommen war, und hielt meine Hände hin. Alf betastete sie und ließ die Handschellen zuschnappen. Dann ging er und brachte mir das Frühstück.
Zwei Stunden später kam der Kerl mit dem Messer wieder. Er zeigte damit nach der Tür.
»Los«, sagte er. Es war das einzige Wort, das ich von ihm hörte.
Das Messer hinter meinem Rücken verursachte ein unbehagliches Gefühl, während wir mehrere Treppen hinunterstiegen und dann eine Halle durchquerten.
Auf der Straße warteten zwei beladene Lastkraftwagen. An der Hinterwand des einen stand Coker mit zwei Begleitern. Er winkte mich heran. Ohne ein Wort zu sagen, zog er eine Kette zwischen meinen Armen durch. An beiden Enden waren Riemen, einer war bereits um das linke Handgelenk eines stämmi-gen Blinden an seiner Seite gewunden; den anderen machte er am rechten Gelenk eines kaum weniger athletisch gebauten Burschen fest, so daß ich zwischen beiden stand. Man wollte anscheinend auf Nummer Sicher gehen.
»An Ihrer Stelle würde ich jede Dummheit sein lassen«, empfahl mir Coker. »Gehen Sie anständig vor, wird man auch Ihnen gegenüber anständig sein.«
Unbeholfen kletterten wir drei hinten auf das Fahrzeug, und die beiden Lkw fuhren los.
Wir hielten in der Nähe von Swiss Cottage und stiegen aus. Etwa zwanzig Leute befanden sich in Sichtweite, anscheinend ziellos wanderten sie die Rinnsteine entlang. Beim Geräusch der Motoren hatten sich alle uns zugewandt mit einem ungläubigen Ausdruck in den Gesichtern und gleichsam von einem einzigen Mechanismus getrieben, begannen sie hoffnungsvoll und mit lauten Rufen herbeizutappen.
Die Fahrer schrien uns zu, die Fahrbahn frei zu machen. Sie fuhren rückwärts, wendeten und rasselten den Weg zurück, den wir gekommen waren. Die herantappenden Blinden stockten. Einige riefen den Wagen nach; die meisten nahmen schweigend und hoffnungslos ihre Wanderung wieder auf.
Ich wandte mich meiner Gruppe zu.
»Nun, was soll zuerst geschehen?« fragte ich.
»Wir brauchen ein Quartier«, sagte einer. »Einen Platz, wo wir schlafen können.«
Das zumindest mußte ich für sie auftreiben. Ich konnte sie hier nicht einfach im Stich lassen. Es galt, eine Art Hauptquartier, eine Zentrale einzurichten, wo sie alle unterkommen und verpflegt werden konnten. Ich zählte sie. Es waren zweiundfünfzig Personen; vierzehn davon Frauen. Ein Hotel würde wohl das beste sein. Es würde uns das Heranschaffen von Betten und Bettzeug ersparen.
Die Wahl fiel auf eine aus drei Häusern zusammengelegte Pension, die mehr Raum bot, als wir bedurften. Wir fanden ein halbes Dutzend Leute in dem Gebäude. Was mit den übrigen geschehen war, weiß der Himmel allein. Die Zurückgebliebenen saßen verängstigt in einem der Salons – ein alter Herr, eine ältere Dame – die Leiterin der Pension, wie sich herausstellte –, ein Mann in den mittleren Jahren und drei Mädchen. Die Leiterin hatte noch so viel Energie, um uns mit einigen scharfen Drohungen zu empfangen, aber hinter der Fassade spürte man die Panik.
Der alte Herr versuchte, ihr durch ein bißchen Aufbegehren zu Hilfe zu kommen. Die anderen wandten uns nur ihre nervös gespannten Gesichter zu und sagten gar nichts.
Ich erklärte, daß wir hier einziehen würden. Wenn ihnen das nicht passe, könnten sie gehen; falls sie es aber vorzogen, zu bleiben und mit uns zu teilen, was da war, stünde ihnen auch das frei. Sie schienen nicht erfreut. Ich vermutete nach ihrem Verhalten, daß sie irgendwo in dem Gebäude Vorräte versteckt hatten, die sie mit niemandem teilen wollten. Als sie erkannten, daß unsere Absicht war, noch weitere Vorräte zu sammeln, änderte sich ihre Haltung merklich, und sie schienen sich in das Unvermeidliche zu fügen.
Ich beschloß, ein, zwei Tage zu bleiben, bis sich die Leute etwas eingerichtet hatten. Ich nahm an, Josella würde für ihre Schar das gleiche tun. Ein findiger Kopf, dieser Coker; hatte uns schön drangekriegt, wie man sagt. Aber nachher wollte ich davon und Josella aufsuchen.
Die folgenden zwei Tage arbeiteten wir systematisch und durchkämmten die größeren Läden der näheren Umgebung – meist Filialgeschäfte bescheidenen Umfangs. Fast überall waren uns andere zuvorgekommen. Die Portale waren arg mitgenommen.
Die Schaufenster eingeschlagen, drinnen lagen halb geöffnete Dosen und angebrochene Pakete, die die Finder enttäuscht hatten, in einer klebrigen stinken-den Masse, mit Glasscherben vermischt, auf den Fußböden. Aber gewöhnlich war der angerichtete Schaden gering, die Zerstörung oberflächlich. Die größeren Kisten in und hinter dem Laden fanden wir unberührt.
Das Wegschaffen und Verladen der schweren Kisten auf Handkarren stellte an die Blinden große Anforderungen. Dann mußte die Beute in das Quartier gebracht und dort verstaut werden. Aber allmählich bekamen sie Übung in diesen Arbeiten.
Der schlimmste Hemmschuh war, daß ich überall dabei sein mußte. Ohne meine Anleitung konnte wenig oder nichts getan werden. Unmöglich, mehr als ein Arbeitskommando gleichzeitig einzusetzen, obwohl wir ein Dutzend hätten aufstellen können.
Ebenso konnte im Hotel nicht viel geschehen, wenn ich mit einem Trupp unterwegs war. Und die Zeit, die ich auf die Erkundung und Durchsuchung des Distrikts aufwenden mußte, war für alle meine Leute so gut wie verloren. Zwei Sehfähige hätten hier weit mehr als die doppelte Leistung erzielt.
Nach dem Start fand ich tagsüber kaum Zeit, an anderes zu denken als an die im Gang befindliche Arbeit, und abends schlief ich vor Ermüdung ein, sobald ich mich niederlegte. Immer wieder schärfte ich mir ein: »Morgen abend habe ich sie so weit – sie können sich über Wasser halten, zumindest eine Zeitlang. Dann mache ich mich aus dem Staub und suche Josella.«
Leicht gesagt, immer verschob ich meine Flucht auf den nächsten Tag, und mit jedem Tag wurde sie schwieriger. Wohl hatten einige der Leute angefangen, ein bißchen zu lernen; aber praktisch konnte oh-ne mein Beisein nichts getan werden, vom Dosenöffnen bis zum Organisieren. Ja, es sah fast so aus, als würde ich immer unentbehrlicher.
Und es war nicht ihre Schuld. Das machte es ja so schwierig. Einige taten wirklich ihr Bestes. Ich brauchte ihnen nur zuzusehen und es war unmöglich für mich, einfach davonzugehen und sie im Stich zu lassen. Ein dutzendmal am Tag verwünschte ich den Mann Coker, der mich in diese Situation gebracht hatte, aber sie wurde dadurch nicht besser: ich fragte mich nur, wie das enden sollte ...
Eine erste Andeutung davon, die ich jedoch kaum richtig erkannte, erhielt ich am vierten oder fünften Morgen. Wir waren aufbruchbereit, als eine Frau die Stiege herunterrief, daß oben zwei krank lägen, in bedenklichem Zustand, wie sie glaube.
Meine beiden Wachthunde wollten nicht hinauf.
»Hört«, sagte ich ihnen. »Ich habe diese Kettensträflingsrolle langsam satt. Und überhaupt könnten wir ohne sie entschieden mehr leisten.«
»Und Sie könnten leicht zu Ihren Freunden zurück«, bemerkte irgendwer.
»Ich will Ihnen reinen Wein einschenken«, entgegnete ich. »Ich hätte diesen beiden Gorilla-Imitationen zu jeder Tages- oder Nachtstunde eins über den Schädel geben können. Ich habe es nicht getan, weil ich nichts weiter gegen sie habe, als daß ich sie für zwei lästige Schwachköpfe halte ...«
»Aber –«, versuchte eins meiner Anhängsel einzuwenden.
»Aber«, fuhr ich fort, »wenn sie mich nicht zu den Kranken lassen, können sie jeden Augenblick einen Hieb über den Schädel erwarten.«
Die zwei gaben nach, aber im Zimmer oben hielten sie Distanz, soweit es die Kette zuließ. Die Erkrankten waren ein junger Mann und einer mittleren Alters.
Beide hatten hohes Fieber und klagten über heftige Bauchschmerzen. Ich verstand damals nicht viel von solchen Dingen und brauchte auch nicht viel zu verstehen, um unruhig zu werden. Ich konnte nichts weiter tun, als die beiden in das nächste leerstehende Haus transportieren lassen und eine von den Frauen beauftragen, sich, so gut sie konnte, um sie zu kümmern.
So begann ein Tag der Rückschläge. Der nächste, von ganz anderer Art, ereignete sich gegen Mittag.
Da die meisten umliegenden Lebensmittelgeschäfte nun geräumt waren, hatte ich beschlossen, unser Arbeitsgebiet etwas zu erweitern. Ich erinnerte mich, daß es eine halbe Meile weiter nördlich eine andere Geschäftsstraße geben mußte, und führte meine Leute dorthin. Wir fanden die Straße, aber auch etwas anderes.
Als wir um die Ecke bogen und die Straße vor uns hatten, stockte ich. Vor einem der Filialläden sah ich Männer damit beschäftigt, Kisten herauszuschaffen und auf einen Lkw zu verladen. Wäre das Fahrzeug nicht gewesen, so hätte ich glauben können, meine Leute am Werk zu sehen. Ich ließ meinen Trupp – etwa zwanzig Mann – halten und überlegte. Ich war dafür, einem Konflikt aus dem Weg zu gehen; es gab anderwärts noch Vorräte genug. Aber nicht ich sollte die Entscheidung treffen. Ich stand noch unschlüssig, als ein rothaariger junger Mann aus dem Ladeneingang herausgeschlendert kam. Kein Zweifel darüber, daß er sehen konnte – und, einen Augenblick später, daß er uns gesehen hatte.
Er teilte meine Unschlüssigkeit nicht. Er tat einen schnellen Griff in seine Tasche. Im nächsten Moment klatschte eine Kugel in die Mauer neben mir.
Sowohl seine wie meine Leute wandten ihre blicklosen Augen einander zu, bemüht, zu erkennen, was los war. Er feuerte nochmals. Vermutlich hatte er auf mich gezielt, aber die Kugel traf den Mann links von mir. Der gab einen erstaunten Grunzlaut von sich und sackte mit einem Seufzer zusammen. Ich warf mich, den anderen Wachthund mitreißend, hinter die schützende Ecke zurück.
»Schnell«, sagte ich. »Her mit dem Schlüssel für die Fesseln. Ich kann so nichts tun.«
Der Mann grinste schlau. Er hatte ein eingleisiges Hirn.
»Ho«, sagte er. »Geben Sie's auf. Mich können Sie nicht drankriegen.«
»Ach, um Gottes willen, Sie verfluchter Clown –«, knirschte ich, den Körper von Wachthund Nummer eins an der Kette näher zerrend, damit wir besser in Deckung gehen konnten. Der Kerl begann zu argumentieren. Weiß der Himmel, welche Kniffe er mir in seiner Verblendung zutraute. Die schlaffe Kette bot nun genug Spielraum: ich hob die Arme und schmetterte ihm beide Fäuste an den Schädel, daß er krachend gegen die Mauer prallte. Damit war das Argumentieren aus. Ich fischte den Schlüssel aus seiner Seitentasche.
»Hört her«, sagte ich zu den anderen. »Macht alle kehrt, marschiert gradaus fort. Bleibt beisammen, sonst stehe ich für nichts. Los, vorwärts.«
Ich schloß eine Handschelle auf, befreite mich von der Kette und kletterte über die Mauer in einen Privatgarten. Dort hockte ich nieder und entledigte mich der zweiten Fessel. Dann schlich ich in die andere Gartenecke, um vorsichtig über die Mauer zu spähen.
Der junge Mann mit der Pistole war uns nicht sofort nachgeeilt, wie ich befürchtet hatte. Er stand noch immer bei seinen Leuten und gab ihnen Instruktionen. Wozu auch eilen? Da wir nicht zurückgefeuert hatten, durfte er annehmen, daß wir unbewaffnet waren, und rasch wegkommen konnten wir auch nicht.
Nachdem er mit seinen Anordnungen fertig war, schritt er zuversichtlich auf die Straße bis zu einer Stelle, wo er meinen abziehenden Trupp sehen konnte, und ging ihm nach. An der Ecke blieb er stehen, um meine zwei niedergestreckten Wachthunde zu betrachten. Aus der Kette schien er zu schließen, daß einer von ihnen das Auge meiner Leute gewesen war, denn er steckte die Pistole ein und begann der Schar im Schlenderschritt zu folgen.
Das war nicht, was ich erwartet hatte, und erst nach einer Minute durchschaute ich sein Vorhaben.
Ich erkannte, daß es für ihn am günstigsten war, wenn er meinem Trupp bis zu unserem Hauptquartier nachging, um sich da nach Beute umzusehen. Ich mußte zugeben: er war entweder im Erspähen einer Chance geistesgegenwärtiger als ich, oder hatte die Möglichkeiten, die sich ergeben konnten, gründlicher erwogen. Zum Glück hatte ich meinen Leuten aufgetragen, gradaus fortzumarschieren. Zwar würden sie bald ermüden, aber ich rechnete damit, daß keiner von ihnen imstande war, den Rückweg ins Hotel zu finden und so als unfreiwilliger Führer zu dienen.
Solange sie beisammen blieben, ließen sie sich später alle unschwer sammeln. Die Frage war nur, was tun einem Mann gegenüber, der eine Pistole in der Tasche hatte und sie ungescheut gebrauchte.
In anderen Weltgegenden hätte man in das erstbeste Haus gehen können, das in Sicht war, und durfte sicher sein, irgend eine Feuerwaffe vorzufinden.
Nicht in Hampstead; das war ein ungemein solider Vorort, leider. Vielleicht ließ sich ein Jagdgewehr irgendwo aufstöbern, aber auch das hätte man suchen müssen. Ich vermochte mir weiter nichts auszudenken, als den Rotkopf im Auge zu behalten und auf eine Gelegenheit zu hoffen, wo sich etwas tun ließ. Ich brach mir einen Ast von einem Baum, kletterte über die Gartenmauer zurück und begann, meinen Weg an den Randsteinen entlang zu klopfen, so wie ich es die zahllosen Blinden tun sah, die überall umherwanderten. Die Straße lief eine Strecke weit gerade. Etwa fünfzig Meter vor mir schritt der rotköpfige junge Mann, und wieder fünfzig Meter vor diesem tappte meine Gruppe dahin. Etwas mehr als eine halbe Meile wanderten wir so hintereinander her. Zu meiner Erleichterung machte keiner meiner Leute Miene, in die Straße einzubiegen, die zu unserer Basis führte.
Ich fing an, mich zu fragen, wann sie haltmachen würden, als ein unvorhergesehener Zwischenfall eintrat. Ein Mann, der sich schon eine Zeitlang hinter den anderen hergeschleppt hatte, hielt plötzlich an.
Er ließ seinen Stock fallen, preßte die Arme um seinen Bauch und krümmte sich. Dann fiel er um und wälzte sich vor Schmerz auf dem Boden. Die anderen wanderten weiter. Sie mußten sein Stöhnen gehört haben, ahnten aber anscheinend nicht, daß es von einem der ihren kam.
Der junge Mann blickte zu dem Gestürzten hinüber und trat zögernd näher. Etwa eine Viertelminute lang betrachtete er ihn aufmerksam. Dann zog er langsam und bedächtig die Pistole und schoß ihm durch den Kopf.
Als der Schuß krachte, blieb die Gruppe vorn stehen. Auch ich. Der junge Mann machte keinen Versuch, sie einzuholen – ja, er schien plötzlich alles Interesse an ihr zu verlieren. Er kehrte um und kam mitten auf der Fahrbahn zurückgeschritten. Mich an die Rolle erinnernd, die ich zu spielen hatte, begann ich wieder, meinen Weg vorwärtszutappen. Er ging an mir vorüber, ohne mich zu beachten, aber ich konnte sein Gesicht sehen: es war voll Sorge und von grimmiger Entschlossenheit ... Ich wanderte unentwegt weiter, bis ich ihn ein gutes Stück hinter mir wußte, dann eilte ich zu meinen Leuten, die, durch den Schuß gestört, sich berieten, ob sie weitergehen sollten oder nicht.
Ich machte der Debatte ein Ende, indem ich er-klärte, nun, da ich ohne Fesseln und Wachthunde war, würden wir die Dinge anders anpacken. Ich würde nach etwa zehn Minuten mit einem Lkw zurückkommen, um sie in das Quartier zu fahren.
Die Entdeckung einer zweiten organisierten Gruppe verursachte neue Besorgnisse, doch im Hotel fanden wir alles unverändert. Nur waren noch zwei Männer und eine Frau von heftigen Bauchschmerzen befallen und in das Nachbarhaus gebracht worden.
Wir trafen Verteidigungsvorbereitungen gegen Marodeure, die während meiner Abwesenheit auftauchen konnten. Dann verfrachtete ich einen neuen Trupp auf dem Lkw und fuhr los, diesmal in eine andere Richtung.
Ich war bei meinen früheren Besuchen in Hampstead Heath oft an der Endstelle einer Autobuslinie ausgestiegen, wo sich eine Menge Geschäfte und kleine Läden zusammendrängen. Der Platz ließ sich mit Hilfe meiner Straßenkarte leicht auffinden. Er erwies sich auch als fast unberührt und unbeschädigt.
Drei, vier eingeschlagene Fenster ausgenommen, machte er den Eindruck des Ladenschlusses am Wochenende.
Unterschiede waren freilich da. Eine solche Stille hatte es hier weder wochentags noch sonntags gegeben. Und dann lagen Leichen auf der Straße. Das war ein Anblick, an den ich mich so gewöhnt hatte, daß ich ihn kaum beachtete. Ich wunderte mich sogar, daß es nicht mehr waren, und hatte den Schluß gezogen, daß sich die meisten Leute irgendwohin verkrochen, aus Angst, oder später aus Schwäche. Es war einer der Gründe, weshalb man Hemmungen fühlte, ein Wohnhaus zu betreten. Ich hielt mit dem Wagen vor einem Konsumgeschäft und horchte ein paar Sekunden. Die Stille sank auf uns herab wie eine Decke.
Kein Tappen ließ sich vernehmen, kein wandernder Blinder war zu sehen. Nichts regte sich.
»Okay«, sagte ich. »Hier wird abgestiegen.«
Die versperrte Ladentür stand bald offen. Drinnen fanden wir Butter in Fässern, Käse, Speckseiten, Säcke mit Zucker und anderes mehr, alles in schönster Ordnung und unangetastet. Meine Leute machten sich an die Arbeit. Sie hatten nun schon einige Vorteile heraus und waren sicherer. Ich konnte sie eine Weile allein lassen und mich inzwischen hinten in den Magazinen umsehen; zuletzt stieg ich in den Keller hinab.
Ich musterte unten gerade die Kisten, als von draußen Geschrei erscholl. Gleich darauf trampelten und polterten schwere Schritte über mir. Durch die Falltür kam ein Mann heruntergestürzt, schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf und blieb lautlos und reglos liegen. In der Meinung, oben sei ein Kampf mit einem rivalisierenden Trupp entbrannt, stieg ich über den Gestürzten hinweg und kletterte, einen Arm zum Schutz über den Kopf haltend, vorsichtig die leiterähnliche Treppe empor. Das erste, was ich sah, waren stampfende Füße, bedenklich nahe und rücklings auf die Falltür zugedrängt. Ich schnellte heraus, bevor sie über mir waren. In dem Augenblick wurde die Scheibe des Schaufensters eingedrückt. Mit ihr fielen drei Männer in die Auslage. Eine lange grüne Geißel peitschte ihnen nach und traf einen. Die zwei anderen rappelten sich aus dem Getrümmer hoch und stolperten tiefer ins Ladeninnere. Dadurch wurden die anderen weiter zurückgeschoben, und wieder stürzten zwei Männer durch die offene Falltür.
Ein Blick auf die grüne Geißel sagte mir, woran ich war. Im Trubel der letzten Tage hatte ich die Triffids fast vergessen. Von einer Kiste aus konnte ich über die Köpfe der Männer hinwegsehen. Ich hatte drei Triffids im Blickfeld: eine stand draußen auf der Straße, zwei waren auf dem nahen Gehsteig. Vier Männer lagen draußen; regungslos. Nun verstand ich, weshalb wir die Läden unangetastet vorgefunden hatten; und weshalb die Nachbarschaft so ausgestorben war.
Ich verwünschte mich, weil ich unterlassen hatte, die Toten auf der Straße genauer anzusehen. Eine einzige Strieme wäre Warnung genug gewesen.
»Halt«, schrie ich. »Bleibt stehen, wo ihr seid.«
Ich sprang von der Kiste, drängte die Männer von der umgeschlagenen Klappe der Falltür herunter und schloß die gefährliche Öffnung.
»Hinten ist eine Tür«, erklärte ich. »Laßt euch Zeit.«
Die ersten zwei ließen sich Zeit. Dann aber schwirrte der Stachel einer Triffid durch das eingeschlagene Fenster in den Laden. Ein Mann schrie auf und stürzte. In panischer Angst stürmten die anderen zur Tür und schoben mich vor sich her. Beim Ausgang verkeilte sich alles. Noch zweimal zischten die Geißeln hinter uns her, bevor wir durch waren.
Drinnen sah ich mich keuchend um. Wir waren unser sieben. »Halt«, wiederholte ich. »Hier sind wir in Sicherheit.«
Ich kehrte zur Türe zurück. Der hintere Teil des Ladens lag außerhalb der Reichweite der Triffids – solange sie draußen blieben. Ich erreichte ungefähr-det die Falltür und klappte sie hoch. Die zwei, die zuletzt hinuntergestürzt waren, kamen herauf. Der eine mit einem gebrochenen Arm, der andere nur zerschunden und fluchend.
Von der Hinterkammer aus gelangte man in einen kleinen Hof und dann zu einer Tür in einer acht Fuß hohen Mauer. Ich war vorsichtig geworden. Statt geradewegs zu der Tür zu gehen, kletterte ich auf das Dach eines Nebengebäudes, um Ausschau zu halten.
Die Tür ging, wie ich sehen konnte, in ein schmales Gäßchen hinaus, das den ganzen Block entlanglief. Es war leer. Aber jenseits der Mauer, die auf der anderen Seite die Gärten einer Reihe von Privathäusern zu begrenzen schien, erspähte ich die Spitzen zweier Triffids, die regungslos zwischen den Sträuchern standen. Da die Mauer an dieser Stelle niedriger war, konnten sie mit ihren Geißeln quer über das Gäßchen schlagen. Ich erklärte den Männern die Lage.
»Verdammte Biester«, sagte einer von ihnen. »Ich hab die Dinger nie leiden können.«
Ich durchforschte die weitere Umgebung. Im zweitnächsten Gebäude an der Nordseite befand sich eine Autoverleihfirma, die drei Wagen auf dem Grundstück stehen hatte. Es kostete viel Mühe, die Blinden über die zwei Mauern zu bringen, die wir überklettern mußten, besonders den Mann mit dem gebrochenen Arm, aber wir schafften es. Irgendwie brachte ich auch alle in einem großen Daimler unter.
Nachdem sie verstaut waren, öffnete ich die Aus-fahrtstore und lief zum Wagen zurück.
Die Triffids waren nicht langsam. Ihre unheimliche Empfindlichkeit für Geräusche verriet ihnen, daß etwas geschah. Als wir hinausfuhren, schwankten schon zwei auf die Einfahrt zu. Ihre Geißeln peitschten uns entgegen, klatschten aber wirkungslos auf die geschlossenen Fenster. Ich ging scharf in die Kurve, rammte eine und brachte sie zum Sturz. Dann fuhren wir die Straße hinauf, einer weniger gefährlichen Gegend zu.
Der Abend, der folgte, war der schlimmste für mich seit dem Ausbruch des Unheils. Da ich die Wachthunde los war, quartierte ich mich in einem kleinen Zimmer ein, wo ich allein sein konnte. Ich stellte sechs brennende Kerzen in eine Reihe auf das Kaminsims und saß lange brütend und grübelnd in einem Lehnsessel und ließ mir die Dinge durch den Kopf gehen. Bei der Rückkehr hatten wir einen der am vorigen Abend erkrankten Männer tot gefunden; und allem Anschein nach lag der andere im Sterben – und vier neue Fälle waren dazugekommen. Nach dem Abendessen waren es wieder um zwei mehr. Ich hatte keine Ahnung, was es war. Bei dem Mangel an Pflege und angesichts der allgemeinen Lage, kam eine ganze Reihe von Seuchen in Frage. Ich dachte an Typhus, mutmaßte aber, daß die Inkubationszeit diese Diagnose ausschloß – nicht, daß etwas zu tun war, auch wenn ich es gewußt hätte. Ich wußte nur, es war etwas so Bösartiges, daß es den rothaarigen jungen Mann veranlaßt hatte, nach seiner Pistole zu greifen und die Verfolgung meiner Gruppe aufzugeben.
Es sah ganz so aus, als hätte ich meinen Leuten von Anfang an einen zweifelhaften Dienst geleistet. Ich hatte sie am Leben erhalten, hatte sie zwischen der Bedrohung durch einen rivalisierenden Trupp auf der einen Seite und der durch die aus der Hampstead Heath herandringenden Triffids auf der anderen durchgeschleust. Nun kam diese Krankheit dazu.
Und, alles in allem, hatte ich nichts weiter erreicht, als einen Aufschub des Hungertodes für kurze Zeit. Aus dieser Situation sah ich keinen Ausweg. Und dann beunruhigte mich der Gedanke an Josella. Das gleiche wie hier geschah wohl auch in ihrem Distrikt, vielleicht Schlimmeres ...
Ich mußte an Michael Beadley und seine Gruppe denken. Ich hatte schon immer gewußt, daß die Logik für sie sprach, und nun gewann es den Anschein, daß ihr Vorgehen auch das humanere war. Sie hatten erkannt, der Versuch, mehr zu retten, als einige wenige, mußte scheitern. Den übrigen eine leere Hoffnung geben, war eigentlich Grausamkeit.
Und wir selber? Wozu waren wir verschont worden? Doch nicht nur, um uns um etwas Vergebliches und Unmögliches zu bemühen?
Ich beschloß, morgen auf die Suche nach Josella zu gehen; wir würden uns dann die Sache gemeinsam überlegen ...
Die Türklinke wurde niedergedrückt und die Tür ging langsam auf.
»Wer ist da?« sagte ich.
»Oh, Sie sind es«, antwortete eine Mädchenstimme.
»Was wünschen Sie von mir?« fragte ich.
Sie war groß und schlank. Noch keine zwanzig, meiner Schätzung nach. Leicht gewelltes Haar. Ka-stanienbraun. Von ruhigem Wesen, fiel sie doch auf – es lag an ihrer Erscheinung, an ihrer Haltung. Sie hatte sich nach meiner Bewegung und der Stimme orientiert. Ihre goldbraunen Augen blickten gerade über meine linke Schulter hinweg, sonst hätte ich gesagt, sie betrachtete mich.
Sie antwortete nicht sogleich. Diese Unentschlossenheit stimmte nicht zu dem Eindruck, den sie sonst machte. Ich wartete auf ihre Antwort. Etwas begann mir die Kehle zuzuschnüren. Sie war jung. Und schön. Vor ihr hätte das Leben liegen sollen, vielleicht ein wunderbares Leben ...
»Sie werden von hier fortgehen?« sagte sie. Es klang halb wie eine Frage, halb wie eine Feststellung, die Stimme war ruhig, ein wenig gebrochen.
»Das habe ich nie gesagt«, entgegnete ich.
»Nein«, gab sie zu, »die anderen sagen es. Und haben recht, nicht wahr?«
Darauf gab ich keine Antwort. Sie fuhr fort:
»Sie können nicht fort. Können uns nicht so verlassen. Wir brauchen Sie.«
»Ich tue hier nichts Gutes«, sagte ich. »Es ist hoffnungslos.«
»Vielleicht kommt doch noch Rettung.«
»Jetzt nicht mehr. Wir wüßten es nun schon.«
»Und wenn sie dennoch käme – und Sie wären einfach auf und davon –?«
»Glauben Sie, ich hätte mir das alles nicht überlegt?
Ich sage Ihnen, ich tue hier nichts Gutes. Ich bin nur so etwas wie eine Injektion, die den Kranken aufpulvert, ein Stimulans, ein Aufschub, kein Heilmittel.«
Sie schwieg sekundenlang. Dann sagte sie mit schwankender Stimme:
»Das Leben ist sehr kostbar – auch jetzt noch.« Ihre Kraft war fast zu Ende.
Darauf konnte ich nichts erwidern. Sie gewann ihre Fassung wieder.
»Sie können uns am Leben erhalten. Eine Chance bleibt uns. Es kann eine Wendung kommen. Auch jetzt noch.«
Die Antwort darauf hatte ich schon gegeben. Ich wiederholte sie nicht.
»Es ist so schwer«, sagte sie wie zu sich selber.
»Könnte ich Sie sehen ... Dann freilich wäre ja alles anders ... Sie sind jung? Ihre Stimme klingt jung.«
»Ich bin unter dreißig«, antwortete ich. »Und sehr gewöhnlich.«
»Ich bin achtzehn. Der Tag, an dem der Komet kam, war mein Geburtstag.«
Mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können, ohne daß es wie eine Grausamkeit geklungen hätte. Es entstand eine lange Pause. Ich sah, daß sie ihre Hände zusammenkrampfte. Als sie sie sinken ließ, waren die Knöchel ganz weiß. Sie schien sprechen zu wollen, blieb aber stumm.
»Was kann ich tun?« fragte ich. »Außer alles etwas hinauszögern.«
Sie zögerte, drehte sich um und tappte zur Tür zurück.
»Ich bleibe«, rief ich ihr nach, als sie hinausging.
»Sagen Sie es den anderen.«
Das erste, was mir am nächsten Morgen auffiel, war der Geruch. Er hatte sich auch früher von Zeit zu Zeit verspüren lassen, zum Glück war das Wetter kühl geblieben. Diesmal hatte ich weit in einen schon etwas wärmeren Tag hineingeschlafen. Ich will auf diesen Geruch nicht näher eingehen; die ihn gekannt haben, werden ihn nie vergessen, für die anderen läßt er sich nicht beschreiben. Wochen hindurch stieg er aus jeder Stadt und aus jedem Ort und war in jedem Lufthauch zu spüren. An jenem Morgen brachte er mir die Überzeugung, daß das Ende da war. Nicht der Tod, die Verwesung setzt den Schlußpunkt.
Ich blieb liegen und überlegte. Nun blieb nur noch das eine: meine Leute auf Lastwagen zu verladen und in einzelnen Gruppen aufs Land zu transportieren.
Und all die Vorräte, die wir aufgehäuft hatten? Auch sie mußten verladen und weggeschafft werden – und ich der einzige, der fahren konnte ... Es würde Tage dauern – falls wir noch Tage hatten ...
Dann horchte ich. Das ganze Gebäude war so seltsam still. Ich vernahm nur ein Ächzen in einem benachbarten Zimmer, sonst nichts. Ich stieg aus dem Bett und kleidete mich eilends an. Draußen auf dem Treppenabsatz horchte ich nochmals. Kein Schritt war im Haus zu hören. Plötzlich regte sich in mir ein widriges Gefühl, als wiederhole sich alles und ich sei wieder im Spital.
»Heda! Ist da niemand?« rief ich.
Einige Stimmen antworteten. Ich öffnete eine nahe Tür. Da drinnen war ein Mann. In bedenklichem Zustand. Er lag im Delirium. Hier konnte ich nichts tun.
Ich schloß die Tür wieder.
Meine Schritte klangen laut auf der Holztreppe. Im nächsten Stock rief eine Stimme: »Bill – Bill!« Die Stimme einer Frau. Sie lag in einem kleinen Zimmer im Bett; es war das Mädchen, das mich gestern abend aufgesucht hatte. Sie wandte den Kopf, als ich eintrat.
Ich sah, es hatte sie auch erwischt.
»Kommen Sie nicht zu nahe«, sagte sie. »Sie sind es doch, Bill?«
»Ich dachte es mir. Sie können noch gehen: die anderen müssen schleichen. Ich bin froh, Bill. Ich habe den anderen gesagt, Sie würden uns nicht im Stich lassen – aber die behaupteten, Sie seien weg. Nun sind alle gegangen, alle, die gehen konnten.«
»Ich habe geschlafen«, sagte ich. »Was ist denn passiert?«
»Immer mehr hat es erwischt. Sie hatten Angst.«
Ich sagte hilflos: »Kann ich etwas für Sie tun? Etwas bringen?«
Ihr Gesicht verzerrte sich, sie schlug die Arme um den Leib und krümmte sich. Der Anfall ging vorüber, Schweiß sickerte über ihre Stirne.
»Bitte, Bill. Ich bin nicht sehr tapfer. Könnten Sie etwas bringen – damit es schneller geht?«
»Ja«, sagte ich. »Das kann ich für Sie tun.«
In zehn Minuten war ich von der Apotheke zurück.
Ich reichte ihr ein Glas Wasser und drückte ihr das Mitgebrachte in die andere Hand. Sie hielt es eine Weile. Dann:
»So sinnlos – und alles hätte so ganz anders sein können«, murmelte sie. »Leben Sie wohl, Bill – und Dank für alles.«
Ich blickte auf die Sterbende. Sinnlos? Vielleicht.
Und ich fragte mich, wie viele an ihrer Stelle gesagt haben würden ›Nehmen Sie mich mit‹ und nicht
›Bleiben Sie bei uns‹.
Und ich habe niemals auch nur ihren Namen erfahren.
Es war die Erinnerung an den rothaarigen jungen Mann, der auf uns geschossen hatte, die mich bewog, eine bestimmte Route nach Westminster zu wählen.
Seit meinem sechzehnten Lebensjahr hatte mein Interesse für Waffen abgenommen, aber wer in einer zur Barbarei zurückkehrenden Umwelt am Leben bleiben wollte, mußte bereit sein, als Barbar zu leben.
In St. James' Street gab es einige Läden, wo einem mit der größten Zuvorkommenheit jedes Mordwerkzeug verkauft wurde, von der Krähenflinte bis zur Elefantenbüchse.
Ich verließ diese Gegend mit erhöhtem Sicherheits-gefühl und der Ausrüstung eines Banditen. Wiederum verfügte ich über einen handlichen Hirschfänger.
Eine Pistole von der Präzisionsarbeit eines wissen-schaftlichen Instruments hatte ich in der Tasche. Auf dem Sitz neben mir lagen ein geladenes Gewehr und Schachteln mit Patronen. Ich hatte statt einer Büchse eine Schrotflinte gewählt – der Knall ist ebenso überzeugend und man köpft damit eine Triffid viel sicherer als mit einer Kugel. Und Triffids konnte man nun auch in London begegnen. Zwar schienen sie die Straßen noch nach Möglichkeit zu meiden, doch hatte ich einige durch den Hyde Park stelzen gesehen, und andere gab es im Green Park. Wahrscheinlich harmlose gestutzte Zierpflanzen – oder auch nicht.
Und so kam ich nach Westminster.
Die Öde und die Totenstille waren hier noch aus-geprägter als anderswo. Die Straßen boten das gewohnte Bild: überall Gruppen herrenloser, verlassener Fahrzeuge. Sehr wenig Leute in Sicht. Ich sah nur drei. Zwei klopften mit ihren Stöcken die Gossen von Whitehall entlang, den dritten gewahrte ich auf dem Parliament Square. Er sag nahe dem Lincoln-Denkmal und umklammerte seinen kostbarsten Besitz: eine Speckseite, von der er eben eine Schnitte mit einem stumpfen Messer heruntersägte.
Über all dem erhob sich das Parlamentsgebäude; die Zeiger der Turmuhr waren drei Minuten nach sechs stehengeblieben. Schwer zu glauben, daß dieser ganze riesige Komplex nun nichts mehr bedeutete, nichts weiter war als ein pompöses Gebilde aus brüchigem Stein, das ruhig zerfallen konnte. Mochten die bröckelnden Zinnen auf die Terrasse herunterprasseln – kein Abgeordneter würde sich über die Gefährdung seines wertvollen Lebens beschweren. Daneben floß ungestört die Themse. Wie sie fließen würde, bis eines Tages die Kaimauern umsanken und die Wasser sich ausbreiteten und Westminster wieder ein Eiland inmitten einer Marsch wurde.
Es beschlich mich ein neues Gefühl – Angst vor dem Alleinsein. Ich war nicht mehr allein gewesen, seit ich nach Verlassen des Spitals die Piccadilly entlangwanderte, und damals hatte mich all das bestürzend Neue gefesselt, das ich sah. Nun erlebte ich zum erstenmal den Schrecken, den wirkliche Einsamkeit für ein von Natur geselliges Geschöpf hat. Ich fühlte mich nackt und preisgegeben, von lauernden Ängsten umstellt ...
Ich zwang mich, die Victoria Street hinaufzufahren.
Selbst die Geräusche des Wagens und ihr Echo erschreckten mich. Ich hätte den Wagen am liebsten stehengelassen, um lautlos zu Fuß weiterzuschleichen. Nur mit dem Aufgebot meiner ganzen Willens-kraft vermochte ich, den Kopf obenzubehalten und meinen Plan durchzuführen. Denn ich wußte, was ich getan hätte, wäre mir dieser Distrikt zugefallen – ich hätte mich aus seinem größten Warenlager verproviantiert.
Die Lebensmittelabteilung der Army and Navy Stores fand ich auch richtig ausgeräumt, aber kein lebendes Wesen in den Räumen.
Ich ging durch eine Seitentür hinaus. Auf dem Gehsteig strich eine Katze schnuppernd um etwas, das wie ein Lumpenbündel aussah, aber keins war.
Ich klatschte in die Hände. Das Tier fauchte mich an und huschte davon.
Ein Mann bog um eine Ecke. Mit triumphierender Miene rollte er einen großen Käse mitten auf der Fahrbahn vor sich her. Als er einen Schritt hörte, bremste er den Käse, setzte sich darauf und schwang drohend seinen Stock. Ich kehrte in die Hauptstraße zu meinem Wagen zurück.
Die Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß auch Josella ihr Hauptquartier in einem Hotel aufgeschlagen hatte. Mir fiel ein, daß es um den Victoria Bahnhof ein paar gab, und ich fuhr hin. Es gab aber dort mehr, als ich vermutet hatte. Nachdem ich mehr als zwanzig durchsucht hatte, ohne eine Spur einer organisierten Niederlassung zu finden, erschien die Suche ziemlich aussichtslos.
Ich sah mich nach jemandem um, den ich fragen konnte. Endlich traf ich nahe der Buckingham Palace Road eine vor einer Haustür kauernde alte Frau.
Sie scharrte mit gebrochenen Fingernägeln an einer Dose und fluchte und wimmerte abwechselnd. Ich ging in einen kleinen Laden in der Nähe und fand ein halbes Dutzend übersehener Bohnenkonserven auf einem hohen Regal, stöberte auch einen Dosenöffner auf und kehrte zu der Alten zurück, die noch immer vergeblich an der Blechbüchse herumwerkte.
»Schmeißen Sie sie weg«, riet ich ihr, »es ist Kaffee.«
Ich drückte ihr den Öffner in die Hand und gab ihr eine Bohnenkonserve.
»Passen Sie auf«, sagte ich. »Wissen Sie hier herum ein Mädchen – ein Mädchen, das sehen kann? Wahrscheinlich ist sie bei einer Gruppe.«
Viel Hoffnung hatte ich nicht, aber die alte Frau mußte Hilfe erhalten haben, um so lange durchhalten zu können. Ich traute kaum meinen Augen, als sie nickte.
»Ja«, sagte sie und setzte den Öffner an.
»Sie wissen, wo sie ist?« forschte ich. Mir kam gar nicht in den Sinn, es könne jemand anderer sein als Josella.
Aber sie schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Ich war kurze Zeit bei ihnen, aber ich hab sie verloren. Eine alte Frau wie ich kann mit den Jungen nicht Schritt halten, und so hab ich sie verloren. Sie haben nicht gewartet auf eine arme alte Frau und ich hab sie nicht wiederfinden können.«
Sie schnitt eifrig an der Dose weiter.
»Wo war euer Quartier?« fragte ich.
»Wir waren alle in einem Hotel. Wo es ist, weiß ich nicht, sonst hätte ich zurückgefunden.«
»Wissen Sie nicht, wie es geheißen hat?«
»Ich weiß es nicht. Wozu ist ein Name gut, wenn niemand da ist, der ihn lesen kann?«
»Aber an irgend etwas müssen Sie sich doch erinnern können.«
»Ich weiß gar nichts.«
Sie roch vorsichtig an der geöffneten Dose.
»Jetzt passen Sie einmal auf«, sagte ich kalt. »Sie wollen doch diese Dose behalten, nicht wahr?«
Sie machte mit einem Arm eine Bewegung, um sie an sich zu ziehen. »Dann müssen Sie mir auch alles, was Sie wissen, über das Hotel erzählen«, fuhr ich fort. »Sie müssen doch wissen, ob es groß oder klein war.«
Sie überlegte, einen Arm noch immer schützend über die Dosen gestreckt.
»Unten hat es hohl geklungen – als sei es groß und geräumig. Und fein muß es auch gewesen sein – ich meine, es hatte dicke Teppiche und gute Betten und feines Leinenzeug.«
»Und sonst?«
»Sonst nichts. Oder doch. Man mußte über zwei niedere Stufen hinein und durch eine Drehtür.«
»Das ist etwas«, sagte ich. »Sind Sie dessen auch ganz sicher? Kann ich es nicht finden, so kann ich Sie jederzeit finden, wie Sie wissen.«
»Die reine Wahrheit, Mister. Zwei niedere Stufen und eine Drehtür.«
Sie stöberte aus einer neben ihr liegenden zerknit-terten Tasche einen schmutzigen Löffel und kostete die Bohnen, als seien sie eine Götterspeise.
Es waren noch mehr Hotels in dieser Gegend, als ich vorausgesehen hatte, und eine ganz erstaunliche Zahl hatte Drehtüren. Aber ich blieb hartnäckig. Und fand es zuletzt. Die Spuren und der Geruch waren unverkennbar und schlossen jeden Irrtum aus.
»Ist hier jemand?« rief ich durch das widerhallende Vestibül. Ich wollte schon weiter hineingehen, als ich aus einem Winkel ein Stöhnen hörte. In einer halbdunklen Nische lag ein Mann auf einer Polsterbank.
Auch in der Dämmerung war zu sehen, daß es mit ihm zu Ende ging. Ich trat nicht zu nahe. Er schlug die Augen auf. Er sah aus, als ob er mich anblickte.
»Wer ist da?« murmelte er.
»Ich möchte nur fragen, ob –«
»Wasser«, ächzte er. »Einen Schluck Wasser, um Christi willen –«
Ich ging in den Speisesaal und dann in den Anrichteraum nebenan. Kein Wasser in der Leitung. Ich spritzte den Inhalt zweier Siphonflaschen in einen großen Krug, den ich samt einem Becher in die Reichweite des Kranken stellte.
»Danke, Kamerad«, sagte der. »Ich kann mir schon helfen. Kommen Sie nicht zu nahe.«
Er tauchte den Becher in den Krug und trank ihn leer.
»Herrgott«, sagte er. »War das eine Wohltat!« Er schlürfte noch einen Becher aus. »Was wollen Sie hier, Kamerad? Ist eine ungesunde Gegend, das.«
»Ich suche ein Mädchen – ein Mädchen, das sehen kann. Namens Josella. Ist sie nicht hier?«
» War hier. Mann, Sie kommen zu spät.«
Ein plötzlicher Verdacht durchfuhr mich wie ein Stich.
»Sie wollen doch nicht sagen –?«
»Beruhigen Sie sich, Mann. Sie hat nicht was ich habe. Nein. Ist nur fort – wie alle, die noch fort konnten.«
»Wohin wissen Sie nicht?«
»Weiß ich nicht, Kamerad.«
»Verstehe«, erwiderte ich entmutigt.
»Am besten, Mann, Sie hauen auch ab. Sonst erwischt es Sie, und Sie können nicht mehr weg wie ich.«
Er hatte recht. Ich stand und sah ihn an.
»Kann ich Ihnen noch etwas bringen?«
»Nein. Damit komme ich aus. Lange wird es mit mir ja nicht mehr dauern.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Leben Sie wohl, Kamerad, und vielen Dank.
Und wenn Sie sie finden, schauen Sie auf sie – sie ist ein gutes Mädchen.«
Während ich mich etwas später mit einer Schin-kenkonserve und einer Flasche Bier stärkte, fiel mir ein, daß ich vergessen hatte, zu fragen, wann Josella weggegangen war, beruhigte mich aber damit, daß der Kranke in seinem Zustand wohl kaum eine klare Vorstellung der abgelaufenen Zeit haben konnte.
Nun vermochte ich nur noch daran zu denken, die Universität aufzusuchen. Ich nahm an, daß auch Josella den gleichen Gedanken haben würde – und vielleicht noch andere unserer versprengten Gruppe.
Freilich, viel Hoffnung hatte ich nicht; vernünftigerweise hätte sie die Stadt schon vor Tagen verlassen müssen.
Noch immer hingen vom Turm zwei Flaggen, schlaff in der warmen Abendluft. Von den ungefähr zwei Dutzend Lastwagen, die wir im Vorhof gesammelt hatten, standen noch vier da, anscheinend unberührt. Ich parkte meinen Wagen daneben und betrat das Gebäude. Meine Schritte hallten durch die Stille.
»Hallo! Heda!« rief ich. »Ist da niemand?«
Meine Stimme weckte die Echos in Fluren und Stiegenaufgängen, verebbte in ein Geflüster und dann in Schweigen. Ich ging in den anderen Flügel und rief nochmals. Wiederum verhallten die Echos langsam.
Ich wandte mich zum Gehen, da gewahrte ich an der Wand innerhalb des Außentores eine Kreideauf-schrift. Mit großen Lettern war dort eine Adresse aufgeschrieben:
TYNSHAM MANOR
TYNSHAM
NR DEVIZES, WILTS.
Immerhin etwas.
Ich überlegte. In einer Stunde dunkelte es. Nach Devizes war es, meiner Schätzung nach, an die hundert Meilen mindestens. Ich ging nochmals hinaus und sah mir die Lastwagen an. Einer darunter war der letzte, den ich herangefahren hatte – der mit meiner verschmähten Anti-Triffid-Ausrüstung. Die übrige Ladung bestand, wie ich mich erinnerte, aus Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen. Damit war man jedenfalls willkommener, als wenn man im Auto und mit leeren Händen kam. Aber eine Fahrt, ohne zwingenden Grund, über die nächtlichen Landstraßen, noch dazu mit einem schwerbeladenen Lkw, war nicht nach meinem Geschmack; im Fall einer Panne verlor ich mit der Suche nach einem neuen Fahrzeug und mit dem Umladen mehr Zeit, als wenn ich hier nächtigte. Ein früher Start am Morgen schien mir günstiger. Ich verlagerte die Schachteln mit den Patronen in den Führersitz des Lkw. Das Gewehr behielt ich bei mir.
Das Zimmer, aus dem mich der falsche Feueralarm gescheucht hatte, fand ich unverändert; meine Kleider auf einem Sessel, selbst Zigarettenetui und Feuerzeug dort, wo ich sie neben mein improvisiertes Bett gelegt hatte.
Zum Schlafen war es zu früh. Ich zündete eine Zigarette an, steckte das Etui in die Tasche und beschloß, noch ein wenig ins Freie zu gehen.
Bevor ich aber den Park auf dem Russel Square betrat, hielt ich sorgfältig Umschau. Freie Plätze erregten bereits meinen Argwohn. Und richtig erspähte ich in der Nordwestecke eine Triffid. Sie stand vollkommen reglos zwischen den Büschen, überragte sie aber beträchtlich. Ich schlich näher und köpfte sie mit einem einzigen Schuß, der über den stillen Platz dröhnte, als hätte ich eine Haubitze abgefeuert. Als ich sicher war, daß keine anderen hier lauerten, ging ich in den Park und setzte mich ins Gras, den Rücken an einem Baumstamm. Ich blieb etwa zwanzig Minuten. Die Sonne stand tief und eine Hälfte des Platzes lag schon im Schatten. Bald mußte ich hineingehen. Nur solange es hell war, durfte ich mich sicher fühlen; im Dunkel konnten sich die Dinger unbemerkt heranstehlen. Ich tat noch einen Rundblick um den Platz. Und als ich so stand, vernahm ich von der Straße her das Knirschen von Schritten.
Ich fuhr mit schußbereitem Gewehr herum. Ich erblickte im Dämmer eine sich bewegende Gestalt. Als sie die Straße verließ und den Park betrat, sah ich, daß es ein Mann war. Er hatte mich offenbar gesehen, ehe ich ihn hörte, denn er kam gerade auf mich zu.
»Nicht schießen«, sagte er und hielt mir seine leeren Hände entgegen.
Wir erkannten einander gleichzeitig.
»Oh, Sie sind es?« meinte er.
»Hallo, Coker. Was tun Sie hier? Wollen Sie mir wieder einen kleinen Trupp anvertrauen?« fragte ich.
»Nein. Sie können Ihr Schießeisen ruhig wegtun.
Macht zuviel Krach. Hat mich hierhergebracht.
Nein«, wiederholte er, »ich habe genug. Lieber zur Hölle als hierbleiben.«
»Ganz meine Meinung«, sagte ich, das Gewehr senkend.
»Wie war es bei Ihnen?« fragte er.
Ich erzählte es ihm. Er nickte.
»Bei mir war es genauso. Und bei den übrigen vermutlich nicht anders. Immerhin: es war ein Versuch ...«
»In der falschen Richtung«, wandte ich ein.
Er nickte wiederum.
»Ja«, gab er zu. »Ihre Gruppe packte die Sache beim richtigen Ende an – hat nur nicht so ausgesehen, zumindest nicht vor einer Woche.«
»Es ist sechs Tage her«, berichtigte ich.
»Eine Woche«, beharrte er.
»Ist ja gleichgültig im Grunde«, erwiderte ich.
»Was wär's«, fuhr ich fort, »mit einer Amnestie und einem neuen Start?« Er war einverstanden.
»Ich hatte unrecht«, wiederholte er. »Ich war überzeugt, daß ich der war, der die Sache ernst nahm –
habe sie aber doch nicht ernst genug genommen. Ich hab einfach nicht glauben können, daß alles so bleiben und keine Hilfe kommen würde. Aber wie schaut es jetzt aus! Und so muß es überall sein. In Europa, in Asien, in Amerika – stellen Sie sich das vor, Amerika, so heimgesucht! Aber es muß drüben genauso sein.
Sonst wären sie schon da, um uns zu helfen und hier Ordnung zu machen, das ist ganz klar. Nein, Ihre Gruppe hat die Sache von Anfang an richtig gesehen.«
Wir blieben eine Weile stumm, dann fragte ich:
»Diese Krankheit oder Seuche – was ist es, Ihrer Meinung nach?«
»Keine Ahnung. Zuerst habe ich an Typhus gedacht, aber Typhus soll eine längere Entwicklungszeit haben – ich weiß es also nicht. Ich weiß auch nicht, warum es mich nicht erwischt hat – hab weiter nichts getan, als mich von den Kranken ferngehalten, meine Konserven immer selbst aufgemacht und nur Flaschenbier getrunken. Hab zwar bisher Glück gehabt, möchte aber doch möglichst bald von hier weg. Und was haben Sie vor?«
Ich erzählte ihm von der Adresse an der Wand die er noch nicht gesehen hatte. Er war auf dem Weg zur Universität gewesen, als ihn mein Schuß ablenkte.
»Es –«, begann ich und stockte. Aus einer der westlichen Straßen kam das Startgeräusch eines Autos. Es schwoll rasch an und verklang in der Ferne.
»Jemand ist also doch noch da außer uns«, bemerkte Coker. » Und dem, der die Adresse hinterlassen hat. Haben Sie eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«
Ich zuckte mit den Achseln. Es konnte jemand aus der von Coker attackierten Gruppe gewesen sein, ein Zurückgekehrter oder ein bei dem Überfall Entkommener. Wer weiß, wie lange die Adresse schon dort stand. Coker überlegte.
»Besser, wir sind zu zweit. Ich komme mit und schau, was sich tut. Okay?«
»Okay«, willigte ich ein. »Aber jetzt bin ich fürs Schlafengehen, damit wir morgen zeitig starten können.«
Er schlief noch, als ich aufwachte. Ich vertauschte die Kleider, die mir Coker zur Verfügung gestellt hatte, mit dem Schianzug und den schweren Schuhen, da ich mich darin bequemer fühlte. Als ich mit einer Garnitur verschiedener Päckchen und Dosen zurückkehrte, fand ich auch ihn wach und angekleidet. Beim Frühstück beschlossen wir, um in Tynsham bessere Aufnahme zu finden, zwei beladene Fahrzeuge mitzubringen, statt gemeinsam mit einem zu fahren.
»Und sehen Sie, daß das Wagenfenster schließt«, warnte ich ihn. »Um London herum gibt es eine ganze Menge Triffidkulturen, besonders im Westen.«
»Mhm. Ich habe ein paar von den häßlichen Biestern unterwegs gesehen«, meinte er leichthin.
»Ich habe sie nicht nur unterwegs gesehen – sondern auch am Werk«, erklärte ich.
In der ersten Garage, an der wir vorbeikamen, brachen wir eine Pumpe auf und tankten. Dann brachen wir nach Westen auf, mein Dreitonner in Führung.
Es war eine beschwerliche Fahrt. Immer wieder muß-
ten wir verlassenen Fahrzeugen ausweichen. Manchmal blockierten zwei, drei die ganze Straße, so daß wir gezwungen waren, eins davon langsam aus der Fahrbahn zu bugsieren. Wenige waren beschädigt.
Die Erblindung schien rasch über die Fahrer gekommen zu sein, doch nicht so plötzlich, daß sie sofort die Kontrolle verloren hatten. Sie waren zumeist noch an den Straßenrand gefahren, ehe sie hielten. Wäre die Katastrophe bei Tag erfolgt, wären die Hauptstraßen einfach unpassierbar gewesen, und wir hätten Tage gebraucht, um uns durch Seitengassen aus dem Zentrum herauszuarbeiten – immer wieder vor undurchdringlichen Fahrzeugdickichten zur Umkehr gezwungen und auf der Suche nach Umfahrungsmöglichkeiten. So aber kamen wir eigentlich schneller vorwärts, als es im einzelnen den Anschein hatte.
Und als ich nach einigen Meilen ein umgestürztes Auto am Straßenrand erblickte, erkannte ich, daß die Route, der wir nun folgten, vor uns schon andere eingeschlagen und zum Teil freigemacht hatten.
An der Peripherie von Staines durften wir uns sagen, daß London endlich hinter uns lag. Ich hielt und ging zurück zu Coker. Als auch er ausschaltete, entstand eine tiefe, unnatürliche Stille, nur unterbrochen vom Knacken des abkühlenden Metalls. Mir fiel plötzlich ein, daß ich seit unserem Start, abgesehen von ein paar Spatzen, kein lebendes Wesen erblickt hatte. Coker kletterte vom Fahrersitz. Mitten auf der Fahrbahn blieb er stehen, horchend und umherspähend.
»Kommen Sie, stöbern wir etwas Eßbares auf«, sagte er dann.
Auf einem Ladentisch sitzend verspeisten wir marmeladebestrichene Zwiebackstücke, und als wir uns gestärkt hatten, setzten wir unsere Fahrt fort.
Irgendwie erfüllte einen der Anblick des offenen Landes mit Hoffnung. Zwar würden die jungen, grünen Saaten keiner Ernte entgegenreifen, die Früchte ungepflückt bleiben, die Felder und Fluren nie wieder so blank und sauber aussehen wie am heutigen Tag, aber das alles lebte weiter. Es war nicht wie die Städte tot und ausgelöscht für immer. Hier konnte man noch wirken und schaffen, hier war noch Zukunft. Hier erschien mir das Dasein, das ich in der vergangenen Woche geführt hatte, wie das einer Ratte, die vom Abfall lebt und in Müllhaufen wühlt.
Die Weite der Felder weckte meine schlummernden Lebensgeister.
Orte an unserer Route, Städte wie Reading oder Newbury brachten kurze Rückfälle in die Londoner Stimmung, aber das ging vorüber.
Dauerndes Versinken ins Tragische verwehrt uns eine phönixgleiche Auftriebskraft, die, zum Heil oder zum Unheil, mit unserem Lebenswillen verbunden ist – und uns dennoch in einen schwächenden Krieg nach dem andern hineingezogen hat. Eine in unserem Wesen verankerte Notwendigkeit läßt uns selbst vor einem Ozean von Leid nur eine Zeitlang trauern; das Außergewöhnliche wird zum Alltäglichen, nur so ertragen wir das Leben. Unter dem leuchtenden Blau, in dem ein paar weiße Wolken schwammen wie himmlische Eisberge, wurden die Städte zu einer weniger schwer lastenden Erinnerung, und der Hauch des Lebens wehte uns an wie ein reinigender Wind.
Das entschuldigt es wohl nicht, aber erklärt es, daß ich mich während des Fahrens von Zeit zu Zeit beim Singen ertappte.
In Hungerford hielten wir, um uns wieder mit Nahrung und Brennstoff zu versorgen. Das Gefühl der Befreiung wuchs, während wir meilenweit unberührtes Land durchfuhren. Noch erschien es nicht verlassen und öde, sondern nur schlafend und friedlich. Selbst der Anblick kleiner Triffidgruppen, die hier und dort über ein Feld stelzten, oder anderer, die ihre Wurzeln noch im Boden hatten, rief bei mir keinerlei feindselige Stimmung wach. Sie waren für mich nun wiederum nichts weiter als Gegenstände meines früheren beruflichen Interesses.
Kurz vor Devizes machten wir nochmals halt, um unsere Karte zu Rate zu ziehen. Ein Stück weiter bogen wir rechts in eine Nebenstraße ab und fuhren in das Dorf Tynsham.
Tynsham Manor war kaum zu verfehlen. Gleich nach den paar Bauernhäusern, die das Dorf Tynsham bildeten, lief die hohe Mauer eines Gutshofes die Straße entlang. Wir folgten ihr, bis wir vor ein massives schmiedeeisernes Tor kamen. Hinter dem Tor stand eine junge Frau, aus deren Zügen der nüchterne Ernst eines übertriebenen Pflichtbewußtseins jeden menschlichen Ausdruck getilgt hatte. Sie war mit einer Schrotflinte bewaffnet, mit der sie nicht umzugehen verstand. Ich winkte Coker, zu halten, und rief sie an. Ich sah zwar, daß ihr Mund sich bewegte, hörte aber bei dem Dröhnen des Motors kein Wort.
Ich schaltete ab.
»Ist das Tynsham Manor?« fragte ich.
Das war anscheinend ein Geheimnis, das sie nicht preisgeben wollte.
»Woher kommt ihr? Und wie viele seid ihr?« lautete ihre Gegenfrage.
Mit Unbehagen beobachtete ich, wie sie ihre Flinte handhabte. Den Blick auf ihre unvorsichtigen Finger gerichtet, erklärte ich ihr in wenigen Worten, wer wir waren, warum wir kamen, was wir ungefähr geladen hatten, und versicherte ihr, daß niemand auf dem Lkw versteckt lag. Ich war im Zweifel, ob sie mir richtig zuhörte. Sie starrte mich mit einem melancholisch prüfenden Blick an, wie er bei Spürhunden an-zutreffen ist, aber auch bei diesen nicht beruhigend wirkt. Meine Worte vermochten den unstillbaren Argwohn nicht zu zerstreuen, der den Umgang mit den Übergewissenhaften so schwierig macht. Sie spähte in den Laderaum der Lastwagen, um sich von der Wahrheit meiner Angaben zu überzeugen. Einzugestehen, sie sei beruhigt, hätte ihrer Auffassung des Wächteramtes widersprochen, doch willigte sie zuletzt ein, uns einzulassen, wennschon mit Vorbehalt.
»Die Abzweigung rechts«, rief sie mir zu, als ich vorbeifuhr, und nahm sogleich wieder ihren Posten am Tor ein. Jenseits einer kurzen Ulmenallee erstreckte sich ein Landschaftsgarten im Stil des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts mit einzelnen freistehenden Bäumen, die sich ungehindert in ihrer ganzen Pracht hatten entwickeln können. Das Haus selbst, als es in Sicht kam, erwies sich als ein architektonisch uneinheitlicher, ziemlich weitläufiger Bau.
Es war ein Konglomerat der verschiedensten Stile, als hätte keiner der Besitzer der Versuchung widerstehen können, etwas seiner persönlichen Note Entsprechendes hinzuzufügen, das Ahnenerbe respektierend, aber dem Geist des eigenen Zeitalters gemäß. Das Ergebnis sah zwar zusammengewürfelt und recht ei-genwillig aus, dabei jedoch vertraut und anheimelnd.
Die Abzweigung rechts führte uns in einen weiten von Remisen und Ställen umgebenen Hof, in dem schon einige Fahrzeuge standen. Coker brachte seinen Wagen neben dem meinen zum Stehen und kletterte von seinem Sitz. Niemand war in Sicht.
Wir betraten das Hauptgebäude durch eine offenstehende Hintertür und durchschritten einen langen Flur. An seinem Ende war eine Küche von gewaltigem Ausmaß, in der noch immer Wärme und Kochdunst zu spüren war. Hinter einer Tür am anderen Ende ließen sich Stimmengemurmel und Tellerklirren vernehmen, aber wir mußten durch eine zweite dunkle Passage und eine andere Türe, bevor wir sie erreichten. Der Raum, in den wir eintraten, war vermutlich einmal die Gesindestube gewesen, als das Dienstpersonal noch so zahlreich war, daß man von Gesinde reden konnte. Hier hätten sich bequem hundert und mehr Personen an Tischen bewirten lassen.
Augenblicklich mochten zwischen fünfzig und sechzig anwesend sein, sie saßen auf Bänken an zwei langen improvisierten Tafeln, und man sah auf den ersten Blick, daß sie blind waren. Während sie geduldig saßen und warteten, waren einige Sehende sehr beschäftigt. Drei Mädchen tranchierten an einem Tisch an der Seite eifrig Hühner. Ich wandte mich an eine der Tranchiererinnen.
»Wir sind eben angekommen«, sagte ich. »Was sollen wir tun?« Die Angeredete hielt inne und strich, ohne ihre Gabel loszulassen, mit dem Handballen eine Haarlocke zurück.
»Sie können uns beim Gemüseausteilen helfen und Ihr Begleiter mit den Tellern«, antwortete sie.
Ich übernahm das Kommando bei zwei großen Kesseln mit Kartoffeln und Kohl. In den Pausen des Ausgebens hielt ich Umschau unter den Anwesenden. Josella war nicht unter ihnen – auch gewahrte ich keine der führenden Personen, die mir im Universitätsgebäude aufgefallen waren – doch unter den Frauen gab es einige, die mir bekannt vorkamen.
Der Prozentsatz der Männer war weit höher als in der früheren Gruppe und von sonderbarer Zusammensetzung. Einige mochten Londoner oder zumindest Städter sein, doch die meisten waren, ihrer Kleidung nach, Landarbeiter. Eine Ausnahme nach beiden Seiten bildete ein Geistlicher mittleren Alters; allen Männern aber war gemeinsam, daß sie blind waren. Unterschiedlicher waren die Frauen. Ein paar trugen eine in diese Umgebung gar nicht passende städtische Kleidung, andere waren vermutlich aus dem Dorf. In der zweiten Gruppe gab es nur eine Sehfähige, in der ersten aber etwa ein halbes Dutzend und außerdem eine Anzahl Mädchen, die zwar blind waren, aber nicht unbeholfen.
Auch Coker hatte die Anwesenden gemustert.
»Komischer Laden, das«, sagte er halblaut zu mir.
»Haben Sie Ihre Bekannte schon gesehen?«
Ich schüttelte den Kopf, ich merkte an meiner Niedergeschlagenheit, wie sehr ich erwartet hatte, Josella hier zu finden.
»Merkwürdig«, fuhr Coker fort, »ich sehe praktisch keinen von denen, die ich damals eingefangen habe – das Mädel da unten ausgenommen.«
»Hat sie Sie erkannt?« fragte ich.
»Ich glaube, ja. Sie hat mir eine Art scheelen Blick zukommen lassen.«
Als das Austeilen und Servieren zu Ende war, bekamen auch wir unsere Teller und Plätze an der Tafel. Gegen die Qualität und die Zubereitung der Speisen ließ sich nichts einwenden, besonders wenn man eine Woche lang nur von kalten Konserven gelebt hatte. Nach dem Mahl wurde auf den Tisch geklopft.
Der Geistliche erhob sich; er wartete Ruhe ab, bevor er zu sprechen begann:
»Meine Freunde, wieder ist ein Tag zu Ende und es obliegt uns, Gott erneut für die große Gnade zu danken, mit der er uns inmitten eines solchen Unheils bewahrt hat. Bitten wir ihn alle, er möge denen gnädig sein, die noch verlassen im Dunkel umherirren, und ihre Schritte hierher lenken, damit wir ihnen bei-stehen können. Flehen wir zu ihm, daß wir die Prüfungen und Heimsuchungen, die uns noch bevorstehen, ertragen, damit wir zu seiner Zeit und mit seiner Hilfe unseren Beitrag zu leisten vermögen beim Aufbau einer besseren Welt.«
Er senkte den Kopf.
»Allmächtiger, gnädiger Gott ...«
Nach dem ›Amen‹ wurde eine Hymne gesungen.
Hierauf stellten sich die Blinden in Gruppen zusammen, jeder in Tuchfühlung mit seinem Nachbar, und vier von den sehfähigen Mädchen führten sie hinaus.
Ich zündete eine Zigarette an. Coker nahm zerstreut eine von mir, ohne ein Wort zu sagen. Ein Mädchen kam zu uns herüber.
»Helfen Sie uns abräumen?« fragte sie. »Miß Durrant wird hoffentlich bald zurück sein.«
»Miß Durrant?« wiederholte ich.
»Sie befaßt sich mit dem Organisatorischen«, er-klärte das Mädchen. »Mit ihr können Sie alles vereinbaren.«
Es war eine Stunde später und beinahe dunkel, als wir hörten, daß Miß Durrant zurückgekehrt sei. Sie erwartete uns in einem kleinen, von zwei Kerzen spärlich erhellten Arbeitszimmer. Ich erkannte sie sogleich als die dunkle Dame mit den zusammengeknif-fenen Lippen, die in der Versammlung im Universitätsgebäude als Sprecherin der Opposition aufgetreten war. Im Augenblick konzentrierte sich ihre ganze Aufmerksamkeit auf Coker. Ihre Miene war nicht freundlicher geworden.
»Ich höre«, sagte sie kalt, Coker ansehend, als sei er eine Art Schlamm, »ich höre, daß Sie es waren, der damals den Überfall organisiert hat?«
Coker bejahte und wartete.
»Dann möchte ich Ihnen gleich jetzt und ein für allemal sagen, daß wir in unserer Gemeinschaft für brutale Methoden nichts übrig haben und sie ablehnen.«
Coker lächelte etwas. Er antwortete in seiner besten Umgangssprache:
»Es kommt auf den Standpunkt an. Wer soll entscheiden, wer die Brutaleren waren? – die, die es für ihre Pflicht hielten, zu bleiben, oder die, die es für ih-re Pflicht ansahen, zu gehen?« Sie blickte ihn noch immer unverwandt scharf an. Ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert, doch war offensichtlich, daß sie ihr Urteil über Coker revidierte. Weder seine Antwort, noch die Art, wie er sie gab, hatten ihrer Erwartung entsprochen. Sie wandte sich nun von ihm ab und mir zu.
»Waren Sie auch mit dabei?« fragte sie.
Ich erklärte ihr die einigermaßen passive Rolle, die ich damals gespielt hatte, und stellte meine Gegenfrage:
»Was ist aus Michael Beadley, dem Obersten und ihrer Gruppe geworden?«
Sie fand keine gute Aufnahme.
»Sie sind weitergefahren«, sagte sie scharf. »Dies ist eine Gemeinschaft, die sich zu christlichen Grundsätzen bekennt, und an ihnen festhält. Für Leute von lockerer Moral ist hier kein Platz. Dekadenz, Sittenlosigkeit und Unglaube haben in der Vergangenheit die meisten Übel verschuldet. Wir Überlebende müssen dafür sorgen, daß sie in der neuen Gesellschaft keinen Keimboden finden. Wir brauchen hier weder Zyniker noch Überkluge, so brillant die Theorien auch sein mögen, mit denen sie ihre Sinnlichkeit und ihren Materialismus tarnen. Wir wollen eine christliche Gemeinschaft sein und bleiben.« Sie blickte mich herausfordernd an.
»Ihr habt euch also getrennt?« sagte ich. »Wohin sind die anderen?«
Unbewegt entgegnete sie:
»Sie sind weitergefahren, und wir sind hier geblieben. Darauf kommt es an. Solange sie uns hier ungestört lassen, mögen sie an ihrer Verdammnis arbeiten, wie sie wollen. Ich bin überzeugt, sie wird nicht ausbleiben, da sie sich über die Gebote Gottes und alle Sitte erhaben dünken.«
Nach dieser Erklärung kniff sie die Lippen zusammen, daß ich erkannte, jedes weitere Fragen sei müßig; sie wandte sich wieder Coker zu.
»Was können Sie?« fragte sie.
»Eine Reihe von Dingen«, antwortete er ruhig. »Ich will mich zuerst allgemein nützlich machen, bis ich sehe, wo man mich am dringendsten braucht.«
Das ging ihr zwar gegen den Strich, da sie sich offenbar Entscheidung und Leitung selbst vorbehalten hatte, aber sie gab nach.
»Gut. Sehen Sie sich um, und sprechen wir morgen weiter«, meinte sie.
Aber mit Coker wurde man nicht so leicht fertig. Er wollte genaue Angaben über die Größe des Gutes, die Zahl der anwesenden Personen, wieviel Blinde und wieviel Sehfähige, und anderes mehr, und erhielt sie.
Bevor wir gingen, stellte ich noch eine Frage. Nach Josella. Miß Durrant furchte die Stirne.
»Der Name kommt mir bekannt vor. Woher nur –? Oh, hat sie bei den letzten Wahlen für die konservative Liste kandidiert?«
»Ich glaube nicht. Sie – hm – sie hat einmal ein Buch veröffentlicht«, bekannte ich.
»Sie –«, begann sie. Dann sah ich die Erinnerung aufdämmern. »Oh, oh, das Buch –! Aber, aber, Mr. Masen, es läßt sich doch kaum annehmen, daß die Verfasserin Interesse haben kann für eine Gemeinschaft, wie wir sie hier aufbauen wollen.«
Draußen im Flur wandte sich Coker zu mir. Im Zwielicht konnte ich gerade noch sehen, wie er grinste.
»Etwas schwüles orthodoxes Klima in dieser Gegend«, bemerkte er, hörte aber zu grinsen auf, als er hinzufügte: »Komisches Frauenzimmer. Schwierig.
Stolz und Vorurteil. Sie braucht dringend Hilfe. Sie weiß es selbst, wird es aber unter keinen Umständen zugeben.«
Vor einer offenen Tür blieb er stehen. Die Dunkelheit erlaubte fast nicht mehr, etwas in dem Zimmer wahrzunehmen, doch wir hatten zuvor im Vorübergehen gesehen, daß es ein Schlafraum für Männer war.
»Ich möchte mit den Leuten da drinnen ein Wort reden. Auf später.«
Ich sah ihn in das Zimmer schlendern, dessen Bewohner er mit einem herzhaften »Hallo, Kollegen! Wie geht's?« begrüßte, und ging in den Speisesaal zurück.
Das einzige Licht, das dort vorhanden war, ver-breiteten drei Kerzen, die knapp nebeneinander auf einem Tisch standen. Dabei saß ein Mädchen über irgendeine Flickarbeit gebeugt.
»Hallo«, sagte sie. »Schauerlich, nicht? Wie haben Sie es in der alten Zeit nur fertiggebracht, nach Einbruch der Dunkelheit etwas zu tun?«
»Gar nicht so alt, die Zeit«, berichtigte ich. »Das hier ist nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft – vorausgesetzt, wir lernen das Kerzenmachen.«
»Sie haben recht.« Sie hob den Kopf und betrachtete mich.
»Sie sind heute aus London gekommen?«
Ich bejahte.
»Es ist nun schlimm dort?«
»Es ist aus«, erwiderte ich.
»Sie müssen dort gräßliche Dinge gesehen haben?« forschte sie.
»War nicht zu vermeiden«, sagte ich kurz. »Wie lange seid ihr hier?«
Sie gab mir ohne weitere Ermunterung ein allgemeines Bild der Ereignisse.
Cokers Überfall waren nur ein halbes Dutzend Sehfähige entkommen. Sie und Miß Durrant hatten zu den Übersehenen gehört. Am folgenden Tag hatte Miß Durrant, etwas unsicher, die Leitung übernommen. Sogleich wegzufahren, war schon deshalb unmöglich, weil nur einer der zurückgebliebenen einen Lkw zu chauffieren verstand. Während dieses Tages und zum Teil auch während des nächsten hatten sie in ihrer Gruppe fast die gleiche Funktion ausgeübt wie ich in der meinen draußen in Hampstead. Im Laufe des zweiten Tages aber kehrten Michael Beadley und zwei andere zurück, und in der Nacht waren noch einige eingetroffen. Am nächsten Mittag hatten sie Fahrer für ein Dutzend Wagen. Man hielt es für das klügste, sogleich aufzubrechen, ohne auf weitere Rückkehrer zu warten.
Tynsham Manor war nur aus dem Grund als vorläufiges Fahrziel gewählt worden, weil es der Oberst kannte und die Geschlossenheit des Besitzes zumindest einer der geforderten Bedingungen entsprach.
Es war eine zusammengewürfelte, uneinige Gruppe gewesen, wie ihre Führer wohl wußten. Am Tag nach ihrer Ankunft hatte eine Versammlung stattgefunden, kleiner als die in der Universität abgehaltene, aber sonst ähnlich. Michael und seine Anhänger hatten erklärt, sie seien nicht gesonnen, ihre Energie damit zu verschwenden, eine zankende, in Vorurteilen befangene Gruppe zu beschwichtigen. Die Lage sei zu ernst und die Zeit zu kostbar. Florence Durrant stimmte dem zu. Was geschehen war, sei Warnung genug. Wie man so verblendet, so undankbar für das Wunder seiner Rettung sein konnte, um auch nur einen Augenblick an den subversiven Theorien festzuhalten, die seit einem Jahrhundert den christlichen Glauben unterwühlten, übersteige ihre Fassungskraft.
Sie jedenfalls habe nicht den Wunsch, in einer Gemeinschaft zu leben, wo ein Teil ständig darauf aus war, den schlichten Glauben derer zu zerstören, die Gott ihren Dank dadurch zeigen wollten, daß sie seine Gebote hielten. Auch sie erkenne durchaus den Ernst der Lage. Der richtige Weg sei, sich die Warnung Gottes zu Herzen zu nehmen und nach seiner Lehre zu leben.
Die Teilung hatte zwei sehr ungleiche Gruppen geschaffen. Für Miß Durrant hatten sich fünf sehfähige und etwa ein Dutzend blinde Mädchen entschieden, einige ältere Männer und Frauen, alle blind, und überhaupt keine sehfähigen Männer. Unter diesen Umständen hatte natürlich Michael Beadleys Gruppe weiterfahren müssen. Und das hatten sie, da die Lastautos noch beladen waren, unverzüglich getan und am frühen Nachmittag Tynsham verlassen, wo Miß Durrant und ihre Anhänger zurückblieben, um mit ihren Grundsätzen zu leben oder unterzugehen.
Jetzt erst versuchte sie, einen Überblick über die Möglichkeiten des Gutes und über die Umgebung zu gewinnen. Das Haus hatten sie zum Teil verschlossen gefunden, doch die Diensträume waren offenbar noch vor kurzem bewohnt gewesen. Was mit den Bewohnern geschehen war, sah man bei der Überprüfung des Gemüsegartens. Drei Leichen, die eines Mannes, einer Frau und eines Mädchens, lagen dort inmitten verstreuter Früchte nebeneinander. In der Nähe warteten geduldig, die Wurzeln im Boden, zwei Triffids. Ähnlich war die Situation in der Musterfarm am anderen Ende des Gutes. Ob die Triffids durch ein offenstehendes Tor in den Park eingedrungen waren oder ob hier schon vorhandene unbeschnittene Exemplare sich losgerissen hatten, blieb unklar, jedenfalls mußte diese Gefahr beseitigt werden, ehe weiteres Unheil entstand. Miß Durrant hatte eins der sehfähigen Mädchen weggeschickt, die Runde um die Mauer zu machen und jeden Eingang zu schließen, während sie selbst die Waffenkammer erbrochen hatte. Trotz ihrer Unerfahrenheit war es ihr und einer zweiten jungen Frau gelungen, sämtlichen auffindbaren Triffids – sechsundzwanzig im ganzen – die Köpfe abzuschießen. Da sich keine weiteren finden ließen, hoffte man, alle erledigt zu haben.
Die am nächsten Tag durchgeführte Erkundung des Dorfes hatte gezeigt, daß es dort eine Menge Triffids gab. Die überlebenden Bewohner hatten entweder ihre Häuser nicht verlassen und zehrten ihre Vorräte auf, oder sie hatten bei ihren kurzen Beutezügen das Glück gehabt, auf keine Triffids zu stoßen. Alle diese Dörfler hatte man gesammelt und auf den Gutshof gebracht. Sie waren gesund, meist auch kräftig, aber im Augenblick eher eine Last als eine Hilfe, denn keiner von ihnen konnte sehen.
Im Laufe des Tages waren noch vier junge Frauen eingetroffen. Zwei hatten ein blindes Mädchen mit und einen beladenen Lkw, den sie abwechselnd chauffierten. Die vierte, allein in einem Auto, hatte nach einem kurzen Umblick erklärt, daß es ihr hier nicht zusage, und war weitergefahren. Von den in den nächsten Tagen Ankommenden waren nur zwei geblieben. Alles Frauen, bis auf zwei. Anscheinend hatten sich die Männer schneller und rücksichtsloser aus Cokers Formationen befreit und waren meist rechtzeitig zu ihrer ursprünglichen Gruppe zurückgekehrt.
Über Josella konnte ich von den Mädchen nichts erfahren. Sie hatten den Namen nie gehört und meine Beschreibungsversuche weckten keine Erinnerungen.
Wir sprachen noch, als plötzlich die elektrischen Lichter in dem Raum aufleuchteten. Das Mädchen sah so andächtig empor, als empfange sie eine Offenbarung. Sie blies die Kerzen aus, blickte aber von Zeit zu Zeit von ihrer Flickarbeit zu den Glühbirnen, wie um sich zu vergewissern, daß sie noch da waren.
Nach einer Weile kam Coker hereingeschlendert.
»Ihr Werk vermutlich?« sagte ich mit einer Kopfbewegung nach den Lichtern.
»Ja«, bekannte er. »Sie erzeugen hier ihren eigenen Kraftstrom. Wir können den Treibstoff ebensogut aufbrauchen wie verdunsten lassen.«
»Hätten wir denn die ganze Zeit Licht haben können?« fragte das Mädchen.
»Sie hätten bloß den Motor anwerfen müssen«, sagte Coker, sie anblickend. »Wenn Sie Licht brauchten, warum haben Sie es nicht versucht?«
»Ich habe nicht gewußt, daß so etwas da war, außerdem verstehe ich nichts von Maschinen und Elektrizität.«
Coker sah sie noch immer nachdenklich an.
»Und da sind Sie einfach im Dunkeln sitzen geblieben«, bemerkte er. »Und wie lange, stellen Sie sich vor, werden Sie zu den Überlebenden gehören, wenn Sie lieber im Dunkeln sitzen bleiben, statt etwas zu unternehmen?«
Sein Ton mißfiel ihr.
»Es ist nicht mein Fehler, wenn ich von diesen Dingen nichts verstehe.«
»Da bin ich anderer Meinung«, erklärte Coker. »Es ist nicht nur Ihr Fehler: es ist sogar ein selbstverschuldeter Fehler. Es ist eine pure Ziererei und Eitelkeit, sich für zu sensibel und feinnervig zu halten, um etwas von technischen Dingen zu verstehen. Wir alle kommen unwissend auf die Welt, aber Gott gibt jedem – und jeder – so viel Hirn mit, sich das nötige Wissen zu verschaffen. Er hat es uns zu diesem Zweck gegeben, auch den Frauen.«
»Gut und schön. Aber nicht alle Menschen sind gleich. Männer verstehen sich auf Maschinen und Elektrizität. Frauen interessieren sich weniger dafür«, sagte sie.
»Erzählen Sie mir keine Märchen«, sagte Coker.
»Darauf steige ich nicht ein. Sie wissen ganz genau, daß Frauen mit den kompliziertesten und empfindlichsten Apparaten umzugehen verstehen – oder vielmehr verstanden –, wenn sie wollten. Gewöhnlich sind sie allerdings zu träge dazu. Kein Wunder, da die rührende Hilflosigkeit zu den traditionellen weiblichen Tugenden gehörte und die Arbeit sich bisher immer auf jemand anderen abschieben ließ! Aber jetzt müssen wir unsere Anschauungen ändern, da sich unsere Lebensbedingungen geändert haben.« Das Mädchen packte seine Flickarbeit ein und musterte Coker eine Weile.
Dann sagte sie: »Mit Ihren Ansichten, glaube ich, würden Sie besser in Mr. Beadleys Gruppe passen.
Wir haben nicht die Absicht, unsere Anschauungen zu ändern oder unsere Grundsätze aufzugeben. Deshalb haben wir uns ja von den anderen getrennt.
Wenn das, was anständige Leute für gut finden, für Sie nicht gut genug ist, müssen Sie sich eben anderwärts umsehen.« Und damit nahm sie ihren Abgang.
Coker sah ihr nach. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, machte er seinen Gefühlen Luft, ohne mit Kraftausdrücken zu sparen. Ich lachte.
»Was haben Sie erwartet?« sagte ich. »Da stolzieren Sie herein, halten dem Mädel eine Standpauke und wundern sich, wenn sie sauer reagiert.«
»Ich habe Vernunft erwartet«, murmelte er.
»Weshalb? Die meisten von uns halten sich nicht ans Vernünftige, sondern ans Gewohnte. Sie wird jede Änderung, ob sie vernünftig ist oder nicht, ablehnen, sobald sie ihren Begriffen von Recht und Anstand widerspricht, und dabei ehrlich überzeugt sein, daß sie so ihre Charakterfestigkeit beweist. Sie sind zu hastig, Coker. Zeigen Sie einem Mann, der eben Haus und Heim verloren hat, die Gefilde der Seligen, und er wird nicht viel von ihnen halten: lassen Sie ihm Zeit, und er wird finden, daß es daheim ähnlich war, nur gemütlicher. Auch sie wird sich anpassen, es bleibt ihr ja nichts anderes übrig – und es weiterhin standhaft und mit Überzeugung leugnen.«
»Mit anderen Worten: Sie sind gegen das Planen und fürs Improvisieren. Damit werden wir nicht weit kommen.«
»Hier greift die Führung ein. Sie plant, ohne davon zu reden. Sie veranlaßt die nötigen Änderungen als befristete Provisorien, die sich aber am Ende, wenn die Führung gut war, zu dem geplanten Ganzen zusammenfügen. Gegen jeden Plan lassen sich triftige Einwände erheben, doch die Not erzwingt Zugeständnisse.«
»Klingt hinterhältig. Ich bin für ein klares Ziel und einen geraden Weg.«
»Das behaupten viele, die lieber geködert, gelockt, oft sogar gestoßen werden wollen. Das befreit sie nämlich von der Verantwortung; kommt es zu einem Fehlschlag, sind immer andere schuld. Der gerade Weg entspricht einem mechanischen Denken, aber Menschen sind keine Maschinen. Sie haben ihre besondere Geisteshaltung, meist die bäuerliche, und fühlen sich in der gewohnten Furche am wohlsten.«
»Sie geben also Beadley wenig Erfolgsaussichten. Er ist doch ganz Plan.«
»Er wird Schwierigkeiten haben. Doch seine Leute haben gewählt. Die hier hat nur die Verneinung jedes Plans zusammengeführt«, erklärte ich. Nach einer Pause fügte ich hinzu: »Das Mädel hatte in einem Punkt recht. Sie hätten es bei Beadley leichter. Ihr Verhalten gibt einen Begriff, was Sie von den andern zu erwarten haben, wenn Sie hier etwas auf Ihre Art versuchen. Sie können eine Schar Schafe nicht in einer schnurgeraden Linie zum Markt treiben, aber sie läßt sich auf andere Art hinbringen.«
Der nächste Morgen war ohne festes Programm. Ich hielt Umschau, legte hier und dort mit Hand an und stellte eine Menge Fragen.
Ich hatte eine schlimme Nacht hinter mir. Als ich lag, war mir erst deutlich geworden, wie sehr ich damit gerechnet hatte, Josella in Tynsham zu finden. Die lange Fahrt hatte mich ermüdet, doch ich konnte nicht schlafen; verloren und ratlos starrte ich in die Finsternis. So zuversichtlich hatte ich gehofft, sie und Beadleys Gruppe hier zu treffen, daß es mir nicht eingefallen war, eine andere Möglichkeit zu erwägen. Nun regten sich Zweifel, ob ich sie überhaupt bei Beadley finden würde. Sie hatte ihr Revier in Westminster kurz vor meiner Ankunft verlassen und konnte die Hauptgruppe erst spät eingeholt haben. Das beste schien mir daher, mich nach all denen zu erkundigen, die in den letzten zwei Tagen durch Tynsham gekommen waren.
Daß sie diese Richtung eingeschlagen hatte, mußte ich annehmen. Es war mein einziger Anhaltspunkt.
Und damit mußte ich auch annehmen, daß sie zur Universität zurückgekehrt war und die Kreideanschrift gelesen hatte – aber hatte sie das getan? Oder hatte sie die Fäulnisstätte, die London geworden war, einfach auf dem schnellsten Weg verlassen? Auch das war möglich.
Am meisten hatte ich gegen den Gedanken anzukämpfen, daß auch sie von der rätselhaften Seuche ergriffen worden war, die zur Auflösung unserer Trupps geführt hatte. An diese Möglichkeit wollte ich nicht denken.
Die Klarheit der schlaflosen Stunden nach Mitternacht verhalf mir zu einer Entdeckung: ich erkannte, daß es mir weit weniger um Beadleys Gruppe als um Josella ging. Fand ich sie bei Beadley nicht ... nun, der nächste Schritt war ungewiß, Verzicht würde es jedenfalls nicht sein ...
Cokers Bett war schon leer, als ich erwachte, und ich beschloß, den Morgen vor allem zu Nachforschungen zu verwenden. Eine Schwierigkeit dabei war, daß es anscheinend niemandem eingefallen war, die Namen derer zu notieren, die Tynsham nicht nach ihrem Geschmack gefunden und es wieder verlassen hatten. Der Name Josellas war den meisten überhaupt unbekannt, einige wenige erinnerten sich seiner, aber mit Mißbilligung. Meine Beschreibung rief keine Gedächtnisbilder hervor, die einer genaueren Prüfung standhielten. Mit Sicherheit konnte ich nur feststellen, daß niemand in einem marineblauen Schianzug hier aufgetaucht war, aber es stand ja keineswegs fest, daß sie noch immer diese Kleidung trug.
Meine Nachforschungen hatten nur das Ergebnis, daß alle meiner vielen Fragen überdrüssig wurden und sich bei mir das Gefühl der Aussichtslosigkeit vertiefte. Es bestand die schwache Möglichkeit, daß eine junge Dame, die einen Tag vor unserer Ankunft eingetroffen und weitergefahren war, Josella gewesen sein konnte, aber es kam mir unwahrscheinlich vor, daß sie auf niemand einen nachhaltigen Eindruck gemacht haben sollte – bei aller Voreingenommenheit ...
Coker sah ich erst beim Mittagessen wieder. Er hatte den Vormittag dazu verwendet, sich das ganze Anwesen gründlich anzusehen. Er hatte den Vieh-stand geprüft und die blinden Tiere gezählt. Die vorhandenen landwirtschaftlichen Geräte und Maschinen besichtigt. Sich für die Versorgung mit Trinkwasser interessiert. Desgleichen für die Vorräte an Lebensmitteln und an Viehfutter. Auch dafür, wie viele Menschen schon vor der Katastrophe blind waren, und die anderen in Gruppen eingeteilt, die von Erfahreneren geschult werden sollten.
Er hatte die meisten Männer in Trübsinn versunken gefunden, verursacht durch eine gutgemeinte Vertröstung des Geistlichen, es werde für sie mancherlei nützliche Beschäftigung geben, wie Korbflechten und Weben, und er hatte sein möglichstes getan, sie durch erfreulichere Aussichten aufzuheitern. Und er war Miß Durrant begegnet. Er hatte ihr erklärt, die blinden Frauen müßten irgendwie zur Mitarbeit herangezogen werden und die sehenden entlasten, sonst würde das Ganze innerhalb von zehn Tagen zusammenbrechen, und wenn noch mehr Blinde kämen, würde sich der Betrieb überhaupt nicht mehr aufrechterhalten lassen. Er war im Begriff, weitere Vorschläge über die Anlage von Lebensmittelreserven und über die Mitarbeit der Blinden zu machen, als sie ihm ins Wort fiel. Sie blieb unbelehrbar und unzugänglich, obwohl er sehen konnte, daß sie besorgter war, als sie zugeben wollte, aber die Entschlossenheit, mit der sie sich von den anderen getrennt hatte, hielt sie auf dem eingeschlagenen Weg fest. Sie gab Coker zu verstehen, daß, nach dem, was sie gehört habe, seine Anwesenheit in Tynsham kaum wünschenswert erscheine.
»Herrschsucht, sonst nichts«, urteilte er. »Es geht ihr um die Führerrolle, und nicht nur um die idealen Grundsätze.«
»Da tun Sie ihr unrecht«, sagte ich. »Die idealen Grundsätze zwingen sie, die ganze Verantwortung und infolgedessen auch die Führung zu übernehmen.«
»Das kommt doch auf dasselbe heraus«, entgegnete er.
»Es klingt aber besser«, bemerkte ich.
Er überlegte.
»Wenn sie sich nicht bald zu einer gründlichen Organisation entschließt, entsteht hier ein heilloses Durcheinander. Haben Sie sich das Ganze angesehen?«
Ich schüttelte den Kopf und berichtete, wozu ich den Morgen verwendet hatte.
»Also ein Mißerfolg. Und was haben Sie nun vor?« fragte er.
»Ich fahre Michael Beadley und seinen Leuten nach«, erklärte ich.
»Und wenn sie auch dort nicht ist?«
»Bis jetzt hoffe ich, daß sie dort ist. Wo sollte sie sonst sein?«
Er setzte zu einer Antwort an, besann sich aber.
Dann meinte er:
»Schätze, das beste wird sein, wenn ich mitkomme. Willkommener als hier werde ich dort zwar auch nicht sein, aber damit kann ich mich abfinden. Ich habe zugeschaut, wie eine solche Gruppe zerfällt, und ich sehe schon jetzt, daß hier das gleiche passieren wird. Und es müßte nicht sein. Das Gut wäre lebensfähig, trotz der vielen Blinden. Es ist alles da, man brauchte nur zuzugreifen. Bloß die Organisation fehlt.«
»Und der gute Wille«, warf ich ein.
»Der auch«, stimmte er zu. »Ich glaube, die Leute hier haben noch immer nicht ganz begriffen, was geschehen ist. Sie halten es für etwas Vorübergehendes, darum wollen sie nicht richtig zupacken. Sie warten auf etwas.«
»Kein Wunder«, sagte ich. »Auch wir haben nicht gleich begriffen, und sie haben nicht gesehen, was wir gesehen haben. Und, ich weiß nicht, hier draußen sieht alles etwas anders aus, gemildert und weniger endgültig und unmittelbar.«
»Dann müssen sie sich aber bald richtig informieren, wenn sie durchkommen wollen«, sagte Coker mit einem Rundblick um den Saal. »Auf ein Wunder dürfen sie nicht hoffen.«
»Man muß ihnen Zeit lassen. Sie werden zur Einsicht kommen. Wie wir. Wozu die Eile? Zeit ist nicht mehr Geld.«
»Geld ist nicht mehr wichtig, Zeit schon. Man sollte an die Ernte denken, eine Mühle einrichten, Vorsorge treffen für die Stallfütterung im Winter.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Alles nicht so wichtig, Coker. In den Städten muß es noch gewaltige Mehlvorräte geben und, allem Anschein nach, sehr wenige Verbraucher. Wir können noch lange vom Kapital leben. Zuerst müssen die Blinden einmal arbeiten lernen, bevor sie wirklich eingesetzt werden können.«
»Trotzdem muß hier etwas geschehen, sonst brechen die Sehfähigen in absehbarer Zeit zusammen. Es brauchen nur zwei ausfallen und das Chaos ist da.«
Das konnte ich nicht bestreiten.
Am späten Nachmittag gelang es mir, Miß Durrant aufzufinden. Niemand schien etwas von Michael Beadley und seinen Leuten zu wissen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß er weggefahren war, ohne einen Fingerzeig für Nachzügler zu hinterlassen. Miß Durrant war nicht erfreut. Zuerst glaubte ich, sie würde jede Auskunft verweigern. Nicht nur deshalb, weil ich der anderen Gruppe den Vorzug gab. Unter den herrschenden Umständen stellte der Ausfall eines sehfähigen Mannes einen ernsten Verlust dar. Dennoch forderte sie mich nicht auf, zu bleiben; sie wollte keine Schwäche zeigen. Zuletzt sagte sie kurz:
»Sie wollten nach Dorset, irgendwohin in der Nähe von Beaminster. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
Ich ging zurück und teilte es Coker mit. Er tat nochmals einen Rundblick. Dann schüttelte er bedauernd den Kopf.
»Okay«, sagte er. »Dann wollen wir also morgen früh aus diesem Kaff abhauen.«
»Das heißt wie ein Mann gesprochen«, schloß ich.
Am nächsten Morgen hatten wir um neun Uhr schon an die zwölf Meilen hinter uns; wie zuvor fuhren wir in unseren Lkw. Wir hatten erwogen, ob wir nicht handlichere Fahrzeuge nehmen und die Lastautos in Tynsham lassen sollten, aber ich konnte mich nicht entschließen, das meine aufzugeben. Ich hatte es selbst beladen und wußte, was auf dem Wagen war. Abgesehen von dem Material zur Triffidbekämpfung, hatte ich mir auch sonst bei dieser letzten Fracht etwas mehr Freiheit genommen und eine Reihe von Dingen geladen, die außerhalb einer größeren Stadt schwer aufzutreiben waren, darunter eine kleine Lichtmaschine, einige Pumpen und mehrere Kisten mit guten Werk-zeugen. Dinge, die später gewiß leicht zu beschaffen waren, aber es kam ja nun zunächst eine Zeit, wo es nicht ratsam war, eine größere Stadt zu betreten. In Tynsham konnte man Nachschub aus Städten holen, die die Seuche bisher verschont hatte. Da spielten zwei Ladungen mehr oder weniger keine Rolle, und so fuhren wir fort, wie wir gekommen waren.
Das schöne Wetter hielt an. Auf höherem Terrain war die Luft noch immer rein und ohne Geruch.
Schlimm war es in den Dörfern. Selten sahen wir Leichen auf freiem Feld oder am Straßenrand; wie in London schien auch hier ein Instinkt die Leute in ein Versteck getrieben zu haben. Die Dorfgassen waren meist leer und die Felder ringsum so verlassen, als seien Menschen und Tiere durch Zauberei beseitigt worden. Bis wir nach Steeple Honey kamen.
Wir hatten, als wir einen Abhang hinunterfuhren, von der Landstraße aus eine Gesamtansicht des Dörfchens. Es begann jenseits einer steinernen Brükke, die einen schmalen, glitzernden Wasserlauf über-spannte. Ein stiller kleiner Ort, mit einem verschlafenen Kirchlein in der Mitte, am Rand von weißge-tünchten, Bauernhäusern gesäumt. Nichts schien je seinen Frieden gestört zu haben. Nun lag es leblos wie die anderen Dörfer, kein Rauch stieg zur Höhe empor. Doch als wir in halber Höhe des Abhangs waren, gewahrte ich etwas, das sich bewegte.
Links von uns stand jenseits der Brücke, etwas schräg zur Straße, ein einzelnes Haus mit einem Wirtsschild an einem Mauerhaken. Und von dem Fenster oberhalb dieses Schildes wurde etwas Weißes geschwenkt. Als wir näher kamen, erblickte ich auch den Mann, der, weit vorgebeugt, uns mit einem Handtuch heftig zuwinkte. Ich nahm an, daß er blind war, da er uns sonst auf der Straße aufgehalten hätte.
Nach seinen kräftigen Bewegungen schien er nicht krank zu sein.
Ich signalisierte zu Coker zurück und hielt an, als wir die Brücke passiert hatten. Der Mann am Fenster ließ das Handtuch fallen, schrie uns etwas zu, das bei dem Motorenlärm nicht zu verstehen war, und verschwand. Wir schalteten beide ab. Es entstand eine Stille, daß wir die Schritte des Mannes auf der Holztreppe innerhalb des Hauses hören konnten. Die Tür ging auf, und er trat, beide Arme vorgestreckt, heraus. Da peitschte etwas blitzschnell aus der Hecke zu seiner Linken und traf ihn. Mit einem schrillen Aufschrei brach er zusammen.
Ich griff nach meiner Schrotflinte und kletterte vom Fahrersitz. Nach einem vorsichtigen Rundgang gewahrte ich die im Schatten des Gesträuchs lauernde Triffid. Ich köpfte sie mit einem Schuß.
Auch Coker war ausgestiegen und trat neben mich.
Er schaute zuerst auf den Gestürzten und dann auf die gekappte Triffid. »Das war ja – verdammt, sie kann doch nicht auf ihn gewartet haben?« sagte er.
»Muß bloßer Zufall gewesen sein ... Sie, konnte nicht wissen, daß er gerade bei dieser Tür herauskommen würde ... So was gibt's doch nicht!«
»Nicht? Jedenfalls ein merkwürdiger Zufall«, stellte ich fest. Coker warf mir einen unruhigen Blick zu.
»Verdammt merkwürdig. Sie glauben doch nicht im Ernst ...?«
»Es ist wie eine Verschwörung«, sagte ich. »Niemand will etwas, das mit Triffids zusammenhängt, glauben. Vielleicht lauern hier noch mehr.«
Wir suchten die nähere Umgebung sorgfältig ab, fanden aber nichts.
»Ich könnte einen Schluck vertragen«, meinte Coker.
Ohne die Staubschicht auf dem Schanktisch hätte die Gaststube ganz normal ausgesehen. Wir schenkten uns jeder einen Whisky ein. Coker kippte den seinen auf einen Zug. Er sah mich sorgenvoll an.
»Das hat mir nicht gefallen. Ganz und gar nicht. Bill, Sie müssen ja Bescheid wissen über die verfluchten Biester. Die kann doch wirklich nur zufällig dort gestanden sein? Ist ja nicht anders möglich, nicht?«
»Ich denke –«, begann ich. Dann stockte ich und horchte auf ein abgehacktes Trommeln draußen. Ich trat ans Fenster, öffnete es und feuerte einen zweiten Schuß auf die gestutzte Triffid ab; diesmal auf den Oberteil des Strunkes. Das Trommeln verstummte.
»Die Schwierigkeit bei den Triffids«, sagte ich, als wir die Gläser nochmals vollschenkten, »liegt vor allem in dem, was wir über sie nicht wissen.« Und ich teilte ihm einige von Walters Theorien mit. Er starrte mich an.
»Sie wollen also im Ernst behaupten, daß die Dinger tatsächlich reden, wenn sie dieses Rattern hören lassen?«
»Ich behaupte gar nichts«, erwiderte ich. »Ich halte es für eine Art Signal; so weit will ich gehen. Aber Walter – und niemand kannte sie besser als er – war überzeugt, daß es sich um ein richtiges Sprechen handelt.«
Ich ließ die leeren Patronenhülsen auswerfen und lud von neuem.
»Und er erwähnte ihre Überlegenheit über Blinde?«
»Es ist Jahre her«, gab ich ihm zu bedenken.
»Bleibt dennoch ein merkwürdiges Zusammentreffen.«
»Voreilig, wie immer«, meinte ich. »Fast jedes Ereignis läßt sich als merkwürdiges Zusammentreffen deuten, wenn man es so deuten will.«
Wir tranken aus und wandten uns zum Gehen, als Coker, nach einem Blick durchs Fenster, mich beim Arm packte und hinauszeigte. Zwei Triffids kamen eben um die Ecke und strebten der Hecke zu, wo die erste gelauert hatte. Ich wartete, bis sie anhielten, und köpfte beide. Dann kletterten wir durch ein Fenster, das außerhalb des Gefahrenbereichs war, und näherten uns vorsichtig den Lastwagen.
»Wieder ein Zufall? Oder wollten sie nachsehen, was mit der ersten passiert war?« fragte Coker.
Wir fuhren, nach Verlassen des Dorfes, auf schmalen Nebenstraßen landein. Ich glaubte, nun mehr Triffids zu sehen als auf unserer früheren Fahrt – oder waren sie mir vorher nur nicht aufgefallen? Möglich, daß wir ihnen auf den Hauptstraßen, die wir bisher benutzt hatten, seltener begegnet waren. Harter Boden sagte ihnen nicht zu, das wußte ich aus Erfahrung. Allmählich aber gewann ich die Überzeugung, daß wir wirklich mehr zu sehen bekamen; auch schien mir, daß sie uns irgendwie spürten; doch war nicht festzustellen, ob die Pflanzen, die wir von Zeit zu Zeit über die Felder heranstelzen sahen, diese Richtung nicht nur zufällig eingeschlagen hatten.
Entscheidender war ein anderer Zwischenfall. Ich fuhr eine Hecke entlang, als eine auf mich lospeitschte. Zum Glück verfehlte sie ihr Ziel und traf die Windschutzscheibe, wo ihre Spur in feinen Giftspritzern zurückblieb. Ehe sie nochmals zuschlagen konnte, war ich vorüber. Aber ich fuhr nun, ungeachtet der Hitze, mit geschlossenem Fenster.
In letzter Zeit hatte ich an die Triffids nur gedacht, wenn ich ihnen begegnete: im Haus von Josellas Vater, beim Angriff auf meinen Trupp in Hampstead Heath. Andere Sorgen bedrängten mich. Wenn ich mir nun unsere Fahrt ins Gedächtnis rief, die Lage in Tynsham vor Miß Durrants Ankunft und den Zustand der Dörfer, durch die wir gekommen waren, mußte ich mich ernstlich fragen, welchen Anteil die Triffids am Verschwinden der Einwohner haben mochten.
Ich verlangsamte im nächsten Dorf das Tempo, um mich aufmerksam umzusehen. In mehreren Vorgärten lagen Leichen, wohl schon seit Tagen – und fast immer erspähte ich eine Triffid in der Nähe. Triffids lauerten allem Anschein nach nur dort, wo sie während der Wartezeit ihre Wurzeln in weichen Boden eingraben konnten. Selten sah man einen Toten und nie eine Triffid an Stellen, wo sich die Haustore unmittelbar auf die Straße öffneten.
Die Nahrungssuchenden waren also halbwegs in Sicherheit, solange sie auf dem Straßenpflaster blieben, verließen sie es, oder kamen sie an einem Zaun oder einer Gartenmauer vorüber, gerieten sie in den Bereich des Giftstachels. Manche mochten aufgeschrien haben, als sie getroffen wurden, und dann warteten die Zurückgebliebenen mit wachsender Furcht vergeblich auf ihre Heimkehr. Dann trieb der Hunger einen anderen hinaus. Einige hatten Glück und kamen wieder, aber die meisten verirrten sich und wanderten umher, bis sie vor Schwäche oder unter dem Schlag einer Triffid zusammenbrachen.
Vielleicht ahnten die Zurückgebliebenen etwas; hörten, wenn ein Garten in der Nähe war, das Schwirren des Stachels und standen vor der Alternative, im Haus zu verhungern oder das Schicksal der Ausgegangenen zu teilen. Viele blieben wohl dort, wo sie waren, verzehrten die vorhandenen Vorräte und warteten auf Hilfe, die niemals kam. Das mußte die Lage des Mannes im Gasthaus in Steeple Honey gewesen sein. Auch in den übrigen Dörfern, die wir durchfahren hatten, mochten in einzelnen Häusern Gruppen bis jetzt durchgehalten haben; eine Vorstellung, die etwas Peinigendes hatte. Es war dieselbe Frage, der wir in London gegenübergestanden waren – da war wiederum das Gefühl, daß man zur Hilfeleistung verpflichtet war, und die Erkenntnis, daß alles umsonst sein würde.
Die alte Frage: was konnte man tun, auch mit dem besten Willen von der Welt, als das Elend verlängern?
Das Gewissen für eine Weile beschwichtigen, indem man dem Scheitern einer neuen Bemühung zusah.
Ich mußte es mir immer wieder sagen: es war sinnlos, ein Erdbebengebiet zu betreten, solange die Erschütterungen andauerten und die Gebäude zusammenkrachten; die Rettungs- und Aufräumungsarbeiten konnten erst nach der Katastrophe einsetzen.
Aber Vernunftgründe halfen hier nicht viel. Der alte Professor hatte nur allzu recht gehabt: die geistige Umstellung war schwierig ...
Die Triffids waren eine Komplikation von ungeahntem Ausmaß. Es gab natürlich sehr viele Kulturen außer den Plantagen meiner Firma. Man züchtete sie für uns, für private Käufer und für eine Reihe kleinerer Betriebe, die Nebenprodukte verarbeiteten; aus klimatischen Gründen meist im Süden. Doch nach dem, was wir bisher gesehen hatten, mußten sie weit zahlreicher sein, als ich angenommen hatte. Die Vorstellung, daß täglich mehr und mehr das Reifestadi-um erreichten und den gestutzten Exemplaren der Giftstachel nachwuchs, war alles eher als beruhigend...
Da wir nur zwei weitere Haltepausen einschalteten, eine, um zu essen, die andere, um Treibstoff zu tanken, ging es rasch vorwärts; wir erreichten Beaminster um fünf Uhr nachmittags. Wir waren bis zur Stadtmitte gekommen, ohne ein Zeichen gesehen zu haben, das auf die Anwesenheit der Gruppe Beadleys hätte schließen lassen.
Dem ersten Eindruck nach schien der Ort ebenso ausgestorben zu sein wie die übrigen, die wir unterwegs gesehen hatten. Auch die Hauptgeschäftsstraße war, als wir in sie einbogen, leer und verlassen, bis auf zwei Lastautos, die an einer Seite der Fahrbahn parkten. Ich war keine zwanzig Meter weit gefahren, als ein Mann hinter einem der Lastautos hervortrat, das Gewehr auf mich gerichtet. Er feuerte einen Warnungsschuß gerade über meinen Kopf und zielte dann tiefer.
Eine Warnung dieser Art läßt keine Debatte zu. Ich hielt an. Der Mann war groß und blond. Er handhabte sein Gewehr mit Sicherheit. Ohne aus dem Ziel zu gehen, deutete er mit zwei Kopfbewegungen seitwärts, was ich als Aufforderung zum Aussteigen verstand. Meine leeren Hände vorweisend, kletterte ich vom Fahrersitz. Hinter dem parkenden Wagen traten, als ich mich näherte, noch ein Mann und ein Mädchen hervor, während hinter mir Cokers Stimme erscholl:
»Mann, was soll das Gewehr? Ihr steht ja alle in unserem Schußfeld!«
Der Blick des Blonden wandte sich von mir ab und suchte den Anrufenden, ich hätte ihn anspringen können, sagte jedoch nur:
»Er hat recht. Aber keine Sorge: wir sind friedlich.«
Der Mann ließ das Gewehr sinken, ganz überzeugt war er nicht. Coker tauchte hinter seinem Wagen auf, von dem gedeckt er unbemerkt abgestiegen war.
»Was gibt's hier?« fragte er. »Krähen, die einander rupfen wollen?«
»Ihr seid nur zu zweit?« erkundigte sich der andere Mann des Trios.
Coker sah ihn an.
»Nur zu zweit. Was habt ihr erwartet? Eine Volksversammlung?«
Die drei atmeten sichtlich erleichtert auf. Der Blonde erklärte: »Wir hielten euch für eine Bande aus der Stadt. Für Lebensmittelplünderer.«
»Oh«, sagte Coker. »Man sieht, daß ihr in letzter Zeit in keiner Stadt gewesen seid. Die Sorge kann ich euch abnehmen. Die Banden, die es da und dort noch geben mag, tun dasselbe wie ihr. Derzeit zumindest.«
»Ihrer Meinung nach werden sie also nicht kommen?«
»Bin felsenfest überzeugt davon.« Er musterte die drei. »Gehört ihr zur Gruppe Beadley?« fragte er dann.
Die verständnislosen Gesichter waren Antwort genug.
»Schade«, meinte Coker. »Wäre ein Glücksfall für uns gewesen.«
»Wer oder was ist die Gruppe Beadley?« fragte der Blonde. Vom stundenlangen Fahren unter praller Sonne matt und durstig, schlug ich vor, die Diskussion an einem passenderen Ort als mitten auf der Straße abzuhalten. Wir gingen an ihren Wagen vorbei und durch ein Gewirr von Kisten mit Zwieback und Tee, von Speckseiten, Säcken mit Zucker, Blocksalz und ähnlichen Dingen, und machten es uns im nächsten Gasthaus bequem, wo Coker und ich kurz berichteten, was wir getan und erfahren hatten. Dann kam die Reihe an sie.
Die größte Enttäuschung für uns war, daß sie nichts von der Gruppe Beadley wußten. Sie waren nur in einem Dorf gerade über der Grenze von Devon auf ein paar mit Schrotflinten bewaffnete Männer gestoßen, die ihnen geraten hatten, sich dort nicht wieder blicken zu lassen. Vermutlich Ortsansässige, meinten die drei. Nach Cokers Ansicht konnte es sich nur um eine kleine Gruppe handeln.
»Hätten sie zu einer großen gehört, hätten sie weniger Nervosität und mehr Neugier gezeigt«, behauptete er. »Aber wenn die Gruppe Beadley in dieser Gegend ist, muß sie irgendwie zu finden sein.« Er wandte sich an den Blonden: »Wie wäre es, wenn wir mit euch kämen? Wir können unser Teil Arbeit leisten, und sollten wir die Gruppe finden, wäre uns allen gedient.«
Die drei blickten einander fragend an, dann nickten sie.
»Gut«, stimmte der Blonde zu. »Helft uns aufladen, und wir fahren.«
Charcot Old House mußte, seinem Aussehen nach, einmal so etwas wie eine Feste gewesen sein. Nun war es im Begriff, wieder eine Feste zu werden. Der ringsum laufende Wassergrabe war zwar vor Zeiten trockengelegt worden, doch Stephen glaubte, das Abflußsystem derart zerstört zu haben, daß der Graben allmählich wieder vollaufen mußte. Die verlandeten Stücke wollte er sprengen, um die frühere Unzu-gänglichkeit herzustellen. Unsere Erklärung, daß dies unnötig war, enttäuschte ihn sichtlich. Das Haus hatte dicke Steinmauern. Wenigstens drei Fenster der Front waren mit Maschinengewehren bestückt, er deutete auf zwei weitere, die auf dem Dach montiert waren. Die Haupteinfahrt beherbergte ein kleines Arsenal von Mörsern und Bomben, darunter, wie er uns stolz zeigte, auch einige Flammenwerfer.
»Wir haben ein Waffenlager aufgestöbert«, erklärte er, »und einen Tag dazu verwendet, die Sachen heranzuschaffen.«
Angesichts dieses gestapelten Kriegsmaterials erkannte ich zum ersten Male, was uns erspart worden war. Wäre die Katastrophe weniger total gewesen und wären zehn oder fünfzehn Prozent der Bevölkerung verschont geblieben, hätten sich Kämpfe kaum vermeiden lassen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge waren Stephens Kriegsvorbereitungen wahrscheinlich überflüssig. Für eine Waffe aber gab es eine Verwendungsmöglichkeit. Ich deutete auf die Flammenwerfer. »Gut gegen Triffids«, sagte ich.
Er grinste.
»Da muß ich Ihnen recht geben. Äußerst wirksam.
Haben uns davon überzeugt. Die einzige Sache, wovor eine Triffid todsicher Reißaus nimmt. Man kann sie in Fetzen schießen, ohne daß sie sich vom Fleck rühren. Wahrscheinlich wissen sie nicht, woher die Schüsse kommen. Aber ein warmer Spritzer aus den Dingern hier, und sie hauen ab, wie vom Teufel gejagt.«
»Haben sie euch viel zu schaffen gemacht?« fragte ich.
War anscheinend nicht der Fall gewesen. Gelegentlich waren zwei oder drei in die Nähe gekommen und mittels der Flammenwerfer vertrieben worden.
Die Begegnungen, die sie auf ihren Ausfahrten hatten, waren glücklich verlaufen; auch hatten sie ihre Fahrzeuge gewöhnlich nur in besiedeltem Gebiet verlassen, wohin sich Triffids selten verirrten.
An diesem Abend stiegen wir alle nach Einbruch der Dunkelheit auf das Dach des Hauses. Es war vor Mondaufgang. Vollkommen schwarz lag das Land unter uns. Nicht das schwächste Lichtpünktchen war zu erblicken. Auch hatte niemand von den Anwesenden jemals bei Tag ein Rauchwölkchen gesehen. Wir gingen wieder in den lampenerhellten Wohnraum hinunter; ich war in gedrückter Stimmung.
»Da bleibt uns nur eines übrig«, sagte Coker. »Wir müssen die Gegend planmäßig durchkämmen.«
Sein Ton war nicht zuversichtlich. Ich nahm an, daß er so wie ich der Meinung war, die Gruppe Beadley würde bei Nacht ein Licht und bei Tag ein anderes Signal zeigen, etwa eine Rauchsäule aufsteigen lassen.
Da niemand einen besseren Vorschlag zu machen hatte, gingen wir daran, an Hand einer Straßenkarte unsere Routen festzulegen, wobei wir uns bemühten, daß es auf jeder einen hochgelegenen Punkt gab, der weiten Ausblick gewährte.
Am folgenden Tag fuhren wir in einem Lastauto in die Stadt, und von da in einem kleineren Wagen auf unsere Suche.
Das war unzweifelhaft der traurigste Tag, seit ich in Westminster nach den Spuren Josellas gesucht hatte.
Der Anfang ließ sich nicht einmal so schlimm an.
Vor mir lag die Straße im Sonnenlicht und die grüne frühsommerliche Landschaft. Noch immer wiesen die Straßentafeln nach ›Exeter and The West‹ und anderen Gegenden, als sei nichts geschehen. Manchmal, wenn auch selten, waren Vögel zu sehen. Und am Straßenrand blühten die Wiesenblumen, wie sie immer geblüht hatten.
Aber das war nur die eine Seite des Bildes. Da waren Felder, wo verendetes Vieh lag oder erblindetes umherirrte und ungewartete Kühe brüllten; wo Schafe, die sich im Dorngestrüpp oder im Stacheldraht verfangen hatten, mutlos und ergeben das Ende erwarteten, während andere verloren grasten oder hungernd umherlagen, mit einem Blick des Vorwurfs in ihren erloschenen Augen.
Gehöfte waren ungute Orte geworden, denen man sich nicht gern näherte. Ich hatte das Wagenfenster aus Sicherheitsgründen ohnedies nur einen zollbreiten Spalt weit offen, aber ich schloß es ganz, sobald ich vor mir ein Bauernhaus neben der Straße auftauchen sah.
Allenthalben waren Triffids zu sehen. Querfeldein stelzend oder reglos in den Hecken lauernd. In mehr als einem Bauernhof hatten sie sich auf dem Dünger-haufen einquartiert und warteten dort, bis die Tierkadaver den nötigen Fäulnisgrad erreichten. Ich empfand nun einen Abscheu vor ihnen wie nie zuvor ...
Widerwärtige fremdartige Gewächse, von einigen von uns geschaffen und von unserer Habgier über die ganze Erde verbreitet. Man konnte sie nicht einmal echte Produkte der Natur nennen; sie waren Züchtungsergebnisse wie gewisse Blumen und Hundearten ... Ich verabscheute sie nun nicht nur wegen ihrer Aasfresserei, sondern mehr noch als die Nutznießer des Unheils, das über uns hereingebrochen war. – Je weiter der Tag; fortschritt, um so mehr vertiefte sich in mir das Gefühl der Verlassenheit. Auf jeder Erhöhung oder Bodenwelle hielt ich an und suchte mit dem Fernglas die Gegend ab. Einmal sah ich Rauch aufsteigen; als ich die Stelle erreichte, fand ich einen auf freier Strecke ausgebrannten Zug – mir bis heute unerklärlich, denn es war niemand in der Nähe. Ein andermal eilte ich in ein Haus, von dem eine Flagge wehte: ich fand es still – doch nicht leer. Dann wieder sah ich auf einer fernen Berglehne etwas Weißes flattern; das Glas zeigte, daß es ein halbes Dutzend Schafe waren, von panischer Angst im Kreis gejagt, während eine Triffid unablässig und erfolglos auf ihre wolligen Rücken lospeitschte. Und nirgends die Spur eines lebenden menschlichen Wesens. In den Haltepausen aß ich hastig, die lastende Stille bedrückte mich, und ich war froh, daß mir beim Fahren wenigstens die Motorengeräusche Gesellschaft leisteten.
Und dann begann die Einbildung ihr Spiel. Einmal glaubte ich, jemand aus einem Fenster winken zu sehen, beim Näherkommen stellte sich heraus, daß es ein vor dem Fenster schwankender Zweig war. Mitten in einem Feld sah ich einen Mann stehenbleiben und sich nach mir umdrehen; das Glas zeigte mir, daß er weder stehengeblieben war, noch sich umgedreht haben konnte: es war eine Vogelscheuche.
Dann vernahm ich Stimmen, die mich anriefen und das Motorengeräusch übertönten; ich hielt an und schaltete aus. Die Stimmen schwiegen; nichts war zu hören als die von weither kommenden Klagelaute einer ungemolkenen Kuh.
Ich stellte mir vor, daß es im Land verstreut Menschen geben mochte, die glaubten, daß sie vollkommen allein und die letzten Überlebenden waren. Sie schienen mir zu den bedauernswertesten Opfern der Katastrophe zu gehören.
Mit wenig Hoffnung setzte ich während des Nachmittags meine Kreuz- und Querfahrten durch den mir zugewiesenen Abschnitt fort, um meine innere Gewißheit bestätigt zu finden. Zuletzt war ich überzeugt, wenn es hier eine größere Gruppe gab, verbarg sie sich vorsätzlich. Ich hatte zwar nicht jede Nebenstraße befahren können, aber meine lautstarke Hupe war überall in meinem Sektor zu hören gewesen: das konnte ich beschwören. Ich machte endlich Schluß und fuhr zu unserem Parkplatz zurück. In der düstersten Stimmung meines Lebens. Da noch keiner von den anderen da war, suchte ich das nächste Wirtshaus auf, um mir mit einem kräftigen Schluck Brandy die innere Kälte zu vertreiben.
Dann traf Stephen ein. Die Fahrt schien auf ihn ähnlich wie auf mich gewirkt zu haben, denn auf meinen fragenden Blick schüttelte er nur den Kopf und griff nach der Flasche, die ich geöffnet hatte.
Zehn Minuten später gesellte sich der Radiohändler zu uns. Er brachte einen verwahrlosten, wirr blickenden, jungen Mann mit, der sich offenbar seit Wochen weder gewaschen noch rasiert hatte und auf der Straße zu Hause war. Dieser Walzbruder hatte eines Abends, an das Datum erinnerte er sich nicht mehr, sein Nachtquartier in einer komfortablen Scheune aufgeschlagen und war, da er einen langen Marsch hinter sich hatte, sofort eingeschlafen. Am nächsten Morgen war alles wie ein Alptraum gewesen, und auch jetzt wußte er nicht recht, ob er verrückt war oder die Welt. Einen kleinen Dachschaden hatte er jedenfalls, aber wozu Bier gut war, war ihm noch klar.
Eine halbe Stunde später erschien Coker. Mit einem jungen Wolfshund und einer unwahrscheinlich alten Dame. Sie blieb höflich an der Schwelle stehen, während Coker sie vorstellte.
»Darf ich euch mit Mrs. Forcett bekannt machen, Alleininhaberin des Kaufhauses von Chippington Durney, ein Ort mit zehn Häusern, zwei Wirtshäusern und einer Kirche. Und Mrs. Forcett kann kochen. Junge, kann sie kochen!«
Mrs. Forcett grüßte mit Würde, trat mit Anstand ein, nahm langsam Platz und ließ sich ein Glas Portwein aufnötigen und dann ein zweites.
Auf unsere Frage bekannte sie, daß sie an dem verhängnisvollen Abend und in der folgenden Nacht ungewöhnlich fest und tief eingeschlafen war. Da niemand gekommen war, sie zu wecken, hatte sie noch den nächsten halben Tag verschlafen. Als sie dann aufstand und zur Tür ging, hatte sie im Garten eins dieser abscheulichen Triffiddinger gesehen und einen Mann, der knapp vor dem Eingang lag. Sie war im Begriff, zu ihm hinauszugehen, als die Triffid sich regte; sie hatte die Tür gerade noch zuschlagen können.
Und dann hatte sie gewartet, daß jemand kommen werde, um sowohl die Triffid wie den Mann fortzuschaffen. Und das hatte erstaunlich lange gedauert, zum Glück fand sie alles, was sie brauchte, in ihrem Laden. Sie hatte noch immer gewartet, erklärte sie, als Coker, durch den aus dem Schornstein aufsteigenden Rauch aufmerksam geworden, die Triffid mit einem Schuß geköpft und dann Nachschau gehalten hatte.
Sie hatte ihn bewirtet, und er hatte ihr als Entgelt seinen Rat gegeben. Es war nicht leicht gewesen, ihr die Lage klarzumachen. Er hatte ihr zuletzt empfohlen, sich im Dorf umzusehen, aber vor Triffids in acht zu nehmen, er werde um fünf nochmals vorüberkommen und sich Bescheid holen. Bei seiner Rückkehr hatte er sie in Reisekleidern und mit ihrem Gepäck abmarschbereit gefunden.
In Charcot Old House versammelten wir uns an diesem Abend wiederum vor dem Kartentisch. Coker begann, neue Abschnitte für die Suche einzuzeichnen.
Wir schauten ihm zu. Ohne Begeisterung. Da sagte Stephen, was wir alle dachten, ich glaube, auch Coker selbst:
»Fünfzehn Meilen in der Runde haben wir nun das ganze Gebiet durchsucht. In der näheren Umgebung sind sie nicht, das ist klar. Entweder seid ihr falsch informiert oder sie sind von hier weitergefahren. Meiner Meinung nach wäre es Zeitverschwendung, so wie heute weiterzusuchen.«
Coker legte den Zirkel, den er benützt hatte, nieder.
»Haben Sie einen anderen Vorschlag?«
»Ich glaube, wir könnten dieses Gebiet weit schneller und nicht weniger gründlich aus der Luft absuchen. Ich wette, jeder, der ein Flugzeug hört, wird ins Freie kommen und ein Zeichen geben.«
Coker schüttelte den Kopf. »Daran hätten wir schon früher denken können. Es müßte natürlich ein Hubschrauber sein – aber wo nehmen wir einen her, und wer soll ihn fliegen?«
»Oh, das getraue ich mir schon zu machen«, sagte der Radiomann zuversichtlich.
»Haben Sie schon einmal einen geflogen?« fragte Coker.
»Noch nicht«, gestand der Radiomann, »aber ich glaube, es wird keine Hexerei sein, wenn man den Kniff heraus hat.«
»Hm«, brummte Coker und sah ihn etwas von der Seite an. Stephen entsann sich, daß die R.A.F. hier in der Nähe zwei Flugplätze hatte und daß von Yeovil aus Rundflüge veranstaltet worden waren.
Unser Mißtrauen erwies sich als unberechtigt. Der Radiomann hielt Wort. Er konnte sich anscheinend auf seinen Instinkt für technische Dinge verlassen.
Nachdem er eine halbe Stunde lang geübt hatte, stieg er mit dem Hubschrauber auf und flog ihn nach Charcot zurück.
Vier Tage hintereinander zog die Maschine immer weitere Kreise über dem Land. Zwei Tage war Coker Beobachter, die anderen zwei ich. Wir entdeckten insgesamt zehn Gruppen. Keine wußte etwas von Beadley, in keiner traf ich Josella. Sobald wir eine solche Gruppe auffanden, landeten wir. Gewöhnlich waren es nur zwei, drei Personen. Die größte bestand aus sieben. Empfangen wurden wir mit hoffnungsvoller Erregung, doch sobald sich zeigte, daß wir nur die Repräsentanten einer weiteren kleinen Gruppe waren und nicht das Vorkommando eines Unternehmens im großen Stil, flaute das Interesse rasch ab.
Wir konnten ihnen wenig bieten, was sie nicht schon hatten. Einige machten ihrer Enttäuschung in sinnlosen Beschimpfungen und Drohungen Luft, die meisten sanken zurück in ihre Verzagtheit. Sie hatten, in der Regel, wenig Lust, sich an andere Gruppen anzu-schließen, und waren eher geneigt, möglichst bequeme Zufluchtstätten für sich einzurichten, um da die Ankunft der Amerikaner abzuwarten, die ja einmal kommen mußten. Das war ein weitverbreiteter und, wie es schien, unausrottbarer Glaube. Unser Einwand, die überlebenden Amerikaner würden bei sich daheim alle Hände voll zu tun haben, wurde als De-faitismus und Miesmacherei abgetan. Den Amerikanern, erklärte man uns, könne so etwas einfach nicht passieren. Wir ließen dennoch bei jeder Gruppe eine Karte zurück, wo die Positionen der übrigen von uns entdeckten Gruppen eingezeichnet waren, für den Fall, daß sie anderen Sinnes würden und gemeinsam etwas unternehmen wollten.
An sich waren die Flüge alles eher als eine Unterhaltung, den einsamen Autofahrten über Land aber immerhin vorzuziehen. Als auch der vierte Tag kein Ergebnis brachte, wurde beschlossen, die Suche einzustellen.
Zumindest beschlossen das die anderen. Bei mir lagen die Dinge anders. Ich hatte hier persönliche Motive, sie nicht. Für sie waren die Gesuchten Fremde, für mich war die Gruppe Beadley Mittel, nicht Zweck. Ich war, falls ich Josella dort nicht fand, entschlossen, weiterzusuchen. Das konnte ich von den anderen nicht verlangen.
Seltsam. Bisher hatte ich niemand getroffen, der irgendwen suchte. Alle, Stephen und seine Freundin ausgenommen, waren von Freunden und Verwandten und dem, was sie mit der Vergangenheit verband, losgerissen und im Begriff, ein neues Leben mit fremden Menschen zu beginnen. Nur ich, soviel ich sehen konnte, hatte sogleich eine neue Verbindung angeknüpft – und in so kurzer Zeit, daß mir gar nicht bewußt geworden war, wieviel sie für mich bedeutete ...
Nachdem der Beschluß, die Suche aufzugeben, feststand, sagte Coker:
»Gut. Und nun fragt sich, was wir für uns selber tun wollen.«
»Vorräte sammeln für den Winter und leben wie bisher. Was sollten wir sonst tun?« fragte Stephen.
»Ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen lassen«, erklärte Coker. »Möglich, daß wir noch eine Weile so leben können – aber was dann?«
»Falls uns die Vorräte einmal ausgehen sollten, liegen ja noch massenhaft Sachen herum«, meinte der Radiomann.
»Und die Amerikaner werden ja vor Weihnachten da sein«, bemerkte Stephens Freundin.
»Lassen wir die Amerikaner eine Zeitlang aus dem Spiel«, empfahl ihr Coker. »Versuchen Sie, sich eine Welt vorzustellen, in der es keine Amerikaner gibt.«
Das Mädel starrte ihn an.
»Aber es muß sie doch geben«, entgegnete sie.
Coker seufzte schwer. Dann wandte er sich zu dem Radiomann.
»Diese Vorräte werden nicht immer da sein. Wie ich die Dinge sehe, haben wir nur einen günstigen Start in einer neuen Welt. Kapital für den Anfang, nicht für ewig. Gewiß, wir können das, was da ist, nicht aufessen, auch nicht in Generationen – wenn es haltbar wäre. Es ist aber nicht haltbar. Eine Menge davon wird schnell schlecht. Schon jetzt. Und nicht bloß Lebensmittel. Langsam und sicher geht alles zugrunde. Wenn wir nächstes Jahr etwas Frisches haben wollen, müssen wir selber anbauen, und die Zeit wird kommen, wenn es auch noch so lang dauern mag, wo wir alles selber anbauen müssen. Ja, es wird eine Zeit kommen, wo alle Traktoren Alteisen sind, der Treibstoff ohnedies aus ist und wir zu den Pferden zurückkehren – falls noch welche da sind.
Was wir jetzt erleben, ist eine Pause – eine gottgeschenkte Pause –, während der wir über den ersten Schock hinwegkommen und uns sammeln können, aber es ist nur eine Pause. Später werden wir pflügen müssen, noch später lernen, wie man Pflugscharen macht, und noch später, wie man das Eisen für diese Pflugscharen gewinnt. Wir sind nun auf einer Straße, die uns weiter und weiter zurückführt, immer weiter zurück, bis wir wieder imstande sind, alles herzustellen, was wir verbrauchen. Erst wenn wir so weit sind, können wir auf diesem Rückzug in die Urzeit haltmachen und vielleicht wieder langsam aufwärtskriechen.«
Er blickte im Kreis umher, um zu sehen, ob wir ihm folgten. »Wir können es – wenn wir wollen. Das Wertvollste bei unserem jetzigen Start ist Wissen. Es ist der Vorsprung, den wir vor unseren Vorfahren voraushaben. Wir haben alles in den Büchern stehen und brauchen es nur nachzulesen.«
Alle sahen Coker neugierig an. Von seiner oratori-schen Seite kannten sie ihn noch nicht.
»Nun«, fuhr er fort, »soviel ich aus der Geschichte lernen konnte, braucht man für das Wissen Muße.
Wo jeder gezwungen ist, für seinen Lebensunterhalt schwer zu arbeiten, und für das Denken keine Muße bleibt, versumpft das Wissen und der Mensch mit ihm. Das Denken ist hauptsächlich das Geschäft von Leuten, die nicht unmittelbar produktiv sind – von Leuten, die scheinbar von der Arbeit anderer leben, tatsächlich aber langfristig angelegtes Kapital sind.
Wissen ist in den Städten und in großen Organisatio-nen entstanden, die von den Arbeitenden erhalten werden mußten. Stimmt ihr dem bei?«
Stephen furchte die Brauen.
»Mehr oder weniger – ich sehe nur nicht, wo das alles hinaus soll?«
»Es geht um das Wirtschaftsvolumen. Eine kleine Gemeinschaft wie die unsere wird nur dahinvegetie-ren und langsam absterben. Bleiben wir hier unser zehn – so wie wir sind – beisammen, ist ein allmählicher Verfall das unvermeidliche Ende. Werden uns Kinder geboren, können wir uns von der Arbeitszeit nur so viel abknappen, um ihnen die notdürftigste Erziehung zu geben; schon die nächste Generation wird aus Wilden bestehen, oder aus Klötzen. Wenn wir uns behaupten und das in, den Bibliotheken angesammelte Wissen nutzen wollen, brauchen wir den Lehrer, den Arzt und den Anführer, und müssen imstande sein, sie zu erhalten, während sie uns helfen.«
»Und?« sagte Stephen nach einer Pause.
»Ich habe an das Schloß in Tynsham gedacht, wo Bill und ich auf Besuch waren. Wir haben euch davon erzählt. Die Frau, die dort das Ganze zu leiten versucht, braucht Hilfe, und zwar dringend. Sie hat für fünfzig oder sechzig Leute zu sorgen, von denen etwa ein Dutzend sehen können. So wie es jetzt dort steht, kann sie es nicht schaffen. Das weiß sie selbst, wenn sie es auch uns gegenüber nicht zugeben wollte.
Wollte sich nichts vergeben und hat uns deshalb nicht zum Bleiben eingeladen. Wäre aber heilfroh, wenn wir zurückkämen und uns aufnehmen ließen.«
»Herrgott«, sagte ich. »Sie wird uns doch nicht absichtlich auf eine falsche Fährte geschickt haben?«
»Weiß ich nicht. Vielleicht tue ich ihr unrecht; merkwürdig ist es jedenfalls, daß wir hier rein gar nichts von Beadley & Co. gesehen und gehört haben, nicht? Sei dem wie immer, es kommt nun auf dasselbe heraus: denn ich habe mich entschlossen, zurück-zugehen. Und zwar vor allem aus zwei Gründen.
Einmal deshalb, weil es dort, wenn niemand die Sache fest in die Hand nimmt, zu einem Zusammenbruch kommt, was ein Jammer und eine Schande wäre für alle. Und dann sind die Bedingungen dort günstiger als hier. Es ist eine Bauernwirtschaft dabei, die sich leicht in Ordnung bringen läßt; die ganze Anlage ist abgeschlossen, kann aber nötigenfalls erweitert werden. Hier gäbe das alles viel mehr Arbeit.
Und was noch wichtiger ist, das ganze ist groß genug, daß Zeit bleibt für Schulung – Schulung sowohl der Blinden, die jetzt dort sind, wie der sehfähigen Kinder, die später geboren werden. Ich glaube, daß dort etwas getan werden kann, und will daher mein Bestes tun – und wenn es der hochmütigen Miß Durrant nicht paßt, kann sie von mir aus ins Wasser springen.
Der entscheidende Punkt ist nun der. Ich glaube, ich könnte es schaffen – so wie es jetzt dort steht –, aber ich weiß, wenn wir alle hinübergingen, können wir es in ein paar Wochen schaffen. Wir wären dann in einer Gemeinschaft, die weiterwächst und verdammt gute Aussicht hat, sich zu behaupten. Die Alternative ist: innerhalb einer kleinen Gruppe bleiben, die mit der Zeit immer kleiner wird und verlassener.
Wofür wollt ihr euch entscheiden?«
Man debattierte etwas und erkundigte sich nach Einzelheiten, aber die Entscheidung war nicht zweifelhaft. Die mit uns auf der Suche gewesen waren, hatten einen Begriff bekommen von der schrecklichen Verlassenheit, der man anheimfallen konnte. Niemand hatte eine besondere Vorliebe für den gegenwärtigen Aufenthaltsort. Er war einzig und allein wegen seiner Verteidigungsmöglichkeiten gewählt worden und wies sonst keinerlei Vorzüge auf. Und die meisten glaubten, die immer drückender werdende Last der Einsamkeit schon jetzt zu spüren, so daß der Gedanke an eine zahl- und abwechslungsrei-chere Gesellschaft bereits an sich als Lockung wirkte.
Nach einer Stunde wurde über Transportfragen und Einzelheiten des Umzugs diskutiert, womit Cokers Vorschlag so gut wie angenommen war. Nur Stephens Freundin hatte Bedenken. »Dieses Tynsham – es ist auf den meisten Karten wohl gar nicht eingezeichnet?« fragte sie mißtrauisch.
»Keine Sorge«, beruhigte sie Coker. »Die Amerikaner haben Spezialkarten.«
Irgendwann in den Morgenstunden des folgenden Tages entschied ich mich dafür, nicht mit den anderen nach Tynsham zu fahren. Später vielleicht, doch nicht jetzt ...
Zuerst hatte ich sie begleiten wollen, und sei es nur, um aus Miß Durrant herauszukriegen, wohin sich die Gruppe Beadley tatsächlich gewendet hatte. Aber dann mußte ich mir wieder sagen, daß ich gar nicht wußte, ob Josella bei ihnen war – ja, daß alles, was ich bisher erfahren hatte, dagegen sprach. Sie war nicht durch Tynsham gekommen, das stand wohl fest.
Wenn sie die Gruppe nicht gesucht hatte, wohin konnte sie gefahren sein? Oder gab es im Universitätsgebäude eine zweite Adresse, die ich übersehen hatte? Höchst unwahrscheinlich ...
Und da durchzuckte es mich mit Blitzeshelle, und ich erinnerte mich an unser Gespräch in der geka-perten Wohnung. Ich sah Josella wieder vor mir sitzen im blauen Abendkleid und die Diamanten im Licht der Kerzen auffunkeln, während wir sprachen
... »In den Sussex Downs vielleicht? – Ich kenne an der Nordseite ein nettes altes Bauernhaus ...« Und da wußte ich, was ich zu tun hatte ...
Ich sprach darüber am Morgen mit Coker. Er war verständnisvoll, aber offensichtlich bestrebt, meine Hoffnungen nicht übermäßig zu steigern.
»Okay. Halten Sie das, wie es Ihnen am besten scheint«, meinte er. »Ich hoffe nur – nun, Sie wissen ja, wo wir sind, und ihr könnt beide nach Tynsham nachkommen und mithelfen, das Weib dort zur Vernunft zu bringen.«
An diesem Morgen schlug das Wetter um, und als ich in meinen alten Lkw kletterte, regnete es in Strömen. Dennoch war ich froh und voll Hoffnung; auch wenn es noch zehnmal stärker gegossen hätte, wäre das ohne Einfluß auf meine Stimmung und meinen Plan geblieben. Coker kam heraus, um sich zu verab-schieden. Ich wußte, warum er darauf Wert legte; obwohl er es nie erwähnt hatte, spürte ich, daß ihn die Erinnerung an seinen ersten unbesonnenen Plan und dessen Folgen beunruhigte. Nun stand er mit nassen Haarsträhnen neben dem Wagenschlag, das Wasser lief ihm am Hals herunter, und hob die Hand.
»Immer mit der Ruhe, Bill. Bedenken Sie, daß es heutzutage keine Krankenwagen gibt und daß es ihr lieber sein wird, wenn Sie heil und ganz ankommen.
Viel Glück – und entschuldigen Sie mich bei der Da-me, wenn Sie sie treffen.«
Der Ton war weniger zuversichtlich als die Worte.
Ich wünschte ihnen in Tynsham Glück. Dann schaltete ich den; Motor ein und fuhr durch den aufspritzenden Kot den Fahrweg hinunter.
Die Fahrt begann mit einigen kleineren Mißhelligkeiten. Zuerst hatte ich Wasser im Vergaser. Dann verfuhr ich mich ein Dutzend Meilen, und ehe das vollkommen bereinigt war, hatte ich auf einer einsamen kahlen Hochstraße einen Defekt in der Zündung. Diese Widerwärtigkeiten und vielleicht auch eine natürliche seelische Reaktion trugen viel dazu bei, die hoffnungsvolle Stimmung, in der ich ausgefahren war, zu verdüstern. Als ich den Defekt behoben hatte, war es ein Uhr, und der Tag hatte sich aufgehellt.
Die Sonne kam heraus. Obwohl alles nun vor Frische funkelte und die nächsten zwanzig Meilen reibungslos verliefen, vermochte ich einer wachsenden Niedergeschlagenheit nicht Herr zu werden. Ich konnte mich jetzt, wo ich ganz auf mich allein gestellt war, des Gefühls der Verlassenheit nicht erwehren. Es überfiel mich wie an dem Tag, als wir uns verteilt hatten, um Michael Beadley zu suchen – nur diesmal mit doppelter Gewalt ... Bis dahin war Einsamkeit etwas Negatives für mich gewesen – zeitweise Abwesenheit menschlicher Gesellschaft, nicht mehr. An diesem Tag hatte ich erfahren, daß sie weit mehr war.
Daß sie lasten und bedrücken konnte, Zerrbilder schaffen und die Erkenntnisfähigkeit des Geistes verringern. Daß sie etwas Feindliches war, das ringsum lauerte, die Nerven in schreckhafter Spannung hielt und einen nie vergessen ließ, daß niemand da war, der raten und helfen konnte. Sie machte einem klar, daß man nichts weiter war als ein Pünktchen im Ungeheuren, und sie wartete die ganze Zeit auf die Gelegenheit, ihre Schrecken loszulassen – und das mußte man verhindern ...
Mehr als zuvor mußte ich meine ganze Widerstandskraft aufbieten, um nicht umzukehren. Hätte mich nicht die Hoffnung aufrechtgehalten, am Ziel meiner Fahrt Menschen zu finden, ich wäre zu Coker und den anderen zurückgefahren.
Die Bilder, die ich unterwegs sah, hatten damit wenig oder nichts zu tun. So gräßlich einige davon waren, ich war nun abgehärtet. Der Schrecken hatte sich daraus verflüchtigt, so wie das Grauen, das große Schlachtfelder umwittert, zur Geschichte verblaßt.
Auch waren diese Dinge für mich nicht mehr Teil einer gewaltigen und erschütternden Tragödie. Mein Kampf war ein rein persönlicher gegen die Instinkte meiner Gattung. Es war ein unausgesetzter Verteidi-gungskampf ohne Aussicht auf einen endgültigen Sieg. Ich wußte im Grund meines Herzens, daß ich allein nicht lange standhalten konnte.
Um mich abzulenken, fuhr ich schneller als gut war. In einem vergessenen Städtchen rammte ich, als ich um eine Ecke bog, einen Lastwagen, der die ganze Straße blockierte. Zum Glück bekam mein eigener widerstandsfähiger Wagen nur ein paar Kratzer ab, doch die beiden Fahrzeuge hatten sich auf eine so unwahrscheinlich teuflische Art ineinander verkeilt, daß es für mich allein und auf dem beschränkten Raum ein ungemein mühevolles Geschäft war, sie wieder auseinanderzubringen. Es nahm eine volle Stunde in Anspruch, hatte aber das Gute, daß ich meine Aufmerksamkeit praktischen Dingen zuwenden mußte.
Danach verlangsamte ich das Tempo, ausgenommen ein paar Minuten nach meiner Einfahrt in den New Forest. Ich erspähte nämlich über den Baumwipfeln einen Hubschrauber in geringer Höhe. Ein Stück voraus mußte er meine Route kreuzen. Leider standen hier die Bäume an beiden Seiten der Straße besonders dicht, so daß diese von oben wohl kaum zu sehen war. Ich legte los, aber als ich offenes Gelände erreichte, war die Maschine nur mehr ein Punkt, der sich nach Norden entfernte. Dennoch wirkte selbst diese Begegnung tröstlich auf mich.
Etwas später kam ich durch ein malerisch im Grün liegendes Dörfchen, das mit seinen Stroh- und Ziegeldächern und seinen blühenden Gärten wie aus einem Bilderbuch genommen aussah. Ich hütete mich allerdings, zu nahe an den Gärten vorüberzufahren; denn allzu oft sah ich aus den Blumen die fremdartige Gestalt einer Triffid emporragen. Ich war fast schon am Ortsende, als aus einer der letzten Gartentüren ein Kind auf die Straße sprang und, mit beiden Händen winkend, mir entgegenlief. Ich hielt an, spähte, nun beinahe schon instinktiv, nach Triffids aus, ergriff meine Flinte und stieg aus.
Das Kind hatte ein Kleid aus blauem Baumwoll-zeug an, weiße Socken und Sandalen und war etwa neun oder zehn Jahre alt. Ein hübsches kleines Mädchen – das konnte ich sehen, obwohl das dunkelbraune lockige Haar wirr und ungepflegt um das tränenverschmierte Gesichtchen hing. Sie zog mich am Ärmel.
»Bitte, bitte«, sagte sie aufgeregt, »bitte, kommen Sie und schauen Sie, was mit Tommy geschehen ist.«
Ich starrte auf sie hinunter. Die furchtbare Einsamkeit dieses Tages löste sich, sie zerbrach wie ein Ge-häuse, in das ich mich eingeschlossen hatte. Am liebsten hätte ich die Kleine aufgehoben und an meine Brust gedrückt. Ich fühlte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Sie faßte die Hand, die ich ihr hinhielt.
So gingen wir zur Gartentür zurück, durch die sie gekommen war.
»Dort ist Tommy«, sagte sie und deutete auf eine Stelle.
Zwischen den Blumenbeeten lag auf einem schmalen Rasenstück ein kleiner, etwa vierjähriger Knabe. Auf den ersten Blick war klar, warum er dort lag.
»Das Ding dort hat ihn geschlagen«, erzählte das Mädchen. »Es hat auf ihn losgeschlagen, und er ist hingefallen. Und auf mich hat es auch schlagen wollen, wie ich Tommy zu Hilfe kommen wollte. Das garstige Ding!«
Ich blickte auf und gewahrte jenseits des Garten-zauns eine Triffid.
»Halte dir die Ohren zu. Es wird knallen«, sagte ich.
Die Kleine gehorchte, und ich köpfte die Triffid mit einem Schuß.
»Das Ding dort hat ihn geschlagen«, wiederholte das Mädchen. Ich war im Begriff, das zu bejahen, als die verstümmelte Pflanze zu trommeln begann wie die, der ich in Steeple Honey den Garaus gemacht hatte. Und wie damals brachte ich sie mit einem zweiten Schuß zum Schweigen.
»Ja«, sagte ich. »Jetzt ist sie tot.«
Wir traten zu dem Knaben. Die scharlachrote Strieme war auf dem blassen Gesicht deutlich sichtbar. Er mußte den Stich vor ein paar Stunden erhalten haben. Das Mädchen kniete an seiner Seite nieder.
»Da ist nichts mehr zu tun«, sagte ich leise.
Sie blickte auf, die Augen aufs neue voller Tränen.
»Ist Tommy auch tot?«
Ich hockte neben ihr nieder und schüttelte den Kopf.
»Ja, leider.«
Nach einer Weile sagte sie:
»Armer Tommy! Wollen wir ihn begraben – wie die kleinen Hündchen?«
»Ja, das wollen wir«, antwortete ich.
In dieser ganzen unfaßbaren Katastrophe war es das einzige Grab, das ich schaufelte – und es war ein sehr kleines. Das Mädchen sammelte Blumen zu einem Strauß, den sie auf den Hügel legte. Dann fuhren wir fort.
Sie hieß Susan. Vor langer Zeit, so schien ihr, war mit Vater und Mutter etwas geschehen, so daß sie nicht sehen konnten. Der Vater war ausgegangen, um Hilfe zu holen, und nicht zurückgekommen. Später ging die Mutter aus, nachdem sie den Kindern eingeschärft hatte, das Haus nicht zu verlassen. Sie war weinend zurückgekommen. Am nächsten Tag ging sie wieder aus: diesmal kam sie nicht zurück. Die Kinder hatten gegessen, was sie finden konnten, dann wurden sie hungrig. Der Hunger wurde zuletzt so groß, daß Susan ungehorsam wurde und bei Mrs. Walton im Laden Hilfe suchte. Der Laden war offen, aber Mrs. Walton war nicht da. Da auf Susans Rufen niemand kam, hatte sie beschlossen, ein paar Kuchen und Süßigkeiten und etwas Backwerk zu nehmen und es Mrs. Walton später zu sagen.
Auf dem Rückweg hatte sie ein paar von den ›Dingern‹ gesehen. Eines davon hatte auf sie losgeschlagen, aber zu hoch, so daß der Stachel über ihren Kopf schwirrte. Das erschreckte sie, und sie lief den Rest des Weges. Von nun an hatte sie sich vor den ›Dingern‹ sehr in acht genommen und bei weiteren Expeditionen auch Tommy zur Vorsicht ermahnt. Aber Tommy war so klein, er hatte die im Nachbargarten lauernde Triffid nicht bemerkt, als er am Morgen zum Spielen hinausgelaufen war. Susan hatte mehrmals versucht, zu ihm zu gelangen, war aber immer wieder zurückgewichen, wenn sie den Kopf der Triffid erzittern sah ...
Ungefähr eine Stunde später fand ich es an der Zeit, ein Nachtquartier zu suchen. Ich ließ das Kind im Wagen zurück und besichtigte ein, zwei Bauernhäuser, ehe ich meine Wahl traf; und dann bereiteten wir uns ein Abendessen. Ich wußte nicht viel von Kindern, doch die Mengen, die sich die Kleine ein-verleibte, erregten mein Staunen; während des Essens gestand sie, daß eine nur aus Backwerk, Kuchen und Süßigkeiten bestehende Kost ihre Erwartungen enttäuscht hatte. Nachdem sie etwas gesäubert war und ich unter ihrer Anleitung mit der Haarbürste gearbeitet hatte, fühlte ich mich mit dem erzielten Resultat recht zufrieden. Und sie schien, wenn sie jemand zum Plaudern hatte, für eine Zeitlang alles Geschehene ganz zu vergessen.
Das konnte ich verstehen. Ging es mir selbst doch ähnlich.
Aber nicht lange, nachdem ich sie zu Bett gebracht hatte und wieder nach unten gegangen war, hörte ich sie schluchzen. Ich ging zurück.
»Es ist ja alles gut, Susan«, tröstete ich sie. »Es ist alles gut. Dem armen Tommy hat es gar nicht weh tun können – es ging so schnell.« Ich setzte mich an ihr Bett und faßte ihre Hand. Sie hörte zu weinen auf.
»Es war nicht nur wegen Tommy«, meinte sie. »Es war später, wie ich ganz, ganz allein war. Ich hatte solche Angst ...«
»Weiß ich«, sagte ich. »Weiß ich. Ich habe mich auch gefürchtet.«
Sie sah zu mir auf.
»Und jetzt fürchten Sie sich nicht mehr?«
»Nein. Und du brauchst dich auch nicht mehr zu fürchten. Verstehst du, jetzt bleiben wir beisammen, damit keines Angst hat.«
»Ja«, erklärte sie ernsthaft. »Das ist gut ...«
Wir plauderten noch von diesem und jenem, bis sie einschlief.
»Wohin fahren wir?« erkundigte sich Susan bei der Ausfahrt am nächsten Morgen.
Ich erkläre ihr, daß wir eine Dame suchten.
»Wo ist sie?« lautete die nächste Frage.
Meine Antwort fiel sehr vage aus.
»Wann werden wir sie finden?« fragte Susan weiter.
Auch das mußte ich unbestimmt lassen.
»Ist es eine hübsche Dame?«
»Ja«, sagte ich und war froh, diesmal präziser sein zu können. Aus irgendeinem Grund gab sie sich nun zufrieden.
»Gut«, urteilte sie, und wir wandten uns anderen Themen zu. Ihretwegen suchte ich größere Orte zu umfahren, doch auch auf freier Strecke bekamen wir widrige Bilder zu sehen, denen ich nicht ausweichen konnte. Nach einer Weile gab ich es auf, so zu tun, als ob sie nicht existierten. Susan betrachtete sie mit dem gleichen objektiven Interesse wie die übrige Umgebung. Nicht mit Schrecken, sondern mit Verwunderung. Sie stellte Fragen. Ich sagte mir, sie würde in einer Welt aufwachsen, wo die Umschreibungen und Redensarten, die ich als Kind gelernt hatte, außer Kurs waren, und tat mein Bestes, die uns begegnenden Schrecknisse und Merkwürdigkeiten ebenfalls möglichst objektiv zu beurteilen. Was sehr heilsam auch für mich war.
Gegen Mittag hatte sich der Himmel umzogen und der Regen setzte wieder ein. Als wir um fünf Uhr knapp vor Pulborough hielten, goß es noch immer.
»Wohin fahren wir jetzt?« forschte Susan.
»Das«, gestand ich, »ist eben die Frage. Da drüben muß es irgendwo sein.« Ich wies auf die regenverschleierten Höhenzüge der Downs im Süden.
So sehr ich mich bemüht hatte, mir ins Gedächtnis zu rufen, was Josella noch über den Ort gesagt hatte, ich konnte mich nur erinnern, daß das Haus an der Nordseite der Berge lag und oberhalb der sumpfigen Niederung zwischen diesen und Pulborough. An Ort und Stelle erwies sich diese Angabe als äußerst vage: die Downs erstreckten sich meilenweit nach Ost und West.
»Vielleicht kann man da drüben irgendwo Rauch sehen«, meinte ich.
»In dem Regen ist es schwer, etwas zu sehen«, wandte Susan mit Recht ein.
Eine halbe Stunde später tat uns der Regen den Gefallen und hörte für eine Weile auf. Wir stiegen aus dem Wagen, setzten uns auf eine Mauer und musterten aufmerksam die gegenüberliegenden Berghänge; aber weder Susan mit ihren scharfen Augen, noch ich mit meinem Feldstecher vermochten Rauch oder ein anderes Lebenszeichen zu entdecken.
Dann fing es wieder zu regnen an.
»Ich habe Hunger«, sagte Susan.
Essen war jetzt meine geringste Sorge. Nun, da ich mich dem Ziel so nahe glaubte, ließ mir die Ungeduld keine Ruhe. Während Susan noch beim Essen war, fuhr ich den Hang hinter uns ein Stück hinauf, um weiteren Ausblick zu gewinnen. In den Regenpausen und bei immer schlechterem Licht suchten wir die gegenüberliegende Talseite wiederum ohne Erfolg ab.
Nirgends Leben oder Bewegung das ganze Tal entlang; nur ein paar Kühe und Schafe waren zu sehen und gelegentlich eine durch das Feld unter uns schwankende Triffid.
Ich hatte einen Einfall; dazu mußte ich ins Dorf hinunter, wollte aber Susan ungern mitnehmen, denn ich wußte, wie es dort aussehen würde; doch zurücklassen konnte ich sie auch nicht. Unten stellte sich heraus, daß ihr der Anblick weniger zu schaffen machte als mir; Kinder haben andere Vorstellungen vom Furchtbaren, sie müssen erst lernen, vor welchen Dingen sie erschrecken sollen.
Ich machte einen Fund. Ich kehrte zu unserem Wagen mit einem außerordentlich lichtstarken Autoscheinwerfer zurück, den ich von einem pompös aussehenden Rolls-Royce abmontiert hatte.
Ich brachte das Ding, auf einem Zapfen schwenkbar, neben dem Wagenfenster an und machte es zum Einschalten fertig. Und dann war nichts weiter zu tun, als auf den Einbruch der Dunkelheit zu warten und zu hoffen, daß der Regen aufhörte.
Als es völlig dunkel war, war aus dem Regen ein bloßes Getröpfel geworden. Ich schaltete die Lampe ein und sandte einen prachtvollen Lichtkegel hinaus in die Finsternis. Langsam ließ ich ihn über die gegenüberliegenden Berghänge gleiten, gleichzeitig nach einem antwortenden Licht ausspähend. Mehr als ein dutzendmal wiederholte ich dieses Manöver; nach jeder Schwenkung schaltete ich für einige Minuten aus, in denen wir nach dem schwächsten Lichtschimmer Ausschau hielten. Doch die Nacht über den Bergen blieb pechschwarz. Dann kam der Regen wieder in Strömen herunter. Ich drehte den Lichtkegel gerade nach vorn und wartete, während die Wassertropfen auf das Schutzdach trommelten und Susan, an meinem Arm lehnend, einschlief. So verging eine Stunde, dann wurde aus dem Trommeln ein Klopfen, das zuletzt auch verstummte. Susan wachte auf, als ich neuerdings die Gegend abzuleuchten begann. Ich hatte eben die sechste Schwenkung beendet, als sie ausrief:
»Schauen Sie, Bill! Da ist es! Da ist ein Licht!«
Sie deutete nach links. Ich schaltete den Scheinwerfer aus und spähte in die gewiesene Richtung. Sicher war es nicht. Es konnte eine optische Täuschung sein: ein schwacher Schimmer wie von einem fernen Glühwürmchen. Und ehe wir uns vergewissern konnten, strömte von neuem eine Regenflut herab.
Als ich nach meinem Fernglas griff, war überhaupt nichts mehr zu sehen.
Ich wagte nicht weiterzufahren. Möglicherweise war das Licht, falls es ein Licht war, von einer tieferen Stelle aus nicht sichtbar. Wiederum richtete ich den Scheinwerfer gerade nach vorn und wartete mit so viel Geduld, als ich aufbringen konnte. Nochmals verging beinahe eine Stunde, bis der Regen nachließ.
Sobald er aussetzte, schaltete ich unser Licht aus.
»Da ist es!« rief Susan aufgeregt. »Schauen Sie!
Schauen Sie!« Da war es. Und hell genug, um jeden Zweifel auszuschließen; Einzelheiten allerdings vermochte ich auch durch mein Glas nicht zu unterscheiden.
Ich schaltete den Scheinwerfer ein und gab das Morsezeichen für V, das einzige, das ich außer SOS kenne. Das andere Licht blinkte und sandte dann eine Reihe deutlicher Längen und Kürzen, mit denen ich leider nichts anzufangen wußte. Ich antwortete mit einer Reihe V, zeichnete die Linie, in der das Licht zu liegen schien, in meine Karte und schaltete die Fahrlichter ein.
»Ist das die Dame?« fragte Susan.
»Sie muß es sein«, sagte ich. »Sie muß es sein.«
Das war eine mühsame Fahrt. Wir mußten, um die sumpfige Niederung zu überqueren, eine westwärts führende Straße einschlagen und uns dann am Fuß des Höhenzugs wieder nach Osten zurückarbeiten.
Wir waren kaum mehr als eine Meile gefahren, als sich etwas vor das ferne Licht schob. Auf der finsteren Landstraße war die Orientierung schwierig, zum Überfluß kam ein neuer Gußregen. Da niemand für die Regulierung der Abflußschleusen sorgte, waren manche Felder bereits überflutet und auch die Straße stellenweise unter Wasser. Ich war gezwungen, langsam und vorsichtig zu fahren, wo ich vor lauter Ungeduld am liebsten Vollgas gegeben hätte.
Auf der anderen Seite des Tales waren wir zwar aus dem überfluteten Gebiet heraus, kamen aber nicht viel schneller vorwärts, da die Straßen voll der unwahrscheinlichsten Schleifen und Krümmungen waren. Ich mußte meine ganze Aufmerksamkeit der Steuerung des Wagens zuwenden, während die Kleine die Bergflanken neben uns nach dem verschwundenen Licht absuchte. Wir erreichten den Punkt, wo die Linie auf meiner Karte unsere Straße kreuzte, ohne daß sich das Licht wieder gezeigt hatte. Ich versuchte es mit der nächsten Abzweigung bergauf ...
Und brauchte fast eine halbe Stunde, um von der Kreidegrube, zu der sie uns geführt hatte, auf unsere Straße zurückzukommen.
Wir setzten die Fahrt auf der unteren Straße fort.
Dann erspähte Susan rechts von uns durch die Baumwipfel einen Lichtschimmer. Bei der nächsten Abzweigung hatten wir mehr Glück. Sie führte schräg zurück und bergauf, bis wir auf dem Abhang etwa eine halbe Meile vor uns ein kleines, hellerleuchtetes Fenster erblickten.
Auch jetzt war es selbst an Hand der Karte nicht leicht, die richtige Straße zu finden. Noch immer kletterten wir langsam bergauf, kamen aber doch dem Fenster merklich näher. Die Straße war für schwere Fahrzeuge ungeeignet. An engeren Stellen streiften Büsche und Sträucher an die Wagenwände, als suchten sie uns zurückzuhalten.
Endlich schwankte auf der Straße vor uns eine Laterne. Sie bewegte sich vorwärts und pendelte dann zur Seite, um uns die Einfahrt durch ein Tor zu zeigen. Danach wurde sie zu Boden gestellt. Ich fuhr bis auf ein, zwei Meter an sie heran und hielt. Als ich den Wagenschlag öffnete, blendete mich plötzlich der Schein einer Taschenlampe. Dahinter gewahrte ich die Umrisse einer Gestalt in einem vor Nässe glänzenden Regenmantel.
Ein leichtes Schwanken war in der erzwungen ruhigen Stimme, die sprach:
»Hallo, Bill, du bist lange aus gewesen.«
Ich sprang aus dem Wagen.
»Oh, Bill. Ich kann nicht. – Oh, Lieber, ich habe so gehofft .... Oh, Bill ...«, sagte Josella.
Das Gefühl, das ich bei meiner Ankunft in Shirning Farm hatte – daß nun der größte Teil meiner Schwierigkeiten zu Ende war – ist nur insofern erwähnenswert, als es zeigt, wie trügerisch ein solches Gefühl sein kann. Es gelang mir zwar programmgemäß, Josella in meine Arme zu schließen, doch sie sogleich mit mir zu den anderen nach Tynsham zu führen, war aus mehreren Gründen unmöglich.
Seit mir eingefallen war, wo sie sein konnte, hatte ich, wie ich gestehen muß, recht filmartige Vorstellungen: wie sie tapfer gegen Naturgewalten ankämpfte usw., usw. Sie tat das auch in einem gewissen Sinn, aber in einer ganz anderen Umgebung, als ich mir vorgestellt hatte. Ich hatte geglaubt, ich brauchte nur, einfach zu sagen: »Spring auf. Wir fahren zu Coker und seinen Leuten.« Damit war es nichts. Ich hätte mir ja denken können, daß die Sache nicht so einfach sein würde – immerhin überraschend, wie oft das Bessere zuerst in der Gestalt des Schlimmeren erscheint ...
Nicht, daß ich nicht gleich von Anfang an Shirning vor Tynsham den Vorzug gegeben hätte – aber der Anschluß an eine größere Gruppe war offensichtlich das Vernünftigere. Shirning ... war reizvoll. Das Wort
›Farm‹ war nur mehr ein Ehrentitel. Es war vor fünfundzwanzig Jahren eine Farm gewesen und sah noch immer wie ein Bauernhaus aus, war jedoch in Wirklichkeit ein Landhaus. Sussex und die angrenzenden Counties waren übersät mit solchen Anwesen und Bauernhäusern, die sich die, erholungsbedürftigen Londoner für ihre Zwecke eingerichtet hatten. Die Innenräume waren derart umgebaut und modernisiert worden, daß es zweifelhaft war, ob sie ein früherer Bewohner wiedererkannt hätte. Auch nach außen hatte es sich in ein Schmuckkästchen verwandelt. Ho-fräume und Schuppen zeigten eher städtischen als ländlichen Charakter, und außer Reitpferden und Ponys gab es hier keine Tiere. Aus dem großen Hof stieg kein Düngergeruch auf, er war mit dichtem Rasen bedeckt und sah aus wie ein Bowlingspielplatz.
Die Felder, auf welche die Fenster des Hauses unter dem verwitterten roten Ziegeldach hinausblickten, wurden seit langem von den Bewohnern anderer echter Bauernhäuser bebaut und bearbeitet. Doch befanden sich Schuppen und Scheunen in gutem Zustand.
Josellas Freunde, die gegenwärtigen Besitzer, hatten geplant, aus dem Anwesen eines Tages wieder einen richtigen Bauernhof zu machen, in beschränktem Ausmaß natürlich, und aus diesem Grund verlockende Verkaufsangebote abgelehnt, in der Hoffnung, einmal genug Geld zusammenzukriegen, um das ursprünglich zu dem Haus gehörige Land zurückzukaufen. Mit eigenem Brunnen und eigener Kraftanlage, war das Anwesen in jeder Beziehung ideal ausgestattet – doch als ich das Ganze besichtigte, fiel mir ein, was Coker über das Wirtschaftsvolumen gesagt hatte. Ich verstand nichts von der Landwirtschaft, hatte aber das Gefühl, daß es, falls wir hier bleiben wollten, viel Arbeit kosten würde, unsre sechs zu ernähren.
Die anderen drei waren schon dagewesen, als Josella angekommen war. Es waren Dennis und Mary Brent und Joyce Taylor. Dennis war der Hauseigentümer. Joyce war auf Besuch da, zuerst, um Gesellschaft zu leisten und dann den Haushalt zu führen, wenn Mary dazu nicht mehr in der Lage war. Mary erwartete ein Baby.
In der Nacht der grünen Blitze – oder des Kometen, wie der sagen würde, der noch an diesen Kometen glaubt – waren zwei weitere Gäste dagewesen. Joan und Ted Danton, die hier eine Woche Urlaub zubringen wollten. Alle fünf waren in den Garten hinunter-gegangen, um das Himmelsschauspiel zu bewundern. Am Morgen erwachten alle fünf in einer für sie in ewige Nacht versunkenen Welt. Zuerst hatten sie zu telephonieren versucht, als sich das als unmöglich erwies, warteten sie hoffnungsvoll auf die Bedienerin, die täglich kam. Da auch diese ausblieb, hatte Ted sich erboten, auf Erkundung auszugehen. Dennis wollte ihn begleiten, doch seine Frau, die in hysterischer Erregung war, ließ es nicht zu. Ted ging also allein. Er kam nicht zurück. Am späten Nachmittag und ohne jemand ein Wort zu sagen, hatte sich Joan fortgeschlichen, vermutlich um ihren Mann zu suchen. Auch sie verschwand spurlos.
Dennis hatte sich über die Zeit orientiert, indem er die Uhrzeiger abtastete. Gegen Abend war das untätige Umhersitzen unerträglich geworden. Er wollte versuchen, hinunter ins Dorf zu gelangen. Dem hatten sich beide Frauen widersetzt. Aus Rücksicht auf Marys Zustand hatte er nachgegeben, und Joyce war gegangen. Sie trat zur Tür, mit einem Stock vor sich her tastend. Kaum hatte sie die Schwelle überschritten, als etwas wie glühender Draht über ihre linke Hand peitschte. Mit einem Aufschrei sprang sie zurück und brach im Vorzimmer zusammen, wo Dennis sie dann auffand. Zum Glück war sie bei Bewußtsein und klagte über die schmerzende Hand. Dennis, die wulstige Strieme befühlend, hatte erraten, was es war. Irgendwie war es ihm und Mary trotz ihrer Blindheit gelungen, warme Umschläge zu bereiten; sie hatte Wasser heiß gemacht, während er eine Aderpresse anlegte und sein Bestes tat, das Gift abzu-saugen. Danach hatten sie die Kranke hinauf ins Bett gebracht, wo sie einige Tage blieb. Unterdessen hatte Dennis Versuche angestellt, zuerst an der Vorderfront und dann an der Hinterfront des Hauses. Durch die nur spaltbreit geöffnete Tür schob er vorsichtig in Kopfhöhe einen Besen. Jedesmal schwirrte draußen ein Stachel, und er fühlte den Stiel in seiner Hand unter einem leichten Schlag erzittern. An einem der Gartenfenster ereignete sich das gleiche: die anderen schienen frei. Er hätte versucht, durch eins hinauszu-gelangen, unterließ es aber auf Marys verzweifeltes Bitten. Sie war überzeugt, daß Triffids nicht nur beim Haus lauerten.
Zum Glück reichten die vorhandenen Lebensmittel für einige Zeit, wenngleich die Zubereitung schwierig war. Joyce hatte zwar hohes Fieber, schien jedoch des Triffidgiftes Herr zu werden, so daß die Lage nicht ganz unhaltbar war. Den größten Teil des nächsten Tages verbrachte Dennis mit der Anfertigung einer Art Schutzhelm für sich. Er verfügte nur über weitmaschiges Drahtnetz, das er in mehreren Lagen kreuz und quer übereinanderschichten und verknüpfen mußte, was einige Zeit in Anspruch nahm. Mit diesem Kopfschutz und dicken Stulphandschuhen ausgerüstet, war er am späten Nachmittag aufgebrochen.
Er war noch keine drei Schritt weit vom Haus, als eine Triffid nach ihm schlug. Er tappte nach ihr, bekam sie zu fassen und zerquetschte ihren Stengel. Nach ein, zwei Minuten klatschte wieder ein Schlag auf seinen Schutzhelm. Diesmal gelang es ihm nicht, die Triffid zu packen, obwohl sie noch ein halbes Dutzend Schläge tat, ehe sie aufgab. Er fand den Weg zum Geräteschuppen und von da auf die Straße; er hatte nun drei große Garnrollen, die er unterwegs ab-spulte, um den Rückweg zu finden.
Mehrmals peitschten auf der Straße Stacheln auf ihn los. Und er brauchte enorm lang, um die Meile hinab ins Dorf zu wandern, und ehe er es erreichte, war sein Garnvorrat zu Ende. Und all die Zeit war er durch eine lautlose Stille geschlurft und gestolpert, die ihn erschreckte. Hie und da war er stehengeblieben, um zu rufen: niemand antwortete. Mehr als einmal fürchtete er, er sei vom Weg abgeirrt, aber als er festeren Straßenbelag unter den Füßen spürte und außerdem einen Wegweiser entdeckte, wußte er, wo er war. Er schlurfte weiter. Nach einer, wie ihm vorkam, ungeheuren Wegstrecke bemerkte er, daß seine Schritte einen anderen Klang hatten; sie weckten ein schwaches Echo. Er tappte seitwärts und fand einen Fußpfad und dann eine Mauer. Ein Stück weiter entdeckte er einen Postkasten in der Ziegelwand und wußte, daß er nun endlich im Dorf war. Er rief wieder. Eine Stimme, die einer Frau, rief zurück, aber die Entfernung war zu groß, er konnte die Worte nicht verstehen. Er rief nochmals und begann, sich ihr zu nähern. Da unterbrach ein Aufschrei plötzlich die Antwort. Dann trat wieder Stille ein. Jetzt erst und noch halb ungläubig hatte er erkannt, daß das Dorf ebenso heimgesucht war wie sein Haus. Er setzte sich am Straßenrand ins Gras und überlegte, was er tun sollte.
An der kühleren Luft merkte er, daß es Nacht geworden sein mußte. Er mußte volle vier Stunden gegangen sein – und konnte nichts anderes tun, als wieder zurückwandern. Aber dann wenigstens nicht mit leeren Händen ... Er pochte mit seinem Stock die Mauern entlang, bis er auf eins der Blechschilder auftraf, mit denen der Dorfkaufladen verziert war.
Während der letzten fünfzig, sechzig Meter hatten dreimal Stacheln über seinen Helm gepeitscht. Noch einer traf ihn, als er die Vorgartentür öffnete, dann stolperte er über einen Körper, der auf dem Fußpfad lag. Es war der eines Mannes und war ganz kalt.
Er hatte den Eindruck, daß andere schon vor ihm in dem Laden gewesen waren. Dennoch stöberte er ein ansehnliches Stück Speck auf. Er tat es nebst einigen Paketen Butter oder Margarine, Zwieback und Zucker in einen Sack und fügte noch ein paar Dosen hinzu, die er von einem Regal nahm, das, wenn ihn sein Gedächtnis nicht täuschte, Lebensmittel enthielt – die Sardinendosen jedenfalls waren unverkennbar.
Dann suchte und fand er ein gutes Dutzend Knäuel Bindfaden, schulterte den Sack und machte sich auf den Heimweg. Einmal war er von seinem Weg abgeirrt und hatte einen Panikausbruch niederkämpfen müssen, während er das durchschrittene Wegstück zurückging und sich neu orientierte. Endlich merkte er, daß er wieder auf der alten Straße war, ertastete das ausgelegte Garn und verknüpfte es mit dem Bindfaden. Der Rückweg war dann verhältnismäßig einfach gewesen.
Zweimal noch hatte er in der folgenden Woche den Kaufladen aufgesucht, und jedesmal war ihm vorgekommen, als seien die Triffids um das Haus und an der Straße zahlreicher geworden. Das verlassene Trio hatte nichts anderes tun können, als warten und hoffen. Und dann, wie ein Wunder, war Josella gekommen.
Es war von Anfang an klar, daß im Augenblick ein Umzug nach Tynsham nicht in Frage kam. Joyce Taylor war noch immer sehr schwach – wenn ich sie ansah, erschien es mir wie ein Wunder, daß sie überhaupt mit dem Leben davongekommen war. Nur Dennis' raschem Eingreifen verdankte sie ihre Rettung, aber da sie nachher nicht die richtigen Arzneien, ja nicht einmal die geeignete Nahrung erhalten hatte, war die Genesung verzögert worden. An einen Transport über eine längere Strecke war bei ihr nicht zu denken. Und dann stand auch Marys Niederkunft unmittelbar bevor, so daß eine Reise für sie ebenfalls nicht ratsam war. Das beste für uns alle schien daher, zunächst zu bleiben, wo wir waren und den Verlauf dieser Krisen abzuwarten.
Wiederum fiel mir die Aufgabe zu, Vorräte zu sammeln und heranzuschaffen. Diesmal auf breiterer Grundlage. Das Programm umfaßte nicht nur Lebensmittel, sondern auch Treibstoff für die Lichtanlage, ferner Legehennen, zwei Kühe, die vor kurzem gekalbt hatten (und trotz ihrer erschreckenden Magerkeit noch lebten), Dinge, die Mary brauchte, und allerlei Kleinigkeiten außerdem.
Die Gegend war von Triffids geradezu verseucht; nirgends hatte ich so viele gesehen. Fast jeden Morgen lauerten ein, zwei neue um das Haus, und es war unsere erste tägliche Aufgabe, sie abzuschießen, bis ich den Garten mit einem Drahtgitter abschirmte.
Selbst dann kamen sie herbei und warteten, bis etwas gegen sie unternommen wurde.
Ich öffnete ein paar Kisten, in denen sich Abwehrmaterial befand, und unterrichtete die kleine Susan in der Handhabung der Triffidflinten. Sie lernte schnell und wurde bald eine Meisterin im Abschießen der ›Dinger‹, wie sie sie noch immer nannte. Dieses tägliche Rachewerk wurde ihr Ressort. Und dann erfuhr ich von Josella, was sie nach dem Feueralarm im Universitätsgebäude erlebt hatte.
Auch sie war mit einem Trupp verladen worden, hatte aber ihren beiden Wächterinnen gegenüber ein summarisches Verfahren angewendet und ihnen ein glattes Ultimatum gestellt: Entweder, sie erhielt volle Freiheit, dann war sie bereit, zu helfen, soviel sie konnte; oder sie blieb eine Gefangene, dann müßten sie gefaßt sein, eines Tages auf ihre Empfehlung Blausäure zu trinken und Zyankali zu essen. Sie konnten wählen. Die Blinden hatten vernünftig gewählt.
Über die folgenden Tage hatten wir einander nicht viel Neues zu erzählen. Nach der Auflösung ihrer Gruppe war sie der gleichen Überlegung gefolgt wie ich. Sie setzte sich in ein Auto und fuhr nach Hampstead, mich zu suchen. Sie war dort weder Überlebenden meiner Gruppe begegnet, noch denen, die der schießlustige Rotkopf führte. Sie hatte bis Sonnenuntergang gesucht und dann beschlossen, zum Universitätsgebäude zu fahren. Da sie nicht wußte, wie es dort aussehen würde, hatte sie den Wagen vorsichtshalber ein paar Straßen vorher zurückgelassen und war zu Fuß weitergegangen. Noch ein gutes Stück vom Eingang entfernt, hörte sie einen Schuß. Um zu erkunden, was da los war, hatte sie in dem Garten Deckung gesucht, wo wir schon einmal Zuflucht gefunden hatten. Von da aus hatte sie Coker beobachtet, der ebenfalls vorsichtig zu rekognoszieren schien. Sie wußte nicht, daß es mein Schuß war, der Coker zur Vorsicht veranlaßt hatte, und vermutete eine neue Falle. Ein zweitesmal wollte sie nicht in eine solche geraten, und war daher zu ihrem Wagen zurückgekehrt. Sie hatte keine Ahnung, wohin die an, deren gegangen waren – falls sie überhaupt gegangen waren. Der einzige Zufluchtsort, der ihr einfiel, war der, den sie mir gegenüber erwähnt hatte. Sie hatte beschlossen, hinzufahren, in der Hoffnung, ich würde mich, falls ich noch am Leben war, daran erinnern und versuchen, ihn aufzufinden.
»Ich rollte mich zusammen und schlief im Fond des Wagens, sobald ich aus London heraus war«, erzählte sie. »Es war noch sehr früh, als ich am nächsten Morgen hier eintraf. Das Geräusch des Wagens brachte Dennis zu einem der oberen Fenster, von wo aus er mich warnte, vor Triffids auf der Hut zu sein. Jetzt erst sah ich, daß mindestens ein halbes Dutzend das Haus umstanden, als warteten sie auf einen Heraustretenden. Während Dennis und ich einander zuriefen, fingen die Triffids an, sich zu regen, und eine kam auf mich zugewackelt, so daß ich mich schnell im Wagen in Sicherheit brachte. Als sie trotzdem weitermarschierte, schaltete ich den Motor ein und fuhr sie nieder. Aber da waren noch die anderen, und ich hatte keine Waffe, nur mein Messer. Doch Dennis wußte einen Ausweg.
›Schütte ihnen etwas Benzin in den Weg und wirf dann einen brennenden Lappen hin‹, riet er mir. ›Davor werden sie abziehen.‹
Das wirkte. Seither habe ich eine Gartenspritze benutzt. Ein Wunder, daß ich noch nichts in Brand gesteckt habe.«
Mit Hilfe eines Kochbuches war es Josella gelungen, eine Art Mahlzeiten herzustellen, und dann hatte sie in den Haushalt etwas Ordnung gebracht. Arbeiten, Lernen und Improvisieren hatten ihr wenig Zeit gelassen, über die nächsten Wochen hinaus an die Zukunft zu denken. Außer den Hausbewohnern hatte sie in diesen Tagen niemand gesehen; da sie aber überzeugt war, daß es hier noch andere Überlebende geben mußte, hatte sie das ganze Tal entlang Ausschau gehalten, tags nach Rauch, nachts nach Lichtern. Doch weder ein Rauchwölkchen noch ein Lichtschimmer war bis zum Abend, an dem ich kam, zu sehen gewesen.
Der am härtesten Getroffene des ursprünglichen Trios war Dennis. Joyce war noch schwach und leidend. Mary blieb zurückgezogen und war ganz mit ihrer künftigen Mutterschaft beschäftigt. Dennis hingegen war wie ein Tier in einer Falle. Nicht, daß er in der hilflosen Art fluchte, wie ich es andere hatte tun hören; ein verbissener Ingrimm verzehrte ihn, als sei er in einen Käfig gesperrt worden, aus dem er auszu-brechen suchte. Schon vor meiner Ankunft hatte ihm Josella aus dem Lexikon eine tastbare Kopie des Brailleschen Blindenalphabets anfertigen müssen.
Täglich übte er stundenlang, machte Notizen, die er später wiederzulesen versuchte. Er klagte nie, obwohl ihn die Untätigkeit, zu der er verurteilt war, peinigte.
Mit grimmiger Hartnäckigkeit, die Mitleid erregte, mühte er sich, dies oder jenes zu tun, und wehe, wenn man ihm ungefragt Hilfe anbot – ich tat es einmal und nicht wieder. Die Dinge, die er zuwege brachte, setzten mich in Staunen; seine eindrucksvollste Leistung aber blieb für mich die Anfertigung einer brauchbaren Drahtmaske gleich am zweiten Tag nach seiner Erblindung.
Er freute sich, wenn ich ihn manchmal auf meine Beutefahrten mitnahm und er beim Aufladen schwerer Kisten helfen konnte. Er wollte Bücher in Blindenschrift, aber damit mußte er sich gedulden, bis die Ansteckungsgefahr in den größeren Städten, wo es solche Bücher gab, geringer war als jetzt.
Die Tage verflogen, zumindest für uns drei Sehfähige. Josella hatte vor allem im Haus viel zu tun, und Susan lernte mithelfen. Auch auf mich wartete Arbeit genug. Joyce konnte zum ersten Male aufstehen und erholte sich nun rascher. Bald darauf begannen bei Mary die Wehen.
Das war eine schlimme Nacht für uns alle. Am schlimmsten wohl für Dennis, der wußte, daß alles von der Umsicht zweier williger, aber unerfahrener Mädchen abhing. Seine Selbstbeherrschung erregte meine hilflose Bewunderung.
In den frühen Morgenstunden kam Josella zu uns herunter; sie sah sehr müde aus.
»Ein Mädchen. Beide sind wohlauf«, sagte sie und führte Dennis nach oben.
Einige Minuten später kam sie zurück und nahm das gefüllte Glas, das ich für sie bereit hielt.
»Es war ganz einfach, Gott sei Dank«, sagte sie.
»Die Arme hat so gefürchtet, es könnte auch blind sein; es ist natürlich nicht blind. Jetzt weint sie ganz furchtbar, weil sie es nicht sehen kann.«
Wir tranken.
»Es ist merkwürdig«, sagte ich, »wie alles weiter-geht. Wie bei einem Samenkorn – es schaut ganz ver-runzelt und verdorrt aus, wie tot; und ist doch nicht tot. Und nun beginnt hier ein neues Leben, mitten in all dem ...«
Josella vergrub ihr Gesicht in ihre Hände.
»O Gott! Bill. Muß es jetzt immer so weitergehen? Weiter – und weiter – und immer weiter –?«
Und auch sie brach in Tränen aus.
Drei Wochen später fuhr ich nach Tynsham hinüber, um Coker aufzusuchen und unsere Übersiedlung vorzubereiten. Ich nahm einen Personenwagen, um die Fahrt hin und zurück in einem Tag zu bewältigen.
Bei der Rückkehr kam mir Josella im Vorzimmer entgegen. Sie tat einen Blick in mein Gesicht.
»Was ist los?« sagte sie.
»Daß es mit unserer Übersiedlung nichts ist«, er-klärte ich. »Tynsham ist erledigt.«
Sie starrte mich an.
»Was ist geschehen?«
»Ist unklar. Sieht aus, als sei die Seuche dort gewesen.«
Ich gab einen kurzen Bericht. War nicht viel zu erzählen. Das Tor stand offen, als ich ankam, und die freien Triffids im Park sagten mir, worauf ich mich gefaßt machen mußte. Als ich ausstieg, bestätigte der Geruch meine Befürchtungen. Es kostete mich Überwindung, das Haus zu betreten. Allem Anschein nach war es vor mindestens zwei Wochen verlassen worden. Ich steckte den Kopf in zwei Räume. Und hatte genug. Ich rief; hohl verhallte meine Stimme im Leeren. Ich ging nicht weiter.
An der Außentüre war ein Zettel befestigt gewesen, von dem nur mehr eine leere, abgerissene Ecke dort hing. Lange suchte ich den Rest des heruntergewehten Blattes. Ich fand ihn nicht. Der Hinterhof war leer, und mit den Fahrzeugen waren auch die Vorräte zum größten Teil verschwunden. Ich hatte keine Ahnung, wohin. Blieb nichts übrig, als in meinen Wagen zu steigen und zurückzufahren.
»Und – was nun?« fragte Josella, als ich geendet hatte.
»Und nun bleiben wir eben da, Liebes. Wir werden lernen uns selber zu versorgen. Und werden uns solange selbst versorgen, bis Hilfe kommt. Vielleicht wird einmal irgendwo eine Organisation aufgezogen ...«
Josella schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, es ist am besten, wir denken an keine Hilfe. Millionen und aber Millionen Menschen haben auf Hilfe gewartet und gehofft, und es ist keine gekommen.«
»Es wird einmal etwas getan werden«, sagte ich.
»Kleine Gruppen wie die unsere muß es überall geben. Sie werden sich zusammenschließen und dann mit dem Wiederaufbau beginnen.«
»Fragt sich nur, wann?« entgegnete Josella. »In Generationen? Vielleicht erst lange nach unserer Zeit.
Nein – wir sind die Überlebenden einer untergegangenen Welt ... Wir müssen von vorn anfangen, ohne auf Hilfe zu rechnen ...«
Sie hielt inne. Eine seltsame Leere, wie ich sie nie zuvor bei ihr gesehen hatte, kam in ihr Gesicht.
»Liebes ...«, sagte ich.
»Oh, Bill, Bill, ich bin nicht geschaffen für ein solches Leben. Wenn du nicht da wärst, ich ...«
»St, mein Kind«, beruhigte ich sie und strich über ihr Haar. Nach einigen Augenblicken erlangte sie ihre Fassung wieder.
»Verzeih mir, Bill. War Selbstbemitleidung ... widerwärtig. Wird nicht mehr vorkommen.«
Sie betupfte ihre Augen mit dem Taschentuch.
»Also werde ich eine Farmersfrau sein. Jedenfalls freue ich mich, daß ich deine Frau bin, Bill – wenn wir auch keine richtige Hochzeit gehabt haben.«
Von da an führte ich ein Journal. Tagebuch, Vorratsliste und Notizkalender in einem. Darin finden sich Aufzeichnungen über meine Fahrten, über die eingeholten Waren, ihre Menge und Herkunft; Anmerkungen darüber, was wegen leichter Verderblichkeit bevorzugt abtransportiert werden mußte. Lebensmittel, Brennstoff und Saatgut waren ständig gesucht, doch nicht nur sie allein. Die Eintragungen verzeichneten die verschiedensten Dinge: Kleider, Werkzeug, Hausleinen, Pferdegeschirr, Küchengerät, Holzpfähle, Draht, Draht und nochmals Draht, auch Bücher.
Ich sehe hier, daß ich in der Woche nach meiner Rückkehr aus Tynsham mit der Aufstellung eines Drahtzaunes begann zur Sicherung gegen die Triffids. Garten und Haus waren zwar schon durch Sperren geschützt, doch nun wollte ich ein größeres Gebiet einzäumen. Zu diesem Zweck mußte ein starker äußerer Drahtzaun gezogen werden und ein schwächerer, innerer, der verhüten sollte, daß man unversehens dem Hauptzaun zu nahe kam und in den Bereich der Giftstacheln. Es war eine mühsame, langwierige Arbeit, die Monate dauerte. Gleichzeitig suchte ich mir die Grundbegriffe der Landwirtschaft anzueignen. Keine Sache, die man leicht aus Büchern erlernt. Schon deshalb nicht, weil anscheinend kein Lehrbuchverfasser auf die Idee gekommen ist, ein angehender Landwirt könne wirklich ganz von vorn anfangen. Alle diese Werke begannen daher für mich gleichsam in der Mitte und setzten ein Wissen und eine Terminologie voraus, über die ich nicht verfügte.
Angesichts der Praxis, um die es hier ging, waren meine biologischen Spezialkenntnisse so gut wie wertlos. Die Theorie verlangte Materialien und Substanzen, die für mich entweder unerreichbar waren oder, falls ich sie fand, unerkennbar. Nach Streichung alles dessen, was in kurzer Zeit nicht mehr zu haben war, wie Kunstdünger, Futtermittel aus dem Ausland und kompliziertere Maschinen, sah ich sehr bald, daß die Erträge unsicher bleiben und viel Schweiß und Mühe kosten würden.
Mit Buchwissen allein läßt sich weder im Pfer-destall noch in der Milchkammer oder im Schlachthaus viel anfangen. Auch kann man nicht in jeder Situation einfach das einschlägige Kapitel nachlesen.
Die Wirklichkeit ist von bestürzender Vielfalt, die Abweichungen sind zahlreich, Bücher vereinfachen.
Zum Glück hatten wir Zeit genug, um Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen. Nach Jahren erst waren wir auf die eigenen Kräfte angewiesen; wir brauchten über Fehlschläge nicht zu verzweifeln.
Noch gab es Vorräte in Fülle.
Aus Sicherheitsgründen wartete ich ein volles Jahr, ehe ich wieder nach London fuhr. Es war das ergiebigste Gebiet für meine Beutezüge, aber auch das trostloseste. Noch immer erweckte die tote Stadt den Eindruck, als bedürfe es nur der leichten Berührung mit einem Zauberstab, um sie ins Leben zurückzurufen, obwohl viele Fahrzeuge in den Straßen anfingen, rostig zu werden. Ein Jahr später waren die Änderungen auffälliger. Große Mörtelstücke hatten sich von den Fassaden gelöst und waren auf die Gehsteige gestürzt. Dachziegel und Trümmer von Schornsteinen lagen auf den Straßen. Gras und Unkraut hatten sich in den Gossen festgesetzt und verlegten die Abflußrinnen. Laub verstopfte die Dachtraufen, und in den Ritzen und in den verschlammten Röhren wuchs noch mehr Gras, ja sogar kleines Strauchwerk. Fast jedes Gebäude trug eine grüne Perücke, unter welcher das nasse Dachgebälk faulte. Durch viele Fenster sah man eingestürzte Zimmerdecken, herabhängende Tapeten und feuchtglitzernde Wände. Gärten und Parkanlagen waren verwildert und wucherten über die angrenzenden Straßen. Überall sproßte, trieb und grünte es; aus Pflasterfugen und Betonrissen, selbst aus den Sitzen der verlassenen Fahrzeuge. Von allen Seiten drängten und rückten die Gewächse herbei, die Plätze wieder in Besitz zu nehmen, von denen der Mensch sie vertrieben hatte. Und seltsam, so wie das Leben die Oberhand gewann, verlor das Bild den bedrückenden Charakter. Es entfernte und milderte sich, war nicht mehr gespenstische Gegenwart, sondern Vergangenheit, Geschichte.
Meine erste Probefahrt dorthin unternahm ich allein; zurück brachte ich Kisten mit Triffidbolzen, Papier, Maschinenteile, die von Dennis so heiß begehrten Bücher in Blindenschrift und die Schreibmaschi-ne, einige Luxuswaren, wie Getränke, Süßigkeiten, Grammophonplatten, und noch mehr Bücher für uns alle. Eine Woche später begleitete mich Josella auf eine mehr praktische Suche nach Wäsche und Kleidern, nicht nur oder nicht in erster Linie für uns Erwachsene, sondern für Marys Baby und das, welches sie nun selbst erwartete. Der Besuch verursachte einen Schock und blieb ihr einziger.
Ich fuhr weiterhin von Zeit zu Zeit in die tote Rie-senstadt, die eine oder andere benötigte Seltenheit zu holen, und nahm bei dieser Gelegenheit immer einige Luxusgegenstände mit. Nie bekam ich etwas zu sehen, das sich bewegte, ein paar Spatzen und vereinzelte Triffids ausgenommen.
Es war am Ende des vierten Jahres, als ich meinen letzten Ausflug dorthin machte und einsehen mußte, daß diese Fahrten nun mit Wagnissen verbunden waren, die ich nicht auf mich nehmen durfte. Die erste Warnung war ein Donnergetöse hinter mir, irgendwo in einem inneren Stadtteil. Ich hielt meinen Lastwagen an und blickte zurück, wo eine Staubwolke von einem Trümmerhaufen aufstieg, der quer über der Straße lag. Offenbar hatte die Erschütterung, die mein Fahrzeug verursachte, einer wackligen Fassade den letzten Stoß gegeben. Ich brachte keine weiteren Häuser zum Einsturz an diesem Tag, verlebte ihn aber in ständiger Angst vor einer neuen Schuttlawine. In der Folgezeit besuchte ich nur kleinere Orte, und gewöhnlich zu Fuß.
Brighton, welches unsere nächste und ergiebigste Bezugsquelle gewesen wäre, ließ ich unbesucht. Zur Zeit, da ich es für besuchsreif hielt, hatten dort schon andere das Kommando übernommen. Wer und wie viele, blieb mir unbekannt. Ich fand die Zufahrtsstraße durch eine aus Steinen aufgeschichtete, primitive Barrikade verrammelt und mit der aufgemalten Warnung versehen:
ACHTUNG! SPERRZONE!
Dieser Ankündigung verlieh ein Gewehrschuß Nachdruck, der den Staub vor meinem Wagen aufspritzen ließ. Niemand war in Sicht, mit dem man hätte unterhandeln können – freilich war es ja auch keine Sache für Unterhandlungen.
Ich machte kehrt und fuhr nachdenklich zurück.
Ich fragte mich, ob nicht eine Zeit kommen würde, wo die Verteidigungsmaßnahmen des Mannes Stephen sich vielleicht doch nicht als völlig überflüssig erweisen würden. Jedenfalls holte ich vorsichtshalber ein paar Maschinengewehre und Mörser aus dem Lager, das uns die Flammenwerfer geliefert hatte, die wir gegen die Triffids verwendeten.
Im November dieses zweiten Jahres kam Josellas erstes Baby zur Welt. Es war ein Knabe, und wir nannten ihn David. Meine Freude an ihm war zuzeiten nicht ungetrübt, wenn ich an die Welt dachte, die wir ihm hinterlassen würden. Josella beunruhigte das weit weniger als mich. Sie war glücklich mit ihm. Er schien sie für vieles zu entschädigen, was sie verloren hatte, und paradoxerweise machte sie sich nun über die ungewisse Zukunft weniger Sorgen als früher. Jedenfalls war er ein kräftiger Junge, dem man schon einige Standfestigkeit zutrauen durfte. Ich unterdrückte daher meine Befürchtungen und verwendete meine ganze Arbeitskraft auf das Ackerland, das uns alle einmal ernähren mußte.
Es kann nicht lange nachher gewesen sein, daß Josella meine Aufmerksamkeit in erhöhtem Maß auf die Triffids lenkte. Meine jahrelange Arbeit hatte die Vorsichtsmaßregeln ihnen gegenüber für mich zu einer Gewohnheit werden lassen, und es fiel mir weit weniger als den anderen auf, daß sie ein regelrechter Teil der Landschaft geworden waren. Ich war von früher Drahtmaske und Handschuhe gewohnt und fand nichts dabei, wenn ich sie bei jeder Ausfahrt tragen mußte. Triffids waren für mich nicht aufregender als Stechmücken in einem Malariagebiet.
Josella machte mich eines Abends, als wir im Bett lagen, auf das stakkatoartige Klappern und Trommeln aufmerksam, das sich in der Ferne hören ließ und fast der einzige Laut in der Stille war.
»In letzter Zeit ist es viel stärker geworden«, sagte sie.
Ich erfaßte zuerst gar nicht, wovon sie sprach. Diese Laute waren für mich eine Geräuschkulisse geworden, von der ich, wenn ich nicht absichtlich und bewußt hinhörte, gar nicht sagen konnte, ob sie da war oder nicht. Ich horchte.
»Es klingt für mich nicht anders als sonst«, sagte ich.
»Es ist nicht anders. Es ist nur stärker – weil es ja auch viel mehr sind als früher.«
»Ist mir nicht aufgefallen«, sagte ich gleichmütig.
»Es sind jetzt sicherlich mehr da. Schau sie dir nur morgen früh an«, sagte sie.
Am Morgen erinnerte ich mich und tat beim Ankleiden einen Blick durchs Fenster. Josella hatte recht. Über hundert konnte man hinter dem schmalen Zaunabschnitt zählen, der vom Fenster sichtbar war.
Ich erwähnte es beim Frühstück. Susan blickte verwundert auf.
»Aber es sind ja die ganze Zeit immer mehr geworden«, erklärte sie. »Ist Ihnen das nicht aufgefallen?«
»Ich muß mich um eine Menge anderer Dinge kümmern«, versetzte ich, etwas gereizt durch ihren Ton. »Außerhalb der Umzäunung macht es ja auch nichts. Solange wir innerhalb jede Aussaat im Keim ersticken, mögen sie draußen tun, was sie wollen.«
»Eigenartig ist es dennoch«, bemerkte Josella nicht ohne leise Unruhe. »Aus welchem Grund kommen sie gerade hierher in solchen Mengen? Ich bin überzeugt, daß das der Fall ist – und ich möchte wissen, warum.«
Susans Gesicht hatte wieder den aufreizend ver-wunderten Ausdruck.
»Warum? Er bringt sie«, sagte sie.
»Man zeigt nicht mit dem Finger«, rügte Josella automatisch.
»Wie meinst du das? Bill bringt sie doch sicherlich nicht her.«
»Er bringt sie aber. Er macht die Geräusche, und dann kommen sie.«
»Hör mal«, sagte ich. »Was redest du da eigentlich daher? Pfeif ich sie vielleicht im Schlaf herbei, oder was?«
Susan sah gekränkt aus.
»Gut. Wenn Sie mir nicht glauben, werde ich es Ihnen nachher zeigen«, erbot sie sich und verfiel dann in ein beleidigtes Schweigen. Nach Tisch holte sie mein Gewehr und meinen Feldstecher, und wir gingen hinaus auf den Rasenplatz vor dem Haus. Sie suchte die Gegend ab, bis sie eine marschierende Triffid fand, die noch weitab von unserer Umzäunung war, und übergab mir dann das Glas. Ich beobachtete, wie das Ding langsam über ein Feld torkelte. Die Pflanze war eine gute halbe Meile von uns entfernt und bewegte sich nach Osten. »Nun schauen Sie genau hin«, sagte Susan.
Sie gab einen Schuß in die Luft ab.
Einige Augenblicke später schwenkte die Triffid merklich nach Süden ab.
»Sehen Sie es?« fragte Susan und rieb ihre Achsel-grube.
»Das sah ja beinahe so aus – Bist du sicher? Probiere es nochmals.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Lieber nicht. Alle Triffids, die den Knall gehört haben, sind auf dem Weg hierher. Nach zehn Minuten bleiben sie stehen und horchen. Wenn sie nahe genug sind, daß sie die beim Zaun klappern hören, dann kommen sie. Und wenn sie zu weit weg sind, und wir machen wieder Lärm, dann kommen sie auch. Wenn sie aber gar nichts hören, warten sie eine Weile und gehen danach in der alten Richtung fort.«
Ich gestehe, daß ich über diesen Bericht verblüfft war.
»Hm – ahem«, sagte ich. »Du mußt sie aber genau beobachtet haben, Susan?«
»Ich beobachte sie immer. Ich hasse sie«, gab sie zur Antwort, als sei das Erklärung genug.
Dennis war zu uns getreten.
»Ich bin ganz deiner Meinung, Susan«, sagte er.
»Die Sache gefällt mir nicht. Sie hat mir schon lange nicht gefallen. Die verdammten Dinger haben es auf uns abgesehen.«
»Aber das ist doch ...«, begann ich.
»Es muß etwas dahinter sein. Es sieht ganz so aus, als ob sie etwas ahnten. Sie sind im Augenblick ausgebrochen, als niemand da war, sie aufzuhalten.
Schon am nächsten Tag waren sie vor dem Haus. Wie soll man sich das erklären?«
»Das ist nichts Ungewöhnliches«, antwortete ich.
»In Dschungelgebieten lauerten sie immer an den Wegen. Nicht selten versuchten sie, in kleine Dörfer einzudringen und mußten zurückgetrieben werden.
In manchen Gegenden waren sie eine ganz gefährliche Landplage.«
»Aber nicht hier – darauf kommt es an. Das konnten sie hier erst werden, als die Umstände es ihnen erlaubten. Sie haben es vorher auch gar nicht versucht. Doch sobald die Gelegenheit da war, benutzten sie sie – als hätten sie nur darauf gewartet.«
»Das ist doch Unsinn, Dennis. Überlegen Sie, was Sie damit sagen«, entgegnete ich.
»Ich weiß. Ich will ja auch keine endgültige Theorie aufstellen, aber das sage ich: Sie haben aus unserer Notlage mit bemerkenswerter Geschwindigkeit ihren Vorteil geschlagen. Und ich sage: Auch in ihrem gegenwärtigen Verhalten ist etwas wie Methode zu spüren.
Sie waren so beschäftigt, daß es Ihnen nicht aufgefallen ist, wie sie sich vor dem Zaun massiert haben, aber Susan ist es aufgefallen – ich habe sie darüber sprechen gehört. Und worauf warten die Dinger?«
Darauf wußte ich im Augenblick keine Antwort.
Ich sagte: »Ihr denkt also, es wäre besser, wenn ich statt des Schrotgewehrs, das sie herbeilockt, eine Triffidflinte benützte?«
»Es ist nicht nur das Gewehr, sondern jeder Lärm«, erklärte Susan. »Am schlimmsten ist der Traktor, weil er so laut ist und weil er ein dauerndes Geräusch ist, nach dem sie sich leicht orientieren können. Aber auch den Motor der Lichtmaschine können sie auf weite Entfernung hören. Ich habe sie von ihrem Weg abbiegen gesehen, sobald er zu arbeiten anfing.«
»Sag doch nicht immer ›sie hören‹, als ob es Tiere wären«, entgegnete ich gereizt. »Es sind keine. Sie können nicht ›hören‹. Es sind nur Pflanzen.«
»Irgendwie hören sie trotzdem«, beharrte Susan.
»Jedenfalls werden wir etwas gegen sie unternehmen«, versprach ich.
Wir unternahmen einiges. Die erste Falle war eine primitive Art Windmühle, die ein weithin hörbares hämmerndes Geräusch erzeugte. Wir stellten sie etwa eine halbe Meile weit von aus auf. Mit Erfolg. Sie lockte die Triffids von unserm Zaun und von anderwärts weg. Als einige Hundert beisammen waren, fuhren Susan und ich hinüber und richteten die Flammenwerfer auf sie. Auch ein zweitesmal hatten wir Erfolg – nachher aber blieb die Maschine fast unbeachtet. Unsere nächste Aktion war der Bau eines festen Geheges, einer Art Tasche innerhalb der Umzäunung, in der wir, absichtlich in Hörweite der Lichtmaschine, ein Tor offen ließen. Nach ein paar Tagen schlossen wir die Falle und vernichteten die im Gehege Eingesperrten. Auch damit hatten wir anfangs Erfolg, doch blieb er aus, sobald wir es an derselben Stelle nochmals versuchten, und auch an anderen Stellen sank die Zahl der Eingefangenen stetig.
Häufige Runden mit einem Flammenwerfer um die ganze Umzäunung wären das wirksamste gewesen, hätten uns aber zuviel Zeit und Brennstoff gekostet.
Der Verbrauch eines Flammenwerfers ist hoch, und die Brennstoffvorräte in den Munitionslagern waren gering. Waren sie aufgebraucht, konnten wir unsere kostbaren Flammenwerfer in die Rumpelkammer stellen; ich kannte weder Zusammensetzung noch Herstellungsmethode des Brennstoffes.
Versuche, mit Mörserbomben gegen Triffidansamm-lungen vorzugehen, enttäuschten. Triffids können, so wie Bäume, selbst schwerste Schädigungen überleben.
Im Lauf der Zeit wurde die Menge vor der Um-zäunung größer und größer, trotz unserer Fallen und gelegentlicher Massaker. Nicht, daß sie dort etwas zu unternehmen versuchten. Sie blieben einfach da, wühlten ihre Wurzeln in den Boden und warteten.
Von fern sahen sie so ungefährlich aus wie jede andere Hecke und wären ebenso unauffällig gewesen, hätten nicht immer einige geklappert. Aber man brauchte nur mit einem Auto den Weg hinunterzu-fahren, um sich von ihrer Wachsamkeit zu überzeugen. Die Stachelschläge hagelten auf den Wagen, daß man auf der Landstraße halten mußte, um das Gift von der Windschutzscheibe zu wischen.
Dann und wann hatte einer von uns einen neuen Einfall, wie man ihnen den Aufenthalt verleiden könnte, etwa das Vorfeld der Umzäunung mit einer starken Arsenlösung zu tränken, aber ein endgültiger Erfolg blieb uns versagt.
Wir hatten schon länger als ein Jahr mit allerlei Abwehrmitteln experimentiert, als Susan eines Morgens in unser Zimmer gestürzt kam mit der Nachricht, die ›Dinger‹ seien durchgebrochen und umzin-gelten das Haus. Sie war zeitig aufgestanden, um melken zu gehen wie gewöhnlich. Vor ihrem Schlafzimmerfenster war der Himmel grau, unten aber fand sie alles in tiefster Finsternis. Sie spürte, daß da etwas nicht stimmte und drehte das Licht auf. Sobald sie die lederartigen grünen Blätter an die Fenster gepreßt sah, erriet sie, was geschehen war.
Ich ging auf den Zehenspitzen durch das Schlafzimmer und schloß das Fenster mit einem Ruck. Im selben Augenblick peitschte von unten ein Stachel gegen die Scheibe. Wir blickten auf ein Dickicht von Triffids hinab, das in einer Tiefe von zehn oder zwölf Stück hintereinander vor den Hausmauern stand. Die Flammenwerfer waren in einem Nebengebäude. Ich ließ mich auf kein Risiko ein, als ich sie holen ging. In dicken Kleidern, mit Handschuhen, einem Lederhelm und Schutzbrille unter der Drahtmaske, hackte ich mir einen Weg durch das Triffidgestrüpp mit dem größten Fleischermesser, das ich auftreiben konnte.
Die Stacheln peitschten und klatschten so häufig auf das Drahtnetz, daß es ganz naß wurde und etwas von dem Gift durchzusprühen begann. Auch die Schutzbrillen beschlugen sich, und das erste, was ich in dem Nebengebäude tat, war, mir das Gesicht zu waschen.
Auf dem Rückweg wagte ich nur eine kurze, tiefgezielte Flamme aus einem der Werfer abzuspritzen, um nicht die Türe und die Fensterstöcke in Brand zu setzen, aber es genügte, um mir eine Gasse zu bahnen.
Josella und Susan standen mit Löschgeräten neben mir, als ich, noch immer wie eine Kreuzung zwischen einem Tiefseetaucher und einem Marsmenschen aussehend, von den oberen Fenstern aus den Werfer auf die Horde richtete, die uns belagerte. Bald waren ein paar verkohlt und die übrigen in Bewegung gebracht.
Susan, nun ebenfalls entsprechend ausgerüstet, nahm den zweiten Werfer und machte sich an die ihr hochwillkommene Arbeit, die Biester zurückzuscheuchen, während ich über die Felder ging, um die Bresche zu finden. Ich brauchte nicht lange zu suchen.
Schon von der ersten Bodenwelle aus konnte ich die Stelle sehen, wo noch immer ein Strom von Triffids mit rudernden Stengeln und flatternden Blättern in unsere Umzäunung einbrach. An der Innenseite schwärmten sie fächerförmig aus, doch bewegten sich alle auf das Haus zu. Sie abzudrängen, war einfach.
Ein frontaler Feuerstoß brachte sie zum Stehen, je einer an beiden Flanken zum Umkehren. Ein gelegentlicher Spritzer von oben in das Gedränge beschleunigte den Rückmarsch und bewog auch die Nachzügler zur Flucht. Ein etwa zwanzig Meter langes Stück des Zaunes lag mit abgesplitterten Pfosten am Boden. Ich richtete es gleich an Ort und Stelle provisorisch wieder auf und räumte mit dem Werfer noch tüchtig unter den Dingern auf, um wenigstens in den nächsten paar Stunden vor ihnen Ruhe zu haben.
Josella, Susan und ich verbrachten den Rest des Tages hauptsächlich mit Reparaturarbeit an der Bresche. Und noch zwei Tage vergingen, bevor Susan und ich uns überzeugt hatten, daß wir jeden Winkel des umzäunten Gebiets nach zurückgebliebenen Triffids abgesucht hatten. Dann überprüften wir den Zaun in seiner ganzen Länge und verstärkten die zweifelhaften Abschnitte. Vier Monate später erfolgte ein neuer Einbruch.
Diesmal fanden wir eine Anzahl verstümmelter Triffids in der Bresche. Anscheinend waren sie unter dem Druck, den die Masse hinter ihnen ausgeübt hatte, an die Umzäunung gepreßt worden und mit dieser gefallen; dann hatten die Nachfolgenden sie niedergetrampelt.
Es war klar, daß wir neue Verteidigungsmaßnahmen ergreifen mußten. Kein Teil unseres Zaunes war stärker als der, der nachgegeben hatte. Den wirksamsten Schutz schien uns die Elektrifizierung der Sperre zu gewähren. Den nötigen Strom lieferte uns ein auf einem Anhänger montiertes Aggregat aus Armeebesitz, das ich gefunden und abgeschleppt hatte. Dann legten Susan und ich die Leitung. Ehe wir damit fertig waren, erfolgte ein neuerlicher Einbruch an einer anderen Stelle.
Ich glaube, dieses Sicherungssystem hätte vollkommen ausgereicht, wenn wir es dauernd oder doch den größten Teil der Zeit hätten aufrechterhalten können. Die Schwierigkeit lag am Brennstoffver-brauch. Benzin gehörte zu unseren kostbarsten Gütern. Nahrung konnten wir der Erde abringen, war es aber mit Benzin und Dieselöl zu Ende, hatten wir mehr verloren, als bloß eine Bequemlichkeit. Es gab dann keine Ausfahrten mehr und folglich keine Erneuerung unserer Vorräte. Es wurde Ernst mit dem primitiven Leben. Daher schickten wir aus Ersparnis-gründen nur zwei- oder dreimal täglich einige Minuten Strom durch die Leitung. Die Triffids wichen dann zurück und konnten den Druck auf den Zaun nicht stetig steigern. Außerdem legten wir um die innere Umzäunung eine Alarmleitung, damit wir im Fall eines Einbruchs rechtzeitig gewarnt wurden.
Die Schwäche lag in der augenscheinlichen Fähigkeit der Triffids, aus der Erfahrung zu lernen, zumindest in einem beschränkten Ausmaß. So gewöhnten sie sich etwa daran, daß wir den Strom abends und morgens eine Zeitlang einschalteten. Um die Zeit, wo wir die Maschine gewöhnlich anlaufen ließen, entfernten sie sich von den Drähten, kamen aber wieder herbei, sobald sie stillstand. Ob sie tatsächlich die elektrische Ladung mit dem Geräusch der Maschine in Verbindung brachten, ließ sich damals noch nicht sagen, später zweifelten wir kaum mehr daran.
Es war natürlich leicht, die Einschaltungen unregelmäßig vor zunehmen, aber Susan, die nicht abließ, alle Bewegungen unserer Belagerer zu beobachten, behauptete alsbald, daß die Periode, während der der Schock wirkte, immer kürzer wurde. Dennoch schützten uns der Strom und gelegentliche Ausfälle an den Abschnitten, wo sie am dichtesten standen, über ein Jahr vor Invasionen, und vor späteren waren wir alarmiert, ehe sie gefährliches Ausmaß erreichten.
Innerhalb unseres Schutzgebietes widmeten wir uns dem Studium der Landwirtschaft, und unser Leben begann allmählich in geregelten Bahnen zu verlaufen.
Im Sommer unseres sechsten Jahres fuhren Josella und ich einmal gemeinsam zur Küste hinunter, und zwar in dem Raupenfahrzeug, das ich nun auf den immer schlechter werdenden Straßen zu benützen pflegte. Es war ein Urlaubstag für Josella. Monatelang war sie nicht hinausgekommen. Das Haus und die Kinder gaben ihr soviel Arbeit, daß sie nur die nötigsten Ausfahrten mitgemacht hatte, nun aber waren wir soweit, daß wir die Aufsicht manchmal Susan überlassen durften, und wir hatten ein Gefühl der Befreiung, als wir die Hügel hinauf- und entlangfuhren.
An einem der tieferen Südhänge machten wir halt und blieben eine Weile sitzen.
Es war ein herrlicher Junitag, der Himmel von reinstem Blau mit ein paar leichten Wölkchen. Die Sonne strahlte herab auf den Strand und auf die See dahinter so hell wie in den Tagen, da dieser selbe Strand von Badenden gewimmelt hatte und die See gesprenkelt war von kleinen Booten. Minutenlang blickten wir schweigend hinunter. Josella sagte: »Geht es dir nicht manchmal noch immer so, Bill, wenn du die Augen zumachst und nach einer Weile wieder öffnest, daß dann alles sein müßte, wie es war? Mir geht es so.«
»Jetzt nicht oft«, gestand ich. »Aber ich habe auch viel mehr gesehen als du. Immerhin manchmal ...«
»Und schau, die Möwen – genau wie sie immer waren.«
»Es sind viel mehr Vögel da dieses Jahr«, stimmte ich zu.
»Ich bin froh darüber.«
Impressionistisch aus der Ferne gesehen, bot die kleine Stadt noch das alte Bild: Häuschen mit roten Dächern, Sommervillen, hauptsächlich von zurückgezogenem Mittelstand bewohnt – aber dieser Eindruck dauerte nur wenige Minuten. Die Dächer waren noch zu sehen, die Mauern kaum mehr. Die gepflegten Gärten waren unter ungehemmt wucherndem Grün verschwunden, nur hier und dort erinnerte ein Farbfleck an die sorgsam kultivierten Blumen von einst. Aus dieser Entfernung sahen sogar die Straßen wie grüne Teppichstreifen aus. Aber dieses sanfte Grün war Täuschung, in der Nähe würde es sich als verfilztes, grobblättriges Unkraut erweisen.
»Es ist nur einige Jahre her«, sagte Josella nachdenklich, »da jammerten die Leute, daß diese Wo-chenendhäuschen die Landschaft verunstalteten. Und wie sehen die jetzt aus!«
»Es erschreckt mich. Es ist, als ob alles losbreche.
Als ob alles sich freut, daß es aus ist mit uns und jedes seine Freiheit hat. Ich frage mich: Haben wir uns seither nicht doch nur etwas vorgemacht? Glaubst du, daß es wirklich aus ist mit uns, Bill?«
»Ich gebe dir die ehrliche Antwort: nicht ganz aus.
Und wer lebt, hofft.«
Wir schauten einige Augenblicke schweigend auf das Bild vor uns.
»Ich glaube«, ergänzte ich, »wohlverstanden, es ist nur ein Glaube, daß wir eine schmale Chance haben – eine so schmale, daß es lange dauern wird, bis wir festen Fuß fassen können.
Wären die Triffids nicht, hätten wir sogar, meiner Meinung nach, eine sehr gute Chance – freilich, eine gute Weile würde es auch dann dauern. Aber die Triffids sind ein entscheidender Faktor. Sie sind etwas, mit dem noch keine aufsteigende Zivilisation zu kämpfen hatte. Werden sie uns von der Herrschaft verdrängen, oder sind wir imstande, sie aufzuhalten?
Es müßte sich ein einfacher Weg finden lassen, mit ihnen aufzuräumen. Wir sind noch nicht so übel dran – wir können sie in Schach halten. Aber unsere Enkel – was werden die gegen sie unternehmen? Werden sie ihr ganzes Leben in kleinen Schutzgebieten zubringen müssen, die sie mühsam und in steter Abwehr-bereitschaft gegen die Triffids zu verteidigen haben?
Ich bin überzeugt, daß es einen einfachen Weg gibt.
Nur setzt das Auffinden eines solchen Weges so viel komplizierte Forschung voraus. Und nun fehlen die nötigen Hilfsquellen.«
»Wir verfügen doch über alle Hilfsquellen, die es je gegeben hat, wir brauchen nur zu nehmen«, warf Josella ein.
»Die materiellen, ja. Die geistigen, nein. Was wir brauchen, ist ein Team, eine Arbeitsgemeinschaft von Fachleuten, die sich das Ziel setzt, den Triffids den Garaus zu machen. Es gibt Mittel, davon bin ich überzeugt. Hormone etwa, die nur bei Triffids Schädigungen hervorrufen ... Es muß möglich sein – nur müßte man das nötige geistige Potential für diese Aufgabe einsetzen ...«
»Wenn du davon überzeugt bist, warum versuchst du es nicht?« fragte sie.
»Aus mehr als einem Grund. Erstens fehlen mir die Fähigkeiten – ich bin nur ein mittelmäßiger Biochemiker, und ich bin allein. Es gehört auch ein Labor dazu und Ausrüstung. Außerdem vor allem Zeit, und ich habe schon so genug zu tun. Dann müßte man synthetische Hormone in genügender Menge, also fabrikmäßig, herstellen. Aber zuerst muß die Forschungsgemeinschaft da sein.«
»Man könnte ja Leute schulen.«
»Sicher – wenn man sie bei anderen notwendigen Arbeiten entbehren kann. Ich habe eine Masse bio-chemischer Literatur gesammelt, in der Hoffnung, daß sich einmal Leute finden, die sie benützen – ich werde David in allem unterrichten, was ich weiß, und er muß es weitergeben. Aber falls Freizeit und Muße fehlen, sehe ich keine andere Möglichkeit vor uns als die Schutzgebiete.«
Josella blickte mit gefurchter Stirn auf eine Gruppe von vier Triffids, die unter uns querfeldein zog.
»Früher hat man immer behauptet, die schärfste Konkurrenz des Menschen seien die Insekten. Mir kommt vor, die Triffids haben etwas mit gewissen Insektenarten gemeinsam. Oh, ich weiß, biologisch gehören sie zu den Pflanzen. Ich meine es in dem Sinn, daß sie sich nicht um das Einzelwesen kümmern und das Einzelwesen sich nicht um sich selber kümmert.
Einzeln haben sie etwas, das nur eine entfernte Ähnlichkeit mit Intelligenz hat; beim Kollektiv ist die Ähnlichkeit weit größer. Wie die Bienen und Ameisen arbeiten sie unbewußt für ein gemeinsames Ziel und werden sozusagen von einem Kollektivbewußtsein gesteuert. Es ist alles sehr eigenartig – für uns wahrscheinlich im Grunde unverständlich. Sie sind so ganz anders. Scheinen alle unsere Begriffe von Erbmerkmalen über den Haufen zu werfen. Gibt es in einer Biene oder in einer Triffid so etwas wie ein Gen für Kollektivaufgaben, oder hat eine Ameise ein Gen für Architektur? Und wenn das der Fall ist, warum haben wir nicht ein Gen für Sprache oder fürs Kochen entwickelt? Was immer es sein mag, die Triffids scheinen tatsächlich so etwas zu haben. Wahrscheinlich weiß keine einzelne Triffid, warum sie vor unserem Zaun wartet, aber der ganze Haufen weiß, daß er uns kriegen will – und früher oder später auch kriegen wird.«
»Da kann immer noch manches geschehen, das zu verhindern«, sagte ich. »Ich wollte dich nicht verzagt machen.«
»Bin ich auch nicht – nur manchmal, wenn ich müde bin. Gewöhnlich habe ich ja keine Zeit, mir über die Zukunft viel Gedanken zu machen. Nein, in der Regel geht es bei mir über ein bißchen Traurigsein nicht hinaus. Ich werde sentimental, wenn du Platten spielst – für mich hat es etwas Erschreckendes, ein großes Orchester zu hören, das nicht mehr da ist und doch weiterspielt für eine winzige Gruppe, die einge-kesselt ist und immer primitiver wird. Es erinnert mich an das, was war, und ich werde traurig, wenn ich an all das denke, das für immer dahin ist – gleichviel, was kommen wird. Geht es dir manchmal nicht auch so?«
»Mhm«, gab ich zu. »Aber mit der Zeit finde ich auch die Gegenwart annehmbarer. Würden einem Wünsche erfüllt, würde ich mir die alte Welt zurück-wünschen – unter einer Bedingung allerdings. Denn ich bin trotz allem innerlich glücklicher als je zuvor.
Das weißt du doch auch, Josie?«
Sie legte ihre Hand auf die meine.
»Ich fühle das auch. Nein, was mich traurig macht, ist weniger das, was wir verloren haben, als das, was die Kinder nie kennenlernen werden.«
»Ihnen Hoffnungen und Impulse zu geben, wird ein Problem sein«, stimmte ich zu. »Wir können von der Vergangenheit nicht los. Sie aber dürfen nicht fortwährend zurückblicken. Ein verschwundenes, goldenes Zeitalter und Vorfahren, die Zauberer waren, wären für sie eine verhängnisvolle Tradition.
Ganze Völker hat diese Art Minderwertigkeitskomplex über der Tradition einer glorreichen Vergangenheit träge werden lassen. Aber wie können wir das verhindern?«
»Wenn ich jetzt ein Kind wäre«, sagte sie nachsin-nend, »dann, kommt mir vor, würde ich eine Art Er-klärung haben wollen. Würde mir die nicht gegeben – das heißt, ließe man mich glauben, ich sei in eine ganz sinnlos zerstörte Welt gekommen, erschiene mir auch mein Leben ganz sinnlos. Das macht es ja so schwierig, denn das ist es ja gerade, was passiert ist ...«
Sie schwieg nachdenklich, dann fügte sie hinzu:
»Glaubst du, wir könnten – glaubst du, wir dürften ihnen mit einem Mythos helfen? Mit der Geschichte einer Welt, die von wunderbarer Klugheit war, aber dabei so böse, daß sie zerstört werden mußte – oder durch einen Zufall sich selbst zerstörte? So etwas wie eine neue Sintflut. Das würde sie nicht mit einem Minderwertigkeitsgefühl belasten – es könnte ihnen den Impuls geben, etwas Neues aufzubauen, und diesmal etwas Besseres.«
»Ja ...«, sagte ich und überlegte. »Ja. Es ist oft gut, den Kindern die Wahrheit zu sagen. Sie finden sich später leichter zurecht – nur: warum behaupten, es sei ein Mythos?«
Damit war Josella nicht einverstanden.
»Wie meinst du das? Bei den Triffids läßt sich von Schuld oder Irrtum reden – das sehe ich ein. Aber das übrige ...?«
»Ich glaube nicht, daß man bei den Triffids viel von Schuld reden kann. Die Extrakte, die sie liefern, kamen uns damals sehr zustatten. Niemand vermag die Folgen vorauszusehen, die eine große Entdeckung nach sich ziehen kann – ob sich's um eine neuartige Maschine handelt oder um eine Triffid, und unter normalen Umständen waren wir ihnen durchaus gewachsen. Wir profitierten eine ganze Menge von ihnen, solange diese Umstände für uns günstig waren.«
»Daß sich die Umstände änderten, war nicht unsere Schuld. Es war eine Naturkatastrophe wie ein Erdbeben oder ein Orkan, etwas, das eine Versicherungsgesellschaft ›höhere Macht‹ nennen würde. Eine Heimsuchung eben. Wir waren doch sicher nicht schuld, daß der Komet gekommen ist.«
»Nicht, Josella? Bist du dessen ganz sicher?«
Sie wandte sich um und sah mich an.
»Was meinst du, Bill? Wie hätten wir daran schuld sein können?«
»Was ich meine, Liebes, ist – war es überhaupt ein Komet? Sieh einmal, die abergläubische Furcht vor Kometen hat tiefe Wurzeln. Ich weiß, als moderne Menschen haben wir uns nicht auf den Straßen niedergekniet und gebetet – dennoch sitzt der jahrhundertealte Schrecken in unserm Blut. Sie waren immer die Bilder und Zeichen des himmlischen Zorns, Warnungen vor dem nahen Ende, und als solche in einer Unzahl von Geschichten und Prophezeiungen zu finden. Was liegt näher, als bei einer erstaunlichen Himmelserscheinung sogleich an einen Kometen zu denken? Eine Berichtigung braucht Zeit – und die fehlte ja gerade. Und wenn dann noch ein unausdenkbares Unheil folgt, muß es natürlich ein Komet gewesen sein.«
Josella sah mich prüfend an.
»Bill, willst du damit sagen, daß es, deiner Meinung nach, kein Komet war?«
»Genau das«, bestätigte ich.
»Aber – das verstehe ich nicht. Was soll es denn sonst gewesen sein?«
Ich öffnete eine luftdicht verschlossene Dose Zigaretten und zündete je eine für uns beide an.
»Du erinnerst dich, was Michael Beadley sagte von dem über den Abgrund gespannten Seil, auf dem wir alle seit Jahren dahinwanderten?«
»Ja, aber –«
»Nun, ich meine, wir haben den falschen Schritt getan – und nur ein paar von uns haben Glück gehabt und den Sturz überlebt.«
Ich zog an meiner Zigarette, während ich hinausschaute auf das Meer und auf den unendlichen blauen Himmel darüber.
»Da oben«, fuhr ich fort, »da oben kreisten – und kreisen vielleicht noch immer – Satelliten mit Geheimwaffen. Kreisten Drohungen, die auf ihren Tag warteten. Wie viele? Was war ihre Ladung? Du weißt es nicht; ich weiß es nicht. Geheimwaffen. Alles, was wir darüber gehört haben, sind nur Mutmaßungen – spaltbares Material, radioaktiver Staub, Bakterien, Viren. Nimm an, eine Type war konstruiert, um Strahlen auszusenden, die unsere Augen nicht ertragen konnten – etwas, das den Sehnerv tötete, oder zumindest lähmte ...?«
Josella umklammerte meine Hand.
»Oh, Bill, nicht! Das ist nicht möglich ... Das wäre ja diabolisch. Das kann ich nicht glauben ... Nein, nein, Bill!«
»Liebste, alles da oben war diabolisch ... Und dann löst ein Irrtum oder ein Zufall bei einigen von den Dingern die Explosion aus – vielleicht tatsächlich die Begegnung mit den Meteoritenschwärmen ...
Und dann fängt einer an, von Kometen zu reden.
Wäre unklug gewesen, das sofort zu dementieren – und überdies war dazu ja auch keine Zeit mehr.
Natürlich war bei den Dingern an eine bodennahe Auslösung gedacht und an eine örtlich begrenzte Wirkung. Nun aber entladen sie sich im Weltraum oder beim Eintritt in die Atmosphäre – auf jeden Fall in solcher Höhe, daß die Gesamtbevölkerung der Erde ihrer Strahlung ausgesetzt ist ...
Was wirklich geschehen ist, läßt sich jetzt nur mehr mutmaßen. Aber daß wir dieses Unheil selber über uns gebracht haben, das steht für mich fest. Und auch diese Seuche nachher: du weißt, Typhus war es nicht ...
Daß es nach all den Jahrtausenden gerade ein paar Jahre nach der Einsetzung der Satellitengeheimwaf-fen zu einem Zusammenstoß mit einem Kometen gekommen sein soll, an einen solchen Zufall glaube ich nicht. Glaubst du so etwas? Nein, wir haben auf dem Seil, alles in allem genommen, eine gute Weile balanciert – aber einmal mußten wir das Gleichgewicht verlieren.«
»Ja, wenn du meinst, daß es so war –«, murmelte Josella. Sie verstummte und blieb eine Zeitlang in Schweigen versunken. Dann sagte sie:
»In mancher Hinsicht könnte es einem auf die Art sogar noch grauenhafter vorkommen, als wenn es eine blinde Naturkatastrophe gewesen wäre. Und doch auch wieder nicht. Es macht die Dinge verständlich und dadurch weniger hoffnungslos. War es so, läßt es sich künftig verhindern – einer der Fehler, die unsere Ururenkel vermeiden müssen. Und, ach du lieber Himmel, wie viele Fehler sind gemacht worden! Aber wir können sie davor warnen.«
»Hm – können wir –«, sagte ich. »Wenn sie einmal mit den Triffids aufgeräumt haben und aus dieser Klemme heraus sind, können sie eine ganze Menge eigener, funkelnagelneuer Fehler begehen.«
»Die armen Kleinen«, sagte sie, als sähe sie die wachsende Schar der Ururenkel bereits leibhaftig vor sich, »wir können ihnen nicht viel bieten, was?«
»Früher hat man gesagt: Wie man sich bettet, so liegt man.«
»Das, mein lieber Bill, ist, abgesehen von einem sehr engen Geltungsbereich, glatter ... ich will nicht unhöflich sein. Mein Onkel Ted, glaube ich, pflegte diese Redewendung zu gebrauchen – bis ihn eine Bombe um beide Beine brachte. Dann nicht mehr.
Nichts von dem, was ich getan habe, hat irgendwie dazu beigetragen, daß ich jetzt noch lebe.« Sie warf den Rest ihrer Zigarette fort. »Bill, was haben wir wirklich getan, um dieses Glück zu verdienen? Immer wieder – das heißt, wenn ich nicht überarbeitet und selbstsüchtig bin – sage ich mir, welches Glück wir hatten, und möchte irgendwie meinen Dank abstatten. Aber dann habe ich wieder das Gefühl, wenn irgendwer oder irgendwas da wäre, wo man sich bedanken könnte, hätten sie eine Würdigere gewählt. Da kennt sich unsereins nicht aus.«
»Und ich habe das Gefühl«, sagte ich, »säße irgendwer oder irgendwas am Lenkrad der Weltgeschichte, hätte eine Menge Dinge nicht passieren können. Aber darüber lasse ich mir keine grauen Haare wachsen. Wir haben eben Glück gehabt, Liebste. Verläßt's uns: nun, die Zeit, die wir gemeinsam erlebt haben, kann uns niemand nehmen. Das war mehr, als ich verdient habe und mehr, als man in einem Menschenleben eigentlich erwarten darf.«
Wir blieben noch eine Weile sitzen und schauten hinaus auf die leere See; dann fuhren wir hinunter in die kleine Stadt. Nachdem wir alles, was auf unserer Wunschliste stand, aufgetrieben hatten, hielten wir am Strand unten ein Picknick im Sonnenschein – einen breiten Streifen Kiesel hinter uns, den keine Triffid ungehört überschreiten konnte.
»Wir müssen das öfter machen, solange es noch geht«, sagte Josella. »Jetzt, da Susan heranwächst, bin ich ja nicht mehr so ans Haus gebunden.«
»Du hast dir ein bißchen Ausspannen redlich verdient«, bekräftigte ich.
Ich sagte das, weil ich noch gerne mit ihr zusammen einige Abschiedsbesuche gemacht hätte, solange es möglich war. Denn mit jedem Jahr rückte die Gefangenschaft nun näher. Um von Shirning nach Norden zu gelangen, mußte man schon jetzt die versumpfte Niederung auf einem meilenlangen Umweg umfahren. Erosion durch Regen und Wasserläufe verschlechterte die Straßen, das eindringende Wurzelwerk machte die Oberfläche rissig. Schon war die Zeit absehbar, da es nicht mehr möglich sein würde, einen Tankwagen bis zum Haus zu fahren. Eines Tages würde einer die letzte Strecke nicht mehr schaffen und die Straße blockieren. Auf trockenem Boden würde das Raupenfahrzeug noch fortkommen, aber mit der Zeit würde sich auch dafür keine Fahrbahn mehr finden.
»Und einmal müssen wir noch ein letztes Mal richtig feiern«, sagte ich. »Du mußt dich in Gala werfen, und dann gehen wir –«
»St, st!« unterbrach mich Josella mit erhobenem Finger und wandte ihr Ohr in die Richtung, aus der der Wind kam.
Ich hielt den Atem an und horchte gespannt. Ein Surren, eher zu spüren als zu hören, war in der Luft.
Es war schwach, schwoll aber allmählich an.
»Das ist – das ist ein Flugzeug!« sagte Josella.
Die Augen mit der Hand beschattend, spähten wir westwärts. Noch immer war das Geräusch nicht viel lauter als das Summen eines Insekts. Es wuchs so langsam, daß es nur von einem Hubschrauber herrühren konnte; jedes andere Flugzeug hätte uns in der Zeit überflogen oder wäre längst außer Hörweite gewesen.
Josella sah es zuerst. Ein Punkt, etwas außerhalb der Küste, schien, dem Meeresufer folgend, sich uns zu nähern. Wir sprangen auf und begannen zu winken. Als der Punkt größer wurde, winkten wir heftiger und, nicht sehr klug von uns, schrien aus Leibeskräften. Hier, auf dem offenen Strand, hätte uns der Pilot nicht übersehen können, wenn er gekommen wäre, er kam aber nicht. Einige Meilen vorher drehte er plötzlich nach Norden ab und flog landeinwärts.
Wir winkten weiter wie die Wilden, in der Hoffnung, er könne uns doch noch entdecken. Aber die Maschine hielt unverrückbar ihren Kurs, und das Motorengeräusch blieb unverändert. Stetig und unbeirrbar brummte sie davon, den Bergen zu.
Wir ließen die Arme sinken und blickten einander an.
»Kann sie einmal kommen, kann sie auch wieder kommen«, sagte Josella standhaft, doch nicht sehr überzeugend.
Aber der Anblick der Maschine hatte den Tag für uns geändert. Viel von der Resignation, die wir so sorgsam aufgebaut hatten, versank. Wir hatten uns immer gesagt, es müsse noch andere Gruppen geben, doch würden sie kaum in einer besseren Lage sein als wir, eher in einer schlechteren. Wenn aber ein Hubschrauber dahergeflogen kam wie ein Bild und ein Klang aus der Vergangenheit, weckte er mehr als nur Erinnerungen: er war ein Zeichen, daß man anderswo besser daran war als hier bei uns. – Regte sich etwas wie Eifersucht? – Und wir spürten auch, daß wir bei all unserm Glück gesellige Wesen geblieben waren.
Die Unruhe, die die Maschine hinterlassen hatte, zerstörte unsere Stimmung und unseren Gedankengang. In schweigendem Einverständnis packten wir unsere Sachen ein, gingen, jedes in die eigenen Gedanken vertieft, zurück zu dem Raupenwagen und machten uns auf die Heimfahrt.
Wir hatten ungefähr den halben Weg zurück nach Shirning hinter uns, als Josella den Rauch gewahrte.
Auf den ersten Blick hätte es auch eine Wolke sein können, aber als wir uns der Höhe näherten, sahen wir die graue Säule unterhalb der aufgelösteren oberen Schicht. Josella zeigte hinüber und schaute mich wortlos an. Seit Jahren hatten wir keine anderen Brände gesehen, als die wenigen, die durch Selbstentzündung im Spätsommer ausbrachen. Wir wußten beide sogleich, daß der Schwaden vor uns in der Nachbarschaft von Shirning aufstieg.
Ich holte aus dem Raupenwagen die höchste Geschwindigkeit heraus, die ich bisher auf den schlech-ten Straßen gefahren war. Wir wurden gerüttelt und geschüttelt und schienen doch nur zu kriechen. Josella saß die ganze Zeit stumm, mit zusammengepreßten Lippen, den Blick auf die Rauchsäule geheftet. Ich wußte, sie suchte ein Anzeichen, daß die Brandstelle näher oder weiter weg war, nur nicht in Shirning selbst. Doch je näher wir kamen, um so weniger Raum blieb für Zweifel. Wir rasten das letzte Wegstück hinauf, ohne die niederschwirrenden Stacheln zu beachten. An der Biegung konnten wir endlich sehen, daß es nicht das Haus selbst, sondern der Holzstoß war, der in Flammen stand.
Auf unser Hupensignal kam Susan herausgelaufen, um an dem Seil zu ziehen, das in sicherer Entfernung das Tor öffnete. Sie schrie etwas, das aber im Gerassel unserer Einfahrt unterging. Mit der freien Hand wies sie nicht auf das Feuer, sondern auf die Vorderfront des Hauses. Als wir weiter in den Hof fuhren, sah ich, was sie meinte. Inmitten der Rasenfläche stand, nach einer glatten Landung, der Hubschrauber.
Während wir aus dem Raupenwagen stiegen, war ein Mann in Lederjacke und kurzer Hose aus dem Haus getreten. Er war groß, blond und hatte ein sonnverbranntes Gesicht. Ich hatte gleich das Gefühl, daß ich ihn schon irgendwo gesehen hatte. Er winkte und grinste uns lustig zu, als wir ihm entgegeneilten.
»Mr. Bill Masen, nehme ich an. Mein Name ist Simpson – Ivan Simpson.«
»Ich erinnere mich«, sagte Josella. »Sie brachten damals einen Hubschrauber zur Universität.«
»Richtig. Daß Sie sich das gemerkt haben. Damit Sie aber sehen, daß auch andere ein gutes Gedächtnis haben: Sie sind Josella Playton, Autorin von –«
»Sie irren«, unterbrach sie ihn energisch. »Ich bin Josella Masen, Autorin von ›David Masen‹.«
»Ach ja. Ich habe soeben die Originalausgabe gesehen, eine sehr bemerkenswerte Leistung, wenn ich so sagen darf.«
»Einen Augenblick«, sagte ich. »Dieses Feuer –?«
»Ist ungefährlich. Kann auf das Haus nicht übergreifen. Euer Holzvorrat allerdings ist, fürchte ich, zum größten Teil Rauch und Asche.«
»Wie ist es denn zu dem Brand gekommen?«
»Das hat Susan getan. Sie wollte verhüten, daß ich das Haus übersehe. Als sie die Maschine hörte, packte sie einen Flammenwerfer und stürmte heraus, um so schnell wie möglich ein Signal zu geben. Der Holzstoß lag am nächsten – ein Signal, das man nicht übersehen konnte.«
Wir traten zu den anderen ins Haus.
»Übrigens«, wandte sich Simpson zu mir, »Michael hat mir aufgetragen, Ihnen seine Entschuldigung zu überbringen.«
»Mir?« sagte ich erstaunt.
»Weil er Ihnen damals nicht geglaubt hat. Sie waren der einzige, der die Triffids als eine Gefahr erkannte.«
»Aber wußte er denn, daß ich hier war?«
»Wir erfuhren Ihren ungefähren Aufenthaltsort vor ein paar Tagen – von einem Mann, den wir alle nicht vergessen werden – einem gewissen Coker.«
»Also ist Coker auch durchgekommen«, sagte ich.
»Nach dem, was ich in Tynsham gesehen habe, war ich der Meinung, daß es ihn erwischt hatte.«
Später, nachdem wir gegessen und unseren besten Brandy hervorgeholt hatten, berichtete er, was geschehen war.
Nach ihrer Abfahrt von Tynsham, das sie Miß Durrants Herrschaft und Grundsätzen überließen, waren Michael Beadley und seine Schar also weitergezogen. Aber nicht nach Beaminster oder in dessen Umgebung, sondern in nordöstlicher Richtung, nach Oxfordshire. Beaminster war überhaupt nicht erwähnt worden. Miß Durrant mußte uns demnach absichtlich falsch informiert haben.
Die Gruppe hatte ein Landgut gefunden, das anfangs allen Erfordernissen zu entsprechen schien, und sie hätten sich dort zweifellos auch verschanzen können wie wir in Shirning, als aber die Bedrohung durch die Triffids anwuchs, zeigten sich Nachteile.
Nach einem Jahr beurteilten sowohl Michael wie der Oberst einen Aufenthalt auf lange Sicht höchst ungünstig. Es war schon viel Arbeit aufgewendet worden, doch am Ende des zweiten Sommers wurde der Beschluß zum Umzug gefaßt. Beim Aufbau einer Gemeinschaft mußte auf Jahre hinaus geplant werden. Auch war zu bedenken, daß der Umzug schwieriger wurde, je länger man zögerte. Was sie brauchten, war ein Gebiet, wo sie sich ausbreiten und entwickeln konnten; ein Gebiet mit natürlichen Verteidi-gungslinien, das sich, war es einmal von Triffids gesäubert, leicht freihalten ließ. Wo sie jetzt waren, nahm die Instandhaltung der Drahtzäune einen hohen Prozentsatz der Arbeitskraft in Anspruch. Und wuchs die Kopfzahl, mußten auch die Zäune verlängert werden. Klar, den besten natürlichen Schutz bot das Wasser. Inseln. Man hatte eine Diskussion abgehalten, wo das Für und Wider besprochen wurde.
Hauptsächlich des Klimas wegen hatte man sich zuletzt für die Insel Wight entschieden, trotz böser Vorahnungen hinsichtlich des Gebietes, das zu säubern sein würde. Sie hatten also im März des folgenden Jahres wieder gepackt und waren umgezogen.
»Als wir ankamen«, sagte Ivan, »schien es da noch mehr Triffids zu geben als an unserm früheren Aufenthaltsort. Kaum hatten wir uns in einem großen Landhaus in der Nähe von Godshill ein bißchen eingerichtet, als sie sich zu Tausenden um die Mauern versammelten. Wir ließen sie zwei Wochen lang kommen, dann fielen wir mit den Flammenwerfern über sie her.
Nachdem wir diesen ersten Haufen vernichtet hatten, ließen wir einen zweiten zusammenkommen und veranstalteten dann ein neues Massaker – und so fort. Wir konnten es uns leisten, gründlich zu Werk zu gehen, denn sobald die Säuberung durchgeführt war, brauchten wir die Werfer nicht mehr. Auf der Insel konnte es nur eine begrenzte Anzahl Triffids geben, und je mehr herbeikamen, um sich vertilgen zu lassen, um so lieber war es uns.
Doch erst nachdem wir dieses Gemetzel ein dutzendmal wiederholt hatten, stellte sich eine spürbare Wirkung ein. Wir hatten einen Ring von verkohlten Stümpfen um das Haus, bevor sie anfingen, scheu zu werden.
Es waren verteufelt mehr, als wir erwartet hatten.«
»Auf der Insel gab es mindestens ein halbes Dutzend Kulturen zur Aufzucht von Qualitätssorten – die in Parks und Privatgärten nicht gerechnet«, sagte ich.
»Das überrascht mich nicht. Es konnten, wie es dort aussah, hundert Kulturen sein. Vorher hätte ich die Gesamtzahl der Dinger im ganzen Land auf einige Tausend geschätzt, es müssen aber Hunderttausende gewesen sein.«
»Waren es auch«, sagte ich. »Sie wuchsen praktisch überall, und sie warfen einen netten Gewinn ab. Man sah nicht, wie viele es waren. Solange sie angepflockt und eingesperrt waren. Dennoch müssen, nach der Menge hier herum zu schließen, jetzt ganze Landstri-che von ihnen frei sein.«
»So ist es«, bestätigte er. »Aber gehen Sie hin und leben Sie dort, und in ein paar Tagen sammeln sie sich. Man kann es vom Flugzeug aus sehen. Ich hätte gewußt, daß hier jemand wohnte, auch ohne Susans Feuer. Sie bilden einen dunklen Saum um jede be-wohnte Stelle.
Nach und nach begannen sich die Scharen um unsere Mauern zu lichten. Vielleicht fanden sie die Gegend doch ungesund, oder es war ihnen unangenehm, auf den verkohlten Überresten ihrer Artgenossen herumzutrampeln – und natürlich waren sie weniger geworden. Wir fingen daher an, sie zu jagen, statt auf sie zu warten. War monatelang unser Hauptgeschäft. Wir kämmten die Insel Zoll für Zoll durch – oder glaubten, es getan zu haben. Glaubten, es sei uns keine, ob groß oder klein, durch die Maschen geschlüpft. Dennoch fanden wir einige im nächsten Jahr, und auch noch im übernächsten. Nun veranstalten wir jeden Frühling eine gründliche Suche, damit sich kein Same festsetzen kann.
Inzwischen ging unsere Organisationsarbeit weiter.
Am Anfang waren wir unser fünfzig oder sechzig. Ich unternahm mit dem Hubschrauber kurze Rundflüge, und wo ich die Spuren einer Gruppe sah, landete ich und lud ein, wer mitkommen wollte. Einige schlossen sich uns an – aber eine überraschende Zahl war einfach uninteressiert: sie waren das Regiertwerden satt und wollten, ungeachtet ihrer Nöte, nichts mehr davon wissen. In Südwales haben sich einige zu einer Art von Stammesgemeinschaften zusammengetan und lehnen jede Organisation ab, bis auf das Mindestmaß, das sie selber eingeführt haben. Ähnliche Gruppen findet man auch in der Nähe anderer Kohlenreviere. Die Führer sind gewöhnlich die Männer, die in der Schicht unter Tag waren und daher die grünen Sterne nicht sahen – weiß Gott, wie sie aus den Schächten kamen.
Einige lehnen jede Einmischung so entschieden ab, daß sie das Flugzeug beschießen – eine Gruppe dieser Art residiert in Brighton.«
»Weiß ich«, sagte ich, »wurde auch mit einem Warnungsschuß empfangen.«
»In jüngster Zeit gibt es mehrere dieser Art. In Maidstone, in Guildford und anderswo. Sie waren der Grund, warum wir Ihr Versteck hier nicht schon früher entdeckt haben. Die Gegend schien bei näherer Besichtigung nicht sehr gesund. Ich weiß nicht, was sich die Leute vorstellen – sind vermutlich an reichhaltige Lebensmittellager geraten und fürchten, daß sich andere da beteiligen könnten. Hätte jedenfalls keinen Sinn gehabt, Risikos einzugehen, so ließ ich sie schmoren. Dennoch schloß sich uns eine ganze Menge an. In einem Jahr stiegen wir bis auf etwa dreihundert – nicht alle sehfähig, natürlich.
Es ist erst einen Monat her, daß ich auf Coker und seine Gruppe stieß – und eine seiner ersten Fragen war übrigens, ob Sie bei uns aufgekreuzt seien. Sie hatten eine schlimme Zeit, besonders anfangs.
Ein paar Tage nach seiner Rückkehr nach Tynsham kamen zwei Frauen aus London und brachten die Seuche mit. Coker sonderte sie bei den ersten Sym-ptomen ab, aber es war zu spät. Er entschloß sich zu einem schnellen Umzug. Miß Durrant war nicht zum Weggehen zu bringen. Sie wollte bleiben, die Kranken pflegen und, wenn möglich, später nachkommen.
Sie kam nicht.
Sie nahmen die Ansteckung mit. Erst nach drei weiteren eiligen Umzügen gelang es ihnen, sie abzuschütteln. Sie waren dabei immer weiter nach Westen bis nach Devonshire gekommen und fanden dort eine Zeitlang Ruhe. Aber dann tauchten bei ihnen die gleichen Schwierigkeiten auf, die wir hatten – und Sie haben. Coker hielt dort fast drei Jahre durch und kam dann zu ähnlichen Schlußfolgerungen wie wir. Nur dachte er nicht an eine Insel. Statt dessen entschied er sich für eine Flußgrenze und eine Umzäunung, um eine Ecke von Cornwall abzuschneiden. Die ersten Monate verwendeten sie dort zum Aufbau einer Sperre und machten sich dann an das Ausrottungswerk wie wir auf der Insel. Sie hatten allerdings ein viel schwierigeres Gelände, und eine vollkommene Säuberung gelang ihnen nie. Die Umzäunung bot zwar einen wirksamen Schutz, war aber nicht so verläßlich wie das Meer; zuviel Arbeitskraft mußte mit der Bewachung vertan werden.
Coker ist der Meinung, sie hätten es geschafft, sobald die Kinder zur Mitarbeit herangezogen werden konnten, aber eine beschwerliche Sache wäre es immer geblieben. Sie zögerten daher nicht lange, auf meinen Vorschlag einzugehen. Fingen gleich an, ihre Fischerboote zu beladen und waren alle innerhalb von vierzehn Tagen auf der Insel. Als Coker sah, daß Sie nicht bei uns waren, beschrieb er uns, wo Sie etwa zu finden wären.«
»Sie können ihm ausrichten, daß aller Groll zwischen uns begraben ist«, sagte Josella.
»Er hat sich als ein sehr fähiger Mann entpuppt«, sagte Ivan. »Und nachdem, was er uns erzählt hat, sind Sie das auch«, fügte er mit einem Blick auf mich hinzu. »Sie sind doch Biochemiker, nicht wahr?«
»Biologe«, berichtigte ich, »mit ein bißchen Biochemie.«
»Diese Feinheiten müssen wir Ihnen überlassen.
Die Sache ist die: Michael hat versucht, ein wissenschaftliches Verfahren zur Vernichtung der Triffids entwickeln zu lassen. So etwas muß gefunden werden, wenn es weitergehen soll. Die Schwierigkeit ist nur, daß die Leute, die sich jetzt mit dieser Sache beschäftigen, ihre biologischen Schulkenntnisse zumeist vergessen haben. Wie wär's – wollen Sie sich nicht als Dozent etablieren? Wäre doch eine Aufgabe, die Sie reizen müßte.«
»Könnte mir keine denken, die mich mehr reizt«, erklärte ich.
»Soll das heißen, daß Sie uns alle auf Ihre Insel einladen?« fragte Dennis.
»Nun, auf Probe zumindest«, antwortete Ivan. »Bill und Josella werden sich noch an die allgemeinen Grundsätze erinnern, die damals auf der Universität erklärt wurden. Sie gelten noch immer. Wir sind nicht darauf aus, das Alte wiederherzustellen – wir wollen etwas Neues und Besseres aufbauen. Eine Sache, für die sich manche nicht eignen. Die können wir nicht brauchen. An einer Oppositionspartei, die die alten Mißstände verewigen will, haben wir kein Interesse.
Es ist uns lieber, diese Leute gehen anderswohin.«
»Anderswohin ist leicht gesagt«, bemerkte Dennis.
»Oh, nicht daß wir sie zu den Triffids zurückschicken. Wir hatten solche Leute bei uns, und es mußte ein Platz für sie gefunden werden; zu diesem Zweck ging ein Trupp auf die Kanalinseln und führte dort die gleiche Säuberung durch wie wir auf der Insel Wight. An die hundert zogen hinüber. Auch ihnen geht es gut.«
»Wir haben nun diese Probezeit eingeführt. Neuankömmlinge bleiben sechs Monate, dann folgt eine Verhandlung vor dem beratenden Ausschuß. Gefällt es ihnen nicht bei uns, sagen sie es; und halten wir sie für ungeeignet, sagen wir es auch. Sind sie geeignet, bleiben sie; wenn nicht, bringen wir sie auf die Kanalinseln – oder zurück aufs Festland, sollten sie diesen seltsamen Wunsch haben.«
»Klingt etwas diktatorisch – wie ist denn dieser beratende Ausschuß zusammengesetzt?« wollte Dennis wissen.
Ivan schüttelte den Kopf.
»Es würde jetzt zu lange dauern, Verfassungsfragen zu erörtern. Am besten, ihr kommt hin und unterrichtet euch an Ort und Stelle. Gefällt es euch, bleibt ihr – aber auch wenn das nicht der Fall sein sollte, werdet ihr es auf den Kanalinseln immer noch besser haben als hier in ein paar Jahren.«
An dem Abend, nachdem Ivan abgeflogen und im Südwesten verschwunden war, setzte ich mich auf meine Lieblingsbank in einer Ecke des Gartens.
Ich schaute hinunter in das Tal und erinnerte mich an die wohlentwässerten und gepflegten Wiesen von einst. Nun war alles weit fortgeschritten auf dem Weg zur Wildnis. Auf den verlassenen Feldern wucherte Gestrüpp, breiteten sich Röhricht und Tümpel aus. Die größeren Bäume versanken langsam in dem aufgeweichten Boden.
Ich dachte an Coker und an das, was er über den Führer, den Lehrer und den Arzt gesagt hatte – und an all die Arbeit, die es kosten würde, die Nahrung für uns aus diesem Stückchen Erde herauszuholen.
An die Zeit, wo wir hier wie Gefangene sein würden.
An die drei verbittert alternden Blinden. An Susan und ihre Chance, einen Mann und Kinder zu haben.
An David und an Marys Töchterchen und die anderen Kinder, die noch kommen konnten und Bauernarbeit leisten mußten, sobald sie stark genug waren.
An Josella und mich, immer schwerer arbeitend, je älter wir wurden, da mehr Menschen zu erhalten waren und mehr Arbeit mit der Hand getan werden mußte ...
Und draußen warteten geduldig die Triffids. Außerhalb der Umzäunung konnte ich sie sehen, zu Hunderten, eine dunkelgrüne Hecke. Da war Forschungsarbeit zu leisten – ein natürlicher Gegner mußte gefunden werden, ein Gift, ein Schädling irgendwelcher Art; dazu mußte man von anderen Aufgaben befreit werden, und zwar bald. Die Zeit arbeitete für die Triffids. Sie brauchten bloß zu warten, bis unsere Hilfsquellen erschöpft waren. Zuerst der Brennstoff, dann der Draht zum Ausbessern des Zaunes. Und die Triffids dieser oder der nächsten Generation würden noch warten, wenn der Draht durchgerostet war ...
Und doch war uns Shirning zur Heimat geworden.
Ich seufzte.
Ein leichter Schritt streifte durch das Gras. Josella kam und setzte sich neben mich. Ich legte den Arm um ihre Schultern.
»Wie denken sie darüber?« fragte ich sie.
»Sie sind sehr niedergeschlagen, die Armen. Sie können das mit den Triffids auch gar nicht richtig verstehen. Und dann, weißt du, hier finden sie sich zurecht. Es muß für einen Blinden furchtbar sein, an einen ganz fremden Ort zu kommen. Sie wissen nur, was wir ihnen erzählen. Ich glaube, sie können sich nicht vorstellen, wie unmöglich es hier werden wird.
Wären nicht die Kinder, ich meine, sie würden glatt nein sagen. Es ist ihr Besitz, ihr alles. Sie fühlen das zutiefst.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Das denken sie – aber in Wahrheit ist es nicht mehr ihr, sondern unser Besitz, nicht wahr? Schwer genug haben wir dafür gearbeitet.« Sie legte ihre Hand auf die meine. »Du hast uns hier das Leben ermöglicht, Bill.
Was meinst du? Bleiben wir noch ein, zwei Jahre?«
»Nein«, sagte ich. »Ich habe gearbeitet, solange es einen Zweck hatte. Nun erscheint es – ziemlich sinnlos.«
»Oh, Lieber, das darfst du nicht sagen! Ein fahrender Ritter ist nicht sinnlos. Du hast für uns alle gekämpft und die Drachen zurückgeschlagen.«
»Es war in erster Linie wegen der Kinder«, sagte ich.
»Ja – wegen der Kinder«, stimmte sie zu.
»Besser, wir warten die Niederlage nicht ab und gehen jetzt.«
Sie drückte meine Hand.
»Keine Niederlage, lieber Bill, sondern – wie sagt man da? – ein strategischer Rückzug. Wir ziehen uns zurück, um für unsere Wiederkehr zu arbeiten und zu planen. Denn zurückkehren werden wir. Du wirst einen Weg finden, diese schändlichen Triffids auszu-tilgen und unser Land von ihnen zurückzugewinnen.«
»Du hast einen starken Glauben, Liebste.«
»Und warum nicht?«
»Nun, zumindest werde ich den Kampf mit ihnen aufnehmen. Aber zuerst gehen wir – wann?«
»Könnten wir nicht diesen Sommer noch hier zubringen? Es wäre eine Art Urlaub für uns alle – keine Vorbereitungen für den Winter. Wir verdienen auch einen Urlaub.«
»Ich glaube, das läßt sich machen«, stimmte ich zu.
Wir blieben sitzen und sahen das Tal in die Dämmerung zerfließen; Josella sagte:
»Es ist seltsam, Bill. Jetzt, da ich gehen kann, will ich nicht recht. Manchmal ist es mir hier wie in einem Gefängnis vorgekommen – und jetzt sieht das Fortgehen wie Verrat aus. Weißt du, ich – ich habe hier trotz allem die glücklichste Zeit meines Lebens verbracht.«
»Und ich, Liebste, ich habe vorher überhaupt nicht gelebt. Aber wir werden es noch besser haben – das verspreche ich dir.«
»Es ist dumm, aber ich werde weinen, wenn wir gehen. Richtig heulen. Aber das darf dich nicht kümmern«, sagte sie. Doch es kam ganz anders, und wir hatten gar keine Zeit für Tränen ...
Wie Josella angedeutet hatte, bestand kein Grund zur Eile. Während wir den Sommer noch in Shirning verlebten, konnte ich mich auf der Insel nach einem neuen Heim für uns umsehen und nach und nach den wertvollsten Teil unserer Vorräte und unserer Ausrü-
stungsgegenstände hinübertransportieren. Nun war aber unser Holzlager in Flammen aufgegangen. Da wir für ein paar Wochen Brennmaterial für die Küche benötigten, fuhren Susan und ich am nächsten Morgen aus, um Kohle zu holen.
Dafür war der Raupenwagen ungeeignet, und wir nahmen einen leichteren Lkw. Das nächste Kohlenlager der Bahn war zwar nur zehn Meilen entfernt, doch infolge der vielen Umfahrungen schlechter oder blockierter Straßen brauchten wir fast den ganzen Tag. Obwohl wir keine größere Panne hatten, ging es gegen Abend, als wir heimkehrten.
Wir bogen um die letzte Ecke, während die Triffids unermüdlich wie eh und je auf den vorüberfahrenden Wagen von den Böschungen herunterpeitschten, und trauten unseren Augen nicht. Hinter unserem Tor und mitten in unserem Hof parkte ein abenteuerli-ches Fahrzeug. Der Anblick verblüffte uns dermaßen, daß wir eine Weile starrten und staunten, bevor Susan nach Helm und Handschuhen griff, ausstieg und das Tor aufmachte.
Drinnen musterten wir das Gefährt aus der Nähe.
Das Fahrgestell war auf Raupenketten montiert, die anscheinend aus Heeresbeständen stammten. Das ganze Vehikel sah aus wie ein Zwischending von Wohnwagen und Möbelwagen. Susan und ich schauten es an und schauten dann einander mit hochgezogenen Brauen an. Wir gingen ins Haus, um Näheres zu erfahren.
Im Wohnzimmer fanden wir außer den Hausbewohnern vier Männer in graugrünem Schidreß. Zwei trugen Pistolen in Halftern an der rechten Hüfte; die beiden anderen hatten ihre Maschinenpistolen neben ihre Sessel auf den Boden gelegt.
Als wir eintraten, wandte uns Josella ein völlig ausdrucksloses Gesicht zu.
»Hier ist mein Mann. Bill, dies ist Mr. Torrence. Er sagt, er komme in offiziellem Auftrag. Er hat uns Vorschläge zu machen.« Nie hatte ihre Stimme kälter geklungen.
Einen Augenblick lang blieb ich starr und stumm.
Der Mann, den sie mir vorstellte, erkannte mich nicht, wohl aber ich ihn. Gesichtszüge, die man hinter Kimme und Korn zu sehen bekommen hat, vergißt man nicht so leicht. Außerdem war da noch dieses auffällige rote Haar. Ich erinnerte mich gut, auf welche Art dieser tüchtige junge Mann meinen Trupp in Hamstead zum Rückmarsch gezwungen hatte. Ich nickte ihm zu. Er blickte mich an und sagte:
»Ich höre, daß Sie hier die Leitung innehaben, Mr. Masen?«
»Mr. Brent hier ist der Besitzer«, entgegnete ich.
»Aber Sie sind der Organisator dieser Gruppe?«
»Unter den gegenwärtigen Umständen, ja«, sagte ich.
»Gut.« Seine Miene drückte aus: Nun kommen wir zur Sache.
»Ich bin Kommandant, Südostsektor«, setzte er hinzu.
In einem Ton, als sollte mir das etwas sagen. Was nicht der Fall war. Gestand das auch unumwunden.
»Das heißt«, ergänzte er, »ich bin Chef der Exekutive des Katastrophenausschusses für Südostengland.
Zu meinen Obliegenheiten gehört es, Verteilung und Zuweisung des Personals zu überwachen.«
»So«, sagte ich. »Ich habe nie etwas gehört von diesem – ahem – Ausschuß.«
»Möglich. Auch wir wußten nichts von der Existenz Ihrer Gruppe, bis wir gestern das Feuer sahen.«
Ich wartete, daß er weitersprach ...
»Sobald eine solche Gruppe entdeckt wird«, fuhr er fort, »ist es meine Aufgabe, sie zu überprüfen und einzuschätzen und die notwendige Gleichschaltung durchzuführen. Ich bin also, wie Sie sehen, in einer offiziellen Mission hier.«
»Im Auftrag eines offiziellen Ausschusses – oder eines selbstgewählten?« forschte Dennis.
»Gesetz und Ordnung müssen sein«, erklärte der Mann kategorisch. Dann meinte er in verändertem Ton:
»Das ist ein gut ausgesuchter Platz, den Sie da haben, Mister Masen.«
»Den Mr. Brent hat«, berichtigte ich.
»Lassen wir Mr. Brent. Er ist nur hier, weil Sie es ihm ermöglichten, hier zu bleiben.«
Ich blickte zu Dennis hinüber, dessen Gesicht sich verfinsterte.
»Nichtsdestoweniger ist er der Eigentümer«, beharrte ich.
»War, wollen Sie sagen. Die gesellschaftlichen Zustände, die das Eigentum sanktionierten, existieren nicht mehr. Besitzansprüche sind damit ungültig geworden. Überdies hat Mister Brent sein Sehvermögen verloren, ist also gar nicht in der Lage, seine Rechte geltend zu machen.«
»So«, sagte ich nochmals.
Ich hatte schon bei unserem ersten Zusammentreffen eine Antipathie gefaßt gegen diesen jungen Mann und sein entschiedenes Auftreten. Nähere Bekanntschaft trug nicht dazu bei, dieses Gefühl abzuschwächen. Er fuhr fort:
»Heute geht es um das nackte Leben. Nicht um gefühlsmäßige Rücksichten, sondern um praktische Maßnahmen. Nach den Angaben von Mrs. Masen seid ihr acht im ganzen. Fünf Erwachsene, das Mädchen hier und zwei kleine Kinder. Alle sind sehfähig bis auf diese drei.« Er wies auf Dennis, Mary und Joyce.
»So ist es«, bestätigte ich.
»Hm. Zahlenmäßig ganz unhaltbare Verhältnisse.
Hier müssen einige Abänderungen getroffen werden, fürchte ich. In solchen Zeiten ist eine realistische Einstellung notwendig.«
Josella warf mir einen warnenden Blick zu. Aber es war ohnedies nicht meine Absicht, zu diesem Zeitpunkt loszubrechen. Ich wußte, wessen ich mich von dem Rothaarigen zu versehen hatte, und wollte mich nur vergewissern, wem ich da eigentlich gegenüber-stand. Anscheinend merkte er das.
»Damit Sie im Bilde sind«, sagte er. »Die Sache ist kurz die: Hauptquartier für diesen Sektor ist in Brighton. London wurde bald unhaltbar für uns. In Brighton gelang es uns, einen Teil der Stadt zu säubern und abzusperren und zu leiten. Brighton ist groß. Sobald die Krankheit abgeflaut war und man sich freier bewegen konnte, fanden wir eine Menge Proviant. Neuerdings haben wir auch von anderwärts Transporte herangefahren. Aber das geht jetzt zu Ende. Die Straßen werden für Lastkraftwagen unpassierbar, und wir müssen zu weit fahren. Das war na-türlich vorauszusehen. Wir haben allerdings gerechnet, es würde ein paar Jahre länger dauern – nun, da läßt sich nichts ändern. Möglich, daß wir am Anfang zu viele Blinde übernommen haben. Jedenfalls müssen wir uns jetzt dezentralisieren. Wir können nur auf dem Land weiterleben. Wir müssen uns daher in kleinere Gruppen aufteilen. Wir haben den Standard so bestimmt, daß pro Gruppe auf je eine sehfähige Person zehn Blinde kommen, plus Kinder in unbestimmter Zahl.
Sie haben hier ein gutes Stück Land, das ohne weiteres zwei Gruppen aufnehmen kann. Wir werden Ihnen siebzehn Blinde zuweisen, macht mit denen, die hier sind, zwanzig – selbstverständlich wieder plus Kinder in unbestimmter Zahl.«
Ich starrte ihn entgeistert an.
»Sie wollen im Ernst behaupten, daß zwanzig Erwachsene und ihre Kinder von diesem Stück Land leben können?« sagte ich. »Ist ganz und gar unmöglich.
Wir haben uns schon gefragt, ob es für uns reicht.«
Er schüttelte zuversichtlich den Kopf.
»Es ist durchaus möglich. Und was ich Ihnen anbiete, ist das Kommando über die beiden Gruppen, die wir hier einquartieren werden. Offen gesagt, falls Sie ablehnen, setzen wir einen anderen her. Wir dürfen uns in diesen Zeiten keine Vergeudung leisten.«
»Aber schauen Sie sich den Besitz an«, wiederholte ich. »Es ist einfach nicht zu machen.«
»Ich versichere Ihnen, es ist zu machen, Mr. Masen.
Natürlich müssen Sie Ihren Lebensstandard ein bißchen senken – müssen wir alle die nächsten paar Jahre, aber sobald die Kinder herangewachsen sind, haben Sie Arbeitskräfte und können Ihre Basis verbrei-tern. Sechs oder sieben Jahre werden Sie sich plagen müssen – dagegen läßt sich nichts tun. Dann aber können Sie allmählich nachlassen, bis Sie nur mehr die Aufsicht führen. Das ist doch gewiß ein schöner Gewinn für ein paar Jahre Plage?
Was für Aussichten haben Sie denn jetzt? Nichts als schwere Arbeit bis ans Ende – und Ihre Kinder würden es nicht besser haben, auch sie müßten sich abmühen um das nackte Leben. Woher sollen unter solchen Umständen die künftigen Führer und Verwalter kommen? Wenn Sie so weiter tun, sind Sie in zwanzig Jahren verbraucht und doch noch in den Sielen – und alle Ihre Kinder werden sture Klötze. Bei uns werden Sie Chef eines Clans, der für Sie arbeitet, und darüber hinaus erhalten Sie ein Erbe, das Sie Ihren Söhnen weitergeben können.«
Langsam dämmerte es bei mir. Erstaunt sagte ich:
»Verstehe ich recht, so bieten Sie mir ein Lehen an – eine Art Feudalherrschaft?«
»Aha«, sagte er. »Ich sehe, Sie fangen an, zu begrei-fen. Ein solches System ist unter den gegebenen Umständen die nächstliegende und natürlichste Gesellschafts- und Wirtschaftsform.« Kein Zweifel, daß es dem Mann mit diesem Projekt vollkommen ernst war.
Ich wich einer Erörterung aus, indem ich wiederholte:
»Aber so viele kann dieses Stück Land nicht ernähren.«
»Sie werden sie ein paar Jahre lang wohl hauptsächlich mit Triffidmaische durchbringen müssen. An diesem Material wird es Ihnen in absehbarer Zeit nicht mangeln.«
»Das ist ja Tierfutter!« sagte ich.
»Aber nahrhaft und vitaminreich, wie ich höre.
Und Bettler – besonders blinde Bettler – dürfen nicht wählerisch sein.«
»Ich soll also all diese Leute aufnehmen und ihnen Viehfutter vorsetzen?«
»Hören Sie, Mr. Masen. Wären wir nicht, würden weder diese Blinden noch ihre Kinder jetzt am Leben sein. Sie haben zu tun, was wir Ihnen sagen, zu nehmen, was wir ihnen geben, und dankbar zu sein für alles, was sie kriegen. Gefällt ihnen nicht, was wir bieten – auch gut, es ist ihr Schaden.«
Ich hielt es im Augenblick für unklug, mich zu dieser Philosophie zu äußern. Ich wandte mich einem anderen Aspekt der Sache zu:
»Und wo stehen Sie und der Ausschuß in all dem?«
»Oberste Gewalt und gesetzgebende Befugnisse liegen beim Ausschuß. Er regiert. Er hat auch den Oberbefehl über die Streitkräfte.«
»Streitkräfte?« wiederholte ich verblüfft.
»Gewiß. Die Streitkräfte werden nach Bedarf aus den Feudalherrschaften, wie Sie sie genannt haben, ausgehoben. Dafür haben diese das Recht, sich bei Angriffen von außen oder bei Unruhen im Innern an den Ausschuß zu wenden.«
Nachgerade verschlug es mir den Atem.
»Eine Armee! Könnte nicht eine kleine, schnelle Polizeitruppe ...?«
»Ich sehe, Sie haben die Lage nicht in ihren weiteren Aspekten erfaßt. Mr. Masen. Die Heimsuchung, die uns betroffen hat, war, wie Sie wissen, nicht auf die Inseln beschränkt. Sie war weltweit. Überall herrscht das gleiche Chaos – wäre das nicht der Fall, hätten wir es erfahren – und wahrscheinlich gibt es in jedem Land einige Überlebende. Nun versteht es sich von selbst, nicht wahr, daß das erste Land, das wieder hochkommt und bei sich Ordnung macht, die Chance hat, auch anderwärts Ordnung zu machen?
Sollten wir das einem anderen Land überlassen und zusehen, wie es die führende Macht in Europa wird – und vielleicht nicht nur in Europa? Sicherlich nicht.
Klar, daß es unsere nationale Pflicht ist, zu trachten, daß wir selber möglichst bald hochkommen und die führende Macht werden, so daß es nicht zur Bildung einer gefährlichen Opposition gegen uns kommen kann. Je früher wir eine Streitmacht aufstellen können, die jeden Angreifer abschreckt, um so besser.«
Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Dann lachte Dennis gezwungen auf:
»Herrgott! Da haben wir all das durchgemacht – und jetzt will der Mann einen Krieg führen!«
Torrence sagte kurz:
»Ich bin, scheint es, nicht verstanden worden. Das Wort ›Krieg‹ ist eine ungerechtfertigte Übertreibung.
Es wird sich nur um Befriedungsaktionen bei Stämmen handeln, die in Barbarei und Gesetzlosigkeit zurückgesunken sind.«
»Falls die nicht auf den gleichen menschenfreund-lichen Gedanken gekommen sind«, bemerkte Dennis.
Ich gewahrte, daß sowohl Josella wie Susan mich unverwandt anblickten. Josella deutete auf Susan, ich ahnte, warum.
»Darf ich klarstellen?« sagte ich. »Sie erwarten also von uns drei Sehfähigen, daß wir die volle Verantwortung für zwanzig blinde Erwachsene und eine unbestimmte Anzahl Kinder übernehmen. Es kommt mir vor ...«
»Blinde sind nicht ganz arbeitsunfähig. Sie können eine Menge leisten. Sich um die eigenen Kinder kümmern und bei der Zubereitung des Essens mithelfen. Ist die Sache richtig organisiert, läßt sich vieles auf Überwachung und Anleitung beschränken. Aber es werden nur zwei sein, Mr. Masen – Sie und Ihre Frau, nicht drei.«
Ich blickte auf Susan, die sehr aufrecht dasaß in ihrem blauen Arbeitsanzug und mit einem roten Band im Haar. Sie sah unruhig von mir zu Josella.
»Drei«, sagte ich.
»Es tut mir leid, Mr. Masen. Die Zuweisung lautet auf zehn pro Gruppe. Das Mädchen kann ins Hauptquartier kommen. Sie kann sich dort nützlich machen, bis sie alt genug ist, selber eine Gruppe zu übernehmen.«
»Meine Frau und ich betrachten Susan als unsere Tochter«, erklärte ich kurz.
»Ich wiederhole, es tut mir leid. Wir müssen uns an die Bestimmungen halten.«
Ich sah ihn eine Weile an. Er erwiderte den Blick.
Zuletzt:
»Wir würden natürlich Garantien für sie verlangen, wenn das geschehen müßte«, sagte ich.
Ich hörte mehrfach heftig eingezogenen Atem. Torrence wurde etwas umgänglicher.
»Wir werden Ihnen natürlich jede mögliche Sicherheit geben«, versprach er.
Ich nickte. »Ich muß mir das alles noch durch den Kopf gehen lassen. Es ist neu für mich und ziemlich überraschend. Einige Punkte will ich gleich erwähnen. Unser Material ist verbraucht. Es ist schwer, unbeschädigtes aufzutreiben. Ich werde bald einige kräftige Arbeitspferde nötig haben.«
»Pferde sind eine Schwierigkeit. Unser Bestand ist zur Zeit sehr gering. Sie werden zunächst wohl Menschenkraft für Ihre Gespanne verwenden müssen.«
»Dann«, sagte ich, »was die Unterbringung betrifft.
Die Nebengebäude sind zu klein für diesen Zweck – und ich allein bin nicht imstande, Unterkünfte einzurichten.«
»Da, glaube ich, können wir Ihnen helfen.«
Wir besprachen noch etwa zwanzig Minuten lang Einzelheiten. Am Ende hatte ich ihn so weit, daß er so etwas wie Freundlichkeit zeigte, dann wurde ich ihn los, indem ich ihn einlud, sich den Besitz anzusehen; Susan machte, sehr mißvergnügt, die Führerin.
»Bill, wie kannst du nur –?« begann Josella, sobald ich die Tür hinter ihm und seinen Begleitern geschlossen hatte.
Ich erzählte, was ich von Torrence und seiner Methode wußte, Schwierigkeiten mit der Schußwaffe zu beseitigen.
»Das überrascht mich nicht«, bemerkte Dennis.
»Aber was mich überrascht, ist, daß mir plötzlich die Triffids sympathisch werden. Ohne ihre Intervention hätten wir wohl schon öfter mit solchen Leuten zu tun gehabt. Wenn sie der einzige Faktor sind, der die Rückkehr zur Leibeigenschaft verhindert, dann kann ich ihnen nur Glück wünschen.«
»Das ganze Projekt ist vollständig absurd«, sagte ich. »Es hat nicht die geringste Aussicht auf Gelingen.
Wie sollten Josella und ich eine solche Schar von Blinden versorgen und die Triffids in Schach halten?
Aber –«, fügte ich hinzu, »wir sind kaum in der Lage, ein glattes ›Nein‹ zu einem Vorschlag zu sagen, den vier Bewaffnete machen.«
»Dann wirst du also nicht –?«
»Liebste«, antwortete ich, »kannst du dir wirklich vorstellen, wie ich als Feudalherr, mit der Peitsche in der Hand, meine Hörigen und Leibeigenen vor mir hertreibe? Selbst wenn mich nicht vorher die Triffids überrannt haben?«
»Aber du hast doch gesagt –«
»Hör zu«, unterbrach ich sie. »Es wird dunkel. Zu spät für sie, heute noch an die Abfahrt zu denken. Sie müssen die Nacht über bleiben. Ich stelle mir vor, ihr Programm wird sein, morgen Susan mitzunehmen –
als Geisel und Faustpfand für unser Verhalten. Vielleicht bleiben auch einer oder zwei hier zurück, um uns zu überwachen. Nun, ich glaube, dazu dürfen wir es nicht kommen lassen?«
»Nein, aber –«
»Hoffentlich habe ich ihn überzeugt davon, daß er mich für das Projekt gewonnen hat. Tische heute abend ein Festessen auf, das diese Überzeugung bestärkt. Sorge, daß sich alle satt essen. Auch die Kinder. Hole unsere besten Getränke. Und sorge, daß Torrence und seine Begleiter nicht das Trinken vergessen, wir bleiben mäßig. Gegen Ende der Festivität werde ich auf ein paar Minuten verschwinden. Aber die Stimmung darf darunter nicht leiden. Spiele ihnen Platten mit Negermusik vor oder was. Und alle helfen mit. Laut und lustig. Und noch etwas – keiner von euch erwähnt die Gruppe Beadley. Torrence ist sicher über das Unternehmen auf der Insel Wight unterrichtet, glaubt aber, daß wir nichts davon wissen.
Nun brauche ich einen Sack Zucker.«
»Zucker?« sagte Josella verblüfft.
»Haben wir nicht? Eine große Kanne Honig dann.
Wird es, denke ich, auch tun.«
Alle spielten ihre Rollen beim Abendessen zufriedenstellend. Die Gesellschaft taute nicht nur auf, sondern wurde richtig warm. Josella tischte ihren selbstge-brauten starken Met auf, um die üblicheren Getränke zu ergänzen, und fand Beifall. Die Besucher waren in bester Laune, als ich meinen unauffälligen Ausgang unternahm.
Ich packte ein Bündel Decken und Kleider und ein Paket Lebensmittel, die ich bereitgelegt hatte, und eilte damit über den Hof zum Schuppen, wo wir den Raupenwagen eingestellt hatten. Mit einem Schlauch von dem Tankwagen, der unseren Benzinvorrat enthielt, füllte ich die Behälter des Raupenwagens bis zum Überfließen. Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit Torrences absonderlichem Fahrzeug zu. Mit Hilfe einer Taschenlampe machte ich den Einfüllstut-zen ausfindig und goß einen guten Liter Honig in den Tank. Den Rest der großen Kanne Honig leerte ich in den Tankwagen selbst.
Ich konnte die Gesellschaft singen hören, sie war also noch immer gut in Fahrt. Nachdem ich zu den Dingen, die schon in dem Raupenwagen waren, einiges Abwehrmaterial gegen die Triffids und was mir sonst noch einfiel, hinzugefügt hatte, ging ich wieder zurück und blieb bis zum allgemeinen Aufbruch, der sich in einer fast rührseligen Stimmung vollzog.
Wir warteten zwei Stunden, damit sie fest schliefen.
Der Mond war aufgegangen und der Hof mit weißem Licht überflutet. Ich hatte vergessen, die Torangeln des Schuppens zu ölen und verwünschte jeden knarrenden Laut. Meine Schützlinge kamen der Reihe nach auf mich zu. Die beiden Brents und Joyce, die sich hier auskannten, brauchten keine führende Hand. Hinter ihnen kamen Josella und Susan, die Kinder im Arm. Davids verschlafene Stimme wurde einen Augenblick lang hörbar, doch Josella legte ihm schnell die Hand auf den Mund und brachte ihn zum Schweigen. So hielt sie ihn noch immer, als sie vorn einstieg. Ich half den anderen in den Fond des Wagens und schloß ihn. Dann erklomm ich den Fahrersitz, küßte Josella und tat einen tiefen Atemzug.
Vor dem Hoftor drängten die Triffids näher, wie immer, wenn sie einige Stunden ungestört geblieben waren.
Der Himmel war uns gnädig, und der Motor sprang gleich an. Ich schaltete den langsamen Gang ein, kurvte um Torrences Fahrzeug und steuerte direkt auf das Tor los. Die schwere Stoßstange durchstieß es mit einem Krach. Wir schlingerten vorwärts, behängt mit Drahtgeflecht und Holztrümmern, ein Dutzend Triffids überrollend, während die übrigen wütend auf uns lospeitschten. Dann hatten wir freie Bahn.
Als wir auf dem Berghang eine Stelle erreichten, wo man auf Shirning hinuntersehen konnte, hielt ich an und drosselte den Motor. Hinter einigen Fenstern waren Lichter, und während wir schauten, flammten die des Fahrzeugs auf und beleuchteten das Haus.
Ein Starter begann zu surren. Ich zuckte zusammen, als der Motor ansprang, obwohl ich wußte, daß wir die mehrfache Geschwindigkeit dieses ungefügen Kahns hatten. Die Maschine begann, auf ihren Raupenketten sich in Richtung auf das Tor hin zu drehen.
Doch bevor die Drehung durchgeführt war, knatterte der Motor und stockte. Wieder begann der Starter zu surren. Er surrte und surrte, gereizt und vergeblich.
Die Triffids hatten entdeckt, daß das Tor umgelegt war. In der Helle des Mondlichts und der Scheinwerferreflexe sahen wir, wie die hohen, schlanken Gestalten in einer grotesken schwankenden Prozession in den Hof stelzten, während andere die Böschungen herabtorkelten, um sich ihren Vorgängerinnen an zuschließen ...
Ich blickte auf Josella. Sie hatte nicht angefangen ›richtig zu heulen‹, sie weinte überhaupt nicht. Sie wandte den Blick von mir zu dem in ihren Armen schlafenden Kind.
»Ich habe alles, was ich wirklich brauche«, sagte sie, »und eines Tages wirst du uns zu den anderen zurückbringen, Bill.«
»Dein Vertrauen ehrt mich, Liebste, aber – nein, verdammt, keine Aber – ich werde euch zurückbringen«, versprach ich.
Ich stieg ab, um die Front des Wagens von den Trümmern und die Windschutzscheibe von den Giftspritzern zu säubern und so meinen Weg zu sehen auf der Fahrt über die Berge nach Südwest.
Und an dieser Stelle schließen sich meine persönlichen Aufzeichnungen an die Geschichte der Kolonie, von der Elspeth Cary eine ausgezeichnete Darstellung gegeben hat.
Alle unsere Hoffnungen sind nun hier verankert.
Es ist kaum wahrscheinlich, daß aus Torrences Projekt etwas entsteht, das Dauer hat, obschon einige seiner Feudalherrschaften noch existieren, deren Bewohner hinter ihren Palisaden ein elendes Leben fristen. Und es sind ihrer immer weniger. Von Zeit zu Zeit berichtet Ivan, daß wieder eine überrannt wurde und die Triffids, die sie eingeschlossen hatten, zu anderen Belagerungen abgewandert sind.
So bleibt die Aufgabe uns allein vorbehalten. Wir glauben, einen Weg zu sehen, aber es wird noch viel Forschung und Arbeit notwendig sein, ehe der Tag anbricht, wo wir oder unsere Kinder oder Kindeskinder die Meerenge überschreiten und den unerbittli-chen Vernichtungsfeldzug gegen die Triffids beginnen, der nicht eher enden wird, als bis die letzte vom Antlitz der Erde getilgt ist.