Bernhard Hennen Drachenelfen: Die Windgängerin

Für Lara,

die mich in ihr Fjordland einlud und mir zeigte, was wahrer Heldenmut ist.

Now this is not the end. It is not even the beginning of the end. But it is, perhaps, the end of the beginning.

(Dies ist nicht das Ende. Es ist noch nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist vielleicht das Ende eines Anfangs.)

Winston Churchill

Aus der Rede nach dem britischen Sieg über das deutsche Afrika-Korps in der zweiten Schlacht von El Alamein in Ägypten, 1942

Erstes Buch Die Tiefe Stadt

Prolog

»Du gibst mir sofort den Stein«, zischte Sina. Sie war einen Kopf größer als er und die Tochter des reichsten Bauern von Belbek. Sich ihr zu widersetzen war dumm. Aber Daron dachte gar nicht daran, seinen Schatz aufzugeben. Er hielt den Stein fest umklammert.

Niemand kam ihm zu Hilfe. Alle anderen Kinder fürchteten sich vor Sina. Sie standen einfach um sie beide herum und warteten ab, wer das Ringen gewinnen würde.

»Du könntest sie in den Arm beißen«, flüsterte Tura, der Kleinste in der Schar, die sich hinaus in den Palmhain geschlichen hatte.

Sina warf ihm einen giftigen Blick zu. »Das hab ich gehört.«

Daron nutzte den Augenblick, den sie abgelenkt war, und trat ihr vors Schienbein. Fluchend ließ sie den Stein los und verpasste ihm gleich darauf eine Ohrfeige. »Behalt das dumme Ding doch. Ein Stein ist gar kein richtiger Schatz!«

»Doch«, entgegnete er trotzig. »Dieser schon und das weißt du ganz genau.«

Daron hielt seinen kostbarsten Besitz fest umklammert. Sein Vater Narek hatte den Stein, am Tag bevor er gegangen war, beim Umgraben ihres kleinen Ackers gefunden und ihm geschenkt. In ganz Belbek gab es keinen zweiten Stein wie diesen. Er war auf einer Seite weiß wie frische Ziegenmilch und auf der anderen so schwarz wie Holzkohle. Daron konnte den Stein mit der Hand nicht ganz umschließen. Er war flach und kaum dicker als sein kleiner Finger.

Es war so unendlich lange her, dass sein Vater davongezogen war, um für den Unsterblichen Aaron zu kämpfen. Waren es wirklich erst drei Monde? Daron kam es vor wie drei Jahre.

»Fangen wir an.« Sina war immer noch schlecht gelaunt. »Ihr seid die rattengesichtigen Luwier, und wir werden euch aus dem Palmpalast vertreiben.«

»Wir, die Luwier?«, empörte sich Daron. »Das geht nicht!«

»Und ob das geht! Wir waren gestern erst die miesen Luwier. Heute seid ihr dran.«

Daron schüttelte entschieden den Kopf. »Mein Papa zieht mit dem Heer von Aram. Da kann ich doch keinen Luwier spielen. Das ist gegen die Ehre der Familie.«

»Und mein Papa sagt, dass dein Vater höchstens die Pferdeäpfel hinter den Streitwagen des Unsterblichen kehrt. Narek ist gar kein Krieger. Das wissen alle hier im Dorf.«

Daron kämpfte gegen einen Kloß im Hals. Sina konnte so gemein sein. Genau wie ihr Vater! Natürlich wusste er auch, dass sein Papa kein Krieger war, aber er war trotzdem ein Held. Außer ihm und seinem Freund Ashot hatte sich keiner getraut, mit dem Werber des Unsterblichen zu gehen.

»Wir könnten doch wieder den Stein entscheiden lassen«, schlug Tura vor.

»Der Stein betrügt«, grummelte Sina.

»So ein Quatsch. Wir machen es so!« Daron blickte in die Runde. Alle waren einverstanden.

»Aber ich werfe diesmal den Stein!«, befahl Sina.

Widerwillig gab er ihr seinen Schatz zurück. »Mach ihn nicht kaputt.«

»Steine gehen nicht leicht kaputt.« Sie strich über die glatte Oberfläche und betrachtete ihn gierig. »Wenn weiß oben liegt, sind ich und meine Krieger heute die Guten.« Sie streichelte den Stein, als sei er ein junges Kätzchen. Dann warf sie ihn hoch in die Luft. Er drehte sich im Flug, sodass abwechselnd die schwarze und die weiße Seite zu sehen waren.

Als er zu Boden fiel, lag schwarz oben.

Sina seufzte. »Ich sag doch, der Stein betrügt.«

Stolz wandte sich Daron an seine kleine Streitmacht. Sie waren zu siebt. Sina hatte genauso viele Gefolgsleute. Aber ihre Freunde waren alle schon etwas größer. Von den letzten fünf Schlachten um den Palmpalast hatte Sina vier gewonnen. Deshalb wollten die meisten lieber in ihrem Heer mitmachen. Sogar wenn sie dann Luwier sein mussten. Wer in der Schlacht siegte, dem gehörten am nächsten Tag alle reifen Datteln, die von den Palmen zu Boden fielen. Jedenfalls wenn Sinas Vater die Plünderer nicht erwischte, denn der Palmhain gehörte eigentlich ihm, und er ließ sich nicht gerne berauben.

»Wir sind heute Daimonen«, erklärte Sina plötzlich. »Wenn wir schon die Bösen sein sollen, dann sind wir wenigstens so richtig böse.«

Alle sahen sie erschrocken an.

»Meine Tante sagt, wenn man von Daimonen spricht, dann kommen sie auch«, flüsterte Tura.

»Wenn du Angst hast, dir gleich in deinen Wickelrock zu pinkeln, dann geh doch nach Hause, Tura.«

Daron schob sich vor den Kleinen. »Wir haben vor gar nichts Angst!« Allerdings gefiel ihm die Idee mit den Daimonen auch nicht. Es war schon dunkel. Die Erntezeit hatte schon begonnen, deshalb hatten sie alle lange auf den Feldern arbeiten müssen.

»Dann also los!«, rief Sina begeistert. »Folgt mir, Daimonen!«

»Ihr seid die Angreifer. Verlasst sofort den Palmpalast.« Daron wies auf das Hirsefeld hinter der niedrigen Bruchsteinmauer. »Ihr kommt von da.«

Sinas Daimonenschar zog willig davon, während unter Darons Gefolgschaft gedrückte Stimmung herrschte.

»Die werden uns bestimmt verprügeln«, sprach Tura laut aus, was alle dachten.

»Warum?«, entgegnete Daron trotzig.

»Na, weil sie eben Daimonen sind.« Tura sah aus, als würde er gleich anfangen zu heulen. »Und dunkel ist es auch schon. Und wenn ich zu Hause erwischt werde, wie ich mich so spät in mein Bett schleiche, werde ich gleich noch mal verprügelt.«

»Verteidiger von Belbek«, Daron versuchte mit fester Stimme zu sprechen, so wie ein richtiger Held. »Suchen wir uns Steine zum Werfen. Die Daimonen sollen eine Überraschung erleben, wenn sie kommen.«

Damit hatte er sie. Seine Freunde verteilten sich im Palmhain.

»Gehen auch Datteln?«, rief Tura.

Daron lachte. »Wenn du ein paar besonders harte findest.«

In der Ferne war ein Geräusch wie Donnergrollen zu hören.

»Daron!«, erklang Sinas Stimme irgendwo zwischen den Palmen. »Komm schnell! Autsch. Verdammt, hört auf, mich mit Steinen zu bewerfen. Komm endlich, Daron! Das musst du sehen! Komm zur Bruchsteinmauer.«

War das eine Falle? Daron schob sein Holzschwert hinter das alte Hanfseil, das ihm als Gürtel diente. »Kommt alle mit. Und nehmt eure Steine mit, falls die uns hereinlegen.«

Sie kamen unbehelligt bis zur Mauer. Sinas Gefolgschaft stand oben. Alle blickten sie gen Osten. Das Donnergrollen war jetzt deutlich zu hören. Ja, es hörte gar nicht mehr auf. Da kam kein gewöhnliches Gewitter auf sie zu.

Hastig kletterte Daron die niedrige Mauer hinauf. Eine Kette aus kleinen Flammen zog über die Ebene in Richtung ihres Dorfes.

»Da seht ihr es, jetzt kommen die Daimonen«, sagte Tura und begann zu weinen.

Daron lief es eiskalt den Rücken hinab. Er war im Augenblick der Mann im Haus, und er hatte nur ein Holzschwert, um seine Mutter Rahel zu verteidigen. Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was draußen war. Etwas Goldenes funkelte unter den Flammen. Bronzerüstungen! »Das sind Streitwagen …« Ganz sicher war er sich nicht. Aber Streitwagen klang besser als Daimonen.

»Dann haben die Luwier also gewonnen«, sagte Sina niedergeschlagen. »Mein Vater hat immer gesagt, wenn die Luwier siegen, dann plündern sie das ganze Land. Und dass ein Bauernheer nicht gegen richtige Krieger bestehen kann, hat er auch gesagt.«

Daron blickte auf den schwarz-weißen Stein, seinen Schatz. Sein Vater hatte ihm versprochen, dass er wiederkommen würde. Ganz bestimmt hätte er nicht zugelassen, dass die Luwier gewinnen. Aber Streitwagen in der Nacht bedeuteten nichts Gutes, so viel war sicher. »Wir müssen das Dorf warnen«, entschied Daron.

»Du bist also schneller als ein Streitwagen?« Zum ersten Mal an diesem Abend klang Sina nicht kämpferisch.

»Das schaffen wir!« So sicher wie er tat, war er sich nicht. »Wir laufen über die Felder. Die Wagen müssen auf dem Weg bleiben. Los, Tura, gib mir deine Hand. Ich lass dich nicht los, bis wir bei deiner Mutter sind. Und vergesst eure Holzschwerter nicht!«

Der gefallene Meister

Drei Monde früher

Nandalee hob aufmerksam den Kopf. Der Wind hatte gedreht. Das Wispern der Blätter änderte den Ton. Es erschien ihr drängender, als wollten die Geister des Waldes sie warnen. Ein neuer Geruch lag in der Luft. Nach Rauch, Waffenfett und ungewaschenen Kleidern.

Aus den Augenwinkeln sah die Elfe zwei Schatten, die sich lautlos durch den Wald bewegten. Fast waren sie eins mit den dunklen Stämmen und der Nacht. Auch sie rochen nach Rauch. Und nach dem Ruß, mit dem sie sich die Gesichter und die Hände eingerieben hatten, um noch mehr den Schatten zu gleichen.

Ihre Gefährten, Cullayn und Tylwyth, gaben ihr ein Zeichen weiter vorzurücken. Die beiden Maurawan gehörten zu den Elfen, die im alten Wald südlich des Albenhauptes lebten. Ihr Volk galt als eigenbrötlerisch und reizbar. Selbst die Trolle vermieden es, mit den Maurawan zu streiten, und fürchteten ihre Überfälle. Nandalee war nicht begeistert gewesen, als man ihr die beiden für ihre Mission zur Seite gestellt hatte. Sie waren keine Drachenelfen, sondern gehörten zu den Spähern der Blauen Halle. Diese Eskorte war ein Zugeständnis Nachtatems an die übrigen Himmelsschlangen, die nicht duldeten, dass diese wichtige Mission allein einer seiner Getreuen anvertraut wurde. Und obendrein noch der einzigen Elfe, in deren Gedanken sie nicht lesen konnten.

Cullayn, der ältere der beiden Maurawan, trat an ihre Seite.

»Ich habe sie gerochen«, sagte sie, damit keine Missverständnisse aufkamen. Es war nicht die Art der Maurawan, viel zu reden, was den Umgang mit ihnen nicht leichter machte.

Cullayn nickte knapp.

Nandalee war dankbar, dass er die Kapuze seines Umhangs tief in die Stirn gezogen hatte. Sein Antlitz war entstellt, und es fiel ihr schwer, ihm ins Gesicht zu blicken. Es wirkte verrutscht. Nichts war mehr ganz an dem Ort, an dem es sein sollte, so als habe man ihm Haut und Fleisch vom Schädel abgezogen und dann nicht mehr an die richtige Stelle bekommen. Angeblich war Cullayn als junger Krieger vom Keulenhieb eines Trolls getroffen worden. Dass er überhaupt überlebt hatte, war ein Wunder. Ein Wunder, das er selbst wohl jeden Tag verfluchte, vermutete Nandalee.

»Was glaubst du, wie viele es sind?«

Ohne zu zögern, ballte er die rechte Faust, streckte alle Finger aus, ballte die Faust ein zweites Mal und spreizte Zeige- und Mittelfinger ab.

»Sieben?« Sie musterte ihn ungläubig. Sie wusste, dass es mehrere Zwerge sein mussten. Die Duftnote war zu stark für einen gewesen. Aber sie hätte niemals eine genaue Zahl benennen können. Scherzte Cullayn etwa? Bislang hatte sie ihn für völlig humorlos gehalten. Ein Fehler? Auch seine Freundschaft zu Tylwyth, den man hinter seinem Rücken den Schönen nannte, war ungewöhnlich. Tylwyth war in ziemlich allem das genaue Gegenteil von Cullayn. Er war gutaussehend und legte für einen Maurawan außergewöhnlich großes Augenmerk auf seine Kleidung. Cullayn hingegen wirkte abgerissen. Seine knielangen, weichen Lederstiefel waren mehrfach geflickt. Die linke Sohle hatte sich halb gelöst und wurde von Lederriemen gehalten, die um den Stiefel gewickelt waren. Er trug einen Lendenschurz undefinierbarer, dunkler Farbe, dazu eine speckige Lederweste mit etlichen aufgenähten Taschen. Sein weiter Kapuzenumhang war so oft gewaschen, dass die ehemals dunkelgrüne Farbe zu einem scheckigen Muster zwischen Grün und Grau verkommen war. Doch was zählten solche Äußerlichkeiten schon, wenn man ohnehin die meiste Zeit mit dem Wald verschmolz. Nandalee kannte keinen anderen Elfen, der es Cullayn darin gleichtun konnte. Vielleicht wob der Maurawan unbewusst Magie? Vielleicht hatte es mit seinem entstellten Gesicht zu tun? Er wollte schon seit Langem nicht gesehen werden. Und er hatte einen guten Grund dazu.

»Folgen wir den Zwergen«, entschied sie. Seit sie auf dem Berg waren, hatten sie zwei Mal Holzfäller beobachtet. Ansonsten war es ruhig.

Cullayn nickte. Kaum einen Herzschlag später war er wieder in den Schatten verschwunden.

Nandalee nahm erneut Witterung auf. Cullayn schien keinen eigenen Geruch zu haben. Ihn konnte sie hier nicht wahrnehmen. Er roch wie der Wald. Er war der Wald, dachte sie und lächelte. Ganz anders als die Zwerge. Ob die Zwerge etwas ahnten? Wussten sie, dass Elfen hier waren? Nandalee stieg über einen zersplitterten Ast hinweg. Der Wald hier auf dem Berg war nicht gesund. Es gab zu viele Fichten und Kiefern. Wahrscheinlich hatten die Zwerge die schnell wachsenden Bäume gepflanzt, um den Holzbedarf ihrer Stadt zu stillen, die tief verborgen im Berg lag.

Unvermittelt entdeckte Nandalee die Fährte der Zwerge. Abdrücke der plumpen, großen Füße in dem Teppich aus Kiefernnadeln, der den Waldboden bedeckte. Mit einem Schaudern dachte sie an die Zeit zurück, in der sie selbst in einem Zwergenkörper gefangen gewesen war. Wie eine Betrunkene war sie kurz nach der Verwandlung durch die Tunnel der Tiefen Stadt getaumelt. Der Gedanke an den ungelenken, gedrungenen Körper erfüllte sie mit Schrecken. Sie dachte an all die Monde, die sie in der Pyramide im Jadegarten gefangen gewesen war. Lebendig begraben!

Nandalee hob den Blick zu den Fichtenwipfeln, die sich sanft im Wind wiegten. Sie lauschte dem Lied der Bäume, atmete den Duft des Harzes. Der Gestank nach den verschwitzten Kleidern der Zwerge war kaum noch wahrzunehmen, ganz als wolle der Wald selbst die Erinnerung an sie tilgen.

Nandalee folgte weiter der Spur. Man hätte blind sein müssen, um sie zu verfehlen. Zwergen nachzustellen war keine Herausforderung, dachte sie mit einem Anflug von Ärger. Selbst ihre Freundin Bidayn würde diese Fährte nicht verlieren, obwohl sie in der Wildnis hilflos wie ein Kind war. Bidayn hatte Nandalee überrascht, als sie sich für diese Mission freiwillig gemeldet hatte. Nachdem sie auf Nangog verletzt worden war, hätte Nandalee nicht erwartet, dass die Zauberweberin sich so bald wieder in Gefahr begeben würde. Bidayn war … Nandalee verharrte. Etwas stimmte nicht. Da war etwas im Dunkel. Dicht vor ihrem Gesicht. Mondlicht hatte sich daran gebrochen. Ein Faden, fein wie Spinnweben. Doch er war schwarz wie die Nacht.

Sie duckte sich. Witterte. Der Harzgeruch überlagerte alle anderen Düfte. Zu stark, selbst für einen Fichtenhain! Nandalee schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf ihren Geruchssinn. Sie versuchte das zu verdrängen, was sie am stärksten bestürmte. Sie roch einen Dachs, ganz in der Nähe. Rebhühner. Hasenkötel. Rosshaar. Wachs …

Sie schlug die Augen auf. Der spinnwebfeine Faden war ein Rosshaar. Nein, wahrscheinlich mehrere. Sie waren zusammengeknotet und mit Wachs eingerieben. Nandalee atmete schwer aus. Das war knapp gewesen. Sehr knapp! Was wohl geschehen würde, wenn das Haar zerriss? Sie und die beiden Maurawan hatten in dieser Nacht schon etliche Fallen gefunden. Schwere Fußangeln, die einem den Knöchel zertrümmerten, wenn sie zuschnappten, eine Grube voll angespitzter Pfähle. Sie alle waren plump und leicht zu entdecken gewesen. Diese hier war anders. Das Haar war etwa auf Schulterhöhe gespannt. Ein Zwerg konnte diese Falle nicht versehentlich auslösen. Sie war für größere Geschöpfe ersonnen worden. Nandalee versuchte zu entdecken, wohin das Rosshaar führte. Es verschwand zwischen Kiefernästen.

Das plötzliche Gefühl, angestarrt zu werden, ließ sie herumfahren. Da war jemand im Dunkel unter den Fichten. Tylwyth? Der Schatten winkte ihr zu. Rufen konnte er nicht, solange ungewiss war, wie nahe ihnen die Zwerge waren. Sie konnten überall …Plötzlich fügte sich für Nandalee alles zusammen. Die plumpen Fallen, die Fährte, die man nicht übersehen konnte. Sie waren hierher gelockt worden! Wer ein Stück neben der auffälligen Fährte durch den Wald lief, der musste geradewegs in diese Falle laufen. Das schwarze Rosshaar wäre selbst am hellen Nachmittag so gut wie unsichtbar, denn das Dach der Fichtenäste war so dicht verwoben, dass hier stets Zwielicht herrschte.

Sie hatten die Zwerge unterschätzt. Sie ahnten, dass die Drachen und mit ihnen die Drachenelfen kommen würden. Das war naheliegend, bei dem, was sie getan hatten. Die Ermordung des Schwebenden Meisters konnte nicht ungesühnt bleiben.

Tylwyth kam auf sie zu. Er wirkte ungeduldig, winkte ihr. Sie gab ihm ein Zeichen, stehen zu bleiben, aber er ignorierte es. Sie musste ihn aufhalten. Nandalee ließ alle Vorsicht fahren. »Bleib …«

Äste splitterten. Die Wipfel rings um den Maurawan wogten wie von Sturmwind gepeitscht. Tylwyth warf sich zu Boden und rollte zur Seite ab. Ein fassgroßer Baumstumpf, gespickt mit angespitzten Ästen, schwang über ihn hinweg und verschwand in der Dunkelheit. Keinen Herzschlag später schnellten Bretter mit fingerlangen Nägeln aus dem Waldboden. Der Maurawan sprang auf. Nur ein Hechtsprung rettete ihn vor dem zurückschwingenden Baumstumpf.

Nandalee eilte ihm entgegen. Dabei folgte sie in geducktem Lauf der Fährte der Zwerge. Dort, wo sie gegangen waren, konnte es keine Fallen geben. Zumindest nicht in Zwergenhöhe.

Tylwyth kauerte mit schreckensweiten Augen vor einem Baumstamm. Seine linke Hand war verletzt, die enge, graue Wildlederhose voller Schmutz und Blut. Von seiner selbstsicheren Eleganz war wenig geblieben.

»Schlimm?«

Er blickte auf. In seinem rußgeschwärzten Gesicht erschienen ihr seine Augen unnatürlich hell. Die blaugraue Iris war von einem schwarzen Rand eingefasst. Wolfsaugen, dachte Nandalee.

»Ich werde noch meinen Bogen halten können.« Seine Stimme klang gepresst. Tylwyth kämpfte gegen den Schmerz an.

»Lass mich deine Hand sehen!«

Widerwillig streckte er sie ihr entgegen. Er musste in eines der Nagelbretter gegriffen haben. Nandalee bezweifelte nicht, dass er seinen Bogen noch halten könnte. Aber wie sicher würde er noch schießen?

»Verbind das. Warum bist du nicht stehen geblieben, als ich dir ein Zeichen gegeben habe?«

»Sie singt.«

»Wer?«

»Bidayn. Sie singt. Die Zwerge müssen sie gehört haben. Sie gehen genau auf sie zu.«

Das konnte nicht sein! Nandalee lachte auf. Ein verzweifelter, freudloser Laut. Sie wusste es besser. Die Ereignisse auf Nangog hatten Bidayns Seele verletzt. Alles konnte sein!

Tylwyth stand auf und klopfte sich mit fahriger Geste den Schmutz von den Kleidern. »Cullayn ist vorausgeeilt. Er wird sie beschützen.«

Nandalee nickte. Sie fühlte sich der Gegenwart entrückt. Ihre Gedanken waren auf Nangog, der verwunschenen Welt. Bidayn hatte dort nach einer Macht gegriffen, die sie fast getötet hätte. Wer einen Zauber wob, sollte sich nicht gegen die Magie der Welt stellen.

Sie warnte Tylwyth vor den Fallen. Dann folgten sie beide in geducktem Lauf der Fährte der Zwerge.

Bald wechselte die Spur die Richtung. Nandalee hörte es. Ein Lied. Ohne Worte. Eine Melodie voller Schmerz und Einsamkeit. Der Wald schwieg. Selbst der Wind hatte aufgehört im Fichtengeäst zu flüstern. Es gab nur noch diese Stimme. Sie zog sie an wie ein Strudel, der das Wasser verschlingt und in dunkle Tiefen reißt.

Nandalee dachte an Gonvalon, rief sich sein Gesicht vor Augen. Nutzte sein Bild, um sich gegen den Zauber aufzubäumen. Endlich war sie frei.

»Was ist mit dir?« Tylwyth sah sie beunruhigt an. Er schien nicht unter Bidayns Bann zu stehen. Der Maurawan griff nach seinem Köcher und zog einen Pfeil hervor.

Nandalee entdeckte voraus den verwitterten Felsfinger, der sich aus dem Waldboden erhob. Bleich wie Knochen sah er im Mondlicht aus. Zerfurcht von Wind und Regen. Die Bäume wichen vor ihm zurück, als hätten sie Respekt vor dem uralten Fels. Bidayn stand an seinem Fuß. Gut sichtbar, umwoben vom silbernen Licht der Nacht.

Die Gruppe der Zwerge war zu einer Kette aufgefächert. Unruhig sahen sie sich um, drei von ihnen mit der Armbrust im Anschlag.

Ein wenig seitlich entdeckte Nandalee Cullayn. Der Jäger war fast eins mit dem schattenschwarzen Stamm einer Fichte. Er hatte einen Pfeil auf die Sehne gelegt.

Immer noch erklang das verwunschene Lied. Säte Melancholie in ihr Herz. Sie durfte sich dem nicht hingeben. Nandalee löste den Bogen von ihrem Köcher und zog eine Sehne auf. Verdammte Zwerge! Warum mussten diese Narren geradewegs ihrem Untergang entgegengehen!

Die Zwerge traten auf die Lichtung ins Mondlicht. Sie wirkten verstört. Sahen sich nervös um. Ruckartig bewegten sie die Köpfe. Nur zu dem Felsfinger blickten sie nicht.

Was ging hier vor? Was wollte Bidayn? Nandalee öffnete ihr Verborgenes Auge und betrachtete die magische Welt. Ein Gespinst dünner, leuchtender Fäden überzog die kleine Lichtung. Gold und ein warmes Rotorange waren die vorherrschenden Farben. Auch Blau und Lila sah sie. Die purpurnen Auren der Zwerge waren dicht von silbernen Fäden durchzogen. Nandalee musste unwillkürlich an Kokons denken, in die Spinnen Beute einwoben, die sie noch nicht sofort töten wollten. All diese silbernen Fäden liefen auf Bidayn zu.

Ein magisches Netz durchdrang die Welt. Lebewesen, Bäume, selbst Steine. Alles war miteinander verbunden. Befand sich in Harmonie. Zauberweber beeinflussten dieses Netz. Veränderte man es jedoch zu sehr, so konnte sich die Macht gegen den Zaubernden wenden, wie Bidayn auf Nangog auf schreckliche Art hatte erfahren müssen.

Einer der Zwerge hob seine Armbrust an die Schulter. Nandalee blinzelte und verschloss sich dem magischen Blick auf die Welt.

Das Licht des Mondes blitzte auf der scharf geschliffenen Spitze des Armbrustbolzens. Nandalee ahnte, dass Bidayn die Sinne der Zwerge manipulierte. Was sie wohl hörten?

»Ich nehme den Linken mit der Armbrust«, flüsterte Tylwyth.

Nandalee zögerte. Der vorderste der Zwerge war kaum noch fünf Schritt von Bidayn entfernt. Ruckhaft bewegte er seinen Kopf. Fast wie eine Marionette. Er sah nicht zu der Stelle, an der die Zauberweberin in einem weißen Kleid am Fels lehnte.

Der graubärtige Anführer hob jetzt die Hand. Die anderen Zwerge verharrten.

Nandalee hielt den Atem an.

Tylwyth zog die Sehne seines Bogens durch. Er hatte ein klares Schussfeld auf den Zwerg, den er sich zum Ziel erkoren hatte. Zehn Herzschläge, und die Zwerge würden tot auf der Lichtung liegen. Mehr würden sie nicht brauchen. Bidayn durfte nichts geschehen. Nur sie konnte sie zurückbringen. Nur sie vermochte den Drachenpfad zu öffnen, der sie zurück zu den Himmelsschlangen führte.

»Nicht!« Sie legte Tylwyth die Hand auf den Arm. Wenn sie die Zwerge töteten, war ihre Mission gescheitert. Sie durften keine Aufmerksamkeit erregen! Sie waren nur Späher. Sie sollten die Eingänge zur Tiefen Stadt erkunden und herausfinden, ob es Luftschächte gab, die weit genug waren, dass ein Elf durch sie in die Stadt eindringen konnte.

Tylwyth zischte etwas Unverständliches. Dann nahm er den Pfeil von der Sehne.

Nandalee war klar, dass ihre Mission ebenfalls gescheitert war, wenn Bidayn etwas zustieß. Ohne ihre Hilfe würden sie hier festsitzen. Nandalee wusste nicht einmal, wie weit der Berg von der Weißen Halle entfernt war. Unschlüssig strich sie über die Pfeile in ihrem Köcher. Was war die richtige Entscheidung? Bidayn würden sie befreien können, wenn etwas geschah. Mit toten Zwergen hingegen würden sie unumkehrbare Tatsachen schaffen. Sie zwang sich, die Hand vom Köcher zu nehmen. Sie durfte nicht schießen! Sie war die Anführerin. Sie musste beherrscht handeln.

Bidayn lehnte immer noch singend am Fels. Die Zwerge schienen sie nicht im Mindesten zu beunruhigen. Was wollte sie mit ihrem Zauber bezwecken? Wollte sie die Zwerge töten? Sie hätte Bidayn nicht mitnehmen dürfen. Nicht so kurz nach den Ereignissen auf Nangog. Ein Netz aus Narben entstellte ihr Gesicht. Feine rote Linien, die nicht verblassen wollten. Sie ließen die junge Elfe unheimlich erscheinen.

Der Anführer der Zwerge sagte etwas. Ein undeutlich gemurmelter Befehl. Seine Männer senkten die Armbrüste. Der Graubart schüttelte den Kopf, als könne er sich die Ereignisse nicht erklären. Dann führte er den Spähtrupp von der Lichtung.

Nandalee wartete, bis die Zwerge wieder im Wald verschwunden waren. Bidayn sah die ganze Zeit über in ihre Richtung. Sie hatte gewusst, dass sie hier waren.

Ärgerlich trat Nandalee schließlich aus der Deckung. »Was sollte das?«

»Mir war langweilig. Ihr hättet mich mitnehmen sollen«, entgegnete sie mit aufreizender Gelassenheit.

»Du bist keine Jägerin. Du bewegst dich nicht leise genug und hättest uns nur aufgehalten. Und das weißt du auch genau!«

»Was für ein Zauber war das?«, mischte sich Tylwyth ein, ganz offensichtlich fasziniert von Bidayn. »Warst du für die Zwerge unsichtbar? Und warum konnten wir dich dennoch sehen?«

Bidayn lächelte und genoss ganz offensichtlich das Interesse des Maurawan. »Sie konnten nicht in meine Richtung blicken. Unsichtbarkeit … Das übersteigt meine Kräfte. Aber einen tumben Zwerg dazu zu zwingen, nur dorthin zu blicken, wohin ich will, ist etwas anderes.«

»Und dein Lied? Warum musstest du sie darauf stoßen, dass wir hier sind? Wir bemühen uns, im Verborgenen zu bleiben, und du …«

»Sie haben kein Lied gehört. Mit dem Geräusch splitternder Äste habe ich sie hierher gelockt. Ansonsten hörten sie nur Waldesrauschen.« Der überhebliche Tonfall, in dem sie sprach, war neu. So hatte sie Bidayn noch nicht erlebt.

»Du hast durch dein eigenmächtiges Handeln unsere Mission gefährdet. Du …«

»Im Gegenteil, ich habe eine eigene Mission. Ich soll feststellen, ob die Zwerge für diese Art Zauber empfänglich sind. Wir werden wiederkommen, um einige von ihnen zu ermorden. Da mag es wohl hilfreich sein, einen Zauber zu beherrschen, der uns für sie so gut wie unsichtbar macht.«

Nandalee stand wie vom Schlag gerührt. »Eine eigene Mission?«

»Du hast dich ganz und gar Nachtatem verschrieben.« Bidayn sagte das mit einem anzüglichen Lächeln. »Ich habe einen anderen Meister gefunden. Einen, der mich tiefer in die Kunst des Zauberwebens einweihen wird, als du es dir vorzustellen vermagst. Es wird nie wieder so wie auf Nangog sein. In Zukunft werde ich kein Ballast mehr sein, und es wird auch niemand mehr über mich lachen …«

Ihre Reise nach Nangog war geheim gewesen. Es stand Bidayn nicht zu, in Anwesenheit anderer so frei zu sprechen. »Geh zurück und beseitige deine Spuren, dort wo du die Falle der Zwerge ausgelöst hast«, fuhr Nandalee Tylwyth schroff an. »So ein Rosshaar könnte selbst von einer jagenden Eule durchtrennt werden. Sie dürfen nicht wissen, dass Elfen auf ihrem Berg waren. In einer Stunde brechen wir auf.«

Tylwyth sah sie mit seinen Wolfsaugen so durchdringend an, als wolle er in ihren Gedanken lesen. Einen Moment lang schien er etwas sagen zu wollen, doch dann presste er die Lippen zusammen und ging.

Nandalee fluchte stumm. Sie musste lernen, sich besser zu beherrschen. Sie durfte ihren Ärger über Bidayn nicht an anderen auslassen.

»Gibt es noch weitere Missionen, von denen ich wissen sollte?«, fragte sie Bidayn, als Tylwyth außer Hörweite war.

»Von denen du wissen solltest? Nein.«

Was war nur in sie gefahren? Wo war die schüchterne, zurückhaltende Bidayn geblieben? Ihre einzige Freundin. »Was hat dir dein Meister versprochen? Will er dir deine Schönheit zurückgeben?«

»Du fandest mich also schön?«, entgegnete sie bitter. »Warum hast du mir das früher nie gesagt? Warum sprichst du erst davon, nachdem ich meine Schönheit für immer verloren habe?«

»So habe ich das nicht gemeint. Ich …«

»Ich kenne dich, Nandalee. Du bist eine Einzelgängerin. Du brauchst keine Freundinnen. Du vertraust dich ohnehin niemandem an. Mein Meister hat mir gar nichts versprochen. Nicht er hat mich verändert. Einsame Entscheidungen zu fällen und andere nicht einzuweihen habe ich von dir gelernt.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab.

Entehrt

Shaya lauschte auf die hämmernden Schritte jenseits des Tores. Sie ertappte sich dabei, wie ihre Finger nervös auf dem schmalen Kopf der Dornaxt trommelten. Über sich selbst verärgert, ballte sie die Hand zur Faust. Sie musste ein Vorbild sein. Ihre Krieger beobachteten sie. War sie von kalter Ruhe, würden auch ihre Männer gelassen bleiben. Zeigte sie aber Nervosität, dann verlor sie zumindest an Ansehen. Als Frau musste sie in allem doppelt so gut wie ein Mann sein, um sich in der Leibwache des Statthalters Kanita Ansehen zu verdienen. Bisher war ihr das gelungen.

Shaya hielt ihren Helm unter den Arm geklemmt. Der Wind spielte in ihrem Haar. Früher wäre es ihr niemals eingefallen, bei einem solchen Anlass offen ihr Gesicht zu zeigen. Trug sie den Helm, sah sie aus wie all die anderen Krieger in der Leibwache des Statthalters. Doch ihre Liebe zum Unsterblichen Aaron hatte sie verändert. Sie sehnte sich nicht mehr danach, ein Mann zu sein.

Die Prinzessin lauschte auf das Geräusch der Schritte. Die Treppe hinauf zum Felsplateau, auf dem die Palastbauten des Statthalters aus Ischkuza lagen, zählte mehr als 1 400 Stufen. Wer dann endlich vor Kanita trat, tat dies in aller Regel keuchend und in Schweiß gebadet. Es kam nur sehr selten Besuch. Der Palast erhob sich weit im Westen der Goldenen Stadt, jener riesigen Metropole, in der der einzige Zugang in die Welt Nangog lag. Etwa eine Stunde entfernt, im Herzen der Stadt, lag, flankiert von Götterstatuen, das magische Portal, das sie so oft durchschritten hatte, um über den Goldenen Pfad zu gehen. Jene dünne Nabelschnur, die sie mit ihrer Heimatwelt Daia verband.

Vor einer Stunde hatte sie ein Bote erreicht, der von der Ankunft einer riesigen, schwer bewaffneten Gesandtschaft aus Ischkuza berichtete. Kanita hatte daraufhin seinerseits Boten ausgeschickt, um herauszufinden, um wen es sich handelte. Es war ungewöhnlich, dass so bedeutender Besuch unangekündigt kam. Das verhieß nichts Gutes. Die Boten waren nicht zurückgekehrt und während der Hofstaat Kanitas sich auf den Empfang der Gäste vorbereitete, machte sich eine klamme Stimmung breit.

Shaya ertappte sich dabei, dass ihre Finger erneut auf den Kopf der Dornaxt trommelten. Sie atmete langsam aus und versuchte sich zu entspannen. Auch wenn ihr Vater, der Großkönig Madyas, nicht für seinen Langmut bekannt war, war sie in Sicherheit. Sie war seine siebenunddreißigste Tochter! Niemand würde es wagen, Hand an sie zu legen.

Der prasselnde Schritt Hunderter Füße verstummte auf einen Schlag. Drückende Stille lag über dem Palasthof.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis endlich gegen das Tor geklopft wurde. Schwere, tönende Schläge, die auf dem weiten Hof widerhallten. Einer der Adler schrie auf und schlug mit den Flügeln, als wolle er in den Himmel fliehen.

Ein böses Omen, dachte Shaya.

Auf einen Wink des Statthalters wurde das Tor geöffnet. Krieger, in schimmernde Bronze gewappnet, marschierten auf den weiten Hof. Shaya wusste, wie sie gegen das Keuchen ankämpften. Wie sie sich verzweifelt straff hielten. Die lange Treppe hinauf hatte ihre Kraft verbrannt. Sie diente dazu, Stolz zu Asche werden zu lassen. Sie wusste es gut. Sie selbst war die endlose Treppe schon in Rüstung hinaufgestiegen. Wer hinaufkam, um vor den Statthalter zu treten, sollte sich schwach fühlen.

Die fremden Krieger bildeten ein Spalier. Sie stützten sich auf ihre Speere. Drückten die Rücken durch. Wer immer diese Treppe errichtet hatte, kannte die Menschen nicht. Sonst hätte er gewusst, welchen verzweifelten Hass sie schürte. Und welche Angst.

Eine Sänfte erschien unter dem Tor. Zwölf schwitzende Sklaven gingen gebeugt unter den Stangen aus rotlackiertem Holz. Die hochroten Köpfe waren nicht unter Helmen verborgen, die schwitzenden Leiber nicht unter Rüstungen. Sie hatten ihre Freiheit längst verloren. Sie hatten nur noch wenig zu befürchten. Ganz anders als die Krieger. Sie kämpften gegen ihr Keuchen an. Fürchteten den Augenblick, in dem die gelben Seidenvorhänge der Sänfte zurückgezogen und der Blick ihres Gebieters Zeuge ihrer Schwäche werden könnte.

Zehn Schritt vor Kanitas Thronsitz hielten die Sänftenträger inne. Die Krieger, die ihr folgten, verharrten. Wieder herrschte bedrückende Stille. Durchbrochen vom gelegentlichen Keuchen jener, die noch um ruhigen Atem rangen.

Shaya wurde die Kehle trocken. Wer war in der Sänfte? Wer genoss es so sehr, das Geheimnis um seinen Auftritt hinauszuzögern?

Eine Bö ließ das Pferdekopfbanner hinter Kanitas Pavillon knattern.

Endlich teilte sich der Vorhang. Ein Mann in fließendem, rotem Seidengewand stieg aus. Alle senkten den Kopf. Shaya tat es ihnen gleich. Sie sah die breite, mit Perlen geschmückte Borte am Saum des Gewandes. Sah weiche Stiefel aus purpurn gefärbtem Leder.

Die Prinzessin hob den Blick. Mit einer kurzen Verneigung war der Höflichkeit Genüge getan. Sie war die siebenunddreißigste Tochter des Unsterblichen Madyas. Sie musste sich vor niemandem verbeugen.

Der Würdenträger, der der Sänfte entstiegen war, war ein hagerer Mann. Sein Gesicht eingefallen. Ein langer, schwarzer Schnurrbart wucherte über seiner fleischigen Oberlippe. Die Enden hingen ihm fast bis zum Kinn herab. Die dunklen Augen des Gesandten waren von schwarzer Schminke eingefasst. Wie Wolfshöhlen sahen sie aus. Shaya kannte diesen Blick. Kannte den Mann. Er sah zu ihr herüber, nicht zum Statthalter Kanitas. Und da wusste sie, er war ihretwegen gekommen, ganz gleich, was geschehen würde. Es war Subai, ihr älterer Bruder. Der Bruder, der seinen Hund einst darauf abgerichtet hatte, die Puppen der Prinzessinnen zu zerfetzen. Den Hund, der eines Tages sie gepackt hatte, als sie so dumm gewesen war, vor ihm fortzulaufen. Die Narben, die sie an jenem Tag davongetragen hatte, hatten sie dazu bewogen, den Weg als Kriegerin zu wählen. Als einzige der Töchter des Unsterblichen Madyas. Und trotz all der Kämpfe, die sie seitdem bestanden hatte, verspürte sie immer noch den Drang davonzulaufen, wenn sie einen Hund sah. Subai hatte ihr nie verziehen, dass sein bösartiger Köter geschlachtet worden war.

Shaya hielt dem Blick ihres Bruders stand. Sie dachte an die sieben Schalen, die sie von jener Suppe gegessen hatte, in der sein Hund gekocht worden war. Und er hatte ihr dabei zusehen müssen.

Er bedachte sie mit einem unheilvollen Lächeln. Eine weiße Narbe prangte auf seiner linken Wange. Subai hatte am Seidenfluss gekämpft und einen der aufsässigen Stadtstaaten dort unterworfen. Immer wieder glaubten die Menschen am Großen Fluss, sie könnten das Joch der Herrschaft der Ischkuzaia abwerfen. Immer wieder wurden sie dafür bestraft. Hände, die Seidenstoffe woben, waren nicht dazu geschaffen, die Dornaxt zu führen. Natürlich hatte Subai am Ende triumphiert. Aber sein Triumph hatte einen schalen Beigeschmack bekommen, als bekannt geworden war, wie viele seiner Krieger gefallen waren. Die Narbe auf der Wange hatte ihr eigener Vater ihm beigebracht. Er hatte ihm mit einer Peitsche ins Gesicht geschlagen, als Subai zurückgekehrt war, um in der Wandernden Stadt von seinem Sieg zu berichten. Shaya wäre gern dabei gewesen. Seitdem war sein Ruf als Krieger dahin. So trug er heute auch keine Rüstung. In seinem schlichten Ledergürtel steckten lediglich eine Dornaxt und ein Dolch. Symbole seiner Mannhaftigkeit.

»Der Unsterbliche Madyas, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes, schickt mich, weil er von deinen Taten hörte, Statthalter Kanita«, verkündete Subai mit volltönender Stimme, die bis in den letzten Winkel des weiten Hofes drang.

Shaya stutzte. Nur selten wurde ihr Vater mit all seinen Titeln genannt. Früher hatte er wenig Wert darauf gelegt. Wie es schien, hatten sich die Gepflogenheiten am Wandernden Hof gewandelt. Auch das verhieß nichts Gutes.

Kanita blieb vor Subai sitzen. Der Statthalter war alt, aber keineswegs gebrechlich. Er hätte aufstehen und ihren Bruder damit als gleichrangig oder höhergestellt anerkennen können. Stattdessen blickte er mit verbissenem Lächeln zu ihm auf. »Es erfreut mein altes Herz, dass Kunde von mir bis in das Zelt meines geliebten Königs gelangte. Und ich hoffe in aller Bescheidenheit, dass die Eilfertigkeit des geschätzten Boten nicht auch seiner Zunge Flügel verlieh.«

Shaya war überrascht. Anzudeuten, dass womöglich Lügen an das Ohr des Großkönigs getragen worden waren, war mehr als kühn.

Subai überging die Andeutungen des Statthalters. »Der Unsterbliche Madyas, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes, hat mich beauftragt, dir eine persönliche Nachricht zu überbringen.« Er griff in den weiten Ärmel seines Seidengewandes, zog eine Knochentafel hervor, hielt sie Kanita hin und ließ sie dann fallen, wobei er sich nicht die geringste Mühe gab, es wie ein Missgeschick aussehen zu lassen.

Kanita stieß ein leises, keckerndes Lachen aus. Auch Shaya musste schmunzeln. Ihr Bruder demütigte den Alten keineswegs mit dieser Geste. Ganz im Gegenteil, er machte sich lächerlich.

Der Statthalter beugte sich vor und griff nach der Knochentafel. Im selben Augenblick zog Subai die Dornaxt aus seinem Gürtel. Bevor Kanitas Leibwächter auch nur an ihre Schwerter greifen konnten, sauste die Axt nieder. Mit einem scharfen, knackenden Geräusch durchdrang sie den Hinterkopf des Statthalters. Kanita sackte zu Boden.

»Der Unsterbliche Madyas, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes, wünschte Kanitas Tod. So steht es auf der Tafel.«

Shaya zog ihre eigene Dornaxt. »Tritt zurück!«, fuhr sie ihren Bruder an. Sie wollte die Knochentafel sehen. Kanita hatte dem Großkönig lange treu gedient.

»Durch Kanitas Taten hat der Unsterbliche Madyas, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes, sein Gesicht verloren.« Subai sah sich herausfordernd um. »Er hat unsere stolzesten Krieger der Lächerlichkeit preisgegeben. Hat euch Aaron, dem Großkönig von Aram, unterstellt, damit ihr mit ihm die Bitternis der Niederlage kennenlernt. Der Unsterbliche Madyas, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes, war entsetzt, als er hörte, was hier geschehen ist. Und all dies tat der anmaßende Alte, ohne Nachricht an den Wandernden Hof zu schicken. Ich bin hier, um unsere Ehre wiederherzustellen. Jeder, der sich dem Gebot des Aaron von Aram unterstellt hat, wird Nangog verlassen.« Er sah sie mit gehässigem Lächeln an. »Auch meine Schwester ist abberufen. Und nun zeigt mir, dass es an diesem Hof zumindest noch eine Handvoll Krieger gibt, die nicht vergessen haben, wem sie Treue schulden. Ergreift meine Schwester! Nehmt ihr die Waffen ab, bevor meine Krieger es tun.«

Shaya wurde gepackt. Sie leistete keinen Widerstand. Stolz hielt sie den Kopf aufrecht, als man ihr in die Kniekehlen schlug, um sie vor ihrem Bruder in den Staub zu zerren. Ihr Helm fiel zu Boden. Der Waffengürtel wurde ihr von der Hüfte gerissen. So viele Monde hatte sie die Leibwache Kanitas befehligt. All dies zählte nichts mehr. Ohne zu zögern hatten ihre Krieger sich gegen sie gewendet. Das schmerzte mehr als der Schlag in die Kniekehlen.

»Grüßt den neuen Statthalter!«, rief ausgerechnet Kanitas Schildträger.

Speere wurden vor Schilde geschlagen. Hunderte Krieger riefen Subais Namen.

Ihr Bruder nahm die Huldigung entgegen, ohne eine Regung zu zeigen. Dabei musterte er die Krieger ringsherum. Das Lärmen nahm kein Ende. Erste Stimmen klangen heiser. Shaya hatte das Gefühl, dass niemand es wagte, als Erster mit der Lobpreisung des neuen Statthalters aufzuhören.

Nach einer Ewigkeit beugte sich Subai zu ihr herab. »Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich dir dabei zusehen musste, wie du meinen Lieblingshund gefressen hast? Damals habe ich mir gewünscht, dich eines Tages zu töten. Aber der Weiße Wolf hat mir ein gnädigeres Schicksal zugedacht. Ich werde zugegen sein, wenn dein Stolz gebrochen wird. Und ich kann dir versprechen, du wirst dir wünschen, dich hätte ein ebenso schnelles Ende ereilt wie den Statthalter Kanita. Ihm war der Weiße Wolf gewogen.«

Verwandlung

Nachtatem ruhte am Fuß einer Klippe, das Haupt auf seine verschränkten Vorderläufe gebettet. Der große, schwarze Drache verschwamm fast vollständig mit den Schatten. Es war erst später Nachmittag, aber hier bei der Klippe schien es Nacht zu sein. Das Licht mied den riesigen Drachen. Es floh vor der Klippe.

Nandalee fühlte sich unwohl. Der Mord am Schwebenden Meister hatte den Erstgeschlüpften verändert. Kalter Zorn spiegelte sich in seinen Augen. Sie hatte ihm von den Patrouillen erzählt und von den Fallen.

Ihr seid Euch sicher, dass sie von dort gekommen sind, Dame Nandalee? Oder nehmt Ihr es an, weil die Tiefe Stadt die einzige Zwergensiedlung ist, die Ihr kennt?

Die Worte brannten sich in ihren Kopf, und sein spöttischer Unterton verletzte sie. »Nein, ich bin mir nicht sicher.« Sie konnte dem Blick des Drachen nicht länger standhalten. Ein Druck lastete auf ihrer Brust, als läge dort ein Felsklotz.

Aber vor drei Tagen wart Ihr Euch noch sicher, werte Dame.

Sie wollte aufbegehren. Sie hatte nie gesagt, dass sie sich sicher war! Sie hatte ihre Worte sehr vorsichtig gewählt, als sie von den Himmelsschlangen neben dem Kadaver des Schwebenden Meisters befragt worden war. Sie dachte an den ausgeweideten Leichnam ihres Lehrers. Kein Aasfresser hatte sich an den toten Drachen herangewagt. Nicht einmal Fliegen hatten ihre Eier in das zerschundene Fleisch gelegt. Alles, was lebte, fürchtete die großen Drachen.

Mit Schrecken dachte Nandalee an die Befragung zurück. An all die ungezügelten Emotionen der Drachen. Äußerlich hatten sie ruhig gewirkt, aber ihre Gedanken waren voller Hass und Trauer gewesen. All dies hatte sie überdeutlich spüren müssen. Es war ein Gefühl gewesen, als flösse zerriebenes Glas durch ihre Adern … Mehr als nur ein Gefühl. Zuletzt hatte sie aus den Augen zu bluten begonnen. Nachtatem hatte daraufhin die Befragung abgebrochen.

Die Zwerge hatten nach ihrem Drachenmord großen Wert darauf gelegt, ihre Spuren zu verwischen. Und der Schwebende Meister hatte ihnen dabei noch geholfen. Der Windbruch, die gestürzten Bäume, unter denen die Zwerge auf der Lauer gelegen hatten, war niedergebrannt. Fast nichts war zurückgeblieben, was Aufschluss darüber geben konnte, aus welcher Siedlung die Mörder gekommen waren. Sie hatten ihre Beute, Teile des Kadavers des weißen Drachens, in eine nahe Höhle gebracht, in die ein unterirdischer Fluss mündete. Von dort mussten sie in diesen Tauchfässern, die sie Aale nannten, geflüchtet sein. Dieser Spur konnten nicht einmal die Himmelsschlangen folgen. Und deshalb hatte Nachtatem sie geholt.

Es hatte ihr anfangs geschmeichelt, dass der Erstgeschlüpfte glaubte, sie könne etwas entdecken, was ihm, bei all seiner Machtvollkommenheit, entgangen war. Vielleicht lag sein Vertrauen in ihre Fähigkeiten daran, dass sie in jenem unzugänglichen Tal, in dem sie nach einer der Alben gesucht hatten, den Stein mit dem Blutstropfen gefunden hatte.

Ihr Stolz war bald der Verzweiflung gewichen. Fast einen ganzen Tag hatte sie gesucht. Es gab etliche Spuren, aber nichts hatte Auskunft über die Herkunft der Zwerge gegeben. Zuletzt war Nandalee unter den verkohlten Baumstämmen herumgekrochen und hatte die Überreste der Maschine untersucht, die den Speer geschleudert hatte, der dem Schwebenden Meister zum Verhängnis geworden war. Dort hatte es nur ausgeglühte Eisenbeschläge und den verzogenen Stahlbogen gegeben. Und verschiedene halb verkohlte Kisten. In einer von ihnen hatte sie einen merkwürdigen, weißen Klumpen gefunden, kaum halb so lang wie ihr Daumen. Eine weiche Masse, die einen üblen Geruch verströmte. Ein Duft, den man nicht mehr vergaß, wenn man ihn schon einmal gerochen hatte. Koboldkäse!

Hat es Euch die Sprache verschlagen, Dame Nandalee?

Nandalee zuckte zurück. Es war ein Gedanke wie ein Peitschenhieb. Sie wünschte sich, Nachtatem würde normal mit ihr sprechen und nicht seine Gedanken in ihren Kopf brennen. Das war so viel intensiver, als Worte es je hätten sein können.

»Ich dachte an den unfreundlichen Zwergenschmied, in dessen Höhle wir bei unserem Besuch in der Tiefen Stadt gewesen sind. Dort gab es solchen Käse. Ein Beweis ist das freilich nicht. Ich weiß schließlich nicht, wie üblich es unter Zwergen ist, diese stinkende Sauerei zu essen.«

Seid Ihr Euch darüber im Klaren, welche Folgen es haben wird, dass Ihr Euren Verdacht vor meinen Nestbrüdern ausgesprochen habt?

Diesmal empfand Nandalee weniger Schmerzen, als die Gedanken ihres Meisters sie durchströmten. Eine Traurigkeit ergriff sie, die sie mit stummer Verzweiflung erfüllte. Es war ein Gefühl, als müsse sie allein eine riesige Welle aufhalten, die sich am Horizont auftürmte. Ein Unterfangen, das schier unmöglich war. Und doch war es ihre Pflicht, es zumindest zu versuchen.

Sie wollen Rache für den Tod des Schwebenden Meisters. Ich aber will zunächst einmal Gewissheit. Wir sind keine Rächer; wir haben uns den Alben gegenüber verpflichtet, Gerechtigkeit zu üben. Wenn wir strafen, müssen wir uns ganz sicher sein. Wir sind die Hüter ihrer Kinder, und wenn es notwendig ist, dann strafen wir, aber wir sind keine Tyrannen, deren Gnade reine Willkür ist. Alle Kinder der Alben müssen dies tief in ihren Herzen wissen, sonst sind wir an unserer Aufgabe gescheitert.

Nandalee nickte, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Die meisten der Albenkinder hatten Angst vor den Himmelsschlangen. Konnte es wirklich sein, dass Nachtatem dies nicht bewusst war?

Ihr werdet für mich in die Tiefe Stadt gehen, Dame Nandalee. Ihr wisst, wo Ihr jenen frechen Schmied suchen müsst. Findet heraus, ob er der Mörder des Schwebenden Meisters ist und wer ihm geholfen hat. Wer bei ihm war und die Maschine bedient hat, die ersonnen wurde, um uns Drachen zu töten. Bringt mir ihre Namen, Dame Nandalee, und ich werde entscheiden, auf welche Weise die Mörder gerichtet werden.

Sie wollte gerade einwenden, dass sie wohl kaum einfach in eine Zwergenstadt marschieren könne, als Nachtatem sie mit einer Klaue an der Stirn berührte. Es war eine vorsichtige, zärtliche Geste, der ein Orkan von Schmerzen folgte. Nandalee brach in die Knie und kippte zur Seite. Krämpfe schüttelten sie. Ihre Glieder zuckten unkontrolliert, und sie vermochte kaum mehr zu atmen. Ihr Blick trübte sich. Blut rann aus ihrer Nase und benetzte ihre Lippen.

Als sich die Krämpfe legten, hob sie einen Arm und blickte verzweifelt auf ihre Finger. Dick und unförmig waren sie und von Schwielen bedeckt. Nandalee war wieder im Körper eines Zwergs gefangen.

Ihr verfügt über alle Erinnerungen eines Zwergenschmiedes aus den Ehernen Hallen. Ihr sprecht mit dem Dialekt dieser Stadt, werte Dame. So könnt Ihr Euch unauffällig unter den Zwergen der Tiefen Stadt bewegen. Um zu vermeiden, dass Ihr wiedererkannt werdet, entspricht Euer Äußeres nicht dem, das ich Euch beim letzten Besuch der Tiefen Stadt geschenkt hatte. Passende Gewänder für Euch liegen bereit, Dame Nandalee. Ihr werdet feststellen, dass Ihr Euch erinnert, wie man sie anlegt, auch wenn es nicht Eure Erinnerungen sind. Euer Bart ist bereits nach der Mode der Ehernen geflochten und mit Eisenringen geschmückt. Auch habe ich mir erlaubt, den Albenstern zu öffnen. Der Weg zwischen den Welten wird Euch direkt zum Albenstern in der Tiefen Stadt führen. Bitte verzeiht meine unhöfliche Hast, doch meine Nestbrüder erwarten mich. Die Zeit drängt! Ich muss eilen, um zu versuchen, ihren Zorn zu mildern und um sie von einem unbedachten Vorgehen abzuhalten.

Nachtatem weitete seine Schwingen und glitt aus dem Schatten der Klippe. Einen Moment lang verdunkelte seine Gestalt die Sonne, und alles rings um Nandalee versank in unnatürlicher Finsternis. Dann erhob er sich mit machtvollen Flügelschlägen in den Himmel.

Neben dem stechenden Schmerz, der seine Gedanken begleitet hatte, hatte sie auch seine Sorge gespürt. Etwas ging unter den Himmelsschlangen vor sich. Er war sich nicht mehr sicher, dass seine Nestbrüder seinem Rat folgen würden, und fürchtete, was geschehen mochte, wenn es so weit kam.

Nandalee legte die Zwergenkleider an. Der Stoff war aus dicker Wolle, die auf der Haut kratzte. Eine weite Hose und eine sackartige Tunika. Dazu klobige Stiefel. Nachtatem hatte an alles gedacht. Die Kleider sahen nicht nur getragen aus, sie rochen auch so. Nandalee schluckte, band sich aber die schwere Lederschürze um und drapierte ihren Bart darüber. Einen Moment lang betrachtete sie die Eisenringe, die in die Zöpfe ihres Bartes eingeflochten waren. Verschlungene Muster wanden sich darum, zeigten Schlangen und unnatürlich langgestreckte Wölfe, die mit ihnen kämpften. Sie erinnerte sich an die verborgene Bedeutung. Die Schlangen standen für die Drachen, die Wölfe für Zwerge. Sie war Zeugin der letzten Augenblicke im Leben jenes Zwergs, dessen Wissen und Erinnerungen sie geerbt hatte. Nachtatem hatte ihn nicht getötet. Aber er hatte ihm alles genommen, was sein Leben ausmachte. Seine Sprache und sein Gedächtnis. Wie ein leeres Gefäß war er zurückgeblieben. Das war die Rache dafür gewesen, sich heimlich gegen die Drachen verschworen zu haben. Nandalee dachte an all die schönen Worte Nachtatems. Sie fand die Strafe, die den Zwerg allein dafür ereilte, dass er an Verschwörung gedacht hatte, unangemessen hart, und sie entschied sich, sich Arbinumja zu nennen, was in der Sprache der Zwerge so viel wie Erbe hieß.

Mit leicht schwankendem Schritt trat sie zum Albenstern. Wie lange würde sie dieses Mal in diesem gedrungenen Leib gefangen sein? Ohne auf die Schönheit des fließenden Lichtbogens zu achten, durchschritt sie den Albenstern. Nur wenige Schritte und sie fand sich in der Kammer der kommenden Offenbarungen wieder. Die Kammer war ganz und gar mit weißem Marmor ausgekleidet. Das Licht zweier Öllampen brach sich in den Kristallen, die in die Wände eingelassen waren. Kleine Statuen verehrter Ahnen kauerten in Wandnischen. Es roch nach Rauch. Die Luft war abgestanden. Nandalee war froh, dass ihre Sinne in diesem Leib abgestumpft waren.

Auf wackeligen Beinen verließ sie die Kammer. Mit der Linken stützte sie sich an der Wand des Tunnels ab. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an das Dunkel der Zwergenhöhlen. In sehr weiten Abständen standen Laternen in Wandnischen. Meist nahe Tunneln, die vom Hauptgang abzweigten. Jetzt konnte sie im Gegensatz zu ihrem ersten Besuch die Runen entziffern, die ab und an in die Wände geschlagen waren. Sie erinnerten an schlagende Wetter, wenn sich Gase, die aus dem Fels drangen, entzündet hatten, und warnten vor Tunnelabschnitten, in denen kein offenes Licht brennen durfte. Manche Inschriften erinnerten an Todesfälle, andere dienten zur Orientierung im Tunnelsystem. Nandalee fand die Zwergenrunen hässlich. Sie waren ohne jede Eleganz, nur dazu erdacht, mit einem Meißel leicht in Fels gekratzt werden zu können.

Nandalee wurde es schwindelig. Sie gewöhnte sich zwar schneller als beim ersten Mal an diesen fremden Körper, doch war sie noch weit davon entfernt, sich mit den kürzeren Gliedmaßen, ihren schweren Schritten und dem üblen Geruch ihres Bartes vertraut zu fühlen. Sie ließ sich an der Tunnelwand niedersacken, schloss die Augen und wartete darauf, dass es ihr wieder besser ging.

Schritte näherten sich. Nandalee rappelte sich auf, musste sich aber immer noch an der Tunnelwand abstützen. Ein Zwerg mit prächtigem, goldenem Bart und langem, zu Zöpfen geflochtenem Haar kam ihr entgegen. Er trug einen Helm mit breitem Nasenschutz und aufgesetzten, goldenen Augenbrauen. Leise klirrte sein Kettenhemd bei jedem Schritt. Er war ein Bild von einem Krieger, dachte Nandalee. Warum konnte mir Nachtatem nicht so eine Gestalt geben?

Himmelblaue Augen musterten sie.

»Die tun hier was ins Bier, das nicht hineingehört«, lallte sie schwerfällig.

Der Krieger grinste. »Koboldkäse, glaube ich.« Ohne innezuhalten ging er vorüber.

Für einen Zwerg ganz nett, dachte Nandalee und ließ sich wieder auf den Boden sinken. Sie lauschte auf die sich entfernenden Schritte. Etwas war eigenartig daran. Ein leises Knirschen begleitete die Schritte. Oder hatte sie sich das eingebildet? Ihr Gehör war nicht mehr so scharf wie als Elfe. Sie wollte den Gedanken schon beiseiteschieben, als ihr Blick an einer feinen, weißen Schramme auf dem Boden haften blieb. Einer der Nägel an den Stiefeln des Kriegers schien vorzustehen!

Ihr Schwindelgefühl war augenblicklich vergessen. Das konnte der Zwerg sein, dem sie mit Nachtatem gefolgt war. Jener Unbekannte, der ihnen bei ihrem ersten Besuch in der Tiefen Stadt so knapp entkommen war und der möglicherweise etwas über das Verschwinden der Alben wusste. In ihrer Eile strauchelte sie mehrfach. Der Tunnel verschwamm ihr vor den Augen. Sie biss die Zähne zusammen. Das Geräusch der Schritte war verklungen. Blendendes Licht flutete den Tunnel. Dann wurde es plötzlich dunkel. Er war durch den Albenstern gegangen.

Fluchend blieb sie stehen. Was für ein eigenartiger Zufall, den Zwerg ausgerechnet jetzt wieder zu treffen. Hatte er vielleicht etwas mit dem Tod des Schwebenden Meisters zu tun? Und wer war er, dass er mit solcher Leichtigkeit den Albenstern öffnete?

So knapp, dachte sie ärgerlich und erleichterte ihr Herz mit einigen üblen Flüchen.

»Was ist das für eine Sprache, Bruder?«

Nandalee sah auf. Sie war so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass noch jemand den Tunnel zur Kammer der kommenden Offenbarungen betreten hatte. Ein rotbärtiger Zwerg, auf dessen Brust die goldene Amtskette eines Ratsmitgliedes prangte, stand vor ihr und musterte sie mit großen, grauen Augen.

»Sprichst du etwa Elfisch?«

Das Tribunal

Der Goldene ließ sich in die Wolken fallen. Genoss es, den eisigen Wind unter seinen Schwingen zu spüren und seine Kraft, die ihm erlaubte, den Elementen zu trotzen. Es lag ein Risiko darin, blind dem Berg entgegenzustürzen. Er hätte sein Verborgenes Auge öffnen können, um zu sehen, was die Wolken verbargen. Aber er fühlte sich lebendiger, wenn er Risiken einging. Jede Empfindung wurde intensiver, wenn es womöglich die letzte war. Es war verrückt, blind durch die Wolken den Berg anzufliegen. Ebenso verrückt, wie sich gegen die Alben zu verschwören, ja, sie sogar zu morden. Aber er wollte der Herr seines Lebens sein, ganz und gar. Frei sein, nach seinen eigenen Regeln zu leben.

Das Singen des Sturmwindes änderte sich. Die Felsen waren jetzt ganz nah. Er versuchte aus der Melodie des Windes herauszuhören, wo er war. Es gab einen Drachenpfad zum weiten Schneefeld dicht unter dem Gipfel des Albenhauptes. Er hätte es sich einfach machen können hierherzugelangen. Aber das war nicht seine Art. Es ging ihm nicht darum, den einfachsten Weg zu finden.

Der Goldene weitete seine Flügel, bremste den Flug. Das fließende, graue Wolkenband zerriss, als hätten die Felsen es zerschnitten. Jetzt sah er die scharfen, steinernen Zacken aus dem ewigen Weiß ragen. Und er sah die grellen Farben seiner Brüder.

Eine letzte Kehre trug ihn über ihre Häupter hinweg, dann landete er elegant, ohne mit einigen Hüpfern um seine Balance kämpfen zu müssen. Er faltete seine Flügel. Er liebte diese Geste und dachte daran, was der Schwebende Meister ihn einst gelehrt hatte. Es kam nicht nur darauf an, was man tat, sondern auch wie man es tat. Das Leben war eine Inszenierung, und so widrig die Umstände auch sein mochten, man war es stets ganz allein, der entschied, ob den eigenen Auftritten Würde innewohnte.

Du kommst spät. Es war Nachtatem, dessen Stimme als erste in seinen Gedanken erklang. Der Erstgeschlüpfte lag ein wenig abseits des unregelmäßigen Kreises, zu dem sich die acht Himmelsschlangen eingefunden hatten. Er ruhte am Fuß einer überhängenden Felsstufe. Eiszapfen hingen über ihm vom Rand des Felsens, und Schatten umspielten seinen älteren Bruder. Ein wenig sah es aus, als habe er sich im Rachen eines riesigen Ungetüms niedergelassen. Einer Kreatur, noch größer und mächtiger, als sie es waren. Einer Kreatur, wie es sie nur einmal gegeben hatte und die nun schon seit unzähligen Jahrhunderten gebannt war. Lebendig begraben in jenem Grabmal, das sie sich selbst errichtet hatte.

Ich bitte um Verzeihung, euch warten gelassen zu haben, Brüder.

Es folgten Augenblicke lastender Stille, in der allein das Heulen des Windes zu vernehmen war. Er würde sich nicht rechtfertigen, dachte der Goldene. Damit würde er seine Stellung gegenüber Nachtatem schwächen. Alles, was er vorbereitet hatte, hing davon ab, aus einer Position der Stärke zu agieren.

Wir sind zusammengekommen, um über die Strafe für die Zwerge in der Tiefen Stadt zu entscheiden, brach schließlich der Himmlische das Schweigen. Er galt als ein Weiser und als Skeptiker. Der Goldene wusste, dass es nicht leicht werden würde, seinen Bruder zu überzeugen. Doch er hatte in der Silberschale gesehen, was sie alle in Zukunft erwarten würde, wenn sie nicht den Mut zu kühnen Taten fanden.

Ich fordere, die Tiefe Stadt zu vernichten. Ich war dort, denn ich wollte nicht allein dem Urteil einer Elfe vertrauen, in deren Gedanken wir nicht lesen können. Das ist der Grund, warum ich zu spät kam, Brüder. Ich war so erschüttert von dem, was ich gesehen habe, dass ich alles vergaß. Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, was die Zwerge dort unten tun. Seht in meine Gedanken. Teilt meinen Schrecken mit mir und jene Bilder vom ruchlosen Treiben der Zwerge, die bis ans Ende meiner Tage in meine Erinnerung gebrannt bleiben werden.

Er teilte die Gefühle seiner Brüder, während sie in seinen Gedanken lasen. Dies war von Anfang an seine Absicht gewesen, um sie besser einschätzen zu können. Selbst Nachtatem war berührt von dem, was er sah. Vielleicht würde es doch nicht so schwer, ihn dazu zu bewegen, jene Strafe zu verhängen, die die einzig angemessene für den Frevel der Zwerge war.

Brennen sollen sie, alle miteinander!, empörte sich der Flammende, dessen Temperament gerne mit ihm durchging. Der mächtige Drache, dessen Schuppen in allen Farbnuancen zwischen dunklem Dottergelb und leuchtendem Karmesinrot changierten, galt als überaus wankelmütig. Er war leicht zu gewinnen, doch ebenso leicht änderte er seine Meinung auch wieder, wobei er stets voller Inbrunst sprach und sich selbst seines unsteten, aufbrausenden Charakters in keinster Weise bewusst war.

Auch mich werden diese Bilder bis ans Ende meiner Tage begleiten, erklärte sein Bruder Frühlingsbringer in tiefer Niedergeschlagenheit, die so gar nicht zu ihm passte, war doch er derjenige unter ihnen, der sonst jedem Ereignis eine positive Seite abzuringen vermochte. Seine Schuppen, die sonst in allen Tönen des jungen Frühlingsgrüns schimmerten, wirkten nun seltsam matt und farblos. Ihn würde er gewinnen, dachte der Goldene.

Was die Zwerge in ihren verborgenen Höhlen treiben, ist eine Kriegserklärung an uns!, empörte sich der Nachtblaue, der Kriegerischste unter ihnen. Sie fühlen sich sicher, wenn sie sich unter ihren Bergen verkriechen. Zeigen wir ihnen, dass es keinen Ort auf ganz Albenmark gibt, an dem sie vor unserem Zorn sicher wären.

Wir sind die Statthalter der Alben und keine Rächer. Unsere Aufgabe ist es, einen kühlen Kopf zu bewahren und dann Gerechtigkeit zu üben, warf der Erstgeschlüpfte ein. Der Goldene hatte nur auf diesen Einwand gewartet.

Hast du schon einen Plan gemacht, deine Spitzel geschickt und dich mit den Alben besprochen? Hast du wieder einmal im Stillen für dich allein entschieden, ohne mit deinen Brüdern zu beraten, wie du es in der Vergangenheit so gerne getan hast? Mich wundert, dass du dich noch der Strapaze unterziehst, hier in dieser Runde anwesend zu sein, wo dich doch ohnehin nicht interessiert, welcher Meinung wir sind.

Nachtatem fauchte ihn an, und sein mächtiger Schweif peitschte den Schnee. Welchen Krieg willst du führen, Goldener? Einen Bruderkrieg?

Er spricht wahr, mischte sich der Himmlische ein. Wir alle wissen, dass du es vorziehst, allein zu entscheiden. Glaubst du, das wäre uns verborgen geblieben? Hat der Goldene recht mit seinen Anschuldigungen? Hast du bereits entschieden, was geschehen soll?

Weisheit gebietet Mäßigung, entgegnete Nachtatem ausweichend. Nur Tyrannen unterscheiden nicht mehr zwischen Schuldigen und Unschuldigen.

Doch verführt zu viel Mäßigung auf einer Seite nicht zu Unmäßigkeit auf der anderen Seite, wandte der Rote ein. Seine Schuppen waren dunkel wie frisches Blut. Feiner Rauch stieg von seinen Nüstern auf.

Was schlägst du vor? Sollen wir nicht nur die Mörder richten, sondern auch die Mütter, aus deren Schoß sie gekrochen sind?, entgegnete Nachtatem.

Und die Schmiede, die die Speerspitzen schufen, die unseren Bruder töteten, und die Träger, die die Waffen zum Versteck brachten, von dem aus der Schwebende Meister heimtückisch erschossen wurde, fiel der Flammende ein, dem jegliche Ironie fremd war.

Ich finde, wir sollten sie alle töten. Der Goldene bemühte sich, seinen Brüdern diesen Gedanken klar und ganz ohne Emotion zukommen zu lassen. Wir müssen ein Zeichen setzen. Fällt unsere Strafe zu gering aus, dann werden sich die Zwerge nur ermutigt fühlen, demnächst einen von uns zu töten.

Diesem Gedanken folgte Stille. Er spürte, dass der Flammende begeistert, Nachtatem erschüttert, andere zögerlich waren. Doch in fast allen brannte der Wunsch nach Rache.

Wenn wir unsere Drachenelfen schicken und vielleicht zehn Zwergen einen schrecklichen Tod bereiten, glaubt ihr, das wird sie abschrecken? Die zehn werden zu Märtyrern, und Hunderte andere werden sich ermutigt fühlen, es ihnen gleichzutun. Was wir brauchen, ist ein eindeutiges, unmissverständliches Zeichen. Fällt unsere Strafe nur hart genug aus, werden es die Zwerge selbst sein, die künftig jeden in ihren Reihen verfolgen, der auch nur daran denkt, eine Silberschwinge oder einen Tatzelwurm zu töten.

Glaubt ihr, die Alben werden dulden, wenn wir uns wie Schlächter aufführen? Dazu haben sie uns nicht erschaffen. Der Goldene hatte das Gefühl, Nachtatem wolle ihn am liebsten anspringen, um Klauen und Fänge in sein Fleisch zu schlagen.

Sind wir nicht hier, um ihnen die Blutarbeit abzunehmen, die sie selbst nicht verrichten wollen? Wollten sie nicht alle unangenehmen Entscheidungen von sich fernhalten?, begehrte der Goldene auf. Wir tun ganz genau das, wozu sie uns erschaffen haben, wenn wir die Zwerge strafen. Wir halten ihre Schöpfung in Balance. Wir verhindern, dass sich ihre minderen Kinder auflehnen und die von den Alben gesetzte Ordnung zerstören.

Mich haben die Worte des Goldenen überzeugt, ließ der Smaragdgrüne sie an seinen Gedanken teilhaben, der sonst eher ein Zauderer war und mäßigend auftrat.

Warum wollt ihr alle einen Weg verlassen, der sich in so vielen Jahrhunderten als gut erwiesen hat?, begehrte Nachtatem auf.

Warum kannst du dich nicht entschließen, neue Wege zu gehen, Bruder? Liegt es daran, dass du wieder einmal ohne uns entschieden hast? Sind deine Elfen schon in der Tiefen Stadt, und unser Treffen ist wieder einmal nur eine Farce?

Nachtatem schob seinen mächtigen Leib aus dem Schatten der Klippe. Seine blauen Augen funkelten kalt. Niemand ist in der Stadt, um zu töten. Ich habe nicht vergessen, dass wir ein Rat sind.

Dann sollten wir abstimmen. Der Goldene konnte die Gedanken seiner Brüder spüren. Er hatte sie überzeugt. Alle stimmten für den Tod der Tiefen Stadt.

Und wie willst du eine ganze Stadt vernichten? Sollen wir uns in die Tunnel der Zwerge zwängen? Ist dies nun die Art, wie die Statthalter der Alben auftreten?, spottete Nachtatem.

Nein. Ich wünsche, dass all unsere minderen Brüder an diesem Strafgericht teilhaben. Und all unsere Drachenelfen. Kein Zwerg dort unten wird überleben, und wir werden es auf eine Art tun, die sich auf immer in das Gedächtnis ihres Volkes brennen wird. In fünf oder sechs Tagen schon können wir angreifen.

Amalaswintha

Der rotbärtige Zwerg betrachtete Nandalee misstrauisch. »Ich habe noch nie einen Zwergen getroffen, der die Sprache der Elfen beherrschte.«

Sie versuchte ein Lächeln. »Ich gebe zu, dass das selbst in der Ehernen Halle selten ist. Mein Vater hat an Elfen Eisen verkauft. Er hat mich oft auf seine Reisen mitgenommen, als ich noch jung war. Dabei habe ich ein wenig die Sprache gelernt. Ihre Flüche, das war das Erste, was wir zu hören bekommen haben, wenn er ihnen seine Preise genannt hat. Du weißt ja, Kinderohren sind offen für alles, was sie nicht hören sollten. Außer ein paar Flüchen habe ich auch nicht viel von der Sprache der Täuscher behalten.«

Der Ratsherr spielte nachdenklich mit der Spitze seines Bartes. »Er hat dich als Kind auf Reisen zu den Elfen mitgenommen? Was für einen Vater hattest du!«

»Einen klugen. Er hat sich darauf verlassen, dass sie einem Mann, der mit einem Kind die Wildnis bereist, nichts tun werden. Hätten sie ihn umgebracht, hätten sie sich um mich kümmern müssen. Und welcher Elf möchte sich schon mit einem Zwergenbalg abgeben?«

Der Ratsherr nickte langsam. »Ich verstehe. Ungewöhnlich. Eine Geschichte wie deine habe ich noch nicht gehört. Aber einleuchtend …« Er strich sich wieder über den Bart. »Und hat dein Vater gute Geschäfte mit den Elfen gemacht?«

»Wie man es nimmt. Als ich größer wurde, hat er mich nicht mehr mitgenommen. Vor drei Jahren kam er nicht mehr zurück. Wir haben nie erfahren, was aus ihm geworden ist.«

»Mein Beileid«, grummelte der Zwerg in seinen Bart, während seine großen, grauen Augen sie noch immer aufmerksam musterten. »Und was machst du hier, nahe der Kammer der kommenden Offenbarungen? Vermagst du die Tore der Albensterne zu öffnen?«

Nandalee schnaubte. »Ich wünschte, ich könnte es. Ich sah hier ein helles Licht und hoffte, ich könnte einem Torgänger begegnen. Ich schätze es nicht, in Aalen zu reisen. Und über Land mag ich mich auch nicht bewegen …« Sie blickte zu Boden.

»Wegen der Drachen? Du bist wegen der Versteigerung hier, wie all die anderen, nicht wahr?«

Nandalee nickte, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, was er meinte.

»Eines Tages werden wir keine Drachen mehr fürchten müssen.« Er lächelte breit. »Und auch keine Elfen. Du musst unbedingt jemanden kennenlernen. Deine Kenntnis der Sprache der Elfen ist in diesen Zeiten gutes Gold wert. Selbst wenn du nur einige Flüche beherrschst und was sich Kinder sonst noch so merken. Du wirst sehen, wir werden Albenmark verändern.«

Nandalee nickte zögerlich. »Ich heiße übrigens Arbinumja.«

»Skorri«, entgegnete der Ratsherr. »Komm, ich bringe dich jetzt an den interessantesten Ort unserer Stadt. Hoffentlich hat deine Sippe dich gut mit Schuldbriefen ausgestattet, sonst wird dir bald das Herz bluten.«

Wieder verstand Nandalee nicht, was er meinte. Sie schlug einen leichten Plauderton an und unterhielt Skorri mit erfundenen Geschichten über den Eisenhandel ihres Vaters, während der Ratsherr sie in einen Abschnitt der Tiefen Stadt führte, den sie bislang noch nicht betreten hatte.

Nach einer Weile wurden die Tunnel belebter. Fast alle Zwerge, denen sie begegneten, gingen in dieselbe Richtung wie sie. Die Gänge waren erfüllt von aufgeregtem Gemurmel. Der Geruch nach Fett und Rauch wurde immer intensiver, ebenso der Gestank nach altem Schweiß, der den meisten Zwergen anhaftete.

Sie durchquerten eine weite Halle, in der Stalaktiten und Stalagmiten miteinander zu baumdicken Säulen verschmolzen. Nandalee sah sich neugierig um. Die Größe der Höhle beeindruckte sie. An den Wänden entlang verliefen Terrassen und schmale Treppen. Überall wimmelte es von Zwergen. Es mussten Hunderte sein.

Skorri führte sie durch ein hohes Bronzetor und über eine weite Treppenflucht in die nächste Halle. Die Wände hier schienen mit lilafarbenen Lichtblitzen überzogen zu sein. Sie musste blinzelnd den Blick abwenden, so hell war es.

Skorri schob sie in das Gedränge, während er immer wieder Bekannten zunickte oder mit knappen Späßen auf freundschaftliche Zurufe reagierte. Er war ohne Zweifel ein angesehener Mann. Aber was hatte er mit ihr vor? Nandalee gefiel es gar nicht, an seiner Seite so sehr in den Mittelpunkt des Interesses gerückt zu werden.

Eine dunkle, warme Stimme übertönte das Murmeln und Husten Hunderter Zwerge. »Nun, nachdem wir Galar und Nyr für ihre Tapferkeit geehrt haben, kommen wir zum eigentlichen Helden, jenem unerschrockenen Zwerg, dessen Visionen und unermüdlicher Ausdauer der Triumph über den Weißen Drachen in erster Linie zu verdanken ist. Es ist jener Zwerg, dessen Name schon jetzt Legende ist: Hornbori Drachentöter. Ich sage euch, meine Freunde, eines Tages werdet ihr eure Enkel auf dem Schoß sitzen haben und ihnen ehrfürchtig erzählen: Ich habe einst Hornbori gekannt, der die Drachen lehrte, was es heißt, das Volk der Zwerge unterdrücken zu wollen. Nun begrüßt ihn, wie es sich für einen Helden gehört!«

»Es ist der Alte in der Tiefe, der dort spricht, der Fürst der Tiefen Stadt«, raunte ihr Skorri zu. »Und der, der dort auf die Empore steigt, wird vielleicht eines Tages sein Nachfolger sein.« Nandalee meinte bei den letzten Worten einen Hauch von Unmut mitschwingen zu hören.

Den Redner auf der Empore hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sein langer, weißer Bart reichte dem Alten aus der Tiefe bis fast zu den Knien. Sein ganzes Gesicht schien ein struppiges, weißes Haarknäuel zu sein, aus dem lediglich eine unförmige, rote Nase hervorragte. Der alte Zwerg stützte sich auf einen knotigen Eichenstab. Soweit Nandalee erkennen konnte, trug er keinen Schmuck und keine Würdenzeichen. Für sein offenkundig hohes Alter hatte er eine erstaunlich kräftige Stimme. Nun trat ein jüngerer Zwerg neben ihn auf die Empore. Jubel und Fußgetrampel erfüllten die weite Halle.

Immer mehr Zwerge drängten von hinten nach. Nandalee wurde weiter nach vorne geschoben und war bald so zwischen bärtigen Leibern eingekeilt, dass sie das Gefühl hatte, kaum noch atmen zu können.

»Bitte, meine Freunde …« Der jüngere Zwerg versuchte die begeisterte Menge mit ausgestreckten Armen zu beruhigen. Sein Bart war dicht und schimmerte ölig. Kein einziges graues Haar war darin zu entdecken. Er trug einen prächtigen Helm, von dessen Seiten goldene Schwingen abstanden. Nandalee war sich sicher, dem Kerl schon einmal in der Werkstatt des verrückten Schmiedes begegnet zu sein.

»Bitte … Ich habe doch nur getan, was auch ein jeder von euch getan hätte. Wir alle sind unter dem Schatten der Drachenschwingen aufgewachsen. Wir alle wissen um ihre Willkür. Hättet ihr dem Weißen Drachen gegenübergestanden, keiner von euch hätte weniger Mut bewiesen als Nyr, Galar und ich. Jeder von euch hat das Herz eines Helden!«

Tosender Beifall ließ die Höhle erbeben.

Nandalee kämpfte gegen aufsteigende Panik an. Sie hasste es, tief unter den Felsen zu sein. Und nie zuvor in ihrem Leben war sie so eingekeilt gewesen wie in dieser grölenden Zwergenmenge. Es war ein Albtraum.

»Reden kann er …« Obwohl Skorri unmittelbar neben ihr stand, musste er schreien, damit sie ihn verstehen konnte.

»Die Schlacht gegen die Drachen hat gerade erst begonnen. Die Waffe, die den Weißen getötet hat, wurde im Kampf zerstört. Und wir brauchen viele neue Speerschleudern, wenn wir gegen die tobende Wut der Drachen bestehen wollen. Deshalb bitte ich euch: Spendet! Gebt, was ihr entbehren könnt, und beschreitet mit mir den dornigen Weg zur Freiheit. Vor uns liegt eine Schlacht, wie unser Volk sie noch nie schlagen musste. Ich sehe einen Weg von Blut, Schweiß und Tränen. Doch wenn wir ihn bis zum Ende gegangen sind, werden unsere Kinder und Kindeskinder dereinst aus ihren Höhlen treten und ohne Angst in den Himmel Albenmarks blicken können.«

Neuer Jubel brandete auf. Nandalee spürte darin die Begeisterung für einen gerechten Kampf, und sie fragte sich, was die Drachen den Zwergen alles angetan haben mochten. Dieser Hornbori verstand es erschreckend gut, den tief verwurzelten Zorn seines Volkes noch weiter anzufachen.

»Viele unserer Weisen sind der Überzeugung, dass der Leib der Drachen von Magie durchdrungen ist. Wer ihr Blut recht zu nutzen weiß, mag diese Zauberkraft in Waffen fließen lassen. Aus ihren Schuppen kann man wundertätige Amulette fertigen. Doch womit wir die heutige Versteigerung eröffnen wollen, ist etwas Einzigartiges.« Er machte eine dramatische Pause und lächelte. »Jeder, der es sieht, wird sofort erkennen, welche Magie diesem besonderen Körperteil innewohnt. Bietet freimütig, meine Freunde, denn es mag eine ganze Generation von uns dahinscheiden, bevor ein zweites Mal ein so außergewöhnliches Stück zum Verkauf angeboten wird.«

Es herrschte nun atemlose Stille. Selbst das sporadische Husten war verstummt. Alle blickten gebannt zur Empore, auf die nun ein mit einem weißen Tuch verhängter Tisch getragen wurde. Mit dramatischer Geste zog Hornbori das Tuch zur Seite. Nandalee erkannte erst auf den zweiten Blick, was das fast armlange Objekt war, das dort lag.

»Wir haben hier den Penis eines großen Drachen«, stellte der Zwerg sachlich fest. »Das gute Stück misst siebenunddreißig Zoll und wiegt annähernd elf Pfund. Eigentlich hatte ich erwogen, es in mehreren Teilen zu versteigern. Doch von verschiedenen Parteien wurde die Sorge an mich herangetragen, dass die ihm innewohnende Magie Schaden nehmen könnte, wenn ich es zerteile. Das Startgebot sind zehntausend Goldkronen. Es ist kein Geringerer als der Alte aus der Tiefe, der dieses Gebot abgegeben hat. Mögen die Alben wissen, welche Pläne er damit hegt.«

Seine Worte wurden mit Gelächter bedacht, doch Skorri an ihrer Seite fluchte. »Keinen Respekt hat er. Späße über den Alten in der Tiefe zu machen ist schamlos. Verdammter Emporkömmling.«

Nandalee hätte fast entgegnet, dass die ganze Versteigerung schamlos sei. Sie erinnerte sich durchaus mit gemischten Gefühlen an ihre Zeit in der Höhle des Schwebenden Meisters, doch das hier hatte er nicht verdient! Es war widerlich. Abstoßend! Es gab keine Entschuldigung für dieses geschmacklose Spektakel. Wenn die Himmelsschlangen wüssten, was hier vor sich ging, dann wäre ihre Rache ohne Maß.

»Höre ich da elftausend?«, rief Hornbori gut gelaunt auf der Empore. »Da wird es wohl in einigen Monden reichlich Nachwuchs bei unseren Freunden in Ishaven geben.«

»Ich glaube nicht, dass man Magie aus etwas Totem ziehen kann«, sagte Skorri gallig. »Ich weiß ja nicht, wie du dazu stehst, aber ich möchte dich jemandem vorstellen, der einen anderen Weg gehen wird.«

Nandalee war sich nicht sicher, wie sie darauf antworten sollte, so nickte sie nur. Sie war froh, dem ordinären Spektakel, das die Zwerge hier aufzogen, entfliehen zu können. Auch verstärkte das unstet über die Höhlenwände flackernde Licht ihr Schwindelgefühl. Wie lange es wohl dauern würde, bis sie sich an den neuen Körper gewöhnt hatte?

Sie mussten sich regelrecht durch die Reihen der Zwerge kämpfen. Das Gedrängel war unglaublich, und selbst Skorris Prominenz führte keineswegs dazu, dass man ihm bereitwillig Platz machte. Das Gebot war bereits bei siebzehntausend Goldkronen, als sie endlich einen Durchgang in eine benachbarte Höhle erreichten. Jetzt erst erkannte Nandalee, was es mit dem merkwürdigen Licht hier auf sich hatte. Die Wände dieser riesigen Höhle waren ganz und gar mit lilafarbenen Kristallen bedeckt. Amethyste. Manche waren nur winzig, andere fast zwei Finger lang. Das Licht brach sich tausendfach in den Kristallen, ja es schien geradezu lebendig zu werden, floss in pulsierenden Wellen über die Wände und schoss immer wieder funkelnde Blitze in die Menge ab. Nandalee hatte die Amethyste nur flüchtig angeschaut, doch schon wurde ihr Schwindelgefühl so stark, dass sie befürchtete, ihr würden die Beine wegknicken. Der Zauber in den Steinen war ihr völlig fremd. Erschrocken wandte sie sich ab.

Skorri schien etwas bemerkt zu haben. »Nicht jedermanns Sache, der Amethystsaal. Manche kippen dort einfach um. Keiner kann sagen, woran es liegt. Wenn man Pilz trinkt, wird es schlimmer. Man kann dort drinnen keine Feste feiern, dabei ist es die schönste Höhle im ganzen Berg. Manche glauben, es sei die Strafe der Alben dafür, dass wir versucht hätten, etwas zu erschaffen, das schöner als ihre Schöpfung ist. Ich halte das für Unsinn.«

Skorri führte sie an zwei Wächtern vorbei, die große Schmetterlingsäxte in ihren Fäusten hielten. »Das ist Arbinumja aus der Ehernen Halle«, erklärte er. »Die Dame Amalaswintha will ihn sehen.«

Einer der Wächter nickte, musterte sie aber weiterhin misstrauisch. Die Höhle, in die sie traten, war ganz und gar mit weißem Marmor ausgekleidet, ähnlich der Kammer der kommenden Offenbarungen. In der Mitte der Höhle lag auf einem Sockel aus blutrotem Stein ein Kristall, der strahlend weiß leuchtete. Spiegel lenkten das Licht bis in die entferntesten Winkel der Höhle.

Eine Treppe führte zu einer etwas höher gelegenen Tür, die wiederum zur Empore im Amethystsaal führte. Am Fuß der Treppe war eine Reihe von Tischen aufgestellt worden. Dort stand eine kleine Gruppe von Zwergen um eine Gestalt in einem roten Kleid. Sie alle begutachteten die Vielzahl goldener und silberner Kisten und Kästchen mit Fenstern aus Bergkristall, die offensichtlich Leichenteile des Schwebenden Meisters enthielten.

»Amalaswintha?« Skorri hauchte den Namen.

Die Zwergin drehte sich abrupt um. Nandalee war von ihrem Anblick überrascht. Sie wirkte weniger gedrungen als die männlichen Zwerge. Ihr Gesicht war fein geschnitten, auch wenn ihre Augenbrauen ein wenig zu üppig wucherten, was ihren ebenmäßigen Zügen etwas Animalisches verlieh. Amalaswintha hatte eine kleine Nase und volle, fast sinnliche Lippen. Ihr rotes Kleid betonte ihre Taille und war tief ausgeschnitten. Das Dekolleté brachte ihre üppigen Brüste zur Geltung. Rabenschwarzes Haar rahmte ihr Gesicht. Ein Hauch von Blauschimmer lag darin, wie im Gefieder von Elstern. Sie war anders als alle Zwerginnen, die Nandalee je gesehen hatte, und glich auch keiner, an die sich das gestohlene Bewusstsein erinnerte, das Nachtatem ihr eingepflanzt hatte. Amalaswinthas Augen waren von dunklem, fast schwarzem Grün. Tief in ihnen glomm ein Licht, ähnlich jenen Geistern, die über die Wälder Nangogs wachten. Sie war eine Besessene, dachte Nandalee. Sie sollte sich vor Amalaswintha hüten.

»Mein lieber Skorri, was für eine entzückende Begleitung bringst du mit?« Die Zwergin wandte sich nun direkt an Nandalee. »Darf ich aus dem etwas … exzentrischen Geschmack in Kleidung und Bartmode schließen, dass Ihr aus den Ehernen Hallen stammt?«

»Ganz recht«, erklärte Skorri eilfertig. »Dies ist Arbinumja. Und er beherrscht die Sprache der Elfen. Ein wenig zumindest.«

Amalaswintha hob eine Braue und sah Nandalee abschätzend an. »Offensichtlich muss ich meine Meinung über unsere Brüder aus der Ehernen Halle revidieren. Wie mir scheint, leben dort doch nicht nur langweilige Grubenzwerge.«

»Wie mir scheint, hatte auch ich ein falsches Bild von den Damen der Tiefen Stadt«, entgegnete Nandalee bissig. »Sie sind zwar so arrogant, wie ich dachte, doch um einiges hübscher.«

Amalaswintha nahm die Beleidigung mit einem Lächeln hin, während Nandalee aus den Augenwinkeln sah, wie Skorri bei ihren Worten zusammenzuckte.

»Endlich einmal jemand, der nicht versucht, mir nach dem Mund zu reden.« Amalaswintha winkte Nandalee, näher zu treten.

Die Zwergin verströmte einen schweren, sinnlichen Duft. Ein Hauch von Moschus lag darin, doch dominierte eine Duftnote, die der Elfe gänzlich unbekannt war.

»Seit ich meinen Bettgefährten verstoßen habe, umschwirren sie mich wie Fliegen einen Honigkringel. Es ist erfrischend, jemandem zu begegnen, der bei meinem Anblick nicht gleich daran denkt, mit mir Nachwuchs zu zeugen.«

Nandalee hatte den Eindruck, dass sie binnen eines Augenblicks ein halbes Dutzend Feinde gewonnen hatte. Die übrigen Zwerge sahen sie jedenfalls an, als würden sie ihr am liebsten das Herz herausreißen.

»Hast du schon ein Quartier, Arbinumja?«

»Nein.«

»Dann erweise mir doch die Ehre, mein Gast zu sein. Ich werde in zwei Tagen ein Fest geben und würde mich freuen, wenn du zugegen sein könntest. Wenn du schon bei mir wohnst, kannst du mir zwischenzeitlich nicht verloren gehen.« Bei diesen Worten bedachte sie Nandalee mit einem beunruhigenden Lächeln. »Ich könnte mir auch vorstellen …«

Heraneilende Schritte ließen sie verstummen. Ein junger Zwerg kam die Treppe hinab, die zur Empore im Amethystsaal führte. »Herrin, das Gebot liegt bei einundvierzigtausend. Wie es scheint, will das keiner mehr überbieten.«

Skorri atmete schwer aus. »Ist das wahr? Einundvierzigtausend Goldkronen! Damit kann man ein ganzes Heer aufstellen und ausrüsten.«

»Erhöhe für mich das Angebot auf fünfzigtausend«, sagte Amalaswintha ruhig. »Ich möchte nicht, dass dieses Schmuckstück in die Hände von Männern gerät, die damit nur eines im Sinn hätten.« Sie bedachte die umstehenden Zwerge mit einem spöttischen Lächeln. »Ihr denkt nur an Kriege. Dabei würde dieses Gold doch auch reichen, um eine neue Stadt irgendwo in der Wildnis zu gründen. Vielleicht sollten wir das tun. All dem hier den Rücken kehren und von vorne beginnen. Die Magie dort suchen, wo sie am lebendigsten ist – in der Natur.«

Nandalee war sich unsicher, ob Amalaswintha das nur sagte, um die übrigen Zwerge zu beschämen, oder es wirklich so meinte.

»Glaubst du nicht auch, dass die Zeit gekommen ist, für einen Krieg zu rüsten?« Amalaswintha nickte in Richtung des Amethystsaals. »Sie alle sind davon überzeugt.«

Alle Augen ruhten nun auf Nandalee. Was sollte sie tun? Sie konnte doch einem Krieg gegen die Drachen nicht das Wort reden. Aber wenn sie es nicht täte, würde sie sich verdächtig machen. »Ich glaube, den Weisen erkennt man daran, welche Schlachten er ausficht und welche er meidet.« Sie hoffte, es mit dieser Antwort jedem recht gemacht zu haben. Jedenfalls hatte sie sich damit nicht festgelegt.

Während einige der Zwerge beifällig nickten, blitzte in Amalaswinthas Augen der Schalk. »In der Ehernen Halle gibt es auch Weise? Ein Tag voller Überraschungen!«

»Wie Hornbori bewiesen hat, sind auch Drachen sterblich. Was das angeht, werden sich die Himmelsschlangen gewiss nicht von der übrigen Brut unterscheiden«, erklärte Skorri kämpferisch.

»Wie viele Zwerge waren eigentlich nötig, um den großen Drachen zu erlegen?«, fragte Nandalee.

»Drei! So göttlich sind sie, die Drachen.« Skorri lächelte grimmig. »Hornbori, Galar und Nyr. Aber viel aufwendiger, als einen Drachen zu töten, ist die Logistik, die dahintersteckt. Eine ganze Flotte von Aalen musste zusammengestellt werden, um das erforderliche Material zu transportieren und die Beute wieder zurückzubringen.«

Damit waren die Namen der Drachenmörder bestätigt, dachte Nandalee zufrieden. Vielleicht könnte sie auch noch herausfinden, wo die drei in diesem Labyrinth aus Tunneln zu finden waren. Skorri hörte sich gerne reden, wie es schien. Wenn sie das Gespräch noch ein wenig fortführte, vermochte sie vielleicht auch die letzten Informationen aus ihm herauszulocken. »Was mir offen gestanden Sorge bereitet, ist die Frage, wie die Alben es aufnehmen, wenn wir uns gegen die Himmelsschlangen wenden. Die Himmelsschlangen sind die Statthalter der Alben. Wenn wir uns gegen sie erheben, müssen die Alben das nicht so verstehen, dass wir auch ihnen den Krieg erklärt haben? Haben sich Hornbori und die anderen Gedanken darüber gemacht? Ehrlich gesagt, würde ich mit den dreien gerne einmal reden.«

Skorri blickte sie an, als habe er gerade in eine vergammelte Wurst gebissen. »Das ist doch absurd. Warum sollten die Alben …«

»Ganz und gar nicht!«, unterbrach ihn Amalaswintha scharf. »Auch ich habe dich bereits auf diese Gefahr hingewiesen und dich gebeten, dies im Rat zur Sprache zu bringen, wo ich keinen Zutritt habe.«

Skorri war das Thema sichtlich unangenehm. »Meine Liebe, ich sagte dir doch, dass ich dort nicht in den Verdacht geraten darf, dein Sprachrohr zu sein. Es ist allein die Sache von Männern …«

»Genug!«, unterbrach ihn Amalaswintha scharf. »Das haben wir wirklich oft genug besprochen. Ich frage mich, welchen Nutzen du für mich hast, wenn du nicht gewillt bist, mich im Rat zu vertreten.«

Nandalee hatte den Eindruck, dass bei diesen Worten noch etwas Unausgesprochenes mitschwang. Jedenfalls lief der Ratsherr rot an, während die übrigen Anwesenden schadenfroh grinsten.

»Mein lieber Skorri, du kennst mich als eine Freundin des offenen Wortes. Ich hoffe, du weißt diese Offenheit auch zu schätzen, wenn sie dich betrifft. Ich habe in der Vergangenheit große Hoffnungen in dich gesetzt. Während Hornbori von Drachen träumte, habe ich deinen Traum geteilt und erhebliche Mittel aufgewendet, um ihn Wirklichkeit werden zu lassen. In zwei Tagen werden wir sehen, ob es klüger gewesen wäre, mich an Hornbori zu halten. Ich hoffe sehr, dass dein Freund hier uns helfen wird, unsere letzten Probleme zu lösen. Er soll mich begleiten.« Sie wandte sich Nandalee zu. »Und du, Arbinumja aus der Ehernen Halle, wohin soll dein Weg dich führen? Von welcher Zukunft träumst du? Bist auch du ein Mann mit Visionen?«

»Ich bin hier, um nach der Magie zu greifen. Ich werde jedem Weg folgen, der mich zu ihr führt«, entgegnete Nandalee und blickte auf all die silbernen Kisten und Kästen, in denen die Überreste des Kadavers ihres Lehrers verwahrt wurden. Sie waren Narren, die Zwerge! Da waren sie einem wahrhaft großen Zauberweber begegnet, und alles, was ihnen einfiel, war ihn zu töten. So würden sie niemals finden, wonach sie suchten.

»Dann sehen wir einmal, ob deine Möglichkeiten reichen, Träume wahr werden zu lassen.« Sie wandte sich ab und ging zum Ausgang. Ohne sich umzublicken, schnippte sie mit den Fingern. »Komm, sei ein braves Hündchen und folge mir.«

»Du solltest gehen«, raunte ihm Skorri zu. »Du möchtest sie nicht erleben, wenn sie zornig ist.«

Nandalee sah den Ratsherren überrascht an. Sie hätte erwartet, in ihm von nun an einen erzürnten Nebenbuhler zu haben. Stattdessen wirkte er besorgt. »Geh!«, sagte er noch einmal, drängender nun. »Du bist nun in ihrer Hand.«

Gerüchte

Galar verabscheute das Gedränge und den Pomp. Hinter sich hörte er Hornbori laut auflachen. Der Aufschneider war ganz in seinem Element. Hatte tatsächlich er diesem weißen Drachen den Todesstoß versetzt? Galar konnte sich einfach nicht vorstellen, dass dieser händeschüttelnde Windbeutel wahrhaftig eine Heldentat vollbracht haben sollte.

Der weite Amethystsaal erschien dem Schmied jetzt bedrückend eng. Er hasste es, inmitten einer Menge eingekeilt zu sein. Dutzende klopften ihm anerkennend auf die Schulter. Zwerge, die er noch nie gesehen hatte, führten sich auf, als seien sie seine Freunde. Schweiß stand Galar auf der Stirn und brannte auf der dünnen, roten Haut seines Gesichtes, in das der Drachenodem geschlagen war. Er musste hier heraus! Noch ein blöder Witz, noch ein Spruch über das Drachentöten und er würde jemanden erschlagen. Sahen sie denn nicht, was kommen musste? Dieser weiße Drache war zu groß gewesen! Sein Verschwinden würde auffallen! Seine Brüder würden ihn rächen. Statt zu feiern, sollte man sich besser auf einen Kampf mit den Drachen vorbereiten. Und mit deren niederträchtigen Meuchlern, den Drachenelfen. Sie würden kommen, daran gab es für Galar keinen Zweifel. Und sie würden sich in der Tiefen Stadt eine blutige Nase holen.

»Du siehst aus, als wolltest du gleich jemanden umbringen.« Hornbori war plötzlich aus der Menge erschienen und drückte ihm einen Pilzhumpen in die Hand. »Trink«, fügte er leiser hinzu, »das beruhigt das Gemüt.«

»Ich will mich nicht beruhigen«, entgegnete Galar streitlustig und so laut, dass es alle ringsherum hören konnten.

»Er hat die schrecklichen Ereignisse noch immer nicht ganz verarbeitet«, erklärte Hornbori mit einem breiten Lächeln den Umstehenden, packte ihn am Ellbogen und zog ihn mit sich.

»Was für Lügen verbreitest du über mich?« Galar hatte nicht übel Lust, dem Aufschneider sein blasiertes Lächeln aus dem Gesicht zu schlagen. Sollten alle sehen, was für eine Sorte Held Hornbori war, wenn er wimmernd und Zähne spuckend auf dem Boden lag. Die Vorstellung entspannte Galar ein wenig. Der Anflug eines Lächelns spielte um seine verkrusteten Lippen. Warum eigentlich nicht? Eine muntere Schlägerei tat immer gut.

»Na also, du lernst es auch noch«, zischte Hornbori. »Bei Anlässen wie diesem muss man immer lächeln, ganz gleich was geschieht. Kuck nicht so. Weiterlächeln!«

Er würde damit anfangen, dem Mistkerl das Pilz ins Gesicht zu schütten, dachte Galar. Darauf musste Hornbori reagieren. Das wäre ein guter Auftakt. Nicht einmal Hornbori konnte so eine Demütigung mit ein paar Worten abtun. Ein Zwerg, der etwas auf sich hielt und von anderen respektiert werden wollte, konnte darauf nur mit den Fäusten antworten.

»Ich werde demnächst für einige Zeit fortmüssen«, eröffnete Hornbori ihm im Flüsterton und schob ihn weiter vor sich her. »In ein paar Tagen ist es so weit und …« Er hielt inne und schüttelte ein paar Hände von Gesandten, die, nach ihren merkwürdig gezwirbelten Schnauzbärten zu urteilen, aus einer der Städte unter den Mondbergen stammen mussten.

Hornbori wurde erstaunlich schnell mit ihnen fertig, ohne dabei unhöflich zu werden. Das war seine Welt. Galar entschied, dass sich für eine zünftige Prügelei auch später noch ein Anlass finden ließe. Er musste erst wissen, wohin der Schisser reisen wollte. Und vor allem, warum. Er hatte einen Verdacht, und sollte sich der bestätigen, würde er Hornbori in einen Zustand versetzen, der es ihm unmöglich machte, in einem der Aale zu reisen.

Hornbori bugsierte ihn durch die Menge. Endlich gelangten sie durch ein weites Portal in eine der angrenzenden Gildenhallen. Ein prächtiger Bilderfries, der Schmiede bei der Arbeit zeigte, erstreckte sich über die Stirnwand. Die Decke war weit weniger hoch als im Amethystsaal. Holzkohle glomm dunkelrot in flachen Gruben, die in den Boden eingelassen waren. Unstetes Licht tanzte über die Wände. Galar atmete tief durch. Auch hier hielten sich einige Dutzend Zwerge auf, aber das war kein Vergleich zum Gedränge in der großen Halle, der sie entflohen waren.

Hornbori winkte flüchtig einer Gruppe von Schmieden, dann wandte er sich wieder ihm zu. »Sie hauen ab«, flüsterte er.

Galar runzelte die Stirn und zuckte zusammen. Es hatte sich angefühlt, als wolle sich seine Haut aufs Neue von der Stirn schälen. »Von wem redest du?«

»Die Familien des Rates. Die Sippe des Herrschers in der Tiefe. Alle, die Rang und Namen und genügend Gold haben. Kein Aal verlässt den Hafen mit Drachentrophäen, ohne auch ein paar Mitglieder prominenter Familien an Bord zu haben. Sie fürchten, dass die Drachen die Elfen schicken werden. Die Meuchler werden sicherlich ein Gemetzel anrichten. Es wird fürchterlich werden und …«

»Und du willst dich rechtzeitig verpissen, nicht wahr?« Das war genau, was er zu hören erwartet hatte. Aber so würde es nicht kommen. Dieser …

»Nein, verdammt. Ich will bleiben. Du musst mit mir eine Schlägerei anfangen. Verprügel mich. Wenn ich nicht reisefähig bin, kann ich bleiben. Aber schlag nicht zu fest zu, wenn es geht. Und brich mir nicht die Nase. Ich …«

Galar wäre fast der Pilzhumpen aus der Hand gefallen. »Ich soll was? Dich verprügeln?« Das musste ein Scherz sein. Der Schisser verarschte ihn doch!

»Jeder weiß, dass du cholerisch bist und wir uns nicht gut verstehen, obwohl wir gemeinsam auf Drachenjagd gehen. Niemand wird sich wundern, wenn du mich …«

»Vergiss es. Für wie blöd hältst du mich eigentlich?« Galar hatte seine Stimme zu einem Flüstern gesenkt. Er würde dem Drecksack niemals einen Gefallen tun, und wenn es ihn auch noch so sehr in den Fingern juckte. »Wie kommst du darauf, dass die Elfen kommen werden?«

Hornbori sah sich misstrauisch um. »Lass uns weitergehen. Es ist besser, wenn wir nicht stehen bleiben. Niemand darf uns belauschen.« Er führte ihn aus der Gildenhalle in einen weiten Tunnel, in dem sie immer noch nicht allein waren. Galar staunte über die vielen fremden Trachten. Jetzt, bei weniger Gedränge, konnte er die Gesandten eingehender mustern. Aus allen Gegenden Albenmarks schienen sie hierhergekommen zu sein. Er erkannte Zwerge aus den Ehernen Hallen und aus Ishaven. Unglaublich, wie schnell sich die Kunde über die Versteigerung verbreitet hatte.

»Dir reicht es also nicht als Indiz, dass die Reichen und Mächtigen ihre Familien fortbringen lassen. Sagt dir der Name Hannar etwas?«

Galar nickte. »Einer unserer erfahrensten Jäger. Nyr kennt ihn ganz gut.«

»Würdest du ihn einen Schisser nennen, so wie mich?« Ein süffisantes Lächeln begleitete Hornboris Worte.

»Im Gegensatz zu dir hat sich Hannar diesen Titel nicht verdient.«

Hornbori sah ihn auf eine Art an, die Galar bei ihm noch nicht kannte, verletzt und wütend, aber er ging mit keinem Wort auf die Beleidigung ein. »Gestern habe ich Hannar getroffen. Er war völlig außer sich. Er meinte, etwas sei im Wald, oben auf dem Berg. Geister!«

Galar nahm einen Schluck aus seinem Humpen. Er glaubte nicht an Geister. Bisher hatte er Hannar für einen vernünftigen Kerl gehalten. Wie man sich täuschen konnte!

»Es ist nicht so, wie du denkst«, empörte sich Hornbori. »Da gab es keine durchscheinenden Gestalten oder ähnlichen Humbug aus Kindermärchen. Es war … Eine gut getarnte Falle ist ausgelöst worden, aber es fand sich keine Spur. Auch nicht von Wildtieren. Und er sagt, er habe Stimmen im Wind gehört. Wie Gesang. Aber es sei niemand dort gewesen. Und er erzählte mir von einer Lichtung, auf der ein riesiger Felsfinger aus dem Boden ragt. Als er mit seiner Patrouille dorthin kam, sei es weder ihm noch irgendeinem seiner Kameraden möglich gewesen, zum Felsen zu blicken. So als habe eine unsichtbare Macht ihnen die Köpfe verdreht.«

Galar konnte nicht länger an sich halten. Er lachte laut auf. »Eine unsichtbare Macht hat ihnen die Köpfe verdreht! Hörst du eigentlich, was du redest? Was hat Hannar getrunken, bevor er hinaus in den Wald gegangen ist?«

»Alle Männer aus seiner Patrouille reden davon!«, beharrte Hornbori. »Etwas stimmt da oben im Wald nicht.« Er verdrehte die Augen zur unregelmäßigen Decke des Tunnels, als könne er durch Hunderte Schritt massiven Granits bis hinauf zum Wald blicken. »Da oben ist es nicht mehr geheuer. Ich weiß von Nyr, dass du daran gedacht hast, Hannar auf die nächste Drachenjagd mitzunehmen.«

»Was ich mir jetzt gut überlegen werde …«

»Sei nicht so verbohrt! Wo ist der Galar mit seinen großen Visionen? Der Schmied, der es wagt, Dinge zu tun, die andere nicht einmal erträumen! Warum sollte Hannar plötzlich ein anderer sein? Akzeptiere doch einfach, dass dort oben etwas vor sich geht. Im Wald sind Zauberweber. Elfen sind dort oben! Und es kann nur einen Grund geben, warum sie hierherkommen. Sie wollen Rache für den Weißen Drachen üben.«

Galar wollte über seinen Bart streichen, wie er es oft tat, wenn er tief in Gedanken war, aber er griff ins Leere. Ärgerlich kratzte er über die kümmerlichen Stoppeln auf seinen verbrannten Wangen. Er würde es nicht zugeben, aber ganz unrecht hatte Hornbori nicht. Hannar war nie ein Spinner gewesen. Wenn ein gestandener Zwerg wie er seltsame Geschichten erzählte, sollte man das nicht einfach abtun, sondern der Sache auf den Grund gehen.

Hornbori wies zu einem Seitentunnel, der vom Hauptgang abzweigte. Nach ein paar Schritten waren sie endlich allein. Es war ein kühler, ungemütlicher Ort. Die Laternen standen hier in sehr weiten Abständen in den Wandnischen. In der Ferne hörte Galar Wasser rauschen. Der Hafen war nicht mehr fern.

Hornbori hielt das Schweigen nicht länger aus. »Wir sollten hinauf in den Wald und herausfinden, was dort vor sich geht«, platzte es aus dem Großmaul heraus.

Galar grunzte abfällig. »Und du willst einmal König sein? Unser Volk anführen?«

»Was hat das denn damit zu tun?«

»Eine ganze Menge. Stell dir vor, dort oben laufen wirklich Zauberweber der Elfen herum … Drachenelfen. Die schneiden dir so schnell die Kehle durch, dass du gar nicht mitbekommst, dass sie dir die Klinge an den Hals gesetzt haben. Mal angenommen, sie können tatsächlich einen Zauber wirken, mit dem sie uns zwingen können, nicht an einen bestimmten Ort zu blicken – und ich sage jetzt nicht, dass ich Hannar glaube, es ist nur ein Gedankenspiel –, dann bringen sie dich um, ohne dass du auch nur gemerkt hast, wie sie in deine Nähe kommen. Was gewinnen wir also, wenn wir dort hinaufgehen?«

»Hannar haben sie doch auch nicht umgebracht.« Hornbori klang jetzt weit weniger enthusiastisch.

»Und was schließt du daraus?«

»Sie sind eben vorsichtig. Sie wollten uns nicht warnen. Wenn sie Hannar und seine Männer umgebracht hätten, wüssten wir jetzt ganz sicher, dass sie da sind.«

»Wenn sie so vorsichtig wären, würden sie wohl kaum Zauber weben, die selbst dem abgebrühten Hannar Angst machen.«

Hornbori nickte widerwillig. »Da ist was dran. Aber warum bringen die Ratsmitglieder dann ihre Familien in Sicherheit?«

»Irgendwann werden die Drachen ihre Elfen schicken. Wenn du in ein paar Tagen eine lange Reise antrittst, ist das sicherlich nicht das Dümmste.«

Hornbori sah ihn eigentümlich an. Ungewohnt hart und mannhaft. »Ich bleibe. Ich habe gehört, es gibt verborgene Stollen und Fallen, die jeden Angreifer einen schrecklichen Blutzoll bezahlen lassen. Sollen andere davonlaufen – ich kämpfe in der Schlacht um die Tiefe Stadt!« Hornboris Ausbruch endete mit einem Stoßseufzer, der wieder besser zu ihm passte.

»Geheime Tunnel und Fallen«, sagte Galar herablassend. »Dummes Geschwätz. Nichts als Kindermärchen.«

»Da irrst du dich gewaltig, Galar. Das ist mehr als nur Gerede. Meine Familie hat Einfluss. Ich weiß Dinge über die Tiefe Stadt, die könntest du dir nicht einmal …« Er schüttelte den Kopf. »Du glaubst mir ohnehin nicht, oder?«

Galar lächelte. »Stimmt.«

»Und obwohl es dir in den Fingern juckt, dich mit mir zu prügeln, würdest du es nicht tun, wenn du wüsstest, dass du mir damit einen Gefallen tust. Unsere Wege trennen sich nun. Aber verlass dich darauf, ich erreiche immer, was ich will. Ich mag kein genialer Tüftler sein und kein großer Held auf dem Schlachtfeld, aber unterschätze mich nicht, Galar.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und eilte mit festem Schritt zum Haupttunnel und den Feierlichkeiten zurück.

Der Schmied sah ihm lange nach. Hornbori hatte es tatsächlich geschafft, Zweifel in ihm zu wecken. Er sollte Hannar suchen und selbst mit dem alten Jäger reden, entschied Galar. Und er musste zu Jari, dem Wächter. Es gab die geheimen Tunnel und Fallen tatsächlich. Aber Hornbori hätte davon nicht wissen dürfen. Es gab nur zwei Dutzend Eingeweihte. Und einer von ihnen hatte offensichtlich geplaudert. Das musste geahndet werden! Galar war immer sehr stolz darauf gewesen, zu diesem erlauchten Kreis zu gehören. Er hatte einen der Tunnel gebaut, weil der Alte in der Tiefe sein perfides Talent, Fallen zu ersinnen, zu schätzen wusste. Sollten die Drachenelfen nur kommen! Sie würden sie buchstäblich in Stücke hacken!

Das Wettrennen

Bleigraue Wolken hingen tief am Himmel. Das Land erstreckte sich in sanften Wellen in schier endlose Weiten. Kalter Wind zerzauste Shayas Haar. So sehr sie die Himmel Nangogs gemocht hatte, nichts kam der großen Steppe gleich! Sie hatte ihre Heimat vermisst. Den Geruch des Grases. Sein Wogen, wenn der Wind darüberstrich.

Sie streichelte der kleinen, weißen Stute über den Hals. Das Tier war launisch. Es warf den Kopf zurück. Shaya lächelte. Subai hatte das Pferd mit Bedacht für sie ausgewählt. Er hoffte wohl, dass sie vor aller Augen abgeworfen wurde. Dass sie ihr Gesicht verlor. Aber in den Jahren auf Nangog hatte sie das Reiten nicht verlernt.

Sie blickte zu ihm zurück. »Wer als Erster am Zelt unseres Vaters ist?«

Subai sah verächtlich zu ihr herab. Er ritt eines der prächtigen Schlachtrösser aus den Gestüten am Seidenfluss. Einen starken, schwarzen Hengst, dazu gezüchtet, einen Krieger in voller Bronzerüstung zu tragen. Seine Schulter überragte die ihrer Stute um fast drei Hand. Ein eindrucksvolles Pferd und eine Wahl, die davon zeugte, dass Subai immer noch ein Dummkopf war. Es war kein Steppenpferd. Keines, wie es seine Krieger ritten. Ein wahrer Anführer setzte sich nicht auf diese Weise von seinen Männern ab.

Shaya hatte so laut gesprochen, dass es die Männer im Gefolge ringsherum gehört hatten. Alle blickten zu Subai.

»Wir sind keine Kinder mehr«, murmelte er missmutig.

»Stimmt. Wir können mittlerweile richtig reiten.« Sie lächelte. Keiner der Krieger im Gefolge Subais verzog eine Miene. Aber Shaya konnte in ihren Augen lesen. Sie kannte das Lauern. Den kaum unterdrückten Spott in den Blicken.

Auch Subai entging dies nicht. Er sah missbilligend zu ihr herab. »Wie könnte ein Weib sich mit einem Mann messen?«

»Das dachten auch die Männer, die unter meiner Dornaxt starben.«

Subai lachte auf, doch niemand fiel in sein bellendes, zu aufgesetztes Gelächter ein. »Was für Männer können das wohl gewesen sein.« Er hob seine kurze Reitpeitsche und deutete auf ihr Gesicht. »Du hast den bösen Blick, Schwester. Alle wissen das. Nicht deine Waffenkunst verhalf dir zu deinen Siegen, sondern dunkle Magie. Aber diesmal wird sie dir nicht helfen. Es gilt! Reiten wir!«

Shaya konnte in den Gesichtern der anderen lesen, wie die Worte ihres Bruders wirkten. Wie seine Lügen ihren Kampfesruhm zu Asche werden ließen. Eben noch war sie widerwillig akzeptiert gewesen, doch jetzt glaubten die Krieger lieber, dass allein Zauberei ein Weib dazu befähigte, im Zweikampf über einen Mann zu triumphieren.

»Dann los!« Ihre Stimme war ein raues Raunen mühsam unterdrückten Zorns. Sie konnten sie in Frauenkleider stecken, aber sie würde niemals eines dieser duckmäuserischen, verängstigten Weiber werden, mit denen sich die Steppenfürsten so gerne umgaben.

Subai preschte ohne zu zögern los, und Shaya hieb ihrem Pony die Fersen in die Flanken. Das kleine Tier machte einen erschrockenen Satz, der irgendjemanden hinter ihr auflachen ließ, dann stürmte es dem prächtigen Schlachtross ihres Bruders hinterher.

In der Nacht zuvor hatte es geregnet, und auf dem schweren, schlammigen Boden konnte Subais Vollblut nicht seine ganze Kraft entfalten. Shaya holte auf. Das Land wogte in sanften Hügeln an ihnen vorüber. Shaya hatte sich dicht über den Nacken der Stute gebeugt. Der Wind peitschte ihr die Mähne ins Gesicht.

Wie ferner Donner folgte ihr der Hufschlag der übrigen Reiter.

Subai blickte immer wieder zu ihr zurück. Er peitschte fluchend nach den Flanken seines Hengstes. Blutige Striemen glänzten im prächtigen Fell.

Verdammter Narr, dachte sie. Das war nicht der Weg zu siegen. Ihre Finger krallten sich in die Mähne ihrer Stute. Sie spürte die Kraft des Tieres. Seinen Willen, in diesem Rennen zu siegen. Schaumflocken flogen von den Nüstern ihrer Stute. Sie spürte, wie sich die mächtigen Lungen des Tieres füllten und wieder zusammenzogen. Sie spürte das Blut pulsieren.

»Wir können es schaffen, meine Starke.« Sie war jetzt fast gleichauf mit dem Hengst ihres Bruders. Beide Pferde kämpften sich eine Hügelflanke hinauf. Der Grund war trügerisch. Ihre Stute wurde langsamer.

Subai stieß einen schrillen Triumphschrei aus und peitschte erneut seinen Hengst. Schmerz und Angst ließen das große Pferd alle Vorsicht vergessen. Mit zwei Längen Vorsprung erreichte es den Hügelkamm.

»Komm, meine Starke. Komm!« Shaya klopfte mit der flachen Hand auf den Hals der Stute. Deutlich spürte sie die dick geschwollenen Adern unter dem Fell.

Endlich erreichte auch sie den Hügelkamm. Am Fuß des Hügels wand sich ein seichter Fluss in weiten Bögen durch das Grasland. Ein Adler kreiste am grauen Himmel und verfolgte das Rennen. Weit am westlichen Horizont bewegte sich etwas Dunkles durch das Gras. Reiter? Eine Pferdeherde? Shaya trieb ihre Stute den Hang hinab. Subai hatte inzwischen sechs Längen Vorsprung. Sein Rappe hatte den Hang fast schon verlassen, als er ins Rutschen kam. Der Hengst warf den Kopf zurück und stieß ein schrilles Wiehern aus. Seine Hinterbeine brachen aus. Subai hatte Mühe, im Sattel zu bleiben.

Ihre Stute nahm den Hang vorsichtiger. Sie querte ihn in einer Diagonale, statt geradewegs hinabzustürmen. Shaya ließ ihr die Zügel und beobachtete voller Genugtuung, wie Subais Rappe darum kämpfte, nicht zu straucheln. Endlich hatte er sich gefangen. Unsicher machte er ein paar Schritte am Fuß des Hügels, dann strebte er dem Gürtel aus hohem Gras entgegen, das den Flusslauf säumte.

Ihr Schimmel ließ ebenfalls den Hügel hinter sich. Fast gleichzeitig drangen die Pferde in den Wall aus Teichbinsen ein. Die graugrünen Stängel überragten sie. Ärgerliches Entengeschnatter ertönte ganz in der Nähe. Shaya konnte kaum einen Schritt weit sehen. Das Dickicht aus fingerdicken Halmen hatte sie verschlungen. Schmatzender Schlamm wich dunkelbraunem Wasser. Unbeirrt strebte ihre Stute voran und gelangte in tieferes Wasser, das Shaya bis über die Knie reichte. Es war unangenehm kalt. Schlammspritzer sprenkelten das blütenweiße Fell der Stute.

Der Wall aus Teichbinsen wich zurück. Eine träge Strömung ließ sie ein wenig abdriften. Vielleicht zwanzig Schritt neben ihr und fast auf gleicher Höhe sah sie Subai. Wütend starrte er zu ihr hinüber. Sein Hengst wirkte abgekämpft. Wahrscheinlich setzte ihm das kalte Wasser mehr zu als ihrem Pony. Sie lächelte herausfordernd. Sehr bald würde sich zeigen, wer den längeren Atem hatte.

Als sie den Binsengürtel des jenseitigen Ufers erreichten, klapperten Shaya die Zähne. Sie fühlte sich, als hätten böse Flussgeister alle Wärme ihres Körpers gestohlen. Sie beugte sich vor, bis sie den angenehm warmen Nacken der Stute berührte.

Endlich fanden sie festen Boden. Mit kräftigen Schritten ließen sie den Fluss hinter sich. Binsenstängel schlugen Shaya ins Gesicht. Sie zitterte am ganzen Leib. Die Stute schnaubte, als wolle sie ihr Mut machen.

Als sie durch den grünen Wall brachen und das weite Grasland wieder vor sich liegen sahen, war Subai nirgends zu entdecken. Heiße Freude durchfuhr Shaya. Sie würde es ihm zeigen!

Die dunklen Gestalten am Horizont waren nun zu erkennen. Es waren Reiter. Hundert oder mehr. Rossschweifstandarten wehten von langen Stangen. Ein ganzer Wald davon. Der Adler kreiste über den Reitern. Stieß wie ein Pfeil vom Himmel hinab und verschwand.

Dort hinten musste ihr Vater sein. Kein Fürst des weiten Graslandes würde es wagen, so viele Standarten um sich zu versammeln. Der Unsterbliche Madyas war mit seinem Adler zur Wolfsjagd ausgeritten. Das traf sich gut! Sie würde als Siegerin eines Wettreitens vor ihn treten und nicht als gedemütigte Gefangene ihres Bruders!

Ein wilder Schrei ließ sie herumfahren. Subai brach mit seinem Rappen aus dem Binsendickicht. Der große Rappe sah zum Erbarmen aus. Schaum troff von seinem Maul. Seine Flanken waren zerschunden von Subais Peitschenhieben. Mit angstweiten Augen preschte der Hengst auf das Grasland hinaus, Madyas Jagdgesellschaft entgegen.

Shaya wusste, dass sie gewonnen hatte. Sie war unter Pferden aufgewachsen. Fremde spotteten gerne, dass den Ischkuzaia ihre Pferde mehr bedeuteten als ihre Frauen und Kinder. Ganz falsch war das nicht.

Subais Rappe gab unter den wütenden Hieben ihres Bruders sein Letztes und kämpfte sich noch einmal einen kleinen Vorsprung heraus. Entschlossen setzte ihre Stute dem Vollblut nach, als habe das kleine Pony ebenfalls den Ehrgeiz, den großen Hengst zu besiegen.

Das Land stieg sanft an. Der Boden war hier sandiger als auf der anderen Seite des Flusses. Trockener. Bald hatten sie Subai eingeholt. Shaya hielt sich ein gutes Stück seitlich von ihm, denn sie traute ihm zu, dass er mit der Peitsche nach ihr schlagen würde, wenn sie ihm zu nahe käme. Er wusste, dass er nicht mehr siegen konnte. Und was noch schlimmer war, er würde seine Niederlage unter den Augen ihres Vaters erleiden.

Die Reiterschar hatte auf dem nächsten Hügelkamm innegehalten. Schweigend verfolgten sie das Wettrennen. Jedem war klar, wie es enden würde. Shaya blickte nach hinten. Sie lag nun drei Pferdelängen vor Subai. Blut mischte sich in die weißen Flocken um die Nüstern des Rappen. Ihr Bruder hatte den stolzen Hengst zuschanden geritten. Für nichts! Er würde nicht daraus lernen. Wahrscheinlich würde er behaupten, ihr böser Blick habe sein Pferd verhext. Und die meisten würden ihm glauben. Ihr Sieg bedeutete gar nichts, begriff Shaya. Vielleicht sollte sie den Hengst an sich vorüberziehen lassen. Ihrem Bruder vor aller Augen den Sieg schenken. Würde das etwas ändern?

Schweigend starrten die Reiter zu ihnen herab. Sie entdeckte den Adler auf der Faust eines stämmigen Kriegers, erkannte einige Berater, die schon in ihrer Kindheit zum Gefolge ihres Vaters gehört hatten. Die meisten der Männer jedoch waren ihr fremd. Keine einzige Frau gehörte der Jagdgesellschaft an.

Plötzlich knickte ihre Stute ein. Shaya wurde aus dem Sattel geschleudert, über den Kopf des kleinen Ponys hinweg, das ein erschrockenes, fast menschlich klingendes Keuchen ausstieß. Mit einem harten Schlag landete sie auf dem Rücken. Etwas in ihrer Schulter knackte. Die Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst. Grelle Lichtpunkte tanzten vor den bleigrauen Wolken. Benommen schüttelte sie den Kopf und sah zu ihrem Pony. Es wand sich im Gras. Wieherte zum Erbarmen und versuchte wieder aufzustehen. Es würde nie wieder stehen. Der linke Vorderlauf war gebrochen. Der blanke Knochen ragte aus dem zerschundenen Fleisch.

»Nein«, stammelte sie. »Nein.«

Subai ritt im Schritt an ihr vorüber. »Der Weiße Wolf wollte nicht, dass du siegst. Dein Hochmut hat selbst die Devanthar gegen dich aufgebracht.«

Shaya ballte die Fäuste. Jetzt erst bemerkte sie das Erdloch. Ihre Stute musste mit dem Vorderlauf in einen Murmeltiertunnel dicht unter der Grasnarbe eingebrochen sein. Das war nicht gerecht. Es war … Sie tastete nach ihrem Messer und zuckte vor Schmerz zusammen. Ihre rechte Schulter musste ausgekugelt sein. Selbst zu atmen schmerzte.

Ihr Pony hatte die Augen so weit aufgerissen, dass sie ganz von weißen Rändern eingefasst waren. Shaya zog ihr Messer mit links und kroch zu ihm hinüber. Vorsichtig strich sie ihm über den Hals. Dann setzte sie die Klinge an eine der dicken Adern, die unter dem Fell am Hals zu erkennen waren. Sie schnitt nicht tief. Warmes Blut rann über ihre Hand. Vorsichtig streichelte sie weiter den Hals. Der Atem der Stute ging nun ruhiger.

»Warum soll es länger leiden als notwendig?« Madyas, ihr Vater, stand hinter ihr. In seinen schwarzen Augen zeigte sich keine Regung. Nicht ein graues Haar war unter den Stoppeln auf seinen Wangen. Er war unsterblich … Und so anders als Aaron.

In der Linken hielt Madyas einen Jagdspeer mit schmalem Stichblatt. Sie schluckte, hob die Linke …

Bevor ein Wort über ihre Lippen kam, wirbelte er den Speer herum und stieß ihn mit aller Kraft durch das Auge der Stute. Die Läufe des Ponys zuckten. Dann lag es still.

»Glaubst du, ein langsamer Tod ist ein besserer Tod?«, fragte er verächtlich.

Sie sagte nichts. Es war nicht klug, ihm Widerworte zu geben. Ihr Vater war von gedrungener Gestalt. Er war nicht sehr groß, aber er verströmte eine fast animalische Lebendigkeit. Seine Kinder alterten und wurden grau neben ihm. Er blieb äußerlich immer derselbe. Mit seinem harten Gesicht und dem zu großen Kinn. Den buschigen Brauen, den stets stoppeligen Wangen und der nicht zu bändigenden Haarsträhne, die ihm in die Stirn hing. Er trug ein Wams aus dickem Leder, das bei jeder seiner Bewegungen leise knarzte. Seine Arme waren nackt, sodass man die von Narben zerfurchten Wolfstätowierungen darauf deutlich sehen konnte.

»Steh auf, wenn du nicht als verweichlichtes Weib gelten willst.«

Sie sah ihn überrascht an. Das war doch die Rolle, die er ihr zugedacht hatte! Oder hatte Subai sie belogen?

Shaya biss die Zähne zusammen und stemmte sich hoch.

»Du hast dir die Schulter ausgekugelt.« Er sagte das ohne einen Anflug von Mitleid. »Wenn du dir bei dem Sturz den Hals gebrochen hättest, hätte ich dich in Streifen schneiden und an die Lagerhunde verfüttern lassen. Ich habe Pläne mit dir. Dieser Reitunfall stört sie. Reiß dich also zusammen.«

Sie gehorchte und fragte sich, wo jener warmherzige Vater geblieben war, für den sie vor langen Jahren auf der Trommel getanzt hatte.

»Ich habe eigens für dich einen Heilkundigen vom Seidenfluss holen lassen.« Der Unsterbliche deutete auf einen Greis in seinem Gefolge, der in fließende, grüne Gewänder gekleidet war. Der Alte saß ungelenk auf seinem Pferd. Er wirkte deplatziert inmitten der Jagdgesellschaft. Sein langes, abgehärmtes Gesicht hatte die Farbe von altem Elfenbein. Er wirkte, als habe er in seinem Leben kaum einen Tag unter freiem Himmel verbracht, wie so viele der Gelehrten, die die großen Städte am Seidenfluss zu Tausenden ausbrütete.

Der Heilkundige nickte ihr zu, als er ihren Blick bemerkte. Sein Gesicht mit den schmalen Augen und dem langen, spinnwebfeinen Kinnbart war eine Maske, bar jeder Emotion. Ganz anders wirkten die Berater ihres Vaters. Sie gafften sie unverhohlen an, und in ihren Blicken lag eine lüsterne Boshaftigkeit, als wüssten sie um ein Geheimnis, das ihr erst noch offenbart werden würde.

Ein Leibwächter ihres Vaters überließ ihr sein Pferd und ging auf die Knie, damit sie auf seinen Rücken treten und leichter in den Sattel steigen konnte. Sie ignorierte die Geste hündischer Unterwürfigkeit und schwang sich ohne Hilfe auf das Pferd. Sengender Schmerz schoss durch ihre Schulter. Für einen Augenblick wurde ihr schwarz vor Augen, und sie musste sich mit den Fingern in der Mähne des Braunen festkrallen, um nicht aus dem Sattel zu kippen.

»Die Jagd ist beendet«, verkündete ihr Vater mit lauter Stimme. »Wir kehren zurück zum Wandernden Hof.«

Die geheimen Tunnel

Galar ließ den Zeigefinger durch die Furche in der Höhlenwand gleiten. Nur noch Reste von eingetrocknetem Öl waren geblieben. Er dachte zurück an die unzähligen Stunden, die er in diesem Tunnel verbracht hatte. Fast drei Jahre hatte es gedauert, ihn vorzubereiten. Damals hatte er in einem Loch von einer Höhle gewohnt. Nicht einmal ein Troll hätte sich da wohlgefühlt. Seitdem war viel geschehen. Dem Gold und dem Einfluss Hornboris verdankte er eine prächtig ausgestattete Werkstatt und eine stetig wachsende Zahl von Gehilfen, die nach seiner Pfeife tanzen mussten. Vorbei waren die Zeiten, in denen er nächtelang wach gelegen und sich das Hirn zermartert hatte, wie er an ein paar Eisenstangen oder eine Kupferplatte kommen könnte, um eine seiner Ideen umsetzen. Ein Teil des Ruhmes am Tod des Weißen Drachen war nun sogar mit seinem Namen verbunden. Obwohl sein Bart weggesengt war und er roch wie ein halbgares Stück Pferdefleisch, spottete niemand mehr über ihn. Galar war fast zufrieden, solange er nicht an Hornbori dachte. Wie sie diesen Aufschneider verehrten, war zum Kotzen! Hornbori Drachentöter nannten sie ihn. Von wegen! Wenn hier einer der Drachentöter war, dann Nyr, der halb verbrannt vom Odem der Bestie den tödlichen Speer abgeschossen hatte. Hornbori hatte sich doch bloß an den Kadaver herangemacht. Gut, ein bisschen Leben war noch in dem Drachen gewesen. Aber was für eine Kunst war das, einer todwunden Bestie die Kehle durchzuschneiden? Eine Heldentat konnte man das wahrlich nicht nennen. Aber er würde die Klappe halten. Er musste sich zusammenreißen und klar denken! Deshalb hatte er die endlosen Feierlichkeiten verlassen und war hinab zu diesem verborgenen Tunnel gestiegen.

Die Existenz dieses Tunnels gehörte zu den bestgehüteten Geheimnissen der Tiefen Stadt. Bergwerker, die man sonst wo angeheuert hatte, hatten ihn angelegt. Nur eine Handvoll Zwerge wusste um das verborgene Netz von Gängen. Sie würden den Widerstand anführen, sollte die Tiefe Stadt tatsächlich angegriffen werden. Die geheimen Gänge lagen parallel zu den Haupttunneln und waren mit mörderischen Fallen gespickt. Im Fall eines Angriffs würden die Haupttunnel mit Türen verschlossen, die nicht von behauenen Felswänden zu unterscheiden waren, und die Eindringlinge würden in die Tunnel mit den Fallen umgeleitet.

Galar träufelte neues Öl in die Furche an der Felswand. Wer sich hierher verirrte, würde einen schnellen, schmerzlosen Tod erleiden. Diese Falle hatte ihm zu erstem Ruhm verholfen. Dabei war das Prinzip denkbar einfach. Das breite Hackmesser eines Metzgers hatte ihn dazu inspiriert. Durch die steinerne Rinne, die er gerade neu ölte, schnellte ein fünf Hand breites Hackmesser, so schwer, dass drei Schmiede nötig waren, es anzuheben. Es glitt der Länge nach den leicht abschüssigen Tunnel hinunter. Mit zusätzlichen Bleigewichten beschwert, gewann es mit jedem Schritt an Geschwindigkeit.

Galar dachte an das Grubenpony, das man in den Tunnel getrieben hatte, um die Falle zu testen. Das Hackmesser hatte es vorne am Kopf getroffen und von der Stirn bis zum Schweif durchtrennt. Eine eindrucksvolle Sauerei war das gewesen. Danach hatte man ihm die Mittel bewilligt, zwei weitere Fallen dieses Typs in dem Tunnel einzubauen. Dem Fleischmesser mochten die Elfen vielleicht entgehen. Aber ganz gewiss nicht dem, was dann noch folgte!

Bedächtig träufelte Galar weiteres Öl in die Rinnen. Es würde ein Angriff kommen. Was Hornbori behauptet hatte, stimmte –die Ratsherren und Reichen hatten damit begonnen, ihre Anverwandten in andere Zwergenstädte in Sicherheit zu bringen. Natürlich sprach niemand von Flucht, damit unter der Masse der Bergbewohner keine Panik aufkam. Aber es war schon auffällig, wie viele hochrangig besetzte Handelsmissionen in den letzten Tagen die Tiefe Stadt verlassen hatten. Teile des Kadavers dieses verfluchten Weißen Drachen wurden bis in die entferntesten Winkel Albenmarks verschachert. Es hätte ihm egal sein sollen, aber der Gedanke daran, wie viele Schnösel sich eine goldene Nase daran verdienten, dass er und Nyr ihre Haut hingehalten hatten, brachte Galar zum Kochen. Er hatte diese verdammten Feierlichkeiten verlassen müssen. Blendwerk für die Dummen. Freies Pilz und Braten und Brot, bis der Wanst platzte. Die einfachen Schmiede, Küfer, Steinmetze und Tunnelbauer sahen schlichtweg nicht, was vor sich ging. Blind fraßen sie sich durch.

Galar hatte genug Drachenblut, um seine Experimente auf Jahre fortsetzen zu können. Es würde ihm wieder glücken, aus dem Blut und Koboldkäse ein Unverwundbarkeitselixier zu brauen. Dass seine Versuche ausgerechnet Hornbori eine unverwundbare Hand beschert hatten, wurmte ihn. Aber es würde ihm erneut glücken, wenn er es nur oft genug versuchte!

Galar ließ sich von diesem Traum davontragen, während er weiter Öl in die Furchen entlang der Tunnelwand träufelte. Er stellte sich eine kleine Schar unverwundbarer Zwerge vor. Harte Burschen, angeführt von Nyr und ihm. Hornbori würde nicht dazugehören! Auf keinen Fall.

Mit so einer Truppe könnte er es sogar mit den Himmelsschlangen aufnehmen. Sie würden die Mistviecher in ihren Nestern aufspüren und ihnen in den schuppigen Arsch treten. Und dann würden sie sie filetieren und die Magie aus ihnen herausdestillieren. Jene Magie, die sie seinem Volk verweigerten und stattdessen die arroganten, unförmigen, riesenwüchsigen Elfen lehrten. Kein Zwerg hatte diese Entscheidung der selbstherrlichen Himmelsschlangen begriffen. Aber die Drachen würden es bereuen. Sein Volk hatte die Macht, sie zu töten. Er hatte es bewiesen. Er, Galar, der so oft verspottete Schmied, Alchemist und Mechanikus. Er lächelte und zuckte augenblicklich zusammen. Obwohl er sein verbranntes Gesicht dick mit Krötenfett eingerieben hatte, schmerzte selbst jetzt nach zwei Wochen noch jede Bewegung der verbrannten Haut. Wie es schien, würde sein ohnehin schon jämmerlicher Bart an einigen der besonders übel verbrannten Stellen nicht mehr nachwachsen. Stattdessen würden rote Narben zurückbleiben. Ehrenmale von einem Kampf, den zuvor noch niemand gewagt hatte. Nein, sie würden ihn nicht mehr belächeln. Auch sein Name war jetzt in aller Munde.

Galar setzte seinen Gang durch den Tunnel fort. Er versuchte sich vorzustellen, auf welche Weise die Drachen wohl angreifen würden. Dass sie angreifen würden, stand für ihn außer Frage. Lange schon hatten sich die Zwergenvölker auf den Kampf mit den Drachen vorbereitet. Sie waren ungerechte Tyrannen, die vermaledeiten Himmelsschlangen! Deshalb war es auch nie eine Frage gewesen, ob sie irgendwann eine der Zwergenstädte bestürmen würden. Nur welche und wann, das vermochte niemand zu sagen. Die Frage, welche es treffen sollte, hatte er durch seine Taten nun entschieden.

Alle Einfallstunnel in den Berg waren vielfach verwinkelt. Flammenzungen würden gebrochen werden und schon nach weniger als hundert Schritt ihre Macht verlieren. Die Tyrannen waren zu groß, um selbst in die Tunnel zu kriechen. Also würden sie ihre gedungenen Mörder, die Elfen, schicken. Und diese arroganten Schnösel würden hier in der Tiefen Stadt lernen, was es hieß, gedemütigt zu werden. Er hatte die stählernen Federn der drei Fallen geprüft. Die Zahnräder, die den Mechanismus in Bewegung setzten, der die Federn spannte. Alles war bereit. Diese Tunnel waren ihre mächtigste Waffe. Sie waren auf keinem Plan verzeichnet. Nur ein einziger Zwerg kannte sie alle. Jari, der Wächter. Er wartete in einer verborgenen Kammer jahrein, jahraus auf das Signal, die Parallelgänge zu öffnen und die Haupttunnel zu blockieren. Die Elfen würden erst merken, dass sie in eine Falle getappt waren, wenn es zu spät war. Und sollten ein paar dieser langohrigen Mörder überleben, vermochte die Tiefe Stadt mehr als dreihundert bis an die Zähne bewaffnete Krieger aufzubieten, um diesen letzten Elfen den Rest zu geben.

Fleischmesser, Schnitter und Fleischwolf hatte Galar seine drei Fallen genannt. Er blickte zufrieden den langen Tunnel hinab. Dann legte er den steinernen Hebel um, der die Sicherungsbolzen löste und die Fallen wieder scharf machte. Wer jetzt hierherkam, war des Todes. Galar lächelte. Der Schmerz ließ ihn erneut zusammenzucken. Die Elfen würden für ihren Hochmut büßen. Der Weiße Drache war erst der Anfang gewesen. Kamen die Drachen hierher, würde ein Krieg beginnen, wie ihn Albenmark noch nicht gesehen hatte. Und die Ersten, die ihre blinde Ergebenheit mit dem Leben bezahlten, wären die Drachenelfen!

Hier war alles getan. Jetzt musste er sich um seine kostbare Habe kümmern. Er war auf Krieg und Verrat vorbereitet. Sollte er im Kampf um die Tiefe Stadt fallen, hätte er zumindest die Genugtuung, dass seine Schätze für immer verschollen sein würden.

Vor aller Augen

Voller Missfallen betrachtete Shaya das Kleid, das auf der dunklen Kiste neben ihrer Schlafmatte lag. Sie war in einer Jurte mit festem Holzboden untergebracht. Zwei Öllämpchen, geformt wie Steppenponys, verströmten ein angenehmes, gelbes Licht. Ein Eberfell lag auf dem Boden und zwei kleine Kissen, mehr hatte ihre Unterkunft nicht zu bieten. Und mehr brauchte sie auch nicht. Bis auf eines. Ihre Waffen fehlten. Sie hatte verstanden, dass ihr Vater entschieden hatte, dass ihre Tage als Kriegerin vorüber waren. Sie würde sich seinem Willen fügen müssen. Aber ihre Waffen sollten ihr bleiben! Kein Ischkuzaia verzichtete darauf. Jedenfalls kein Krieger, der sich im Kampf bewährt und so viele Feinde erschlagen hatte wie sie. Ihr Volk bestattete seine toten Helden in Erdhügeln, zusammen mit ihren Pferden und eben den Waffen. Wenn sie nun lebendig in solch einer Jurte bestattet sein sollte, ihre Vergangenheit begraben war und sie ein Leben führen musste, in dem alles gestorben war, was ihr einmal etwas bedeutet hatte, dann sollte sie wenigstens ihre Waffen behalten dürfen, auch wenn sie diese niemals mehr tragen würde.

Sie hatte sich eine Rede zurechtgelegt, mit der sie bei ihrem Vater diese Gunst einfordern wollte. Er hielt viel auf Kriegertugenden. Wenn sie ihn in der richtigen Stimmung fand und die rechten Worte wählte, würde sie ihn vielleicht umstimmen können.

Shaya nahm das weiße Kleid von der Truhe. Der Stoff war wunderbar zart und glatt. Seide. Sie seufzte. Das also war ihre Zukunft. Sie hielt sich das Kleid an den Leib. Es war unten weit ausgestellt und würde, wenn alle Verschnürungen geschlossen waren, von der Hüfte aufwärts so eng anliegen wie eine zweite Haut. Ihr wurde klar, dass sie Hilfe brauchen würde, um es anzulegen. Jetzt tat es ihr leid, dass sie die beiden Dienerinnen, die sie bei ihrer Ankunft in der Jurte angetroffen hatte, hinausgeworfen hatte.

So ein Kleid anzulegen hieß, seinen Körper öffentlich feilzubieten, dachte sie zornig. Sie warf es zurück auf die Truhe und bezahlte für die ruckartige Bewegung mit einem stechenden Schmerz in der Schulter. Shaya fluchte. Die ganze Welt hatte sich gegen sie verschworen! Sie hätte mit Aaron gehen sollen. Wer hätte es verhindern können?

Die Antwort lag auf der Hand. Die Devanthar. Als Tochter eines Unsterblichen würde sie niemals zur Hauptfrau eines anderen Unsterblichen werden. Die Devanthar wollten nicht, dass sich die Mächtigsten der Welt miteinander verbündeten.

Shaya presste ihren Arm eng an den Leib und brachte ihn in eine Position, in der er nicht schmerzte. Sie würde niemals ohne Hilfe dieses Kleid anlegen können, dachte sie verbittert. Und wenn sie nicht herausgeputzt in der Stunde der Dämmerung in der großen Jurte ihres Vaters erschien … Sie dachte an ihre Waffen. Sie jemals wiederzubekommen würde ihr nur gelingen, wenn sie alles unterließ, was ihn erzürnen mochte. Die Männer seines Hofstaats kannten sie. Viele zumindest. Sie würden wissen, dass sie nicht freiwillig in solch einem Aufzug erschien. Nicht sie würde ihr Gesicht verlieren. Die Schande, sich wie eine Hure herausgeputzt zu haben, würde auf ihren Vater zurückfallen.

Shaya ging zum Eingang der Jurte und schlug das schwere Leder zurück. Drei Krieger standen Wache. Drei! Man konnte das als eine Auszeichnung sehen. Nur bedeutende Mitglieder des Hofes hatten das Anrecht, eine dreiköpfige Ehrenwache vor ihrem Zelt aufziehen zu lassen. Selbst der Unsterbliche umgab sich bei Hof nie mit mehr als vier Leibwächtern, und die meisten ihrer Geschwister geboten über keine einzige Wache. Doch Shaya hatte lediglich das Gefühl, gefangen gesetzt zu sein. Diese Männer gehorchten allein ihrem Vater.

Es dauerte nicht lange, bis die Dienerinnen zurückkehrten. Auch wenn die beiden demütig die Blicke gesenkt hielten und schwiegen, während sie sie zurechtmachten, spürte Shaya deutlich ihre stillschweigende Genugtuung. So schloss sich der Kreis. Sie dienten ihr, die ihrerseits fortan auch nur noch zu dienen hatte.

Schließlich trug sie das Kleid. Nur das Kleid. Keine Stiefel, nichts. Sie fühlte sich seltsam. Vielleicht wäre sie so zu einem Stelldichein mit Aaron gegangen. Aber so vor den Rat ihres Vaters zu treten … Die Dienerinnen hatten ihre Haare mit Elfenbeinkämmen hochgesteckt, die mit stilisierten Blüten geschmückt waren. Sie hatten sie geschminkt und Rosenwasser auf ihre Haut geträufelt. Sie empfand den Aufzug als schamlos.

Shaya rieb sich mit der Linken über die Stirn. Manchmal fühlte sie sich wie in einem Traum gefangen. Ihre Wirklichkeit war ihr abhandengekommen. Das hier war nicht ihr Leben.

»Herrin, der Unsterbliche erwartet Euch.«

Die beiden jungen Mädchen knieten vor ihr, demütig die Köpfe gesenkt. Taten sie das bei jedem Weib, dem sie dienten, oder hatten sie Angst vor ihr?

Den schmerzenden Arm dicht an den Leib gepresst, verließ Shaya ihre Jurte. Lieber wäre sie in eine Schlacht gezogen, als zum Spielball von Hofintrigen zu werden. In richtigen Kämpfen kannte sie sich aus. Hier fühlte sie sich hilflos, ja ausgeliefert.

Sie befand sich im Inneren Lager. Der Wandernde Hof umfasste Tausende Jurten. Er füllte ein weites Tal. Es wurde niemals still in diesem riesigen Lager. Eine Stadt, ein Königshof und ein Heer waren miteinander zu einem riesigen Lindwurm verschmolzen, der sich rastlos durch die weite Steppe wand. Selten verweilte der Hof länger als einige Tage an einem Ort. Dann ging es weiter. Und im Grasland blieb eine Narbe zurück, wenn der Hof des Unsterblichen Madyas vorübergezogen war. Kahlgefressene Hänge, die Herden von Pferden, Kamelen und Ochsen genährt hatten. Eine Furche aus schwarzem Schlamm, wo ungezählte Füße und Hufe den Grund aufgewühlt hatten.

Shaya atmete tief durch und straffte sich, so gut der Schmerz in ihrer Schulter dies zuließ. Es roch nach dem Rauch von Dungfeuern, gebratenem Büffelfleisch, Suppen und frisch gegerbtem Leder. Sie spürte die Blicke in ihrem Rücken, als sie, eskortiert von ihren Leibwachen, durch das Lager schritt. Das Innere Lager war durch eine niedrige Palisade aus zugespitzten Pfählen vom Hauptlager getrennt. Hier weilten nur die Freunde und Berater ihres Vaters mit einer handverlesenen Dienerschaft. Und Shayas zahlreiche Geschwister.

Endlich erreichte sie die Himmelsjurte, das Palastzelt ihres Vaters. Wie eine Glucke ihre Küken überragte sie alle Jurten des Wandernden Hofs. Sie stand auf einer weiten Holzplattform, die von mannshohen Rädern getragen wurde. Der Holzboden und das wuchtige Geländer, das ihn umspannte, waren von glänzend roter Farbe. Die Pfosten des Geländers ragten viele Schritt hoch und waren mit den Haarlocken der Feinde geschmückt, die der Unsterbliche Madyas in seinem langen Leben erschlagen hatte. Die Form der Jurte erinnerte an eine durchschnittene Zwiebel. Sie war von dunklem Blau, auf das Hunderte Perlen aufgestickt waren, was ihr den Namen Sternenjurte eingebracht hatte. Nur wenigen Menschen war es vergönnt, jemals das Innere des Palastzeltes zu sehen. Nahebei weideten die dreißig weißen Ochsen, die den Palast ihres Vaters durch das weite Grasland zogen.

Wer diese Jurte einmal gesehen hatte, der vergaß sie nie wieder. Sie war ein Mythos in ihrem Volk. Als Kind war Shaya gerne hierhergekommen. Jetzt fragte sie sich voller Sorge, was sie dort erwartete. Warum hatte ihr Vater Subai geschickt, um sie von Nangog zurückzuholen?

Am Eingang des Palastzeltes kauerte ein großer, silberner Wolf. Shaya hatte das Gefühl, dass er sie aus seinen Rubinaugen anstarrte. Er war ein Geschenk der Devanthar. Sie selbst hatte schon gesehen, wie der Wolf zum Leben erwachte und es duldete, dass ihr Vater auf ihm ritt. Vor langer Zeit war es dieser Wolf gewesen, der sie und die von ihr auserwählten Krieger auf magischen Pfaden nach Nangog geführt hatte. Er bewachte ihren Vater. An ihm vorbei würde kein Meuchler in die Sternenjurte gelangen.

Die Klappe der Jurte wurde zurückgeschlagen, kaum dass sie einen Fuß auf das rot lackierte Podest gesetzt hatte, auf dem das prächtige Zelt errichtet war. Warmer, blaugrauer Rauch zog aus dem Eingang in die kühle Dämmerung. Shaya kam spät, die Sonne war bereits hinter den Hügeln versunken, und nur ein letzter, silberner Lichtstreif kämpfte am Horizont seine verlorene Schlacht gegen die Nacht. Sie herzurichten hatte länger gedauert, als sie erwartet hatte.

Entschlossen, sich keine Unsicherheit anmerken zu lassen, trat Shaya in die Jurte. Das Zelt war unnatürlich groß. Seine Kuppel wurde von rot lackierten Holzpfosten getragen. Farbenprächtige Teppiche bedeckten den Boden. Einige Feuerschalen mit rot glimmender Glut sorgten für Wärme. Ihr Vater und acht weitere Männer erwarteten sie. Subai war unter ihnen und der Heilkundige vom Seidenfluss. Die meisten anderen kannte sie auch. Sie standen in einer Gruppe zusammen und redeten. Erst als ihr Vater den Kopf hob und sie anblickte, verstummten die Gespräche. »Du kommst spät, Shaya. Die Sonne hat bereits ihr Haupt hinter den Hügeln zur Ruhe gebettet. Ist dies deine Art, mir Respekt zu zollen?«

»Ich bitte um Verzeihung, erhabener Madyas, Hüter der Herden, Licht der Sonne, Sohn des Weißen Wolfes«, brachte sie mit belegter Stimme hervor. An diesem Abend sollte sie ihn besser um gar nichts bitten.

»Tritt vor mich!«, befahl er mit harscher Stimme. »Ich will in deine Augen sehen, wenn ich mit dir über die ungeheuerlichen Vorwürfe spreche, die mir zugetragen wurden.«

Shaya war von seiner Stimme ganz und gar in Bann geschlagen. So rebellisch sie sonst war, ihrem Vater hatte sie sich nie widersetzen können. Jedenfalls nicht, wenn sie vor ihm stand. Sie war geflohen, war ausgewichen … Das war nun unmöglich. Alle Augen ruhten auf ihr, und sie hatte das niederschmetternde Gefühl, dass alle anderen wussten, was sie erwartete. Ihr Bruder Subai lächelte sie spöttisch an.

»Du weißt, dass eine Prinzessin der Ischkuzaia ihrem Volk gehört. Das Volk nährt dich. Deshalb musst auch du bereit sein, das Volk zu nähren, wenn deine Zeit gekommen ist.«

Sie sah ihren Vater mit schreckensweiten Augen an. Es durfte nicht …

»Dein schwerer Sturz gestern könnte schwerwiegende Folgen für deine Zukunft haben. Für die Zukunft aller Ischkuzaia. Jungfrauen sollten wilde Ritte meiden.«

Das durfte nicht wahr sein, dachte sie.

Madyas klatschte laut in die Hände. »Bringt den Tisch!«

»Bitte vergebt mir, allweiser Madyas, dass ich es wage, ungefragt das Wort an Euch zu richten«, mischte sich der alte Heilkundige ein. »Mir scheint es geboten, zunächst die Schulter Eurer Tochter zu behandeln. Sie leidet Schmerzen. Das wird der anderen Untersuchung nicht zuträglich sein.«

Ihr Vater zog ärgerlich die Brauen zusammen. »Was heißt nicht zuträglich? Sie hat jahrelang das Mannweib gespielt, dann soll sie jetzt gefälligst nicht zimperlich sein!«

»Bitte verzeiht, wenn ich Euch missverstanden haben sollte, allgewaltiger Unsterblicher.« Der Heiler wagte es nicht, ihrem Vater in die Augen zu blicken. »Ich hatte gedacht, dieser Abend sei der Suche nach den weiblichen Tugenden Eurer Tochter Shaya gewidmet. Unter dieser Prämisse wäre es ein Gebot der Höflichkeit, Eure Tochter auch wie eine Dame zu behandeln und nicht wie einen Steppenkrieger, der weder Furcht noch Schmerz kennt. Doch offenbar bin ich einem Missverständnis unterlegen und möchte unterwürfigst um Verzeihung für meinen Einwurf bitten.« Der Heilkundige sprach mit starkem Akzent, und es war schwer, seinen Worten zu folgen. Shaya war sich nicht ganz sicher, ob sie richtig verstanden hatte. Hatte er es tatsächlich gewagt, zwischen all den schönen Worten eine unterschwellige Kritik an ihrem Vater zu verstecken? War der Alte lebensmüde? Was hatte er hier überhaupt zu suchen? Was wollte man von ihr? Wenigstens starrten die Ratsmitglieder nun nicht mehr sie an, sondern den Heiler, der sich solch ungeheuerliche Freiheiten gegenüber dem Unsterblichen herausnahm.

Das Gesicht ihres Vaters zeigte keinerlei Regung. Es herrschte atemlose Stille in der Sternenjurte.

»Knie nieder, Shaya«, sagte der Unsterbliche schließlich sehr leise. »Der große … Miau? So heißt du doch, nicht wahr? Miau? Belassen wir es dabei. Eure Namen sind immer so unnötig lang und schwer zu behalten.«

»Jeder Name, mit dem Ihr mich bedenkt, Unsterblicher, ist ein Ehrenname für mich«, entgegnete der Heiler mit einer Verneigung.

»Knie nieder!«, wiederholte ihr Vater streng.

Sie gehorchte, widerstrebend. Der Alte trat hinter sie. Seine Hände tasteten über den glatten Seidenstoff. Shaya keuchte. Nicht vor Schmerz. Umringt von diesen alten Männern und ihrem Bruder zu knien. In diesem Kleid. Wäre sie nackt, hätte sie sich kaum mehr gedemütigt gefühlt. Sie wurde sich bewusst, dass sich ihre Brustwarzen durch den dünnen Stoff abzeichneten. Beschämt hob sie den linken Arm, um ihre Blöße zu bedecken.

»Bitte haltet still, ehrenwerte Prinzessin.« Die dürren Finger des Heilers gruben sich mit überraschender Kraft in ihr Fleisch. Er tastete über ihr rechtes Schulterblatt. Die Fingerspitzen folgten den Knochenrändern. Ihr traten Tränen in die Augen. Gegen ihren Willen. Sie hob den Kopf und starrte in das Antlitz ihres Vaters, den all dies nicht zu rühren schien.

»Wäret Ihr so gut, den rechten Arm anzuheben, auch wenn es schmerzt?«

Shaya presste die Lippen zusammen. Ihre Tränen waren versiegt. Sie schwor sich, vor den alten Männern keine weitere Schwäche zu zeigen.

»Es wird weniger wehtun, wenn Ihr ausatmet, wenn ich Euch darum bitte.« Der Heiler legte eine Hand flach auf ihr Schulterblatt und griff mit der anderen nach ihrem rechten Oberarm.

»Bist du sicher, kräftig genug zu sein, um das zu tun, alter Mann?«, fragte ihr Bruder herablassend. »Soll ich nicht lieber an dem Arm ziehen, um ihn einzurenken?«

»Mein Herz weitet sich vor Freude ob dieses großmütigen Angebots.« Shaya spürte den warmen Atem des Heilers in ihrem Nacken, während er sprach. »Doch diese Aufgabe erfordert mehr Kunstfertigkeit als Kraft, ehrenwerter Prinz Subai.«

Der Heiler streichelte sanft über ihre Schulter. »Gleich, meine Prinzessin.«

»Ich finde, ein Seidenaffe sollte sich nicht in dieser Art über eine Prinzessin beugen«, sagte einer der Berater ihres Vaters in falschem Flüsterton, sodass jeder der Anwesenden seine Worte deutlich verstehen konnte. »Er sieht aus wie ein Rüde, der eine Hündin bespringt.«

»Meine Hunde sind hübscher«, sagte Subai lachend.

Shaya stellte sich vor, wie sie ihrem Bruder mit einem langen Messer die Kehle durchschnitt. Sie würde diesen aufgeblasenen …

»Ausatmen«, befahl der Heiler, zog an ihrem Arm und drückte zugleich auf das Schulterblatt.

Shaya stieß einen gepressten Laut aus. Ein unangenehm schnappendes Geräusch erklang. Schmerz wogte durch die Schulter den Arm hinab und versiegte. Vorsichtig bewegte sie ihren Arm. Sie spürte ein unangenehmes Ziehen, doch das war kein Vergleich zu den vorherigen Qualen.

»So es Euch beliebt, solltet Ihr den Arm in den nächsten Tagen tunlichst schonen, ehrenwerte Prinzessin Shaya. Das wäre der weiteren Heilung förderlich. Es ist noch nicht ganz …«

»Dies ist also, was du dir unter dem Umgang mit einer Dame vorstellst«, unterbrach ihr Vater den Heiler mit schneidender Stimme. »Vermagst du dir vorzustellen, wie ein Vater bei diesem Anblick empfindet?« Er klatschte laut in die Hände. »Bringt den Tisch! Wir werden uns nun dem widmen, worum es heute Abend eigentlich geht. Herauszufinden, ob Shaya noch in der Lage ist, ihrem Volk in jener Weise zu dienen, die einer Prinzessin bestimmt ist.«

Jetzt begriff Shaya endlich, warum ihr Vater sie hierhergerufen hatte. »Du willst doch nicht vor all den …«

»Was nun geschieht, erfordert die Anwesenheit von Zeugen«, entgegnete Madyas kalt.

Sie starrte in die schwarzen Augen ihres Vaters. »Das ist nicht nötig. Ich bin keine …«

»Schweig!« Madyas’ Stimme war wie ein Peitschenhieb. »Du wirst es über dich ergehen lassen und kein Wort sagen, solange du nicht gefragt wirst.«

»Bitte …«

»Ob du eine Zunge hast, ist von weitaus geringerer Bedeutung als deine Jungfräulichkeit, Shaya. Fordere mich nicht heraus. Die meisten Männer, die ich kenne, schätzen stille Frauen.« Er bedachte Subai mit einem ärgerlichen Blick. »Ich bin wahrlich neugierig zu erfahren, ob eine Schlampe oder ein Lügner meinem Samen entsprossen ist.«

Der Eingang öffnete sich, und vier stämmige Männer trugen einen Tisch herein, wie ihn Shaya noch nicht gesehen hatte.

»Leistet besser keinen Widerstand, Prinzessin«, hauchte ihr der Heilkundige ins Ohr. »Die vier haben heute Morgen bereits mehrere Frauen auf den Tisch gebunden und … Sie sind stärker.«

»Du trittst meiner Tochter nahe, wenn ich es dir befehle«, sagte Madyas mit kalter Ruhe, die furchteinflößender war als jedes Geschrei.

Shaya betrachtete noch immer entsetzt den seltsamen Tisch. Zwei hohe, ledergepolsterte Keile waren darauf befestigt und etliche breite Ledergürtel.

»Leg dich hin und spreiz deine Beine.« Die Worte ihres Vaters waren von einer Geste begleitet, als wolle er sie einladen, an einer Festtafel Platz zu nehmen.

Sie schüttelte sich, konnte nicht glauben, was jetzt geschehen sollte. Kein Vater tat so etwas seiner Tochter an.

»Dein Stolz wird geringeren Schaden nehmen, wenn du es selbst tust, meine Tochter.«

Sie schluckte hart und sah zu den vier großen, muskelbepackten Kerlen. Wenn ihr Widerstand Erfolg haben sollte, war es besser, wenn zunächst alle glaubten, dass sie sich fügte. Jetzt zu kämpfen wäre aussichtslos.

Shaya setzte sich auf den Tisch.

»Schwing die Beine hoch, sodass deine Kniekehlen auf den Holzkeilen liegen«, erklärte ihr Subai mit anzüglichem Lächeln. »Dann wird allen offenbar werden, was für ein Leben du geführt hast.«

Sie hatte das Gefühl, als wachse ein riesiger Eisklumpen in ihrem Inneren. Sie musste gehorchen, sonst würden die Handlanger ihres Vaters sie mit den Lederbändern an den Tisch schnallen. Das war offensichtlich. Doch ihr Kleid würde ihr bis zu den Hüften rutschen, wenn sie gehorchte. Sie blickte starr zur hohen Kuppel der Jurte, um nicht in die Gesichter der Männer sehen zu müssen. Männer, auf deren Knien sie als Kind gesessen hatte. Hinter dem Rauch unter dem Zeltdach funkelten Edelsteine auf dem dunkelblau gefärbten Fell. Sie flüchtete in Gedanken zu diesen falschen Sternen und versuchte ihre Seele vor dem zu verschließen, was geschah.

»Bindet sie fest, sie wird sonst nicht liegen bleiben«, befahl ihr Vater.

Shaya rührte sich nicht mehr. Sie wurde an Armen und Beinen gepackt und auf den Tisch gedrückt. Es war sinnlos, gegen die Übermacht anzukämpfen.

»Wir brauchen mehr Licht. Holt Öllampen.« Das war die Stimme ihres Bruders.

Ein Lederriemen wurde um ihre Hüften geschlungen und so fest gezurrt, dass er durch das Seidenkleid in ihr Fleisch schnitt.

Sie spürte warmen Atem auf ihren Oberschenkeln. Eine grobe Hand strich über ihr Bein. Shaya blickte fest auf einen großen Diamanten über ihr, in dem sich das helle Licht brach, das man zwischen ihre Schenkel hielt. Sie wollte zumindest in Gedanken fliehen, doch die Stimmen holten sie zurück ins Hier und Jetzt. Sie würde sich jeden von ihnen merken. Würde genau darauf achten, wer wenigstens ein letztes bisschen Anstand wahrte. An den anderen aber würde sie sich rächen. Nicht jetzt oder in nächster Zeit. Sie würde überleben, was sie ihr antaten, und sie würde stärker werden. Und eines Tages würde sie zurückkehren und sich an jedem von ihnen rächen.

Noch während sie dies dachte, wusste sie, dass es kindliche Träume waren. Aber an diese Träume wollte sie sich klammern, um nicht vollends zu zerbrechen.

»Würdet Ihr bitte zur Seite treten, hochwohlgeborener Subai? Wenn ich den Allweisen Madyas nicht falsch verstanden habe, sollte es meine Aufgabe sein, über den Zustand der hochwohlgeborenen Prinzessin zu urteilen.«

Warme Hände spreizten nun vorsichtig ihre Schenkel. Sie konnte ein Schluchzen nicht länger unterdrücken. Tränen traten ihr in die Augen, und sie hasste sich dafür. Das wollten sie doch, sie jammernd und gefügig sehen. Wenigstens diesen Gefallen sollte sie ihnen nicht tun. Das war alles, was noch in ihrer Macht lag. Sie musste ihren Stolz als Kriegerin bewahren.

»Was siehst du, Miau?«

Der alte Heiler räusperte sich. »Nun … Es besteht kein Zweifel daran, dass das Tor zum Garten der Freuden geöffnet wurde.«

»Wie ich es dir gesagt habe, Vater. Sie hat es mit den Männern getrieben, die unter ihrem Befehl standen. Sie ist eine mannstolle Schlampe. Eine …«

»Ich möchte in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, dass dies nicht dem entspricht, was ich gesagt habe«, unterbrach der Heiler Subais Beleidigungen.

»Was soll das heißen?«, fuhr ihr Vater ihn an. »Ist sie eine Jungfrau, oder ist sie es nicht?«

»Die zarte Blüte wurde gebrochen …«

»Weniger blumig, Heiler! Ich bin ein Mann der klaren Worte.«

»Sie ist keine Jungfrau, doch möchte ich zu bedenken geben, dass sie einen schweren Sturz erlitten hat. Ihr selbst wart Zeuge des Unfalls, allmächtiger Madyas. Und die Narben an ihren Armen und Beinen weisen sie als tapfere Kriegerin aus, die vor keinem Feind zurückgewichen ist. Sie ist eine ungewöhnliche Maid, und es wäre überraschend, wenn das Tor zu ihrem geheimen Garten auf ganz gewöhnliche Weise geöffnet worden wäre.«

»Sie hat in der Tat mehr Narben als die meisten meiner Krieger«, bekundete eine heisere Stimme. »Ich würde mir so ein Weib nicht auf mein Lager holen.«

»Bei Nacht sind alle Katzen grau«, warf eine andere unbekannte Stimme ein.

Shaya fror. Die Kälte aus ihrem Inneren kroch in ihre Glieder. Sie wünschte sich, sie wäre tot. Nie wieder würde sie die Sternenjurte betreten. Nie wieder einem der Berater ihres Vaters in die Augen blicken. Bis der Tag ihrer Rache gekommen war.

»Ich habe dich richtig verstanden, Miau? Es gibt keinen Beweis dafür, dass meine Tochter jemals unkeusch war?«

»So ist es, Allweiser Madyas. All meine Kunst erlaubt mir nur, mit Sicherheit zu sagen, dass das Siegel der Jungfräulichkeit zerbrochen wurde. Wie dies geschah, wird wohl hinter dem Siegel der lieblichen Lippen Eurer Tochter verborgen bleiben.«

»Ganz ohne Zweifel war es der schwere Sturz heute Mittag«, entschied Madyas.

»Aber es gibt Männer, die beschwören, dass sie es …«

»Es finden sich immer Männer, die einem Herrscher nach dem Mund reden, Subai. Die Weisheit eines großen Königs besteht darin, jene um sich zu versammeln, die den Mut haben, wahr zu sprechen. Wie stehst du dazu, Arimaspu?«

»Ich denke«, entgegnete die heisere Stimme, »einem Prinzen und einer Prinzessin sind heute ihre Wege und Grenzen aufgezeigt worden. Und wir schätzen uns glücklich, eine Wahrheit gefunden zu haben, die zum Nutzen unseres Volkes ist und der Ehrenrettung der Prinzessin Shaya dienen mag. Wer von heute an wagt zu behaupten, sie habe sich jemals unkeusch verhalten, wird mit seinen Worten den Zorn des Rates auf sein Haupt ziehen.«

Shaya hörte ihren Bruder nach Luft schnappen. Auch sein Wort fand kein Gehör. Das zu erleben tat gut.

Eine Decke wurde über ihre Beine gebreitet, aber die Lederriemen wurden nicht gelöst.

»Miau, du weißt, was mit ihr zu tun ist. Die Diener werden deine Nadeln bringen und was du sonst noch brauchst.«

»Lasst es mich nicht heute tun, großherziger Madyas. Wir sollten ihr keinen weiteren Schmerz mehr zufügen. Ich bitte Euch darum.«

»Einen Tag noch, Heiler. Einen einzigen schenke ich ihr. Dann endet ihr Leben als Kriegerin.«

Der Henker

»Wirst du gehorchen?«

Voller Verachtung sah Gonvalon Lyvianne an. Was erwartete sie, dass er antworten würde? Er war ein Drachenelf. Er hatte noch nie einen Befehl verweigert.

»Deine Antwort, Gonvalon.« Sie hielt seinen Blick gefangen, unerbittlich. So wie er war sie eine Meisterin der Weißen Halle. Sie trug ein langes, weißes Gewand, ganz ohne die Stickereien, die ihrem Rang zugestanden hätten. Ihr schwarzes Haar war gelöst und floss ihr über Schultern und Rücken. Einzelne Schneeflocken hatten sich darin verfangen. Nach seiner Begegnung mit Matha Naht hatte sie ihn lange gepflegt. Hatte ihm geholfen, wieder er selbst zu werden. Sonst aber war sie kalt wie diese verschneite Lichtung. Unbarmherzig wie die Bilder, die ihm die Silberschale gezeigt hatte. Er mochte es immer noch nicht glauben, dass Nandalee eine Mörderin sein sollte. Nicht die Nandalee, die er kannte. Was mochte in Zukunft mit ihr geschehen? Was würde sie so verbittern lassen, dass sie sich letztlich gegen die Himmelsschlangen wandte und ihren Herrn, Nachtatem, ermordete?

»Wirst du ihr Henker sein, oder wirst du den Goldenen erneut verraten?«

Seine Hand fuhr ans Schwert. Lyvianne beeindruckte die Geste nicht im Mindesten. Sie kannte ihn zu gut.

»Ich kann nicht in den Jadegarten gelangen«, entgegnete er schließlich. »Ich bin dort nicht erwünscht.«

»Dorthin musst du auch nicht gehen. Der Schwebende Meister wurde ermordet. In zwei Tagen werden wir die Tiefe Stadt angreifen. Alle Drachenelfen und Novizen werden am Angriff teilnehmen. Auch jene Elfen aus dem Jadegarten. Die Tiefe Stadt ist groß. Wir werden unsere Kräfte aufteilen. Es sollte dir möglich sein, Nandalee allein zu treffen und deinen Befehl auszuführen. Du wirst die Geschichte Albenmarks zum Besseren wenden, wenn du sie tötest, bevor sie zu dem wird, was du in der Silberschale gesehen hast. Sie vertraut dir. Sie wird nicht argwöhnisch werden, wenn du dich zu ihr gesellst. Und niemand wird Verdacht schöpfen, wenn sie in der Schlacht fällt. Dies ist die beste Gelegenheit, sich der Verräterin zu entledigen.«

»Ich werde sie suchen …« Seine Stimme klang fremd in seinen Ohren. Das war nicht er, der dort sprach. Sein Fluch hatte ihn wieder eingeholt. Jede seiner Schülerinnen aus der Weißen Halle war gestorben. Doch noch nie hatten sie ihn geschickt, eine von ihnen zu töten. Er würde in der Tiefen Stadt den Tod suchen. Nachdem er seinen Befehl ausgeführt hatte. Nur so konnte er den Fluch brechen.

»Ich werde in deiner Nähe sein, Gonvalon. Ich hege weniger Vertrauen zu dir als der Goldene. Nun geh zurück auf den Waldweg. Ein Drachenpfad ist geöffnet und wird dich an den Ort bringen, an dem sich jene sammeln, die das Verderben der Tiefen Stadt sein werden.«

Seine Schritte waren so schwer, als wolle der Waldboden ihn zurückhalten. Es war falsch, sich gegen die Himmelsschlangen aufzulehnen. Sie hatten ihm die Familie gegeben, die er nie besessen hatte. Er hatte ihnen Treue geschworen. Stets war er stolz darauf gewesen, dass der Goldene ihn zu seinem Krieger erwählt hatte.

Etwas zerrte an ihm, zog ihn aus der Wirklichkeit. Einen Herzschlag lang fühlte es sich an, als würde er stürzen. Schwindel ergriff ihn, als sei er wieder und wieder im Kreis gedreht worden. Warmes Blut rann über seine Lippen und troff auf sein weißes Gewand. Blendendes Licht stach in seine Augen.

Gonvalon sank in die Knie. Es war vorüber. Seine Nase blutete. Er presste den Handrücken unter seine Nasenlöcher und sah sich staunend um. Der Drachenpfad hatte ihn in ein enges, karges Tal getragen. Kaum ein Baum oder Busch klammerte sich in das bleiche Karstland. Die Felshänge waren von blendendem Weiß, vielfach zerklüftet, von Wind und Wasser geformt. Gonvalon wusste nicht, wo er war. Die Himmelsschlangen lagerten auf dem braunen verdorrten Gras der Talsohle. Alle acht waren dort versammelt. Sogar der Dunkle, der sich sonst kaum einmal zeigte, hatte sich dem Heerbann der Drachen angeschlossen.

Es war lange her, seit Gonvalon zuletzt alle acht Himmelsschlangen an einem Ort versammelt gesehen hatte. Der Anblick ließ ihm das Herz aufgehen. Die Anmut der riesigen Geschöpfe, die ihren gewaltigen Leibern Hohn sprach, war fleischgewordene Vollkommenheit. Wenn sie ihre Flügel spreizten oder falteten, brach sich tausendfach das Sonnenlicht in ihren Schuppen, und gleißende Lichttupfer sprühten über die knochenbleichen Felswände und das seltsame Heer, das sich rings um sie versammelt hatte.

Weit über hundert mindere Drachen lagerten im Tal, krallten sich in die steilen Felswände oder kreisten mit ausgestreckten Schwingen im warmen Aufwind. Nur ein Stück von Gonvalon entfernt sonnten sich drei Tatzelwürmer aus den dunklen Bergwäldern der Ioliden auf den bleichen Felsen. Große, fassdicke, schlangenhafte Geschöpfe, die halb dahinglitten, halb auf Stummelbeinen liefen, die in mächtigen Krallenfüßen endeten. Die Tatzelwürmer sollten offenbar in die Tunnel der Zwergenstadt kriechen, um Tod und Verderben unter das kleine Volk zu tragen.

Rote Sonnendrachen kreisten über dem gegenüberliegenden Ende des Tals, die langen, schlangenartigen Hälse weit vorgestreckt wie fliegende Wildgänse. Silberschwingen klammerten sich in dichten Gruppen an eine Steilwand.

Sengende Hitze traf Gonvalon im Rücken, und er beeilte sich, vom Ausgang des Drachenpfades fortzukommen. Eine Kreatur, umspielt von gelbroten Flammenzungen, als seien sie ihr Gefieder, schob sich durch das magische Portal. Lange, flammende Peitschenschnüre wucherten aus Nüstern und Stirn des Geschöpfes, das sich talwärts wand und dabei einen trockenen Busch in Flammen aufgehen ließ. Gonvalon hatte einen solchen Drachen noch nie gesehen, kannte aber die Geschichten, die sich um diese Ungeheuer rankten. Es war eine Feuerschlange, die ihr Nest im Herzen eines Vulkans verlassen hatte.

Ein Schwarm braungeschuppter Drachen aus den Wäldern Galveluns erschien über einem Bergkamm im Osten und flog in weitem Bogen ins Tal ein, während immer mehr Drachen durch das magische Tor kamen.

Nie zuvor hatte Albenmark ein solches Heer sich versammeln sehen. So verschieden all diese Drachen auch waren, eines hatten sie alle gemein, sie waren gefürchtet für ihren Flammenodem. Es fehlten die Klippdrachen von Tanthalia oder die Rosendrachen aus Langollion und all die anderen, die kein Feuer spien. So beeindruckt er war, Gonvalon fragte sich, wie der Goldene und seine Nestbrüder mit all den stolzen Himmelsgeschöpfen eine Stadt angreifen wollten, die tief unter einem Berg verborgen lag und deren Tunnel viel zu eng für die meisten dieser Drachen waren.

Der weiße Wolf

Shaya lag in der Einsamkeit ihrer Jurte. Sie hielt beide Hände fest zwischen die Schenkel gepresst, als würde es etwas helfen. Auch jetzt noch fühlte sie sich nackt. Die Wände der Jurte, das Wolfsfell, das sie ihr als Decke gelassen hatten, das dicke Filzkleid, das die Dienerinnen ihr angezogen hatten, all dies half nichts. Jeder konnte sie sehen. Sie war bloßgestellt für alle Zeit. Sie wusste nicht, was dieser Heiler vom Seidenfluss noch mit ihr tun sollte. Immer wieder musste sie daran denken, dass Nadeln geholt werden sollten. Es gab viele Heilzauber, für die Nadeln verwandt wurden. Aber sie war nicht verletzt, musste nicht geheilt werden. Wenigstens äußerlich nicht.

Shaya hatte einmal eine Geschichte gehört, dass man Verwirrten am Auge vorbei haarfeine Nadeln tief in den Kopf hineinstieß, um ihre aberwitzigen Gedanken und den verblendenden Wahn aufzuspießen und auszulöschen. War es das, was ihr Vater ihr bestimmt hatte? Sollte auf diese Weise ihr Stolz gebrochen werden? War die Demütigung des heutigen Tages erst der Anfang? Ihr Vater kannte sie gut. Gewiss wusste er um ihre Rachegelüste. Wollte er ihr die Aufsässigkeit ein für alle Mal austreiben lassen? Sie zu einem tumben Weib machen, das nur hündischen Gehorsam kannte? Das Kinder gebar, sie säugte und sich den Rücken krumm arbeitete, während der Mann, dem man sie überlassen hatte, sich eine Jüngere auf sein Lager holte? So viele Frauen hatte sie als Kind diesen Weg nehmen sehen, und sie hatte sich geschworen, dass sie niemals so enden würde. Sie war Kriegerin geworden, hatte sich den Respekt der Männer erkämpft und einigen den Schädel eingeschlagen, für die Weiber nicht mehr als ein warmes Stück Fleisch waren.

Sie sah sich in ihrer Jurte um. Eine winzige, gelbe Flamme tanzte auf dem zurückgeschnittenen Docht der einzigen Öllampe, die man ihr gelassen hatte. Sturmwind wehte über die Steppe und heulte, als würde ein Rudel Wölfe über den Himmel ziehen. Die Lampe war aus dickem, speckigem Stein geschnitten. Sie würde sie nur auf einem anderen Stein zerbrechen können. Den aber gab es nicht. Die Schale mit den Essensresten war aus Holz, ebenso wie der Becher, der danebenstand. Ihr Vater kannte sie zu gut! Es gab hier nichts, was sie zerbrechen konnte, um sich mit den Scherben die Adern aufzuschneiden. Das Seidenkleid mit den dünnen Schnüren hatten die Dienerinnen mitgenommen. Es gab hier nichts, woraus sie eine Schlinge hätte drehen können. Natürlich auch kein Messer.

Versonnen betrachtete Shaya die Lampe. Schließlich schob sie ihre Decke zur Seite und griff nach dem Licht. Sie schüttelte die Lampe. Es war nur wenig Öl darin. Wenn sie sich damit übergoss und dann das Öl entzündete, würde sie sich zwar schlimme Brandwunden zuziehen, aber sie würde es überleben. Auch würden die Wachen vor dem Zelt schnell bemerken, was geschah.

Mit einem leisen Fluch setzte sie die Lampe wieder ab. Sie wollte sich töten. Sich zu verstümmeln war keine Lösung.

Sie dachte an einen Unglücksfall, der sich vor etwa einem Jahr im Palast des Statthalters auf Nangog ereignet hatte. Zwei Krieger ihrer Gardetruppe hatten miteinander gewettet, wer von ihnen als Erster den Boden betreten würde. Beide waren an Tentakeln eines Wolkensammlers herabgeklettert, die nach einem Ankerturm griffen. Einer von ihnen war das letzte Stück gesprungen. Es waren nur vier oder fünf Schritt, aber er war hart auf den Treppenstufen aufgekommen. Dabei hatte er sich die Zunge durchgebissen. Niemand hatte die Blutung stillen können. Shaya war dabei gewesen, als er Blut spuckend sein Leben aushauchte.

Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre Schneidezähne. Würde sie es schaffen? Könnte sie sich die eigene Zunge durchbeißen? Ein Schauer überlief sie. Plötzlich schien es kälter zu werden. Sie schob ihre Zunge zwischen die Schneidezähne. Die Zunge herauszureißen war keine seltene Strafe am Hof ihres Vaters. Die meisten überlebten das. Aber sie würde keine Hilfe bekommen. Wenn sie die Wunde einfach bluten ließ …

Sie musste an Aaron denken. An seine leidenschaftlichen Küsse. Sie würde ihn niemals wiedersehen! Auch wenn sie am Leben blieb. Wo er jetzt wohl war? Würde er Muwatta besiegen? Ob er sie auch vermisste? Würde er ihr helfen, wenn er um ihre Lage wüsste? Trotz des Verbots des Devanthar?

Es schien noch kälter geworden zu sein. Viel zu kalt für diese Jahreszeit! Weiter im Osten lag noch Schnee. Der Wind trug den Hauch des Winters über den Wandernden Hof. Die kleine Flamme der Öllampe flackerte. Fürchtete sie sich mehr vor dem Tod, als sie sich eingestehen wollte? Fror sie deshalb?

Shaya setzte sich genau in die Mitte der Jurte, das Gesicht zum Eingang gerichtet. Sie würde es tun. Und sie würde keinen Laut von sich geben.

Der Ostwind rüttelte an der Jurte. Die Holzverstrebungen der Wände knarrten leise. Shaya streckte ihre Zunge so weit heraus, wie sie konnte, und kämpfte gegen den Würgereiz an, der sie dabei überkam. Ihr Atem stand ihr in dichten Wolken vor dem Mund. Draußen war es plötzlich totenstill. Der Wind regte sich nicht mehr. Kein Laut drang durch den dicken Filz unter der ledernen Außenhaut der Jurte. Das war nicht geheuer! Es wurde nie so still am Wandernden Hof. Wo Tausende Tiere und Menschen dichtgedrängt beisammenlebten, gab es keine Stille.

Etwas Weißes kroch über die Holzgitter entlang der Wand, und der Holzboden unter ihr fühlte sich an, als säße sie auf blankem Eis. Sie stand auf. Etwas war hier nicht geheuer. Vorsichtig berührte sie den Pfosten in der Mitte der Jurte. Raureif blühte auf dem Holz. Welche unheimliche Macht hatten ihren Zorn und ihre Verbitterung heraufbeschworen?

»Wachen?« Sie erhielt keine Antwort. Etwas schlich um die Jurte. Sie hatte zwar kein Geräusch gehört, aber sie spürte, dass dort etwas war.

Entschlossen trat Shaya zum Eingang. Sie würde sich nicht überrumpeln lassen. Ganz gleich, was dort draußen lauerte, es war besser, wenn sie die Initiative ergriff, statt abzuwarten, was geschehen würde.

Ein bleicher Mond stand hoch am sternenklaren Himmel. Der Boden vor der Jurte war hart gefroren. Ihre drei Wachen standen erstarrt. Alles schien erstarrt zu sein. Die Rossschweifstandarte vor dem Zelteingang war zur Seite geweht, als greife eine wilde Bö nach ihr. Und inmitten dieser Bewegung verharrte sie, als sei die Luft ringsherum zu klarem Eis geworden.

Blass leuchtender Nebel glitt über den Boden. Aus den Augenwinkeln sah Shaya eine Bewegung. Sie fuhr herum, sah, wie sich aus dem Nebel Gestalten formten. Die Krieger, die mit ihr im Kampf bei der Kristallhöhle auf Nangog gefallen waren. Ihre Kinderfrau, die ihr Vater hatte vierteilen lassen, weil sie es gewagt hatte, sie das Bogenschießen zu lehren. Die Nebel gebaren all die Toten ihrer Vergangenheit, und inmitten der geisterhaften Gestalten kam ein großer, weißer Wolf auf sie zu. Seine Augen waren von kaltem, eindringlichem Blau. Sein Blick hielt sie gefangen.

»Steig auf meinen Rücken, Shaya. Wir werden eine Reise machen.«

Beklommen ging sie auf ihn zu. Der Wolf war der Devanthar ihres Volkes. Sie ahnte, dass er wusste, was sie hatte tun wollen. Zwei Schritt vor ihm hielt sie inne. Sie konnte nicht länger in seine Augen sehen. Demütig warf sie sich vor ihm zu Boden und drückte ihre Stirn fest gegen den von Raureif überzogenen Boden. »Bitte verzeih mir, mein Gebieter, wenn ich dich erzürnt habe. Nimm den Fluch von diesem Ort, lass die Geister ruhen und nimm mich, um deinen Zorn zu besänftigen.«

»Sieh mich an, Shaya, Tochter des Madyas.«

Sie hob den Kopf, scheute aber davor zurück, in die Augen des Wolfs zu blicken. Sie hatte das Gefühl, der Devanthar könne bis auf den Grund ihrer Seele blicken. Nichts blieb vor diesen Augen verborgen. Manchmal erschien er ihrem Volk als ein Weißer Hengst, zu anderen Zeiten als Wolf oder in Gestalt eines Kriegers. Sie erinnerte sich, dass sie als Kind und auch während ihrer Jugend immer das Gefühl gehabt hatte, er sei ihr nahe. Erst als sie nach Nangog gegangen war, war das Gefühl der Verbundenheit mit ihm verblasst.

»Dein Widerstand gegen die Pläne deines Vaters bekümmert mich, Shaya.«

»Ich werde mich fügen«, sagte sie leise.

»Das ist es nicht, was ich will. Ich will, dass du es aus Überzeugung tust. Mit Freude. Steige auf meinen Rücken, Tochter des Madyas. Ich möchte dir etwas zeigen.«

Sie blickte zu den Wachen vor ihrer Jurte. Die drei standen noch immer wie versteinert. »Was ist hier geschehen? Sind sie …«

»Niemand ist tot. Du bewegst dich außerhalb ihrer Wahrnehmung. Sie haben dich nicht deine Jurte verlassen sehen. Niemand wird bemerken, dass du mit mir fort warst. Ein Tag für uns ist nur ein Herzschlag für sie.«

Sie keuchte. »Das … Tust du das öfter?«

Der Weiße Wolf legte den Kopf schief und warf ihr einen schelmischen Blick zu. »Gelegentlich. Doch nun komm! Du bist nicht meine einzige Sorge in dieser Nacht.«

Zögerlich trat sie an seine Seite. Er war fast so groß wie ein Pony. Ganz langsam streckte sie die Hand aus und strich über sein Fell. Es war weich wie Seide. Sie griff in seinen Nacken, saß auf, und im nächsten Augenblick schien es, als wollten ihr die Sterne entgegenstürzen, so schnell stiegen sie in den Nachthimmel hinauf.

Es war, als laufe der Wolf auf dem Sturmwind. Sie eilten gen Osten, dem Sonnenaufgang entgegen und den Bergen. Doch das Licht erschien nicht am Horizont. Die Sterne standen still am Himmel.

Der Weiße Wolf wurde langsamer. Vor ihnen ragte ein gewaltiger Berg in den Himmel. Sie landeten auf einem schmalen, schneebedeckten Grat. Wind blies den Schnee über den Bergkamm. Auch diese Bewegung war erstarrt. Sie schritten über Neuschnee, ohne einzusinken. Tief unten im Schnee erkannte Shaya Pfähle, an denen bunte Fahnen wehten. Zwei Pferde standen dort. Und halb verborgen von den flatternd erstarrten Fahnen kniete ein Mann.

»Warum hast du mich hierhergebracht?«

Der Wolf antwortete nicht. Unbeirrt stieg er weiter in das Tal hinab.

Endlich erreichten sie den Knienden. Es war ein Mann, in Lumpen gekleidet. Vom Sattel des kleineren Pferdes hing ein mit angelaufenem Silber beschlagener Köcher, wie ihn die Steppenreiter für ihre kurzen Jagdbögen und Pfeile nutzten.

Jetzt erst bemerkte Shaya, dass keine Fahnen an den Pfählen hingen. Dort waren Kleider und Schals angebunden. Einige ausgefranst und von Wind und Wetter gebleicht. Andere sahen neuer aus. Es waren Kinderkleider. Der kniende Mann hielt einen roten Schal in Händen. Auf seiner Wange schimmerte eine Träne. Sein Antlitz war eine Maske der Trauer.

»Er ist Jäger. Vor drei Wintern war er hier auf der Pirsch. Er folgte einem Schneeleoparden hier herauf. Er hatte drei Töchter. Die älteste war vierzehn. Schon im heiratsfähigen Alter. Sein Weib war sechs Jahre zuvor im Kindbett bei der Geburt seiner Jüngsten gestorben. Er hat nie wieder eine andere Frau genommen. Er ist ein guter Mann gewesen. Er hat nicht gehurt oder gesoffen. Er hat alles für seine drei Mädchen gegeben. Er wollte sie immer an seiner Seite haben. Sie haben ihn auf der Jagd begleitet. Er hat diesen Platz ausgesucht, um ihre Jurte aufzuschlagen. Die Mädchen wären lieber unten im Tal geblieben. Die Älteste wollte dort am Fluss waschen. Wie immer haben sie seinem freundlichen Drängen nachgegeben. Geh hin, Shaya. Berühr ihn. Er ist kein Geist. Er ist ein Mann aus Fleisch und Blut.«

»Ich …« Sie zögerte.

»Er wird es nicht merken. Geh.«

Sie strich über sein struppiges, dichtes Haar. Fuhr mit den Fingerspitzen über die Falten, die der Kummer in sein Gesicht gegraben hatte. Eine Träne blieb an ihrem Zeigefinger haften. Sie war warm. Der Schal in den Händen des Jägers war aus feinem Stoff. Seine eigenen Kleider hingegen waren vielfach ausgebessert und zerschlissen. Die Stiefel wurden von Flicken und Lederriemen zusammengehalten.

»Auf der Spur des Leoparden ließ die Jagd ihn die Welt um sich vergessen. Er konnte nur an das kostbare Fell denken und daran, welche Geschenke er seinen Töchtern machen wollte. Seine Älteste hatte sich in eine Kette aus roten Korallen verliebt, die sie bei einem fliegenden Händler gesehen hatte. Er hat sie damit geneckt, so nutzlosem Tand nachzujagen, und heimlich beschlossen, dass sie solch eine Kette zum Neujahrsfest bekommen sollte. Er hat an rote Korallen gedacht, als er höher und höher in die Berge stieg, die Augen fest auf die Fährte des Leoparden geheftet. Dass es ungewöhnlich warm für einen Frühlingstag wurde, bemerkte er nicht. Erst als er die Lawine hörte. Der ganze Hang, auf dem wir stehen, kam ins Rutschen. Die Stelle unten am Fluss, dort, wo seine Älteste hatte lagern wollen, hat der Schnee nicht erreicht.

Mehr als vierzig Tage hat er nach ihnen gesucht. Aber er konnte nichts finden. Keinen Fetzen von der Jurte. Kein Teil ihrer Ausrüstung. Hunderte Löcher hat er in den Schnee gegraben. Manchmal glaubt er die Stimmen seiner Töchter unter sich flüstern zu hören. Wann immer er kann, kommt er hierher. Er glaubt, seine Kinder leben noch. Irgendwo hier unter uns in Schnee und Eis. Und er glaubt, sie frieren entsetzlich, da sie an dem warmen Tag ihre dicken Jacken nicht getragen haben. Wenn er Felle tauscht, dann nimmt er nur so viel Salz und Hirse, wie er unbedingt zum Leben braucht. Alles andere gibt er für Kinderkleider aus, die er hierherbringt.«

Shaya betrachtete all die Kleider an den Pfählen. Die fellgefütterten Fäustlinge. Die Filzstiefel, die halb im Schnee versunken waren. Lange Kleider. Dicke Jacken. Oft bunt und bestickt. Etwas Rotes, das fast aussah wie geronnenes Blut, erweckte ihre Aufmerksamkeit. Es hing an dem größten der drei Pfähle. Sie trat näher. Wischte den Schnee ab. Es war eine Kette aus Korallen. Sie schluckte. Kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals an und sah zu dem Mann, der im Schnee kniete. Seine Nasenspitze war blaurot gefroren. Die Nähte seiner Fäustlinge zum Teil aufgeplatzt. Er hatte ein hageres, stoppeliges Gesicht, in dem kein Platz für ein Lächeln mehr geblieben war.

»Wie kann man ihm helfen?«

»Niemand kann ihm helfen, Shaya. Nicht einmal ich kann ihm zurückgeben, was er verloren hat. Er hat schöne Erinnerungen. Manchmal ist das alles, was einem bleibt. Du hast einmal Fäustlinge besessen, die mit dem Fell von Wolfswelpen gefüttert waren. Er hatte die Welpen erlegt.«

Shaya erinnerte sich. Rote Blüten waren auf den Saum der Fäustlinge gestickt gewesen. Drei Winter lang hatte sie sie getragen, bis ihre Hände hoffnungslos zu groß für sie geworden waren.

»Wir müssen weiter, Prinzessin. Steig wieder auf meinen Rücken.«

Sie warf einen letzten Blick auf den Jäger. »Ich habe ihm eine der Tränen für seine Töchter gestohlen«, sagte sie halblaut.

»Er hat noch viele Tränen«, entgegnete der Devanthar. »Er wird es nicht bemerken, wenn eine fehlt.«

Shaya saß auf, doch sie traute den Worten des Devanthar nicht. Er blieb für sie unberechenbar. Sie dachte wieder an das Gefühl ihrer Kindheit. Die Ahnung, dass er um sie gewesen war, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte. War es vielleicht keine Einbildung gewesen? Wie oft wob er diesen Zauber? Wie oft dehnte er die Zeit so sehr, dass er für das menschliche Auge unsichtbar wurde?

Wieder stiegen sie weit in den Himmel hinauf. Diesmal wandte sich der Weiße Wolf nach Süden. Sie flogen über einsame Bergweiden dunklen Wolken entgegen. Bald waren sie umfangen von Schneeflocken, die still in der Luft standen. Wie tausend Nadeln stachen sie nach ihrem Gesicht, als sie durch den in der Zeit gefrorenen Sturm ritten.

Endlose Wälder erstreckten sich unter ihnen. Bei einer weiten Lichtung, auf der ein kleines Feuer brannte, stieg der Weiße Wolf vom Himmel hinab. Drei alte Frauen kauerten um ein Lagerfeuer. Darauf stand ein kleiner Kupferkessel, in dem eine dünne Suppe köchelte. Die Gesichter waren faltig und ausgezehrt, sodass ihre Augen riesig wirkten.

»Was ist mit ihnen?«

»Ihre Sippe hat sie hier zurückgelassen. Ein Packtier mit Wintervorräten ist vor einem Mond von einem schmalen Saumpfad abgekommen, in einen Gebirgsbach gestürzt und von der reißenden Flut davongetrieben worden. Die Vorräte reichen nun nicht für alle. Die drei Ältesten bleiben hier, damit die übrige Sippe aus den Bergen herabsteigen kann. Sie hatten schon im Herbst Pech. Der Winter kam zu früh und hatte die Pässe blockiert. So konnten sie aus den Hochwäldern nicht mehr in ihr eigentliches Winterquartier zurückkehren. Sie sind auf solche Unglücksfälle vorbereitet. Sie haben zwei große Jurten bei sich, und eigentlich hatten sie auch genug Vorräte …« Er machte eine kurze Pause. »Das wirklich Ironische ist, dass sie genug Honig hätten, um nicht verhungern zu müssen.«

Shaya hörte ihm zu und blickte in die drei vom Leben gezeichneten Gesichter. Eine der Alten hatte mit einer milchigen Schicht überzogene Augen. Der, die im Topf rührte, fehlten zwei Finger. Die drei wirkten nicht verbittert oder ängstlich. Sie schienen den Tod nicht zu fürchten.

»Der Honig aus den Bergwäldern ist besonders kostbar. Für einen kleinen Krug voll erhalten sie einen ganzen Sack voll Reis. Würden sie den Honig essen, könnten sie keine Vorräte für den nächsten Winter eintauschen. Der Honig der Bergwälder gilt als besonders heilkräftig. Die Heiler am Seidenfluss benutzen ihn gern. Erinnerst du dich, wie du deinen Hirsebrei oft mit Honig versüßt hast und wie du dir von deinem Vater einen Krug voll Honig als Belohnung für deinen Tanz auf der Trommel gewünscht hast?«

»Welche von den dreien hat den Honig gesammelt?«, fragte sie mit tonloser Stimme.

Die blauen Augen des Wolfes zogen ihren Blick an, hielten sie gefangen. »Es war die Blinde. Weißt du, was ihre Abschiedsworte an ihren Sohn waren?«

»Dass sie ihn liebt?«

Die Pupillen des Wolfs verengten sich zu winzigen, schwarzen Punkten. »Sie hat ihm erklärt, wo sie den Kupferkessel verstecken werden, damit ihre Sippe ihn wiederfindet, wenn sie im Spätsommer in dieses Tal zurückkehrt. Der Kessel ist kostbar und kann ihrer Sippe noch viele Jahre lang nützlich sein. Beginnst du zu verstehen, warum ich dir all dies zeige?«

Beschämt senkte Shaya das Haupt. Natürlich verstand sie es. Sie sollte sich fügen. Sollte akzeptieren, dass ihr Leben nicht wirklich ihr gehörte. Sie wusste das seit ihrer Kindheit. Und doch vermochte sie sich nicht einfach zu ergeben.

»Alles im Reich deines Vaters ist mit dem Wandernden Hof verbunden. Von überall fließen Abgaben in jeder nur denkbaren Form. Doch dein Vater gibt zurück. Er ist das Herz des Reiches. Wie ein Herz treibt er sein Blut bis in die entferntesten Glieder und lässt das Reich leben. Ihr – du, Shaya, und deine Geschwister, seine Kinder –, ihr seid dieses Blut. In den Städten am Seidenfluss verspotten sie das Volk der Ischkuzaia oft als Barbaren. Aber die Wahrheit ist, dass Weisheit und Kultur am Seidenfluss nie gekannte Blüten treiben, seit dein Vater die Städte unterwarf und die blutigen Fehden der Stadtstaaten ein Ende haben.«

»Was also soll ich tun?«

Der Weiße Wolf knurrte leise. »Das weißt du tief in deinem Herzen. Oder muss ich dir noch mehr zeigen? Willst du sehen, wie am Seidenfluss achtjährige Knaben kastriert werden und man ihnen die Zunge entfernt, damit sie zu vollkommenen Dienern der Damen des Wandernden Hofes werden? Einer von vieren überlebt dies und wird erwachsen. Und natürlich sucht man für diese Behandlung nur die schönsten und vielversprechendsten Knaben aus. Ich werde dich zu nichts zwingen, Shaya. Starke Entscheidungen, die jeden Sturm des Zweifels überstehen, müssen aus Überzeugung getroffen werden.«

Sie blickte zu den drei alten Frauen, die um das kleine Feuer im Schnee saßen und auf ihren Tod warteten, weil ein Maultier einen Fehltritt getan hatte. »Ich weiß, was ich zu tun habe«, sagte sie leise, und der Kloß, der ihr im Hals saß, ließ ihre Stimme heiser klingen. »Bitte bring mich zurück.«

Spinnenblick

Nandalee tauchte ihr Gesicht in die Schüssel mit kaltem Wasser. Sie hielt den Kopf untergetaucht. Dieser Gestank. Er war einfach unbeschreiblich!

Sie hatte mit der Dame Amalaswintha Galars Höhle besucht. Diesmal war der Schmied freundlicher gewesen. Er hatte sie sogar wiedererkannt. Er bekannte sich ganz freimütig dazu, den Weißen Drachen getötet zu haben. Ebenso wie sein Kamerad Nyr, den sie ebenfalls besucht hatten. Wahrscheinlich war Galar so redselig gewesen, weil er ganz genau wusste, wie sehr sein Besuch an dem bestialischen Gestank litt. Er hatte Unmengen von diesem widerlichen Käse in seiner Höhle gelagert. Nandalee war schleierhaft, wie der Kerl es in diesem stinkenden Dreckloch aushielt. Nach einer Weile hatte Amalaswintha darauf gedrängt zu gehen, und Nandalee war nur zu dankbar darauf eingegangen. Amalaswintha hatte sich die ganze Zeit über ein parfümiertes Tuch vor die Nase gehalten, doch selbst das schien nur begrenzt geholfen zu haben.

Nandalee wusste jetzt, wo Galar und Nyr zu finden waren. Sie hatte sich die Wege zu ihren Höhlen gut eingeprägt. Sollte Nachtatem sie als Meuchlerin schicken, war sie bereit. Nur Hornbori fehlte ihr noch. Gegen ihn hegte Amalaswintha eine so ausgeprägte Abneigung, dass Nandalee vermutete, dass der Zwerg vielleicht einmal ihr Liebhaber gewesen war.

Nandalees Lungen begannen zu brennen. Mit einem langen, wohligen Seufzer hob sie das Gesicht aus der Wasserschüssel.

»Entschuldige, wenn ich dich dabei störe, dich zu ertränken, aber die Herrin Amalaswintha wünscht dich zu sehen.«

Nandalee fuhr erschrocken herum. Hinter ihr stand Geberic, einer der Leibwächter der Zwergin. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Es war leichtfertig, inmitten von Feinden so unaufmerksam zu sein, auch wenn die Zwerge nicht ahnten, wer sich bei ihnen eingeschlichen hatte.

»Du schleichst wie eine Katze«, murmelte sie ärgerlich und trocknete ihren langen Bart mit einem Tuch. Nandalee hatte es nicht gewagt, die Zöpfe mit den Eisenringen zu lösen, aus Furcht, sie würde die eigentümliche Barttracht nicht mehr hinbekommen.

»Es ist keine Kunst, nicht gehört zu werden, wenn jemand seinen Kopf ins Wasser hält. Hast du zu viel getrunken, Arbinumja?« Er lächelte bei den letzten Worten überheblich.

Nandalee wickelte sich das feuchte Tuch um die Lenden. So wie Geberic roch, war es nicht verwunderlich, dass er nicht auf die Idee gekommen war, dass sie sich wusch. Dabei legte der Leibwächter durchaus Wert auf sein Äußeres. Er trug eine ärmellose Lederweste, die die Tätowierungen auf seinen Armen zur Geltung brachte. Die Bilder zeigten Waffen, einen Zwerg, der mit einem Bären kämpfte, und einen Krieger, der triumphierend einen abgeschlagenen Kopf hochhielt. Das Ganze war mit Ranken aus Eiskristallen umgeben. Ein wenig kitschig und unbeholfen ausgeführt waren die Bilder. Außerdem hatte Geberic seinen linken Nasenflügel mit einem goldenen Ring durchbohrt. Das hatte Nandalee noch bei keinem anderen Zwerg gesehen. Allein die Vorstellung, ihren Körper mit Löchern zu versehen, um darin Schmuck zu befestigen, fand sie merkwürdig.

Geberic, dem aufgefallen war, wie sie ihn anstarrte, ließ seine Armmuskeln spielen, woraufhin sich der Bär bewegte und es aussah, als wolle er den Zwerg mit einem Prankenhieb angreifen.

»Hübsch«, bemerkte sie knapp.

Geberics Miene verfinsterte sich. Hübsch war ganz offensichtlich nicht, was er hatte hören wollen. »Die Dame Amalaswintha schätzt es nicht zu warten. Beweg deinen mageren Hintern.«

Nandalee raffte ihre Kleider zusammen und stieg hastig in die kratzende Wollhose. Sie fürchtete den Zorn Amalaswinthas. Die Zwergin hatte sie den ganzen Tag über so eigenartig angesehen. Die Blicke hatten Nandalee an eine Spinne denken lassen, die darüber nachdachte, ob sie ein Opfer einspinnen oder sofort verspeisen wollte. Amalaswintha passte nicht in das Bild, das sie sich von Zwergen gemacht hatte. Nandalee war froh, wenn sie aus der Tiefen Stadt fliehen konnte. Nur Hornboris Heim musste sie noch finden. Ein Tag vielleicht noch, dann war ihre Aufgabe hier erledigt!

Die Elfe schloss den Gürtel und zog ihr Wams zurecht. Dann folgte sie Geberic.

Er führte sie tiefer hinab in das Höhlensystem. Amalaswintha war die Herrin eines eigenen Höhlenkomplexes, der sich auffällig von den anderen Tunneln unterschied, die Nandalee bislang in der Tiefen Stadt gesehen hatte. Es gab hier keine scharfen Kanten. Alles war rund oder zumindest abgerundet. Selbst die Decken der Tunnel, die Türen und Tore. Auch gab es hier mehr Licht und Farben. Neben Steinmetzarbeiten schmückten häufig farbenfrohe Fresken die Wände. Sie zeigten Wälder oder weite Wiesen in strahlendem Sonnenlicht. Allein sie anzusehen weckte in Nandalee die Sehnsucht nach dem weiten, blauen Himmel. Sie vermochte sich nicht vorzustellen, wie es sein mochte, ein ganzes Leben tief im Fels zu verbringen. Sie war dafür nicht geschaffen, und wenn sie die Bilder an den Wänden betrachtete, fiel es wohl auch nicht allen Zwergen leicht.

»Dort hinein!« Geberic war vor einem runden Durchgang stehen geblieben, der von einem schweren, roten Vorhang verschlossen wurde.

Der Kerl führte sich auf wie ein Gefängniswärter, dachte Nandalee, trat mit einem Gefühl der Beklommenheit durch den Vorhang und fand sich in einer Höhle wieder, wie sie noch keine gesehen hatte. Sie maß vielleicht zwanzig Schritt und war mit Tischen, Regalen, Kisten und Figuren, auf denen Kleider drapiert waren, vollgestopft. Am auffälligsten jedoch war das riesige Bett in der Mitte der Höhle. Schwere, dunkelrote Decken lagen darauf, umlagert von bunten Kissen. Goldene Pfosten, um die sich Efeuranken aus Jade wanden, strebten der Höhlendecke entgegen. Die Höhlendecke selbst war vom lichten Blau eines Sommerhimmels. Vögel mit ausgebreiteten Schwingen waren auf die Decke gemalt. An einigen Stellen hingen sogar ausgestopfte Vögel davon herab.

Nandalee ging die weite Treppe hinab, die zur Höhle führte. Der Boden war unregelmäßig. An manchen Stellen erhoben sich Felssimse wie kleine Inseln. Meist waren sie von Tischen gekrönt, auf denen sich Schriftrollen und aufgeschlagene Bücher stapelten. Nandalee war verwundert, wie man sich mit so viel Plunder umgeben konnte. Sie könnte an einem solchen Ort nicht leben. Wie konnte man schlafen, umgeben von so viel unvollendeter Arbeit? Sie hatte den Eindruck, dass Amalaswintha auf der Suche nach etwas war. All die Schriften … Und dann gab es noch seltsame Metallobjekte, deren Bedeutung Nandalee verschlossen blieb. Gebilde aus ineinandergreifenden Metallringen, an denen unterschiedlich große Kugeln befestigt waren. Ein Messingrohr, in das ein geschliffener Bergkristall eingesetzt war. Metallzylinder. Auf einem Tisch lagen seltsam geformte Messer und Scheren. Alle waren gekrümmt oder gezackt. Wozu brauchte Amalaswintha all das?

Nandalee entdeckte ein großes Konstrukt aus seltsam gebogenen Drähten, auf die in unregelmäßigen Abständen Steinkugeln aufgezogen waren. Fast in der Mitte dieses merkwürdigen Objekts war ein großer Amethyst angebracht. Direkt daneben eine kleine Kugel aus weißem Marmor. Nandalee ließ ihre Finger über die steifen Drähte gleiten. Manche waren aus dickem, von rotbraunem Flugrost verkrustetem Eisen, andere aus Silber oder Kupfer, einige wenige sogar aus Gold. Inmitten der goldenen Drähte gab es eine Kugel aus einem hellen, blauen Stein, in den ein in Gold gefasster Rubin eingelassen war. Nandalee stutzte. Sie blickte zur himmelblauen Decke und zu dem roten Bett mit den wuchtigen goldenen Bettpfosten inmitten der Höhle.

Nandalee versuchte, sich im Geiste den Weg zur Schmiede Galars vorzustellen, und tastete dabei blind entlang der Drähte. Als ihre Finger eine raue Kugel berührten, öffnete sie die Augen. Die Kugel war aus angerostetem Eisen. Neugierig schnupperte Nandalee daran. Sie stank nicht nach Koboldkäse. Passte eine Eisenkugel zu einem Schmied? Ja!

Fasziniert von dieser Art, das komplexe Höhlensystem der Zwergenstadt darzustellen, studierte Nandalee das Geflecht aus Drähten und versuchte sich jede Windung einzuprägen. Ein großer, geschliffener Aquamarin stellte den Hafen der Stadt dar. Aber es schien noch andere, kleinere Häfen zu geben, von denen sie bislang nichts gewusst hatte. Einer lag sogar ganz in der Nähe dieser Höhle. Er unterschied sich von allen anderen Häfen dadurch, dass noch eine kleine, gläserne Linse unter den Aquamarin gehängt war. Verwundert studierte sie die Umgebung des Hafens, fand aber keinen Hinweis darauf, was die Linse bedeuten mochte.

Amalaswinthas unterirdischer Palast war deutlich größer, als Nandalee erwartet hatte. Er wurde mit goldenen Drähten dargestellt und hob sich deutlich vom übrigen Tunnelplan ab. Dies war die bei Weitem beste Karte der Tiefen Stadt, die sie sich vorstellen konnte, dachte Nandalee. Vielleicht konnte sie ein ähnliches Modell erstellen, wenn sie mit anderen Drachenelfen den Anschlag auf die Mörder des Schwebenden Meisters plante.

Leise Schritte ließen die Elfe aufhorchen. Sie fühlte sich ertappt und trat ein wenig vom Modell der Tiefen Stadt zurück. Amalaswintha kam um einen Schrank herum, der den Blick auf den hinteren Teil der Höhle versperrte. Das Haar der Zwergin schimmerte feucht. Sie trug ein langes, seitlich geschlitztes Nachthemd im rauchigen Silberton des ersten Morgenlichts. Amalaswintha bedachte Nandalee mit einem bezaubernden Lächeln. »Schön, dass du meiner Einladung gefolgt bist. Dich interessiert das Modell der Tiefen Stadt?«

»Es ist überaus eindrucksvoll. Und was die Einladung angeht, war Geberic recht deutlich.«

Amalaswintha schnalzte mit der Zunge. »Ach, ach, Geberic … Der Gute nimmt seine Aufgaben manchmal ein wenig zu ernst. Es tut mir leid, falls du dich unter Druck gesetzt gefühlt hast. Du bist mein Gast. Es steht dir frei, zu kommen und zu gehen, wie es dir beliebt.« Die Zwergin stand jetzt dicht vor ihr. Ein Duft wie von süßen Birnen haftete ihr an. Sie bedachte Nandalee mit einem koketten Augenaufschlag. »Möchtest du lieber gehen?«

Nandalee fühlte sich unwohl. »Das Modell … zeigt das alle Tunnel und Höhlen der Tiefen Stadt?«

Amalaswintha wirkte einen Augenblick lang überrascht, hatte sich aber fast sofort wieder unter Kontrolle. »Es ist unvollständig, Arbinumja. Ich habe seit Jahren nicht mehr daran gearbeitet. Einige Tunnel werden vom Alten in der Tiefe geheim gehalten.« Sie lachte zynisch. »Ich habe sie nicht in das Modell aufgenommen, um mir keinen Ärger mit ihm einzuhandeln. Andere sind ganz neu. Zum Beispiel hat dieser unsäglich stinkende Schmied in aller Heimlichkeit und gegen die Gesetze der Tiefen Stadt einen kleinen Seitentunnel angelegt, der unter der Wasseroberfläche seines Brunnens verborgen liegt. Es gibt sogar eine Anbindung an einen der Luftschächte. Wahrscheinlich verbirgt der Stinker dort seine größten Schätze. Was immer das auch sein mag. Wirklich wohlhabend ist er nicht.«

Nandalee empfand die Distanzlosigkeit Amalaswinthas als überaus unangenehm. Deutlich malten sich die Brüste der Zwergin durch das Nachthemd ab. Es war unübersehbar, was sie für diesen Abend geplant hatte. Warum tat sie das? Und wie könnte sie ihr klarmachen, dass sie keinerlei Interesse an einem Abenteuer mit ihr hatte, ohne sie zu verärgern? Am besten, sie flüchtete sich in belanglose Plauderei! »Dort unter deinem Hafen gibt es eine seltsame Glaslinse. Was bedeutet sie?«

»Eine Spielerei. Ich nenne diesen Ort den geheimen Garten. Eigentlich liegt er im Hafen meines Palastes, aber ich habe keine Möglichkeit gefunden, es besser darzustellen. Es ist eine Kuppel aus Tausenden kleinen Glasscheiben. Um in sie hineinzugelangen, muss man durch das Becken tauchen. Deshalb werde ich dort nur selten gestört. Es gibt nur wenige Zwerge hier in der Tiefen Stadt, die schwimmen können. Kannst du schwimmen?«

Nandalee nickte.

»Ich liebe diesen Ort. Er ist durchtränkt von Blütenduft. Vielleicht schwimmen wir einmal gemeinsam dorthin.« Amalaswintha beugte sich vor und schnupperte an Nandalees Bart. »Du hast die Seife mit dem Rosenduft benutzt. Wie schön.«

Nandalee räusperte sich beklommen und wich ein Stück vor der Zwergin zurück. »Woher weißt du um die geheimen Tunnel?«

Ihre Gastgeberin blickte zu dem großen Bett und lächelte unzweideutig. »Männer geben gerne an. Damit, wer den längsten … Bart hat. Und auch damit, was sie sonst für tolle Hechte sind. Du würdest dich wundern, wenn du wüsstest, was mir in diesem Bett schon alles erzählt worden ist.«

»Du hast mit Galar …«

Amalaswintha lachte laut auf. »Bei den Alben, nein! Dieser Stinker dürfte nicht einmal diese Höhle betreten. Manchmal, wenn ich dort im Bett liege und mein Kopf frei von allen anderen Gedanken ist, kann ich den Berg spüren. Das hört sich seltsam an, nicht wahr? Dieses Modell hier existiert, weil ich meinem Gefühl nicht vertraute. Ich habe es erschaffen und mir danach alle zugänglichen Karten zu den Tunneln bringen lassen. Alles stimmt. Auch jene Tunnel, die auf keiner Karte verzeichnet sind, existieren wirklich.«

Nandalee wäre es lieber gewesen, ein Thema zu finden, das gar nichts mehr mit Amalaswinthas Bett zu tun hatte. »Wie … wie fühlt sich ein Berg denn an?«

»Ich spüre die Wurzeln der Bäume, wenn der Wind sich in den Baumkronen verfängt. Ich weiß, wer von meinem Volk durch welchen Tunnel geht. Ich kann fühlen, wo sie graben. Manchmal kenne ich sogar die Gedanken derer, die im Berg sind.«

Nandalee musste sich zwingen, dem Blick der Zwergin standzuhalten. Jenen abgrundtiefen, grünen Augen. Nicht einmal die Himmelsschlangen vermochten ihre Gedanken zu lesen, ermahnte sie sich in Gedanken. Dieses Zwergenweib würde es ganz gewiss auch nicht können.

»Du bist ungewöhnlich, Arbinumja. Seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind, hattest du fünf Mal die Gelegenheit, Pilz, Met oder sogar Wein zu trinken, aber ich habe dich nur ein einziges Mal mit einem Bierkrug in der Hand gesehen. Du warst nie beschwipst. Du hast die Waschschüssel in deiner Kammer benutzt und sogar die Seife, die ich dazulegen ließ. Du machst keine plumpen Sprüche über meine Schönheit oder versuchst dich zu prügeln, um mir zu zeigen, wie männlich du bist. Du bist der unzwergischste Zwerg, dem ich je begegnet bin, Arbinumja. Was bist du?«

Nandalee wurde es heiß und kalt. Wenn es sein müsste, könnte sie Amalaswintha zum Schweigen, bringen und wahrscheinlich käme sie auch an Geberic vorbei. Aber wie sollte sie aus der Tiefen Stadt fliehen? Die wenigen Tore, die aus dem Berg führten, waren streng bewacht. Den Albenstern vermochte sie nicht aus eigener Kraft zu öffnen. Vielleicht würde sie an Bord von einem der Aale fliehen können.

»So schweigsam, Arbinumja? Du verstehst die Sprache der Elfen, zumindest behauptet das der Ratsherr Skorri. Und wenn du durch den Berg gehst, kann ich dich nicht spüren. Manchmal kommen sehr machtvolle Wesen hierher … Es ist mir noch nicht gelungen, einem von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Ich glaube, sie nehmen unsere Gestalt an. Vielleicht sind es die Alben.« Amalaswinthas Augen leuchteten. Sie wirkte wie eine Besessene. Aus den Augenwinkeln sah Nandalee ein kleines Messer zwischen Federkielen auf einem nahen Tisch liegen.

»Du, Arbinumja, bist wie ein Geist. Bleibst ungreifbar … Aber ich weiß, was du verbirgst und was du in Wahrheit bist.«

Nandalee wich ein Stück zurück. Das Federmesser war jetzt in ihrer Reichweite.

»Du bist ein Zauberweber, so wie ich!«

Nandalee griff nach der Klinge.

»Seit du ein Kind bist, fühlst du dich anders als alle anderen um dich herum. Nicht wahr? Manchmal geschehen dir seltsame Dinge. Es wird über dich getuschelt. Du hast keine Freunde. Und irgendwann ist es dir zur Natur geworden, dich abseits zu halten. Ich bin reich geworden, weil ich die Schätze in den Gebeinen der Erde spüren kann. Wer meinem Rat folgt, wenn er eine Mine anlegt, der wird fündig. Ich kann alles haben, was es für Gold zu kaufen gibt. Aber ich begehre nur noch eines. Ich will die Kunst des Zauberwebens erlernen. Und ich weiß, diese Kunst wird nicht aus dem Blut und den Knochen von Drachen destilliert. Was ist deine Gabe, Arbinumja?«

Nandalee strich mit der Hand über die Federkiele, als habe sie nie nach dem Messer gegriffen. »Manchmal, wenn ich mich sehr stark konzentriere, kann ich Dinge schweben lassen. Aber ich hüte mich, meine Gabe zu zeigen. In der Ehernen Halle fürchten sie Zauberweber. Sie werden in das riesige Mühlrad geworfen, das zum Zerkleinern des erzhaltigen Gesteins dient. Zauberweber sind gefährlich …«

»Unsinn!«, begehrte Amalaswintha auf. »Kleingeistige Narren denken so! Wir sind die Zukunft unseres Volkes, Arbinumja. Wir sind keine Ungeheuer. Aber wir müssen lernen, unsere Kräfte zu formen, so wie ein Schmied lernt, das Eisen zu formen. Es ist nicht gerecht, dass die Drachen nur ihre Lieblinge, die Elfen, zu Zauberwebern machen. Auch in uns schlummert diese Gabe. Nun verrate mir, was du kannst.«

Sie wies mit weit ausholender Geste auf die Bücher und Schriftrollen. »In allen Völkern Albenmarks gibt es Einzelne, die dazu geboren sind, die Welt zu verändern. Bei den Elfen scheint die Gabe besonders häufig zu sein. Aber man findet sie auch bei Kobolden, Kentauren und den scheuen Faunen. Selbst Trolle sind manchmal von Magie berührt. Es gibt Hunderte Geschichten darüber. Viele Zauberweber werden gefürchtet und verfolgt. Der Begabung haftet ohne Zweifel eine dunkle Seite an. Aber ich bin überzeugt, man kann sie beherrschen, wenn man mit der Gabe umzugehen versteht.«

Nandalee dachte an Sayn, jenen jungen Elfen, der sie so herablassend behandelt hatte, als sie in der Höhle des Schwebenden Meisters darum gerungen hatte, eine Zauberweberin zu werden und nicht nur ein Gefäß für eine unkontrollierte Macht zu sein. Nie würde sie Sayns letzten Augenblick vergessen. Als seine Rippen sich wie Schmetterlingsflügel auffalteten und sein Fleisch durchstießen. Als sich sein Innerstes nach außen kehrte. Sie hatte Sayn gehasst. War es dieser Hass, verbunden mit ihrer Gabe, der ihn getötet hatte? Oder war er es, dem ein Fehler unterlaufen war? Die Antwort würde sie nie erfahren.

»Woran denkst du?«

»An die Gabe, die in uns wohnt.«

»Was ist dein Zauber, Arbinumja?«, drängte Amalaswintha erneut.

Nandalee wollte fort. Sie musste einen Weg aus der Tiefen Stadt finden. Wie lange würde es dauern, bis die Zwergin begriff, wer sie wirklich war? »Meine Kräfte sind schwach.« Sie blickte zu den Federkielen auf dem Tisch und schnitt eine Grimasse, als würde sie versuchen, einen schweren Felsbrocken anzuheben. Dabei dachte sie an den Wind, der einst unter den Federn dahingeeilt war. Dachte an seine Kraft und griff nach der Magie, die allen Dingen innewohnte. Sie hob die Hand. Und eine der Federn hob sich um einen Zoll. Sie hätte sie ohne Mühe bis zur Decke schweben lassen können. Ja, sie könnte sogar deren Farbe verändern. Aber sie wollte so wenig wie möglich von sich preisgeben. Mit einem schweren Seufzer ließ sie in Gedanken die Feder los und sie fiel zurück auf den Tisch.

Amalaswintha wirkte nicht sonderlich beeindruckt. »Daraus könnte man gewiss noch mehr machen.«

»Mehr würde mich umbringen«, stieß Nandalee schwer atmend hervor.

Die Zwergin lächelte milde. »Morgen Abend wird sich dein Leben für immer verändern, Arbinumja. Mit mir gemeinsam wirst du den ersten Schritt zur Beherrschung der Magie gehen. Lass dich überraschen … Und nun darfst du dich zurückziehen, denn wie mir scheint, mangelt es dir an Kräften, um mich heute noch angenehm zu unterhalten. Ruhe sanft, mein Zauberlehrling.«

Die letzte Schlacht

Shaya trat in die Rote Jurte. Noch war niemand hier, doch der Tisch mit den hölzernen Winkelstücken und den breiten Lederbändern war schon hergebracht worden. Sie stellte sich vor, wie man ihren Kopf festschnallen würde.

Rasch wandte sie den Blick ab. Shaya war zu früh gekommen. Sie hatte dieses Zelt gewählt. Niemand würde sie hier stören. Es kam nur sehr selten jemand in die Rote Jurte. Nur, wenn der Wandernde Hof einen neuen Weg nehmen sollte oder wenn ein Kriegszug in unbekannte Gebiete geplant wurde. Als Kind hatte sie die Rote Jurte geliebt. Sie war ihr Zufluchtsort gewesen. Ein Platz, an dem niemand eine Prinzessin suchte. Fast nichts hatte sich hier verändert in all den Jahren.

Der breite Kartentisch war zur Seite geschoben worden, um jenem Tisch Platz zu machen, auf dem die Shaya, die sie sein wollte, ihrem Vater und ihrem Volk geopfert werden würde. Sie schlang sich die Arme um den Leib, als ein Schauer sie überlief.

Shaya blickte hinauf zum Dach der Jurte. Der rote Stoff des Zelthimmels war mit den Jahren fadenscheinig geworden. Etliche Lederflicken waren neu hinzugekommen. Warmes, rötliches Licht drang durch den Stoff. Sie blickte zu den niedrigen Regalen vor den Lattengittern, die die Wände der Jurte aufrecht hielten. Hier lagen, für die Ewigkeit in Ton gebrannt, die Reiseberichte der Gesandten ihres Vaters. Genaue Beschreibungen von Straßen, Pässen und Furten. Sie wiesen den Weg in die Reiche ihrer Nachbarn, sollte der Frieden, den die Devanthar erzwungen hatten, eines Tages enden. So viele Stunden hatte sie hier lesend verbracht und von fernen Ländern geträumt.

Shaya kniete neben den bauchigen Amphoren nieder und strich über die Deckel aus altem, bröckelndem Kork. Sie waren in verschiedenen Farben gehalten, sodass selbst jene, die die Schriftzeichen auf den Wachssiegeln nicht entziffern konnten, wussten, welche Karten wo verwahrt wurden.

Die Prinzessin strich über die blassblaue Glasur jener Amphore, in der ihr größter Schatz verborgen lag. Das Wachssiegel war nicht erneuert worden, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Sie hatte es mit einer Knochennadel aufgeritzt und später versucht, das Wachs mit ihren Daumen wieder zusammenzupressen. Sie legte ihren Daumen in den Abdruck ihrer Kindheit. Breit und lang war er geworden, mit einer feinen Narbe auf dem Gelenk.

Shaya hob den Korkdeckel ab und streckte den Arm durch den weiten Mund der Amphore. Ihre Fingerspitzen tasteten über Knochen. Es waren Schulterblätter von Pferden, Ochsen und Kamelen. Sie bekam eines zu packen und zog es empor. Mit einem feinen Knirschen kratzte der Knochen am Amphorenhals.

Ein Lächeln stahl sich auf ihr Antlitz, als sie die Karte erkannte. Sie war ihr einst die liebste gewesen. Sie zeigte die ganze Welt. Vom Gefiederten Haus an den fernen Küsten des östlichen Meeres bis hin zu den Schwimmenden Inseln tief im Westen, von denen keine der Tontafeln im Zelt ihres Vaters zu berichten wusste. Viele Stunden hatte sie hier gelegen, zum roten Zelthimmel emporgeblickt und vom Sonnenuntergang an fernen Gestaden geträumt. Sie hatte versucht, sich das Gefiederte Haus vorzustellen. Anfangs war es in ihrer Fantasie eine große Jurte gewesen, auf die man Federn aufgenäht hatte. Später, nachdem sie die Paläste am Seidenfluss gesehen hatte, stellte sie sich ein Haus aus schillernd glasierten Tonziegeln vor, in die Vogelfedern geprägt waren.

Shaya atmete schwer aus. Wieder überlief sie ein Kälteschauer. Das Träumen würde ihr wohl ausgetrieben werden. Sie war weiter gereist, als sie es sich in ihrer Kindheit hatte vorstellen können. In eine fremde Welt, von der es in der Roten Jurte, zumindest als sie klein gewesen war, noch nicht einmal Karten gegeben hatte. Sie war in Wolkenschiffen über den Himmel gesegelt. Hatte das Purpurne Meer mit all seinen Wundern erblickt. Bald würden ihre Träume auf die Spitze einer Nadel aufgespießt werden.

Sie hörte, wie die Plane am Eingang zurückgezogen wurde. Der Holzboden der Jurte knarrte. Sie sah sich um, um Fassung bemüht. Sie würde ihrem Schicksal, wenn schon nicht mit einem trotzigen Lächeln auf den Lippen, dann doch zumindest in gefasster Ruhe begegnen.

Zwei Eunuchen hatten das Zelt betreten. Das Zeichen der Echse war ihnen auf die Stirn tätowiert, sodass jeder wusste, sie hatten keine Zunge mehr und konnten allenfalls zischende Laute wie eine zornige Echse hervorbringen. In ihren Wickelröcken und mit ihren mit schwarzer Tusche umrandeten Augen wirkten sie weibisch. Die Schädel waren kahl rasiert. Einer nickte ihr freundlich zu.

Shaya erwiderte den Gruß nicht. Wie konnte der Kerl sich erdreisten, ihr zuzunicken? Solche plumpen Höflichkeiten waren dem Anlass ihrer Begegnung nicht angemessen. Verspottete der Eunuch sie etwa?

»Ihr erstaunt mich, ehrenwerte Prinzessin.« Der Heiler kam in die Jurte. Er schritt lautlos wie eine Katze. Auf seinem schmalen Gesicht lag ein Lächeln, das nicht hinauf bis zu den Augen reichen wollte. »Ich hätte nicht erwartet, dass Ihr vor der Zeit zugegen sein würdet.«

»Die Tugend der Pflichterfüllung ist nicht allein am Seidenfluss bekannt«, entgegnete sie kühl.

Der Heiler hielt inne und musterte sie eindringlich. Schließlich nickte er bedächtig. »Bitte entschuldigt, wenn ich Euch mit meinen Worten unrecht getan habe. Dies lag niemals in meiner Absicht. Seid versichert, dass Ihr mich bereits am gestrigen Tage beeindruckt habt, Prinzessin Shaya. Und nun vertieft Ihr meine Hochachtung noch weiter. Ergebenheit in sein Schicksal ist tatsächlich eine Tugend, die in meinem Volke ebenso hoch geschätzt wie selten erreicht wird.« Er legte ein Bambusrohr mit einem Lederverschluss auf dem Kartentisch ab und lud sie mit formvollendeter Geste ein, sich auf dem zweiten Tisch niederzulassen.

Shaya legte die Karte zurück in die Amphore und verschloss sie mit dem Korkdeckel. Diesmal versuchte sie nicht die Spuren im Wachs verschwinden zu lassen. Wehmütig betrachtete sie den Abdruck ihres kleinen Daumens, die letzte Spur glücklicherer Zeiten. Dann ging sie hinüber zu dem Tisch.

Der Heiler zog ein kleines, grünes Fläschchen aus seinem Ärmel. »Ich habe einen Schlaftrunk für Euch vorbereitet, ehrenwerte Prinzessin. So werdet Ihr von den Unannehmlichkeiten, die ich Euch, zu meinem Bedauern, auf Geheiß Eures Vaters bereiten muss, nichts spüren.«

»Noch bin ich eine Kriegerin, Miau. Ich bin es nicht gewohnt, vor meinen Feinden die Augen zu verschließen. Und in meiner letzten Schlacht werde ich ganz gewiss nicht meine Gewohnheiten ändern.«

Der Heiler stellte das Fläschchen auf den Kartentisch. »Es schmerzt mich, dass Ihr in mir einen Feind seht, Prinzessin. Und wenn Ihr Euch schon der Metaphern des Krieges bedienen müsst, so seid versichert, dass ich diese Schlacht ebenso wenig aus freiem Willen liefere, wie Ihr es tut. Da Ihr, die Ihr mir von allen, die ich fragte, als überaus ehrenhaft geschildert wurdet, beschlossen habt, mich als Feind zu betrachten, erlaube ich mir, Euch um eine Gunst zu bitten. Bitte nennt mich nicht bei einem Spottnamen. Mein Name als erwachsener Mann, den mir mein ehrenwerter Vater zur Freude meiner Mutter am Abend, an dem ich meine Studien vollendete und mir das grüne Ehrengewand des Heilkundigen verdiente, gab, lautet: Shen Yi Miao Shou.«

Shaya zögerte. Warum sollte sie dem Mann, der sie verstümmeln würde, Ehre erweisen? Auf der anderen Seite wollte sie ihr Dasein als Kriegerin nicht mit dem Vorwurf beenden, zuletzt ehrlos gehandelt zu haben. »Shen Ji Miau Shou?«, versuchte sie es leise.

»Nicht vollkommen, doch wiegt der gute Wille den geringen Makel Eurer Aussprache mehr als auf.« Er lächelte. »Wenn Ihr Euch nun bitte hinlegen würdet, ehrenwerte Prinzessin? Ich werde unsere beiden Gehilfen jetzt bitten, Euch an den Tisch zu schnallen, und darüber wachen, dass dies mit der größtmöglichen Zurückhaltung geschieht und nicht einmal der Verdacht einer unsittlichen Berührung einen Schatten auf das strahlende Licht unseres gegenseitigen Respekts werfen wird.«

»Ich brauche das nicht«, entgegnete sie scharf. »Bislang kann ich mich rühmen, auch nicht gezappelt zu haben, wenn meine Wunden vernäht wurden.«

»Mit Verlaub, ehrenwerte Prinzessin, doch was mir heute zu tun auferlegt wurde, gestattet nicht den Vergleich mit dem Vernähen einer Wunde im Gefolge eines Gefechtes. Dies ist ein diffiziler Vorgang, der es unbedingt erfordert, dass Ihr stillhaltet.«

»Wozu ich durchaus in der Lage bin«, entgegnete sie kühl.

Shen Yi Miao Shou griff nach dem Bambusrohr auf dem Kartentisch und drehte es unschlüssig in den Händen. »Bitte erlaubt mir, auf die vielen Jahrzehnte meiner Erfahrung hinzuweisen und … Oops.« Das Bambusrohr entglitt seinen Händen und schlug mit der Kante seitlich gegen ihr Knie, woraufhin ihr Bein vorschnellte.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung.« Er lächelte, und diesmal bildete sich auch um seine Augen ein feines Netz aus Lachfältchen. »Vor allem entschuldige ich mich, mich so billiger Jahrmarktsgaukelei bedient zu haben. Natürlich war es kein Unfall, dass mein Bambusrohr vor Euer Knie schlug. Ich wollte Euch lediglich verdeutlichen, dass das Fleisch, das unserer Seele Heimat ist, manchmal Bewegungen ausführt, die nicht der Kontrolle unseres Geistes unterliegen.«

»Du hast mich überrascht, Shen Yi. Ein zweites Mal wird dir dies nicht gelingen.« Kaum dass die Worte über ihre Lippen waren, schlug er ihr ein weiteres Mal mit dem Bambusrohr vor das Knie, und wieder schnellte ihr Bein vor.

»Bitte verzeiht mir in unser beider Interesse, so unhöflich zu sein, auf der Richtigkeit meiner Worte zu beharren.« Er nickte den beiden Eunuchen zu, die bislang reglos neben dem Kartentisch gestanden hatten. »Bindet die hochwohlgeborene Prinzessin bitte auf den Tisch.«

Shaya wollte aufstehen, als der Heiler ihr mit einer kurzen, kräftigen Bewegung den Daumen in das Sonnengeflecht unter ihrem Rippenbogen stieß. Ein jäher Schmerz brandete durch ihren Leib bis in die Fingerspitzen. Nach Luft schnappend, knickte sie ein. Einen Herzschlag nur, da packten sie schon die beiden Eunuchen und schnallten ihre Arme und Beine auf den Tisch.

»Ich bitte erneut vielmals um Entschuldigung für mein überaus despektierliches Vorgehen, verehrte Prinzessin, doch war Euer Vater von unmissverständlicher Deutlichkeit in seiner Forderung, dass ich eine gewisse Eile walten lassen solle.«

Shaya war unfähig zu antworten. Immer noch rang sie japsend um Luft. Dabei bäumte sie sich gegen ihre Fesseln auf.

Shen Yi Miao Shou nahm die Lederkappe vom Bambusrohr und ließ mit feinen Seidenbändern gebündelte Nadeln daraus hervorgleiten. Sorgsam legte er die Bündel auf ein Seidentuch auf dem Kartentisch. Die Nadeln waren aus Gold und Silber. Einige waren gebogen, andere hatten linsengroße Harzkügelchen auf ihre Köpfe gepresst. Manche der Nadeln waren kurz, einige aber auch mehr als doppelt so lang wie ihr Zeigefinger.

»Die Anspannung schadet Euch, Prinzessin. Das beste Ergebnis werde ich erzielen, wenn Ihr Euch nicht verkrampft und Ihr ruhig und regelmäßig atmet.« Er blickte zu den Eunuchen auf. »Legt das letzte Lederband um ihre Stirn und schnallt den Kopf der ehrenwerten Prinzessin fest.«

Die beiden Sklaven machten keinen Hehl daraus, dass sie Freude an ihrer Aufgabe hatten. Shaya war wehrlos, aber sie konnte nicht aufhören zu kämpfen. Sie würde über sich ergehen lassen, was ihr Vater befohlen hatte, doch sie wollte, dass das Unvermeidliche wenigstens zu ihren Bedingungen geschah. »Ich verspreche Euch, dass ich stillhalte, Meister Shen Yi.« Sie wollte nicht jetzt schon ein willenloses Stück Fleisch sein. Sie wollte die Freiheit, Herrin ihrer selbst zu sein, bis zum letztmöglichen Augenblick auskosten.

»Mit Bedauern weise ich Euch darauf hin, dass Ihr mir gerade versprecht, was Menschen nicht möglich ist. Ich werde Euch nun helfen, Euch zu entspannen, hochgeschätzte Prinzessin.«

Etwas stach seitlich in ihren Hals. Ihre Muskeln erschlafften augenblicklich. Ihr Kopf sank zurück.

Der Heiler nahm eine der sehr langen Nadeln vom Seidentuch. Shaya stellte sich vor, wie das Silber an ihrem Auge vorbei bis tief in ihren Kopf drang. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Sie wollte das nicht sehen. Fühlte sich müde. Besiegt. Sie hatte keine Kraft mehr weiterzukämpfen. Und sie wollte nicht wissen, wie er es tat. Zum ersten Mal seit Langem ergab sie sich ihrer Angst und kniff die Augen zu, als Shen Yi sich über sie beugte.

Der Heiler legte ihr seine zarte Hand auf die Stirn. »Nur ein Stich noch, Prinzessin, und Ihr werdet nichts mehr spüren.«

Der Weg in den Krieg

Narek sah sich mit weiten Augen um. Er stand auf dem Hof des Palastes des Unsterblichen Aaron. Nie hätte er sich träumen lassen, einmal nach Akšu zu gelangen. Und wenn er ehrlich war, machte ihm der Grund, aus dem er hier war, Angst. Irgendwo hinter den hohen Mauern, die den Hof umgaben, brüllte ein Raubtier. Ein Löwe? Es hieß, hier im Palast gäbe es eine Löwengrube, und der Unsterbliche Aaron würde die Bestien mit Haremsdamen und Priestern füttern, die sein Missfallen erregt hatten. Narek sah sich unsicher um. War der Unsterbliche hier? Vielleicht auf der Terrasse vor dem riesigen Haus mit der Front aus roten Säulen? Es musste ungemütlich sein, in so einem Haus zu wohnen, wo die Decke so hoch war, dass man sie nicht einmal dann mit der Hand berühren konnte, wenn man sich auf einen Tisch stellte.

Narek dachte an sein einfaches Lehmhaus. Im Winter, wenn sie Läden vor die beiden kleinen Fenster gehängt hatten und ein Feuer aus Ziegendung glomm, war es wunderbar gemütlich. Er liebte es, mit seinem kleinen Sohn Daron in die Glut zu starren und ihm Geschichten zu erzählen. Er war kein guter Erzähler. Er kannte nur ein paar Märchen, die er früher von seiner Mutter gehört hatte. Und manchmal dachte er sich Geschichten über seinen Freund Artax aus, der nach Nangog gegangen war, als Daron noch an Rahels Brüsten gelegen hatte. Eines Tages würde Artax zurückkommen, und er würde ein reicher Mann sein. Man konnte drei Mal im Jahr auf Nangog ernten. Und wenn man in die Berge wanderte und keine Furcht vor den Geistern der Wildnis hatte, konnte man dort Gold in den Flüssen finden. Artax war immer ein Träumer gewesen, der sich ein Leben vorstellte, das anders war, als man es in einem Dorf wie Belbek führte. Er hatte sich sogar ein Weib erträumt. Irgendeine dürre Ziege, mit der er darüber stritt, wie man die Welt verbessern konnte. Er hatte sich sogar einen Namen für diese Frau, die es nicht gab, ausgedacht: Almitra. Narek schmunzelte. Ein bisschen verrückt war Artax schon gewesen. Aber ein guter, zuverlässiger Freund. Wenn er Daron von ihm erzählte, vertrieb Artax mit seiner Hacke grimmige Wölfe in den Wäldern von Nangog, oder er fand Goldklumpen, groß wie Taubeneier, musste sich aber gegen die Flussgeister wehren – Weiber mit wunderschönem, goldenem Haar, bezauberndem Lächeln, aber Herzen, die Mördergruben waren.

Wenn Daron in seinen Armen einschlief, tadelte Rahel ihn manchmal, dass er seinem Sohn so schaurige Geschichten erzählte. Aber sie war nie lange mürrisch. Sie hatte ein großes Herz. Sie war ganz anders als die Frau, die Artax sich erträumte. Ein wenig mollig, mit lockigem Haar und vollen Lippen. Narek seufzte. Ein halbes Jahr würde es wohl noch dauern, bis er wieder zu Hause in Belbek sein würde. Vielleicht war Artax sogar früher wieder zurück als er. Dann würden sie zusammensitzen und sich von ihren Abenteuern erzählen.

Narek ging zur Nordseite des Hofes. Dort hatten sich, im Schatten einer hohen Mauer, etliche der neuen Krieger niedergelassen. Palastdiener eilten mit Wasserschläuchen herbei. Narek spuckte den Kiesel, den er lutschte, wenn es nichts zu trinken gab, in seine offene Hand und ließ ihn in einen Beutel an seinem Gürtel fallen. Es war ein guter Kiesel. Fast rund. Ganz ohne Kanten.

Zwischen den Rastenden entdeckte er Ashot. Er war der einzige andere Krieger aus Belbek. Es war Pech, dass sich ausgerechnet Ashot bei den Werbern gemeldet hatte. Er war ein hagerer, mürrischer Kerl mit strähnigem, schwarzem Haar. Er schaffte es irgendwie, immer unrasiert zu sein. Und selbst Leute, die ihn noch gar nicht kannten, gingen ihm aus dem Weg. Er hatte etwas an sich, das Ärger verhieß. Dabei war er früher ganz anders gewesen. Es lag alles nur an den Schweinen. Ein paar Monde, nachdem Artax gegangen war, hatte Ashots Vater fast all sein Land verkauft und dafür Schweine ins Dorf geholt. Dutzende! Der Alte war überzeugt, dass Säue, Ferkel und Eber ihn reich machen würden. Dabei war er schon ein reicher Bauer gewesen! Ein Jahr lang sah alles ganz gut aus. Dann hatten sich die Viecher irgendeine Seuche gefangen. Binnen zehn Tagen verreckten sie alle. Und der Priester befahl, dass ihre Kadaver hinaus ins Ödland geschafft wurden. War ’ne verdammte Schande um all das schöne Fleisch gewesen.

Ashots Vater hatte die Sache nicht gut verkraftet. Eines Nachts hatte er sich an der Zeder am Dorfbrunnen erhängt. Kein halbes Jahr später war ihm sein Weib ins Grab gefolgt. Angeblich war sie an gebrochenem Herzen gestorben.

Vielleicht könnte er Ashot ja doch ein Lächeln auf die Lippen locken, dachte Narek. Er baute sich vor ihm auf und schlug sich mit der Faust auf die Brust, so wie Krieger es taten, wenn sie einander grüßten.

Ashot blickte missmutig auf. »Mach dich nicht lächerlich, Narek.«

Das war Ashot, wie er leibte und lebte. Ein verdammter Widerling! Er ließ sich neben ihm nieder und winkte einem Diener, auch ihm Wasser zu bringen. Der Kerl kam tatsächlich! Unglaublich! Als sei er ein Fürst.

»Habt ihr hier auch Honigkuchen?«

»Nicht für dich!« Der Diener hatte einen geölten Bart und eine blütenweiße Tunika. Er war von auffällig heller Haut. Wahrscheinlich musste er so gut wie nie die Mauern des Palastes verlassen. »Für euch gibt es nur Wasser aus dem Brunnen, aus dem wir sonst das Vieh tränken.«

Ashot schnappte schneller nach dem Kerl, als eine Schlange zustoßen konnte. Er hatte den Diener genau zwischen den Schenkeln gepackt. Dieser ließ den schweren Wasserkrug fallen und wollte zu einem Schlag ausholen, doch mitten in der Bewegung hielt er inne und stieß ein schrilles Quieken aus.

»Wir sind hier, um für Kerle wie dich auf einem Schlachtfeld am Arsch der Welt den Kopf hinzuhalten. Es ist mir egal, wenn ich Wasser aus einem Viehbrunnen trinke. Aber wenn so ein aufgeblasenes rosa Schweinchen daherkommt und glaubt, meinen Freund Narek wie Vieh behandeln zu müssen, werde ich empfindlich. Hast du das verstanden?« Ashot drückte noch einmal zu, und dem Diener traten Tränen in die Augen.

»Bitte aufhören. Bitte …«

»Mein Freund Narek würde jetzt gerne eine Entschuldigung hören. Etwas, wobei auch mir richtig das Herz aufgeht.«

Narek blickte zu dem Aufseher. Er sah zu ihnen herüber. Sicher würde er gleich kommen. »Das muss wirklich nicht sein …«

»Du hältst die Klappe, Narek. Hier redet jetzt nur unser kleines Schweinchen.«

»Ich bitte um Verzeihung … Ich …«

»Das musst du Narek sagen.« Zum ersten Mal seit Wochen spielte ein Lächeln um Ashots Lippen. Doch es reichte nicht bis zu seinen dunklen Augen. »Und noch etwas ehrerbietiger, wenn ich bitten darf.«

Der Diener keuchte. Dicke Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Narek war das Ganze fürchterlich peinlich. Er wünschte, er würde im Boden versinken.

»Ich bitte untertänigst um Verzeihung, dass ich mich Euch gegenüber im Ton vergriffen habe, ehrenwerter Narek. Und selbstverständlich werde ich Euch gerne einen Honigkuchen holen, um Euch damit zu erquicken.«

Die Männer ringsherum lachten und spotteten über den Diener.

Ashot ließ den armen Kerl los. Er japste, schnappte sich den Krug, der zu Boden gefallen war, und machte sich eilig davon.

»Das wird Ärger geben.«

»Ich glaube nicht, dass unsere Zeit hier für Ärger reicht«, entgegnete Ashot ruhig.

»Wie kommst du darauf?«

Sein Freund nickte in Richtung des Palastes mit den roten Säulen. »Der Löwe ist gekommen. Es geht weiter.«

Narek fuhr erschrocken herum. Ein silberner Löwe schritt die Treppen zum Palast hinab. Er war ganz und gar aus Metall erschaffen und doch lebendig. Groß wie ein Pferd kam er Narek vor, der unwillkürlich ein Stück zurückwich. Totenstille lag jetzt auf dem weiten Hof. Alle starrten den Löwen des Unsterblichen an. Jeder hatte schon Geschichten über ihn gehört.

»Ich wünschte, wir würden den ganzen Weg zu Fuß hinter uns bringen«, flüsterte Narek. »Ich gehe gerne zu Fuß.«

»Ich nicht«, entgegnete Ashot. »Mir haben die letzten Wochen gereicht. Meine Füße sind wund, und bis zur Ebene von Kush sind es noch mehr als tausend Meilen. Oder aber ein paar Schritt.«

»Wir würden so viele wunderbare Orte sehen …« Narek verstummte. Zwei Schlangen aus kaltem, blauem Licht wanden sich aus dem Sand inmitten des Hofes. Ihre Leiber bäumten sich auf und neigten sich einander zu, bis sie einen schillernden Lichtbogen bildeten. Und zwischen ihnen öffnete sich ein Tor aus Dunkelheit.

»Scheiße, da gehe ich nicht durch.«

»Du möchtest also lieber bei den freundlichen Palastdienern bleiben? Nach dem Auftritt von eben halten sie dir sicher einen Ehrenplatz in der Löwengrube frei.«

»Du warst es doch! Ich hab gar nichts …«, begehrte Narek auf.

»Stimmt, wie konnte ich das vergessen. Diese Speichellecker sind berühmt für ihren Gerechtigkeitssinn. Sie werden dir sicher nichts antun.« Ashot erhob sich.

Ihre Scharführer riefen Befehle und ordneten die Männer in eine lange Reihe. Aleksan, der Werber, der in ihr Dorf gekommen war, trat ihnen entgegen. Er war ein bulliger Kerl mit einem Rotstich in seinem dunklen Bart und unfreundlichen Schweinsäuglein. »Los, ihr Hasenherzen! Ich bin schon ein Dutzend Mal durch dieses Tor gegangen. Bleibt auf dem Weg, und euch wird nichts geschehen. Aber wenn ihr hierbleibt …« Er hob seinen knotigen, armlangen Stock. »Wer glaubt hierbleiben zu müssen, wird mit meinem Knüppel tanzen.«

»Ich kann da nicht durchgehen.« Narek schlotterten die Knie. »Ich geh nicht in die Finsternis.«

Ashot packte ihn bei der Hand und zerrte ihn hoch. »Du wirst jetzt nicht kneifen, Mann! Was soll denn Daron von dir halten, wenn er hört, dass du Angst im Dunkeln hast?«

Narek schluckte. »Davon haben die Werber nichts gesagt. Ich habe mich gemeldet, um die Luwier zu vertreiben, die zusammen mit den Ischkuzaia in unser Königreich einfallen wollen, um unsere Frauen zu schänden und unsere Kinder in die Sklaverei zu treiben. Ich bin nicht hier, um über den Abgrund zwischen den Welten zu schreiten.«

»Diese Ammenmärchen hast du wirklich geglaubt? Du meinst, wir verteidigen die Freiheit unseres Dorfes in Kush? Hast du allen Ernstes gedacht, irgendwelche Plünderer würden bis nach Belbek kommen?« Ashot zog ihn mit sich. »Ich seh schon, ich muss dein Kindermädchen spielen.«

»Du meinst, die Werber, die im Auftrag des Unsterblichen durch das Land gezogen sind, haben uns angelogen?« Das konnte nicht sein! Narek konnte sich nicht vorstellen, dass jemand, der im Namen des Unsterblichen Aaron sprach, es wagen würde, Lügen zu erzählen.

»Was glaubst du, warum niemand mitgekommen ist?«, fragte Ashot. »Du bist der Einzige, der ihnen auf den Leim gegangen ist. Tut mir leid.«

»Aber du bist doch auch hier.«

»Ich bin hier, weil mir Belbek nichts mehr zu bieten hatte. Mein Leben ist vorüber. Für mich gibt es nichts mehr. Aber ich werde es nicht so machen wie mein Vater … Mir muss schon ein Luwier den Rest geben.«

»Du willst sterben?«

»Das ist wohl die einzig vernünftige Konsequenz, wenn einem das Leben nichts mehr zu bieten hat.«

»Aber ich bin doch dein Freund. Ich werde dir helfen. Warum sagst du denn nichts zu mir? Freunde sind dazu da, dass man mit ihnen seine Sorgen teilt. Ich werde dich in der Schlacht beschützen.« Narek hörte Ashot scharf einatmen, aber dann sagte sein Gefährte doch nichts.

Sie waren nur noch wenige Schritt von dem unheimlichen Tor entfernt. Die Männer, die hindurchtraten, verschwanden einfach. Narek sah keine Schattenrisse von ihnen. Nichts. Obwohl er deutlich einen goldenen Pfad erkennen konnte, der durch die Finsternis führte.

»Weicht nicht vom Pfad ab«, ermahnte ein in Rot und Gold gewandeter Priester jeden, der durch das Tor trat.

»Denk an die Geschichte, die du Daron erzählen kannst«, sagte Ashot plötzlich und drückte seine Hand. Dann waren sie an der Reihe.

Narek spürte sein Herz wie rasend schlagen. Ashot zog ihn hinter sich her in die Dunkelheit. Narek blickte hinab auf seine Füße. Da war kein fester Boden mehr. Nur dieses goldene Leuchten, in das er ein wenig einsank, als ginge er über schlammigen Grund. Doch nichts haftete an den Sohlen seiner Sandalen. Er staunte. Das eigenartige Licht hatte etwas an sich, das ihn Hoffnung schöpfen ließ. Vielleicht würde der Abgrund zwischen den Welten ihn ja doch nicht verschlingen.

Sie traten in helles Licht. Jetzt war staubiger Boden unter ihren Füßen. Ringsherum kauerten Männer, wühlten mit ihren Händen im Sand und dankten lauthals den Göttern. Auch Narek sank auf die Knie. Er küsste den Sand. Als er aufsah, traf ihn Ashots spöttisches Lächeln. »Kennst du keine Dankbarkeit mehr?«

»Warum sollte ich mich bedanken, etwas behalten zu haben, auf dessen Besitz ich keinen Wert mehr lege?«

»Niemandem ist es gleichgültig, ob er lebt oder tot ist. Du kannst mir nichts vormachen.«

Ashot blieb ihm eine Antwort darauf schuldig.

»Auf die Beine mit euch«, rief Aleksan und unterstrich seine Worte mit drohend erhobenem Knüppel. »Wir müssen noch über den Fluss. Wenn wir das Heerlager erreicht haben, könnt ihr den Sand küssen oder mit ihm treiben, was euch sonst noch in den Sinn kommt. Aber jetzt werdet ihr laufen.«

Die Männer formierten sich zu einer Kolonne. Narek sah sich um. Was für eine trostlose Gegend. In seiner Vorstellung war Kush immer ein grünes Tal gewesen, umstanden von schneegekrönten Gipfeln. Ein paar Meilen nördlich erhob sich tatsächlich ein Wall rotbrauner Berge. Reihe auf Reihe stiegen sie immer weiter dem Himmel entgegen, wie eine Treppe, die für Riesen erschaffen worden war. Er hätte so gerne einmal Schnee gesehen! Und sei es nur von ferne.

Sie passierten eine flache Hügelkette und stiegen in ein ausgetrocknetes Flussbett hinab. Jeder ihrer Schritte wirbelte roten Staub auf. Er ließ die Zunge verdorren und brannte in den Augen. Narek holte den Kiesel aus seinem Beutel und schob ihn in den Mund. Ein wenig Speichel sammelte sich unter seiner Zunge und machte die Dürre erträglicher.

Jenseits des Flussbetts erstreckte sich eine endlose Ebene, über die sich vereinzelt flache Hügel erhoben. Nicht weit entfernt entdeckte Narek ein paar Bäume. Dort standen auch Zelte. Er hörte ein Maultier schreien. Auf einem Hügel, etwa eine Meile entfernt, loderte eine Flamme empor. Eine einzelne Gestalt stand bei dem Feuer. Sonnenlicht brach sich funkelnd auf seinem goldenen Helm. Das musste der Unsterbliche Aaron sein, dachte Narek. Er war gekommen, um sie zu grüßen. Stolz erfüllte den Bauern aus Belbek. Er würde seinem Herrscher gut dienen, und in weniger als einem halben Jahr, wenn das alles hier vorüber war, würde er Daron eine wunderbare Geschichte erzählen. Eine Geschichte über sich, Narek. Und nicht über Artax, der nach Nangog gegangen war, oder ein Märchen von seiner Mutter. Jetzt war es an ihm, ein großes Abenteuer zu erleben!

Von der Gnade, ein Unsterblicher zu sein

Artax beobachtete die Kolonne der neuen Rekruten, die durch das staubige Flussbett zum Lager hinaufmarschierte. Mehr Fleisch für den Altar der Götter, dachte er bitter und blickte auf die Flamme, die er auf dem schlichten Altarstein vor sich entzündet hatte. Mochten die Götter das Leben dieser Männer beschützen, dachte er traurig. Er konnte es nicht. Die Ereignisse hatten ihn überrollt.

Was zählen ein paar Bauern? Sie wachsen nach wie Korn auf den Ähren. Sie sind ohne Bedeutung, meldete sich die Stimme Aarons in ihm.

»Auch ich bin Bauer.«

Dann weißt du ja jetzt, wie viel du in dieser Welt bedeutest, hallte es in seinen Gedanken.

Die Flamme auf dem Altar schoss empor, als habe er Öl ins Feuer geschüttet. Erschrocken wich Artax zurück. Eine Gestalt erschien inmitten der Flammen. Ein großer, löwenhäuptiger Krieger. Leichtfüßig sprang er vom Altar. Er war nackt. Seine Muskeln schimmerten im Sonnenlicht, als seien sie soeben erst gesalbt worden. Wohlgeruch ging von dem Devanthar aus, als sei er geradewegs aus einem Garten mit blühenden Rosen gekommen.

Artax unterdrückte den Impuls, sich zu Boden zu werfen. Er war der Einzige in seinem Königreich, dem es zustand, vor dem Gott aufrecht zu stehen. Unter allen Sterblichen hatte der Löwenhäuptige ihn, einen Bauern, der in Nangog sein Glück gesucht hatte, auserwählt. Artax wusste, welch günstiges Schicksal dies gewesen war, und ihm war auch bewusst, dass der Devanthar ihn ersetzen würde, sollte er dessen Missfallen erregen. Früher hatte er oft seinen Träumen nachgehangen. Nun konnte er Träume Wirklichkeit werden lassen. Er, ein Bauer aus Belbek, hatte die Liebe einer Prinzessin gewonnen.

Nur dass sie nicht weiß, dass du ein Bauer warst.

Artax ignorierte die Stimme. Er konnte die ganze Welt verändern, wenn er nur entschlossen genug dafür kämpfte.

»Du hast mich gerufen, Aaron, Herrscher aller Schwarzköpfe. Du zweifelst an mir?«

»Ich brauche göttlichen Beistand.« Er blickte in die bernsteinfarbenen Augen des Devanthar. Die geschlitzten Pupillen des Löwenhäuptigen verengten sich zu schmalen Strichen. »Sprich.«

»Ich möchte das unsinnige Blutvergießen verhindern. Diese Schlacht wird Tausende das Leben kosten.«

»Gib die Provinz Garagum auf. Erkläre Muwatta zum Sieger in eurem Streit, und kein Blut wird vergossen werden. Dein Stolz wird leiden. Dein Traum, vor den Devanthar im Gelben Turm zu sprechen, wird zu Asche zerfallen. Aber du wirst deine Bauern vor den Eisenschwertern der Luwier gerettet haben. Allerdings hast du mich dann mit deinem wenig königlichen Verhalten vor meinen Brüdern und Schwestern zum Gespött gemacht. Auch das hat einen Preis.«

Du wirst doch jetzt nicht deine hehren Prinzipien aufgeben, mein Freund. Was ist schon ein Leben gegen das Leben Tausender, spottete Aarons Stimme.

»Muwatta ist ein schlechter Herrscher. Warum zieht ihr ihn nicht zur Verantwortung?«

»Weil sich Išta, meine geflügelte Schwester, von ihm gut unterhalten fühlt.«

»Ist das alles, wozu ihr uns Menschen erschaffen habt? Zu eurer Unterhaltung?«

Der Löwenhäuptige gab einen leisen Kehllaut von sich. »Du glaubst gar nicht, wie langweilig die Ewigkeit sein kann. Sind damit all deine Fragen beantwortet? Wie du siehst, bedarf es zur Lösung deiner Probleme keines Gottes. Dein Schicksal und das deines Reiches liegen allein in deiner Hand, Artax.«

»Aber die Daimonenkinder kommen nach Nangog!« Artax deutete auf das ferne Feldlager jenseits des trockenen Flusses. »Nicht Muwatta ist die Sorge dieser Welt. Du weißt, wie übermächtig die Daimonenkinder sind. Wir müssen uns ihnen vereint entgegenstellen, sonst werden sie uns Nangog entreißen. Und ohne Nangog wird es in allen sieben Königreichen schreckliche Hungersnöte geben.«

»Was weißt du schon über Zapote oder das Königreich der Schwimmenden Inseln! Du glaubst, du kennst die Welt, Artax? Du? Ein Bauer!«

»Wenn ich eine Ratte beim Vorratsspeicher sehe, dann weiß ich, dass es dort noch mindestens zehn andere gibt, die meinen Blicken verborgen geblieben sind. Und wenn ich nichts unternehme, werden die Ratten einen üppigen Winter haben und ich einen Frühling des Hungers. Wir müssen gegen die Daimonenkinder vorgehen. Alle gemeinsam. Und wir müssen es früh und entschlossen tun.«

Der Devanthar bleckte die Fangzähne zur Karikatur eines Lachens. »Glaubst du wirklich, mit solchen Bauernweisheiten beeindruckst du meine Brüder und Schwestern? Sieh dorthin, zu deinem Feldlager. Sieh, wie deine Untertanen voller Verzückung und Angst im Staub liegen. Was glaubst du, warum ich durch die Flammen getreten bin? Um sie zu beeindrucken. Und um dein Ansehen zu stärken. Du sprichst mit einem lebenden Gott und wimmerst nicht vor einem lächerlichen Altarbild. Keiner von denen dort unten wird bis ans Ende seiner Tage vergessen, was er gerade gesehen hat. Du willst die Aufmerksamkeit der Devanthar, Artax? Leiste dir einen Auftritt, der meine Brüder und Schwestern beeindruckt, und ich werde dich in den Gelben Turm bringen. Fege das Heer Muwattas von dieser Ebene. Nur wenn du hier Größe zeigst, werden dir auch die anderen Unsterblichen folgen. Siegt Muwatta, wird er endgültig zum Mächtigsten unter euch.«

Artax schüttelte den Kopf. »Was du verlangst, ist unmöglich. Ich kann lediglich fünftausend ausgebildete Krieger aufbieten. Die Übrigen sind Bauern und Handwerker, die noch nie auf einem Schlachtfeld gestanden haben. Muwatta hingegen hat mindestens zwanzigtausend erprobte Kämpfer. Und seine Männer haben Eisenklingen. Dort unten wird es keine Schlacht geben. Was dort stattfinden wird, ist ein Massaker!«

»Die Devanthar haben sich noch nie versammelt, weil ein Mensch es wünschte. Du wünschst das Unmögliche von mir, und ich werde deinen Wunsch erfüllen, wenn du vollbringst, was meine Brüder und Schwestern für unmöglich halten. Götter werden dir zusehen, Artax, wenn du dein Heer in die Schlacht führst. Siege, und du wirst erreichen, was noch keinem Menschen vor dir vergönnt war. Verweigere die Schlacht, und du verwirkst die Gnade, ein Unsterblicher zu sein.«

Artax blickte zum Feldlager. Es war zu weit entfernt, als dass er hätte sagen können, ob seine Untertanen sich vor dem Gott in den Staub geworfen hatten. War das ihr Schicksal, im Staub zu liegen? Was zählte ihr Leben gegen die Zehntausenden, die sterben würden, wenn Nangog an die Daimonenkinder verloren ging?

Wollten die Daimonenkinder überhaupt Nangog an sich reißen? Doch warum sonst wäre er ihnen dort zwei Mal begegnet? Was hatten sie in der Kristallhöhle zu suchen gehabt? Aaron hatten sie getötet und ihn beinahe. Er dachte an das Gemetzel, das sie unter seinen und Shayas Männern angerichtet hatten. Es war mit ihnen wie mit den Ratten. Bestimmt waren noch mehr von ihnen auf Nangog, und wenn eines gewiss war, dann dass ihnen nicht das Wohlergehen der Menschen am Herzen lag.

»Ich werde kämpfen«, sagte Artax leise, aber bestimmt.

Der Löwenhäuptige schenkte ihm sein schreckliches Lächeln, sprang auf den Altar, hob die Arme gen Himmel und verging in einer Flamme.

Wie selbstlos! Wir sind zutiefst gerührt, Artax.

Schweig! Du hast nie eine solche Entscheidung getroffen. Was wiegt das Leben einiger Tausend gegen das Schicksal einer Welt? Selbst in Gedanken klang seine Stimme fremd in seinen Ohren. Schrill vor Verzweiflung. Du kennst mich nicht, Aaron!

Wir sind mehr als ein Dutzend Leben, Artax. Wie viel Niedertracht oder Größe mag es geben, die wir nicht selbst durchlebt haben? Wir alle waren verschieden. Das ist es, was den Devanthar an uns reizt. Er will beobachten, wie die Last der Herrschaft unser Herz und unseren Charakter verändert. Eisen gewinnt seine Härte unter dem Hammer des Schmiedes, habe ich mir sagen lassen. So ist es auch mit unseren Herzen. Tag um Tag, Stunde um Stunde ist das Herz des Herrschers den Hieben des Schicksals ausgeliefert. Mehr, als ein Bauer es sich je vorstellen könnte, Artax. Auch du weißt nun darum. Und du weißt auch, dass du längst begonnen hast, dich zu verändern.

»Keiner von euch war je wie ich! Ich habe eine Vision von einer Welt, die ein besserer Ort für die einfachen Menschen sein wird. Und von meinem Teil, den ich dazu beitragen kann. Ich wurde nicht in Seidenwindeln geboren. Ich weiß, was es heißt zu hungern. Ich werde die Welt davor bewahren – und vor der Willkür von Herrschern wie dir und Muwatta!«

Nach einer kurzen Pause flüsterte Aaron süffisant: Bist du dir ganz sicher, dass es darum geht? Oder versteckst du dich hinter großen Worten und hast dich in Wahrheit nur für ein einziges Leben entschieden? Deines!

Am Ende der Welt

Barnaba lehnte an einem hausgroßen Felsblock und blickte keuchend in das weite Tal hinauf. Jetzt war ihm klar, warum niemand hierherkam. Die Monde der Wanderschaft hatten ihn abgehärtet, aber der Aufstieg in dieses Tal hatte ihn an die Grenzen seiner Kraft gebracht. Da gibt es nichts außer dem Regenbogen und Einsamkeit, hatten die Ziegenhirten erzählt, die zu den Bergweiden weiter südlich von hier gezogen waren. Dabei hatten sie verstohlene Blicke getauscht, als gäbe es etwas, das sie verschwiegen. Es waren diese Worte und Blicke, die Barnaba verführt hatten, schon als er sie das erste Mal hörte. Ein Tal der Einsamkeit mit einem Regenbogen … Er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.

Von ferne hörte er das Rauschen eines Wasserfalls, sehen konnte er ihn aber noch nicht. Er brauchte Einsamkeit, um eine Entscheidung zu treffen. Dazu musste seine Seele Frieden finden. Seit dem Massaker an den Priestern Arams träumte er davon, seine Brüder zu rächen. Er stellte sich vor, wie er in den Palast des Unsterblichen Aaron schlich und dessen Unverwundbarkeit mit einem langen Dolch auf die Probe stellte.

Auf seinem Weg hierher hatte er die langen Kolonnen marschierender Krieger gesehen. Es würde eine Schlacht auf der Hochebene Kush geben. Einen Kampf, wie ihn die beiden Provinzen Garagum noch nicht gesehen hatten. Hunderttausend Männer sollten aufeinandertreffen. Bis in die einsamsten Dörfer hatte es sich herumgesprochen, und an jedem Ort, den Barnaba in den letzten Monden durchquert hatte, wurden Vorräte beschlagnahmt. Das ohnehin schon karge Bergland wurde geplündert, um die Todgeweihten zu füttern. Und all dies hatte mit dem Irrsinn begonnen, einem Daimonenkind unbedingt ein Himmelsgrab schenken zu wollen.

Tränen der Wut stiegen dem ausgemergelten Priester in die Augen, wenn er daran dachte. An die Willkür des Tyrannen Aaron. Ein Leben zählte nichts für den Unsterblichen. Tausend Leben waren ein Furz. Wie viel Blut musste fließen, bis Aaron begann, über seine Untaten ins Grübeln zu geraten?

Wenn er nur an Aaron herankäme! Juba, der Bluthund des Unsterblichen, war fast immer in dessen Nähe. Und Juba war es auch gewesen, der das Massaker an den Priestern befehligt hatte. Er war Aarons Feldherr, der Befehlshaber seiner Leibwache, sein Vertrauter. Er wachte über jeden, der in die Nähe des Herrschers wollte. Wie käme er an Juba und den Leibwachen vorbei? Darüber zermarterte er sich seit Monden den Kopf. Gewiss nicht als Priester, darüber war sich Barnaba im Klaren. Die Priesterschaft hatte jegliches Vertrauen des Herrschers verloren. Noch so ein Irrsinn! Wie konnte Aaron glauben, ein Volk lenken zu können, ohne ihm geistlichen Trost zu gewähren! Aaron war verrückt! Das war die eine Antwort, die all seinen Taten Sinn einhauchte. Aram wurde von einem Wahnsinnigen beherrscht. Aber warum ließen die Devanthar ihn gewähren?

Barnaba stieß einen tiefen Seufzer aus. Was taten die Götter? Und was trieb ihn, sich anzumaßen, sich als Richter und Henker in ihre Spiele einzubringen? Er war nur ein Priester. Und ganz offenbar kein besonders guter, wenn er über einen Mord nachdachte.

Er stieß sich von dem großen Felsblock ab. Seine Beine schmerzten. Seine Kehle brannte. Das Geräusch des fallenden Wassers machte seinen Durst noch schlimmer.

Es gab keinen Pfad in diesem Tal. Nicht einmal einen Wildwechsel hatte er bislang entdecken können. Der Boden war mit losem Geröll bedeckt, zwischen dem kümmerliche Grasbüschel gediehen. Es gab kaum noch Grün in dieser Höhe. Keinen einzigen Baum. Nur vom Wind geduckte Büsche.

Es war mühsam, sich einen Weg über das Geröll zu erkämpfen. Er hatte kaum einen Blick für die seltsamen Felswände. Breite, blaugraue Bänder liefen durch das rötliche Gestein. Manchmal auch ein schmaler, weißer Streifen. Einige der Steilwände waren so glatt, als sei das Gestein mit einem riesigen Messer durchtrennt worden.

Sein Atem ging keuchend. Schweiß rann ihm in die Augen. Endlich erreichte er eine Stelle, an der das Tal einen scharfen Rechtsknick machte. Er umrundete einen in den Himmel ragenden Felsturm, und der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihm das Herz aufgehen. Keine hundert Schritt entfernt stürzte ein Wasserfall ins Tal. Er war kaum zwei Armlängen breit, aber das Wasser schien direkt aus dem Himmel zu kommen. Barnaba musste den Kopf weit in den Nacken legen, um die Felskante zu sehen, über die sich der weiße Wasserschleier ins Tal hinabstürzte. Eine Brise zerrte an dem Gazeschleier aus feinem Dunst, der das hinabschießende Wasser umspielte. Und inmitten des Dunstes erblühte ein Regenbogen.

Barnaba mochte sich gar nicht sattsehen an dem Schauspiel. Sein Durst war vergessen. Diesen Ort hatten die Götter erschaffen, um einen Mann allen Weltschmerz vergessen zu lassen. Hier würde er endlich seinen Frieden finden!

Als er den Blick schließlich senkte, schmerzte sein Nacken, so lange hatte er zum Regenbogen hinaufgeblickt. Der Wasserfall ergoss sich in einen kleinen See, um den eine Gruppe Bäume voller weißer Blüten stand. Eine einzelne, wilde Rose klammerte sich an die Felswand.

Barnaba sah sich skeptisch um. Es gab keine Anzeichen, dass jemals Menschen hier gewesen waren und versucht hätten, der Wildnis ihren Stempel aufzuprägen. Abgesehen von den blühenden Bäumen und der Rose. Eigentlich lag das Tal zu hoch, als dass hier Bäume hätten gedeihen dürfen.

Er ging zum Teich, ließ seinen schweren Wanderstab fallen und kniete nieder. Bevor er trank, betete er und dankte dem Löwenhäuptigen und den Göttern für die Gnade, ihn an diesen abgeschiedenen Ort geführt zu haben. Dann tauchte er sein Gesicht ins Wasser. Es war so kalt, dass er erschrocken zurückzuckte. Wahrscheinlich kam das Wasser geradewegs von dem Gletscher, der sich wie ein langer, weißer Bart vom Haupt des Berges, der das Tal überragte, gen Süden streckte. Irgendwo hinter diesem Berg lag der Gelbe Turm, der Sitz der Götter.

Barnaba schöpfte mit der flachen Hand Wasser aus dem Teich. Er trank nur wenig. Er wusste, dass das kalte Wasser seinem Körper schaden würde, so erhitzt, wie er nach dem langen Anstieg war.

Ein Stück abseits des Teiches entdeckte er Ziegenkötel. Er hob einige auf und zerrieb sie prüfend zwischen den Fingern. Die meisten waren gut durchgetrocknet, aber nach einigem Suchen fand er auch frischen Kot. Das war gut! Damit war für sein Feuer gesorgt. Büsche gab es hier zu wenige, um mit ihrem dürren Astwerk über den Winter zu kommen. Aber die Ziegenkötel würden eine gute Glut geben.

Barnaba sah sich weiter um. Über das Tal hatte er nur Gerüchte gehört, nichts Konkretes. Natürlich sollte es hier auch spuken. Der Priester lächelte und dachte an seinen Lehrmeister Abir Ataš, den Hohepriester, den Aarons Schergen im Kerker ermordet hatten. Sein Meister hatte ihm gerne erzählt, dass es eine seiner Aufgaben gewesen war, sein Leben lang den Geschichten über Geister und Daimonen nachzuspüren. Zwei Mal war Abir Ataš einer Elfe begegnet. Andere Geister hatte er niemals gefunden. Die Spukgeschichten würden dafür sorgen, dass er hier seine Ruhe hatte, dachte Barnaba. Wichtig war, dass er einen geschützten Platz fand. Eine Höhle, eine tiefe Felsspalte, einen Ort, der ein wenig Wärme hielt und an dem er den Winterstürmen trotzen konnte. Wenn er den fand, dann war dies hier sein Tal.

Er ließ den Blick über die Felswände wandern, streifte umher, beobachtete, wie der wechselnde Stand der Sonne Schatten durch das Tal wandern ließ. Manchmal hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Einige Male drehte er sich abrupt um. Doch da war nichts. Barnaba schob dieses irrige Gefühl darauf, dass er sich an die Einsamkeit erst noch gewöhnen musste. Er war dafür nicht geschaffen. Bis die Priestermorde ihn zur Flucht gezwungen hatten, war er ein geselliger Mensch gewesen. Er hatte damals keine Wahl gehabt. Und Abir Ataš hatte richtig entschieden! Sie hatten nicht zulassen können, dass ein Daimonenkind so ehrenvoll wie ein Held der Menschenvölker bestattet wurde. Es hatte ein Zeichen gegen die Willkür Aarons gesetzt werden müssen. Es war kein Fehler gewesen, dass sie den Flugrahmen vor der Totenfeier beschwert hatten, sodass er mit der Daimonenleiche in den Abgrund stürzte, statt in den Aufwinden über dem Weltenmund zu segeln. Wie hätte er damals ahnen können, dass Aaron dafür Rache an Hunderten Priestern nehmen würde!

Barnaba sah sich zweifelnd in dem engen Tal um. Würde er die Einsamkeit ertragen? Wahrscheinlich wünschte er sich tief im Herzen, nicht allein zu sein. Das war der Acker, auf dem der Irrglaube gedieh, beobachtet zu werden. Vielleicht gab es auch irgendwo in den Klippen einen Ziegenbock, der ärgerlich auf den Eindringling in sein Revier hinabblickte. Der Priester lächelte. Er würde lernen, mit diesem Gefühl umzugehen.

Endlich fand er am Fuß einer Klippe einen breiten Spalt, den ein Felsklotz gegen den Nordwind abschirmte. Barnaba zwängte sich hindurch und stieß einen unvermittelten Freudenschrei aus, als sich der Spalt in eine Höhle weitete. Sie war nicht allzu groß. An den meisten Stellen müsste er geduckt gehen. Wie tief sie war, konnte er im Zwielicht nicht abschätzen. Sie verlor sich im Dunkeln.

»Hier kommen wir über den Winter!« Er schmunzelte, als er sich bewusst wurde, dass er schon wieder Wir gesagt hatte. Das war eine Marotte, die er sich auf seinen langen, einsamen Wanderungen angewöhnt hatte. Er sprach mit sich selbst und dabei verwendete er stets ein Wir. Auch dies half ihm, sich weniger einsam zu fühlen. Ihm war bewusst, dass er langsam absonderlich wurde. Aber Heiligen Männern stand es gut, etwas absonderlich zu sein.

Wenn er anerkannt absonderlich wäre, hätte er es auch leichter mit den halb wilden Nomaden in den Bergen. Er brauchte sie, um hier leben zu können. Die paar Wurzeln hier im Tal würden ihn nicht lange nähren, und er hatte keine Ahnung, ob die Bäume am Teich essbare Früchte tragen würden. Er würde alle zwei oder drei Wochen in die tiefer gelegenen Täler wandern müssen, um Gebete gegen Hirse, Bohnen, Reis und harten Käse einzutauschen. Ein Priester, der zur Geflügelten Sonne betete, zählte hier nichts, das hatte er schon gelernt. Aber ein absonderlicher, wilder Mann, der mit den Göttern sprach … Barnaba lächelte versonnen. »Wir schaffen das!«

Zu seiner Überraschung fand er eine Feuerstelle in der Höhle. Aber selbst im spärlichen Licht war zu erkennen, dass sie seit vielen Jahren nicht benutzt worden war. Beruhigt machte er sich auf die Suche nach ein paar trockenen Grasbüscheln und Ziegendung.

Bis zur Dämmerung hatte er sich in der Höhle eingerichtet. Neben dem Feuer lag ein beachtlicher Haufen trockenen Reisigs. Zwei Stunden hatte er gebraucht, um ihn zusammenzutragen. Und er hatte das halbe Tal dafür geplündert. Aber er war neugierig. Er wollte sehen, wo er hier war. Eine Fackel konnte er ohne Lumpen und Lampenöl oder einen harzbedeckten Ast nicht herstellen. Er konnte nur sein Feuer hell auflodern lassen. Ein paar Augenblicke lang.

Barnaba hatte etwas warmen Hirsebrei gegessen und sich eine Handvoll des streng rationierten Ziegenkäses gegönnt. Seit fast einem halben Jahr hatte er kein Fleisch mehr gegessen, weil er gehört hatte, dass sich dann der Geist öffnete. Er wollte den Göttern nahe sein. Wollte verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhielt. Warum ein Mann wie Aaron herrschen durfte.

Heulender Wind fing sich im Höhleneingang. Barnaba streckte seine Glieder. Er fühlte sich wohl. »Nun werden wir unserer Neugier huldigen.«

Er nahm das Reisig, warf es in die Glut aus Ziegendung und richtete sich auf.

Zwei Herzschläge nur, und die Flammen schlugen fast hüfthoch. Die Höhle war lang und schmal. Ein wenig gekrümmt. Wie ein Horn verjüngte sie sich nach hinten. Ganz am Ende klaffte ein dunkler Spalt. Die Decke war mit Zeichnungen von Wildziegen und seltsam zotteligen Kühen bedeckt, wie Barnaba sie noch nie gesehen hatte. Dazwischen tauchten als einfache Strichzeichnungen Menschen auf. Wie alt diese Bilder wohl waren? Der Künstler hatte nur drei Farben besessen, wie es schien – Weiß, Schwarz und ein Rotbraun. Für diese beschränkten Mittel waren die Bilder erstaunlich lebendig und ausdrucksstark geraten.

Barnaba warf den letzten Rest Reisig ins Feuer. Einem der Menschen sprossen gegabelte Hörner aus dem Kopf. Er trug einen Speer, wie es schien, und sein ausgestreckter Arm wies auf das Ende der Höhle, auf den dunklen Spalt.

Schon sanken die Flammen erneut in sich zusammen. Barnaba entdeckte einen kaum fingerdicken Ast, um den kleine Flammenzungen spielten. Er zog ihn aus dem Feuer und eilte zum Ende der Höhle. Schon drohte das unstete Licht zu vergehen.

Der Priester warf sich auf die Knie, zwängte sich in den Spalt und hielt den Ast vorgestreckt. Der Spalt setzte sich in die Tiefe des Berges fort. Barnaba hob die Fackel ein wenig höher und fuhr erschrocken zurück. Von oberhalb des Einstiegs starrten ihn zwei riesige Augen an!

Die winzigen Flammen zogen sich in die rote Glut zurück. Mit klopfendem Herzen starrte Barnaba auf den Felsspalt. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und kroch noch einmal zurück. »Hallo?«

Seine Stimme brach sich in der Felsspalte. Er erhielt keine Antwort.

Auch sein kümmerliches Lagerfeuer war zu dunkler Glut geworden und spendete kaum noch Licht.

»Ist da jemand?«, rief er.

Wieder antwortete nur ein Echo.

Bevor die Glut des Astes vollends verlosch, streckte Barnaba noch einmal seinen Arm in die Spalte und blickte zu den Augen hinauf. Sie waren nur gemalt. Er stieß einen langen Seufzer aus. Die Iris der Augen war von hellem, eindringlichem Grün. Wer immer das gezeichnet hatte, schien sich große Mühe gegeben zu haben, diese Farbe genau zu treffen. Barnaba hatte dieses Grün bei keiner der anderen Zeichnungen bemerkt.

»Was sind wir doch für ein Hasenfuß«, murmelte er halblaut. Was die Augen wohl bedeuteten? Er blickte zur Decke, wo er die Strichfiguren, die mit verkohlten Ästen gezeichnet worden waren, mehr erahnen als sehen konnte. »Wer wart ihr? Und wohin seid ihr gegangen? Hat euch etwas vertrieben?«

Barnaba dachte an das Gefühl, beobachtet worden zu sein. Dann lachte er laut auf. Selbst wenn es hier einmal irgendein Geschöpf gegeben hatte, das die ersten Bewohner dieser Höhle geängstigt hatte, musste es doch schon seit Jahrhunderten tot sein. Die Zeichnungen waren uralt!

»Das Einzige, was hier erschreckend ist, ist unsere blühende Fantasie«, sagte Barnaba mit sehr lauter Stimme. Fast hätten ihn seine Worte überzeugt.

Pferdehandel

Als Shaya die Augen aufschlug, blickte sie in das Antlitz ihres Vaters. Er wirkte besorgt! Zum ersten Mal seit so vielen Jahren. Tat sie ihm leid? Oder war sie schon einfältig geworden? Ihr Verstand aufgespießt … Sie blinzelte. Ihre Augen schmerzten nicht. Bedeutete dies, dass nichts geschehen war? Oder dass der Heiler besonders gut sein Handwerk verstand?

»Ist es geglückt, Miau?«

»Ich übe meine Kunst seit vielen Jahren aus, allweiser Madyas. Deshalb wurde ich auserwählt, um hier behilflich zu sein.«

»Belehre mich nicht!«, zischte der Unsterbliche. »Ist es geglückt, oder muss ich fürchten, dass sie Shaya vierteilen?«

Der Heiler senkte demütig das Haupt. »Es lag nicht in meiner Absicht, mich dem Unsterblichen Madyas gegenüber schulmeisterlich zu verhalten. Ich bitte demütig um Verzeihung, sollte meine Wortwahl den Eindruck erweckt haben, dass …«

»Scheiß auf Verzeihung!«, polterte ihr Vater los. »Ich will wissen, ob es der Mistkerl merkt, wenn er seinen Schwanz in sie steckt. Dann verlangt er nämlich die Gäule zurück. Und antworte gefälligst klar und ohne dein übliches hochnäsiges Getue, Miau! Glaube nicht, ich sei dumm und würde den Spott hinter deinen Worten nicht bemerken.«

Shaya schloss die Augen. Wie hatte sie so dumm sein können zu glauben, dass sich etwas geändert hatte. Es ging um Pferde und nicht um sie.

Noch immer lag sie mit Ledergurten festgeschnallt auf dem Tisch. Die Beine gespreizt. Sie kämpfte gegen ihre Verbitterung an … Und gegen die Tränen. Und … Sie musste wissen, was der Heiler ihr angetan hatte. Sie war eine Kämpferin. Sie durfte sich nicht in ihr Selbstmitleid ergeben. Wie es schien, hatte Shen Yi ihr keine Nadel in ihr Hirn gestoßen. Sie sollte ihren Verstand nutzen!

»Kein Mann, der die Pforte zum geheimen Garten der Prinzessin bestürmt, wird bemerken, dass dieses Tor sich bereits einmal geöffnet hatte.«

Was? Was hatte der Heiler mit ihr angestellt?

»Es ist nicht irgendein Mann. Es ist ein Unsterblicher, der diese … Pforte bestürmen wird«, sagte ihr Vater ein wenig ruhiger.

Shaya traute ihren Ohren nicht. Sie schlug die Augen auf. Ihr Herz machte einen Sprung. Hatte Aaron es geschafft? Hatte er die Devanthar überzeugt, die verbotene Hochzeit letztlich doch zu billigen?

»Seht, wie die Augen der holden Shaya leuchten, Unsterblicher. Es ist der Glanz der wiedererlangten Jungfräulichkeit, der sich darin spiegelt.«

»Wiedererlangte Jungfräulichkeit«, schnaubte ihr Vater verächtlich. »Rosstäuscher sind wir. Das kann man nicht schönreden. Aber die Zeremonie verlangt nach einer Jungfrau, daran hat der Gesandte keinen Zweifel gelassen.«

»Und diese Jungfrau haben wir heute erschaffen, allmächtiger Madyas«, sagte Shen Yi höflich, aber bestimmt.

»An wen soll ich verheiratet werden?« Shaya konnte sich nicht länger gedulden. Wollte, dass ihre Träume in Worte gerannen. Wollte ihr Glück ausgesprochen hören.

Ihr Vater blickte zu ihr hinab, die Stirn gerunzelt, als überlege er, ob sie ein Anrecht darauf hätte, den Namen jetzt schon zu erfahren. »An den Unsterblichen Muwatta, den Herrscher Luwiens.«

Sie keuchte. Das konnte nicht sein! »Muwatta?«, fragte sie zögerlich. Wie war das möglich? Warum hatte er ausgerechnet sie erwählt? Sie waren einander noch nie von Angesicht zu Angesicht begegnet.

»Ja, Muwatta, der Erzkönig. Unsterblicher Herrscher Luwiens. Der Gebieter über eine Armee von Kriegern mit Eisenwaffen. Ein Nachbar, der seine Krieger immer wieder in unser Land einfallen lässt. Er hat ein weites Stück Steppe verwüstet, als er nach den Söldnern des Unsterblichen Aaron suchte.«

Es schmerzte Shaya, den Namen ihres Geliebten zu hören. Sie konnte immer noch nicht fassen, was ihr Vater gesagt hatte. Muwatta! Was wollte der Luwier von ihr?

»Aber … haben die Devanthar nicht verboten, dass die Kinder der Unsterblichen einander heiraten? Ist das nicht seit urdenklichen Zeiten so?«

Ihr Vater schüttelte bedächtig den Kopf. Sein Gesicht war wieder die unnahbare Maske, die ihr so vertraut geworden war, bar jeden Gefühls. »Nein. Der Weiße Wolf und die geflügelte Daimonin Išta haben der Vermählung zugestimmt. Du wirst nicht einfach irgendeines der Weiber Muwattas in seinem Harem. Du wirst die Heilige Hochzeit mit ihm begehen. Er wird als Gott zu dir kommen und mit der jungfräulichen Shaya ein Kind zeugen. Du wirst zum Symbol der Fruchtbarkeit Luwiens.« Ein zynisches Lächeln spielte um seine Lippen. »Eine Prinzessin der Ischkuzaia. Wer hätte das gedacht, dass Pferdediebe und Bauern zueinanderfinden?«

Shaya wurde schwindelig. Sie musste die Augen schließen. Das konnte nicht wahr sein! Das war ein böser Traum. Es konnte nicht Wirklichkeit sein, dass Muwatta geglückt war, was sie und Aaron für unmöglich gehalten hatten.

Aaron würde eine Provinz seines Königreiches für sie geben, da war sie sich sicher. Aber so, wie ihr Vater sich aufführte, war der Handel mit Muwatta schon beschlossene Sache. Und da wurde ihr klar, warum der Herrscher Luwiens unter allen Frauen ihres Volkes ausgerechnet sie zum Weib haben wollte. Er suchte Rache an Aaron, der ihn einst fast entmannt hatte.

»Wie viel hat Muwatta für mich geboten?«

»Fünfhundert Pferde aus den königlichen Gestüten. Und er erwartet keine Mitgift für dich.«

»Was wirst du mit den Pferden tun?« Sie schaffte es, jedes Zittern aus ihrer Stimme zu verbannen. Sie klang jetzt genauso kühl und geschäftsmäßig wie ihr Vater.

»Einige werde ich behalten. Andere verschenke ich an verdiente Berater und Krieger, die sich im Kampf ausgezeichnet haben. Es wird sie bald im ganzen Königreich geben. Sie werden frisches Blut in unsere Herden bringen. Sie werden unser Volk stärker machen.«

»Spricht etwas dagegen, mich von meinen Fesseln zu lösen?« Sie wollte wenigstens sitzen, wenn sie ihrem Vater klarmachte, was für ein Narr er gewesen war.

Fast augenblicklich traten die beiden Eunuchen an den Tisch und lösten die Lederbänder. Sie spürte einen stechenden Schmerz tief zwischen ihren Schenkeln, als sie sich aufsetzte.

»Ihr solltet in den nächsten Tagen noch viel liegen, ehrenwerte Prinzessin«, erklärte ihr Shen Yi beflissen.

Ihr Vater hatte sich bereits abgewandt. Er war allein gekommen. Wenigstens diesmal hatte nicht der halbe Hofrat ihrer Demütigung beigewohnt. Und weil er fast allein war, konnte sie offen mit ihm reden.

»Hast du dich nie gefragt, warum die am wenigsten ansehnliche deiner Töchter zur Heiligen Hochzeit auserwählt wurde? Ich bin keine vierzehn mehr. Und dass ich nur über wenige weibliche Tugenden verfüge, wird Muwatta sicherlich schon zugetragen worden sein. Was glaubst du? Warum will er mich und keine meiner viel schöneren Schwestern? Mich, ein Weib, das mehr Narben auf seiner Haut trägt als die meisten deiner Krieger?«

Madyas drehte sich langsam um. Er trug abgewetzte Reithosen aus Hirschleder und ein speckiges Wams. Stoppeln prangten auf seinen Wangen. Er sah nicht wie ein Fürst aus. Er hätte irgendein Krieger sein können, wären da nicht diese Augen. Hart, unnachgiebig, fordernd. Dunkle Abgründe. »Darüber habe ich lange mit dem Rat gesprochen. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass er dich haben will, um mit dir einen Sohn zu zeugen, der ihn stolz machen wird. Manche glauben, dass in dir die Seele eines Kriegsfürsten unserer Ahnen wiedergeboren wurde, Shaya. Nur dass sie, durch eine Laune der Götter, nun im Körper eines Weibes steckt. Wenn du ein Sohn wärest, würdest du an meiner Seite über unser Volk herrschen.«

Für einen Augenblick ging ihr das Herz auf, meinte sie, ein Stück seiner alten Zuneigung zurückgewonnen zu haben. Dann aber siegte ihr Verstand. Sie glaubte ihm kein Wort. Keiner seiner Söhne hatte je dauerhaft seine Gunst besessen. Gnadenlos hatte er sie immer wieder gegeneinander ausgespielt. Nein, die Liebe für keines seiner vielen Kinder war von Dauer.

»Hast du den Handel mit Muwattas Gesandtem schon abgeschlossen?«

»Er wird dich bekommen, Shaya. Es ist sinnlos, noch weiter aufzubegehren.«

»Du wirst für mich auch tausend Pferde bekommen, wenn du darauf bestehst.«

Ihr Vater lachte auf. »Glaubst du nicht, dass du dich ein wenig überschätzt?«

»Entspräche das meiner Art? Sind nicht fünfhundert Pferde schon unangemessen viel für eine Prinzessin wie mich? Fordere tausend Pferde. Du wirst sie bekommen!«

»Warum solltest du so viel wert sein?«

»Weil es nicht um mich geht. Es geht um einen anderen mächtigen Mann, der gedemütigt werden soll, indem Muwatta mich vor den Augen Tausender auf der Spitze eines Tempels zu seinem Weib macht. Das wird Muwatta fast jeden Preis wert sein. Frage den Unsterblichen Aaron, wie viel ich ihm wert bin! Er würde dir fünftausend Pferde für mich geben! Ich füge mich in diesen Handel für mein Volk. Diene auch du unserem Volk und nimm so viel für mich, wie du bekommen kannst. Muwatta soll bluten, bevor mein Jungfernblut über den Altar fließt. Er wird jeden Preis zahlen, wenn du andeutest, es gebe noch einen anderen Bewerber.«

»Lieber halte ich die Grasmücke in der Hand, als von der Taube auf dem Dach meiner Jurte zu träumen. Ich kann es mir nicht leisten, Muwatta herauszufordern. Sein Heer können wir nicht besiegen.«

»Das wird Aaron für dich auf der Ebene von Kush tun.«

Madyas lachte laut auf. »Mit seinen Bauern? Du erstaunst mich. Ich hätte erwartet, dass du mehr vom Krieg verstehst.« Er schüttelte ärgerlich den Kopf. »Luwien herauszufordern wäre dumm. Ich werde keinen Boten zu Aaron schicken. Das ist mein letztes Wort.« Er starrte verkniffen vor sich hin.

Shaya wusste, dass es nichts nutzte, ihm jetzt noch zu widersprechen. Sie musste ihn mit seinen Zweifeln allein lassen. Nur dann durfte sie hoffen, dass er sich noch anders entschied. Bedrängte sie ihn hingegen, würde er sich allein schon aus Trotz gegen ihren Vorschlag entscheiden.

Nach langem Schweigen blickte ihr Vater zu ihr auf. »Glaubst du, Muwatta weiß, dass du keine Jungfrau mehr bist?« Ihr Vater sah aus, als wäre ihm nicht wohl bei der Sache. Seine Augen wirkten verkniffen. Seine Schultern waren herabgesackt, und plötzlich sah er wie der unendlich alte Mann aus, der er war.

»Um meine Jungfräulichkeit ist es nie gegangen«, entgegnete sie bitter. Diesmal schaffte sie es nicht, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Ein paar namenlose Weizenkörner

»Da kann gar nichts passieren«, sagte Aleksan. Der Werber belächelte ihn. »Vertrau mir. Pferde scheuen vor Hindernissen. Ihr müsst einfach nur stehen bleiben, dann geht alles gut. Der Unsterbliche will, dass ihr seht, wie sicher so eine geschlossene Formation ist. In jeder Schenke, in der es Streit gibt, seid ihr in größerer Gefahr als hier. Haltet nur schön eure Schilde fest.«

Narek nickte. Aleksan musste es wissen. Er war schon drei Jahre ein Krieger und hatte sogar schon einmal in einer richtigen Schlacht gekämpft.

»Ich hoffe, du glaubst ihm kein Wort«, zischte ihm Ashot zu, der neben ihm stand. »Wenn das alles überhaupt nicht gefährlich ist, warum wurde dann ausgelost, wer in diesem Schildwall steht?«

Das Misstrauen seines Gefährten begann Narek zuzusetzen. Ashot witterte überall Intrigen und Verrat. »Sie haben gelost, damit es nicht nach einer abgesprochenen Sache aussieht. Sie wollen uns doch zeigen, dass jeder so einem Streitwagenangriff standhalten kann. Wenn du oben am Ufer stehen würdest und hier einfach eine Truppe Krieger aufmarschiert wäre, hättest du ihnen auch nicht geglaubt. Gib’s zu. Dann hättest du gesagt, die wollen uns für dumm verkaufen und hätten lauter Veteranen in den Schildwall gestellt.«

»Denk, was du willst. Ich würde jetzt auf jeden Fall lieber oben am Ufer stehen«, sagte Ashot, und dabei klang er für seine Verhältnisse geradezu kleinlaut.

Narek blickte zu den Ufern hinauf. Er hatte noch nie so viele Menschen gesehen. Sie drängten sich auf beiden Seiten des trockenen Flusses. Tausende. Dass es überhaupt so viele Männer gab, hätte er nicht gedacht. Sie kamen aus allen Provinzen des Reiches. Nur zweihundert von ihnen standen an diesem Morgen hier unten im Flussbett. Sie standen in vier Reihen, dicht hintereinander. In der vordersten Reihe waren ausschließlich Veteranen wie Aleksan. Narek war stolz, dazuzugehören, unter den Auserwählten zu sein, die ihren Mut beweisen konnten. Das wäre noch eine Geschichte für Daron! Er lächelte und hielt die lange Stange, die Aleksan ihm gegeben hatte, mit beiden Händen. Die Krieger der vordersten Reihe trugen mannshohe Schilde. Nareks Stange stellte einen langen Speer da. In einer richtigen Schlacht würden in der zweiten und dritten Reihe Speerträger stehen, die jeden niederstachen, der versuchte, die Schildträger anzugreifen. Und in der vierten Reihe gäbe es Bogenschützen, die ihre Pfeile steil in den Himmel schickten, um den Feind zu vernichten, noch bevor er überhaupt in den Nahkampf kam. Das war schlau ausgedacht, fand Narek. Wahrscheinlich würde er nie einem Luwier Auge in Auge gegenüberstehen. Er hatte ja die Schildträger vor sich, die mit spitzen Bronzeschwertern ausgerüstet waren, sollte es doch der eine oder andere Feind bis zu ihnen schaffen. Krieg war ein leichteres Geschäft, als er erwartet hatte.

Etwa zweihundert Schritt entfernt von ihnen standen sieben Streitwagen. Schöne Pferde waren vor die Wagen geschirrt. Die Wagenlenker hatten die Köpfe der Tiere mit Federn geschmückt. Polierte Bronzeamulette hingen vom Geschirr der Pferde. Bei zwei Wagen hatte man lange Klingen auf die Radnaben gesetzt. Es hieß, sie könnten ohne Mühe ein Bein durchtrennen, wenn der Wagen in voller Fahrt war. Gut, dass er hinter dem Schildwall stand, dachte Narek. Hier war er sicher.

Die Krieger stiegen auf die Streitwagen. Zwei von ihnen waren in merkwürdige Rüstungen gekleidet, die sie wie große Fässer aussehen ließen. Der Anführer des Streitwagengeschwaders war ein Krieger, dessen Haupthaar und Bart wie Gold in der Sonne strahlten. Er überragte alle ringsherum. Ein wahrer Hüne. Gut, dass es solche Krieger in ihren Reihen gab, dachte Narek. Der Kerl würde den Luwiern sicher gehörig Angst einjagen. Er sah zum Fürchten aus.

Der Goldkopf stieß einen Schrei aus, und alle sieben Streitwagen fuhren an.

»Setzt die Schilde auf!«, rief Aleksan, und die Krieger in der vordersten Reihe stießen ihre hohen Schilde auf den Boden, gingen in eine halb geduckte Haltung und lehnten sich mit der linken Schulter gegen die Schilde. »Speere ausrichten!«

Narek streckte gewissenhaft seinen langen Stock vor. Er spürte den Boden unter dem Hufschlag der Pferde erbeben. Ein Gefühl, das ihm geradewegs in den Magen stieg. Seine Hände waren schweißnass. Jetzt wäre er doch lieber oben auf dem Ufer. Er presste die Lippen zusammen.

Ashot murmelte leise Flüche. Auch er hielt seinen Holzstab vorgestreckt. Seine Hände zitterten nicht, stellte Narek erstaunt fest. Irgendwie schaffte sein Freund es, seine Angst besser im Zaum zu halten, als er es vermochte.

Die Streitwagen waren weniger als fünfzig Schritt entfernt. Staub und Steine spritzten unter den Pferdehufen auf. Ganz deutlich konnte Narek die Bronzeklingen an den Rädern sehen.

»Wann drehen diese verdammte Gäule endlich ab?«, fluchte Ashot.

»Ruhe im Glied«, rief Aleksan. »Haltet stand!«

Nur noch dreißig Schritt. Nareks Hände zitterten so sehr, dass die Spitze seines Holzstabs klappernd auf Aleksans Schildrand schlug.

Einer der Streitwagen hatte sich aus dem Pulk gelöst und preschte den anderen um zwei Längen voraus. Er wurde von zwei großen, weißen Pferden gezogen. Ihre Mähnen flatterten im Wind. Ein junger Krieger, um dessen Schultern ein Leopardenfell geschlungen war, trieb den Wagenlenker an, noch schneller zu fahren. Er hielt sich seitlich an einem Holzbügel fest, den Körper nach hinten gelehnt. Sein Fahrer stand tief gebeugt und ließ eine lange Peitsche über den Köpfen der Schimmel knallen. Die Augen der Pferde waren weit aufgerissen. Auch sie hatten Angst.

Der Wagenlenker zerrte an den Zügeln. Langsam schwenkte der Wagen nach links. Er war auf weniger als zehn Schritt heran. Narek klapperten die Zähne. Das war doch Wahnsinn!

Ein scharfer Knall ertönte. Der Streitwagen wurde herumgerissen, als habe ihn die Faust eines unsichtbaren Riesen getroffen. Ein Rad flog ihnen entgegen und schlug keine zwei Schritt links von Narek in die Reihe der Schildträger. Es hatte einen Krieger mit silbernen Strähnen im Bart getroffen. Der Mann taumelte zurück gegen die Speerträger. Sein Schild war zerschmettert. Blut rann von seiner Stirn und färbte die silbernen Strähnen. Narek sah all dies so deutlich, als habe sich die Zeit entschieden, langsamer zu verstreichen. Der ausbrechende Wagen riss die Pferde herum. Die Deichsel traf einen der beiden Schimmel in den Bauch und zerbrach. Der Wagenlenker, der die Zügel nicht losgelassen hatte, wurde zwischen die Pferde gerissen. Er verschwand unter den weißen Leibern, die dem Schildwall entgegenschlitterten.

Panik brach unter den Kriegern aus. Sie ließen Schilde und Holzstangen fallen und drängten nach hinten. Die übrigen Streitwagen versuchten auszuweichen. Doch dort, wo sie am Schildwall hätten vorbeieilen sollen, versuchten nun Männer in blinder Panik das Ufer des trocken gefallenen Flusses hinaufzuklettern.

Narek sah einen jungen Mann, der knapp oberhalb der Knie von den Sichelklingen eines Streitwagens getroffen wurde. Beide Beine wurden abgetrennt. Sie blieben noch einige Herzschläge lang stehen und kippten dann langsam, wie gefällte Bäume, zur Seite.

»Du bist voller Blut.«

Ashots Stimme brach den Bann. Schreie brandeten auf Narek ein. Ringsherum geschah jetzt alles erschreckend schnell. Die meisten Männer aus dem Schildwall waren inzwischen die Uferböschung hinaufgelangt.

Keine zwei Schritt vor ihnen hatte der große Krieger mit den goldenen Haaren seinen Streitwagen zum Stehen gebracht. Er brüllte aufgeregt Befehle.

Narek wischte sich über das Gesicht und betrachtete das Blut auf seinen Fingern. »Ich bin nicht verletzt«, sagte er verwundert. Er blickte zu Ashot, der immer noch seine lange Holzstange hielt. Als Einziger.

»Schön«, murmelte sein Freund. Ashot war leichenblass. Eine steile Zornesfalte furchte seine Stirn.

»Das ist nur eine Übung, haben sie uns gesagt.« Narek sah sich um. Der Krieger, der seine Beine verloren hatte, war tot. Der Bauer hatte noch nie gesehen, wie jemand gewaltsam zu Tode kam. Auf diesen Anblick hätte er gut verzichten können. Hätte seine Angst ihn nicht buchstäblich erstarren lassen, dann hätte er es auch sein können, der dort lag. »Das ist nicht richtig, was hier passiert! Was üben wir hier? Wie es sein wird, gegen die Luwier zu verlieren?«

Ashot ließ seine Stange fallen. »Wir üben hier, auf Befehl zu verrecken.« Er deutete zu den Uferböschungen hinauf. Zu den Tausenden, die dort standen. »Von uns Bauern gibt es genug. Wir zählen nichts. Weißt du noch, wie wir früher beim Würfeln ein paar Weizenkörner gesetzt haben, um die Sache spannender zu machen? Genau das sind wir für den Unsterblichen. Ein paar namenlose Weizenkörner.«

Narek sah ihn lange an, dann senkte er den Blick. Diese Geschichte würde er seinem Sohn besser nicht erzählen.

Von Steinen und Mörtel

Artax blickte die drei Männer an, denen er am meisten vertraute. Sie waren allein in seinem großen Zelt. Selbst die Wachen waren abgezogen. Niemand würde hören, was an diesem Abend gesprochen wurde.

Volodi, der große, blonde Söldner aus Drus, wirkte nervös. Er wich seinem Blick aus, nestelte mit den Fingern am Rand seiner Tunika und schien vor Ungeduld förmlich platzen zu wollen. Er hatte die Streitwagen bei der Übung im Flussbett befehligt. Er hätte den Untergrund besser prüfen sollen.

Mataan, der Stadtfürst von Taruad, blickte ihm mit fast aufreizender Gelassenheit entgegen. Der stämmige Adlige hatte ihn und Juba begleitet, als er nach den Piraten gesucht hatte, die seine Zinnflotten angegriffen hatten. Trotz seiner ausgeprägten Adlernase war Mataan ein gut aussehender Mann, muskulös, mit vollem Haar und dichtem Bart. Wind und Salz hatten sein Gesicht gegerbt. Seine dunklen Augen waren unergründlich. Statt der einfachen Tunika, die er bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte, hatte er nun einen prächtigen Bronzekürass angelegt. Um seine Schultern war ein mit Perlen bestickter, purpurner Umhang geschlungen. Seinen Helm mit dem hohen Rosshaarbusch hatte er unter den Arm geklemmt. Artax empfand Mataans Gelassenheit als provozierend. Es fiel ihm schwer, sein Temperament im Zaum zu halten. Ihm war danach, jemanden anzuschreien. Den ganzen Tag beherrschte er sich schon, um das Unglück, das geschehen war, nicht noch zu vergrößern. Ein Unsterblicher, der würdelos herumschrie, das war undenkbar!

Keineswegs, du kannst deiner schlechten Laune ruhig Luft machen. Ich finde, du solltest den blonden Trottel hinrichten lassen. Er hat den Übungsangriff versaut. Für mich ist er der Schuldige. Ich wette, er hätte sogar Verständnis für deine Entscheidung.

Artax ignorierte Aaron, und sein Blick wanderte zum dritten seiner Berater, demjenigen, der in letzter Zeit für keine einzige seiner Entscheidungen Verständnis zu haben schien. Datames. Der schlanke, bartlose Hofmeister hatte ein aufdringliches Duftwasser aufgelegt und trug als Einziger im Zelt keine Rüstung, sondern lediglich ein langes, weißes Wickelkleid mit purpurnen Fransen. Er wirkte weibisch und deplatziert in ihrer Kriegerrunde. Datames betrachtete ihn mit kühler Verachtung, so wie man auf einen Spritzer Kot an einem neuen Paar Stiefel herabblickte, dachte Artax. Datames organisierte das Feldlager sowie den Anmarsch der Truppen und ihre Versorgung.

»Warum hat mir keiner gesagt, was für ein Unsinn da im Gange war?«, fragte der Hofmeister kühl.

»Hat sich keiner gedacht, dass du musst wissen!«, entgegnete Volodi trotzig.

»Es war ein Unfall …«, sagte Mataan und klang nicht überzeugend.

»Ein vermeidbarer Unfall! Ist denn keinem von euch in den Sinn gekommen, vorher die Strecke abzuschreiten? Seid ihr euch darüber im Klaren, was ihr angerichtet habt? Die Moral unserer Truppen ist ohnehin schon jämmerlich. Verräter im Sold von Muwatta hätten keinen größeren Schaden in unserem Heer anrichten können!«

Volodis Hand sank auf das Schwert an seiner Hüfte. »Mich du nicht nennst Verräter!«

Datames bedachte den Drusnier mit einem kühlen Lächeln. »Nichts läge mir ferner. Dir mangelt es für einen Verräter an intellektuellem Horizont.«

»Das reicht!«, fuhr Artax den Hofmeister an. »Statt uns untereinander zu zerfleischen, werden wir nach einem Weg suchen, den Schaden zu beheben.«

»Das wird die drei Toten von heute Morgen sehr erfreuen«, bemerkte Datames.

»Was kann man tun, deinen Zorn zu kühlen, Hofmeister, damit wir zu einem vernünftigen Gespräch finden?«, fragte Mataan höflich.

Diese Worte brachten Datames endlich zur Besinnung. Er senkte den Blick.

Wie hatte dieser Mann nur Aarons Willkürherrschaft überlebt?, dachte Artax.

Na ja, er organisiert wunderbare Feste. Das ist ein zu seltenes Talent, um es einer vorübergehenden Verstimmung zu opfern. Aber du hast recht. Es gab Tage, da war ich nahe daran, ihn in die Löwengrube werfen zu lassen.

»Wie genau wissen wir eigentlich, gegen wen wir kämpfen?«, fragte Mataan.

»Ist sich Muwatta, Unsterblicher von Luwien, du Hirn von Ochse!«

»Ich glaube, er meinte, wie sich die Truppen Luwiens zusammensetzen. Und ein Lobpreis auf die Ochsen, die etwas besitzen, das dir augenscheinlich fehlt.«

»Ist sich mein Schwanz, wo er hingehört, du … du Sohn von …«

»Genug!«, unterbrach Artax den Streit. »Wir wissen fast gar nichts über Muwattas Heer. Er hat mehr kampferfahrene Truppen, mehr Streitwagen, und seine besten Kämpfer sind mit eisernen Schwertern ausgerüstet. Aber wir haben keine Zahlen.«

»Wenn du es gestattest, würde ich mich gerne darum kümmern, Spitzel in sein Heerlager einzuschleusen. Einen Feind, den wir besiegen wollen, sollten wir zuallererst gut kennen. Nur so können wir die richtige Strategie wählen.«

»Werden wir nicht siegen mit Bauern, die haben geschlagen Schlachten nur gegen Feldmäuse. Die nur kämpfen gut, wenn stehen auf eigenem Boden.«

»Wir sollten sie nicht alle über einen Kamm scheren«, widersprach Artax. »Mir ist ein Mann aufgefallen, der seinen Speer noch immer auf die Streitwagenkämpfer gerichtet hielt, als alle anderen längst ihre Waffen fallen gelassen hatten. Das war ein Bauer.«

»Aus einem Mann einen Krieger zu machen dauert viele Monde«, sagte Mataan. »Tapferkeit allein genügt nicht, um einen Bauern gegen einen erfahrenen Kämpfer bestehen zu lassen. Und ich bin sicher, Muwatta wird seine besten Männer in die erste Reihe stellen, um schnell unsere Linie zu durchbrechen. Sobald das geschieht, ist die Schlacht verloren.«

Artax ließ sich auf dem Klappsessel neben dem großen Kartentisch nieder. Ihm war, als gebe der Boden unter ihm nach.

»Ich nehme an, Muwatta kampflos diese Provinz zu überlassen, ist keine Option?«, fragte Datames.

»Nein«, entgegnete Artax gereizt und griff nach dem Krug mit Wein, der auf dem Tisch stand. Er wartete auf eine höhnische Bemerkung von Aaron, doch sein Quälgeist schwieg überraschenderweise.

»Und du bist dir sicher, dass deine Beweggründe es wert sind, ihnen Tausende deiner Untertanen zu opfern?«, warf Datames ein.

Artax füllte sich einen Becher und nahm einen tiefen Schluck Wein. Nachdenklich drehte er den Becher in den Händen. Er hatte die Form eines Hornes, das in einen massigen Fuß mit einem geflügelten Löwen endete, sodass man das Horn auf einem Tisch abstellen konnte. Der Becher war aus massivem Gold gearbeitet und mehr wert als das Korn, das er in seinem ganzen Leben als Bauer hätte erwirtschaften können. Artax nahm einen weiteren großen Schluck und lauschte auf die Geräusche des Feldlagers. Das Klirren von Metall, ferne Rufe, leises Gelächter. Er blickte zu seinen Beratern auf. Nein, er war sich nicht sicher. Er hatte neben dem toten Krieger gekniet, dem die Streitwagensicheln die Beine durchtrennt hatten. Hatte sich gezwungen, in dessen Antlitz zu blicken und es sich für immer einzuprägen. Er wollte keinen einzigen weiteren Tod verschulden.

»Die Männer werden das, was heute Morgen geschah, als böses Omen betrachten«, brach Mataan das lange Schweigen.

»Dann werden wir für gute Omen sorgen!«, entgegnete Artax gereizt. »Ihr seid meine Berater. Beratet mich, statt zu jammern. Wir brauchen mehr richtige Krieger.« Artax dachte an Juba. Sein Feldherr hätte sicher gewusst, was zu tun war. »Volodi. Du wirst nach Nangog reisen und alle Krieger von dort abziehen. Insbesondere die Zinnernen, die bei deinem Freund Kolja geblieben sind.«

»Sind sich nicht sehr viele Männer …«

»Wir brauchen hier jeden, der schon eine Schlacht geschlagen hat.«

»Mit Verlaub, Erhabener, aber das ist nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. Was wir wirklich tun müssen, ist die Männer, die hier sind, zu formen. Was sich hier im Lager versammelt hat, ist wie ein Haufen loses Geröll. Was du aber brauchst, Erhabener, ist eine Mauer, an der Muwattas Angriffe zerschellen werden.«

Schöne Bilder und doch leere Worte.

»Hast du einen Plan, Datames?« Artax setzte seinen Weinbecher wieder ab.

»Wir müssen dein Heer von Grund auf neu strukturieren. Wir müssen die Steine erschaffen, die die Mauer bilden werden. Und den Mörtel, der sie miteinander verbindet. Ich schlage vor, wir bilden Gruppen aus jeweils zehn Mann. Und diese zehn sollten einander kennen. Aus demselben Dorf oder demselben Stadtviertel sollten sie kommen. Es ist etwas anderes, ob neben dir in der Schlachtreihe ein Mann steht, den du ein halbes Leben lang kennst oder einer aus einer Provinz, von der du nicht einmal den Namen aussprechen kannst. Und diese zehn sollten sich einen Anführer erwählen. Diese Anführer wiederum wählen unter sich einen Führer für hundert. Und die zehn Hundertschaftsführer einen Anführer, der tausend befehligt. Es müssen Männer sein, denen sie vertrauen, und keine Adligen, denen sie unterstellen, dass ihnen das Leben von Bauern und Handwerkern nichts bedeutet. Männer aus ihrer Mitte, die ihre Sorgen und Nöte kennen. Die wissen, wie man sie begeistern kann.«

»Du willst also die Satrapen entmachten«, warf Mataan ein.

Datames bedachte ihn mit einem spöttischen Lächeln. »Machst du dir Sorgen, Stadtfürst? Dann lass mich noch ein wenig Öl ins Feuer gießen. Ich sprach davon, dass wir einen Mörtel brauchen, der sie verbindet. Etwas, das sie alle zusammenhält. Sie brauchen ein gemeinsames Ziel. Etwas, das es wert ist, dafür sein Leben zu riskieren. Die Bauern hier kommen aus allen Provinzen des Reiches. Die meisten waren in ihrem ganzen Leben nie weiter als zwanzig Meilen von ihrem Geburtsort entfernt. Kush ist für sie nur ein Name. Und was sie hier sehen, ist nur ein Streifen unfruchtbares Ödland. Sie begreifen nicht, wofür sie hier kämpfen. Und wer für etwas kämpft, das ihm nicht am Herzen liegt, der wird nicht sehr standhaft sein. Für sie gibt es hier nichts zu gewinnen …«

»Außer der Möglichkeit, lebend nach Hause zu kommen«, warf Mataan ein.

Datames schüttelte den Kopf. »Dieses Argument fruchtet hier nicht. Bauern wissen nicht, wie Schlachten verlaufen. Ihnen ist nicht klar, dass, sobald sie flüchten, das Massaker beginnt, weil ihnen die Luwier nachsetzen werden, um sie niederzumachen. Für sie ist das Gefecht vorüber, wenn der Schildwall bricht. Sie brauchen etwas ganz Konkretes, das ihnen Halt gibt. Etwas, das für jeden Einzelnen Bedeutung in seinem Leben hat. Und ich rede hier nicht von abstrakten Werten wie Ruhm oder Ehre. Ich muss gestehen, dass es Volodi war, der mich auf meine Idee brachte. Er hat gesagt: Die nur kämpfen gut, wenn stehen auf eigenem Boden. Das ist es.«

Artax konnte Datames nicht folgen.

»Willst du schenken ihnen ein Stück Wüste hier?«, fragte Volodi grinsend. »Sind sich nur dreckig, aber nicht dämlich, die Bauern. Wird nicht helfen, sie machen kämpfen.«

»Nein, ich hatte eher daran gedacht, ihnen Land zu überlassen, das sie wirklich nutzen können. In jedem Dorf, das ich kenne, gibt es ungenutzte Brachflächen. Meist Land, das den Reichen gehört. Jeder Bauer, der hier in Kush kämpft, soll als Belohnung in seinem Dorf so viel Land bekommen, wie er an einem Morgen mit einer Handhacke bearbeiten kann. So wird jeder, obwohl wir hier am Ende der Welt stehen, für sein eigenes Land kämpfen.«

Artax war begeistert. Er selbst hätte wie ein Löwe dafür gekämpft, so viel Land hinzugewinnen zu können. Wären seine Äcker größer gewesen, wäre er niemals nach Nangog gegangen.

Mataan schüttelte missbilligend den Kopf. »Das ist verrückt. Die Satrapen werden das nicht dulden. Es liegt nicht in ihrem Interesse, dass die Bauern reich und unabhängig werden. Wenn wir das tun, werden die Satrapen nicht kämpfen.«

»Wer wird die Schlacht für uns gewinnen, Mataan? Die Satrapen und ihre fünftausend erfahrenen Krieger oder fünfundvierzigtausend Bauern, denen wir die Herzen von Löwen gegeben haben?«

»Zahlen sind nicht alles, Hofmeister«, entgegnete Mataan ruhig. Er wirkte auf Artax nicht erzürnt, sondern eher wie ein Vater, der versucht, seinen Sohn von einer dummen Idee abzubringen. »Hundert gut bewaffnete Krieger, die es schaffen, einen Schildwall zu durchbrechen und eine Lücke in die Schlachtreihe zu schlagen, können einen Kampf wenden. Wenn dies geschieht, ist es völlig belanglos, wie viele löwenherzige Bauern rechts und links von ihnen noch stehen. Es sind die erfahrenen Krieger der Satrapen, die solch eine Entscheidung erzwingen können, nicht deine Bauern, Datames. Und es sind die Streitwagenkämpfer, die über die Flügel der Schlachtlinie vorstoßen, um den Kämpfern in den Rücken zu fallen. Auch dies sind Männer der Satrapen.«

»Beste Wagenfahrer sind sich meine Männer«, knurrte Volodi.

»Wie man heute Morgen sehen konnte«, entgegnete Mataan nüchtern. »Ich zweifele nicht am Mut deiner Krieger, Volodi. Aber an ihrer Disziplin. In einer so großen Schlacht, wie sie uns bevorsteht, entscheidet Disziplin. Muwatta hat ohne Zweifel mehr Streitwagen als wir. Deshalb wird es entscheidend sein, dass wir unsere Kämpfer im rechten Augenblick einsetzen. Ungestüme Raufbolde, die lospreschen, wann es ihnen gefällt, können wir nicht gebrauchen.«

Volodi war sichtlich getroffen. Er reckte sein Kinn vor, polterte aber nicht los, wie er es sonst tat. »Wird sich nicht wieder geschehen«, sagte er mit rauer Stimme. »Haben wir gelernt von Tag heute.«

Artax hatte seine Zweifel. Die Söldner, die er unter den Piraten rekrutiert hatte, die seine Zinnflotten versenkt hatten, waren wilde Raufbolde. Sie waren wertvolle Krieger, todesmutig und hatten sich bisher stets als ergeben erwiesen. Aber Mataan hatte recht. Gerade, dass sie einem Kampf nicht aus dem Weg gingen, mochte in einer großen Schlacht, in der der richtige Einsatz von Reserven über Sieg oder Niederlage entscheiden konnte, eine maßgebliche Schwäche sein.

»Die Urväter unserer Satrapen haben sich ihren Fürstenstand durch Heldentaten auf dem Schlachtfeld verdient«, sagte Datames lächelnd. »Vielleicht sollte man ihre Enkel daran erinnern, dass ihre Herrschaft auf der Gnade des Unsterblichen beruht und allein ihr Wert auf dem Schlachtfeld die Rechtfertigung liefert, in Palästen zu leben.«

»Gegen wen ziehst du in die Schlacht, Hofmeister? Gegen die Luwier oder gegen die Satrapen von Aram?«

Er hat recht. Ich weiß nicht, was Datames reitet, aber du solltest ihm nicht folgen.

Artax ignorierte Aarons Stimme. Datames sprach ihm aus dem Herzen.

»Was für eine Gerechtigkeit ist das, wenn ein Bauer hier kämpft und vielleicht stirbt, und der einzige Lohn, den er erwarten kann, ist die Ehre, sich für seinen Unsterblichen geschlagen zu haben? Die Satrapen aber, die alles im Überfluss besitzen, ohne einen einzigen Tag auf einem Acker ihren Rücken gekrümmt zu haben, nehmen sich das Recht heraus, ihren Mitstreitern einen Lohn zu verweigern. Ja, sie drohen womöglich gar den Kampf, der der Sinn ihres Daseins sein sollte, zu verweigern, wenn andere auch nur einen Bruchteil des Lohnes bekommen, den sie für ihr Kriegerleben erhalten. Das ist absurd, und es gehört geändert.«

»Ist sich wahr, leben Satrapen wie Made in Speck«, stimmte Volodi zu.

»Mataan, es ist an der Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken«, sagte Artax und suchte nach einem Bild, das den Fischerfürsten, der einst nur mit ihm und Juba eine ganze Piratenflotte verfolgt hatte, überzeugen würde. »Unsere Lage ist verzweifelt. Wir sitzen in einem sinkenden Boot. Wir können über Bord springen oder nach dem Schöpfeimer greifen und darauf hoffen, dass wir den Hafen noch erreichen werden.«

»Ich würde eher sagen, dass wir ein Feuer anzünden, um ein leckendes Boot wieder trocken zu bekommen«, entgegnete der Stadtfürst resignierend. »Aber wer bin ich, einem Unsterblichen zu widersprechen. Ich sehe, dass ich euch von euren Plänen nicht abbringen kann. Aber bitte erwartet nicht von mir, dass ich sie gutheißen werde.«

»Datames, ich beauftrage dich hiermit, eine Armee aufzubauen, die weiß, wofür sie kämpft.« Artax blickte zu Mataan. Der Fürst hatte die Arme über der Brust verschränkt. Seine Miene zeigte kein Gefühl. Konnte er ihm noch trauen? »Du, mein Freund, wirst die Satrapen im Auge behalten und mein Ohr unter ihnen sein. Ich möchte, dass du mir ganz offen berichtest, was sie denken.« Er wandte sich an Volodi. »Und du wirst nach Nangog reisen und mir jeden erfahrenen Krieger hierherholen, der entbehrlich ist. Meine verbliebene Leibwache ebenso wie die Himmelskrieger auf den Wolkensammlern. Wir werden Männer brauchen, die Erfahrung im Kampf haben und keinem Satrapen verpflichtet sind, um die Reihen unserer Bauernkrieger zu stärken.«

»Darf ich um eine letzte Gunst bitten, mein allweiser Herrscher?« Ein merkwürdiges Lächeln spielte um die schmalen Lippen des Hofmeisters. »Darf ich den Auftrag geben, zwanzigtausend Paar Holzschuhe zu fertigen?«

Artax lachte unwillkürlich auf. Das war absurd! Woran Datames wohl wieder dachte? Er kümmerte sich um Öl für die Kochkessel des Heeres, Säcke voll Dung, um die Feuer in Gang zu halten, Lederschnüre für Sandalen, die Taktik der Schlacht, die Latrinen im Heerlager, die Spitzel, die die Luwier beobachteten, und jetzt das … Artax schien es, als sei es sein Hofmeister, der die Zügel des Reiches in den Händen hielt. »Tu, was du für richtig hältst. Ich gewähre dir freie Hand, bis die Schlacht gegen Muwatta geschlagen ist.«

Aufspiel zum Totentanz

Jeder kam für sich allein. Nodon fragte sich, ob sie alle die Stimmen ihrer Meister hörten. Tief in ihrem Kopf. Leise flüsternd. Eine Stimme, der man sich nicht mehr widersetzen konnte, wenn man sich den Himmelsschlangen verschworen hatte. Sie kamen den Hang hinab, stiegen zwischen den schroffen Felsen tiefer. Ein Hauch von silbernem Licht lag in dieser Nacht über dem zerklüfteten Tal. Es war kühl. Nodon stand der Atem vor dem Mund. Er hatte zu lange im Jadegarten gelebt. Kälte war er nicht mehr gewohnt. Diese Schwäche ärgerte ihn. Er war der beste unter Nachtatems Schwertkämpfern. Vielleicht sogar der beste, den die Weiße Halle je hervorgebracht hatte. Er flüsterte ein Wort der Macht und hüllte sich in einen Kokon schützender Wärme.

Die Stimme in seinem Kopf führte ihn zu einem klaffenden Spalt in einer Felswand. Eine Wunde aus Finsternis inmitten mit silbernen Sprenkeln durchsetzten Gesteins. Ohne zu zögern, duckte er sich in den Spalt. Etwas berührte ihn. Körperlose Hände ergriffen ihn. Zerrten ihn nach vorne. Sein Atem stockte. Er hatte das Gefühl zu fallen.

Nodon kämpfte gegen die Panik an. Er wusste, was mit ihm geschah. Es war nicht das erste Mal, dass er einen Drachenpfad beschritt. Jede Reise auf diesen magischen Wegen war ein wenig anders. Nur eins hatten sie alle gemein. Sie jagten ihm Schrecken ein. Drachen mochten es als natürlich empfinden, sich auf diese Weise zu bewegen, Tausende Meilen binnen eines Lidschlags hinter sich zu lassen. Für Elfen waren diese Pfade nicht geschaffen!

Blauweißes Licht umfing ihn. Nodon stand in einem weiten, schneebedeckten Krater. Eine Kuppel wölbte sich über ihm. Große Schneeflocken wirbelten darüber hinweg. Sie schienen geradezu abgestoßen zu werden. Ein Zauber? Es gab nichts Stoffliches, das sich dem Schneetreiben entgegenstellte. Nur den Willen der Himmelsschlangen.

Sie alle waren hier. Der Dunkle, jener, der als Erster aus dem Ei geschlüpft war, sein Herr! Er blickte kurz zu ihm auf. In weitem Rund lagen die acht ältesten Drachen um den Krater.

Nodon fühlte sich beklommen. Nie hatte er sie alle an einem Ort versammelt gesehen. Was ging hier vor?

Am Grund des Kraters standen die Elfen der Weißen Halle. Meister wie Novizen. Auch jene, die die Halle schon lange verlassen hatten und so wie er bei den Himmelsschlangen lebten, waren gekommen. Weit über hundert waren sie.

Sie alle trugen die Tracht der Schule. Das lange, seitlich geschlitzte Seidengewand, bei den Meistern mit Borten und Stickereien in Silber und Gold geschmückt. Dazu bauschige Hosen, die in hohen Stiefeln stecken. Manche der Drachenelfen, die vor Langem die Weiße Halle verlassen hatten, ergänzten die Tracht mit seidenen Bauchbinden oder dezentem Schmuck. Niemand trug eine Waffe. Viele der Novizen, die sich ihrer Macht noch nicht sicher waren, hatten sich in schwere Wollumhänge gehüllt, statt jenen Zauber zu weben, der sie für die Eiseskälte dieses Ortes unberührbar machte. Auch Gonvalon trug einen Mantel. Nodon hatte das Gerücht gehört, der Schwertmeister habe durch einen Fluch all seine Zaubermacht verloren. So verfroren, wie der Aufschneider wirkte, schien es wahr zu sein.

Die Zwerge der Tiefen Stadt haben einen machtvollen, alten Drachen getötet. Den Schwebenden Meister, der euch alle in die Kunst des Zauberwebens eingeführt hat. Sie haben ihm heimtückisch aufgelauert und mithilfe einer Speerschleuder ermordet.

Die Worte verursachten Nodon Schmerzen. Wie geschmolzenes Metall fraß sich die Stimme in sein Hirn, ohne dass er hätte sagen können, welche der acht Himmelsschlangen zu ihm gesprochen hatte. An den gepeinigten Gesichtern der anderen Elfen war abzulesen, dass sie alle diesen Schmerz teilten.

Bislang war es stets unser Bestreben, mit dem geringstmöglichen Einsatz von Gewalt den größtmöglichen Nutzen zu erzielen. Wir waren nachsichtige Herrscher. Diese Tage sind nun vorüber. Das Volk der Zwerge soll lernen, was es bedeutet, den Zorn der Himmelsschlangen zu erwecken. Schon morgen werden wir die Tiefe Stadt angreifen. Wir werden sie vernichten. Kein Zwerg, der sich in den Stollen dort verkrochen hat, soll überleben. Wir werden sie alle richten. Jene, die den Mord am Schwebenden Meister begangen haben, ebenso wie jene, die sie dabei unterstützten oder die diesen feigen Anschlag auch nur billigten.

Der Schmerz, der die Worte des Drachen begleitete, erreichte eine Intensität, wie Nodon es noch nie erlebt hatte. Er schloss die Augen. Versuchte die Pein durch sich hindurchfließen zu lassen, sich ihr nicht entgegenzustemmen. Einer der Novizen schrie auf. Welcher Drache war so unbeherrscht? Die Macht seines Zorns würde bald die ersten Toten unter den Drachenelfen fordern, wenn er sich nicht zügelte!

Wir werden die Weiber der Mörder richten und die Brut, die zwischen ihren Schenkeln hervorgekrochen ist. Wir werden die Gaffer töten, die kamen, um die Leichenteile unseres Bruders anzustarren. Die ganze Stadt soll sterben, auf dass nie wieder ein Zwerg es wagt, auch nur den Gedanken zu hegen, einen Drachen zu jagen.

»Brennen sollen sie!«, rief einer der Novizen.

Auch Nodon fühlte sich mitgerissen vom flammenden Zorn des Drachen. Es war schon lange an der Zeit, die anmaßenden Zwerge zu strafen.

Es ist unser Wunsch, dass keiner der Zwerge seiner Strafe entkommt. Und so soll es geschehen: Lyvianne, zeig es ihnen!

Mit diesen Worten leuchtete ein seltsames Gebilde über ihren Köpfen auf. Ein Gespinst aus blauem Licht. Leuchtende Linien, unregelmäßige Halbkugeln. Nie zuvor hatte Nodon etwas Derartiges gesehen.

»Dies ist ein Plan des Höhlensystems der Tiefen Stadt«, erklärte Lyvianne. »Unsere Späher haben jeden Eingang, jeden verborgenen Luftschacht, jeden Wasserlauf aufgespürt. Kein Weg, der in die Stadt hineinführt, ist uns verborgen.«

Lyvianne hatte sich seit seinen Tagen in der Weißen Halle nicht verändert, dachte Nodon. Sie war kühl, berechnend, unnahbar. Ihr einziger Makel war es, dass sie sich für den Goldenen entschieden hatte. Im Grunde hätte sie viel besser in das Gefolge Nachtatems gepasst.

All unsere Brüder und Schwestern, deren Odem reinigendes Feuer ist, werden Anteil an der Rache für den Schwebenden Meister haben. Tatzelwürmer, Silberschwingen, Sonnendrachen und Dornwürger, sie werden auf allen Winden herbeieilen und auf den Pfaden der Drachen.

Ein rotes Leuchten umfing die Endpunkte des labyrinthischen Höhlenplans.

Ob Luftschacht oder Felspforte, das geflügelte Volk wird jeden Ausgang der Tiefen Stadt besetzen. Wir alle werden im selben Augenblick unseren flammenden Atem in die Zwergenstadt hauchen, auf dass der Fels selbst Tränen aus rot glühender Lava über unseren schändlich gemordeten Bruder vergießt.

»Nach dem Flammenangriff obliegt es uns, die Rache der Himmelsschlangen zu vollenden«, ergriff Lyvianne erneut das Wort. »Wir werden die Eingänge stürmen und uns durch die Luftschächte abseilen, um den letzten Überlebenden das Lied zu ihrem Totentanz zu spielen. Meister Dylan und seine Novizen werden dafür Sorge tragen, dass jeder in der Tiefen Stadt der Melodie unserer Klingen lauschen wird.«

Lyvianne fand offensichtlich Gefallen an der Planung dieses Massakers. Nodon würde sich den Befehlen des Erstgeschlüpften nicht widersetzen, aber ein Gemetzel unter Zwergenweibern und ihrer Brut empfand er als unwürdig.

Dylan erhob sich unter den Elfen, die im weiten Krater versammelt waren. Er war hochgewachsen und schlank. Selbst für einen Elfen war er ungewöhnlich hellhäutig. Nodon hatte Dylan nie gemocht. Er wirkte wie aus Licht und Wind gesponnen. Unwirklich, ätherisch, nicht greifbar. Seine silberfarbene Iris mit himmelblauen Einsprengseln erinnerte Nodon an den Türkisschmuck der Kobolde von Bainne Tyr, den fruchtbaren Ebenen unweit des Jadegartens. Das weiße Haar des Elfen war fein wie Spinnweben und reichte ihm über die Schultern bis fast zu seinem Gürtel. Dylan war kein Mann des Schwertes. Er war ein Zauberweber, wie es nur wenige unter den Drachenelfen gab. Wenn er ihn sah, überkam Nodon stets der Gedanke, dass alle Elfen so wie Dylan werden mochten, die sich zu sehr der Magie verschrieben. Diese Kunst zu üben entrückte die Zauberweber aus der wirklichen Welt. Und eines Tages würden, so vermutete Nodon, diese Elfen wie die Alben einfach verschwinden.

»Zwerge sind niedere Geschöpfe«, begann Dylan mit überraschend tiefer, melodiöser Stimme, die so gar nicht zu seiner zarten Erscheinung passen wollte. »Auch wenn ihr Anblick das Auge beleidigt und ihr Geruch eine Verwandtschaft mit Kobolden vermuten lässt, sollte keiner von euch den Fehler begehen, sie zu unterschätzen. Sie sind verschlagen und kämpferisch. In die Enge getrieben, werden sie womöglich über sich selbst hinauswachsen, um ihre Brut zu schützen. Und während die Männchen sich uns voller Todesverachtung entgegenwerfen, werden die Weibchen mit ihren Jungen zu den Häfen der Tiefen Stadt flüchten.« Dylan blickte zum leuchtenden Plan der Tunnel, der über ihren Köpfen schwebte, und neue Linien erschienen. Silbern, gewunden, mündeten sie in kleinen Seen. »Es gibt einen Haupthafen und etliche kleinere Nebenhäfen in der Zwergenstadt. Sie ist also wie ein Hasenbau angelegt, aus dem es stets mehr als einen Fluchtweg gibt. Doch morgen wird ihnen dies nichts nutzen. Selbst die Weißen Schlangen, geboren fern der Sonne in den Abgründen überfluteter Höhlen, werden an unserem Feldzug teilhaben. Ich selbst werde sie gemeinsam mit einigen auserwählten Novizen zu den Zwergenhäfen führen. Sie werden jedes jener Tauchboote, die von den Zwergen Aale genannt werden, zerschmettern, sobald sie versuchen, in den Schutz der unterirdischen Ströme zu flüchten. Und sie werden aus den Hafenbecken aufsteigen, um ihr Mahl unter den wenigen zu halten, die es bis zu den Landungsbrücken der Häfen schaffen. Viele werden es nicht sein! Wenn die Himmlischen ihr Feuer in die Stadt der Verdammten atmen, wird etwas Ungewöhnliches geschehen. Nicht allein die Flammen werden den Tod bringen. Die Luft wird schneller verbrennen, als sie durch die glühenden Schächte von der Oberfläche nachströmen kann. Das Feuer wird einen Wind entfachen, so stark, dass er womöglich auch uns Elfen von den Beinen reißt. Bitte betrachtet ganz genau die Karte über euren Köpfen und vergesst in der Hitze des Gefechtes nicht, was ihr jetzt sehen werdet!«

Nodon hob den Kopf und sah, wie sich das Glühen von den oberen Tunnelenden tiefer fraß. Gleichzeitig veränderte sich das Bild der am tiefsten gelegenen Tunnel und Höhlen. Ein silbernes Flimmern durchlief sie und strömte dem Glühen entgegen. Dabei veränderten sich auch die unteren Bereiche der Karte aus Licht. Aus dem Blau wurde ein mattes Orange, das sich immer weiter ausbreitete. »Die Luft wird aus den tiefsten Höhlen zum Feuer hingezogen werden«, fuhr Dylan fort. »Wer sich zu Beginn des Flammenangriffs dort unten aufhält, wird ersticken. Es gibt keine Rettung für die, die dort weilen. Ihr aber dürft bei eurem Angriff nicht zu schnell vorangehen. Gelangt ihr zu früh in diese Bereiche, seid auch ihr des Todes. Geht ruhig und besonnen vor. Und vergesst nicht, die Zwerge sind zäh. Niemand weiß, wie viele dort unten sind. Aber eines ist sicher – jene wenigen, die überleben, werden kämpfen. Unterschätzt sie nicht.«

»Damit unser Plan gelingen kann«, ergriff nun Lyvianne das Wort, »ist es wichtig, dass ein jeder von euch seinen Befehlen folgt. Jeder soll an einer vorbestimmten Stelle in die Tiefe Stadt eindringen und auf dem Weg vorgehen, den ich euch nun nennen werde. So wird sich das Netz um die Zwerge enger und enger ziehen, und keiner der Drachenmörder wird seinen tödlichen Maschen entgehen können.«

Nodon war überrascht, mit welch kühler Distanz Lyvianne sprach. Unter den Meistern der Weißen Halle war sie die rätselhafteste. Es hieß, dass ihre Kenntnis über die verschlungenen Pfade der Magie weit über das übliche Maß hinausreichte. Doch anders als bei Dylan schien sie das Studium dieser Kunst nicht verändert zu haben. Und falls doch, war es weniger offensichtlich als bei dem silberäugigen Elfen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Nodon Lyviannes Lager geteilt hatte. Dann war sie verschwunden … Ohne ein Wort hatte sie sich davongemacht. Er war über sie hinweg. Seit unendlich langer Zeit. Und sie war kälter denn je. Was auch seinen Reiz hatte …

Namen für Namen rief Lyvianne die Elfen der Weißen Halle auf und wies jedem einen Platz in dem großen, schwebenden Plan der Tiefen Stadt zu. Die Novizen sollten meist in kleinen Gruppen agieren. Die Meister und die Drachenelfen gingen allein.

Nodon sah zu Gonvalon. Der Schwertmeister hatte den Umhang eng um seine Schultern gezogen. Verfroren stand er etwas abseits der anderen, den Kopf leicht geneigt. Obwohl es Nodon schien, als lausche er nicht den Ausführungen Lyviannes, wirkte der Schwertmeister äußerst konzentriert. Ob der Goldene zu ihm sprach?

»Nun zu dir, Nodon.«

Der Elf blickte zu Lyvianne. Sie war noch schöner geworden mit den Jahren. Einmal noch hatte er ihr Avancen gemacht, nachdem sie für ein Jahr verschwunden gewesen war. Sie hatte ihn mit so harten, spöttischen Worten abgewiesen, dass er sie seither gemieden hatte.

»Du wirst diesen weiten Luftschacht nehmen, der dich hinab zum großen Hafen führt. Er endet etwa dreißig Schritt über den Anlegeplätzen. Das Wasser ist tief.«

Etwas in ihrem Tonfall beunruhigte Nodon. »Ich hoffe, die Weißen Schlangen wissen zwischen Elfen und Zwergen zu unterscheiden.«

»Wenn du nicht zu lange zögerst zu springen, wirst du vor ihnen den Hafen erreichen, Nodon.«

»Ich sorge mich nicht um mich«, entgegnete er spöttisch. »Es würde mich nur mit größtem Bedauern erfüllen, wenn ich einige unserer Verbündeten in dieser ruhmreichen Schlacht niederstrecken müsste, um mich ihrer blinden Fressgier zu erwehren.«

Die Himmelsschlangen hoben ihre Köpfe und blickten ihn an.

Still, Narr! Der Gedanke des Dunklen durchfuhr ihn wie ein Schwertstich.

»Du weißt nun, wo dein Platz ist, Nodon«, fuhr Lyvianne ungerührt fort. »Ich hoffe, du wirst uns nicht enttäuschen.« Damit wandte sie sich ab. »Nun zu dir, Gonvalon …«

Es ist Euch nicht bestimmt, in diesen Hafen zu springen. Und Ihr werdet auch nicht in die Tiefe Stadt gehen, um Zwerge niederzumachen. Ich habe Euren Widerwillen sehr wohl bemerkt. Deshalb sollt Ihr eine besondere Aufgabe erhalten. Ein Zwerg aus der Tiefen Stadt soll überleben. Und Ihr werdet für mich ausziehen, ihn zu holen, bevor Feuer und Schwert die Festhallen des kleinen Volkes in Leichenhallen verwandeln werden. Ihr werdet nun Folgendes tun …

Der verblassende Stein

Nodon hatte es hinausgezögert. Fast alle waren schon gegangen. Er hatte ein paar Worte mit Gonvalon gewechselt, obwohl er den Kerl nicht ausstehen konnte. Nannte sich Schwertmeister, aber was brachte er seinen Schülerinnen bei? Zu sterben! Sie alle verreckten auf ihrer ersten Mission. Wenn sie nur ihm Nandalee überlassen hätten … Aus dieser rebellischen Elfe aus Carandamon könnte einmal etwas werden. Sie hatte Talent, auch wenn sie immer davon faselte, eigentlich eine Bogenschützin zu sein. Sie hatte gute Reflexe. Intuition. Sie ahnte, was der Gegner tun würde. Das konnte man nicht lernen. Wenn er ihr Meister wäre, hätte sie eine große Zukunft vor sich. Er sollte sich keine Gedanken über Nandalee machen, dachte Nodon ärgerlich. Sie war Gonvalons Schülerin. Was bedeutete, dass sie jetzt schon totes Fleisch war.

Der leuchtende Plan des Tunnelsystems war verschwunden. An den Rändern der magischen Kuppel, die den Krater vor dem Sturmwind schützte, lag der Schnee schon mehr als hüfthoch. Nodon starrte in den Himmel hinauf. Es war hell, aber man konnte keine Sonne sehen. Nicht einmal Wolken. Es herrschte dichtes Schneetreiben. Wo sie wohl waren?

»Pass auf dich auf!« Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Ailyn. Sie trug ihr dunkles Haar offen. Ailyn reichte ihm nicht einmal bis zur Schulter. Sie war eine Meisterin im waffenlosen Kampf. So klein und zerbrechlich sie auch aussehen mochte, mit ihr Streit anzufangen war gefährlich. Ihr Gesicht war hart. Es gab nur gerade Linien und Winkel. Keine einzige Rundung. Ihr etwas zu langer Hals war hinter dem silberdurchwirkten Stehkragen ihres langen, geschlitzten Kleides verborgen.

»Im Hafen wird es gefährlich sein«, sagte sie und sah ihn auf eine Art an, als wolle sie sich auf immer verabschieden. Glaubte sie etwa, dass er sich nicht gegen ein paar Zwerge wehren konnte?

»Der Armbrustbolzen, der mich töten würde, ist noch nicht gefertigt«, antwortete er mürrisch und dachte zugleich: Was für einen Schwachsinn erzähle ich denn da!

Sie lächelte spöttisch. »Wenn du es sagst …«

»Ich habe keine Angst.«

»Nicht? Mich hält die Angst am Leben, wenn ich kämpfen muss. Sie schärft meinen Verstand. Auch wenn ich äußerlich ganz ruhig wirke – ich bin es nicht. Als wir Nandalee zur Weißen Halle geholt haben, wurde mein Pegasus getötet. Ich bin ganz allein unter einem Rudel von Trollen zurückgeblieben. Ich dachte, sie würden mich bei lebendigem Leib fressen. Du kennst wohl diese Geschichten … Sie haben mich tagelang durch den Schnee gehetzt …«

Nodon war überrascht von ihrer Offenheit. Ailyn galt sonst als still. »Diesmal sind es nur Zwerge«, sagte er, mehr aus Verlegenheit denn Überzeugung.

»Ja.« Sie blickte auf den zerwühlten Schnee.

Jetzt. Du musst vor ihr über den Drachenpfad gehen. Die Worte des Dunklen peitschten unerwartet in seine Gedanken. Nodon wandte sich abrupt von Ailyn ab. »Wir sehen uns in der Tiefen Stadt«, sagte er statt eines Abschieds. Dann schritt er durch die mattschwarze Fläche am Rand der Kuppel.

Unsichtbare Hände zerrten an ihm. Er fühlte sich emporgehoben. Dann war er umgeben von gleißendem Licht. Er kauerte, obwohl er sich nicht erinnern konnte, in die Knie gegangen zu sein. »Verfluchte Drachenpfade!« Er kniff die Augen zusammen. Es war heiß. Seine Hände tasteten über etwas Weiches … Sand? Vorsichtig blinzelnd sah er sich um. Da war eine schattenhafte Gestalt. Ein Elf?

Ich bin es. Wir haben nur einen Augenblick. Meine Nestbrüder dürfen nicht bemerken, dass ich den Pfad verlassen habe. Ich entbinde Euch von dem Befehl, den Ihr gerade erhalten habt, Nodon. Ihr werdet nicht durch einen Luftschacht in den Hafen der Tiefen Stadt springen. Ihr werdet jetzt schon in die Zwergenstadt gehen.

»Warum?« Der Elf blinzelte gegen das blendend helle Sonnenlicht an.

Fragt nicht! Ihr werdet einen Zwerg von dort fortholen.

Ein Bild erschien in Nodons Gedanken. Eine gedrungene, bärtige Gestalt mit wulstiger Nase und buschigen Augenbrauen.

Ihr werdet in einem unbedeutenden Seitentunnel aus dem Drachenpfad treten. Euch bleiben nicht einmal mehr dreiundzwanzig Stunden, um ihn zu finden und über den Drachenpfad aus der Stadt zu bringen. Er ist wichtig für die Zukunft Albenmarks.

Nie hatte er die Stimme des Erstgeschlüpften so intensiv empfunden. Sie war heiß und kalt zugleich. Voller Gefühl.

»Wo werde ich den Zwerg finden?«

Findet die Zwergendame Amalaswintha, dann findet Ihr auch ihn.

»Aber wie soll ich denn …«

Es bleibt keine Zeit für Erklärungen. Ihr werdet alles neben Euch im Sand finden.

»Wie soll ich tief im Berg, ohne die Sonne oder den Mond zu sehen, wissen, wie die Zeit verrinnt?«

Ihr werdet bei Eurer Kleidung einen Stein finden, von dem ein blasses Licht ausgeht. Mit jeder Stunde, die verstreicht, wird das Leuchten nachlassen und ein Fleck wachsen, der wie ein Stück eingeschlossene Kohle aussieht. Wenn der Stein ganz zu Kohle geworden ist, wird der Angriff beginnen. Bringt Euch vorher in Sicherheit, Nodon! Ihr habt gehört, was mit jenen, die in den tiefen Höhlen weilen, geschieht. Seid fort, bevor Ihr verbrennt oder erstickt.

Sengender Schmerz durchfuhr Nodons Leib. Diesmal war es anders. Die Stimme des Erstgeschlüpften hallte nicht länger in seinen Gedanken. Es war ein Schmerz, als würde jede einzelne Muskelfaser in seinem Leib zerreißen. Er schrie auf und kippte von Krämpfen geschüttelt seitlich in den Sand. Speichel quoll ihm über die Lippen, vermischt mit Blut. Seine Knochen schienen sich in seinem Fleisch zu bewegen. Sie zerrten an Muskeln und Nerven.

Hilflos in der Agonie der Pein, begriff er, was mit ihm geschah. Ich bin verflucht, dachte er. Dann löschte der Schmerz sein Bewusstsein.

Die Truhe

Endlich hörte der Sackpfeifenspieler auf, sein Publikum zu quälen. Wie Zwerge dieses Gequietsche Musik nennen konnten, würde Nandalee für immer ein Rätsel bleiben. Sie blickte zu dem Zwerg mit dem gestutzten Bart. Er nickte ihr zu, obwohl er sie nicht kannte, und plauderte dabei mit zwei Graubärten, die den goldenen Halsschmuck von Ratsherren trugen. Hornbori! Der letzte der drei Mörder. Der Einzige, den sie bislang noch nicht in seinen Privatgemächern besucht hatte. Soweit sie wusste, war er dort auch so gut wie nie anzutreffen. Er schien ständig auf irgendwelchen Festen und Ratsbesprechungen zu sein. Ihm irgendwo allein zu begegnen schien fast unmöglich.

Nandalee wandte sich ab und schlenderte zu der mit rotem Stoff verhängten Truhe in der Mitte der weiten Höhle. Amalaswintha hatte ihr nicht verraten wollen, was sich unter dem Tuch befand. Die Elfe glaubte einen schwachen Geruch von Blut wahrzunehmen. Aber sie war sich nicht sicher. Es gab zu viele andere Düfte. Den Rauch Hunderter Kerzen, den Duft des schweren Rotweins, den Amalaswintha großzügig ausschenken ließ, dazu den Geruch des Bratens, der süßen Kartoffeln und all der anderen Köstlichkeiten, die auf einem Buffet rings um eine der Tropfsteinsäulen arrangiert waren. Es waren kaum dreißig Zwerge anwesend. Sie alle schienen Würdenträger zu sein oder zumindest Vermögen zu haben. Es war außer ihr keiner dort, der sich nicht mit breiten goldenen Armreifen oder anderen Schmuckstücken behängt hatte.

Wieder blickte Nandalee zu der Truhe. Was Amalaswintha wohl vorhatte?

Hornbori kam auf sie zu. Er lächelte. »Wir sind uns schon einmal begegnet, nicht wahr? Du warst mit einem Ratsherrn aus den Ehernen Hallen in Galars Schmiede zu Besuch. Es ist ein paar Monde her, aber ich vergesse selten ein Gesicht. Galar hat sich damals recht ungebührlich aufgeführt. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Er ist recht … eigen.« Der Zwerg ergriff ihre Hand und drückte sie. Er hatte einen festen, trockenen Griff. Sie hingegen schwitzte.

»Das stimmt«, brachte sie ein wenig verlegen hervor.

»Amalaswintha erzählte mir, dass du großes Interesse daran hast, mich zu sehen.« Er breitete in einladender Geste die Arme aus. »Nun, hier bin ich. Was möchtest du wissen?«

Sie bedachte ihn mit einem verschwörerischen Blick und zog ihn ein wenig zur Seite. »Ich will offen zu dir sein, Hornbori. Der Eherne schickt mich, der Fürst meines Volkes. Er würde sich glücklich schätzen, dich, Galar und Nyr als seine Gäste willkommen zu heißen«, flüsterte Nandalee. »Er gedenkt bei der Versteigerung …«

»Drachenblut, nicht wahr? Darum geht es«, unterbrach Hornbori sie mit gönnerhaftem Lächeln. »Alle haben von dieser Geschichte gehört. Du willst einen Beweis, richtig?«

Nandalee hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Sie nickte zögerlich.

»Zieh dein Messer.«

»Was?« Sie starrte ihn entgeistert an. Sie wusste nicht, was geschehen war, aber irgendetwas schien sie ganz grundlegend falsch gemacht zu haben.

»Dein Messer,« beharrte Hornbori.

Nandalee bemerkte, wie sie angestarrt wurden. Die Zwerge, die auf sie aufmerksam geworden waren, grinsten. Sie schienen zu wissen, worum es ging. Nandalee zog ihre Waffe. Kaum dass sie die Klinge gezogen hatte, schlug Hornbori mit der flachen Hand vor die Schneide. »Siehst du, es stimmt.«

Sie verstand dieses Spiel nicht. Er hatte Glück gehabt, dass er sich nicht geschnitten hatte!

»Stich mir in die Hand!«

Amalaswintha war auf das Spektakel aufmerksam geworden. »Hast du tatsächlich noch jemanden gefunden, mit dem du dein kleines Spielchen noch nicht gespielt hast, Hornbori?«

»Er war neugierig. Er wollte es sehen.«

»Stich ihm in die Hand, damit wir alle unsere Ruhe haben, Arbinumja.«

Nandalee gehorchte. Sie stieß zu. So kräftig, dass der Arm des Zwergen zurückschnellte. Hornboris Hand war unverletzt geblieben.

»Drachenblut«, erklärte die Zwergin. »Galar hat irgendein Elixier gebraut, um das er ein großes Geheimnis macht. Immerhin wissen wir, dass ein wesentlicher Bestandteil Drachenblut ist.« Amalaswintha hatte die Stimme erhoben. »Und das lässt alle Träume, ein Heer unverwundbarer Zwergenkrieger aufzustellen, zerplatzen. Wie viel Drachenblut haben wir? Wann werden wir neues Blut bekommen? Taugt das Blut eines jeden Drachen, um den Zauber zu wirken, der Hornbori unverwundbar macht? Ich habe euch heute eingeladen, um mit euch über einen neuen Weg zu sprechen. Jeder von euch hier kennt Galar. Und niemand, der vernünftig denkt, wird seine Zukunft in die Hände dieses Wahnsinnigen legen wollen.«

»Eines Wahnsinnigen, der dir voraushat, dass seinen Worten bereits Taten folgten, meine Liebe«, entgegnete Hornbori lächelnd. »Sosehr ich dich schätze, ich glaube nicht, dass du einem Drachen entgegentrittst, um ihn vielleicht mit einer Nagelfeile zu erschrecken.«

Nandalee sah einige der Ratsherren grinsen. Wirklich zu lachen und die Dame Amalaswintha zu brüskieren, wagte jedoch niemand.

Auch Amalaswintha lächelte, doch ihre Augen blieben kalt. »Dass du Worte wie Armbrustbolzen zu verschießen vermagst, ist uns allen hinlänglich bekannt. Doch wie klug bist du in der Wahl deiner Allianzen? Gestern erst war ich in Galars Werkstatt. Und weißt du, was ich dort nicht gesehen habe? Drachenblut. Mir scheint, dein Freund hat die Gunst der Stunde genutzt, um sich eine goldene Nase zu verdienen.«

Hornbori schüttelte entschieden den Kopf. »Gold interessiert ihn nicht.«

Amalaswinthas Lächeln wurde breiter. »Sagt er das? Erstaunlich … Obwohl er wahnsinnig ist, scheint er ganz genau zu wissen, wie er dein Vertrauen erlangt. Ich bin noch niemandem begegnet, der nicht seinen Preis gehabt hätte. Vielleicht solltest du einmal nachschauen, um von deinen Träumen zu retten, was noch zu retten ist.«

Hornbori nahm es gelassen. »Ich weiß, dass es dich wurmt, am Weg in unsere Zukunft nicht beteiligt zu sein, und deshalb wirst du, ganz gleich, was du auch sagst, mein Vertrauen in meine beiden Gefährten nicht erschüttern können.«

»Ein Narr, der sehenden Auges in den Untergang geht.«

Nandalee spürte, dass alle Sympathien bei Hornbori lagen. Die Zwerge, die sich hier versammelt hatten, mochten Amalaswintha nicht. Sie lagen ohne Zweifel gerne in ihrem Bett, aber sobald sie es verließen, war sie ihnen unheimlich. Sie war zu reich, zu machtvoll, zu selbstbestimmt für ein Zwergenweib.

Amalaswintha trat an die verhüllte Truhe. »Kommen wir zum Höhepunkt des Abends.« Sie hob einen Zipfel des Tuches an. »Hier verbirgt sich nichts weniger als unsere Zukunft. Und es soll eine Zukunft sein, die auf unseren eigenen Kräften aufbaut und nicht auf Drachenblut.« Mit dramatischer Geste zog sie das Tuch beiseite.

Nandalee stockte der Atem. Keine Truhe, sondern ein Käfig war unter dem Tuch verborgen gewesen. Darin angekettet lag ein Elf. Er war nackt, sein Körper geschunden, gezeichnet von Schlägen und Brandwunden. Ein Eisenring war um seinen Hals gelegt. Und eine Kette, die durch eine Öse am Ring gezogen war, zwang seinen Kopf auf den Boden des Käfigs, sodass er mit einer Wange dort auflag. Seine Arme waren ihm auf den Rücken gebunden, und eine zweite Kette zerrte sie nach oben, was ihm fast die Schultergelenke auskugelte. Das Gesicht des hageren Elfen war von ihr abgewandt, dennoch erkannte Nandalee ihn auf den ersten Blick. Es war Duadan, ihr Ziehvater, der Älteste aus der Sippe der Windgänger.

Aufgeregtes Raunen erhob sich rings um sie, doch Nandalee vermochte kein Wort zu verstehen. Sie fühlte sich, als sei sie in Wasser eingetaucht. Die Welt hatte sich verändert. Alles war auf Distanz gerückt. Es gab nur noch sie und Duadan, den Seher ihres Volkes und väterlichen Freund.

Nandalee umrundete den Käfig und kniete nieder, um in das Antlitz des Jägers zu blicken, der ihr Leben stärker beeinflusst hatte als irgendein Drache. Duadans Augen waren fast ganz zugeschwollen, sein Gesicht blau und grün von Schlägen. Verfilzt und schmutzig klebte sein langes, weißes Haar am Schorf seiner Wunden. Sie hatten ihm die rechte Hand abgehackt. Der Stumpf war entzündet und stank nach Verwesung. Lange Schnittwunden zogen sich von seinen Fersen die Schenkel hinauf.

Unbändige Wut wuchs in Nandalee. Der Wunsch, alle zu töten, die ihm das angetan hatten. Wie Sayn, den es von innen heraus zerrissen hatte, sollten sie sterben. Nur sollte es langsamer gehen. Qualvoller. Einen schnellen Tod hatten diese Folterer nicht verdient.

»Ich spüre dich, meine Tochter.«

Nandalee traten Tränen in die Augen. Sie wollte etwas sagen, doch ein Kloß saß in ihrem Hals, und es war ihr unmöglich zu sprechen.

»Ich wusste immer, dass wir uns vor meinem Tod noch einmal wiedersehen.«

Es war ein Schock, ihn, der immer einen Weg gefunden und der sich vor nichts je gefürchtet hatte, ja, der gewiss selbst dem Immerwinterwurm aus den dunkelsten Legenden des Nordens mit einem siegessicheren Lächeln auf den Lippen entgegengetreten wäre, nun von seinem Tod sprechen zu hören. Duadan hatte immer gewusst, wo sie war, ganz gleich wie tief die Jagd sie in die Wälder führte. Er war es auch gewesen, der sie gefunden hatte, als sie auf der Flucht vor den Trollen gewesen war.

»Du bist in großer Gefahr, Nandalee. Sieh dich an. Du hast deinen Weg verloren. Wenn du diesen Höhlen entkommst, gehe in dich. Besinne dich darauf, wer du bist. Und nun sprich zu den Zwergen. Du musst sie täuschen … Für kurze Zeit noch.«

»Was sagt er?« Amalaswintha stand dicht vor ihr. Wut und Gier hatten ihr Gesicht entstellt. »Rede endlich!«

Die Worte der Zwergin klangen wie aus weiter Ferne. Nandalee fühlte sich benommen. Sie rang um Fassung. Jetzt, da sie den Zwergen in ihre hässlichen Fratzen blickte, wuchs aufs Neue der Zorn in ihr. Nein, sie hatten den Schutz der Drachen wahrlich nicht verdient. Sie waren keine Albenkinder. Sie waren Ungeheuer.

Amalaswintha wich vor ihr zurück. »Was …«

Einige der Zwerge griffen sich an ihre fetten Bäuche. Nandalee dachte an Sayn. An die Knochen, die aus seinem zerfetzten Fleisch geragt hatten, und sein Blut, das durch die Spiralmuster am Boden der Höhle des Schwebenden Meisters geflossen war.

»Er klagt über Schmerzen«, sagte sie mit kalter Stimme.

Skorri, der Ratsherr, trat zwischen den Zwergen hervor. »Du musst ihn fortbringen! Es bringt Unglück, sich mit Elfen einzulassen. Er wird fliehen und Mord und Verderben in die Tiefe Stadt bringen.«

»Er geht nirgendwo mehr hin.« Amalaswinthas Stimme klang schrill. »Ich habe ihm die Sehnen an den Fersen durchtrennt und weit bis in seine Schenkel hinauf herausgeschnitten. Wenn er sich bewegen will, wird er kriechen müssen.« Sie wandte sich an Nandalee. »Und nun sag uns: Was redet er?«

»Tu nichts Unbedachtes, meine Tochter. Es ist nicht an dir, Rache zu nehmen.«

Ein Kribbeln lief durch ihre Glieder. Ein Gedanke nur, und sie würde sich in ihre wahre Gestalt zurückverwandeln. Aber dann wäre sie für einige Augenblicke hilflos. Die Zwerge würden sie in Stücke reißen, wenn sie sahen, was mit ihr geschah. Es sei denn, sie wären tot …

»Er verflucht dich, Amalaswintha.« Ihr Name war wie Galle in Nandalees Mund.

»Ich gehe!«, sagte Hornbori laut. »Aus dieser Sache wird nichts Gutes erwachsen. Der Alte in der Tiefe sollte wissen, was du hier treibst.« Der Zwerg presste sich eine Hand auf den Leib, als habe er Schmerzen.

Wieder trat das Bild des sterbenden Sayn vor Nandalees Augen.

»Er sagt, ihr alle werdet in eurem eigenen Blut ertrinken.« Nandalee sprach mit tonloser Stimme, wie in Trance. Die Worte kamen, ohne dass sie darüber nachdachte. Sie hatte immerzu das Bild des Blutes, das durch die Steinspiralen rann, vor Augen. Waren die Spiralen ein Symbol für die Tiefen Städte der Zwerge? Es würde Blut fließen, deshalb war sie hierhergekommen.

»Tu es nicht!« Duadans Stimme klang wie aus weiter Ferne zu ihr. »Tu es nicht!«

Schattenmänner und Betrüger

Hornbori hatte das Gefühl, es müsse ihn zerreißen. War es nur seine Wut, oder wirkte der verfluchte Elf einen Zauber? Wie hatte Amalaswintha so dumm sein können! Einen lebenden Elfen hierher in die Tiefe Stadt zu bringen. Sie waren unberechenbare Mörder! Kein Zwerg wusste, was Elfen alles zuzutrauen war.

Hornbori musste sich an der Höhlenwand abstützen. Ihm war übel. Dieser Druck in ihm … Vielleicht hatte er auf dem Fest auch einfach nur etwas Falsches gegessen. Er hatte in den letzten Tagen zu oft, zu üppig gespeist. Er würde sich mäßigen müssen! Aber wie sollte er das tun, ohne seine Gastgeber zu beleidigen? Festgelage und überreichlicher Genuss von Pilz gehörten dazu, wenn man zum Rat gehörte. Das mussten die ersten Anzeichen dafür sein, dass er alt wurde.

Hornbori passierte das protzige Portal zu Amalaswinthas Palast. Geberic lehnte dort und bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. »Du gehst schon so früh?«

Wusste der Kerl, was dort drinnen vor sich ging? Wortlos taumelte Hornbori die kurze Treppe vor dem Eingangsportal hinab und lehnte sich an eine gemauerte Brüstung. Direkt vor der Höhle gab es einen tiefen Felsspalt. Was das Gestein hatte aufreißen lassen, wusste Hornbori nicht. Ein Erdbeben? Vielleicht hatte es auch schon immer so ausgesehen. Jedenfalls hatte dort unten der Grundstock zu Amalaswinthas Vermögen gelegen. Sie hatte ihre Arbeiter tief in den Spalt geschickt, wo sie auf eine unfassbar ertragreiche Goldader gestoßen waren.

»Du siehst nicht gut aus, Ratsherr.« Spöttisches Gelächter begleitete die Worte Geberics. Zwei weitere Leibwächter hatten sich zu ihm gesellt.

Hornbori richtete sich auf, atmete tief durch und bemühte sich um einen möglichst würdevollen Abgang. Er hatte Geberic noch nie leiden gemocht. Der Kerl führte sich auf, als sei Amalaswintha seine Tochter oder Schwester. Jeden ihrer Liebhaber geleitete er mit kühler Herablassung in den Palast seiner Herrin.

Hornbori dachte an die wenigen Nächte, die er mit Amalaswintha verbracht hatte. Sie war aufregend. Steckte voller ungewöhnlicher Ideen. Und sie war vollkommen größenwahnsinnig! Er kannte sich damit aus, er wusste durchaus um seinen eigenen Ehrgeiz. An Amalaswinthas Seite musste jeder Mann zu einem Schatten verblassen. Ihm war schnell klar geworden, dass er an ihrer Seite niemals hätte aufsteigen können.

Wieder gingen ihm ihre Worte durch den Kopf. Hatte Galar ihn verraten? Der Schmied war überreichlich mit Drachenblut versorgt worden, darauf hatte er persönlich geachtet. Drachenblut, das wäre der Schlüssel zu seiner Zukunft. Hatte Galar es verkauft? Der Schmied war wahnsinnig! Ihm war alles zuzutrauen. Er musste wissen, ob Amalaswintha recht hatte. Aber alleine mochte er sich nicht in Galars Höhle wagen. Ihm gegenüber würde der Schmied nur frech. Aber wenn er Nyr mitbrachte, sähe die Sache ganz anders aus. Wenn Galar in Anwesenheit seines Freundes den Betrug eingestehen müsste, wäre ihm das gewiss entsetzlich peinlich.

Hornbori fühlte sich erleichtert. Der Schmerz in seiner Brust ließ nach. Mit weiten Schritten eilte er am Abgrund entlang und bog in den ersten Tunnel, der ihn näher zum Herzen der Stadt bringen würde. Weit voraus sah er einen Zwerg ihm entgegenkommen. Der Kerl trug ein scharlachrotes Wams. Ungewöhnlich … Vielleicht stammte er aus einer Gesandtschaft aus Ishaven? Die Zwerge aus dem äußersten Norden hegten eine eigenwillige Vorliebe für aufdringliche Farben. Dazu passte auch das silberblonde Haar des Kerls. Er hatte etwas Ungewöhnliches an sich. Hornbori musste an eine Katze denken, während er den Zwerg näher kommen sah. Katzen und Zwerge, das passte nicht zusammen!

Der Fremde wirkte erleichtert, ihn zu sehen.

»Ich suche den Palast der Dame Amalaswintha«, sagte er ohne Umschweife. Er sprach mit dem harten Akzent des hohen Nordens.

Hornbori schreckte zurück, als er in die Augen des Ishaveners blickte. Sie waren vollkommen schwarz, ohne erkennbare Iris und ohne Weiß. Er schluckte … Mit wem hatte sich Amalaswintha da schon wieder eingelassen?

»Deine Augen …«

Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. »Das geschieht, wenn man zu lange in das blendende Weiß des Schnees blickt. Manche werden sogar blind davon.«

Darüber hatte Hornbori schon einmal erzählen hören. »Geh geradeaus, bis der Tunnel an einer weiten Felsspalte endet. Dann hältst du dich links. Nach zweihundert Schritt erreichst du ein prächtiges Portal, an dem ein Wichtigtuer mit einem goldenen Nasenring Wache steht. Dies ist der Eingang zu ihrem Palast.«

Der Ishavener bedankte sich und ging zügig weiter. Einen Moment lang sah Hornbori ihm noch nach. Dann musste er wieder daran denken, ob Galar ihn tatsächlich betrogen hatte.

Unter den Schwingen der Drachen

Es ist keine Angst, dachte Bidayn und wusste es doch besser. Sie saß abseits der anderen im Schatten einer windschiefen Zeder und sah ihre Ausrüstung durch. Vor dem Befehl, über den Drachenpfad zu gehen, hatte sie das Nötigste in aller Eile zusammengerafft. Ein Kettenhemd und ein Helm mit geschlossenem Visier. Unter dem Helm lugte das kleine Beutelchen aus Hasenfell hervor, in dem sie einen Mondstein verwahrte, ihren Glücksbringer. Sie strich über das Fell und schluckte. Ihr Mund war staubtrocken. Dafür waren ihre Hände schweißnass. Immer wieder musste sie an ihren letzten Kampf denken. An die entsetzlichen Schmerzen, als sich ihr eigener Zauber gegen sie gewandt hatte und sie in die Gewalt eines leibhaftigen Devanthar geraten war.

Bidayn streifte ihre dünnen Seidenhandschuhe ab und betrachtete das Rautennetz aus Narben, das sich über ihre Handrücken zog. Ihr ganzer Körper war mit diesem unauslöschlichen Narbenmuster bedeckt. Dies war der Preis für ihren ersten Kampf gewesen. Der Preis dafür, dass sie sich gegen die Kraft des magischen Netzes gestemmt hatte, statt mit ihr zu fließen.

Bidayn blickte auf das Schwert, das sie schon nach Nangog begleitet hatte. Die Klinge war etwas länger als ihr Unterarm, geschmiedet aus makellosem Silberstahl. Eines der verwunschenen Schwerter, das die Drachen erschaffen hatten. Sie sah im spiegelnden Silberstahl die Narben, die ihre Augenbrauen zerteilten, sich über ihren Nasenrücken zogen und ihr Gesicht mit einem Rautenmuster aus dünnen, weißen Linien verunzierten. In ihren Augen war sie nie eine Schönheit gewesen. Männer, die ihr gefallen hatten, hatte sie bislang nur aus der Ferne bewundert, wie etwa Sayn in der Höhle des Schwebenden Meisters. Jetzt würde sie nicht einmal das wagen. Die Narben verunstalteten auch ihr Gesicht. Sie war ein Ungeheuer geworden.

Bidayn hörte hinter sich das leise Knirschen von Geröll. Sie musste lächeln. Das war gewiss Lyvianne. Die Meisterin der Weißen Halle hätte sich auch lautlos bewegen können, aber sie wollte, dass Bidayn sie hörte.

Lyvianne war in den langen Monden, die Nandalee verschwunden gewesen war, zu ihrer Vertrauten geworden. Sie war ihre Meisterin, ihre Lehrerin und ihre Freundin. In ihr sah sie eine Seelenverwandte. Auch Lyvianne wurde gemieden, obwohl sie eine atemberaubende Schönheit war. Wie gerne wäre sie so wie sie. Sie nahm sich die Männer und legte sie wieder ab, wenn sie ihrer überdrüssig war.

Bidayn drehte sich um. Lyvianne trug ein langes, weißes Kleid mit Stehkragen. Ihr Haar war streng zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten, was sie unnahbar wirken ließ. Sie schenkte Bidayn ein freundschaftliches Lächeln. Wie sehr beneidete sie Lyvianne um ihre vollen, sinnlichen Lippen und die geheimnisvollen, grünen Augen!

»Hast du Angst?«

Bidayn nickte. »Ja.«

Lyvianne kniete neben ihr nieder und legte ihr schlankes Schwert auf das Geröll. »Auch ich bin vor jedem Kampf ein wenig unruhig. Wir werden zusammen hinuntergehen.«

»Aber ich bin für einen anderen Schacht eingeteilt …«

»Das habe ich geändert.« Lyviannes schmale Hand strich über das Kettenhemd, das auf einem Tuch ausgebreitet lag. »Das wirst du nicht brauchen.«

»Aber wir werden doch …«

»Das Metall stört dich, wenn du eins sein willst mit dem Zauber, der in allem wohnt. Es schirmt dich dagegen ab. Nicht so sehr wie Blei – aber es stört dich beim Zauberweben. Ebenso der Helm hier. Auch behindern sie dich im Kampf. Dein Gesichtsfeld wird beschränkt, du wirst langsamer durch das Gewicht des Stahls auf deinen Schultern. Es ist nicht klug, so dort hinabzusteigen.«

»Ich bin keine Meisterin wie du«, wandte Bidayn ein.

»Du hast dich mir anvertraut, und ich weiß, wo du deine Narben empfangen hast. Du standest einem Devanthar gegenüber und hast diese Begegnung überlebt. Außer dir können das nur noch Nandalee und Gonvalon von sich behaupten. Sei weniger bescheiden, meine Liebe.« Lyvianne nahm mit spitzen Fingern den Beutel aus Hasenfell hoch. »Das wirst du auch nicht brauchen. Du allein schmiedest dein Glück. Ein Stück Fell und ein Stein haben nichts damit zu tun, wie deine Zukunft aussehen wird. Nimm dein Schwert! Damit werden Entscheidungen getroffen. Du bist keine Hofdame, du wirst eine Drachenelfe sein. Zeig den anderen deinen Stolz und nicht deine Schwächen.«

Worte, dachte Bidayn bitter. Sie waren so wohlfeil, gingen so leicht über die Lippen. Aber ihre Angst vermochten sie nicht zu bannen.

Lyvianne löste ihr Kleid. In fließender Bewegung glitt es zu Boden. »So werden wir dem Tod entgegentreten, meine kleine Tochter. Ganz so, wie wir in diese Welt getreten sind.« Sie nahm ihr Schwert auf und zog die funkelnde Klinge aus der Scheide. »Du hast gelernt, wie du den Tod auf eine Klingenlänge Abstand halten kannst, und dich bereits im Kampf bewiesen. Es wird mir eine Ehre sein, an deiner Seite zu fechten.« Sie sagte das so ernst und respektvoll, dass Bidayn ihre Worte nicht länger anzweifelte. Auch sie griff nach ihrem Schwert.

»Leg dein Kleid ab.«

Bidayn errötete. Das konnte sie nicht! Ihr Narbennetz zur Schau stellen …

»Wir werden durch die Flammen der Drachen gehen, meine Tochter. Ihr Feuer wird unser Gewand sein. Es wird uns umfließen, ohne uns zu verbrennen. Aber alles, was wir mit uns nehmen, gehört den Flammen. Unsere Klingen werden glühen. Die Kleider werden verbrennen. Lass alles zurück. Nur deinen Mut und dein Schwert nimm mit.«

Sie dachte wieder an die entstellenden Narben. Doch dann fasste sie sich ein Herz. Wenn sie erst einmal in den Höhlen waren, wäre sie mit Lyvianne allein. Und ihre Meisterin wusste ohnehin um das Narbennetz und woher es kam. Wenn sie wenigstens offen über ihren Kampf auf Nangog reden könnte …

»Wusstest du, dass viel über dich geflüstert wird?«

Bidayn seufzte. Natürlich wusste sie das. So, wie sie aussah!

»Die anderen halten dich für eine der mächtigsten Zauberweberinnen, die je die Weißen Hallen besuchte. Und nachdem du so lange fort warst, sind sie überzeugt, dass die Himmelsschlangen schon jetzt darüber streiten, wem du einst gehören wirst. Sie wissen, dass du auf deine erste Mission geschickt wurdest, noch bevor du zur Drachenelfe wurdest. Du beginnst eine Legende zu werden.« Lyvianne schob ihr die Hand unter das Kinn und hob sanft ihren Kopf. »Denke nicht so viel an deine Narben. Du kannst sie nicht verschwinden lassen, also trage sie mit Stolz. Betrachte sie als Ehrenmale. Sie sind Teil deiner Legende. Und heute wirst du der Saga über dich viele neue Strophen schenken.«

Lyviannes Worte taten ihr gut. Stimmte es wirklich? Redeten die anderen gar nicht über ihre Narben, sondern über ihre Taten?

Bidayn öffnete ihr Kleid und ließ es zu Boden sinken. Sie betrachtete das Narbenmuster auf ihrer Haut mit anderen Augen. Lyvianne hatte recht, sie musste sich dem stellen, was sie war, statt vor sich davonzulaufen.

»Gehen wir!«

Bidayn blickte zum Himmel, dann sah sie ihre Meisterin verwundert an. »Es ist doch noch viel zu früh.«

»Der Goldene hat entschieden, den Angriff um einige Stunden vorzuverlegen.«

»Aber warum? Bringt das nicht alle Pläne durcheinander?«

»So können wir ganz sicher sein, dass wir die Zwerge wirklich überraschen«, entgegnete Lyvianne mit einem Unterton, der Bidayn an Verrat denken ließ.

»Könnten die Zwerge gewarnt worden sein?«

Lyvianne lächelte kühl. »Was immer gerade in der Tiefen Stadt vor sich gehen mag, wir können ganz sicher sein, wir werden alle dort unten überraschen.« Mit diesen Worten nahm Lyvianne sie bei der Hand und führte sie über einen schmalen Saumpfad ins Tal hinab.

Sie sah, wie überall im Tal Elfen aufbrachen und in kleinen Gruppen verschwanden. Die Himmelsschlangen schienen etliche Drachenpfade angelegt zu haben, damit möglichst alle Krieger zur gleichen Zeit eintrafen. Auch die Drachen verschwanden in den Schatten zwischen den hellen Felsen. Es war unheimlich zu sehen, wie schnell sich das weite Tal leerte. Und alles geschah vollkommen lautlos.

»Werden die Zwerge uns nicht kommen sehen?« Bidayn hatte ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt, um die Stille nicht zu stören.

»Wir haben eine Vorhut geschickt, um jeden Zwerg zu töten, der sich vielleicht auf dem Berg aufhalten könnte. Die Überraschung wird vollkommen sein.« Lyvianne deutete auf einen Spalt zwischen zwei Felsblöcken. »Dies ist unser Weg.«

Bidayn musste an das Fenster in der Bibliothek der Weißen Halle denken. Das mahlende Glas, das jeden erwartete, der einen Fehler machte, wenn er diesen Drachenpfad öffnete. Sie nahm all ihren Mut zusammen und trat zwischen die beiden Felsen. Etwas zerrte an ihr, dann hatte sie das Gefühl zu stürzen. Undurchdringliche Dunkelheit umgab sie, drei Herzschläge lang, dann fand sie sich auf weichem Waldboden. Es duftete nach Harz und Kiefernnadeln. Auch hier war es dunkel, doch die Finsternis war nicht so vollkommen wie auf dem Pfad zwischen den Welten. Zwischen Bäumen schimmerte der Mond am Himmel. Unmittelbar vor ihr ragte ein massiger alter Baumstumpf auf. Er war groß wie ein eingestürzter Turm. Baumpilze wucherten aus dem bleichen Holz, von dem sich längst alle Rinde abgeschält hatte. Efeuranken, durchsetzt von pfeilgeraden, jungen Schösslingen, umlagerten die Flanken des Baumstumpfs. Aus seinem Inneren aber stieg Rauch empor.

Plötzlich war Lyvianne an ihrer Seite. Ihre Meisterin deutete mit dem Schwert auf den Baumstumpf. »Dort hinauf. Darin verbirgt sich einer der unzähligen Rauchabzüge der Tiefen Stadt. Das wird unser Weg zu den Zwergen sein.« Sie trat an das Wurzelwerk und zog ein aufgerolltes Seil darunter hervor.

Indessen kletterte Bidayn den Stumpf empor und blickte in den von Rauch geschwärzten Schacht hinab. Was würde sie dort unten erwarten?

Lyvianne knotete das Seil an einer der Wurzeln fest und kam zu ihr hinauf. »Sieh nur.« Die Elfe deutete über einen Windbruch hinweg, den Hang des Berges hinab. Die gestürzten Bäume gaben den Blick auf den Abhang frei. Drachen verdunkelten den Himmel. Überall am Hang sah Bidayn sie landen. Dazwischen, im Halbdunkel der Bäume, huschten helle Gestalten.

»Einen Angriff wie diesen hat es noch nie gegeben«, sagte Lyvianne voller Stolz. »Bei Sonnenaufgang wird die Tiefe Stadt zur Toten Stadt geworden sein.«

Ein Schatten fiel auf sie. Wind peitschte in Bidayns Gesicht. Die Baumwipfel ringsherum beugten sich, als ein riesiger Sonnendrache über ihnen erschien. Er schien direkt auf sie hinabzustürzen. Bidayn wollte davonlaufen, doch Lyvianne hielt sie fest.

»Du musst ruhig bleiben! Er hat uns gesehen und wird uns nicht verletzen. Erst wenn du läufst, bist du in Gefahr.«

Dünne Äste krachten. Staub wirbelte Lyvianne ins Gesicht. Bidayn schloss die Augen, als die Schattengestalt sich über ihnen niederließ. Krallen gruben sich knirschend in das faulige Holz des großen Baumstumpfs. Der Wohlgeruch des Sonnendrachens überlagerte den Gestank des Rauchs, der aus dem Schacht aufstieg.

Ein schwanengleicher Hals beugte sich neben ihnen hinab. Bidayn blickte in ein goldenes Auge, dessen geschlitzte Pupille länger als ihr Mittelfinger war. Die großen Nüstern des Drachen blähten sich.

Lyvianne sprach ein Wort der Macht und berührte sie an der Stirn. Wohliges Schaudern überlief Bidayn. Sie spürte, wie sich das Netz der Kraftlinien um sie zusammenzog. Nichts Bedrohliches haftete ihm an. Der Zauber umgab sie wie ein schützender Kokon.

Der rotgeschuppte Drache hob seinen Kopf weit in den Nacken. Er schien auf etwas zu lauschen, das Bidayn nicht zu hören vermochte. Den Befehl zum Angriff?

Ohne Einladung

Nodon dankte den Alben stumm dafür, den Zwerg mit dem verbrannten Gesicht getroffen zu haben. Obwohl er sein Bestes gegeben hatte, sich das Tunnellabyrinth der Tiefen Stadt einzuprägen, hatte er sich hoffnungslos verlaufen. Wahrscheinlich lag es auch an diesem fremden Körper, in den er gezwängt war und der alle seine Sinne beschnitt. So viel kleiner zu sein veränderte die Wahrnehmung! Die Wege waren plötzlich länger. Alles erschien ihm höher und eindrucksvoller.

Er tastete nach den beiden kurzen Schwertern, die er unter seinem Umhang verborgen hielt. Es waren Drachenklingen. Die sollte besser kein Zwerg zu sehen bekommen. Er zog den seltsamen Stein hervor, den Nachtatem ihm überlassen hatte. Das Kohlestück war gewachsen und machte schon fast die Hälfte des Steins aus. Aber fünf oder sechs Stunden sollten ihm noch bleiben. Mehr als genug Zeit, um den Zwerg aufzuspüren, ihn zum Drachenpfad zu bringen und aus diesem Labyrinth zu fliehen.

Nodon war es schleierhaft, warum Nachtatem unbedingt einen Zwerg aus dieser zum Untergang verdammten Stadt holen wollte. Vielleicht wäre der Kerl ja in Zukunft einmal wichtig. Nachtatem beriet sich immerzu mit den Gazala, die mit ihm in der weiten Halle tief unter der Pyramide im Jadegarten lebten. Diese Seherinnen waren seltsam. Die wenigen Male, die Nodon ihnen begegnet war, hatte er stets das Gefühl gehabt, dass sie Dinge über ihn wussten, die ihm selbst noch unbekannt waren. Sie waren kühl und abweisend. Sie wussten sicherlich, warum dieser Zwerg noch weiterleben sollte. Er sollte seine Zeit nicht mit unnützen Gedanken vergeuden. Es war nicht seine Aufgabe, Fragen zu stellen. Was er zu tun hatte, war klar umrissen. Hoffentlich machte der Zwerg ihm keine Schwierigkeiten. Gut, dass der Kerl gerade ein Fest besuchte. Dort könnte er unauffällig mit ihm ins Gespräch kommen.

Bald erreichte Nodon den Weg entlang der Felsspalte. Eilig schritt er voran und fand das Portal, das ihm beschrieben worden war. Mitten unter dem Tor stand ein Zwerg mit verschränkten Armen. Ein breiter, goldener Ring steckte in seiner Nase. Man musste wohl Zwerg sein, um das hübsch zu finden.

»Was willst du?«, fragte der Torwärter barsch. Hinter dem Kerl erschienen noch zwei weitere finster dreinblickende Zwerge, die sich in wohl geübter Pose auf mannsgroße Äxte stützten.

»Ich wünsche das Fest der Dame Amalaswintha zu besuchen.«

»Das wünschen viele«, entgegnete der Nasenringträger herablassend.

»Ich suche einen ihrer Gäste.«

Der Wächter zog die Brauen zusammen und machte einen Schritt auf ihn zu. »Dann wirst du wohl warten müssen, bis er durch dieses Tor kommt. Und du wartest nicht hier, dass das klar ist. Geschmeiß wie dich wünscht die Dame Amalaswintha nicht in der Nähe ihres Palastes zu sehen.«

Nodon wich ein Stück zurück. Er hasste es, bedrängt zu werden. »Ich habe eine dringende Nachricht für diesen Gast …«

»Was schert mich das?« Der großspurige Wächter rückte wieder ein Stück vor. Für einen Zwerg roch er erstaunlich dezent.

Nodon stand jetzt mit dem Rücken zur Brüstung, die den Weg säumte. »Was muss ich tun, um auf dieses Fest zu gelangen?«

»Um dieses Portal zu durchschreiten, brauchst du eine Einladung.« Der Wächter musterte ihn abschätzig. »Und du siehst nicht aus wie jemand, der eine Einladung auf ein Fest Amalaswinthas bekommt. Und …« Jetzt schwang ein wenig Unsicherheit in der Stimme des Zwergs. »Was ist mit deinen Augen?«

»Sind sie schwarz? Das geschieht immer, wenn ich mich ärgere. Wo wir gerade von einer Einladung sprechen …« Nodon griff unter seinen Umhang. Einen Augenblick lang genoss er den verblüfften Ausdruck auf dem Gesicht des Leibwächters. Der Kerl befürchtete offensichtlich, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben. Unrecht hatte er damit nicht, nur dass es eine andere Sorte Fehler war, als er ahnte. Nodon blickte auf beide Seiten, um sich zu vergewissern, dass niemand auf dem Pfad entlang der Felsspalte unterwegs war.

Der Torwächter setzte gerade an, etwas zu sagen, als Nodon sein Kurzschwert zog und ihm die schlanke Klinge durch Mund und Oberkiefer stieß. »Meine Einladung«, sagte der Elf trocken, zog das zweite Schwert und schleuderte es einem der beiden Axtträger entgegen. Die Klinge zerteilte dessen Bart dicht unter dem Kinn und grub sich tief in die Kehle des Kriegers.

Nodon stürmte vor und nutzte den Augenblick, den ihn der dritte Wächter vor Entsetzen gelähmt anstarrte. Er warf sich mit aller Wucht gegen den Zwerg und stieß ihn zu Boden. Sofort war er über ihm und stieß ihm den ausgestreckten Mittelfinger durch das linke Auge.

Der Zwerg schrie auf.

Nodon fluchte. Diese kurzen, stummeligen Zwergenfinger! Als Elf konnte er auf diese Weise töten. Er packte den Bart des Zwergs und riss dessen Kopf mit einem scharfen Ruck zur Seite. Das Geschrei verstummte.

Nodon wischte seine blutigen Finger am struppigen Bart des Toten ab. Erneut sah er sich aufmerksam um. Nichts rührte sich. Es hatte kaum zehn Herzschläge gedauert, die drei Zwerge zu töten. Niemand schien es gesehen zu haben. Nun mussten nur noch die Leichen verschwinden.

Nodon warf die drei Körper über die Steinbrüstung in den Abgrund. Dann löschte er die Öllampen rings um den Eingang zu Amalaswinthas Palast. Die wenigen Blutspritzer auf dem Fels waren im Dunkeln nicht mehr zu erkennen. Nodon massierte sich den Finger, den er dem dritten Zwerg ins Auge gestoßen hatte. Er hatte ihn sich verstaucht. Verdammter Zwergenleib! Er würde sich beeilen, diesen lästigen Auftrag zu beenden, damit er wieder ein Elf sein konnte.

Der Bote

»Bitte, Nandalee. Du darfst sie nicht töten. Sie haben Fenella! Ich bin verloren, aber für Fenella besteht noch Hoffnung. Du musst sie retten.«

Die Worte erreichten Nandalee kaum. Ihre Wut war zum alles beherrschenden Gefühl geworden. Sie spürte ein Reißen in ihren Gliedern. Ihr Leib wollte seine ursprüngliche Form zurück. Den verhassten Zwergenkörper abstreifen.

»Arbinumja, was geht hier vor?«

Nandalee wich vor Duadan zurück. »Er … Er sagt, es gäbe noch eine Elfe hier unten.«

»Scheiße, nein!«, schrie Skorri auf. »Wie viele von diesen Ungeheuern hast du in die Stadt gebracht?«

Amalaswintha blieb erstaunlich ruhig. »Sag dem Elfen, dass er aufhören soll mit dem, was er gerade tut. Wenn mir etwas geschieht, wird auch das Elfenmädchen sterben. Sie ist an einem Ort, zu dem außer mir niemand geht. Übersetz ihm das!«

»Du musst ihn umbringen, sofort!«, beharrte Skorri. »Elfen bringen nur Unglück. Du siehst es doch. Sieh dir Arbinumja an. Sein ganzer Bart ist voller Blut. Und hattest du nicht auch das Gefühl, es würde dich gleich zerreißen? Deine Augen sind ganz rot …«

Nandalee wandte sich wieder an Duadan. »Wie bist du hierhergekommen?«

»Die Trolle haben unser Lager überfallen.« Duadan blickte durch sie hindurch, während er sprach, so als würde er geradewegs in die Vergangenheit sehen. »Sie kamen nicht lange, nachdem wir uns zum letzten Mal gesehen hatten … Sie haben uns überrascht. Sie waren plötzlich da. Es gab nicht einmal einen richtigen Kampf. Sie wollten uns lebend. Vorerst. Sie brachten uns zum Königsstein und … und …« Duadans Stimme versagte. Sein Blick war aus der Vergangenheit zurückgekehrt. Er starrte sie mit bebenden Lippen an. Es lag kein Vorwurf darin. Nur Traurigkeit.

Hätte sie nur nie den Pfeil auf den Troll abgeschossen, dachte sie voller Reue. Mit diesem Schuss habe ich meine Sippe ausgelöscht.

»Das Zwergenweib hat mich von den Trollen gekauft. Mich und Fenella. Sie ist mit einer ganzen Karawane von Lastschlitten gekommen. Ich glaube, sie hat mit Trockenfleisch und Met für uns bezahlt.« Er lächelte bitter. »Der Preis für ein Elfenleben liegt hoch.«

Amalaswintha bedrängte sie erneut zu übersetzen, was der Elf zu sagen hatte. Auch die übrigen Zwerge hatten neuen Mut gefasst und scharten sich um sie. Begierig hingen sie an ihren Lippen, als sie ihnen eine Lüge nach der anderen über Duadan erzählte.

»Du bist jetzt eine Drachenelfe, nicht wahr?« Es brach ihr schier das Herz, mit wie viel Hoffnung ihr Ziehvater sie fragte. »Eine Zauberweberin und Schwertmeisterin.«

Lag da Stolz in seinem Blick, oder wünschte sie sich nur, dass es so wäre?

»Du kannst Fenella befreien. Bring sie lebend von hier fort und versuche die Überlebenden aus dem Königsstein zu befreien.«

»Es gibt Überlebende?«

»Als mich die Zwerge holten, waren es noch sieben.« Er zählte ihre Namen auf.

»Was erzählt er da?«, mischte sich Amalaswintha ein.

»Er nennt die Namen der sieben Meister, bei denen er die Kunst des Zauberwebens erlernte.« Nandalee kämpfte darum, gleichmütig zu klingen, doch ihre Stimme geriet immer wieder ins Stocken. Zu schwer lastete die Schuld auf ihr, um mit leichter Zunge Lügen erzählen zu können. Sie stellte sich vor, wie die sieben in feuchten Höhlen eingekerkert dahinvegetierten, ohne Hoffnung auf Rettung. Der Willkür der Trolle ausgeliefert.

»Wird er mich die Kunst des Zauberns lehren?«, wollte Amalaswintha wissen.

Nandalee bemerkte, dass diese Frage bei den übrigen Zwergen Verblüffung, ja sogar Ärger provozierte. Selbst Skorri, der sich sonst so unterwürfig gab, runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. Offensichtlich hatte Amalaswintha an ein großes Tabu gerührt.

Duadan hatte die veränderte Stimmung ebenfalls bemerkt und bedrängte Nandalee, ihm zu erklären, was unter den Zwergen vor sich ging.

»Sie hat also die Gabe, Zauber zu weben«, sagte er nachdenklich und maß Amalaswintha mit Blicken.

»Willst du sie wirklich …«

»Wenn sie den Preis zahlt, den ich fordere. Sie soll die Überlebenden unserer Sippe freikaufen. Für jedes Leben werde ich sie ein Jahr lang unterrichten.«

»Aber die Zwerge werden dieses Wissen vielleicht nutzen, um gegen Elfen und Drachen zu kämpfen«, begehrte Nandalee auf.

»Das Leben der letzten meiner Sippe ist mir kostbarer als das von Elfen und Drachen, die in die Städte der Zwerge kommen, um dort Krieg zu führen«, sagte Duadan, und jedes seiner Worte traf sie wie ein Dolchstoß. »Du bist auf den Wegen der Magie schon unendlich viel weiter gegangen als ich.« Seine Stimme klang nun versöhnlicher. »Was kann ich ihr schon beibringen? Einen Jagdzauber, der sie Spuren lesen lässt, die für das Auge nicht mehr sichtbar sind? Einen Zauber, der feuchtes Holz zum Brennen bringt? Ist dieser Preis zu hoch, um die zu retten, die mir teuer sind?«

»Ich werde Fenella hier herausholen«, beharrte Nandalee. »Und dich! Und gemeinsam befreien wir unsere Freunde …«

»Du willst dich allein gegen eine Zwergenstadt stellen und danach mit einem Krüppel und einem Mädchen als Gefährten die Macht der Trolle herausfordern?« Er lächelte. »Du magst aussehen wie ein Zwerg, Nandalee, aber du hast dich nicht verändert. Übersetze ihr meinen Vorschlag. Ein Jahr für ein Elfenleben. Das ist kein zu hoher Preis.«

Nandalee war überzeugt, dass es nicht klug war, Amalaswintha so schnell so weit entgegenzukommen. »Er bietet dir an, dich sieben Zauber zu lehren. Sein erster Zauber wird dein Altern beenden. Du wirst sein wie die Elfen. Deine Schönheit wird niemals verblühen, und dein Leben wird ewig währen, solange keiner kommt, um es dir zu nehmen.« Sie sah am Glanz in Amalaswinthas Augen, dass dies der richtige Weg war. »Allerdings verlangt er, dass du auch die übrigen Elfen, die bei den Trollen gefangen gehalten werden, rettest und hierherbringst, damit er sie sehen kann.«

»Das ist widernatürlich«, empörte sich einer der Graubärte unter den Zwergen. »Zu altern gehört zum Leben. Du darfst dich nicht mit diesem Elfen einlassen! Du bist keine mehr aus unserem Volk, wenn du das tust, Amalaswintha!«

»Du hast leicht reden, Gadaric, deine Jugend ist verflossen, und nicht einmal Zaubermacht vermag sie zurückholen.« Amalaswintha wandte sich den übrigen Zwergen mit herausforderndem Blick zu. »Aber wer von euch würde das Geschenk der ewigen Jugend ablehnen, wenn ich es ihm anbieten könnte? Wenn ich den Zauber des Elfen erst einmal gemeistert habe, kann jeder von euch Unsterblichkeit erringen. Wer von euch spuckt darauf? Du, Gadaric, wenn du spürst, wie die Kälte des Todes unter deinem eisgrauen Bart nach deiner Kehle greift? Oder du, Skorri, wenn die Jahre deine Manneskraft dahinschmelzen lassen? Warum sollten wir nicht begehren, was den Elfen geschenkt ist? Warum sollten wir nicht gegen die Ungerechtigkeit der Schöpfung aufbegehren?«

»Weil wir Zwerge sind«, entgegnete Gadaric mit fester Stimme. »Wir sind dazu geboren zu altern. So haben es die Alben entschieden. Was ist ein Jahr noch wert, wenn ein Leben ewig währt? Und was wären wir, wenn wir nicht mehr altern? Ganz gewiss keine Zwerge mehr!«

»Worüber streiten sie?«, wollte Duadan wissen.

»Darüber, wer das Gold für all die Güter aufbringen soll, die die Trolle im Austausch für die übrigen Elfen verlangen werden«, log sie.

»Also werden sie sich auf meinen Vorschlag einlassen?«

Nandalee zögerte. Noch nie zuvor hatte sie Duadan belogen.

Ein junger Zwerg betrat die festlich geschmückte Höhle. Etwas an der Art, wie er sich bewegte, kam Nandalee vertraut vor. Der Fremde blickte sich um. Seine ganze Haltung hatte etwas Herausforderndes. Er trug ein schreiend rotes Wams, das in starkem Kontrast zu seinem silberblonden Haar stand.

»Wer bist du?«, fuhr Amalaswintha ihn ärgerlich an. »Ich hatte verboten, diese Zusammenkunft zu stören. Wo steckt Geberic? Warum hat er dich hereingelassen?«

Der blonde Zwerg blickte Nandalee an. Seine Augen! Sie waren vollkommen schwarz!

»Ich suche ihn«, sagte der Fremde ruhig und deutete dabei auf Nandalee. »Ich habe eine Nachricht für ihn.«

»Du bist hier nicht willkommen.« Skorri trat ihm entgegen. Plötzlich verharrte er. Furcht lag in seinem Blick. »Bei den Alben«, keuchte er entsetzt. »Was ist mit deinen Augen? Sie …«

»Sind sie schwarz?«, fragte der Fremde ironisch. »Das geschieht, wenn man mich erzürnt. Der Herr von Ishaven hat mich geschickt. Und meine Mission duldet keinen Aufschub.«

Der graubärtige Gadaric packte Skorri und zog ihn aus dem Weg. »Der Kerl ist ein Berserker. Reize ihn nicht. Wer schickt so einen Boten?«

Amalaswintha rief nach ihren Leibwachen.

Der Fremde stand nun unmittelbar vor Nandalee. Sie kannte diese Augen. Ungezählte Stunden hatte sie im Jadegarten diesem kalten Blick standzuhalten versucht. »Nodon?«, flüsterte sie.

Der Zwerg runzelte die Stirn.

»Ich bin es, Nandalee.« Ihre Stimme war nur noch ein Hauch.

Immer noch rief Amalaswintha nach ihren Leibwächtern. Sie stand inzwischen am Eingang der Festhalle.

»Du musst hier fort. Stell keine Fragen.«

Ja, kein Zweifel, das ist Nodon, dachte Nandalee. Immer direkt, ohne Erklärungen. »Ich kann nicht«, zischte sie ärgerlich. »Hilf mir! Sie halten Elfen aus meiner Sippe gefangen. Wir müssen sie hier herausholen!«

Nodon zog einen eigenartigen Stein hervor. Ein Kristall, in den ein Stück Kohle eingeschlossen war. Plötzlich wuchs die Kohle im Kristall an und füllte ihn nun fast ganz aus. Nodons Hand begann zu zittern. Sein bärtiges Gesicht war eine Fratze des Entsetzens geworden. »Es beginnt …«, stammelte er.

Die Spur des Blutes

Nyr war leicht zu finden gewesen. Seit Tagen lungerte er in der Nähe der Amethysthalle herum, schlug sich den Wanst voll und und betrank sich. Während der Versteigerung wurde reichlich Essen und Trinken angeboten, und niemand wagte es, einen der Drachentöter davonzujagen, selbst wenn er sich danebenbenahm.

Nyr dazu zu bringen, mit ihm Galars Höhle aufzusuchen, war Hornbori wesentlich schwerer gefallen. »Du irrst dich«, lallte sein Gefährte. »Galar würde uns niemals betrügen.«

»Wenn ich danebenliege, kannst du ihm gerne sagen, was für ein mieser Kerl ich bin.« Hornbori wünschte sich, dass er sich irrte. Und er verfluchte Amalaswinthas Worte. Sie wusste zu gut, wie sie ihn treffen konnte. Und jetzt noch dieser Elf! Welche dunklen Pläne schmiedete sie? Er dachte an die Beklemmung in seiner Brust, die ihn plötzlich überfallen hatte, als Amalaswinthas Übersetzer mit dem Elfen gesprochen hatte. War das nur seine Angst gewesen? Es war töricht, sich mit Elfen einzulassen. Fast so töricht, wie Drachen zu jagen.

Sie hatten den Tunnel zu Galars Höhle erreicht. Hornbori schob Nyr vor sich her. Der Geschützmeister taumelte bedenklich. Nyr hatte am wenigsten von ihrem Abenteuer profitiert. Galar hatte alles bekommen, was er für seine verrückten Versuche brauchte. Er selbst war in den Rat aufgestiegen, aber Nyr … Er sollte sich etwas überlegen. Sie brauchten den Schützen noch.

Galars Höhle war viel größer geworden, seit Hornbori vor vielen Monden hier hinabgestiegen war, um dem Schmied zu erklären, dass man ihm, Hornbori, die Goldenen Schwingen verleihen würde. Damals hatte Galar an einer Kette über einem riesigen Kessel gehangen. Der Kessel war noch da, aber die Höhle war verlassen. Es herrschte noch immer ein heilloses Durcheinander. Dutzende Tische, beladen mit Kisten und Kästen, Tiegeln und Flaschen, uraltem Brot, Käsestücken, Kräutern und halb mumifizierten Gliedmaßen von allerlei Tieren. Das war Galars Leben.

Es stank erbärmlich hier unten. Kaum zu ertragen. Auf einem der Tische lag ein ganzer Berg schimmelnden Koboldkäses. Galar hatte immer noch nicht herausfinden können, was man anstellen musste, um noch einmal jenen Brei aus Drachenblut und Koboldkäse herzustellen, der seine Hand unverwundbar gemacht hatte, als sie zufällig damit in Berührung gekommen war. Hornbori mochte gar nicht daran denken, wie viel Gold bereits in diese Experimente geflossen war.

Er ließ den Blick über die Tische schweifen und bedauerte, dass er vergessen hatte, ein parfümiertes Tuch mitzubringen. Der Gestank war kaum zu ertragen. Er atmete in kurzen, hechelnden Stößen durch den Mund.

Bald hatte er das Gefühl, dass irgendetwas Pelziges auf seiner Zunge wucherte. Nyr schien der Gestank nichts auszumachen. Sein Gefährte stützte sich schwer auf einen der Tische und blinzelte. »Es ist weg …«

Der Geschützmeister hatte recht. Der Tisch, auf dem immer die Holzgestelle mit den Phiolen voller Drachenblut gestanden hatten, war leer. Nirgends waren die auffälligen, kaum fingerdicken Gläser mit dem leuchtend roten Blut zu entdecken.

»Dafür gibt es eine Erklärung«, lallte Nyr.

Natürlich gibt es die, dachte Hornbori. Amalaswintha hatte ihn nicht belogen. Galar verhökerte ihr Drachenblut! Der verdammte Mistkerl. »Ich werde den Drecksack …«

»Still«, sagte Nyr und rülpste leise. Er kniff die Augen zusammen und verharrte völlig reglos. »Der Brunnen.« Leicht schwankend machte er sich auf den Weg zum ummauerten Brunnenschacht.

Auch Hornbori hatte etwas gehört, einen merkwürdigen Laut über einem der Abzugsschächte. Es hatte wie ein tiefes Einatmen geklungen, was natürlich blanker Unsinn war. Erstaunlich, was für seltsame Geräusche der Wind verursachen konnte. Er folgte Nyr zu dem Schacht. Sein Gefährte hatte sich bereits über den Brunnenrand gebeugt und starrte hinab. Vielleicht war ihm auch einfach nur übel.

»Da ist was«, lallte Nyr und schob sich abenteuerlich weit über den Brunnenrand.

Hornbori packte ihn beim Gürtel. »Ersäuf dich nicht, du Narr. Du …« Hornbori entdeckte einen Handabdruck auf dem Brunnenrand. Jemand war erst vor Kurzem aus dem Schacht heraufgestiegen. Eisensprossen waren in die Brunnenwand eingelassen. Das Wasser war irgendwo in dunkler Tiefe verborgen. Sollte Galar auf diesem Weg geflohen sein? Hatte er dort unten einen kleinen Aal? Zuzutrauen war ihm alles.

»Ich steig mal da runter«, murmelte Nyr und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien.

Hornbori zog ihn zurück und schwang sich selbst auf den Rand der Brunnenummauerung. »Ich steig da hinab. Oder hast du Lust, nass zu werden?«

Nyr klappte den Mund auf und zu. Er rülpste noch einmal, und der süßliche Geruch von Met schlug Hornbori ins Gesicht. »Nö!«, brummte Nyr, machte dabei aber den Eindruck, als habe er seine Überlegungen noch nicht gänzlich abgeschlossen. Mit seinem kurzen, versengten Bart und den roten Brandnarben im Gesicht sah er zum Erbarmen aus. Hornbori dachte, was für ein Glück er bei der Drachenjagd gehabt hatte, und trat auf die oberste Sprosse. Das Metall war nass und rutschig. Ohne Zweifel war hier erst vor Kurzem jemand heraufgekommen. Aus dem Wasser! Das war ganz und gar unzwergisch! Hornbori hielt die feuchten Sprossen fest umklammert und blickte nach unten. Er konnte kein Wasser sehen. Der Schacht verlor sich im Dunkel. Aber die Feuchtigkeit war zu spüren.

Er konnte nicht schwimmen. Wenn er abstürzte und es unten an der Brunnenwand keine Sprossen mehr gab … Nicht daran denken, ermahnte er sich stumm und umklammerte die kantigen Eisensprossen so fest, dass sie ihm in die Handflächen schnitten.

Er dachte an Galar und versuchte sich zu erinnern, ob der Schmied je einen gewaschenen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Reinlichkeit und Galar, das waren zwei Welten, die nicht zueinanderfanden. Auch der Betrug, den er ihm unterstellte, passte nicht zu dem Schmied. Galar war ein unverträglicher Kotzbrocken. Ein egoistischer Mistkerl, durch und durch. Und deshalb würde er sich das Blut einfach nehmen und sich nicht in aller Heimlichkeit davonmachen. Das war einfach nicht Galars Stil.

»Na, haste auch Angst, nass zu werden?« Nyr grinste zu ihm herab. Der Geschützmeister hatte sich wieder bedenklich weit über den Brunnenrand gelehnt.

Hornbori stieg eine vierte Sprosse hinab, um dem feuchtwarmen Met-Atem zu entfliehen. Er war in seinem ganzen Leben noch nicht in einen Brunnen geklettert. Es wäre vernünftig, hier wieder herauszukommen und einfach oben auf Galar zu warten. Irgendwann würde der Schmied schon erscheinen. Ein falscher Tritt … Noch einmal blickte er in die dunkle Tiefe. Nein, für solch aberwitzige Abenteuer war er nicht geschaffen. Wenn er jetzt wieder aus dem Brunnen kletterte, dann war das keine Feigheit, sondern ein Sieg der Vernunft!

»Was war denn das?« Nyr drehte sich um.

Flammen füllten den runden Ausschnitt der Höhlendecke, den Hornbori aus dem Brunnenschacht sah. Nyr schrie auf, verlor das Gleichgewicht und fiel ihm entgegen. Die Kleider des Geschützmeisters standen in Flammen!

Hornbori drehte den Kopf zur Seite. Nyr prallte auf ihn wie ein Felsbrocken. Die Flammen, die aus seinem Wams schlugen, griffen nach Hornboris kümmerlichen Bartresten. Im Reflex schlug er mit der Hand nach dem Feuer und rutschte von den nassen Eisensprossen ab.

Schreiend stürzten sie dem Dunkel entgegen.

Liuvar

Nodon ließ den plötzlich zu Kohle gewordenen Stein fallen und riss sie mit sich. Entsetzt blickte er zur himmelblauen Höhlendecke hinauf. Sein Schreck währte nur einen Augenblick, dann trat ein entschlossener Zug in sein Gesicht. Er berührte sie an der Stirn und murmelte ein Wort der Macht. Dabei zerrte er sie in Richtung des Höhlenausgangs.

»Was hat das zu bedeuten?« Ein Schauder überlief Nandalee. Eine angenehme Kühle umfing sie wie an einem Sommermorgen in regendurchnässtem Wald.

Sie erreichten den Durchgang, durch den Amalaswintha geeilt war, um nach ihren Leibwächtern zu suchen. Duadan sah ihnen nach. Im Blick des Sehers lag etwas, das ihr Angst machte. Ein stummer Abschied. Als wisse er ganz genau, was geschehen würde.

»Wir sind inmitten einer Stadt, die sterben wird«, sagte Nodon mit feierlicher Stimme. »Ich glaube nicht, dass wir entkommen können. Ich werde nicht im Körper eines Zwerges gefangen sein, wenn der Tod zu mir kommt.«

Nandalee verstand nicht. Die Stadt sollte sterben? Wovon sprach er? Nachtatem würde Meuchler zu den Mördern des Schwebenden Meisters schicken. Wie sollte eine Stadt sterben?

Nodon griff unter seinen Umhang und reichte ihr ein Kurzschwert. Sie roch das Blut, das daran haftete, obwohl die Klinge sauber gewischt war. Sie musste ganz genau hinsehen, um die feinen, dunklen Linien in der ziselierten Parierstange der Waffe zu entdecken.

Nodon brach in die Knie. Sein Mund klaffte auf. Seine Zähne verschoben sich im Kiefer, das Gesicht schien auf dem Schädelknochen zu verrutschen. Der Bart verschmolz mit Haut und Fleisch. Gepeinigtes Keuchen entrang sich seiner Kehle.

»Bei den Alben, Arbinumja, was ist das? Ist er krank? Ist das ansteckend? Ist …«

Nandalee hob das Kurzschwert und stellte sich breitbeinig vor ihren wehrlosen Gefährten.

»Besessen ist er«, sagte Gadaric. »Habt ihr nicht seine Augen gesehen? Kein Zwerg sieht so aus! Seine Seele hat sich verfinstert. Ihr Schatten scheint selbst durch seine Augen. Du musst ihn töten, Arbinumja.«

Nandalee hob das Schwert mit beiden Händen, sodass dessen Spitze auf Nodons Brust wies. Seine Zwergengewänder waren von ihm abgefallen wie die Haut einer Schlange. Die Verwandlung war fast abgeschlossen.

Ein Hauch berührte sie. Körperlos, einer Ahnung entsprungen, brachte er eine Kälte, die bis tief in die Knochen drang. Duadan hatte den Kopf zur Seite gewandt und sah sie an. Seine Lippen formten Worte, denen er keine Stimme schenkte. Und doch vermochte sie seinen letzten Gruß zu lesen. »Gehe deinen Weg, Nandalee, die du die Seele meiner Tochter trägst. Liuvar.«

Flammen umfingen Duadans Käfig. Gleißend hell schienen sie geradewegs aus dem blau gemalten Höhlenhimmel hinabzufahren. Nandalee stürmte vor, das Schwert erhoben, um die eisernen Gitterstangen des Käfigs zu zerschlagen. Duadans Gestalt war nur noch ein Schatten inmitten von Flammen.

Ihre Klinge fuhr nieder und glitt mit schrillem Kreischen über das Metall. Ihr Ziehvater krümmte sich. Sie griff nach seiner Hand. Die Hand, die sie so lange behütet hatte, wurde zu Asche, während sie sie hielt.

Das Feuer vermochte Nandalee nicht zu verletzen. Es brannte die Zwergenkleider von ihrem Leib. Ihr Schwert wurde rot glühend. Sie spürte, wie die Lederbänder, mit denen der Griff umwickelt war, sich zusammenzogen und dann ebenfalls zu Asche wurden. Tränen aus geschmolzenem Eisen rannen die Gitterstäbe hinab, dann bogen sich die Stangen, und der Käfig sank in sich zusammen.

Nandalee tastete ungläubig über das schmelzende Metall. Konnte nicht fassen, dass Duadan, der immer Rat gewusst hatte, nun nicht mehr war. Und so wenig die Hitze sie zu verbrennen vermochte, so unbändig war der Schmerz, der in ihrem Inneren wuchs. Sie bäumte sich mit einem schrillen Schrei auf, der all ihr Unglück und ihre Einsamkeit mit sich trug. Ihr Körper wollte schier zerreißen. Sie wand sich wild durch die Pfütze weiß glühenden Metalls. Längst war ihr Schwert verschwunden, eins geworden mit den Gitterstäben, denen Duadan nun entflohen war.

»Liuvar«, flüsterte Nandalee, als der Schmerz nachließ und sie begriff, dass Duadan nicht tot, sondern frei war. Seine Seele würde wiedergeboren werden. Die Martern durch Trolle und Zwerge hatten ein Ende. »Liuvar«, hauchte sie noch einmal. »Frieden, mein Freund.«

Nandalee hatte ihre wahre Gestalt angenommen. Geschmolzenes Eisen perlte wie Quecksilber von ihrem Leib, als sie sich erhob. Das Wort der Macht, das Nodon gesprochen hatte, schützte sie vor der Hitze des Feuers.

Die Flammen waren verschwunden. Ebenso die Zwerge, die gerade noch Amalaswinthas Gäste gewesen waren. Die weite Höhle war vom Ruß geschwärzt, und der falsche Himmel hatte Risse bekommen. Die Pfütze aus geschmolzenem Metall schimmerte in mattem Rot. Es war das einzige Licht, das die gleißenden Flammen hinterlassen hatten.

»Nandalee.« Nodon stand im Durchgang zu dem Tunnel, in den Amalaswintha verschwunden war, um nach ihren Leibwachen zu suchen. Er war nackt wie sie, doch war er weit genug vom Zentrum der Flammen entfernt gewesen, dass sein Schwert nicht geschmolzen war. »Wir müssen fort. Schnell.« Seine Stimme klang rau. Sein Atem ging keuchend, als sei er eine weite Strecke gelaufen.

Auch Nandalee fühlte sich atemlos. Ein öliger Geschmack lag auf ihrer Zunge. Den Gedanken, woher er stammen mochte, verdrängte sie sofort wieder. Sie dachte an die Schuld, die auf ihr lastete. An Fenella und die Gefangenen in den Höhlen beim Königsstein. Sie musste Fenella finden, Duadans Nichte! Was hatte Amalaswintha über die Elfe gesagt? Sie ist an einem Ort, zu dem außer mir niemand geht. Nandalee hatte eine Ahnung, wo das sein mochte!

Nodon hielt sie zurück, als sie an ihm vorbeiwollte. »Vorsicht. Noch sind nicht alle Zwerge tot. Diese Furie hat erstaunlich viele Leibwächter.«

Nandalee ging in die Knie und spähte in den Tunnel. Einzelne ersterbende Lichter flackerten entlang der Wände. Etwa zwanzig Schritt entfernt stand ein halbes Dutzend Zwerge, die Armbrüste im Anschlag.

Sie zog sich vorsichtig zurück.

»Sie werden uns in den Rücken schießen, wenn wir versuchen, zum Ausgang zu gelangen«, stellte Nodon nüchtern fest.

»Dann willst du sie also angreifen?« Nach jedem einzelnen Wort rang Nandalee um Atem.

Statt zu antworten, bedachte Nodon sie mit einem schmallippigen Lächeln.

»Nur um sicherzugehen … Zwei Krieger, die zusammen ein Schwert besitzen, stürmen in einem engen Tunnel auf zehn Armbrustschützen zu. Das ist dein Schlachtplan, ja?«

»So, wie du das schilderst, hört es sich nicht sonderlich ausgefeilt an.« Sein Lächeln wurde ein wenig breiter. »Aber ich denke, es ist besser, als sich in den Rücken schießen zu lassen.«

»Unbedingt!« Nandalee erhob sich, bog in den Tunnel ein und wurde vom scharfen Klacken der Armbrüste empfangen.

Kein Zwergentod

Wasser und Dunkelheit. In blinder Panik ruderte Hornbori mit Armen und Beinen. Er war im Wasser gelandet. Der Sturz hatte ihn in die Tiefe dunkler Fluten gerissen. Um und um sich wirbelnd hatte er alle Orientierung verloren, wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Die grausamen Flammen waren verloschen … Oder blickte er einfach nur in die falsche Richtung? Er drehte sich, streckte die Hände aus. Verfluchtes Wasser! Zwerge waren nicht zum Schwimmen erschaffen. Felsgräber waren sie, Steinespalter. Der Erde verschworen. Wasser … Das war nicht ihre Welt.

Ihm ging die Luft aus. Nicht mehr lange … Seine Finger glitten über schlüpfrigen Fels. Eine Wand. Fast hätte er aufgelacht. Der Brunnen war nicht weit. Man musste ein Idiot sein, um keine der Schachtwände zu finden. Aber wo war oben? Dort, wohin die Luftblasen stiegen! Seine Lungen brannten wie Feuer. Er musste atmen! Doch erst musste er ein wenig von seiner kostbaren Atemluft aufgeben. Dann würden ihm die Luftblasen den Weg weisen. Er pustete durch seine zusammengepressten Lippen. Spendete ein wenig der Luft, die sein Leben bedeutete. Sie strich seine Hand entlang, mit der er die Silberblasen, die er im Dunkel nicht zu sehen vermochte, ertastete. Luftblasen, groß wie Taubeneier, strichen über seinen Bart, und er stellte sich vor, wie sie seinen Füßen entgegeneilten, um dann ganz und gar mit der Dunkelheit zu verschmelzen, in die auch er eingehen würde. Sie waren ihm nur ein kleines Stück voraus, die … Was dachte er da! War er denn von Sinnen? Luftblasen, die seinen Füßen entgegenstiegen? Er arbeitete sich in die falsche Richtung die Brunnenwand entlang.

Erneut überkam ihn Panik. Er drehte sich. Zu viel?

Ich bin tot, dachte Hornbori. Tot! Ertrunken! Was für ein unwürdiges Ende. Er wünschte, er wäre in den Flammen umgekommen oder auf einem blutigen Schlachtfeld. Oder zumindest in einem Steinschlag in den Tiefen des Berges. Ertrinken, das war kein Tod für einen Zwerg.

Seine Sinne lösten sich von dieser Welt. Er ließ sich treiben, glitt einem Licht entgegen. Was erwartete ihn nach dem Tod? Beklommen dachte er daran, dass niemand seinen Leichnam finden würde. Wer suchte schon einen Zwerg am Grund eines Brunnens? Und die letzte Tat seiner Existenz würde darin bestehen, das Wasser zu vergiften, in dem er lag. Mist! Was für ein jämmerliches Ende.

Er hatte keine Kraft mehr. Ließ sich dem Licht entgegengleiten … Nein, nicht gleiten. Er wurde dem Licht entgegengezogen. Etwas hatte ihn gepackt! Erschrocken atmete er aus, und Finsternis umfing ihn.

»Du wirst jetzt wieder atmen, du schleimiger Haufen Scheiße!« Ein heftiger Schlag traf Hornbori auf der Brust.

»Hörst du, du … du … du …«

Hornbori blinzelte.

»Siehst du, er lebt!«, rief eine andere Stimme. »Hab ich es dir doch gesagt.«

Ein weiterer Hieb traf Hornbori auf die Brust. »Was lebt, das atmet, Rattenhirn. Atme!«

»Ratten sind nicht dumm, Galar. Wirklich nicht …«

Noch ein Hieb. »Glotz nicht! Atme!«

Hornbori bäumte sich auf und spuckte Wasser. Sehr viel Wasser. Seine Lungen brannten. Ihm war schwindelig. Er fühlte sich den Toten näher als den Lebenden. Ein Zittern überlief ihn, das er einfach nicht zu beherrschen vermochte. Er musste wohl ziemlich elend aussehen, wenn selbst Galar darauf verzichtete, Späße zu machen.

Hornboris Kraft reichte kaum, den Kopf zu heben. »Danke.« Das Wort schob sich wie ein großer, runder Stein über seine Lippen. Schwer, von Speichel benetzt, unecht.

»Wir konnten dich ja nicht absaufen lassen«, kam es ein wenig unwirsch von Galar. »Was ist da oben passiert?«

»Feuer kam von der Höhlendecke«, murmelte Nyr und zog dabei die Augenbrauen zusammen. »Heiß wie Drachenatem! Ja, ich weiß, wie sich das anhört. Aber genau so war es …«

Galar strich sich über seine kümmerlichen Bartreste. »Sie haben uns also gefunden. War nur eine Frage der Zeit.«

Hornbori lag noch immer am Boden, zu schwach, um sich aufzurichten oder gar an dem Gespräch zu beteiligen. Stumm dankte er den Alben dafür, noch zu leben. Zumindest vorübergehend noch.

»Ihr habt unglaubliches Schwein gehabt«, stellte Galar mit dem Anflug eines Lächelns fest. »Hier unten sind wir vor dem Drachenfeuer sicher. Niemand weiß von diesem Tunnel.«

Hornbori verdrehte die Augen und blickte in den spärlich beleuchteten Stollen. Er war mit allerlei Gerümpel vollgestellt und unterschied sich in seinem Chaos nicht im Mindesten von der Werkstatt des Schmiedes. Auf einer Werkbank lagen Werkzeug und Lederreste durcheinander. Auch hier stank es nach dem grässlichen Koboldkäse. Alchemistische Gerätschaften waren zu unübersichtlichen Abfolgen von bauchigen Flaschen über Öllampen aufgebaut, verbunden durch ein Netzwerk in Spiralen gebogener Kupferröhrchen. Und dann entdeckte er die dunkelroten Glasphiolen. Sauber in kleinen, eigens angefertigten Setzkästen. Ordentlich mit eng beschriebenen Pergamentstreifen beklebt, ein Hort der Ordnung, der ganz und gar Galars Charakter widersprach. Das Drachenblut! Hierher war es also gekommen. Der Schmied hatte sie nicht bestohlen. Im Gegenteil, er hatte das Blut in weiser Voraussicht in Sicherheit gebracht.

»Wie haben die denn unter all den Luftschächten den zu deiner Höhle gefunden? Und woher wussten die Drachen, dass wir dort unten sind? Das Feuer drang in die Höhle, kaum dass wir eingetreten waren.«

Galar stieß einen tiefen Seufzer aus und musterte Nyr, als habe er es mit einem Idioten zu tun. »Na, das liegt doch wohl auf der Hand, wie sie das gemacht haben. Mit Drachenmagie! So haben sie uns mitten in der Tiefen Stadt unter Tausenden Zwergen aufgespürt.«

»Wenn da Magie im Spiel ist … müssten die dann nicht auch wissen, dass wir noch leben?«

Hornbori schluckte. Übelkeit und Schwindel waren vergessen. Er blickte zu der dunklen Wasserfläche, auf der sich das Licht der Öllampen spiegelte.

Galar begann wieder über die Reste seines Bartes zu streichen. Hektischer nun. »Sie werden uns einen ihrer Drachenelfen schicken. So wie sie es immer tun, wenn jemand es wagt, sich gegen die Tyrannei der Himmelsschlangen aufzulehnen.«

»Wär vielleicht besser gewesen, uns hätte das Feuer erwischt«, krächzte Hornbori mit brennender Kehle.

Galar fuhr zu ihm herum. »Dich hat niemand gefragt, Schisser! Wär vielleicht besser gewesen, wir hätten dich ersaufen lassen.«

»Einen Drachenelfen können wir nicht besiegen«, sagte Nyr beklommen. »Die Magie der Himmelsschlangen beschützt sie. Sie sind wie Geister, mit …«

»Halt’s Maul! Wer sagt denn so was? Unbesiegbar, dass ich nicht lache. Niemand hat je einen Drachenelfen gesehen.«

Hornbori schloss die Augen. Warum hatte er sich nur mit diesem Einfaltspinsel eingelassen? »Begreifst du nicht, dass du gerade Nyr bestätigst? Wer einen Drachenelfen sieht, der kommt nicht mehr dazu, davon zu berichten. Sie sind unbesiegbar.«

Galar lächelte auf eigentümliche Art. »Und ich sage dir, auch Drachenelfen kann es erwischen. Und dann werden sie in kleine Stücke zerschnibbelt. In ganz kleine!« Ein irrer Glanz lag in den Augen des Schmiedes. Er glaubte offensichtlich an den Unsinn, den er da redete!

»Vielleicht hat er recht.« Nyr deutete zu der Wasserfläche. Der Ausstieg in die Höhle war nicht sonderlich groß. Eine kreisrunde Öffnung, kaum mehr als einen Schritt weit. »Wenn ein Drachenelf kommt, müssen wir ihn erwischen, wenn er den Kopf aus dem Wasser streckt. Das ist der einzige Augenblick, in dem er vielleicht verwundbar ist.«

»Das kriegen wir hin!« Galar lächelte grimmig, ging ein Stück weit in den Stollen, kramte in einem der Haufen von Plunder, die überall herumlagen, und stieß bald ein zufriedenes Grunzen aus. Unter Kupferblechen und rostigen Werkzeugen zog er eine riesige Axt hervor.

»Ich glaube, das hier ist härter als ein Drachenelfenschädel!«

Am Abgrund

Der große Drache beugte seinen Hals vor und spie seine Flammen in den Schacht. Die Luft ringsherum schien zu flüssigem Glas zu werden. Sie wirkte dichter, wogte in unnatürlichen Wellen, und alles wirkte seltsam verzerrt. Ganz so, als blicke man durch eine bewegte Wasseroberfläche in ein Bachbett.

Gonvalon spürte die Hitze nicht. Lyvianne hatte ein Wort der Macht über ihn gesprochen. Sie vertraute ihm. Noch nie hatte er sich einem Befehl des Goldenen widersetzt. Seine Hand schloss sich fester um den Griff seines Schwertes.

Der Sonnendrache hob sein Haupt und blickte ihn mit großen, bernsteinfarbenen Augen an. Die geschlitzte Pupille verengte sich. Er forderte ihn heraus, nun dorthin zu gehen, wohin er selbst nicht gelangen konnte.

Gonvalon wickelte sich Seidentücher um die Hände, dann prüfte er mit einem Ruck das Seil. Zufrieden ließ er es in den Luftschacht hinab, aus dem ihm Rauch und Hitze entgegenschlugen. Das Seil würde ihn nicht lange tragen.

Er schob sein Schwert in eine Lederschlaufe auf seinem Rücken und griff nach dem glatten Seil. Ohne zu zögern, ließ er sich in den engen Schacht hinab, an dessen fernem Ende rote Glut glomm. Seine Füße gegen das Seil gepresst und es zugleich mit beiden Händen umklammernd, glitt er in die Tiefe Stadt. Der Schacht war beklemmend eng. Immer wieder stieß er gegen die Felswände. Vor Schürfwunden schützte ihn der Zauber Lyviannes nicht. Doch er spürte den Schmerz kaum. Das Seil veränderte sich. Es wurde trocken und spröde. Lange würde es der Hitze nicht mehr standhalten. Er wusste, was ihn erwartete. Wusste, was geschehen würde, wenn es zu früh riss. Es wäre einfacher gewesen, sich über dem Hafen abzuseilen.

Lyvianne hatte ein prächtiges Portal in der Silberschale gesehen. Einen Ort, der unverwechselbar war. Ganz in seiner Nähe würde er aus dem Luftschacht gelangen.

Seilfasern drängten sich zwischen seine Finger. Er versuchte hinabzublicken, aber der Schacht war so eng, dass er den Kopf nicht ohne Gefahr vorbeugen konnte.

Seine Hände schmerzten von der Reibung des Seils. Es schnitt in seine Handflächen, obwohl es besonders behandelt war und er seine Hände mit Seidentüchern umwickelt hatte. Und es wurde dünner, weniger belastbar. Er konnte spüren, wie es sich auflöste.

Endlich spie ihn der Schacht aus. Er hing über einem Abgrund. Einzelne Feuer brannten auf einem Saumpfad. Leichen, wohin das Auge sah.

Gonvalon sah das Seil über die Kante des Schachtes scheuern. Faser für Faser rieb es sich durch. Feiner Rauch stieg davon auf. Er blickte zum Saumpfad. Vielleicht hundert Schritt entfernt erkannte er das Portal, sein Ziel. Dort verlief ein zweiter Pfad. Und unter ihm klaffte ein bodenloser Abgrund, der bis hinab ins Herz der Welt zu führen schien.

War es Zufall, dass er durch diesen Schacht geschickt wurde? Es musste doch noch andere Wege geben, die ihn in die Nähe des Portals gebracht hätten. Oder war dies das Schicksal, das der Goldene ihm zugedacht hatte? Sollte auch er einer jener Drachenelfen werden, die bei dieser Schlacht spurlos verschwanden?

Er spannte die Muskeln, versuchte das Seil in eine Pendelbewegung zu bringen. Unendlich langsam begann es zu schwingen. Er glitt tiefer. Drei oder vier Schritt blieben ihm, dann war er am Ende des Seils. Viel zu weit vom Saumpfad entfernt.

Fasern, halb zu Asche geworden, rieselten auf sein Gesicht. Der Zauber Lyviannes hatte ihn in einen kühlen Kokon gewoben. Unmöglich zu sagen, wie heiß es hier war. Aber die Hitze war stark genug, das Seil zu versengen, und hatte jene Zwerge getötet, die auf dem Saumpfad entlang des Abgrunds gegangen waren.

Der Gestank von verbranntem Fleisch und Fett machte Gonvalon zu schaffen. Er atmete flach durch den Mund. Jetzt schwang er in weiten Pendelbewegungen über dem Abgrund. Das Seil war zu kurz, um festen Boden zu erreichen. Die schwelenden Fasern waren schon zu mehr als der Hälfte durchgescheuert. Einen Herzschlag lang erwog er, es enden zu lassen. Aber er war noch nie vor einer Aufgabe geflohen, ganz gleich, wie schwer sie sein mochte. Er musste Nandalee finden!

Das Seil würde gleich den weitesten Ausschlag der Pendelbewegung erreichen. Jetzt!

Er ließ los. Streckte sich vor. Stürzte dem Saumpfad entgegen. Fast …

Er streckte sich verzweifelt. Jeder seiner Muskeln war zum Zerreißen gespannt. Er würde es nicht schaffen. Zwei Handbreit fehlten nur. Nur zwei Hand!

Hart schlug er auf den Felsen auf. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst. Seine Hände glitten über den unebenen Fels. Er rutschte tiefer, dem bodenlosen Abgrund entgegen.

Seine Finger krallten sich in einen Spalt, kaum tief genug, dass die Fingerkuppen Halt fanden. Mit einem Ruck endete sein Gleiten in die Tiefe. Ein Ruck, der ihm schier die Sehnen in den Armen zerreißen wollte. Seine Schultergelenke knackten. Brennender Schmerz lief durch seine Arme. Wäre er noch ein Zauberweber, könnte er sich leicht retten. Wie eine Fliege könnte er die Wand hinauflaufen.

Er stellte sich vor, seine Finger seien Wurzeln, die tief in den Spalt wuchsen. Mit einem Schrei kämpfte er gegen den Abgrund an. Zog sich höher, Zoll um Zoll. Seine nackten Füße tasteten über den Fels. Endlich fand er einen Halt.

Keuchend zog er sich auf das Sims, kämpfte sich auf die Knie und tastete über seiner Schulter nach dem Schwertgriff. Seine Arme zitterten, so verkrampft waren sie. Das in der Hitze verschrumpelte Leder zerriss, als er die Klinge zog.

Wind, der vom Schacht hinabwehte, spielte mit seinem Haar. Er atmete tief durch. Genoss es, am Leben zu sein. Grimmig blickte er zu dem Portal. Nur hundert Schritt trennten ihn von dem Weg, der ihn zu Nandalee führen würde, der Verräterin, die eines Tages den Erstgeschlüpften töten würde. Hundert Schritt, wenn er es schaffte, einen Weg auf die andere Seite des Abgrunds zu finden.

Das Versprechen

Kaum dass sie das scharfe Klacken der Armbrüste hörte, ließ Nandalee sich nach hinten fallen. Es war ein riskantes Manöver. Der Abstand zu den Zwergen betrug wenig mehr als fünfzehn Schritt. Die Befiederung eines der Bolzen schlitzte ihre Stirn auf. Hatten sie alle geschossen? Waren sie nervös? Oder waren sie schlachterfahren genug, um zu wissen, was es bedeutete, wenn sie nun alle zur gleichen Zeit nachladen mussten?

Nandalees Schultern berührten kaum den Boden, als sie mit einem Satz wieder auf den Beinen war und den Zwergenkriegern entgegenstürmte. Sie hatte Glück. Die Zwerge hatten ihre Armbrüste mit dem Spannfuß zu Boden gerichtet und die Sehnen in die Haken an ihren Gürteln eingelegt. Einen Fuß in den trapezförmigen Spannfuß gesetzt, spannten sie die Waffen mit aller Kraft ihrer Beine. Das ging erstaunlich schnell. Gleichzeitig tasteten sie nach Bolzen in den Köchern an ihrer Seite.

Nandalee erreichte den ersten Zwerg, als dieser die Waffe hob. Sie traf ihn mit einem Fauststoß dicht unter dem Kinn, genau auf dem Kehlkopf. Der Zwerg taumelte zurück gegen den Gefährten, der hinter ihm stand. Er ließ die Waffe fallen und packte sich mit beiden Händen an den Hals. Nandalee beachtete ihn nicht weiter. Sie wusste, sein Kehlkopf war durch den Treffer in die Luftröhre gedrückt. Für ihn gab es keine Hilfe mehr. Er würde ersticken.

Sie fing die fallende Armbrust auf und hieb den stählernen Bogen dem nächsten Zwerg seitlich gegen den Kopf. Mit einem grässlichen Knirschen verschwand der Bogen im Schädel. Nandalee warf sich zurück, um einem Axthieb auszuweichen. Die Klinge verfehlte sie um Haaresbreite. Dann war Nodon über den Zwergen. Er kämpfte mit kühler Selbstbeherrschung, so wie sie ihn aus den Fechtstunden kannte. Jeder seiner Hiebe war ein tödlicher Treffer. Tausende Übungsstunden hatten ihn zu einem Schwertkämpfer gemacht, der nur noch unter Drachenelfen gleichwertige Gegner finden mochte. Er schien jeden Angriff im Voraus zu ahnen, parierte selbst Schläge, die auf seinen Rücken zielten, und nutzte die Wucht der Angriffe, um die Zwerge gegeneinander auszuspielen.

Nandalee nahm eine Axt und beteiligte sich am Kampf, wohl wissend, dass Nodon eigentlich keine Hilfe brauchte. Sie hatte wenig Übung mit Äxten. Wie die meisten Drachenelfen fand sie diese Waffen plump. Mit kurzen, wuchtigen Hieben machte sie sich den Weg frei.

Die Zwerge kämpften verbissen. Die meisten von ihnen hatten keine Zeit gehabt, Rüstungen anzulegen oder Schilde mitzunehmen. Sie hatten sich ganz auf ihre Armbrüste verlassen. Dennoch wandte sich kein Einziger von ihnen zur Flucht. Und in ihren Augen sah Nandalee keine Furcht. Nur Hass! Sie kämpften bis zum letzten Mann.

Das Gefecht dauerte weniger als fünfzig Herzschläge. Als Nodon den letzten Zwerg mit einem wuchtigen Hieb enthauptete, hob Nandalee ihre blutbespritzte Axt und salutierte vor den toten Feinden.

»Sie werden ohnehin alle sterben«, sagte Nodon. Dann hob auch er sein Schwert zum Gruß an die Toten. »Komm jetzt. Wir müssen hier fort.«

»Ich kann nicht.« Nandalee blickte in den Stollen hinab. Die meisten Lichter waren erloschen. Es war totenstill.

»Dort unten erwartet uns nur der Tod«, sagte Nodon in einem Tonfall, wie man ihn anschlägt, wenn man ein kleines Kind davon überzeugen will, von einer Dummheit abzulassen. »Diese Tunnel liegen zu tief. Die Flammen der Drachen verzehren die Luft der tiefen Stollen. Wenn wir diesem Weg folgen, werden wir ersticken.«

»Ich habe keine Wahl. Die vielleicht letzte Überlebende meiner Sippe wird dort unten gefangen gehalten. Ich muss dort hinab. Ich habe es Duadan versprochen.«

»Was hast du ihm versprochen?«, fuhr Nodon sie an. »Deine Sippe ganz und gar auszulöschen? Hast du den letzten Funken Verstand verloren? Du kommst mit nach oben. Nachtatem wünscht, dass du lebst. Ich werde dich zu ihm bringen. Und wenn ich dich tragen muss!« Nackt, über und über mit dem Blut der Zwerge bespritzt und mit seinen unnatürlichen, schwarzen Augen sah er wie ein leibhaftiger Daimon aus. Ein Geschöpf, einzig dazu erschaffen, Krieg und Verderben zu bringen.

Mit Worten wäre Nodon nicht zu überzeugen. Nandalee warf sich herum und floh den Tunnel hinab. Nodon war ohne Zweifel der bessere Schwertkämpfer. Aber sie war die bessere Läuferin. Mit fliegenden Schritten hastete sie in die Dunkelheit. Es war eine Dummheit, ja, aber sie hatte Duadan versprochen, Fenella zu retten.

Sie hörte hinter sich das scharfe Klacken einer Armbrust. Nodon konnte doch nicht … Sie warf sich zur Seite. Zu spät. Ein Schlag traf sie am linken Oberschenkel. Dumpf. Sie fühlte keinen Schmerz. Noch nicht.

Sie lief weiter. Sie durfte nicht aufgeben. Es war ihre Schuld, dass ihre Sippe von den Trollen fast vernichtet worden war. Sie musste Fenella finden!

Nandalee spürte ihr Blut das Bein hinabrinnen. Sie versuchte sich das seltsame Modell der Zwergenstadt in Erinnerung zu rufen. Dass sie einen der Tunnel, die nach links abzweigten, nehmen musste, wusste sie. Aber wie weit war sie schon?

Ihr Atem ging keuchend, obwohl sie nur eine kurze Strecke gelaufen war. Nodon hatte recht, es war Irrsinn, diesen Weg zu nehmen. Sie hatte Fenella nicht einmal leiden mögen …

Sie hörte ein leises Geräusch. Nackte Füße auf Felsboden. Nodon folgte ihr.

Sie musste weiter. Um Atem ringend, kämpfte sie sich vorwärts. Endlich erreichte sie einen abzweigenden Tunnel. War sie hier richtig? Im Zwielicht konnte sie keinerlei Markierungen entdecken. Wozu auch? Dieser unterirdische Palast war kein Ort, an den sich ein Gast der Tiefen Stadt ohne Einladung verirren konnte. Und in ihrem eigenen Heim brauchte Amalaswintha keine Wegweiser.

Ein dunkler Ton erklang aus dem Seitentunnel. Ein Geräusch, ähnlich einem Glockenschlag, nur dumpfer. Nandalee entschied sich, es hier zu wagen. Einen zweiten Versuch hatte sie nicht, dessen war sie sich bewusst. Taumelnd, am Rande ihrer Kräfte, schleppte sie sich den Seitentunnel hinab. Jeder Atemzug war jetzt ein verzweifelter Kampf gegen das Ersticken.

Nebel wogte ihr entgegen. Sie war auf dem richtigen Weg. Nandalee beschleunigte ihre Schritte. Wassertropfen sammelten sich auf ihrem Körper und perlten ihre glatte Haut hinab. Der Schmerz sprang sie an wie ein Tier, das im Verborgenen gelauert hatte. Ihr Bein pochte, als sei etwas Lebendiges darin gefangen und versuchte durch ihr Fleisch hinauszugelangen. Sie brach in die Knie. Die Wunde im Oberschenkel blutete noch immer. Ein dunkler Armbrustbolzen ragte zwei Fingerbreit aus ihrem Fleisch. Die Befiederung war von ihrem Blut verklebt. Sie sollte die Wunde heilen, doch dazu müsste sie erst den Armbrustbolzen ziehen. Wenn sie sich damit aufhielt, würde Nodon sie einholen, und sie hatte nicht mehr die Kraft, sich ihm zu widersetzen. Sie musste weiter. Um die Wunde konnte sie sich später noch kümmern!

Nandalee biss die Zähne zusammen. Nicht mehr weit. Die Lichter an den Höhlenwänden waren nur noch ein mattes Glimmen. Doch vor ihr, mitten im Nebel, war etwas Großes, Leuchtendes.

Sie erreichte den Beckenrand. Benommen, kaum noch sie selbst, ließ sie sich ins Wasser gleiten. Es trug sie. Sie sah einen Aal im Hafenbecken versinken. Eines der Tauchboote der Zwerge.

Nandalee kämpfte um Atem. Sie hechelte, versuchte mit aller Kraft ihre Lungen mit Luft zu füllen. Aber ganz gleich, wie hart sie kämpfte, das Gefühl zu ersticken, wollte nicht weichen. Es wurde von Herzschlag zu Herzschlag stärker.

Der Nebel schien um sie herum zu tanzen. Sie spürte deutlich einen Luftzug, hin zu dem Tunnel, durch den sie gekommen war. Nodon hatte recht gehabt. Es war dumm gewesen hierherzukommen. Und doch hatte sie keine Wahl gehabt. Sie hätte mit der Schuld nicht länger leben können. Sie war es, die ihrer Sippe den Untergang gebracht hatte. Nun musste sie mit all ihrer Kraft für die letzten Überlebenden der Windgänger kämpfen.

Der Gedanke ließ neue Kraft in ihr aufkeimen. Sie stieß sich vom Kai ab und schwamm dem Licht entgegen. Schon nach wenigen Schwimmzügen stieß sie auf eine unsichtbare, glatte Wand. Das musste die Kuppel sein, von der Amalaswintha gesprochen hatte. Nandalees tastende Finger fanden Fugen, wo Glas mit Glas verschmolzen war.

»Nandalee«, erklang es keuchend irgendwo im Nebel. Nodon wagte lieber sein Leben, als Nachtatem zu enttäuschen.

»Du … musst … in … die … Kuppel … tauchen.« Jedes Wort war ein Kampf. Ihr Atem war fast erschöpft. Sie stieß sich von der Kuppelwand ab und tauchte in die Tiefe, dem Licht entgegen. Der Druck in ihrer Kehle wuchs ins Unerträgliche. Atmen! Das war alles, was sie noch denken konnte. Tief einatmen und sei es um den Preis, dass sich ihre Lungen mit Wasser füllten und ihre Seele in den Zyklus von Tod und Wiedergeburt einging.

Sie stieß mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche. Gierig sog sie die Luft ein. Schillernde Blüten umgaben sie. Die Luft war gesättigt von ihrem köstlichen Duft. Nandalee atmete tief durch. Füllte ihre Lungen, bis sie schier platzen wollten. Endlich wieder frei atmen. Schwindelig und erschöpft zog sie sich auf einen hölzernen Steg. Hunderte Töpfe und Kübel waren in Gruppen zusammengestellt und beherbergten ein wahres Blumenmeer. Dazwischen erhoben sich einzelne kleine Stämme von Kirsch- und Apfelbäumen. Kugeln, die ein angenehmes gelbliches Licht verstrahlten, ruhten auf niedrigen Säulen. Nandalee hörte sogar Vögel zwitschern. Das melancholische Lied einer Nachtigall, begleitet vom aufgeregten Zwitschern von Blaumeisen. Nach all dem Tod und Feuer erschien ihr dieser Ort unwirklich. Er passte nicht in die Tiefe Stadt mit ihrer Düsternis und den bedrückenden Felswänden.

Müdigkeit umfing Nandalee wie eine warme, weiche Decke. Sie hatte all ihre Kraft gegeben. Jetzt war sie am Ende. Selbst der Schmerz in ihrem Bein war in seltsame Ferne gerückt. Er war noch da, behelligte sie jedoch nicht mehr. Sie lag einfach nur auf dem Steg, blickte zu den Blüten und dem wunderbaren Licht, unfähig, auch nur ein einzelnes Glied zu rühren.

Nodons Gesicht erschien über ihr. Seine Lippen bewegten sich. Er wirkte gar nicht wütend. Eher besorgt. Nodons Stimme klang wie ein fernes Echo. »Du hast viel Blut verloren. Bleib still liegen.«

Nandalee musste lächeln. Zu etwas anderem, als still liegen zu bleiben, war sie gar nicht mehr in der Lage. Sie spürte, wie Nodon den scharfkantigen Bolzen in der Wunde bewegte. Doch selbst der Schmerz war etwas weit Entferntes, das nicht mehr zu ihr zu gehören schien. Nandalee gab sich der bleiernen Müdigkeit hin.

Ein angenehm warmes Gefühl strahlte von ihrem verletzten Bein aus. Nodon war ein Mann voller Widersprüche. Nandalee dachte daran, wie er binnen Augenblicken die Zwerge niedergemacht hatte. Ohne Zweifel war er einer der tödlichsten Schwertkämpfer unter den Drachenelfen, doch zugleich war er auch ein begabter Heiler. Seine Hände schenkten den Tod und das Leben. Alles, was er tat, geschah mit kalter Ruhe. Wer außer ihm hätte auf sie geschossen, um sie aufzuhalten!

»Die Wunde ist nun geschlossen.« Nodons Stimme klang warm, fast mitfühlend. »Aber der Blutverlust schwächt dich.« Nach einer Weile fügte er leise hinzu: »Hierherzukommen war eine gute Wahl, ich hätte auf dich hören sollen.«

Nandalee ließ sich auf einer Woge des Wohlgefühls treiben. Nodon hatte ihr noch niemals zugebilligt, eine kluge Entscheidung getroffen zu haben. Sie dachte an seine endlosen Flüche während der Fechtstunden und seine Feindschaft zu Gonvalon und … Plötzlich tauchte ein Name aus ihrem Unterbewusstsein auf. Fenella! Wie hatte sie sich so gehen lassen können! Sie war doch nur wegen der Elfe hier. Nandalee setzte sich auf. Von der plötzlichen Bewegung wurde ihr schwindelig.

»Du solltest dich noch schonen. Wir können hier ohnehin noch nicht wieder hinaus. Es wird dauern, bis die Luft in die tiefen Stollen zurückkehrt.«

Nandalee ignorierte Nodon. Ein wenig unbeholfen richtete sie sich auf. Wo war Fenella? Sollte sie sich getäuscht haben? Was hatte Amalaswintha gesagt? Sie ist an einem Ort, zu dem außer mir niemand geht. Das musste dieser verborgene Garten sein!

Nandalee wankte zwischen den Blumen hindurch. Die gläserne Kuppel war nicht sehr groß. Vielleicht zehn Schritt im Durchmesser. Davon entfielen allein zwei Schritt auf die Öffnung in der Mitte, durch die man hineintauchte.

»Fenella!«, rief sie. »Fenella!«

Hinter zwei großen Töpfen, in denen Apfelbäume sprossen, entdeckte sie ein Lager aus zerknüllten Decken. Flammend rotes Haar lugte dazwischen hervor. Auf einem Holzteller lagen Essensreste. Ein einfacher, irdener Krug stand neben einem angeschlagenen Becher.

Fenella hatte rotes Haar! Warum regte sie sich nicht? Mit einem klammen Gefühl kniete Nandalee neben dem Lager nieder und zog die Decke zurück.

Einsame Wacht

Etwas stimmte nicht. Unruhig ging Jari an der Wand mit den goldenen Ohren auf und ab. Die Ohren waren Horchlöcher, verbunden mit einem Rohr, das weit hinauf in den Berg reichte. Nur wenige Zwerge wussten von diesen Vorrichtungen. Sie waren nicht dazu geschaffen worden, die Bewohner der Tiefen Stadt zu bespitzeln. Es ging lediglich darum, sie zu beschützen und Übel abzuwenden. Die meisten hätten das allerdings nicht verstanden.

Jari wachte schon seit mehr als dreißig Jahren in dieser Kammer. Sie war tief in die Wurzeln des Berges getrieben, noch weit unter den Weiberhöhlen verborgen. Nur ein einziger Pfad führte hier hinab, und der war nur einer Handvoll Zwergen bekannt.

Jari nahm einen tiefen Schluck aus dem Topf mit Kräutersud, den er sich erst vor einer halben Stunde aufgesetzt hatte. Es war eine einsame Wacht hier unten. So war es immer mit jenen, die Verantwortung trugen. Sie waren einsam. Wehmütig dachte er daran, wie oft er Festen und Trinkgelagen gelauscht hatte. Manchmal sogar Lustschreien. Er lachte leise vor sich hin. Einige der Öffnungen seiner goldenen Ohren reichten zu pikanten Orten. Er könnte Dinge erzählen … Der alte Zwerg schmunzelte. Das würde er natürlich niemals tun. Allerdings hätte er gerne einmal Amalaswintha gesehen. Über keine andere Zwergin wurde so viel gesprochen wie über sie.

Waren da Schreie? Was war denn da los? Jari setzte den Topf mit dem Kräutersud ab. Heute war ein merkwürdiger Tag. Seit die Versteigerungen begonnen hatten, summte der ganze Berg vor Unruhe. Hunderte Gäste waren gekommen. Überall ertönten fremde Stimmen. Aber so wie heute war es noch nie gewesen. Da waren wirklich Schreie. Diesmal war sich Jari ganz sicher. Und dann war da noch ein eigenartiges, fauchendes Geräusch, auf das er sich keinen Reim zu machen wusste. Es schien aus mehreren der goldenen Ohren zu kommen. Was ging da oben vor sich?

Jari blickte zu dem großen Hebel in der Mitte seiner Kammer. Sollte die Tiefe Stadt angegriffen werden, war es an ihm, die geheimen Tunnel mit den Fallen zu öffnen. Aber gab es einen Angriff? Wenn er diesen Hebel umlegte, würde Blut fließen. Wahrscheinlich auch Zwergenblut. Wer in diese Tunnel kam … Er dachte an all die Bösartigkeiten, die anderthalb Jahrhunderte dunkler Erfindungsgeist ersonnen hatten.

Nervös ging er vor der Wand mit den goldenen Ohren auf und ab. Es gab auch einen Mund. Einen einzigen. Er war mit einem großen Stopfen aus Kork verschlossen. Der Mund mündete in ein goldenes Ohr in der Schreibstube des Alten in der Tiefe. Im Zweifelsfall konnte er dort anfragen. Aber Jari war auserwählt worden, weil er kein Zweifler war. In all den Jahren hier unten hatte er nur dann zur Schreibstube gesprochen, wenn man ihn aufforderte, das Sprachrohr zu prüfen. Immerhin könnte ja vielleicht eine tote Ratte oder etwas anderes darin stecken.

Jari spürte einen Luftzug. Verwundert blickte er zur schweren Eichentür. Natürlich war sie verschlossen, und selbst wenn sie offen gestanden hätte, hätte es nicht ziehen dürfen. Hier, tief unten im Berg, war es schlechterdings unmöglich, dass es zog.

Die Papiere auf seinem großen Arbeitstisch raschelten. Ein Streifen Birkenrinde, aus dem er sich einen Fidibus für seine Meerschaumpfeife hatte drehen wollen, flog auf, segelte in Richtung seiner Lauschwand und legte sich quer vor eines der goldenen Ohren.

Jari war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen, aber das hier stank nach Zauberei. Und wenn Zauberei im Spiel war, waren Elfen nicht weit! Aber er musste es ganz sicher wissen. Er trat vor die Wand, um zu lauschen. Ein fremdes Rauschen ertönte in den Rohren. Seine Ohren schienen zu atmen. Es war, als würden sie tief Luft holen. Der Luftzug war jetzt so stark, dass sein Bart zerzaust wurde, und er gewann noch weiter an Kraft. Jari hörte die Schreie jetzt deutlicher.

Die Pergamente auf seinem Tisch wirbelten auf und segelten der Ohrenwand entgegen. All seine Skizzen gerieten in heillose Unordnung. Er versuchte gerade einzelne der Pergamente zu schnappen, als das Ende seines Bartes in eines der Ohren gesaugt wurde.

War er denn in einem Tollhaus! Er packte seinen langen, grauen Bart mit beiden Händen und zupfte ihn wieder heraus. Dieses Durcheinander machte ihn ganz atemlos. Keuchend taumelte er von der Ohrenwand zurück. Ihm war schwindelig. Nicht nur die Blätter drehten sich jetzt in der Luft. Auch die Wände tanzten um ihn herum. Er griff sich an die Kehle.

Die Blätter, die vor die Ohren gesaugt worden waren, fielen zu Boden. Das Geräusch, das wie Atmen geklungen hatte, wurde leiser. Jari rang um Atem. Er wusste nicht, was hier in der Kammer geschah, in der er sein halbes Leben verbracht hatte und die ihm vertraut war wie kein zweiter Ort. Aber was immer es war, es brachte ihn um.

Er schleppte sich zu dem großen Hebel, der neben seinem Schreibtisch aus dem Boden ragte, und ließ sich dagegensinken. Der Hebel ruckte. Er war noch nie benutzt worden. Wenn er ihn umlegte, schoben sich gut getarnte Steinwände vor die Haupttunnel der Tiefen Stadt, und es öffneten sich Parallelgänge, die mit Fallen gespickt waren. Fallen, ersonnen, um Elfen zu töten. Sie würden es bereuen, in seine Stadt gekommen zu sein!

Jari stemmte die Füße gegen den Boden und drückte seinen Leib gegen den Hebel. Er bekam keine Luft mehr. Bald wäre es vorbei mit ihm.

Endlich ruckte der Hebel ein zweites Mal und sank dann nach vorn.

Jari spürte ein fernes Beben. Es war vollbracht! Er stieß einen erleichterten Seufzer aus und starb.

Fenella

Nandalee war erleichtert, Fenella wohlbehalten vor sich zu sehen. Die junge, kaum der Kindheit entwachsene Elfe blickte sie mit ihren weiten, braunen Augen ungläubig an. »Du? Wir dachten alle, du seiest tot. Wo ist Duadan?«

»Er hat mich zu dir geschickt«, antwortete Nandalee ausweichend. »Ich werde dich retten.«

Fenella runzelte die Stirn. »Wir müssen auch ihn retten«, sagte sie zaghaft.

»Das ist nicht mehr möglich. Er ist tot«, mischte sich Nodon ein. »Himmelsschlangen und Drachenelfen greifen die Tiefe Stadt an.«

»Wie überaus feinfühlig«, zischte Nandalee ihn an.

»Ich halte nichts davon, mit der Wahrheit hinter dem Berg zu halten. Besser, sie weiß, woran sie ist.«

Fenellas große Augen füllten sich mit Tränen. »Wie … Er war so …« Sie schluchzte. »Ich … ich habe immer gedacht, er würde niemals sterben. Er wirkte so unbezwingbar … so …« Ihre Stimme ertrank in Tränen.

Nandalee nahm sie in den Arm. »Ich weiß, was du sagen willst. Ich habe genauso gefühlt. Ich war oft mit ihm auf der Jagd. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen. Er wusste immer, was zu tun war.« Auch sie kämpfte mit den Tränen. »Sein letzter Wunsch war, dass ich dich und die anderen rette.«

Fenella löste sich aus der Umarmung. »Du willst in den Königsstein?« Ihre warmen Augen waren rot umrandet. Tränen rannen noch über ihre Wangen. Ihre Trauer war blankem Entsetzen gewichen. »Du willst in die Trollhöhlen? Das ist unmöglich! Sie werden uns fangen. Ich gehe dort nie wieder hin. Eher bleibe ich hier. Zu den Trollen … Du kannst dir nicht vorstellen, wie es dort ist, was sie uns angetan haben. So viele Monde war ich ihre Gefangene. Es macht ihnen Freude, uns zu quälen. Ich musste zusehen, wie sie meine Schwester geschlachtet haben. Und all die anderen.« Fenella wich bis in die äußerste Ecke ihres Lagers zurück und zog die Decke an sich. »Ich gehe nie wieder in den Königsstein. Lieber bleibe ich bei den Zwergen.«

»Hier wird es bald sehr einsam werden«, warf Nodon sarkastisch ein. »Die Tiefe Stadt steht kurz vor dem Untergang. Wir müssen hier raus! Sofort!«

Fenella sah ihn verständnislos an.

»Das genügt! Kannst du uns jetzt bitte alleine lassen?«

Nodon lächelte kühl. »Ich verstehe. Du möchtest deine Ruhe haben, wenn du sie anlügst.« Er verbeugte sich elegant und zog sich zurück.

»Wer ist das?«, fragte Fenella.

»Er heißt Nodon. Er ist ein Drachenelf. Sie sind nicht alle wie er.«

»Ein Drachenelf!« Fenella sah Nodon nach, und in ihrer Stimme schwang eine Faszination, die Nandalee unbegreiflich blieb.

»Und er ist hierhergekommen, um Duadan zu retten?«

»Nein, er kam, um mich zu holen.«

Fenella sah sie irritiert an. »Warst du auch eine Gefangene der Zwerge? Wir dachten, die Trolle hätten dich gefressen.«

»Ich war keine Gefangene.« Die Fragen wurden Nandalee langsam lästig. Sie hatte Fenella schon früher für naiv gehalten.

»Er ist deinetwegen gekommen …«

Nandalee konnte förmlich sehen, wie es im Kopf der jungen Elfe arbeitete, und sie ahnte, welche Frage als Nächstes kommen würde. »Nein, er ist nicht mein Geliebter«, kam sie Fenella zuvor. »Der Erstgeschlüpfte hat ihn geschickt, damit Nodon mich vor dem Angriff auf die Tiefe Stadt zurück zu den Drachenelfen bringt.«

»Was hast du denn bei den Zwergen gemacht? Warst du eine Gesandte?« Fenellas Kiefer klappte herab, und sie starrte sie ungläubig an. »Du bist eine Gesandte Nachtatems!«

Nandalee entschied, dass eine Lüge wesentlich unkomplizierter war als die Wahrheit. Sie würde Fenella später alles erklären. »Ja, ich war eine Gesandte der Himmelsschlangen.«

»Und die Himmelsschlangen greifen jetzt die Zwerge an«, sinnierte Fenella. »Dann scheinst du ja nicht sonderlich erfolgreich gewesen zu sein.« Sie blickte zu Nodon, der sich ein Stück entfernt bei einem jungen Apfelbaum niedergelassen hatte. »Er ist ein Zauberweber und ein großer Krieger, nicht wahr? Hat er eine Gefährtin?«

Nandalee glaubte nicht recht zu hören. »Er liebt nur sein Schwert. Mach dir keine Hoffnungen.«

»Kein Mann in ganz Albenmark will immer allein sein«, sagte Fenella erstaunlich selbstbewusst und lächelte auf eine ganz und gar nicht mädchenhafte Art.

Nandalee glaubte nicht, dass Nodon Gefallen an ihr finden würde. Aber was wusste sie schon von Nachtatems Schwertmeister? Vielleicht irrte sie sich. Sie wusste auch nicht, was sie mit Fenella anfangen sollte. In der Weißen Halle würde sie niemals aufgenommen werden. Aber sie hatte Duadan versprochen, auf sie aufzupassen. An welchen Ort konnte sie Fenella bringen? An einen der Fürstenhöfe Arkadiens? Wahrscheinlich wäre sie dort am besten aufgehoben.

»Sehe ich noch sehr verweint aus?«

»Große Helden beschützen gerne hilflose Mädchen«, entgegnete sie sarkastisch. »Da werden ein paar Tränen eher nutzen als schaden.«

»Das stimmt.« Fenella stand auf und schlenderte zu Nodon hinüber. Nandalee konnte nicht hören, was sie zu ihm sagte, aber sie schaffte es, ihm mit nur ein paar Worten ein Lächeln zu entlocken. Wie machte sie das? Ihr war es nie so leichtgefallen, einen Mann zu umgarnen.

Nandalee bediente sich bei dem Obst, das sie bei Fenellas Lager fand, und trank in tiefen Zügen aus dem Wasserkrug. Im gleichen Maße, in dem ihre Anspannung nachließ, wuchs ihre Müdigkeit. Sie würden wohl noch eine ganze Weile hierbleiben müssen, bis man in den Tunneln wieder halbwegs unbeschwert atmen konnte.

Einen so idyllischen Garten tief unten im Berg zu hegen, hätte Nandalee Zwergen nicht zugetraut. Selbst Amalaswintha nicht, die schon außergewöhnlich genug war. Wie schwierig musste es gewesen sein, eine Glaskuppel so zu entwerfen, dass sie in diesem kleinen, abgelegen Hafenbecken zu schwimmen vermochte. Amalaswintha hatte sich inmitten des Berges einen Zufluchtsort erschaffen, an dem sie von keinem Zwerg behelligt wurde. Das kleine Volk baute zwar Tauchboote, doch soweit Nandalee wusste, scheuten sie das Wasser. Wer aber hierhingelangen wollte, der musste schwimmen. Sie blickte zu der gewölbten Glaskuppel. Wie viel Arbeit darin steckte! Die einzelnen Scheiben wurden von goldenem Gitterwerk zusammengehalten, das wie ein riesiges Spinnennetz alles einfasste. Amalaswintha musste unfassbar reich sein.

Nandalee ließ ihren Blick durch den Garten schweifen. Wie hatte die Zwergin, die dieses Idyll erschaffen hatte, gewissenlos Duadan quälen können? So viel Liebe steckte in diesem Ort! Welche Mühen musste es bereitet haben, Blumen, Obstbäume und selbst Singvögel hierherzuschaffen und am Leben zu erhalten? Bislang hatte sie geglaubt, dass es Orte wie diesen, die ohne praktischen Nutzen einzig dem Zweck dienten schön zu sein, nur in den Elfenpalästen Arkadiens gab. Wie wenig sie doch über die Zwerge wusste.

Nandalee massierte sich das Bein, dort, wo sie der Armbrustbolzen getroffen hatte. Die Wunde hatte sich geschlossen, ohne dass auch nur eine Rötung auf der Haut zurückgeblieben war. Ihr Bein fühlte sich an, als habe sie eben erst einen schlimmen Krampf gehabt, und sie war so erschöpft, als wäre sie den ganzen Tag gelaufen.

Sie sollte Pläne für die Flucht schmieden, doch sie fühlte sich einfach nur zu Tode erschöpft. Sie mussten hierbleiben, bis sie außerhalb der Glaskuppel wieder atmen konnten. Warum das Feuer wohl nicht hierhergelangt war? Gab es keine Luftschächte über dem kleinen Hafenbecken? Wenn sie Amalaswintha richtig verstanden hatte, war dieser Ort geheim. Das hätte er wohl kaum bleiben können, wenn Schächte bis zur Oberfläche des Berges getrieben worden wären.

Wie hatten die Zwerge nur so dumm sein können, die Himmelsschlangen herauszufordern! Wussten sie denn nicht um deren Natur? Ja, sie waren weise Herrscher, die Statthalter der Alben, aber sie waren auch Raubtiere. Wer sie reizte, der forderte den Tod heraus. Sie betrachtete den Garten ringsherum. Waren die Zwerge all dessen hier überdrüssig gewesen, dass sie auf Drachenjagd gegangen waren, ohne über die Folgen nachzudenken?

Sie blickte zur gläsernen Kuppel hinauf. Konnte es sein, dass die Drachen diesen Ort übersehen hatten, als sie ihren Angriff planten? Oder hatten sie sich einfach darauf verlassen, dass jeder ersticken würde, der hier unten blieb? Wann sie draußen wohl wieder atmen konnten? Nandalee streckte sich. Sie mussten abwarten.

Ihr fielen die Augen zu.

Erschrocken fuhr sie auf. Sie war eingeschlafen! Und sie vermochte nicht zu sagen, ob es nur für einen Moment oder für ein paar Stunden gewesen war. Sie …

Ungläubig sah sie zu Fenella und Nodon. Der Schwertmeister sang! Er hatte eine schöne Stimme. Wie machte Fenella das? Wie …

Nandalee sah sich argwöhnisch um. Sie fühlte sich beobachtet. Aber in dem Garten war niemand außer ihnen. Die gläserne Kuppel lag zur Hälfte unter Wasser. Der Eingang war verborgen. Hier würde sie niemand behelligen. Sie sollte sich einfach entspannen. In der Tiefen Stadt mochte vielleicht noch gekämpft werden, aber hier waren sie in Sicherheit.

Nodon und Fenella blickten plötzlich in ihre Richtung. Fenella kicherte. »Ja, sie sah schon immer ein wenig zerzaust aus.« Sie sprach absichtlich so laut, dass Nandalee jedes Wort verstehen konnte.

Diese kleine Schlange! Um sie zu retten, hatte sie ihr Leben gewagt. Sie hätte sie hier unten verrecken lassen sollen. Verhungert wäre sie hier, wenn sie nicht gekommen wäre.

Fenella ging zur Mitte des Gartens und beugte sich vor, um im dunklen Wasser ihr Spiegelbild zu betrachten und ihr Haar zurechtzuzupfen. Unglaublich, wie eitel sie war.

Die junge Elfe ließ ihr Kleid ein Stück von der Schulter rutschen und blickte keck zu Nodon zurück. Nandalee musste unwillkürlich lächeln. In diesen Dingen war Fenella ohne Zweifel die Meisterin und sie nur staunende Schülerin.

Das dunkle Wasser wogte auf, und eine riesige, schlangenhafte Gestalt erhob sich aus den Fluten. Schneeweiße Schuppen bedeckten Kopf und Leib. Kurze, fleischige Fangarme wucherten dort, wo der Kiefer in den Hals überging. Blutrote Augen starrten auf Fenella hinab. Einen Moment lang nur. Dann stieß die Kreatur hinab und schnappte nach der Elfe. Kopf und Schultern verschwanden im Maul. Es gab ein grässlich schmatzendes Geräusch.

Nodon sprang auf. Zu langsam. Das Geschöpf sank ins Wasser. Zurück blieb nur der verstümmelte Torso der Elfe.

Nandalee schrie auf und eilte zum Wasser. Nodon packte sie und zog sie zurück. »Das Vieh wird wiederkommen. Es muss eine der Weißen Schlangen sein, die von den Drachen gerufen wurden, um sich an dem Vernichtungswerk zu beteiligen. Sie sollen die Aale angreifen und die Zwerge, die sich zu den Häfen der Tiefen Stadt flüchten.«

Nandalee starrte auf den Körper der Toten. Eben noch war Fenella so voller Leben gewesen. Hatte nach der Trauer um Duadan so erstaunlich schnell zu ihrer Unbekümmertheit zurückgefunden. War es Unbekümmertheit gewesen? Oder hatte sie kühl entschieden, dass sie sofort einen neuen Beschützer brauchte, und deshalb Nodon umgarnt? Nandalee konnte den Blick nicht von der Toten abwenden. Von dem verstümmelten Torso, dessen Blut hinab ins dunkle Wasser rann. Es war so schnell gegangen. So unerwartet.

Nodon stand vorgebeugt und mit herabhängenden Schultern da. Wie zu einer Salzsäule erstarrt.

Ein leises Klirren erklang, dann ein Knirschen. Die ganze Glaskuppel erbebte.

»Er wird wiederkommen.« Nodon trat einen Schritt auf das Wasser zu.

Nandalee fühlte sich wie gelähmt.

Dann hörte sie, wie Glas zersplitterte. Eine Woge dunklen Wassers ergoss sich in den Garten. Der Boden verrutschte. Die gläserne Insel begann zu sinken. Alle Töpfe und Bottiche gerieten in Bewegung. Etliche stürzten ins Wasser. Andere schlitterten über den Holzboden. Ängstliches Zwitschern erklang, als ahnten die Singvögel, welches Schicksal sie erwartete.

Nodon riss Nandalee zu sich und achtete darauf, den schweren Bottichen auszuweichen. Jedes Mal wenn einer der großen Kübel, in die Bäume gepflanzt waren, gegen die rückwärtige Wand schmetterte, ertönte ein beunruhigendes Klirren.

Ein riesiger, weißer Schlangenleib glitt über den gläsernen Himmel zu ihren Häuptern.

»Sie wird die Kuppel zerdrücken.« Nodon flüsterte, als habe er Angst, das Ungeheuer könne sie belauschen. »Ich gehe hinaus und greife sie an. Du schwimmst in den Hafen. Hoffen wir, dass es dort wieder genug Luft zum Atmen gibt.«

»Ich lasse dich nicht alleine kämpfen.«

»Wir haben nur ein Schwert. Mein Schwert. Du wirst doch nicht etwa mit blanken Fäusten gegen die Schlange antreten wollen?«

»Ich werde jedenfalls nicht zusehen, wie du dich opferst, damit ich feige davonlaufen kann.«

Weitere Glasscheiben splitterten. Das Wasser reichte ihnen inzwischen bis zu den Knien. Überall trieben Blumentöpfe. Nandalee sah eine Nachtigall gegen die Glasscheiben der Kuppel fliegen. Meisen schwirrten durch das Geäst sinkender Bäume, die von ihren Bottichen hinab ins Hafenbecken gezogen wurden.

»Uns bleibt keine Zeit zu streiten. Du willst dein Leben riskieren? Dann lass uns wenigstens eine sinnvolle Strategie absprechen. Du springst als Erste ins Wasser. Du bist unser Köder. Das Vieh wird besser schwimmen als du und wendiger sein. Während du es ablenkst, versuche ich ihm an die Kehle zu gehen.«

Ein lebender Köder. Nandalee hätte lieber die Schwertarbeit übernommen.

Ein Regen von Glassplittern ging auf sie nieder. Sie mussten handeln. »So machen wir es«, sagte sie und tauchte zwischen den treibenden Blumenkübeln unter. Erde und abgerissene Blätter trübten die Sicht. Die Glaskuppel ruckte noch einmal und legte sich weiter auf die Seite. Nandalee bekam ein Stück vom untergetauchten hölzernen Steg zu fassen, der einmal die Umfassung des Ausstiegs in die Kuppel gebildet hatte.

Sie sah einen bleichen Leib durch das Wasser gleiten. Fenella! Äste und Wasser hatten ihr Kleid halb herabgezogen. Ihr schlanker, blutleerer Körper trieb inmitten abgerissener Blüten davon.

Nandalee stieß sich vom Steg ab und tauchte aus der Kuppel hinaus. Der Schlangenleib streifte sie. Die Bestie schnappte nach einer der leuchtenden Kugeln, die zu den Schätzen in Amalaswinthas Garten gehört hatten. Barinsteine, ein Geschenk der Alben!

Nandalee sah Nodon. Er hatte sein kurzes Schwert zwischen die Zähne geklemmt und schwamm auf die Weiße Schlange zu.

Wie sollte sie inmitten dieses Durcheinanders auf sich aufmerksam machen? Sie versuchte einen Zauber zu weben, stellte sich vor, wie die Seeschlange den Kopf wandte und sie ansah. Plötzlich kam ihr eine andere Idee. Wenn ihr Zorn Sayn getötet hatte, müsste er doch auch der Seeschlange gefährlich werden können. Falls sie diese dunkle Gabe, über die sie so oft schon nachgegrübelt hatte, tatsächlich besaß, dann war dies der Augenblick, sie zu nutzen! Sie dachte an Fenella und deren Tod und versuchte all ihr Entsetzen und ihre Wut in einen einzigen Gedanken zu bündeln, der wie blanker Stahl in das Bewusstsein der Weißen Schlange schneiden sollte.

Die Bestie schnappte nach einem treibenden Baum. Ihr Schwanz peitschte durch das Wasser. Plötzlich warf sie den Kopf herum, und es schien Nandalee, als blicke ihr das Ungeheuer mit seinen blutroten Augen geradewegs ins Herz. Sie spürte den Schmerz und die Wut der Weißen Schlange.

Nandalee ballte die Fäuste, dachte an ein funkelndes Schwert, das in den geschuppten Schädel fuhr.

Die Bestie riss ihr Maul auf. Reihen dolchlanger Zähne, zwischen denen zersplitterte Äste und zerfetztes Fleisch hingen, rahmten die kräftigen Kiefer.

Nandalee ruderte mit den Armen und versuchte zur Wasseroberfläche zu gelangen. Ihre Lungen brannten. Die Seeschlange war schneller. Viel schneller! Nandalee zog die Beine an. Kaum eine Handbreit unter ihren Sohlen schnappten die Reißzähne zusammen.

Nodon hing unter dem Kiefer der Schlange. Er hatte sich an einen der armdicken Tentakel geklammert, die dort wucherten. Er schwang herum und stieß sein Schwert in die ungeschützte Kehle der Bestie. Schwaden dunklen Blutes wogten auf und zogen wie roter Nebel durch das Wasser.

Die Seeschlange warf sich zur Seite und schüttelte den Kopf, um den Angreifer loszuwerden. Doch Nodon ließ nicht locker. Durch die ruckartigen Bewegungen vergrößerte sich der klaffende Schnitt in der Kehle des Ungeheuers.

Plötzlich änderte die Schlange ihre Strategie. Sie tauchte ab, ins Dunkel des Hafenbeckens. Nandalee sah, wie Nodon loslassen wollte, doch nun hatten ihn mehrere der Kiefertentakel umschlungen. Er hieb mit dem Knauf der Waffe auf die fleischigen Fangarme ein, doch die Bestie ließ nicht los.

Ein Barinstein, der neben ihnen in die Tiefe sank, beleuchtete den verzweifelten letzten Kampf des Drachenelfen. Er winkte Nandalee, gab ihr Zeichen aufzutauchen. Ihre Lungen brannten, als stünden sie in Flammen, doch sie folgte ihrem Gefährten mit kräftigen Schwimmzügen in die Tiefe. Nodon hatte alles gegeben, um sie zu retten. Jetzt war es an ihr, ihm zu helfen! Er winkte noch immer, machte Gesten, dass sie auftauchen solle, als sie unvermittelt ein Schwanzhieb der Seeschlange traf. Unter der Wucht des Treffers atmete sie aus. Wasser füllte ihren Mund. Panik ergriff sie. Sie schlug mit Armen und Beinen um sich und prallte gegen eine Mauer. Ihre Finger bekamen einen hölzernen Pfosten zu packen, um den Tauwerk gewickelt war. Halb ohnmächtig zog sie sich daran empor. Sie hob ihren Kopf aus dem aufgewühlten Hafenbecken und spie Wasser. Sie keuchte und prustete. Ihr Hals schmerzte. Benommen kletterte sie auf die Anlegestelle. Überall lagen tote Zwerge. Vor allem Frauen und Kinder. Eng umschlungen, ganz ohne Wunden. Sie waren erstickt.

Nandalee blinzelte das Wasser aus den Augen und rollte sich zusammen. Es stank nach Rauch und verbranntem Fleisch. Jeder Atemzug kratzte in ihrer Kehle, aber es gab wieder genug Luft, um überhaupt atmen zu können.

Nodon! Völlig entkräftet robbte sie zum Rand des Kais und blickte auf das unruhige Wasser, in dem Äste und Blumen tanzten. Dazwischen schaukelten die zerzausten Federleiber ertrunkener Vögel. Das Licht der Barinsteine war in der Tiefe verglommen. Nodon konnte sie nirgends entdecken.

Kaltes Metall berührte ihre Schläfe. Aus den Augenwinkeln sah sie eine gespannte Armbrust und einen Zwerg mit einem blutigen Kopfverband. »Jetzt stirbst du, Mörderin.«

Zwergentücke

In den Augen des Zwergs war nichts als Hass. Tödlicher, unvernünftiger Hass. Er stieß mit seinem Dolch nach ihr, so stümperhaft, dass Bidayn ohne Mühe ausweichen konnte. Doch der Kerl setzte sofort nach, versuchte sie zu packen. Seine rote, zerschundene Hand glitt über ihren nackten Bauch. Es war eine feuchte Berührung, die Blutschlieren zurückließ. Sie stach mit ihrem Kurzschwert zu. Eine knappe, präzise Bewegung. Es geschah ohne Nachdenken. Hundertfach hatte sie diesen Stich im Schwertkampf, den Gonvalon die Schüler der Weißen Halle gelehrt hatte, erprobt.

Ihre Klinge drang durch den Bart des Zwergs, traf ihn am Kehlansatz, zwei Fingerbreit unter dem Halsknorpel, und drang durch seine Brust bis in die Lunge. Als sie ihre Klinge zurückzog, spürte sie den Stahl über Knochen schaben. Der Zwerg starrte sie an. Stieß einen unartikulierten Laut aus und hob seinen Dolch, um erneut zuzustoßen. Blut quoll ihm über die Lippen und troff in seinen versengten Bart.

Er blinzelte sie mit verkniffenen, grauen Augen an. Dann brach er in die Knie, immer noch drohend seinen Dolch erhoben.

»Er hat es hinter sich«, sagte Lyvianne kühl. »Töte ihn! Oder soll ich das für dich erledigen?«

Bidayn zog dem Sterbenden ihr Schwert über die Kehle.

»Du musst ihnen nicht nachtrauern. Sie haben die Himmelsschlangen herausgefordert. Das tun nur Narren! Sie hätten wissen können, was der Lohn ihrer Torheit sein würde.«

Bidayn nickte und vermied es, zu den Toten hinabzublicken. Sie atmete tief durch und wappnete sich für die Schrecken, die noch kommen mochten. Die Luft schmeckte nach Rauch und nach heißem Fels.

»Komm!« Lyvianne stieg über die Leiber der Zwerge hinweg, die sie erschlagen hatte. Es war erstaunlich, wie viele das Drachenfeuer überlebt hatten. Es gab offenbar etliche Höhlen ohne Luftschächte. Oder ihre Späher hatten doch nicht all diese Schächte gefunden.

Lyvianne verfiel in einen geschmeidigen Trab. Sie bewegte sich mit der Anmut eines Raubtieres. In diesem Abschnitt der Höhlen gab es kaum noch Licht. Bidayn überlegte kurz, dann flüsterte sie ein Wort der Macht, sorgsam darauf bedacht, den natürlichen Fluss der Magie nicht zu stark zu verändern. Ein Fehler wie auf Nangog würde ihr nie wieder geschehen!

Ihre Augen waren empfindlicher für das spärliche Licht geworden. Sie sah deutlicher, doch lag über allem ein graugrüner Schleier, der die Farben verfälschte. Auch die große Tätowierung auf Lyviannes Rücken trat nun deutlicher hervor, so als reagiere sie auf den Zauber. Sie zeigte das Bild des Goldenen, ihres Meisters. Seine ausgebreiteten Schwingen bedeckten ihre Schulterblätter, der schlangenhafte Leib wand sich ihren Rücken hinab. Nebel umspielten den Drachen. Er schien daraus emporzusteigen wie das Licht, das den Morgennebel vertreibt. Seine Augen starrten sie an, als seien sie lebendig.

Bidayn schüttelte den Kopf. Das war Unsinn! Sie war angespannt, hatte Angst. Das war alles. Sie wagte es, ein zweites Mal nach den Augen des Drachen zu blicken. Nun waren sie nur ein Bild, in die Haut ihrer Meisterin gestochen.

Würde auch sie selbst eines Tages dem Goldenen gehören?

Lyvianne blieb abrupt stehen. »Vorsicht«, flüsterte sie und duckte sich.

Bidayn sah über ihre Schultern hinweg eine weite Höhle … Nein, keine Höhle, es war ein Abgrund. Ein gewaltiger Spalt, der inmitten des Berges klaffte. Der Tunnel, dem sie gefolgt waren, mündete auf einen schmalen, von einer niedrigen Mauer gesäumten Pfad, der sich entlang des Abgrundes wand.

»Ich rieche Zwerge.«

Zwerge? Bidayn roch nur den Gestank verbrannten Fleisches. Sie duckte sich und blickte hinauf, dorthin, wo die Höhlendecke im Dunkel verborgen blieb. An der gegenüberliegenden Steilwand erkannte sie vereinzelte Terrassen. Ein Stück entfernt schwang sich eine Brücke in kühnem Bogen über den Abgrund. Auch sie lag höher und war von ihrem Saumpfad aus nicht zu erreichen.

»Wo lang gehen wir?«

Lyvianne zuckte mit den Achseln. »Nach links? Das ist die Seite des Herzens. Du dienst den Himmelsschlangen doch mit ganzem Herzen, oder?«

»Natürlich!« Sie hatte ein wenig zu schnell geantwortet.

Lyvianne wandte sich zu ihr um.

»Du bleibst hinter mir. Wir bewegen uns dicht an der Mauer entlang. Und schnell! Wirst du das schaffen?«

Bidayn nickte.

»Dann los!«

Lyvianne schien fast mit den unsteten Schatten in dieser gewaltigen Höhle zu verschmelzen. Ob sie einen Zauber gewoben hatte? Dicht hinter dem Ausgang ihres Tunnels lag ein alter Zwerg, der im Tode beide Hände auf seine Brust gepresst hatte. Das Gesicht war ganz rot und aufgedunsen. Eine schwere, goldene Kette schimmerte zwischen seinem Barthaar. Ob vor Furcht sein Herz zersprungen war?

»Schneller«, zischte Lyvianne.

Bidayn hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Konnte es hier Überlebende geben? Der Zauber Lyviannes hielt sie noch immer wie ein angenehm kühler, seidiger Kokon umfangen. Wie heiß es wohl wirklich war?

Sie stiegen über eine Gruppe Toter hinweg. Der Felsboden war schlüpfrig. Lyvianne blieb plötzlich stehen. »Dort oben auf den Terrassen sind Zwerge. Sie haben uns gesehen.«

Bidayn blickte hinauf, konnte aber niemanden entdecken. »Was tun wir jetzt?«

Lyvianne lachte. »Den Kopf unterhalb der Mauerkrone halten und einen Weg nach oben suchen. Wir sind hier, um Zwergenblut zu vergießen.«

Ein tiefes Grollen erklang. Es schien aus dem Felsen unmittelbar hinter ihnen zu kommen. Bidayn blickte zurück. Das Licht war zu schlecht, um alles deutlich sehen zu können. Sie hatte das Gefühl, ein Teil der Felswand habe sich bewegt. Natürlich war das nicht möglich.

Der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Kleine Steine stürzten klackernd in den Abgrund. Staub senkte sich auf sie herab. Plötzlich begann die niedrige Mauer neben ihnen zu schwanken. Fingerdicke Risse klafften in den Fugen.

»Zurück!«, rief Lyvianne.

Unter lautem Getöse stürzte ein Teil der Mauer in den Abgrund. Fast im selben Augenblick prasselten Armbrustbolzen auf sie nieder. Einer streifte Bidayns Haar. Klackernd schlugen sie auf die Felsen und den Weg.

»Sie greifen an, die Wahnsinnigen.« In Lyviannes Stimme schwang ein Anflug von Respekt mit. Sie half Bidayn auf die Beine und deutete den Weg hinunter. Dort stürmte ihnen schreiend ein halbes Dutzend Zwerge entgegen. Eigentlich keine Bedrohung, wären da nicht die Armbrustschützen auf der anderen Seite der weiten Felsspalte, die ihnen in den Rücken schießen würden, sobald sie sich zum Kampf stellten.

Geduckt flüchteten sie an der niedrigen Mauer entlang, begleitet vom Sirren der Armbrustbolzen. Lyvianne blieb völlig ruhig, nicht als sei sie auf der Flucht vor einem Haufen ungewaschener Zwerge, die sie beide in eine Falle gelockt hatten. Selbst auf der Flucht wirkte sie so, als sei sie ganz Herrin der Lage. So wollte Bidayn auch eines Tages sein! Ob sie das wohl jemals schaffen würde?

Plötzlich verwandelte sich der Boden unter ihren Füßen in eine rutschige Masse. Sie schlitterte ein Stück, kämpfte mit den Armen wedelnd um ihr Gleichgewicht, während ein Armbrustbolzen nur einen Fingerbreit vor ihrer Nase vorbeiflog. Sie zuckte zurück. Ihre Füße verloren jeden Halt. Sie stürzte zwischen die Leichen der Zwerge, über die sie eben erst hinweggestiegen waren.

Der Anführer ihrer Verfolger stieß einen triumphierenden Schrei aus. Lyvianne stieg über sie hinweg, hob eine Axt auf, die zwischen den toten Zwergen lag, und stellte sich ihren Verfolgern. Die Zwerge wurden langsamer und blieben stehen.

Bidayn rappelte sich auf. Sie war über und über mit weißlichem, halb geronnenem Fett bedeckt.

»Lauf zum nächsten Tunneleingang«, befahl Lyvianne ruhig. »Suche dort Deckung.« Sie lenkte mit dem Blatt der Axt einen Armbrustbolzen ab und schleuderte die Waffe dann ihren Verfolgern entgegen. Mit scharfem Knall grub sie sich in den Schild des Anführers. Der Zwerg taumelte unter der Wucht des Aufpralls zurück.

Lyvianne riss beide Arme hoch und rief ein Wort der Macht in der Sprache der Drachen. Drohend hallte es von den Felswänden wider.

Bidayn hatte das Gefühl, dass die Dunkelheit ringsherum dichter wurde. Das wenige Licht gerann zu Schlieren, die sich schwingend über dem Abgrund bewegten und den Terrassen entgegentanzten. Die Armbrustschützen schrien entsetzt auf und wichen zurück.

Lyvianne lief den Saumpfad hinauf. »Schnell, sie werden nicht lange brauchen, um zu merken, dass dies nichts weiter als ein wenig Spielerei mit Licht ist.«

Ihre Meisterin zog sie neben sich her, und nahe dem toten Zwerg mit der schweren Goldkette traten sie in einen Tunnel. War der Tunnel, aus dem sie gekommen waren, nicht ein Stück weiter den Weg hinab gewesen? Sie konnte sich gar nicht erinnern, hier einen Eingang in den Fels gesehen zu haben. Vielleicht irrte sie sich auch … Die Tiefe Stadt war ein einziges Labyrinth, ein Ameisenhaufen, in dem man sich wohl nur zurechtfinden konnte, wenn man darin geboren worden war.

Angewidert wischte Bidayn über die klebrige Masse, die ihre Arme und Beine bedeckte. »Was ist das?«

Lyvianne bedachte sie mit einem bedauernden Blick. »Du hast dir einen schlechten Platz ausgesucht, um zu stürzen. Ich an deiner Stelle würde ein sehr langes Bad nehmen, wenn wir zurück in der Weißen Halle sind.«

»Was …«

»Es ist immer noch sehr heiß. Dein Zauber schützt dich, deshalb merkst du es nicht. Die Toten … Ich weiß nicht, wie ich es dir nett sagen soll. Hast du schon einmal Würste in einer zu heißen Pfanne gebraten? Die Pelle platzt auf, und das Fett läuft heraus. Das ist dort draußen geschehen. Du hast im Fett der Toten gelegen.«

»Nein …« Angewidert wischte Bidayn über ihre nackten Glieder.

»Stell dich nicht so an!«

Bidayn sah das anders. Sie strich mit den Händen über den Fels der Tunnelwände, um das Fett loszuwerden. Etliche Furchen waren in das Gestein gegraben. An den scharfen Kanten konnte sie die klebrige Masse abstreifen.

»Riechst du das?«

Bidayn roch nichts außer dem Gestank des Fettes. Es würde tief in ihre Haut einziehen, und sie würde stinken wie ein toter Zwerg.

»Hier ist Blut vergossen worden. Elfenblut!« Lyvianne rief ein Wort der Macht, und eine der Lichtschlieren, die über dem Abgrund tanzten, wand sich in den Tunnel hinein.

Deutlich sah Bidayn nun die über die Wände, die Decke und den Fußboden verlaufenden Furchen. Alle waren vollkommen gerade und schmaler als ihr kleiner Finger.

Knirschend prallte ein Armbrustbolzen von der Wand hinter ihr ab.

»Wie es scheint, haben unsere Freunde draußen frischen Mut gefasst.« Lyvianne winkte ihr. »Komm, gehen wir ein Stück tiefer. Mit dem Licht, das ich gerufen habe, erleichtern wir ihnen das Zielen. Außerdem werden wohl gleich ihre Axtschwinger kommen.«

Bidayn hatte in einer Furche, die etwa auf Brusthöhe verlief, etwas Dunkles entdeckt. Sie strich darüber. »Hier ist Blut.«

Lyvianne bedachte ihre blutbenetzten Finger nur mit einem kurzen Blick. »Ich sagte doch, ich rieche Elfenblut. Vielleicht ist weiter oben im Tunnel ein Opferplatz. Zwergen traue ich alles zu.«

Bidayn blickte die Furchen entlang zum Ausgang. Ein paar Schritt vor dem Ende des Tunnels schwangen sie sich in weitem Bogen der Decke entgegen und verschwanden in einem Schacht. Ein Opferplatz war das hier bestimmt nicht, dachte sie und beeilte sich, den Anschluss an Lyvianne nicht zu verlieren.

Der Tunnel stieg mit sanftem Gefälle an. Immer wieder blickte Bidayn zurück. »Die Axtträger folgen uns nicht.«

»Denen ist wohl aufgegangen, dass sie hier ohne die Deckung durch ihre Armbrustschützen der sichere Tod erwartet, wenn sie sich zwei Drachenelfen stellen.«

Wieder blickte Bidayn zurück. Sie hatte ein ungutes Gefühl. »Vielleicht wollten sie, dass wir in diesen Tunnel gehen.«

»Und wenn? Was hätten wir beide zu befürchten?«

Bidayn wünschte sich, sie wäre so selbstsicher wie ihre Meisterin.

Schweigend folgten sie dem Lauf des Tunnels und entdeckten bald in den Furchen am Boden Rinnsale von Blut. Jetzt verlangsamte auch Lyvianne ihren Schritt. Sie hielt wachsam ihr Schwert erhoben und ließ den Wurm aus blassem Licht den Stollen hinaufeilen. Voraus lag ein blasser, zartgliedriger Körper.

»Coleen.« Lyviannes Stimme klang halb erstickt.

Vorsichtig näherten sie sich der Toten. Der Wurm aus Licht drehte sich in weiten Spiralen über der Elfe. Ihre beiden Arme waren abgetrennt. Der Kopf und ein Stück ihres Torsos ebenfalls. Sie sah aus, als sei sie vom Schwert eines Riesen in die Brust getroffen worden. Eine gewaltige Klinge hatte mit nur einem einzigen Hieb glatt durch sie hindurchgeschnitten.

Lyvianne kniete neben der Toten nieder und schloss ihr die Augen.

Bidayn hatte Coleen kaum gekannt. Sie war eine Schülerin der Meisterin Ailyn, die Nandalee an ihrem ersten Tag in der Weißen Halle so entsetzlich verprügelt hatte. Sie mochte Ailyn nicht und alle, die mit ihr zu tun hatten. Sie und ihre Schüler interessierten sich kaum für die Kunst des Zauberwebens. Sie wollten nur eins: vollkommene Kriegerinnen sein. Umso beklemmender war es, Coleen hier tot zu sehen. Sie war mit einem Ausdruck grenzenlosen Erstaunens auf ihrem Antlitz gestorben. Wer hatte sie getötet? Oder besser was?

»Sie hat nicht kommen sehen, was sie umbrachte. Oder zumindest hat sie es zu spät bemerkt«, stellte Lyvianne sachlich fest. Der Wurm aus Licht glomm um ein weniges heller, als nutze die Zauberweberin nun all ihre Kraft, um gegen die Dunkelheit anzukämpfen. »Ihr Tod war nicht nutzlos. Wir sind gewarnt.« Mit diesen Worten richtete sie sich auf und schickte das sich windende Licht mit graziler Geste weiter den Stollen hinauf.

Wie eine Antwort auf ihre Worte erklang ein fernes Klirren vor ihnen im Tunnel. Dann ertönte ein leises, metallisches Zischen. Zwei schwere silberne Klingen zerteilten den Lichtwurm und schossen ihnen mit atemberaubender Geschwindigkeit entgegen. Zu schnell, um vor ihnen fortlaufen zu können. Sie waren in die steinernen Führungsschienen eingelassen und gewannen durch ihr eigenes Gewicht immer mehr an Geschwindigkeit.

Statt davonzulaufen, tat Lyvianne genau das Gegenteil. Sie lief ihrem Tod entgegen. »Spring!«, schrie ihre Meisterin und machte einen kühnen Hechtsprung zwischen den Klingen hindurch.

Bidayn begann am ganzen Leib zu zittern. Sie fluchte. Und dann sprang sie … Sie spürte den Luftzug der Klingen und landete schwer auf dem Boden des Tunnels.

»Du magst es spannend.« Lyvianne half ihr auf. »Ich dachte schon, ich würde die talentierteste Zauberweberin, die in den letzten fünf Jahrhunderten die Weißen Halle betreten hat, an ein Stück Zwergenstahl verlieren. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«

Bidayn schlotterten alle Glieder. Sie war nicht einmal mehr in der Lage zu sprechen. Ihr Herz klopfte ihr bis in den Hals hinauf.

»Ist schon gut.« Lyvianne strich ihr sanft über das Haar. »Lerne, Bidayn. Du darfst nie in Panik verfallen. Ganz gleich, was geschieht. Wenn die Angst dein Handeln regiert, hat der Tod dich schon am Kragen gepackt. Bewahre ein ruhiges Herz und einen kühlen Verstand, und du wirst die meisten Gefahren meistern.«

Bidayn nickte, zitterte aber noch immer. Es war ihr peinlich, sich so wenig unter Kontrolle zu haben. »Licht und ein bisschen Akrobatik, das genügt, um uns hier herauszubringen. Keine Sorge, wir gehen diesen Weg bis zum Ende.«

Wieder ertönte ein entferntes Klirren. Lyvianne lachte. »Wie es scheint, fällt den Zwergen nichts Neues ein. Bist du bereit zu springen?«

Bidayn nickte, obwohl ihr immer noch die Glieder schlotterten. Ihre Meisterin trieb mit einer Geste den Lichtwurm voran. Funkelndes Metall schnellte den Gang hinab, ihnen entgegen.

Bidayn schrie auf, und selbst Lyvianne erbleichte.

Den Zwergen war doch noch etwas Neues eingefallen. Ein Gitterwerk aus messerscharfen Klingen schoss auf sie zu.

Die nackte Wahrheit

Gonvalon sah zwei Zwerge von einer der Terrassen stürzen. Endlich begann ein organisierter Angriff gegen die heimtückischen Schützen. Er hatte eine Ewigkeit gebraucht, um zu dem Portal auf der anderen Seite zu gelangen, und dort einen Palast vorgefunden. Doch Nandalee war nicht dort gewesen. Die Launen der Schlacht ließen sie nicht zusammenfinden. Sie konnte jetzt überall in dieser riesigen Stadt sein.

Gonvalon duckte sich. Armbrustbolzen prasselten gegen die niedrige Mauer und den Fels hinter ihm. Er hatte Respekt vor den Zwergen. Sie mussten wissen, dass sie auf verlorenem Posten kämpften. Sie hatten die Himmelsschlangen herausgefordert, und nun war deren Zorn über sie gekommen. Allein die Alben hätten sie noch retten können. Doch die Schöpfer dieser Welt schienen sich schon lange nicht mehr für die Geschicke ihrer Kinder zu interessieren. Alle Macht lag nun bei den ältesten Drachen. Wer sich gegen sie stellte, der war des Todes. Und er, Gonvalon, war das Schwert des Goldenen.

Vorsichtig spähte er über die Brüstung. In dem weiten Felsspalt, der das Herz des Berges teilte, war Magie gewirkt worden. Licht tanzte in seltsamen Schlieren über dem Abgrund. Lebendig gewordene Schatten liefen über die Felsen und erschwerten den Zwergen das Zielen.

Ein Stück weiter kauerte eine bleiche Gestalt. Ein Elf! Gonvalon sah schon von Weitem das Blut. Zu viel Blut, und er besaß nicht mehr die Zaubermacht, sie zu heilen, noch irgendetwas, um die Wunden zu verbinden. Alles, was er hatte, war sein Schwert. Die Drachen hatten ihre ersten Diener an diesem Tag ganz und gar zu ihren Henkern gemacht. Es gab keinen Schmuck und keine edlen Gewänder. Nichts, mit dem sie bemänteln konnten, was sie waren. Ihr Sein war reduziert auf die Klingen in ihren Händen. Das war die nackte Wahrheit, alles andere nur Blendwerk.

Gonvalon hatte den Toten erreicht. Durell, ein Novize. Er war nicht nur ein guter Schwerttänzer gewesen, sondern auch ein begnadeter Flötenspieler. Drei Armbrustbolzen steckten in seinem Rücken. Vor ihm auf dem engen Weg lagen sechs tote Zwerge.

Gonvalon strich sanft mit der Hand über Durells Gesicht. »Die Weiße Halle wird ohne dein Flötenspiel ein freudloserer Ort sein, mein Freund.«

Geduckt eilte er weiter und horchte in sich hinein. Er versuchte die Bilder vergangener Liebesnächte heraufzubeschwören und das Band zu Nandalee wieder zu festigen. Konnte er spüren, wo sie war, wenn er nur fest genug an sie dachte? Oder hatten sie sich längst zu weit voneinander entfernt?

Ein Armbrustbolzen schrammte kreischend über sein Schwert. Was tat er da! Er sollte mit allen Sinnen im Hier und Jetzt sein, wenn er überleben wollte.

Ein Stück voraus versperrte ein Trupp Zwerge den Weg. Sie erwarteten ihn mit grimmig erhobenen Äxten. Aber all ihr trotziger Mut konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie dem Tod näher waren als dem Leben. Die Bärte versengt, die Gesichter von Verbrennungen entstellt, waren sie nur noch ein Schatten des stolzen Volkes aus der Tiefe. Die Hitze tötete sie. Bald bedurfte es keiner Schwerter mehr, um den Sieg der Drachen und Elfen zu besiegeln.

Ihr Anführer, ein Kerl mit goldenen Stierhörnern am Helm, rief ihm eine Herausforderung entgegen und stürmte los. Gonvalon hob sein Schwert zum Gruß und trat dem Zwerg entgegen. Er würde ihm einen schnellen Tod schenken.

Er passierte eine Tunnelöffnung und trat mit einem großen Schritt über einen Zwerg hinweg, der noch im Tod seine goldene Kette auf der Brust umklammert hielt.

Gonvalon wich einem Axthieb aus. Der Angriff war mit mehr Wut als Geschick ausgeführt. Ein Tritt gegen die Brust des Zwergs ließ ihn gegen die Krieger taumeln, die ihm folgten. Gonvalon setzte nach. Seine Klinge durchdrang klirrend das Kettenhemd des Axtkämpfers und grub sich durch dessen Brust ins Herz. Ein Ruck zur Seite und der Körper des Sterbenden blockierte den Angriff des Kriegers, der hinter ihm stand. Auf dem engen Saumpfad nutzte den Zwergen ihre Übermacht nichts.

Ein dumpfer Schlag traf seinen linken Arm. Die Wucht des Treffers ließ ihn nach vorne taumeln und brachte ihn in gefährliche Nähe einer vorschnellenden Axt. Ein kurzer entschlossener Hieb ließ den Schaft der Axt zersplittern. Gonvalon riss die Klinge hoch, traf seinen Gegner am Kinn, sodass dessen Kopf in den Nacken geworfen wurde. Der Elf ließ sein Gewicht in das Schwert fallen und trieb den Stahl tief in die Kehle seines Gegners. Der Zorn in dessen Augen wich. Er wirkte nur noch erschöpft.

Gonvalon machte einen raschen Schritt zurück. Ein Armbrustbolzen prallte dicht neben ihm gegen die Felswand. Er war auf dem Weg zu exponiert. Die Schützen auf den Terrassen schreckten nicht davor zurück, mit ihren Bolzen womöglich ihre Kameraden zu treffen. So musste Durell gestorben sein.

Der Schwertmeister wich einen weiteren Schritt zurück und flüchtete sich in den Tunnel, dessen Eingang er eben erst passiert hatte. Sollten die Zwerge ihm nur hierher folgen. Ohne ihre Armbrustschützen würde er einen nach dem anderen niederstrecken.

Die Zwergenkrieger folgten ihm nicht. Er wich mit ein paar schnellen Schritten weiter zurück, um aus dem Schussbereich der Schützen zu gelangen. Jetzt tastete er nach seinem Arm. Der Bolzen hatte ihn nur gestreift. Aber er musste die Wunde abbinden. Er blickte den Tunnel hinauf. Weiter vorne tanzte ein merkwürdig blasses Licht. Er sah zwei schattenhafte Gestalten. Für Zwerge waren sie zu groß. Es schienen Elfen zu sein. Er ging ihnen mit langen Schritten entgegen, als er ein seltsames, zischendes Geräusch hörte.

Unausgesprochenes

Das war der Tod! Bidayn wusste, dass es vor diesem Gitterwerk aus Klingen, das den Gang hinabglitt, kein Entkommen geben konnte.

Lyvianne rief ein Wort der Macht, düster und alt wie die Wurzeln der Welt. Unheilvoll, nicht für Elfenzungen geschaffen. Selbst im Angesicht des Todes bewahrte Lyvianne kalten Mut. Ihre Hand fuhr in anmutiger Geste über die Felswand zu ihrer Linken. Das Gestein zerfloss unter ihren Fingern, als sei es heißes Wachs.

Lyvianne trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Wie konnte ihre Meisterin nur so ruhig dem Tod ins Auge schauen?, dachte Bidayn.

Mit infernalischem Krachen kam das Klingengitter unmittelbar vor ihr zum Halt. Feine Metallsplitter prasselten in den Tunnel und stachen wie Nadeln nach Bidayn. »Bei den Alben …«, stammelte sie ungläubig. »Wir leben!«

Sie trat an die Felswand, um das Wunder, das sie gerettet hatte, genauer in Augenschein zu nehmen. Der geschmolzene Fels war in die Führungsrinnen des Gitters gelaufen.

»Wie konntest du wissen, dass das flüssige Gestein schnell genug wieder hart werden würde?«

»Ich wusste es nicht.«

Bidayn war fassungslos. »Aber wie konntest du dann so ruhig bleiben?«

»Wie hätte ich anders reagieren können?« Lyvianne wandte sich um. Feine Rinnsale aus Blut zerteilten ihr Gesicht in Streifen aus Rot und Weiß. Sie hatte dem Gitter viel näher gestanden und mehr Metallsplitter abbekommen. »Als Drachenelfe musst du akzeptieren, dass du eines Tages eines gewaltsamen Todes sterben wirst. Das ist unser Schicksal. Wir können ihm nicht entfliehen, aber wir haben die Wahl, wie wir ihm begegnen. Ich hätte diesen Klingen nicht davonlaufen können, und es ist nicht meine Art, vor Furcht zu erstarren. Dazu habe ich schon zu vieles gesehen. Um einen Zauber zu weben, der das magische Netzwerk stark verzerrt, blieb mir keine Zeit. Es musste einfach sein und schnell gehen. Nachdem diese Entscheidungen getroffen waren, blieb mir nur noch zu warten und mich dem möglichen Tod mit Würde zu stellen.«

Sie war ehrfurchtgebietend, dachte Bidayn. »Glaubst du, ich kann das auch?«

Ihre Meisterin lächelte, was bei ihrem blutüberströmten Gesicht schrecklich aussah. »Das entscheidest allein du. Aber ich werde dir helfen, diesen Weg zu beschreiten. Du wirst …« Sie kniff die Augen zusammen.

»Was werde ich?«

Lyvianne ging in den tiefen Stand der Schwertkämpferin, hob ihre Waffe jedoch noch nicht. »Da ist ein Schatten im Tunnel. Wir müssen …« Plötzlich lachte sie. »Gonvalon!«

Der Schwertmeister trat in das blasse, pulsierende Licht, das Lyviannes Zauber bewirkte. Sein linker Arm war blutüberströmt. Er blickte zu dem Klingengitter und nickte nur.

»Habt ihr Nandalee gesehen?«

Bidayn hatte das Gefühl, dass etwas Unausgesprochenes zwischen Gonvalon und Lyvianne schwang. Sie sahen einander auf eine seltsame Art an.

»Ich glaube, sie ist gar nicht hier unten«, sagte Bidayn. »Jedenfalls war sie nicht auf dem Kriegsrat. Ich habe sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen.«

»Sie ist hier«, entgegnete Gonvalon mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete. Gleichzeitig wirkte er seltsam gehetzt. Er blickte zum Tunnelausgang zurück.

Sie war wohl wieder auf einer ihrer geheimen Missionen, dachte Bidayn ein wenig eifersüchtig. Man könnte meinen, dass sie schon eine Drachenelfe sei, so oft, wie sie die Weiße Halle verließ. Gewiss hatte Nachtatem sie geschickt. »Wir könnten sie gemeinsam suchen«, schlug Bidayn vor.

»Die Aussichten, sie zu finden, sind doppelt so gut, wenn wir uns aufteilen«, entgegnete ihre Meisterin. »Ist es deine Mission oder deine Liebe, die dich treibt, Gonvalon?«

Wieder hatte Bidayn das Gefühl, dass in den Worten eine Botschaft mitschwang, die ihr verschlossen blieb.

»Ich folge dem Befehl des Goldenen«, entgegnete Gonvalon harsch.

»Dann werden wir dir helfen, deine Mission zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Darf ich deinen Arm einmal sehen?«

Gonvalon antwortete nicht, hielt aber still, als Lyvianne behutsam die Hand nach ihm ausstreckte und auf seine Wunde legte. Die Züge der Elfe wurden weicher, fast mütterlich. Sie schloss die Augen. Das Blut, das zwischen ihren Fingern hervorgequollen war, versiegte. Bidayn war versucht, ihr Verborgenes Auge zu öffnen und dabei zuzusehen, wie Lyvianne auf das magische Netz wirkte. Was sie tat, um zu heilen.

»Nun solltest du für jeden Kampf gewappnet sein.« Lyvianne zog ihre Hand zurück. Gonvalons Arm war mit Blut verschmiert, aber die Wunde war verschwunden.

Er sah Lyvianne eigenartig an und fand kein Wort des Dankes für sie.

Bidayn verstand nicht, was zwischen den beiden vor sich ging. Waren sie einmal ein Paar gewesen? So zahlreich die Geschichten über Gonvalons Affären auch waren, nie hatte sie davon gehört, dass auch Lyvianne seine Geliebte gewesen war. Aber da war ein Band zwischen beiden, das konnte sie deutlich spüren. Vielleicht hatte der Goldene sie gemeinsam auf Missionen geschickt? Der Meister des Schwertes und die Meisterin der dunkleren Spielarten der Magie. Wer könnte diesen beiden trotzen?

»Wir sollten jetzt gehen«, entschied Lyvianne.

»Aber die Armbrustschützen. Sie werden uns töten, sobald wir am Eingang des Tunnels erscheinen«, begehrte Bidayn auf.

»Die Hitze bringt sie langsam um. Bald werden sie nicht einmal mehr ihre Waffen halten können.« In Gonvalons Stimme schwangen Mitgefühl und zugleich Verachtung. Sein Antlitz aber blieb ohne jede Emotion. Ein Widerspruch, der Bidayn verwirrte. Sie sah zu Lyvianne, die kurz verärgert wirkte, sich aber nichts mehr anmerken ließ, als sie Bidayns Blick bemerkte.

»Die Zwerge helfen uns, ihnen den Untergang zu bereiten. Komm mit und lerne!« Mit festem Schritt ging sie voraus und winkte dabei das seltsame Licht zu sich, das sich nun vor ihnen dem Ausgang des Tunnels entgegenwand.

Ein paar Schritte vor dem Ausgang hielt Lyvianne inne und bückte sich. Als sie wieder aufstand, lag ein Armbrustbolzen auf ihrer flachen Hand. »Öffne dein Verborgenes Auge, Bidayn.«

Die junge Elfe gehorchte. Das Halbdunkel des Tunnels wich einem strahlenden Netzwerk aus Linien. Lyvianne aber war ein wahrer Hort des Lichtes. Sie anzusehen schmerzte. Am hellsten leuchteten ihr Kopf und die Hand, auf der der Armbrustbolzen lag.

»Siehst du das blasse, hellblaue Band? Es führt von meiner Hand durch den Tunnel über den breiten Felsspalt hinweg.«

Bidayn brauchte eine Weile, bis sie die Lichtspur entdeckte, die vor dem hellen Licht der anderen Kraftlinien fast unsichtbar war. »Was hat es damit auf sich?«

»Sie führt zu dem Zwerg, der diesen Bolzen auf uns abgeschossen hat. Er hat uns den Tod gewünscht. Starke Gefühle beeinflussen das magische Netzwerk. Und er hat den Bolzen eine Weile in seinem Köcher mit sich herumgetragen. Alle Dinge, die wir nahe bei unserem Körper tragen, werden ein wenig von unserer Magie durchdrungen. In ein oder zwei Stunden wird die blaue Linie ganz verschwunden sein, denn es wurde nicht bewusst ein Zauber gewoben. Es ist wie mit einer Spur im Wüstensand. Sie verändert die Wüste nicht in ihrem Wesen. Die Sanddünen, den unerbittlich blauen Himmel. Nach ein paar Stunden hat der Wind sie ausgelöscht, für immer. Doch nun wollen wir das blasse Band zu dem hasserfüllten Schützen nutzen.« Lyvianne sprach ein Wort der Macht, das Bidayn schon kannte. Man konnte Wind damit herbeirufen oder verbannen.

Ihre Meisterin blies über ihre Hand, und der Bolzen flog davon, als sei er von einer unsichtbaren Armbrust abgeschossen worden. Sie hörte einen Schrei von jenseits der Felskluft.

Lyvianne nickte ernst. »Hass ist ein Gefühl, das sich gegen einen wenden kann.« Sie sah Bidayn an. »Such dir einen der Bolzen, die uns verfehlt haben, und tu es mir gleich. Aber webe deinen Zauber ohne jedes Gefühl. Weder Zorn noch Schadenfreude dürfen dich leiten, denn wie du gesehen hast, mag jede unserer Emotionen gegen uns verwandt werden.«

Bidayn wählte eines der Geschosse, die kaum beschädigt waren. Die steifen Lederflügel waren nur leicht verbogen. Die Eisenspitze ein wenig platt gedrückt, doch das Holz des dicken, kurzen Schafts nicht gesplittert. Dann suchte Bidayn nach der Verbindung zum Schützen. Nun, da sie wusste, worauf sie achten musste, fand sie die verblassende Kraftlinie schnell. Sie räusperte sich, konzentrierte sich ganz auf das Geschoss und stellte sich dabei vor, wie es entlang der Kraftlinie zum Schützen zurückflog. Leise murmelte sie das Wort der Macht. Es fühlte sich an, als ließe sie eine gespannte Bogensehne losschnellen. Der Bolzen schrammte mit den zähen Lederflügeln über ihre Hand und hinterließ eine blutige Furche. Die Dunkelheit verschlang das Geschoss. Im nächsten Augenblick erklang ein gellender Schrei.

Lyvianne legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Fast perfekt, meine Liebe.«

Gonvalon schwieg. Er wirkte bedrückt, als würde ihm der Kampf gegen die Zwerge nicht gefallen. Dabei waren sie doch Mörder. Sie waren es doch gewesen, die den Schwebenden Meister gemeuchelt und damit den Zorn der Himmelsschlangen heraufbeschworen hatten!

»Versuch es noch einmal, Bidayn.« Lyvianne drückte ihr einen weiteren Armbrustbolzen in die Hand. Sie selbst behielt drei Geschosse für sich, die sie nebeneinander auf ihre Hand legte und mit einem einzigen Befehl davonschnellen ließ.

»Das genügt!«, sagte Gonvalon harsch. Er stürmte dem Ausgang entgegen, während von der anderen Seite der Kluft Schmerzensschreie erklangen.

»Hoffentlich findet er Nandalee.« Bidayn packte ihr kurzes Schwert fester und wollte ihm folgen, doch Lyvianne hielt sie zurück.

»Wir helfen ihm am besten, wenn wir die Armbrustschützen beschäftigen.« Sie bückte sich, um nach weiteren Geschossen zu suchen.

»Aber Nandalee!«, begehrte Bidayn auf. »Wir haben versprochen, auch nach ihr zu suchen! Wir können doch nicht einfach …«

»Mit einem Armbrustbolzen in der Stirn hilfst du deiner Freundin nicht. Hast du vergessen, was ich gesagt habe? Zauberweber müssen kalten Herzens sein! Bekämpfe deine Gefühle. Wäre ich wie du, hätte uns das Klingengitter getötet.«

»Bedeutet es dir denn gar nichts, dass Nandalee gefunden wird?«

Lyvianne richtete sich auf und sah sie auf seltsame Art an. Die feinen, braunen Sprenkel in ihren grünen Augen schienen von innen heraus zu leuchten. »Du irrst, wenn du glaubst, dass mir Nandalees Schicksal gleichgültig ist. Es bedeutet mir sogar mehr, als du dir vorzustellen vermagst.«

Etwas an ihrem Tonfall jagte Bidayn einen eisigen Schauer über den Rücken. Da wusste sie, dass sie Gonvalon folgen musste. Sonst würde etwas Schreckliches geschehen. Ihr war klar, dass sie sich schon wieder von ihren Gefühlen leiten ließ. Sie eilte zum Tunnelausgang.

Die Zwerge, die den Saumpfad bewacht hatten, waren niedergemacht und Gonvalon im Dunkel verschwunden. Sie musste ihn einholen!

Wo die Amsel singt

Nandalees Erschöpfung war wie fortgewischt. Die Armbrust an ihrer Schläfe belebte noch einmal all ihre Kräfte. Sie ließ sich nach hinten fallen. Gleichzeitig schlug sie von unten gegen die Armbrust. Der metallische Klang, mit dem sich der Bogen entspannte, stach in ihre Ohren. Ein sengender Schmerz durchfuhr sie. Die Metallspitze des Bolzens pflügte durch ihr blondes Haar und riss es in Strähnen von ihrer Kopfhaut.

Nandalee hakte einen Fuß hinter die rechte Ferse des Zwergs. Mit dem freien Bein trat sie gegen sein Knie. Ein trockenes Knacken ertönte, als der Oberschenkelknochen aus dem Gelenk schnappte.

Die Elfe packte den Dolch eines der toten Zwerge am Kai und sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Sie schnellte herum und warf aus der Bewegung heraus den Dolch. Er fuhr einem großen, rotbärtigen Zwerg ins Auge. Neben ihm stürmte dessen Gefährte mit drohend erhobener Axt vor. Wie viele hatten sich nur tot gestellt? Nandalee sah vor ihrem geistigen Auge, wie sich alle Zwerge ringsherum erhoben und mit hasserfüllten Augen auf sie losgingen.

Sie versetzte dem Zwerg mit dem ausgekugelten Knie einen Hieb auf den Kehlkopf, der dessen Luftröhre zerquetschte. Sie durfte ihn nicht einfach hinter sich lassen. Selbst wenn er nicht mehr laufen konnte, hätte er immer noch seine Armbrust nachladen können. Tausendfach war ihr in der Weißen Halle eingeschärft worden, niemals einen Feind hinter sich zurückzulassen, von dem sie nicht ganz sicher wusste, dass er kampfunfähig war.

Ein Axthieb verfehlte sie knapp. Sie machte einen Satz zurück, trat auf einen Toten und geriet ins Straucheln. Sofort setzte der Zwerg nach. Hellgraue Augen strahlten hasserfüllt aus einem rot verbrannten Gesicht. Sein Bart war versengt und nur noch ein Schatten seiner einstigen Pracht. Ein Rückhandhieb der zweiblättrigen Axt schnitt über ihren Bauch. Es war keine tiefe Verletzung, aber eine deutliche Warnung, wie nahe sie dem Ende ihrer Kräfte war.

Nandalee wich weiter zurück, der Zwerg folgte ihr keuchend. »Dich weide ich aus, Kindsmörderin. Gewissenlose Drachenhure. Du Fehlgeburt einer räudigen Hündin.« Jeder Fluch wurde von einem Axtstreich begleitet.

Angst kroch ihr in die Glieder. Eigentlich war der Zwerg kein Gegner, den sie fürchten müsste, doch der Blutverlust schwächte sie. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie eine Gestalt versuchte, in ihren Rücken zu gelangen. Ein weiterer Zwergenkrieger!

Nandalee beugte sich vor. Mit einem verzweifelten Schrei riss sie einen toten Zwerg hoch und schleuderte ihn dem Angreifer entgegen. Der Axtkämpfer taumelte zurück und stürzte. Sein Helm fiel ihm vom Kopf und rollte klirrend über den Boden. Nandalee packte den eisernen Helm und schlug damit in das Gesicht ihres Gegners. Der erste Hieb verwandelte die Nase in eine unförmige, blutige Masse. Sie schlug weiter zu. Und weiter. Wie von Sinnen.

Ein gellender Schrei ertönte hinter ihr. Instinktiv duckte Nandalee sich, ließ den Helm fallen und griff nach der Axt des toten Zwergs. Sie warf sich zur Seite und schwang die Axt nach hinten. Sie spürte, wie sie etwas traf.

Mit einem Satz war Nandalee wieder auf den Füßen. Sie hob die Axt und drehte sich dabei. Hinter ihr stand eine Zwergenfrau mit einem Bündel auf dem Arm. In der Rechten hielt sie eine lange Haarnadel. Blut pulste aus einer klaffenden Wunde am Halsansatz, durchtränkte ihr schlichtes Leinenkleid und rann die speckige Lederschürze hinab, die sie um die Hüften trug. Mit weiten braunen Augen starrte sie Nandalee an. Voller Entsetzen. Die Haarnadel entglitt ihrer zitternden Hand. Ihr hochgesteckter Dutt aus schimmernd blondem Haar hatte sich halb aufgelöst und wurde nur noch von einer Haarnadel gehalten.

Die Zwergin ging in die Knie. Behutsam legte sie das Bündel vor sich auf den Boden. Die blaue, mit aufgestickten Äxten geschmückte Decke war voller Blut. Ein rosiges Gesicht, bedeckt mit zartem, schwarzem Flaum, lugte daraus hervor.

»Bitte …«, stammelte die Zwergin. »Bitte rette ihn …«

Nandalee fühlte sich, als bräche der Boden unter ihr ein. Sie hatte das Kind mit ihrem blinden Hieb nur knapp verfehlt. Fast wäre sie wirklich zur Kindsmörderin geworden.

Die Zwergin hob die Hände. Ihr Blick flackerte. »Hab Gnade …« Das Blut rann nur noch als dünnes Rinnsal aus der Wunde an ihrem Hals. Ihre Lippen bebten. Sie wollte sprechen, doch ihre Kraft reichte dazu nicht mehr aus. All die ungesagten Worte lagen in ihrem Blick, als ihre Augen glasig wurden und brachen.

Nandalee kämpfte gegen Tränen. Was hatte sie getan! Sie presste die Linke auf ihren Bauch. Warmes Blut rann zu ihren Schenkeln herab. Nandalee suchte nach dem Wort der Macht, das ihre Wunde schließen konnte. Haut und durchtrennte Muskeln wieder zusammenwachsen ließ. Doch sie vermochte sich nicht auf das eine Wort zu besinnen. Sie musste ihre Wunden heilen, oder sie würde hier zwischen den Zwergen sterben. Der Tod war nahe.

Stattdessen starrte sie das Kind an. Es hatte große, graue Augen, ganz wie der Zwerg, der eben mit so verzweifelter Wut versucht hatte, sie zu töten.

Das Kind lächelte sie an. Sie, die Mörderin seiner Eltern! Ein leiser, unartikulierter Laut kam über seine Lippen. Heiße Tränen rannen Nandalee über die Wangen. Was hatte sie getan? Was geschah hier? War denn die ganze Welt verrückt geworden? Wo waren die Alben! Warum hatten sie die Himmelsschlangen nicht von diesem mörderischen Gemetzel abgehalten?

Sie sah sich um. Fast nur Frauen und Kinder lagen auf den Kais von Amalaswinthas verborgenem Hafen. Zerpflückte Blüten trieben auf dem Wasser, das nun still lag. Eine nasse, zerzauste Amsel hockte auf einem Holzpfahl, von dem ein zerrissenes Seil hing, und zwitscherte ihren Unmut in die stille Höhle hinein.

Nandalee sackte der Kopf auf die Brust. Ihr Blick verengte sich. Die Welt wich zurück, bis sie nur noch aus grauen Kinderaugen bestand. Die Drachen würden den Jungen töten, wenn sie hierherkamen. Auch die Drachenelfen. Sie mordeten nicht eine ganze Stadt, um dann ein kleines Kind entkommen zu lassen. Für ein Zwergenbaby war kein Platz in der Weißen Halle. Sie konnte es regelrecht vor sich sehen. Wahrscheinlich würde es einer ihrer Meister tun. Ein Dolchstoß, ohne Hass, ins Herz des Kindes. Es war genug unschuldiges Blut vergossen worden! Das durfte nicht auch noch geschehen!

Mit ihrer Verzweiflung kam die Erinnerung zurück. Das Wort der Macht fand von allein auf ihre Lippen. Wärme durchlief sie, versiegelte ihre Wunden. Doch all das verlorene Blut konnte sie nicht ersetzen. Sie war schwach. Noch einen Kampf könnte sie nicht mehr bestehen.

Sie schnallte einem der toten Zwerge den Waffengurt ab und warf ihn sich samt des kurzen Schwertes daran über die Schulter. Dann hob sie das Bündel auf und drückte das Kind an sich. Ein kurzer, glucksender Laut war ihr Lohn.

Beklommen sah sie sich um. Jetzt war sie auf der anderen Seite. Sie mochte noch im Körper einer Elfe stecken, aber sie würde kein Zwergenblut mehr vergießen. Zumindest nicht in dieser Nacht. Sie musste das Kind in Sicherheit bringen. Aber wo? Welchen Ort würden ihre Gefährten aus der Weißen Halle nicht finden?

Sie schlich sich fort vom Wasser. Suchte die Schatten. Nandalee dachte an das Gebilde aus Drähten in Amalaswinthas Studierzimmer. Da war ein Platz … Doch wenn sie diesen Ort aufsuchte, würde sie mit den Drachenelfen brechen. Dort würden sie sie nicht finden!

Sie blickte in die großen, grauen Augen und fluchte. Das war nicht der Weg, den sie gehen wollte. Aber sie würde kein Kind töten! Und auch dabei zusehen, wie es getötet wurde, würde sie nicht. Das hatte mit dem Auftrag Nachtatems nichts mehr zu tun. Dass alle Bewohner der Tiefen Stadt, auch die Frauen und Kinder, getötet wurden, hatte nichts mehr mit gerechtem Zorn zu tun. Das war Tyrannei!

Elfenblut

Ailyn kniete neben der Toten nieder. Zärtlich strich sie das blonde, blutverklebte Haar aus dem Gesicht. Ailyn hatte schon viel gesehen, doch der Anblick ihrer Schülerin schockierte sie. Ihr Rumpf war auf Brusthöhe durchtrennt, beide Arme abgehackt. Was war ihr widerfahren? Höchstens ein Jahr noch, und sie wäre zur Drachenelfe aufgestiegen.

Mit einem Seufzer stand die Meisterin auf und blickte zu den übrigen Toten. Drei weitere Schüler hatten sie bereits hierher in die weite, rußverschmierte Höhle gebracht. Decke und Wände waren über und über mit Amethysten bedeckt. Ein fettiger, schwarzer Schleier lag über den meisten Steinen. Es waren wohl viele Zwerge in dieser Halle gewesen, als die Flammenstrahlen durch die Luftschächte hinabgefahren waren. Ruß auf Edelsteinen war alles, was von ihnen geblieben war.

Ailyn ballte wütend die Fäuste. Sie hatten den Angriff schlecht vorbereitet. Von überall kamen Meldungen über Widerstand und Tote. Es waren viel mehr Zwerge in der Tiefen Stadt gewesen, als sie erwartet hatten. Und obwohl die Zwerge überrascht worden waren und wissen mussten, dass sie auf verlorenem Posten kämpften, leisteten sie überraschend hartnäckigen Widerstand. Es war ein Fehler gewesen, keine Gefangenen zu machen. Die Zwerge wussten darum! Kein Einziger hatte sich bislang ergeben. Sie kämpften wild und erbarmungslos wie eine verwundete Bärin, die ihr Junges gegen ein Rudel Wölfe verteidigt.

Dylan betrat die weite Höhle. Er trug einen weiteren Toten auf den Armen. Durell!

Schweigend brachte der Meister den Leichnam in die Mitte der Halle und legte ihn vorsichtig zu Boden. »Er wurde in den Rücken geschossen«, sagte Dylan mit tonloser Stimme. Nicht anklagend, eher resigniert. Sie alle wussten, dass ihr Angriff auf die Tiefe Stadt noch weit heimtückischer als ein Schuss in den Rücken gewesen war.

»Wo?«

Dylan blickte zu ihr auf. Seine Augen hatten eine silberfarbene Iris mit himmelblauen Einsprengseln. Ailyn hatte seinen Blick immer schon beunruhigend gefunden. Er war kein Mann des Schwertes, sondern ein Zauberweber, der sich ganz und gar den verborgenen Mächten verschrieben hatte. Eine Hingabe, die seinen Körper verändert hatte. Er war totenbleich und sein weißes Haar fein wie Spinnweben.

»Durell lag auf einem Saumpfad an der großen Kluft, die das Herz des Berges zerteilt. Etwa eine Meile von hier. Er hat einen guten Kampf geliefert. Ich habe ihn umringt von toten Zwergen gefunden.«

Ailyn nickte. Nicht gut genug, dachte sie. Sie waren in der Weißen Halle zu Meuchlern ausgebildet worden, doch das hier wuchs sich zu einer regelrechten Schlacht aus. Sie hätten ihre Kräfte nicht derart aufsplittern dürfen. Die Zwerge waren nicht in Panik geraten, wie sie erwartet hatten.

»Wie steht der Kampf um die Häfen?«

Dylans Blick wurde hart. »Es sind uns zwei oder drei Aale entkommen, fürchte ich. Aber alle Häfen sind nun besetzt, und die Weißen Schlangen verfolgen die Flüchtigen. Meine Schüler haben sich gut geschlagen. Insbesondere Eleborn.«

Ailyn nickte und blickte wieder zu den Toten. Nein, sie hatten sich nicht gut geschlagen, dachte sie und kämpfte gegen den Zorn an, der in ihr aufzuwallen drohte. Sie hatten die Leben ihrer Schüler unnötig in Gefahr gebracht. Der Angriff war schlecht durchdacht! Nie zuvor hatten die Himmelsschlangen ihnen befohlen, in eine solche Schlacht zu ziehen. Und nie zuvor hatte Ailyn so deutlich gesehen, wie wenig ihre Leben den großen Drachen bedeuteten.

Gonvalon betrat die Amethysthalle. Er sah die Toten und beschleunigte seine Schritte. Sie ahnte, wen er zu sehen fürchtete.

»Nandalee ist nicht bei ihnen.« Er wirkte nicht erleichtert, dachte Ailyn.

»Wundert dich das, Ailyn? Gonvalons Schülerin hat doch gar nicht an dem Angriff teilgenommen.« Eine Andeutung von Geringschätzigkeit schwang in Dylans Stimme mit.

»Sie ist hier«, widersprach Ailyn. »Der Goldene sucht ebenfalls nach ihr.«

»Der Goldene?« Gonvalon lächelte eigenartig. »Wann war er hier? Und in welche Richtung ist er gegangen?«

Sie deutete zu einem der Ausgänge, über dem ein Wappen mit einem schweren Hammer prangte. »Nach Westen. Dort, wo die Höhlen der Grobschmiede und Gerber liegen. Er ist noch nicht lange fort.« Ailyn war es ein Rätsel, warum die beiden nach Nandalee suchten, solange der letzte Widerstand der Zwerge noch nicht gebrochen war. Wenn eine der Schülerinnen der Weißen Halle ganz gewiss auf sich alleine aufpassen konnte, war es Nandalee.

»Die Schlacht um die Tiefe Stadt ist noch nicht entschieden, Gonvalon. In den Palästen bei der großen Kluft wird noch gekämpft. Wir können dort jeden erfahrenen Krieger gebrauchen.«

»Schick Dylan«, entgegnete er überraschend barsch. »Der Goldene erwartet, dass ich an seiner Seite bin. Er verlangt nach meinem Schwert.« Gonvalons Gesicht wirkte wie aus Stein geschlagen. Hart und angespannt, zum Äußersten entschlossen. Was war nur los mit ihm? Mit langen Schritten eilte er dem Ausgang unter dem Wappenschild der Schmiede entgegen.

»Du solltest ihm seine Sorge nicht verübeln«, sagte Dylan. »Du weißt doch um seinen Fluch. All seine Geliebten sterben. Und heute ist wahrlich ein Tag, an dem viel Elfenblut vergossen wird.«

Ailyn dachte an den Goldenen. Sorgte auch er sich um Nandalee? Sie hatte sich doch Nachtatem verschworen. Die Himmelsschlangen hatten nicht in die Tunnel der Tiefen Stadt hinabsteigen wollen, und dennoch war er hier. Sie hatte das Gefühl, dass es in diesem Gemetzel um mehr ging als nur darum, die Zwerge zu bestrafen. Wenn hier in den Tunneln eine Elfe starb, würde es niemanden wundern …

Aber sich solche Gedanken zu machen war nicht ihre Aufgabe. Sie sollte den Kampf um die Tiefe Stadt führen. Und Nandalee war schon an ihrem ersten Tag in der Weißen Halle eine Verlorene gewesen. Sie hätte niemals dorthin kommen dürfen. Für eine Drachenelfe war sie zu aufsässig, zu schwer zu formen. Rebellen waren keine guten Diener.

»Wir müssen zu den Palästen«, wandte sie sich mit fester Stimme an Dylan. »Unterwegs nehmen wir jeden mit, den wir finden. Wir bündeln unsere Kräfte und zerschlagen den letzten Widerstand. In weniger als einer Stunde kann die Schlacht um die Tiefe Stadt entschieden sein.«

Auf der Flucht

Nandalee kauerte mit angehaltenem Atem in einer Nische und beobachtete die beiden schlanken Gestalten aus Licht, die zwanzig Schritt entfernt durch den weiten Tunnel pirschten. Es gab keine Fackeln oder Öllampen in diesem Stollen. Nandalee war ganz auf ihr Verborgenes Auge angewiesen. Es wies ihr den Weg durch die Nacht, die sich in der sterbenden Zwergenstadt ausbreitete. Mehr und mehr Lichtquellen in den Tunneln erloschen, als würden sie gemeinsam mit der Stadt sterben.

Nandalee hatte einen Zauber gewoben, der das Licht ihrer Kraftlinien dämpfte. Dennoch war ihr schleierhaft, warum die beiden Elfen sie übersehen hatten. Sie schienen sich ganz auf ihre Augen zu verlassen. Das war töricht!

Die Lichtgestalten verschwanden hinter einer weiten Biegung des Tunnels. Nandalee atmete erleichtert auf und ließ sich gegen den Fels sacken. Ein wenig Schlaf … Wie gerne würde sie jetzt ausruhen.

Das Zwergenkind war in ihren Armen eingedöst. Eine wohlige Wärme strahlte von ihm aus. Sie konnte spüren, wie sich die kleine Brust bei jedem Atemzug hob und wieder senkte. Es hatte etwas Einschläferndes, ein schlafendes Kind an der Brust zu halten. Die Versuchung war groß, die Augen zu schließen. Nur für einen Moment.

Nandalee zwang sich aufzustehen. Es war nicht mehr weit bis zur Höhle des Schmiedes. Unten im Brunnen würde sie ein sicheres Versteck finden. Dort konnte sie schlafen, und dann würde sie überlegen, was sie mit dem Kind tun würde.

Müde schleppte sie sich voran, bis sie den Einstieg zu Galars Werkstatt fand. Der Gestank nach Käse war dem nach gebratenem Fleisch gewichen, verbranntem Holz und ausgeglühtem Metall. Der Kleine erwachte und suchte mit seinen Lippen nach dem, was sie ihm nicht zu geben vermochte. Wie saugende Küsse fühlte es sich an. Sein Kopf ruckte hin und her, dann blickte er zu ihr auf, und seine großen Augen füllten sich mit Tränen. Nandalee fluchte leise. Womit sollte sie ihn füttern?

Schweren Schrittes ging sie den Tunnel hinab. Sie konnte dem Kind nicht wirklich helfen. Wie oft musste so ein Zwergenbaby essen? Alle paar Stunden?

Der Kleine begann zu greinen, als sie die Schmiede erreichte. Krusten dunkelroter Glut leuchteten auf halb verbrannten Tischbeinen. Erstickender Rauch zog durch die weite Höhle.

Das Wimmern des Kindes wurde lauter. Wie heiß es wohl in der Höhle war? Sie war von einem Schutzzauber umwoben, aber der Kleine war der Hitze hilflos ausgeliefert. Eilig trat sie an den Brunnen.

Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Schwere Schritte. Jemand war im Tunnel, der zur Werkstatt führte. Nandalee legte dem Kind die Hand auf den Mund. Ja, ganz ohne Zweifel, jemand kam zu ihr herab. Sie bückte sich nach einem Dolch. In der Höhle unten beim Brunnen war sie in Sicherheit. Bestimmt! Und falls nicht … Sie schob den Dolch in das versengte, schmutzige Tuch, in das das Kind eingewickelt war.

Behände kletterte Nandalee die Sprossen im Brunnenschacht hinab und ließ sich vorsichtig ins Wasser gleiten. Hier unten hörte sie keine Schritte mehr. Ein roter Abglanz der ersterbenden Glut oben in der Werkstatt lag auf dem Wasser. Falls jemand in den Brunnen blickte, wäre sie deutlich zu erkennen. Sie musste weiter. Aber wie sollte sie mit dem Kind schwimmen? Was, wenn der Kleine Wasser einatmete?

Sie nahm die Hand von seinem Mund und versiegelte seine Lippen mit einem Kuss. Sein Atem roch säuerlich. Nach Milch. Er biss in ihre Lippe und begann daran zu saugen. Nandalee stieß sich von der untersten Sprosse ab und tauchte. Sie hielt das Kind eng an sich gepresst.

Es war nur ein kurzes Stück zu schwimmen, aber sie brauchte endlos lange. Das Kind wand sich in ihren Armen und bäumte sich auf. Nandalee konnte nur mit einem Arm vorwärtsrudern. Schnell fand sie den Einstieg zum verborgenen Tunnel. Sie zog sich mit der freien Hand am rauen Fels entlang.

Endlich brach sie mit dem Kopf durch das Wasser. Sie schob das Kind hoch, damit es atmen konnte. Im selben Augenblick sah sie die Axt niedersausen.

Von Zwergenhälsen und Ziegenhälsen

Hornbori schrie auf und stieß Galar zur Seite. Die Elfe hielt ein Zwergenkind in den Armen, um sich gegen einen Angriff zu schützen. Galar versuchte die Schlagrichtung zu ändern. Zu spät. Er schrie auf, verriss die Axt und traf dennoch.

Mit einem scharfen Knacken schmetterte die Axt gegen den Kopf der Elfe. Sie traf mit der flachen Seite, aber mit großer Wucht. Augenblicklich ließ die Mörderin das Kind los. Sie öffnete benommen den Mund und schluckte schwarzes Wasser. Ihre Augen waren verdreht, sodass Hornbori nur noch das Weiße von ihnen sah. Er packte das weinende Kind und zog es zu sich.

»Schitt«, fluchte Galar. »Wie kann man nur so gewissenlos sein und ein Kind als Schild missbrauchen!«

Hornbori wickelte das Baby aus dem triefnassen Tuch. Ein Junge, dachte er lächelnd. Ganz blaue Lippen hatte der Kleine. Er war unterkühlt. Das Brunnenwasser war eisig. Hornbori rieb ihm mit der flachen Hand über die Brust. Der Kleine weinte bitterlich. Was konnte er nur tun? Er war nie Vater geworden, hatte kaum Kontakt zu Kindern gehabt. Sie aufzuziehen war Frauensache. Sie ließen die Männer kaum einmal an die Kinder heran. Erst wenn ihr Barthaar dicht und hart zu werden begann, entließen die Weiber ihre Kinder in die Welt der Männer.

Der Kleine begann zu weinen.

»Ist er verletzt?« Galar hatte die Axt zur Seite gelegt und beugte sich über das Kind.

»Ich weiß nicht. Eine Wunde ist nicht zu sehen. Vielleicht sollten wir ihn einmal umdrehen.«

Galar blickte auf seine großen, schwieligen Hände. »Das machst besser du.«

»Wieso glaubst du, dass ich das kann?«

»Weil du ein Weichling bist. Ich … ich mach den noch kaputt. Ich hab noch nie ein Kind …«

»Ich auch nicht«, entgegnete Hornbori pikiert. Er war dreizehn gewesen, als er die Frauengemächer verlassen hatte und zu seinem Vater gekommen war. Er konnte sich kaum an seine frühe Kindheit erinnern.

»Lasst mich das machen.« Nyr hatte die Elfe aus dem Wasser gezogen und drängte sich nun zwischen sie und Galar. Ohne zu zögern, hob er den Kleinen hoch und drehte ihn um. »Alles in Ordnung, würde ich sagen.«

»Ich nicht«, zischte Galar. Der Junge pinkelte ihm in flachem Bogen vor die Brust.

Hornbori lachte auf. »Ich glaube, er mag dich.«

»Halt’s Maul, Schisser!«

Irgendwie klang es diesmal ein wenig freundlicher, dachte Hornbori. Jedenfalls für Galars Verhältnisse.

»Warum hast du die Elfe aus dem Wasser gezogen? Du bist wohl verrückt! Ersäufen müssen wir die. Die wird es uns nicht danken, wenn wir sie am Leben lassen.« Galar stand auf.

»Tu das nicht.« Hornbori hielt ihn zurück. »Wir brauchen sie. Nur für kurze Zeit, dann kannst du mit ihr machen, was du willst.«

Galar sah ihn finster an. Dann blickte er zu Nyr. »Spinnt ihr jetzt beide? Hat euch wohl nicht gutgetan, in den Brunnen zu fallen.«

»Es ist wegen des Jungen. Wir wissen doch nicht einmal, aus welcher Sippe er stammt. Wir müssen erfahren, wo sie ihn gestohlen hat.«

Galar lachte auf. »Was glaubt ihr, was oben los ist? Ein Kind wurde gestohlen. Die halbe Stadt wird in heller Aufregung sein. Dass die Drachen meine Werkstatt abgefackelt und versucht haben uns drei umzubringen, wird sich vermutlich noch nicht herumgesprochen haben, aber dass ein Kind gestohlen wurde, ist ganz gewiss schon Stadtgespräch. Bestimmt wimmelt es da oben nur so von aufgescheuchten Weibern, die wilde Verdächtigungen ausstoßen. Und ich wette, Amalaswintha führt die Horde an.« Er zog den Dolch aus seinem Gürtel. »Der Elfenschlampe werde ich die Kehle durchschneiden. Dann haben wir eine Sorge weniger. Das ist eine Drachenelfe. Die ist hier, um uns zu töten. Wenn wir die nicht schleunigst abmurksen, wird uns das noch leidtun.«

Nyr steckte dem Kleinen seinen Daumen in den Mund und legte ihn sich in die Armbeuge. Hornbori war verblüfft, über welch verborgene Talente der Richtschütze verfügte. Dem Jungen gefiel es. Er schloss die Augen, runzelte die Stirn und nuckelte mit einer Ernsthaftigkeit an Nyrs Daumen, die Hornbori schmunzeln ließ.

Galar beugte sich über die Elfe, um es zu Ende zu bringen. Er packte ihr blutverklebtes Haar und riss ihren Kopf hoch. Deutlich sah Hornbori ihre halb geöffneten Lider durch das herabhängende Haar. Ihre Pupillen waren nach oben verdreht. Speichel troff von ihrem Mund. Wahrscheinlich war es gar nicht mehr nötig, sich mit ihr noch Mühe zu geben. Sie war ohnehin mehr tot als lebendig. Galar führte das Messer zur Kehle der Elfe, als sie überraschend ihren Kopf nach hinten riss und unter sein Kinn hämmerte. Gleichzeitig schlug sie mit der Faust nach Galars Messerarm. Die Klinge schwang zur Seite.

Ein Schlag in die Armbeuge ließ den Unterarm des Schmieds hochschnellen. Das Messer streifte seinen Oberarm. Er fluchte, und ein Ellbogen hämmerte dumpf in seine Magengrube.

Galars rechter Arm zuckte unkontrolliert. Seine Finger öffneten sich, und das Messer fiel zu Boden. All dies hatte kaum drei Herzschläge gedauert.

»Die Armbrust«, stammelte Galar, von dessen Lippen Blut troff. »Dort hinten!«

Die Elfe blickte zu Hornbori. Ihre Augen waren immer noch verdreht. Eines starrte ihn geradewegs an, während das andere zur Höhlendecke zu blicken schien.

Galar versuchte davonzukriechen, doch die Elfe packte ihn mit beängstigender Kraft, rammte ihn mit dem Rücken gegen die Wand und stach ihm den Dolch in die Kehle.

»Steh still!«, herrschte sie Galar an, der entsetzt auf den Dolch hinabblickte. »Ihr habt eine Armbrust? Wirf sie ins Wasser. Und die Axt da vorne auch.« Sie sprach zwergisch mit dem Dialekt der Ehernen Halle.

»Hör nicht auf sie, Schisser!«, brachte Galar gepresst hervor. »Die hat mir ein Messer in den Hals gerammt. Ich bin so gut wie tot. Tu mir einen letzten Gefallen. Nimm die verdammte Armbrust und leg sie um.«

Die Elfe ließ Hornbori nicht aus den Augen. »Bedeutet dir der Kerl hier etwas? Die Klinge steckt zwischen seiner Luftröhre und zwei großen Adern. Da, wo ich herkomme, üben wir das mit Ziegen. Wie du dir vorstellen kannst, essen wir oft Ziegenfleisch. Es dauert eine Weile, bis man es beherrscht, die richtige Stelle zu treffen. Ich hoffe, ein Zwergenhals unterscheidet sich nicht grundlegend von einem Ziegenhals. Es ist eine heikle Angelegenheit, jemandem ein Messer in den Hals zu stoßen. Wenn meine Hand nur ein wenig zittert, ist er tot. Wenn mir übel wird, weil er mir fast den Schädel eingeschlagen hat, und ich umkippe, ist er tot. Solltest du auf die Idee kommen, die Armbrust zu spannen, statt sie ins Wasser zu werfen, ist er tot.«

»Wenn du sie gehen lässt, holt sie Verstärkung, und wir alle vier sind tot«, röchelte Galar. »Mit mir ist es vorbei. Rette den Kleinen!« Mit diesen Worten versuchte er sich, ohne Rücksicht auf das Messer, aus der Umklammerung der Elfe zu winden.

Hornbori sah sich nach der Armbrust um, vermochte sie jedoch in dem Durcheinander der Höhle nicht zu entdecken. »Wo ist sie?«

Galar stieß ein unverständliches Gestammel aus.

»Lass es«, sagte Nyr. »Sie hat das Kind hierhergebracht. Vielleicht ist sie gar keine Mörderin.«

Hornbori versuchte zu erraten, wo die Armbrust stecken mochte. Mit Logik brauchte er es nicht zu versuchen, das lag auf der Hand. Hier gab es keine Ordnung, und das spärliche Licht machte es ihm nicht gerade leichter. Ihm war bewusst, dass ihre Aussichten zu gewinnen nicht gut standen. Natürlich durfte man einer Elfe keinesfalls trauen, aber vielleicht war es im Augenblick klüger zu verhandeln. Er blickte zurück. Galar war in sich zusammengesunken. »Sie hat ihn umgebracht!«

»Hat sie nicht. Beruhig dich. Sie hat irgendetwas an seinem Hals gemacht. Irgendwo gedrückt.«

»Woher willst du wissen, dass Galar nicht tot ist? So wie er da hängt …«

»Wollte ich ihn ermorden, hätte ich wohl das Messer benutzt«, unterbrach ihn die Elfe.

Das war nicht ganz von der Hand zu weisen. Nur konnte man Elfen einfach nicht trauen. Sie …

Der Fels erbebte. Irgendetwas sehr Schweres schien sich über ihnen zu bewegen. Und dann erklang ein Schrei, wie ihn Hornbori noch nie gehört hatte. Wild, voller Schmerz und Zorn. Er war sich sicher, dass weder Zwergen noch Elfen einen solchen Laut von sich geben konnten.

Der Kleine begann leise zu wimmern. »Was ist das?«, flüsterte Hornbori.

Selbst die Elfe wirkte eingeschüchtert. Sie hob den Kopf zur Decke. Eines ihrer Augen war ganz weiß, als sei sie halb erblindet. »Ich weiß es nicht. Es muss mit dem Untergang der Tiefen Stadt zu tun haben. Ich …«

»Wovon redest du da?«, zischte Hornbori.

Sie fixierte ihn mit schielendem Blick. »Du bist Hornbori, und deine beiden Gefährten heißen Galar und Nyr. Richtig?«

Woher zum Henker wusste sie das? Natürlich antwortete er nicht. So leicht würde er es ihr nicht machen. Das musste sie geraten haben, schließlich waren sie einander noch nie begegnet.

»Wieso kennst du uns?«, fragte Nyr einfältig, während über ihnen ein Getöse anhob, als würden die Tische der Werkstatt gegen die Felswände geschleudert.

»Löscht alles Licht!« Die Elfe sagte das in einem Tonfall, der selbst Hornbori überzeugte. Sie hatte Angst! Das war nicht gespielt! »Was immer dort oben wütet, darf keinen Lichtschein im Brunnenwasser sehen.«

Hornbori gehorchte. Doch als die letzte kleine Flamme verlosch, fühlte er sich völlig ausgeliefert. Wie konnte die Elfe im Dunkeln sehen? Sicher ermöglichte ihr ihre Zaubermacht, noch immer alles deutlich zu erkennen. Als Zwerg war er zwar an die Finsternis der Tunnel tief im Berg gewöhnt, aber dazu brauchte er ein wenig Zeit. Die Lichter, die er eben gelöscht hatte, hatten seine Nachtsicht getrübt.

War die Elfe an ihrem Platz geblieben? Schlich sie auf ihn zu, nachdem sie Galar lautlos die Kehle durchtrennt hatte? War all dies nur ein Gaukelspiel gewesen, um sie wehrlos zu machen? Es gab viele Geschichten über Drachenelfen. In allen waren sie seelenlose Mörder. Dass solch eine Elfe ein Zwergenkind rettete, war undenkbar.

Wieder erbebte der Fels, und ein Rumoren war zu vernehmen, als bewegte sich irgendetwas Riesiges in Galars Werkstatt. Wie groß musste eine Kreatur sein, damit sie Geräusche verursachen konnte, die durch drei Schritt gewachsenen Fels drangen? Groß wie eine Silberschwinge? Größer? Drachen würden niemals durch die engen Tunnel in die Stadt gelangen, versuchte sich Hornbori zu beruhigen. Aber wenn dort oben kein Drache in der Werkstatt war, was dann? Ein Troll? Wen hatte diese Elfe im Gefolge? Woher kannte sie ihre Namen? Und was faselte sie vom Untergang der Stadt?

Die Angst gab ihm das Gefühl, dass sich sein Blut langsam in Eiswasser verwandelte. Es begann bei seinen Füßen, die sich anfühlten, als sei er barfuß durch ein Schneefeld gelaufen. Dann sprang die Kälte über in seine Wirbelsäule und breitete sich über seine Rippen aus, bis jeder Atemzug wie eisige Dolche in seine Lungen stach.

Oben war es still geworden. Ob die Kreatur die Werkstatt verlassen hatte? Oder kauerte sie inmitten der Trümmer und lauschte ihrerseits? Warum kam niemand, um die Bestie zu bekämpfen? Man musste sie doch weithin im Berg gehört haben. Von hier aus konnten sie nichts unternehmen. Wer über die Sprossen aus dem Brunnen stieg, war hilflos ausgeliefert. Man müsste Galars Höhle durch den engen Stollen stürmen, der vom Hauptgang abzweigte. Das war freilich auch ein Unternehmen, das Todesmut verlangte.

»Ich glaube, es ist fort.« Die Stimme der Elfe war nur ein leises Wispern. Es schien, als habe sie sich nicht von der Stelle bewegt.

»Was war das?«, fragte Nyr.

»Vielleicht ein Tatzelwurm … Ich weiß es nicht. Ich habe gehört, dass sich Tatzelwürmer am Angriff auf die Tiefe Stadt beteiligt haben.«

Hornbori traute seinen Ohren nicht. Ein Angriff auf die Tiefe Stadt? Was für eine Mär war das denn? Mit wachsendem Unglauben lauschte er der verworrenen Geschichte der Elfe.

»Ihr, die ihr die Mörder des Schwebenden Meisters seid, und dieses unschuldige Kind seid die einzigen Überlebenden in den Tunneln der Tiefen Stadt«, schloss sie ihre Geschichte.

»Glaubst du ihr, Nyr?«

»Ich weiß nicht …« Die Stimme des Richtschützen klang heiser. »Ich … Das kann doch nicht sein. Oder?«

»Glaubst du, sie würden alle umbringen, um ausgerechnet uns am Leben zu lassen? Das ergibt doch keinen Sinn! Das ist eine ganz und gar unglaubwürdige Geschichte. Sie ist nichts als eine freche Lügnerin.«

»Was würde ich mit dieser Lüge erreichen?« Die Stimme der Elfe klang schwach und gebrochen. Vielleicht war das der Grund, warum er die Lichter hatte löschen sollen. Er sollte nicht sehen, wie schwer verletzt sie war und wie ihre Kraft sie verließ. Sie waren zu dritt, sie allein und geschwächt. Sollten sie es wagen, sie anzugreifen?

»Du lügst, weil du Gefallen daran findest, uns zu quälen, bevor du uns tötest. So wie du Galar den Dolch durch die Kehle gestoßen hast, ohne ihn umzubringen. Wozu lernt man so etwas? Um seine Gegner zu quälen und zu demütigen. Du bist eine Drachenelfe, und du glaubst, wir hätten einen Drachen getötet. Welche Gnade hätten wir von dir zu erwarten? Nicht einmal einen schnellen Tod.«

Ein plötzliches Geräusch ließ Hornbori zusammenzucken. Eine Hand legte sich um seine Kehle. »Nyr! Sie ist bei …« Der Druck kräftiger Finger brachte ihn zum Verstummen.

»Du willst mir nicht glauben … Gut. Das ist deine Entscheidung, Hornbori. Aber halte mich nicht für dumm.« Sie griff unter sein Wams. Ihre Hände waren eiskalt.

Mit einem Ruck zerriss sie das Lederband, an dem das Amulett hing, das er bei dem weißen Drachen gefunden hatte.

»Das hier gehört mir. Der Schwebende Meister hat es mir einst abgenommen. Wenn du es trägst, musst du ihm wohl begegnet sein.«

Er wollte leugnen, doch sie drückte ihm noch immer die Kehle zu. »Spar dir deinen Atem, Zwerg. Ich weiß, was geschehen ist. Und ich gebe euch einen Rat. Verhaltet euch ruhig. Verlasst die nächsten zwei oder drei Tage diese Höhle nicht. Hier seid ihr sicher. Ich werde euch nicht verraten. Wenn diese Frist verstrichen ist, dann flieht, so weit euch eure kurzen Beine tragen. Und wagt euch nicht aus euren Höhlen heraus. Nehmt einen eurer Aale, denn oben auf dem Berg werden sicher noch Drachen lauern. Ihr schuldet mir vier Leben. Vielleicht werde ich eines Tages wiederkehren, um diese Schuld einzutreiben. Und versucht nie wieder einen Drachen zu töten. Wenn ihr aus diesem Loch kriecht, dann seht euch gut um in eurer Stadt und überlegt, ob das Gold für Drachenschuppen und Drachenblut diesen Preis wert gewesen ist.«

Sie ließ ihn los. Die Eindringlichkeit, mit der sie gesprochen hatte, ließ Hornbori zweifeln. Konnte es stimmen, was sie behauptete?

»Warum lässt du uns leben?«

»Meine Sippe ist fast ausgelöscht. Die Letzten von ihnen sind in einer Höhle gefangen, so wie ihr es seid. Vielleicht hoffe ich darauf, dass das Schicksal auch ihnen gnädig ist, wenn ich nicht das Blut Wehrloser vergieße.«

Das klingt ganz schön bescheuert, dachte Hornbori. Wahrscheinlich hatte Galars Axthieb mehr Schaden angerichtet, als er anfangs gedacht hatte. Aber er würde sich hüten, das laut auszusprechen.

»Wir sind nicht wehrlos, Elfe«, röchelte Galar. »Ich sitze hier und halte einen Dolch in der Hand. Und der wird gleich in deiner Kehle stecken. Mach Licht, Schisser, damit ich das Luder sehen kann.«

Hornbori tastete nach seinem Gürtel. In einem Lederbeutel verwahrte er Feuerstein, Stahl und Zunder. Bald hatte er einen Holzspan entzündet und damit wiederum den Docht einer Öllampe.

Die Elfe war verschwunden. Kleine Wellen schwappten über den Rand des Loches, das zum Brunnenschacht führte.

»Hah, verpisst hat die sich. Wusste wohl, dass jetzt Schluss mit lustig ist.« Galar hielt den Dolch in seiner Rechten. Die Linke presste er auf seine Kehle. »Die hätte ich fertiggemacht.«

»Glaubst du, es stimmt, was sie gesagt hat?«, fragte Nyr beklommen.

»War nicht ganz bei mir«, krächzte Galar. »Sie hat was gesagt? Elfen lügen, wenn sie das Maul aufmachen. Das ist die einzige Wahrheit, an die man sich bei ihnen halten kann.«

Gefunden

Mit letzter Kraft zog sich Nandalee über den Brunnenrand und ließ sich zu Boden fallen. Sie war froh, den Zwergen entkommen zu sein. Sie fühlte sich schwindelig, und mit ihren Augen stimmte etwas nicht. Sie hatte das Gefühl, zwei Bilder zu sehen statt einem. Beide überlagerten einander. Das machte sie ganz verrückt! Immer wieder kniff sie die Augen zusammen und blinzelte, aber es wurde nicht besser.

Sie tastete nach dem Brunnenrand und zog sich hoch. Verdammte Zwerge! Sie hatte den Axthieb zu spät kommen sehen. Ohne das Kind auf dem Arm wäre ihr das nicht passiert. Wer griff eine Frau mit … Sie! Unvermittelt schossen ihr Tränen in die Augen. Heute war ihre Welt aus den Angeln geraten. Der Angriff auf die Tiefe Stadt war barbarisch gewesen. Ein Verbrechen. Und ganz gleich, wie sehr sie über die Zwerge fluchen mochte, nicht sie waren es, die dieses Verbrechen begangen hatten. Die Himmelsschlangen hatten jedes Maß verloren. Wie hatten seine Nestbrüder Nachtatem nur die Zustimmung zu diesem Massaker abringen können?

Schwankend kämpfte sie sich dem Tunnel entgegen. Alles, was in der Werkstatt nicht verbrannt war, war zerschmettert worden. Der Boden war mit Glas und zersplittertem Holz bedeckt.

Es wurde schlimmer mit ihren Augen. Sie sah alles doppelt. Nichts fügte sich mehr zusammen. Die Welt war zerbrochen in jene, die sie kannte, und eine neue, dunklere Welt, die heute geboren worden war.

Nandalee war froh, als sie den Tunneleingang erreichte und sich an der Wand entlangtasten konnte. Sie schloss die Augen. Stechende Schmerzen peinigten sie. Es fühlte sich an, als sei ein Stück der Zwergenaxt abgesplittert und stecke mitten in ihrem Kopf.

Sie versuchte sich gegen alles zu verschließen und dachte an die Nächte im Wald mit Gonvalon. Daran, wie sie sich auf dem Lager aus Moos geliebt hatten, und an seine Küsse auf ihrer Haut. Sie erinnerte sich, wie oft sie mit den Fingern über die große Tätowierung auf seinem Rücken gestrichen hatte. Das Bild des Goldenen, der sich um ein Schwert wand. Warum hatte sich Gonvalon ausgerechnet ihm verschrieben?

Sie schob den Gedanken von sich. Ihr Körper war ihr Last genug, sie musste sich nicht auch noch mit Fragen quälen, die sie nicht beantworten konnte. Sie ließ sich treiben. Wie eine Schlafwandlerin irrte sie durch die Tunnel, hatte jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren.

Plötzlich fühlte sie sich leicht. Die Erinnerung an die Schrecken war in weite Ferne gerückt. Heute war ein Tag, an dem sich Albenmark für immer verändert hatte. Und sie hatte einen Anteil daran gehabt. Die Herrschaft der Drachen war gefestigt. Das war gut so!

Nandalee schlug die Augen auf. Helles Licht blendete sie. Sie befand sich in einer weiten Halle, deren Decke von mit Wappen geschmückten Säulen getragen wurde. Nur ein paar Schritt vor ihr stand ein hochgewachsener Elf mit langem Haar, golden wie die Sommersonne.

Mir scheint, die Zwerge haben Euch übel mitgespielt, Dame Nandalee.

Sie blinzelte heftig und versuchte die beiden Bilder, die ihre Augen ihr vorgaukelten, zu einem werden zu lassen. Vergebens.

Es war nicht Nachtatem, der zu ihr sprach. Ihr Gegenüber unterschied sich vom Erstgeschlüpften wie der Tag von der Nacht. Seine Stimme war Verheißung. Er würde den Schmerz von ihr nehmen. Allein ihn anzublicken linderte ihre Schmerzen. Wer ihn sah, wusste, die Zukunft war ein Land von Milch und Honig, wenn man mit ihm ging. Und Nandalee wurde klar, wer dort in Elfengestalt vor ihr stand.

Ihr seid eine Gefahr für meinen ältesten Bruder, meine Dame. Vielleicht liegt es an Eurem bewundernswerten Willen weiterzukämpfen, wo jeder andere sich längst in seine Niederlage gefügt hätte. Wie mir scheint, habt Ihr dies auch heute getan.

Sein Zweifel an ihr brach ihr Herz und machte seine Worte zu einem schleichenden Gift. »Ich war Nachtatem immer treu«, sagte sie mit einer Inbrunst, die ihrer völligen Erschöpfung Hohn sprach.

Ihr werdet ihn in Zukunft hintergehen, Nandalee. Seinen Glauben an Euch auf die niederträchtigste Weise zerstören. Ihr könntet natürlich auch mich erwählen. Das würde meinen Bruder retten, und uns wäre eine ganz andere Zukunft bestimmt. Kommt mir einen einzigen Schritt entgegen, und unser Pakt ist besiegelt.

Alles würde sich zum Besten auflösen, wenn sie ihm folgte. Sie musste ihn nur ansehen, um das zu wissen. Ansehen … Nandalee schloss die Augen. Sie konnte Nachtatem doch nicht einfach so hintergehen! Er hatte sie erwählt. Er wollte sie unter seinen Drachenelfen aufnehmen, das wusste sie ohne jeden Zweifel. Und sie würde ihm immer treu sein! Der Goldene wollte sie versuchen. Sie würde Nachtatem niemals hintergehen. »Wie könntest du mir jemals trauen, wenn unser Bündnis mit einem Verrat beginnen würde?«

Wie könnte ich Euch nicht vertrauen, wenn Ihr mir durch Euren Schritt beweist, dass Ihr für mich bereit seid aufzugeben, was Euch am meisten bedeutet, Dame Nandalee?

Nie hatte sie in Gegenwart Nachtatems so empfunden wie jetzt. Sie wollte sich unterwerfen. Dem Goldenen zu folgen würde sie glücklich machen! Oder wob er einen Zauber? Nein, wie konnte sie das unterstellen!

Was ist Eure Überzeugung? Wofür sollte eine Drachenelfe einstehen, Dame Nandalee?

»Für eine Welt, in der es Tage wie diesen nicht geben darf«, antwortete sie, ohne zu zögern.

Ihr meint eine Welt, in der Mörder nicht fürchten müssen, dass ihre Taten bestraft werden?

»Heute sind Hunderte Unschuldige gestorben. Ist das die Gerechtigkeit der Himmelsschlangen?«

Wie lange währt Euer Leben bereits? Dreißig Winter? Oder sollten es gar fünfzig sein? Ich lebe seit mehr als dreißig Jahrhunderten. Und Ihr wollt mich lehren, was Gerechtigkeit ist? Er lachte. Ein perlender Schauer, der ihr durch die Glieder tanzte. Liegt der Widerspruch in diesem Unterfangen nicht auf der Hand?

»Nur wenn man nach dreißig Jahrhunderten aufgegeben hat, noch Neues lernen zu wollen.«

Es ist die Arroganz der Jugend zu glauben, dass es Neues in der Welt gibt, Dame Nandalee. Das Alter wird Euch lehren, wie grundlegend Ihr Euch irrt.

Sie war überrascht, wie gelassen er ihre Vorwürfe aufnahm. Ja, in seinen Gedanken lag nun eine Melancholie, die ihr Herz berührte. Doch wie konnte ihn das Massaker kaltlassen? »Welchen Nutzen hatte dieser Tag? Ist eine Welt, in der die Furcht regiert, das Ziel, für das wir streiten?«

Fürchtet Ihr das Feuer?

Die Frage brachte sie durcheinander. »Nein«, antwortete sie zögerlich.

Und doch würdet Ihr nicht hineingreifen, weil Ihr wisst, dass Ihr Euch verbrennen würdet. Das ist das Bild unserer Herrschaft, meine Dame. Wir schenken denen, die uns folgen, Licht und Wärme. Eine sichere Welt mit festen Regeln, in der jeder auf unseren Schutz vertrauen darf, der sich an diese Regeln hält. Seht mich an. Bin ich ein Tyrann? Auch ich bedauere, was heute geschehen musste.

Nandalee wusste, sie würde aufhören seine Gedanken zu hinterfragen, wenn sie ihn noch einmal ansah. Sein Glanz würde sie blenden. Wie konnte ein so wundervolles Geschöpf, wie er es war, irren? Ein Wächter, dem die Alben ihre Welt anvertraut hatten! Wenn er irrte, hatten dann nicht auch die Schöpfer Albenmarks einen Fehler begangen, indem sie es ihm überließen zu entscheiden, was Recht und was Unrecht war? War das möglich?

»Ist nicht das Ende aller Freiheit erreicht, wenn jeder, der Euch zu nahe tritt, verbrennen muss?«

Was für ein Unsinn!

Sein Zorn traf sie wie ein sengender Blitzschlag. Sie taumelte zurück, brach in die Knie.

Freiheit! Das ist nichts als eine absurde Idee von Schöngeistern. Was die Kinder Albenmarks wirklich wollen, ist Sicherheit. Und das bedeutet, sich in Regeln zu fügen. Die Zwerge haben sich die Freiheit genommen, den Schwebenden Meister zu töten. Jenen Drachen, dem Ihr Euer erstes Verständnis um die Magie in dieser Welt verdankt. Er war eines der ältesten Geschöpfe dieser Welt. Er war weise. Einzigartig. Wie steht es um seine Freiheit zu leben, Dame Nandalee? Haben die Zwerge ihm dieses Recht zugestanden? Haben sie durch ihren feigen Mord nicht all ihre Rechte verwirkt?

Sein Zorn umhüllte sie wie Flammen, gegen die kein Schutzzauber half.

Ihr stellt Euch auf Seiten dieser Mörder, Dame Nandalee? Ihr, die Ihr einmal eine Drachenelfe sein wollt! Ihr seid eine Enttäuschung. Ich begreife nicht, was mein Nestbruder in Euch sieht. Für mich seid Ihr eine Verräterin.

Es war mehr das Gefühl, das die Worte begleitete, als deren Inhalt, das Nandalee in einen Abgrund der Verzweiflung stürzte. Was hatte sie getan? Wie hatte sie es wagen können, sich gegen die Himmelsschlangen aufzulehnen? Seine Abneigung und Enttäuschung zu spüren nahm ihrem Leben jeglichen Sinn. Alle Kraft, mit der sie sich während der Kämpfe in der Tiefen Stadt gegen den Tod aufgebäumt hatte, wich von ihr. Sie sank gänzlich in sich zusammen. Als sie Schritte hinter sich vernahm, brachte sie nicht einmal mehr den Willen auf, sich umzusehen.

»Ich grüße Euch, Schwertmeister. Ihr habt ein unvergleichliches Gespür für den Auftritt im rechten Augenblick. Nun könnt Ihr den Auftrag, den ich Euch erteilte, gleich unter meinen Augen erfüllen.« Der Goldene hatte in die Sprache der Elfen gewechselt. Seine Stimme war volltönend und weich.

»Eure Wünsche sind mein Leben, Meister«, hörte sie Gonvalon ohne jede Emotion antworten. Sie brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, dass er jetzt sein Schwert hob. Er würde nur einen Hieb benötigen. Sie würde es kaum spüren.

Am Ende des Weges

Gonvalon hob die Klinge, bereit zum Schlag. Er nahm den tiefen Stand des erfahrenen Schwertkämpfers ein, leicht in den Knien federnd. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Schützend stellte er sich vor Nandalee. »Diesen einen Befehl muss ich verweigern, Meister. Ich weiß, dass Nandalee sich nicht gegen die Himmelsschlangen gestellt hat. Sie ist eine Novizin der Weißen Halle, und ich bin ihr Meister. Ich bin verpflichtet, sie zu schützen. Und ich liebe sie. Eher richte ich mein Schwert gegen mich als gegen sie. Denn wenn sie stirbt, wird auch mein Leben zu Asche geworden sein.«

Er sah den Goldenen herausfordernd an, wohl wissend, dass seine Macht im Vergleich zu der des Drachens der eines welken Blattes gleichkam, das sich entschlossen hatte, den Stürmen des Herbstes zu trotzen.

Zu seiner großen Überraschung spiegelte sich in den Zügen des Goldenen eher Verwunderung als Ärger. Ihr rebelliert gegen mich, Meister Gonvalon? Ihr, mein Schwert? Ein Gedanke von mir, ein geflüstertes Wort der Macht, und Euer Arm wird Euch nicht mehr gehorchen. Dann enthauptet Ihr die Frau, die Ihr liebt. Ganz gleich, was Euer Herz Euch gebietet.

Ein Schmerz wie ein plötzlicher Krampf stach in seinen Schwertarm. Die Klinge senkte sich um eine Handbreit. Er kämpfte dagegen an und war doch machtlos.

Ich helfe Euch, mir ein guter Diener zu sein. Die Worte schmerzten nicht, und dennoch wohnte ihnen eine Macht inne, die ihn ganz erfüllte.

»Wenn diese Klinge Nandalees Leben stiehlt, werde ich sie, noch bevor das Blut meiner Geliebten darauf erkaltet, gegen mein Herz richten. Ich werde nicht ohne sie leben. Ich hätte allen Wert für Euch verloren, mein Gebieter.«

»Das also ist das Wunder der Liebe …« Der Goldene sprach nicht länger in Gedanken zu ihm. Er lächelte distanziert. Das Licht, das ihn umfloss, war klar wie an einem eisigen Wintermorgen. Jetzt strahlte er eine Kälte aus, wie Gonvalon sie noch nie zuvor in seinem Leben empfunden hatte. Nicht einmal in jener fernen Winternacht, als er als Kind allein inmitten eisiger Einöde den Wölfen überlassen worden war.

»Zeigt mir etwas von der Macht dieses Wunders, Schwertmeister. Ihr redet so viel vom Tod. Erpresst mich damit … Wendet nun Eure Klinge gegen Euren Leib. Schneidet Euch das Herz aus der Brust und bringt es zu mir, um es in meine Hand zu legen. Wenn Euch das gelingt, schenke ich Nandalee das Leben.«

»Nein!«, stöhnte Nandalee. Sie griff nach seinem Fuß, doch er löste sich von ihr. Er würde jeden Preis für ihr Leben zahlen. Mit elegantem Schwung setzte er die Klinge auf seine Brust und schnitt, ohne zu zögern, in sein Fleisch.

»Das genügt.« Das Licht, das den Goldenen umspielte, verlor an Kraft. Seine Stimme klang matt, als er sprach.

Ich habe Euch also verloren, Meister Gonvalon. Nach so vielen Jahren … Es war wie ein letzter Gruß, dem klare, kalte Worte folgten. »Ich entbinde Euch von allen Eiden, die Ihr mir einst geleistet habt. Ihr seid nicht länger ein Drachenelf!« Die letzten Worte hallten laut wie Donnergrollen von den Wänden der Höhle wider, und ein Schmerz fuhr in Gonvalons Rücken, als träfen ihn tausend Nadeln, um seine Haut vom Fleisch zu fetzen. Er schrie auf und brach neben Nandalee in die Knie. Der Schmerz dauerte an, zerrend, tief unter seiner Haut. Staubfeiner Sprühregen benetzte Gonvalon. Blut und Farbe!

»Die Tätowierung, die einst unseren Bund besiegelte, ist gelöscht. Ihr seid frei, Euch ganz und gar der Illusion ewiger Liebe zu ergeben. Ich werde Euch beobachten, Nandalee, die Ihr mit Eurem Jähzorn Eure ganze Sippe ins Unglück geführt habt, und Gonvalon, dessen Liebe stets der Schatten des Todes anhaftet. Wie lange mag eine Liebe währen, auf der so ungünstige Omen lasten? Wie stark werden eure Herzen sein, wenn das Schicksal sie auf die Probe stellt? Oder aber ich.«

Gonvalon legte den Arm um Nandalees Schultern. Sie zitterte vor Schwäche. Er würde sie hier herausbringen, aus diesen verfluchten Tunneln. Würde sie ans Licht tragen und pflegen. Würde alles tun, um sie die Schrecken dieses Tages vergessen zu lassen und ihre Narben an Körper und Seele zu heilen.

Sein Rücken war ein einziger, brennender Schmerz, doch sein Herz war so weit, dass er das Gefühl hatte, dass es vor Glück zerspringen könnte. Er war frei! Er hielt Nandalee in seinen Armen, und vielleicht endete mit seinem Bund an den Goldenen auch das Verhängnis, das bislang stets dem Geschenk seiner Liebe angehaftet hatte.

Nandalee würde die letzte Liebe in seinem Leben sein. Er würde sie schützen mit all seiner Kraft. Entschlossen stand er auf. Ihr Kopf lehnte kraftlos an seiner Brust. Ihre Lippen zitterten, doch wollten keine Worte darüber kommen. Stattdessen rannen heiße Tränen über ihre Wangen, und auch er konnte seine Tränen nicht länger zurückhalten.

Sein Schwert war auf dem Boden liegen geblieben. Es verkörperte das Leben, das in dieser Stunde ein Ende gefunden hatte.

»Wir werden in die Wälder gehen, sobald du zu Kräften gekommen bist. Wir lassen alles hinter uns. Wir werden frei sein!«

Sie blinzelte und sah zu ihm auf. In ihrem Blick lag Angst. Was hatte er Falsches gesagt?

Von Drachen und Elfen

»Was in der Tiefen Stadt geschah, entfremdete nicht nur die Schlangen des Himmels von ihren Schöpfern, den Alben; es veränderte auch die Elfen der Weißen Halle auf immer. Nie waren sie alle gemeinsam in den Kampf gezogen. Jeder, der in die Reihen der Drachenelfen aufgestiegen war, hatte schon ruchlose Bluttaten begangen, doch zu sehen, wozu sie alle gemeinsam fähig waren, war etwas anderes, als auf sich allein gestellt zu morden. Nicht siegestrunken kehrten sie in die Weiße Halle zurück, niedergeschlagen waren sie. Und als die Waffen der Drachen wieder in der weiten Halle aufgehängt wurden, da mussten elf neue Bronzetafeln geschaffen werden, denn so viele von ihnen waren gegangen. Von Eleborn, für den dies die letzten Tage in der Weißen Halle waren, habe ich davon erfahren. Sosehr die Meister der Halle sich auch bemühten, den alten Geist, die Überzeugung, für mehr Gerechtigkeit zu kämpfen, wieder aufleben zu lassen, gab es etwas, das auch für die Elfen für immer verloren gegangen war: die Gewissheit, dass sie auf Seiten des Lichtes fochten und ihre Klingen die Gerechtigkeit mehrten. Tief in seinem Herzen wusste ein jeder von ihnen, dass die Schlangen des Himmels nicht Recht gesprochen, sondern Rache genommen hatten. Und ihre Rache war noch nicht vorüber. Auf die beschädigten und halb gesunkenen Boote, mit denen die Zwerge einst die Flüsse im Fels befuhren, legten sie einen Zauberbann, auf dass jedes dieser Gefährte die Aufmerksamkeit der Weißen Schlangen auf sich ziehen musste, sollte es instand gesetzt und benutzt werden. Auch ließen sie einige Tatzelwürmer in der Tiefen Stadt zurück, die in den weiten Tunneln ihre neue Heimat finden sollten, und Silberschwingen segelten im kalten Wind über dem Berg, der sich über die Tiefe Stadt erhob, denn nie wieder, so war es der Wille der Schlangen des Himmels, sollte ein Zwerg seinen Fuß in die Tiefe Stadt setzen. Dieser Ort war verflucht bis ans Ende aller Zeiten.

Die Macht böser Taten vermag den Zauber zu verändern, der unserer Welt innewohnt. Ich selbst habe den geisterhaften Wald gesehen, der sich heute über den verfluchten Hallen erhebt. Einen Wald, über den kein Vogel fliegt und in dem keine Maus ein Nest gräbt. Und obwohl die Augen der Zwerge glänzen, wenn sie von den Reichtümern der Tiefen Stadt sprechen, wagt es doch keiner, je wieder dorthin zu ziehen, um nach den verlorenen Schätzen zu suchen.

Ein Gutes jedoch folgte aus diesen Taten, denn ohne es zu ahnen, hatten die Schlangen des Himmels doch den Acker bereitet, auf dem bald schon der Geist der Rebellion erste Früchte treiben sollte. (…)«

Randnotiz: Meliander verbrachte einen Teil seiner Jugend gemeinsam mit seiner Schwester Emerelle in der Obhut von Zwergen. Es ist anzuzweifeln, ob er als ein objektiver Berichterstatter gelten kann. Galawayn, Hüter der Geheimnisse

Von Drachen und Elfen, Seite 34 ff., Eine Sammlung loser Pergamentseiten aus dem Nachlass des Meliander, Fürst von Arkadien, verwahrt in der Bibliothek von Iskendria, im Saal des Lichtes, in einer Amphore vergraben an einem Ort, der nur Galawyn, dem Hüter der Geheimnisse, bekannt ist.

Das Recht der Steppe

Kurunta war diese verfluchte Zeltstadt ebenso leid wie diesen Palast, der nach Pferdemist stank. Diese Barbaren blieben nie an einem Ort. Sie schufen nichts von Bestand. Er lächelte dem Unsterblichen Madyas zu, als er dessen Blick bemerkte.

»Und? Gefällt dir, was du siehst?« Madyas benutzte die Sprache der Götter. Kurunta war überrascht. Es war das erste Mal, dass der Herrscher der Ischkuzaia ihn in dieser Zunge ansprach. Von einem Steppenbarbaren hätte er nicht erwartet, dass er die Sprache der Fürstenhöfe beherrschte.

Kurunta nickte beiläufig, ganz darauf bedacht, sich seine Verwunderung nicht anmerken zu lassen. »Erstaunlich geschickt, diese jungen Reiter.«

»Nicht wahr? Die Heere der Stadtstaaten vom Seidenfluss waren größer als meine Armeen, aber wir besiegten sie jedes Mal, wenn sie sich hinter ihren Mauern hervorwagten.« Madyas sprach in leichtem Plauderton, aber die Botschaft war bei Kurunta angekommen. Der Feldherr musste an sich halten. Sich von so einem verlausten Steppenhund beleidigen zu lassen … Wie tief war er doch gesunken, dass er vor diesem kleinen, dicklichen Kerl buckeln musste!

Der Unsterbliche hatte ein hartes Gesicht mit breitem, männlichem Kinn. Doch wirkte er stets ungepflegt. Stoppeln wucherten auf seinen Wangen, die tiefliegenden Augen wurden von struppigen Brauen verborgen, und ungebändigte Haarsträhnen hingen ihm in die Stirn. Im Gegensatz zu den Würdenträgern, mit denen er sich umgab, trug er keine Seide, sondern eine speckige Weste, die seine Arme nicht bedeckte. Madyas stellte gern die Wolfstätowierungen und Narben auf seinen Armen zur Schau. Er galt als guter Jäger und ausdauernder Schwertkämpfer. Und er stank, als hätte er in einer Schweinesuhle geschlafen.

Ein weiterer Reiter preschte am großen Palastzelt vorbei, drehte sich mitten im Galopp um, hob seinen kurzen Bogen und schoss einen Pfeil ab, der mit dumpfem Geräusch in die Scheibe aus geflochtenem Stroh schlug, die gut dreißig Schritt entfernt stand.

Kurunta griff nach dem klebrigen Honiggebäck, das auf einem großen Silberteller neben ihm auf dem Boden stand. Obwohl ein Junge mit einem Federfächer den Teller hütete, klebten schon mehrere Fliegen auf dem Honig. Erstaunlich, mit welcher Begeisterung sich diese Tiere in den Tod stürzten.

Der Gesandte griff eine der honigtriefenden Kugeln aus goldgelbem Gebäck, zupfte die dicke, grün schillernde Fliege herunter und zerdrückte sie zwischen seinen Fingern, während ein weiterer Bogenschütze vor dem Zelt vorbeipreschte und seine Kunstfertigkeit zur Schau stellte. Einen Herzschlag lang war Kurunta versucht, mit dem Gebäck nach dem Schützen zu werfen. Er stellte sich vor, wie der junge Krieger den Bogen verriss und sein Pfeil einen der stinkenden Kerle traf, die Madyas vor dem Zelt versammelt hatte. Die meisten seiner Höflinge waren in Seide gekleidet. Angeber! Es hieß, dass er jeden Mond tausend Seidenballen als Tribut empfing, dazu prächtige Gewänder, Kisten voller Perlen, Gewürze und Weihrauch. Das meiste davon verschenkte er mit vollen Händen unter seinem Gefolge. Aber was half es, in einem perlenbestickten Seidengewand zu stecken, wenn man dazu Stiefel voller Pferdedung trug, auf denen sich die Fliegen paarten.

»Ich würde mich sehr glücklich schätzen, wenn ich der Prinzessin Shaya einmal von Angesicht zu Angesicht begegnen könnte. Natürlich in Eurer Anwesenheit, huldvoller Madyas.«

Der Unsterbliche sah ihn verärgert an. »Ich soll die schönste meiner Töchter der Frühlingssonne aussetzen? Das würde deinem Herrn nicht gefallen.«

»Mein Herr erwartet, dass ich ihm vom Liebreiz der Prinzessin berichte. Es wäre von Vorteil, wenn ich sie einmal gesehen hätte.«

Madyas strich sich über die Bartstoppeln auf seinen Wangen. »Sie hat einen Hintern wie das Mädchen, das dir gestern Nacht geschickt wurde.«

Kurunta blickte missbilligend zu der Hure an seiner Seite. Er hatte nicht viel Spaß an ihr gehabt. Er mochte keine Weiber mit kleinen Brüsten und schmalem Hintern. Sie war erfreulich unterwürfig gewesen. Allerdings hatte sie sich so viel Mühe gegeben, ihm vorzuspielen, wie begeistert sie von seinen Liebeskünsten war, dass ihm jeglicher Spaß vergangen war. Vielleicht hatte sie das absichtlich getan. Sie hatte kluge Augen.

Er griff nach dem honiggetränkten Gebäck und nahm das einzige Stück, auf dem zwei Fliegen klebten. Mit einem kurzen Stups mit seinem Fuß brachte er das Mädchen dazu, sich zu ihm umzudrehen. Demütig blickte sie zu ihm auf. Ohne zu zögern, öffnete sie den Mund, als sie das Gebäck sah. Er schob es über ihre rot bemalten Lippen und sah lächelnd zu, wie sie gehorsam kaute und schluckte.

»Gefällt dir die kleine Hure, Kurunta? Sie war einmal eine Prinzessin in einer der Städte am Seidenfluss. Prinzessinnen gibt es dort so viele wie Fliegen im Hochsommer hier im Grasland.«

Kurunta überlegte, was wohl mit ihr geschehen würde, wenn er schlecht von ihr sprach. Er betrachtete die Reste der Fliege, die er eben zwischen seinen Fingern zerdrückt hatte. »Sie hat mir eine Erfahrung ganz neuer Art beschert.«

Madyas fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Wirklich? Erzähl!«

»Nun …« Kurunta hüstelte. »Sie schaffte es, dass ich meinen Liebesakt nicht zur Vollendung brachte. Und ich kann Euch versichern, Unsterblicher, dass diese Erfahrung singulär ist und nicht in der Verantwortung mangelnder Hingabe meinerseits lag.« Der Gesandte hielt die Sklavin im Blick. Sie wirkte völlig unbeteiligt. Sie konnte die Göttersprache ganz offensichtlich nicht verstehen.

»Ich hoffe, du hast dies nicht als eine gezielte Beleidigung aufgefasst, Kurunta. Man hat mir versichert, dass dieses Mädchen sehr gefügig ist.«

»Gefügig ja, aber uninspiriert. Es war, als habe ich ein billiges Hurenhaus aufgesucht, um meine Geilheit an irgendeiner Schlampe abzuarbeiten, für die ich an diesem Tag der zehnte Kunde bin.«

Madyas bedachte die Sklavin mit einem vernichtenden Blick. »Sie ist also so nutzlos wie ein zerbrochenes Schwert in einer Schlacht.«

»Schlimmer«, sagte Kurunta gut gelaunt. »Sie zerbricht das Schwert eines Kriegers, bevor die Schlacht geschlagen ist.«

»Mir war bislang verborgen geblieben, dass sich ein Poet unter der rauen Schale des Feldherren Kurunta verbirgt«, sagte Madyas in der Sprache seines Volkes und applaudierte. Sofort reagierten die Höflinge rings herum und begannen ebenfalls zu klatschen. Sogar die kleine Sklavin, deren Leben durch seine Lügen wohl bald ein vorzeitiges Ende nehmen würde, applaudierte ihm.

Madyas hob die Hände, und der Applaus verebbte. »Nun, da unser Gast die Geschicklichkeit unserer Krieger bewundern konnte, soll er sehen, wie wir mit jenen verfahren, die sich gegen die Gesetze der Steppe vergehen. Bringt die Verurteilten!«

Kurunta warf dem Unsterblichen einen besorgten Blick zu. Was sollte damit demonstriert werden? War das eine Drohung?

Madyas wandte sich ihm zu. »Ich habe gehört, dass es ein bartloser Eunuch war, der die Schönheit aus deinem Gesicht brannte. Datames, der Hofmeister des Unsterblichen Aaron. Ich verstehe nicht, warum Aaron diesem Hund nicht die Haut abziehen ließ. Ich finde, wenn man einem Mann den Schwanz abschneidet, verliert er unwiederbringlich auch ein Stück seines Verstandes. Solche Geschöpfe kann man nicht mehr verstehen. Allein harte Strafen halten sie im Zaum. Du sollst sehen, wie ich mit solchen Halbmännern umgehe, wenn sie mich enttäuschen.«

Kurunta hasste es, auf den Zwischenfall bei der Himmlischen Hochzeit des Unsterblichen Muwatta angesprochen zu werden, als ihn der tölpelhafte Hofmeister in einem Zweikampf verstümmelt hatte. Er war nie besiegt worden! Durch einen Unfall war ein Feuer ausgebrochen, und sein Gesicht und noch viel mehr waren zum Opfer der Flammen geworden. Seitdem verzehrte er sich danach, Datames in seine Hände zu bekommen. Kein Tag verstrich, an dem Kurunta seine Brandnarben nicht peinigten. Sein einziger Trost war, sich auszumalen, was er Datames antun würde. Der Hofmeister würde einen sehr langsamen Tod sterben.

Zwei große, ein wenig weibisch wirkende Männer wurden auf dem Platz vor dem Palastzelt vorgeführt. Beide hatten ein Bild auf die Stirn tätowiert, das Kurunta an eine sich windende Eidechse erinnerte. Einer der beiden versuchte sich zu Boden zu werfen, doch die Wachen des Unsterblichen hielten ihn fest. Schwarze Tränen rannen über die Wangen des Mannes. Er war geschminkt. Der Zweite hielt sich besser. Er stand aufrecht und bedachte den Unsterblichen mit wütenden Blicken.

»Diese beiden Eunuchen haben einer meiner Haremsdamen ein Perlenarmband gestohlen«, erklärte Madyas und lachte. »Man muss wohl Eunuch sein, um ein Armband so sehr zu begehren, dass man dafür sein Leben riskiert.«

Der Eunuch, der aufrecht stand, stieß unartikulierte Laute aus.

»Den Auserwählten, denen es gestattet ist, mein Zelt zu betreten, schneiden wir die Zungen heraus, damit sie nichts weitererzählen können, sollten sie einmal Zeugen eines Gesprächs geworden sein, das nicht für ihre Ohren bestimmt war.«

Kurunta beobachtete interessiert, wie den beiden Männern breite Lederbänder um die Fuß- und Handgelenke geschlungen wurden. Einer Vierteilung hatte er noch nie beigewohnt.

An den Lederbändern wurden Hanfseile befestigt, sodann führte man acht Pferde herbei, von denen ein jedes wie ein Ackergaul aufgezäumt war. Je zwei Pferde wurden an eines der Gliedmaßen geschirrt. Dem Eunuchen, der sein Schicksal würdig nahm, wurde die Ehre zuteil, als Erster an die Reihe zu kommen.

Der Scharfrichter, ein kleiner, buckliger Mann, der ein gebogenes Messer in seinem Gürtel trug, streifte dem Verurteilten den Wickelrock ab. Anschließend überprüfte er alle Seile.

»Es erfordert eine erstaunliche Kraft, einen Menschen zu zerreißen«, erklärte Madyas gut gelaunt. »Manchmal muss der Scharfrichter ein wenig nachhelfen.«

Kurunta fragte sich, was der Bucklige wohl tun konnte, wenn die Kraft der Pferde versagte. Der Kerl sah nicht sonderlich kräftig aus. Er hob seinen Arm und gab ein lautes Kommando. Die Seile spannten sich. Der Eunuch wurde mit einem Ruck von den Beinen gerissen und schwebte, von den Seilen gehalten, etwa einen halben Schritt über dem zerstampften Boden.

Atemlose Stille herrschte. Der ganze Hofstaat verfolgte gebannt das Spektakel. Einige der Krieger hatten ihre Söhne in die vorderste Reihe geschoben, damit sie besser sehen konnten und ihnen nichts entging.

Der Eunuch bäumte sich auf. Seine Hände hatten sich um die Seile geschlossen, und er kämpfte gegen die Kraft der Pferde an.

»Guter Mann«, murmelte Madyas. »Er nimmt es tapfer. Was glaubst du, Kurunta? Wird er zuerst einen Arm oder ein Bein verlieren?«

»Reißen ihm wirklich alle vier Gliedmaßen ab?«, fragte der Gesandte, ohne seinen Blick von dem Schauspiel abzuwenden. Jeder Muskel des Eunuchen war nun angespannt. Er war ein kräftig gebauter Mann. Schweiß rann über seinen Leib. Das Gesicht war eine Grimasse aus Schmerz und Zorn.

»Es reißen nur drei Gliedmaßen ab. Das vierte Pferd zieht mit dem davon, was übrig geblieben ist. Es …«

Ein deutlich vernehmliches Knacken unterbrach Madyas. Der Eunuch schrie auf. Sein rechtes Bein war unnatürlich verdreht.

»Es beginnt!«, erklärte Mayas begeistert. »Zuerst werden Arme und Beine ausgekugelt. Die Gelenke sind der schwächste Punkt. Dann beginnen Haut und Muskeln zu reißen. Zuletzt die Sehnen.«

Stallburschen zerrten am Geschirr der Pferde und ließen Peitschen über ihre Köpfe knallen. Die Tiere stemmten die Hufe in den weichen Boden und zogen mit aller Kraft. Die Seile waren zum Zerreißen gespannt.

»Mein Hofarzt behauptet, dass die Anspannung selbst die Bauchmuskeln zerreißt und die inneren Organe. Er hat einmal den Leichnam eines Gevierteilten aufgeschnitten und näher untersucht.«

Kurunta konnte sehen, wie ein Ruck durch das verdrehte Bein lief. Risse bildeten sich in der Haut des Oberschenkels. Noch immer hielt der Eunuch die Seile umklammert, die an seinen Handgelenken befestigt waren.

Ein weiterer Ruck. Blut quoll aus der Lendengegend. Das Muskelfleisch zerriss. Kurz hing das Bein noch an blutigen Fasersträngen, dann wurde es ganz abgetrennt. Der Eunuch warf in seiner Pein seinen Kopf hin und her, schrie aber nicht mehr.

Die drei anderen Gespanne zerrten noch weiter, während der Boden vom Blut des Beinstumpfes durchtränkt wurde.

Die Hände des Eunuchen lösten sich von den Seilen. Fast augenblicklich war ein Knacken zu hören, als ihm der linke Arm ausgekugelt wurde. Der Eunuch keuchte. Dies und das Schnauben der Pferde waren die einzigen Geräusche, die sich vernehmen ließen.

Madyas erhob sich. »Der Mann hat gut gekämpft«, rief er. »Mag er auch ein Dieb gewesen sein, er hat seine Ehre wiederhergestellt. Mach es ihm leichter zu gehen, Buckliger.«

Beifälliges Gemurmel begleitete seine Worte. Kurunta fand es inkonsequent, eine Bestrafung abzuändern, weil der zu Bestrafende sich tapfer zeigte. Zeigte man dadurch nicht, dass man sich bei der Verurteilung geirrt hatte? Gnade war für die Zögerlichen! Ein wirklicher Herrscher stand zu den Entscheidungen, die er getroffen hatte. So wie der Unsterbliche Muwatta.

Der Scharfrichter zog das Messer aus seinem Gürtel. Mit einem tiefen Schnitt durchtrennte er Sehnen und Muskeln der linken Achsel. Fast augenblicklich gab der Arm der Kraft des ziehenden Gespanns nach und wurde abgerissen.

Der Eunuch schien ohnmächtig geworden zu sein. Er reagierte nicht mehr, als der Bucklige auch bei seinem rechten Arm einen Schnitt setzte, der das Schauspiel beendete. Der Kadaver wurde von jungen Pferdeknechten eingesammelt. Der Scharfrichter verkaufte einem hageren Höfling den Wickelrock des Toten.

Acht neue Pferde wurden vor das Palastzelt geführt.

Madyas legte Kurunta die Hand auf die Schulter. »Komm mit mir, ich möchte dich meiner Tochter Shaya vorstellen, damit du und dein König mich nicht für einen Rosstäuscher halten. Du wirst sehen, sie ist eine der edelsten Blumen, die je auf der Steppe erblühten.«

Kurunta war überrascht vom plötzlichen Sinneswandel des Unsterblichen. Er stützte sich auf die kleine Sklavin und kam mit einem Schnaufen auf die Beine. In den Monden, die er darniedergelegen hatte, um sich von den Verbrennungen zu erholen, die ihm der Hofmeister des Unsterblichen Aaron beigebracht hatte, war er fett geworden. Er brauchte dringend einen Feldzug, um sich die überzähligen Pfunde vom Leib zu schwitzen. Bald würde er wieder an der Seite seines Herrschers stehen und ihm helfen, die Heerscharen Arams auf der Ebene von Kush zu zerschmettern.

»Für den winselnden Lumpen dort unten gibt es keine Gnade, Scharfrichter«, rief Madyas mit lauter Stimme. »Und wenn du mit ihm fertig bist, dann richtest du diese kleine Hure hier!« Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Sklavin an Kuruntas Seite. »Sie hat unseren Gast beleidigt und unserem Hof Schande gemacht. Ihr Blut soll diesen Makel von uns waschen.«

Die Kleine drehte sich um. Mit weit aufgerissenem Mund stierte sie Kurunta an. Dann spuckte sie vor ihm aus.

Madyas lachte. »Ganz ohne Feuer scheint sie doch nicht zu sein.«

Kurunta versetzte ihr eine Ohrfeige, die sie zu Boden schmetterte. Seine Ringe hatten blutige Male auf ihrer Wange hinterlassen. »Mögen die acht Hengste reichlich Vergnügen an dir haben.«

»Auf jeden Fall sind sie mehr Mann als du, Rundauge!«

Madyas schnalzte mit der Zunge und winkte nach seinen Wachen. »Sorgt dafür, dass sie schweigt, bevor sie noch mehr Dinge über unseren Gast erzählt, die eigentlich keiner wissen möchte.«

»Diese Hure lügt!«, empörte sich Kurunta, wurde zugleich aber rot.

»Natürlich«, beschwichtigte ihn Madyas lächelnd. »Wir alle wissen doch, dass Huren lügen, wenn sie nur das Maul aufmachen.«

Der Gesandte biss sich auf die Lippen. Ihm war klar, dass, ganz gleich was er noch sagte, seine Schande nur wachsen würde. Das Klügste war es zu schweigen, und so folgte er Madyas in den Schatten der Sternenjurte.

Inmitten des großen Zeltes erwartete sie eine zierliche Frau in einem langen, weißen Kleid. Ihr schwarzes Haar war mit goldenen Kämmen hochgesteckt. Sie wandte sich zu ihnen um, als sie das Zelt betraten. Ihre Augen waren schwarz wie die Nacht und wirkten riesig. Schön war sie nicht, dachte Kurunta, aber man musste nur in ihre Augen blicken, um zu erkennen, dass sie zum Herrschen geboren war.

»Dies ist Shaya, meine siebenunddreißigste Tochter, Stolz meines Herzens und Sonne meiner Tage.«

Kurunta verneigte sich vor der Prinzessin. Sie wirkte herrisch und hart. Der Unsterbliche Muwatta würde nicht viel Freude an ihr haben. Gerüchten zufolge hatte sie als Kriegerin die Truppen Ischkuzaias auf Nangog befehligt und in drei Schlachten gegen die Himmelspiraten des Verräters Tarkon Eisenzunge gekämpft.

Sie verneigte sich knapp vor ihm. »Es ehrt mich, dass der Unsterbliche Muwatta einen Feldherren und nicht einen seiner Höflinge schickt, um um mich werben zu lassen.«

Dich einkaufen zu lassen, würde es wohl eher treffen, dachte Kurunta, verneigte sich knapp und erwiderte ihr Lächeln. »Die Ehre ist ganz auf meiner Seite. Wie mir zu Ohren kommt, reicht Euer Verständnis um das Handwerk des Krieges tiefer, als es bei Weibern sonst üblich ist.«

»Genug der Förmlichkeiten.« Der Unsterbliche Madyas nickte zum Ausgang des Zeltes. Von draußen waren die schrillen Schreie des zweiten Eunuchen zu hören. »Ich möchte sehen, wie die Sklavin vom Seidenfluss von uns geht. Du konntest dich davon überzeugen, dass meine Tochter nicht wie ein räudiges Kamel mit eingefallenen Höckern aussieht. Nun wollen wir gehen.«

Kurunta rührte sich nicht. »Bringen wir …«, fast hätte er es ein Geschäft genannt. »Bringen wir doch das Werbungsgespräch zum Abschluss. Mein Herr wird mit Freuden fünfhundert seiner besten Pferde an die besten Reiter dieser Welt verschenken, wenn ihm das Geschenk zuteilwird, mit der schönsten Blüte des Graslandes das Lager teilen zu dürfen.«

»Nun, Kurunta, da du darauf zu sprechen kommst, reden wir doch gleich ganz klar und überlassen es denen, die für uns den Schriftkeil führen, Wahrheiten hinter schönen Worten zu verstecken. Shaya ist mir von all meinen Töchtern die liebste. Sie mir zu rauben hat seinen Preis. Und der ist mit fünfhundert Pferden aus den Ställen des Unsterblichen Muwatta nicht beglichen. Ich verlange tausend Pferde. Und wenn du wiederkommst, dann bringe fünfzehnhundert mit, denn ich will die Besten unter den Besten auswählen. Und versuche nicht, mich zu hintergehen. Du weißt, Diebstahl und Betrug werden an diesem Hof mit schwersten Strafen bedacht, denn sie zeugen von einem Mangel an Respekt. Und mit dem Mangel an Respekt beginnt der Untergang von Königreichen.«

Kurunta war einen Augenblick lang sprachlos über die Frechheit dieser stinkenden Barbaren. Tausend Pferde, das war doppelt so viel, wie ursprünglich als Brautpreis besprochen worden war. Er sah die drahtige Prinzessin an, die seinem Blick mit einem herausfordernden Lächeln standhielt. Ihm wäre sie keine drei Pferde aus seinen Ställen wert!

Er dachte daran, was mit ihr geschehen würde, falls sie in der Nacht der Heiligen Hochzeit kein Kind empfing, und schaffte es zurückzulächeln.

»Wahre Schönheit ist unbezahlbar, ich stimme Euch darin zu, Unsterblicher Madyas. Doch da diese Forderung erheblich von unseren ursprünglichen Vereinbarungen abweicht, werde ich meinen Herrscher über diese Wendung unterrichten müssen. Ich hoffe, ich werde bald mit günstiger Nachricht zurückkehren.«

Ein Anflug von Sorge spiegelte sich auf dem Gesicht von Madyas. Sollte er nur darüber nachdenken, was ihm aus seiner Frechheit erwachsen mochte.

Abschied

Nandalee blickte zum Fenster. Piep war gekommen. Die Misteldrossel, die sie aufgezogen und die Gonvalon zu ihr in den Jadegarten geführt hatte. Piep hatte drei kleine Drosseln und sein Weib mitgebracht. Sie pickten von den Krümeln auf der Fensterbank. Hinter ihnen stand die Sonne hell am wolkenlosen Himmel. Irgendwo draußen erklang ein melancholisches Lied.

Nandalee stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie lebte! Gegen alle Erwartungen war sie dem Massaker in der Tiefen Stadt entkommen. Aber so viele waren geblieben. Gonvalon hatte ihr die Namen der Schülerinnen und Schüler aufgezählt … So viele!

Sie strich über die weißen Laken ihres Betts. Sie fühlte sich schuldig, noch zu leben. Was zeichnete sie aus? Ein besonders harter Schädel?

Von dem Zwergenkind hatte sie niemandem erzählt. Ob die Drachenmörder wohl entkommen waren? Sie lächelte zynisch. Eine ganze Stadt war gestorben. Nur die, die den Tod verdient gehabt hätten, lebten noch. Und Nandalee bedauerte es nicht. So hatte sie zumindest im Kleinen gegen ein großes Unrecht angekämpft.

Die Tür öffnete sich, und Gonvalon trat mit einem großen Holztablett auf den Armen ein. »Es tut gut, dich lächeln zu sehen, meine Schöne.«

Gingen ihr die Komplimente nur auch so leicht von den Lippen.

Ihr Lächeln wurde breiter, als er ein Tuch zurückzog, unter dem frisch gebackenes Brot, ein kleiner, runder Käse und eine halbe Wurst lagen. Sie mochte es deftig und einfach. Er kannte sie so gut.

»Du solltest den Bannfluch gegen Kobolde von deiner Türschwelle wischen, oder du schaffst es noch, mitten in der Weißen Halle zu verhungern.«

Sie griff nach seiner Hand und drückte sie sanft. »Nicht, solange du atmest.«

»Du legst dein Schicksal in die Hände eines Mörders. Ist das klug?« Es lag ein bitterer Unterton in seinen Worten, obwohl das Lächeln nicht von seinen Lippen schwand.

»Seit ich einen Axthieb auf den Kopf bekommen habe, habe ich eine gute Ausrede, wenn ich Dinge tue, die nicht sonderlich klug sind.«

Er lachte leise. »Du hast großes Glück gehabt.«

»Ich habe dich gehabt, als kein Glück der Welt mehr hätte helfen können.«

Er senkte den Blick. »Du musst essen …«

Sie drückte seine Hand fester. »Wir sind ihm entkommen, Gonvalon. Er hat uns freigegeben.«

Der Schwertmeister schüttelte den Kopf. »Er hat lediglich seinen Plan geändert«, sagte er sehr leise. »Du musst zu Kräften kommen. Und dann werden wir überlegen, wohin wir fliehen können.«

»Ich werde nicht fliehen. Ich werde …«

Er küsste sie, lang und leidenschaftlich. Sie schloss die Augen. Genoss den Geruch des Sommers, der seinem Haar anhaftete, und das wohlige, warme Gefühl, das von ihrem Bauch in ihren ganzen Körper strömte.

Als Gonvalon seine Lippen wieder löste, sah er sie streng an. »Ich weiß, was du willst. Und dabei werde ich dich nicht unterstützen.«

»Aber wir müssen …«

»Wir müssen darüber heute nicht reden. Wir …« Ein Geräusch an der Tür ließ ihn verstummen.

Nandalee traute ihren Augen nicht. Dort stand Nodon. Sie wollte aufspringen, doch Gonvalon hielt sie sanft zurück. »Stürmische Begrüßungen müssen noch ein paar Tage warten. Du musst erst zu Kräften kommen, bevor …«

Sie wollte von diesem Unsinn nichts hören. Sie fühlte sich gut genug. Und ohne Nodon wäre sie nicht mehr hier. Sie schob das Holztablett zur Seite, ignorierte Gonvalons ärgerlichen Blick und schwang die Beine aus dem Bett.

Kaum dass sie stand, wurde ihr schwindelig. Sie schwankte. Der Schwertmeister war sofort an ihrer Seite, um sie zu stützen. Dankbar lehnte sie sich an ihn. »Ich dachte, du …«

Nodon zwinkerte. »Hast du etwa gedacht, dass ich mich von einer Schlange ertränken lassen würde?« Der Blick seiner schwarzen Augen wurde hart. »Es war knapp. Ein Novize hat mich gerettet.« Nodon schnitt eine Grimasse. »Mit einem Kuss. Er hat seinen Atem mit mir geteilt. Wenn du in den Jadegarten zurückkehrst, wirst du das niemandem weitererzählen.«

Sie grinste. »Glaubst du nicht, dass die Gazala um jeden deiner Küsse wissen?«

Kurz wirkte er nachdenklich. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, die Orakel Nachtatems interessieren sich nur für Weltuntergangsgeschichten. Von Küssen habe ich sie noch nie reden hören.«

Ihr lag eine schlüpfrige Antwort auf den Lippen, doch sie entschied sich zu schweigen. Sie hatte ihn noch nie zuvor so locker erlebt. Sonst wirkte er immer kühl und unnahbar. Scherze über Küsse waren eigentlich ganz und gar nicht seine Art.

»Vor deiner Tür steht noch einer. Der Kerl, der mich geküsst hat. Er wird heute die Weiße Halle verlassen, so wie ich. Ich werde im Jadegarten lieber nicht berichten, wie viele Männer sich hier um dich scharen.« Er nickte. »Wir sehen uns im Jadegarten. Deine Schwerttechnik lässt noch immer sehr zu wünschen übrig. Ich erwarte dich auf dem Fechtplatz bei der Pyramide.« Mit diesen Worten verbeugte er sich formvollendet und ging.

Nandalee sah neugierig zur Tür. Sie hörte Nodon kurz auf dem Gang mit jemandem sprechen, verstand die Worte aber nicht.

»Wenn du dich nicht wieder hinlegst, überlasse ich dich der Obhut der Kobolde.« Gonvalon schob sie sanft zu ihrem Lager zurück. Ihr war noch immer schwindelig. Sie leistete keinen Widerstand.

Auf dem Gang erklang herzhaftes Gelächter. Es war das erste Lachen, das sie seit ihrer Rückkehr in die Weiße Halle vernommen hatte. Sie kannte es, und Trauer überkam sie. Das war unverkennbar Eleborn, einer der wenigen echten Freunde, die sie hier gefunden hatte. Ausgerechnet er musste gehen!

»Eleborn?« Nandalee war überrascht, wie schwach ihre Stimme klang. Kurz zu stehen hatte sie erschöpft.

»Deine Wunden sind geheilt, aber du hast viel Blut verloren. Dies zu ersetzen, hilft die Zauberkraft unserer Heiler kaum. Du musst einige Tage ruhen, um wieder zu Kräften zu kommen. Wenn du dich daran hältst, wirst du bald wieder auf den Beinen sein.«

Mit einem ungeduldigen Seufzer ließ sie sich in ihr Kissen sinken. Einfach herumzuliegen war nicht ihre Art. Sie dachte an die letzten Überlebenden ihrer Sippe, die jetzt irgendwo in einer stinkenden Trollhöhle gefangen waren. Wie viele Tage blieben ihnen wohl noch? Sie ballte die Fäuste. Bald … Sie würde das Versprechen erfüllen, das sie Duadan kurz vor dessen Tod gegeben hatte – oder bei dem Versuch sterben.

Eleborn spähte ins Zimmer. »Darf ich eintreten?«

»Eigentlich ist sie zu schwach, um eine Audienz nach der anderen zu gewähren«, murrte Gonvalon.

Eleborn verbeugte sich tief. »Verzeiht, meine hochwohlgeborene Dame, wenn ich ungelegen komme, doch stehe ich hier in Angelegenheiten, die keinen Aufschub dulden.«

»Hör nicht auf Gonvalon. Ich freue mich, dich zu sehen.«

»Sie freut sich noch zu Tode«, kam es von Gonvalon.

Eleborn war sichtlich verunsichert. Er strich sich sein langes, weißblondes Haar aus dem Gesicht. »Ich dachte, sie sei nicht schwer …«

»Ich bin nur schwach.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. Selbst zu lächeln kostete sie Mühe. Was war das? Noch nie hatte sie sich so erschöpft gefühlt.

»Ich verlasse die Weiße Halle für immer. Ich wurde als Drachenelf berufen und werde schon in den nächsten Tagen auf eine erste Mission gesandt. Ich … ich habe etwas für dich.« Er löste eine schön ziselierte, kleine Silberflasche von seinem Gürtel, stellte sie auf den Tisch und öffnete den Verschluss. Eine Fontäne aus hellem Licht und Wasser schoss daraus hervor.

Piep und die anderen Misteldrosseln flogen erschrocken auf.

»Ein Zauber aus Mondlicht und Quellwasser gewoben«, erklärte Eleborn stolz. »Vollkommen nutzlos. Nur schön anzuschauen. Ein einfacher Befehl genügt, und das Licht vergeht. Ich fürchte allerdings, dass man sich nur zwei oder drei Mal daran ergötzen kann, bevor die Macht der Magie verlischt.«

Nandalee standen Tränen in den Augen. Sie hatte die Zauberkunststücke Eleborns immer gemocht. Er war anders als die übrigen Schüler der Weißen Halle. Er konnte sich ganz und gar in seinem Studium von Licht und Wasser verlieren. Einige spotteten, dass ihm eines Tages noch Schwimmhäute zwischen den Zehen wachsen würden.

»Und wie heißt dieses Wort, das den Zauber beendet? Du kannst es mir ja in einer anderen Sprache nennen.«

»Ähm …« Eleborn hob ein wenig hilflos die Hände. »Mir ist da ein Missgeschick geschehen, Gonvalon. Es ist ganz gleich, in welcher Sprache du es aussprichst. Es lässt das Licht sofort verlöschen. Ich kann es dir gerne draußen auf dem Gang nennen. Es sei denn, Nandalee wünscht die Zauber zu beenden.«

»Nein«, sagte sie schwach. Sie lag mit halb geschlossenen Lidern in ihr Kissen gesunken und betrachtete verzaubert das Spiel des Lichtes. Kein einziger Tropfen aus der Fontäne fiel hinab auf die Tischplatte. Sie fanden alle zurück in den tanzenden Wasserstrahl, den ein blasses, silbernes Leuchten umspielte. Das Sonnenlicht aber, das durch das Fenster fiel, brach sich in den feinen Tropfen und warf Lichttupfer in allen Regenbogen auf die Wand gegenüber von Nandalees Bett. Sie versank ganz in das Spiel der Farben und ließ sich von ihrer Erschöpfung in tiefen Schlaf davontragen.

In den Gassen der Goldenen Stadt

Volodi hatte keinen Wert darauf gelegt, mit großem Gefolge zu reisen. Als er durch die Goldene Pforte trat, begleitete ihn keine Eskorte. Wer nicht genau hinsah, mochte ihn für einen der Söldner halten, die die Karawane begleiteten, der er sich angeschlossen hatte. Nur dass Söldner keine zwei Eisenschwerter trugen.

Er hatte auf eine kostbare Rüstung und teure Gewänder verzichtet. Auch waren die Scheiden seiner Waffen aus einfachem, schmucklosem Leder gefertigt. Aber Eisenklingen waren besser als Schwerter aus Bronze. Und länger waren sie auch. Erfahrene Fechter würden das sofort bemerken.

Volodi scherte aus der Reihe der Lastenträger aus und betrachtete das turmhohe Tor mit seinen Flügeltüren aus massivem Gold, das sich inmitten der steilen Felswand erhob. Dies war der einzige Weg nach Nangog. Wer immer die fremde Welt betreten wollte, kam durch dieses Tor. Es wurde niemals verschlossen. Tag und Nacht zogen die Handelskarawanen der sieben Großreiche durch diese Pforte. Auf dem Platz reihten sich bereits neue Lastenträger, die Nangog verlassen würden. Hagere kleine Männer, die schwere Körbe mit einem Stirnband schleppten. Männer aus Zapote, wie die Muster ihrer Röcke und die federgeschmückten Armbänder verrieten.

Er dachte an Quetzalli, jene Frau, die er einst geliebt und die ihn fast ins Verderben geschickt hatte. Sein Blick schweifte über die Stadt, die in endlosen Terrassen am Steilhang des Weltenmundes lag, eines riesigen Kraters, in dem die Helden der sieben Königreiche, in Flugrahmen gehängt, im Himmel bestattet wurden.

Der Rauch Tausender Herdfeuer färbte das Firmament bleigrau, und über den Geräuschen der Stadt lag, gleichsam als Leitmelodie, das Klappern und Plätschern der großen Wasserräder, die die Zisternen füllten und das Wasser vom Fluss über Meilen den Berghang hinaufhoben.

Verschwommen im Abenddunst entdeckte er das Palastviertel der Zapote mit seinen hohen Wällen, über die sich lediglich die Stufenpyramiden erhoben, auf denen die Zapote zu ihren Göttern beteten. Auf einer dieser Pyramiden hätte er geopfert werden sollen. Nur weil er blondes Haar hatte und damit ein besonders kostbares Geschenk an die Himmlischen geworden wäre. Hätte Quetzalli es getan? Hätte sie ihn in diesen Bluttempel geführt? Oder war ihre Liebe so echt gewesen, wie sie sich für ihn angefühlt hatte? Wenn er Quetzalli doch nur ein einziges Mal noch sehen dürfte! Ihre Liebe hatte ohne Worte auskommen müssen, denn die Sprache der Zapote war ihm völlig fremd, ebenso wie Quetzalli ihn nicht hatte verstehen können. War sie noch hier? Hatte man sie bestraft, weil sie ihn nicht bis zum Opferstein gebracht hatte?

»Kann ich Euch helfen, edler Krieger?« Ein schlaksiger Kerl mit schütterem Haar und einem Ziegenbart, der aus einem verkniffenen Gesicht hervorstach, stand plötzlich vor ihm. Volodi war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass er dem Mann keine Beachtung geschenkt hatte. »Ihr seid zum ersten Mal auf Nangog, nicht wahr? Seid gewarnt, hier in den Gassen tummelt sich der übelste Auswurf aller Reiche.« Der Fremde sprach seine Muttersprache, obwohl er nicht aussah, als käme er aus Drus.

»Bevor die Nacht einbricht, solltet Ihr in einer Karawanserei oder einem der großen Gasthäuser am roten Markt untergekommen sein. Dort kann man auch vorzüglich speisen. Gerne werde ich Euer Führer sein und Euch von den Wundern und Schrecken Nangogs berichten.«

Volodi dachte an die Kristallhöhle, die Grünen Geister und seine Reise im Wolkenschiff. Wunder und Schrecken dieser Welt hatte er schon reichlich zu sehen bekommen. Wahrscheinlich mehr als sein ziegenbärtiger Führer.

»Bring mich zur Schwebenden Halle. Dorthin, wo die freien Lotsen sich treffen.« Er wollte den Lotsen Nabor aufsuchen und mit ihm über die Himmel Nangogs und seine Schätze plaudern. Und er wollte sich besaufen. Die Lotsen kamen aus allen Königreichen, und er hatte noch keinen getroffen, der einem guten Schluck abgeneigt gewesen war, wenn er auf festem Boden stand. Die Schwebende Halle war ein geschützter Ort. Sein Rang als Kommandant der Palastwache würde ihm Zutritt verschaffen. Dort konnte er sich volllaufen lassen, ohne darüber nachdenken zu müssen, wie sein Erwachen werden würde. Ganz gewiss gab es dort Met.

Volodi lief das Wasser im Munde zusammen. So lange hatte er schon keinen Honigwein mehr getrunken. Nur das wässrige Bier, das in Aram gebraut wurde, und sauren Wein. Er seufzte. Der Abend würde wunderbar werden! Und morgen würde er Kopfschmerzen haben, aber das war ihm heute egal.

»Mit Verlaub, großmächtiger Krieger, aber es gibt in der Stadt keinen Ort, den man die Schwebende Halle nennt«, sagte sein selbsternannter Führer in einem Tonfall, der klarstellte, dass er es war, der sich hier auskannte. »Was Ihr jetzt braucht, Herr, ist eine Schenke, in der man Euch alle Wünsche von den Augen abliest, damit Ihr die Schrecken des Goldenen Pfades und der ewigen Finsternis hinter Euch lassen könnt.«

Volodi deutete zu jenem Ort, an dem etliche Wolkensammler den Himmel füllten und sich mit ihren langen Fangarmen an den Rundhölzern der Ankertürme festhielten. Zwar schwebten auch einige der furchteinflößenden Kreaturen über den Palästen der Goldenen Stadt und über den größten Handelskontoren, doch nirgends ankerten so viele wie an dem Platz, der den freien Lotsen gehörte.

Der Anblick der Wolkensammler erfüllte Volodi stets aufs Neue gleichermaßen mit Schrecken wie mit Staunen. Diese schwebenden Ungeheuer sahen aus wie eine Kreuzung aus Kraken und Quallen, nur am Himmel schwebend und unendlich viel größer. Schiffsrümpfe waren mit drahtverstärkten Seilen unter ihre aufgedunsenen Leiber gebunden. Die Wolkensammler zogen mit dem Wind über Nangog, und von ihren Wanderrouten hing es ab, wo neue Städte entstanden.

»Dort hinten finden wir die Schwebende Halle.« Volodi wies zu den Ankertürmen der Freihändler. »Und wenn wir unterwegs etwas essen könnten, was nicht von Ratten stammt, wäre das nett.«

Der Führer musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle. »Ihr seid also nicht neu hier, Herr?«

Volodi lächelte nur, sagte aber nichts.

»Ihr müsst Eure Schwerter besser verbergen, Herr, oder man hat Euch noch vor Morgengrauen die Kehle durchgeschnitten.«

Hörte sich ganz so an, als ob Kolja inzwischen die dunklen Gassen der Stadt regierte. »Erzähl mir ein wenig. Ich war schon eine Weile nicht mehr hier. Und sag mir, wie du heißt. Ich weiß gerne, mit wem ich rede.«

Der Ziegenbart des Führers zuckte nervös. »Ich bin …«

»Belüg mich nicht, ich merke so etwas sofort.«

Das lächerliche Bärtchen zuckte noch stärker. »Ilmari ist mein Name.«

»Ein Name aus dem Grenzland. Daher sprichst du also meine Sprache. Was hat dich hierher verschlagen?«

Ilmari ging voraus und führte ihn durch das Gedränge auf dem weiten Platz, vorbei an den riesigen Getreidesilos. »Bin gekommen, um reich zu werden. So wie alle. Anfangs war ich Wolkenschiffer. Dann habe ich Angst vor den weiten Himmeln bekommen.«

»Ist was passiert?«, fragte Volodi aufgeräumt. Sie folgten einer der Hauptstraßen und passierten eine schier endlose Kolonne von Männern, die Reiskörbe auf ihren Köpfen balancierten.

»Diese Dinger …« Ilmari hielt kurz und deutete zu einem Wolkensammler, der hoch über dem Ankerturm eines valesischen Handelskontors schwebte. »Habt Ihr einmal die Fangarme betrachtet? Da gibt es welche mit langen Haken dran. Seit ich die bemerkt habe, hatte ich keine Ruhe mehr an Bord. Die Viecher sind nicht friedlich. Diese Arme sind dazu geschaffen zu töten. Irgendwann werden sie sich gegen uns auflehnen! Ich jedenfalls bin lieber Fußgänger als Wolkenschiffer.«

Volodi dachte an die Schlacht im Himmel. Er musste sich nicht vorstellen, was diese Fanghaken anstellen konnten, er hatte es gesehen. »Wo geht man hin, wenn man als Mann Spaß haben will?«, wechselte er abrupt das Thema.

»Es gibt einen einarmigen Drusnier, dem mehrere Hurenhäuser gehören sollen, aber die kann ich nicht empfehlen.«

»Warum? Weil du einen Vetter hast, der ein Hurenhaus betreibt?«

Ilmari warf ihm einen boshaften Blick über die Schulter zu und winkte ihn in eine enge Gasse, die von der Hauptstraße abzweigte. Es stank hier nach Urin und angebranntem Brot. Abgetragene Wäsche hing auf Dutzenden Leinen kreuz und quer, sodass Volodi kaum noch ein Stück Himmel sehen konnte.

»Der Drusnier bringt Ärger.« Ilmari hatte seine Stimme gesenkt. »Er ist neu in der Stadt und schert sich einen Dreck um die, die vor ihm da waren. Man munkelt …« Er wurde noch leiser. »Die anderen Luden haben sich zusammengetan. Alle. Sie wollen ihn weghaben. Für immer. Wenn das beginnt, möchte ich nicht Gast in einem seiner Häuser sein.«

»Eine kleine Schlägerei. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Bring mich doch in eines dieser Häuser.«

Ilmari sah ihn an, als sei er vollkommen verrückt.

»Könnt Ihr mich vielleicht jetzt schon bezahlen, Herr?«

Volodi angelte eine Kupfermünze aus seiner Börse. »Die hier hat einen silbernen Bruder, wenn du mich in eines der drusnischen Hurenhäuser bringst.« Er blickte sich in der Gasse um. Zur Not würde er den Weg alleine finden, aber mit seinem Führer ging es gewiss schneller.

»Kann ich den silbernen Bruder einmal sehen, Herr?«

Volodi lachte. »Du misstraust mir!«

Ilmari breitete in übertrieben verzweifelter Geste die Hände aus. »Das kommt von einem Leben voller schlechter Erfahrungen.«

Der Drusnier zeigte ihm die Münze. Der alte Nabor würde warten müssen. Die Götter hassten ihn, dachte Volodi verzweifelt. Alles, was er gewollt hatte, war ein Abend, an dem er in friedlicher Runde einen Met trank, über harmlose Dinge plauderte, um zuletzt unter der Bank, auf der er gezecht hatte, einzuschlafen, ohne sich Sorgen darüber machen zu müssen, dass ihm jemand die Kehle durchschnitt.

Ilmari war still geworden. Er beschleunigte seinen Schritt und führte Volodi in der schnell hereinbrechenden Dämmerung über Seitenstraßen tief hinein ins Labyrinth der Goldenen Stadt. Es ging über steile Treppen bergauf und bergab. An Wasserrädern vorbei und unter den Brücken der Aquädukte hindurch, quer über einen Viehmarkt, auf dem im Schein von Fackeln zwei Bullen geschlachtet wurden.

Eine schwüle Hitze hatte sich zwischen den Mauern der Stadt eingenistet. Fledermäuse glitten dicht über ihren Köpfen hinweg durch die Dunkelheit. Es roch nach Moder, feuchtem Leinen und Kohlsuppe. Kinder hüpften in einem Netzwerk von Linien, das sie mit Kreide auf das Pflaster gemalt hatten. Mehrere Frauen wachten strengen Blickes über sie, denn Kinder waren ein seltener Anblick in Nangog. Frauen verloren ihre Fruchtbarkeit, wenn sie in diese Welt kamen, und soweit Volodi wusste, war den neuen Siedlern noch nie ein Kind geboren worden.

Sie passierten eine wackelige Brücke aus Fußbrettern und Seilen, die zwischen zwei Türmen eine Felsspalte überspannte. Die Gegend kam dem Drusnier vertraut vor. Hier war er schon einmal gewesen. Die Gassen, durch die sie nun schritten, waren stiller. Nur einzelne Gestalten duckten sich lauernd in Hauseingänge. Ein wahrer Dschungel an Pfeifenkrautblättern hing an Seilen zum Trocknen. Darüber waren breite Segeltuchbahnen gespannt, um etwaigen Regen fernzuhalten.

Der Tabakduft lastete schwer in den Gassen, in die sich kaum ein Lichtstrahl der Zwillingsmonde verirrte. »Jemand folgt uns«, flüsterte Ilmari.

Auch Volodi hatte die beiden Gestalten hinter ihnen bemerkt, die sich nun deutlich gegen das Licht einer Laterne abzeichneten. Der Drusnier tastete nach seinem Schwert und lockerte es in der Scheide, als zwei weitere Männer aus einem Hauseingang stürmten, um ihnen den Weg zu versperren. Ein einzelner Lichtstrahl ließ eine Bronzeklinge aufblitzen. Mit ihren Dolchen waren diese Halsabschneider gegen sein Schwert in der engen Gasse klar im Vorteil, dachte Volodi und zog blank.

Wirtschaftsmacht

Der Halsabschneider ließ seine Waffe sinken. »Wir sind Freunde, Hauptmann! Kolja hat uns geschickt, um dich sicher zu ihm zu bringen.«

Volodi konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, aber er benutzte die Sprache Arams, untermalt vom Akzent der aegilischen Inseln. Er musste einer der Zinnernen sein, der Söldner, die sich Aaron angeschlossen hatten, nachdem er und sein Feldherr Juba allein die Piraten der Aegilen besiegt hatten.

»Hauptmann?«, fragte Ilmari verwirrt.

»Du gehst mit dem, der über den Adlern schreitet, und weißt nicht einmal, wen du begleitest?«, zischte eine der Gestalten im Halbdunkel der Gasse.

»Er wirklich nicht wissen«, beruhigte Volodi den Zinnernen und bedauerte, dass er sich nun wieder der Zunge Arams würde bedienen müssen. Der Drusnier wollte nicht, dass noch mehr über ihn gesprochen wurde. Er wollte geheim halten, wer er war und was er hier tat. Wenn bekannt würde, dass der Unsterbliche Aaron gezwungen war, seine Krieger aus Nangog abzuziehen, um die Reihen seiner Heerscharen auf der Ebene von Kush zu verstärken, würde der Herrscher sein Gesicht verlieren. Es ließe ihn schwach aussehen, und niemand konnte wissen, was geschehen würde, wenn sich herumsprach, dass die Besitzungen Arams auf Nangog nicht mehr verteidigt wurden.

»Wir müssen in den Untergrund«, erklärte der Zinnerne und schob den Dolch in seinen Gürtel. »Kolja ist überaus erfreut, dass du gekommen bist. Genau im richtigen Augenblick!«

Mit Rücksicht auf Ilmari verkniff sich Volodi zu fragen, was das heißen sollte. Sollte Kolja zu der Ansicht gelangen, dass sein ziegenbärtiger Führer zu viel über die Verwicklung der Palastwache Arams in den Kampf um die Hurenhäuser der Goldenen Stadt mitbekommen hatte, würde Ilmari in den Abgründen der Stadt verschwinden.

»Hier entlang!« Der Krieger winkte ihn zu dem Hauseingang, aus dem er so unvermittelt aufgetaucht war. »Was machen wir mit dem Kerl?« Er nickte knapp in Ilmaris Richtung.

»Hat sich getan, was war sich zu tun«, kämpfte sich Volodi durch die verwickelte Grammatik der Sprache Arams und schnippte Ilmari das versprochene Silberstück zu. »Du solltest zusehen, dass du so schnell wie möglich so weit wie möglich von hier fortkommst«, fügte er in seiner Muttersprache hinzu. Dabei klopfte er dem kleineren Mann auf die Schulter. »Wie es aussieht, stecke ich hier bis zum Kinn in der Scheiße, was bedeutet, dass für dich die Luft zum Atmen knapp wird, wenn du weiter mit mir gehst.«

Ilmari biss auf die Silbermünze und schnalzte mit der Zunge. »Viel Glück, der über den Adlern schreitet.« Mit diesen Worten drängte er sich zwischen den beiden Kriegern hindurch, die hinter ihnen die Gasse hinabgekommen waren, und verschwand fliegenden Schrittes in der Nacht.

»Wir hätten dich abgeholt, Hauptmann, wenn du eine Nachricht geschickt hättest«, sagte der Anführer der Söldner und trat in den Hauseingang. Von dort führte eine Treppe in den gewachsenen Fels hinab.

»Wollte ich überraschen Freund Kolja«, sagte Volodi.

»Kolja ist ein Mann, der schwer zu überraschen ist.« Der Krieger nahm eine Blendlaterne auf, die weiter unten auf der Treppe stand. Jetzt sah Volodi zum ersten Mal sein Gesicht. Es war schmal, von Wind und Wetter gegerbt. Auf den Stoppeln seiner Wangen lag schon reichlich Grau. Eine Narbe verlief quer über seine Stirn, die Nasenwurzel und hinab bis auf seine linke Wange. Wache graue Augen blickten zu Volodi auf. Er stand Eurylochos gegenüber, dem einstigen Steuermann auf dem Schiff des Aigolos, jenes Piratenfürsten, den Volodi im Zweikampf getötet hatte.

»Du schon lange träumst davon, mit mir in stillen Keller gehen?«, fragte er ruhig.

Eurylochos hielt seinem Blick stand. Keinerlei Regung spiegelte sich in seinen Zügen. »Nur weil mein Kapitän ein Narr war, bedeutet das nicht, dass auch ich einer bin. Wer fordert ohne Not einen Mann heraus, der die Gunst eines Unsterblichen genießt und der über den Adlern schreitet?«

Volodi lächelte. »Du nicht böse bist, wenn ich bitte dich gehen vor mir.«

Eurylochos lachte. »Würden wir es anders machen, würden wir uns in den Kellern verlaufen.«

Der Mann hatte Humor. Volodi mochte ihn, aber er wusste, dass auch Männer, die gerne lachten, anderen Männern die Kehle durchschneiden konnten. Seine Rechte ruhte auf dem Knauf des Schwertes, als er Eurylochos durch die Katakomben folgte.

Der Steuermann hatte nicht gelogen. Es war ein wahres Labyrinth, das sie durchschritten. Volodi sah Keller voller bauchiger Vorratsamphoren, es roch nach Öl und Wein und frisch geschlagenem Holz. In einem Seitentunnel lag Werkzeug.

»Ist sich neu, dies Mausenest?«

»Wir bauen es weiter aus. Kolja hat den Wunsch, dass jedes unserer Häuser in dieser Stadt auch unterirdisch zu erreichen sein soll. Ich glaube nicht, dass dies zu schaffen ist, aber du weißt ja, wie er ist, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat.«

Das wusste Volodi allerdings. Kolja hatte das Talent, immer ein kleines Stück weiter zu gehen, als gut war.

Das Rumoren vieler Männer ließ den Drusnier aufhorchen. Bald erreichten sie einen langen Keller, in dem sich Dutzende Krieger drängelten. Fast alle von ihnen kannte er. Kolja hatte die Zinnernen versammelt. Fast alle der Kämpfer hier trugen zwei polierte Zinnmünzen auf der Brust. Eingefasst in Leder, trugen sie die Münzen als Ehrenzeichen. Die erste zeigte zwei gekreuzte Schwerter und auf der Rückseite einen Pferdekopf. Sie hatten sie für den Feldzug erhalten, auf dem sie mit ihren Streitwagen weit ins Hinterland Luwiens vorgedrungen waren, um dem Unsterblichen Muwatta das Geheimnis seiner Klingen zu entreißen. Dort hatten sie ihre eisernen Schwerter erbeutet, die sie vor allen anderen Kriegern Arams auszeichneten. Die zweite Münze zeigte einen Wolkensammler, der ein Himmelsschiff trug, und auf der Rückseite das Gesicht einer Daimonin mit langen Ohren. Sie war eine Auszeichnung für die Schlacht über den Wolken gegen den Piraten Tarkon Eisenzunge und den Kampf gegen die Daimonenkinder, den sie tief in den Wäldern Nangogs gefochten hatten.

Etliche der Krieger klopften Volodi freundschaftlich auf die Schulter, als er vorüberging. Sie ahnten ja noch nicht, weshalb er hier war. Er sollte sie zu ihrer dritten Schlacht auf die Ebene von Kush holen. Danach wäre alle Schuld getilgt, die sie als Piraten auf sich geladen hatten. Sie wären freie Männer. Aber Volodi wusste nur zu gut, dass höchstens eine Handvoll von ihnen überleben würde. Er war hier, um sie in den sicheren Untergang zu führen.

»Volodi, mein Bruder!« Kolja brach mit der Gewalt eines Tropensturms zwischen den Männern hervor. Er überragte Volodi um mehr als Haupteslänge. Alles an ihm war größer, er hatte die Statur eines Bären, nein eher einer hochschwangeren Bärin, dachte Volodi, denn er hatte gut angesetzt, seit sie einander zuletzt begegnet waren.

Kolja schlang ihm seinen mächtigen rechten Arm um die Schultern und zog ihn an seine Brust. Sein mit Bronzeschuppen beschlagener Brustpanzer roch nach vergossenem Wein. »Dich schicken die Götter, Bruder. Du lässt wahrlich keinen Kampf aus!« Kolja blickte zu ihm herab, nahm Volodis Gesicht in seine vernarbten Hände und küsste ihn herzhaft auf die Wangen. »Gut, Junge. Wirklich gut!«

Kolja war der mit Abstand hässlichste Kerl, dem er jemals begegnet war. Er hatte große, blaue Augen unter fleischigen Lidern, die jenen, die ihn nicht besser kannten, oft den Eindruck kindlicher Einfältigkeit vermittelten. Sie vermochten es, einen in ihren Bann zu schlagen und das übrige Gesicht vergessen zu machen. Die rote, mehrfach gebrochene Nase, die nur noch ein formloser Klumpen war. Das verwachsene Narbengewebe, das seine Augenbrauen ersetzte. Das linke Ohr, das zu einer unförmigen Kugel geschrumpft war, deren Form an das zur Faust geballte Händchen eines Neugeborenen erinnerte. Kolja war einer der erfolgreichsten Faustkämpfer Luwiens gewesen. Jahrelang war er in allen großen Städten aufgetreten. Es war jene Sorte von Kämpfen gewesen, in denen man mit Bronze beschlagene Lederriemen um seine Fäuste wickelte, um seinem Gegner regelrecht das Fleisch vom Angesicht zu reißen. Kolja hatte dabei nicht durch ausgefeilte Technik geglänzt. Er hielt lediglich mehr aus als jeder andere. Der Preis seiner Siege war ein Gesicht, dem abgesehen von den Augen nur noch wenig Menschliches anhaftete.

Im Kampf gegen die Daimonenkinder hatte Kolja seinen linken Unterarm verloren. Er trug eine Prothese aus gehärtetem Leder, die in einer Faust mündete, um die ein bronzebeschlagener Riemen gewickelt war. Kolja war ein Kämpfer, durch und durch. Man müsste ihm den Kopf abschneiden, damit er eine Schlacht verloren gab.

»Was geht hier vor sich?« Volodi blickte zu den Zinnernen.

»Moment.« Kolja winkte Eurylochos. »Nett, dass du dich persönlich darum gekümmert hast, dass mein Blondschopf zu mir gefunden hat. Jetzt ruft die Schlacht. Nimm dir zwanzig Mann. Du weißt, wo dein Platz ist. Männer!« Seine Stimme rollte wie Donnerhall durch den weiten Keller. »Volodi ist zurückgekehrt, um heute an unserer Seite zu kämpfen. Ein Hoch auf den verdammten Bastard, der über den Adlern schreitet!«

Die Krieger begrüßten ihn mit Jubelrufen. Aber Volodi wollte nichts davon wissen. »Was für eine Schlacht?«, zischte er Kolja an.

»Lasst eure Zinnmünzen verschwinden, Männer«, rief Kolja. »Unsere Feinde sollen noch lange rätseln, wer wir wirklich sind. Die Münzen würden euch verraten. Wenn wir mit denen fertig sind, werden wir uns alle besaufen. Hier unten lagert eine ganze Schiffsladung vom besten aegilischen Roten. Also macht schnell! Tretet denen oben in den Arsch, dass sie nicht mehr wissen, ob sie Männlein oder Weiblein sind.« Er packte Volodi beim Arm und zog ihn eine Treppe hinauf.

»Am besten siehst du dir an, was vor sich geht.« Über ihnen ertönte gedämpfter Lärm.

»Von was für einer Schlacht redest du!«

Kolja knuffte ihn mit seiner Lederfaust, was sich wie ein freundschaftlicher Bärentatzenhieb anfühlte. »Du weißt doch, ich übertreibe gerne. In Wirklichkeit erwartet uns nicht einmal ein kleines Scharmützel. Unsere Waffenübungen sind gefährlicher als dieser nächtliche Spaziergang.«

Jetzt waren deutlich dumpfe Schläge zu vernehmen, dazu gedämpftes Geschrei.

Kolja grinste. »Hat ordentlich dicke Mauern, dieses Haus. Und keine Fenster im Erdgeschoss. Daran war mir sehr gelegen, als ich es ausgesucht habe. Eine richtige kleine Festung.«

»Werden wir etwa belagert?«

Sie erreichten das Ende der Treppe, und Kolja stieß eine schwere Tür auf. »Von einer Belagerung zu sprechen hieße, den Idioten da draußen zu schmeicheln. Im Übrigen ist eine Belagerung eine Angelegenheit, die sich über eine gewisse Zeit erstreckt. Der ganze Spuk hier hingegen wird in weniger als einer Stunde vorüber sein.«

Kolja schlug einen schweren, roten Vorhang zur Seite und führte ihn in ein großes Zimmer, in dem seidenbespannte Diwane standen. Schöne Karaffen auf niedrigen Tischen, protzige Trinkpokale und anzügliche Bilder an den Wänden rundeten das Ambiente ab. Blaugrauer Weihrauch sank aus einer großen Bronzeampel unter der gewölbten Decke und erfüllte den Raum mit Wohlgeruch.

Unter das Poltern der dumpfen Schläge mischte sich das Geräusch von splitterndem Holz. Kolja berührte das nicht im Mindesten. Er nahm sich einen Pokal und schüttete sich Wein ein. »Der ist gut, du solltest davon kosten.«

»Was zum Henker ist hier los? Rede, verdammt noch mal!«

»Mit dem Aufbau unseres Geschäftes haben wir uns nicht nur Freunde gemacht. Natürlich gab es in der Goldenen Stadt schon Freudenhäuser – hört sich viel besser an als Hurenhäuser, nicht wahr? Also Freudenhäuser gab es schon, bevor wir kamen. Nur sind unsere besser. Was die Betreiber der anderen Häuser verärgerte … Aber wer will schon altbackenes Brot, wenn er anderswo für dasselbe Geld Kuchen haben kann? Sie haben drei Mal versucht mich umzubringen. Zuletzt sogar mit Gift, was ich ihnen ernstlich übel genommen habe. Gift! So töten Frauen! Stellt sich ein Kerl mit einem Messer in der Hand vor mich und versucht mich aufzuschlitzen, dann ist das eine ehrliche Angelegenheit unter Männern. Aber Gift …« Kolja nahm einen tiefen Schluck aus dem Weinpokal. »Das gehört sich nicht.«

»Was im Namen der Götter hast du getan?«

Kolja setzte den Pokal ab und lächelte unschuldig. »Niemanden umgebracht. Ich habe gelernt. Ich habe unsere Schreiber gerufen. Da ich nicht wusste, wer verantwortlich war, habe ich an jeden Freudenhausbesitzer in dieser Stadt ein Tontäfelchen schicken lassen, auf dem geschrieben stand, dass ich bis morgen die Schlüssel seines Hauses erwarte oder vorbeikommen würde, um ihm die Ohren abzuschneiden und dabei zuzusehen, wie er sie frühstückt. Wie mir scheint, hat das die Luden ein wenig aufgebracht …«

»Du hast ihnen allen gleichzeitig den Krieg erklärt?« Volodi schüttelte den Kopf. »War das nötig?« Er machte sich keine Sorgen, aber er hätte sich gewünscht, dass Kolja ihre Geschäfte in der Goldenen Stadt mit ein wenig mehr Fingerspitzengefühl angegangen wäre.

»So ist alles in einem Aufwasch erledigt«, entgegnete der Faustkämpfer gut gelaunt. »Komm, sehen wir uns die Sache von oben an.« Er winkte Volodi zu einem Vorhang, hinter dem eine schmale Treppe verborgen lag. Indessen splitterten immer mehr Bohlen der Tür.

Volodi konnte jetzt deutlich verstehen, was die Menge draußen rief.

»Hängt den Fleischkopf!«

»Einen netten Namen haben sie sich für dich ausgedacht.«

Die Treppe mündete auf einen schmalen Flur. Durch die Tür am Ende sah Volodi Bogenschützen, die sich auf einer Galerie versammelt hatten, die über dem Innenhof des Hauses lag. Eine zweite Tür lag unmittelbar vor ihnen. Kolja stieß sie auf, und ohrenbetäubender Lärm brandete ihnen entgegen.

Der hünenhafte Faustkämpfer trat hinaus auf einen Balkon. Am Geländer lehnte sein Schwert. Offensichtlich hatte er diesen Auftritt genau geplant.

Schwarz und Weiß

Volodi folgte Kolja auf den Balkon hinaus. Unter ihnen vor dem Tor drängte sich bis weit die Straße hinauf der aufgebrachte Mob. Fast alle dort unten trugen Fackeln. Das Licht der Flammen spiegelte sich auf langen Bronzedolchen und metallbeschlagenen Knüppeln. Einen Schild oder gar eine Rüstung trug kein Einziger von ihnen. Männer aus allen sieben Königreichen drängten sich dort, vereint in ihrem Hass auf Kolja. Finstere Gestalten. Die meisten von bulliger Statur. Türsteher, Geldeintreiber, Halsabschneider. Fast durchweg waren es Männer, denen man nicht gerne in einer dunklen Gasse begegnen mochte. Aber sie haben keine Ahnung, mit wem sie sich einlassen, dachte Volodi.

»Da oben steht der Fleischkopf!«, schrie einer aus der Masse.

Kolja winkte wie ein Fürst, der sein Volk grüßt. »Was für eine Freude zu sehen, welcher Beliebtheit sich dieses Haus erfreut.« Ein Stein flog zu ihm hinauf. Er schnappte ihn mitten im Flug und legte ihn neben sich auf das Geländer. »Nicht einmal an einen Rammbock haben sie gedacht, diese Idioten«, sagte er leise zu Volodi gewandt.

»Komm runter, Fleischkopf, und kämpf wie ein Mann, sonst brennen wir dir das Dach über dem Kopf ab. Wir kriegen dich auf jeden Fall!« Diesmal erkannte Volodi den Sprecher. Es war ein großer, leicht beleibter Kerl mit schütterem Haar und einem lächerlichen Oberlippenbärtchen. Er trug eine himmelblaue Tunika, die mit breiten, silbernen Borten bestickt war.

»Das ist Leon«, erklärte Kolja. »Er kommt aus Truria und hat hier im Geschäft mit den Mädchen eine Menge zu sagen.«

»Ich mache ein Gegenangebot.« Sein Freund wandte sich an die aufgebrachte Menge. »Ihr lasst auf der Stelle die Waffen fallen und legt die Hände auf den Kopf, sodass ich sie gut sehen kann. Dann trifft nur jeden Zehnten von euch mein Zorn.«

»Der Fleischkopf ist vor Angst verrückt geworden«, rief Leon mit heiserer Stimme. »Holt ihn mir da runter! Ich will ihm den Schwanz abscheiden und ihn zu meinem Hofeunuchen machen!« Er hob sein Messer, eine lange, schlanke Bronzeklinge. »Dieses Haus hat nur einen Eingang, Fleischkopf. Du wirst uns nicht entkommen.«

Volodi hörte, wie unter ihnen die Tür aufflog. In den Mob kam Bewegung.

»Bogenschützen!« Koljas Stimme übertönte den Lärm der Angreifer.

Volodi sah, wie sich auf den Häusern entlang der Straße Bogenschützen erhoben, die hinter den niedrigen Umfassungsmauern der Flachdächer gekauert hatten. Gleichzeitig erschienen an beiden Enden der Straße Krieger mit mannshohen Turmschilden, hinter denen zwei Reihen von Speerträgern folgten. Es war vorhersehbar, wie das enden würde.

In die Menge unten kam Bewegung. Einige versuchten zu fliehen und liefen auf die blockierten Straßenenden zu, andere drängten sich dicht an die Häuserfassaden, um Deckung zu finden. All das würde kaum helfen. Volodi sah, dass die Bogenschützen so verteilt waren, dass es für sie kaum einen toten Winkel gab.

»Schießt auf den Hauseingang!«, befahl Kolja. Dutzende Sehnen sirrten. Volodi hörte den Aufschlag der Pfeile in den Leibern, dann setzte das Geschrei ein. Rücksichtslos versuchten die Luden aus der tödlichen Falle zu entkommen. Verwundete wurden niedergetrampelt oder gar als lebende Schutzschilde missbraucht.

»Woran erkennt man einen Luden aus Truria?«, fragte ihn Kolja lächelnd.

Volodi verstand nicht ganz. Was sollte diese Frage?

»Er fängt nur mit einem Messer in der Hand einen Krieg an.« Sein Kamerad verfiel in ein bellendes Gelächter, das die Schreie der Sterbenden übertönte.

Volodi konnte diesen Sinn für Humor nicht teilen. Sein Freund war immer schon ein harter Bursche gewesen, aber das hier war selbst für Koljas Maßstäbe eine neue Dimension.

Der Faustkämpfer nahm sein Schwert. »Sind wir alte Männer, die nur zusehen, wo es Gelegenheit gibt, ein paar Schädel einzuschlagen? Komm, wir mischen mit, bevor es vorbei ist!« Mit diesen Worten schwang er sich über die Brüstung des Balkons und sprang mitten in die Menge der verwirrten Angreifer. Er landete leicht federnd und ließ sein Eisenschwert kreisen. Sofort hatte er Platz.

Volodi zog seine beiden Klingen. Ohne Rückendeckung war Kolja dort unten in Gefahr, ganz gleich, wie gut er kämpfte. »Verdammter Idiot«, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen und sprang ebenfalls. Sein Aufprall war hart. Er knickte ein und musste sich nach vorne werfen, um einem Messerstich auszuweichen.

Die Hand, die die Klinge hielt, purzelte vor seiner Nase auf den Boden. »Jetzt muss ich auch noch auf dich aufpassen«, murrte Kolja und schlitzte dem schreienden Angreifer mit einem Rückhandhieb die Kehle auf. Der Faustkämpfer blockte mit seiner Prothese einen Keulenhieb und trieb einen weiteren Angreifer zurück.

Inzwischen war Volodi auf den Beinen. Ringsherum lagen Tote und Sterbende auf dem Boden. Er musste diesem Massaker ein Ende bereiten! »Die Waffen nieder!«, schrie er aus Leibeskräften. »Lasst sie fallen und legt die Hände auf den Kopf!«

Klirrend fielen Dolche auf das Straßenpflaster. Etliche der Männer knieten demütig nieder und bettelten um ihr Leben.

Kolja bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Das wäre eine gute Gelegenheit gewesen, diese Sache ein für alle Mal zu Ende zu bringen.« Er schwenkte sein Schwert über dem Kopf. »Bogenschützen! Schießt nur noch auf die, die eine Waffe halten. Wer sich jetzt ergibt, den werde ich nicht umbringen.«

Erleichtert sah Volodi, dass niemand so dumm war, noch Widerstand zu leisten. Er ahnte, dass Kolja am liebsten keine Überlebenden gehabt hätte. Niemanden, mit dem es noch über Freudenhäuser zu verhandeln galt.

Der Faustkämpfer rammte sein Schwert in die Scheide. »Komm, wir trinken. Blutvergießen macht mich immer durstig.« Ohne sich noch einmal nach ihm umzublicken, stapfte Kolja über die Leichen hinweg ins Haus.

»Ihr versorgt die Verwundeten und setzt all diese Kerle in einem sicheren Keller fest«, befahl er dem nächststehenden ihrer Männer.

»Jawohl, Hau …«

»Heute Nacht habe ich keinen Namen«, fuhr er den Veteranen an. »Wir alle haben keine Namen. Verstanden?«

»Jawohl!« Der Krieger grinste und zeigte ihm dabei seine braunen Schneidezähne. Eine Narbe lief quer über seine Lippe. Volodi erinnerte sich an ihn. Er war verwundet worden, als sie die Schmiede aus Muwattas Königreich entführt hatten. Der Kerl war ein guter Wagenlenker.

»Vermisst du deine Pferde?«

»Ich weiß es auch zu schätzen, auf Weiberärsche zu starren«, entgegnete er grinsend.

»Aber Weiber gehen selten brav im Geschirr.«

Das Grinsen wurde breiter. »Wohl wahr.«

»Sorg dafür, dass die Gefangenen anständig behandelt werden. Ich verlass mich auf dich. Und nicht vergessen: keine Namen nennen.«

»Jawohl!« Der Krieger salutierte.

Volodi erwiderte den Gruß und ging ins Haus. Er wusste, dass ihm der schwerste Kampf des Abends noch bevorstand.

Er fand Kolja im offenen Innenhof des Hauses. Das prächtige Löwenmosaik auf dem Boden war mit Blut verschmiert. Ein halbes Dutzend der Angreifer war durch die geborstene Tür bis hierher vorgedrungen. Auf der umlaufenden Galerie im ersten Geschoss hatten Bogenschützen sie erwartet.

Kolja drehte die Toten um und blickte in ihre Gesichter.

»Wen suchst du?«

»Leon, verdammt noch mal!« Kolja blickte ihn mit hochrotem Gesicht an. »Du … Komm! Wir reden nicht vor den Männern. Komm!« Er führte ihn über den Hof in ein kleines, luxuriös eingerichtetes Zimmer, das von einem riesigen Bett beherrscht wurde. Auch hier stand eine Karaffe mit Wein auf dem Tisch.

Kaum hatten sie die Kammer betreten, als Kolja die Tür zuknallte. Die Halsadern des Hünen zeichneten sich deutlich als dunkle, pochende Stränge unter seiner Haut ab. »Du wirst dich nie, nie wieder einmischen, wenn ich eine Schlacht führe!« Er machte hinter jedem Wort eine kurze Pause, offensichtlich darum bemüht, nicht loszuschreien.

»Ist dir klar, was wir heute Nacht getan haben? Wir haben ein Rattennest ausgehoben! Hast du schon mal ein Rattennest ausgegraben? Das sind listige Biester. Man lässt keine von ihnen laufen! Die fressen die Kornspeicher leer und bringen Hungerwinter. Verdammter Narr! Dieser Krieg hätte heute Nacht enden können. Jetzt wird er weitergehen, und unsere Leute werden für deinen Edelmut bluten.«

»Das wird nicht geschehen«, entgegnete Volodi ruhig.

»Nicht? Glaubst du, die Geister unserer Ahnen schützen uns? Eine Schlacht wie heute wird es nicht mehr geben. Diese Ratten haben gelernt. Sie werden uns einzeln auflauern in den Gassen. Und sie werden hinter unser Geheimnis kommen.«

»Nein, denn ich habe Befehl vom Unsterblichen, euch alle nach Kush zu holen. Seine Lage ist verzweifelt. Er braucht jedes Schwert.«

»Bockmist! Dort kämpfen fünfzigtausend. Es macht keinen Unterschied, ob wir dort sind oder nicht. Wir sind zu wenige, um die Schlacht wenden zu können.«

»Aber wir haben einen Eid geschworen«, beharrte Volodi. »Wir müssen gehen, wenn er uns ruft. Wir kämpfen um die dritte Zinnmünze. Danach sind wir frei.«

Kolja stieß einen Seufzer aus und griff nach der Weinkaraffe. Diesmal machte er sich nicht mehr die Mühe, einen der prächtigen Pokale zu füllen. Er setzte die Karaffe an den Mund und nahm einen tiefen Schluck, wobei der Wein in Strömen von seinen Mundwinkeln hinab auf seine Brust floss. Als er absetzte, stieß er einen lauten Rülpser aus. »Ich mag dich, Volodi. Wirklich. Wenn diese Welt ein Ort ohne Gestalten wie mich oder Leon wäre, würden Männer wie du herrschen. Aber so ist diese Welt nicht. Vielleicht … werde ich dich eines Tages umbringen müssen.« Er sagte das ganz ohne Zorn. Eher mit Bedauern.

Volodi überlief es kalt. Er wusste, dass Kolja nicht scherzte.

»Wir haben Aaron einen Eid geschworen, aber du hast auch eine Verantwortung gegenüber den Männern. Wie viele werden die Schlacht in Kush überleben? Weniger als hundert? Und dann haben wir noch Glück gehabt. Es kann auch sein, dass Muwatta uns alle hinrichten lässt. Er hat gewiss nicht vergessen, wer ihm die Schmiede entführt hat und das Geheimnis der Eisenverhüttung nach Aram brachte. Ist es unser Wort, das wir Aaron gegeben haben, wert, all diese wunderbaren Männer dort draußen zu opfern? Wenn es wenigstens eine Aussicht gäbe, in der Schlacht zu gewinnen … Ich weiß, wie die Stimmung im Heer und im Königreich ist. Niemand glaubt an einen Sieg. Warum schlägt Aaron eine Schlacht, die er nicht gewinnen kann? Du kommst, um uns auf dem Altar seiner Arroganz zu opfern. Und nun sag mir: Wer von uns beiden ist der Schlächter?«

»Und was, glaubst du, geschieht, wenn wir uns den Befehlen Aarons widersetzen?«, entgegnete Volodi aufgewühlt. Die Worte seines Gefährten hatten ihn tief getroffen. Nicht die Morddrohung – das war Kolja, wie er ihn immer schon kannte –, es war der Vorwurf, seine Kameraden bedenkenlos dem Ehrgeiz des Großkönigs zu opfern, der ihm zu schaffen machte. Kolja hatte nicht unrecht. »Ein Wort vom Unsterblichen Aaron, und wir sind nicht mehr seine Leibwache, sondern Geächtete. Glaubst du, du könntest deine Freudenhäuser hier führen, wenn Aaron einen Preis auf deinen Fleischkopf aussetzt?«

»Ach, Volodi … Die Welt ist nicht nur schwarz und weiß. Meistens ist sie grau. Natürlich schicken wir einige Männer. Aber mindestens hundert brauche ich, damit die Geschäfte hier laufen. Vor allem, wenn ich diese Brut da draußen wieder laufen lassen muss. Dank deiner Milde erwartet uns ein langer Krieg um die Freudenhäuser der Stadt.«

»Ist es das denn wert? Sollten wir es nicht lieber fahren lassen und …«

Kolja hieb mit der Faust auf den kleinen Tisch, auf dem die Karaffe stand. »Verdammt noch mal! Was ist denn los mit dir? Meinst du, ich tue das, weil es mir so großen Spaß macht, den Luden zu spielen? Sieh mich an! Was siehst du? Einen Kerl, der kein Gesicht mehr hat, weil er nicht mitbekommen hat, wann er mit den Faustkämpfen hätte aufhören sollen. Und das war so, weil ich keinen Plan für danach hatte. Das wird mir in meinem Leben nie wieder passieren. Was wird aus alten Kriegern, denen ein Arm fehlt, die lahm oder von Krankheiten ausgezehrt sind? Welcher Herrscher gibt ihnen ein Gnadenbrot? Aaron wird uns vergessen, wenn wir nicht mehr von Wert für ihn sind. Ein zerbrochenes Bronzeschwert ist dann mehr wert als wir, denn man kann es wieder einschmelzen. Wir aber, wir sind nur noch Abschaum. Alte Krieger verrecken irgendwo in der Gosse, ohne dass ihnen jemand eine Träne nachweint. Aber mit den Zinnernen wird es anders sein. Für uns gibt es einen Ort, an den wir gehen können. Hierher, in die Goldene Stadt kommen wir. Es wird uns an nichts fehlen. Und wenn unsere letzte Stunde kommt, sitzt eine hübsche Hure auf unserem Totenbett und hält uns die Hand, und in der anderen Hand halten wir einen goldenen Becher mit dem besten Wein. Das ist der Eid, den ich mir geschworen habe, und der wiegt schwerer für mich als jede Verpflichtung gegenüber dem Unsterblichen Aaron. Ich bin nicht zum Helden geboren, Volodi. Ich komme nicht aus einer Fürstenhalle wie du. Wenn Kinder mich sehen, fangen sie an zu weinen. Du wirst nie erfahren, wie das ist, stolzer Held mit dem goldenen Haar. Du …«

Volodi hob die Hände. »Es ist gut, ich habe verstanden. Was also willst du tun? Ich kann nicht ohne Krieger zurückkehren. Und Aaron kann zählen. Wenn ich mit zu wenig Männern komme, wird er wissen wollen, wo der Rest steckt.«

Kolja fuhr sich mit seiner riesigen Pranke über den verunstalteten Schädel und seufzte. »Gib mir drei Tage. Mir wird etwas einfallen. Ich finde jemanden, der mit dir kommt, um in deinem Heldenspiel zu verrecken.«

Blondes Haar

Kolja wischte sich mit einem feuchten Tuch über die Stirn. Schwüle Hitze lag über der Stadt und machte jeden Atemzug zur Qual. Die weißen Steine, mit denen der weite Platz gepflastert war, reflektierten das Sonnenlicht, dass es in den Augen schmerzte. Er blinzelte und nahm einen Schluck aus seinem Ziegenlederschlauch. Heute enthielt er keinen Wein. Nur Wasser mit einem Spritzer Essig darin. Er ließ das lauwarme Nass durch seinen Mund kreisen. Was für eine üble Brühe. Am liebsten hätte er es ausgespuckt, aber das hätten sie als Beleidigung auffassen können.

Er sah zu dem riesigen, weißen Tor. Wohl dreißig Schritt war es hoch. Es gab keine Türflügel. Man konnte einen Teil der Residenz des Statthalters aus Zapote dahinter sehen. Es war eine Stadt in der Stadt. Etwa hundert Schritt entfernt erhob sich eine Stufenpyramide. Feiner grauer Rauch stieg dort in den Himmel. Kein Windstoß zerrte am Rauch. Scheiß Hitze, dachte Kolja.

Er wusste, dass sie ihn beobachteten. Die ganze Zeit schon. Jede seiner Gesten wurde bewertet. Sie machten sich ein Bild von ihm. Auch wenn sie sehr zurückhaltend waren und man fast nie einen ihrer Priester in den Straßen der Goldenen Stadt sah, wussten die Zapote genau, was geschah. Er würde nie wieder den Fehler machen, diese federgeschmückten Wilden zu unterschätzen. Voller Unbehagen dachte er daran, wie es auf diesem Platz zur Schlacht gekommen wäre, hätte das Wolkenschiff sie nicht im letzten Augenblick gerettet. Volodi war gut darin, Pläne zu machen. Kolja schmunzelte. Er mochte diesen blonden Narren. Irgendwann würde er ihn umbringen müssen, weil seine Ehre dem allgemeinen Nutzen im Weg stand. Gern würde er es nicht tun …Aber vielleicht hatte er ja Glück und ihm wurde diese Arbeit auf dem Schlachtfeld von Kush abgenommen.

Es begann zu dämmern. Kolja trank erneut einen Schluck. Die Zapote ließen ihn gerne schmoren. Aber sie würden kommen. Sie würden wissen wollen, warum er hier war.

Der Blick des Faustkämpfers schweifte über die Reliefs, die in die weißen Bodenplatten des Platzes geschnitten waren. Die Steine waren so weiß wie frisch gefallener Schnee. Selbst jetzt, bei abnehmendem Licht, konnte man sie nicht lange ansehen, ohne dass die Augen schmerzten. Beunruhigende Bilder waren das. Sie zeigten Krieger, die als Adler oder Jaguare maskiert waren und ihren Feinden die Köpfe abschnitten. Seltsame Tiere streckten ihre Köpfe hinter dichtem Gestrüpp hervor. Eine gefiederte Schlange wand sich um die Sonne. Diese Bilder anzuschauen machte einen ganz kirre. Sie waren eine unverhohlene Drohung. Dort hinter dem weißen Tor, dessen war er sicher, lag eine Welt, die mit der, die er kannte, nur noch wenig gemein hatte. Die Krieger der Zapote waren unheimlich. Sie schienen eins zu sein mit den Schatten.

Die Sonne verschwand schnell hinter dem Horizont. Das letzte Abendlicht tauchte den Platz in weiches Rosa. Aber das ließ das Priesterrelief drei Schritt vor ihm nicht weniger schrecklich aussehen. Mit ausgestreckten Armen hielt der Zapote einer stilisierten Sonne einen unförmigen Klumpen entgegen.

Kolja blickte zum Himmel auf. Die Zwillingsmonde standen hoch über dem Kraterrand. In den letzten Monden hatte mehrfach die Erde gebebt. Einige Häuser waren eingestürzt und einer der Ankertürme. Vielleicht war die Flanke eines Kraters kein guter Ort, um dort eine Stadt zu errichten. Er war nun der Gebieter über dreiundfünfzig Freudenhäuser. Wie viele würden übrig bleiben, wenn es zu einem starken Beben kam? Er sollte sich Gedanken darüber machen, seine Geschäfte auch auf andere Städte auszuweiten.

Kolja blickte durch das weiße Tor. In seinen Schatten hatte sich gerade etwas bewegt. Dicht über dem Boden. Von dort waren sie letztes Mal gekommen, die Jaguarmänner. Sie … Eine Gestalt stand unter dem Tor! Vor einem Herzschlag war da noch niemand gewesen. Der Kerl sah nicht aus, als sei er hastig herangehuscht. Er strahlte eine selbstbewusste Ruhe aus. Gemessenen Schrittes trat er auf den Platz hinaus. Er war von zierlicher Gestalt und trug einen Federmantel, dessen Kragen aufgestellt war und nicht weniger farbenfroh schillerte als das Rad eines Pfaus. Ein weißes Tuch war um seine Hüften geschlungen und kunstvoll verknotet. Breite, türkisbesetzte Armreife umfingen seine Handgelenke. Er trug keine Waffe bei sich, soweit Kolja sehen konnte.

Einen Schritt vor ihm blieb der Zapote stehen. Er hatte ein schmales, hartes Gesicht mit einer Nase wie ein Geierschnabel. Eine seltsame Tätowierung prangte auf seiner Brust. Eine sich windende Schlange, die ein Federkleid statt Schuppen zu tragen schien. Es war derselbe Zapote, der den Dolch zurückgenommen und ihren Tod befohlen hatte.

»Nun, Mann, den sie Fleischkopf nennen, welcher Wahn blendet deinen Verstand, dass du es wagst, noch einmal hierherzukommen?« Der Priester sprach ihn in seiner Muttersprache an. Er hatte zwar einen grausamen Akzent, dennoch war er einigermaßen zu verstehen.

»Ich habe dir ein Angebot zu machen, das du nicht ablehnen solltest«, entgegnete Kolja ruhig. Der Priester war fast zwei Köpfe kleiner als er. Wie schaffte es ein solcher Zwerg, mit solcher Arroganz aufzutreten? Wahrscheinlich könnte er ihm ebenso leicht mit seiner Faust den Schädel einschlagen, wie er eine Amphore zerschlug. »Ich schlage dir ein Geschäft vor, bei dem es um Blut und Tod geht, also zwei Dinge, mit denen du dich bestens auskennst.«

»Und was veranlasst dich dazu zu glauben, dass ich dich auch nur anhören werde?«

»Du meinst neben der Tatsache, dass du vor mir stehst?« Kolja löste eine lange, blonde Haarsträhne von seinem Gürtel und reichte sie dem Priester.

Der Zapote strich sanft über das Haar. »Wie viele?«

»Siebzehn. Allesamt kräftige Männer. Sechs von ihnen sind verwundet. Aber das ist nichts Ernstes. Die erholen sich schon wieder.«

Der Priester wand die Haarsträhne um seinen Arm. »Du weißt, dass sie freiwillig das weiße Tor durchschreiten müssen. So verlangen es unsere Gesetze.«

»Das bekomme ich hin. Keine Sorge. Sie werden mit Freuden zu euch kommen. Es hat sich ja noch nicht allgemein herumgesprochen, dass ihr …« Kolja stockte. Eigentlich hätte er es gerne ganz direkt angesprochen. Er mochte es nicht, wenn man die Dinge nicht beim Namen nannte. Aber die Zapote waren da erstaunlich zimperlich. » … dass ihr blonden Männern und Frauen eine ganz besondere Gastfreundschaft angedeihen lasst.«

»Sie treten unseren Göttern gegenüber. Das ist die höchste aller Ehren«, sagte der Priester in einem Tonfall, als würde er gerne mit ihnen tauschen wollen.

Verlogener Bastard, dachte Kolja und lächelte. »Denkst du, dass wir ins Geschäft kommen?«

»Das hängt davon ab, was du möchtest.«

Kolja schilderte es ihm. Diesmal ganz direkt und ohne Ausflüchte.

Der Königsmörder

Barnaba war in Schweiß gebadet. Die Sonne brannte gnadenlos auf die Felsen. Seine wunden Fingerkuppen drängten in einen Felsspalt. Sie würden das ganze Gewicht seines Körpers halten müssen. Einen Herzschlag lang nur, aber er war erschöpft.

Vorsichtig hob er den rechten Fuß. Er kam nicht hoch genug, um den nächsten sicheren Tritt zu erreichen. Nur die Kraft seiner Arme konnte noch helfen. Er keuchte. Presste sich an den heißen Fels. Spannte die Armmuskeln mit aller Kraft. Endlich fanden seine Zehen einen Halt. Wieder nur ein schmaler Spalt, aber das musste genügen. Er schob den rechten Arm vor, schaffte es, über den Grat eines Felssimses zu greifen, und fand diesmal einen guten Halt. Mit letzter Kraft zog er sich hoch.

Keuchend lag er ausgestreckt auf dem Geröll, das sich auf dem Sims gesammelt hatte. »Wir sind verrückt«, sagte der Priester leise und blickte zur Sonne hinauf, die wie eine gelbweiße Wunde im stahlblauen Himmel prangte.

Er hatte es mit Beten versucht. Hatte versucht, sich tief in Meditation zu versenken und den Göttern nahe zu sein. Doch ihm blieb stets nur er selbst. Seine aufgewühlten Gefühle. Der Zorn über die Priestermorde Aarons und dass der Löwenhäuptige so gleichmütig darauf reagierte, dass man seine treusten Diener ermordet hatte. Was für Götter waren die Devanthar? War es zu viel verlangt, von ihnen Anteilnahme zu erwarten und Schutz? Waren solche Gedanken Göttern fremd?

»Lass uns ehrlich sein. Es sind nicht die Götter allein.« Er drehte sich um und blickte ins Tal hinab. Da war niemand. Natürlich nicht! So war es immer. Und doch … Er hätte jeden Eid geschworen, dass ihn etwas beobachtete.

»Ja, etwas! Aus Fleisch und Blut ist es nicht! Es ist unsichtbar. Aber es ist hier! Die ganze Zeit über.«

Vielleicht gab es ja doch Geister? Er hatte so lange mit Steinen auf die Augen in seiner Höhle eingeschlagen, bis sie spurlos vom Fels verschwunden waren. Diese unheimlich grünen Augen. Aber nichts war besser geworden. Manchmal ließ das Gefühl, beobachtet zu werden, für Stunden oder sogar einen ganzen Tag nach. Dann war es wieder da. Vor allem, wenn er versuchte zu meditieren. Vielleicht waren seine Sinne dann empfänglicher für das Verborgene. Wenn er auf seinem Lieblingsfelsen saß und ganz in sich selbst versunken nach einem Band zu den Göttern suchte, war das Gefühl, angestarrt zu werden, am stärksten. Wenn er sich hingegen die steilen Felsen hinaufkämpfte, dem Tod ins Antlitz lachte, indem er gefährlichere Aufstiege suchte und bis zur völligen Erschöpfung mit den Steilwänden rang, fand er endlich seinen Frieden und war allein mit sich.

Vielleicht war das ja die Antwort der Götter? Keine Flammenschrift auf einer Wand, keine Stimmen im Dunkel, kein Devanthar, der in seiner übermenschlichen Pracht vor ihm erschien. Einfach nur die Tatsache, dass er allein beim Klettern Frieden fand, das war die Botschaft. Und jener Gedanke, der ihn seit Tagen umtrieb. Er könnte an Aaron herankommen, wenn er es über die westliche Palastmauer versuchte. Sie war zwar sehr hoch, aber nicht gut in Schuss. Der Putz war von den Lehmziegeln abgebröckelt. Man könnte im Winkel zwischen einem der Wachtürme und der Mauer hinaufsteigen, wenn man mutig war und die Kraft und das Geschick hatte, mit Fingern und Zehen allein in den Fugen Halt zu finden. Von dort war es nicht weit zur westlichen Palastterrasse, an der die Gemächer des Unsterblichen Aaron lagen. Im Schlafgemach musste Aarons Schwert sein. Eine Waffe, dazu geschaffen, selbst das Leben eines Unsterblichen zu beenden.

»Wir sind hier, um zu üben«, murmelte Barnaba und setzte sich. »Das ist das ganze Geheimnis. Dieses Tal ist dafür ideal. Wenn wir diese Felswände erklimmen können, wird der Aufstieg an der Palastmauer ein Leichtes sein.« Er war dazu geboren, ein Königsmörder zu sein! Und dieses Tal würde ihm die Fähigkeiten schenken, die er brauchte, den Mord zu begehen.

Barnaba betrachtete den nächsten Abschnitt der Felswand. Es gab hier weniger Griffe, dafür war die Wand leicht geneigt. Er würde sich gut an sie drücken können. Der Priester ballte seine Hände zu Fäusten und streckte die Finger dann, bis die Gelenke knackten. Dieses Stück noch, dann würde er sich einen leichten Abstieg suchen und ein kühles Bad unter dem Wasserfall nehmen. Er hatte sich an das eisige Wasser gewöhnt. Er war härter geworden und entfernte sich immer weiter von seinem alten Dasein als Priester.

Barnaba streckte sich der Wand entgegen. Seine Linke ertastete einen Spalt. Einen guten Griff. Er stieß sich ab, zog sich mit Schwung hoch. Sein rechter Fuß fand einen kleinen Vorsprung. Der linke Arm schnellte vor. Seine Finger schlossen sich um eine kugelige Felsnase. Es war fast zu leicht. Schnell arbeitete er sich weiter. Doch plötzlich gab es keinen Griff mehr. Er blickte zurück und stellte fest, dass er in seinem Eifer von der Route abgewichen war, die er geplant hatte.

Ein Stück über seinem Kopf gab es eine Delle im Fels. Nicht ideal, aber besser als nichts. Es reichte, wenn er einen Wimpernschlag lang genug Halt fand, um sich höherzustemmen. Links über ihm gab es eine Bruchkante im Gestein. Dort würde er sich hochziehen.

Barnaba blickte zurück. Abwärtszuklettern fand er stets schwieriger. Ihm wurde bewusst, dass er in seinen Tagträumen immer nur so weit geplant hatte, bis er Aaron das Schwert in die Brust stieß. Eine Flucht war nie vorgekommen. Er kümmerte sich nicht gut genug um das Zurück.

»Das erledigen wir später. Was zählt, ist die Tat. Wenn sie uns danach entdecken, was bedeutet das schon.«

Er stieß sich ab. Schnellte hoch und rammte seinen linken Handballen in die Delle im Fels, um sich sofort ein zweites Mal abzustoßen. Sein rechter Arm schnellte hoch, griff nach der Bruchkante. Wind und Eis hatten die Delle glatt geschliffen. Seine verschwitzte Hand rutschte aus der flachen Höhlung, bevor er mit der rechten sicheren Halt fand.

Er schlug mit der Brust vor den Fels, schlitterte eng an die Wand gepresst abwärts. Er versuchte irgendwo Halt zu finden, fluchte. Jetzt rutschte er schneller. Ein kleiner Vorsprung rammte seinen Rippenbogen. Er drehte sich ein Stück zur Seite.

Vielleicht fünf Schritt unter ihm war das Sims, auf dem er eben gerastet hatte. Dort würde er sicher landen … Redete er sich ein. Feine Furchen zwischen den Gesteinsschichten schmirgelten seine Haut fort. Sein ganzer Brustkorb war ein brennender Schmerz. Immer noch versuchte er verzweifelt, mit Händen und Füßen einen Halt zu finden. Aus den Augenwinkeln sah er die rote Schleifspur, die er auf der Felswand zurückließ.

Sein linker Fuß landete auf dem Sims. Geröll rutschte zur Seite und stürzte klackernd in die Tiefe. Sein Fuß knickte um. Mit rechts fand er auch keinen Griff. Er rutschte mit den Gesteinstrümmern. Glitt vom Sims, drehte sich ein wenig und stürzte rückwärts, ohne dass er noch Gelegenheit fand, nach einem Halt zu greifen.

Er schlug mit der Schulter gegen die Felswand. Drehte sich ein Stück, blickte nach hinten. Er war fast … Der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen. Er versuchte zu atmen, doch sein Körper verweigerte sich ihm. Er japste. Die Luft wollte nicht in seine Lungen! Es war, als wolle er schlucken, doch der Bissen saß unverrückbar im Hals.

Dann kam der Schmerz. Ein bohrender Schmerz, als fahre eine heiße Klinge durch seinen ganzen Leib. Nie zuvor hatte er etwas gefühlt, was diesem Schmerz auch nur entfernt ähnlich gewesen wäre. Er bäumte sich in seiner Pein auf und sah sein Bein. Zwei blutige Knochen ragten aus seinem Fleisch, wo sein Schienbein hätte sein sollen.

Er schrie. Schrie, dass sein Schmerz bis in den letzten Winkel des Tals hallte. Und mit den Schreien kam der Atem zurück. Keuchend. Blut und Geifer rannen ihm über die Lippen. Heiße Tränen benetzten seine Wangen. Er versuchte sich herumzudrehen. Sein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen, so marterte ihn die Pein der geschundenen Glieder. Und alle Kraft hatte ihn verlassen. Er konnte sich nicht hochstemmen. Seine Gelenke waren gestaucht, sein rechter Ellenbogen ausgekugelt, sodass sein Unterarm in einem unnatürlichen Winkel verdreht war. Die Götter hatten ihn zerbrochen. Nein … Er wusste es besser. Sein eigener Hochmut hatte ihn zu Fall gebracht. Er würde hier zwischen den Felsen liegen und sterben. Niemand würde ihn je finden. Die Sonne würde seine Knochen bleichen. Und wenn er nicht verblutete, würde sie das Leben aus ihm herausbrennen.

Er drehte den Kopf zur Seite. Zwanzig Schritte wären es bis zum Teich. So wenig … Erneut versuchte er sich hochzustemmen. Er spürte im linken Arm, auf dem er sich aufstützte, zwei Knochen gegeneinanderreiben, und sackte zurück. Er musste es schaffen. Am Wasser würde er überleben! Bestimmt! Und die Wilden aus den Bergen würden ihn suchen kommen. Er hatte nächste Woche ein Treffen in einem tiefer gelegenen Tal vereinbart. Sie brachten ihm ihre Kranken, und sie lauschten gerne seinen Worten über Russa, den Herren der Blitze und Stürme. Sie würden ihn suchen, wenn er nicht kam … Nein, er wusste es besser. Sie würden es nicht wagen, ihn in der Einsamkeit dieses Tals zu stören. Für sie war dies ein verfluchter Ort. Er musste zum Wasser kommen, seine Wunden kühlen … Er musste es aus eigener Kraft schaffen! Er versuchte sich hochzustemmen. Erneut schrammten die gesplitterten Knochenenden übereinander. Er stieß ein schrilles, tierhaftes Kreischen aus und sackte in sich zusammen. Tränen standen ihm in den Augen. Er atmete flach und hechelnd, betete, dass die Pein endlich enden möge.

Doch der Schmerz hielt an, obwohl er den Arm nicht mehr belastete. Rollte wie eine Woge durch ihn, ertränkte sein Bewusstsein und riss ihn hinab in die Dunkelheit.

Schuld

Volodi blickte zurück zu der breiten Straße, die ihn zum Ankerplatz der Lotsen gebracht hatte. Es war früher Abend, erste Lichter wurden entzündet. Überall waren Menschen. Nacktrattenfänger, die ihre Beute auf langen Ruten zur Schau stellten und an die Dienerinnen reicher Damen verkauften, die damit die verwöhnten Hauskatzen und Hunde fütterten. Wasserhändler und Brotbäcker, die ihre Sesamkringel auf Holzgerüsten auf dem Rücken trugen. Abwasser in schillernden Regenbogenfarben umfloss Volodis Füße. Weiter oben an der Straße hatten sich Färber niedergelassen, die ihre bunten Leintücher in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne zum Trocknen aufgespannt hatten.

Volodi konnte nichts Verdächtiges entdecken, und doch hatte er das Gefühl, verfolgt zu werden. Dass man ihn zusammen mit Kolja beim Kampf gegen die Luden gesehen hatte, mochte reichen, um ihm die Aufmerksamkeit von Meuchlern einzubringen. Heute Nacht lief die Frist für seinen Freund ab. Dann würde er bei ihm die Zinnernen einfordern. Noch vor dem Morgengrauen wollte er die Goldene Pforte passieren und zum Heerlager des Unsterblichen Aaron auf die Ebene Kush zurückkehren.

Nangog war ihm unheimlich. Er hatte im Palast davon gehört, dass die Grünen Geister mit verzweifeltem Zorn die magischen Wälle der Goldenen Stadt bestürmten. Es hatte in den Provinzen mehrere schwere Erdbeben gegeben, und eine Sturmflut hatte die Küste im Norden verheert. Auch waren in den letzten Monden drei Wolkenschiffe verschwunden. Dies war ein Grund, warum er den Lotsen Nabor aufsuchen wollte, bevor er die Stadt verließ. Es ging etwas vor sich. Volodi konnte das mit jeder Faser seines Leibes spüren. Eine Spannung lag in der Luft, die er nicht empfunden hatte, als er Nangog verlassen hatte.

Er trat vor das einzige Tor in der hohen Mauer, die den Lagerplatz der Freihändler abschirmte. Aus schweren Eichenbohlen gezimmert und mit Nägeln zusammengefügt, deren faustgroße Bronzeköpfe schimmernd aus dem dunklen Holz ragten, war es abweisend und eindrucksvoll zugleich. Mit Speeren bewaffnete Krieger standen im Schatten des Tores. Sie strahlten die Gelassenheit jener aus, die seit Langem den Tod zum Geschäft hatten und niemanden mehr mit ihrem Auftreten beeindrucken wollten.

Volodi ging geradewegs auf sie zu. Blicke taxierten ihn. Er war bewaffnet, trug einen Bronzekürass und einen federgeschmückten Helm unter den Arm geklemmt. Um seine Hüften war ein Leopardenfell geschlungen, seine Sandalen waren mit dem Schleim der Purpurschnecken gefärbt. Sein Bart und sein goldenes Haar waren frisch gestutzt. Er hatte sogar Duftwasser aufgelegt. All dies folgte einzig dem Zweck, dass sich das Eichentor für ihn öffnen sollte, denn üblicherweise wurden nur Lotsen zur Schwebenden Halle vorgelassen.

Eine der Torwachen, ein stämmiger, in die Jahre gekommener Krieger mit schütterem Silberhaar und den Narben vieler Kämpfe auf den bloßen Armen, trat ihm entgegen. »Wohin führt Euer Weg, Herr?«, fragte ihn der Hauptmann in der Sprache Arams.

»Bin mich Volodi, Hauptmann von Palastwache von Unsterblichen Aaron. Will ich sehen Lotsen Nabor. Ist sich in Schwebender Halle, ich weiß!« Wie er es hasste, sich in dieser fremden Sprache die Zunge zu verbiegen!

»Ich werde dem Lotsen diese Nachricht überbringen lassen. Er wird sich sicherlich schon morgen im Palast Arams einfinden.«

»Muss ich sprechen ihn sofort! Ist sich Wunsch von Unsterblichen. Duldet das keinen Einschub!«

»Da Ihr meines Wissens nicht zur Zunft der Lotsen gehört, ist es mir nicht gestattet, Euch zur Schwebenden Halle vorzulassen.«

Volodi musterte den alten Krieger vom Scheitel bis zur Sohle. »Wie lautet sich sein Name? Muss ich wissen, Namen von Mann, der Wunsch von Unsterblichem Aaron tritt sich mit Füßen.«

Der Krieger gab sich Mühe, unbeeindruckt zu wirken. »Ich kann einen Boten schicken. Sollen die Lotsen entscheiden, ob sie Euch Eintritt gewähren wollen. Es liegt mir fern, den Unsterblichen Aaron verärgern zu wollen, doch bin ich durch Eid gebunden, nur Lotsen und von ihnen geladene Gäste dieses Tor passieren zu lassen.«

»Dann mach er sich schnell. Ist mich Zeit nicht ganze Nacht.«

Der Kommandant der Wache presste die Lippen zusammen. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging zum Tor, in dem kurz eine Mannpforte geöffnet wurde, eine kleine Tür innerhalb des Tores, durch die eine der Wachen davoneilte.

Volodi konnte sich gut vorstellen, was die Männer von ihm hielten. Er hatte sich wie ein ausgemachter Mistkerl aufgeführt. Sich hinter dem Namen des Unsterblichen versteckt. Aber er wollte Nabor sehen. Eine Sache musste er wissen, bevor er nach Nangog zurückkehrte. Was aus Mitjas Tochter geworden war. Der Tochter des Übersetzers vom Platz der tausend Zungen, dem er so viel Unheil gebracht hatte.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich die Mannpforte wieder öffnete. Eine Zeit eisigen Schweigens.

Schließlich wurde Volodi hindurchgewunken, ohne dass einer der Krieger auch nur ein einziges Wort mit ihm sprach. Er ging auf das große rote Zelt zu, das auf seinen Stelzen inmitten der Berge von Frachtgut auf dem weiten Platz gleichsam zu schweben schien. Die Lichter in seinem Inneren ließen es wie eine große, rote Laterne strahlen. Die Schatten der Lotsen zeichneten sich auf den Zeltwänden ab. Gelächter hallte zu ihm herüber. Ein breiter, goldener Lichtstrahl fiel vom Eingang des Zeltes auf den Platz hinab. Und inmitten des Lichtes stand ein kleiner Mann von fülliger Gestalt, auf dessen Schulter ein Affe balancierte.

»Volodi, es ist schön, dich zu sehen.«

Der Drusnier schluckte. Mit diesen Worten, so warmherzig gesprochen, war er schon lange nirgendwo mehr empfangen worden. Kolja hatte er nie abgekauft, dass er sich freute, ihn zu sehen. Volodi musste schmunzeln. Nein, sein Waffenbruder konnte ihn hier in Nangog so gut brauchen wie einen Furunkel am Arsch.

Nabor kam ihm entgegen. Das kleine Äffchen hielt sich an einem der goldenen Ohrringe des Lotsen fest und griente frech. »Du hast dir hier heute Nacht keine Freunde gemacht«, sagte Nabor nachsichtig. »Die anderen Lotsen wollen nicht, dass du nach oben kommst. Ihnen gefällt nicht, auf welche Weise du dir hier Zugang verschafft hast. Ich muss gestehen, ich mochte es anfangs auch nicht glauben. Das ist nicht der Volodi, den ich kannte.« Er musterte ihn nachdenklich. »Du hast dich wirklich sehr verändert, Volodi, der über den Adlern schreitet.«

Er wollte ihm erklären, dass dieser Aufzug nur dem Zweck diente hierherzugelangen, doch sein Stolz versiegelte ihm die Lippen. »Wollt ich mich wissen, was ist sich geworden aus Tochter von Übersetzer.«

»Aus Negoshka? Sie hat einen Namen, Junge. Mir gegenüber hat sie jedenfalls diesen Namen genannt. Auf dich ist sie nicht so gut zu sprechen. Sie findet, dass du die Schuld trägst am Tod ihres Vaters.«

Volodi senkte den Kopf. Das hatte er nicht anders erwartet. »Und wie geht es sich ihr? Ist sie sich nicht nix in Palast. Hätte sie haben können gutes Leben dort, wenn sich …«

»Hätte sie? Nur weil für einen gesorgt ist, hat man noch kein gutes Leben, Junge. Es gibt Dinge, die schlimmer sind als Hunger oder Schwielen, die man von ehrlicher Arbeit an den Händen hat. Hast du je darüber nachgedacht, wie man über sie geredet hätte, wenn du sie im Palast untergebracht hättest? Alle dort hätten Negoshka für dein Liebchen gehalten.«

Der kleine Affe keckerte jedes Mal aufgeregt, wenn ihr Name fiel.

»Hab ich sich nie so gesehen«, gestand Volodi zerknirscht.

Nabor hob den Affen von seiner Schulter und tätschelte ihm über den Kopf. »Sie füttert ihn mit Nüssen, deshalb hat er sich ihren Namen gemerkt. Sie ist auf meinem Schiff, und es geht ihr gut. Wenn ich die Starrköpfe dort oben im Zelt überzeugen kann, wird sie vielleicht eines Tages die erste Lotsin an den Himmeln von Nangog sein. Sie kennt meine Karten, und sie versteht sich sehr gut darauf, den Wind einzuschätzen. Sie hat ein Gefühl für das Schiff. Und der Baum weiß um sie.«

»Sie fährt sich über den Himmel?« Volodi traute seinen Ohren kaum. Nach all dem, was geschehen war, hätte er nicht geglaubt, dass sie jemals wieder einen Fuß an Bord eines Wolkenschiffes setzen würde. Schließlich war es ein Wolkensammler, der für den Tod ihres Vaters verantwortlich war!

»Ihr geht es gut, Volodi. Du musst dir keine Sorgen um sie machen.« Nabor lächelte ihn väterlich an. »Mir scheint, unter der prächtigen Rüstung ist doch noch etwas von dem Volodi übrig geblieben, den ich kannte. Und nun erzähl mir von Aaron. Wie geht es dem Unsterblichen? Ich wünschte, er würde mit mir noch einmal über den Himmel fahren. Weißt du, das verändert den Blick auf die Dinge. Alle Fürsten sollten gelegentlich tausend Schritt über dem festen Boden reisen. Das ist gut für den Überblick und lehrt zugleich Demut.«

Volodi berichtete ihm von den Vorbereitungen auf die Schlacht, und je mehr er erzählte, desto tiefer wurden die Falten um die Augen des alten Lotsen, bis Nabor ihm schließlich mit einem Kopfschütteln Einhalt gebot. »So eine Verschwendung«, murmelte er verdrossen. »Diese Schlacht auszufechten ist Mord! Ich wünschte, ich könnte ihn sprechen und ihm das ausreden. Dieser Krieg wird Wasser auf die Mühlen Tarkon Eisenzunges sein.«

»Denke ich mich, Mühlräder von einem Toten stehen still. Ist sich gleich, wie viel Wasser darauf läuft.«

»Ich bin Männern begegnet, die mir geschworen haben, dass sie Tarkon gesehen haben.«

»Sind sich Lügner!«, entgegnete Volodi aufgebracht. Er selbst hatte gesehen, wie der Unsterbliche Aaron Tarkon erschlagen hatte und wie der Leichnam des Himmelspiraten von einem Wolkensammler verschlungen worden war.

»Einige dieser Männer sind dort oben.« Nabor nickte in Richtung des roten Zeltes. »Aber mit dir werden sie nicht sprechen.«

»Will ich nichts hören von ihren Lügen!«

»Urteile nicht vorschnell, Volodi. Ich kenne sie seit Jahren. Wer so viel von dieser Welt gesehen hat wie der Lotse eines Wolkenschiffes, der weiß, dass hier Dinge geschehen können, die auf Daia undenkbar sind.«

Der Alte schien durch ihn hindurch in weite Ferne zu blicken. Sosehr er Nabor mochte, er konnte nicht akzeptieren, dass Tote ins Leben zurückkehrten. Als Geister vielleicht wie seine Ahnen, deren Stimmen an stürmischen Tagen in den Blättern der Wälder Drusnas flüsterten. Aber niemals kehrten sie in Fleisch und Blut zurück. Das war gegen die Gesetze der Götter.

»Tarkon hat mehr Anhänger denn je«, sagte Nabor leise. »Sie reden davon, dass Nangog die Unwürdigen und Fluchbeladenen abschütteln wird. Und jedes Mal, wenn die Erde bebt, glauben ihnen mehr. Überall in der Stadt kannst du das Zeichen der Grünen Geister sehen.«

Volodi waren die verwaschenen, grünen Kreideflecke an einigen Häuserecken bereits aufgefallen. Allerdings hatte er sich bislang keine Gedanken über deren Sinn gemacht.

»Wir müssen diese Welt in unser Herz schließen«, sagte Nabor voller Leidenschaft. »Dann wird sie uns als Gäste aufnehmen. Aber was tun wir stattdessen? Wir rauben sie aus. Es wird der Tag kommen, da wird Nangog sich gegen uns wenden. Tarkon mag ein verblendeter Fanatiker sein, aber nicht alles, was er sagt, ist falsch.«

»Malst auch du dich mit Kreide an Ecken von Haus?«

Nabor antwortete darauf nicht, und Volodi, der das eigentlich nur im Scherz gesagt hatte, wurde unwohl bei dem Gedanken, dass die Lotsen vielleicht langsam von Tarkons Worten vergiftet wurden. Sie führten die Schiffe über die Himmel Nangogs. Ohne sie würde der Handel zusammenbrechen, und es würde in den großen Städten Daias zu Hungersnöten kommen.

»Du musst mit Aaron reden«, sagte der Alte schließlich. »Es ist wichtig, dass der Unsterbliche hierher zurückkehrt. Er hat einen wacheren Verstand als die meisten, und er hat die Macht, etwas zu verändern. Er kann diese Welt auf einen besseren Weg führen, bevor sie sich gegen uns wendet.«

»Was kann sich Nangog tun?« Volodi hielt den Gedanken, dass eine Welt sich wehrte, für dumm. Götter, die musste man fürchten, aber nicht die Erde, auf der man stand. »Haben sich keine Macht, Grüne Geister. Aber haben wir Macht. Du hast gesehen, als Daimonenkinder gekommen sind, war sich gekommen auch Devanthar mit Eberkopf, um zu schützen uns.«

»Tarkons Leute behaupten, dass die Göttin dieser Welt schläft. Noch haben wir von ihrer Macht fast nichts zu spüren bekommen. Aber du erinnerst dich daran, als die Wolkensammler gekämpft haben? Sie können tödliche Feinde werden, wenn sie ihr friedfertiges Wesen verlieren. Und es heißt, auch die Grünen Geister werden das Geschenk der Macht erhalten, wenn die Göttin erwacht. Auch habe ich einmal von ferne den Meerwanderer gesehen, der ein Sohn der Göttin sein soll. Jetzt ist die Zeit, die Zeichen zu sehen und unseren Weg zu ändern, Volodi. Deshalb ist es so wichtig, dass der Unsterbliche Aaron hierher zurückkehrt. Du musst ihm von unserem Gespräch berichten.«

Volodi nickte, hatte jedoch Zweifel, dass Aaron ihm zuhören würde. Nicht bevor die Schlacht um Kush geschlagen war. »Was ist sich Meerwanderer?«

Nabor machte eine vage Geste. »Eigentlich nur eine von vielen Legenden hier. Manche nennen sie auch Walhirten oder Seeherrscher. Welcher Name ihnen gerecht wird, vermag ich nicht zu ermessen. Der, den ich gesehen habe, stieg im Delta des Sepano aus den Fluten, und ich war froh, dass wir mehr als tausend Schritt hoch geflogen sind. Er war riesig. Halb ein Krake und halb … Er hat zwei Beine, groß wie Türme. Seine untere Körperhälfte hat etwas entfernt Menschliches … Aber darüber sieht er einfach nur monströs aus. Manchmal sehe ich ihn in meinen Träumen. Ich bin froh, dass ich nicht am Meer lebe, sondern die meiste Zeit hoch am Himmel verbringe. Dabei sind die Ozeane manchmal sehr schön. Es gibt Nächte, da kann man meilenlange Prozessionen von Lichtern unter dem Wasser beobachten. Als gäbe es ein Volk, das am Grunde des Meeres lebt.«

Volodi überlegte, dass man so einen Meerwanderer von Bord eines Wolkenschiffes vermutlich gefahrlos bekämpfen könnte, aber er hütete sich, diese Gedanken mit Nabor zu teilen. Der alte Lotse lebte schon zu lange auf Nangog. Er hatte verlernt, dass man sich Gefahren stellen musste, anstatt darauf zu hoffen, dass sie vorüberzogen oder dass das Unglück immer die anderen traf.

»Du redest mit dem Unsterblichen?«

Volodi hob seine Hand, als wolle er einen Eid schwören. »Ich versprechen dich!«

Nabor schmunzelte. »Eigentlich wollte ich nicht mit Aaron vermählt werden.«

Der Krieger überging das. Er mochte es nicht, veralbert zu werden. Volodi löste einen Lederbeutel von seinem Gürtel und drückte ihn dem Lotsen in die Hand.

»Was soll ich damit?«

»Ist sich für Negoshka. Für schöne Kleider.«

Nabor schüttelte den Kopf. »Sie wird kein Geld von dir haben wollen.«

Volodi lächelte verschmitzt. »Deshalb ist sich dein Gold jetzt. Wirst du wissen, wenn sie braucht etwas, und helfen.«

Der Lotse schob die Börse hinter den breiten Ledergürtel, der seinen Wickelrock hielt. »Du hast ein weiches Herz für einen Krieger. Gib auf dich acht, Volodi.«

Der Alte drückte ihm die Hand. »Vor dem Morgengrauen wird der Wind auf Süd drehen, und ich muss meinen Kurs noch mit zwei anderen Lotsen besprechen, die mit mir im Konvoi fliegen werden. Ich wünsche dir eine gute Reise, Volodi. Komm aus Kush zurück, Junge. Diese Wüste ist es nicht wert, dort zu sterben.«

»Ist sich nicht leicht, mich tot machen.«

Ersatz

Volodi war in gereizter Stimmung, als er sich auf den Weg zu Koljas Freudenhaus machte. Die letzten Tage hatte er den Umgang mit seinem Kameraden gemieden und sich darum gekümmert, dass diejenigen der Zinnernen, die er im Palast angetroffen hatte, sich abmarschbereit machten. Die Stimmung unter den Söldnern war schlecht. Sie alle wussten, was sie auf der Ebene von Kush erwartete. Keiner wollte dieses Schlachtfeld mit dem bequemen Quartier im Palast tauschen. Er hatte sie zusammen mit einem Großteil der regulären Palastwachen abgezogen und nach seinem Treffen mit Kolja persönlich bis zur Goldenen Pforte begleitet. Seit heute war er nicht mehr ihr Held. Und bei Kolja würde es schlimmer werden. Etwa hundert Männer fehlten noch. Er wusste, es würde Ärger geben. Kolja würde sein Geschäft nicht aufgeben, und er würde seinen Eid nicht brechen. Er hatte geschworen, ihm so viele erfahrene Krieger wie möglich zu bringen. Der Palast des Unsterblichen wurde jetzt nur noch von Alten und Kranken gehütet und von einer Hundertschaft Diener, die er in den letzten Tagen darin unterrichtet hatte, sich wie erfahrene Kämpfer in einer Rüstung zu bewegen. Ihnen den Schwertkampf oder den Umgang mit Speeren beizubringen, hatte er gar nicht erst versucht.

Volodi war überrascht zu sehen, wie gründlich die Spuren des Kampfes vor Koljas Freudenhaus getilgt worden waren. Selbst die massive Holztür war bereits ersetzt.

Noch bevor er den Türklopfer berühren konnte, wurde ihm geöffnet. Kolja stand im Eingang, die Arme vor der Brust verschränkt. »Du bist spät!«, sagte er mürrisch.

»Ich wollte euch genügend Zeit lassen, bereit zu sein. Wo sind die Männer?«

Kolja bat ihn mit übertriebener Geste einzutreten. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft. Nach Fellen und Gewürz und kaltem Rauch. Etwas daran kam Volodi vertraut vor, ohne dass er im Augenblick zu benennen vermochte, warum. Weder Mädchen noch Gäste waren im Haus zu sehen.

»Ich habe dich um hundert Männer gebeten, um unser aller Zukunft zu sichern«, sagte Kolja herausfordernd. »Ich biete dir zwei erfahrene Krieger als Ersatz für jeden, den ich behalte. Alle machen ein Geschäft, wenn du zustimmst.«

»Was nutzen Söldner, deren Loyalität fraglich ist?«, entgegnete Volodi verärgert. »Der Unsterbliche wird so einen Handel nicht anerkennen.«

»Warte doch erst einmal, bis du sie gesehen hast. Ich verspreche dir, dass ihre Treue über jeden Zweifel erhaben ist. Die Männer, die ich ausgesucht habe, werden niemals zum Unsterblichen Muwatta überlaufen. Im Gegenteil! Allein ihr Anblick wird Entsetzen in die Herzen unserer Feinde säen.« Kolja war vor einem Vorhang stehen geblieben, hinter dem, wie Volodi wusste, der Durchgang zum Innenhof des Hauses lag. »Sie erwarten dich. Lass erst einmal ihren Anblick auf dich wirken. Das ist das Einzige, worum ich dich bitte. Und wenn du ehrlich glaubst, dass hundert unserer Männer es mit ihnen aufnehmen könnten …«, er lächelte verschlagen, » …werde ich mich fügen, und wir alle werden dir nach Kush folgen.« Mit diesen Worten zog er den blutroten Vorhang zurück, und Volodi verschlug es tatsächlich die Sprache, ja, er wich einen Schritt zurück bei dem Anblick, der sich ihm bot.

Der Hof, die umlaufende Galerie und alle Durchgänge zu den angrenzenden Räumen standen gedrängt voller Jaguarmänner, jener unheimlichen Schattenkrieger, die sie auf dem weißen Platz vor dem Statthalterpalast Zapotes angegriffen hatten. Die Krieger weiter hinten schienen mit dem Dunkel zu verschwimmen. Nur die Vordersten waren deutlich zu erkennen. Sie waren in ein Gewand aus schwarzem Fell gekleidet, das nur Hände und Füße unbedeckt ließ. Ihr Gesicht ragte aus dem Maul eines Jaguarkopfes, der täuschend echt nachgebildet war. Gelbliche Raubtierfänge in den aufgerissenen Kiefern verbargen zum Teil ihr Antlitz, das sie ebenso wie ihre Hände und Füße mit schwarzer Farbe eingeschmiert hatten. Die einzigen Farbtupfer ihrer merkwürdigen Rüstung waren die bernsteinfarbenen Augen im Jaguarkopf. Selbst ihre Waffen, kurze Speere und Keulen, die mit messerscharfen Obsidiansplittern besetzt waren, hatten sie schwarz gefärbt.

»Sind sie nicht furchteinflößend?«, fragte Kolja mit hämischem Unterton.

»Das geht nicht …«, stammelte Volodi, noch immer überwältigt vom Anblick der fremdartigen Krieger.

»Warum? Würdest du dich einen Feigling nennen? Sicherlich nicht, aber sie machen dir Angst, nicht wahr? Genauso wird es unseren Feinden ergehen. Diese Krieger hier sind viel besser als alles, was wir aufbieten können. Und du hast gesehen, wie sie sich im Kampf bewegen. Sie verstehen sich mindestens genauso gut auf das Geschäft des Halsabschneidens, wie wir es tun! Es waren diese Männer, die Atmos aus seiner Kammer holten, während dort noch drei andere Männer schliefen, die nichts von seiner Entführung mitbekommen haben.«

Das war es ja gerade, überlegte Volodi. Er erinnerte sich nur zu gut, wie knapp sie diesen unheimlichen Halsabschneidern auf dem Platz vor ihrer Tempelstadt einst entkommen waren. Ausgerechnet sie sollten jetzt die Seiten wechseln? Warum?

»Das geht nicht«, wiederholte Volodi. »Der Unsterbliche wird das nicht akzeptieren.«

»Ich denke, er befindet sich in einer Lage, in der er jeden erfahrenen Krieger mit Freuden in seinem Heer aufnehmen wird.«

Das ließ sich nicht von der Hand weisen. Volodi vermochte den Blick nicht von den schattenhaften Gestalten abwenden. Vielleicht würden sie helfen, die Moral ihrer Bauernarmee zu heben? Muwatta verfügte über viele kampferfahrene Einheiten, von denen manche wahrlich ungewöhnlich waren. Aber nun hätten auch sie Krieger, die ihresgleichen suchten. Allerdings wollte er das nicht alleine verantworten. Wenn Kolja ein krummes Ding drehte, sollte er gefälligst auch seinen Kopf dafür hinhalten. »Gut, ich akzeptiere deinen Vorschlag, allerdings unter einer Bedingung. Und ich warne dich, die ist nicht verhandelbar.«

Koljas vernarbtes Gesicht erstrahlte in furchteinflößendem Lächeln. »Es ist immer eine Freude zu erleben, dass die Vernunft siegt. Dann lass mal hören. Was ist diese Bedingung?«

»Du kommst mit. Und du bist es, der Aaron erklären wird, wie wir an diese Krieger gekommen sind.«

Das Lächeln war wie weggewischt. »Ich kann hier nicht fort. Ich bin der Kopf von allem. Hier bricht alles zusammen, wenn …«

»Das ist ein Grund, warum du mit mir kommen sollst«, entgegnete Volodi kühl. »Wenn hier alles allein auf dich zugeschnitten ist, sind wir zu verwundbar. Wir werden viel stärker sein, wenn es mehr als einen Mann gibt, der unser kleines Imperium der Freuden führen kann. Wir werden immer Feinde haben, denn hier lässt sich viel Gold machen. Und unsere Feinde werden irgendwann wissen, dass hier alles mit dir steht und fällt. Eine solche Schwäche kann ich im Interesse unserer Kameraden nicht dulden. Erinnerst du dich, was du mir gesagt hast? Dies hier soll das Paradies jener ausgedienten Krieger werden, die keiner mehr braucht und die in der Gosse verrecken würden, wenn wir nicht mit unser aller Gold diesen Ort erschaffen, an den sie kommen können. Du gehst mit mir, Kolja! Das ist mein letztes Wort. Du suchst deinen besten Mann aus und überträgst ihm deine Geschäfte. In einer Stunde brechen wir auf.«

Wasser

Kolja sah sich in dem großen Zimmer um, das er zu seinem Audienzsaal gemacht hatte. Selbst auf den Sitzbänken an den Wänden lagen kostbare Felle. Alles hier war aus Gold und Silber gefertigt oder dem seltenen, schwarzen Holz, das aus den Dschungeln südlich der Glaswüste kam. Nangog hatte ihn einen Arm gekostet, aber es hatte ihn auch reich gemacht. Aber nichts davon würde er mitnehmen können. All das war in einer einzigen Nacht wieder verloren gegangen. So war es ihm schon immer in seinem Leben ergangen. Mal lebte er einige Monde in Palästen und war der Bettgefährte einer intriganten Satrapenwitwe oder eines gelangweilten Kaufmannsweibs, das sich mit ihm die Zeit versüßte, solange ihr gehörnter Gatte in irgendeiner Provinz am Ende der Welt seinen Reichtum mehrte. Und dann landete er über Nacht wieder in der Gosse.

Kolja nahm einen Schluck Wein. Er hatte einen ekelhaften Geschmack im Mund, ganz so, als habe er brackiges Wasser getrunken. Wieder ließ er den Blick über all seine Schätze wandern. Die Götter liebten es, mit ihm zu scherzen! Er hätte sich nicht träumen lassen, in dieser Nacht alles zu verlieren. Jetzt ging es also wieder steil bergab. Er lachte bitter. Mit Volodi brauchte er nicht zu verhandeln. Er kannte diesen goldhaarigen Mistkerl gut genug, um zu wissen, dass er nicht davon abzubringen wäre, ihn mit auf die götterverfluchte Hochebene von Kush zu nehmen. Ihm war auch klar, dass Volodis Argumente mit dem Schutz ihrer Interessen nur vorgeschoben waren. Das Fürstensöhnchen wollte nicht, dass er, Kolja, hier zu mächtig wurde. Wie man dieses Spiel spielte, hatte Volodi sicher schon mit der Muttermilch aufgesogen. Einzig und allein deshalb musste er nun all das hier aufgeben.

Kolja nahm noch einen tiefen Schluck Wein. Es war müßig, mit dem Schicksal zu hadern. Wenigstens gab es diesmal einen Ort, an den er zurückkehren konnte. Kush und Muwatta würden ihn nicht umbringen, da war er sich ganz sicher. Wahrscheinlich würde er ein paar neue Narben abbekommen, aber daran war er gewöhnt. Er war schwer umzubringen. Das war das Einzige, worauf er sich in seinem Leben wirklich verlassen konnte. Alles andere änderte sich unentwegt, egal wie sehr er sich anstrengte, es zu bewahren.

Kolja hatte nicht viel zu packen. Er nahm den neuen Bronzepanzer, der eigens für ihn gefertigt worden war, und sein Eisenschwert. Dazu noch einen Lederschlauch mit dem Roten, den er hier so sehr zu schätzen gelernt hatte. Vielleicht war es nicht ganz schlecht, wenn er für ein paar Monde nach Kush ging. Das gute Leben hier hatte ihn weich gemacht. Zu viele Weiber, zu viel Wein und kein Kampf, der eine Herausforderung gewesen wäre. Sich mit Luden herumzuschlagen war nicht seine Sache. Er betrachtete die lederne Prothese an seinem linken Arm. Ein Messerstich hatte eine Schramme darauf hinterlassen. Kolja grinste. Seine erste Narbe, die nicht schmerzte. Mehr hatte er im Kampf auf der Straße nicht abbekommen. Ziemlich ungewöhnlich für ihn.

Kolja hörte Schritte auf der Treppe. Er legte seinen Brustpanzer aufs Bett. Wenn man unter Gesindel lebte, war es besser, seine Hände frei zu behalten, wenn Besuch kam. Seine Hand, verbesserte er sich in Gedanken. Manchmal juckte sie, obwohl sie gar nicht mehr da war. Noch so ein Scherz, den die Götter mit ihm trieben.

Eurylochos trat ein. Irgendwann hatte einmal jemand versucht, dem ehemaligen Steuermann das Gesicht durchzuschneiden. Eine eindrucksvolle Narbe verlief quer über dessen Stirn und reichte hinab bis auf die linke Wange. Kolja mochte Männer mit Narben, auch wenn Eurylochos, verglichen mit ihm, immer noch verdammt gut aussehend war. Der Steuermann hielt seine Hände so, dass Kolja sie gut sehen konnte. Er wusste, dass er einem misstrauischen Mann gegenüberstand, und er stellte nur sehr wenige Fragen. Mit ihm konnte man etwas anfangen.

»Ich möchte, dass du unsere Geschäfte hier auf Kurs hältst, solange ich in Kush bin, um mich für Aaron zu schlagen. Wirst du das hinbekommen?«

Eurylochos beobachtete ihn mit wachen, grauen Augen. Sollte er von dem Angebot überrascht gewesen sein, so hatte er sich nichts anmerken lassen.

»Als Erstes musst du dich um unsere Gäste im Keller kümmern«, sagte Kolja nach einer Weile. »Ich habe Volodi versprochen, dass ich nicht Hand an sie legen werde. Und weil er nicht dumm ist, hat er mich ein wenig später versprechen lassen, dass keiner von uns Hand an sie legen wird.«

Eurylochos lächelte. »Wollen die Zapote die anderen nicht auch haben?«

»So leicht wird es leider nicht. Die haben nur Interesse an Blonden. Aber komm mal mit ans Fenster. Die Lösung liegt ganz nahe.«

Der Steuermann hob verwundert die Brauen. Einen Herzschlag lang zögerte er, als habe er Angst, mit ihm am Fenster zu stehen. Wahrscheinlich hatte er irgendeine kleine Betrügerei laufen und fürchtete, dass er ihm auf die Schliche gekommen war. Unter anderen Umständen hätte Kolja ihn vielleicht wirklich auf Verdacht aus dem Fenster gestoßen. Aber jetzt war Eurylochos der beste Mann, den er hier hatte. Er würde großzügig mit ihm sein, bis er aus Kush zurückkam.

»Was macht man bei dir zu Hause, wenn man ein Loch voller Ratten findet?«

»Ausgraben«, entgegnete der Steuermann beklommen und trat an seine Seite.

»Wir ersäufen sie.« Kolja deutete die Straße hinauf. »Siehst du dort oben das Wasserreservoir? Ich finde, die Mauer sieht verdammt brüchig aus. Könnte sein, dass die einfach so in sich zusammenbricht. Was meinst du?«

»Könnte sein.«

»Und dann würde das Wasser wie ein Sturzbach die Straße hinabschießen, und uns würde bis unter die Decke der Keller volllaufen.«

Eurylochos nickte zögernd. »Ja, das würde wohl passieren.«

»Man muss immer darauf achten, dass man nichts Wertvolles im Keller hat. Wenn man vorbereitet ist, kann man von solchen kleinen Unglücken manchmal sogar einen Nutzen haben. Meistens sind dann alle Ratten ersoffen.«

»Die Mauer des Reservoirs sieht wirklich sehr brüchig aus.«

Kolja lächelte. »Es ist immer schön, wenn man sich versteht. Du wirst dich hier um alles kümmern, solange ich fort bin. Hör dich nach Leon um. Mir ist ein Rätsel, wie es dieser trurische Drecksack geschafft hat zu entkommen. Lass ihn suchen und umbringen. Vor Truriern hat man erst Ruhe, wenn man sie begraben hat. Vorher begreifen die einfach nicht, dass sie verloren haben.«

»Ich bin mir sicher, dass ich ihn finden werde.«

Kolja ließ seinen Blick ein letztes Mal durch das prächtige Zimmer schweifen. So kurz hatte all das gewährt. »Du kannst das hier haben. Ich richte mich neu ein, wenn ich zurückkehre.« Kolja nahm seinen Bronzekürass vom Bett. Jetzt, wo er nichts mehr besaß, fühlte er sich erleichtert.

»Hilfst du mir, meine Rüstung anzulegen?«

Eurylochos wirkte eher misstrauisch als erfreut. Er trat an seine Seite und zurrte die Lederbänder an den Seiten der Rüstung fest.

»So schnell kann man ein reicher Mann werden, wenn man mit mir zieht. Und ich sage dir, es gibt viel mehr Gold für uns in Nangog. Wenn ich zurückkehre, werde ich dir zeigen, wo man danach suchen muss.« Kolja schlang den Schwertgurt um seine Hüften. Er konnte Eurylochos ansehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Gier war ein überaus erfreulicher Charakterzug, dachte der Drusnier zufrieden. Sie machte Männer berechenbar. Jetzt war er sich sicher, dass der Steuermann ihr Geschäft gut führen würde und er nicht mit unangenehmen Überraschungen rechnen musste, wenn er aus Kush zurückkehrte.

Von Maulwürfen

Nandalee wurde es immer noch leicht schwindelig. Drei Tage lang hatte sie geruht und doch nur wenige Stunden Schlaf gefunden. Es war falsch, hier zu sein! Das Versprechen, das sie Duadan gegeben hatte, ging ihr nicht aus dem Sinn. Sie musste zum Königsstein, um die Letzten ihrer Sippe zu retten. In einem Bett zu liegen und darauf zu warten, dass ihre Kräfte zurückkehrten, das war nicht sie! Sie musste hinaus. Musste zu Ende bringen, was sie an jenem Tag begonnen hatte, an dem sie auf den Troll geschossen hatte, der ihre Jagdbeute gestohlen hatte.

Nervös blickte sie zu der dunklen Tür. Drei Meister der Weißen Halle würden sie in der Kammer, die hinter der Tür lag, empfangen und über ihre Bitte entscheiden. Sie wusste, dass die Trolle die gefangenen Elfen nicht freiwillig herausgeben würden. Und allein würde sie es nicht schaffen, die letzten Überlebenden zu befreien. Möglichst unauffällig in die Höhlen der Trolle einzudringen und mit dem geringstmöglichen Waffeneinsatz die Gefangenen zu befreien war eine Mission für Drachenelfen.

»Du kannst dich auch setzen«, sagte Gonvalon freundlich. »Stehen musst du erst, wenn du vor die Meister berufen wirst.«

»Ich kann nicht.« Sie war viel zu nervös, um still zu sitzen. Wäre sie besser bei Kräften, würde sie jetzt den weiß getünchten Gang auf und ab marschieren.

Gonvalon stand auf und nahm ihre Hand. Sie war ihm dankbar, dass er nichts sagte. Obwohl sie nur so wenig Zeit miteinander gehabt hatten, kannte er sie besser als jeder andere. Zumindest seit Duadan tot war, dachte sie bitter. Selbst die mächtigen Himmelsschlangen konnten nicht in ihren Gedanken lesen. Aber Gonvalon musste sie nur ansehen und wusste, was in ihr vorging. Wusste, wann sein Schweigen besser half als alle Worte.

Sie drückte seine Hand. Sie war warm und schwielig. Eine starke Hand, die alles für sie tun würde. Sie dachte daran, wie er sich dem Goldenen entgegengestellt hatte. Nichts als den Tod hatte er in diesem Augenblick erwarten können. Er hatte seine Liebe zu ihr über seine Loyalität zu den Himmelsschlangen gestellt und war um ihretwillen zum Ausgestoßenen geworden. Noch wurde er in der Weißen Halle geduldet, aber alle Drachenelfen hatten gesehen, dass er seine Tätowierung verloren hatte, die Siegel des Bundes zwischen ihm und dem Goldenen gewesen war. Und nun, da sie die Loyalitäten der Drachenelfen herausforderte, war er erneut an ihrer Seite. Sie lehnte sich an ihn, erlaubte sich einen Augenblick der Schwäche. Mit ihm an ihrer Seite würde sie die ganze Welt herausfordern, dachte sie.

Die Tür öffnete sich, und Lyvianne trat aus der Kammer hinaus auf den Flur. Sie trug ihr Haar straff zurückgebunden und wirkte unnahbarer denn je. »Wir sind nun bereit, dich anzuhören«, sagte sie und deutete mit einer Geste vollkommener Eleganz auf die offene Tür.

Nandalee drückte noch einmal Gonvalons Hand. Dorthin würde er sie nicht begleiten. Sie musste für sich allein einstehen. Doch obwohl ihr Ansinnen – in ihren Augen – uneigennützig war und von edler Gesinnung zeugte, fühlte sie sich, als würde sie vor ein Tribunal gebeten.

Lyvianne schloss hinter ihr die Tür und nahm an dem rotbraunen Tisch Platz, an dem die beiden anderen Meister, die sie anhören sollten, bereits saßen. Es waren die zierliche Ailyn, die fast von den Trollen getötet worden wäre, als sie gemeinsam mit Gonvalon gekommen war, um sie unter die Novizen der Drachenelfen zu erwählen, und der bleiche Dylan, der aussah, als sei er allein aus Licht und Nebel erschaffen. Seine Augen mit der eigentümlichen, silberfarbenen Iris schienen sie zu durchdringen.

»Nandalee, schildere uns, was dein Begehr ist«, eröffnete Dylan förmlich das Gespräch.

Nandalee erzählte davon, wie sie Duadan in der Tiefen Stadt als Gefangenen der Zwerge vorgefunden hatte, mied es dabei aber zu erwähnen, unter welchen Umständen sie dorthin gelangt war. Sie erzählte von ihrer Kindheit, davon, wie Duadan ihr Mentor und Beschützer gewesen war und wie gnadenlos das Leben in der Eiswüste Carandamon war. Sie wollte, dass den Meistern klar war, dass eine Sippe nur überleben konnte, weil jeder bedingungslos für jeden einstand. Hoffentlich würden sie begreifen, dass das Schicksal eines jeden Einzelnen untrennbar mit dem aller anderen verbunden war. Sie erzählte von langen Jagden und der Bedrohung durch die Trolle – und dann kam sie zu dem Teil, von dem zu sprechen ihr am schwersten fiel. Zu ihrer Schuld.

Sie berichtete davon, wie sie den weißen Sechzehnender aufgespürt hatte und ihm tagelang gefolgt war. Wie der Troll das stolze Tier mit seiner Keule zermalmte und sie auf den Frevler geschossen hatte. Eigentlich vermochte ein einzelner Pfeil einen Troll nicht zu töten. Schon gar nicht, wenn er quer über eine weite Lichtung geschossen wurde. Doch sie hatte ihn ins Auge getroffen. Er war auf der Stelle tot gewesen. Sie erzählte, wie die Trolle sie gehetzt hatten, denn es war der älteste Sohn ihres Königs gewesen, den sie getötet hatte. Als sie dem Tode nahe gewesen war und alle Spuren getilgt hatte, die Rückschlüsse darauf zuließen, zu welcher Sippe sie gehörte, hatten Gonvalon und Ailyn sie gerettet.

An dieser Stelle unterbrach Nandalee ihren Bericht und blickte die zierliche Elfe an, die in der Mitte der drei saß. Doch statt etwas zu sagen, gab die Waffenmeisterin ihr nur ein Zeichen fortzufahren. Nandalee senkte den Blick. Sie vermochte nicht von ihrer Schuld zu sprechen und die Meister dabei anzusehen.

»Ich weiß nicht, ob ich einen Pfeil verloren habe oder mein Bogen im Feuer nicht verbrannte. Etwas muss jedoch geblieben sein, das das Bild des Hirsches trug. Er ist das Totem meiner Sippe, der Windgänger. Er nährt uns und ist unser Vorbild in Stolz und Erhabenheit. Es war meine Tat, die die Trolle zu den Windgängern führte.«

Sie erzählte, wie es misslungen war, Duadan und Fenella zu retten.

»Doch noch leben einige der Meinen. Gefangen im Königsstein. Ohne jede Hoffnung. Sie zu retten ist mein Anliegen. Und um dies zu tun, erbitte ich eure Hilfe.«

Es kostete Nandalee Überwindung, nun aufzusehen und sich den Blicken der drei zu stellen.

»Höre ich aus deinen Worten eine Anklage heraus, Nandalee?«, fragte Dylan mit dunkler, wohlklingender Stimme. »Wie du sehr wohl weißt, war ich es, der die Weißen Schlangen rief und den Angriff durch die Flüsse im Fels führte.«

»Es geht mir nicht darum, Anklage zu erheben«, entgegnete sie hastig und erschrocken, dass sie so sehr missverstanden worden war. »Wisst ihr, was die Trolle mit den Gefangenen tun werden?«

»Sie werden sie fressen.« Nun sprach Lyvianne. »Nur Teile von ihnen. Von den Tapferen begehren sie das Herz, von den Klugen das Hirn. Ein schneller Läufer wird seiner Schenkel beraubt werden. Es ist ein Ritual. Und soweit ich gehört habe, können die Opfer dabei zusehen, wenn ihnen nicht Wunden beigebracht werden, die tödlich sind.«

Die kalte, sachliche Art, in der Lyvianne dies schilderte, trieb Nandalee Zornesröte ins Gesicht. »Du sprichst von Elfen, die dieses Schicksal erwartet. Von meiner Sippe. Von Gefährten, mit denen ich den größten Teil meines Lebens verbrachte.«

»Gefährten?« Lyvianne sah sie herausfordernd an. »Du hast keine Sippe mehr, Nandalee. Als du in die Weiße Halle kamst, um eine von uns zu werden, hast du jegliche Bande durchtrennt. Du willst unsere Leben riskieren, um jene zu retten, die du längst hinter dir gelassen haben solltest.«

»Aber stehen wir denn nicht für Gerechtigkeit? Sind wir nicht die Hoffnung der Schwachen und der Schrecken all jener, die ihre Macht willkürlich ausüben?«, entgegnete Nandalee aufgebracht. »Welchen Wert haben unsere Taten, wenn wir jegliches Mitgefühl aufgeben?«

»Du wirst unsachlich, Nandalee«, ermahnte Ailyn sie. »Wenn ich deine Geschichte nicht falsch deute, so haben die Trolle sehr wohl Anlass, deiner Sippe zu zürnen. Was sie tun, geschieht, um den Tod ihres Thronfolgers zu rächen. Nicht Willkür regiert ihre Taten. Damit erheben sie sich über dich, Nandalee. Du warst es, die willkürlich mordete, als dir ein Troll bei der Jagd zuvorkam.«

»Dann bringt mich zu ihnen und tauscht mich gegen die Gefangenen aus.«

Lyvianne sah sie mit ihren unergründlichen grünen Augen an. Erwog sie den Austausch?

»Du gehörst nun zu uns«, sagte Ailyn. »Wir werden dich nicht preisgeben. Wir werden aber auch nicht zu Handlangern in einer Fehde, die mit uns nichts zu tun hat.«

»Sie werden unseresgleichen töten«, beharrte Nandalee verzweifelt. »Was könnte mehr mit uns zu tun haben? Wir können sie retten. Wir haben die Macht dazu!«

»Du verkennst, was wir sind, Nandalee. Die Schwerter der Himmelsschlangen.« Dylan verschränkte die Hände ineinander und sah zu ihr auf. »Ein Schwert muss gezogen werden, es fährt nicht von allein aus der Scheide. Und weil es so ist, sind wir keine Mörder. Auch wenn es unter den Novizen einige geben mag, denen es schwerfällt, das zu akzeptieren. Was immer wir tun, es geschieht ohne Hass. Wir führen Befehle aus. Nicht wir entscheiden über Leben und Tod. Wir vollstrecken. Damit sind wir lediglich Instrumente der Macht, der wir uns unterworfen haben.«

Nandalee sah voller Verachtung auf ihn herab. Er sah so edel aus. So unnahbar. Fast schon dieser Welt entrückt. Und doch war all dies nur Blendwerk. »So beruhigst du dein Gewissen, Meister Dylan? Lässt dich das die toten Kinder der Tiefen Stadt vergessen?«

»Wir sind nur die Schwerter der Himmelsschlangen. Uns steht es nicht zu zu urteilen. Wir können die Gerechtigkeit der Alben und ihrer Statthalter nicht ermessen. Oder maßt du dir an, ihnen gleich zu sein, Nandalee?«

»Ich bin nur eine Novizin, Meister. Und doch bin ich so viel mehr als ein kaltes Stück Stahl. Ich werde nie wieder tun, wofür ich nicht selbst einstehen kann. Ich will nicht lernen, ein Geschöpf ohne eigene Werte zu werden. Ist es das, was die Weiße Halle aus uns Elfen machen will? Gewissenlose Kreaturen?«

Dylan bedachte sie mit einem schmallippigen Lächeln. »Was wir wollen, ist, uns über unseren beschränkten Horizont zu erheben. Und dazu musst du zuallererst lernen, dein selbstsüchtiges Bild von der Welt abzulegen. Glaubst du, das Maß aller Dinge zu sein, Nandalee?«

»Es gibt Werte, die nicht zur Diskussion stehen«, entgegnete sie aufgebracht.

»Warum? Wer stellt diese Werte auf? Dein Gewissen? Und wenn es so ist, wer formte dein Gewissen? Wem vertraust du mehr als den Statthaltern der Alben? Wer ist es, der dir die Arroganz gab, entscheiden zu können, was gut und was böse ist?«

»Ist es nicht unsere Aufgabe, jede unserer Taten zu hinterfragen und einen Weg zu suchen, der aus der Dunkelheit ins Licht führt?«

»Große Worte, Nandalee. Du erinnerst mich an einen Maulwurf, der in mondloser Nacht zum ersten Mal dem Dunkel der Erde entkommt, einige Sterne am Himmel sieht und behauptet, er habe eine lichtdurchflutete Welt gefunden.«

»Lieber bin ich dieser Maulwurf, der wenigstens einen Funken sah, Meister Dylan, als ein Maulwurf, der ein Leben lang im Finsteren verharrt und Tunneln folgt, die andere gegraben haben.«

»Meine Liebe, diesen Disput werden wir ein anderes Mal weiterführen. Kommen wir zum eigentlichen Thema zurück. Wir Drachenelfen stehen nicht zur Verfügung, um Fehden auszutragen, die zwischen den Kindern Albenmarks bestehen. Wir stehen über solchen Dingen. Wer ohne Befehl der Himmelsschlangen sein Schwert zieht, Nandalee, der gehört nicht länger zu unserer Gemeinschaft. Solltest du dich also entscheiden, zum Königstein zu gehen, bist du hier nicht mehr willkommen.«

Sie wollte etwas erwidern, doch Lyvianne gebot ihr mit einer Geste zu schweigen. »Urteile nicht vorschnell. Wäge die Worte Dylans ab. Ziehe in Erwägung, dass darin mehr Weisheit liegen könnte, als du mit deinem aufgewühlten Herzen in diesem Augenblick zu erfassen vermagst. Du darfst nun gehen. Es ist alles gesagt, was zu sagen war.«

Sie maß die drei mit Blicken und wusste nicht, ob sie Verachtung oder Mitleid für sie empfinden sollte. Schließlich verbeugte sie sich formvollendet, ging zur Tür und verließ das Zimmer.

Gonvalon erhob sich, kaum dass sie auf den Flur hinaustrat. »Wie ist es gelaufen?«

Sie atmete schwer aus, bemüht, ihrem Ärger nicht freien Lauf zu lassen. »Ich weiß nun, dass ich eine andere Sorte Maulwurf bin als Meister Dylan.«

Der Mann in der Truhe

Eurylochos lauschte auf den Klang der Hämmer und Hacken. Selbst durch das verschlossene Fenster am Ende des Flurs war der Lärm deutlich zu hören. Seine Henker legten sich ins Zeug.

Er öffnete die rote Tür, hinter der sein Zimmer lag. Vor ein paar Stunden noch hatte er es großartig gefunden. Jetzt kam es ihm nur lächerlich klein vor.

Der Steuermann trat ans Fenster und schloss die Läden. Seine Kammer lag im Erdgeschoss. Von hier aus konnte er das Wasserreservoir nicht sehen. Sein Blick war durch eine Mauer aus Trockenziegeln versperrt, von der der Putz abbröckelte.

All das war nun Vergangenheit! Kolja war fort. Vorher noch hatte er den Männern eine pathetische Rede gehalten, dass er in Kush kämpfen müsse, um ihr kleines Imperium aus Freudenhäusern zu verteidigen, und er im Herbst zurückkehren würde. Dann hatte er erklärt, dass bis zu diesem Zeitpunkt er, Eurylochos, das Kommando führen würde. Der Steuermann konnte sein Glück immer noch nicht fassen. Aber er war sich bewusst, dass er noch in dieser Stunde etwas zu tun hatte, um es zu festigen.

Er entzündete eine Öllampe, setzte sich auf sein Bett und lauschte. Selbst durch die Wände war der Lärm der Hacken zu hören. Eurylochos schloss die Augen. Sein Atem ging ruhig. Irgendwo im Zimmer summte eine Biene. Dann herrschte Stille. Nichts wies auf sein Geheimnis hin.

Er blickte auf die große Holztruhe neben dem Fenster. Sie war mit einem breiten Riegel verschlossen. Die Kanten waren mit verschrammten Bronzebeschlägen eingefasst. Viele Jahre lang begleitete sie ihn schon.

Er kniete davor nieder, zog seinen Dolch und legte ihn neben der Truhe auf den Boden, dann schob er den Riegel zurück. Zwei schwarze Augen starrten ihn, ohne zu blinzeln, an. In der Truhe lag ein beleibter Mann mit schütterem Haar und einem Bärtchen über der Oberlippe. Stoppeln wucherten auf seinen Wangen. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Um den linken Arm war ein blutdurchtränktes Tuch gewickelt. Seine himmelblaue Tunika war über der Brust zerschnitten. Die Haut darunter war weiß wie ein Fischbauch.

»Du kommst spät«, murrte Leon in einem Tonfall, als habe er hier etwas zu sagen.

Eurylochos griff nach dem Dolch neben der Truhe. Er hatte den Kerl nie gemocht. Dass er ihn am Ende der Kämpfe heimlich hierhergebracht hatte, lag einzig und allein daran, dass er sich von Leon ein fürstliches Lösegeld erhofft hatte. Und tatsächlich hatte der Trurier ihm versprochen, er würde die Truhe, in der er lag, mit Silber füllen.

»Ich glaube, unsere Geschäftsvereinbarung hat sich … überlebt.«

Leon wollte sich aufrichten, doch Eurylochos packte ihn bei der Kehle und drückte ihn in die Truhe zurück. Er hob seinen Dolch, bereit zuzustoßen.

»Ich habe mehr Silber …«, keuchte Leon. Er warf den Kopf hin und her und versuchte sich dem Würgegriff zu entwinden.

»Ich benötige dein Silber nicht mehr.« Er ließ den Dolch sinken, bis dessen Spitze wenig mehr als zwei Zoll über Leons linkem Auge schwebte. »Da ich in aufgeräumter Stimmung bin, gebe ich dir Gelegenheit, dich mit einem letzten Wort zu verabschieden. Ein Wort nur! Erringst du damit mein Interesse, magst du ein wenig länger leben.«

Der Trurier hörte auf, gegen den Würgegriff anzukämpfen. Er starrte ihn an. Der Blick störte Eurylochos. Er wollte, dass es vorüber war. Nun sah er ganz klar, was für eine überaus einfältige Idee es gewesen war, den Trurier leben zu lassen. Leon würde nichts als Ärger machen.

Eurylochos ließ den Dolch langsam tiefer sinken. Mut hatte Leon. Er starrte, ohne zu blinzeln. Erst als die Spitze des Dolches seinen Augapfel berührte, flatterten seine Lider. »Eisenzunge«, sagte er.

»Was interessiert mich ein toter Pirat?« Der Steuermann verstärkte den Druck. Das Auge wurde in die Augenhöhle gepresst. Er zog die Klinge ein wenig zur Seite, ohne mit dem Druck nachzulassen. Leon stieß ein scharfes Zischen aus. Blut füllte das Weiß des Augapfels.

»Er lebt. Tarkon ist nicht tot. Ich habe einen Mann getroffen, der ihm begegnet ist. Tarkon ist ein Unsterblicher geworden. Er wird der künftige Herrscher Nangogs sein, und wer nicht mit ihm geht, den wird er von dieser Welt hinfortfegen, wie der Herbstwind welke Blätter vor sich hertreibt.«

Eurylochos schob die Spitze des Dolches in den Augenwinkel und versuchte mit ihr unter den Augapfel zu gelangen, um ihn aus der Höhle zu drücken.

Leon stöhnte auf. Seine Hände krallten sich um die Truhenränder. »Bitte … Du musst ….«

»Was sollte ich von einem Mann wollen, den ich sterben gesehen habe? Du musst mich für sehr einfältig halten, Trurier.«

»Und wenn ich nicht lüge?« Die Stimme war vor Schmerz zu einem heiseren Zischen geworden. »Ich bringe dich zu einem Mann, der das Geheimnis entdeckt hat, von den Toten wiederzukehren. Ich weiß, dass König Geisterschwert ihn erschlagen hat. Aber ich vertraue auch dem Mann, der ihm begegnet ist. Tarkon Eisenzunge lebt. Er ist zum Unsterblichen von Nangog aufgestiegen. Ganz ohne einen Devanthar. Ich glaube denen, die sagen, dass er einst der Herrscher dieser Welt sein wird.«

Eurylochos zog den Dolch zurück und wischte die Klinge an der Tunika des Truriers sauber. »Und du kennst Tarkon und bist einer seiner Freunde?«

Leon nickte. Ein wenig zu hastig. Eurylochos glaubte ihm nicht. Er betrachtete das zerstörte Auge des Truriers. Es würde nicht mehr heilen. Leon würde es herausnehmen lassen müssen. Der Zuhälter würde sich jeden Augenblick in seinem Leben daran erinnern, wie er ihn gefoltert hatte.

»Wie kommt es, dass du Verbindungen zu diesem Rebellen hast?«

Der Trurier rang sich trotz der Schmerzen, die ihm sein Auge bereiten musste, ein Lächeln ab. »Ich habe, was er braucht. Ihr seid nicht als Einziger auf die Idee gekommen, Sklavinnen hierherzubringen. Tarkon kauft Weiber und Waffen aus Eisen. Er bezahlt mit Klumpen aus gediegenem Gold. Sehr großzügig. Die Hurenhäuser sind nur ein kleiner Teil meines Geschäftes. Lass uns zusammen reich werden.«

Eurylochos betrachtete nachdenklich die Spitze seines Dolches. Vielleicht hätte er nicht so vorschnell sein sollen. »Er belohnt seine Männer also mit Weibern …«

»Nicht nur das. Er hat ganz andere Pläne. Die Frauen bekommen Kinder. Er züchtet sich sein eigenes Volk.«

Noch so eine Lüge, dachte Eurylochos ärgerlich. Wenn ein Weib auf Nangog ein Kind empfing, grenzte das an ein Wunder. Frauen und Männer wurden hier unfruchtbar. Leon hatte keinen Wert für ihn. Durch die Folter hatte er ihn sich für immer zum unversöhnlichen Feind gemacht. Sollte er tatsächlich Verbindungen zu Tarkon haben und sollte der Himmelspirat noch leben, würde ihm daraus nur Ärger erwachsen.

Eurylochos rammte seinen Dolch mit aller Kraft in das gesunde Auge Leons. Mit einem Knacken durchdrang es den dünnen Knochen hinter dem Augapfel und drang tief in den Schädel des Zuhälters. »Du hast deine Nützlichkeit überlebt.« Er säuberte die Klinge ein zweites Mal und lauschte. Draußen war der Lärm der Hacken verstummt. Das Reservoir war also aufgebrochen.

Der Widerstand war gebrochen. Die Hurenhäuser der Goldenen Stadt gehörten ihm. Er würde reicher werden, als er sich das je erträumt hatte. Und das war erst der Anfang. Sollte Tarkon tatsächlich noch leben, würden sich seine Männer bei ihm melden, sobald er neue Mädchen brauchte.

Überaus zufrieden klappte Eurylochos den Deckel seiner alten Truhe zu. Er würde sie zum Stadtpalast Leons bringen lassen, damit am Ende nicht auch über den Zuhälter Geschichten verbreitet wurden, dass er von den Toten zurückgekehrt war.

Der Tröpfler

Nyr schob den Dolch zu ihm herüber. Hornbori schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht schon wieder.« Das Kind, das die Elfe ihnen gebracht hatte, quengelte.

»Du bist an der Reihe«, zischte Galar gereizt. »Du weißt, er wird nicht aufhören, bevor er getrunken hat. Er hat Hunger.«

»Ich auch!«, zischte Hornbori nicht weniger gereizt zurück. »Der kleine Hosenscheißer wird uns alle umbringen. Wir können so nicht weitermachen.«

»Du bist dran.« Galar hob den Dolch auf und trat vor ihn. »Lamentier nicht. Worte helfen dir jetzt nicht. Soll ich dir vielleicht helfen?«

Hornbori nahm den Dolch, setzte die Klinge auf seinen linken Daumen, der voller verkrusteter Schnitte war, und drückte zu. Sein Blut floss weit weniger stark als bei den ersten Schnitten. Nyr reichte ihm den Jungen, und er steckte dem Kleinen den Daumen in den Mund. Sofort begann das Kind heftig daran zu saugen.

»Es ist nicht gut, Kinder auf diese Art zu ernähren.«

»Ist mit deinem Blut was nicht in Ordnung?«, fragte Nyr besorgt.

»Kinder sollten Milch trinken, verdammt!«

»Dann mach mal einen Vorschlag, wo wir Milch herbekommen, du Pfeife.« Galar stand noch immer unmittelbar vor ihm. Der Schmied hatte Lust, sich zu prügeln, aber den Gefallen würde er ihm nicht tun.

»Nyr könnte es noch mal mit dem Käse versuchen.«

»Auf keinen Fall!«, protestierte der Richtschütze. »Beim letzten Mal hat der Kleine sich fast die Seele aus dem Leib gekotzt. Dieser Koboldkäse ist nichts für ihn. Du isst ihn doch auch nicht.«

»Ich leg mich auch nicht an eine Brust, um Milch zu trinken. Was ich mag und was der kleine Hosenscheißer da mag, das hat nichts miteinander zu tun.« Hornboris Daumen schmerzte. Der Kleine saugte immer heftiger daran. Offenbar genügte ihm das Blut nicht, das herauskam.

»Gib mir etwas von meinem Anteil am Drachenblut.« Er blickte zu Galar auf. »Soll er davon trinken.«

»Drachenblut? Wir sind fast verreckt, um es zu bekommen. Es ist das Hundertfache seines Gewichtes in Gold wert. Das willst du doch nicht diesem kleinen Stinker in den Rachen schütten! Was, wenn er das auch auskotzt?«

»Mein Blut verträgt er jedenfalls«, entgegnete Hornbori. »Und was nutzt mir das Versprechen, einmal reich zu werden, wenn der Kleine mich vorher aussaugt? Wie lange wollen wir noch hier unten bleiben? Wann gehst du nach oben, um nachzusehen, ob sie fort sind, Galar?«

»Geh doch selbst, Schisser.«

»Würde ich, wenn ich schwimmen könnte! Leider ersaufe ich, bevor ich die Sprossen an der Brunnenwand erreiche. Aber vielleicht ist das ja in Erwägung zu ziehen, wenn ich mich dafür nicht von dieser kleinen Laus hier aussaugen lassen muss.« Er zog dem Kind den Daumen aus dem Mund.

Der Kleine glotzte ihn mit seinen großen, blauen Augen überrascht an und schmatzte, um deutlich zu machen, dass er noch nicht satt war. »Schluss für heute. Von Onkel Hornbori gibt es kein Blut mehr.«

Der Junge ignorierte das und machte Saugbewegungen mit den Lippen. Als Hornbori darauf nicht einging, begann er zu weinen.

»Du bist genauso dran wie alle anderen auch, du Mistkerl«, empörte sich Nyr. »Er wird bei dir trinken, bis er genug hat. Gib ihm wieder deinen Daumen, oder ich werde dafür sorgen, dass dein Blut fließt.«

Galar stellte sich dem Richtschützen in den Weg. »Lass ihn. Soll er ihm von seinem Drachenblut geben. Und auch wenn er ein Drecksack ist, ganz unrecht hat er nicht. Wir können so nicht weitermachen. Wir haben nur Koboldkäse und Brunnenwasser. Unsere Kräfte lassen mit jedem Tag nach. Wenn wir ihm immer weiter von unserem Blut zu trinken geben, werden wir irgendwann sterben. Und wenn wir tot sind, wie lange wird der Kleine dann noch überleben?« Der Schmied ging zu dem großen Haufen an Gerümpel, das er aus seiner Höhle hier hinab in das geheime Versteck im Brunnen geschafft hatte. Er nahm eine der Phiolen mit Drachenblut und reichte sie Hornbori. »Versuch es. Wir haben mehr als sechzig.«

»Was ist, wenn das Blut giftig ist!«, empörte sich Nyr.

»Wie sollte der Drache leben, wenn giftiges Blut durch seine Adern flösse?«, bemerkte Hornbori spitz und nahm das kleine Fläschchen.

»Ich probiere es zuerst!« Nyr hatte eine Eisenstange gepackt und hob sie drohend über den Kopf. »Her mit dem Drachenblut!«

Der Kleine hatte inzwischen begonnen lauthals zu schreien. Hornbori stopfte ihm seinen unverletzten Daumen in den Mund. »Du trinkst von deinem Drachenblut. Nicht von meinem Vorrat!«

»Wenn ich dir die Eisenstange über den Schädel ziehe, hast du es hinter dir. Das geht schneller, als sich für ein Kind aufzuopfern! Ist es das, was du erreichen willst?« Er winkte Galar mit der freien Hand. Mit der anderen hielt er weiterhin drohend die Eisenstange erhoben. »Gib mir das Fläschchen! Ich koste von dem Blut!«

Galar gehorchte.

Nyr entkorkte das Fläschchen und nahm hastig einen Schluck, ohne die drohend erhobene Eisenstange sinken zu lassen.

»Und, wie schmeckt es?«, fragte Galar in unverhohlener Neugier.

»Es prickelt auf der Zunge.« Nyr schluckte. »Es hat etwas Belebendes … Ist angenehm.«

»Fühlst du dich irgendwie verändert?«, setzte Galar nach.

Hornbori seufzte. »Glaubst du, man wird zum Zauberweber, nur weil man Drachenblut trinkt?«

»Wissen wir es?«, fuhr der Schmied ihn an. »Wer hat je Drachenblut gekostet?«

»Dann sichern wir unserem Kleinen womöglich eine große Zukunft.« Hornbori blickte zu Nyr. »Bist du davon überzeugt, dass ich den Jungen nicht vergiften werde, wenn ich ihm von meinem Drachenblut zu trinken gebe?«

Der Richtschütze ließ die Eisenstange sinken. »Ich musste es wissen«, sagte er trocken. Dann reichte er Hornbori die Phiole.

Der Kleine trank das Blut genauso gierig, wie er zuvor an Hornboris Daumen genuckelt hatte. Als die Phiole leer war, rülpste er zufrieden.

»Wir sollten es beim nächsten Mal anwärmen«, meinte Nyr. »Muttermilch ist auch warm. Das kann nicht gut für ihn sein, kaltes Zeug zu trinken.«

»Lässt du dir demnächst noch Brüste wachsen?«, fragte Galar. »Hornbori hat recht. Wir können hier nicht ewig bleiben. Hat einer von euch eine Vorstellung, wie lange wir schon hier unten sind? Drei Tage? Fünf? Vielleicht sogar zehn?«

»Hättest eine Sanduhr herunterbringen sollen.« Nyr nahm Hornbori das Kind aus den Armen und zog sich beleidigt zurück. Wobei zurückziehen in der engen Höhle bedeutete, dass er sich keine drei Schritt entfernt niederließ.

»Wir können nicht weiter hier unten bleiben«, stellte Hornbori fest. »Hier erwartet uns der sichere Tod.«

Er sah, wie es im Gesicht des Schmiedes arbeitete. Er war oben gewesen, eine Weile, nachdem die Elfe verschwunden war. Galar hatte ihr nicht geglaubt. Er war überzeugt, dass es nur einen Überfall auf seine Werkstatt gegeben hatte.

Als der Schmied zurückkehrte, war er nicht mehr derselbe gewesen. Galar war nicht lange fort gewesen. Zwei oder drei Stunden vielleicht. Das hatte ausgereicht, um ihn zu zerbrechen.

»Du weißt nicht, wie es oben ist. Der Gestank des Todes … Es ist alles wahr. Ich habe sogar einen Tatzelwurm gesehen, der von … der … der … gefressen hat.«

»Wir haben also die Wahl, hier unten zu bleiben und ganz sicher zu sterben oder eine Flucht zu wagen und wahrscheinlich zu sterben. Und die Entscheidung liegt allein bei dir. Ich kann nicht schwimmen. Nyr auch nicht. Ohne dich kommen wir nicht einmal lebend aus dem Brunnen heraus.«

»Was macht dich plötzlich so mutig, Schisser?« In den Augen Galars funkelte der Zorn. »Du hast das nicht gesehen. Das Grauen … die ganze Stadt. Sie alle sind tot. Unseretwegen! Verstehst du das? Wir sind es, die sie auf dem Gewissen haben.«

»Ich bin nicht mit blutigem Schwert in der Hand durch die Stadt gezogen, um Frauen und Kinder abzuschlachten!« Hornbori schaffte es nicht, ruhig zu antworten. Das Selbstmitleid des Schmiedes widerte ihn an. Da war ihm ja der alte Raufbold noch lieber gewesen. »Ja, wir haben den Drachen getötet. War das falsch? Haben wir nicht eine der Bestien erledigt, die das dort oben angerichtet haben? Willst du hier sitzen und jammernd und wehklagend verrecken? Oder willst du dir ein Herz fassen, hinausgehen und versuchen, den nächsten Drachen zu töten, bis irgendwann keiner von diesen tyrannischen Mordbrennern mehr übrig ist?«

»Nicht wir werden die Drachen besiegen«, sagte Nyr voller Inbrunst. »Wir sind nur die Hüter. Er wird es sein. Der Kleine. Seht ihr das nicht? Er hat das Massaker überlebt. Als Einziger von allen dort oben. Er wurde von einer von denen gerettet, die gekommen sind, um ihn zu töten. Und jetzt säugen wir ihn mit Drachenblut. Er wird es sein, der die Drachen vom Himmel vertreibt.«

Was für ein pathetischer Unsinn, dachte Hornbori. Aber nützlicher Unsinn. »Da ist etwas dran. Er ist vom Schicksal auserwählt. Und wir drei sind seine Hüter.«

»Dem Alten in der Tiefe ist ein Sohn geboren worden«, fuhr Nyr fort, und seine Augen strahlten, während er sprach. »Bestimmt ist es der Kleine hier. Ein Kind von königlichem Geblüt. Der künftige Herrscher aller Zwerge.«

»Geht es euch beiden noch gut?«, empörte sich Galar. »Der Kleine ist irgendein namenloser Wicht. Seht euch doch die Sachen an, in denen uns die Elfe ihn gebracht hat. Billiges Leinen. Ich habe seine verschissenen Windeln gewaschen. Da war nirgendwo eine Krone eingestickt.«

Nyr runzelte die Stirn. Hornbori wusste, er würde den Richtschützen jeden Augenblick verlieren. »Der vergisst, wer ihn uns gebracht hat. Eine intrigante Elfe. Bestimmt hat sie die Sachen vertauscht. Sie will nicht, dass wir wissen, dass er der Sohn des Alten aus der Tiefe ist. Elfen sind so.«

»Genau!«, bekräftigte Nyr.

»Sah die so aus, als sei sie auf Täuschung aus? Die war doch völlig fertig. Die hätte sich keine Zeit mehr genommen, irgendwelche Windeln zu wechseln, nur um uns zu täuschen.«

»Hast du sie dir so genau angesehen?«, konterte Hornbori. »Ich hatte den Eindruck, dass du den Blick kaum von dem Dolch abgewandt hast, der in deiner Kehle steckte.«

»Seid ihr völlig verrückt? Was soll dieser Unsinn? Ich kenne dich, Hornbori. Du glaubst doch selber nicht, was du da sagst. Und dir, Nyr, hat der Kleine den Verstand verdreht. Aber wenn wir hier lebend herauskommen wollen, dann brauchen wir vor allem eins – einen klaren Verstand.«

»Du hilfst uns also, durch den Brunnen zu kommen.«

»Ja, verdammt. Hier noch länger zu sitzen ist dumm. Wir gehen. Aber wir machen es so, wie ich sage. Vorsichtig! Mit einem hast du recht, Hornbori. Die Toten der Tiefen Stadt haben uns ein Vermächtnis hinterlassen. Wir müssen sie rächen!«

»Und den Jungen retten«, ergänzte Nyr.

Der Schmied seufzte. »Ja, das auch …«

»Wisst ihr, wie der Alte in der Tiefe seinen Sohn genannt hat?«

»Wir wissen doch gar nicht, ob er sein Sohn ist!«, begehrte Galar auf. »Könnt ihr mit diesem Unsinn aufhören?«

»Wir wissen auch nicht, dass er es nicht ist«, schmollte Nyr. »Ich bin davon überzeugt, dass die Elfe die Windeln und Tücher vertauscht hat, um uns hereinzulegen.«

»Ich glaube, der Alte aus der Tiefe hat noch kein Namensfest gefeiert. Dazu wäre ich bestimmt eingeladen gewesen«, sagte Hornbori. »Aber der Junge sollte trotzdem einen Namen haben.«

»Gute Idee!«, stimmte Nyr sofort zu.

Galar verdrehte nur die Augen.

»Wie wäre es mit Sindri?«, schlug Hornbori vor.

»Ich kannte mal einen Schmied, der so hieß«, brummte Galar. »Hat sehr besondere Ringe gemacht.«

Nyr schüttelte den Kopf. »Nein, kein Schmiedename. Das ist nicht das Richtige für einen Königssohn.«

»Draupnir, der Tröpfler. Das passt doch gut zu einem Windelscheißer«, schlug Galar vor.

»Ich finde, sein Name sollte etwas aussagen«, griff Hornbori die Idee auf. »Tröpfler nennen wir ihn natürlich nicht. Wie wäre es mit … Frar, der Voranschreitende. Den Zwergenvölkern stehen schwere Zeiten bevor. Das wäre ein Name, der Hoffnung in sich trägt.«

»Ich finde den Namen gut.«

»Man merkt, dass Schönschwätzen dein Geschäft ist«, brummte Galar.

»Er braucht auch einen Heldennamen. So was wie Bluttrinker!« Nyr hob den Jungen begeistert hoch. »Frar Bluttrinker. Das ist ein Name, der seine ganze Kindheit in sich trägt.«

Hornbori räusperte sich. »Ich will ja nicht mosern, aber findest du nicht, dass man das falsch verstehen kann?«

Nyr sah ihn indigniert an. »Inwiefern?«

»Bluttrinker hört sich irgendwie nach einem Tyrannen an. Wie wäre es mit … Drachenhammer … oder Drachen …«

»Drachentod!«, rief Nyr. »Frar Drachentod, König der Tiefen Stadt.«

Hornbori wiederholte den Namen ein paar Mal, schmeckte ihn auf der Zunge und stellte sich vor, wie man ihn in den Hallen von Ishaven und anderen Zwergenstädten rief. »Hört sich gut an«, stimmte er zu. Natürlich würde der Kleine niemals ein König werden. Er, Hornbori, würde einmal herrschen. Aber der Junge mochte ein nützliches Werkzeug auf dem Weg zum Thron sein.

Nyr hielt ihn hoch. »Wir werden dich retten, Frar Drachentod. Und du wirst dereinst alle Zwergenvölker retten.«

Es tröpfelte aus der Windel auf das Gesicht des Richtschützen.

Galar lachte spöttisch. »Ich finde immer noch, Draupnir wäre der richtige Name für ihn.«

Gegen jede Vernunft

Gonvalon strich über den rauen Sandstein. Er hatte eine ungewöhnlich blassrote Farbe. Der Stein war weich. Er hatte sich gut bearbeiten lassen, aber er würde auch schnell verwittern. Kein halbes Jahrhundert und Wind und Regen hätten Nandalees Züge weicher werden lassen können. Wahrscheinlich geschah das deutlich schneller, als das Leben Nandalee veränderte.

Er hatte sie nach dem Gespräch mit den Meistern alleine gelassen. Obwohl sie so viele Rätsel barg, begann er zu spüren, wann sie etwas mit sich allein ausmachen musste.

Er wickelte die Lumpen von seinen Händen und begann die Werkzeuge einzusammeln, die er achtlos hatte fallen lassen, während er den Stein geformt hatte. Erste Konturen für die Skulptur waren angelegt. Es sollte eine Büste werden.

Je länger er den bearbeiteten Stein betrachtete, desto deutlicher erkannte er, ein wie unvollkommener Künstler er war. Die Proportionen stimmten. Er hatte keine groben Fehler gemacht. Auch hatte er den Stein richtig eingeschätzt. Er war nicht gerissen, und es gab keine Unregelmäßigkeiten. Aber die Büste würde nicht das Herz des Betrachters berühren, wenn sie vollendet war, das wusste er schon jetzt. Nicht wie die Skulpturen aus Licht und Wasser, die Eleborn erschuf, oder eines der Lieder Lyviannes. Er würde nur ein Abbild erschaffen, kein Kunstwerk.

»Der Stein sieht aus wie ich.«

Gonvalon fuhr herum. Sie machte sich einen Spaß daraus, sich an ihn anzuschleichen.

Nandalee grinste und biss in einen Apfel, den sie mitgebracht hatte. Die Wut und Verzweiflung, die sie ausgestrahlt hatte, als sie die Besprechung mit den Meistern verlassen hatte, waren wie weggewischt.

Sie trug das weiße Kleid einer Novizin. Schmucklos, ohne Stickerei und doch elegant. Es war maßgeschneidert, modellierte ihren schlanken Körper nach. Es saß so eng, dass Gonvalon nicht verborgen bleiben konnte, dass sie außer dem Kleid nichts trug.

»Wirst du mir wieder erzählen, dass dieses Bild von mir schon immer in diesem Stein gesteckt hat und du es nur noch befreien musstest?« Sie grinste ihn frech an.

»Ich glaube, ich werde mit jemandem, für den auch das Bogenschießen zur Kunst zählt, nie wieder ernsthaft über den Schaffensprozess eines Bildhauers reden. Und übrigens ist das eine Skulptur von dir und kein Bild.«

»Und warum nennst du dich dann Bildhauer?« Sie biss noch ein Stück aus dem Apfel und legte ihn dann auf den behauenen Stein. Nandalee trat dicht vor ihn und lächelte ihn auf ihre unvergleichliche Art an. Unschuldig und doch sinnlich.

Sie strich ihm mit ausgestrecktem Zeigefinger über die Brust. »Ich mag es noch immer, wenn du verschwitzt und voller Steinstaub bist.« Ihr Finger wanderte tiefer, bis zu seinem Lendenschurz. »Seit wann arbeitest du nicht mehr nackt?«

»Wenn ich mit Besuch rechne, versuche ich ein züchtiges Verhalten an den Tag zu legen. Das bin ich meinem Rang als Meister der Weißen Halle schuldig. Es könnte eine Novizin vorbeikommen …«

»So züchtig …« Sie lächelte. »Dabei dachte ich, Ihr genießt einen gewissen Ruf, gerade was Novizinnen angeht.«

»Und Ihr wagt Euch hierher, obwohl Ihr um meinen Ruf wisst.« Er legte seinen Arm um ihre Hüften und zog sie an sich. Sie roch nach Wald, als sei sie lange unter den Bäumen gewandert, bevor sie hierhergekommen war.

»Ihr ruiniert mein Kleid«, protestierte sie lächelnd.

»Nun, wie ich hörte, erwarten die Kobolde, die es waschen werden, ohnehin nur das Schlimmste von Euch.«

»Wollt Ihr damit andeuten, dass ich keinen guten Ruf genieße?« Ihre Hand fuhr unter seinen Lendenschurz.

»Dann passen wir wohl gut zusammen.« Lachend nahm er sie auf den Arm und trug sie zu dem Lager aus Moos und Blütenblättern, das er vorbereitet hatte. Er hatte gewusst, dass sie kommen würde.

Ihr warmer Atem streichelte seine Haut.

»Ich brauche dich«, flüsterte sie.

»Sind wir jetzt beim Du, holde Dame?«, neckte er sie.

Ihre Antwort war ein langer, leidenschaftlicher Kuss auf seinen Hals. Eine Welle heißer Glut verschlang ihn. Er ging in die Knie, legte sie ins Gras und begann die seidenbespannten Knöpfe ihres Kleids zu öffnen.

»Nun trägst du mein Zeichen«, sagte sie und strich über seinen Hals. »Damit die anderen Novizinnen nicht auf dumme Gedanken kommen.« Noch während sie sprach, löste sie seinen Lendenschurz.

Er gab den Kampf mit den Knöpfen auf und schob ihr Kleid hoch.

Nandalee zog ihn zu sich herab, küsste ihn erneut. Ihre Zunge strich über seine Lippen, drang tiefer. Sie presste sich gegen ihn, nahm ihn in sich auf. Ihre Hände krallten sich um seine Schultern. Er stöhnte auf, genoss ihre wilde Liebe. Sich ihr hinzugeben war eine Offenbarung. Sie war eine erfahrene Liebhaberin. Mal sinnlich lasziv, mal ungezügelt und fordernd. Nicht sehr romantisch. Ihre Liebe war wie ein wilder Bergbach, der einen erbarmungslos mit sich zu Tal riss, wenn man hineinstürzte. Und so, als sei er über Meilen durch Stromschnellen über ein felsiges Bachbett gezogen worden, fühlte er sich auch, als sie nach einem letzten Schrei auf seine Brust sank. Zerschlagen, voller blauer Flecke, tauchte er auf aus dem Fluss der Leidenschaft, der ihn alles andere hatte vergessen machen.

Er strich zärtlich durch ihr Haar. Sie war eingeschlafen. Ihr Atem ging schwer. Er mochte es, ihr Gewicht auf sich zu spüren, ihre warme, blütenzarte Haut.

Gedankenverloren blickte er zum Nachthimmel und wünschte, dieser Augenblick würde ewig währen. Er zog ihr dünnes Kleid über sie, um sie zuzudecken. Es war voller Grasflecken. Es würde nie mehr so weiß wie frisch gefallener Schnee erstrahlen.

Nandalee erwachte viel zu schnell. Sie gingen schwimmen, schreckten eine Entenfamilie auf, die kein Verständnis für nächtliche Liebende hatte.

»Es ist ungewohnt, dich ohne deine Tätowierung zu sehen«, sagte sie plötzlich und strich über seinen Rücken. »Das Schwert und der Drache … sie passten gut zu dir.«

Er drehte sich um, nahm sie in die Arme und küsste sie. »Ich habe jemanden gefunden, der viel besser zu mir passt.«

Plötzlich war ihr Blick voller Melancholie, voll unausgesprochenem Schmerz, der sein Herz berührte.

»Liebe mich noch einmal«, flüsterte sie und schlang die Arme so fest um ihn, als wolle sie ihn nie wieder loslassen.

Er hob sie aus dem Wasser und brachte sie zu ihrem Lager. Sie war wie ausgewechselt. Diesmal überließ sie sich ganz ihm. Sie liebten sich lange, zärtlicher als beim ersten Mal. Er zögerte den letzten Augenblick hinaus, bis es zu süßer Qual wurde.

Danach lagen sie lange eng umschlungen und blickten durch das schwarze Astwerk zum Sternenhimmel hinauf, vereint, in beredtem Schweigen.

Er war fast eingeschlafen, als sie sich vorsichtig aus seinen Armen löste. Gonvalon hielt seine Augen geschlossen. Er spürte, wie sie über ihm verharrte und ihn lange anblickte, sich dann tief vorbeugte und einen Kuss zu ihm hinabhauchte, ohne dass ihre Lippen die seinen berührten.

»Verlässt du die Weiße Halle sofort oder erst im Morgengrauen?« Er schlug die Augen auf. Sie wirkte überrascht, ertappt, verlegen.

»Sag nichts.« Er lächelte und stand auf. »Ich wusste, dass du gehen wirst.«

»Ich muss …« Sie schlug die Augen nieder. »Ich kann die Meinen nicht den Trollen überlassen.«

»Ich werde mit dir kommen. Alles ist vorbereitet. Ich werde dich nicht aufhalten. Waffen, Kleider und Ausrüstung liegen dort vorne im Gebüsch versteckt.«

Sie sah erschrocken aus. Entschieden schüttelte sie den Kopf. »Das geht nicht! Wenn du mit mir gehst, wirst du aus der Weißen Halle verbannt. Ich will dein Leben nicht zerstören. Ganz gleich, was du sagst, ich weiß, du bist gerne hier, und du …«

»Ich werde nicht zurückbleiben, um vor Sorge um dich zu vergehen.«

»Aber ich werde …«

»Du wirst dich ganz allein in den Königssitz der Trolle schleichen und vermutlich selbst bei dem Versuch umkommen, die letzten Überlebenden deiner Sippe zu retten.«

Ihr Antlitz verhärtete sich. Sie schob herausfordernd das Kinn vor, bereit, mit ihm zu streiten. »Hört sich nicht sonderlich vernünftig an, wenn man dich reden hört. Deshalb werde ich alleine gehen.«

»War es vernünftig, sich zwischen dich und den Goldenen zu stellen?«

Sie schluckte. »Du kannst nicht …«

»Gewöhne dich besser daran, dass ich von nun an immer an deiner Seite sein werde. Ich bin kein Drachenelf mehr. Mein Band mit den Himmlischen ist für immer gelöst, und ich werde auch die Weiße Halle verlassen. Aber ich bin immer noch ein Mörder. Eine schlechte Wahl für einen Hofball in Arkadien, aber genau der Mann, den du an deiner Seite brauchen wirst, wenn du in die Höhlen der Trolle hinabsteigst.«

Sie sah ihn qualvoll lange an, ohne ihn ahnen zu lassen, was sie dachte. Nun war es an ihr zu entscheiden. Er würde nicht noch einmal darum bitten, von ihr erwählt zu werden.

Eine einzelne Träne rann über ihre Wange. Wortlos streckte sie ihm ihre Hand entgegen.

Nebel stieg vom Waldboden auf, als sie sich schweigend ankleideten und ihre Waffen nahmen. Der Wald hüllte sich in feuchte Schleier. Vertrautes wurde fremd.

Gonvalon hatte nun endgültig mit allem gebrochen, was ihm in seinem Leben etwas bedeutet hatte. Es gab nur noch Nandalee. Und noch nie hatte er sich so frei gefühlt wie in dieser Nacht inmitten des Nebels, als er ihr gen Norden folgte, um gegen jede Vernunft das Schicksal herauszufordern.

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