Zweites Buch Das grüne Licht

Ein zweifelhaftes Geschäft

Nandalee blutete. Jede Faser ihres Leibes schmerzte und sie wusste nicht, wo sie war. Es war dunkel. Sie stand im Wasser und kämpfte gegen die Panik, die sie in ein orientierungsloses, schluchzendes Häufchen Elend verwandelte. Vor wenigen Augenblicken noch hatte sie in der Bibliothek gestanden und dann hatte sie das Gefühl gehabt, durch eine Wand aus Messern zu stürzen. Gepackt von etwas Fremdem, Körperlosem.

Die Elfe schloss die Augen. Öffnete all ihre anderen Sinne. Es war schwül hier. Das Wasser, in dem sie stand, war nicht kalt und roch faulig. Es reichte ihr bis knapp über die Knie.

Da war ein Tropfgeräusch. Blut aus ihren Wunden!

Sie streckte beide Arme aus und tastete ins Dunkel. Ihre Linke berührte etwas. Nandalee zuckte zurück. Ihre Handfläche war ein einziger flammender Schmerz. Und die Hand war verändert! Sie hielt sie sich dicht vor das Gesicht, konnte aber noch immer nichts erkennen. Näher und näher führte sie die Hand an ihr Antlitz, bis sie mit den Fingerspitzen ihre Stirn berührte. Sie stöhnte auf vor Schmerz – und dann kam die Erinnerung an das Letzte, was sie gesehen hatte, bevor sie durch das Fenster gezogen wurde. Die abgehobelten Fingerkuppen!

Nandalee wurde übel. Sie taumelte, rammte mit der Schulter gegen eine Wand und hielt inne. Sie durfte nicht aufgeben. Durfte sich nicht von Schmerz und Verzweiflung übermannen lassen!

Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang. Das hier war keine Höhle. Einmal glaubte sie Mauerfugen durch den Stoff ihres Ärmels zu spüren. Auch war der Boden, obwohl überflutet, sehr eben. Blut rann in ihr linkes Auge. Sie musste es immer wieder fortblinzeln. Nandalee fühlte sich schwach. Verblutete sie langsam? Sie wusste um den langsamen, schleichenden Tod durch Blutverlust. Als Jägerin hatte sie oft genug erlebt, wie sich ein Keiler oder Hirsch noch meilenweit schleppte, ehe er zusammenbrach. War es nun an ihr, diesen Tod zu sterben? Ein neuer Geruch mischte sich unter den Gestank nach fauligem Wasser. Sie konnte ihn nicht zuordnen. Er war angenehm. Wie Weihrauch … Und doch anders.

Nandalee lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und sank langsam in die Knie. Ihr war entsetzlich schwindelig. Wo war sie bloß gelandet? Das Wasser war angenehm warm und ein wenig schmierig, als sei es voller Algen. Wie ein Tümpel in der Sommerhitze.

Mit letzter Kraft kämpfte sie sich hoch und zwang sich dazu, weiterzugehen. Da war ein neues Geräusch. Ein Wispern. Jemand war hier. Ganz in der Nähe. Ein Lichtpunkt tanzte in weiter Ferne. Orangefarben. Zitternd.

Nandalee begann zu laufen. Da waren noch mehr Stimmen. Durcheinander. Melodische, klare Stimmen, wie ein Chor. Nur dass jede der Stimmen ein anderes Lied sang. Der Weg ins Licht schien endlos. Zweimal stürzte sie der Länge nach in das faulige Wasser. Ihre Kräfte schwanden. Was als Lauf begonnen hatte, wurde zu einem schwächlichen Torkeln, mit immer längeren Pausen. Sie schmeckte ihr eigenes Blut im Mund. Schwäche senkte sich betäubend auf all ihre Glieder. Sie wollte sich in das warme Wasser gleiten lassen. Die Augen schließen. Nur einen Moment lang, um dann mit neuer Kraft das letzte Stück des Weges zu schaffen. Das orange Licht war nun zum Greifen nah und der Chor aus fremden Stimmen lullte sie ein. Sie verstand kein Wort. Keine Sprache, die sie je gehört hatte, hatte geklungen wie dieser hundertstimmige Sprechgesang.

Nandalee ballte die Rechte zur Faust. Sengender Schmerz schoss durch ihre verstümmelten Finger. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie mit dieser Hand ohne Fingerkuppen nie wieder eine Bogensehne spannen würde. Das Fenster hatte ihr genommen, was ihr am meisten bedeutete. Das Einzige im Leben, in dem sie wirklich herausragend gewesen war. Ihr Schmerz verwandelte sich in Zorn. Sie stemmte sich hoch. Sie wollte wissen, wo sie war, und ihren singenden Peinigern all ihren Hass entgegenschreien. Und wenn es das Letzte war, was sie in ihrem Leben tat.

Nandalee stolperte in eine weite Halle. Fackeln und Feuerbecken ließen unstetes Licht über Säulen und Wände tanzen. Die Halle stand kniehoch unter Wasser. Blinzelnd betrachtete sie die Sänger. Seltsame Geschöpfe, elfenähnlich und doch auf groteske Weise anders. Lange, weit nach hinten gebogene Hörner wuchsen ihnen aus der Stirn. Sie hatten Gazellenbeine! Gelenke an den falschen Stellen. Es waren nur Frauen! Eine stand so nah bei ihr, dass Nandalee sie mit ausgesteckter Hand hätte berühren können. Die Augen der Sängerin waren so verdreht, dass man nur noch das Weiße sah. Sie war ganz in ihren langsamen Sprechgesang versunken. Die samtig weiche Stimme dämpfte Nandalees Zorn.

Alle Sängerinnen waren nackt. Und waren es auch wieder nicht. Sie hatten sich in schillernde Farben gewandet. Ihre Körper waren bemalt. Jeder auf verschiedene Art. Verschlungene Muster in Weiß, Scharlachrot, Dunkelblau und hellem Grau bedeckten ihre gebräunten Leiber. Träger Rauch trieb zwischen ihnen einher. In blauen, durchscheinenden Schlangen wand er sich zwischen den bemalten Leibern hindurch. Er wogte aus der Mitte des riesigen Saales, wo zwischen mächtigen Säulen etwas schwarz Glänzendes auf einem Sockel ruhte. Der Rauch roch so gut … so gut …

Das glänzende Ding bewegte sich. Nandalee erkannte eine riesige Schlange mit baumdickem Leib, die halb im Rauch verborgen lauerte. Plötzlich verstummten die Sängerinnen. Wie auf einen unhörbaren Befehl hin drehten sie alle den Kopf zu ihr. Ihre Augen blieben weiß… Nein, perlmuttfarben. Sie alle waren blind!

Ihr?

Hitze fuhr ihr durch alle Glieder, der Rauch verflüchtigte sich und offenbarte ihren Irrtum. Keine Schlange wand sich dort, sondern ein langer, geschuppter Schwanz. Der Schwanz eines Drachen. Er war groß. Unvorstellbar groß. Noch riesiger als die Himmelsschlangen, denen sie begegnet war.

Ihr erstaunt mich, Dame Nandalee.

Blaue Augen sahen durchdringend zu ihr hinab. Kommt her. Kommt zu mir.

Diese Augen! Es waren die Augen des Elfen, dem sie in der Höhle der Himmelsschlangen begegnet war. »Du bist der Dunkle«, flüsterte sie. Das Fenster hatte sie also tatsächlich zu ihm geführt.

Er streckte eine seiner Tatzen vor und eine seiner messerscharfen Krallen berührte ihre Stirn.

Es hat sich also nichts geändert.

Nandalee vermochte seinem Blick nicht standzuhalten. Sie sah auf das schwarze Wasser, begegnete dort seinem Spiegelbild – und sie sah sich! Ihr Gesicht war von Schnitten entstellt, ihre Nasenspitze verschwunden, eine Augenbraue eine offene Wunde. Entsetzt blickte sie auf ihre Hände … Die Fingerkuppen. Sie schluchzte auf – ihre Hände!

Wie habt Ihr den Weg hierher gefunden, Albenkind? Die Stimme des Drachen duldete keinen Gedanken, der nicht ihm galt. Nandalee vermochte sich nicht länger auf den Beinen zu halten. All ihre Kraft war versiegt. Sie sank auf die Knie. »Du hast mich hierhergebracht … Ich …«

Durch ihre Glieder fuhren tanzende Flammen. Der Drache lachte!

Ihr irrt, meine Holde. Tatsächlich hat Eure Andersartigkeit mich beschäftigt, aber seit einiger Zeit hatte ich nicht mehr an Euch gedacht. Seine Krallenhand fuhr erneut herab, legte sich sanft auf ihr Haupt, und nach dem heißen Strom seiner Gedanken war es nun Kälte, die sie durchfloss. Wieder kämpfte sie gegen Übelkeit an, dann wich die Kälte einer angenehmen Mattigkeit.

Die Windungen seines Schwanzes bewegten sich mit leisem, schleifendem Geräusch über den Fels. Wie habt Ihr den Weg zu mir gefunden? Sprecht!, befahl er, und sie erzählte ihm von Bidayn und der Kammer in der Bibliothek, vom Fenster und von Gonvalons Fluch.

Der Dunkle wiegte sein mächtiges Haupt und senkte es dann ganz nah zu ihr herab. Seine kalten blauen Augen hielten sie gefangen. Er bleckte die Zähne, glänzend weiße, spitze Dornen, jeder von ihnen so lang wie ein Arm. Er war ein Jäger. Ein Raubtier. Das machtvollste Raubtier, das sie jemals gesehen hatte. Zugleich war er ein Wesen, dessen Geist so unendlich viel mehr Wissen in sich beherbergte, als in der ganzen Bibliothek der Weißen Halle verborgen lag. Und zum ersten Mal in ihrem Leben erahnte Nandalee das Wesen der Drachen. Ihre Kraft. Ihre Klugheit. Ihre Schönheit.

Sanft zog der Dunkle sie mit seiner Kralle näher zu sich heran und sie ließ es geschehen. Ihr seid gefährlich, stellte die Himmelsschlange fest. Gefährlich, leidenschaftlich und im Ganzen sehr ungewöhnlich.

Nandalee verstand nicht. Sie war nicht gefährlich – sie war in Gefahr. War verstümmelt und aus ihrer Zeit gerissen. Und sie war nicht hergekommen, um ihn zu bedrohen, sondern um ihn um seine Hilfe zu bitten. Für ihre Vermessenheit hatte sie einen hohen Preis bezahlt. Die Narben dieser Nacht würde sie bis ans Ende ihrer Tage tragen.

Noch nie ist eine junge Elfe aus der Weißen Halle diesen Weg gegangen. Nodon und seine Drachenelfen, die hoch in den Felsen in einer Feste über mich wachen, wären entsetzt, wenn sie wüssten, dass Ihr so einfach an ihnen vorbeigekommen seid.

»Einfach?«, fauchte sie und hielt ihm ihre Hände entgegen. »Das nennst du einfach?«

Er musterte sie aufmerksam, fast liebevoll. Ich habe Eure Blutungen gestillt, aber Ihr werdet Narben an den Fingerkuppen und im Gesicht behalten, meine Holde. Sie sollen Euch bleiben, um Euch an Eure Unvernunft zu erinnern, der Ihr Eure Schönheit geopfert habt.

Der Gedanke, für immer entstellt zu sein, überwältigte sie. Wie würde sie in Zukunft aussehen? Würde Gonvalon sie noch lieben? Ein Narbengesicht? Warum hatte der Drache sie nicht geheilt? Das lag doch sicher in seiner Macht! Heiße Wut flammte in ihr auf. Sie war unvernünftig und launisch? Sie? »Welche Unvernunft? «, fuhr sie den Dunklen an. Sie war eine Jägerin wie er. Und sie würde sich nicht von ihm verspotten lassen. Auch dann nicht, wenn es ihr den Tod bringen würde. »Ich habe nichts Unvernünftiges getan! Das verdammte Fenster hat mich angelockt — und dann hat es versucht, mich zu töten!«

Der Drache sah sie durchdringend an. Es lag kein Zorn in seinem Blick. Eher Mitleid. Das glaubt Ihr wirklich, nicht wahr, kleine Elfe?

Kleine Elfe! »Es ist die Wahrheit!«, sagte sie.

Da waren sie wieder, die tanzenden Flammen in ihrem Inneren, die sie kitzelten, statt sie zu verletzen. Die Augen des Dunklen funkelten wie das Firmament über der Steppe Carandamons. Ja, die Wahrheit. So leicht wird sie beschworen. Mit so viel Leidenschaft. Wahr ist, dass Eure Freundin Euch von dem Fenster erzählt und Eure Neugier geweckt hat. Wahr ist auch, dass Ihr das Wort der Macht nicht kanntet. Aber Ihr wusstet, was das Fenster zu tun vermag – im Guten wie im Schlechten. Und da war ein Wunsch in Eurem Herzen, der heller brannte als Eure Furcht. Mit diesem Wunsch im Herzen seid Ihr in das verborgene Zimmer gegangen und habt Euch den Zauber des Fensters untertan gemacht. Wie soll ich das nennen? Hybris? Selbstüberschätzung?

Sie legte ihre Hand aufs Herz und senkte den Blick. Seine Gedanken hatten etwas in ihr zum Klingen gebracht, das sie nicht benennen konnte, und ihr Zorn war verraucht. »Ich schwöre, dass ich aus edlen Motiven gehandelt habe und nicht aus Eitelkeit und Eigennutz. Trotzdem bin ich bestraft worden.« Erneut hielt sie ihm ihre Fingerkuppen entgegen. »Ich bin eine Jägerin. Meine Hände sind mein Werkzeug. Ich habe das Fenster nicht beherrscht. Es hat mir mein Leben gelassen, aber es hat mir meine Bestimmung genommen. Und du willst sagen, ich hätte mir das selbst angetan? Unsinn!« Erneut hob sie den Blick und sah ihn herausfordernd an. Der Zorn kehrte zurück und trotzig spannte sie ihre Schultern.

Zorn glomm in den Augen des Drachen. Ja, das habt Ihr Euch selbst angetan. Ihr seid hier, ohne dass das Fenster Euch herbringen wollte, und Ihr seid hier, ohne dass ich Euch gerufen habe. Und wäre ich nicht bereit, Euch hier zu dulden, wäret Ihr längst in den Hort der Seelen eingegangen, bereit, Euch auf ein Neues in Fleisch zu kleiden und wiedergeboren zu werden. Seine Antwort durchfuhr sie wie eine Feuersturm. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. War sie wahnsinnig geworden? Wie konnte sie es wagen, den Erstgeschlüpften zu reizen?

Was also führt Euch zu mir?, fragte er, nun wieder sanfter.

Kurz rang sie mit sich, doch dann erzählte sie ihm von Gonvalon und dem Fluch, der auf ihm lastete. Dass er glaubte, dass jeder sterben müsse, den er liebte. »Ich möchte dich bitten, den Fluch von Gonvalon zu nehmen. Ich bitte nicht um meiner selbst willen. Ich fürchte den Tod nicht. Es zerstört Gonvalons Seele. Er könnte es nicht ertragen, wenn ich …«

Erneut durchdrangen sie die hüpfenden Flammengeister, heftiger jetzt, intensiver als zuvor. Der Spott in diesem Lachen spülte über sie hinweg wie eine Woge. Sie musste lächeln, obwohl sie es nicht wollte und sich des zynischen Untertons in seinem Gelächter bewusst war. Es war beängstigend, in seiner Nähe zu sein. Seine Gefühle waren größer als er selbst. Jede seiner Regung drang über ihn hinaus und riss jeden in seiner Nähe mit sich. Seine Gefühle waren so groß und übermächtig, dass sie alles andere um ihn herum auslöschten. War es ein Zauber, der sie so stark an seinen Gefühlen teilhaben ließ?

Dieser vermeintliche Fluch bedroht Euer Leben, aber Ihr bittet nicht für Euch, sondern für Gonvalon, der in Schwermut verfallen könnte, wenn Euch etwas zustößt. Habe ich das so richtig verstanden? Seine wunderbar blauen Augen hielten ihren Blick gefangen. Ist es das, was ihr Elfen Liebe nennt, meine Holde?

Was war denn das für eine Frage? Erstaunt sah sie ihn an und verlor sich in seinem Blick, der keine Distanz zu kennen und bis in ihr Innerstes einzudringen schien. Sie fühlte sich nackt vor diesen tiefblauen Seen, getragen von der Hitze seiner Gedanken. Beides war ein fremdes und angenehmes Gefühl. Verwundert schüttelte sie den Kopf und räusperte sich.

»Ja … kennst du die Liebe denn nicht?« Ihre Stimme klang in ihren Ohren ungewohnt sanft, fast mädchenhaft. In ihr war ein großes Staunen, das nicht ihr eigenes war. Mit einem Mal war sie traurig, und auch diese Trauer war ihr fremd.

Mir ist dieses Gefühl unvertraut. Wir Himmelsschlangen paaren uns nicht. Wir sind einzigartig. Das schließt jede Fortpflanzung aus. Vielleicht fehlt uns deshalb dieses Gefühl, ein anderes Geschöpf bis zur Selbstaufgabe zu lieben.

Sie trat von ihm zurück. Einen Schritt. Noch einen. Er war zu groß, um ihn ganz zu sehen, wenn sie so nahe stand. Der Rauch, der aus seinen Nüstern stieg, wogte über dem Wasser. Sie machte eine fahrige Bewegung, um den Rauch zu vertreiben. Es war, als betäube er ihre Sinne und triebe sie immer weiter fort von sich selbst.

Der Odem eines Drachen. Nur wenigen ist es beschieden, ihn zu atmen. Und Ihr flieht ihn. Es klang nicht zornig oder verletzt, stellte Nandalee fest. Nur erstaunt.

»Wirst du mir helfen?«

Ich vermag es nicht, Dame Nandalee. Es gibt keinen Fluch. Warum sollten wir einen der Unseren verfluchen? Gonvalon ist sein eigener Fluch, meine Holde..

»Das … Aber … Du kannst ihn nicht erlösen? Aber es gibt diesen Fluch wirklich. Die Schülerinnen, in die er sich verliebt — sie sterben. Alle … Das ist nicht eingebildet. Und es ist ganz gewiss nicht Gonvalons Werk. Er zerbricht an dem, was geschieht. Ich muss ihm helfen. Ich muss …« Sie sah sich hilfesuchend um. Der Sprechgesang der Gazala war verstummt. Konnten die Seherinnen die Antworten des Drachen auch hören? Oder wussten sie nicht ohnehin um alles … Eine Hilfe wären sie ihr jedenfalls nicht. Sie wirkten völlig teilnahmslos. Nandalee hätte ebenso gut mit dem Drachen allein sein können. »Wird Gonvalon frei sein, wenn ich ihm sage, dass es keinen Fluch gibt? Wird er dann wagen, mich ohne Vorbehalte zu lieben?«

Ihr fragt mich, der ich Euch sagte, dass ich die Liebe nicht kenne! Der Rauch wich zurück. Sie konnte seine Gefühle nicht mehr spüren. Er beugte sich vor, bis sein Kopf dicht über dem Wasser war. Sein Antlitz war zu fremd, um darin lesen zu können. Sah sie Schmerz darin? Sie wusste es nicht.

»Aber du bist weise!«, beharrte sie. Es musste doch etwas geben, das helfen konnte! Ihr Weg hierher konnte doch nicht vergebens gewesen sein!

Der Dunkle schwieg, und die Zeit verging. Nandalee wartete, doch nichts geschah. Dann gab sie auf. Sie würde selbst einen Weg finden müssen. Und vielleicht, so dachte sie, war das auch besser so. Sie und Gonvalon, sie würden diesen Weg finden. Sie brauchten dazu keinen Drachen, der alles über die Welt wusste und doch das Gefühl nicht kannte, das sie mit dem Schwertmeister verband!

»Dann werde ich jetzt gehen«, sagte sie. »Leb wohl.«

Mit einem Ruck peitschte der Schweif des Dunklen das Wasser und der Drache richtete sich turmhoch auf. Wie ein sengender Blitz durchdrang seine Stimme ihren Körper.

Seid Ihr Euch der Kraft nicht bewusst, die Euch innewohnt, Dame Nandalee?

Sie musste all ihre Selbstbeherrschung aufwenden, um nicht Hals über Kopf fortzulaufen.

Ihr seid keine Elfe, wie die Alben sie erschaffen haben. Ihr seid über ihre Schöpfung hinausgewachsen. Eure Wünsche vermögen Gestalt anzunehmen. Ihr webt Zauber, ohne Euch dessen bewusst zu sein. Ihr habt auch dem Fenster Euren Willen aufgezwungen. Vielleicht sollte sogar ich mich vor Euch fürchten? Seid Ihr zornig auf mich? Jetzt, in diesem Augenblick? So wie Ihr zornig auf Sayn gewesen seid, als er starb?

Die Worte hallten wie Donner in ihr nach. Er hatte sie erschreckt. Fast schien es ihr, als umkreisten sie einander wie Jäger und Beute. Was tat er mit ihr? Sie hatte ihm doch gesagt, dass sie jetzt gehen würde! Nandalee ballte die Fäuste. Hatte der Dunkle recht? War sie aus eigener Kraft hierhergekommen?

Der Kopf des Drachen ragte hoch über ihr, wie ein Raubvogel, der jederzeit bereit war, herabzustoßen. Alle Muskeln in Nandalees Körper waren jetzt angespannt. Alles in ihr schrie nach Flucht. Sie stemmte sich gegen diesen Impuls – und wich keine Handbreit zurück. Sie würde sich nicht einschüchtern lassen! Auch nicht von einem Drachen. Sie wusste, wer vor einem Raubtier floh, war tot. Man musste ihnen die Stirn bieten.

Eure Macht ist eindrucksvoll, Dame Nandalee. Sie reicht weit über das hinaus, was Eure Schöpfer Eurem Volk einmal zugedacht hatten. Mir bereitet es immer wieder aufs Neue Freude, Euch zu studieren.

Nandalee schluckte. Gerade noch hatte der Kampfgeist in ihr gelodert wie ein helles Feuer, jetzt fühlte sie sich klein und unbedeutend unter seinem Blick. Sie sah sich um. Versuchte, einen Blick auf die blinden Seherinnen zu erhaschen. Warum waren sie alle Frauen? Was wollte der Drache von ihr?

Ich will, dass Ihr mir zu Diensten seid, meine Holde. Wie ich hörte, ist der Weg vom Albenstern zur Blauen Halle nicht vor Euren Blicken verborgen geblieben, obgleich die Elfen der Blauen Halle als Meister der Täuschung gelten. Nun wünsche ich, dass Ihr auch mir etwas enthüllt, das verborgen bleiben soll.

Nandalee sah verblüfft zu dem Drachen auf. Woher wusste er davon? Nur sie und Gonvalon waren dort gewesen! Hatte er etwa …?

Ja, Gonvalon hat mir und meinen Brüdern davon berichtet. In der Nacht, in der ihr von der Blauen Halle zurückgekehrt seid, ist er vor das verborgene Fenster getreten. Er war tief beeindruckt von Euch und Eurer Entscheidung.

»Aber woher weißt du …?«

Was Ihr gedacht habt? Er zwinkerte ihr zu. Nein, ich kann immer noch nicht in Euren Gedanken lesen. Aber Ihr seid zu unbeherrscht, Nandalee. Eure Gedanken waren leicht von Eurem Antlitz abzulesen. Ich habe Wut und Enttäuschung gesehen. Sie haben mir verraten, an wen Ihr dachtet. Aber lassen wir das. Werdet Ihr bleiben und mir zu Diensten sein? Seinen Worten folgte ein Gefühl, als wehe ein klarer, frischer Wind durch ihre Gedanken. Der Drachenodem hatte sie erneut eingehüllt. Er trieb irgendein Spiel mit ihr, das sie nicht durchschaute. Und dazu gehörte, dass sie nun frei entscheiden konnte. Aber konnte sie das wirklich? Erneut dachte sie an die Gazala. »Werde ich mich verändern? Werde ich sein wie sie? Dein blindes Werkzeug?«

Wieder lachte er. Die Gazala sind unsterblich, so wie ich. Sie haben kein Bedürfnis, bei Männern zu liegen. Nur drei von ihnen sind nicht blind – und es macht sie zu den am wenigsten zuverlässigen Prophetinnen. Die Welt, die sie umgibt, lenkt sie ab, deshalb sind sie hier, wo niemand sie stört. Ihr Zweck ist es, in die Zukunft zu blicken und zu berichten, was sie sehen. Das Gegenwärtige soll sie nicht berühren. Nein, meine Holde, Ihr werdet nicht wie sie. Die Gazala gehören mir, sie wurden für mich erschaffen. Ihr Elfen aber gehört allen Himmelsschlangen. Zunächst … Bis der Tag kommt, an dem ihr Drachenelfen werdet. Dann entscheiden wir, zu wem Euer Charakter am besten passt und künftig werdet ihr nur noch einer einzigen Himmelsschlange dienen. Treu bis in den Tod. Ihr seid unsere Krallen, Dame Nandalee. Unsere Henker, die unsere Urteile vollstrecken. Und ja – Ihr werdet Euch verändern. Ihr werdet nicht sein wie die Gazala. Ihr werdet Euch selbst kennenlernen. Ihr werdet Euch beherrschen lernen und Ihr werdet lernen, nicht für jeden in Eurer Nähe eine Gefahr zu sein.

Jetzt schien es ihr, als ob er lächelte.

Ich will ein Jahr Eures Lebens. Ihr bleibt hier. Das ist der Preis.

»Was …?« Nandalee erstarrte. Sie sollte hierbleiben? Er wollte sie nicht gehen lassen? Und wofür war sie ihm etwas schuldig? »Der Preis für was?«, platzte sie heraus.

Es ist der Preis für meine Gesellschaft, Dame Nandalee. Der Preis dafür, dass Ihr meinen Hort wider jede Vorsicht durch den Einsatz einer Magie betreten habt, die Ihr nicht beherrscht. Es ist der Preis für zu viel Talent und zu wenig Verstand und Selbstbeherrschung. Ihr werdet auch lernen, Euch zu zügeln, meine Holde. Ihr habt mich überrascht und Ihr könnt mir nützlich sein. Überrascht mich weiterhin, meine Holde. Im Gegenzug mache ich Euch meine Aufmerksamkeit zum Geschenk. Ihr dürft mich alles fragen, und Ihr werdet einem Drachen näher kommen als wohl je ein sterbliches Wesen zuvor. Ein Jahr Eurer Zeit ist ein geringer Preis für Euer Leben, denn wenn Ihr bleibt, wie Ihr seid, meine ungestüme Holde, dann wird Gonvalon schon sehr bald eine weitere seiner Schülerinnen sterben sehen.

»Ein Jahr …« Sie dachte an Gonvalon. Welche Qualen würde er erdulden, wenn er entdeckte, dass sie verschwunden war? Nandalee war klar, dass sie im Augenblick keine Wahl hatte, als sich dem Drachen zu fügen. Ihn herauszufordern, oder auch nur zu verärgern, mochte sie ihr Leben kosten. Sie verstand nicht, warum dem Dunklen an ihr gelegen war, aber wenn sie Gonvalon je würde wiedersehen und von seinem Schmerz erlösen wollte, musste sie sich fügen. Dann konnte sie noch immer nach einem Weg suchen, dieser Halle zu entfliehen. Sie sprach jetzt mit fester Stimme. »Ich bleibe. Ich füge mich deinem Befehl. Aber du musst Gonvalon eine Nachricht zukommen lassen. Er muss wissen, dass es mir gut geht.«

Für einen Augenblick hatte Nandalee Freude gespürt. Sie war erneut eingetaucht in das Gefühl des Drachen, und als sie gesagt hatte, dass sie bleiben würde, war ihr nach Lachen zumute gewesen. Als hätte sich nach langen Jahren der Einsamkeit ein Gefährte gefunden, der ihr zur Seite stand. Doch dann hatte dieses Gefühl sich schlagartig verändert. Jetzt war sie … erstaunt. Enttäuscht. Und … gekränkt? Sie ballte ihre Fäuste und grub sich die Nägel ins Fleisch ihrer Hand – und dann kam der Zorn. Der schuppenglänzende Hals des Dunklen fuhr hernieder, messerscharf blitzten seine Reißzähne und in seinen Augen toste ein Sturm. Wer glaubt Ihr zu sein, mit mir zu feilschen und mir Eure Wünsche abtrotzen zu wollen? Wer kann von sich sagen, dass ihm ein Zeuge der Schöpfung Rat schenkte? Erkennt, wie viel Euch geschenkt wurde! Zerstört nicht alles durch Eure Maßlosigkeit!

Nandalee krümmte sich vor Schmerz unter der Gluthitze seiner Gedanken. Sie rang nach Atem und ihr Blut schien zu kochen. »Aufhören«, keuchte sie. »Hör auf!«

Der Sturm in den Drachenaugen verebbte und die Hitze verging. Einmal mehr streckte der Dunkle seine Kralle nach ihr aus, und kurz schien es ihr, als wolle er ihr damit das Haar aus der Stirn streichen. Doch dann hielt er inne und zog sich zurück.

Ich werde Euch lehren, Euch zu schützen, Dame Nandalee.

»Weshalb?«, flüsterte sie. »Weshalb tust du das?« Und weshalb quälst du Gonvalon? Aber diese Frage getraute sie sich nicht zu stellen. Sie vermied sie instinktiv, wie ein Fuchs, der in seiner Höhle zur Bewegungslosigkeit erstarrte, wenn ein Wolf ihn jagte.

Mir liegt an Euch, meine Holde. Ich werde Euch lehren zu leben. Und wenn der Tag kommt, an dem Ihr entscheiden werdet, was Ihr mit diesem Geschenk des Lebens zu tun gedenkt, werde vielleicht ich es sein, der etwas von Euch lernen wird.

Jetzt aber folgt mir, Dame Nandalee. Wir werden an einen Ort gehen, den vor Euch noch kein Elf betreten hat.

Sie verbeugte sich so tief, dass ihr Gesicht fast das brackige Wasser berührte. »Ich diene dir gern«, sagte sie.

Der Dunkle konnte nicht in ihren Gedanken lesen.

Ihm würde die Lüge verborgen bleiben.

Ein Fass mit Schweineschmalz

Voll gespannter Erwartung begutachtete Galar die Speerschleuder, die Nyr erschaffen hatte. Eine Waffe voller Kraft und sogar von gewisser Eleganz. Der stählerne Bogen schimmerte in der hellen Mittagssonne. Nyr streichelte über das polierte Holz der Waffe. Dann nahm er den Speer, den er verschießen würde. Mit kritischem Blick prüfte er den Schaft. Seine Hand glitt über das glatte Holz. Galar war sich sicher, dass sein Freund schon ein Dutzend Mal überprüft hatte, ob der Speerschaft gerade war.

»Und dieses Ding taugt was?«, fragte er herausfordernd.

Nyr bedachte ihn mit einem giftigen Blick. Sein Freund sah noch hagerer aus als sonst. Seine Wangen waren eingefallen, dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. »Das ist die beste Speerschleuder, die je von den Händen eines Zwerges geschaffen wurde. Du wirst keine vergleichbare Waffe finden!«

»Auch nicht bei den Elfen?«, mischte sich Hornbori ein. Der Stutzer trug seinen Helm mit den Goldenen Schwingen, sein Bart war frisch frisiert und er roch nach dem Met, den er zum Frühstück gehabt haben musste. Sein Gürtel spannte sich straffer. Der Mistkerl trug ein gutes Kettenhemd aus kleinen, dicht miteinander verwobenen Ringen. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, ihn auszuschließen. Er hatte sie beide in den letzten Monden mit Gold versorgt. Was immer sie gebraucht hatten, er hatte es aufgetrieben, und seine eigenen Schlachten auf Festbanketten und Saufgelagen ausgetragen. Galar betrachtete Hornboris leicht gerötete Nase. Auch er hatte seinen Preis bezahlt. Noch ein paar Jahre, und er würde ein aufgequollene, blaurot schimmernde Säufernase haben — was allerdings die meisten Zwerge nicht als Makel ansahen.

»Elfen weben Zauber in ihre Waffen. Oder sie bitten ihre Gebieter, die Drachen, es zu tun. Kein Zwerg kann es ihnen gleichtun, aber ich glaube trotzdem nicht, dass sie eine Speerschleuder wie diese besitzen. Siehst du das Räderwerk? Ein einziger Zwerg vermag diese Waffe zu spannen. Nur einer! Und solange es gut gefettet ist, arbeitet es leise wie eine schnurrende Katze.«

Hornbori ließ seinen Blick zu den neugierigen Gaffern schweifen, die sich versammelt hatten. »Tja, an helfenden Händen besteht tatsächlich ein beträchtlicher Mangel.«

Nyr nahm den Zynismus dieses Schleimers erstaunlich gelassen und visierte über die Führungsschiene des Geschützes sein Ziel an. Ein zwei Schritt hohes Fass voller Schweineschmalz, das, etwas mehr als fünfhundert Schritt entfernt, auf der anderen Seite der Schlucht stand, die man für die Schießübung ausgewählt hatte. Sie entsprach etwa den Gegebenheiten, die man beim Futterplatz des schwarz-gelben Drachen antreffen würde, den Galar sich als sein Opfer auserkoren hatte. Ihm war klar, dass es ein gewagtes Unterfangen war, einen Drachen dieser Größe erlegen zu wollen. Aber er brauchte mehr Material!

Galar hatte schon vor Monden fünfzig Goldstücke für jeden geboten, der Nachricht über einen großen Drachen mit einem festen Futterplatz bringen konnte. Einige Jäger hatten sich mit Berichten über Silberschwingen gemeldet. Es war zu einigem Ärger gekommen, weil Zwerge Silberschwingen gemeinhin schon als tödlich große Drachen betrachteten. Nur dem Eingreifen Hornboris war zu verdanken gewesen, dass der Streit ohne ein Duell geendet war. Aber zumindest hatten sie nun die Gewissheit, dass mehr Drachen einen immer gleichen Platz zum Fressen nutzten, als man vorher angenommen hatte.

»Was sind das für komische Holzflügelchen da hinten an dem Speer?«, fragte Hornbori.

»Schon mal ’nen Armbrustbolzen in Händen gehalten, du Stammtischheld?«, fragte Nyr, immer noch gelassen.

Hornbori blickte zu den übrigen Zwergen, die sich zu diesem Spektakel versammelt hatten. Sie hielten sich in einiger Entfernung, vielleicht weil sie befürchteten, dass Nyrs Wunderwaffe auseinanderfliegen würde, wenn man den Stahlbogen spannte. Sie standen gerade so weit entfernt, dass sie Zeit genug hätten, sich zu Boden zu werfen, wenn ein Unglück geschah. Und sie waren weit genug fort, um nicht zu hören, was die drei besprachen. Sie hatten ein Fass Pilz aufgebockt und waren in überaus aufgeräumter Stimmung. Drei von ihnen trugen goldene Flügel an den Helmen. Andere die schweren Halsketten, die das Würdezeichen von Ratsmitgliedern waren. Sicherlich waren sie allesamt gute Freunde von Hornbori.

»Hör mal gut zu, Meisterschütze. Unsere Zuschauer, die da hinten stehen, haben das Gold für diese übergroße Armbrust gegeben. Von ihrer Großmut hast du die letzten Monde über gelebt. Ich rate dir dringend, ein anderes Verhalten an den Tag zu legen, sonst ist der Goldstrom für immer trockengelegt! Außerdem solltest du besser treffen.«

»Wäre es nicht besser, wenn du hinten bei deinen Freunden stehst?«, lenkte Galar ein. Auch wenn er Hornbori nicht leiden konnte, musste er eingestehen, dass dieser recht hatte und dies der denkbar ungünstigste Zeitpunkt war, um einen Streit miteinander anzufangen.

»Wenn ich mich zu denen geselle – und meine Freunde sind beileibe angenehmere Gesellschaft als ihr beide –, glauben sie, dass ich Nyr nicht traue. Auch das wäre für die Zukunft fatal. Also kann ich nur bleiben und zu den Alben beten, dass ich den Schuss überleben werde.«

Nyr sah Hornbori abschätzend von den genagelten Sohlen bis hin zu den Goldenen Schwingen an. »Du meinst, du stehst mehr auf unserer Seite als auf der Seite dieser Großschwätzer da oben?«

Das Wort Großschwätzer ließ Hornbori deutlich sichtbar zusammenzucken. Besorgt blickte er zu den Geldgebern und winkte ihnen dann freundlich zu. »Gleich sind wir so weit!«

Nyr nickte. »Ganz ähnlich wie bei einem Armbrustbolzen stabilisieren diese Flügelchen, wie du sie nennst, den Flug. Der Speer dreht sich während des Fluges um seine eigene Achse. Dadurch gewinnt er an Zielgenauigkeit.«

»Wann gedenkst du zu schießen, Meisterschütze?«, fragte Galar, dem das alles schon zu lange dauerte. Er konnte tagelang ruhig auf der Lauer nach einem Drachen liegen. Aber unter den Augen der Stutzer fühlte er sich unwohl.

Nyr ließ sich nicht beeindrucken, steckte einen Finger in den Mund, hob ihn hoch und prüfte den Wind.

»Jetzt sag nicht, dass es vom Wind abhängt, ob wir einen Drachen erlegen!«, schnaubte Hornbori.

Nyr blickte ihn mitleidig an. »Auf über fünfhundert Schritt? Natürlich! Ein laues Lüftchen wie jetzt wird den Speer auf diese Distanz um mehr als zwei Schritt abdriften lassen. Wahrscheinlich würde ich den Drachen immer noch treffen – die Viecher sind ja nicht ganz klein – aber ich könnte nur grob vorhersagen, wo.«

Galar fluchte.

»Unsere Gäste werden langsam unruhig«, murmelte Hornbori. »Kannst du nicht ein bisschen danebenzielen, sodass du mit der Abdrift am Ende doch triffst?«

»Möchtest du schießen?«, fragte Nyr. Der Geschützmeister legte den Speer auf die gefettete Führungsschiene und begann über das Räderwerk den Stahlbogen zu spannen.

Galar spielte mit seinem Bart. Das Klicken und Klacken machte ihn ganz unruhig. Ihm war klar, wie sehr ein Fehlschuss ihrer Sache schaden würde. Er schwor sich innerlich, Nyr in Ruhe zu lassen. Man konnte ihm trauen! Ganz sicher! Er schoss fast nie daneben.

»Was tun wir eigentlich, wenn der Wind von uns aus zum Drachen weht?«, fragte Hornbori leise.

»Das wird dem Flug des Speers nicht schaden«, antwortete Nyr und ließ eine Sperre einrasten.

»Das meine ich nicht. Der Drache … Der riecht uns dann doch, oder?«

Galar zuckte die Schultern. »Wir werden uns mit Wolfsscheiße einschmieren, wenn wir uns auf die Lauer legen.«

»Was? Das … Das ist nicht … Das ist ein Scherz!«

»Nein, das ist mein voller Ernst.« Galar genoss das Entsetzen in den Zügen des Schleimers. »Willst du wie ein Zwerg riechen und gefrühstückt werden – oder wie ein Wolfshaufen und dem Drachen buchstäblich scheißegal sein?«

»Ich hasse dich!«

»Du könntest selbstverständlich auch in Erwägung ziehen, nicht mit uns zu kommen. Ich kann das verstehen. Wenn man erst einmal so weit aufgestiegen ist wie du, kann man sich natürlich nicht mehr alles in den Bart schmieren.«

»Ich muss mit — du weißt das. Ich …« Ein scharfes metallisches Klacken unterbrach ihn. Der Speer schnellte davon.

Galar hielt den Atem an. Alles hing davon ab, dass …

»Ja!« Nyr schlug mit der flachen Hand auf das Geschütz. »Getroffen! «

Der Speer steckte vibrierend in dem Fass. Von den Gaffern erklangen Beifallsrufe und sie hoben ihre Pilzhumpen zum Salut. Nyr verbeugte sich vor ihnen wie ein Geck, der sein Leben mit wirren Liedern und Geschichten verdiente.

»Komm!«, sagte Galar. »Sehen wir uns das Fass an!«

»Ich muss nach oben.« Hornbori lächelte zufrieden. »Die Pflicht ruft. Zu treffen war deine Aufgabe. Nun muss ich mich darum kümmern, die Begeisterung unserer Gönner noch etwas anzufachen.«

»Was kann man da noch anfachen? Es war ein guter Treffer. Du kannst mit deinen Reden auch nicht zwei Treffer daraus machen und überhaupt …«

Hornbori schnitt Nyr mit einer harschen Geste das Wort ab. »Du schießt. Ich kümmere mich um unsere Gönner. Jeder macht das Geschäft, das er versteht.« Mit diesen Worten stieg er den Hang hinauf.

»Lass ihn ziehen. Er tut seinen Teil der Arbeit. Und auch wenn er ein schmieriger Mistkerl ist, muss man doch eingestehen, dass er seinen Teil gut macht. Gehen wir zum Fass!«

Nyr spuckte aus. »Ich mag ihn wirklich nicht. Wir sollten da oben stehen und ein Pilz trinken! Der hat sich noch keinen Tag die Hände schmutzig gemacht.«

»Ach, komm schon«, sagte Galar und setzte sich in Bewegung. Er wollte genauer sehen, wie tief der Speer in das Fass eingedrungen war. Eine elende Kletterei lag vor ihnen. Den Hang hinab und auf der anderen Seite des kleinen Tals wieder hinauf. Nyrs Schuss war eine Meisterleistung gewesen. Ein Treffer auf eine halbe Meile! Galar kannte niemanden, der es seinem Gefährten gleichtun könnte. Er hörte, wie Nyr ihm folgte. Sie beide würden heute auch noch ihr Pilz trinken und feiern. Aber ohne die reichen Scheißer! Das war ihr Sieg!

Endlich erreichten sie das Fass. Auch wenn es sich äußerlich nicht von einem beliebigen Fass unterschied, verbargen sich viele Arbeitsstunden hinter den dicken Eichendauben. Der Treffer hatte es nicht umgeworfen und die durchbohrte Daube auch nicht splittern lassen. Von innen war das Fass mit Eisenblechen ausgekleidet. Und gefüllt war es mit halb gefrorenem Schweinschmalz. So kam es der festen Drachenhaut und dem zähen Fleisch der Bestien nahe. Einfach nur ein Fass zu nehmen und zu glauben, es genüge, es zu treffen, wäre naiv. Der Speer musste auch tief genug eindringen, um den Drachen zu töten oder ihn zumindest so schwer zu verletzen, dass er sich nicht mehr in die Lüfte schwingen konnte. Wenn sie ihn nicht mit dem ersten Schuss kampfunfähig machten, wären sie tot. Die gelb-schwarze Bestie wäre über ihnen, bevor sie Gelegenheit zu einem zweiten Schuss bekämen.

Skeptisch betrachtete Galar den Speer. Der Schaft war durch die Wucht des Aufpralls gesplittert. Die Spitze des Speers war nicht bis zum Schaft eingedrungen. »Wie lang ist das Stichblatt?«

»Acht Zoll«, sagte Nyr. »Was ist in diesem verdammten Fass? Steine? Der Speer hätte es durchschlagen sollen.«

Galar legte seine Hand an das leicht verbogene Stichblatt und versuchte zu schätzen, wie tief die Spitze eingedrungen war. Weniger als vier Zoll, schätzte er. Er würde das Fass in seine Werkstatt bringen lassen und dort genauer untersuchen. Vielleicht war nicht einmal das Eisenblech im Inneren durchschlagen. »Schlecht«, murmelte er. »Ganz schlecht.«

»Was ist los?«, schimpfte Nyr. »Such dir einmal einen, der so einen Schuss hinbekommt!«

Galar konnte verstehen, dass sein Freund aufgebracht war, aber ihr Experiment war gescheitert. Die Geldgeber durften das nicht erfahren! »Wenn das ein Drache und kein Fass gewesen wäre, wären wir jetzt tot. Der Speer wäre nicht tief genug eingedrungen, um ihn tödlich zu verwunden.«

Nyr trat neben das Fass. »Du solltest mir vorher Bescheid sagen, auf was ich schieße.«

»Auf einen verdammten Drachen! Du wusstest das.«

Der Geschützmeister zupfte nachdenklich an seinem Bart. »Was hast du in das Fass getan?«

Galar erklärte es ihm.

»Der Speer muss eine andere Spitze haben. Einen Dreikant am besten. Der wird das Eisenblech durchschlagen. Er wird sich auch nicht verbiegen. Und die Waffe muss noch stärker sein.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Weißt du, was das bedeutet? Wir fangen wieder ganz von vorne an.«

Priesterträume

»… Am nächsten Morgen aber, als die rotgoldene Sonne ihre Flügel am Horizont weitete, da wussten sie, dass die Macht des bösen Königs gebrochen war. Die Daimonen, mit denen er sich so leichtfertig verbündet hatte, waren in dieser Nacht gekommen. Und sie hatten Herzen und Seelen aller Grausamen und Habgierigen mit sich genommen. Die Rechtschaffenen aber und die, die fest zu ihrem Glauben standen, hatten sie nicht berühren können. Und die Sonne erhob sich über einer neuen Welt, in die Gerechtigkeit eingekehrt war.«

Barnaba beendete seine Erzählung und blickte in die Runde. Die kleineren Kinder waren in den Armen ihrer Eltern eingeschlafen. Der Kreis seiner Zuhörer war gewachsen. Die Lastenträger und Wasserweiber, Dienerinnen und auch einige der Karawanenwachen kamen Abend für Abend, um ihm zu lauschen. Zufriedenes Gemurmel breitete sich aus. Es war eine Geschichte gewesen, in der all die Hoffnungslosen, die Unterdrückten und Armen am Ende obsiegten.

Eine Frau, deren Gesicht von nässendem Ausschlag entstellt war, schenkte ihm einen Becher mit Wasser ein. Eine andere brachte ein Stück Fladenbrot und etwas lauwarmen Linsenbrei. Barnaba genoss das einfache Mahl und die freundlichen Worte. Größer konnte der Unterschied zum Leben an der Seite des Hohepriesters Abir Ataš nicht sein. Aller Luxus war verschwunden, Stolz und Hochmut vergangener Tage waren gewichen. Barnaba hatte gehört, dass der alte Priester in den Folterkammern des Unsterblichen gestorben war. Er wusste auch, wie grausam man die Elite der Priesterschaft verfolgt hatte. Aarons Bluthund Juba hatte ein schreckliches Gemetzel angerichtet und viele, die dem Hohepriester Abir Ataš weit weniger nahegestanden hatten als er, waren nun tot. Barnaba war klar, wie knapp er dem Verderben entgangen war. Bis ans Ende seiner Tage würde er Abir Ataš dankbar bleiben, dass dieser ihn am Morgen des Himmelsflugs der Elfe zurück zum Palast von Akšu geschickt hatte. Er war es gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass sie abstürzen musste. Er hatte alle Vorbereitungen zum Himmelsflug geleitet. Deshalb stand er an vorderster Stelle auf der Todesliste Jubas. Barnaba wusste, dass er noch immer gesucht wurde.

Er blickte sich unter den Karawanenbegleitern um, die sich in ihre alten Decken rollten und Schlaf suchten. Eine grauhaarige Alte fragte ihn, ob er noch etwas brauche. Er verneinte höflich. Im Leben dieser Menschen war alles knapp bemessen. Das Essen, die Zeit zu schlafen. Die Jahre, die sie leben würden. Alles! Und doch teilten sie um so viel großherziger als die Reichen und Mächtigen, in deren Welt er bisher gelebt hatte. Er verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Sie hatten keine Ahnung, wer sich da in ihrer Mitte verbarg. Wer sie als Schild benutzte. Barnaba hatte sich die Haare geschoren. Er ging als glatzköpfiger Wanderpriester. In Lumpen gehüllt. Ohne jeden Besitz.

Sein Blick wanderte zu den hell erleuchteten Zelten, die auf dem freien Feld vor den Ruinen der Karawanserei aufgestellt waren. Denen dort drüben fehlte es an nichts — so schien es zumindest auf den ersten Blick. Und doch fühlte er sich in vielerlei Hinsicht reicher. Er würde mit dem Blick auf den wunderbaren Sternenhimmel einschlafen. Und sie hatten nur ein Stück Stoff über sich.

Barnaba entschied, dass er morgen die Karawane verlassen würde. Sein eigener Vater würde ihn in dieser Verkleidung nicht wiedererkennen! Und doch war es klüger, vorsichtig zu sein. Auch durfte er die Menschen, die mit ihm Speis und Trank geteilt hatten, nicht in Gefahr bringen. Je länger er an einem Ort blieb oder mit denselben Leuten zusammen war, desto größer wurde die Gefahr, dass durch einen Zufall herauskam, wer sich in Wahrheit hinter dem zerlumpten Wanderpriester verbarg. Barnaba verschränkte die Arme hinter dem Kopf, lehnte sich gegen die Mauer, die noch einen letzten Rest der Mittagshitze in sich trug, und blickte zu den Sternen auf. Nie zuvor in seinem Leben war er so frei gewesen. Er dachte daran, in eine der abgelegenen Reichsprovinzen zu flüchten. Vielleicht in die Berge von Kush. Ganz sicher war er sich nicht, was er wollte. Zwei Träume rangen in ihm miteinander. Der eine war dem Wunsch nach Rache entsprungen. Er wollte Aaron, den Schlächter, und dessen Folterknecht Juba stürzen sehen. Gerne stellte er sich vor, wie er Nadelstich auf Nadelstich setzte, bis die beiden am Ende verblutet waren. Dazu gehörten die Geschichten über ungerechte Herrscher und die Nacht der Daimonen, die im einfachen Volk so viel Anklang fanden. Eine Nacht, die nur die Gerechten überleben würden … Er seufzte. Das war ein Traum! Wenn er Wirklichkeit werden sollte, müsste er letztlich nach Nangog. Barnaba hatte Geschichten über einen ehemaligen Satrapen gehört, der einen Kult um die Grünen Geister gegründet hatte und auch eine ominöse Göttin anbetete. Tarkon Eisenzunge hieß er. Angeblich gebot er über Wolkensammler und hatte eine Stadt im Himmel gegründet. Er hätte vielleicht die Macht, sich gegen einen Tyrannen wie Aaron aufzulehnen. Oder aber Muwatta, der Unsterbliche von Luwien. Barnaba seufzte. Träume! So fern der Wirklichkeit.

Seine Gedanken wanderten zu der Elfe. Selbst im Tod hatte sie noch schön ausgesehen! Er hatte Abir Ataš nicht alles über die Xana erzählt, jene Quellnymphe, die die unruhigen, fiebrigen Träume seiner Jugend beherrscht hatte. Es war eine mindere Lüge gewesen. Nein, genau genommen hatte er nichts Falsches gesagt. Er hatte einfach nur einen Teil verschwiegen. Den Teil, dass er dem Steuermann aus Aarons Zinnflotte noch ein zweites Mal begegnet war, als dieser schon zum Flottenbefehlshaber aufgestiegen war. Barnaba hatte ihn gesucht, weil er die Geschichte aus seiner Kindheit nicht vergessen konnte. Und er wusste nun, dass man den Xana in der Mittsommernacht begegnen konnte. Es war die einzige Nacht, in der sie für Menschen sichtbar wurden. Barnaba dachte an das Strahlen in den Augen des alten Seefahrers. Er hatte die Quellnymphe vor der Zeit wiedergesehen, weil er sein Schicksal in die Hand genommen und sich nicht ihrer Prophezeiung gefügt hatte.

Barnabas Blick ruhte auf den unerreichbar fernen Sternen und er wurde schläfrig. Konnte auch er es schaffen, einen Daimon zu finden? Eine Xana! Sie waren aus ihrer Welt verbannt worden, weil sie zu frei über die Zukünfte gesprochen hatten, die sie gesehen hatten, so hatte es ihm der Seefahrer erzählt. Man konnte die Xana an einsamen Bächen, Seen oder Wasserfällen in den Bergen finden. Weitab jeder Siedlung. An Orten, an die sich trotz ihrer Schönheit so gut wie nie ein Wanderer verirrte.

Der Seefahrer hatte so lebhaft von ihnen gesprochen! Von der unbeschreiblichen Schönheit, ihrem langen, goldenen Haar, den Augen voller Weisheit und Lebenslust. Wenn er einer solchen Frau begegnen könnte …

Barnaba seufzte. Was für ein schändlicher Priester er war! Seine Träume drehten sich abwechselnd darum, Buhlschaft mit einer Daimonin zu treiben oder Rache auszuleben. Wann würde er seinen Frieden finden?

Die Augen fielen ihm zu. Und in seinen Gedanken erstand wieder das Bild einer wunderschönen goldhaarigen Frau, die am Ufer eines Bergsees saß und ihr Haar kämmte.

Ein vergessener Stein

Sprachlos sah Nandalee sich um. Nie war sie an einem Ort wie diesem gewesen. Als sie aus dem Albenstern getreten waren, hatte sie der Winter empfangen. Unter ihnen lag ein wunderschönes grünes Tal. Doch sie mussten den Winter durchschreiten, um dorthin zu gelangen. Hundert Schritt maß die Strecke.

Der Winter war die Jahreszeit, die ihr am besten vertraut war. Es war die Jahreszeit, die in Carandamon am längsten währte. Aber dies hier war ein Winter ohne Härte. Es gab keine schneidenden Winde. Sonne brach sich funkelnd in den Eiszapfen, die von den Bäumen hingen. Viel zu viele Eiszapfen. Als habe jemand die Bäume mit Eis geschmückt. Nandalee lächelte über den absurden Gedanken.

»Fällt Euch etwas auf?« Der Erstgeschlüpfte hatte seine Elfengestalt angenommen. Er war wieder der Dunkle, so wie bei ihrer ersten Begegnung. Warum er seine Gestalt verändert hatte, hatte er nicht erklärt. Sie würde ihn auch nicht fragen. Ihn als einen Elfen neben sich zu haben war Nandalee angenehmer. So wirkte er weniger einschüchternd. Er war auf eine düstere Art attraktiv. Nur seine Augen hatten sich kaum verändert. Die geschlitzten Pupillen waren zwar verschwunden, doch das ungewöhnliche Blau war geblieben – die Farbe des Himmels an einem strahlenden Wintertag.

»Dies hier ist wie eine romantische Idee vom Winter. Kein wirklicher Winter.«

Der Dunkle nickte. »Das trifft es so ungefähr. Sie hat immer von Harmonie und von einer vollkommenen Welt geträumt. Die Wirklichkeit konnte sie nur schwer ertragen. Sie ist nur sehr selten von hier fortgegangen. Zwei Mal habe ich sie hier schon vergeblich gesucht. Ich hoffe, nun ist sie zurückgekehrt.«

»Wer?«

»Ich werde Euch keine Namen nennen. Ihr seid nur hier, um Euch umzusehen. Dieser Ort ist der Zufluchtsort einer Albe. Ihr werdet sie mögen, wenn wir ihr begegnen. Es ist unmöglich, sie nicht zu mögen, auch wenn sie ein wenig … konfus ist.«

Nandalee gehorchte. Sie sah sich um. Was erwartete er, dass sie fand? Er war ihr so unendlich überlegen … Sie verließen den falschen Winter und gelangten in einen überschwänglichen Frühling. Die Bäume ertranken in ihrer Blütenpracht. Singvögel wetteiferten miteinander. Eine leichte Brise trug Blütenblätter und Wohlgerüche mit sich. Sie sah junge Hasen neben einem Fuchs spielen, der ihnen friedlich zusah. Kein Ast war hier gebrochen. Kein Blatt abgerissen. Alles wirkte vollkommen – und absolut falsch. Sollte so eine vollkommene Welt aussehen?, fragte sich Nandalee. Ihre Welt war es jedenfalls nicht. Sie blickte auf ihre verschorften, schmerzenden Fingerkuppen. Das war die Wirklichkeit! Sie schluckte hart und versuchte sich nicht vorzustellen, wie ihr Gesicht aussehen musste.

Immer wieder sah der Dunkle sie forschend an. Waren es ihre Wunden oder wollte er etwas von ihr? Was sollte sie hier? Sollte er es ihr sagen! Sie würde keine Fragen stellen, dachte Nandalee trotzig. Keine einzige Frage! Und wenn sie sich die Zunge abbeißen musste.

Mohnblüten säumten einen Wildwechsel. Sie entdeckte einen einzelnen Fußabdruck in dunkler Erde. Er stammte vom Dunklen, wie es schien. Sie betrachtete die Fährte, blickte auf die Stiefel des Erstgeschlüpften.

»Sie ist nicht hier«, sagte der Drache endlich. »Ich würde sie spüren. Sie hat immer gute Laune.« Er senkte den Kopf.

Die Mohnblüten führten sie auf eine Lichtung. Sie waren im Sommer angelangt. Eine Spur von Gelb hatte sich unter das Grün des Grases gemischt. Auf Bäumen ganz in der Nähe hingen reife Früchte. Einer der Bäume trug Äpfel und Birnen gleichzeitig. Nandalee ärgerten diese Spielereien. Es war unnötig! War es Langeweile gewesen? So vieles hätte man auf dieser Welt noch verbessern können. Sie dachte an die Winternächte, in denen ihr Magen ihr ein Schlaflied geknurrt hatte.

Am anderen Ende der Lichtung erstrahlte ein seltsames silbernes Licht. Nandalee hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Ein wenig erinnerte es an die Tore, die sich bei den Albensternen öffneten. Doch dies hier war kein Lichtbogen. Es war eine schillernde Fläche. Ein wenig größer als sie. Etwas Verlockendes haftete ihr an.

»Gebt acht, meine Holde. Wenn Ihr durch dieses Licht tretet, werdet Ihr dem Hort der Seelen entrissen. Ihr entschwindet an einen Ort, an den ich Euch nicht folgen kann.«

»Was ist das?« Kaum dass die Worte über ihre Lippen waren, ärgerte sie sich. Sie hatte sich doch Schweigen gelobt!

»Die Alben nennen es das Mondlicht. Es ist von Geheimnissen umwoben. Selbst für die Alben. Ich kann spüren, dass jemand durch dieses Tor gegangen ist, aber ich glaube nicht, dass es die Herrin dieses Hains war. Sie hat Albenmark geliebt. Sie wäre nicht davongelaufen!«

»Und wenn sie doch der Versuchung erlegen ist?« Nandalee vermochte kaum den Blick von diesem Licht abzuwenden.

»Nein!«, entgegnete der Dunkle überraschend heftig. »Nicht sie! Ein fremder Zauber ist hier gewoben worden. Seinen Nutzen vermag ich nicht zu ergründen, aber ich spüre deutlich, dass etwas hier nicht stimmt.«

Nandalee dachte an Gonvalon. Obwohl er sie in jener Nacht, als sie aus der Blauen Halle zurückgekehrt waren, an den Goldenen verraten hatte. Sie hatte sich so sehr nach ihm gesehnt, als sie vor der Weißen Halle gestanden hatten. Gerade erst hatte sie sich für ihn aufgeopfert, darauf verzichtet, eine Meisterin in der Blauen Halle zu sein. Und was hatte er getan? Er war zu seinem Drachen geeilt, statt mit ihr zu verweilen. Ob er auch verraten hatte, was seitdem geschehen war? Ihr Herz sagte ihr, dass ihre Liebe sein Geheimnis geblieben war. An ihrem Verstand aber nagte der Zweifel. Sie wollte ihn wiedersehen! Entschieden wandte sie sich von dem silbernen Licht ab.

Ein vertrocknetes Blatt fiel ihr auf. Braunrot hob es sich vom satten Grün eines sommerlichen Haselbuschs ab. Sie betrachtete den Busch näher. Der Blattstängel war geknickt worden. Nur dieser eine. Sie spähte zwischen den Ästen hindurch. Ein Stein lag im Laub des Vorjahrs. Mit spitzen Fingern holte sie ihn unter dem Busch hervor und entdeckte darauf einen braunen Fleck. Sie witterte, leckte sogar daran.

»Was ist das, edle Fährtenleserin?«

»Eingetrocknetes Blut. Du hast recht; diese Lichtung ist nicht so friedlich, wie es scheint.«

»Wie konntet Ihr den Stein finden?«

Sie deutete auf das rotbraune Blatt. »Ein einzelnes welkes Blatt passt nicht in einen vollkommenen Sommer.« Mit diesen Worten gab sie ihm den Stein.

Auch der Dunkle schnupperte daran. Er sagte nichts. Stattdessen ging er zurück zum Albenstern. Nandalee sah sich noch einmal um. Sie konnte nichts Verdächtiges mehr entdecken. Keine Fährte im Gras. Es richtete sich schnell wieder auf. Nichts.

Der Drache hatte auf sie gewartet. »Jemand ist durch diesen Albenstern gegangen. Ich konnte das schon bei meinem ersten Besuch hier spüren. Es muss allerdings schon etliche Monde her sein. Ich werde versuchen, dieser Spur zu folgen. Die Aussichten auf einen Erfolg sind jedoch gering.«

»Und was mache ich? Soll ich etwa hierbleiben? Wir haben einen Pakt, dachte ich.«

Er sah sie lange an. So lange, dass Nandalee bewusst wurde, wie unangemessen ihr Tonfall gewesen war. Sein Blick war schwer zu deuten. Etwas stimmte nicht mit ihm, aber sie kam nicht darauf, was es sein könnte.

»Ich will Euch nicht in Gefahr bringen, Dame Nandalee«, sagte er schließlich.

»Bei allem Respekt«, sagte sie nun ein wenig demütiger, »aber sehe ich aus wie jemand, der für ein Leben an einem Ort vollkommener Harmonie geschaffen wurde? Lieber setze ich mich einer ungewissen Gefahr aus als der Gewissheit tödlicher Langeweile. «

Er wirkte nachdenklich. Sie konnte nur ahnen, wie weit fort er in Gedanken war. »An diesem Ort lebt eine Albe, Dame Nandalee«, brach er endlich das Schweigen. »Sie ist ganz anders als ich. Es ist schwer zu beschreiben, aber in ihrer Gegenwart gibt es keine Düsternis, keine Traurigkeit, keinen Zorn. Sie ist …« Er hob um Worte ringend die Hände. »Sie ist, als sei das unbeschwerte Lied einer Nachtigall zu Macht geworden.«

Nandalee runzelte die Stirn und zuckte vor Schmerz zusammen. Der Wundschorf ihrer Augenbraue war eingerissen.

»Ich mache mir Sorgen um sie. Es ist ganz und gar nicht ihre Art, diesen Ort zu verlassen. Ich muss herausfinden, wer hier war. Wer sie dazu gebracht hat, den Platz, der ihr am liebsten war, zu verlassen.«

In seinen Worten schwang ein beklemmender Unterton. Fürchtete er, dass der Albe etwas zugestoßen war? Einer der Schöpferinnen Albenmarks? Nein, das war ausgeschlossen, dachte Nandalee. Wer könnte einer Albe schon gefährlich werden! Und doch war der Drache unverkennbar in tiefer Sorge.

»Ich komme aus einer Sippe von Jägern«, sagte sie behutsam. »Wir sind Einzelgänger, aber wenn die Sippe in Gefahr ist, dann ordnen wir uns unter. Wir stehen zusammen und gehorchen dem Wort des Ältesten, bis die Gefahr gebannt ist.«

Der Dunkle sah sie durchdringend an. Was ging nur in seinem Drachenhirn vor sich? Hatte sie ihn etwa schon wieder verärgert?

»Ihr meint, ein Drache und eine Elfendame könnten eine Sippe sein?« Er blieb kühl, distanziert, und die Art, wie er sie ansah, mochte sie gar nicht. Es war ein Blick, unter dem sie sich bedeutungslos fühlte. Und wieder wurde ihr bewusst, wie entstellt sie aussah. Das Gesicht voller Schrammen, ohne Nasenspitze und mit einer abgehobelten Augenbraue.

»Wir wären wohl eine sehr kleine Sippe«, sagte sie leise und zerknirscht. Wie hatte sie so anmaßend sein können, sich mit einem der ältesten Geschöpfe Albenmarks auf eine Stufe zu stellen? Vielleicht, weil er Elfengestalt angenommen hatte …

»Das ist ein sehr fremder Gedanke für mich, Dame Nandalee. Er schmeckt bittersüß.«

Sie sah ihn verständnislos an. Sie wäre niemals auf die Idee gekommen, einem Gedanken einen Geschmack zuzuordnen. Ob er auch ihr einen Geschmack zugeordnet hatte? Er sah traurig aus, dachte Nandalee. Aber wahrscheinlich stand er weit über solchen banalen elfischen Gefühlen.

»Ihr betrachtet die Welt auf eine andere Art als ich. Wer immer hierherkam, hat viel Geschick aufgeboten, seine Spuren für mich zu verwischen. Er weiß, wie ich denke, und er weiß, wie er für mich unsichtbar wird. Euch hatte er nicht in seinem Plan bedacht, meine Dame. Ihr könntet bei dieser Jagd tatsächlich ein großer Gewinn für mich sein.«

Zum ersten Mal, seit sie ihren Pakt geschlossen hatten, lächelte der Dunkle und ein Gefühl tiefer Zuneigung berührte sie. Scheu blickte sie in seine himmelblauen Augen. Er lächelte noch immer. Ein wenig anders nun. Verschwörerisch, als teilten sie ein Geheimnis. Hatte er ihre Gedanken auch jetzt an ihrem Gesicht abgelesen?

»Dann kommt mit mir und lasst uns die Vernunft vergessen.«

Bei den Worten überlief Nandalee ein Schauer. Waren sie zweideutig gemeint oder hatte nur sie es so verstanden?

Der fremde Körper

Der Albenstern schloss sich und Dunkelheit umfing Nandalee. Ihr Weg hatte sie in eine Höhle geführt. Die Elfe überfiel das beklemmende Gefühl, tief unter der Erde zu sein.

Er ist hier angekommen und nicht mehr fortgegangen. Die Stimme des Dunklen floss wie flüssiges Feuer durch ihr Innerstes. Er ist mehrfach durch diesen Albenstern in die tiefe Stadt getreten, hat sie auf diesem Weg aber nie verlassen. Es scheint, als wolle er seine Spur verwischen.

Nandalee hatte das Gefühl, als drücke ein gewaltiger Stein auf ihre Brust. »Sind wir hier in einem Berg?«

Der Drache nickte gedankenverloren. Ja. Ein Berg. Eine große Zwergensiedlung.

Nandalee fühlte sich immer unwohler. In der Höhle des Schwebenden Meisters hatte sie es aushalten können. Dort war der Himmel nicht fern gewesen und bei ihren Lektionen hatten sie im Freien gesessen. Hier aber war die Luft abgestanden. Das allein war schon Beweis genug, wie fern sie dem Himmel sein mussten.

Geht es Euch nicht gut, Dame Nandalee?

»Doch!«, entgegnete sie hastig. Sie wollte keine Schwäche zeigen. Bevor der Albenstern sich geschlossen hatte, hatte sein Licht die Höhle erfüllt. Sie war nicht sonderlich groß. In den Wänden befanden sich Nischen, deren Innenseiten gänzlich mit violetten, weißen oder grünen Kristallen ausgekleidet waren.

Kammer der kommenden Offenbarungen nennen die Zwerge diesen Ort.

»Du warst schon einmal hier?«

Nein. Aber jede ihrer großen Bergstädte hat eine Höhle wie diese. Nur sehr wenige Zwerge vermögen Albensterne zu öffnen. Sie gehen andere Wege. Aber sie glauben, dass sie eines Tages die Kunst des Zauberwebens meistern werden.

»So wie wir Elfen?«

Er fauchte unvermittelt und gänzlich unelfisch. Wir sind nicht gekommen, um zu plaudern. Zügelt Euch!

Sein unvermittelter Zorn traf sie bis ins Innerste. Wie eine Glutwoge floss seine Wut durch ihre Glieder.

Von hier an brauche ich Eure Hilfe. Ich vermag Spuren zu folgen, die Zauber im feinen Gewebe der allumfassenden Weltenmagie hinterlassen haben, aber auf blankem Fels nutzt mir dieses Wissen nichts. Dies ist Eure Aufgabe.

Nandalee schluckte. »Das kann ich nicht. Ich …«

Das akzeptiere ich nicht.

Sie schluckte, wagte kaum zu antworten, um ihn nicht noch mehr zu erzürnen. »Aber ich sehe kaum etwas«, flüsterte sie kleinlaut.

Ein Wort des Drachen und blasses blaues Licht schlug aus dem Boden um sie herum. Sie sah sich um und war froh, diese Stimme aus flüssigem Feuer nicht mehr in sich zu spüren.

Es lag kein Staub in der Höhle und der Boden bestand aus geglättetem Fels. Selbst mit Licht war es unmöglich, etwas zu finden! Was würde er tun, wenn sie keine Spur entdeckte? Was … Sie hielt inne und kniete sich nieder. Auf dem polierten Boden gab es eine winzige Schramme. Kaum einen Schritt weiter noch eine. Eine dritte folgte.

Was seht Ihr?

»Hier muss jemand mit genagelten Stiefeln gegangen sein. Ich glaube, einer der Nägel steht vor. Er muss wohl etwas länger als die übrigen sein. Jedes Mal, wenn der Besitzer dieser Stiefel auftritt, muss es knirschen. Er hinterlässt in der Tat eine Spur. Er scheint ziemlich schwer zu sein!«

Schwer. Das Wort war wie eine kalte Flamme. Ganz anders als zuvor. Was dachte er? Was hatte sie angestoßen?

Wir folgen ihm.

»Das ist aussichtslos.« Kaum waren die Worte über ihre Lippen, bereute sie sie schon. Sie wollte ihn nicht enttäuschen. Nicht überflüssig sein. »Wir … Ich kann der Spur nicht folgen. Ich …«

Warum? Ein Wort wie ein glühendes Messer.

Wie sollte sie das einer Kreatur erklären, die zwar ein Jäger war, aber offensichtlich nur Spuren im magischen Netzwerk folgte? Höflich und respektvoll! Sie sollte ihn auch bitten, nicht in Gedanken mit ihr zu sprechen, sondern so wie im Tal der Albe. Ganz normal. Schließlich hatte er ja Elfengestalt angenommen und …

Sein bohrender Blick ließ sie in ihren Gedanken innehalten. Es war dumm, einen Drachen warten zu lassen!

»Ich werde die Fährte draußen in den Tunneln verlieren.« Das hörte sich an, als sei sie völlig unfähig. »Ich … So einer Spur kann man nicht folgen. Ich habe einmal einen alten Wolf gejagt. Ein gerissenes Vieh. Es war im Winter. Zwei Tage bin ich ihm über Stock und Stein gefolgt und habe ihn doch nie zu Gesicht bekommen. Aber es ist leicht, eine Spur im Schnee zu lesen. Am dritten Tag kam ich in ein weites Tal, durch das eine Büffelherde gewandert war. Sie hatte eine weite Furche durch den Schnee gepflügt. Der Wolf ist ihrem Weg gefolgt. Seine Fährte verlor sich zwischen Tausenden anderen. Genauso wird es hier sein. Wer immer es ist, dem wir nachspüren – wir werden die Fährte verlieren, wenn wir in belebtere Gegenden der Höhlenstadt kommen. Er wird nicht der Einzige mit unregelmäßig genagelten Stiefeln sein. Es ist aussichtslos! « Sie hatte mit gesenktem Blick gesprochen und sich bemüht, nicht lehrmeisterlich zu klingen.

Der Dunkle schwieg.

Hatte sie etwas falsch gemacht? Wie dachte ein Geschöpf, das alt wie die Welt war? Wie empfand er es, von ihr belehrt zu werden? Ein Schauer überlief sie.

Ich werde weitersuchen.

»Und ich?«, fragte sie mit tonloser Stimme. »Kann ich mitkommen? «

Der Blick seiner blauen Augen traf sie wie kalter Stahl. Ein recht unbedachter Wunsch, Dame Nandalee. Der Wunsch nach einer Transformation.

Sie sah ihn verwirrt an. Was meinte er? Sie hatte sich doch lediglich gewünscht, ihn begleiten zu dürfen, obwohl ihr jetzt klar wurde, dass sie für ihn vermutlich nur ein Klotz am Bein sein würde.

Wir werden uns unserer Umgebung anpassen und die Gestalt und den Geruch von Zwergen annehmen. Das bedeutet, ich werde Euch dichter werden lassen.

»Dichter?«

Stellt Euch vor, es ist die gleiche Menge von etwas, nur auf kleinerem Raum. Wenn ich Eure Gestalt wandele, ist das kein Blendwerk. Jeder Knochen verformt sich. Eure Muskeln und Nerven werden kürzer. Es sind unglaubliche Schmerzen. Und wenn das überstanden ist, werdet Ihr Euch anfangs in Eurem neuen Körper nicht zurechtfinden. Ihr werdet Euch unbeholfen bewegen. Und natürlich beherrscht Ihr auch nicht die Sprache der Zwerge. Ihr werdet also schweigen.

Seine Worte waren gleißender Schmerz und Nandalee keuchte, als er dicht vor sie trat. Seine Augen veränderten sich – jetzt waren es wieder die geschlitzten Drachenpupillen, in die sie blickte. Er legte eine Hand auf ihre Stirn, sie war warm und schwer zugleich. Dann sprach er ein Wort der Macht. Es klang metallisch, fast wie aufeinanderschlagende Klingen.

Für einen Herzschlag nur war ihr schwindelig, dann tilgte reißender Schmerz jedes andere Gefühl. Sie brach in die Knie und sah, wie ihr Fleisch sich in Wellen kräuselte. Alle Kleidung fiel von ihr ab und ihre Knochen zogen sich zusammen – schneller noch als das Fleisch, das sie umgab. Sie schrie. Ihre Kehle wollte schier zerreißen von ihren Schmerzensschreien, und doch kam kein Laut über ihre Lippen. Sie wünschte sich, ohnmächtig zu werden, vom Schmerz überwältigt und in die gnädige Dunkelheit des Vergessens gerissen zu werden, aber ihre Sinne wollten nicht schwinden. Es war wie ein Fluch, und sie war verdammt, diesen Kelch des Schmerzes bis zur Neige zu kosten. Vielleicht noch ein Zauber des Dunklen? Wollte er ihr ihren Hochmut vor Augen führen? Hilflos krümmte sie sich auf dem Höhlenboden.

Bart spross aus ihren Wangen, ihr ganzer Leib juckte — und langsam ließen die Schmerzen nach. Mit Abscheu betrachtete sie ihre klobigen, kurzfingrigen Hände. Die vernarbten Fingerkuppen waren ihr erhalten geblieben. Sie tastete über ihr Gesicht. Ihre Nase war eine verstümmelte fleischige Knolle. Eine Augenbraue fehlte. Selbst als Zwerg war sie noch entstellt!

Sie drehte sich um. Der Dunkle hatte sich ebenfalls verwandelt. Schweiß glänzte auf seinem gedrungenen Körper. Um wie viel schmerzhafter musste die Verwandlung für ihn sein! Wie schaffte er es, den riesigen Drachenleib in diese Form zu zwängen?

Nandalee räusperte sich. Ihre schmerzende Kehle konnte also wieder Töne hervorbringen. »Was war mit meiner …?« Sie verstummte erschrocken. Ihre Stimme hatte sich zu einem tiefen Bassbrummen verändert.

Es war notwendig, Euch Eurer Stimme zu berauben. Man hätte Eure Schreie im ganzen Berg gehört. Nun legt Eure Kleider an. Der Anblick eines nackten, krummbeinigen Zwergs macht mich hungrig.

Sie zuckte unter dem Schmerz seiner Worte zusammen. Tat er das absichtlich? War er gedankenlos? Und was sollte die letzte Bemerkung? War das ein Drachenscherz? Oder meinte er es ernst?

Nandalee bückte sich und … fiel vornüber. Dieser Körper! Es war ein Grauen! Völlig ohne Balance. Ohne Eleganz. Hastig raffte sie ihre Kleider an sich und begann sich anzuziehen. Dabei fühlte sie sich unbeholfen wie ein kleines Kind. Löchrige Strümpfe, grobe Wollhosen und ein Hemd, das einem Sack ähnlicher war als einem Kleidungsstück.

Ich hoffe, Ihr erinnert Euch noch gut an Euren Körper.

Was war das für eine Frage? »Natürlich«, antwortete sie leichthin und blickte zu ihm auf. Sein Gesicht war zum größten Teil hinter einem grau melierten, zerzausten Bart verschwunden. Nur das klare Blau der Augen erinnerte an den Elfenkrieger, der er noch vor wenigen Augenblicken gewesen war. Eine strumpfähnliche Mütze saß schief auf seinem Haupt, graues Lockenhaar quoll ihm über die Schultern, sein Wams war mit geschmacklosen goldenen Lilien bestickt und eine breite goldene Kette lugte unter seinem Bart hervor. Ringe steckten auf der Hälfte seiner Stummelfinger. Die Stiefel reichten ihm bis über die Knie und glänzten wie frisch poliert. Und seine Axt … Nein, korrigierte sie sich. Es war eher die Parodie einer Axt. Das Blatt war filigran gearbeitet und vielfach durchbrochen und über dem Blatt ragte ein massiger Silberknauf auf, auf den er sich stützte. War das eine Krücke oder eine Waffe? Oder ein Zeichen seines Standes? Oder alles zugleich?

Gehen wir.

Er trat in den Tunnel, der in die Felskammer mündete, ohne ihre Antwort abzuwarten.

Schwankend folgte sie ihm. Verfluchter Zwergenleib! Selbst volltrunken fühlte sie sich nicht so unsicher auf ihren Füßen wie jetzt. Sie hielt sich dicht an der Wand und stützte sich mit einer Hand ab. Undurchdringliche Dunkelheit umfing sie. Waren ihre Augen schlechter geworden?

Endlich erreichten sie einen etwas breiteren Tunnel. Hier waren in weiten Abständen Barinsteine in den Wänden eingelassen und Nandalee fühlte sich nicht mehr in völliger Finsternis gefangen.

Der Dunkle war stehen geblieben. Erwartungsvoll sah er sie an und sie kniete nieder, um nach der Fährte des Zwerges mit dem schlecht genagelten Stiefel zu suchen. Dieser Tunnel schien nicht sehr viel benutzt zu werden; es gab kaum Spuren auf dem Stein. Endlich entdeckte sie die kleinen Einkerbungen, die der Stiefelnagel hinterlassen hatte. Der Kerl musste wirklich ein Fettwanst sein, dass er mit jedem Schritt eine Spur hinterließ. Ja, es gab sogar mehrere Spuren. Er war öfter auf diesem Weg gegangen.

»Links«, sagte sie und stemmte sich hoch.

Der Dunkle packte sie und drückte sie an sich. Kein Wort! brannten seine Gedanken in ihr Hirn. Im nächsten Augenblick hörte sie Schritte.

Ein Zwerg kam ihnen entgegen, ein Kerl mit dichtem schwarzen Bart und buschigen Augenbrauen. Er warf ihnen einen fragenden Blick zu, sagte aber nichts. Mit den verschorften Wunden in ihrem Gesicht war sie wahrscheinlich selbst nach den Maßstäben von Zwergen hässlich. Wie Gonvalon sie wohl ansehen würde? Sicher wäre er höflich. Aber was hatte sie mit diesem Gesicht zu erwarten? Ihre Liebe würde in seinen Höflichkeiten ersticken. Vielleicht war es besser, wenn sie nie mehr in die Weiße Halle zurückkehrte. Würde der Dunkle sie in seinem Tal dulden? Warum sollte er …

Lärm schreckte sie aus ihren Gedanken. Ein Stück voraus weitete sich der Stollen, dem sie gefolgt waren. Stimmengemurmel, Schritte und allerlei andere Geräusche drangen zu ihnen herauf, und am Ende des Tunnels angekommen, blickten sie auf eine längliche, unübersichtliche Höhle. Ihr Stollen öffnete sich auf eine schmale Treppe, die aus der Höhlenwand geschlagen war und etwa zehn Schritt in die Tiefe führte. Über ihnen spannte sich die Höhlendecke in unregelmäßigem Bogen. Wasser schien hier weicheres Gestein ausgespült zu haben, Stalaktiten wuchsen aus der Höhlendecke. Manche verschmolzen mit den Stalagmiten, die sich ihnen vom Höhlengrund entgegenstreckten, zu mächtigen Säulen. Teile des Bodens waren mit dunklen, teils zeltgroßen Felsbrocken bedeckt; Rauch stieg auf, zog aber nicht zu ihnen in den Tunnel. Die Höhlendecke und die Stalaktiten waren nachtschwarz. Dutzende Zwerge arbeiteten hier und sägten Bretter aus Baumstämmen. Nandalee war sich sicher, dass ein Ausgang zu einer Bergflanke nicht allzu fern sein konnte.

Verwundert entdeckte sie kleine Pferde zwischen den Zwergen. Ein Gespann zog einen neuen Holzstamm aus einem Tunnel, der links von ihnen lag.

Dies ist wohl der Ort, an dem der Wolf auf die Bisonfährten einschwenkt.

Er hatte ihr also zugehört! Die Freude darüber milderte den flammenden Schmerz seiner Gedankenstimme. Sie war entschlossen, ihm ihre Qualitäten als Fährtenleserin zu beweisen.

»Nicht unbedingt.« Ihre Stimme war nur ein bassdunkles Flüstern. Verfluchte fremde Stimme! »Es scheint viele Ausgänge zu geben. Vielleicht kann ich die Spur wiederfinden, wenn er einen weniger häufig begangenen Tunnel genommen hat.«

Der Dunkle bedachte sie mit einem Blick, in dem nicht viel Hoffnung lag. Dann nickte er knapp.

Sie folgten einer Treppe, die entlang der Höhlenwand in die Tiefe führte. Erfreulicherweise ignorierten die Zwerge sie völlig und waren gänzlich in ihre Arbeit versunken. Nandalee konnte zwar keinen Aufseher entdecken, aber sie hatte den Eindruck, dass die Zwerge in Eile waren. Ganz so, als versuchten sie, möglichst viele Bretter an einem Tag zu schaffen. Sägemehl und Pferdedung bildeten einen fast geschlossenen Belag auf dem Höhlenboden, und es stank nach Schweiß und ungewaschenen Körpern. Der Pferdegeruch war vergleichsweise angenehm. Die Tiere schienen nicht gut behandelt zu werden. Sie waren hager und unter den Lastgeschirren wund gescheuert. Scheuklappen sorgten dafür, dass die Tiere nur stumpf geradeaus starrten.

Schon am dritten Tunnel, der aus der großen Höhle führte, hatte sie Glück. Sie fand die verräterischen Schrammen, oder etwas, das zumindest so aussah. Wieder waren sie allein, schritten stumm voran und Nandalee war froh, seiner brennenden Stimme für eine Weile entflohen zu sein. Schließlich glaubte sie, Wasser in der Wand links neben sich zu hören. Ein fernes Rauschen. Was wohl geschah, wenn in einen solchen Tunnel Wasser eindrang?

Nandalee beschleunigte ihre Schritte, stolperte über die eigenen Füße und wäre gestürzt, wenn der Dunkle sie nicht gestützt hätte.

Es ist nicht leicht, ein Zwerg zu sein.

Seine Flammenstimme hatte keinen Tonfall. War das ein Scherz oder nur ein nüchterner Kommentar? Sie wünschte sich, er würde schweigen. Oder richtig reden. Mit seinem Mund! Wahrscheinlich war richtig reden für ihn die flammende Gedankensprache.

Weitere Tunnel mündeten in den Gang, dem sie folgten, und langsam wurde er breiter. Immer häufiger begegneten sie geschäftig wirkenden Zwergen. Auch der Fels um sie herum hatte sich verändert. Sie schritten durch Granit. Nandalee fluchte stumm. Die Spur war endgültig verloren!

»Aussichtslos«, murmelte sie. »Auf Granit kann auch ich keiner Fährte mehr folgen.«

Sehen wir, wohin der Tunnel führt. Sie keuchte auf unter seinen Gedanken, doch er ignorierte ihren Schmerz. Ich war lange nicht mehr hier.

Er war schon einmal hier gewesen? Fand er Gefallen daran, in einem fremden Körper zu reisen? Und wenn er schon einmal hier gewesen war, wo war er dann noch überall gewesen? Vielleicht auch in der Weißen Halle? Beobachteten die Himmelsschlangen die Albenkinder? War es das, was er ihr mit der Bemerkung hatte sagen wollen? Nein, beschloss sie, sie würde nicht danach fragen. Sie wollte keine Antworten mehr in dieser Flammenstimme hören, die so viel kräftiger, machtvoller und schmerzhafter war als jene der anderen Drachen, denen sie begegnet war.

Ein merkwürdiger Gestank mischte sich unter den Mief abgestandener Luft, der sie behelligte, seit sie das Höhlensystem betreten hatten.

»Stinkt wie ungewaschene Füße«, murmelte sie.

Nein. Das ist Koboldkäse aus Drashnapur.

Nandalee zuckte zusammen und bereute ihre Worte. Sie würde schweigen, schweigen, schweigen. Albenkinder waren nicht dazu geschaffen, sich mit Drachen zu unterhalten. Jedenfalls nicht mit dem Erstgeschlüpften unter ihnen!

Sie passierten einen Tunnel, von dessen Eingang eine vielfach gegabelte Ader aus schmutzig weißem Quarz ins Dunkel lief. Der Gestank war hier so intensiv, dass Nandalee nur noch durch den Mund atmete. Sie beschleunigte ihren Schritt. Langsam kam sie besser mit ihren viel zu kurzen Zwergenbeinen zurecht.

Sie hatten den Gestank schon eine Weile hinter sich gelassen, als sie eine Höhle erreichten, in die fünf Tunnel mündeten. Der Boden war auch hier aus Granit und Tausende genagelte Zwergenstiefel hatten den Fels über die Jahre glatt geschliffen. Hier endete ihr Weg. Es gab keine Fährte mehr. Schon lange nicht mehr. Und sie hatten längst eine ganze Reihe kleinerer Tunnelöffnungen passiert. Eingänge zu Wohnhöhlen, wie sie vermutete.

Der Dunkle sah sie erwartungsvoll an. Als Zwerge waren sie beide gleich groß und dennoch hatte sie das Gefühl, dass er auf sie hinabblickte. Ihr Trotz erwachte. Sie wollte sich nicht einfach so geschlagen geben. Wenn sie in den Wäldern eine Spur verlor, versuchte sie sich in das Wild hineinzuversetzen. Suchte es die nächste Wasserstelle? Einen guten Fressplatz? Einen geschützten Ort, um zu gebären?

Sie suchten einen Zwerg, der diese Stadt durch einen Albenstern betrat, aber nicht wieder verließ. Er strebte also irgendeinem anderen Ausgang entgegen. Da hatte sie ihre Fährte! Triumphierend blickte sie in die blauen Drachenaugen. »Gibt es in diesem Teil der Tiefen Stadt ein Tor ins Freie oder einen weiteren Albenstern? Einen Ort, den ein Durchreisender auf jeden Fall aufsuchen würde? Vielleicht ein Ort, der geeignet wäre, endgültig seine Fährte zu verwischen?«

Der Dunkle nickte bedächtig. Den gibt es, und er wird Euch nicht gefallen, Dame Nandalee. Es ist ein Ort der Verzweiflung.

Sie war noch ganz benommen von der Hitze seiner Gedanken, da strebte er schon dem mittleren der Tunnel entgegen. Sie hatte Mühe, ihm zu folgen, und die Stadt der Zwerge schien sich endlos auszudehnen. Einmal überquerten sie eine erschreckende Brücke, die einen Abgrund mitten im Berg überspannte. Immer häufiger begegneten sie jetzt Zwergen. Niemand schien sich darüber zu wundern, dass zwei Fremde hier herumliefen. Ein Kerl mit Goldenen Schwingen am Helm und einem ölschimmernden Bart grüßte sie sogar freundlich, als würde er sie kennen.

Steinerne Brücken führten in kühnen Bögen über dunkle Teiche, in denen sich totenbleiche Fische bewegten. Nandalee war froh, als sie diesen feuchten Grotten entkamen und in einen weiten Tunnel abbogen, in dem sich Waren stapelten und fluchende Lastenträger dem fernen Ausgang entgegenstrebten. Hier gab es auch wieder die kleinen, hageren Grubenpferde, die diesmal hohe Körbe aus geflochtenen Weidenästen trugen. Lastenträger schleppten tief gebeugt Tragegestelle, die einzig von bunt gemusterten Stirnbändern auf ihrem Rücken gehalten wurden. Die meisten von ihnen schienen auf irgendwelchen Kräutern zu kauen, fluchten beständig und spuckten immer wieder aus. Es war eine mürrische Gesellschaft. Nandalee fragte sich, ob man so wurde, wenn man ein Leben fern der Sonne führte.

Die Höhle, auf die dieser besondere Tunnel zustrebte, war heller erleuchtet und das Lärmen fallenden Wassers toste ihnen entgegen. So laut, dass es bald jedes andere Geräusch überlagerte. Mit Staunen und Unbehagen zugleich blickte Nandalee in die seltsamste Höhle, die sie je gesehen hatte, und sie begriff sofort, was der Dunkle gemeint hatte, als er ihr prophezeit hatte, dass sie den Ort nicht mögen würde. Sie wich ein Stück zurück. »Nein«, sagte sie entschieden. »Nicht das! Dort gehe ich nicht hinein!«

Der Fluch der Seherinnen

»(…) Es begab sich zu jener Zeit, als der Dunkle und seine Brüder noch nicht voneinander getrennt waren und der Purpurne Frieden stiften konnte, wenn die Schlangen des Himmels stritten. Es war der Purpurne, der Ausgleich schaffte zwischen den Brüdern der ersten Brut. Er wusste um das Feuer in ihren Herzen und sorgte sich, dass ein Streit sie alle entzweien würde. So bat er die Alben, ihm Kinder zu erschaffen, die den Schleier der Zukunft zerreißen sollten, damit er jeden Streit schlichten könne. Und die Alben schenkten ihm die Xana. Nymphen, schön wie ein Sommertag, mit langem, goldenem Haar und einem Leib, so vollkommen, dass man den Blick nicht von ihnen abwenden konnte. Doch waren sie launisch wie ein Gebirgsbach im Frühling, mal sanft und friedlich, mal wild und überschäumend. Und sie sagten alles, was sie sahen, wenn sie in die Zukunft blickten, denn groß war ihre Gabe, doch Weisheit war ihnen nicht beschieden worden. Nur der Purpurne pflegte mit ihnen Umgang. Als er jedoch verschwand und es hieß, die Devanthar hätten ihn erschlagen und seinen Leib verschlungen, da dauerte es nicht lange, bis die Xana den Zorn der Himmelsschlangen auf sich zogen. Denn sie hatten ihnen verhei- ßen, dass die Schlangen vom Himmel stürzen und die Brut der Drachen von den Kindern der Alben vertrieben werden würde – und dass der Tag käme, an dem die Drachen wie Tiere sein würden, ohne Vernunft, nur grausame Räuber.

Da entschieden die Himmelsschlangen, dass es ein Fehler gewesen war, die Xana zu erschaffen, und sie jagten die Nymphen ohne Gnade. Nur jene unter ihnen überlebten, die sich in die Welt der Menschen flüchteten. Doch auch dort konnten sie nicht ohne Furcht leben, denn die Devanthar wollten sich ihrer Gabe bemächtigen. Und so kam es, dass die Xana einen Zauber woben, der sie für die Devanthar und ihre Geschöpfe unsichtbar machte. Nur einmal im Jahr, am Mittsommertag, wenn ihr Zauber bricht und sie ihn erneuern müssen, vermag ein Sterblicher, eine Xana zu sehen. Und wenn es ihm gelingt, ihr Herz zu erobern, bleibt ihm die Gabe erhalten, der Schönheit seiner Geliebten ansichtig zu werden, solange er bei ihr weilt. Doch heißt es, noch nie sei etwas Gutes aus der Verbindung zwischen einem unsterblichen Albenkind und einem sterblichen Menschensohn erwachsen, denn jede dieser Lieben endet in Trauer, Tod und Wahnsinn.

Die Himmelsschlangen aber vermissten schon bald die Gaben der Seherinnen. Der Dunkle war es, der die Alben bat, ihnen noch einmal Kinder zu schenken, die mit der Gabe der Prophezeiung gesegnet seien, und sein Wunsch wurde erhört und sein Geschenk waren die Gazala. Doch je mehr dem Erstgeschlüpften über die Zukunft offenbart wurde, desto mehr entfremdete er sich seinen Brüdern. Und auch den Gazala stand ein schlimmes Schicksal bevor. Denn niemals sind jene für lange Zeit gut gelitten, die wissen, was da kommen wird. (…)«

Text eines unbekannten Autors, basierend auf einem Mythos, der unter den Holden des Waldmeers kursiert, heute verwahrt in der Bibliothek von Iskendria, Sammlung für obskure Schriften, Saal III, Regal CCXXI, Brett III.

Der Fleischschmied

ER duckte sich gegen den eisigen Wind. Die Elfen erzählten sich Geschichten darüber, dass der Nordwind wie mit Messern ins Fleisch schneiden konnte. Feiner, harter Schneegriesel trieb vor dem Wind. ER konnte sich gut vorstellen, wie einem der Wind und die Eiskristalle die Haut vom Gesicht schälten, wenn man sich nicht schützte. ER hasste den Norden Albenmarks. Die endlosen Winter. Und den, den ER heute besuchen wollte. Die Zuflucht des Alben lag weit entfernt vom nächsten Albenstern und dieser Fußmarsch dauerte bereits Stunden.

Natürlich hätte ER Zauber weben können, um SICH zu schützen, aber jeder Zauber würde eine Spur hinterlassen. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis sie etwas merkten. Heute würde ER das fünfte Mal das Ungeheuerliche wagen. Vier Mal war es geglückt. Vier Mal war ER über verschlungene Pfade zur Welt der Menschen geflohen, sorgsam darauf bedacht, nur die Spuren zurückzulassen, von denen ER wollte, dass man sie fand.

Aber wie es schien, waren SEINE Morde noch niemandem aufgefallen — was IHN darin bekräftigte, dass ER SICH für den richtigen Weg entschieden hatte. Die Zeit der Alben war vorüber. Vor allem die des einen.

SEINE grimmige Entschlossenheit ließ IHN die Kälte vergessen. Seit die Alben mit den Devanthar paktiert hatten, um Nangog ihre Schöpfung zu rauben, hatten sie ihre Kraft verloren. ER konnte nicht verstehen, warum die Alben diese Werke duldeten. Ihr Bruder entstellte die Schöpfung, griff heraus, was gut war, und verdarb es mit all seinen Chimären! Sie waren willkürliche Kreuzungen aus den Kreaturen aus der Anfangszeit der Schöpfung, jenen frühen Tagen der Welt, als die Alben sich noch an ihrem Werk erfreuten. Jener Bruder aber formte Kreaturen wie die Minotauren, die er aus Trollen, Elfen und Stieren zusammenfügte! Wie konnte ein Albe so etwas tun? Selbst seine Brüder und Schwestern nannten ihn abfällig den Fleischschmied – und doch unternahmen sie nichts gegen seine Werke, die der Schönheit ihrer Welt spotteten.

ER dachte an all die Zwitterwesen, die Albenmark bevölkerten. Die Kentauren, Faunen, die fuchsköpfigen Kobolde und die Lamassu, die nicht einmal Arme hatten und darauf angewiesen waren, dass man sie fütterte, wenn sie nicht vermochten, sich kraft ihrer Zaubermacht die Speisen zum Munde schweben zu lassen. Das alles war krank! Hier und heute würde ER das am schwersten erkrankte Glied abtrennen! ER würde Albenmark heilen und einer großen Zukunft entgegenführen!

Fast einen halben Tag dauerte SEIN Aufstieg in die tief verschneiten Berge, bis IHN ein scharfer Ruf, aus seinen finsteren Gedanken schreckte.

»Währ bist du?«

Zwischen den Felsen trat eine riesige Gestalt hervor. Noch so eine Chimäre. Ihre Haut hatte die Farbe von Granit. Der Wächter war ein Troll, jedenfalls der obere Teil von ihm. Unterhalb des Nabels schien ein Gelgerok in die Schöpfung eingeflossen zu sein. Er hatte dem Troll starke Raubechsenbeine und einen langen, geschuppten Schwanz gegeben. Und größer gemacht hatte er ihn. Mehr als vier Schritt groß war diese Kreatur. Eindrucksvoll, ja furchteinflößend für einen Elfen. Nicht für IHN. ER empfand nur Verachtung für dieses Zerrbild.

»Du erkennst mich nicht?«, entgegnete ER schroff.

»Naihn!« Die Missgeburt klang einfältig.

»Beuge dich vor und ich werde dir meinen Namen ins Ohr flüstern. Der Wind darf uns nicht lauschen und das Wissen darum, wer ich bin, davontragen.«

Man konnte dem Antlitz des Wächters ansehen, wie er verzweifelt versuchte, dem gerade Gehörten einen Sinn abzuringen. Es war offensichtlich, dass er sich seiner Dummheit bewusst war. An sich selbst zweifelnd, kam er erst gar nicht auf die Idee, dass er hereingelegt wurde. Er war es gewohnt, nicht alles zu begreifen, was ihm gesagt wurde. Er beugte die Knie, krümmte sich und ging schließlich auf alle viere.

»Mein Name also ist …« ER griff in den Nacken. Ein kurzer Druck auf einen Nervenpunkt genügte, um all seine Lebenskraft in den Schnee und das tote Gestein darunter zu lenken. Obwohl seine Sinne noch wach waren, vermochte der Troll nun keinen Muskel mehr zu bewegen. Es würde Stunden dauern, bis diese Taubheit der Glieder vorüberging und das Ungeheuer Alarm geben konnte.

ER trat durch die unscheinbare Felsspalte in den Berg, den sich der Fleischschmied als seine Zuflucht auserwählt hatte – ein Labyrinth großer, ineinander übergehender Tropfsteinhöhlen. Es war angenehm warm und ein diffuses Licht, dessen Quelle nicht offensichtlich war, begleitete IHN. Als ER das letzte Mal hierhergekommen war, hatte es dieses Licht nicht gegeben. War dies eine weitere Kreatur oder nur ein IHM unbekannter Zauber?

Stalaktiten und Stalagmiten wuchsen zu wunderbaren, in unterschiedlichen Farben changierenden Säulen zusammen. ER hielt oft inne und weidete sich an der Schönheit der Höhlen. Sie waren einmal großartig gewesen, die Alben. Doch dieser hier war der Dunkelheit verfallen. Dem Wahnsinn.

Manchmal sah ER in Winkeln der Höhle Kreaturen kauern, die der Fleischschmied vergessen hatte. Eine Schlange mit einem Koboldskopf. Gänse mit Hufen und Pferdeschweifen. Einen Fleischklumpen auf Stummelbeinen mit tränengefüllten Augen.

ER spürte die Anwesenheit des Alben, noch ehe ER ihn sah. Die Präsenz des wahnsinnigen Schöpfers war beklemmend. Er war stark und voller Tatendrang, und als ER die Höhle betrat, tat ER es mit gesenktem Blick.

»Warum hat der Drachentroll dich vorbeigelassen? Ich will nicht gestört werden und … Du siehst interessant aus! Soll das ein demütiger Vorschlag für eine neue Schöpfung sein? Ein Löwenhaupt … Eindrucksvoll!«

Der Boden dieser tiefsten Grotte war mit frischem Blut bedeckt. Es war hier unangenehm heiß. ER wusste um den Abgrund weit hinten, die Spalte, die zum ewigen Feuer hinabführte.

»Was also willst du?«

Es war IHM unmöglich, den Alben direkt anzusehen. Er war anders. Keine Lichtgestalt! Er war von zerstörerischer Macht. Ein Blick auf ihn verhieß Wahnsinn.

ER sah das Ding vor ihm auf dem steinernen Tisch. Groß … Die Haut abgeschält. Blutige Muskeln zitterten … Es lebte noch und konnte jeden Schnitt spüren. Noch waren da drei Körper — ein Elf und ein Kobold und noch etwas, das nicht mehr zu erkennen war.

»Kann man einen Devanthar mit einer deiner Gestalten verschmelzen? « ER spürte, dass ER schlagartig die volle Aufmerksamkeit des Alben besaß. Etwas klickte metallisch, so als habe der Fleischschmied eine Klinge auf dem steinernen Tisch abgelegt.

Die Präsenz des Alben wurde noch erdrückender, als er zu IHM herüberkam. Lautlos.

»Du glaubst, du kannst einen Devanthar fangen. Allein?«

»Ich glaube nicht … Ich weiß es. Ich habe etwas. Etwas, das die Devanthar erschaffen haben. Hier, sieh es dir an.«

Der Alb beugte sich zu IHM hinab. So arglos wie die Kreatur am Eingang der Grotten. ER zeigte ihm den Dolch. Und dann stieß ER zu. Es war wie bei den anderen. Sie waren sterblich!

Diesmal fühlte ER sich schwach. Es kostete IHN Mühe, den Zauber zu weben. Alles aufzulösen – bis auf die Essenz, eingeschlossen in einem unscheinbaren Stein.

ER tötete die drei Kreaturen auf dem Tisch und beendete ihr Leid. Aber da waren noch mehr. Viel mehr! Sie verbargen sich in den weitläufigen Grotten, und ER konnte ihre Blicke spüren. Manchmal hörte ER Geräusche. Das Scharren von Hufen. Flatternde Flügel. Vielleicht gab es unter ihnen vernunftbegabte Geschöpfe?

Eines Tages würde man nach dem Fleischschmied suchen. Vielleicht der Sänger? Er war der unsteteste unter den Alben.

ER blickte zum hinteren Teil der großen Grotte. Rötliches Licht schimmerte auf der Decke. Der Widerschein der Lava. ER durchmaß die Höhle und trat an den Spalt. Feuer! ER liebte es, in Flammen zu blicken, diese Urgewalt zu formen und zu entfesseln. Kurz war ER versucht, seine wahre Gestalt anzunehmen. Die Lava könnte alle Spuren löschen. Der Zauber war machtvoll, vielleicht würde er Aufmerksamkeit erwecken. Aber dies war ein Ort, an dem ein Alb seine grotesken Werke erschaffen hatte. Zauber, welche die Schöpfung verdrehten, waren hier ein tägliches Ereignis. Selbst jetzt, wo der Alb gegangen war, spürte ER noch dessen Aura. Und ER spürte, wie sehr das magische Netz hier verzerrt war. ER sprach ein Wort der Macht. Zögerlich. Leise. Und die Lava regte sich. Wie etwas Lebendiges.

ER wiederholte das Wort. Fordernder! Eine Flammenzunge schlug aus dem Abgrund.

ER streckte die Arme aus und öffnete sein Verborgenes Auge. Durch die Grotten sollte ein reinigendes Feuer fahren – und mehr als das. Lava sollte sie füllen und all das, was hier wider die Schöpfung geschehen war, ausbrennen.

ER schleuderte das Wort der Macht in den Abgrund. So laut, dass alle Grotten von SEINER Stimme widerhallten. SEIN Wort löschte das Kreischen und Geflatter der Kreaturen aus, die sich tiefer in ihre Verstecke zurückzogen.

Die Lava stieg. Schnell!

ER eilte aus der Höhle; vorbei an der Kreatur am Eingang, die sich immer noch nicht zu regen vermochte. Als ER Stunden später den Albenstern erreichte, war der ferne Horizont immer noch rot vom Widerschein der Glut. Der Fleischschmied war vergangen, aber viele seiner grotesken Schöpfungen würden weiterleben. Er hatte Albenmark für immer geprägt.

Hornbori Drachentöter

Voller Staunen und Schrecken betrachtete Nandalee die weite Höhle, die sich vor ihr erstreckte. Hunderte Barinsteine tauchten sie in helles Licht und sieben Wasserfälle schossen aus Steilwänden und ergossen sich in weiten Fontänen in einen großen See, dessen Wasser brodelnde Gischt war. Der Lärm des stürzenden Wassers war so gewaltig, dass er wie eine körperliche Berührung zu spüren war. Die Luft hier war kühl und so von Feuchtigkeit gesättigt, dass sich feine silberne Perlchen auf Nandalees Bart niederschlugen.

Diese Höhle schien das Herz der Tiefen Stadt zu sein. Aus allen Richtungen stießen Tunnel hierher vor, und breite Terrassen waren in die Höhlenwände geschlagen, die bis zu siebzig Schritt weit aufragten. Etliche steinerne Kais säumten den See. Von den Terrassen ragten hölzerne Kranarme über das Wasser, von denen seltsam lang gezogene Holzfässer hingen. Die kleineren nur fünf oder sechs Schritt lang, die größten bis zu zwanzig Schritt. Gläserne Augen waren in die Fässer eingelassen. Aus ihren Rücken wuchsen Buckel, die über eiserne Bögen mit dem Vorderteil verbunden waren. Gebilde, die an Fischflossen erinnerten, wuchsen aus den Seiten der Fässer und aus dem stumpfen Ende. Es schien sich um Schiffe zu handeln. Nandalee ahnte, wozu sie erschaffen waren, und diese Ahnung ängstigte sie. Sie waren nicht hergekommen, um sich diese widernatürlichen Dinger nur anzuschauen – sie würden sie benutzen. Sie wich noch einen Schritt zurück, vermochte aber nicht, den Blick von der Höhle und den sonderbaren Fässern abzuwenden. Manche von ihnen waren mit Kupferblechen beschlagen, einige lagen an den Kais vertäut. Nandalee beobachtete, wie die Buckel auf dem Rücken eines der Fassschiffe aufgeklappt wurden.

Sie nennen diese Gefährte Aale.

Sie zuckte zusammen. »Bitte sprich nicht mehr in meinen Gedanken. Mein Kopf ist wund von deinen Worten.«

Er nickte.

Nandalee biss sich auf die Lippen. Ein Wort der Entschuldigung wäre schön gewesen. Aber was erwartete sie? Er war der Erstgeschlüpfte und sie nur eine Elfe. Ihr wäre auch nie in den Sinn gekommen, sich bei den Kobolden der Weißen Halle zu entschuldigen, obwohl sie sich durchaus bewusst war, dass sie die kleinen Diener schlecht behandelt und einige böse Späße mit ihnen getrieben hatte.

Die kalte, feuchte Luft, die aus der großen Höhle in den Tunnel trieb, tat ihr gut. Mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu betrachtete sie die Tonnenschiffe. Nie hatte sie so seltsame Boote gesehen.

»Sie befahren damit unterirdische Seen und Ströme. Auf diese Weise sind alle Tiefen Städte miteinander verbunden.« Trotz des brummenden Basses seiner Zwergenstimme musste der Dunkle schreien, um gegen den Lärm des stürzenden Wassers aus der großen Höhle anzukommen. »Es gehört zum Wesen der Zwerge, im Verborgenen zu handeln. Sie glauben, sie könnten sich vor unseren Blicken verbergen. Sie haben sogar begonnen, unterirdische Kanäle zu bauen.«

Nandalee war erleichtert, dass er endlich wieder normal mit ihr sprach. Nein, verbesserte sie sich erneut. Normal war für ihn gewiss diese sengende Drachensprache, die Worte, die sich in ihre Gedanken brannten. Wie fremd er sich jetzt wohl fühlen musste? Eine Himmelsschlange, die, in den Körper eines Zwerges gezwängt, Elfisch sprach und … Aber was dachte sie da eigentlich? Was wusste sie schon von Himmelsschlangen? Den Dunklen nach ihren Maßstäben zu beurteilen war sicherlich ganz und gar vermessen.

Schweigend blickten sie auf die weite Höhle hinab. Sie war sich ganz sicher, dass der Zwerg, dessen Fährte sie gefolgt waren, auf kurz oder lang wieder hierherkommen würde. Dieser Ort war ideal, um seine Spuren zu verwischen. Und er war eindrucksvoll, musste sie den Zwergen zugestehen. Wie lange hatte es wohl gedauert, all das hier zu erschaffen? Wie viele Zwerge hatten nach einem gemeinsamen Plan gearbeitet? Die Elfen hatten niemals etwas so Großartiges erschaffen.

»Ich bin einmal in einem dieser Aale mitgefahren«, sagte der Dunkle überraschend. Er war so dicht an sie herangetreten, dass seine Lippen fast ihr Ohr berührten. Ein unbekanntes Wohlgefühl überkam sie. Es strahlte von ihm aus. War er zufrieden mit ihr?

»Wer in so ein Gefährt steigt, sollte vorher mit seinem Leben abschließen«, fuhr der Drache fort. »Oft fahren sie unter der Wasseroberfläche. Dabei stoßen sie immer wieder gegen Felswände, deshalb sind die Boote so stabil gebaut. Vorne im Aal sitzt ein Steuermann, der durch die Glasaugen späht und versucht, Hindernisse rechtzeitig zu erkennen. Sie haben alle gefährlichen Klippen mit Barinsteinen markiert, aber manchmal ist die Strömung so stark, dass es nicht rechtzeitig gelingt, den Kurs dieser schwimmenden Särge zu ändern. Außerdem fühlen sich die Weißen Schlangen durch die Aale gereizt. Sie leben in den großen unterirdischen Seen und greifen alles an, was sich bewegt.«

Nandalee hörte ihm gern zu. Kurz dachte sie an Bidayn und lächelte. Eines Tages würde sie die Freundin wiedersehen und ihr von diesen merkwürdigen Zwergenschiffen erzählen. Mit der Erinnerung an Bidayn kamen auch Gedanken an Gonvalon. Nicht jetzt, dachte sie traurig und fragte sich, ob sie den Mut haben würde, ihm mit ihren schrecklichen Narben noch einmal zu begegnen. Sein Mitleid würde sie nicht ertragen. Sie schob den Gedanken beiseite und wandte sich erneut dem Dunklen zu. »Und wie bewegen sich diese Fässer?«

Er deutete zu einer der Terrassen. Die Laufräder der beiden großen Kräne begannen sich zu drehen und einer der Aale wurde, an schweren Eisenketten hängend, aus dem Wasser gehoben. »Sieh dir das Heck an, Nandalee. Das Ding, das aussieht, als habe man es aus drei verbogenen Schwertklingen zusammengefügt. Es dreht sich, wenn der Aal fährt, und treibt ihn voran. Im Aal gibt es eine lange Kurbelwelle. Alle Passagiere müssen mithelfen, sie anzutreiben. Es ist die Kraft der Zwergenbeine, die diese Fassschiffe antreibt.«

Nandalee traute ihren Ohren kaum. »Warum graben sie nicht einfach lange Tunnel zwischen ihren Städten? Diese Art zu reisen ist ja fast, als müssten sie laufen!«

Der Dunkle grinste und seine schiefen, fleckigen Zähne blitzten unter dem wuchernden Schnauzbart auf. Mit leichtem Unbehagen stellte sie fest, dass seine Eckzähne auch bei der Verwandlung ein klein wenig zu spitz geraten waren. Sie erinnerten an Raubtierzähne. »Es sind Zwerge, meine Holde. Sie sind verbohrt und dickköpfig. Der Versuch zu verstehen, was in diesen haarigen Schädeln vor sich geht, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Vielleicht spielte es eine Rolle, dass diese Wasserwege schon existierten und es Jahrhunderte dauern würde, Tunnel von Stadt zu Stadt zu graben.«

Nandalee zählte die Schiffe. Neun hingen an Eisenketten von den Kränen und sieben weitere lagen vertäut an den Kais. Wie viele Zwerge konnten darin reisen? Hundert? Zweihundert? Fasziniert sah sie zu, wie ein gutes Dutzend eiförmiger Fässer mit Kupferbeschlag von einem der Kais aus im Wasser versenkt wurde. War das am Ende eine Opfergabe?

»Ihr wundert Euch, meine Dame?«

Nandalee ärgerte sich über ihr unbefangenes Staunen. Wann würde es ihr endlich gelingen, ihre Gefühle zu beherrschen? Der Dunkle hatte ganz recht — man musste wahrlich nicht in ihren Gedanken lesen können, um zu erahnen, was in ihr vorging.

»Sie lassen die Fässer mit der Strömung treiben. Auch eine Art, Waren zu transportieren. Verlorene Fässer werden von den Aalen aufgespürt.«

»Und wie bringen sie die leeren Fässer zurück?«

»Gar nicht«, antwortete der Drache. »Hier wird Kupfer abgebaut. Auch die Fässer selbst sind Handelsware. Sie kommen nicht mehr zurück. Genauso wie der, den wir suchen. Euch ist klar, warum ich diese Höhle einen Ort der Verzweiflung genannt habe?«

Sie nickte. »Wegen der Aale. Wahrscheinlich fahren sie in unterschiedliche Richtungen.«

»Auf den ersten Meilen nicht. Aber der nächste See hat zwei Abflüsse. Danach gabeln sich die möglichen Wege noch mehrfach. Und da wir nicht wissen, wen wir suchen und wann er hier war, können wir auch gleich aufgeben.«

»Und wenn er gar nicht fort ist?«

Seine blauen Augen durchbohrten sie. »Wo sollte er Eurer Meinung nach denn sein?«

»Wir Elfen sind die Krallen der Himmelsschlange, und wer immer es ist, muss nicht befürchten, dass eine der Himmelsschlangen ihm folgt, oder?«

Der Dunkle wiegte zweifelnd den Kopf. »Worauf wollt Ihr hinaus? «

»Die Höhle, die so sehr stinkt, dass man nicht befürchten muss, dass ein Elf sie jemals freiwillig betreten würde … Sie wäre ein perfektes Versteck.« Nandalee konnte ihm ansehen, dass er nicht überzeugt war. Sie lächelte. »Wenn ich eine Fährte verloren habe, folge ich meiner Intuition.«

Eine Weile lang sah er sie nachdenklich an. »Gut, da es sonst nichts gibt, dem wir folgen könnten, folgen wir also Eurer Intuition, meine Holde.« Unverhohlener Zweifel lag in seiner Stimme. »Gehen wir dorthin. Das ist wohl unsere letzte Hoffnung.«

Der Tunnel mit den Quarzadern am Eingang war leicht wiederzufinden. Sie hatte das Gefühl, dass der Gestank bis tief in den Fels eingezogen war.

Dem Dunklen schien der üble Geruch nichts auszumachen. Ob er sich mit einem Zauber geschützt hatte? Ohne zu zögern, schritt er den Tunnel hinab, der sie in eine geräumige Höhle führte. Eine Werkstatt, vollgestellt mit Tischen, auf denen sich allerlei Gerätschaften türmten, Glaskolben, Töpfe, Tiegel und Pfannen. Ein großer Herd mit mehreren Feuerstellen erhob sich links von ihr. Überall lagen Papiere herum. An der Rückwand arbeiteten drei Zwerge mit Meißeln daran, die Höhle zu erweitern. Ein vierter stand auf einem wackelig aussehenden Gerüst und lugte über den Rand eines riesigen Kessels, in den etliche fingerdicke Kupferrohre mündeten. Ein weiterer Zwerg, der neben dem Gerüst stand, trug einen Helm mit auffällig goldenen Flügeln. Ihm waren sie vorhin in den Tunneln begegnet, erinnerte sich Nandalee. Jetzt hatte er eine ungesunde, blasse Gesichtsfarbe und schwenkte verzweifelt ein weißes Tüchlein vor seiner Nase. Als er sie entdeckte, stieß er einen überraschten Ruf aus.

Der Dunkle antwortete etwas. Nandalee verstand kein Wort. Sie musste sich auf einen der Tische aufstützen. Zersplitterte Knochen und Fetzen schuppiger Haut lagen hier verstreut. Dazwischen weiche, weiße Klümpchen einer klebrigen Masse. Angewidert starrte sie auf ihre Hände. Sie hatte den Quell des Gestanks gefunden.

Hektisch versuchte sie das klebrige Zeug abzuputzen. Der Gestank trieb sie an den Rand der Ohnmacht und sie fürchtete, sich jeden Augenblick erbrechen zu müssen. Indessen war der Zwerg auf dem Gerüst auf sie aufmerksam geworden. Mit einem schweren Hammer in Händen stieg er hinab und raunzte den Dunklen in einem Tonfall an, der jede Übersetzung unnötig machte. Der Drache blieb gelassen, was den Zwerg mit dem Hammer nur noch mehr in Rage versetzte. Der Stutzer mit dem Flügelhelm versuchte den Tobsüchtigen zu beschwichtigen und fiel ihm in den Arm, als dieser seinen Hammer hob. Daraufhin zog sich der Dunkle zum Tunneleingang zurück und winkte ihr.

Nandalee beeilte sich, aus dem Weg zu kommen. Sie spürte die sengende Wut des Erstgeschlüpften und fürchtete, dass ihr Meister jeden Augenblick die gesamte Werkstatt mit seinem Drachenfeuer vernichten würde. Stattdessen zog er sie in den Tunnel. Er zerrte energisch an ihr, und sie ließ es willenlos geschehen. Plötzlich war der Gestank schlagartig verschwunden.

»Besser?«

Sie nickte und atmete tief ein.

Habt Ihr es gesehen?

Nandalee zuckte unter dem Gedanken zusammen. Er schien völlig die Beherrschung verloren zu haben. Wütend blickte er zum Tunneleingang. Seine Pupillen waren jetzt geschlitzt. Unter seiner Haut arbeitete es, als seien seine Schädelknochen zu Schlangen geworden.

»Habt ihr es gesehen?«

Sie war erleichtert, dass er wieder normal mit ihr sprach. Sein Kopf schien nicht länger auseinanderplatzen zu wollen. Er beruhigte sich offensichtlich. »Ich dachte, du würdest sie alle töten.«

»Das meine ich nicht. Ignoranten und Choleriker — jeder zweite Zwerg ist entweder das eine oder das andere. Der gerade war beides. Was ich meine, waren die Leichenteile! Ihr habt an dem Tisch gestanden. Habt es berührt! Haut und Knochen eines meiner kleinen Brüder. Einer Silberschwinge! Sie haben eine Silberschwinge ermordet!«

Nandalee vermochte sich nicht vorzustellen, dass ein Zwerg in der Lage sein könnte, einen Drachen zu besiegen. Auch keine Silberschwinge. »Vielleicht haben sie einen Kad…, einen Leichnam in der Wildnis gefunden?«

»Nein, so war es nicht. Der Verrückte hat gesagt, dass ich froh sein könne, dass Hornbori Drachentöter für mich spricht, weil er mir sonst den Schädel eingeschlagen hätte. Hornbori Drachentöter! Sie rühmen sich auch noch damit!«

»Vielleicht sind es nur Angeber. Sie handeln mit allem Möglichen. Vielleicht haben sie …«

»Ich habe es in ihren Gedanken gesehen! Sie waren dabei, als die Silberschwinge starb. Sie waren dort!« Er sprach jetzt leise und eindringlich. Seine kalte Selbstbeherrschung machte ihr Angst.

»Ich werde sie beobachten. Wenn sie es noch einmal tun, dann wird etwas geschehen, das kein Zwerg jemals vergessen wird. Sie sollten sich vorsehen mit ihrem törichten Glauben, hier unten unangreifbar zu sein.«

Nandalee verstand seinen Zorn nicht. Es waren doch nur Teile eines toten Drachen. »War der Tote ein Freund von dir?«

»Eine hirnlose Silberschwinge ein Freund? Nein! Sie haben nicht mehr Verstand als ein Hund oder eine Katze. Sie können auch nicht zaubern, nicht einmal intuitiv. Es sind gefräßige Räuber und sie führen ein Leben, das von ihren Begierden beherrscht wird. Planlos, von einem Augenblick zum anderen. Aber sie sind Drachen! Wir alle sind Brüder und Schwestern. Wer einen von uns tötet, macht sich uns alle zum Feind.« Er ballte die Fäuste, dass seine Knochen knackten. »Verlassen wir diesen Ort, Dame Nandalee. Wir haben die Fährte verloren.«

Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander her, und selbst die Zwerge, die ihnen auf dem Weg zur Kammer der kommenden Offenbarungen begegneten, schienen die Kälte und die Wut zu spüren, die den Drachen umgab, denn sie wichen ihm aus. Nandalee aber war stolz. Er hatte wir gesagt. Wir! Als sei sie schon eine Drachenelfe!

Endlich erreichten sie den Albenstern. Der Dunkle sprach das Wort der Macht und zwei Lichtschlangen erhoben sich aus dem Boden. Nandalee wollte schon hindurchschreiten, als der Drache sie zurückhielt.

»Er war hier! Vor einer Stunde vielleicht. Er hat das Tor erneut geöffnet, als wir in der Grotte der fallenden Wasser waren. Sicher ist er nun auf dem Weg dorthin! Mit etwas Glück können wir ihn stellen, ehe er in einen der Aale steigt! Schnell!«

Die Kraft positiver Gedanken

ER hasste diesen Körper. Zwerge! Sich so zu verdichten war eine Qual! ER musste zu viele Zauber gleichzeitig weben und darauf achten, dass sich ihre Muster nicht vermengten. Um SEINE Spur zu verwischen, hatte ER auf dem Weg zwischen den Welten den goldenen Albenpfad verlassen und SICH ins Nichts gestürzt. Niemand kam dorthin, ins Nichts, um nach etwas zu suchen. Verließ man den Albenpfad, stürzte man in die Dunkelheit. Doch IHN hatte keine Panik erfasst. ER wusste, dass ER dort endlos fallen konnte, ohne jemals aufzuschlagen.

Ein einziger Gedanke hatte IHN zurück auf die Albenpfade getragen. Es war im Grunde ganz leicht, dem Nichts zu entkommen. Selbstzufrieden sah ER sich in der weiten Halle um. ER mochte das Durcheinander hier. Die Geschäftigkeit der Zwerge. Sie packten an und schufen sich ihre eigene Welt. Es bereitete IHM Freude hierherzukommen, sie zu beobachten und in ihren eigenwilligen Schiffen zu fahren. Ein paar letzte Schritte noch. Der Steuermann winkte ihm vom Luk des Aals her zu. »Du bist spät!«

»Und ich zahle gut«, entgegnete ER lächelnd.

Der Zwerg murmelte etwas Unverständliches und machte IHM Platz, sodass ER durch das Luk über die kurze Eisenleiter in den Aal hinabsteigen konnte. Wenn nur für einen Herzschlag der Zauber, der SEIN Gewicht aufhob, aussetzen würde, würde alles mitsamt diesem zerbrechlichen Boot auf den Boden des unterirdischen Sees gerissen werden.

Mit einem dumpfen metallischen Geräusch schloss sich das Luk über ihnen. Das matte Licht eines winzigen Barinsteins erleuchtete das Innere. Sie waren geizig, die Zwerge! Und sie stanken! Unglaublich, was für ein Panoptikum erlesener Düfte so eine geschlossene Holzröhre war. Übler Atem, Zwiebeln, einige abgestandene Fürze, der Geruch ungewaschener Kleider und Leiber. Ranziges Fett? Damit musste sich einer seinen Bart eingeschmiert haben.

»Hier, das ist dein Platz.« Der Steuermann hatte sich an IHM vorbeigedrängt und deutete auf einen freien Platz an der Kurbelwelle. Dann arbeitete er sich weiter nach vorne vor, um sich bäuchlings zwischen den Steuerhebeln vor dem Glasauge niederzulassen.

Der Drache nahm seinen Platz ein. Dieser Aal war kleiner als SEIN Leib, wenn ER seine wahre Gestalt annahm. ER lehnte sich mit dem Rücken gegen die Außenwand, schob die Füße in die Lederriemen auf den flachen Pedalen und wartete wie alle anderen auf den Befehl des Steuermanns.

Ein dumpfer Schlag auf die Außenhülle des Aals war das Zeichen, dass alle Leinen gelöst waren. »Dann mal los!«, rief der Steuermann, und sie alle zugleich begannen die Kurbel, die sich längs durch den Aal zog, in Bewegung zu setzen. Obwohl sie schwarz von Öl glänzte, begleitete ein schleifendes Geräusch die Drehungen. Es würde die ganze Fahrt über nicht verstummen.

ER wappnete sich mit Geduld. Etwas mehr als einen Tag musste ER durchhalten. IHM konnte nichts geschehen, sagte ER sich. ER war hier in Sicherheit. Und doch fühlte ER sich ein wenig unwohl. Das machte einen Teil am Reiz dieser Reisen aus. SEIN Leben war zu sicher, zu vorhersehbar. Seit ER begonnen hatte, an seinem großen Plan zu arbeiten, hatte sich das von Grund auf geändert. ER würde die Welt neu formen.

Über IHM erklang ein Gackern! Ein Huhn streckte seinen Kopf aus einem der Frachtnetze, die entlang der Decke gespannt waren. »Was ist denn das für ein entzückender Fahrgast?« IHN überkam die Lust, nach dem Vieh zu schnappen, dessen Knochen zwischen SEINEN Fängen splittern zu fühlen. ER musste sich beherrschen. Solche Gedanken mochten IHN außer Form bringen. Wenn ER in diesem winzigen Boot wuchs, würde es in tausend Teile zersplittern. Denk wie ein Zwerg, wiederholte ER immer wieder in Gedanken. Denk wie ein Zwerg! DU würdest es rupfen und ausnehmen und dann braten. Viel zu viel Mühe, für so ein winziges Häppchen. Viel …

»Das ist ein Huhn, du blinder Idiot!«, murrte der Zwerg, der ihm gegenübersaß. Ein blonder Griesgram, der unablässig auf irgendetwas kaute. Vielleicht eine Wurzel oder ein Stück Harz. Für einen Zwerg roch er gar nicht mal übel. Ein respektabler Happen. Viel besser als ein Huhn. Er trug auch nicht allzu viel Metall an sich, das sich zwischen den Zähnen verkanten und Ärger machen konnte.

»Das Huhn ist der Glücksbringer des Steuermanns«, sagte der Zwerg neben ihm, ein alter Hauer, wie es schien, dem sich der dunkle Gesteinsstaub tief in den Falten des Gesichts abgelagert hatte. »Und gib nichts auf Grungi; er war schon übellaunig, als er aus seiner Mutter kroch.«

»Ein Glücksbringer? Aber die Unyleh ist doch ein guter Aal! Ich habe mich erkundigt …« Das hatte ER in der Tat, bevor ER sich das erste Mal einem dieser obskuren Gefährte anvertraute. Das Boot hatte einen guten Ruf. Es war erst zwei Mal gesunken und selbst dabei hatte es einzelne Überlebende gegeben. Für dreizehn Jahre seit dem Stapellauf war das eine überaus erfreuliche Bilanz.

»Das Huhn wird ohnmächtig, wenn der Mief hier drin zu dicht wird. Dann wissen wir, dass es höchste Zeit ist, aufzutauchen und das Luk zu öffnen.«

ER stutzte. »Müsste es dafür nicht am Boden herumlaufen? Ich meine, wenn der Mief über unseren Köpfen so dicht ist, dass ein Huhn ohnmächtig wird …«

»Bist wohl ein Klugscheißer«, zischte Grungi.

»Am Boden geht nicht!«, rief der Steuermann von vorn. »Wir können es nicht einfach frei im Boot herumlaufen lassen. Hühner sind zu dämlich. Mir sind schon zwei in die Kurbelwelle geraten. Dieses da oben ist etwas klüger. Es wird so tun, als würde es ohnmächtig, wenn es findet, dass wir uns Sorgen machen müssten.«

ER blickte in die grinsenden Gesichter ringsherum. Waren die alle betrunken oder erlaubten sie sich einen Spaß mit IHM? ER atmete flach aus. Das waren Zwerge, und auch wenn sie wunderbar geschäftig waren, waren sie doch üble Gesellschaft. Zum Glück musste ER sie nur einen Tag lang ertragen. Und sollten sie IHN weiter verärgern, würden sie die größte Überraschung ihres kurzen Daseins erleben, wenn ER sich ihnen in seiner wirklichen Gestalt zeigte.

Über ihnen knirschte es beunruhigend laut, und das Huhn stieß ein erschrecktes Gackern aus.

»Wir haben die Flussmündung gefunden!«, rief der Steuermann. »Verhängt das Licht, damit ich die Barinsteine draußen besser sehen kann.«

Grungi nahm den Barinstein aus der Halterung und ließ ihn in einem Samtsäckchen verschwinden. Schlagartig wurde es finster.

ER hatte das Gefühl, dass der Gestank zunahm. »Warum ist das Huhn eigentlich mit dem Kopf nach unten aufgehängt?«

»Hast du noch nie geschlachtet, Kaufmann?«, erklang es irgendwo im Boot.

Ein Ruck lief durch den Aal. Wieder waren sie gegen einen Fels gestoßen!

»Wenn man die Viecher mit dem Kopf nach unten hält, dann zappeln sie weniger.«

DU hast es so haben wollen, ermahnte ER sich in Gedanken. Es ist eine Prüfung, die DU DIR selbst auferlegt hast. Der mächtigste Jäger, der die Himmel Albenmarks regierte, zusammengeschrumpft auf Zwergengestalt und eingesperrt in dieses kleine, stickige Boot. Welch eine wunderbare Übung in Geduld und Demut. Welch ein Kontrast zu seinen Plänen, die Götter zu stürzen!

Das Huhn über SEINEM Kopf stieß leise, wimmernde Laute aus, die im allgegenwärtigen Schleifen der Kurbelwelle fast untergingen. Und ER gefiel sich in seiner Vollkommenheit.

Einer der Steuerhebel knirschte. ER konnte spüren, wie sich das Boot gegen die Strömung stemmte und um ein paar Grad nach Steuerbord abschwenkte. Kurz sah ER Licht durch eines der Augen des Aals fallen. Das musste einer der Barinsteine sein, die gefährliche Felsen in der Passage markierten.

Die Zwerge kauerten schweigend, die Rücken gegen die Bootswand gepresst, und traten die Kurbelwelle. Jeder hing seinen Gedanken nach. Selbst das Huhn war jetzt ganz still.

Wenn Licht durch die Augen des Aals fiel, konnte man kurz die Gesichter der anderen erkennen — Landschaften aus bleicher Haut und Schatten. Sie waren zu zwölft. Die Unyleh war ein mittelgroßer Aal, und sie war mit allerlei Waren vollgestopft. Ein Teil hing in Netzen an der Decke und reduzierte den freien Raum über ihren Köpfen auf knapp eine Handbreit. Der Rest war in besonderen Frachtkisten verstaut, die der zylindrischen Rumpfform angepasst waren. Sie dienten ihnen zugleich auch als Sitzplätze.

IHM war schleierhaft, wie man auf diese Art des Reisens verfallen konnte. Es war gefährlich und unkomfortabel. Und all dies, nur um sich nicht an der Erdoberfläche blicken zu lassen. ER dachte an SEIN Ziel und tastete nach dem neuen Stein, den ER wohlverstaut in einem Lederbeutel an SEINEM Gürtel trug. Bald würde ER jene Himmelsschlangen zusammenrufen, denen ER vertraute. ER hatte sich etwas überlegt, das sie für immer miteinander verbinden würde.

»Hast du Angst?«, fragte IHN der alte Hauer an SEINER Seite.

»Nein, ich empfinde diese Art des Reisens als eine willkommene Gelegenheit zur Innenschau.«

Der Zwerg glotzte IHN an. Es war unübersehbar, dass er mit dieser Antwort nichts anfangen konnte. »Ich habe schon viele Fahrten hinter mir, ohne dass je ein Unfall geschehen wäre.«

Wie um seine Worte zu verhöhnen, lief erneut ein Ruck durch den Aal, und der Schutzbügel am Rumpf schrammte laut über Fels.

Einige der Passagiere stöhnten leise auf.

»Weitertreten!«, befahl ihr Steuermann. »Hier ist die Strömung stark. Wenn wir jetzt an Fahrt verlieren, bricht das Boot aus und wir werden auf die Klippen getrieben, die irgendwo steuerbords voraus liegen! Also treten!«

ER schloss die Augen und kämpfte den Instinkt nieder, SEINE wahre Gestalt anzunehmen. Wann immer ER sich bedroht fühlte, wollte ER sich in seinen Drachenleib flüchten. Als Himmelsschlange war ER ein unüberwindlicher Gegner. Doch in diesem Boot mochte IHN dieser Instinkt töten, wenn ER ihm nachgab. IHM war nur allzu bewusst, dass auch ER sterblich war. Wenn ER sich verwandelte, würde SEIN sich ausdehnender Leib den Aal zerfetzen. Er würde in tosender Strömung in einem Tunnel treiben und müsste darauf hoffen, dass ER während der Transformation, wenn ER am verwundbarsten war, nicht gegen einen Felsen geschleudert würde.

»Weißt du, was das Geheimnis ist?«, raunte der Zwerg an SEINER Seite. »Es ist die Kraft positiver Gedanken. Du musst einfach an das Beste denken und nicht an alle möglichen Unglücke, die geschehen könnten. Unsere Gedanken formen unser Leben!«

Grungi auf dem Sitzplatz gegenüber zog sich einen Popel aus der Nase und betrachtete ihn nachdenklich. Nach einer Weile drehte er ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, bis er eine Kugel war, dann schnippte er ihn davon. »Das sind wir, alter Mann. Ein Popel in der Hand des Schicksals. Eben noch sicher in der Nase geborgen, dann herausgerissen und achtlos irgendwohin geschleudert. Positive Gedanken? Dass ich nicht lache! Wir sind Spielbälle des Schicksals. So war es immer und so wird es immer sein.«

ER blickte angewidert auf den kugelförmigen Popel, der SEIN Wams getroffen hatte, und dachte, wie recht Grungi doch hatte. Sobald der Aal sein Ziel erreichte, würde Grungi einen Unfall haben. Einen blutigen, sehr drastischen Unfall. Etwas, das ihm große Schmerzen bereitete, bevor er endlich starb.

ER klopfte den Popel ab. »Ich glaube, manchmal ist es klüger, sich an die positiven Gedanken zu halten. Ich bin auch überzeugt, dass das Leben dann glücklicher verläuft.«

Schlangen

Nandalee schob den Kopf durch das Luk und atmete tief ein. Endlich war sie diesem verfluchten Boot entkommen. Hinter ihr fluchte ein Zwerg und versuchte sie weiterzudrängen. Verdammtes Pack, dachte sie und beeilte sich, die letzten Stufen der Leiter zu erklimmen. Sie hatte diese Reise gehasst, das Eingesperrtsein in die stinkende hölzerne Tonne. Sie hatte geglaubt, sie müsse verrückt werden von dem mahlenden Geräusch der Kurbel, von der Gewissheit, dass hinter den zwei Zoll dicken Eichenbohlen Dunkelheit und Tod lauerten.

Zuletzt hatte der Drache wohl einen Zauber auf sie gelegt. Anders konnte sie sich nicht erklären, warum sie plötzlich ruhiger geworden war. Auch er war angespannt gewesen. Sie merkte es, wenn er in Gedanken zu ihr sprach. Seine Worte brannten dann heißer. Sie spürte, dass es nicht wegen der Zwerge oder der Reise in diesem verdammten Aal war. Es lag an dem, dem sie folgten. Der Dunkle schien eine Ahnung zu haben, wer Alben verschwinden ließ, aber vertraute sich ihr nicht an. Was brauchte er auch den Rat einer Elfe? Sie hatte ihre Nützlichkeit überlebt. Jetzt war sie nur noch ein Klotz an seinem Bein, dachte sie bitter.

Nachdem der Dunkle entdeckt hatte, dass jemand durch den Albenstern der Tiefen Stadt getreten war, waren sie zum Hafen hinabgehetzt, aber sie waren zu spät gekommen. Direkt vor ihren Augen tauchte ein Aal ab.

Nandalee fand Stiefelspuren des geheimnisvollen Zwergs am Kai. Es gab keinen Zweifel, dass sie den, der vielleicht mehr über das Blut im Hain der Albe wusste, um wenige Augenblicke verpasst hatten. Drei Stunden hatte es gedauert, bis es dem Dunklen gelungen war, Männer und Boot zu finden, um dem Aal zu folgen, und so hatte auch Nandalees Martyrium in dem verfluchten schwimmenden Sarg begonnen. Freiwillig würde sie nie wieder einen Fuß auf solch ein Gefährt setzen, und ihr war immer noch übel von der Reise. Zum Zwergsein war sie nicht geboren, so viel stand fest.

Vom Anlegesteg her streckte ihr jemand eine fleischige Hand entgegen und sie ergriff sie dankbar. Ihre Beine schmerzten und der Aal, der noch nicht fertig vertäut war, schwankte unter ihren Füßen.

Dutzende Bewaffnete standen entlang des Kais. Mit gespannten Armbrüsten und langen Speeren spähten sie zu ihnen hinab. Unwillkürlich griff Nandalee an ihren Gürtel, dorthin, wo sie sonst ihr Jagdmesser trug. Sie wollte zurückweichen, doch der Kerl hinter ihr schob sie weiter und raunzte sie an. »Mach schon, du Trottel — ich will endlich von dem Fass weg! Stehen und gaffen kannst du auch auf dem Kai.«

Sie kämpfte gegen die Panik an. Hatte der Zwerg, dem sie folgten, für diesen Empfang gesorgt? Reiß dich zusammen, schalt sie sich, griff nach der Sprossenleiter und kletterte auf die gemauerte Anlegestelle.

Die gespannten Armbrüste folgten ihren Bewegungen nicht, sondern blieben auf den Aal und das dunkle Wasser gerichtet. Erleichtert ließ sich Nandalee auf einem Stapel Stoffballen nieder und sah sich um. Der Hafen ähnelte jenem, den sie vor anderthalb Tagen verlassen hatten. Nur dass es hier keine Wasserfälle gab und die Decke der weiten Grotte etwas niedriger war. In der Werft am Ufer lagen die Gerippe dreier halb vollendeter Aale. Die Arbeit dort ruhte. Über dem ganzen Hafen lag eine eigentümliche Spannung.

Endlich stieg auch der Dunkle hinauf auf den Kai, wechselte kurz ein paar Worte mit einem der Umstehenden und kam dann zu ihr hinüber.

Er war hier. Seine Worte waren ein brennender Schock. Der Drache wirkte kraftvoll und entschlossen, aber Nandalee fühlte sich von der Fahrt in dem Aal weit über das rein Körperliche hinaus erschöpft. Als sei ihr die Seele selbst stumpf und müde geworden. Sie raffte sich auf und deutete auf die Bewaffneten am Kai. »Was hat die Zwerge aufgeschreckt?«

Der Dunkle schüttelte den Kopf und winkte ihr, sich zu beeilen. Träge folgte sie ihm eine weite Rampe hinauf, als sie getrocknetes Blut auf dem Pflaster entdeckte. Viel Blut! Schlagartig war ihre Müdigkeit verflogen. Aufmerksam musterte sie die Bewaffneten. Was war hier geschehen? Gegen wen hatten die Zwerge gekämpft? Wen oder was erwarteten sie?

Der Dunkle ging weiter, ohne innezuhalten. Er schien den Hafen zu kennen. Den Hafen einer Zwergenstadt! Das war ihr unheimlich. Waren die Himmelsschlangen wirklich tagtäglich unter ihnen, ohne dass man sie bemerkte?

Endlich erreichten sie einen Tunnel, in dem sie allein waren. »Es hat einen Unfall gegeben«, sagte er. Auch jetzt war Nandalee erleichtert, dass er nicht in ihren Gedanken sprach. »Dem Aal, der vor uns angekommen ist, folgte eine große Weiße Schlange. So etwas ist noch nie vorgekommen. Als die Besatzung den Aal verließ, griff sie völlig überraschend an. Sie hat einen Zwerg erwischt. Die übrige Besatzung konnte ihn noch auf den Kai zerren, aber er hat beide Beine verloren.«

»Eine Weiße Schlange?«

»Das sind Seeschlangen, Dame Nandalee. Wenn sie lange in unterirdischen Gewässern leben, verlieren ihre Schuppen alle Farbe. Sie sind wilde Jäger, aber dass sie einen auftauchenden Aal angegriffen haben, ist ungewöhnlich. Sie wagen sich nur selten in die Häfen der Zwerge.«

»Glaubst du, sie ist gerufen worden?«

»Vielleicht«, sagte er tief in Gedanken. Dabei fuhr er sich in einer flinken, scheinbar unbewussten Geste mit der Zungenspitze über die etwas zu spitzen Eckzähne. Er hatte Blut gerochen, erkannte Nandalee. Er witterte seine Beute. »Warum derjenige, den wir suchen, eine Weiße Schlange rufen sollte, erschließt sich mir nicht. Das erregt nur unnötig Aufsehen. Bisher hatte ich den Eindruck, dass er sehr unauffällig vorgeht. Lasst uns weitereilen, meine Holde. Hier werden wir die Antwort nicht finden. Kommt nun! Wir haben viel Zeit verloren. Ich schätze, er hat mehr als sieben Stunden Vorsprung. Wahrscheinlich habt Ihr recht und er ist tatsächlich auf dem Weg zur Kammer der kommenden Offenbarungen

Der Drache wirkte angespannt, als sie weitergingen. Immer wieder verharrte er und lauschte … Nein, es waren wohl andere, ihr unbekannte Sinne, die er nutzte. Fürchtete er einen Hinterhalt? Seine Anspannung übertrug sich auf sie. Ihre unförmigen Hände schwitzten und eine Stelle auf ihrem Rücken juckte, die sie mit den kurzen, muskulösen Zwergenarmen nicht erreichen konnte. Schweigend folgte sie dem Dunklen durch das Labyrinth von Tunneln.

Diese Tiefe Stadt hatte einen anderen Geruch als die, aus der sie kamen. Über dem Rauch von Holzkohlefeuern lag der schwere Duft von gebratenem Speck und Bohnen. Auch das Gestein hier hatte eine andere Beschaffenheit. Es war von hellem Grau mit silbernen Einsprengseln. Häufig säumten Steinmetzarbeiten die Tunnelwände. Diese Stadt war schöner. Vielleicht war sie älter, überlegte Nandalee, und ihre Bewohner hatten mehr Zeit gehabt, den Ort, an dem sie lebten, zu schmücken. Trotzdem empfand sie die Enge der Tunnel immer noch bedrückend. Sie wäre froh, wenn sie endlich wieder unter freiem Himmel stand. Noch etwas war seltsam an der Zwergenstadt, wie Nandalee jetzt erst auffiel. Sie begegneten ausschließlich Männern. Wo wohl die Frauen und Kinder steckten?

Gute zwei Stunden später erreichten sie die Kammer der kommenden Offenbarungen. Die Höhle, in der sich der Albenstern befand, war ganz mit weißem Marmor ausgekleidet. Auch hier gab es Kristalle, die man in den Fels eingelassen hatte. In Dutzenden kaum handgroßen Wandnischen standen winzige Skulpturen – Bildnisse der Erstgeborenen der Sippen dieser Stadt, wie ihr der Dunkle erklärte.

Ein Wort der Macht ließ zwei Schlangen aus Licht aus dem Fels aufsteigen. Es sah so einfach aus, wenn der Dunkle ein Tor öffnete. Sie dachte an Gonvalon und daran, welche Angst er vor diesem Zauber gehabt hatte. Die Erinnerung an ihn versetzte ihr einen Stich. Ein endlos langes Jahr würde sie ihn nicht wiedersehen.

Der Dunkle streckte seine Hand nach einer der Schlangen aus; hellblaues Licht umspielte seine Finger. »Er war hier und … Er ist nach Nangog gegangen!«, sagte er fassungslos. »Nach Nangog!«

»In die verbotene Welt?« Für Nandalee war dieser Ort noch ferner und unvorstellbarer als die Bergreiche der Zwerge. Ein Ort, wo ungeahnte Schrecken lauerten. Eine Welt, die nur in Legenden existierte. Ein Tabu.

»Wir sind einem Devanthar gefolgt!«, sagte der Dunkle plötzlich. »Ich habe von Anfang an gespürt, dass etwas mit der Art, wie die Zauber gewoben sind, nicht stimmt. Wir müssen zurück! Die Alben müssen wissen, was geschieht.«

Nandalee sah ihn entsetzt an. Die Devanthar waren die Verkörperung des Bösen. Lebendig gewordene Heimtücke und Verrat. Und vor allem waren sie unglaublich fern! Es gab sie nicht in Albenmark! Sie lebten in der Welt der Menschenkinder und konnten nicht hierhergelangen, denn die Alben wachten darüber, dass dies nicht geschah. Allerdings war die Albe, nach der sie gesucht hatten, wohl sehr friedlich und entrückt gewesen. Vielleicht hatte der Devanthar sie deshalb ausgewählt. Vielleicht … Sie starrte den Dunklen entsetzt an. »Glaubst du, dass der Devanthar zu ihr kam, um sie zu …«

Undenkbar! Der Flammenschrei löschte all ihre Gedanken aus. Nie hatte sie den Dunklen so erschüttert gefühlt. Sie war nicht wehrlos. Ein Wort von ihr hätte Berge einebnen können.

»Und doch ist sie verschwunden«, wagte Nandalee einzuwenden. Sie sprach kurzatmig. Keuchte gegen den Schmerz an.

Der Drache schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, eine Albe zu ermorden, das würden die Devanthar nicht wagen. Damit würden sie einen Krieg der Welten heraufbeschwören.«

Die beiden Lichtschlangen hatten sich zu einem Bogen geschlossen. »Kommt, Dame Nandalee«, sagte der Drache und reichte ihr die Hand. Seine Stimme klang entschlossen, als riefe er sein Heer in die Schlacht, und seine Berührung ließ die Kraft und Entschlossenheit auch in ihr Herz strömen. »Wir werden nicht nach Nangog gehen. Wir kehren zurück in den Jadegarten, meine Holde. Und dann werde ich den Sänger suchen.«

Abschied

Gonvalon blickte auf das Gesicht im Stein. Es war unvollendet. Unvollendet wie ihr Leben. Herausgerissen vor der Zeit. Er legte den Kopf in den Nacken, blickte zum Himmel hinauf und sah den treibenden Wolken zu.

Bidayn hatte ihn gebeten, mit ihm kommen zu dürfen. Sie hatte nicht gewusst, wohin er gehen würde, aber sie hatte geahnt, dass es ein Platz sein musste, an dem er um Nandalee trauerte.

Sie hatte Blumen mitgebracht und vor den Fels gelegt, in den er das Gesicht geschlagen hatte. Ihm kam das unpassend vor. Wenn sie fort wäre, würde er die Blumen wegwerfen. Nandalee hatte das Wilde gemocht, das Natürliche. Tote Blumen waren nichts, das sie sich zu ihrem Andenken gewünscht hätte. Eher schon, dass ihr gemeißeltes Gesicht langsam hinter Efeuranken verschwand. Hinter etwas, das lebendig war und hierhergehörte. In den Wald. Ganz so, wie sie hierhergehört hatte.

Gonvalon konnte spüren, dass Bidayn reden wollte. Aber er würde es ihr nicht leicht machen. Er war an Bidayns Befragung durch die Meister der Weißen Halle beteiligt gewesen. Er wusste, dass sie Nandalee von dem verborgenen Fenster erzählt hatte.

»Darf ich es berühren?« Bidayn deutete auf das gemeißelte Antlitz und er nickte kaum merklich. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie die Hände ausstreckte. Sie beugte sich vor, als seien ihre Füße mit dem Waldboden verwurzelt, und berührte gerade eben mit den Fingerspitzen die steinernen Wangen.

»Das ist sie«, flüsterte Bidayn, ohne ihn direkt anzusprechen. »Schroff und unvollkommen und wunderbar …« Sie atmete schwer, als koste es sie all ihre Kraft, ihre Tränen zu unterdrücken. »Ich habe sie immer für unbesiegbar gehalten. Sie war immer härter als ich. Besser. Ich hätte niemals gedacht, dass sie zuerst …«

Er wollte das nicht hören! Keine Schuldbekenntnisse. Sie war nicht mehr und nicht weniger schuld als er. Er sollte kein Meister in der Weißen Halle mehr sein! Der Goldene hatte ihn vor das Fenster gerufen. Ausgerechnet vor das Fenster! Gonvalon hatte ihn gebeten, auf eine Mission geschickt zu werden. Ganz gleich, welche und wohin. Nur fort von hier. Aber die Himmelsschlange hatte ihm nicht gestattet, davonzulaufen.

War es klug zu bleiben? Zu gehorchen? Wussten sie wirklich, was das Beste war? Er hatte ihnen bedingungslose Treue geschworen, als er unter die Drachenelfen aufgenommen worden war. Und jetzt stand er das erste Mal in seinem Leben kurz davor, diesen Schwur zu brechen.

»Ich werde mich um den kleinen Vogel kümmern«, wisperte sie.

Plötzlich war er froh, dass Bidayn da war. Er nickte stumm. »Er fliegt immer noch zu ihrer Fensterbank, nicht wahr?«

»Ja. Er pickt an die Scheibe. Er will hinein. Er kann nicht glauben, dass sie fort ist. Dass sie …« Plötzlich brach sie in Tränen aus.

Gonvalon fühlte sich steif und aller Worte beraubt. Er schreckte davor zurück, Bidayn einfach in den Arm zu nehmen. Er könnte das nicht. Manchmal wurde er nachts wach und hatte das Gefühl, dass Nandalee neben ihm lag. Dass er eben noch ihren Atem auf der Haut gespürt hatte. Er kannte das. So war es bei den anderen auch gewesen. Doch diesmal war es noch stärker.

»Der Stein hier war sehr hart. Ich habe es irgendwann einfach aufgegeben«, sagte er unbeholfen.

»Ich kenne das Gefühl. Man konnte einfach nicht mit ihr streiten. Sie hat sich nie für etwas entschuldigt. Man konnte sie nicht ändern. Man muss schon ziemlich dämlich sein, jemanden wie sie zu mögen.« Sie versuchte zu lachen und endete wieder in Tränen.

Jedes ihrer Worte versetzte ihm einen Stich ins Herz. »Ich muss gehen«, sagte er knapp und wandte sich ohne ein weiteres Wort des Abschieds ab.

Der weiche Boden federte unter seinen Schritten und der unverwechselbare Geruch des feuchten Laubs stieg ihm in die Nase. Es war der Duft ihrer Liebesnächte gewesen. Der Duft, der durch die Wildschweinfelle und das Moospolster drang, wenn sie in dem Unterstand beieinanderlagen. Ihr Haar hatte immer nach Wald gerochen. Und nach Wind. Er lachte bitter auf. Was spann er sich da zusammen! Der Wind hatte keinen Geruch!

Gonvalon begann zu laufen. Er würde bis zur völligen Erschöpfung laufen. Bis die Müdigkeit jeden Gedanken an sie ausmerzte. Bis nichts mehr in ihm sein würde. Kein Schmerz, kein Gedanke. Nichts als taube Müdigkeit, die in traumlosen Schlaf mündete.

Die Form wahren

Seit ihrer Rückkehr war der Dunkle tief in Gedanken. Die Gazala hatten sich aus der Säulenhalle zurückgezogen, der Drache hatte wieder seine wahre Gestalt angenommen, aber Nandalee war noch immer im Leib eines Zwergs gefangen. Der plumpe Körper machte ihr zu schaffen. Schon mehrfach war sie durch das Gesichtsfeld des Drachen gewandert, um ihn auf sich aufmerksam zu machen, doch er ignorierte sie. Manchmal redete er in einer Sprache, die sie nicht verstehen konnte, mit sich selbst. Er war unverkennbar aufgewühlt und nicht in der Stimmung, sich mitzuteilen.

Nandalee wusste nicht, wohin sie gehen wollte. Die weite Halle zu verlassen wagte sie nicht. Was, wenn er fort wäre, ehe sie zurückkehrte? Dann wäre sie womöglich für viele Tage in diesem gedrungenen Körper gefangen. Hatte er nicht gesagt, er wolle die anderen Himmelsschlangen zum Rat einberufen? Warum war er dann noch hier? Was hielt ihn zurück? Wenn er nur mit ihr reden würde! Natürlich, sie war in seinen Augen nur ein Staubkorn, und vielleicht hatte er sie ja sogar schlichtweg vergessen – wer wusste das schon. Und woher sollte sie wissen, was ihm half? Ihr half es, wenn sie über ihre Gedanken und Sorgen reden konnte. Wenn sie gezwungen war, etwas in gesprochene Worte zu fassen, klärte sich oft das Durcheinander ihrer Gedanken.

Der Dunkle glitt von der flachen Felsinsel, die sich in vielen Jahrhunderten der Form seines Drachenleibs angepasst zu haben schien. Feine Linien zogen sich durch das Gestein, als könne man Platten aus dem Fels herauslösen. Nandalee kannte Geschichten, dass Drachen über Schätze wachten, einen Hort aus Gold und Edelsteinen. Aber wahrscheinlich waren das nur Märchen. Zumindest die Himmelsschlangen könnten gewiss jeden Schatz der Welt an sich reißen, wenn sie es nur wollten. Machte das Schätze dann nicht wertlos? Was also mochte sich unter dem seltsamen Thron verbergen?

Ich werde nun zu meinen Nestbrüdern reisen. Die unerwartete Hitze seiner Worte ließ sie zusammenfahren.

»Ich brauche meinen alten Leib zurück!«, platzte sie da heraus. »Ich kann es nicht länger ertragen, im Körper eines Zwergs gefangen zu sein!«

Wir hatten diese Angelegenheit doch bereits besprochen, meine Holde.«

»Ich verstehe nicht …«, begann sie vorsichtig. »Ich kann mich nicht erinnern …«

Er wandte sein mächtiges Haupt zu ihr herum und musterte sie. Ich sagte zu Euch: Ich hoffe, Ihr erinnert Euch noch gut an Euren Körper! Habt Ihr das vergessen? Ihr habt mir nicht darauf geantwortet. Also nahm ich an, dass dies kein Problem darstellt.

War das Spott? Oder meinte er es ernst? Sie vermochte seine Gedanken nicht einzuordnen. »Es bereitet dir doch sicherlich keine große Mühe, mich zurückzuverwandeln«, sagte sie demütig.

Jetzt wich das Interesse in seinem Blick einem lauernden Starren, und obwohl sie all ihren Trotz aufbot, vermochte sie dem Drachenblick nicht standzuhalten. Dünner blaugrauer Rauch stieg aus seinen Nüstern. Das kommt darauf an, wer diesen Zauber webt. Ihr seid hier, um zu lernen – sowohl Euch selbst zu beherrschen als auch um Eure Kunstfertigkeit im Zauberweben zu vervollkommnen. Dies ist meine erste Aufgabe für Euch, Dame Nandalee. Eine Aufgabe, in der beide Gebiete, in denen Ihr lernen sollt, vereint sind. Ihr werdet Euch selbst zurückverwandeln. Und wenn ich Euch einen Rat geben darf, meine Holde – geht vorsichtig dabei vor. Es könnte Euch umbringen, wenn Organe wie die Nieren oder die Leber nicht an der richtigen Stelle liegen oder nicht ausreichend mit Blut versorgt sind. Es genügt also nicht, wenn Ihr Euch an Euer Spiegelbild erinnert. Kleine Abweichungen in diesem Bereich sind höchstens unter ästhetischen Gesichtspunkten interessant. Bedeutend ist allein, dass Ihr Euch gut an Euer Innerstes erinnert. Dass Ihr die ganze Tiefe Eures Wesens versteht. Bemüht Euch, die Form zu wahren, Dame Nandalee. Ich wünsche Euch gutes Gelingen. Es wird eine Weile dauern, bis ich hierher zurückkehre.

Sie dachte an den schrecklichen Tod von Sayn. Woher sollte sie wissen, wie sie in ihrem Inneren ausgesehen hatte? Sie konnte sich ja nicht einmal an die Form ihrer Nase erinnern. Sie war keine jener Elfen, die Stunden damit verbrachten, selbstverliebt ihr eigenes Spiegelbild anzugaffen! Nandalee spürte, wie sich ihr Innerstes zusammenzog. Das konnte nicht wahr sein. Das war ein Scherz! »Bitte lass mich nicht so zurück. Ich brauche einen Meister, um solche Zauber zu weben. Ich brauche Anleitung!«

Der Dunkle schien zu lächeln. Nachsichtig, fast mitleidig. Verständnisvoll. Sie hasste ihn für dieses weiche Schimmern in seinen Raubtieraugen. Er war ein Liebling der Alben. Vielleicht die erste Kreatur, der sie je Leben eingehaucht hatten. Ihm stand jeder Weg offen. Er war wie ein Gott. Wie hatte sie so vermessen sein können, zu glauben, dass sie ihn verstehen würde? Wie hatte sie Mitleid und Hilfe erwarten können? Sie war nicht mehr als eine bunte Raupe, die er interessiert beobachtet hatte. Vielleicht würde er sich schon bald nicht mehr an sie erinnern. Nein, dachte sie. Das war es nicht. Er würde zurückkehren, wenn aus der Raupe ein Schmetterling geworden war. Nandalee sah auf das schwarz spiegelnde Wasser, und das verhasste Zwergenantlitz blickte zurück. Dann sah sie erneut zu dem Dunklen auf, und legte all ihren Zorn in ihren Blick.

»Ich hasse dich«, flüsterte sie. »Wenn du das tust … Wenn du mich wirklich hier zurücklässt … dann …« Sie verstummte. Mit was hätte sie ihm drohen sollen? Dennoch hielt sie seinem Blick stand und sah, dass sich etwas darin verändert hatte.

Hass, meine Holde? Es schien ihr, als husche ein Anflug von Traurigkeit über seine Züge. Unbeugsamkeit und Trotz sind Euer Charakter, meine Holde. Ihr werdet viel mehr erreichen, wenn Ihr Euren eigenen Weg geht. Transformation im Körper wie im Geiste – nicht weniger ist das Ziel Eures Lehrjahres bei mir. Nutzt es gut. Dann werden wir einander wiedersehen. Ob in Hass oder in Freundschaft, wird sich zeigen.

Er sprach ein Wort der Macht und war, ohne ein Albentor zu öffnen, von einem Moment auf den anderen einfach verschwunden. Nur die Hitze seiner Worte hallte noch in ihr nach, doch dann verging auch sie. Nandalee war allein.

Das Gesicht verlieren

Artax’ Blick schweifte über die weite Ebene. Etwas mehr als eine Meile entfernt übten die Streitwagengeschwader, die er aus den Piraten aufgestellt hatte. Er war überrascht gewesen, wie wenige von ihnen in den vergangenen Monden desertiert waren. Er zahlte ihnen guten Sold, und sie waren bei der Sache. Er hatte den unsterblichen Madyas, den Großkönig von Ischkuzaia, an seinem Wandernden Hof besucht und mit ihm über eine Gefälligkeit verhandelt. Madyas’ Preis war eine Herde aus fünfhundert Pferden gewesen. Das war nicht zu viel für den Schlag, den er gegen Muwatta plante. Ein Schlag, der den großen Krieg vielleicht verhindern würde. Noch hatte Artax die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, dass die Vernunft siegen könnte und sie einen Weg zur Einigung finden könnten. Wenn dies allerdings nicht der Fall wäre, sollte sein Heer so gut vorbereitet sein, wie es nur möglich war.

Artax’ Gedanken schweiften erneut ab zu seinem Besuch am Wandernden Hof. Er hatte gehofft, dort Shaya zu begegnen, doch die Prinzessin war allem Anschein nach noch immer in Nangog. Er dachte oft daran, wie ihm die selbstsichere Kriegerin mit der Dornaxt in der Hand auf dem Deck des schwebenden Palastes gegenübergestanden hatte. Und an jene Nachmittage, als sie ihn auf dem Krankenlager besucht hatte. Artax lächelte gedankenverloren. Würden sie jemals allein miteinander sein können? In einer Hütte fern der Zeit, wie er sie sich einst mit Almitra erträumt hatte? Almitra, deren Bild mit den Monden, die vergangen waren, in seinen Träumen ganz und gar zu Shaya geworden war? Er war einer der mächtigsten Männer unter den Sterblichen und doch blieben ihm so viele Dinge versagt.

Deine Wünsche sind lächerlich, mischte sich die unwillkommene Stimme in seinen Gedanken ein. Was findest du an einem hageren, nach Pferden stinkenden Weibsbild? Wann wirst du endlich deine bäurischen Vorstellungen von Vergnügen ablegen? Das hier ist Vergnügen! Artax sah fremde Erinnerungen. Einen engen, mit Blumen geschmückten Hof. Die Wände waren mit erotischen Szenen bemalt. Er war in Urat, dem Palast der Morgenröte, Aarons Residenz weit im Osten nahe den Bergen von Kush. Ein junges Mädchen gab sich ihm hin. Wie alt mochte sie sein? Fünfzehn? Vierzehn? Ihre Brüste waren kaum gereift. Sie kniete vor ihm. Sie hatte Angst davor, dass er mit ihr auf jene Weise verkehrte, wie es die Götter für Männer und Frauen vorgesehen hatten. Zwei Mal hatte er das bereits getan und sich dabei an ihren Tränen ergötzt. Nun begann sie ihn zu langweilen. Sie glaubte, dass sie ihn auf diese Weise befriedigen könnte. Glaubte, sie würde ihn hereinlegen können. Ihn, den Unsterblichen. Im Schatten eines Säulengangs wartete Sulumal, der Hauptmann der Palastwachen, der ihn so tief verstand. Fast waren sie verwandte Seelen.

»Siehst du auch, wovor sie entflieht?«, rief er ihm zu.

Sulumal hatte ein hartes, von der Sonne und dem Wind der Berge gezeichnetes Gesicht. Seine Augen waren schwarz wie die Nacht und ohne Gnade. »Ich sah es und war erzürnt, Erhabener!«

Das Mädchen ließ von ihm ab. Sie blickte zu ihm auf. Ihre Augen füllten sich schon wieder mit Tränen. »Ich …«

Er schlug sie so heftig, dass sie zu Boden geschleudert wurde. »Schweig! Wage es nieder wieder, mich anzusprechen, ohne dazu aufgefordert zu sein!« Er wandte sich an Sulumal. »Wie sollen wir sie bestrafen?«

»In Anbetracht ihres Vergehens würde ich vorschlagen, wir bringen sie in die königlichen Ställe. Dort könnten ihr wahrhaft große Freuden bereitet werden.«

»Was für ein vortrefflicher Vorschlag. Keiner kennt mich wie du.«

Der Hauptmann trat aus dem Schatten und packte das Mädchen. Sie schlug um sich wie eine Wildkatze, aber gegen die Kraft des Kriegers war ihr Widerstand sinnlos.

Artax schüttelte heftig den Kopf und versuchte den unerwünschten Erinnerungen zu entkommen. Doch nichts half. Er sah den Stall. Sah, was sie dem Mädchen antaten.

Artax kämpfte gegen seinen Zorn an. Den Ekel. Die Tränen. Seit einigen Tagen hatte Aaron einen neuen Weg gefunden, ihn zu peinigen. Er ließ Bilder aus den vergangenen Leben in seiner Erinnerung auftauchen. Artax hatte noch keine Möglichkeit gefunden, sich dagegen zu wehren. Immer häufiger quälte ihn Aaron auf diese Weise. Er würde ihn noch in den Wahnsinn treiben. Er würde …

»Sie werden uns zerschmettern«, sagte Juba nüchtern.

Die Worte des Heerführers hatten den Bann gebrochen. Artax keuchte, noch ganz aufgewühlt von Aarons Erinnerungen. Was für ein Ungeheuer Aaron gewesen war!

Ein gelangweiltes Ungeheuer. Du wirst deine Moralvorstellungen noch ändern, das verspreche ich dir. Denk an all das Priesterblut an deinen Händen. Nur weil du sie nicht selbst getötet hast, wird dadurch nicht weniger schrecklich, was du getan hast.

Artax konnte sich nicht erinnern, wie er während seiner Fieberträume den Befehl gegeben hatte, mit solcher Härte gegen die verschwörerischen Priester vorzugehen. Aber er hatte es getan. Oder war es doch Aaron gewesen? Er wusste, dass sein Quälgeist einige Male die Herrschaft über seinen Körper an sich gerissen hatte. Wenn er schwach war, krank, müde oder betrunken. Artax hatte sein Leben geändert, damit das nicht wieder geschehen konnte. Er hütete sich, seine Kräfte zu überschätzen, und gab sich keinen Ausschweifungen hin.

Hab dich nicht so. Steh zu deinen Taten. Damals hast du ausnahmsweise einmal die richtige Entscheidung getroffen.

»Erhabener?«

Jubas Stimme zwang ihn zurück auf den staubigen Hügel. Artax keuchte. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Mir geht es nicht gut«, stieß er hervor und bereute die Worte sofort.

Juba sah ihn durchdringend an. »Vielleicht solltet Ihr aus der Sonne gehen? Es ist sehr heiß hier und …«

»Ich möchte dich um etwas bitten. Wann immer ich scheinbar grundlos den Kopf schüttele oder entrückt wirke, sprich mich an. Oder besser noch, berühre mich. Ich …« Er stockte. Mehr durfte er nicht sagen. Juba war unter all seinen Gefolgsleuten der Treueste und doch konnte er sich ihm niemals ganz anvertrauen. Was sollte er ihm auch sagen? Dass er in Wahrheit einem Bauern diente?

Er wird dich umbringen, wenn er davon erfährt. Er ist zwar nur von niederem Adel und somit wenig mehr als ein Bauer, doch das macht ihn nur umso stolzer.

Artax kniff die Augen zusammen und versuchte sich ganz auf die Manöver der Streitwagengeschwader zu konzentrieren. »Was hältst du von unseren Piraten?«

Juba spuckte aus. »Ein Haufen Dreck sind sie. Nichts wert! Wir verschwenden hier unsere Zeit, Erhabener. Es sei denn, Ihr wolltet schon einmal den Ort in Augenschein nehmen, an dem Euer Heer in seinem eigenen Blut ertrinken wird.«

Artax betrachtete nachdenklich die weite Ebene unter ihnen. Hier würden sich die Heere Arams und Luwiens gegenüberstehen. Kush war ein von himmelhohen Bergen eingefasstes Hochtal. Der Talgrund erstreckte sich flach wie eine Tischplatte. An der breitesten Stelle 30 Meilen weit und fast 70 Meilen lang. Dort, wo die Berge anstiegen, gab es Wasser und etliche kleine Dörfer. Kush gehörte zur Provinz Garagum. Dem Garagum Arams, das benachbarte Hochtal gehörte bereits zum luwischen Garagum. Es war kein reiches Land. Es war Wahnsinn, so viel Blut zu vergießen! »Wie viele Tote wird es geben?«

Juba seufzte. »Bin ich ein Prophet, Herr? Wenn wir uns gut schlagen, werden am Ende der Schlacht von den hunderttausend Kriegern, die hier gegeneinander antreten, vielleicht zehntausend ihr Leben verloren haben. Wenn unsere Truppen in Panik geraten und Muwattas Streitwagengeschwader in die Flüchtenden hineinstoßen, könnte es am Ende auch dreißigtausend Tote und noch mehr geben.«

»Dreißigtausend! Und du hast keinerlei Hoffnung, dass wir siegen könnten?«

Juba ging in die Hocke, setzte seinen schweren Bronzehelm neben sich in den Sand und blickte lange über die Ebene. »Nein«, sagte er schließlich. »Da gibt es keine Hoffnung. Die Luwier sind uns in einer offenen Feldschlacht in jeder Hinsicht überlegen.«

»Aber unsere schnellen Zweispänner können ihre Flanken umfassen und …«

»Und was? Wie viele der schnellen Streitwagen können wir aufbieten? Zweihundert? Dreihundert? Solange seine Truppen in dichter Formation bleiben und ihre Schilde zu einem Wall geschlossen halten, wird das nicht viel nutzen. Und ihre schweren Streitwagen werden wie Rammböcke in unsere Reihen schmettern. Sie werden durchbrechen!«

Artax seufzte. Die heiße Luft glitt in flirrenden Schlieren über die Ebene und gaukelte ihm spiegelnde Seen vor, wo es nur weißen Sand gab. In der Ferne konnte Artax eine einsame Gestalt ausmachen. Ein Wanderer, der inmitten des Meeres aus fließender, heißer Luft zu schweben schien, nicht mehr als ein Schattenriss. Die Gestalt hatte ihren Umhang wie eine Kapuze über den Kopf gezogen, um sich vor der Hitze zu schützen.

Artax wandte sich wieder Juba zu. »Noch dreizehn Monde bis zur Schlacht. Wie ist es hier oben im Mond nach dem Mittsommer? Wird es kühler?«

»Nein, heißer«, entgegnete Juba mürrisch. Schweiß stand auf dem sonnengebräunten Gesicht des Kriegers und durchtränkte sein rotes Stirnband. Der eckig gestutzte dichte Bart ließ sein Gesicht fast wie ein Quadrat aussehen. »Ihr müsst Befehl erteilen, dass unsere Krieger den Tag über gut mit Wasser versorgt werden. Die Hitze wird sehr schnell den Kampfesmut aus ihnen herausbrennen. «

Artax blickte zur gleißenden weißen Sonne am Himmel. »Ab der zweiten Stunde nach dem Mittag wird den Luwiern die Sonne ins Gesicht scheinen. Wenn sie geblendet sind, werden sie schlechter kämpfen.«

»Wenn Muwatta kein Narr ist, wird er bereits am Morgen aufmarschieren. Zur zweiten Mittagsstunde wird die Schlacht schon entschieden sein.«

»Gibt es irgendein Ereignis, das zu unseren Gunsten ausfallen könnte?«

Juba lächelte breit, aber seine Augen blickten hart. »Die Luwier könnten auf dem Anmarsch in einen Staubsturm geraten.«

»Und wenn wir ihr Wasser vergiften?«

Wunderbar! Wir sind begeistert. Endlich fruchten unsere Reden. So gewinnt man Schlachten.

»Spricht da der ehrenvolle Aaron, den ich in den letzten Monden so oft bewundert habe?« Der Feldherr sah ihn nachdenklich an. »Manchmal habe ich das Gefühl, zwei Seelen leben in Eurer Brust.«

»Manchmal glaube ich das auch, mein Freund.« Ob er es doch wagen konnte, sich Juba anzuvertrauen.

Aaron jubelte. Ja, tu das! Wir sind auch dafür. Eine solche Bürde kann eine Bauernseele nicht alleine tragen. Sag ihm, wer du bist!

Ein Stück entfernt rief eine der Wachen. Der Wanderer, der aus der staubigen Ebene gekommen war, war noch etwa hundert Schritt entfernt. Bewaffnete liefen ihm entgegen. Er schlug den Umhang zurück, den er über den Kopf gezogen hatte. Es war der Löwenhäuptige!

Sofort knieten die Krieger nieder. Der Devanthar schritt zwischen ihnen hindurch. Artax spürte ein flaues Gefühl im Magen. War nun die Stunde seines Strafgerichts gekommen? Er dachte an die Reformen der letzten Monde. Und die Unruhe im Reich.

Die bernsteinfarbenen Augen mit der geschlitzten Pupille durchbohrten Artax. Die Reißzähne des Löwenhäuptigen blitzten im hellen Licht. Juba wich ein Stück zurück.

»Du bereitest dich auf den Kampf gegen Muwatta vor? Das ist weise. Muwatta ist weniger um den Ausgang des Kampfes besorgt. Seine Vorbereitungen beschränken sich darauf, dass er damit begonnen hat, Truppen für die Schlacht zusammenzuziehen.«

»Er hat Piraten damit beauftragt, die Zinnflotten Arams zu versenken«, empörte sich Artax. »Er hat den Krieg schon längst begonnen. «

»Meine geflügelte Schwester hat sich erst vor wenigen Tagen beschwert, dass gekaperte luwische Kriegsschiffe in den Häfen deines Reiches gesehen wurden. Hältst du dich an deine Friedenspflicht gegen Luwien?«

»Du weißt, wie diese Schiffe dorthin gekommen sind«, entgegnete Artax aufgebracht. »Er hat dafür gesorgt, dass sie den Piraten in die Hände fielen, damit sie besser bewaffnet waren!«

»Und du hast die luwischen Gesandten, die die Herausgabe der Schiffe forderten, davonjagen lassen …«

»Immerhin habe ich ihnen nicht die Köpfe vor die Füße legen lassen.«

Der Löwenhäuptige bleckte die Zähne. Dann deutete er auf die Ebene hinaus, wo ziehende Staubwolken die Streitwagen verbargen. »Ich weiß, was du planst. Mir gefällt es, dass du ihm seine Piraten zurückschickst. Allerdings ist meine geflügelte Schwester nicht sonderlich angetan von deinen Plänen. Sie möchte deine Männer mit Blitz und Hagelschlag vernichten. Sie ist entschlossen, Muwatta zu schützen.«

»Und warum hast du die Piratenflotten nicht auf den Grund des Meeres geschickt? Was für eine Gerechtigkeit ist das? Was …«

»Götter stehen über Gerechtigkeit! Sie sind frei von allen Fesseln! «

Artax spürte den jähen Zorn des Devanthar wie Flammen auf seinem Leib. Er stöhnte auf. Brach in die Knie. Juba eilte an seine Seite.

»Hinweg mit dir, du Wurm!« Mit einem Wink seiner Hand schleuderte der Devanthar den Kriegsmeister durch die Luft, als sei er nicht mehr als eine Feder. »Deine Taten und dein neuer Ehrgeiz haben mich unterhalten, Aaron. Ich war großzügig zu dir, doch ich dulde keinen Übermut. Du bist mein Geschöpf. Ganz und gar. Lehne dich gegen mich auf, und ich werde dich zerbrechen.«

Aber Artax gab nicht auf und er wollte sich auch nicht einschüchtern lassen. Sein alter Dickkopf erwachte, sein Kampfgeist, sein Widerspruchssinn, der ihn schon viel Unbill in seinem Leben hatte durchstehen und überleben lassen. Der Devanthar sprach über das Leben Zehntausender Menschen, als wäre es so bedeutungslos wie der Staub auf seinem Umhang. Artax war sicher, dass er dem Zorn des Devanthar nicht widerstehen würde. Aber lieber würde er sterben, als ein Mann wie Aaron zu werden. »Wenn ich weiß, dass sie der Zorn einer Göttin treffen muss, weil wir nicht auf dieselbe Gnade hoffen dürfen wie Muwatta, werde ich meine Männer nicht ausschicken«, stieß Artax unter Schmerzen aus. Plötzlich war er ganz und gar von Flammen umgeben.

Juba schrie auf und wollte ihm zu Hilfe eilen, aber ein Fingerschnippen des Devanthar warf ihn erneut in den Staub.

Artax wand sich. Er litt und doch war ihm auch bewusst, dass die Flammen ihn nicht verbrannten. Der Schmerz war echt – alles andere Blendwerk.

Wenn du etwas von mir erbittest, hat das seinen Preis, hallte die Stimme des Devanthar in seinen Gedanken. So hoch du aufgestiegen bist, so tief magst du auch wieder fallen. Ich verspreche dir, deine Söldner zu schützen, wenn sie deine verwegenen Pläne ausführen. Aber wenn du scheiterst, wird ein anderer Aaron sein. Und dich werde ich in irgendeinen einsamen Wald Nangogs schicken. Einen Ort, an dem die Grünen Geister besonders grausam sind. Und du wirst nicht mehr als nur ein Bauer sein. Der Tod wäre eine zu leichte Strafe für dich. Du sollst leben und viel Zeit haben, darüber nachzudenken, was du gewonnen hattest, und wie dein Hochmut all das wieder zu Staub werden ließ.

»Du weißt, wann wir zuschlagen wollen.« Jedes Wort war ein Kampf gegen den Schmerz. Artax bot all seinen Willen auf, doch lange würde er nicht mehr durchhalten. Die Schmerzen würden ihm seine Sinne rauben. Nur dieser eine Gedanke hielt ihn aufrecht – er würde wieder ein Bauer sein! Der Devanthar würde ihm sein Leben zurückgeben! Was ihm als Strafe erscheinen mochte, gab Artax Kraft. Aber dann überwältigte ihn ein anderer Gedanke. Er würde Shaya niemals wiedersehen! »Wird Ištas Aufmerksamkeit abgelenkt sein, weil die Himmlische Hochzeit vorbereitet wird?«, presste er hervor.

Vielleicht. Sie ist eine Göttin. Vergiss das nie! Dass wir uns mit Sterblichen abgeben, bedeutet nicht, dass wir nach eurem Maß zu beurteilen sind. Unsere Macht ist unermesslich. Unser Wille ist für euch unergründlich. Sollte dein Auftreten dazu führen, dass ich mein Gesicht verliere, wirst du dich auf Nangog wiederfinden. Reise mit der Pracht und der selbstbewussten Arroganz eines Unsterblichen. Du bist mehr als ein Mensch. Lass dies jeden spüren, der mit dir zu tun hat.

Die Flammen, die Artax umgaben, verloschen. Der Schmerz verebbte. Die Gestalt des Löwenhäuptigen wurde von gleißendem Licht umfangen. Er schwebte, stieg langsam in den Himmel auf und stand dort wie eine zweite Sonne.

Wachen wie Diener warfen sich in den Staub und selbst die Streitwagen in der Ferne hielten an. Kälte durchdrang Artax und obwohl es ein brütend heißer Tag war, begannen seine Zähne zu klappern, bis er sie fest zusammenbiss und mit geballten Fäusten seine Furcht zu beherrschen versuchte. Er wusste, dass er so nah daran war wie noch nie zuvor, die Gunst des Devanthar zu verlieren. Sollte er seine Pläne aufgeben? Sollte es ihm egal sein, wenn Tausende für ihn auf dem Schlachtfeld ihr Leben ließen? Sollte er sich zurückziehen in die Wälder Nangogs? Wenn er Herrscher blieb, würde er vielen tausend anderen eine bessere Zukunft schenken können, indem er das Reich weiter reformierte und die Schätze gerechter verteilte. Was zählten da tote Krieger?

»Hasst er dich?« Juba hatte sich aufgerappelt. Sein Gesicht war aschfahl. Blut troff ihm aus einem Mundwinkel.

»Nein, das tut er nicht. Er hat mich … erleuchtet.«

»Ich hoffe, nie ein Günstling der Götter zu werden«, sagte der Kriegsmeister aus tiefster Überzeugung.

Artax tastete über seine Arme. Äußerlich waren sie unversehrt und doch schmerzte selbst die leichteste Berührung. »Hol mir Volodi. Ich muss mit ihm über meine Pläne reden. Er soll nur die leichten Streitwagen nehmen. Geschwindigkeit wird der Schlüssel zum Erfolg sein, wenn wir zuschlagen. Und Überraschung. Sie dürfen nicht vor der Mittsommernacht entdeckt werden!«

Ein blasser Faden

Nandalee entschied sich an der Gabelung für den Weg nach rechts. Hier war sie noch nie gewesen, da war sie ganz sicher. Sie rieb die Fackel über die Wand und markierte den Gang. Aufmerksam betrachtete sie die Bilder. Ein fortlaufender Fries, der einen Garten zeigte, schmückte diesen Gang und kein Wasser bedeckte den Boden. Endlich würde sie ihrem Gefängnis entkommen. Sie sehnte sich danach, den Himmel zu sehen und Wind auf ihrem Gesicht zu spüren. Selbst wenn es ein bärtiges Zwergengesicht war.

Nandalee hatte sich an den fremden Körper gewöhnt. Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange sie hier unten schon gefangen war. Viele Tage … Vielleicht auch schon einige Wochen. Ohne je nach draußen blicken zu können, hatte sie ihr Zeitgefühl verloren. Wenn sie in der großen Halle war, brachten die Gazala ihr Essen, doch sie sprachen so gut wie nie mit ihr. Und wenn sie es taten, waren ihre Antworten entweder vieldeutig oder ergaben für Nandalee keinen Sinn.

Die Elfe hielt inne. Sie hatte ein Geräusch gehört. Einen Vogelschrei! Der Ausgang aus diesem verfluchten Labyrinth musste nahe sein! Diesmal hatte sie es endlich geschafft! Sie begann zu laufen, hatte kaum noch einen Blick für die Blütenpracht, die sich auf den Wänden entfaltete. Da war es wieder! Jetzt war sie sich sicher, dass es ein Vogelschrei war. Die Luft wurde auch besser. Sie war schwül und warm, aber es fehlte der Geruch brackigen Wassers.

Plötzlich zerflossen die Bilder an den Wänden, als seien sie auf spiegelglattes Wasser gemalt, in das man einen Stein geworfen hatte. Sie wellten sich, verformten sich. Der Ausblick änderte sich – und Nandalee stand wieder am Eingang der weiten, überfluteten Halle, in deren Mitte sich der flache Hügel erhob, den der Dunkle seinen Thron nannte.

Überwältigt von ihrer Enttäuschung entglitt ihr die Fackel und erlosch zischend im Wasser, das ihr in ihrer Zwergengestalt bis über die Knie reichte.

Zutiefst niedergeschlagen schleppte Nandalee sich zu der flachen Insel. Die Gazala hatten ihr einige Decken dorthin gelegt, damit sie nicht auf nacktem Fels schlafen musste. Die Seherinnen selbst aber waren verschwunden. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass die Gazala durch Wände einfach hindurchschreiten konnten. Die Einsamkeit zehrte an Nandalee. Früher, als sie als Jägerin über die weiten Ebenen Carandamons streifte, war sie oft wochenlang mit sich allein gewesen. Damals hatte sie sich nie einsam gefühlt. Hier war es anders. Hier war sie eingesperrt. Einer Aufgabe überlassen, die sie nicht zu lösen vermochte.

Sie starrte auf ihre Hände. Die verhassten knotigen Zwergenhände. Hände mit geschwollenen Gelenken und zu kurzen, zu dicken Fingern. Sie schloss die Augen. Tränen rannen ihr über die Wangen.

Nandalee zwang sich zur Ruhe. Sie wartete, bis ihr Atem wieder regelmäßig ging, und dachte an den weiten Himmel ihrer Heimat. An das unendliche Blau. Daran, wie sie als Kind auf dem Rücken im Schnee gelegen hatte und sich nicht hatte sattsehen wollen an der unendlichen Weite des Himmels. Diesen Himmel trage ich noch immer in mir, dachte sie. Und niemand kann ihn mir nehmen!

Sie öffnete ihr Verborgenes Auge. Der Anblick der Halle war verwirrend, das Gewebe der magischen Linien vielfältig. Es war wie ein kostbarer Teppich, in den kunstfertige Bilder geknüpft waren. Die natürlichen Muster waren aufgelöst und einem fremden Willen untergeordnet worden. Langsam hob Nandalee ihre Hände vor ihr Gesicht. Hier war es ganz ähnlich. Ein fremdes Muster war in die Magie gewoben, die durch sie floss. Unnatürlich! Wenn sie die Knoten lösen könnte, würde alles vielleicht seine ursprüngliche Form annehmen. Aber sie musste sie entwirren, und durfte dabei nicht mit Gewalt vorgehen. Nichts durchtrennen, denn dann würde sie zugleich ihren Lebensnerv durchtrennen.

Sie hob die Hände so dicht vor ihre Augen, dass die Handteller fast ihre Nasenspitze berührten. Wärme strahlte von ihren Händen ab. Sie war sich sicher, dass ein einziges Wort des Dunklen genügen würde, um ihre Rückverwandlung einzuleiten. Ein Wort!

Sie musste sich frei machen von den Fesseln des Körpers und den Fesseln der Angst, musste eins werden mit dem magischen Gewebe. Sie versuchte, dem Lauf der Fäden zu folgen. Den endlosen Kehren. Frei sein.

Einer der Lichtfäden war anders. Blasser und dünner. Er wirkte, als sei die Kraft von ihm gewichen. Oder als sei er neu? War er am Ende die Fessel, die sie im Zwergenleib gefangen hielt? Musste sie ihn nur durchtrennen, um endlich wieder sie selbst zu werden?

Sie entschied, ihm zu folgen. Sie musste wissen, wo sein Ursprung lag. War es der Zauber des Dunklen, dann würde dieser zarte Faden sie zu ihm führen. Vielleicht wartete er ja sogar darauf, dass sie kam? Vielleicht war dies ihre Lektion und wenn sie ihn fand, dann würde er zurückkehren, um sie endlich zu erlösen?

Sie verengte ihren Blick, bis der blasse Lichtfaden alles war, was sie noch sah. Sie folgte ihm, wurde so winzig klein, dass sie in ihn hineinkriechen konnte, und ließ sich mit ihm gleiten. Sie hatte das Gefühl, dass eine große Last von ihr abfiel. Alles Schwere blieb zurück. Sie flog dahin, eins mit dieser magischen Nabelschnur, die sie mit ihrer Erlösung verband.

Der Flug endete mit einem Ruck. Sie hatte sich in einem Knäuel von Kraftlinien verfangen. Deutlich spürte sie ihr Herz schlagen. Die Angst wollte es schier zum Zerspringen bringen. Sie atmete aus und öffnete die Augen. Ihr Blick war verändert! Viel weiter, so als seien ihre Augen zur Seite ihres Kopfes gewandert. Sie wollte aufschreien und brachte nur ein merkwürdiges Geräusch hervor.

Sie kauerte inmitten eines großen Torbogens und vor ihr … Vor ihr lag das Zimmer, in dem sie in der Weißen Halle gelebt hatte! Nur dass es viel größer geworden war. Dazu erschaffen, eine Riesin in sich aufzunehmen. Und es war nicht leer. Jemand lag in ihrem Bett. Die Decke war über das Gesicht gezogen. Sie konnte nicht genau erkennen …

Plötzlich richtete sich der fremde Besucher auf. Es war Gonvalon! Was tat er da? Warum war er in ihrem Zimmer? In ihrem Bett! War da … Nein, er war allein. Er wirkte verunsichert und blickte zum Fenster. Sein Gesicht schien ihr schmaler geworden zu sein. Aber vielleicht lag es auch an der veränderten Art zu sehen. Der Morgen dämmerte.

Er sah sie an. Kam auf sie zu. Wenn sie ihn nur in ihre Arme schließen könnte! Ihn einmal berühren könnte!

Er schob das Fenster hoch und streute ein paar Körner auf die Fensterbank. »Du vermisst sie auch, nicht wahr?« Die Stimme hallte in ihren Ohren. Ganz fremd.

»Sie wird nicht mehr kommen, Piep.« Er berührte sie. Seine Hand so riesig, dass er sie zerquetschen könnte, strich ihr über den Kopf. Sein Gesicht, weit entfernt, wirkte hart. »Sie wird nicht mehr kommen«, sagte er noch einmal, schloss das Fenster und ging zur Tür. Vorsichtig öffnete er sie einen Spaltweit und spähte auf den Flur. Dann schlüpfte er hinaus. Und es blieb nur das Zimmer, kalt im grauen Morgenlicht. Ohne Seele.

Sie war Piep. Eine Misteldrossel! Es war sinnlos, sich dieser Erkenntnis zu widersetzen. Eben noch war sie in einem verhassten Zwergenleib gefangen gewesen und nun war sie nur noch ein winziger Vogel, gänzlich unfähig, sich auszudrücken. Der Faden aus Licht. Sie musste ihn wieder zu fassen bekommen. Erneut hineinschlüpfen.

Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Ließ sich fallen. Alle Gedanken und Ängste abstreifen. Alles abstreifen … Da war er wieder. Unverkennbar zwischen den stärkeren, hell strahlenden Fäden des magischen Musters.

Als sie die Augen öffnete, war sie wieder ein Zwerg. Und zum ersten Mal, seit der Dunkle sie verwandelt hatte, freute sie sich darüber.

Eins mit der Welt

Er begann verrückt zu werden, dachte Gonvalon. Jetzt redete er schon mit Vögeln. Ja, er hatte sich eingebildet, dass diese dunklen Vogelaugen ihn so angesehen hatten, wie sie es manchmal getan hatte. Nandalee. Ganz zu schweigen davon, dass er in Nandalees Kammer schlich, um heimlich in ihrem Bett zu liegen. Wenn das entdeckt wurde … Nicht auszudenken.

Ailyn empfing ihn mit einem Lächeln. Raureif lag auf der Wiese. Bidayn und die anderen, die gekommen waren, wirkten verfroren. Fast alle Meister und Schüler hatten sich versammelt. Ihre Blicke lagen auf ihm. Aber sie lasteten nicht auf ihm. Man schien ihm nichts anzumerken, dachte er erleichtert.

Er hob sein hölzernes Übungsschwert und grüßte die anderen. Zwei Wochen nach Nandalees Verschwinden hatten die Meister entschieden, dass alle eine gemeinsame Übung täglich abhalten sollten. Sie wollten das Band untereinander stärken. Die Schüler näher zusammenrücken lassen. Vielleicht wäre Nandalee noch hier, wenn sie sich dazu früher entschieden hätten.

Gonvalon ging in den tiefen Stand des erfahrenen Schwertkämpfers. Er bewegte seine Hände, als gelte es, einen großen Ball vor seinem Bauch zu balancieren. Langsam. Er hielt das Schwert in der Linken. Die Klinge war dicht an seinen Arm gepresst, Zeigefinger und Mittelfinger der Rechten waren ausgestreckt. Er konnte die Kraft, die das magische Netz durchströmte, in sich fließen spüren. Und seine Bewegungen waren in Harmonie mit dieser Kraft. Lange hatte er so nur mit einigen auserwählten Schülern geübt. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass Ailyn ihn beobachtet hatte. Vor zwei Wochen war sie überraschend zu ihm gekommen und hatte vorgeschlagen, dass sie alle seinen Schwerttanz lernen sollten.

Stolz erfüllte ihn, als er sah, wie sich Schüler und Meister mit ihm bewegten. Alle im gleichen Tempo. Selbst Bidayn hatte es schnell gelernt. Noch beherrschten sie nicht alle Figuren, doch den Auftakt hatten sie gemeistert. Dreimal wiederholte er mit ihnen, was sie bereits gelernt hatten, dann begannen sie mit den Übungen für eine neue Figur. Sie mussten tief in die Knie gehen. Ein Bein angewinkelt, das andere gestreckt, bis die Sehnen an den Innenseiten der Beine schmerzten. Das Übungsschwert war dicht über dem Boden. Die Linke berührte mit Zeigefinger und Mittelfinger den Puls am rechten Handgelenk. Er spürte nicht nur das Blut, ganz deutlich fühlte er auch die Kraft, die alle Dinge in dieser Welt miteinander verband, durch sich hindurchströmen. Der Schwerttanz lehrte die Schüler, eins zu werden mit allem um sie herum. Wenn das gelang, würden sie sich nach allen Richtungen hin verteidigen können. Sie würden die Angriffe der Gegner kommen spüren, ohne sie sehen zu müssen, und ihre Klinge würde einen silbernen Bannkreis um sie weben, der für die Schwerter der Feinde fast undurchdringlich war. Zum Abschied verneigte er sich und lobte die Besten, aber auch einige der weniger Begabten, die Fortschritte gemacht hatten. Ganz von allein fanden die Schüler in Gruppen zusammen, als sie zum Frühstück gingen.

»Du hast die Weiße Halle verändert, Gonvalon«, sagte Ailyn, als alle anderen gegangen waren.

Er sah sie an und wusste, dass sie kam, um ihn aufzumuntern. »Nicht ich. Du! Ich habe diese Übungen für mich und ein paar Auserwählte ersonnen. Das war sehr selbstsüchtig. Und ein weiterer Beweis dafür, wie wenig ich dazu tauge, ein Meister zu sein. Ich sollte zu den Drachenelfen im Jadegarten gehen und kämpfen.«

Ailyn hob scherzhaft tadelnd einen Finger. »Hör auf dein Herz und du weißt, wie sehr du hier gebraucht wirst.«

»Gerade auf mein Herz sollte ich seltener hören.« Kaum waren die Worte über seine Lippen, da bedauerte er sie. Er wollte sein Selbstmitleid nicht zu anderen tragen. Sich nicht so sehr offenbaren.

Sie sah ihn an, als könne sie bis auf den Grund seiner Seele blicken. »Opfere die Gegenwart nicht der Vergangenheit.« Sie legte ihm kurz eine Hand auf den Arm. Flüchtig. Dabei wirkte sie unbeholfen. Sonst blieb sie immer auf Distanz. Gonvalon konnte sich nicht erinnern, dass Ailyn ihn außer bei Kampfübungen je berührt hätte.

Sie ging ohne ein weiteres Wort.

Er fragte sich, wie viel sie ahnte. Er musste sich besser beherrschen, durfte sich nachts nicht mehr in Nandalees Kammer schleichen. In ihrem Bett, in ihren Kleidern war noch ein wenig von ihrem Geruch. Wenn er sich in ihr Bett legte, war es fast so, als sei sie noch da.

Am Morgen war er aufgewacht, weil er glaubte, ihren Blick auf sich zu fühlen. Dabei starrte ihn nur der kleine Vogel an. Piep hing genauso an ihr wie er. Jeden Morgen war er draußen auf der Fensterbank und wartete darauf, dass Nandalee zurückkehrte.

Gonvalon lächelte bitter. Dass er etwas mit einem Vogel gemeinsam hatte, sprach nicht gerade für seinen Verstand. Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand bemerkte, was er tat, und er zum Gespött der Weißen Halle wurde. Er würde noch einmal darum bitten, zu den Drachenelfen im Jadegarten versetzt zu werden. Zumindest für einige Monde. Auch wenn er dort Nodon treffen würde. Vor langer Zeit waren sie einmal Freunde gewesen. Bis seine erste Schülerin zwischen sie beide getreten war. Nodon hatte geglaubt, dass sie ihn liebte, und er war überzeugt gewesen, er habe sie ihm fortgenommen. Und als sie dann starb … Seitdem suchte Nodon einen Grund, sich mit ihm zu duellieren. Er war zum Anführer der Drachenelfen im Jadegarten aufgestiegen und gut mit dem Schwert. Vielleicht würde er das Duell sogar gewinnen. Es wäre sicherlich leicht, ihn zu provozieren, dachte Gonvalon. Dann würde alles ein Ende finden.

Spuren im Schnee

Es war das vierte Mal, dass Nandalee in den Körper des Vogels geschlüpft war. Einmal nur war Gonvalon nicht in ihrem Zimmer gewesen. Auch der Vogelkörper war ein Gefängnis. Sie wusste nicht, ob sie Piep ihren Willen aufzwingen konnte. Sie wollte, dass er immerzu durch das Fenster in ihr Zimmer blickte, aber das hatte er ja auch schon früher getan.

Manchmal wurde Gonvalon durch Pieps Picken an der Scheibe geweckt. Nun saß sie an dieser Scheibe. Sie konnte nichts spüren, nicht ahnen, was in ihm vor sich ging. Hatten Vögel Gedanken? Doch, ganz gewiss! Warum sonst hätte er immer wieder ihre Nähe gesucht? Nur weil es auf ihrem Fenstersims regelmäßig Futter gab? Das mochte sie nicht glauben. Da war dieses Band zwischen ihnen. Und nur zwischen ihnen gab es eine solche Verbindung.

Sie hatte viele Stunden damit verbracht, ein magisches Band zwischen sich und Gonvalon zu entdecken. Da war nichts, obwohl er ihr mehr bedeutete als die kleine Misteldrossel.

Gonvalon war auch in dieser Nacht in ihr Bett gekommen. Er lag dort, zusammengerollt wie ein schlafendes Kind, die Decke eng an den Leib gepresst. Nandalee ertappte sich bei dem Wunsch, jene Decke zu sein. In seinen Armen zu liegen. So würde es kommen! Der Dunkle hatte versprochen, sie ziehen zu lassen. Aber was geschah, wenn es ihr nicht gelang, ihre wahre Gestalt wiederzufinden? Würde er sie als Zwerg in die Weiße Halle zurückschicken?

Nandalee ärgerte sich über den Gedanken. Sie sollte ganz den Augenblick leben und sich nicht mit den Sorgen der Zukunft belasten.

Warum stand Gonvalon nicht auf? Das erste Morgenlicht sickerte über die Bergkämme. Es war an der Zeit, ihn zu wecken! Sie wusste, dass er schnell gehen musste, damit er wieder in seinem Zimmer war, bevor es wirklich hell wurde und die Weiße Halle erwachte. Die Zeit, die ihr mit ihm blieb, war knapp bemessen, und sie wollte keinen Augenblick verlieren.

Piep pickte mit dem Schnabel gegen die Scheibe. Der Nachtfrost hatte Eisblumen auf das Fenster gezaubert und das Schnabelpicken hinterließ kleine Punkte in der Haut aus Eis.

Piep legte den Kopf schief und betrachtete sein Werk. Wenn sie das nutzen könnte … Sie konzentrierte sich. Bot all ihren Willen auf. Piep pickte erneut an der Scheibe. Nicht ganz so, wie sie es gewollt hatte. War er ihrem Willen überhaupt gefolgt? Es war eine unregelmäßige Linie aus Pünktchen im Eis zurückgeblieben.

Gonvalon erhob sich vom Lager. Er faltete ihre Decke. Sie hatte das nie getan. Dann kam er zum Fenster und öffnete es.

»Guten Morgen, mein kleiner treuer Gefährte. Ich muss dich enttäuschen. Schon wieder bin nur ich es.«

Er sieht traurig aus, dachte Nandalee. Er hat nicht viel geschlafen.

Piep zwitscherte aufgeregt, als wolle er Gonvalon mitteilen, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Gonvalon strich der kleinen Misteldrossel vorsichtig mit einem einzelnen Finger über den Kopf. »Treue Seele«, murmelte er. »Du hast mein Bild von Vögeln verändert.«

Jetzt erst bemerkte Nandalee den Schnee auf der Fensterbank. Eine dünne, puderige Schicht. Vielleicht … Verzweifelt versuchte sie die dünnen Beinchen des Vogels zu erfühlen. Sie zu beherrschen. Sie spürte Widerstand. Es fühlte sich an, als würde sie eine von Feuchtigkeit verzogene Tür aufstemmen. Würde sie Piep schaden?

Sie ließ ihn hüpfen! Es war schwer zu kontrollieren.

»Was ist denn mit dir los?« Gonvalon sah verwundert auf sie hinab. Wenn sie nur sprechen könnte. Nur ein einziges Wort.

Sie dachte an ihren Namen. Blickte hinab in die dünne Schicht von Schnee. Wieder war die Welt so viel weiter. Ihr Blickwinkel verschoben. Es war schwer, den Boden zu betrachten. Eine Spur kleiner Dreizacke war im Schnee zurückgeblieben. Mit viel Phantasie vermochte man ein N zu erkennen. Sie durfte nicht aufgeben! Wieder begann sie zu hüpfen. Linkisch und unbeholfen. Ihre zierlichen Vogelfüße stanzten ein Muster in den Schnee. Am Ende hatte sie ein verzerrtes A zustande gebracht. Erwartungsvoll blickte sie zu Gonvalon auf.

»Ich wünschte, du könntest reden. Dich quält etwas, das sehe ich.« Er strich ihr mit einem Finger über den Kopf und sie empfand es so intensiv, als habe er wirklich sie berührt.

»Du musst mit deinen Kräften haushalten. Der Winter will seine erste Schlacht schlagen. Der Nordwind wird bald wieder über die Berge kommen. Ich kann den Sturm kommen fühlen. Es wäre klug, wenn du mit deinem Weib und deinem Nachwuchs Zuflucht hier im Zimmer suchst. Da wird euch nichts …« Er lachte auf. »Was tue ich! Ich rede mit einem Vogel!«

Nandalee begann zu zwitschern und schlug mit den Flügeln. Warum blickte er nicht in den Schnee?

»Sogar du bist erschrocken über mich, wie ich sehe. Vor dir steht der größte Narr der Weißen Halle und sie nennen mich einen Meister …« Er wandte sich ab.

Wieder zwitscherte sie. Noch eindringlicher jetzt. Und dann begriff sie, was für einen Fehler sie gemacht hatte. Die beiden Buchstaben waren nicht nur krumm und schief, sie standen, von Gonvalon aus betrachtet, auch noch auf dem Kopf!

»Was führst du für ein Spektakel auf?« Er trat noch einmal ans Fenster. Wenigstens das. Nandalee versuchte irgendeinen Laut hervorzubringen, der einem elfischen Wort wenigstens ähnelte. Es war vergebens. Vogelschnabel und Zunge waren nicht dazu geschaffen, Worte zu formen. Nicht bei Drosseln.

Sie hüpfte in Richtung der Buchstaben und breitete einen Flügel aus, um in großer Geste auf ihr Werk zu deuten.

Gonvalon lächelte. Zumindest das!

»Was bist du, Piep? Ein Gaukler unter den Vögeln?«

Sie nickte und verneigte sich.

Ihr Geliebter lachte laut auf. »Man könnte meinen, dass du mich verstehst.«

Wieder nickte und verbeugte sie sich. Dann deutete sie erneut mit einem ausgestreckten Flügel auf die beiden krakeligen Buchstaben. Endlich beugte sich Gonvalon vor. Er betrachtete die Spuren im Schnee. Sie hörte ihn scharf einatmen.

»Das gibt es nicht! Das …« Er streckte die Hand nach ihr aus und sie hüpfte ihm in die offene Handfläche. Behutsam hob er sie hoch, bis er sie dicht vor Augen hielt. Sein Gesicht war, durch die Augen der Misteldrossel gesehen, eine weite, leicht verzerrte Fläche. Fremd und schreckenerregend.

»Was bist du?«

Sie piepste, was natürlich nicht half.

»Was bedeutet das? NA? Ist es ein Zufall? Kannst du mir noch mehr schreiben?«

Sie stieß ein lang gezogenes Trillern aus. Nandalee konnte spüren, wie erschöpft und verängstigt Piep war.

Gonvalons Hand zitterte. »Flieg hinab vor die Weiße Halle. Zum Pavillon auf dem südlichen Weg, wo … Weißt du überhaupt, wo Süden liegt? Haben Vögel Namen für Himmelsrichtungen?«

Wieder piepste sie. Der Schwertmeister hielt sie immer noch dicht vor seine Augen, als hoffe er, auf diese Weise ihr Geheimnis ergründen zu können. »Flieg zum Pavillon«, sagte er schließlich und setzte sie wieder auf das Fenstersims. Nandalee war verwundert. Er hätte sie auch einfach mitnehmen können. Vielleicht wollte er auf diese Weise ergründen, ob sie ihn auch wirklich verstanden hatte.

Unschlüssig tappte sie zum Rand des Simses. Wie sollte sie fliegen? Einfach mit den Flügeln schlagen würde wohl nicht reichen. Sie schreckte vor dem unglaublichen Abgrund zurück. Eigentlich waren es nur drei oder vier Schritt vom Fenstersims bis zur verschneiten Wiese unter ihrem Fenster. Aber für Piep war es … Verdammt, sie war ein Vogel! Natürlich konnte sie fliegen. Nicht denken, handeln, schalt sie sich still und stürzte sich in die Tiefe. Sie streckte die Flügel aus und flatterte wild drauflos.

Nandalee überschlug sich. Sie stürzte dem Schnee entgegen und wich zurück und … Piep übernahm das Fliegen. Er war die ganze Zeit über hier gewesen. Sie hatte ihn ausgesperrt … Nein, das war nicht das richtige Wort. Sie hatte ihn entmachtet. Ihm seinen Körper gestohlen und er hatte dabei zusehen müssen. Erst ihre Angst hatte ihn befreit. Er fing den Sturz ein paar Handbreit über dem Boden ab, stürmte dem Himmel entgegen und flog halsbrecherisch durch eine Lücke im Geäst einer Hecke. Sie konnte seinen Übermut fühlen. Seine Freude daran, wieder ganz Herr seiner selbst zu sein.

Er flog auf den verschneiten Wald zu, in dem er im Sommer seine Brut aufgezogen hatte. Natürlich hatte er nicht verstanden, was mit Gonvalon abgesprochen war. Was er wohl gefühlt hatte? Konnte er spüren, dass sie es war, die sich bei ihm eingenistet hatte? War er ihr böse?

Nandalee dachte an Gonvalon. Sie erinnerte sich, wie sie ihm im Sommer nach einer Schwertkampflektion im Pavillon einige Küsse gestohlen hatte. Er hatte protestiert, weil sie so nahe bei der Weißen Halle waren. Hinter einer Hecke, kaum vierzig Schritt entfernt, übte ein Fechterpaar, und der helle Klang der Klingen hatte ihren Überfall auf ihn begleitet. Er hatte nicht gewollt, dass ihre Liebe in der Weißen Halle zum Gesprächsthema wurde. So hatte Nandalee selbst Bidayn gegenüber geschwiegen. Allerdings war sie sich ziemlich sicher, dass ihre Freundin zumindest geahnt hatte, was vorging.

Die Gedanken an Gonvalon brachten süßen Schmerz. Mit ihm die Liebe zu entdecken war das größte Abenteuer gewesen, das ihr Leben bislang für sie bereitgehalten hatte. Ihm so plötzlich und unvermittelt entrissen zu werden hatte sie tiefer erschüttert als die Trennung von ihrer Sippe. Vielleicht, weil sie in der Halle des Drachen kaum etwas anderes zu tun hatte, als nachzudenken. Wenn sie nur zum Pavillon könnte! Gonvalon wenigstens sehen. Piep hatte den Wald erreicht und landete auf einem kahlen Birkenzweig. Wachsam blickte er zum Himmel. Auf der Suche nach dem Schattenriss eines Falken oder eines anderen Räubers. Nandalee konnte fühlen, was ihn bewegte. Er hatte Hunger und er war ein wenig durcheinander. Er konnte ihre Anwesenheit spüren.

Ob sie ihn zum Pavillon locken konnte? Sie dachte an die halb hinter Rosenranken verborgenen Säulen. An den Fußboden mit seinem wunderbaren Meeresmosaik. Wie Piep die Dinge wohl sah? Das Meeresmosaik war für ihn wahrscheinlich nur eine Ansammlung bunter Steine, so beliebig wie Kiesel, die am Ufer eines Baches lagen.

Nandalee dachte an die kleinen gelbgrünen Schmetterlingsraupen, die Piep besonders gerne fraß. Sie versuchte ein Bild von ihnen in ihren Gedanken zu erschaffen. Ein Bild in allen Einzelheiten. Mit den blauschwarzen Haaren, den dunklen Augen. Ein Bild, wie sie sich krümmten, um vorwärtszugelangen. Als sie all ihre Erinnerungen an die Raupen fokussiert hatte, stellte sie sich den Mosaikboden des Pavillons vor. Und sie ließ Raupen darüber kriechen.

Piep trat unruhig von einem Bein auf das andere. Nandalee konnte seinen Hunger spüren. Er stieß sich von dem dünnen Zweig ab und flog. Er eilte dem Pavillon entgegen. Sie hatte ihn überlistet. Einen Vogel! Sie war nicht stolz auf sich.

Gonvalon wartete bereits. Der Wind spielte mit seinem weiten weißen Gewand. Vollkommen in sich selbst versunken, blickte er auf den Boden des Pavillons. Die Bilder des Meeres waren unter einer dünnen Schicht aus kaltem Weiß verschwunden.

Piep landete genau in der Mitte des Pavillons. Mit ruckenden Bewegungen sah er sich um. Er suchte die Raupen. Dann drängte Nandalee in sein Bewusstsein. Sie begann ihren Tanz, malte mit zierlichen Krallenfüßen und Flügelspitzen, doch nachdem sie die ersten beiden Buchstaben ihres Namens geschrieben hatte, vermochte sie sich nicht mehr zu erinnern, wie fortzufahren war. Wieder und wieder versuchte sie es. Es war, als sei auch ihr Wille von einem Fremden gelenkt. War der Dunkle hier? Hatte er einen Bann auf sie gelegt?

Dreimal hatte sie NA in den Schnee geschrieben. Dann würde sie den Ort verraten, an dem sie gefangen war. Es war der Jadegarten. Das verborgene Tal, in das der Dunkle sich zurückzog.

Erneut begann sie ihren unruhigen Tanz. Hüpfte, sprang und scheiterte. JA. Das war alles, was sie zu schreiben vermochte.

Erschöpft hielt sie inne. Bilder von bunten Raupen bestürmten sie. Hunger.

Gonvalon blickte zu ihr hinab. Die Buchstaben waren unsauber ausgeführt. Manche überlagerten einander. Was konnte sie tun? Sie hatte NA JA in den Schnee geschrieben! Was mochte er nur denken? Dass sich jemand einen Scherz mit ihm erlaubte?

Sie hatte einen letzten, verzweifelten Gedanken. Wenn sie sich durch Schrift nicht auszudrücken vermochte, dann vielleicht durch ein einzelnes Zeichen. Ein Zeichen, das weder ihr Name war, noch etwas über den Ort verriet, an dem sie sich aufhielt. Und doch mochte es Gonvalon das Wichtigste mitteilen. Dass sie lebte.

Nandalee kämpfte gegen ihre Unbeholfenheit und gegen Pieps Schwäche. Sie hatte ihrem kleinen Freund zu viel abverlangt. Hoffentlich sah Gonvalon, wie erschöpft der Vogel war.

Endlich hatte sie ihr Werk vollendet. Sie machte einen Hüpfer zurück, drehte ruckartig den Kopf und blickte erwartungsvoll zu ihrem Geliebten auf. Würde er verstehen, was er sah? War es deutlich genug?

Gonvalon kniete nieder. Seine Finger fuhren über die Linien, die sie in den Schnee gezeichnet hatte, dann sah er sie an. Tränen standen in seinen Augen. Er streckte ihr die Hand entgegen und sie hüpfte auf die offene Handfläche. Vorsichtig umfing er sie mit der zweiten Hand. Sie spürte seine Wärme.

Etwas zerrte an ihr. Gonvalon sprach. Aber sie hörte die Stimme nur noch dumpf, als sei ihr Kopf in Wasser getaucht. Sie wurde durch das magische Band hindurch zurückgerissen.

Etwas drückte ihre Hand. Ihre linke Wange brannte. Sie blickte in opalfarbene blinde Augen.

»Sieh mich an!«, herrschte die Gazala sie an.

Nandalee drehte ruckartig den Kopf zur Seite. Eine Hand fuhr über ihre bärtige Wange. Sie zuckte zurück, wollte die Flügel ausbreiten, um die Balance zu halten. Sie strauchelte.

»Du darfst das nicht tun! Du wirst dich gänzlich verlieren. Er will, dass du zu dir findest. Stattdessen beginnst du dich aufzulösen. «

Auflösen? Was sollte der Unsinn?

Die Hand der Gazala strich über ihr Gesicht. Über den verhassten Bart. Verharrte auf der faltigen Stirn. »Es ist eine Sache, seinen eigenen Körper zu verwandeln. Aber wenn du eine Seele verdrängst, um ihr den Körper zu stehlen, dann beschreitest du den Weg der Dunkelheit. Es ist ein Weg der schnellen Erfolge. Am Anfang. Am Ende jedoch verliert jeder, der diesen Weg geht.«

»Wovon redest du?« Nie zuvor hatte eine der Gazala so lange mit ihr gesprochen.

»Eines Tages, in ihrer größten Not, wird deine Tochter zu mir kommen. Hierher, in den Thronsaal des Erstgeschlüpften. Dies ist eine von unendlich vielen möglichen Zukünften. Vor einer Stunde erst habe ich sie geträumt, und deshalb bin ich hierhergekommen. Es hängt von dir ab, ob deine Tochter ein Geschöpf der Dunkelheit oder eine Streiterin des Lichtes ist. Vielleicht wird sie auch im Widerstreit zwischen beidem zerrissen sein. Sie wird noch mächtiger sein als du, Nandalee. Sie wird die Geschicke Albenmarks lenken. Du aber entscheidest darüber, welchen Weg deine Tochter gehen wird. Es war eine glückliche Fügung, dass ich hierherkam, um dich zu finden, bevor deine Torheit dich auf immer verändert hätte.«

Nandalee betrachtete die Gazala. Ihren seltsamen, verdrehten Körper. Elfenähnlich und doch auch Tier.

»Lasse dich nicht durch Äußerlichkeiten täuschen! Es ist leicht zu erraten, was du denkst. Wir alle haben dich beobachtet. Wir kennen deinen widerborstigen Charakter, deine schnellen Urteile über andere. Aber wisse, es ist nicht der Körper, der zählt. Es ist die Seele, die darin lebt. Und du warst auf dem Wege, die deine für immer zu verformen. Ist dies einmal geschehen, wird deine Seele verändert in den Seelenhort eingehen. Und so wird sie auch wiedergeboren werden. Diesen Makel kann man nicht mehr tilgen.«

»Was habe ich denn getan?«, fragte sie streitlustig. Dieses sonderbare Weib glaubte doch wohl nicht, dass sie sich von finsteren Prophezeiungen über eine Tochter, die sie noch nicht einmal geboren hatte, beeindrucken lassen würde? Oder durch den Verdacht, ihre Seele könne Schaden nehmen.

»Du hast dich des Körpers eines Tieres bemächtigt, richtig?«

Nandalee schwieg trotzig.

»Ich weiß nicht, wie du es getan hast. Üblicherweise geht dies nicht ohne die Kraft der Blutmagie. Du drängst die Seele der armen Kreatur zur Seite und bemächtigst dich ihres Körpers.«

Die Elfe drehte ruckartig den Kopf, um dem Starren der blinden Augen zu entgehen. Ihr Nacken war verspannt. Es war ihr unangenehm, dass die Gazala all dies wusste. Aber sie war eine Seherin. Zu viel zu wissen war ihr Wesen.

»Wenn zwei Seelen für eine gewisse Zeit in einen Körper gesperrt werden, Nandalee, dann verschmelzen sie miteinander. Das kann unterschiedlich lange dauern. Manchmal nur eine Stunde. Ein anderes Mal vielleicht viele Tage. Ist es einmal geschehen, kann es nicht wieder rückgängig gemacht werden. Fenryl, ein Elfenfürst, der in Zukunft große Bedeutung haben wird, wird dieses Schicksal erleiden. Hüte dich vor diesem Weg, meine Freundin! Ich möchte dich nicht leiden sehen wie ihn.«

Nandalee sah die Gazala nachdenklich an. Meine Freundin … Außer Bidayn hatte sie noch nie jemand ihre Freundin genannt. Das war ein Trick! Oder sah sie etwas, das noch nicht geschehen war, und vermischte Gegenwart und Zukunft?

»Ich war im Körper eines kleinen Vogels«, gestand sie. »Ich habe ihn aufgezogen. Es gibt ein Band zwischen uns. Ich bin einfach nur diesem Band gefolgt. Blutmagie ist mir nicht vertraut.« Nandalee verwunderte der Klang ihrer eigenen Stimme. Sie hatte seit Tagen nicht gesprochen. Oder noch länger. »Wie lange ist der Dunkle schon fort?«

»Zu lange, meine Freundin. Auch wir vermissen ihn. Er gibt unseren Visionen eine Richtung und es ist gefährlich, ohne Führung durch die Abgründe der Zukunft zu schweifen. Erst verwirrt es dich nur, dann kommt der Wahnsinn. Es ist ein Fluch, zu viel zu sehen.«

»Aber kannst du dich denn nicht schützen, indem du in deinen Visionen dein eigenes Schicksal suchst? Wenn du um deine eigene Zukunft weißt, kannst du sie dann nicht verändern?«

»Unsere eigene Zukunft zu sehen ist uns verwehrt. Und ich glaube, dies ist ein Segen. Ich könnte die Zukunft meiner Schwestern sehen, doch keine von uns geriet bislang in Versuchung. Gleich unsere erste Vision stürzte den Dunklen in tiefe Zweifel. Sie war sehr stark. Wir alle hatten sie. Jedoch jede in einer eigenen Variante.«

»Und?«

Sie lächelte. »Es ist seine Zukunft. Und es nicht meine Aufgabe, dieses Wissen mit dir zu teilen, meine Freundin. Nur so viel — du hast ihn wahrhaft erschreckt, als du hier erschienen bist. Und wärest du mit einer Klinge in der Hand gekommen, wärest du jetzt tot. Im Übrigen finde ich, du solltest deine Zwergenkleider ablegen, meine Freundin. Sie verströmen einen unangenehmen Geruch.«

Der plötzliche Themenwechsel brachte sie aus der Fassung. »Ich soll nackt hier herumlaufen?«

»Das tun wir doch alle. Fühlst du dich nicht unwohl, als Einzige in Kleidern neben mir und meinen Schwestern? Vielleicht würde es dir auch helfen, zu dir selbst zurückzufinden. Man ist nackt, wenn man geboren wird … Und der Zauber, nach dem du suchst, ist kaum weniger als die Wiedergeburt der Nandalee.«

»Werde ich mich verwandeln, oder werde ich mich umbringen? «

Die Gazala lächelte. »Du wirst verändert von hier fortgehen. So viel will ich dir über deine Zukunft verraten.«

Na wunderbar, dachte Nandalee. Das kann ja alles heißen. Wenn so die Orakelsprüche der Gazala aussahen, verstand sie nicht, warum der Dunkle sie um sich versammelt hatte. Sie dachte an ihre Ankunft zurück. Als die Halle mit Seherinnen gefüllt war, die alle mit leisen, monotonen Stimmen gesungen hatten. Sie jedenfalls würde hier wahnsinnig werden, so viel war sicher. »Nackt werde ich also zu mir selbst finden, glaubst du?«

»Das Bedrückende daran, eine Seherin zu sein, meine Freundin, ist, dass wir nicht glauben, sondern wissen.«

»Du möchtest also einen nackten Zwerg sehen?« Nandalee grinste. Auf der anderen Seite … Eigentlich zeigte sie ja gar nicht sich selbst. Dies war nicht ihr Körper! Warum also nicht? Die Gazala schien zu wissen, wie ihre Zukunft aussah. Vielleicht vermochte sie ihr noch einen Hinweis darauf zu entlocken, wie sie endlich eine Rückverwandlung erreichen könnte. Also begann sie mit den klobigen Stiefeln und der groben Hose. Nandalee war froh, dass der Bart ihr den Blick auf das verstellte, was zwischen ihren Beinen baumelte. Sie streifte die Tunika ab und ein geflicktes Unterhemd.

»Ich habe noch nie einen nackten Zwergen in Fleisch und Blut vor mir gesehen«, bemerkte die Seherin. »Weißt du, warum der Dunkle eine Pyramide als seinen Rückzugsort wählte?«

»Ich weiß nicht einmal, was eine Pührahmiede ist.«

Geduldig erklärte ihr die Gazala die äußere Form des Palastes. Wirklich vorstellen konnte Nandalee sie sich aber immer noch nicht. Abgesehen von der Weißen Halle hatte sie noch keine Bauwerke aus Stein gesehen.

»Das wirklich Außergewöhnliche an einer Pyramide ist aber, dass sie die magischen Kräfte bündelt«, fuhr die Seherin fort. »Dort, wo sich der Thron des Dunklen befindet, liegt zugleich der Punkt der stärksten Fokussierung. An dieser Stelle ist es leichter, Zauber zu weben und sie entfalten zugleich eine größere Macht. Wenn du also versuchen möchtest, dich zurückzuverwandeln, solltest du es dort tun.«

Nandalee blickte zweifelnd in die blinden Augen der Gazala. Konnte sie ihr vertrauen? »Wie heißt du eigentlich?«

»Ich bin Firaz. Ich wünsche dir Erfolg, Nandalee von den Windgängern. Habe den Mut, dich selbst zu überraschen.« Mit diesen Worten zog sie sich zurück.

Verunsichert sah sie der Gazala nach. Die Aussicht, wieder allein in der weiten Halle zu sein, machte ihr zu schaffen. Voller Zweifel wandte sie sich dem Thron zu, der sich gleich einer flachen Insel aus dem überfluteten Thronsaal erhob. Würde sie dort Erlösung finden – oder den Tod?

Ein blasses Band

Gonvalon blickte auf den kleinen Vogel in seiner Hand. Was immer Piep veranlasst hatte, seinen Tanz im Schnee aufzuführen, war von ihm gewichen. Die Aura des Vogels war fast verblasst. Was auch von ihm Besitz ergriffen hatte, es hatte ihn fast getötet.

Dem Elfen war eine ungewöhnliche Kraftlinie aufgefallen. Auf dieser Linie war die fremde Macht zurückgeflossen, die dem Vogel befohlen hatte, Buchstaben in den Schnee zu zeichnen. NAJA Die Bedeutung blieb ihm schleierhaft.

Gonvalon atmete mit einem Seufzer aus und schloss sein Verborgenes Auge. Er betrachtete den zerwühlten Schnee. Das letzte Zeichen ließ keinen Zweifel daran, dass Nandalee versucht hatte, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Es war ein stilisierter Hirsch. Das Totemtier der Windgänger, ihrer Sippe. Aber warum hatte sie nicht einfach ihren Namen geschrieben? Lag ein Bannspruch auf ihr, der das verhinderte? Und was war sie? Nur noch ein Geist?

Bislang hatte er nie geglaubt, dass es etwas wie Geister geben könnte. Die Seelen der Elfen gingen in den Seelenhort ein, bis sie aufs Neue wiedergeboren wurden. Die Seelen der anderen Albenkinder verblassten einfach. Es gab keine Geister!

Durfte er hoffen, dass Nandalee noch lebte? Die Antwort würde am Ende jenes unscheinbaren blassen Strangs liegen, auf dem die fremde Macht aus Pieps Körper geflohen war.

»Wirst du heute noch unterrichten?«

Die Stimme schreckte Gonvalon aus seinen Gedanken. Lyvianne stand vor dem Pavillon und betrachtete den zerwühlten Schnee. »War das dein Vogel?«

Gonvalon zögerte. Er wollte dem unscheinbaren magischen Band folgen, das von Piep ausging. Aber dazu musste er es verändern. Es deutlicher werden lassen. Er wusste, dass dies jenseits seiner Möglichkeiten lag. Aber wäre es klug, sich ausgerechnet Lyvianne anzuvertrauen? Sie war zweifellos eine erfahrene Zauberweberin, aber sie stand in Verbindung mit dem Verschwinden Nandalees. Immerhin war Bidayn durch sie auf das verborgene Fenster aufmerksam geworden. Und sie hatte ihrer besten Freundin Nandalee davon erzählt. Normalerweise verirrten sich keine Schüler in diesen abgelegenen Teil der Bibliothek. Steckte hinter alldem ein Plan? Oder war es doch nur ein Unfall? So viele Wochen hatte er sich den Kopf darüber zermartert und keine Antwort gefunden. Vielleicht tat er Lyvianne auch unrecht. Vielleicht war Nandalees Verschwinden doch nur ein tragischer Unfall gewesen.

»Ich komme zum Unterricht«, sagte er.

Er folgte ihr zur Übungswiese, aber an diesem Morgen war er mit seinen Gedanken nicht bei der Sache. Er absolvierte pflichtbewusst seinen Schwerttanz. Doch war er verschlossen und redete kaum. Nach der Übungsstunde zog er sich in seine Kammer zurück, fütterte Piep und baute ihm aus einem Wollschal ein Nest. Der kleine Vogel war erstaunlich loyal. Dass er immer noch zu Nandalees Fenster geflogen kam … Vielleicht war auch das ein Zeichen? Er fuhr sich durch das Haar. Er musste aufhören zu grübeln und sich davon lösen, in allem Zeichen sehen zu wollen oder Hinweise auf eine Intrige. Es war ein Unfall gewesen. Sonst nichts!

Gonvalon flüchtete sich in Skizzen für eine neue Skulptur, über die er nachdachte. Er zeichnete mit Kreide auf eine Schiefertafel, doch alles, was er zustande brachte, erinnerte ihn an Nandalee. Selbst abstrakte Formen erschienen ihm plötzlich wie ihr angewinkelter Arm, die Rundung ihres Knies oder wie ihr Haar, das in goldenen Kaskaden über das Kopfkissen gefallen war, wenn sie neben ihm geschlafen hatte. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu der blassen Kraftlinie zurück. Wenn er Piep mit sich nahm, könnte er der Linie bis zu Nandalee folgen. Würde er wirklich sie finden?

Es klopfte und die Tür schwang auf, ohne dass er seinen Gast hereingebeten hätte. Lyvianne stand im Eingang. Sie trug ihr schwarzes Haar offen. Das eng anliegende Kleid stand der Meisterin gut.

»Willst du reden?«

Er wusste es nicht.

Sie trat ein. Flüchtig betrachtete sie seine Zeichnungen. »Was ist in dem Pavillon geschehen? Du bist nicht mehr du selbst. Das ist nicht allein den Meistern aufgefallen.«

»Ich glaube, ich möchte die Weiße Halle für einige Wochen verlassen.«

Sie nickte. »Das haben wir uns gedacht. Wir haben über dich gesprochen. Vielleicht ist es wirklich das Beste, wenn du eine Zeit lang allein bist. Und jetzt sag mir, was der Vogel mit deinem Gemütszustand zu tun hat. Ich war mit Bidayn nach den Übungen beim Pavillon. Das sollte ein Hirsch sein, da im Schnee, nicht wahr? Sie sagt, das sei das Totemtier von Nandalees Sippe.«

»Glaubst du, dass sie noch lebt?«, platzte es aus ihm heraus.

»Nein«, entgegnete sie ruhig. »Ich wünschte es … Aber all das Blut am Fenster.«

»Du kannst es öffnen, nicht wahr? Ist sie vielleicht …«

»Warum haben wir dann nichts von ihr gehört?«, entgegnete Lyvianne ruhig. »Durch das Fenster kann man an viele Orte gelangen. Das ist Drachenmagie. Sie ist undurchsichtig und gefährlich für Elfen. Du willst doch nicht etwa …«

»Ich werde sie suchen!« Gonvalon war von seinen eigenen Worten überrascht. Er hatte sich bisher keinesfalls entschieden.

»Du bist ein Narr. Weißt du, was ich glaube? Nandalee hat durch ihre Aufsässigkeit das Missfallen der Drachen erregt. Das war kein Unfall – es war eine Hinrichtung. Du tätest gut daran, sie zu vergessen.«

Er blickte zu der schlafenden Misteldrossel. »Ich kann nicht«, sagte er leise. »Genauso wenig wie ihr Vogel.«

»Du lässt dich in deinen Entscheidungen von einem Vogel leiten? « Plötzlich lächelte Lyvianne. »Du hast mehr mit Nandalee gemeinsam, als ich erwartet hätte.«

»Er kann mich zu ihr führen.«

»Unsinn! Er wird dich in dein Verderben führen.«

»Nein!« Er entschied, sich Lyvianne anzuvertrauen. Was hatte er schon noch zu verlieren? Er erzählte ihr von den Ereignissen des Morgens und von dem blassen Band, das sich zwischen den magischen Kraftlinien verbarg. »Glaubst du, man könnte dem Band eine kräftigere Farbe geben, sodass man ihm leichter folgen kann? Oder es stärker leuchten lassen?«

Sie sah ihn eine Weile schweigend an. »Bist du dir im Klaren, worum du mich bittest? Ich glaube nicht. Um einen solchen Zauber zu weben, müsste ich Blutmagie wirken.«

Es war, wie er vermutet hatte. Sie war viel tiefer in die Geheimnisse der Zauberei eingeweiht als andere Elfen. Aber sie konnte helfen. »Was benötigst du?«

»Einen Platz, an dem wir beide allein sind. Ein junges Reh. Und auch einige Tropfen von deinem Blut. Glaube nicht, dass du nur zusehen wirst. Wenn du anwesend bist, wird der Zauber auch dich verändern. Ist sie das wert? Du weißt doch nicht einmal, was du am Ende dieses Bandes finden wirst.«

»Ich muss diesen Fluch brechen!« Er sagte es mehr zu sich selbst als zu Lyvianne. »Ich muss wissen, was aus ihr geworden ist.« Er blickte auf und sah in die kalten Augen der Meisterin. »Ich würde jeden Weg gehen, um Nandalee zu finden.«

»Aber sie ist nicht mehr hier!«

Gonvalon ließ sich nicht beirren. »Wenn ich bis zum Ende der blassen Linie gegangen bin, werde ich wissen, was mit ihr geschehen ist! Wirst du mir helfen?«

Sie sah ihn lange aufmerksam an, dann nickte sie. »In vier Tagen stehen die Sterne günstig. Wir treffen uns draußen im Wald. Dort, wo du deine heimlichen Stelldicheins mit ihr hattest. Bring den Vogel mit und ein junges Reh.«

Das Opfer

Es war zu kalt für den Herbst. Der erste Schnee war wieder geschmolzen, aber eine nasse, alles durchdringende Kälte nistete im Gehölz. Der Ziegenbock, den Gonvalon an einem Strick hinter sich herzog, meckerte verdrießlich. Er hatte das Tier einigen Kobolden abgekauft. Ein Reh zu fangen war ihm einfach nicht gelungen. Nandalee hätte ihren Spaß gehabt, wenn sie gesehen hätte, wie ungeschickt er sich angestellt hatte. Er war kein Jäger! Jedenfalls nicht für diese Sorte Wild.

Hoffentlich würde Lyvianne den Bock akzeptieren. Er war kleiner als ein Reh, aber etwas anderes hatte er nicht auftreiben können.

Piep gab einen kläglichen Laut von sich. Er hatte der Misteldrossel einen kleinen Käfig aus Weidenästen geflochten, den er nun an seinem Gürtel trug. Der Vogel hasste es, eingesperrt zu sein. Bis sie den Wald erreicht hatten, hatte er streitlustig gezwitschert und gegen den Käfig aufbegehrt, als könne er mit seinen zarten Flügeln das Weidengeflecht sprengen. Doch nun war auch er still geworden. Er spürte es, genau wie der Bock. Etwas Fremdes war in diesem Wald. Und der Wald selbst schien ängstlich zu lauern. Kein Lüftchen regte sich. Kein Laut war zu hören.

Gonvalon konnte kaum drei Schritt weit sehen. Doch den Weg zu dem geheimen Zufluchtsort, an dem Nandalee ihm ihre Liebe geschenkt hatte, würde er auch mit verbundenen Augen finden. Nebel stieg aus dem Boden, als sei es der Atem von etwas, das sich unter den Schichten aus totem Laub verborgen hielt. Mit klammen Fingern griff er hinauf bis zu Gonvalons Hüften. Obwohl sich kein Wind regte, wogte der Nebel zwischen den Bäumen. Es war eine behäbige Bewegung. Gelassen, doch unübersehbar.

Der Ziegenbock drängte sich an Gonvalons Beine, als gäbe ihm die Berührung Trost und Sicherheit.

Gonvalons Gedanken weilten bei Nandalee. Ihr Gesicht begann in seiner Erinnerung zu verblassen. So sehr er sich auch bemühte, es zu halten. Machte er sich etwas vor, wenn er dem magischen Band folgte, das von dem Vogel ausging?

»Dieser Bock ist alles?«

Lyviannes Stimme schreckte Gonvalon aus seinen Gedanken. Er hatte sein Ziel noch nicht erreicht. Warum lauerte Lyvianne ihm hier auf? Und wo war sie? Verwundert sah er sich um. Der Bock meckerte leise und versuchte ängstlich, sich zwischen seine Beine zu zwängen.

Ein Schatten löste sich von einem Holunderdickicht. Lyvianne. Hatte sie einen Zauber gewoben, der geholfen hatte, sie zu verbergen? Ihr Gesicht und ihre Hände waren mit Ruß geschwärzt. Sie trug ein dunkelgraues Kleid aus zerknittertem Stoff. Es war, als sei sie eins mit dem Holunder gewesen.

Ein kalter Lufthauch streifte Gonvalon. Der Nebel floh vor Lyvianne. »Dies ist kein guter Ort«, sagte sie entschieden.

»Es ist noch ein Stück, bis wir …«

Sie hob ihre rußgeschwärzten Hände. »Das ist ein noch schlechterer Ort!«

»Du hast ihn bestimmt!«, entgegnete er ärgerlich. Sie hatte einen Zauber gewoben. Er konnte ihn spüren. Es war eine Art Magie, die ihm unvertraut war. Zehrend und dunkel.

»Ich habe mich geirrt.« Ihre Zähne blitzten durch ein Lächeln. »Dieser Ort ist von einem Zauber durchdrungen, der uns nicht nützlich sein wird. Man kann eure Liebe spüren – immer noch. Was du aber wünschst, ist dunkel, Gonvalon. Bist du dir deines Wunsches wirklich sicher?« Die hellbraunen Sprenkel in ihren Augen begannen zu leuchten. Ihr Blick schlug ihn in seinen Bann. Diese Augen … Sie waren vertraut aus einer Zeit, die in Dunkelheit verschwunden war. Sie ist die Dunkelheit, dachte er.

Ärgerlich schüttelte er den Kopf! Was für ein Unsinn! Sie wollte das erreichen. Ihn zweifeln lassen. »Ich bin mir sicher. Ich würde jeden Weg gehen, um zu Nandalee zu gelangen.«

Sie neigte den Kopf zur Seite und sah ihn lange an. Schließlich streckte sie ihm wortlos die Hand entgegen. Ihre Berührung ließ ihn erschauern. Wieder hatte er das Gefühl, in die Dunkelheit jenseits der Nacht gezogen zu werden, der er seinen Namen verdankte. Gonvalon. Winterkind.

Der Nebel floh in Spiralen vor Lyviannes Schritten. Wieder überlief Gonvalon ein Schaudern, doch diesmal entsprang es der Macht des Zaubers, den er spürte. Der Nebel formte einen Tunnel um sie herum. Er hatte das Gefühl, der Wirklichkeit entrückt zu sein. Wie in einem Traum, in dem man mit einem Schritt etliche Meilen überwand.

Der Ziegenbock sperrte sich. Er stemmte die Hufe in den dunklen Waldboden. Gonvalon packte ihn und klemmte ihn unter den Arm. Das Tier keilte aus. Verzweifelt kämpfte es um seine Freiheit.

Endlich hielt Lyvianne inne. Der Nebel wich weiter von ihnen zurück. Sie befanden sich jetzt auf einem niedrigen Hügel. Eine Gruppe toter, von Efeu erstickter Bäume umgab sie. Knochenbleich strahlte das Holz im Mondlicht, wo sich die Rinde abgeschält hatte. Es roch nach Moder und Tod.

Gonvalon spähte zwischen den Bäumen hindurch. Nebel lag wie ein Leichentuch über dem Land. Es gab keinen zweiten Hügel, soweit sein Blick in der Dunkelheit reichte. Keinen Wald. Nichts. Nur den Nebel, der die ganze Welt verschlungen zu haben schien.

»Wo sind wir hier?«

»Wir sind einen weiten Weg gegangen. Und wir sind hier nicht allein.«

Gonvalon sah sich beklommen um. Er ging in sich und öffnete sein Verborgenes Auge. Das Netz der Kraftlinien war verzerrt. Viele strebten auf einen der Bäume zu, andere schienen ihm auszuweichen. Nie zuvor hatte er ein solches Muster gesehen. Der Baum war von einer machtvollen weiten Aura umgeben. Ein strahlendes hellblaues Licht, durch das sich purpurne Adern zogen. Lyvianne trat an den Baum heran. Ihre Auren überschnitten sich. Die purpurnen Adern durchdrangen das Leuchten, das Lyvianne umgab. Einer der Lichtarme streckte sich Gonvalon entgegen.

Etwas versuchte in seinen Geist vorzudringen. Ein beseelter Baum, dachte der Elf. Bisher kannte er nur Geschichten über diese seltsamen Bäume, deren Wurzelwerk angeblich bis Nangog und Daia reichte.

»Dies ist Matha Naht, die mich vieles gelehrt hat.«

Gonvalon schloss sein Verborgenes Auge. Er spürte, wie ihn die sich ausweitende Aura des Baums umfing. Holunder. Der Busch war zur Größe eines kleinen Baumes angewachsen. Wie die anderen Bäume hier oben wirkte er tot. Auf den ersten Blick.

Der Ziegenbock auf Gonvalons Arm hatte es aufgegeben zu kämpfen. Vor Schrecken starr blickte er zu Matha Naht. Was er wohl sah? Auch Piep fürchtete sich. Er zwitscherte ängstlich und schlug so wild mit den Flügeln, dass Gonvalon Angst bekam, er könne sich verletzen. Die Tiere waren klüger als er. Er sollte sich nicht mit dieser Kreatur einlassen. Und doch war dies der einzige Weg, um zu Nandalee zu gelangen. Er hatte keine Wahl.

»Wir müssen das Blut der Ziege über den Wurzeln nahe dem Stamm vergießen. Matha Naht wird es trinken, und wenn sie an Kraft gewinnt, wird sie den Zauber für dich weben.«

»Und was tust du?«

»Ich sehe zu und lerne. Die Blutmagie ist mir kaum vertraut. Sie ist sehr machtvoll. Wir sind Zauberweber. Wir nutzen die Kraftlinien und lassen ein neues Gespinst erstehen, wenn wir die Wirklichkeit verändern. Blutmagie aber löscht Linien aus. Die Kraft, die dabei freigesetzt wird, ist ungleich größer.«

Gonvalon betrachtete die abgestorbenen Bäume auf der Hügelkuppe. Waren sie Opfer Matha Nahts? Oder war jemand hierhergekommen, um den beseelten Holunder zu bekämpfen?

»Deine Gedanken verärgern sie, Gonvalon. Du solltest jetzt den Ziegenbock näher zum Stamm bringen und ihm die Kehle durchschneiden. «

Es widerstrebte ihm zutiefst, von einem Baum Befehle anzunehmen. Wie hatte er so tief sinken können?

»Du kannst gehen«, sagte Lyvianne. »Aber das Opfertier bleibt hier.«

»Ich werde nicht fortlaufen«, entgegnete er matt. »Ich weiß, was ich will, und bin bereit, die nötigen Opfer zu bringen.«

Lyvianne deutete auf eine schlammige Stelle nahe des Stammes. Knorrige Wurzeln bedeckten den Boden. Der Bock gab einen kläglichen Laut von sich, als Gonvalon ihn absetzte. Wieder drängte er sich eng an die Beine des Elfen.

Lyvianne reichte ihm einen Dolch. Eine merkwürdige Waffe, deren Griff aus einem mit Lederriemen umwickelten Krummhorn gefertigt war. Das Stichblatt bestand aus schwarz schimmerndem Obsidian. Der Dolch kam ihm ungewöhnlich schwer vor. Und unnatürlich kühl. Gonvalon packte die Hörner des Bocks und bog dessen Kopf nach hinten. Der Dolch drang tief in die Kehle des Tiers. Pulsierend spritzte das Blut hervor, und die Hufe zerwühlten im Todeskampf den Schlamm. Eines der Augen starrte Gonvalon unverwandt an, bis das Leben gänzlich aus dem Bock wich.

Lyvianne nahm ihm den Dolch aus der Hand. Die Elfe beugte sich über den Kadaver. Mit geübten Schnitten öffnete sie die Bauchhöhle. Ihre Hand glitt in die klaffende Wunde und sie zerrte die Leber hervor. Prüfend betrachtete sie das blutige Organ von allen Seiten und schüttelte schließlich den Kopf. »Es war nicht genug.«

»Was soll das heißen?«

»Dass du ein junges Reh hättest bringen sollen, wie ich es dir aufgetragen hatte. Ein Ziegenbock ist kein Ersatz dafür. Er ist kleiner und ihm fehlt die wilde Kraft eines Geschöpfes, das in Freiheit aufgewachsen ist.«

Gonvalon war davon überzeugt, dass dieser verfluchte Baum das Blut für seine eigenen Zwecke genutzt hatte. Die Wurzeln zu seinen Füßen schienen sich um ein Weniges verschoben zu haben. Und von dem Baum ging eine widerwärtige Kälte aus. »Was will der Holunder?«

»Matha Naht, Gonvalon. Nenn sie bei ihrem Namen. Sie ist nicht einfach nur ein Baum! Matha Naht will ein wenig von deiner Kraft nutzen. Damit könnte der Zauber vollendet werden. Das ist doch immer noch dein Wunsch, nicht wahr?« Kaum merklich schüttelte sie den Kopf, aber er ignorierte es. »Was muss ich tun?«

Lyviannes Augen weiteten sich. »Du musst dich ihr ganz überlassen. Sie will mit dir allein sein. Sie wird von deinem Blut trinken.«

»Gibt es keinen anderen Weg?«

»Sie behauptet zu wissen, wie sie den Zauber vollenden kann.«

Gonvalon blickte zu dem dichten Holunder. Einige Äste reckten sich in seine Richtung. Ein unheimliches Knarren begleitete die Bewegung.

»Tu es nicht!«, zischte Lyvianne.

»Du hast mich doch hierhergebracht.«

»Ich hatte nicht erwartet, dass sie dich für sich allein haben will. Du kannst ihr nicht vertrauen. Sie ist hinterhältig. Ihr Wort zählt nichts!«

»Und all das sagst du mir in ihrer Gegenwart? Du, die du mich hierhergebracht hast? Wie sollte ich deinem Wort trauen?«

»Sie hört schlecht«, flüsterte Lyvianne. »Sprich leiser. Und denk an etwas anderes. Unsere Gedanken und Gefühle bleiben ihr nicht verborgen. Doch dem gesprochenen Wort vermag sie kaum zu folgen. Liefere dich ihr nicht aus. Sie wird dich quälen. Viel mehr als von Blut vermag sie sich von Angst zu nähren. Bleib nicht allein bei ihr!«

»Ich fürchte mich nicht vor einem Baum.«

»Das wirst du, das verspreche ich dir. Das wirst du!«

Ihre Sorge schien aufrichtig. Zweifelnd blickte er zum Holunderbaum.

»Denk an etwas anderes«, flüsterte sie.

Gonvalon glaubte nicht, dass dem Holunder irgendetwas entging, was auf dieser Insel inmitten des Nebelmeers geschah. Vielleicht waren Lyviannes Warnungen ein Teil des Spiels, das die beiden mit ihm trieben. Er wandte sich ab und blickte auf den wogenden Nebel. Kälte kroch ihm in die Glieder. In der Ferne heulte ein Wolf. Drei Herzschläge später erhielt der einsame Rufer eine Antwort. Der zweite Wolf war näher.

Der Elf atmete aus, ließ alle Gedanken fahren und öffnete sein Verborgenes Auge. Das Band, das von Piep ausging, hatte seine Farbe verändert. Es war nun von einem blassen Rot. Fast nur rosa. Es wurde schwächer. Die Verbindung zu Nandalee starb ab. Er würde sie endgültig verlieren! Es hatte am Morgen begonnen. Vielleicht war sie … Er verbannte diesen Gedanken. Er musste das Band wieder kräftigen. Und wenn er dazu ein wenig von seinem Blut geben müsste, würde ihn das nicht schrecken. Er wollte sie zurück! Um jeden Preis.

Entschlossen trat Gonvalon vor den Holunder. »Ich bin bereit! Nimm von mir, was immer du brauchst, um den Zauber zu vollenden. «

Die dürren Äste raschelten, obwohl es völlig windstill war.

»Sie will, dass du deine Kleider ablegst«, sagte Lyvianne mit tonloser Stimme.

Gonvalon gehorchte. Er dachte an Nandalee. Ganz gleich, was der bösartige Holunder ihm antun würde, er würde im Geiste nicht hier sein. Er würde sich völlig verschließen. Sich an das verblassende Bild seiner Geliebten klammern. Ihm blieb keine Zeit, nach einem anderen Weg zu ihr zu suchen. Dass das dünne Band zwischen der Misteldrossel und Nandalee verblasste, konnte nichts Gutes bedeuten. Er musste sich beeilen, oder er würde sie ein zweites Mal verlieren. Und diesmal wäre es für immer, da war er sich ganz sicher.

Als er sich hinsetzte, um seine Stiefel auszuziehen, beugte sich Lyvianne über ihn. »Bleib nicht! Sie hat die Macht, deine Seele zu zerstören. Selbst wenn du zu Nandalee zurückfinden würdest, wärst du nicht mehr der Mann, den sie geliebt hat. Der wirst du nie mehr sein.«

»Der werde ich auch nicht sein, wenn ich nicht versuche, sie zu finden. Auch wenn die Hoffnung auf Erfolg noch so klein ist.«

»Du bist ein Narr«, sagte sie freundlich. »Und ich bin stolz … dich zu kennen.« Sie küsste ihn auf die Stirn. Einen Moment lang sah es aus, als wolle sie noch etwas sagen, dann wandte sie sich abrupt um.

Gonvalon legte seine Kleider ab, faltete sie sorgfältig und schichtete sie übereinander. Dann trat er an den verwachsenen Stamm des Holunders.

»Sie will, dass du dich setzt, mit dem Rücken zum Stamm hin.«

Der Elf gehorchte. Es war unangenehm kühl. Er war angespannt. Etwas lag in der Luft … Er wusste, das Lyvianne recht hatte. Sich auszuliefern war dumm. Er konnte die Boshaftigkeit Matha Nahts spüren. Ihr Verlangen danach, ihn zu quälen.

Erneut heulte ein Wolf im weiten Nebelmeer.

»Lebe wohl.« Lyvianne murmelte etwas, das er nicht verstand. Dann verschwand sie in der Dunkelheit.

Wurzeln legten sich um seine Oberschenkel. Wie dunkle Schlangen wanden sie sich. Nur sehr langsam. Sie waren kalt wie Eis. Etwas berührte ihn an der Schulter. Ein dicker Spross schob sich knirschend aus der Rinde und legte sich um seinen Hals. Er zog sich enger, bis seine Kehle so sehr zugedrückt wurde, dass er keuchend um jeden Atemzug ringen musste.

Ein abgebrochener Ast bohrte sich in seinen Arm und Blut perlte über seine blasse Haut.

Das Wolfsgeheul klang nun sehr nah. Sie mussten am Fuß des Hügels sein.

Gonvalons Herz schlug schneller. Die Schreckensbilder jener Nacht, die ihm den Namen Winterkind gebracht hatte, drängten sich wieder auf. Die toten Wölfe im Schnee. Die Angst und die Kälte.

Es begann zu schneien! Der Elf fluchte stumm. Konnte Matha Naht in seinen Gedanken lesen? Was war sie? Die Schneeflocken funkelten im Sternenlicht. Die Kälte war betäubend. Selbst ohne die Fesseln aus Ästen und Wurzelwerk hätte er sich kaum noch bewegen können.

Er dachte an die erste Begegnung mit Nandalee. Die Winternacht, in der sie sich in einem eisigen Bach vor den Trollen versteckt hatte. Sie war hart. Härter, als er es war. Nackt war sie durch den Schnee geflohen. Sie hatte nie aufgegeben! Sie, die beste Schülerin, die er je unterrichtet hatte. Er musste kämpfen! Er wollte sie zurück.

Die Fessel um seinen Hals zog sich noch ein wenig enger. Würgend rang er um Atem. Entsetzt sah er an sich herab. Noch weitere Äste hatten ihn umschlungen. Aus einem Dutzend kleiner Wunden perlte Blut. Dieser verfluchte Baum!

Der Schnee blieb liegen. Gonvalon hörte ein leises Rascheln. Schatten huschten zwischen den abgestorbenen Bäumen. Er vermochte keinen klaren Blick auf sie zu erhaschen, aber das war auch nicht nötig. Er wusste, wer da gekommen war. Angelockt vom Geruch des Blutes.

Das war nur ein Trug. Matha Naht wollte ihm Angst machen. Sie wusste um seine Schwächen. Gonvalon versuchte sich das Bild Nandalees ins Gedächtnis zu rufen. Stattdessen sah er nur den verblassenden Faden, der sie mit Piep verband. Sie lag im Sterben, eine andere Erklärung konnte es nicht geben! Ihre Lebenskraft verging. Nichts hielt sie mehr in Albenmark. Er musste sie schnell finden.

Ein Wolf trat aus den Schatten der toten Bäume. Ein hageres Tier. Die Rippen stachen durch sein Fell. Die schmale Schnauze war halb kahl. Das Rudel schickte seinen Ältesten. Den, der den geringsten Verlust bedeuten würde.

Der alte Räuber war vorsichtig. Leicht geduckt, den Schwanz eingeklemmt, näherte er sich.

Gonvalon bäumte sich gegen seine Fesseln auf. Er wollte ein weniger höher rutschen, doch vermochte er sich kaum einen Zoll zu bewegen.

Der Wolf musterte ihn eindringlich, den Kopf leicht schief gelegt. In seinen kalten blauen Augen lag Verstand. Er wagte sich näher. Er hatte begriffen, dass Gonvalon nicht fliehen konnte. Er schnupperte. Lyviannes Witterung musste noch deutlich wahrnehmbar sein.

Der Wolf war jetzt keinen halben Schritt weit mehr von seinen Füßen entfernt. Wieder bestürmten Gonvalon die Ängste jener längst vergangenen Winternacht. Es waren keine klaren Erinnerungen. Nur die Ängste waren geblieben. Schnappende Kiefer. Die eisige Kälte. All dies hier konnte nur ein Trugbild sein, das Matha Naht heraufbeschworen hatte. Sie wollte die schlummernden Ängste in ihm wieder wecken.

Gonvalon klammerte sich an die Erinnerung an Nandalee. Er flüsterte ihren Namen.

Im gleichen Augenblick biss ihm der alte Wolf in den Fuß. Er konnte die Knochen knacken hören.

Gonvalon schrie auf.

Der Wolf zerrte an seinem Fleisch. Er drehte wütend den Kopf, stemmte die Pfoten in den gefrorenen Boden – und dann kam das Rudel.

Der Elf bäumte sich in den Fesseln auf. Der alte Wolf kam frei. Blut spritzte auf sein Fell. An Gonvalons linkem Fuß fehlten drei Zehen. Dann fielen die anderen über ihn her. Gruben die Kiefer in sein Fleisch.

Metamorphose

Drei Mal schon hatte Nandalee das Essen, das ihr die Gazala brachten, nicht mehr angerührt.

Waren drei Tage vergangen? Sie wusste es nicht. Niedergeschlagen kauerte sie auf dem flachen Thron, der sich über das dunkle Wasser erhob. Die Zeitspanne von einem Atemzug zum anderen erschien ihr wie eine Ewigkeit. Sie hatte jedes Gefühl für den Fluss der Zeit verloren. Wie lange war sie schon hier? Warum kam der Dunkle nicht zurück?

Sie stellte sich die Fragen noch gelegentlich, doch sie weckten keine Emotionen mehr. Weder Zorn noch Verzweiflung. Sie fühlte sich wie tot. Wie eine Pflanze, die ohne Licht verkümmerte, selbst wenn sie in fruchtbarer Erde stand und genügend Wasser hatte.

Nandalee hatte aufgegeben. Sie starrte den verhassten Zwergenkörper an, blickte auf die unförmige Hand. Sie öffnete ihr Verborgenes Auge. Sie konnte sehen, wie die feinen Kraftlinien unnatürlich verformt waren. Verdreht und gestaucht sahen sie aus. Wie konnte sie zu sich zurückfinden? Tausende Male hatte sie sich diese Frage gestellt. Und immer wieder drängte sich die Erinnerung an Sayn auf. An seinen schrecklichen Tod. Dem Dunklen war es so leicht gefallen, sie in diesen Leib zu zwingen. Sie jedoch konnte diesem Gefängnis nicht entfliehen.

Sie dachte an die Worte, die der Dunkle ihr zum Abschied gesagt hatte: Wesentlich ist, dass Ihr Euch gut an Euer Inneres erinnert. Was für ein bösartiger Hohn! Wie sollte sie sich an ihr Inneres erinnern? Die Form ihrer Knochen und Muskeln, die Lage von Adern und Sehnensträngen. Sie wusste, wie das Innere eines Hirsches oder eines Hasen aussah. Aber wie konnte man sich an etwas erinnern, das man nicht kannte?

Sie hatte auch erwogen, ob er es im übertragenen Sinne gemeint haben könnte. Ihre inneren Werte vielleicht? Aber was hatten die mit ihrem Körper zu tun? Ihrer Seele? Das, was sie ausmachte? Was sie war? All das führte zu nichts.

Sie dachte an Gonvalon — seine Ruhe und die Kraft, die darin lag. Er hätte ihr helfen können, dessen war sie sich ganz sicher. Wäre er nur hier! Mit ihm an ihrer Seite würde sie zurück zu sich finden.

Sie war nicht mehr zornig, auch wenn sie mit ihrem Schicksal haderte. Sie hatte nicht mehr die Kraft dazu. Wieder starrte sie auf ihre Hand. Wie konnte sie ihr wieder die richtige Form geben? Vielleicht, wenn sie loslassen würde? Konnte man auf magischer Ebene loslassen? Sich strecken, so als ginge es nur um verspannte Glieder?

Sie fixierte ihre Hand und wünschte, dass sie wieder aussähe wie zuvor.

Ein stechender Schmerz fuhr durch ihre Finger. Die Kraftlinien verschwommen vor ihren Augen. Tränen rannen über ihre Wangen. Stöhnend krümmte sie sich. Der Schmerz war überwältigend. Die Gelenke der Fingerknochen knackten. Es fühlte sich an, als würden ihr die Nägel aus dem Fleisch gerissen. Nein, schlimmer. Als wolle man ihr die ganzen Finger ausreißen.

Ihr Verborgenes Auge hatte sich geschlossen. Sie blinzelte die Tränen fort. Die Hand war angeschwollen. Etwas schien unter ihrem Fleisch zu kriechen. Sie sah, wie sich die Knochen bewegten. Ihr wurde übel vor Schmerz, ihr Magen rebellierte. Sie erbrach dunkle Galle. Dann war es vorüber, so plötzlich, wie es begonnen hatte. Ihre Hand war schlank. Die Finger lang und doch kraftvoll.

Sie hatte ihre Hand zurück! Und die Narben waren verschwunden. Ihre Fingerkuppen! Sie waren ohne Narbengewebe, ganz so, wie sie ausgesehen hatten, bevor Nandalee durch das verfluchte Fenster getreten war. Sie schluchzte. Sie konnte sich gar nicht satt an ihrer Hand sehen. Tränen standen ihr in den Augen. Vorsichtig tastete sie über ihr Gesicht, erfühlte die verstümmelte Nase und das Narbengeflecht, wo eine Augenbraue hätte sein sollen. Sie seufzte. Wenigstens hatte sie eine Hand zurück. Sie betrachtete sie von allen Seiten. Die Hand sah grotesk aus, am Ende eines gedrungenen Zwergenarms. Wie war ihr der Zauber geglückt? Hatte es genügt, sich die Hand zurückzuwünschen? Das tat sie schon seit vielen Tagen. Was war dieses Mal anders gewesen?

Nandalee ließ sich zurücksinken. Sie war zu Tode erschöpft. Ihre Glieder zitterten unkontrolliert. Sie hatte sich gehen lassen. War das der Schlüssel? Würde sie so ihre wahre Gestalt zurückerlangen? Einfach nur daran denken und die Magie fließen lassen, wie sie es beim Bogenschießen tat, wenn sie selbst mit verbundenen Augen ihr Ziel traf? Fand ihr Körper von allein seine Form? Sie wusste es nicht, aber sie würde es versuchen. Ein plötzliches Glücksgefühl ließ sie allen Schmerz vergessen. Sie konnte es schaffen. Endlich hatte sie den Weg gefunden!

Nandalee zupfte an dem verhassten Bart, der ihr zur Brust hinabwucherte. Seine Tage waren gezählt. Nein, seine Stunden! Erneut öffnete sie ihr Verborgenes Auge, stellte sich vor, wie das Muster aus Kraftlinien, das sie sah, wieder seine gewohnte Form annahm. Sie würde wieder in Harmonie mit allem um sich herum sein. Es war ein Fließenlassen und …

Der Schmerz traf sie wie ein Dolchstoß in die Brust. Sie bäumte sich auf. Ihr Brustkorb dehnte sich. Etwas riss, und ein warmer, metallischer Geschmack drang in ihren Mund. Sie würgte … Und erbrach Blut!

Der Schmerz nahm ihr die Sicht, Feuerkreise tanzten vor ihren Augen. Sie krümmte sich und schrie, bis sie das Gefühl hatte, ihre Kehle müsse zerreißen. Blut rann aus ihren Augen und Ohren. Panik überfiel sie. Sie dachte daran, wie Sayn gestorben war. Ein kurzer Erinnerungsblitz — dann löschte der Schmerz alles Denken aus.

Unwillkommen

Artax blickte über die Hochebene zur Stadt Isatami. Hier wurde in jeder Mittsommernacht die himmlische Hochzeit gefeiert. Die Vereinigung von Himmel und Erde, von Mensch und Gott. Isatami war nicht die Hauptstadt des luwischen Reiches, doch hier schlug das Herz des Kultes um den unsterblichen Muwatta und die Geflügelte Išta. Die weitläufigen Mauern Isatamis wurden von Tausenden bunten Zelten belagert. Die Festlichkeiten um die himmlische Hochzeit dauerten mehr als eine Woche und aus allen Provinzen des Reiches strömten Schaulustige herbei.

Der Hügel, auf dem sich zwischen verwitterten Statuen aus grauem Stein das magische Tor befand, lag etwa drei Meilen von Isatami entfernt. Eine breite Straße, flankiert von blumengeschmückten Götterschreinen, führte in fast gerader Linie auf die Tempelstadt zu.

»Wir sind bereit, Herrscher aller Schwarzköpfe«, sagte sein Hofmeister Datames leise. »Alle haben das Tor durchschritten, und der Festzug ist aufgestellt.«

Artax blickte zu Datames hinab. Der Hofmeister hatte so viel Schminke aufgetragen, dass sein Gesicht wie eine Maske wirkte. Er trug einen Wickelrock, der bis zu den Knöcheln herabreichte und eine mit bunten Rechtecken bestickte Tunika. In seinem breiten Gürtel steckten zwei goldene Griffel, die Zeichen seines Amtes, und ein fast armlanger Dolch, dessen Elfenbeingriff mit Smaragden geschmückt war. Die mit anliegenden Hörnern geschmückte Haube verbarg sein Haar. Hätte er einen Bart, er hätte sehr stattlich ausgesehen. So erschien er seltsam.

Der Festzug war perfekt organisiert. Er war ein Spiegelbild der Macht und des Reichtums von Aram. Seltsamerweise hatte Datames, bis sie durch das magische Tor getreten waren, nach Ausflüchten gesucht, nicht mitzukommen. Artax hatte ihm das nicht durchgehen lassen. Er musste schon auf Juba verzichten, der sich bei den Streitwagengeschwadern der Söldner aufhielt. Würde noch ein weiterer über die Grenzen hinaus bekannter Würdenträger des Reiches in seinem Gefolge fehlen, mochte das als eine Beleidigung aufgefasst werden.

»Du hast gute Arbeit geleistet, Datames.« Einen Moment überlegte Artax, den Hofmeister einzuladen, neben ihm im Streitwagen nach Isatami einzuziehen, doch es mochte als Schwäche ausgelegt werden, wenn er Datames so nah an seiner Seite duldete.

»Du darfst dich zurückziehen.«

Der Hofmeister verneigte sich und entfernte sich wortlos.

Artax setzte seinen Helm auf und klappte die Maske vor sein Gesicht. Das Metall lag kühl auf seinem Antlitz. Fast wie eine zweite Haut.

Er hob die Zügel und blickte flüchtig nach dem Sklaven mit dem reich bestickten Sonnenschirm, der schräg hinter ihm stand. Von einem solchen Sklaven mit Sonnenschirm begleitet zu werden war ein Privileg, das allein den Mächtigsten des Reiches vorbehalten war. Artax fand es albern. Er war ein Leben lang ohne demütige Diener mit Schirmen ausgekommen, die hinter ihm herschlichen. Er hatte mit Datames darüber gestritten, sich aber letztlich gefügt. Es war ein Teil dieses Auftritts, wie seine prächtigen Gewänder und all das andere. Es war wie beim Brotbacken. Löschte man das Feuer unter dem Ofen, wenn man die Laibe schon hineingeschoben hatte, würde alles verderben.

Artax lockerte die Zügel und mit knirschenden Rädern setzte sich der Streitwagen in Bewegung. Er wurde von vier milchweißen Stuten gezogen, auf deren Köpfen bunte Federbüschel wippten. Die türkisblauen, mit Silberfäden durchwirkten Pferdedecken waren erst wenige Tage zuvor vollendet worden. Die alten Decken, die das Symbol der geflügelten Sonne getragen hatten, waren aus den königlichen Ställen entfernt worden. Nun zeigten sie Bilder von Aaron auf der Gazellenjagd und wie er auf einem Schlachtfeld über die Körper erschlagener Feinde hinwegschritt. Muwatta sollte schon bei ihrer ersten Begegnung klar sein, dass dies ein freundschaftlicher, keinesfalls aber ein demütiger Besuch war.

Der Löwenhäuptige begleitete sie nicht. Er schien es nicht zu mögen, sich dem Volk zu zeigen, und Artax hatte Sorgen, dass er vielleicht allein vor Išta stehen würde. Die Devanthar hasste ihn, da war er sich ganz sicher. Und sie würde nach dem Zweikampf in der Goldenen Stadt nach einer Gelegenheit suchen, ihn zu demütigen.

Er blickte die Prachtstraße entlang. Tausende Schaulustige waren gekommen, jubelten ihm zu und warfen Blütenblätter auf den Weg. Manche hielten Kinder hoch, damit sie ihn sehen konnten. Die Pferde seines Gespanns warfen nervös die Köpfe in den Nacken. Die Menschenmenge und der Lärm beunruhigten sie. Artax zog die Zügel ein wenig straffer an.

Die Prachtstraße wurde von Kriegern Muwattas flankiert. Auf jeden Schritt ein Kämpfer auf jeder Seite des Weges. Sechstausend bis zum Stadttor. Sie hatten die Schwerter gezogen. Die Klingenspitzen zeigten zum Boden. Jeder von ihnen trug ein Eisenschwert. Muwatta nutzte die Gelegenheit, die Macht seines Heeres zu zeigen. Die Krieger trugen zwar noch Bronzehelme und nur vereinzelt Schuppenpanzer, aber diese Schwerter machten sie jedem Gegner überlegen. Sechstausend Eisenschwerter! Sie würden in seine Krieger fahren wie die Sichel ins Korn.

Artax hatte schon Bronzeschwerter gesehen, deren Klingen versilbert worden waren, um poliertes Eisen vorzutäuschen. Aber diese Waffen hier waren echt. Daran hegte er keine Zweifel. Und die dreihundert Mann seiner Himmelshüter, der Leibwache seines Palastes, würden es auch sehen. Von ihnen besaßen nicht einmal dreißig Schwerter aus Eisen. Vielleicht hätte er auf den Löwenhäuptigen hören sollen – diese Reise war nicht klug! Muwatta brauchte einen Krieg, um seine Ehre wiederherzustellen, und er würde sich niemals zu einem Friedensschluss überreden lassen. Es sei denn, er, Artax, fand einen Weg, ihn zu erpressen … Der Maskenhelm verbarg Artax’ Lächeln. Er hatte sich einige Gedanken gemacht und war recht zuversichtlich, zumindest eine kleine Hoffnung auf Erfolg zu haben.

Das Stadttor öffnete sich. Fanfaren erschollen und Trommeln, deren Schlag wie Donner dröhnte. Muwatta ritt auf einem zweizahnigen Kopfschwänzler, einem Elefanten! Verdammter Bastard! Neben ihm würde er in dem vergoldeten Streitwagen wie ein Zwerg aussehen.

Muwatta ist eben kein Bauer. Er weiß, wie man einen Auftritt zelebriert. Du hättest auf uns hören und in der großen Löwensänfte kommen sollen. Die wäre deutlich eindrucksvoller als dieses Wägelchen.

Artax versuchte seinen Quälgeist zu ignorieren und blickte zurück auf den langen Zug an Höflingen und Kriegern, der ihm folgte. Datames hatte an nichts gespart. Der Auftritt war eindrucksvoll. Jeder im Gefolge war nach Schönheit und gutem Wuchs ausgesucht und in erlesene Gewänder gekleidet. Der Hofmeister überließ nichts dem Zufall, wenn er einen Auftritt inszenierte. Selbst auf kleinste Details achtete er. So hatte er mit Wachen und Dienern sogar einstudiert, wie sie gehen sollten. Die Krieger traten mit festem Schritt auf, und sie alle marschierten im gleichen Takt, was etwas Bedrohliches hatte. Die Diener und Gabenträger hingegen schritten mit leichtfüßiger Eleganz. Artax wäre niemals auf die Idee gekommen, sich um so etwas zu kümmern, aber es veränderte das Bild des Auftritts. Das ließ sich nicht von der Hand weisen und zumindest das konnte Muwatta nicht übertrumpfen, indem er sich auf einen Elefanten setzte.

Die Sänften der Haremsdamen zu sehen, versetzte Artax einen leichten Stich. Er musste an Aya denken. Sie war eine der drei gewesen, die ihn in seiner ersten Nacht als Aaron besucht hatten. Er hatte sie gemocht. Sie war frech und lebhaft gewesen. Nicht so unterwürfig und vorsichtig wie die meisten der anderen Frauen des Harems. Datames hatte ihm von Ayas Schicksal erzählt. Sie war aus dem Harem entflohen, doch als sie erkennen musste, dass sie wohl niemals dem Palast entkommen könnte, hatte sie sich in die Löwengrube gestürzt. Wenn sie ihm doch nur etwas gesagt hätte! Längst schon wollte er den Harem auflösen. Ihr Tod war so sinnlos gewesen. Er hätte sie für den Fluchtversuch nicht bestrafen lassen.

Ihr Lachen klang ihm noch immer im Ohr.

Er wandte den Blick nach vorn — Muwatta war nur noch weniger als hundert Schritt entfernt. Artax zügelte die Pferde und stieg vom Wagen. Auch ihn hatte Datames gelehrt, wie man mit mehr Anmut schritt. Er hatte Wasserkrüge auf dem Kopf balancieren müssen, um seine Haltung zu verbessern. Und er hatte reichlich Krüge zerbrochen, bis dem Hofmeister zum ersten Mal ein Lob über die Lippen gekommen war. Nun half es. Artax fühlte sich selbstsicher. Er wusste, dass er auf jeden der Zuschauer stattlich wirkte.

Völliger Blödsinn! Keiner von uns hat sich je zu so etwas herabgelassen. Entweder man ist mächtig und strahlt es aus, oder man ist ein Wurm. Ob du watschelst oder schreitest, ändert nichts daran.

Ihr meckert wie die Ziegen, dachte Artax. Immer dieselbe Leier. Bauer, Bauer, Bauer. Dass den Aarons nicht mal etwas Neues einfallen konnte als diese vermeintliche Beleidigung, die er, Artax, gar nicht als eine solche empfand. Sein Leben als Bauer hatte ihn ausgefüllt. Nun ja. Jetzt war er Herrscher geworden, und deshalb schritt er jetzt eben beeindruckend einher und hielt Reden, statt mit krummem Rücken auf dem Acker zu stehen und Unkraut auszurupfen. Na dann, dachte er. Auf in den Kampf.

Die Rufe der Menge verstummten. Alle beobachteten gespannt die Begegnung der beiden Unsterblichen. Sicherlich kannte hier jeder die Geschichte um das Duell in der Goldenen Stadt.

Der Elefant hielt wenig mehr als einen Schritt entfernt. Schwarze Augen blickten melancholisch zu ihm herab. Artax war überrascht zu sehen, dass der zweizahnige Kopfschwänzler lange Augenwimpern hatte. Das machte seinen Blick erstaunlich menschlich. Ein gellender Befehl des Treibers ließ das große Tier niederknien. Muwatta saß unter einem Baldachin und machte keine Anstalten herabzusteigen. Überheblich grüßend hob er die Rechte. »Es überrascht mich, dich hier zu sehen, Aaron. Bist du gekommen, um dich zu unterwerfen?«

»Ich bin hier, um zu sehen, wie du die himmlische Hochzeit vollziehst, Bruder.«

Muwatta verstand gewiss genau, wie das gemeint war. Doch er schaffte es, seine Stimme zu beherrschen, als er entgegnete: »Stimmt es, dass du in den letzten beiden Jahren keinen Nachkommen mehr gezeugt hast, Bruder? Meine Priester können dich segnen. Vielleicht hilft das? Deine Priester verfluchen dich, wie man hört.«

Muwatta trug ebenfalls seinen Maskenhelm. Artax konnte das Gesicht des Unsterblichen nicht sehen, aber er war sich sicher, dass Muwatta seinen Auftritt genoss.

»Ich hatte gehofft, wir könnten über Frieden sprechen«, sagte er eine Spur lauter als bisher. »Aber wie es scheint, wiegen die Leben deiner Krieger leicht in der Waagschale deines Stolzes.«

»Das siehst du falsch«, entgegnete Muwatta ebenfalls etwas lauter. »Meine Krieger tragen eiserne Waffen. Sie werden deine Krieger niedermetzeln, und deine Männer wissen das. Jene, die du mitgebracht hast, werden weitererzählen, was sie hier gesehen haben. Wenn wir uns in einem Jahr auf dem Schlachtfeld begegnen, wird dein Heer mit dem Wissen aufmarschieren, dass es geschlagen werden wird. Die Moral deiner Männer wird so schlecht sein, dass ich gar keine eisernen Klingen bräuchte, um zu triumphieren. Nicht ich werfe hier Leben in die Waagschale meines Stolzes. Du tust es.«

Muwatta hatte mit jedem Wort recht. Artax griff nach dem Verschluss des Maskenhelms. Er öffnete ihn und nahm den Helm ab. Dabei lächelte er. Er kam aus einem kleinen Dorf. Feilschen und Schachern hatte zu seinem Leben gehört, seit er laufen gelernt hatte. »Es ist immer eine Freude, einen Gegner zu haben, der sich seiner Sache so sicher ist. Am Abend nach der Schlacht werde ich dir erklären, warum du verloren hast. Und nun wollen wir nicht weiter Angst und Zweifel in die Herzen deiner Untertanen säen. Heute ist ein Festtag. Wenn ich es richtig verstanden habe, wirst du eine schöne Jungfrau besteigen, und wenn du es schaffst, sie zu schwängern, dann werden die Felder im nächsten Jahr reiche Früchte tragen.«

»Aber, mein Freund, wo sind deine Manieren? Hunde besteigen eine Hündin. Und vielleicht Barbaren ein Weib. Ich aber werde der Auserwählten dieser Nacht ein unvergessliches Vergnügen bereiten. Und nun sei eingeladen, meinen Elefanten zu besteigen. Hier vorne, werter Aaron. Bei der kleinen Treppe. Nicht von hinten.«

Artax hörte die Umstehenden verhalten lachen. Er breitete die Arme aus. »Ich gebe mich geschlagen. Mit Worten bist du wahrlich treffsicherer als mit deiner Klinge.«

Muwatta deutete zu der zierlichen vergoldeten Treppe, die seitlich der Howdah über die Flanke des zweizahnigen Kopfschwänzlers hinabhing, reichte ihm sogar die Hand und zog ihn das letzte Stück auf den Elefantenrücken, wo sie gemeinsam auf dem breiten Thron unter dem seidenen Baldachin Platz nahmen. Artax suchte nach Worten, um mit dem Herrscher Luwiens noch einmal ins Gespräch zu kommen. Es musste doch einen Weg geben, diesen Irrsinn aufzuhalten.

Unter den scharfen Befehlen des Treibers wendete der Elefant und ging zurück zum Stadttor. Artax gab seinem Gefolge ein Zeichen, ihnen zu folgen. Sie hatten das Tor fast erreicht, als auch Muwatta seinen Maskenhelm abnahm. Er hatte schulterlanges, leicht gewelltes Haar. Sein Bart war überaus eindrucksvoll und reichte ihm bis zur Mitte der Brust. Er strahlte eine erdrückende Selbstsicherheit aus. »Weißt du, ich habe ernsthaft überlegt, dich und dein ganzes Gefolge ermorden zu lassen. Hierherzukommen und mich vor meinem Volk zu beleidigen war überaus frech. Bist du so verzweifelt oder so dumm?«

»Ich will Frieden für unsere Reiche! Es gibt so viel Sinnvolleres zu tun, als diese Schlacht zu schlagen.«

»Dann überlass mir deine Hälfte der Provinz Garagum. Du wirst ohnehin nicht verhindern können, dass ich sie mir nehme. Das wäre eine weise Tat.«

Das lässt sich nicht von der Hand weisen. Allerdings wird man dich dann in Zukunft den Schwanzlosen nennen und nicht mehr ihn.

»Eben fragtest du noch, ob ich dumm sei. Wie kannst du da mit weisen Taten rechnen?«

Muwatta strich sich über den Bart, dann schüttelte er bedächtig den Kopf. »Unsere Gespräche führen zu nichts. Ich werde einige deiner fähigeren Berater ermorden lassen. Dann hatte dieser Besuch wenigstens einen Nutzen für mich.«

»Die Männer, die ich mitgebracht habe, sind verzichtbar.«

Muwatta schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Du bist ein schlechter Lügner. Glaube nicht, dass ich meine Feinde nicht kenne. Ich habe Spitzel an deinem Hof, und ich weiß, dass dieser bartlose Schnösel, den du als Hofmeister hältst, wertvoll ist. Du bist zu spät gegen meine Piraten ausgezogen, um deine Zinnflotten zu retten, und damit, dass du Datames hierhergebracht hast, hast du seinen Untergang besiegelt. Sein Tod ist bereits vorbereitet, und du wirst ihn nicht verhindern können. Siehst du dein Schicksal? Jeder deiner Schritte führt dich näher an den Abgrund.«

Artax’ Hoffnungen hatten sich in Luft aufgelöst. Als er vor Jahren mit Siran, dem reichsten Bauer seines Dorfes, im Streit gelegen hatte, war er uneingeladen auf der Hochzeit von dessen jüngster Tochter erschienen. Er hatte ein paar hübsche Geschenke mitgebracht und sich höflich benommen. Danach war ihr Streit erledigt. Aber Muwatta war nicht Siran und ein Streit zwischen Königreichen verlief wohl nach anderen Gesetzen als ein Streit auf dem Dorf. Artax wünschte, er wäre nicht hierhergekommen. Um einen Rückzieher zu machen, war es jetzt zu spät.

Der Hüter der goldenen Gewölbe

Talawain prüfte noch einmal den Sitz seiner Kleider, die ihm die Rolle des Hofmeisters Datames aufzwangen. Die mit Drähten versteifte Robe war überaus unbequem, aber sie war nützlich. Er hätte nicht hier sein sollen. Mit Händen und Füßen hatte er sich gewehrt. Ihm war klar, dass er sich dadurch verdächtig gemacht hatte. Es war selbstverständlich, dass der Hofmeister eine solche Reise nicht nur organisierte, sondern auch an ihr teilnahm.

Beklommen blickte er zu der großen Stufenpyramide. Artax und sein engeres Gefolge waren zu einem großen Festgelage auf eine Dachterrasse des Palastes geladen. Von hier aus hatte man den besten Blick auf die Zikkurat, die Stufenpyramide, auf deren Spitze jener kleine, weiße Tempel stand, in dem die Himmlische Hochzeit vollzogen wurde. Es gab keine Wände. Nur vier plumpe Säulen, die ein leichtes Dach stützten. Alle sollten Zeugen sein, wie der Unsterbliche das Ritual vollzog. Barbarisch! Selbst für die Verhältnisse von Menschen, dachte Talawain.

Genauso barbarisch wie die plumpe Beleidigung, die ihre Unterbringung darstellte. Aaron und sein Gefolge waren in Schilfbündelhallen auf dem Hof des Palastes einquartiert. Vordergründig hieß es, man habe keine Zeit gehabt, für den überraschenden Besuch angemessene Quartiere zu finden. Schilf war zu zehn Schritt langen Bündeln zusammengebunden, die man zu Bögen krümmte und an Holzpflöcken im Boden verankerte. Viele dieser Bögen hintereinander bildeten eine Halle. Dicht an dicht standen siebzehn solcher Hallen im weiten Palasthof. Einige der niederen Diener aus Aarons Gefolge waren notdürftig in Ställen untergebracht. Die Schilfbündel waren mit Duftölen durchtränkt worden, was Talawain nicht als Bereicherung empfunden hatte. Man hatte zu sehr übertrieben! Drückte man fest gegen das Schilf, sickerte Duftöl von schlechter Güte hervor. Rosenöl und andere Duftstoffe waren mit billigem Olivenöl gestreckt worden. Die Duftnote, die sich daraus ergab, war wahrlich unverwechselbar. In keiner der Hallen konnte Talawain länger verweilen, ohne Kopfschmerzen zu bekommen. Allerdings schienen die Menschen unempfindlicher zu sein.

Unruhig schweifte Talawains Blick über die Palastterrasse. Der Elf konnte die Anwesenheit von mindestens zwei Devanthar spüren. Zu sehen vermochte er sie jedoch nicht. Vielleicht hatten sie Menschengestalt angenommen.

Die Devanthar waren vollendete Täuscher – und sie waren in seinen Augen nicht nur Feinde. Er hatte auch Respekt vor ihren Fähigkeiten. Und gerade deshalb wollte er nicht hier sein. Es war unvernünftig und gefährlich, denn er wusste, wie unendlich sie ihm überlegen waren. Am Hof Aarons war es ihm bisher stets geglückt, sich im Hintergrund zu halten, wenn der Löwenhäuptige anwesend war, aber hier, während dieses bedeutenden Festes, war es so gut wie unvermeidlich, einem Devanthar unter die Augen zu kommen.

Talawain nippte lustlos an seinem Wein. Er wurde in kitschigen, mit Edelsteinen besetzten goldenen Bechern serviert. Man konnte ihnen ansehen, dass sie vor allem teuer sein sollten. Von Schönheit und ästhetischer Komposition hatten diese Wilden keine Ahnung. Der Hofstaat Muwattas war ein Grauen. Überall wurde mit Gold und Reichtum geprotzt. Daran allein war ja nichts Verwerfliches, aber die Menschen verstanden es einfach nicht, dass weniger manchmal mehr war. Nicht überbordende Fülle erfreute das Auge. Sie verwirrte nur. Ein Kunstwerk brauchte Raum, um zur Geltung zu kommen.

Aarons Palast war unvergleichlich viel schöner gestaltet, denn er war sein Werk. Viele Jahre lang hatte er langsam Überflüssiges verschwinden lassen und gelegentlich ein neues Kunstwerk aufgestellt. Eine Skulptur von den Nomaden von jenseits der Glaswüste, eine bemalte Vase aus den Werkstätten Trurias. Der Unsterbliche des Großreiches Valesia hatte angeblich einen erlesenen Geschmack. Es gab Gerüchte, dass er schon seit vielen Jahren an einer Weißen Stadt bauen ließ, die tief in den Bergen verborgen lag. Selinunt hieß sie, und sie sollte ganz und gar aus Marmor errichtet sein. Er würde diesen Ort gerne einmal sehen. Wahrscheinlich würde er enttäuscht werden, aber er war neugierig. Gewiss war Selinunt schöner als Isatami, die Hauptstadt der Geschmacklosigkeiten!

Talawain blickte zu der Zikkurat. Die turmhohe Stufenpyramide war ganz mit meergrün glasierten Ziegelsteinen verkleidet. Ziegelreliefs mit Bildern der geflügelten Göttin und des unsterblichen Muwatta hoben sich goldgelb ab. Tausende Öllämpchen standen an den Kanten der Terrassen der Pyramide und auf den Stufen der Treppe, die hinauf zum kleinen Tempel führte. Im Licht der Lämpchen sah das Bauwerk fast schön aus. Priesterinnen in weißen Gewändern, eskortiert von kahl geschorenen Eunuchen, die Fackeln trugen, stiegen die große Treppe hinab. Sie hatten das Bett für die Himmlische Hochzeit vorbereitet.

Talawain dachte an das zierliche Mädchen, das er am Morgen kurz gesehen hatte. Die Braut des Unsterblichen. Sie war gerade einmal fünfzehn, schätzte er. Vielleicht auch jünger. Ein hübsches Mädchen nach den Maßstäben der Menschen. Mit großen, dunklen Augen, in denen sich am Morgen Stolz und eine Spur von Furcht gespiegelt hatten. Er hatte sie gemocht und sich diskret erkundigt, was sie erwartete. Was er gehört hatte, hatte ihn nur mit noch mehr Abscheu erfüllt.

Die Kleine musste jetzt irgendwo in einem Tunnel unter der Stadt sein. Eskortiert von einigen Eunuchen. Der Geheimgang führte zu einer verborgenen Treppe im Inneren der Zikkurat. Diese Treppe war allein den Bräuten des Unsterblichen vorbehalten. Kein anderer Mensch durfte sie betreten. Am Fuß der Treppe würden die Eunuchen das Mädchen entkleiden. Dann müsste sie, mit einer Öllampe in der Hand, die dreihundert Stufen zum Tempel auf der Spitze der Zikkurat erklimmen. Angeblich gab es an den Wänden entlang der Treppe Fresken, die sie über die Freuden der Himmlischen Hochzeit belehrten. Das Mädchen stand für die Erde, und deshalb hatte man sie durch den Tunnel gehen lassen. Sie würde aus der Erde geboren werden und, vor Blicken verborgen, direkt in den Himmel hinaufsteigen. Muwatta aber würde von Išta selbst zum Tempel getragen werden. Er verkörperte den Himmel und würde vom Himmel herabsteigen. Die Vereinigung von Erde und Himmel, den erneuerten Bund zwischen Menschen und Göttern, all das versinnbildlichte diese Hochzeit. Das Mädchen würde man nach dieser Nacht Priesterinnen anvertrauen. Von Männern weit entfernt, würde sie in einem Tempel tief in den Bergen verborgen warten und beten. Wenn sie ein Kind empfangen hatte, stand dem Land ein gutes Jahr bevor. Wuchs aber keine Frucht in ihrem Leib heran, so war dies ein böses Omen für die kommende Ernte. Dann würden der Unsterbliche und die Priesterschaft sie im nächsten Frühjahr auf einem Tempelacker vor den Mauern Isatamis opfern und ihr Blut in die Ackerfurchen rinnen lassen, um eine Dürre vom Land abzuwenden.

Heller Zimbelklang und das dumpfe Dröhnen zahlloser Handtrommeln ertönten aus den Straßen der Stadt. Zehntausende feierten. Den ganzen Tag über waren Stiere geopfert worden, und ihr Fleisch hatte man unter den Armen verteilt. Wein floss in Strömen, und Datames war sich sicher, dass die Gläubigen hundertfach in Hauseingängen und dunklen Gassen ihre eigene Variante der himmlischen Hochzeit zelebrierten. Längst waren die Krieger von den Straßen abgezogen und sicherlich feierten etliche mit Bauern und anderem Pöbel. Es gab keine Ordnung mehr dort unten. Nur noch Ekstase. Es war schlimmer als ein Koboldfest!

Talawain blickte über die weite Terrasse. Hier ging es kaum weniger zügellos zu. Die Gäste hockten oder lagen in kleinen Gruppen um niedrige Tische; große Kissen und dicke Teppiche sorgten für Bequemlichkeit. Niedrige Wolken zogen über den Himmel und in der Ferne konnte man manchmal Wetterleuchten sehen. Es war drückend heiß. Eine Nacht für Ausschweifungen. Die meisten Luwier und auch etliche Gefolgsleute Aarons waren aufreizend leicht bekleidet. Manche der Damen trugen mehr Schmuck als Stoff!

Talawain war nicht prüde, doch zog er es vor, seine Affären nicht unter den Augen Dutzender Gaffer auszuleben. Die Mentalität der Menschen würde er niemals ganz begreifen. Er fand es interessant, sie zu beobachten. Sie überraschten ihn immer wieder. Seine Aufgabe erfüllte ihn und ihm war bewusst, dass er der einflussreichste Elf der Blauen Halle in Aram war, vielleicht sogar auf ganz Daia. Nur selten gelang es einem von ihnen, bis zu den höchsten Ämtern aufzusteigen und einem der Unsterblichen nahe zu sein. Sogar seinen Pflichten als Hofmeister ging er gerne nach. Und doch wuchs in den letzten Wochen seine Sehnsucht nach Albenmark. Er vermisste es, unter seinesgleichen zu sein, und sehnte sich danach, einmal nicht mehr in jedem Augenblick auf der Hut vor Entdeckung sein zu müssen.

Unter den Würdenträgern Muwattas waren viele Krieger. Erfolgreiche Feldherren belohnte er gerne mit Statthalterposten und Hofämtern – eine Praxis, die Korruption Tür und Tor öffnete. Statt fähige Beamte zu befördern, setzte er diesen erfahrene Totschläger vor die Nase. Stolz dachte Talawain, dass die Wirtschaft Arams besser florierte. Die Abgaben an den Unsterblichen verloren sich nur in geringem Umfang in den Schatztruhen von Provinzfürsten. Und seit die gierige Priesterschaft gezügelt worden war, wurde weniger Gold für unnützen Tempelpomp verschwendet.

Talawain beugte sich vor und schob seinen Weinpokal zur Seite. Er war des süßlichen Roten überdrüssig und versuchte sich an dem Anisschnaps, der in irdenen Krügen auf jedem der niedrigen Tische stand. Zwei Fingerbreit goss er in einen mit luwischen Helden bemalten Tonbecher und füllte dann Wasser nach. Er mochte den Geruch von Anis. Als er das Wasser beimengte, nahm der klare Anisschnaps eine milchige Farbe an. Löwenmilch nannten die Luwier dieses Gebräu und zahllos waren die Geschichten, die sich darum rankten.

Dröhnendes Gelächter ließ Talawain über den Rand des Bechers blicken. Nicht weit entfernt saß Kurunta, der Hüter der Goldenen Gewölbe. Er war der Schatzmeister Luwiens und wahrscheinlich der einflussreichste Mann am Hof Muwattas. Ein ehemaliger Krieger, der seine Lorbeeren im Kampf gegen Ischkuza gesammelt hatte. Die Grenze zu den Steppennomaden war friedlos. Immer wieder kam es zu Viehdiebstahl und alle paar Jahre sogar zu ausgedehnten Plünderzügen, die Madyas, der Unsterbliche von Ischkuza, zwar scharf tadelte, aber nie ahndete. Kurunta hatte seine Streitwagenschwadronen tief in die weiten Steppen geführt und dort zahllose Scharmützel geschlagen. Verbrannte Jurten und niedergemetzeltes Vieh hatten seinen Weg gesäumt. Er war ein berüchtigter Folterer. Angeblich ließ er seine Gefangenen an einem Spieß braten, wobei er stets mit den Kindern begann. Talawain war sich darüber im Klaren, dass viele dieser Geschichten Lügen sein mussten. Aber wenn man Kurunta ansah, glaubte man sofort daran, dass es einen wahren Kern geben musste. Er war ein massiger, verlebt aussehender Kerl. Sein breites Kreuz und die muskulösen Arme passten nicht recht zu dem Schmerbauch, der über seinen Wickelrock quoll. Ein Nabelbruch ließ seinen deformierten Bauchnabel wie ein Fingerglied zwischen den Speckrollen hervorlugen. Über seine Stirn zog sich eine weitere, hässliche Narbe. Talawain fragte sich, ob Kurunta schlecht genähte Narben als Schmuck betrachtete. Der Schädel des Hüters der Goldenen Gewölbe war mit grauen Stoppeln bedeckt. Ein üppiger, rechteckig gestutzter Bart verdeckte sein Doppelkinn.

Breite goldene Armreife und ein langer Dolch in einer rubinbesetzten Scheide waren der einzige Schmuck, den er trug. Er war gleich mit zwei Konkubinen zu dem Fest gekommen. Einer Drallen mit falschem blonden Haar und einem zierlichen Mädchen, das kaum zu überspielen vermochte, wie unangenehm es ihr war, von Kurunta begrapscht zu werden. Der Blonden quollen die üppigen Brüste aus dem Dekolleté und Kurunta liebte es, sie mit leichten Schlägen in Schwingung zu versetzen, während er lautstark mit den umsitzenden Gästen plauderte. Dem zierlichen Mädchen hatte er auch schon mehrfach in den Ausschnitt gepackt. Sie zog ihr Kleid immer wieder zurecht, sobald ihr Herr von ihr abließ. Die Kleine war stark geschminkt und hatte die Augen mit Kohlestrichen umrandet.

Talawain dachte daran, einen Meuchler aus der Weißen Halle auf dieses widerliche Schwein anzusetzen. Aber das wäre unverantwortlich. Mit Kurunta in Amt und Würden erlitt Luwien sicherlich größeren Schaden als durch sein Ableben.

»Heh, Eunuch!« Kurunta hob den Arm und winkte.

Talawain senkte den Blick und nippte an seinem Schnaps.

»Dich mein ich, Bartloser! Was starrst du so herüber? Magst den Blick nicht von meinen Weibern lassen? Ich hab es gesehen, Lüstling. Los! Sag was!«

Talawain seufzte. Dann blickte er auf. Alle Gespräche ringsherum verstummten. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung, wenn der Eindruck entstanden ist, dass ich die Damen in deiner Begleitung mit unschicklichen Blicken belästigt habe. Wenn ich zu starken Schnaps trinke, pflege ich gelegentlich zu schielen. Mir fiele niemals ein, die beiden anzustarren.«

»Willst du damit sagen, dass du die beiden keines Blickes würdigst? «

Talawain fiel auf, dass Kurunta ganz klar sprach. Er war auf keinen Fall betrunken. Der Hüter der Goldenen Gewölbe suchte Streit!

»Ich habe dich etwas gefragt, Eunuch! Willst du mich beleidigen und mir sagen, ich würde mich mit Weibern umgeben, die nicht ansehnlich sind?«

»Nichts liegt mir ferner, Erhabener. Die Schönheit der beiden Grazien macht mich so fassungslos, dass es mir schwerfällt, mein Erstaunen über ihren Anblick in Worte zu fassen.«

»Also gaffst du sie doch an und geilst dich an ihnen auf. Ich finde, jetzt ist es an der Zeit, dass wir gaffen.«

Talawain sah aus den Augenwinkeln, wie der unsterbliche Aaron sich erhob. Das alles hier war inszeniert! Es ging darum, Aaron und dessen Gefolge bloßzustellen.

»Was hat mein Hofmeister dir getan?«, fragte Aaron harsch.

»Meinen Stolz verletzt!«, entgegnete der Luwier dreist. »Und nun ist es an ihm, dass er sich demütigt! Soll er seinen Rock öffnen und uns allen zeigen, was ihm fehlt. Damit wäre mir Genüge getan.«

»Ist es wirklich das, was du willst?«, entgegnete Talawain rasch. Er wollte nicht, dass Aaron in diese Sache hineingezogen wurde. »Wenn ich meinen Rock öffne, so fürchte ich, könnten deine Damen mehr erblicken, als sie zu sehen gewohnt sind. Willst du dir das wirklich antun, Kurunta?«

Schallendes Gelächter erhob sich. Der Luwier wurde rot wie eine gekochte Languste. Er zog seinen Dolch. »Diesen Makel werde ich mit deinem Blut von meiner Ehre waschen! Ich schwöre dir, wenn da noch etwas zwischen deinen Schenkeln baumelt, dann wird es die nächste Morgenröte nicht erblicken!«

Talawain erhob sich ein wenig schwankend. Er wollte den Eindruck erwecken, nicht mehr ganz nüchtern zu sein. »Ich werde meine Ehre verteidigen«, rief er ein wenig zu schrill. Dabei machte er einen weiten Schritt über den niedrigen Tisch hinweg. Er stieß einige Trinkpokale um und die Fransen seines Wickelrocks kamen dem Docht einer Öllampe gefährlich nahe.

Sein unbeholfener Auftritt wurde mit Gelächter quittiert.

Aaron packte ihn am Arm. »Lass das! Der Kerl wird dich ausweiden. Er ist ein erfahrener Krieger. Dich zu töten, nur darum geht es ihm.«

»Bin ich nicht auch ausgeweidet, wenn seine Worte meine Ehre von mir nehmen und ich hier sitze und mich demütig ducke? Soll er lieber meine Eingeweide auf den Kissen hier verteilen, als dass ich Morgen für Morgen aufwache und damit leben muss, ein Feigling zu sein?«

»Wohl gesprochen, Bartloser!«, rief einer der Luwier. »Macht Platz für die beiden.«

Aaron ließ ihn los. »Du bist betrunken«, sagte er resignierend. »Ein betrunkener Narr!«

Talawain lächelte in sich hinein. Ja, genau als das wollte er erscheinen, als ein betrunkener Narr. Das war der einzige Weg, der ihm blieb, wenn er nicht offenbaren wollte, wer er wirklich war.

Der Elf streckte die Arme seitlich aus und tat so, als müsse er um sein Gleichgewicht kämpfen. Kurunta kam mit gezücktem Dolch auf ihn zu. Keiner der Luwier unternahm einen Versuch ihn aufzuhalten. Muwatta war nicht anwesend. Er wartete darauf, von Išta zur Himmlischen Hochzeit getragen zu werden. Morgen könnte er die Ereignisse der Nacht einfach abtun. Ein Tadel aus diplomatischen Gründen, das war alles, was Kurunta zu befürchten hatte. Talawain war sich sicher, dass dieser Vorfall mit Muwatta abgestimmt war.

Der Elf griff nach einem Weinpokal auf dem nächststehenden Tisch. Er hob ihn wie eine Waffe und goss sich dabei den Wein über Brust und Rock.

»Ich habe mir den Rock ruiniert«, stammelte er fassungslos.

Eine grell geschminkte Konkubine brach in schrilles Gelächter aus.

Kurunta trat einen Tisch zur Seite und stand nun unmittelbar vor ihm. Der Hüter der Goldenen Gewölbe stieß mit dem Dolch zu. Es war ein flacher Stoß, der ihn im Bauch treffen sollte. Talawain wich mit schlenkernden Armen zurück. Der goldene Pokal schlug vor den Dolch und drängte ihn gerade so weit ab, dass ihn die Klinge um Haaresbreite verfehlte. Der Elf ließ sich nach hinten fallen, riss ein Bein hoch und trat gegen die Hand, die den Dolch führte. So konnte Kurunta nicht nachsetzen.

»Lass ihn wenigstens wieder aufstehen«, herrschte Aaron den Luwier an. »Ich weiß nicht, wie du mit diesem Mord deine Ehre reinwaschen willst.«

Talawain kam auf die Beine und schüttelte sich.

Kurunta funkelte ihn wütend an. Wieder stieß er vor.

Der Elf trat auf eines der Kissen und ließ sich nach vorne fallen. Ein erschrockenes Hoppla rundete den Auftritt ab. Er klammerte sich Halt suchend an den rechten Arm des Luwiers, vermied, der Klinge zu nahe zu kommen, und drückte auf einen Nervenknoten unterhalb des Ellenbogens. Die Hand des Kriegers öffnete sich und sein Dolch fiel klirrend zu Boden.

Kurunta versetzte Talawain einen heftigen Stoß, doch der Elf nahm dem Treffer die Wucht, indem er mit ihm mitging. Erneut ließ er sich fallen und achtete darauf, dass er so auf der Kante eines der niedrigen Tische aufschlug, dass das andere Ende hochschnellte und Kurunta gegen das Kinn krachte. Talawain ging zwischen zerquetschten Weintrauben, gebratenen Täubchen und scheppernden Trinkpokalen zu Boden, während der Luwier benommen zurücktaumelte. Blut troff von seinem aufgeplatzten Kinn.

Der Elf setzte sich auf und musste sich ein Lächeln verkneifen. Das sollte ein großer Krieger sein? Jeder Novize in der Blauen Halle könnte Kurunta besiegen. Die einzige Schwierigkeit bei diesem Kampf bestand darin, so tollpatschig aufzutreten, dass jeder Zuschauer überzeugt wäre, dass er allein durch Glück gesiegt hatte.

Ein weiter Kreis hatte sich um sie beide gebildet. Kurunta atmete schwer. Talawain wusste, dass der Hüter der Goldenen Gewölbe die Rebellion der Priester unterstützt hatte. Der Elf hatte mehreren Verhören beigewohnt. Er hielt nicht viel von Folter, aber der Name Kurunta war immer wieder gefallen. Angeblich hatte er sich mit Abir Ataš, dem gestürzten Hohepriester, bereits auf Nangog getroffen. Luwien würde es in Zukunft besser ergehen, wenn Kurunta nicht mehr lebte. Jeder hier konnte bezeugen, dass der Hüter der Goldenen Gewölbe diesen Streit begonnen hatte. Es wäre eine gute Gelegenheit, sich seiner zu entledigen. Aber seine Sorge sollte allein Aram gehören. Er konnte Kurunta demütigen, seinen Ruf und seinen Stolz töten, aber das Leben musste er ihm lassen.

Talawain wünschte sich, er wäre so geschickt wie einer der Meuchler der Weißen Halle. Es musste wie ein Unfall aussehen. So, als ob … Kurunta packte einen der Tische und hob ihn über den Kopf. Dieser Barbar! Glaubte der Mistkerl, er könnte ihn einfach zerschmettern?

Der Tisch sauste herab. Talawain warf sich zur Seite, darauf bedacht, nicht zu gewandt zu wirken. Das Möbelstück schlug zwischen den Kissen hindurch auf den Steinboden.

Der Elf bemerkte, dass er blutete. Er hatte sich mit der Hand in den Scherben einer zerbrochenen Öllampe aufgestützt.

»Stirb endlich!«, schnaufte der Luwier. »Ich zerquetsch dich wie eine Laus!« Der Kerl warf sich ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen. Talawain schnellte hoch und hob die Fäuste, die, verglichen mit denen seines Gegners, geradezu lächerlich klein aussahen.

Kurunta wollte ihn einfach niederschlagen. Der Elf trat auf eine große Tonscherbe und rutschte vor, wobei er fast in einen Spagat ging. Die Faust des Luwiers sauste über seinen Kopf hinweg. Talawain boxte ihm gegen ein Knie. Ungeschickt und nicht sonderlich fest. Der Krieger hob einen Fuß, um ihn in den Boden zu stampfen. Talawain aber sprang auf und hielt sich dabei an Kuruntas Gürtel fest. Er schwang scheinbar unkontrolliert hin und her. Der Fußtritt und zwei Faustschläge verfehlten ihn. Gerade wollte er loslassen, als der Luwier ihm einen Kopfstoß verpasste. Mitten ins Gesicht. Talawain konnte hören, wie seine Nase brach. Warmes Blut quoll ihm über die Lippen. Den Kopf wie eine Keule einzusetzen … Das konnten sich nur Menschen einfallen lassen!

Der Elf blickte zu Boden. Helle Lichtpunkte tanzten ihm vor den Augen. Kurunta verhöhnte ihn. Er hörte die Stimme nur undeutlich, so sehr dröhnte ihm der Kopf. Es ging wieder um seinen Rock.

Der Boden rings herum war mit den Scherben zerbrochener Tonkrüge und verbeulten Trinkpokalen bedeckt. Öl aus zerbrochenen Lampen bildete eine schlüpfrige Mischung mit vergossenem Anisschnaps und edlem Roten. Dicht vor ihm lag der Boden einer zerschlagenen Lampe. Scharfe Tonzacken ragten vom Gefäßboden auf.

Talawain blickte zu Kurunta. Der Hüter der Goldenen Gewölbe trug gefärbte Sandalen mit einer relativ dünnen Sohle. Sein Gegner hatte seinen Dolch aufgehoben. Stimmengemurmel brandete auf den Elfen ein. Ein schrilles Piepen hatte sich in seinem linken Ohr eingenistet. Der tiefe Bass Kuruntas durchdrang den Geräuschbrei. Er klang, als dränge seine Stimme durch Wasser.

»Ich schneide dir die Augen heraus und piss dir in dein Hirn, Bartloser!«

Talawain stieß einen leisen Schreckenslaut aus und wich zurück. Die heimtückische Scherbe lag nun zwischen ihm und Kurunta. »Bitte, lass mir die Augen!«, jammerte er. »Du kannst mich töten, aber lass mir die Augen!« In Aram, Ischkuza und Luwien gab es den Aberglauben, dass Verstorbene, denen die Augen fehlten, in der Welt jenseits des Grabes blind sein würden. Eine aberwitzige Vorstellung, dachte der Elf. Aber um in seiner Rolle als Hofmeister zu bleiben, durfte er solche vulgären Drohungen nicht ignorieren.

»Ich werde deine Augen an einen räudigen Straßenköter verfüttern! « Kurunta hielt den Blick fest auf ihn gerichtet und ließ seinen Dolch hin und her schwingen. Talawain wich noch ein klein wenig weiter zurück. Der Luwier setzte nach und trat in die Scherbe. Sein Fuß knickte um. Der Elf schnellte vor und gab Kurunta eine schallende Ohrfeige. Eine bewusst lächerliche Geste, aber es ging nicht um den Schlag, sondern um den niedrigen Tisch neben dem Luwier, auf dem besonders viele Öllämpchen standen. Der Hüter der Goldenen Gewölbe stieß Talawain zurück, kam dabei jedoch endgültig aus dem Gleichgewicht. Fluchend strauchelte er und stürzte auf den Tisch. Kerzenflammen leckten nach seinem Rock. Der teure Stoff fing Feuer.

»Er … Er brennt«, stammelte Talawain, während die übrigen noch gafften. Kurunta blickte mehr überrascht als erschrocken an sich herab. Man könnte die kleinen Flammen mit der Hand ausschlagen.

»Wir müssen ihn löschen!«, rief der Elf und griff nach einem der Tonkrüge auf dem nächststehenden Tisch. Er wusste, dass es ein Branntweinkrug war. Mit weitem Schwung schüttete er den Schnaps über den Luwier. Eine fauchende Stichflamme hüllte Kurunta ein, und der Hüter des Gewölbes schrie auf. Er schlug mit den Händen nach den Flammen und warf sich zu Boden.

»Bei den Göttern … Das wollte ich nicht«, log Talawain und wich von seinem Gegner zurück.

Endlich kam Bewegung in die Umstehenden. Jemand rief nach Decken, die es in dieser schwülen Sommernacht natürlich nicht auf der Terrasse gab. Andere hielten Tonkrüge in den Händen und zögerten. Sie schnupperten daran, voller Sorge, mit einem weiteren Fehler das Feuer noch mehr anzufachen.

Kurunta schrie. Flammen leckten über das Gemisch aus Öl und Branntwein am Boden. Das Feuer weitete sich nicht aus. Schon verlosch es an einigen Stellen. Der Geruch von scharf angebratenem Fleisch mischte sich unter den Duft des vergossenen Anisschnapses.

Über den Dächern der Stadt schwebte Muwatta, umgeben von einer Aureole aus goldenem Licht. Išta trug ihn vom Himmel herab zum Tempel auf der Zikkurat. Doch auf der Palastterrasse achtete niemand auf ihn. Alle Augen waren auf Kurunta gerichtet, dessen prächtiger Wickelrock zu Asche verbrannt war und der mit schwächer werdenden Bewegungen gegen die verlöschenden Flammen ankämpfte.

Talawain spürte einen leichten Anflug von Stolz. Es war ihm ein Vergnügen gewesen, den Menschensohn vorzuführen. Unklug, ohne Zweifel, und dennoch ein Vergnügen. Ihm war klar, dass er für diesen Spaß schon bald würde zahlen müssen. Über diesen Abend würde viel geredet werden und das würde ihm mehr Aufmerksamkeit einbringen, als ihm lieb sein konnte.

Die Wächter der Unsterblichen

Er hatte Mühe gehabt, sie davon abzuhalten, das Schilfhüttenlager im Hof des Palastes anzugreifen. So war sie schon immer gewesen. Zu aufbrausend!

Die beiden standen zwischen den uralten Steinen auf dem Hügel vor Isatami, und er spürte die Macht des Albensterns.

Dieses Duell wird nicht ungesühnt bleiben!

Du wirst nicht mehr tun, als abgesprochen war, entgegnete der Löwenhäuptige ruhig.

Die Flügel seiner Schwester zuckten leicht. Bei ihr musste man auf alles gefasst sein. Die Luwier sahen in ihr die Verkörperung eines Gewitters in den Bergen. Sie war die Göttin des Krieges, der Liebe und der Fruchtbarkeit — und sie war eine grausame Mörderin. Ihr Volk kannte sie wahrlich. Sie war launisch bis an die Grenze des Erträglichen. So sprunghaft, dass die meisten Devanthar sie mieden. Sie stritt mit jedem, und eine Nichtigkeit genügte ihr als Anlass.

Du wirst mir in meinem Reich keine Befehle erteilen! Wir haben deinen Aaron nicht eingeladen. Er selbst hat entschieden, sich uns auszuliefern. Und nach dem Vorfall heute Abend wird sein Gefolge mit Blut bezahlen. Sie legte den Kopf ein wenig schief. Plötzlich wirkte sie ganz ruhig. Weißt du überhaupt, wer sich im Palast von Akšu eingeschlichen hat? Weißt du, was für eine Natter ihr unter euch duldet? Dieser Datames … Hast du seine Aura einmal betrachtet? Sie ist gestört. Unregelmäßig. Er trägt Bleidrähte in seinen Kleidern. In allen Kleidern. Sie verzerren den Blick auf die Aura. Manchmal decken sie die Aura fast vollständig ab. Was glaubst du, warum er das tut?

Weil er ein Elf ist und hofft, sich so vor uns verbergen zu können.

Seine Schwester sah ihn überrascht an. Dann ärgerlich. Du weißt das! Und du duldest, dass er einen der treuesten Diener Muwattas öffentlich demütigt und verstümmelt!

Nach allem, was ich gehört habe, hat Datames den Streit nicht angefangen.

Du weißt, wie sie sind!, zischte seine Schwester wütend. Elfen! Die Sklaven der Drachen. Aufreizend. Arrogant. Ihm war es ein Leichtes, Kurunta zu diesem Streit zu verleiten. Er ist der wahre Schuldige! Ich will sein Herz!

Der Löwenhäuptige nickte. Ihm war klar, dass er auf einem gefährlichen Grat balancierte. Wenn sie in Rage geriet, war niemand vor ihr sicher. Sie würde selbst ihn angreifen. Du wirst sein Herz bekommen.

Sie nickte zufrieden. Ich selbst werde es mir holen.

So sei es. Er wartete noch zwei Herzschläge lang. Aber nicht jetzt, Schwester.

Du maßt dir an, mir Vorschriften zu machen? In meinem Königreich! Du …

Willst du einen Dorn ausreißen, Schwester, oder lieber den ganzen Dornenbusch?

Rede klar, Löwe! Und nicht in Orakelsprüchen!

Ich weiß, wohin er geht, wenn er sich nach Albenmark zurückzieht. Er tut das selten und er ist stets sehr vorsichtig. Aber ich weiß, durch welchen Albenstern er in seine Welt tritt. Und ich weiß, dass es sehr nahe einen Ort gibt, an dem viele seinesgleichen leben. Wenn wir dort zuschlagen, können wir das Übel bei der Wurzel packen. Was nutzt es, einzelne ihrer Spitzel zu ermorden? Das haben wir schon dutzendfach getan. Ihm bin ich gefolgt, und ich weiß nun, was sie uns nie verraten haben. Ich weiß, wo sie herkommen.

Und du würdest nach Albenmark gehen und sie dort töten, Löwe?

Wenn die Zeit dafür gekommen ist, ja. Ich glaube, dass nicht alle unsere Brüder und Schwestern den Mut dazu haben werden. Aber auf dich habe ich gezählt. An diesem Tag kannst du dir das Herz des Datames nehmen, und du kannst dich an dem Entsetzen in seinem Antlitz laben, wenn er begreift, dass er es war, der uns an diesen Ort geführt hat.

Jetzt lachte sie vor Freude und aller Zorn war verflogen. Du willst gegen die Alben ziehen? Ich bin dabei!

Nicht die Alben. Nur gegen ihre Kinder. Sie schicken seit Jahrhunderten Spitzel gegen uns aus. Sie planen etwas. Wir sollten nicht einfach abwarten. Wir werden Daia in Albenmark verteidigen. Wenn ihre Spitzel vernichtet sind, werden sie es nicht wagen, uns anzugreifen. Es ist entscheidend, dass wir schnell und völlig überraschend zuschlagen. Die Alben sind träge, sie werden auf unseren Angriff nicht schnell reagieren. Und wenn wir uns in unsere Welt zurückgezogen haben, werden sie uns nicht folgen.

Aber ihre Spitzel, wandte seine Schwester ein. Das widerspricht dem, was du sagst. Warum schicken sie Späher, wenn sie niemals hierherkommen würden?

Die Drachen schicken sie — und die Alben dulden das. Aber sie werden nicht dulden, dass es einen offenen Krieg gibt. Ihr Denken ist erfreulich vorhersehbar. Wir riskieren so gut wie nichts, wenn wir den Ort angreifen, von dem uns Datames geschickt wurde. Und wie ich schon sagte — wir tilgen das Übel mit der Wurzel.

Ihre Züge verhärteten sich plötzlich. Wo wir von Übeln sprechen … Ich weiß darum, dass ein großes Streitwagengeschwader von Aram nach Ischkuza eingedrungen ist. Sollte es diesen Kriegern einfallen, die Grenzen Luwiens zu überschreiten, werde ich Himmelsfeuer auf sie regnen lassen. Ich werde sie …

Ich habe Muwattas Piraten auch gewähren lassen, unterbrach er sie verärgert. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, ihre Schiffe zu vernichten, noch ehe sie eine der Zinnflotten Arams erreicht hätten.

Sie haben die Grenzen Arams nicht verletzt, entgegnete sie aufgebracht . Das ist etwas völlig anderes!

Er hielt ihrem Blick stand. Es sind keine Krieger Arams, die euch angreifen. Es sind dieselben Piraten und Söldner, die ihr gegen die Zinnflotte Aarons geschickt habt. Das Übel, das ihr heraufbeschworen habt, fällt nun auf euch zurück. Aaron hat ihnen befohlen, nicht anzugreifen, bis er aus Isatami zurück ist. Er ist hierhergekommen, weil er Frieden wollte. So, wie Muwatta ihn empfangen hat, wird der Krieg nun unvermeidlich sein.

Was kein Schrecken für uns ist!, entgegnete sie selbstsicher. Wir werden die Heere Arams auf der Ebene von Kush zerschmettern!

Ihr seid sicherlich besser bewaffnet. Aber Aaron überrascht mich immer wieder. Er denkt in ungewöhnlichen Bahnen. Anders als die übrigen Unsterblichen.

Wo hast du ihn her, Bruder?

Der Löwenhäuptige lächelte. Das bleibt mein Geheimnis.

Sie spreizte ihre Flügel ein wenig. Ich weiß genug über ihn. Ich bin mir sicher, er wird sich in der Schlacht wieder an die Spitze seiner Truppen stellen, und das wird er nicht überleben. Nicht, wenn zwei Heere aus fünfzigtausend Kriegern aufeinandertreffen.«

»Ich werde mich nicht einmischen, sagte der Löwenhäuptige bestimmt und doch zugleich mit Bedauern. Wenn er wieder einmal in vorderster Reihe kämpft, muss er die Gefahr alleine tragen. So, wie vor ein paar Wochen, als er sich alleine den Piraten gestellt hat. Allerdings erwarte ich, dass ihn die Ereignisse hier zur Vernunft bringen. Ihm muss klar sein, dass Muwatta in der Schlacht ein Kopfgeld auf ihn aussetzt, vermutlich eine ganze Satrapie.

Sie schenkte ihm ein schmallippiges Lächeln. Ein guter Vorschlag. Ich werde es erwägen …

Er knurrte gereizt. Du musst mir nichts vormachen. Ich weiß, was hier geschieht. Jetzt in diesem Augenblick, in dem wir miteinander reden, ist schändlicher Verrat im Gange. Muwattas Mörder ziehen durch die Nacht, und du triffst dich mit mir, hier weit außerhalb der Stadt, damit ich ihnen nicht ins Handwerk pfusche. Warum all dieser Hass? Der Muwatta, der Aarons Schwert zu spüren bekommen hat, lebt doch längst nicht mehr. Er wäre nicht in der Lage gewesen, die Himmlische Hochzeit zu vollziehen.

Sie sah ihn hochmütig an. Du weißt, wie es um die Unsterblichen bestellt ist. Die Erinnerungen ihrer Vorgänger leben in ihnen weiter. Auch der Hass. Mein Muwatta erinnert sich so deutlich daran, wie seinen Vorgänger das Schwert Aarons getroffen hat, als habe er es selbst in den Leib gerammt bekommen. Und was in dieser Nacht geschehen wird, ist die angemessene Sühne.

Hass wird stets nur Hass gebären, Schwester. Wir könnten Besseres bewirken …

Sie spreizte die Flügel. Nicht in dieser Nacht!

Der Löwenhäuptige seufzte. Gut, ich lasse dich gewähren. Aber mische dich nicht ein, wenn Aaron seinerseits Rache nimmt. Ich werde ihn und die Seinen beschützen. Und ich verspreche dir, ich werde zu verhindern wissen, dass Feuer vom Himmel fällt.

Zwei Drachen

Artax erwachte von dem Gefühl, gewürgt zu werden. Jemand kauerte neben seinem Lager.

»Endlich, Erhabener! Bitte, Ihr müsst aufstehen. Sofort!«

Artax hustete. Es war ein regelrechter Hustenkrampf, der gar nicht mehr aufhören wollte. Tränen traten ihm in die Augen. Als er endlich wieder atmen konnte, fühlte er sich benommen. Verwundert sah er sich um, bis er sich erinnerte, wie er hierhergekommen war. Wie alle anderen hatte er sein Quartier in den Schilfbündelhallen bezogen. Er hätte Gemächer im Palast haben können, aber er wollte nicht von seinem Gefolge getrennt werden.

»Schnell, Herr!« Der Diener, ein schielender Mann mit ergrauendem Haar, hielt seine Öllampe hoch. Nebel schien aus den Schilfrohrbündeln zu sickern. Er füllte bereits das obere Drittel der Halle aus und leises Zischen drang aus den Schilfwänden.

Artax blinzelte. Seine Augen brannten. Das war nicht Nebel, sondern Rauch. Von draußen hörte er gedämpfte Stimmen. Die dicken Schilfwände verschluckten die Geräusche.

»Feuer?« Er war noch immer nicht ganz wach. Nach dem Zweikampf zwischen Datames und Kurunta hatte er sich betrunken. Das war nicht klug gewesen und seiner Position nicht angemessen … Und er hatte es trotzdem getan. Er war mit so vielen Hoffnungen hierhergekommen. Er hatte tatsächlich geglaubt, man könne den Krieg noch abwenden.

»Erhabener!«, drängte der schielende Diener erneut. »Bitte …« Er verfiel in bellendes Husten. »… schnell, Erhabener! Ihr seid in Gefahr.«

Artax blickte geistesabwesend auf die wirbelnden Rauchschleier. Trotz des vielen Rauchs schien es hier kein Feuer zu geben. Der Hofwesir Muwattas hatte ihm eine ganze Halle für sich allein überlassen. Das Protokoll erlaubte niemandem, außer seinen Haremsdamen, sich in Blickweite des Unsterblichen zu befinden, wenn er zu Bett ging. Artax hatte auch die anderen Schilfbündelhallen gesehen. Dort war ein Gitterwerk aus Stangen unter der gewölbten Decke eingezogen. Schilfmatten, Stoffbahnen und im Harem sogar prächtige Teppiche hingen von den Stangen herab und verwandelten die Hallen in kleine Labyrinthe aus ineinander verschachtelten Kammern und schmalen Gängen.

»Erhabener!«

Artax brummte und stemmte sich hoch. Seine Gedanken flossen träge. Er hatte Kopfschmerzen und der schielende Diener war ihm lästig!

Kaum dass er sich aufsetzte, wurde es Artax schwindelig. Ein dumpfer Schmerz nistete hinter seiner Stirn. Einen Augenblick lang fürchtete er, er müsse sich erbrechen. Er hatte das Gefühl, nicht allein betrunken zu sein, sondern auch noch einen schlimmen Schnupfen zu haben. Die Sorte Schnupfen, bei der sich Kopf und Hals mit grünem Eiter füllten.

Er stützte sich auf den Diener, der selbst kaum geradeaus gehen konnte. Schwankend gelangten sie zum Ausgang der Schilfbündelhalle und zogen den schweren Vorhang zur Seite.

Der Lärm war nun nicht mehr gedämpft. Überall gellten Schreie. Todessschreie! Befehle, die Ordnung in das Durcheinander bringen sollten. Voller Verzweiflung gerufene Namen.

Halb vom Rauch erstickte Flammen erhellten die Nacht. Die Abstände zwischen den Schilfbündelhallen waren zu eng. Überall drängten sich Menschen, die sich in Sicherheit bringen wollten. Helfer mit Ledereimern voller Wasser wurden niedergetrampelt.

Husten schüttelte Artax. Wie dichter Nebel hing der Rauch über dem Hof und wollte nicht abziehen. Die Schilfbündel mussten in ihrem Inneren noch feucht sein. Sie schwelten lange, bevor Flammen aus ihnen schlugen.

Der Diener, der ihn geweckt hatte, stürzte zu Boden. Artax packte ihn, wollte ihn hochheben, als ein Pferd aus dem Rauch brach. Die Mähne des Tiers stand in hellen Flammen. Wahn glänzte in seinen Augen. Artax warf sich zur Seite, da preschte der Hengst schon an ihm vorüber. Den Diener in den Armen, lehnte er gegen die Wand einer Schilfbündelhalle. Zischender Schaum drang zwischen den Schilfrohren hervor. Er drang in seine Kleider, verbrühte ihm den Rücken.

Artax schrie vor Schmerz laut auf. Mit Tränen in den Augen folgte er dem Pferd in den wogenden Rauch, hoffte, einen Weg aus dem Inferno zu finden. Bald sah er Schatten neben sich, ohne Gesichter erkennen zu können. Pferde wieherten. Das Feuer musste auf die Ställe übergegriffen haben.

Der Unsterbliche erreichte eine Hauswand und folgte ihr. Ein Tor! Eine Gruppe Krieger drängte sich dort und starrte auf den Hof. Ihre Untätigkeit erfüllte Artax mit brennender Wut. »Los, helft! Wickelt euch nasse Tücher um den Kopf und helft, verflucht noch mal!«, fuhr er den Ältesten von ihnen an, einen stoppelbärtigen Kerl, dessen Oberlippe zu einem wulstigen Narbenwulst deformiert war. »Wie heißt du?«

»Urija«, entgegnete der Krieger ängstlich.

Artax packte einen zweiten der Männer beim Ärmel. »Und du? Wie heißt du?«

»Mursil.«

»Was steht ihr hier einfach nur herum, Urija und Mursil?«

Sie starrten ihn an. Wie betäubt. Erkannten sie ihn nicht? Hatten sie Angst vor ihm? »Los, raus auf den Hof mit euch!« Er stieß den Narbigen von sich. »Geht und helft! Tut etwas, bei den Göttern! «

Die Wachen wichen vor ihm zurück und bald waren sie im dichten Rauch verschwunden. Artax sah sich nach dem Diener um, der ihn gerettet hatte. Er kauerte an der Innenwand des Tores. Völlig in sich zusammengesunken. Behutsam packte der Unsterbliche seinen Retter unter den Armen und brachte ihn auf den angrenzenden Hof. Einige Dutzend Männer und Frauen aus seinem Gefolge hatten sich bislang hierher gerettet. Nur wenig Rauch drang durch das Tor. Hier waren sie in Sicherheit.

Artax legte seinen Diener neben einer Pferdetränke zu Boden und benetzte dessen Gesicht mit Wasser. Er lag weiterhin still. Verzweifelt sah Artax sich um. Wo waren die Männer Muwattas? Warum war niemand hier, um ihnen zu helfen?

In seinem Herzen wusste er die Antwort.

Artax riss sich das dünne Hemd, das er trug, vom Leib, tränkte es mit Wasser und wickelte es sich um das Gesicht, sodass nur ein schmaler Spalt für seine Augen blieb. Dann kehrte er durch das Tor zurück. Die Männer, die eben noch dort gestanden hatten, waren verschwunden. Vermutlich geflohen.

Der Unsterbliche stürmte in den dichten Rauch. Er suchte nach Überlebenden, zerrte sie zum Tor und wies ihnen den Weg. Er fand Datames, der einen kleinen Trupp Dienerinnen führte. Sein Hofmeister war rußverschmiert, sein Haar versengt. die Augen rot gerändert vom Rauch. »Der Harem …« Datames hustete. »Sie sind alle … tot. Erstickt. Alle! Sie sehen aus, als würden sie schlafen. Sie …«

»Komm hier heraus!« Er packte Datames und schob ihn zum Tor. Endlich kamen ihnen Höflinge Muwattas zu Hilfe. Diener und auch einige Wachen. Viel zu spät, dachte er bitter. Ganz, wie Muwatta es gewollt hatte. Der Herrscher hatte etwas unternehmen müssen, sonst würde das Feuer am Ende noch eine Gefahr für seinen Palast.

Die Hilfe war gut organisiert. Bald waren die brennenden Stallungen gelöscht. Gegen das Feuer in den Schilfbündelhallen gingen die Helfer nicht vor. Dieser Kampf war aussichtslos. Wo das Schilf einmal Feuer gefangen hatte, war die verzehrende Wut der Flammen nicht mehr zu bändigen.

Bald brachen die brennenden Hallen in sich zusammen und Ströme von Funken stoben über die Mauern des Palastes dem Sternenhimmel entgegen. Für sich genommen ein schönes Bild.

Artax kauerte auf einer Treppe. Sein Rücken schmerzte, wo der siedende Schaum ihn verbrüht hatte. Er konnte nicht fassen, dass Muwatta das getan hatte! War das die Rache für Kurunta? Oder war es von Anfang an geplant gewesen?

Der Unsterbliche blickte zum Himmel hinauf. Im Osten zeigte sich ein erster Streifen silberblauen Lichts. Über der Stadt hingen dunkle Regenwolken wie ein himmlisches Leichentuch. Man hatte angefangen, die Toten zu bergen. Sie wurden, in Tücher gerollt, entlang einer Mauer aufgereiht, hinter der sich wohl das Backhaus des Palastes verbarg. Der Duft frisch gebackener Fladenbrote überlagerte den Geruch von schwelendem Schilfrohr.

Artax beobachtete, wie die Morgendämmerung ihre Schwingen über den Horizont streckte. Der Anblick tröstete seine verwundete Seele und ließ ihn zugleich an den Göttern zweifeln. Die Welt könnte ein vollkommener Ort sein! Warum duldeten die Devanthar einen Mann wie Muwatta als Unsterblichen? Welchen Nutzen brachte er ihnen? Und warum hatte der Löwenhäuptige all das nicht verhindert?

Weil du dich von ihm losgesagt hast, du Narr. Was erwartest du? Du willst neue Wege beschreiten, du willst das Reich verändern, das er in Jahrhunderten geformt hat. Stürzen, was er mit uns aufbaute. Was wunderst du dich da, dass du deine Kämpfe alleine austragen musst? Du solltest dich mit dem Löwenhäuptigen aussöhnen und auf seinen Rat hören. Und auch auf das, was wir dir sagen. Wir verkörpern Jahrhunderte der Erfahrung und du trittst unser Wissen mit Füßen. Haben wir dir nicht davon abgeraten, hierherzukommen? Nun höre auf uns! Mach deinen Frieden mit dem Löwenhäuptigen und dann vergelte Muwatta Gleiches mit Gleichem. Schick ihm Meuchler! Lass Kurunta die Kehle durchschneiden. Schick seinen Haremsdamen Seidenschals, die Pockenkranke in der Stunde ihres Todes in Händen gehalten haben, auf dass selbst jene, die ihr Leben behalten, für immer ihre Schönheit verloren haben werden. Höre auf uns! Nur Rache tilgt den Schmerz, den du jetzt fühlst.

Artax schloss die Augen und floh dem Grauen. Nie zuvor war er so sehr versucht gewesen, dem Rat Aarons zu folgen. Doch der Quälgeist hatte immer nur sein Verderben im Sinn. Er durfte ihm nicht trauen – besonders dann nicht, wenn es süß und verlockend war, seinem Rat zu folgen. Rache macht blind, hatte seine Mutter ihm immer gesagt, wenn er verprügelt nach Hause gekommen war und darüber nachgesonnen hatte, wie er es den Siegern von heute an einem anderen Tag heimzahlen würde. Seine Mutter war eine einfache Frau gewesen, die nicht lesen konnte und die sich in ihrem ganzen Leben nie weiter als fünf Meilen von ihrem Dorf entfernt hatte. Aber Wahrheit brauchte keine Gelehrsamkeit und keine großen Worte. Er durfte sich nicht von blindem Hass übermannen lassen. Er würde Muwatta bekämpfen! Mit aller Entschlossenheit, aber ohne Hass.

Was du tust, ist verbohrt und dumm! Sieh dich um. Sieh dir die Toten an. Und dann jene, die leben. Jeder von ihnen weiß, dass die Toten hier liegen, weil du weichherzig bist. Weil du nicht verstanden hast, wie Unsterbliche miteinander umgehen. Muwatta kann man keinen Vorwurf machen. Er hatte eigentlich keine andere Wahl. Insbesondere nicht, nachdem Kurunta gedemütigt wurde. Aber du hattest die Wahl! Niemand hätte von dir erwartet, hierherzukommen. Mit Muwatta kann man nicht reden. Geh hin und sieh dir die Toten an! Merke dir jedes einzelne Gesicht, denn ihr Blut klebt genauso an deinen Händen, wie an denen von Muwattas Brandstiftern.

Artax erhob sich. Stumm zählte er die in Tücher eingeschlagenen Toten. Fünfunddreißig! Dann entdeckte er eine zweite Reihe. Ein zierlicher Fuß in einem roten Pantoffel, der unter einem Tuch hervorlugte, verriet ihm, wer dort lag. Selbst im Tode noch von allen anderen getrennt. Seine Haremsdamen. Alle siebzehn, die Datames ausgewählt hatte. Artax ballte die Fäuste in hilfloser Wut. Sie waren nur schmückendes Beiwerk auf dieser Reise gewesen. Es stand ihm nicht an, ohne Begleitung aus seinem Harem an den Hof eines anderen Unsterblichen zu kommen. Er wusste nicht einmal, wen Datames ausgewählt hatte.

Steif und mit schmerzendem Rücken erhob er sich und ging zu ihnen hinüber. Er kniete neben jeder von ihnen nieder, schlug die Tücher zurück und küsste sie zum Abschied auf die Stirn. Manche Gesichter waren vom Feuer so sehr entstellt, dass er nicht mehr zu erraten vermochte, wen er küsste. Andere sahen aus, als seien sie gar nicht in die lange Dunkelheit gereist, sondern würden nur schlummern und von seinem Kuss wieder erwachen. Die letzte in der Reihe war Schaptu. Er erinnerte sich noch gut an ihre erste Begegnung im Fliegenden Palast, als sie ihn gemeinsam mit Aya und Mara empfangen hatte. Ihr rotes Haar war fast vollständig verschwunden. Doch ihr Gesicht war nicht entstellt. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, sodass er ihre makellos weißen Zähne sehen konnte. Zärtlich küsste er sie auf die Stirn und deckte sie behutsam zu wie ein schlafendes Kind.

Als Artax sich erhob, wurde er sich bewusst, dass jeder auf dem Hof ihn ansah. Er war einmal mehr aus der Rolle des Unsterblichen geraten! Und er bereute es nicht. Sollte der Löwenhäuptige ihn nur bestrafen! Er war nun einmal nicht der kaltherzige Adelige, der Aaron gewesen war. Und er würde sich auch nicht dazu machen lassen.

Langsam ging er zur gegenüberliegenden Seite des Hofes, wo die anderen Toten aufgebahrt lagen. Die Diener und Soldaten, Pferdeknechte, Mundschenke und Näherinnen. All jene, die namenlos blieben und doch das Reich auf ihren Schultern trugen. Wie die Haremsdamen küsste er jeden, der dort lag, auf die Stirn. Auch jener Diener, der ihn geweckt hatte, lag nun in der Reihe der Toten. Äußerlich ganz unverletzt … Ihn zu sehen versetzte Artax einen Stich. Der Mann war gestorben, weil er ihn, Artax, den vermeintlich Unsterblichen, aus der Schilfbündelhalle gerettet hatte. Er hätte einfach davonlaufen können.

»Bitte, Erhabener. Ihr seht durstig aus.« Eine junge Dienerin war vor ihn getreten. Tief vorgebeugt, die Arme erhoben, bot sie ihm einen schlichten Tonbecher mit Wasser.

Dankbar nahm er ihn an und trank. Seine Kehle war wie ausgedörrt.

»Erhabener …« Die Dienerin blickte scheu zu ihm auf und Tränen standen ihr in den Augen. »Dort liegt meine kleine Schwester …« Ihre Stimme brach. »Ich … Ich war es, die sie zum Dienst im Palast überredet hat. Ich habe meiner Mutter versprochen, immer auf sie achtzugeben. Ich …«

Artax strich ihr sanft über die tränennasse Wange. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Stumm verfluchte er sich für seine Arroganz. Er hätte auf den Löwenhäuptigen hören sollen! Er hätte niemals hierherkommen dürfen.

»Es hat mir viel bedeutet, dass Ihr sie geküsst habt, Erhabener. Ich …« Sie ergriff seine Hand, presste den Handrücken gegen ihre Stirn und küsste ihn dann. »Ich … Danke!«

Artax konnte es nicht fassen. Er hätte erwartet, dass sie ihn verfluchte! Noch immer standen alle auf dem Hof still und blickten zu ihm hinüber.

»Wir werden deine Schwester nach Hause bringen. All unsere Toten. Noch heute Morgen!« Er sagte es so laut, dass alle auf dem weiten Hof ihn verstehen konnten. Mit den Worten kehrte sein Wille zurück, etwas zu unternehmen. Er entdeckte Datames im Toreingang und winkte ihm zu kommen.

Das Mädchen küsste noch einmal seine Hand und zog sich zurück.

»Weißt du, was in der letzten Nacht vorgefallen ist? War es Brandstiftung oder ein Unfall?«

Der Hofmeister blickte beklommen zu den Dienern, die wieder ihren Arbeiten nachgingen. »Ich habe mir vor allem die Halle angesehen, in der der Harem einquartiert war, Erhabener«, sagte er leise. »Durch den Brand sind viele Spuren verwischt. Und durch den Eifer der Helfer aus dem Palast. Für mich hat es den Anschein, als sei das Feuer an mehreren Stellen dieser Schilfhalle gleichzeitig ausgebrochen. Ein langsames Schwelen, bei dem viel Rauch ins Innere drang. Der Harem ist die einzige Halle, in der es keine Überlebenden gab. Keine Flüchtenden. Sie alle sind im Schlaf erstickt — was ungewöhnlich ist. Fast, als habe jemand einen Bannzauber über die Schlafenden gelegt.«

Artax schüttelte ärgerlich den Kopf. Er hatte schon viel über Zauberei reden hören, aber noch nie gesehen, dass jemand Magie anwenden konnte. Außer in jenem Tal, viel zu nah seinem Heimatdorf. »Willst du andeuten, dass Išta …«

»Einen Hofzauberer hat Muwatta jedenfalls meines Wissens nicht.«

Wütend ballte Artax die Fäuste. Was tat der Löwenhäuptige für ihn? Hätte er ihn und die Seinen nicht in der letzten Nacht beschützen können? Wo war er jetzt schon wieder? Warum mischte er sich nicht ein?

»Und unsere Wachen?« Es gelang Artax nicht, seine Wut zu beherrschen, während er sprach. »Wo waren unsere Wachen?«

»Man hat ihnen gestern ein sehr opulentes Mahl serviert und etliche Amphoren mit Wein. Natürlich nur, weil zum Fest der Himmlischen Hochzeit alle in der Stadt besonders gut gespeist werden. Ich schätze, die meisten von ihnen waren betrunken und haben auf ihren Posten geschlafen. Obwohl sie das natürlich entschieden abstreiten.«

Artax fluchte. »Ich sollte sie …«

»Begnadigen, Erhabener. Oder besser noch, gar nicht erst anklagen. Es sind gute Männer. Sie wurden getäuscht, so wie wir. Und sie leiden an dem, was geschehen ist. Sie alle haben gestern Nacht versucht zu retten, was noch zu retten ist. Keiner von ihnen ist unverletzt geblieben, vier sind tot. Sie brauchen keine Strafe mehr.«

»Keine Strafe dafür, dass sie nicht auf Wache waren? Das ist das Ende der Ordnung!«

»Und wer bestraft den, der uns wider besseres Wissen hierhergeführt hat, Erhabener? Hat er nicht all diese Männer und Frauen mindestens genauso auf dem Gewissen wie die Wachen, die nicht auf Posten waren?«

Artax sah den Hofmeister scharf an. Noch nie war Datames ihm gegenüber so aufsässig gewesen. Doch Datames hielt dem Blick stand. Artax war überrascht, wie viel Selbstsicherheit sein Hofmeister ausstrahlte. Seit der Devanthar ihn zum unsterblichen Aaron gemacht hatte, war er noch keinem Mann begegnet, der seinem Blick standzuhalten gewagt hätte.

»Ihr tragt zwei Drachen in Eurem Herzen, Erhabener. Den Drachen Ehrgeiz und den Drachen Romantik. Beide trachten danach, Euer Leben zu beherrschen. Das macht Euch zu einem gefährlichen Mann für jeden, der dazu verdammt ist, in Eurer Nähe zu sein, Freund wie Feind. Der Himmelssturz hat Euch verändert. Der Mann, den ich kannte, hatte nur ein Ziel: sein eigenes Vergnügen. Der andere Aaron folgt zu vielen Zielen. Besiegt einen der Drachen in Euch, dann werdet Ihr ein großer Mann sein.«

»Welchen Drachen hast du in dir getötet? Und hat dich das zu einem größeren Mann gemacht? Ich werde keinen von beiden aufgeben, denn sie machen mich zu dem, der ich bin. Und nun besorg mir Karren. Wir werden jeden Toten und jeden Verwundeten auf Karren laden. Und wir werden diese verfluchte Tempelstadt noch heute Morgen verlassen!«

Datames nickte knapp. »Und wie werdet Ihr mit den Wachen verfahren, Erhabener?«

»Sie werden auf der Ebene von Kush in der ersten Reihe stehen, wenn wir den Heerscharen Muwattas entgegentreten. Dort werden sie ihre verlorene Ehre wiederfinden können.«

»Gestattet Ihr, dass ich dann ebenfalls in der ersten Reihe stehe, Erhabener?«

Artax musterte den Höfling vom Scheitel bis zur Sohle. Datames war zu zart gebaut; er war kein Mann für den Kampf. Mit Kurunta hatte er Glück gehabt. Für ein Schlachtfeld würde dieses Glück nicht ausreichen, aber ihn zurückzuweisen würde ihn beschämen. »Ich lade dich ein, dort an meiner Seite zu stehen.«

Der Hofmeister lächelte schmal. »Bitte verzeiht, Erhabener, wenn ich mir die Gunst erbitte, ein paar Schritt entfernt zu stehen. Solange Ihr nicht einen Eurer Drachen besiegt habt, erwartet jeden, der Euch nahe steht, der Tod.« Mit diesen Worten wandte er sich ab.

Artax war fassungslos über so viel Impertinenz. Er sollte ihn ersetzen, dachte er, und wusste doch zugleich, dass er nicht auf ihn verzichten konnte.

Verzweifelt

Gonvalon rammte seinen Dolch in den verharschten Schnee und zog sich nach vorn. Seine Kleider waren mit Eiskrusten überzogen, sein Körper starr vor Kälte, und das war gut so. Die Kälte hatte die Schmerzen getilgt. Zumindest für den Augenblick.

Er blickte nicht an sich hinab. Und er blickte nicht zurück. Die Tanne auf der Anhöhe voraus war das Ziel seines Lebens. Sie musste er erreichen. Und wenn er das schaffen sollte, dann würde er sich ein neues Ziel suchen. Wenn …

Wieder streckte er die Arme vor. Knirschend fuhr der Stahl des Dolches durch die vereiste Oberfläche. Es war Nacht. Geisterhaftes Licht tanzte über den Himmel und reflektierte grün auf dem Schnee. Er wusste nicht, wie lange Matha Naht ihn festgehalten hatte. Waren es Stunden gewesen oder Tage? In der Qual war die Zeit außer Form geraten. Unmessbar! Er konnte sich nicht mehr erinnern, ob Licht und Dunkelheit über den Himmel gewandert waren. Nur an die Wolfsaugen konnte er sich erinnern. Nie würde er sie vergessen! Blaue Augen, die Iris eingefasst von einer dünnen schwarzen Linie.

Lyvianne hatte gesagt, dass der beseelte Holunder sich von Angst und Schmerz nährte. Matha Naht hatte ein Festmahl an ihm gehalten! Wie er entkommen war, daran erinnerte er sich nicht mehr. War er über den Drachenpfad gegangen? Wer hatte ihn geöffnet? Wollte Matha Naht, dass er floh?

Er rammte das Messer in den Schnee und zog sich wieder ein Stück weiter. Auch wenn der frühzeitige Kälteeinbruch die Landschaft drastisch verändert hatte, wusste er, wo er war. Es befand sich auf der Rückseite des Hügels, zu dem er mit Nandalee jeden Morgen gelaufen war. Die Weiße Halle war nur wenige Meilen entfernt. Er musste durchhalten!

Wieder zog er sich einen halben Schritt durch den Schnee. Die Erinnerung an die Wölfe … Nie würde er die Laute dieser Schreckensnacht vergessen. Das Schnappen der Kiefer, die splitternden Knochen. Matha Naht musste einen Zauber auf ihn geworfen haben. Er war nicht ohnmächtig geworden. Hatte alles mit angesehen …

Er war kein Schwertmeister mehr. Er war ein Krüppel. In einem jedoch hatte Matha Naht Wort gehalten. Das blasse Band zwischen Piep und Nandalee war nun von einem kräftigen, dunklen Rot. Auch hatte der beseelte Holunder die Wölfe vom kleinen Vogelkäfig ferngehalten. Gonvalon legte sein Haupt in den Schnee und tastete nach dem Käfig auf seinem Rücken. Leise meldete sich die Misteldrossel.

Der verharschte Schnee war ein hartes Kissen. Gonvalon dachte an Nandalee. An ihr helles Lachen, ihr ungebändigtes Temperament. Er hatte es versuchen müssen, sie wiederzufinden. Selbst jetzt, wo er wusste, wie die Suche enden musste, würde er sie erneut beginnen, hätte er noch einmal zu entscheiden. Sein Opfer war nicht vergebens gewesen. Das Band zum Vogel war voller Kraft und Gonvalon stellte sich vor, dass der dunkle Zauber Matha Nahts Nandalee ihre verlöschende Lebenskraft zurückgegeben hatte. Es hatte geholfen, was er getan hatte. Ganz sicher! Wenn er im Schnee liegen bliebe und starb, würde er mit einem Lächeln auf den Lippen gehen.

In den nahen Wäldern heulte ein Wolf. Hatte Matha Naht sie losgelassen, um ihr Werk zu vollenden? Gonvalon umklammerte den Dolch fester. Er würde nicht kampflos aufgeben! Mindestens einen der Wölfe wollte er in die Dunkelheit mitnehmen. Und er würde wiedergeboren werden. Vielleicht war es das Beste so? Er konnte Nandalee erneut begegnen. Seine alte Seele in junges Fleisch gewandet. Dann wäre er kein Krüppel.

»Das ist nicht das Ende«, murmelte er trotzig und stemmte sich hoch. Dann tastete er nach dem Käfig auf seinem Rücken. Mit zitternder Hand öffnete er die Tür, damit Piep entkommen konnte.

Die Misteldrossel landete neben ihm im Schnee. Mit schief gelegtem Kopf sah ihn der kleine Vogel mit seinen schwarzen Augen an. Erstaunlich, wie treu er war …

»Flieg fort! Das ist kein Platz für dich. Flieg!«

Piep hüpfte ein wenig zur Seite, verharrte dann und sah ihn erneut an. War sie wieder in ihm? Den Gedanken konnte Gonvalon nicht ertragen! Sie sollte ihn so nicht sehen! Nicht die Beine! Sie sollte den Schwertmeister in Erinnerung behalten, ihren Liebhaber, vielleicht auch noch den Steinmetz, der sich die Hände blutig gearbeitet hatte, wenn er versuchte, die Last seiner Seele in Stein zu schlagen. Aber nicht so!

»Flieg weg!«, zischte er den Vogel an. »Weg!« Er warf Klumpen gefrorenen Schnees nach dem Vogel. Piep stieß ein verärgertes Zwitschern aus. Dann flog er davon.

Gonvalon rang mit den Tränen. War sie dort gewesen? »Bitte nicht …«, flüsterte er schwach. »Bitte.«

Er schob sich ein Stück weiter den Hang hinauf. Wenn er es bis zur Tanne schaffte und den Baum im Rücken hatte, würde er einen besseren letzten Kampf liefern.

Wie eine höhnische Herausforderung erklang das Wolfsgeheul. Waren sie auf seiner Spur? Jagten sie ein anderes Wild?

Er entschied, dass er gar nicht entkommen wollte. Ein guter Abgang, das war alles, was er sich noch wünschte. Er lachte bitter auf. Abgang! Nein, den würde er nicht haben. Er würde nie mehr gehen. Matha Naht und die Wölfe hatten ihn zum Kriecher gemacht.

Mit verbissener Wut rammte er den Dolch durch den Schnee in den gefrorenen Boden und zog sich weiter. Stück für Stück kämpfte er sich den Hang hinauf, und die Wut verlieh ihm neue Kraft. Es war das letzte Aufbäumen, das wusste er.

Allmählich erstickte die Kälte das Feuer seiner Wut. Der Baum war nur noch drei oder vier Schritt entfernt. Würde er es schaffen? Sein Atem ging keuchend. Er dachte an seine Kindheit. Seine frühesten Erinnerungen waren jene an die Wölfe im Schnee. Alles was davor lag, war hinter ehernen Pforten verborgen, die sich nie mehr für ihn geöffnet hatten. Sein bewusstes Leben war ein Kreis, der sich nun schloss. Der Gedanke ließ ihn lächeln. Stimmte ihn friedlicher. Er war so müde.

Mit Wölfen im Schnee hatte es begonnen. Sie hatten ihn zu Gonvalon, dem Winterkind, gemacht. Nun würden die Wölfe ihren Fraß doch noch bekommen.

Er dachte an Nandalee. Hoffentlich hatte sie ihn nicht durch Pieps Augen gesehen, nicht so! Das sollte nicht ihr Abschied sein …

Endlich erreichte er die Tanne. Ihr dichtes Geäst hatte den Schnee ferngehalten. Erschöpft lehnte er sich gegen den Stamm. Die Wölfe schwiegen nun. Sammelten sie sich?

Aufrecht sitzend sah er auf seine Beine hinab. Auf die zerrissene, blutige Hose. Den Knochen, der dicht unter seinem Knie aus den Lumpen ragte. Erstaunlich, dass er keinen Schmerz spürte, dachte er nüchtern. Und dass er nicht längst verblutet war. Das musste der Zauber des Holunderbaums sein! Matha Naht hatte gewollt, dass seine Qual lange währte.

Er könnte ihr den letzten Kampf verweigern. Konnte dafür sorgen, dass die Wölfe nur noch Aas fanden. Gonvalon blickte auf den Dolch in seiner Hand.

Köpfe auf Speeren

Volodi sah den Steppenreiter überrascht an.

»Du musst das verstehen, Bruder!«, sagte Partatu, ohne ihm dabei in die Augen zu blicken. »Sie ziehen Reiter an der Grenze zusammen. Ein paar Sippenlose und einige unverheiratete Männer werden sicher bei euch bleiben, aber …« Partatu zuckte mit den Schultern. »Du weißt, wie das ist.«

»Willst du sagen damit, dass ich wisse, wie ist Freunde im Stich zu lassen? Willst du beleidigen mich? Oder bist nur dumm? Ich dir werden zeigen …«

Juba legte ihm die Hand auf die Schulter. »Unser Freund Volodi meint das nicht so. Er kennt deine Sorgen.«

»Ich nix kenne …«

Juba drückte mit der Hand fester zu und Volodi schluckte seinen Ärger hinunter. Der Feldherr hatte recht. Wenn er Streit mit diesem flachgesichtigen Halsabschneider anfing, würden ihnen die Steppenkrieger nicht nur davonlaufen – nein, sie würden sich gegen sie stellen. Der Drusnier zwang sich zu einem Lächeln. »Ich haben Spaß gemacht.«

Sein Gegenüber schenkte ihm ein noch unehrlicheres Lächeln. »Ich wusste das. Ich gebe dir jetzt einen Rat, der kostbarer als hundert Eisenschwerter ist. Nehmt eure Gäule und rennt! Mit den Luwiern reitet der Tod. Wir werden mit unseren Herden und Familien weit fort sein, wenn sie kommen.«

»Ich immer denken, ihr seid harte Krieger, gehen nach Luwien plündern.« Volodi gab einen gespielten Seufzer von sich. »Ist sich schlecht, die Welt. Nur Lügen …«

Verletzter Stolz blitzte in den Augen des Steppenreiters. »Wir überfallen sie manchmal, das stimmt schon. Stehlen ein paar Weiber und etwas Vieh.« Er hob beide Hände in einer Geste unschuldiger Verzweiflung. »Ja, manchmal schlagen wir dabei ein paar Schädel ein und ein paar Häuser gehen in Flammen auf. Das kann passieren, wenn Männer ein bisschen Spaß haben wollen. Aber die Luwier … Sie kennen kein Maß! Wie die Heuschrecken kommen sie über die Steppe. Sie sind ohne Zahl und töten alles, was lebt. Wenn sie eines unserer Lager überfallen, metzeln sie Frauen und Kinder nieder. Das Vieh. Sogar die Hundewelpen erschlagen sie. Sie nehmen nichts von uns. Keine Weiber, um sich mit ihnen zu vergnügen. Keine Kinder als Sklaven. Kein Vieh. Nichts! Das ist, als würden sie einem ins Gesicht scheißen!« Der Steppenreiter ballte seine Fäuste. Er zitterte vor Wut. »Ich kann das nicht verstehen! Wir kommen, um zu rauben. Weil wir haben wollen, was sie haben. Aber wenn die Luwier in die Steppe reiten, dann kommen sie nur, um zu töten. Manche sagen, ihre Krieger sind gar keine richtigen Menschen. Sie haben sie aus alten Gräbern geholt.«

Volodi dachte daran, wie die Mannschaften der Zinngaleeren ermordet worden waren. Er kannte diese Art, Krieg zu führen, und schämte sich dafür.

»Sei nicht mehr hier, wenn sie kommen, Volodi. Das ist der beste Rat, den du in deinem ganzen Leben bekommen hast. Fahrt schnell wie der Wind. Vergesst eure Pläne. Sie wissen davon. Sie wissen alles. Flieht!«

Volodi umarmte den kleineren Steppenkrieger und küsste ihn auf beide Wangen. Er hatte ihn falsch behandelt. »Ich dir wünschen guten Ritt, fette Kühe und Jurte voll mit Kindern, Partatu.«

Volodi konnte spüren, wie Juba sich neben ihm anspannte. Doch der Steppenkrieger wusste seine Worte richtig zu nehmen. »Wir werden losziehen und ihnen die hübschesten Weiber klauen, Goldhaar. Ganz wie richtige Männer! An einem anderen Tag.«

»Wir werden tun!«

Partatu wandte sich ab. Man sah ihm den angeschlagenen Stolz an, als er sich in den Sattel zog. Der Steppenreiter hob noch einmal die Hand zum Gruß, dann zog er sein struppiges Pony um den Zügel und preschte davon. Er nahm fast fünfhundert Reiter mit sich.

Volodi sah ihnen schweigend nach. Der laue Südwind blies ihm ins Gesicht und spielte mit seinem langen Haar. Er mochte den Wind, dachte der Drusnier. Besonders den Fahrtwind, wenn er mit dem Streitwagen über die Steppe stürmte. Das war besser als alles andere! Allerdings vermisste er das Rauschen der Bäume in seiner Heimat. Hier gab es kaum einen Baum. Nur endloses Grasland, das in sanften Hügelwellen bis zum Horizont reichte. Ab und an ragte eine Felsnadel aus der Steppe. Auch gab es vereinzelt vom Wind geducktes Gebüsch. Doch das war alles, woran das Auge verweilen konnte. Es war wie auf dem Meer, nur dass es hier keine Küstenstreifen gab, an denen man zur Nacht die Galeeren auf den Strand zog. Er vermochte sich hier kaum zu orientieren und war ganz auf die Führer aus dem Volk der Steppenreiter angewiesen.

»Man kann Männern nicht trauen, die auf Pferden reiten, statt sie vor einen Streitwagen zu spannen, wie es sich gehört«, murrte Juba.

Volodi nickte, aber im Grunde war er der Ansicht, dass es die Pferde waren, denen man nicht trauen konnte. Er hatte einige Male versucht zu reiten, was jedes Mal eine peinliche Angelegenheit geworden war. Er würde sich nie wieder auf ein Pferd setzen! Wenn man mit einem Schwert im Gedärm starb, weil man vor einer Schlacht zu viel gesoffen hatte, dann war das ein passabler Tod. Aber von einem Gaul zu fallen und sich das Genick zu brechen – so sollte kein Krieger sterben!

»Während du heute Morgen mit unseren treuen Verbündeten palavert hast, ist ein Botenreiter vom unsterblichen Aaron eingetroffen. Mögen die Schwingen der geflügelten Sonne dem Erhabenen Schatten spenden.«

Er würde sich nie an dieses schwülstige Hofgefasel gewöhnen, dachte Volodi. »Was er schreiben?«

Juba zog eine kleine Holzkladde aus seinem Gürtel, klappte sie auf und hielt sie ihm hin. Zwischen vergoldeten Rahmen waren zwei gebrannte Tontafeln eingelassen. »Wir haben den Befehl zum Angriff!«

»Ja! Endlich ist Ende von Warten gekommen. Endlich!« Volodi betrachtete die Tafeln näher. Diese Schrift … Das würde er genauso wenig lernen wie reiten! Die Tafeln sahen aus, als sei ein kleiner Vogel über feuchten Ton gewandert. Einzig der Abdruck des Rollsiegels sagte dem Drusnier etwas. Der Mann im Streitwagen unter der geflügelten Sonne, der über niedergestreckte Feinde hinwegpreschte. Das war das Siegel des Unsterblichen. Ohne Zweifel. Niemand sonst im Reich würde wagen, es zu benutzen.

»Machst du dich mit den Einzelheiten des Befehls vertraut?«, spottete Juba.

Volodi lächelte den Feldherrn an. »Weiße du, große Krieger hat sich immer einen Diener, der kann lesen ihm vor. Aber Vorleser hat sich selten große Krieger als Diener.«

Juba entging die Stichelei offensichtlich nicht, aber er wirkte nicht verärgert. Für einen Krieger, der viel Zeit bei Hof verbrachte, war er ein erstaunlich anständiger Kerl. Anfangs hatte Volodi ihn nicht gemocht, doch die Wochen in der Steppe hatten ihn Respekt vor dem bulligen, muskelbepackten Kerl gelehrt, der mehr als einen Kopf kleiner war als er. Juba war ein guter Kriegsmeister. Einer von denen, der mit seinen Männern aus demselben Napf fraß. Die Männer mochten ihn.

»Nachdem unsere Rangfolge geklärt wäre, sollten wir entscheiden, auf welchem Weg wir uns nach Aram durchschlagen. Wir haben hier zu lange gewartet! Der Zeitpunkt für einen überraschenden Überfall ist verstrichen. Wir sind gescheitert.«

»Nix wir sind!«, entgegnete Volodi aufgebracht. Wie konnte man so leicht alles hinwerfen! »Sind wir gescheitert, wenn liegen in Staub und unsere Köpfe stecken sich auf Speeren von Luwiern!«

»Und genau das wird geschehen, wenn wir uns nicht zurückziehen. «

»Wir schneller sind!«

»Wir am Ende unserer Vorräte sind«, äffte Juba ihn nach. »Verdammt, sieh es ein! Unser Spiel ist aus. Wir können die Männer vielleicht noch für fünf Tage versorgen, und uns sitzt der Feind im Nacken. Wir haben keine andere Wahl. Und glaube nicht, dass ich Angst habe zu kämpfen. Mir macht es auch keinen Spaß, vor diesen verfluchten Bastarden den Schwanz einzuziehen wie ein geprügelter Hund. Sie verspotten Aram! Irgendetwas muss in Isatami geschehen sein. Der unsterbliche Aaron, mögen die Schwingen der geflügelten Sonne ihm Schatten spenden, muss mit seinen Friedensgesprächen gescheitert sein. Drastisch gescheitert … Er schreibt nichts darüber. Aber der Bote berichtet, dass es viele Tote gegeben hat. Er war nicht bei der Gesandtschaft. Nach allem, was er weiß, gab es ein schreckliches Feuer im Quartier der Unsrigen.«

»Dann ist sich noch wichtiger, wir nicht kneifen Schwanz! Wir machen List!«

Juba lachte kurz auf. Dann schüttelte er den Kopf. »Was für eine List?«

»Machen wir unsichtbar uns! Ich weiß, eine Großmutter mit Augen kaputt kann Spur folgen, die wir in Erde drücken. Zu viele Pferde. Zu viele Räder. Ich kann verschwinden lassen Spur. Komm, ich zeigen dir!« Er führte Juba zu dem Platz, an dem er sich mit den Spähern der Ischkuza besprochen hatte. Sie hatten eine Karte entworfen. Asche zeigte die Weiße Wüste an, einige Steine die Bergkette, die einen Teil der Grenze nach Luwien abschirmte.

»Hier wir stehen!« Volodi zeigte auf einen Punkt nahe der Wüste. »Totes Land ist sich halber Tag fort. Bin gewesen dort mit Spähern. Ist trocken wie Furz von sich halb verdurstetem Hund. Aber haben wir Verbündeten einen Starken, wenn wir gehen dort.«

Juba wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Wenn wir in die Wüste gehen, verrecken wir. Wir kennen die Wasserlöcher nicht, und in dem Sand kann man unseren Spuren sogar noch leichter folgen.«

Volodi lächelte verschwörerisch. »Kennst du nicht Macht von Freund Südwind. Ich haben gesehen. Drei Stunden. Dann hat sich alle Spuren gelöscht. Bleibt sich nichts!« Er deutete auf die Karte am Boden. »Gehen wir hier in totes Land. Werden Luwier denken sich, wollen wir zu großer Ebene. Aber wir klug. Wir gehen hierher zu Bergen. Ist sich kürzester Weg. Und …« Er machte eine Pause, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. »Wir sind schneller viel. Sind sich unsere Wagen von Streit leicht. Nicht wie Wagen von Luwier. Kommen wir besser durch Sand. Sie aber stecken sich fest! In totes Land gehen ist viel große List!

»Natürlich werden sie uns dorthin nicht folgen. Jeder, der klar denken kann, weiß, dass man mit Streitwagen kein Gebirge überqueren kann.«

»Dann wir hoffen, wir haben Feinde, die sich denken klar! Ich sage dir, ich kenne Weg. Und wenn ich sagen Mist, du darfst nehmen Kopf, das ist von mir, und stecken auf deine Speer! Du schlagen ein?«

Jenseits der Mauer

Zum ersten Mal seit Langem fühlte Nandalee sich gut. Sie hatte Angst, die Augen aufzuschlagen und jenen flüchtigen Moment in der Schwebe zwischen Schlaf und Wachen zu beenden. Sie war sich bewusst, wo sie war. So weit war sie ihren Träumen schon entglitten … Vor einem Augenblick noch hatte sie in Gonvalons Armen gelegen. Er hatte sie angelächelt. Es war dieses besondere Lächeln, geboren aus tiefer Liebe und doch verbunden mit einem Anflug von Schalk. Es machte ihn unwiderstehlich. Und er wusste das.

Auch Nandalee musste unwillkürlich lächeln. Sie streckte sich. Etwas stimmte nicht! Ihr Körper … Sie schlug die Augen auf. Sie hatte ihren Körper zurück! Ungläubig strich sie über ihre glatte Haut, tastete nach dem Gesicht, in dem kein Bart mehr wucherte. Sie hatte sich zurück! Endlich.

Vor Glück begann sie hemmungslos zu schluchzen. Der Bart war fort, aber … Sie hielt den Atem an und tastete nach ihrer Nase. Sie war nicht länger verstümmelt! Und ihre Augenbrauen … Sie hatte wieder zwei Augenbrauen! Immer wieder betastete sie sich. Sie kicherte, sie schluchzte. Ihre Gefühle trugen sie fort. Nie zuvor war sie so glücklich gewesen! Jetzt erinnerte sie sich wieder an den Augenblick der beginnenden Verwandlung. An den Schmerz! Das Reißen in den Gliedern. Das Blut … Sie konnte sich erinnern, ohnmächtig geworden zu sein. Wie hatte sie es geschafft, den Zauber zu vollenden? Oder hatte sie es gerade deswegen geschafft? Weil sie nicht eingreifen konnte und alles in seinem natürlichen Fluss war?

Sie öffnete ihr Verborgenes Auge und betrachtete das magische Netz. Sie sah es klarer. Verständiger. Wusste, warum alles miteinander verbunden war. Es war schön! Nie hatte sie es unter diesem Aspekt betrachtet. Wenn sie sich bewusst der Magie geöffnet hatte, dann war da immer eine unterschwellige Angst gewesen. Die hatte sie nun verloren. Sie fühlte sich als Teil dieses Netzes. Das hatte sie früher nie vermocht. Es war ein Hochgefühl! Sie verstand ihren Platz in der Welt! Wie hatte sie bislang nur so blind sein können und …

Da war ein Makel. Etwas, das die Harmonie störte. Die Linie, die sie mit Piep verband, war verändert. Sie war von einem dunklen Rot, das an frisch vergossenes Blut erinnerte. Nandalee überlegte, die Linie zu durchtrennen. Sollte sie sich nicht frei von verlorenen Bindungen machen? Dieses Band … Seine Magie war von einer Beschaffenheit, die sich deutlich von den Kraftlinien ringsherum unterschied. Jemand Fremdes hatte sich eingemischt. Den Zauber verändert …

Nandalee entschied, sich nicht zu entscheiden. Sie wollte ihr Hochgefühl nicht durch Grübelei trüben. Neugierig betrachtete sie alles um sich herum. Die weite Kammer erstrahlte in hellem Licht, ganz anders als das, was sie mit ihren wirklichen Augen wahrnahm. Alles im Thronsaal des Dunklen war von Magie durchdrungen. Selbst die Steine, aus denen die Pyramide erbaut war, waren nicht von Hand behauen. Der Wille des Drachen hatte sie aus dem gewachsenen Fels geschnitten und zu diesem Bauwerk geformt. Und Nandalee entdeckte, dass Firaz die Wahrheit gesagt hatte. Die Form des Bauwerks und der Räume darin beeinflusste das magische Netz. Es schien, als seien gewisse Zauber leichter zu weben, da die Kraftlinien gebündelt wurden. Am hellsten aber leuchtete der Thron des Dunklen. Sie erkannte ein dichtes Netz von Bannzaubern, die in den Fels gewoben waren. Darunter verbarg sich etwas mit einer magischen Struktur, die durch die Bannsprüche bis fast zur Unkenntlichkeit verzerrt war. Es war fremd, noch viel fremder als jener Zauber, der in ihr magisches Band zu Piep eingeflossen war. Was mochte dort liegen? Nandalee war versucht, den Zauber zu durchbrechen, und sie war zuversichtlich, dass ihr dies gelingen würde. Bereits seit sie die Fugen im Gestein entdeckt hatte, fragte sie sich, was so bedeutend war, dass der Erstgeschlüpfte es unter seinem Thron verbarg. Auf der anderen Seite … Sie dachte an das Fenster in der Bibliothek der Weißen Halle und all ihre Neugier versiegte. Einen solchen Fehler würde sie nicht wiederholen. Vielleicht verbarg sich unter dem Thron noch eine andere Pforte. Ihr genügte es, einmal unbedarft in ein Gefängnis gestolpert und dabei fast umgekommen zu sein – und sogar sie konnte aus ihren Fehlern lernen.

Versonnen betrachtete sie die Wände ringsherum. Ob sie einen Weg hinaus finden konnte? Nie zuvor hatte sie versucht, einen magischen Fluchtweg zu finden. Sie stieg vom flachen Thronhügel und watete durch das lauwarme Wasser. Die stickige Hitze war bedrückend.

Im Wasser entdeckte sie die Auren der Kreaturen, die dort lebten. Lange, schlangenartige Geschöpfe. Vielleicht Aale? Ein blasses blaulila Licht umfing sie. Sie wichen vor ihr zurück.

Als sie in den Gang trat, der vom Thronsaal fortführte, fand sie schon bald einen verschlungenen Wirbel, in dem sich das magische Netz zu einem leuchtenden Tunnel zusammenzog. Sie erkannte die Merkmale der Drachenmagie. Es war ein Zauber, der sich nicht am natürlichen Muster des magischen Netzes orientierte, um ihn zu manipulieren. Hier hatte man die Magie in eine Form gezwungen, die im Widerspruch zu den Gegebenheiten des Ortes stand. Man hatte ihr geradezu Gewalt angetan. Nandalee spürte, wie tiefgreifend diese Veränderung war und dass sie nicht gänzlich beherrschbar war. Hier konnten unvorhersehbare Dinge geschehen. Der Tunnel könnte nach ihr schnappen, als sei sein Ende das weit aufgerissene Maul einer immer hungrigen Schlange. Es lag keine Ruhe in diesem Zauberwerk. Es richtete sich mit derselben aggressiven Kraft, die der Dunkle bei seiner Erschaffung genutzt hatte, gegen Geschöpfe, die ihm unbedarft nahe kamen. Deutlich konnte sie die zerstörerische Kraft spüren, die in dem Zauber mitschwang. Nandalee musste daran denken, was Gonvalon ihr über die Schwerter in der Weißen Halle erzählt hatte. Dieser Makel haftete wohl allem an, was von Drachen erschaffen wurde.

Die Elfe ging weiter. Fasziniert betrachtete sie das magische Muster, das mit den Wandbildern verwoben war. Nichts in dieser Pyramide schien ohne Zauberei erschaffen worden zu sein. Bald fand sie einen Ort, dessen magisches Gewebe an einander durchdringende Röhren erinnerte. Es gab keine Möglichkeit, die Stelle zu umgehen, es sei denn, sie gab auf und kehrte in die Halle zurück. Auch hier spürte sie die dunkle Komponente des Zaubers. Lange starrte sie das Knäuel aus Kraftlinien an. Wozu diente es?

Nandalee wusste, dass sie auf ihren Streifzügen schon hier entlanggegangen war. Ihr war nichts geschehen. Wie oft konnte man dieses Zaubergewebe wohl passieren, bevor die verborgene Falle zuschnappte? Oder war sie bereits zugeschnappt? Lag es an diesem Zauber, dass sie keinen Ausgang aus der Pyramide gefunden hatte? Und — konnte sie den Zauber manipulieren? Was tat der Dunkle, wenn er die Pyramide verließ? Würde sie das Gewebe des Zaubers zerteilen können, ohne es zu zerstören? So wie man mit der Hand einen Perlenvorhang vor einer Tür zur Seite schob?

Nandalee richtete die Kraft ihrer Gedanken auf ihre rechte Hand. Sie umschloss sie mit einem Gitterwerk feiner Lichtstränge, die sich aus der Matrix der Umgebung hervorwanden, umhüllte sich mit deren Kraft. Dann streckte sie behutsam ihre Hand vor. Die Erinnerung an das mahlende Glas des verwunschenen Fensters in der Bibliothek der Weißen Halle meldete sich. Wieder konnte sie fühlen, wie die Glasscherben ihre Fingerkuppen abgehobelt hatten. Und die Spitze ihrer Nase. Erneut durchlebte sie den Augenblick, der sie entstellt hatte.

Das Knirschen des Glasfensters klang schriller in ihren Ohren. Sie sah die wirbelnden Farben. Nandalee atmete aus. Du musst ruhig sein. Ganz leer, nicht voller Erinnerungen. Sie kämpfte die Bilder nieder. Nichts durfte ihre Konzentration stören. Angst würde ihrem Zauber eine neue Note hinzufügen, ihn verfälschen und schwächen. Starr blickte Nandalee auf das dichte Gitterwerk aus leuchtenden Linien, das nun ihre Hand umschloss, und wünschte sich, das Gewebe des Drachenzaubers zu berühren.

Licht ging in Licht über. Nandalee blinzelte in Erwartung eines plötzlichen sengenden Schmerzes, doch er blieb aus. Sie konnte tatsächlich den Zauber des Drachen überwinden! Wie sie es sich vorgestellt hatte, schob sie die Lichtfäden auseinander und schlüpfte hindurch.

Mit klopfendem Herzen blieb sie stehen. Es war geschafft, der Bann war durchbrochen! Die Luft, die sie umgab, war frischer und sie atmete tief ein. Endlich hatte sie die stickige, schwüle Hitze ihres Gefängnisses hinter sich gelassen. Sie lebte! Sie roch Blütenduft!

Nandalee schloss ihr Verborgenes Auge. Sie befand sich in einem Gang, an dessen Ende ein helles Licht leuchtete. Nie zuvor war sie hier gewesen. Die Wände waren nackt. Es gab keine Reliefs oder Fresken, nur Mauerwerk, so makellos gesetzt, dass man kaum die Fugen zu erkennen vermochte. Festen Schrittes ging sie auf das Licht zu. Sie war entschlossen, alles Dunkel hinter sich zu lassen. Für immer!

Bald musste sie die Augen schließen. Nackt, wie sie war, trat sie aus dem Tunnel. Sie genoss die Wärme, reckte sich, atmete tief ein. Es war, als sei sie neugeboren worden.

»Das war ein langer Weg«, sagte eine vertraute Stimme. Sie drehte sich um. Geblendet sah sie kaum mehr als einen Schemen.

»Ihr musstet diesen Weg allein gehen, Dame Nandalee. Ich habe auf Euch gewartet. Die ganze Zeit.«

Am Abgrund

Juba hatte nicht übel Lust, Volodis Kopf wirklich auf die Spitze seines Speers zu spießen, aber wahrscheinlich würden das die anderen schon übernehmen, sobald sich in der über zwei Meilen lang gezogenen Marschkolonne herumsprach, dass sie gescheitert waren. Anderthalb Tage waren sie durch die Wüste marschiert und nun schon den dritten Tag in den Bergen. Das Gelände vernichtete ihre Streitwagen sicherer als jede Schlacht. Juba konnte gar nicht mehr zählen, wie viele Achs- und Radbrüche sie in diesen drei Tagen gehabt hatten. Auch neigten sich ihre Vorräte dem Ende entgegen.

Die Straße über die Berge war von Anfang an mehr ein Saumpfad gewesen. Aber jetzt … Verzweifelt blickte der Heerführer auf den schmalen Weg, der aus der Steilwand geschlagen war. Eine Höhlung, die dem rotbraunen Fels abgerungen war, gerade breit genug, dass man ein todesmutiges, nicht zu schwer beladenes Maultier hinüberbekommen konnte. Aber einen Streitwagen – völlig unmöglich! Ihnen blieb nichts übrig als umzukehren. Und sie hatten zu wenige Vorräte. Es würde sie nicht umbringen, aber sie würden die Gürtel enger schnallen müssen.

Volodi kletterte ein Stück vor ihm auf einen Felsblock, sodass jeder ihn gut sehen konnte. Der Wind spielte mit seinem karmesinroten Umhang und seinem langen, blonden Haar. Der Mistkerl sah gut aus! Er grinste, als habe er gerade eine Schlacht gewonnen.

»Fast wir haben es geschafft, Freunde. Ist sich nur noch Weg über den Saumpfad, dann wir gelangen in fruchtbares Tal. Sind sich noch drei Tage, dann Berge fertig!«

Juba konnte nicht anders als lächeln. Volodi mochte aussehen wie ein Held, aber zu einem Redner machte ihn das noch nicht.

»Hast du in Hirn Scheiße?«, rief einer der Krieger. Der Zug war ins Stocken geraten. Etliche Männer drängten nach vorne, um sich anzusehen, was los war. Überall wurde geflucht. »Da wir nie nix kommen durch!«

»Ich dich gesehen habe, Kolja. Kannst nicht verstecken dich zwischen andere. Bist dich nur mit Maul groß. Ich dich kennen! Du meinst, dass ich mich habe Scheiße in Kopf? Dann ist sich mein Kopf immer noch mehr voll als deiner! Seid ihr alle Kinder? Muss ich mich gehen und zeigen, wie Weg nehmen. Kommt! Und machen sich Augen auf. Besonders du, Kolja! Bist aus Drus, wie bin ich. Musst nicht sprechen schlecht von mich. Jetzt schauen!«

Volodi sprang von dem Felsen. »Kommst du mich zu helfen, Juba?«

Juba seufzte. Am liebsten wäre es ihm, nicht in die Sache hineingezogen zu werden. Wenn Volodi es falsch anpackte und er ihn unterstützte, würden am Ende ihre beiden Köpfe auf Speeren stecken. Wenn er sich jetzt aber offen gegen Volodi stellte, könnte die gereizte Stimmung von einem Augenblick zum anderen in offene Rebellion umschlagen. Wie hatte er nur so dämlich sein können, diesem Hinterwäldler zu vertrauen!

»Ich hoffe, du hast einen guten Plan«, zischte Juba.

Volodi schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Habe beste Plan!«

Der Drusnier ging zu seinem Streitwagen und schirrte die beiden Pferde aus. Dann kniete er nieder und löste die Räder von der Achse. Als dies getan war, wandte er sich wieder an die aufsässigen Truppen. »Wisst ihr, was sehe ich, wenn ich schaue euch? Von Hals Abschneider seid ihr. Räuber seid ihr. Ist sich hier keiner, der unter Augen von sein Mama treten kann mit Stolz in Herzen. Keiner! Ich auch nicht.« Er deutete zu dem engen Saumpfad. »Der Weg da ist sich eng wie junges Mädchen, das macht erstes Mal Liebe. Der Weg ist sich gefährlich wie erstes Mal Liebe. Junge Mädchen nix wissen. Glauben sie noch an schöne Augen und schöne Worte. Können sich nicht unterscheiden zwischen Männer mit Ehre und Männer wie uns. Dieses Stück Weg ist sich gemacht, uns zu ändern. Braucht man Mut zu gehen. Hier wir stehen als Halunken. Wer auf andere Seite geht, wird sich gemacht haben zu Held. Werden sich sicher ein paar fallen hinunter. Das ist Preis. Jetzt ich zeigen, was tun.« Er kniete erneut neben dem Streitwagen nieder.

Juba war sich nicht sicher, was er von dieser Rede halten sollte. Volodi hatte es nicht geschafft, die Herzen der Männer zu gewinnen, aber immerhin waren sie ruhig. Schweigend sahen sie zu, was der Drusnier tat.

Volodi stemmte den Streitwagen hoch und setzte ihn sich auf die Schultern, sodass die Deichsel weit zur linken Seite ragte. »Hat sich unsterblicher Aaron tief gedacht, als hat uns geschickt mit diese Wagen. Wagen von Aram sind leicht! Kann sich ein Mann auf Rücken tragen. So kann Wagen überall hinkommen. Auch über Berge! Ihr faul seid, aber nicht schwach. Nehmt Wagen! Folgt mir. Und redet nicht!« Mit diesen Worten trat der Drusnier auf den gefährlichen Saumpfad. Die Deichsel ragte weit über den Abgrund und man konnte sehen, wie der Wind an den Seitenwänden aus Rohleder zerrte.

Juba musste sich eingestehen, dass er den Söldner falsch eingeschätzt hatte. Vielleicht lag es an der Art, wie er sprach. Vielleicht auch einfach daran, dass für Volodi Loyalität eine Frage des Geldes war. Aber ganz ohne Zweifel war er weder dumm noch feige.

Einige der Männer schlossen Wetten ab, ob Volodi in den Abgrund stürzen würde. Noch immer war die Sache in der Schwebe. Würden die Truppen meutern?

»Ich weiß nicht, was ihr denkt«, rief Juba. »Aber ich weiß, dass ich mir nicht nachsagen lassen will, dass dieser Hinterwäldler mehr Mut hat als ich. Ich bin an der Küste aufgewachsen«, log er. »Ich bin allein aufs Meer hinaus, da war ich nicht einmal zehn. Das erfordert Mut!« Er wies seinen Wagenlenker an, die Hengste auszuschirren und die Räder abzunehmen. »Was Volodi macht, erfordert nur Kraft. Folgen wir ihm und erinnern ihn daran.«

Seine Worte waren kein großer Erfolg. Reden zu halten war nie eine seiner Stärken gewesen. Und Ruhm und Ehre waren diesen Männern egal. Er hatte einen Fehler gemacht, als er daran appellierte. Noch ein Fehler, und diese Lumpen schlugen sich vielleicht wieder auf die Seite der Luwier.

Juba kletterte auf den Fels, auf dem Volodi eben gestanden hatte. Er blickte zum Saumpfad. Der Drusnier ging tief gebeugt. Schwankend, aber stetig kämpfte er sich Schritt um Schritt voran. Ein Stück tiefer, nah am Steilhang, zog ein großer, brauner Raubvogel seine Kreise. War es ein Zeichen der Götter, ja vielleicht einer der Götter selbst, der in Vogelgestalt erschienen war, um diesem dramatischen Augenblick beizuwohnen? Würde Volodi es schaffen? Solange sein Gefährte sich vorankämpfte, sollte er die Truppen bei Laune halten. Zweifelnd blickte er auf die Halunken, die unter seinem Befehl standen.

»Ich will euch nichts vormachen, Männer. Ihr seid eine üble Bande von Halsabschneidern. Euch will man nicht im Dunklen begegnen. Ihr habt wenig zu verlieren.«

»Und wir nix lassen sagen uns von Sack von Dreck, der hat Macht nur von Namen von Familie!«

Das war schon wieder Kolja. Verdammter Aufwiegler. Der Drusnier war ein Hüne von einem Mann. Zwei Schritt groß, mit einem Kreuz wie ein Stier und einem Gesicht, vor dem sich gewiss seine eigene Mutter fürchtete. Er war von Narben entstellt. Den Narben eines Faustkämpfers, dem Hunderte Male Fäuste ins Gesicht geschlagen hatten, um die mit Bronzescheiben beschlagene Lederriemen geschlungen waren. Seine Nase war nur noch ein formloser Klumpen, ebenso eines seiner Ohren. Kolja bot ihm offen die Stirn. Vielleicht war es ganz gut, wenn er sich nur auf einen dieser Mistkerle konzentrieren konnte. Das war leichter, als mit einer gesichtslosen Masse zu reden.

»Was weißt du von mir, Drusnier?«

»Du trägst Ringe von Gold an sich Arme, schmierst in sich Bart Öl und kannst du blasen Worte schön in sich Ohr von unsterbliches Aaron. Was ich da wissen muss? Du bist Mann leben leicht von Arbeit von andere Männer. Hast du von ersten Tag auf Welt an geschissen in Seide!«

»Mein Vater hatte mehr Flöhe in seinem Bett als Sklaven auf den Feldern. War die Ernte schlecht, haben wir uns durch den Winter gehungert wie alle anderen auch. Aber was reden wir von der Vergangenheit – da hat jeder seine eigenen Geschichten. Reden wir lieber von der Zukunft, denn die teilen wir.« Er deutete über die Köpfe der Söldner hinweg auf den Weg, den sie gekommen waren. »Irgendwo hinter uns marschieren ein paar tausend Luwier. Ich wette, die wissen, dass ihr Muwattas Gold genommen und dann die Seiten gewechselt habt. Natürlich steht euch frei, Kolja zu folgen und mich hier in die Schlucht zu stürzen. Kolja ist ein ausgezeichneter Mann. Ich sehe vor mir, wie er vor den Befehlshaber der Luwier tritt und ihn mit seinem hübschen Gesicht und guten Argumenten überwältigt. Auch bei den Luwiern sind es die hochwohlgeborenen Scheißer, die die Krieger des unsterblichen Muwatta befehligen. Ich weiß nicht, welcher Mann an der Spitze des Heeres steht, das uns verfolgt, aber ich wette, er wird eine hohe Meinung von Kolja haben. Solche Männer haben immer großen Respekt vor Aufrührern.«

Ein Pferd wieherte irgendwo in der Menge. Der Wind zerrte an Jubas Umhang. Die Männer starrten schweigend zu ihm auf. Ihm war kalt. Viel kälter, als es einem Sommertag in den Bergen angemessen war. Ihm war klar, dass diese Rede über sein Leben entscheiden würde. »Ich habe euch Halsabschneider genannt. Und ich fühle mich unter euch in guter Gesellschaft. Ich habe nicht in Seidenwindeln geschissen. Ich weiß, wie es ist, wenn man das letzte bisschen Brei aus seiner Holzschale leckt und immer noch hungrig unter seine Decke kriecht. Die Zeiten sind lange vorbei. Jetzt bin ich der oberste Halsabschneider des unsterblichen Aaron. Ich habe in sieben Schlachten gekämpft und in unzähligen Scharmützeln. Ich bin, was ich bin, weil ich nicht verliere. Ihr könnt Kolja folgen und den Luwiern in die Arme laufen. Oder ihr könnt mir folgen, dorthin, wo die Luwier nicht mit uns rechnen und wo es eiserne Schwerter als Beute gibt. Ohne Kampf wird es auch mit mir nicht abgehen. Aber die Luwier kennen meinen Namen und sie fürchten ihn. Was aber werden sie wohl denken, wenn sie hören, dass der ruhmreiche Kolja euch anführt? Werden sie eine Hand auf ihren Geldbeutel legen und dann ihren Kriegern befehlen, mit euch das zu machen, was die Hochwohlgeborenen schon seit Anbeginn der Zeiten mit Dieben machen? Ich weiß es nicht — und ich will es nicht wissen. Und deshalb folge ich jetzt Volodi.«

Juba ließ sich von zwei Kriegern helfen, seinen Streitwagen auf die Schultern zu heben. Er war leichter als ein Kornsack. Wie alle anderen Streitwagen in der Armee des Unsterblichen Aaron war er aus Eschenholz gefertigt, das man über heißem Wasserdampf in Form gebogen hatte. Der Kasten, in dem er und sein Wagenlenker Schulter an Schulter standen, war im Grunde nur ein Rahmen aus Holz. Der Boden wurde aus Rohleder gefertigt, ebenso der Frontteil. An den Seiten gab es keinen Schutz. Nur Köcher für Pfeile und die kurzen Wurfspeere, die im Streitwagenkampf benutzt wurden. Die Streitwagen waren leicht und schossen schnell wie Falken über das Schlachtfeld. Ganz anders als die Wagen der Luwier. Sie trugen drei oder vier Mann Besatzung, waren fast ganz aus Holz gezimmert und wurden von vier Pferden gezogen. Sie waren dazu geschaffen, wie Rammen aus lebendem Fleisch durch die Schlachtreihen der Feinde zu brechen. Die Streitwagen Arams hingegen suchten den Weg um die Flanken, um den Gegner im Rücken zu treffen und seine Reihen durch Pfeile und Wurfspeere in Unordnung zu bringen. Juba wusste, dass sie den Streitwagenschwadronen Luwiens in offener Schlacht ohne die Unterstützung von Fußtruppen nicht gewachsen waren. Sie konnten den Luwiern bestenfalls davonfahren. Ihnen blieb gar keine andere Wahl, als diesen verdammten Saumpfad zu nehmen.

Das Eschenholz drückte ihm auf die Schultern, Wind verfing sich in der Rohlederfront des Streitwagens und es fühlte sich an, als seien die Geister der Berge auf ihn herabgestürmt, um ihn mit unsichtbaren Krallen in den Abgrund zu zerren. Holz schrammte über die Felswand. Er musste dichter am Abgrund gehen. Zwei Fuß breit trennten ihn vom Tod. Unter ihm flog der große Raubvogel, der auch schon Volodi begleitet hatte. Ein Adler. Der König des Himmels! Das konnte kein schlechtes Omen sein, dachte Juba. Die Spitzen der weit ausgebreiteten Adlerschwingen zitterten im Wind. Wie es wohl war zu fliegen?

Juba wandte den Blick ab. Dieser Abgrund war verlockend. Er versprach einen Augenblick unvergleichlichen Hochgefühls, gefolgt von gnädigem Vergessen. Die Berggeister heulten zornig auf und versuchten mit aller Kraft, ihn in die Tiefe zu schleudern. Kalter Schweiß rann Juba über Stirn und Wangen. Nur ein Schritt und alle Mühen hätten ein Ende. Vielleicht war ein langer Sturz ja sein Schicksal? Wäre Aaron nicht gewesen, hätte es sich schon erfüllt, als sie mit dem fliegenden Palast in den Sturm geraten waren. Nun streckte das Schicksal erneut die Hand nach ihm aus und diesmal war kein Unsterblicher hier, um ihn zu retten. Er musste es ganz alleine schaffen.

Juba biss die Zähne zusammen und starrte auf den Weg unmittelbar vor seinen Füßen. Das war die ganze Welt. Er würde sie erobern, Schritt um Schritt. Er schuldete Aaron sein Leben. Er durfte es jetzt nicht einfach wegwerfen. Der Unsterbliche brauchte ihn! Ohne ihn war Aaron hilflos. Wer wagte es schon, einem Unsterblichen die Meinung zu sagen? Wer würde die Blutarbeit für Aaron erledigen? Dem Unsterblichen fehlte die Härte, um zu herrschen. Ein Reich musste geführt werden. Das Volk musste einen Weg gezeigt bekommen.

Wie Aaron wohl seine Härte verloren hatte? Hatte der lange Sturz sie von ihm genommen? Und was würde er wohl verlieren, wenn er stürzte?

Vorsichtig blickte er über den Wegrand. Der Adler unter ihm war verschwunden. Er sah einen Hang, auf dem mächtige Zedern wuchsen. Was für närrische Fragen er sich stellte! Sein Leben würde er verlieren, wenn er stürzte. Das war alles!

Er musste den verdammten Abgrund ignorieren! Er kniff die Augen leicht zusammen und wandte den Kopf nach rechts, so dass er nur noch Felsen sah. Den Weg unter seinen Füßen. Die Steilwand, aus der der Saumpfad geschlagen war. Steine.

Starren.

Noch einen Schritt.

Noch einen …

»Hast du Spaß, machen Arbeit von Pferd? Ist sich Engpass vorbei. Kannst du rasten.«

Juba hob den Kopf. »Blödmann!« Er blickte zurück. Er war ein ganzes Stück zu weit gegangen. Die anderen folgten ihm. Waren es seine Worte gewesen? Hatte er das Feuer in ihren Herzen neu entfacht? Oder hatten sie einfach nur begriffen, dass sie nicht auf die Gnade der Luwier hoffen durften? Erleichtert setzte er den Streitwagen ab. »Warum hast du mich weiter laufen lassen als notwendig, du Mistkerl?«

»Sieht man Kriegsmeister selten sich schwitzen.« Er lachte. »Du gewonnen hast. Dachte ich, dass mein Kreuz sich müssen brechen entzwei. Dachte ich, willst du mir zeigen, dass kannst du Streitwagen weiter tragen als ich«

Juba sah ihn fassungslos an. Er glaubte ihm.

Holunderzauber

Er war so blass. Seine Haut war weiß wie das Bettlaken, auf dem er hingestreckt lag. Ganz, als habe er all sein Blut an Matha Naht und ihre Wölfe gegeben. Unverwandt starrte er auf die Decke hinab, doch wusste sie, dass er noch viel weiter sah. Sein Anblick schmerzte sie mehr als der irgendeines anderen verlorenen Kindes. Sie hätte ihn niemals zu Matha Naht bringen dürfen!

Lyvianne hatte gespürt, dass er zurückgekommen war, aber zunächst hatte sie ihrem Gefühl nicht vertraut. Sie war ihn erst suchen gegangen, als sie die Misteldrossel gesehen hatte. Sie war schneller als die Wölfe gewesen. Und doch nicht schnell genug …

Sie trat an sein Bett. Er bemerkte sie nicht. Starrte immer nur weiter ins Nichts. Alle trauerten um ihn. Doch keine tat es so wie sie. Zärtlich strich sie ihm über die Stirn. »Mein Winterkind«, flüsterte sie. »Mein verlorenes Kind.«

Sie war so stolz auf ihn gewesen. Sie hatte ihn aufgegeben. Und er hatte ihr bewiesen, dass sie sich geirrt hatte. Als Einziger!

Lyvianne öffnete ihr Verborgenes Auge. Matha Naht war wahrlich eine Meisterin. Sie war die Dunkelheit! Ihre Lehrerin. Hätte sie nur nie diesen Weg beschritten! Etwas wie diesen Zauber hatte Lyvianne noch nie gesehen. Perfide und zugleich vollkommen. Durch und durch böse. Unberührbar! Er war geradezu ein magisches Spiegelbild Matha Nahts. Lyvianne wagte es nicht, an ihn zu rühren. Dieses Gespinst zu zerreißen hieße, alles zu zerstören.

Müde ließ sie sich neben Gonvalon nieder. Seit sie ihn gefunden hatte, hatte sie kaum geschlafen, und er hatte nie die Augen geschlossen. Kein einziges Mal. Ohne zu blinzeln, starrte er schweigend auf die Decke. Dorthin, wo seine Füße waren. Er war hier und zugleich war er es nicht.

Er aß kaum. Wie ein Kind fütterte sie ihn mit einem Löffel. Manchmal vergaß er zu schlucken. Dann lief ihm die Brühe aus den Mundwinkeln.

»Mein Kind«, flüsterte sie. Leise summte sie das Gutenachtlied, das er so gern gemocht hatte. Er konnte sich daran nicht erinnern. Sie allein verwahrte all seine Erinnerungen an seine frühe Kindheit. Sie hatte sie ihm entrissen. Ein Zauber, den sie von Matha Naht gelernt hatte.

All ihre Traurigkeit legte sie in die Melodie, ließ all ihren Schmerz durch ihre Stimme fließen. Dann kamen die Worte. Ungewollt.

Schattenweber,

Träumegeber,

wandern durch die Nacht.

Ein Geräusch schreckte sie auf. Ein leises Flattern. Der Vogel! Er war nie weit fort von der Weißen Halle. Aber wie war er hierhergelangt? War er wieder von Nandalee besessen?

Die Misteldrossel ließ sich auf einem der Bettpfosten nieder, und Gonvalon drehte ihr den Kopf zu. Es war das erste Mal, dass er sich aus eigenem Antrieb bewegte, seit sie ihn gefunden hatte. Auch sein Blick hatte sich verändert.

Eine einzelne Träne rann über seine Wange.

»Nandalee«, sagte sie leise. »Nan…«

Er zuckte zusammen wie unter einem plötzlichen Krampf. Seine Lippen zitterten und blieben doch unfähig, ein Wort zu bilden.

»Nandalee!«, sagte sie jetzt lauter, drängender. »Erinnerst du dich? Du hast sie geliebt. Erinnere dich!«

Gonvalon wandte den Kopf ab und blickte wieder auf die schneeweiße Decke. Auf das Fußende.

»Bitte, Gonvalon. Du darfst Matha Naht nicht glauben. Sie täuscht dich!«

Er reagierte nicht, hatte sich wieder ganz in sein sprachloses Starren zurückgezogen.

»Nandalee.« Sie versuchte erneut, mit dem Zauber dieses Namens den Bann zu brechen. Dem einzigen Zauber, der ihm nicht schaden würde.

»Du wolltest sie suchen. Erinnere dich! Nandalee! Vielleicht ist sie sogar hier. Sieh ihn an. Sieh den Vogel an. Sie ist zu dir gekommen! «

Er begann zu zittern. »Sie … Sie ist nicht hier!«

Lyvianne küsste ihn auf die Stirn. »Komm zurück. Komm zurück und kämpfe! Lass dich nicht besiegen. Nicht durch Trugbilder. «

Er wandte den Kopf und sah sie an. Hätte ein glühendes Eisen sie berührt, so hätte der Schmerz nicht tiefer sein können als der Schmerz, den ihr dieser Blick bereitete.

»Wie sollte ich je wieder kämpfen – ohne Beine?«

Lyvianne riss die Decke zurück. »Da sind sie. Sieh sie dir an! Es ist nicht wahr. Sie hat dich getäuscht!«

Die Beine waren mit Schorf bedeckt. Die Spuren unzähliger Bisse zeichneten die blasse Haut. Aber sein Fleisch heilte gut. Er würde sich wieder ganz erholen. Sein Körper …

»Deck sie wieder zu! Ich kann ihren Anblick nicht ertragen. Bitte deck sie wieder zu.«

Lyvianne atmete schwer aus. Das war nicht mehr Gonvalon. Matha Naht hatte den Mann, der einmal einer der besten Schwertkämpfer der Drachenelfen gewesen war, zerbrochen. Er bildete sich ein, ein Krüppel zu sein.

Nach langem Schweigen nahm sie seine rechte Hand und führte sie hinab zu seinem Bein. »Was fühlst du?«

Seine Wangenmuskeln zuckten. »Da ist noch der Knochen. Er ist immer noch da! Warum habt ihr die Wunde nicht gut versorgt? Warum …«

»Würden wir das tun? Würden wir dich in die Weiße Halle holen und deine Beinstümpfe nicht gut versorgen?«

Er sah sie fassungslos an. Tiefe dunkle Ränder lagen unter seinen Augen. Kleine Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. »Ich kann es doch fühlen …«

»Matha Naht hat dich mit einem Gespinst trügerischer Zauber umwoben. Du bist nicht schwer verletzt. Nur deine Seele …«

»Aber ich kann meine Beine nicht mehr spüren«, begehrte er auf. »Sie sind … Wenn ich dort hinsehe, dann sind da nur noch Stümpfe. Wenn ich auf die Decke blicke, dann liegt sie unterhalb meiner Knie flach! Da ist nichts!«

Was sollte sie noch sagen? Er war vollkommen gefangen in den Trugbildern, die Matha Naht erschaffen hatte. Für ihn war das seine Wirklichkeit geworden. Lyvianne wusste nur zu gut, wie meisterlich die Zauber des Holunderbaums gewoben waren.

Ihr Blick wanderte durch das kleine Zimmer, in dem Gonvalon lebte. Obwohl sie beide schon seit Langem Meister an der Weißen Halle waren, war sie nie zuvor hier gewesen. Die Kammer entsprach ihm. Sie war nur karg möbliert. Abgesehen von einigen ungewöhnlich geformten Steinen auf der Fensterbank gab es keinerlei Schmuck. Nichts Persönliches. Anders als die meisten übrigen Meister hatte er die vorhandenen Möbelstücke nicht mit der Zeit durch schönere ersetzt, die seinem Geschmack entsprachen. Eine Kleidertruhe, das Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen. Das war seine Welt. Und ein Fenster mit einem schönen Blick auf den Park und die Berge.

Die kleine Misteldrossel zwitscherte aufgeregt. Was wollte sie? Sie hüpfte auf das weiße Laken. Vor Aufregung hinterließ sie einen Klecks auf dem makellosen Betttuch. War sie besessen? Lyvianne betrachtete sie durch ihr Verborgenes Auge. Das Rot der Kraftlinie, die den Vogel mit Nandalee verband, erschien ihr wie ein Makel. Sie konnte Matha Naht auch in diesem Zauber spüren. Und Gonvalon! Der Zauber zehrte an ihm. Mit jedem Herzschlag trank er von seiner Lebenskraft.

Wieder betrachtete sie das dichte Gespinst von Kraftlinien, das ihn umgab.

»Was siehst du?«

Lyvianne zuckte zusammen, so unerwartet und schroff kam seine Frage. »Den Zauber, den Matha Naht gewoben hat.«

»Warum brichst du ihn nicht? Ist sie so mächtig, dass man ihre Werke nicht zerstören kann?«

»Nicht so kraftvoll«, erwiderte sie traurig. »So heimtückisch. Sie hat ihre Zauber mit deiner Aura verwoben. Mit deiner Lebenskraft. Zerreiße ich dieses Gespinst, wirst du Schaden nehmen. Vielleicht würde ich dich sogar töten. Nur du allein hast die Kraft, gegen den Zauber anzugehen. Du kannst ihn nicht auf magischem Wege überwinden. Du musst dir bewusst werden, dass sie dir Trugbilder vorgaukelt. Das ist der einzige Weg.«

»Meine Schmerzen bilde ich mir nicht ein«, sagte er bitter und blickte auf das Betttuch, dorthin, wo seine Füße waren und der kleine Vogel hockte.

Lyvianne dachte an die Qualen, die der Preis für das Wissen gewesen waren, das sie von Matha Naht erlangt hatte. Sie erinnerte sich noch sehr gut, wie meisterhaft der beseelte Holunder die Wirklichkeit verdrehte, bis man selbst die Grenze zum Wahnsinn erreichte. Sie war nicht als Einzige zu dem Holunder gekommen. Manche hatten nicht überlebt. Andere waren an dem verzweifelt, was Matha Naht aus ihnen gemacht hatte. Plötzlich packte sie Wut auf ihren Sohn. Er hatte sie überrascht. Er war zu etwas Besonderem geworden, nachdem sie ihn aufgegeben hatte. Doch nun hatte er aufgehört zu kämpfen … Letztlich hatte sie sich also nicht in ihm getäuscht. Der Makel der Schwäche haftete ihm an!

Lyvianne erhob sich. Ihr Blick fiel auf einen Stiefelschaft, der unter dem Bett hervorlugte. Vielleicht … Sie nahm die Stiefel. Vielleicht konnten sie helfen.

»Sieh dir die Stiefel an!«

Gonvalon blickte nicht auf. Ärgerlich zog Lyvianne das Betttuch fort. Die Misteldrossel brachte sich protestierend in Sicherheit. »Behalt einfach nur die Stiefel im Auge«, sagte sie und streifte den ersten über Gonvalons rechten Fuß. Sie zog ihn nicht hoch, damit der enge Schaft nicht auf die tatsächlich vorhandenen Wunden drückte oder den Schorf abrieb. Sie legte ihm den zweiten Stiefel an. »Und? Was siehst du?«

Er starrte noch immer, doch in seinem Gesicht arbeitete es.

»Siehst du keine Stiefel mehr? Blickst du immer noch auf deine Stümpfe? Wie kann das wohl sein? Glaubst du, ich habe die Stiefel verschwinden lassen?«

Gonvalon beugte sich vor und tastete nach seinen Füßen. Er kniff die Augen zusammen. »Sie sind nicht da. Das ist … Ich kann nicht …«

»Ja, sie ist eine Meisterin. Sie hat dich zum Sklaven ihres Illusionszaubers gemacht. Willst du den Rest deiner Tage ihr Sklave sein?«

»Ich sehe sie nicht. Ich kann sie nicht berühren. Ich spüre nichts.«

»Du stehst jetzt auf!« Lyvianne hielt ihm den Arm hin.

Er zögerte noch einen Herzschlag, dann schwang er die Beine über den Bettrand, stützte sich auf sie und richtete sich auf. Seine Beine knickten weg und er fiel ihr in die Arme.

»Ich fühle den Boden nicht.«

Er sagte das ganz nüchtern. Wenigstens jammerte er nicht mehr.

»Du wirst neu laufen lernen. Du wirst lernen, damit zu leben. Du bist Gonvalon. Dein Name ist Legende. Du gibst nicht auf.«

»Nandalee …« Er blickte zum Fenster. »Sie ist irgendwo dort draußen. Ich werde sie finden.« Er versteifte sich und streckte die Arme aus, um die Balance zu halten. »Ich werde sie finden«, sagte er noch einmal mit Nachdruck. Und dann ging er vorwärts. Einen kleinen, einen winzig kleinen Schritt.

Lyvianne lächelte. Kämpfe, mein Sohn, dachte sie. Kämpfe!

Aus der Balance

Talawain legte die siebzehnte Blüte in den Bach. Kreiselnd glitt sie im Wasser davon. Der Elf kniete auf einem großen Stein am Ufer. Er war allein. Der Palast lag fast einen Tagesritt entfernt. Er straffte sich, drückte den Rücken durch und sah den treibenden Blüten nach. Schneeweiß. Vollkommen. Jede einzelne von ihnen. Er hatte Stunden damit verbracht, sie auszuwählen und – sorgsam auf feuchte Seide gebettet – in Spanschachteln zu verpacken, damit sie unbeschadet die Reise hierher überstanden. Er hatte mehr Zeit mit der Auswahl der Blüten verbracht als mit der Auswahl der Haremsdamen für jene verhängnisvolle Reise. Er hatte Mädchen ausgesucht, für die es etwas bedeutete. Die Sehnsucht danach hatten, den Harem für einige Tage zu verlassen. Deren Status dadurch stieg, dass er sie auswählte, zu denen zu gehören, die auf dieser Reise vielleicht eine Stunde mit dem Herrscher verbringen durften. Talawain hatte genau gewusst, dass Aaron keine von ihnen zu sich rufen würde. Er hatte erraten, nach wem sich das Herz des Herrschers verzehrte. Zumindest glaubte er das. Noch hatte er es nicht gewagt, Aaron darauf anzusprechen.

Er war hier, um den unsterblichen Aaron auszuspionieren, rief er sich in Erinnerung. Und eine weitere seiner Aufgaben bestand darin, Schaden anzurichten und Unfrieden zu stiften. Eigentlich sollte er mit dem Ausgang der Reise nach Isatami sehr zufrieden sein … Aber als er die jungen Mädchen aufgereiht im Palasthof gesehen hatte, hatte er sich schuldig gefühlt. Er hatte sie ausgewählt und in den Tod geführt. Siebzehn Mädchen voller Träume. Ihre Sehnsüchte waren Teil seines zynischen Kalküls gewesen – ganz so, wie es bei Aya gewesen war. Er hatte gewusst, dass ihre Träume sich nicht erfüllen würden. Doch dass es so kommen würde, hatte er nicht ahnen können!

Er war nicht schuldig! Er sollte sich nicht so fühlen. Sollte nicht so sehr seine innere Balance und seinen Abstand verloren haben. Er war dazu ausgebildet worden, so etwas abzutun. Er sollte das abstreifen können, indem er einige Stunden in seinem Garten verbrachte. Einige Äste stutzte oder hochband, um den Garten weiter zu vervollkommnen …

Aber das hatte er diesmal nicht getan. Stattdessen hatte er seinen Garten verwüstet. Ihn seiner schönsten Blüten beraubt. Das sollte mir eine Warnung sein, dachte er.

Der Garten war ein Spiegel seiner Seele. Innere Harmonie, eine der kostbarsten Blüten. Es war nicht angemessen, Rachegedanken wegen einiger toter Menschenkinder zu hegen. Wer waren sie schon? Die Brut der Devanthar! Der Erzfeinde.

Die siebzehn Blüten waren in der Ferne verschwunden. Fortgerissen vom Fluss des Schicksals, so wie die Mädchen. Auch er sollte einfach verschwinden. Er war zu lange an Aarons Hof. Er hatte den Abstand verloren.

Talawain wusste, dass die Drachen ihm nicht gestatten würden, zur Blauen Halle zurückzukehren. Alles einfach aufzugeben. Er war zu weit aufgestiegen.

Dem Elfen war auch bewusst, dass ihm dieser Umstand bald zum Verhängnis werden musste. Er verkehrte zu nahe bei den Devanthar. Es war ein Wunder, dass er noch nicht entdeckt worden war. Und Wunder währten nicht ewig … Wie alle, die die Blaue Halle verließen, war er darauf vorbereitet, wie er sich den Befragungen entziehen konnte. Noch nie hatte einer von ihnen etwas verraten, und der Tod schreckte ihn nicht. Nur die überaus unästhetische Art seines Ablebens war ihm ein Gräuel. Die Menschenkinder, die es mit ansehen mussten, würden es bis ans Ende ihrer Tage nicht vergessen. Aber das war kein Trost!

Talawain entschied, seine Verbindungen zum luwischen Königshof zu nutzen. Nicht alle Spitzel waren Elfen. Er hatte ein Netzwerk aus menschlichen Spionen aufgebaut, die keine Ahnung hatten, dass sie des Öfteren auch Albenmark zu Diensten waren. Er wollte wissen, wer das Feuer gelegt hatte.

Der Elf hegte nicht den geringsten Zweifel daran, dass es auf Befehl des unsterblichen Muwatta geschehen war. Doch dieser Mistkerl war unberührbar. Er durfte keinen der Weißen anfordern, um ihn ermorden zu lassen. Selbst Kurunta, der sicherlich in die Mordpläne eingeweiht war, sollte er in Frieden lassen. Der Hüter der Goldenen Gewölbe würde seine Verbrennungen wohl überleben. Aber er war entstellt. Seine Nase, beide Ohren und ein Auge waren durch das Feuer zerstört worden. Er würde wie das Ungeheuer aussehen, das er auch war.

Nein, dachte Talawain, es mussten die Wachen sein. Und sie sollten auf eine Art sterben, die selbst Muwatta mit Schrecken erfüllte. Eine Art, die ihm klarmachte, dass der Tod den Weg selbst zu ihm finden konnte. Wieder schüttelte er den Kopf. Nein, genauso durfte es nicht sein. Das würde die Aufmerksamkeit Ištas wecken. Und das wiederum könnte ungeahnte Folgen haben. Welcher Meister der Weißen Halle wäre geeignet? Es war gegen die Regeln, einen von ihnen zu rufen, um seine Rachegelüste zu stillen, aber Talawain würde es tun. Er würde sich bis hin zu seinem Tod an alle Regeln halten.

Nur dieses eine Mal nicht.

Meister Gonvalon war nicht geeignet. Er liebte es, den Tod zu einer Inszenierung zu machen. Auch Lyvianne sollte er besser nicht rufen. Sie war zu düster und abgründig, und vielleicht würde sie sogar durchschauen, worum es ihm wirklich ging.

Nodon war vielleicht der beste Schwertkämpfer unter den Weißen. Sein Wettstreit mit Gonvalon währte schon Jahrhunderte und hatte Formen angenommen, dass die Drachen Sorge trugen, dass Nodon und Gonvalon nie am gleichen Ort ihren Dienst verrichteten. Auch Nodon würde es mit der Klinge erledigen. Das war zu auffällig! Vielleicht Ailyn? Sie war einfallsreich! Sie würde es wie einen Unfall aussehen lassen. Einen Unfall, dem die Ahnung anhaftete, dass es doch mehr als nur ein willkürliches Unglück gewesen sein könnte. Ja, Ailyn war die richtige Wahl. Sie würde er an Muwattas Hof schicken.

Der Mann, der über den Adlern schreitet

Volodi betrachtete ruhig die Verteidigungsanlagen. Sie waren neu. Frisch aufgeworfene Erde lag rings um die zugespitzten Pfähle, die aus dem Boden ragten. Schräg gestellt, sodass ihre Spitzen auf jeden wiesen, der sich dem Tal näherte. Es gab keinen Graben, keinen Erdwall, keine Mauer – nur die Pfähle, die im Abstand von etwa einem halben Schritt zueinander standen. Man konnte zwischen ihnen hindurchlaufen. Aber kein Reiter und schon gar kein Streitwagen würde dieses Hindernis überwinden.

»Das wird blutig«, sagte Juba.

In der Mitte der Barriere erhob sich ein hölzerner Torturm, an dem noch gearbeitet wurde. Einige Krieger patrouillierten hinter der Barriere aus Pfählen. Ein Stück weiter standen drei Streitwagen. Die Pferde waren angeschirrt, doch die Besatzungen der Wagen konnte Volodi nirgends entdecken. Wahrscheinlich lungerten sie irgendwo herum. Die Wagen waren verdammt groß! Ganz anders als ihre Streitwagen. Die Räder waren fast mannshoch!

Weiter hinten im Tal erhoben sich einige Lehmhäuser. Dichter Rauch stieg auf und wurde vom Wind dem Taleingang entgegengetragen. In der Ferne hörte Volodi Metall auf Metall schlagen. Sie waren am Ziel!

»Sie haben mindestens fünfhundert Krieger im Tal zusammengezogen. « Juba seufzte. »Wir werden sie nicht überraschen. Zu Fuß überwinden wir diese Pfähle, aber der Lärm des Geplänkels wird die anderen alarmieren und ihnen genug Zeit lassen, sich tiefer im Tal zu formieren.«

Juba war ein guter Mann, aber es störte Volodi, dass stets eine dunkle Wolke über dem Gemüt des Kriegers zu hängen schien. Er nahm das Leben zu schwer! »Woher du wissen, dass dort fünfhundert Mann?«

»Auf dem Turm steht ein Feldzeichen mit drei silbernen Halbmonden. Nur Einheiten von fünfhundert Kriegern führen den dreifachen Mond.«

Volodi schüttelte den Kopf. »Ich sehe Stock mit drei Monden. Ja. Ich sehe sich nur wenig Krieger. Weißt du, ich glauben, dass sehr billiger Weg uns denken lassen, viele Männer dort.«

»Wenn die Luwier dafür bekannt wären, heimtückische Winkelzüge zu betreiben. Leider sind sie das nicht. Sieh dir an, wie zerwühlt der Weg vor dem Tor ist. Dort liegt keine kleine Garnison. Ihre Eisenminen und Schmieden sind der größte Schatz ihres Reiches, und ganz offensichtlich sind sie gewarnt. Diese Pfahlreihe wurde für uns errichtet.«

»Gut. Kennen wir nun Stärken von Feind. Packen wir ihn bei Schwächen und hauen ihm Schädel ein.«

Juba lachte leise. »Es ist doch immer wieder erfrischend, sich mit einem Meisterstrategen zu unterhalten. Was willst du tun? Hinuntergehen, gegen den Turm pinkeln und mit deinem mächtigen Strahl das Fundament wegspülen?«

Volodi grinste. »Das ist sich guter Plan für einen anderen Tag. Ich werde heruntergehen. Brauch ich mich ein paar von unseren Spähern. Werde ich packen Luwier bei ihre Arro … Agro … bei ihrer Dings Gans! Und dann ich werde ihnen Hals umdrehen. Du machst sich kampfklar. Ich mache Tor klar. Du musst dich Folgendes tun …«

Juba widersprach ihm nicht. Der Feldherr hatte schließlich auch die einfachere Aufgabe. Sie beide krochen vorsichtig von dem Hügelkamm, auf dem sie gelegen hatten, rückwärts. Das Gelände war zu ihrem Vorteil – ihre Streitwagen standen kaum eine Meile von den Stellungen des Feindes entfernt und konnten doch von ihm nicht entdeckt werden. Sie hatten einen ganzen Schwarm Späher ausgeschickt, um das Gelände zu erkunden. Fast ausschließlich Steppenreiter. Ihnen war kein einziger luwischer Späher in die Hände gefallen. Ihre Feinde fühlten sich so sicher, dass es schon fast eine Beleidigung war.

In der vergangenen Nacht hatte es geregnet. Das machte ihre Streitwagen langsamer — aber es verhinderte auch, dass ihre vorrückenden Truppen eine Staubwolke aufwirbelten, die schon von Weitem zu sehen war. Die Götter des Waldes waren auf ihrer Seite, dachte Volodi zufrieden. Er würde ihre Hilfe brauchen! Heute galt es, unsterblichen Ruhm für seinen Namen zu erringen. Und ein Eisenschwert!

Sein bronzener Schuppenpanzer war voller Schlamm, als er sich erhob. Auch der Feldherr sah nicht besser aus. Volodi rechnete es Juba hoch an, dass er sich auf einem Hügelkamm in den Dreck legte, um den Feind auszuspähen. Er war anders als die anderen wohlgeborenen Anführer, die ihm bisher begegnet waren.

»Du bist sicher, dass du das tun willst?«, fragte Juba.

»Ich will sein Erster in Lager von Feind. Dann ich sein Erster, der nehmen Schwert. Werde bestes finden!« Mit diesen Worten wandte Volodi sich ab und ging zu den wenigen verbliebenen Steppenreitern, die ihr kleines Heer begleiteten. Er hatte ein paar Worte ihrer Sprache erlernt. Und einen beträchtlichen Haufen Silber in dem Knochenspiel verloren, mit dem sie sich die Stunden am Lagerfeuer verkürzten. Er war sich fast sicher, dass sie ihn betrogen hatten. Jedes Mal, wenn er glaubte zu gewinnen, rückten sie mit neuen Regeln im Spiel heraus, die sie ihm bis dahin verschwiegen hatten. Regeln wie Adlerknochen schlägt Hühnerknochen. Schlitzäugige Betrüger waren sie! Er lächelte. Und sie konnten reiten, als wären sie mit ihren Pferden verwachsen. Darauf kam es nun an.

Volodi konnte sich ihre Namen nicht merken. Selbst ihre Gesichter waren schwer auseinanderzuhalten. Ihnen ging es mit den übrigen Söldnern rätselhafterweise ganz genauso. Dabei unterschieden sich die sehr deutlich voneinander. Der Drusnier war froh, den Kerl mit den schiefen Zähnen unter den Reitern zu entdecken. Der kleine Krieger empfing ihn mit einem strahlenden Lächeln. »Ich grüße dich, der über den Adlern schreitet! Willst du wieder dein Silber zu uns tragen?«

Volodi lächelte. Sie mochten komplizierte Namen. Der ohne gerade Zähne hatte ihm erzählt, dass ein Adler dicht unter dem Saumpfad vorbeigesegelt sei, als er den Streitwagen auf seinen Schultern getragen hatte. Für die Steppenreiter war das ein gutes Omen!

»Heute ich bieten besser als Silber. Heute Eisen ist Einsatz. Und Blut.« Er erklärte den Ischkuzaia, was er tun wollte. Sie waren zuversichtlich und liehen ihm sogar ein Pferd. Eine alte Mähre, aber die musste genügen. Die Stute schnappte nach ihm, kaum dass er sich ihr näherte. Volodi dachte daran, wie er sich geschworen hatte, nie wieder auf einen verdammten Gaul zu steigen. Die Steppenreiter grinsten, als sie sahen, wie er zögerte, auf das Pferd zu steigen. Volodi drohte dem Gaul mit der Faust. »Ich machen dich Suppe, wenn nicht mich tragen. Verstanden?«

Die Stute schnaubte ärgerlich. Entschlossen griff er nach den Zügel und kletterte ungelenk auf das Pferd. Kaum dass er im Sattel saß, kamen Volodi Zweifel. Er war kein Reiter, und die Steppenpferde waren so klein, dass seine Füße fast bis zum Boden reichten. Als er an den Zügeln zog, warf das Viech den Kopf herum und versuchte erneut ihn zu beißen. Es war am besten, es schnell hinter sich zu bringen, dachte Volodi verzweifelt. Er hielt mit einer Hand die Zügel, mit der anderen klammerte er sich in der Mähne fest. Nur zur Sicherheit. Der verdammte Gaul wieherte und bockte. Volodi war versucht, ihm mit der Faust zwischen die Ohren zu schlagen, um ihm klarzumachen, wer hier das Sagen hatte. Aber die Ischkuzaia liebten ihre Pferde mehr als ihre Frauen. Es wäre nicht gut, wenn sie sahen, dass er eines ihrer Pferde schlug. Er würde sich an einem anderen Tag an dem Gaul rächen. »Kannst du beißen mich, aber bin ich der, der kann fressen dich. Denken klug Pferd. Sein brav, mich tragen, dann alles gut für dich«, raunte er dem Tier ins Ohr und ritt an.

Bald kamen sie in Sichtweite des Torturms. Sofort ertönte ein Horn. Volodi presste die Schenkel fest gegen den Pferdeleib, um besseren Halt zu haben. Der blöde Gaul ging schneller! Warum? Bald war er an der Spitze der kleinen Reiterschar. Das war nie seine Absicht gewesen!

»Langsam, dämliche Tochter von Esel!« Die elende Mähre hatte Gefallen daran, das Gegenteil von dem zu tun, was er wollte. Sie folgte dem Weg und brachte ihn direkt auf das Tor zu.

Volodi dachte daran abzuspringen, aber dann würde er für immer das Gesicht vor den Steppenreitern verlieren. Stattdessen entschied er gleichzeitig an Zügeln und Mähne zu ziehen. Der Mistgaul blieb so plötzlich stehen, dass Volodi fast aus dem Sattel gestürzt wäre. Ein Pfeil flog sirrend über seinen Kopf hinweg.

»Glaube nicht nix, das ich mich sagen Danke zu dir!«

Das Pferd erwartete offenbar nichts von ihm. Es blieb stehen und lieferte ihn als Zielscheibe aus — und sich auch, falls die Bogenschützen oben auf dem Turm eher mittelmäßig waren. Aber von einem Pferd sollte man wohl nicht erwarten, dass es mitdachte.

Ein weiterer Pfeil schlug dicht neben ihnen ins Gras. Volodi schwang ein Bein über den Nacken des Pferds und wollte absteigen. Die Steppenreiter machten das anders. Sie konnten sich in vollem Galopp über die Kuppe gleiten lassen und sicher auf den Beinen landen, aber Volodi wollte möglichst außer Reichweite der Hinterläufe bleiben.

Er hatte sein Bein kaum angehoben, als das Pferd stieg. Volodi landete unsanft im Gras. Er fiel auf seine Schwertscheide. Der Gaul machte sich davon und stieß ein Wiehern aus, das an Gelächter erinnerte.

Fluchend sprang der Drusnier auf. Das lief ganz und gar nicht nach Plan! Die Steppenreiter schossen nun ihrerseits auf die Turmbesatzung, während die Feiglinge da oben Deckung hinter der Brüstung suchten. Weit hinter der Verschanzung erscholl ein Horn. Volodi konnte zwischen den angespitzten Pfählen hindurch sehen, wie die drei schweren Streitwagen Fahrt aufnahmen.

»Komm, der über den Adlern schreitet!« Der schiefzahnige Kerl, der ihn am frechsten beim Knochenwürfeln betrogen hatte, hielt auf ihn zu, streckte die Hand vor und wollte ihn hinter sich auf den Sattel ziehen. Doch Volodi wusste, dass sie gemeinsam niemals entkommen würden. »Hau dich ab!«, rief er – dann rannte der Drusnier los, direkt auf den Turm zu. Wenn er es richtig anstellte, würde er ungeschoren davonkommen.

Die Krieger auf der Plattform kauerten noch hinter der Brüstung. Sie konnten nicht sehen, was er tat. Sein Freund Schiefzahn schien zu erraten, was er wollte. »Mögen dich die Geister deiner Ahnen schützen!« Er zog sein Pferd um den Zügel und preschte auf dem Weg zurück.

Volodi rannte weiter auf das Tor zu. Wenn er dicht genug am Turm stand, war er im toten Winkel der Plattform. Die Wächter würden ihn dann nicht sehen.

Der Boden vibrierte unter dem Hufschlag der Streitwagenpferde. Sie waren viel größer als die Reittiere der Ischkuzaia. Auch größer als die Wagenpferde Arams. Lebende Rammen!

Volodi drückte sich mit dem Rücken gegen die Turmwand. Wenn er Glück hatte und die Tore nach außen aufschwangen, würde er hinter einem der Torflügel verschwinden. Er dachte an den Heiligen Hain im Geisterwald. Dort, wo er die Stimmen seiner Ahnen im Wind und im Raunen der Blätter gehört hatte. Hoffentlich würde sein Geist dorthin zurückfinden. Er war zu weit fort von zu Hause.

Die Torflügel schwangen auf. Natürlich nach innen! Er drückte sich fest an die Holzwand. Die drei Streitwagen donnerten durch das Tor. Jeder war mit einem Fahrer, einem Krieger und zwei Schildträgern bemannt, und sie alle hatten nur Augen für die flüchtenden Steppenreiter. Silbern funkelte das Licht auf den Sicheln an den Rädern der Streitwagen. Fast armlange Eisenklingen! Volodi atmete erleichtert auf, als die Streitwagen vorüber waren. Er brauchte nur auf dem Fleck stehen zu bleiben, dann war er in Sicherheit. Jedenfalls, wenn sein Plan aufging und Juba alles vorbereitet hatte.

»Die werden die dreckigen Hundefresser in Stücke schneiden«, erklang beängstigend nah eine Stimme.

»Nur schade, dass wir es nicht sehen werden«, antwortete jemand.

Der Drusnier schluckte. Warum konnten nicht einmal die einfachen Pläne je so klappen, wie er es sich vorgestellt hatte?

»Die werden sie erst hinter den Hügeln kriegen. Asua hat mir mal erzählt, dass das Blut bis über den Wagen hochspritzt, wenn sie einen mit den Sicheln erwischen.«

»Das werden wir nächstes Jahr auf der Ebene von Kush sehen. Hundertfach!«

Volodi fluchte stumm. Die beiden Krieger, die das Tor geöffnet hatten, waren vor den Turm getreten, um den Streitwagen nachzublicken. Sobald sie sich umdrehten, war es unvermeidlich, dass sie ihn bemerkten. Besser, wenn er sie überraschte! Entschlossen griff er nach seinem Schwert, doch die Klinge wollte nicht aus dem Leder der Scheide gleiten. Das Leder der Scheide knirschte. Endlich kam die Waffe frei. Sein Schwert war nach dem Sturz völlig verbogen! Unbrauchbar …

Das Geräusch des knarrenden Leders ließ die beiden Luwier herumfahren. Einen Moment lag gafften sie Volodi mit offenem Maul an, so überrascht waren sie.

Der Drusnier warf sich vor. Er rammte dem Mann links von sich den Kopf in den Bauch und griff nach dessen Schwert. Leise zischend glitt die Klinge aus der geölten Lederscheide. Der andere Luwier, der so gern sehen wollte, wie es war, wenn ein Mann von den Sicheln eines Streitwagens getroffen wurde, hatte sich von seinem Schreck erholt und ebenfalls seine Waffe gezogen. Es waren nur Bronzeschwerter! Und der Luwier griff mit mehr Wut als Geschick an.

Volodi wich aus. Der Mann am Boden regte sich und tastete nach einem Dolch.

Volodi trat ihm ins Gesicht. Er brach ihm den Kiefer und der Bastard verstummte. Wütend trat Volodi noch einmal nach. Hier musste es Hunderte Krieger mit Eisenschwertern geben, und er erwischte zwei mit Bronzeklingen!

»Alarm! Wir werden angegriffen! Alarm!« Der zweite Schwertkämpfer wich in den Eingang des Tors zurück. Oben auf der Plattform des Turms wurde wieder das Horn geblasen.

Volodi lachte. »Was du glauben, was schneller? Kameraden oder ist sich mein Schwert?«

Der Luwier griff an. Mit wilden Hieben versuchte er Volodi vom Turm fortzudrängen. Dem Drusnier war klar, dass er ein gutes Ziel für die Bogenschützen abgeben würde, sobald sie aus dem toten Winkel der Plattform traten.

Klirrend schlugen die Bronzeschwerter aufeinander. Jeder Hieb hinterließ eine tiefe Kerbe in dem weichen Metall. Der Luwier war stärker. Und er war größer. Allerdings bewegte er sich ein wenig schwerfällig. Nach der ersten Überraschung wirkte er jetzt selbstgefällig. Er wusste, dass er Volodi nur noch ein wenig hinhalten musste, dann würden weitere Krieger kommen, um ihm zu helfen.

Volodi blockte einen plumpen Hieb, der auf seinen Kopf zielte, und versuchte den Luwier zurückzudrängen. Er trat dicht vor ihn. Sein Schwertarm zitterte vor Anstrengung. Mit der Linken packte Volodi unter die Tunika in den Schritt des Luwiers und drückte mit aller Kraft zu.

Der Mann schrie wie ein angestochenes Schwein.

Volodi hakte einen Fuß hinter die linke Ferse seines Gegners und rammte ihn mit der Schulter. Der Luwier stürzte und krümmte sich am Boden.

Der Drusnier hob schon sein Schwert, um ihm den Gnadenstoß zu verpassen, als ihn ein erschreckend vertrautes Geräusch herumfahren ließ. Das Trommeln schwerer Hufe! Noch ein vierter Streitwagen kam den Weg hinauf und hielt auf das Tor zu. Volodi fluchte. Er war erledigt! Blieb er nah am Tor, würden sie ihn gegen eine der Holzwände drängen und der Bogenschütze auf dem Wagen würde ihn niederschießen. Rannte er vom Tor fort, würden ihn die Bogenschützen oben auf der Plattform erwischen. Hätte er nur sein Maul gehalten und Juba einen Schlachtplan machen lassen. Er hätte gar nicht hier sein müssen!

Immer noch fluchend packte er den ersten Luwier, den er niedergestreckt hatte bei den Armen. Der Kerl mit dem zerschmetterten Kiefer war kleiner als sein bulliger Kamerad. Volodi hob sich den Krieger auf die Schultern und begann zu laufen. Wenn er es hundert Schritt vom Turm weg schaffte, wären die Bogenschützen keine große Gefahr mehr.

Immer lauter wurde das Hufgetrommel. Ein Pfeil verfehlte ihn um mehr als drei Schritt. Er durfte nicht in einer geraden Linie laufen, dachte er. Damit machte er es den Bogenschützen und auch dem Streitwagen zu leicht. Er sollte … Ein schwerer Schlag traf ihn in den Rücken, ließ ihn nach vorne taumeln und in die Knie gehen. Der Luwier auf seinem Rücken stöhnte. Volodi spürte, wie warmes Blut durch seine Tunika sickerte und an seinen Beinen hinablief. Volodi kam wieder auf die Beine und blickte zurück. Der Streitwagen hatte fast den Torturm erreicht. Der Kerl, den er vor dem Turm niedergemacht hatte, kämpfte sich benommen hoch und versuchte den Pferden auszuweichen. Was für Ungetüme das waren! Noch nie hatte Volodi so große Pferde gesehen.

Blut spritzte hoch gegen die Wände des Tors. Der Trottel war stehen geblieben, als er den Pferden ausgewichen war. Er hatte die Sicheln vergessen!

Volodi entschied sich, den Krieger, den er mitgeschleppt hatte, liegen zu lassen. Er würde ihm kaum noch nutzen. Der Tod haftete ihm nun auf den Fersen. Es wäre besser, schnell rennen zu können. Haken schlagend hielt er auf den Hügel zu. Dort ragten einige Felsblöcke aus dem Gras. Die würden dem Streitwagen Schwierigkeiten machen.

Mit einem feinen, singenden Laut schrammte ein Pfeil über seinen Schuppenpanzer. Nur ein Streifschuss. Volodi blickte über die Schulter. Der Streitwagen war keine zwanzig Schritt mehr entfernt. Er entschied, nicht mehr weiter zu flüchten. Er würde kämpfen. Hoffentlich sahen seine Ahnen ihm zu. Er wollte einen guten Tod sterben! Der Bogenschütze neben dem Wagenlenker hatte Schwierigkeiten zu zielen. Der Boden war hier leicht uneben, und jede kleine Welle versetzte dem Wagen einen Schlag. Die Schildträger rechts und links hatten kurze Wurfspeere aus den Köchern an den Seitenwänden des Wagens gezogen.

Volodi blickte auf die Sicheln. Sie drehten sich so schnell mit dem Rad, dass sie zu einem bedrohlich schimmernden Schemen verschwammen.

Noch zehn Schritt.

Er konnte das Weiße in den Augen des Bogenschützen sehen. Der Schütze senkte die Waffe. Er überließ es dem Wagenlenker, ihn zu töten.

Volodi vermochte nicht einzuschätzen, wie schnell der Wagenlenker reagieren konnte. Jetzt hielt er genau auf ihn zu, um ihn unter den Hufen zerstampfen zu lassen.

Links! Gedanke und Bewegung waren eins. Volodi hechtete nach vorn, warf sich ins Gras. Der Boden unter ihm schwankte unter den Hufen. Zischend zogen die Sicheln über ihn hinweg. So dicht, dass er den Luftzug spürte.

Der Drusnier rollte sich zur Seite. Keinen Augenblick zu spät! Dort, wo er gerade noch gelegen hatte, bohrte sich ein Wurfspeer in die Erde. Er packte die Waffe und schleuderte sie voller Wut dem Wagen hinterher. Ohne zu zielen. Die Luwier standen so dicht gedrängt, dass es fast unmöglich war, sie zu verfehlen.

Der Wagenlenker! Er hatte den Wagenlenker im Rücken getroffen. Er schwankte, kippte zur Seite, hatte die Zügel aber immer noch fest in den Händen. Der Streitwagen wurde langsamer. Mit einem Wutschrei lief Volodi ihnen hinterher. Der unebene Boden. Die unsichere Zügelführung. Der Streitwagen geriet ins Schlingern! Die Sicheln des linken Rades krachten gegen einen der Felsen, die aus dem Gras ragten, und mit einem hellen Klingen zerbrach die Sichel. Der Wagen machte einen Ruck, kam aus dem Gleichgewicht, fuhr nur noch auf einem Rad und drohte sich zu überschlagen.

Volodi holte auf. Das schwebende Rad fand mit einem harten Schlag wieder auf den Boden zurück. Einer der Speerwerfer wurde von der Kampfplattform geschleudert und schlug gegen einen Felsen. Der Drusnier ignorierte ihn. Der Streitwagen fuhr jetzt nur noch langsam. Verzweifelt bemühten sich der Bogenschütze und der Speerwerfer darum, die Zügel zu ordnen. Der verwundete Wagenlenker lag zu ihren Füßen. Volodi bekam den Griff hinter den Speerköchern zu packen und zog sich auf den Wagen. Er war unbewaffnet, er war wütend, und es gab zu wenig Platz, um mit Finessen zu kämpfen. Den Speerwerfer packte er bei der Tunika und riss ihn einfach nach hinten, sodass er vom Streitwagen purzelte.

Der Bogenschütze zog einen Dolch. Er hatte die Zügel fahren lassen und die Pferde legten wieder an Tempo zu.

Mit dem Unterarm lenkte Volodi einen Dolchstoß ab, der auf seinen Bauch zielte; die Eisenklinge hinterließ einen langen Schnitt im Arm und fuhr dann klirrend über seinen Schuppenpanzer. Die Eisenklinge!

Sofort holte der Luwier zu einem neuen Dolchstoß aus. Mit der Linken hielt er sich an einem der Griffe fest und glich mit federnden Knien die ruckenden Bewegungen des Streitwagens aus. In jeder seiner Bewegungen spiegelte sich sein Selbstbewusstsein. Schnell wie eine Viper stieß er zu.

Volodi versuchte verzweifelt die Stiche abzulenken. Ein zweiter Schnitt leuchtete rot auf seinem Arm. Unbewaffnet, wie er war, wäre es das Klügste, vom Wagen zu springen, aber aufgeben mochte er nicht. Nicht jetzt! Er tastete hinter sich. Seine Finger glitten über die Schäfte der kurzen Wurfspeere im Köcher an der Wagenwand.

Der Luwier erkannte sofort die Gefahr. Er warf sich nach vorne. Klirrend schlugen ihre Schuppenpanzer aufeinander, und Volodi wurde gegen die Seitenwand gedrückt. Der Köcher löste sich aus seiner Halterung. Die Wurfspeere glitten hinaus. Er war wieder entwaffnet!

Auch wenn der Streitwagen viel massiger war als jener, den er über den Saumpfad getragen hatte, waren die Seitenwände nicht dafür geschaffen, das Gewicht zweier gerüsteter Männer zu tragen. Der obere Rahmen brach, langsam löste sich die Verzapfung aus dem Eckpfosten des Frontschildes. Volodi glaubte das Holz knacken zu hören. Vielleicht bildete er es sich auch nur ein, denn die donnernden Hufschläge hätten ein solches Geräusch auslöschen müssen. Vielleicht glaubte er es zu hören, weil er sah, wie das Holz splitterte. Weil er fühlte, wie sich die Seitenwand dem eisenbeschlagenen Rad entgegensenkte. Zwei Handbreit trennten ihn noch vom Rad.

Der Luwier drückte ihn weiter hinunter. Jeden Augenblick konnte sich sein langes Haar in den wirbelnden Speichen verfangen. So durfte es nicht zu Ende gehen! Volodi verlagerte sein Gewicht. Noch eine Handbreit bis zum Rad. Die Seitenwand des Wagens reichte nicht bis ganz zum Ende der Wagenplattform. Der Drusnier verdrehte die Augen und konnte die wirbelnden Speichen des Rades sehen. Überdeutlich nahm er den Geruch des Grases wahr, das unter den schweren Rädern zerquetscht wurde. Er roch den Schweiß des Luwiers. Ein angenehm herber Duft. Ganz klar sah er jede Schramme auf dem Schuppenpanzer des Kriegers. Die dünne weiße Narbe unter dem linken Auge, jedes einzelne Haar im Bart des Mannes. Volodi spürte die Nähe des Todes. Er wusste, dass es das Abschiedsgeschenk des Lebens war, die Welt ein letztes Mal so deutlich wahrzunehmen wie nie zuvor.

Das Holz knackte. Ja, er hörte es wirklich. Trotz des lärmenden Hufschlags. Sein langes Haar berührte das rasende Rad. Volodi versuchte sich aufzubäumen, doch sein Gegner war zu stark. Eisern hielt er ihn gepackt und drückte ihn tiefer. Volodi stellte sich vor, wie sein Haar in die Speichen geriet. Wie ihm ganze Strähnen ausgerissen wurden und sein Genick brach, wenn sein Kopf herumgerissen wurde. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er in die großen braunen Augen seines Gegners sah, dessen funkelnde Dolchspitze sich in sein Auge bohren würde, wenn sein langes Haar ihn nicht umbrachte. Der Luwier triumphierte nicht. Kein spöttisches Lächeln lag auf seinem Gesicht, und er wirkte auch nicht angespannt. Im Gegenteil, er schien ganz ruhig, ganz darauf bedacht, seine Blutarbeit zu Ende zu bringen.

Volodi kam kurz der absurde Gedanke, dass er sich mit dem Kerl gut verstehen würde, wenn sie auf derselben Seite kämpfen würden.

Der Streitwagen machte einen Satz über eine Bodenwelle hinweg und schlug unsanft auf. Das Holz krachte. Volodi bekam den linken Arm frei. Er stieß mit dem Ellenbogen nach dem Kinn des Angreifers. Der Stoß war nicht mit viel Kraft geführt, aber der Luwier wich ein wenig zurück. Mit der Linken packte Volodi das Handgelenk oberhalb des Dolches. Einen Augenblick lang tat er das, was der Luwier erwartete – er versuchte mit aller Kraft den Arm zurückzubiegen. Doch dann riss er ihn nach vorne. Vorbei an sich, vorbei an der splitternden Seitenwand und hin zu den wirbelnden Radspeichen.

Es gab einen mörderischen Ruck und ein klatschendes Geräusch, als schlage man mit der Faust in ein frisches Stück Fleisch. Der Luwier schrie auf. Volodi rammte ihm das Knie zwischen die Schenkel und stieß ihn zurück. Von der rechten Hand seines Angreifers war nur ein fingerloser, unförmiger Klumpen geblieben. Ein zweiter Stoß und der Krieger stürzte von der Plattform ins Gras.

Volodi richtete sich auf und blickte zum Himmel. Hoffentlich hatten seine Ahnen ihm zusehen können. Er war zufrieden mit sich und der Welt. Zufrieden, wie schon lange nicht mehr. Lächelnd nahm er die Zügel. Die Wagenpferde waren gut dressiert. Sie reagierten auf den leisesten Zug. Er brachte den lädierten Streitwagen auf ebeneres Gelände. Dann wickelte er sich einen der Lederzügel um seinen Arm und zog ihn straff, bis die Schnittwunden aufhörten zu bluten. Der Torturm war außer Sicht. Ein Stück voraus lagen die Leichen der Krieger von jenen Streitwagen, die als Erste durch das Tor gebraust waren. Dahinter hatte sich sein Heer versammelt. Ein langer Hang, voller Streitwagen. Banner und Rosshaarstandarten wehten im Abendwind. Sie alle warteten auf ihn, die untergehende Sonne im Rücken. Und er würde sie in die Festung des Feindes führen.

Morddrohung

Es war eine Frage des Glaubens. Und Gonvalon hatte sich entschieden, lieber Lyvianne zu glauben als seinen eigenen Sinnen, die ihm beharrlich vorgaukelten, seine Beine endeten unterhalb seiner Knie in zerfleischten Stümpfen. Auf zwei Krückstöcke gestützt, kämpfte er sich den Flur entlang. Niemand außer Lyvianne war in der Nähe. Sie hatte die anderen Meister der Weißen Halle darüber unterrichtet, was geschehen war, und diese waren so taktvoll, sich fernzuhalten. Auch keiner der Schüler kam in seine Nähe.

Mit verzweifelter Wut setzte er eines seiner gefühllosen Beine vor. Wieder und wieder und wieder … Es war, als schwebe er. Blickte er an sich hinab, sah er die Stümpfe. Sie berührten den Boden nicht, er fühlte keine Steinplatten unter seinen Füßen. Dennoch hatte er entschieden, dass all dies ein Trugbild war. Er wollte wieder laufen können … Wollte zu Nandalee. Und das nicht als Krüppel!

»Willst du nicht eine Pause machen und Atem schöpfen?«

Er wollte zornig antworten – aber er war zu kurzatmig. Lyvianne hatte recht.

Resignierend ließ er sich auf einer der gemauerten Bänke entlang der Wand nieder.

»Warum bist du so sicher, dass Nandalee noch lebt?«

Die Frage überraschte Gonvalon. Bislang hatte er angenommen, dass Lyvianne auf seiner Seite stand. »Das Band zwischen ihr und dem Vogel …«, begann er keuchend.

»… könnte ein Trugbild sein«, unterbrach sie ihn. »Du siehst, wie vollkommen dir Matha Naht vorgaukelt, dass du keine Beine mehr hast. Dich mit dieser roten Kraftlinie zu täuschen wäre gewiss viel einfacher.«

»Es gab die Linie schon, bevor ich zu diesem verdammten Holunder ging!«

»Und sie wurde immer blasser.« Lyviannes Stimme war weich, mitfühlend. »Könnte es nicht sein, dass sie verloschen ist in der Zeit, in der Matha Naht dich quälte?«

Er setzte zu einer Erwiderung an, doch kein Wort kam über seine Lippen. Konnte das stimmen? Er starrte hinab auf die polierten grauen Steinplatten des Flurs … und verlor den Boden unter den Füßen. Ein weiteres Mal.

»Warum sollte sie das tun? Welchen Nutzen bringt das Matha Naht?« Die Frage war ein Aufbäumen. Die Antwort ahnte er bereits.

»Sie tut es, weil es ihr Freude bereitet, dich zu verletzen. Auf jede nur denkbare Art. Sie hat erkannt, wie tief deine Liebe zu Nandalee ist. Sie wird sich an der Vorstellung ergötzen, wie unermesslich dein Schmerz sein muss, wenn du dich nach langer Suche getäuscht siehst und vor Nandalees Grab stehst.«

Gonvalon atmete tief ein. Er war ganz ruhig. »Ich werde Matha Naht töten.«

Lyvianne lachte. »Wie? Glaubst du, du gehst einfach hin und fällst sie? Ihr Hügel ist bedeckt mit den Gebeinen jener, die sich vor dir dieser Illusion hingegeben haben. Du kannst Matha Naht nicht töten. Sie wird dich manipulieren. So wie sie dir vorgaukelt, du hättest keine Beine mehr. Im günstigsten Fall wirst du unverrichteter Dinge wieder abziehen. Vielleicht aber wirst du deine Klinge auch gegen dich selbst richten …«

Gonvalon stand auf. Es war ein grässliches Gefühl, den Boden nicht unter den Füßen zu spüren. Sofort musste er um seine Balance kämpfen. Er biss die Zähne zusammen. Machte einen ersten Schritt, verlor das Gleichgewicht und musste sich taumelnd an der Wand abstützen.

Lyvianne sah zu, ohne ihm zu Hilfe zu eilen, und er war ihr dankbar dafür. Sie kannte ihn gut. Und auch er fühlte sich mit ihr erstaunlich vertraut. Fast hatte er das Gefühl, das alles schon einmal mir ihr erlebt zu haben. Mit ihr laufen gelernt zu haben. Was für ein absurder Gedanke!

Er stieß sich von der Wand ab und versuchte erneut ohne Krücken zu gehen. Willenskraft und Übung würden ihm zum Erfolg führen. So war es stets in seinem Leben gewesen. Matha Naht sollte ihn nicht unterschätzen. Er war Gonvalon, ein Drachenelf, und vielleicht der beste Schwertkämpfer Albenmarks. Und er war ihr Feind. Sie sollte sich vor ihm fürchten! Er würde ihr dazu verhelfen, dieses neue Gefühl tief auszukosten. Er würde zu ihr kommen und sie töten. Und bevor es so weit war, würde sie davon erfahren. Als Holunder konnte sie nicht fortlaufen.

Sein nächster Schritt war etwas sicherer. Rachegedanken waren nicht tugendhaft, aber sie halfen ungemein. Gonvalon blickte zu Lyvianne. Was wohl ihr Preis gewesen war? Und warum kannte sie Matha Naht?

»Ich werde diesen verdammten Holunder vernichten«, wiederholte er mit fester Stimme. Lyvianne sollte seine Botin sein. Ganz sicher würde sie Matha Naht wieder aufsuchen.

Er machte einen weiteren Schritt vorwärts. »Die Drachen haben viel Mühe darauf verwandt, uns zu unvergleichlichen Mördern zu machen. Ich bin zuversichtlich, dass ich einen Weg finden kann, um mit einem Baum fertig zu werden.«

Über den Großen Krieg

»… Seit die Welt in Trümmer fiel, streiten die Gelehrten, wie es dazu kommen konnte. Hatte der schreckliche Sturm sich schon lange angekündigt oder brach er ohne Vorwarnung los, wie ein Gewitter an einem schwülen Sommertag? Gibt es einen Schuldigen an dem, was geschah? Oder war es unvermeidbar? War jene Welt wie ein Baum, der über jedes Maß hinausgewachsen war und einfach stürzen musste, sobald der Sturm losbrach? Als Bewahrer der Vergangenheit hüte ich mich, all jene wirren Reden hier niederzulegen, die man in diesen Tagen allerorten hören kann. Ich bin einzig der Wahrheit verpflichtet und ich sage, es war Aaron, der Unsterbliche von Aram, der Schuld trägt an allem Elend! Seine Maßlosigkeit und sein unbeherrschter Zorn waren der Quell allen Übels! Lange schon neidete er Muwatta seinen Reichtum. Doch so verdorben sein Charakter auch war, so war der Unsterbliche des Reiches Aram auch von einer verschlagenen Schläue, die ihresgleichen bis dahin nicht kannte. Er war sich bewusst, dass die Göttlichen einen Krieg unter den großen Reichen nicht dulden würden, es sei denn, er würde nach strengen Regeln geführt, so dass die Reiche am Streit der Unsterblichen keinen übermäßigen Schaden nehmen konnten. So glaubte man, blickt man aber nun, nach all den Jahren, zurück, so ist das Bild ungleich deutlicher, als es zu Zeiten jener war, die erlebten, was wir von Ferne und mit dem Wissen der Nachgeborenen betrachten. Heute kann man klar den Tag benennen, der das Leben aller Menschen verändern sollte. Es war jener Tag, an dem Aaron darauf bestand, einem toten Albenkind am Weltenmund Ehren zu erweisen, die allein den größten Helden unter den Menschen vorbehalten waren. Als Muwatta gegen diesen Frevel protestierte, verwundete Aaron ihn schwer, und es wurde vereinbart, dass die beiden Auserwählten der Götter ihren Streit mit ihren Heerscharen auf der Ebene Kush austragen sollten. Nun waren aber die Krieger Luwiens die mächtigsten in allen sieben Reichen. Selbst der verschlagene Aaron erkannte, dass wohl keine List auf dem Schlachtfelde seine Niederlage abwenden könnte. Auch zeigte sich der Unmut der Götter, als ein schrecklicher Sturm bei den Aegilischen Inseln die Zinnflotten Arams auf den Grund des Meeres hinabriss.

Da entschied Aaron der Listenreiche, Muwatta zu hintergehen. Er reiste nach Isatami zur Nacht der Heiligen Hochzeit. Jener Nacht, da Frieden und Gottesfurcht die obersten Gebote sind. Und er missachtete sie beide. Er verstümmelte Kurunta, den Hüter der Goldenen Halle und einen der besten Heerführer Luwiens, und ließ es wie einen Unfall erscheinen. Zur nämlichen Stunde aber fielen seine Heerscharen über eine der Eisenminen an der Grenze zu Ischkuza her. Und seine Mordbrenner raubten nicht nur die eisernen Schwerter und Helme, die dort lagerten. Nein, sie entrissen Familien ihre Väter und verschleppten die Schmiedemeister und jene kundigen Männer, die die Meiler schichteten, in denen das Erz dem Stein entrissen wurde. Um seine Tat aber zu verschleiern, wurden die Gefangenen in die Neue Welt gebracht. Dort mussten sie unter seiner Knute eine Eisenmine erschließen und nun für ihn das kostbare Metall schmieden. Wer sich aber weigerte und die Geheimnisse um das Erz der Erde nicht preisgeben wollte, der wurde auf das Grausamste misshandelt.

Aaron zog in die Neue Welt, wo zu jener Zeit auch Shaya, die Tempelfrevlerin, Prinzessin von Ischkuza, weilte. Vielleicht floh Aaron in die Goldene Stadt, um ferner vom Gelben Turm und dem Blick der Götter zu sein. Vielleicht auch, um dort mit den Albenkindern Verbindung aufzunehmen und kommendes Unheil vorbereiten. Es muss dort gewesen sein, dass er sie traf! Niemals hätten sich die Ausgeburten Albenmarks nach Daia unter die Blicke der Devanthar gewagt. Und während Muwatta seine Krieger rüstete und sein Reich hegte, ersann Aaron den großen Verrat. Anders kann es nicht gewesen sein! Denn alle, die das Verderben der Ordnung auf Daia im Sinne trugen, waren nun in der Neuen Welt versammelt.«

Der Große Krieg, verfasst von: Arapur dem Allweisen, Hoherpriester in Isatami, Bewahrer der Vergangenheit, Buch 3, Kapitel 4, Zeile 54 ff., verwahrt in der Sammlung: Schriften der Menschenkinder, Halle XXVI, Regal CCII, Brett XXIV, Bibliothek von Iskendria.

Drachenlaunen

Der Schwerthieb kam so schnell, dass eine Parade unmöglich war. Nandalee wich zurück, ihr Gegner setzte mit einem Stoß nach. Die Elfe schaffte es, die Klinge abzulenken, geriet aber aus dem Gleichgewicht. Gnadenlos nutzte Nodon die Gelegenheit und versetzte ihr einen Stoß.

Nandalee stürzte und kaum dass sie am Boden lag, berührte seine Schwertspitze ihre Kehle. Die Klinge drückte auf die zarte Haut dicht über der Vertiefung am Halsansatz. Ein Tropfen Blut rann über den Stahl.

»Das genügt!«, erklang die Stimme des Dunklen.

Nandalee keuchte. Etliche Tage waren vergangen, seit sie die Drachenhöhle unter der Pyramide verlassen hatte. Tage voller Übungen, denn der Dunkle hatte entschieden, dass ihre Fechtkünste den Ansprüchen, die an eine Drachenelfe gestellt würden, noch lange nicht genügten. Er hatte ihr einen Schwertmeister ausgesucht, der mindestens so schlimm wie Ailyn war. Noch einer, der Gefallen daran fand, sie zu verletzen.

Am Boden liegend, tastete Nandalee über ihren Hals. Zorn wallte in ihr auf. Nodon kämpfte nicht wie ein Fechtlehrer. Er führte sich auf, als sei er ihr Todfeind. Immer wieder verletzte er sie. Es waren nur kleine, oberflächliche Wunden. Aber er wollte ihr Blut sehen.

»Ihre Beinarbeit ist erbärmlich«, verkündete ihr Meister. »Ich kenne Kobolde, die sich beim Ausmisten eines Schweinestalls mit mehr Anmut bewegen! Aus ihr wird niemals eine gute Schwertkämpferin werden. Wir sollten sie zurück zu den Wilden nach Carandamon schicken.«

»Wir sollten uns einmal im Bogenschießen messen«, knurrte sie leise.

»Diese Kunst ist völlig irrelevant«, entgegnete er von oben herab. »Kein Drachenelf benutzt einen Bogen. Wir töten mit der Klinge in der Hand. Bogenschützen sind Feiglinge, die es nicht wagen, ihren Feinden Aug in Aug gegenüberzutreten!«

»Und Schwertkämpfer sind Trottel, die verrecken, während Bogenschützen ihre Mission erfüllen.«

»Diese Aussage beruht auf welchen Erfahrungen, tollkühne Heldin der Wälder?«

»Soll dich der Blitz beim Scheißen treffen!«

Nodon legte in gespielter Betroffenheit seine Hand auf die Brust. »Welche Kraft in deinen Worten liegt! Wahrlich ergreifend. Ich glaube, mit dem ungehobelten Charme deiner Poesie könntest du große Erfolge an den Höfen Arkadiens feiern. Du solltest Dichterin werden. Ich wäre dir nicht gram, sollte deine Hand künftig nur noch nach der Feder greifen und nicht mehr nach dem Schwert.«

Eines Tages greift meine Hand nach der Befiederung eines Pfeils und du wirst erfahren, wie der Bogen über das Schwert triumphiert, dachte sie wütend. Was für eine Laune der Natur, einen solchen Misthaufen in so edler Gestalt daherkommen zu lassen! Anfangs hatte Nodon einen guten Eindruck auf sie gemacht. Hier draußen im Jadegarten war er immer in der Nähe des Dunklen. Allerdings hielt er immer einen Abstand von etwa zehn Schritt. Nur sie allein durfte sich der ältesten der Himmelsschlangen so weit nähern, dass sie ihn berühren konnte. Vielleicht war das einer der Gründe, warum Nodon kaum eine Gelegenheit ausließ, sie zu beleidigen. Sie hatte ihm etwas voraus, auch wenn sie sich selbst nicht zu erklären vermochte, warum sie dieses Privileg genoss. Der Gedanke ließ sie lächeln.

»Steh auf! Unsere Fechtstunde ist noch nicht vorüber.«

Nandalee hob ihr Schwert auf und beobachtete Nodon argwöhnisch. Er hatte etwas Katzenhaftes an sich. Es war nicht nur die Art, wie er sich bewegte, es lag auch an seiner Unberechenbarkeit. Er erklärte ihr etwas und griff mitten in seinen Erklärungen an. Wie eine Katze, die man streichelte und die einen unvermittelt ihre Krallen spüren ließ. Dabei hatte er solche Spielchen nicht nötig. Er war ihr ohnehin unendlich überlegen.

So seltsam wie sein Benehmen war auch sein Aussehen. Er war sehr zartgliedrig und ein wenig kleiner als sie. Sein langes Haar trug er offen. Es war weißblond, fast schon silbrig. Nodon kleidete sich ganz in Rot. Und dann seine Augen. Es waren diese Augen, die ihn nicht ungewöhnlich sondern unheimlich erscheinen ließen. Sie waren ganz schwarz – man konnte weder Pupille noch Iris erkennen und kein Weiß. Von diesem Blick berührt zu werden ließ Nandalee jedes Mal erschauern. Nie zuvor hatte sie solche Augen bei einem Elfen gesehen.

Er hob sein Schwert zum Fechtergruß und Nandalee ging in die Grundstellung. Sie war auf der Hut, denn üblicherweise eröffnete er ihre kleinen Duelle nicht so förmlich. Plötzlich musste sie an Ailyn denken und daran, wie die Schwertmeisterin sie an ihrem ersten Tag in der Weißen Halle verprügelt hatte. Lag es vielleicht an ihr, dass ihre Lehrer immer wieder so mit ihr umgingen?

Nodon täuschte ein Schlag auf den Kopf an. Nandalee riss ihr Schwert hoch. Zu langsam. Als der Schwertmeister seine Schlagrichtung änderte, vermochte sie nicht mehr darauf zu reagieren. Er versetzte ihr mit der Breitseite der Waffe einen Schlag auf die Hüfte, und der Schmerz trieb Nandalee Tränen in die Augen.

»Tot, Mädchen«, sagt er abfällig. »Zum siebzehnten Mal heute. « Dann wandte er sich an den Dunklen. »Ihren Schwertmeister sollte man in den Kerker werfen! Sie kann gar nichts, außer Prügel einzustecken. Nun, wo ich das sehe, wundert es mich nicht mehr, dass seine Schülerinnen regelmäßig ihre erste Mission nicht überleben. Man sollte ihn aus der Weißen Halle entfernen!«

»Gegen wen kämpft Ihr?«, erwiderte der Dunkle ruhig und sah zwei Schmetterlingen nach, die dem Wald entgegenflogen. »Gegen Nandalee oder gegen Gonvalon?«

Nodon schob sein Schwert zurück in die Scheide und verneigte sich vor dem Dunklen. »Bitte verzeih! Ich vergaß mich.«

»Für heute bedürfen wir Eurer Dienste nicht mehr. Wir freuen uns, Euch morgen zu einer weiteren Fechtstunde zu begrüßen.«

Der Drachenelf verneigte sich ein weiteres Mal. In seinem Gesicht spiegelte sich keine Regung. So unbeherrscht er im Kampf gewesen war, so vollkommen hatte er sich nun in der Gewalt. Er war furchteinflößend, dachte Nandalee, und sie war froh, dass er ging. Allerdings ging er nicht sehr weit. Er bezog Posten. Er befehligte die Drachenelfen, die in einer Festung, hoch in den Bergen verborgen, über den Jadegarten wachten. Er war nie weit fort. Nandalee störte das. Sie brauchte es, allein zu sein.

Der Dunkle legte ihr die Hand auf die Schulter. Seine Berührung war ihr unangenehm. Es lag an der Elfengestalt. Sie hatte das Gefühl, angelogen zu werden, wenn er in dieser Gestalt bei ihr war. Er verschleierte die Wahrheit durch so viele Zauber. Sie wusste um das wahre Aussehen der Krallenhand, die sie berührt hatte. Um ihr Gewicht. Sie wollte ihn sehen, wie er war. Nicht dieses Zerrbild! Das einzig Gute war, dass er in Elfengestalt ganz normal mit ihr sprach und seine Stimme keine glühenden Pfeile durch ihren Körper jagte.

»Ihr habt mich heute einmal mehr überrascht, Nandalee. Ich hatte befürchtet, Nodon würde dasselbe Ende nehmen wie Sayn. Aber Ihr seid ganz offensichtlich nicht mehr jene zornige, talentierte Elfe, die vor zwei Jahren vom Schwebenden Meister unterrichtet wurde.«

Er hatte sie also auf die Probe gestellt! Deshalb diese Fechtstunden. Vielleicht hatte er Nodon sogar befohlen, sie derart zu reizen. »Es freut mich, dich nicht enttäuscht zu haben«, entgegnete sie glattzüngig.

Er lachte. »Vergesst nicht, ich muss nicht in Euren Gedanken lesen können, um zu wissen, wann Ihr das Gegenteil von dem sagt, was Ihr denkt, meine Holde.«

»Wenn du schon weißt, was ich denke, warum redest du dann noch mit mir? Ist es nicht unglaublich langweilig, sich stets bestätigt zu sehen?«

Er blieb stehen. Seine Hand glitt von ihrer Schulter. »Mit Eurer Zunge seid Ihr wesentlich treffsicherer als mit dem Schwert.«

Sie sah ihn aus den Augenwinkeln an. Er wirkte verletzt. Der älteste der Drachen. Der Statthalter dieser Welt. War sie vollkommen verrückt, sich mit ihm anzulegen? Wenn er in Elfengestalt vor ihr stand, vergaß sie allzu leicht, dass er ein riesiges Raubtier war. Ein Ungeheuer, das sie mit einem einzigen Schnappen seiner Fänge vernichten konnte. Und obendrein war er launisch. Sie wusste nie, woran sie bei ihm war. Sie sollte vorsichtiger sein und wusste zugleich, dass es gerade seine schiere Unbesiegbarkeit war, die sie immer aufs Neue zu Widerstand reizen würde.

»Langeweile …«, sagte er sinnierend. »Ihr habt es recht gut getroffen, Dame Nandalee. Mein Leben birgt nur wenige Überraschungen und ich kann in den Gedanken eines jeden lesen. Das verstößt gegen die guten Umgangsformen, und manchmal geschieht es ohne Absicht. Gerade wenn jemand seine Gedanken vor mir verbergen will, spüre ich sie besonders deutlich. Fast als würde er sie mir ins Gesicht schreien. Nur bei Euch ist Schweigen. Finsternis. So viele Wochen seid Ihr nun hier, aber ich kenne Euch noch immer nicht. Und was Eure Vorwürfe anbelangt … Ja, ich studiere Euch. Es war wichtig zu sehen, dass Ihr Euch verändert habt. Dass Euer Zorn sich nicht in einem zerstörerischen Zauber manifestiert, der Eurer Beherrschung entgleitet. Ich habe Großes mit Euch vor!«

»Wusste Nodon, in welcher Gefahr er war?«

»Das war nicht notwendig. Dieses Wissen hätte ihn nur gehemmt. « Der Dunkle lächelte. »Seine Handlungen sind sehr vorhersehbar. «

»Und irgendwann in der Zukunft werde ich eine wie er für dich sein? Eine Figur auf einem Spieltisch, die sich nicht einmal bewusst ist, dass sie fremdbestimmt ist. Die glaubt, sie lebt einfach nur ihr Leben.«

»Das ist unter Eurem Niveau, meine Holde.«

»Nie wo? Was soll das heißen?«

Er seufzte. »Niveau ist etwas, dass man sich erarbeiten muss. Man erreicht es, wenn man über sich hinauswächst. Sich auf eine neue Stufe erhebt.«

»Hast du vergessen, dass ich eine Wilde aus Carandamon bin? Von uns kann man alles erwarten. Zum Beispiel, dass wir in langen Wintern unsere jüngsten Kinder schlachten und verspeisen. Aber Nie wo … Nein, Nie wo passt nicht zu uns Wilden!«

Seine himmelfarbenen Augen blitzten, als bräche die Mittagssonne hinter einer Wolkenfront hervor. »Vielleicht ist es das, was ich suche? Eine Elfe, die wild, aufsässig und niveaulos ist. Leicht erzürnbar. Gut in jeder erdenklichen Art zu verletzen. Zu gefährlich selbst für ihre Meister. Ja, sogar für sich selbst.«

Fassungslos sah sie ihn an. War es das, was er wirklich über sie dachte? War sie für ihn nicht mehr als eine unbeherrschte Närrin mit hohem Unterhaltungswert? Dazu eine Prise Nervenkitzel, damit es nicht so schnell langweilig wurde? War sie wirklich derart unbeherrscht? Noch immer eine Gefahr für sich und andere? Und vor allem … Hatte sie die Macht, ihn zu verletzen?

»Und was ich noch vergessen habe. Sie ist absolut humorlos!« Er lächelte. »Geradezu perfekt für mich. Balsam für meine verstaubte Seele.«

Es war also ein Scherz gewesen? Nandalee glaubte ihm nicht. Da war etwas an seiner Art zu sprechen, das sie argwöhnisch machte. Immer häufiger. Nur benennen konnte sie es nicht. Es war besser, vor ihm auf der Hut zu sein. »Darf ich mir ein paar wilde Blumen ansehen gehen? Allein?«

Der Dunkle sah sie an, wie ein Habicht den Hasen in seinen Krallen betrachtete. Er nickte. Sie durfte gehen, aber sie sollte besser nicht an Flucht denken, bedeutete das.

Was sie natürlich dennoch tun würde!

Ein Fehler

Gedankenverloren sah er Nandalee nach. Er wusste, dass er einen Fehler machte. Er war geradezu besessen von ihr! Dieser Umstand beunruhigte ihn. Es gab keine vernünftige Erklärung dafür. Es war nicht nur, dass er ihre Gedanken nicht lesen konnte, es war … ihre ganze Art. Er hatte versucht, sie zu formen. Damit würde er aufhören. Er wollte sie so, wie sie war. Ungebändigt! Es war erfrischend, jemanden um sich zu haben, der nicht jedes Wort abwägte.

Aber er musste seine Obsession in vernünftige Bahnen lenken. Seit Wochen hatte er den Jadegarten nicht verlassen. Er hatte sie beobachtet, als sie sich im Herzen der Pyramide allein gefühlt hatte. War Zeuge ihres Ringens mit sich gewesen. Er hatte sich selbst geschworen, in diesen Kampf nicht einzugreifen, selbst wenn sie sich umbringen würde, und er war froh, diesem Schwur treu geblieben zu sein. Sie war stärker geworden.

Der Erstgeschlüpfte dachte an jenen Blick in die Silberschale der Devanthar, den ihm der Goldene gewährt hatte. Ein kurzer Blick nur, der ihm für immer den Frieden genommen hatte. Ein Elf oder eine Elfe würde ihn töten. Jemand, auf den er sich verlassen hatte. Ein Drachenelf! Würde sie es sein? Sie hätte beste Aussichten auf Erfolg. Der Arm, den er in der Silberschale erblickt hatte, war mit einer sich windenden Himmelsschlange tätowiert.

Bis sie ihre Tätowierung erhielt, war er sicher vor ihr. Es mochten noch Jahre vergehen, bis Nandalee so weit war. Sie müsste drei Drachenelfen finden, die sie für würdig befanden, in ihre Reihen aufgenommen zu werden. Und dann war da noch die letzte Prüfung … So talentiert sie auch war, mochte diese Hürde unüberwindbar für sie bleiben. Sie verstand es zu gut, andere vor den Kopf zu stoßen.

Er sah ihr nach, wie sie am Ufer des Sees entlangging und schließlich zwischen den Bäumen verschwand. Der Garten, der die Pyramide umgab, ersteckte sich über das ganze Tal. Er war gut gepflegt; mehr als dreihundert Kobolde und Faune hegten ihn. Sie boten ihre ganze Kraft auf, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass man durch ein Stück Wildnis wanderte. Es gab keine Blumenbeete. Keine Alleen. Und doch war jeder Baum, ja, jede Blume mit Bedacht gesetzt. Es war ein ästhetischer Entwurf von Wildnis. Ob er Nandalee auf diese Weise formen könnte? Könnte sie zu einem ästhetischen Entwurf von Wildheit werden? Er musste lächeln. Wohl kaum. Und sollte es ihm wider Erwarten doch gelingen, sie zu verändern, hätte er dann nicht zerstört, was er so sehr an ihr schätzte?

Er ließ sich auf einem Fels am See nieder. Der Erstgeschlüpfte konnte die Nähe Nodons spüren. Sehen konnte er ihn nicht. Der Anführer der Drachenelfen des Jadegartens hatte ein unvergleichliches Gespür dafür entwickelt, immer gerade außerhalb seines Gesichtsfelds zu bleiben. Er würde ihm zutiefst misstrauen, hätte er eine tätowierte Himmelsschlange auf einem seiner Arme, doch seine Tätowierung zog sich vom Nacken bis zu seiner linken Wade hinab. Seine Arme waren makellos. Er war nicht der Meuchler, der eines Tages kommen musste.

Der Dunkle atmete tief ein. Da lag noch eine Spur von Nandalees Witterung in der Luft. Er leckte sich über die Lippen. Mehrfach hatte er sich beherrschen müssen, sie nicht zu beißen. Die Vorstellung faszinierte ihn – ihr weiches Fleisch zwischen seinen Zähnen, seine Zunge, die über ihre Haut glitt. Diese Gedanken irritierten ihn. Er kannte sie von der Jagd und doch waren sie anders. Er wollte sie nicht töten …!

Er blickte auf die Fische, die dicht unter der Oberfläche des Teiches dahinglitten. Auch sie waren ausgewählt. Fische, deren Farben ihm nicht gefielen, landeten in den Kochtöpfen der Kobolde. Manchmal brachte er von seinen Reisen einen Fisch mit. Oder einen Flusskrebs, dessen Panzer in besonders intensiven Farben strahlte.

Jetzt, zu dieser Stunde, trafen sich die übrigen Himmelsschlangen. Er hätte dort sein sollen. Sie waren es gewohnt, dass er oft nicht kam, aber diesmal übertrieb er es. Er mochte den Jadegarten einfach nicht verlassen, wollte Nandalee nicht aus den Augen lassen. Nicht einmal für einen einzigen Tag.

Seine einzigen Ausflüge in den letzten Monden hatten ihn zu den Alben geführt. Es ging etwas vor sich. Zumindest den Sänger hatte er ebenfalls davon überzeugen können. Es waren zu viele Alben verschwunden. Neun in den letzten zwanzig Monden! Und sie waren gewiss nicht alle in dieses verlockende mondhelle Licht getreten. Nicht solche wie der Fleischschmied! Er war Albenmark durch und durch verhaftet gewesen und hätte sich noch auf Jahrhunderte daran ergötzen können, neue Kreaturen zu erschaffen.

Jemand aus der Anderen Welt kam verstohlen nach Albenmark. Aber wer? So knapp hatten sie sich in der Zwergenstadt verpasst. Seine Spur verlor sich im Goldenen Netz. Wer immer es auch war, er agierte geschickt.

Der Erstgeschlüpfte mochte sich nicht vorstellen, dass die Devanthar einen versteckten Angriff auf Albenmark begonnen hatten. Aber wer außer ihnen hätte die Macht, einen Alben zu töten? Und wer hätte einen Nutzen davon? Wenn die Alben doch nur nicht so lethargisch wären! Dass sie nicht von sich aus diesem Geheimnis nachspürten, war ihm unbegreiflich. Selbst der Sänger, der zu den weniger Entrückten unter ihnen zählte, hatte es entschieden abgelehnt, über die Grenzen Albenmarks hinaus im Goldenen Netz zu suchen. Manchmal erschienen ihm die Schöpfer wie eine Herde Lämmer, die auf der Weide darauf warteten, vom Schlachter geholt zu werden. Was hatte sie so werden lassen?

Er dachte an jene unter den Alben, die von dunklem Charakter waren. Jene wie den Fleischschmied. Sie aufzusuchen war ein Risiko; man konnte nie wissen, was sie tun würden. Sie waren launenhaft. Es gab das Gerücht, dass einer von ihnen den Purpurnen auf eine Mission zu den Devanthar geschickt hatte. Ein Auftrag, der einem Todesurteil gleichkam. Doch man widersetzte sich keinem Alben! Sie hatten sich ihre unvergleichliche Macht erhalten, auch wenn sie diese kaum nutzten. Ihre Lethargie lähmte ganz Albenmark, dachte der Erstgeschlüpfte verdrossen.

Rührte sie daher, dass sie zu viel gesehen hatten? Waren sie ihrer eigenen Welt überdrüssig geworden? So wie es auch ihm manchmal erging? Es war Nandalee gewesen, die den ermüdenden Gleichklang aufgebrochen, ihn geweckt hatte. Durch sie war ihm bewusst geworden, wie sehr ihm Überraschungen in seinem Leben gefehlt hatten. Nandalee hatte nicht unrecht gehabt, als sie ihm unterstellt hatte, dass er dessen überdrüssig war, seine Erwartungen stets erfüllt zu sehen. Nicht überrascht zu werden. Sie war in dieser Hinsicht Balsam für ihn. Launisch und unberechenbar und … einfach nur köstlich. Wieder leckte er sich über die Lippen. Er belauerte sie schon zu lange. Er würde sich nicht für immer beherrschen können, das wusste er. Eines Tages würde er seiner Lust, sie zu beißen, nachgeben.

Es war nicht gut, diesen Gedanken allzu oft nachzuhängen. Er konzentrierte sich auf die Fische. In Gedanken formte er ein immer komplexer werdendes Muster aus den Bahnen, die sie durch den Teich schwammen. Dann überlagerte Nandalees Gesicht dieses Muster.

Er atmete schwer aus. Warum verfolgte sie ihn bei jedem seiner Gedanken! Sie war nützlich … Und das war es auch schon. Er sollte sie von hier fortbringen. Aber würde er ruhiger werden, wenn sie nicht mehr hier war? Vielleicht war es doch besser, sie jetzt gleich zu reißen. Dann wäre es vorüber? Er wusste es nicht. Die uralten Gesetze der Jagd hatten sich geändert, und das verunsicherte ihn. Er war das mächtigste Raubtier dieser Welt. Geschaffen, die Feinde der Alben zu vernichten, und er versagte. Jemand war in sein Revier vorgedrungen. Wilderte … Und er konnte ihn nicht stellen. War es wirklich ein Devanthar? Alles deutete darauf hin und doch erschien es ihm zu einfach. Wieder schweiften seine Gedanken zu Nandalee ab, dieser undurchschaubaren Elfe, die ihm seinen inneren Frieden stahl. Die es schaffte, dass er hier im Jadegarten blieb, statt auf die Jagd zu gehen. Er musste das beenden! Er würde sie benutzen. Bald schon würde er sie auf eine tödliche Mission schicken und sollte sie wider Erwarten überleben, dann würde er sie reißen und die Ordnung wäre wiederhergestellt. Zufrieden stellte er fest, dass er ruhiger wurde.

Er dachte an die Mission. Nandalees Mission, die gegen die Befehle der Alben verstieß. Er sollte jetzt bei seinen Brüdern sein und mit ihnen darüber reden. Allerdings war sein Plan so radikal, dass er sich auslieferte, wenn er ihn ihnen vorstellte. Die Alben würden nicht dulden, was er plante. Und doch war es das einzig Richtige! Eine kleine Gruppe von Elfen könnte das Gleichgewicht zwischen Menschenkindern und Albenkindern wiederherstellen. Nandalee würde dabei eine entscheidende Rolle spielen. Die Tatsache, dass man ihre Gedanken nicht lesen konnte, zeichnete sie aus. Allerdings war der Feind, der sie erwartete, übermächtig.

Das war der Zweck der Drachenelfen, ermahnte der Dunkle sich in Gedanken. Für solche Missionen hatten sie sie erschaffen. Er sollte jetzt nicht sentimental werden. Bevor er den entscheidenden Schritt wagen konnte, würde er zunächst ein paar Späher schicken. Ihnen drohte kaum Gefahr. Gefährlich wurde es erst für jene, die zurückgaben, was unter seinem Thron verborgen lag.

Er dachte an seinen unvergleichlichen Schatz und dessen rechtmäßige Besitzerin. Den Ort, den es zu erreichen galt, kannte er nur aus Erzählungen. Das größte aller Gräber. Ein Göttergrab! Vielleicht waren es ja auch nur Geschichten …

Nach dem Fest

Galars Kopf brummte wie ein Wespennest. Ihm war schwindelig, obwohl er noch lag, und er atmete schwer. Manche Schlachten waren weniger schlimm als der Morgen nach so einem Fest, dachte er benommen. Blinzelnd sah er sich um. Es dauerte ein wenig, bis er sich sicher war, in seiner Werkstatt zu sein. Überall lagen Methörner herum, und dieser Geruch … Unverwechselbar. Koboldkäse! Eigentlich hatte er sich daran gewöhnt … Aber ein Kater nach einer durchzechten Nacht konnte die seltsamsten Formen annehmen. Plötzlich machte ihm der Geruch zu schaffen. Ja, ihm war regelrecht übel.

Seufzend setzte er sich auf und biss die Zähne zusammen. Es war erstaunlich still. Da war nur das vertraute leise Blubbern verschiedener Destillate. War er der Einzige hier? Dunkel erinnerte er sich an die grölende Schar trinkfester Kameraden, die mit ihm zur Werkstatt hinabgestiegen war. Einige der schwer Betrunkenen hatten sich noch in der Nacht wieder hinaus in den Verbindungstunnel geschleppt. Damit sie im Schlaf keinen Schaden durch den Geruch hier unten nehmen, hatten sie gesagt. Weicheier, dachte Galar.

Er blickte auf das Ding, auf das sein Kopf gebettet gelegen hatte. Ein Koboldkäse! Er musste schmunzeln. Wer immer das getan hatte, hatte Sinn für Humor. Es würde Tage dauern, den Geruch aus den Haaren zu bekommen. Falls er sich damit herumschlagen sollte, seine Haare zu waschen.

Er runzelte die Stirn. Verfluchte Kopfschmerzen! Nein, er würde sich nicht mit Haarewaschen quälen. Wozu auch? Er stellte keinem Weib nach. Also konnte er seinem Spitznamen alle Ehre machen. Er wusste längst, dass sie ihn hinter seinem Rücken den Duften nannten.

Galar massierte mit den Fingerkuppen seine Stirn. Verdammte Kopfschmerzen. Er wurde alt. Er konnte sich nicht erinnern, nach dem Trinken jemals solch einen Kater gehabt zu haben. Vielleicht hatten die anderen ja recht und der Gestank des Koboldkäses schwächte einen, wenn man ihm zu lange ausgesetzt war?

In der Werkstatt brannten nur zwei Öllampen. Die übrigen mussten im Laufe der Nacht verloschen sein. Wie lange hatte er geschlafen? Galar streckte sich. Seine Glieder knackten und er hatte mörderischen Durst.

Neben seinem neuen Destillierapparat, einem Wunderwerk aus Kupferröhrchen und Glaskugeln, stand eine ganze Reihe von Pilzhumpen. Er schüttete die Reste zusammen und trank den halben Humpen in einem Zug leer. Bei Medizin durfte man nicht zimperlich sein! Der Geschmack des schalen Gebräus verstärkte das pelzige Gefühl in seinem Mund, aber der Kopfschmerz würde bald nachlassen.

Galar orientierte sich an dem großen kupfernen Druckkessel im hinteren Bereich der Höhle und schlenderte zum Brunnen hinüber. Dabei musste er über einige Lachen Erbrochenes hinwegsteigen. Dass ein kleines, harmloses Fest immer solche Nebenwirkungen mit sich bringen musste! Eines Tages würde er nach einem bekömmlicheren Pilz forschen. Einem Gebräu, an dem man sich nach Belieben ergötzen konnte, ohne sich am nächsten Morgen so krank zu fühlen.

Er trat an den Brunnen, der inmitten seiner Werkstatt lag und wollte den Kopf in einen Eimer mit kaltem Wasser stecken. Natürlich war der Eimer leer. Gedankenverloren blickte Galar in die dunkle Tiefe. Vor Jahren, als er wieder einmal mit den hirnlosen Tintenpissern, den Bürokraten, die die Tiefe Stadt im Namen des Bergkönigs verwalteten, im Streit gelegen hatte, war ihm bewusst geworden, dass seine Höhle eine Falle war. Wenn sie ihre Büttel schickten, um ihn zu ergreifen, dann gab es von hier keinen Fluchtweg. Damals war er über den Brunnenrand gestiegen und hatte begonnen, tief unten im Schacht eine verborgene Nische aus dem Fels zu meißeln. Er hatte niemandem ihre Existenz verraten. Noch ein Vergehen gegen die Gesetze des Bergkönigs, denn jeder Tunnel, ja selbst jede winzige Wandnische musste gemeldet und genehmigt werden. Er wusste, eines Tages würden sie ihn holen kommen. Und wenn sie nicht ganz verblödet waren, dann würden die Büttel auch in den Brunnen sehen. Natürlich lag es an ihm … Er war zu aufsässig. Hatte zu viel Spaß daran, sich über Vorschriften hinwegzusetzen. Und dass der stinkende Koboldkäse längst alle Nachbarn in diesem Bergabschnitt vertrieben hatte, war ihm eine stille Freude. Er war ein unangepasster Widerling — und er war stolz darauf. Deshalb würde er eines Tages großen Ärger bekommen …

Galar lauschte auf das Rauschen des Wassers. Der Brunnen speiste sich aus einem unterirdischen Fluss, der zum Aalhafen führen musste. Vielleicht floss er durch verborgene Grotten? Eines Tages würde er ihn erkunden. Aber vorläufig gab es Wichtigeres zu tun! Er ging zu dem Fass hinüber, das nahe dem Druckkessel stand. Es war eine elende Plackerei gewesen, es gestern Nacht halb betrunken hier hinunterzuschaffen. Ein Fass, größer als jeder Zwerg und breiter als der Arsch eines Auerochsen. Sein Fass! Das Zeichen seines Triumphs. Na ja, und auch des Triumphs von Nyr. Der Geschützmeister hatte sich selbst übertroffen. Gestern Mittag hatten sie die neue Drachenflitsche ausprobiert. Es war ein buchstäblich durchschlagender Erfolg gewesen! Das Geschütz war stärker, der Speer hatte eine bessere Durchschlagskraft. Er hatte das Fass durchdrungen und die Rückseite zwar nicht durchschlagen, aber zumindest die Daube, die von innen getroffen worden war, zersplittern lassen. Das war eine Waffe, die die Drachen das Fürchten lehren würde! Sie würden diese Mistviecher vom Himmel holen und ihnen die Magie aus den Knochen destillieren. Diese Waffe läutete ein neues Zeitalter ein! Jeder, der beim Test anwesend gewesen war, hatte das sofort erkannt. Vor allem Hornbori, der aus dem Stegreif eine seiner hochtrabenden Reden gehalten hatte, die ihre Geldgeber so sehr liebten. Natürlich hatte der Drecksack alles so dargestellt, als wäre es vor allem sein Verdienst.

Allerdings war es Hornbori zu verdanken gewesen, dass es gestern das Fest gegeben hatte und sie mit unerschöpflichen Pilzvorräten versorgt worden waren. Später hatten sie sich den Klugschwätzern und Geldsäcken entzogen, indem sie die Feierlichkeiten in seine Werkstatt verlegt hatten. Hierher waren nur noch die wirklich Hartgesottenen mitgekommen, und eine stattliche Anzahl an Pilzfässern hatten sie dabei gleich mitgenommen. Es war sein erstes Fest seit langer Zeit gewesen. Und es hatte ihm Spaß gemacht. Veränderte ihn der Umgang mit Hornbori?

Galar konnte sich nur noch verschwommen an die Feierlichkeiten erinnern. Neben den üblichen Experimenten, ob Fürze brennbar sind, war es auch zu ausgefalleneren Exzessen gekommen. Mit Schrecken erinnerte sich Galar daran, dass Nyr irgendwann die kleine Armbrust entdeckt hatte. Jene Waffe, die nadeldünne Bolzen verschoss. Vor Jahren hatte er sie entwickelt, um Ratten zu erlegen, ohne allzu große Löcher in ihr Fell zu schießen. Es war ein Fehlschlag gewesen, weil die meisten Ratten einen Nadeltreffer überlebten. Nyr hatte entschieden, dass diese Waffe wie geschaffen zum Ohrlochschießen war — natürlich auf fünf Schritt Abstand! Zum Glück war das Experiment nach einigen Treffern in Augenbrauen und Nasen abgebrochen worden, bevor jemand ein Auge verloren hatte. Zumindest hoffte er das.

Der Zwerg lächelte versonnen. Er mochte solche Feste. Am liebsten jedoch, wenn sie nicht in seinen Höhlenwänden abgehalten wurden. Er erinnerte sich dunkel an einige Zecher, die auf dem Wassertrog neben der Esse kauerten, ein paar der Briefe verteilt zu haben, in denen ihm versprochen wurde, ihn gegen ein wenig Gold zu den Fressplätzen von Drachen zu führen. Anfangs war er ein paar Mal darauf hereingefallen. Inzwischen aber erkannte er meist schon daran, wie die Briefe abgefasst waren, dass es sich um Lug und Trug handelte. Die meisten waren die Tinte nicht wert, mit der sie niedergeschrieben waren. Mit einem Seufzer sammelte er die Papier- und Birkenrindenfetzen ein, die neben dem Wassertrog lagen. Das war das Drama mit seinem Volk — bei einem Zechgelage verloren sie jedes Maß! Naserümpfend beugte sich Galar über den Trog. Zwischen zerknülltem Papier trieben die Kadaver ertrunkener Mäuse. Seiner Mäuse, die er benutzte, um die Giftigkeit unbekannter Substanzen zu testen. Gestern war irgendjemand auf die Idee gekommen, ein Wettschwimmen mit den Mäusen zu veranstalten. Sie hatten Wetten abgeschlossen … Er hatte mehr als nur seine Mäuse verloren. Gestern, so erinnerte er sich dunkel, hatte er mitgemacht und es lustig gefunden. Er musste verdammt betrunken gewesen sein!

Galar fluchte und wollte sich schon abwenden, als ihm ein Birkenrindenstreifen auffiel, der rot beschriftet war. Etwa ein Schuldschein, mit Blut geschrieben? Gestern konnte alles passiert sein …

Er überflog die Zeilen. Nur ein Drache, dachte er erleichtert. Ein … Er stutzte. Die Farbe des Drachen war ungewöhnlich. Galar las noch einmal. Und diesmal wurde auch kein Gold für nähere Auskünfte verlangt. In etwas plumpen Worten schilderte ein Prospektor die Sichtung eines Drachen, der einen festen Fressplatz hatte. Hoch in den Bergen, in einer Gegend, wo es weit und breit keine Zwergensiedlung gab. Dort zu jagen wäre eine Herausforderung. Allein das Geschütz dorthin zu bringen … Im Grunde war alles vorbereitet, um die Hornisse zu erledigen, wie sie spöttisch den großen gelbschwarzen Drachen nannten, den sie sich zum Ziel erkoren hatten. Aber die Beschreibung, die er in Händen hielt, weckte Galars Neugier. Sich einen Drachen mehr anzusehen konnte ja nicht schaden. Außerdem müsste er sich dann nicht weiter um die Werkstatt kümmern. Er würde seinen Gehilfen genaue Anweisungen geben, was zu tun war. Noch einmal überflog er die wenigen Zeilen. Der Drache schien sehr regelmäßig an seinen Fressplatz zu kommen. Mit Schrecken dachte er daran, wie viele Zwerge inzwischen von Hornbori eingeweiht worden waren — und wem sie alles einen Gefallen schuldeten. Das würde kein Jagdausflug werden, sondern ein regelrechter Feldzug. Der halbe Berg war in die Sache verwickelt. Es wäre gut, sich für ein paar Tage zu verdrücken und alles noch einmal gut zu durchdenken. Vielleicht könnten sie an den anderen Drachen ja noch ein wenig näher herankommen? Das wäre besser für den Schuss. Ja, er würde gehen und diesen Drachen etwas genauer unter die Lupe nehmen.

Galar entschied, Nyr mitzunehmen. Die Sache mit der kleinen Armbrust gestern Nacht war dem Geschützmeister nicht gut bekommen. Er hatte einiges an Prügel einstecken müssen. Auch Nyr war sicherlich in der Laune, den Berg für einige Zeit zu verlassen, bis die Ereignisse von gestern Abend für alle Beteiligten nur noch ein launiges Fest waren, an das man mit einem Schmunzeln zurückdachte.

Poesie und Lügen

Artax verneigte sich knapp vor Kanita, dem Statthalter Ischkuzas in der Goldenen Stadt. Der in die Jahre gekommene Steppenkrieger fiel auf die Knie, wie es das Protokoll gebot, wenn ein Unsterblicher seine Aufwartung beendete. Mit beiden Händen hob er das Eisenschwert empor, das Artax ihm zum Geschenk gemacht hatte. Den Kopf hielt er jedoch gesenkt.

»Mögen unsere Reiche auf ewig in Frieden verbunden sein, Aaron, Beherrscher aller Schwarzköpfe, kühner Krieger und Schlachtenlenker.«

Artax lächelte über die freie Interpretation seiner Titel. Gut, dass Datames nicht anwesend war. Er hätte in diese Schmeichelei sicherlich wieder mehr hineingedeutet. Aber sein Hofmeister hatte entschieden darauf bestanden, in Aram zu bleiben, um der Verwaltung des Reiches nicht die Zügel schleifen zu lassen, wie er sich in unverhohlenem Tadel ausgedrückt hatte.

»Mögest du die Enkel deiner Enkel neben dir reiten sehen«, entgegnete Artax förmlich.

Als der Statthalter sich erhob, konnte er dessen Gelenke knacken hören. Bald würde Kanita abgezogen werden, daran konnte kein Zweifel bestehen. Artax’ Wünsche für die Gesundheit des betagten Kriegers waren durchaus eigennütziger Natur. Ein neuer Statthalter würde wahrscheinlich auch eine neue Palastwache mitbringen und am Wandernden Hof ihres Vaters wäre Shaya vollends unerreichbar für ihn.

Der Abschiedshöflichkeit war nun Genüge getan; Artax wandte sich ab, ließ den Blick über den hier versammelten Hofstaat schweifen und ging langsam auf das Tor zu. Sie waren verrückt, die Ischkuzaia. Charmant, aber verrückt. Ihre Audienzhalle war keine Halle, sondern ein weiter Hof, in dessen Mitte ein prächtiges Zelt stand. Gras wuchs hier und Pferde weideten hinter dem Zelt. Einige Krieger aus der Leibwache trugen Adler auf ihren dick mit Leder bewehrten Fäusten, als wollten sie bald zur Wolfsjagd ausreiten. Sie hatten ein Stück ihrer Steppe in den Palast geholt! Um ehrlich zu sein – ihm gefiel das.

Er richtete den Blick auf das rot lackierte Tor, hinter dem eine weite Treppe lag, deren einziger Sinn darin bestand, selbst den stolzesten Besucher des Statthalters in einen elend keuchenden Jammerlappen zu verwandeln. Der Palast der Ischkuzaia stand auf einer weit im Westen gelegenen Terrasse der Goldenen Stadt, dicht unter dem Rand zum Weltenmund. Wahrscheinlich konnte man von dem Hohen Turm, der sich am Ende des Hofes erhob, auf die fliegenden Helden im weiten Krater blicken. Die goldbeschlagenen Streben, die seitlich aus dem Turm ragten, verrieten, dass er zugleich auch Ankerplatz für die Wolkenschiffe des Statthalters war.

Artax dachte an die endlos lange Treppe, die zu Kanitas Palast führte. Um wie viel einfacher wäre es, sich mit einem Landungsboot aus einem ankernden Wolkenschiff abseilen zu lassen! Aber das war untersagt. Selbst Unsterblichen! Die Ischkuzaia schützten irgendwelche rituellen Gründe vor, die angeblich verlangten, dass jeder Besucher diesen Weg auf eigenen Füßen bewältigte. Ihr Statthalter wurde nur selten in seinem Zelt behelligt.

Am Tor zur Treppe stand der eigentliche Grund für seinen Besuch — Shaya, die siebenunddreißigste Tochter des Großkönigs von Ischkuza. Nächtelang hatte er sich den Kopf zermartert, wie er sie ansprechen sollte. Es durfte nicht so aussehen, als habe er Interesse an ihr. Ohne die Erlaubnis der Devanthar dürfte er nicht um die Tochter eines der Unsterblichen werben. Die Götter wollten nicht, dass zu enge Bande zwischen den sieben großen Herrschern entstanden. Sie fürchteten um das Gleichgewicht der Reiche. Also musste er überaus vorsichtig vorgehen, damit ein Treffen zwischen ihnen nicht von vornherein verhindert wurde.

Shaya war voll gerüstet wie bei ihrer ersten Begegnung auf dem Deck des Wolkenschiffes, das steuerlos am Himmel getrieben war. Bei der Erinnerung an all die Toten auf dem Schiff überlief ihn ein Schauer. Er verschloss sich den ungewollten Gedanken und betrachtete Shaya, wohl darauf bedacht, dass seine Blicke nicht zu einem verräterischen Starren wurden. Ob sie wohl ahnte, dass sie die Frau seiner Träume geworden war? Er lächelte. Nein, ganz gewiss tat sie das nicht. Wie hätte sie darauf kommen sollen?

Irgendwo im hinteren Bereich des Hofs erklang ein Gongschlag. Die Flügel des roten Tores schwangen auf. Doch Artax blieb dicht vor Shaya stehen. Die Kriegerin hatte ihren Helm unter den Arm geklemmt. Ihr schwarzes Haar war hochgesteckt. Die dunklen Augen waren mit Ruß umrandet und wirkten unnatürlich groß. Sie strahlten, doch sonst verriet nichts in ihrer Miene, ob das Wiedersehen ihr etwas bedeutete.

»Haben eure Weisen herausgefunden, woran die Besatzung des Wolkenschiffs starb, das ihr in die Goldene Stadt zurückgebracht habt?« Er hoffte, dass diese Frage keinen Verdacht unter den Umstehenden erwecken würde.

»Der Tod der Wolkenschiffer blieb uns ein Rätsel, unsterblicher Aaron, Herrscher aller Schwarzköpfe. Doch haben wir Kunde von zwei kleineren Frachtschiffen erhalten, auf denen die Besatzung ebenfalls umkam, ohne dass Blut vergossen wurde oder ein Zeichen äußerer Gewalt zu erkennen gewesen wäre. Unsere Geisterrufer glauben, dass die Grünen Geister der Wälder mit dem Geheimnis zu tun haben.«

»Steigen sie denn auch in den Himmel hinauf?«, fragte Aaron ehrlich überrascht. Der Gedanke, dass man sich nicht einmal auf den Wolkenschiffen vor ihnen sicher fühlen konnte, war beklemmend.

»Noch hat sie dort niemand gesehen, doch muss dies wohl nicht als Beweis dafür gelten, dass es unmöglich wäre.«

Was für ein gestelzter Satz, dachte er. Aber er war zufrieden, dass das Gespräch so verlaufen war, wie er es vorhergesehen hatte. Er wusste längst, dass es noch immer keine Erklärung für den Tod ganzer Schiffsbesatzungen gab. »So müssen wir uns wohl fügen, dass die glückselig machende Erkenntnis so weit von uns entfernt ist, wie die Monde um Mitternacht von der fernsten Wurzelspitze.«

Du bist unendlich peinlich, Bauer. Selbst hier in der Goldenen Stadt dürfte es ein Dutzend Dichter an unserem Hof geben, die das besser hinbekommen hätten. Es ist uns klar, dass es dir um Heimlichtuerei geht. Um Geheimnisse zu bewahren, gibt es Scharfrichter. Wann wirst du jemals lernen zu herrschen, statt dich zum Gespött von Barbaren zu machen?

Shaya zog die Brauen ein wenig zusammen, während einige ihrer Krieger hart gegen ein spöttisches Grinsen ankämpften. »Mir scheint, an Euch ist ein Dichter verloren gegangen, erhabener Unsterblicher. «

Artax bedankte sich mit einem knappen Nicken für das – so hoffte er – Kompliment. »Möge eure Suche nach Erkenntnis von Glück gekrönt werden.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und trat auf die Treppe hinaus. Es kostete ihn Überwindung, aber länger mit Shaya zu reden wäre unschicklich und würde Verdacht erregen. Hoffentlich hatte sie den geheimen Hintersinn seiner Worte verstanden.

Ist sie wert, was du vorhast? Du solltest den üblichen Weg gehen! Sie ist nur eine siebenunddreißigste Tochter. Glaubst du wirklich, sie sei etwas Besonderes? Wir können nicht begreifen, was du an ihr findest. Biete ihrem Vater ein paar Dutzend hübsche Gäule, und du wirst sie bekommen und mit ihr anstellen können, was immer dir beliebt – was vermutlich höchst phantasielos sein wird.

Artax war fest entschlossen, sich sein Hochgefühl nicht nehmen zu lassen. Nach so vielen Monden ein paar Worte mit Shaya gewechselt zu haben war wundervoll und grausam zugleich gewesen. Er hoffte … Nein, er war sicher, sie hatte die geheime Botschaft verstanden.

Diese hirnlose Schlampe, die von ihrem Vater unter seine Krieger abgeschoben wurde, weil sie sogar zum Kindermachen zu dämlich war, wird dich enttäuschen. Glaube uns, wir kennen die Frauen. Was glaubst du, warum Herrscher einen Harem besitzen? Alle! Um sich nicht mit Weibergeschichten herumzuschlagen. Du vergeudest deine kostbare Zeit!

Artax lächelte. Je heftiger Aaron protestierte, desto sicherer konnte er sein, für sich den richtigen Weg gefunden zu haben. Er musste seinen Weg nur im Geheimen gehen.

Artax vermutete, dass Juba nicht entgangen war, dass etwas vorging. Er konnte dessen fragende Blicke förmlich in seinem Nacken spüren. Der Kriegsmeister ging eine Stufe hinter ihm. Artax wusste, dass sein Gefährte niemals eine kompromittierende Frage in Anwesenheit anderer Krieger der Leibwache stellen würde. Dennoch wäre es besser, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Dann vergaß er das merkwürdige Gespräch am Tor vielleicht.

»Wo steckt Volodi? Ich glaube, seit er zum Hauptmann in der Palastwache befördert wurde, habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Ich habe Euch vor ihm gewarnt, Erhabener.« Es war unüberhörbar, dass Juba die Frage unangenehm war. »Söldner, die ihren Lohn erhalten haben, sind treulos wie Huren. Ich schätze, er bringt seine Schätze gerade mit ebensolchen durch. Erst wenn er sein letztes Kupferstück verprasst hat, wird man ihn wieder mit einer Aufgabe betrauen können, die verantwortungsvoller ist als der Posten eines Latrinenputzers.« Wie stets in der Öffentlichkeit achtete Juba peinlich genau darauf, ihn förmlich anzusprechen.

Artax war anderer Meinung als sein Kriegsmeister. Er hatte die Piraten schwören lassen, ihm in drei Schlachten zu dienen. Und keiner von ihnen war davongelaufen, nachdem sie ihren Lohn für die Kämpfe in Luwien erhalten hatten. Er würde aus ihnen den Kern einer schlagkräftigen Streitwagenschwadron formen. Die meisten der Piraten hatten bei dem Überfall auf Aram eiserne Waffen erbeutet. Nicht einmal seine Himmelshüter waren so gut ausgerüstet. Die Söldner würden in der kommenden Schlacht gegen Muwatta seine schärfste Klinge sein. Aber das hatte noch Zeit … Bedeutender als ihre Waffen waren die Schmiede, Erzkocher und Bergleute, die sie gefangen genommen hatten. Sie hatten Muwatta das Geheimnis der Eisenherstellung entrissen. Bald würde man auch in Aram eiserne Klingen fertigen können. Er machte sich nichts vor – die Zeit bis zur Schlacht war zu knapp. Es würde Jahre dauern, sein Heer mit neuen Waffen auszurüsten. Aber wenigstens wären sie für die Zukunft gewappnet.

Während Artax die schier endlose, von roten Säulen gesäumte Treppenflucht zum äußeren Tor des Palastes hinabstieg, blickte er immer wieder verstohlen zu Juba hinüber. Er würde seinen Feldherrn in dieser Nacht täuschen müssen. Und das würde kein leichtes Unterfangen werden.

Von Liebhabern und zahnlosen Wölfen

Volodi schlug die Augen auf. Ein Schrei hatte ihn geweckt! Überall ringsherum waren Federn. An den Wänden, über ihm … Er tastete nach seinem Schwert, berührte nackte Haut und erinnerte sich wieder. Schwer atmete er aus. Er war längst zurück aus Luwien. Alles war gut. Sehr gut sogar!

Der unsterbliche Aaron hatte ihn auserwählt, mit in die Neue Welt zu reisen, in die Goldene Stadt. Nie hätte er sich diese Pracht vorstellen können. Es war einfach unbeschreiblich. Eines Tages, wenn er wieder in Drus war, würde er Bozidar und Vater von all den Wundern hier erzählen. Sie würden ihn für einen Aufschneider halten. Volodi grinste. Endlich hatte sich sein Leben zum Guten gewandt. Und dieses Weib … Sie war wie eine wilde Wölfin gewesen. Jetzt lag sie zusammengerollt neben ihm – klein, zierlich, fremd. Die Farbe ihrer Haut erinnerte an Eicheln. Nein, nicht ganz. Der Ton war etwas dunkler.

Sie schliefen auf Schilfmatten, und über ihnen brannte ein Öllämpchen in einer Wandnische über dem Lager. Eine Decke voller bunter Federn lag zu ihren Füßen. Es war angenehm warm. So warm war es in Drus nur in den schönsten Sommernächten.

Wieder drang ein markerschütternder Schrei durch die Finsternis. Volodi hielt den Atem an. Es musste einer dieser Vögel sein. Die Kleine war von Vögeln und Federn geradezu besessen. Überall unter der Zimmerdecke hingen Käfige. Sie hatte Dutzende Vögel, kleine, schillernde und auch große mit unerfreulich aussehenden Schnäbeln, die ihn mit ihren schwarzen Augen angestarrt hatten, als er Quetzalli auf den Schilfmatten geliebt hatte. Selbst die Wände waren geschmückt mit Fächern aus Vogelfedern und grellbunten Vogelbildern, die auf den Lehm gemalt waren. Anfangs hatte er gedacht, dass die Kleine nicht sonderlich vermögend sein konnte. Ihr Haus war nicht eindrucksvoll. Es gab keine Diener. Aber dann hatte sie ihn überrascht und ihn vor dem Liebesspiel aus einem goldenen Becher trinken lassen. Sie kam aus Zapote. Bevor er ihr begegnet war, hatte Volodi von diesem Reich noch nie gehört.

»Quetzalli?« Er strich ihr mit den Fingerspitzen über die Schultern. Sie schmiegte sich an ihn. Ihre linke Hand lag zwischen seinen Schenkeln. Jetzt regte sie sich, griff zu.

Volodi schloss die Augen. Was für eine Frau! Er war in Dutzenden Hurenhäusern gewesen, aber einer wie ihr war er noch nie begegnet. Dabei konnten sie kaum ein Wort miteinander wechseln. Nur ihre Augen und Körper sprachen miteinander. So war es schon gewesen, als sie sich das erste Mal begegnet waren, auf dem Vogelmarkt vor drei Tagen. Sie hatte einen Federumhang getragen, der in allen Regenbogenfarben schillerte. Er hatte sie angestarrt, bis er bemerkte, dass sie sein Starren erwiderte. Als er ihr dann geradewegs in die Augen sah, hatte sie ihren Blick nicht etwa gesenkt, nein, sie hatte seinem Blick standgehalten und ihm schließlich mit einer kleinen Geste zu verstehen gegeben, dass er zu ihr kommen solle. Mit einem Nicken hatte sie angedeutet, dass er niederknien solle. Und er hatte es getan! Hatte mitten auf dem Marktplatz im Schmutz vor einer Frau gekniet, die er nie zuvor gesehen hatte!

Sie war ihm mit beiden Händen durch die Haare gefahren. Sie mochte sein Haar. Seitdem hatte sie es immer wieder getan. Ihre Hände in seinem langen Haar vergraben. Er verstand nicht, was sie dabei vor sich hin murmelte, und ihm war egal gewesen, dass man über sie beide tuschelte. Sie hatte ihn bei der Hand genommen und zu sich nach Hause geführt. Seitdem hatten sie sich an jedem Tag geliebt. Sie brauchten keine Worte.

Daran, wie sie ihn berührte, konnte Volodi spüren, dass sie wieder ganz wach war. Er griff in ihr Haar, bog ihren Kopf ein wenig zurück und küsste sie. Sie machte sich frei, biss ihm sanft ins Ohr und schob sich dann auf ihn. Ihre Hände glitten über seine Brust. Sie spielte mit den feinen blonden Härchen, kniff ihn in die Brustwarzen. Plötzlich verharrte sie. Unten im Haus war ein Geräusch zu hören gewesen. Sie rief etwas und von unten kam eine Antwort.

Blanke Angst stand in ihren Augen. Sie sprang auf, packte seine Stiefel und warf sie aus dem Fenster. Einen Herzschlag später folgten seine Kleider. Als sie nach seinen Schwertern griff, packte er ihre Hand. Niemand rührte seine Eisenschwerter an! Ihm dämmerte, was vor sich ging.

Von unten erklang erneut die fremde Stimme. Volodi verstand kein Wort, aber das war auch nicht nötig. Er nahm die Waffen, stieg auf das Fenstersims und blickte hinab. Fünf Schritt. Etwa … Er sprang und kam unsanft auf. Seine Gelenke krachten. Ein sengender Schmerz fuhr durch sein linkes Knie. Ein Huhn gackerte ihn empört an.

Hastig klaubte er seine Kleider zusammen und hinkte zum Hühnerstall. Es war nur ein Dach aus riesigen, verschrumpelten Blättern auf einem Pfostenkarre. Zwischen den Pfosten saßen die Hühner auf weißen Stangen. Sie beäugten ihn misstrauisch. Einige stießen leise gurrende Laute aus.

»Seid euch still!«, zischte er sie an. Dann spähte er unter dem Dach hinweg zum Fenster hinauf. Deutlich sah er die Silhouette eines Mannes – groß, die Haare schulterlang. Viel mehr war nicht zu erkennen. Er war nur ein Schatten in einem Fenster.

Deutlich hörte Volodi die Frage. Der Tonfall ließ keinen Zweifel, dass es eine Frage war, auch wenn der Drusnier kein Wort verstand. Und es war keine freundliche Frage …

Volodi lehnte seine Schwerter an einen der Stallpfosten und schlüpfte in seine Hosen. Der Schatten am Fenster war verschwunden. Wieder hörte er Stimmen. Ein Streit.

Volodi überprüfte, ob er etwas im Zimmer vergessen haben könnte. Nein. Es war alles da. Sie hatten aus demselben Becher getrunken. Es gab keinen verräterischen zweiten Becher. Aber sie würde nach ihrer Liebe riechen. Würde der Kerl an ihr riechen? Wer war er? Ihr Mann? Ihr Bruder? Wenn er doch nur ein Wort verstehen könnte! Ihre Sprache war so fremd …

Seine Schwerter stürzten zu Boden und er fluchte, während die Hühner in Panik aus der Hütte stoben. Wieder erschien der Schatten oben am Fenster. Volodi nahm seine Schwerter auf, als der Kerl dort oben auf das Fenstersims kletterte. Er würde springen.

Der Drusnier entschied sich zu fliehen. Er hechtete aus dem Hühnerstall und setzte über einen niedrigen Zaun aus ineinanderverflochtenen Ästen hinweg. Hinter sich hörte er den Mann im Hof landen. Der Kerl rief ihm nach. Volodi blickte nicht zurück. Er wusste, dass man nicht zurückblicken durfte, wenn man floh. Alle Sinne mussten auf den Weg vor einem gerichtet bleiben. Er rannte eine schmale Gasse entlang, durch deren Mitte eine schlammige Rinne lief. Weitere Hühner flogen auf.

Der Kerl hinter ihm rief etwas. Sehr laut. Türen öffneten sich. Verhuschte Gestalten blieben im Schatten. Sahen zu.

Volodi bog ab. Er sollte oft die Richtung wechseln und zu den Geistern des Waldes beten, dass er sich nicht in eine Sackgasse verirrte. Warum hatte Quetzalli sich ihm hingegeben, wenn sie verheiratet war? Etwas stimmte nicht bei dieser Geschichte. Jungfrau war sie nicht gewesen – und sehr erfahren in der Liebe. Sehr! Er durfte jetzt nicht daran denken. Wieder bog er ab und kam nun in eine etwas breitere Gasse. Läden säumten die Straßenränder, in einigen brannte sogar noch Licht, und es waren Leute unterwegs. Volodi fluchte. Dies hier war eines der Stadtviertel, in dem Menschen aus allen Völkern Daias lebten. Keines der Palastviertel, wo die Unsterblichen keine Fremden duldeten. Es lebten hier auch viele Zapoter.

Wieder ertönte hinter ihm der Ruf seines Verfolgers. Volodi bog ab. Es war verdammt dunkel hier. Die schäbigen Lehmhäuser standen so schief, dass ihre Giebel einander fast berührten. Es stank nach Jauche und ranzigem Fett. Volodi konnte das Ende der Gasse nicht erkennen. Das Schmutzwasser spritzte seine Beine hoch, während er immer schneller lief. Seine teuren Stiefel würden mit Jauche durchtränkt sein.

Voraus brannte ein einzelnes rotes Licht — eine Tür, mit Federschnüren verhängt. Das war das Ende der Gasse! Im Türrahmen kauerte eine Eidechse – mit dem Kopf nach unten. Volodi strich sich mit der Hand über die Augen. War das ein Traum? Egal – Stillstand war Verderben. Er huschte zwischen den Federschnüren hindurch in ein Zimmer, das vom roten Licht glühender Holzscheite erfüllt wurde. Eine alte Frau mit verwittertem flachen Gesicht blickte zu ihm auf und schenkte ihm ein zahnloses Lächeln, als würde sie ihn kennen. Dann rührte sie wieder in dem rußverschmierten Kupferkessel, der vor ihr auf dem Feuer stand. Sie schrie nicht. Weshalb? Egal …

Volodi eilte weiter und in das nächste Zimmer. Ein Kind lag hier nackt auf dem Boden und schlief. Er trat vorsichtig auf, um das Mädchen nicht zu wecken. Dabei drückte er sich mit dem Rücken an der Wand entlang. Die Wand gab ihm ein trügerisches Gefühl von Sicherheit und Halt. Weiter! Irgendwo hier musste es ein Fenster geben, das ihn auf eine andere Straße brachte! Die nächste Kammer war mit Vorratskrügen gefüllt. Hohen, bauchigen Tongefäßen. Manche bemalt. Der rote Schein des Feuers drang nur sehr schwach bis hierher. Er dachte an Quetzalli. Was würde mit ihr geschehen, nun, da der Mann ihn gesehen und sicherlich die einzig möglichen Schlüsse aus der Anwesenheit des fremden Hünen in seinem Geflügelstall geschlossen hatte?

Ein Luftzug streifte sein Gesicht. Ein Teil der Wand wölbte sich auf. Nein, nicht die Wand. Ein Vorhang. Eilig trat er hindurch und stand in einer weiteren Gasse. Unruhig gurrende Vögel drängten sich über ihm auf einer Stange, und tief am Himmel stand ein fahler Mond. Viel tiefer, als der Mond je über den Wäldern von Drus über das Firmament wanderte. Etwas höher schimmerte der zweite Mond. Noch so eine Sache, die ihm zu Hause in Drus keiner glauben würde. Ein Himmel mit zwei Monden! Kein Reisender, der je in die Halle seines Vaters getreten war, war bis in die Neue Welt gewandert.

Volodi atmete tief aus. Er musste die richtigen Entscheidungen treffen, sonst würde er die Halle seines Vaters niemals wiedersehen. Bewegungslos verharrte er und lauschte in die Nacht. Hinter ihm im Haus war es still. Hatte er den Verfolger abgeschüttelt? Er lehnte eines der Schwerter an die Wand. Bislang hatte er sie auf der Flucht in den Händen gehalten. Ebenso seine Tunika. Er streifte sie über und gürtete sein Schwert um die Hüften. Das zweite schlang er über die Schulter. Es hatte einen schönen, mit Bronzescheiben beschlagenen Gurt. Er würde es seinem Bruder Bozidar schenken, wenn er in seine Heimat zurückkehrte.

Wieder lauschte er. Es war still. So still, wie es in dieser riesigen Stadt werden konnte. Man hörte immer etwas – ein fernes Lachen, ein weinendes Kind, den Schrei einer verliebten Katze. Volodi straffte sich, hielt sich dicht an den Häusern zu seiner Linken und folgte der Gasse. Jeden Augenblick war er auf einen überraschenden Überfall gefasst, aber nichts geschah. Bald fand er einen Platz, in dessen Mitte ein bleicher, toter Baum stand. Er erkannte den Ort wieder. Er war nicht weit von dem Vogelmarkt entfernt, auf dem er Quetzalli zum ersten Mal begegnet war. Von hier aus musste er sich gen Süden halten, wenn er zum Palast des unsterblichen Aaron zurückkehren wollte.

Langsam wurden die Straßen belebter. Ein junges Mädchen in schneeweißem Kleid lächelte ihm lüstern zu und er senkte den Blick. Wieder hatte er Quetzalli vor Augen. Was würde mit ihr geschehen? Er sollte zurückkehren … Aber würde er es damit für sie nicht noch schlimmer machen? Welches Recht hatte er schon an ihr? Hätte er sie doch nur verstanden! Sie hätten zum Platz der tausend Zungen gehen sollen. Dort konnte man Sprachgelehrte aus allen Ländern finden. Sprachprobleme waren nichts Ungewöhnliches in der Goldenen Stadt. Sie waren der Alltag.

Der Duft von gebratenem Fleisch stieg ihm in die Nase. Ein Stück die Straße hinauf gab es einem Imbiss, wo über einer Schale voll glühender Kohlen alles Mögliche gebraten wurde. Meist schmeckten die kleinen Fleischspieße gut, die man an solchen Ständen bekommen konnte. Das Fleisch war mit einer Kruste aus Gewürzen überzogen. Solange man sich keine Gedanken darüber machte, was man aß, ging alles gut.

Volodi blickte die Straße zurück. Seinen Verfolger konnte er nirgends entdecken, und so entschied er sich für eine Mahlzeit. Mit leerem Bauch konnte man nicht klar denken. Wenn dieser Kerl Quetzallis Mann war, würde er sie nur in noch mehr Schwierigkeiten stürzen, wenn er zurückkehrte. Er sollte sie vergessen …

Mit drei Fleischspießen in Händen ging er weiter die Straße hinauf. Solange er auf belebten Straßen blieb, war er sicher. Hier würde gewiss niemand wagen, ihn anzugreifen.

Er knabberte an einem der Spieße. Er wollte Quetzalli wiedersehen. Sie liebte ihn, das hatte er gespürt. Er hätte bleiben und dem anderen den Schädel einschlagen sollen, statt fortzulaufen. Aber Quetzalli hatte ihm diese Entscheidung abgenommen, als sie seine Kleider aus dem Fenster warf.

Er hätte auch nackt kämpfen können, dachte er ärgerlich. Quetzalli hatte ihn einfach überrumpelt, und statt zu denken, war er geflohen. Vielleicht auch, weil er sich sofort ertappt und schuldig gefühlt hatte. Er wusste einfach gar nichts über sie und — Volodi verharrte. In dem Fleischspieß, von dem er aß, steckte plötzlich ein Holzsplitter. Etwa so lang wie ein Zahnstocher. Am Ende des Splitters hing etwas, das wie ein kleines Klümpchen zusammengeknüllte Wolle aussah. Er zog es aus dem Fleisch. Ein Blasrohrpfeil?

Volodi duckte sich und fluchte. Dieser feige Bastard! Er lief im Zickzack über die Straße und dann in eine Gasse hinein. Hier wäre es leichter, seinen Verfolger zu stellen. Ein Blasrohr! Was für eine feige Memme war das denn! Den Kerl würde er kriegen. Er kauerte sich unter eine Holztreppe und wartete. Er würde es mit den Fäusten erledigen.

Aber nichts geschah und niemand kam in die Gasse. Wartete der Mistkerl draußen? Da konnte er lange warten! Volodi nagte seinen letzten Fleischspieß ab. Er hatte immer noch Hunger. Ob Quetzalli wohl mitkommen würde, wenn er sie holte? Die meisten der Palastwachen des unsterblichen Aaron langweilten sich. Wenn er ihnen die Geschichte auf die richtige Art verkaufte, würde er bestimmt einige zu einem nächtlichen Ausflug überreden können. Er würde erzählen, dass sie gefangen gehalten wurde und …

Schritte! Volodi spannte sich. Es war der Kerl, der ihn verfolgt hatte. Eine zweite, schmächtigere Gestalt folgte ihm. Der Kleinere redete auf den gehörnten Ehemann ein.

Volodi wartete. Sie sollten ganz nah kommen. Im Schatten der Treppe konnten sie ihn nicht sehen. Ein wenig noch. Mit einem gellenden Schlachtruf sprang er aus seinem Versteck und rammte dem Mann vom Fenster seine Faust in den Magen. Der Kerl war völlig überrumpelt. Er knickte ein. Volodi packte ihn, zog ihn hoch und versetzte ihm einen Leberhaken. Aus den Augenwinkeln sah der Drusnier, wie der Kleinere ein Blasrohr an die Lippen hob, und zog den gehörnten Ehemann schützend vor sich. Als der Schütze zögerte, stieß er ihm dessen Kameraden entgegen. Beide prallten gegen die Hauswand. Noch bevor der Kleinere sich aufrappeln konnte, war Volodi über ihm. Er packte das Blasrohr und stieß es mit der Spitze auf den Boden. Mit der Linken drückte er den heimtückischen Schützen nieder. Der schrie und zappelte, schaffte es aber nicht, sich ihm zu entwinden. Er hatte ein tätowiertes Gesicht und schnitt nun verzweifelt Grimassen.

Mit spitzen Fingern hob Volodi den kleinen Pfeil auf, der aus dem Blasrohr geglitten war. Sein Gegner gab jeglichen Widerstand auf und glotzte ihn nur mit großen Augen an.

»Haben viel Spaß damit, Drecksack!« Mit diesen Worten drückte er ihm den Blasrohrpfeil in den Hals. Der Schütze lächelte. Er wirkte fast dankbar. Verrückter Kerl!

Volodi wandte sich ab und bückte sich über den anderen. Der Zapoter war von kräftiger Statur, sein leichter Bauchansatz kündete von einem guten Leben. Es gab keine Schwielen an seinen Händen. Ein Krieger oder einfacher Arbeiter war er also nicht. Die Tunika des Mannes war zerrissen und gab den Blick auf eine Brusttätowierung frei. Neugierig zog Volodi den Stoff weiter auseinander. Im Dunkel der Gasse konnte er das Bild nicht deutlich erkennen. Ein Aal mit Flügeln? So ein Zeichen hatte Volodi noch nie gesehen.

Der Zapoter sah ihn hasserfüllt an. Er murmelte etwas. Wahrscheinlich eine Verwünschung. »Du mich machen Liebesnacht kaputt. Das nicht nett! Ich auch nicht nett!« Er verpasste ihm einen Kinnhaken. Sein Verfolger sackte in sich zusammen. Volodi hob erneut die Faust. Er hatte Lust, dem Arschloch wieder und wieder ins Gesicht zu schlagen. Ihn zu Brei zu machen, aber dann hielt er inne. Er hatte kein Recht dazu. Immer noch wütend ließ er die Faust sinken und tastete den Bewusstlosen ab. Unter den Kleidern verborgen entdeckte er ein Messer in einer bunt bemalten Scheide mit einem Griff aus dunklem Holz und Gold. Wenn er die Waffe verscherbelte, würde sie sicherlich ein ansehnliches Sümmchen einbringen. So nahm er sie mit und schlich sich aus der Gasse. Trotz der Aussicht, etwas Geld aus der Sache zu schlagen, blieb seine Stimmung bedrückt. Warum hatte Quetzalli sich mit ihm eingelassen, wenn sie verheiratet war? Weil es ihr mit ihrem Mann nicht gefiel? Der Kerl war nicht gut darin sich zu prügeln. Vielleicht war er auch schlecht im Bett? Vielleicht würde Quetzalli ja mit ihm durchbrennen, wenn er sie danach fragte?

Volodi entschied, zum Platz der tausend Zungen zu gehen. Er musste einen Übersetzer finden. Mit ihm würde er zu Quetzalli zurückkehren. Ihr Ehemann würde sicherlich noch eine Stunde oder länger brauchen, bis er wieder auf den Beinen war. Er musste sich nur beeilen. Volodi orientierte sich an den hohen Türmen, an denen die Wolkenschiffe ankerten. Sie waren auch in der Nacht gut beleuchtet. Deutlich konnte er die riesigen, aufgeblähten Leiber der Kreaturen sehen, die die Schiffe durch den Himmel trugen. Niemals würde er sich diesen Dingern anvertrauen! Nie!

Es dauerte nicht lange, bis er den Platz der tausend Zungen erreichte. Er war von vier langen Säulenhallen eingefasst, die in unzählige Kammern unterteilt waren, welche sich alle zum Platz hin öffneten. Das honiggelbe Licht von Öllämpchen zeigte an, in welchen Kammern noch Übersetzer warteten. Es war spät geworden und viele Kammern waren leer.

Volodi fragte sich durch, bis er zu einem älteren, recht korpulenten Mann gelangte, der aus einer Holzschale Fischsuppe löffelte. Er hatte keinen Tisch und keinen einzigen Stuhl in der Nische, die ihm für seine Arbeit zugewiesen war. Der Übersetzer saß auf einem abgewetzten grauen Fell. Vielleicht von einem Wolf. Lachfalten nisteten um seine Augen und seine rote Nase ließ ahnen, dass er einem guten Trunk nicht abgeneigt war. Der Mann blickte zu Volodi auf. »Du hast einen weiten Weg gemacht, Bruder.«

Es tat gut, endlich wieder einmal seine Muttersprache zu hören. Volodi lächelte. »Wenn du wüsstest, wie weit er war.« Wie wunderbar, sich einmal nicht als stammelnder Idiot zu fühlen! »Beherrschst du die Sprache des Volkes der Zapote?«

Der Alte schlürfte seine Suppe und nickte. »Ein hartes Brot. Es gibt unzählige Dialekte. Aber die Sprache der Priesterschaft wird von den meisten verstanden. Kannst du dir denn meinen Rat leisten? Bitte verzeih mir, wenn ich ein wenig direkt bin, aber nichts ist flüchtiger als das gesprochene Wort, und ich habe schon des Öfteren unangenehme Erfahrungen gemacht. Deshalb muss ich darauf bestehen, mich im Voraus bezahlen zu lassen.«

Na wunderbar, dachte Volodi. Söldner, die in die Schlacht zogen, hatten auch unangenehme Erfahrungen in Aussicht und wurden trotzdem erst hinterher bezahlt, was die Sache für ihre Auftraggeber deutlich günstiger machte. Missmutig öffnete er seine Geldkatze. »Was kosten mich deine Dienste?«

»Da es mitten in der Nacht ist, wird es etwas teurer. Fangen wir mal mit einem Silberstück an.«

»Das ist Wucher!«, empörte sich Volodi.

Der Alte setzte die Suppenschale ab. »Es steht dir natürlich frei, dir einen anderen Übersetzer zu suchen. Aber ich fürchte, um diese Stunde wirst du niemanden außer dem alten Mitja finden, der unsere Zunge und die Sprache der Zapote beherrscht.« Er lächelte breit. »Aber vielleicht kann dein Anliegen ja bis morgen warten. Tagsüber koste ich auch nur die Hälfte.«

Volodi konnte ihm ansehen, dass der Übersetzer genau wusste, dass er es eilig hatte. Warum sonst sollte er mitten in der Nacht hierherkommen. »Mitja heißt du also … Würdest du mit mir kommen? Ich brauche deine Dienste nicht hier.«

»Worum genau geht es denn?«

»Ich möchte eine Frau verstehen.«

Der Alte lachte laut auf. »Da wird dir der beste Übersetzer der Welt nicht weiterhelfen können.«

Volodi war nicht nach Scherzen zumute. »Kommst du nun mit?«

»Du willst mich allen Ernstes jetzt mitten in der Nacht zu deiner Geliebten schleppen, um mit ihr zu reden? Glaubst du, das ist eine gute Idee? Was ist denn passiert? Hat sie dich hinausgeworfen? «

Er war verblüfft, wie genau der Alte den Punkt getroffen hatte. »Wirst du nun mitkommen?«

Statt zu antworten, streckte der Übersetzer die Hand vor.

Volodi gab ihm sein Silberstück. »Wir holen jetzt noch ein paar Freunde von mir. Dann kann es losgehen.«

Mitja runzelte die Stirn. »Wird es zu Blutvergießen kommen?«

»Vielleicht.« Falls der Kerl in der Gasse schneller als erwartet wieder auf die Beine kam, wollte er den Rücken frei haben. »Würdest du dann kneifen?«

»Nein. Ich mag vielleicht nicht so aussehen, aber es gab eine Zeit, zu der ich selbst ein Krieger war wie du. Allerdings werde ich dich das Doppelte kosten, wenn um mich herum Schwerter klirren.« Er erhob sich mit einem Seufzer und griff nach einem Stock, der neben ihm an der Wand lehnte. Humpelnd trat er aus der Nische, in der er seine Dienste anbot. »Stört dich, was du siehst, Junge? Das ist das Alter. Ich war leider nicht so klug, mir den Bauch aufschlitzen zu lassen, als ich noch voll im Saft stand.«

Volodi hätte am liebsten laut geflucht. Er blickte sich um. Vielleicht könnte er ja noch einen anderen Übersetzer finden? Einen, der besser zu Fuß war!

»Vergebliche Liebesmüh, Junge. Aber ich kann verstehen, wenn du mir nicht glaubst und dich lieber umhören möchtest. Allerdings beschwere dich nicht, wenn du am Ende unnütz Zeit verloren hast. Du machst den Eindruck, als sei deine Zeit knapper als dein Silber.«

Volodis Gedanken überschlugen sich. Eile war das erste Gebot der Stunde. Wenn er noch zum Palast lief, würde zu viel Zeit verloren gehen. Er musste eine Sänfte rufen. Sie konnten sich in die Nähe von Quetzallis Haus bringen lassen … Nicht bis direkt davor. Das würde zu viel Aufsehen erregen. Noch waren die Aussichten ganz gut, dass sie allein war!

»Wir brauchen eine Sänfte!«

»Willst du etwa ohne deine Freunde zu diesem Haus? Ist das eine gute Idee?«

»Wenn wir schnell dort sind, ganz sicher. Noch weitere Fragen?«

Der Alte kratzte seinen Bart. »Wenn ich sehe, dass es Ärger gibt, verdrücke ich mich.«

Volodi lächelte kühl. »Du solltest besser nur gehen, wenn du dir ganz sicher bist, dass der Ärger, den du mit mir haben wirst, wenn du im letzten Augenblick davonläufst, geringer ist als der, der dich im Haus meiner Geliebten erwartet.«

»Glaubst du, dir mit Gewaltandrohung meine Treue sichern zu können?«

Volodi zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, ist es mir egal. Ich spreche nur aus, was sein wird, wenn du mich hintergehst. Und ich hoffe darauf, dass du klug genug bist, nicht zu glauben, dass du als Mann auf Krücken irgendeinem Ärger davonlaufen könntest.«

Mitja runzelte die Stirn, dann nickte er. »Meine Dienste sind soeben um fünf Silberstücke teurer geworden.«

»Du verdammter Halsabscheider. Du …«

Der Alte hob gebieterisch die Hand. »Deinen Reden entnehme ich, dass die Aussicht besteht, dass ich heute Nacht noch dank durchgeschnittener Kehle den Lasten eines allzu hohen Alters entgehen werde. Ich muss dafür Sorge tragen, dass meine Tochter morgen wenigstens genügend Silber in meiner Truhe findet, um im Geisterwald dafür beten zu lassen, dass meine Seele zurück zu unseren Ahnen findet.«

»Es gibt hier einen Geisterwald?« Volodi war aufrichtig überrascht.

»Jedes der großen Völker hat seine eigenen Tempel und Totenstätten in der Goldenen Stadt.«

Er konnte einem alten Mann nicht verwehren, dass er sich darum sorgte, dass sein Geist zu seinen Ahnen fand. Er öffnete erneut die Geldkatze. »Wenn du morgen wohlbehalten wieder auf diesem jämmerlichen Fell sitzt, bekomme ich mein Silber zurück.«

»Abzüglich der Unkosten für meine Arbeit.« Der Übersetzer nahm das Geld und hinkte in seine Nische zurück. Dort hob er ein Tuch, das über einem Stapel Kissen ausgebreitet lag. Zwischen den Kissen lagerten einige Schriftrollen und ein kleines, bronzebeschlagenes Kästchen. Darin verstaute er das Silber.

»Du lässt dein Geld hier auf dem Platz? Willst du es nicht gleich auf die Straße werfen?«

Mitja klappte die Kiste zu. Sie konnte nicht einmal abgeschlossen werden. »Man merkt, dass du noch neu hier bist. Hier ist mein Vermögen bedeutend sicherer verwahrt als in einem Beutel an meinem Gürtel. Vor einigen Jahren haben alle Übersetzer auf dem Platz der tausend Zungen ihre Arbeit eingestellt, weil wir so häufig bestohlen wurden. Drei Tage später haben die Statthalter der sieben Unsterblichen gemeinsam ein Gesetz erlassen, dass für jeden Diebstahl, der auf diesem Platz begangen wird, hundert Missetäter hingerichtet werden, die in den Kerkern gefangen sitzen. Um zu zeigen, wie ernst es ihnen war, erfolgten noch am selben Tag die ersten hundert Hinrichtungen. Seitdem achten sämtliche Schurken dieser Stadt darauf, dass hier niemand lange Finger macht. Ich könnte das Silber ganz offen sichtbar auf dem Wolfsfell liegen lassen und es würde nicht gestohlen werden.«

»Solche Macht habt ihr Übersetzer?«

Der Alte rieb über einen Fettfleck auf seiner Tunika und lächelte. »Ja, solche Macht haben wir. Ohne uns kommt das Geschäftsleben dieser Stadt zum Erliegen. Hier werden zu viele Sprachen gesprochen. Ohne uns Dolmetscher ist man verloren.« Mitja blickte auf und sah Volodi direkt in die Augen. »Du kannst dir also vorstellen, was jemandem geschieht, der so einfältig ist, einem Übersetzer auch nur ein Haar zu krümmen.«

»Nett, dass du mich aufgeklärt hast. So gesehen ist es ziemlich frech, eine Gefahrenzulage für einen Auftrag zu verlangen«, entgegnete der Krieger ruhig. Er wies zum Südende des Platzes, wo gerade ein hagerer Kaufmann mit zwei Begleiterinnen aus einer grell bemalten Sänfte stieg. Die gelben Wickelröcke der Träger wiesen sie als eine der freien Sänften der Stadt aus, deren Dienste man gegen ein paar Kupferstücke in Anspruch nehmen konnte. »Halte die Sänfte auf. Ich komme gleich nach.«

»Und was machst du derweil?«

»Nichts, das dir Sorgen bereiten müsste.«

Der Alte musterte ihn. »Hast du Angst?«

Volodi tätschelte den Griff des Schwertes an seiner Hüfte. »Es gibt nicht viel, wovor ich Angst haben müsste. Nicht alles hat einen Hintersinn. Meine Blase drückt mich«, log er. »Das ist alles. « Ohne weitere Worte zwängte er sich durch die schmale Gasse, die neben der Nische des Übersetzers auf die Rückseite des Gebäudes führte. Ein infernalischer Gestank schlug ihm entgegen. Einige Nacktratten beäugten ihn misstrauisch. Von der Pracht des Platzes war hier nichts mehr zu erkennen. Der verfärbte Putz blätterte vom Mauerwerk ab, überall lag Müll herum. Eine armlange Natter wand sich durch den Abfall. Volodi zog den Dolch des gehörnten Ehemanns unter seinen Gewändern hervor. Es wäre klüger, die Waffe nicht mit zu Quetzalli zu nehmen. Falls sie sie durch Zufall entdeckte, würde das nur zu unangenehmen Fragen führen. Vielleicht würde sie sich sogar wieder für ihren Gatten erwärmen, wenn sie befürchtete, dass er ihm die Kehle durchgeschnitten hatte. Weiber waren in solchen Angelegenheiten völlig unberechenbar. Besser, er hätte den Dolch nicht bei sich!

Er drängte sich wieder in den schmalen Durchgang und blickte fasziniert über den weiten Platz. Alles hier war aus weißem Stein erbaut. Kein Schmutz war zu sehen. Eine andere Welt! So nah waren die Nacktratten und Nattern.

Der Alte strebte rufend der Sänfte entgegen und blickte nicht zurück. Hastig trat Volodi in die Nische des Übersetzers, ließ den Dolch zu Boden fallen und schob ihn unter das abgewetzte Wolfsfell. Hoffentlich hatte Mitja recht, dass sich hier keine Diebe hinwagten. Der Dolch war sicherlich ein kleines Vermögen wert. Volodi wandte sich um und eilte der Sänfte entgegen. Mitja hatte inzwischen Platz genommen. »Was hast du in meiner Kammer gemacht?«

»Mir den toten Wolf angesehen.«

»Wozu?«

»Ich fand, er hätte ein wenig mehr Würde verdient. Zu seiner Zeit war er sicher einmal ein listenreicher Jäger. Du hättest ihm seine Zähne lassen sollen.«

Der Übersetzer runzelte verständnislos die Stirn. »Spielst du damit auf mich an?«

»Sehe ich aus wie jemand, der spielt?« Volodi rief den Trägern zu, wohin sie die Sänfte bringen sollten, und lehnte sich zurück. Er dachte an Quetzalli. Er würde ihr Herz erobern, dachte er zuversichtlich.

Das Totenschiff

Artax spürte den leichten Ruck, mit dem die Sänfte abgestellt wurde. »Sollen wir die Kiste mit den Logbüchern in die Schwebende Halle bringen, Herr?« Es musste einer der Träger sein, der fragte. Das fröhliche, leise Summen des Lotsen, das ihn auf dem Weg durch die Stadt begleitet hatte, brach ab. »Lasst die Kiste nur stehen. Zunächst einmal brauche ich nur dieses Buch.«

Artax kam die Stimme des Lotsen weniger gelassen als sonst vor. Nabor war der Einzige, den er in seinen Plan eingeweiht hatte, und der Luftschiffer hatte verzweifelt versucht, ihm den Unsinn wieder auszureden. Aber Artax war fest entschlossen. Shaya war das Leuchtfeuer in der Finsternis der Niedergeschlagenheit, die ihn umfangen hatte, nachdem sein Besuch in Isatami auf so spektakuläre Weise fehlgeschlagen war. Er war nicht dazu geschaffen, ein Herrscher zu sein. Zu vieles schlug ihm fehl und zerstörte Leben. Vielleicht, so dachte er, war seine Sehnsucht nach der Prinzessin nur eine weitere Narretei. Liebe konnte man es wohl nicht nennen, denn schließlich waren sie einander kaum begegnet, und beim Besuch im Palast des Statthalters hatte Shaya ihn durch nichts in seinen Hoffnungen bestärkt. Höflich und distanziert war sie gewesen. Ganz so, wie es der Befehlshaberin der Palastwache zukam. Sie hatte ihn mit Heilkundigen und sogar einem Geisterrufer besucht, als er nach seinem Kampf mit Muwatta schwer verwundet darniedergelegen hatte. Und er hatte ihr nicht den Salut vergessen, mit dem sie und ihre Krieger ihn verabschiedet hatten, als er die Goldene Stadt verließ. Dies war einer der stolzesten Momente seines Lebens gewesen.

Doch all das war ein schwaches Fundament für den Palast seiner Liebe. Er seufzte. Nein, nicht Liebe. Es war eine Narretei. In seinen Träumen war Shaya ihm das Bindeglied zwischen seinem alten und seinem neuen Leben geworden. Die Almitra des unsterblichen Bauern Artax. Vielleicht würde sie nie so sein wie in seinen Träumen. Vielleicht würde sie auch neue Träume in ihm wecken. Er war bereit, dieses Abenteuer einzugehen.

Artax konnte hören, wie sich der alte Lotse erhob und aus der Sänfte stieg. »Dort drüben in der Schenke habe ich Kredit, Jungs. Ihr sollt auch nicht leben wie die Hunde! Trinkt einen auf mich. Ich werde die Zeche zahlen. Aber wehe, ihr lauft nicht mehr geradeaus, wenn ich nach Hause möchte.«

Die Sänftenträger bedankten sich ausgelassen. Dann hörte Artax ihre Schritte verklingen. Nabor klopfte auf den Deckel der Kiste. »Ihr könnte herauskommen, Erhabenster.« Der schwere Deckel hob sich, Artax streckte erleichtert seine Glieder und sah sich um. »Nächstes Mal müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen als diese Kiste.« Etwa hundert Schritt entfernt erhob sich auf hölzernen Stelzen ein hell erleuchtetes Kuppelzelt aus roter Seide. Sie befanden sich auf einer aus dem Fels geschlagenen Terrasse am Rand der Goldenen Stadt. Hunderte Frachtkisten und allerlei Ausrüstung für Wolkenschiffe lagerten hier. Etliche Steintürme säumten die Terrasse und die nahe gelegenen Hänge. Hier ankerten die Wolkenschiffe der Freihändler, die nicht in Diensten eines der sieben Großreiche standen. Hier lag auch das Totenschiff vor Anker, wie man jenes Wolkenschiff inzwischen nannte, das er einst herrenlos treibend gefunden hatte.

»Ich mache das nicht noch einmal mit, Erhabener«, knurrte Nabor mürrisch. »Ich …« Er fluchte. »Ihr habt doch alle Macht, die man sich nur wünschen kann. Wenn Ihr dieses Mädchen in Euren Harem holen lasst, werden sich die Ischkuzaia ja wohl nicht sträuben. Das ist doch eine Ehre, verdammt noch mal. Und das hier …« Er hob hilflos die Hände. »Dazu fehlen mir einfach die Worte. Flieht heimlich aus dem eigenen Palast, als sei er ein Dieb. Unfassbar! Das ist eine Dummheit ohnegleichen! Ihr wisst, diese Welt ist nicht für Liebe erschaffen!«

Statt auf die Klagen Nabors einzugehen, grinste Artax. »Ich bin in drei Stunden wieder zurück in der Kiste.«

»Ja, ja …« Nabor murmelte noch etwas Unverständliches, dann ging er zu dem beleuchteten Zelt, in dem sich die Lotsen versammelten und einander ihre kostbaren Karten zeigten. Ein anderes Mal würde er mitkommen, dachte Artax. Er war neugierig auf diese Welt. Und auch auf jene, deren Leben es war, auf Nangog hinabzublicken. Vielleicht gab es niemanden, der diese Neue Welt so tief verstand wie die Lotsen der Wolkenschiffe. Sie sollten ihr Wissen verbreiten, statt sich in einer geheimen Loge zusammenzutun.

Der Unsterbliche schlich zum Ankerturm des Totenschiffes. Am Fuß des Turms waren nirgendwo Wachen zu sehen und so begann er mit dem langen Aufstieg. Ob Shaya wirklich auf ihn warten würde? Ihm gingen die Worte des alten Lotsen durch den Kopf. Ihr wisst, diese Welt ist nicht für Liebe erschaffen!

Artax wusste, dass hier auf Nangog so gut wie nie Kinder gezeugt wurden. So selten, dass es dafür keine andere Erklärung geben konnte als die, dass sich die Welt selbst gegen sie wehrte. Sie wollte keine Menschen auf sich tragen. Gleichzeitig veränderte sie das Gemüt. Wer hierherkam, wurde friedlicher. Krieger mussten nach spätestens zwei oder drei Jahren ausgetauscht werden. Er war den Ankerturm vielleicht fünfzig Schritt weit hinaufgestiegen und verharrte kurz, um den Ausblick auf sich wirken zu lassen. Nichts auf ihrer Heimatwelt Daia kam dieser Stadt auch nur annähernd gleich. Tausende Lichter funkelten im Dunkel. In schäbigen Gassen und an den breiten Prachtalleen. Wie gefrorene Wolken schwebten die gewaltigen Himmelsschiffe an ihren Ankerplätzen, getragen von jenen rätselhaften Kreaturen, die untrennbar mit den Schiffen verbunden waren und friedlich durch Nangogs Himmel trieben. Die Wolkensammler griffen Menschen nicht an, und doch hatte die Kreatur, die über ihm schwebte, eine ganze Schiffsbesatzung ausgelöscht. Niemand hatte bisher eine Erklärung gefunden, warum das geschehen war, oder wie. Er musste verrückt sein, sich ausgerechnet hier mit Shaya zu treffen. Falls sie denn verstanden hatte, was er mit seinem Rätselspruch gemeint hatte. So müssen wir uns wohl fügen, dass die glückselig machende Erkenntnis so weit von uns entfernt ist wie die Monde um Mitternacht von der fernsten Wurzelspitze. Ihm selbst erschien der Satz nun gestelzt und unverständlich. Er hatte so sein müssen, damit die Umstehenden nicht errieten, welche geheime Botschaft er enthielt. Für ihn wäre die glückselig machende Erkenntnis die Antwort auf die Frage, ob er auf ihre Liebe hoffen durfte. Die Monde um Mitternacht war eine Angabe über die Zeit, wann er sie zu treffen hoffte. Nämlich um Mitternacht. Und die fernste Wurzelspitze gab in Verbindung mit dem Gespräch über das verfluchte Wolkenschiff den Ort an, an dem er auf sie warten würde. Die Lotsenkanzel unter dem Rumpf des Schiffes. Jener Ort, zu dem die fernsten Wurzelspitzen des Lebenden Baums hinabreichten, der auf dem Wolkenschiff wuchs und dessen Wurzelwerk das Holz durchzog, wie die Wurzeln anderer Bäume ins Erdreich drangen. Aber hatte sie das verstanden? Schließlich war sie nur eine Kriegerin aus einem Barbarenvolk!

Wieder blickte Artax auf die Stadt. Jedes der sieben großen Reiche hatte hier versucht, sein Bestes zu geben. So vieles wäre möglich, wenn es nicht Männer wie Muwatta gäbe. Warum duldeten die Devanthar ihn? Welchen Zweck erfüllte er? Welcher unbekannte Zweck war ihm beschieden, dachte er verzweifelt. Es war müßig, die Gedanken von Göttern verstehen zu wollen!

Er lauschte auf das Klappern und Plätschern der riesigen Holzräder, die das Wasser dem Gipfel entgegenhoben. Dies war die Melodie der Goldenen Stadt. Das Geräusch, das niemals verstummte und sie von allen anderen Städten unterschied, die er je betreten hatte. Stunden schwieg er, was ein seltenes Glück war. Fast war er ihm dankbar dafür.

Jenseits der Kanäle flackerte ein grünes Licht auf. Einen Lidschlag lang nur. Ein Schaudern überlief Artax. War es einer jener Geister, die in dem dunklen Tal nahe seinem Heimatdorf wüteten? Er kniff die Augen zusammen, spähte in die Ferne und tastete unwillkürlich nach seinem Gürtel. Da war kein Schwert. Nicht einmal ein Dolch. Zu diesem Treffen hatte er nicht mit einer Waffe kommen wollen. Schon gar nicht mit dem Schwert – schon gar nicht mit seinem Schwert. Nur selten dachte er an das unheimliche grüne Licht, das um die Klinge gespielt hatte, als er den Anführer der Piraten tötete. Er hatte die Erinnerung tief in sich vergraben wie auch die Erinnerungen an das dunkle Tal. Andere hingegen trugen die Geschichte weiter. Gegen seinen Willen und doch war er machtlos, es zu unterbinden. Er hatte es nicht einmal versucht. Von Juba wusste er, dass jener Name, den Volodi ihm auf Kyrna gegeben hatte, längst in aller Munde war, obwohl man sich hütete, ihn in seiner Gegenwart auszusprechen. König Geisterschwert.

Ob der Name schon bis zu Shaya vorgedrungen war? So wollte er nicht vor sie treten. Nicht als der Unsterbliche, als der von den Göttern Erwählte, dessen Macht keine Grenzen kannte. Er wollte Artax sein. Der Bauer! Der, der nichts zu vergeben hatte, außer seinem Herzen. Der, bei dem man sich nichts erhoffen konnte, außer aufrichtiger Liebe.

Er erwartete eine spöttische Bemerkung, doch Aaron schwieg noch immer. Lag es vielleicht daran, wie er aussah? Alle Insignien seiner Macht hatte er im Palast zurückgelassen, trug lediglich eine einfache Tunika und ein Paar abgewetzter Sandalen, die er einem seiner Diener gestohlen hatte. Nichts von dem, was er am Leibe trug, war für den Unsterblichen erschaffen worden. Wenn er sich von allen Äußerlichkeiten seines Amtes trennte, wurde er dann auch seinen Quälgeist los? War er vielleicht an die Dinge gebunden, die einst Aaron gehört hatten? Er würde dem nachgehen, sobald er in den Palast zurückkehrte. Aber jetzt sollte seine neue Freiheit allein Shaya gehören. Wenn sie denn kam.

Sein Herz schlug schneller, als er zu dem mächtigen Wolkenschiff emporblickte. Wartete sie dort? Sie hatte ihm kein Zeichen gegeben, dass sie ein Treffen mit ihm wünschenswert fand. Sie hatte es auch nicht gekonnt! Nicht am Hof des Statthalters unter einem Dutzend neugieriger Augenpaare. Er sah zu der Kanzel des Lotsen, die wie ein großer schwarzer Edelstein aus dem Rumpf des Wolkenschiffes wuchs. Kein Licht war dort. Nichts wies darauf hin, dass sie gekommen war. Ein Seil hing in weitem Bogen von dort herab. Es war an einem der zahllosen Holzpfosten vertäut, die wie Stacheln seitlich aus dem Ankerturm wuchsen. Eines von gewiss hundert Seilen. Ob es oben an Deck Wachen gab? Artax wusste, dass dieses Wolkenschiff unter den Ischkuzaia als verflucht galt. Es würde schwer sein, Männer zu finden, die eine Nacht an Bord durchstehen würden. Selbst unter den tapfersten Kriegern.

Artax dachte an den weiten Saal voller Toter, den er dort vor mehr als zwei Jahren entdeckt hatte. Er schluckte. Das Wolkenschiff war wahrlich kein romantischer Ort für ein Stelldichein, aber nirgends sonst in der Goldenen Stadt durften sie beide auf ein paar ungestörte Stunden hoffen. Es brachte nichts, seine Zeit mit endlosem Grübeln zu verbringen! Entschlossen stieg er die breite Außentreppe des Ankerturms empor, bis er jene Leine erreichte, die zur Lotsenkanzel führte. Beklommen blickte er in die Tiefe. Weit unter ihm leuchtete das Zelt der Lotsen wie eine Laterne, die ein Riese zwischen den Ankertürmen abgestellt hatte.

Artax packte den rauen Hanf des Seils, streckte sich und ließ die Sicherheit der steinernen Stufen hinter sich. Er hakte seine Fersen über das Seil und zog sich Hand um Hand vorwärts. Bald begannen die Muskeln in seinen Armen zu brennen. Er hatte sich verschätzt, wie viel Kraft diese Kletterei kostete. Einmal mehr drehte er den Kopf, hin zur Lotsenkanzel. Sie war noch mehr als zehn Schritt entfernt — und er hing kopfüber im Nichts! Wenn jetzt einer der Lotsen das Zelt verließ und nach oben blickte … Artax presste die Lippen zusammen. Es brachte nichts, sich auszumalen, was alles passieren mochte. Er könnte auch einen Krampf bekommen und … Er lachte zynisch. Schwarzzusehen war ohne Zweifel eines seiner großen Talente. Entschlossen zog er sich weiter das Seil entlang. Hand über Hand. Er blickte nicht mehr nach unten. Nicht mehr zur Kanzel. Es gab nur noch ihn und das Seil und den brennenden Schmerz in seinen Armen. Weiter! Weiter … Sein Kopf stieß gegen die Scheibe der Kanzel. Er konnte spüren, wie das Glas zurückschwang. Jemand packte ihn unter den Armen und zog ihn in die Lotsenkanzel.

»Du kletterst wie einer der Baummänner.«

Artax hätte die Stimme unter Tausenden erkannt. Dankbar und ungläubig zugleich blickte er zu Shaya auf. Ihr Gesicht war kaum mehr als ein Schattenriss in der Dunkelheit. Er wollte etwas Geistreiches antworten … Den ganzen Abend über war er in Gedanken immer wieder diesen Augenblick durchgegangen, hatte sich schöne Worte zurechtgelegt. Doch alles, was er jetzt zustande brachte, war ein verlegenes Räuspern. Bei den Göttern!

»Ich sehe, du bist auch etwa so gesprächig wie ein Baummann.«

»Aber nicht so haarig.« Nein! War er denn von allen guten Geistern verlassen? Was redete er da nur!

»Dann besteht ja noch Hoffnung …« Sie lachte.

Hoffnung worauf, dachte er, und räusperte sich erneut. »Schön, dass du hier bist. Ich …« Was hatte sie nur an sich, dass er wie ein bartloser Jüngling stammelte? »Also … Ich meine … War es schwer für dich, hierherzukommen?«

»Nein. Ich musste nur sagen, wohin ich will, und konnte sicher sein, keine Begleiter zu haben. Ich habe vorgegeben, ich wolle hier oben die Geister der Toten zu mir rufen.«

»Das kannst du?« Es war zu dunkel, um in ihren Zügen zu lesen.

»Vielleicht.« Ein Hauch schalkhaften Spotts schwang in ihrer Stimme mit. »Manche Geister sind gesprächiger als du, unsterblicher Aaron, Beherrscher aller Schwarzköpfe.«

»So bin ich nicht immer … Das heißt …« Er seufzte. »Ich …«

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Ihre Berührung ließ ihn erschauern.

»Ich hatte befürchtet, einem selbstsicheren Unsterblichen zu begegnen, der mich großspurig dazu auffordert, mit ihm das Tier mit den zwei Rücken zu machen. Ich bin angenehm überrascht.«

»Oh … Wenn … Dann … Danke.« Ihm war schleierhaft, was man an seinem Gestammel angenehm finden konnte. »Das Tier mit den zwei Rücken?«

»Ein Philosoph deines Volkes hat diese Redewendung geprägt. Aber ich hörte schon, dass du dich lieber in waghalsige Abenteuer stürzt als in Stapel alter Schriften. Der Philosoph wollte damit zum Ausdruck bringen, wie Männer und Frauen miteinander verkehren, wenn sie Nachwuchs zeugen wollen. Ein recht treffendes Bild, fand ich immer.«

Artax spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg, und war froh, dass Shaya ihn in der Dunkelheit nicht erröten sehen konnte. Er brauchte dringend einen Plan! Er hatte jegliche Kontrolle über die Situation verloren. »Wir sollten die Lotsenkanzel verlassen«, sagte er mit heiserer Stimme.

»Wohin willst du gehen? Hier sieht man uns genauso wenig wie im Schiff, solange wir kein Licht entzünden.«

»In die Kammer unter dem Baum …« Er sagte das nur, weil er das Wolkenschiff nicht kannte und ihm kein anderer Ort einfiel.

»Dort würdest du hingehen?« Zum ersten Mal schwang Unsicherheit in ihrer Stimme.

Eigentlich wollte er nicht dorthin gehen. Er wollte einfach bei ihr sein. Ihre Nähe genießen. Reden … Weiter hatte er nicht gedacht. Aber das konnte er ihr wohl kaum geradeheraus ins Gesicht sagen! Er wollte sie auch nicht anlügen. Und das würde er tun, wenn er ihr vorgaukelte, dass es ihm nichts ausmachte, in jenen weiten Saal zu gehen, den er voller Toter gesehen hatte. Am besten wäre es, er wechselte das Thema. »Die Geisterrufer … Können sie wirklich die Toten zurückrufen, um mit ihnen zu sprechen?«

»Zweifelst du daran?« Sie klang beleidigt.

Er zögerte zu antworten, doch schon sein Schweigen war beredt genug.

»Ausgerechnet du, König Geisterschwert? Das hätte ich nicht erwartet.«

»Ich habe noch nie einen Geist gesehen …«

Shaya deutete mit weit ausholender Geste hinab zu den Kanälen. »Du kennst die Grünen Geister Nangogs, die in diese Stadt eindringen und uns aus ihrer Welt vertreiben wollen. Es heißt, du hättest einen von ihnen mit Zaubermacht in dein Schwert gezwungen. Wie kannst du da glauben, dass von meinen Ahnen nichts bleibt, wenn ihre Seele sie verlässt! Manche fühlen sich ihrem Volk so sehr verbunden, dass sie bleiben, um den Lebenden zu helfen, wenn sie es vermögen. Mit ihnen sprechen die Geisterrufer. Auch die Priester der Geisterhaine in Drus vermögen das.«

Artax sah sich beklommen um. Die Vorstellung, zu jeder Zeit von den Geistern seiner Ahnen umgeben zu sein, behagte ihm nicht.

Shaya lachte leise, als habe sie ihn durchschaut. »Die Geister sind schwach in dieser Welt. Sie fliehen Nangog. Sie wissen, dass wir alle nicht hierhergehören.«

»Warum ist dein Volk hier, wenn ihr der Überzeugung seid, nicht hierherzugehören?«

Sie schnaubte. »Wir würden unser Gesicht verlieren, wenn wir nicht hier wären. Wir sind nicht feige! Aber unsere Geisterrufer sind von großer Sorge erfüllt. Sie sagen, die Geister spüren ein großes Unheil nahen. Ein Unheil, das alle Welten erschüttern und selbst die Götter Demut lehren wird.«

Das war nun endgültig blanker Unsinn, dachte Artax. »Dieser Gedanke ist in sich nicht schlüssig. Wie könnten die Götter, die die Welten erschaffen haben und alles, was darauf lebt, ein sich anbahnendes Unheil übersehen, das sie und ihre Schöpfung gefährdet? Das ist unwahrscheinlich. Das muss auch dir einleuchten.«

»Deine Annahme setzt voraus, dass die Götter vollkommen sind. Was, wenn das ein Irrtum ist? Was, wenn auch ihre Taten von Eigennutz und falschem Stolz beherrscht werden? Warst du noch nie von den Göttern enttäuscht? Hast du dich noch nie ihrer Willkür ausgeliefert gefühlt?«

Artax dachte an den Brand der Schilfbündelhallen und wie verzweifelt er damals gewünscht hatte, der Löwenhäuptige würde helfen. Ja, er kannte den Zweifel an den Göttern! Aber was würde bleiben, wenn er den Glauben an den letztlich guten Willen des Löwenhäuptigen verlor? Und wie lange würde er überleben, wenn der Devanthar es bemerkte? Er musste sich gegen dieses giftige Gedankengut, diesen Irrglauben sperren! »Welche Gefahr sehen die Geisterrufer hier in Nangog?«, wechselte er abrupt das Thema.

»Ist ein Wolkenschiff voller Toter keine deutliche Warnung? Keiner weiß, wie sie gestorben sind. Doch alle kennen ihr Schicksal. Und wer immer mit einem Wolkenschiff eine neue Reise beginnt, tut dies mit dem Herzen voller Furcht. Und die Grünen Geister … Heute Nachmittag erst entdeckten die Wachen an den Flusstürmen einen besessenen Schiffer. In seinem Leib wäre fast einer der Geister durch den magischen Wall gedrungen. Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas geschah. Die Geisterrufer sagen, dass die Grünen Geister versuchen, sich in unsere Seelen festzukrallen. Aber es ist, als wolle man sich an polierten Stein klammern. Sie finden selten Halt. Und selbst wenn es gelingt, gleiten sie nach wenigen Augenblicken wieder aus unseren Seelen. Doch was wird geschehen, wenn sie eines Tages einen finden, der anders ist? Einen, in dem sie verweilen können? Unsere Geisterrufer haben große Angst vor ihnen. Sie haben Angst, dass ihre Gabe vielleicht das sein könnte, was die Grünen Geister suchen. Ein Halt, der es ihnen erlaubt zu bleiben. Unerkannt. Deshalb verlassen sie die Goldene Stadt nicht und verweilen selten länger als für einige Stunden hier auf Nangog.«

Und wenn es schon geschehen ist, dachte Artax. Was würden die Grünen Geister tun? Was war ihr Ziel? Konnten sie vielleicht sogar von einem Unsterblichen Besitz ergreifen? Nein, ganz gewiss nicht. Nicht von einem Unsterblichen! Das würden die Devanthar niemals zulassen. Aber gab es andere? Er fand die Vorstellung zutiefst beunruhigend und entschied sich, lieber daran zu glauben, dass die Devanthar keinen einzigen Menschen den Geistern überlassen würden. Nicht weil sie so edelmütig waren, sondern lediglich, weil sie nicht dulden würden, dass irgendein Geist etwas stahl, das ihnen gehörte.

Shaya sah ihn unverwandt an. Las sie an seinem Antlitz ab, was er dachte? »Und, Prinzessin … Hast du einen Plan, wie wir die Welt retten können?« Die Frage war ihm einfach so herausgeplatzt. Es war eine Almitra-Frage. Eine Frage für lange Nächte am Kamin bei Kohlsuppe und Brunnenwasser. Auch Shaya hatte er diese Frage im Geiste schon gestellt. Jetzt, so wurde Artax mit einem Mal bewusst, würde sich erweisen, wie viel die Shaya seiner Träume mit der wirklichen Shaya gemein hatte. Was würde er darum geben, jetzt ihr Gesicht zu sehen und nicht nur einen Schattenriss!

»Hast du schon einmal im Himmel getanzt?«

Was sollte das jetzt? Jedes Mal, wenn er glaubte, sie ein wenig zu verstehen, brachte sie ihn wieder aus der Fassung. Die Barbarenprinzessin, die eine Kriegerin war und die Texte von Philosophen las, die an Geister glaubte, aber an ihren Göttern zweifelte. Immerhin, sie hatte ihn nicht ausgelacht. Das war gut, dachte er. Das war sehr gut. Das war fast schon ein Anfang.

»Hast du?«

»Ich … Nein.«

Sie nahm seine Hand und zog ihn zu der Sprossenleiter, die hinauf ins Wolkenschiff führte. Sie hatte einen festen Griff. Ihre Handfläche war ein wenig feucht. Sie war sich also auch nicht so sicher, wie sie wirkte.

»Wohin gehen wir?«

»Ein Philosoph aus meinem Volk hat einmal gesagt: Erst wenn du keinen Weg mehr siehst, der dich zu deinen Zielen führen wird, bist du völlig frei.«

Das war Artax zu hoch.« Ich verstehe nicht …«

»Das ist doch leicht«, sagte sie. »Du bist frei, weil du erst dann jeden Weg gehen kannst.«

Sie lachte. Es klang nicht verletzend oder herablassend. Ganz gleich, was die Nacht noch bringen würde – allein für dieses Lachen hatte sich alles gelohnt. Für ein Lachen von ihr würde er den Zorn des Löwenhäuptigen herausfordern.

Am Ende der Stiege

Volodi war gereizt. »Gleich«, entgegnete er, als der Dolmetscher »Wann gehen wir?« fragte. Zum vierten Mal bereits. Mindestens.

Volodi spähte durch die Vorhänge zu dem kleinen Haus in der Mitte der Straße. Er wusste, dass ihnen im Grunde keine Zeit blieb. Durch das obere Fenster fiel Licht. In jenem Zimmer hatten sie sich geliebt. Volodi hatte gehofft, Quetzallis Schattenriss zu sehen, aber da war nur das Licht.

»Gut, gehen wir«, murrte Volodi, schob den Vorhang der Sänfte zur Seite und drückte dem vordersten Träger einige Kupferstücke in die Hand. Hinter ihm schob sich der Übersetzer aus der Sänfte und stützte sich schwer auf seinen Gehstock. Volodi sah sich nicht nach ihm um. Sein Blick wanderte von der Tür zum Fenster. Sein Kriegerinstinkt sagte ihm, dass es falsch war, noch einmal hierher zurückzukommen. Was konnte er hier noch gewinnen? Nur ein paar Worte. Es war vorbei! Dennoch lief er entschlossen auf die Tür zu – leicht geduckt, als würde das helfen, seine hünenhafte Gestalt in der Gasse verschwinden zu lassen. Seine Hand lag am Griff des Schwertes an seiner Hüfte.

Mit der Schulter drückte er die Tür auf. Sie war unverschlossen, so wie sie es immer gewesen war. Wieder umfingen ihn die Gerüche, die ihm in den wenigen Tagen so vertraut geworden waren. Der Duft von Federn und dem weißen Baumharz, das sie in ihren Räucherschalen verbrannt hatte. Auch all die anderen Düfte, die er lieben gelernt hatte, ohne dass er sie zu benennen vermochte. Und er roch sie. Sie war noch hier.

Hinter ihm schob sich leise knarrend die Eingangstür auf. Erschrocken fuhr Volodi herum, das Schwert in der Hand.

»Ruhig, Junge«, sagte Mitja und schob mit zwei Fingern sehr langsam die Spitze der Klinge zur Seite, die auf seine Kehle zeigte.

Volodi lächelte verlegen. Er machte sich ja zum Narren! »Warte einen Moment«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln.

Oben erklang eine Stimme. Ihre Stimme. Sie hatte auf ihn gewartet! Er hatte es gewusst.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend stürmte er die Treppe hinauf.

»Nicht!«, rief Mitja ihm nach.

Volodi stieß die Tür zu dem Zimmer auf, in dem er so viele glückliche Stunden verbracht hatte. Quetzalli saß auf ihrem Lager, inmitten der federgeschmückten Wände. Blaugrauer Rauch wogte um sie und ihre Augen waren weit aufgerissen. Etwas stimmte nicht …

Ein Schlag traf ihn auf den Hinterkopf. Er taumelte nach vorn. Das Schwert entglitt seinen Fingern.

Quetzalli sprang auf. Sie schloss ihn in die Arme. Im selben Augenblick traf Volodi ein zweiter Schlag. Wie wunderbar sie duftete, dachte er noch. Dann schwanden ihm die Sinne.

Im Himmel tanzen

Shaya streckte ihm die Hand entgegen. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Du darfst einfach nicht nach unten schauen.«

Artax atmete unregelmäßig. Nach unten hatte er leider schon geschaut, und dass es für eine Kriegerin, die daran gewöhnt war, an einem Luftsack mit Tentakeln gebunden zwischen den Wolken herumzuturnen, nicht weiter schlimm war, glaubte er sofort. Aber er hatte gern festen Boden unter den Füßen — oder zumindest Planken. Am Seil zur Lotsenkabine zu klettern war schon übel gewesen. Aber das hier …

Die Seile, die als ein weites Netz um den Leib des Wolkensammlers geschlungen waren, waren samt und sonders mit zähem Schleim bedeckt, sie waren glitschig, und fast jedes Mal, wenn er danach griff, rutschte seine Hand ein Stück am Seil entlang, bis sie dann irgendwann Halt fand. Oder auch nicht. Dann rutschte er ein paar Schritt tiefer und kämpfte darum, mit den Füßen Halt in einem der querlaufenden Seile des weiten Netzes zu finden. Es war kein Spaß, an diesem verdammten Vieh hinaufzuklettern, und er konnte nicht begreifen, was sie ihm zeigen wollte oder was das heißen sollte, im Himmel zu tanzen.

Er begann wieder zu rutschen. Sofort griff er nach Shayas Hand. Sie war erstaunlich stark. Scheinbar ohne Mühe zog sie ihn hoch. Er machte den Fehler hinabzublicken. Das Lotsenzelt lag unendlich weit unter ihm. Er hing nur an Shayas Hand und …

Endlich fanden seine Füße Halt. Schwer atmend klammerte er sich an eines der quer gespannten Taue.

»Bald sind wir über die Mitte hinweg. Wenn sich der Leib erst einmal zum Zenit hin krümmt, kommt man viel leichter voran.«

»Alles Klasse«, log er wenig überzeugend. »Mir geht es gut.«

»Ich weiß, Unsterblicher. Um dich muss ich mir keine Sorgen machen. Selbst wenn du aus dem Himmel stürzen solltest, wäre das ja nicht das erste Mal für dich.«

Er vermochte nicht einzuschätzen, ob sie das ernst oder ironisch meinte. Sie schaffte es, ihn zu verunsichern. Manchmal ärgerte ihn das, aber alles in allem war es eine Eigenschaft, die er an ihr schätzte.

Schweigend kletterte er weiter. Er war inzwischen über und über mit dem Schleim bedeckt, den der Wolkensammler absonderte. Das Sekret war fast geruchlos. Ihm haftete nur ein ganz leichter Duft nach feuchtem Waldboden an. Gar nicht einmal unangenehm. Trotzdem, so dachte Artax, würde er ein langes Bad nehmen, wenn er endlich in seinem Palast zurück war. Er musste einen anderen Weg ersinnen, sich mit Shaya zu treffen. Am aufgeblähten Leib eines Wolkensammlers hinaufzuklettern passte definitiv nicht zu seiner Vorstellung von einem romantischen Stelldichein – auch wenn man sicherlich Zugeständnisse machen musste, wenn man sich mit einer Barbarenprinzessin traf, die in ihren freien Stunden verdrehte philosophische Schriften las.

Als sie endlich den Äquator der riesigen kugelförmigen Kreatur hinter sich ließen, ging es in der Tat viel schneller voran. Die Haut des Wolkensammlers veränderte sich. Sie fühlte sich jetzt wie weiches, feuchtes Moos an und der Schleim war verschwunden. Die Hand am Seil, stürmten sie dem Zenit der gewaltigen Kreatur entgegen, die ohne Mühe ein palastgroßes Schiff in den Himmel zu heben vermochte.

Am höchsten Punkt fanden sie eine flache Senke, etwa hundert mal hundert Schritt groß. Shaya ließ sich mit einem genüsslichen Seufzer fallen, streckte Arme und Beine weit von sich und blickte zu den Zwillingsmonden empor, die in dieser Nacht sehr nahe beieinanderstanden.

Sie winkte ihm. »Komm, leg dich neben mich!«

»Ist das Tanzen?«

»Nein, das ist: die Welt atmen. Hier gibt es nur uns, den Himmel und die beiden Monde. Alles andere ist in diesem Augenblick bedeutungslos. Wir sind die Welt.«

Artax zog es vor, zu schweigen. Ihre Gefühle waren ihm fremd. Nicht unangenehm, aber unvertraut. Er vermutete, dass es an den Worten lag, die sie wählte. Er hätte gern nachgefragt, spürte aber zugleich, dass jedes Wort von ihm den Zauber des Augenblicks zerstören könnte. Im Grunde hatte er es so haben wollen – sie beide allein unter den Monden. Es hätte nur nicht hoch unter den Sternen auf dem Rücken eines Wolkensammlers sein müssen.

Er streckte sich neben ihr auf der moosigen Haut des Himmelsriesen. Artax spürte den mächtigen Körper unter sich sacht vibrieren. Ein angenehmes Gefühl. Fast, als würde man in den Schlaf gewiegt. Tief unter ihnen ertönte sehr leise eine seltsame Abfolge von Tönen. Ein Zischen und Pfeifen. Nicht willkürlich … Beinahe eine Melodie.

Shaya drehte sich auf den Bauch, stützte den Kopf auf die Hände und blickte auf ihn hinab. Jetzt, wo der Himmel nicht mehr vom riesigen, aufgeblähten Leib des Wolkensammlers verschlungen wurde, reichte das Licht der Zwillingsmonde, um ihre Augen deutlich zu erkennen. Brennend dunkle Augen. Augen, die viel gesehen hatten. Voller Weisheit und zugleich auch wild.

»Ich bin schon Fischen begegnet, die gesprächiger waren als du, Unsterblicher.«

»Wenn man alte Männer dazu bringt, auf berggroße Ungeheuer zu klettern, muss man damit rechnen, dass ihnen die Puste ausgeht.«

Sie runzelte die Stirn. »Du siehst immer noch aus wie ein junger Mann. Bist du sehr alt?«

»So alt wie die Götter.« Er grinste.

»Dann hattest du wohl schon sehr viele Frauen …«

Artax dachte an die vergangenen beiden Jahre. Daran, wie er im Harem nicht hatte finden können, was er gesucht hatte. Eine wirkliche Gefährtin! »Vielleicht hältst du das, was ich dir jetzt sagen werde, nur für schöne Worte, aber glaube mir, es die Wahrheit. Von ganzem Herzen die Wahrheit! Einer Frau wie dir bin ich noch niemals begegnet.«

Sie lächelte versonnen. »Ich glaube dir.« Plötzlich legte sich ein Schatten auf ihr Gesicht. »Du hast deinen Harem aufgelöst.« Ihre Stimme klang fast bitter.

»Ja.«

»Die Menschen reden viel über dich. Du bist anders. Manche haben Angst vor dir. Andere sagen, du seiest fast so groß wie ein Gott. Sie sagen auch, dass du keinen Harem brauchst, weil du jedes Weib besitzen kannst, auf das dein Blick fällt.«

»Wer sagt das?«

»Dieselben, die erzählen, dass du nur mit deinem Blick tausend blutdürstige Piraten zum Niederknien gezwungen hast und dass du einen Geist in deinem Schwert gefangen hältst, der dir alle Gedanken deiner Feinde zuflüstert, sodass du im Zweikampf unbesiegbar bist.«

»Du hast an meinem Krankenlager gestanden. Habe ich da unbesiegbar ausgesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe um dein Leben gefürchtet. «

»Warum?«

»Weil …« Sie setzte sich auf. »Weil … Weil! Genügt es nicht, dass es ist, wie es ist? Muss man immer hinter die Dinge blicken?«

»Unsterbliche müssen das.«

Sie schnaubte. »Jetzt hast du zum ersten Mal etwas gesagt, was von meinem Vater hätte sein können.«

»Magst du ihn nicht?«

»Kann man einen Unsterblichen mögen? Als ich klein war, war er sehr nett zu mir. Und dann plötzlich, in meinem siebten Jahr, kurz nach der Sommersonnenwende, war er von einem Tag auf den anderen völlig verändert. Er interessierte sich nicht mehr für mich.« Sie saß jetzt ganz steif. Ihre Hände ruhten zu Fäusten geballt auf ihren Schenkeln. »Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich damals zu seinen bevorzugten Kindern gehört habe. Dass er den Älteren gegenüber schon immer so kühl gewesen war, wie er mir von diesem Tag an begegnete. Ein paar Jahre später ist es noch einmal geschehen. Und das gilt nur für die Kinder, die am Wandernden Hof bleiben durften. Ich bin keineswegs seine siebenunddreißigste Tochter. Es gibt unendlich viel mehr! Am Wandernden Hof zählen sie nur die Kinder, die von Prinzessinnen geboren werden. Früher hatte er immer an mir gemocht, dass ich wie ein Junge war. Dass ich reiten konnte und mit dem Bogen schießen. Ich bin diesen Weg weitergegangen, auch nachdem ich seine Gunst verloren hatte. Er hat mich letztlich hierher geführt. Ich habe darauf gewartet, dass ich verheiratet werde. Das ist das Los von uns Prinzessinnen.« Sie lachte bitter auf. »Aber wer will schon ein Weib, das sich darauf versteht, mit einer Dornaxt Schädel einzuschlagen? Das hatte ich nicht bedacht, als ich mich entschieden habe, eine Kriegerin zu werden. Ich verfüge über keinerlei Tugenden, die eine Prinzessin auszeichnen sollten. Ich spiele kein Instrument. Ich habe zu schmale Hüften, um leicht Kinder zu gebären und wenn ich singe, bleibt den Nachtigallen im Palastgarten vor Schreck das Herz stehen.«

Ihre Worte erfüllten Artax mit Schmerz. Wie gern hätte er ihr den Kummer genommen. Hätte ihr zumindest erklärt, dass sie nicht die Gunst ihres Vaters verloren hatte, sondern ihr Vater damals gestorben war — und auch wieder nicht. Dass er an jenem Tag, als er ihr noch einmal nahe gewesen war, zurückgefunden hatte an die Oberfläche jenes Mannes, der jetzt ihr Vater war – nur um einen Augenblick an ihrer Seite zu verbringen. Er musste sie sehr geliebt haben. Auch er, Artax, liebte ihre Andersartigkeit; liebte sie gerade weil sie nicht so war wie all jene, die sie als gute Partie beschrieb. Doch nichts davon kam über seine Lippen. Aus Furcht. Aus Scham. Und weil er sich sicher war, dass er die Geduld des Devanthar mit dem Verrat des Geheimnisses um die Unsterblichkeit deutlich überfordern würde. Er konnte ihr nicht helfen. Nicht so. Nicht jetzt. Nicht hier. Er musste einen anderen Weg finden, sie aufzuheitern. »Du wolltest mit mir im Himmel tanzen«, erinnerte er sie.

»Falls du auf eine Art Tanz hoffst, die den Männern das Blut zwischen die Schenkel treibt, wirst du enttäuscht sein. Ich tanze für mich. Um mich zu vergessen. Mich frei zu fühlen von allem. Ich bin ein altes Weib. Ich habe schon silberne Haare.«

»Darf ich dein Silberhaar im Mondlicht sehen?«

Sie blickte ihn entsetzt an. »Kein gutes Kompliment! Ich reiße sie aus, sobald ich sie entdecke.«

»Wie alt bist du denn, du Greisin?«

Sie presste die Lippen zusammen und eine steile Zornesfalte erschien zwischen ihren Brauen. »So etwas fragt man nicht.«

»Unsterblichen ist alles erlaubt.« Kaum waren die Worte über seine Lippen, da er hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen. Das war nicht witzig. Das war nur frech! Sprach etwa Aaron aus ihm?

In ihren Augen loderte ihr ganzes Temperament. »Vierundzwanzig! « So wie sie es sagte, klang es wie eine Herausforderung.

»Kannst du ermessen, wie jung das für einen Unsterblichen ist?«

Auf diese Antwort war sie sichtlich nicht gefasst gewesen. Er konnte förmlich sehen, wie ihr Zorn verrauchte. Lange sahen sie einander wortlos an. Das Licht der Zwillingsmonde schmeichelte ihr. Er hätte bis zum Morgengrauen einfach nur zu ihr aufblicken können. Ein leichter Wind war aufgekommen und spielte mit ihrem Haar. Sie war die Frau, nach der es ihn immer verlangt hatte, das wusste er nun ganz sicher. Sie war Almitra – und noch unendlich viel mehr. Bislang war Shaya nur ein Gefäß gewesen, das er mit seinen Träumen und Wunschvorstellungen gefüllt hatte. Er war hierhergekommen, um der Wirklichkeit zu begegnen. Und was er sah, gefiel ihm besser noch als alle Bilder seiner Träume.

Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Komm, tanz mit mir«, sagte sie leise.

»Ich fürchte, ich tanze etwa so gut, wie du singst.«

Sie lächelte. »Außer mir und den beiden Monden wird es niemand wissen.«

Der Dolch

Volodi hatte einen unangenehmen metallischen Geschmack im Mund. Blut? Nein. Etwas drückte gegen seinen Gaumen. Etwas war in seinem Mund. Was für ein seltsamer Traum, dachte er benommen. Stimmen redeten in einer fremden Sprache. Er schüttelte den Kopf und etwas schnitt in seinen Mundwinkel. Erschrocken riss er die Augen auf. Er hatte ein Messer im Mund! Blut troff sein Kinn hinab auf die Brust!

Er blickte in das Antlitz des kleinen Mistkerls von einem Blasrohrschützen, der auf ihm hockte, das Messer hielt und ihn gehässig angrinste.

»Du solltest jetzt nichts Unbedachtes tun«, nuschelte Mitja.

Volodi schielte am Messer vorbei. An der gegenüberliegenden Wand kauerte Mitja. Sein Gesicht erinnerte an einen Klumpen rohen Fleischs. Sein Kopf war nach vorne gesackt, die Augen zugeschwollen. Seine Hände hielt er vor die Brust gepresst. Sie umklammerten etwas.

Jemand redete in einer fremden Sprache. Drängend.

Volodi wollte den Kopf drehen, doch sofort drückte die Messerspitze gegen seinen Gaumen und schnitt in das weiche Fleisch.

Der Drusnier verdrehte die Augen. Dicht neben der Tür stand Quetzallis Mann. Auch sein Gesicht war zerschlagen und er stützte sich auf einen Holzknüppel.

»Sie wollen wissen, wo du das Messer gelassen hast. Überleg dir gut, was du sagst. Ich glaube, wenn sie das Messer haben, sind wir tot, Arschloch.« Beim Sprechen quoll Mitja Blut aus dem Mund.

Volodi wollte etwas antworten, doch das Messer ritzte seine Zunge.

Quetzallis Mann sagte etwas in scharfem Tonfall und die Klinge glitt aus Volodis Mund. Die Messerspitze senkte sich jetzt auf sein linkes Augenlid. Sie drückte auf die zarte Haut.

»Pass auf, Idiot!«

»Auf ein Auge kommt es denen nicht an«, nuschelte Mitja und streckte seine Hände vor. Auf jedem Handteller lag ein großes, fleischiges Ohr.

»Das …«

»Das wird dich deine beiden Eisenschwerter kosten, wenn wir das überleben, du hirnloser Haufen Scheiße! Hast du überhaupt eine Ahnung, worauf du dich eingelassen hast?«

»Einen Ehemann mit einem harten Schädel …«

»Du hast wirklich nichts begriffen … Nichts.« Mitja schloss seine Finger um die abgeschnittenen Ohren und drückte die Hände wieder gegen die Brust, als mache es noch irgendeinen Sinn, die Ohren aufzuheben. »Dein Mädchen … Die hat dich ausgesucht, nicht wahr? Hat dir schöne Augen gemacht, bis dein Schwanz das Denken übernommen hat. Richtig?«

»So war das nicht. Nicht ganz … Sie … hat mich gewollt … Aber ich …«

»Sie hat dich hierhergebracht, nicht wahr? Und du würdest für sie bis ans Ende der Welt gehen, oder?«

Volodi mochte nicht, dass der alte Übersetzer so von Quetzalli sprach. Wenn da nicht dieses Messer vor seinem Auge wäre und der Kerl nicht seine abgeschnittenen Ohren in seinen Wurstfingern halten würde …

»Du bist groß, blond und gut aussehend«, nuschelte Mitja. »Ich hab das immer für eine wilde Kneipengeschichte gehalten. Kerle wie du verschwinden immer wieder. Es heißt, eine Priesterin der gefiederten Schlange …«

Der gehörnte Ehemann unterbrach Mitja. Seine Stimme klang ärgerlich, als er im unverständlichen Kauderwelsch der Zapote auf den Übersetzer einredete. Auf den Alten wirkten die Worte wie Schläge. Er sank regelrecht in sich zusammen.

»Du musst ihm seinen Dolch zurückbringen, Volodi. Unbedingt! War die Klinge aus Stein?«

Der Drusnier nickte und Mitja fluchte leise. »Das ist ein Ritualmesser. Verdammt, Junge. Die werden uns umbringen.« Er hob den Kopf und versuchte seine zugeschwollenen Lider zu öffnen. »Kurz bevor wir mit der Sänfte losgezogen sind … Da hast du diesen Dolch versteckt, nicht wahr? Du hast eine Stunde, ihn zurückzubringen. Wenn du dann nicht wieder hier bist, werden sie mir die Hand zerschlagen. Jeden einzelnen Knochen darin, bis nur noch Splitter und zerquetschtes Fleisch bleiben. Er hat es mir gesagt …«

»Und du glaubst, wenn ich den Dolch bringe, werden sie uns verschonen?«

»Nein. Aber es wird schneller gehen …«

»Was ist mit dem Mädchen?« Volodi wollte zu dem Ehemann blicken, doch sofort verstärkte sich der Druck des Messers auf sein Augenlid. Er konnte spüren, wie die Klinge die Haut aufritzte. »Was werden sie mit ihr machen?«

»Du hast es immer noch nicht begriffen. Sie …«

Der Mann an der Treppe unterbrach Mitja barsch.

»Du sollst gehen und den Dolch holen. Sofort!«, übersetzte der Alte. »Bitte lass mich hier nicht hängen. Bitte …«

Der Kerl mit dem Messer erhob sich und deutete mit der Klinge auf die Treppe.

»Hast du ihnen gesagt, wo das Messer ist?«

»Nein, noch nicht. Ich …« Seine blutverschmierten Wangen zuckten. Er schluchzte. »Der kleine Kerl begleitet dich.«

Der Blasrohrschütze schien verstanden zu haben, dass von ihm die Rede war. Er lächelte kurz, dann zog er mit fließender Bewegung ein Messer und schleuderte es Volodi entgegen. Zitternd blieb die Bronzeklinge einen Fingerbreit neben seinem Gesicht in der lehmverputzten Wand stecken. Der Kleine hatte bereits ein weiteres Messer in der Hand und sagte etwas, das sich für Volodis Ohren wie Schlangenzischen anhörte.

»Er wird dich umbringen, wenn du versuchst, ihn hereinzulegen«, übersetzte Mitja. »Er behauptet, die Messer sind vergiftet. Es genügt, wenn sie ganz leicht deine Haut ritzen, und du stirbst wie ein Hund.«

Volodi blickte auf die Klinge in der Wand. Das Metall schimmerte ölig.

»Ich werde wiederkommen«, sagte er mit fester Stimme.

Das Vibrieren im Bauch

Er ist wirklich kein guter Tänzer, dachte Shaya. Ob er ein guter Mann war? Zumindest sah er gut aus. Und er schien Sinn für Humor zu haben. Leider war er etwas zu schüchtern. War sie nicht deutlich genug gewesen? Noch nie hatte sie ein Mann angesehen, wie er es tat. Sie sah nicht schlecht aus, das wusste sie. Sie wusste auch um die Wirkung ihres Lächelns und ihrer tiefen Blicke. Und doch war sie immer zurückhaltend gewesen. Selbst wenn sie ein Gesicht hätte, bei dessen Anblick die Milch sauer wurde, hätten ihr die Männer in Scharen den Hof gemacht. Es ging dabei nicht um sie. Wer sie heiratete, der gehörte zur Familie des Unsterblichen. Deshalb konnte sie sich bei Liebesschwüren niemals sicher sein. Selbst wenn sie den Kopf voller weißer Haare hätte, wäre sie immer noch ein attraktives Tauschobjekt. Aaron hingegen hatte sie geglaubt, als er ihr gesagt hatte, dass sie für ihn etwas Besonderes war. Er war selbst ein Unsterblicher. Es gab für ihn keinen Grund zu lügen … Und trotzdem war es nicht klug, mit ihm hier oben zu sein! Wie er sie ansah! Als Kind hatte sie einmal einen Hund gehabt, der sie immer so angesehen hatte, bis er groß genug war, um in den Kochtopf zu kommen. Dieser Blick passte nicht zu einem Unsterblichen! Er war seltsam. Sie hatte erzählen hören, dass er die Toten in Isatami auf die Stirn geküsst habe. Die einfachen Palastdienerinnen! Und nun tanzte er für sie auf dem federnden Rücken des Wolkensammlers, die Arme seitlich ausgestreckt, um auf dem unsicheren Grund die Balance zu halten. Manchmal schüttelte er dabei überraschend den Kopf, als glaube er selbst nicht, was er dort tat.

Auch sie tanzte nun. Mit kurzen, kräftigen Sprüngen; die Augen geschlossen und ganz in ihre Erinnerungen versunken. So hatte sie früher für ihren Vater getanzt. In jener längst vergangenen Zeit, als er noch manchmal ein Lächeln für sie gehabt hatte. Sie dachte an die große Trommel im Zelt des Unsterblichen. Daran, wie ihre kleinen Füße den Rhythmus zu ihrem Tanz gestampft hatten. An das Vibrieren des straff gespannten Trommelfells unter ihren Sohlen. Den dumpfen Laut des Instruments, der tief in ihren Bauch gefahren war. Die Arme eng an den Körper gelegt, hatten ihre Füße immer schneller gestampft. Man musste sich sehr in Acht nehmen beim Trommeltanz. Ein falscher Schritt auf dem schwingenden Fell und man wurde von dem Instrument abgeworfen. Vor den Augen ihres Vaters war ihr das zum Glück nie passiert. Stets hatte sie den Tanz damit beendet, in seine Arme zu springen.

Wenn sie in einsamen Nächten zu einem der Wolkensammler schlich, um im Himmel zu tanzen, dann war die Erinnerung an jenen freundlichen Vater, der sie gerne in seine Arme geschlossen hatte, so nah, als sei seit dem letzten Tanz für ihn nur ein Augenblick verstrichen und nicht viele Jahre.

Shaya blinzelte und blickte zu Aaron. Er wirkte auf charmante Art unbeholfen. Sie wusste, dass er sich bemühte, ihr zu gefallen. Seit der letzten Umarmung ihres Vaters hatte kein Mann sie mehr zärtlich berührt. Sie war ein Schatz des Reiches. Die Tochter eines Unsterblichen! Leider ein Schatz, dessen Wert von Tag zu Tag schwand. Sie würde eine säuerlich riechende alte Jungfer werden! Es gab keine Zukunft für Aaron und sie, denn es war den Töchtern von Unsterblichen verboten, ein Ehebündnis mit einem anderen Unsterblichen einzugehen. So sollte verhindert werden, dass zwei Reiche eine zu enge Allianz eingingen und das empfindliche Gleichgewicht zwischen den Großreichen gestört wurde. Nur wenn die göttlichen Devanthar einer solchen Hochzeit zustimmten, mochte das eherne Gesetz aufgehoben werden. Doch warum sollten sie ihre eigenen Gesetze aufheben? Nein, sie durfte sich nicht in Aaron verlieben! Durfte sich nicht davon geschmeichelt fühlen, wie offensichtlich er sich um sie bemühte! Es wäre besser, wenn sie ihn nicht mehr wiedersah.

Wolken zogen vor die Zwillingsmonde und tranken deren Licht. Regentropfen, fein wie Staub, umfingen sie. Der moosige Untergrund wurde rutschig. Sie konnte sehen, wie Aaron mehr und mehr Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Seine Tunika klebte nass an seinem Körper. Er war gut gebaut. Ein starker Mann. Wirre Haarsträhnen hingen in sein Gesicht. Wer ihn jetzt sah und nicht kannte, wäre niemals auf die Idee gekommen, vor einem der mächtigsten Herrscher der Menschheit zu stehen. Er sah aus wie ein ganz normaler Mann.

Sie konnte spüren, wie ihr Herz wilder schlug.

Ihre alte Sehnsucht war erwacht. Jenes warme, schmerzliche Gefühl, das sie seit so vielen Jahren verdrängte. Mit Kampfübungen verdrängte, mit wilden Tänzen oder der geistigen Askese durch das Studium alter Philosophen. Und doch kehrte es beharrlich immer wieder, stets zu unpassender Zeit. Die Sehnsucht, umarmt zu werden. Die Sehnsucht, eine ganz normale Frau zu sein. Keine Prinzessin. Kein … Sie rutschte aus.

Aaron schnellte vor, griff nach ihrer Hand, zog sie zu sich heran — und glitt ebenfalls aus. Er stürzte, ohne sie loszulassen. Hart fiel sie auf seine Brust und spürte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht. Er hielt sie immer noch fest. Sein Blick war tief, voller unausgesprochener Wünsche. Und dann hob er den Kopf — langsam, fast als wolle er ihr die Gelegenheit geben, ihn abzuweisen. Seine Lippen fanden die ihren – und verweilten dort. Es war ein langer Kuss. Ganz anders als jeder Kuss, der ihr zuvor geschenkt worden war. Seine Arme umfingen sie und Shaya spürte ein Vibrieren tief in sich, so wie damals, als sie auf der Trommel getanzt hatte. Doch diesmal wurde es von einer unbekannten Wärme begleitet. Von einem süßen Schmerz …

Sie zuckte zurück. Sofort löste sich die Umarmung. Aaron setzte sich auf. Er lächelte, versuchte aber nicht, sie erneut an sich zu ziehen.

»Das ziemt sich nicht«, sagte sie leise und war sich mehr als bewusst, dass der Klang ihrer Stimme eine andere Sprache sprach. Sie hatte sich geborgen gefühlt und mehr – es durfte nicht wieder geschehen!

Er sah sie lange an — aufmerksam, offen. Und verletzbar, erkannte sie.

»Wir sind allein. Hier entscheiden nur wir, was sich ziemt und was nicht.«

»Wir dürften aber nicht hier sein …«

»Und doch sind wir es. Jeder aus freien Stücken.« Er sah sie unverwandt an. Nicht fordernd, doch seine Schüchternheit war gewichen. Sie dachte an die Geschichten, die man sich über ihn erzählte. Daran, dass er immer wieder Dinge tat, die niemand von einem Unsterblichen erwartete. Würde sie einen Mann wollen, der immer wieder Dinge tat, die sie nicht von ihm erwartete? »Die Devanthar verbieten …«

»Es ist mir gleich, was die Götter verbieten, denn sie sind nicht gerecht. Deshalb unterwerfe ich mich nicht ihren Gesetzen. Die einzige Macht, die mich aufhalten kann, bist du.«

Sie starrte ihn mit weiten Augen an, war tief gerührt und zugleich entsetzt. Sie glaubte ihm. Aaron wollte sie. Sie war sich nicht sicher, warum er so stark für sie empfand. Aber die Götter herausfordern … An der Seite eines solchen Mannes würde es niemals Frieden geben.

Tief unter ihnen erklang ein Trinklied. Es war eine brüchige, alte Stimme, die sang. Eine Stimme, der man anhörte, dass die Kehle, der sie entsprang, in dieser Nacht in Wein gebadet hatte.

»Der Mann, der mich heimlich zurück in den Palast bringen soll«, sagte Aaron.

»Wir haben einen langen Abstieg.« Sie war erleichtert, sich nicht entscheiden zu müssen. Shaya stand auf, doch Aaron rührte sich nicht.

»Willst du mich wiedersehen?«

»Das ist nicht leicht. Ich kann nicht so schnell noch einmal hierherkommen. Es würde auffallen …« Was für alberne Ausflüchte! Sie dachte an das Vibrieren in ihrem Bauch. Daran, wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, noch einmal umarmt zu werden. »Ja, ich will«, sagte sie entschieden.

Ihm war seine Erleichterung anzusehen. »Dann werde ich einen Weg finden.«

Und ich auch, dachte sie. Wir werden einen Weg finden. Gemeinsam.

Geschäfte

Volodi blickte die Straße zurück. Der feine Regen hatte aufgehört. Strahlend hell standen die Zwillingsmonde über der Stadt. Viel zu hell für eine Nacht dunkler Geschäfte.

Zu dieser Stunde war kaum noch jemand unterwegs. Obwohl der schmierige kleine Kerl mit den Wurfmessern sich stets im Schatten hielt, war er auf der offenen Straße leicht auszumachen. Er folgte ihm mit etwas mehr als zehn Schritt Abstand.

Der Drusnier blickte zu den hohen Steinfassaden. Dies war eines der reicheren Stadtviertel. Manche Häuser schmückten sich mit Figuren aus gegossener Bronze. Sie schimmerten längst nicht mehr golden, aber dennoch zeigten sie, dass die Bewohner reich genug waren, um ein kleines Vermögen für den Schmuck ihres Hauses auszugeben. Hier ein Haus zu erwerben war ziemlich teuer gewesen. Volodi war erst zweimal zuvor hierhergekommen. Nicht weil er es nicht mochte … Im Gegenteil! Es tat ihm leid, an diesem wunderbaren Geschäft nicht beteiligt zu sein.

Der Drusnier stieg die schmale Treppe zum Eingang hinab. An der Tür lungerte ein hagerer, stoppelbärtiger Kerl herum. »Na, Atmos? Bist dich froh, wieder ein Tag nicht glotzen auf Pferdearsch? «

Der Türsteher grinste ihn an und zeigte einen Oberkiefer ohne Zähne. »Verdammt froh, von den Streitwagen fort zu sein. Und die Ärsche, die es hier zu sehen gibt, sind nun mal hübscher als die von den Pferden.«

»Ist sich Kerl hinter mir, mit Gesicht wie Ratte, das sich ist halb tot. Wenn sich kommt, lass ihn rein. Nicht nix fragen was will.«

Atmos nickte und öffnete Volodi die schwere Holztür.

Der Drusnier durchquerte einen kurzen Flur, in dem Hunderte von Perlschnüren von der Decke hingen und den Blick versperrten. Der Duft von Rosenöl und roten Kirschblüten umfing ihn. Irgendwo jenseits der Schnüre aus schillernd bunten Tonperlen erklang leises Flötenspiel. Es war warm hier drinnen. Zu warm. Große, hellblaue Augen schimmerten zwischen den Perlschnüren. Ein goldhaariges Mädchen begrüßte ihn mit einem vieldeutigen Lächeln. Sie trug nur einen Rock. Er schien aus denselben Perlschnüren gefertigt zu sein wie die Vorhänge. »Womit kann ich dir dienen, mein Schöner?« Sie beherrschte seine Muttersprache!

Volodi musterte sie. »Du bist neu hier, nicht wahr? Wie heißt du?«

»Djamile.« Ihr Blick hatte nun etwas Herausforderndes, als habe er einen Fehler gemacht.

»Ich will zu Kolja.«

»Der ist nicht hier«, antwortete sie ein wenig zu schnell.

»Djamile, ich bin der Mann, der die Freiwachen für Kolja einteilt. Damit bin ich auf ganz Nangog wohl derjenige, der am besten darüber unterrichtet ist, wo sich dieser ungewaschene Hurenbock aufhält und wo nicht. Richte ihm aus, Volodi möchte ihn sehen.«

Er trat an ihr vorbei in einen Raum, der mit Bedacht im Halbdunkel lag. Mit anzüglichen Szenen bemalte Wandschirme sorgten für Sichtschutz und schufen verwinkelte Nischen. In der Mitte des Raums stand ein Brunnen, um den ein halbes Dutzend spärlich bekleideter Mädchen kauerte. Alle blickten pflichtbewusst zu ihm auf. Ihr Lächeln war müde. Blassgraue Rauchschwaden hingen in der Luft. Der Rauch kratzte im Hals, aber irgendwie sorgte er schnell für ein wohliges, warmes Gefühl im Bauch. Obwohl er der alles beherrschende Geruch war, konnte er die anderen Düfte nicht ganz verdrängen. Den Odem von schwerem, süßem Wein und Schweißgeruch von Männerleibern. Ein paar Stunden zuvor musste es hier noch sehr voll gewesen sein. Der Gedanke daran versetzte Volodi einen leichten Stich. Der Laden war wirklich ein gutes Geschäft. Ein Geschäft, an dem er nicht teilhatte, obwohl er es unterstützte. Als sie erfahren hatten, dass sie mit dem Unsterblichen nach Nangog in die Goldene Stadt gehen würden, war Kolja mit der Idee gekommen, den Männern ihre Beute aus der Minenstadt abzuquatschen und das Gold in Lustsklavinnen zu investieren. Keine billigen Kneipenhuren, sondern jene kostbaren Geschöpfe, die dazu ausgebildet wurden, in den Frauengemächern der Satrapen zu verschwinden. Mädchen, die jede der sechsunddreißig Künste der Verführung beherrschten. Jeder wusste, dass es zu wenige Frauen auf Nangog gab. Deshalb war ihnen auch von Anfang an klar, dass sie gewiss nicht die Ersten waren, denen es einfiel, ein Freudenhaus in der Goldenen Stadt zu eröffnen. Ihres aber sollte besonders sein. Ein Ort, an den die reichen Händler und die Würdenträger der Paläste kamen, um ihre geheimen Träume auszuleben. Männer, die bereit waren, ein Goldstück für eine besondere Nacht auszugeben. Kein billiger Puff für die Lastenträger der Ankertürme oder die Schiffer der Flusskähne.

Volodi war überzeugt, dass jeder, der sein Gold in dieses Geschäft gesteckt hatte, sehr reich werden würde. Er war nicht daran beteiligt, weil dem verdammten Kriegsmeister nicht verborgen geblieben war, was vor sich ging. Auch nach dem gemeinsamen Sieg in Luwien misstraute er den Söldnern und Piraten, und Juba hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass es sich für einen Hauptmann der Palastwache nicht ziemte, in solche anrüchigen Geschäfte verwickelt zu sein.

Volodi würde die Art, wie die Adeligen Arams dachten, niemals begreifen. Es war in Ordnung, wenn man Kinder zum Arbeiten in Kupferminen schickte oder sein Geld im Sklavenhandel investierte. Aber ein hübsches Bordell – das war undenkbar für sie. Es war heldenhaft, auf dem Schlachtfeld mit Speeren bewaffnete Bauern niederzumachen, die gegen die gut gerüsteten und ein Leben lang im Kampf geübten Adelskrieger hoffnungslos unterlegen waren. Aber hier an der Tür zu stehen und einem besoffenen Mistkerl, der die Mädchen schlug, die Zähne in den Rachen zu schieben, war ehrenrührig. Volodi seufzte. Es musste daran liegen, dass er ein Barbar war, dass er die feinen Unterschiede nicht begriff.

Er blickte zur Tür. Sein Schatten hatte sich noch nicht hereingewagt. Wahrscheinlich wurde das kleine Rattengesicht mit jedem Herzschlag unruhiger. Musste er doch befürchten, dass Volodi durch einen Hinterausgang verschwand.

Der Drusnier lächelte versonnen. Dieser Blasrohrfurzer hatte nicht die mindeste Ahnung, worauf er sich hier eingelassen hatte. Kaum drei Tage nachdem Kolja diesen Laden aufgemacht hatte, hatte er Besuch bekommen und die deutliche Botschaft, dass er hier unerwünscht war. Noch so ein Kerl, der keine Ahnung gehabt hatte.

Eine Hand legte sich auf Volodis Schulter. Er zuckte zusammen und drehte sich um. Hinter ihm ragte Kolja auf. Ein Hüne von einem Mann. Wer es nicht selbst erlebt hatte, würde nicht glauben, dass sich dieser Fleischberg lautlos wie eine Katze bewegen konnte.

»Du hast dich lange nicht blicken lassen, Kamerad.« Ein Unterton in seiner Stimme ließ Volodis Nackenhaare zu Berge stehen. Kolja sah zum Fürchten aus. Fast zwei Schritt groß, mit der Statur eines Bären. Hellblaue Augen blickten unter schweren, fleischigen Lidern hervor. Seine Nase war mehrfach gebrochen und nur noch ein formloser Klumpen; das Gesicht von Narben entstellt. Kolja hatte keine Augenbrauen mehr. Sein linkes Ohr war eine verschrumpelte Kugel, deren Form an die zur Faust geballte Hand eines Neugeborenen erinnerte. Der Drusnier war jahrelang Faustkämpfer gewesen – ein Meister in jenen Kämpfen, in denen sich die Streiter mit Bronze beschlagene Lederriemen um die Fäuste wickelten. Kolja war nicht berühmt für eine besonders ausgefeilte Technik gewesen. Er hatte einfach mehr Treffer einstecken können als jeder andere, wohingegen in der Regel ein einziger Treffer von ihm genügte, um seine Gegner Blut spuckend zu Boden zu schicken.

»Du warst tagelang nicht im Palast, Kamerad.«

Kolja lächelte, was kein erfreulicher Anblick war. »Geschäfte«, raunte er vielsagend. »Juba schnüffelt also herum. Du solltest dich wieder dem Geschäft des Wachpläneaufstellens widmen und diesem hochwohlgeborenen Pisser vorgaukeln, dass die Hälfte von uns krank ist und die anderen deshalb doppelte Wachschichten schieben. Das kann doch nicht schwer sein, oder?«

Volodi ignorierte den drohenden Unterton. »Läuft dein Geschäft schlecht?«

»Nein, verdammt. Es läuft sehr gut. Ich brauche mehr Männer. Wir haben drei andere Läden übernommen.«

»Übernommen?«

»Es hat mit diesem dämlichen Dirnenschinder aus Truria angefangen. Nach dem kleinen Ärger, den wir mit ihm hatten, hielt er es für eine gute Idee, hier mit sieben Schlägern aufzukreuzen und mir zu drohen.« Wieder schenkte Kolja ihm sein unvergessliches Lächeln. »Nachdem wir mit ihm fertig waren, mussten wir den Laden einen Tag lang zumachen und die Wände neu tünchen lassen.«

»Ich hoffe …«

»Es wird keinen Ärger mehr wegen dieses Truriers geben. Er und seine Kumpane sind einfach verschwunden. Ich hab sie Atmos überlassen. Er hat sie in kleine Stücke zerlegt. Sehr kleine … Und diese Stücke hat er an ein paar von diesen Straßenbrätern verkauft.«

Volodi musste an den Fleischspieß denken, den er vor ein paar Stunden gegessen hatte. An die dicke Gewürzkruste, unter der man das Fleisch gar nicht mehr sehen konnte. Er schwor sich, nie wieder etwas an so einem Straßenstand zu essen.

»Danach konnten wir zwei Geschäfte übernehmen, weil die Besitzer eingesehen haben, dass sie kaum etwas wert sind und es klüger ist, die Stadt zu verlassen. Aber jetzt gibt es Gerüchte, dass sich die Luden zusammenrotten und uns demnächst einen Besuch abstatten wollen.«

Volodi sah sich um. »Noch eine Schlägerei? Das wird die Kundschaft nicht begeistern …«

»Nein.« Kolja hob abwehrend seine riesigen, vernarbten Hände. »Du verstehst das Geschäft einfach nicht. Die wollen den Laden übernehmen, nicht ruinieren. Die werden sehr spät in der Nacht kommen. So etwa zu dieser Stunde vielleicht.« Er sah Volodi durchdringend an. »Und dann werden sie uns lang machen und an die Hunde verfüttern. Oder an die Kerle, die sich Fleischspieße bei Straßenbrätern kaufen. Ich brauche mehr Männer, Volodi. Du musst die Wachpläne noch einmal umstellen. Ich hab schon mit den Kameraden gesprochen. Alle sind bereit, doppelte Wachen zu schieben, damit wir hier mehr von unseren Jungs zusammenziehen können. Es wird nur für ein paar Tage sein.«

Volodi fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis die Zuhälter und Schläger der Goldenen Stadt begriffen, dass Kolja anders war. Und dass hinter ihm fast siebenhundert schlachterprobte Söldner standen. Und wie lange würde es dauern, bis Juba durchschaute, in was für Geschäfte der zwielichtigere Teil der Palastwache verwickelt war.

»Besteht eine Aussicht, deine Geschäfte ohne weiteres Blutvergießen zu regeln?«

»Was ist das denn für eine Frage? Glaubst du, ich hab keine Ahnung? Hab ich vielleicht dumme Fragen gestellt, als du mich damals vor diesem verfluchten Pass um einen Gefallen gebeten hast? Wir sind Landsmänner, Volodi. Vergiss das nicht.«

Volodi seufzte. Nein, er würde es sicherlich nicht vergessen. Kolja würde ihn gewiss ein Leben lang daran erinnern, dass er ihm einen Gefallen schuldete. Bevor es über den Pass ging, hatte er Kolja gebeten, als Wortführer der Zweifler aufzutreten. Volodi war bewusst gewesen, dass die Söldner vor dem gefährlichen Saumpfad zurückschrecken würden. Und er hatte Juba nicht zugetraut, sie mit einer flammenden Rede zu überzeugen. Juba war ein guter Kriegsmeister und ein treuer Gefolgsmann, aber ein Redner war er einfach nicht. Hätte jemand gegen Juba gesprochen, der sich darauf verstanden hätte, die Herzen der Männer zu gewinnen, wäre alles in einer Katastrophe geendet. Kolja hatte sich bewusst nicht allzu gut geschlagen und am Ende überzeugen lassen.

»He, Bruder, mach nicht so ein Gesicht.« Kolja schien bemerkt zu haben, dass er es mit dem Einfordern von Gefälligkeiten übertrieb. »Dieser kleine Ludenkrieg wird nicht lange dauern. Wenn die Zuhälter hier erst einmal begriffen haben, dass ein frischer Wind weht und es klüger ist, nicht gegen den Sturm zu steuern, dann ist auch mit dem Blutvergießen Schluss.«

Als Volodi die Idee gehabt hatte ein Freudenhaus aufzumachen, hatte er nicht mit dem Ehrgeiz des Faustkämpfers gerechnet. Aber das hatte wohl niemand. »Wann ist denn für dich Schluss?«

»Willst du den Schwanz einkneifen? Es hört nie auf! Aber zunächst einmal reicht es, wenn wir das Geschäft mit den Mädchen übernehmen.«

»In der ganzen Stadt?«

»Natürlich! Frieden kann es nur geben, wenn jeder Widerstand gebrochen ist. Es ist auch besser für die Mädchen. Wir sind netter zu denen. Ich habe einen eigenen Koch hier. Jede bekommt zu essen, was sie gerne mag. Das macht sonst niemand.«

Volodi blickte zum Brunnen. »Die Mädchen hier sehen müde aus. Ist es nicht besser, wenn du sie ein bisschen mehr schlafen lässt? Dann kommen sie besser an.«

Kolja strich sich nachdenklich über das Kinn. »Aus dir wird man nicht schlau, Kamerad. Sagst du das jetzt, weil du ein romantischer Trottel oder weil du ein eiskalter Lude bist?«

Volodi lächelte mit schmalen Lippen. »Eines Tages wirst du es herausfinden …« Er fragte sich, ob er aus den Verstrickungen mit Kolja und den anderen jemals wieder herausfinden würde. Es war alles so schnell gegangen. Und so anders geworden, als er sich das vorgestellt hatte.

Der Perlvorhang am Eingang klickte leise. Volodi blickte auf. Ein dürrer, groß gewachsener Kerl torkelte herein. Er legte dem Mädchen am Eingang die Arme um den Hals und die beiden verschwanden flüsternd hinter einem der Wandschirme.

Kolja war seinem Blick gefolgt. »Erwartest du jemanden?«

»Ich nehme kein Geld für die Gefallen, die ich dir tue«, entgegnete Volodi. »Allerdings heißt das nicht …«

»Ah, jetzt kommt die Rechnung. Da du aussiehst, als wäre ein Streitwagen über dich hinweggeprescht, nehme ich an, wir tauschen nun Gefallen gegen Gefallen. Wen soll ich umbringen?«

Volodi erzählte von dem kleinen Mann, der ihm folgte. Den Rest der Geschichte verschwieg er.

»Soll er schnell oder langsam sterben?«

»Am meisten nützt er mir, wenn du ihn mir lebend bringst. Und am besten in einem Zustand, dass er noch auf seinen eigenen Beinen stehen kann.«

Kolja lächelte verschlagen. »Das heißt, wir können ihm die Arme brechen?«

»Bring ihn mir in einem Stück. Und nimm dich in acht – der Kleine ist wieselflink. Er ist gut mit Messern und benutzt außerdem ein Blasrohr mit vergifteten Pfeilen.«

Der Faustkämpfer stieß einen grunzenden Laut aus. »Sieh mich an. Wieselflink war noch nie genug gegen groß und gemein.«

»Es ist besser, wenn ihr nicht durch die Vordertüre …«

Kolja erhob sich. »Ich mache so etwas nicht zum ersten Mal. Stell dich einfach unauffällig an ein Fenster und sieh zu.« Mit diesen Worten verschwand der Hüne.

Drachen und Elfen

Gonvalon strich über die warmen, weichen Nüstern seines Pegasus und Nachtschwinge schnaubte leise. Er hatte den schwarzen Hengst lange nicht mehr gesehen. Sie standen auf einer einsamen Wiese, ein Stück von der Weißen Halle entfernt. Es war ein frostiger Morgen. Feiner Schneegriesel trieb mit dem Wind.

»Sieh mich nicht so an.« Gonvalon hatte das Gefühl, der Pegasus wusste, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

»Er hat mehr Verstand als du«, sagte Lyvianne beißend.

»Dann ist es wohl gut, dass er bei mir ist, um auf mich aufzupassen. «

»Spricht da noch der Gonvalon, den ich einst kannte? Der beherrschte Schwertmeister? Ewiger Rivale von Nodon? Immer gut für eine Affäre mit einer Schülerin? Selten humorvoll, doch meist stilsicher?«

»Dieser Gonvalon ist auf dem Hügel Matha Nahts geblieben.« Er sagte das ohne Bitternis. Es war eine Tatsache, mit der er sich in den letzten Wochen abzufinden gelernt hatte.

»Aber diese Reise – wohin soll sie führen? Du weißt nicht einmal, ob Nandalee noch lebt.«

»Ich bin zu Matha Naht gegangen, damit sie verhindert, dass die magische Verbindung zwischen Nandalee und Piep verblasst. Sie hat ihren Teil unseres Paktes erfüllt. Wenn ich meine Suche nicht fortsetze, dann war mein Opfer vergebens.«

»Man macht einen Fehler nicht ungeschehen, indem man den nächsten begeht«, entgegnete Lyvianne. In ihrer Stimme klang ein Hauch von Resignation.

»Ich würde wieder zu diesem bösartigen alten Holunderweib gehen, wenn ich dafür hoffen dürfte, Nandalee zu finden.«

»Ich weiß.«

Die Art, wie sie es sagte, berührte Gonvalon. Er hatte das absurde Gefühl, dass sie stolz auf ihn war, obwohl es dafür objektiv gesehen keinen Grund gab. Er war gerade dabei, eine Dummheit, die ihn für sein Leben gezeichnet hatte, durch eine noch größere Dummheit zu übertrumpfen. Er konnte nicht einmal wirklich reiten. Mit einem Anflug von Selbstmitleid blickte er zum Geschirr, das auf den Rücken von Nachtschwinge geschnallt war. Üblicherweise gab es nur einen flachen Sattel, in den Lederschlaufen eingelassen waren, damit der Reiter stehen konnte und seine Beine nicht den Flügelschlag des Pegasus behinderten, doch sein neuer Sattel war ganz anders. Zwei Holzstangen ragten über der Kuppe des Hengstes auf. Dünne Lederriemen waren dazwischen gespannt, sodass die ganze Konstruktion an eine lange, schmale Stuhllehne erinnerte. Und genau das war ihr Zweck. Er musste stehen während des Fluges. Oder kauern. Beides ging nicht, wenn man seinen Beinen nicht mehr vertraute. Sie nicht mehr fühlte! Sosehr er sich bemüht hatte, er war ein Krüppel. Er bewegte sich unsicher. Er strauchelte leicht, selbst wenn er Krücken benutzte. Ihm war klar, dass es nur eine Illusion war und dass seine Beine nicht unterhalb der Knie zerfleischt waren. Sie waren vollkommen gesund. Aber seine Wahrnehmung war es nicht mehr! Er konnte es einfach nicht beherrschen, sosehr es auch versuchte. Also musste er sich während des Fluges zurücklehnen können. Er brauchte Halt. Eine Krücke, selbst im Sattel!

»Du nimmst wenig Proviant mit«, bemerkte Lyvianne.

»Die Reise wird nicht sehr lange dauern.«

»Du weißt also, wohin dich diese rote Kraftlinie führen wird?«

Er nickte. »Sagen wir es so – ich habe einen Verdacht.«

Lyvianne hob fragend eine Braue, doch er ignorierte es. Sosehr sie sich auch um ihn bemüht hatte, in dieser Angelegenheit konnte er ihr nicht trauen. Er vertraute niemandem in der Weißen Halle.

Für Gonvalon lag es auf der Hand, dass Nandalee sich – wenn sie noch lebte – bei einer der Himmelsschlangen befinden musste. Wer durch das Fenster trat, gelangte zu einem der großen Drachen. So war es immer gewesen. Das musste zwar nicht stimmen, wenn sich das Fenster durch einen unglücklichen Zufall geöffnet hatte – aber daran wollte Gonvalon nicht glauben. Je länger er darüber nachgedacht hatte, desto mehr war er zu der Überzeugung gelangt, dass eine der Himmelsschlangen Nandalee zu sich gerufen hatte. Nur die Regenbogenschlangen hatten die Macht, dieses Fenster zu öffnen. Es war naiv zu glauben, dass Nandalee es allein getan hatte! Und Gonvalon hatte auch eine ganz bestimmte Himmelsschlange in Verdacht.

»Du willst mir nicht sagen, wohin du reisen wirst?«

»Ich danke dir dafür, wie du mir in den vergangenen Wochen geholfen hast.« Lyvianne hatte unzählige Stunden mit ihm verbracht. Aber er traute ihr nicht. Er wusste nicht einmal sicher, welcher der Himmelsschlangen sie sich verschrieben hatte, argwöhnte allerdings, dass auch sie dem Goldenen diente, so wie er es tat. Wenn ein Schüler der Weißen Halle seine letzte Prüfung bestanden hatte, dann wurde er von einer der Himmelsschlangen erwählt. Beide zogen sich dann zurück, um einander tief kennenzulernen. Waren sie im Geiste eins miteinander, stach die Himmelsschlange ein Bild in den Körper des Elfen. Das Ritual konnte viele Tage dauern und war nicht vom Willen der beiden gelenkt. Und jedes Bild sah anders aus. Es spiegelte ihrer beider Charakter und die Art des Bundes, den sie eingingen. Manche Bilder waren von einfacher Art und erschlossen sich auf den ersten Blick, so wie das, das er auf seinem Rücken trug. Andere wiederum erstreckten sich über Arme und Beine, und es war unmöglich sie mit einem einzigen Blick zu erfassen. War das Bild aus Blut, Schmerz und gemeinsamer Hingabe vollendet, war der Bund zwischen Elf und Drache besiegelt. Es war ein Bund, der nur durch den Tod gelöst werden konnte.

Lange schon hatte der Goldene Gonvalon nicht mehr gerufen. Seit Nandalee verschwunden war. Ob sein Meister billigen würde, was er getan hatte? Falls Lyvianne dem Goldenen diente – hatte sie ihn dann verraten? Welches Bild wohl in ihre Haut gestochen war? Er würde es nie erfahren. Der Bund mit den Himmelsschlangen war etwas, worüber man nicht sprach. Nicht einmal mit anderen Drachenelfen. Denn es gab Ränkespiele zwischen den Himmelsschlangen, und manchmal wurden die Elfen darin verstrickt. Allein deshalb war es nicht klug, preiszugeben, auf wessen Seite man stand. Es war auch möglich, dass er sich irrte und Lyvianne sich genau jener Himmelsschlange verschrieben hatte, zu der er nun reisen würde. Auch er wäre ein angemessener Meister für sie. Machtvoll, düster und undurchsichtig.

Lyvianne lächelte zynisch. Es war nicht schwer zu erraten, warum er über sein Reiseziel schwieg. »Du willst vor eine der Himmelsschlangen treten und kannst dich kaum auf den eigenen Beinen halten?«

»Ich brauche sogar jemanden, der mir in den Sattel hilft.«

»Ich glaube, es haben nicht nur deine Beine, sondern vor allem dein Verstand Schaden genommen.«

»Sagt man nicht, dies sei eine der Gefahren der Liebe? Und sieh es einmal von der anderen Seite. Welche Zukunft habe ich hier? Ich hasse es, bemitleidet zu werden. Nicht nur ich gehe den anderen aus dem Weg, umgekehrt ist es ebenso. Sie vermeiden es, mir in die Augen zu sehen, wenn wir uns zufällig begegnen. Meister wie Schüler. Ist es nicht besser, heldenhaft in einer Schlacht unterzugehen, die zu schlagen sich lohnt, als ein Leben vor gesenkten Blicken zu führen?«

Statt zu antworten, verschränkte Lyvianne ihre Hände ineinander. Gonvalon griff nach einer der Fußschlaufen des Sattels, setzte einen Fuß auf Lyviannes Hände und zog sich hoch.

Nachtschwinge schnaubte, als wolle der Hengst ihn willkommen heißen. Er stand ganz still.

Gonvalons Finger krallten sich in die Lederriemen der Lehne, die sich über den Sattel erhob. Verbittert zog er sich daran hoch.

Lyvianne half ihm, die Füße, die er weder sehen noch fühlen konnte, in die Schlaufen auf dem Sattel zu führen. Dann blickte sie zu ihm auf. »Ich wünsche dir eine gute, letzte Schlacht. Einer Himmelsschlange trotzen zu wollen ist so verrückt wie ehrenvoll. Ich bin stolz, einen Teil deines Weges mit dir gegangen zu sein. Lebe wohl, Winterkind.«

Der Pegasus hob sich in die Lüfte und Gonvalon spürte den Nachtwind auf seinem Gesicht. Unter ihm wurde Lyviannes helle Gestalt schnell kleiner. Lyvianne hatte recht. Er zog nicht aus, um Nandalee zu finden, er ritt sehenden Auges in seinen Untergang.

Adler und Jaguare

Volodi stand nun schon eine halbe Stunde am Fenster im dritten Stock und noch immer hatte sich nichts getan. Bald würde die Dämmerung ihre fahlen Finger nach den Gassen der Stadt ausstrecken. Der Blasrohrschütze wartete auf ihn immer noch dort. Er lauerte im Schatten eines Hauseingangs. Wenn er sich bewegte, konnte Volodi manchmal einen Herzschlag lang das harte, hagere Gesicht des Mannes sehen. Ja, er hatte das absurde Gefühl, sein Verfolger könne auch ihn sehen. Dabei war das schlechterdings unmöglich! Volodi spähte durch den Spalt eines Fensterladens, der kaum einen Fingerbreit geöffnet war. Und er verhielt sich völlig ruhig. Er war ein Schatten unter Schatten. Unsichtbar! Auch für diesen kleinen, Blasrohrpfeile verschießenden Mistkerl!

Lautes Grölen erklang weiter die Straße hinauf. Warum dauerte das alles so lange? Was zum Henker tat Kolja? Volodi musste an Mitja denken. Er hatte ihm versprochen, in einer Stunde zurück zu sein. Die Stunde war längst vorüber.

Drei schwankende Gestalten näherten sich; sie sangen aus voller Brust und herzzerreißend schief eine bekannte Ballade aus seiner Heimat. Das Lied eines Säufers und Weiberhelden. Der Größte in der Mitte der Zecher, ein wahrer Hüne, war unverkennbar Kolja.

Der Blasrohrschütze drückte sich tief in den Schatten des Hauseingangs und gab sich alle Mühe nicht aufzufallen. Das Trio kam unaufhaltsam näher. Sie torkelten von einer Straßenseite zur anderen. Einer von ihnen stürzte. Atmos! Verdammt! Warum hatte Kolja ihn mitgenommen? Weil er gut mit Messern war. Konnte dieser verdammte Hurenbock nicht denken? Wahrscheinlich hatte der kleine Scheißer aus Zapote den Türsteher in der letzten Stunde ein halbes Dutzend Mal gesehen. Er könnte sich denken … Der Blasrohrschütze rannte los. Im selben Augenblick spurtete auch das Trio vor und weitere Männer kamen vom anderen Ende der Straße. Es gab keine Gasse, keinen Abzweig. Etwas Schimmerndes sirrte durch die Luft. Ein Messer! Einer der Schläger aus der zweiten Gruppe ging zu Boden. Dem Kleinen flog derweil ein Knüppel zwischen die Beine; er stürzte und kam erstaunlich schnell wieder hoch. Jetzt hatte er sein verdammtes Blasrohr an den Lippen. Einer von Koljas Halsabschneidern schlug fluchend nach seinem Hals, als habe ihn eine Mücke gestochen. Dann lachte er. Hatte Kolja sie nicht gewarnt? Wussten sie nicht, was es mit den Pfeilen auf sich hatte?

Der Meuchler aus Zapote duckte sich unter einem Dolchstoß und trat einem von Koljas Schlägern in die Kniekehle. Diesmal wehrte er sich wesentlich effektiver als in der Gasse, wo er ihn gestellt hatte, dachte Volodi. Hier war auch mehr Platz. Und vor allem schien der Kleine nicht überrascht zu sein. Wahrscheinlich hatte er längst mit einem Angriff gerechnet.

Wieder schoss ein Messer durch das helle Licht der Zwillingsmonde. Ein Mann schrie auf, dann war Kolja über dem Kleinen. Er täuschte einen rechten Haken an. Der Zapoter wich aus und bewegte sich direkt in eine linke Gerade, die ihn mitten ins Gesicht traf. Sein Kopf wurde hart nach hinten gerissen. Er schlug schwer auf das Straßenpflaster auf.

Volodi verließ seinen Beobachtungsposten. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er die Treppen hinab und rannte hinaus auf die Straße. Keuchend griff er dem Zapoter an den Hals. Das Gesicht des Kleinen war eine formlose, blutige Masse. Volodi fand keinen Puls mehr. Der Blasrohrschütze war tot.

Volodi blickte zu Kolja auf. Der Hüne hatte bronzebeschlagene Lederriemen um seine Fäuste gewickelt. »Du hättest mir sagen müssen, dass das Kerlchen Vogelknochen hat. Außerdem hat er ziemlichen Ärger gemacht. Sieh dir mal unsere Männer an. Das war nicht …«

»Warum hat das so lange gedauert?«, zischte Volodi wütend.

Kolja streckte bedrohlich die Fäuste vor. »Meine Riemen … Ich musste jemanden in unser Quartier im Palast schicken, sie zu holen. Sie bringen mir Glück.«

Volodi schluckte seine Wut herunter. Sie mussten los. »Einen Bruder aus Drus wird dein Aberglaube Kopf und Kragen kosten. Ich hätte den Kleinen als Geisel gebraucht, um ihn auszutauschen. «

»So was musst du vorher sagen«, murrte Kolja. »Und der Kerl, um den es geht, kommt wirklich aus Drus?«

»Ja – und sie haben ihm verdammt noch mal schon die Ohren abgeschnitten. Die machen ihn fertig …«

Kolja rollte mit den Augen. »Du verkehrst in seltsamen Kreisen, Hauptmann. Atmos!« Er winkte dem Messerstecher. »Atmos! Schneid dem Kleinen die Ohren ab. Wir brauchen sie.«

»Was wird das?«

»Volodi, du hättest mir alles sagen sollen. Wie man mit verdammten Dreckschweinen umgeht, weiß ich. Irgendwie habe ich Pech in meinem Leben und treffe immer wieder welche. Mein Fluch … Wenn du mit solchen Kerlen verhandelst, geht es manchmal Ohr um Ohr und Zahn um Zahn. Wir sagen ihnen, dass wir den Kleinen festhalten. Und als Beweis legen wir die Ohren vor. Dann nehmen wir unseren Mann mit. Vertrau mir, Volodi. Ich weiß, wie man so was regelt.«

Er blickte in das vernarbte Gesicht des Faustkämpfers, in dessen kalte Augen. Nein, Vertrauen war das Letzte, was er ihm entgegenbringen würde. »Was immer du tust, ich bin an deiner Seite. « Volodi konnte sehen, dass Kolja genau verstanden hatte, wie diese Worte gemeint waren.


Das erste Morgenlicht war nicht mehr fern, und ein wolkenloser Himmel spannte sich über ihnen. Es würde ein heißer Tag werden. In der Gasse, an der Quetzallis Haus lag, roch es nach frisch gebackenem Brot und Hirsebrei. Ein kleiner, weißer Hund mit schwarzen Schlappohren spielte im Müll. Neugierig strich er um die Sandalen der zwölf Männer, die den Zugang zur Gasse an beiden Enden abriegelten.

Volodi konnte die Blicke aus dem Schatten der Fenster spüren. Außer dem leisen Hecheln des kleinen Hündchens erklang kein Laut in der Gasse. Der Kerl, der oben auf sie wartete, hatte sicher schon bemerkt, dass etwas nicht stimmte, dachte Volodi. Es war egal! Er konnte es nicht mehr ändern. Quetzallis Haus hatte, mal abgesehen vom Fenster ihres Schlafgemachs, nur einen Ausgang. Vielleicht würde sich ihr Mann ja am Fenster zeigen und verhandeln? Vielleicht nutzte er auch die letzten Augenblicke, die ihm blieben, um Mitja umzubringen.

»Worauf warten wir?«, fragte Kolja ruhig.

Der Faustkämpfer hatte recht. »Gehen wir hinein!«

Kolja winkte Atmos. »Du kommst auch mit. Und vergiss die Ohren nicht. Der Kerl da oben soll gleich wissen, woran er ist.«

Volodi blickte aus den Augenwinkeln zu Kolja. Die Ohren mitzunehmen war überflüssig. Wer dem hünenhaften Faustkämpfer gegenüberstand, wusste auch so, woran er war.

Zu dritt traten sie in das kleine Haus. Alles war still. Volodi stieg die schmale Treppe hinauf und schob mit klammem Gefühl die Tür zu dem Zimmer auf, in dem er sich mit Quetzalli so leidenschaftlich geliebt hatte. Mitja saß auf dem Lager; der Zapotepriester war verschwunden.

Der Übersetzer regte sich nicht. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand, seine Augen waren geschlossen, das Gesicht eine Maske aus geronnenem Blut. Fliegen krochen auf den Wunden, die einmal seine Ohren gewesen waren.

»Das Vöglein ist also ausgeflogen«, stellte Kolja fest.

»Er ist nicht weit.« Mitjas Stimme war leise, brüchig.

Volodi kniete sich neben den Übersetzer. »Was hat er dir angetan? «

»Nachdem du fort warst, nichts mehr. Er hat mir gesagt, dass du nicht wiederkommen würdest. Und er hat mir sein Beileid dafür ausgesprochen, Freunde wie dich zu haben.« Feine Risse bildeten sich in dem geronnenen Blut auf Mitjas Wangen. »Bist du ein Freund?«

Volodi wusste nicht, was er antworten sollte.

»Was faselt der Alte da?« Kolja ging ebenfalls neben dem Lager in die Hocke. »Manche werden verrückt, wenn man sie foltert. Gib nichts auf sein Geschwätz.« Er sah sich um. »Hast du hier deine Tage verbracht, als du verschwunden warst, Kamerad?«

Volodi war es unangenehm, den Faustkämpfer in diesem Zimmer zu haben, in dem er sich seinen Träumen von der großen Liebe hingegeben hatte.

»Er hat mir aufgetragen, dir etwas auszurichten. Er wird die Jaguare und Adler loslassen. Sie werden zurückholen, was du gestohlen hast, Volodi.«

»Gestohlen?«, zischte Kolja. »Ich glaube, mir fehlt ein Stück von der Geschichte. Worum geht es hier eigentlich?«

»Nur ein Steinmesser«, wiegelte Volodi ab.

»Ein Opfermesser der Zapote. Eine Klinge, die Hunderte Leben genommen hat und von unermesslichem Wert für sie ist. Sie werden nicht ruhen, bis sie das Messer zurückhaben.«

»Solche Geschäfte machst du also!« Kolja stand auf. »Mir scheint, du hast nicht daran gedacht, mit den Männern zu teilen, die ihr Blut für dich gegeben haben.«

»Du kannst das Messer gerne haben. Ich werde dir zeigen, wo es ist.«

»Ihr müsst es zurückgeben!«, hauchte Mitja. »Ihr müsst es tun, bevor die Adler und Jaguare kommen!«

»Weißt du, wie man unseren Hauptmann hier bei den Ischkuzaia nennt? Der Mann, der über den Adlern schreitet. Ich glaube nicht, dass er Angst vor Geflügel und ein paar Katzen hat. Ich habe es jedenfalls nicht.« Kolja wandte sich zur Stiege um. »Ich warte unten auf dich, Hauptmann. Und versuch nicht noch mal, mich aufs Kreuz zu legen.«

»Was soll ich mit den Ohren machen?«, fragte Atmos, der die ganze Zeit schweigend an der Tür gestanden hatte.

»Verfüttere sie an den kleinen Kläffer draußen.« Mit diesen Worten stieg Kolja die Treppe hinab.

Volodi nickte Kolja zu, beugte sich zu dem Dolmetscher hinab und berührte ihn sanft an der Schulter. »Kannst du gehen?«

Mitja seufzte. »Eine Sänfte wäre mir lieber. Sei nicht so dumm wie dieser narbige Narr. Die Adler und die Jaguare sind keine Märchengestalten. Es gibt sie wirklich, auch wenn sich viele märchenhafte Geschichten um sie ranken! Es sind die besten Krieger der Zapote. Man sagt, sie haben vom Fleisch der Gefiederten Schlange gegessen. Sie sind eins mit ihren Totemtieren. Schleichen lautlos wie die Jaguare und zerfetzen ihre Feinde mit messerscharfen Krallen. Ja, sie erheben sich sogar in die Lüfte wie Adler.«

»Mit Krallen zerfleischen …« Das mochte Volodi beim besten Willen nicht glauben. Mitja war offensichtlich nicht mehr ganz bei sich.

»Was für eine Art Hauptmann bist du denn? Ein Räuberhauptmann? «, krächzte der Alte.

»Hauptmann in der Leibwache des unsterblichen Aaron, Beherrscher aller Schwarzköpfe. Und das, alter Mann, ist kein Märchen. «

Der Übersetzer sah ihn mit großen Augen an. »Du bist doch Drusnier. Wie kommst du in die Leibwache des unsterblichen Aaron? Sind ihm in seinem eigenen Königreich die Halsabschneider ausgegangen?«

Volodi stand auf. Er würde sich nicht weiter beleidigen lassen.

»Würdest du mich wirklich zurücklassen. Einen alten Mann, der deinetwegen die Ohren verloren hat und übel zusammengeschlagen wurde?«

»Ich hatte den Eindruck, du unterhältst dich lieber mit Priestern, die Menschen opfern, als mit Halsabschneidern.«

»Stell dich nicht so an, Junge! Verdammt. Du und dein Kamerad Kolja, ihr seht nun wirklich nicht gerade aus wie strahlende Helden. Jetzt hilf mir hoch.« Er stemmte sich an der Wand empor, kam aber nicht aus eigener Kraft auf die Beine. »Wenn du ein Hauptmann bist, kannst du mir doch sicher ein Quartier im Palast Arams verschaffen. Und meiner Tochter. Sie ist jung und hat Haar so golden wie Sommerweizen.«

»Was hast du vor, Alter? Sie mit einem von uns Halsabschneidern zu verkuppeln?«

Mitja ließ sich mit einem lauten Seufzer auf das Lager zurücksinken. »Du hast immer noch nicht begriffen, was hier geschieht, nicht wahr? Du glaubst, diese Quetzalli ist in dich verliebt? Einen Dreck ist sie! Du glaubst, du hast ihr Herz erobert? Dich hat sie geangelt. Und das nicht, weil du ein unwiderstehliches Lächeln oder so ein einnehmendes Wesen hast. Es ging ihr allein darum, dass du jung und blond warst.«

»Diesen Unsinn höre ich mir nicht mehr länger an!« Volodi fuhr hoch, doch Mitja schüttelte nur schwach den Kopf. »Bleib! Deinetwegen habe ich keine Ohren mehr. Zuzuhören ist das Mindeste, was du mir schuldest. Und zwar bis ich alles gesagt habe und dann bringst du mich in die Sicherheit des Palastes von Aram! Glaubst du, es ist normal, im Bett miteinander zu landen, ohne dass man ein einziges Wort miteinander reden kann? Was weißt du über sie? Hast du dich nie gefragt, warum sie ein eigenes Haus hat? Oder warum sie ohne Schutz in einer Stadt auskommt, in der sich kein Rock auf der Straße blicken lassen kann, weil die meisten Männer hier auf Nangog von Frauen nur träumen können? Hast du überhaupt einmal über etwas nachgedacht, seit du ihr begegnet bist? Oder hat sich zu viel von deinem Blut an anderer Stelle versammelt, als dass dein Hirn zu gebrauchen wäre?«

Volodi ballte wütend die Fäuste. Jedem anderen hätte er die Zähne eingeschlagen. Aber dem Alten schuldete er etwas. Und einige der Dinge, die er sagte, stimmten. Die Sache mit Quetzalli war wirklich sehr ungewöhnlich gewesen. Nur sollte Mitja besser achtgeben, welchen Ton er anschlug.

»Die Zapote glauben, dass Menschen mit goldenem Haar etwas sehr Besonderes sind – die Lieblinge der Sonne, durchdrungen von ihrer Kraft, lebendiger als andere Menschen. Deshalb schenken sie die Goldhaarigen ihrem sterbenden Gott, der Gefiederten Schlange, damit sie sich von ihrem Blut nährt. Als Lohn schenkt die Gefiederte Schlange den auserwählten Kriegern der Zapote etwas von ihrem Fleisch und erhebt sie damit über alle anderen Menschen. Und jetzt kommen wir zu deinem unschuldigen Mädchen, in das du so sehr verliebt bist. Damit die Götter das Opfer annehmen, müssen die Blonden freiwillig in den Tempel kommen. Werden Sklaven gekauft oder Opfer entführt, haben sie keinen Wert für den Schlangengott. Er will nur die, die aus freien Stücken seinen Tempel betreten. Und jetzt sag mir, dass du deinem Zapote-Mädchen nicht überallhin gefolgt wärest, wenn sie dich darum gebeten hätte.« Die Stimme des Alten war immer leiser geworden. Er war entschlossen, aber er war schwach und hatte viel Blut verloren.

Volodi hatte das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Das konnte nicht stimmen. »Sie hat mich nicht in den Tempel gebracht«, beharrte er. »Sie hat mich sogar gewarnt, als der Priester kam, um mich zu holen.«

»Und du bist sicher, dass das nicht Teil ihres Plans war? Wärest du ihnen nicht gefolgt, wenn du geglaubt hättest, dass sie dein Mädchen verschleppen? Denkst du nicht selbst jetzt noch darüber nach, was du tun kannst, um die Priesterin wiederzusehen? Merkst du nicht, wie das Gift immer weiter wirkt, das sie in deinen Verstand geträufelt hat?«

»Es ist nicht so, wie du sagst …«

»Dann erklär es mir, Volodi.«

»Liebe kann man nicht erklären! Was weißt du schon davon!«

»Ich habe eine Tochter, die wurde nicht einfach aus der Erde geboren. Glaube mir, ich weiß um die Liebe und um den Schmerz von Verlust. Allerdings muss ich eingestehen, dass ich nicht weiß, wie es ist, sich in eine Menschen mordende Schlangenpriesterin zu verlieben.« Der Alte versuchte erneut sich hochzustemmen. Diesmal half Volodi ihm. Mitja machte ein paar schwerfällige Schritte, dann stützte er sich auf das Fenstersims und blickte über den Hof hinweg zur Gasse, wo Kolja mit seinen Männern wartete. Volodi sah, wie es im Gesicht des Alten arbeitete. Mitja war zutiefst aufgewühlt.

»Sie werden wiederkommen«, sagte der Übersetzer. »Das hat mir der Priester versprochen. Sie werden uns beobachten und sich den Dolch zurückholen. Vielleicht wissen sie jetzt schon, dass ich eine Tochter habe. Eine blonde Tochter.« Er seufzte. »Ich will deine Eisenschwerter nicht, die ich gestern Nacht eingefordert habe. Ich will, dass du meine Tochter in Sicherheit bringst. Und dass du nicht diesen Kerl da unten schickst, um sie zu holen. Der Priester hat mir erzählt, dass sie den Göttern manchmal auch Gefangene opfern. Ein schlechtes Opfer sei immer noch besser als gar kein Opfer. Er hat mir genau beschrieben, was sie mit ihnen machen. Wie sie die Brust öffnen, nachdem sie ihnen ein Rauschmittel gegeben haben, das die Schmerzen betäubt, sodass die Opfer mit ansehen, wie ihnen das schlagende Herz aus dem Leib gerissen wird. Dann drücken sie es den Sterbenden in die Hand, auf dass sie es der Gefiederten Schlange selbst zum Geschenk darbieten. Ihr Blut wird in goldenen Schalen aufgefangen, um den Leib der Schlange zu erneuern. Und man schert ihnen den Kopf kahl, um die goldenen Haare später auf die Glut ihrer getrockneten Knochen zu streuen und ihren Rauch den Göttern zu senden, damit das Licht der Sonne niemals verlöschen möge. Die Schädel aber legt man in ein Regal und man sperrt die Seelen ihrer Opfer darin ein, denn ihre immerwährende Angst ist ein Labsaal für die gefiederte Herrin.«

Volodi schnaubte angewidert. »Das sind doch alles nur Geschichten. «

»Ganz gleich, was davon stimmt, Volodi, du bist im Krieg mit diesem Priester.« Mitja sah ihn zweifelnd an. »Du siehst aus wie ein Held aus einer unserer Geschichten. Einer, von dem die Bäume in den Geisterhainen noch nach Jahrhunderten flüstern werden. « Er deutete nach unten auf den Hof. »Und zugleich bist du der Anführer von denen da unten. Ich habe von Kolja schon gehört. Er hat sich sehr schnell einen Namen gemacht in dieser Stadt. Sag mir, dass meine Tochter weder unter dem Opfermesser noch in einem von Koljas Häusern landen wird. Hörst du, du musst mir das versprechen! Du musst versprechen, dass du einer von den Guten bist.« Mitjas Atem ging zusehends schwerer und er schwankte leicht.

»Würdest du dem Anführer von denen da unten ein solches Versprechen denn glauben?«

Mitja seufzte. »Habe ich eine Wahl? Versprich mir, ein Held zu sein! Bei den Geistern deiner Ahnen!«

»Ich fürchte, dass für die Zapoter der Priester und auch Quetzalli Helden sind, weil sie den Göttern gut und hingebungsvoll dienen. Wir sind in ihren Augen bestenfalls Diebe. Helden sind immer die, die am Ende einer Geschichte übrig bleiben, Mitja. Und die entscheiden, was man erzählt und was man besser verschweigt.«

»Mich interessiert allein, dass du der Held meiner Tochter wirst. Rette sie und mich alten, fußkranken Übersetzer. Sorge dafür, dass wir es sind, die am Ende der Geschichte übrig bleiben.«

»Ja«, sagte der Drusnier feierlich. »Ich werde dich beschützen. Und bei den Göttern, ich werde ein verdammter Held sein.«

Ein Feldzug für die Liebe

Der Statthalter blickte zu dem wunderbaren weißen Hengst, der ein Stück vom Zelt entfernt angepflockt stand. Es war unübersehbar, wie sehr er das Pferd begehrte. Ganz so, wie Artax es sich erhofft hatte.

»Vielleicht gibt es keinen zweiten Hengst wie diesen auf ganz Nangog«, sagte Kanita ehrfurchtsvoll.

»Und es gibt wohl kaum einen zweiten Mann auf Nangog, der die Schönheit eines Pferdes so zu würdigen weiß wie du, ehrenwerter Kanita. Es wäre mir eine Freude, wenn du den Hengst als Geschenk annimmst.«

»Wahrhaft die Gabe eines Unsterblichen!« Der Statthalter strich sich gedankenverloren über den dünnen, eisgrauen Kinnbart. Eine einzige Strähne aus Haaren, fein wie Seidenfäden, die ihm bis auf die Brust hinabreichten. »Und Ihr wünscht also, gegen die Plünderer des Rebellen Tarkon Eisenzunge vorzugehen. Bisher haben sie noch kein Wolkenschiff meines Volkes überfallen. Wir treiben nur wenig Handel im Norden.«

»Ist es klug zu warten, bis man den Dieb in seinem Hof stehen sieht, ehrenwerter Kanita?«

Statt zu antworten, blickte der Statthalter wieder zu dem Hengst.

»Ich werde zwei kleine Frachtschiffe ausrüsten lassen. Händler. Sie sollen harmlos wirken.« Artax bemühte sich um ein verschwörerisches Lächeln. »Aber wenn die Piraten uns finden, werden sie in Zukunft kein Problem mehr sein.«

»Mir ist immer noch nicht ganz klar, warum Ihr selbst dieses Unternehmen anführen wollt, Unsterblicher Aaron.«

Sogar die Wilden wissen besser, was die Pflichten eines Unsterblichen sind als du. Aber mach nur weiter. Wir heißen deine Pläne gut. Die Sorte Spaß, um die es dir geht, haben wir allzu lange vermissen müssen.

Artax wurde sich bewusst, dass er den Statthalter ungebührlich anstarrte, so sehr war er darum bemüht, dem Geschwafel in seinem Kopf Einhalt zu gebieten. Artax hüstelte und blickte nun seinerseits zu dem prächtigen Schimmel. »Bei uns in Aram gibt es eine Redewendung, die lautet: Wenn du willst, dass etwas gut gemacht wird, dann mach es selbst.«

Kanita lächelte. »Spielt Ihr darauf an, dass im Norden sehr viel Land liegt, das dem Königreich Luwien zugesprochen wurde? Wollt Ihr vielleicht selbst in Augenschein nehmen, wo ihre Eisenminen liegen?«

»Du weißt, dass alle sieben Unsterblichen schon vor vielen Jahren einen Vertrag gebilligt haben, der die Freiheit der Himmel festschreibt. Es ist also ohne Belang, über wessen Land wir fliegen. Wenn wir aber die Himmelspiraten besiegen, werden wir eine noble Tat vollbracht haben, die uns Ansehen in allen sieben Reichen bringen wird.«

Nicht Ansehen, sondern Argwohn wird es dir einbringen. Kein einziger Unsterblicher glaubt an edelmütige Taten. Wer das Wissen vieler Leben in sich trägt, gibt sich nur noch selten Illusionen hin.

Der Statthalter hob eine Braue und bedachte ihn mit einem skeptischen Lächeln. »Ich würde eher sagen, es bringt Euch Ansehen bei den Handelshäusern auf Nangog. Ich bin schon zu lange hier, um mich der Illusion hinzugeben, dass die Unsterblichen an mehr interessiert sind als an den Schätzen dieser Welt.«

Aaron jubilierte. Habe ich es nicht gesagt?

»Also müsste ihnen doch daran gelegen sein, dass man die Köpfe jener, die diese Schätze rauben, auf Speere steckt, nicht wahr? Und wäre eine solche Tat nicht ein dringender Anlass, höchstselbst an den Wandernden Hof zu reisen, um dem Unsterblichen Madyas von den Ereignissen zu berichten?« Artax sah die Sehnsucht in den Augen des Statthalters. Er wusste, wie sehr sich der alte Fürst wünschte, die weiten Steppen Ischkuzas wiederzusehen.

»Und es gibt noch etwas, das zu bedenken ist«, fuhr der Unsterbliche fort. »Die Himmelspiraten haben irgendwo einen Stützpunkt. Einen Ort, um den sich immer mehr Legenden ranken. Du weißt, wie viele Männer nötig sind, um ein Wolkenschiff mit allem Notwendigen zu versorgen, und wie es scheint, besitzen sie schon jetzt mindestens drei Himmelsschiffe. An ihrem Ankerplatz wird bald eine regelrechte Stadt entstehen. Eine freie Stadt, die keinem der sieben Königreiche angehört. Sie wird zum Traum aller Unzufriedenen werden. Und wie es mit phantastischen Träumen so ist, wird sich die Kunde von dieser Stadt schneller als ein Steppenfeuer ausbreiten. Nangog ist zu groß. Zu wenige Menschen leben hier, und diese Welt verändert sie. Wenn sich hier ein rebellischer Geist ausbreitet, wird es uns schwerfallen, ihn mitsamt der Wurzeln wieder auszureißen.«

Das hätten unsere Worte sein können. Du überraschst uns, Barbar. Wenn wir nicht um deine wirklichen Absichten wüssten, wären wir entzückt!

Kanita blieb gelassen. Er blickte wieder zu dem weißen Hengst. Früher einmal hatte der Statthalter den Ruf gehabt, ein arger Menschenschinder zu sein. Ein Mann, der Diener köpfen ließ, weil sie seine Trinkschale nicht genau in die Mitte seiner Tischseite gestellt hatten. Von diesem Tyrannen schien nicht mehr viel geblieben zu sein. Er war schon sehr lange auf Nangog.

»Würdet Ihr mir noch einmal erklären, warum genau Ihr ausgerechnet meine Leibwache benötigt, um Euren Feldzug zu führen, Erhabener Aaron, Beherrscher alle Schwarzköpfe? Ihr habt den Wunsch vorgetragen, dass ich Euch mit meinen Kriegern unterstütze. Aber mir ist immer noch nicht klar, warum es ausgerechnet die Männer aus Ischkuza sein sollen. Soweit ich unterrichtet bin, verfügt Ihr durchaus selbst über genügend Kämpfer für ein solches Unternehmen.«

»Ich brauche deine Palastgarde, weil sie fliegen kann. Sie werden die Spitze unseres Angriffs führen und die Schiffe der Himmelspiraten entern. Ich will ehrlich zu dir sein – ohne deine Männer fürchte ich einen Misserfolg.«

»Haben nicht auch die Zapoter Krieger, die fliegen können? Adlermänner nennt man sie, glaube ich.«

»Aber wer hat sie je gesehen, werter Kanita? Ich bin ein Feldherr. Ich plane nicht mit Truppen, deren Kampfkraft ich nicht kenne. Aber deine Palastwache habe ich selbst schon im Angriff gesehen. Sie ist diszipliniert, furchtlos und stellt sich, ohne zu zögern, jedem Feind.«

Dem Statthalter war die Spitze nicht entgangen. »Es tut mir leid, dass es damals zu jenem Missverständnis kam, Erhabener Unsterblicher, als Ihr so freundlich wart, unser treibendes Wolkenschiff zu bergen. Ich hoffe, Ihr tragt uns dies nicht nach.«

»Säße ich dann nun vor dir in diesem Palast, um dich um die Hilfe ebenjener Krieger zu bitten, die mir so eindrucksvoll zeigten, wie man ein fliegendes Schiff entert?«

Kanita winkte den Kriegern um Shaya, die bei Juba und Volodi am Tor des weiten, grasbewachsenen Hofes warteten. »Würdet Ihr der hochwohlgeborenen Prinzessin Shaya Euren Plan noch einmal unterbreiten? Wie Ihr ja wisst, befehligt sie meine Palastwache. « Er schaffte es, bei diesen Worten einen Ton anzuschlagen, der nur gerade eben erahnen ließ, dass er nicht davon erbaut war, dass eine Frau eine Kriegerschar befehligte.

Artax vermied es, zu Shaya zu blicken, denn er fürchtete, zu erröten oder sich auf eine andere Art zu verraten. Stattdessen griff er nach der Trinkschale, die vor ihm auf dem niedrigen Tisch stand, und nippte an der sauren Milch, mit der sie gefüllt war. Allein der Geruch der Milch war dazu angetan, jeglichen romantischen Gedanken verkümmern zulassen.

Artax erläuterte den Plan erneut. Ab und zu blickte er kurz auf – Shaya gar nicht anzusehen wäre auch auffällig gewesen, vermied es aber, ihr in die Augen zu blicken. Sie hingegen schien gar kein Problem damit zu haben zu überspielen, was in der vergangenen Nacht geschehen war. Sie verhielt sich ihm gegenüber kühl, fast schon herablassend.

»Nun, verehrte Prinzessin, was denkst du?«, fragte Kanita, nachdem Artax seine Ausführungen beendet hatte. »Ist der Plan des unsterblichen Aaron durchführbar?«

»Ohne Zweifel.«

»Und wird es unserem Volke zum Ruhme gereichen, wenn wir uns an diesem Kampf gegen die Wolkenpiraten beteiligen?«

»Meine Männer haben zu lange kein Blut mehr vergossen. Eine Klinge, die nicht genutzt wird, wird stumpf und rostig.«

»Du würdest also unbedingt empfehlen, an der Seite des unsterblichen Aaron in die Schlacht zu ziehen?«

»Ich würde es nicht eine Schlacht nennen, eher ein Scharmützel. Doch ich stimme zu, dass dieses aufkeimende Übel bei der Wurzel gepackt werden muss, und es wäre mir eine Ehre, eine Abteilung der Palastwache in diesen Kampf zu führen.«

»Dann folge ich deinem Rat, hochwohlgeborene Shaya.«

Alter Fuchs, dachte Artax. Sollte das Unternehmen ein Fehlschlag werden, konnte er nun alle Schuld daran Shaya anlasten, die empfohlen hatte, sich zu beteiligen. Wenn es aber ein Erfolg wurde, dann würde Kanita den Ruhm gewiss für sich allein beanspruchen.

»Damit unser Feldzug einen glücklichen Verlauf nehmen kann, müssen die Vorbereitungen schnell und in aller Heimlichkeit getroffen werden«, erklärte Artax. Er hätte jauchzen können vor Glück. Alles fügte sich so, wie er es sich erhofft hatte. »Ich habe bereits zwei Handelsschiffe ausgewählt. Wir können in zwei Tagen zum Aufbruch bereit sein.«

»Wir werden unser eigenes Schiff auswählen«, sagte Shaya bestimmt.

Er sah auf und sein Blick traf ihre brennend braunen Augen. Sein Mund wurde trocken. Er sehnte sich danach, sie zu berühren.

»Ich schlage vor, wir nutzen den Nordwind, der gewöhnlich in der Stunde vor der Dämmerung weht. Wir werden bereit sein, unsterblicher Aaron.«

Und wir werden uns von nun an jeden Tag sehen, dachte er triumphierend. Die Wolkenpiraten waren ihm im Grunde genommen völlig gleichgültig. Nur Shaya zählte.

Der Schrank

Volodi fühlte sich völlig zerschlagen. Er hatte das Gefühl, er habe sich gerade erst zur Ruhe gelegt, aber am Stand der Zwillingsmonde konnte er sehen, dass er mindestens zwei Stunden geschlafen haben musste. Zum Kampf gerüstet eilten sie durch die nächtlichen Straßen und das Pflaster hallte unter dem Tritt der genagelten Sandalen. Er hatte zwanzig Mann in voller Ausrüstung mitgenommen. Seine Krieger waren zum Äußersten entschlossen, keiner von ihnen murrte. Er hatte ihnen nur gesagt, dass es um Koljas Häuser ging, und sie alle hatten Geld in dieses Geschäft gesteckt. Den Dolch hatte er verschwiegen. Dabei hatte der Bote, der ihn geweckt hatte, nur davon gesprochen. Er solle sofort zu Kolja kommen. Es ginge um einen Dolch. Er solle ihn unbedingt mitbringen.

Unruhig blickte Volodi zu den Dächern. Er hatte sich über die Jaguarmänner erkundigt. Die meisten hielten sie für ein Ammenmärchen. Wer aber etwas über sie zu berichten hatte, sprach nur im Flüsterton. Und alle waren sich einig, dass jemand, der den Zorn der Jaguarmänner erregte, so gut wie tot war.

Wieder spähte Volodi unruhig in die Schatten. Verdammt, er war kein Feigling, aber diese Jaguarmänner … Es hieß, sie würden durch die Schatten gehen, als seien es verwunschene Pforten. Man sah sie nicht kommen! Sie waren einfach plötzlich über einem! Verdammter Dolch! Hätte er ihn doch bloß nie angerührt.

»Eilschritt!«, rief er und beschleunigte sein Marschtempo. Der Laut der genagelten Sandalen klang jetzt wie schwerer Hagelschlag. Seine Jungs waren Veteranen – Söldner und Piraten. Jeder von ihnen hatte sich bei den Kämpfen in Luwien ein Eisenschwert erstritten. Üblicherweise waren sie es, vor denen man Angst hatte.

Endlich erreichten sie die Straße, an der Koljas Tempel der Lüste lag. Vor der Treppe hinab zum Eingang stand etwas Großes auf der Straße. Eine Kiste? Volodi gab seinen Kriegern ein Zeichen zu halten. »Drei Mann sichern den Eingang zur Straße ab. Bogenschützen in die Mitte der Straße. Achtet auf die Dächer! Die übrigen: Schilde hoch und Vorsicht!«

Der Drusnier ging auf die Kiste zu. Nein. Es war ein Schrank! Als er ihn fast erreicht hatte, schob sich ein großer Schatten die Treppe hinauf. Volodi hatte bereits die Hand am Schwert, als er Kolja erkannte.

»Was geht hier vor?«

»Mach den Schrank auf, dann wirst du sehen. Es ist Licht drinnen, damit man auch alles gut erkennen kann.«

Erst jetzt bemerkte Volodi das Licht, das durch die schmalen Ritzen der Schranktür fiel. Der Schrank war etwa anderthalb Schritt hoch. Er schien aus soliden Holzbohlen gezimmert zu sein. Die Tür war mit Schnitzarbeiten geschmückt, die an Federn erinnerten.

Er zog am Griff. Die Tür schwang leicht auf.

Entsetzt machte Volodi einen Schritt zurück. Zwei Öllampen auf dem Schrankboden leuchteten das Innere gut aus. Atmos kniete dort. Ein Lederriemen, der unter seinen Achseln durchlief und an der Rückwand befestigt sein musste, verhinderte, dass er aus dem Schrank fiel. Sein Gesicht war in einem irren Grinsen erstarrt, das seinen zahnlosen Oberkiefer präsentierte. Etwas steckte in seinen Mundwinkeln … Angelhaken? Schnüre liefen von den Haken über die Wangen zum Hinterkopf. Sie waren straff gespannt und sorgten für das irre Lächeln.

So wie Mitja hatte man auch Atmos die Ohren abgeschnitten. Der Tote hielt die Arme vor der Brust angewinkelt, seine Finger umschlossen einen großen, blutigen Fleischklumpen. In der kauernden Haltung sah es aus, als wolle er das Fleisch demütig als Geschenk überreichen.

»Er hält sein Herz in den Händen«, sagte Kolja mit belegter Stimme.

Volodi senkte den Blick. Auf dem Schrankboden lag ein kleiner Hund. Sein weißes Fell war jetzt von Blut durchtränkt. Er hatte schwarze Schlappohren und etwas Rosiges ragte aus seiner Schnauze hervor. Der Drusnier kniete nieder und schob die Lefzen des Hundes zurück. Zwischen den spitzen, kleinen Zähnen steckten Menschenohren.

»Übel …«

»Dieses Gemetzel macht mir keine Angst«, sagte Kolja leise. »Es ist etwas anderes. Atmos hat in einer Kammer mit drei anderen Männern geschlafen. Keiner von ihnen hat gehört, wie sie ihn geholt haben. Und ich versichere dir, sie haben allesamt nicht gesoffen. Sie hätten diese Scheißer hören müssen! Als kleines Geschenk haben sie noch jedem der Schläfer eine rote Feder auf die Kehle gelegt. Ziemlich unmissverständlich …«

Beide starrten sie schweigend auf Atmos. Endlich schloss Volodi die Schranktüre.

»Es hat nicht einmal jemand gehört oder gesehen, wie sie den Schrank hier abgestellt haben. Einen ganzen Schrank, verdammt! Mit Öllampen darin. Das Ding ist so schwer und groß wie ein Fels! Und keiner hat gesehen, wie es hierhergekommen ist.«

»Was schlägst du vor?«, fragte Volodi.

»Du bist hier der Hauptmann! Was sollen wir tun? Ich bin nur einer von denen, die den Kopf hinhalten, wie man mir ja unschwer ansehen kann.«

»Gestern hast du dich noch anders angehört …«

Wieder schwiegen sie eine Weile. Blut tröpfelte leise aus dem Schrank.

»Wir sollten ihnen ihren Dolch zurückgeben«, sagte Volodi endlich.

»Bist du verrückt? Der Dolch ist alles, was wir haben. Der ist unsere Geisel. Solange wir ihn besitzen, können wir sie erpressen. «

Volodi sah ihn zweifelnd an. »So, können wir das?«

»Wir drohen ihnen, dass wir ihn zerbrechen. Man muss ihn nur auf das Straßenpflaster hauen, dann bricht die Klinge ab.«

»Und dann?«

»Bist du blöd? Die werden eine Heidenangst haben, dass wir ihren kostbaren Dolch zerstören.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet. Und dann? Gegen was willst du den Dolch tauschen?«

»Gegen Frieden!«

Volodi schüttelte müde den Kopf. »Und du glaubst den Männern, die Atmos so zugerichtet haben, dass sie Frieden wahren werden? Männern, die lautlos in ein Zimmer voller Schlafender eindringen können, um einen unserer Kameraden zu entführen? Was sollte sie davon abhalten, uns alle so zuzurichten wie Atmos, wenn sie erst einmal ihren Dolch haben?«

»Wir könnten den Dolch behalten …«

»Was sollte sie dann davon abhalten, uns einen nach dem anderen abzumurksen, bis wir weich werden und ihnen den Dolch geben?«

»Kannst du auch einmal einen vernünftigen Vorschlag machen, statt nur herumzumosern?« Nie hatte er Kolja so aufgewühlt gesehen. Die Zapoter hatten dem Faustkämpfer das Geschenk der Angst gemacht. Wie würde es weitergehen? Volodi seufzte. »Du hast das Geschäft mit den Geiseln nicht verstanden, Kolja. Nur ein Idiot nimmt eine einzige Geisel. Womit willst du die anderen bedrohen? Wenn wir den Dolch zerbrechen, haben wir kein Druckmittel mehr und ihr ganzer Zorn wird uns treffen. Wenn wir sie damit bedrohen, werden sie uns nicht ernst nehmen.«

»Aber ihr Dolch wäre futsch.«

»Das ist er jetzt schon.«

Kolja seufzte. »Was also sollen wir tun? Den Schwanz einziehen und uns verpissen?«

»Das können wir nicht. Wir sind keine freien Männer. Wir schulden dem unsterblichen Aaron noch zwei Schlachten.«

»Das ist mir scheißegal!«, zischte Kolja.

»Hast du lieber einen Unsterblichen mit einem Geisterschwert zum Feind oder ein paar Jaguare und Adler?«

Kolja fluchte leise. »Du meinst, wir haben die Wahl zwischen Sterben und Verrecken?«

»Ich meine, wir müssen dafür sorgen, dass uns die Priester der Zapote genauso fürchten, wie wir sie fürchten. Dann werden sie Frieden mit uns schließen.«

Koljas Schultern sackten nach unten. »Nur leider haben wir keine verzauberten Krieger …«

Volodi blickte zu den Dächern empor. Er war sich sicher, dass sie beobachtet wurden. Sie mussten auch am Morgen in der kleinen Gasse gewesen sein. Deshalb hatten sie Atmos und den kleinen Hund als Opfer ausgewählt.

»Morgen, in der Stunde vor Morgengrauen, bringe ich euch den Dolch zum Portal eures Palastes. Ich erwarte, dass danach Frieden zwischen uns herrscht!« Volodi rief, so laut er konnte, und hoffte, dass unter den Spitzeln der Zapoter jemand war, der seine Sprache verstand.

»Ich bin unglaublich beeindruckt«, murrte Kolja. »Siehst du, wie mir die Knie schlottern?«

»Wirst du morgen dabei sein?«

»Siehst du die Narben in meinem Gesicht? Sehe ich aus wie jemand, der einem Kampf aus dem Weg geht? Aber wenn du erlaubst, werde ich noch vierzig weitere Kämpfer mitbringen. Ich glaube nämlich nicht, dass sich die Sache mit ein paar freundlichen Worten erledigt haben wird. Und sollte ich mit meinem Herz in der Hand enden, dann verspreche ich dir, werde ich deine Sippe in Drus als rächender Geist heimsuchen. Und ich werde …«

Volodi winkte ab. »Ich weiß, Kolja. Ich habe es verdient.«

Und er meinte es so. Er war ein Narr! Wie hatte er sich nur je mit dieser Frau einlassen können?

Das Ende einer Liebesgeschichte

Volodi blickte zum Himmel. Die Zwillingsmonde neigten sich zum Horizont. Es war beklemmend still und er konnte das Atmen der Männer hinter sich hören. Er stand in der Mitte eines weiten Platzes, dessen weiße Steinplatten merkwürdige Tiere und Göttergestalten zeigten. Riesige Schlangen, die sich um die Sonne wanden. Krieger in Federgewändern, die über den Leibern enthaupteter Feinde dahineilten. Einen Priester, der ein Messer zum Himmel emporstreckte. Hätte Quetzalli ihn am Ende hierher gebracht, damit sein Herz ihren grausamen Göttern geschenkt wurde? Sein Verstand stimmte zu, sein Herz sagte Nein. Immer noch. Volodi seufzte. War es wirklich nur Magie, die ihn und seine Gefühle narrte?

Der Drusnier blickte zu dem großen, schmucklosen Portal, hinter dem das weite Areal des Statthalterpalastes von Zapote lag – eine kleine Stadt innerhalb der Stadt. Keine Menschenseele zeigte sich, und doch spürte er, dass sie beobachtet wurden.

Hinter ihm erklangen Schritte. Kolja trat an seine Seite. »Wäre es nicht klug, langsam die verdammten Fackeln zu löschen? Wenn sie hier Bogenschützen …«

»Soweit ich weiß, haben sie keine Bogenschützen. Und was würde es helfen? Wir stehen hier auf einem Platz, so hell wie ein Schneefeld, und beide Monde sind voll.«

»Die Männer würden sich aber besser fühlen, wenn …«

»Die Männer werden mir noch dankbar sein. Mehr habe ich dazu jetzt nicht zu sagen.«

»Dann leg wenigstens den Dolch vor das Tor. Wir haben lange genug gewartet. Soll das Gemetzel endlich beginnen.«

Volodi nickte. »Was das angeht, hast du wohl recht.« Er hob den Dolch hoch über seinen Kopf, sodass er für jeden deutlich zu sehen sein musste. Dann ging er langsam auf das Tor zu. Es war riesig! Mehr als dreißig Schritt hoch. Man fühlte sich unbedeutend, wenn man vor diesem gewaltigen Rahmen aus sorgsam geglättetem Stein stand. Ein Zwerg an einem Ort, der für Götter erschaffen worden war.

Durch das Licht der Zwillingsmonde warf das Tor einen doppelten Schatten. Es war dieser Schatten, der ihn schon die ganze Zeit über beunruhigte. Da war etwas, dicht über dem Boden, ganz nahe am Tor, wo die beiden Schatten miteinander verschmolzen. Wenn man direkt hinsah, schien alles in Ordnung zu sein. Aber wandte man den Kopf ein wenig und beobachtete aus den Augenwinkeln, dann war da plötzlich Bewegung! Es sah aus, als triebe schwarzer Rauch über den Boden.

Etwa zehn Schritt vor dem Durchgang durch das Tor blieb er stehen. Volodi blickte kurz über die Schulter. Die Männer hatten sich aufgeteilt. Trotz der Anspannung standen sie still. Kolja hatte nur Krieger ausgesucht, die besonders eindrucksvoll aussahen. Hochgewachsene Männer mit breiten Schultern und harten Gesichtern. Söldner! Jeder einzelne von ihnen. Männer, die entschieden hatten, davon zu leben, das Blut anderer zu vergießen.

Mit großer Geste legte Volodi den Dolch nieder. »Ich gebe euch zurück, was ich im Kampf erbeutet habe. Ihr habt gestern ein Leben für ein Leben genommen. Wir werden diesen Tod nicht rächen. Damit erkläre ich unsere Fehde für beendet!«

Wieder blickte Volodi zum Himmel, dann trat er vom Dolch zurück, ging rückwärts und ließ dabei das Tor nicht aus den Augen.

Wie aus dem Nichts erschien ein zierlicher Mann in einem weiten Federmantel unter dem Torbogen. Sein Kragen war aufgerichtet, sodass ein Rad aus schillernd buntem Gefieder hinter seinem Kopf aufragte. Ein Tuch aus weißem Stoff war um seine Hüften geschlungen. Breite Armreife, besetzt mit Türkisen, umfingen seine Handgelenke. Dunkle Tätowierungen bedeckten seine Brust. Volodi hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen.

Der Drusnier blieb stehen und beobachtete, wie der Priester vor dem Dolch in die Hocke ging. Stumm zog der Zapoter die steinerne Klinge aus der weiten Holzscheide und prüfte sie sorgsam.

»Du glaubst, du kannst dir einfach nehmen, was dir nicht gehört? «

Volodi war überrascht. Der Priester sprach Drusnisch, zwar mit starkem Akzent, aber doch zu verstehen.

»Du hast gestohlen und getötet. Und nun glaubst du, dass alles vorbei ist? Um den Preis von ein paar Worten? Bei Sonnenaufgang werden wir eure Herzen der gefiederten Schlange zum Geschenk machen. Dann endet diese Fehde!« Der Priester streckte in dramatischer Geste seine Arme aus. »Schatten, erhebt euch! Beendet die Leben der Hochmütigen, die glauben, uns herausfordern zu können! Tötet sie alle!«

Was Volodi eben noch wie Rauch erschienen war, schwoll nun an, wurde körperlich. Gestalten wuchsen aus den Schatten – Kreaturen, wie der Drusnier sie noch nie zuvor gesehen hatte. Tief geduckt schlichen sie wie Katzen und gingen doch nicht auf allen vieren. Sie bewegten sich fließend, stürmten jedoch nicht geradlinig vor, sondern tänzelten nach rechts und links und kamen dabei langsam näher. Schwarze Felle bedeckten die lebenden Schatten. Volodi sah fingerlange Fänge im Dunkel blitzen. Reißzähne in weit aufgerissenen Mäulern!

»Bildet einen Kreis!«, rief Kolja. »Niemand soll sich Gedanken machen, was in seinem Rücken geschieht. Los, Jungs! Schnell!«

Volodi sah, wie auch rings um den weiten Platz die Schatten zum Leben erwachten. Es mussten weit über hundert Jaguarmänner sein, die auf sie gewartet hatten. Und sie hatten keinen dieser verdammten Bastarde zuvor gesehen. Es war, als hätten die Schatten sie ausgespuckt. Und nun fluteten sie wie eine Woge aus lebendig gewordener Finsternis von allen Seiten auf den Platz. Sie trugen keine Schwerter oder Dolche. Ihre Arme endeten in langen, schwarzen Krallen. Manche der schwarzen Krieger fauchten, als seien sie leibhaftige Wildkatzen. Sie trugen Helme, die an Jaguarköpfe erinnerten. Auch diese waren schwarz wie die Nacht. Zwischen weit aufgerissenen Kiefern starrten geschwärzte Gesichter. Was für eine Brut, dachte Volodi. Zugleich war er sich sicher, dass diese Männer nicht für eine offene Feldschlacht taugten. Sie waren Meuchler, die überraschend aus dem Hinterhalt sprangen. Hier, auf dem offenen Platz, würden seine Söldner einen guten Stand gegen diese Bastarde haben!

»Haltet die Fackeln hoch!«, befahl der Drusnier mit ruhiger Stimme.

»Was für einen verdammten Nutzen soll das haben?«, zischte Kolja. »Was wir brauchen …« Ein lautes Klirren brachte ihn zum Schweigen.

Der Zapoter stand jetzt knapp zwanzig Schritt entfernt. Er war langsam in Richtung des großen Tors zurückgewichen. Nun aber stand er still und starrte auf die rotbraunen Scherben eines zerschellten Topfes, der etwa in der Mitte zwischen ihm und Volodi auf den weißen Steinplatten zerschellt war.

Flüssigkeit war gegen Volodis Beine gespritzt. Golden schimmerndes Lampenöl floss durch die Fugen zwischen den Steinplatten. Der Priester sah ihn nun geradewegs an. Hatte der Kerl begriffen, was vorging?

Ringsherum zerschellten weitere Töpfe auf dem Platz. Gepresstes Stöhnen verriet, dass auch einige der Jaguarmänner getroffen worden waren, doch keiner von ihnen schrie auf. Noch immer führten sie ihren seltsamen Tanz auf – wichen vor und zurück, hielten sich seitlich, folgten in ihren Bewegungen keinem nachvollziehbaren Muster und kamen doch langsam näher.

Volodi hatte keinen Zweifel, dass ein einziger Wink des Priesters sie wie eine schwarze Flut gegen den Kreis aus Schwertern und Fackeln anbranden lassen würde.

Durchdringender Ölgeruch hing nun in der Luft, Pfützen aus Öl flossen ineinander und noch immer stürzten Töpfe aus dem Himmel über ihnen.

Volodi blickte nicht auf. Er wusste, was er sehen würde. Ein Wolkenschiff, vielleicht hundert Schritt über dem Platz. Ein Kauffahrer ohne Banner, durch das man ihn einem der sieben Königreiche hätte zuordnen können. Ein schmutziges, stinkendes Schiff. Das Tauwerk dunkel vom Alter, die Segel vielfach geflickt. Dutzende solcher Schiffe lagen an den Ankertürmen der Goldenen Stadt vertäut. Die Arbeitspferde der Lüfte. Ihr Anblick war so vertraut in der Goldenen Stadt, dass keiner ihnen besondere Beachtung schenkte, wenn diese Schiffe über den Himmel glitten.

Eine ganze Reihe Töpfe zerschellte nahe dem großen Tor. Eine Ölpfütze sammelte sich um die Füße des Priesters.

»Ruf deine Jaguare zurück und ich schenke dir und deinen Männern das Leben.«

Der Priester erwiderte seinen Blick mit kalter, beherrschter Wut. »Ihr lasst die Fackeln nicht fallen. Denn dann wäret auch ihr des Todes.« Die zischenden Jaguarmänner waren jetzt bis auf fünf Schritt an den Kreis der Krieger heran. »Siehst du ihre Krallen? Sie werden euch zerreißen, noch bevor die Flammen sie töten.«

Volodi hob die Rechte und winkte. Kaum einen Herzschlag später schnellten Taue vom Himmel hinab. »Nehmt die Seile, Männer. Wickelt sie euch um die Arme. Und ich warne euch – wer seine verdammte Fackel fallen lässt, den lassen unsere Jungs da oben fallen. Wir wollen hier kein Massaker!«

»Ihr habt gehört, Kameraden!«, rief Kolja mit einer Stimme, die weit über den Platz hallte. »Wir ziehen uns zurück, nach oben!« Er lachte. »Los!«

Eine Geste des Priesters ließ die Jaguarmänner innehalten. »Du glaubst, es endet damit?«

»Es liegt in deiner Hand. Ich bin ein Söldner. Ich kämpfe nicht aus Leidenschaft – ich kämpfe, weil ich klar vor mir sehe, was ich gewinnen kann. In diesem Fall aber sehe ich für keine von beiden Seiten einen Gewinn. Ich zweifele nicht daran, dass es deine Männer schaffen können, noch weitere Schränke mit unerfreulichem Inhalt auf irgendwelche Straßen zu stellen. Und ich weiß, wir werden mit Feuer und Schwert über dich und deine Leute kommen, wenn dies geschieht. Aber was ist der Gewinn, den uns diese Kämpfe bringen?« Aus den Augenwinkeln sah er, wie die ersten seiner Männer hochgezogen wurden.

»Du hast meinen Gott beleidigt, als du den Dolch gestohlen hast.«

»Und nun ehre ich deinen Gott und schenke ihm das Leben eines bedeutenden Priesters und vieler seiner Krieger.« Volodi griff nach einem der Taue. Mit einer leichten Drehung wickelte er es um seinen Unterarm, blickte flüchtig über seine Schulter und sah, dass er der letzte Söldner war, der noch mit den Füßen auf dem Boden stand.

Der Priester winkte seine Jaguarmänner zurück. Wütendes Zischen erklang.

»Hätte Quetzalli mich zum Opferstein gebracht?« Diese Frage ging Volodi einfach nicht mehr aus dem Kopf, seit Mitja ihm offenbart hatte, welche Rolle Priesterinnen wie sie spielten.

Der Priester im Federmantel lächelte. »Folge mir durch dieses Tor und sie selbst wird dir die Antwort geben, Drusnier.«

Volodi zögerte. Er verlor den Boden unter den Füßen. Die Muskeln seines Arms spannten sich. Er wurde schnell hochgezogen. Unter ihm erstreckte sich der Palast der Zapote. Er sah weitläufige Blumengärten, in deren Mitte ein kreisrunder See lag. Wie ein schwarzes Auge sah er aus. Das Wasser musste wohl sehr tief sein. Auf einigen Hausdächern entdeckte er blumengeschmückte Altäre. Regale mit Schädeln gab es nirgends zu sehen. Die Palastanlage wirkte friedlich.

Die Jaguarmänner zogen sich in die Schatten zurück und verschwanden im Dunkel, als habe die Finsternis sie verschlungen. Nur der Priester stand jetzt noch auf dem Platz. Er blickte zu Volodi empor. War ihr Streit beendet? Der Priester war ihm eine Antwort auf diese Frage schuldig geblieben.

Volodis Blick wanderte zurück zu dem Palast voller Blumen. Stand irgendwo dort unten Quetzalli und sah zu, wie er immer weiter in den Himmel hinaufgezogen wurde? War sie erleichtert?

Der Drusnier wurde bei den Armen gepackt und über die Reling gezogen. Juba erwartete ihn mit finsterem Blick. »Was war da unten los?«

»Ist sich Ende von einer Geschichte von Liebe.« Volodi seufzte. Er hasste es, in der Sprache Arams reden zu müssen. Er wusste, er hörte sich dann an wie ein Idiot.

Kein überraschender Besuch

Der Dunkle streckte seinen Drachenleib in der Sonne und blickte zum Himmel. Den Morgen und fast den ganzen vorangegangenen Tag hatte er mit den Gazala verbracht. Jene Prophezeiungen, die er schon so lange fürchtete, begannen sich immer häufiger in ihren Sprechgesängen zu wiederholen. Meist war dies ein Indiz dafür, dass die Ereignisse, von denen die Orakel sprachen, näherrückten. Sehr nahe! Ärgerlicherweise gab es so gut wie nie konkrete Hinweise in den Orakelsprüchen, wann genau Ereignisse eintreten würden. Noch komplizierter wurde es dadurch, dass die Zukunft nicht festgeschrieben war. Es war, als stünde man an einem Baum und blickte zum Geäst hinauf. Die nächsten paar Stunden, das war der Stamm. Und dann begannen sich die Wege zu teilen, abhängig von den Entscheidungen, die man traf.

Die Dinge entwickelten sich schlecht. Er wusste, dass etwas unter seinen Drachenbrüdern vor sich ging. Sie sponnen Intrigen – so wie sie es stets taten. Er war des endlosen Geredes müde, dessen Resultat meist nur halbgare Kompromisse statt klare Entscheidungen waren. Der Dunkle war sich sicher, dass die Alben dieses Ränkespinnen vorausgesehen hatten, und sie, die Drachen, genau deshalb ihre Entscheidungen gemeinsam treffen sollten. So mochte man verhindern, dass einer von ihnen sich zum Tyrannen aufschwang. Doch der Preis, so zu herrschen, war Mittelmaß.

Das Bild der Zukunft, das die Orakelstimmen immer deutlicher zeichneten, verlangte nach Entscheidungen, auf die er sich mit seinen Drachenbrüdern niemals würde einigen können. Und noch weniger mit den Alben. Die Devanthar würden nach Albenmark kommen! Er wusste nicht, wo und wann. Er wusste nicht, was sie im Schilde führten. Aber sie würden kommen. Damit würde der alte Vertrag zwischen den Alben und den Devanthar ein weiteres Mal gebrochen! Weder Alben noch Devanthar sollten auf Nangog sein. Und auch nicht ihre Kinder! Und am allerwenigsten sollten sich die Devanthar selbst hierherwagen. Er musste diese Entwicklung aufhalten oder es würde zu jenem Krieg kommen, von dem die Gazala so Grauenhaftes zu berichten wussten.

Der Dunkle hatte viel über die Reise nachgedacht, die er mit Nandalee unternommen hatte. Hatte sich endlos den Kopf zerbrochen, um in das Wenige, das er wusste, einen Sinn zu bringen. War ein Devanthar nach Albenmark gekommen und hatte Alben gemordet? War es überhaupt möglich, dass so etwas ohne das Wissen der Alben geschah? Warum sonst hatten sie nichts dagegen unternommen? War ihre Agonie schon so weit fortgeschritten, dass sie nicht mehr gegen den eigenen Untergang ankämpften? Oder vertrauten sie den Himmelsschlangen blind, dass diese jedes Unheil abwenden würden?

Ein Krieg stand bevor! Ein Krieg, der auf drei Welten ausgetragen werden würde, wenn niemand den Mut fand, zur rechten Zeit einsame Entscheidungen zu treffen.

Wieder blickte der Dunkle zum Himmel hinauf. Sie waren in einer verzweifelten Lage. Es wäre ehrenhaft, wenn sie sich an die alten Verträge halten würden. Aber derjenige, der bei dem Konflikt, der kommen würde, zuerst losschlug, hatte die besten Aussichten zu gewinnen. Nein, es war keine Schlacht, an deren Ende es einen strahlenden Sieger geben würde …

Mit Schrecken dachte er an die Prophezeiungen dieses Morgens. Alle Welten würden sich verändern. Und wer diesen Kampf verlor, würde nie wieder sein Haupt erheben. Der würde vernichtet werden.

Der Dunkle wusste, welchen Preis er zu zahlen hätte, wenn seine Pläne vor der Zeit bekannt wurden. Und dennoch war er entschlossen.

Ein lauter Fluch riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte hinab auf den breiten Weg, der zum Eingang der Pyramide führte. Jenen Ort, der nun schon seit Tagen Schauplatz der Fechtlektionen war, die Nodon Nandalee gab.

Die junge Elfe hatte ihr Schwert fallen lassen. Die Linke presste sie gegen ihren rechten Oberarm. Blut sickerte durch ihre Finger. Nodon übertrieb! Es war absolut nicht notwendig, dass er sie immer wieder verletzte! Er hatte den Schwertmeister vor den kaum beherrschten magischen Talenten seiner Schülerin gewarnt. Ihm sehr anschaulich beschrieben, was mit ihm geschehen mochte, wenn er sie zu sehr reizte. Doch das schien ihn nur umso mehr angestachelt zu haben. Auf seine Art war Nodon genauso unbeherrscht wie Nandalee. Deshalb duldeten die Meister der Weißen Halle ihn auch nicht unter sich, obwohl er vielleicht der beste Schwertkämpfer unter den Drachenelfen war.

Weit über ihm erklangen Rufe. Der Dunkle blickte auf. Ein nachtschwarzer Pegasus glitt über den Jadegarten hinweg, legte die Flügel an und schoss in tollkühnem Sturzflug der Pyramide entgegen, dicht gefolgt von drei weiteren Pegasi. Sie hatten ihn also entdeckt, aber nicht aufhalten können, dachte der Dunkle und Ärger wallte in ihm auf. Er hatte gewusst, dass seine Liebe den Elfen hierherbringen würde. Er hatte ihn in seine Pläne einbezogen und doch erzürnte ihn sein Erscheinen, machte ihn auf unerklärliche Weise gereizt, und er musste gegen den Impuls ankämpfen, einen gleißenden Flammenstrahl gen Himmel zu fauchen.

Sollte er seinen Wachen befehlen, in Zukunft Bogen zu benutzen? Dass sie Gonvalon nicht hatten aufhalten können, ärgerte ihn genauso wie das überraschende Auftauchen des Elfen. Eines Tages würde einer wie er kommen … Nein, schlimmer noch, jemand, der sein volles Vertrauen genoss. Und dies würde der Tag sein, an dem er starb. Er hatte es in der Silberschale des Goldenen gesehen und auch die Gazala hatten es ihm schon seit Langem prophezeit.

Mit funkensprühenden Hufen landete der Pegasus auf dem Weg vor der Pyramide. Gonvalon stieg schwerfällig vom Rücken seines Hengstes – und strauchelte! Nur unbeholfen kam er auf die Beine. Nodon eilte dem Meister aus der Weißen Halle mit gezogenem Schwert entgegen. Die drei anderen Pegasi schwebten nieder. Zwei der Reiter sprangen aus ihren Sätteln, kaum dass die Hufe ihrer Reittiere den Boden berührten. Die Drachenelfen kreisten Gonvalon ein, noch ehe dieser sich ihm auf hundert Schritte nähern konnte.

Nandalee hatte einen Augenblick lang erstarrt zugesehen. Dann eilte auch sie dem Schwertmeister entgegen. Der Dunkle bemerkte, dass der Arm der Elfe nicht mehr blutete. Auch das vermochte sie also, wenngleich sie es vermutlich unbewusst getan hatte. Wunden zu schließen, ohne dass eine Narbe zurückblieb, erforderte einige Kunstfertigkeit. Nur wenige Zauberweber meisterten dies. Wenn sie aufgefordert würde, es zu wiederholen, würde es ihr vermutlich nicht gelingen. Der Dunkle überlegte, was er noch zu tun vermochte, um ihr ihre Möglichkeiten zu erschließen. Vermutlich war Geduld der einzige Schlüssel zum Erfolg.

Er glitt von seinem Ruheplatz an der der Sonne zugewandten Flanke der Pyramide. Seine Schuppen schabten über Fels. Immer enger schloss sich der Kreis der Drachenelfen um Gonvalon. Nandalee war zu ihm durchgebrochen und stand nun mit blankem Schwert an der Seite ihres Meisters.

Der Dunkle war versucht, ein Duell zwischen Gonvalon und Nodon zuzulassen. Es wäre gewiss kurzweilig, den beiden Schwertmeistern im Zweikampf zuzusehen. Aber etwas stimmte nicht mit Gonvalon. Die Art, wie er sich bewegte.

In Gedanken sandte der Drache seinen Wachen den Befehl zurückzuweichen. Nodon gehorchte ihm als Letzter. Nur widerwillig schob der rot gewandete Elf sein Schwert in die Scheide. Eines Tages würden die beiden wohl endgültig auf verfeindeten Seiten stehen, dachte der Dunkle. Er wusste um eine Zukunft, in der Elf gegen Elf stehen würde. Eine Zukunft, in der jede der Himmelsschlangen Loyalität einfordern würde. Und Gonvalon hatte sich dem Goldenen verschrieben. Aber vielleicht, so dachte er, würde es ja gelingen zu verhindern, dass dieser dunkle Ast am Baum der Zukunft jemals austrieb.

Wer hat Euch dies angetan?, fragte er Gonvalon in Gedanken. Deutlich spürte er, wie aufgewühlt der Schwertmeister war. Wie viel es ihm bedeutete, Nandalee wiedergefunden zu haben. Das Gefühlsleben Gonvalons weckte sein Interesse, und er studierte es noch etwas länger. Würde er, wenn er Nandalees Gedanken lesen könnte, ähnliche Gefühle bei ihr finden? Äußerlich jedoch blieb der Schwertmeister kühl und gelassen. Ja, er erschien in seiner Steifheit fast schon abweisend. Er war ein wahrer Meister darin, seine Gefühle zu verbergen.

»Meine Beine waren der Preis, den ich bezahlen musste, um hierherzugelangen«, gab Gonvalon zur Antwort. Es ärgerte den Dunklen, dass sich der Elf erdreistete, ihm mit gesprochenem Wort zu antworten. Es war offensichtlich, dass Gonvalon wollte, dass Nandalee Zeugin dieses Gesprächs war.

Der Drache betrachtete den Zauber, der die Beine des Elfen umfing. Ein perfides Meisterstück! Auf fremdartige Weise gewoben, ohne Zweifel kunstvoll und zugleich von erschreckender Boshaftigkeit. Nandalees Blick riss ihn aus seinen Betrachtungen. Sie war zornig. Auf ihn! Das irritierte ihn zutiefst. Glaubte sie etwa, er habe Gonvalon das angetan? Was würde er darum geben, jetzt ihre Gedanken lesen zu können! Ihr so klar und unmissverständlich zu verstehen zu geben, dass er mit diesem Unheil nichts zu schaffen hatte, wie es nur möglich war, wenn man sich in Gedanken einander öffnete.

»Wer hat dich verstümmelt?« In Drachengestalt ging ihm die Sprache der Elfen nur schwer von der Zunge. Die Worte waren undeutlich, verzerrt von Zischlauten. Ärger stieg in ihm auf. Wäre Nandalee nicht anwesend, würde er sich von diesem Elfen nicht aufzwingen lassen, auf diese Weise miteinander zu kommunizieren. Doch vor ihr wollte er nicht als ein selbstherrlicher Tyrann erscheinen – und auch diese Erkenntnis verwunderte ihn. War er ihr Rechenschaft schuldig? Nein. Aber ihm war daran gelegen, ihr zu gefallen. Der Gedanke überwältigte ihn. So durfte es nicht weitergehen. Er musste sich von ihr befreien!

Nandalee blickte Gonvalon erschrocken an. Augenscheinlich hatte sie das Ausmaß der Veränderung an ihrem Geliebten bislang noch nicht erfasst.

Als Gonvalon ihren Blick auf sich spürte, gab er seinen Widerstand auf. Er erzählte von Matha Naht, und als er endete, war der Dunkle mehr als überrascht. Er wusste, dass die beseelten Bäume machtvolle Geschöpfe waren. Einmal hatte er einen ganzen Herbst lang mit einer jungen Eiche geplaudert, die sich Atta Aikhjarto nannte. Ein angenehmes Gespräch. Der Baum war überraschend geistreich und humorvoll gewesen. Zuletzt hatte er ihm eine Eichel zum Geschenk gemacht. Die beseelten Bäume gehörten zu den frühen Schöpfungen der Alben. Sie waren nur um weniges jünger als die Drachen und hatten ein tief greifendes Weltverständnis. Dass einer dieser Bäume bösartig sein könnte, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Ein Baum, der die Macht der Blutmagie entdeckt hatte … Erstaunlich. Aber auch Gonvalons Verhalten verwunderte ihn. Hier fand er Parallelen zu dem, was Nandalee ihm in seiner Höhle erzählt hatte. Gonvalon hatte diesen Verlust auf sich genommen und sich dem Baum ausgeliefert, um Nandalee wiederzusehen. War das Liebe? Nein, berichtigte der Dunkle sich, Nandalees Liebe war anders gewesen. Sie hatte nichts für sich gewollt. Gonvalon aber hatte sich verstümmeln lassen, weil er sie hatte wiedersehen wollen. Noch einmal studierte er die Gedanken des Elfen, Freude, Scham, Erleichterung, Furcht, Zorn und der Wunsch, bei ihr zu liegen und sich zu paaren. Nein, beschloss er. Mit der Liebe würde er sich später weiterbeschäftigen. Stattdessen studierte er das magische Muster des Zaubers. Er war mit der Aura des Elfen verbunden. So kunstvoll, dass man den Zauber nicht brechen konnte, ohne dass Gonvalons magische Aura Schaden nahm.

»Weshalb bist du hierhergekommen, Gonvalon? Du weißt, dass es den Elfen verboten ist, dieses Tal zu betreten, ohne dass ich sie eingeladen habe. Selbst den Drachenelfen!«

»Ich bin gekommen, um Nandalee zurück in die Weiße Halle zu holen. Ich bin ihr Meister. Es ist meine Pflicht, mich um meine Schülerin zu sorgen.« Der Elf stockte. Selbst ihm musste klar sein, wie durchsichtig diese Behauptung war. »Und ich bin hier, weil ich sie liebe und nicht ohne sie sein kann.«

»Ich schätze Aufrichtigkeit.« Er wusste seit Stunden, dass Gonvalon kommen würde. Noch nie hatte sich ein Elf dem Jadegarten auch nur nähern können, ohne dass die Gazala ihn rechtzeitig vorwarnten. Seine Gedanken schweiften zu der Prophezeiung ab, dass er eines Tages durch einen Elf getötet würde. Alles deutete daraufhin, dass es Nandalee sein würde. Er könnte sie töten – und Gonvalon dazu. Es wäre ein Leichtes. Aber er wollte Nandalee für sich gewinnen – sie so sehr an sich binden, dass ein solcher Verrat undenkbar wäre. Deshalb hatte er Gonvalon gewähren lassen. Nandalee sollte das Gefühl haben, tief in seiner Schuld zu stehen.

»Ihr wusstet um das Verbot, hierherzukommen, und habt Euch darüber hinweggesetzt, Gonvalon. Das ist kein geringes Vergehen.«

Er verneigte sich und rang dabei um sein Gleichgewicht. »Ich hoffe auf deine Gnade.«

Der Dunkle richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Es zeigte den Elfen, wie klein und zerbrechlich sie waren, und verfehlte seine Wirkung nie.

Nandalee trat vor und kniete demütig nieder. »Ich bitte für ihn, Erstgeschlüpfter. Bitte lass ihn ziehen. Er kam nicht, um dich zu erzürnen. Nun, da er gesehen hat, dass es mir gut geht, wird er gewiss in die Weiße Halle zurückkehren. Bitte verzeih ihm.« Nie zuvor hatte er die rebellische Elfe so unterwürfig gesehen. Auch das war also Liebe.

Ich erwarte von Euch, dass Ihr mir einen Dienst erweist, fuhr sein Geist in Gonvalons Gedanken. Ich werde nicht darum feilschen. – Es gibt nur ein Ja oder Nein. Und der Goldene wird niemals erfahren, was Ihr für mich getan habt. Weder er noch sonst jemand.

Der Schwertmeister nickte kaum merklich.

»Ihr werdet zum Sonnenuntergang zu mir in die Pyramide kommen!«, sagte der Dunkle laut.

Als die Gazala ihm Gonvalons baldige Ankunft prophezeit hatten, hatte er entschieden, dass es an der Zeit war, seine ersten Späher nach Nangog zu schicken. Keinen Spitzel aus der Blauen Halle – sie hatten sich den Drachen nicht eng genug verschworen. Jeder seiner Brüder konnte einen von ihnen schicken. Jeder konnte sie befragen. Geheimnisse waren bei ihnen nicht aufgehoben. Seit er begonnen hatte, über seinen Plan nachzudenken, hatte er gewusst, dass er Drachenelfen schicken musste. Gonvalon wäre eine gute Wahl! Der Schwertmeister war erfahren und hatte in vielen Missionen für den Goldenen gestritten. So viel wusste er, auch wenn die Einzelheiten über Gonvalons Taten ein Geheimnis blieben. Es war ihm eine Freude, den Pakt, den der Schwertmeister mit seinem Bruder eingegangen war, zu unterhöhlen. Dass Gonvalon für Nandalee alles tun würde, hatte er bereits unter Beweis gestellt – und er würde sich dieses Wissen zunutze machen. Bevor der Elf gehen konnte, würde er ihm einen weiteren Schwur abverlangen – etwas, das Gonvalon noch tiefer in seiner Schuld stehen lassen würde. Künftig würde der Schwertmeister ihm von den Geheimnissen des Goldenen berichten.

Ihm war bewusst, dass Gonvalon an diesem Verrat zerbrechen würde. Doch selbst das wäre noch ein Gewinn – denn mit Gonvalon würde sein Bruder einen seiner besten Streiter verlieren.

Der Pakt der Himmelsschlangen

ER spürte die Unruhe SEINER Nestbrüder, als sie sich in der weiten Halle unter den Klippen versammelten. ER hatte sie ausgesandt, nach jenen Alben zu suchen, die ER in den letzten Monden ermordet hatte. Darin hatte ein gewisses Risiko gelegen. Doch es war an der Zeit, Wagnisse einzugehen! Bevor ER den großen Plan angehen konnte, musste ER sie alle hinter sich wissen.

Ihr habt gesehen, was unter den Alben vor sich geht?

Wir haben gesehen, dass etwas vor sich geht!, antwortete IHM der Himmlische. Allein, es fehlt uns an Wissen, die Ereignisse zu deuten. Und was mich angeht, bin ich überrascht, wie genau du wusstest, wohin du uns schicken musstest. Ich habe mir erlaubt, auch andere Alben aufzusuchen. Nur jene, die du uns nanntest, waren verschwunden.

Der Himmlische galt als der weiseste unter ihnen. Ein Skeptiker. Wenn ER ihn für sich gewann, würden die übrigen Himmelsschlangen umso williger folgen. Vor zwei Jahren bemerkte ich das Verschwinden einer Albe, die mir von allen die Teuerste war. Seither habe ich viele Reisen unternommen. Ich glaube, ich habe sie alle besucht. Jedenfalls jene, die zulassen, dass man sie noch findet. Die Stimmung unter ihnen bereitet mir große Sorge. Sie wenden sich ab von dieser Welt. Das Mondlicht lockt sie, und sie scheinen Albenmarks überdrüssig zu werden. Gerade jene unter ihnen, die ich als die Tatkräftigsten eingeschätzt habe, sind nun unauffindbar. Es ist unabdingbar, dass wir eine Entscheidung treffen, wie wir dieser Lage begegnen. Uns obliegt der Schutz Albenmarks! Und ich bin der Überzeugung, wir werden durch eine unbekannte Macht angegriffen!

Dem kann ich nur zustimmen! Der Flammende war für sein aufbrausendes Temperament gefürchtet. Die Farben seiner Schuppen changierten zwischen dunklem Gelb und leuchtendem Karmesin. Allerdings war er auch wankelmütig. Es sieht so aus, als würde Albenmark angegriffen. Wir müssen unsere Feinde stellen und zurückschlagen!

Dazu müssten wir allerdings erst einmal wissen, wer uns angreift, wandte der Frühlingsbringer ein. Die mächtige Himmelsschlange, deren Schuppen alle Grüntöne des Frühlings trugen, galt als ruhiger Pragmatiker. ER war sich bewusst, dass sein Nestbruder nur schwer zu radikalen Schritten zu bewegen sein würde. Vielleicht schwerer noch als der Himmlische.

Kurz erwog ER, SEINEM Bruder zu antworten, doch dann entschied ER, dass es klüger wäre, zunächst jeden in der Runde zu Wort kommen zu lassen.

Ihr werdet bemerkt haben, dass die nahe gelegenen Albensterne geöffnet wurden und dass Besucher kamen, die nicht aus dieser Welt stammten, erklärte der Nachtblaue, der kriegerischste unter ihnen. Bei ihm war ER sich ganz sicher, einen Verbündeten zu finden.

Besucher, die von Nangog kamen, mischte sich der Himmlische ein. Dass sie von dort durch das Goldene Netz gingen, ist allerdings kein zwingender Beweis dafür, dass sie nicht letztlich doch aus Albenmark stammen.

Wenn dem so wäre, dann hätten sie gegen den alten Pakt verstoßen!, entgegnete der Nachtblaue gereizt. Wer würde die Alben und Devanthar zugleich herausfordern?

Das herauszufinden haben wir uns hier versammelt, erwiderte der Himmlische ruhig. Und was mich angeht, werde ich meine Entscheidungen gewiss nicht auf unsachlichen Behauptungen begründen. Wir könnten die Elfen der Blauen Halle als Späher ausschicken. Wir haben sie erschaffen, um unsere verborgenen Augen zu sein.

Unsinn! Diese Sache ist zu bedeutend, um sie den Elfen zu überlassen! Ich lade dich ein, in meinen Gedanken zu lesen, Bruder! IHM gefiel nicht, in welche Richtung der Disput lief. ER wollte keine Späher, ER wollte Ergebnisse. Noch heute!

Der Nachtblaue schob sich aus der Höhle, die seinen Leib beherbergte, in die Mitte des Rundes und ER spürte, wie sein Nestbruder nach SEINEN Gedanken griff.

Jeder von euch mag dies tun! Ich bin den magischen Spuren gefolgt! Ich weiß, wohin sie führen. Sie enden nicht in Nangog, sondern auf Daia. Sie führen nach Zapote, wo die Devanthar sich im Gefiederten Haus versammeln, und in die Berge von Kush, in denen der Gelbe Turm verborgen liegt, wie wir wissen. Auf diese Offenbarung folgte atemlose Stille. ER spürte, wie nun alle übrigen Himmelsschlangen nach den Erinnerungen des Nachtblauen griffen, um zu sehen, was er gesehen hatte.

Es war der Rote, der als Erster die Sprache wiederfand. Du hättest dies nicht ohne Absprache mit uns tun dürfen!, empörte er sich. Du hattest Glück, doch wärest du entdeckt worden, hätten deine Taten Konsequenzen für uns alle haben können.

Nur dass er nicht gemordet wurde wie einst der Purpurne, bedeutet nicht, dass die Devanthar seine Anwesenheit nicht bemerkt hätten, gab der Himmlische zu bedenken. Deine Tat zeugt nicht gerade von Weisheit. Und noch weniger von Verbundenheit mit uns!

Ich fühle mich in der Tat nicht mit jenen verbunden, die lieber hier sitzen und abwarten, als zu handeln, während die Welt, die uns anvertraut wurde, zerbricht, entgegnete der Nachtblaue kämpferisch.

Wir sollten unseren Bruder Nachtatem hinzuziehen, meldete sich der Rote zu Wort. Diese Erkenntnisse sind zu bedeutend, als dass wir eine Entscheidung ohne ihn treffen könnten.

Können wir nicht?, warf ER sarkastisch ein. ER wusste darum, wie sehr der Rote dem Erstgeschlüpften verbunden war. Ihn zu gewinnen würde schwer werden. Vielleicht kam ER nicht umhin, SEINEN Bruder als Letzten der Klinge der Devanthar zu überantworten, bevor ER das Messer für immer verschwinden ließ. Der Erstgeschlüpfte ist seit vielen Monden nicht mehr zu unseren Versammlungen gekommen. Er steht den Alben näher als uns! Wen mag es da noch wundern, dass sein Interesse für die Belange dieser Welt mehr und mehr verblasst, so wie dies auch bei unseren Schöpfern der Fall ist.

Vielleicht ist auch er diesen seltsamen Ereignissen auf der Spur, bemerkte der Himmlische.

Wäre sein Erscheinen hier dann nicht noch zwingender?, entgegnete ER in wohldosiertem Ärger. Müsste er uns nicht in sein Vertrauen ziehen? Was sind wir für ihn? Brüder? Oder fühlt er sich schon so weit über uns, dass wir ihn nicht mehr interessieren? Ihr alle kennt seine Arroganz! Seinen Hang zu Alleingängen. SEINE Worte wirkten, stellte ER zufrieden fest. Schweigen legte sich über ihre Runde. Niemand erhob mehr die Stimme gegen IHN.

Es war der Smaragdgrüne, der bislang nur zugehört hatte, der schließlich in die Stille sprach. Ein Nestbruder, der meist mäßigend einzuwirken versuchte und deshalb oft gegen IHN stand. Was immer wir tun – die Ereignisse sind so schwerwiegend, dass wir eine einmütige Entscheidung treffen müssen. Ganz gleich, was dort draußen geschieht – wir müssen ihm Schulter an Schulter entgegentreten.

ER schloss die Augen, bemüht, sich SEINE Erleichterung nicht anmerken zu lassen. ER hatte gehofft, dass ihr Disput zuletzt zu diesem Konsens führen würde. SEIN Ziel war zum Greifen nahe gerückt. Und tatsächlich – niemand widersprach dem Smaragdgrünen!

Ich möchte euch etwas zeigen, meine Brüder! Etwas, das einer meiner Elfen den Menschenkindern gestohlen hat. Ein Geschenk der Devanthar an sie. Ein Artefakt von unermesslichem Wert. In Gedanken befahl ER Lyvianne, die oben in der Klippenfestung gewartet hatte, hinab zur Höhle zu steigen und die Silberschale zu bringen. Dass die Schale in Wahrheit aus der Halle eines Zwergenkönigs stammte, wollte ER lieber nicht preisgeben. Das hätte nur zu neuer Unruhe geführt.

Nach wenigen Augenblicken erschien die Elfe. Lyvianne trug die Schale auf beiden Händen. Ganz in Weiß, gekleidet in das Gewand einer Meisterin der Weißen Halle, ihr Haar streng zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten, wirkte sie unnahbar und selbstbewusst. Mit einer vollendeten Verbeugung setzte sie die Schale in der Mitte der Halle ab und zog sich wieder zurück.

Geht hin und schaut in das Wasser der Schale. Sie zeigt Bilder aus der Zukunft. Überzeugt euch! Ihr werdet sehen, was geschehen wird, wenn wir nicht mit aller Entschiedenheit handeln. Und bedenkt bei allem, was ihr seht, dass unser Bruder Nachtatem über etliche Gazala verfügt, die ihm prophezeien. Er muss um all das wissen, das euch nun offenbart wird. Und erneut stellt sich die Frage: Warum teilt er dieses Wissen nicht mit uns?

Der erste, der in die Silberschale blickte, war der Nachtblaue. ER konnte sehen, wie SEIN Bruder zunehmend verstörter wurde. Dann folgte der Himmlische und auch in seinem schuppigen Antlitz spiegelte sich bald blanker Schrecken.

ER ließ ihnen viel Zeit. ER kannte die Silberschale und ihre Macht gut und wusste, dass sie stets nur die dunklen Aspekte der Zukunft zeigte. Sie würde IHM helfen, den letzten Widerstand zu brechen.

Während der Stunden, in denen SEINE Brüder die Bilder des Schreckens schauten, wandelte ER unter ihnen und sprach mit jedem Einzelnen über das, was sie in dem Wasser der Schale sahen. Über die Drachen, die von Elfen und Zwergen gejagt wurden und kaum mehr als wilde Tiere zu sein schienen ohne magische Macht – ja sogar ohne Verstand! Nie sahen sie sich selbst. Es waren nur die niederen Drachenrassen, die im spiegelnden Wasser erschienen. Oft hingegen sah man eine Königin, die aus dem Volk der Elfen stammte und mit kaltem Herzen regierte. Ein anderes Mal wappneten sich Menschen ganz in schimmernden Stahl und hielten unter dem Banner eines toten Baumes ein totes Land besetzt. Asche und Rauch zogen im Wind über Albenmark und das Land selbst hatte seine Magie verloren.

All dies kann abgewendet werden, sagte ER schließlich mit fester Stimme. Die Zukunft ist nicht festgeschrieben! Wir können sie verändern. Was ihr gesehen habt, wird sich ereignen, wenn wir weiterhin unentschlossen sind. Was die Silberschale zeigt, wird unsere Zukunft sein, wenn wir darauf warten, dass die Alben handeln. Längst haben die Devanthar die alten Verträge gebrochen. Ihre Sklaven, die Menschenkinder, unterwerfen Nangog. Und ihr habt gesehen, dass es dieser Welt schon jetzt so ergeht, wie es einst Albenmark ergehen wird. Die Menschen wühlen sich in die Erde. Sie vernichten Wälder. Legen die Kreaturen dieser Welt in Fesseln und hängen fliegende Schiffe an sie! Wie ihre Herren, die Devanthar, kennen sie keinen Respekt vor fremder Schöpfung. Sie machen alles ihrem Willen untertan – und betrachten es als eine Tugend! Und nun kommt schon einer der Devanthar hierher und tötet Alben. Was aber noch viel ungeheuerlicher ist – unsere Schöpfer widersetzen sich alldem nicht! Sie haben uns und unsere Welt aufgegeben! Ihre Kinder! Dies ist ein Verrat, der mich noch unendlich viel mehr entsetzt als der Verrat der Devanthar. Wir wurden erschaffen, um den Alben als Statthalter in Albenmark zu dienen. Doch wie sollen wir dienen, wenn sie uns nicht länger den Weg weisen? Unsere Aufgabe war der Schutz Albenmarks. Lasst uns nicht länger auf Befehle warten, die nicht kommen werden. Lasst uns wahre Herrscher werden! Bestimmen wir unsere Geschicke und den Weg Albenmarks selbst!

Was ist mit dem Erstgeschlüpften?, warf der Himmlische ein.

Für einen Augenblick war ER kurz davor, seine Beherrschung zu verlieren. ER wollte in feierlicher Stimmung einen Bund der Himmelsschlangen schmieden. Die Zeit zu reden war vorüber. Nun mussten endlich Taten folgen! Siehst du ihn hier?, entgegnete ER scharf. Hast du ihn in den letzten Monden gesehen? ER deutete auf die Silberschale. Alles, was ihr heute gesehen habt, muss er längst durch die Prophezeiungen der Gazala erfahren haben. Warum hat er uns daran nicht teilhaben lassen? Wenn er kommt, bin ich der Erste, der ihn begrüßt. Doch sieh der Wahrheit ins Auge, Bruder – der Erstgeschlüpfte hat uns schon längst verlassen.

Er war immer schon mehr den Alben zugetan als uns!, zischte der Flammende.

So ist es, Bruder! Gibt es noch einen unter uns, der Zweifel hat? ER war angespannt. ER blickte zum Roten und zum Himmlischen. Bei diesen beiden rechnete er am ehesten mit Widerspruch, doch sie schwiegen.

Dann lasst uns einen Pakt schließen, dass wir alle Albenmark dienen wollen mit all unserer Macht, und dass wir die Devanthar bekämpfen wollen, um das Übel von unserer Welt abzuwenden. Ihr habt gesehen, wie es Albenmark ergehen wird, wenn die Feinde obsiegen. Es wird eine Welt ohne Magie sein! Und ohne Drachen.

ER blickte noch einmal in die Runde, dann sagte er feierlich: Ich schwöre, Albenmark zu schützen, Unheil von ihm abzuwenden und seinen Nutzen zu mehren, koste es auch mein eigenes Leben!

Der Nachtblaue war der erste, der den feierlichen Eid wiederholte. Dann folgten die anderen. Der Himmlische legte als letzter den Schwur ab.

Das Schicksal hat uns als Brüder vereint, doch heute haben wir uns über das Schicksal erhoben und sind aus freiem Willen einen Bund eingegangen, der uns für immer aneinanderkettet. Jeder von uns trägt eine andere Farbe. Jeder hat ein anderes Temperament. Besiegeln wir unseren Pakt damit, dass wir etwas teilen, in dem wir alle gleich sind. ER sprach ein Wort der Macht und über ihren Häuptern erschienen die sieben Steine, die er aus den ermordeten Alben erschaffen hatte.

Diese Steine sind so, wie unsere Welt sein wird, wenn unsere Feinde siegen. Gänzlich ohne Magie. Ein Gedanke von IHM ließ einen der Steine zu IHM hinabschweben. Nie will ich vergessen, welches Schicksal unserer Welt droht. Wie ein steinerner Gedanke soll unser Schwur für mich sein. Unverrückbar in mir. Für alle Zeit.

Mit diesen Worten öffnete ER seine Stirn, ergab sich dem Schmerz, als SEIN Knochen zurückwich, und legte den Stein in SEINE Stirnhöhle, wo bereits die Essenz der Mammutkuh zwischen wucherndem Knochengewebe verborgen war.

SEINE Brüder reagierten sehr unterschiedlich. Einige waren erschrocken, der Nachtblaue fasziniert, der Frühlingsbringer wandte sich voller Ekel ab. Doch zuletzt gewann ER sie alle. Und keiner von ihnen ahnte, wie tief ER sie in seine Intrige hineingezogen hatte. Dass sie nun die Essenz eines Alben in sich trugen. Eines gefallenen Weltenschöpfers.

ER lächelte. Es war getan. Der große Pakt war geschlossen. Von nun an würde die Welt eine andere sein.

Drache und Holunder

Gonvalon hatte nicht darum gebeten, dass der Dunkle ihm helfen sollte. Er hatte sich nicht dem Erstgeschlüpften, sondern dem Goldenen verschrieben – und nicht einmal ihn hätte er um Hilfe gebeten. Er hatte mit Matha Naht einen Pakt geschlossen. Sie hatte ihm gegeben, worum er sie gebeten hatte, auch wenn der Preis, den er zu zahlen gehabt hatte, höher ausgefallen war als erwartet, war ihm die Tatsache, Nandalee wieder in den Armen halten zu können, alle Qualen mehr als wert. Sie lebte! Und nicht nur das – er hatte sie gefunden. Mithilfe ihres Vogels und mithilfe der Liebe, die sie für ihn in ihrem Herzen trug. Und, ja – auch mithilfe dieses verfluchten Baumes. Dennoch konnte er sich einer gewissen Genugtuung nicht erwehren, als er hinter dem Dunklen über den Drachenpfad auf jenen einsamen Hügel trat, auf dem der Holunder stand. Es war sein Wunsch gewesen, ohne Nandalee hierherzukommen. Sie sollte den Ort, an dem er so sehr gelitten hatte, nicht sehen. Sollte nicht in Versuchung geraten, etwas Unbedachtes zu tun. Er kannte sie gut. Sie wäre auf Matha Naht losgegangen. Aber dazu waren sie nicht hier. Der Holunder sollte den Fluch von ihm nehmen. Ganz gewiss würde Matha Naht sich dem Wunsch des Erstgeschlüpften nicht widersetzen! Erwartungsvoll blickte Gonvalon zu dem dunklen Baum.

Bitte verzeih, wenn ich mich nicht vor dir verneige, Erstgeschlüpfter, aber meine Beschaffenheit erlaubt es mir nur, mich dem Wind zu beugen. Ihre Stimme in seinen Gedanken ließ ihn erschaudern. Er hatte das Gefühl, dass sie dem Dunklen noch andere Dinge sagte.

Plötzlich entfaltete der Drache seine weiten Schwingen. Wie riesige Fächer bewegten sie sich vor und zurück und erzeugten einen Sturmwind, der Gonvalon taumeln ließ.

Gerne helfe ich Euch, mir Ehre zu erweisen, Matha Naht. Nun war es die Stimme des Dunklen, die seine Gedanken füllte, und der Zorn, der in ihr schwang, ließ den Elfen erzittern. Eine Furcht ergriff ihn, die ihm schier das Herz zerspringen lassen wollte. Deutlich spürte er die Macht des Drachen. Sein Zorn reichte weit über ihn hinaus. Feiner blauer Rauch stieg von den Nüstern des Ungeheuers. Nie hatte Gonvalon so deutlich gespürt, dass die Himmelsschlangen fleischgewordene Urgewalten waren. Weltenformer, die allein von den Alben an Macht übertroffen wurden.

Die Zweige des Holunders beugten sich im Sturmwind der Flügelschläge. Etliche splitterten und wurden ins Dunkel der Nacht hinfortgerissen.

Warum quält Ihr diesen Elfen?

Weil ich Macht aus seinem Leid ziehe. So wie seine Geliebte mit der Misteldrossel verbunden ist, ist Gonvalon mit mir verbunden. Seine Leiden mehren meine Zauberkraft. Dies ist die Beschaffenheit meiner Magie, von der ich sehr wohl weiß, dass sie auch dir nicht unvertraut ist, Erstgeschlüpfter.

Gonvalon erschrak. Niemand, der den Zauber Matha Nahts untersucht hatte, hatte etwas Derartiges entdeckt. Hatte sie ihre Magie so geschickt verborgen? Oder belog sie den Erstgeschlüpften? Aber welchen Nutzen könnte sie aus dessen Zorn ziehen? Mehrte auch Zorn ihre Zaubermacht?

Gonvalon blickte auf den vom Wind gebeugten Holunder. Er hasste Matha Naht. Er wünschte sich, dass auch sie leiden sollte wie er. Aber was machte es einem Baum schon aus, wenn man ihm ein paar Äste abschnitt? Konnte er überhaupt Schmerz empfinden?

Ich verlange, dass Ihr den Zauber aufhebt, mit dem Ihr den Elfen belegt habt.

Ich habe einen Pakt mit ihm geschlossen, entgegnete Matha Naht störrisch. Und er kam aus freien Stücken hierher. Ich habe ihn zu nichts gezwungen.

Dieser Elf hat sich den Regenbogenschlangen verschrieben. Fügt Ihr ihm Schaden zu, wendet Ihr Euch auch gegen uns. Schwarzer Rauch quoll aus seinen Nüstern. Flammen schlugen aus seinem Rachen und setzten einige der dünneren Äste in der Krone des Holunders in Brand. Meine Langmut endet nun, Matha Naht. Gehorcht meinen Befehlen!

Dazu müsste dein Schützling sich noch einmal unter meine Äste begeben.

Gonvalon zögerte. Er vertraute dem Holundergeist nicht. Und doch musste der Zauber gebrochen werden, wenn er jemals wieder der Schwertkämpfer werden wollte, der er einmal gewesen war.

Ihr werdet ihm kein Leid zufügen. Nehmt Euren Zauber von ihm und ich werde vergessen, was Ihr ihm angetan habt.

Das Feuer in den dünnen Ästen der Baumkrone war verloschen, die Glut in den Astspitzen verglomm und Asche rieselte hinab. Ich schwöre, ich werde ihm keine Schmerzen zufügen, versicherte Matha Naht.

Gonvalon trat nahe an den Stamm heran. An jene Stelle, an der der Holunder erst vor wenigen Wochen von seinem Blut getrunken hatte. Ein dürrer Ast strich ihm durch das Haar. Ihn schauderte.

Ein Paktbrecher also bist du.

Gonvalon ahnte, dass Matha Naht diesmal nur zu ihm sprach.

Dabei ist Lyvianne so stolz auf dich. So große Stücke hält sie auf dich. Bist ihr liebster Sprössling, wusstest du das?

Dem Elfen war nicht klar, wie das zu verstehen sein sollte. Er war nie Lyviannes Schüler gewesen. Wie konnte der Holunder ihn da als ihren Sprössling bezeichnen? Aber wer vermochte schon die Gedanken eines Baumes zu verstehen?

Plötzlich war da ein Gefühl, als würde in sein Innerstes gegriffen. Gonvalon taumelte zurück. Und zum ersten Mal spürte er seine Füße wieder. Erleichtert seufzte er auf. Der Bann war von ihm genommen. Endlich!

Tretet zurück, Gonvalon, fuhr der Dunkle mit unerwarteter Hitze in seinen Kopf.

Der Elf konnte den Zorn der Himmelsschlange spüren. Heiße, kaum noch gezügelte Wut. Nachtatem schien mit dem Holunder zu streiten.

Ich habe mich an meinen Eid gehalten, hörte er nun Matha Naht in seinen Gedanken. Ich habe ihm keine Schmerzen zugefügt, ganz wie ich es versprochen habe. Nun halte auch du dein Wort. Geh.Holunder. Äste

Ein Schwanzhieb des Drachen fuhr in den Holunder. Äste splitterten. Gonvalon riss schützend die Arme hoch und wich noch weiter zurück.

Gilt für dich kein Eid, Himmelsschlange? Gibt es kein Recht, an das du dich halten müsstest? Wie willst du dann herrschen?

Der Drache richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. Mit ausgeweiteten Flügeln war er massiger als der Torturm einer Festung. Seine Augen funkelten wie kalte blaue Sterne.

Nein, ich kann es nicht mehr rückgängig machen. Das weißt du genauso, wie du um die Gefahr wusstest, protestierte Matha Naht. Ich habe nur getan, was du von mir verlangt hast.

Gonvalon sah zweifelnd an sich herab. Der Zorn des Drachen war wie eine heiße, ätzende Berührung. Warum sprach Nachtatem nicht in seinen Gedanken? Was sagte er dem Holunder? Was war verloren?

Erneut peitschte der Schwanz des Drachen den Boden und schleuderte Fontänen fauligen Laubs und tiefschwarzer Erde durch die Nacht. Im aufgewühlten Erdreich kamen Knochen zum Vorschein. Ein Koboldschädel, an dem noch krauses schwarzes Haar haftete, rollte vor Gonvalons Füße.

Ich kann es nicht mehr umkehren, beharrte Matha Naht. Es wird ihn begleiten, auch über den Seelenhort hinaus. Es wird sein Makel sein, für alle Zeiten.

»Was?«, fragte der Elf, doch keiner der beiden hörte ihm zu. Ein Prickeln überlief seine Haut. Wind heulte auf. Die Knochen in der Erde begannen sich zu regen. Zersplitterte Rippen und Schienbeine prasselten wie Pfeile gegen die Schuppen des Drachen. Ein Wurzelstrang versuchte den peitschenden Schwanz zu ergreifen – Matha Naht wuchs! Sie stieg aus der Erde empor. Ihr mächtiger Stamm hatte sich im Untergrund verborgen. Sie war mehr, als sie zu sein schien. Viel mehr als nur ein Holunder.

Gleißendes Licht umhüllte den Stamm. Gonvalon wich mit einem Schreckensschrei weiter zurück. Er war nur ein Elf. Nie zuvor war er vor einem Kampf geflohen. Doch dies hier … Voller Entsetzen wich er weiter zurück … Auf dem Hügel kämpften zwei Urgewalten. Gonvalon wandte sich ab und rannte, so schnell seine Füße ihn trugen. Seine Füße, die ihm endlich zurückgegeben waren.

Er war mehr als dreißig Schritt vom Stamm entfernt, da traf die Hitze ihn wie ein Schlag. Seine Gesichtshaut spannte sich, feiner Rauch stieg aus seinen Kleidern und selbst durch seine Stiefelsohlen spürte er die Hitze. Er vermochte nicht mehr zu atmen, so heiß war die Luft, die ihn umgab. Voller Entsetzen blickte er zurück. Der Holunder stand in hellen Flammen, mit einem scharfen Knall riss der Stamm, die Äste wogten wie winkende Arme – und dann fuhr ihre Stimme erneut in seinen Kopf, drängte sich dicken Wurzeln gleich in sein Fleisch und seinen Verstand und ließ ihn laut aufheulen vor Schmerz.

Ich verfluche dich, Gonvalon und alle Körper, die nach dir diese Seele tragen. So wie ich jetzt, wirst auch du durch Feuer sterben, sooft du auch wiedergeboren wirst. Bis deine Seele eines Tages für immer verlischt.

Gonvalon brach in die Knie – und mit ihm fiel auch der Holunder. Sein Stamm war nur noch schwelende Glut. Ein zweiter Flammenstoß des Drachen verwandelte selbst die schwarze Erde in glühende Lohe. Die Erde schmolz! Nie zuvor hatte Gonvalon so etwas gesehen.

Dann senkte der Drache sein Haupt, schüttelte sich, als sei seine Wut immer noch nicht gestillt. Nun wandte der Dunkle sich erneut ihm zu. Sie ist vernichtet. Verbrannt bis in die feinsten Wurzelspitzen. Nie wieder wird sich dieses Übel erheben.

»Was hat dich so erzürnt?« Wieder sah Gonvalon an sich herab. Er konnte keine Veränderung feststellen. Abgesehen davon, dass er seine Beine wieder spürte.

Ihr Hochmut. Ihr Glaube, sich mir ungestraft widersetzen zu können. Sie hat nicht nur den Bannspruch von Euch genommen, Gonvalon. Euer Verborgenes Auge wird von nun an geschlossen bleiben. Sie hat einen Teil Eurer Aura verändert. Ihr habt die Fähigkeit verloren, Zauber zu weben. Es tut mir leid, Elfensohn. Ich hätte nicht erwartet, dass sie dies wagen würde.

Gonvalon spürte den weichen Waldboden unter seinen Füßen. Er war ein Schwertkämpfer, kein Zauberweber. Es war wichtiger, dass er wieder gehen konnte – und er würde nicht mit seinem Schicksal hadern. Als er zum ersten Mal hierhergekommen war, hatte er gewusst, dass er einen Preis würde zahlen müssen. Ihr Fluch ließ ihn unberührt. Sterben würden sie letztlich alle. Welche Bedeutung hatte es, ob es durch einen Axthieb oder durch Flammen geschah? Wichtig war allein, dass er ein Leben gewonnen hatte. Ein Leben mit Nandalee.

Der nächtliche Besucher

Bidayn erwachte, als sich ihr eine Hand auf den Mund legte. Sie wollte hochfahren, wurde jedoch im gleichen Augenblick kraftvoll zurück in ihr Bett gepresst. Verzweifelt versuchte sie sich aufzubäumen. Eine Schattengestalt beugte sich über sie. Es war zu dunkel, um das Gesicht zu erkennen. Schwacher Blütenduft haftete dem Fremden an.

»Ich bin nicht dein Feind«, sagte eine unvertraute Stimme. Sie klang nicht gerade freundlich.

Bidayn entschied, ihren Widerstand aufzugeben. Vorläufig. Ihre Gedanken überschlugen sich. Ein Mörder war der Fremde wohl nicht, denn dann wäre sie schon tot. Wenn es ihr gelänge zu rufen … In den Kammern in Hörweite schliefen noch ein halbes Dutzend andere Schüler der Weißen Halle. Wer immer über ihr stand, würde niemals entkommen! Hier waren die besten Krieger der Elfen versammelt. Wer war so tollkühn, hier einzudringen?

»Der Erstgeschlüpfte schickt mich«, sagte der Fremde leise. »Er wünscht dein Erscheinen noch in dieser Stunde. Wir werden hinab zur Bibliothek gehen.«

Entsetzt bäumte sie sich auf. Er wollte sie zu dem Fenster bringen! Dem Fenster, das Nandalee zerfetzt hatte. Niemals würde sie diese Pforte durchschreiten! Nie …

»Ich sehe schon, dass es nicht hilft, dich freundlich zu bitten.« Sie spürte einen Druck im Nacken. Im nächsten Augenblick erschlafften ihre Glieder. Ihr Verstand war nicht getrübt, aber sie war unfähig, sich zu bewegen.

Der Fremde trat von ihrem Bett zurück. Sie konnte hören, wie er in ihrem Zimmer herumging. Ihre Truhe wurde geöffnet. Sie vermochte nicht einmal die Augen zu bewegen. Sie hätte schreien mögen vor Zorn, so wütend war sie, aber alles, was ihr blieb, war innerlich zu fluchen.

Sie überlegte, ob sie einen Zauber kannte, mit dem sie ihre Hilflosigkeit beenden konnte. Aber für jeden Zauber hätte sie zumindest ein Wort der Macht flüstern müssen. Meist wären auch noch begleitende Gesten notwendig gewesen. Sie war also völlig hilflos!

Was der Kerl wohl wollte? Und wer war er? Ein Drachenelf?

Nach einer Weile kam er zu ihr zurück, packte sie und warf sie sich wie einen Sack über die Schulter. »Leicht bist du nicht gerade«, murrte er, griff aber zugleich nach einer Tasche, die er mit ihren Kleidern vollgestopft hatte. An der Tür lehnten Nandalees Bogen, ein Köcher voller Pfeile und der große Bidenhander aus der Eingangshalle. Todbringer. Geschickt nahm er die Waffen auf und verließ das Zimmer. Völlig lautlos bewegte er sich über die Flure und die Treppe hinab zur Bibliothek. Im bernsteinfarbenen Licht der Barinsteine sah sie sein Haar. Es war silberweiß. Er trug rote Gewänder. Ein schlankes Schwert und ein langer Dolch hingen vom Gürtel um seine Hüften. Er bewegte sich, ohne zu zögern, durch das Labyrinth der Bibliothek, als würde er sich hier auskennen, aber Bidayn war sich sicher, ihn noch nie in der Weißen Halle gesehen zu haben.

Dann erreichten sie – das Fenster! Leise schleifend bewegten sich die Glasscherben übereinander. Sie musste an all das Blut denken, das sie hier in der Nacht von Nandalees Verschwinden gesehen hatte, und blankes Entsetzen packte sie. Nicht dieses Fenster. Nicht!

Ihr Entführer sagte etwas – mehr ein Laut als ein Wort. Kälte senkte sich auf die Bücherkammer und biss in ihre erschlafften Glieder. Das Geräusch der schleifenden Scherben veränderte sich. Es wurde schriller, bis Bidayn glaubte, eine heiße Nadel dringe durch ihre Ohren direkt in ihr Gehirn. Gleichzeitig spürte sie einen Sog zum Fenster hin. Ihre Haare bewegten sich im kalten Luftzug, Strähnen wehten vor ihr Gesicht und bedeckten ihre starren Augen.

Da war noch ein Laut! Aus weiter Ferne. Ähnlich dem, den ihr Entführer von sich gegeben hatte. Sie … Sie wurden gerufen!

Mit sicherem Schritt näherte sich ihr Entführer dem Fenster. Sie wollte schreien, mit ihren Armen und Beinen strampeln, sich losmachen. Kalter Schweiß rann über ihren Leib. Jede Faser ihres Körpers kämpfte gegen den Bann an, der sie wehrlos machte. Zu einem Objekt, das man einfach so mit sich nahm.

Ohne zu zögern trat ihr Entführer durch das wirbelnde Glas. Bidayn wollte sich ducken, erwartete zerfetzt zu werden, doch kein Haar wurde ihr gekrümmt. Finsternis löschte ihren Blick. Ein Geräusch wie Sturmwind, der sich unter Hausdächern verfängt, umgab sie. Dann plötzlich änderte sich alles. Der Wind erstarb. Schwüle Hitze umfing sie. Huschende Gestalten, gerade eben noch aus den Augenwinkeln zu sehen, eilten davon. Ihr Entführer ging durch Wasser.

Sie wurde vor einer dunklen Mauer niedergelegt.

»Dies ist die Elfe, die du mir zu holen befahlst. Sie scheint mir sehr ängstlich zu sein. Ich musste sie ruhigstellen, um sie hierherbringen zu können.«

Der Mistkerl, der sie geraubt hatte, bekam keine Antwort. Zumindest keine, die sie gehört hätte. Und was hieß hier ängstlich! Sie hätte ihn mal sehen wollen, wenn er mitten in der Nacht davon wach wurde, dass sich ihm eine Hand auf den Mund legte. Aber wahrscheinlich hatte jemand wie er immer einen Dolch griffbereit. Selbst in seinem Bett. Ihm würde das einfach nicht passieren, dass man ihn überraschte und entführte. So etwas passierte nur ihr.

Bidayn konnte hören, wie sich Schritte durch das Wasser entfernten. Noch immer war sie unfähig, sich zu bewegen. Sie kannte diesen verdammten Trick. Alle Kraft ihres Körpers wurde in das magische Netz abgeleitet. Aber es hatte nichts mit Magie zu tun. Es war einfach nur ein leichter Druck auf einen bestimmten Punkt im Nacken – und es war im höchsten Maße unehrenhaft, so zu kämpfen! Und äußerst wirksam, wie sie zugeben musste. So etwas sollte man sie in der Weißen Halle lehren. So könnte sie Gegner außer Gefecht setzen, ohne sie töten zu müssen.

Bidayn stellte sich vor, wie sie selbst Gonvalon mit diesem Trick überwinden könnte, als sich eine Falte in der schwarzen Mauer neben ihr bildete. Eine Falte?

Sie versuchte vergebens den Kopf zu drehen, um besser zu sehen. Aus den Augenwinkeln konnte sie vage erkennen, dass etwas mit dem schwarzen Mauerwerk nicht stimmte. Es hatte eine unregelmäßige Oberfläche und es bewegte sich.

Etwas berührte sie im Nacken. Es fühlte sich hölzern an. Und doch ging Wärme von der Berührung aus.

Ihr müsst keine Angst haben, Elfentochter, meldete sich eine fremde Stimme warm in ihren Gedanken. Und sie bewirkte das Gegenteil von dem, was sie zu beabsichtigen vorgab. Bidayn hatte Angst! Ihr Herz raste. Sie hatte das Gefühl zu spüren, wie es mit jedem Schlag gegen ihre Rippen drückte. Ihr Mund war trocken, ihre Kehle eng. Wohin hatte ihr Entführer sie gebracht?

Die Wärme der Berührung durchdrang Bidayns Körper. Es war ein angenehmes Gefühl. Ein Gefühl, als habe man von einem nicht allzu scharfen Branntwein gekostet, dessen wohlige Wärme langsam vom Magen ausströmte. Sie fühlte sich ein wenig benommen. Ihre Angst ließ nach. Es war einfach unmöglich, sich gleichzeitig wohlzufühlen und zu fürchten.

Ich brauche Eure Hilfe, meine Holde. Wie ich hörte, seid Ihr eine der begabtesten jungen Zauberweberinnen. Und vor allem habt Ihr noch keine Wahl getroffen, welcher der Farben des Regenbogens künftig Eure Treue gehören soll. Ich möchte Euch bitten, Eurer Schwester Nandalee zu helfen.

Nandalee! Sie blickte auf, überrascht, sich wieder bewegen zu können. Und jetzt erkannte sie, was die schwarze Wand mit Falten war! Der Leib eines riesigen Drachen! Himmelblaue Augen blickten auf sie hinab und dann war da wieder die Stimme in ihrem Kopf. Sie ließ all ihre Furcht zerfließen und erfüllte sie mit Stolz.

Ich bin Euer Freund, Dame Bidayn, und will Euer Lehrer sein. Ich war es, der einst den Schwebenden Meister das Zauberweben lehrte. Vertraut mir. Nie zuvor habe ich eine Elfentochter gelehrt. Mein Preis für diese Gunst sind Eure Treue und Euer Schweigen.

Sie würde alles für ihn tun. Sie ahnte, wer das sein musste – Nachtschwinge, der Erstgeschlüpfte! Der älteste aller Drachen. Und er hatte sie zu seiner Schülerin erwählt. Bidayn war überwältigt. Tränen des Glücks rannen ihr über die Wangen.

»Und Nandalee«, brach es plötzlich aus ihr heraus. »Sie lebt?«

Sie lebt und braucht Euch, Dame Bidayn. Ihr sollt sie auf eine Mission begleiten, von der niemand erfahren darf – nicht einmal die Meister der Weißen Halle. Ihr steht allein unter meinem Befehl. Und Ihr, meine Elfentochter, werdet zum Schlüssel für den Erfolg werden.

Das Glück halten

Endlich waren sie allein! Nandalee drückte Gonvalon gegen den Fels und überhäufte ihn mit Küssen. So viele Monde hatten sie einander nicht gesehen, und als er zu ihr gefunden hatte, war er gezeichnet gewesen. Kaum wiedererkannt hatte sie ihn. Sein schwankender Schritt hatte ihr das Herz gebrochen.

Doch all das war nun vorbei. Jetzt wollte sie ihn verschlingen, eins mit ihm werden und ihn nie wieder loslassen. Bevor er mit dem Dunklen gegangen war, hatten sie kaum Zeit füreinander gehabt. Jetzt hatte sie ihn endlich für sich. Endlich!

Er war zurückhaltender als sie. Genoss sie. Ihren Überfall. Seine Rechte fand den Weg unter ihr Kleid, ruhte warm auf ihrer Brust, dicht bei ihrem Herzen. Sie biss ihn in die Lippe und beugte den Kopf zurück. Wie wunderbar seine Augen waren! All das, was nicht über seine Lippen kam, konnte sie darin lesen. Seine Sehnsucht, seine Liebe – und seine Angst. Er hatte kein Wort davon gesprochen, seit er in den Jadegarten gekommen war, doch sie spürte, dass er sich immer noch vor seinem Fluch fürchtete.

»Ich bin nicht leicht totzukriegen«, flüsterte sie. »Ich werde nicht …« Er zog sie an sich und küsste sie. Voller Leidenschaft. Sie schloss die Augen. Genoss seine Hände auf ihrem Leib. Er verstand es, ihren Körper zu lesen wie kein anderer. Wusste, wann er sie wo berühren musste. Er vermochte es, ihr Feuer zu schüren, sie hinzuhalten, um dann ihre Glut nur noch stärker zu entfachen. Er genoss das Liebesspiel. Genoss es, sie so zu kennen wie kein anderer. Ihr die Führung zu überlassen, ohne ihr je ausgeliefert zu sein.

Doch plötzlich zögerte sie und löste sich von ihm. Atemlos. Sie hatte Sorge, dass alles zu schnell gehen könnte. Sie wollte genießen nach all den Monden – und fühlte sich unsicher. War etwas von ihrem Zwergenkörper geblieben, was sie bisher nicht bemerkt hatte? Ein Geruch oder vielleicht ein paar Haare an verborgener Stelle? Konnte er auch das in ihr lesen, was mit ihr geschehen war? Der Dunkle sagte, sie habe sich von Grund auf verändert. Hatte sie etwas verloren, was Gonvalon liebenswert an ihr gefunden hatte?

Sie trat ein Stück von ihm zurück und musterte ihn.

»Habe ich etwas falsch gemacht?« Er fragte zwar, aber in einem Tonfall, der deutlich machte, dass er nicht an sich zweifelte.

Nandalee schüttelte den Kopf. Seine Kleider rochen nach Rauch, Gesicht und Hände waren gerötet. Er hatte ihr nicht sagen wollen, wohin er mit dem Erstgeschlüpften gegangen war, und viel Zeit zu reden hatte sie ihm auch nicht gelassen. Auf dem Weg durch den Garten, bis hier hinauf zu dem zwischen den Felsen verborgenen Becken, hatte sie ihm von all ihren Erlebnissen in den vergangenen Monden erzählt. Er war ein geduldig lächelnder Zuhörer gewesen. Es war ein aufmerksames Lächeln, nicht das abwesende, das sich so leicht auf die Lippen schlich, wenn man in den Gedanken ganz woanders war. Manchmal hatte er kurze Fragen gestellt, Anteil genommen, ohne mitleidig zu sein. Er schaffte es, dass sie sich stolz fühlte. Nur eins machte ihr zu schaffen. Sie hatte nicht so aufopfernd um ihn gekämpft wie er um sie. Dass er nicht über das, was ihm widerfahren war, sprechen wollte, machte es noch schlimmer. Er musste Schreckliches durchgemacht haben.

Plötzlich fühlte sie sich beschämt. So vehement sie versucht hatte, ihre Gestalt zurückzugewinnen und einen Weg aus der Pyramide zu finden, so wenig hatte sie darum gekämpft, vor Ablauf des Jahres, das der Erstgeschlüpfte von ihr gefordert hatte, in die Weiße Halle zurückzukehren. Ja, in ihrem Streit mit Nodon hatte sie in den letzten Tagen manchmal gar nicht mehr an Gonvalon gedacht. Stattdessen hatte sie ständig darüber gebrütet, mit welchen Finten sie wohl die schier unüberwindliche Abwehr ihres neuen Fechtlehrers durchbrechen könnte.

»Es ist gut, dich zu sehen.« Er sprach nur leise, doch lag in seinen Augen eine Sehnsucht, die all ihre Zweifel hinwegfegte. »Für dich gehe ich bis ans Ende aller Zeiten, bis der Himmel fällt und nur das Mondlicht bleibt.«

Zärtlich strich sie über Gonvalons Wange. Die Narben, die ihr das Glasfenster geschlagen hatte, waren völlig verschwunden. Sie hatte wieder Gefühl in den Fingerspitzen. Deutlich spürte sie, wie unnatürlich warm seine Haut war. »Das sind ja Verbrennungen!«

»Das ist nichts. Mach dir keine Sorgen.«

»Ich könnte dich heilen!«

Er lächelte auf eine Art, der man ansah, dass es ihm Schmerzen bereitete. »Lieber nicht. Ich werde die Verbrennung mit Fett einreiben. In ein paar Tagen ist das ausgestanden. Ich …«

Seine Worte versetzten ihr einen Stich. »Es ist nicht wie früher. Ich bin besser im Zauberweben. Nachtschwinge sagt, ich mache große Fortschritte. Ich könnte wirklich …«

Er lächelte, so wie nur er es konnte. Unschuldig und beredt. »Es ist mein Herz, das du heilen musst. Und diesen Zauber musst du nicht von einem Drachen erlernen. Den hast du schon immer beherrscht.« Er hob die Hand und strich ihr sanft eine Haarsträhne von der Wange. »So sehr hat sich mein Herz nach dir verzehrt …«

Sie griff nach seiner Hand, führte seine Finger an ihre Lippen, küsste sie. Auch ihnen haftete der Geruch von Rauch an. »Du solltest dich waschen. Du riechst wie ein Räucherschinken.« Sie nickte in Richtung des gemauerten Beckens.

Er grinste und der lang vermisste Schalk stahl sich zurück in seine Augen. »Das hat sich also nicht geändert, meine unwiderstehliche Wilde aus den Wäldern. Noch nie hat mich jemand mit einem Räucherschinken verglichen. Allerdings …«

Er runzelte auf übertriebene Weise die Stirn und zuckte zusammen. Seine Verbrennungen waren wohl doch nicht ganz so harmlos, wie er behauptete.

»… allerdings entdecke ich auch eine neue Raffinesse an dir. Früher hättest du kein Bad vorgeschützt, sondern mir einfach ins Gesicht gesagt, dass du mich nackt sehen möchtest.« Sein Blick nahm seinen Worten den Stachel. Er verschlang sie mit seinen Augen.

Sie trat dicht vor ihn. »Nicht nur sehen. Ich möchte dich nackt fühlen. Dich nackt schmecken. Ich will dich, Gonvalon. Ich …« Sie streifte ihre Tunika ab. Dann griff sie nach seinem Hosenbund. »Du kannst dich auch später waschen. Ich …«

Er küsste sie. Diesmal mit all der Leidenschaft, die er ihr in den heimlichen Nächten in ihrem Waldversteck geschenkt hatte. Es tat so gut, ihn zu berühren. Seine schlanken Hände auf ihrem Leib zu spüren.

Er packte sie, zog sie an sich und küsste sie mit wilder Kraft. Nichts hatte sich geändert! Es war wie ein Rausch. Sie liebten einander ungestüm. Ausgehungert. Sie versuchte das Ende hinauszuzögern. Wollte nicht, dass es nach all den Monden so schnell vorbei war. Und doch war sie machtlos. Mit einem wilden Schrei sank sie auf seine Brust. Von einem Herzschlag zum anderen fühlte sie sich zu Tode erschöpft.

Gonvalon hielt sie fest in den Armen. Es war ein gutes Gefühl. So als wolle er sie nie wieder gehen lassen.

»Glaubst du, dass man das Glück festhalten kann?«, fragte sie leise.

»Nein.« Er sagte das auf jene melancholische Art, die ihr bei ihm so vertraut geworden war. Wenn man ihn so hörte, hätte man meinen mögen, er würde um sein Glück nicht kämpfen wollen. Und doch war er es gewesen, der jeden Preis zu zahlen bereit gewesen war, um zu ihr zu finden, und sie diejenige, die sich zuletzt in ihr Schicksal der Trennung gefügt hatte.

»Ich bin glücklich, jetzt in diesem Augenblick.«

Er küsste sie zärtlich. »Danke.«

»Danke wofür?«

»Dass du ganz und gar im Hier und Jetzt bist.« Seine Augen strahlten. »Meistens ist der glückliche Augenblick bereits vorüber, wenn man sich seines Glückes bewusst wird. Als würde das Glücklichsein jeden anderen Gedanken auslöschen. Jede Reflexion über das, was gerade geschieht, jedes …«

Sie seufzte leise. Er musste sich ihr nicht mit klugen Reden beweisen. Er hatte sie doch längst gewonnen. Und sie, sie wollte einfach nur in seinen Armen liegen, sich warm und geborgen fühlen. Ihn stumm genießen. Nandalee küsste ihn, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Refleksion? Lass uns das später tun und jetzt einfach nur glücklich sein.«

Eine neue Welt

Nandalee tat einen tiefen Atemzug. Hinter ihnen verblasste das bläuliche Licht der magischen Pforte. Die Welt roch fremd. Ein Schauer überlief die Elfe. Ein angenehmes Gefühl der Anspannung ergriff sie. Es war wie auf der Jagd, wenn man ahnte, dass man nicht als Einziger der Beute nachstellte, sondern ein Rudel Wölfe im kalten Nebel lauerte.

Sie standen an einem felsigen Hang. Eine einzelne, unbehauene Felsnadel ragte neben ihnen auf. Fünf oder sechs Schritt hoch. Sie markierte den Albenstern. Dabei schien der Fels natürlichen Ursprungs zu sein. Er erhob sich aus dem von Wind und Regen glatt geschliffenen Gestein. Ein Dorn, aus den Gebeinen der Erde gewachsen.

»Lass uns gehen. Man könnte den Lichtschein des Albensterns gesehen haben«, sagte Gonvalon. Seine Stimme war ruhig, gelassen. Beeindruckte ihn diese Welt denn gar nicht? Eine Welt, die noch nie ein Elf betreten hatte?

Natürlich hatte Gonvalon recht, aber manchmal störte sie seine trockene, sachliche Art. Wie anders er sein konnte, wenn sie allein miteinander waren! Er trug zwei Gesichter. Statt zu grübeln, sollte sie das, was er gesagt hatte, einfach so nehmen, wie es war. Schlicht vernünftig. Und etwas zu trocken.

Sie standen auf einem Osthang. Der letzte Abglanz der untergehenden Sonne ließ die Felsen rötlich erglühen. Über das tiefer gelegene Waldland kroch bereits der Schatten der Nacht. Der Hang war kahl, Felsen und einzelne Baumstümpfe boten nur spärliche Deckung. Sollte jemand das Licht bemerkt haben und nun den Hang beobachten, mochte er sie entdecken.

Gonvalon ging einfach los, warf keinen Blick zurück und schwieg. Er stieg zu einer Senke hinab, die in südlicher Richtung verlief.

Nandalee folgte ihm. Kurz war sie in mürrischer Stimmung. Warum war er so verändert? Er hatte nicht hierherkommen wollen. Und schon gar nicht mit ihr und Bidayn! Hatte der Befehl des Erstgeschlüpften alle Leidenschaft von gestern Nacht erstickt? War sie zu empfindlich? Schuldbewusst blickte sie zu Bidayn. Sie hatte zu ihrer Freundin auch noch kein Wort gesagt. »Du warst gut«, murmelte sie ein wenig verlegen.

Bidayn lächelte sie an. »Er hat mir meine Angst genommen«, sagte sie voller Begeisterung. »Ich hatte immer Angst, einen Albenstern zu öffnen, weil ich wusste, was alles geschehen kann. Angst verdirbt das Muster des Zauberwebers. Wir sind in einer anderen Welt. In Nangog, wo noch nie vor uns ein Elf gewesen ist. Ich bin noch nicht einmal eine Drachenelfe und der Dunkle schickt mich auf eine der wichtigsten Missionen, zu denen je Elfen auserwählt wurden.« Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Ich bin begeistert!« Mit weiten Augen sah sie sich um. Sie schien wirklich völlig unbeschwert. Und Nandalees Ärger verflog. Endlich war sie dem Jadegarten entflohen. All den Regeln, den endlosen Übungsstunden mit Nodon. Sie war frei! Für ein paar Wochen zumindest. Endlich wieder in der Wildnis! Bidayn hatte recht. Sie waren für ein wunderbares Abenteuer auserwählt worden. Und Gonvalon würde auch schon wieder werden. Vielleicht, wenn er darüber hinweg war, dass er den Goldenen betrog, indem er einem anderen Drachen diente.

Schweigend folgten die drei einem trockengefallenen Bachbett, das sich tief in den weichen Fels gegraben hatte. Treibholz, bleich wie Knochen, hing im Geäst der Büsche, die aus Felsspalten wucherten. Es roch nach Beeren und Spätsommer. Vom Bach war nur ein wenig Feuchtigkeit geblieben. Genug, um hier und dort ein paar Moospolster auf dem Fels wuchern zu lassen. Letzte Schwalben zogen über ihnen ihre weiten Schleifen durch den Abendhimmel. An höher gelegenen Stellen, die das Wasser auch nach einem Sturzregen nicht mehr erreichen konnte, klammerten sich graue Lehmnester an den Fels des Steilufers.

Nandalee beobachtete Gonvalon. Er ging ein paar Schritt voraus und obwohl er nicht in der Wildnis aufgewachsen war, bewegte er sich geschickt. Seine weichen Stiefel verursachten kaum ein Geräusch auf dem losen Gestein des Bachbetts. Ganz anders Bidayn. Eine trächtige Mammutkuh wäre ihnen vermutlich lautloser gefolgt, dachte Nandalee.

Die Jägerin rückte den Schultergurt ihres Schwertes zurecht. Die riesige Waffe lag schwer auf ihrem Rücken. Nodon hatte Todbringer neben Pfeil und Bogen auf ihren ausdrücklichen Wunsch aus der Weißen Halle mitgebracht. Was diesen Zweihänder anging – und nur darin –, waren sich Gonvalon und Nodon einig. Sie hielten es für völlig verrückt, diese verfluchte Waffe mitzunehmen. Nandalee lächelte in sich hinein. Sie hoffte, dass sich auf dieser Mission erweisen würde, wie nutzlos sie als Schwertkämpferin war. Deshalb hatte sie Nodon aufgetragen, für sie das größte und sperrigste Schwert aus der Weißen Halle mitzubringen. Todbringer! Wenn sie als Schwertkämpferin versagte, würden die Meister der Weißen Halle – wenn sie in einigen Monden dorthin zurückkehrte – sie vielleicht in Zukunft mit Pfeil und Bogen losziehen lassen.

Trotz seiner Verbrennungen hatte sie gesehen, wie Gonvalon bleich geworden war, als Nodon ihr diese Waffe brachte. Er hatte nicht darüber reden wollen. Wahrscheinlich ging es um Talinwyn, seine letzte Schülerin. Ihr Name hatte als letzter auf dem Messingschild unter dem Schwert gestanden. Ob Gonvalon es für ein schlechtes Omen hielt, dass nun sie Todbringer trug? Vielleicht war er deshalb so stumm und zurückweisend geworden. Sie musste lächeln. Er machte sich Sorgen um sie!

Gonvalon winkte sie zu sich heran. Dort, wo er stand, war das Steilufer des Baches eingebrochen, und es bot sich ihnen ein atemberaubender Blick. Vor ihnen öffnete sich ein enges Tal, durch das sich ein breiter Strom wand. Ringsherum stiegen dichte Nadelwälder an Bergflanken empor. Eine Rotte Bachen mit Frischlingen war am Ufer zu sehen. Nandalee überlegte, wie lange sie kein Wildschwein mehr gegessen hatte. Sie würden hier keinen Hunger leiden, dachte sie, und von den angeblichen Gefahren, vor denen der Dunkle sie gewarnt hatte, vermochte sie bislang nichts zu entdecken.

Die drei folgten weiter dem trockenen Bachlauf. Lange war das Abendrot verblasst und sie bewegten sich inmitten von Schatten. Das Licht der Sterne und der beiden schmalen Mondsicheln reichte kaum, um den Weg der Dunkelheit zu entreißen. Nandalee war angespannt. Etwas hatte sich verändert. Sie fühlte sich beobachtet. Aber da war noch etwas … Etwas fehlte. Aufmerksam spähte sie zu den Felskanten hinauf und lauschte angespannt. Gonvalon war langsamer geworden und bewegte sich vorsichtiger. Nandalee schloss dichter zu ihm auf. Er war stehen geblieben und deutete auf den Flusslauf. Nicht weit vom Ufer konnte man zwischen den Bäumen einige Lagerfeuer sehen.

Der Ruf eines Nachtvogels hallte von den Felsen wider. Nandalee zuckte zusammen. Und im selben Augenblick wusste sie, was fehlte. Bidayn! Der Lärm ihres nächtlichen Marsches war verstummt! Vor einer Weile schon. Erschrocken fuhr Nandalee herum. Ihre Freundin stand dicht hinter ihr. Sie schien zu grinsen, soweit das in der Dunkelheit zu erkennen war. Dann hob sie einen Fuß und stampfte auf den felsigen Boden. Kein Geräusch war zu vernehmen.

»Was soll das?«, murrte Gonvalon. »Ein Zauber?«

Vermutlich antwortete Bidayn, denn ihre Lippen bewegten sich, doch kein Wort war zu vernehmen.

»Hör auf damit!«, zischte Gonvalon. »Hast du alles vergessen? Nangog ist anders! Wenn du hier zauberst, ist das, als würdest du ein Signalfeuer entfachen, damit man uns auch auf jeden Fall findet!«

Ihre Freundin schnitt eine Grimasse und machte eine flüchtige Geste. Immer noch bewegten sich ihre Lippen. »… das Tor durch den Albenpfad auch gesehen. Das muss ein regelrechter Leuchtturm gewesen sein!«

»Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns unauffällig verhalten«, beharrte Gonvalon.

»Wovor verstecken wir uns eigentlich?«, fragte Nandalee, verärgert über die ganze Geheimniskrämerei. »Vor denen da unten?«

»Die sollten sich besser auch verstecken«, entgegnete Gonvalon kühl. »Ich kann dir nicht erklären, was ich selbst nicht verstehe. Ich kann euch beiden nur raten, äußerst vorsichtig zu sein. Nangog ist eine Welt, die nicht für uns Elfen erschaffen wurde. Wir gehören hier nicht hin. Und ich bin mir ganz sicher, dass wir hier nicht erwünscht sind. Also hütet euch! Und was dich betrifft, Bidayn. Es ist allemal besser, wie ein betrunkener Kobold herumzutapsen, als zu zaubern. Halte dich daran.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und folgte weiter dem Lauf des Bachbetts.

Nandalee warf Bidayn einen kurzen, entschuldigenden Blick zu, und die Freundin lächelte. Schon gut, schienen ihre Augen zu sagen, aber Nandalee war noch immer erstaunt. Gonvalon war kaum wiederzuerkennen. Wehmütig dachte sie an die Felsen über dem Jadegarten, an ihre geflüsterten Liebesschwüre und seine Leidenschaft. All das schien einfach verflogen zu sein. Sie fragte sich, was er wusste. Was war hier in dieser Welt so gefährlich? Und warum redete er nicht darüber?

Sie ließ sich ein wenig zurückfallen und blieb an Bidayns Seite.

»Das magische Netz ist hier anders«, flüsterte ihre Gefährtin, nachdem sie eine Weile schweigend durch das Bachbett gestiegen waren. »Es ist sehr aufregend. Es ist einfacher, einen Zauber zu weben. Die Muster der Lichtfäden sind komplexer und dichter. Alles ist noch enger miteinander verwoben als in Albenmark! Du solltest es dir ansehen! Es ist einfach unglaublich und wunderschön! «

Nandalee verspürte keinerlei Versuchung, Nangog durch ihr Verborgenes Auge zu betrachten. Auch wenn sie in der Kunst der Zauberweberei deutliche Fortschritte gemacht hatte, würde sie dafür nie dieselbe Begeisterung aufbringen wie Bidayn. Immer noch musste Nandalee an Sayns Unfall denken. Wenn es denn ein Unfall gewesen war …

Bidayn bemerkte ihre Stimmung nicht und redete einfach weiter. »Diesen Zauber, der alle Geräusche verschlingt. Ich habe einfach daran gedacht, was ich erreichen wollte, und alles hat sich gefügt. Es war … als würde jemand dabei helfen.«

Nandalee hatte wieder das Gefühl, dass sie jemand beobachtete. Sie drehte sich ruckartig um. Hatte sich gerade ein Schatten vom Rand des Steilufers zurückgezogen, oder gaukelten ihr ihre Augen Dinge vor, die es gar nicht gab?

»Kennst du die Geschichten über Nangog?«, raunte Bidayn.

»Was für Geschichten?«, entgegnete Nandalee gereizt. Sie überlegte, den Rand der Böschung zu erklimmen, und sich zu vergewissern, dass dort nichts war.

»Eigentlich sind es nur Märchen … Angeblich haben Alben und Devanthar die Welt gemeinsam aus dem Leib einer schlafenden Riesin erschaffen.«

»Das klingt in der Tat wie ein Märchen.«

»Du hast gefragt.« Bidayn klang beleidigt.

Schweigend folgten sie Gonvalon weiter abwärts. Endlich verließen sie die tiefe Bachrinne und tasteten sich durch einen dichten Fichtenwald. Kein Sternenlicht drang hinab bis auf den Waldboden. Sie schritten über dicke Nadelpolster und selbst Bidayn bewegte sich jetzt lautlos.

Sie kamen nur langsam voran. Einmal hörten sie nicht weit entfernt lautes Rumoren. Wildschweine, dachte Nandalee, die mit ihren Hauern den Boden aufreißen. Sie fühlte sich nicht fremd in dieser neuen Welt. Sie mochte Nangog.

Der Wald wurde lichter. Hüfthoher Farn strich über ihre Beine. Irgendwo, unsichtbar unter dem Grün, eilte ein kleines Tier davon, das sie aufgeschreckt hatten. Weiße Birkenstämme leuchteten fahl im Dunkel. Nandalee hörte den Fluss. Das leise Flüstern des Wassers am Kiesufer.

Sie erreichten eine sanfte Erhebung, die von einem Ring von Bäumen umschlossen war. Von hier hatte man einen guten Blick über den breiten Strom. Am anderen Ufer sah man den matten Glutschein heruntergebrannter Lagerfeuer.

»Hier lagern wir«, entschied Gonvalon. »Es gibt kein Feuer! Und wir teilen Wachen ein. Ich übernehme die erste, Nandalee die zweite. Bidayn wird vom Morgengrauen bis zur Mittagsstunde wachen. Wir werden die Menschenkinder beobachten und ergründen, was sie hier tun.«

Nandalee sagte nichts, obwohl sie recht offensichtlich fand, was drüben am anderen Ufer geschah. Deutlich konnte sie die Baumstämme sehen, die sich auf dem Kies türmten. Sie hatten ein Holzfällerlager gefunden, vermutete sie. Da gab es gewiss nichts Besonderes zu beobachten. Die Menschenkinder würden aufstehen, essen und dann ihr Tagwerk verrichten. Allerdings war Nandalee neugierig, wie Menschen aussahen. Sie wusste nur wenig über das Volk, das den Devanthar untertan war. Ungeschickt, streitlustig und hässlich wie Kobolde sollten sie sein – und noch schlimmer stinken als das kleine Volk.

»Sollten wir nicht ausspähen, wie viele es sind?« Nandalee war nicht müde, und Gonvalon wahrscheinlich auch nicht. Vermutlich hatte er wegen Bidayn entschieden, dass sie lagern sollten.

»Wir bleiben hier«, befahl er knapp. »Und da dies eine Welt voller unbekannter Gefahren ist, wird keiner von euch beiden seinen Wachposten verlassen, während die anderen schlafen.«

Nandalee fühlte sich ertappt – Gonvalon kannte sie zu gut. Die mächtigsten Zauberweber Albenmarks vermochten nicht in ihren Gedanken zu lesen, doch er konnte es. Ganz ohne Magie. Er musste ihr dafür nicht einmal ins Antlitz blicken. Er wusste einfach, wie sie dachte.

Der Dunkle hatte ihr verraten, was Matha Naht ihm angetan hatte. Gonvalon selbst hatte mit keinem Wort davon gesprochen. Sie wünschte, er wäre ihr gegenüber so offen, wie sie es zu ihm war. War das für Liebende nicht eine Selbstverständlichkeit?

Als sie den Blick hob, begegnete sie seinem spöttischen Lächeln. Er wusste genau, dass er mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte. Manchmal war er eine Spur zu arrogant.

»Ich vertraue euch«, sagte er in versöhnlichem Tonfall. »Sucht euch nun einen guten Platz zum Schlafen. Die Zeit, die Menschenkinder auszuspähen, wird kommen. Und glaub mir, Nandalee, sie sind kein besonderes Wild. Du wirst sie bald unangenehm und langweilig finden.«

Sie fragte sich, woher er die Menschen so genau kannte. Ob er wohl schon oft in ihrer Welt gewesen war? Sah es dort aus wie hier oder ganz anders?

Sie schnallte den wuchtigen Zweihänder ab und lehnte ihn neben ihrem Bogen an einen Baum. Schweigend aßen sie ein wenig Brot und Käse. Manchmal blickte sie kurz zu Gonvalon. Sie sehnte sich nach ihm, aber sie waren übereingekommen, in Bidayns Gegenwart Zurückhaltung zu üben. Eine blöde Vereinbarung, dachte sie jetzt. Bidayn wusste ohnehin, dass sie beide ein Paar waren. Aber Gonvalon wollte ihre Verbindung noch immer geheim halten, so wie er es auch in der Weißen Halle getan hatte. Für ihn schien es kein Widerspruch zu sein, zwei Gesichter zu haben. Tagsüber war er ihr gestrenger, unnahbarer Lehrmeister, um nachts zu einem leidenschaftlichen Liebhaber zu werden. Was war sein wahres Gesicht, fragte sie sich manchmal. Wenn sie doch nur ohne Bidayn hier wären! Ein paar Wochen mit ihm allein, ohne dass er sich gezwungen sah, sich zu verstellen. Würde sie das jemals erleben?

Nandalee seufzte. Der Dunkle hatte Bidayn vermutlich einzig und allein deshalb mitgeschickt, damit sie jemanden hatten, der ihnen einen Weg in das Goldene Netz öffnete. Ihr vertraute der Drache nicht, wenn es um das Zauberweben ging; Bidayn hingegen war begabt und hatte sich noch für keinen Drachen entschieden. Ob der Erstgeschlüpfte auch daran dachte, Bidayn schon jetzt für sich zu gewinnen? Für sie war der lange Marsch sicher eine einzige Strapaze. Soweit Nandalee wusste, hatte ihre Freundin noch nie länger als zwei Tage in der Wildnis verbracht. Bidayn würde sie und Gonvalon aufhalten.

Noch einmal blickte Nandalee zu ihrem Liebsten. Kurz überlegte sie, einfach aufzustehen und sich an seine Seite zu setzen. Aber sie wusste, dass er es nicht dulden würde. Nicht, wenn er auf Wache stand, und nicht, wenn eine weitere Schülerin der Weißen Halle in der Nähe war und ihnen zusehen konnte. Nandalee seufzte und rollte sich in ihren Umhang. Zu wach zum Schlafen, sah sie den tanzenden Glühwürmchen über dem Farn zu. Sie erstrahlten in einem matten gelbgrünen Schein. Wenn man die Augen halb schloss, sah es aus, als malten sie Striche aus Licht in das Dunkel der Nacht.

Bidayn brauchte lange, bis sie einen Platz für die Nachtruhe fand. Sie murrte vor sich hin, fluchte leise über Dreck und Wurzeln und über die grobe Kleidung, die sie tragen mussten. Der Dunkle hatte großen Wert darauf gelegt, dass ihre Ausrüstung den Menschenkindern nicht auffallen sollte. So waren sie in grobe Wollstoffe und schlecht verarbeitetes Leder gekleidet. Die Schwertscheiden waren mit Leder umwickelt. Die Griffe mit Dreck und Ruß eingeschmiert. Nur wenn sie die Klingen blankzögen, dann wäre alle Tarnung dahin. Mit Sicherheit hatten die Menschenkinder noch nie eine Waffe gesehen, die einem Drachenschwert auch nur nahekam.

Nandalee schloss die Augen ganz, öffnete ihren Geist und gab sich den Gerüchen des Waldes hin. Dem Duft des feuchten Farns, dem säuerlichen Geruch des vermodernden Birkenlaubs vom Vorjahr. Einmal hörte sie lautes Lachen vom anderen Ufer. Nandalee dachte an ihre langen Jagdausflüge in Carandamon. An ihre Sippe, in der sie sich fremd gefühlt hatte. Vielleicht war sie nicht dazu geschaffen, in Gesellschaft zu sein? Eine einsame Jägerin, die irgendwann allein im Wald sterben würde. So würde ihr Leib zuletzt zum Fraß der Wildnis, von der sie ein Leben lang genommen hatte, was sie brauchte. Sie fand den Gedanken nicht abstoßend. Damit schloss sich ein Kreis. Es wäre ein gutes Ende.

Schließlich schlief sie ein. In ihren Träumen wurde sie gejagt. Sie lief durch einen Wald. Etwas Großes, Gestaltloses war hinter ihr her. Und obwohl es nah war, gelang es ihr nicht, einen Blick darauf zu erhaschen. Es war sehr nah! Sie wachte auf, setzte sich ruckartig auf. Ihre Hand fuhr zu ihrem Jagdmesser.

»Ruhig!«

Der Schatten vor ihr wich zurück.

»Ruhig, ich bin es. Ich wollte dich gerade wecken. Du hast einen leichten Schlaf.«

Sie räusperte sich. Es war ihr peinlich. Sie fand keine Worte. Sich entschuldigen wollte sie nicht. Wozu auch! Sollte er sich nicht an sie heranschleichen, wenn sie schlief!

»Ich schlaf jetzt ein wenig. Du bleibst beim Lager?«

Sie nickte.

»Bei unserem Lager.«

»Ja!« Sein Misstrauen ärgerte sie. In verdrossener Stimmung verließ sie den Hügel und suchte sich eine durch Büsche gedeckte Stelle am Ufer. Von dort hatte sie einen guten Blick zum Lager der Menschenkinder. Und sie würde schon mitbekommen, was hinter ihr geschah! Auf ihre Sinne konnte sie sich verlassen. Nicht einmal eine Wildkatze würde sich in ihre Nähe schleichen können, ohne dass sie es bemerkte. Lange, einsame Wachen war sie als Jägerin gewohnt. Gonvalon sollte sich nicht so anstellen!

Im Lager am anderen Ufer herrschte jetzt Stille. Die Nacht war frisch, aber nicht unangenehm kühl. Nandalee konnte den Rauch der verglimmenden Feuer und den Dung der Pferde riechen. Die Elfe wurde eins mit den Geräuschen des Waldes, dem leisen Rauschen der Blätter, dem Knarren sich wiegender Äste, dem Rascheln von Mäusen und anderen Nagetieren, die durch das trockene Laub huschten. Sie hörte eine jagende Eule und einen Karpfen, der aus dem Fluss sprang. Plötzlich schrak sie auf. Die Worte des Schwebenden Meisters waren ihr wieder in den Sinn gekommen. Auch das war eine Art Magie, obwohl sie es völlig unbewusst tat. Ihre Verbundenheit mit dem Land ging weit über das hinaus, was ihre Sinne erlaubten.

Schuldbewusst sah sie sich um. Etwas floss zwischen den Bäumen am Ufer dahin, ein grünes Licht. Eine Wolke aus Glühwürmchen?

Lautlos erhob sie sich und folgte dem Licht ein paar Schritt, dann hielt sie inne. Sie durfte ihren Posten nicht verlassen! War es ein Versuch, sie fortzulocken?

Nandalee war es plötzlich kalt. Sie rieb sich die nackten Oberarme und stieg den Hügel zum Lager ihrer beiden Gefährten empor. Gonvalon blinzelte kurz zu ihr auf – auch er hatte einen erstaunlich leichten Schlaf. Nur dass er sich besser beherrschte, dachte sie bitter. Sie musste sich eingestehen, dass sich ihr Lehrmeister wahrscheinlich genauso gut in der Wildnis zurechtfinden würde wie sie, auch wenn er kein Jäger war.

Bidayn schlief tief und fest. Ihre Stirn war gerunzelt, als ärgere sie sich selbst in ihren Träumen noch darüber, in einem Bett aus feuchtem Laub zu liegen.

Nandalee blickte zurück. Das grüne Leuchten war verschwunden. Hatte sie es angelockt? Durch die Art, wie sie eins mit dem Wald werden konnte? Durch den Zauber, den sie gewoben hatte? Sie entschied, den Baumkreis, der das Lager schützte, nicht mehr zu verlassen. Gonvalon hatte recht – hier gab es etwas zutiefst Fremdes. Und wieder hatte sie das Gefühl, von etwas beobachtet zu werden. Etwas, das gerade außerhalb ihres Gesichtskreises lauerte und sich meisterhaft darauf verstand, gänzlich zu verschwinden, sobald sie den Kopf drehte.

Am anderen Ufer wieherte ein Pferd. Es klang furchtsam. Dann hörte Nandalee Hufschlag. Ein eisiger Wind wehte über den Fluss. Der plötzliche Temperaturabfall ließ die Äste knacken und ihren Atem in Wolken aufsteigen. Blasser Nebel trat aus dem Waldboden, als würde auch die Erde atmen. Bidayn wälzte sich unruhig im Schlaf und murmelte etwas Unverständliches.

Das grüne Licht war wieder da! Jetzt wogte es durch den Wald am anderen Ufer. Dort, wo das Lager der Menschenkinder lag. Und es hatte sich verändert. Jetzt erinnerte es an einen grünen Nebel, der über den Boden dahinkroch. Ein Nebel, der von innen heraus leuchtete.

Nandalee überlegte. Sollte sie Gonvalon wecken? Würde sie sich lächerlich machen? War das nur eines der abweichenden Naturphänomene dieser Welt? Ging von diesem Nebel eine Gefahr aus? War er schuld an der Kälte?

Im Lager der Menschenkinder war kein Laut mehr zu hören. Sie hatten bestimmt auch Wachen aufgestellt! Wenn der Nebel gefährlich wäre, hätte es dort drüben gewiss Unruhe gegeben! Aber es blieb still. Selbst die Pferde hörte sie nicht mehr. Der matte Schein der Feuer war verloschen. Auch das war nicht ungewöhnlich. Die Lagerfeuer waren vermutlich einfach herabgebrannt. Und dennoch … Etwas stimmte da drüben nicht! Sie spürte es mit jeder Faser ihres Leibes!

Nandalee kniete sich neben Gonvalon. Als sie ihn sanft berührte, war er sofort hell wach. Sie erzählte vom Nebel. Ein Herzschlag nur und ihr Liebster war auf den Beinen. Das andere Ufer lag im Dunkel. Das grüne Licht war verschwunden. Sie stand da wie eine Närrin!

»Morgen werden wir hinübergehen. Wir machen einen weiten Bogen, suchen eine Furt und beobachten die Menschenkinder. Vielleicht haben sie dieses Licht erschaffen? Vielleicht können sie Zauber weben? Behalt ihr Lager weiter im Auge.« Er sah zu der schlafenden Bidayn, dann beugte er sich vor und küsste sie. Es war ein langer, leidenschaftlicher Kuss. »Ich vermisse dich«, flüsterte er. »Ich wünschte, wir wären allein.« Er schenkte ihr noch ein Lächeln, dann zog er sich zu seinem Schlafplatz zurück.

Das wünschte ich auch, dachte sie.

Das jenseitige Ufer

Nandalee tastete nach ihrem Köcher. Lautlos zog sie einen Pfeil heraus und legte ihn auf die Sehne ihres Bogens. Es war zu still! Sie gab Gonvalon ein Zeichen, dass sie weiter vorgehen würde. Es war später Nachmittag und sie hatten Bidayn mehr als hundert Schritt hinter sich zurückgelassen. Nandalee hatte ein schlechtes Gewissen deshalb, aber ihre Freundin war einfach zu laut!

Sie duckte sich und pirschte vorwärts. Ein Stück voraus entdeckte Nandalee ein Menschenkind! Überall auf seinem Gesicht sprossen Haare. Es trug Kleider, aber Nandalee fand, dass es mit diesem struppigen Fell einem Tier ähnlich sah. Nicht einmal Kobolde hatten Haare im Gesicht! Es schien männlich zu sein. Der Menschensohn saß reglos an einen Baum gelehnt. Er blickte in ihre Richtung, aber sie war sich ganz sicher, dass er sie nicht gesehen hatte. Nandalee kauerte hinter einem dichten Brombeerbusch. Seltsam, wie reglos er blieb …

Gonvalon pirschte ein Stück rechts von ihr weiter vor. Hinter einem dicken Eichenstamm hielt er inne. Er nickte ihr zu.

Nandalees Stiefel waren noch nass. Das Leder quietschte leise, als sie in die Hocke ging. Sie hatten einen sehr weiten Bogen schlagen müssen, um eine Stelle zu finden, an der sie den Fluss überqueren konnten. Und auch dort hatte ihnen das Wasser noch bis zur Brust gereicht. Bidayn wäre fast abgetrieben worden. Sie hatte ihre Tasche mit den Vorräten verloren. Im Gegensatz zum vorherigen Tag hatte sie allerdings nicht gejammert. Nandalee wusste, was das bedeutete. Wenn Bidayn still wurde, ging es ihr wirklich schlecht. Ihre zierliche Freundin war für lange Wildnismärsche nicht geschaffen. Solche Strapazen hatte sie nie zuvor in ihrem Leben auf sich genommen. Es wäre besser gewesen, eine andere Zauberweberin für dieses Abenteuer zu suchen.

Nandalee verließ ihre Deckung. Dabei behielt sie den Wächter im Blick. Etwas stimmte nicht mit ihm! Niemand konnte so reglos sitzen! Ein Stück voraus sah sie etliche in Decken gehüllte Gestalten am Boden liegen. Als schliefen sie alle noch. Am späten Nachmittag!

All das konnte nur eines bedeuten. Die Elfe entschied sich, alle Vorsicht fahren zu lassen. Hier war es nicht mehr nötig zu schleichen. Keines der Menschenkinder würde sie mehr bemerken. Sie waren tot!

Sie nahm den Pfeil von der Sehne.

Nandalee trat neben den Mann am Baum. Sie konnte keine Wunde bei ihm entdecken und tastete vorsichtig nach seinem Hals. Lebte er vielleicht doch noch? Seine Haut war trocken, einen Pulsschlag fand sie nicht. Sie tastete über das bärtige Gesicht. Es wirkte alt und ausgezehrt. Ein Kranz tiefer Falten umgab die Augen, die Lippen waren spröde und rissig. Verwundert betrachtete Nandalee das Erdreich bei dem Toten. Keinerlei Leichenflüssigkeit! Es waren nicht einmal Fliegen gekommen, um ihre Eier in dem Leichnam abzulegen.

Ein wenig erschrocken wich Nandalee vor dem Mann zurück.

»Bei den Alben!«, hörte sie Gonvalon rufen. Er kniete neben einem Toten, der mit etlichen anderen bei einem erloschenen Lagerfeuer lag. »Komm! Komm und sieh dir das an! Ich habe versucht, einen von ihnen umzudrehen …«

Nandalee ging zu ihm hinüber. Zunächst verstand sie nicht, was er meinte.

Gonvalon versuchte erneut den Mann herumzudrehen, der vor ihm, in eine Decke gehüllt, auf dem Boden lag. Er vermochte ihn kaum anzuheben. »Sieh unter seine Hand!«

Ein Netzwerk wie dünne Adern lief aus der Hand in den Boden.

»Er ist mit dem Boden verwachsen«, sagte Gonvalon, hörbar um Fassung ringend. »Als habe etwas seine Adern aus seinem Fleisch in die Erde hinabgezogen! Sein Leib ist völlig ausgetrocknet. «

Nandalee hörte Bidayns Schritte. Sie wollte ihrer Freundin den Anblick ersparen, doch Bidayn hatte bereits den toten Wächter am Baum erreicht. Sie zwackte der Leiche in die Wange!

»Der wird nicht mehr wach«, sagte Gonvalon nüchtern. »Wir sollten gehen!«

»Ich finde, wir sollten wissen, wie sie gestorben sind, damit uns kein ähnliches Schicksal widerfährt.« Bidayn kam zu ihnen herüber. Ganz offensichtlich schien ihr der Anblick von Toten nichts auszumachen. Nandalee war überrascht, wie kaltblütig ihre Freundin blieb. Sie hatte sie wieder einmal falsch eingeschätzt. Bidayn betrachtete den Toten unter der Decke, während ihr Gonvalon auseinandersetzte, dass man sich wohl kaum davor schützen konnte, dass die Erde einem die Adern aus dem Leib zog.

Bidayn zupfte eine der feinen Adern unter der Handfläche des Toten fort und zerrieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie schnupperte an ihren Fingern. Dann legte sie den Kopf in den Nacken. »Ich widerspreche zwar nur ungern einem Lehrmeister«, sagte sie in einem Tonfall, der das Gegenteil vermuten ließ, »aber ich glaube, du irrst, Gonvalon. Habt ihr beide euch schon mal die Bäume angesehen? Insbesondere die Blätter.«

Nandalee blickte auf. Die Adern der Blätter zeichneten sich dunkel gegen das Blattgrün ab. Überall, rings um den Lagerplatz!

»Es sind keine Adern aus den Körpern der Toten ausgetreten, sondern feine Haarwurzeln in sie eingedrungen. Sie wurden leer getrunken.«

Gonvalon keuchte. »Das …«

Nandalee sah ihn zittern. Er ballte die Fäuste, damit es aufhörte. Sie dachte an das, was der Dunkle ihr über Matha Naht erzählt hatte. Was der Holunder Gonvalon angetan hatte. Am liebsten würde sie ihn in die Arme nehmen. Aber er würde das nicht wollen. Nicht im Angesicht von Bidayn. Nandalee ahnte, dass er nur um ihretwillen zu Matha Naht gegangen war, auch wenn sie nicht wusste, was der Holunder ihm hätte geben können.

»Aber warum haben wir sie nicht schreien gehört?« Gonvalon hatte sich wieder im Griff. »Es kann doch nicht schnell gegangen sein. Ich … Sie müssen einen langsamen Tod gestorben sein.«

»Ihre Gesichter wirken ganz friedlich«, entgegnete Bidayn. »Ich glaube nicht, dass sie bemerkt haben, was ihnen widerfahren ist. Sie sind in den Tod hineingeschlafen. Wer immer hierfür verantwortlich ist, hätte sie auch grausamer hinrichten können.«

»Von Wurzeln durchbohrt zu werden soll schmerzlos sein?« Nandalee dachte an die Geschichten, die man sich über die Wälder am Fuß des Albenhauptes erzählte. Dort, wo das Elfenvolk der Maurawan lebte. Auch von diesen Wäldern hieß es, dass sie Eindringlinge töteten. Selbst Trolle fürchteten sich davor, und Wild, das es schaffte, vor den hünenhaften Jägern in die Schatten der alten Eichen zu flüchten, war vor jeder weiteren Verfolgung sicher.

»Das kann sehr wohl schmerzlos sein«, beharrte Bidayn. »Hast du einmal zugesehen, wenn eine Mücke ihren Stachel in deine Haut sticht?«

»Ich pflege Mücken nicht die Gelegenheit zu geben, mich zu stechen.«

»Daraus kann man aber lernen. Es ist erstaunlich. Es tut nicht weh, wenn sie den Stachel benutzen. Man sieht ihn eindringen, aber man spürt nichts. Vielleicht ist er mit einem Gift benetzt, durch das jeder Schmerz betäubt wird? Vielleicht war es bei den Wurzeln genauso? Wer weiß…«

Nandalee sah zu all den gefällten Bäumen und einer Reihe von fast drei Schritt hohen Erdkegeln, die von den Menschenkindern errichtet worden waren. Ihr Blick wanderte über das weite Feld von Baumstümpfen. Nur ein Teil der Stämme war zum Fluss geschafft worden. Der Rest und ein Großteil der Äste waren verschwunden. Neugierig geworden, untersuchte die Elfe einen der Kegel. Unter einer Decke aus Erde, Gras und Moos fand sie Holz. Auch entdeckte sie einen mit Reisig gefüllten Feuerschacht. Man hatte Holz unter der Erde wohl abbrennen wollen, doch zu welchem Zweck, war ihr schleierhaft.

Nandalee untersuchte noch zwei weitere Hügel. Sie alle waren ähnlich angelegt. Dann entdeckte sie jenseits des Holzschlags im Schatten einer Linde zwei massige Pferde. Beide trugen noch ihr Zaumzeug. Beruhigend auf die Tiere einredend, ging sie hinüber. Sie waren nicht scheu. Das Maul der Pferde war zerschunden. Dicht über dem Widerrist war ihr Fell aufgescheuert und voller Narben. Vorsichtig nahm die Elfe den beiden das Zaumzeug ab. Das größere Pferd, eine rote Stute mit vertrauensseligen Augen, drückte ihr die Schnauze gegen die Hand. Nandalee überlegte, ob die beiden wohl in der Wildnis überleben konnten. Wieder blickte sie auf das zerschundene Fell. Wenn sie frei waren, würde es ihnen besser gehen. Sie löste das Zaumzeug, dann ging sie zu ihren Gefährten zurück.

»… werden wir niemals erfahren, was hier geschehen ist!«, brachte Bidayn aufgebracht hervor.

»Keine Magie!«, entgegnete Gonvalon mit fast schon feindseliger Entschiedenheit. »Es liegt doch auf der Hand, dass hier ein Zauber gewirkt wurde. Was willst du noch untersuchen?«

»Wenn wir wüssten, wie er gewirkt wurde, würden wir mehr darüber erfahren, wer es getan hat. Jeder Zauber verändert das natürliche magische Muster. Mit jeder Stunde, die verstreicht, erholt sich die Matrix. Es ist so, als ob man über Gras schreitet. Nach ein paar Stunden hat es sich wieder aufgerichtet und man kann nichts mehr …«

»Genug! Ich war auch einmal ein Schüler des Schwebenden Meisters. Du musst mir keine Vorträge über Magie halten. Wir gehen jetzt! Wir brauchen nur den Spuren der Menschenkinder zu folgen, dann werden wir schon sehen, wen sie sich zum Feind gemacht haben.«

Bidayn setzte zu einer Antwort an, als Nandalee sie am Arm packte und zu sich zog. »Lass ihn. Du solltest nicht mit ihm streiten. Er hat recht. Wir müssen gehen.«

»Aber dieses grüne Licht, von dem du erzählt hast. Wahrscheinlich hat es den Zauber begleitet. Manche Zauberweber verursachen als einen Nebeneffekt ihrer Kunst lumineszierende Körper. Ich habe es selbst schon gesehen. Eleborn macht das sogar absichtlich. « Sie sah in Gonvalons Richtung. »Im Übrigen können wir hier nicht einfach gehen! Nur Trolle lassen Tote einfach herumliegen. «

»Trolle, meine Liebe«, fuhr er sie an, »fressen Tote. Rede nicht von Dingen, von denen du keine Ahnung hast. Wer immer das getan hat, wollte den Menschenkindern eine Botschaft schicken. Und wir mischen uns in diesen Streit nicht ein. Wir werden hier nichts verändern! Wir sind nur Kundschafter.«

»Er hat wirklich recht«, sagte Nandalee beschwichtigend. Sie war erstaunt, wie sehr sich Bidayn für ihren Standpunkt einsetzte. Früher war sie nicht so gewesen. Auch sie hatte sich in den vergangenen Monden verändert.

Nandalee bemerkte, wie Gonvalon sie mit einem ebenso überraschten wie dankbaren Blick bedachte. »Verlassen wir das Lager. Wenn wir flussabwärts gehen, werden wir herausfinden, was hier geschehen ist.«

»Siebenundzwanzig Tote, und er lässt sie einfach liegen«, zischte Bidayn. »Er ist nicht besser als ein Troll.«

Nandalee musste schmunzeln. »Wir sollten ihm vertrauen. Er weiß, was zu tun ist.«

»Woher will er wissen, was in einer Welt, die noch kein Elf betreten hat, zu tun ist?«

»Er kennt die Menschenkinder. Und er ist ein Drachenelf. Er ist nicht leicht umzubringen, falls dir das Sorge bereitet.«

Bidayn sah sie zweifelnd an. »Aber ich bin keine Drachenelfe. Ich bin leicht umzubringen, fürchte ich. Und ich werde ganz sicher nicht mehr in der Nähe von Bäumen schlafen!«

Nandalee verzichtete auf eine Antwort. Sie wusste, wann es keinen Sinn mehr machte, mit Bidayn zu diskutieren.

Schweigend folgten sie dem Fluss, und Gonvalon sollte recht behalten. Kaum zwei Meilen flussabwärts fanden sie einen weiteren, noch viel größeren Kahlschlag. Auch entdeckten sie große Aschekreise, umgeben von zerwühlter Erde. Wie es schien, hatten die Menschenkinder hier die Feuerhügel abgebrannt, die sie in dem anderen Lager nur vorbereitet hatten. Die Gefährten fanden keine Gräber und keine Spuren, die darauf hinwiesen, dass es hier einen ähnlichen Überfall gegeben hätte. Also wanderten sie weiter.

In den nächsten Tagen fanden sie noch mehr als ein Dutzend Kahlschläge. Nandalee empfand sie wie Narben im Land. Für sie waren die Zerstörungen umso schlimmer, da sie keinen Nutzen darin erkennen konnte. Warum verbrannte man Bäume in Erdhügeln?

Die Landschaft veränderte sich mit jedem Tag, den sie dem Fluss folgten. Die Berge wurden schroffer. Sie wanderten durch eine weglose Wildnis. Es wäre ein Leichtes gewesen, ein Floß zu bauen, um sich auf dem Fluss mit der Strömung treiben zu lassen, aber Gonvalon war strikt dagegen. Nandalee verstand nicht, warum er eine plötzliche Begegnung mit den Menschenkindern fürchtete. Ihre Tarnung war gut, und es waren doch noch niemals Elfen auf Nangog gewesen, oder nicht? Warum also sollten die Menschenkinder ihnen feindselig begegnen? Doch Gonvalon ließ sich nicht überzeugen und schließlich fügten sie sich, sich Tag um Tag ihren Weg durch die Wildnis zu erkämpfen.

Vor allem Bidayn litt. Oft war sie schon zur Mittagszeit so erschöpft, dass sie sich kaum noch voranschleppen konnte. Sie jammerte wenig. Sie war sich dessen bewusst, dass sie ihre beiden Gefährten aufhielt.

Zu den Strapazen des Marsches kam das stete Gefühl, beobachtet zu werden. Tiere sahen ihnen auf eine Weise nach, wie es Tiere nicht tun sollten. Einmal hatte Nandalee sogar das Gefühl gehabt, dass ein Baum sie anstarrte. Sie hatte den anderen davon nichts gesagt – zum einen, weil sie sich lächerlich vorgekommen wäre, und zum anderen, weil Bidayn eine geradezu absurde Angst vor Bäumen entwickelt hatte. Jeden Abend mussten sie einen Lagerplatz suchen, der weit weg von Bäumen und Wurzelwerk lag, was in der Regel bedeutete, dass sie auf nacktem Fels übernachteten.

Aus Rücksicht auf Bidayn legten sie jeden Mittag eine lange Rast ein und beendeten ihren Marsch abends schon zwei Stunden vor Sonnenuntergang. Nandalee hatte sich mit Gonvalon darauf geeinigt, dass er in den Mittagsstunden als Späher vorauseilte. Sie hingegen ging abends auf die Jagd. So nannten sie es gegenüber Bidayn. Doch mindestens genauso wichtig wie die vorgeschobenen Gründe war es beiden, ein paar Stunden allein zu sein.

Einmal entdeckte Nandalee Boote auf dem Fluss. Es waren leichte Gefährte aus Weidenruten und Leder. Sie wirkten unförmig und waren fast rund. Die Ruderer in den Booten kämpften hart gegen die Strömung des Flusses an. Ob die Menschenkinder auf der Suche nach den Holzfällern waren?

Nur zwei Mal gerieten sie auf ihrer Wanderschaft in kurze Schauer. Meist war den Gefährten das Wetter wohlgesonnen. Wolken schirmten die Sonne ab.

Es war an einem sonnigen Nachmittag, als Bidayn große zwischen den Wolken treibende Schatten entdeckte. Etwas Massiges, zu fern, um es deutlich zu erkennen. Klar war nur, dass es riesig sein musste! Waren es fliegende Schiffe? Oder Tiere, die es auf wunderbare Weise vermochten, sich ohne Flügel in der Luft zu halten? Nangog gab ihnen immer neue Rätsel auf! Über eine Stunde beobachteten sie die Schatten. Doch die Wolken zerrissen nicht. Vielleicht war es ja auch besser, wenn ihnen verborgen blieb, was die Weiten des Himmels bevölkerte.

Am sechsten Abend ihrer Reise war Nandalee wieder einmal alleine auf Jagd. Die Sonne neigte ihr Haupt hinter die Berge und erste Schattenfinger krochen aus den Tälern den Gipfeln entgegen. Nandalee kauerte hinter einem Fels verborgen oberhalb eines Wildwechsels und hoffte darauf, eine der wilden Ziegen erlegen zu können, die sie am Nachmittag über ihrem Weg an der steilen Bergflanke beobachtet hatte. Doch der Wind stand schlecht. Er trieb ihre Witterung zu den Ziegen und die Tiere wanderten weiter.

Ein großer, graubrauner Raubvogel kreiste über ihr. Mit weit ausgebreiteten Flügeln trieb er auf dem Wind. Er sah sie an und Nandalee war versucht, nach ihrem Bogen zu greifen. Nangog zehrte an ihren Nerven. Sie war nicht ängstlich, aber nicht zu wissen, wer oder was ihr nachstellte, war eine neue Erfahrung.

Die Elfe löste die Sehne aus der oberen Bogennocke, rollte sie auf und verstaute sie in einem kleinen Lederbeutel. Für heute würde sie die Jagd aufgeben. Gonvalon hatte am Nachmittag Pilze und sogar ein paar Zwiebeln gefunden. Sie brauchten kein Fleisch.

Da stieß der Raubvogel einen schrillen Schrei aus, legte seine Flügel an und kam im Sturzflug auf sie zu. Erschrocken wich sie zurück und riss die Arme hoch, um ihr Gesicht vor den Krallen zu schützen, doch statt sie anzugreifen, landete er auf einem Felsen, drehte den Kopf zur Seite und starrte sie durchdringend an. Nandalee wich ein Stück weiter zurück. Mit dem Vogel war eine unerklärliche Kälte gekommen. Er beugte sich vor, weitete die Flügel. Es schien, als wolle er schreien. Doch kein Laut drang aus dem weit aufgerissenen Schnabel. Er spie grünen, leuchtenden Nebel! Wie ein Wurm wand sich dieses Ding aus dem Greifvogel und sickerte den Fels hinab.

Eisige Kälte schlug Nandalee ins Gesicht, und auf den Federn des Vogels wucherte Raureif. Der Räuber stieß einen befreiten Schrei aus, schüttelte sich, schlug mit den Flügeln und erhob sich in die Lüfte. Das grüne Leuchten aber blieb.

Nandalee wich weiter zurück. Mit dem Rücken gegen einen Steilhang hatte sie keine andere Wahl, als seitlich auf dem schmalen Saumpfad auszuweichen. Ohne den Blick von diesem Wurm aus grünem Licht zu lassen, balancierte sie über den engen Steig. Sie war von dem Weg abgeschnitten, über den sie gekommen war.

Zoll um Zoll tastete sie sich zurück. Geröll machte den Boden unsicher.

Der seltsame Lichtwurm wand sich mal in Spiralen, dann wieder zerfloss er zu einer Wolke. Das Licht wechselte an Intensität. Nandalee ahnte, was die Kreatur wollte. Sie besitzen. Ausfüllen, so wie den Greifvogel. Sie presste die Lippen zusammen.

Die Elfe spürte, dass etwas hinter ihr war. Groß, massig. Aber sie wagte es nicht, sich umzudrehen. Die Lichtwolke wurde wieder zu einem langen, sich windenden Strang. Wie eine Schlange, dachte Nandalee.

Sie trat noch einen Schritt zurück. Ihre Ferse streifte Fels. Sie tastete mit der Linken hinter sich. Ein Felsblock, eine Steilwand … Etwas Großes versperrte den Weg. Sie wagte es immer noch nicht, hinter sich zu blicken. Sie durfte dieses grüne Licht nicht aus den Augen lassen. Nicht einen Herzschlag lang! Ihr Fuß tastete zur Seite. Da war kein Pfad mehr. Aus den Augenwinkeln sah sie den Hang hinab. Zu steil, dachte sie. Sie würde sich den Hals brechen! Sie würde … Der Lichtwurm richtete sich auf. Wie eine Viper, die zustoßen wollte.

Sie schlug mit dem Bogen nach der Kreatur. Die Waffe glitt widerstandslos durch die Erscheinung. Etwas Eisiges streifte ihre Wange und Kälte floss an ihr hinab. Erschrocken schrie sie auf. Das war ein Fehler.

Die große Dienerin

»… Aber es genügte der großen Dienerin nicht, sich auf den Dienst für ihre beiden Herren zu bescheiden. Und so floh sie in die Weite des endlosen Dunkels. Dort kauerte sie sich zusammen und sie war einsam. Und sie dachte daran, was sie für die anderen vollbracht hatte und was sie auf den beiden Welten gesehen hatte. Und sie wollte es besser machen als ihre gestrengen Herren. So dachte sie an einen vollkommenen Baum von ebenmäßigem Wuchs und kräftigen Wurzeln. Und so wie unsereins ein Haar auf dem Handrücken wächst, so wuchs aus ihrer Haut ein Baum, wohl hundert Schritt hoch. Die große Dienerin erfreute sich an ihm und erschuf nach seinem Bilde noch hundert mal hundert seinesgleichen. Dann dachte sie, dass ihre Bäume einsam sein mochten, und sie erschuf einem jeden von ihnen tausend mal tausend kleinere Gefährten. Diese aber unterschieden sich und waren von vielfältiger Art. Die ersten Bäume der großen Dienerin überragten sie, wie eine Mutter ihre Kinder überragt. Und gleich einer Mutter wachten die Älteren über die Jüngeren.

So schuf die große Dienerin noch viele Pflanzen. Gräser und Büsche und Moose und seltsam fleischiges Kraut, das auf dem Grunde der Meere gedieh. Danach aber dachte die große Dienerin an all die Tiere, die sie auf den anderen Welten gesehen hatte, und ein Gedanke ließ sie aus ihrem Fleisch wachsen. Zuletzt wollte sie Neues erschaffen. Geschöpfe, wie sie noch keiner gesehen hatte. Kreaturen, die mit den Wolken ziehen sollten, und Donnerwanderer mit Schlangenhälsen, so lang, dass sie aus den Wolken trinken könnten, und Beinen so mächtig, dass sie durch die Wälder wanderten, wie auf den anderen Welten die Büffel durch hohes Gras wandern. Und sie ließ jene nah bei ihrem Herzen reifen, die ihre Kinder sein sollten. Sie sollten die schönsten unter ihren Geschöpfen werden. Friedfertige Hirten, die über ihre Welt wanderten und sie hegten wie jene Gärtner, die über die Rosenbüsche im Palastgarten von Akšu wachen und ihnen so sehr verschrieben sind, dass sie kein Weib zur Ehe nehmen und sich bei den Wurzeln ihrer Rosen bestatten lassen, wenn ihre letzte Stunde gekommen ist. Als aber die große Dienerin ihren Kindern den Atem des Lebens einhauchen wollte, um unsterbliche Seelen in sie zu pflanzen, da wurden ihre Herren gewahr, was sie tat. Und sie bestraften sie. Und der Atem der großen Dienerin strich über die Welt, ohne ihre Kinder zu finden. Ihre Herren aber erkannten, was der Grund für die Taten ihrer Dienerin war, litt sie doch an einem Übermaß an Gefühl. Und so nahmen sie ihr das Herz, das der Sitz aller Gefühle ist. Daraufhin fügte sich die große Dienerin und sie tat wieder ihre Arbeit und vergaß ihre Kinder. Ihr Herz aber wurde in zwei Hälften geteilt und an zwei verschiedenen Orten verborgen. Und bis auf den heutigen Tag vermochte niemand ihr Herz wiederzufinden …«

Vermutlich von den auf Nangog lebenden Menschen überlieferter Schöpfungsmythos, niedergeschrieben von Meliander von Arkadien, Blatt XVII Der Sammlung Nangog, verwahrt in der Bibliothek von Iskendria, im Saal des Lichtes vergraben an einem Ort, der nur Galawayn, dem Hüter der Geheimnisse, bekannt ist.

Die Unberührbaren

Sie war zu lange fort! Immer wieder blickte Bidayn vom Feuer auf und sah zum Waldrand hinab. Längst herrschten dort die Schatten. Nichts rührte sich, soweit sie sehen konnte. Bisher war Nandalee stets kurz nach Einbruch der Dämmerung zurückgekehrt, aber jetzt war sie zu lange fort! Diese Welt machte Bidayn Angst. Die Bäume, die mordeten. Das Gefühl, in jedem Augenblick beobachtet zu werden. Und das strikte Verbot zu zaubern. So musste sich Gonvalon fühlen, wenn man ihm sein Schwert abnahm.

Ihre Gefährten machten ihr auch zu schaffen. Sie fanden nichts dabei, allein loszuziehen, doch Bidayn würde tausend Tode sterben, wenn sie in dieser Wildnis allein wäre. Es war ja schon schlimm genug, wenn nur einer von den beiden auf sie aufpasste. Elfen hatten in dieser Welt nichts verloren! Sie hatte nicht einmal begriffen, warum sie hier waren! Würden sie die Menschenkinder täuschen können, falls sie einmal Lebenden begegnen sollten? Die Welt Nangog konnten sie ganz gewiss nicht täuschen! Hier ging etwas vor. Bidayn dachte daran zurück, als sie den Zauber gewoben hatte, der um sie herum einen Bereich der Stille erschaffen hatte. Es war so leicht gewesen. Diese Welt war dazu geschaffen, hier zu zaubern. Warum, wenn es keine Zauberweber gab? Keine vernunftbegabten Wesen? Offensichtlich konnten hier Bäume zaubern, dachte sie mit einem Schaudern. Vielleicht auch Tiere? Alles war hier anders. Alles beobachtete sie! Wenn sie wenigstens mit ihren Gefährten darüber reden könnte! Wenn die beiden ihr nur für einige Augenblicke gestatten würden, ihr Verborgenes Auge zu öffnen, um die Matrix dieser Welt besser zu verstehen! Bidayn seufzte und starrte zum Waldrand. Nandalee war noch immer nicht zurück. Wo blieb sie nur so lange? Sie nahm einen Stock und stocherte damit im Feuer herum. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte nach Nandalee gerufen, aber sie wollte sich nicht aufführen wie ein Kind.

»Du verdirbst dir die Nachtsicht, wenn du immer wieder ins Feuer blickst.« Gonvalon war so sehr um einen unverbindlichen Tonfall bemüht, dass seine Anspannung nur umso greifbarer wurde.

»Ich weiß, sie kann ganz gut auf sich aufpassen …« Bidayn schob das Ende des Holzstocks unter den Henkel des kleinen, rußgeschwärzten Topfes, hob ihn vorsichtig vom Feuer und stellte ihn auf einen flachen Stein nahe der Glut. So blieb ihr Essen warm, bis Nandalee zurückkam.

»Wo bleibt sie nur?« Bidayn blickte zu Gonvalon auf, der den Waldrand nicht aus den Augen ließ und in die Nacht hinaus lauschte – und dann spürte auch sie es. Dort draußen war etwas Unheimliches, für das sie keine Worte hatte. Eine Gefahr, die es nur auf dieser Welt gab, die nicht für Elfen oder Menschen geschaffen war. Nangog wehrt sich, dachte sie.

Am schlimmsten war die Gewissheit, dass sie sich nicht wehren konnte. Sie war ausgeliefert. Alles was ihr blieb, war, zu warten. Warten … Sie würde noch wahnsinnig! Bidayn zog den langen Holzlöffel aus Gonvalons Bündel und begann in der dünnen Suppe zu rühren. Alles war besser, als nur tatenlos dazusitzen. Die Suppe roch gut, aber das Schaben des Löffels auf dem Metall des Topfes erschien ihr unnatürlich laut. Es war … Sie verharrte mitten in der Bewegung. Nein, nicht das Scharren war unnatürlich. Die Stille, die sie umgab, war es. Kein Laut drang aus dem nahen Wald. Nie hatte sie so deutlich gespürt, belauert zu werden.

Ängstlich blickte sie zu Gonvalon, doch der Schwertmeister wirkte jetzt ganz entspannt. Er streckte sich und gähnte. Merkte er denn nichts? Wie beiläufig sank seine Rechte auf den Griff seines Schwertes. »Mach weiter«, flüsterte er. »Kümmer dich um das Abendessen.« Seine Lippen bewegten sich kaum, während er sprach.

Bidayn schluckte hart, dann griff sie nach Nandalees Bündel, in dem ihre Vorräte verpackt waren. Ein Vogelschrei drang durch die Nacht und Nandalees Bündel fiel ihr aus den Händen. Der letzte Kanten Brot rollte über den felsigen Boden zu ihren Füßen.

Schweres Flügelschlagen entfernte sich. Sie würde nicht schreien!

Gonvalon wirkte immer noch ganz ruhig. Abgesehen von der Hand am Schwert. Er würde auf sie aufpassen, beruhigte sie sich. Und wenn etwas passierte, würde sie dieses verdammte Zauberverbot ignorieren. Sie würde mit ihren Waffen kämpfen. Deshalb hatte sie der Dunkle mitgeschickt. Ganz bestimmt.

Der Entschluss zu zaubern tat gut. Sie bückte sich und hob den Kanten Brot auf. Es war steinhart, aber in die Suppe getunkt würde sie es herunterbekommen.

Plötzlich war die Nacht voller Flügelschlagen. Hunderte Vögel brachen aus dem Wald und stiegen in den Nachthimmel empor. Ein Fauchen erklang. Ganz nah an ihrem Lager stürmte ein großer Hirsch vorbei. Die ganze Welt schien in Bewegung geraten zu sein. Selbst unter ihren Füßen. Sie blickte zu Boden und sah den Suppentopf. Konzentrische Ringe liefen über die dünne Wassersuppe. Ein Laut wie ein tiefes Seufzen erklang.

Ringe tanzten im roten Licht des Feuers auf der dünnen Suppe. Dann war ein Laut zu hören, ähnlich einem Seufzen. So tief, dass er Bidayn bis in den Bauch fuhr. Sie spürte, wie sich der Fels unter ihren Füßen bewegte. Es war nur ein schwaches Vibrieren.

Voller Panik sprang sie auf. Gonvalon war schon auf den Beinen. Aus dem nahen Wald klang ein Krachen und Splittern. Loses Geröll rutschte grollend den Hang hinab.

Ein Stein, fast so groß wie ihr Kopf, kollerte nur einen halben Schritt entfernt vorbei. Bidayn war wie gelähmt. Sie wollte flüchten … Aber wohin?

Gonvalon zog die Elfe an sich und nahm sie in die Arme. »Gleich hört es auf«, sagte er mit fester Stimme. »Das ist nur ein Erdbeben.«

»Nur ein Erdbeben!« Ihre Stimme war ein peinlich schrilles Kreischen. Was sollte das heißen – nur ein Erdbeben? Es war ihr erstes Erdbeben und es gehörte ganz fraglos zu der Sorte Erfahrungen, die sie nicht hätte machen wollen.

Der Lärm erstarb so plötzlich, wie er gekommen war. Der Wald lag wieder still. Nur ab und an hörte man noch einen einzelnen Stein den Hang hinabrollen. Wo Nandalee nur war? Hoffentlich hatte das Beben sie nicht im Wald überrascht.

»Du warst sehr tapfer.«

Wäre sie nicht Zeuge ihrer Angst gewesen, hätte sie ihm geglaubt, so bestimmt sprach der Schwertmeister.

»Man fühlt sich völlig hilflos. Es ist eine schreckliche Erfahrung.«

Eben war es noch nur ein Erdbeben, dachte Bidayn bitter und schämte sich für ihre Angst.

Gonvalon lächelte. »Du warst sehr tapfer«, sagte er. »Als ich zum ersten Mal ein Erdbeben erlebt habe, bin ich herumgerannt wie ein aufgescheuchtes Huhn. Ziemlich peinlich.«

Er schaffte es tatsächlich, sie zum Lächeln zu bringen. Bidayn ließ den Kopf gegen seine Brust sinken und genoss es, im Arm gehalten zu werden. Zum ersten Mal, seit sie Nangog betreten hatten, fühlte sie sich sicher und geborgen. Es war gut, und … Wenn jetzt Nandalee käme! Bidayn zuckte zurück.

Gonvalon öffnete seine Umarmung. Er räusperte sich ein wenig verlegen. »Ich wollte deine Angst nicht ausnutzen, um mich …« Er lächelte entwaffnend.

Bidayn dachte an die Gerüchte über den Schwertmeister. Er sollte schon viele Affären gehabt haben. Meist mit Schülerinnen. Dieses Lächeln … Ihm war leicht zu erliegen. Wie es wohl war, seine Geliebte zu sein? Nandalee wurde immer sehr wortkarg, wenn Bidayn sie auf den Schwertmeister ansprach. In ihrer Gegenwart hielten sich die beiden zurück. Aber sie sah ihre Liebe deutlich in den Blicken, die sie miteinander wechselten, wenn sie sich unbeobachtet fühlten. Allerdings las sie in den Blicken auch, wie sie einander stumm ihr Leid darüber klagten, mit einer fußkranken Reisegefährtin geschlagen zu sein, die so gar nicht für ein Abenteuer wie dieses geschaffen war. Ob Gonvalon sich jemals in sie verlieben könnte? Oder sah er nur eine verzärtelte, ängstliche Elfe in ihr? Eine, die bei den Drachenelfen nichts zu suchen hatte und mit ihrer Schwäche die ganze Mission in Gefahr brachte?

Ein Schatten löste sich aus der schwarzen Wand des Waldes. Bidayn machte erschrocken einen Schritt in Gonvalons Richtung. Dann erkannte sie Nandalee. »Endlich bist du zurück! Wir haben uns Sorgen gemacht. Wir …«

Jetzt hatte Nandalee den Lichtkreis des Feuers erreicht. Sie war blass, ihre Kleider voller Staub und der Köcher an ihrem Gürtel war nicht verschlossen. Etwas stimmte nicht mit ihr! Hatte ihre Freundin gesehen, wie sie in Gonvalons Armen gelegen hatte?

Achtlos ließ Nandalee Bogen und Schwert fallen und hockte sich auf einen Stein nahe beim Feuer.

»Geht es dir gut?«, fragte Gonvalon und näherte sich ihr, aber sie hob abwehrend die Hand.

»Mit mir ist alles in Ordnung.« Sie sah nicht einmal auf, als sie ihm antwortete.

Obwohl Gonvalon für gewöhnlich seine Gefühle sehr gut verbergen konnte, sah Bidayn ihm dieses Mal an, wie ihm Nandalees kalte, abweisende Art zusetzte. Auch er zog sich zurück, trat an den Rand des Lichtkreises, den ihr kleines Lagerfeuer in die Dunkelheit schnitt, und beobachtete Nandalee.

Bidayn räusperte sich. »Wir haben auf dich gewartet. Ich werde dir eine Schüssel …«

Die Bogenschützin wandte ihr den Kopf zu. Ihr Blick war seltsam eindringlich. Sie wirkte verändert, ohne dass Bidayn hätte in Worte fassen können, was genau nicht mehr so war wie zuvor. Sie war … unheimlich!

»Ich habe keinen Hunger.«

So mürrisch hatte sie Nandalee selten erlebt. »Wir jedenfalls sind froh, dich lebend wiederzusehen, nachdem die Welt Kopf gestanden hat.«

»Nicht für uns.« Sie deutete nach Osten, wo hinter den Bergen ein blassroter Schimmer am Nachthimmel zu sehen war. »Für sie hat die Welt Kopf gestanden. Dort werden wir die Menschenkinder studieren können. Oder besser das, was von ihnen nach dem Erdbeben noch übrig geblieben ist. Dort muss wohl eine Stadt liegen.«

Bidayn blickte zum Horizont. Sie glaubte Wolken zu sehen, deren Unterseite rot erstrahlte. Wie weit die Stadt wohl entfernt lag? Und wie groß mochte sie sein? Und woher wusste Nandalee davon? Sie konnte unmöglich so weit gewandert sein.

Als sie sich nun erneut zu ihr umdrehte, hatte sich Nandalee in ihren Umhang eingerollt und schlief – oder gab es zumindest vor.

Gonvalon kam zu ihr herüber, kniete sich nieder und nahm etwas von der Suppe. Er wirkte tief verletzt. Am liebsten hätte Bidayn ihn in die Arme genommen, aber sie wusste, dass er es nicht dulden würde. Es würde falsch aussehen. Bestimmt schlief Nandalee nicht! Was war nur los mit ihr? Sonderlich feinfühlig war sie ja noch nie gewesen, aber dieser Auftritt übertraf alles.

»Sie bauen ihre Häuser nicht sehr fest«, sagte Gonvalon plötzlich und nickte gen Osten, wo man immer noch ein bedrohliches, rotes Glühen unter den Wolken sah. »Ich glaube, es sind Luwier, die hier leben. Jedenfalls sahen die Bärte und die Tuniken der Holzfäller so aus, als seien sie Luwier gewesen. Wir haben Glück gehabt.«

Bidayn traute ihren Ohren kaum. Seitdem der Dunkle ihnen ihren Auftrag gegeben hatte, hatte Gonvalon nicht mehr so viel über die Welt der Menschenkinder gesprochen. Offenbar sandten die Drachen schon seit geraumer Zeit Spitzel in die Welt der Menschen. Obwohl Meister wie Lyvianne sie in den Sprachen und Gebräuchen der Menschen unterrichteten, wurde in der Weißen Halle nicht darüber gesprochen welche Missionen die Elfen auf Daia ausführten. Warum das so war, konnte sich Bidayn nicht erklären. Die meisten Späher kamen wohl aus der Blauen Halle … Aber war das ein Grund, so gar nicht darüber zu reden?

»Du warst schon oft in der Welt der Menschenkinder?«

»Einige Male«, entgegnete Gonvalon vage. Plötzlich lächelte er. »Sie stinkt, weißt du. Und sie ist … zu voll.«

»Und warum haben wir Glück gehabt? Ich dachte, wir sollten uns als Menschenkinder aus Aram ausgeben und nicht als Luwier?«

»Es gibt sowohl in Luwien als auch in Aram eine Provinz Garagum. Der Name bedeutet schwarze Wüste. Die beiden Großreiche streiten sich seit langer Zeit um diesen unwirtlichen Landstrich. Im Süden grenzt die Wüste an ein Gebirge, dessen Gipfel bis weit über die Wolken aufragen. Sie nennen diese Berge Deva Kush. Manche glauben, ihre Götter, die Devanthar, leben dort. Ganz sicher aber gedeiht dort Kush, eine vielseitig nutzbare Pflanze. Aus ihren Fasern kann man sehr haltbare Kleidung machen und sie ist ein begehrtes Handelsgut. Man kann ihre getrockneten Blätter auch rauchen. Dann schenken sie einem Träume, in denen man nahe bei den Göttern ist.«

»Rauchen?« Bidayn wusste nicht ganz, was sie sich darunter vorstellen sollte. Auch war sie verwundert, dass Gonvalon plötzlich so gesprächig war. Wobei er ihre Fragen nicht wirklich beantwortete, und statt über seine Erlebnisse über irgendwelche Pflanzen sprach. Dennoch wollte sie, dass er weiterredete. »Wirft man sie ins Feuer und atmet den Rauch ein?«

Gonvalon lachte. »Nein. Das musst du nicht wissen. Du legst doch sicherlich keinen Wert darauf, nahe bei den Devanthar zu sein. Sie würden es nicht schätzen, wenn sie uns in ihrer Welt entdeckten. «

»Aber steckt hinter all deinen Reisen in die Welt nicht die Absicht, eine verwundbare Stelle der Devanthar zu finden?«

»Du machst dir zu viele Gedanken.« Gonvalon wandte den Blick vom Himmel ab und begann seine Suppe zu essen. Das Licht, das von unten auf sein Gesicht fiel, ließ ihn geheimnisvoll aussehen. Und auch ein wenig bedrohlich. Bidayn entschied, dass es wohl klüger wäre, keine Fragen mehr über die Devanthar zu stellen.

»Wir wussten nicht, welches Menschenvolk wir hier antreffen würden, nicht wahr?«

»Wir wissen gar nichts über Nangog«, sagte Gonvalon so entschieden, dass seine Antwort Zweifel in Bidayn aufkommen ließ. »Nangog ist Menschen und Albenkindern verboten. Wir würden mit Sicherheit den Zorn der Alben auf uns ziehen, wenn sie wüssten …« Er schüttelte den Kopf und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, wirkte er ratlos. »Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum der Dunkle mich ausgerechnet mit euch beiden hierhergeschickt hat. Ihr seid zu … unerfahren. Wir sollten nicht hier sein!«

»Vielleicht hat er Nandalee und mich ausgewählt, weil wir einen unbefangeneren Blick haben?«

»Ja, vielleicht …« Es war nicht zu überhören, dass er ganz und gar nicht ihrer Meinung war.

»Und warum geben wir uns ausgerechnet als Menschen aus Garagum aus? Und warum als Bewohner Arams?«

»Ich habe Aram schon einige Male bereist. Dort kann man sich freier bewegen als in Luwien. Auch beherrsche ich ihre Sprache besser. In Luwien ist die Gesellschaft nach den Gesetzen des Großen Hauses organisiert. Es ist sehr fremd. Es gibt fünf Stände, die sich nicht miteinander vermischen. Garagum ist noch eine junge Provinz. Dort ist das System des Großen Hauses noch nicht gefestigt. Wenn wir sagen, wir kommen von dort, gelten wir nur als Fremde. Bei jeder anderen Provinz würde man uns, so wie wir aussehen, für Unberührbare halten.«

Bidayn fand, dass es sich gar nicht so schlecht anhörte, als unberührbar zu gelten. Das klang erhaben. Sie entschied sich, lieber nicht nachzufragen, aus Sorge, sie könnte den plötzlichen Redefluss Gonvalons durch die falschen Fragen zum Versiegen bringen.

»Die meisten Menschenkinder werden schon einmal von Garagum und den Deva Kush gehört haben. Wegen der Götter, der Stoffe und der Drogen. Aber kaum jemand ist je dort gewesen. Das Volk von Garagum gilt als hart und eigenbrötlerisch – Nomaden, Oasen- und Bergbauern, Jäger und Goldsucher. In ihrem Land ist der Tod stets nahe. Sei es durch Hitze, Kälte, Steinschlag oder Hunger. Niemand wird sich wundern, wenn wir seltsam und fremd erscheinen. Wir werden also sicher reisen, solange man uns glaubt, dass wir von dort kommen.«

Gonvalon erzählte noch lange von der Welt der Anderen. Vom Großen Haus und der Gesellschaft der fünf Stände. Von der Himmlischen Hochzeit, die der Unsterbliche, der Gottkönig von Luwien, zur Sommersonnenwende in der Zikkurat der Heiligen Stadt Isatami feierte, oder von den Geisterwäldern der Drus. Bidayn lauschte ihm voller Begeisterung. Diese Geschichten übertrafen all ihre Träume von der Anderen Welt und sie sehnte den Tag herbei, an dem auch sie so wie Gonvalon dorthin geschickt würde. Als Bidayn schließlich einschlief, folgten ihr die wunderbaren Bilder aus den Erzählungen des Schwertmeisters noch bis in die Träume. Am nächsten Morgen erwachte sie voller Vorfreude. Es war der erste Tag auf Nangog, an dem ihre Neugier größer als ihre Furcht war.


Nandalee blieb mürrisch und wortkarg. Bidayn schob es auf die üblichen Launen ihrer Freundin. Sie hatte längst aufgegeben, Nandalee verstehen zu wollen. Sie wusste, dass sie sich auf Nandalee verlassen konnte, wenn es darauf ankam – und das allein zählte.

An diesem Morgen fiel Bidayn der Marsch leichter. Nachdem Gonvalon so lange mit ihr gesprochen hatte, fühlte sie sich nicht mehr als ein überflüssiges Anhängsel, und so war es an diesem Morgen Nandalee, die den Abschluss ihrer kleinen Gruppe bildete.

Sie waren kaum zwei Stunden gegangen, als sie Spuren der Menschenkinder entdeckten. Eine Feuerstelle, eine aufgegebene Wetterschutzhütte. Gegen Mittag kreuzten sie einen Weg, in dem Baumstämme, die wohl von Pferdegespannen gezogen worden waren, tiefe Schleifspuren hinterlassen hatten. Bald entdeckten sie weite Kahlschläge. Ganze Hänge waren nur noch mit Baumstümpfen und kümmerlichem Buschwerk bedeckt. An vielen Orten war die dünne Erdschicht fortgespült und Fels ragte gleich bleichen Knochen aus dem geschundenen Boden.

Bidayn konnte nicht verstehen, wie man einen Ort, den man sich zum Leben gewählt hatte, so herunterwirtschaften konnte. Sie würden diese Berge in eine karge Steinwüste verwandeln, wenn sie so weitermachten. Sahen sie das denn nicht? Oder schlimmer noch, war es ihnen egal? Würden sie einfach weiterziehen, wie ein Schwarm Heuschrecken, der ein Feld kahl gefressen hatte? War dies das Schicksal, das Nangog drohte? Und dann Albenmark?

Gonvalon entschied, dass sie dem Weg weiterfolgten. Bald entdeckte Bidayn auf einem Felsen eine plumpe Ritzzeichnung, die eine geflügelte Gestalt zeigte. Darunter lagen Scherben von zerbrochenen Gefäßen. Eine Göttin? Waren nutzlose Gefäße ein Geschenk für Götter? Obwohl die Zerstörungen der Landschaft sie zutiefst aufwühlten und gegen die Menschen einnahmen, fieberte sie doch dem Augenblick entgegen, in dem sie zum ersten Mal lebenden Menschenkindern begegnen würde.

Etwa eine Meile weiter fanden sie den Weg durch einen Steinschlag blockiert. Vorsichtig kletterten sie über die Felsbrocken hinweg, die bedrohlich unter ihren Füßen knirschten. Es war bei dieser Gelegenheit, dass Bidayn die weißen Ascheflocken bemerkte. Es waren nicht viele. Wie Schnee tanzten sie im Sonnenlicht. Am Horizont stieg immer noch Rauch auf und wies ihnen den Weg zu ihrem Ziel.

Der Duft von Gebratenem stieg Bidayn mit dem Wind in die Nase. Wie Schwein roch es! Als sie eine scharfe Wegkehre hinter sich ließen, entdeckten sie die erste Siedlung. Häuser aus Bruchstein mit graubraunem Lehmverputz, die Dächer aus schweren Balken zum Teil eingestürzt. Die wenigen Menschenkinder umringten ein großes Feuer. Einen Scheiterhaufen aus halb verkohlten Balken und armdicken Ästen. Sie schienen ihre Toten zu verbrennen. Alles hier wirkte schmutzig und heruntergekommen. Selbst Kobolde waren reinlicher als die Menschenkinder.

Die Trauernden schenkten ihnen kaum Beachtung, als sie vorüberkamen. Die Menschenkinder waren hager, ihre Gesichter abgehärmt und mit Ruß verschmiert. Sie trugen einfache Kleidung in Erdfarben. Oft geflickt. Bidayn war überrascht, in der Menge keine Frauen und Kinder zu sehen. Hatte man sie versteckt? Durften sie der Totenzeremonie nicht beiwohnen?

Dichter, öliger Rauch stieg auf und wurde vom Wind über die niedrigen Häuser hinweg gegen die Bergflanke gedrückt. Der Geruch von schmorendem Fleisch verursachte Bidayn nun, da sie wusste, was dort im Feuer lag, Übelkeit. Sie atmete nur noch flach durch den Mund und beschleunigte ihre Schritte. Nandalee hingegen sah sich alles sehr genau an. Erst als Gonvalon sie rief, folgte sie ihnen widerwillig. Hätte sie Nandalee nicht besser gekannt, Bidayn hätte gedacht, dass sie am Leid der Menschenkinder Gefallen fand.

In der Bergflanke oberhalb der Siedlung klaffte ein großes Loch. Überall ringsherum lag Geröll. Ein Stapel grob behauener Balken war durch einen Steinschlag fast verschüttet. Wie viel Mut es wohl erforderte, sich in den Berg zu graben und das Wissen zu ertragen, welch ungeheure Masse Stein über einem aufragte? Ob es auch Tote im Berg gegeben hatte? Sie wirkten erbärmlich, die Menschenkinder, und nicht bedrohlich. Alles, was Bidayn entdecken konnte, war unvollkommen. Nichts war auf Dauer angelegt. Die Mauern der Häuser schlecht gefügt, die Kleidung hässlich – ja, die Menschen schienen sich nicht einmal zu waschen oder ihre Haare zu kämmen. Was trieb sie an? Was bedeutete ihnen etwas? Wofür taten sie all das hier? Bidayn konnte sich nicht vorstellen, dass es ihnen völlig egal war, wie sie aussahen und lebten. War Schönheit ihnen denn gar kein Bedürfnis?

Noch als sie wieder die Passstraße hinaufstiegen, blickte die Elfe wieder zurück zu den ärmlichen Häusern und der Gruppe, die reglos um den Scheiterhaufen stand. Die Menschen waren ihr ein Rätsel. Auf Bidayn wirkten sie nicht bedrohlich, sondern völlig abgestumpft.

Die Gefährten durchquerten noch weitere Minendörfer, die unterschiedlich schwer vom Beben betroffen waren. Bidayn wollte den Menschen helfen, doch beharrte Gonvalon darauf, dass sie sich auf keinen Fall einmischten. Er erinnerte sie an das Große Haus, die strenge Unterteilung in Stände, die es den Menschenkindern versagte, sich untereinander zu helfen. Kein Wissender hätte sich je dazu herabgelassen, einen Schaffenden anzufassen oder gar einen Unberührbaren aus dem niedersten Stand der Bettler, des fahrenden Volks und anderer nicht Sesshafter. Bidayn fügte sich, aber es brach ihr das Herz.

Die Straße, der sie durch die Berge folgten, war inzwischen belebter. Sie passierten eine Maultierkarawane, die Brennholz, schwere Fässer und Säcke transportierte. Bidayn bemerkte, dass sie angestarrt wurden. Etwas mit ihrer Verkleidung schien grundlegend nicht in Ordnung zu sein. Die Vorstellung, dass einer dieser ungewaschenen und wahrscheinlich auch noch verlausten Kerle sie berühren könnte, erfüllte sie mit blankem Entsetzen. Wo waren die Frauen? Nirgends auf den Straßen oder Feldern hatte sie eine gesehen.

Einmal hörte sie zwei Haarige miteinander tuscheln. Sie erkannte einzelne Worte, vermochte aber dem Sinn nicht zu folgen. Die beiden schienen sich über leckere Schnecken zu unterhalten. Merkwürdig!

Besonders unangenehm war es Bidayn, wie man ihr nachblickte. Manche der Männer vermochten ihre Lüsternheit kaum zu verbergen. Einer zeigte ihr seine Faust und bewegte dabei seinen Daumen auf obszöne Weise zwischen Zeigefinger und Mittelfinger.

Bidayn wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sie wurde rot und schaute weg. Obwohl die Männer Nandalee ebenso hinterherstarrten wie ihr, erlaubte sich bei ihrer Freundin niemand solche Frechheiten. Kannten diese haarigen Ungeheuer denn kein Benehmen? Sie stellte sich vor, wie sich einer von ihnen an Nandalee heranmachte. Sie musste schmunzeln. Der Kerl, der so dumm wäre, nach ihrer Freundin zu grapschen, würde vermutlich die größte Überraschung seines Lebens erleben.

Plötzlich fühlte sie sich einsam. Nandalee hatte den ganzen Tag noch kein Wort mit ihr gesprochen. Was war nur mit ihr los? Bidayn konnte ihr ansehen, dass sie niemanden in ihrer Nähe haben wollte. Sie wirkte kalt und abweisend. Verändert … Nun waren es nicht mehr allein die Bäume oder Tiere – jetzt war es Nandalee, die sie unverwandt anzusehen schien. Und Bidayn konnte sich auch vorstellen, warum. Bestimmt hatte ihre Freundin gesehen, wie Gonvalon sie in den Arm genommen hatte. Sie mussten reden … Aber nicht jetzt. Am Abend vielleicht. Bidayn schluckte trocken. Sie dachte an Sayn. Es war nicht klug, Nandalee zu verärgern. Beherzt beschleunigte sie ihre Schritte und hielt sich nun dicht an Gonvalons Seite. Bei dem Schwertmeister fühlte sie sich sicherer.

Es war später Nachmittag, als die gewundene Bergstraße sie endlich an das Ziel ihrer Reise führte – die Stadt der Menschenkinder. Nie zuvor hatte Bidayn einen solchen Ort gesehen oder auch nur davon gehört, und der Anblick erfüllte sie gleichermaßen mit Staunen und Schrecken. Sie hatte den Gestank der Menschensiedlung – eine Mischung aus Rauch und Fäkalien – seit einer Weile riechen können, doch nun blickte Bidayn von der letzten Hügelkuppe aus auf ein weites Flusstal und eine Welt, die sich der Schöpfung entfremdet hatte. Die tiefer gelegenen Hänge des Tals waren terrassiert worden. Scheibe auf Scheibe schoben sie sich übereinander. Mauern aus Bruchstein fassten die Ränder ein. Zum Fluss hin standen alle Felder unter Wasser. Zarte Schösslinge erhoben sich aus dem gelbbraunen Nass. Weiter oben wurde Gemüse angebaut und Obstgärten waren angelegt. Ein Labyrinth steiler Treppen führte zwischen den Feldern hindurch. Riesige, hölzerne Räder hoben Wasser aus dem Fluss den Hang hinauf. Es wurde in großen Becken gesammelt, von denen gemauerte Rinnen zu den Feldern und Gärten verliefen. Noch weiter den Hang hinauf schmiegten sich Häuser an den Fels. Dicht ineinander verschachtelt, ohne eine erkennbare Ordnung. Über etliche der Dächer erhoben sich Masten, von denen Fahnen wehten. Manche Häuser waren von einer steilen Kuppel gekrönt. Von Ferne sahen sie aus, als stecke ein riesiges Ei in einem Mauergeviert.

Höhlen wie klaffende Mäuler öffneten sich im graubraunen Fels. Manche waren von Reliefs flankiert, die häufig eine geflügelte Frau zeigten, der neben den Flügeln Waffen aus dem Rücken zu sprießen schienen. Nahe den Höhlen hatten die Menschenkinder Rampen in den Fels geschlagen, die die Hänge hinab zu großen Halden aus Abraum führten.

Nahe der Abraumhalden ragten rußgeschwärzte Kamine dicht an dicht auf wie steinerne Wälder. Sie spien ihren dunklen Odem in das Tal, und der Rauch zog wie ein Schleier dahin. Besonders seltsam erschienen Bidayn mächtige Türme, aus deren oberen Geschossen dicke Rundhölzer sprossen wie Stacheln aus Kakteen. Welchen Zweck die Türme wohl erfüllten, vermochte sie sich nicht zu erklären. Alles hier war unerklärlich und fremd! Warum hatten die Menschen das getan? Warum hatten die Menschen diesem Ort seine ursprüngliche Gestalt geraubt? Sogar der Fluss am Talgrund war mit Mauern eingefasst. Mehrere große Staubecken, aus denen die Wasserräder schöpften, hatten das ursprüngliche Flussbett ersetzt. Bidayn nahm an, dass es sich wohl um einen Seitenarm des Stroms handelte, dem sie auf ihrer Reise so lange gefolgt waren. Weit entfernt konnte sie einen ungebändigten, weiß schäumenden Wildbach erkennen, der aus den Bergen hinabschoss. Jenseits der Staubecken war davon nur ein kümmerliches Rinnsal geblieben, in das offene Kanäle den Unrat der Stadt erbrachen.

Die Menschenkinder hatten Nangog steinerne Fesseln angelegt, dachte Bidayn. Doch die Welt hatte sich dagegen aufgebäumt. Das Erdbeben hatte Schneisen der Verwüstung in die von den Menschenkindern nach ihren Wünschen geordnete Natur geschlagen. Einige der Terrassenfelder waren abgerutscht. Dicht bei einem umgestürzten Wasserrad, das einige kleinere Gebäude unter sich begraben hatte, war der Hang auf einer Breite von mehr als hundert Schritt ein Durcheinander entwurzelter Bäume, gesplitterter Stämme und zerschmetterter Kronen. Dutzende Häuser waren an den höher gelegenen Hängen in sich zusammengebrochen oder gar in die Tiefe gestürzt, wobei sie alles, was unter ihnen lag, unter Lawinen aus Bruchstein und Balken mit sich fortgerissen hatten. Steinerne Zungen der Verwüstung leckten die Hänge hinab. Der Gestank von verbranntem Fleisch hing auch hier in der Luft. Dort, wo die Häuser am dichtesten beisammenstanden, wüteten noch immer Brände. Flammensäulen erhoben sich aus eingesunkenen Dächern und beständig rieselte Asche vom Himmel. Selbst dort, wo die Brände erstickt waren, stieg immer noch Rauch aus den Ruinen.

Überall sah Bidayn Flüchtlinge. Manche hatten sogar inmitten der überfluteten Felder Zuflucht gesucht. Schreie, der Klang von Hörnern und das Kläffen herrenloser Hunde brandeten aus dem Tal herauf. Ein Lärm, ebenso überwältigend und unerfreulich wie der Gestank, den die Menschen verbreiteten. Sie hatte noch mit keinem von ihnen gesprochen und doch verachtete sie die Menschenkinder und ihr Treiben bereits aus tiefstem Herzen. Dem, was hier geschah, musste Einhalt geboten werden. Sie hatten genug gesehen! Wenn es nach ihr ginge, könnten sie nach Albenmark heimkehren.

»In dem Durcheinander werden wir nicht auffallen«, sagte Gonvalon, den der Anblick des Tals nicht weiter zu berühren schien, und stieg den Weg zur Stadt hinab. Auch in Nandalees Zügen spiegelte sich keine Regung – weder Mitleid noch Abscheu. Sie blieb unnahbar.

»Ich finde, wir haben hier nichts verloren«, flüsterte Bidayn.

»Hierherzukommen ist, als würde man mit voller Absicht in einen Haufen Scheiße treten«, entgegnete Nandalee. Ihre Linke lag dabei auf dem Griff des langen Jagdmessers, das von ihrem Umhang nur halb verborgen wurde. In der Rechten hielt sie ihren Bogen, auf den keine Sehne aufgezogen war. Sie hatte Stofffetzen um die Nocken an den Bogenenden gewickelt, sodass die Waffe wie ein eigenwilliger Wanderstab aussah. Bidayn beneidete ihre Freundin um deren kriegerische Ausstrahlung. Nandalee sah gefährlich aus und zugleich attraktiv. Das lange, blonde Haar floss offen über ihren Umhang und die spitzen Ohren, die sie so deutlich von den Menschenkindern unterschieden, waren unter einem breiten, mit bunten Mustern bestickten Stirnband verborgen. Sie wirkte wie jemand, der sich vor nichts fürchtete. Plötzlich musste Bidayn lächeln. Sie erinnerte sich an etwas, das der Schwebende Meister ihr einmal erzählt hatte: Ein Mangel an Furcht zeugt lediglich von einem Mangel an Phantasie. Es ist die Furcht, die einen in der Gefahr wach und am Leben erhält.

Außerhalb der Stadt lagen Hunderte von Verletzten auf Feldern und Abraumhalden, die man aus der unmittelbaren Umgebung der einsturzgefährdeten Häuser geschafft hatte. Eine alte, zahnlose Frau zog an Bidayns Arm und deutete wimmernd auf ein verletztes Mädchen mit blutverschmiertem Gesicht. Bidayn verstand kein einziges Wort, doch das Flehen in ihren Augen und die Gebärden der Alten waren unmissverständlich.

Gonvalon fuhr sie in einer kehligen Sprache an, und die Frau zog sich erschrocken zurück. Bidayn ballte ihre Fäuste. Sie sah zu dem Mädchen. Sie hätte ihr helfen können! Selbst ohne Magie. So vielen hier ringsherum könnte sie helfen! Sie mochte die Menschenkinder nicht, aber das war noch lange kein Grund, einfach zuzusehen, wie sie verreckten! Vergeblich versuchte sie, sich gegen das Elend zu verschließen. Sich so hart zu machen, wie ihre Gefährten waren, aber es wollte ihr nicht gelingen.

»Wir dürfen nicht auffallen«, sagte Gonvalon. »Das hier sind Unberührbare. Nur ihresgleichen darf sich um sie kümmern. Wenn wir uns hier aufhalten, dann …« Er zuckte mit den Schultern. »Dann wird uns das nicht gut bekommen. Wir sinken auf ihren Stand hinab, wenn wir ihnen helfen.«

»Und was sind wir?«, fragte Bidayn gereizt.

»Fremde. Leute, denen man misstraut, die aber noch über den rechtlosen Unberührbaren stehen. Wir dürfen nicht Partei ergreifen. Die Gesellschaft der Luwier ist zu … undurchsichtig und ungerecht. Zurückhaltung ist das Gebot der Stunde!«

Ein Stück entfernt sah Bidayn, wie Verletzte von einer Gruppe von Männern von der Straße geprügelt wurden. Wie konnte man nur so grausam zu seinesgleichen sein, dachte sie. Sie würde niemals eine Waffe gegen einen Elfen erheben. Niemals! Das war vielleicht der größte Unterschied zwischen Menschenkindern und Elfen.

Widerstand

Er liebte Nangog. Frei durch die Wälder zu wandern. Seine Brüder und Schwestern zu vergessen. Das Spiel um die Macht. Er hielt nicht viel davon, was ihn in den Augen mancher suspekt erscheinen ließ. Der Ebermann lachte. Es war ein rauer, kehliger Laut. Er lebte. Mittags hatte er ein Wildschwein gerissen. Die Reste lagen noch auf der Lichtung verstreut. Es war ein starker Eber gewesen. Er hatte sich zum Kampf gestellt. Ein gutes Mahl!

Der Devanthar hätte nicht essen müssen. Er stand über solchen banalen Dingen. Aber im Gegensatz zu seinen Brüdern und Schwestern liebte er es, darin zu schwelgen. Sich in der Welt zu suhlen!

Er saß mit dem Rücken an einem Fels gelehnt und lauschte auf das Rauschen des nahen Flusses. Am Rand der Lichtung schnürte ein Fuchs entlang. Er hielt etwas in der Schnauze. Eine Maus? Nein, es war heller … Ein Finger!

Neugierig erhob sich der Devanthar. Er würde dem kleinen Jäger seine Beute nicht streitig machen. Aber er wollte wissen, woher er kam.

Ohne Mühe folgte er der Fährte des Fuchses. Etwas stimmte allerdings nicht. Da war kein Geruch von Blut oder Aas!

Die Fährte führte den Devanthar zum Fluss, und bald entdeckte er Spuren von Menschen. Sie hatten mit Kreide Bäume markiert. Verschlungene, unleserliche Zeichen. Er entdeckte ein großes Pferd zwischen den Bäumen, das eilig die Flucht ergriff, als es ihn bemerkte.

Dann erreichte er die Rodung. Sie lag dicht beim Flussufer. Mehrere Kohlenmeiler waren errichtet worden. Stämme, die zur nächsten Stadt geflößt werden sollten, lagen im Uferkies. Es war totenstill.

Ein Stück entfernt sah er einen Mann, der regungslos an einem Baum hockte. Feine Äste waren in seinen Rücken eingedrungen. Der Baum hatte sein Blut getrunken!

Überrascht blickte der Ebermann hinauf zur Krone. Er konnte die Magie spüren, die hier gewirkt hatte. Die Grünen Geister. Der Baum war besessen gewesen, so wie die anderen ringsherum auch. Nangog begann sich gegen die Menschen zu wehren. Die Geister ließen es nicht mehr dabei bewenden, den Menschen Angst zu machen. Sie hatten einen Weg gefunden zu kämpfen, obwohl sie körperlos waren. Faszinierend!

Wohin das wohl führen würde? Der Ebermann glaubte nicht, dass sie letztendlich siegen konnten. Nangog hatte sich noch nie wirklich wehren können. Er dachte an das Strafgericht. An das Schicksal Nangogs. Ein Zeitalter war seitdem vergangen. Dass die Neue Welt plötzlich Widerstand leistete, würde es interessanter machen. Menschen gab es ohne Zahl. Wenn ein paar Tausend von ihnen hier verreckten, spielte das keine Rolle.

Er bemerkte die Spuren beim Stamm. Jemand war also schon vor ihm hier gewesen. Neugierig sah er sich im Lager um. Am auffälligsten waren die Spuren der Holzfäller und Köhler. Doch nach dem Unglück waren noch drei Besucher gekommen. Auch sie hatten die Leichen betrachtet. Zwei von ihnen bewegten sich so geschickt, dass ihre Fährten kaum zu entdecken waren. Die dritte Spur aber war sehr deutlich. Zwei Jäger, dachte er. Aber wen hatten sie mitgenommen? Und was noch ungewöhnlicher war, sie hatten die Leichen weder bestattet noch ausgeplündert! Etwas stimmte hier nicht. Es wäre leicht gewesen, einen der Kohlenmeiler als Scheiterhaufen zu nutzen. Üblicherweise bestatteten Menschen ihre Toten. Sogar ihre toten Feinde! Natürlich gab es auch Menschen, die sich um die Totenbräuche nicht scherten. Aber hätten die nicht jede Tasche aufgeschnitten und die Leichen beraubt? Allein das Werkzeug, das hier herumlag, war ein kleines Vermögen wert. Und dann noch die Arbeitspferde … Das passte alles nicht zusammen.

Er war einem Rätsel auf die Spur gekommen, dachte er erfreut. Und er würde es lösen. Ohne Mühe fand er die Spur, die aus dem Lager führte. Er begann zu laufen. Er war ungeduldig, das gehörte zu seinen Charakterschwächen. Und er brannte darauf, sich diese seltsamen Jäger anzusehen. Sie verhielten sich ganz und gar nicht menschlich! Ob es den Grünen Geistern gelungen war, von menschlichen Körpern Besitz zu ergreifen? Bisher waren sie bei diesen Versuchen stets gescheitert. Sollte es ihnen nun doch gelingen, dann wäre das eine ärgerliche neue Entwicklung.

Besessen

Nandalee horchte in sich hinein. Ununterbrochen. Sie war vollkommen in sich gekehrt und bemerkte kaum, wenn ihre Gefährten sie ansprachen. Dieser leuchtende grüne Nebel war in ihr. Sie war besessen! Sie hatte keine Ahnung, was mit ihr geschehen würde. Und sie hatte Angst, es ihren Gefährten zu sagen. Verzweifelt brütete sie darüber, wie sie diesen Geist oder was immer es war, wieder loswerden konnte.

Es war nicht in ihren Gedanken. Es teilte ihr nichts mit. Manchmal aber drehte sie den Kopf, obwohl sie es nicht wollte, oder sie heftete den Blick auf Dinge, denen sie sonst keine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Gerade eben starrte sie auf einen Stein am Wegrand, auf den eine formlose, halb verwaschene Kontur mit grüner Kreide gemalt war. Einige Reiskörner lagen um den Stein verstreut. Was war daran so interessant?

Jeden Augenblick fürchtete Nandalee, dass ihre Gefährten etwas bemerkten. Was würden sie mit ihr tun? Sie konnte es sich nicht vorstellen, aber wahrscheinlich würden sie sie nicht mit zurück nach Albenmark nehmen. Nein, sie konnte sich ihnen nicht offenbaren. Aber durfte sie zulassen, dass dieses Ding durch sie nach Albenmark gelangte? Nichts von allem, was sie gelernt hatte, hatte sie auf so etwas vorbereitet. Hatte der Dunkle gewusst, was geschehen würde? War sie deshalb für diese Mission ausgewählt worden? Schüler schickte man nicht auf eine Mission. Weder Bidayn noch sie sollten hier sein. Es waren die Meister, die in Diensten der Himmelsschlangen standen!

Was, so fragte sie sich, ging auf dieser Welt vor sich? Das Ausmaß der Verwüstung durch die Menschen schockierte sie und der Grüne Geist schien zu wollen, dass sie sich alles ganz genau ansah. Er zwang sie dazu, ließ ihren Blick länger verweilen, als sie es wollte. Bidayn hatte etwas gemerkt. Sie drehte sich immer wieder nach ihr um, und dass ihre Freundin mit ihr reden wollte, konnte sie spüren. Gonvalon hingegen war kühl. Gestern Nacht am Lagerfeuer war sie nicht sie selbst gewesen. Sie hatte zurückkommen müssen, damit die beiden nicht in den Wald kamen, um nach ihr zu suchen, aber am liebsten hätte sie sich ganz in sich selbst verkrochen. Sehnsüchtig sah sie Gonvalon nach. Sie wollte nicht kalt zu ihm sein. Sie vermisste ihn. Seine flüchtigen Berührungen. Die verstohlenen Blicke. Manchmal, wenn Bidayn sie nicht hatte sehen können, hatten sie sich am Anfang der Reise geküsst. Auch das wagte Nandalee nicht mehr. Könnte dieses grüne Licht bei einem leidenschaftlichen Kuss in den Körper des Schwertmeisters gelangen? Gonvalon war ihre Zurückhaltung aufgefallen. Am Morgen hatte er versucht, sie auf ihre Zurückhaltung hin anzusprechen, doch sie war schroff und abweisend gewesen. Seitdem wich er ihr aus. Ihr zerriss es schier das Herz, wenn sie ihn sah. Sie sehnte sich so sehr nach ihm. Aber sie durfte ihn nicht in Gefahr bringen. Er hatte schon zu viel um ihretwillen erduldet. Wenn sie dieses Ding nicht loswurde, durfte sie nicht in ihre Heimat zurückkehren! Ob sie sich hier in dieser schmutzigen Stadt von ihren Gefährten trennen sollte? Dann würde sie Gonvalon nie mehr wiedersehen. Nein, dachte sie, vielleicht gab es ja noch Hoffnung. Bisher war die Kreatur in ihr friedlich. Aber Nandalee war sich darüber im Klaren, in welchem Ausmaß sie nicht mehr Herrin ihrer selbst war. Das Wesen könnte sie zwingen, ihr Jagdmesser zu ziehen und Bidayn niederzustechen. Auf der anderen Seite …

Die Elfe fluchte leise. Es gab keinen Ausweg!

Gegen ihren Willen beschleunigte sie ihre Schritte. Sie drängte sich zwischen zwei stinkenden Menschenkindern hindurch. Sie stanken nach Kot und Urin. Nach Angstschweiß, Rauch und altem Fett, nach gebratenen Zwiebeln und billigem, saurem Wein. Wie verkümmert musste ihr Geruchssinn sein, dass sie es aushalten konnten, so dicht beieinander zu leben?

Nandalee hasste diese Stadt. Sie war zutiefst widernatürlich. Natur gab es hier nicht mehr. Alles hatten die Menschenkinder in Fesseln geschlagen. Sie konnten sich nicht anpassen. Wo sie hinkamen, machten sie sich die Welt untertan. Der Dunkle hatte recht – man musste die Menschen ausspähen und etwas gegen sie unternehmen. Schon Nangog war ihnen verboten gewesen. Wie lange würde es dauern, bis sie auch nach Albenmark kamen? Nein, es war besser, man bekämpfte sie gleich hier.

Sie stieß einem blau gewandeten, fetten Kerl, der ihr im Gedränge zu nahe kam, den Ellenbogen in die Seite. Weit heftiger, als es nötig gewesen wäre, um ihn zum Ausweichen zu bewegen. Der Mann keuchte auf. Er fluchte in seiner kehligen, unverständlichen Sprache.

Nandalee ging einfach weiter, als sie plötzlich bei ihrem Umhang gepackt und zurückgerissen wurde. Fast wäre sie gestrauchelt und im Dreck der Straße gelandet. Sie fuhr herum. Ihre Hand lag jetzt auf dem Griff ihres Dolches.

Der Fettwanst stand vor ihr und schimpfte auf sie ein. Sein mächtiger, fettig schimmernder und penetrant nach Rosenöl stinkender Bart bebte vor Zorn. Ein seltsames großes Amulett hing vor seiner Brust – fast quadratisch und mit Türkisen besetzt. Sein langes, himmelblaues Gewand sah auf lächerliche Weise wie ein Kleid aus und auf der Spitze seiner merkwürdigen hoch aufragenden Mütze aus steifem Stoff steckte ein schwarzer Vogelflügel. Seine Augen hatte der Dicke mit einer schwarzen Paste umrandet, sodass sie größer und bedrohlicher aussahen.

Neben dem Schreihals erschien, wie aus dem Nichts entsprungen, ein hochgewachsener, muskelbepackter Kerl, der einen mit Messingnägeln beschlagenen Knüppel in Händen hielt.

Der Dicke rief etwas mit volltönender Stimme. Ringsherum wichen die Menschenkinder zurück, sodass sich auf der überfüllten Straße plötzlich ein Kreis bildete, in dessen Mitte Nandalee stand. Alle gafften sie jetzt an. Es waren ausnahmslos bärtige Männer unterschiedlichsten Alters. Die meisten schäbig bekleidet. Fast alle trugen irgendwelche Amulette an Lederschnüren um den Hals oder das Handgelenk. Durchbohrte Steine, Federn, Tierpfoten oder rot lackierte Holzscheiben. Wieder erhob der Dicke die Stimme. Er sah Nandalee herablassend an. Speichel sprühte aus seinem Mund, als er auf sie einschrie.

»Knie nieder, sofort«, herrschte Gonvalon sie in ihrer Sprache an. »Was hast du nur getan!« Der Schwertmeister warf sich auf die Knie und verneigte sich so tief, dass seine Stirn fast einen frischen Pferdeapfel berührte. Dabei stieß er laut unverständliches Gebrabbel in der Sprache der Menschen hervor.

»Bevor ich vor dem niederknie, lernen Fische laufen«, murmelte Nandalee. Sie griff nach dem Schwert auf ihrem Rücken, bekam aber nur dünne Äste zu packen. Die Waffe war ebenso wie ihr Köcher in einem großen Reisigbündel versteckt. Gonvalon hatte auf dieser Tarnung bestanden, da die Frauen Luwiens niemals Waffen trugen.

Auch Bidayn warf sich nun unterwürfig in den Schmutz der Straße. Zwischen den Gaffern erschien eine Gruppe Bewaffneter, deren Bronzehelme Kränze aus stehendem Rosshaar krönten. Ihre Rüstungen waren aus Hunderten übereinanderliegenden Metallschuppen gefertigt, sodass sie ein wenig aussahen wie große, goldene Fische auf Beinen.

Nandalee schluckte hart. Sie blickte in das Antlitz des Fettwanstes. Überdeutlich sah sie jede Pore seiner Haut, die leicht verlaufene Schminke unter den Augen und die kürzeren grauen Haare in seinem Bart, die verrieten, dass er diese Boten des Alters verschwinden ließ, wenn ihm Zeit dazu blieb – und dann sank Nandalee in die Knie. Gegen ihren Willen! Sie hatte sich noch nie unterworfen – nie! Aber es war nicht sie, die niederkniete. Sie kämpfte dagegen an. Vor Wut schossen ihr Tränen in die Augen, aber sie vermochte nicht zu verhindern, dass sie sich ebenso tief verneigte wie Gonvalon. Sie kroch auf den türkis gewandeten Mann zu und küsste ihm die stinkenden Sandalen. Immer noch sah sie jede Einzelheit unnatürlich deutlich. Verschmierter Ruß, Schlamm und rotbraunen Kot. Das Leder der Sandalen war rau. Sie schmeckte den Unrat auf ihren Lippen und ihre Zunge begann Worte zu formen, die ihrem Verstand fremd waren.

Gezeichnete

Gonvalon traute seinen Ohren nicht. Nandalee sprach Luwisch! So gut, als sei sie mit der Sprache aufgewachsen. Wortreich entschuldigte sie sich für ihr Ungeschick und lobte den Wissenden, der offenbar ein hochrangiger Priester war.

Auf dem Boden liegend, konnte Gonvalon das Mienenspiel des Mannes kaum erkennen. Der Kerl hob den Fuß! Gonvalon spannte sich an. Er hörte das leise Klirren der Rüstungsträger und überlegte, wen er zuerst angreifen würde und auf welchem Wege sie am besten entkommen konnten. Wenn der Dicke Nandalee trat, war alles vorbei. Das würde ihr Stolz nicht dulden.

Der Priester setzte seinen Fuß auf Nandalees Nacken und drückte ihr Gesicht in den Schlamm der Straße. So verharrte er einige Herzschläge lang.

»Fremde!«, stieß er schließlich laut hervor. »Sie werden aus dem Dreck der Straße geboren und dort verbringen sie ihr Leben. « Einige der Umstehenden lachten hämisch. »Zuru, bring sie dorthin, wo Fremde hingehören, und sorge dafür, dass man künftig sofort erkennt, was sie sind!« Mit diesen Worten wandte sich der Priester ab.

Gonvalon richtete sich auf und klopfte sich, so gut es ging, den Schlamm von den Kleidern. Bidayn blickte ängstlich zu ihm auf, Nandalee hingegen schien geradezu unnatürlich ruhig. Sie öffnete ihren Wasserschlauch und reinigte ihr Gesicht. Dabei starrte sie zu Boden.

Die Menge rings herum begann sich zu zerstreuen. Einige der Krieger trieben sie mit ihren Speerschäften an.

»Woher kommen du und diese Weiber?«

»Garagum«, stieß Gonvalon hervor. Er schnitt eine Grimasse. »Entschuldigt meinen Akzent, Herr.«

Der Hauptmann musterte ihn eindringlich. Ein breiter goldener Armreif mit einem großen Türkis verriet, dass er sich im Kampf ausgezeichnet hatte. »Ihr tragt viele Waffen«, stellte der Krieger nüchtern fest. »Und ihr habt ungewöhnlich viele Weiber. Hier kommt eine Frau auf hundert Männer. Nur Fürsten nennen hier zwei Weiber ihr Eigen. Bist du vielleicht ein Fürst in Garagum?«

Gonvalon überlegte kurz, ob er die Gelegenheit nutzen sollte, sich zu befördern. Aber vielleicht waren die Fürsten Garagums namentlich bekannt oder sie waren inzwischen alle ermordet und durch Luwier ersetzt. Er wusste einfach zu wenig über die Menschenkinder, um sich dreiste Lügen erlauben zu können. »Ich stehe in meiner Heimat einem Dorf vor. Und dies sind nicht meine Weiber, sondern meine Töchter. Als ich zur Reise in die Neue Welt berufen wurde, entschied ich, meine Töchter mit mir zu nehmen, damit niemand ausnutzt, dass sie nicht mehr unter der Obhut des Familienoberhaupts stehen.«

Der Krieger lächelte breit. Seine oberen Schneidezähne fehlten. Fauliger Atem drang aus seinem Mund. »Bei der geflügelten Herrin, da warst du schlecht beraten, Mann.« Lächelnd sah er zu Nandalee und Bidayn. »Sie sind ein bisschen dünn, deine Mädchen. Du lässt sie zu viel durch die Berge laufen. Und sie sehen sehr verschieden aus.« Das Lächeln verschwand. »Was habt ihr da draußen in der Wildnis eigentlich gesucht?«

»Gold, Erhabener. In meiner Heimat bin ich bekannt für mein Geschick Gold zu finden.«

Die Augen des Hauptmanns verengten sich ein wenig. »Und, habt ihr welches gefunden?«

Gonvalon klopfte auf den schweren Lederbeutel an seinem Gürtel. »Ja. Wir entdeckten einen Ort, an dem man Goldbrocken in einem Flusslauf findet. Fast so groß wie Taubeneier.«

»Groß wie Taubeneier … Ist das weit fort?« Der Hauptmann schenkte ihm jetzt ein kameradschaftlich verschwörerisches Lächeln.

»Nein«, entgegnete er knapp. »Aber ich darf dir nicht verraten, wo es ist, Erhabener. Das darf ich nur dem Hüter der Feuer sagen. Mir ist befohlen, wenn ich einen lohnenden Goldfund mache, sofort heimzukehren.«

Der Krieger blickte auf den Lederbeutel an Gonvalons Gürtel. Dann schüttelte er den Kopf. »Entweder bist du unglaublich gerissen oder unglaublich dumm. Ich fürchte fast, Letzteres. Auf jeden Fall bist du ein Glückskind, Fremder. Mit zwei Frauen und einem Beutel voller Gold hierherzukommen … Wenn du meinen Rat hören willst – du solltest nicht so offen reden. Und deine Mädchen solltest du so verkleiden, dass man ihnen nicht ansieht, was sie sind. Komm mit mir. Ich werde dir helfen. Vielleicht verlierst du ja als Dank eines deiner Taubeneier, wenn ich in der Nähe bin.«

Gonvalon folgte dem Hauptmann durch die verwüstete Stadt. Sie wurden von drei Bewaffneten begleitet, die keinen Hehl daraus machten, dass es eigentlich unter ihrer Würde lag, Fremde zu eskortieren. Dem Elfen entging nicht, wie viele feindselige Blicke ihnen folgten. Auf allen großen Plätzen, die sie passierten, schwelten Scheiterhaufen. Überall sah man Verletzte. Es war bedrückend, kaum eine Frau in dem Menschengewühl auf den Straßen zu sehen. Und nie ein Kind! In einer engen Seitengasse entdeckte er über ein Dutzend Gehenkte, die man an einem der Balken aufgeknüpft hatte, mit denen sich die windschiefen Häuser gegenseitig abstützten. Große, rot lackierte Holzscheiben hingen den Toten über der Brust. Es sah aus, als seien sie noch nicht sehr lange tot. Eine junge Frau stahl einem von ihnen die eingenässten Stiefel. Der Hauptmann der Wache unternahm nichts dagegen.

Hauptmann Zuru bemerkte seinen Blick. »Es wäre doch eine Schande zu warten, bis der Leichengeruch in das Leder eingezogen ist.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir bemühen uns, die Fremden zu beschützen. Manche von ihnen sind ja wahrlich wertvoll. Es war klug von dir, dass du das Glutmal abgelegt hast. Allerdings seht ihr auch ohne das Zeichen recht fremd aus. Ein Glück, dass wir dich gefunden haben.«

Gonvalon verstand immer wieder einzelne Worte in der Rede des Kriegers nicht. Zuru redete zu schnell und in einem unvertrauten Dialekt. Meinte der Hauptmann es aufrichtig? Oder war da ein Unterton in seiner Stimme, der nichts Gutes erwarten ließ? Sie sollten sich davonmachen, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot. Bidayn schien verängstigt zu sein, Nandalee jedoch hatte etwas Herausforderndes an sich. Er würde mit ihr reden müssen. Warum hatte sie ihm nicht anvertraut, dass sie die luwische Sprache besser beherrschte als er? Wann hatte sie die Sprache gelernt? Und welche Überraschungen hielt sie noch bereit?

Gonvalon sah aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Er riss den Arm hoch und fing einen halb verfaulten Apfel im Flug. Das Geschoss hätte ihn an der Schläfe getroffen. Auf einem Flachdach stand eine Gruppe bärtiger Männer. Zwischen ihnen lagen Tote, die in weiße Tücher eingeschlagen waren. Der Kerl, der den Apfel geworfen hatte, drohte ihm mit der Faust.

»Gottesfrevler!«, rief einer von ihnen mit sich überschlagender Stimme. »Weil wir euch unter uns dulden, werden wir vom Unglück heimgesucht! Ihr seid es, die die bösen Geister anlockt.«

Zuru schob Gonvalon weiter. »Bleibt nicht stehen. Hört nicht auf sie.«

»Seht, wie unsere eigenen Wachen die Frevler schützen und die große Išta erzürnen!«

Andere Stimmen wurden laut. Passanten blieben stehen. Einige bückten sich und sammelten Lehmklumpen und Fäkalien auf.

»Lasst uns ein Strafgericht halten, damit Išta uns wieder gnädig gesonnen ist.«

Zuru drängte sie in eine Gasse. »Los, lauft! Biegt am Ende des Weges nach links ab.«

Ein wahrer Hagel von Geschossen folgte ihnen.

Der Hauptman hetzte sie durch das Labyrinth aus jämmerlichen Hütten. Hinweg über zusammengestürzte Mauern, an Scheiterhaufen vorbei und an unzähligen Trauernden. Sie überquerten einen Geflügelmarkt und erreichten endlich einen großen, von Bogengängen eingefassten Hof. Berge von Waren stapelten sich dort. Kisten und Fässer, Ballen von Fellen aller Art und fast armdicke Eisenbarren, die von rotbraunem Rost überzogen waren.

»Schließt das Tor!«, herrschte Zuru seine Männer an und Gonvalon half ihnen, den schweren Sperrbalken in die Verankerungen an den Torflügeln zu wuchten. Von draußen hörte man aufgebrachtes Geschrei. Bidayn blickte ihn aus angstweiten Augen an. »Hier sind wir sicher, oder? Die werden nicht hier hereinkommen.«

»Zuru hält uns für Diener des Hüters der Feuer, einem der wichtigsten Beamten am Hof des Unsterblichen Muwatta. Er wird uns beschützen.« Er sah Bidayn an, dass sie nur allzu bereit war, jede Lüge zu glauben. Nandalee hingegen war von kalter Selbstsicherheit. Aufmerksam sah sie sich um und Gonvalon tat es ihr gleich. Sie schienen sich in einer Karawanserei zu befinden, doch konnte er weder Tiere noch Ställe entdecken. Am gegenüberliegenden Ende des Hofes erhob sich einer der rätselhaften Türme, aus dessen obersten Geschossen dicke Rundhölzer sprossen. Eine Wendeltreppe führte an der Außenmauer des Turms hinauf. Vereinzelt waren Bilder auf den hellen Putz gemalt, die sich von hier unten nicht deutlich erkennen ließen. Unter einem der Bogengänge erschienen Krieger. Der Tumult hatte sie augenscheinlich überrascht. Sie gürteten ihre Schwerter und schnallten Helme fest, während sie liefen. Zuru trat ihnen entgegen. Offensichtlich kannten sie ihn. Ein hagerer Krieger mit einer Nase wie ein Raubvogelschnabel blieb stehen, während er seine Männer antrieb, die Mauern beim Tor zu besetzen.

Zuru verhandelte lautstark mit dem Befehlshaber der Wachen. Wieder hörte Gonvalon mehrfach das Wort Glutmal. Meinten sie damit die lackierte Holzscheibe? Der Kerl mit der Adlernase musterte sie. Er trug einen kostbaren Bronzekürass und mehrere goldene Armreife. Seine Schwertscheide war mit Türkisen geschmückt. Es war unübersehbar, dass der Krieger besser besoldet wurde als Zuru. Er wirkte feindselig.

Aus den Augenwinkeln sah Gonvalon, wie einige der Wachen mit ihren langen Speeren von den Mauern der Karawanserei hinabstachen. Der Tumult vor den Toren flaute ab.

Endlich endete der Disput und Adlernase nickte. Zuru kehrte zu Gonvalon zurück. »Du wirst zwei kleine Goldsteine abgeben müssen. Einen für mich und einen für den Hauptmann der Wachen auf diesem Hof. Du solltest dich darauf einlassen, Fremder. Mit den Mauern ist hier auch die Ordnung aus den Fugen geraten, wie du gesehen hast. Du und deine Töchter, ihr braucht Schutz. Es wäre klug, das Handelshaus nicht zu verlassen. Man erwartet hier die Ankunft mehrerer Wolkenschiffe. Auf einem von ihnen werdet ihr sicher Platz finden. Sie tragen euch in die Goldene Stadt. Von dort ist es nur noch ein kurzer Weg an den Hof des unsterblichen Muwatta, wo du dem Hüter der Feuer von deinen Funden berichten kannst.« Ein ironisches Lächeln begleitete die Worte Zurus, so als glaube er nicht, dass er in Diensten des Hofes stand.

Gonvalon erwiderte das Lächeln und legte, von seinem Umhang verdeckt, vier kleine Goldbrocken auf den Deckel eines nahe stehenden Fasses. Ihm war klar, dass man sie beide beobachtete und es die seltsamen Gebräuche der Luwier nicht gestatteten, dass ein Fremder einen Angehörigen vom Stand der Krieger berührte.

Der Menschensohn wirkte überrascht. Dann nickte er und nahm das Gold. »Ich bin davon überzeugt, dass du und deine beiden Töchter eines der wenigen Gastzimmer des Handelshauses bekommen werden.« Mit diesen Worten ging er zum Befehlshaber der Wachen zurück. Gonvalon aber wandte sich an Nandalee. Er hatte nicht vergessen, wie sie mit dem Priester in luwischer Sprache gesprochen hatte. Er dachte an die Warnung des Schwebenden Meisters, der ihm dringend empfohlen hatte, sie bei der ersten Gelegenheit zu töten. Sie steckte voller unbekannter, ungezügelter Kräfte. Sie war eine Gefahr für jeden in ihrer Nähe. Doch obwohl ihm all das nur zu bewusst war, würde er niemals die Hand gegen sie erheben. Jetzt aber fühlte er sich von ihr hintergangen. War sie am Ende vielleicht viel besser über die Ziele dieser Mission unterrichtet als er? Offensichtlich war sie ja besser vorbereitet.

Nachdenklich strich Gonvalon über den Knauf seines Schwertes. Dass er auf Befehl des Dunklen hier war, bedeutete, dass er seinen Meister, den Goldenen, verriet. Drachenelfen dienten immer nur einem Herrn. Manchmal wurden sie verliehen, doch das geschah nur selten. Allein die Entscheidung zu treffen, sich in den Dienst einer anderen Himmelsschlange zu stellen, war ihnen nicht erlaubt. Und doch war er hier, um ihr nahe zu sein. Weil er es nach all den Monden der Trennung nicht hätte ertragen können, sie schon wieder zu verlieren und sie, nur begleitet von Bidayn, auf eine so gefährliche Mission ziehen zu lassen.

»Nandalee, wir haben zu reden!« Kurz blickte er zu Bidayn. »Du bleibst hier!«

Zuru und der Befehlshaber auf diesem Hof tuschelten miteinander und sahen immer wieder zu ihnen herüber. Niemand unternahm Anstalten, sie zu dem versprochenen Zimmer zu bringen, und Gonvalon war bewusst, dass es vernünftig wäre, mit seiner Aussprache bis zur Nacht zu warten – bis sie allein miteinander waren. Aber er war zu wütend. Er musste jetzt mit ihr reden!

»Warum beherrschst du ihre Sprache?«, fuhr er sie auf Elfisch an. Für die Krieger auf dem Hof waren sie einfältige Hinterwäldler aus dem fernen Garagum! Niemand würde sich wundern, wenn man kein Wort von dem verstand, was über ihre Lippen kam.

Nandalee wirkte verlegen und dann plötzlich halsstarrig. »Ich beherrsche nicht nur die Hochsprache Luwiens, ich beherrsche auch noch die Sprache Arams und drei der häufigsten Dialekte, die man in beiden Reichen spricht, denn ich bin schon seit Jahrzehnten gezwungen, diesen Wilden zuzuhören.«

Gonvalon war immer der Überzeugung gewesen, dass er nicht leicht aus der Fassung zu bringen war. Jetzt aber starrte er sie fassungslos an. Nandalees Tonfall ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie ernst meinte, was sie sagte. Nur etwas an ihrer Stimme klang falsch. Ja, fremd.

»Warum seid ihr hier?«, wollte sie wissen.

»Wovon redest du, Nandalee?«

»Was wollt ihr auf Nangog? Dieses Mädchen will es mir nicht verraten. Ich vermag nur einige sehr oberflächliche Gedanken von ihr zu erhaschen. Meistens geht es um Gewalt oder darum, dass sie sich danach sehnt, dich zu küssen. Alles andere bleibt vor mir verborgen. Also sag du mir, weshalb ihr gekommen seid.« Sie sprach mit beängstigender Ernsthaftigkeit.

Nein – sie redete irr! Sie sprach von sich in der dritten Person! Was bei den Alben ging mit ihr vor? Hatte Nangog ihren Verstand verwirrt? »Ich fürchte, ich verstehe nicht, was du mir gerade sagen willst. Ich …«

»Nangog weiß, dass ihr hier seid. Jede Wurzelspitze weiß es. Die Würmer in der Erde unter deinen Füßen wissen es. Die Mutterbäume. Nur die Menschen sind blind. Sie sehen euch, setzen den Fuß in euren Nacken und wissen doch nicht, wie nahe sie dem Tode sind. Ihr seid Späher und keine Feinde. Doch ist auch ungewiss, ob ihr Freunde seid. Ich bin zu ihr gekommen, um euch einzuladen, Euch zu führen. Ihr müsst sehen. Ihr müsst tief verstehen – und dann wird sich entscheiden, was ihr seid.«

Die Intensität, mit der Nandalee sprach, begann Aufmerksamkeit zu erregen. Einige der Umstehenden starrten sie an – lüstern. Manche auch einfach nur interessiert. Vielleicht war das Elfische auch zu fremd, um als ein seltener Dialekt aus dem fernen Garagum durchzugehen.

»Sie sind alle verderbt«, fuhr Nandalee ungerührt fort. »Alle die du hier siehst. Sie fallen übereinander her, rauben, morden und betrügen. Es dauert Jahre, ihr Temperament zu zügeln. Sie friedlicher zu stimmen. Sie müssen fort von hier! Aber ohne Hilfe vermag die Große Mutter sie nicht abzuschütteln.«

Etwas mit Nandalees Augen stimmte nicht. Ein eigentümlich grüner Schimmer lag in ihnen. Nur einen Herzschlag lang. Dann war er verflogen. Gonvalon sah sich um, suchte nach einem grünen Licht, das sich vielleicht in ihren Augen gespiegelt haben mochte, aber da war nichts.

»Was du suchst, ist in ihr.«

Ein eisiger Hauch berührte ihn und unwillkürlich wich er einen Schritt vor Nandalee zurück.

»Du glaubst mir nicht? Ich bin eins mit allem, was Nangog hervorgebracht hat. Ich werde es dir beweisen. Sieh nach Westen zu den Bergen und beginne leise zu zählen. Wenn du bei dreiundsiebzig anlangst, wirst du den ersten Wolkensammler über die Berge kommen sehen.«

Das alles war so absurd, dass er sich am besten darauf einließ, dachte Gonvalon. Er blickte über die Schulter und begann leise zu zählen, während Nandalee weitersprach.

»Sie sind die Fürsten des Himmels über Nangog. Friedliche Geschöpfe. Die Menschen aber haben sie zu ihren Sklaven gemacht. Sie zwingen sie, Schiffe zu tragen. Sie nehmen sich alles, zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Und es wird der Tag kommen, an dem sie auch in die verbotenen Tiefen vordringen. Sie werden nicht verstehen, was sie sehen. Dann werden sie für immer alles zerstören. Es ist ihre Gier, die sie treibt. Und ihre maßlose Vermehrungswut. «

Gonvalon war bei dreiundsiebzig angelangt. Und etwas wuchs hinter der Bergkette in den Himmel. Selbst mächtig wie ein Berg. Eine riesige schwebende Gestalt. Eine Kreatur, irgendwo zwischen Oktopus und Qualle. Tentakel hingen von dem gewaltigen Leib herab – einem riesigen aufgedunsenen Fleischsack. Sie umklammerten ein schiffähnliches Gebilde. Diesem Himmelsschiff wuchsen die Masten aus den Seiten. Schmutzig gelbe Segel blähten sich im Wind. Ein schimmernder Kristall ragte aus dem Kiel. Groß wie ein kleines Türmchen.

Gonvalon entging nicht, dass er der Einzige war, der so starrte. Für die Menschenkinder waren diese Kreaturen offenbar ein vertrauter Anblick.

»An Bord dieser Wolkenschiffe wirst du in sehr schlechter Gesellschaft sein. Dennoch müsst ihr an Bord des ersten dieser Schiffe gehen, ansonsten droht euch tödliche Gefahr. Ich werde euch an einen Ort bringen, an dem ihr Nangog tief zu verstehen lernt.«

Gonvalon entschied, dass er sich auf Nandalee einlassen würde. Was auch immer gerade mit ihr geschah. War sie besessen? Sprach wirklich eine Kreatur dieser Welt durch ihren Mund? Hatte der Dunkle all das vorhergesehen? Jetzt endlich hatte ihre Reise ein Ziel! So wie Gonvalon den Drachen ursprünglich verstanden hatte, sollten sie Nangog lediglich als Späher erkunden. Sie sollten die Natur kennenlernen, die Wälder. Sehen, was anders war als in Albenmark. Und sie sollten die Menschenkinder beobachten. Schätzen, wie viele gekommen waren. Ob sie ihre Städte befestigten und Krieger hierherbrachten. Hatte der Dunkle von Anfang an gewusst, dass es so kommen würde? Dass eine Kreatur Nangogs Besitz von Nandalee ergreifen würde? Der Schwertmeister überlegte. »Gut, wir nehmen eines der Schiffe. Ich vertraue dir. Und Menschenkinder fürchte ich nicht«, sagte er schließlich.

»Das heißt nur, dass du die Menschen nicht wirklich kennst.«

»Welche andere Gefahr droht uns? Warum ist es so wichtig, dass wir an Bord des ersten Wolkenschiffes gehen?«

»Das musst du jetzt noch nicht wissen, Elf. Vertraue mir. Wir haben dieselben Feinde.« Nandalees Gesichtsausdruck änderte sich. Plötzlich wirkte sie erschrocken. »Du weißt es!« Ihre Stimme war verändert. Wieder ganz so, wie er sie kannte. Ihre Angst vor dem, was er sagen würde, war so deutlich spürbar, dass er nicht anders konnte, als sie in den Arm zu nehmen. Sie hielt ihn fest umschlungen. Nie hatte er sie so verzweifelt erlebt.

Alte Narben

Artax lag in der Mulde auf dem Rücken des Wolkensammlers. Die Zwillingsmonde am Himmel wären bald wieder halb voll. Er war einer der mächtigsten Männer der Welt und vollkommen machtlos. Die Zeit lief ihm davon. Er hatte die glücklichsten Wochen seines Lebens erlebt. Er lächelte versonnen. Dachte an die Nächte, die sie hier oben verbracht hatten. Den anderen so nah und doch unerreichbar. Seit er die Reise begonnen hatte, zermarterte er sich den Kopf darüber, wie er es fortsetzen könnte. Es schien unmöglich. Er würde sich selbst gegen den Löwenhäuptigen stellen und um seine Liebe kämpfen. Aber wie? Womit erpresste man einen Gott?

Die schwarze Silhouette eines jungen Wolkensammlers erschien am Nachthimmel. Shaya hing im Fluggeschirr. Seit Beginn ihrer Reise übernahm sie regelmäßig Nachtwachen. Zu ihrem Rang gehörte das Privileg, dass niemand höher fliegen durfte als sie.

Einem langen Gespräch mit dem Lotsen Nabor hatte Artax den Einfall zu verdanken, aus dem diese Reise geboren war. Wenn Wolkenschiffe gemeinsam flogen, gab es strenge Regeln für die Positionen zueinander. Das Schiff, auf dem die ranghöchste Persönlichkeit reiste, war immer das Schiff, das am höchsten flog. Es musste nicht das erste in der Formation sein. Manchmal war es auch nicht das größte. Und doch war es leicht schon von ferne auszumachen, weil es sich über alle anderen hob. Das bedeutete, dass niemand sehen konnte, was auf der Oberseite des Wolkensammlers geschah, auf dem er reiste. Außer vielleicht eine der Wachen der Ischkuzaia, die in ihren Fluggeschirren mit den jungen Wolkensammlern aufstiegen.

Shaya löste ihr Fluggeschirr und landete federnd neben der Strohpuppe. Sie hakte das Geschirr der Puppe an ihrem Wolkensammler fest und setzte ihren Helm auf das Strohhaupt. Dann prüfte sie die Sicherungsleine und ließ den Wolkensammler wieder aufsteigen. Bei Nacht vermochte niemand, der vom Deck der Schiffe zu den Wachen am Himmel aufblickte, einen Unterschied zu bemerken.

Lächelnd kam Shaya auf ihn zu. Sie hielt eine Kürbisflasche hoch. »Die Nächte werden kälter.«

»Das wird helfen.« Er meinte das doppeldeutig. Nie waren sie weiter als bis zu einem Kuss gekommen. Er hatte Sehnsucht nach ihr und doch Angst, sie zu verlieren, falls er sie zu sehr bedrängte. Ihre Küsse waren voller Leidenschaft und doch begann sie immer wieder davon, dass sie dem Reich Ischkuza gehörte und sie sich nicht hingeben dürfe. Es war ein qualvolles Spiel zwischen Lust und schlechtem Gewissen. Shaya hatte keines ihrer geheimen Treffen versäumt, aber er verzweifelte an der Aussichtslosigkeit ihrer Lage.

Wir werden sehr erleichtert sein, wenn dieses kindliche Geplänkel endlich vorüber ist. Ein Mann wird krank, wenn zu viele Säfte in ihm aufsteigen, ohne fließen zu dürfen. Das ist schlecht für den Rücken und die Nieren. Im Übrigen mögen Weiber es, wenn man ein wenig fordernder vorgeht. Du musst sie erobern. Lass uns für dich reden und wir versprechen dir, noch heute ist dieses kindliche Spiel vorüber.

Stimmt, ein paar Worte von dir und alles ist vorüber, dachte Artax. Sie wird mich nie mehr wiedersehen wollen. Dann ging er Shaya entgegen und nahm sie zärtlich in die Arme. Er wusste, wie sehr sie es liebte, einfach nur gehalten zu werden. Seltsam für eine Kriegerin, die ohne Furcht zwischen Himmel und Erde schwebte.

»Ich vermisse es zu reiten«, sagte sie nach einem flüchtigen Kuss.

Fast hätte er aufgeseufzt. Sie sprach mit ihm über alles Mögliche, nur nicht über ihre Liebe. War sie sich bewusst, wie sehr man ihre Bemerkung missverstehen konnte?

Natürlich weiß sie das! Du musst endlich zum Eroberer werden, du Bauerntrottel. Noch viel deutlicher wird sie nicht werden.

Sie erzählte von dem ersten Pferd, das sie als Kind geschenkt bekommen hatte. Zu jener Zeit, als ihr Vater noch voller Güte zu ihr gewesen war. Einmal mehr überlegte Artax fieberhaft, ob er ihr offenbaren sollte, warum Unsterbliche manchmal über Nacht ihren Charakter veränderten und scheinbar ihre eigenen Kinder nicht mehr liebten – und wieder schwieg er.

»Einmal hat es mich abgeworfen und ich bin mit dem Kopf gegen einen Stein geschlagen. Davon habe ich immer noch eine Narbe. Man kann sie nicht sehen, aber fühlen.« Sie nahm seine Hand und führte sie in ihr Haar, dicht über der Stirn. »Wie ein angestochenes Schwein habe ich geblutet.«

»Letzten Sommer hat mein Feldherr Juba mich bei einem Übungskampf verletzt. Hier oben am Arm. Die Wunde musste mit sieben Stichen genäht werden.« Er schob den Ärmel der Tunika zurück. »Die Narbe ist nicht gerade ein Schmuckstück. Sie ist immer noch ganz rot und sieht aus, als hätte man einen Wurm auf mich aufgenäht.«

Sie lachte. Ihre Berührung ließ ihn erschauern.

»Das ist gar nichts! In meinem sechzehnten Sommer habe ich an einem Kriegszug gegen luwische Plünderer teilgenommen. Dabei habe ich einen Hieb mit einer Dornaxt abbekommen. War meine eigene Schuld … Eigentlich wäre der Angriff leicht zu parieren gewesen. Aber statt mich zu wehren, habe ich einfach nur die Axt angestarrt. Sie hat mich hier, dicht unter dem Schlüsselbein, getroffen. Bis zur Wintersonnenwende hat es gedauert, bis ich wieder auf den Beinen war. Im ersten Mond waren die Geisterrufer überzeugt, ich würde zu den Ahnen gehen. Ich hatte Fieber und die Wunde hatte sich entzündet. Aber dann haben die Maden das faulige Fleisch weggefressen. Die Narbe ist seltsam. Eine Mulde. Sieht nicht sehr hübsch aus. Das wird mein Vater sicher verheimlichen, wenn er mich irgendwann verheiratet.« Sie sah ihn auf eine scheue Art an, die so gar nicht zu ihr passte. »Wenn du die Augen schließt …«

»Ja.«

Er hörte, wie sie ihr Wams löste und das scharlachrote Hemd hochschob. Dann nahm sie seine Hand und führte sie. Ihre Haut kam ihm zart wie Seide vor. Dann ertastete er die Mulde. Auch konnte er ihren Herzschlag spüren. Ganz langsam ließ er die Hand ein wenig tiefer gleiten.

Na endlich. Weiter so. Und mach die Augen wieder auf. Wir wollen sehen, in was du dich verguckt hast. Ein Weib voller Narben. Du bist wohl auch als Kind auf den Kopf gefallen, Bauer.

Fahr zum Henker, Aaron, dachte er.

Er hielt die Augen geschlossen und gab sich ganz dem Augenblick hin. Zärtlich umfasste er ihre kleine Brust. Shaya hielt ihn nicht zurück. Die Brustwarze drückte gegen seinen Handteller. Er spürte, wie sich Schweiß in seiner Hand sammelte. Wie peinlich!

Shaya legte einen Arm um seine Hüfte, zog ihn zu sich heran und er küsste sie.

Plötzlich löste sie sich. »Und jetzt will ich die Narbe sehen, die dir der unsterbliche Muwatta beigebracht hat.«

»Darf ich die Augen öffnen?«

»Nein, ich glaube nicht, dass das notwendig ist, um eine Tunika abzulegen. Ich kann dir auch helfen.«

»Geht schon.« Eigentlich wollte er sich seine Enttäuschung nicht anmerken lassen, aber das missglückte ihm gründlich.

»Fast dieselbe Stelle, an der mich die Dornaxt getroffen hat.« Sie berührte ihn mit den Fingerspitzen. »Eine ziemlich verrückte Idee, ein Schwert mit seiner Brust aufzufangen, um es zu binden.«

»Etwa so verrückt, wie einfach still stehen zu bleiben, wenn man mit der Axt erschlagen werden soll.«

»Nein, schlimmer«, sagte sie ernsthaft. »Ich war vor Angst wie gelähmt. Aber du hast es mit voller Absicht getan. Du hast dein Leben beinahe weggeworfen, um deinen Feind mit dir in den Tod zu ziehen. Ich bin froh, dass die Götter dir gnädig waren.«

Artax dachte daran, dass der Löwenhäuptige nichts unternommen hatte, um ihn zu heilen. Nein, die Götter waren ihm nicht gnädig.

Shaya nahm ihn in die Arme. »Ich bin froh, dass du das Wundfieber überlebt hast«, flüsterte sie. »Froh, dass wir jetzt hier sind.«

Auch er legte die Arme um sie. Lauschte auf den Wind, der leise in der Takelage weit unter ihnen sang. Nahm ihre Wärme in sich auf. Wünschte, der Augenblick möge nie vergehen.

»Wir sollten etwas trinken.« Sie zog sich aus seiner Umarmung zurück und rieb sich fröstelnd mit den Händen über die Oberarme. »Ganz schön frisch«, murmelte sie, wurde sich dessen bewusst, dass er ihre Brüste anstarrte, und räusperte sich verlegen. Doch sie wandte sich nicht ab.

Ertappt sah Artax ihr in die Augen und fand darin ein Lächeln. »Was … ähm … ist denn das für ein Branntwein?«

Sie grinste breit. »Wenn ich dir verrate, woraus er gemacht ist, wirst du ihn nicht mehr trinken.«

Die Narbe über ihrem Herzen sah aus wie eine stilisierte rote Sonne. Wenn er diesen Luwier in die Finger kriegen würde … Obwohl – wahrscheinlich hatten das längst die Stammeskrieger erledigt.

Sie hielt ihm die Kürbisflasche hin. Er widerstand der Versuchung, daran zu riechen, und setzte sie sofort an die Lippen. Wie flüssiges Feuer rann ihm der Schnaps die Kehle hinab. Er kämpfte einen plötzlichen Hustenreiz nieder, konnte aber nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen traten. »Gut«, heuchelte er.

Sie lachte. »Du bist ein schlechter Lügner.« Shaya nahm ihm die Flasche aus der Hand und tat einen tiefen Zug. Bei ihr waren keinerlei Nebenwirkungen zu sehen. Er sollte sich niemals bei Hofe auf ein Zechgelage mit ihr einlassen. Sie würde ihn wahrscheinlich unter den Tisch trinken. Und er … Er würde sich Aaron überlassen, wenn er zu viel trank. Das durfte nie wieder geschehen!

Shaya setzte die Flasche ab und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Was machen wir jetzt?«

Er grinste. »Ich hätte da noch ein paar Narben, mit denen ich angeben könnte.«

»Ich auch. Mein älterer Bruder, Subai, hatte einmal einen Wolfshund, den er darauf abgerichtet hatte, unsere Puppen zu zerfetzen. Subai war ein ausgemachter Mistkerl. Und sein Hund war ein Seelenbruder von ihm. Als er eine Puppe von mir holte, schlug ich ihm mit einem Kochlöffel über die Schnauze. Er ließ los. Und dann entschied er, dass ich eigentlich auch nicht viel größer als eine Puppe war. Ich wollte weglaufen. Noch ein Fehler von mir. Er packte mich …« Sie rieb sich den Hintern. »Hab ein halbes Jahr nicht mehr reiten können. Aber Subais Hund kam in die Suppe. Ich habe sieben Schalen von dieser Suppe gegessen!«

Artax musste lachen. »Damit kann ich wahrlich nicht aufwarten. Ich habe noch nie jemanden gefressen, dem ich eine Narbe verdanke. Ich …«

Sie hob einen Finger an Lippen. Weit entfernt erklang ein Horn.

Shaya fluchte. Dann raffte sie ihr Hemd und ihr Wams an sich.

»Was ist los?«

»Ein Wolkenschiff nähert sich. Sie blasen das Horn, damit es nicht zu einer Kollision kommt. Ich muss zurück auf meinen Posten.«

Artax nickte und beobachtete, wie sie den Wolkensammler zu sich herabzog, sich anschirrte und in die Lüfte stieg. Er sah ihr lange nach. Würden die Götter ihnen jemals eine ungestörte Liebesnacht schenken? Wohl nicht. Allein ihre Liebe war ja schon ein Frevel an den Gesetzen der Götter. Welche Strafe sie beide wohl letztlich erwartete?

Duftwasser und Drachenschwingen

Das endlose Warten zehrte an Hornboris Nerven. Ebenso, wie der Gestank. Am ersten Tag hatte er noch geglaubt, er könne sich daran gewöhnen. Jetzt wusste er, das würde niemals geschehen. Nur seinen beiden Gefährten schien es gar nichts auszumachen. Galar hatte das, was er anfangs für einen verrückten Scherz gehalten hatte, wahr gemacht. Sie hatten sich mit Wolfsscheiße eingeschmiert. Und wann immer sie glaubten, der Gestank ebbte ab, legten sie nach. Galar hatte ein kleines Fass voll davon mitgebracht. Hornbori betrachtete seinen strähnigen Bart. Ihn hatte er nicht eingeschmiert – ihn nicht! Nur nicht nachdenken, dachte er sich. Einen ganzen Tag würde er baden, wenn er zurück war. »Wie lange müssen wir denn noch warten?«

»Geduld ist die erste Tugend des Jägers«, murmelte Nyr, ohne sich nach ihm umzudrehen. Der Geschützmeister stand über die Drachenflitsche gebeugt und spähte zum Fressplatz des Drachen hinüber. Ein Gebeinfeld, das mehr als hundert mal hundert Schritt maß. Sie hatten es nicht gewagt, dorthin zu gehen, aus Sorge, der Drache würde ihre Witterung aufnehmen, wenn er zum Fressen kam. Selbst mit der Wolfsscheiße in den Kleidern.

Sechs Tage lang konnte Hornbori jetzt schon auf dieses Knochenfeld starren. Sechs verfluchte, endlose Tage, in denen unendlich viel Zeit gewesen war, sich auszumalen, wie groß der Drache sein mochte. In seiner Vorstellung jedenfalls wuchs das Ungeheuer täglich.

Auf dem Fressplatz lagen riesenhafte Knochen – Rippenbögen von Mammuts, vermutete er. Wie groß war ein Tier, das ein Mammut tragen und dabei noch fliegen konnte? Hornbori hatte einmal gesehen, wie ein Adler ein Lamm auf einer Bergweide geschlagen hatte. Er hatte dieses Bild immerzu vor Augen, wenn er an den Drachen und das Mammut dachte.

»Du kannst gerne zu den anderen in die Grotte gehen«, sagte Galar.

Hornbori hörte diesen Spruch schon zum hundertsten Mal. Ihm war bewusst, dass die beiden gut auf ihn verzichten konnten. Nur leider war es für ihn keine Option, sich zurückzuziehen. Zum einen musste er dabei sein, wenn der Drache getötet wurde, um seinen Teil vom Ruhm an dieser Tat einzufordern. Der zweite Grund allerdings wog noch wesentlich schwerer. Sie waren mit acht Aalen in einem unterirdischen See angelandet. Die Tauchboote hatten die Drachenflitsche, ausreichend Vorräte und jene Träger transportiert, die beim Ausweiden des Drachen helfen würden. Was weder Galar noch Nyr wussten, war, dass einen Tag später eine weitere Flotte aus elf Aalen in der Grotte vor Anker gegangen war. Mit diesen Booten war Sviur eingetroffen, der die Drachenjagd seit mehr als zwei Jahren mit Material und Gold unterstützte. Hornbori war sich bewusst, wie viel Gold Sviur inzwischen in dieses Unternehmen gesteckt hatte. Bei einem letzten Treffen vor der Reise hatte der Werftenbesitzer sehr deutlich gemacht, dass er einen Erfolg erwartete. Wenn sie hier keinen Drachen zur Strecke brachten und Sviur nicht den Hauptteil der Beute bekam, würden sie alle drei in einem Sack mit Steinen auf dem Grund des Sees in der Grotte enden. Galar und Nyr waren völlig weltfremd. Sie hatten keine Ahnung, mit wie harten Bandagen im Spiel um die Macht gekämpft wurde.

Seit dem Überfall einer Weißen Seeschlange in einem der Häfen war die Nachfrage nach neuen Aalen zurückgegangen. Sviur steckte in Schwierigkeiten. Für Schuppen, Knochen, Zähne oder Blut eines großen Drachen, könnte er phantastische Summen verlangen. War diese Expedition ein Fehlschlag, stand auch sein Werftenimperium am Rande des Ruins.

Hornbori seufzte. Es war unnötig, dass Galar und Nyr sich mit solchen Gedanken belasteten. Sie hatten für das Materielle zu wenig Verständnis, auch wenn Galar gerne alle Gaben für seine Werkstatt und Gelder für seine Reisen angenommen hatte.

Immerhin, dachte Hornbori – wenn ihnen die Jagd gelang, würde ihr Erfolg in aller Munde sein. Galar und Nyr waren schon einmal hier gewesen, sie hatten den Eisdrachen – wie sie ihn nannten – beim Fressen beobachtet und ihren ersten Plan mit der Hornisse aufgegeben. Der Eisdrache war größer. Viel größer! Und so hatten sie die Drachenflitsche in einem Windwurf unter einer entwurzelten Fichte aufgebaut, kaum hundertfünfzig Schritt vom Fressplatz entfernt. Der Schussplatz lag günstiger als bei der Hornisse. Der riesige Bolzen würde den Drachen vermutlich durchschlagen – behauptete Nyr.

Wenn der verdammte Drache doch nur endlich erscheinen würde!

Hornbori sah zu Galar hinüber. Der lag inmitten des Durcheinanders abgeknickter Fichtenstämme – ein perfektes Versteck. Durch das dichte Unterholz des Berges waren sie in guter Deckung anmarschiert. Man musste bis an den Waldrand kommen, um den Fressplatz, der ein wenig tiefer am Hang lag, überhaupt zu entdecken.

Galar lag auf einem Lager aus Fichtennadeln, hatte die Hände im Nacken verschränkt und döste. Ihm machte die Warterei scheinbar gar nichts aus. Ja, Hornbori hatte den Verdacht, dass es Galar sogar Spaß machte, ihn zu beobachten. Zu sehen, wie er immer ungeduldiger wurde.

Nyr hingegen beobachtete den Fressplatz. Seine Aufmerksamkeit schien nie nachzulassen. Ihn hatte das Jagdfieber gepackt. Wenn man seinen Worten trauen durfte, hatte niemand je zuvor einen so großen Drachen erlegt.

Hornbori zwang sich zur Ruhe. Er blickte in das Gewirr toter Äste hoch über ihnen, durch das der Himmel wie ein blaues Bleiglasfenster aussah. Ein Bleiglasfenster ohne Drachen.

Stunde um Stunde verstrich. Hornbori nahm sich ein zähes Stück Schinken und kaute es in kleinsten Happen mit der Gründlichkeit eines Rindes zu sämigem Schinkenschleim. Er träumte von dem Bad, das ihn erwartete. Er würde den Geruch nach Wolfskot mit Lavendelwasser bekämpfen. Er hatte auch eine lavendelfarbene Tunika. Vielleicht sollte er sie nach dem Bad anlegen. Noch nie zuvor hatte er daran gedacht, dass Kleidung und Duftnote miteinander harmonieren könnten. Eine aufregende Idee! Vielleicht ging das auch mit Pfirsich? Er hatte ein Lederwams, das fast pfirsichfarben war …

Plötzlich fuhr ein Wind über den Wald. Ein seltsames Geräusch begleitete ihn. Flügelschlagen!

Sofort war Galar auf den Beinen. Hornbori hätte den Schinken am liebsten in die Fichtennadeln gespuckt. Er war nicht wirklich feige, fand er. Sein Problem war, dass er sich so bildhaft vorstellen konnte, wie er besiegt wurde. Wie der Drache ihn mit einer Tatze zu Boden drückte und ihm ein Bein abbiss.

»An die Kurbel, du Traumtänzer!«, herrschte Nyr ihn an. Das Geschütz musste gespannt werden. Um die Spannkraft des Stahlbogens nicht zu verringern, hatte Nyr verboten, die Drachenflitsche während der tagelangen Warterei schussbereit zu halten.

Hornbori eilte an seinen Platz und begann zu kurbeln. Mit leisem Klacken bewegte sich das eiserne Räderwerk der Waffe. Hornbori kurbelte um sein Leben. Nicht nachdenken, befahl er sich immer wieder, nur nicht nachdenken!

Ein Hirsch fiel aus dem Himmel und schlug krachend inmitten der ausgebleichten Knochen auf. Nur einen Augenblick später landete der Drache. Hornbori war überrascht, mit welcher Eleganz das gewaltige Tier sich bewegte. Es wäre eine Freude gewesen, ihn zu beobachten, wäre er nicht so verdammt groß und so verdammt nah gewesen.

Der kleine Metallschlitten, der die Sehne über die Führungsschiene der Drachenflitsche zurückgezogen hatte, rastete mit einem leisen Klicken in seine Arretierung ein.

»Macht Platz!«, zischte der Geschützmeister und legte einen anderthalb Schritt langen Bolzen auf die Führungsschiene. Dann begann er mit zwei kleinen Kurbeln, die Höhen- und Seitenausrichtung des Geschützes vorzunehmen.

»Fast kein Wind«, flüsterte Galar.

Nyr brummte etwas Unverständliches.

Hornbori fühlte sich, als habe er einen kopfgroßen Klumpen Eis verschluckt. Er biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Wie gebannt starrte er den Drachen an. Das Vieh war zu groß! Sie waren wahnsinnig, sich mit so einer Kreatur anzulegen.

Der Drache war ganz weiß, und seine Vorderbeine erstaunlich klein. Sie erinnerten an Ärmchen, mit Krallenhänden. Aber dieser Kopf …! Bis zu ihrem Versteck konnten sie die Knochen des Hirsches splittern hören, als der Drache seine Beute aufbrach. Jetzt war er ganz Raubtier – er zerrte und warf den Kopf hin und her, bis ein großer Brocken Fleisch aus dem Kadaver riss. Dann legte der Drache den Kopf in den Nacken, um besser schlucken zu können. Überdeutlich sah Hornbori die blutbefleckten Reißzähne. Jeder einzelne war so lang wie ein Schwert. Und wieder überfielen Hornbori seine grässlichen Phantasien – der Drache hetzte ihn über den Berghang. Der Drache spielte mit ihm, wie eine Katze mit einer Maus.

»Jetzt hab ich ihn«, murmelte Nyr. Der Geschützmeister griff nach dem Abzugshebel.

»Wo steckt ihr verdammten Bastarde?«, rief eine allzu vertraute Stimme hinter ihnen im Wald.

Sviur!

Genau in dem Augenblick riss Nyr den Geschützhebel zurück. Zischend schnellte der lange Bolzen davon.

Der weiße Drache hob den Kopf. Der Bolzen traf ihn seitlich – dort, wo der rechte Flügel aus dem Rumpf erwuchs. Hornbori hörte den Aufschlag. Die Wucht des Treffers riss den Drachen herum.

»Was für ein Arschloch ist …«, begann Galar.

»Spannt das Geschütz«, schrie Nyr. »Schnell!«

Der Drache hatte sich von seinem Schock erholt. Er blickte jetzt genau in ihre Richtung!

Der Eisklotz in Hornboris Bauch wuchs binnen weniger Herzschläge zur Größe eines Eisbergs an. »Wir sind tot«, murmelte er, griff aber nach der Kurbel.

»Wo zum Henker seid ihr verdammten Nichtsnutze! Fünf Tage habe ich mir jetzt den Arsch platt gesessen. Ich werde euch an die Weißen Wasserschlangen verfüttern, ihr Betrüger!« Sviur musste irgendwo links von ihnen sein. Vielleicht zehn Schritt entfernt. Durch das Trümmerfeld gesplitterter Stämme im Windbruch konnte er den Drachen wohl nicht sehen.

Hornbori hörte Waffen klirren. Sviur kam nicht allein. Bestimmt brachte er einige Totschläger mit, die dafür sorgen würden, dass seine Drohungen wahr wurden.

Hornbori kurbelte weiter. Unendlich langsam, so schien es ihm, glitt der Metallschlitten über die Führungsschiene.

Gleißendes Licht löschte alle Farben. Hitze brandete über sie hinweg. Feuer prasselte in den Wald. Hornboris Augen tränten. Seine Haut spannte sich. Es stank nach verbranntem Horn. Sein Bart schwelte. Aber er ließ die Kurbel nicht los!

»Weitermachen«, sagte Nyr, erstaunlich ruhig, so als sei das alles nur eine Übung.

Links von ihnen stand der Wald in Flammen. Sviurs Rufe waren verstummt. Baumstämme zerbarsten in der Hitze des Drachenfeuers.

Hornbori sah, wie Galar von einem armlangen Splitter getroffen wurde. Der Baumeister kurbelte noch einige Herzschläge lang, dann sackte er vornüber.

»Nicht aufhören«, murmelte Nyr. Er peilte über die Führungsschiene und begann an den Kurbeln zu drehen, mit denen die Drachenflitsche ausgerichtet wurde. Er war völlig in seine Arbeit versunken.

»Ein bisschen tiefer noch. Noch etwas …«

Eine lange Schraube hob den hinteren Teil der Drachenflitsche langsam höher.

»Noch etwas. Er kommt genau auf uns zu. Gleich …«

Hornbori traute seinen Ohren nicht. Er hielt inne und spähte durch das tote Geäst. Der weiße Drache hatte seinen Fressplatz verlassen. Dunkelrotes Blut rann über seine Schuppen und er taumelte ein wenig. Dann bog er seinen geschuppten Hals zurück. Es sah aus, als atme er tief ein.

»Ja, tue es«, murmelte Nyr.

Der Schlitten rastete mit einem Klacken ein.

»Los, tu es! Reiß dein Maul auf und spuck noch einmal Feuer!«

Hornbori ließ die Kurbel los. Der Geschützmeister war irre geworden. Wenn dieses Monster noch einmal Feuer spie, waren sie tot. Gegrillt, so wie Sviur und seine Leibwächter.

Er wandte sich ab und wollte davonlaufen, als etwas nach seinem Fuß griff. Er strauchelte und fiel zu Boden.

»Schön hiergeblieben, Drachenjäger«, stöhnte Galar. »Das ziehen wir gemeinsam …«

Den Rest des Satzes verstand Hornbori nicht mehr. Die Stimme seines Kameraden ging in einem infernalischen Fauchen unter.

Die Maske fällt

Gonvalon lauschte auf das Horn, das voraus im Dunkel erklang. Das Signal schien vom vordersten der Wolkensegler zu kommen. Die drei Himmelsschiffe flogen leicht versetzt zueinander in einer Reihe. Zwischen jedem der Wolkensammler lag ein Abstand von etwas mehr als fünfhundert Schritt, schätzte er. Das Licht der Zwillingsmonde verwandelte die Schiffe in schwarze Silhouetten vor dem Nachthimmel.

Murrend erhoben sich einige der Schiffer. Gonvalon hatte mit Nandalee und Bidayn auf dem Vordeck übernachtet. Ebenso wie die Mannschaft. Es gab wohl auch kleine Kabinen an Bord, aber man hatte ihnen einen eigenen Raum verweigert, obwohl er bereit gewesen war, dafür mit Gold zu zahlen. Anfangs hatte er es für verschroben gehalten, dass man ihnen ein vernünftiges Quartier verwehrte. Er hatte überlegt, ob sie als Fremde von zu niederem Stand waren und ihnen nach der verdrehten Logik des Großen Hauses einfach keine eigene Kabine zustand – ganz gleich, wie viel sie dafür zu bezahlen bereit waren. Inzwischen war er zu der Überzeugung gelangt, dass es gar keine Quartiere gab, sondern nur Laderäume.

An Deck waren sie durch den riesigen Leib des Wolkensammlers vor Regen geschützt. Die Nächte waren angenehm warm. Der größte Teil der Mannschaft verhielt sich zum Glück zurückhaltend. Nur ein oder zwei Gaffer störten. Viel beunruhigender fand Gonvalon das riesige Tier, das dieses Schiff trug. Nie zuvor hatte er so etwas gesehen. Hunderte von Tentakeln umklammerten den mächtigen Schiffsrumpf. Ständig war irgendwo etwas in Bewegung. Manchmal troff Schleim von den Fangarmen. Einmal hatte ihn ein kaum fingerdicker Tentakel im Schlaf berührt.

Nandalee hingegen ließ diese Kreatur völlig kalt.

Gonvalon hatte Bidayn nicht erzählt, was mit ihr Freundin geschehen war, denn allein schon die Kreatur, die das Schiff trug, ängstigte Bidayn zu Tode. Ständig verkroch sie sich zwischen den Frachtballen. Drei Tage hatte sie kein Auge zugetan, bis sie heute Morgen völlig erschöpft eingeschlafen war.

Wieder erklang das Horn.

Er kniete sich neben Nandalee nieder und berührte sie sanft an der Schulter. Die Elfe war sofort hellwach.

»Bitte weck Bidayn. Irgendetwas geht vor. Wir sollten auf der Hut sein.«

Für einen Herzschlag lang lag ein grünlicher Schimmer in ihren Augen. Diese Besessenheit war unheimlich. Wohin würde die Geistgestalt sie bringen? Seit dem Gespräch in der Karawanserei hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihm aufgenommen.

Nandalee ging zu Bidayn, die zwischen zwei Frachtballen in ihren Umhang eingemummt schlief. Behutsam rüttelte sie ihre Freundin wach und flüsterte ihr etwas zu. Bidayn wirkte benommen und hatte offensichtlich Schwierigkeiten zu begreifen, wo sie war. Nandalee ging sehr behutsam mit ihr um. Sie streichelte sie, versuchte ihr die Angst zu nehmen. So hatte Gonvalon sie noch nie gesehen. Diese Nandalee war ganz anders als die wilde Jägerin aus dem ewigen Eis. Nein, dachte er dann, dieser Grüne Geist war ganz anders als Nandalee. Er mochte die sanfte Art des Wesens, aber er wollte den wilden Geist der Jägerin zurück. Wenn er doch nur …

Wieder hörte er in der Ferne das Signalhorn. Die Wolkenschiffer versammelten sich auf dem Vordeck. Die meisten von ihnen waren jetzt bewaffnet. Ein groß gewachsener Mann trat vor. Er war Gonvalon bereits zuvor aufgefallen, und da ihm die anderen Menschenkinder mit Respekt begegneten, vermutete der Elf, dass es sich um den Kommandanten des Luftschiffes handeln könnte. Der Mann hatte dichtes schwarzes Haar und ein schmales Gesicht, das durch seinen langen Bart noch betont wurde. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, die Wangen waren eingefallen. Er hatte etwas Asketisches an sich, wie Gonvalon fand.

»Eure Reise endet nun, Fremder. Ich biete dir ein Goldstück für jede deiner Töchter und verspreche dir, dich in der nächsten Stadt, in der wir ankern, ziehen zu lassen.«

Gonvalon sah aus den Augenwinkeln, wie Nandalee die Verschnürung, die ihr Reisigbündel zusammenhielt, aufknüpfte. Sie hatte bereits die Stoffstreifen von den Bogennocken gestreift. Ein paar Augenblicke noch und sie wäre kampfbereit. Aber niemand beachtete Nandalee und Bidayn. Alle sahen nur ihn an, als hinge alles von ihm ab.

Gonvalon hob in hilfloser Geste die Hände. »Ich kann doch nicht meine Mädchen verkaufen. Was für ein Vater wäre ich da!« Er sprach in weinerlichem Ton.

Sie waren jetzt umringt von einem Dutzend Männern mit Bronzeschwertern, Äxten und Keulen. Die meisten von ihnen grinsten.

»Du bist wirklich ein Dummkopf!« Der Wortführer der Himmelsschiffer seufzte. »Wir brauchen Frauen in der Wolkenstadt. Dich brauchen wir nicht. Ich kann dir versprechen, dass es ihnen dort gut gehen wird. Besser als irgendwo anders auf Nangog. In der Wolkenstadt werden Kinder geboren. Nur dort!«

»Kann ich nicht mitkommen in die Wolkenstadt?«

Der Dunkelhaarige zog seinen Dolch, ohne den Blick von ihm abzuwenden. »Nein. Du hast dem Hüter der Feuer deine Treue gelobt. Kein Mann kann zwei Herren dienen und wir wollen niemanden, der dem Unsterblichen Muwatta nahesteht, in unserer Stadt. Dein Weg endet hier. Doch du sollst in der Gewissheit sterben, dass es deinen Töchtern gut gehen wird.«

»Wollen wir anfangen?«, fragte Nandalee auf Elfisch.

Etwas an dem Tonfall ihrer Stimme schien den Wortführer der Wolkenschiffer zu verunsichern. »Was sagt sie? Was war das für eine Sprache?«

»Sie hat noch einen dritten Vorschlag gemacht. Ihr werft eure Waffen über Bord und wir lassen euch am Leben. Was hältst du davon?«

Der Wolkenschiffer runzelte die Stirn, dann lächelte er. »Wir sind mehr als vierzig gegen einen bartlosen Wilden und zwei Weiber. Was sollten wir da wohl befürchten? Am Ausgang dieses Kampfes besteht kein Zweifel. Bevor sie unter das Beil kommen, gackern Hühner immer am schönsten.«

Gonvalon verneigte sich. »Ich stimme dir zu, Menschensohn. Am Ausgang dieses Kampfes besteht in der Tat kein Zweifel.« Der Elf zog Langschwert und Jagdmesser.

Nandalee zerrte den riesigen Zweihänder zwischen dem Reisig hervor.

Der Dunkelhaarige hatte Mut. Statt zurückzuschrecken, stürmte er vor, schlug eine Finte und versuchte einen Stich in die Kehle. Gonvalon lenkte den Angriff zur Seite und rammte dem Menschensohn seinen Dolch in den Magen. Er stieß die Klinge hoch unter die Rippen, drehte sie leicht. Warmes Blut sprudelte über seine linke Hand. Die braunen Augen des Mannes weiteten sich ungläubig. Er riss den Mund auf, brachte einige unzusammenhängende Laute hervor und rief dann überraschend deutlich – Bogenschützen!

Gonvalon befreite seine Klinge, duckte sich unter einem Knüppelhieb. Er konnte die Krieger um sich herum spüren. Es war keine Magie! Und doch schienen seine Sinne erweitert. Er tanzte den Klingentanz, den er in der Weißen Halle gelehrt hatte. Kämpfte ohne Zorn. Zog das Schwert über eine Kehle. Lenkte einen Stich so ab, dass er einen anderen Menschensohn an seiner statt traf. Duckte sich tief, stieß den Dolch in ein Fußgelenk und spürte Knochen und Knorpel an der Klinge entlangschrammen.

Flüchtig sah er zu Nandalee. Sie focht ohne Eleganz. Der riesige Zweihänder Todbringer war die falsche Waffe für sie! Ihm war unbegreiflich, warum sie dieses Schwert gewählt hatte. Sie schwang es wie eine Sense. Und er musste ihr zugestehen, sie focht effektiv. Ja, sie verbreitete mehr Schrecken als er. Todbringer trennte ganze Glieder ab, Sterbende krochen schreiend von ihr fort. Ein Mann hielt seinen Arm fest, während er verblutete, so als bestünde Hoffnung, dass das Glied ihm noch einmal anwachsen könnte.

Ein Pfeil schlug dicht neben Nandalee ins Deck. Sieben Bogenschützen hatten sich inzwischen in der Takelage postiert. Gonvalon bewegte sich so, dass er kein Ziel bot, dass immer Menschenkinder zwischen ihm und den Schützen standen. Zweimal hatten die Bogner bereits Kameraden getroffen und waren vorsichtig geworden. Nandalee hingegen war ein gutes Ziel. Ihr kreisendes Schwert hatte einen Bannkreis geschaffen, den keiner der Menschensöhne mehr zu betreten wagte. Dieses verfluchte Schwert! Hätte sie nur auf ihn gehört! Oder wenigstens Nodon, den er beschworen hatte, ihr nicht diese Klinge mitzubringen. Dass Nandalee noch nicht getroffen worden war, grenzte an ein Wunder.

Bidayn stand mit dem Rücken zu einer Frachtkiste. Sie hielt ihren Dolch in der Hand. Vor ihr lag ein toter Menschensohn. Die Elfe zitterte am ganzen Leib und es sah nicht so aus, als würde sie noch weiter am Kampf teilnehmen.

»Zurück!«, rief da ein dicker Kerl mit hängenden Wangen. »Zurück!«

Gonvalon war klar, dass auch er zur Zielscheibe würde, sobald er allein stand. Er eilte an Nandalees Seite und zog sie in Deckung hinter die Kisten auf dem Vordeck. Keinen Augenblick zu spät – ein Pfeil schoss so dicht an seinem Hals vorbei, dass er den Luftzug spürte.

Nandalee sah schrecklich aus! Sie war über und über mit Blut bedeckt.

»Runter mit dir«, rief er Bidayn zu, die immer noch an ihrer Kiste stand. »Zieh den Kopf ein!«

Doch die Zauberweberin hörte ihn nicht. Stattdessen schien ihr Zittern immer schlimmer zu werden.

Nandalee nahm ihren Bogen und zog die Sehne auf. »Kümmere dich um Bidayn!«

Überrascht registrierte Gonvalon, dass sie ganz selbstverständlich das Kommando übernommen hatte. Er erhob sich aus der Deckung. Zwei Pfeile verfehlten ihn um mehr als einen halben Schritt – auf den seitlich aus dem Schiffsrumpf strebenden Masten gab es kleine Plattformen, auf denen die Bogenschützen einen sicheren Stand fanden. Zum Glück waren sie keine sonderlich guten Schützen.

Der größere Teil der Besatzung war inzwischen in die Takelage geflohen. Niemand stellte sich ihm mehr in den Weg. Einem tödlich Verwundeten, der vor ihm davonkroch, versetzte er im Vorübergehen einen Hieb mit der Breitseite des Schwertes, sodass er bewusstlos auf Deck sank. Er tat das so beiläufig, wie er atmete. Seine Konzentration galt den Bogenschützen. Er konnte spüren, dass drei auf ihn zielten.

Ein Schrei. Nandalee hatte ihre Arbeit begonnen! Gonvalon duckte sich unter einem Pfeil, und endlich erreichte er Bidayn. Sie stand noch immer aufrecht vor der Kiste.

»Du musst Deckung suchen.« Er hatte keinerlei Verständnis für ihr Versagen! Sie war zum Kampf ausgebildet worden. Sie war eine kostbare Waffe der Himmelsschlangen. Doch nun, da es darauf ankam, schien sie alles vergessen zu haben.

»Ich … kann nicht«, stieß sie mit zittriger Stimme hervor. Sie presste ihre Linke seitlich auf den Bauch. Dicht über der Hüfte. »Haben … mich … getroffen. Es tut mir leid.«

Gonvalon sah das viele Blut und schämte sich, Bidayn so falsch eingeschätzt zu haben. Vorsichtig schob er ihre Hand zur Seite. Sie schrie auf. Ein weiterer Pfeil hatte sie gestreift und eine blutige Schramme auf ihrer Wange hinterlassen.

»Du musst hier fort«, drängte er. »Ich werde dich tragen.«

»Geht … nicht.« Sie deutete auf einen abgebrochenen Pfeil zu ihren Füßen. »Ich … wollte ihn herausziehen.« Sie rang um jedes Wort. »Ist abgebrochen …«

Gonvalon begriff. Er fluchte leise. Der Pfeil hatte sie gegen die Kiste genagelt. Und beim Versuch, ihn aus der Wunde zu ziehen, hatte sie ihn zerbrochen. Er richtete sich auf, um sie mit einem Körper gegen weiteren Beschuss abzuschirmen. Hastig blickte er über die Schulter zu den Masten. Die Mehrzahl der Bogenschützen war damit beschäftigt, Deckung zu suchen. Nandalee hingegen stand aufrecht mitten auf dem Deck. Ein Pfeil lag auf der Sehne, doch sie hatte den Bogen nicht gespannt. Sie wirkte furchteinflößend, so gelassen, wie sie dort stand. Zutiefst davon überzeugt, dass kein Pfeil der Gegner sie treffen würde.

Gonvalon legte seine Hände auf Bidayns Schultern. Er war sich bewusst, dass der abgebrochene Schaft in der Wunde die Blutung verminderte, aber so konnte sie nicht hier stehen bleiben. Bald würde man auf den anderen Wolkenschiffen bemerken, dass hier etwas nicht stimmte. Dann bekämen sie es mit noch mehr Bogenschützen und Entermannschaften zu tun. Sie mussten fort von hier! Aber wie floh man von einem Segler, der mehr als tausend Schritt hoch flog?

»Du musst jetzt die Zähne zusammenbeißen, Bidayn.«

»Bist du sicher … Ich … Ich hatte Angst, ich würde verbluten, wenn …«

»Vertrau mir«, sagte er zärtlich und strich ihr über die blutverschmierte Wange. Er war sich keineswegs sicher, die richtige Entscheidung zu treffen, aber hier konnte er sie nicht stehen lassen, das stand fest. »Leg deine Arme um mich, ganz fest. So wie an dem Abend am Lagerfeuer, als das Erdbeben uns erschreckt hat. Ich werde dich beschützen.«

Sie sah ihn mit tränenschweren Augen an. Dann schlang sie die Arme um ihn und hielt ihn wie eine Ertrinkende, die um ihr Leben fürchtete.

Gonvalon zog sie zu sich heran. Bidayn stieß einen halb unterdrückten Schrei aus – dann sackte sie in seinen Armen zusammen. Aus der Kiste hinter ihr ragte der blutige Pfeilschaft. Er war aus schlechtem Holz gefertigt und übel gesplittert. Vielleicht schon beim Aufschlag. Sollten Splitter in der Bauchwunde stecken, würde sie nicht überleben!

Wie er befürchtet hatte, blutete ihre Wunde jetzt stärker. Bidayn war ohnmächtig geworden. Vorsichtig legte er sie auf das Deck. Er war nie ein besonders guter Heiler gewesen. Selbst wenn er seine Zauberkräfte nicht verloren hätte, würde er ihr nicht helfen können.

Gonvalon riss einen Streifen vom Saum ihres Hemdes, zupfte die losen Fasern fort, knüllte ihn zusammen und presste ihn fest auf die Wunde. Er war sich bewusst, dass die Gefahr für eine tödliche Entzündung noch größer wurde, indem er Stofffetzen in die Wunde stopfte. Aber wenn er nichts unternahm, würde sie innerhalb der nächsten halben Stunde verbluten.

Das Geräusch verstohlener Schritte ließ ihn herumfahren. Nandalee! Sie hielt den Bogen schussbereit.

»Wie geht es ihr?«, fragte sie, ohne den Blick von den Männern in der Takelage abzuwenden.

»Schlecht.«

»Was können wir tun?«

»Ich weiß es nicht. Ich … Vielleicht kann dieser Geist in dir uns helfen. Werden die Menschenkinder uns in Ruhe lassen?«

»Das glaube ich nicht. Siehst du den Kerl im Wickelrock mit den grünen Fransen?«

Gonvalon blickte auf. »Was ist mit ihm?«

»Er versucht, sie zu einem neuen Angriff auf uns zu ermuntern. Er redet die ganze Zeit auf sie ein. Soll ich ihn zum Schweigen bringen? Ich habe nur noch drei Pfeile.«

Ein Stück entfernt lag ein toter Bogenschütze auf Deck. »Kannst du nicht einen Bogen der Menschenkinder benutzen?«

Nandalee verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Das ist etwa so, als würdest du mich fragen, ob ich statt eines Drachenschwerts einen Faustkeil benutzen wollte. Da gibt es keinen einzigen Pfeil, der gerade fliegt! Das ist so …« Sie stockte. Und als sie weitersprach, klang ihre Stimme verändert. »Wir müssen zum Schiffsbaum! Komm. Sofort! Oder Bidayn wird sterben.«

Gonvalon dachte an das Holzfällerlager, das sie zu Beginn ihrer Reise entdeckt hatten. Die Grünen Geister Nangogs und die Bäume dieser Welt schienen einen unheilvollen Bund geschlossen zu haben. Doch welche Wahl blieb ihm schon? Hier sitzen, mit Bidayn im Arm, die langsam verblutete? Nach dem, was sie bei den Holzfällern gesehen hatte, hatte sich Bidayn vor den Bäumen zu Tode gefürchtet. Wie konnte er sie da jetzt zu einem Baum bringen?

Ohne seine Antwort abzuwarten, ging Nandalee los. Keines der Menschenkinder wagte mehr, sie anzugreifen. Ja, schon die Blicke der Bogenschützin genügten, um sie ängstlich Deckung suchen zu lassen. Gonvalon nahm Bidayn und folgte ihr. Ihre Nähe versprach Schutz.

Wie ein Turm erhob sich der Schiffsbaum über Deck, so mächtig war der Stamm. Seine Rinde bildete beunruhigende Wulste aus, die an verzerrte Gesichter erinnerten. Ein wahres Konzert von Vogelstimmen empfing sie! Gonvalon entdeckte auch Affen im Geäst. Die Tiere wirkten verängstigt.

Weit entfernt zerteilte ein vielfach gegabelter Blitz den Himmel. Das gleißende Licht hatte einen grünlichen Schimmer. Besorgt blickte Gonvalon zu dem aufgedunsenen Leib des Wolkensammlers hinauf – und in diesem Augenblick setzte der Sturzregen ein. Schon bald rann Wasser in Bächen seinen Leib hinab und ergoss sich in schillernden Kaskaden an der Bordwand vorbei in die Tiefe. Was würde geschehen, wenn ein solches Ungeheuer von einem Blitz getroffen wurde?

»Leg Bidayn neben mich. Die Erde wird sie schützen.« Nandalee kauerte in der schwarzen Erde, in die der Schiffsbaum gepflanzt war, und sie sprach noch immer mit seltsam veränderter Stimme.

Gonvalon zögerte. Es gab keine deutliche Abgrenzung zwischen Planken und Erde. Nahe dem Baum wirkte das Holz faulig. Es war so schwarz wie die Erde. Seine Oberfläche zerfaserte und Erde drang in die Ritzen zwischen den Planken. Wurzeln durchdrangen das tote Holz des Schiffes. Sie schienen bis in den letzten Winkel des Rumpfes zu reichen – als habe sich der Baum das ganze Himmelsschiff erobert. Ein Teil des Astwerks reichte an den Flanken des Wolkensammlers hinauf, während sich etliche Tentakel um den Stamm wanden. Der Baum, das Schiff und der Wolkensammler, sie alle schienen einander zu durchdringen und zu einem großen Ganzen verschmolzen zu sein.

Er hatte keine Wahl, dachte Gonvalon bitter und legte Bidayn vorsichtig auf die dunkle Erde. Dabei beobachtete er misstrauisch das Wurzelwerk. Nichts regte sich. Nichts griff nach ihr. Bidayn war immer noch ohne Bewusstsein. Ihre Kleidung von Blut durchtränkt. Er fühlte ihren Puls. Kalte Wut stieg in ihm auf. Sie hätte nicht hier sein sollen! Bidayn fehlte eine grundlegende Voraussetzung, um eine Drachenelfe zu werden – die Fähigkeit, Feinde mit kaltem Herzen zu töten.

Verzweifelt blickte er zu Nandalee. Es war kalt. Kälter, als es selbst so weit im Himmel hätte sein sollen. Gonvalon konnte spüren, dass sie sich verändert hatte. Die feinen Haare in seinem Nacken richteten sich auf. Dieses Ding, das von ihr Besitz ergriffen hatte, schien an Macht zu gewinnen. Lag es an dem Baum oder an dem Unwetter, in dem die Urgewalten dieser fremden Welt entfesselt waren? Blitz auf Blitz peitschte vom Himmel herab. Immer näher beim Schiff. Das Donnergrollen ließ das Deck erbeben. Die Vögel oben im Baum waren verstummt.

Nandalee presste beide Hände gegen den dunklen Stamm. Ihre Lippen bewegten sich lautlos. Sie war völlig in sich versunken.

Besorgt blickte Gonvalon nach den Menschenkindern. Dann nahm er Nandalees Bogen. Er konnte damit nicht umgehen. Aber das wussten ihre Feinde ja nicht. Breitbeinig stellte er sich vor seine beiden Gefährtinnen. Einen Pfeil auf die Sehne gelegt, blickte er nach oben. Es schien zu wirken!

Rascheln lief durch das Blattwerk des Schiffsbaums. Ein Laut, zu intensiv selbst für den Sturmwind, der an dem riesigen Schiff zerrte. Es schien Gonvalon ganz so, als flüstere der Baum Nandalee etwas zu! Dumpfes Grollen drang aus dem Leib des Wolkensammlers. Dann ein lang gezogenes Zischen. Wie ein Warnlaut einer gereizten Schlange. Was tat Nandalee da?

»Du musst Bidayn helfen! Sie wird sterben. Bitte, Nandalee, komm zurück! Erinnere dich an deine Freundin. Bidayn!«

Die Jägerin wandte ihm den Kopf zu. In ihren Augen lag jener unheimliche grünliche Schimmer, den er schon einmal bemerkt hatte. Sie schüttelte den Kopf.

Die Planken des Decks knarrten. Eines der Menschenkinder stieß einen erschrockenen Ruf aus. Jetzt spürte es auch Gonvalon. Das riesige Schiff begann zu sinken! Schnell! Dabei driftete es mit dem Wind nach Norden ab.

Und Gonvalon verstand. Der Grüne Geist hatte ihn betrogen! Sie würden im grenzenlosen Wald zerschellen.

Der Beobachter

Der Ebermann lehnte an der Reling des Wolkenschiffes, das die kleine Luftflotte anführte. Am Bug blies der Wächter ein zweites Mal ins Horn und warnte die Schiffe, die einige Meilen voraus höher am Himmel schwebten. Die beiden Schiffe über ihnen liefen einen anderen Kurs. Offenbar trieben sie mit einer gegenläufigen Luftströmung.

Interessiert beobachtete der Ebermann, wie immer mehr Männer an Deck kamen. Für Handelsschiffe waren die drei Segler außergewöhnlich gut bemannt. Sie hatten ihn an Bord genommen, weil er ihnen Gold geboten hatte. Vor vier Tagen schon, als er in dichter besiedelte Gebiete gekommen war, hatte er die Gestalt eines hageren, kleinwüchsigen Händlers angenommen. Der Mann war ihm vor Jahren begegnet. Ein Temperamentbündel, immer gut aufgelegt und mit einem Selbstvertrauen, das in eklatantem Gegensatz zu seiner Körpergröße stand. Der Händler hatte ihn so sehr fasziniert, dass er ihn letztlich ermordet und ihn all seiner Erinnerungen beraubt hatte. Seither reiste er häufig in seiner Gestalt, wenn er sich unter Menschen bewegte. Der Devanthar liebte Gegensätze. Und gegensätzlicher konnte eine Gestalt kaum sein – verglichen mit dem Leib des großen Ebermannes, den er sonst so gerne wählte, wenn er sich in Fleisch kleidete.

Es war nicht zu übersehen, dass eine Schurkerei im Gange war. Männer bewaffneten sich mit Bogen und stiegen in die Takelage des Wolkenschiffs. Entlang der Reling wurden Enterhaken bereitgelegt. Unter dem Hauptdeck schütteten die Männer Sand aus Ballastkörben, damit das Wolkenschiff höher in den Himmel stieg.

»Gleich wirst du was erleben, Zwerg!«, raunte ihm ein großer, glatzköpfiger Krieger zu und schob ihn dann zur Seite, um das Seil eines Enterhakens an der Reling festzuknoten.

Der Ebermann konnte spüren, wie das Schiff höher stieg. Man wollte also den beiden anderen Wolkenschiffen den Weg verlegen. Das versprach eine nette Abwechslung auf dieser überaus langweiligen Reise zu werden. Er blickte zum dritten Wolkenschiff, das in der letzten halben Stunde etwas zurückgefallen war. Hoffentlich geschah den drei Elfen nichts. Er hatte sie auf dem Stapelhof beim Ankerturm eingeholt. Gerade als sie sich einschifften.

Zu nahe hatte er sich nicht an sie herangewagt, aus Angst, dass sie seine Anwesenheit spüren könnten. Alle drei waren mit Drachenschwertern bewaffnet. Diese Waffen konnten ihn verletzen, vielleicht sogar töten. Wenn er sie überwältigen wollte, musste er vorsichtig taktieren. Mithilfe von Magie hätte er sie wahrscheinlich leicht besiegen können, aber wenn er nur einen kleinen Fehler machte, war es vorbei. Dann würde er nicht herausbekommen, warum sie gekommen waren. Missmutig stocherte der Ebermann mit einem Fingernagel zwischen seinen fauligen Menschenzähnen, um ein Stück Trockenfleisch herauszuzupfen, das sich in sein Zahnfleisch gebohrt hatte. Diese Drachenelfen waren von ihren Herren darauf vorbereitet worden, den Devanthar in die Hände zu fallen. Man konnte ihnen nicht einfach ihre Gedanken stehlen – nicht einmal unter Folter redeten sie. Meistens begingen sie Selbstmord, bevor man ihrer habhaft werden konnte. Eine ärgerliche Brut war das! Aber wenn er sie von ferne beobachtete, würde ihm gewiss nicht lange verborgen bleiben, was das Ziel ihres Besuchs auf Nangog war.

Die Segel des Wolkenschiffs begannen im Wind zu schlagen, der massige Rumpf neigte sich ein wenig zur Seite und Tentakel glitten dicht an der Reling vorbei, als der Wolkensammler seinen Griff änderte. Irgendwo über ihm erklang ein zischendes Geräusch. Das Tier reagierte auf die veränderte Flughöhe. Schleim troff von seinem wulstigen Leib. Der Devanthar konnte spüren, dass der Wolkensammler erschrocken und aufgeregt war. Der Pulsschlag der sieben großen Herzen beschleunigte sich. Doch all dies interessierte den Devanthar nicht. Er hielt den Blick auf das dritte Wolkenschiff geheftet und je länger er es beobachtete, desto unruhiger wurde er. Es fiel weiter zurück und war schon zu weit entfernt, um noch irgendetwas an Deck erkennen zu können. Der Devanthar erwog, einen Zauber zu weben, verwarf den Gedanken aber wieder. Sollte einer der Elfen sein Verborgenes Auge geöffnet haben, würden sie bemerken, was er tat. Gewiss waren sie sehr vorsichtig. Was sie hier nur wollten? Soweit er wusste, waren seit dem Mordanschlag auf den unsterblichen Aaron keine Albenkinder mehr nach Nangog gekommen. Aber vielleicht war es ihnen nur entgangen. Vielleicht …

»Tut mir leid, Kleiner! Für das, was jetzt kommt, brauchen wir keine Zeugen.« Und mit diesen Worten packte der Glatzkopf ihn und warf ihn über Bord!

Das Ganze kam so überraschend, dass der Devanthar schon dem Wald entgegenstürzte, bevor er noch recht begriffen hatte, wie ihm geschah.

Ein Held, aus Flammen geboren

Hornbori hörte ein leises metallisches Singen. Die Arme des Geschützes mussten vorgeschnellt sein. Überall rings um ihn war Feuer. Der Windwurf brannte lichterloh. Er packte Galar, der leise vor sich hin fluchte.

»Wir müssen hier raus. Los, schnell!«

»Was ist mit Nyr?«

Hornbori blickte auf. Ihr Gefährte lag zusammengesunken auf seinem Geschütz. Rauch stieg aus seinen Kleidern auf.

»Nyr?«

Er regte sich nicht. Hornbori zog ihn zu sich heran. Gesicht und Hände des Geschützmeisters waren grausam verbrannt. Aber er atmete noch. Ein Lächeln spielte um seine aufgeplatzten Lippen. »Getroffen«, hauchte er. »Hab ihn … getroffen.«

»Trag ihn!«, rief Galar über das Fauchen der Flammen hinweg.

Voller Panik sah Hornbori sich um. Überall brannte das trockene Holz des Windwurfs. Selbst der Boden schwelte. Aus dem dicken Polster von Fichtennadeln stieg dichter weißer Rauch auf.

Galar wartete nicht ab, ob er ihm folgte. Der Schmied bückte sich unter einem Stamm hindurch und kroch davon. Er ließ ihn zurück! Einen Augenblick lang war Hornbori versucht, Nyr liegen zu lassen und sich auf eigene Faust einen Weg aus dem Flammenmeer zu suchen. Aber wenn Galar überlebte und begriff, dass er Nyr zurückgelassen hatte, würde dieser Irre ihn umbringen.

Er packte den Geschützmeister bei den Armen – die bis auf das nackte Fleisch verbrannten Hände wagte er nicht zu berühren – und zerrte ihn über den Boden. Mit einem scharfen Knall zerbarst ein brennender Baumstamm. Ein Funkenregen prasselte auf Hornbori hinab. Sein Bart! Hektisch schlug er auf einen Schwelbrand in seinem Haar. Er würde wie eine Jammergestalt aussehen, wenn er hier herauskam. Falls er herauskam.

Vor ihm erschien Galar im dichten Rauch. »Hier!«, stieß er hustend hervor. »Hier kommen wir heraus.« Der Schmied half ihm, den nunmehr bewusstlosen Nyr unter einem gestürzten Baum hindurchzuziehen.

Zweifelnd sah Hornbori sich um. Überall waren Flammen und Rauch. Der Schmied hatte sie in eine Sackgasse geführt! Es gab kein Entkommen. Sie würden hier verrecken. Die Erkenntnis, hier zu sterben, überkam Hornbori mit solch niederschmetternder Macht, dass er aufhörte, die Schwelbrände in seinem Bart auszuklopfen. Er würde sterben. Und er hatte seinen geflügelten Helm neben dem Geschütz liegen gelassen. Die Schwingen seines Ruhmes würden zu formlosen Goldklumpen zerschmelzen.

»Da geht es hinaus!« Hornbori deutete auf einen Baumstamm, der mitsamt seinen Wurzeln vom Sturm aus dem Erdreich gerissen worden war. Nahe beim Wurzelstock war ein knapp einen halben Schritt hoher Durchgang – doch diesen versperrte ein schlanker Fichtenstamm, der in Flammen stand.

»Da kommen wir niemals durch. Es ist aus«, schluchzte Hornbori.

»Reiß dich zusammen«, fuhr Galar ihn an. »Ich übernehme da kommen wir niemals hindurch und du trägst Nyr. Und du machst hurtig, verstanden.«

Galar ging auf den brennenden Stamm zu, als würde die Hitze ihm nichts anhaben können. Er war ja auch ein Schmied, dachte Hornbori. Er hatte sein ganzes Leben vor offenen Feuern verbracht. Galar warf sich auf den Boden und kroch unter den brennenden Fichtenstamm. Dort stemmte er sich langsam hoch. Sein Rücken drückte gegen den brennenden Stamm. Er ging in die Knie, drückte die Beine durch. Der Stamm hob sich um einige Handbreit. Funken prasselten herab. Galars Haar stand in Flammen.

»Gaff nicht, mach hin!« Blut quoll ihm über die Lippen.

Hornbori zerrte Nyr zu dem Durchlass. Die Hitze der Flammen versengte seine Augenbrauen und die letzten Reste seines ramponierten Bartes. Auf allen vieren kroch er unter dem Stamm hindurch und zerrte dann den Geschützmeister durch die Lücke in der Flammenwand.

Kaum waren sie hindurch, stieß Galar einen animalischen Schrei aus, brach unter dem Stamm zusammen und regte sich nicht mehr.

Hornbori kroch zurück. Er mochte den Schmied nicht sonderlich, aber er würde keinem Drachen den Triumph lassen, einen Zwerg gemordet zu haben. Außerdem brauchte er den Schmied noch!

Die Hitze beim Stamm war so groß, dass Hornbori nicht mehr zu atmen vermochte, ohne sich die Lungen zu verbrennen. Er zog Galar unter dem Stamm hervor. Dort, wo sein Gefährte von dem Baumsplitter getroffen worden war, sickerte Blut aus seinem abgewetzten Wams.

Immer abwechselnd trug er Nyr und Galar. Hinter dem Windwurf wucherte dichter Farn. Hier gab es kein trockenes Holz, das dem Feuer Nahrung lieferte – es sei denn, es griff auf die hohen, rotbraunen Fichtenstämme über. Funkenflug und Rauch begleiteten Hornbori. Sein Körper war eine einzige Wunde. Zumindest fühlte es sich so an. Seine Haut war gerötet, an manchen Stellen aufgeplatzt; die Kleider versengt und mit Ruß beschmiert. Einzig die Hand, mit der er in den Brei aus Drachenblut und Koboldkäse gegriffen hatte, war völlig unversehrt.

Galar und Nyr hatten all ihre Haare verloren. Ihre Köpfe glänzten rot und schwarz von Blut und Asche. Hornbori wagte es nicht, nach seinem Kopf zu tasten. Er ahnte, dass er nicht besser aussehen würde.

Sie mussten fort von den Bäumen, entschied er. Auf den Hang, an dem der Fressplatz des Drachen lag. Er ließ Nyr und Galar zwischen den hohen Farnwedeln verborgen zurück und pirschte bis zum Rand des Waldes. Der Drache lag keine zwanzig Schritt vor der Stellung ihrer Speerschleuder. Ein Bolzen war ihm durch das offene Maul gedrungen und dicht unter seinem Kopf wieder ausgetreten. Der Drache lebte noch. Mit seinen lächerlich kleinen Vorderbeinen versuchte er, den Bolzen aus seinem Schlund zu ziehen. Seine Bewegungen waren kraftlos und fahrig. Er war keine große Gefahr mehr und würde es nicht mehr lange machen, entschied Hornbori. Jetzt galt es, seine Kameraden zu retten. Ohne noch weiter auf seine Deckung zu achten, ging er in den Wald zurück, holte erst Nyr und dann Galar und bettete sie auf die Lichtung.

Der Drache wollte einfach nicht sterben! Jetzt versuchte er nicht mehr, den langen Bolzen zu packen zu bekommen. Stattdessen starrte er zu ihnen herüber. Seine Augenlider flatterten; hin und wieder zuckte sein schlangengleicher Schwanz. Je länger Hornbori den Drachen beobachtete, desto wütender wurde er. Diese Kreatur hatte seine Träume zu Asche verbrannt und seinen Flügelhelm vernichtet! Bartlos war er kein Held, sondern eine Witzfigur. Er würde niemals ein bedeutender Bergfürst werden.

Hornbori zog die kleine Handaxt aus seinem Gürtel. Entschlossen ging er auf den Drachen zu.

Wenn Ihr mir helft, werde ich Euch all Eure Träume erfüllen, erklang eine verlockende Stimme in seinem Kopf. In seinem Kopf! Sie war warm, diese Stimme. Der Drache sprach zu ihm! Das war erstaunlich, dachte Hornbori. Davon, dass Drachen sprechen konnten, hatte Galar ihm nichts erzählt. Und dann noch in seinem Kopf! Vielleicht wurde er ja verrückt – wer wusste das schon so genau? Wie gut, dass es keine Zeugen gab! Nyr und Galar waren noch immer bewusstlos – er konnte also getrost Antwort geben.

»Hältst du mich für dämlich? Jedes Kind weiß, dass man Drachen nicht vertrauen kann.« Entschlossen stapfte er weiter und achtete darauf, nicht in gerader Linie auf die Schnauze zuzumarschieren.

Ich kann den Kopf noch drehen. Während die Stimme sich erneut in seinen Kopf stahl, bewegte sich der Drache ein wenig.

»Ich habe gesehen, dass du den Kopf zurückbeugen musstest, um dein Feuer zu spucken. Ich glaube nicht, dass dir das gelingen wird, solange zehn Zoll Zwergenstahl aus deinem Genick ragen.«

Ihr möchtet König sein … Ich könnte Euch dabei helfen.

Hornbori lachte schrill auf – ein Laut, der selbst in seinen Ohren zum Fürchten klang. »Als hätte jemals ein Drache einen Zwerg auf einen Thron gesetzt. Das ist Unsinn!«

Seid Ihr Euch da ganz sicher?

Hornbori stand jetzt unmittelbar vor dem Ungeheuer. Der felsige Boden war durchtränkt von dunklem Drachenblut. Die Kreatur hob ihre zierliche Krallenhand, um ihn zurückzuhalten. Sie zitterte. Ein Amulett – eine Schneeflocke aus reinstem Bergkristall – hing an einem Lederriemchen vom schuppigen Handgelenk.

Wenn Ihr mich tötet, werden meine Brüder mich rächen. Sie werden schreckliches Leid über Euer Volk bringen. Ich bitte Euch …

Hornbori schlug mit der Axt nach der Klauenhand. Knochen splitterten. Ein Glied, das in einer dolchlangen Kralle endete, fiel zu Boden. »Du drohst mir, du bescheuerte Echse? Mich bedrohst du? Du wirst keinen Zwerg mehr ermorden. Mistvieh!«

Er schlug nach dem Kopf des Drachen, doch der Schädel war hart wie Stein. Dann duckte er sich unter dem klaffenden Kiefer hinweg und grub die Axt in das faltige Fleisch am Hals. Wieder und wieder schlug er zu. Wie ein Rasender. Die Stimme des Drachen drängte nicht mehr in seine Gedanken. Das Ungeheuer bewegte sich nicht mehr. Hornbori ließ die Axt sinken, weil seine Arme müde waren. Sein Zorn war noch lange nicht verraucht.

»Du bist Hornbori Drachentöter, nicht wahr?«

Der Zwerg fuhr herum. Hinter ihm standen zwei Zwerge in langen, rußgeschwärzten Kettenhemden. Voller Neid sah er, dass ihre Bärte nicht verbrannt waren. »Und wer seid ihr Trauerklöße? Ihr kommt spät! Die Drachenjagd ist vorüber.«

»Wir sind Leibwächter von Sviur«, sagte der kleinere von beiden.

»Ex-Leibwächter«, ergänzte der andere.

Hornbori blinzelte. Er war über und über mit Drachenblut besudelt, das ihm auch in die Augen rann. Mit einer fahrigen Geste fuhr er sich über die Stirn, um das Blut fortzuwischen, und bereute es sofort. Seine Haut war so verbrannt, dass selbst die leiseste Berührung brennende Schmerzen verursachte.

»Sviur ist tot«, sagte der kleinere der beiden Leibwächter und blickte zum Drachenmaul empor. »Ganz schön lange Zähne.«

Hornbori fühlte sich ein wenig schwindelig. Er lehnte sich gegen den Drachenkadaver. »Holt unsere Kameraden aus der Grotte! Und kümmert euch um meine Freunde dort drüben. Die hatten nicht so viel Glück wie ich.«

Die beiden Leibwächter nickten stumm, dann machten sie sich auf den Weg. Hornbori war überrascht, dass sie ihm ohne Widerspruch gehorchten. Genau genommen hatte er ihnen gar nichts zu sagen. Solchen Söldnern konnte man nicht trauen. Erstaunlich, dass sie ihm nicht die Kehle durchgeschnitten hatten, um den Ruhm, den Drachen getötet zu haben, für sich zu beanspruchen. Vielleicht verstrahlte er auch ohne Bart noch eine gewisse Autorität. Er lächelte. Sie hatten ihn Hornbori Drachentöter genannt. Vielleicht bestand trotz all der Toten auf dieser Jagd ja doch noch ein wenig Hoffnung, dass er eines Tages zum Fürsten einer der Tiefen Städte aufsteigen würde.

Zufrieden betrachtete er den toten Drachen. Dann schnitt er das Amulett von der Krallenhand. Dieses Beutestück sollte ihm ganz allein gehören! Ein Drachenamulett – das war genau das Richtige für einen Drachentöter.

Vom Wind der Freiheit

Artax beobachtete, wie die Enterhaken griffen und die Piraten die Seile straff zogen. Er stand hinter einer Luke im lang gestreckten Kajütenbau, der dicht vor dem Schiffsbaum lag. Der Raum roch nach Schweiß, ungewaschenen Kleidern und Waffenfett. Draußen goss es wie aus Kübeln. Der Wind hatte aufgefrischt und peitschte den Regen über Deck. Artax war überrascht, dass die Himmelspiraten bei diesem Sturm überhaupt ein Entermanöver wagten. Er kämpfte gegen seine Wut an. Die Drecksäcke hatten alles verdorben. Das Horn hatte das Nahen ihrer Schiffe angekündigt.

Anderseits – wären sie nicht gewesen, hätte das Unwetter sein Stelldichein mit Shaya beendet. Grelle Blitze zuckten über den Horizont und tauchten Deck und Takelage in blendend weißes Licht, um es einen Herzschlag später wieder der Finsternis zu überlassen. Die ersten Piraten kamen an Bord. Im Licht der Blitze sahen ihre Gesichter wie Masken aus. Ihre Bewegungen wirkten seltsam abgehackt.

»Werden sich erleben größte Überraschung von ihr Leben«, sagte Volodi in gewohnter Ignoranz jeglicher Grammatikregeln. Man hörte ihm die freudige Erwartung auf das kommende Gefecht an.

»Wir warten noch!«, sagte Artax entschieden.

Auch wenn niemand murrte, konnte er spüren, dass seine Entscheidung bei den Männern nicht gut ankam. Volodis Truppe aus Söldnern und Piraten war nicht die richtige Wahl für lange Reisen auf einem Wolkenschiff. Zwei Wochen, in denen sie kaum mehr hatten tun können, als auf die Landschaft unter sich zu blicken, waren ihnen nicht gut bekommen. Immer wieder hatten die Himmelshüter unter Jubas Kommando die Söldner trennen müssen, wenn sie wegen eines Würfelspiels oder irgendwelcher – tatsächlicher oder eingebildeter – Beleidigungen stritten. Sie sehnten einen Kampf herbei. Und sie waren sich völlig sicher, dass sie den Wolkenpiraten unendlich überlegen waren. Woher sie dieses Selbstbewusstsein nahmen, war Artax schleierhaft. Schließlich wussten sie so gut wie nichts über ihre Gegner.

Die Angreifer schwangen sich an Seilen auf ihr Schiff. Im Licht der Zwillingsmonde konnte Artax sie nicht ganz deutlich erkennen, doch die Trachten, die sie trugen, waren so verschieden, als stammten sie aus allen Weltengegenden.

Verwundert, auf keinerlei Widerstand zu stoßen, verharrten sie an Deck und sahen sich um. Ein hagerer Krieger deutete mit seiner Axt auf das Kajütenhaus. »Kommt heraus!«, rief er in der Sprache Luwiens. »Wer mit uns geht, wird eine Freiheit kennenlernen, von der er bislang noch nicht einmal zu träumen gewagt hat.« Der Mann hatte ein schmales, gut aussehendes Gesicht und dunkle Augen. Ein rotes Stirnband bändigte sein ergrauendes Haupthaar. Er trug keinen Bart, was Artax ein wenig befremdlich fand. Ebenso wie der Auftritt des Himmelspiraten. Dieses Angebot von Freiheit … Das war nicht, was er erwartet hatte. Darüber wollte er mehr wissen. Er hatte einen Verdacht, wer dort stand und die Angreifer anführte.

»Ihr bleibt noch hier«, sagte Artax zu Juba. »Ich regele das alleine.«

Der Kriegsmeister seufzte, sagte aber nichts.

Artax hatte, nachdem er vom Rücken des Wolkensammlers hinabgestiegen war, jene Rüstung angelegt, die ihn als einen Unsterblichen kenntlich machte. Den prächtigen Maskenhelm und Leinenpanzer, den angeblich keine Waffe zu durchdringen vermochte. Er trat auf das Hauptdeck. Noch immer war keiner der Angreifer in die lange Kajüte eingedrungen oder durch die Luken zu den Frachträumen hinabgestiegen. Niemanden an Deck zu sehen war ganz augenscheinlich eine Situation, die die Himmelspiraten verunsicherte.

»Und was geschieht mit denen, die deine Freiheit nicht wählen? « Artax’ Ohren dröhnten ihm von seiner Stimme, die blechern im Helm widerhallte.

»Wer bist du, Silberkopf?«, fragte der Bartlose mit dem roten Stirnband. Er hatte eine dunkle, sympathische Stimme. Ein Teil der Entermannschaft umringte ihn schützend.

Das selbstbewusste Auftreten des Anführers der Piraten ärgerte Artax. Erkannten sie denn nicht, wer er war? Auf der anderen Seite – wer sollte mit Unsterblichen auf einem heruntergekommenen Frachtschiff irgendwo über der Wildnis von Nangog rechnen? »Ich bin der, der hier über Leben und Tod entscheidet.« Ein Donnerschlag unterstrich seine Worte. Der Wind zerrte so stark an seinem Umhang, dass die Brosche unangenehm auf seinen Hals drückte.

Der Bartlose wirkte erstaunt. »Bist du ein Satrap?«

»Ich bin der Unsterbliche Aaron, Herrscher aller Schwarzköpfe. Und ich biete dir dein Leben, wenn du dein Schwert niederlegst. Sofort!«

Nur die Nächststehenden konnten ihn im Sturmgebrüll verstehen.

»Du bist ein Lügner«, entgegnete der Pirat selbstsicher.

Artax überging seine Worte. »Werde ich auch deinen Namen erfahren?«

»Ich bin Tarkon Eisenzunge, der Freiheitsbringer. Feind der Tyrannen und Unterdrücker. Und du bist ein toter Mann!« Mit diesen Worten griff er an.

Der Axthieb war von unten geführt. Artax versuchte auszuweichen, wurde jedoch an der Wange getroffen. Der Maskenhelm dröhnte, dass ihm die Ohren klangen. Über den metallischen Glockenlaut hinweg hörte er die Kriegsrufe seiner Kämpfer.

Artax sah die Panik in Tarkons Augen. Der Pirat hatte begriffen, dass er in eine Falle gegangen war. »Zurück, Männer! Zurück auf das Schiff! Und kappt die Enterseile!« Der Sturmwind war ein wenig abgeflaut und seine dunkle Stimme trug weit über Deck.

Artax setzte Tarkon Eisenzunge nach. Um seine Klinge ein unheimliches blassgrünes Licht. Es wirkte lebendig und pulsierte im gleichen Rhythmus wie sein Herz!

Tarkon stieß ein erschrockenes Keuchen aus. Geschickt wich er dem Schwert aus und verschaffte sich mit einem wuchtigen Axthieb Raum. Ein Pfeil traf den Unsterblichen in der Brust. Das Geschoss vermochte die Rüstung der Devanthar nicht zu durchdringen, doch der Aufprall ließ Artax zurücktaumeln. Weitere Pfeile gingen um ihn herum nieder.

»Packt den hier!«, schrie Tarkon, dem wohl klar geworden war, wie aussichtslos seine Sache war. »Packt ihn, und die anderen werden sich uns ergeben!«

Artax wich einem weiteren Axthieb aus. Er wollte Tarkon lebend! Wollte, dass aus dem Rebellenführer kein Märtyrer wurde. Schon als Bauer hatte er von Tarkon Eisenzunge gehört. Für manche war er ein Held, für andere ein blutdürstiger Irrer, der jeden Gefangenen, der ihm nicht die Treue geloben wollte, dem Wolkentod übergab. Artax war entschlossen, herauszufinden, was die Wahrheit war.

Weitere Piraten eilten an die Seite ihres Anführers, statt sich in die vermeintliche Sicherheit ihres Wolkenschiffes zu bringen.

»Werft ihn nieder! Bringt ihn nicht um!«, beschwor Tarkon seine Männer.

Artax wehrte einen wuchtigen Speerstoß ab, blockte mit der Armschiene einen Messerstich und stieß einem Piraten sein Schwert in den Oberschenkel. Ein weiterer Hieb traf den Maskenhelm. Sie wollten ihm wohl unbedingt den Schädel einschlagen! Artax schwang sein Schwert in weitem Kreis und spürte, dass er gleich mehrfach traf. Sehen konnte er es allerdings nicht. Grelle Lichter tanzten vor seinen Augen. Niemand griff ihn mehr an, stellte er mit Verwunderung fest. Ihm war übel. Er trat zurück. Seine Hand tastete nach hinten, bis er die Kajütenwand fand. Er musste sich daran lehnen, der Boden schwankte unter seinen Füßen – aber immerhin konnte er jetzt wieder klarer sehen, dachte Artax. Ein hünenhafter Krieger drosch auf Tarkon ein. Der Mann sah grässlich aus. Sein Gesicht war eine Maske aus Narben. Artax erinnerte sich an ihn. Er gehörte zu den Piraten. Zu seinen Piraten.

»Lass ihn …« Artax’ Stimme war kaum mehr als ein raues Flüstern. Zu spät. Der Angreifer rammte Tarkon sein Schwert in den Bauch. Eisenzunge entglitt die Axt. Er starrte den Narbigen an, der ihm einen Fuß auf die Brust setzte und sein Schwert mit einer leichten Drehung aus der Wunde zog.

Artax stöhnte auf, als sei er selbst getroffen worden. Er hatte das nicht gewollt! Er hatte mit Tarkon reden wollen! Immer noch benommen torkelte Artax über Deck, kniete sich neben den sterbenden Piraten und nahm seinen Helm ab.

Tarkon Eisenzunge atmete schwer. »Du hast verloren«, keuchte er.

Artax blickte über die Reling. Er sah, wie die Frachtklappen an der Seite des Schiffs der Ischkuzaia aufschwangen und die kleinen Wolkensammler herausschwärmten, die in Fluggeschirren die Himmelskrieger des Reitervolkes trugen. Sie schwangen Enterhaken und zogen sich zur Takelage des zweiten Wolkenseglers hinüber, während Bogenschützen ihnen vom Deck ihres Schiffes Deckung gaben. Es war der Kampf der Himmelspiraten, der verloren war.

Tarkons Züge waren entspannt. Er lächelte sogar!

»Hast du nicht gewusst, dass es so kommen musste? Warum hast du dich nicht ergeben?« Tarkon sterben zu sehen berührte ihn.

Der Himmelspirat lag im Lichtschein eines der Positionslichter. Die kleine Flamme hinter dem milchigen Glas ließ seine Züge weicher erscheinen. »Die Freiheit kann niemals verlieren. Sie wächst immer weiter«, flüsterte er.

Artax lächelte zynisch. »Welche Freiheit hatten die Wolkenschiffer, die deine Männer gefangen genommen haben?«

»Sie hatten die Wahl, Silberkopf. Die meisten sind mit uns gegangen. Und die anderen … Sie haben wenigstens die Wahl gehabt. Das ist mehr, als die Bauern in deinem Reich haben und all die anderen, denen die Geburt den Verlauf ihres Lebens bestimmt. Nangog ist eine neue Welt. Hier kann alles anders sein. Die alten Gesetze müssen hier nicht mehr gelten. Viele denken so …«

»Ich denke ebenso«, entgegnete er traurig. »Wir hätten die Welt gemeinsam verändern können.«

»Du musst einen Sterbenden nicht anlügen, Priestermörder. Einige deiner Tempeldiener haben Zuflucht bei mir gefunden. Sie haben mir viel über dich erzählt. Männer wie du können den Wind der Freiheit nicht ertragen, denn ihr wisst, dass er zu einem Sturm anwachsen wird, der euch aus euren Palästen fegt. Und ihr könnt ihn nicht aufhalten. Er wird kommen. Und mit uns kommen die Grünen Geister!«

Artax lachte auf. »Unmöglich! Die Grünen Geister paktieren mit niemandem!«

Tarkons Augen wurden weit, als blicke er dem Tod bereits ins Antlitz. Dennoch lächelte er. »In unserer Stadt gibt es Kinder! Ich habe zwei Söhne. Die Geister wissen, dass wir ihrer Welt nicht schaden. Wir sind nicht gierig … Wir haben unseren Frieden mit ihnen gemacht.«

Der Unsterbliche blickte auf die große Blutlache. »Du hättest mit mir reden sollen. Dann hättest du aus deinen Söhnen Männer werden sehen.«

»Nicht Männer – Sklaven. So wachsen sie in Freiheit auf. Wenn sie Männer sind, werden sie mein Geschenk zu schätzen wissen.«

»Wir werden eure Stadt finden«, sagte Artax mit Nachdruck. »Sag mir, wo sie ist. Ich kann deine Kinder beschützen. Andere werden mit Feuer und Schwert dorthin ziehen. Ich will das nicht. Ich komme mit ausgestreckter Hand. Ich wollte auch diesen Kampf nicht!«

Blut rann aus Tarkons Mundwinkel. »Und deshalb bist du mit zwei Schiffen voller Krieger gekommen? Aber unsere Stadt werdet ihr niemals finden! Eure Schiffe werden euch nicht dorthin tragen. Nie …« Seine Hände zitterten. »Ich bin jetzt wie du. Ein Unsterblicher. Ich bin ein Mann, der für seine Überzeugungen gestorben ist. Ein Held. Alle werden meinen Namen kennen. Alle! Und der Wind der Freiheit wird zu einem Sturm anwachsen. Einem Sturm … Ich sehe ihn. Er wird dich …« Seine Augen wurden weit. Er starrte in die Laterne. Der Sturm flaute ab. Die Zwillingsmonde traten hinter den Wolken hervor.

Artax drückte ihm sanft die Augen zu. »Du warst schon zu Lebzeiten unsterblich, auch wenn du es nicht sehen konntest.«

Erspar uns dein Pathos! Schneid ihm die Kehle durch. Er hat dir den Abend mit Shaya verdorben. Dieser Verwirrte hat Glück gehabt. Er hätte in der Goldenen Stadt öffentlich hingerichtet werden sollen. Einer wie er …

Etwas Fleischiges schnellte vom anderen Schiff herüber. Zwei Tentakelarme griffen nach Tarkon und hoben den sterbenden Piraten von Deck. Sein linker Arm schwenkte durch die Luft, sodass es aussah, als winke ihm Tarkon zu.

Eine unheimliche Veränderung ging mit den beiden Wolkensammlern, die die Schiffe von Tarkons Himmelspiraten trugen, vor sich. Dutzende Tentakel lösten ihren Griff von den Rümpfen und peitschten durch die Luft. Ein gebogener Stoßzahn traf einen von Jubas Himmelshütern mit solcher Wucht, dass dem Krieger ein Bein abgetrennt wurde. Andere Tentakel pflückten Shayas Reiter aus ihren Haltegeschirren und schleuderten die schreienden Krieger in die Tiefe.

»Durchtrennt die Enterseile«, schrie Artax und eilte zur Reling. »Bringt die Schiffe auseinander!« Mit einem einzigen wuchtigen Hieb durchtrennte er eines der Seile. Volodi kam ihm mit einer Axt zu Hilfe.

»Holt die Halteleinen ein«, rief Artax über den Kampflärm hinweg. Immer mehr Tentakel griffen sie an und ihre eigenen Schiffe unternahmen nichts, um sie zu verteidigen.

Ängstlich blickte er zu den Kriegern aus Ischkuza. Shaya war mit Sicherheit die Erste gewesen, die das Deck verlassen hatte, um das andere Piratenschiff zu entern. War sie in Sicherheit? Artax sprang auf einen der Masten, die waagerecht aus dem Schiffsrumpf ragten, und balancierte über das nasse Holz. Er sah sie nicht!

Hinter sich hörte er Volodi und Juba Befehle brüllen. Ihr Schiff begann vom Wolkenschiff der Piraten fortzudriften. Holz splitterte, wo sich Masten und Takelage ineinander verfangen hatten. Ein heftiger Schlag ließ den Mastbaum erzittern, auf dem Artax stand. Er griff nach einer Sicherungsleine, die parallel zum Mast lief. Ihr Segler begann zu steigen.

Gellende Schreie hallten durch die Nacht. Die Tentakel des Wolkenschiffes packten seine Männer und schleuderten sie in die Tiefe. Einige Fangarme wanden sich um die Masten. Als wollten sie sein Schiff zurückhalten. Andere hieben auf die Segel und die Takelage ein. Tuchfetzen flatterten wie geisterhafte Vögel in die Dunkelheit davon. Artax duckte sich unter einem Tentakelhieb. Verzweifelt blickte er in die Tiefe zum Wolkenschiff der Ischkuzaia und versuchte Shaya in dem Durcheinander der kleinen Wolkensammler zu entdecken. Deutlich konnte er das Surren der Seiltrommeln hören, mit denen die Halteleinen eingeholt wurden. Hoffentlich hatten sie Shaya zurückgeholt. Hoffentlich …

Entsetzt sah er, wie sich die Flanke des Wolkensammlers, der sein eigenes Schiff angriff, öffnete. Ein fleischiger Mund klaffte plötzlich dort, wo eben nur schleimbedeckte Haut gewesen war. Dutzende kleinerer Fangarme wogten um die Öffnung, als tanzten sie nach einer für Menschen unhörbaren Melodie. Was bei den Göttern geschah dort?

Tarkon wurde zu dem Mund emporgehoben. Ein geisterhaft grünes Licht umfing ihn, als er in den Schlund geschoben wurde. Es war kein gieriges Schlingen. So befremdlich die Szenerie auch war, wirkte sie feierlich, friedlich. Artax hatte das Gefühl, Zeuge zu sein, wie ein toter Herrscher bestattet wurde.

Ein Tentakel, der sich kaum einen Schritt entfernt um den Mast schlang, schreckte ihn auf. Das Holz erzitterte unter der Zugkraft des Fangarms.

Ja, geh hin, bekämpfe ihn, raunte die Stimme in seinen Gedanken und Artax wusste, dass es kein guter Rat war. Dennoch hob er sein Schwert. Seine Linke umklammerte die Sicherungsleine. Zoll um Zoll schob er sich auf dem nassen Holz vorwärts. Der Mast unter ihm knirschte immer bedrohlicher. Kurz dachte er an einen Bogen, der gespannt wurde.

Mit aller Kraft stieß er zu. Die magische Klinge durchdrang den Fangarm und stieß bis ins Mastholz hinab. Der Tentakel zuckte und wand sich, sodass die Wunde noch größer wurde. Das Fleisch des Wolkensammlers warf Blasen, als würde es mit einem glühenden Eisen verbrannt. Zäher schwarzer Rauch strömte aus der Wunde. Schließlich kam der Fangarm frei. Er schnellte zurück. Der Wolkensammler zog all seine Tentakel zurück. Dabei stieß er ein leises, aber durchdringendes Zischen aus.

Das Himmelsschiff der Piraten sackte tiefer, als gäbe der Wolkensammler sich größte Mühe, aus Artax’ Reichweite zu gelangen. War es die Magie seiner Waffe, die dieses gewaltige Ungeheuer bezwungen hatte? Sprachlos blickte Artax dem schwindenden Wolkenschiff nach.

Shayas Schiff war immer noch in einen verzweifelten Kampf verwickelt. Die meisten der kleinen Wolkensammler, die Krieger zum Entermanöver getragen hatten, waren eingeholt worden. Einige klammerten sich seitlich an den Leib der riesigen Kreatur, die das Schiff trug. Etliche Fangarme des Piratenschiffes griffen in die offenen Frachträume, aus denen die kleinen Flieger aufgestiegen waren, und Artax sah, wie Wolkenschiffer in die Tiefe geschleudert wurden. Nirgends vermochte er Shaya zu entdecken. Die Takelage ihres Schiffes hing in Fetzen. Von den acht Hauptmasten waren drei zersplittert. Ihr Schiff würde vollständig zerstört werden, wenn er nichts unternahm.

Ein verzweifelter Gedanke keimte in ihm. Vielleicht könnte er ja auch das zweite Schiff vertreiben, wenn es ihm nur gelingen würde, einen der Tentakel anzugreifen? Er kletterte weiter den Mast entlang, duckte sich unter schlagenden Segelfetzen hinweg und ließ dabei keinen Herzschlag lang Shayas Schiff aus den Augen. Es glitt unter seinem Wolkenschiff hinweg, während sein Schiff immer höher stieg. Artax schob sein Schwert in die Scheide. Es war nicht gut hinabzublicken. Es war so entsetzlich tief. Sein Mut sank. Er dachte an all die wunderbaren Stunden, die er mit Shaya verbracht hatte. An seine Träume, sie eines Tages in seinen Palast zu holen.

Genau, wir finden auch, wenn du ihr nicht zu Hilfe eilst, verrätst du all deine Ideale.

Auf diese innere Stimme zu hören war falsch. Artax wusste das genau. Aaron und die anderen hofften auf seinen Tod. Sie wollten ihn dazu aufstacheln, eine Dummheit zu begehen. Doch dieses eine Mal hatten sie fast recht. Er würde zwar nicht seine Ideale, dafür aber seine Träume verraten, wenn er nicht alles wagte. Er musste Shaya finden! Vielleicht lag sie längst zerschmettert im Urwald tausend Schritt unter ihnen, doch auch wenn die Hoffnung noch so gering war – er musste es wagen, es zumindest versuchen. Oder er würde nie mehr in seinem Leben Frieden finden. Jetzt!, dachte er.

Mit einem verzweifelten Schrei sprang Artax in die Tiefe.

Sein Sturz schien endlos zu währen. Waren es fünfzig Schritt? Oder mehr? Er schlug auf die Oberseite des Wolkensammlers auf. Das aufgedunsene Gewebe gab unter ihm nach. Es war, als schlage man mit der Faust auf einen halb vollen Weinschlauch, nur dass die Haut des Wolkensammlers viel weicher und nachgiebiger als Leder war.

Bitterer Schleim drang ihm in Mund und Nase. Er prustete und spuckte. Benommen kämpfte Artax sich hoch. Ihm zitterten die Knie, doch die Sorge um Shaya peitschte ihn voran. Er tastete nach einer der Sicherungsleinen, die sich wie ein großes Netz über die Oberseite des Wolkensammlers spannten. Immer noch würgte er Schleim heraus, als er eines der Seile fand. Geduckt, eine Hand immer am Seil, eilte er zur Flanke der riesigen Kreatur. Zwar hatten seine heimlichen Treffen mit Shaya seine Fähigkeiten als tollkühner Kletterer zwischen Himmel und Erde deutlich verbessert, doch Regen und Schleim machten es schwer, einen sicheren Halt zu finden. Dennoch zögerte er keinen Herzschlag, sich entlang der Flanke des Wolkensammlers abzuseilen.

In fliegender Hast, stieß er sich mit den Füßen ab, während er tiefer und tiefer am Seil entlangrutschte. Endlich konnte er in die Takelage einsteigen. Er fand eines der Sicherungsseile und glitt daran hinab. Obwohl der Hanf nass war, schnitt er ihm in die Handflächen.

Das ganze Wolkenschiff erbebte unter den Tentakelhieben des Piratenseglers. Segelzeug stürzte neben ihm in die Tiefe. Plötzlich begann das Seil, an dem er hing, zu pendeln. Es musste irgendwo unter ihm zerrissen sein.

Das Deck war nicht mehr allzu fern. Von Sorge getrieben, wagte er den Sprung. Er kam hart auf. Sein rechter Fuß knickte um. Sengender Schmerz brannte in seinem Knöchel. Das Schwert wie eine Krücke benutzend, stemmte er sich hoch. Ein Tentakelhieb zerschmetterte die Reling neben ihm. Er zog blank, taumelte über das bebende Deck – und kam zu spät. Der Fangarm war wieder in der Dunkelheit verschwunden. Warum wehrten sich ihre eigenen Wolkensammler nicht? Warum ließen sie zu, dass die Schiffe, die sie so viele Jahre durch die Himmel Nangogs getragen hatten, unter ihnen zerschmettert wurden? Was hatten er und seine Männer getan, die sonst so friedlichen Himmelswanderer zu solcher Raserei zu treiben? Beschützten diese Kreaturen etwa Tarkons Piraten?

Ein wütender Schrei schreckte ihn auf. Eine Stimme, die er unter Tausenden erkannt hätte. Shaya! Der Schrei kam von irgendwo weiter vorne, wo das Deck des Wolkensammlers in Trümmern lag.

Er stürmte vorwärts, jeder Schritt ein flammender Schmerz. Zerschlagene Planken schwankten unter seinen Schritten. Durch die klaffenden Lücken blickte er hinab in den Frachtraum. Junge Wolkensammler drängten sich dort.

Artax hastete weiter, bis er eine weite Lücke im Deck erreichte. Er konnte die Tentakelarme sehen, die unter ihm wüteten. Jene Arme mit den gebogenen Elfenbeinzähnen an ihren Enden.

Artax fand eine Öffnung, die groß genug war, um hindurchzuschlüpfen. Wieder hörte er ihre Stimme. Etwas traf auf Metall und ein Laut wie ein Gongschlag hallte durch das Schiff. Die jungen Wolkensammler stießen ein ängstliches Zischen aus. Rauch stieg vom Frachtraum auf. Ein Feuer musste ausgebrochen sein.

Artax sprang durch die Lücke. Er prallte auf einen der Wolkensammler – ein Tier, groß wie ein Elefant –, glitt seitlich ab und knickte ein, weil ihn sein verstauchter Knöchel nicht mehr tragen wollte. Im selben Augenblick schoss ein langer Tentakel über ihn hinweg und verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Artax riss sein Schwert aus der Scheide. Die kleineren Wolkensammler um ihn herum gaben zischende Laute von sich und wichen zurück, doch der Tentakel, der ihn so knapp verfehlt hatte, bog sich über ihm auf, wie eine Schlange, die eine Maus gestellt hatte. Blut troff von dem gekrümmten Zahn am Ende des Fangarms. Artax versuchte sich hochzustemmen, knickte jedoch sofort wieder ein.

»Komm her«, schrie er dem Tentakel trotzig entgegen, als könne dieser ihn verstehen.

Was hältst du davon, die Waffe deines Gegners mit deinem Körper zu fangen?, höhnte Aaron.

Der Tentakel wand sich hin und her. Bereit, jeden Augenblick zuzustoßen. Zwischen den kleineren Wolkensammlern hindurch sah Artax Shaya. Umringt von einigen ihrer Krieger, stand sie mit dem Rücken gegen eine Holzwand und versuchte sich der angreifenden Tentakel zu erwehren. Einige ihrer Männer trugen runde Bronzeschilde, doch vermochten diese vor den wuchtigen Angriffen des Ungeheuers nicht wirklich zu schützen.

Artax griff nach den herabhängenden Tentakeln eines der kleinen Wolkensammler. Gleichzeitig hob er sein Schwert und berührte mit der flachen Seite die Flanke des Tieres. Die Kreatur zuckte empor und riss ihn hoch. So auf die Beine gekommen, hieb er nach dem großen Tentakel. Die Klinge schnitt durch den beindicken Greifarm. Polternd schlug der mörderische Stoßzahn auf das Deck. Das grüne Leuchten um seine Klinge wallte auf und füllte einen Moment lang das Frachtdeck.

Der Angriff auf Shayas Schiff endete augenblicklich. Die Fangarme zogen sich zurück. Es war vorüber. Sie fürchteten sein Schwert, dachte Artax überrascht. Würde er von einem Grünen Geist beschützt? Gewiss nicht!

Artax ließ den kleinen Wolkensammler los und glitt zu Boden. Wieder benutzte er sein Schwert als Krücke und hinkte zur Rückwand des Frachtraums. Shaya sah aus wie eine Furie. Ihr Schuppenpanzer war über und über mit Blut besudelt. Sie hielt ihre Dornaxt erhoben, als rechne sie jeden Augenblick mit einem neuen Angriff. Um sie herum lagen die Krieger ihrer Leibwache. Faustgroße Löcher waren durch die Bronzeschilde einiger der Toten gestoßen. Zwischen ihnen lagen drei abgetrennte Fangarme.

»Es ist vorüber«, sagte Artax mit rauer Stimme.

Shaya sah ihn mit wildem Blick an. Zwei … drei Herzschläge vergingen, bis sie einen Seufzer ausstieß und ihre Waffe sinken ließ. »Was ist da geschehen? Noch nie hat ein Wolkensammler in einen Kampf eingegriffen. Nie!«

Auch Artax wusste keine Antwort.

»Wir steigen. Kannst du es fühlen? Die Wolkenschiffe haben sich getrennt. Es ist wirklich vorbei.« Sie nahm ihn in die Arme und küsste ihn. Vor aller Augen!

»Dir geht es gut?«, hauchte er.

»Ich bin unverletzt«, entgegnete sie knapp. Auf dem Weg zur offenen Frachtluke in der Bordwand zog sie seinen Arm über ihre Schulter und stützte ihn.

Die beiden Wolkenschiffe der Piraten lagen bereits mehr als hundert Schritt unter ihnen und sie stiegen schnell höher. Eine breite Wolkenbank zog auf die beiden Sichelmonde zu. Böiger Wind heulte um das Schiff. Eine neue Sturmfront zog herauf. Doch das Wetter machte Artax keine Sorgen. Nie zuvor hatte er erlebt, dass ein Wolkenschiff so schnell in den Himmel gestiegen war. Ein ungutes Gefühl überkam ihn.

»Du bist wie ein Held aus den Märchen meiner Kindheit. Kommst und rettest deine Geliebte vor dem grässlichen Ungeheuer. « Sie küsste ihn erneut. Länger, leidenschaftlicher jetzt. »Nichts wird uns mehr trennen«, sagte sie voller Euphorie. »Die Götter sind uns gnädig!«

Artax schwieg. An gnädige Götter glaubte er nicht mehr.

Der in den Sternen liest

Schwerer Regen hatte eingesetzt. Immer noch kauerte Nandalee neben dem Schiffsbaum. Die Himmelspiraten hatten sich aus der Takelage zurückgezogen und waren irgendwo im Schiffsbauch verschwunden. Gonvalon hatte nicht das Gefühl, dass von ihnen noch eine Gefahr ausging. Der Ausgang ihres Kampfes war sehr eindeutig gewesen. Dennoch blieb er wachsam, aber viel mehr beunruhigte ihn, was Nandalee – oder besser gesagt, das Ding in ihr – tat.

Die Lippen der Elfe bewegten sich unablässig, ohne dass ein Laut zu hören war. Sie hielt die Hände fest gegen den Stamm des Schiffsbaums gepresst. Das Krachen von splitterndem Holz mischte sich unter das beständige Rauschen des Regens. Die Doppelmonde waren längst hinter den Regenwolken verschwunden. Jenseits der Lichtkreise der Positionslampen des Schiffes herrschte schwärzeste Nacht. Aber Gonvalon hatte fühlen können, wie das Schiff immer tiefer gesunken war. Plötzlich gerieten die riesigen Tentakelarme in Bewegung, schwangen an der Reling vorbei, krümmten sich und griffen ins Leere.

Nandalee sprang abrupt auf. Gleichzeitig kam der Wolkensegler mit einem Ruck zum Stillstand. Gonvalon strauchelte, aber Nandalee blieb einfach stehen, als habe sie genau gewusst, was kommen würde. »Wir gehen«, sagte sie mit ihrer unheimlichen veränderten Stimme. »Nimm Bidayn und gib mir meinen Bogen.«

Gonvalon sah sie fragend an. »Wohin gehen wir?«

»Zur großen Mutter«, antwortete sie, als sei damit alles gesagt. Nandalee nahm ihm den Bogen aus der Hand und trat an die Reling.

Gonvalon beugte sich zu Bidayn. Er hatte sie mit seinem Umhang zugedeckt. Das war alles, was er für sie hatte tun können. Er versuchte sie aufzunehmen. Es gab einen Widerstand, als würde sie festgehalten, dann erklang ein leises, trockenes Knacken.

Er tastete über ihren Rücken. Etwas Hölzernes ragte aus ihrer Wunde! Das konnte nicht sein! Niemals hätte er einen so großen Splitter vom Pfeilschaft übersehen! Vorsichtig brachte er sie in eine sitzende Position, um sich Bidayns Rücken ansehen zu können.

Etwas Kugeliges ragte aus der Wunde, das aussah, wie ein knorriges Stück Wurzelholz! Eine helle Bruchstelle entsprach einem hellen Fleck auf den Planken des Schiffes.

Gonvalon spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Bidayns Albtraum, der sie verfolgt hatte, seit sie die Toten im Holzfällerlager entdeckt hatten, war Wirklichkeit geworden! Wurzeln waren in sie hineingewachsen!

Ungläubig tastete Gonvalon über die Wunde. Er konnte das Wurzelwerk unter der Haut der Elfe spüren! Er strich über die Stelle über der Hüfte, wo die Eintrittswunde lag. Auch dort Wurzeln! Hier lagen sie sogar auf der Haut Bidayns!

»Sie wäre längst tot, wenn ich ihr nicht geholfen hätte«, sprach die fremde Stimme aus Nandalees Mund. »Die Wurzeln haben alle feinen Gefäße abgeschnürt und so die Blutungen gestillt. Sie haben ihr das Leben gerettet.«

Das mochte stimmen, dennoch war Gonvalon entsetzt. »Warum hast du nichts …«

»Gesagt? Und dann? Was hätte es genutzt? Du hättest protestiert, ohne zu wissen, wogegen du dich empörst, Elf. Was weißt du schon von dieser Welt!«

»Ich habe Menschenkinder gesehen, die von Baumwurzeln getötet worden sind.« Er dachte an Matha Naht. Nie wieder würde er Bäume für harmlos halten!

Sie lächelte. »Wenn du der großen Mutter begegnest, wirst du verstehen.« Ein Tentakelarm schwang über die Reling und legte sich um ihre Hüften. »Komm! Der in den Sternen liest wird uns auf den Waldboden hinabsetzen.«

»Der in den Sternen liest?«

»Eine ziemlich kümmerliche Übersetzung in deine Sprache, ich weiß. Jetzt komm, wir müssen uns beeilen! Menschenkinder und ein Devanthar verfolgen uns. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.« Sie wurde vom Deck gehoben und ein zweiter Tentakel streckte sich in Gonvalons Richtung. Der Fangarm mündete in ein breites, abgeflachtes Ende. Er verharrte ein Stück vor ihm. Schleim troff von der zähen, rötlichen Haut.

Der Elf blickte zu dem riesigen, aufgedunsenen Leib, der über ihm den Blick auf den Nachthimmel versperrte. Der in den Sternen liest? Wer hatte sich wohl solch einen Namen für diese Kreatur ausgedacht?

Vorsichtig hob er Bidayn auf und machte einen Schritt auf den Tentakel zu. Der Fangarm des Himmelsgeschöpfes schlang sich um seine Hüften. Die Kreatur hielt ihn fest gepackt. Es wäre ihr sicherlich ein Leichtes, ihn zu zerquetschen! Doch der Wolkensammler setzte seine Kraft behutsam ein und hielt ihn gerade so fest, dass er nicht rutschte. Mit einem kraftvollen Schwung wurden er und Bidayn über die Reling gehoben. In atemberaubendem Tempo schossen sie zwischen mächtigen Ästen hinab, ohne dabei einen einzigen zu berühren. Regen prasselte auf das dichte Blätterdach. Nach wie vor konnte Gonvalon kaum einen Schritt weit sehen.

Er wurde auf schlammigem Waldboden abgesetzt. Nandalee kauerte auf einer Wurzel, die dick wie ein Pferdeleib war. Wieder hielt sie ihre beiden Hände gegen das Holz gepresst.

Der nasse Boden atmete dichten Nebel aus. Gonvalon spürte den Wald ringsherum mehr, als dass er ihn sah. Einen Wald aus uralten Bäumen. Ein Stück entfernt glitt ein geisterhaftes grünes Licht durch den Nebel, wie eine Forelle, die dicht unter der Oberfläche eines Teichs dahineilte.

Es wurde kälter. In seinen Armen seufzte Bidayn im Schlaf.

Nandalee wirkte alarmiert. »Schnell«, sagte sie mit einem Anflug von Panik in der Stimme. »Er ist wieder wach. Er wird nicht lange brauchen, um hierherzugelangen!«

Schmerzen

Der Devanthar erwachte und sogleich flutete der erlesene Schmerz, der ihm zuvor das Bewusstsein geraubt haben musste, seine Sinne. Noch immer steckte er in dem Körper des kleinwüchsigen Händlers. Dieser verdammte Pirat hatte ihn wirklich überrascht. Ihn einfach über Bord zu werfen!

Er versuchte sich aufzurichten, gab aber sofort wieder auf. Der Schmerz war zu übermächtig. Ein Ast hatte seine rechte Achselhöhle durchstoßen, war unter seinem Schulterblatt entlanggeschrammt und dann irgendwo aus seinem Rücken ausgetreten. Ob er hätte sterben können?

Eigentlich war ein solcher Sturz kein Problem, wenn er vorbereitet war. Er hätte sich in einen Vogel verwandeln oder einfach wie eine Feder schweben können. Es hätte tausend Möglichkeiten gegeben – und genau das war ihm zum Verhängnis geworden. Man musste einen Plan haben. Er war überrascht worden. Einige kostbare Augenblicke waren verstrichen, weil er nicht hatte fassen können, was geschehen war. Und dann hatte ihn Panik erfasst. Es war ein neues, überraschendes Gefühl gewesen. Zum allerersten Mal in seinem Leben hatte er dem Tod ins Antlitz geblickt. Er war sich nicht sicher gewesen, ob er sterben würde, wenn der Körper, den er sich erwählt hatte, völlig zerstört würde. Mit aller Deutlichkeit erinnerte er sich an seine beschämend konfusen Gedanken. Er hatte sich in einen Vogel verwandeln wollen, den Zauber aber nach nur einem Atemzug wieder abgebrochen, als ihm klar wurde, dass ihm nicht genug Zeit bleiben würde, ihn zu vollenden. Eine Transformation dauerte, aber das Wolkenschiff war nicht viel mehr als tausend Schritt über dem Wald geflogen. Er hätte die Verwandlung nicht rechtzeitig abschließen können. Das Grün des Laubdachs war rasend schnell näher gekommen. Zu viele Gedanken gleichzeitig hatten ihn daran gehindert, eine klare Entscheidung zu treffen. Dann endlich hatte er ein Wort der Macht gesprochen. Es hatte die Luft um sich zusammengezogen, sie dichter gemacht und so seinen Fall gebremst. Dann war er durch das Laubdach des Waldes gebrochen, Äste hatten den zerbrechlichen Menschenleib gepeitscht. Er hatte versuchte, den Fall zu kontrollieren, mit den Füßen voran aufzukommen … Dann war ihm der Ast durch die Achsel gestoßen.

Verschwommen erinnerte er sich noch an den Aufschlag auf den Waldboden. Daran, wie die Knochen seiner Beine wie trockenes Reisig gesplittert waren.

Wieder versuchte er sich zu bewegen. Unmöglich. Die kleinste Bewegung büßte er mit flammendem Schmerz. Er musste diesen geschundenen Leib heilen, bevor er von hier fortkonnte.

Regen prasselte ihm ins Gesicht. Der Himmel hatte sich zugezogen. Die Zwillingsmonde waren hinter Wolken verschwunden. Wie viel Zeit mochte verstrichen sein, seit er gestürzt war? Soweit er das durch das dichte Laubdach erkennen konnte, waren die Wolkenschiffe verschwunden und mit dem Wind weitergezogen.

Er konzentrierte sich auf das rechte Bein. Kraft seines Willens bewegte er die Knochensplitter im geschundenen Fleisch. Der Schmerz brachte ihn erneut an den Rand einer Ohnmacht. Splitter fügten sich wieder zusammen, verwuchsen zu einem Ganzen. Ihm kam es wie eine Ewigkeit vor. Dann heilte er sein linkes Bein. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich auf den zerbrechlichen Menschenkörper, suchte nach weiteren Verletzungen, renkte ausgekugelte Gelenke ein. Dann zog er den Ast aus der Achsel.

Er machte seinem Schmerz mit einem Schrei Luft. Ließ ihn aus sich herausfließen. Endlich konnte er sich aufrichten! Ein machtvoller Gedanke setzte eine weitere Verwandlung in Gang – er würde den schwächlichen Menschenleib abstreifen. Wieder zum Ebermann werden. Und dann würde er jagen! Er hatte die drei Elfen lange genug beobachtet. Jetzt würde er sie sich holen. Und zumindest eines der Albenkinder würde er an den Schmerzen teilhaben lassen, die er erlitten hatte. Vielleicht den Mann. Wenn die beiden Weiber sahen, was seine Krallenhände vollbringen konnten, dann würden sie reden! Sie würden ihm alles erzählen!

Ruhm

Galar saß mit dem Rücken gegen ein Fass voller Drachenblut gelehnt und war zufrieden. Er war völlig zerschlagen, konnte aus eigener Kraft kein Glied mehr rühren. Auch hatte er viel Blut verloren und so, wie es sich anfühlte, hatte er mindestens eine Rippe gebrochen. Aber er hatte gesiegt! Seine Vision, einen wahrlich großen Drachen zu erlegen, war Wirklichkeit geworden. Er hatte seinem ganzen Volk bewiesen, dass Zwerge sich nicht tief unter den Bergen verkriechen mussten, um der Tyrannei der Drachen zu entfliehen. Sie konnten sich erheben und die selbstherrlichen Himmelswächter stürzen.

Dutzende Fleischhauer waren damit beschäftigt, den Drachen zu zerlegen. Er war zu groß, um alles mitzunehmen, aber auch so würde es genügen, um jeden, der an dieser Jagd teilgenommen hatte, reich zu machen. Aus diesen Drachenzähnen könnte man Königszepter schnitzen. Die Schuppen für Prunkrüstungen verwenden. Dolche aus Drachenkrallen, Pfeifenrohre aus den dünnen Flügelknochen. Es gab unzählige Möglichkeiten, den Kadaver zu verwerten. Aus dem Drachenfleisch und -blut würde er die Zauberkraft des Drachen herausdestillieren. Und aus seinem Gehirn.

Galar schnippte nach einem der Träger. »Bring mir ein Pilz! Das Drachenjagen macht durstig.«

»Arbeiten auch«, murrte der Angesprochene, machte sich aber auf den Weg zu dem Fass, das nahe dem Kadaver aufgebockt stand.

Galar hatte gehört, dass Sviur beim Angriff des Drachen umgekommen war. Ein Verlust, der ihn nicht traurig stimmte. Dieser verdammte Narr hätte sie mit seiner Schreierei im Wald fast alle umgebracht. Das Schicksal hatte Sinn für Humor, überlegte Galar gut aufgelegt. Sviur hatte immer schon ein großes Maul gehabt. Das hatte ihn letztlich umgebracht.

Sein Pilz kam. Galar konnte den Humpen mit seinen verbrannten Händen kaum halten, aber er riss sich zusammen. Jammern war nicht seine Art. Er blickte zu Nyr. Der Geschützmeister lag ein Stück den Hang hinab auf einer Trage. Es stand schlecht um ihn. Niemand konnte sagen, ob er die nächsten Stunden überleben würde. Sein Gesicht war übel verbrannt. Was für ein Kerl! Nicht einmal sengender Drachenodem hatte ihn davon abhalten können, den perfekten Augenblick für seinen Schuss abzuwarten. Er sollte die Goldenen Schwingen tragen, nicht Hornbori.

Galar legte den Kopf in den Nacken und sah den treibenden Wolken zu. Würde es eine Zeit geben, in der der Himmel frei von Drachen war? Eine Zeit der Freiheit für alle Völker Albenmarks? Mit einem gerechten Herrscher? Natürlich müsste das ein Zwerg sein. Keines der anderen Völker hatte einen so ausgeprägten Sinn für Recht und Ordnung.

»Wenn ich es dir doch sage. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie er den Drachen nur mit einer Handaxt besiegt hat!«

Galars Tagträume zerstoben. Er drehte sich um. Ein Krieger in einem rußgeschwärzten Kettenhemd redete auf den Träger ein, der ihm eben erst das Pilz gebracht hatte.

»Sieh mich an. Ich habe an Hornboris Seite gekämpft. Aber gegen ihn bin ich nur ein kleines Licht. Der fürchtet gar nichts. Sein Blut ist wie Eis, obwohl er zum Berserker werden kann, wenn man ihn reizt.«

Galar traute seinen Ohren nicht. Wie konnten sie die Wahrheit so schnell so gründlich verzerren? Hornbori und Blut wie Eis? Das war lächerlich. Hätte er den Mistkerl nicht gepackt, wäre er in den Wald stiften gegangen, als der Drache sie angriff.

»Ich sag dir«, fuhr der Aufschneider fort, »einem wie Hornbori und seinen beiden Gehilfen würde ich bis in den Jadegarten folgen, um dort den eingebildeten Regenbogenschlangen in ihren Drachenarsch zu treten, dass die sich an ihrem eigenen Feuerodem verschlucken.«

Gehilfe! Galar traute seinen Ohren nicht. Hornbori hatte es also geschafft. Er war auch aus dieser Sache herausgekommen. Wahrscheinlich würden seine Taten bald auf den großen Steinstelen in den Königshallen verewigt werden. Und wenn er und Nyr viel Glück hatten, würde man ihrer beider Namen als Gehilfen des ruhmreichen Hornbori Drachentöter erwähnen.

Galar nahm einen tiefen Schluck Pilz. Es war müßig, dagegen anzukämpfen. Irgendwie hatte Hornbori es geschafft, den Ruhm des Tages allein zu ernten. Wenn er dagegen aufbegehrte und versuchte die Wahrheit zu verbreiten, würde man ihn vermutlich für einen Aufschneider halten. Galar nahm noch einen weiteren Schluck, und als er den Humpen geleert hatte, schaffte er es sogar, sich ein fatalistisches Lächeln abzuringen. Das Schicksal hatte in der Tat Sinn für Humor – und es liebte offensichtlich, Gecken zu Helden zu machen.

Unter dem Schiffsbaum

Artax fror jämmerlich. Er hatte sich eine Decke um die Schultern geschlungen und blickte auf die düsteren Wolkenbänke hinab, die unter ihnen dahintrieben. Das Wolkenschiff war durch die Ausläufer der Sturmfront hindurch immer höher gestiegen.

Sein Herz schlug so schnell, als sei er ein weites Stück Weg gelaufen, sein Atem ging keuchend, und bohrende Kopfschmerzen quälten ihn. Er sah auf ein Gewitter hinab. Die Wolken unter ihm erstrahlten immer wieder in gleißendem Licht. Deutlich konnte er die gezackten Arme erkennen, die hinab zum Wald griffen. Götterarme, dachte er. Und er stand nun über den Göttern.

Artax schüttelte den Kopf. Nein, dachte er, er stand sicherlich nicht über den Göttern, denn er fühlte sich durch und durch menschlich. Ihm war übel vor Schmerz und sein Kopf fühlte sich an, als wolle er zerplatzen. Als seien die Gedanken, die ihn bewegten, zu groß für ihn.

Einer von Shayas Kriegern torkelte an ihm vorüber und erbrach sich über die Reling. Es war bereits der dritte, seit sie durch die Wolkendecke gestoßen waren. Die Erkenntnis, dass die Wolkensammler sich gegen sie wenden konnten, machte sie krank, dachte Artax. Diese Krieger mussten sich ihren Wolkensammlern bedingungslos anvertrauen. Wie sollten sie sich noch hinaus in den Himmel wagen, wenn sie befürchten mussten, dass die Tentakel, die sie halten sollten, sich um ihren Hals legen könnten, um sie zu strangulieren?

Artax verschränkte seine Finger ineinander, hob sie vor den Mund und blies seinen warmen Atem zwischen die Handflächen. Was für eine Kälte! Wie hoch sie wohl waren?

Ein Blitzschlag erleuchtete die Wolken. Er konnte stumm bis fünf zählen, bevor der Donner zu ihm heraufklang. Kurz stellte er sich vor, auf den dunklen Wolken unter sich zu wandern. Über den Blitzen. Wie es wohl war, auf die Wolken zu fallen? Je länger er hinabblickte, desto verlockender erschien ihm die Vorstellung. Er würde die Arme ausbreiten, als sei er ein Adler. Vielleicht könnte man auf einem Blitz reiten, wenn er es schaffte, einen zu packen zu bekommen? Er beugte sich weit über die Reling. Konnte man vorher erkennen, an welcher Stelle ein Blitz aufflammen würde? Sammelte sich vielleicht Sternenlicht, um dann vom Himmel zu fahren?

Ein Schatten trat neben ihn. »Wir sind nur noch siebenunddreißig«, sagte Shaya mit belegter Stimme. »Siebenunddreißig von achtundachtzig. Und wir haben unseren Lotsen verloren. Die Glaskanzel ist nur noch ein Scherbenhaufen. Die Tentakel haben sogar ihn angegriffen.« Sie seufzte. Aus den Augenwinkeln sah Artax, wie sie sich mit der Hand über die Stirn fuhr.

»Kopfschmerzen?«

»Ja«, stieß sie gepresst hervor. »Wie noch nie in meinem Leben. Mir wird immer wieder schwindelig, und mein Atem pfeift, als sei ich ein altes, zahnloses Weib. Außerdem beißt mir die Kälte bis ins Mark der Knochen. Wir sollten nach drinnen gehen, zu den anderen. Ich habe einige Feuerschalen aufstellen lassen. Dort ist es warm.«

Artax blickte zu den Doppelmonden, die ihm in dieser Nacht zum Greifen nahe erschienen. Ein Stück voraus flog das zweite Wolkenschiff. Wie es seiner Mannschaft wohl ergangen war? Er schluckte. Es knackte in seinen Ohren und einen Augenblick lang ließ der Kopfschmerz nach. In dieser Nacht würden sie nicht mehr viel unternehmen können. Vielleicht kamen sich die beiden Wolkenschiffe ja morgen nahe genug, dass man sich Schleppleinen zuwerfen konnte.

Er war müde, wäre aber dennoch gerne länger mit Shaya an Deck geblieben. Flüchtig berührten seine Fingerspitzen ihre Hand. Sie ergriff seine Hand. Drückte sie fest. Auch wenn sie ihm im Frachtraum geschworen hatte, dass sie sich nie mehr trennen würden, wussten sie beide, dass dies nicht Wirklichkeit werden konnte. Sie konnten nicht gegen die Gesetze der Götter aufbegehren. Alles was blieb, waren ein paar gestohlene Stunden. Nichts hatte sich geändert – und doch war alles anders. Sie hatte ihn ihren Märchenprinzen genannt! Sie hatte ihn geküsst. Vor den Augen der anderen. Sie liebte ihn, das wusste er jetzt. Und sie lebte! Er hatte sie gerettet. Er hatte es wirklich geschafft. Stumm hoffte er, dass es mehr als ein paar Stunden waren, die er ihr geschenkt hatte.

Artax spürte, wie sie zitterte. Es war so kalt, dass ihnen der Atem in dichten weißen Wolken vor dem Mund stand. Sie musste ins Warme, auch wenn sie es nicht wollte. Dort war keine Nähe mehr möglich. Sie durften sich nicht noch einmal gehen lassen. Nicht vor so vielen Zeugen.

Kurz entschlossen zog er sie an sich und stahl ihr einen Kuss. Sie hielt ihn fest, erwiderte seinen Kuss, so leidenschaftlich und verzweifelt, als wäre sie sich sicher, dass es das letzte Mal war, dass sie einander in den Armen lagen. Plötzlich musste sie husten, löste sich, krümmte sich und hielt dabei immer noch fest seine Hand.

»Wir sollten hineingehen«, sagte er leise.

Sie nickte. Tränen standen in ihren Augen. Es war das erste Mal, dass er sie weinen sah.

Shaya bemerkte, wie er sie anblickte, und wischte sich mit der freien Hand über das Gesicht. »Der Husten«, entgegnete sie mit kratziger Stimme, die die Wahrheit nicht zu verbergen vermochte. »Nur der Husten.«

»Natürlich.« Er drückte noch einmal ihre Hand. Dann musste er sie loslassen. Sie betraten die enge Stiege, die hinab in den Rumpf des Wolkenschiffes führte. Hier herrschte überall Platzmangel. Mit seinem Palastschiff hatte dieser Frachter wenig gemein. Sein Hauptzweck bestand darin, möglichst viele Waren fassen zu können. Artax war zuvor nie zu Besuch auf diesem Schiff gewesen, aber er unterstellte, dass es ganz ähnlich gebaut sein würde wie jenes, auf dem er reiste.

Sein verstauchter Fuß schmerzte bei jedem Schritt, doch er biss die Zähne zusammen und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Vom Ende der Treppe drang mattgelbes Licht aus einer Hornlaterne herauf. Die Wände waren mit Ruß bemalt – wandernde Herden in weiten Graslandschaften; ein stilisierter Adler, allein im Himmel; ein Steppenreiter, der über die Körper erschlagener Feinde hinwegpreschte.

Am Ende der Treppe schob Shaya eine Tür auf. Sie zwängten sich durch einen engen Gang, bis sie an eine weitere Tür gelangten, die ganz in Rot und Gold bemalt war. Verschlungene Schriftzeichen wanden sich über das Holz. Shaya schob ihn durch einen Vorhang aus Perlschnüren und Artax war überrascht, wie groß die Kammer war, die sie betraten. Trotz der Feuerschalen, die aufgestellt waren, roch es ein wenig feucht und muffig.

In der Mitte der Kammer erhob sich ein Pfahl aus dem Holzboden. Bunte Tuchstreifen waren darum gewickelt und er wurde von einem bemalten Pferdeschädel gekrönt. Ringsherum kauerten die überlebenden Wolkenschiffer und Krieger. Sie wirkten apathisch, einige summten einen monotonen Kehrreim. Unmittelbar vor dem Pfahl kauerte ein grauhaariger Mann und streute Weihrauchklümpchen in eine Kupferschale. Artax kam das alles beklemmend vertraut vor. Er blickte zur Decke hinauf. Sie war ganz und gar von dichtem Wurzelwerk überwuchert!

»Wo sind wir hier?«

»Unter dem Schiffsbaum. Hier sind uns unsere Götter nah und unsere Ahnen.«

Artax blickte zum Perlvorhang zurück, dann zu dem Pferdeschädel und erneut zur Decke. Es war wie auf dem Todesschiff! Kleiner, weniger prächtig, aber ansonsten war es gleich.

»Wir werden hier sterben«, keuchte er, und ein Schmerz fuhr durch seinen Kopf, als habe man ihm einen glühenden Dolch ins Auge gestoßen. »Der Saal voller Toter. Das alles war wie hier!«

»Aber was sollte uns hier denn umbringen?«, wandte Shaya ärgerlich ein. »Unsere Ahnen und Götter wachen hier über uns.«

»Geht es dir etwa gut? Hast du nicht auch diese Kopfschmerzen? Verspürst du keine Übelkeit?« Artax’ Herz schlug so wild, dass er das Gefühl hatte, es müsse jeden Augenblick zerspringen. Sein Atem ging keuchend. Langsam wich er zu dem Perlvorhang zurück. »Wir müssen fort von hier, oder wir alle werden sterben!«

Shaya lächelte traurig. »Wohin willst du denn gehen? Wir schweben drei- oder viertausend Schritt über dem Wald. Wir können uns hier oben nur dem Schutz durch unsere Geister anvertrauen. «

Artax sah sie fassungslos an. Offenbar hatte sie nicht verstanden. Es gab keine schützenden Geister für sie. Nicht auf Nangog. Er hatte all das schon einmal gesehen und wusste, hier erwartete sie der Tod.

Die Höhle

Gonvalon stand der Atem vor dem Mund. Als die Sonne unterging, war es noch nicht Winter gewesen, doch jetzt sah er an einigen der alten Bäume Eiskristalle wuchern. Lichter wanderten durch den Nebel. Mal waren sie fern, gerade eben noch zu erkennen, dann wieder kamen sie bis auf wenige Schritt heran.

Nandalee eilte ihnen schweigend voraus. Es gab nur wenig Unterholz. Die dichten Baumkronen erstickten jeden Bewuchs am Waldboden. Jedenfalls soweit er das in dem Nebel sehen konnte. Der weiße Dunst reichte ihm bis über die Hüften. Alles hier erinnerte ihn an Matha Naht. Nur die Lichter … Wieder sah er eines ganz nah durch den Nebel gleiten. Er empfand Kälte. So plötzlich und stark, dass es fast wie eine Berührung war. Unter seinen Füßen spürte er dichtes Wurzelwerk. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sich die Wurzeln streckten oder seinen Tritten auswichen. Als wollten sie ihm den Weg erleichtern.

Über ihnen dröhnte das Laubdach vom Regen. Das Wasser verteilte sich ungleichmäßig auf dem Weg nach unten. Dicht bei den Stämmen blieb der Boden fast trocken, an anderen Orten stürzte es in Kaskaden hinab. Alles hier atmete Fremdartigkeit. Gonvalon hatte das beklemmende Gefühl, dass alles, was er sah, miteinander verbunden war. Und es beobachtete ihn. Die Bäume … und noch etwas, für das er keinen Namen hatte. Etwas, das so machtvoll war, dass es Wurzeln bewegte und den Lauf des Wassers von ungezählten Regentropfen lenkte. Er konnte diese Macht spüren. Mit jedem Schritt, den er tat, wurde sie präsenter.

Wieder glitt ein grünes Licht ganz nah durch den Nebel. Etwa auf Höhe seiner Knie. Gonvalons Atem ging stoßweise und jede Faser seines Körpers war angespannt. Er wusste nicht, wie er sich gegen die Gefahr verteidigen sollte, die immer greifbarer wurde. Er trug Bidayn auf seinen Schultern. Sie kam ihm leicht wie eine Feder vor. Immer noch war sie ohne Bewusstsein doch manchmal stöhnte sie. Der Marsch schadete ihr. Wieder dachte Gonvalon an das Wurzelgeflecht, das in sie eingedrungen war, um angeblich ihre Blutung zu stillen. Ihn schauderte bei dem Gedanken. Hoffentlich erreichten sie bald ihr Ziel, was immer es auch sein mochte.

»Wie lange müssen wir noch gehen? Bidayn braucht eine Rast.«

Nandalee antwortete nicht. Sie wirkte gehetzt. Die grünen Lichter umringten sie jetzt in weitem Kreis. Mindestens acht! Umzingelten diese Kreaturen sie? Oder wollten sie sie vor etwas schützen?

Es ging einen Hang hinab. Der Boden war schlüpfrig vom Regen. Gonvalon kam nur langsam voran. Nandalee fluchte. Immer wieder blickte sie zu ihm zurück.

Irgendwo im Dunkel ertönte ein Schrei. Ein Laut, wie ihn der Elf noch nie zuvor gehört hatte. Ein Tier war das nicht! Plötzlich durchschnitt gleißend helles Licht den Nebel. Wie tausend strahlende Finger tastete es durch die Dunkelheit und zerteilte die wogenden Dunstschwaden, bewegte sich und füllte den Wald mit unheimlichen Schatten. Es war zu hell, um direkt hineinzuschauen – und es schien aus dem Abhang zu kommen. Nandalee stürmte den Hang hinauf und nahm ihm Bidayn von den Schultern. »Schnell jetzt!«

Die verwundete Zauberweberin stöhnte.

»Halt dich an meinem Arm fest und schließ die Augen. Wenn du in das Licht schaust, wirst du erblinden!« Die Fremdheit ihrer Stimme überraschte ihn immer aufs Neue. Ihre Worte klangen rau und waren von einem bizarren Akzent durchdrungen. Ihn überfiel die Vorstellung, wie die fremde Kreatur immer tiefer in Nandalee drang, sich in ihrem Wesen verwurzelte, ähnlich den Wurzeln, die ganz stofflich in Bidayns Wunde gedrungen waren. Folgte ihnen wirklich ein Devanthar, so wie der Grüne Geist behauptet hatte? Das Ding, das Nandalee besessen hatte, hatte Angst – so viel stand außer Zweifel. Aber war ihr Verfolger wirklich ein Devanthar? Ein Weltenschöpfer, so wie die Alben? Ganz gleich, was es war – es war klüger, nicht zurückzufallen. Offenbar gab es ja Hoffnung, an einen Ort zu gelangen, an dem ihr Verfolger ihnen nichts anhaben konnte.

Gonvalon folgte Nandalee mit geschlossenen Augen. Jetzt spürte er gar keine Wurzeln mehr unter den Sohlen, obwohl die Bäume hier am Hang dicht an dicht gestanden hatten. Ringsherum hörte er das Holz knistern und knacken. Das war die Kälte, sagte er sich. Nur die Kälte …

Er trat auf Felsboden. Das Licht war so intensiv, dass er es auf seinem Gesicht fühlen konnte. Etwas glitt nahe an ihm vorbei. Er musste an die unheimlichen Grünen Geister denken.

»Du kannst die Augen wieder öffnen.«

Gonvalon tat wie ihm geheißen und fand sich in einer Höhle, wie er noch keine gesehen hatte. Die Wände waren ganz und gar mit grünen Kristallen bedeckt. In Form achteckiger Stäbe wuchsen sie aus dem Fels, manche dicker als sein Oberschenkel, andere nicht einmal so groß wie ein Finger. So dicht wucherten sie, dass an Wänden und Boden kein Stück Gestein mehr zu entdecken war, und sie alle glommen in unstet pulsierendem Licht. In der Mitte der Höhle wuchs eine riesige Kristallsäule aus dem Boden. Sie ragte schräg empor, so massig, dass er und Nandalee sie mit ausgestreckten Armen nicht hätten umfassen können.

Die Jägerin bettete Bidayn vor der Säule auf den Boden, nahm die Arme ihrer Freundin und streckte diese am Kopf vorbei, sodass Bidayns Hände den Kristall berührten. Dann blickte sie zu Gonvalon auf. »Leg dich hin wie sie.«

»Warum? Was wird hier mit uns geschehen?«

»Tu es einfach. Bitte. Jetzt ist nicht die Zeit für kleinliches Misstrauen. Er ist schon sehr nahe. Er darf euch nicht finden! Wir müssen uns beeilen. Ich gebe nun den Leib deiner Geliebten auf. Bitte vertrau mir. Ich weiß, dass ihr hierhergekommen seid, um diese Welt zu erfahren. Du wirst alles sehen können. Mehr, als du in Jahrzehnten des Reisens hättest entdecken können. Du musst mir vertrauen. Ich will dir nichts Böses. Im Gegenteil! Ihr seid unsere Hoffnung.«

Gonvalon vertraute dem Licht nicht. Es war zu fremd. Unmöglich einzuschätzen, ob es ihn belog oder die Wahrheit sagte.

Plötzlich verdrehte Nandalee die Augen, bis fast nur noch das Weiße zu sehen war. Grünes Licht von beängstigend dichter Konsistenz quoll aus ihrem Mund!

Die Jägerin schwankte, dann starrte sie ihn an. Wie irre. Ihre Augen huschten rastlos. Schrecken spiegelte sich in ihrem Gesicht. »Wo bin ich?«

Er nahm sie mit beiden Händen. Irgendwo draußen erklang der Schrei, den er im Wald schon einmal gehört hatte. Nur näher jetzt. Vielleicht gab es gar keine Gefahr? Vielleicht war es eine Täuschung durch die Grünen Geister, um sie unter Druck zu setzen und zu einer falschen Entscheidung zu verleiten? Aber als er Nandalee hielt und sie zurückbekommen hatte, entschied der Fechtmeister, den Geistern Nangogs zu glauben.

»Wir müssen uns zu dem Kristall legen. Ganz so, wie Bidayn dort liegt. Später werde ich dir alles erklären. Vertrau mir.«

Nandalee wirkte immer noch verstört, doch dann lächelte sie ihn scheu an. »Ist er weg? Heraus aus mir?«

Gonvalon nickte. »Komm, lass es uns versuchen …«

Die Jägerin blickte zu ihrer Freundin. »Was ist mit ihr?«

»Später.« Gonvalon kniete nieder und sie tat es ihm gleich. Seine Angst überspielte er mit einem Lächeln. Sie würden den Grünen Geistern nicht entkommen können. Es blieb ihnen kein anderer Weg, als zu vertrauen.

Das Licht in den Kristallen an den Wänden wurde blasser. Gonvalon legte sich hin und spürte, wie seine Handflächen nass vor Schweiß wurden. Auf der Kristallsäule erschienen kreisrunde Lichtflecken, wanderten unruhig über die Oberfläche und dann entwuchsen ihnen tanzende Lichtbogen. Wie Schlangen wanden sie sich und unterschieden sich gänzlich vom Sonnenlicht, das pfeilgerade vom Himmel stieß. Ein leises Summen begleitete die Erscheinung, und die Kristallhöhle füllte sich mit einem Geruch, als sei ganz in der Nähe ein Blitz eingeschlagen.

Seine Lider wurden ihm schwer. Er presste die Hände gegen den Kristall. Gleißend grünes Licht durchdrang ihn. Zerschmolz ihn. Verwandelte ihn selbst in grünes Licht. Und dann stürzte er, gebettet in einen Lichtstrahl, durch eine weite Finsternis.

Wolkentod

Sie folgten ihm. Wenigstens ein Teil von ihnen. Zweiunddreißig der Ischkuzai vertrauten sich ihm an. Vor allem aber Shaya. Er sah ihr ihre Angst und ihr Misstrauen an. Sie hatten die kleinen Wolkenfänger im Frachtraum bereitgemacht. Drei würden ohne einen Reiter in den Himmel stürzen. Die Tiere waren ebenso unruhig wie sie. Ob Wolkensammler die Gefühle von Menschen spüren konnten?

»Bist du wirklich sicher, dass du das Richtige tust?«, flüsterte Shaya.

»Ich bin sicher, dass wir sterben werden, wenn wir auf dem Schiff bleiben«, antwortete er. Er wich ihr aus, und sie wusste es.

»Unsere Wolkensammler sind zu klein, um zwei Männer zu tragen.« Sie blickte durch das offene Frachtluk zu dem Schiff, das vor ihnen am Himmel trieb. Im klaren Mondlicht war es deutlich zu sehen und schien zum Greifen nahe.

»Ich kann meine Männer nicht im Stich lassen. Wir müssen es versuchen. Wir werden die Gewichte ausgleichen. Die Rüstungen müssen zurückbleiben. Wir hängen immer einen großen und einen kleinen Mann in ein Tragegeschirr.«

Sie schüttelte den Kopf, dann grinste sie verschlagen. »Komm bloß nicht auf die Idee, Kolja an mich zu hängen!«

Er lachte leise. »Ganz sicher nicht.«

»Was werden wir tun, wenn es dort oben mehr Männer als Plätze in den Tragegurten gibt?«

Er hatte das bereits bedacht, aber darüber wollte er nicht reden. Nicht jetzt und nicht mit ihr. Er wusste, dass sie seine Lösung nicht mögen würde. »Sie haben genauso hart gekämpft wie ihr. Ich fürchte, dass es nicht viele Überlebende gibt.« Er trat an die Schwelle der Frachtluke. Eisiger Wind zupfte an seinen Kleidern und linderte die stechenden Schmerzen in seinem Kopf ein wenig. Sie alle waren mit einer langen Leine miteinander verbunden. Nur der Letzte, der abspringen würde, hatte eine Sicherungsleine zum Schiff. Artax wusste, dass die meisten der Ischkuzaia Angst vor diesem Sprung hatten. Er sollte nicht länger zögern. Sie taten das Richtige!

Er tat den letzten Schritt und vertraute sein Leben dem Himmel an. Es gab einen Ruck im Gurtzeug. Die Tentakel des Wolkenfängers bewegten sich unter seinen Achseln. Er hasste es, die schleimbedeckten Fangarme zu spüren und sich diesen Kreaturen anzuvertrauen. Vor allem nach dem völlig überraschenden Angriff der Wolkensammler. Aber sie hatten keine Wahl.

Einer nach dem anderen sprangen die Ischkuzaia in den Himmel. Die Führungsleine hielt sie zusammen. Wie eine Perlschnur aus Wolkensammlern stiegen sie in den Himmel hinauf, seinem Schiff entgegen.

Artax hechelte wie ein Hund. Egal wie viel er atmete, er hatte ständig das Gefühl, dass ihm die Luft ausging. Er blickte hinab. Fünf Schritt hinter ihm, als nächste an der Leine, hing Shaya. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, ihr Antlitz eine Grimasse des Schmerzes. Diese verfluchten Kopfschmerzen! Waren sie denn alle krank geworden? Er konnte sich nicht erklären, woher die Schmerzen kamen. Es musste irgendeine Art Seuche sein. Hatten die Piraten sie mit irgendetwas krank gemacht?

»Heho!«

Artax entdeckte eine Gestalt an der äußersten Mastspitze seines Schiffes. Ein stämmiger Kerl ohne Haare. Kolja! Der hünenhafte Drusnier ließ ein Seil kreisen und beobachtete ihren Aufstieg. Eine sanfte Brise trieb sie nach Osten ab. Wenn sie nichts unternahmen, würden sie das Wolkenschiff verfehlen und immer höher in den Himmel hinauf steigen. Einige der Krieger aus Ischkuzaia hielten kleine Wurfanker bereit.

Kolja wandte sich von ihnen ab, doch seine Stimme war weit über den Himmel zu hören. »Sieht sich aus, als hat dich gemacht Nacht eine reiche Mann, Juba. Er ist sich lebendig!«

Artax seufzte. Diese Bastarde. Wie es schien, hatten seine Söldner Wetten über seinen Tod abgeschlossen.

Kolja warf ihm das Seil zu. Erst beim dritten Versuch bekam er es zu packen und der Drusnier zog sie zum Schiff herüber. Noch bevor er den Mast erreichte, sah Artax einen stämmigen, schwarzbärtigen Krieger durch die Takelage klettern. Juba.

Der Kriegsmeister drängte Kolja zur Seite und bestand darauf, ihn persönlich zum Mast hinaufzuziehen. »Du lebst!«, keuchte er, außer sich vor Freunde. »Du lebst!« Tränen standen ihm in den Augen.

Artax war gerührt. »Ich bringe euch nach unten«, versprach er. »Wie viele leben noch?«

»Es war schlimm.« Juba machte Platz, damit er an ihm vorbeikam und über den waagerechten Mast zum Hauptdeck gelangen konnte. »Wir sind noch neunundvierzig.« Der Kriegsmeister sprach abgehackt und keuchend, als habe die Schlacht um das Schiff gerade erst ein Ende gefunden.

Artax schloss die Augen und hielt einen Moment lang inne. Das Rechnen fiel ihm schwer, und dreimal überprüfte er das Ergebnis. Es gab mehr Überlebende, als er erwartet hatte, und das war kein Segen. Noch einmal rechnete er. Dann schickte er Juba in die Kajüte.

Als er das Hauptdeck erreichte, erwarteten ihn hoffnungsfrohe Gesichter. Auch die, die vielleicht ihr letztes Hemd bei den Wetten gegen ihn verloren hatten, strahlten. Sie erwarteten, dass er sie retten würde. Er war der Unsterbliche, der Herrscher aller Schwarzköpfe, ein Gott unter Menschen.

Volodi war da. Mitja mit seiner jungen Tochter. Nabor, der alte Lotse. Ein ganzer Trupp seiner Himmelshüter hatte überlebt. In ihren verbeulten Brustpanzern und zerfetzten weißen Umhängen erschienen sie ihm stolzer als je zuvor.

Artax grüßte einige der Männer mit Namen. Krieger, Söldner und auch einfache Wolkenschiffer. Während der letzten beiden Wochen hatte er es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, jeden Tag zehn Namen zu lernen. Er wollte wissen, wer ihm diente und wer für ihn sein Leben wagte. Mehr als die Hälfte der Überlebenden an Deck kannte er, zumindest namentlich.

Artax hockte sich neben Nabor. Der Lotse war sichtlich am Ende seiner Kräfte, hielt den Mund weit offen und wirkte wie ein sterbender Fisch am Ufer. »Was geht hier vor, Nabor? Was geschieht mit uns?«

»Wir sind in den höheren Himmel aufgestiegen.« Nabor brauchte nach jedem einzelnen Wort eine Pause, in der er um Atem rang. »Dies ist ein Ort für Götter. Menschen können hier nicht leben.«

Das konnte nicht stimmen, dachte Artax. »Dann wären die Wolkensammler ja Götter …«

»Weißt du, dass sie es nicht sind?«

Das wollte er nicht glauben! Diese tumben Kreaturen sollten Götter sein? Das war völlig absurd. Artax erhob sich und musste sich an der Reling aufstützen, als ihn starker Schwindel erfasste. Ununterbrochen hämmerte ein dumpfer, quälender Schmerz in seinem Kopf. Das einzig Gute daran war, dass der Schmerz die Stimme Aarons zum Verstummen gebracht hatte. Juba kehrte zurück und Artax sah ihm an, dass sein Kriegsmeister wusste, was kommen würde.

»Ihr dürft das nicht tun, Erhabener.«

»Du sprichst mich nicht mehr mit dem Du an?«

Juba wirkte verwirrt. Er hatte einen kleinen Kupfertopf geholt, ganz wie Artax es ihm aufgetragen hatte.

»Als du mich an Bord willkommen geheißen hast, hast du mich geduzt.« Artax lächelte. »Das hat gut getan.«

»Ich kann … Das war die Freude. Vor all den anderen ist das Du nicht angemessen.« Er stockte. Als er weitersprach, war seine Stimme ein Flüstern. »Ich bitte Euch, Erhabener – tut es nicht.« Er schüttelte den Topf und Artax hörte es darinnen klappern. Er war sich sicher, dass Juba seinen Befehl ausgeführt hatte.

»Ich stehe nicht über allen Menschen, mein Freund. Wir alle hier an Bord sind gleich.«

»Das ist doch Unsinn!«, brauste Juba auf, so laut, dass man zu ihnen hinübersah. »Ihr seid auserwählt. Ich sehe, welchen Kampf Ihr kämpft, Erhabener. Wie Ihr Aram besser machen wollt. Das Leben der Menschen, aller Menschen, erleichtern wollt. Der Himmelssturz hat Euch verändert. Die Götter müssen Euch erleuchtet haben. Es gab nie zuvor einen Herrscher wie Euch. Ihr müsst gerettet werden.«

Artax nahm den Topf. »Wenn die Götter mich beschützen, dann bin ich doch gewiss nicht in Gefahr. Und wenn ich umgekehrt nun von allen verlange, was ich selbst nicht zu geben bereit bin, dann ist mein Werk vielleicht nicht zerstört, aber ich habe meine Glaubwürdigkeit verloren. Ich muss es tun! Vergib mir, mein Freund.«

Nabor sah sie beide verwirrt an. Ihm war nicht klar, was kommen würde.

Artax richtete sich auf, hielt den Topf hoch und legte all seine verbliebene Kraft in seine Stimme. »Wir müssen dieses Schiff verlassen. Etwas hier macht uns krank, und es wird uns töten. Es gibt nur eine Hoffnung – wir müssen auf den Erdboden zurückkehren. Wir sind keine Geschöpfe des Himmels, und wir sind an einen Ort gelangt, der uns nicht bestimmt ist. Ich kann euch nicht versprechen, dass wir alle unbeschadet davonkommen werden. Aber ich habe Hoffnung. Die Ischkuzaia, die mit ihren kleinen Wolkensammlern zu unserem Schiff aufgestiegen sind, erwarten uns. Jeder von ihnen wird einen von euch in sein Fluggeschirr nehmen. Die Last wird zu schwer sein für die kleinen Wolkensammler. Sie werden der Erde entgegenstürzen. Aber wenn wir Glück haben, wird es ein langsamer Sturz sein und wir überleben. Hier an Bord des Himmelsschiffes brauchen wir auf kein Glück mehr zu hoffen. Hier werden wir sterben.«

Die Männer starrten ihn an. Die meisten hatten nicht verstanden, wovon er sprach. Einige wirkten apathisch. Die Ankündigung, dass sie vielleicht sterben würden, hatte kaum Wirkung auf sie. Nur Mitja, der Dolmetscher, hatte seine Tochter in den Arm genommen und drückte sie an sich.

»Es gibt nicht für jeden von uns einen Platz in den Fluggeschirren. Einige werden zurückbleiben.« Artax schüttelte den Topf, dass es leise klapperte. Er hörte das Geräusch kaum. Übelkeit überrollte ihn und er schwankte einen Augenblick. Er musste sich zusammenreißen! Jetzt durfte er sich nicht gehen lassen. »Die Ischkuzaia sind mit fünfunddreißig Wolkensammlern gekommen. Drei haben keinen Reiter, ein vierter hat mich getragen. Das heißt, für unser Schiff wird es siebenunddreißig Plätze für neunundvierzig Überlebende geben. Ich werde nicht entscheiden, wer es wert ist zu leben und wer sterben soll. Es bleibt uns auch keine Zeit zu reden. In diesem Topf sind neunundvierzig Bohnen, zwölf weiße und siebenunddreißig rote. Wer eine rote Bohne zieht, bekommt einen Platz auf einem Wolkensammler. « Artax griff in den Topf. Mit spitzen Fingern tastete er über die glatten Bohnen, nahm eine heraus und hielt sie in seiner Faust verborgen. Dann reichte er den Topf an Juba weiter. »Lass jeden eine Bohne ziehen, Kriegsmeister. Ergeben wir uns dem Schicksal.«

Artax schloss die Augen. Er wollte nicht mitansehen, was sich nun abspielen würde, doch seine Ohren konnte er nicht verschließen. Er hörte Keuchen und Flüche, erleichtertes Stöhnen. Mitja, der seiner Tochter versicherte, dass er sie niemals zurücklassen würde. Kolja, der in einer fremden Sprache drängend auf jemanden einredete. Ein wütender Aufschrei. Kaum unterdrücktes Schluchzen.

Der dumpfe, ununterbrochene Schmerz in seinem Kopf blendete langsam alles aus. Artax hörte nichts mehr, fühlte nichts. Er ließ sich vom Schmerz forttreiben.

»Erhabener!«

Benommen schlug er die Augen auf. Er sah nur verschwommen. Ein bärtiges Gesicht war dicht vor ihm.

»Erhabener!« Die Stimme klang dumpf und fremd.

»Wer …«

»Ich bin es, Erhabener. Juba. Du warst ohnmächtig. Es ist jetzt alles bereit. Die Ischkuzaia stehen entlang des Hauptmastes. Wir haben alle, die eine rote Bohne gezogen haben, angeschirrt. Shaya sagt, dass alle zugleich springen sollen. Sie meint, dass es dadurch sicherer wird.«

Artax bemerkte Blut auf dem Deck. »Was ist hier geschehen?«

»Nicht alle konnten die Entscheidung des Schicksals mit Würde tragen. Kolja hat jemanden gefunden, der ihm eine rote Bohne verkauft hat. Andere glaubten, sie könnten sich rote Bohnen nehmen. Ich habe das mit den Himmelshütern unterbunden. Einige haben friedlich getauscht. Ein Platz wurde frei, weil einer der Söldner starb. Er ist einfach zusammengebrochen.«

Artax sah verschwommen einige Gestalten, die etwas entfernt an Deck standen.

»Ihr müsst nun Euren Platz einnehmen, Erhabener. Ich werde Euch stützen.«

Es war ihm peinlich, dass er Hilfe brauchte, um auf die Beine zu kommen, und er konnte sich nicht einmal erinnern, wann er gestürzt war. Unbeholfen erklomm er den Mast und tastete sich mit der Linken entlang der Sicherungsleine.

Juba legte ihm das Fluggeschirr an. Er teilte seinen Wolkensammler mit dem alten Lotsen. Bauch an Bauch hingen sie zusammen. Der Alte stank nach Erbrochenem. Das Weiß seiner Augen war voller roter Adern. Er wirkte benommen.

Artax hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Er blickte über die Schulter zu Juba. Der Kriegsmeister nickte ihm feierlich zu. »Geht Euren Weg, Erhabener. Ihr seid wahrlich ein Gott unter Menschen. Es war mir eine Ehre, an Eurer Seite gefochten zu haben.«

Seine Hand. Seine Rechte war immer noch zur Faust geballt. Was für eine Bohne hatte er gezogen? Mit einem unguten Gefühl öffnete er die Hand. Seine Bohne war weiß.

»Ich hatte gehofft, Ihr würdet es vergessen, Erhabener.«

Artax starrte den Kriegsmeister an. »Du hast es gewusst?«

»Ich kann zählen. Eine weiße Bohne fehlte.«

»Du musst mich losmachen!«

»Ist alles bereit?«, rief Shaya vom Ende des Mastes.

»Nein«, begehrte Artax auf. »Nicht!« Er griff nach dem Gurtzeug und versuchte die Schnallen zu öffnen. Seine Hände zitterten. Er konnte immer noch nicht deutlich sehen.

Juba lächelte. Sanft. Traurig. Aufrichtig. Der Kriegsmeister war ein Freund. Ein wirklicher Freund. Er kannte den »neuen Aaron«, wie er ihn immer nannte, wohl besser als irgendein anderer. Und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – hatte er stets zu ihm gestanden. »So wie ich Euch kenne, werdet Ihr wohl nicht mit Euch reden lassen, Erhabener«, sagte er.

»Ich befehle dir, mich loszumachen, Juba. Das Schicksal hat mir meinen Platz bestimmt. Ich werde dir nicht …«

Juba schüttelte den Kopf. »Vor vielen Monden habt Ihr mein Leben gerettet, als ich aus dem Himmel stürzen sollte. Ich bin es, der seinem vorbestimmten Schicksal entrissen wurde. Ich bedaure, meinen Dienst für Euch mit einem verweigerten Befehl zu beenden. Doch größer noch ist mein Stolz, Aram einen unvergleichlichen Herrscher zu schenken. Lebe wohl, Aaron, Beherrscher aller Schwarzköpfe … mein Freund.« Mit diesen Worten trat Juba einen Schritt zurück. Er stürzte! Noch im Fallen rief er seinen letzten Befehl. »Flieg, Shaya! Alle sind bereit.«

»Juba!«, rief Artax. »Mein Freund …« Artax wurde vom Mast gerissen. Das Gurtzeug schnitt in seine Brust. Tentakel griffen nach seinen Armen. Sie fielen viel zu schnell. Zu viele Menschen hingen an den kleinen Wolkensammlern.

Von rächenden Geistern

Mursil zog seinen Umhang enger um die Schultern. Ein eisiger Wind pfiff über die Mauern. Drei Stunden war er auf Wache gewesen und die Kälte war ihm bis tief in die Knochen gedrungen. Jetzt endlich konnte er sich zurückziehen.

Er wanderte hinüber zum Westturm, wo er gemeinsam mit den anderen im Erdgeschoss einquartiert war. Sie gehörten zur Leibwache des Königs, aber ihre Umhänge waren auch nicht wärmer als die irgendeines beliebigen Kriegers. Manche Männer glaubten, dass das Eisen ihrer Waffen die Kälte anzog. Mursil hielt das für Unsinn. Er stieß die niedrige Tür auf, und wohlige Wärme umfing ihn. Die meisten seiner Kameraden hatten sich in ihre Mäntel eingerollt und schliefen. Nur Urija saß beim Feuer in der Mitte der Turmkammer und schnitzte an einem Stock. Die rauchgeschwängerte Luft in der niedrigen Stube brannte Mursil in den Augen. Hastig zog der Krieger die Tür hinter sich zu und lehnte seinen Speer an die Wand neben der Tür. Erleichtert nahm er den schweren Helm mit dem Rosshaarbusch ab. Dort, wo der bronzene Wangenschutz aufgelegen hatte, war seine Haut taub von der Kälte der Nacht.

»Alles ruhig?« Urija blickte bei seiner Frage nicht einmal auf.

Natürlich war alles ruhig. Wer sollte es schon wagen, in den Palast des unsterblichen Muwatta einzudringen?

Mursil streifte die Wollmütze ab, die er unter dem Helm getragen hatte, und trat über einen seiner schlafenden Kameraden hinweg. Urija hatte ihm einen Platz beim Feuer frei gehalten. Es gab immer einen Platz für den, der von draußen kam.

»War alles ruhig?« Jetzt blickte der Alte doch auf. Ihm fehlten die Schneidezähne und seine Oberlippe war nur noch ein unförmiger Narbenwulst. Er hatte nie erzählt, wo er sich die Verletzung zugezogen hatte. Alle anderen prahlten mit den Narben aus ihren Kämpfen. Urija war anders. Er betrachtete jede Narbe als eine schmerzhafte Erinnerung an einen Fehler. Vielleicht lag es an seinem Alter? Er war schon über dreißig und in seinem Bart wucherten etliche weiße Stoppeln.

»Alles ruhig. Keiner der Hunde hat angeschlagen. Da draußen ist nichts außer Wind und Finsternis.«

»Da draußen ist mehr«, raunte er.

Mursil seufzte leise. Jetzt ging das schon wieder los! Seit sechs Tagen behelligte Urija jeden, der es nicht hören wollte, mit seiner Geschichte.

»Du hast auch nicht vergessen, nach oben zu blicken?«, drängte der Alte. »Du musst nach oben sehen! Von dort kommt das Übel, das wir fürchten sollten. Nicht von unten. Nicht von dort, wo wir mit ihm rechnen.«

»Ja, ich habe auch nach oben gesehen. Da ist nichts. Es ist viel zu dunkel.«

»Dass die Wolfshunde nicht anschlagen, bedeutet gar nichts. Die legen sich nur mit den Lebenden an. Wenn sie besonders still sind, muss man besonders wachsam sein, Mursil. Dann sind sie nah, die Geister!«

»Ja, ja.«

Der Alte legte zwei Holzscheite in die Glut und Mursil sah zu, wie Schaum zischend aus den Schnittkanten des Holzes quoll. Sie hatten schlechtes Holz geliefert bekommen. Die Hälfte davon war verfault. Er streckte die Hände dem Feuer entgegen.

»Ich habe sie so deutlich gesehen, wie ich dich jetzt vor mir sehe«, sagte Urija unvermittelt. »Sie war ganz weiß. Das Gewand fremdartig. Harte, kalte Augen hat sie gehabt. Und binnen eines Herzschlages war sie verschwunden. Sie ist über den Mauerkranz gesprungen und hat sich in Nichts aufgelöst.«

»Das hast du mir schon drei Mal erzählt …«

Urija ignorierte den Einwand. »Zart wie ein junges Zicklein war sie, ganz so wie die Haremsweiber. Ich sag dir, sie war ein Geist. Keiner der Hunde hat angeschlagen. Die sind klüger als wir – kläffen nichts an, was sie nicht beißen können.«

»Dann sei doch mal so klug wie die Hunde und sei auch still!«

Der Alte blickte ihn finster an. Seine Augen waren rot entzündet vom beißenden Rauch. »Die kommen unseretwegen, die Geister«, sagte er noch. Dann wandte er sich wieder seiner Schnitzarbeit zu. Einem angespitzten Stock, in dessen dunkle Rinde magische Symbole geritzt waren.

Mursil war froh, dass er sich den Unsinn nicht mehr anhören musste. Er glaubte nicht an Geister. Wer tot war, kam nicht noch einmal zurück. Nur vor Lebenden musste man sich fürchten, und deshalb schnitt er auf dem Schlachtfeld jedem verwundeten Feind die Kehle durch. Daran war nichts Ehrenrühriges. Er hatte in drei Feldzügen gegen die verfluchten Plünderer aus Ischkuza gekämpft. Die trieben es wesentlich schlimmer. Wer denen in die Hände fiel, der durfte nicht auf einen schnellen Tod hoffen.

Der Krieger dachte an die Toten, die man aus den brennenden Schilfbündelhallen geholt hatte. Vor allem die Erinnerung an die Frauen verfolgte ihn. Ihre Kleider waren verrutscht gewesen, die Schminke verlaufen. Die wunderschönen Frauen des Harems. Dort hatten sie zuerst Feuer legen müssen … Er war nicht stolz auf das, was er getan hatte. Aber er gehörte zur Leibwache des Unsterblichen, und er konnte sich darauf verlassen, dass es für jeden Befehl, den sie bekamen, einen guten Grund gab. Man musste sich nicht hinterher den Kopf zermartern, warum etwas geschehen war. Aram war der Feind! Der unsterbliche Aaron ein grausamer Schlächter, der Muwatta eine schreckliche Wunde beigebracht hatte. Aaron hatte bestraft werden müssen!

Und trotzdem gingen die toten Frauen ihm nicht aus dem Kopf. Es hatte noch so viele andere gegeben, die verbrannt und erstickt waren. Aber sie … Mursil seufzte. Er hatte kein Weib, und gerne hätte er eine von ihnen genommen. Sie hätten gewiss auch lieber ihn gewählt als den Tod. Immerhin war er ein stattlicher Krieger!

Zweiunddreißig Tage noch, dann konnte er für einen Mond die Truppe verlassen. Er würde seinen Bruder in den Bergen besuchen. Der hatte eine ansehnliche Kinderschar. Sein Weib war nicht hübsch, aber fruchtbar. Mursil musste grinsen. Wie ein guter Acker brachte sie jedes Jahr neue Frucht hervor. Neun Kinder hatten die beiden bekommen – sechs davon lebten immer noch. Die Götter waren ihnen gnädig gestimmt. Er würde Geld dalassen. So wie jedes Mal. Der steinige Boden brachte nicht genug hervor, um sie alle zu ernähren. Mursil freute sich darauf, mit den Kindern zu spielen und ihnen Geschichten zu erzählen. Er würde von der Himmlischen Hochzeit berichten. Aber nicht von dem Duell … Er hatte damals auf der Terrasse Wachdienst gehabt und konnte immer noch nicht glauben, dass der mächtige Kurunta dem schwächlichen Hofmeister des Unsterblichen Aaron unterlegen war. Er hatte auf zwei Feldzügen unter Kurunta gedient. Als Feldherr war er nie besiegt worden! Dieses Duell … Aber Kurunta würde Rache nehmen! Er würde das Zentrum der Schlachtlinie auf der Ebene von Kush befehligen. Und er, Mursil, würde mit ihm marschieren.

Langsam kehrte die Wärme in Mursils Knochen zurück. Heute pfiff kein Wind unter der Türspalte hindurch. Er fühlte sich angenehm schläfrig. Ein wenig Kopfschmerzen hatte er. Das lag am vielen Grübeln! Er sollte sich diese toten Weiber aus dem Kopf schlagen. Die hatten eh die Nase hoch getragen. Von denen hätte ihn keine auch nur angeschaut, als sie noch lebten.

»Sie war ein Geist«, sagte Urija plötzlich ganz deutlich. »Ein Rachegeist!«

»Halt’s Maul, Alter! Wir wollen schlafen«, tönte es erbost aus einer der Ecken.

»Ich weiß, was ich weiß«, entgegnete Urija, leiser nun, und gähnte. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, er legte den Stock, an dem er geschnitzt hatte, zur Seite und streckte sich neben dem Feuer aus. »Das war keine Kriegerarbeit. Ihre Rachegeister werden uns heimsuchen. Hört, wie still die Wolfshunde sind. Wir sollten unsere Tür gut verschlossen halten. Sie sind hier!«

Mursil blickte unwillkürlich zur Tür. Die letzten Worte Urijas waren so leise gemurmelt, dass er gewiss der Einzige war, der sie verstanden hatte.

Natürlich war niemand bei der Tür! Alles war gut. Die Wärme lullte ihn ein. Er dachte an seinen Bruder und die Kinderherde, die sich dort in den Bergen ums Feuer drängte. Zweiunddreißig Tage noch. Nicht mehr lange! Sein Bruder würde das Geld brauchen. Er war zu stolz zu fragen, aber Mursil wusste, dass dort Hunger Einzug halten würde, wenn er nicht kam. Vielleicht Schlimmeres!

Sein Herz schlug schneller. Die Vorfreude! Schwitzend schob er seinen Umhang zurück. Gut, dass sie es hier warm hatten. Nur zweiunddreißig Tage. Am Tag, an dem er ins Dorf kam, würde er einen fetten Hammel kaufen und schlachten. Das würde ein Fest werden!

Der Jäger

Verärgert ließ der Ebermann den Menschen zurücksinken. Gurgelnde Laute drangen aus seiner Kehle. Die Schläge hatten ihm die Rippen zerbrochen und Knochensplitter waren in seine Lunge eingedrungen. Er würde an seinem eigenen Blut ertrinken.

Er hatte Unsinn über Daimonen geredet, die sich zu ihnen an Bord geschlichen hatten! Wahrscheinlich hatte er es nicht besser gewusst. Die Elfen waren geflohen. Ein Tentakelarm hatte sie von Bord gehoben.

Er blickte zu dem Wolkenschiff, das in den Baumkronen vor Anker lag. Der Wolkensammler hatte den Elfen geholfen. Das waren keine guten Neuigkeiten. Er hatte diese Kreaturen bislang bestenfalls für einfältig gehalten.

Der Devanthar konnte spüren, dass sich noch drei weitere Menschen ganz in der Nähe versteckten und weitere oben auf dem Wolkenschiff waren. Aber es wäre Zeitverschwendung, sie zu befragen. Vermutlich würde er nur wieder und wieder denselben Unsinn über Daimonen hören. Er legte den Kopf in den Nacken und stieß einen wütenden Schrei aus. Er konnte hören, wie die Menschen tiefer in den Wald flohen. Wie weit mochten die Elfen wohl sein? Eine von ihnen war verwundet. So schwer, dass sie getragen werden musste. Er sollte sie einholen können. In weniger als einer halben Stunde.

Vielleicht hatten sie ihn gehört. Das wäre gut! Sie sollten Angst haben. Wer sich fürchtete, traf übereilte Entscheidungen.

Wurzelwerk zersplitterte unter seinen Keilerhufen. Der Wald wandte sich gegen ihn. Es war nicht das erste Mal, dass er das auf Nangog erlebte. Die Grünen Geister sammelten sich. Sie konnten ihn nicht aufhalten! Sie sollten das wissen.

Glaubensangelegenheiten

Artax blickte zwischen seinen Füßen hinab auf das dunkle Land. Ab und zu, wenn das Licht der Doppelmonde durch die Wolken fiel, konnte er den Wald unter ihnen sehen. Die Baumwipfel wogten wie die aufgewühlte See und immer noch fiel dichter Regen, auch wenn keine Blitzfackeln mehr zwischen den Wolken tanzten. Der Unsterbliche war völlig durchnässt, aber er konnte wieder frei atmen und die unerträglichen Kopfschmerzen waren verschwunden. Nur ein Schwächegefühl war zurückgeblieben.

Die miteinander vertäuten Wolkensammler flogen in langer Kette über den Wald. Steuerlos waren sie Spielbälle des Windes, ohne eine Möglichkeit zu beeinflussen, wohin sie flogen. Ein Stück voraus sahen sie die Positionslichter eines Wolkenschiffs. Es bewegte sich nicht von der Stelle. Vielleicht war es das dritte Piratenschiff, das vor ihrem Angriff zurückgefallen war. Artax fluchte. Sie würden weniger als eine halbe Meile entfernt daran vorbeitreiben. Das Schiff war so nah und doch unerreichbar. Noch schwebten sie zu hoch, um ihre Wurfanker nach dem Geäst der Bäume auszuwerfen.

Sie hatten großes Glück gehabt. So wie ihr Sturz aus dem Himmel begonnen hatte, war Artax überzeugt gewesen, sie würden alle umkommen. Doch als sie erst einmal durch die Wolken hindurch waren, wurde ihr Sturz stetig langsamer. Die kleinen Wolkensammler waren aufgequollen. Nicht viel. Gerade genug, um sie tragen zu können.

Wieder blickte der Unsterbliche zu dem Schiff. Auf Deck war keine Wache zu entdecken. »Es muss doch eine Möglichkeit geben, dort herunterzukommen.«

»Ich glaube, es ist kein Zufall, dass wir nicht näher herankommen, Herr«, sagte Nabor. Der alte Lotse hing kraftlos in den Tragegurten. »Die Wolkensammler möchten nicht dorthin …«

Nabor war ihm vor die Brust gebunden und der Alte hatte seinen Kopf gegen ihn sinken lassen, sodass er dessen Gesicht nicht sehen konnte.

»Was soll das heißen? Die Wolkensammler möchten nicht?«

»Wir sollten nicht versuchen, ihnen unseren Willen aufzuzwingen. Sie mögen es nicht, wenn wir so etwas tun.«

»Wen meinst du? Wer sind sie

Nabor ließ den Kopf in den Nacken sinken und blickte zu ihm auf. »Die Schiffsbäume. Die Wolkensammler … Wolkenschiffer, die so etwas tun, verlieren ihr Glück. Und man braucht Glück, wenn man den größten Teil seines Lebens mehr als tausend Schritt über dem Erdboden verbringt. Denkt an das Totenschiff, Herr! Ich glaube nicht, dass der Wolkensammler die Ischkuzaia ermorden wollte. Vielleicht wollte er sie sogar retten und dem Sturm ausweichen? Vielleicht wissen sie nicht, dass Menschen nicht in den höheren Himmel aufsteigen dürfen, weil er allein den Göttern vorbehalten ist? Manchmal habe ich auch überlegt, ob sie vielleicht einfach ihr Glück verloren hatten.«

»Ist das nicht etwa nur Aberglaube?«

Der Alte grunzte ärgerlich. »Was wisst Ihr von diesen Schiffen, Unsterblicher? Ihr habt bereits viele Wochen an Bord von Wolkensammlern verbracht, aber was glaubt Ihr, wie man sie segelt? Wie schafft man es, sie zu den Ankerplätzen zu bringen?«

Artax blickte zu dem Wolkenschiff in der Ferne. Sie glitten unaufhaltsam daran vorüber. Er war verärgert, von dem Lotsen das Gespräch diktiert zu bekommen. »Ich denke, man braucht Erfahrung, um sie zu steuern. Man manövriert geschickt. Wirft Ballast ab …«

»Ja, ja, der Ballast. Wenn wir ihn abwerfen, gewinnen wir an Höhe und so können wir in andere Luftströme wechseln. Aber wie bekommt man das Schiff wieder herunter? Oben in den Wolken kann man schließlich schlecht neuen Ballast aufnehmen.«

Der Unsterbliche sah ihn an, öffnete den Mund … und schloss ihn wieder. Nabor hatte recht. Er hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, wie sie aus dem Himmel wieder herunterkamen. Und dass es keineswegs selbstverständlich war.

»Wisst Ihr, Herr … Ich bin nun schon sehr lange auf dieser Welt. Ich liebe Nangog. Ich möchte nicht mehr fort. Und doch ist mir in jeder Stunde bewusst, dass wir hier nur ungeliebte Gäste sind. Die meisten von uns. Diese Welt kämpft gegen uns an. Sie … ist so grundlegend anders als unsere Heimat und … ich bin der Überzeugung, wir können sie nur mit unserem Herzen verstehen. Unserem Verstand widersetzt sie sich.«

»Was hat das damit zu tun, wie ein Wolkenschiff aus dem Himmel hinabsinkt?« Artax hob abrupt den Kopf. Er hatte etwas gesehen. Tief unten im Wald. Zwischen den Baumkronen …

»Ich glaube, es hat mit Gedanken zu tun. Die meisten Lotsen glauben das. Jedenfalls die erfahrenen unter ihnen. Wir beeinflussen die Wolkenschiffe mit unseren Gedanken, Herr. Ich stelle mir vor, wohin wir reisen wollen. Und den Weg, den wir nehmen sollten. Dabei ist es wichtig, dass man sich alles so vorstellt, wie es hoch oben aus der Luft betrachtet aussieht. Sonst erkennen sie die Ziele nicht.«

Artax blickte auf. Er wollte dem Lotsen ins Gesicht sehen, um sicherzugehen, dass Nabor nicht scherzte.

»Ihr habt richtig verstanden, Herr. Man steuert die Wolkensammler durch Gedanken«, wiederholte dieser trocken.

»Wie?«

»Das Holz des Schiffes. Ihr wisst, dass die feinsten Wurzelspitzen des Schiffbaumes bis in die entlegensten Winkel der Wolkenschiffe reichen. Ich muss eine der Wurzeln berühren und denke dann den Weg. Das Holz trägt die Nachricht weiter zum Schiffsbaum und dessen Äste reichen bis in den Leib des Wolkensammlers. So weiß der Wolkensammler um meine Gedanken.«

»Aber das … das ist verrückt!«

»Vor Jahren ist ein Wolkenschiff von einem Blitz getroffen worden. Dabei wurde der Schiffsbaum zerstört. Danach war das Wolkenschiff unsteuerbar. Man musste es aufgeben und den Wolkensammler freilassen.«

»Und das ist alles?« Artax mochte den Alten. Aber das hier war zu viel! Es war einfach Unsinn! »Und das ist alles?«, fragte er zweifelnd.

»Es gibt keine Beweise. Wie immer in Glaubensangelegenheiten. « Nabor sagte das geradezu herausfordernd.

»Und die anderen Lotsen glauben das auch?«

»Die guten. Jene, die an ihr Glück glauben und es nicht leichtfertig riskieren. Die, die Nangog respektieren.«

»Das heißt, ein Gedanke von dir könnte unseren kleinen Wolkensammler dazu bringen, zu sinken und in den Baumkronen vor Anker zu gehen?«

»Normalerweise ja …« Nabor wand sich vor Unbehagen. »Aber er will nicht. Ich kann es spüren. Da unten, irgendwo bei dem Schiff, ist etwas, wovor er sich fürchtet.«

Artax seufzte. Das war endgültig genug. Der Alte war verrückt. Wie hatte er sich nur so lange in ihm täuschen können? Er wandte sich erneut ab und blickte zum Wald hinab. »Du kannst also auch die Gefühle des Wolkensammlers wahrnehmen?«

»Wenn sie sehr stark sind und ich mit ihm in Verbindung stehe, ja. Hier im Fluggeschirr ist es etwas anderes, obwohl der Wolkensammler mich berührt. Wir verstehen uns nicht vollständig. Der Schiffsbaum ist wichtig. Er ist so etwas wie ein Dolmetscher. Ohne ihn besteht die Gefahr von Missverständnissen. Wir können auch …«

Artax hörte nicht mehr zu. Er starrte auf die wogenden Baumwipfel. Das Licht der Zwillingsmonde war … Nein, das Licht kam von unten. Zwischen den Bäumen hervor! Dutzende Lichter. Hunderte! Von überall her. Sie glitten durch den Wald und erleuchteten ihn mit ihrem grünen Licht. Und alle schienen sie sich auf einen Punkt hin zu bewegen, der nördlich des ankernden Wolkenschiffes lag. Genau in jener Richtung, in der auch ihre Wolkensammler trieben.

»Bei den Göttern! Das müssen Hunderte sein«, flüsterte nun auch Nabor. »Ich habe noch nie so viele Grüne Geister gesehen.«

Erleuchtet

Nandalee stürzte. Um sie herum war Finsternis, aber sie glitt geborgen in einem Strom aus Licht. Auch wenn sie sich an die Ereignisse nach dem Kampf an Bord des Wolkenseglers nicht mehr erinnern konnte wusste sie doch, dass der Grüne Geist gegangen war. Hatte der Geist sie alle in eine Falle gelockt? In einen bodenlosen Abgrund, der ihren Verstand verschlingen würde? Das Gefühl zu fallen machte ihr zu schaffen. Es gab nichts um sie herum, das ihr einen Anhaltspunkt dafür gab, wie schnell sie stürzte. Wie tief. Wie lange … Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit.

Plötzlich wich die Finsternis. Kurz sah sie eine Wand voller riesiger grüner Kristalle. Dann war sie vorüber. Jetzt wusste sie, dass sie schnell stürzte. Sehr schnell! Und sie war in etwas gefangen. Nein … Sie war wie ein Pfeil, den man von einem Bogen abgeschossen hatte. Aber auf welches Ziel?

Sie stürzte durch eine Höhle, so weit wie der Himmel. Nur dass dieser Himmel von blassgrüner Farbe war. Wieder hatte sie die vage Ahnung, dass sie in etwas steckte. Aber der einzige Sinn, der ihr erhalten geblieben war, war ihr Gesichtssinn. Sie konnte nichts riechen oder ertasten. Nur sehen und warten konnte sie.

Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr allein in diesem weiten, grünen Himmel zu sein. Weit unter sich entdeckte sie tanzende Lichtbogen, ganz ähnlich jenen, die sie in der Kristallhöhle gesehen hatte. Nur größer. Sie waren weit wie Regenbogen und kannten doch nur eine Farbe – ein helles Grün.

Nandalee entdeckte Kristallsäulen. Sie kamen aus allen Richtungen und strebten einem gemeinsamen Ziel entgegen.

Der Sturz verlangsamte sich.

Jetzt erkannte sie, wo sie war – in einer Kristallsäule! Unter ihr, bei dem Quell der tanzenden Lichtbogen, lag etwas in grünen Nebelschleiern verborgen. Etwas Lauerndes, Verbittertes …

Nandalee konnte spüren, dass sie erwartet wurde. Was dort unten im Nebel war, hatte ihr Kommen herbeigesehnt, seit sie Nangog betreten hatte. Es hatte ihr den Grünen Geist geschickt. Es gebot über die Winde und Stürme dieser Welt. Es wusste alles, war mit allem verbunden. Und doch …

Ein weiter Lichtbogen streckte sich nach der Kristallsäule, die sie umschloss. Sie wollte zurückweichen, stellte sich vor, durch die Säule hinaufzustürzen. Sie wusste, dass dieses Licht alles verändern würde.

Der Lichtbogen berührte den Kristall – und jetzt konnte Nandalee durch den Nebel sehen.

Sie sah das Verborgene und Demut überkam sie.

Schlafende Daimonen

Artax beobachtete die Grünen Geister genau. Sie schienen etwas zu umkreisen, wie ein Rudel Wölfe auf der Jagd. Er war unendlich erleichtert, als die Wolkensegler schließlich nach Westen hin abdrifteten und dabei tiefer sanken. Kurz hatte er befürchtet, die Kreaturen würden sie ausliefern, sie den Geistern überlassen. Stattdessen segelten sie nun dicht über den Baumkronen einen Hang hinab. Ihre Tentakel griffen hinab ins Astwerk, Holz brach, nasses Laub raschelte. Immer mehr der Fangarme griffen hinab. Bald kam die Kette der treibenden Wolkensammler zum Stillstand. Während sie über den Wald getrieben waren, hatte sich ihre Kette aus Himmelsflüchtlingen gedreht. Artax war jetzt der Erste. Der Wind hatte ihn wieder zum Anführer gemacht.

Du warst nie ein Anführer. Du bist nur ein Bauer, der sich auf den Thon von Aram geschlichen hat. Vergiss das nie.

Artax seufzte. Er hatte gehofft, der höhere Himmel hätte ihn von Aaron befreit. Ein Wunschtraum. Natürlich. Schließlich lebte er nur, um Aaron eine Hülle zu geben. Artax schüttelte den Kopf und wie stets beeindruckte das seine innere Stimme nicht im Mindesten.

»Nicht Angst, ich mir nix nicht brechen Hals!«

Ein Stück entfernt machten Volodi und Kolja sich aus ihren Fluggeschirren los. Artax hörte dürres Geäst brechen; ein dickerer Ast folgte mit einem scharfen Knall. Jemand purzelte durch einen Baum hinab. Ein dumpfer Schlag. Dann Stille. Schließlich erklang eine gepresste Stimme. »Ist sich alles gut. Bäume sind groß.«

Artax tastete nach den Schnallen des Fluggeschirrs. Ließe er sich herunterhelfen, würde er sein Gesicht verlieren. Es war schon schlimm genug, dass er an Bord des Wolkenschiffes ohnmächtig geworden war, als die anderen zu den kleinen Wolkensammlern gingen. Als Anführer sollte er voranschreiten.

»Seid bloß vorsichtig, Herr. Diese Bäume sind sehr hoch«, mahnte ihn Nabor.

Aber es waren nicht die Bäume, die Artax Sorgen machten. Die Grünen Geister waren vielleicht eine Meile entfernt. Er musste seine Leute von hier fortbringen – und das schnell!

Die letzte Schnalle öffnete sich. Artax konnte nicht wirklich sehen, was unter ihm war. Alles, was er erkennen konnte, war ein dichtes Blätterdach.

Und Bäume haben an den Spitzen stets dünne Äste. Dazu kennst du doch bestimmt auch eine Bauernweisheit. Wir wünschen dir viel Vergnügen dabei, dich umzubringen.

Artax fluchte und ließ sich fallen. Äste peitschten auf ihn ein. Er griff um sich, versuchte Halt zu finden, doch das Astwerk war nicht einmal fingerdick. Er stürzte tiefer, schlug gegen einen stärkeren Ast und stürzte wieder. Er hatte die Augen geschlossen. Gesplitterte Äste schrammten über sein Gesicht. Er hätte seinen Helm anlegen sollen, statt ihn am Gürtel zu tragen. Er schlug sich das linke Knie auf, wurde halb herumgerissen und stürzte nun mit dem Rücken voran. Der Aufprall presste ihm alle Luft aus den Lungen. Grelle Lichter tanzten vor seinen Augen. Eine Hand wedelte vor seinem Gesicht.

»Sind sich Knochen noch ganz?«

Artax war noch immer benommen. Sein Brustkorb fühlte sich an, als sei ein Elefant auf ihn getreten. Stöhnend setzte er sich auf.

»Sind härter wir als Bäume, nicht?« Volodi packte ihn beim Arm und zog ihn hoch. »Sind wir nicht nix allein.« Er deutete auf den bewaldeten Hang. Zwischen den mächtigen Baumstämmen glomm ein blasses grünes Licht.

»Da ist sich Höhle. Kolja ist sich hin.«

»Hol ihn zurück!« Artax fluchte innerlich. Die Grünen Geister waren also schon hier. Er dachte an das Dunkle Tal. An die Schrecken, die dort lauerten. Er war sich ganz sicher, dass die Grünen Geister und die finstere Magie dort von Nangog gekommen waren. Und er wusste, dass nur er allein sich dem entgegenstellen konnte.

»Hol Kolja zurück! Ich sehe mir die Höhle an. Ihr helft den anderen aus den Bäumen. Wir müssen hier schnell verschwinden. Du hast auf dem Flug sicherlich auch die Grünen Geister gesehen. Wenn sie uns einholen, sind wir tot. Wir müssen schnell machen!«

»Aber ist sich nicht klug, haben Mann in Rücken in Gefahr?«

Artax schnallte den Maskenhelm von seinem Gürtel. »Manchmal ist man stärker allein. Geh nun. Hilf den anderen.«

Volodi sah ihn missbilligend an, doch dann entfernte er sich.

Artax misstraute dem Drusnier. Er erwartete keinen Verrat von Volodi und ganz gewiss war er auch kein Feigling. Aber er war nicht so loyal wie Juba. Niemand würde ihm Juba je ersetzen können.

Kurz dachte er daran, darauf zu warten, dass Shaya den Erdboden erreichte, doch dann entschied er sich dagegen. Er wollte sie keiner unbekannten Gefahr aussetzen. Er verfluchte sich für den Einfall, ganz allein zu seinem Vergnügen zu dieser Reise aufgebrochen zu sein. Die Himmelspiraten hatte er nie finden wollen. Es war ihm nur um die Nächte mit Shaya gegangen. Juba war tot, weil er, Artax, bei der Prinzessin hatte liegen wollen!

Voller Zorn zog der Unsterbliche sein Schwert. Blassgrünes Licht floss über die Klinge. Was auch immer ihn in der Höhle erwartete – er würde sich ihm stellen.

Der nasse Waldboden schmatzte unter seinen Schritten. Er war zerwühlt, als sei ein ganzes Heer hier vorübermarschiert. Manchmal hatte er den Eindruck, dass sich die Wurzeln der Bäume bewegen. Natürlich war das Unsinn. Wurzeln bewegten sich nicht. Jedenfalls nicht so, dass man es mit bloßem Auge sehen konnte. Es war das Spiel von Mondlicht und Schatten, das ihn täuschte, dachte er.

Je näher er der Höhle kam, desto kühler wurde es. Artax konnte die Macht spüren, die von diesem Ort ausging. Ein Prickeln lief ihm über die Haut und der Magen zog sich zusammen. Vielleicht wäre es klüger, nicht dort hineinzugehen. Aber er musste die Gefahr kennen, die ihnen drohte, wenn er die Seinen beschützen wollte. Er hatte keine Wahl.

Du bist der Unsterbliche. Du hast immer die Wahl, Bauer. Schick einen der drusnischen Trottel in die Höhle. Die beiden sind entbehrlich.

»Ich dachte, das bin ich auch«, sagte er leise.

Entschlossen trat er durch den Eingang und blieb wie versteinert stehen. Nie zuvor hatte er etwas so Prächtiges gesehen. Die Wände waren über und über mit grünen Edelsteinen bedeckt, in denen lebendes Licht gefangen zu sein schien. Die Höhle war nicht sehr groß. In ihrer Mitte erhob sich eine schräg aus dem Boden wachsende Kristallsäule. Artax blinzelte gegen das Licht an. Dort lagen drei Gestalten, mit den Köpfen zur Säule hin. Die Arme ausgestreckt, berührten sie den Kristall. Sie schliefen!

Vorsichtig trat er näher. Alle drei trugen abgerissene, schäbige Kleidung. Einfaches Wollzeug und billiges Leder. Drei Frauen. Ihre Gesichter waren hell und von ebenmäßiger Schönheit. Sie mussten sehr jung sein. Keine einzige Falte zeigte sich in ihren Gesichtern.

Sie waren erstaunlich schwer bewaffnet! Frauen mit Schwertern und langen Dolchen waren ihm – von Shaya einmal abgesehen – noch nicht begegnet. Wie Prinzessinnen sahen diese drei nicht aus. Obwohl sie schliefen, hatten sie etwas Bedrohliches.

Artax kniete neben dem schwarzhaarigen Mädchen nieder. Sie war kleiner und zarter gebaut als die beiden anderen. Etwas unter ihren Kleidern bewegte sich. Eine Maus? Der Stoff wölbte sich auf. Blutiges Wurzelwerk, groß wie eine Faust, quoll durch einen Riss über ihrer Hüfte unter ihrem Gewand hervor.

Erschrocken wich Artax zurück. Was für Kreaturen waren das? Sein Blick fiel auf das riesige Schwert, das neben einer der beiden blonden Frauen lag. Etwas daran …

DAS SIND ELFEN!

Artax fuhr zurück. Nie hatte Aaron in ihm einen solchen Aufschrei getan. Er versuchte, die Macht über seinen Körper an sich zu reißen. Deutlich sah Artax den Angriff der Elfe auf den unsterblichen Aaron. Wie sie von ihrem fliegenden Pferd gesprungen war und die Himmelshüter niederhieb, die sich ihr in den Weg stellten. Das schlafende Mädchen sah seiner Mörderin in der Tat ähnlich. Dieses ebenmäßige Gesicht! Ihr Haar hatte einen anderen Blondton, doch sonst …

Es ist das Schwert! Es ist meine Mörderin, glaub es mir. Sie hat sich von den Toten erhoben! Ich erkenne ihre Waffe. Niemand sonst besitzt ein solches Schwert, groß wie ein Mann. Das ist die Klinge, vor der ich geflohen bin! Du musst den Elfen die Kehlen durchschneiden. Es sind Daimonenkinder. Sie kommen aus der Anderswelt, um uns zu töten. Schnell! Wenn sie erst erwachen, werden sie dich umbringen! Sie sind hier, um uns zu holen. Sie wollen unseren Tod. Nicht nur körperlich. Sie wollen uns ganz und gar vernichten, auch unsere Seelen! Deshalb ist die Mörderin zurückgekehrt. Die Grünen Geister haben sie ins Leben zurückgeholt.

Artax glaubte ihm nicht. Er hatte die tote Elfe lange betrachtet. Diese hier waren anders. Aber es schien wirklich das Schwert zu sein, das er über Bord geworfen hatte. Wie war es hierhergekommen? Und was wollten die drei?

Aarons Stimme in seinem Kopf überschlug sich. Was gibt es da zu überlegen? Die wollen unser Leben! Deshalb haben dich die Wolkensammler hierhergebracht. Die Kreaturen haben dich ausgeliefert. Es geht hier um uns! Geht das denn nicht in deinen verfluchten Bauernschädel, verdammt? Außer uns gibt es hier nichts von Bedeutung! Weshalb sonst sollten sie hier sein?

Es widerstrebte Artax zutiefst, Schlafenden die Kehle durchzuschneiden. Selbst wenn es Meuchler sein mochten. Er hatte siebzig Mann hinter sich. Es sollte keine Schwierigkeiten bereiten, die drei gefangen zu nehmen.

»Braucht sich Hilfe Erhabener?« Volodis Stimme kam von außerhalb der Höhle.

Die Dunkelhaarige schlug die Augen auf. Sie sah ihn durchdringend an. Ein wenig überrascht, aber ohne Angst. Ihr Blick war faszinierend. Er zog an ihm. Er fühlte sich seltsam. Aus den Augenwinkeln sah er gerade noch eine Bewegung.

Schnell!

Die Blonde mit dem riesigen Schwert war mit einem Satz auf den Beinen und schwang ihre gewaltige Waffe. Er riss seine Waffe hoch und wich zurück. Mit schrillem Klang prallte Stahl auf Stahl, und die Wucht des Hiebes ließ ihn zurücktaumeln.

Eine Dornaxt schnellte an ihm vorbei. Die Elfe fing sie mit einem Schwerthieb ab. Artax wich rückwärts durch den Höhleneingang zurück und die Kriegerin setzte ihm nicht nach.

Draußen erwarteten ihn Shaya und Volodi.

»Wer bei den Göttern ist das?« Shaya hatte ein kurzes Bronzeschwert gezogen. Eine Waffe, die wohl kaum gegen die drei Meuchler helfen würde.

»Das da drinnen sind Elfen«, stieß er hervor. »Es sind drei.«

Und die werden euch alle umbringen, du Trottel! Warum bei den Göttern kannst du nicht ein einziges Mal auf uns hören?

»Wir brauchen hier Bogenschützen.« Artax hatte sich wieder gefasst. »Und trockenes Holz brauchen wir. Wir werden ein Feuer machen. Ein sehr großes Feuer, sodass sie aus der Höhle nicht herauskommen. Und dann werden wir fliehen.«

Unsichtbar

»Darf ich zaubern?« Bidayn fragte nur der Form halber. Als sich dieser bärtige Kerl über sie gebeugt hatte, hatte sie bereits begonnen, einen Zauber zu weben, doch Nandalees überraschender Angriff hatte sie abgelenkt und alles zunichtegemacht.

»Wozu brauchen wir Zauber? Gehen wir hinaus und schneiden ihnen die Köpfe ab!«

Bidayn schüttelte den Kopf. »Wir sollten mit ihnen reden, bevor wir …«

»Reden?«, unterbrach Nandalee sie aufgebracht. »Was willst du mit einem bärtigen Menschensohn, der mit gezogenem Schwert über dir kauert, bereden? Ob er dir die Kehle von rechts oder von links durchschneidet?«

Bidayn gab sich nicht geschlagen. »Aber er hat doch gar nicht …«

»Weil Nangog uns im letzten Augenblick zurückgeschickt hat! Sie beschützt uns. Ohne sie wären wir alle tot. Habt ihr das Schwert gesehen? Dieses Leuchten? Es ist eine verwunschene Waffe. Der Kerl ist gefährlich. Wir sollten hinausgehen und …«

»Genug, Nandalee.« Gonvalon wirkte erschöpft und verstört.

Sie waren übereilt in ihre Körper zurückgekehrt. Dabei hatte Nangog gerade erst begonnen, mit ihnen zu sprechen. Bidayn fragte sich, ob sie den beiden anderen etwas anderes gezeigt hatte. Vielleicht war das der Grund, warum Gonvalon so kraftlos wirkte.

»Was für einen Zauber willst du weben, Bidayn?«

Sie zögerte kurz. Es war ihr ein wenig peinlich, ihm einzugestehen, was sie bei den Fechtstunden getan hatte, auch wenn er es wahrscheinlich schon ahnte. »Ich beherrsche einen Zauber, durch den ich mich schneller bewegen kann. Ich könnte hinausgehen und sie ausspähen. Und sehr nahe gibt es einen Albenstern. Ich spüre seine Macht. Ich könnte den Weg zurück in unsere Welt öffnen.«

»Der Bärtige hat draußen nach Bogenschützen gerufen, glaube ich …« Nandalee blickte fragend zu Gonvalon, der die Sprache der Menschenkinder besser verstand. Der Schwertmeister nickte. Sie sah Bidayn besorgt an. »Bist du schnell genug, um Pfeilen auszuweichen? Du bist doch verletzt. Du solltest hierbleiben und mich das erledigen lassen. Blutvergießen ist nicht deine Sache.«

Bidayn tastete nach ihrer Wunde. Ihr Wollgewand war zerrissen. Der Pfeil! Vorsichtig tastete sie sich über den Bauch. Da war noch der Riss in ihrem Obergewand, der rundherum mit Blut durchtränkt war, aber darunter war ihre Haut glatt. Es gab keine Wunde!

Verstört sah sie sich um. Etwas Kugeliges lag nahe der Kristallsäule auf dem Boden. Bidayn bückte sich danach. Ihre Hand zitterte, als sie erkannte, wonach sie griff. Wurzeln! Erschrocken blickte sie auf. Deutlich standen ihr die Bilder der toten Holzfäller vor Augen.

Gonvalon wich ihrem Blick aus.

Nandalee nicht. »Das war in dir. Der große Baum auf dem Schiff, auf dem wir waren, hat geholfen, dich zu heilen. Diese Wurzeln haben deine Blutung gestillt.«

Ungläubig blickte Bidayn auf den Wurzelklumpen. »Das war in mir …?«

»Das hat dich gerettet. Ohne die Hilfe des Baumes wärest du tot.«

Bidayn atmete schwer. Die Vorstellung, dass Wurzeln in ihren Körper gewachsen waren, war ein Albtraum. Aber sie musste das jetzt verdrängen, es einfach hinter sich lassen. Sonst wäre sie nicht in der Lage, einen Zauber zu weben. Entschlossen schob sie die Wurzelkugel in eine Tasche ihres Gewandes.

»Ich werde jetzt da hinausgehen und unsere Flucht vorbereiten. « Ihre Stimme zitterte leicht.

Gonvalon und Nandalee tauschten einen langen Blick. Bidayn konnte spüren, wie die beiden ohne Worte und Zauber miteinander sprachen. Bidayn wünschte sich, dass sie diese Magie der Liebe auch einmal erleben würde.

»Geh«, sagte Gonvalon schließlich. »Ich vertraue dir. Gib uns ein Zeichen, wann wir uns hinauswagen sollen.«

»Die haben Glück, dass wir nicht hinauskommen«, murrte Nandalee. »Hinauswagen …« Sie schnaubte abfällig.

Bidayn schloss die Augen. Dies war die Gelegenheit, den beiden zu zeigen, dass sie kein nutzloser Ballast war. Sie wusste, dass Gonvalon sie ziehen ließ, damit sie sich beweisen konnte. Er verstand sie! Sie würde sich ihm beweisen. Sie war eine machtvolle Zauberweberin.

Voller Zuversicht öffnete sie ihr Verborgenes Auge. Wie beim ersten Mal war sie fasziniert davon, wie andersartig die magische Matrix von Nangog war. Die Höhle war ein Fokus. Unzählige Kraftlinien kamen hier zusammen. Ein Ort gebündelter Macht, ganz anders als die großen Albensterne. Dieser Platz war dazu geschaffen, Magie zu wirken.

Bidayn dachte an das, was sie erreichen wollte. Ihr Wille verformte das magische Gefüge – und etwas bäumte sich gegen sie auf. Das hatte sie in dieser Form in Albenmark noch nicht erlebt. Sie zwang es nieder, dann öffnete sie die Augen. Nandalee und Gonvalon sahen sie an. Sie standen schweigend da. Hatte sie einen Fehler gemacht?

»Was ist los?«

Sie erhielt keine Antwort. Erleichtert atmete sie auf. Die beiden hatten sie nicht verstanden. Ihr Zauber war gelungen.

Sie trat aus der Höhle. Die Menschenkinder bewegten sich. Bogenschützen beobachteten den Eingang. Eine junge Kriegerin rief etwas. Ihre Stimme war ein dumpfer, unartikulierter Ton und ihre Hand bewegte sich langsam zur Pfeiltasche an ihrer Hüfte.

Bidayn ging in aller Ruhe zu ihr herüber. Sie erreichte sie, noch bevor die Finger der Kriegerin die Befiederung eines ihrer Pfeile berührten.

»Du hast Glück, dass ich aus der Höhle gekommen bin und nicht Nandalee.«

Sie zog die Pfeile aus dem Köcher der Kriegerin und verstreute sie ringsherum auf dem Boden. Dann zückte Bidayn ihr Messer und ging zum nächsten Schützen. Mit einem schnellen Schnitt durchtrennte sie die Bogensehne.

Dann eilte sie zum nächsten Krieger. Es war beflügelnd zu spüren, wie die Macht Nangogs sie durchströmte. Sie verformte die Matrix weiter, zog mehr Kraft an sich, wurde schneller. Wie die Menschenkinder sie wohl sahen? Sahen sie sie überhaupt noch? War sie noch ein schnell dahingleitender Schemen oder schon unsichtbar? Nie zuvor hatte sie einen so starken Zauber gewirkt, so tief in das Gefüge der Natur eingegriffen.

Bald waren alle Bogensehnen durchtrennt und die Kriegerin hatte gerade erst damit begonnen, sich nach den verlorenen Pfeilen zu bücken. Sie könnte noch mehr tun, dachte Bidayn. Sie packte die zersplitterten Äste, die Menschenkinder zum Höhleneingang trugen, und brachte sie zurück in den Wald. Als sie damit fertig war, berührten die Fingerspitzen der Kriegerin gerade erst den Boden. Bidayn lachte. Sie fühlte sich allmächtig. Sie könnte all diese Menschenkinder töten. Ihnen die Kehlen durchschneiden. Aber sie mochte nicht. Sie fand diese bärtigen Männer belustigend. Sie ging zu einem und flocht ihm einen Zopf in den Bart. Sie hatte so viel Zeit, wie sie nur wollte – und sie konnte noch schneller werden. Ihr Wille stemmte sich gegen die Macht der Matrix. Verzerrte sie weiter.

Ein kahlköpfiger Krieger fiel ihr auf. Selbst nach den sehr geringen Maßstäben, die sie für Menschenkinder in Belangen der Ästhetik anlegte, war er ausnehmend hässlich. Sein Gesicht war völlig vernarbt. Er hatte keine Augenbrauen mehr. Wie es wohl sein mochte, so leben zu müssen? Sie nahm eine Handvoll Schlamm, rieb sie ihm ins Gesicht und strich den Schlamm dann sorgfältig glatt. Vielleicht könnte sie die Erde zu Fleisch werden lassen? So würde er deutlich besser aussehen. Aber vielleicht gefiel er sich ja, wie er war?

Sie trat zurück. Etwas in der Matrix bedrängte sie. Hatte da etwas an ihren Kleidern gezupft?

Erneut öffnete sie ihr Verborgenes Auge. Ströme von Licht flossen zum Höhleneingang. Um sie herum hatte sich ein Wirbel gebildet. Das Netz der Kraftlinien schien sich enger zu ziehen. Sie schlüpfte hindurch und ließ noch ein letztes Mal den Blick in die Runde schweifen. Von den Menschenkindern drohte keine Gefahr mehr.

Etwas Warmes streifte ihre Wange. Sie wedelte mit der Hand, wie um eine lästige Fliege zu verscheuchen. Sie musste den Albenstern öffnen. Es wäre besser, wenn alles zur Flucht bereit wäre.

Sie konnte die Albenpfade spüren. Sie gehörten nicht zur natürlichen Matrix der Welt. Sie fügten sich nicht in die Matrix ein wie in Albenmark. Sie waren ihr aufgezwungen worden. Der Wirbel hingegen war natürlich.

Wieder berührte sie etwas Unsichtbares. Gab es noch andere wie sie, die dem trägen Fluss der Zeit davonschwammen? Vielleicht noch schneller? Waren sie ihr feindlich gesonnen? Ich sollte mich beeilen, dachte Bidayn.

Der Albenstern lag weniger als eine Meile entfernt. Als sie ihn erreichte, konnte Bidayn nichts entdecken, was das Tor markierte. Keine Felsnadel, keinen Steinkreis, nicht einmal einen Pilzkreis. Als solle verborgen werden, was es hier gab. Das war natürlich Unsinn, schalt sie sich, denn niemand, der sein Verborgenes Auge zu benutzen wusste, würde je einen großen Albenstern übersehen. Sieben goldene Pfade kreuzten hier einander und wer sich darauf verstand, ihre Magie zu nutzen, der konnte ein Tor in jede der drei Welten öffnen.

Bidayn kniete sich auf den weichen Waldboden und presste ihre Hände in die dunkle Erde. Sorgfältig sprach sie das Wort der Macht und verwob die Stränge der Matrix zu zwei aufsteigenden Lichtschlangen. Sie wollte zurück in den Jadegarten. Zum Dunklen. Auch wenn die Regenbogenschlange ihr unheimlich war, wollte sie ihren Schutz. Etwas war hier. Um sie herum. Überall!

Das Tor öffnete sich. Bidayn wollte zu ihren Gefährten zurück. Sie musste noch schneller sein, wenn sie dem, was hier war, entkommen wollte. Sie bäumte sich auf, sprang los – und strauchelte. Sie hatte sich in etwas verfangen. Glühende Linien zogen sich um sie zusammen. Feiner als Haare. Sie versuchte sie zu zerreißen. Es war ein magisches Netz. Ein Netz aus den Kraftlinien Nangogs – und es hüllte sie ganz und gar ein. Sie roch angesengtes Haar. Ihre Kleidung! Auf dem groben Wollstoff zeichnete sich ein schwarzes Netzmuster ab. Überall! Es brannte sich in den Stoff.

Bidayn schrie auf, und wurde sich im selben Augenblick bewusst, dass niemand kommen würde. Sie war immer noch zu schnell. Selbst für die Ohren ihrer Gefährten war ihr Hilferuf unhörbar.

Entsetzt versuchte Bidayn, das Netz zu zerreißen, aber es gelang ihr nicht. Es zog sich nur enger. Und enger. Bis es ihr den Atem nahm.

Eine verborgene Kraft

Die Grünen Geister konnten ihn nicht aufhalten. Was dachten sie? Dass er sich vor ihnen fürchtete? Der Devanthar lachte laut auf. Ob sie spüren konnten, was er getan hatte? Wo er die letzten Monde verbracht hatte?

Sie waren hilflos – hilflos, wie diese ganze Welt es war. Ausgeliefert! Ein Zeitalter lang war Nangog eine Wildnis gewesen. Ungenutzt, eine Verschwendung ohnegleichen. Das würde sich ändern, und nichts und niemand würde ihm und seinen Geschwistern dabei in den Weg kommen.

Der Ebermann stieß seinen Kampfschrei aus. Er hatte die Witterung der Elfen aufgenommen. Sie waren ganz nahe. Endlich! Das Licht der Grünen Geister verwirrte ihn, das musste er ihnen zugestehen. Warum kamen sie alle hierher? Sie mussten doch wissen, dass sie ihn nicht lange aufhalten konnten. Welchem Zweck also diente das alles?

Er öffnete sein Verborgenes Auge. Er hatte die Kraftlinien längst gespürt. Sie liefen auf einen Knotenpunkt zu. Sieben von ihnen. Ein großer Albenstern! Ein Ort, an dem selbst unbegabte Zauberweber leicht in das magische Netz treten konnten. Ganz gewiss war dies das Ziel der Elfen.

Er hielt inne und betrachtete jenen Teil der Matrix näher, der zu der natürlichen Magie Nangogs gehörte. Die Muster der Kraftlinien hier waren fremdartig, durchdrungen von der Macht der alten Göttin. Zerbrochene Macht, dachte er. Sie war so naiv und … Erstaunt hielt er inne. Da war etwas Fremdes. Etwas, das er so noch nie zuvor gesehen hatte. Er schloss sein Verborgenes Auge und betrachtete den Wald. Die uralten Bäume erschienen wie Schattenrisse vor dem unsteten Licht der Grünen Geister. Raureif lag auf ihren Stämmen. Er betrachtete die Bäume eine Zeit lang, stellte sich vor, wie sie aussehen mussten, wenn man sie vom Himmel aus betrachtete. Ihre Anordnung … Sie bildeten eine Spirale! Viele Meilen weit.

Der Ebermann starrte auf den Boden. Selbst die Wurzeln waren in dieses verborgene Muster eingewoben. Sie alle gaben einen Teil ihrer Kraft weiter, einen Bruchteil ihrer Aura, und erzeugten damit in der Masse einen magischen Strom. Einen Strudel. Wohin floss diese Macht, und welchem Zweck diente sie?

Er folgte der Spirale, seine Haare stellten sich auf – es wurde immer kälter. Hunderte der Grünen Geister hatten sich versammelt. Sie tauchten den Wald in ein beklemmend fremdartiges Licht. Auf den Bäumen lag jetzt ein dichter Pelz aus Raureif. Fassungslos blickte der Ebermann auf eine der Wurzeln. Selbst die Eiskristalle richteten sich nach der Spirale aus.

Er konnte spüren, wie der Kraftstrom um ihn herum zunahm. Das magische Netz setzte sich gegen etwas zur Wehr. Er spürte eine Erschütterung der Matrix. Ein starker Zauber wurde gewoben. Magie, die sich gegen die natürliche Ordnung stemmte. Jemand versuchte, den Fluss der Zeit zu verändern.

Der Devanthar blieb stehen. Wer wagte das? Was ging dort vorne vor sich?

Jetzt berührte der Zauberweber das Netz der Albenpfade. Der Ebermann fluchte. Sie würden ihm entkommen! Im letzten Augenblick.

Er ließ alle Vorsicht fahren. Die Magie Nangogs behinderte ihn kaum mehr. Ihre Kraft floss davon. Das Netz zog sich zusammen. Wen hatten die Drachen da geschickt? Wussten ihre Elfen denn nicht, was geschah, wenn man versuchte, die Gesetze von Raum und Zeit auf den Kopf zu stellen? Die Matrix wandte sich gegen solches Zauberwerk und auch gegen jeden, der es wirkte. Das magische Netz war so gewoben, dass es die Ordnung der Welt schützte. Wo sie gestört war, versuchte das Netz von sich aus, den Schaden zu beheben. Natürlich war es möglich, Zauber zu wirken, die den Naturgesetzen Hohn sprachen – doch dazu musste man mächtig genug sein, um sich gegen die Matrix zur Wehr zu setzen. Solche Magie war Weltenschöpfern vorbehalten.

Ein gellender Schrei hallte durch den Wald. Er war verzerrt. Und nah. Das Netz zog sich mit aller Macht zusammen. Obwohl es sich nicht gegen ihn wandte, konnte er es deutlich spüren. Er rief ein Wort der Macht – jenes dunkelste aller Wörter, das die Welt entzauberte, Magie verzehrte und einen toten Fleck erschuf, zu dem Kraftlinien der Matrix niemals mehr zurückkehrten. Der Wald um ihn erbebte. Ein Rascheln lief durch das Geäst Tausender Bäume, Vogelschwärme stiegen mit schrillem Geschrei von ihren Schlafplätzen in den nächtlichen Himmel. Nangog selbst musste gespürt haben, was er getan hatte — er hatte die Welt verwundet.

Zehn Schritt um ihn herum war die Matrix verloschen. Der Wirbel an magischer Macht war zurückgewichen, so wie die Ebbe das Meer von den Ufern flüchten lässt. Er hatte das Aufbegehren Nangogs zerbrochen. So wie damals, als sie die Riesin bestraft hatten. Der Ebermann atmete schwer aus. Es war eine dunkle Tat gewesen und zugleich das einzig Richtige. Der Devanthar blickte auf. Die Grünen Geister waren verschwunden. Nichts versperrte mehr seine Sicht. Keine zehn Schritt entfernt lag eine sich windende Elfe am Boden. Es roch nach gebratenem Fleisch, so stark, dass ihm unwillkürlich das Wasser im Maul zusammenlief. Sie hatte es noch geschafft, den Albenstern zu öffnen. Er ging zu ihr hinüber. Ein Netzmuster war in ihr Gesicht gebrannt. Ihre Kleider schwelten. Sie starrte ihn an. Er war überrascht, dass sie noch bei Bewusstsein war. Ja, sie versuchte sogar erneut einen Zauber zu weben, denn ihre Lippen bewegten sich.

Das Zaubern lässt du lieber bleiben. Einen Mangel an Macht sollte man durch Feingefühl ausgleichen. Du bist nicht dazu geboren, dir die Welt untertan zu machen. Hat man dich das nicht gelehrt, Albenkind? Er kniete neben ihr nieder. Ich hätte eine ganze Reihe von Fragen an dich. Hörst du mir zu?

Sie hielt nicht inne. Versuchte noch immer, ihren Zauber zu weben und ihm im letzten Augenblick zu entfliehen.

Er strich ihr mit den Krallenfingern über die Hand. Weißt du denn nicht, dass ich dich gerettet habe, Albenkind? Wäre ich nicht gekommen, hätte das magische Netz dich getötet. Du bist überaus unhöflich und kennst weder die Grenzen deiner Macht noch gutes Benehmen. Es kostete ihn nur ein Schnippen, ihr zwei Finger abzutrennen – und sie verstummte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die verlorenen Finger und war derart geschockt, dass sie nicht einmal schrie.

Der Ebermann zog die Lefzen hoch und lächelte. Wirst du mir jetzt antworten, Albenkind? Oder spielen wir weiter? Acht Finger hast du noch, wie ich sehe.

Sie starrte ihn noch immer an, und er weidete sich an ihrer Furcht. Er mochte Gefühle. Starke, klare Gefühle. Diese Elfe, das spürte er, würde ihm nicht nur vieles verraten, sie würde ihm auch Freude bereiten, während sie starb.

Todbringer

»Wir sollten jetzt ausbrechen«, drängte Nandalee, aber Gonvalon rührte sich nicht. »Wir werden warten, bis Bidayn uns ein Zeichen gibt. Sie wird ihre Sache gut machen.«

Nandalee schnaubte. Manchmal war seine Ruhe zum aus der Haut fahren! Bidayn hatte irgendetwas angestellt, das lag doch auf der Hand, denn draußen herrschte ein wahrer Tumult unter den Menschenkindern. Diese Verwirrung zu nutzen – das wäre klug. Und deshalb sollten sie nicht länger … Nandalee keuchte auf und brach in die Knie. Sie fühlte sich, als habe ihr ein unsichtbarer Riese seine Faust in den Magen gerammt. In einer fließenden Bewegung griff sie nach ihrem Schwert. Die Matrix war erschüttert. Etwas Schreckliches war geschehen!

Gonvalon sah sie verständnislos an. Er hatte gar nichts gespürt, das war offensichtlich.

Ein gellender Schrei hallte durch die Nacht. Bidayn!

Augenblicklich war Nandalee auf den Beinen und stürmte aus der Höhle. Ihr war egal, was Gonvalon tun würde. Sie musste zu Bidayn!

Eine junge Kriegerin stellte sich ihr in den Weg, ein lächerliches Bronzeschwert in der Hand. Nandalee ließ Todbringer kreisen – das große, ungeliebte Schwert. Metall kreischte. Die Menschenkinder schrien auf, als die Klinge Bronze, Fleisch und Knochen zerteilte.

Das Bronzeschwert der Kämpferin war zerbrochen. Ein hässlicher, kahlköpfiger Kerl, der versucht hatte, ihr einen Dolch in den Rücken zu stoßen, lag am Boden und wand sich vor Schmerzen. Erneut warf sich ihr die Kriegerin entgegen und versuchte sie mit bloßen Händen aufzuhalten. Hinter sich hörte sie Gonvalon. Die Menschenkinder waren erstaunlich mutig. Statt zurückzuweichen, versuchten sie, ihre Übermacht zu nutzen.

Die Menschentochter mit den schwarz umrandeten Augen hatte ihre Klinge unterlaufen. Sie griff nach dem Jagdmesser an ihrem Gürtel. Nandalee stieß den Knauf ihrer schweren Waffe hinab und traf die Angreiferin an der Schläfe. Wie vom Blitz gefällt brach sie zusammen.

Jemand stieß einen wilden Schrei aus. Blechern, unmenschlich. Der Krieger mit dem Maskenhelm drängte durch die Schar der Angreifer. Er bewegte sich geschickt und griff sie voller ungestümer Verzweiflung an. Kreischend schlugen ihre beiden Schwerter aufeinander. Ein unheimliches grünes Licht flackerte um seine Klinge. Er stieß ihr den Kopf ins Gesicht. Der Angriff traf sie unerwartet. Stechender Schmerz zuckte durch ihre Nase. Blut quoll ihr über die Lippen.

Sie rammte dem Angreifer ein Knie zwischen die Beine, parierte einen Schwerthieb von einem muskelbepackten Blondschopf und wich einen Schritt zurück. Sie musste durchbrechen, dachte sie verzweifelt. Etwas war mit Bidayn geschehen. Ihre Freundin brauchte sie!

Wieder ließ sie die Klinge kreisen und trat nach dem Krieger mit dem Maskenhelm, der versuchte, die Frau zur Seite zu ziehen. Er kämpfte so verbittert für die Schwarzhaarige, wie sie für Bidayn stritt. Wenn er starb, würden die anderen fliehen.

Sie führte einen Hieb gegen seinen Helm. Die Wucht des Treffers schleuderte den Menschensohn zur Seite. Ein Aufschrei ging durch seine Kämpfer. Sie hörte einen Namen rufen: Aaron.

Nandalee nutzte die Panik unter ihren Gegnern, um durchzubrechen. Ein hastiger Blick zurück zeigte ihr, dass Gonvalon ihr folgte. Und sie sah, was er getan hatte. Überall lagen Tote. Krieger, die versucht hatten, in ihren Rücken zu gelangen. Er hatte sie gerettet, und sie hatte es nicht einmal bemerkt. Deutlich konnte sie den Lichtbogen der magischen Pforte zwischen den Bäumen sehen. Ein Stück entfernt kauerte eine unförmige Gestalt. Eine Kreatur, wie Nandalee sie nie zuvor gesehen hatte.

»Bei den Alben«, flüsterte Gonvalon. »Zurück! Lass uns fliehen. Das ist ein Devanthar.«

Nandalee sah, dass dieser Ebermann eine blasse, blutverschmierte Hand hielt. Bidayns Hand!

Mit einem wilden Schrei stürmte sie vorwärts. Es war ihr egal, was Gonvalon sagte. Es war ganz gleich, was vernünftig war oder ob sich der Fluch, der auf diesem Schwert lag, erneut erfüllen würde. Sie würde niemals ihre Freundin hilflos in den Klauen eines Ungeheuers lassen. Nie!

Sie hörte Schritte hinter sich. Gonvalon folgte ihr. Das war nicht gut! Es war ihre Sache, nicht die seine.

Der Devanthar erhob sich. Für seine massige Gestalt bewegte er sich erstaunlich geschickt. Er hatte den Kopf eines Ebers. Blutunterlaufene Augen starrten sie an. Er hob die Krallenhände.

Todbringer schnitt einen silbernen Halbkreis – und verfehlte ihn! Er war … Verwirrt sah Nandalee sich um. Er hatte den Ort gewechselt! Nun stand er vor einem Baum drei Schritt links von ihr. Aber er hatte sich nicht bewegt! Nicht wie ein Wesen aus Fleisch und Blut.

»Ich hab sie«, rief Gonvalon hinter ihr. »Schnell, zum Albenstern! Schnell! Diesen Kampf können wir nicht gewinnen!«

Der Pakt

Der Devanthar zögerte anzugreifen. Etwas hielt ihn zurück! Diese Elfe war es nicht, denn er hatte schon einige Drachenelfen getötet. Sie war draufgängerisch und furchtlos, aber er kämpfte mit der Erfahrung von Jahrhunderten und würde sie besiegen. Nur das Schwert … Er spürte seine dunkle Macht. Es hatte etwas an sich, das ihn an sich zweifeln ließ. Diese Waffe war erschaffen worden, um Unsterbliche zu töten. Übelste Drachenmagie war in die Klinge geflossen. Vielleicht reichte schon eine kleine Wunde durch diese Klinge aus, um ihn zu töten.

Und dann war da noch die Kreatur, die unmittelbar hinter der magischen Pforte lauerte. Vor einem Augenblick war sie noch nicht dort gewesen, doch jetzt spürte er ihre Präsenz. Er konnte nicht sagen, was es war. Eine Regenbogenschlange? Vielleicht sogar einer der Alben? Er wusste es nicht, aber er hatte das Gefühl, dass dieses Geschöpf durch das Tor schreiten würde, wenn er die Elfe angriff.

Die Kriegerin ließ ihn nicht aus den Augen. Das Schwert erhoben, wich sie langsam zum Albenstern zurück. Sie wusste, was er war, denn ihr Gefährte hatte sie gewarnt. Dennoch zeigte sie keine Angst. Der Ebermann zögerte noch immer. Diese Waffe … Wenn er sie anblickte, stellte er sich vor, wie sie ihm Glieder abtrennte, ihn durchbohrte. War das Teil der Drachenmagie oder seine Phantasie?

Der Elf, der die verrückte Zauberweberin trug, hatte nun den Albenstern erreicht und wartete auf seine Gefährtin. Die Kriegerin forderte ihn mit Blicken heraus und er erkannte, dass sie sich geradezu wünschte, er möge sie angreifen. Also gut, dachte er. Er sprach ein Wort der Macht, verschwand und erschien fast im selben Augenblick drei Schritt neben ihr.

Beängstigend schnell schwang sie herum. Die Spitze des langen Schwertes zeigte genau auf sein Herz. Er wollte sie töten, wollte ihr seine langen Krallen in die Brust stoßen und ihr noch schlagendes Herz herausreißen. Er könnte es schaffen! Sie war nur eine Elfe.

Jetzt wich sie vor ihm zurück, Schritt um Schritt. Würde er dem, was hinter der magischen Pforte lauerte, entkommen können? War es das Risiko wert?

Die Elfe trat auf den Goldenen Pfad. Immer noch zeigte die lange Klinge drohend auf sein Herz. Dann plötzlich war sie verschwunden. Der Lichtbogen zerbrach in zwei sich windende Schlangen, die im dunklen Waldboden versanken. Er war erleichtert und zugleich beschämt. Diese Elfe hatte etwas an sich … Sie war furchteinflößend. Dass sie keine Angst vor ihm gehabt hatte, machte ihm zu schaffen. Wahrscheinlich war sie zu dumm gewesen, um wirklich zu begreifen, wer vor ihr gestanden hatte.

Langsam bückte er sich und hob die Finger der dunkelhaarigen Elfe auf. Vielleicht mochten sie ihm eines Tages helfen, sie aufzuspüren und Macht über sie zu erlangen. Er war sich sicher, dass dort, wo die Zauberweberin war, auch die blonde, kriegerische Elfe zu finden sein würde – und mit ihr war er noch nicht fertig. Er würde sie aufspüren und Rache nehmen. Bei ihrer nächsten Begegnung wäre er auf dieses Schwert vorbereitet.

Der Devanthar stieg den Hang hinab und folgte dem Blutgeruch, der in der Nachtluft hing. Der Wald versuchte nun nicht mehr, ihn zu behindern. Nangog war gezüchtigt. Die Menschenkinder stoben ängstlich schreiend auseinander, als er den Waldrand erreichte. Nur ein bärtiger Kerl und ein hünenhafter, blonder Krieger blieben. Beide waren vernünftig genug und versuchten erst gar nicht, ihn anzugreifen.

Der Eingang zu einer Höhle erweckte seine Aufmerksamkeit. Blassgrünes Licht fiel durch den Spalt im Fels. Dort musste der Mittelpunkt der Spirale aus Bäumen liegen. Er wagte es nicht, sein Verborgenes Auge zu öffnen. Er spürte die Macht des Ortes.

Ohne weiter auf die Menschenkinder zu achten, trat er zum Höhleneingang. Der Spalt war eng und nur mit Mühe gelang es ihm, hindurchzuschlüpfen.

Verwundert sah er sich um. Dies war ein Ort der Macht, der entstanden war, nachdem sie Nangog in Fesseln gelegt hatten. Ihre Kraft wirkte also weiter. Schwach und unscheinbar zwar, aber sie war nicht gänzlich gebrochen, wie sie bislang vermutet hatten.

Er spürte, wie die Macht des Waldes in der großen Kristallsäule gebündelt und in die Tiefe geleitet wurde. Gab es mehr als nur einen dieser Orte? Erholte sich die gefesselte Göttin? Seine Brüder und Schwester mussten davon erfahren. Sie sollten diese Kristallhöhle zerstören.

Ein Geräusch am Höhleneingang weckte seine Aufmerksamkeit. Der Devanthar konnte wittern, wer dort stand. Du hast eine besondere Gabe, dich an gefährlichen Orten aufzuhalten, Unsterblicher.

»Was wollten die Elfen hier? Was für ein Ort ist das?«

Der Ebermann sah sich um. Das waren zwei Fragen, auf die er keine Antworten hatte. Aber er schuldete Aaron auch keine Antworten. Die Grünen Geister sind hier mächtig. Hast du wieder einen erschlagen?

Der Herrscher Arams war übel zugerichtet. Seine linke Gesichtshälfte war blaurot verfärbt. Das linke Auge gänzlich zugeschwollen. Und dennoch gab er keine Ruhe. »Warum sind hier Elfen? Warum haben sie uns angegriffen?«, beharrte er.

Der Ebermann bleckte die Zähne. Ich schätze, weil ihr euch bewaffnet in ihren Weg gestellt habt.

»Und warum waren sie auf Nangog?« Der Unsterbliche hob seinen Helm, der fast auf ganzer Länge eingedellt war. »Du weißt, wer ich bin. Warum greifen sie Aaron zum zweiten Mal an? Wie es aussieht, habe ich Glück, dass ich noch lebe. Warum bist du nicht früher gekommen? Ihr Devanthar habt uns nach Nangog geführt und nun, da wir euch brauchen, helft ihr uns nicht!«

Mein Bruder Langarm wird nicht erfreut sein, wenn er diesen Helm sieht. Er hat ihn erschaffen. Und was die Elfen angeht … Warst nicht du es, der zu ihnen gekommen ist? Ich habe die Spuren draußen vor der Höhle und im Wald gesehen. Und was glaubst du, warum sie den Kampf abgebrochen haben? Weil sie mich kommen spürten! Wenn ich nicht hier wäre, wäret ihr alle tot, log er. Du solltest dankbarer sein.

Der Unsterbliche senkte den Kopf. »Sie waren Späher, nicht wahr?«

Vielleicht … Wenn sie Späher waren, dann werden mehr von ihnen kommen.

Aaron fluchte. »Wie sollen wir uns gegen sie wehren? Dort draußen liegen einige meiner besten Krieger – tot. Es ist aussichtslos.«

Sie sind wenige, Aaron. Ihr Menschen seid unzählig. Wenn ihr alle für dieselbe Sache kämpft, seid ihr unbesiegbar. Die Elfen wissen das und fürchten euch.

Die Zweifel Aarons waren unübersehbar. Doch was scherte ihn der Menschensohn? Er musste zu seinen Brüdern und Schwestern. Sie mussten erfahren, was hier geschehen war. Er ging zum Ausgang, doch Aaron verstellte ihm den Weg.

Was willst du?, zischte der Ebermann gereizt. Du hast heute schon einmal Glück gehabt. Fordere es nicht ein zweites Mal heraus.

»Ich erbitte nichts für mich. Eine Prinzessin aus Ischkuza braucht dringend deine Hilfe. Sie ist bedeutend. Sie …«

Wenn sie bedeutend wäre, würde sich mein Bruder, der über Ischkuza wacht, um sie kümmern.

»So wie der Löwenhäuptige sich um mich kümmert?«

Die Augen des Menschen funkelten vor Zorn. Seine Impertinenz war wirklich erstaunlich. Er hatte Unterhaltungswert. Es gibt nichts im Leben ohne einen Preis. Was würdest du mir bieten?

»Ich schulde dir einen Gefallen, wenn du sie heilst.«

Der Ebermann lachte auf. Das ist gut. Welchen Gefallen könntest du mir wohl tun, Sterblicher?

Aaron schüttelte plötzlich den Kopf. Was wohl mit ihm los war? Einen eigenartigen Kerl hatte sich sein Bruder da als Herrscher ausgesucht.

»Ich bin der Unsterbliche von Aram. Eines der sieben Großreiche. Jeder siebente Mensch ist also mein Untertan. Du sagst, ein Krieg mit den Daimonenkindern der Anderswelt wird kommen. Vielleicht brauchst du eines Tages sehr viele Schwerter. Ich gebiete über Zehntausende Krieger. Ist das eine Macht, die dir eines Tages von Nutzen sein könnte?«

Er war nicht auf den Mund gefallen, dachte der Devanthar. Was kostete es ihn schon, ihm einen Gefallen zu tun? Zeig sie mir!

Eilig brachte Aaron ihn nach draußen. Außer dem blonden Krieger hatten sich alle Menschen, die noch laufen konnten, zum Waldrand zurückgezogen. Der Ebermann genoss es, ihre Angst zu spüren. Er hatte diese Gestalt erwählt, weil sie Furcht einflößte. So wanderte er, wenn er in Ruhe gelassen werden wollte.

Die Prinzessin war ein junges Mädchen und wenig eindrucksvoll. Sie trug eine grellrote Hose und hatte sich eine Paste aus Asche unter die Augen geschmiert. Nicht sonderlich hübsch, wie er fand. Unter dem wachsamen Blick des blonden Kriegers kniete er neben ihr nieder. Eine farblose Flüssigkeit, durchsetzt mit Blutschlieren, troff aus ihrer Nase. Ihre Augenhöhlen waren eingeblutet. Er strich ihr mit der Krallenhand über den Kopf, und sie stöhnte leise.

Ihr Schädelknochen ist gebrochen. Ich denke, sie wird ohne starke Schmerzen in den nächsten Stunden sterben.

»Du musst sie retten!«

Er blickte zu dem Unsterblichen auf. Es war erstaunlich, wie sehr er wegen dieser Frau litt. Liebe war eine giftige Frucht, dachte der Ebermann. Es würde ihn keine große Mühe kosten, sie zu heilen, aber er war neugierig, worauf sich Aaron einlassen würde, um sie zu retten. Ich muss gar nichts für dich tun, sagte er kühl.

»Bitte. Hilf ihr. Ich …«

Er schnitt ihm mit einer harschen Geste das Wort ab. Wenn ich ihr helfe, schuldest du mir einen Gefallen. Eines Tages werde ich kommen und ihn einfordern. Und ich rate dir, dann nicht zu zögern. Wenn ich sie rette, liegt ihr Leben von nun an in meiner Hand. Und wenn du dich weigerst, deine Schuld zu begleichen, wenn ich zu dir kommen werde, wird sie im selben Augenblick aufhören zu atmen.

»Was wirst du von mir fordern?«

Er schüttelte den Kopf. Alles zu seiner Zeit. Das wirst du erst erfahren, wenn ich zu dir komme.

Wahrscheinlich würde er niemals kommen, dachte er. Was konnte ein Mensch schon für einen Devanthar tun?

Der Blonde zischte Aaron etwas zu. Vermutlich riet er seinem Herrscher davon ab, sich auf diesen Handel einzulassen, doch dieser schüttelte den Kopf und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich nehme an.«

Der Devanthar war von der Geste überrascht. Dass man auf einen Handel einschlug, kam ihm erstaunlich bäuerlich vor, und er unterließ es. Mir reicht dein Wort.

Zu heilen war eine Spielart der Magie, mit der er sich nur selten beschäftigte. Aber heute hatte er ja bereits reichlich Erfahrungen mit gebrochenen Knochen und der Anatomie von Menschen sammeln können.

Er wurde im Geiste eins mit der Prinzessin, stimmte sich ganz auf ihren Körper und dessen Verletzungen ein. Den Knochen zusammenwachsen zu lassen war nicht genug. Die Haut, die ihr Hirn umgab, war eingerissen und einige kleinere Blutgefäße waren geplatzt. Auch musste er den Verlust an Gehirnflüssigkeit ausgleichen. Er dachte sich ganz in sie hinein, erfühlte sie, tiefer, als sie es selbst jemals vermögen würde. Sie hatte erstaunlich viele Narben auf ihrem Körper.

Als sein Werk vollendet war, fühlte er sich erschöpft. Ein neuer Tag dämmerte herauf. Erstes Morgenlicht sickerte durch das dichte Laubwerk. Zufrieden mit sich blickte er in das Antlitz der Prinzessin. »Wenn sie erwacht, wird sie wieder völlig gesund sein.«

»Ich danke dir!« Der Unsterbliche kniete vor ihm nieder und küsste ihm die Krallenhand. »Danke!«

Er konnte ihm ansehen, dass Aaron noch etwas anderes als Dank auf der Zunge lag.

Ja?

»Wir …« Der Unsterbliche strich sich nervös über den Bart. »Wie kommen wir hier fort?«

Der Ebermann lachte auf. Das ist nicht meine Sorge. Und ich fürchte, es gibt nichts mehr, was du mir noch zu bieten hättest.

»Wir wissen nicht einmal, wo wir sind. Dieser Wald erstreckt sich mehr als zweihundert Meilen in jede Richtung. Wie kommen wir in die Goldene Stadt zurück?«

Der Ebermann schnaubte amüsiert. Wenn du meinem Bruder etwas bedeutest, dann wird er dich finden. Oder er wird ein Schiff schicken. Genieße die Zeit, die dir hier im Wald bleibt, Aaron von Aram. Vielleicht werden es deine letzten friedlichen Tage sein.

Ein unermesslicher Schatz

Artax hatte sich in die Kristallhöhle zurückgezogen. Er kam immer wieder hierher, wenn er allein sein wollte, denn die meisten der Überlebenden mieden diesen Ort. Drei Tage warteten sie nun schon darauf, dass jemand kam, und langsam fragte er sich, ob der Löwenhäuptige einen anderen unsterblichen Aaron erschaffen hatte.

Dann wären wir nicht mehr hier, Dummkopf!

Es sei denn, er hätte entschieden, dass ihr genauso entbehrlich seid wie ich, dachte Artax mit boshafter Freude.

Undenkbar! Wir dienen Aram seit Jahrhunderten. Wir sind unverzichtbar.

Ganz in seine Gedanken verloren, betrachtete Artax das unstet flackernde Licht, das durch die Kristalle glitt. Manchmal hatte er das Gefühl, dass es auf seine Stimmungen reagierte. War er aufgeregt, flackerte es stärker, war er aber so ruhig wie jetzt, glitt es einfach durch die Wände. Er konnte ihm stundenlang zusehen und brüten.

Konnte er es sich leisten, sich aus Nangog zurückzuziehen? Dutzende Male hatte er sich diese Frage gestellt. Und die Antwort blieb immer gleich. Nein! Sollte er es tun, würde der Löwenhäuptige ihn ersetzen. Und falls das nicht geschah, würde er jegliches Ansehen bei den anderen Unsterblichen verlieren. Sie würden ganz gewiss nicht gehen. Sie konnten es sich längst nicht mehr leisten. Genauso wenig wie Aram. Wenn er alle Besitzungen und Ansprüche seines Reiches aufgab, würde eine schreckliche Hungersnot ausbrechen. Längst schon waren sie abhängig von dem Korn und dem Reis, das aus dieser Welt kam. Zehntausende würden verhungern, wenn die Goldene Pforte sich für Aram verschloss und keine Lebensmittel mehr aus der Neuen Welt kamen. Also, dachte Artax, musste er kämpfen. Sie alle mussten das – und zwar am besten gemeinsam. Wenn die sieben Unsterblichen ihre kleinlichen Rivalitäten überwinden und alle vereint fechten würden, hätten sie eine gewaltige Macht. Ihre Bogenschützen könnten den Himmel mit Pfeilen verdunkeln. Dicht wie Hagelschlag würden die Geschosse auf die Daimonen der Anderswelt niedergehen. Dem konnten nicht einmal die Elfen gewachsen sein.

Ja, dachte Artax, das war es, was er erreichen wollte. Er musste einen Weg finden, um Muwatta an den Verhandlungstisch zu zwingen. Wenn sie beide in wenigen Monden ihre Heere auf der Ebene von Kush aufmarschieren und das Schlachten beginnen ließen, wäre das nichts als eine sinnlose Verschwendung von Menschenleben. Aber wie sollte er die Schlacht vermeiden? Trat er seine Provinz einfach an Muwatta ab, würde er unter den anderen Unsterblichen nichts mehr gelten. Wer würde ihm dann noch folgen, wenn er sie alle zu einem großen Rat einberief, um sie auf eine gemeinsame Zukunft einzuschwören? Niemand! Um anerkannt zu sein, brauchte er also einen Sieg. Und da biss sich die Katze in den Schwanz.

Er seufzte. Wenn nur Juba noch an seiner Seite wäre! Der Kriegsmeister hätte wahrscheinlich auch keinen Rat gewusst, aber seine unerschütterliche Zuversicht wäre tröstlich gewesen.

Ein leiser, bewundernder Pfiff riss ihn aus seinen Gedanken. »Ist sich das Prächtigste, das je gesehen ich habe. Hat sich nicht einmal König so ein Zimmer. Kann mich verstehen, dass du bist so viele Stunden hier.« Volodi und sein Freund Kolja hatten sich durch den Spalt in die Höhle gedrängt. Mit weit aufgerissenen Augen sahen sie sich um. Kolja, der im Kampf gegen die Elfen seinen linken Arm verloren hatte, hatte sich den Stumpf mit Lederbändern eng an den Leib geschnürt. Eigentlich sollte er nicht herumlaufen, dachte Artax.

»Wird sich machen viel Arbeit, zu holen von Wänden all das. Aber wir schaffen!« Volodis Augen sprühten vor Tatendrang. »Machen wir dich schönes Zimmer in sich deinem Palast. Dürfen wir uns behalten ein oder zwei von die große Glitzersteine?«

»Ihr rührt hier nichts an!«, herrschte er sie erschrocken an. »Diese Steine sind verwunschen. Ein Fluch liegt auf ihnen. Die Grünen Geister werden sich gegen jeden wenden, der es wagt, einen der Steine fortzubringen. Alles bleibt hier, wie es ist. Geht jetzt hinaus.«

Die Drusnier schienen kein Verständnis für seine Entscheidung zu haben.

»Ist sich unermesslicher Schatz …«, versuchte es Kolja noch einmal.

»Und er bleibt hier«, sagte Artax entschieden.

Die beiden gingen ohne weiteren Widerspruch. Als er allein war, trat Artax an die baumdicke Säule in der Mitte der Höhle. Er legte beide Hände auf den Kristall und eine ihm bis dahin unbekannte Melancholie überfiel ihn. Ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, die Welt zu verbessern, gab es doch mehr Rückschläge als Erfolge, ganz so, als sei es das Schicksal selbst, das ihn in Fesseln geschlagen hielt.

Was wunderst du dich? Es ist nicht unsere Aufgabe, die Welt zu verbessern. Wir sind Diener der Devanthar. Wann hast du den Löwenhäuptigen je gefragt, was er von dir erwartet? Du tust die verrücktesten Dinge, du scherst dich einen Dreck um unseren Rat und jetzt stehst du hier und jammerst. Verreck doch endlich, Bauer! Du bist Herrscher! Dich erwartet keine Dankbarkeit. Das ist unvereinbar mit Herrschaft. Im besten Fall bist du mit Speichelleckern umgeben, die dir nach dem Mund reden. Den beiden Irren, die gerade gegangen sind, trauen wir übrigens nicht. Du hättest sie über Bord werfen und stattdessen Juba behalten sollen. Du machst einen Fehler nach dem anderen. Selbst hier und jetzt sitzt du nur fest, weil du unter hundert Weibern in deinem Harem keine finden wolltest und stattdessen dieser ungewaschenen Ischkuzaia-Prinzessin nachstellst. Verrecke, Artax! Verreck endlich! Wir haben es so satt, dir hilflos zusehen zu müssen!

Ha!, dachte Artax. Am Ende all der Beleidigungen Aarons stand zumindest ein kleiner Sieg. Sein Quälgeist war hilflos und verzweifelt. Schön, dass die Aarons dieses Gefühl auch einmal kennenlernten.

»Brauchst du Gesellschaft?« Shaya stand im Eingang zu Höhle. Misstrauisch betrachtete sie die Kristalle und die geisterhaften Lichter darin. »Deine beiden drusnischen Totschläger halten Wache am Eingang und verscheuchen jeden, der auch nur in die Nähe der Höhle kommt. Das machen sie jedes Mal, wenn du dich hierher zurückziehst.«

»Und du durftest hinein?«

»Volodi hat nach mir gesucht. Er macht sich Sorgen um dich.« Sie sah ihn forschend an. »Gibt es Grund, sich Sorgen zu machen?«

Er lächelte. Es war gut, sie hier zu haben. Artax war überrascht, wie feinfühlig Volodi war. Sie zu schicken war eine gute Entscheidung gewesen. Der Ebermann hatte Shaya geheilt, und ganz gleich, welchen Preis er eines Tages fordern mochte – ihr Leben war ihm alles wert. »Vielleicht sollte man sich um meinen Geschmack, was Leibwächter angeht, Sorgen machen?« Er lächelte.

»In der Tat. Als ich hereinkam, konnte sich das Narbengesicht nicht verkneifen, mich darauf hinzuweisen, diese Höhle sei genau der richtige Ort für Leute, die mit einem goldenen Pisspott unter dem Arsch auf die Welt gekommen seien. Ich kann nicht begreifen, wie du jemanden, der sich solche Frechheiten herausnimmt, in deiner Leibwache dulden kannst.«

»Diese Frechheiten sind das Salz eintöniger Tage.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du bist zu leichtfertig!«

Er deutete auf die Kristallwände. »Und das hier beeindruckt dich nicht im Mindesten?«

Sie schenkte dem Zauber der Höhle keinen Blick, sondern sah ihn unverwandt an. »Du weißt doch, dass mein Volk sich nicht viel aus Steinen und Palästen macht. Was ist das hier schon im Vergleich zum Anblick der blühenden Steppe im Frühling? Das ist ein Anblick, der Leben verheißt. Hier um uns herum ist alles tot.«

Er ging auf sie zu, nahm ihre Hand und legte sie auf seine Brust. »Was du hier fühlst, lebt. Mein Herz schlägt für dich. So stark und verzweifelt. Ich muss dich verlassen. In unserer Heimat ist der Mittwinter nahe. Ich muss beginnen, meine Heere zu versammeln, um eine Schlacht zu schlagen, die mir aufgezwungen wird und in der Tausende Krieger sterben werden. Tausende Krieger, die wir nur allzu bald hier auf Nangog brauchen werden, wie es scheint. Und die, an der mir am meisten liegt in meinem Leben, muss ich zurücklassen. Ich bin ein Unsterblicher, einer der sieben Mächtigsten unserer Welt – und meine Entscheidungen liegen in Fesseln. In der Schlacht über den Wolken habe ich diesen Piraten Tarkon Eisenzunge einen Moment lang beneidet, als er von seiner Freiheit sprach.«

Shaya runzelte die Stirn. »Ich beneide niemals Tote!«, sagte sie entschieden. Dann küsste sie ihn. »Lass uns die wenigen Tage, die uns noch bleiben, nicht mit schweren Gedanken vergeuden.«

Artax sah sie verwundert an. Das bevorstehende Massaker schien sie nicht zu berühren. Wie konnten ihr Tausende, die sterben würden, egal sein? Zum ersten Mal wünschte er sich, sie hätte mehr von der Almitra seiner Träume. Almitra hätte sich mit ihm an den Esstisch ihres Bauernhauses gesetzt und die ganze Nacht mit ihm gemeinsam nach einer Lösung gesucht. Aber war es gerecht, Shaya an einer Traumfrau zu messen? Er versuchte seine Enttäuschung zu überspielen und nahm ihre Hände. »Ich werde zu dir zurückkommen. Ganz gleich, ob die Götter unsere Liebe verbieten!«

Sie lächelte. »Ich weiß, denn du bist unvernünftig. Und genau das liebe ich an dir.«

Schulden

Volodi blickte zum Horizont, wo die Abendsonne in einem Himmel aus Blut versank. Fünf Tage hatten sie im Wald bei der Kristallhöhle warten müssen, bis ein Wolkenschiff erschienen war, um sie zu holen. Es war eines der kleinsten Himmelsschiffe des Unsterblichen gewesen. Eines, das kein Aufsehen erregte, wenn es die Goldene Stadt verließ, um zu einer vermeintlichen Patrouillenfahrt aufzubrechen. Dennoch bot es unendlich mehr Luxus als die Kähne, auf denen sie vorher über den Himmel gezogen waren. Es gab große Mannschaftsquartiere, keiner musste an Deck schlafen und das Essen war gut. Dennoch blieb die Stimmung an Bord bedrückt. Sie waren zwar froh, noch am Leben zu sein, aber das Gefühl der doppelten Niederlage ließ sie nicht los. Besiegt von den Piraten und von den Daimonenkindern. Trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit!

Sie alle waren auserwählte Krieger, bewährt in Dutzenden Kämpfen. Aber was zählte das, wenn sie gegen Ungeheuer und Daimonen antreten mussten? Und sie alle ahnten, dass es solche Kämpfe in Zukunft erneut geben würde. Die Daimonen waren Späher gewesen; weitere ihresgleichen würden folgen. Ja, dachte Volodi, die blutroten Wolken am Himmel waren ein Spiegelbild ihrer Zukunft. Die Himmel und Wälder Nangogs würden in Blut getränkt werden. Er seufzte. Im Grunde war es müßig, sich über eine Zukunft den Kopf zu zerbrechen, die er ohnehin nicht ändern konnte.

Seine Gedanken schweiften zu Quetzalli. Er konnte sie einfach nicht vergessen und er wollte nicht glauben, dass sie ihn auf einen Opferstein gezerrt hätte. Sie war so herrlich anders gewesen als alle Frauen, die er kannte. War auf ihn zugegangen, hatte ihn begehrt, und dann hatten sie einander bis zur Bewusstlosigkeit geliebt. Das war doch prima, dachte Volodi. So erfrischend einfach und geradeaus und ohne dieses ständige Gerede. Dass sie ihn wollte, nein, das war sicherlich nicht vorgespielt gewesen. Ebenso wenig wie ihre Liebe zu ihm. Wenn sie einander doch noch einmal wiedersahen, würde er gleich einen Übersetzer dazu holen – nur am Anfang und nur, um ein paar Dinge zu klären.

Volodi dachte an Mitja. Er hatte dem Übersetzer kein Glück gebracht. Ob sich das auf dem Platz der tausend Zungen herumsprechen würde? Würde er jemals wieder einen Übersetzer finden, der für ihn arbeiten wollte? Mitja hatte seinen Platz auf den kleinen Wolkensammlern der Ischkuzaia seiner Tochter überlassen. Während Juba das Mädchen mit Gewalt in ihr Fluggeschirr hatte schnallen lassen, war der Übersetzer zu ihm, Volodi, gekommen. Er hatte ihm erneut das Versprechen abgenommen, sich um das Mädchen zu kümmern und Kolja von ihr fernzuhalten, und er hatte zugesagt. Aber das Mädchen wollte nichts von ihm wissen. Sie gab ihm die Schuld am Unglück ihres Vaters. Verübeln konnte er ihr das nicht. Wieder seufzte er, denn er wusste beim besten Willen nicht, was er mit ihr anfangen wollte. Im Palast bleiben wollte sie nicht, aber in der Goldenen Stadt konnte er sie kaum beschützen.

»Hochnäsiges Arschloch verdammtes …« Kolja kam zu ihm herüber, lehnte sich an die Reling und spuckte über Bord.

Volodi kam eine Ablenkung von seinen düsteren Gedanken gerade recht. Kolja war im Moment zwar keine gute Gesellschaft, aber immer noch besser als gar keine Gesellschaft. Es ging seinem Kameraden nicht gut. Er war schwach und ein schleichendes Fieber zehrte an ihm. Koljas Verband war von Blut durchtränkt. Die Wundnähte an seinem Armstumpf öffneten sich immer wieder. Bislang hatte noch kein Heilkundiger danach gesehen. Es gab keinen hier an Bord. Ebenso wenig wie es einen im Wald gegeben hatte. Es war Volodi gewesen, der die Wunde gemeinsam mit dem Lotsen Nabor versorgt hatte – so gut sie es konnten. Und das war nicht sonderlich gut. Kolja versuchte seine Schmerzen zu überspielen, aber er war kein guter Schauspieler. Er war immerzu gereizt und fluchte halblaut vor sich hin.

»Über Bord sollte man den schmeißen, wie einen Ballastsack! Verdammter eingebildeter Dreckskerl!«, murrte Kolja.

»Von wem sprichst du?«

»Von dem Lotsen von diesem Mistkahn natürlich! Mögen die Läuse seinen Bart niemals verlassen! Ich wollte ihm den Arsch vergolden und er hat mich nicht einmal zu Ende reden lassen! Ich wollte dieses Schiff leihen. Niemand wird diesen Kahn in der Goldenen Stadt vermissen. Der Unsterbliche hat ein halbes Dutzend Wolkenschiffe wie dieses. Aaron hätte seinen Teil abbekommen. Stattdessen wird das Schiff über der Stadt vor Anker liegen und ihn jeden Tag Gold kosten, statt welches einzubringen. Es sind Kleingeister wie dieser Lotse, die den Unsterblichen eines Tages noch ruinieren werden!«

»Du wolltest ein ganzes Wolkenschiff anmieten?« Volodi traute seinen Ohren nicht. »Wozu?«

»Liegt das nicht auf der Hand?« Kolja sah sich misstrauisch um. Dann hob er kurz seine Tunika und zog etwas darunter hervor, das in ein schmutziges Tuch gewickelt war. Vorsichtig zog er den Stoff auseinander. Darin verborgen lag ein faustgroßer grüner Kristall. »Wir sind über den größten Schatz dieser verdammten Welt gestolpert, und was tut unser Herrscher? Er lässt alles im Wald liegen! Ich fasse das nicht …«

Volodi beugte sich dicht über den Kristall. Er hatte kein gutes Gefühl bei dieser Sache. »Das Licht in dem Ding ist verloschen.«

»Ja, das ist ärgerlich. Aber er ist auch so noch ein Vermögen wert.«

»Der Unsterbliche glaubt doch, dass die Steine verhext sind. Du wirst dir damit nur Ärger holen …«

Kolja lachte. »Das sagt der Mann, der es für eine gute Idee hielt, einem Zapote-Priester einen Opferdolch zu stehlen und dann mich in die ganze Angelegenheit hineinzuziehen? Du hast noch Schulden bei mir, Volodi. Normalerweise bin ich nicht kleinlich … Aber ich kann es nicht leiden, wenn man Schulden bei Kameraden einfach abtut. Und was das verdammte Wolkenschiff angeht – das brauchen wir, um hierher zurückzukommen und diesen Riesenhaufen Klunker abzuholen! Ich merke mir jeden Baum auf dem Weg hierher. Jeden einzelnen. Ich bin im Wald aufgewachsen, wie du. Ich kenn mich aus mit Bäumen, ganz gleich, auf welcher Welt sie stehen. Und ich schwöre dir, ich werde diese Höhle wiederfinden.«

Volodi blickte über das Meer aus Wipfeln, über das sie hinwegglitten. Er selbst würde den Weg niemals zurückfinden.

»Und? Bist du dabei? Oder stellst du dich auf die Seite der hochwohlgeborenen Arschlöcher, die sich edel und klug fühlen, wenn sie ein Vermögen im Wald liegen lassen?«

Volodi seufzte. Was sollte er dazu sagen? Kolja hatte recht. Er hatte wirklich noch Schulden. Ihm nicht zu helfen wäre klug, aber ehrlos. Als sonderlich klug hatte er noch nie gegolten – was würde von ihm bleiben, wenn er seine Ehre verlor?

»Ich bin dabei«, sagte er mit dem mulmigen Gefühl, gerade den größten Fehler seines Lebens begangen zu haben.

Neue Ziele

Nachdenklich betrachtete ER den Dolch. Mit seinen Menschenhänden fuhr er über das bläuliche Wellenmuster auf der Klinge, den kostbar gearbeiteten Griff. Eine wunderbare Waffe! Nicht nur ein Tötungswerkzeug, nein, auch ein Schmuckstück. Mit Hingabe geschaffen. Anders als den Drachenwaffen schien ihm kein Makel anzuhaften. Jedenfalls deutete die magische Matrix nicht darauf hin. Aber es war etwas anderes … Mit der Waffe waren dunkle Taten vollbracht wurden.

ER dachte an SEINEN ersten Mord. Sie war die Unschuldigste von allen gewesen. ER hätte sie verschonen müssen.

Der Drache blickte auf das weite Meer. ER hatte Menschengestalt angenommen. Es war ein einsamer Küstenstrich. Eine Meile entfernt lag ein kleines Fischerdörfchen. Marcilla hieß es. Unbedeutend, aber in guter Lage. Vielleicht würde irgendwann einmal eine Stadt daraus erwachsen. Doch jetzt war dieser Küstenstrich fast menschenleer.

Tage hatte ER damit verbracht, seinen Weg hierherzufinden. ER war durch mehr als ein Dutzend Albensterne getreten und sorgsam darauf bedacht gewesen, willkürlich zu reisen und keinem erkennbaren Muster zu folgen. Keine Fährte zu hinterlassen! Seit der Dunkle IHN in der Zwergenstadt fast aufgespürt hatte, nahm ER nie zweimal denselben Weg. Warum SEIN Bruder dieser Elfe Nandalee wohl so viel seiner kostbaren Zeit widmete? Möglicherweise hatte er sie sogar in das Geheimnis um die verschwundenen Alben eingeweiht. In das Wenige, das er wusste …

In den vergangenen Monden war diese Elfe nützlich gewesen. Aber nun hatte sie ihre Nützlichkeit überlebt. Es war besser, sie auch verschwinden zu lassen. Es war nicht mehr notwendig, dass sein Bruder abgelenkt wurde.

ER hatte seine Schlachtreihen geordnet, dachte der Drache zufrieden. Die Himmelsschlangen waren hinter IHM vereint. Ausnahmslos alle waren überzeugt, dass man gegen die Devanthar vorgehen musste. Sein Bruder, der Erstgeschlüpfte, war isoliert, die Alben geschwächt. Nun konnte der eigentliche Kampf beginnen. Die Vernichtung der Devanthar. Wenn ER sie auslöschte, würde Albenmark für alle Zeiten in Frieden weiterbestehen. Die Menschen würden von Nangog verschwinden und der alte Vertrag wäre wieder erfüllt.

Aber wie mochte er an die Devanthar gelangen? Sie zu töten würde nicht leicht werden. Sie waren argwöhnischer als die Alben. Verschlagen! Man müsste sie alle zur gleichen Zeit erwischen – sie so sehr bedrängen, dass sie sich versammelten. ER lächelte. Ein Plan reifte in IHM! Bald schon würde der Tod SEINES purpurnen Nestbruders gerächt sein.

Nun blieb nur noch der Dolch. Das Meer unter der Klippe war tief. Niemand würde diese Waffe dort suchen. Sie würde für alle Zeiten verschwinden. Ein letztes Mal betrachtete ER das bläuliche Wellenmuster auf der Klinge. Vollendete Schmiedekunst! Eine Waffe, um Götter zu töten. SEINE dunklen Taten hatten sie verändert. Wenn sie in die Hände von Menschen fiel … Nein, dachte ER, das würde nicht geschehen! ER holte aus und warf den Dolch in weitem Bogen ins Meer. Nun war er für immer verschwunden. Niemand würde ihn je dort unten finden.

ER wandte sich ab. Ein langer Weg lag vor IHM, und ER würde sehr vorsichtig sein müssen. Erneut durch viele Albensterne schreiten, lange Wanderschaften über Land machen und alles tun, um SEINE Spur zu verwischen. Sobald ER zurück war, würde ER einen anderen Dolch nutzen. Einen aus Fleisch und Blut – den besten SEINER Elfenmörder! Es war an der Zeit, andere für IHN morden zu lassen.

Ein junger Trieb

Das Erdreich war zu Glas zerschmolzen! Lyvianne streifte ziellos über den Hügel, auf dem sie so viele schreckliche Stunden verbracht hatte. Es war unverkennbar, wessen Zorn Matha Naht auf sich herabgerufen hatte. Wie hatte sie nur mit einer der Himmelsschlangen in Streit geraten können? Und welche mochte es gewesen sein? Gewiss nicht der Goldene!

Lyvianne suchte nach einem Stumpf, nach irgendetwas, das geblieben war. Doch da war nichts. Wer auch immer hierhergekommen war – er war sehr gründlich gewesen.

Hatte der Goldene gewusst, was geschehen würde? Er hatte ihr im letzten Frühjahr dazu geraten, Matha Naht um einen ihrer jungen Triebe zu bitten. Sie hatte das falsch verstanden, als ein Zeichen von Unterwerfung und völliger Hingabe aufgefasst. Und sie hatte sie gedemütigt, ehe sie Lyvianne ihre Bitte erfüllt hatte.

Die Elfe dachte an Gonvalon. Wohin ihn seine Reise wohl führte? Er sollte jetzt hier bei ihr stehen, auf dem gläsernen Grab seiner Peinigerin. Lyvianne empfand zugleich Bedauern und Genugtuung über das Schicksal des Holunders. Sie hatte eine kundige Lehrerin verloren. Sie kannte niemand anderen, der sie auf die dunklen Pfade der Blutmagie führen würde. Aber ihr Sohn war nun gerächt! Wo Gonvalon jetzt wohl war? Konnte er wieder gehen? Sie hatte den Verdacht, dass er Nandalee gefunden hatte, denn Nandalees bevorzugtes Schwert, der Todbringer, sowie ihre Freundin Bidayn waren eines Nachts aus der Weißen Halle verschwunden. Unter den Schülern kursierten die phantastischsten Gerüchte, was geschehen sein mochte. Nur einer war auffällig still, Eleborn, der so gerne Zauber um Wasser und Licht wob. Sie sollte sich seiner annehmen.

Lyvianne ließ den Blick über den verwüsteten Hügel schweifen. Bald schon würde sie in die Snaiwamark reisen und ein unwirtliches Tal suchen, in dem es warme Quellen gab. Dort würde sie den Holunder den Launen der Natur überlassen. In dem jungen Trieb hatte sie nichts von Matha Nahts bösartiger Präsenz spüren können. Vielleicht dauerte es Jahrhunderte, bis sie zu ihrer alten Macht zurückfand? Vielleicht war sie auch für immer gegangen?

Lyvianne war schleierhaft, wie sich der Baumgeist mit einem so übermächtigen Gegner hatte anlegen können. Hatte Matha Naht nicht gewusst, was sie erwarten würde? In einer Welt, für die sich die Alben nicht mehr zu interessieren schienen, waren die Himmelsschlangen mächtig wie Götter. Und sie war eine der wenigen Auserwählten dieser Götter. Wer sich den Drachenelfen in den Weg stellte, der war verdammt – ganz gleich, wie mächtig er sein mochte. Lyvianne hob einen der schwarzen Glasklumpen auf. Er sollte sie künftig daran erinnern, dass sie über Kreaturen wie Matha Naht hinausgewachsen war.

Hochzeitspläne

Muwatta betrachtete die toten Wachen in dem engen Turmzimmer. Sie waren rings um das verloschene Feuer eingeschlafen und nie mehr erwacht. Einer von ihnen war von seinem Hofarzt ausgekleidet worden und lag auf dem Bauch. Der Rücken hatte sich leuchtend rot verfärbt.

»Was ist mit ihm?«, fragte der Unsterbliche in jenem einstudierten Tonfall, der eher Langeweile als wirkliches Interesse suggerierte.

»Leichenflecken, Erhabenster«, sagte der Hofarzt unterwürfig. »Sie entstehen dort, wo sich das Blut sammelt. Ich habe ihn auf den Bauch gedreht, deshalb kann man sie jetzt besser studieren. Sie sind nicht so dunkel wie sonst …«

»Wurden sie vergiftet?«

»Ich habe an ihren Mündern gerochen, und ich glaube nicht, dass Gift verwendet wurde. Es gibt auch keine Verfärbungen, die auf eine Vergiftung hindeuten. Freilich müsste ich noch ihre Innereien …«

Muwatta unterbrach ihn mit einer Geste. »Ich will nicht wissen, was du in ihren Eingeweiden suchst. Unterrichte mich, falls du etwas finden solltest!«

Angewidert wandte sich der Unsterbliche ab. Was dachte sich dieser Kerl? Konnte er überhaupt denken? Ihn mit solchem Schmutz zu behelligen!

Der Hofarzt verbeugte sich tief und vermied es, ihn anzublicken. Er schien bemerkt zu haben, dass er einen Fehler gemacht hatte.

Muwatta verließ die Turmkammer. Es war ein kalter Spätherbsttag. Graue Wolken hingen tief am Himmel. Solche Tage drückten ihm auf das Gemüt. Und diese zehn Toten! Männer seiner Leibwache. Man hatte ein Schwalbennest im Rauchabzug des Turmzimmers gefunden. Es hatte sich vom Mauerwerk gelöst, war tiefer gesackt und hatte so den Abzug verstopft. Es war nur ein Unfall gewesen – nur ein Unfall! Muwatta hätte es damit auf sich beruhen gelassen, hätte er nicht jenen ausgesucht hässlichen Kerl unter den Toten gesehen. Den mit der völlig vernarbten Oberlippe. Er erinnerte sich an ihn. Das war einer der Krieger gewesen, die das Feuer an die Schilfbündelhallen gelegt hatten – und nun war er ebenso erstickt wie die Mehrzahl der Gefolgsleute Aarons, die in der Nacht der Himmlischen Hochzeit den Tod gefunden hatten. War das wirklich ein Zufall? Oder hatte jemand nachgeholfen, damit das Schwalbennest den Rauchabzug verstopfte? Sollte es so gewesen sein, dann hatte sich ein Mörder in seinen Palast gewagt! Vielleicht war er sogar noch hier! Wer würde dann wohl sein nächstes Opfer sein? Seine inneren Stimmen, die ihn sonst so gerne über seine Pflichten und die Staatsgeschäfte belehrten, blieben diesmal stumm. Nicht einmal auf sie konnte er sich verlassen, dachte Muwatta ärgerlich.

Plötzlich warfen sich alle Höflinge rings um ihn herum zu Boden und seine Leibwachen knieten ehrerbietig nieder. Išta hatte den Hof betreten. Sie ging mit weiten Schritten, ohne eilig zu wirken. Er starrte auf ihre schlanke Hüfte und die sanft wippenden Brüste. Mit ihr die Himmlische Hochzeit zu feiern war sein Traum. Ein dummer Traum! Wenn sie seine Gedanken las … Er blickte zu der offenen Tür des Turms. Deutlich sah er den nackten Toten mit seinem rotfleckigen Rücken. Rote Flecken, dachte Muwatta.

Du wirkst bedrückt, erklang ihre Stimme in seinen Gedanken. Er hasste es, wenn sie in ihm las und er ihr völlig ausgeliefert war.

Fürchtest du, Aaron hat dir einen Meuchler geschickt?

Er konnte darauf nicht antworten! Nicht umgeben von Höflingen und Leibwachen. Er war der unsterbliche Muwatta! Er kannte keine Furcht! Nicht, wenn gemeine Sterbliche in Hörweite waren!

Du kannst ruhig schlafen. Sie trat vor die Tür, die zum Turmzimmer führte, und bückte sich. Mit spitzen Fingern pflückte sie einen weißen Faden von den verzogenen Türbrettern, hielt ihn kurz hoch und schnippte ihn dann davon. Muwatta hatte begriffen. Jemand hatte die Tür abgedichtet, damit der Tod schneller zu den Wachen kam. Sie mussten im Schlaf am Rauch erstickt sein. Er schluckte. So wie die Haremsdamen Aarons.

Angst?

Er schüttelte den Kopf.

Išta schnippte erneut mit den Fingern – diese eine flüchtige Geste genügte, und alle, die sich in der Turmkammer befanden, beeilten sich, den stickigen Raum zu verlassen.

Komm her! Ich will mit dir reden. Ich will deine Antworten hören und sie mir nicht im Durcheinander deiner Gedanken zusammensuchen!

Muwatta schaffte es, zu lächeln und in selbstbewusster Haltung in die Kammer voller Toter zu treten. Die Höflinge zogen sich noch weiter zurück. Sie alle hatten verstanden, schien es ihm.

Wie von unsichtbarer Hand bewegt, schloss sich die Tür.

Hast du Angst?, füllte ihre Stimme seine Gedanken. Er wusste, dass sie ihn ganz und gar durchdrang. Sie kannte die Antwort – und noch viel mehr. Sie kannte jede Facette seiner Angst.

»Ja, ich habe Angst. Aber ich vertraue auf dich.«

Sie lächelte, und er hatte das Gefühl, sein Herz würde aussetzen zu schlagen. Heiß und kalt überlief es ihn. Sie schaffte es, im selben Augenblick angsteinflößend und unwiderstehlich zu sein. Er wusste, wenn er sie nicht von sich überzeugte, dann würde sie ihn ersetzen. Noch in dieser Stunde!

Die Meuchlerin, die das getan hat, ist fort. Du musst dich also nicht weiter fürchten.

Er hatte das Gefühl, dass sie ihm etwas verheimlichte. Etwas über diese Mörderin. »Wir müssen diese Morde rächen! Wir sollten auch …«

Es hat nie Morde gegeben. Das hier ist ein Unfall. Es gibt keinen Zusammenhang mit dem Mittsommerfest. Ich wünsche, dass du jegliche Bedenken deiner Lakaien zerstreust! Wenn du hier hinausgehst, dann wirst du ganz der unüberwindliche Muwatta sein!

»Aber wir werden uns doch rächen …«

Wir werden keine Meuchler schicken. Sie wirkte in sich gekehrt. Nachdenklich. Ich glaube nicht, dass mein Bruder, der Löwenhäuptige, weiß, was hier geschehen ist. Vielleicht wird uns das eines Tages von Nutzen sein. Bewahre alles, was du hier siehst, sorgfältig in deinen Erinnerungen.

Muwatta fühlte sich, als sei er für sie nicht mehr als ein ungebranntes Tontäfelchen, auf das sie sich Notizen machte. Und er war sich bewusst, dass all seine Erinnerungen an seinen Nachfolger übergehen würden. Er musste gut sein in seiner Rolle. Und sie unterhalten. Nur dann würde er lange herrschen.

Aaron hat deinen Vorgänger entmannt. Du hast ihn mit den Morden in der Nacht der Himmlischen Hochzeit sozusagen entweibt, und sein sofortiger Aufbruch war die Reaktion eines hitzigen Bauerntrampels. Als Unsterblicher muss er über den Dingen stehen. Er hätte sich nicht angreifbar zeigen dürfen. Stattdessen hätte er darauf eingehen müssen, dass das Feuer ein bedauerliches Unglück war. Wir wissen nun um seine Schwachstelle. Und wenn wir dieses Wissen nutzen, können wir ihn dazu bringen, so zu handeln, wie wir es wollen. Wenn der Löwenhäuptige das erkennt, ist Aaron tot. Der Herrscher Arams ist seine Kreatur. Er wird nicht mit ansehen, wie wir uns seiner bedienen.

Das ließ tief blicken, wie sie über ihn dachte! »Gibt es andere Frauen, durch deren Tod wir ihn treffen können?«

Ich habe Spitzel an seinem Hof und ich weiß, dass er fast nie seinen Harem betritt. Sein Interesse an Weibern scheint nur von begrenzter Natur zu sein. Jetzt weilt er in der Goldenen Stadt in Nangog. Im Palast des Herrschers von Ischkuza.

»Plant er mit dem Strolch noch weitere Überfälle?«

Madyas trifft er dort nicht. Der Unsterbliche weilt irgendwo in den Steppen an seinem Wandernden Hof. Aaron verhandelt in der Goldenen Stadt mit Kanita, dem Statthalter des unsterblichen Madyas – obwohl er diesen auch selbst besuchen könnte. Mir scheint, sein wahrer Grund für den Aufenthalt dort ist ein anderer. Die Palastwache wird von einer jungen Frau befehligt. Von der siebenunddreißigsten Tochter des Madyas. Ein etwas burschikoses Mädchen …

»Du glaubst, er geht ihretwegen dorthin?«

Bisher ist das nur ein Verdacht, ja. Aber ich lasse die beiden beobachten.

»Und wenn er sie begehrt? Sollen wir sie dann töten?«

Sie zog ärgerlich die Brauen zusammen. Zu einfach! Auch wenn es letztlich darauf hinauslaufen mag. Ich wollte stattdessen vorschlagen, dass du mit dem Mädchen die Himmlische Hochzeit zum nächsten Mittsommerfest feierst. Ich glaube, das würde den unsterblichen Aaron noch wesentlich tiefer treffen. Wir sollten alle Vorbereitungen im Geheimen angehen und nicht verkünden, wer die nächste Himmelsbraut sein wird. Der beste Zeitpunkt, ihn erfahren zu lassen, dass du sie bestiegen hast, wäre kurz vor der Schlacht. Sie lächelte ihn an. Du wirst ihn zu einem läufigen Hund machen! Und dann wird er in seiner blinden Wut sein Heer höchstselbst gegen dich zum Angriff führen. Dort werden wir seine Unsterblichkeit auf die Probe stellen. Sie lächelte erneut, so wie nur Göttinnen lächeln können.

Muwatta erschauerte bei dem Gedanken an seine Rache. Sie hatte recht, das würde Aaron vernichten! Der Herrscher Arams war ein Träumer! Deshalb war er in der Hoffnung auf Frieden zur Himmlischen Hochzeit gekommen. Ja, dachte Muwatta, mit Ištas Hilfe würde er den Herrscher aller Schwarzköpfe zerbrechen! Allerdings hatte der Plan eine Schwäche. »Madyas hat vor wenigen Wochen erst die Söldner Arams unterstützt. Warum sollte er mir seine Tochter überlassen? Noch dazu, wo er um die Gefahr wissen wird, die mit dieser Hochzeit verbunden ist. Sollte seine Tochter nicht …«

Sie wird ganz gewiss nicht gebären! Ein Kind aus einer Verbindung zwischen den Unsterblichen von Luwien und Ischkuza … Das bringt nur Ärger! Wenn wir ihr das Richtige zu trinken geben, wird sie ganz gewiss kein Kind austragen, selbst wenn sie eines empfangen haben sollte. Ihr Blut wird den trockenen Acker des Tempels benetzen. Das steht bereits jetzt, vor dem Hochzeitsritual, fest.

»Aber warum sollte Madyas sie uns überlassen?«

Weil er Pferde liebt. Und weil er noch ein Dutzend andere Töchter hat. Wir müssen ihm nur die richtigen Pferde anbieten. Und genug davon. Dann wird er der Hochzeit mit Freuden zustimmen – selbst einer Himmlischen Hochzeit.

Muwatta nickte, und einmal mehr versank er in Ištas wundervollen Augen. Sie war so weise, so schön, so wunderbar. Und er selbst so schwach und makelbehaftet. Er hatte nur einen Ehrgeiz – ihr vollkommenes Werkzeug zu sein. Nein, ganz stimmte das nicht. Er wollte auch noch Aaron vernichten. Voller Vorfreude dachte er an das, was er mit der Steppenprinzessin tun würde.

Das Herz

Gonvalons Bericht war sehr nüchtern gewesen. Anfangs hatte Nandalee sich nur gewundert, doch je länger er sprach, desto mehr ärgerte sie sich. Er hatte doch dasselbe durchlitten wie sie und Bidayn! Ein Blick zu ihrer Freundin zeigte ihr, dass Bidayn wohl ganz ähnlich dachte. Ihre Hand war dick bandagiert und ein Gitterwerk von Narben lief über ihr Gesicht. Immer noch hielt sie den blutigen Wurzelknoten auf ihre Brust gepresst, den sie gefunden hatte, als sie aus der Ohnmacht erwacht waren. Oder der Trance. Oder der Geistreise … Wie auch immer man das nennen wollte, was mit ihnen in der Kristallhöhle geschehen war.

Sie alle drei standen in der weiten Halle unter der Pyramide. Der Dunkle lag in Drachengestalt auf seinem Thron. Fünf Tage lang hatte er sie nach ihrer Rückkehr warten lassen, während Nodon und die übrigen Drachenelfen sich um sie gekümmert hatten, so gut es ging. Nandalee war zu Tode erschöpft gewesen, als sie zurückkehrten, und Bidayn hatte den Schock ihrer mehrfachen Verwundungen bis zum heutigen Tag nicht überwunden. Immer wieder zuckte sie unwillkürlich zusammen und sah sich dann gehetzt um, als fürchte sie, der Ebermann hätte sie wiedergefunden. Gonvalon sprach von ihren Kämpfen, von den seltsamen Kreaturen, die durch die Himmel Nangogs flogen, aber das in ihren Augen bedeutsamste Ereignis hatte er kaum erwähnt. Sie alle hatten in der Kristallhöhle denselben Traum gehabt. Sie waren in das grüne Licht gestürzt. Und tief im Kristall hatte der mächtigste aller Grünen Geister sie erwartet. Das war Wirklichkeit gewesen. Aber wenn man Gonvalon sprechen hörte, war es nur eines von vielen seltsamen Ereignissen.

Ich danke Euch für Eure wohlgesetzten Worte, Schwertmeister Gonvalon

Die Stimme des Dunklen drang ungewohnt kühl in ihren Geist. Nandalee vermutete, dass der Drache zu ihnen allen zugleich sprach. Gonvalons Bericht hatte sie enttäuscht. Sie hatte ihn ausreden lassen, doch nun konnte sie sich nicht länger zurückhalten. »Aber da war etwas«, platzte es aus ihr heraus. »Da unten, tief im Licht … Es hat uns um Hilfe gebeten.«

»Hast du es denn mit deinen eigenen Augen gesehen?«, fragte Gonvalon.

Nandalee war überrascht, wie traurig er klang. »Aber wir alle haben es doch gesehen!«, beharrte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Wir haben geträumt.«

»Wie können wir alle denselben Traum gehabt haben? Und was ist mit Bidayn? Das Wurzelholz ist aus ihrer Brust gewuchert. Sie war geheilt, als wir in der Kristallhöhle erwachten. Das wirst du doch nicht als einen Traum abtun wollen, Gonvalon! Das war dieses Wesen, dort unten im Licht! Das hat sie geheilt!«

»Oder jemand, der in die Kristallhöhle kam, als wir … schliefen. Noch bevor die Menschenkinder kamen«, entgegnete Gonvalon ruhig. »Wahrscheinlich waren es die Grünen Geister. Du weißt von uns allen am besten, wie machtvoll sie sind, Nandalee. Ich glaube sogar, dass sie uns diesen Traum eingegeben haben. Diese Welt ist fremd. Wir begreifen nicht alles, was uns widerfahren ist. Deshalb ist es besonders wichtig, dass wir uns allein an die Fakten halten. Aus Träumen kann man keine folgerichtigen Schlüsse ziehen.«

»Da war etwas, dort unten, tief im Kristall«, beharrte Nandalee. »Ich weiß, was ich weiß!«

»Und woher weißt du das?«, fragte Gonvalon eisig. »Du hast dich nicht gesehen. Du warst besessen. Du warst nicht mehr du selbst. Es war tagelang in dir! Wer weiß, ob nicht sogar etwas zurückgeblieben ist? Dieser Grüne Geist hat uns zu der Höhle gebracht. Das war von Anfang an sein Ziel. Sei doch nicht so verdammt leichtgläubig!«

»Und warum hat er das getan? Um uns Nangog zu zeigen! Welchen Sinn hätte unsere Reise sonst gehabt?«

»Der Sinn war, uns an einen Ort der Macht zu führen. An einen Ort, an dem er in uns alle drei fahren konnte, um uns etwas vorzugaukeln. Mein Verborgenes Auge ist für immer verschlossen und ich habe die Gabe zu zaubern verloren, aber selbst ich konnte spüren, welche Mächte in dieser Höhle wirkten. Lass dich nicht täuschen, Nandalee. Du und Bidayn, ihr beide wart nicht bereit für eine solche Mission, und ihr beide habt einen schrecklichen Preis dafür gezahlt. Die Welt Nangog ist uns nicht freundlich gesonnen. Man will uns in einen Krieg gegen die Menschenkinder hineinziehen. Das ist das ganze Geheimnis!«

Nie zuvor hatte Nandalee den Fechtmeister so aufgebracht gesehen. War es seine Sorge um sie und ihr Wohlergehen? War er wirklich überzeugt von dem, was er sagte?

»Was hast du denn in der Kristallhöhle gesehen, Bidayn?« Nandalee blickte zu ihrer Freundin, voller Hoffnung, wenigstens von ihr Rückhalt zu bekommen.

»Ich kann mich nicht klar an diesen Traum erinnern …«

»Aber es war kein Traum!«, begehrte Nandalee auf.

Ich danke Euch allen, für die Mühen, die Ihr für mich auf Euch genommen habt Nun lag wieder die wohlvertraute Hitze in seinen Worten, der Schmerz, der eine stete Mahnung an die Macht der Drachen war. Ihr alle habt viel durchgemacht. Ihr müsst euch erholen und neue Kräfte sammeln. Ich gestatte Euch, dass Ihr Euch zurückzieht.

Nandalee konnte es nicht fassen. »Das war es jetzt? Nichts wird geschehen? Wozu waren wir dann überhaupt auf Nangog?«

Der Drache richtete sich auf seinem Thron auf. Er fixierte sie von oben herab. Und sie schrak vor dem Raubtierglanz in seinen Augen zurück. Haltet Ihr das für den richtigen Tonfall mir gegenüber, Dame Nandalee?

Ohne zu zögern, trat Gonvalon zwischen sie und den Drachen. »Sie weiß nicht, was sie tut!«

Nandalee wusste nicht mehr, was sie von dem Fechtmeister halten sollte. Eben noch behandelte er sie wie eine Närrin, die nicht wusste, was sie gesehen hatte, und nun forderte er den Zorn des ältesten aller Drachen heraus und versuchte, sie zu beschützen.

Nandalee bleibt! Die Stimme des Drachen war ein stechender Schmerz in ihren Gedanken.

Lange hatte Nandalee die Macht Nachtatems nicht mehr so deutlich empfunden – wie etwas Körperliches, das sie ganz und gar ausfüllte. Die Farben, die in seiner Gegenwart stets verblassten und alles ein wenig grauer und trostloser aussehen ließen, schienen noch fahler zu werden. Gonvalon und Bidayn wirkten totenbleich. Doch all das interessierte Nandalee nicht mehr. Mit einem Mal war sie nur noch von einem einzigen Gedanken durchdrungen – sie wollte ihm gefallen. Ihn nicht enttäuschen. In einem fernen Winkel ihres Bewusstseins ahnte sie, dass es die Magie des Drachen war, die sie so empfinden ließ, doch hatte Vernunft keinen Einfluss mehr auf ihre Gefühle.

Sie würde bleiben und sie war stolz, die Auserwählte des Erstgeschlüpften zu sein.

Gonvalon zitterte stark. Mehr noch als Bidayn! Was spürte er? Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er kämpfte …

Ich werde ihr nichts tun. Blassgrauer Rauch quoll aus den Nüstern des Drachen; sein Duft erzeugte ein Wohlgefühl tief in ihrem Bauch und machte sie auch ein wenig benommen.

»Ich warte draußen auf dich«, sagte Gonvalon schließlich, und Nandalee konnte spüren, welche Überwindung es ihn kostete nachzugeben. Bidayn hingegen ging, ohne sich noch einmal nach ihr umzublicken. Sie trug es ihrer Freundin nicht nach. Zu gut wusste die Jägerin um die Macht des Drachen und darum, wie unmöglich es war, seinem Willen zu widerstehen.

Bald schon waren die Schritte ihrer Gefährten in dem Tunnel, der aus der halb überfluteten Halle führte, verklungen.

Ich glaube Euch, denn ich weiß, was dort unten im Licht ist und was es will.

Nandalee war erst überrascht, dann wurde sie zornig. »Warum konntest du das nicht vor den anderen sagen?«

Weil Ihr Eure Gedanken verbergen könnt, Eure Gefährten aber nicht. Weil Gonvalon nicht mir die Treue geschworen hat, sondern dem Goldenen. Weil ich noch nicht weiß, wie ich entscheiden soll.

»Worüber entscheiden?«

Der Schwanz des Drachen glitt scharrend über den Fels seines Throns. Das, was da im Licht war … Was haltet Ihr davon?

Nandalee verstand die Frage nicht. Sie sah ihn einfach nur mit großen Augen an.

Ihr standet in Kontakt mit … ihr. Wie fühlte es sich an?

»Ihr?«

Der Drachenschweif schlug mit einem Knall auf das Wasser. Beantwortet meine Frage! Wie fühlte es sich an, ihr zu begegnen?

»Sie war verzweifelt.«

Habt Ihr Bosheit in ihr gespürt?

Plötzlich war sich Nandalee nicht mehr sicher, ob ihre Erlebnisse vielleicht doch nur ein Traum gewesen waren. Alles erschien ihr so unwirklich. »Bosheit nicht … Aber sie war zornig. Sie hasst, was die Menschenkinder tun.«

Der Drache richtete sich noch etwas höher auf. Er drückte auf den vorderen Teil der steinernen Insel, die ihm als Thron diente. Ein durchdringendes schleifendes Geräusch erklang. Tief unter ihnen. Das Wasser in der Halle floss ab.

Nandalee spürte den Boden unter ihren Füßen beben. Immer lauter wurde das Geräusch. Der Drache glitt von seinem Thron. Keinen Augenblick zu spät! Hausgroße Blöcke aus behauenem Stein bewegten sich und ein gleißend grünes Licht erfüllte die weite Halle. Ein Licht, wie sie es beim Sturz in den Kristall gesehen hatte.

Kennt Ihr die Geschichte der Riesin Nangog, Nandalee? Der Weltenbauerin? Sie ist wahr. Die Devanthar und die Alben haben ihr das Herz herausgerissen und es untereinander aufgeteilt. Was unter diesem Thron verborgen liegt, ist die Hälfte des Herzens, das die Alben genommen haben. Sie haben es mir anvertraut.

Die Elfe trat an die Öffnung, die dort im Boden klaffte, wo eben noch die steinerne Insel gewesen war. Sie blickte hinab, doch das Licht war so blendend hell, dass sie nichts erkennen konnte.

Wollt Ihr Nangog ihr Herz zurückbringen, meine Holde?

Nandalee sah fassungslos zu dem Dunklen auf. »Und dann? Was wird dann geschehen?«

Ich weiß es nicht. Aber ich kann Euch versprechen, dass diese eine Tat eine ganze Welt von Grund auf verändern wird. Und Ihr werdet danach Feinde haben, die mächtiger sind, als Ihr Euch vorzustellen vermögt.

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