Gegen Morgen hatte sich der Sturm ausgetobt. Das monotone Geräusch des vom Dachsims tröpfelnden Wassers hämmerte auf Tanis’ schmerzenden Kopf ein. Fast wünschte er sich den heulenden Wind zurück. Der Himmel war grau und finster. Sein Bleigewicht drückte auf die Stimmung des Halb-Elfen.
»Es wird immer noch starker Seegang sein«, erklärte Caramon weise. Da er aufmerksam Williams Seemannsgeschichten (der Wirt des Wirtshauses Zum flötenden Eber in der Hafenstadt Balifor) gelauscht hatte, betrachtete sich Caramon als Fachmann in Sachen Seefahrt. Niemand von den anderen widersprach ihm, da sie selber nichts davon verstanden. Nur Raistlin betrachtete seinen Bruder mit einem spöttischen Grinsen, wenn Caramon – der nur wenige Male in seinem Leben in kleinen Booten gehockt hatte – wie ein alter Seebär zu erzählen begann.
»Vielleicht sollten wir es gar nicht erst riskieren, hinauszugehen…«, begann Tika.
»Wir gehen. Heute!« sagte Tanis grimmig. »Und wenn wir schwimmen müssen, heute verschwinden wir aus Treibgut.«
Die anderen warfen sich Blicke zu, dann sahen sie wieder zu Tanis. Er starrte aus dem Fenster und sah weder ihre hochgezogenen Augenbrauen noch ihr Schulterzucken, aber er war sich ihrer Reaktionen bewußt.
Die Gefährten waren im Zimmer der Zwillinge versammelt. Es war noch eine Stunde bis zur Morgendämmerung, aber Tanis hatte sie geweckt, sobald der Wind zu heulen aufgehört hatte. Er holte tief Luft, dann wandte er sich ihnen zu. »Es tut mir leid. Ich weiß, es klingt paradox«, sagte er, »aber es gibt hier Gefahren, die ich jetzt nicht erklären kann. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Aber niemals zuvor waren wir in größerer Gefahr als in diesem Moment, in dieser Stadt. Wir müssen aufbrechen, und zwar sofort!« In seiner Stimme lag ein Hauch von Hysterie, und er brach ab.
Alle schwiegen. Dann sagte Caramon unruhig: »Sicher, Tanis.«
»Wir haben alle gepackt«, fügte Goldmond hinzu. »Wir können jederzeit verschwinden, sobald du bereit bist.«
»Dann laßt uns gehen«, sagte Tanis.
»Ich bin noch nicht fertig«, stammelte Tika.
»Dann mach. Beeil dich«, sagte Tanis.
»Ich helfe dir«, bot Caramon leise an.
Der große Mann, wie Tanis in die gestohlene Rüstung eines Drachenoffiziers gekleidet, und Tika verließen schnell das Zimmer. Wahrscheinlich wollen sie noch einige Minuten allein sein, dachte Tanis ungeduldig. Goldmond und Flußwind holten ihr Gepäck aus ihrem Zimmer. Raistlin bewegte sich nicht. Er hatte alles, was er brauchte – seine Beutel mit seinen wertvollen Zauberzutaten, den Stab des Magius und die kostbare Kugel der Drachen.
Tanis konnte Raistlins seltsame Augen spüren, die sich in ihn bohrten. Es war, als könnte Raistlin die dunkle Stelle in der Seele des Halb-Elfen mit dem glitzernden Licht seiner goldenen Augen durchdringen. Aber der Magier sagte nichts. Warum? dachte Tanis wütend. Er würde Raistlins Fragen, seine Anschuldigungen fast begrüßen. Er würde eine Möglichkeit begrüßen, sich von der Last zu befreien und die Wahrheit zu sagen, trotz der Folgen, die das Ganze haben würde.
Aber Raistlin schwieg und hustete fast ununterbrochen. Nach wenigen Minuten kehrten die anderen zurück.
»Wir sind bereit, Tanis«, sagte Goldmond mit gedämpfter Stimme.
Einen Moment lang konnte Tanis nicht sprechen. Ich sage es ihnen, beschloß er. Er holte tief Luft und wandte sich ihnen zu. Er sah ihre Gesichter, er sah das Vertrauen, den Glauben an ihn. Sie folgten ihm, ohne Fragen zu stellen. Er brachte es nicht fertig, sie zu enttäuschen. Er konnte diesen Glauben nicht erschüttern. Es war das einzige, woran sie sich klammern konnten. Seufzend schluckte er die Worte hinunter, die ihm auf der Zunge lagen.
»Gut«, sagte er mürrisch und ging zur Tür.
Maquesta Kar-Thon erwachte aus einem tiefen Schlaf durch ein Klopfen an ihrer Kabinentür. Da sie daran gewöhnt war, jederzeit geweckt zu werden, war sie sofort hellwach und griff nach ihren Stiefeln.
»Was ist los?« rief sie.
Bevor ihr geantwortet wurde, hatte sie bereits die Situation des Schiffes eingeschätzt. Ein Blick durch das Bullauge zeigte ihr, daß sich der Wind zwar gelegt hatte, aber aus der Bewegung des Schiffes konnte sie erkennen, daß schwerer Seegang war.
»Die Passagiere sind gekommen«, antwortete eine Stimme, die sie als die ihres Ersten Offiziers erkannte.
Landratten, dachte sie verbittert, seufzte und ließ den Stiefel fallen, den sie gerade anziehen wollte. »Schick sie weg«, befahl sie und legte sich wieder hin. »Heute legen wir nicht ab.«
Draußen schien eine heftige Auseinandersetzung stattzufinden, denn sie hörte, wie sich die Stimme ihres Ersten Offiziers in Wut hob und eine andere Stimme zurückschrie. Müde kämpfte sich Maquesta auf die Füße. Ihr Erster Offizier, Bas Ohn-Koraf, war ein Minotaurus – eine Rasse, der man nicht gerade ein gelassenes Temperament nachsagte. Er war außerordentlich stark und dafür bekannt, grundlos zu töten – ein Grund, warum das Meer ihn anzog. Auf einem Schiff wie der Perechon stellte niemand Fragen über die Vergangenheit.
Maque warf die Tür ihrer Kabine auf und stürmte aufs Deck.
»Was ist los?« fragte sie mit ihrer strengsten Stimme, während ihre Augen von dem Tierkopf ihres Offiziers zu dem bärtigen Gesicht des Drachenoffiziers fuhren. Aber sie erkannte die leicht geschlitzten braunen Augen des bärtigen Mannes und fixierte ihn kalt. »Ich sagte, daß wir heute nicht ablegen, Halb-Elf, und das ist mein Ernst…«
»Maquesta«, unterbrach Tanis sie schnell, »ich muß mit dir reden!« Er wollte sich an dem Minotaurus vorbeischieben, aber Koraf ergriff ihn und warf ihn zurück. Hinter Tanis knurrte ein kräftiger Drachenoffizier auf und trat einen Schritt vor. Die Augen des Minotaurus glänzten gierig auf, als er flink einen Dolch aus seiner weiten bunten Schärpe zog.
Die Mannschaft versammelte sich unverzüglich auf dem Deck und hoffte, einen Kampf zu erleben.
»Caramon…«, warnte Tanis.
»Koraf…!« schnappte Maquesta mit einem wütenden Blick, der ihren Ersten Offizier daran erinnern sollte, daß es sich bei der Gruppe um zahlende Kunden handelte, mit denen man höflicher umging, zumindest solange man sich noch im Hafen aufhielt.
Der Minotaurus knurrte, aber der Dolch verschwand genauso schnell, wie er aufgetaucht war. Dann drehte sich Koraf hochmütig um und verschwand. Die Mannschaft murmelte enttäuscht, aber trotzdem munter. Es versprach eine interessante Fahrt zu werden.
Maquesta half Tanis auf die Füße und musterte ihn mit dem aufmerksamen, prüfenden Blick, wie sie einen Mann musterte, der sich bei ihr um Arbeit bewarb. Sie erkannte sofort, daß der Halb-Elf sich in den vier Tagen, seit sie mit dem großen Mann den Handel für eine Schiffsreise auf der Perechon abgeschlossen hatte, drastisch verändert hatte. Er sah aus, als wäre er durch die Hölle gelaufen und wieder zurück. Wahrscheinlich ist er in Schwierigkeiten, schloß sie mitleidig. Aber sie war nicht bereit, ihn aus diesen Schwierigkeiten herauszuholen! Nicht, wenn ihr Schiff auf dem Spiel stand! Andererseits hatten er und seine Freunde die Hälfte des Preises bezahlt. Und sie brauchte das Geld. In diesen Zeiten war es für einen Piraten schwer, mit den Drachenfürsten zu konkurrieren…
»Komm in meine Kabine«, sagte Maque ungnädig und führte ihn nach unten.
»Bleib bei den anderen, Caramon«, sagte der Halb-Elf. Der Mann nickte. Caramon warf dem Minotaurus einen düsteren Blick nach, denn ging er zu den Gefährten.
Tanis folgte Maque in ihre Kabine. Die Perechon war ein schmuckes Schiff, auf schnelles Segeln und schnelle Manöver ausgerichtet. Ideal für Maquestas Gewerbe, da es notwendig war, schnell in Häfen hinein- und wieder hinauszufahren, Frachtgut ein- oder auszuladen (das nicht unbedingt ihr gehörte). Gelegentlich besserte sie ihre Einnahmen auf, indem sie ein reiches Handelsschiff überfiel, es plünderte und dann schnell die Flucht ergriff.
Auch war sie geschickt genug, den großen Schiffen der Drachenfürsten zu entrinnen, denn sie hatte es sich zum Prinzip gemacht, ihnen aus dem Wege zu gehen. Aber nur allzu häufig wurden Schiffe der Drachenfürsten gesichtet, die Handelsschiffe ›begleiteten‹. Maquesta hatte auf ihren beiden letzten Fahrten Verluste erlitten; das war ein Grund, warum sie sich herabließ, Passagiere zu befördern, was sie unter anderen Umständen nie getan hätte.
Der Halb-Elf nahm seinen Helm ab und setzte sich an den Tisch – beziehungsweise fiel auf den Stuhl, da er an die schaukelnde Bewegung des Schiffes nicht gewöhnt war. Maquesta blieb stehen und behielt mühelos das Gleichgewicht.
»Nun, was willst du?« fragte sie gähnend. »Ich habe dir bereits gesagt, daß wir nicht ablegen können. Das Meer ist zu…«
»Wir müssen«, unterbrach Tanis.
»Sieh mal«, sagte Maquesta geduldig (sie ermahnte sich selbst zur Geduld, da er ein gut zahlender Kunde war), »wenn du dich in irgendwelchen Schwierigkeiten befindest, so ist das nicht mein Problem! Ich setze nicht mein Schiff und meine Mannschaft aufs Spiel…«
»Es geht nicht um mich«, unterbrach Tanis wieder und musterte Maquesta aufmerksam, »es geht um dich.«
»Um mich?« fragte Maquesta erstaunt.
Tanis faltete seine Hände auf dem Tisch und sah zu ihr hoch. Das schwankende Schiff und seine Erschöpfung ließen Übelkeit in ihm aufsteigen. Als sie die blaßgrüne Färbung seiner Haut unter seinem Bart und die dunklen Schatten unter seinen tiefliegenden Augen sah, dachte Maquesta, daß die Leichen, die sie gesehen hatte, besser aussahen als dieser Halb-Elf.
»Was meinst du?« fragte sie angespannt.
»Ich… ich wurde von einem Drachenfürsten gefangengenommen… vor drei Tagen«, begann Tanis. Er sprach sehr leise und starrte auf seine Hände. »Nein, gefangengenommen ist wohl das falsche Wort. E…er sah mich so gekleidet und nahm an, daß ich einer seiner Männer sei. Ich mußte ihn in sein Lager begleiten. Ich war dort – in diesem Lager – in den vergangenen Tagen, und i…ich habe etwas herausgefunden. Ich weiß, warum der Fürst und die Drakonier Treibgut durchsuchen. Ich weiß, wonach… besser, wen sie suchen.«
»Ja?« half Maquesta nach, während sie von seiner Furcht angesteckt wurde. »Nicht die Perechon…«
»Deinen Steuermann.« Tanis sah endlich zu ihr hoch. »Berem.«
»Berem!« wiederholte Maquesta verblüfft. »Warum? Der Mann ist stumm! Ein Halbverrückter! Ein guter Steuermann, ja, aber nicht mehr. Was könnte er verbrochen haben, daß die Drachenfürsten ihn suchen?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Tanis erschöpft, während er gegen die Übelkeit ankämpfte. »Ich war nicht in der Lage, es herauszufinden. Ich bin mir auch nicht sicher, ob sie es überhaupt wissen! Aber sie haben den Befehl, ihn um jeden Preis zu finden und ihn lebendig…«, er schloß die Augen, um die schwankenden Lampen nicht zu sehen, »zur Dunklen Königin zu bringen…«
Das anbrechende Licht der Dämmerung warf gekrümmte rote Strahlen über die rauhe See. Einen Augenblick lang schien es auf Maquestas glänzende schwarze Haut, ein Blitz wie Feuer fuhr von ihren goldenen Ohrringen aus, die fast bis zu ihren Schultern baumelten. Nervös fuhr sie sich durch ihr kurzgeschnittenes schwarzes Haar. Maquestas Kehle schnürte sich zusammen. »Wir werden ihn schon los!« brummte sie und schob sich vom Tisch fort. »Wir setzen ihn an Land ab. Ich kann einen anderen Steuermann finden…«
»Hör mir zu!« Tanis packte Maquesta am Arm und hielt sie fest. »Sie wissen bereits, daß er hier ist! Und selbst wenn sie es nicht wissen und ihn erwischen, macht es keinen Unterschied. Wenn sie erst einmal herausfinden, daß er hier war, auf diesem Schiff – und sie werden das herausfinden, glaub mir das; sie haben ihre Methoden, um selbst einen Stummen zum Reden zu bringen -, werden sie dich und alle anderen auf diesem Schiff festhalten. Entweder nehmen sie dich fest, oder sie werden versuchen, dich loszuwerden.«
Er nahm seine Hand von ihrem Arm weg; ihm war klargeworden, daß er nicht die Kraft hatte, sie festzuhalten. »So haben sie es in der Vergangenheit gemacht. Ich weiß es. Der Fürst hat es mir erzählt. Ganze Dörfer zerstört. Leute gefoltert, umgebracht. Jeder, der mit diesem Mann in Kontakt steht, ist verdammt. Sie befürchten, daß er irgendein schreckliches Geheimnis weitergegeben hat, und das können sie nicht zulassen.«
Maquesta setzte sich. »Berem?« hauchte sie ungläubig.
»Sie konnten wegen des Sturms noch nichts unternehmen«, sagte Tanis, »und der Fürst wurde nach Solamnia zu einer Schlacht gerufen. Aber… der Fürst kommt heute zurück. Und dann…« Er konnte nicht weitersprechen. Sein Kopf sank in seine Hände, ein Schauder zog durch seinen Körper.
Maquesta beäugte ihn argwöhnisch. Konnte das die Wahrheit sein? Oder tischte er diese Geschichte nur auf, um sie von seinen eigenen Schwierigkeiten abzulenken? Maquesta fluchte leise. Sie konnte Männer sehr gut beurteilen. Das war auch notwendig, um über ihre rauhbeinige und rücksichtslose Mannschaft die Kontrolle zu behalten. Und sie wußte, daß der Halb-Elf nicht log. Zumindest nicht sehr. Sie vermutete, daß er einige Dinge verschwiegen hatte, aber diese Geschichte über Berem so seltsam sie auch war – klang wahr. Alles ergab plötzlich einen Sinn, dachte sie beunruhigt und verfluchte sich. Sie brüstete sich mit ihrem Urteilsvermögen, ihrem klaren Verstand. Dennoch hatte sie Berems seltsame Art ignoriert. Warum? Ihre Lippen kräuselten sich spöttisch. Sie mochte ihn – zugegeben. Er war wie ein Kind, fröhlich, unschuldig. Und deshalb hatte sie seinen Widerwillen, an Land zu gehen, seine Angst vor Fremden, seine Bereitschaft, einerseits für Piraten zu arbeiten, andererseits aber seinen Anteil an der Beute abzulehnen, übersehen. Maquesta saß einen Moment da. Sie blickte nach draußen und beobachtete, wie die goldene Sonne über die Schaumkronen glitzerte, und dann von den tiefhängenden grauen Wolken verschluckt wurde. Es würde gefährlich sein, das Schiff aus dem Hafen zu führen, aber wenn der Wind gut stand… »Ich bin lieber auf dem offenen Meer«, murmelte sie mehr zu sich als zu Tanis, »als wie eine Ratte an Land gefangen.«
Da Maque sie ihren Entschluß gefaßt hatte, erhob sie sich schnell und ging zur Tür. Dann hörte sie Tanis aufstöhnen. Sie drehte sich um und betrachtete ihn mitleidig.
»Nun mach schon, Halb-Elf«, sagte sie nicht unhöflich. Sie legte ihre Arme um ihn und half ihm beim Aufstehen. »Du wirst dich oben an der frischen Luft besser fühlen. Außerdem solltest du deinen Freunden sagen, daß dies keine erholsame Kreuzfahrt wird. Ist dir das Risiko bewußt, das du auf dich nimmst?«
Tanis nickte. Er lehnte sich schwer an Maquesta und ließ sich auf das schlingernde Deck führen.
»Du hast mir nicht alles erzählt, das steht fest«, sagte Maquesta schweratmend, als sie die Kabinentür aufstieß und Tanis die Stufen zum Hauptdeck hinaufhalf. »Ich wette, Berem ist nicht der einzige, nach dem der Fürst sucht. Aber ich habe das Gefühl, es ist nicht die erste Krise, die du und deine Freunde überstanden habt. Ich hoffe nur, euer Glück hält an!«
Die Perechon schlingerte auf hoher See. Das Schiff segelte mit halben Segeln und schien kaum vorwärts zu kommen, kämpfte um jeden Millimeter. Glücklicherweise drehte sich der Wind. Er blies beständig aus Südwesten und brachte sie direkt in das Blutmeer von Istar. Ihr eigentliches Ziel war zwar Kalaman, das nordwestlich von Treibgut am Nordmeerkap lag, aber es störte Maquesta nicht, daß sie vom Kurs abwichen. Sie wollte das Land so weit wie möglich hinter sich lassen. Es bestand sogar die Möglichkeit, klärte sie Tanis auf, in nordöstlicher Richtung nach Mitras zu segeln, der Heimat der Minotaurier. Zwar kämpften einige Minotaurier in den Armeen der Fürsten, aber die meisten von ihnen hatten sich der Dunklen Königin noch nicht zur Treue verpflichtet. Wie Koraf sagte, beanspruchten die Minotaurier die Kontrolle über das östliche Ansalon als Gegenleistung für ihre Dienste. Und die Kontrolle über den Osten war gerade einem neuen Drachenfürsten übergeben worden, einem Hobgoblin namens Toede. Die Minotaurier hatten weder für Menschen noch für Elfen etwas übrig, und zum gegenwärtigen Zeitpunkt konnten sie mit den Fürsten auch nichts anfangen. Maquesta und ihre Mannschaft hatten sich schon zuvor gelegentlich in Mitras versteckt. Dort würden sie wieder in Sicherheit sein, zumindest eine Zeitlang. Tanis war über diese Verzögerung nicht erfreut, aber das Schicksal lag nicht mehr in seinen Händen. Während er darüber nachdachte, blickte der Halb-Elf zu dem Mann, der mitten im Wind allein dastand. Berem war am Steuer und lenkte es mit sicheren Händen, sein ausdrucksloses Gesicht wirkte unbesorgt. Tanis starrte angestrengt auf die Brust des Steuermanns, vielleicht könnte er einen grünen Schimmer ausmachen… Welch dunkles Geheimnis lag in dieser Brust, an der er vor Monaten in Pax Tarkas den grünen, glänzenden Juwel im Fleisch des Mannes gesehen hatte? Warum verschwendeten Hunderte von Drakoniern ihre Zeit, um diesen Mann zu suchen, wenn doch der Krieg auf Messers Schneide stand? Warum war Kitiara so erpicht darauf, Berem zu finden, daß sie das Kommando über ihre Streitmacht in Solamnia aufgegeben hatte, um die Suche in Treibgut zu überwachen, die nur auf einem Gerücht beruhte, daß Berem dort gesehen worden war?
»Er ist der Schlüssel!« erinnerte sich Tanis an Kitiaras Worte.
»Wenn wir ihn gefangennehmen, wird Krynn der Dunklen Königin zufallen. Dann wird uns keine Kraft im Lande mehr besiegen können!«
Zitternd, mit sich hebendem Magen starrte Tanis den Mann ehrfürchtig an. Berem wirkte so – so abgesondert von allem, so über allen Dingen stehend, als würden ihn die Probleme der Welt überhaupt nicht berühren. War er halb verrückt, wie Maquesta sagte? fragte sich der Halb-Elf. Er erinnerte sich an Berem, wie er ihn in jenen kurzen Sekunden inmitten des Entsetzens in Pax Tarkas erlebt hatte. Er erinnerte sich an den Blick des Mannes, als er sich von dem Verräter Eben in einem verzweifelten Fluchtversuch wegführen ließ. Er war nicht angsterfüllt oder teilnahmslos oder gleichgültig gewesen. Er war wie gewesen? Resigniert? Das war es! Als ob er um das Schicksal wüßte, das ihn erwartete, und direkt darauf losginge. Gerade als Berem und Eben die Tore erreicht hatten, waren Hunderte Tonnen Gestein heruntergestürzt und hatten die beiden unter sich begraben. Nur ein Drache hätte das Gestein heben können. Beide schienen verloren. Zumindest Ebens Körper war auch verloren. Kurze Zeit darauf, auf der Hochzeit von Goldmond und Flußwind, hatten Tanis und Sturm Berem wiedergesehen – lebend! Bevor sie ihn aufhalten konnten, war der Mann in der Menge untergetaucht. Und sie hatten ihn nicht mehr wiedergesehen. Erst vor drei, nein, vor vier Tagen fand Tanis ihn dann auf diesem Schiff. Berem hielt das Schiff auf seinem Kurs, sein Gesicht war von Frieden erfüllt. Tanis lehnte sich über die Reling und übergab sich.
Maquesta sagte der Mannschaft nichts von Berem. Ihre Erklärung für die plötzliche Abfahrt war, daß sie Nachricht erhalten hätte, der Drachenfürst wäre ein wenig zu sehr an ihrem Schiff interessiert – es wäre klüger, in See zu stechen. Niemand bezweifelte das. Sie hatten für die Fürsten nichts übrig, und die meisten waren lang genug in Treibgut gewesen und hatten ihr ganzes Geld ausgegeben.
Auch Tanis enthüllte seinen Freunden nicht den Grund ihrer Eile. Die Gefährten kannten alle die Geschichte von dem Mann mit dem Grünen Juwel. Aber obwohl sie alle zu höflich waren, um es zu sagen (mit Ausnahme von Caramon), wußte Tanis, daß sie dachten, er und Sturm wären auf der Hochzeit zu betrunken gewesen. Sie fragten nicht nach den Gründen, warum sie ihr Leben aufs Spiel setzten. Sie vertrauten ihm völlig. An Seekrankheit wie auch an beißenden Schuldgefühlen leidend, krümmte sich Tanis elend auf dem Deck und starrte auf das Meer. Goldmonds Heilkräfte linderten ein wenig sein Leiden, aber offenbar konnten selbst Kleriker wenig gegen den Aufruhr in seinem Magen ausrichten. Und der Aufruhr in seiner Seele überstieg ihre Kräfte.
Er saß auf dem Deck und starrte aufs Meer, ständig in Furcht, die Segel eines Schiffs am Horizont zu sehen. Die anderen litten weniger unter den chaotischen Bewegungen des Schiffes, das sich durch das unruhige Gewässer stürzte, vielleicht weil sie ausgeruhter waren. Sie waren nur bis auf die Knochen durchnäßt von den hohen Wellen, die gelegentlich über das Schiff brachen.
Selbst Raistlin schien sich recht wohl zu fühlen, wie Caramon erstaunt feststellte. Der Magier kauerte abseits von den anderen unter einem Segel, das ein Matrose aufgespannt hatte, damit die Passagiere einigermaßen trocken bleiben sollten. Der Magier war nicht mehr krank. Er hustete kaum noch. Er schien nur in Gedanken verloren; seine goldenen Augen glitzerten heller als die Morgensonne, die zuweilen hinter den Sturmwolken auftauchte. Maquesta zuckte die Schultern, als Tanis seine Befürchtung über eine Verfolgung äußerte. Die Perechon war schneller als die massiven Schiffe der Fürsten. Sie waren in der Lage gewesen, sich sicher aus dem Hafen davonzuschleichen; die einzigen Schiffe, die ihre Abreise bemerkt hatten, waren Piratenschiffe gewesen. Und in dieser Bruderschaft stellte niemand Fragen. Das Meer wurde ruhiger und bei gleichbleibender Brise flach. Den ganzen Tag über hingen die Sturmwolken bedrohlich tief, wurden aber von dem auffrischenden Wind weggeblasen. Die Nacht war klar und sternenhell. Maquesta konnte noch mehr Segel setzen. Das Schiff flog über das Wasser. Als die Gefährten am nächsten Morgen erwachten, bot sich ihnen ein entsetzlicher Anblick. Sie befanden sich am äußersten Rand des Blutmeers von Istar. Die Sonne war eine riesige goldene Kugel, die über dem östlichen Horizont balancierte, als die Perechon durch Wasser segelte, das so rot war wie die Robe des Magiers, rot wie Blut, das seine Lippen näßte, wenn er hustete.
»Der Name trifft zu«, sagte Tanis zu Flußwind, als sie an Deck standen und auf das rote, trübe Wasser starrten. Sie konnten nicht weit sehen. Wieder herrschte stürmischer Wind, der das Wasser mit einem bleigrauen Vorhang überzog.
»Ich habe es nicht geglaubt«, sagte Flußwind ehrfürchtig und schüttelte den Kopf. »William hat uns davon erzählt, und ich habe zugehört, so wie ich seinen Geschichten über Meerdrachen zugehört habe, die Schiffe und Frauen verschlingen und Fischflossen anstelle von Beinen haben. Aber das…« Der Barbar schüttelte den Kopf und betrachtete unbehaglich das blutfarbene Wasser.
»Glaubst du, daß dies hier wirklich das Blut all jener ist, die in Istar gestorben sind, als das feurige Gebirge den Tempel des Königspriesters zerstörte?« fragte Goldmond, die sich zu ihrem Gatten gesellt hatte.
»Was für ein Unsinn!« knurrte Maquesta, während sie auf die Gefährten zuging.
»Ihr habt dem Schweinsgesicht William zugehört!« lachte sie.
»Er ängstigt gern Landratten. Das Wasser hat seine Farbe von der ausgewaschenen Erde. Vergeßt nicht, der Meeresboden hier besteht nicht aus Sand. Hier war einst Festland – die Hauptstadt von Istar und das umgebende fruchtbare Gebiet. Als das Feuergebirge herabfiel, wurde das Land gespalten. Der Ozean stürzte in diese Spalte und schuf ein neues Meer. Jetzt liegt der Reichtum von Istar tief unter den Wellen begraben.«
Maquesta starrte mit verträumten Augen über die Reling, als ob sie das unruhige Wasser durchdringen und den sagenhaften Reichtum der verlorenen Stadt sehen könnte. Sie seufzte sehnsüchtig auf. Goldmond warf der dunkelhäutigen Kapitänin einen verächtlichen Blick zu, in ihren Augen standen Traurigkeit und Entsetzen bei dem Gedanken an die furchtbare Zerstörung und die unzähligen Todesopfer.
»Warum wird die Erde so aufgewühlt?« fragte Flußwind stirnrunzelnd. »Selbst bei der Bewegung der Wellen und den Gezeiten müßte die schwere Erde doch zur Ruhe kommen.«
»Da hast du recht, Barbar.« Maquesta musterte den hochgewachsenen, gutaussehenden Mann von den Ebenen mit Bewunderung. »Aber soviel mir bekannt ist, seid ihr Barbaren Bauern und wißt eine Menge über den Erdboden. Wenn du deine Hand in das Wasser tauchst, kannst du die groben Erdkörner fühlen. Es heißt, daß im Blutmeer ein Mahlstrom die Erde mit gewaltiger Kraft aufwirbelt. Aber ich kann nicht sagen, ob es stimmt oder ob es nur eine der vielen Geschichten von Schweinsgesicht ist. Ich habe ihn nie erlebt, noch kenne ich jemanden, der ihn erlebt hat, und ich fahre seit meiner Kindheit über die Meere und habe alles von meinem Vater gelernt. Niemand, den ich kenne, war dumm genug, in einen Sturm zu segeln, der mitten über dem Meer hängt.«
»Wie kommen wir dann nach Mitras?« murrte Tanis. »Es hegt auf der anderen Seite des Blutmeeres, wenn deine Berechnungen stimmen.«
»Wir können Mitras erreichen, indem wir in südlicher Richtung fahren, falls wir verfolgt werden. Wenn nicht, dann können wir den westlichen Rand des Meeres umkreisen und auf die nördliche Küste vom Nordmeer zuhalten. Mach dir keine Sorgen, Halb-Elf. Zumindest kannst du sagen, daß du das Blutmeer gesehen hast. Eines der Wunder auf Krynn.«
Maquesta drehte sich um, um nach hinten zu gehen, als sie vom Ausguck gerufen wurde.
»Schiff von Westen!« schrie der Matrose.
Sofort holten Maquesta und Koraf ihre Ferngläser hervor und richteten sie auf den westlichen Horizont. Die Gefährten wechselten besorgte Blicke und versammelten sich. Sogar Raistlin verließ seinen Platz unter dem schützenden Segel und trat zu ihnen, während er mit seinen goldenen Augen in den Westen starrte.
»Ein Schiff?« fragte Maquesta Koraf.
»Nein«, grunzte der Minotaurus. »Eine Wolke vielleicht. Aber sie ist schnell, sehr schnell. Schneller, als ich je eine gesehen habe.«
Jetzt konnten sie alle die dunklen Flecken am Horizont erkennen, Flecken, die beim Beobachten immer größer wurden. Dann spürte Tanis einen heftigen Schmerz, als wäre er von einem Schwert durchbohrt worden. Der Schmerz kam so schnell und unerwartet, daß er aufkeuchte und sich an Caramon klammerte. Die anderen sahen ihn besorgt an, und Caramon legte seinen kräftigen Arm um seinen Freund.
Tanis wußte, was auf sie zuflog.
Und er wußte, wer es anführte.