Einleitung

Wenn man den Lesern einen Schriftsteller förmlich vorstellt, so wollen sie allemal ganz genau wissen, wen sie vor sich haben; namentlich wenn's ein Ausländer ist. Da wäre denn zunächst zu verzeichnen, daß Jerome Klapka Jerome am 2. Mai 1859 in Walsall geboren ist, einer richtigen englischen Fabrikstadt, und zwar in einem Pfarrhause. Das ist schon sehr absonderlich für einen Humoristen. Rauchende Fabrikschlote und Frömmigkeit von Berufs wegen sind eigentlich nicht die Umgebung, die der Entwicklung von Humor förderlich sind. Ohne Zweifel hat der junge Jerome weder für das eine noch für das andere viel Neigung verspürt. Denn er begann beizeiten seinen Beruf zu verfehlen. Kaum aus der Schule heraus, war er Angestellter in einem Geschäft. Darauf versuchte er sich als Schulmeister. Danach wurde er Schauspieler und Journalist, um dann endlich den Sprung zur Literatur zu wagen. Mit 27 Jahren veröffentlichte er sein erstes Buch, das nicht viel Beachtung fand. Das ging noch einigen andern Büchern so. Erst sein Buch: »On the stage and off« (Auf der Bühne und außerhalb) aus dem Jahre 1888, worin er seine Bühnenerfahrungen verwertete, trug ihm einigen Erfolg ein. Ihm folgte im Jahre darauf mit steigendem Erfolg ›Idle thoughts of an idle fellow‹ (Müßige Gedanken eines müßigen Menschen) und im Jahre 1889 ›Three men in a boat‹, das der erste ›Schlager‹ war; um ein Lieblingswort aus dem Bühnen-Deutsch zu gebrauchen. In den neunziger Jahren entfaltete er zugleich eine außerordentlich rege Redaktionstätigkeit an den bekannten Blättern ›The Idler‹ und ›To-day‹. Nach dem großen Erfolge von ›Three men in a boat‹ sprudelte sein literarischer Quell mit erstaunlicher Ergiebigkeit. Buch auf Buch folgte, ohne daß eins davon den Erfolg des vorliegenden Buches zu erreichen vermochte. Viel gelesen wurde noch eine Art Seitenstück zu ›Three men in a boat‹, das den Titel führt ›Three men on a bummel‹. Jerome schildert hierin eine lustige Fahrt durch Deutschland und hat dafür das deutsche Wort ›Bummel‹ in die englische Sprache aufgenommen, um die sorglos-gemütlich genießende Art des Reisens zu kennzeichnen.

In den letzten Jahren hat sich Jerome auch der Bühne zugewandt. Auch hier ist ihm ein großer Erfolg beschieden gewesen und zwar, seltsam genug, mit einem ernsten Stück, das den Titel ›The passing of the third floor back‹ führt; entstanden ist es im Jahre 1907. Es schildert die Wandlung und Besserung einer Anzahl von moralisch wertlosen Menschen, die ein Pensionat im dritten Stockwerk eines Hauses nach hinten heraus bewohnen. Ihre geistige Wandlung vollzieht sich durch den Einfluß eines fremden Gastes von hoher sittlicher Kraft, der zuletzt Christuszüge erhält und als Christus aufgefaßt werden kann.

Die meisten Leute sind sehr erstaunt, wenn ein Humorist auch mal ein ernstes Gesicht macht. Allzu viele verbinden mit dem Begriff Humorist gern den Begriff Clown oder Spaßmacher um jeden Preis. Aber sie vergessen, daß der echte Humor doch schließlich aus dem Gemüt wächst und daß man als das Merkmal des echten Humoristen die Gabe betrachtet, unter Tränen lachen zu können. Ich erinnere daran, welche feinen, weichen und erschütternden Herzenstöne einem Reuter und einem Dickens zu Gebote standen – zwei so echte und große Humoristen, wie sie die Welt je gesehen hat. Es scheint sogar, daß der Humorist ein geradezu unwiderstehliches Verlangen hat, gelegentlich ganz ernsthaft zu sein, wie wenn er zeitweilig seiner selbst überdrüssig wäre. Immer ernsthaft zu sein ist jedenfalls leichter als immer scherzhaft zu sein. Der immer Ernsthafte mag manchmal langweilig wirken, der immer Scherzhafte wird aber sicher oft unausstehlich werden. Das hat wohl auch Jerome gefühlt. Er hat ernsthafte Geschichten geschrieben, die mit zu dem Allerbesten in ihrer Gattung gehören, die aber nur von den Kennern geschätzt werden. Die große Masse geht an ihnen vorüber, weil Jerome nun einmal als Humorist abgestempelt ist. Das ist die Tragik des Humoristen. In diesen Schöpfungen gehören die Geschichte von »Paul Kelver« sowie die drei Geschichten »John Ingerfield«, »The Woman of the Saeter« und »Silhouettes« in dem Buche »John Ingerfield and other stories«. Jerome selber hat diese Tragik des Humoristen oft genug zu kosten bekommen und macht daher den Leser in einem Vorwort zu einem Neudruck des letztgenannten Buches eigens darauf aufmerksam, daß die drei erwähnten Geschichten nicht humoristisch seien. Er erzählt dabei, wie er einmal eine ernste Geschichte von einer Frau geschrieben habe, die von einer Riesenschlange zermalmt wurde. Am Tage nach der Veröffentlichung traf er einen Freund, der zu ihm sagte: »Reizende kleine Geschichte – die von der Frau und der Riesenschlange; aber sie ist nicht so komisch wie Ihre andern Geschichten!« So geht's einem Schriftsteller, der in dem Geruch steht, humoristisch zu sein. Mark Twain wollte einmal in einer Mädchenschule ein ernstes Gedicht vorlesen, mußte aber damit aufhören, weil die Mädchen nicht aus dem Lachen herauskamen. Und gerade bei den unschuldigen Kindern hatte er geglaubt auf Verständnis rechnen zu können. Ich selbst erinnere mich einer Beerdigung, wo die Leidtragenden in die peinlichste Verlegenheit gerieten, weil ein bekannter Humorist eine Grabrede hielt, die bei ihm wie das Gegenteil wirkte.

Wenn einer den Namen Jerome ausspricht, so wird er sicherlich sofort zu hören bekommen: »Ach – der Verfasser von ›Drei Mann in einem Boot‹! Kenne ich! Ganz famos!« Und wirklich – dieses Buch ist es, das Jeromes Namen zu einem Weltnamen gemacht hat. Es gehört zu den meistgelesenen Büchern der Weltliteratur. Auf den ersten Blick erscheint das nicht leicht verständlich. Ein an sich harmloseres – oder ich will sagen unschuldigeres – Buch ist nie geschrieben worden. Was ist sein Inhalt? Ja, das eben ist die größte Schwierigkeit: der Inhalt! Genau genommen hat es gar keinen. Jerome selber sowie seine Freunde George und Harris fassen eines Tages den Entschluß, ein Boot zu mieten und mit dem Hund, der auf den lachhaft pompösen Namen Montmorency hört, einen vierzehntägigen Ausflug die Themse hinauf zu machen, weil sie eine Erholung bitter nötig hatten. Sie führen den Entschluß aus und kehren nach einiger Zeit wieder nach London zurück. Das ist der ganze Inhalt! Ist etwas Dürftigeres denkbar? Aber nach dem Inhalt darf man nicht fragen. Nicht das Was, sondern das Wie ist hier die Hauptsache. Der Reiz des Buches liegt in den drolligen Abenteuern, die die drei während ihrer Fahrt erleben, und in dem Humor, mit dem diese Abenteuer geschildert werden. Man wird gelegentlich etwas an den seligen Stinde und seine Familie Buchholz erinnert oder an die Humoresken von Busch; manchmal wieder leuchtet Dickensscher oder Reuterscher Humor auf – von jener Art, die in einem leisen schalkhaften Lächeln um die Mundwinkel herum oder in einem spitzbübischen Augenzwinkern so viel auszudrücken weiß. Doch das muß jeder selber lesen. Zwischendurch ziehen sich zahllose heitere Anekdoten, von denen Jerome ein unendliches Lager besitzt. Auch Mark Twain war bekanntlich ein glänzender Anekdoten-Erzähler. Aber Jerome will zugleich belehren. Daher versäumt er nicht, wo immer sie in ihrem Boot an historischen Stätten vorüberkommen, Vorgänge von Wichtigkeit aus der englischen Geschichte in Erinnerung zu bringen – freilich immer in seiner besonderen drolligen Weise, nicht lehrhaft trocken. So ergibt sich alles in allem ein Buch von ganz eigenem Charakter: ein liebliches Sommeridyll, farbig und fesselnd und von echt englischem gemütlichen Humor verklärt.

Von Humoristen heißt es gewöhnlich, sie seien auch persönlich die angenehmsten Leute – was ernstere Schriftsteller nicht immer sind; manche von diesen nehmen sich allzu ernst. Auf Jerome trifft diese Ansicht sicherlich zu. Jeder, der ihn einmal persönlich kennen gelernt hat, schildert ihn als einen »famosen Kerl« – oder wie der Engländer sagt: »a jolly good fellow«. Er wohnt in einem romantischen alten Haus in Wallingford an der Themse, mit Frau und zwei Töchtern; eine davon ist adoptiert. Es ist das denkbar glücklichste Familienleben, von jener ungezwungenen herzlichen Natürlichkeit des Verkehrs, wie sie so oft in guten amerikanischen Familien zu finden ist. Und diese Gastlichkeit! Im Sommer zumal sind oft ein halb Dutzend Kameraden von der Feder bei ihm zu Gast und essen, trinken und dichten in seinem Hause, wie wenn es ihr eigenes wäre. Immer ist er der liebenswürdigste Mensch, dessen Augen in einem sonnigen Lächeln erstrahlen, wenn man mit ihm spricht. Seine ganze Persönlichkeit ist Gesundheit – außen und innen; außen kenntlich durch die frische Farbe des wohlwollenden, glatten Schauspielergesichts, innen durch die Fröhlichkeit und Natürlichkeit seiner Lebensanschauungen. Jerome, der Mensch, und Jerome, der Schriftsteller, sind ein harmonisches Ganzes: ein Optimist, ein heiterer Lebensbejaher ohne Schminke, ohne Pose.

Henry F. Urban




Wir waren unsrer viere – Georg William, Samuel Harris, meine Wenigkeit und Montmorency – und saßen zusammen in meiner Wohnung, rauchten Zigarren und Pfeifen, und unterhielten uns von der Verderbtheit unserer Naturen – Verderbtheit in gesundheitlicher Beziehung meine ich natürlich.

Wir fühlten uns allesamt mit Übeln behaftet, was uns entschieden in eine nervöse Aufregung versetzte. Harris sagte, er bekomme öfters solche außerordentliche Schwindelanfälle, daß er kaum mehr wisse, wo ihm der Kopf stehe; dann sagte Georg, auch er habe Schwindelanfälle, daß er kaum mehr wisse, wo ihm der Kopf stehe. Bei mir war es die Leber, die nicht in Ordnung war. Ich war sicher, daß meine Leber nicht in Ordnung wäre, da ich gerade vorher ein Zirkular über patentierte Leberpillen gelesen hatte, worin die verschiedenen Symptome ganz genau angegeben waren, an denen man ganz sicher erkennen konnte, ob die Leber in Ordnung sei oder nicht. Alle diese Symptome zeigten sich bei mir.

Es ist wirklich äußerst merkwürdig, daß ich niemals die Ankündigung irgendeines patentierten ärztlichen Mittels habe lesen können, ohne sofort zu der Überzeugung zu gelangen, ich leide in hohem Grade an dem besonderen Übel, wofür in dem angekündigten Mittel die Heilung angeboten wurde. Die Diagnose scheint in jedem Fall mit meinen spezifischen Empfindungen übereinzustimmen. Ich erinnere mich, daß ich eines Tages ins Britische Museum gegangen war, um dort die Behandlung eines leichten Übels – ich glaube, es war Heuschnupfen – nachzulesen. Ich holte mir das betreffende Buch herunter und las alles, was darüber zu lesen war; dann wandte ich gedankenlos und nachlässig das Blatt um und begann gleichgültig andere Krankheiten zu studieren. Ich habe vergessen, welche Krankheit mir zuerst aufstieß; ich weiß nur noch, daß es eine fürchterliche, pestartige Krankheit war; und ehe ich auch nur die Hälfte der allgemeinen Kennzeichen gelesen hatte, war ich schon überzeugt, daß ich davon befallen sei. Ich saß eine Weile völlig erstarrt vor Schrecken; dann las ich in stiller Verzweiflung die folgenden Seiten. Ich kam zum Typhus, las seine Merkmale, und nahm sofort wahr, daß ich das Nervenfieber habe, daß ich es bereits seit Monden haben müsse, ohne eine Ahnung davon gehabt zu haben. Ich war nun in der Tat neugierig, was mir wohl sonst noch fehlen möchte; so kam ich zum Veitstanz; wie ich nicht anders erwartet hatte, hatte ich den auch. Jetzt interessierte mich mein ganz eigentümlicher Fall, und ich beschloß nun, ihn bis auf den Grund zu untersuchen. So nahm ich denn die verschiedenen Krankheiten in alphabetischer Reihenfolge durch und fand, bei A anfangend, Agne (kaltes Fieber) und machte die Bemerkung, daß ich auch daran leide, und daß die Krisis in etwa 14 Tagen eintreten werde. Die Brightsche Krankheit hatte ich, zu meiner großen Erleichterung, nur in schwachem Grade, und in betreff dieser hätte ich noch manches Jahr leben können. Cholera dagegen hatte ich schon mit ernsteren Komplikationen, und Diphtheritis war mir, wie es schien, angeboren. Gewissenhaft drang ich bis ans Ende der 26 Buchstaben, und die einzige Krankheit, von welcher ich annehmen konnte, verschont zu sein, war Kindbettfieber.

Darüber war ich nun anfangs etwas verletzt; es schien mir dies eine Vernachlässigung! Warum hatte ich nicht auch Kindbettfieber? Nach einer Weile jedoch überkamen mich weniger streitbare Gefühle! In Erwägung, daß ich doch jede andere bekannte Krankheit hatte, wurde ich weniger selbstsüchtig in betreff des Kindbettfiebers und beschloß, darauf zu verzichten! Die Gicht auch, in ihrem bösartigsten Auftreten, hatte mich unbewußt in Beschlag genommen, und an Zymosis hatte ich seit meiner Knabenzeit gelitten!

Da nach Zymosis keine weiteren Krankheiten mehr angeführt waren, so schloß ich daraus, daß ich nun auch mit keiner weiteren behaftet sei.

So saß ich denn eine gute Weile und dachte nach. Ich fand, was für ein interessanter Fall ich in ärztlicher Hinsicht jedenfalls sein müsse und welch eine Akquisition ich z. B. für die Untersuchung in einer Klinik abgeben würde. Die Studenten würden nun nicht mehr nötig haben, zu ihrer Belehrung von einem Spital in das andere zu laufen, wenn sie mich hatten. Ich war ein ganzes Spital – ich ganz allein. Alles, was sie fernerhin zu tun haben würden, wäre, mich anzusehen und nachher ihr Examen zu machen.

Dann interessierte es mich, zu erfahren, wie lange ich überhaupt noch zu leben haben würde. Ich fühlte meinen Puls – zuerst konnte ich gar keinen Puls bei mir finden. Dann schien er plötzlich mit Schlagen anzufangen. Ich zog meine Uhr heraus und zählte. Er machte 147 Schläge in der Minute! Dann wollte ich den Herzschlag prüfen; ich fand mein Herz nicht! Es hatte aufgehört zu schlagen! Ich bin seither zu der Ansicht gekommen, daß ich damals doch wohl ein Herz besessen haben muß, welches schlug – aber ich kann nicht dafür einstehen. Ich befühlte meine ganze Vorderseite von dem Teil an, den man züchtig »Taille« nennt, bis zum Kopf, strich an den Seiten und außerdem ein Stück den Rücken hinauf, aber ich konnte nichts von einem Herzen weder fühlen noch hören. Dann versuchte ich, meine Zunge zu besehen, streckte sie heraus, soweit ich konnte, und machte, um schärfer zu sehen, ein Auge zu. Ich konnte nur die Spitze sehen, und das einzige, was ich aus dieser Untersuchung mit Gewißheit schöpfte, war, daß ich das Scharlachfieber hatte.

Als gesunder, glücklicher Mann hatte ich dieses Lesezimmer betreten, als ein elender, gebrochener Patient kam ich wieder heraus.

Ich beschloß zu meinem Arzte zu gehen. Er ist ein alter Kamerad von mir; er pflegt mir den Puls zu fühlen, die Zunge zu besehen und mit mir vom Wetter und andern Allotrias zu sprechen, wenn ich zu ihm komme und meiner Einbildung nach krank bin, und das alles ganz umsonst.

So dachte ich denn: diesmal, Alter, will ich dir auch einen Gefallen tun und dich heimsuchen. Was ein Arzt braucht, sagte ich mir, das ist Schulung. Er soll mich haben. An mir allein wird er so viel Erfahrungen machen können wie an siebzehnhundert gewöhnlichen Patienten, die nur eine oder höchstens zwei Krankheiten haben.

So ging ich denn geradenwegs zu ihm. Als er mich sah, fragte er: »Nun, was fehlt dir diesmal?« worauf ich ihm erwiderte: »O, ich will dir deine Zeit nicht stehlen, alter Junge, mit Aufzählung all der Übel, mit denen ich behaftet bin. Das Leben ist kurz, und du könntest sterben, ehe ich mit der Aufzählung zu Ende wäre. Aber ich will dir sagen, was ich nicht habe! Das Kindbettfieber habe ich nicht! Warum ich diese Krankheit nicht bekommen habe, das kann ich dir nicht sagen – aber es ist nun einmal Tatsache, daß ich sie nicht habe, nie gehabt habe. Aber jede andere Krankheit habe ich.«

Dann erzählte ich ihm, wie ich zu der Entdeckung gelangt sei.

Da hieß er mich den Mund öffnen und sah mir in den Hals hinab; dann packte er mich beim Handgelenk und schlug mir auf die Brust, als ich es am allerwenigsten erwartete – eine recht feige, hinterlistige Art nenne ich das einem Todkranken gegenüber –, dann stieß er seinen Kopf gegen meine Rippen. Hierauf setzte er sich nieder und schrieb mir ein Rezept auf, faltete es zusammen und gab es mir. Ich steckte es in die Tasche und ging fort.

Ohne es anzusehen, ging ich damit zu dem nächsten Apotheker. Der Mann las es, dann gab er es mir zurück und sagte, er könne das nicht machen.

Ich fragte ihn: »Sind Sie Apotheker?« Er sagte darauf: »Ja, ich bin Apotheker. Wenn ich eine Restauration, verbunden mit Familienpension, hätte, so könnte ich Ihnen vielleicht dienen. Da ich nur Apotheker bin, so ist es mir unmöglich!«

Ich las nun das Rezept. Es lautete:

»1 Pfund Beefsteak mit ½ Liter Bier, alle sechs Stunden.


Ein Spaziergang von 4 Stunden jeden Morgen;


Schlafengehen präzis 11 Uhr jede Nacht;


Und NB. stopfe deinen Kopf nicht mit Sachen voll, die du nicht verstehst.«

Ich befolgte diese Vorschriften, und das Ergebnis war, daß ich damals vom sichern Tod errettet wurde und bis auf den heutigen Tag am Leben bin.

Im gegenwärtigen Falle aber – um wieder auf die patentierten Leberpillen zurückzukommen – hatte ich wirklich die Symptome ohne alle Frage; das Hauptsächlichste darunter war »eine allgemeine Abneigung gegen irgendwelche Art Tätigkeit«.

Was ich in dieser Hinsicht leide, kann keine Zunge aussprechen. Von meiner frühesten Kindheit an habe ich darin ein wirkliches Martyrium ausgestanden. Während meiner Knabenjahre verließ mich das Übel kaum einen Tag. Man wußte damals nicht, daß ich an der Leber litt. Die ärztliche Wissenschaft war damals noch nicht so weit vorgeschritten wie heutzutage; daher nannte man mein Übel einfach »Faulheit«! »Verfluchter Bengel!« pflegte man mir zu sagen, »steh' auf und tue etwas für deinen Lebensunterhalt! Marsch, vorwärts!« – Man wußte eben nicht, daß ich krank war!

Und man gab mir keine Pillen – nein, man gab mir eins an den Kopf. Und, so seltsam dies erscheinen mag, diese Ohrfeigen kurierten mich oft wunderbar schnell, wenigstens für eine Zeitlang. Ich erinnere mich, daß damals eine einzige solche Ohrfeige eine größere Wirkung auf mein Leben ausübte – denn ich raffte mich in der Regel rasch auf, um sofort zu tun, was man von mir begehrte – als heutzutage eine ganze Schachtel voll Pillen. Man weiß ja – es geht oft so – diese altväterlichen Hausmittel sind manchmal viel wirksamer als der ganze Apothekerkram.

So saßen wir noch eine weitere halbe Stunde beisammen und beschrieben uns gegenseitig unsere Krankheiten. Ich setzte Georg und William Harris auseinander, wie mir zumute sei, wenn ich morgens aufstehe, und William Harris erzählte uns, wie es ihm beim Zubettgehen zumute sei – und Georg stand am Ofen und gab uns eine köstliche Vorstellung zum besten, durch die uns recht anschaulich vergegenwärtigt wurde, wie er sich während der Nacht befinde.

Georg bildete sich nämlich ein, er sei auch krank; aber ich versichere, es ist absolut nichts daran.

In diesem Augenblick klopfte Frau Poppets an unsere Tür mit der Frage, ob es uns beliebe, zu Nacht zu speisen. Wir lächelten einander traurig an und erwiderten, es wäre vielleicht doch besser, wenn wir versuchten, einen Bissen hinunterzuwürgen. Harris namentlich meinte, etwas Nahrung im Magen halte manchmal die Krankheit im Schach. So brachte denn Frau Poppets das Essen herein; wir gingen zu Tisch und schnipselten uns etwas Beefsteak mit Zwiebeln und etwas Rhabarbertorte ab.

Ich muß damals wirklich recht schwach gewesen sein, denn ich erinnere mich, daß ich nach Verlauf einer halben Stunde durchaus kein Interesse mehr an dem Essen hatte, was bei mir etwas ganz Ungewöhnliches ist, und daß es mich auch nicht nach Käse verlangte.

Nachdem wir diese Pflicht erledigt, füllten wir unsere Gläser aufs neue, zündeten die Pfeifen wieder an und versenkten uns nochmals in die Erörterung unseres Gesundheitszustandes. Was uns eigentlich fehlte, darüber war keiner von uns im klaren, nur darüber waren wir einer Meinung, daß, wie unsere Krankheit auch heißen möge, die Ursache unfehlbar Überanstrengung sei.

»Was uns fehlt, ist Ruhe,« sagte Harris.

»Ja, Ruhe! und vollständig veränderte Lebensweise,« meinte Georg; »die Überanstrengung unseres Gehirns hat eine allgemeine Erschlaffung des ganzen Nervensystems hervorgebracht. So wird denn ein Wechsel der Umgebung und die gänzliche Enthaltung von jeder Gedankenarbeit auch das geistige Gleichgewicht in uns wieder herstellen.«

Georg hat einen Vetter, der Medizin studiert; dadurch hat seine Ausdrucksweise etwas von hausärztlichem Stil angenommen.

Indessen stimmte ich Georg zu und beantragte demzufolge, wir sollten uns irgendwo einen verlorenen und weltverlassenen Ort aussuchen, fern von der verrückten und tollmachenden Welt, und in dessen, von einschläferndem Duft erfüllten Gefilden eine sonnige Woche lang hinträumen – an so einen halbvergessenen, von den Feen bewachten Winkel außerhalb des Bereichs der geschäftigen Menschheit – irgendein von den Klippen der Zeit hoch oben herabschauendes Adlernest, wo man nur aus weiter Ferne das schwache Anschlagen der Wogen des neunzehnten Jahrhunderts zu vernehmen bekäme.

Harris meinte, das würde kolossal dumm sein. Er sagte, er könne sich lebhaft vorstellen, was für ein langweiliges Quartier mir im Sinne liege, eines, wo jedermann um 8 Uhr abends zu Bette gehe, eines, wo man weder für Geld noch gute Worte einen Schiedsrichter für seine Boxkämpfe auftreiben könne, und wo man erst vier Stunden weit zu laufen habe, wenn man sich ein bißchen Tabak für seine Pfeife holen wolle.

»Nein,« sagte Harris, »wenn ihr Veränderung und Ruhe nötig habt, so könnt ihr nichts Besseres tun, als eine kleine Seereise machen.« Gegen die Seereise verwahrte ich mich nun aber ernstlich. Eine Seereise tut einem gut, wenn man ein paar Monate darauf verwenden kann; aber eine Reise von einer Woche, das ist etwas Heimtückisches! Da reist man am Montag mit der festen Überzeugung ab, daß man sich nun köstlich amüsieren werde. Man winkt den Jungens am Ufer noch ein fröhliches Adieu zu, zündet dann seine größte Tabakspfeife an und stolziert auf dem Deck herum, als wäre man ein Kapitän Cook, Sir Francis Drake und Christoph Kolumbus in einer Person. Am Dienstag wünscht man bereits, lieber nicht an Bord zu sein. Am Mittwoch, Donnerstag und Freitag möchte man am liebsten tot sein. Am Samstag endlich fühlt man sich imstande, ein wenig Fleischbrühe hinunterzuschlürfen, auf dem Deck zu sitzen und mit einem schwachen, süßen Lächeln zu antworten, wenn gutherzige Leute einen fragen, wie es jetzt gehe. Am Sonntag fängt man an, wieder auf dem Deck umherzugehen und feste Nahrung zu sich zu nehmen, und am Montag, wenn man mit Handkoffer und Regenschirm bewaffnet auf dem Hinterdeck steht, im Begriff, das Schiff zu verlassen, ist man mit dem Leben auf Deck gerade ganz ausgesöhnt.

Ich erinnere mich, wie mein Schwager einst zur Stärkung seiner Gesundheit eine kleine Seereise machte. Er nahm ein Retourbillett von London nach Liverpool. Als er in Liverpool angekommen war, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als sein Retourbillett zu verkaufen.

Er bot es in der ganzen Stadt zu einem schändlich niedrigen Preise an – so erzählte er mir –, zuletzt wurde es für 1,50 M. von einem gelbsüchtigen Jüngling erworben, dem sein Arzt etwas Bewegung und Seeluft verordnet hatte.

»Seeluft!« sagte mein Schwager, indem er ihm das Billett freundlich liebevoll in die Hand drückte, »O, Sie werden Ihr ganzes späteres Leben davon zehren können. – Und was Bewegung anbelangt, so werden Sie sich mehr verschaffen können, wenn Sie sich auf diesem Schiffe niedersetzen, als wenn Sie auf dem Lande Purzelbäume schlügen.«

Er selbst – mein Schwager nämlich – kam mit der Eisenbahn zurück. Er meinte, die Nordwestbahn sei gesünder für ihn.

Ein anderer Bekannter von mir machte ebenfalls eine Reise von einer Woche längs der Küste. Beim Beginn fragte ihn der Kellner, ob er für jede Mahlzeit besonders bezahlen wolle, oder ob er die Pension für die ganze Woche im voraus zu zahlen gedenke.

Der Kellner empfahl ihm den letzteren Modus, da es auf diese Weise viel billiger komme. Er könnte ihm dann für die ganze Woche den Preis auf 45 M. herabsetzen. Zum Frühstück, sagte er, gebe es Fische nebst etwas Braten. Um ein Uhr sei das Gabelfrühstück, das aus vier Gängen bestehe. Die Hauptmahlzeit, um sechs Uhr, bestehe aus Suppe, Fisch, Zwischengang, Braten mit Zuspeise, Geflügel, Salat, süßer Speise, Käse und Dessert. Dann folge noch ein leichtes Abendessen mit Fleisch um zehn Uhr.

Mein Freund dachte, unter solchen Umständen sei es weise, auf die 45 M. Pension einzugehen. Denn er ist ein tüchtiger Esser – und so geschah's. Als man Sheerneß passiert hatte, war es gerade zum Gabelfrühstück, aber der Hunger wollte sich nicht wie sonst einstellen, somit begnügte er sich mit einem Bissen Rindfleisch und etwas Stachelbeeren mit Schlagsahne. Während des Nachmittags bewegten ihn allerlei schwere Gedanken, und auf einmal dünkte es ihn, als ob er seit Wochen nichts als Rindfleisch gegessen hätte, und ein anderes Mal schien es ihm, er habe seit Jahren von Stachelbeeren und Schlagsahne gelebt.

Weder das Rindfleisch, noch die Stachelbeeren, noch die Schlagsahne schienen in glücklicher Eintracht in seinem Magen zu hausen; es schien eher, daß sie Händel miteinander angefangen hätten.

Um 6 Uhr wurde zum Diner angerufen. Diese Ankündigung fand keinen freudigen Widerhall in seiner Seele; aber er fand, daß er denn doch für seine 45 M. etwas haben müsse, hielt sich am Seil und Geländer und stieg hinab. Ein angenehmer Geruch von Zwiebeln und heißem Schinken strömte ihm entgegen, gemischt mit dem Duft gebratener Fische und frischer Gemüse; als er endlich unten angekommen war, kam das glatte Gesicht des Aufwärters heran, der ihn mit maliziösem Lächeln fragte: »Was darf ich Ihnen bringen, mein Herr?«

»Mich von hier fortbringen,« war die schwach gehauchte Antwort.

Man schob ihn so schnell als möglich die Treppe hinauf, brachte ihn an die Leeseite, lehnte ihn über Bord und überließ ihn dort seinem Schicksal.

Während der nächsten vier Tage führte er ein einfaches und sündloses Leben und nährte sich von dünnem Kapitänszwieback – d. h. der Zwieback war dünn, nicht der Kapitän – und Sodawasser; aber gegen Sonnabend rappelte er sich wieder zusammen und ließ sich schwachen Tee und unbestrichene Brotschnitten geben, und am Montag schluckte er mit Ach und Krach etwas Hühnerbrühe. – Am Dienstag verließ er das Schiff. Als es wieder in See stach, konnte er sich eines bedauernden Nachblicks nicht enthalten.

»Da segelt es nun fort,« sagte er, »mit einer Masse Lebensmittel an Bord, die ich nicht genossen habe und die doch von Rechts wegen mir gehören!«

Er meinte, wenn sie ihn nur noch einen Tag länger an Bord behalten hätten, so würde er es schon ausgeglichen haben.

Aus diesen Gründen wollte ich also von einer Seereise nichts wissen. Nicht meinetwegen, wie ich den Freunden auseinandersetzte. Ich bin noch nie seekrank geworden. Aber ich war besorgt um Georg. Der behauptete zwar, er könnte die Seereise herrlich vertragen; aber er möchte mir und Harris doch raten, den Gedanken daran aufzugeben, da er ganz gewiß wisse, daß wir beide seekrank würden. Harris seinerseits meinte, für ihn sei es immer ein Rätsel, wie es die Leute anfingen, seekrank zu werden; er meinte, man müsse es wirklich absichtlich tun, aus Ziererei, um sich interessant zu machen, und fügte noch hinzu, er habe oft gewünscht, einmal seekrank zu werden, sei aber nie dazu imstande gewesen.

Dann erzählte er uns allerlei Geschichten, wie er einmal über den Kanal gefahren sei, während eines so heftigen Sturmes, daß man die Passagiere in ihren Schiffsbetten habe festbinden müssen: er und der Kapitän seien die zwei einzigen Seelen an Bord gewesen, die nicht seekrank geworden seien.

Ein andermal sei nur er und der zweite Steuermann nicht krank geworden; immer war eben er und »noch einer«, oder aber er allein nicht seekrank.

Es ist merkwürdig, aber tatsächlich wahr, daß niemals einer seekrank gewesen sein will, wenn er am Lande ist. Zur See begegnen euch Leute genug, die in der Tat sehr übel auf sind – ja ganze Bootsladungen voll sieht man da –, aber am Lande habe ich noch niemals einen getroffen, der wußte, was es heißt, seekrank zu sein. Wo sich die tausend und aber tausende von Menschen, die an Bord sofort seekrank werden – und jedes Schiff ist ganz voll von ihnen –, auf dem Lande verbergen, ist wenigstens für mich ein Geheimnis.

Wenn viele Leute einem gewissen Menschen glichen, den ich einmal auf einem Yarmouthboot sah, so könnte ich das anscheinende Rätsel leicht genug lösen. Das Schiff war, wie ich mich erinnere, eben von der Landungsbrücke bei Southend abgestoßen; da lehnte sich der Mann in einer sehr gefährlichen Weise über eine der Schiebepforten hinaus. Ich ging zu ihm hin, um ihn zu retten. »He! Kommen Sie weiter herein,« sagte ich zu ihm und ergriff ihn an der Schulter, »oder Sie fallen über Bord!«

»O mein Gott! Wenn ich doch nur hinunterfiele!« war die einzige Antwort, die ich von ihm erhielt, – und dort mußte ich ihn lassen. Drei Wochen später traf ich meinen Mann in einem Kaffeehaus in Bath, wo er von seinen Reisen sprach und seinen Zuhörern in begeisterten Worten seine Vorliebe für die See ausmalte.

Auf die schüchterne Anfrage eines jungen Mannes, ob er nie seekrank werde, erwiderte er: »Nun, ich bekenne, ich war einmal, ein einziges Mal seekrank. Es war am Kap Horn, aber am andern Morgen scheiterte dann auch unser Schiff.«

Ich unterbrach ihn: »War Ihnen denn nicht ein wenig sonderbar zumut, wissen Sie, damals, als wir die Landungsbrücke bei Southend verlassen hatten und Sie den Wunsch äußerten, irgendeine mitleidsvolle Seele möchte Sie ins Meer hinunterwerfen?«

»Southend? Landungsbrücke?« fragte er ein wenig verwirrt.

»Ja! Auf dem Wege nach Yarmouth – letzten Freitag vor drei Wochen.«

»O ja!« erwiderte er heiter, als komme ihm nun plötzlich sein Gedächtnis zu Hilfe, »ich erinnere mich jetzt. Ich hatte an jenem Nachmittag starkes Kopfweh. Es kam von den Salzgurken her, wissen Sie! Es waren die abscheulichsten Salzgurken, die ich jemals auf einem Schiffe aß. Haben Sie auch davon genossen?«

Was mich selbst anbelangt, so habe ich ein ausgezeichnetes Mittel gegen die Seekrankheit entdeckt, nämlich Rumpfbeugungen. Man stellt sich einfach auf die Mitte des Verdecks, und sobald sich das Schiff hebt oder senkt, macht man die entsprechende Bewegung mit dem Körper, um ihn immer senkrecht über dem Wasser zu halten. Steigt das Vorderteil des Schiffes, so lehnt man sich vorwärts, bis man beinahe das Deck mit der Nase berührt; und wenn das Hinterende heraufkommt, lehnt man sich rückwärts. Das ist nun ganz gut für eine Stunde oder zwei. Aber man kann nicht eine Woche lang ohne Aufhören Rumpfbewegungen machen.

Georg sagte: »Fahren wir die Themse aufwärts!« – Wir würden dann, sagte er, frische Luft, Bewegung und Ruhe haben; der beständige Wechsel der Szene würde unsern Geist beschäftigen (soviel Harris davon besitzt, mit eingeschlossen), und die anstrengende Ruderarbeit würde uns guten Appetit und gesunden Schlaf machen.

Harris meinte, er denke nicht, daß Georg sich irgendwie noch anzustrengen brauche, um noch schläfriger, als er ohnehin schon sei, zu werden; das könnte sogar gefährlich für ihn werden. Er meinte, er könne nicht einsehen, wie Georg noch mehr schlafen möchte, da doch jeden Tag, im Sommer wie im Winter, nur 24 Stunden dafür verfügbar seien; wenn er aber noch mehr schlafen wolle, so könne er sich nur gleich zum Sterben niederlegen, dann erspare er Kost und Wohnung.

Harris gab indessen zu, daß die Flußpartie ihm bis aufs »T« passe. Ich weiß nun nicht, was ein T bedeuten soll, ausgenommen ein T (Tee) für einen halben Schilling, wobei man noch Butterbrot und Kuchen ad libitum verzehren darf, was ja ziemlich wohlfeil ist, wenn man kein Mittagessen gehabt und den mittäglichen Hunger daran stillen will: in solchem Fall weiß ich, was ein T bedeutet. Wenn ich's auch sonst nicht weiß, so steht doch soviel fest, daß schließlich jedermann für die Flußpartie stimmte, was dem Fluß eine große Ehre sein muß.

Er paßte uns andern ebenfalls bis aufs »T«, und ich sowohl wie Harris erklärten es für eine gute Idee von Georg; wir sagten dies in einem Tone, der anzudeuten schien, wie erstaunt wir seien, daß Georg auf einmal so verständig geworden sei.

Der einzige unter uns, der keinen Geschmack an dem Vorschlag finden konnte, war Montmorency. Er hatte nie eine Vorliebe für den Fluß gehabt, nein, niemals!

»Es ist das alles recht gut für euch Burschen,« meinte er ohne Zweifel, »euch gefällt's wohl, aber mir nun eben nicht; da gibt's für mich nichts zu tun, landschaftliche Reize sind mir gleichgültig, auch rauche ich nicht! Wenn ich eine Ratte erblicke, werdet ihr gewiß nicht anhalten, und wenn ich ein bißchen schlafen möchte, so macht ihr närrisches Zeug mit dem Boot und werft mich über Bord. Wenn ihr mich um meine Meinung fragt, so sage ich euch geradezu: Diese Flußfahrt ist die reine Narrheit!«

Indessen waren wir drei gegen eine Stimme, und so ging der Antrag durch.

*

Wir breiteten unsere Karten aus, erörterten die Reisepläne und kamen schließlich überein, am folgenden Samstag von Kingston aus die Ruderfahrt anzutreten. Harris und ich wollten morgens mit der Bahn dahinfahren und uns bis nach Chertsey hinaufrudern, und Georg, der verhindert sein würde, vor nachmittag die City zu verlassen[Fußnote: Die Altstadt Londons, die fast ausschließlich aus Geschäftshäusern besteht.] (denn er pflegt nämlich in einem Bankgeschäft von 10 Uhr vormittags bis 4 Uhr nachmittags zu schlafen, ausgenommen an den Samstagen, wo man ihn um 2 Uhr aufweckt und hinauswirft,[Fußnote: Samstags sind in England alle Geschäfte mindestens von 2 Uhr an geschlossen.] wollte mit der Bahn bis Chertsey reisen und dort mit uns zusammentreffen.

Sollten wir im Freien übernachten oder ans Land steigen und ein Wirtshaus aufsuchen? Georg und ich waren beide fürs Übernachten im Freien. Wir meinten, das hieße dann so recht: »Ein freies Leben führen wir«, das habe so etwas Wildes und Romantisches, so etwas Patriarchalisches an sich. Langsam verblaßte der goldene Wolkensaum, die letzte Erinnerung an die entschwundene Sonne, und kalt und trübe starren die Wolken. Die Vögel sind wie trauernde Kinder still geworden; nur des Moorhuhns klagender Ruf und das heisere Gekrächze der Raben unterbricht die schaurige Stille, die ringsum auf den Wassern liegt, auf welche der sterbende Tag seinen letzten Schimmer hinhaucht.

Aus dem Dunkel der Uferbüsche kriecht die Geisterschar der Nacht, kriechen die grauen Schatten geräuschlos hervor und verscheuchen die letzten Nachzügler des Lichts, und leise, mit unsichtbaren Füßen, schleichen sie über das hohe Ufergras und durch das seufzende Röhricht, und die Nacht faltet von ihrem düstern Throne aus ihre schwarzen Schwingen über die im Dunkel versinkende Welt, und Schweigen regiert in ihrem von den Sternen spärlich beleuchteten Palaste.

Dann lenken wir unser kleines Boot in irgendein trauliches Plätzchen; das Zelt wird darüber aufgerichtet und das frugale Abendessen bereitet und genossen. Nun werden die großen Pfeifen gestopft und angezündet, und gemütliches Geplauder geht hin und wieder; während in den Pausen unserer Unterhaltung der Fluß leise an unser Boot plätschert und seltsame, alte, geheimnisvolle Geschichten erzählt und den alten Wiegengesang anstimmt, den er schon vor soviel tausend Jahren gesungen und noch so viele tausend Jahre singen wird, jenen Gesang, den wir zu verstehen glauben, da wir so oft an seinem liebevollen Busen geruht und seine flüsternden Töne vernommen haben, obschon wir in Worten die Geschichten, denen wir lauschen, nicht wiederzugeben vermöchten.

Und wir sitzen hier an seinem Rande, während sich der Mond, der ihn ebenfalls liebt, herunterneigt, ihn mit schwesterlichem Kuß zu küssen und ihn mit seinen Silberarmen zärtlich zu umschlingen; und wir schauen zu und lauschen, wie er ewig singend, ewig flüsternd, hinunterfließt, um sich mit seiner Herrin, der See, zu vereinigen, – bis unsere Stimmen dann ebenfalls ersterben, die Pfeifen ausgehen, und wir – sonst nicht viel mehr als junge Alltagsmenschen – von seltsamen, traurigsüßen Gedanken uns erfüllt fühlen, die wir nicht auszusprechen wissen, noch auszusprechen wünschen, – bis wir anfangen zu lachen und uns erheben, um die Asche aus den erloschenen Pfeifen auszuklopfen und uns gegenseitig gute Nacht zu wünschen, und eingelullt von dem leise an unser Boot leckenden Wasser und dem Rauschen der Uferbüsche, unter dem großen, weiten Sternenzelt einschlafen und träumen, die Welt sei wieder jung geworden, jung und süß und frisch, wie sie zu sein pflegte, ehe Jahrhunderte von Not und Sorgen ihr schönes Antlitz gefurcht, ehe ihrer Kinder Sünden und Torheiten ihr liebendes Herz versteinert hatten; träumen, sie sei wieder die hohe, junge Mutter, wie in jenen entschwundenen Zeiten, wo sie uns Kinder an ihrem vollen Busen nährte, ehe die Lockungen einer übertünchten Zivilisation uns aus ihren Liebesarmen weggelockt hatten, und das Gift und der Hohn einer überfeinerten Welt uns veranlaßte, uns des einfachen Lebens, das wir mit ihr geführt hatten, zu schämen, und des ländlichen, traulichen, heimischen Herdes, an dem die Menschheit so viele tausend Jahre zuvor geruht hatte. –

»Wie aber, wenn es regnet?« fragte Harris – Harris läßt sich niemals und durch nichts fortreißen. Er ist so ganz und gar nicht poetisch angehaucht, bei ihm ist keine Sehnsucht nach dem ewig Unerreichbaren; Harris weint niemals, »ohne zu wissen, warum!« – Wenn sich seine Augen mit Tränen füllen, so könnt ihr darauf schwören, daß er entweder rohe Zwiebeln gegessen oder zuviel Worcestersauce[Fußnote: Eine sehr scharfe Sauce, die man in Flaschen kauft.] auf seine Hammelkeule gegossen hat.

Wenn ihr einmal während der Nacht mit Harris am Seeufer stündet und zu ihm sprächt: »Horch! Hörst du nichts? Ist das nicht der Gesang der Meerjungfrauen in der Tiefe? oder die Trauergeister, die die Totengesänge für die weißen Leichname singen, die im Seegras hängen?« – so nimmt euch Harris am Arm und sagt: »Ich weiß, was es ist, alter Junge! Du hast dich erkältet. Nun komm' nur mit mir; gleich da um die nächste Ecke weiß ich ein Plätzchen, wo du den feinsten schottischen Whisky bekommst, den du jemals geschluckt hast, der bringt dich stracks wieder zurecht!«

Harris weiß nämlich immer ein Plätzchen »gleich um die nächste Ecke«, wo man etwas Brillantes zu trinken bekommt. Ich glaube, wenn ihr Harris im Paradiese begegnen würdet, wenn er überhaupt jemals dahin gelangte, so würde er euch sofort begrüßen: »O, wie freue ich mich, daß du gekommen bist, altes Haus! Ich habe da gleich um die nächste Ecke ein gar nettes Plätzchen gefunden, wo man wirklich den feinsten Nektar schlürft.«

Im gegenwärtigen Fall indessen, wo es sich um das Logieren im Freien handelte, kam sein praktischer Einfall gar nicht zur Unzeit. Bei Regenwetter im Freien zu übernachten ist nicht angenehm. Man denke sich: es ist Abend; man ist durch und durch naß, und das Boot ist gut zwei Zoll hoch mit Wasser gefüllt, und alles ist weich von der Nässe. Man findet einen Platz am Ufer, der einem weniger morastig erscheint als das übrige Uferland; so landet man denn, holt das Zelt heraus und zwei von der Gesellschaft fangen an, es aufzuschlagen. Es ist ganz vom Wasser durchtränkt und unsinnig schwer, schlappt um einen herum, schlägt einem aufs Haupt, klebt an einem und ist nicht wieder wegzubringen, obgleich man schier verrückt darüber wird. Währenddessen regnet es unverdrossen fort. Ein Zelt aufzuschlagen ist schon bei gutem Wetter eine Mühe, bei Regenwetter wird es eine Herkulesarbeit. – Euer dritter Mann, anstatt euch zu helfen, scheint euch noch zum besten haben zu wollen. Eben wenn ihr euer Ende hübsch fest gemacht habt, läßt er seines fahren, und die ganze Mühe ist verloren. »Na, was machst du denn!?« ruft er ihm zu. »Ja, was machst du denn für Zeug?« erwidert er, »Mach's fest! Kannst du denn das nicht?«

»Zieh' doch nicht daran! Du machst ja alles verkehrt, du dummer Esel!« schreit ihr nun hinüber.

»Nein, ich habe es nicht verkehrt angegriffen,« ruft er dagegen, »laß du deine Seite fahren.«

»Und ich sage dir, du hast das Ding verkehrt angefaßt,« brüllt ihr ihm nun zu und wünscht im stillen, ihm eins verabreichen zu können; und ihr zieht an euren Tauen und reißt ihm alle seine Pflöcke wieder aus.

»O! Dieses Rindvieh!« hört ihr ihn noch vor sich hinbrummen; dann erfolgt ein wilder Zug und fort fliegt das Zelt auf eurer Seite. Ihr werft den Hammer weg und geht um das Ding herum zu ihm hinüber, um ihm zu sagen, was ihr von seiner Art zu arbeiten haltet; und er geht auf der anderen Seite in derselben Absicht zu euch hin. – Und so geht ihr dann umeinander herum und flucht und wettert, bis endlich das Zelt auf einen Haufen zusammenkracht und ihr über seinen sterblichen Überresten einander anstarren könnt und euch nun beide in einem Atem höchlichst entrüstet anschreit: »So! Da haben wir's! Hab' ich dir's nicht vorhergesagt?«

Mittlerweile hat euer dritter Mann das Boot ausgeschöpft, wobei ihm das Wasser durch die Ärmel am bloßen Leib hinabgelaufen ist, und hat dabei während der letzten zehn Minuten immer leise vor sich hin geflucht; er will jetzt wissen, was, bei allen Teufeln, ihr denn gemacht habt, und warum das verdammte Zelt noch immer nicht aufgeschlagen ist? Endlich aber kommt es auf die eine oder andere Weise zustande, und man landet die Sachen. Ein Holzfeuer anzufachen, ist ein vergebliches Bemühen, so wird denn die Weingeistflamme angezündet, um welche sich nun die Insassen gesellen.

Regenwasser ist der Hauptartikel bei dem Abendschmaus. Das Brot besteht zu zwei Dritteln aus Regenwasser, das Beefsteak enthält solches in reichster Menge, und die eingemachten Früchte, die Butter, das Salz und der Kaffee haben sich friedlich zu einer Suppe vereinigt! Nach dem Nachtessen stellt sich heraus, daß der Tabak naß geworden ist und ihr nicht rauchen könnt. Glücklicherweise habt ihr noch eine Flasche von dem Stoff der Erheiterung und des Vergessens – NB. in gehöriger Quantität zu genießen! – Der stellt euer Interesse am Leben so weit wieder her, daß ihr es über euch vermögt, euch hinterher ins Bett zu begeben. Da träumt euch denn, ein Elefant habe sich auf eure Brust niedergelassen, und ein Vulkan sei ausgebrochen und habe euch auf den Grund der See versenkt, während der Elefant noch immer mit unverrücktem Gleichmut auf eurem Busen schlafe. Jetzt wacht ihr auf mit dem Bewußtsein, daß irgend etwas Furchtbares passiert sein müsse. Eure erste Vermutung ist die, daß der Weltuntergang stattgefunden habe; dann fällt euch ein, daß dies doch nicht wohl möglich sei, und ihr denkt an Räuber und Mörder oder an eine Feuersbrunst und gebt dieser Vermutung in der gewöhnlichen Weise Ausdruck. Aber keine Hilfe kommt, und alles, was ihr mit Bestimmtheit anzugeben wißt, ist, daß eine ganze Horde Menschen euch Püffe versetzt und ihr obendrein erstickt werdet.

Jemand anders scheint auch in Nöten zu sein. Ihr hört seine schwachen Ausrufe unter eurem Lager hervorkommen. Entschlossen, auf jeden Fall euer Leben teuer zu verkaufen, kämpft ihr ganz krampfhaft, indem ihr rechts und links mit Armen und Beinen ausschlagt und währenddessen hell aufschreit; zuletzt gibt irgend etwas nach, und ihr fühlt euren Kopf von frischer Luft umweht. Zwei Schritt von euch entfernt erkennt ihr im Dunkel einen halb angezogenen Kerl, der euch offenbar abtun will, und mit dem ihr euch jetzt auf einen Kampf auf Leben und Tod einlassen wollt – bis es euch zu dämmern beginnt, daß es euer Freund Jim ist.

»So, du bist's, du?« sagt der, der euch nun auch erkennt.

»Ja!« sagt ihr, indem ihr euch die Augen reibt, »was ist passiert?«

»Das verdammte Zelt ist, glaube ich, auf uns heruntergefallen,« sagt er. »Aber wo steckt denn Wilhelm?«

Dann ruft ihr beide aus Leibeskräften nach Wilhelm; da hebt und bewegt sich der Grund unter euch, und die erstickte Stimme, die ihr vorhin hörtet, antwortet euch aus der Zeltruine heraus.

»Könnt ihr euch auf keinem andern Platz Rendezvous geben als auf meinem Kopf? Wie?« Und Wilhelm strampelt und müht sich ab und schält sich endlich aus dem Haufen heraus, ein schmutziges, zertretenes Etwas, das sich in ganz unnötig feindseliger Stimmung befindet; denn er hat die fixe Idee, daß man ihm absichtlich so mitgespielt habe.

Am andern Morgen seid ihr alle drei heiser, da ihr euch während des nächtlichen Manövers stark erkältet habt. Ihr seid an diesem Morgen sehr streitbarer Natur. Und ihr flucht mit heiserer Stimme während der ganzen Frühstückszeit.

Also bestimmten wir, bei schönem Wetter im Freien zu übernachten, aber bei Regenwetter, oder wenn wir das Bedürfnis nach einem Wechsel fühlten, in einem Hotel, Wirtshaus oder Schenke zu schlafen, wie andere respektable Leute.

Montmorency begrüßte diese Entscheidung mit großem Beifall. Er schwärmt nicht für die Romantik der Einsamkeit. Etwas lärmende Unterhaltung, auch wenn sie nicht von der feinsten Art ist, behagt ihm weit besser. Wenn man Montmorency anschaut, möchte man denken, es sei ein auf die Erde gesandter Engel, der aus irgendeinem Grunde nicht menschliche Gestalt annehmen durfte, sondern in die eines kleinen Foxterriers gebannt wurde. Er hat einen Ausdruck in seinem Hundegesicht, der deutlich sagt: »O, was für eine schlechte Welt ist doch dies! O! Wie wünschte ich, sie besser und edler zu machen!« – Ja, so sieht er drein; und ich erinnere mich, daß er mit diesem Ausdruck zartfühlenden älteren Damen und Herren schon Tränen entlockt hat.

Als er zuerst bei mir Kost und Wohnung empfing, da dachte ich nicht, daß ich ihn lange behalten dürfe. Wenn ich ihn so ansah, wie er auf dem Kaminteppich lag und zu mir aufschaute, so konnte ich nicht umhin, zu denken: »O, dieser Hund wird nicht alt! Er wird auf einem Wagen in den hehren Himmel fahren; ja, gewiß, das wird sein Los sein!«

Aber nachdem ich ungefähr ein Dutzend Hühner, die er zerrissen, hatte vergüten müssen, und ihn, knurrend und um sich beißend, am Halsband aus wohl 114 Straßengefechten herausgerissen hatte; und nachdem eine aufs höchste erboste Dame mir ihre von ihm getötete Katze vor die Füße geworfen und mich einen Mörder genannt hatte; und als ich von einem meiner Nachbarn vor Gericht zitiert wurde, weil mein wütender Hund ihn während einer Grimmkälte über zwei Stunden lang in seinem Werkschuppen belagert habe, und als ich hörte, daß der Gärtner ohne mein Wissen 30 Schilling damit verdient hatte, daß er ihm Ratten fing (nämlich der Hund dem Gärtner), so kam mir endlich doch ein anderer Gedanke betreffs seines friedlichen Lebenswandels, und ich glaubte nicht mehr so recht an seine demnächstige Himmelfahrt! –

Um einen Stall herumlungern und eine Bande der unreputabelsten Hunde, die in der Stadt zu finden sind, um sich zu versammeln, und sie dann gegen andere ebenso unreputabele Hunde ins Gefecht zu führen, das scheint Montmorency für seinen Lebenszweck zu halten, und deswegen gab er der Idee, im Wirtshaus und in Schenken zu übernachten, seinen lebhaften Beifall.

Nachdem wir vier dermaßen über unser Nachtquartier ins reine gekommen waren, blieb uns nur noch übrig, auszumachen, was wir an Gepäck mitnehmen sollten; aber als dieser Gegenstand aufs Tapet gebracht war, meinte Harris, er habe heute abend schon genug Leistungen zum besten gegeben und mit angehört und schlage deshalb vor, wir sollten alle miteinander ausgehen und »einen hinter die Binde gießen«, gleich beim nächsten Häuserviereck habe er ein Plätzchen ausfindig gemacht, wo man ein feines Tröpfchen irischen Whiskys zu schlürfen kriege.

Georg meinte, er verspüre etwas wie Durst (ich kann mich der Stunde nicht entsinnen, in welcher Georg keinen Durst verspürt), und da mir eine deutliche Ahnung sagte, daß etwas warmer Whisky, im Verein mit einer Zitronenscheibe, meinem Leiden Linderung bringen würde, so wurde unter allgemeiner Zustimmung die Debatte auf den folgenden Abend vertagt; die Versammlung griff nach Hut und Stock und hub sich von dannen.

*

Am folgenden Abend kamen wir denn wiederum zusammen, um unsere Pläne und Vorbereitungen zu besprechen. Harris meinte: »Das erste, worüber wir uns jetzt einigen müssen, ist, was wir mitnehmen wollen. Nun nimmst du, Jerome, ein Stück Papier und schreibst auf, du, Georg, schaffst uns den Preiskurant einer Drogenhandlung an, und irgendeiner soll mir einen Bleistift geben, dann will ich eine Liste entwerfen.«

So ist Harris' Methode immer gewesen. Wenn man ihn zuerst hört, so nimmt er immer die ganze Last auf sich selbst; in Wahrheit aber lädt er sie ganz hübsch den andern auf den Rücken.

Er erinnert mich immer an meinen Onkel Podger. In meinem Leben habe ich kein ähnliches Durcheinander in einem friedlichen Hause gesehen, als wenn mein Onkel irgendeine Kleinigkeit zu tun unternahm. Wenn z. B. ein Porträt vom Einrahmen zurückgekommen war und im Speisesaal an der Wand lehnte, um aufgehängt zu werden, und meine Tante Podger fragte, was nun damit geschehen solle, so pflegte Onkel Podger zu sagen: »O! Überlaßt das nur mir, kümmert euch nicht darum; das werde ich alles schon machen.«

Dann zieht er den Rock aus und beginnt. Er schickt das Hausmädchen fort, um für einen halben Schilling Nägel zu holen, und dann schickt er ihr einen der Jungen nach, um ihr noch sagen zu lassen, von welcher Größe die Nägel sein müssen.

In dieser Weise setzt er nach und nach das ganze Haus in Bewegung.

»So, jetzt gehst du und holst mir einmal einen Hammer, Willy,« kommandiert er, »und du, Thomas, bringst mir einen Maßstab oder Lineal, dann brauche ich auch die Treppenleiter, und ein Küchenstuhl dazu würde auch nichts schaden. Und du, Jakob, du gehst geschwind zu Herrn Goggels und sagst ihm: Pa (Papa) läßt sich ihm empfehlen und hofft, es werde mit seinem Fuß besser gehen, und ob er ihm nicht seine Wasserwage leihen könnte?«

»Und du, Marie, lauf' mir doch nicht weg! Du mußt mir ja das Licht halten, und wenn das Mädchen zurückkommt, muß sie noch einmal fort, um eine Porträtschnur zu kaufen, und du, Thomas – wo ist denn Thomas? Tom, du kommst her und reichst mir das Porträt herauf.«

Dann nimmt er das Porträt herauf und läßt es richtig fallen; darüber geht der Rahmen auseinander, und indem er das Glas retten will, schneidet er sich in den Finger; dann rennt er im Zimmer herum und sucht sein Taschentuch. Aber er kann es nirgends finden, weil er es in seiner Rocktasche hat und nicht mehr weiß, wo er den Rock hingehängt hat; und das ganze Haus muß nun alles liegen und stehen lassen und anstatt nach seinen Werkzeugen nach seinem Sacktuch auf die Suche gehen, während er überall herumrennt und jedermann hindert.

»Nun, weiß denn niemand im ganzen Haus, wo mein Rock ist? In meinem ganzen Leben habe ich keinen solchen Haufen Leute gesehen wie ihr miteinander. Nein, auf mein Wort, so was wie ihr ist mir noch nie vorgekommen. Eurer sechse seid ihr und könnt alle miteinander meinen Rock nicht finden, den ich vor fünf Minuten erst ausgezogen habe? Weiß Gott! Euch alle sollte man ...«

Dann fährt er in die Höhe und bemerkt bei dieser Gelegenheit, daß er darauf gesessen hat.

»Ihr Dummköpfe,« schreit er. »Laßt doch euer Suchen! Ich habe ihn längst gefunden!«

»Könnte ebensogut der Katze sagen, meinen Rock zu suchen, als erwarten, daß ihn einer von euch findet.«

Nach einer halben Stunde ist dann sein Finger verbunden, ein neues Glas ist über dem Bild angebracht, und das Handwerkszeug und die Bockleiter und der Küchenstuhl und das Licht, kurz, alles ist herbeigeschafft, und die ganze Familie, das Hausmädchen und die Aufwärterin mit eingeschlossen, stehen im Kreise herum, um ihm zu helfen. Zwei von ihnen müssen den Stuhl halten, ein drittes muß ihm hinaufhelfen und ihn halten, ein viertes ihm den Nagel reichen, ein fünftes den Hammer, dann nimmt er den Nagel, läßt ihn aber fallen.

»So! da' habt ihr's!« ruft er nun aufs höchste beleidigt aus, »nun ist der Nagel zum Teufel!«

Dann lassen sich alle auf ihre Knie nieder und rutschen auf dem Boden herum, um den Nagel wiederzufinden; währenddessen steht er steif auf dem Stuhl und brummt und schimpft und fragt, ob er denn den ganzen Abend da auf dem Stuhl stehen und warten solle?

Zuletzt wird der Nagel gefunden, aber inzwischen hat er den Hammer verloren.

»Wo ist der Hammer? Wo habe ich den Hammer hingebracht? Gott im Himmel! Sieben von euch stehen da, sperren Augen und Mäuler auf und keiner weiß, wo ich den Hammer hingebracht habe?«

Nun wird der Hammer gefunden; inzwischen hat er das Zeichen für den Punkt, wo der Nagel eingeschlagen werden soll, aus den Augen verloren, und eines um das andere von uns muß auf den Stuhl steigen und sehen, ob es ihn nicht finden kann; und dann pflegte er uns alle als hirnverbrannt zu bezeichnen, wenn jeder von uns das Zeichen an einem anderen Orte gefunden hatte, und schickte uns alle nacheinander wieder hinunter, – und dann nahm er den Maßstab und maß noch einmal, und fand, daß er von der Ecke aus 31⅜ Zoll abmessen sollte, und wollte nun im Kopf berechnen, wieviel dies ausmache, und bracht' es nicht fertig und wurde immer konfuser, je länger er rechnete.

Und dann wollten wir es auch im Kopf ausrechnen, und jeder brachte eine andere Lösung heraus, und wir verhöhnten uns gegenseitig. Und in der allgemeinen Aufregung wurde die ursprüngliche Zahl vergessen, und Onkel Podger mußte von vorn anfangen.

Diesmal nun nahm er eine Schnur, aber in dem kritischen Moment, da er sich in einem Winkel von 45° über den Stuhl hinausbog und einen Punkt, der drei Zoll weit außer seinem Bereich war, zu erreichen suchte, entschlüpfte dem alten Herrn die Schnur, und er polterte auf das Klavier hinab, das uns bei diesem Anlaß einen höchst effektvollen Ohrenschmaus zum besten gab, da Onkel Podgers Kopf und Rumpf in demselben Augenblick sämtliche Tasten angeschlagen hatte.

Aber das Donnerwetter, das jetzt losbrach! – Tante Marie erklärte, sie wolle den Kindern nicht länger erlauben, dabeizustehen und eine solche Sprache mit anzuhören.

Zuletzt traf Onkel Podger doch den Punkt wieder und hielt den Daumen der linken Hand darauf, während er nun mit der rechten Hand den Hammer ergriff; mit dem ersten Streich traf er dann auch richtig seinen Daumen und warf den Hammer mit einem Wehgeschrei jemand auf die Füße.

Tante Marie bemerkte milde, das nächste Mal, wenn Onkel Podger wieder einen Nagel einschlagen wolle, werde er es ihr hoffentlich zuvor sagen, damit sie auf eine Woche zu ihrer Mutter ziehen könne.

»O, ihr Weiber!« pflegte dann mein Onkel, indem er sich stolz aufrichtete, auszurufen. »Ihr macht gleich solche Geschichten über alles! Aber ich, – nun, mir behagt gerade solch ein kleiner Spaß!«

Hierauf versuchte er es noch einmal, und beim zweiten Streich ging der Nagel flott durch die Wand, und der Hammer auch noch zur Hälfte, und Onkel Podger flog mit dem Kopf dagegen mit solcher Gewalt, daß seine Nase schier platt gedrückt wurde.

Dann mußten wir den Maßstab und die Schnur wiederfinden, und dann wurde ein neues Loch gemacht; und so gegen Mitternacht hing dann das Porträt, – sehr schief zwar und unsicher, und die Wand sah auf mehrere Meter aus, als wäre sie mit einem eisernen Rechen gekämmt worden, und jedermann war zum Umsinken matt und elend – ausgenommen Onkel Podger.

»So!« ruft er aus, »fertig ist's!« und wirft sich dabei in die Brust und zugleich der Aufwärterin den Stuhl auf die Hühneraugen. »Manche Leute hätten sich zu einem solchen Geschäft einen Tapezierer kommen lassen! Was?« – –

Unser Harris ist auch so einer von dieser Sorte, wenn er sich an ein Geschäft machen will. Ich wollte nicht leiden, daß er sich so viele Mühe mache, und sagte zu ihm: »Nein, Harris! Du sorgst für Papier, Bleistift und Preiskurant, Georg schreibt auf, und ich will dann das übrige tun.«

Die erste Liste, die wir zusammenstellten, mußte vernichtet werden; es war klar, der Oberlauf der Themse wäre nicht breit genug gewesen, um das Boot zu tragen, das die in jener Liste verzeichneten Sachen alle enthielte. So zerrissen wir denn die Liste und schauten einander an.

Georg meinte: »Wir sind allesamt auf dem Holzwege! Wir müssen nicht an alles das denken, was wir brauchen könnten, sondern an das, was wir absolut nicht entbehren können.«

Georg hat manchmal einen ganz verständigen Einfall, so erstaunlich das auch klingt. Ich heiße das Weisheit in höchster Potenz, nicht nur in bezug auf die gegenwärtige Frage und Reise, sondern in bezug auf die Lebensreise überhaupt. – Wie viele Leute laden für diese Reise ihr Boot mit einem Haufen unnötiger Sachen voll, so daß es beständig in Gefahr schwebt, umzukippen! All diese Sachen halten sie für unerläßlich zu ihrem Vergnügen und ihrer Behaglichkeit, während sie in der Tat ganz unnützer Ballast sind!

Wie häufen sie doch das arme, kleine Ding an, mit schönen Kleidern, mit großen Häusern, mit einer Bande fauler Bedienten, mit einer Schar schmarotzender Freunde, die sich keinen Pfifferling um sie kümmern, und um die sie sich selbst keinen halben Pfifferling kümmern, wie beladen sie es mit kostspieligen Festen, an denen niemand ein wirkliches Vergnügen findet, mit Förmlichkeiten und Modetorheiten, mit Anmaßung und Herausforderung, und – o schwerster und dümmster Ballast! – mit der Furcht, was wird mein Nachbar dazu sagen? Mit Luxus, der doch nur Tünche, mit Vergnügungen, deren wir doch bald überdrüssig werden! Mit leeren Schaustellungen, die unser Haupt schmerzen und bluten machen, wie die eiserne Krone, die man ehedem dem Verbrecher aufsetzte! Ballast ist's, ihr Leute, lauter Ballast! Werft ihn über Bord! Er macht nur, daß euer Boot so schwer vorwärts zu bringen ist, daß ihr beinahe darüber erliegt! Er macht, daß euer Boot so mühsam und gefährlich zu steuern ist, daß ihr niemals auch nur für einen Augenblick der Angst und Sorge ledig seid; daß ihr euch niemals, auch nur für einen Moment, dem dolce far niente hingeben dürft, daß euch keine Zeit bleibt, die flüchtigen Schatten zu beobachten, wie sie über die Untiefen weghuschen, oder die glänzenden Sonnenstrahlen zu verfolgen, wie sie auf den sich kräuselnden Wellen umherhüpfen, oder das Auge zu weiden an den hohen Uferbäumen, die ihr eigen Bild in der Tiefe betrachten, an den Wäldern mit ihren goldgrünen Wipfeln, an den weißen und gelben Lilien, an den düsterwogenden Ried- und Schilfgräsern, an den blassen Orchideen oder den blauen Vergißmeinnichtaugen!

Werft ihn über Bord, ihr Menschen, den Ballast! Laßt euer Lebensschifflein leicht dahinschweben, nur mit dem Nötigsten beschwert! Ein heimliches Nest mit seinen stillen Freuden, ein oder zwei Freunde, die dieses Namens wert; jemand, den ihr liebt, und jemand, der euch liebt! Eine Katze, ein Hund, eine Pfeife oder zwei; Kleidung und Nahrung, soviel man braucht; und etwas Überfluß an trinkbarem Stoff, – denn der Durst ist gefährlich! Dann werdet ihr das Boot leichter fortbringen, und es wird weniger der Gefahr des Umkippens ausgesetzt sein, und es wird auch nicht viel schaden, wenn es ein- oder das andremal umschlägt; gute, richtige Ware muß auch einmal naß werden dürfen! Ihr habt dann Zeit zum Nachdenken sowohl als zur Arbeit, Zeit, des Lebens Sonnenschein einzusaugen, Zeit, den Äolsharfentönen zu lauschen, welche Gottes Winde auf den Saiten des Menschenherzens erklingen lassen, Zeit zur –

Doch ich bitte um Verzeihung! – Ich vergaß mich ganz.

Wir überließen es jetzt Georg, die Liste festzustellen, und er begann: »Wir brauchen kein Zelt. Was wir brauchen, das ist ein Boot mit einer Decke, die darüber befestigt werden kann. Es ist weit einfacher und viel bequemer.«

Das schien uns ein guter Gedanke, der sofort Anklang fand. Ich weiß nicht, ob ihr jemals ein solches Ding gesehen habt. Man spannt eiserne Reifen im Bogen über das Boot her und zieht dann ein Stück Segeltuch darüber vom Schnabel des Schiffs bis zum Steuer, und so verwandelt sich das Boot in ein kleines Häuschen, in welchem es gar mollig, freilich auch ein bißchen dumpfig ist. Jedes Ding hat nun eben einmal seine Schattenseite, wie jener Mann sagte, als man nach dem Tode seiner Schwiegermutter ihm die Begräbniskosten abforderte.

Georg diktierte ferner, wir hätten uns mit einer Decke, einer Lampe, etwas Seife, Kamm und Bürste (zu gemeinschaftlichem Gebrauch) zu versehen, ferner mit einer Zahnbürste (d. h. jeder von uns), einem Waschbecken, etwas Zahnpulver, Rasierzeug (lautet das nicht wie der Übungsstoff aus einer französischen Grammatik?), und ferner ein paar großen Leintüchern zum Abtrocknen. Ich bemerke, daß die Leute immer gewaltige Vorbereitungen zum Baden treffen, wenn sie irgendwohin reisen, wo es Wasser gibt, aber einmal an Ort und Stelle fällt es ihnen gar nicht ein.

Das nämliche könnt ihr wahrnehmen, wenn ihr an die See geht. Wenn ich in London über die Sache so nachdenke, so bin ich fest entschlossen, jeden Morgen früh aufzustehen und mich vor dem Frühstück erst einmal tüchtig ins Wasser zu tauchen, und ich packe pflichtgemäß ein paar Badehosen und ein Badehandtuch zusammen – ich trage immer rote Badehosen. Ich bilde mir was ein auf meine roten Badehosen. Ich meine, sie passen am besten zu meiner Gesichtsfarbe. Aber wenn ich dann ins Seebad komme, so habe ich gar nicht so sonderliches Verlangen mehr nach einem solchen Morgenbad, wie ich es vorher in London empfand. Im Gegenteil, ich habe die Empfindung, daß es am besten für mich sei, wenn ich solange als nur irgend möglich im Bett liegen bliebe und dann mein Frühstück zu mir nähme. Ein oder zweimal indessen siegte dennoch die Tugend; da ging ich um sechs Uhr morgens, halb angekleidet, mit meinen Badehosen und meinem Tuch in der Hand ziemlich trübselig nach dem Seeufer hinab; aber ich hatte keinen Genuß davon. Es scheint sich dort ein solch schneidender Ostwind aufzuhalten und expreß auf mich zu warten, wenn ich morgens baden gehe; und es ist, als hätte man die scharfkantigsten Steine alle ausgelesen, den ganzen Boden damit bestreut, die Felsen extra zugespitzt und dann ein wenig mit Sand bedeckt, so daß ich sie nicht sehen kann; und das Meer ist so boshaft, eine halbe Stunde weit zurückzugehen, so daß ich mich in meine Arme einwickeln und hüpfen muß, und dennoch in dem nur sechs Zoll hohen Wasser vor Kälte klappere. Und wenn ich mich endlich doch bis zur tieferen See durchringe, so ist sie wahrhaft beleidigend stürmisch und widerwärtig. Eine mächtige Welle hebt mich in die Höhe und läßt mich dann so niedersitzen, daß mir alle Knochen weh tun, auf einen Felsen, der extra für mich dahin gepflanzt wurde. Und bevor ich nur »o, jemine!« ausrufen kann und herausfinde, was mit mir vorgegangen ist, kommt die Welle zum zweitenmal und trägt mich in den offenen Ozean hinaus. Jetzt habe ich mich krampfhaft zu wehren, damit ich wieder ans Ufer gelange, und zweifle schon, ob ich jemals Heimat und Freunde wiedersehen werde, und da fällt mir bei, wie ich gegen meine kleine Schwester in der Knabenzeit – nicht in ihrer, sondern in meiner Knabenzeit – hätte liebreicher sein sollen. Gerade nachdem ich schon alle Hoffnung aufgegeben, zieht sich die Woge zurück und läßt mich zappelnd wie einen Seeigel auf dem Ufersand liegen, und dann richte ich mich auf und bemerke, daß ich – in zwei Fuß hohem Wasser für mein Leben gezittert habe. Ich hüpfe vollends hinaus, kleide mich an und krieche heim, wo ich dann vorgeben muß, es habe mir kolossal gut getan und gefallen.

Im gegenwärtigen Augenblick jedoch sprachen wir alle, als wollten wir jeden Morgen ein lang andauerndes Schwimmbad nehmen. Georg meinte, es sei so angenehm, von frischer Morgenluft im Boote aufgeweckt, sofort in das klare Wasser zu tauchen. Harris sagte, es gehe nichts über ein solches Schwimmbad vor dem Frühstück, um sich ordentlich Appetit zu machen. Er versicherte, es mache ihm immer Appetit. Georg aber sagte, wenn das Schwimmbad Harris noch mehr Appetit mache, als er schon ohnedies an den Tag lege, so verwahre er sich dagegen, daß Harris überhaupt jemals ein Bad nehme. Er meinte, all die Lebensmittel, die unser guter Harris zu seiner Verköstigung brauche, stromaufwärts zu schaffen, werde uns so schon sauren Schweiß genug kosten.

Ich betonte indessen Georg gegenüber, wieviel netter es sein würde, Harris frisch und sauber gewaschen in unserer Mitte zu haben, auch wenn wir deshalb einige Zentner Lebensmittel mehr fortschaffen müßten; da begann er endlich die Sache in meinem Lichte zu betrachten und zog seine Opposition gegen Harris' Badevorsätze zurück. Wir kamen schließlich dahin überein, daß jeder sein eigenes Badehandtuch mitnehmen sollte, damit nicht einer auf den andern warten müsse.

Was Kleidung anbetrifft, so glaubte Georg, zwei Flanellanzüge würden genügen, da wir sie ja selbst im Fluß waschen könnten, wenn sie schmutzig geworden seien. Wir fragten ihn, ob er denn schon einmal versucht habe, Flanell im Fluß zu waschen, worauf er erwiderte: »Das nicht gerade, aber ich kenne einige Leute, die es schon probiert haben; es macht sich ganz leicht!« Und Harris und ich, wir beide waren schwach genug, zu glauben, er verstehe etwas davon, und drei sonst ehrenwerte junge Leute, wenn sie auch weder Stellung noch Einfluß, noch irgendwelche Erfahrung im Waschen besäßen, könnten doch mit einem Stückchen Seife ihre Hemden und Hosen ganz gut in der Themse waschen.

Wir sahen in der Folge – leider nachdem es zu spät war – ein, daß Georg uns schmählich betrogen hatte und augenscheinlich auch nicht das mindeste von der Sache verstand. Wenn ihr diese Kleider nachmals gesehen hättet, – doch ich greife vor, wie der Zeitungsreporter zu sagen pflegt.

Georg bestand ferner darauf, daß jeder auch genügend Unterzeug und einen großen Vorrat an Socken mitnehme, für den Fall, daß das Boot umkippen sollte und wir unsern durchnäßten Anzug wechseln müßten, außerdem einen Vorrat an Taschentüchern, weil man damit auch das Geschirr abtrocknen könne, und ein paar Wasserstiefel außer unseren Bootschuhen, da wir deren benötigt sein würden, wenn das Boot kenterte.

*

Dann erörterten wir die Proviantfrage. Georg meinte: »Beginnen wir mit dem Frühstück. (Georg ist so praktisch.) Zum Frühstück müssen wir eine Bratpfanne haben.« Harris meinte, Bratpfannen seien schwer verdaulich, wir erwiderten ihm bloß, er solle kein Esel sein, und Georg fuhr fort: »Wir brauchen ferner einen Teetopf, außerdem einen Kessel und einen Spiritusapparat.«

»Kein Erdöl,« sagte Georg mit einem bedeutungsvollen Blick, und Harris und ich stimmten zu. Einmal hatten wir uns eines Erdölherds bedient, aber »einmal und nicht wieder«. Die ganze Woche durch war es, als hausten wir in einem Erdölmagazin. Es floß. Es gibt gewiß auf der ganzen Welt kein heimtückischeres Naß, das so leicht durchsickert wie Petroleum. Wir hatten den Herd beim Schnabel des Boots aufgestellt, von da floß es herab zu den Rudern und drang in alles ein, was es auf seinem Wege antraf, ergoß sich in den Fluß und verpestete weit und breit die ganze Atmosphäre. Manchmal kam ein nach Erdöl duftender Wind von Westen, manchmal von Osten und ebenso von Nord und Süd. Ob er nun von den arktischen Schneefeldern oder über den Sand der Wüsten herstrich, immer duftete er nach Petroleum. Und dieser verdammte Duft verdarb uns den Sonnenuntergang, und – verflucht! – selbst der Mondschein roch nach Erdöl.

In Marlow suchten wir aus seinem Bereich zu kommen. Wir verließen unser Boot an der Brücke und machten einen Spaziergang durch die Stadt, um den Geruch loszuwerden; aber es half nichts; er folgte uns. Die ganze Stadt roch nach Erdöl. Wir gingen über den Kirchhof; es schien, als ob man die Toten hier mit Petroleum einbalsamiere. Die Hohe Straße stank danach. Wir wunderten uns, wie die Leute das auf die Länge aushielten. Dann gingen wir stundenweit zu Fuß, Birmingham zu, aber es half uns nichts; die ganze Gegend war in Erdöl getaucht. Am Ende dieser Exkursion kamen wir um Mitternacht unter einer hohlen Eiche auf einem einsamen Felde zusammen, und da wurde nun das Petroleum feierlich verflucht (die ganze Woche hatten wir über die Sache nur in unserer gewöhnlichen, sanftmütigen Weise geflucht), aber jetzt ging dem Faß der Boden aus! Wir taten also einen feierlichen Schwur, niemals wieder Petroleum in einem Boot mitzunehmen, ausgenommen natürlich in einem Krankheitsfalle. Für den gegenwärtigen Fall beschränkten wir uns demgemäß auf einen Spiritusapparat. Das ist ja gewiß nicht das beste auf der Welt! Pasteten und Kuchen werden nach Spiritus schmecken, aber Spiritus ist – wenn auch in beträchtlicher Quantität genossen – immer noch zuträglicher für den Magen als Erdöl.

Außerdem schlug Georg zum Frühstück Eier und Schinken vor, die leicht zu kochen seien, ferner kaltes Fleisch, Teebrot, Butter und Eingemachtes. Zum Gabelfrühstück, meinte er, könnten wir Biskuit, kaltes Fleisch, Butterbrot und Eingemachtes verzehren, aber ja keinen Käse. Der Käse ist wie's Petroleum zu aufdringlich. Das ganze Boot beherrscht er. Durch den Korb dringt er und macht, daß alles andere nach Käse schmeckt. Man kann nicht mehr unterscheiden, ob man Apfeltorte oder Braunschweiger Würste oder Erdbeeren mit Rahm unter den Zähnen hat. Es schmeckt alles wie Käse. In der Tat, Käse verbreitet einen zu starken Wohlgeruch!

Ich erinnere mich eines Freundes, der einmal in Liverpool ein paar Käselaibe gekauft hatte. Prächtige Käse waren es, reif und mild, und mit ca. 200 Pferdekraft-Geruch ausgestattet. Und man hätte dafür garantieren können, daß sie drei Meilen weit rochen und einen Menschen auf 200 Meter Entfernung noch umgeworfen hätten. Ich hielt mich damals gerade in Liverpool auf; da sagte mein Freund zu mir, wenn er mich damit beschweren dürfe und es mir nichts ausmache, so möchte er mich bitten, sie mit mir nach London zu nehmen, da er erst in ein oder zwei Tagen zurückreise und fürchte, die Käse würden sich nicht länger halten.

»O, mit Vergnügen, lieber Junge,« sagte ich, »mit dem größten Vergnügen.«

Nachher fuhr ich in einer Droschke bei ihm vor, um die Käse in Empfang zu nehmen. Die Droschke war eine alte Mausefalle, gezogen von einem Hinkegaul, einem abgehetzten, schläfrigen Klepper, den sein Herr ein Pferd zu nennen beliebte. Ich placierte die Käse zum übrigen Gepäck aufs Kutschendach, und fort ging's, so eilig wie mit der Schneckenpost, bis wir um eine Ecke bogen; da blies der Wind plötzlich unserer Stute den Käsegeruch unter die Nase. Der hauchte ihr auf einmal Leben ein, so daß sie, vor Schrecken schnaubend, mit einer Schnelligkeit von drei Meilen in der Stunde davonjagte. Der Wind blies indessen in derselben Richtung fort, und ehe wir das Ende der Straße erreichten, hatte der Gaul schon eine Geschwindigkeit von vier Meilen in der Stunde erreicht; und während er es früher kaum mit Krüppeln und korpulenten alten Damen hatte aufnehmen können, ließ er die jetzt stolz weit hinter sich zurück.

An der Station angekommen, bedurfte es zweier Schaffner und des Kutschers, um ihn anzuhalten, und ich glaube nicht, daß sie, obgleich ihrer drei, damit zustande gekommen wären, hätte nicht einer der Männer die Geistesgegenwart gehabt, sein Sacktuch über die Nase des Gauls zu binden und etwas Räucherpapier anzuzünden.

Ich nahm ein Billett und marschierte mit meinen Käsen stolz auf dem Perron auf und ab. Das Publikum wich mir respektvoll aus. Der Zug wurde sehr voll, und ich kam in ein Kupee, in welchem sich bereits sieben andre Personen befanden. Ein alter, mürrischer Herr erhob Einspruch, aber ohne Erfolg; ich placierte meine Käse oben auf das Netz, klemmte mich dann mit verbindlichem Lächeln zwischen zwei Insassen und machte eine Bemerkung über das warme Wetter. Nach einer Weile wurde der alte Herr unruhig. »Die Luft ist hier sehr dumpf,« sagte er. »Zum Ersticken!« meinte der Mann neben ihm. Dann begannen beide zu schnüffeln, und als sie Lunte rochen, nahmen sie, ohne weiter ein Wort zu verlieren, ihre Sachen und gingen hinaus.

Dann erhob sich eine umfangreiche Dame mit der Bemerkung, es sei eine Schande, wenn eine ehrbare, verheiratete Frau auf diese Weise ausgetrieben werde, – nahm ihren Reisesack und acht Pakete zu sich und ging ebenfalls hinaus.

Die übrigen vier Mitreisenden blieben noch eine Weile sitzen, bis ein feierlich aussehender Herr – nach seinem Anzug und seinem Gebaren war er Totengräber – den Ausspruch tat, der Geruch hier erinnere ihn an Kindesleichen! Da rissen nun die drei anderen Passagiere mit solchem Ungestüm aus, daß sie sich gegenseitig ernstliche Verletzungen beibrachten. Jetzt wandte ich mich lächelnd an den schwarzen Herrn mit dem Bemerken, es scheine mir, als sollten wir das Kupee allein für uns haben; er lachte geschmeichelt und meinte, es sei sonderbar, wie doch manche Leute aus einer Kleinigkeit gleich eine Geschichte machen könnten. Aber auch dieser mein letzter Mitreisender wurde nach einer Weile sonderbar schwermütig gestimmt, so daß ich, als wir die Station Crewe erreicht hatten, ihn fragte, ob er nicht mit mir kommen und etwas zu sich nehmen wolle? Er nahm das an, wir erzwangen uns den Durchgang zum Büfett, wo wir lärmten und stampften und mit dem Regenschirm winkten, bis endlich nach einer Viertelstunde eine junge Dame kam und fragte, ob wir etwas wünschten. »Was nehmen Sie?« fragte ich meinen Reisegefährten. »Für 2,50 Mark Brandy, aber guten, Fräulein!« antwortete er, trank ihn, ging fort und setzte sich in ein anderes Kupee. Das kam mir denn doch gemein vor. Von Crewe an war ich Alleinbesitzer des Kupees, obschon der Zug ganz vollgepfropft war. An den verschiedenen Stationen war das Publikum, das mein Kupee beinahe leer sah, stets bereit, darauf loszustürzen. »Komm hierher, Maria, da ist noch Platz übrig.« – »Ja, ja, Thomas, da wollen wir hinein,« riefen sie dann wohl aus, rannten herzu mit ihren schweren Gepäckstücken und kämpften an der Wagentür um den Vortritt, bis jemand sie öffnete und einstieg, aber auch sofort in die Arme seiner Hintermänner fiel; und so kamen sie alle nacheinander und nahmen eine Nase voll; dann rafften sie eiligst ihre Siebensachen auf und drängten sich in andere Waggons, oder bezahlten die Differenz für die erste Klasse nach.

Von der Euston-Station brachte ich die Käse in meines Freundes Haus. Als dessen Frau in das Zimmer trat, witterte sie einen Augenblick nach der Ursache des Geruchs; dann sagte sie:

»Was ist geschehen? Sagen Sie mir das Schlimmste! Nur schnell.«

Ich erwiderte ihr: »Es ist Käse! Tom, Ihr Gatte, kaufte ihn in Liverpool und ersuchte mich, ihn nach Hause zu bringen.«

Und ich fügte hinzu, sie werde gewiß einsehen, daß ich unschuldig daran sei; worauf sie mir die beruhigende Versicherung gab, sie glaube das gerne, aber sie werde mit Tom darüber sprechen, wenn er heimkomme.

Aber mein Freund wurde wider Erwarten lange in Liverpool aufgehalten; und drei Tage später, da er noch immer nicht zurück war, kam seine Frau zu mir und fragte: »Was sagte denn Tom betreffs dieser Käse?« Ich erwiderte ihr, daß er befohlen habe, man solle sie an einen etwas feuchten Ort bringen, aber sonst nicht daran rühren. »O! es wird nicht leicht jemand daran rühren,« erwiderte sie; »hat Tom daran gerochen?« »Ich denke wohl,« sagte ich, »er schien sehr dafür eingenommen.«

»Glauben Sie,« fragte sie mich nun, »daß er sehr aufgebracht sein würde, wenn ich einem armen Teufel einen Sovereign gäbe, damit er sie fortschaffe und begrabe?«

Ich entgegnete ihr, da würde sie wohl nie wieder ein Lächeln von ihm zu sehen bekommen. Da schoß ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. »Würde es Ihnen etwas ausmachen,« fragte sie, »sie für Tom aufzubewahren? Lassen Sie mich sie Ihnen zusenden!«

»Madame,« antwortete ich, »was mich selbst anbetrifft, so mache ich mir nichts aus dem Käsegeruch, und meiner Reise mit den Käsen von Liverpool hierher werde ich mich zeitlebens mit Vergnügen erinnern, wie an das würdige Finale eines schönen Theaterstücks. Aber in dieser Welt müssen wir immer und überall auf andere Rücksicht nehmen. Die Dame, unter deren Dach ich zu wohnen die Ehre habe, ist eine Witfrau und, wie ich glaube, noch überdies eine Waise. Sie hat einen starken, ich kann sagen, beredten Widerwillen gegen alles, was sie eine Zumutung nennt. Die Gegenwart der Käse Ihres Herrn Gemahls würde ihr, das fühle ich instinktiv, als eine nicht geringe Zumutung erscheinen; und man soll niemals von mir sagen können, daß ich die Witwen und Waisen bedränge.« »Nun gut,« sagte meines Freundes Frau, indem sie sich erhob, »alles, was ich jetzt noch zu sagen habe, ist dies: Ich nehme die Kinder und ziehe mit ihnen in ein Hotel, bis diese Käse gegessen sind. Ich erkläre feierlich, daß ich nicht länger mit diesen Käsen unter einem Dache leben will.«

Sie hielt Wort und überließ die Aufsicht über ihr Haus der Reinmachefrau, die auf die Frage, ob sie den Geruch ertragen könne, antwortete: »Was für einen Geruch?« Und als sie dicht zu den Käsen geführt wurde, um daran zu riechen, meinte sie, sie rieche etwas wie Melonen. Man schloß daraus, daß der Käsegeruch dieser Frau keinen großen Schaden bringen könne. Die Hotelrechnung kam auf 315 Mark zu stehen; somit fand mein Freund, als er alles zusammenrechnete, daß die Käse ihm ca. 8,50 Mark das Pfund gekostet hatten. Er sagte, er esse zu gern zuweilen ein Stückchen Käse, aber das gehe über seine Mittel; so entschloß er sich denn, sich der Käse zu entledigen. Er warf sie in den Kanal, mußte sie aber wieder herausfischen lassen, da die Leute in den Kohlenschleppern sich beklagten. Sie sagten, sie würden halb ohnmächtig von dem Geruch. Hierauf brachte er sie in einer dunklen Nacht auf den Kirchhof. Aber der Leichenschauer entdeckte sie und machte ihretwegen ein furchtbares Aufheben. Er behauptete, das sei ein Komplott, durch welches man ihn um Amt und Brot bringen wolle, da der heillose Geruch ja die Toten auferwecken müßte.

Zuletzt wurde mein Freund sie los, indem er sie nach einem kleinen Seebade brachte und dort im Ufersand vergrub. Der Ort erwarb sich dadurch einen gewissen Ruf. Die Besucher bemerkten, daß die Luft früher nie solch starkwürzigen Seegeruch gehabt habe wie jetzt, und schwachbrüstige und lungenkranke Leute drängten sich jahrelang dahin.

So sehr ich nun auch Käse mag, so stimmte ich doch mit Georg überein, lieber darauf zu verzichten. »Wir brauchen auch keinen Tee!« sagte Georg, – Harris machte ein langes Gesicht – »aber wir wollen um sieben Uhr abends eine nach allen Kanten regelrechte Mahlzeit haben, eine Mahlzeit, die zugleich Mittagessen, Nachmittagstee und Abendessen ist.

Jetzt heiterte sich Harris' Gesicht wieder auf. Georg empfahl noch Braten und Obstpasteten, kalten Braten mit Tomaten, Früchte und Gemüse. Als Getränk würden wir den wunderbaren, klebrigen Extrakt mitnehmen, den Harris fabriziert hatte, welchen man nur mit Wasser zu mischen brauchte, um Limonade daraus zu machen. Dann viel Tee und überdies eine große Flasche Whisky für den Fall, wie Georg sagte, daß wir umkippen sollten.

Es schien mir, Georg berührte diesen Punkt, das Umkippen, etwas zu oft; es dünkte mir dies ein böses Omen und eine Herausforderung des Schicksals. Bei alledem war ich froh über den Whisky.

Wein und Bier wollten wir nicht mitnehmen. Bei einer Fahrt den Fluß hinauf wäre so etwas ein Mißgriff. Man wird dadurch so schläfrig und faul. Wenn man abends in der Stadt umherschlendert und nach den Mädchen ausschaut, da ist ein Gläschen ganz am Platze; aber meidet es, wenn euch die Sonne auf den Kopf scheint oder wenn ihr schwere Arbeit vorhabt!

Nun machten wir eine Liste von all den Sachen, die wir mitzunehmen beschlossen hatten, – sie wurde allerdings ziemlich länglich; – hierauf schieden wir für den Abend. Am andern Tag, es war ein Freitag, trugen wir dann alles zusammen, und am Abend trafen wir uns wieder, um zu packen. Zu den Kleidern schafften wir uns einen großen Gladstonekoffer an, dazu ein paar Körbe für die Lebensmittel und die Kochgeräte. Wir stellten unsern Tisch gegen das Fenster und legten auf dem Stubenboden all die Sachen auf einen Haufen zusammen; hierauf setzten wir uns ringsherum und schauten ihn an. Dann erklärte ich, ich wolle packen.

Ich bin etwas stolz auf meine Fertigkeit im Packen, müßt ihr wissen. Das Packen ist eine Kunst, welche ich nach meinem Dafürhalten besser verstehe als sonst irgendeine lebende Seele. (Ich erstaune oft selbst, wie viele Leute es gibt, die genau dasselbe meinen!) Ich suchte diese Tatsache Georg und Harris begreiflich zu machen und versicherte ihnen, sie würden besser daran tun, dies Geschäft gänzlich mir zu überlassen. Sie gingen auf diesen Vorschlag mit einer Bereitwilligkeit ein, die beinahe unhöflich war. Georg stopfte sich eine Pfeife und machte sich's auf dem Schaukelstuhl behaglich, und Harris streckte seine Beine auf den Tisch und brannte sich eine Zigarre an.

Das war nun gewiß nicht meine Meinung gewesen. Ich wollte bei dem Geschäft nur die Oberaufsicht führen, und Harris und Georg sollten nach meiner Anleitung die Sache machen; ich würde sie dann ab und zu auf die Seite schieben mit dem Ausruf: »Geh' doch nur weg und laß mich das machen! Da schau' her, das ist doch gar nicht so schwer usw.« Auf diese Art hatte ich sie unterweisen wollen. So wie sie aber die Sache verstanden, war es mehr als ärgerlich. Ja! Nichts kann mich mehr ärgern, als wenn andere Leute mir zusehen, wie ich mich abarbeite. Ich lebte einst mit einem Menschen zusammen, der mich auf diese Weise bald aus dem Häuschen gebracht hätte. Er pflegte sich auf dem Sofa auszustrecken, mir stundenlang bei der Arbeit zuzusehen und mich mit den Augen bis in die entfernteste Ecke zu verfolgen. Er sagte, es tue ihm in der Seele wohl, mit anzusehen, wie ich in der kürzesten Frist ein Chaos um mich her verbreite. Dabei werde es einem so recht klar, daß das Leben denn doch kein eitler Traum sei, zum Durchgähnen oder Durchseufzen bestimmt, sondern eine edle Aufgabe voll ernster und schwerer Pflichten. Ja, er wundere sich heute, wie er vordem, ehe er mich gekannt habe, den Tag habe hinbringen können, ohne jemand zu haben, dem er hätte bei der Arbeit zusehen können.

Ich gehöre nun nicht zu dieser Sorte Menschen, ich kann nicht stillsitzen und einen andern Menschen wie einen Sklaven sich schinden sehen. Ich muß aufstehen und, die Hände in den Taschen, um ihn herumgehen und ihm sagen, wie und was er tun soll. Ich mache mir kein Verdienst daraus. Ich kann einmal nicht anders. So verlangt es eben meine energische Natur.

Indessen sagte ich nichts zu dem Gebaren meiner Kameraden, sondern arbeitete vorwärts; das Ding dauerte indessen länger, als ich zuvor gedacht hatte; zuletzt aber brachte ich es denn doch fertig, setzte mich auf den Koffer und schnallte ihn zu.

»Willst du denn die Stiefel nicht auch einpacken?« fragte mich jetzt Harris. Ich schaute umher und überzeugte mich, daß ich sie vergessen hatte. Das sieht Harris ähnlich. Er hatte natürlich kein Wort vorher sagen können, ehe ich den Koffer geschlossen und zugeschnallt hatte. Und Georg lachte! – Es war solch ein zur Wut reizendes, unsinniges, unbändiges, unauslöschliches Lachen, eines, das mich ganz rabiat machen kann!

Ich öffnete den Koffer noch einmal und packte die Stiefel hinein. Wie ich im Begriff war, ihn wieder zu schließen, kam mir der schreckliche Zweifel, ob ich auch meine Zahnbürste eingepackt habe. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist einmal so – niemals kann ich mich erinnern, ob ich meine Zahnbürste eingepackt habe oder nicht. Meine Zahnbürste ist ein Geschöpf, das mich wie ein böser Geist verfolgt, wenn ich auf Reisen bin, und mir das Leben verbittert. Es träumt mir mitten in der Nacht, daß ich vergessen habe, sie einzupacken; ich wache auf, in kaltem Schweiß gebadet, stehe auf und mache Jagd nach ihr. Am andern Morgen packe ich sie dann ein, ehe ich sie gebraucht habe, und nun darf ich sie wieder auspacken; gewiß ist sie dann bis zuunterst im Koffer und das letzte Stück, das ich auspacke. Dann packe ich wieder, nachdem ich Toilette gemacht habe, und vergesse nun richtig, sie wieder einzupacken, und im letzten Augenblick fällt mir's ein; dann muß ich noch einmal die Treppe hinaufrennen und muß sie, in mein Taschentuch eingewickelt, mit nach dem Bahnhof nehmen. Natürlich mußte ich auch im jetzigen Fall wieder den ganzen Kram auspacken, und natürlich war sie trotzdem nicht drin. Jetzt rumorte ich die Sachen in einer Weise untereinander, daß sie in einen Zustand kamen, in welchem sie wohl vor Erschaffung der Welt, als noch das Chaos regierte, gewesen sein mögen. Natürlich kamen mir Harris und Georgs Bürsten wohl zwanzigmal unter die Hände, aber die meine konnte ich nicht finden. Ich nahm ein Stück um das andere in die Hände, hielt's in die Höhe und schüttelte es – da kam sie zuletzt aus einem Stiefel heraus. Dann packte ich noch einmal zusammen.

Als ich damit wieder fertig war, fragte Georg, ob auch die Seife drin sei, worauf ich ihm erwiderte, ich schere mich den Henker darum, ob die Seife eingepackt sei oder nicht; dabei schlug ich den Koffer zu und schnallte ihn fest. Dann fand sich's, daß ich meinen Tabaksbeutel eingepackt hatte, und so mußte ich noch einmal auspacken. Endlich um zehn Uhr fünf Minuten abends schloß und schnürte ich den Koffer zum unwiderruflich letztenmal.

Dann waren noch die Körbe zu packen. Harris meinte, in nicht ganz zwölf Stunden sollte ja wohl unsere Abreise vor sich gehen; daher wäre es doch angezeigt, wenn er und Georg das übrige vollends besorgten. Ich erklärte mich damit einverstanden, setzte mich nieder, und nun kam an sie die Reihe.

Die beiden machten sich an die Arbeit, als ob es nur ein Kinderspiel wäre, und wollten mich augenscheinlich belehren, wie man den Rummel machen müsse. Ich machte weiter keine Bemerkung darüber, sondern saß ganz still und wartete. Ich weiß, wenn Georg einmal gehenkt sein wird und Harris allein noch übrig, dann stellt sich heraus, wie miserabel der sich aufs Packen versteht. Und so schaute ich denn auf die Haufen von Tellern und Tassen, von Kesseln und Flaschen und Krügen, von Pasteten und Kochtöpfen, von Törtchen, Tomaten usw. in dem sichern Vorgefühl, daß die Sache nun bald recht anregend zu werden verspreche. Und das wurde sie. Meiner Freunde erstes Geschäft war, eine Tasse zu zerbrechen. Dann setzte Harris das Glas mit den eingemachten Erdbeeren auf eine Tomate und drückte sie zu Brei zusammen; da mußten sie die Tomate mit einem Teelöffel wieder herausscharren.

Dann wollte Georg sich nützlich machen und trat aus Versehen auf die Butter. Ich sagte kein Wort, sondern rückte nur etwas näher, setzte mich auf die Ecke des Tisches und schaute ihrem Treiben zu. Das ärgerte sie weit mehr, als wenn ich sie ausgelacht hätte; ich fühlte es wohl. Ich merkte, daß sie dadurch nervös und aufgeregt wurden; denn sie traten auf dies und jenes, stellten die Sachen einmal da- und einmal dorthin, und konnten natürlich nie etwas finden. Sie packten die Pasteten zuunterst in die großen Körbe, setzten schwere Körbe und Schüsseln darauf, so daß die armen Pasteten wie eingestampft unten lagen. Die Salzdüte lief aus und ergoß ihren Inhalt über alles Eßbare, und was die Butter betrifft, – mein Gott, niemals sah ich zwei Menschen mit einem Pfündchen Butter mehr Unsinn treiben als diese beiden. Als Georg sie endlich von seinem Pantoffel losgebracht hatte, versuchte er, sie in den Teekessel zu stopfen. Aber sie wollte nicht hinein, und was schon darin war, das wollte nicht wieder heraus. Endlich kratzten sie sie doch heraus und legten sie auf einen Stuhl; Harris setzte sich darauf, da klebte sie ihm an den Hosen – und dann suchten sie sie in allen Ecken.

»Ich will einen feierlichen Eid darauf ablegen,« sagte Georg, den leeren Stuhl anstarrend, »daß ich sie auf diesen Stuhl hier gelegt habe!« »Ich sah es,« sagte Harris, »mit meinen eigenen Augen; es ist noch keine Minute her.«

Dann stöberten sie noch einmal in allen Ecken herum, kamen nach vergeblicher Suche in der Mitte des Zimmers wieder zusammen und starrten einander an.

»Das ist doch die sonderbarste Geschichte, von der ich jemals gehört habe,« sagte Georg.

»Es ist eine mysteriöse Geschichte,« meinte Harris. Dann kam Georg zufällig hinter Freund Harris zu stehen und entdeckte sie.

»Ei, da hat sie ja die ganze Zeit über geklebt!« rief er voll gerechter Entrüstung aus. »Wo?« ruft Harris, indem er sich im Kreise dreht. »So steh' doch still!« brüllt Georg ihn an. »Kannst du nicht einen Augenblick stille stehen?« Endlich brachten sie sie los und packten sie in den Teetopf.

Bei der ganzen Affäre war natürlich Montmorency auch beteiligt. Sein Ehrgeiz läuft darauf hinaus, einem überall im Wege zu sein und angefahren zu werden. Wenn er sich irgendwo hindrücken kann, wo man ihn am wenigsten braucht, wo er einen hinten und vorne hindert, so daß man toll werden möchte und ihm, was einem gerade unter die Hände kommt, an die Rippen wirft, dann ist er glücklich und mit sich selbst zufrieden, dann meint er, der Tag sei für ihn nicht verloren. Wenn er es dahin bringt, daß jemand über ihn stolpert und eine geschlagene Stunde über ihn flucht, dann ist sein höchstes Ziel erreicht, dann ist er stolz wie ein Spanier. Er kommt heran und setzt sich auf Sachen, die man gerade einpacken will; denn er trägt sich augenscheinlich mit der fixen Idee, daß, wenn auch immer Harris und Georg die Hand nach etwas ausstrecken, es nur seiner kalten feuchten Nase gelte. Er steckte seine Pfote in die Marmelade, spielte und nagte an den Teelöffeln, glaubte, die Zitronen seien Ratten, fuhr in den Korb und tötete drei davon, ehe Harris ihm mit der Bratpfanne eins versetzen konnte.

Fünfzig Minuten nach Mitternacht war die Packerei vollbracht; Harris, auf dem großen Korb thronend, meinte, hoffentlich sei nichts zerbrochen, worauf ihm Georg erklärte, wenn etwas zerbrochen sei, dann sei es zerbrochen; mit welcher tiefsinnigen Erklärung er sich denn auch zu beruhigen schien. Ferner bemerkte er, daß es ihn jetzt nach Nachtruhe verlange. Harris sollte heute nacht bei uns schlafen, und so gingen wir hinauf nach dem Schlafzimmer. Georg fragte uns: »Um wieviel Uhr soll ich euch Burschen morgen früh denn wecken?« Harris sagte: »Um sieben Uhr.« Ich meinte: »Nein, um sechs,« weil ich noch einige Briefe zu schreiben hatte. »Wecke uns um halb sieben, Georg!« sagten wir nach längerem Streit. Georg aber gab keine Antwort mehr, und wir fanden, daß er schon seit einer Weile fest geschlafen haben mußte; so stellten wir ihm denn die Badewanne derart vor das Bett, daß er morgens beim Aufstehen hineinplumpsen mußte, und dann legten wir uns ebenfalls zur Ruhe.

*

Frau Poppets, unsere Wirtin, war es, die mich am andern Morgen weckte. Sie rief durchs Schlüsselloch herein: »Wissen Sie auch, daß es gleich neun Uhr ist, mein Herr?« »Neun, was?« rief ich aufspringend. »Neun Uhr,« wiederholte sie, »ich hab' gedacht, Sie täten sich verschlafen!« Ich weckte Harris und sagte ihm, daß es neun Uhr sei. Er murmelte noch ganz schlaftrunken: »Ich dachte, du wolltest um sechs Uhr aufstehen? Was?« »Ja, das wollte ich auch, warum hast du mich denn nicht geweckt?«

»Ja, wie konnte ich dich denn wecken, wenn du mich nicht zuvor wecktest?« erwiderte er. »Jetzt kommen wir sicher vor zwölf Uhr nicht mehr aufs Wasser! Ich wundere mich nur, daß du bei solchen Aussichten überhaupt noch aufstehen magst!« »O, schwatz' nicht so dumm,« fuhr ich ihn an, »du solltest Gott danken, daß ich überhaupt aufstehe! Wenn ich dich nicht aufgeweckt hätte, so würdest du in vierzehn Tagen noch auf demselben Fleck liegen!«

So knurrten wir uns noch eine Weile an, bis wir durch ein gewaltiges Schnarchen unterbrochen wurden. Es kam von Georgs Bett herüber. Wir wurden dadurch zuerst, seit man uns aufgeweckt hatte, an sein Dasein erinnert. Da lag der Mann, der gestern abend zu wissen begehrte, wann er uns wecken sollte, auf dem Rücken, mit weit offenem Munde und in die Höhe gezogenen Knien. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es ist einmal so, der Anblick eines schlafenden Menschen – wenn ich bereits auf bin – ärgert mich immer über die Maßen. Es kommt mir nichtswürdig vor, wenn ein Mensch die kostbaren Stunden seines Lebens, Stunden, die er niemals wieder zurückgewinnen kann, in solch tierischem Schlaf verschwendet.

So warf dieser Georg in schändlicher Faulheit das unschätzbare Gut der Zeit hinweg, so schwand ihm sein kostbares Leben dahin, und doch würde er dereinst für jede Sekunde Rechenschaft abzulegen haben! Hätte er nicht ebensogut auf sein und sich mit Eiern und Speck vollstopfen, oder den Hund ärgern, oder mit der Aufwärterin schön tun können, anstatt in dumpfer, stumpfer Selbstvergessenheit dazuliegen?

Es war ein schrecklicher Gedanke! Harris und mich überkam es zu gleicher Zeit. Wir entschlossen uns, ihn zu retten, und über diesem edlen Entschluß vergaßen wir unsern eignen Streit. Wir stürzten auf ihn los, rissen ihm die Decken weg, und Harris versetzte ihm eins mit dem Pantoffel, während ich ihm ins Ohr schrie. Endlich wachte er auf.

»Wa – was gi – gibt's denn?« fragte er, sich erhebend.

»Steh' auf, du dickköpfiger Faulpelz!« brüllte ihn Harris an, »es ist schon dreiviertel auf zehn.«

»Was?« schrie er, indem er aus dem Bett in die Badewanne plumpste. »Wer zum Donner hat denn dies Ding hergestellt?«

Wir fragten ihn, ob er denn blind sei, daß er die Badewanne nicht gesehn habe.

Nun, endlich waren wir alle drei mit dem Ankleiden fertig, und als wir nun zu der Toilette im engeren Sinn kamen, da fanden wir, daß wir richtig die Zahnbürsten und den gemeinschaftlichen Kamm nebst Bürste eingepackt hatten – diese meine Zahnbürste wird noch mein Tod sein, ich will darauf schwören – und wir mußten wieder hinunter und sie aus dem Koffer herausfischen. Und als wir sie hatten, fehlte Georg das Rasierzeug. Wir erklärten ihm, er habe heute unrasiert unter die Leute zu gehn, denn wir würden jetzt seinetwegen oder wegen irgend jemands seinesgleichen nicht noch einmal auspacken.

»So seid doch gescheit!« meinte er hierauf, »wie kann ich denn so in die City gehen?«

Es war jedenfalls eine starke Zumutung für die City, aber was kümmerten wir uns um menschliches Elend. »Die City muß es eben verschnupfen,« meinte Harris in seiner rohen, gemeinen Weise.

Wir gingen hinab zum Frühstück. Montmorency hatte sich noch zwei andere Hunde zum Abschied eingeladen, mit denen er sich einstweilen die Zeit durch eine Balgerei auf dem Flur vertrieb. Wir bändigten ihren Übermut mit einem Schirm und setzten uns dann zu Hammelkoteletten und kaltem Rindsbraten nieder.

Harris meinte: »Die Hauptsache im Leben ist ein ordentliches Frühstück,« und so nahm er sich ein paar Koteletten; bei diesen heiße es zugreifen, solange sie heiß seien, der kalte Braten könne warten.

Georg griff nach einer Zeitung und las uns daraus die Unfälle vor, die sich beim Bootfahren ereignet hatten, sowie die Wetterprophezeiung, nach welcher es regnerisches, kaltes, allmählich sich aufheiterndes Wetter geben würde, ferner außer sonstigen Unbilden da und dort ein örtliches Gewitter, steifer Ostwind mit allgemeinen Niederschlägen für die Gegend des mittleren Englands, sowie London und den Kanal – Barometer sinkend.

Es ist meine unmaßgebliche Meinung, daß unter allen verrückten, widerwärtigen Bosheiten, von welchen die Menschheit geplagt wird, dieser Humbug mit den Wetterprophezeiungen einer der niederträchtigsten ist. Da wird gerade für heute das Wetter angekündigt, das den Tag zuvor herrschte, das gerade Gegenteil von dem, was in Wahrheit eintrifft. Ich erinnere mich, daß mir letzten Herbst einmal ein Feiertag total verdorben wurde, weil ich auf die Wetterprophezeiung in unserer Zeitung Rücksicht genommen hatte. »Heftige Regengüsse nebst Gewitter für heute zu erwarten,« hieß es an jenem Tage, und somit gaben wir unser beabsichtigtes Picknick auf, blieben den ganzen Tag über zu Hause und warteten auf den Regen. Währenddessen zog jung und alt zu Fuß und zu Wagen in heiterster Stimmung an unsrer Wohnung vorüber, und den ganzen Tag über lachte der schönste Sonnenschein und kein Wölkchen zeigte sich am Himmel.

»Ah!« riefen wir schadenfroh aus, als wir sie unten so vorbeiziehen sahen, »wie werden die heute eingeweicht werden.« Und wir lachten in uns hinein bei dem Gedanken, wie naß sie werden würden, kehrten zum Kamin zurück, schürten das Feuer, holten uns Unterhaltungsbücher und ordneten unsere Seekräuter und Muschelsammlung. Gegen Mittag aber, als die Sonne immer noch so recht hell ins Zimmer strahlte, wurde die Wärme unerträglich, und wir fragten uns, wann denn wohl jene heftigen Regengüsse und gelegentlichen Gewitter eintreffen würden?

»O, die werden am Nachmittag kommen, ihr werdet's schon sehen,« sagten wir zueinander. »O, wie werden die guten Leutchen naß werden. Das gibt einen Hauptspaß!«

Um ein Uhr kam unsere Wirtin und fragte, ob wir denn heute nicht ausgingen, da es doch so wunderschönes Wetter sei.

»Nein, nein!« gaben wir ihr mit bedeutungsvollem Kichern zur Antwort, »Wir nicht! Wir haben keine Lust, eingeweicht zu werden.«

Und als der Nachmittag nahezu vorüber und noch immer kein Anzeichen von dem prophezeiten Regen zu bemerken war, da versuchten wir uns gegenseitig mit dem Gedanken zu trösten, daß das Gewitter auf einmal hereinbrechen würde, gerade wenn die Leute den Heimweg angetreten hätten, nirgends Schutz finden könnten und somit erst recht in die Patsche kommen würden. Aber es fiel kein Regen; der Tag blieb wunderschön, und eine prächtige sternklare Nacht folgte ihm. Den andern Morgen war zu lesen, daß das Wetter heute warm, schön und beständig sein werde; wir bekleideten uns demgemäß mit unsern leichtesten Anzügen und gingen aus; eine halbe Stunde später fing es an zu gießen wie mit Kübeln und ein schneidend kalter Wind fing an zu blasen, und beides hielt den ganzen Tag über an, so daß wir abends, mit Erkältungen und Rheumatismus behaftet, nach Hause zurückkehrten und schleunigst ins Bett krochen.

Das Wetter ist überhaupt etwas, das über meinen Verstand geht; ich kann es nie begreifen. Das Barometer ist ein nutzloses Instrument; es ist so unzuverlässig wie die Wetterprophezeiungen. In einem Hotel in Oxford, wo ich mich dieses Frühjahr aufhielt, hing so ein Ding und zeigte auf »anhaltend schön« Wetter. Den ganzen Tag hatte es aber keinen Augenblick zu regnen aufgehört, und ich konnte die Sache nicht begreifen. Ich klopfte daran; da sprang das Quecksilber vollends bis auf »sehr trocken«. Als der Hausknecht vorbeiging und mich am Barometer arbeiten sah, meinte er, es wolle wahrscheinlich das Wetter für morgen anzeigen. Ich hingegen war der Ansicht, es wolle das Wetter anzeigen, das wir vor acht Tagen gehabt hätten. Am nächsten Morgen klopfte ich abermals daran, da stieg das Quecksilber noch weit mehr in die Höhe, und dabei regnete es in Strömen. Mittwochs, nachdem ich wieder daran geklopft hatte, stieg der Zeiger bis auf den höchsten Punkt – weit über anhaltend schönes, sehr trockenes und sehr heißes Wetter hinaus, bis ihn der Riegel anhielt, und es überhaupt nicht mehr weiter steigen konnte. Das Instrument tat gewiß sein möglichstes, aber es war eben so eingerichtet, daß es ohne Lebensgefahr das schöne Wetter nicht noch kräftiger anzeigen konnte. Es wollte augenscheinlich noch höher steigen und Dürre, Wassermangel, Sonnenstiche und Wüstenwinde markieren, aber glücklicherweise hinderte es der Riegel daran; daher mußte es sich wohl oder übel begnügen, sein alltägliches »sehr trocken« anzuzeigen. Aber die Regengüsse dauerten inzwischen ununterbrochen fort, und der untere Teil der Stadt wurde durch das Austreten des Flusses unter Wasser gesetzt.

Der Hausknecht meinte, wir würden nächstens einmal lang anhaltendes schönes Wetter bekommen, aber das schöne Wetter kam jenen Sommer überhaupt nicht mehr. Ich glaube, das Instrument wollte das Wetter für das nächste Frühjahr ankündigen.

Dann gibt es noch jene langgestreckten Barometer neuen Stils; aus diesen kann ich nun vollends nicht klug werden. Auf der einen Seite zeigt es das Wetter für zehn Uhr vormittags von gestern, auf der andern für zehn Uhr vormittags von heute an. Aber man kann doch nicht jeden Morgen schon um zehn Uhr am Wetterhäuschen stehen. Es steigt und fällt der Regen oder schönes Wetter mit mehr oder weniger Wind, und wenn man daran klopft, so zeigt es absolut gar nichts an. Und man muß es erst auf die Meereshöhe und auf Fahrenheit reduzieren – und dann gibt es erst recht keine Antwort!

Aber wer braucht denn überhaupt das Wetter voraus zu wissen? Es ist doch in der Regel schlecht genug, wenn es kommt; wozu also schon vorher sich darüber abhärmen? Der liebste Prophet bleibt doch stets so ein alter Mann, der an einem besonders düsteren Morgen, an dem wir fürs Leben gern besonders schönes Wetter haben möchten, zuerst den ganzen Horizont mit kundigem Auge beschaut und uns dann sagt: »O, seien Sie unbesorgt, mein Herr, ich denke, es wird sich schon aufhellen. Es wird wahrscheinlich ganz gutes Wetter werden.« »O, der versteht sich darauf,« sagen wir zueinander, wünschen ihm guten Morgen und ziehen weiter; »Was doch diese alten Leute für gute Wetterpropheten sind!«

Und wir bleiben dem alten Manne wohl zugetan, wenn sich seine Prophezeiung auch nicht bewahrheitet und es vielmehr den ganzen Tag ohne Aufhören regnet. »Ei nun,« denken wir, »er hat ja doch sein möglichstes getan!« Aber dem, der uns schlechtes Wetter richtig prophezeit hat, bewahren wir ein bitteres und rachsüchtiges Angedenken.

»Denken Sie, daß es sich aufhellen wird?« fragt ihr fröhlich im Vorbeigehen.

»Ich glaube kaum, mein Herr,« antwortet er mit Kopfschütteln, »ich glaube im Gegenteil, daß es den ganzen Tag so fortregnen wird.«

»Dummkopf!« murmeln wir in den Bart, »was versteht der vom Wetter!«

Und wenn seine Voraussage eintrifft und wir ihm auf dem Heimweg wieder begegnen, so sind wir noch mehr gegen ihn aufgebracht, fast als ob er etwas dafür könnte, daß es wahr geworden.

Aber es war an diesem Morgen zu klar und sonnig, als daß uns Georgs herzbeklemmende barometrische Vorlesungen über »Barometer fällt – atmosphärische Störung in schräger Linie über Südeuropa hinziehend – Luftdruck verstärkt« usw. groß hätten aufregen können; als er fand, daß er diese seine Absicht nicht erreichte, stibitzte er mir eine Zigarette, die ich mir gerade sorgsam gedreht hatte, unter der Hand weg und ging davon.

Dann schafften Harris und ich, nachdem wir mit dem Frühstück vollends aufgeräumt hatten, unsere Bagage an die Haustür und warteten auf eine Droschke. Es war ein wackerer Haufen Bagage, nachdem alles beieinander lag. Da war der große Gladstone-Koffer und der kleine Handkoffer, die zwei Körbe und eine große Rolle Pelze und Plaids, etwa vier oder fünf Überzieher und Regenmäntel und einige Regenschirme; dann war da noch ein Pack, das aus einer einzigen Melone bestand, die wir ihres großen Umfangs halber nirgends anders hatten unterbringen können, und in einem andern Korb hatten wir noch einige Pfund Trauben; da war ferner ein japanischer papierner Sonnenschirm und eine Bratpfanne, welche wir, da sie zum Einpacken zu groß und lang war, in braunes Packpapier eingewickelt hatten.

Es war nicht zu bestreiten, es war ein recht ansehnlicher Haufen, und Harris und ich schämten uns ein bißchen; zwar kann ich es heute nicht einsehen, warum.

Indessen keine Droschke zeigte sich, dafür aber ein Haufen Gassenjungen, die sich augenscheinlich für die Schaustellung interessierten und dicht bei uns stehen blieben. Biggs Laufbursche war der erste, der herankam. Bigg ist unser Nachbar, der Gemüsehändler, dessen Hauptkunststück darin besteht, sich immer die durchtriebensten Schlingel von Laufburschen, die die heutige Zivilisation ausgebrütet hat, für seinen Dienst anzuwerben. Wenn irgendein Gassenbubenstück in der Nachbarschaft ausgeführt wird, so kann man sicher sein, daß Biggs neuester Laufbursche dabei der Rädelsführer war. Man erzählte, daß bei dem furchtbaren Mord in der Coramstraße man in unsrer Straße sofort darüber einig gewesen sei, daß Biggs damaliger Junge der Hauptbeteiligte bei der Affäre gewesen sein müsse; und wäre er nicht imstande gewesen, sein Alibi beim Kreuzverhör Nr. 19 und Nr. 21, wo er am Morgen nach dem Verbrechen nach Bestellungen anfragen mußte, nachzuweisen, so wäre es ihm gewiß schlecht ergangen. Ich kannte damals Biggs Jungen noch nicht, aber was ich seitdem über ihn gehört habe, hätte mich nicht veranlaßt, seinem Alibi viel Wert beizulegen.

Also Biggs Bube kam, wie gesagt, zuerst heran. Als er auf der Bildfläche erschien, hatte er es augenscheinlich sehr eilig, aber wie er Harris, mich, Montmorency und den ganzen Haufen Sachen erblickte, verlangsamte er seinen Trott und starrte uns an. Harris und ich schauten ihn durchbohrend wieder an; das hätte wohl eine sensitivere Natur aus der Fassung gebracht; aber Biggs Buben sind in der Regel nicht nervös. Er kam sogar noch einige Schritte näher, stand dann still, nahm sich einen Strohhalm vom Boden auf und kaute daran, indem er seine Augen fest auf uns haften ließ. Er wollte offenbar sehen, wie die Sache ablaufen würde. Einen Augenblick später kam der Junge des Spezereihändlers auf der anderen Seite der Straße daher. Biggs Bube rief ihn an: »He! 's Parterre von Nr. 42 zieht aus.« Der Junge kam sofort herbei und pflanzte sich auf der anderen Seite der Haustür auf. Dann hielt der Jüngling aus der Schusterbutike bei uns an und nahm festes Standquartier neben Biggs Jungen, während der Schenkbube aus der »Blauen Post« eine selbständige Stellung am Gartenzaun einnahm. »Die werden keinen Hunger leiden,« bemerkte der Schusterjüngling, »was meinst du?« – »Nun, du tätest doch sicherlich auch ein paar Sachen mitnehmen,« meinte der aus der »Blauen Post«, »wenn du in einem kleinen Boot nach Amerika schiffen wolltest.«

»Die wollen nicht bloß nach Amerika rüber,« warf Biggs Bube ein, »die wollen nach Afrika und Stanley auffinden!«

Inzwischen war der Haufen zu einer kleinen Volksversammlung angewachsen, und die Leute fragten einander, was es denn gebe. Ein Teil, nämlich der leichtfertige jüngere Teil, behauptete, es sei eine Hochzeit, und hielt Harris für den Bräutigam, während die Älteren und Verständigeren es für ein Leichenbegängnis hielten und mich wahrscheinlich für den Bruder des Leichnams ansahen.

Nach langem Harren kam denn doch endlich eine leere Droschke daher. Sofort packten wir unsere Sachen und uns selbst hinein, teilten noch an ein paar von Montmorencys Freunden, die sich augenscheinlich verschworen hatten, ihn nie zu verlassen, freundliche Hiebe zum Abschied aus und fuhren dann unter dem Hallo der Menge davon, während Biggs Bube uns noch eine gelbe Rübe als gutes Omen nachwarf.

Um elf Uhr erreichten wir den Waterloo-Bahnhof und fragten, von welchem Perron aus der 11.50 Uhr-Zug abginge. Natürlich wußte es niemand. Auf dem Waterloo-Bahnhof weiß nie jemand zu sagen, von wo ein Zug abgeht, oder wann ein Zug abgeht, wohin derselbe fährt, oder irgend sonst etwas über ihn. Nach langem, vergeblichem Suchen nach unserm Zuge konnten wir endlich mit Hilfe eines Trinkgeldes einen Zugführer bewegen, einen dastehenden Zug nach Kingston abgehen zu lassen.

Später erfuhren wir, daß der Zug, mit dem wir gefahren waren, in Wirklichkeit der Postzug nach Exeter gewesen sei, daß man im Waterloo-Bahnhof stundenlang nach ihm gesucht, daß aber niemand etwas über seinen Verbleib zu sagen gewußt habe.

Gerade unterhalb der Brücke bei Kingston lag ein Boot für uns in Bereitschaft; dorthin wandten wir unsere Schritte, und hinein stauten wir unsere Sachen, und hinein stiegen wir endlich selbst. – »Alles in Ordnung?« fragte uns der Bootvermieter.

»Alles!« antworteten wir, und Harris ergriff die Ruder und ich das Seil des Steuers; Montmorency freilich fühlte sich unglücklich und hatte sich voll böser Vorahnungen am Vorderteil aufgepflanzt – so schossen wir hinaus in die Fluten, welche nun auf vierzehn Tage unsere Heimat sein sollten.

*

Es war ein herrlicher Morgen im Spätfrühling oder Frühsommer, wenn man sie lieber so heißen will, jene Tage, da das schwache Grün des Grases und des Laubes sich dunkler zu färben anfängt, da die Jahreszeit einem jungen Mädchen gleicht, das zitternd und mit heftiger schlagendem Pulse an der Schwelle der Weiblichkeit steht. Die altertümlichen, gegen den Fluß herabführenden Hintergäßchen Kingstons sahen, in helles Sonnenlicht getaucht, recht malerisch aus; dazu der schimmernde Fluß mit den Barken auf seinem Rücken; längs des Wassers auf der anderen Seite der schattige Leinpfad; darüber aus wohlgepflegten Gärten hervorschauende schmucke Villen, an den Rudern Harris in seinem rot und gelb gestreiften Flanellanzug, etwas vor sich hinbrummend; in der Ferne der altersgraue Palast der Tudors aus dem Laubversteck auftauchend – das alles zusammen bot ein so sonniges, farbenprächtiges, ein so lebensvolles und doch so friedliches Bild, daß ich, so früh es auch noch am Tage war, bald in eine träumerische Stimmung eingelullt wurde. Ich dachte über Kingston nach, oder vielmehr über Kyningeston (Königstein), wie man es zu jenen Zeiten nannte, da die sächsischen Könige hier gekrönt wurden.

Hier setzte einst der große Cäsar über den Fluß, und die römischen Legionen lagerten sich auf dem zum Fluß sich senkenden Höhenzug. Cäsar – wie auch später Königin Elisabeth – scheint sich überall aufgehalten zu haben. Doch führte Cäsar sich hier respektabler auf als die gute Königin Beß und blieb nicht in den Kneipen hängen.

Ja, diese jungfräuliche englische Königin hielt sich gerne in Kneipen auf. Zehn Meilen in der Runde um London gibt es kaum ein halbwegs anständiges Wirtshaus, wo sie nicht einmal entweder Umschau gehalten oder eingekehrt oder übernachtet haben soll. Ich möchte wohl wissen – gesetzt den Fall, Harris würde einen neuen Lebenswandel beginnen und ein großer und edler Mann werden und es bis zum Ministerpräsidenten bringen – ich möchte wissen, sage ich, ob man dann nach seinem Tode auch solche Inschriften an all den Schenken und Kneipen, die er seines Besuches würdigte, anbringen würde, lautend: »In diesem Hause trank Harris einen Bittern.« – »Im Sommer 1888 trank Harris hier zwei Glas Schottischen.« – »Im Dezember 1886 wurde Harris hier hinausgeschmissen« usw. –

Nein, gewiß, es wären deren zu viele! Es würden sich vielmehr die Häuser berühmt machen, die er nicht besucht hat. – »Dies ist das einzige Wirtshaus in Süd-London, das Harris niemals besucht hat!« Die Leute würden dahin strömen, um die Ursache kennen zu lernen, welche Harris von dessen Besuch abgehalten haben könnte! –

Wie muß nicht der schwachherzige König Edwyn dieses Königstein gehaßt haben! Das Krönungsfest war schon mehr, als er ertragen konnte. Kann sein, daß er den mit süßen Pflaumen gefüllten Eberkopf nicht gut verdaute – ich könnte es auch nicht, des bin ich sicher –, kann sein, daß er nicht noch mehr Sekt und Met trinken wollte, genug, er entwich von dem rauschenden Festmahl, um ein ungestörtes Mondscheinstündchen mit seiner geliebten Elgiva zu durchkosen.

Vielleicht standen sie Hand in Hand an jenem Fenster und betrachteten des Mondes Silberstrahlen, wie sie auf dem Flusse erglänzten, während von der Halle herüber noch schwache, gebrochene Laute des dort herrschenden fröhlichen Lebens herübertönten!

Dann dringen der brutale Odo und St. Dunstan gewaltsam ins friedliche Zimmer, schleudern der holden Königin grobe Beleidigungen ins Antlitz und schleppen den armen Edwyn zurück zur Stelle des Tumults und der rauschenden Lustbarkeit der Zecher. In späteren Jahren ertönte hier Schlachtgeschrei, und sächsische Könige und sächsische Zecher wurden hier Seite an Seite zum ewigen Schlafe niedergelegt. Kingstons Bedeutung sank eine Zeitlang in Vergessenheit, bis es später wieder in die Höhe kam, als Schloß Hampton Court die Residenz der Tudors und Stuarts wurde, als aus den königlichen Barken, die an den Ufern vorbeistreiften, Musik ertönte, die Herren vom Hofe in ihren hellen Mänteln die Wassertreppen hinunterstiegen und über den Fluß hinüberriefen: »He! Fährmann! He!«

Viele von den alten Häusern ringsherum zeugen noch von den Tagen, da in Kingston das königliche Hoflager war, da Edelleute und Höflinge hier in der Nähe ihres Königs lebten, und der ganze lange Weg bis zu den Toren des königlichen Palastes von Sporen- und Schwerterklang und stolzer Rosse Tritt widerhallte und von schönen Damen in Samt und Seide wimmelte. Die großen, geräumigen Häuser mit ihren Galerien und Gitterfenstern, ihren großen Kaminen und Giebeldächern, alles dies erzählt noch heute von den Tagen, wo Kniehose und Samtwams, perlenbesetzte Brustlätze und weitschweifige Liebesschwüre in der Mode waren. Diese Häuser wurden errichtet, als die Menschen noch zu bauen verstanden; die harten, roten Ziegel sind durch die Länge der Zeit nur noch härter geworden, und die eichenen Treppenstufen krachen und knacken keineswegs, wenn man sie geräuschlos hinuntergehen möchte. Bei Erwähnung der Eichentreppen fällt mir ein, daß in einem der Häuser Kingstons sich ein prächtiges geschnitztes Treppenhaus befindet. Es ist am Marktplatz und war augenscheinlich einst der Herrensitz einer mächtigen Persönlichkeit. Ein Freund von mir, der in Kingston lebt, trat eines Tages in den Laden des Hauses ein, um sich einen Hut zu kaufen, und war so gedankenlos, ihn sofort bar zu bezahlen. Der Kaufmann, ein Bekannter meines Freundes, wollte natürlich zuerst seinen Augen nicht trauen; aber er kam bald wieder zu sich, und von dem Wunsch beseelt, durch eine besondere Erkenntlichkeit diese Art der Geschäftserledigung en vogue zu bringen, fragte er meinen Freund, ob er gerne eichene Schnitzereien ansehen würde. Da mein Freund bejahte, ging der Kaufmann mit ihm durch das Magazin und dann eine eichene Treppe empor. Das Geländer bestand aus einer wundervollen Schnitzarbeit! auch die Wand längs der Treppe war bis oben mit einer reichgeschnitzten Holzvertäfelung geziert, die einem Palast Ehre gemacht hätte. Von der Treppe aus gelangte man in den Salon. Das war ein großes, helles Zimmer, welches mit einer etwas auffallenden, aber freundlichen blauen Tapete bekleidet war. Sonst aber war nichts Merkwürdiges in dem Raum; daher wunderte sich mein Freund, warum man ihn hierher geführt habe. Der Eigentümer trat an die Tapete und klopfte daran. Es klang, als klopfe er auf Holz. »Eichen,« erklärte er ihm, »alles eichene Schnitzereien bis hinauf zur Decke, ganz im selben Stil wie an der Treppe.«

»Aber um Himmels willen, Mensch!« rief mein Freund, »Sie werden mir doch nicht sagen wollen, daß Sie die eichenen Schnitzereien mit blauen Tapeten überkleidet haben! Was?« – »Doch!« lautete die ruhige Antwort, »es hat mich etwas gekostet, mußte es natürlich zuerst glatt und eben hobeln lassen. Aber jetzt sieht der Salon auch heiter und freundlich aus. Es war zuvor schrecklich düster!«

Ich kann den Mann darob nicht allzustreng tadeln, was ohne Zweifel eine große Befriedigung für ihn sein wird. Von seinem Standpunkt aus betrachtet, der im Durchschnitt der Standpunkt der meisten guten Bürger sein wird, von dem Wunsche ausgehend, das Leben so leicht als möglich zu nehmen, und ohne alle Sammelwut des Altertumsforschers, ist sein Verfahren nicht so ganz unvernünftig.

Geschnitztes Eichenholz ist jedenfalls recht hübsch, zum Ansehen, wenn man ein paar sehenswerte Stücke besitzt; aber für solche, die keinen Geschmack daran finden, ist es ohne Zweifel drückend, ganz und gar in Eichenholz zu leben. Es käme ihnen vor, als ob sie in einer Kirche wohnen sollten. Das Traurige in seinem Fall war, daß einer, der sich nichts aus Eichenschnitzereien machte, diesen damit gezierten Salon besitzen sollte, während Leute, die darauf aus sind, enorme Summen dafür bezahlen müssen. Das scheint aber auf dieser Welt die Regel zu sein. Jedermann hat, was er nicht braucht, und was er braucht, haben andre Leute. Verheiratete Leute haben Weiber und scheinen keine nötig zu haben. Junggesellen härmen sich, weil sie keine bekommen können. Arme Leute, die kaum für sich selbst den Lebensunterhalt erschwingen können, haben sechs bis acht Kindermäuler zu stopfen. Reiche alte Leute haben keine Seele, der sie ihren Reichtum vermachen könnten, und sterben kinderlos.

Aber ich mag nicht bei diesen Gedanken verweilen. Sie stimmen einen so traurig.

In unsrer Schule war ein Knabe, wir hießen ihn Sandford Merton.[Fußnote: Titel eines englischen Romans. Anm. des Übers.] Sein wirklicher Name war Stirvings. Er war der sonderbarste Kerl, der mir je im Leben begegnet ist. Ich glaube, daß er wirklich Neigung zum Studium hatte. Er bekam häufig furchtbare Vorwürfe, weil er im Bett zu sitzen und laut Griechisch zu lesen pflegte, und nichts auf der Welt konnte ihn abhalten, seine unregelmäßigen französischen Zeitwörter zu lernen. Er hatte allerlei unheimliche und unnatürliche Begriffe davon, wie er seinen Eltern und der Schule Ehre machen könne; er brannte danach, Preise zu gewinnen und dereinst ein gelehrter Mann zu werden, und steckte voll solcher Schrullen und schwachmütiger Gedanken. Wie gesagt, ein so seltsamer Kerl war mir noch niemals vorgekommen; dabei war er harmlos wie ein neugeborenes Kind. Nun, dieser Bube wurde mindestens zweimal in der Woche krank, so daß er die Schule nicht besuchen konnte. Überhaupt habe ich niemals einen andern Knaben so oft krank werden sehen wie diesen Sandford Merton. Wenn in einer Entfernung von zehn Meilen irgendeine Krankheit ausbrach, so bekam er sie gewiß, und obendrein im schlimmsten Grade. In den Hundstagen bekam er Lungenentzündung und Heuschnupfen zu Weihnachten. Nach einer Dürre von sechs Wochen konnte ihn ein rheumatisches Fieber darniederwerfen, und einmal bekam er während eines Novembernebels einen Sonnenstich. Einmal behandelte man den armen Kerl mit Lachgas, um ihm sämtliche Zähne auszuziehen, und setzte ihm ein falsches Gebiß ein, weil er so fürchterlich an Zahnweh litt; aber nun wurde Neuralgie daraus. Von Erkältungen war er nie frei, ausgenommen neun Wochen lang, während welcher er das Scharlachfieber hatte, und mit Frostbeulen war er Sommer und Winter geplagt. Während der großen Choleraepidemie im Jahre 1871 war unsere Nachbarschaft ausnahmsweise frei davon; in der ganzen Gemeinde war nur ein einziger Fall vorgekommen; es war der junge Stirvings.

Er mußte gleich ins Bett, wenn er sich nicht mehr wohl fühlte, mußte Geflügel und süße Eierspeisen und Treibhaus-Trauben essen; da pflegte er denn allemal dazuliegen und zu seufzen, weil man ihm nicht erlauben wollte, seine lateinischen Exerzitien zu machen, oder weil man ihm seine französische Grammatik weggenommen hatte. Und wir andern nichtsnutzigen Buben, die wir gerne ein paar Jahre unserer Schulzeit geopfert hätten, um nur einen Tag lang krank sein zu dürfen, die wir entfernt nicht den Wunsch hegten, unsertwegen in unsern Eltern einen berechtigten Stolz zu erwecken – wir konnten nicht einmal einen steifen Hals bekommen. Wir setzten uns absichtlich dem Zugwind aus, aber er tat uns nur gut und erfrischte uns; wir aßen Sachen, die uns hätten seekrank machen sollen, aber sie machten uns nur dickleibig und erregten uns Appetit. Nichts war imstande, uns krank zu machen – bis die Ferien kamen. Da, unmittelbar nach Beginn derselben, bekamen wir Erkältungen und Keuchhusten und alle Arten von Übeln, und die dauerten bis zur Wiedereröffnung der Schule; dann wurden wir, trotz aller gegenteiligen Anstrengungen wieder wohl und so kräftig wie nur je. So ist das Leben! Und wir Menschen sind wie Gras, das gemäht und zum Dörren in den Backofen gesteckt wird.

In diesem Augenblick warf Harris die Ruder weg, verließ seinen Sitz, warf sich auf den Rücken und streckte die Füße in die Höhe. Montmorency fing an zu heulen und schlug einen Purzelbaum; der oberste Korb kippte um, und alles fiel heraus.

Ich war etwas erstaunt, aber ich verlor meinen Gleichmut nicht. Ich fragte Harris in ganz freundlichem Tone: »Holla! Was soll das bedeuten?«

»Was das bedeuten soll? Ja –«

Doch nein, wenn ich mir's recht überlege, so ist es besser, wenn ich nicht erzähle, was ich jetzt von Harris zu hören bekam. Ich mag ja Tadel verdient haben, ich gebe es zu – aber nichts entschuldigt doch die Heftigkeit und Gemeinheit der Ausdrucksweise eines Menschen, der, wie mir von Harris genau bekannt ist, eine sorgfältige Erziehung genossen hat. Ich hatte die ganze Zeit an andere Dinge gedacht und darüber, wie man sich leicht denken kann, vergessen, daß mir die Pflicht, unser Boot zu steuern, oblag, und infolge hiervon kamen wir in eine so intime Berührung mit dem Ufer, daß wir mit ihm verwachsen schienen. Es war im Augenblick wirklich schwer zu sagen, was wir und was das Flußufer war; aber wir fanden es nach einer Weile doch heraus, und endlich gelang es uns, die Selbständigkeit unseres Wesens zurückzuerlangen. Harris aber meinte, er habe jetzt genug geschafft, es sei nicht mehr als billig, daß ich jetzt ans Brett komme. So ging ich denn, nachdem wir wieder in Ordnung waren, hinaus, nahm die Riemen zur Hand und zog das Boot bis über Schloß Hampton Court hinaus.

O, diese liebe alte Mauer, die sich da längs des Flusses hinzieht! Niemals gehe ich dort vorbei, ohne mich durch ihren Anblick gebessert zu fühlen. Sie hat solch einen weichen, hellen, herzigen Grundton, diese alte Mauer! Welch ein reizendes Bild müßte sie geben – hier von Flechten überzogen, dort von Moos überwachsen, da drüben wilde Weinrebe, die etwas scheu sich ihren Weg hindurchsucht, um von der Höhe der Mauer herabzuschauen, was auf dem geschäftigen Fluß alles vorgeht; und etwas tiefer der nüchterne, alte Efeu, in dichteren Ranken. Wenn ich nur zeichnen könnte und zu malen verstünde, ich wollte gewiß eine hübsche Skizze dieser alten Mauer zutage fördern. Oft schon habe ich gedacht, in Hampton Court möchte ich leben! Es schaut so ruhig und so friedvoll darein; es ist ein solch trauliches, altertümliches Nest, von dem aus sich die Umgegend so schön durchstreifen ließe, namentlich am frühen Morgen, ehe das Lärmen und Treiben der Menschen beginnt. Aber so ist's nun einmal! Wahrscheinlich würde ich keinen besonderen Geschmack daran finden, wenn mir der Wunsch in Erfüllung ginge. Am Abend wäre es so geisterhaft und bedrückend still, wenn die Lampe ihre unheimlichen Schatten auf die dunkel getäfelten Wände wirft und das Echo entfernter Tritte, bald näherkommend, bald in der Ferne verhallend, sich dumpf auf den kalten steinernen Fliesen des Korridors vernehmen läßt, bis alles wieder in das Schweigen des Todes zu versinken scheint – ausgenommen das Klopfen unseres eignen Herzens.

Wir sind Geschöpfe der Sonne! Licht und Leben ist's, was wir alle brauchen. Darum drängen wir uns in die großen, volkreichen Städte und lassen das Land immer menschenleerer werden. Im Sonnenlicht am hellen Tage, wenn die ganze Natur belebt und alles ringsum geschäftig ist, da gefallen uns die grünen Hügel und tiefdunklen Wälder ganz gut; aber bei Nacht, wenn unsere Mutter Erde schlafen gegangen ist und uns wachend zurückgelassen hat – o, dann erscheint uns die Welt so einsam, da wird uns so bange wie den Kindern in einem verödeten Hause. Dann sitzen wir seufzend da und sehnen uns nach dem hellen Gaslicht der Straßen, nach dem Laut menschlicher Stimmen und nach dem Pulsschlag des Lebens. Wir fühlen uns so hilflos, so klein in der großen Stille, wenn nur die dunklen Bäume im Nachthauche rauschen. Überall umschweben uns Geister, deren leise Seufzer uns traurig machen. Darum rotten wir uns in unsern großen Städten zusammen, erhellen die Nacht mit Millionen Gasflammen, lärmen und singen – und fühlen uns mutig und tapfer.

Harris fragte mich, ob ich schon jemals im sogenannten Labyrinth in Hampton Court gewesen sei. Er erzählte mir, er sei einmal drin gewesen, um jemand den Weg zu zeigen. Er hatte ihn auf einer Karte studiert und die Sache so einfach befunden, daß es wirklich nicht der Mühe wert schien, dafür noch zwei Pence Eintrittsgeld zu bezahlen. Harris aber behauptete nachher steif und fest, daß jene Karte nur zum Vexieren gemacht worden sei, denn sie habe dem wirklichen Labyrinth ganz und gar nicht entsprochen und nur fehlgeleitet.

Harris wollte damals einer Base vom Lande das Labyrinth zeigen. »Wir wollen nur ein bißchen hineingehen,« sagte er zu ihr, »so daß du sagen kannst, du seist dort gewesen; aber das Ding ist sehr einfach. Es ist absurd, es ein Labyrinth zu nennen. Man braucht ja nur jedesmal den Weg zur Rechten einzuschlagen. Wir wollen etwa zehn Minuten darin herumgehen und dann draußen ein Gabelfrühstück einnehmen.«

Gleich nachdem sie eingetreten waren, trafen sie einige Leute, die erzählten, sie seien schon drei Viertelstunden darin herumgegangen und hätten nun so ziemlich genug davon. Harris sagte zu ihnen, sie könnten ihm folgen, wenn sie wollten; er gehe jetzt gerade ein bißchen hinein, würde dann umkehren und bald wieder hinauskommen. Die Leute meinten, es sei sehr gütig von ihm, und schlossen sich ihm gerne an.

Auf ihrem Wege hängten sich ihnen noch weitere Bummler an, die ebenfalls gerne wieder aus den Irrgängen herausgekommen wären, und zuletzt hatte Harris das ganze ins Labyrinth eingetretene Publikum in seinem Gefolge. Leute, die schon alle Hoffnung aufgegeben hatten, jemals wieder den Ausgang zu finden und Heimat und Freunde wiederzusehen, faßten beim Anblick Harris' und seines Gefolges neuen Mut und vereinigten sich mit der Prozession, indem sie Gottes Segen auf Harris herabwünschten. Harris schätzte die Anzahl seines Gefolges auf mindestens zwanzig, und eine Frau mit einem kleinen Kind, die den ganzen Morgen darin gewesen war, ohne den Ausgang finden zu können, bestand darauf, ihn um seinen Arm zu bitten, aus Furcht, sie könnte ihn wieder verlieren.

Harris hielt sich beständig nach rechts, aber es schien doch ein langer Weg, und seine Base meinte, es sei doch immerhin ein großes Labyrinth. »Ja!« sagte Harris, »eines der größten in Europa.« – »Es muß wohl so sein,« sagte seine Base, »denn wir sind jetzt schon eine gute halbe Stunde darin herumgeirrt.«

Harris selbst fing an, es seltsam zu finden, aber er schritt noch immer tapfer vorwärts, bis seine Base beim Anblick einer am Boden liegenden halben Semmel sich verschwor, daß sie die schon vor etwa sieben Minuten hier habe liegen sehen! Harris sagte: »O! Das ist unmöglich!« Aber die Frau mit dem Kinde bestätigte es, indem sie hinzufügte, daß sie sie selbst dem Kinde weggenommen und hier weggeworfen habe. Sie klagte laut und wünschte, ihm niemals begegnet zu sein, und hielt ihn für einen offenbaren Betrüger! Jetzt wurde Harris wütend, zog seine Karte heraus und setzte seine Theorie auseinander.

»Die Karte mag ja ganz richtig sein,« warf nun einer ein, »wenn Sie uns nur sagen könnten, auf welchem Punkt derselben wir jetzt sind?«

Das konnte nun Harris nicht. Er schlug daher vor, wieder zum Eingang zurückzukehren und von dort aus die Wanderung noch einmal zu beginnen. Aber für den Wiederbeginn der Wanderung war unter seinem Gefolge kein großer Enthusiasmus; doch nach dem Eingang zurückzukehren, dazu war jedermann bereit, und so kehrte denn die ganze Prozession um und zog wieder hinter Harris drein, diesmal in entgegengesetzter Richtung. Weitere zehn Minuten waren so verstrichen, da befand man sich im Zentrum. Harris versuchte zuerst, seine Begleitung glauben zu machen, daß dies seine Absicht gewesen sei; aber die Menge blickte gefährlich drein, und so gab er dem Zufall schuld.

Aber immerhin hatten sie nun einen sichern Punkt erreicht in der Erscheinungen Flucht, von wo aus man eine Richtung einschlagen konnte. Abermals wurde die Karte befragt, und die Sache schien einfacher als jemals, und zum drittenmal setzte sich die Karawane in Marsch.

Und nach drei Minuten war man abermals im Zentrum. Jetzt konnte man überhaupt nirgend anders mehr hingelangen. Welchen Weg man auch einschlug, jeder führte zur Mitte zurück. Das war so regelmäßig der Fall, daß ein Teil der Versammlung hier wartete, bis der andere zurückkommen würde. Harris zog wieder seine Karte heraus, aber bei deren Anblick wurde der Pöbel wütend. Harris äußerte später mir gegenüber, er habe damals nicht umhin können, zu fühlen, daß er etwas unpopulär geworden sei.

Zuletzt wurde die Menge wirklich wild und schrie nach dem Aufwärter; der Mann kam herbei, kletterte auf eine Leiter außerhalb des Parkes und kommandierte von dort aus, wie man zu gehen habe. Aber in all den Köpfen war es nachgerade so dumm geworden, als ginge ihnen ein Mühlrad darin herum, sodaß sie nun einfach gar nichts mehr begreifen konnten; daher befahl der Aufwärter ihnen, dort stehen zu bleiben, wo sie seien; er werde zu ihnen kommen. Da drückten sie sich zusammen und warteten; der Wärter kletterte wieder von der Leiter herab und kam herein. Wie es nun schon der Unstern wollte, war der Wärter frisch angestellt und noch etwas unbekannt im Geschäft; wie er nun drinnen war, konnte er die Leute nicht finden; und so wanderte er auf der Suche nach ihnen hin und her, bis er auf einmal verloren ging. Hin und wieder sah man ihn in der Ferne vorbeischweben, und die Menge trachtete ihm nahe zu kommen, indem sie der anderen Seite der Hecke zustrebte, wahrend er die größten Anstrengungen machte, sie zu erreichen; dann wartete der Haufen wiederum fünf Minuten lang auf ihn – bis er wieder an derselben Stelle wie zuvor sichtbar wurde und die Leute anrief, wo sie denn unterdessen gewesen seien. Sie mußten warten, bis einer von den älteren Aufwärtern von seinem Mittagessen zurückkehrte, ehe sie wieder heraus konnten.

Harris meinte schließlich, es sei ein sehr schönes Labyrinth, soviel er beurteilen könne – und wir kamen überein, daß wir Georg auf unserm Rückweg hineinlocken wollten.

*

Harris erzählte mir diese Labyrinthgeschichte, während wir durch die sonst sehr belebte Schleuse bei Moulders fuhren. Ich habe manchmal dort gestanden und hinabgeschaut, wenn man keinen Tropfen Wasser mehr sehen konnte, sondern nur ein glänzendes Gewimmel von bunten Jacken, hellen Mützen, verwegenen Hüten, vielfarbigen Sonnenschirmen, seidenen Mänteln und Decken, flatternden Bändern und zarten, weißen Kleidern; und wenn man vom Quai in die Schleuse hinabsah, so erschien das alles wie eine ungeheuere Kiste, worin Blumen von allen Farben und Schattierungen, wirr durcheinander geworfen, in buntem Haufen beisammenlagen und jede Ecke ausfüllten.

An einem schönen Sonntag bietet die Schleuse fast den ganzen Tag über diesen Anblick, während oberhalb und unterhalb der Fluß voll von Booten ist, die außerhalb der Schleusentore auf das Öffnen derselben warten. Und Boote kommen und gehen, so daß der sonnige Fluß vom Schlosse an bis hinauf zur Hamptonkirche gelb, blau, orange, weiß, rot und rosa gesprenkelt erscheint.

Alle Einwohner von Hampton Court und Moulsey kleiden sich nämlich ausschließlich in Rudereranzüge, kommen mit ihren Hunden daher und bummeln um die Schleuse herum, kokettieren und rauchen und schauen nach Booten; und das alles zusammen, die Herren mit ihren bunten Mützen und Jacken, die Damen in ihren schönen, hellfarbigen Kleidern, die aufgeregten Hunde, die hin- und herschießenden Boote mit ihren weißen Segeln, die reizende Landschaft und das im Sonnenlicht glitzernde Wasser – all das zusammen bietet eines der heitersten Bilder in der Umgebung dieses düstern alten Londons.

Ja! Der Fluß bietet eine gute Gelegenheit, mit seinem Anzug Staat zu machen. Auf dem Flusse haben wir Männer auch einmal Gelegenheit, unsern Geschmack in Farben zu zeigen, und meiner Meinung nach machen wir uns da gar nicht übel. Ich z. B. mag immer gern etwas Rot an mir – Rot und Schwarz zusammen. Ihr müßt nämlich wissen, mein Haar hat eine Art goldbrauner Farbe, eine ganz hübsche Schattierung, sagt man mir, und ein dunkles Rot macht sich wunderbar gut dazu; und dann denke ich immer, eine hellblaue Krawatte passe vorzüglich, sowie ein Paar juchtenlederne Schuhe und ein rotseidener Schal, um die Hüften gebunden; nebenbei bemerkt, ein Schal sieht immer viel feiner aus als ein Gürtel.

Harris liebt Schattierungen oder Zusammensetzungen von Orange oder Gelb, aber ich bin nicht der Meinung, daß er wohl daran tut, seine Hautfarbe ist zu dunkel für Gelb. Gelb steht ihm nicht – das ist gar keine Frage. Ich wollte ihn veranlassen, Blau als Hauptfarbe zu wählen, Blau mit Weiß oder Creme. Aber so ist der Mensch. Je weniger einer Geschmack hat, um so hartnäckiger hält er an seiner Ansicht fest. Es ist recht schade, da er auf diese Weise niemals ordentlich aussehen wird, während er sich mit ein paar andern Farben gar nicht so übel ausnehmen würde, namentlich wenn er seinen Hut auf hat.

Georg hat sich für unsere Exkursion auch einige neue Sachen angeschafft, die mich etwas ärgern. Seine Jacke hat eine schreiende Farbe. Ich möchte nicht, daß Georg diese meine Meinung zu wissen bekäme, aber ich kann nun einmal kein anderes Wort dafür finden. Er brachte sie – nämlich die Jacke – am Donnerstag nach Hause und zeigte sie uns. Wir fragten ihn, wie er denn diese Farbe nenne; er antwortete, er wisse es nicht. Er glaube überhaupt nicht, daß diese Farbe schon einen Namen habe; der Kaufmann habe ihm gesagt, es sei ein orientalisches Muster. Georg zog die Jacke an und fragte, wie er uns darin gefalle. Harris meinte, wenn das Ding im Frühjahr als Vogelscheuche in einem Gartenbeet dienen solle, so wolle er ihm gerne seine Reverenz machen, aber als Teil eines Anzugs für ein menschliches Wesen, einen Zulukaffer ausgenommen, mache sie ihn förmlich krank. Georg wurde ganz wild; aber Harris versetzte gleichmütig, warum er ihn denn gefragt habe, wenn er seine Meinung nicht hören möge.

Was Harris und mich selbst in bezug auf genanntes Kleidungsstück beunruhigt, das ist, daß wir befürchten müssen, die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Auch die Mädchen sehen in einem Boot ganz passabel aus, wenn sie hübsch angezogen sind. Nichts ist nach meiner Meinung pikanter als ein geschmackvolles Bootkostüm. Aber ein »Bootkostüm« – wenn die Damen das doch nur verstehen möchten! – muß doch ein Kostüm sein, das in einem Boot getragen werden kann und nicht bloß in einem Glasschrank. Es verdirbt euch den ganzen Spaß an dem Ausflug, wenn ihr Leute im Boot habt, die die ganze Zeit mehr an ihren Anzug denken als an die Bootfahrt. Ich hatte einmal das Unglück, mit zwei Damen dieser Art ein Picknick auf dem Wasser zu unternehmen. Ja, das war ein schönes Vergnügen! – Sie waren beide prächtig angezogen, alles voll Spitzen und Seidenzeug und Blumen und Bänder; dazu feine Stiefelchen und helle Handschuhe. Zu einer photographischen Aufnahme wären sie jedenfalls geeignet gewesen, aber nicht zu einer Wasserpartie. Die Kleider waren genau nach dem »Bootskostüm« eines französischen Modejournals angefertigt. Es war einfach lächerlich, in solchen Anzügen überhaupt in Luft-, Wasser- und Erdennähe zu kommen. Das erste war, daß sie behaupteten, das Boot sei nicht sauber. Wir stäubten nochmals alle Sitze für sie ab und versicherten ihnen dann, daß es nun gewiß sauber sei, aber sie glaubten es nicht. Eine von ihnen strich mit dem behandschuhten Finger über das Sitzkissen und zeigte der andern das Ergebnis: beide seufzten und setzten sich dann nieder wie die leidenden Knechte Gottes, die sich vor dem Martyrium durch Blicke gegenseitig Mut zusprechen. Man kann doch nicht umhin, beim Rudern dann und wann ein paar Tropfen Wasser umherzuspritzen, und da zeigte es sich denn, daß ein Tropfen Wasser diese Anzüge ruinierte; der Flecken war nicht wieder aus dem Kleid zu entfernen, sondern blieb zeitlebens darin.

Ich hatte die mittleren Ruder und tat mein möglichstes. Ich drehte die Ruder nur mit dem Handgelenk in einer Höhe von zwei Fuß und pausierte nach jedem Schlag, damit sie abtropfen konnten, ehe ich sie wieder eintauchte, und suchte mir zum frischen Einsatz ganz ruhiges glattes Wasser aus. Mein Hintermann sagte, als er mich so arbeiten sah, »er sei noch kein so erprobter Rudersmann, um es mit mir aufnehmen zu können, aber wenn ich es ihm erlaubte, möchte er etwas aussetzen, um meine Ruderart zu studieren«. Er sagte, es interessiere ihn so. Aber trotz alledem und alledem konnte ich nicht verhindern, daß dann und wann ein leichter Sprühregen jene Anzüge traf.

Die Damen klagten nicht; aber sie drückten sich mit festgeschlossenen Lippen ganz nah aneinander, und jedesmal, wenn sie von einem Tropfen Wasser getroffen wurden, zitterten sie am ganzen Körper und schauderten. Es war in der Tat ein erhabener Anblick, sie so als stille Dulderinnen vor mir zu sehen, aber es entnervte mich vollständig. Ich weiß wohl, daß ich zu zartfühlend bin. Ich geriet in immer stärkere Aufregung; und je mehr ich das Spritzen zu vermeiden suchte, um so weniger gelang es mir. Zuletzt gab ich es auf und sagte, ich wolle jetzt am Schnabel rudern. Mein Hintermann meinte auch, es werde wohl besser sein, und so wechselten wir die Plätze. Die Damen stießen einen unwillkürlichen Seufzer der Erleichterung aus, als sie mich gehen sahen, und lebten für einen Moment ordentlich auf. Arme Mädchen! Sie hätten lieber mich behalten sollen. Der Mann, der nun meinen Platz einnahm, war ein lustiger, sorgloser, dickköpfiger Bursche, der ungefähr so viel Gefühl im Leibe hatte wie ein junger Neufundländer. Man hätte ihn stundenlang mit Blicken durchbohren können, er hätte es gar nicht einmal bemerkt, und wenn er es bemerkt hätte, so wäre er dadurch auch nicht aus der Fassung gekommen. Er setzte stets mit einem herzhaften Schlag ins Wasser ein, durch den es sich wie eine Fontäne über das ganze Boot ergoß, so daß sämtliche Insassen in die Höhe schreckten. Und wenn er auf diese Weise mehr als ein Viertelliter Wasser über eines der Kleider ausgoß, dann konnte er ganz täppisch dazu lachen und sagen: »O, ich bitte sehr um Vergebung,« und sein Taschentuch anbieten, um es abzutrocknen.

»O, es tut nichts,« seufzten dann die armen Mädchen, zogen heimlich Decken und Mäntel über sich, und hielten ihre spitzenbesetzten Sonnenschirme vor, um sich gegen die Wasserschauer zu schützen.

Beim Gabelfrühstück hatten sie wieder Unglück über Unglück. Man setzte sich am Ufer ins Gras: aber das Gras war erdig, und die Baumstämme, an welche sie sich anlehnen sollten, schienen mehrere Wochen lang nicht abgebürstet worden zu sein. So zogen sie denn ihre feinen Batisttaschentücher heraus, breiteten sie auf dem Gras aus und setzten sich darauf, aufrecht wie Ladestöcke. Dann kam einer mit einer Beefsteakpastete vorbei und stolperte über eine Wurzel, so daß die Pastete in die Weite flog. Zum Glück wurden sie nicht davon getroffen, aber diese neue Gefahr, die ihnen drohte, machte sie noch nervöser, als sie durch das bisher ausgestandene Vergnügen bereits geworden waren; und wenn irgend jemand mit irgend etwas in der Hand, das fallen und eine Zerstörung anrichten konnte, hin- und herging, so bewachten sie seine Schritte mit angstvollen Mienen, bis er sich wieder niedergesetzt hatte. – »Nun denn, ihr Mädchen,« sagte nachher, als alles vorbei war, unser Freund, der zweite Rudersmann, »jetzt kommt nur mit; das Geschirrspülen ist euer Geschäft!«

Sie verstanden ihn zuerst nicht. Als sie endlich seine Meinung erfaßt hatten, meinten sie, sie wüßten nicht, wie man Geschirr abwasche.

»O, ich will es euch schon zeigen,« rief er. »Das ist ein Kapitalspaß! Ihr lehnt euch über das Ufer und schwenkt die Sachen im Wasser hin und her. Seht, so!«

Die ältere Schwester meinte, sie fürchte, ihre Kleider paßten nicht ganz zu diesem Geschäft. »O, das macht nichts,« meinte er gleichmütig, »steckt sie eben auf!«

Und wohl oder übel mußten sie sich dazu bequemen. »Denn«, sagte er, »ohne das wäre ein solches Picknick nur ein halber Spaß!« Und sie meinten, »ja, es sei sehr interessant!« – Wenn ich jetzt über die Geschichte nachdenke, so überkommt mich doch ein Zweifel, ob dieser junge Mann wirklich so dickköpfig war, als wir dachten oder ob er ...? Nein, unmöglich, er schaute ja so arglos, so unschuldig drein wie ein Kind!

Harris wollte bei der Kirche zu Hampton aussteigen, um das Grabmal der Frau Thomas anzusehen.

»Wer ist denn diese Frau Thomas?« fragte ich. »Wie kann ich denn das wissen?« erwiderte Harris. »Es ist eine Dame, der man einen kuriosen Grabstein gesetzt hat, den ich sehen muß.« Ich erhob Einsprache. Ich weiß nicht, wie es kommt – vielleicht, daß man mich in meiner Kindheit schief gewickelt hat – aber für Grabsteine kann ich mich nun einmal absolut nicht erwärmen.

Ich weiß wohl, wenn man ein Dorf oder ein Städtchen betritt, so gehört sich's, daß man gleich nach dem Kirchhof stürzt und sich an den Gräbern labt; aber diesen Genuß versage ich mir ganz konsequent; ich habe gar kein Interesse daran, bei frostigen, dunklen, alten Kirchen herumzustöbern und hinter einem hustenden alten Mann einherzugehen, um die Grabschriften zu entziffern. Nicht einmal eine in Stein eingelassene Messingplatte mit einer Inschrift kann mir das bieten, was ich wirkliche Glückseligkeit nenne.

Ich bringe ehrwürdige Totengräber zum Entsetzen durch den unzerstörbaren Gleichmut, den ich beim Lesen solcher Inschriften zu zeigen imstande bin, und durch meinen totalen Mangel an jeglichem Enthusiasmus für die Familiengeschichten der hier Begrabenen; und meine schlecht verhehlte Begierde, wieder hinauszukommen, verwundet ihre Gefühle aufs tiefste.

An einem strahlenden Sommermorgen lehnte ich einst an dem niederen Gemäuer, das eine kleine Dorfkirche umgab: ich rauchte meine Zigarre und sog mit tiefen Zügen die süße, ruhige Stille der ländlichen Umgebung in mich ein. Hier die altersgraue Kirche, von Efeu umsponnen, mit ihrer altertümlichen, geschnitzten Tür, dort das weiße Gäßchen, das sich zwischen Reihen hoher Ulmen hinabwand, während die Strohdächer der kleinen Häuschen des Dorfes über die wohlgepflegten Hecken hinauslugten, tiefer unten der silberne Strom, und jenseits die waldigen Hügel!

Es war eine liebliche Landschaft, idyllisch, poetisch – ich fühlte mich dichterisch angeregt und wurde von guten und edlen Gefühlen überkommen. Ich fühlte keine Lust mehr zu sündigen und schlecht zu sein. Ich nahm mir vor, hierher zu ziehen, niemals wieder etwas Böses zu tun, ein sündloses, reines Leben zu führen und dann im Alter ehrwürdiges, silberweißes Haar zu bekommen – lauter schöne Dinge. Ja! In diesem Augenblick vergab ich all meinen Freunden und Verwandten ihre gegen mich verübten Bosheiten und Schlechtigkeiten und segnete sie. Sie wußten freilich nicht, daß ich sie segnete. Sie trabten auf ihrem gottverlassenen Lebensweg weiter, unbewußt dessen, was ich in weiter Ferne für sie tat und gelobte. Aber ich tat es dennoch und wünschte nur, ich hätte sie es wissen lassen können, damit sie sich darüber hätten freuen mögen.

Wie ich mich nun solch edlen, erhabenen Gedanken hingab, wurde meine Träumerei auf einmal durch eine kreischende, ins Mark schneidende Stimme unterbrochen, die mich anrief: »Gleich, mein Herr! Gleich! Ich komm' ja schon! Ich komm' schon! Ja! 's ist ganz recht! Ich komm' schon! Pressieren Sie doch nicht so!«

Ich schaute auf und sah einen alten, kahlköpfigen Mann auf mich zuhumpeln; er hielt ein riesiges Schlüsselbund in der Hand, das bei jedem Schritt klapperte und rasselte.

Mit stiller Würde winkte ich ihm zu, sich zu entfernen, aber der Alte nahm keine Notiz davon, sondern fuhr fort zu krächzen: »Ja, ja! 's ist ganz recht, ich komm' ja schon! Ich bin eben nimmer so gut zu Fuß wie sonst! Da herüber, mein Herr, da herüber!«

»Trollt euch fort, alter Bursche!« sagte ich unwillig.

»Aber ich bin doch so geschwind gekommen, als ich hab' können, Herr! Meine Frau hat Sie eben in der Minute erst gesehen. Kommen Sie nur mit, Herr!«

»Macht, daß ihr fortkommt!« wiederholte ich, »sonst klettere ich über die Mauer und schlage euch tot!«

Er schien erstaunt. »Ja, wollen Sie denn nicht die Gräber sehen?« fragte er.

»Nein!« antwortete ich ihm, »das will ich nicht. Ich will hier stehen und mich an diese alte verfallene Mauer lehnen. Geht fort und laßt mich in Ruhe. Ich bin gestopft mit schönen und edlen Gedanken und will sie festhalten, weil sie mich schön und gut dünken! Kommt mir nicht mit eurem Kram, sage ich euch, macht mich nicht wütend und verjagt mir nicht alle meine guten und schönen Gefühle mit eurem Grabsteinunsinn! Geht fort und seht, daß ihr jemand auftreibt, der euch um ein Billiges begräbt, dann will ich die Hälfte der Begräbniskosten bezahlen!«

Einen Augenblick war der Alte ganz starr. Er rieb sich die Augen und glotzte mich an. Äußerlich erschien ich ihm ohne Zweifel noch so ziemlich ein Mensch, – aber er konnte nicht klug aus mir werden. Er sagte: »Sie sind wohl ein Fremder, leben nicht hierzulande?«

»Nein,« sagte ich, »ich lebe nicht hier. Ihr würdet es auch nicht wünschen.«

»Ei,« sagte er darauf, »so müssen Sie doch die Gräber, die Grabsteine sehen. Man hat hier Leute begraben, wissen Sie, hier gibt's Särge!«

»Ihr seid ein Ungläubiger!« rief ich empört. »Ich will keine Gräber sehen, wenigstens nicht eure Gräber! Warum sollte ich auch? Wir haben unsere eigenen Gräber, unsere Familiengräber. Da ist mein Onkel Podger, der hat eine Grabstätte auf dem Kensal Green Kirchhof, die der Stolz der ganzen Gegend ist, und meines Großvaters Grabmal in Bow kann acht Bewohner fassen, und meine Großtante Susanne hat eine gemauerte Grabstätte im Friedhof zu Finchleg mit einem Grabstein, worauf etwas wie ein Kaffeetopf als Basrelief ausgehauen ist, mit einer Einfassung von sechs Zoll dickem Marmor, die viele Pfund Sterling gekostet hat. Wenn ich Gräber sehen will, so gehe ich dahin und vergnüge mich dort. Ich brauche anderer Leute Gräber nicht! Wenn ihr selbst einmal begraben seid, will ich kommen und euer Grab sehen; das ist alles, was ich für euch tun kann.«

Der Alte brach in Tränen aus. Er sagte, eines von den Gräbern habe zu Häupten einen Stein, von dem jemand gesagt habe, es sei wahrscheinlich ein Stück einer menschlichen Figur, und auf einem andern Stein seien Worte eingegraben, die noch kein Mensch habe entziffern können. Aber auch das rührte mich nicht; mit herzbrechendem Tone fragte er nun: »So wollen Sie auch nicht mitkommen und das Gedächtnisfenster sehen?«

Ich wollte auch das nicht sehen. Da verschoß er sein letztes Pulver. Er kam näher auf mich zu und flüsterte heiser: »In der Krypta drunten habe ich ein paar Schädel, die müssen Sie sehen. Kommen Sie nur und sehen Sie sich die an! Sie sind doch ein junger Mann und wollen sich einen lustigen Sonntag machen! So kommen Sie und sehen Sie sich die Schädel an!«

Jetzt wandte ich mich und floh davon. Er aber rief mir noch immer nach: »Kommen Sie zurück und sehen Sie sich die Schädel an!«

Harris dagegen schwärmt für Gräber, Grabsteine, Grabschriften und merkwürdige Inschriften, und der Gedanke, daß er das Grab der Frau Thomas nicht sehen sollte, machte ihn ganz kratzbürstig. Er sagte, er habe die Besichtigung schon in Aussicht genommen, als wir zuerst unsere Wasserfahrt besprochen hatten; ja, er behauptete, er würde gar nicht daran teilgenommen haben, wenn er nicht gedacht hätte, daß er bei dieser Gelegenheit das Grab der Frau Thomas zu sehen bekäme.

Ich rief ihm unsern Georg ins Gedächtnis und erinnerte ihn daran, daß wir das Boot bis fünf Uhr nach Shepperton zu bringen hätten, um dort mit Georg zusammenzutreffen; da fing er an auf Georg zu schimpfen: »Was braucht denn Georg den ganzen Tag herumzulungern, so daß wir uns allein mit diesem verdammt schweren Boot abschinden müssen, um es den Fluß hinaufzuschaffen und richtig mit ihm zusammenzutreffen? Warum konnte Georg nicht kommen und auch etwas schaffen? Warum hatte er sich nicht für den Tag freimachen können, um zugleich mit uns die Fahrt anzutreten? Zum Teufel mit der Bank! Zu was ist er überhaupt auf der Bank nütze? Ich habe ihn dort noch nie etwas arbeiten sehen,« fuhr Harris fort, »so oft ich dahin gehe. Er sitzt den ganzen Tag hinter einem Glasfenster und gibt sich die Miene, als tue er etwas. Was nützt einem denn ein Mann hinter einem Glasfenster? Ich muß mir meinen Lebensunterhalt durch sauere Arbeit verdienen! Warum kann er nicht auch arbeiten? Wozu ist er nütze auf der Bank, und wozu sind Banken überhaupt nütze? Sie nehmen euch euer Geld ab, und wenn ihr dann einen Scheck einlösen wollt, so senden sie ihn euch zurück, ganz vollbeschmiert mit Worten wie: ›Keine Zahlung – zurück an den Aussteller!‹ Was kann denn das nützen! Einen solchen Streich haben sie mir letzte Woche zweimal gespielt; das ertrage ich nicht mehr lange, ich werde meine Einlagen zurücknehmen und mit der Bank abbrechen! Ja, wenn Georg jetzt da wäre, so könnten wir nun dieses Grabmal sehen. Ich glaube überhaupt gar nicht, daß er auf der Bank ist! Er wird irgendwo herumstrolchen, das wird seine ganze Beschäftigung sein! Jawohl! Und uns überläßt er inzwischen die ganze Arbeit mit dem vertrackten Boot. Ich gehe hinaus, ich muß eins trinken!«

Ich bedeutete Harris, daß wir dermalen verschiedene Meilen von einem Wirtshause entfernt seien; da warf er seinen Haß auf den Fluß! »Wozu denn solch ein Fluß nütze sei, und ob denn alle, die ihn befahren, dazu verdammt sein müßten, vor Durst umzukommen?«

Wenn Harris in diese Stimmung gerät, so ist es immer das beste, ihn gewähren zu lassen. Dann pumpt er sich leer und wird wieder ruhig. Ich erinnerte ihn daran, daß wir ja im Korbe kondensierte Limonade hätten, sowie einen Maßkrug Wasser im Vordersteven des Boots, und daß man diese zwei Stoffe nur zu mischen brauche, um einen kühlen, erfrischenden Trunk herzustellen.

Da fing er an, über Limonade und derartiges Sonntagsschulgeläpper, wie er es nannte, loszuziehen, über Ingwerwein, Himbeersaft usw. Er meinte, all das Zeug verursache nur Magenverstimmung und verderbe Leib und Seele gleicherweise; die Hälfte all der Verbrechen, die in Kapland verübt würden, kämen auf ihre Rechnung. Er müsse nun aber absolut etwas zu trinken haben; mit diesen Worten kletterte er nach dem Vordersteven hinüber und suchte nach der Flasche. Sie war natürlich wieder zuunterst im Korb und schien etwas Schwierigkeiten machen zu wollen, und er mußte sich immer tiefer über den Korb beugen. Da er zu gleicher Zeit auch steuern wollte und über seinem Kramen im Korbe die Aussicht verloren hatte, steuerte er in der falschen Richtung, so daß das Boot ans Ufer anfuhr und einen Stoß empfing, der ihn kopfüber in den Korb hineinwarf. Während er die Beine gen Himmel streckte, hielt er sich wie der grimme Tod mit den Händen an beiden Seiten des Bootes fest und wagte nicht, sich zu rühren, aus Furcht, vollends über Bord zu fallen; in dieser Stellung mußte er bleiben, bis ich herangekommen war, ihn an den Beinen ergriff und zurückzog, was ihn natürlich noch wilder machte, als er ohnehin schon war.

*

Wir hielten unter den Weiden bei Kempton Park, um unser Gabelfrühstück einzunehmen. Es ist ein schönes Fleckchen Erde; eine anmutige ebene Wiese zieht sich am Wasser hin; Weiden hängen drüber her. Wir waren eben beim dritten Gange unserer Mahlzeit – Brot und Eingemachtem – angelangt, als ein Mann in Hemdärmeln und kurzer Pfeife daher kam und uns fragte, ob wir auch wüßten, daß unser Lager da ein gesetzwidriger Akt sei. Wir sagten, wir seien in unserer Betrachtung der Angelegenheit noch nicht so weit gediehen, um über diesen Punkt zu einem definitiven Schlusse kommen zu können; wir wollten aber, falls er uns sein Ehrenwort als Gentleman gebe, daß wir gesetzwidrig handelten, solches ohne weiteres Zögern glauben.

Er gab uns die gewünschte Versicherung, und wir bedankten uns schön; aber sonderbarerweise lungerte er immer noch herum und schien nicht ganz befriedigt; da fragten wir ihn denn, ob wir ihm sonst noch mit etwas dienen könnten; und Harris, der gerne mit einem jeden anbandelte, offerierte ihm ein Stückchen bestrichenes Brot. Der Mann – anders kann ich mir die Sache nicht erklären – muß wohl zu irgendeiner Gesellschaft gehört haben, die sich verschworen, niemals bestrichenes Brot an die Lippen zu bringen, denn er wies es ganz mürrisch zurück, als ob er sich ärgerte, daß ihm eine solche Versuchung überhaupt nahegelegt worden sei, und er fügte hinzu, daß er uns austreiben müsse.

Harris meinte darauf, wenn solches seine Pflicht sei, so solle es auch geschehen, und er fragte den Mann, was ihm wohl als die beste Art und Weise zur Ausführung besagter Maßnahme erscheine. Harris ist, was man so einen gut gebauten Mann – Größe Nr. 1 – nennt, und er schaut handfest und knochig drein; und der Mann maß ihn denn auch von oben bis unten und meinte, er müsse heim und seinen Herrn befragen; er würde dann zurückkommen und uns beide in den Fluß hineinspedieren.

Natürlich ward er nicht mehr gesehen, und natürlich wollte er in Wahrheit nichts anderes als einen Schilling. Es gibt so eine Art uferbewohnendes Gesindel, das ein förmliches Geschäft daraus macht, während des Sommers an den Flüssen entlang zu schlendern und von schwachmütigen Dummköpfen auf diese Weise Geld zu erpressen. Sie spielen sich auf, als wären sie vom Eigentümer hergeschickt worden. Das richtige Verfahren ist in solchem Fall, seinen Namen und Adresse anzugeben und ruhig abzuwarten, bis der Eigentümer einen gerichtlich fordert und klaren Beweis und Rechnung über den Schaden liefert, den man seinem Grundbesitz dadurch zufügte, daß man auf ein paar Quadratzentimetern desselben gesessen. Aber die meisten Leute sind so intensiv träge und furchtsam, daß sie es vorziehen, die Betrügerei förmlich großzuziehen, dadurch, daß sie nachgeben, anstatt durch charakterfestes Auftreten dem Schwindel ein Ende zu machen.

Trifft irgendwo aber in der Tat die Eigentümer selbst der Tadel, so sollten sie wahrlich an den Pranger gestellt werden. Die Selbstsucht der flüssebewohnenden Grundherrn wächst von Jahr zu Jahr. Wenn man den Gelüsten dieser Menschen freien Lauf ließe, so würden sie den Themsefluß ganz und gar absperren. Sie tun dies wirklich längs der kleineren Nebenflüsse und an den Seitenkanälen. Da werden Pfähle und Pfosten ins Flußbett getrieben und von Ufer zu Ufer Ketten gezogen und an jeden Baum riesige Plakatbretter angenagelt. Der Anblick dieser Plakattafeln ruft jeglichen bösen Trieb in meiner Natur wach. Mir ist's, als müßte ich jedes einzeln herunterreißen und dem Manne, der es aufsteckte, an den Kopf schlagen, bis ich ihn in ein besseres Jenseits befördert hätte; alsdann würde ich ihn begraben und das Plakat als Leichenstein auf sein Grab setzen.

Ich teilte Harris diese meine Gefühle mit, und er sagte, er habe sie in noch weit erschreckenderem Grade. Er sagte, es sei ihm nicht nur, als müsse er den Mann umbringen, der die Tafel habe aufstecken lassen, sondern daß er dessen ganze Familie nebst allen seinen Freunden und Verwandten ermorden möchte, und alsdann würde er sein Haus niederbrennen. Das schien mir zu weit gegangen, und ich sagte dies zu Harris; aber er antwortete:

»Keine Spur. Das geschähe ihnen gerade recht, und ich ginge hin und sänge etwas Humoristisches auf den Trümmern.«

Ich erboste mich, daß Harris in diesem blutdürstigen Tone fortfuhr. Man sollte seinem Gerechtigkeitsgefühl nie erlauben, in bloße Rachsucht auszuarten. Es währte lange, bis ich Harris dazu brachte, die Sache von einem etwas christlicheren Standpunkt aus zu betrachten; aber es gelang mir zuletzt, und er versprach mir, auf alle Fälle die Freunde und Verwandten zu verschonen und nichts Humoristisches auf den Trümmern zu singen.

Hättet ihr jemals Gelegenheit gehabt, Harris etwas Humoristisches singen zu hören, so würdet ihr begreifen, welch großen Dienst ich der Menschheit leistete. Es ist eine von Harris' fixen Ideen, er könne etwas Humoristisches singen; unter denjenigen seiner Freunde aber, die Harris den Versuch machen hörten, herrscht die fixe Idee, er könne es nicht und werde es niemals lernen, und man sollte ihm überhaupt verbieten, jemals wieder den Versuch zu machen.

Wenn Harris bei einer Abendgesellschaft ist und aufgefordert wird, einen Gesang zum besten zu geben, so antwortet er: »Ja, wissen Sie, ich kann eben nur etwas Humoristisches singen;« das sagt er aber in einem Tone, der wohl zu verstehen gibt, daß, wenn er so etwas singe, es so wundervoll sei, daß man nur sagen könne: »Hör' dieses Lied und stirb!«

»O, wie reizend,« sagt die Wirtin, »bitte, singen Sie eins, bitte, Mr. Harris,« und Harris steht auf und steuert dem Klavier zu mit der strahlenden Heiterkeit eines freigebigen Mannes, der eben im Begriff ist, jemand etwas zu schenken.

»Nun, bitte um allgemeine Stille,« sagt die Dame des Hauses zu den übrigen gewandt: »Mr. Harris ist im Begriff, uns etwas Humoristisches vorzusingen.«

»O, wie hübsch!« murmelt man, und man drängt vom Wintergarten herein, man kommt die Treppen herauf, man geht und holt die andern aus allen Winkeln des Hauses zusammen und drückt sich in den Salon, und sitzt ringsherum und strahlt vor lauter Erwartung.

Dann fängt Harris an. –

Nun, man verlangt nicht zu viel Stimme bei einem komischen Vortrag. Man erwartet weder korrekten Einsatz noch vollkommen reine Vokalisation. Man nimmt es dem Sänger nicht gar sehr übel, wenn er mitten in einer Note herausfindet, daß sie zu hoch ist, und mit einem Ruck herunterstürzt. Man nimmt es nicht so genau mit dem Takt.

Man nimmt es nicht so genau, wenn der Sänger der Begleitung um zwei Takte voraus ist und dann mitten in der Zeile plötzlich innehält, um sich mit dem Klavierspieler auseinanderzusetzen und alsdann den Vers aufs neue zu beginnen. Aber man erwartet den Text zu hören.

Man ist nicht darauf gefaßt, daß der Sänger nie mehr als die ersten drei Zeilen der ersten Strophe im Gedächtnis hat und diese immerfort wiederholt, bis es Zeit ist, daß der Chor einfällt. Man ist nicht darauf gefaßt, daß der Sänger mitten in der Zeile abbricht und kichert und sagt: »'s ist höchst sonderbar, aber beim Teufel! ich kann mich nicht weiter erinnern!« und dann probiert, ob er nicht selbst noch etwas dazuschustern kann, und dann nach einer Weile sich auf einmal wieder die Worte beifallen läßt, wenn er längst schon an einen ganz anderen Teil des Liedes gekommen ist, und dann ohne jede weitere Anzeige abbricht, zurückgeht und es euch zu hören gibt, mögt ihr's nun wollen oder nicht.

Ich will geschwind ein Pröbchen von Harris' humoristischem Singen zum besten geben, und dann kann der geneigte Leser selbst urteilen.

Harris (vor dem Klavier stehend und gegen das erwartungsvolle Auditorium gewandt): »Ich fürchte, 's ist ein etwas veraltetes Ding, wissen Sie. Ich vermute, Sie kennen es alle, wissen Sie. Aber 's ist das einzige Ding das ich kann. Es ist das Richterlied aus ›Pinafore‹ – nein, ich meine nicht ›Pinafore‹ – ich meine – nun, Sie wissen schon, was ich meine, das andere, wissen Sie. Sie müssen alle einfallen, um den Chor mitzusingen, wissen Sie.«

Gemurmel des Entzückens und der Erwartung, den Chor mitzusingen. Brillantes Vorspiel zum »Richterlied« aus »Gerichtliches Verhör«, von einem nervösen Pianisten ausgeführt. Der Augenblick kommt, wo Harris einsetzen soll; Harris nimmt keine Notiz davon. Der Nervöse beginnt das Vorspiel von neuem, und Harris, der zu gleicher Zeit zu singen anfängt, stürzt sich auf die ersten zwei Zeilen des ersten Preisliedes aus »Pinafore«. Der nervöse Pianist versucht mit dem Vorspiel fortzufahren, gibt es aber auf und versucht Harris zum »Richterlied« aus »Gerichtliches Verhör« zu begleiten, findet aber, daß dies nicht dem Zweck entspricht, versucht herauszubringen, was er denn eigentlich tut und wo er ist, fühlt aber, daß ihm die Sinne vergehen, und hält inne.

Harris (mit freundlich herablassender Aufmunterung): »'s ist ganz recht. Sie machen's ja ganz nett; wirklich, fahren Sie nur fort.«

Nervöser Pianist: »Ich fürchte, es steckt da irgendwo ein Fehler. Was singen Sie doch nur gleich?«

Harris (rasch): »Ei, das Richterlied aus ›Gerichtliches Verhör‹. Kennen Sie denn das nicht?«

Irgendein Freund von Harris (aus dem Hintergrunde des Zimmers): »Nein, das singst du nicht, du närrischer Kauz, du singst ja das Admiralslied aus ›Pinafore‹.«

Langer Streit zwischen Harris und Harris' Freund in bezug auf das, was Harris wirklich singt. Der Freund gesteht zuletzt seufzend ein, es sei einerlei, was Harris singe, wenn Harris nur die Gnade haben wollte, fortzufahren und es auch wirklich zu singen, und Harris, im Gefühl und mit dem Ausdruck beleidigter Unschuld, bittet den Pianisten, noch einmal anzufangen. Daraufhin beginnt der Pianist das Vorspiel zum Admiralslied, und Harris, sich eine Stelle zunutze machend, die er für einen Einsatz passend erachtet, beginnt.

Harris: »Als ich vormalen jung war


Und Jus studieren sollte.«

Allgemeines Lachgebrüll, das von Harris als Kompliment aufgefaßt wird. Der Pianist, an Weib und Kind denkend, gibt den ungleichen Kampf auf und zieht sich zurück; seine Stelle wird von einem stärker besaiteten Menschen eingenommen.

Der neue Pianist (heiter): »Wohlan, alter Junge, fangen Sie mal zuerst an und ich falle ein. Wir wollen uns nicht weiter mit dummen Vorspielen abgeben.«

Harris (dem der wahre Sachverhalt langsam aufdämmert), lachend: »Bei Gott! Ich bitte Sie um Entschuldigung. Natürlich – ich habe die beiden Lieder untereinander gebracht. Aber Jenkins war es, der mich in diese Verwirrung stürzte, wissen Sie. Gut also, fangen wir an.«

Singt; seine Stimme scheint aus dem Keller zu kommen und wie ein erstes dumpfes Grollen ein herannahendes Erdbeben anzuzeigen.

»Als ich vormalen jung war,


Da diente ich ein Vierteljahr


Bei einem Anwalt grau von Haar,«

(Beiseite zum Pianisten): »'s ist zu tief, alter Junge; wir wollen das noch einmal durchnehmen, wenn's Ihnen nicht drauf ankommt.«

Er singt die drei ersten Zeilen noch einmal, diesmal in hohem Falsett. Große Verwunderung von seiten der Zuhörerschaft. Eine nervöse alte Dame beginnt zu weinen und muß hinausgeführt werden.

Harris (fährt fort):


»Und ich fegte die Fenster, die Türe rein,


Und ich –

Nein – nein, ich wusch die Fenster der Vordertüre rein und der Boden mußte gewichst sein – nein, zum Teufel – bitte tausendmal um Entschuldigung – kurios, daß mir die Zeile auch gar nicht mehr recht einfallen will. Und ich – und ich – o, gut, wir singen nun eben den Chor, und zwar wie's kommt. (Singt):

Und ich diddel – diddel – diddel – diddel – diddel – de,


Und bin jetzt Herr über unsere Marine.

Frisch drauf, Chor – die letzten zwei Zeilen müssen wiederholt werden, wissen Sie.«

Allgemeiner Chor:


Und er diddel – diddel – diddel – diddel – diddel – de,


Ist jetzt Herr über unsere Marine.«

Und Harris kommt nie zur Einsicht, was für eine Rolle er spielt und wie er einen Haufen Leute langweilt, die ihm nie in ihrem Leben was zuleide getan. Er bildet sich wahr und wahrhaftig ein, er habe sie famos unterhalten, und sagt, nach dem Nachtessen singe er nochmal was Humoristisches.

Apropos – humoristische Gesänge und Abendgesellschaften – da fällt mir ein ziemlich eigentümlicher Vorfall ein, dessen ich einstmals Zeuge war, und der, da er auf die innersten Vorgänge des menschlichen Seelenlebens viel Licht wirft, in diesen Blättern verzeichnet zu werden verdient.

Es war eine elegante und feingebildete Gesellschaft. Wir waren im höchsten Wichs, sprachen so schön und waren alle so glücklich – ausgenommen zwei junge Menschen, Studenten, die eben aus Deutschland zurückgekommen waren. Diese jungen Alltagsmenschen schienen nicht gerührt von dem »allgemeinen Glück«. Sie machten Mienen, als komme ihnen alles, was vorgehe, recht hausbacken vor.

Die Wahrheit zu sagen, wir waren ihnen viel zu schöngeistig. Unsere glänzende, aber gewählte Unterhaltung und unser feiner Geschmack gehörten einer höheren Sphäre an als der dieser jungen Leute, die entschieden nicht in unsere Gesellschaft paßten. Sie hätten sich nie hineindrängen sollen, das war hinterher die allgemeine Ansicht. Wir spielten Stücke aus den alten deutschen Meistern. Wir erörterten philosophische und ethische Probleme. Wenn wir kokettierten, so geschah es mit »Anmut und Würde«. Wir scherzten sogar mitunter – aber nur im höheren Stil.

Nach dem Abendessen trug jemand ein französisches Gedicht vor, und wir fanden es wunderschön; dann sang jemand eine schwermütige Ballade in spanischer Sprache, die einige von uns zu Tränen rührte, so gefühlvoll war sie.

Und nun erhoben sich diese zwei jungen Leute und fragten uns, ob wir jemals Herrn Slossem Boschen[Fußnote: Anspielung auf die für Engländer sehr schwierige Aussprache des Deutschen.] (der eben angekommen sei und sich zurzeit unten im Speisesaal befinde) sein großes deutsches humoristisches Lied vortragen gehört hätten. Niemand von uns konnte sich erinnern, es jemals gehört zu haben.

Die jungen Herren sagten, es sei das komischste Lied, das jemals geschrieben worden sei, und wenn wir es gerne hören wollten, so würden sie Herrn Slossem Boschen, der ein guter Bekannter von ihnen sei, veranlassen, es zu singen. Sie sagten, es sei so lustig, daß einstmals, nachdem Herr Slossem Boschen es vor einem deutschen Fürsten gesungen, derselbe – nämlich der Fürst – habe weggetragen und ins Bett gebracht werden müssen. Niemand, sagten sie, könne das Lied so wiedergeben wie Herr Slossem Boschen. Er bleibe so ernsthaft während des ganzen Vortrags, als ob er eine Tragödie vortrüge, und das mache die Sache natürlich noch viel komischer. Weder durch Ton noch durch Miene, sagten sie, gebe er zu verstehen, daß er etwas Komisches singe, das würde der Sache Eintrag tun. Gerade seine feierliche Miene und sein ernsthafter Ton, der sich oft bis zum Pathos steigere, habe eine so unwiderstehliche Wirkung auf die Lachmuskeln. Wir sagten ihnen, wir brennten vor Begierde, ihn zu hören, und möchten uns gern einmal durch ein recht herzhaftes Lachen erfrischen; da gingen sie denn hinunter, um Herrn Slossem Boschen heraufzuholen.

Er schien sofort bereit; denn er kam sogleich herauf und setzte sich, ohne sich weiter bitten zu lassen, ans Klavier.

»O, wie wird es Sie belustigen, wie werden Sie lachen!« flüsterten die beiden jungen Leute uns zu, während sie durch das Zimmer gingen und bescheiden einen Platz hinter des Professors Rücken einnahmen.

Herr Slossem Boschen begleitete sich selbst. Das Präludium verriet nicht gerade, daß etwas Humoristisches nachfolgen würde. Es war eine eigentümlich seelenvolle Melodie; sie machte einem förmlich die Haut schauern: aber das sei so die deutsche Art, flüsterten wir uns zu und gaben uns Mühe, die Sache heiter zu nehmen.

Was mich anbetrifft, so verstehe ich nicht Deutsch. Ich lernte es zwar in der Schule, hatte aber nach zwei Jahren, nachdem ich die Schulbänke verlassen, glücklich wieder alles vergessen und mich seitdem viel wohler befunden. Dennoch fühlte ich gerade kein Bedürfnis, jetzt meine Unwissenheit an die große Glocke zu hängen; da kam mir ein nach meiner Meinung gescheiter Gedanke. Ich behielt die zwei Studenten immer im Auge und tat genau wie sie. Kicherten sie, so kicherte ich auch; lachten sie laut auf, so brach ich in ein wieherndes Gelächter aus; und obendrein lachte ich dann und wann ganz auf eigene Faust leise vor mich hin, als ob ich eine kleine Pointe entdeckt hätte, die den anderen entgangen. Ich tat mir was zugut auf diese Schlauheit.

Im weiteren Verlauf des Vortrags glaubte ich zu bemerken, daß ein großer Teil der Anwesenden die beiden jungen Leute ebenfalls ins Auge gefaßt hatte. Sie kicherten auch, wenn die jungen Leute kicherten, und lachten laut auf, wenn sie laut auflachten oder gar in ein höllisches Gelächter ausbrachen. So ging die Sache eine Weile ganz flott. Und dennoch schien dem deutschen Professor etwas zu seiner Glückseligkeit zu fehlen. Als wir zuerst zu lachen anhuben, zeigten seine Mienen maßloses Erstaunen, als ob er eher des Himmels Einfall als unser Gelächter erwartet hätte. Das kam uns sehr komisch vor, wir sagten, sein ernsthaftes Aussehen gebe dem Spaß erst die rechte Weihe. Wenn er auch nur mit einem Augenzucken die Komik angedeutet hätte, so wäre der ganze Spaß verdorben gewesen. Da wir nun zu lachen fortfuhren, machte sein Erstaunen einem verdrießlichen und ärgerlichen Ausdruck Platz, und er schoß wütende Blicke auf uns alle, ausgenommen auf die beiden jungen Leute, die er nicht sehen konnte, weil sie dicht hinter ihm standen.

Das war das Signal zu einem markerschütternden Gelächter. Wir glaubten, vor Lachen sterben zu müssen. Schon der Text, sagten wir, könnte einen in Lachkrämpfe versetzen, und nun obendrein sein komischer Ernst, o, es war überwältigend!

Beim letzten Verse aber, da übertraf er sich selbst. Er blickte mit solch wilder Wut um sich, daß wir – wären wir nicht zuvor auf die deutsche Art, etwas Humoristisches zu singen, vorbereitet gewesen – gewiß Nervenzufälle bekommen hätten. Das eigenartige Musikstück endete dann mit solch hinsterbendem Klageton, daß wir gewiß in Tränen ausgebrochen wären, hätten wir nicht gewußt, daß es ein lustiges Stück sei.

Unter donnerndem Lachgebrüll hörte er auf. Wir sagten, das sei das lustigste Lied, das wir je gehört, und wunderten uns, wie man angesichts solcher Lieder behaupten könne, die Deutschen hätten keine humoristische Ader! Und wir fragten den Professor, warum er denn das Lied nicht ins Englische übersetzte, damit auch ungebildete Leute es verstehen und einmal ein wirklich humoristisches Lied kennen lernen könnten?

Da erhob sich Herr Slossem Boschen. Du lieber Gott, wie der loslegte! Er fluchte in seiner eigenen Sprache (nach meiner Meinung einer zu diesem Zweck ganz besonders geeigneten Sprache); dabei drehte er sich, die Fäuste ballend, wild im Kreise und warf uns all die englischen Ausdrücke, die ihm überhaupt zu Gebote standen, an den Kopf. In seinem ganzen Leben, behauptete er, sei er nicht so beleidigt worden.

Es stellte sich jetzt heraus, daß das Lied nichts weniger als humoristisch gewesen. Es handelte von einer im Harzgebirge lebenden Jungfrau, die ihr Leben gelassen, um die Seele ihres Geliebten zu erlösen. Nach seinem Tode begegneten sich ihre Geister in der Luft; dann aber – im letzten Verse – verließ er sie und machte sich mit dem Geiste einer anderen davon; ich erinnere mich der Einzelheiten nicht mehr so genau – aber jedenfalls war es etwas sehr Trauriges.

Herr Boschen behauptete, er habe das Lied einmal vor dem Deutschen Kaiser gesungen – der habe dabei geschluchzt wie ein kleines Kind. Er – nämlich Herr Boschen – sagte, es gelte allgemein als eine der tragischsten und rührendsten deutschen Balladen.

Wir befanden uns in einer peinlichen, sehr peinlichen Lage. Vergeblich suchten wir nach einem Wort der Entgegnung. Wir schauten uns nach den beiden jungen Leuten um, die »all dies Herrliche vollendet«; aber sie waren unmittelbar nach dem Schluß des Liedes lautlos verduftet.

So endigte jene Abendunterhaltung. Niemals habe ich eine Gesellschaft so ruhig, mit so wenig Aufheben aufbrechen sehen. Nicht einmal »Gute Nacht« sagten wir einander. Mit leisen Schritten stahlen wir uns auf der unbeleuchteten Seite der Treppe hinunter. Im Flüstertone ersuchten wir den Diener um unsere Hüte und Überröcke, schlüpften hinaus und verschwanden rasch um die nächste Ecke; jeder mied ängstlich den andern.

Seit dieser Zeit habe ich mich niemals wieder für deutsche Lieder erwärmen können.

Es war halb drei Uhr, als wir an der Sunbury-Schleuse ankamen. Unmittelbar vor dem Schleusentor ist der Fluß wunderlieblich und der Wasserarm zur Seite reizend; – aber versuche niemand, denselben aufwärts zu rudern.

Ich versuchte es einmal. Ich war an den Rudern und fragte meine Gefährten, die am Steuer saßen, ob sie es für möglich hielten, hier durchzukommen. »Warum nicht?« meinten sie, »wenn du nur tüchtig ruderst.« Wir befanden uns gerade, als sie dies sagten, unter dem kleinen Fußsteig, der zwischen den beiden Wehren den Fluß überbrückt, und so bog ich mich über die Ruder und arbeitete aus Leibeskräften.

Es war ein stolzes Rudern. Immer taktgemäßer wurden meine Schläge. Nicht nur mit den Armen ruderte ich; auch die Beine und der Rücken mußten mithelfen. Mein Ruderschlag wurde immer kräftiger, immer rascher, klatschender – es war großartig!

Meine beiden Freunde meinten, es sei ein wahres Vergnügen, mir zuzusehen. Nach Verlauf von ungefähr fünf Minuten dachte ich, wir müßten nun nahe dem oberen Wehr sein, und schaute auf. Aber noch immer waren wir unter der Brücke genau an derselben Stelle wie vorhin, als ich zu rudern anfing. Und da saßen diese zwei Dummköpfe und wollten sich vor Lachen ausschütten.

Mit meiner ganzen Plackerei hatte ich gerade so viel erreicht, daß das Boot unter der Brücke festsaß. Von da an überließ ich es anderen Leuten, bei starker Strömung einen Schleusenabfluß aufwärts zu rudern.

Wir ruderten nun bis Walton, einem ziemlich ansehnlichen Orte, stromauf.

Cäsar mußte in Walton natürlich eine kleine Niederlassung haben, ein Lager oder eine Verschanzung oder irgend etwas derartiges. Cäsar war ein eingefleischter Stromauf-Schiffer. Die Königin Elisabeth hat den Ort natürlich auch mit ihrem Besuch beehrt. Immer und überall, wohin man sich auch wenden mag, begegnet man ihren Spuren. Auch Cromwell und Bradshaw (nicht der Verfasser des großen Kursbuches, sondern König Karls bedeutendster Ratgeber) nahmen hier Aufenthalt.

Diese alle beisammen müßten eine recht nette Gesellschaft gebildet haben.

In der Kirche zu Walton befindet sich ein eiserner »Zaum für Zänkerinnen«. Mit diesem Ding pflegte man vor Alters Weiberzungen zu bändigen. Heutzutage hat man das aufgegeben; ich vermute, weil man nicht mehr genug Eisen beschaffen konnte und kein anderes Metall für den Zweck stark genug war.

Auch sehenswerte Gräber befinden sich in der Kirche, und ich befürchtete schon, Harris werde sie sich nicht entgehen lassen; aber er schien nicht daran zu denken, und so fuhren wir weiter. Oberhalb der Brücke macht der Fluß eine Menge Windungen; das gibt der Landschaft etwas Malerisches; hat man aber ein Boot zu ziehen oder zu rudern, so machen sie einen nervös und veranlassen nicht gerade sanftmütige Auseinandersetzungen zwischen Ruderer und Steuermann. Zur Rechten zieht sich hier der Oatlandspark am Ufer hin. Es ist ein berühmter, alter Herrensitz. Heinrich VIII. stahl ihn von irgend jemand – es fällt mir nicht gerade ein, von wem – und residierte darin. Die verstorbene Herzogin von York, welche Oatlands bewohnte, war eine große Hundeliebhaberin und hielt sich eine ganze Menge dieser Vierfüßler. Sie ließ sich eigens einen Friedhof für sie anlegen; und hier liegen sie denn; ungefähr fünfzig Stück, von einem Grabstein, auf welchem eine Inschrift angebracht ist, überdeckt.

Nun, vielleicht verdienen sie eine solche Ehrung ebensogut wie der Durchschnittschrist.

Bei den »Corway«-Pfählen an der ersten Flußbiegung oberhalb der »Waltonbrücke« wurde zwischen Cäsar und Cassivelaunus eine Schlacht geschlagen. Cassivelaunus hatte sich für die Begegnung mit Cäsar vorbereitet und eine Menge Pfähle in den Fluß schlagen (und ohne Zweifel eine Plakattafel anbringen) lassen. Aber dessenungeachtet überschritt Cäsar den Fluß. Er ließ sich von diesem Flusse nun einmal nicht abtreiben. Er wäre der rechte gewesen, die Schleusenabflüsse hinaufzurudern.

Halliford und Shepperton sind, von der Wasserseite aus gesehen, zwei hübsche kleine Orte; aber Sehenswürdigkeiten gibt es weder in dem einen noch in dem andern. Nur ein Grabstein mit einer poetischen Inschrift befindet sich im Friedhof zu Shepperton, und ich befürchtete daher, Harris werde aussteigen und sich dort herumtreiben wollen. Ich sah ihn sehnsüchtig nach der Landungsbrücke schauen, als wir uns ihr näherten; da gelang es mir, durch eine geschickte Bewegung seine Mütze ins Wasser zu werfen, und über seinem verzweifelten Versuch, sie wieder zu erlangen, und seinem Zorn über meine Ungeschicklichkeit vergaß er seine geliebten Gräber ganz und gar.

Bei Weybridge ergießen sich der Wey, der Bourne und der Kanal von Basingstoke an derselben Stelle in die Themse. Die Schleuse befindet sich gerade der Stadt gegenüber, und das erste, was uns in die Augen fiel, als wir ihrer ansichtig wurden, war Georgs Jacke auf dem einen Flügel des Schleusentors, von der sich bei genauer Besichtigung herausstellte, daß Georg darin steckte. Montmorency brach in ein wütendes Gebell aus, ich kreischte, Harris brüllte; Georg schwang seinen Hut und schrie ebenfalls aus Leibeskräften. Der Schleusenwärter stürzte mit einem Rettungsseil heraus, da er glaubte, es müsse jemand in die Schleuse gefallen sein, und war nun ganz ärgerlich, daß dies nicht der Fall war.

Georg hielt ein etwas Sonderbares, ein mit Wachstuch überzogenes Etwas in der Hand. An einem Ende war es rund und flach, und ein langer Stiel steckte daran.

»Was ist das für ein Ding?« fragte Harris, »etwa eine Bratpfanne? Was?«

»Nein,« erwiderte Georg, während sein Auge sonderbar wild aufleuchtete, »sie sind jetzt ungeheuer in der der Mode; den ganzen Fluß entlang werden sie von jedermann angeschafft: 's ist ein Banjo.«

»Seit wann kannst du denn das Banjo spielen,« riefen Harris und ich in einem Atem.

»Ich kann mich dessen nicht gerade rühmen,« erwiderte Georg; »aber man sagte mir, es sei sehr leicht zu lernen; und hier habe ich das Buch mit der ›Anleitung zum Selbstunterricht‹.«

*

Da wir nun Georg bei uns hatten, ließen wir ihn auch brav arbeiten. Er hatte natürlich gar kein besonderes Verlangen danach. Das versteht sich ja bei Georg von selbst. Er habe harte Arbeit in der City gehabt, erklärte er uns. Harris, der ziemlich hartherzig und mitleidlos ist, bemerkte:

»Ganz recht; jetzt bekommst du zur Abwechslung harte Arbeit auf dem Fluß; eine Abwechslung bekommt jedermann gut. Hinaus mit dir!«

Dagegen konnte Georg mit gutem Gewissen – wie weit sein Gewissen auch sein mochte – nichts einwenden, obwohl er vorbrachte, es möchte vielleicht besser sein, wenn er den Tee bereiten könnte, während Harris und ich das Boot zögen; denn die Teebereitung sei bekanntlich ein heillos schwieriges Geschäft und Harris und ich sähen doch recht ermattet aus.

Die einzige Antwort, die wir ihm darauf gaben, war, daß wir ihm die Leine hinreichten; die nahm er denn auch und stieg aus.

Es ist etwas Seltsames und Unberechenbares um eine solche Schleppleine. Da wickelt man sie mit so viel Sorgfalt auf, als gälte es, ein neues Paar Beinkleider zusammenzufalten, und fünf Minuten nachher, wenn man sie aufnehmen will, bildet sie ein spukhaftes, sinnverwirrendes Netz.

Ich will mich gewiß jeder Beleidigung enthalten, aber ich bin fest überzeugt, daß, wenn man eine nur mäßig große Leine nähme, sie der Länge nach auf einer Wiese auseinanderlegte und dann, wär's auch nur auf eine halbe Minute, den Rücken kehrte, man sie sicherlich in der Mitte des Wiesenplans auf einen Haufen gewickelt, zusammengeflochten und in einen Knoten geschürzt finden würde, während die beiden Enden verloren gegangen und nichts als Schlingen und Schleifen zu sehen wären; und im nassen Grase sitzend würde es einen nun eine gute halbe Stunde Zeit kosten, sie wieder zu entwirren, wenn man es auch an den obligaten Flüchen gewiß nicht fehlen ließe. Das ist meine Meinung über Schleppleinen im allgemeinen. Es mag natürlich auch ehrenhafte Ausnahmen geben, ich will nicht behaupten, daß es deren keine gäbe. Es mag Leinen geben, die ihrem Beruf wirklich Ehre machen – gewissenhafte, rechtschaffene Leinen, welche sich nicht einbilden, sie seien Häkelarbeit, Leinen, die nicht versuchen, sich zu Fauteuilschonern zusammenzustricken, sobald sie einen Augenblick sich selbst überlassen sind. Ich sage, es mag solche Schlepptaue geben; ich hoffe und wünsche es sogar aufrichtig; aber vorgekommen ist mir ein derartiges bis jetzt noch nicht.

Nun, ich hatte unsere Leine selbst eingezogen, gerade als wir vor der Schleuse angekommen waren. Ich wollte Harris nichts damit zu tun haben lassen, denn er ist so nachlässig. Ich hatte sie mit besonderer Sorgfalt aufgerollt, in der Mitte zusammengebunden, zwei Teile daraus gemacht und dann fein säuberlich auf den Boden des Boots niedergelegt. Dann hatte sie Harris mit mathematischer Pünktlichkeit aufgenommen und Georg in die Hand gegeben. Georg hatte sie mit festem Griff erfaßt und, während er sie etwas vom Leib hielt, begonnen, sie wieder abzuwickeln, und er tat dies so bedächtig, als ob er ein neugeborenes Kind aus den Windeln herauszuschälen hätte; aber noch ehe er auch nur ein Dutzend Meter abgewickelt hatte, sah das Ding eher einer schlecht gearbeiteten Strohmatte als irgend etwas anderem ähnlich. –

So ist's immer, und was drum und dran hängt, ist auch immer so. Der Mann am Ufer, der bemüht ist, das Tau zu entwirren, denkt, die ganze Schuld der Verwirrung liege an dem, der es aufgewickelt hat, und – beim Bootfahren befragt man nicht erst das »Lexikon der feinen Sitte« – was er denkt, das sagt er auch.

»Was hast du denn mit dem Ding da eigentlich machen wollen, he? Ein Fischnetz etwa? Da hast du eine schöne Suppe angerichtet, jawohl! Hättest du es denn nicht aufwickeln können, wie sich's gehört, du Schafskopf?« so grunzt er seinen Genossen von Zeit zu Zeit an, während er in wildem Kampfe mit dem Ding begriffen ist; dann legt er es auf dem Leinpfad weit auseinander und rennt darum herum, um eines der verlorenen Enden zu finden.

Andrerseits ist der, der aufgewickelt hat, fest überzeugt, daß die Schuld an dem ganzen Wirrwarr nur an dem liegt, der es abwickeln sollte.

»Es war ganz in der Ordnung, als du es in die Hand nahmst,« ruft er unwirsch. »Warum hast du den Kopf nicht bei der Arbeit? Wenn du etwas schaffst, so gibt's doch jedesmal eine Schlapperei! Du wärst imstande, einen Pfahl mit sich selbst zu verstricken.«

Und sie werden so böse aufeinander, daß sie sich am liebsten an der Leine gegenseitig aufhängen würden. So gehen zehn Minuten vorüber; jetzt stößt der am Ufer einen Schrei aus und geberdet sich wie toll. Er tanzt auf dem Tau herum, greift nach dem ersten besten Stück und zieht und zerrt daran, so stark er kann. Natürlich wird der Knoten dadurch nur noch fester. Da springt der zweite Mann aus dem Boot ans Ufer, um ihm zu helfen; hierbei geraten sie einander in den Weg und hindern sich gegenseitig. Sie ziehen beide an dem nämlichen Strang der Leine, aber in entgegengesetzter Richtung, und dabei wundern sie sich, wo es nun wieder festhält. Zuletzt bringen sie es doch noch auseinander, dann sehen sie sich nach dem Boot um und entdecken, daß es mittlerweile davon getrieben ist und geradenwegs auf das Wehr zusteuert. Dies ist kein erfundener Vorgang, sondern einer, von dem ich selbst einst Augenzeuge war.

Wir befanden uns bei Boveney. Es war ein etwas windiger Morgen; stromabwärts fahrend, bemerkten wir bei einer Krümmung des Flusses zwei Menschen am Ufer. Sie schauten einander mit solch bestürzten Blicken, mit solch unsäglich hilflosem Ausdruck an, wie ich ihn vorher und nachher nie wieder in einem menschlichen Antlitz gesehen habe. Sie hielten eine lange Schleppleine in Händen. Offenbar war ihnen etwas zugestoßen; daher steuerten wir nach dem Ufer und fragten, was geschehen sei.

»Ei, unser Boot ist auf und davon,« gaben sie ganz beleidigt zurück. »Wir sind nur eben ausgestiegen, um das Tau zu entwirren, und wie wir uns umschauen, ist das Boot futsch!« Und sie schienen entsetzlich beleidigt über dies gemeine und undankbare Benehmen ihres Bootes. Wir fanden den Deserteur eine halbe Meile weiter unten im Röhricht festsitzen und brachten ihn den Leuten zurück. Ich wette, was ihr wollt, eine Woche lang haben sie gewiß dieses Boot keines Blickes mehr gewürdigt.

Niemals werde ich das Bild wieder vergessen, das diese beiden Männer darboten, wie sie, das Tau in der Hand, am Ufer auf und ab gingen und nach ihrem Boot ausschauten.

Man erlebt doch manch lustiges Stückchen in bezug auf die Bootschlepperei, wenn man so den Fluß befährt. Eines der gewöhnlichsten ist der Anblick eines ziehenden Paares, das, in eine lebhafte Unterhaltung vertieft, machtvoll vorwärts strebt, während der Mann im Boot bei etwa einhundert Meter Abstand sich vergeblich heiser schreit, daß sie halten sollen, und als Notsignal wie wahnsinnig mit dem Ruder um sich schlägt. Etwas muß da passiert sein; entweder hat sich das Ruder aus den Angeln gelöst oder der Boothaken ist über Bord geglitten, oder der Hut ihm ins Wasser gefallen und schwimmt eilends davon. Er ruft ihnen zuerst ganz sanft und höflich zu, anzuhalten; dann immer noch ganz liebreich:

»He! Haltet einen Augenblick an, mein Hut ist ins Wasser gefallen!« Dann »He! Thomas, Richard! Hört ihr nicht?« Diesmal klingt's schon nicht mehr ganz so gemütlich wie vorhin. Darauf aber: »He! Hallo! Wenn euch doch der Teufel holte, ihr dickköpfigen Rindviehcher! He! Haltet doch! O, wäret ihr doch –!« Dann springt er auf und ärgert sich brandrot und flucht alle Flüche, die er jemals gehört hat.

Und die kleinen Buben am Ufer bleiben stehen und verhöhnen ihn und werfen Steine nach ihm, während er mit einer Geschwindigkeit von vier Meilen die Stunde an ihnen vorbeigezogen wird und das Ufer nicht gewinnen kann.

Viel solcher Mühsal und Ärger könnte verhindert werden, wenn die Leute an der Leine, eingedenk, daß sie ein Boot ziehen, fleißig zurückschauen wollten, um sich zu überzeugen, was der Insasse des Bootes macht. Am besten ist's, nur eine einzelne Person ziehen zu lassen. Ziehen ihrer zwei, so fangen sie sicher an zu schwatzen und vergessen alles um sich her, und das Boot selbst, das nur geringen Widerstand leistet, erinnert sie nicht leicht an sein Dasein.

Als ein Beispiel, wie solch einem ziehenden Paare die ganze Welt entrückt zu sein scheint, erzählte uns Georg später am Abend, als wir nach dem Nachtessen den Gegenstand noch einmal erörterten, einen ganz merkwürdigen Fall.

Er und drei andre junge Leute, so erzählte uns Georg, hätten einmal abends von Maidenhead aufwärts ein sehr schwer beladenes Boot gerudert, und ein wenig oberhalb der Cockham-Schleuse hätten sie einen jungen Mann und ein Mädchen bemerkt, die auf dem Leinpfad in eine augenscheinlich höchst interessante Unterhaltung vertieft dahinschritten. Sie hielten miteinander einen Boothaken in Händen; an demselben war eine Leine befestigt, die ein Stück im Wasser hinter ihnen herschleifte. Aber weit und breit war kein Boot zu selben. Es mußte doch wohl einmal ein Boot an dieser Leine befestigt gewesen sein; aber was daraus geworden, welch schreckliches Schicksal es mit seinen Insassen ereilt hatte, das war in unerklärliches Dunkel gehüllt. Was sich aber auch immer ereignet haben mochte, das Paar am Boothaken war davon unberührt geblieben. Sie hatten ja den Boothaken und die Leine, und alles weitere schien ihnen zu ihrem Geschäft überflüssig.

Georg wollte sie eben anrufen und aus ihren Träumereien aufwecken, da schoß ihm ein guter Gedanke durch den Kopf, und er unterließ das Schreien. Statt dessen nahm er seinen Haken zur Hand und fischte damit das Ende der Leine aus dem Wasser in sein Boot und befestigte sie mit Hilfe seiner Gamaschen am Mast. Dann zogen sie ihre Ruder ein, machten es sich am Hinterende des Bootes bequem und zündeten ihre Tabakspfeifen an.

Georg meinte, er habe nie zuvor eine solch gedankenschwere Traurigkeit durch einen einzigen Blick ausgedrückt gesehen, wie damals, als das junge Paar an der Schleuse Halt machte und zu der Wahrnehmung erwachte, daß es während der letzten zwei Meilen ein falsches Boot gezogen habe. Georg glaubte, daß nur der Einfluß des süßen Geschöpfes an seiner Seite den jungen Mann von einer derben Gefühlsäußerung zurückgehalten habe.

Das Mädchen erholte sich zuerst wieder von seinem Erstaunen; dann aber rang es die Hände und rief in wildem Schmerze aus:

»O, Heinrich, wo ist denn nun die Tante geblieben?«

»Haben sie die alte Dame jemals wieder aufgefunden?« fragte Harris.

Georg sagte, er habe es nicht erfahren.

Ein anderes Beispiel von einem gefährlichen Mangel an Sympathie zwischen Zieher und Gezogenem erfuhren Georg und ich selbst einmal auf der Fahrt nach Walton. Es war an der Stelle, wo sich der Pfad ganz sachte gegen das Wasser senkt; wir hatten uns am jenseitigen Ufer gelagert und ließen die Blicke unbestimmt in die Weite schweifen. Mit eins kam ein kleines Boot in Sicht, das mit ungeheurer Geschwindigkeit von einem kräftigen Leinpferd, auf dem ein kleiner Junge hockte, gezogen wurde.

Im Boote selbst lagen fünf Burschen, anscheinend süßen Träumen hingegeben, und der Mann am Ruder hatte ein besonders schläfriges Aussehen.

»Wenn doch der jetzt am falschen Ende des Steuerseils zöge,« murmelte Georg, als sie an uns vorüberfuhren. In demselben Augenblicke geschah das in der Tat: das Boot rannte am Ufer an mit einem Gekreisch, als ob man vierzigtausend Laken zerrissen hätte.

Zwei Männer, ein Korb und drei Ruder verließen in demselben Moment das Boot auf der Backbordseite und blieben am Ufer hängen, und einige Augenblicke nachher landeten zwei andere von den Gesellen und verschwanden unter Boothaken, Segeln, Reisesäcken und Flaschen. Der fünfte Mann kam zwanzig Schritte weiter oben kopfüber aus dem Boot heraus.

Das schien nun das Boot wesentlich zu erleichtern, daher schoß es jetzt viel rascher davon, und der Junge auf dem Leinrosse schrie aus vollem Halse und trieb sein Pferd zum Galopp an.

Die Burschen richteten sich auf und starrten einander an. Erst nach geraumer Weile begriffen sie, was passiert war, und dann fingen sie an, dem Jungen Halt! zuzurufen. Dieser aber war viel zu sehr mit seinem Gaul beschäftigt, um auf sie zu hören. Wir schauten ihnen nach, bis wir sie aus dem Gesicht verloren hatten. Ich könnte nicht sagen, daß ich Mitleid mit ihrem Unglück gehabt hätte. Im Gegenteil, ich wünschte, all die jungen Lümmel, die sich in solcher Weise ziehen lassen – und viele tun das – möchten ebensolches Mißgeschick erfahren.

Außer der Gefahr, der sie selbst ausgesetzt sind, werden sie auch eine Gefahr und ein Hindernis für jedes andere Boot, das in ihren Weg kommt. Bei dem raschen Lauf ihres Bootes ist es unmöglich für sie, andern Booten auszuweichen, oder den andern, ihnen aus dem Wege zu gehen. Ihre Leine wickelt sich plötzlich um euren Mast, wirft euer Boot um, oder erfaßt einen seiner Insassen und wirft ihn ins Wasser, oder reißt ihm die Haut des Gesichts auf.

Der beste Plan ist in einem solchen Fall der, euren Kurs festzuhalten, und sie mit einer Stoßzange von euch abzutreiben.

Am aufregendsten ist es jedenfalls, sich von Mädchen ziehen zu lassen. Das ist ein Vergnügen, das sich niemand entgehen lassen sollte. Es sind immer drei Fräulein dazu erforderlich. Zwei von ihnen ziehen an der Leine, und das dritte rennt vor und hinter ihnen her und treibt Possen.

Regelmäßig fängt die Geschichte damit an, daß sie sich in die Leine verwickeln. Zuerst wickelt sie sich um ihre Füße; da müssen sie sich auf den Weg niedersetzen, um einander davon zu befreien; aber jetzt schlingt sie sich um ihre Hälse, so daß sie nahezu erwürgt werden.

Endlich kommen sie damit wieder in Ordnung, dann setzen sie sich in Marsch und rennen, daß das Boot eine ganz unheimliche Geschwindigkeit erlangt. Nach einer Weile müssen sie natürlich atemlos anhalten; dann setzen sie sich wieder alle ins Gras und lachen, während euer Boot in die Mitte des Stroms hinausgeht und sich im Kreise dreht, ehe ihr nur wißt, was geschah, oder ein Ruder ergreifen könnt. Dann stehen sie auf und machen große Augen.

»Seht nur,« rufen sie, »da ist es schon mitten in der Strömung draußen!«

Dann ziehen sie wieder eine Weile ganz ordentlich, bis es plötzlich einer von ihnen einfällt, daß sie ihr Kleid aufstecken sollte.

So halten sie zu diesem Zweck wiederum an, und dabei bleibt das Boot auf einer Sandbank sitzen. Jetzt fahrt ihr in die Höhe, stoßt es weg und ruft den Damen zu, sie sollen nicht anhalten.

»Ja!« rufen sie zurück. »Was gibt's denn?«

»Ihr sollt nicht halten!« – brüllt ihr jetzt, so laut ihr könnt.

»Was sollen wir nicht?«

»Nicht anhalten! Fortziehen, vorwärts, vorwärts!«

»Geh' einmal zurück, Emilie, und frage, was sie eigentlich wollen,« sagt eine von ihnen; und Emilie kommt zu uns zurück und fragt, was es gebe.

»Was wollt ihr?« fragt sie. »Ist etwas passiert?«

»Nein!« gebt ihr zur Antwort, »'s ist alles in Ordnung! Nur vorwärts – nicht anhalten!«

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