XII

Das Verhältnis zu Olympiada, das so unerwartet, rein aus einer weiblichen Laune, entstanden war, nahm Ilja ganz und gar in Anspruch. Es erweckte in ihm ein stolzes, selbstgefälliges Empfinden und brachte ihm gleichsam Heilung für die kleinen Wunden, die das Leben seinem Herzen zugefügt hatte. Der Gedanke, daß ein schönes, nett gekleidetes Weib ihm aus freiem Antrieb seine teuren Küsse antrug und nichts dafür als Entgelt forderte, hob ihn noch mehr in seinen eigenen Augen. Es war ihm, als ob er in einem breiten Strome dahinglitte, von einer ruhigen Woge getragen, die seinen Körper liebkoste.

»Mein Eigensinn!« sprach Olympiada zu ihm, während sie mit seinen Locken spielte oder mit dem Finger über den dunklen Flaum fuhr, der seine Lippe bedeckte. »Du gefällst mir alle Tage besser ... Du hast ein so tapferes, zuversichtliches Herz, und ich sehe, daß, wenn du etwas willst, du es sicher erreichen wirst ... Auch ich bin von solcher Art ... Wenn ich jünger wäre – würde ich dich heiraten, dann würden wir zwei miteinander ein herrliches Leben führen ...« Ilja begegnete ihr mit großer Achtung. Sie erschien ihm so verständig, und es gefiel ihm, daß sie trotz ihres lasterhaften Wandels doch auf sich hielt. Sie betrank sich nicht und gebrauchte keine unflätigen Worte, wie andere Weiber, die er kannte. Ihr Körper war ebenso geschmeidig und kräftig wie ihre volle Bruststimme und ebenso straff wie ihr Charakter. Auch ihre Sparsamkeit, ihre Vorliebe für Sauberkeit und das Geschick, mit dem sie über alles zu reden und allen gegenüber ihren Stolz zu wahren wußte, gefielen ihm sehr. Zuweilen jedoch, wenn er sie besuchte und sie mit bleichem, welkem Gesicht und zerzaustem Haar im Bett antraf, regte sich in ihm ein Gefühl des Ekels. Und wenn er dann hart und finster in ihre trüben, ausgebleichten Augen schaute, brachte er nicht einmal einen Gruß über seine Lippen.

Sie mußte dieses Gefühl wohl begreifen, denn sie hüllte sich dann jedesmal ganz in ihre Bettdecke und sagte zu ihm:

»Geh fort, geh zu Wjera! ... Sag' der Alten, sie soll mir Schneewasser bringen! ...«

Er betrat das saubere Zimmerchen, in dem Pawels Freundin wohnte, und Wjera lächelte schuldbewußt beim Anblick seines finstren Gesichtes. Eines Tages fragte sie ihn:

»Na, Ilja Jakowlewitsch, wie steht's? Wie gefallen wir Ihnen hier?«

»Ach, Wjerotschka, Ihnen kann die Sünde nichts anhaben! ... Wenn Sie nur lächeln, schmilzt sie wie der Schnee ...«

»Ihr tut mir recht leid, ihr beiden armen Jungen«, sagte sie in mitleidigem Tone.

Ilja hatte Wjera recht gern, er bedauerte sie wie ein kleines Kind, war sehr beunruhigt, wenn sie sich mit Pawel zankte, und versöhnte sie jedesmal miteinander. Es machte ihm Vergnügen, in ihrem Zimmer zu sitzen und zuzusehen, wie sie ihr goldenes Haar kämmte oder irgend etwas für sich nähte und dabei leise sang. Öfters bemerkte er in ihren Augen einen zehrenden Kummer, und zuweilen zuckte über ihr Gesicht ein hoffnungsloses, schmerzliches Lächeln. In solchen Momenten gefiel sie ihm noch mehr, er empfand ihr Unglück noch peinlicher und sprach ihr Trost zu, so gut er konnte. Sie aber meinte:

»Nein, nein, Ilja Jakowlewitsch – so kann man nicht leben! ... Ganz unmöglich ist's ... Nun ... ich muß ja schon so weiter leben in dem Schmutz ... Aber Pawel ... was soll der hier bei mir? ...«

Ihre Unterhaltung wurde von Olympiada unterbrochen, die, in einen weiten blauen Mantel gehüllt, geräuschlos wie ein kalter Mondstrahl bei ihnen eintrat.

»Komm Tee trinken, mein Eigensinn! Und später komm auch du herüber, Wjerotschka ...«

Frisch und rosig von dem kalten Wasser, sauber, adrett und ruhig führte sie ohne langes Fragen Ilja in ihr Zimmer, und er folgte ihr und dachte darüber nach, ob es denn wirklich dieselbe Olympiada war, die er vorher ganz welk, von lüsternen Händen besudelt, gesehen hatte.

Während sie Tee tranken, sagte sie zu ihm:

»Schade, daß du gar so wenig gelernt hast ... Da wird's dir schwer fallen im Leben ... Aber jedenfalls mußt du deinen Handel lassen und etwas anderes versuchen ... Wart', ich will eine Stelle für dich suchen ... Du mußt untergebracht werden ... Sobald ich mit Poluektow einig bin, werde ich das machen können ...«

»Gibt er dir wirklich die fünftausend?« fragte Ilja.

»Gewiß gibt er sie«, antwortete sie fest überzeugt. »Na, wenn ich ihn aber mal bei dir treffe – dann reiß' ich ihm den Kopf ab«, rief Ilja eifersüchtig.

»Warte damit wenigstens, bis ich das Geld habe«, meinte sie lachend.

Der Kaufmann tat alles für sie, was sie verlangte. Bald saß Ilja in Olympiadas neuer Wohnung, betrachtete die dicken Teppiche auf dem Boden und die mit dunklem Plüsch überzogenen Möbel. Er lauschte dabei den gesetzten Reden seiner Geliebten. Er bemerkte an ihr keine besondere Freude über die Veränderung ihrer Lage, sie war ebenso ruhig und gesetzt wie immer. »Ich zähle jetzt siebenundzwanzig Jahre,« sagte sie, »wenn ich dreißig bin, werde ich zehntausend Rubel haben. Dann gebe ich dem Alten einen Fußtritt und bin frei ... Bei mir kannst du lernen, wie man das Leben anzufassen hat, mein trotziger Eigensinn!«

Ilja lernte von ihr jene standhafte Ausdauer bei der Erreichung eines vorgesteckten Zieles – zuweilen jedoch quälte ihn bei dem Gedanken, daß er ihre Liebkosungen mit einem andern teilen müsse, ein peinliches Gefühl der Erniedrigung. Dann lebte in ihm wieder mit besonderer Deutlichkeit der Traum von einem Laden auf, von einem sauberen Zimmer, in dem er dieses Weib empfangen würde. Er glaubte nicht, daß er Olympiada liebte, doch schien sie ihm unentbehrlich.

So gingen drei Monate hin ... Eines Tages, als er von seinen Hausiergängen heimkam, begab sich Ilja zum Schuster Perfischka in den Keller und sah mit Erstaunen, daß am Tische vor einer Branntweinflasche Perfischka mit einem glücklichen Lächeln und ihm gegenüber – Jakow saß. Schwer auf den Tisch gestützt, saß Jakow da, wackelte mit dem Kopfe hin und her und sagte unsicher: »Wenn Gott alles sieht – dann sieht er auch mich ... Mein Vater liebt mich nicht, er ist ein Spitzbube! ... Ist's richtig, Perfischka?«

»Ganz richtig, Jascha. Schön ist's nicht, aber richtig ist's«, sagte der Schuster.

»Wie soll ich da leben?« fragte Jakow mit lallender Zunge, während er sein zerzaustes Haar schüttelte.

Ilja stand an der Tür und hörte die trunkenen Reden seines Freundes. Ein peinliches Gefühl beschlich sein Herz. Er sah, wie kraftlos Jakows Kopf auf dem dünnen Halse schwankte, sah das magere, gelbe Gesicht Perfischkas, das von einem seligen Lächeln verklärt war, und er wollte nicht glauben, daß es wirklich Jakow, der stille, bescheidene Jakow war, den er da sah.

»Was treibst du denn hier?« fragte er ihn vorwurfsvoll.

Jakow fuhr zusammen, sah mit erschrockenen Augen in Iljas Gesicht und sagte mit verzweifeltem Lächeln:

»Ach, Ilja ... du bist es! Ich dachte – der Vater ...«

»Was soll das eigentlich, sprich!« unterbrach ihn Ilja.

»Laß ihn in Ruhe, Ilja Jakowlitsch!« rief Perfischka und erhob sich schwankend vom Stuhle. »Er ist in vollem Recht ... Gott sei Dank wenigstens, daß ihm noch der Branntwein schmeckt ...«

»Ilja!« schrie Jakow krampfhaft heraus – »mein Vater hat mich ... geprügelt!«

»So ist's – ich war Zeuge der Sache«, erklärte Perfischka und schlug sich mit der Faust vor die Brust. »Ich hab' alles gesehen ... unterm Eid kann ich's aussagen.«

Jakows Gesicht schien in der Tat geschwollen, und die Oberlippe war blutunterlaufen. Er stand vor dem Kameraden und sagte kläglich lächelnd: »Wie darf man mich denn schlagen?«

Ilja hatte das Gefühl, daß er den Freund weder trösten noch tadeln könne.

»Warum hat er dich geschlagen? ...« fragte er.

Jakow zuckte mit den Lippen, als wenn er etwas sagen wollte, doch schwieg er schließlich. Er nahm seinen Kopf in die Hände und begann laut zu schluchzen, während sein ganzer Körper in Bewegung geriet. Perfischka goß sich ein Glas Branntwein ein und sagte:

»Laß ihn weinen! ... Es ist gut, wenn ein Mensch noch weinen kann ... Auch Maschutka hat was abbekommen ... Ganz in Tränen gebadet war sie ... ›Die Augen kratz' ich ihm aus‹, schrie sie in einem fort. Da hab' ich sie zur Matiza gebracht ...«

»Was ist denn eigentlich vorgefallen?« fragte Ilja.

»Es war 'ne ganz tolle Sache«, sagte Perfischka. »Terentij nämlich, dein Onkel, fing die Musik an ... Mit einemmal sagt er zu Petrucha: ›Laß mich nach Kiew gehen‹, sagt er, ›zu den heiligen Nothelfern!‹ ... Petrucha war damit ganz zufrieden: schon lange sticht ihm der Buckel Terentijs in die Augen, und die Wahrheit zu sagen – er ist froh, daß Terentij geht ... Nicht immer ist ein Mitwisser heimlicher Dinge angenehm! ›Na,‹ sagte er, ›dann geh nur und leg' auch für mich bei den heiligen Nothelfern ein Wörtchen ein‹ ... Und plötzlich fängt Jakow an: ›Laß auch mich gehen‹, spricht er ...«

Perfischka begann die Augen zu rollen, schnitt eine wilde Grimasse und rief, Petrucha nachahmend, mit rauher Stimme:

,»Wa–a–as willst du!' ... ›Zu den Heiligen möcht' ich mit dem Onkel‹ ... ›Wie denn?‹ ... ›Ich möcht'‹, spricht Jakow, ›gleichfalls für dich beten‹ ... Da fängt Petrucha an zu brüllen: ›Ich will dich beten lehren!‹ Und Jakow bleibt immer bei seinem: ›Laß mich gehen! Das Gebet des Sohnes für die Sünden des Vaters ist Gott angenehm‹. Wie ihm da Petrucha eins ins Maul pfefferte ... und noch eins ... und noch eins ...« »Ich kann nicht mit ihm zusammenleben!« schrie Jakow. »Ich häng' mich auf! Warum hat er mich geschlagen? Es kam mir aus dem Herzen, was ich sagte ...«

Ilja ward peinlich berührt von seinem Geschrei, er zuckte ratlos die Achseln und verließ den Keller. Die Nachricht, daß der Onkel eine Pilgerfahrt antreten wolle, war ihm angenehm: geht der Onkel fort, dann wird auch er das Haus verlassen, wird sich ein kleines Zimmerchen nehmen und sein eigner Herr sein ...

Als er seine Kammer betrat, erschien gleich hinter ihm Onkel Terentij. Sein Gesicht hatte einen frohen Ausdruck, seine Augen glänzten lebhaft; den Buckel schüttelnd, kam er auf Ilja zu und sagte:

»Nun, ich geh' also! O Herr! Wie aus einer Höhle tret' ich in Gottes Welt hinaus ...«

»Weißt du schon, was mit Jakow ist? Betrunken hat er sich ...« sagte Ilja trocken.

»Was du sagst! Das ist nicht schön von ihm!«

»Warst du dabei, wie der Vater ihn schlug?«

»Freilich war ich dabei ... Warum?«

»Begreifst du denn nicht, daß er sich eben darum betrunken hat?« fragte Ilja barsch.

»Wirklich darum? Nicht möglich! ...«

Ilja sah klar, daß Jakows Schicksal dem Onkel höchst gleichgültig war, und das verstärkte noch sein feindseliges Gefühl gegen den Buckligen. Er hatte Terentij noch nie so freudig erregt gesehen, und diese Freude des Onkels, so unmittelbar nach Jakows Tränen, berührte ihn ganz seltsam. Er setzte sich an das Fenster und sagte zum Onkel:

»So geh doch in die Schenke ...«

»Dort ist Petrucha ... Ich muß mit dir reden ...«

»So? Wovon denn?«

Der Bucklige trat auf ihn zu und sprach geheimnisvoll:

»Ich breche bald auf. Du bleibst hier allein zurück ... das heißt ...«

»So mach' doch rasch«, sagte Ilja.

»Gleich, gleich ... Ich möchte nämlich ... es ist nicht leicht zu sagen ...« sprach Terentij in gedämpftem Tone, während seine Augen blinzelten. »Ich hab' etwas Geld gespart ...«

Ilja sah ihn an und lachte boshaft. »Was ist denn? Warum lachst du?« rief der Onkel erschreckend.

»Na, du hast also Geld gespart ...« sagte Ilja und betonte das Wort »gespart« ganz besonders.

»Ja, so ist es ...« sagte Terentij, ohne ihn anzusehen. »Zweihundert Rubel will ich dem Kloster stiften ... und hundert bekommst du ...«

»Hundert?« fragte Ilja jäh. Und mit einemmal ward ihm klar, daß auf dem Grunde seiner Seele schon lange die Hoffnung lebte, der Onkel würde ihm nicht hundert Rubel, sondern eine weit größere Summe schenken. Er ärgerte sich zugleich über sich selbst, daß er einer so häßlichen, berechnenden Erwartung in seinem Herzen Raum gab, wie über den Onkel, der ihm so wenig schenkte. Er stand vom Stuhl auf, richtete sich hoch auf und sagte voll Trotz und Hohn:

»Ich mag dein gestohlenes Geld gar nicht ... verstanden?«

Der Bucklige wich zurück und sank, ganz bleich und elend, auf sein Bett. Sein Haar sträubte sich, sein Mund stand offen, und schweigend, mit stumpfsinniger Furcht im Blick, schaute er auf Ilja.

»Was guckst du mich so an? Ich brauch' dein Geld nicht ...«

»Herr Jesus Christus!« krächzte Terentij heiser. »Iljuscha! ... Du warst mir wie ein Sohn ... Ich hab' doch nur ... für dich ... aus Angst um dein Schicksal ... die Sünde auf mich genommen ... Nimm das Geld ... nimm's ... Sonst wird mir der Herr nicht verzeihen ...«

»So–o–o!« rief Ilja spöttisch. »Mit 'nem Rechenbrett in der Hand willst du vor Gott treten! ... Ach, ihr ... Hab' ich dich gebeten, das Geld des alten Jeremjej zu stehlen? Was war das für ein guter Mensch, den ihr da bestohlen habt!«

»Iljuscha! Du hast auch nicht gebeten, daß du geboren werdest ...« sprach der Onkel und streckte mit lächerlicher Miene die Hand nach Ilja aus. »Nein, nimm du ruhig das Geld ... um Christi willen! Um meiner Seelenrettung willen ... Gott wird mir die Sünde nicht vergeben, wenn du das Geld nicht nimmst ...«

Er bettelte förmlich, seine Lippen bebten, und in seinen Augen lag der Ausdruck des Schreckens. Ilja schaute ihn an und ward sich nicht klar darüber, ob ihm der Onkel eigentlich leid tat oder nicht.

»Gut, ich will's nehmen ...« sagte er schließlich und ging gleich darauf aus dem Zimmer. Es war ihm peinlich, daß er dem Onkel schließlich nachgegeben hatte – er kam sich selbst dadurch erniedrigt vor. Was sollten ihm schließlich hundert Rubel? Was konnte er groß mit ihnen anfangen? Ja, wenn ihm der Onkel so tausend Rubel statt hundert angeboten hätte – dann wäre er imstande gewesen, sein unruhiges, düsteres Dasein in ein besseres umzuwandeln, das fern von den Menschen in ruhiger Einsamkeit dahingeflossen wäre ... Wie wäre es, wenn er den Onkel fragte, wieviel er eigentlich von dem Gelde des Lumpensammlers bekommen hatte? Aber dieser Gedanke widerstrebte ihm doch gar zu sehr ...

Seit der Zeit, da Ilja die Bekanntschaft Olympiadas gemacht hatte, erschien ihm das Haus Filimonows noch schmutziger und enger als früher. Diese Enge und dieser Schmutz riefen in ihm das Gefühl physischen Ekels hervor, wie wenn kalte, schlüpfrige Hände seinen Körper berührten. Heute hatte er dieses Gefühl ganz besonders peinlich empfunden, er konnte in diesem Hause durchaus keinen Platz finden, der ihm behagte, und er stieg ohne jeden weiteren Anlaß die Treppe hinauf zu Matizas Dachstube. Er sah die Bewohnerin neben ihrem breiten Bett auf einem Stuhle sitzen. Sie richtete ihre Augen auf ihn, drohte ihm mit dem Finger und flüsterte im tiefen Baß, wie wenn ein Sturmwind von ferne rauschte:

»Still! Sie schläft! ...«

Auf dem Bett schlief Mascha, zu einem Klumpen gekrümmt.

»Was sind das für Geschichten!« flüsterte Matiza und rollte grimmig ihre großen Augen. »Die Kinder schlagen sie zu Krüppeln, die verdammten Bösewichte! Daß die Erde sie verschlinge, die Schurken! ...«

Ilja hörte ihr drohendes Flüstern, während er am Ofen stand und die in eine graue Hülle gewickelte zarte Gestalt der Schusterstochter betrachtete.

»Was soll mit dem armen Dinge werden? ...« ging's ihm durch den Kopf.

»Weißt du denn, daß der Kerl auch Maschka geschlagen hat?« fuhr Matiza fort. »Am Zopf hat er sie gezerrt, der verfluchte Spitzbube, der alte Schnapsplantscher! Seinen Sohn hat er geprügelt, und auch das Mädchen, und aus dem Hause will er beide jagen – weißt du schon, he? Wohin soll sie gehn, die arme Waise? Wie?«

»Vielleicht kann ich ihr eine Stelle verschaffen ...« sprach nachdenklich Ilja, der sich erinnerte, daß Olympiada ein Stubenmädchen suchte.

»Du!« flüsterte Matiza vorwurfsvoll. »Du kommst jetzt immer nur hierher wie ein großer Herr ... Du wächst ganz für dich, wie eine junge Eiche ... gibst weder Schatten noch Eicheln ...« »So warte doch ab und keife nicht«, sagte Ilja. Es war für ihn ein passender Vorwand, um sogleich zu Olympiada zu gehen, und er fragte Matiza: »Wie alt ist denn Maschutka?«

»Fünfzehn Jahre ... Warum? Was tut ihr Alter zur Sache? Sie sieht aus, als ob sie noch nicht zwölf wäre – so zart und schmächtig ist sie ... Ach Gott ja, das reine Kind ist sie noch! Zu nichts, zu nichts ist sie tauglich! Was soll sie im Leben? Am besten wär's, sie erwachte gar nicht mehr bis zum jüngsten Tage ...«

Ein dumpfer Nebel erfüllte Iljas Kopf, als er die Mansarde verließ. Eine Stunde später stand er an der Tür von Olympiadas Wohnung und wartete, daß man ihm öffnen würde. Eine ganze Weile mußte er in der Kälte dastehen, bis endlich hinter der Tür eine dünne, mürrische Stimme fragte:

»Wer ist da?«

»Ich ...« antwortete Lunew, der nicht wußte, wer denn eigentlich fragte. Olympiadas Aufwärterin, eine pockennarbige, plumpe Person, hatte eine grobe, laute Stimme und öffnete die Tür immer, ohne zu fragen.

»Zu wem wollen Sie?« fragte die Stimme hinter der Tür von neuem.

»Ist Olympiada Danilowna zu Hause?«

Die Tür ging plötzlich auf, und in Iljas Gesicht fiel ein greller Lichtschein. Der Jüngling trat einen Schritt zurück, kniff die Augen zusammen und schaute betroffen nach der Türöffnung, als ob ihm das, was er da sah, als Täuschung erschiene.

Vor ihm stand, mit der Lampe in der Hand, ein kleines, altes Männchen in einem schweren, weiten, himbeerfarbigen Schlafrock. Der Schädel des Alten war fast ganz kahl, und am Kinn zitterte unruhig ein kurzer, spärlicher grauer Bart. Er schaute auf Iljas Gesicht, und seine scharfen, grellen Augen blinzelten boshaft, während die dünn behaarte Oberlippe sich zuckend auf und ab bewegte. Auch die Lampe zuckte und zitterte in der dürren, dunklen Hand.

»Wer bist du denn? Na, so komm doch herein! ...« sagte der Alte. »Wer bist du?«

IIja begriff, wer vor ihm stand. Er fühlte, daß das Blut ihm zu Kopfe stieg: das also war sein Nebenbuhler, der mit ihm die Gunstbezeigungen dieses stattlichen, sauberen Weibes teilte! ...

»Ich bin – ein Hausierer ...« sprach er dumpf, während er die Schwelle überschritt.

Der Alte blinzelte ihm mit dem linken Auge zu und lächelte. Seine Augenlider waren rot, entzündet, ohne Wimpern, und aus seinem Munde starrten statt der Zähne ein paar gelbe, spitze Knöchelchen.

»So, so – ein Hausierer! Was für ein Hausierer denn? He?« fragte der Alte mit einem listigen Lächeln, während er mit der Lampe in Iljas Gericht hinüberleuchtete.

»Ich handle mit allerhand Kleinkram ... mit Parfüm, mit Bändern ... und so weiter«, sagte Ilja und senkte den Kopf. Ein Schwindel hatte ihn erfaßt, und rote Flecke tanzten vor seinen Augen.

»So ... so ... so! Mit Bändchen und Posamentchen! ... Ja, ja, ja ... Bändchen und feine Düftchen ... Die verbessern das Lüftchen ... Was willst du denn hier, mein lieber Hausierer? ... He?«

»Ich will zu Olympiada Danilowna ...«

»Wi–i–ie? Zu ihr? Na, na ... Was willst du denn von ihr, he?«

»Ich ... hab' noch Geld zu bekommen, für Ware ...« brachte Ilja mit Mühe heraus.

Er fühlte eine unbegreifliche Furcht vor diesem abscheulichen Alten und haßte ihn zugleich. In der leisen, dünnen Stimme des Alten wie in seinen boshaften Augen lag etwas, das sich in Iljas Herz hineinbohrte, ihn tief verletzte und demütigte.

»Geld bekommst du noch? Eine kleine Schuld? Schö–ön, mein Junge ...«

Der Alte nahm plötzlich die Lampe von Iljas Gesicht fort, stellte sich auf die Fußspitzen, brachte sein gelbes, verwittertes Gesicht ganz nahe an Iljas Ohr und fragte ihn leise, mit einem listigen Lächeln:

»Und wo ist denn die Rechnung? Gib mal die Rechnung her!«

»Was für eine Rechnung?« fragte Ilja und trat erschrocken zurück.

»Na, von deinem Herrn?! Die Rechnung für Olympiada Danilowna! Du hast sie doch mitgebracht? Wie? Gib sie mal her! Ich trag' sie ihr hin ... Na, nur rasch, rasch!«

Der Alte rückte Ilja förmlich zu Leibe, während dieser nach der Tür zurückwich. Es ward ihm vor Angst ganz trocken im Munde.

»Ich hab' doch gar keine Rechnung!« sprach er laut und voll Verzweiflung; es war ihm, als ob im nächsten Augenblick etwas Schreckliches geschehen müßte.

In diesem Moment jedoch erschien hinter dem Alten die hohe, stattliche Gestalt Olympiadas. Ruhig, ohne mit der Wimper zu zucken, schaute sie über den Kopf des Greises hinweg auf Ilja und fragte in ihrer gemessenen Weise:

»Was gibt's denn da, Wassilij Gawrilowitsch?«

»Ein Hausierer ist da ... Er sagt, er bekäme von Ihnen noch Geld. Sie haben Bändchen bei ihm gekauft? Haben ihn nicht bezahlt, wie? Da ist er nun jetzt ... und verlangt sein Geld ...«

Er trippelte vor Olympiada hin und her und blinzelte mißtrauisch bald sie, bald Ilja an. Sie schob ihn mit einer gebieterischen Bewegung ihrer rechten Hand zur Seite, fuhr mit derselben Hand in die Tasche ihres Mantels und sagte zu Ilja in strengem Tone:

»Was ist denn das? Konntest du nicht zu einer andern Zeit kommen?«

»Ganz recht!« schrie der Alte mit quiekender Stimme. »So'n Dummkopf, nicht wahr? Kommst, wenn man dich am wenigsten braucht, Esel!«

Ilja stand da wie versteinert.

»Schreien Sie nicht, Wassilij Gawrilowitsch! Es schickt sich nicht!« sprach Olympiada und wandte sich dann zu Ilja: »Wieviel bekommst du doch? Drei Rubel vierzig Kopeken, nicht wahr? Da, nimm!«

»Und mach', daß du fortkommst!« quiekte der Alte von neuem. »Erlauben Sie, ich selbst werde zuriegeln ... ich selbst, ich selbst!«

Er schlug die Schöße seines Schlafrockes übereinander, öffnete die Tür und schrie Ilja an:

»Da, geh! ...«

Ilja stand im Frost vor der verschlossenen Tür und starrte stumpfsinnig nach ihr hin. Er begriff noch nicht recht, ob alles das, was er eben gesehen, nur ein häßlicher Traum oder Wirklichkeit war. In der einen Hand hatte er seine Mütze, mit der andern hielt er das Geld fest, das ihm Olympiada gegeben hatte. So stand er lange da, bis er fühlte, daß der Frost einen Eisreif um seinen Schädel legte und seine Beine vor Kälte starr wurden. Da setzte er seine Mütze auf, steckte das Geld in die Tasche, schob die Hände in die Ärmel des Paletots, zog die Schultern ein und ging mit vorgebeugtem Kopfe langsam die Straße hinunter. Es war ihm, als ob sein Herz erstarrt wäre, und als ob in seinem Kopfe ein paar schwere Kugeln hin und her rollten und gegen seine Schläfen klopften. Vor seinen Augen schwebte die dunkle Gestalt des Alten mit dem gelben, vom kalten Lampenlicht beleuchteten Schädel ...

Das Gesicht dieses Alten lächelte boshaft, listig, triumphierend ...

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