TEIL 3 QUABBIN


Als ich die Treppe hab erklommen, traf ich ’nen Mann, der war nicht dort. Auch heute ist er nicht gekommen! Ich wollt, er blieb für immer fort.

HUGHES MEARNS

Die Jagd beginnt


Jonesy hatte keine Ahnung, wie spät es war, als das DYSARTs-Schild grün schimmernd aus dem Schneegestöber auftauchte - die Uhr im Armaturenbrett des Dodge versagte den Dienst und zeigte immer nur blinkend 12.00 Uhr an -, aber jedenfalls war es noch dunkel und schneite immer noch heftig. Außerhalb Derrys verloren die Schneepflüge ihre Schlacht gegen diesen Sturm. Der gestohlene Dodge Ram war zwar, wie sich Jonesys Vater ausgedrückt hätte, »ein richtiges Packpferd«, war aber diesem Schneesturm ebenfalls nicht gewachsen. Er rutschte in dem immer tieferen Schnee immer häufiger weg und hatte zusehends Schwierigkeiten, sich durch die Schneewehen zu kämpfen. Jonesy wusste zwar nicht, wo Mr. Gray hinwollte, glaubte aber nicht, dass er dort ankommen würde. Nicht in diesem Sturm und nicht mit diesem Wagen.

Das Radio funktionierte, wenn auch nicht sehr gut; was sie hereinbekamen, war schwach und verrauscht. Er bekam keine Zeitansagen mit, schnappte aber einen Wetterbericht auf. Südlich von Portland regnete es, statt zu schneien, aber für das Gebiet zwischen Augusta und Brunswick sagten sie eine tückische Kombination aus Schneematsch und überfrierendem Regen voraus. In den meisten Gemeinden sei der Strom ausgefallen, hieß es, und man komme ohne Schneeketten nicht weit.

Das hörte Jonesy gern.

Als Mr. Gray das Lenkrad einschlug, um die Rampe vor dem verlockenden grünen Schild hochzufahren, stellte sich der Dodge-Pickup quer und wirbelte dabei mächtige Schneewolken auf. Jonesy wusste, dass er wahrscheinlich von der Ausfahrt in den Straßengraben gerutscht wäre, hätte er am Steuer gesessen, aber dem war ja nicht so. Und obwohl er nicht mehr immun gegen Jonesys Gefühle war, war Mr. Gray doch in Stress-Situationen weit weniger anfällig für Panik. Statt blindlings gegen das Ausbrechen anzusteuern, ließ Mr. Gray es geschehen und hielt das Lenkrad ruhig, bis sich der Wagen wieder fing, und lenkte ihn dann zurück auf die richtige Spur. Der Hund, der vor dem Beifahrersitz schlief, wachte dabei nicht auf, und Jonesys Puls beschleunigte sich kaum. Hätte er am Steuer gesessen, das wusste Jonesy, dann hätte sein Herz wie wild gepocht. Aber er hätte den Wagen bei solchem Wetter ja auch ohnehin höchstens noch in die Garage gefahren.

Mr. Gray gehorchte dem Stopp-Schild oben an der Rampe, obwohl die Route 9 in beide Richtungen eine menschenleere Schneewüste war. Gegenüber erstreckte sich ein riesiger Parkplatz, der von Natrium-Laternen strahlend hell erleuchtet wurde. In diesem Licht ähnelte das Schneegestöber dem eisigen Atem eines riesenhaften, unsichtbaren Monsters. An einem normalen Abend, das wusste Jonesy, hätte der Parkplatz voller Sattelschlepper mit grollendem Dieselmotor gestanden und hätten die Fahrerkabinen der Kenworths und Macks und Jimmy-Petes schummmrig gelb und grün geleuchtet. Heute Nacht aber war der Parkplatz größtenteils leer, bis auf einen Bereich mit der Aufschrift langzeitparkplatz, Aufenthalt nur mit parkschein. Dort stand, in Schneewehen gehüllt, ein knappes Dutzend Sattelzüge. Die Fahrer aßen im Hauptgebäude, flipperten, schauten Pornos in der Truckers' Lounge oder versuchten in dem tristen Schlafsaal nach hinten

hinaus, in dem man für zehn Dollar ein frisch gemachtes Feldbett für die Nacht und den malerischen Blick auf eine Ytong-wand bekam, ein Auge zuzukriegen. Und alle stellten sie sich bestimmt diese beiden Fragen: Wann kann ich wieder los? Und Was wird mich das kosten?

Mr. Gray trat aufs Gas, und obwohl er das so behutsam tat, wie es in Jonesys Akte über das Autofahren im Winter vorgegeben war, drehten alle vier Reifen des Pickup durch und rutschte der Wagen seitlich weg und fuhr sich fest.

Weiter so!, jubelte Jonesy von seinem Platz am Bürofenster aus. Los, fahr dich fest! Lass ihn sich bis unters Bodenblech im Schnee eingraben! Denn wenn du dich mit Allradantrieb erst mal festgefahren hast, dann hast du dich so richtig festgefahren!

Dann griffen die Reifen doch - zuerst die vorderen, die durch das Gewicht des Motors eine bessere Bodenhaftung hatten, dann auch die hinteren. Der Dodge Ram zockelte über die Route 9 auf das Schild einfahrt zu. Dahinter stand dann: herzlich willkommen beim besten truck stop von ganz neuengland. Dann tauchte im Licht der Scheinwerfer dahinter noch ein drittes Schild auf, eingeschneit, aber lesbar: was soll's: herzlich willkommen BEIM BESTEN TRUCK STOP DER WELT.

Ist das der beste Truck Stop der Welt?, fragte Mr. Gray.

Aber sicher doch, sagte Jonesy. Und dann - er konnte nicht an sich halten - brach er in Gelächter aus.

Was soll das? Was machst du da für ein Geräusch?

Jonesy bemerkte etwas Erstaunliches, das ebenso anrührend wie erschreckend war: Mr. Gray lächelte mit Jonesys Mund. Nur ein kleines bisschen, aber es war ein Lächeln. Er weiß nicht, was Lachen ist, dachte Jonesy. Er hatte ja auch nicht gewusst, was Wut war, hatte sich aber als äußerst gelehrig erwiesen; was Wutanfälle anging, konnte er nun mit den größten Cholerikern mithalten.

Ich fand es lustig, was du gesagt hast.

Was ist denn lustig?

Jonesy wusste nicht, wie er diese Frage beantworten sollte. Er wollte Mr. Gray die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle vermitteln, da er vermutete, dass seine einzige Überlebenschance letztlich darin bestand, seinen Entführer zu humanisieren - nur dann konnte er überhaupt Mitleid mit den Menschen haben. Aber wie sollte man einer Ansammlung von Sporen aus einer anderen Welt erklären, was lustig war? Und was war denn überhaupt lustig daran, dass sich Dysart's zur weitbesten Raststätte für Brummifahrer ausrief?

Jetzt kamen sie zu einem weiteren Schild, auf dem Pfeile nach links und rechts wiesen, grosse stand unter dem Pfeil nach links. Und kleine stand unter dem nach rechts.

Was sind wir?, fragte Mr. Gray und hielt vor dem Schild.

Jonesy hätte ihn auch einfach auf diese Information zugreifen lassen können, aber was hätte das genutzt? Wir sind ein Kleiner, sagte er, und Mr. Gray bog mit dem Dodge Ram nach rechts ab. Die Reifen drehten kurz durch, und der Wagen ruckelte. Lad hob den Kopf, ließ einen weiteren lang gedehnten und wohlriechenden Furz fahren und jaulte dann. Sein Unterleib war angeschwollen und aufgebläht; man hätte ihn auch für eine hochschwangere Hündin halten können, die kurz davor stand, mit einem ansehnlichen Wurf niederzukommen.

Auf dem Parkplatz für die Kleinen standen gut zwei Dutzend PKW und Pickups, und die am tiefsten unter Schnee begrabenen gehörten den Notfall-Mechanikern (es waren immer ein oder zwei im Dienst), den Kellnerinnen und Köchen. Das am wenigsten eingeschneite Fahrzeug, das stach Jonesy förmlich ins Auge, war ein taubenblauer Streifenwagen der Polizei von Maine, dessen Blaulichter unter einer Schneeschicht verborgen waren. Es würde Mr. Gray einen Strich durch die Rechnung machen, würde er hier festgenommen; aber andererseits war Jonesy bereits am Tatort dreier Morde gewesen, wenn man die Fahrerkabine des

Pickups mitzählte. An den ersten beiden Tatorten hatte es sicherlich keine Zeugen gegeben und waren vielleicht auch keine Fingerabdrücke von Gary Jones zurückgeblieben. Aber hier? Klar. Jede Menge. Er sah sich selbst in irgendeinem Gerichtssaal stehen und sagen: Aber es war doch der Außerirdische in mir, der diese Morde begangen hat. Mr. Gray ist der Mörder. Noch so ein Scherz, den Mr. Gray nicht verstanden hätte.

Und dieser werte Freund hatte auch schon wieder herum-geschnüffelt. Dry Farts, sagte er. Wieso nennst du diesen Ort Dry Farts, wenn auf dem Schild doch Dysart's steht?

So hat Lamar immer dazu gesagt, erwiderte Jonesy und erinnerte sich an orgiastische Frühstücke dort, normalerweise auf der Hin- oder Rückreise ihrer Jagdausflüge. Also entsprach das ja hier ganz der Tradition, nicht wahr? Mein Dad hat es auch immer so genannt.

Und was ist daran lustig?

Dry Farts: Trockene Fürze. Naja, es ist mäßig lustig, würde ich sagen. Das ist ein Wortspiel, das auf dem Gleichklang der Wörter beruht. Und Wortspiele sind die niederste Form des Humors.

Mr. Gray parkte in der Reihe, die der beleuchteten Insel des Restaurants am nächsten war, dabei weitab von dem Streifenwagen. Jonesy hatte keine Ahnung, ob Mr. Gray wusste, was die Blaulichter auf dem Dach des Wagens zu bedeuten hatten. Er schaltete den Scheinwerfer des Dodge ab, griff dann zum Zündschlüssel, hielt inne und stieß mehrere bellende Lachlaute aus: »Fla! Fla! Fla! Fla!«

Wie fühlt sich das an?, fragte Jonesy mehr als nur ein wenig neugierig. Auch ein wenig ängstlich.

»Nach gar nichts«, sagte Mr. Gray ganz ruhig und stellte den Motor ab. Aber als er dann dort in der Dunkelheit saß und der Wind um die Fahrerkabine des Pickups heulte, tat er es wieder, und diesmal klang es schon ein wenig überzeugender: »Ha! Ha, ha, ha!« Jonesy lief es in seiner Bürozuflucht kalt den Rücken hinunter. Es war ein schauriges Geräusch, als würde ein Geist versuchen, sich daran zu erinnern, wie es war, ein Mensch zu sein.

Lad gefiel es auch nicht. Er jaulte wieder und schaute ängstlich zu dem Mann am Steuer des Wagens seines Herrchens hoch.

Owen rüttelte Henry wach, und Henry reagierte nur widerwillig. Ihm kam es vor, als wäre er erst Sekunden zuvor eingeschlafen. Seine Gliedmaßen fühlten sich an wie einbetoniert.

»Henry.«

»Ja.« Sein linkes Bein juckte. Der Mund juckte noch schlimmer; der gottverdammte Byrus wuchs ihm jetzt auch auf den Lippen. Er rieb ihn mit dem Zeigefinger ab und war erstaunt, wie leicht er sich löste. Wie eine Kruste.

»Hör zu. Und schau. Kannst du was sehen?«

Henry schaute hinaus auf die Straße, die jetzt dunkel und geisterhaft verschneit dalag - Owen hatte mit dem Schneemobil am Straßenrand gehalten und die Scheinwerfer abgeschaltet. Etwas weiter voraus hörte er in Gedanken Stimmen in der Dunkelheit. Es hörte sich an, als würden da Leute um ein Lagerfeuer sitzen. Henry ging in Gedanken zu ihnen. Sie waren zu viert, junge Männer ohne höheren Dienstgrad bei der... der...

»Der Blue Group«, flüsterte Owen. »Diesmal sind wir die Blue Group.«

Vier junge Männer ohne höheren Dienstgrad bei der Blue Group, die sich Mühe gaben, keine Angst zu zeigen und tapfer zu sein ... Stimmen in der Dunkelheit... wie von Leuten, die um ein Lagerfeuer saßen ...

Bei dessen Licht, das musste Henry feststellen, er nur schlecht sehen konnte: Da war natürlich der Schnee, und ein paar gelb blinkende Lichter beleuchteten eine zugeschneite Highway-Auf fahr t. Im Licht eines Instrumentenbretts war auch der Deckel eines Pizzakartons zu erkennen. Er diente als Tablett. Darauf lagen Cracker, ein paar Stück Käse und ein Schweizer Offiziersmesser. Das Messer gehörte einem gewissen Smitty, und sie schnitten sich damit alle Käse ab. Je länger Henry hinschaute, desto besser sah er. Es war, als würden sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnen, aber mehr als nur das: Was er da sah, hatte eine Schwindel erregende Tiefenschärfe, als bestünde die physische Welt nun nicht mehr aus drei Dimensionen, sondern aus vier oder fünf. Es war relativ einleuchtend, woher das kam: Er sah mit vier Paar Augen gleichzeitig. Sie hockten da beieinander in dem ...

Humvee, sagte Owen hocherfreut. Das ist ein Humvee, Henry! Und der hat bestimmt auch Winterreifen und Schneeketten! Darauf wette ich!

Die jungen Männer saßen da eng beieinander, das schon, aber doch auf vier verschiedenen Sitzen, und sie schauten mit vier unterschiedlichen Blickwinkeln in die Welt, und das mit vier Paar unterschiedlich guten Augen, von adleraugenscharf (Dana aus Maybrook, New York) bis so eben noch ausreichend. Doch irgendwie verarbeitete Henrys Gehirn das alles, genau wie es eine Bilderfolge auf einem Streifen Zelluloid in einen Film verwandelte. Doch das hier war nicht wie ein Film und auch nicht wie ein beeindruckendes 3D-Bild. Es war eine ganz neue Art des Sehens, die zu einem ganz neuen Denken führen konnte.

Wenn sich das ausbreitet, dachte Henry, ebenso entsetzt wie hellauf begeistert, wenn sich das ausbreitet...

Owen knuffte ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. »Heb dir diese philosophischen Überlegungen doch bitte für ein andermal auf«, sagte er. »Schau zur anderen Straßenseite.«

Das tat Henry, indem er seinen einmaligen Vierfach-Blick einsetzte, und zu spät merkte er, dass er mehr getan hatte als nur hinzuschauen; er hatte ihre Augäpfel bewegt, damit er zur anderen Seite des Highways blicken konnte. Wo er im Sturm weitere blinkende Lichter erblickte.

»Das ist hier ein Flaschenhals«, murmelte Owen. »Eine von Kurtz' Versicherungspolicen. Beide Auffahrten sind gesperrt. Man kommt nicht ohne Genehmigung auf den Highway. Ich will den Humvee, das ist bei so einem Schneesturm das ideale Fahrzeug, aber ich will nicht, dass die Typen gegenüber was mitbekommen. Kriegen wir das hin?«

Henry experimentierte wieder mit den Augen der Soldaten, bewegte sie. Er stellte fest, dass seine gottähnliche, vier-oder fünfdimensionale Sicht verschwand, sobald sie nicht alle in dieselbe Richtung schauten, und ihm nur ein Schwindel erregender Wirrwarr blieb, mit dem seine Bildverarbeitung überfordert war. Aber er bewegte ihre Augen. Nur ein wenig, nur ihre Augäpfel, aber immerhin ...

Ich glaube, gemeinsam kriegen wir das hin, sagte Henry zu Owen. Fahr näher ran. Und hör auf, laut zu sprechen. Komm in meinen Kopf. Schließ dich an.

Mit einem Mal war es in Henrys Kopf voller. Er sah wieder deutlicher, aber nicht mit so viel Tiefenschärfe. Nur zwei Paar Augen statt vier: Owens und seine.

Owen legte bei dem Schneemobil den ersten Gang ein und kroch mit abgeschalteten Lichtern voran. Das leise Grum-meln des Motors verlor sich im steten Kreischen des Windes, und als sie dem Humvee näher kamen, spürte Henry, wie er die Gehirne der Männer vor ihnen besser in den Griff bekam.

Heiliger Strohsack, sagte Owen und lachte keuchend auf.

Was? Was ist?

Du, Mann. Das ist ja, als würde man auf einem fliegenden Teppich sitzen. Herrgott, ist das stark bei dir.

Wenn du das schon stark findest, dann warte mal ab, bis du Jonesy kennen lernst.

Owen hielt mit dem Schneemobil unterhalb der Kuppe eines kleinen Hügels. Dahinter war der Highway. Und Bernie, Dana, Tommy und Smitty, die oben auf der Auffahrt zur nach Süden führenden Spur in ihrem Humvee saßen und von ihrem improvisierten Tablett Cracker und Käse aßen. Owen und er waren hier relativ sicher. Die vier jungen Männer in dem großen Militärjeep waren frei von Byrus und hatten keine Ahnung, dass sie ausspioniert wurden.

Bis du so weit?, fragte Henry.

Ich glaube schon. Die andere Person in Henrys Kopf, die so kühl wie ein Eiswürfel geblieben war, als Kurtz und seine Männer auf sie geschossen hatten, war jetzt nervös. Geh du voran, Henry. Ich bin bei diesem Einsatz nur die Luftunterstützung.

Dann mal los.

Was Henry dann tat, tat er instinktiv: Er schloss die vier Männer im Humvee nicht mit Bildern von Tod und Zerstörung zusammen, sondern indem er Kurtz verkörperte. Um das tun zu können, schöpfte er sowohl aus Owen Underhills Kräften - die zu diesem Zeitpunkt viel größer waren als seine eigenen - als auch aus Owen Underhills langjähriger, bester Kenntnis seines Vorgesetzten. Dieses Zusammenschließen verschaffte ihm ungeheure Befriedigung. Und Erleichterung. Ihre Augen fernzusteuern, war eines; sie aber gänzlich fernzusteuern, war etwas vollkommen anderes. Und sie waren frei von Byrus. Das hätte sie immun dagegen machen können. Hatte es aber Gott sei Dank nicht.

Da ist ein Schneemobil auf der anderen Seite des Hügels, Burschen, sagte Kurtz. Das sollt ihr zurück zur Basis bringen. Auf der Stelle, wenn s recht ist - keine Fragen, keine Kommentare, einfach nur machen. Es ist zwar ein bisschen enger da drin als hier, aber ich glaube, ihr passt da alle rein. Gelobt sei der Herr. So, und jetzt macht mai Tempo. Gott steh euch bei.

Henry sah sie mit ruhiger, ausdrucksloser Miene aussteigen. Er wollte auch aussteigen, da sah er, dass Owen immer noch mit weit aufgerissenen Augen am Steuer des Schneemobils saß. Seine Lippen formten die Worte, an die er dachte: Macht mal Tempo. Gott steh euch bei.

Owen! Komm!

Owen sah sich erschreckt um, nickte dann und schob die Plane beiseite, um auszusteigen.

Henry stolperte, fiel auf die Knie, erhob sich wieder und schaute müde hinaus in die Dunkelheit. Es war nicht weit, ganz gewiss nicht, aber er glaubte nicht, dass er noch einmal zehn Meter durch Schneewehen stapfen konnte, von hundertfünfzig Metern ganz zu schweigen. Doch nichts hielt auf den Eiermann, dachte er, und dann: Ich hab's getan. Das erklärt alles. Natürlich. Ich habe mich ausgeknipst, und jetzt bin ich in der Hölle. Der Eiermann ist in der H-

Owen legte einen Arm um ihn ... aber da kam mehr als nur ein Arm. Er speiste Henry seine Kraft ein.

Danke —

Du kannst mir später danken. Und auch später schlafen. Jetzt musst du am Ball bleiben.

Hier gab es keinen Ball. Hier gab es nur Bernie, Dana, Tommy und Smitty, die durch den Schnee stapften, eine Reihe schweigender Nachtwandler, in Overalls und Kapuzenparkas. Sie trotteten auf der Swanny Pond Road nach Osten auf das Schneemobil zu, während sich Owen und Henry in westliche Richtung zu dem verlassenen Militär] eep vorarbeiteten. Als Henry klar wurde, dass sie die Cracker und den Käse dagelassen hatten, knurrte ihm der Magen.

Dann sahen sie den Humvee genau voraus. Sie würden darin wegfahren, zunächst ohne die Scheinwerfer einzuschalten, langsam und ganz leise an den gelben Blinklichtern unten an der Auffahrt vorbei, und wenn sie Glück hatten, würden die Typen, die an der Auffahrt nach Norden Wache schoben, nichts mitbekommen.

Wenn sie uns sehen, können wir dann bewirken, dass sie es vergessen?, fragte Owen. Könnten wir-tja, ich weiß nicht -bei ihnen für Amnesie sorgen?

Henry wurde klar, dass sie das wahrscheinlich konnten. Owen?

Was?

Wenn sich das ausbreiten würde, würde sich alles ändern. Alles.

Eine Pause, während der Owen darüber nachdachte. Henry meinte nicht das Herrschaftswissen, von dem Kurtz' Bosse am oberen Ende der Nahrungskette lebten; er meinte Fähigkeiten, die anscheinend doch über ein bisschen Gedankenlesen hinausgingen.

Ich weiß, erwiderte er schließlich. Ich weiß.

Sie fuhren mit dem Humvee in südliche Richtung davon, dem Sturm entgegen. Henry Devlin stopfte immer noch Cracker und Käse in sich hinein, als in seinem überstimulierten Hirn vor Erschöpfung die Lichter ausgingen.

Er schlief, mit Krümeln auf den Lippen, ein.

Und träumte von Josie Rinkenhauer.

6

Eine halbe Stunde nachdem er Feuer gefangen hatte, war der Kuhstall des alten Reggie Gosselin nur noch ein matt blinzelndes Drachenauge in der Sturmnacht, in einer schwarzen Augenhöhle aus geschmolzenem Schnee. Aus dem Wald öst-lieh der Swanny Pond Road erklang das Pop-pop-pop von Gewehrfeuer; schweres Feuer zunächst, und dann wurde es unregelmäßiger und leiser, während die Imperial Valleys (jetzt von Kate Gallagher befehligt) die entflohenen Internierten verfolgten. Dabei ging es zu wie in einer Schießbude, und nicht viele Schießbudenfiguren würden davonkommen. Genug vielleicht, um davon zu berichten, genug, um sie alle zu verpfeifen, aber darüber konnte man sich ein andermal den Kopfzerbrechen.

Währenddessen - und während der Verräter Owen Underhill einen immer größeren Vorsprung aufbaute - standen Kurtz und Freddy Johnson im Kommandoposten (nur dass er Freddy jetzt wieder wie ein ganz normaler Winnebago vorkam; dieses Gefühl von Macht und Bedeutsamkeit war verschwunden) und warfen Spielkarten in eine Mütze.

Nicht mehr im Mindesten telepathisch begabt, aber zu den Männern, die unter seinem Kommando standen, so einfühlsam wie eh und je - dass er nun nur noch einen einzigen Soldaten befehligte, spielte dabei wirklich keine Rolle -, schaute Kurtz Freddy an und sagte: »Eile mit Weile, Bursche -ein altes Sprichwort, das immer noch stimmt.«

»Ja, Boss«, sagte Freddy, nicht sonderlich begeistert.

Kurtz warf die Pik Zwei. Sie flatterte durch die Luft und landete in der Mütze. Kurtz jauchzte wie ein Kind und machte sich bereit, wieder zu werfen. Da klopfte jemand an die Tür des Winnebago. Freddy drehte sich um und wollte aufmachen, aber Kurtz warf ihm einen bösen Blick zu. Freddy wandte sich wieder um und sah zu, wie Kurtz noch eine Karte warf. Sie kam gut vom Start weg, flog dann aber zu weit und landete auf dem Schirm der Mütze. Kurtz grummelte etwas und machte dann eine Kopfbewegung in Richtung Tür. Freddy ging aufmachen, ein stilles Dankgebet auf den Lippen.

Auf dem Treppenabsatz stand Jocelyn McAvoy, eine der beiden Frauen bei Imperial Valley. Sie sprach mit einem weichen, dörflichen Tennessee-Akzent, und ihre Gesichtszüge unter dem knabenhaft kurzen blonden Haar waren hart wie Stein. Sie hielt ein MG israelischer Bauart, das ganz sicherlich nicht dem Arsenal der amerikanischen Streitkräfte entstammte. Freddy fragte sich, wo sie das herhatte, und beschloss dann, dass es keine Rolle mehr spielte. Im Laufe der vergangenen Stunde hatten viele Dinge aufgehört, eine Rolle zu spielen.

»Joss«, sagte Freddy. »Wie geht's denn immer so?«

»Ich bringe, wie befohlen, zwei Ripley-Positive.« Weiterer Schusslärm aus dem Wald, und Freddy sah, wie die Frau kurz in diese Richtung schaute. Sie wollte zurück auf die andere Straßenseite, wollte ihre Quote erfüllen, ehe das Spiel vorbei war. Freddy konnte das bestens nachfühlen.

»Schicken Sie sie rein, Mädel«, sagte Kurtz. Er stand immer noch vor der Mütze am Boden (auf dem sich hier und da noch Blutspuren des dritten Kochs Melrose fanden) und hielt immer noch das Kartenspiel in der Hand, aber jetzt strahlten seine Augen, und er schaute interessiert. »Sehn wir doch mal, wen Sie da gefunden haben.«

Jocelyn machte eine Geste mit ihrem Gewehr. Unten an der Eingangstreppe knurrte eine Männerstimme: »Rauf da. Zack, zack!«

Der erste Mann, der an Jocelyn vorbei hereinkam, war groß und kohlrabenschwarz. Er hatte eine Schnittwunde auf der Wange und eine am Hals. Aus beiden Wunden wucherte Ripley. Es wuchs auch in seinen Stirnfalten. Freddy kannte ihn vom Sehen, wusste aber seinen Namen nicht. Der Alte kannte sie natürlich beide. Freddy nahm an, dass er sich an die Namen aller Männer erinnerte, die er einmal befehligt hatte, an die der Lebenden und der Toten.

»Cambry!«, sagte Kurtz, und jetzt strahlten seine Augen erst recht. Er legte die Spielkarten in die Mütze, ging auf Cambry zu, schien ihm eben die Hand schütteln zu wollen, überlegte es sich dann anders und salutierte stattdessen.

Gene Cambry erwiderte den Gruß nicht. Er wirkte missmutig und verwirrt. »Willkommen bei der Amerikanischen Liga für Gerechtigkeit.«

»Ich hab ihn im Wald dabei erwischt, wie er mit den Internierten, die er bewachen sollte, weggelaufen ist«, sagte Jocelyn McAvoy. Ihr Gesicht war ausdruckslos; nur ihre Stimme klang verächtlich.

»Warum auch nicht?«, sagte Cambry. Er sah Kurtz an. »Sie wollten mich doch sowieso umbringen. Uns alle. Und machen Sie sich nicht die Mühe, mich anzulügen. Ich kann Ihre Gedanken lesen.«

Das brachte Kurtz nicht im Mindesten aus der Fassung. Er rieb sich die Hände und lächelte Cambry freundlich an. »Wenn Sie sich bewähren, denke ich ja vielleicht um, Bursche. Herzen sind dazu da, gebrochen zu werden, und der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung ändern können, und dafür sei der Herr noch mal ausdrücklich gelobt. Wen haben Sie da noch für mich, Jossie?«

Als er den zweiten Mann sah, war Freddy verblüfft. Und erfreut. Seiner bescheidenen Meinung nach hätte sich der Ripley niemand Besseren aussuchen können. Den Blödmann konnte sowieso keiner ausstehen.

»Sir ... Boss ... Ich weiß nicht, was ich hier soll ... Ich habe die Entflohenen verfolgt, und diese ... diese ... es tut mir Leid, aber ich muss es sagen: diese übereifrige dumme Ziege hat mich aus dem Einsatzgebiet abgezogen und ...«

»Er ist mit ihnen geflohen«, sagte McAvoy in gelangweiltem Ton. »Und er steckt voller Ripley.«

»Das ist eine Lüge!«, sagte der Mann, der da an der Tür stand. »Das ist absolut gelogen! Ich bin vollkommen clean! Einhundert Prozent -«

McAvoy nahm ihrem zweiten Gefangenen die Schirmmütze ab. Das ansonsten schüttere blonde Haar des Mannes wirkte nun viel voller und sah aus, als wäre es rot gefärbt.

»Ich kann das erklären, Sir«, sagte Archie Perlmutter, und noch beim Sprechen wurde seine Stimme leiser. »Da gibt es ... Verstehn Sie ...« Dann verstummte er.

Kurtz strahlte ihn an, aber er hatte wieder seine Filtermaske aufgesetzt - das hatten sie alle -, und das verlieh seinem beruhigenden Lächeln etwas Unheimliches, wirkte wie der Gesichtsausdruck eines Kinderschänders, der einen kleinen Jungen auf ein Stück Kuchen einlädt.

»Es wird alles gut, Pearly«, sagte Kurtz. »Wir unternehmen nur eine kleine Spritztour, weiter nichts. Es gibt da jemanden, den wir finden müssen, jemanden, den Sie kennen -«

»Owen Underhill«, flüsterte Perlmutter.

»Genau, Bursche«, sagte Kurtz. Er wandte sich an Mc-Avoy. »Bringen Sie diesem Soldaten sein Klemmbrett, McAvoy. Es geht ihm bestimmt schon viel besser, wenn er sein Klemmbrett hat. Dann können Sie mit der Jagd weitermachen. Darauf brennen Sie doch bestimmt.«

»Jawohl, Boss.«

»Aber erst schaun Sie sich noch das hier an. Ein kleiner Trick, den ich damals in Kansas gelernt habe.«

Kurtz nahm das Kartenspiel und warf es in die Luft. In dem böigen Sturmwind, der zur Tür hereinkam, flogen die Karten wild durcheinander. Nur eine landete richtig herum in der Mütze: das Pik Ass.

Mr. Gray hielt die Speisekarte und betrachtete interessiert und fast vollkommen verständnislos die Liste der Gerichte: Fleischkäse, Rote Beete in Scheiben, Brathähnchen, Schokoladencremetorte ... Jonesy wurde klar, dass Mr. Gray nicht nur nicht wusste, wie Essen schmeckte; er wusste nicht einmal, was Geschmack überhaupt war. Wie sollte er auch? Im

Grunde war er nichts weiter als ein Pilz mit einem verhältnismäßig hohen IQ.

Nun kam eine Kellnerin, die sich unter einem immensen Hochplateau aus festgesprühtem blondem Haar fortbewegte. Auf dem Schildchen an ihrem nicht unbeträchtlichen Busen stand: willkommen bei dysarTs, ich bin ihre Kellnerin, darlene.

»Hallo, Schätzchen, was darf ich Ihnen bringen?«

»Ich hätte gerne Rührei mit Bacon. Den Bacon bitte kross.« »Toast dazu?«

»Wie wäre es mit Kannpfuchen?«

Sie runzelte die Augenbrauen und sah ihn über ihren Notizblock hinweg an. Hinter ihr, am Tresen, aß der Polizist irgendein fettiges Sandwich und unterhielt sich mit dem Koch.

»Tschuldigung - Kuchenpfann, wollte ich sagen.«

Ihre Augenbrauen hoben sich weiter. Ganz vorn in ihren Gedanken blinkte eine Frage so deutlich sichtbar wie ein Neonschild in einem Kneipenfenster: Hatte der Typ wirklich Probleme mit der Aussprache, oder wollte er sich über sie lustig machen?

Und Jonesy, der an seinem Bürofenster stand und lächelte, gab nach.

»Pfannkuchen«, sagte Mr. Gray.

»Mmh. Habe ich mir schon gedacht. Kaffee dazu?«

»Ja, bitte.«

Sie klappte ihren Block zu und marschierte von dannen. Augenblicklich war Mr. Gray wieder an der verschlossenen Tür zu Jonesys Büro, und er war wieder fuchsteufelswild.

Wie konntest du das tun?, fragte er. Wie konntest du das von da aus tun? Dann ein böser Knall, als Mr. Gray auf die Tür einschlug. Und er war mehr als nur wütend, das wurde Jonesy klar. Er hatte auch Angst. Denn wenn sich Jonesy ein-mischen konnte, war alles in Gefahr. leb weiß es nicht, sagte Jonesy, und das entsprach der

Wahrheit. Aber nimm's nicht so schwer. Lass dir dein Frühstück schmecken. Ich hab dich nur ein bisschen getriezt.

Wieso? Immer noch wütend. Immer noch aus dem Brunnen von Jonesys Gefühlen schöpfend und es wider besseres Wissen genießend. Wieso machst du so was?

Bezeichnen wir es mai als kleine Rache für den Versuch, mich zu rösten, als ich in meinem Büro geschlafen habe, sagte Jonesy.

Da der Restaurantbereich der Raststätte so gut wie leer war, kam Darlene in null Komma nichts mit dem Essen. Jonesy überlegte, ob er probieren sollte, lange genug die Kontrolle über seinen Mund zu erlangen, um etwas Freches zu sagen (Darf ich in Ihr Haar beißen, Darlene?, fiel ihm auf Anhieb ein), ließ es dann aber bleiben.

Sie stellte seinen Teller ab, warf ihm einen skeptischen Blick zu und ließ ihn dann allein. Mr. Gray, der mit Jonesys Augen den leuchtend gelben Eierhaufen und die dunklen Bacon-Streifen betrachtete (nicht nur kross, sondern, entsprechend der großartigen Tradition bei Dysart's, fast ver-schmurgelt), war ähnlich skeptisch gestimmt.

Nur zu, sagte Jonesy. Er beobachtete alles belustigt und neugierig von seinem Bürofenster aus. War es denkbar, dass die Eier und der Speck tödlich für Mr. Gray waren? Wahrscheinlich nicht, aber wenigstens würde dem schweinischen Entführer so richtig schön kotzübel davon werden. Nur zu, Mr. Gray. Iss. Bon appétit.

Mr. Gray schlug in Jonesys Daten den korrekten Gebrauch des Bestecks nach, nahm dann mit den Spitzen der Gabelzinken eine winzige Spur Rührei auf und schob sie in Jonesys Mund.

Was dann geschah, war ebenso erstaunlich wie komisch. Mr. Gray schlang sofort alles herunter und hielt zwischendurch nur kurz inne, um die Pfannkuchen mit künstlichem Ahornsirup zu übergießen. Es schmeckte ihm köstlich, vor allem der Bacon.

Fleisch!, hörte Jonesy ihn frohlocken - es klang so ähnlich wie eine Monsterstimme aus einem dieser lächerlichen alten Gruselfilme aus den Dreißigern. Fleisch! Fleisch! Das ist der Geschmack von Fleisch!

Schon komisch ... aber so komisch dann auch wieder nicht. Eher grauenerregend. Der Ruf eines frisch geborenen Vampirs.

Mr. Gray schaute sich um, dass auch niemand zusah (der recht stämmige Polizist widmete sich nun einem großen Stück Kirschkuchen), hob dann den Teller und leckte mit Jonesys Zunge das Fett ab. Dann leckte er sich auch noch den klebrigen Sirup von den Fingerspitzen.

Darlene kam wieder, schenkte Kaffee nach und sah die leeren und sauberen Teller. »Na, da können wir uns das Spülen ja fast sparen«, sagte sie. »Möchten Sie noch etwas?«

»Mehr Bacon«, sagte Mr. Gray. Er schaute in Jonesys Daten die korrekte Redeweise nach und fügte dann hinzu: »Eine doppelte Portion.«

Mögest du daran ersticken, dachte Jonesy, längst nicht mehr so hoffnungsfroh.

»Dann will ich den Ofen mal schüren«, sagte Darlene, eine Bemerkung, die Mr. Gray nicht verstand und auch nicht extra in Jonesys Akten nachschlug. Er gab zwei Tütchen Zucker in seinen Kaffee, schaute sich dann wieder um, dass auch niemand zusah, und schüttete sich den Inhalt einer dritten in den Rachen. Jonesys Augen schlössen sich schwelgerisch halb für ein paar Sekunden, während sich Mr. Gray dem Glück der Süße hingab.

Das kannst du haben, so oft du willst, sagte Jonesy durch die Tür. Jetzt glaubte er zu wissen, wie sich der Teufel gefühlt hatte, als er Jesus hoch hinauf geführt und ihn versucht hatte, indem er ihm die Reiche der Welt gezeigt hatte. Nicht gut; und auch nicht richtig schlecht; er tat nur seine Arbeit und verkaufte eben sein Produkt.

Außer dass ... na so was aber auch. Es fühlte sich durchaus gut an, denn er merkte, dass er zu ihm durchdrang. Er brachte ihn nicht unbedingt so richtig in Versuchung, setzte ihm aber durchaus zu. Löste ein sehnsüchtiges Prickeln bei ihm aus.

Gib es auf, beschwatzte ihn Jonesy. Werde ein Mensch. Dann kannst du für den Rest deines Lebens meine Sinne ausprobieren. Sie sind noch ziemlich scharf; ich bin noch keine vierzig.

Keine Antwort von Mr. Gray. Er schaute sich um, sah, dass niemand guckte, goss sich künstlichen Ahornsirup in den Kaffee, schlürfte ihn und sah sich dann schon nach seinem Bacon-Nachschlag um. Jonesy seufzte. Es kam ihm vor, als wäre er mit einem strenggläubigen Moslem unterwegs, den es im Urlaub irgendwie nach Las Vegas verschlagen hatte.

Am anderen Ende des Restaurants war ein Durchgang. Auf einem Schild darüber stand: truckers' lounge & duschen. In dem kurzen Flur dahinter hingen etliche Telefone, vor denen mehrere Fernfahrer standen und jetzt bestimmt ihren Frauen und Chefs erklärten, dass sie nicht pünktlich kämen, dass sie in Maine von einem überraschenden Sturm aufgehalten würden, dass sie im Dysart's Truck Stop (unter Kennern auch Dry Farts genannt, dachte Jonesy) südlich von Derry seien und dort wahrscheinlich mindestens noch bis morgen Mittag bleiben müssten.

Jonesy wandte sich von seinem Bürofenster mit dem Blick in die Raststätte zu seinem Schreibtisch, der nun mit seinem gewohnten Kram überhäuft war. Da war sein Telefon, das blaue Trimline. Wäre es möglich, Henry damit anzurufen? War Henry überhaupt noch am Leben? Jonesy glaubte schon. Er dachte, wenn Henry gestorben wäre, hätte er es in diesem Moment gespürt - vielleicht wäre es im Zimmer dunkler geworden. Elvis hat das Gebäude verlassen, hatte Biber oft gesagt, wenn er einen ihm bekannten Namen unter den Nachrufen erblickt hatte. So eine gekörn-te Scheiße. Jonesy glaubte nicht, dass Henry schon das Gebäude verlassen hatte. Vielleicht plante Henry sogar noch eine Zugabe.

8

Mr. Gray erstickte nicht an seinem zweiten Teller Bacon, aber als sich sein Unterbauch plötzlich zusammenkrampfte, brüllte er entsetzt auf. Du hast mich vergiftet!

Ganz ruhig, sagte Jonesy. Du musst nur ein wenig Platz schaffen, mein Freund.

Platz? Wie meinst-

Er verstummte, als ein weiterer Krampf seine Eingeweide packte.

Damit meine ich, dass wir jetzt besser mai ganz schnell für kleine Jungs gehen, sagte Jonesy. Meine Güte, habt ihr denn bei den ganzen Entführungen in den Sechzigern gar nichts über den menschliche Körper gelernt?

Darlene hatte die Rechnung liegen lassen, und Mr. Gray hob sie auf.

Lass ihr fünfzehn Prozent auf dem Tisch Hegen, sagte Jonesy. Das ist das Trinkgeld.

Wie viel ist fünfzehn Prozent?

Jonesy seufzte. Und das waren die Herren des Universums, die uns das Kino zu fürchten gelehrt hatte? Gnadenlose, raumfahrende Eroberer, die nicht mal wussten, wie man kacken ging oder ein Trinkgeld kalkulierte?

Wieder ein Krampf, dazu ein verhältnismäßig leiser Furz. Er roch, aber nicht nach Äther. Man muss sich auch über kleine Dinge freuen können, dachte Jonesy. Dann, an Mr. Gray gerichtet: Zeig mir die Rechnung.

Jonesy betrachtete durch sein Bürofenster den grünen Zettel. Lass einen Dollar fünfzig liegen. Und als Mr. Gray skeptisch wirkte: Das ist nur ein guter Rat von mir, mein Freund. Wenn du ihr mehr gibst, bleibst du ihr als spendabelster Gast des Abends in Erinnerung. Und wenn du ihr weniger gibst, bleibst du ihr als Geizkragen in Erinnerung.

Er spürte, wie Mr. Gray in Jonesys Daten die Bedeutung des Wortes »Geizkragen« nachschlug. Dann ließ er, ohne weiteren Kommentar, einen Dollarschein und zwei Vierteldollarmünzen auf dem Tisch liegen. Da das nun erledigt war, brach er zur Kasse auf, die sich auf dem Weg zur Herrentoilette befand.

Der Polizist verdrückte immer noch seinen Kuchen - er aß verdächtig langsam, fand Jonesy -, und als sie an ihm vorbeikamen, spürte Jonesy, wie sich Mr. Gray als Wesen (als immer menschlicheres Wesen) auflöste und ausströmte, um dem Polizisten in den Kopf zu spähen. Da draußen war jetzt nur noch die rotschwarze Wolke, die Jonesys diverse Lebenserhaltungssysteme steuerte.

Blitzschnell griff Jonesy zu dem Telefon auf seinem Schreibtisch. Für einen Moment wusste er nicht weiter.

Wähl einfach 1800 HENRY, dachte er.

Einen Moment lang hörte er nichts ... und dann fing es an irgendeinem anderen Ende an zu läuten.

9

»Petes Idee«, murmelte Henry.

Owen, der am Steuer des Hummer-Jeeps (er war monströs groß, und er war laut, aber er hatte extra breite Winterreifen und war so sturmfest wie die Queen Elizabeth II) saß, schaute zu ihm hinüber. Henry schlief. Die Brille war ihm auf die Nasenspitze gerutscht. Seine Augenlider, nun fein mit Byrus übertupft, zuckten, als sich die Augäpfel darunter bewegten. Henry träumte. Was träumt er wohl?, fragte sich Owen. Vermutlich konnte er in die Gedanken seines neuen

Partners spähen und es herausfinden, aber das erschien ihm pervers.

»Petes Idee«, sagte Henry wieder. »Pete hat sie gefunden.« Er seufzte, und es klang so erschöpft, dass er Owen Leid tat. Nein, beschloss er, er wollte nicht wissen, was in Henrys Kopf vor sich ging. Es war noch eine Stunde nach Derry, länger, wenn es weiter so stürmte. Es war besser, ihn schlafen zu lassen.

10

Hinter der Derry High School befindet sich der Football-Platz, auf dem Richie Grenadeau einst spielte, aber Richie liegt nun auch schon seit fünf Jahren in seinem Teenagerheldengrab, ein weiterer kleinstädtischer Autounfall-James-Dean. Andere Helden sind erstanden, haben ihre Pässe geworfen, sind weitergezogen. Und es ist jetzt sowieso keine Football-Saison. Es ist Frühsommer, und auf dem Platz sieht es aus, als hätten sich dort Vögel versammelt, große rote Vögel mit schwarzem Kopf. Diese mutierten Krähen sitzen da lachend und schwatzend auf ihren Klappstühlen, aber Mr. Trask, der Rektor, macht sich trotzdem ohne Schwierigkeiten verständlich; er steht am Podium einer behelfsmäßigen Bühne, und er hat das Mikrofon.

»Eins noch, ehe ihr gehen dürft!«, dröhnt er. »Ich werde Ihnen nicht verbieten, zum Abschluss Ihre Doktorhüte hochzuwerfen, denn ich weiß aus jahrelanger Erfahrung, dass ich da genauso gut gegen die Wand anreden könnte -« Gelächter, Jubel, Applaus.

»- aber ich sage Ihnen: HEBEN SIE SIE AUF UND GEBEN SIE SIE AB, SONST WERDEN SIE IHNEN IN RECHNUNG GESTELLT!«

Einige wenige Buhrufe und verächtliches Schnauben, am lautesten von Biber Clarendon.

Mr. Trask lässt noch ein letztes Mal den Blick über sie schweifen. »Meine jungen Damen und Herren aus dem Schuljahrgang 1982, ich denke, ich spreche für den gesamten Lehrkörper, wenn ich sage, dass ich stolz auf Sie bin. Damit ist die Abschlussfeier beendet, und... «

Alles Weitere wird übertönt, Lautsprecheranlage hin oder her; die roten Krähen erheben sich stürmisch unter Nylongeflatter, und dann fliegen sie. Morgen Mittag werden sie wirklich fliegen; und obwohl es die drei Krähen, die da lachend und pograpschend auf dem Weg zum Parkplatz sind, wo Henry seinen Wagen abgestellt hat, nicht ahnen, wird die Kindheitsphase ihrer Freundschaft in wenigen Stunden vorüber sein. Ihnen ist das nicht bewusst, und das ist wahrscheinlich auch besser so.

Jonesy schnappt sich Henrys Doktorhut, knallt ihn auf seinen eigenen und stürmt zum Parkplatz los.

»Ey, du Arsch, gib den wieder!«, brüllt Henry und nimmt dann Biber den Hut weg. Biber gackert wie ein Huhn und läuft lachend hinter Henry her. So rennen die drei hinter der Zuschauertribüne übers Gras, und die Roben flattern ihnen um die Jeans. Jonesy hat zwei Doktorhüte auf, deren Troddeln in entgegengesetzte Richtungen flattern, Henry trägt einen (der viel zu groß ist und ihm auf den Ohren hängt), und Biber ist barhäuptig, sein langes schwarzes Haar wallt, und der Zahnstocher ragt ihm aus dem Mund.

Jonesy schaut sich beim Laufen um, neckt Henry (»Komm doch, Mr. Basketball, du läufst ja wie ein Mädchen!«) und rennt dabei fast Pete über den Haufen, der da am Nordeingang des Parkplatzes steht und die verglaste Anschlagtafel betrachtet. Pete, der erst das erste High-School-Jahr hinter sich hat, packt Jonesy, neigt ihn nach hinten wie ein Typ, der mit einer hübschen Tussi Tango tanzt, und küsst ihn auf den Mund. Jonesy fallen beide Doktorhüte vom Kopf, und er schreit verblüfft auf.

»Schwuchtel!«, schreit Jonesy und reibt sich wie wild den

Mund ... fängt dann aber doch an zu lachen. Pete ist schon ein komischer Kauz - manchmal lebt er wochenlang still und genügsam vor sich hin wie Norman Normale, und dann legt er plötzlich los und stellt irgendwas Verrücktes an. Meistens passiert das erst nach ein paar Bier, aber nicht so heute Nachmittag.

»Das wollte ich schon immer mal tun, Gariella«, sagt Pete betont schmalzig. »Jetzt weißt du, was ich wirklich für dich empfinde.«

»Du blöder Schwuli, wenn du mich mit Syph angesteckt hast, bring ich dich um!«

Henry kommt dazu, hebt seinen Doktorhut vom Rasen auf und knallt Jonesy damit eine. »Da sind Grasflecken drauf«, sagt Henry. »Wenn ich dafür bezahlen muss, kriegst du noch ganz andere Küsse, Gariella.«

»Versprich nichts, was du nicht halten kannst, du Spa-cko«,sagtJonesy.

»Die hinreißende Gariella«, sagt Henry ganz feierlich.

Der Biber kommt angedampft, schnaufend, aber mit Zahnstocher im Mund. Er nimmt Jonesys Doktorhut, schaut hinein und sagt: »Da ist ein Wichsfleck drin. Kalte Bauern hab ich jede Menge auf meinem Laken; ich weiß, wie die aussehen.« Er holt tief Luft und grölt den davonziehenden Schulabgängern in ihren Roben in Derry-Rot zu: »Gary Jones wichst in seinen Doktorhut! Hey, hört mal alle her! Gary Jones wichst -«

Jonesy packt ihn und zerrt ihn zu Boden, und die beiden rollen in einem Knäuel aus rotem Nylon hin und her. Die Doktorhüte fliegen herum, und Henry hebt sie auf, damit sie nicht verknicken.

»Geh runter von mir!«, schreit Biber. »Du drückst mich platt! Heilige Filzlaus! Verdammt noch mal -«

»Eine Bekannte von Duddits«, sagt Pete. Er hat das Interesse an diesem Herumgealber verloren und ist sowieso nicht in der Hochstimmung wie die anderen (Pete ist vielleicht der

Einzige von ihnen, der ahnt, dass ihnen große Veränderungen bevorstehen). Er schaut wieder auf den Anschlag. »Wir kennen sie auch. Das war die, die immer vor der Behindi-Akademie stand. >Hi, Duddie<, hat sie immer gesagt.« Hi, Duddie sagt Pete mit hoher, mädchenhafter Stimme und in einem Ton, der eher süß als verächtlich wirkt. Und obwohl Pete kein guter Stimmenimitator ist, weiß Henry sofort, wen er meint. Er erinnert sich an das Mädchen, das volles blondes Haar und große braune Augen und verschrammte Knie und eine weiße Plastikhandtasche hatte, in der sie immer ihr Lunch und ihre BarbieKen mit sich herumtrug. So nannte sie die beiden: BarbieKen, als wären sie eins.

Jonesy und Biber wissen auch, wessen Stimme Pete da imitiert, und auch das weiß Henry. Zwischen ihnen besteht dieses geistige Band; das ist jetzt schon seit Jahren so. Zwischen ihnen und Duddits. Jonesy und Biber können sich genauso wenig wie Henry an den Namen des kleinen blonden Mädchens erinnern - nur dass sich ihr Nachname unglaublich klobig anhörte. Und dass sie in den Dudster verknallt war und deshalb immer vor der Behindi-Akademie auf ihn gewartet hat.

Die drei stellen sich in ihren Roben um Pete herum und gucken auf das Anschlagbrett.

Wie immer ist es gerammelt voll - Nachrichten über Kuchenbasare und Autowaschdienste, über die Proben zu der Community-Players-Inszenierung des Musicals The fanlas-tiks, über Sommerseminare in Fenster, dem örtlichen Junior College, und dazu jede Menge handschriftliche Kleinanzeigen der Schülerinnen und Schüler: Kaufgesuche, Angebote, suche nach der Abschlussfeier Mitfahrgelegenheit nach Boston, suche noch Mitbewohner in Providence.

Und ganz oben in der Ecke das Foto eines lächelnden Mädchens mit Unmengen blondem Haar (jetzt eher kraus als voll) und großen, leicht verwirrt blickenden Augen. Sie ist kein kleines Mädchen mehr - es erstaunt Henry immer wieder, wie die Kinder, mit denen er aufgewachsen ist (er selbst eingeschlossen) verschwunden sind -, aber diese dunklen, verwirrt dreinschauenden Augen würde er immer wieder erkennen.

VERMISST, steht in Blockbuchstaben unter dem Foto. Und darunter, in etwas kleinerer Schrift: josette rinkenhauer, ZULETZT GESEHEN AUF DEM SOFTBALL-PLATZ IM STRAWFORD park am 7. Juni 1982.. Darunter steht weiterer Text, aber Henry macht sich nicht die Mühe, ihn zu lesen. Vielmehr muss er daran denken, wie eigenartig das in Derry mit vermissten Kindern ist - ganz anders als in anderen Städten. Es ist der achte Juni, und die kleine Rinkenhauer ist also erst seit einem Tag verschwunden, und trotzdem hängt dieser Anschlag schon ganz oben am Schwarzen Brett (oder wurde dorthin verschoben), als wäre es eine Todesmeldung. Und das ist noch nicht alles. Heute Morgen stand nichts in der Zeitung - Henry weiß das, weil er sie gelesen hat. Na ja, überflogen, beim Schlürfen seiner Cornflakes. Vielleicht war es irgendwo hinten im Lokalteil begraben, denkt er und weiß sofort, dass das Schlüsselwort dabei »begraben« ist. Vieles in Derry ist begraben. Man redet beispielsweise nicht über verschwundene Kinder. Im Laufe der Jahre sind viele Kinder verschwunden - diese Jungs wissen das, und sie mussten an dem Tag, an dem sie Duddits Cavell kennen gelernt haben, sicherlich daran denken, aber niemand spricht groß darüber. Als wäre der Preis dafür, in einer so netten, ruhigen Stadt zu leben, dass gelegentlich ein Kind verschwindet. Bei diesem Gedanken verspürt Henry Widerwillen aufsteigen, der sich erst unter seine blöde gute Laune mischt und sie dann verdrängt. Und sie war auch süß mit ihrem BarbieKen. So süß wie Duddits. Er denkt daran, wie sie Duddits immer zu viert zur Schule gebracht haben - diese vielen Gänge -, und wie oft sie dann vor der Schule stand, Josie Rinkenhauer, mit ihren vernarbten Knien und ihrer großen Plastikhandtasche. »Hi, Duddie.« Sie war süß.

Und ist es immer noch, denkt Henry. Sie -

»Sie lebt noch«, sagt Biber tonlos. Er nimmt den zerkauten Zahnstocher aus dem Mund, betrachtet ihn und wirft ihn ins Gras. »Sie lebt noch und ist ganz in der Nähe, nicht wahr?«

»Ja«, sagt Pete. Er betrachtet das Bild immer noch fasziniert, und Henry weiß, was Pete denkt, und er denkt fast das Gleiche: Sie ist schon fast eine Erwachsene. Auch bei Josie, die in einer faireren Welt vielleicht Doug Cavells Freundin geworden wäre, ist das so. »Aber ich glaube, sie ... na ja ...«

»Sie steckt so richtig in der Scheiße«, sagt Jonesy. Er hat sich seine Robe ausgezogen und legt sie sich jetzt über den Arm.

»Sie steckt fest«, sagt Pete verträumt, immer noch das Bild betrachtend. Er hat angefangen, mit dem Finger zu pendeln.

»Wo?«, fragt Henry. Aber Pete schüttelt den Kopf. Und Jonesy auch.

»Fragen wir doch Duddits«, sagt Biber plötzlich. Und sie alle wissen, warum. Es wäre überflüssig, das zu diskutieren. Denn Duddits sieht die Linie. Duddits

11

»- sieht die Linie!«, rief Henry plötzlich und fuhr auf dem Beifahrersitz des Humvee hoch. Er jagte Owen, für den es nur noch den Sturm und die endlose Reihe der Rückstrahler gegeben hatte, die ihm bestätigten, dass er noch auf der Straße war, einen Mords-Schrecken ein. »Duddits sieht die Linie!«

Der Jeep brach aus und schlingerte, und dann bekam ihn Owen wieder unter Kontrolle. »Ey, Mann!«, sagte Owen. »Sag beim nächsten Mal vorher Bescheid, wenn du an die Decke gehst, ja?«

Henry fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht, atmete tief ein und wieder aus. »Ich weiß, wo wir hinfahren und was wir tun müssen -«

»Das ist schön —«

»- aber vorher muss ich dir eine Geschichte erzählen, damit du das verstehst.«

Owen schaute kurz zu ihm hinüber. »Verstehst du es denn ?«

»Nicht alles, aber schon mehr als früher.«

»Dann los. Wir brauchen noch eine Stunde nach Derry. Reicht das?«

Henry dachte, es wäre mehr als genug Zeit, vor allem, wenn sie sich telepathisch unterhielten. Er fing mit dem Anfang an - dem, was er jetzt als Anfang auffasste. Nicht mit der Ankunft der Grauen, nicht mit dem Byrus oder den Wieseln, sondern mit vier Jungs, die gehofft hatten, ein Foto der Homecoming Queen zu sehen, wie sie ihren Rock lüpfte. Während Owen fuhr, tauchten eine Reihe miteinander in Verbindung stehender Bilder vor seinem geistigen Auge auf; es war eher wie ein Traum als wie ein Film. Henry erzählte ihm von Duddits, von ihrem ersten Jagdausflug und wie Biber gekotzt hatte. Er erzählte Owen von ihren Schulwegen und von der Duddits-Variante des Spiels: sie spielten, und Duddits steckte die Stifte weiter. Er erzählte, wie sie Duddits mitgenommen hatten, damit er den Weihnachtsmann sah -das war echt ein Brüller gewesen. Und davon, wie sie an dem Tag, an dem die drei großen Jungs von der High School abgingen, Josie Rinkenhauers Bild am Anschlagbrett gesehen hatten. Owen sah sie in Henrys Wagen zu Duddits nach Hause in die Maple Lane fahren, die Roben und Doktorhüte auf der Rückbank aufgehäuft; sah sie hallo sagen zu Mr. und Mrs. Cavell, die mit einem fahlgesichtigen Mann in einem Overall der Gaswerke von Derry und einer weinenden Frau im Wohnzimmer saßen - Roberta Cavell hat Ellen Rinkenhauer einen Arm um die Schultern gelegt und sagt ihr, es werde alles gut werden, Gott werde bestimmt nicht zulassen, dass ihrer lieben kleinen Josie etwas zustößt.

Ist das stark, dachte Owen verträumt. Mann, hat der Kerl telepathische Kräfte. Wie kann das sein?

Die Cavells schauen die Jungs kaum an, so häufig sind sie hier in der Maple Lane Nr. 19 zu Besuch, und die Rinkenhauers sind zu entsetzt, um sie auch nur zu bemerken. Sie haben den Kaffee nicht angerührt, den Roberta gebracht hat. Er ist auf seinem Zimmer, Jungs, sagt Alfie Cavell und lächelt ihnen matt zu. Und Duddits schaut sofort von seinen G. I.-Joe-Figuren hoch - er hat sie alle - und steht auf, als er sie an der Tür sieht. Duddits trägt in seinem Zimmer nie Schuhe, nur die Häschen-Pantoffeln, die Henry ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hat - er liebt diese Häschen-Pantoffeln, wird darin herumlaufen, bis sie nur noch mit Klebeband notdürftig zusammengehaltene rosa Fetzen sein werden -, aber jetzt hat er Schuhe an. Er hat sie schon erwartet, und obwohl sein Lächeln so heiter ist wie immer, blickt er auch ernst. Oh ehn wie hin?, fragt Duddits - Wo gehen wir hin? Und -

»Ihr wart alle so?«, flüstert Owen. Er nimmt an, dass Henry ihm das schon erzählt hat, aber bisher hatte Owen nicht verstanden, was Henry damit meinte. »Auch früher schon?« Er berührte die Seite seines Gesichts, wo nun an seiner Wange ein dünner Byrus-Flaum hinunterwuchs.

»Ja. Nein. Keine Ahnung. Sei mal still, Owen. Hör zu.«

Und Owens Kopf füllte sich wieder mit den Bildern von 1982.

12

Als sie im Strawford Park ankommen, ist es schon halb fünf, und auf dem Softball-Platz spielen ein paar Mädchen mit gelben derry HARDWARE-Trikots, und sie alle haben ihr

Haar zu fast gleich langen Pferdeschwänzen gebunden und hinten durch die Schlaufen ihrer Basketballkappen gefädelt. Die meisten von ihnen tragen Zahnspangen. »Meine Güte, spielen die eine Grütze zusammen«, sagt Pete, und das stimmt vielleicht sogar, aber es macht ihnen eindeutig eine Menge Spaß. Henry hingegen ist gar nicht nach Spaß zu Mute, er hat Schmetterlinge im Bauch und ist froh, dass wenigstens Jonesy ähnlich ernst und ängstlich aussieht. Pete und Biber haben nicht besonders viel Fantasie; er und die gute alte Gariella haben zu viel davon. Für Pete und den Biber ist das hier ein Abenteuer wie in einem Kinderbuch. Für Henry ist es etwas anderes. Es wäre schlimm, wenn sie Josie Rinkenhauer nicht finden (denn sie können sie finden, das weiß er), aber wenn sie sie nur noch tot finden ...

»Biber«, sagt er.

Biber hat den Mädchen zugesehen. Er wendet sich zu Henry um. »Was?«

»Meinst du immer noch, dass sie am Leben ist?«

»Ich ...« Bibers Lächeln verblasst, und er sieht bekümmert aus. »Ich weiß nicht, Mann. Pete?«

Aber Pete schüttelt den Kopf. »Das habe ich vorhin in der Schule gedacht - Mann, es war echt, als hätte dieses Bild zu mir gesprochen -, aber jetzt...« Er zuckt die Achseln.

Henry sieht Jonesy an, der ebenfalls mit den Achseln zuckt und dann die Hände spreizt: Keine Ahnung. Also wendet sich Henry an Duddits.

Duddits schaut sich alles durch das an, was er seine üble Ille nennt, seine coole Brille - eine silbern verspiegelte Rund-um-Sonnenbrille. Henry findet, dass Duddits mit seiner uhln Ille aussieht wie Ray Walston in Mein Onkel vom Mars, würde Duds so etwas aber nie sagen oder in seinem Beisein denken. Dann hält Duds auch noch Bibers Doktorhut; besonders gern pustet er die Troddel hin und her.

Duddits verfügt über keine selektive Wahrnehmung; für ihn sind der Penner, der drüben bei den Glascontainern nach

Pfandflaschen und Dosen sucht, die Softball spielenden Mädchen und die auf den Ästen der Bäume herumflitzenden Eichhörnchen gleichermaßen faszinierend. Das ist auch so etwas, das ihn auszeichnet. »Duddits«, sagt Henry, »erinnerst du dich an dieses Mädchen, mit dem du auf die Sonderschule gegangen bist? An Josie? Josie Rinkenhauer?«

Duddits guckt auf höfliche Weise interessiert, weil sein Freund Henry mit ihm spricht, aber den Namen erkennt er nicht, und wie sollte er auch? Duddits kann sich nicht mal erinnern, was er zum Frühstück gegessen hat - wie soll er sich da an ein kleines Mädchen erinnern, mit dem er drei oder vier Jahre zuvor zur Schule gegangen ist? Henry spürt eine gewisse Hoffnungslosigkeit in sich aufsteigen, die seltsamerweise mit Belustigung vermengt ist. Was hatten sie sich da bloß eingebildet?

»Josie«, sagt Pete und schaut dabei auch nicht sehr hoffnungsfroh. »Wir haben dich damit geneckt, dass sie deine Freundin war, weißt du noch? Sie hat braune Augen ... den ganzen Kopf voll blondes Haar ... und ...« Er seufzt empört. »Mist.«

»Säbe Scheise, anner Tach«, sagt Duddits, denn das entlockt ihnen normalerweise ein Lächeln: Selbe Scheiße, anderer Tag. Es funktioniert nicht, also probiert es Duddits mit etwas anderem: »Ein Rail, ein lehl.«

»Stimmt«, sagt Jonesy. »Kein Prall, kein Spiel. Das stimmt. Wir können ihn eigentlich auch nach Hause bringen, Jungs, denn das bringt hier -«

»Nein«, sagt Biber, und sie sehen ihn alle an. Bibers Blick ist strahlend und bekümmert zugleich. Er kaut so schnell und kräftig an dem Zahnstocher, dass der wie der Kolben eines Motors zwischen seinen Lippen auf und ab fährt. »Traumfänger«, sagt er.

»Traumfänger?«, fragte Owen. Seine Stimme schien, auch für ihn selbst, wie aus weiter Ferne zu kommen. Das Scheinwerferlicht des Humvee strich über die endlose Schneewüste vor ihnen, die nur durch die Reihe der gelben Rückstrahler Ähnlichkeiten mit einer Straße hatte. Traumfänger, dachte er, und wiederum füllte sich sein Kopf mit Henrys Vergangenheit, wurde er fast überwältigt von den Bildern und Geräuschen und Gerüchen dieses Frühsommertags: Traumfänger.

14

»Traumfänger«, sagt Biber, und sie verstehen einander auf Anhieb, wie das bei ihnen manchmal so ist, wie es ihrer (irrigen, wie Henry später erkennt) Meinung nach bei allen Freunden ist. Obwohl sie nie ausdrücklich über den Traum gesprochen haben, den sie alle gemeinsam während ihres ersten Jagdausflugs geträumt haben, wissen sie, dass Biber glaubt, er wäre irgendwie durch Lamars Traumfänger ausgelöst worden. Keiner hat je versucht, ihm das auszureden, zum einen, weil sie Biber nicht den Glauben an dieses harmlose Spinnennetz aus Schnüren rauben möchten, und zum anderen, weil sie gar nicht über diesen Tag reden wollen. Aber jetzt sehen sie alle ein, dass Biber damit doch wenigstens halbwegs Recht hat. Tatsächlich verbindet sie ein Traumfänger, aber es ist nicht Lamars.

Duddits ist ihr Traumfänger.

»Los«, sagt Biber ganz ruhig. »Los, Jungs, keine Bange. Fasst ihn an.«

Und das tun sie, obwohl sie Angst haben - ein bisschen jedenfalls; auch Biber.

Jonesy nimmt Duddits' rechte Hand, die so gut mit Maschinen umgehen kann, seit er auf der Berufsschule ist. Duddits guckt erstaunt, lächelt dann und schließt seine Finger um Jonesys. Pete nimmt Duddits' linke Hand. Biber und Henry kommen hinzu und legen Duddits ihre Arme um die Taille.

Und so stehen die fünf da unter einer riesigen alten Eiche im Strawford Park, auf ihren Gesichtern Tupfer von Laubschatten und Junilicht. Sie sind wie Jungs, die vor einem wichtigen Spiel die Köpfe zusammenstecken. Die Softball spielenden Mädchen in ihren leuchtend gelben Trikots achten ebenso wenig auf sie wie die Eichhörnchen oder der fleißige Pennbruder, der sich da, Limobüchse um Limobüchse, eine Flasche für den Abend erarbeitet.

Henry spürt das Licht, das sich allmählich in ihm ausbreitet, und erkennt, dass seine Freunde und er dieses Licht selbst sind; sie erschaffen es gemeinsam, dieses liebliche Flackern von Licht und grünen Schatten, und Duddits strahlt von allen am hellsten. Er ist ihr Ball; ohne ihn gibt es keinen Prall und kein Spiel. Er ist ihr Traumfänger, er vereint sie. Henrys wird das Herz voll wie nie wieder im Leben (und die Leere, die das hinterlässt, wird, je mehr Jahre sich rundherum aufhäufen, größer und dunkler werden), und er denkt: Geht es darum, ein verschwundenes geistig behindertes Mädchen zu finden, das wahrscheinlich nur seinen Eitern etwas bedeutet? Ging es darum, einen hirnlosen Schlägertyp umzubringen, sich zusammenzutun, um ihn irgendwie von der Straße abkommen zu lassen, und das, um Gottes willen, auch noch im Schlaf? Kann das alles sein? Etwas so Großartiges, so Wunderbares, und dann wird es für so lächerlich geringe Zwecke eingesetzt? Kann das alles sein?

Denn wenn dem so ist - das denkt er sogar noch in der

Ekstase ihrer Vereinigung -, was nützt es dann? Welche Be

deutung konnte es dann überhaupt haben?

Dann wird das und alles Denken von der Wucht dieser

Erfahrung beiseite gedrängt. Josie Rinkenhauers Gesicht ersteht vor ihnen, ein sich ständig wandelndes Bild, das sich zunächst aus vier unterschiedlichen Arten, sie zu sehen und sich an sie zu erinnern, zusammensetzt... und dann auch aus einer fünften, als Duddits versteht, um wen sie da so ein Theater machen.

Als sich Duddits einschaltet, wird das Bild hundertmal heller und schärfer. Henry hört jemanden - Jonesy - keuchen, und er selbst würde auch keuchen, wenn er noch die Puste dazu hätte. Denn Duddits mag ja in mancher Hinsicht behindert sein, aber in dieser ist er es nicht; in dieser Hinsicht sind sie die armen, unbeholfenen Idioten und ist Duddits das Genie.

»O mein Gott«, hört Henry Biber rufen, und in seiner Stimme liegt sowohl Verzückung als auch Bestürzung.

Denn Josie steht hier bei ihnen. Ihre unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich ihres Alters haben sie in ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren verwandelt, älter als sie war, als sie ihr zum ersten Mal begegnet sind und sie vor der Behindi-Akademie wartete, und sicherlich jünger, als sie jetzt ist. Sie haben sich auf ein Matrosenkostüm unbestimmter Farbe geeinigt, das abwechselnd blau, lila und rot und dann wieder lila und blau ist. Sie hält ihre große Plastikhandtasche, aus der oben BarbieKen hervorschauen, und ihre Knie sind ausgiebig verschorft. Marienkäfer-Ohrringe erscheinen unter ihren Ohrläppchen und verschwinden wieder, und Henry denkt: Ach ja, an die kann ich mich erinnern, und dann bleiben sie.

Sie macht den Mund auf und sagt: Hi, Duddie. Sieht sich um und sagt: Hallo, Jungs.

Und dann, einfach so, ist sie futsch. Plötzlich sind sie wieder zu fünft und nicht mehr zu sechst, fünf große Jungs, die unter einer alten Eiche stehen, Junilicht im Gesicht und die aufgeregten Rufe der Softball spielenden Mädchen in den Ohren. Pete weint. Jonesy auch. Der Penner ist verschwunden - er hat anscheinend genug gesammelt für seine Flasche -, und stattdessen ist jetzt ein anderer Mann da, ein ernst blickender Mann, der trotz der Wärme eine Winterjacke trägt. Seine linke Wange ist mit etwas Rotem überzogen, das ein Muttermal sein könnte, aber Henry weiß, dass es etwas anderes ist. Es ist der By-rus. Owen Underhill ist zu ihnen in den Strawford Park gekommen und sieht ihnen zu, aber das macht weiter nichts; nur Henry kann diesen Besucher von der anderen Seite des Traumfängers sehen.

Duddits lächelt, schaut aber auch verwirrt angesichts der Tränen auf den Wangen seiner Freunde, »le-oh eint ich?«, fragt er Jonesy - wieso weint ihr?

»Das ist jetzt egal«, sagt Jonesy. Als er Duddits' Hand loslässt, löst sich die Verbindung endgültig auf. Jonesy fährt sich mit der Hand übers Gesicht; Pete auch. Biber lacht seufzend auf.

»Ich glaube, ich habe meinen Zahnstocher verschluckt«, sagt er.

»Nein, da ist er doch, du Blödel«, sagt Henry und zeigt ins Gras, wo der zerkaute Zahnstocher liegt.

»Osi finn'n?«, fragt Duddits.

»Kannst du das, Duds?«, fragt Henry.

Duddits geht in Richtung Softball-Platz, und sie folgen ihm in respektvollem Abstand. Duds geht genau an Owen vorbei, sieht ihn aber natürlich nicht; für Duds gibt es keinen Owen Underhill, zumindest noch nicht. Er geht an der Zuschauertribüne vorbei, geht am dritten Mal vorbei, geht an der kleinen Snackbar vorbei. Dann bleibt er stehen.

Hinter ihm schnappt Pete nach Luft.

Duddits dreht sich um und sieht ihn an, putzmunter und interessiert, fast lachend. Pete streckt einen Finger aus, pendelt damit und sieht an dem sich bewegenden Finger vorbei zu Boden. Henry folgt seinem Blick und meint für einen Moment, etwas zu sehen - einen hellgelben Fleck auf dem Gras, der aussieht wie Farbe -, und dann ist das wieder ver

schwunden. Da ist nur noch Pete, der macht, was er immer macht, wenn er seine spezielle Gedächtnis-Gabe einsetzt.

»lehs-u ie lenje, let?«, erkundigt sich Duddits auf eine väterliche Art, die Henry zum Lachen reizt - Siehst du die Linie, Pete?

»Ja«, sagt Pete und macht große Augen. »Ja, ich sehe sie.« Er sieht zu den anderen hoch. »Sie war hier, Jungs! Sie war genau hier!«

Sie gehen quer durch den Strawford Park und folgen einer Linie, die nur Duddits und Pete sehen können, während ein Mann, den nur Henry sehen kann, ihnen folgt. Am nördlichen Ende des Parks ist ein klappriger Bretterzaun mit einem Schild daran: D.B. & A.R.R. Gelände - Zutritt verboten! Die Kinder ignorieren dieses Schild seit Jahren, und Jahre ist es auch her, dass die Derry, Bangor and Aroostook Railroad tatsächlich Güterzüge auf diesem Nebengleis durch die Barrens geleitet hat. Sie sehen die Gleise, als sie sich durch eine Lücke im Zaun zwängen; sie schimmern da unten am Fuß der Böschung rostig im Sonnenschein.

Die Böschung ist steil und überwuchert mit Giftsumach und Giftefeu, und auf halber Strecke finden sie Josie Rinkenhauers große Plastikhandtasche. Sie ist jetzt alt und ramponiert und an mehreren Stellen mit Isolierband geflickt, aber Henry würde diese Handtasche jederzeit wieder erkennen.

Duddits macht sich froh darüber her, reißt sie auf und schaut hinein. »ArbiehEn!«, verkündet er und zieht sie heraus. Pete hat währenddessen vorgebeugt weiter gestöbert und blickt dabei ernst wie Sherlock Holmes, der Professor Moriarty auf der Spur ist. Und es ist Pete Moore, der sie dann tatsächlich findet, sich von einem schmutzigen Betonabflussrohr, das an der Böschung aus den Pflanzen ragt, wild zu den anderen umsieht. »Sie ist da drin!«, schreit Pete ekstatisch.

Von seinen leuchtenden Wangen abgesehen, ist sein Gesicht so weiß wie Papier. »Jungs, ich glaube, sie ist da drin!«

Es gibt ein altes und unglaublich weit verzweigtes System von Abwasserrohren unter Derry, einer Stadt, die auf einem ehemaligen Sumpfgebiet erbaut wurde, das selbst die Mic-mac-Indianer gemieden haben, die sonst früher hier in der ganzen Gegend siedelten. Diese Kanalisation wurde größtenteils in den Dreißigerjahren mit New-Deal-Geld erbaut, und das meiste davon wird 1985 bei dem großen Sturm zerstört werden, der die ganze Stadt überfluten und den Wasserturm vernichten wird. Jetzt aber sind die Rohre noch intakt. Dieses hier bohrt sich schräg in den Hügel. Josie Rinkenhauer hat sich hineingewagt, ist gestürzt und dann auf fünfzig Jahrgängen Laub in die Tiefe geschlittert. Sie ist wie auf einer Kinderrutsche hinabgeglitten und liegt nun dort am Grund. Sie ist erschöpft von den Versuchen, die schmierige, keinen Halt bietende Steigung wieder hochzuklettern, hat die zwei, drei Kekse gegessen, die sie in der Hosentasche hatte, und liegt nun seit unzähligen Stunden - zwölf, vielleicht auch vierzehn - nur einfach so da in der stinkenden Finsternis, lauscht dem fernen Gesumm der Außenwelt, zu der sie nicht Vordringen kann, und wartet auf den Tod.

Auf das Geräusch von Petes Stimme hin hebt sie jetzt den Kopf und ruft mit aller Kraft, die ihr noch geblieben ist: »Hilf mir! Ich kann hier nicht raus! Bitte hilf mir!«

Ihnen kommt nie in den Sinn, dass sie einen Erwachsenen holen sollten - Officer Neu etwa, der in ihrer Nachbarschaft immer Streife fährt. Sie denken nur noch daran, sie da rauszuholen; sie sind jetzt für sie verantwortlich. Sie lassen Duddits nicht mitmachen, so viel gesunden Menschenverstand bringen sie eben noch auf, aber die anderen bilden, ohne groß darüber zu diskutieren, eine Kette hinab in die Dunkelheit: Pete voran, dann der Biber, dann Henry, dann Jonesy, der Schwerste, als ihr Anker.

Auf diese Weise kriechen sie in die nach Abwasser stinkende Dunkelheit hinab (es stinkt hier auch noch nach etwas anderem, nach etwas Altem, unfassbar Widerlichem), und ehe er drei Meter weit gekommen ist, findet Pete einen von Josies Turnschuhen im Schlamm. Er stopft ihn sich in die Gesäßtasche seiner Jeans.

Ein paar Sekunden später ruft er nach hinten: »Hey! Stopp!«

Das Weinen und die Hilferufe des Mädchens sind jetzt sehr laut, und Pete kann sie jetzt tatsächlich am Grund der mit Laub übersäten Schräge sitzen sehen. Sie späht zu ihnen hoch; ihr Gesicht ist ein schmutzig weißer Kreis in der Düsternis.

Sie dehnen ihre Kette weiter aus und sind dabei, trotz der ganzen Aufregung, so vorsichtig, wie sie nur können. Jonesy stützt sich mit dem Füßen an einem großen, herausgebrochenen Betonbrocken ab. Josie hebt die Hände ... reckt sie ... und bekommt Petes ausgestreckte Hand doch nicht ganz zu fassen. Als es schon so aussieht, als müssten sie sich geschlagen geben, kraxelt sie noch ein kleines Stückchen höher. Pete packt ihr zerkratztes, schmutziges Handgelenk.

»Yeah!«, schreit er triumphierend. »Ich hab sie!«

Sie ziehen sie vorsichtig aus dem Rohr heraus. Draußen wartet Duddits, hält ihre Handtasche in der einen und die beiden Puppen in der anderen Hand und ruft Josie zu, sie solle sich keine Sorgen machen, er habe BarbieKen. Da ist der Sonnenschein und die frische Luft, und als sie ihr aus dem Rohr helfen -

15

Es gab im Humvee kein Telefon - ein Funkgerät, aber kein Telefon. Trotzdem läutete laut ein Telefon, zerriss den Strom lebhafter Erinnerungen, die Henry Owen mitgeteilt hatte, und jagte ihnen beiden einen Heidenschrecken ein.

Owen zuckte zusammen, als wäre er aus dem Tiefschlaf erwacht, und der Humvee verlor seine ohnehin nur schlechte Straßenhaftung, geriet erst ins Schlingern und drehte sich dann langsam und schwerfällig wie ein tanzender Dinosaurier.

» Verdammte Scheiße -«

Er versuchte, wieder in die Fahrspur zu lenken. Das Lenkrad ließ sich mit unguter Leichtigkeit drehen, so wie das Steuer einer Segelyacht, die ihr Ruder verloren hat. Der Humvee fuhr rückwärts die einzige glatte Fahrspur entlang, die in südliche Richtung auf dem Interstate Highway 95 noch übrig war, und landete schließlich schräg im Schneewall auf dem Mittelstreifen, und die Scheinwerfer warfen schneeflockige Lichtkegel in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Erring! Erring! Erring! Aus dem Nichts.

Das ist in meinem Kopf, dachte Owen. Ich projiziere es, aber ich glaube, es ist eigentlich in meinem Kopf. Das ist wieder die verdammte Tele—

Auf dem Sitz zwischen ihnen lag eine Pistole, eine Glock. Henry nahm sie hoch, und in diesem Moment hörte es auf zu klingeln. Er hielt sich die Mündung der Pistole ans Ohr, ohne dabei den Abzug zu berühren.

Na klar, dachte Owen. Was denn auch sonst? Da ruft jemand auf der Glock an, weiter nichts. Passiert ja alle Tage.

»Hallo«, sagte Henry. Owen konnte die Erwiderung nicht hören, aber das müde Gesicht seines Begleiters heiterte sich auf, und er grinste. »Jonesy! Ich hab gewusst, dass du das bist!«

Wer hätte es denn auch sonst sein sollen?, fragte sich Owen. Oprah Winfrey?

»Wo -«

Er lauschte.

»Wollte er zu Duddits, Jonesy? Ist er deshalb ...«Er hörte

wieder zu. Dann: »Der Wasserturm? Aber wieso ... Jonesy? Jonesy?«

Henry hielt sich die Pistole noch für einen Moment an den Kopf und betrachtete sie dann, anscheinend ohne sich im Klaren zu sein, was er da eigentlich in der Hand hatte. Er legte sie wieder auf den Sitz. Das Lächeln war verschwunden.

»Er hat aufgelegt. Ich glaube, der andere ist wiedergekommen. Mr. Gray nennt er ihn.«

»Dein Kumpel ist am Leben, aber du siehst nicht so erfreut darüber aus.« Es waren Henrys Gedanken, die darüber nicht froh waren, aber es war nicht mehr nötig, darauf hinzuweisen. Erst war er froh gewesen, wie man immer froh ist, wenn jemand, den man mochte, mal auf der Glock durchklingelte, aber jetzt war er nicht mehr froh. Warum?

»Er - sie - sind südlich von Derry. Sie haben an einer Raststätte gehalten, um etwas zu essen. Der Laden heißt Dysart's ... Jonesy hat es Dry Farts genannt, wie früher, als wir Kinder waren. Ich glaube, er hat das gar nicht gemerkt. Er klang verängstigt.«

»Angst um sich? Um uns?«

Henry sah Owen niedergeschlagen an. »Er hat gesagt, er befürchtet, dass Mr. Gray einen Polizisten umbringen und seinen Streifenwagen klauen will. Ich glaube, das war es im Grunde. Mist.« Henry schlug sich mit der Faust aufs Bein. »Aber er ist am Leben.«

»Ja«, sagte Henry wenig begeistert. »Er ist immun. Duddits ... verstehst du das jetzt mit Duddits?«

Nein. Und ich bezweifle auch, dass du das verstehst, Henry ... aber vielleicht verstehe ich ja genug.

Henry verfiel auch in Gedankensprache - es war einfacher. Duddits hat uns verändert. Das Zusammensein mit Duddits hat uns verändert. Als Jonesy dann in Cambridge angefahren wurde, hat ihn das noch mal verändert. Bei Menschen, die Nah-Todeserfahrungen machen, ändern sich oft die Gehirnwellen, das habe ich erst letztes Jahr wieder in einem Artikel in Lancet gelesen. Für Jonesy muss das wohl bedeuten, dass ihn dieser Mr. Gray benutzen kann, ohne ihn anzustecken oder fertig zu machen. Und genau das verhindert auch, dass er assimiliert wird, wenigstens vorläufig. »Assimiliert?«

Geschluckt. Verschlungen. Dann laut: »Kriegst du uns aus dieser Schneewehe raus?«

Klar.

»Das habe ich befürchtet«, sagte Henry bedrückt.

Owen drehte sich zu ihm um, das Gesicht grünlich gelb vom Licht der Instrumente. »Was ist denn los mit dir?«

Mann, verstehst du denn nicht? Auf wie viele Arten muss ich dir das denn noch sagen? »Er ist immer noch da drinl Jonesy!«

Zum dritten oder vierten Mal, seit er mit Henry auf der Flucht war, musste Owen die Lücke überbrücken zwischen dem, was sein Kopf und dem, was sein Herz wusste. »Oh. Ich verstehe.« Er hielt inne. »Er ist am Leben. Er denkt und ist lebendig. Er telefoniert sogar.« Er hielt wieder inne. »O Gott.«

Owen versuchte es mit dem Hummer-Jeep im ersten Gang vorwärts und kam etwa zehn Zentimeter weit, ehe alle vier Räder durchdrehten. Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr zurück in den Schneewall - Crunch. Aber das Heck des Wagens hob sich etwas auf dem festgepappten Schnee, und das hatte Owen beabsichtigt. Wenn er jetzt wieder einen Vorwärtsgang einlegte, würden sie aus dem Schneewall flutschen wie ein Korken aus einer Flasche. Aber er wartete noch einen Moment lang mit durchgetretenem Bremspedal. Der Humvee hatte einen lauten, kräftigen Leerlauf, der das ganze Chassis vibrieren ließ. Draußen toste und heulte der Wind und jagte Schneeschleier über den verlassenen Highway. »Dir ist doch klar, was wir dann tun müssen, oder?«, fragte Owen. »Immer mal vorausgesetzt, dass wir ihn überhaupt kriegen. Denn wie auch immer die Einzelheiten aussehen - im Grunde hat er ja doch wohl vor, alles zu verseuchen. Und wenn man das mathematisch sieht -«

»Ich kann selber rechnen«, sagte Henry. »Sechs Milliarden Menschen auf dem Raumschiff Erde gegen den einen Jonesy.«

»Ja, das sind die Zahlen.«

»Zahlen können täuschen«, sagte Henry. Aber es klang niedergeschlagen. Ab einer gewissen Größenordnung konnten Zahlen nicht mehr täuschen. Und sechs Milliarden war eine ziemlich große Zahl.

Owen ließ die Bremse los und trat aufs Gas. Der Humvee rollte vorwärts - diesmal gut einen Meter -, und die Räder fingen wieder an durchzudrehen, fanden dann aber Halt, und der Wagen kam brüllend wie ein Dinosaurier aus dem Schneewall hervor. Owen lenkte nach Süden.

Erzähl mir, was passiert ist, nachdem ihr das Mädchen aus dem Abwasserrohr gezogen hattet.

Ehe Henry anfangen konnte, meldete sich das unter dem Armaturenbrett angebrachte Funkgerät. Die Stimme erklang laut und deutlich - derjenige hätte auch bei ihnen hier im Wagen sitzen können.

»Owen? Sind Sie da, Bursche?«

Kurtz.

16

Sie brauchten fast eine Stunde für die ersten sechzehn Meilen von der Blue Base (der ehemaligen Blue Base) in Richtung Süden, aber das bereitete Kurtz kein Kopfzerbrechen. Gott würde sie nicht im Stich lassen, da war er ganz sicher.

Freddy Johnson saß am Steuer (das lustige Quartett befand sich ebenfalls in einem schneetauglichen Humvee). Perlmutter saß auf dem Beifahrersitz und war mit Handschellen an den Türgriff gefesselt. Cambry war hinten auch entsprechend festgebunden. Kurtz saß hinter Freddy, Cambry hinter Pearly. Kurtz fragte sich, ob sich seine beiden zum Mitfahren gezwungenen Bürschchen auf telepathischem Wege gegen ihn verschworen. Wenn dem so war, würde es ihnen nicht viel nützen. Kurtz und Freddy hatten ihre Fenster heruntergekurbelt, obwohl es im Humvee nun kälter wurde als auf der unbeheizten Außentoilette einer Südpolstation; die Heizung lief auf Volltouren, kam aber einfach nicht nach. Doch die Fenster mussten unbedingt offen bleiben. Andernfalls wäre die Atmosphäre im Humvee bald so lebensfeindlich geworden wie in einer mit Grubengas erfüllten Zeche. Vorrangig stank es nach Äther, dann nach Schwefel. Größtenteils schien es von Perlmutter auszugehen. Er rutschte ständig auf dem Sitz hin und her und stöhnte immer wieder verhalten. Cambry hatte sich schwer mit Ripley angesteckt, und es wuchs auf ihm wie ein Kornfeld nach einem Mairegen, und auch von ihm ging dieser Geruch aus -das bekam Kurtz trotz seiner Atemmaske mit. Aber Pearly war der Hauptschuldige, wie er da auf seinem Sitz hin und her rutschte und versuchte, geräuschlos zu furzen (Arschbackentango hatten sie solche Manöver in den trüben Zeiten von Kurtz' Kindheit genannt) und so zu tun, als würde dieser erstickende Gestank nicht von ihm ausgehen. In Gene Cambry wuchs der Ripley, und Kurtz hatte so die Ahnung, dass in Pearly, Gott stehe ihm bei, noch etwas ganz anderes wuchs.

So gut er konnte, verbarg Kurtz diese Gedanken hinter seinem eigenen Mantra: Davis und Roberts, Davis und Roberts, Davis und Roberts.

»Würden Sie bitte damit aufhören?«, bat Cambry Kurtz von rechts. »Das macht mich wahnsinnig.«

»Mich auch«, sagte Perlmutter. Er setzte sich anders hin, und ihm entwich ein leises Pffft. Es hörte sich wie ein Gummispielzeug an, dem die Luft ausging.

»Oh, Mann, Pearly!«, rief Freddy. Er kurbelte sein Fenster weiter runter und ließ Schnee und einen kalten Windstoß herein. Der Humvee schlitterte, und Kurtz hielt sich fest, doch dann fand der Wagen wieder Halt. »Würden Sie dieses Anal-Parfum bitte für sich behalten?«

»Verzeihung«, sagte Perlmutter steif. »Wenn Sie unterstellen, ich hätte einen Wind streichen lassen, dann muss ich Ihnen sagen -«

»Ich unterstelle gar nichts«, sagte Freddy. »Ich sage Ihnen, Sie sollen aufhören, uns vollzustänkern, oder -«

Da es keinen befriedigenden Abschluss für diese Drohung geben konnte - vorläufig brauchten sie zwei Telepathen, einen als Primärquelle und einen als Reserve -, fiel ihm Kurtz ins Wort: »Die Geschichte von Edward Davis und Franklin Roberts ist sehr lehrreich, denn sie zeigt, dass es wirklich nichts Neues unter der Sonne gibt. Das hat sich in Kansas zugetragen, damals, als Kansas wirklich noch Kansas war ...«

Kurtz, ein recht guter Geschichtenerzähler, nahm sie mit zurück nach Kansas und in die Zeit des Koreakriegs. Ed Davis und Franklin Roberts hatten in der Nähe von Emporia ganz ähnliche kleine Farmen betrieben, nicht weit von der Farm, die Kurtz' Familie gehörte (die damals natürlich nicht Kurtz hieß). Davis, bei dem schon immer eine Schraube locker gewesen war, hatte sich immer mehr in den Glauben hineingesteigert, sein Nachbar Roberts, den er nicht ausstehen konnte, sei darauf aus, ihm seine Farm wegzunehmen. Roberts verbreite in der Stadt Geschichten über ihn, behauptete Ed Davis. Roberts vergifte ihm die Ernte, Roberts setze die Bank von Emporia unter Druck, Davis die Kredite zu kündigen.

Und dann, erzählte ihnen Kurtz, fing Ed Davis einen tollwütigen Waschbär und setzte ihn in seinem Hühnerstall aus - in seinem eigenen Hühnerstall. Der Waschbär zerpflückte die Hühner links und rechts, und als er mit dem Abschlachten fertig war, gelobt sei der Herr, pustete Farmer Davis Mr. Waschbär den schwarzgrau gestreiften Kopf weg.

Sie saßen schweigend in dem dahinrollenden, eiskalten Humvee und hörten zu.

Ed Davis lud die ganzen toten Hühner - und den toten Waschbär - auf seinen Pickup, fuhr damit bei Neumond auf das Grundstück seines Nachbarn und warf die Tierkadaver in die beiden Brunnen von Franklin Roberts - in den Viehbrunnen und den Hausbrunnen. Dann, am Abend drauf, voll des guten Trunkes und wie ein Irrer lachend, rief Davis seinen Feind an und erzählte ihm, was er getan hatte. War ganz schön heiß heute, was?, erkundigte sich Davis und lachte dabei so, dass Franklin Roberts ihn kaum verstand. Was haben du und deine Mädels denn getrunken, Roberts? Das Waschbären-Wasser oder das Hühner-Wasser? Ich kann's dir nicht sagen, denn ich weiß nicht mehr, was ich in welchen Brunnen geworfen habe! Ist das nicht wirklich schade?

Gene Cambrys linker Mundwinkel zuckte ununterbrochen, als hätte er einen Schlaganfall erlitten. Der Ripley, der in der Mittelfalte seiner Stirn wuchs, war mittlerweile so weit fortgeschritten, dass Mr. Cambry aussah, als hätte man ihm die Stirn gespalten.

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte er. »Wollen Sie damit sagen, dass Pearly und ich nicht mehr wert sind als ein paar tollwütige Hühner?«

»Achten Sie auf Ihre Worte, wenn Sie mit dem Boss reden, Cambry«, sagte Freddy. Seine Atemmaske bewegte sich beim Sprechen auf und ab.

»Hey, Mann, ich scheiß auf den Boss. Dieser Einsatz ist vorbei!«

Freddy hob eine Hand, als wollte er Cambry über den Sitz hinweg eine Ohrfeige verpassen. Cambry reckte sein trotzig und verängstigt blickendes Gesicht vor. »Na los, Dicker. Aber vielleicht sollten Sie sich vorher noch mal Ihre Hand ansehen, dass da auch ja keine Kratzer sind. Denn mehr als einen kleinen Kratzer braucht es nicht.«

Freddy behielt seine Hand noch kurz oben und ließ sie dann wieder aufs Lenkrad sinken.

»Und übrigens, Freddy: Sie sollten aufpassen, was sich hinter Ihrem Rücken tut. Wenn Sie glauben, der Boss würde Zeugen hinterlassen, dann sind Sie verrückt.«

»Verrückt, ja«, sagte Kurtz herzlich und kicherte. »Viele Farmer werden verrückt. Das war jedenfalls damals so, als es noch keinen Willie Nelson und keine Benefizkonzerte für Not leidende Bauern gab. Das harte Leben, schätz ich mal. Der arme alte Ed Davis war am Ende ein Fall für die Veteranenbehörde - er hatte im zweiten Krieg gekämpft, müssen Sie wissen -, und bald nach der Sache mit den Brunnen gab Frank Roberts seine Farm auf, zog nach Wichita und wurde dort Landmaschinenvertreter. Und es war auch keiner der Brunnen eigentlich vergiftet. Er ließ einen staatlichen Wasserinspektor kommen und Proben nehmen, und der meinte, mit dem Wasser sei alles in Ordnung. Auf diesem Wege ließe sich Tollwut sowieso nicht übertragen, sagte er. Ich frage mich, ob sich Ripley wohl so übertragen lässt?«

»Nennen Sie es wenigstens beim richtigen Namen«, spie Cambry förmlich. »Es heißt Byrus.«

»Byrus oder Ripley, das ist doch gehupft wie gesprungen«, sagte Kurtz. »Diese Typen wollen unsere Brunnen vergiften. Unsere kostbaren Säfte vergiften, wie jemand mal gesagt hat.«

»Das alles ist Ihnen doch scheißegal!«, spie Pearly. Freddy zuckte tatsächlich zusammen, so giftig klang Perlmutters Stimme. »Ihnen geht es doch nur darum, Underhill zu kriegen.« Er hielt inne und sagt dann in klagendem Ton: »Sie sind wirklich verrückt, Boss.«

»Owen!«, rief Kurtz, kregel wie ein Backenhörnchen. »Den hätte ich fast vergessen! Wo ist er, Jungs?«

»Vor uns«, sagte Cambry mürrisch. »Er hängt in einer Schneewehe fest.«

»Ausgezeichnet!«, rief Kurtz. »Wir kommen ihm näher!«

»Freuen Sie sich nicht zu früh. Er macht sich schon wieder frei. Er hat einen Humvee, genau wie wir. Wenn man sich mit den Dingern auskennt, kann man damit auch quer durch die Hölle fahren. Und anscheinend kennt er sich damit aus.« »Schade. Haben wir aufgeholt?«

»Kaum«, sagte Pearly, rutschte wieder auf seinem Sitz hin und her, verzog das Gesicht und furzte.

»Bäääh«, sagte Freddy leise.

»Geben Sie mir das Mikro, Freddy. Gemeinschaftskanal. Unser Freund Owen hat doch ein Faible für den Gemeinschaftskanal.«

Freddy reichte das Mikrofon an seinem Spiralkabel nach hinten durch, stellte an dem am Armaturenbrett befestigten Funkgerät etwas ein und sagte dann: »Versuchen Sie's mal, Boss.«

Kurtz ließ den Knopf seitlich am Mikro los. »Owen? Sind Sie da, Bursche?«

Schweigen, Rauschen und das eintönige Heulen des Windes. Kurtz wollte eben den Sprechknopf wieder loslassen und es noch mal versuchen, da meldete sich Owen Underhill - laut und deutlich, bei mäßigem Rauschen und nicht verzerrt. Kurtz' Gesichtsausdruck änderte sich nicht - er wirkte weiterhin freundlich interessiert -, aber sein Herz schlug schneller.

»Ich höre.«

»Schön, Ihre Stimme zu hören, Bursche! Freut mich sehr! Ich schätze, Sie sind uns fünfzig Meilen voraus. Wir sind gerade an der Ausfahrt 39 vorbei, also dürfte das stimmen, nicht wahr?« In Wirklichkeit hatten sie eben die Ausfahrt 36 passiert, und Kurtz glaubte, ihm näher als fünfzig Meilen zu sein. Höchstens dreißig.

Schweigen am anderen Ende.

»Halten Sie an, Bursche«, riet Kurtz O wen in seinem freundlichsten und vernünftigsten Tonfall. »Es ist noch nicht zu spät, um nicht doch noch etwas aus diesem ganzen Schlamassel zu retten. Unser beider Laufbahn ist im Eimer, das steht wohl außer Frage - ist so erledigt wie ein Haufen toter Hühner in einem vergifteten Brunnen -, aber wenn Sie einen Plan haben, dann lassen Sie mich mitmachen. Ich bin ein alter Mann, mein Junge, und ich will doch nur etwas Anstand wahren angesichts dieses ganzen -«

»Reden Sie kein Blech, Kurtz.« Laut und deutlich aus allen sechs Lautsprechern des Wagens, und Cambry brachte doch tatsächlich die Nerven auf zu lachen. Kurtz warf ihm einen bösen Blick zu. Unter anderen Umständen wäre Cam-brys schwarze Haut bei diesem Blick grau vor Entsetzen geworden, aber das hier waren eben keine anderen Umstände, es war überhaupt Schluss mit anderen Umständen, und Kurtz verspürte eine ganz ungewohnte Furcht. Es war eines, rein verstandesmäßig zu wissen, dass man in der Scheiße steckte; etwas ganz anderes aber war es, diese Tatsache mit voller Wucht vor den Latz geknallt zu bekommen.

»Owen ... Bürschchen-«

»Hören Sie mir zu, Kurtz. Ich weiß nicht, ob in Ihrem Kopf noch eine gesunde Hirnzelle übrig ist, aber wenn ja, dann hoffe ich, dass sie jetzt gut aufpasst. Ich bin mit einem Mann namens Henry Devlin unterwegs. Uns voraus - wahrscheinlich gut hundert Meilen uns voraus - fährt ein Freund von ihm, der Gary Jones heißt. Aber der ist nicht mehr er selber. Er ist von einer außerirdischen Intelligenz übernommen worden, die er Mr. Gray nennt.«

Gary ... Gray, dachte Kurtz. An ihren Anagrammen sollt ihr sie erkennen.

»Was in Jefferson Tract passiert ist, spielt keine Rolle mehr«, sagte die Stimme aus den Lautsprechern. »Der Massenmord, den Sie geplant haben, ist überflüssig, Kurtz. Ob

Sie sie nun umbringen oder von alleine sterben lassen: Sie stellen keine Bedrohung dar.«

»Hören Sie?«, fragte Perlmutter mit hysterischer Stimme. »Keine Bedrohung! Keine -«

»Schnauze!«, sagte Freddy und verpasste ihm einen Rückhandschlag. Kurtz bekam das kaum mit. Er saß jetzt kerzengerade und mit funkelndem Blick auf der Rückbank. Überflüssig? Erzählte ihm Owen Underhill, dass der wichtigste Einsatz seines Lebens überflüssig gewesen war?

»- Umweltbedingungen, verstehen Sie? Sie sind in diesem Ökosystem nicht lebensfähig. Bis auf Gray. Denn ihm ist es gelungen, einen Wirt zu finden, der grundlegend anders ist. Das ist es also. Wenn Ihnen je irgendwas etwas bedeutet hat, Kurtz - wenn Ihnen überhaupt irgendwas etwas bedeuten kann -, dann hören Sie auf, uns zu jagen, und lassen Sie zu, dass wir uns um die Sache kümmern. Wir kümmern uns um Mr. Jones und Mr. Gray. Uns können Sie vielleicht kriegen, die beiden aber höchstwahrscheinlich nicht. Sie sind schon zu weit südlich. Und wir glauben, dass Gray einen Plan verfolgt. Und zwar diesmal einen Plan, der funktioniert.«

»Owen, Sie sind einfach überreizt«, sagte Kurtz. »Halten Sie an. Wir werden gemeinsam tun, was getan werden muss. Wir -«

»Wenn Ihnen das etwas bedeutet, dann geben Sie auf«, sagte Owen. Seine Stimme klang ausdruckslos. »Das war's. Ende der Durchsage. Over and out.«

»Tun Sie das nicht, Bursche!«, rief Kurtz. »Tun Sie das nicht, ich verbiete es Ihnen!«

Es erscholl ein sehr lautes Klicken, und dann drang nur noch Rauschen aus den Lautsprechern. »Er ist weg«, sagte Perlmutter. »Hat das Mikro rausgezogen. Oder das Funkgerät abgeschaltet. Er ist weg.«

»Aber Sie haben ihn ja gehört, nicht wahr?«, sagte Cambry. »Die ganze Sache hat keinen Sinn. Blasen Sie's ab.«

Eine Ader pochte mitten auf Kurtz1 Stirn. »Als ob ich ihm auch nur ein Wort glauben würde, nach allem, woran er beteiligt war.«

»Aber er sagt die Wahrheit!«, schrie Cambry. Jetzt drehte er sich zum ersten Mal ganz zu Kurtz um, mit weit aufgerissenen Augen, deren Winkel mit Ripley oder Byrus, oder wie auch immer man es nennen wollte, verklebt waren. Sein Speichel sprühte auf Kurtz' Wangen, seine Stirn, die Oberfläche seiner Atemmaske. »Ich habe seine Gedanken gehört! Und Pearly auch! ER SAGT DIE ABSOLUTE WAHRHEIT! ER -«

Mit gespenstischer Schnelligkeit zog Kurtz die Pistole aus seinem Gürtelholster und feuerte. Der Knall war im Humvee ohrenbetäubend. Freddy schrie erschrocken auf und verriss wieder das Lenkrad, was den Humvee schräg durch den Schnee schlittern ließ. Perlmutter kreischte und drehte sein entsetztes, rot geflecktes Gesicht zur Rückbank um. Für Cambry war es eine Gnade: Sein Hirn war so schnell aus seinem Hinterkopf geplatzt und durch die splitternde Fensterscheibe hinaus in den Sturm geflogen, wie er sonst gebraucht hätte, abwehrend eine Hand zu heben.

Damit hast du nicht gerechnet, Bursche, was?, dachte Kurtz. Dabei hat dir die Telepathie keinen Deut geholfen, was?

»Nein«, sagte Pearly schwermütig. »Gegen jemanden, der nicht weiß, was er im nächsten Moment tun wird, kann man nicht viel ausrichten. Gegen einen Verrückten kann man nichts tun.«

Der Wagen fuhr wieder gerade. Freddy war ein hervorragender Autofahrer, auch wenn er sich gerade zu Tode erschreckt hatte.

Kurtz richtete die Waffe auf Perlmutter. »Nennen Sie mich noch einmal verrückt. Das will ich jetzt hören.«

»Verrückt«, sagte Pearly. Er lächelte und zeigte dabei ein Gebiss, das nun mehrere Lücken aufwies. »Verrückt-ver-rückt-verrückt. Aber Sie werden mich nicht erschießen. Sie haben Ihren Reservemann erschossen, und mehr können Sie sich nicht erlauben.« Pearly wurde richtig laut. Cambrys Leichnam rutschte jetzt an die Tür, und das Haar um seinen entstellten Kopf wehte im kalten Wind, der zum Fenster hereinkam.

»Still, Pearly«, sagte Kurtz. Es ging ihm jetzt besser, und er hatte sich wieder im Griff. Wenigstens das war Cambry wert gewesen. »Halten Sie Ihr Klemmbrett fest, und halten Sie den Mund. Freddy?«

»Ja, Boss.«

»Sind Sie noch auf meiner Seite?«

»Aber natürlich, Boss.«

»Owen Underhill ist ein Verräter, Freddy. Darauf möchte ich ein lautes >Gelobt sei der Herr< von Ihnen hören.«

»Gelobt sei der Herr.« Freddy saß kerzengerade am Steuer und starrte hinaus in den Schnee und die Lichtkegel der Scheinwerfer.

»Owen Underhill hat sein Land und seine Kameraden verraten. Er -«

»Er hat Sie verraten«, sagte Perlmutter fast flüsternd.

»Das stimmt, Pearly, und Sie wollen doch Ihre Bedeutung nicht überbewerten, mein Junge, das wollen Sie doch nicht, denn bei einem Verrückten weiß man ja nie, was er als Nächstes macht, wie Sie selbst gesagt haben.«

Kurtz betrachtete Freddys Stiernacken.

»Wir werden Owen Underhill zur Strecke bringen - ihn und diesen Devlin auch, wenn Devlin dann noch bei ihm ist. Verstanden?«

»Verstanden, Boss.«

»Und inzwischen können wir ja schon mal ein bisschen Ballast abwerfen, was?« Kurtz holte aus seiner Tasche den Handschellenschlüssel hervor. Er griff hinter Cambry hindurch, tastete in der sich abkühlenden Schmiere herum, die sich nicht durch das Fenster verflüchtigt hatte, und fand schließlich den Türgriff. Er schloss die Handschellen auf, und gut fünf Sekunden später wurde Mr. Cambry, gelobt sei der Herr, ein Glied der Nahrungskette.

Freddy hatte sich währenddessen eine Hand in den Schritt gelegt, der höllisch juckte. Wie auch seine Achselhöhlen und -

Er wendete den Kopf leicht und sah, dass Perlmutter ihn anstarrte - große, dunkle Augen in einem blassen, rot übertupften Gesicht.

»Was gucken Sie denn so?«, fragte Freddy.

Perlmutter wandte sich ab, ohne noch etwas zu sagen. Er schaute hinaus in die Nacht.

Die Jagd geht weiter


Mr. Gray genoss es, sich menschlichen Gefühlen hinzugeben, und Mr. Gray genoss das Essen der Menschen, aber Mr. Gray genoss es ganz bestimmt nicht, Jonesys Stuhlgang zu verrichten. Er weigerte sich anzusehen, was er da produziert hatte, zog einfach nur die Hose hoch und knöpfte sie mit leicht zitternden Händen zu.

Mann, willst du dir denn nicht den Hintern abwischen?, fragte Jonesy. Und spül wenigstens!

Aber Mr. Gray wollte nur noch raus aus der Kabine. Er nahm sich noch die Zeit, sich an einem der Waschbecken die Hände feucht zu machen, und wandte sich dann zum Ausgang.

Jonesy war nicht unbedingt überrascht, als er den Polizisten zur Tür hereinkommen sah.

»Sie haben vergessen, Ihren Reißverschluss zuzumachen, mein Freund«, sagte der Polizist.

»Oh. Stimmt. Danke, Officer.«

»Sie kommen aus dem Norden, nicht wahr? Geschehen ja große Dinge da oben, heißt es im Radio. Wenn man es denn empfangen kann. Vielleicht sogar Außerirdische.«

»Ich komme nur aus Derry«, sagte Mr. Gray. »Ich weiß nichts davon.«

»Darf ich fragen, weshalb Sie in einer solchen Nacht unterwegs sind?«

Sag ihm, du hast einen kranken Freund besucht, dachte

Jonesy und verspürte eine gewisse Verzweiflung. Er wollte das nicht sehen und schon gar nicht in irgendeiner Form daran beteiligt sein.

»Ich habe einen kranken Freund besucht«, sagte Mr. Gray.

»Tatsächlich. Nun, Sir, ich würde gern Ihren Führerschein und die Wagen-«

Dann wurde der Blick des Polizisten schlagartig vollkommen ausdruckslos. Er ging steifbeinig zu der Wand mit dem duschen nur für FERNFAHRER-Schild. Dort stand er bibbernd einen Moment lang und versuchte sich zu wehren ... und fing dann an, seinen Kopf mit großer Wucht und viel Schwurig an die Fliesen zu knallen. Beim ersten Schlag flog ihm der Stetson vom Kopf. Beim dritten fing der Bordeaux an zu fließen, perlte erst auf die beigen Fliesen und spritzte dann.

Und weil er nichts dagegen tun konnte, griff Jonesy zu dem Telefon auf seinem Schreibtisch.

Es war tot. Während er seine zweite Portion Bacon verdrückt hatte oder zum ersten Mal als menschliches Wesen kacken war, hatte ihm Mr. Gray die Leitung gekappt. Jonesy war auf sich allein gestellt.

Trotz seines Entsetzens - oder vielleicht gerade deswegen -brach Jonesy in Gelächter aus, als seine Hände mit einem Dysart's-Handtuch das Blut von der gefliesten Wand wischten. Mr. Gray hatte auf Jonesys Kenntnisse über das Verstecken und/oder Beseitigen von Leichen zugegriffen und war dabei förmlich auf eine Goldader gestoßen. Als lebenslanger Fan von Horrorfilmen, Thrillern und Krimis war Jonesy da in gewisser Hinsicht ein richtiger Fachmann. Selbst jetzt, als Mr. Gray das blutige Handtuch auf die triefnasse Uniformbrust des Polizisten fallen ließ (die Jacke hatte er ihm um den übel zugerichteten Kopf gewickelt), spulte sich vor Jonesys geistigem Auge ab, wie in Der talentierte Mr. Ripley, sowohl in der Verfilmung als auch in Patricia Highsmiths Roman, die Leiche von Freddy Miles beseitigt worden war. Es liefen auch andere Bänder, so viele durcheinander, dass Jonesy schwindelig davon wurde, wenn er zu genau hinsah, so wie es ihm immer erging, wenn er in die Tiefe schaute. Aber das war noch nicht das Schlimmste daran. Mit Jonesys Hilfe hatte der talentierte Mr. Gray etwas entdeckt, das ihm noch besser gefiel als knuspriger Bacon, ja, sogar noch besser, als aus Jonesys Zorn zu schöpfen. Mr. Gray hatte das Morden für sich entdeckt.

Hinter den Duschen ging es in einen Umkleideraum. Dahinter führte ein Flur zum Schlafsaal für Fernfahrer. Auf dem Flur war niemand. Am anderen Ende befand sich eine Tür, die hinten aus dem Gebäude heraus auf eine verschneite Sackgasse führte. Aus den Schneewehen ragten dort zwei große grüne Müllcontainer. Eine Wandlampe warf einen fahlen Lichtschimmer und lange, lauernde Schatten. Mr. Gray, der schnell lernte, suchte den Leichnam des Polizisten nach dessen Autoschlüsseln ab und fand sie. Er nahm dem Mann auch die Pistole ab und steckte sie in eine mit einem Reißverschluss versehene Tasche von Jonesys Jacke. Mr. Gray klemmte das blutgetränkte Handtuch in die Hintertür und schleifte dann die Leiche hinter einen der Müllcontainer.

Das alles, von dem schaurig erzwungenen Selbstmord des Polizisten bis zur Rückkehr in den Flur, dauerte keine zehn Minuten. Jonesys Körper fühlte sich leicht und geschmeidig an, alle Müdigkeit war verflogen, zumindest vorläufig: Er und Mr. Gray genossen eine weitere Endorphin-Euphorie. Und zumindest für einen Teil dieser ganzen Sauerei war

Gary Ambrose Jones verantwortlich. Nicht nur für die Kenntnisse der Leichenbeseitigung, sondern auch für die unbewussten blutrünstigen Impulse unter der dünnen Zuckerguss-Schicht mit ihrem »Das denkst du dir alles nur aus«. Mr. Gray saß zwar am Steuer - Jonesy musste sich also nicht mit dem Gedanken belasten, er sei der eigentliche Mörder -, aber der Motor war doch Jonesy.

Vielleicht verdienen wir, ausgelöscht zu werden, dachte Jonesy, als Mr. Gray zurück durch den Duschraum ging (und dabei mit Jonesys Augen nach Blutspritzern Ausschau hielt und Jonesys Hand mit den Schlüsseln des Polizisten spielen ließ). Vielleicht verdienen wir, in nichts weiter als ein paar rote Sporen verwandelt zu werden, die der Wind davonträgt. Das wäre vielleicht das Beste. Gott stehe uns bei.

Die müde aussehende Frau an der Kasse fragte ihn, ob er den Polizisten gesehen habe.

»Klar«, sagte Jonesy. »Ich habe ihm sogar meinen Führerschein und meine Fahrzeugpapiere gezeigt.«

»Seit dem Nachmittag waren eine Menge Polizisten hier«, sagte die Kassiererin. »Schneesturm hin oder her. Die sind alle höllisch nervös. Das sind ja alle. Wenn ich Leute von anderen Planeten sehen will, leih ich mir ein Video aus. Haben Sie was Neues gehört?«

»Im Radio heißt es, das sei alles falscher Alarm«, antwortete er und zog seinen Reißverschluss zu. Er schaute zu dem Fenster auf den Parkplatz hinüber und überprüfte noch einmal, was er bereits gesehen hatte: Dank der zugefrorenen Scheibe und des Schneetreibens war die Sicht gleich null. Hier drin würde niemand sehen können, wenn er davonfuhr.

»Ja? Wirklich?« Die Erleichterung nahm ihr etwas die Müdigkeit. Sie sah jünger aus.

»Und wundern Sie sich nicht, wenn Ihr Freund nicht so schnell wiederkommt. Er hat gesagt, er würde erst mal eine gepflegte Wurst legen.«

Zwischen ihren Augenbrauen zeigte sich eine senkrechte Falte. »Das hat er gesagt?«

»Gute Nacht. Ein schönes Thanksgiving. Frohe Weihnachten. Ein glückliches neues Jahr!«

Einiges davon, so hoffte Jonesy, stammte von ihm. Er versuchte durchzudringen, sich bemerkbar zu machen.

Ehe er sehen konnte, ob er bemerkt wurde, änderte sich der Blick aus seinem Bürofenster, als sich Mr. Gray von der Kasse abwandte. Fünf Minuten später fuhr er wieder auf dem Highway in südliche Richtung, und die Schneeketten des Streifenwagens rumpelten und schabten und gestatteten ihm konstante sechzig Stundenkilometer.

Jonesy spürte, wie Mr. Gray in seiner Umgebung wieder auf Gedankenfang ging. Mr. Gray konnte zu Henrys Hirn Vordringen, aber nicht hinein - wie auch Jonesy war Henry in gewisser Hinsicht anders. Aber das machte nichts. Henry hatte jemanden dabei, Overhill oder Underhill hieß er. Und von dem erfuhr Mr. Gray alles Nötige. Sie waren siebzig Meilen hinter ihnen, vielleicht sogar mehr ... und fuhren vom Highway ab? Ja, sie fuhren in Derry ab.

Mr. Gray schaute in Gedanken noch weiter hinter sich und entdeckte weitere Verfolger. Sie waren zu dritt ... und Jonesy spürte, dass es diese Gruppe weniger auf Mr. Gray als auf Overhill/Underhill abgesehen hatte. Er fand das ebenso unglaublich wie unerklärlich, aber es schien wirklich so zu sein. Und Mr. Gray gefiel das sehr. Er machte sich nicht einmal die Mühe herauszufinden, warum Overhill/Underhill und Henry in Derry hielten.

Mr. Grays Hauptsorge bestand darin, den Wagen zu wechseln. Am liebsten hätte er einen Schneepflug gehabt,

falls ihn Jonesys Fahrkünste den steuern ließen. Das würde einen weiteren Mord erfordern, aber das war dem zusehends menschlicheren Mr. Gray nur recht so. Mr. Gray wurde eben erst warm.

Owen Underhill steht auf dem Hang, ganz in der Nähe des Rohrs, das aus dem Laub ragt, und sieht, wie sie dem schmutzigen, verängstigt dreinblickenden Mädchen - Josie -heraushelfen. Er sieht Duddits (einen großen, jungen Mann mit Schultern wie ein Footballspieler und dem fast gefärbt wirkenden blonden Haar eines Filmstars) sie umarmen und ihr schmutziges Gesicht abküssen. Er hört ihre ersten Worte: »Ich will zu meiner Mami.«

Die Jungs kriegen das alleine hin; sie brauchen keine Polizei und keinen Krankenwagen. Sie helfen ihr einfach nur den Hang hinauf und durch die Lücke im Bretterzaun, bringen sie dann durch den Strawford Park (statt der Mädchen in Gelb spielen dort jetzt Mädchen in Grün; und weder sie noch ihre Trainerin achten auf die Jungs oder auf ihre schmutzige, durchweichte Trophäe) und dann über die Kansas Street in die Maple Lane. Sie wissen, wo Josies Mutter und Vater sind.

Und dort sind auch nicht nur die Rinkenhauers. Als die Jungs wieder zum Haus der Cavells kommen, stehen auf beiden Straßenseiten bis zur nächsten Ecke Autos geparkt. Roberta hatte vorgeschlagen, die Eltern von Josies Freundinnen und Schulkameradinnen einzuladen. Sie werden auf eigene Faust nach ihr suchen und die ganze Stadt mit ver-Missx-Plakaten pflastern, sagt sie. Und das nicht an schattigen, abgelegenen Stellen (wo Suchplakate für vermisste Kinder in Derry normalerweise hinkommen), sondern dort, wo die Leute förmlich mit der Nase darauf gestoßen werden.

Robertas Enthusiasmus ist so ansteckend, dass in den Augen von Ellen und Hector Rinkenhauer eine vage Zuversicht glimmt.

Und die anderen Eltern gehen prompt darauf ein - als hätten sie nur auf eine solche Aufforderung gewartet. Roberta hat mit den Anrufen angefangen, kurz nachdem Duddits und seine Freunde losgezogen sind (zum Spielen, denkt Roberta, und zwar irgendwo in der Nähe, denn Henrys alte Mühle steht noch in der Auffahrt), und als die Jungs wiederkommen, drängen sich fast zwei Dutzend Leute im Wohnzimmer der Cavells, trinken Kaffee und rauchen Zigaretten. Den Mann, der gerade zu ihnen spricht, hat Henry schon mal gesehen, es ist ein Anwalt namens Dave Bocklin. Sein Sohn Kendall spielt manchmal mit Duddits. Ken Bocklin ist auch mongoloid, und er ist ganz in Ordnung, aber er ist nicht wie Duds. Aber jetzt mal im Ernst: Wer ist das schon?

Die Jungs stehen am Eingang des Wohnzimmers, Josie in ihrer Mitte. Sie trägt wieder ihre große Plastik-Handtasche mit BarbieKen darin. Und ihr Gesicht ist sogar fast sauber, denn als Biber die vielen Autos gesehen hat, hat er es ihr vor dem Haus mit seinem Taschentuch abgewischt. (»Das war vielleicht ein komisches Gefühl«, gesteht er ihnen später, als das ganze Theater vorbei ist. »Da stehe ich und mache dieses Mädchen sauber, das einen Körper hat wie ein Playboy-Bunny und dabei schätzungsweise so viel Grips wie ein Rasensprenger.«) Zuerst sieht sie niemand, nur Mr. Bocklin, und auch der macht sich anscheinend nicht klar, was er da sieht, denn er redet einfach weiter.

»Entscheidend dabei ist, dass wir mehrere Suchtrupps bilden, sagen wir mal, drei Paare pro ... pro Trupp ... und ... dann ... dann ...« Mr. Bocklin wird langsamer wie eine Spieldose, die abläuft, und steht dann einfach nur noch glotzend vor dem Fernseher der Cavells. Ein Raunen geht durch die eilig einberufene Elternversammlung, die Leute verstehen nicht, was mit dem los ist, der eben noch so selbstsicher referiert hat.

»Josie«, sagt er mit ausdrucksloser Stimme, die so ganz anders klingt als sein üblicher Gerichtssaalton.

»Ja«, sagt Hector Rinkenhauer, »so heißt sie. Was ist los, Dave? Ist alles in -«

»Josie«, sagt Dave und hebt eine zitternde Hand. Für Henry (und daher auch für Owen, der das mit Henrys Augen sieht) sieht er aus wie der Geist des künftigen Weihnachtsfestes, der auf Ebeneezer Scrooges Grab zeigt.

Einer sieht sich um ... zwei... vier ... Alfie Cavells Augen, so groß und ungläubig hinter seiner Brille ... und schließlich schaut sich auch Mrs. Rinkenhauer um.

»Hallo, Mum«, sagt Josie ganz nebenbei. Sie hält ihre Handtasche hoch. »Duddie hat meine BarbieKen gefunden. Ich hab festgehangen in einem -«

Der Rest wird übertönt von einem Freudenschrei. Henry hat in seinem ganzen Leben keinen solchen Schrei gehört, und obwohl es wunderbar ist, ist es doch irgendwie auch schrecklich.

»Arschkrass«, sagt Biber ganz leise.

Jonesy hält Duddits im Arm, den der Schrei erschreckt hat.

Pete sieht Henry an und nickt ihm kaum merklich zu: Haben wir gut gemacht Henry erwidert das Nicken. Ja, das haben wir.

Es ist vielleicht nicht ihre größte Stunde, aber es ist sicherlich ein guter zweiter Platz. Und als Mrs. Rinkenhauer ihre Tochter schluchzend in die Arme schließt, tippt Henry Duddits auf den Arm. Als sich Duddits zu ihm umsieht, küsst ihn Henry sanft auf die Wange. Guter alter Duddits, denkt Henry, Guter alter -

»Da wären wir, Owen«, sagte Henry ganz ruhig. »Ausfahrt 27.«

Owens Blick ins Wohnzimmer der Cavells zerplatzte wie eine Seifenblase, und er sah das vor ihnen aufragende Schild: rechte spur ausfahrt z 7 kansas street. Die fassungslosen Freudenschreie der Frau hallten ihm immer noch in den Ohren wider.

»Alles klar?«, fragte Henry.

»Ja. Ich glaube schon.« Er fuhr die Ausfahrt hoch, und der Humvee kämpfte sich durch den Schnee. Die Uhr im Armaturenbrett war ebenso ausgefallen wie Henrys Armbanduhr, aber er meinte, einen Hauch von Morgenröte entdecken zu können. »Rechts oder links an der Kreuzung? Sag's mir schnell, ich will nicht bremsen müssen.«

»Links, links.«

Owen bog mit dem Hummer-Jeep unter einer blinkenden Ampel nach links ab, wobei er wieder leicht ins Schleudern geriet, und fuhr dann in südliche Richtung die Kansas Street entlang. Hier war der Schnee vor nicht allzu langer Zeit geräumt worden. Es wehte aber bereits wieder zu.

»Der Schneefall lässt nach«, sagte Henry.

»Ja, aber der Wind ist schlimm genug. Du freust dich darauf, ihn zu sehen, nicht wahr? Duddits, meine ich.«

Henry lächelte. »Ein bisschen nervös bin ich schon, aber: ja.« Er schüttelte den Kopf. »Duddits, Mann ... Bei Duddits wird's einem einfach warm ums Herz. Er ist ein Schnüffel. Du wirst es ja sehen. Ich wünschte nur, wir würden nicht so im Morgengrauen da aufkreuzen.«

Owen zuckte mit den Achseln. Das lässt sich nicht ändern, besagte die Geste.

»Sie wohnen jetzt schon seit etwa vier Jahren hier drüben, und ich habe sie noch nie in ihrer neuen Wohnung besucht. « Und ohne es zu bemerken, wechselte er zur Gedankensprache über: Sie sind umgezogen, nachdem Alfie gestorben ist.

Wart ihr - und dann, statt Worte, ein Bild: schwarz gekleidete Menschen unter schwarzen Regenschirmen. Ein verregneter Friedhof. Ein aufgebahrter Sarg, R. I. P. alfie oben eingeschnitzt.

Nein, sagte Henry und schämte sich. Keiner von uns.

?

Aber Henry wusste nicht, warum sie nicht hingegangen waren, nur ein Vers aus einem Gedicht fiel ihm ein: Die regsame Hand schreibt, und hat sie geschrieben, dann gleitet sie weiter. Duddits war ein wichtiger (das Wort, das er eigentlich benutzen wollte, war entscheidender) Bestandteil ihrer Kindheit gewesen. Aber als diese Verbindung dann zerbrochen war, wäre es eine Qual gewesen zurückzugehen, eine sinnlose Qual. Jetzt ging ihm etwas auf. Die Bilder, die er mit seiner Depression und der zunehmenden Entschlossenheit, sich umzubringen, assoziierte - wie seinem Vater Milch über das Kinn rann, wie Barry Newman mit seinem XXL-Arsch aus seinem Sprechzimmer eilte -, hatten die ganze Zeit ein anderes, eindringlicheres Bild überlagert: den Traumfänger. War das nicht der wahre Ursprung seiner Verzweiflung? Das grandiose Konzept des Traumfängers, gebündelt mit der Banalität der Zwecke, für die dieses Konzept dann eingesetzt wurde? Duddits zu nutzen, um Josie Rinkenhauer zu finden, war so, als hätte man die Quantenphysik nur dazu entdeckt, um mit ihrer Hilfe ein Videospiel zu entwickeln. Nein schlimmer noch: dann festzustellen, dass die Quantenphysik auch zu gar nichts anderem taugte. Sie hatten natürlich etwas Gutes getan - ohne sie wäre Josie Rinkenhauer in dem Rohr krepiert wie eine Ratte in einer Regentonne. Aber, jetzt mal im Ernst, es war ja nun nicht so, dass sie eine künftige Nobelpreisträgerin gerettet hatten-Ich kann dem zwar nicht ganz folgen, was dir da gerade

durch den Kopf geht, sprach Owen jetzt plötzlich ganz tief in Henrys Gedanken hinein, aber es klingt ganz schön arrogant Welche Straße?

Henry funkelte ihn wütend an. »Wir haben ihn in letzter Zeit nicht besucht, okay? Können wir es vielleicht dabei belassen?«

»Ja«, sagte Owen.

»Aber wir haben ihm alle Weihnachtskarten geschickt, klar? Jedes Jahr, und daher weiß ich, dass sie in die Dear-born Street gezogen sind, in die Dearborn Street 41 in West Side Derry. Bieg bei der dritten Straße rechts ab.«

»Okay. Krieg dich ein.«

»Fick deine Mutter und stirb.«

»Henry —«

»Wir haben einfach den Kontakt verloren. So was kommt vor. Einem so makellosen Menschen wie dir ist es wahrscheinlich noch nie passiert, aber uns anderen ... dem Rest der Menschheit ...« Henry schaute nach unten, sah, dass er die Fäuste geballt hatte, und zwang sich, sie wieder zu öffnen. »Es reicht.«

»Mr. Makellos steht ja wahrscheinlich mit seinen sämtlichen Schulfreunden ständig in Verbindung, nicht wahr? Ihr trefft euch wahrscheinlich einmal im Jahr, und dann schnippt ihr den Mädels wieder den BH auf, hört Mötley Crüe und esst Tuna Surprise, genauso, wie es das früher immer in der Cafeteria gab.«

»Es tut mir Eeid, dass ich dich aufgeregt habe.«

»Da scheiß ich drauf. Du tust ja so, als ob wir ihn verlassen hätten.« Was der Wahrheit natürlich schon ziemlich nahe kam.

Owen sagte nichts. Er kniff die Augen zusammen und spähte durch das Schneetreiben, suchte im fahlen Frühmorgenlicht nach dem Straßenschild der Dearborn Street... und da war es ja, direkt voraus. Ein Pflug, der die Kansas Street geräumt hatte, hatte vor der Einfahrt zur Dearborn einen Schneewall hinterlassen, aber Owen dachte, für den Humvee wäre das kein Problem.

»Es ist ja nicht so, dass ich nicht mehr an ihn gedacht hätte«, sagte Henry. Er wollte in Gedanken fortfahren und blieb dann doch bei mündlicher Sprache. Es war zu aufschlussreich, wenn er an Duddits dachte. »Wir haben alle an ihn gedacht. Und Jonesy und ich wollten ihn in diesem Frühjahr besuchen. Dann hatte Jonesy seinen Unfall, und ich habe die ganze Sache aus den Augen verloren. Ist das so verwunderlich?«

»Überhaupt nicht«, sagte Owen milde. Er schlug das Lenkrad nach rechts ein, dann in die Gegenrichtung und trat das Gaspedal durch. Der Humvee traf so heftig auf dem vereisten, dicht gepackten Schneewall auf, dass es sie beide in ihren Sicherheitsgurten nach vorne stieß. Dann waren sie durch, und Owen schlängelte sich weiter und wich dabei den auf beiden Straßenseiten geparkten, eingeschneiten Autos aus.

»Ich muss mir von jemandem, der eben noch vorhatte, ein paar hundert Zivilisten zu grillen, kein schlechtes Gewissen machen lassen«, grummelte Henry.

Owen stieg voll auf die Bremse und schleuderte sie beide wieder in ihren Sicherheitsgurten nach vorn, diesmal so heftig, dass die Gurte einrasteten. Der Humvee kam schräg mitten auf der Straße zum Stehen.

»Halt jetzt endlich die Schnauze.«

Misch dich in nichts ein, wovon du keine Ahnung hast. »Deinetwegen bin ich wahrscheinlich« so gut wie tot

»und deshalb kannst du dir dein« haltloses

(Bild einer verzogen aussehenden Göre, die mit vorgeschobener Unterlippe schmollt)

» Rechtfertigungsgefasel«

echt schenken.

Henry starrte ihn schockiert und verdattert an. Wann hatte zum letzten Mal jemand so mit ihm geredet? Die Antwort lautete wahrscheinlich: noch nie.

»Mir geht es nur um eines«, sagte Owen. Sein Gesicht war blass, sah angespannt und erschöpft aus. »Ich will deinen Typhoid Jonesy finden und ihn aufhalten. Klar? Ich scheiß auf deine kostbaren Gefühle, ich scheiße drauf, wie müde du bist, und ich scheiße auf dich. So ist das.«

»Na gut«, sagte Henry.

»Ich muss mir keine Moralvorträge anhören von einem Typen, der vorhat, sich sein überfressenes Hirn rauszupusten.«

»Schon gut.«

»Also fick du deine Mutter und stirb.«

Schweigen im Humvee. Und von außen hörte man nur das monotone Staubsaugerdröhnen des Winds.

Schließlich sagte Henry: »Wir machen das folgendermaßen: Ich ficke deine Mutter und sterbe dann, und du fickst meine Mutter und stirbst. So kommen wir wenigstens um den Inzest rum.«

Owen lächelte. Henry erwiderte sein Lächeln.

Was machen Jonesy und Mr. Gray?, fragte Owen Henry. Weißt du's?

Henry leckte sich die Lippen. Das Jucken in seinem Bein hatte sehr nachgelassen, aber seine Zunge schmeckte wie ein versiffter Flokati. »Nein. Ich dringe nicht zu ihnen durch. Das ist wahrscheinlich Grays Schuld. Und unser furchtloser Anführer? Kurtz? Er holt auf, nicht wahr?«

»Ja. Wenn wir irgendeinen Vorsprung behalten wollen, müssen wir uns beeilen.«

»Dann beeilen wir uns.« Owen kratzte sich das rote Zeug, das er seitlich am Gesicht hatte, betrachtete die Bröckchen, die sich dabei lösten, und fuhr dann weiter.

Nummer 41, hast du gesagt?

Ja. Owen? v

Was? i-,

Ich habe Angst.

Vor Duddits?

Ja, irgendwie schon.

Und wieso?

Ich weiß es nicht.

Henry sah Owen mit niedergeschlagenem Blick an. Ich habe so das Gefühl, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung ist.

Ihre nächtliche Fantasie wurde Wirklichkeit, und als es an der Tür klopfte, war Roberta unfähig aufzustehen. Ihre Beine fühlten sich wie aus Wasser an. Die Nachtschwärze war fort, war einem fahlen, unheimlichen Morgenlicht gewichen, das auch nicht viel besser war, und da standen sie vor dem Haus, Pete und Biber, die Toten, und wollten ihren Sohn holen.

Da pochte die Faust wieder an die Tür, dass die Bilderrahmen an den Wänden erzitterten. In einem war eine Titelseite der Derry News. Das Foto zeigte Duddits, seine Freunde und Josie Rinkenhauer, die alle die Arme umeinander gelegt hatten und über sämtliche Wangen strahlten (wie gut Duddits auf diesem Bild aussah, wie stark und normal), und die Schlagzeile darüber lautete: Schulkinder spielen detektiv UND FINDEN VERMISSTES MÄDCHEN.

Bumm! Bumm! Bumm!

Nein, dachte sie, ich bleibe einfach hier sitzen, und irgendwann gehen sie dann wieder weg, sie müssen einfach wieder Weggehen, denn Tote muss man hereinbitten, und wenn ich hier sitzen bleibe und —

Aber dann lief Duddits an ihrem Schaukelstuhl vorbei -er lief, wo es ihn heutzutage doch schon erschöpfte, einfach nur zu gehen, und in seinen Augen lag wieder der alte Glanz, sie waren so gute Jungs gewesen und hatten ihn so glücklich gemacht, aber jetzt waren sie tot, sie kamen durch den Sturm zu ihm und waren tot -

»Duddie, nicht!«, rief sie, aber er achtete nicht auf sie. Er eilte an der gerahmten Zeitungsseite vorbei - Duddits Cavell auf der Titelseite, Duddits Cavell ein Held, es geschehen noch Zeichen und Wunder! -, und sie hörte, was er rief, als er im abebbenden Sturm die Tür aufmachte:

»Ennie! Ennie! ENNIE!«

8

Henry machte den Mund auf - aber was er sagen sollte, wusste er nicht, und dann kam auch nichts. Er war wie vom Schlag gerührt. Das war nicht Duddits, konnte nicht Duddits sein - das war irgendein kranker Onkel oder älterer Bruder, blass und unter der hochgeschobenen Red-Sox-Kappe anscheinend auch kahlköpfig. Er hatte stoppelige Wangen, getrocknetes Blut um die Nasenlöcher und tiefe dunkle Ringe unter den Augen. Und doch -»Ennie! Ennie! Ennie!«

Der große, blasse Fremde da in der Tür warf sich Henry so überschwänglich entgegen wie früher Duddits immer und stieß ihn auf der verschneiten Eingangstreppe nicht durch sein Gewicht um - er war so leicht wie eine Feder -, sondern weil Henry auf diesen Überfall nicht gefasst war. Wenn Owen ihn nicht gehalten hätte, wäre er mit Duddits in den Schnee gepurzelt.

»Ennie! Ennie!«

Lachend. Weinend. Ihn auf seine alte Weise abknutschend. Ganz weit hinten im Lagerhaus seiner Erinnerungen sagte Biber Clarendon: Wenn ihr irgendwem erzählt, dass ich das gemacht habe ... Und Jonesy entgegnete: Ja, ja, dann redest du kein Wort mehr mit uns, du blöder Wichser. Es war eindeutig Duddits, der Henry da die mit Byrus übertupften Wangen abknutschte ... aber diese fahlen Wangen, was war das? Und er war auch so dünn -nein, mehr als nur das, abgezehrt -, und was war das? Das Blut an seinen Nasenlöchern, der Geruch, der von seiner Haut ausging ... es war nicht der gleiche Geruch, der von Becky Shue ausgegangen war, und nicht ein Geruch wie in ihrer zugewucherten Hütte, aber dennoch war es ein tödlicher Geruch.

Und da war Roberta, sie stand im Flur neben einem Foto, das Duddits und Alfie zeigte, wie sie bei den Derry Days lachend Karussell fuhren und die wild blickenden Plastikpferde dabei ganz klein wirkten.

Bin nicht zu Alfies Beerdigung gegangen, habe aber eine Karte geschickt, dachte Henry und verabscheute sich selbst.

Sie rang die Hände, ihre Augen schwammen in Tränen, und obwohl sie an Brust und Hüfte zugenommen hatte und ihr Haar jetzt fast gänzlich ergraut war, hatte Henry sie auf Anhieb erkannt, aber Duddits ... o Mann, Duddits ...

Henry sah sie an und umarmte seinen alten Freund, der immer noch seinen Namen rief. Er tätschelte Duddits' Schulterblatt. Es fühlte sich so leicht und zerbrechlich an wie die Knochen eines Vogelflügels.

»Roberta«, sagte er. »Roberta, mein Gott! Was hat er denn?«

»A.L.L.«, sagte sie und brachte ein mattes Lächeln zustande. »Das steht für akute lymphatische Leukämie. Sie haben es vor neun Monaten bei ihm diagnostiziert, und da war eine Heilung schon nicht mehr möglich. Und seitdem kämpfen wir gegen die Zeit an.«

»Ennie!«, rief Duddits. Das alte blöde Lächeln ließ sein graues, abgezehrtes Gesicht erstrahlen. »Säbe Scheise, anner Tach!«

»Stimmt«, sagte Henry und fing an zu weinen. »Selbe Scheiße, anderer Tag.«

»Ich weiß, warum ihr hier seid«, sagte Roberta. »Aber bitte nicht. Bitte, Henry. Ich flehe dich an. Nimm mir nicht meinen Jungen weg. Er stirbt.«

9

Kurtz wollte Perlmutter eben nach dem neuesten Stand bei Underhill und seinem neuen Freund fragen - Henry hieß er, Henry Devlin -, als Pearly einen lang gedehnten, heulenden Schrei ausstieß und sein Gesicht dabei zur Decke des Humvee drehte. Kurtz hatte in Nicaragua bei einer Geburt geholfen (aber angeblich sind wir ja immer die Bösen, dachte er gefühlsselig), und dieser Schrei erinnerte ihn an die Schreie dieser Frau, die er da einst an den Ufern des schönen Flusses La Juvena gehört hatte.

»Halten Sie durch, Pearly!«, rief Kurtz. »Halten Sie durch, Bursche! Jetzt tief atmen!«

»Sie Schwein!«, schrie Pearly. »Sehn Sie denn nicht, in was für eine Scheiße Sie mich geritten haben, Sie Arschgesicht? Ich scheiß auf Sie!«

Kurtz nahm ihm das nicht übel. Frauen sagten schlimme Dinge, wenn sie Kinder gebaren, und obwohl Pearly zwar definitiv ein Mann war, glaubte Kurtz doch, dass er eben den Gefühlen bei einer Kindsgeburt so nahe kam, wie nur irgendein Mann das konnte. Er wusste, dass er Perlmutter vielleicht besser von seinen Qualen erlöste -

»Tun Sie das nicht«, stöhnte Pearly. Tränen des Schmerzes kullerten ihm die rotbärtigen Wangen hinab. »Das sollten Sie nicht wagen, Sie hartherziger alter Sack.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Bursche«, beruhigte ihn Kurtz und tätschelte ihm die zitternde Schulter. Von vorn erklang das stete Schaben und Brummen des Schneepflugs, dessen Fahrer Kurtz überredet hatte, ihnen die Spur freizuräumen (als allmählich wieder graues Licht in die Welt sickerte, hatten sie ihr Tempo auf Schwindel erregende fünfzig Stundenkilometer steigern können). Die Rücklichter des Pflugs glühten wie schmutzigrote Sterne.

Kurtz beugte sich vor und betrachtete Perlmutter mit großem Interesse. Wegen des zerschossenen Fensters war es eiskalt hinten im Humvee, aber vorläufig fiel Kurtz das nicht auf. Die Front von Pearlys Mantel wölbte sich, als hätte er einen Luftballon darunter, und Kurtz zog ein weiteres Mal seine Dienstpistole.

»Boss, wenn er platzt -«

Ehe Freddy ausreden konnte, produzierte Perlmutter einen ohrenbetäubenden Furz. Augenblicklich stank es infernalisch, aber Pearly schien das nicht zu bemerken. Sein Kopf fiel, mit halb geöffneten Augen und einem Ausdruck seliger Erleichterung auf dem Gesicht zurück an den Sitz.

»Ach du heilige SCHEISSEi«, rief Freddy und kurbelte sein Fenster ganz herunter, obwohl es im Wageninnern schon zog wie Hechtsuppe.

Fasziniert sah Kurtz zu, wie sich Perlmutters aufgeblähter Bauch wieder senkte. Es war also noch nicht so weit, und das war wahrscheinlich auch besser so. Das Ding, das da in Perlmutter heranwuchs, konnte ihnen vielleicht noch gelegen kommen. Das war nicht sehr wahrscheinlich, aber durchaus denkbar. Alle Dinge dienen dem Herrn, hieß es in der Heiligen Schrift, und vielleicht galt das ja auch für die Kackwiesel.

»Halten Sie durch, Soldat«, sagte Kurtz, tätschelte Pearly mit der einen Hand die Schulter und legte die Pistole mit der anderen neben sich auf die Rückbank. »Halten Sie durch und denken Sie an den lieben Gott.«

»Ich scheiß auf den lieben Gott«, sagte Perlmutter mürrisch, und das erstaunte Kurtz nun doch ein wenig. Er hätte sich nie träumen lassen, dass Perlmutter so lästerlich daherreden konnte.

Vor ihnen leuchteten die Bremslichter des Schneepflugs auf, und er fuhr rechts ran.

»Oh, oh«, sagte Kurtz.

»Was soll ich tun, Boss?«

»Halten Sie hinter ihm«, sagte Kurtz. Er hörte sich frohgemut an, nahm aber wieder die Pistole zur Hand. »Wollen doch mal sehen, was der gute Mann will.« Aber er ahnte es schon. »Freddy, was hören Sie von unseren alten Freunden? Können Sie sie empfangen?«

Sehr zögerlich sagte Freddy: »Nur Owen. Nicht den Typ, den er bei sich hat oder den Typ, den sie jagen. Owen ist nicht mehr auf der Straße. Er ist in einem Haus. Spricht mit jemandem.«

»Ein Haus in Derry?«

»Ja.«

Und jetzt kam der Fahrer des Schneepflugs in dicken grünen Gummistiefeln und einem Kapuzenparka, der auch einem Eskimo gut angestanden hätte, durch den Schnee zu ihnen gestapft. Um die untere Gesichtshälfte hatte er sich einen dicken Wollschal gewickelt, dessen Enden hinter ihm im Wind flatterten, und Kurtz brauchte keine Telepathie, um zu wissen, dass ihm seine Frau oder Mutter den gestrickt hatte.

Der Fahrer beugte sich zum Fenster herunter und rümpfte die Nase, als er den Gestank von Schwefel und Äthylalkohol wahrnahm. Er betrachtete argwöhnisch Freddy, den halb bewusstlosen Perlmutter und dann Kurtz auf der Rückbank, der sich vorbeugte und ihn munter und interessiert anschaute. Kurtz hielt es vorläufig für klüger, die Waffe neben seinem linken Knie zu verbergen.

»Ja, Käptn?«, fragte Kurtz.

»Ich habe einen Funkspruch bekommen, von einem gewissen Randall.« Der Pflugfahrer sprach lauter, um sich bei diesem Wind verständlich zu machen. »General Randall. Hat behauptet, er würde über Satellit direkt vom Cheyenne Mountain in Wyoming aus sprechen.«

»Der Name sagt mir nichts, Käptn«, sagte Kurtz in aufgeräumtem Tonfall und ignorierte dabei völlig Perlmutter, der stöhnte: »Sie lügen, Sie lügen, Sie lügen.«

Der Mann schaute kurz zu ihm hinüber und sah dann wieder Kurtz an. »Er hat mir ein Codewort genannt. Blue Exit. Sagt Ihnen das irgendwas?«

»Mein Name ist Bond, James Bond«, sagte Kurtz und lachte. »Da hat Ihnen jemand einen Streich gespielt, Käptn.«

»Ich soll Ihnen ausrichten, dass Ihr Teil der Mission beendet ist und Ihr Vaterland Ihnen dankt.«

»Hat er auch irgendwas von einer goldenen Armbanduhr gesagt, Bürschchen?«, fragte Kurtz mit funkelndem Blick.

Der Fahrer befeuchtete sich die Eippen. Es war schon interessant, fand Kurtz. Er konnte ganz genau sehen, wann der Mann beschloss, dass er es hier mit einem Wahnsinnigen zu tun hatte.

»Von einer goldenen Armbanduhr weiß ich nichts. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich Sie nicht weiter bringen kann. Nicht ohne Genehmigung.«

Kurtz hob die Pistole und richtete sie auf das Gesicht des Mannes. »Hier haben Sie Ihre Genehmigung, Bursche, in dreifacher Ausfertigung und unterschrieben. Wird das reichen?«

Der Pflugfahrer betrachtete die Waffe mit ausdrucksloser Miene. Er wirkte nicht sonderlich eingeschüchtert. »Ja, das sieht schon mal nicht schlecht aus.«

Kurtz lachte. »Guter Mann! Sehr guter Mann! Dann lassen Sie uns fahren. Und machen Sie ein bisschen schneller, Gott vergelt's. Es gibt da jemanden in Derry, den ich ...« Kurtz suchte nach dem treffenden Wort, und dann fand er es. »... den ich demobilisieren muss.«

Perlmutter lachte stöhnend auf. Der Pflugfahrer schaute zu ihm hinüber.

»Achten Sie nicht auf ihn. Er ist schwanger«, sagte Kurtz

in vertraulichem Ton. »Gleich wird er noch Austern und saure Gurken verlangen.«

»Schwanger«, wiederholte der Mann mit vollkommen ausdrucksloser Stimme.

»Ja, aber kümmern Sie sich nicht darum. Das ist nicht Ihr Problem. Es geht jetzt darum, Bursche -« Kurtz beugte sich vor und sprach in herzlichem, vertraulichem Ton über den Lauf seiner Dienstpistole hinweg, »- dass dieser Mann, den ich erwischen muss, jetzt in Derry ist. Ich rechne damit, dass er bald wieder aufbricht, und ich würde sagen, er weiß, dass ich hinter ihm her bin -«

»Das weiß er auf jeden Fall«, sagte Freddy Johnson. Er kratzte sich erst seitlich am Hals und dann im Schritt.

»- und in der Zwischenzeit«, fuhr Kurtz fort, »möchte ich seinen Vorsprung etwas wettmachen. Wollen Sie Ihren runzligen Arsch jetzt also in Bewegung setzen oder was?«

Der Pflugfahrer nickte und ging dann zurück zu seinem Schneepflug. Es wurde allmählich hell. Da geht nun höchstwahrscheinlich zum letzten Mal in meinem Leben die Sonne auf, dachte Kurtz milde verwundert.

Perlmutter wimmerte leise vor Schmerz. Das ging eine ganze Weile so, und dann schwoll es zu einem Schrei an. Er hielt sich wieder den Bauch.

»O Gott«, sagte Freddy. »Schaun Sie sich seinen Bauch an, Boss. Der geht auf wie Hefeteig.«

»Tief durchatmen«, sagte Kurtz und tätschelte Perlmutter gutmütig die Schulter. Vor ihnen hatte sich der Schneepflug wieder in Bewegung gesetzt. »Tief durchatmen, Bürschchen. Entspannen Sie sich. Entspannen Sie sich, und denken Sie an was Schönes.«

IO

Noch vierzig Meilen bis Derry. Vierzig Meilen noch zwischen Owen und mir, dachte Kurtz. Gar nicht mal so schlecht. Dich hol ich mir, Bursche. Ich muss dich zur Schule bringen. Ich muss dich lehren, was du über die Kurtz-Grenze vergessen hast.

Zwanzig Meilen später waren die anderen immer noch in Derry — dies sowohl Freddy als auch Perlmutter zufolge, nur dass sich Freddy da anscheinend nicht mehr so sicher war. Pearly hingegen sagte, Owen und der andere sprächen mit der Mutter. Und die Mutter wolle ihn nicht gehen lassen.

»Wen gehen lassen?«, fragte Kurtz. Es interessierte ihn kaum. Diese Mutter hielt sie in Derry fest und ermöglichte es ihnen, den Vorsprung aufzuholen, also mochte Gott dieser Mutter beistehen, ganz egal, wer sie war und welche Absichten sie verfolgte.

»Ich weiß es nicht«, sagte Pearly. Seit Kurtz' Gespräch mit dem Pflugfahrer hatte sich sein Bauch relativ ruhig verhalten, aber er klang erschöpft. »Ich kann es nicht sehen. Da ist jemand, aber es ist so, als gäbe es da keine Gedanken, in die man eindringen könnte.«

»Freddy?«

Freddy schüttelte den Kopf. »Owen krieg ich nicht mehr rein. Ich höre kaum noch den Typ da im Pflug. Das ist... ich weiß nicht... als würde man ein Funksignal nicht mehr reinkriegen. «

Kurtz beugte sich vor und schaute sich den Ripley auf Freddys Wange etwas genauer an. In der Mitte war er immer noch kräftig rötlich orangefarben, aber an den Rändern wurde er allmählich aschgrau.

Er geht ein, dachte Kurtz. Entweder stirbt er an Freddys Stoffwechsel oder an den Umweltbedingungen. Owen hat Recht gehabt. Schau einer an.

Nicht dass das irgendwas änderte. Die Grenze blieb die Grenze, und Owen hatte sie übertreten.

»Der Typ im Pflug«, sagte Perlmutter mit erschöpfter Stimme.

»Was ist mit ihm, Bursche?«

Aber Perlmutter musste gar nicht darauf antworten. Vor ihnen ragte aus dem Schneegestöber ein Schild mit der Aufschrift Ausfahrt 32 grandview/grandview Station auf. Mit einem Mal beschleunigte der Schneepflug und hob dabei seine Pflugschar. Plötzlich fuhr der Humvee wieder durch über dreißig Zentimeter hohen Pulverschnee. Der Pflugfahrer machte sich nicht die Mühe zu blinken, fuhr einfach mit siebzig Sachen vom Highway ab und zog dabei einen großen Schneefächer hinter sich her.

»Sollen wir ihm folgen?«, fragte Freddy. »Ich kann ihn einholen, Boss.«

Kurtz konnte sich gegen das starke Verlangen wehren, Freddy genau das zu befehlen - sie hätten den Schweinekerl eingeholt, auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht und ihn gelehrt, was mit Leuten geschah, die die Grenze übertraten. Hätten ihm ein wenig der für Owen Underhill bestimmten Medizin verabreichen. Bloß dass der Schneepflug größer war als der Humvee, viel größer, und wie wollten sie ihn aufhalten?

»Bleiben Sie auf dem Highway, Bursche«, sagte Kurtz und lehnte sich zurück. »Wir lassen uns nicht beirren.« Dann sah er mit großem Bedauern den Schneepflug im eiskalten, windigen Morgen verschwinden. Ihm blieb nicht einmal die Hoffnung, dass sich der verdammte Fahrer bei Freddy oder Archie Perlmutter angesteckt hatte, denn das Zeug ging ja ein.

Sie fuhren weiter, im Schnee nun nur mit dreißig Sachen, aber Kurtz dachte, die Straßenverhältnisse würden besser werden, je weiter sie nach Süden kamen. Der Sturm hatte sich fast gelegt.

»Und meinen Glückwunsch«, sagte er zu Freddy.

»Wieso?«

Kurtz tätschelte ihm die Schulter. »Sie sind anscheinend auf dem Wege der Besserung.« Er wandte sich an Perlmutter. »Aber bei Ihnen habe ich da so meine Zweifel, Bürsch-chen.«

11

Hundert Meilen nördlich von Kurtz' gegenwärtiger Position und keine zwei Meilen von der Kreuzung entfernt, an der man Henry festgenommen hatte, stand die neue Kommandantin des Imperial-Valley-Kaders - eine äußerst gut aussehende Frau Ende vierzig - unter einer Kiefer in einem Tal, das den Codenamen Clean Sweep One erhalten hatte. Clean Sweep One war buchstäblich ein Tal des Todes. Überall lagen Leichenberge, und die meisten Leichen trugen waidmän-nisches Orange. Es waren über hundert. Wenn sich die Leichen mit irgendwas identifizieren ließen, hatte man ihnen das mit einer Banderole um den Hals geklebt. Die meisten Toten trugen ihren Führerschein, aber man sah auch Visa-und Discover-Karten, Krankenversicherungsausweise und Jagdscheine. Eine Frau, die ein großes schwarzes Loch in der Stirn hatte, trug ihren Blockbuster-Videotheksausweis.

Kate Gallagher stand neben dem größten Leichenhaufen und schloss eben eine grobe Zählung ab, ehe sie dann ihren Bericht schreiben würde. In der Hand hielt sie einen Palm Pilot, ein Kleincomputer, um den sie Adolf Eichmann, der berühmte Buchhalter des Todes, bestimmt beneidet hätte. Die Palm Pilots hatten zuvor nicht funktioniert, aber jetzt hatten sich die ganzen coolen elektronischen Gerätschaften anscheinend erholt.

Kate trug einen Kopfhörer mit einem Mikrofon, das vor ihrer Atemmaske hing. Hin und wieder erkundigte sie sich bei jemandem oder gab einen Befehl. Kurtz hatte sich eine Nachfolgerin ausgesucht, die ihren Dienst ebenso begeistert wie effizient versah. Sie schätzte beim Zusammenzählen, dass sie mindestens sechzig Prozent der Ausbrecher erwischt hatten. Stinknormale Amerikaner hatten aufbegehrt, und das war sicherlich eine Überraschung gewesen, aber auf lange Sicht waren die meisten von ihnen eben keine Überlebenskünstler. So einfach war das.

»Yo, Katie-Kate.«

Jocelyn McAvoy tauchte aus dem Wald am Südende des Tals auf, ohne Kapuze auf dem Kopf, das kurze Haar mit einem grünen Seidentuch bedeckt, das Maschinengewehr am Riemen über der Schulter. Auf der Brust ihres Parkas hatte sie einen Blutspritzer.

»Hab ich dich erschreckt, was?«, fragte sie die neue Befehlshaberin.

»Du hast meinen Blutdruck vielleicht um ein, zwei Punkte in die Höhe getrieben, ja.«

»Also, Quadrant vier ist sauber, vielleicht senkt ihn das wieder.« McAvoys Augen funkelten. »Wir haben über vierzig. Jackson hat die harten Fakten für dich, und apropos hart, ich könnte gerade sehr gut einen harten -«

»Verzeihung? Ladies?«

Sie drehten sich um. Aus den eingeschneiten Sträuchern am Nordende des Tals trat eine Gruppe von sechs Männern und zwei Frauen hervor. Die meisten waren orangefarben gekleidet. Ihr Anführer, ein gedrungener Fettwanst, trug einen Overall wie die Angehörigen der Blue Group und einen Parka darüber. Er hatte auch noch seine durchsichtige Atemmaske auf, obwohl er unter dem Mund ein Ripley-Bärtchen hatte, das ganz sicher nicht den Vorschriften entsprach. Sie alle hielten automatische Waffen.

Gallagher und McAvoy konnten eben noch einen großäugigen, verdutzten Blick tauschen. Dann langte Jocelyn McAvoy nach ihrem Maschinengewehr und Kate Gallagher nach dem Browning, den sie an den Baumstamm gelehnt hatte. Doch weiter kamen sie nicht. Der Schusslärm war ohrenbetäubend. McAvoy wurde fast fünf Meter weit durch die Luft geschleudert. Einer ihrer Stiefel flog davon.

»Das war für Larry!«, schrie eine der orangefarben gekleideten Frauen. »Das war für Larry, ihr Hexen, das war für Larry!«

12

Als sich der Pulverdampf verzogen hatte, versammelte der Dicke mit dem Ripley-Spitzbart seine Gruppe neben der auf dem Bauch liegenden Leiche von Kate Gallagher, die in West Point die Neuntbeste ihres Jahrgangs gewesen war, ehe sie mit der Krankheit namens Kurtz zu tun bekommen hatte. Er beschlagnahmte ihr Gewehr, das besser war als seines.

»Ich glaube fest an die Demokratie«, sagte er, »und ihr könnt machen, was ihr wollt, aber ich breche jetzt nach Norden auf. Ich weiß nicht, wie lange ich brauchen werde, bis ich den Text der kanadischen Nationalhymne auswendig kann, aber das werde ich dann schon sehen.«

»Ich gehe mit dir«, sagte einer der Männer, und schnell stellte sich heraus, dass sie alle mitgehen wollten. Ehe sie die Lichtung verließen, bückte sich der Anführer noch und hob den Palm Pilot aus einer Schneewehe auf.

»So einen wollte ich immer schon haben«, sagte Emil »Dawg« Brodsky. »Ich steh auf diese ganzen neuen Geräte.«

Sie verließen das Tal des Todes in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und brachen nach Norden auf. Um sie her erklangen zwar noch vereinzelt Schüsse, aber im Grunde war die Operation Clean Sweep beendet.

Mr. Gray hatte einen weiteren Mord begangen und ein weiteres Fahrzeug gestohlen, diesmal einen kommunalen Schneepflug. Jonesy hatte es nicht mitangesehen. Mr. Gray, der sich anscheinend damit abgefunden hatte, dass er Jonesy nicht aus dem Büro herausbekam (zumindest nicht, solange er diesem Problem nicht seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit widmen konnte), hatte sich entschlossen, dann eben das Nächstbeste zu tun, und das war, ihn von der Außenwelt auszusperren. Jetzt glaubte Jonesy zu wissen, wie sich Fortunato in Das Gebinde Amontillado gefühlt haben musste, als Montressor ihn in seinem Weinkeller eingemauert hatte.

Es war geschehen kurz nachdem Mr. Gray mit dem Streifenwagen auf die nach Süden führende Spur des Flighways eingebogen war (zurzeit gab es nur diese eine, und es war sehr glatt). Jonesy hatte sich gerade in einem Wandschrank befunden und das verfolgt, was er für eine absolut geniale Idee gehalten hatte.

Mr. Gray hatte also seinen Telefonanschluss gekappt? Na gut, dann würde er sich einfach eine andere Kommunikationsmöglichkeit beschaffen, genau wie er sich den Thermostat beschafft hatte, um die Fleizung herunterzuregeln, als Mr. Gray versucht hatte, ihn mit der Flitze aus dem Zimmer zu treiben. Ein Faxgerät wäre genau das Richtige, be-schloss er. Und wieso auch nicht? Diese ganzen Geräte waren doch ohnehin nur Symbole, nur Visualisierungen, die ihm dabei helfen sollten, die Kräfte zu bündeln und auszuüben, die er seit über zwanzig Jahren in sich hatte. Mr. Gray hatte mitbekommen, dass er diese Kräfte hatte, und nach seiner ersten Bestürzung darüber war er dazu übergegangen, Jonesy sehr effektiv davon abzuhalten, sie auszuüben. Jetzt musste Jonesy nur Wege finden, die um die Straßensperren, die Mr. Gray aufgestellt hatte, herumführten, genau wie

Mr. Gray auch immer neue Wege fand, um weiter nach Süden zu gelangen.

Jonesy schloss die Augen und stellte sich ein Faxgerät vor wie das im Büro der historischen Fakultät, nur dass er es in den Wandschrank seines neuen Büros versetzte. Dann - er kam sich vor wie Aladin, der an der Wunderlampe rieb (nur dass ihm hier anscheinend unendlich viele Wünsche gewährt wurden, solange er es nicht übertrieb) - stellte er sich auch noch einen Stapel Papier und daneben einen Bleistift Marke Berol Black Beauty vor. Und dann ging er in den Wandschrank und sah nach, wie er das gemacht hatte.

Auf den ersten Blick gar nicht schlecht ... nur dass ihm der Bleistift ein wenig unheimlich vorkam: Er war nagelneu und makellos angespitzt und trotzdem angenagt. Aber wie hätte es auch anders sein können? Biber war es gewesen, der immer Black-Beauty-Bleistifte benutzt hatte, auch in der Grundschule schon. Die anderen hatten immer die üblichen gelben von Faber dabei gehabt.

Das Faxgerät sah einwandfrei aus. Es stand auf dem Boden unter baumelnden Kleiderbügeln, an denen eine Jacke hing (der hellorangefarbene Parka, den ihm seine Mutter zu seinem ersten Jagdausflug gekauft hatte - und dann hatte er ihr noch, mit der Fland auf dem Flerzen, versprechen müssen, ihn aber auch wirklich immer zu tragen, wenn er sich draußen aufhielt), und summte ermutigend.

Enttäuschung machte sich erst breit, als er sich davor hinkniete und las, was das beleuchtete Display anzeigte: gib auf

JONESY, KOMM RAUS.

Er nahm den seitlich angebrachten Flörer ab und hörte Mr. Grays aufgezeichnete Stimme sagen: »Gib auf, Jonesy. Komm raus. Gib auf, Jonesy. Komm raus -«

Lautes Pochen, fast wie Donnerschläge, ließ ihn mit einem Schrei aufspringen. Im ersten Moment dachte er, Mr. Gray würde mit einer Polizei-Ramme die Tür aufbrechen.

Aber es kam nicht von der Tür. Es kam vom Fenster, und

in mancher Hinsicht war das noch schlimmer. Mr. Gray hatte zwei schlichte graue Fensterläden - anscheinend aus Stahl - vor seinem Fenster angebracht. Jetzt war er nicht nur gefangen, er konnte auch nichts mehr sehen.

Auf ihren Innenseiten stand, durch das Fensterglas gut lesbar: gib auf! komm raus! Jonesy fiel eine Szene aus dem Zauberer von Oz ein, in der quer über den Himmel ergib dich, dorothy geschrieben stand, und er wollte lachen, konnte aber nicht. Das hier war nicht lustig. Das war grauenhaft.

»Nein!«, schrie er. »Nimm die wieder weg! Bau die wieder ab, verdammt noch mal!«

Keine Reaktion. Jonesy hob die Hände, wollte das Glas einschlagen und an die stählernen Fensterläden pochen, dachte dann aber: Spinnst du? Das ist doch genau das, was er will! Sobald du das Fenster einschlägst, verschwinden die Fensterläden, und dann ist Mr. Gray hier drin. Und du bist erledigt, mein Lieber.

Er spürte Bewegungen - das Rumpeln des Schneepflugs. Wo waren sie mittlerweile? In Waterville? In Augusta? Sogar schon weiter südlich? Schon in dem Bereich, in dem der Niederschlag als Regen gefallen war? Nein, wahrscheinlich nicht. Mr. Gray hätte den Schneepflug gegen ein schnelleres Fahrzeug eingetauscht, wenn sie schon aus dem Schnee heraus gewesen wären. Aber sie würden aus dem Schnee herauskommen, und zwar bald. Denn sie fuhren nach Süden. Und wohin?

Eigentlich könnte ich jetzt auch tot sein, dachte Jonesy, als er bedrückt die geschlossenen Fensterläden mit ihrer höhnischen Botschaft betrachtete.

Eigentlich könnte ich jetzt auch tot sein.

Letztlich war es dann Owen, der Roberta Cavell am Arm nahm - er dachte dabei immer an die rasend schnell vergehende Zeit und war sich nur zu bewusst, dass Kurtz alle anderthalb Minuten eine Meile näher kam - und ihr erzählte, warum sie Duddits mitnehmen mussten, auch wenn er noch so schwer krank war. Selbst unter diesen Umständen hätte Henry nicht gewusst, wie er den Satz das Schicksal der Welt hängt möglicherweise davon ab von sich geben und dabei keine Miene hätte verziehen sollen. Underhill, der sein ganzes Leben beim Militär verbracht hatte, konnte das und tat es auch.

Duddits stand da, hielt Henry umarmt und schaute wie gebannt mit seinen strahlenden grünen Augen zu ihm hinab. Wenigstens diese Augen und dieser Blick hatten sich nicht verändert. Und auch nicht das Gefühl, das sie immer gehabt hatten, wenn sie mit Duddits zusammen waren - dass alles in Ordnung war oder es doch bald sein würde.

Roberta sah Owen an, und ihr Gesicht schien mit jedem Satz, den er sprach, zu altern. Es war wie auf einer boshaft gemeinten Zeitrafferaufnahme.

»Ja«, sagte sie, »ja, ich habe verstanden, dass ihr Jonesy finden, ihn fangen wollt - aber was hat er denn vor? Und warum hat er es nicht hier gemacht, wenn er doch schon hier war ?«

»Ma'am, auf diese Fragen weiß ich keine Antwort -«

»Assa«, sagte Duddits unvermittelt. »Onzi will Assa.«

Wasser?, fragte Owen Henry in Gedanken. Wieso denn Wasser?

Ist doch jetzt egal, erwiderte Henry, und mit einem Mal war die Stimme in Owens Kopf leiser und schwer zu verstehen. Wir müssen los.

»Ma'am. Mrs. Cavell.« Owen nahm sie ganz behutsam wieder an den Armen. Henry hatte diese Frau sehr gern, obwohl er sie jetzt über zehn Jahre lang auf recht grausame Weise ignoriert hatte, und Owen wusste, warum Henry sie so mochte. Das ging von ihr aus wie ein süßer Duft. »Wir müssen los.«

»Nein. O bitte nicht.« Jetzt kamen ihr wieder die Tränen. Bitte nicht weinen, hätte Owen gern gesagt. Es ist schon alles schlimm genug. Jetzt bitte nicht auch noch weinen.

»Ein Mann ist hinter uns her. Ein sehr böser Mann. Wir müssen weg sein, wenn er hier eintrifft.«

Robertas verzweifeltes Gesicht zeigte plötzlich große Entschlossenheit. »Also gut. Wenn es sein muss. Aber ich komme mit.«

»Nein, Roberta«, sagte Henry.

»Doch! Ich kann mich um ihn kümmern ... ihm seine Tabletten geben ... sein Prednisone ... Ich nehme die Zitronentupfer mit und -«

»Amma, du aist ier.«

»Nein, Duddie, nein!«

»Amma, du aist ier. Icha! Icha!« Sicher. Duddits wirkte immer aufgeregter.

»Wir haben wirklich keine Zeit mehr«, sagte Owen. »Roberta«, sagte Henry. »Bitte.«

»Lasst mich mitkommen!«, rief sie. »Er ist doch alles, was ich habe!«

»Amma«, sagte Duddits. Seine Stimme klang kein bisschen kindlich. »Uh ... aist... 1ER.«

Sie sah ihn eindringlich an, und aus ihrem Gesicht wich alle Hoffnung. »Also gut«, sagte sie. »Nur noch einen Augenblick. Ich muss etwas holen.«

Sie ging in Duddits' Zimmer und kam mit einer Papiertüte wieder, die sie Henry gab.

»Das sind seine Tabletten«, sagte sie. »Das Prednisone muss er um neun Uhr nehmen. Vergesst das nicht, sonst fängt er an zu keuchen und hat Schmerzen in der Brust. Er darf auch Percocet nehmen, wenn er darum bittet, und er wird wahrscheinlich darum bitten, denn es tut ihm weh, draußen in der Kälte zu sein.«

Sie sah Henry traurig, aber nicht vorwurfsvoll an. Fast wünschte er, sie hätte ihm Vorwürfe gemacht. Er hatte sich in seinem ganzen Leben nicht so geschämt wie jetzt. Nicht weil Duddits Leukämie hatte; nein, weil er es schon so lange hatte und keiner von ihnen etwas davon gewusst hatte.

»Und dann noch seine Zitronentupfer, aber nur für die Lippen, denn er hat oft Zahnfleischbluten, und dann brennen die Tupfer. Da sind Wattebäusche drin, falls er Nasenbluten bekommt. Ach ja, und dann der Katheter. Siehst du, da an seiner Schulter?«

Henry nickte. Ein Plastikschlauch, der aus einem Verband ragte. Als er das sah, hatte er ein eigenartig starkes Dejä-vu-Gefühl.

»Wenn ihr draußen seid, muss der bedeckt sein ... Dr. Briscoe lacht mich aus deswegen, aber ich mache mir immer Sorgen, dass sonst die Kälte in ihn hineinkommt... Da reicht ein Schal ... oder auch ein Taschentuch ...« Sie weinte wieder, und Schluchzer brachen aus ihr hervor.

»Roberta -«, setzte Henry an. Jetzt sah er auch auf die Uhr.

»Ich kümmere mich drum«, sagte Owen. »Ich habe meinen Vater bis zum Ende gepflegt. Ich kenne mich mit Predni-sone und Percocet aus.« Und nicht nur das: auch mit stärkeren Steroiden und Schmerzmitteln. Und am Ende dann Marihuana, Methadon und schließlich reines Morphium, das so viel besser war als Heroin. Morphium, der schnittigste Flitzer des Todes.

Er nahm sie nun in seinem Kopf wahr, ein eigenartiges, kitzelndes Gefühl wie von nackten Füßchen, die so leicht waren, dass sie den Boden kaum berührten. Es kitzelte, aber es war nicht unangenehm. Sie versuchte herauszufinden, ob das, was er über sich und seinen Vater gesagt hatte, der Wahrheit entsprach oder gelogen war. Das war die kleine

Gabe, die ihr außergewöhnlicher Sohn ihr verliehen hatte, das wurde Owen klar, und sie nutzte sie schon so lange, dass sie es gar nicht mehr mitbekam, wenn sie sie einsetzte ... wie Henrys Freund Biber ewig an seinen Zahnstochern genagt hatte. Bei ihr war die Gabe nicht so stark wie bei Henry, aber sie war nichtsdestotrotz vorhanden, und Owen war nie im Leben so froh gewesen, dass er gerade die Wahrheit gesagt hatte.

»Das war aber keine Leukämie«, sagte sie.

»Es war Lungenkrebs. Mrs. Cavell, wir müssen jetzt wirklich

»Ich muss ihm noch etwas holen.«

»Roberta, wir können wirklich -«, setzte Henry an.

»Bin gleich wieder da.« Sie eilte in die Küche.

Owen bekam zum ersten Mal richtige Angst. »Kurtz und Freddy und Perlmutter - Henry, ich weiß nicht mehr, wo sie sind! Ich habe sie verloren!«

Henry hatte die Papiertüte geöffnet und schaute hinein. Dann starrte er wie gebannt das an, was dort auf der Schachtel Glycerintupfer mit Zitronengeschmack lag. Er antwortete Owen, aber seine Stimme schien vom anderen Ende eines bisher unentdeckten, ja, ungeahnten Tals zu kommen. Es gab so ein Tal, das wusste er jetzt. Ein Tal der Jahre. Er hätte nicht behaupten wollen oder können, dass er nie vermutet hatte, dass es so etwas gab, aber wie um Gottes willen hatte er davon so wenig ahnen können?

»Sie sind gerade an der Ausfahrt 29 vorbeigefahren«, sagte er. »Sie sind zwanzig Meilen hinter uns, vielleicht sogar näher.«

»Was ist denn mit dir?«

Henry langte in die braune Papiertüte und holte das kleine Fadengeflecht hervor, das einem Spinnennetz ähnlich sah und hier über Duddits' Bett gehangen hatte und früher, vor Alfies Tod, auch über seinem Bett in ihrem Haus in der Maple Lane.

»Wo hast du den her, Duddits?«, fragte er, wusste es aber natürlich schon. Dieser Traumfänger war kleiner als der, der im Hauptraum ihrer Hütte gehangen hatte, sah sonst aber genauso aus.

»leba«, sagte Duddits. Er hatte Henry die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Als ob er es immer noch nicht so ganz glauben konnte, dass Henry da war. »At leba mi eschitt. Uh mein Einachn etze Oche.«

Obwohl seine Gedankenlese-Fähigkeiten rapide schwanden, während sein Körper die Byrus-Infektion abwehrte, verstand Owen das auf Anhieb: Hat Biber mir geschickt, hatte Duddits gesagt, zu meinem Weihnachten letzte Woche. Menschen mit Downsyndrom hatten Schwierigkeiten, zeitliche Zusammenhänge auszudrücken, die sich in die Vergangenheit oder die Zukunft erstreckten, und Owen vermutete, dass für Duddits die Vergangenheit immer letzte Woche und die Zukunft immer nächste Woche war. Owen fand, wenn alle so dächten, gäbe es viel weniger Kummer und Verbitterung auf der Welt.

Henry betrachtete den kleinen Traumfänger noch für einen Moment und legte ihn dann wieder in die Papiertüte, als Roberta wiederkam. Duddits strahlte über beide Wangen, als er sah, was sie ihm mitgebracht hatte. »Uuhbih-duuh!«, rief er. »Uuhbih-duuh Anschocks!« Er nahm die Lunchbox und küsste Roberta auf die Wangen.

»Owen«, sagte Henry mit strahlendem Blick. »Ich habe äußerst gute Neuigkeiten.«

»Schieß los.«

»Die Schweine müssen einen Umweg machen - kurz vor Ausfahrt 28 liegt ein Sattelzug quer auf dem Highway. Das wirft sie zehn, vielleicht sogar zwanzig Minuten zurück.«

»Gott sei Dank. Das müssen wir ausnutzen.« Er sah zu dem Kleiderständer in der Ecke hinüber, an dem ein großer blauer Parka hing, mit dem knallroten Aufdruck red Sox Winter ball hinten drauf. »Ist das deiner, Duddits?«

»Eine!«, sagte Duddits und nickte lächelnd. »Eine Acke!« Und als Owen danach griff: »Du äs sehn wie wir Osie fun'n ham.« Auch das verstand Owen, und es jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Du hast gesehen, wie wir Josie gefunden haben.

Ja, das hatte er ... und Duddits hatte ihn dabei gesehen. Heute Nacht erst, oder hatte Duddits ihn auch an diesem Tag vor zwanzig Jahren gesehen? Konnte Duddits mit seiner Gabe auch so eine Art Zeitreise unternehmen?

Es war nicht der richtige Zeitpunkt für solche Fragen, und darüber war Owen fast froh.

»Ich hatte zwar gesagt, dass ich ihm seine Lunchbox nicht packe, aber jetzt habe ich es natürlich doch gemacht.«

Roberta sah sie an - sah Duddits an, der sie erst mit einen und dann mit der anderen Hand hielt, während er seinen riesigen Parka anzog, der auch ein Geschenk der Boston Red Sox war. Sein Gesicht hob sich unglaublich fahl von dem leuchtenden Blau der Jacke und dem hellen Gelb der Schachtel ab. »Ich habe gewusst, dass er fortgeht. Und dass ich hier bleibe.« Sie sah Henry in die Augen. »Darf ich bitte mit, Henry?«

»Wenn du mitkommst, könnte es sein, dass du vor seinen Augen umkommst«, sagte Henry - und hasste diese Grausamkeit und hasste sich selbst auch dafür, dass ihn die Arbeit, die er sein ganzes Leben lang geleistet hatte, so gut darauf vorbereitet hatte, jetzt auf genau die richtigen Knöpfe zu drücken. »Willst du, dass er das sieht, Roberta?«

»Nein, natürlich nicht.« Und dann, und das traf ihn mitten ins Herz: »Du Mistkerl.«

Sie ging zu Duddits, schob Owen beiseite und schloss ihrem Sohn flugs den Reißverschluss. Dann nahm sie ihn an den Schultern, zog ihn zu sich herunter und sah ihm starr in die Augen. Diese zierliche, dabei so starke Frau. Und ihr großer, blasser Sohn, der in seinem Parka fast verschwand. Roberta hatte aufgehört zu weinen.

»Sei schön brav, Duddie.«

»Bin bav, Amma.«

»Pass auf Henry auf.«

»Ach ich, Amma. Ich ass auf Ennie auf.«

»Und immer schön warm anziehen.«

»Ja.« Immer noch gehorsam, aber jetzt auch ein klein wenig ungeduldig, denn er wollte los, und woran Henry das alles erinnerte: wie sie losgezogen waren, um Eis zu holen, wie sie zum Minigolf gefahren waren (Duddits war bei diesem Spiel erstaunlich gut gewesen, und nur Pete hatte ihn hin und wieder schlagen können), wie sie ins Kino gegangen waren; immer hatte es geheißen: Pass auf Henry auf oder pass auf Jonesy auf oder pass auf deine Freunde auf; immer hatte es geheißen: Sei schön brav, Duddie und Bin bav, Amma.

Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß.

»Ich liebe dich, Douglas. Du bist mir immer ein guter Sohn gewesen. Und ich liebe dich sehr. Jetzt gib mir einen

KUSS.«

Er küsste sie; sie streckte die Hand aus und streichelte seine Wange, die sich mit den Bartstoppeln wie Sandpapier anfühlte. Henry konnte es kaum ertragen zuzusehen, sah aber trotzdem hin, war dem so wehrlos ausgeliefert wie eine Fliege einem Spinnennetz, in dem sie sich verfangen hatte. Und jeder Traumfänger war auch so eine Falle.

Duddits gab ihr noch einen flüchtigen kuss, schaute dabei mit seinen strahlenden grünen Augen aber schon zu Henry und der Haustür hinüber. Duddits wollte dringend los. Weil er wusste, dass die Leute, die Henry und seinen Freund verfolgten, schon so nah waren? Weil es ein Abenteuer war, genau wie die Abenteuer, die sie zu fünft in ihrer Kindheit bestanden hatten? Oder sowohl als auch? Ja, wahrscheinlich. Roberta ließ ihn los, und ihre Hände lösten sich zum letzten Mal von ihrem Sohn.

»Roberta«, sagte Henry, »wieso hast du keinem von uns davon erzählt? Wieso hast du nicht angerufen?« »Und warum seid ihr nie vorbeigekommen?«

Henry hätte vielleicht noch eine andere Frage gestellt -Wieso hat Duddits nicht angerufen? -, aber schon die Frage wäre einer Lüge gleichgekommen. Duddits hatte seit März, als Jonesy seinen Unfall hatte, mehrfach angerufen. Er dachte an Pete, wie er da neben dem umgestürzten Scout im Schnee gesessen, Bier getrunken und immer wieder duddits in den Schnee geschrieben hatte. Duddits, der in seinem Ne-ver-Never-Land, von der Außenwelt abgeschnitten, im Sterben lag, hatte seine Botschaften ausgesandt und nur Schweigen zur Antwort bekommen. Schließlich kam einer von ihnen vorbei, aber nur, um ihn mit nichts weiter als einer Tüte voller Pillen und seiner alten gelben Lunchbox von zu Hause zu entführen. Der Traumfänger war auch kein Trost. Sie hatten es mit Duddits immer nur gut gemeint, sogar schon damals an diesem ersten Tag; sie hatten ihn aufrichtig geliebt. Und doch endete es nun so.

»Pass auf ihn auf, Henry.« Sie wandte sich an Owen. »Und Sie auch. Passen Sie gut auf meinen Sohn auf.«

Henry sagte: »Wir werden uns Mühe geben.«

15

Auf der Dearborn Street konnten sie nicht wenden; sämtliche Auffahrten waren mit Schnee zugepflügt. Im Morgenlicht sah die schlafende Wohngegend aus wie ein Städtchen irgendwo in den Weiten der Tundra Alaskas. Owen legte den Rückwärtsgang ein und brauste mit dem Humvee die Straße zurück, wobei das Heck des massigen Fahrzeugs unbeholfen hin und her wippte. Die hoch angebrachte, stählerne Stoßstange schrammte an einem unter Schnee verborgenen, am Straßenrand abgestellten Auto entlang, und man hörte Glas splittern. Danach durchbrachen sie an der Kreuzung wieder die Straßensperre aus gefrorenem Schnee, schwenkten halsbrecherisch auf die Kansas Street ein und brausten in Richtung Highway. Die ganze Zeit über saß Duddits absolut selbstzufrieden auf der Rückbank, seine Lunchbox auf dem Schoß.

Henry, wieso hat Duddits gesagt, dass Jonesy Wasser will? Was denn für Wasser?

Henry versuchte ihm telepathisch zu antworten, aber Owen konnte ihn nicht mehr hören. Die Byrus-Flecken auf seinem Gesicht waren alle weiß geworden, und als er sich gedankenverloren die Wange kratzte, löste er das Zeug schuppenweise mit den Fingernägeln. Die Haut darunter sah rissig und gerötet aus, aber nicht eigentlich verletzt. Wie man eine Erkältung überwindet, grübelte Henry. Schlimmer ist es eigentlich nicht.

»Assa«, sagte Duddits von der Rückbank aus noch einmal. Er beugte sich vor und sah das große grüne Schild mit der Aufschrift 95 Richtung Süden an. »Onzi will Assa.«

Owen runzelte die Stirn, und toter Byrus rieselte herab wie Haarschuppen. »Was -«

»Ja«, sagte Henry, langte nach hinten und tätschelte Duddits das knöchrige Knie. »Jonesy will Wasser. Aber es ist eigentlich nicht Jonesy, der das Wasser will. Es ist der andere. Den er Mr. Gray nennt.«

16

Roberta ging zurück in Duddits' Zimmer und fing an, die Kleidungsstücke vom Boden aufzusammeln - es machte sie wahnsinnig, wie er immer seine Sachen herumliegen ließ, aber sie vermutete, dass das nun auch ein Ende hatte. Sie war kaum fünf Minuten dabei, da wurden ihr die Beine schwach, und sie musste sich auf den Stuhl am Fenster setzen. Der Anblick des Betts, in dem er einen immer größeren Teil seiner Tage verbracht hatte, quälte sie. Das trübe Morgenlicht auf seinem Kissen, auf dem noch der runde Abdruck seines Kopfs zu sehen war, wirkte unsagbar grausam.

Henry war der Ansicht, sie hätte Duddits gehen lassen, weil sie glaubte, das Schicksal der Welt hinge irgendwie davon ab, dass sie Jonesy fanden, und zwar schnell. Aber das war es nicht. Sie hatte Duddits gehen lassen, weil er es so wollte. Die Sterbenden bekamen signierte Baseballkappen geschenkt; und die Sterbenden durften mit alten Freunden Ausflüge unternehmen.

Aber es war hart.

Es war so hart, ihn zu verlieren.

Sie hielt sich eine Hand voll T-Shirts vors Gesicht, um nicht mehr das Bett ansehen zu müssen, und da war sein Geruch: Johnson's-Shampoo, Dial-Seife und vor allem, am schlimmsten von allem, die Arnikacreme, mit der sie ihm Rücken und Beine einrieb, wenn ihm die Muskeln wehtaten.

In ihrer Verzweiflung suchte sie da draußen nach ihm, versuchte ihn bei den beiden Männern zu erreichen, die wie die Toten gekommen waren und ihn geholt hatten, aber sie erreichte ihn nicht.

Er sperrt mich aus seinen Gedanken aus, dachte sie. Sie hatten all die Jahre (größtenteils) viel Freude gehabt an ihrer ganz alltäglichen Telepathie, die wahrscheinlich nicht groß davon abwich, was die Mütter anderer außergewöhnlicher Kinder erlebten (ein »besonders enges Verhältnis«, hatten sie es bei den Treffen der Selbsthilfegruppe immer genannt, die Alfie und sie hin und wieder besucht hatten), aber das war nun vorbei. Duddits hatte sich eingesperrt, und das hieß, er wusste, dass etwas Schreckliches bevorstand.

Er wusste es.

Mit den T-Shirts immer noch vor dem Gesicht und seinen Geruch in der Nase, fing Roberta an zu weinen.

Kurtz war (größtenteils) guter Laune gewesen, bis er dann im grauen Morgenlicht die blinkenden Signallichter und das Blaulicht der Polizeifahrzeuge sah und dahinter einen riesenhaften Sattelzug, der wie ein toter Dinosaurier auf der Seite lag. Vor ihnen tauchte ein Polizist auf, der so eingemummelt war, dass man von seinem Gesicht nichts mehr erkannte, und winkte sie zu einer Ausfahrt hinüber.

»Mist!«, spie Kurtz. Er hätte große Lust gehabt, seine Dienstpistole zu ziehen und sich den Weg frei zu schießen. Er wusste, dass das in einem Desaster geendet hätte - bei dem liegen gebliebenen Laster liefen weitere Polizisten herum -, aber trotzdem verspürte er dieses fast unbezähmbare Verlangen. Sie waren so nah dran! Sie holten immer mehr auf, Himmelherrgott noch mal! Und dann wurden sie auf diese Weise aufgehalten! »Mist, Mist, Mist!«

»Was soll ich tun, Boss?«, fragte Freddy. Er saß reglos am Steuer und hatte seine Waffe, ein automatisches Gewehr, auf dem Schoß liegen. »Wenn ich voll Stoff gebe, können wir rechts vorbeirauschen. Dann sind wir in einer Minute hier weg.«

Wiederum musste Kurtz gegen das Verlangen ankämpfen, einfach zu sagen: Ja, geben Sie Gas, Freddy, und wenn sich einer dieser Bullen in den Weg stellt, dann machen Sie ihn platt. Freddy konnte vielleicht an dem Laster vorbeikommen ... aber vielleicht auch nicht. Er war doch kein so guter Fahrer, wie er glaubte, das hatte Kurtz bereits festgestellt. Wie viel zu viele Piloten glaubte Freddy fälschlicherweise, dass aus seinen Flugkünsten automatisch ebensolche Fahrkünste resultierten. Und selbst wenn sie vorbeikamen, würden sie doch auffallen. Und das war nicht akzeptabel, nicht nachdem General Waschlappen Randall den Befehl zum Rückzug gegeben hatte. Sein Freifahrtschein aus dem Knast war eingezogen worden. Er war jetzt gewissermaßen Bürgerwehr.

Ich muss jetzt klug sein, dachte er. Dafür bin ich ja schließlich bekannt.

»Sein Sie ein braver Junge, und fahren Sie dahin, wohin er Sie haben will«, sagte Kurtz. »Und ich möchte, dass Sie ihm zuwinken und den erhobenen Daumen zeigen, wenn Sie abfahren. Fahren Sie dann weiter Richtung Süden und bei der ersten Gelegenheit wieder auf den Highway.« Er seufzte. »Der Herr liebt die Feiglinge.« Er beugte sich vor und sah dabei den weiß werdenden Ripley-Flaum in Fred-dys rechtem Ohr. Er flüsterte wie ein leidenschaftlicher Geliebter: »Und wenn Sie Mist bauen, Bürschchen, jage ich Ihnen eine Kugel in den Nacken.« Kurtz berührte die Stelle, wo Schädelknochen und Hals aufeinander trafen. »Genau da.«

Freddys Holzindianergesicht regte sich nicht. »Jawohl, Boss.«

Anschließend packte Kurtz den schon fast im Koma liegenden Perlmutter an der Schulter und rüttelte ihn, bis Pear-Iy endlich die Augen aufschlug.

»Lassense mich in Ruhe, Boss, muss schlafen.«

Kurtz platzierte die Mündung seiner Pistole am Hinterkopf seines vormaligen Adjutanten. »Nichts da. Aufgewacht, Bursche. Zeit für eine kleine Einsatzbesprechung.«

Pearly stöhnte zwar, setzte sich aber doch auf. Als er den Mund aufmachte und etwas sagen wollte, kullerte ihm ein Zahn heraus und auf den Parka. Der Zahn sah makellos aus, fand Kurtz. Schau, Mama, gar keine Löcher.

Pearly berichtete, dass Owen und sein neuer Freund immer noch in Derry seien. Das klang sehr gut. Klang ausgezeichnet. Weniger gute Neuigkeiten gab es eine Viertelstunde später, als Freddy mit dem Humvee eben mühsam über eine verschneite Auffahrt wieder auf den Highway fuhr. Es war die Ausfahrt 28, und sie waren nur noch ein Kreuz von ihrem Ziel entfernt, aber knapp vorbei war eben auch daneben.

»Sie sind wieder unterwegs«, sagte Perlmutter. Er klangt erschöpft und ausgelaugt.

»Verdammt noch eins!« Er war jetzt voller Wut - krankhafter und nutzloser Wut auf Owen Underhill, der nun (zumindest für Abe Kurtz) den ganzen verpatzten Einsatz verkörperte.

Pearly gab ein tiefes Stöhnen von sich, einen Laut äußerster Verzweiflung. Sein Bauch blähte sich wieder auf. Er legte beide Hände darauf, und seine Wangen waren klatschnass von Schweiß. Sein ansonsten wenig bemerkenswertes Gesicht war unter den Schmerzen fast hübsch geworden.

Jetzt gab er wieder einen grausligen Furz von sich, der gar kein Ende nehmen wollte. Das Geräusch erinnerte Kurtz an Geräte, die er gut tausend Jahre zuvor im Ferienlager gebastelt hatte und die aus Blechbüchsen und mit Wachs überzogenen Schnüren bestanden hatten. Schwirrdosen hatten sie sie genannt.

Der Gestank, der den Humvee erfüllte, war der Gestank des roten Tumors, der in Pearlys persönlicher Kläranlage wuchs, sich zunächst von seinen Abfällen ernährt hatte und dann zu den eigentlichen Leckereien übergegangen war. Ganz schön schaurig. Aber es gab auch Positives. Freddy war auf dem Wege der Besserung, und Kurtz hatte sich gar nicht mit dem verdammten Ripley angesteckt (vielleicht war er ja immun dagegen; er hatte jedenfalls schon vor einer Viertelstunde die Atemmaske abgenommen und gleichgültig hinter sich geworfen). Und Pearly war zwar zweifellos krank, aber doch auch wertvoll, ein Mensch, dem ein richtig gutes Radar im Arsch steckte. Deshalb tätschelte Kurtz Pearly die Schulter und ignorierte den Gestank. Früher oder später würde das Ding, das er da in sich trug, herauskommen, und dann war es mit Pearlys Nützlichkeit wahrscheinlich vorbei, aber darüber würde sich Kurtz erst Gedanken machen, wenn es so weit war.

»Halten Sie durch«, sagte Kurtz liebevoll. »Sagen Sie dem Ding einfach, es soll sich wieder schlafen legen.«

»Sie ... verdammter... Idiot!«, keuchte Perlmutter.

»Ja, das bin ich«, pflichtete Kurtz bei. »Ganz wie Sie meinen, Bursche.« Und er war ja tatsächlich ein Idiot. Owen hatte sich zwar als feiger Kojote erwiesen, aber wer hatte ihn denn überhaupt erst in den Hühnerstall gelassen?

Sie kamen jetzt zur Ausfahrt 27. Kurtz blickte über die Straße und bildete sich ein, die Spuren des Humvees sehen zu können, den Owen fuhr. Irgendwo da vorne, links oder rechts von der Überführung, stand das Haus, zu dem Owen und sein neuer Freund gefahren waren. Was wollten sie dort?

»Sie haben Duddits abgeholt«, sagte Perlmutter. Sein Bauch sank wieder in sich zusammen, und die schlimmsten Qualen waren anscheinend vorbei. Zumindest fürs Erste. »Duddits? Was soll denn das für ein Name sein?«

»Ich weiß es nicht. Ich empfange das von seiner Mutter. Ihn kann ich nicht sehen. Er ist anders, Boss. Es ist fast so, als ob er ein Grauer und kein Mensch wäre.«

Kurtz lief es kalt den Rücken hinunter.

»Seine Mutter sieht in diesem Duddits sowohl einen Jungen als auch einen Mann«, sagte Pearly. Seit sie Gosselin's verlassen hatten, war es das erste Mal, dass Pearly Kurtz aus freien Stücken etwas mitteilte. Perlmutter klang fast interessiert.

»Vielleicht ist er geistig behindert«, sagte Freddy.

Perlmutter schaute zu Freddy hinüber. »Das könnte sein. Auf jeden Fall ist er krank.« Pearly seufzte. »Ich weiß, wie er sich fühlen muss.«

Kurtz tätschelte Perlmutter wieder die Schulter. »Kopf hoch, Bursche. Was ist mit den Kerlen, denen sie folgen? Diesem Gary Jones und dem angeblichen Mr. Gray?« Es kümmerte ihn zwar nicht groß, aber die Möglichkeit bestand durchaus, dass der Kurs und das Vorankommen dieses Jones -und dieses Gray, wenn es denn außer in Owens fieberkranker Fantasie einen Gray gab - sich auswirken würden auf den Kurs und das Vorankommen von Underhill, Devlin und ... Duddits?

Perlmutter schüttelte den Kopf, schloss dann die Augen und lehnte den Hinterkopf wieder an den Sitz. Das Fünkchen Interesse und Energie schien verflogen. »Nichts«, sagte er. »Zu denen komme ich nicht durch.«

»Vielleicht gibt es sie gar nicht?«

»Doch, irgendwas ist da«, sagte Perlmutter. »Es ist wie ein schwarzes Loch.« Und verträumt fügte er hinzu: »Ich höre so viele Stimmen. Sie schicken schon Verstärkung ...«

Und als hätte Perlmutter es herbeigezaubert, tauchte auf der nach Norden führenden Spur des Interstate Highway 95 der größte Militärkonvoi auf, den Kurtz seit zwanzig Jahren gesehen hatte. Voran fuhren zwei riesenhafte Schneepflüge, groß wie Elefanten. Sie fuhren Seite an Seite und räumten mit ihren mächtigen Pflugscharen den Schnee in hohem Bogen von beiden Fahrspuren. Dahinter fuhren, ebenfalls parallel, zwei Sandlaster. Und diesen folgten dann Armeefahrzeuge und schweres Gerät. Kurtz sah in Planen gehüllte Umrisse auf Tiefladern und wusste, dass es nur Raketen sein konnten. Weitere Tieflader brachten Radarantennen, Entfernungsmesser und wer weiß was noch alles. Dazwischen fuhren große Truppentransporter mit Planenverdeck, und ihre Scheinwerfer strahlten in den heller werdenden Tag hinein. Das waren nicht hunderte Männer, sondern tausende, die auf Gott weiß was vorbereitet waren - auf den dritten Weltkrieg, auf den Nahkampf mit zweiköpfigen Wesen oder vielleicht auch mit den intelligenten Insekten aus Starship Troopers, auf die Pest, den Wahnsinn, auf den Tod und den Weltuntergang. Wenn Katie Gallaghers Kader dort oben noch im Einsatz war, dann hoffte Kurtz, dass sie jetzt alles stehen und liegen ließen und sich nach Kanada absetzten. Die Hände zu heben und Un 'y a pas d'infection ici zu rufen, würde ihnen ganz gewiss nicht nützen; den Trick hatten schon andere versucht. Und es war alles so sinnlos. Im Grün-de seines Herzens wusste Kurtz, dass Owen zumindest mit einem Recht gehabt hatte: Dort oben war alles vorbei. Sie konnten noch die Stalltür schließen, aber das Pferd war längst gestohlen.

»Sie werden es vollkommen abriegeln«, sagte Perlmutter. »Jefferson Tract ist seit heute der 51. Bundesstaat. Und es ist ein Polizeistaat.«

»Kriegen Sie Owen noch rein?«

»Ja«, sagte Perlmutter abwesend. »Aber nicht mehr lange. Er ist auch auf dem Wege der Besserung. Er verliert seine telepathischen Kräfte.«

»Wo ist er, Bursche?«

»Sie sind gerade an der Ausfahrt 25 vorbei. Sie haben vielleicht fünfzehn Meilen Vorsprung. Viel mehr nicht.«

»Soll ich ein bisschen schneller machen?«, fragte Freddy.

Wegen des verdammten Sattelzugs hatten sie die Chance verpasst, Owen einzuholen. Kurtz wollte aber nun keinesfalls seine zweite Chance verspielen, indem er von der Straße abkam.

»Negativ«, sagte Kurtz. »Vorläufig lehnen wir uns mal zurück und lassen sie fahren.« Er verschränkte die Arme und schaute hinaus in die leinenweiße Welt, die an ihm vorbeiraste. Es hatte aufgehört zu schneien, und die Straßenverhältnisse würden sicherlich besser werden, wenn sie weiter nach Süden kamen.

Es waren ereignisreiche vierundzwanzig Stunden gewesen. Er hatte ein außerirdisches Raumschiff in die Luft gejagt, war von dem Mann verraten worden, den er schon zu seinem Nachfolger auserkoren hatte, hatte eine Meuterei und einen Aufstand von Zivilisten überlebt und war dann auch noch von einem Schreibtischkrieger, der nie im Leben einen feindlichen Schuss gehört hatte, seines Kommandos enthoben worden. Kurtz fielen die Augen zu. Wenig später schlief er ein.

Jonesy saß eine ganze Weile schlecht gelaunt an seinem Schreibtisch, betrachtete abwechselnd das Telefon, das nicht mehr funktionierte, den Traumfänger, der von der Decke hing (und sich in einem kaum merklichen Luftzug bewegte) und die neuen stählernen Fensterläden, mit denen ihm dieses Schwein Gray die Sicht geraubt hatte. Dazu kam das stete, tiefe Rumpeln und Dröhnen, das er sowohl hörte als auch über den Stuhl spürte. Es hätte ein lärmender Hochofen sein können, der dringend mal überholt werden musste, aber das war es nicht. Es war der Schneepflug, der immer weiter nach Süden vordrang. Mr. Gray saß am Steuer und trug vermutlich eine Kappe der Verkehrswacht, die er seinem vorerst letzten Opfer abgenommen hatte. Er spielte Pflugfahrer, bewegte mit Jonesys Muskeln das Lenkrad und lauschte mit Jonesys Ohren über CB-Funk, wie sich die Dinge entwickelten.

Na, Jonesy, wie lange willst du da noch rumhocken und Selbstmitleid schieben?

Jonesy, der auf seinem Stuhl zusammengesunken und fast eingeschlafen war, richtete sich augenblicklich wieder auf. Henrys Stimme. Und sie kam nicht telepathisch - er hörte keine Stimmen mehr, Mr. Gray hatte alle bis auf die seine ausgesperrt -, nein, sie kam eher aus seinen eigenen Gedanken. Und trotzdem traf es ihn.

Ich schiebe kein Selbstmitleid, ich bin eingesperrt! Der schmollende, defensive Charakter dieses Gedankens gefiel ihm gar nicht; laut ausgesprochen wäre es sicherlich Gejammer gewesen. Ich kann nicht nach draußen rufen, ich kann nicht nach draußen sehen, und ich kann dieses Zimmer nicht verlassen. Ich weiß ja nicht, wo du bist, Henry, aber ich sitze hier, verdammt noch mal, in Isolationshaft.

Hat er dein Gehirn geklaut?

»Sei still.« Jonesy rieb sich die Schläfen.

Hat er dir deine Erinnerungen weggenommen?

Nein, natürlich nicht. Auch hier drin noch, wo ihn eine doppelt verriegelte Tür von den Milliarden etikettierter Kartons trennte, konnte er sich erinnern, wie er in der ersten Klasse Bonnie Deal einen Popel in den Pferdeschwanz geschmiert hatte (und wie er dann in der siebten Klasse dieselbe Bonnie beim Erntefest zum Tanz aufgefordert hatte), sah noch ganz genau vor sich, wie ihnen Lamar Clarendon das Spiel beigebracht hatte (das bei den Dummen, Uneingeweihten Cribbage hieß), sah Rick McCarthy aus dem Wald kommen und wusste dabei noch, dass er ihn erst für einen Hirsch gehalten hatte. An all das konnte er sich erinnern. Das mochte zwar irgendwelche Vorteile bringen, aber Jone-sy fiel ums Verrecken nicht ein, welche das sein sollten. Aber vielleicht sah er ja einfach den Wald vor lauter Bäumen nicht.

So in der Klemme zu stecken, und das nach den vielen Krimis, die du gelesen hast, zog ihn seine eigene Version von Henrys Stimme auf. Von den Science-fiction-Filmen ganz zu schweigen, in denen die Außerirdischen bei uns landen, angefangen bei Der Tag, an dem die Erde Stillstand, bis hin zu Angriff der Killertomaten. Das hast du alles gesehen und weißt trotzdem nicht, was dieser Typ vorhat? Jetzt hockt er schon in dir drin, und du weißt immer noch nicht, wie er schnackelt?

Jonesy rieb sich heftiger die Schläfen. Das war keine außersinnliche Wahrnehmung, das war sein eigenes Gehirn, und wieso konnte es nicht einfach die Klappe halten? Er saß in der Falle, also was machte das schon? Er war ein Motor ohne Keilriemen, eine Kutsche ohne Pferd; er war wie Dono-vans Hirn, das in diesem Film in einem Behälter mit trüber Flüssigkeit am Leben erhalten wurde und unnütze Träume träumte.

Was will er? Fang doch mal damit an.

Jonesy sah zu dem Traumfänger hoch, der in den warmen

Luftströmen tanzte. Er spürte das Rumpeln des Schneepflugs, das so stark war, dass die Bilder an den Wänden vibrierten. Tina Jean Schlossinger, so hatte sie geheißen, und angeblich hatte ein Bild von ihr hier drin gehangen, auf dem sie ihren Rock hochhielt, damit man ihre Pussi sehen konnte, und wie viele heranwachsende Jungen ließen sich nicht von einem solchen Traum gefangen nehmen?

Jonesy stand auf - sprang fast auf - und ging in seinem Büro auf und ab, wobei er nur ganz leicht humpelte. Der Sturm war vorbei, und jetzt tat ihm seine Hüfte etwas weniger weh.

Du musst denken wie Hercule Poirot, sagte er sich. Setze deine kleinen grauen Zellen ein. Lass mal deine Erinnerungen für einen Augenblick beiseite, und denk an Mr. Gray. Denk logisch. Was will er?

Jonesy blieb stehen. Es lag wirklich auf der Hand, was Gray wollte. Er war zum Wasserturm gefahren - oder jedenfalls zu der Stelle, an der der Wasserturm gestanden hatte -, weil er Wasser wollte. Und nicht irgendwelches Wasser, sondern Wasser, das schließlich in den Kehlen vieler Menschen landete: Trinkwasser. Aber den Wasserturm gab es nicht mehr, er war bei dem Orkan '85 zerstört worden - ha, ha, Mr. Gray, reingelegt! -, und Derry bezog sein Wasser gegenwärtig aus dem Nordosten, wohin man in diesem Sturm wahrscheinlich nicht gelangen konnte, und es kam auch sowieso nicht von einer zentralen Stelle. Und deshalb hatte sich Mr. Gray, nachdem er Jonesys zugängliche Kenntnisse konsultiert hatte, wieder nach Süden aufgemacht. Nach -

Plötzlich war ihm alles klar. Aus seinen Beinen wich alle Kraft, und er fiel auf den Teppichboden und ignorierte dabei den aufblitzenden Schmerz in seiner Hüfte.

Der Hund. Lad. Hatte er immer noch den Hund dabei?

»Natürlich hat er das«, flüsterte Jonesy. »Natürlich hat die dumme Sau den Hund dabei, ich rieche ihn doch bis hier. Er furzt genau wie McCarthy.«

Diese Welt war für den Byrus unwirtlich, und die Bewohner dieser Welt wehrten sich mit erstaunlicher Heftigkeit, die sich aus einem tiefen Brunnen von Emotionen speiste. Pech. Aber jetzt hatte der einzige überlebende Graue eine ununterbrochene Glückssträhne hingelegt; er glich einem hirnverbrannten, zugedröhnten Würfelspieler in Vegas, der in einer Tour Siebener warf - viermal, sechsmal, achtmal, ach, ein Dutzend Mal hintereinander. Er hatte Jonesy gefunden, seine Typhoid Mary, hatte ihn überfallen und erobert. Er hatte Pete gefunden, der ihn dorthin gebracht hatte, wo er hinwollte, nachdem das Leuchtfeuer - das Kim -den Geist aufgegeben hatte. Dann Andy Janas, der Junge aus Minnesota. Er hatte die Kadaver zweier Hirsche geladen, die an Ripley gestorben waren. Mit den Hirschen hatte Mr. Gray nichts anfangen können ... aber Janas hatte ja auch noch den verwesenden Leichnam eines Außerirdischen dabeigehabt.

Früchte tragende Leichen, fiel Jonesy wie aus heiterem Himmel ein. Früchte tragende Leichen, wo habe ich das denn jetzt wieder her?

Na, egal. Denn Mr. Grays nächste Sieben war der Dodge Kam von Mr. ich V meinen border collie gewesen. Was hatte Gray dann gemacht? Hatte er etwas von der Leiche des Grauen an den Hund verfüttert? Hatte er dem Hund die Schnauze an den Leichnam gehalten und ihn gezwungen, etwas von dieser Früchte tragenden Leiche einzuatmen? Nein, es war viel wahrscheinlicher, dass der Hund etwas gefressen hatte; komm, mein Alter, lecker Happi-Happi. Welcher Vorgang auch immer das Wachstum der Wiesel auslöste - es begann im Darm, nicht in der Lunge. Jonesy hatte kurz Mc-Carthy vor Augen, der sich im Wald verlaufen hatte. Biber hatte gefragt: Was hast du denn gegessen? Murmeltierkötel? Und was hatte McCarthy noch geantwortet? Blätter und Moos und solche Sachen ... ich weiß es nicht genau ... Ich war einfach so hungrig, wissen Sie...

Klar. Hungrig. Einsam, verängstigt und hungrig. Und hatte dabei die roten Byrusflecken auf einigen Blättern nicht bemerkt und auch nicht die roten Tupfen auf dem grünen Moos, das er sich in den Mund gestopft und runtergeschlungen hatte, weil er irgendwann im Verlauf seines lahmen O-Mann-oje-Rechtsanwaltslebens irgendwo gelesen hatte, dass man Moos essen könne, wenn man sich im Wald verlaufen hatte, dass Moos nicht schädlich sei. Brütete jeder, der Byrus schluckte (nur Körnchen davon, die, kaum sichtbar, durch die Luft schwebten) so ein fieses kleines Monster aus wie das, das McCarthy in Stücke gerissen und dann den Biber umgebracht hatte? Wahrscheinlich nicht, genauso wenig wie jede Frau nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr automatisch schwanger wurde. Aber McCarthy hatte es erwischt ... und Lad auch.

»Er weiß von dem Cottage«, sagte Jonesy.

Natürlich. Das Cottage in Ware, gut sechzig Meilen westlich von Boston. Und er kannte die Geschichte mit der Russin, die kannte ja jeder; Jonesy hatte sie selbst oft genug weitererzählt. Es war eine zu gute Gruselgeschichte, um sie nicht weiterzuerzählen. Man kannte sie in Ware, in New Salem, in Cooleyville und Belchertown, in Hardwick und Packardsville und Pelham. In allen Ortschaften rundherum. Und was, wenn die Frage gestattet war, umgaben diese Ortschaften?

Wieso? Den Quabbin natürlich. Sie befanden sich rund um den Quabbin-Stausee. Der Wasserversorgung von Boston und des umliegenden Großraums. Wie viele Menschen tranken täglich Wasser aus dem Quabbin? Zwei Millionen? Oder drei? Jonesy wusste es nicht genau, aber es waren auf jeden Fall eine ganze Menge mehr als die, die damals das Wasser aus dem Wasserturm in Derry getrunken hatten. Und Mr. Gray würfelte eine Sieben nach der anderen, hatte die Glückssträhne des Jahrhunderts und stand jetzt nur noch einen Wurf davor, die Bank zu sprengen.

Zwei bis drei Millionen Menschen. Und Mr. Gray wollte sie alle mit Lad, dem Border Collie, und Lads neuem Freund bekannt machen.

Und in dieses andere Element übertragen, würde die Saat des Byrus aufgehen.

Die Jagd endet


Nach Süden, Süden, Süden.

Als Mr. Gray an der Ausfahrt Gardiner vorbeikam, der ersten hinter Augusta, war die Schneeschicht auf der Landschaft schon viel dünner, und auf dem jetzt zweispurigen Highway lag nur noch Schneematsch. Es wurde Zeit, den Schneepflug gegen etwas weniger Auffälliges zu tauschen, einerseits, weil er nicht mehr benötigt wurde, andererseits aber auch, weil Jonesys Arme von der ungewohnten Anspannung, so ein übergroßes Fahrzeug zu lenken, schmerzten. Mr. Gray scherte sich zwar nicht groß um Jonesys Körper (behauptete er jedenfalls sich selbst gegenüber; aber in Wirklichkeit fiel es ihm schwer, nicht wenigstens eine gewisse Zuneigung für etwas zu entwickeln, das ihm so ungeahnte Freuden wie »Bacon« und »Mord« beschert hatte), aber schließlich musste er ihn ja noch ein paar hundert Meilen weit befördern. Er nahm an, dass Jonesy für einen Menschen, der in der Mitte seines Lebens stand, nicht in besonders guter Form war. Das hing mit dem Unfall zusammen, den er erlitten hatte, aber auch mit seiner Arbeit. Er war »Akademiker«. Dementsprechend hatte er die körperlichen Aspekte seines Lebens weit gehend ignoriert, was Mr. Gray verblüffte. Diese Wesen bestanden zu sechzig Prozent aus Gefühlen, zu dreißig Prozent aus Sinneswahrnehmungen und nur zu zehn Prozent aus Gedanken (und wenn er zehn Prozent sagte, dachte Mr. Gray, dann war er da wahrscheinlieh noch großzügig). Seinen Körper so zu missachten, wie Jonesy es getan hatte, erschien Mr. Gray ebenso mutwillig wie dumm. Aber das war natürlich auch nicht sein Problem. Und Jonesys auch nicht. Nicht mehr. Jetzt war Jonesy das, was er anscheinend immer hatte sein wollen: reiner Geist. Aber nach seinen Reaktionen zu schließen, gefiel ihm dieser Zustand nun, da er ihn einmal erreicht hatte, auch nicht besonders.

Auf dem Boden der Fahrerkabine, inmitten von Zigarettenkippen, Pappbechern und zusammengeknüllten Zellophanpackungen, jaulte der Hund vor Schmerz. Sein Körper war grotesk angeschwollen, der Torso so groß wie ein Wasserfass. Bald würde Lad furzen, und dann würde sein Bauch wieder abschwellen. Mr. Gray hatte zu dem Byrum, der in dem Hund wuchs, Verbindung aufgenommen und konnte daher sein Heranwachsen steuern.

Der Hund würde seine Variante dessen sein, woran sein Wirt bei dem Stichwort »die Russin« dachte. Und sobald der Hund an Ort und Stelle war, war seine Aufgabe erledigt.

Er ging hinter sich auf Gedankenfang und nahm zu den anderen Verbindung auf. Henry und sein Freund Owen waren vollkommen verschwunden, wie ein Radiosender, der den Betrieb eingestellt hatte, und das war beunruhigend. Weiter hinten (sie kamen eben an Newport vorbei und waren also gut sechzig Meilen nördlich von Mr. Grays gegenwärtiger Position) folgte eine Dreiergruppe, bei der er nur zu einem guten Kontakt bekam - zu »Pearly«. Dieser Pearly brütete genau wie der Hund ein Byrum aus, und Mr. Gray konnte ihn ganz deutlich empfangen. Zuvor hatte er auch noch einen anderen aus dieser Gruppe hereinbekommen -»Freddy« -, aber jetzt war Freddy fort. Der Byrus auf ihm war abgestorben; das teilte ihm »Pearly« mit.

Jetzt kam wieder ein grünes Schild: Raststätte. Dort gab es einen Burger King, was, laut Jonesys Akten, sowohl ein »Restaurant« als auch ein »Imbiss« war. Dort gab es bestimmt Bacon, und bei diesem Gedanken knurrte ihm schon der Magen. Ja, es würde ihm in vieler Hinsicht schwer fallen, diesen Körper aufzugeben. Er hatte seine Vorzüge, doch, durchaus. Aber jetzt war keine Zeit für Bacon; es war Zeit, das Fahrzeug zu wechseln. Und dabei musste er unauffällig vorgehen.

Die Ausfahrt zur Raststätte teilte sich in zwei Fahrspuren, eine für pkw und eine für lkw und busse. Mr. Gray fuhr mit dem großen orangefarbenen Schneepflug auf den LKW-Parkplatz (Jonesys Muskeln zitterten vor Anstrengung, als sie das große Lenkrad herumkurbeln mussten), und freute sich sehr, dort vier Pflüge zu entdecken, die genauso aussahen wie seiner und nebeneinander abgestellt waren. Er schob sich in eine Parklücke am Ende dieser Reihe und schaltete den Motor ab.

Er schaute nach Jonesy. Jonesy hockte immer noch in seiner verblüffenden Sicherheitszone. »Was läuft, Alter?«, flüsterte Mr. Gray.

Keine Antwort... aber er spürte, dass Jonesy zuhörte.

»Was treibst du so?«

Immer noch keine Antwort. Aber mal im Ernst: Was sollte er schon groß treiben? Er war eingesperrt und konnte nichts sehen. Und doch tat Mr. Gray gut daran, Jonesy nicht zu vergessen ... Jonesy, der ihm den irgendwie reizvollen Vorschlag unterbreitet hatte, Mr. Gray solle sein Gebot -das Gebot, sich zu vermehren - außer Acht lassen und sich einfach des Lebens auf der Erde erfreuen. Immer mal wieder kam Mr. Gray ein Gedanke, der wie ein Zettel wirkte, den Jonesy unter der Tür seiner Zuflucht durchgeschoben hatte. Solche Gedanken waren, laut Jonesys Akten, »Slogans«. Slogans waren schlicht und einprägsam. Der neueste lautete: »Bacon ist erst der Anfang«. Und Mr. Gray glaubte durchaus, dass er der Wahrheit entsprach. Selbst hier in seinem Krankenhauszimmer (was für ein Krankenhauszimmer? Was für ein Krankenhaus? Wer ist Marcy? Wer will eine Spritze?), verstand er, dass das Leben hier viele Köstlichkeiten bereithielt. Aber sein Gebot war tief in ihm verankert und unumstößlich: Er würde diese Welt besäen und dann sterben. Und wenn er dabei unterwegs noch ein bisschen Bacon zu essen bekam - umso besser.

»Wer war Richie? War er ein Tiger? Warum habt ihr ihn umgebracht?«

Keine Antwort. Aber Jonesy hörte zu. Und zwar sehr aufmerksam. Mr. Gray hasste es, dass er da drin war. Es war (diesen Vergleich bezog er aus Jonesys Repertoire), als steckte einem eine kleine Gräte im Hals fest. Sie war nicht so groß, dass man daran erstickte, aber groß genug, um einen zu »nerven«.

»Du gehst mir tierisch auf den Zeiger, Jonesy.« Jetzt zog er sich die Handschuhe an, die dem Besitzer des Dodge Ram gehört hatten. Lads Herrchen.

Diesmal kam eine Erwiderung. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Wieso gehst du also nicht irgendwohin, wo du gern gesehen bist? Wieso machst du dich nicht endlich vom Acker?

»Geht nicht«, sagte Mr. Gray. Er hielt dem Hund eine Hand hin, und der reckte den Kopf vor und erschnüffelte an dem Handschuh erfreut den Geruch seines Herrchens. Mr. Gray sandte ihm beruhigende Gedanken, stieg aus dem Schneepflug aus und ging zur Rückseite des Restaurants. Da hinten befand sich der »Personalparkplatz«.

Henry und der andere Typ sind dir dicht auf den Fersen, Arschloch. Sie kleben dir förmlich schon an der Stoßstange. Also entspann dich, und lass dir Zeit. Gönn dir eine dreifache Portion Bacon.

»Die können mich nicht wahrnehmen«, sagte Mr. Gray, und sein Atem stand in weißen Schwaden in der Luft (die kalte Luft in seinem Mund, seiner Kehle, seiner Lunge vermittelte ihm ein köstliches, belebendes Gefühl - und sogar der Geruch von Benzin und Diesel war wunderbar). »Wenn ich sie nicht wahrnehmen kann, können sie mich auch nicht wahrnehmen.«

Jonesy lachte - lachte tatsächlich. Mr. Gray blieb wie angewurzelt neben einem Müllcontainer stehen.

Die Spielregeln haben sich geändert, mein Freund. Sie haben Duddits abgeholt, und Duddits sieht die Linie.

»Ich weiß nicht, was das bedeuten soll.«

Natürlich weißt du das, Arschloch.

»Hör auf, mich so zu nennen!«, raunzte Mr. Gray.

Na gut, vielleicht, wenn du aufhörst, meine Intelligenz zu beleidigen.

Mr. Gray ging weiter, und ja, hier um die Ecke standen ein paar Autos geparkt, und die meisten waren alt und klapprig.

Duddits sieht die Linie.

Also gut: Er wusste, was das bedeutete; dieser Pete hatte dieses Etwas, diese Gabe auch besessen, nur wahrscheinlich in geringerem Maße als dieser rätselhafte andere, dieser Duddits.

Mr. Gray gefiel der Gedanke gar nicht, dass er eine Spur hinterließ, die »Duddits« sehen konnte, aber er wusste etwas, das Jonesy nicht wusste. »Pearly« war der Ansicht, dass Henry, Owen und Duddits nur fünfzehn Meilen südlich von Pearlys gegenwärtiger Position waren. Wenn das zutraf, dann waren Henry und Owen fünfundvierzig Meilen zurück, irgendwo zwischen Pittsfield und Waterville. Mr. Gray fand, dass man das nicht unbedingt als »an der Stoßstange kleben« bezeichnen konnte.

Trotzdem war es besser, sich hier nicht groß aufzuhalten.

Die Hintertür des Restaurants ging auf. Ein junger Mann in einer Kluft, die in den Jonesy-Akten als »Kochmontur« bezeichnet wurde, kam mit zwei großen Plastiksäcken heraus, die eindeutig für den Müllcontainer bestimmt waren. Dieser junge Mann hieß John, und seine Freunde nannten ihn »Butch«. Mr. Gray hätte ihn wirklich gerne umgebracht, aber »Butch« sah viel kräftiger als Jonesy aus und war dazu auch noch jünger und wahrscheinlich viel flinker. Und außerdem hatte ein Mord unangenehme Nebenwirkungen; die schlimmste war, dass ein so geraubtes Auto bald nutzlos wurde.

Hey, Butch.

Butch blieb stehen und schaute ihn mit großen Augen an. Welcher ist dein Wagen?

Er war nicht mit dem eigenen Auto da, sondern mit dem seiner Mutter, und das war gut so. Butens eigene Rostmühle stand mit leerer Batterie zu Hause. Er war mit dem seiner Mutter gekommen, einem Subaru mit Allradantrieb. Wie Jonesy gesagt hätte: Mr. Gray hatte gerade wieder eine Sieben geworfen.

Butch gab ihm bereitwillig die Schlüssel. Er schaute immer noch aufmerksam (»mit großen Augen und wuschligem Schwanz«, hätte Jonesy es ausgedrückt, aber Mr. Gray konnte an dem jungen Mann keinen wuschligen Schwanz entdecken), war aber eigentlich gar nicht bei Bewusstsein. »Stehend k.o.«, dachte Jonesy.

Daran wirst du dich nicht erinnern, sagte Mr. Gray.

»Nein, werde ich nicht«, sagte Butch.

Arbeite jetzt weiter.

»Klar«, sagte Butch. Er hob wieder seine Müllsäcke und ging zum Container. Wenn er an Feierabend bemerken würde, dass der Wagen seiner Mutter nicht mehr hier stand, war das alles wahrscheinlich längst vorbei.

Mr. Gray öffnete die Fahrertür des roten Subaru und setzte sich hinein. Auf dem Beifahrersitz lag eine halbe Tüte Kartoffelchips mit Barbecue-Geschmack. Mr. Gray schlang sie gierig hinunter, während er zurück zum Schneepflug fuhr. Anschließend leckte er sogar Jonesys Finger ab. Fettig. Mmh. Lecker. Wie der Bacon. Er holte den Hund. Fünf Minuten später war er wieder auf dem Highway.

Und fuhr weiter nach Süden, Süden, Süden.

Der Abend dröhnt vor Musik und Gelächter und lauten Stimmen; in der Luft liegt der Duft von gegrillten Würstchen, Schokolade und gerösteten Erdnüssen; am Himmel erblüht buntes Feuer. Und das alles verbindet ein Rock-and-Roll-Song, der aus den Lautsprechern im Strawford Park klingt und diesen Abend prägt, als wäre er die Signatur des Sommers selbst:

Hey pretty baby take a ride with me, We're going down to Alabama on the C&C.

Und hier kommt der weltgrößte Cowboy, ein drei Meter großer Pecos Bill, der aus der Menge in den brennenden Himmel aufragt. Kleinen Kindern bleibt verwundert der Mund mit dem Eiscremebart offen stehen, und sie machen große Augen; und lachende Eltern heben sie hoch, damit sie besser sehen können, oder nehmen sie Huckepack. Mit einer Hand winkt Pecos Bill mit seinem Hut, und in der anderen hat er ein Transparent mit dem Aufdruck derry days 1981.

We're gonna walk the tracks, stay up all night, Ifwe get a little bored, then we'll have a little fight.

»le anner so ooß ein?«, fragt Duddits. Er hat blaue Zuckerwatte in der Hand, aber die hat er jetzt ganz vergessen; als er den auf Stelzen gehenden Cowboy unter dem nächtlichen Feuerwerk vorbeischreiten sieht, macht er so große Augen wie ein Dreijähriger. Links neben Duddits stehen Pete und Jonesy, rechts Henry und der Biber. Hinter dem Cowboy folgen vestalische Jungfrauen (und bestimmt sind wenigstens einige von ihnen tatsächlich noch Jungfrau, auch hier im Jahre des Heils 1981), Tambourmajorinnen in paillettenbe

setzten Cowgirlröcken und weißen Cowboystiefeln, die ihre Stäbe schwingen.

»Ich weiß nicht, wie er so groß sein kann, Duds«, sagt Pete lachend. Er zupft ein Büschel blauer Zuckerwatte ab und stopft es Duddits in den offenen Mund. »Das muss wohl Zauber sein.«

Sie lachen alle darüber, wie Duddits kaut, ohne den Viehhirten auf Stelzen aus den Augen zu lassen. Duds ist jetzt der Größte von ihnen, er ist sogar größer als Henry. Aber er ist immer noch ein Kind, und er macht sie alle glücklich. Er ist der Zauber; Josie Rinkenhauer wird er erst in einem Jahr finden, aber sie wissen schon jetzt: Er ist der Zauber. Es war schon beängstigend, sich gegen Richie Grenadeau und seine Freunde zu stellen, aber nichtsdestotrotz war es der glücklichste Tag ihres Lebens - das sehen sie alle so.

Don'tsay no, baby, come with me. We're gonna take a little ride cm the C&C.

»Hey, Texaner!«, ruft Biber und winkt mit seinem eigenen Deckel (einer Baseballkappe der Derry Tigers) zu dem großen Cowboy hoch. »Knutsch mir die Kimme, du langer Lulatsch! Du darfst mir mal durch die Furche flutschen!«

Da brechen sie alle vor Gelächter zusammen (es ist auch wirklich eine einmalige Erinnerung, der Abend, an dem der Biber bei der Parade anlässlich der Derry Days den auf Stelzen gehenden Cowboy anpflaumte, während der Himmel vor Schießpulver brannte), alle bis auf Duddits, der einfach nur wie benommen und verwundert guckt, und Owen Un-derhill (Owen!, denkt Henry, wo kommst du denn her, Atter?}, der besorgt wirkt.

Owen schüttelt ihn, Owen sagt, er solle aufwachen, Henry, wach auf, wach

auf, verdammt noch mal!«

Es war die Furcht in Owens Stimme, die Henry letztlich aus seinem Traum hochschreckte. Für einen Moment hatte er noch den Geruch von Erdnüssen und von Zuckerwatte in der Nase. Dann war er wieder ganz da: weißer Himmel, zugeschneiter Highway, ein grünes Schild mit der Aufschrift augusta nächste 2. Ausfahrten. Owen schüttelte ihn, und von hinten hörte er ein heiseres, aufgeregtes Bellen. Duddits hustete. »Wach auf, Henry, er blutet! Wirst du jetzt endlich mal -«

»Bin schon wach, bin schon wach.«

Er löste seinen Sicherheitsgurt, drehte sich um und hockte sich auf die Knie. Die überanspruchten Muskeln seiner Oberschenkel protestierten, aber Henry achtete nicht darauf.

Es war nicht so schlimm, wie er erwartet hatte. Nach dem panischen Ton von Owens Stimme hatte er mit einer richtigen Blutung gerechnet, aber es war nur ein Rinnsal aus einem Nasenloch, und wenn Duddits hustete, sprühte er dabei nur etwas Blut. Owen hatte wahrscheinlich gedacht, der arme alte Duddits würde sich buchstäblich die Lunge aus dem Hals husten, und dabei hatte er wahrscheinlich nur irgendwas in seiner Kehle überansprucht. Nicht dass das nicht möglicherweise ernst war; in Duddits' zusehends fragilem Zustand war möglicherweise alles ernst. Eine verirrte Erkältungsbazille konnte ihn töten. Vom ersten Augenblick an, als er Duddits gesehen hatte, hatte Henry gewusst, dass es mit Duddits zu Ende ging.

»Duds!«, rief er in scharfem Ton. Etwas war anders. Etwas war anders an ihm, an Henry. Aber was? Keine Zeit, darüber nachzudenken. »Duddits, du musst durch die Nase atmen! Durch die Nase, Duds! So!«

Henry machte es ihm vor und sog durch geblähte Nasenlöcher tief Luft ein ... und als er dann wieder ausatmete, flogen ihm kleine weiße Fädchen aus der Nase. Wie die Fusseln beim Löwenzahn. Byrus, dachte Henry. Er ist mir die Nase hochgewachsen, aber jetzt ist er eingegangen. Und jetzt streife ich ihn, buchstäblich Atemzug um Atemzug, wieder ab. Und da wusste er auch, was jetzt anders war: Das Jucken war verschwunden, das Jucken in seinem Bein und seinem Mund und seinem Schritt hatte aufgehört. Im Mund hatte er immer noch einen Geschmack, als wäre seine Mundhöhle mit einem versifften Teppich ausgekleidet, aber es juckte nicht mehr.

Duddits machte es ihm nach und atmete tief durch die Nase, und sofort besserte sich sein Husten. Henry nahm die Papiertüte, fand eine Flasche Hustensaft und schenkte Duddits eine Verschlusskappe voll ein. »Das wird dir helfen«, sagte Henry. Mit Gedanken und Worten strahlte er Zuversicht aus; bei Duddits war es eben nicht nur wichtig, in welchem Ton man mit ihm sprach.

Duddits schluckte die Kappe Robitussin, verzog das Gesicht und lächelte Henry dann an. Der Husten hatte aufgehört, aber es rann ihm immer noch Blut aus der Nase ... und auch aus dem Augenwinkel, wie Henry jetzt entdeckte. Gar kein gutes Zeichen. Und ebenfalls alles andere als gut wirkte Duddits' extreme Blässe, die jetzt noch viel mehr auffiel als daheim in Derry. Die Kälte ... der fehlende Nachtschlaf ... diese ganze Aufregung, die so unbekömmlich war für einen Kranken ... Das war alles gar nicht gut. Er bekam einen Infekt, und bei ALL-Kranken im fortgeschrittenen Stadium konnte schon ein simpler Schnupfen tödliche Folgen haben. »Alles klar mit ihm?«, fragte O wen.

»Mit Duds? Duddits ist aus Stahl. Stimmt's nicht, Duds?«

»Aal«, stimmte Duddits zu und beugte einen jämmerlich dünnen Arm, um seine Kraft vorzuführen. Beim Anblick seines dünnen, abgehärmten Gesichts - das trotz allem zu lächeln versuchte - war Henry zum Schreien zu Mute. Das

Leben war unfair. Eigentlich hatte er sich seit Jahren eingebildet, das zu wissen. Aber das hier war nicht nur unfair. Es war abscheulich gemein.

»Schaun wir doch mal, was sie hier für brave Jungs zum Trinken eingepackt hat.« Henry nahm die gelbe Lunchbox.

»Uuhbi-Duuh«, sagte Duddits. Er lächelte zwar, aber seine Stimme klang dünn und erschöpft.

»Genau, wir haben jetzt was zu tun«, pflichtete Henry bei und schraubte die Thermoskanne auf. Er gab Duddits seine morgendliche Prednisone-Tablette, obwohl es noch nicht acht Uhr war, und fragte ihn dann, ob er auch eine Percocet wolle. Duddits überlegte und hob zwei Finger. Henry wurde das Herz schwer.

»Ziemlich schlimm, was?«, fragte er und reichte Duddits zwei Percocet-Tabletten nach hinten durch. Die Frage war eigentlich überflüssig — jemand wie Duddits bat nicht um eine zusätzliche Pille, um sich damit zuzudröhnen.

Duddits machte eine winkende Handbewegung - comme si comme $a. Henry konnte sich gut an dieses Wedeln erinnern; es hatte ebenso zu Pete gehört wie die angekauten Bleistifte und Zahnstocher zu Biber.

Roberta hatte Duddits Kakao in die Thermoskanne gefüllt, sein Lieblingsgetränk. Henry schenkte ihm eine Tasse ein, hielt sie noch für einen Moment, als der Humvee auf einer glatten Stelle wegrutschte, und reichte sie ihm dann. Duddits schluckte seine Tabletten.

»Wo tut es weh, Duds?«

»1er« Er zeigte auf seine Kehle. »Un ier nomeer.« Er wies auf seine Brust. Zögerlich zeigte er dann auch noch auf seinen Schritt, und dabei rötete sich sein Gesicht ein wenig. »1er au.« Eine Harnwegsinfektion, dachte Henry. Ach du je.

»Illen elfn?«

Henry nickte. »Ja, die Pillen helfen. Du musst ihnen nur Zeit geben, dann wirken sie schon. Folgen wir immer noch der Linie, Duddits?«

Duddits nickte eindringlich und zeigte nach vorn zur Windschutzscheibe. Henry fragte sich (nicht zum ersten Mal), was er da eigentlich sah. Einmal hatte er Pete danach gefragt, und der hatte gemeint, es sähe aus wie ein Faden und sei oft nur schwer zu erkennen. Am besten geht es, wenn die Linie gelb ist, hatte Pete gesagt. Gelb lässt sich immer am einfachsten erkennen. Ich weiß auch nicht, warum. Und wenn Pete einen gelben Faden gesehen hatte, sah Duddits ja vielleicht einen breiten gelben Streifen, vielleicht sogar Do-rothys gelbe Ziegelsteinstraße.

»Sag uns Bescheid, wenn sie auf eine andere Straße abbiegt, ja?«

»Ach ich.«

»Willst du nicht schlafen?«

Duddits schüttelte den Kopf. Und er hatte wirklich nie so lebendig und wach ausgesehen wie jetzt, da seine Augen in seinem erschöpften Gesicht strahlten. Henry musste daran denken, wie Glühbirnen manchmal kurz vorm Defekt hell aufleuchteten.

»Wenn du aber doch müde wirst, sag Bescheid, dann halten wir an. Dann besorgen wir dir einen Kaffee. Wir brauchen dich wach.«

»Oh-äi.«

Henry fing eben an, sich wieder umzudrehen, wobei er seinen schmerzenden Körper mit allergrößter Vorsicht bewegte, als Duddits noch etwas sagte.

»Issa Äi ill Ähkn.«

»Tatsächlich?«, fragte Henry nachdenklich.

»Was?«, fragte Owen. »Das habe ich nicht verstanden.«

»Er sagt: Mr. Gray will Bacon.«

»Spielt das eine Rolle?«

»Keine Ahnung. Gibt es hier ein Radio, Owen? Ich würde gerne die Nachrichten hören.«

Das Radio hing unterm Armaturenbrett und wirkte nagelneu. Es gehörte nicht zur herkömmlichen Ausstattung.

Owen streckte die Hand danach aus und stieg dann auf die Bremse, als ein Pontiac - ohne Allradantrieb und Winterreifen -sie überholte. Der Pontiac schlingerte hin und her, hielt sich dann aber doch auf der Straße und brauste davon. Henry schätzte, dass er mindestens neunzig Stundenkilometer fuhr. Als Owen das sah, runzelte er die Stirn.

»Du Fahrer, ich Beifahrer«, sagte Henry, »Aber wenn der das ohne Winterreifen kann, können wir das dann nicht auch? Es wäre doch nicht schlecht, wenn wir etwas aufholen könnten.«

»Diese Humvees sind eher für Schlamm gebaut als für Schnee. Glaub mir.«

»Aber-«

»Und außerdem werden wir den Typ in spätestens zehn Minuten wieder überholen. Darauf wette ich eine gute Flasche Scotch. Der ist dann entweder durch die Leitplanke gebrochen und die Böschung runter, oder er liegt mit drehenden Reifen auf dem Mittelstreifen. Und wenn er Glück hat, hat er sich nicht mal überschlagen. Und außerdem - das ist natürlich nur ein Detail - sind wir auf der Flucht vor der Staatsmacht und können die Welt nicht retten, wenn wir in irgendeinem Knast hocken ... Herrgott noch mal!«

Ein Ford Explorer - /war mit Allradantrieb, aber mit etwa hundert Sachen viel zu schnell für diese Straßenverhältnisse -dröhnte an ihnen vorbei und zog eine Schneewolke hinter sich her. Der Dachgepäckträger war vollgepackt und mit einer blauen Plane verhüllt, die schlecht befestigt war. Henry konnte sehen, was darunter war: Koffer und Taschen. Er schätzte, dass das meiste davon bald auf der Straße verstreut liegen würde.

Da für Duddits gesorgt war, widmete Henry seine Aufmerksamkeit nun dem Highway. Was er da sah, erstaunte ihn nicht sonderlich. Die Spur in nördliche Richtung war immer noch sehr wenig befahren, aber auf der nach Süden wurde es nun immer voller... und tatsächlich kamen sie auch ständig an Autos vorbei, die von der Straße abgekommen waren.

Owen stellte eben das Radio an, als ein Mercedes an ihnen vorbeibrauste und fächerförmig Schneematsch aufwirbelte. Owen drückte auf den Sendersuchlauf, fand klassische Musik, drückte noch mal, stieß auf Kenny G, der vor sich hin dudelte, drückte ein drittes Mal... und bekam nun einen Sprecher rein.

»... einen scheißendicken Monsterjoint«, sagte die Stimme, und Henry und Owen tauschten einen Blick.

»Eh ha Eise in Adio saht«, meinte Duddits von der Rückbank aus.

»Stimmt«, sagte Henry, und dann, als der Sprecher deutlich hörbar inhalierte: »Und ich würde sagen, er raucht eine dicke Tüte.«

»Ich bezweifle mal, dass das beim Rundfunkrat gut rüberkommt«, sagte der DJ, nachdem er lange und vernehmlich ausgeatmet hatte, »aber wenn auch nur die Hälfte davon stimmt, was ich so höre, dann ist der Rundfunkrat meine kleinste Sorge. Die interstellare Pest ist ausgebrochen, meine Brüder und Schwestern, heißt es. Ob wir es nun die verstrahlte Zone, die Todeszone oder Twilight Zone nennen - eure Reise in den Norden solltet ihr besser mal stornieren.« Und wieder inhalierte er vernehmlich.

»Marvin der Marsianer ist los, Brüder und Schwestern, so heißt es in Somerset County und Castle County. Viren, Todesstrahlen, die Lebenden werden die Toten beneiden. Jetzt habe ich hier eigentlich einen Werbespot von Century Tire, aber was soll der Scheiß.« Man hörte etwas zerbrechen. Dem Geräusch nach war es aus Plastik. Henry hörte fasziniert zu. Da war sie wieder, die Dunkelheit, seine alte Freundin, aber diesmal nicht in seinem Kopf, sondern im Radio. »Meine Brüder und Schwestern, wenn ihr euch in diesem Moment nördlich von Augusta aufhaltet, dann kann euch euer Kum-pel Lonesome Dave hier auf WWVE einen kleinen Tipp geben: Fahrt nach Süden. Und zwar auf der Stelle. Und hier kommt ein bisschen Musik für diese Fahrt.«

Lonesome Dave spielte natürlich die Doors. Jim Morrison sang The End. Owen schaltete auf Mittelwelle um.

Endlich stieß er auf eine Nachrichtensendung. Der Sprecher hörte sich nicht zugekifft an, und das war doch schon mal ein Fortschritt. Dann sagte er auch noch, es gäbe keinen Grund zur Panik. Ein weiterer Fortschritt. Dann wurden Statements des Präsidenten und des Gouverneurs von Maine eingespielt, die im Grunde das Gleiche besagten: Ganz ruhig, Leute, schön cool bleiben. Es ist alles unter Kontrolle. Nette, beruhigende Worte, Robitussin für den Volkskörper. Der Präsident werde dem amerikanischen Volk um elf Uhr Ostküstenzeit ausführlich Bericht erstatten.

»Das wird die Ansprache sein, von der mir Kurtz erzählt hat«, sagte Owen. »Nur um einen Tag verschoben oder so.« »Was für eine Ansprache?«

»Pscht!« Owen wies auf das Radio.

Da er sie nun so schön beruhigt hatte, jagte der Nachrichtensprecher seinen Hörern gleich anschließend richtig gepflegt Angst ein, indem er viele der Gerüchte wiederholte, die sie bereits von dem zugekifften DJ gehört hatten, nur eben feiner formuliert: Viren, außerirdische Invasoren, Todesstrahlen. Dann das Wetter: Schneeschauer, gefolgt von Regen und auffrischendem Wind, während eine Warmfront durchzog (von den Mörder-Marsianern mal zu schweigen). Es machte Miep, und dann wurde die Nachrichtensendung gleich wiederholt.

»Uck!«, sagte Duddits. »At uns übahoht, eissu noh?« Er zeigte durch die schmutzige Windschutzscheibe. Der Finger, mit dem er zeigte, zitterte ebenso wie Duddits' Stimme. Er schlotterte jetzt am ganzen Leib und klapperte mit den Zähnen. Owen schaute kurz zu dem Pontiac hinüber - er war tatsächlich auf dem verschneiten Mittelstreifen gelandet, lag zwar nicht auf dem Dach, aber immerhin auf der Seite, und die Mitfahrenden standen verzagt um den Wagen herum -und sah dann wieder Duddits an. Er war nun blasser denn je und bibberte, und ein blutiger Wattepfropf ragte ihm aus einem Nasenloch.

»Ist alles klar mit ihm, Henry?«

»Ich weiß es nicht.«

»Streck die Zunge raus.«

»Meinst du nicht, dass du lieber auf den Verkehr -«

»Werd nicht frech hier, ich komm schon klar. Streck die Zunge raus.«

Henry tat es. Owen warf einen Blick darauf und verzog das Gesicht. »Sieht schlimmer aus, ist aber wahrscheinlich besser geworden. Das ganze Zeug ist jetzt weiß.«

»Das ist bei meiner Wunde am Bein auch so«, sagte Henry. »Und auch bei deinem Gesicht und deinen Augenbrauen. Wir haben bloß Dusel gehabt, dass wir es nicht in die Lunge, ins Gehirn oder in den Magen gekriegt haben.« Er hielt inne. »Perlmutter hat es geschluckt. Er brütet eins dieser Viecher aus.«

»Wie viel Vorsprung haben wir, Henry?«

»Ich würde sagen, zwanzig Meilen. Vielleicht ein bisschen weniger. Wenn du also nur ein ganz klein bisschen ... auf die Tube drücken könntest ...«

Und das tat Owen, weil er wusste, dass Kurtz ebenfalls beschleunigen würde, sobald ihm klar war, dass er nun in dem allgemeinen Aufbruch steckte und viel weniger Gefahr lief, zum Ziel der Militär- oder Zivilpolizei zu werden.

»Du stehst immer noch mit Pearly in Verbindung«, sagte Owen. »Obwohl der Byrus in dir stirbt, kannst du immer noch Gedanken lesen. Ist das ...« Er wies mit dem Daumen auf die Rückbank, auf der Duddits, angelehnt, saß. Sein Zittern hatte sich vorläufig gelegt.

»Klar«, sagte Henry. »Ich hatte das schon von Duddits, lange bevor das hier losgegangen ist. Jonesy, Pete und Biber hatten es auch. Wir haben kaum drauf geachtet. Es war einfach Bestandteil unseres Lebens.« Klar, natürlich. Genau wie diese ganzen Gedanken an Plastiktüten und Gewehre und den Sprung von der drücke. Einfach nur ein Bestandteil meines Lebens. »Jetzt ist es stärker. Vielleicht lässt es irgendwann wieder nach, aber zurzeit ...« Er zuckte mit den Achseln. »Zurzeit höre ich Stimmen.«

»Pearly.«

»Zum Beispiel«, sagte Henry. »Aber auch von anderen, in denen der Byrus aktiv ist. Die meisten davon sind hinter uns.«

»Und Jonesy? Dein Freund Jonesy? Oder Gray?«

Henry schüttelte den Kopf. »Aber Pearly hört da was.«

»Pearly -? Wie kann er -«

»Er hat zur Zeit eine größere Bandbreite als ich, wegen des Byrums -«

»Des was?«

»Wegen dieses Dings da in seinem Arsch«, sagte Henry. »Wegen des Kackwiesels.«

»Ah.« Owen wurde augenblicklich schlecht.

»Was er da hört, ist anscheinend nicht menschlich. Ich glaube nicht, dass es Mr. Gray ist, aber es könnte sein. Aber was es auch ist - er hat es genau im Visier.«

Sie fuhren eine Zeit lang schweigend weiter. Der Verkehr wurde zwar immer dichter, und einige Fahrer waren wirklich verrückt (gleich hinter Augusta kamen sie an dem Explorer vorbei, der im Straßengraben hing, das Gepäck rundherum verstreut, und anscheinend zurückgelassen worden war), aber Owen schätzte sich trotzdem glücklich. Der Sturm hatte viele Leute von der Straße fern gehalten, schätzte er. Sie mochten sich vielleicht jetzt zur Flucht entschließen, da der Wind nachgelassen hatte, aber dem schlimmsten Ansturm waren Henry und er zuvorgekommen. Der Sturm hatte ihnen eigentlich nur Gutes gebracht.

»Ich möchte, dass du etwas weißt«, sagte Owen schließlich.

»Du musst es nicht sagen. Du sitzt hier gleich neben mir, und ich kriege immer noch viele deiner Gedanken mit.«

Owen dachte, dass er anhalten und aussteigen würde, wenn er der Meinung wäre, dass sich Kurtz zufrieden geben würde, sobald er Owen hatte. Aber dieser Meinung war Owen eben nicht. Owen Underhill war Kurtz' Hauptziel, aber ihm musste klar sein, dass Owen einen solch abscheulichen Verrat nicht begangen hätte, wäre er nicht dazu angestiftet worden. Nein, er würde Owen eine Kugel durch den Kopf jagen und dann weitermachen. Und mit Owen hatte Henry wenigstens eine Chance. Ohne ihn wäre er weg vom Fenster. Und Duddits auch.

»Wir bleiben zusammen«, sagte Henry. »Freunde bis ans Ende, wie es so schön heißt.«

Und von der Rückbank: »Harn etz wassu tun.«

»Das stimmt, Duddits«, sagte Henry, griff nach hinten und drückte Duddits die kalte Hand. »Wir haben jetzt was zu tun.«

Zehn Minuten später erwachte Duddits vollends wieder zum Leben. Er ließ sie bei der ersten Raststätte hinter Augusta abfahren. Sie waren jetzt schon kurz vor Lewiston. »Ihnje! Ihnje!«, rief er und fing dann wieder an zu husten.

»Ganz ruhig, Duddits«, sagte Henry.

»Sie wollen wahrscheinlich einen Kaffee trinken und eine Kleinigkeit frühstücken«, sagte Owen. »Vielleicht ein Bacon-Sandwich.«

Aber Duddits dirigierte sie um das Gebäude herum auf den Personalparkplatz. Hier hielten sie, und Duddits stieg aus. Einen Moment lang stand er da und murmelte vor sich hin. Er sah sehr gebrechlich aus unter dem bewölkten Himmel, und jeder Windstoß schien ihn durchzurütteln.

»Henry«, sagte Owen, »ich weiß ja nicht, was er da ausbaldowert, aber wenn uns Kurtz wirklich so nah ist -«

Aber dann nickte Duddits, stieg wieder ein und leitete sie zur Ausfahrt. Er sah erschöpfter aus denn je, aber auch zufrieden.

»Was um Gottes willen sollte das denn jetzt?«, fragte Owen verblüfft.

»Ich glaube, er hat den Wagen gewechselt«, sagte Henry. »Stimmt das, Duddits? Hat er den Wagen gewechselt?«

Duddits nickte energisch. »Tölen! Hat ein Au-oh tolen!«

»Dann wird er jetzt schneller sein«, sagte Henry. »Du musst Gas geben, Owen. Denk nicht an Kurtz — wir müssen Mr. Gray kriegen.«

Owen schaute kurz zu Henry hinüber ... dann noch einmal. »Was ist denn mit dir? Du bist ja plötzlich so blass.«

»Ich bin so dumm gewesen - ich hätte von Anfang an wissen müssen, was dieses Schwein vorhat. Ich kann mich bloß damit entschuldigen, dass ich müde und verängstigt war, aber das wird keine Rolle spielen, wenn ... Owen, du musst ihn einholen. Er ist unterwegs ins westliche Massachusetts, und du musst ihn einholen, bevor er dahin gelangen kann.«

Jetzt fuhren sie auf Schneematsch, und es spritzte, war aber längst nicht mehr so gefährlich. Owen beschleunigte mit dem Humvee auf neunzig, mehr wagte er vorläufig nicht.

»Ich werd's versuchen«, sagte er. »Aber solange er keinen Unfall baut und keine Panne hat ...« Owen schüttelte bedächtig den Kopf. »Aussichtslos. Wirklich aussichtslos, mein Lieber.«

Es war ein Traum, den er als Kind (als er noch Coonts hieß) oft geträumt hatte, seit den Wirren des Heranwachsens aber nur noch ein- oder zweimal. In diesem Traum lief er unter einem Herbstmond über ein Feld und hatte Angst, sich umzusehen, denn es war hinter ihm her - es. Er lief so schnell er konnte, aber das war natürlich nicht schnell genug; im Traum reicht es nie, wenn man sein Bestes gibt. Bald war es so nah, dass er das trockene Atmen hören und den eigenartigen trockenen Geruch wahrnehmen konnte, den es hatte.

Er kam ans Ufer eines weiten, stillen Sees, obwohl es im trockenen, armseligen, kleinstädtischen Kansas seiner Kindheit gar keine Seen gegeben hatte, und der See war zwar wunderschön (der Vollmond leuchtete wie eine Lampe auf seinen Tiefen), aber er war entsetzt, denn der See versperrte ihm den Weg, und er konnte nicht schwimmen.

Er kniete sich am Ufer des Sees hin - in dieser Hinsicht war der Traum genau wie die Träume seiner Kindheit -, doch statt es dort auf dem ruhigen Wasserspiegel zu sehen, den schrecklichen Vogelscheuchenmann mit dem ausgestopften Sackleinenkopf und den wurstfingrigen Händen in blauen Handschuhen, sah er jetzt Owen Underhill, das ganze Gesicht voller Flecken. Im Mondschein sahen die Byrus-stellen wie große, schwarze Pigmentmale aus, schwammig und formlos.

Als Kind war er an dieser Stelle immer aufgewacht (oft mit einer fürchterlichen Latte, auch wenn ihm absolut rätselhaft war, warum ein Junge von einem so scheußlichen Traum einen hochkriegte), aber diesmal ging es so weit, dass ihn das Es - Owen - tatsächlich berührte, und die widergespiegelten Augen auf dem Wasser blickten vorwurfsvoll. Vielleicht auch fragend.

Weil du den Gehorsam verweigert hast, Bursche! Weil du die Grenze überschritten hast!

Er hob den Arm, um Owen abzuwehren, um diese Hand abzustreifen ... und da sah er im Mondschein seine eigene Hand. Sie war grau.

Nein, sagte er sich, das macht nur das Mondlicht.

Aber er hatte nur drei Finger - machte das auch das Mondlicht?

Und Owens Hand berührte ihn und steckte ihn mit seiner widerlichen Krankheit an ... und dann wagte er es auch noch, ihn

6

Boss. Wachen Sie auf, Boss!«

Kurtz schlug die Augen auf, setzte sich mit einem Grunzen aufrecht hin und stieß dabei Freddys Hand weg. Sie hatte ihn am Knie berührt und nicht an der Schulter, Freddy hatte nach hinten gelangt und ihn am Knie gerüttelt, aber es war trotzdem unerträglich.

»Ich bin wach, ich bin wach.« Er hielt sich die Hände vors Gesicht, um es sich zu beweisen. Babyrosa waren sie schon längst nicht mehr, aber sie waren auch nicht grau, und beide hatten die erforderlichen fünf Finger.

»Wie spät ist es, Freddy?«

»Weiß ich nicht, Boss. Es ist aber auf jeden Fall noch Vormittag. «

Natürlich. Die Uhren waren ja alle im Eimer. Sogar seine Taschenuhr war stehen geblieben. Er war ebenso ein Opfer der modernen Zeiten wie jeder andere auch und hatte vergessen, sie aufzuziehen. Kurtz, der sich auf sein Zeitgefühl eigentlich immer hatte verlassen können, glaubte, dass es ungefähr neun Uhr war, was bedeutete, dass er etwa zwei Stunden Schlaf bekommen hatte. Das war nicht viel, aber er brauchte auch nicht viel Schlaf. Er fühlte sich besser. Und er war schon wach genug, um Freddys Stimme die Besorgnis anzuhören.

»Was ist los, Bursche?«

»Pearly behauptet, er hätte zu allen den Kontakt verloren. Angeblich war zum Schluss nur noch Owen da, und der sei jetzt auch weg. Er sagt, Owen hätte den Ripley-Pilz abgewehrt, Sir.«

Kurtz hörte Freddy ganz leise oh Mist sagen. Er wollte Freddy schon sagen, er könne ihn nennen, wie es ihm beliebe, das sei jetzt egal, da entdeckte er in dem breiten Rückspiegel auf Perlmutters ausgemergeltem Gesicht ein hämisches Grinsen.

»Wie kommen wir denn ins Geschäft, Archie?«

»Wir kommen gar nicht ins Geschäft«, sagte Pearly und hörte sich dabei erheblich aufgeräumter an als vor Kurtz' Nickerchen. »Ich ... Boss, ich hätte aber gern etwas Wasser. Ich habe keinen Hunger, aber...«

»Wir könnten durchaus anhalten und Wasser besorgen«, sagte Kurtz. »Aber nur, wenn wir weiterhin mit ihnen in Verbindung stehen. Wenn wir sie aber alle verloren haben -diesen Jones ebenso wie Owen und Devlin -, tja, Sie wissen ja, wie ich bin, Bursche: Ich beiße noch im Tode; und selbst dann braucht es noch zwei Chirurgen und eine Schrotflinte, um mich loszukriegen. Es wird ein langer, durstreicher Tag für Sie, wenn Sie da sitzen, während Freddy und ich die Straßen nach Süden abfahren und nach einer Spur von ihm suchen ... es sei denn, Sie helfen uns. Wenn Sie das tun, dann befehle ich Freddy, bei der nächsten Ausfahrt abzufahren, und dann gehe ich persönlich in einen Laden und kaufe Ihnen die größte Flasche Mineralwasser, die sie im Kühlschrank stehen haben. Wie hört sich das an?«

Es hörte sich gut an, das sah Kurtz schon daran, wie Perlmutter erst mit trockenen Lippen schmatzte und sie dann mit der Zunge befeuchtete (auf Perlmutters Lippen und Wangen gedieh der Ripley immer noch prächtig; größtenteils war er erdbeerfarben, an einigen Stellen aber auch so dunkelrot wie Burgunder), doch dann schaute er wieder so verschlagen.

Aus seinen Augen, die mit Ripley verkrustet waren, schössen die Blicke hin und her. Und plötzlich verstand Kurtz, was er da sah. Pearly war verrückt geworden, Gott stehe ihm bei. Vielleicht brauchte es einen, der selbst verrückt war, um das zu erkennen.

»Ich habe ihm die reine Wahrheit gesagt. Ich habe zu allen die Verbindung verloren.« Aber dann legte sich Archie einen Finger an die Nase und schaute wieder verschmitzt in den Rückspiegel.

»Wenn wir sie kriegen, stehen die Chancen gut, dass wir Sie wieder hinbekommen, Bursche.« Das sagte Kurtz in seinem nüchternsten Ich-erwähne-das-nur-Ton. »Also mit wem stehen Sie noch in Verbindung? Mit Jones? Oder mit dem Neuen da? Duddits?« Kurtz sprach es »Dud-Duts« aus.

»Nein, nicht mit dem. Nicht mit denen.« Aber er hatte immer noch den Finger an der Nase und immer noch diesen verschmitzten Blick.

»Wenn Sie's mir sagen, kriegen Sie Wasser«, sagte Kurtz. »Wenn Sie mir aber weiter auf den Zeiger gehen, Soldat, verpasse ich Ihnen eine Kugel und schmeiße Sie in den Schnee. Und jetzt lesen Sie mal meine Gedanken und erzählen mir dann noch, dass ich das nicht ernst meine.«

Pearly warf ihm im Rückspiegel einen eingeschnappten Blick zu und sagte dann: »Jonesy und Mr. Gray sind immer noch auf dem Flighway. Sie sind jetzt in der Nähe von Portland. Jonesy hat Mr. Gray verraten, wie er auf dem 295 um die Stadt herumkommt. Und dabei hat er es ihm gar nicht erzählt. Mr. Gray ist in seinem Kopf, und wenn er etwas wissen will, dann nimmt er es sich, glaube ich, einfach.«

Kurtz hörte sich das zusehends ergriffen an und überlegte die ganze Zeit hin und her.

»Da ist ein Flund«, sagte Pearly. »Sie haben einen Flund dabei. Er heißt Lad. Er ist es, mit dem ich in Verbindung stehe. Er ist... wie ich.« Seine Augen suchten im Spiegel wieder Kurtz' Blick, aber jetzt war alle Verschmitztheit daraus verschwunden. Stattdessen sah er jämmerlich aus und gerade so eben noch zurechnungsfähig. »Glauben Sie wirklich, dass es eine Chance gibt, dass ich ... na ja ... wieder ich werden könnte?«

Da er wusste, dass Perlmutter seine Gedanken lesen konnte, ging Kurtz vorsichtig vor. »Ich glaube, es wäre durchaus möglich, dass man Sie wenigstens von Ihrer Last befreit. Wenn man einen Arzt hätte, der etwas davon versteht? Ja, ich glaube, das ließe sich machen. Eine schöne Dröhnung Chloroform, und wenn Sie wieder aufwachen: futsch.« Kurtz küsste sich in einer genießerischen Geste die Fingerspitzen. Dann wandte er sich an Freddy: »Wenn sie in Portland sind, wie groß ist dann ihr Vorsprung?«

»Gut siebzig Meilen, Boss.«

»Dann geben Sie mal ein bisschen Gas, Herrgott. Ich will nicht im Straßengraben enden, aber ein bisschen mehr ist doch wohl noch drin.« Siebzig Meilen. Und wenn Owen und Devlin und »Dud-Duts« auch wussten, was Archie Perlmutter wusste, waren sie ihnen immer noch auf der Spur.

»Lassen Sie mich das mal klarstellen, Archie. Mr. Gray ist also in Jonesy -«

»Ja —«

»Und sie haben einen Hund dabei, der ihre Gedanken lesen kann?«

»Der Hund hört ihre Gedanken, versteht sie aber nicht. Er ist ja schließlich nur ein Hund. Boss, ich habe Durst.«

Er lauscht dem Hund, als wäre es eine Radiosendung, staunte Kurtz.

»Freddy, nächste Ausfahrt ab. Getränke für alle.« Er ärgerte sich, dass er einen Boxenstopp einlegen musste - ärgerte sich, auch nur ein paar Meilen auf Owen zu verlieren -, aber er brauchte Perlmutter. Und zwar möglichst bei guter Laune.

Vor ihnen lag die Raststätte, an der Mr. Gray seinen Schneepflug gegen den Subaru des Kochs getauscht hatte

und an der Owen und Henry auch kurz gehalten hatten, als die Linie dorthin geführt hatte. Der Parkplatz war gerammelt voll, aber gemeinsam brachten sie genug Münzen für die Getränkeautomaten auf dem Hof auf. Gelobt sei der Herr.

Von allen übrigen Erfolgen und Fehlschlägen der so genannten »Florida-Präsidentschaft« (deren Geschichte noch weitgehend ungeschrieben ist) einmal abgesehen, wird eines doch auf jeden Fall Bestand haben: Der Präsident beendete mit seiner Ansprache an diesem Novembermorgen die Alien-Panik. Man war geteilter Meinung darüber, warum die Rede so wirksam war (»Das hatte mit Führungsqualitäten nichts zu tun, sondern nur mit Timing«, meinte ein Kritiker naserümpfend), aber sie war wirksam. Gierig darauf, endlich Fakten zu hören, fuhren die Menschen, die schon auf der Flucht waren, vom Highway ab, um die Fernsehansprache des Präsidenten zu sehen. Die Elektronikläden in den Einkaufszentren füllten sich mit schweigenden, glotzenden Menschen. In den Raststätten am 1-95 wurde der Betrieb eingestellt. Man stellte Fernsehgeräte neben die stillgelegten Registrierkassen. Die Kneipen füllten sich. An vielen Orten ließen die Leute die Haustür offen stehen, damit sich Fremde bei ihnen die Ansprache ansehen konnten. Sie hätten sie auch (wie Jonesy und Mr. Gray) im Autoradio verfolgen und dabei weiterfahren können, aber das tat nur eine Minderheit. Die meisten Leute wollten das Gesicht des Präsidenten sehen. Seinen Kritikern zufolge kam die Rede einfach nur zum richtigen Zeitpunkt - »In diesem Moment hätte auch Schweinchen Dick mit einer Rede solchen Erfolg gehabt«, meinte einer von ihnen. Ein anderer sah es anders. »Es war der entscheidende Moment der Krise«, sagte er. »Es waren vielleicht sechstausend Leute auf der Flucht. Hätte der Präsident etwas Falsches gesagt, dann wären es um vierzehn Uhr sechzigtausend gewesen, und vielleicht wären es schon sechshunderttausend gewesen, wenn die Fluchtwelle dann New York erreicht hätte - und das wäre der größte Flüchtlingsstrom geworden seit den Dürren im Mittelwesten in den Dreißigerjahren. Die Amerikaner, vor allem die Neuengländer, erhofften sich Hilfe von ihrem mit so knapper Mehrheit gewählten Präsidenten ... und Trost und Zuversicht. Und er hielt daraufhin die vielleicht beste Rede an die Nation aller Zeiten. So einfach ist das.«

Einfach oder nicht, Soziologie oder große Führungsqualitäten: Die Rede war ungefähr so, wie Owen und Henry sie erwartet hatten ... und Kurtz hätte jedes Wort Vorhersagen können. Im Mittelpunkt standen zwei ganz einfache Gedanken, die beide als absolute Tatsachen hingestellt wurden und darauf zielten, die panische Angst zu lindern, die den sonst immer so selbstgefälligen Amerikanern an diesem Morgen die kollektive Brust zuschnürte. Der erste Gedanke war der, dass die Neuankömmlige zwar nicht direkt mit Palmwedeln gewunken und Gastgeschenke verteilt hätten, andererseits aber eben auch keinerlei aggressives oder feindseliges Verhalten an den Tag gelegt hätten. Der zweite war der, dass sie zwar eine Art Virus mitgebracht hätten, der aber durch die Quarantäne nicht aus Jefferson Tract heraus könne (der Präsident zeigte auf einer eingeblendeten Landkarte, wo das war, und machte das so beiläufig wie ein Wettermann, der auf ein Tiefdruckgebiet deutete). Und auch dort ginge dieser Virus bereits ein, und zwar ohne dass die Wissenschaftler und Militärexperten vor Ort auf irgendeine Weise nachgeholfen hätten.

»Wir können das zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht mit Sicherheit sagen«, erzählte der Präsident den ihm atemlos folgenden Zuschauern (und die im nördlichen Neuengland lauschten, vielleicht verständlicherweise, die am atemlosesten), »aber wir glauben, dass unsere Besucher diesen Virus mitgebracht haben, wie Reisende aus dem Ausland manchmal in ihrem Gepäck oder in Lebensmitteln, die sie einführen, gewisse Insekten in ihr Heimatland mitbringen. Darum kümmert sich normalerweise der Zoll, aber -« Ein breites Lächeln des Großen Weißen Vaters »-, aber unsere Gäste sind eben an keiner Zollstelle gelandet.«

Ja, einige wenige Menschen seien dem Virus erlegen. Die meisten von ihnen seien Militärangehörige. Die überwiegende Mehrheit derer, die sich damit angesteckt hatten (»mit einem Pilz, Fußpilz nicht unähnlich«, sagte der Große Weiße Vater), hätten es ohne medizinische Hilfe wieder abgewehrt. Zwar sei das ganze Gebiet unter Quarantäne gestellt, aber außerhalb dieser Zone, darauf wurde beharrt, drohe keinerlei Gefahr. »Wenn Sie in Maine sind und Ihr Heim verlassen haben», sagte der Präsident, »dann rate ich Ihnen umzukehren. Um es mit den Worten von Franklin Delano Roosevelt zu sagen: Wir haben nichts zu fürchten außer der Furcht.«

Kein Wort über das Abschlachten der Grauen, das gesprengte Schiff, die internierten Jäger, den Brand bei Gosselin's oder den Ausbruch. Kein Wort darüber, dass die letzten Überlebenden von Gallaghers Imperial Valleys nun abgeknallt wurden wie Hunde (und der Meinung vieler nach waren sie Hunde; schlimmer als Hunde). Kein Wort über Kurtz und keine Silbe über Typhoid Jonesy. Der Präsident erzählte eben genug, um die Panik einzudämmen, ehe sie noch weiter um sich griff.

Und die meisten Leute befolgten seinen Rat und fuhren nach Hause.

Für einige war das natürlich nicht möglich.

Einige konnten nicht mehr nach Hause.

Die kleine Parade fuhr unter einem bedeckten Himmel weiter nach Süden, angeführt von dem rostigen roten Subaru, den Marie Turgeon aus Litchfield nie Wiedersehen würde. Henry, Owen und Duddits folgten mit fünfundfünfzig Meilen oder gut fünfzig Minuten Abstand. Als sie den Parkplatz der Raststätte bei Meile 81 verließen (Pearly trank schon seine zweite Flasche Mineralwasser leer, als sie sich eben wieder in den Verkehr einordneten), folgten Kurtz und seine Männer Jonesy und Mr. Gray im Abstand von gut fünfund-siebzig Meilen und befanden sich also zwanzig Meilen hinter Kurtz' Hauptziel.

Wäre es nicht so bedeckt gewesen, dann hätte man sie von einer niedrig fliegenden Maschine aus alle drei gleichzeitig sehen können, den Subaru und die beiden Humvees, um 11.43 Uhr Ostküstenzeit, als der Präsident seine Fernsehansprache mit den Worten beschloss: »Gott schütze Sie, meine amerikanischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Und Gott schütze Amerika.«

Jonesy und Mr. Gray fuhren gerade über die Brücke zwischen Kittery und Portsmouth nach New Hampshire hinein; Henry, Owen und Duddits kamen eben an der Ausfahrt 9 vorbei, über die man in die Gemeinden Falmouth, Cumber-land und Jerusalem's Lot gelangte; Kurtz, Freddy und Perlmutter (Perlmutter schwoll wieder der Bauch an; er lehnte sich stöhnend zurück und gab giftige Gase von sich - vielleicht eine Art kritischer Kommentar zur Ansprache des Großen Weißen Vaters) befanden sich auf der Höhe der Ausfahrt nach Bowdoinham auf dem 295, ein Stückchen nördlich von Brunswick. Alle drei Fahrzeuge wären einfach auszumachen gewesen, weil so viele Leute irgendwo gehalten hatten, um dem Präsidenten bei seiner beruhigenden, von einer eingeblendeten Landkarte unterstützten Ansprache zuzusehen.

Aus Jonesys bewundernswert gut geordneten Erinnerungen schöpfend, fuhr Mr. Gray, gleich nachdem er die Grenze zwischen New Hampshire und Massachusetts überquert hatte, vom Highway 95 auf den Highway 495 ab ... und dirigiert von Duddits, der Jonesys Spur als leuchtend gelbe Linie sah, folgte ihm der erste Humvee. Hinter der Stadt Marl-borough würde Mr. Gray dann vom Highway 495 auf den Interstate Highway 90 wechseln, eine der großen Ost-West-Verkehrsachsen der USA. An der Ausfahrt 8 war es, laut Jonesys Erinnerungen, nach Palmer, Amherst und Ware ausgeschildert. Und sechs Meilen hinter Ware lag der Quabbin-Stausee.

Schacht zwölf war genau das Richtige für ihn; das sagte ihm Jonesy, und Jonesy konnte ihn nicht belügen, so gern er es auch getan hätte. Am Winsor-Damm an der Südseite des Sees hatte die Wasserbehörde von Massachusetts ein Büro. So weit konnte Jonesy ihn bringen, und Mr. Gray würde dann den Rest erledigen.

Jonesy ertrug es nicht mehr, an seinem Schreibtisch zu sitzen -hätte er noch länger dort gesessen, dann hätte er unweigerlich losgeflennt. Vom Flennen wäre er dann zweifellos zum Stammeln übergegangen und vom Stammeln zum hemmunglosen Jammern, und wenn er erst mal angefangen hätte zu jammern, dann hätte er wahrscheinlich die Tür aufgerissen und wäre Mr. Gray in die Arme gelaufen, komplett durchgeknallt und bereit, sich vernichten zu lassen.

Wo sind wir denn jetzt überhaupt?, fragte er sich. Schon in Marlborough? Fahren wir schon vom 495 auf den 90 ab? Das könnte hinkommen.

Er hatte aber keine Möglichkeit, es festzustellen, da die Fensterläden geschlossen waren. Jonesy sah zum Fenster hinüber und musste, trotz allem, grinsen. Statt gib auf, komm raus stand da nun das, was ihm dazu eingefallen war:

ERGIB DICH DOROTHY.

Das habe ich getan, dachte er. Und ich könnte auch bestimmt diese verdammten Fensterläden verschwinden lassen, wenn ich nur wollte.

Na und? Dann würde Mr. Gray neue anbringen oder vielleicht die Fensterscheiben einfach mit schwarzer Farbe übertünchen. Wenn er nicht wollte, dass Jonesy hinausschaute, dann würde Jonesy auch nichts sehen. Mr. Gray kontrollierte eben seine gesamte Außenseite. Mr. Gray war der Kopf geplatzt, er hatte sich direkt vor Jonesys Augen in Sporen verwandelt - aus Dr. Jekyll war Mr. Byrus geworden -, und Jonesy hatte diese Sporen eingeatmet. Und jetzt war Mr. Gray ...

Er ist wie ein Schmerz, dachte Jonesy, Mr. Gray ist wie ein Schmerz in meinem Hirn.

Etwas in ihm sträubte sich gegen diese Ansicht, und ihm kam ein genau entgegengesetzter Gedanke - nein, du bringst das durcheinander: du bist aus deinem Körper geflohen -, aber er tat das ab. Das war pseudo-intuitiver Quatsch, eine Sinnestäuschung, nicht viel anders als bei einem Dürstenden in der Wüste, der eine Fata Morgana sah. Er war hier eingesperrt. Mr. Gray war da draußen, aß Bacon und hatte das Sagen. Und wenn sich Jonesy etwas anderes einredete, fiel er im November auf einen Aprilscherz herein.

Ich muss ihn irgendwie bremsen. Wenn ich ihn schon nicht ganz aufhalten kann, gibt es dann nicht wenigstens irgendeine Möglichkeit, wie ich ihm einen Knüppel zwischen die Beine werfen kann?

Er stand auf und ging einmal an den vier Wänden seines Büros entlang. Es waren vierunddreißig Schritte. Eine verdammt kurze Rundreise. Aber immer noch größer als eine durchschnittliche Gefängniszelle; die Jungs in Walpole, Dan-vers oder Shawshank würden sich förmlich die Finger danach lecken. In der Mitte des Zimmers tanzte der Traumfänger und drehte sich. Ein Teil von Jonesys Geist zählte Schritte; ein anderer rätselte, wie nahe sie der Ausfahrt 8 schon waren.

Einunddreißig, zweiunddreißig, dreiunddreißig, vierunddreißig. Und da stand er wieder hinter seinem Stuhl. Start frei zur zweiten Runde.

Bald waren sie in Ware ... und würden dort nicht anhalten. Im Gegensatz zu der Russin wusste Mr. Gray ganz genau, wohin er wollte.

unddreißig, sechsunddreißig. Wieder hinter seinem Stuhl und bereit zur nächsten Runde.

Carla und er hatten drei Kinder, als sie dreißig wurden (das vierte folgte dann im Jahr 2000), und hatten nicht damit gerechnet, in näherer Zukunft mal ein Ferienhaus zu besitzen, nicht einmal ein so bescheidenes wie das Cottage in der Osborne Road in North Ware. Dann hatte in seiner Fakultät ein Umbruch stattgefunden. Ein guter Freund von ihm rückte auf einen leitenden Posten vor, und Jonesy wurde drei Jahre früher zum außerordentlichen Professor berufen, als er sich das in seinen kühnsten Plänen ausgemalt hatte. Der Gehaltssprung war beträchtlich.

Fünfunddreißig, sechsunddreißig, siebenunddreißig, achtunddreißig, und wieder hinter seinem Stuhl. Das tat ihm gut. Er ging einfach nur in seiner Zelle auf und ab, weiter nichts, aber es beruhigte ihn.

Im gleichen Jahr war Carlas Großmutter gestorben, und ein beträchtlicher Besitz wurde zwischen Carla und ihrer Schwester aufgeteilt, da die näheren Blutsverwandten der Generation dazwischen bereits verstorben waren. Daher hatten sie das Ferienhaus, und in diesem Sommer waren sie mit den Kindern zum Winsor-Damm gefahren. Von dort aus hatten sie an einer der regelmäßig stattfindenden Wanderungen teilgenommen. Ihr Guide, ein Angestellter der

Wasserwerke, der eine laubgrüne Uniform trug, hatte ihnen erzählt, das Gebiet rund um den Quabbin-Stausee werde auch als »verwildertes Land« bezeichnet und sei das größte Adlernistgebiet in ganz Massachusetts. (John und Misha, ihre beiden Älteren, hatten gehofft, ein, zwei Adler zu sehen, waren aber enttäuscht worden.) Der Stausee war in den Dreißigerjahren entstanden, als man drei landwirtschaftliche Gemeinden überflutete, die alle einen kleinen Marktflecken hatten. Damals war das Land rund um den See erschlossen gewesen. In den gut sechzig Jahren seither war es wieder zu dem geworden, was wohl ganz Neuengland einmal gewesen war, ehe hier Mitte des 17. Jahrhunderts Ackerbau und Handwerk Einzug gehalten hatten. Ein Gewirr ausgefurchter, ungepflasterter Straßen führte am Ostufer des Sees entlang - einem der saubersten Trinkwasser-Reservoire Nordamerikas, wie ihr Guide behauptet hatte -, aber weiter gab es dort nichts. Wenn man am Ostufer über Schacht zwölf hinauswollte, brauchte man Wanderstiefel. Das hatte ihnen der Guide erzählt. Lorrington hatte er geheißen.

An der Wanderung hatten noch gut ein Dutzend andere Leute teilgenommen, und mittlerweile waren sie auch wieder an ihrem Ausgangspunkt angegelangt. Sie hatten am Rande der Straße gestanden, die über den Winsor-Damm verlief, und hatten nach Norden auf den See hinausgeschaut (das strahlende Blau des Quabbin im Sonnenschein, wie es millionenfach funkelte, und Joey war schnell in der Papoo-se-Babytrage auf Jonesys Rücken eingeschlafen). Lorrington wollte eben seinen Sermon beenden und allen noch einen schönen Tag wünschen, da hob ein Typ, der ein Rutgers-Sweatshirt trug, schuljungenhaft die Hand und sagte: Schacht zwölf. Ist das nicht, wo die russische Frau... ?

Achtunddreißig, neununddreißig, vierzig, einundvierzig -und wieder zurück hinter seinem Schreibtischstuhl. Er zählte einfach, ohne sich bei den Zahlen groß etwas zu denken, und das machte er oft so. Carla meinte, es wäre ein Anzeichen für eine zwanghafte Verhaltensstörung. Das glaubte Jonesy nicht. Das Zählen beruhigte ihn, und deshalb brach er gleich zu einer neuen Runde auf.

Lorrington hatte bei dem Wort »russische Frau« leicht verkniffen geguckt. Das gehörte anscheinend nicht zu seinem Vortrag, zählte nicht zu den netten Erinnerungen, die die Touristen mit nach Hause nehmen sollten. Je nachdem, durch welche städtischen Rohre es auf den letzten acht bis zehn Meilen seiner Reise floss, konnte das Bostoner Leitungswasser eines der reinsten und besten weltweit sein - das war die Lehre, die sie verbreiten sollten.

Darüber weiß ich wirklich nicht viel, Sir, hatte Lorrington gesagt, und Jonesy hatte gedacht: Schau einer an. Wenn wir unseren Führer da mai nicht bei einer kleinen Flunkerei ertappt haben.

Einundvierzig, zweiundvierzig, dreiundvierzig, und wieder hinter seinem Stuhl und bereit, von vorne anzufangen. Er ging jetzt ein wenig schneller. Hatte die Hände hinterm Rücken verschränkt wie ein Kapitän, der das Vorderdeck abschritt ... oder nach einer Meuterei in der Arrestzelle seines Schiffs auf und ab ging. Ja, das wohl eher.

Als Geschichtslehrer war Jonesy von Haus aus neugierig. Am Tag nach der Wanderung war er in die Bibliothek gegangen, hatte in der Lokalzeitung nach der Geschichte gesucht und sie auch gefunden. Der Artikel war kurz und enthielt nur wenige Details - Berichte über Gartenpartys in der gleichen Zeitung waren viel ausführlicher -, aber ihr Postbote wusste mehr und erzählte es ihnen gern. Der alte Mr. Beckwith. Jonesy erinnerte sich immer noch an seine letzten Worte, ehe er seinen blauweißen Postwagen wieder in Gang setzte und darin die Osborne Road hinunter zu dem nächsten einsamen Briefkasten fuhr; auf der Südseite des Sees gab es im Sommer viel Post auszutragen. Jonesy ging zurück zum Cottage, ihrem unerwarteten Geschenk, und dachte, dass es

kein Wunder sei, dass Lorrington nicht über die Russin hatte reden wollen.

Denn das war keine Werbung.

10

Ihr Name ist entweder Ilena oder Elaina Timarova - da gibt es unterschiedliche Angaben. Sie taucht im Frühherbst 1995 in einem Ford Escort mit einem diskreten gelben Hertz-Aufkleber auf der Windschutzscheibe in Ware auf. Der Wagen erweist sich als gestohlen, und die ebenso aus der Luft gegriffene wie pikante Story macht die Runde, sie habe sich ihn am Flughafen von Boston besorgt, sei durch sexuelle Gefälligkeiten in den Besitz der Schlüssel gelangt. Wer weiß. Es hätte sich so abgespielt haben können.

Wie dem auch sei - sie ist eindeutig geistig verwirrt, nicht ganz richtig im Kopf. Jemand erinnert sich, dass sie eine Schramme an der Wange hatte, ein anderer, dass ihre Bluse falsch geknöpft war. Sie spricht kaum Englisch, gerade genug, um zu bekommen, was sie will: eine Wegbeschreibung zum Quabbin-Stausee. Die notiert sie (auf Russisch) auf einem Zettel. An diesem Abend, als die Straße über den Win-sor-Damm geschlossen wird, wird der Ford Escort an einem Picknickareal in Goodnough Dike gesehen. Als der Wagen am nächsten Morgen immer noch dort steht, machen sich zwei Männer von den Wasserwerken (und Lorrington war vielleicht einer von ihnen) und zwei Förster auf die Suche nach ihr.

Zwei Meilen die East Street hinauf finden sie ihre Schuhe. Zwei Meilen weiter, wo die Asphaltierung der East Street endet (die sich am Ostufer des Sees durch die Wildnis schlängelt und eigentlich gar keine richtige Straße ist, sondern eher die hiesige Form der Deep Cut Road), finden sie ihre Bluse ... Oh-oh. Zwei Meilen hinter der weggeworfenen Bluse endet die East Street, und ein ausgefurchter Holzfällerweg -die Fitzpatrick Road - führt vom Seeufer fort. Der Such-trupp will eben auf diesem Weg weitergehen, als einer von ihnen in Ufernähe etwas Rosafarbenes an einem Ast hängen sieht. Es erweist sich als der BH der Dame.

Der Boden hier ist feucht, aber nicht morastig, und sie können sowohl ihren Fußspuren als auch einer Spur von Zweigen folgen, die sie beim Gehen abgebrochen haben muss, und sie wollen sich gar nicht ausmalen, welche Verletzungen sich ihre nackte Haut dabei zugezogen hat. Doch der Beweis für diese Verletzungen ist vorhanden, und sie müssen es sehen, ob sie wollen oder nicht: Das Blut auf den Zweigen und Steinen ist ein Teil ihrer Spur.

Eine Meile hinter dem Ende der East Street kommen sie zu einem Steingebäude, das auf einer Felsnase steht. Es erhebt sich am Mount Pomery über das Ostufer des Sees. Dieses Gebäude beherbergt den Schacht zwölf und ist mit dem Auto nur von Norden aus zu erreichen. Und warum Ilena oder Elaina nicht von Norden aus hierher gekommen ist, wird immer rätselhaft bleiben.

Das Aquädukt, das am Quabbin-See beginnt, verläuft fünfundsechzig Meilen schnurstracks ostwärts bis nach Boston und nimmt dabei aus den Reservoiren Wachusett und Sudbury noch weiteres Wasser auf (diese beiden Quellen sind nicht so ergiebig und nicht ganz so rein). Es gibt keine Pumpen; das Rohr des Aquädukts, das vier Meter hoch und drei Meter breit ist, erledigt das von allein. Die Bostoner Wasserversorgung beruht auf schlichter Schwerkraftspeisung, einer Technik, welche die Ägypter schon vor 3500 Jahren eingesetzt haben. Zwischen der Erdoberfläche und dem unterirdischen Aquädukt verlaufen insgesamt zwölf vertikale Schächte. Sie dienen der Luftversorgung und dem Druckausgleich. Sie dienen auch als Zugang für den Fall, dass das Aquädukt verstopft. Schacht zwölf, der dem Reservoir am nächsten ist, wird auch als Zuflussschacht bezeichnet. Hier

werden Wasserproben entnommen, und auch die Tugend mancher Frau wurde hier schon auf die Probe gestellt (das Steingebäude ist nicht verschlossen und bei Liebespaaren eine beliebte Kanu-Anlegestelle).

Auf der untersten der acht Stufen, die zur Tür des Schachthauses hinaufführen, finden sie, ordentlich zusammengelegt, die Jeans der Frau. Auf der obersten Stufe liegt ein schlichter weißer Baumwollslip. Die Tür steht offen. Die Männer schauen einander betreten an, und keiner sagt ein Wort. Sie ahnen schon, was sie drinnen finden werden: eine tote, nackte Russin.

Doch dem ist nicht so. Der runde Eisendeckel auf dem Schacht zwölf ist eben so weit verschoben worden, dass auf der Seeseite des Schachts eine sichelförmige Lücke entstanden ist. Dahinter liegt die Brechstange, mit der die Frau den Deckel aufgehebelt hat - normalerweise steht sie mit ein paar anderen Werkzeugen hinter der Tür an der Wand. Und hinter der Brechstange liegt die Handtasche der Russin. Darauf liegt ihre aufgeschlagene Brieftasche. Und auf der Brieftasche - sozusagen die Spitze der Pyramide - liegt ihr Reisepass. Daraus ragt ein Zettel hervor, auf dem etwas auf Russisch gekrakelt ist. Die Männer halten es erst für den Abschiedsbrief einer Selbstmörderin, aber übersetzt erweist es sich als nichts weiter als die Wegbeschreibung, die sie bekommen hat. Unten drunter hatte sie geschrieben: Wenn Straße endet, am Ufer entlanggehen. Und genau das hatte sie getan und sich dabei Stück um Stück ausgezogen und nicht auf die Zweige geachtet, die sie zerkratzten.

Die Männer stehen ratlos um die nur teilweise bedeckte Schachtöffnung herum und lauschen dem Plätschern des Wassers, das hier seinen Weg zu den Wasserhähnen, Springbrunnen und Gartenschläuchen von Boston beginnt. Es ist ein dumpfes Geräusch, und das hat einen guten Grund: Der Schacht ist vierzig Meter tief. Die Männer verstehen zwar nicht, warum sie es unbedingt auf diese Weise tun wollte, verstehen aber ganz deutlich, was sie da getan hat, können sie förmlich mit in den Schacht baumelnden Füßen da auf dem Steinboden sitzen sehen. Sie schaut sich vielleicht noch ein letztes Mal um, ob ihre Brieftasche und ihr Reisepass auch noch dort liegen, wo sie sie hingelegt hat. Sie will, dass jemand erfährt, wer auf diesem Wege aus dem Leben geschieden ist, und das hat etwas fürchterlich Trauriges an sich. Ein Blick noch zurück, und dann rutscht sie hinein in die Lücke zwischen dem beiseite geschobenen Deckel und dem Rand des Schachts. Vielleicht hat sie sich die Nase zugehalten wie ein Kind beim Sprung ins Schwimmbecken. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist sie im Handumdrehen verschwunden. Hallo Dunkelheit, alte Freundin.

11

Die letzten Worte des alten Mr. Beckwith zu diesem Thema (ehe er dann mit seinem Postauto weiterfuhr) waren: Was man so hört, werden die Leute in Boston sie so um den Valentinstag rum in ihrem Morgenkaffee trinken. Dann hatte er Jonesy angegrinst. Ich persönlich rühr dieses Wasser ja sowieso nicht an. Ich halte mich lieber an Bier.

In Massachusetts spricht man das, wie auch in Australien, Beah aus.

12

Jonesy hatte die Wände seines Büros jetzt zwölf- oder vierzehnmal abgeschritten. Er blieb kurz hinter seinem Schreibtischstuhl stehen, rieb sich gedankenverloren die Hüfte und ging dann wieder los, immer noch zählend, der gute, alte, zwanghaft verhaltensgestörte Jonesy.

Eins ... zwei... drei...

Die Geschichte mit der Russin war bestimmt ein ausgezeichnetes Beispiel für kleinstädtische Gruselstorys (die sonst auch gern von Spukhäusern handelten, in denen sich mehrere Morde ereignet hatten, oder die an den Schauplätzen entsetzlicher Verkehrsunfälle spielten) und erklärte sicherlich auch, was Mr. Gray mit Lad, dem unglückseligen Border Collie, vorhatte, aber was nützte es ihm schon zu wissen, wohin Mr. Gray wollte? Schließlich ...

Wieder hinter dem Stuhl, achtundvierzig, neunundvierzig, fünfzig, und dann: Warte mal, das gibt's doch nicht. Als er die Wände zum ersten Mal abgegangen war, hatte er doch nur vierunddreißig Schritte gebraucht, nicht wahr? Wie konnten es denn jetzt fünfzig sein? Er schlurfte nicht und machte keine Tippelschritte oder so, also wie -

Du hast das Zimmer vergrößert. Du bist es abgeschritten und hast es dadurch größer gemacht. Weil du so rastlos warst. Es ist ja schließlich dein Zimmer. Ich wette, du könntest es so groß machen wie den Ballsaal im Waldorf-Astoria, wenn du wolltest... und Mr. Gray könnte dich nicht daran hindern.

»Ist das möglich?«, flüsterte Jonesy. Er stand neben seinem Schreibtisch, eine Hand auf dem Rücken, als würde er für ein Porträt Modell stehen. Er musste sich diese Frage gar nicht beantworten; er musste sich nur umschauen. Der Raum war jetzt eindeutig größer.

Henry kam. Wenn er Duddits dabeihatte, dann war es einfach für ihn, Mr. Gray zu verfolgen, egal wie oft Mr. Gray das Fahrzeug wechselte, denn Duddits sah die Linie. Er hatte sie in einem Traum zu Richie Grenadeau geführt, und später hatte er sie in der Realität zu Josie Rinkenhauer geführt, und er konnte Henry nun so einfach den Weg weisen, wie ein Jagdhund einen Jäger zu einem Fuchsbau führte. Das Problem war eher der Vorsprung, dieser verdammte Vorsprung, den Mr. Gray hatte. Mindestens eine Stunde. Vielleicht sogar mehr. Und wenn Mr. Gray den Hund erst einmal in den Schacht zwölf geworfen hatte, war alles zappendüster. Es wäre zwar - theoretisch - noch Zeit, die Wasserversorgung von Boston zu sperren, aber würde Henry irgend] emanden davon überzeugen können, etwas derart Weitreichendes und Störendes zu unternehmen? Jonesy bezweifelte es. Und was war mit den ganzen Menschen an der Strecke, die das Wasser fast ohne Verzögerung trinken konnten? 6500 in Ware, 11000 in Athol, über 150000 in Worcester. Bei denen war es schon in Wochen, nicht erst in Monaten. Und bei manchen schon in einigen Tagen.

Gab es irgendeine Möglichkeit, dieses Schwein zu bremsen und damit Henry die Chance zu geben, ihn einzuholen?

Jonesy schaute zum Traumfänger hoch, und in diesem Moment änderte sich etwas im Zimmer - er hörte fast so etwas wie ein Seufzen, ein Geräusch, wie Geister es angeblich bei Seancen machten. Aber das hier war kein Geist, und Jonesy spürte ein Prickeln in den Armen. Gleichzeitig traten ihm Tränen in die Augen. Ein Satz von Thomas Wolfe fiel ihm ein: Verloren - ein Stein, ein Blatt, eine nie gefundene Tür. Thomas Wolfe, dessen These immer gewesen war, man könne nie wieder nach Hause gelangen.

»Duddits?«, flüsterte er. Seine Nackenhaare richteten sich auf. »Duddie, bist du das?«

Keine Antwort ... aber als er auf den Schreibtisch schaute, auf dem das nutzlose Telefon gestanden hatte, sah er, dass etwas Neues hinzugekommen war. Kein Stein, kein Blatt und auch keine nie gefundene Tür, sondern ein Crib-bage-Brett und ein Kartenspiel.

Da wollte jemand das Spiel spielen.

Tut jetzt die ganze Zeit weh. Mama weiß, er sagt es Mama. Jesus weiß, er sagt es Jesus. Henry sagt er es nicht, Henry hat selber Schmerzen, Henry müde, würde ihn nur traurig machen. Biber und Pete sind im Himmel, wo sie sitzen zur Rechten Gottes, des allrechtigen Vaters, des Schöpfers des Himmels und der Erde, in Ewigkeit, amen, o Mann. Das macht ihn traurig, sie waren gute Freunde und haben Spiele gespielt und sich nie über ihn lustig gemacht. Einmal haben sie Josie gefunden, und einmal haben sie einen großen Mann gesehen, einen Cowboy, und früher haben sie das Spiel gespielt.

Das hier ist auch ein Spiel, aber Pete hat immer gesagt: Duddits, es kommt nicht darauf an, ob du gewinnst oder verlierst, es kommt darauf an, wie du spielst, aber diesmal kommt es wohl darauf an, es kommt darauf an, das hat Jonesy gesagt, Jonesy hört schlecht, aber das wird bald besser, ganz bald besser. Wenn es doch nicht so wehtun würde. Nicht mal die Perco helfen mehr. Sein Hals ist wund, und er zittert überall, und sein Bauch tut weh, wie wenn er A-a machen muss, so ähnlich, und dabei muss er gar nicht A-a machen, und wenn er hustet, kommt manchmal Blut. Er würde gerne schlafen, aber da sind Henry und sein neuer Freund Owen, der an dem Tag dabei war, als sie Josie gefunden haben, und die sagen: Wenn wir ihn bloß irgendwie bremsen könnten und Wenn wir ihn bloß einholen könnten, und er muss wach bleiben und ihnen helfen, aber er muss die Augen zumachen, damit er Jonesy hören kann, und dann denken sie, dass er schläft, und Owen sagt: Sollen wir ihn nicht lieber wecken, was ist, wenn dieses Schwein irgendwo abbiegt, und Henry sagt: Ich sage dir doch, ich weiß, wohin er fährt, aber wenn wir auf dem 1-90 sind, wecken wir ihn zur Sicherheit auf. Aber jetzt lass ihn schlafen, mein Gott, er sieht so müde aus. Und wieder sagt er das, aber diesmal nur in Gedanken: Wenn wir dieses Schwein doch bloß irgendwie bremsen könnten.

Augen zu. Arme verschränkt vor der Brust, die wehtut. Langsam atmen, Mama sagt, er soll langsam atmen, wenn er husten muss. Jonesy ist nicht tot, ist nicht im Himmel bei Biber und Pete, aber Mr. Gray sagt, Jonesy ist eingesperrt, und Jonesy glaubt ihm. Jonesy ist im Büro, hat kein Telefon und weiß nichts, und man kann schwer mit ihm reden, weil Mr. Gray ist fies, und Mr. Gray hat Angst. Hat Angst, dass Jonesy rausfindet, wer denn in Wirklichkeit eingesperrt ist.

Wann haben sie am meisten geredet?

Wenn sie das Spiel gespielt haben.

Das Spiel.

Es schüttelt ihn. Er muss ganz doll denken, und es tut weh, und er merkt, wie es ihm Kraft wegnimmt, das letzte bisschen Kraft, aber diesmal geht es nicht nur um das Spiel, diesmal ist es wichtig, wer gewinnt und wer verliert, und deshalb gibt er seine Kraft, er macht das Brett, und er macht die Karten, und Jonesy weint, Jonesy denkt Verloren, aber Douglas Cavell hat ihn nicht verloren, er sieht die Linie, die Linie führt zu dem Büro, und diesmal wird er mehr machen als nur die Stifte weiterstecken.

Nicht weinen, Jonesy, sagt er und spricht ganz deutlich, in Gedanken spricht er immer deutlich, das ist nur sein dummer Mund, der das immer vermanscht. Nicht weinen, ich habe dich nicht verloren.

Augen zu. Arme verschränkt.

In Jonesys Büro, unter dem Traumfänger, spielt Duddits das Spiel.

»Ich kriege den Hund rein«, sagte Henry. Er klang erschöpft. »Den Hund, an dem sich Perlmutter orientiert. Ich höre ihn. Wir haben ein klein wenig aufgeholt. Mann, wenn wir ihn nur irgendwie bremsen könnten!«

Jetzt regnete es, und Owen konnte nur hoffen, dass sie schon südlich der Frostgrenze waren, falls der Regen in Schneeregen überging. Der Wind rüttelte am Humvee. Es war jetzt Mittag, und sie waren zwischen Saco und Bidde-ford. Owen schaute in den Rückspiegel und betrachtete Duddits auf der Rückbank. Er hatte die Augen geschlossen, den Kopf zurückgelehnt und die dürren Arme vor der Brust verschränkt. Sein Teint war beängstigend gelblich, und ein feines Blutrinnsal tröpfelte ihm aus einem Mundwinkel.

»Gibt es irgendeine Möglichkeit, wie dein Freund uns helfen kann?«, fragte Owen.

»Ich glaube, er versucht es gerade.«

»Du hast doch gesagt, er schläft.«

Henry drehte sich um, schaute Duddits an und sah dann wieder zu Owen hinüber. »Da habe ich mich geirrt«, sagte er.

15

Jonesy gab, legte aus seinem Blatt zwei Karten in das Crib, nahm dann das andere Blatt und legte daraus zwei Karten dazu.

»Nicht weinen, Jonesy. Nicht weinen, ich habe dich nicht verloren.«

Jonesy sah zum Traumfänger hoch, weil er ziemlich sicher war, dass die Worte von dort gekommen waren. »Ich weine nicht, Duds. Das sind nur meine Scheiß-Allergien, weiter nichts. Also, ich würde mal sagen, du spielst die -«

»Zwei«, sagte die Stimme aus dem Traumfänger.

Jonesy spielte die Zwei aus Duddits' Blatt aus - das war eigentlich gar kein schlechter Anfang - und spielte dann aus seinem eigenen Blatt eine Sieben aus. Machte zusammen neun. Duddits hatte eine Sechs auf der Hand, fragte sich also, ob -

»Sechs macht fünfzehn«, sagte die Stimme aus dem Traumfänger. »Und fünfzehn macht zwei. Knutsch mir die Kimme!«

Jonesy lachte, trotz allem. Es war eindeutig Duddits, aber einen Moment lang hatte er sich wie Biber angehört. »Na, dann mach doch, steck es.« Und dann sah er fasziniert zu, wie sich ein Stift aus dem Brett hob, ein Stückchen weiter schwebte und sich dann in das zweite Loch der ersten Reihe senkte.

Mit einem Mal ging ihm ein Licht auf.

»Du konntest schon immer spielen, Duds, nicht wahr? Du hast bloß so einen Blödsinn beim Stecken gemacht, weil wir darüber gelacht haben.« Dieser Gedanke trieb ihm wieder Tränen in die Augen. In all den Jahren, in denen sie gedacht hatten, sie würden mit Duddits spielen, hatte er in Wirklichkeit mit ihnen gespielt. Und an diesem Tag hinten bei den Gebrüdern Tracker — wer hatte da wen gefunden? Wer hatte da wen gerettet?

»Einundzwanzig«, sagte er.

»Einunddreißig. Macht zwei«, tönte es aus dem Traumfänger. Und wieder hob eine unsichtbare Hand den Stift und steckte ihn zwei Löcher weiter. »Ich komme nicht zu ihm durch, Jonesy.«

»Ich weiß.« Jonesy spielte eine Drei aus. Duddits sagte Dreizehn, und Jonesy legte es aus Duddits' Blatt.

»Aber du kommst zu ihm durch. Du kannst mit ihm sprechen.«

Jonesy spielte seine eigene Zwei aus und machte zwei Punkte. Duddits war dran und machte mit seiner letzten

Karte noch einen Punkt, und Jonesy dachte: Von einem geistig Behinderten beim Cribbage geschlagen zu werden - auch nicht schlecht. Aber Duddits war nicht geistig behindert. Er war erschöpft, und er starb, aber geistig behindert war er nicht.

Sie zählten aus, und Duddits gewann haushoch, obwohl Jonesy ja das Crib hatte. Jonesy schob die Karten zusammen und fing an zu mischen.

»Was will er, Jonesy? Was will er, außer Wasser?« Mord, dachte Jonesy. Er bringt gern Menschen um. Aber das bitte nicht. Lieber Gott, bitte nicht noch mal. »Bacon«, sagte Jonesy. »Er isst gern Bacon.« Er mischte die Karten ... und wurde plötzlich stocksteif, als Duddits seinen Geist erfüllte. Der wahre Duddits, der jung und stark und kampfbereit war.

16

Duddits stöhnte laut hinter ihnen auf der Rückbank. Henry drehte sich um und sah, dass ihm wieder Blut, rot wie der Byrus, aus den Nasenlöchern lief. Sein Gesicht war vor Konzentration fürchterlich verkrampft. Unter seinen geschlossenen Lidern drehten sich die Augäpfel hin und her.

»Was ist denn mit ihm?«, fragte Owen.

»Ich weiß es nicht.«

Duddits fing an zu husten - ein tiefer, rasselnder Husten aus den Bronchien. Winzige Blutströpfchen sprühten ihm aus dem Mund.

»Weck ihn auf, Henry! Um Himmels willen, weck ihn auf!«

Henry sah Owen ängstlich an. Sie näherten sich jetzt Ken-nebunkport, waren keine zwanzig Meilen mehr von der Grenze nach New Hampshire und noch hundertzehn Meilen vom Quabbin-Stausee entfernt. Jonesy hatte ein Bild des

Quabbin in seinem Büro hängen; Henry hatte es gesehen. Und er hatte ein Cottage in der Nähe, in Ware.

Duddits rief etwas: ein Wort, dreimal wiederholt, zwischen Hustenanfällen. Die Blutungen waren nicht schlimm, noch nicht, das Blut kam nur aus seinem Mund und seiner Kehle, aber wenn Blutgefäße in seiner Lunge platzten -

»Weck ihn auf! Er sagt, er hat Schmerzen! Hörst du denn nicht -«

»Er sagt nicht, dass er Schmerzen hat.«

»Was dann? Was?«

»Er sagt Bacon.«

17

Das Wesen, das nun von sich als von Mr. Gray dachte - der Mann, der sich jetzt als Mr. Gray sah -, hatte ein ernstes Problem, aber wenigstens wusste es (er) das. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt, hätte Jonesy gesagt. In Jonesys Lagerkartons waren hunderte solcher Redensarten, vielleicht gar tausende. Einige waren für Mr. Gray vollkommen unverständlich - Jetzt wird mir klar, wo der Hase im Pfeffer liegt etwa oder Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt -, aber Gefahr erkannt, Gefahr gebannt gefiel ihm gut.

Sein Problem hatte damit zu tun, was er Jonesy gegenüber empfand ... und dass er überhaupt etwas empfand, war natürlich schon schlimm genug. Er konnte natürlich denken: Jetzt ist Jonesy eingesperrt, und ich habe das Problem gelöst; ich habe ihn genauso unter Quarantäne gestellt, wie ihr Militär versucht hat, uns unter Quarantäne zu stellen. Ich werde verfolgt, ja, sogar gejagt, aber wenn mir kein Motorschaden und keine Reifenpanne dazwischenkommen, hat weder die eine noch die andere Gruppe von Verfolgern eine große Chance, mich einzuholen. Dafür ist mein Vorsprung zu groß.

Das waren alles Tatsachen - die Wahrheit -, aber die hatten für ihn keinerlei Reiz. Ihn reizte vielmehr der Gedanke, wie er zu der Tür gehen würde, hinter der sein Wirt wider Willen eingesperrt war, und wie er brüllen würde: »Dir hab ich's echt gezeigt, was? Dir hab ich echt die Hose stramm gezogen, was?« Was eine Hose damit zu tun hatte und wieso man sie stramm ziehen sollte, wusste Mr. Gray nicht; er wusste nur, dass es eine emotionale Kugel von ziemlich großem Kaliber aus Jonesys verbalem Munitionslager war -dabei schwang etwas äußerst Unangenehmes aus Jonesys Kindheit mit. Und dann würde er Jonesys Zunge (die jetzt meine Zunge ist, dachte Mr. Gray mit unbestreitbarer Befriedigung) aus Jonesys Mund herausstrecken und ihm »den roten Waschlappen zeigen«.

Was seine Verfolger anging, so hätte er gern Jonesys Hose heruntergezogen und ihnen dann Jonesys blanken Hintern gezeigt. Das wäre ebenso sinnlos gewesen wie da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt, ebenso sinnlos wie Hose stramm ziehen, aber trotzdem wollte er es tun.

Er hatte sich, das wurde Mr. Gray klar, mit dem Byrus dieser Welt angesteckt. Es hatte mit Gefühlen angefangen, war dann weitergegangen mit sinnlichen Freuden (der Geschmack des Essens, das unbestreitbare, unbändige Vergnügen, das es ihm bereitet hatte, den Polizisten dazu zu bringen, sich selbst an der gefliesten Wand den Kopf einzuschlagen - dieses Krachen allein schon) und war dann schließlich zu dem übergegangen, was Jonesy als Denken bezeichnete. Aber das war, Mr. Grays Ansicht nach, Etikettenschwindel und nichts anderes, als hätte man Scheiße als verwertete Nahrung bezeichnet oder Völkermord ethnische Säuberung genannt. Und doch hatte das Denken seinen Reiz für ein Wesen, das immer Teil eines vegetativen Geistes gewesen war, eines hochintelligenten Unbewussten.

Ehe er ihm die Sicht versperrt hatte, hatte Jonesy vorgeschlagen, Mr. Gray solle seine Mission aufgeben und einfach das menschliche Leben genießen. Nun stellte er an sich genau dieses Verlangen fest, während sich sein sonst immer so harmonischer, homogener, eigentlich unbewusster Geist in ein Gewirr widerstreitender Stimmen auflöste, von denen die eine A wollte, die andere B und eine dritte mindestens Q hoch zwei geteilt durch Z. Eigentlich hatte er gedacht, ein solches Stimmengewirr wäre schrecklich und würde einen in den Wahnsinn treiben. Jetzt ertappte er sich dabei, dass ihm dieses ewige Hin und Her gefiel.

Da war der Bacon. Da war »Sex mit Carla«, was laut Jonesys Erinnerungen etwas äußerst Angenehmes und Wohltuendes war und sowohl sinnliche als auch emotionale Erlebnisse versprach. Da war schnelles Autofahren, da war das Bumper-Pool-Spielen in O'Leary's Bar am Fenway Park, und da war Bier und laute Livemusik und Patty Loveless, die sang: »Blame it on your lyin cheatin cold dead beatin two-timin double-dealin mean mistreatin lovin heart« (was auch immer das bedeuten mochte). Da war dieser Anblick, wenn das Land im Sommer aus dem sich lichtenden Morgennebel auftauchte. Und da war natürlich das Morden. Nicht zu vergessen.

Sein Problem bestand darin, dass er seine Aufgabe vielleicht nie erledigen würde, wenn er sie nicht schnell erledigte. Er war kein Byrum mehr, sondern Mr. Gray. Wie lange noch, bis er Mr. Gray hinter sich lassen und Jonesy werden würde?

So weit wird es nicht kommen, dachte er. Er trat das Gaspedal durch, und es brachte nicht viel, aber ein bisschen mehr holte er doch noch aus dem Subaru heraus. Auf der Rückbank jaulte der Hund ... und heulte dann vor Schmerz. Mr. Gray nahm Verbindung zu dem Byrum auf, das in dem Hund heranwuchs. Es wuchs schnell. Fast zu schnell. Und da war noch etwas: Der gedankliche Kontakt bereitete ihm keinerlei Vergnügen, vermittelte gar nichts von der Wärme, die sonst herrschte, wenn Gleichgesinnte sich verständigten.

Das Denken des Byrum kam ihm kalt vor und ... irgendwie fade und ...

»Fremd«, murmelte er.

Aber er beruhigte es. Wenn der Hund in die Wasserversorgung kam, musste das Byrum noch in ihm sein. Es würde Zeit brauchen, urn sich anzupassen. Der Hund würde ertrinken, aber das Byrum würde noch eine Weile leben und sich vom Kadaver des Hundes ernähren, bis es dann Zeit war. Aber erst mal musste er dorthin kommen.

Es war nicht mehr weit.

Während er so auf dem 1-90 nach Westen fuhr, vorbei an Ortschaften wie Westborough, Grafton und Dorothy Pond (die Jonesy, durchaus liebevoll, als Scheißkäffer bezeichnete) und dabei seinem Ziel immer näher kam (es waren jetzt noch gut vierzig Meilen), suchte er nach einem Thema, mit dem er sein neues, unruhiges Bewusstsein beschäftigen konnte, ohne dass es ihn in Schwierigkeiten brachte. Er versuchte es mit Jonesys Kindern und wich dann davor zurück - das war viel zu aufgeladen mit Emotionen. Er versuchte es noch einmal mit Duddits, aber da war immer noch nur eine Leerstelle; Jonesy hatte sämtliche Erinnerungen an ihn gestohlen. Schließlich landete er bei Jonesys Arbeit, dem Geschichtsunterricht, und seinem Spezialgebiet, das auf schaurige Weise faszinierend war. Von 1860 bis 1865 hatte sich Amerika anscheinend in zwei Teile gespalten, wie Byrus-Kolonien das am Ende eines Wachstumszyklus auch immer machten. Dafür hatte es alle möglichen Ursachen gegeben, und die Hauptursache hatte mit »Sklaverei« zu tun gehabt, aber das war wieder so, als hätte man Scheiße oder Kotze als »verwertete Nahrung« bezeichnet. »Sklaverei« bedeutete nichts. »Das Recht auf Eigenständigkeit« bedeutete nichts. »Die Einheit der Union« bedeutete nichts. Im Grunde hatten diese Wesen nur getan, was sie am besten konnten: Sie waren »wütend« geworden, was im Grunde »verrückt« bedeutete (und deshalb in ihrer Sprache ja auch beides mad hieß), ge-seilschaftlich aber eher akzeptiert wurde. Oh, aber ein solcher Wutanfall!

Mr. Gray inspizierte Kisten um Kisten voller faszinierender Waffen - Kartätschen, Kettenkugeln, Miniekugeln, Kanonenkugeln, Bajonette, Landminen -, da mischte sich eine Stimme ein.

Bacon

Er schob den Gedanken beiseite, obwohl Jonesys Magen knurrte. Er hätte gerne Bacon gegessen, ja, Bacon war fleischig und fettig und glitschig und auf eine wunderbar primitive Weise sättigend, aber jetzt war keine Zeit dafür. Vielleicht, nachdem er den Hund losgeworden war. Wenn dann noch Zeit blieb, ehe die anderen kamen, konnte er sich gern damit zu Tode fressen. Aber jetzt war einfach keine Zeit dafür. Als er an der Ausfahrt 10 vorbei kam - die übernächste war es schon -, richtete er seine Gedanken wieder auf den Bürgerkrieg, dachte an blaue Männer und graue Männer, die brüllend durch den Rauch liefen, einander die Bäuche aufschlitzten, unzählige Hosen stramm zogen, mit dem Schaft ihrer Gewehre ihren Feinden den Schädel zertrümmerten und dabei dieses berauschende Krachen erzeugten, und -Bacon

Wieder knurrte ihm der Magen. Speichel lief in Jonesys Mund zusammen, und er erinnerte sich an Dysart's, an die braunen, knusprigen Streifen auf dem blauen Teller, die man mit den Fingern aß; sie fühlten sich hart an, hatten die Beschaffenheit von totem, leckerem Fleisch -Ich darf nicht dran denken.

Eine Hupe blökte gereizt auf, ließ Mr. Gray zusammenzucken und Lad jaulen. Er war auf die falsche Spur geraten, die laut Jonesys Unterlagen die »Überholspur« war. Schnell wechselte er wieder nach rechts, um einen großen LKW vorbeizulassen, der schneller fahren konnte als der Subaru. Er spritzte die Windschutzscheibe des Kleinwagens mit

Schmutzwasser voll und nahm ihm kurz die Sicht, und Mr. Gray dachte: Wenn ich dich kriege, bring ich dich um, dir schlag ich den Schädel ein, du gemeingefährlicher Konföde-riertenkacker von einem Lasterfahrer du, rumms! rummsi, dir zieh ich die Hose stramm

Bacon-Sandwich

Das war wie ein Gewehrschuss in seinem Kopf. Er kämpfte dagegen an, aber es hatte eine vollkommen neue Kraft. Konnte das Jonesy sein? Bestimmt nicht, so stark war Jone-sy nicht. Aber plötzlich dachte er nur noch an seinen Magen, und sein Magen war leer, schmerzte, sehnte sich nach Essen. Er konnte doch bestimmt kurz irgendwo halten und seinen Hunger stillen. Denn wenn er nicht anhielt, würde er bestimmt von der Straße

Bacon-Sandwich! Mit Majo!

Mr. Gray stieß einen unartikulierten Schrei aus und bekam gar nicht mit, dass er angefangen hatte, hemmungslos zu sabbern.

18

»Ich höre ihn«, sagte Henry plötzlich. Er legte sich die Fäuste an die Schläfen, wie um Kopfschmerzen abzuwehren. »Mann, tut das weh. Er ist so hungrig.«

»Wer?«, fragte Owen. Sie hatten gerade die Grenze nach Massachusetts überquert. Vor ihnen fiel der Regen in silbrigen, windgepeitschten Schlieren. »Der Hund? Jonesy? Wer?«

»Er«, sagte Henry. »Mr. Gray.« Er sah Owen an, und plötzlich keimte Hoffnung in seinem Blick auf. »Ich glaube, er fährt ab. Ich glaube, erhält.«

»BOSS.«

Kurtz war eben drauf und dran, wieder einzunicken, als sich Perlmutter mühsam umdrehte und ihn ansprach. Sie hatten gerade die Mautstelle in New Hampshire hinter sich gelassen, und Freddy Johnson hatte mit Bedacht die Spur gewählt, an der man, wenn man es passend hatte, an einem Automaten zahlen konnte (er hatte befürchtet, ein Kassierer würde den Gestank, das zerschossene Fenster oder ihre Waffen bemerken).

Kurtz betrachtete Archie Perlmutters verschwitztes, abgehärmtes Gesicht mit Interesse, ja sogar fasziniert. Der farblose, Erbsen zählende Bürokrat, der auf dem Posten immer seine Aktenmappe und im Feld immer sein Klemmbrett dabei hatte und dessen Haar immer lotrecht nach links gescheitelt war? Der Mann, der sich nicht ums Verrecken den Gebrauch des Wortes Sir abgewöhnen konnte? Diesen Mann gab es nicht mehr. Obwohl es kaum zu bemerken war, so meinte er doch, dass Pearly an Haltung gewonnen hatte. Eines Tages wird er noch ein richtiger Stoiker, dachte Kurtz und hätte fast gekichert.

»Boss, ich habe immer noch Durst.« Pearly blickte sehnsüchtig zu Kurtz' Pepsi hinüber und ließ dann wieder einen scheußlichen Furz vom Stapel. Die Stoikerblaskapelle in der Hölle, dachte Kurtz und kicherte jetzt wirklich. Freddy fluchte, aber es klang nicht mehr schockiert und angewidert, sondern nur noch resigniert, fast gelangweilt.

»Ich fürchte, das ist meine, Bursche«, sagte Kurtz. »Und ich bin selbst ein klein wenig ausgedörrt.«

Perlmutter wollte etwas sagen und zuckte dann zusammen, als die Schmerzen wieder kamen. Er furzte erneut, und diesmal klang es dünner, nicht mehr wie eine Trompete, sondern wie ein unmusikalisches Kind, das auf einer Pikkoloflöte herumtutete. Er kniff die Augen zusammen und setzte einen ganz besonders schlauen Blick auf. »Wenn Sie mir was zu trinken geben, erzähle ich Ihnen etwas, das Sie bestimmt wissen wollen.« Pause. »Etwas, das Sie wissen müssen.«

Kurtz ließ es sich durch den Kopf gehen. Der Regen prasselte auf seine Seite des Autos und kam durch das zerschossene Fenster herein. Das verdammte Fenster ging ihm fürchterlich auf die Nerven, und der Ärmel seiner Jacke war schon ganz klamm, aber da musste er jetzt durch. Denn wer war schließlich schuld daran?

»Sie«, sagte Pearly, und Kurtz zuckte zusammen. Dieses Gedankenlesen war einfach so unheimlich. Man dachte, man würde sich daran gewöhnen, und musste dann feststellen, dass man sich nicht daran gewöhnen konnte. »Sie sind schuld daran. Also geben Sie mir was zu trinken, verdammt noch mal. ßoss.«

»Passen Sie auf, was Sie sagen, Sie Schwachkopp«, grollte Freddy.

»Erzählen Sie mir, was Sie wissen. Dann können Sie den Rest hiervon haben.« Kurtz hob die Pepsi-Flasche und schwenkte sie vor Pearlys gequält blickendem Gesicht. Dabei empfand er einen leichten, mit Humor verbrämten Selbstekel. Einst hatte er ganze Einheiten kommandiert und mit ihnen die geopolitische Landkarte umgestaltet. Nun beschränkte sich sein Kommando auf zwei Männer und eine Colaflasche. Er war tief gesunken. Der Hochmut hatte ihn zu Fall gebracht, gelobt sei der Herr. Er hatte den Hochmut des Teufels an sich, und wenn das ein Fehler war, dann war es einer, den man sich nur schwer abgewöhnen konnte. Hochmut war der Gürtel, der die Hose auch noch hielt, wenn gar keine Hose mehr da war.

»Versprechen Sie das?« Pearlys mit rotem Flaum bewachsene Zunge kam hervor und befeuchtete seine trockenen Lippen.

»Ich will tot umfallen, wenn ich lüge«, sagte Kurtz ganz ernst. »Lesen Sie doch meine Gedanken, Bursche!«

Das tat Pearly einen Moment lang, und Kurtz spürte förmlich die unheimlichen kleinen Finger (unter deren Nägeln jetzt auch das rote Zeug hervorwucherte) in seinem Kopf herumtasten. Ein entsetzliches Gefühl, aber er hielt sich wacker.

Schließlich schien Perlmutter zufrieden. Er nickte.

»Ich kriege jetzt mehr rein«, sagte er, und dann senkte er seine Stimme zu einem vertraulichen, entsetzten Flüstern. »Es frisst mich auf, wissen Sie. Es frisst meine Gedärme. Ich spüre das.«

Kurtz tätschelte ihm den Arm. Gerade kamen sie an einem Schild vorbei, auf dem willkommen in massachusetts stand. »Ich werde mich um Sie kümmern, Bürschchen. Das habe ich doch versprochen, nicht wahr? Und bis dahin erzählen Sie mir, was Sie reinkriegen.«

»Mr. Gray hält irgendwo. Er hat Flunger.«

Kurtz hatte Perlmutters Arm losgelassen. Jetzt packte er ihn wieder, und seine Fingernägel wurden zu Klauen. »Wo?«

»Ganz in der Nähe von da, wo er hinwill. Es ist ein Laden.« Mit kindlicher Stimme, bei der Kurtz Gänsehaut bekam, sang Archie Perlmutter: »Die besten Köder weit und breit.« Dann, wieder in normalem Ton: »Jonesy weiß, dass Henry, Owen und Duddits kommen. Deshalb hat er Mr. Gray dazu gebracht anzuhalten.«

Der Gedanke, Owen könne Jonesy/Mr. Gray einholen, löste bei Kurtz panisches Entsetzen aus. »Archie, hören Sie mir jetzt genau zu.«

»Ich habe Durst«, jammerte Perlmutter. »Ich habe Durst, Sie Schwein.«

Kurtz hielt Perlmutter die Pepsiflasche direkt vors Gesicht und schlug Perlmutters Hand weg, als Pearly danach greifen wollte.

»Wissen Henry, Owen und Dud-Duts, dass Jonesy und Mr. Gray angehalten haben?«

»Dud-dits, Sie alter Idiot!«, knurrte Perlmutter, stöhnte

dann vor Schmerz auf und hielt sich den Bauch, der sich wieder blähte. »Dits, dits, Dud-dits! Ja, das wissen sie! Duddits hat mitgeholfen, Mr. Gray hungrig zu machen! Jonesy und er haben das gemeinsam getan!«

»Das gefällt mir nicht«, sagte Freddy.

Willkommen im Club, dachte Kurtz.

»Bitte, Boss«, sagte Pearly. »Ich bin so durstig.«

Kurtz gab ihm die Flasche und sah mit scheelem Blick zu, wie Perlmutter sie leerte.

»Der 495, Boss«, verkündete Freddy. »Was soll ich tun?«

»Nehmen Sie den«, sagte Perlmutter. »Und dann den 90 nach Westen.« Er rülpste. Es war laut, aber zum Glück geruchlos. »Es will noch eine Pepsi. Es mag den Zucker. Und auch das Koffein.«

Kurtz grübelte. Owen wusste, dass seine Zielperson gestoppt hatte. Jetzt würden Owen und Flenry schnell machen und versuchen, so viel wie möglich von seinen neunzig bis hundert Minuten Vorsprung einzuholen. Dementsprechend mussten auch sie sich sputen.

Polizisten, die sich ihnen in den Weg stellten, würden sterben müssen, Gott stehe ihnen bei. So oder so - die Entscheidung rückte näher.

»Freddy.«

»Boss.«

»Bleifuß. Die Kiste soll mal zeigen, was sie drauf hat. Gott ist mit Ihnen.«

Freddy Johnson tat wie befohlen.

20

Hier gab es keinen Stall, keinen Pferch, keine Koppel, und statt des Aufdrucks Jagdscheine prangte auf dem Schild im Schaufenster ein Foto des Quabbin-Stausees und der Werbeslogan die besten köder WEIT und BREIT, aber ansonsten war der kleine Laden genau wie Gosselin's: die gleiche schäbige Holzverschalung, die gleichen schlammbraunen Dachschindeln, der gleiche schiefe Schornstein, der Rauch in den verregneten Himmel hustete, die gleiche rostige Zapfsäule draußen vorm Haus. An der Zapfsäule lehnte auch ein Schild, diesmal mit dem Aufdruck: kein benzin - beschweren SIE SICH BEI DEN MUFTIS.

An diesem Mittag im November hielt sich nur der Inhaber im Laden auf, ein Mann namens Deke McCaskell. Wie die meisten Leute hatte er den ganzen Vormittag vor dem Fernseher gehangen, die Berichterstattung verfolgt (es waren größtenteils Wiederholungen, und da jener Teil von Maine abgeriegelt war, kamen auch keine guten Bilder von dort, und man bekam hauptsächlich die Ausrüstung der Armee, Marine und Luftwaffe zu sehen) und dann anschließend die Ansprache des Präsidenten. Deke nannte den Präsidenten Mr. Wahldebakel. Konnten die denn da unten nicht zählen? Deke hatte von seinem Wahlrecht zum letzten Mal Gebrauch gemacht, um für Ronnie zu stimmen (das war doch noch mal ein Präsident gewesen), und hasste Präsident Wahldebakel, sah in ihm einen schleimigen, unglaubwürdigen Schwätzer (der eine hübsche Frau hatte) und hielt die Elf-Uhr-Ansprache des Präsidenten für das übliche Blah-blah-blah. Deke glaubte kein Wort davon, was der Präsident gesagt hatte. Seiner Ansicht nach war die ganze Sache wahrscheinlich ein Betrug, der die amerikanischen Steuerzahler einschüchtern sollte, damit sie zuließen, dass der Verteidigungsetat und damit die Steuern stiegen. Es gab da draußen im Weltall niemanden, das war wissenschaftlich erwiesen. Und die einzigen wirklich fremden Wesen in Amerika (von diesem Präsidenten natürlich mal abgesehen) waren die Bohnenfresser, die über die Grenze aus Mexiko kamen. Aber die Leute hatten Angst und hockten zu Hause vor der Glotze. Später würden sie kommen und Bier oder Wein kaufen, aber im Moment war mit dem Laden so viel los wie mit einer überfahrenen Katze auf dem Highway.

Deke hatte den Fernseher eine halbe Stunde zuvor abgestellt - es reichte ihm nun wirklich, gütiger Gott -, und als um viertel nach eins die Klingel über seiner Tür schellte, blätterte er eben eine Zeitschrift aus dem Regal ganz hinten in seinem Laden durch. Sie hatte den Titel Mädels unter Glas, was sehr treffend war, da alle abgebildeten Mädels eine Brille trugen, sonst aber nichts.

Er sah zu dem Hereinkommenden hoch und wollte eben »Wie geht's?« oder »Ist schon tüchtig glatt« sagen, schwieg dann aber. Ihm war plötzlich beklommen zu Mute, und er war sich mit einem Mal sicher, dass er ausgeraubt werden sollte ... und noch von Glück sagen konnte, wenn es nur bei einem Raub blieb. Er war in den zwölf Jahren, die er den Laden schon hatte, nie ausgeraubt worden; wenn jemand für eine Hand voll Kleingeld Knast riskieren wollte, gab es in der Gegend Läden, wo mehr zu holen war. Da musste man doch schon ...

Deke schluckte. Da musste man doch schon verrückt sein, hatte er gedacht, und vielleicht war dieser Typ ja verrückt, vielleicht war er ja so ein Wahnsinniger, der eben seine Frau und seine Kinder umgebracht hatte und jetzt noch ein paar Leute umnieten wollte, ehe er die Waffe gegen sich selbst richtete.

Deke war nicht von Haus aus paranoid (er hatte eher von Haus aus zwei linke Hände, hätte seine Exfrau gesagt), aber dennoch fühlte er sich plötzlich von diesem ersten Kunden des Nachmittags bedroht. Er konnte die Kerle eigentlich nicht besonders ausstehen, die hier manchmal auftauchten und im Laden rumlatschten, über die Patriots oder die Red Sox redeten oder damit angaben, was für Riesenklopper sie im Stausee gefangen hatten, aber jetzt wünschte er sich einen von denen herbei, nein, eine ganze Bande.

Der Mann stand zunächst einfach nur im Eingang, und, ja, irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er trug eine orangefarbene Jagdjacke, obwohl hier in Massachusetts die Jagd-saison für Hirsche noch gar nicht begonnen hatte, aber das musste ja nichts bedeuten. Dann hatte er aber auch noch Kratzer im Gesicht, als wäre er die letzten paar Tage querfeldein durch den Wald gewandert, und er wirkte überhaupt gequält und ausgelaugt. Sein Mund bewegte sich, als würde er mit sich selber sprechen. Und da war noch etwas. Das graue Mittagslicht, das durch das staubige Schaufenster fiel, zeigte ein komisches Glitzern auf seinen Lippen und seinem Kinn.

Der sabbert, dachte Deke. Ich will verdammt sein, wenn der nicht sabbert,

Der Neuankömmling schaute sich mit knappen, zackigen Kopfbewegungen um, wobei sein restlicher Körper vollkommen reglos blieb. Das erinnerte Deke an eine Eule, die auf einem Ast Ausschau nach Beute hielt. Deke überlegte kurz, von seinem Stuhl zu rutschen und sich unterm Ladentresen zu verstecken, aber ehe er dazu kam, die Vor- und Nachteile abzuwägen (er war nicht besonders schnell im Kopf, hätte seine Exfrau gesagt), machte der Mann wieder eine zackige Kopfbewegung und sah jetzt genau in seine Richtung.

Der vernünftige Teil von Dekes Hirn hatte gehofft, er würde sich das alles nur einbilden und seine Fantasie sei einfach nur den ganzen merkwürdigen Nachrichten und noch merkwürdigeren, getreulich von den Medien weiterverbreiteten Gerüchten aus Nord-Maine erlegen. Vielleicht wollte der Mann einfach nur Zigaretten oder ein Sixpack oder eine Flasche Coffee Brandy und ein scharfes Magazin, um sich eine lange Nacht in einem Motel außerhalb von Ware oder Belchertown etwas angenehmer zu gestalten, während es draußen schneite und regnete.

Diese Hoffnung erstarb, als er den Blick des Mannes sah.

Es war nicht der Blick eines Wahnsinnigen, der eben seine Familie abgeschlachtet hatte und nun auf dem Trip ins Nirgendwo war; das wäre ihm nun sogar fast lieber gewesen. Der Blick des Mannes war nämlich alles andere als leer - er

war gewissermaßen zu voll. Millionen Gedanken und Ideen schienen darin zu schwirren. Es wirkte wie eine Konfettiparade im Zeitraffer. Seine Augen schienen förmlich zu beben.

Und es war der hungrigste Blick, den Deke McCaskell in seinem ganzen Leben gesehen hatte.

»Wir haben geschlossen«, sagte Deke. Er bekam nur ein Krächzen heraus, das sich überhaupt nicht nach ihm anhörte. »Mein Kollege und ich - er ist da hinten - haben heute geschlossen. Wegen den Vorgängen da im Norden. Ich, wir, wollte ich sagen, haben nur vergessen, das Schild umzudrehen. Wir -«

Er hätte vielleicht noch stundenlang - ja, tagelang - so weitergemacht, aber der Mann mit der Jagdjacke fiel ihm ins Wort. »Bacon«, sagte er. »Wo ist der Bacon?«

Deke wusste plötzlich mit absoluter Sicherheit, dass ihn dieser Mann umbringen würde, falls er keinen Bacon hatte. Er würde ihn vielleicht ohnehin umbringen, aber wenn er keinen Bacon hatte ... ja, dann ganz bestimmt. Aber er hatte Bacon. Gott sei Dank, er hatte Bacon.

»Im Kühlfach da hinten«, sagte er mit seiner neuen, seltsamen Stimme. Die Hand, die auf der Zeitschrift lag, war so kalt wie ein Eisblock. In seinem Kopf hörte er flüsternde Stimmen, die anscheinend nicht von ihm selbst stammten. Rote Gedanken und schwarze Gedanken. Hungrige Gedanken.

Eine nicht menschliche Stimme fragte: Was ist ein Kühlfach? Und eine müde, nur zu menschliche Stimme antwortete: Geh den Gang runter, mein Lieber, dann siehst du es schon.

Ich höre Stimmen, dachte Deke. O Gott, nein. So geht es einem kurz bevor man verrückt wird.

Der Mann ging an Deke vorbei den mittleren Gang entlang. Er humpelte auffällig.

Neben der Kasse stand ein Telefon. Deke sah es an und schaute dann wieder weg. Es stand in seiner Reichweite, und er hatte die Nummer der Polizei auf einer Schnellwahltaste gespeichert, aber das Telefon hätte sich genauso gut auch auf dem Mond befinden können. Selbst wenn er die Kraft aufgebracht hätte, zum Hörer zu greifen -

Ich sehe alles, sagte die nichtmenschliche Stimme, und Deke stöhnte leise auf. Sie erscholl in seinem Kopf, als hätte man ihm ein Radio ins Hirn eingesetzt.

Über der Tür war ein konvexer Spiegel angebracht, der besonders im Sommer sehr praktisch war, wenn viele Kinder in den Laden kamen, die mit ihren Eltern zum See fuhren -der Quabbin war nur achtzehn Meilen von hier entfernt -, um zu angeln oder zu campen oder auch nur zu picknicken. Die kleinen Biester versuchten ständig, irgendwas mitgehen zu lassen, vor allem Süßigkeiten und Mädchenzeitschriften. Jetzt sah Deke in diesem Spiegel gleichwohl verängstigt wie fasziniert zu, wie der Mann mit der orangefarbenen Jacke zum Kühlregal ging. Dort blieb er kurz stehen, schaute hinein und nahm dann nicht eine Packung Bacon, sondern alle vier, die vorrätig waren.

Der Mann kam humpelnd durch den Mittelgang zurück und betrachtete dabei die Regale. Er sah gefährlich und hungrig aus, aber auch fürchterlich abgekämpft - wie ein Marathonläufer kurz vor dem Ziel. Deke wurde bei seinem Anblick so schwindelig, als würde er in einen Abgrund blicken. Es war, als würde man nicht eine, sondern mehrere Personen sehen, die einander überlagerten. Deke musste flüchtig an einen Rim denken, den er mal gesehen hatte, über eine blöde Fotze, die mindestens hundert unterschiedliche Persönlichkeiten hatte.

Der Mann blieb stehen und nahm sich ein Glas Majonäse. Dann griff er sich eine Tüte Weißbrot. Schließlich kam er an den Ladentresen. Deke konnte die Erschöpfung, die ihm aus allen Poren drang, förmlich riechen. Und den Wahnsinn auch.

Er stellte seine Einkäufe ab und sagte: »Bacon auf Weißbrot mit Majo. Das ist das Leckerste, was es gibt.« Dabei lächelte er. Das Lächeln wirkte so herzzerreißend müde und aufrichtig, dass Deke für einen Moment seine Furcht vergaß.

Spontan streckte er die Hand aus. »Mister, alles in Ordnung mit —«

Dekes Hand blieb stehen, als wäre sie an eine Wand geprallt. Sie hing da zitternd über dem Tresen, flog dann hoch und schlug ihm selbst ins Gesicht - watsch! Sie zog sich langsam wieder zurück und blieb stehen wie ein Luftkissenboot. Der kleine und der Ringfinger bogen sich langsam nach innen. Bring ihn nicht um!

Komm doch raus, und halt mich davon ab!

Wenn du das ernsthaft willst, erlebst du dein blaues Wunder! Diese Stimmen erschollen in seinem Kopf.

Seine Hovercrafthand schwebte weiter vor und schob ihm Mittel- und Zeigefinger in die Nasenlöcher. Für einen Moment bewegten sie sich nicht, aber dann, o Gott, fingen sie an zu kratzen. Deke McCaskell mochte viele fragwürdige Angewohnheiten haben, aber Nägelkauen zählte nicht dazu. Zunächst konnten sich seine Finger da drin nicht groß bewegen - es war eng -, aber als dann das Schmiermittel Blut floss, bohrten sie sich richtig hinein. Sie wanden sich wie Würmer. Die schmutzigen Fingernägel schlugen sich wie Reißzähne ins Fleisch. Sie drangen tiefer vor, gruben sich hirnwärts voran ... er spürte Knorpelgewebe zerreißen ... hörte es auch ...

Hör auf, Mr. Gray! Hör auf!

Und plötzlich gehörten Dekes Finger wieder ihm selbst. Er zog sie mit einem schmatzenden Geräusch aus der Nase. Blut platschte auf den Tresen, auf die Gummiunterlage mit dem Skoal-Logo drauf und auch auf die unbekleideten Mädels unter Glas, deren Körperbau er studiert hatte, als dieses Monster hereingekommen war.

»Was bin ich Ihnen schuldig, Deke?«

»Nehmen Sie's!« Immer noch dieses Krähenkrächzen, aber jetzt war es ein nasales Krächzen, weil seine Nasenlöcher mit Blut verstopft waren. »Ah, Mann, nehmen Sie das und gehn Sie! Raus hier!«

»Nein, ich bestehe darauf. Das ist hier ein Handel, bei dem Gegenstände von realem Wert gegen gültige Währung getauscht werden.«

»Drei Dollar!«, rief Deke. Der Schock setzte ein. Sein Herz pochte wild, seine Muskeln summten nur so vor Adrenalin. Er glaubte, das Monster würde jetzt vielleicht gehen, und das machte alles noch viel schlimmer: Er war so kurz davor, weiter leben zu dürfen, und wusste dabei doch, dass ihn die kleinste Laune dieses Irren noch das Leben kosten konnte.

Der Irre holte eine ramponierte alte Brieftasche hervor, machte sie auf und suchte eine Ewigkeit darin herum. Der Sabber lief ihm stetig aus dem Mund, während er sich über die Brieftasche beugte. Schließlich zog er drei Dollarscheine hervor. Er legte sie auf den Tresen. Die Brieftasche wanderte zurück in seine Jacke. Er wühlte in den Taschen seiner vor Dreck starrenden Jeans herum (die kann man auch in die Ecke stellen, dachte Deke), brachte eine Hand voll Kleingeld hervor und legte drei Münzen auf die Gummiunterlage. Insgesamt sechzig Cent.

»Ich zahle zwanzig Prozent Trinkgeld«, sagte der Kunde mit nicht zu überhörendem Stolz. »Jonesy zahlt nur fünfzehn. Das hier ist besser. Das ist mehr.«

»Klar«, flüsterte Deke. Seine Nase war voller Blut.

»Einen schönen Tag noch.«

»Ja ... machen Sie's gut.«

Der Mann mit der orangefarbenen Jacke stand mit gesenktem Kopf da. Deke hörte ihn in Gedanken mögliche Erwiderungen überlegen. Ihm war zum Schreien zu Mute. Schließlich sagte der Mann: »Natürlich mache ich es gut.« Dann folgte wieder eine Pause. Und dann: »Ich möchte nicht, dass Sie jemanden anrufen, mein Lieber.«

»Mache ich nicht.«

»Schwören Sie das bei Gott?«

»Ja. Ich schwöre es bei Gott.«

»Ich bin wie Gott«, sagte der Kunde.

»Ja, klar. Was auch immer Sie -«

»Wenn Sie jemanden anrufen, bekomme ich es mit. Und dann komme ich wieder und ziehe Ihnen die Hose stramm.« »Ich rufe niemanden an!«

»Gut.« Er machte die Tür auf. Die Klingel schellte. Er ging hinaus.

Für einen Moment stand Deke wie erstarrt da. Dann eilte er um den Tresen und stieß sich dabei an der Kante schmerzhaft den Oberschenkel. Heute Abend würde er da einen großen, blauschwarzen Fleck haben, aber jetzt spürte er gar nichts. Er schloss die Tür ab, schob den Riegel vor und spähte dann hinaus. Vor dem Laden stand ein klappriger, kleiner, roter Subaru, der mit Schlamm besprenkelt war. Der Mann, der seine Einkäufe in der Armbeuge hielt, öffnete die Autotür und setzte sich dann ans Steuer.

Fahren Sie weg, dachte Deke. Bitte, Mister, um der Liebe Gottes willen, fahren sie einfach nur weg.

Aber das tat er nicht. Vielmehr nahm er etwas zur Hand -es war die Tüte Brot - und öffnete die Krampe am Verschluss. Er nahm etwa ein Dutzend Scheiben heraus. Dann machte er die Majonäse auf, steckte einen Finger hinein und bestrich so die Weißbrotscheiben mit Majo. Nach jeder Scheibe leckte er sich den Finger ab. Er schloss dabei jedes Mal die Augen, sein Kopf sank etwas nach hinten, und er bekam einen ekstatischen Gesichtsausdruck, der von seinem Mund ausging. Als er mit den Broten fertig war, nahm er ein Päckchen Bacon und zerrte die Papierverpackung auf. Die innere Plastikverpackung riss er mit den Zähnen auf und schüttelte dann das ganze Pfund aufgeschnittenen Schinkenspeck heraus. Er legte es auf eine Scheibe Brot und tat dann ein zweites Brot obendrauf. Dann biss er heißhungrig und gierig wie ein Wolf hinein. Dieser Ausdruck göttlicher Freude wich nicht mehr aus seinem Gesicht; er sah aus wie jemand, der das beste Drei-Sterne-Menü seines Lebens aß. Seine Kehle wölbte sich beim Schlucken, und mit drei Bissen hatte er das Sandwich verschlungen. Als der Mann dort im Subaru nach zwei weiteren Brotscheiben griff, erfüllte ein Gedanke Deke McCaskells Hirn, blinkte dort wie ein Neonschild: So schmeckt es sogar noch besser! Fast noch lebendig! Zwar kalt, aber fast noch lebendig!

Deke wich von der Tür zurück und bewegte sich dabei ganz langsam, wie unter Wasser. Das draußen vorherrschende Grau schien nun auch in den Laden zu dringen und die Lichter hier zu überlagern. Er spürte, wie ihn seine Beine im Stich ließen, und ehe ihm der schmierige Dielenboden entgegenkam, war aus dem Grau schon Schwarz geworden.

21

Als Deke wieder zu sich kam, war einige Zeit vergangen -wie viel, wusste er nicht, denn die Budweiser-Digitaluhr über dem Bierkühlschrank blinkte »88:88«. Drei seiner Zähne lagen auf dem Boden. Er nahm an, dass er sie sich bei seinem Sturz ausgeschlagen hatte. Das Blut war um seine Nase herum und auf seinem Kinn zu einer schwammigen Masse geronnen. Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine trugen ihn nicht. Also kroch er stattdessen zur Tür. Die Haare hingen ihm ins Gesicht, und er betete.

Sein Gebet wurde erhört. Die kleine rote Klapperkiste war verschwunden. Wo der Wagen gestanden hatte, lagen nun vier leere Baconpäckchen, das zu drei Vierteln geleerte Glas Majonäse und eine halbe Packung Weißbrot in Scheiben. Mehrere Krähen - in der ganzen Umgebung des Sees gab es mächtig große - hatten das Brot entdeckt und zupften es aus der zerfetzten Packung. Etwas weiter entfernt, fast schon an der Route 32, hatten sich weitere Krähen über eine erstarrte Masse aus Bacon und einem schleimigen Brot-Majonäse-Gemisch hergemacht. Das Gourmet-Mittagsmahl war dem Monsieur anscheinend nicht bekommen.

Gut, dachte Deke. Hoffentlich haben Sie sich den Magen gleich mit rausgekotzt, Sie -

Doch dann drehte sich ihm selbst auf brachiale Weise der Magen um, und er hielt sich eine Hand vor den Mund. Er hatte grauenhaft deutlich vor Augen, wie der Mann die Zähne in das rohe, fette Fleisch schlug, das zwischen den Brotscheiben heraushing, graues Fleisch mit braunen Streifen wie eine alte, abgetrennte Pferdezunge. Deke gab hinter seiner Hand würgende Geräusche von sich.

Ein Wagen bog auf den Hof. Das hatte ihm gerade noch gefehlt: Kundschaft, während er kurz davor stand loszureihern. Es war kein PKW und auch kein Pickup. Es war auch kein Sportvehikel. Es war einer dieser scheußlichen Hummer-Jeeps in schwarzgrünem Tarnanstrich. Vorne saßen zwei Leute drin, und hinten meinte Deke einen Dritten zu entdecken.

Er reckte den Arm, drehte das Schild an der Tür so um, dass man von draußen geschlossen sah, und wich dann von der Tür zurück. Er stand auf, wenigstens das gelang ihm, aber jetzt fühlte er sich gefährlich nah dran, wieder zusammenzubrechen. Die haben mich hier drin gesehen, das ist mai klar, dachte er. jetzt kommen sie rein und fragen, wo der andere hin ist, denn sie sind hinter ihm her. Sie wollen ihn kriegen, sie verfolgen den Baconsandwichmann. Und ich werde es ihnen sagen. Sie werden mich dazu bringen, es ihnen zu sagen. Und dann -

Seine Hand hob sich vor seine Augen. Zeige- und Mittelfinger, bis zum zweiten Fingerglied mit getrocknetem Blut überzogen, wurden klauenförmig vorgestreckt. Sie zitterten. Für Deke sah es fast so aus, als winkten sie. Hallo, Augen, wie geht's denn so? Schaut schön, solange ihr noch könnt, denn bald kommen wir euch holen.

Die Person, die hinten im Humvee saß, beugte sich vor und sagte anscheinend etwas zu dem Fahrer, und dann setzte der Wagen zurück und fuhr dabei mit einem Hinterreifen durch die Kotzelache, die der letzte Kunde hinterlassen hatte. Er hielt kurz an der Straße und fuhr dann in Richtung Ware und Quabbin davon.

Als der Wagen hinter dem ersten Hügel verschwunden war, fing Deke McCaskell an zu weinen. Er ging zurück zum Ladentresen (er wankte, hielt sich aber auf den Beinen), und da fiel sein Blick auf die am Boden liegenden Zähne. Drei Zähne. Seine. Der bescheidene Preis, den er hatte zahlen müssen. Ein wirklich lächerlich geringer Preis. Dann blieb er stehen und starrte die drei Dollarscheine an, die immer noch auf dem Ladentresen lagen. Auf ihnen wuchs jetzt ein blass rotorangefarbener Flaum.

22

»Ich iehr! Ahr eiter!«

Eiter?, wunderte sich Owen müde, aber er verstand Duddits nur zu gut (es war wirklich nicht schwer, wenn man sich einmal eingehört hatte): Nicht hier! Fahr weiter!

Owen steuerte den Humvee zur Route 32 zurück, und Duddits setzte sich wieder - sackte wieder - nach hinten und fing wieder an zu husten.

»Da«, sagte Henry und zeigte darauf. »Siehst du das?«

Owen sah es. Ein paar Plastiktüten, unter dem prasselnden Regen schon fast mit dem Boden verschmolzen, und ein Glas Majonäse. Dann fuhren sie Richtung Norden weiter. Die Regentropfen, die auf die Windschutzscheibe prasselten, waren groß, und das sagte Owen, dass der Regen bald in Schneeregen und dann höchstwahrscheinlich in Schnee übergehen würde. Er war der vollkommenen Erschöpfung nahe, und das Schwinden der telepathischen

Kräfte hatte ihn auf eigenartige Weise traurig gemacht, und Owen stellte fest, dass seine Hauptsorge nun darin bestand, dass er ausgerechnet bei so scheußlichem Wetter sterben musste.

»Wie weit ist er uns jetzt voraus?«, fragte Owen und wagte nicht, stattdessen die einzige Frage zu stellen, auf die es ankam: Ist es schon zu spät? Er nahm an, dass Henry ihm das sagen würde, sollte es so weit kommen.

»Er ist da«, sagte Henry geistesabwesend. Er hatte sich auf dem Sitz umgedreht und wischte Duddits mit einem feuchten Tuch das Gesicht ab. Duddits sah ihn dankbar an und versuchte zu lächeln. Seine aschfahlen Wangen schwitzten jetzt, die schwarzen Ränder unter seinen Augen waren größer geworden, und er sah aus wie ein Waschbär.

»Wenn er da ist, wieso mussten wir dann hierher kommen?«, fragte Owen. Er beschleunigte den Hummer-Jeep auf hundert, was auf der glatten, zweispurigen Asphaltstraße sehr gefährlich war, aber sie hatten keine andere Wahl.

»Ich wollte nicht riskieren, dass Duddits die Linie verliert«, sagte Henry. »Wenn das passieren würde ...«

Duddits stöhnte laut auf, schlang die Arme um seinen Oberkörper und krümmte sich. Henry, der immer noch verkehrt herum auf seinem Sitz hockte, streichelte ihm den schmalen Hals.

»Ganz ruhig, Duds«, sagte er. »Gleich geht's dir wieder besser.«

Doch das stimmte nicht. Owen wusste es, und Henry wusste es auch. Fiebrig und trotz einer zweiten Prednisone-Tablette und zweier Percocets von Krämpfen geschüttelt und nun bei jedem Hustenanfall Blut spuckend, würde es Duddits Cavell so schnell nicht wieder besser gehen. Der Trostpreis bestand darin, dass es mit Jonesy/Gray ebenfalls nicht gerade zum Besten stand.

Und das lag an dem Bacon. Sie hatten einzig darauf hoffen können, Mr. Gray dazu zu bringen, dass er irgendwo für eine Weile hielt; keiner von ihnen hatte aber damit gerechnet, dass er sich als derart gefräßig erweisen würde. Die Auswirkungen auf Jonesys Verdauungsapparat waren absehbar gewesen. Mr. Gray hatte sich auf dem Parkplatz des kleinen Ladens übergeben und hatte auf der Strecke nach Ware dann noch zweimal gehalten, sich aus dem Fenster gebeugt und in hohem Bogen mehrere Pfund Schinkenspeck gespuckt.

Dann folgte der Durchfall. Er hatte an der Route 9 bei der Mobil-Tankstelle gehalten und es nur gerade eben so aufs Klo geschafft. Ein Schild am Tankstellengebäude verkündete zwar PREISWERTER TREIBSTOFF & SAUBERE TOILETTEN, aber zumindest Letzteres stimmte nach Mr. Grays Abfahrt nicht mehr. Doch er brachte bei Mobil niemanden um, und das zählte Henry als Pluspunkt.

Ehe er zu der Straße kam, die zum Quabbin führte, hatte Mr. Gray noch zweimal anhalten und in den tropfenden Wald flitzen müssen, wo er sich dann bemüht hatte, Jonesys ächzenden Darm zu leeren. Da war der Regen schon in großflockigen, feuchten Schneefall übergegangen. Jonesys Körper war erheblich geschwächt, und Henry hoffte, dass er ohnmächtig wurde. Doch bisher war es nicht so weit gekommen.

Mr. Gray war fürchterlich wütend auf Jonesy und beschimpfte ihn unablässig, nachdem er sich nach seinem zweiten Abstecher in den Wald wieder ans Steuer gesetzt hatte. Das sei alles Jonesys Schuld, Jonesy habe ihn reingelegt. Seinen Hunger, die zwanghafte Gier, mit der er alles verschlungen und sich zwischendurch nur die Zeit genommen hatte, sich das Fett von den Fingern zu lecken, ignorierte er lieber. Henry hatte diese selektive Darstellung der Tatsachen - bei der man eines betonte und anderes völlig ignorierte - schon oft bei seinen Patienten erlebt. In mancher Hinsicht war Mr. Gray genau wie Barry Newman.

Wie menschlich er schon geworden ist, dachte er. Wirklich erstaunlich menschlich.

»Wenn du sagst, er sei da, was meinst du dann mit fragte Owen.

»Schwer zu sagen. Er hat sich wieder ziemlich vollständig abgeschirmt. Duddits, hörst du Jonesy?«

Duddits sah Henry müde an und schüttelte den Kopf. »Isser Äi attusse Ahtn eggenomm«, sagte er - Mister Gray hat uns die Karten weggenommen -, aber das ähnelte der buchstäblichen Übersetzung eines Slang-Spruchs. Duddits verfügte nicht über den nötigen Wortschatz, um zu schildern, was tatsächlich passiert war, aber Henry konnte es in seinen Gedanken ablesen. Mr. Gray konnte nicht in Jonesys Bürofestung eindringen und ihm die Spielkarten wegnehmen, aber es war ihm irgendwie gelungen, ihren Aufdruck zu löschen.

»Duddits, wie geht's dir?«, fragte Owen und schaute in den Rückspiegel.

»Uht«, sagte Duddits und fing an zu bibbern. Auf dem Schoß hatte er seine gelbe Lunchbox und die braune Papiertüte mit seinen Medikamenten ... und dem kleinen Schnurding drin. Er hatte den dick gefütterten blauen Parka an, und trotzdem schlotterte er.

Es geht bergab mit ihm, dachte Owen, während Henry seinem alten Freund wieder das Gesicht abwischte.

Der Humvee rutschte auf einem glatten Straßenstück weg und fast in eine Katastrophe hinein - ein Unfall bei Tempo hundert hätte sie möglicherweise umgebracht und auf jeden Fall ihre letzte vage Chance zunichte gemacht, Mr. Gray aufzuhalten -, und dann bekam Owen ihn wieder in den Griff.

Owen ertappte sich dabei, dass er immer wieder zu der Papiertüte hinüberschaute und an dieses Schnurding denken musste. Hat Biber mir geschickt. Zu meinem Weihnachten letzte Woche.

Als er jetzt wieder versuchte, telepathisch zu kommunizieren, kam Owen sich vor, als würde er eine Flaschenpost in den Ozean werfen. Aber er machte es trotzdem, sandte einen Gedanken aus und bemühte sich dabei, in Duddits' Richtung zu denken: Wie nennt man das?

Mit einem Mal sah er einen großen Raum vor sich, eine Kombination aus Wohn- und Esszimmer und Küche. Die klar lackierten Kiefernholzwände schimmerten warm. Auf dem Boden lag ein Navajo-Teppich, und auf einem Wandteppich sah er kleine indianische Jäger, die eine graue Gestalt umstellt hatten, den archetypischen Außerirdischen, wie man ihn schon tausendmal auf billigen Heftchen gesehen hatte, die an der Supermarktkasse auslagen. In dem Raum gab es einen Kamin mit gemauertem Schornstein und einen Esstisch aus Eiche. Was aber Owens Aufmerksamkeit fesselte (er konnte nicht anders; es befand sich im Mittelpunkt des Bilds, das ihm Duddits gesandt hatte, und erstrahlte dort in seinem ganz eigenen Licht), war das Geflecht aus Schnüren, das vom mittleren Deckenbalken hing. Es war die Cadillac-Ausführung dessen, was Duddits in seinem Medizinbeutel hatte, war in leuchtenden Farben gewoben und nicht aus schlichten weißen Schnüren, sah sonst aber genauso aus. Owens Augen füllten sich mit Tränen. Es war dies hier der schönste Raum der Welt. Er empfand das so, weil Duddits es so empfand. Und Duddits empfand es so, weil seine Freunde immer dorthin fuhren und er seine Freunde liebte.

»Traumfänger«, sagte der sterbende Mann auf der Rückbank und sprach das Wort vollkommen richtig aus.

Owen nickte. Traumfänger, ja.

Das bist du, sandte er. Er nahm an, dass Henry mithörte, aber das war ihm egal. Diese Botschaft war für Duddits allein bestimmt. Du bist der Traumfänger, nicht wahr? Ihr Traumfänger. Das warst du immer.

Und im Rückspiegel lächelte Duddits.

Sie kamen an einem Schild vorbei, das verkündete: quab-bin-RESERVOIR 8 MEILEN - ANGELN VERBOTEN - SERVICEBEREICH GESCHLOSSEN - PICKNICKBEREICH GEÖFFNET-WANDERWEGE ZUGÄNGLICH - WEITERFAHRT AUF EIGENE GEFAHR. Da stand noch mehr, aber bei hundertzehn kam Henry nicht dazu, alles zu lesen.

»Ist es denkbar, dass er parkt und zu Fuß weitergeht?«, fragte Owen.

»Nie im Leben«, sagte Henry. »Er fährt so weit er kann. Vielleicht fährt er sich fest. Darauf solltest du hoffen. Die Chancen stehen nicht schlecht dafür. Und er ist geschwächt. Er wird nicht schnell laufen können.«

»Was ist mit dir, Henry? Kannst du schnell laufen?«

Wenn er bedachte, wie steif er war und wie ihm die Beine wehtaten, war die Frage nur angebracht. »Wenn wir eine Chance haben«, sagte er, »gebe ich alles. Aber da ist ja auch noch Duddits. Ich glaube nicht, dass er zu einer anstrengenden Wanderung in der Lage ist.«

ZM irgendeiner Wanderung, dachte er, sprach es aber nicht aus.

»Kurtz, Freddy und Perlmutter, Henry. Wie weit sind die hinterher?«

Henry überlegte. Perlmutter spürte er ganz deutlich ... und er konnte auch zu dem hungrigen Menschenfresser in ihm Vordringen. Er war wie Mr. Gray, nur dass das Wiesel in einer Welt lebte, die aus Bacon bestand. Der Bacon war Archie Perlmutter, einst Captain der Armee der Vereinigten Staaten. Henry drang nicht gern dorthin vor. Zu viel Schmerz. Zu viel Hunger.

»Fünfzehn Meilen«, sagte er. »Vielleicht auch nur zwölf. Aber das spielt keine Rolle. Mit denen werden wir fertig. Die Frage ist, ob wir Mr. Gray kriegen. Da brauchen wir Glück. Oder Hilfe.«

»Und wenn wir ihn kriegen, Henry, werden wir dann immer noch Helden sein?«

Henry schenkte ihm ein müdes Lächeln. »Ich glaube, wir müssen es einfach versuchen.«

- Schacht zwölf


Mr. Gray fuhr mit dem Subaru fast drei Meilen die East Street hoch - die unbefestigt und ausgefurcht und nun auch noch mit fünf Zentimeter Neuschnee bedeckt war -, ehe er in eine Verwerfung stürzte, die von einem verstopften unterirdischen Kanalrohr stammte. Der Subaru hatte sich zwar nördlich von Goodnough Dike tapfer durch mehrere Schlaglöcher gekämpft und war an einer Stelle so heftig aufgesetzt, dass er sich dabei einen Großteil des Auspuffs abgerissen hatte, aber dieses Loch in der Straße war dann doch zu viel für den Wagen. Das Auto stürzte mit dem Kühler voran in die Spalte, und der ungedämpfte Motor brüllte auf. Jonesys Körper wurde nach vorn gerissen, und der Sicherheitsgurt rastete ein. Sein Zwerchfell klappte zusammen, und er kotzte hilflos aufs Armaturenbrett: nichts Festes mehr, nur Schleim und Galle. Für einen Moment verblasste die Welt um ihn her, und dann verstummte der lärmende Motor. Er hielt sich mit aller Kraft bei Bewusstsein, hatte Angst, Jonesy würde es, wenn er auch nur für einen Moment ohnmächtig wurde, irgendwie gelingen, wieder die Kontrolle zu erlangen.

Der Flund jaulte. Er hatte die Augen geschlossen, aber die Hinterläufe zappelten spastisch, und seine Ohren zuckten. Sein Bauch war aufgebläht. Unter der Flaut regte sich etwas. Sein großer Moment war nah.

Nach und nach sickerte wieder Farbe in die Welt. Mr. Gray atmete ein paarmal tief durch und brachte diesen kran-ken, unglückseligen Leib in einen ruheähnlichen Zustand. Wie weit war es noch? Es konnte eigentlich nicht mehr weit sein, aber wenn der Kleinwagen jetzt hier festhing, musste er zu Fuß gehen ... und das konnte der Hund nicht. Der Hund musste schlafen, und das Byrum war ohnehin gefährlich nah dran, wieder aufzuwachen.

Er streichelte das Schlafzentrum seines primitiven Hirns, wobei er auch seine sabbernde Schnauze berührte. Ein Teil seines Geistes war sich Jonesys bewusst, der immer noch dort drinnen war, von der Welt nichts sehen konnte, aber auf eine Gelegenheit wartete, herauszukommen und seine Mission zu sabotieren; und unfasslicherweise sehnte sich ein anderer Teil seines Geistes schon wieder nach Essen — sehnte sich nach Bacon: eben dem Zeug, das ihn vergiftet hatte.

Schlaf, kleiner Freund. Er sprach zu dem Hund und auch zu dem Byrum. Und beide hörten ihm zu. Lad hörte auf zu jaulen. Seine Pfoten hörten auf zu zucken. Die Wellenbewegung unter dem Bauch des Hunds wurde langsamer ... immer langsamer. Diese Ruhe würde nicht lange anhalten, aber fürs Erste war jetzt alles in Ordnung. Jedenfalls den Umständen entsprechend.

Ergib dich, Dorothy.

»Schnauze!«, sagte Mr. Gray. »Knutsch mir die Kimme!« Er legte den Rückwärtsgang ein und trat das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf und verscheuchte Vögel aus den Bäumen, aber es nützte nichts. Die Vorderreifen hingen fest, und die Hinterreifen hingen in der Luft.

»Mist!«, schrie Mr. Gray und schlug mit Jonesys Faust aufs Lenkrad ein. »Heilige Filzlaus! Gekörnte Scheiße!«

Er sah sich in Gedanken nach seinen Verfolgern um und bekam nichts Deutliches rein, hatte nur das Gefühl, dass sie näher kamen. Es waren zwei Gruppen, und die Gruppe, die ihm am nächsten war, hatte Duddits dabei. Mr. Gray fürchtete Duddits, da er spürte, dass hauptsächlich er schuld daran war, wie absurd, wie empörend schwierig das ganze Un

terfangen geworden war. Wenn er einen Vorsprung vor Duddits halten konnte, würde alles gut ausgehen. Es wäre hilfreich gewesen, hätte er gewusst, wie nah ihm Duddits war, aber sie sperrten ihn aus - Duddits, Jonesy und dieser andere, dieser Henry. Diese drei zusammen bildeten eine Kraft, der Mr. Gray noch nie zuvor begegnet war, und das machte ihm Angst.

»Aber ich habe immer noch genug Vorsprung«, sagte er zu Jonesy und stieg aus. Er rutschte aus, rief einen Biber-Fluch und knallte dann die Tür zu. Es schneite wieder, große weiße Flocken, die auf Jonesys Wangen landeten. Mr. Gray schleppte sich hinten um den Wagen herum und schlitterte dabei mit seinen Stiefeln durch den Schlamm. Er blieb kurz stehen und betrachtete das gewellte, silbrige Rohr, das unten aus dem Loch ragte, in dem sein Auto hing (er war zum Teil auch der absolut nutzlosen, aber eben so infernalisch ansteckenden Neugierde seines Wirts zum Opfer gefallen), und ging dann zur Beifahrertür. »Deine Arschlöcher von Freunden schlag ich doch mit links.«

Auf diese Bemerkung kam keine Antwort, aber er spürte Jonesy, genau wie er die anderen spürte; Jonesy schwieg, war aber immer noch die Gräte in seiner Kehle.

Denk nicht an ihn. Auf den ist geschissen. Der Hund war das Problem; sein großer Moment war nah. Das Byrum wollte dringend raus. Wie sollte er den Hund transportieren?

Zurück in Jonesys Lagerraum. Es dauerte etwas ... aber dann war da ein Bild aus der »Sonntagsschule«, in die Jonesy als Kind gegangen war, um etwas über »Gott« und »Gottes einzigen eingeborenen Sohn« zu lernen, der anscheinend ein Byrum war und der Schöpfer einer Byrus-Kultur, die in Jonesys Akten gleichwohl als »Christentum« wie als »Schwachsinn« auftauchte. Das Bild war sehr deutlich und stammte aus einem Buch mit dem Titel »Die heilige Bibel«. Es zeigte »Gottes einzigen eingeborenen Sohn«, wie er ein

Lamm auf den Schultern trug. Die Beine des Lamms baumelten dem »eingeborenen Sohn« über die Brust.

Das würde gehen.

Mr. Gray hob den schlafenden Hund aus dem Auto und legte ihn sich um den Hals. Er war schwer - Jonesys Muskeln waren dummerweise empörend schwach - und würde erst so richtig schwer sein, wenn er dort ankam, wohin er wollte ... aber er würde auf jeden Fall dorthin kommen.

Er ging die East Street durch den zusehends tieferen Schnee bergauf und trug dabei den schlafenden Border Collie wie eine Pelzstola.

Der Neuschnee war äußerst rutschig, und als sie auf der Route 32 angelangt waren, sah sich Freddy gezwungen, wieder auf Tempo sechzig zu verlangsamen. Kurtz hätte am liebsten vor Frustration aufgeheult. Und dann entschwand ihm Perlmutter auch noch zusehends in eine Art Halb-Koma. Und das ausgerechnet, als er mit einem Mal den hatte empfangen können, hinter dem Owen und seine neuen Freunde her waren, diesen so genannten Mr. Gray.

»Er ist zu beschäftigt, um sich zu verbergen«, sagte Pear-Iy. Er sprach in einem verträumten Ton, als würde er gleich einschlafen. »Er hat Angst. Vor Underhill, das weiß ich nicht, Boss, aber Jonesy ... Henry ... Duddits ... vor denen hat er Angst. Und zu Recht. Die haben Richie umgebracht.«

»Wer ist Richie, Bursche?« Das war Kurtz absolut scheißegal, aber er wollte Perlmutter wach halten. Er hatte so die Ahnung, dass sie irgendwo hinkommen würden, wo er Perlmutter nicht mehr brauchen würde, aber vorläufig brauchte er ihn noch.

»Keine ... Ahnung ...« Das letzte Wort ging in ein Schnarchen über. Der Humvee schlitterte seitlich weg. Freddy fluchte, kämpfte mit dem Lenkrad und bekam den Wagen gerade eben noch in den Griff, bevor der Hummer-Jeep in den Straßengraben rutschen konnte. Kurtz nahm keine Notiz davon. Er beugte sich vor und verpasste Perlmutter kräftige Ohrfeigen. In diesem Moment kamen sie an dem Laden mit dem die besten Köder weit und BREiT-Schild im Schaufenster vorbei.

»Auuu!« Perlmutter schlug blinzelnd die Augen auf. Das Weiße war jetzt gelblich. Das kümmerte Kurtz ebenso wenig wie die Frage, wer Richie war. »Nicht, Boss ...«

» Wo sind sie jetzt?«

»Das Wasser«, sagte Pearly. Seine Stimme war schwach. Er hörte sich an wie ein verdrießlicher Invalide. Sein Bauch da unter seiner Jacke war ein gelegentlich bebender Berg. Unser Stoiker ist im neunten Monat, Gott segne und erhalte uns, dachte Kurtz. »Das Waa...«

Er schloss wieder die Augen. Kurtz holte wieder aus.

»Lassen Sie ihn schlafen«, sagte Freddy.

Kurtz sah ihn mit gerunzelten Augenbrauen an.

»Er kann nur den Stausee meinen. Und wenn dem so ist, brauchen wir ihn nicht mehr.« Er zeigte durch die Windschutzscheibe auf die Spuren der wenigen Fahrzeuge, die an diesem Nachmittag vor ihnen die Route 32 passiert hatten. Sie zeichneten sich deutlich auf dem frischen weißen Schnee ab. »Außer uns ist hier heute niemand, Boss. Wir sind allein.«

»Gelobt sei der Herr.« Kurtz lehnte sich zurück, nahm seine Pistole von der Rückbank, sicherte sie und steckte sie ins Holster. »Sagen Sie mal, Freddy.«

»Ja?«

»Wenn das hier vorbei ist - was halten Sie dann von Mexiko?«

»Einverstanden. Solange wir da kein Wasser trinken.«

Kurtz brach in Gelächter aus und klopfte Freddy auf die Schulter. Neben Freddy sank Archie Perlmutter immer tiefer ins Koma. Unten in seinem Darm, in dieser ergiebigen Müllkippe aus Essensresten und abgestorbenen Zellen, schlug etwas zum ersten Mal im Leben die schwarzen Augen auf.

Zwei Steinpfosten markierten den Eingang zu dem riesigen Areal rund um den Quabbin-Stausee. Dahinter war die Straße im Grunde nur noch einspurig, und Henry kam es vor, als wäre er wieder an seinem Ausgangspunkt angelangt. Das war hier nicht Massachusetts, sondern Maine, und obwohl auf dem Straßenschild Quabbin Access stand, war es in "Wirklichkeit die Deep Cut Road. Er schaute zu dem bleiernen Himmel empor und rechnete tatsächlich halbwegs damit, dort die tanzenden Lichter zu erblicken. Doch stattdes-sen sah er einen Weißkopfseeadler ganz in der Nähe vorbeifliegen. Er landete auf dem Ast einer Kiefer und schaute ihnen nach.

Duddits hatte den Kopf ans kalte Fensterglas gelehnt. Nun hob er ihn und sagte: »Issa Äi eht etz ssu Fuhs.«

Henrys Herz machte einen Sprung. »Owen, hast du gehört?«

»Ich hab's gehört«, sagte Owen und holte noch etwas mehr aus dem Humvee heraus. Der feuchte Schnee war eisglatt, und jetzt, da sie das staatliche Straßennetz hinter sich gelassen hatten, führten nur zwei parallele Fahrspuren weiter nördlich zum Stausee.

Jetzt hinterlassen wir auch Spuren, dachte Henry. Falls Kurtz so weit kommt, braucht er keine Telepathie mehr, um uns zu finden.

Duddits stöhnte, hielt sich den Oberkörper und hatte Schüttelfrost. »Ennie, bin rank. Duddits rank.«

Henry strich Duddits über die haarlose Stirn. Es gefiel ihm gar nicht, wie heiß sie war. Was kam als Nächstes? Krämpfe wahrscheinlich. Ein schwerer Krampf konnte Duddits in seinem geschwächten Zustand hinwegraffen, und das wäre sicherlich eine Gnade. Wäre das Beste. Trotzdem tat es weh, daran zu denken. Henry Devlin, der ewige potenzielle Selbstmörder. Und statt ihm hatte die Dunkelheit seine Freunde geschluckt, einen nach dem anderen.

»Halt durch, Duds. Wir sind fast da.« Aber er hatte so das Gefühl, dass ihnen das Schlimmste erst noch bevorstand. Duddits schlug wieder die Augen auf. »Issa Äi - äng fess.«

»Wie bitte?«, fragte Owen. »Das habe ich nicht verstanden.«

»Er sagt: Mister Gray hängt fest«, sagte Henry und streichelte Duddits weiter den Kopf. Er wünschte sich dort Haare hin, die er hätte streicheln können, und erinnerte sich an die Zeit, als dort noch welche wuchsen. Duddits' schönes blondes Haar. Sein Weinen hatte ihnen wehgetan, hatte sich wie eine stumpfe Klinge in ihre Hirne gebohrt, aber wie glücklich sein Lachen sie dann wieder gemacht hatte - wenn man Duddits Cavell lachen hörte, glaubte man für eine Weile wieder an die alten Lügen: dass das Leben schön sei, dass das Leben all der Jungen und Männer, Mädchen und Frauen sogar einen Sinn habe. Dass es ebenso viel Licht wie Schatten gäbe.

»Wieso schmeißt er diesen Scheiß-Hund nicht einfach in den See?«, fragte Owen. Ihm versagte vor Müdigkeit fast die Stimme. »Wieso glaubt er denn, dass er damit ganz bis zum Schacht zwölf muss? Nur weil diese Russin das auch so gemacht hat?«

»Ich glaube, der See ist ihm zu unsicher«, sagte Henry. »Der Wasserturm in Derry wäre gut gewesen, aber dieses Aquädukt ist noch besser. Es ist wie ein fünfundsechzig Meilen langer Darm. Und Schacht zwölf ist die Kehle. Duddits, können wir ihn einholen?«

Duddits schaute ihn mit seinen erschöpften Augen an und schüttelte den Kopf. Owen schlug sich vor Frust auf den Oberschenkel. Duddits befeuchtete sich die Lippen. Er sprach in heiserem Flüsterton zwei Wörter. Owen hörte es, verstand es aber nicht.

»Was? Was hat er gesagt?«

»Nur Jonesy.«

»Was soll das heißen? Nur Jonesy was?«

»Nur Jonesy kann ihn aufhalten, schätze ich mal.«

Der Hummer rutschte wieder weg, und Henry hielt sich an seinem Sitz fest. Eine kalte Hand nahm seine. Duddits sah ihn mit verzweifelter Eindringlichkeit an. Er wollte etwas sagen und hustete stattdessen, ein grausiges, feuchtes, abgehacktes Geräusch. Manches von dem Blut, das er nun spuckte, war deutlich heller, schaumig, fast rosa. Henry hielt es für Lungenblut. Aber trotz der Hustenkrämpfe ließ Duddits seine Hand nicht los.

»Sag es mir in Gedanken«, sagte Henry. »Kannst du es mir in Gedanken sagen, Duddits?«

Für einen Moment war da weiter nichts als Duddits' kalte Hand, die sich um die seine geschlossen hatte, und der Blick in seine Augen. Dann waren Duddits und das khakifarbene Wageninnere des Humvee mit seinem vagen Geruch von kaltem Rauch verschwunden. Stattdessen sieht Henry jetzt ein Münztelefon - so ein altmodisches mit mehreren Schlitzen oben drin für die unterschiedlichen Münzen. Das Geräusch von Männerstimmen und ein Kläcken, das ihm auf ergreifende Weise vertraut vorkommt. Er braucht einen Moment, und dann wird ihm klar, dass es das Geräusch ist, das die Damesteine auf dem Spielbrett machen. Das da vor ihm ist der Münzfernsprecher bei Gosselin's, von dem aus sie nach dem Tod von Richie Grenadeau bei Duddits angerufen haben. Jonesy hatte es dann übernommen, weil er der Einzige war, der ein eigenes Telefon hatte, auf dessen Rechnung man die Gebühren umbuchen lassen konnte. Die anderen versammelten sich um ihn, alle noch mit den Jacken an, weil es so kalt in dem Laden war, sogar hier mitten im Wald bei all den

Bäumen ringsherum weigerte sich der alte Gosselin, auch nur einen Scheit mehr als unbedingt nötig in den Ofen zu geben - echt nicht zu fassen. Über dem Telefon hängen zwei Schilder. Auf dem einen steht bitte nicht länger als 5 Minuten telefonieren. Auf dem anderen -

Es gab einen knirschenden Knall. Duddits wurde hinten an Henrys Sitz und Henry an das Armaturenbrett geschleudert. Ihre Hände wurden auseinander gerissen. Owen war mit dem Humvee von der Straße abgekommen und in den Straßengraben gerutscht. Vor ihnen liefen die Spuren des Subaru in den immer tieferen Schnee und wurden selbst schon wieder zugeschneit.

»Henry! Hast du dir was getan?«

»Nein. Duds? Alles in Butter?«

Duddits nickte, aber die Wange, die er sich gestoßen hatte, wurde beängstigend schnell schwarz. Hier sehen Sie, was Leukämie alles für Sie tun kann.

Owen legte einen niedrigen Gang ein und kroch wieder aus dem Graben. Der Jeep stand ziemlich schräg - so um die dreißig Grad -, fuhr aber gut, sobald Owen ihn wieder in Bewegung gesetzt hatte.

»Schnall dich an. Und schnall vorher noch ihn an.«

»Er wollte mir eben etwas -«

»Ist mir scheißegal, was er dir sagen wollte. Das ist noch mal gut gegangen, aber beim nächsten Mal überschlagen wir uns vielleicht. Schnall ihn an und dann dich selber.«

Henry tat wie befohlen und grübelte dabei über das andere Schild über dem Münztelefon nach. Was hatte da draufgestanden? Irgendwas über Jonesy. Einzig Jonesy konnte Mr. Gray jetzt noch aufhalten, das war, laut Duddits, die reine Lehre.

Was hatte auf diesem zweiten Schild gestanden?

Owen war gezwungen, auf Tempo dreißig zu verlangsamen. Es machte ihn fast wahnsinnig, so kriechen zu müssen, aber es hatte richtiges Schneetreiben eingesetzt, und die Sicht tendierte wieder einmal gegen null.

Wo die Subaruspuren aufhörten, fanden sie den Wagen selbst, der in einem durch Erosion entstandenen Graben hing, der quer über die Straße verlief. Die Beifahrertür stand offen, und die Hinterräder hingen in der Luft.

Owen hielt, zog die Glock, öffnete seine Tür. »Bleib hier, Henry«, sagte er und stieg aus. Er lief geduckt zu dem Subaru.

Henry löste seinen Sicherheitsgurt und drehte sich zu Duddits um, der jetzt an der Rückbank lehnte, nach Luft rang und nur vom Gurt noch aufrecht gehalten wurde. Eine Wange war wachsgelb, die andere ein einziger Bluterguss. Er hatte auch wieder Nasenbluten, und die Wattebäusche, die ihm aus den Nasenlöchern ragten, waren vollgesogen und tropften.

»Duds, es tut mir Leid«, sagte Henry. »Das ist wirklich ein Kackorama.«

Duddits nickte und hob dann die Arme. Er konnte sie nur ein paar Sekunden lang oben behalten, aber für Henry war ohnehin sofort klar, was er damit sagen wollte. Henry machte seine Tür auf und stieg aus, und in eben diesem Moment kam Owen zurückgelaufen, die Glock nun im Gürtel. Die Luft war so voller großer Schneeflocken, dass das Atmen schwer fiel.

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst im Wagen bleiben«, sagte Owen.

»Ich will mich nur hinten zu ihm setzen.«

»Wieso?«

Henry sprach ganz ruhig, nur seine Stimme zitterte ein wenig. »Weil er stirbt«, sagte er. »Er stirbt, und ich glaube, er hat mir noch etwas zu sagen.«

Owen schaute in den Rückspiegel, sah Henry, der Duddits umarmt hielt, sah, dass sie beide angeschnallt waren, und schnallte sich ebenfalls an.

»Halt ihn gut fest«, sagte er. »Das wird gleich mächtig rumsen.«

Er setzte hundert Meter zurück, legte einen niedrigen Gang ein und fuhr dann los, wobei er auf die Lücke zwischen dem zurückgelassenen Subaru und dem rechten Straßengraben zusteuerte. Auf dieser Seite sah die Spalte in der Straße etwas schmaler aus.

Es rumste tatsächlich mächtig. Owens Gurt griff, und er sah, wie Duddits in Henrys Armen zuckte. Duddits kahler Kopf prallte an Henrys Brust. Dann hatten sie die Spalte in der Straße hinter sich und fuhren weiter die East Road hinauf. Owen erkannte gerade so die Stiefelspuren auf dem weißen Band der Straße. Mr. Gray war zu Fuß unterwegs, und sie waren immer noch motorisiert. Wenn sie das Schwein einholen konnten, ehe es in den Wald abbog -Aber das gelang ihnen nicht.

6

In einem letzten immensen Kraftakt hob Duddits den Kopf. Jetzt füllten sich, das sah Henry bestürzt und entsetzt, auch seine Augen mit Blut.

Klack. Klack-klack. Das trockene Kichern alter Männer, als jemand beim Damespielen drei Steine in Folge geschlagen hatte. Verschwommen rückte das Telefon wieder in sein Gesichtsfeld. Und die Schilder darüber.

»Nein, Duddits«, flüsterte Henry. »Mach das nicht. Spar deine Kraft auf.«

Doch wofür? Wofür, wenn nicht für das hier?

Auf dem Schild rechts stand: buts nicht länger als 5 Minuten telefonieren. Tabaksduft, Holzrauch, Lake-Geruch aus dem Pökelfass. Die Arme seiner Freunde um ihn gelegt.

Und auf dem anderen Schild stand: ruf jetzt jonesy an.

»Duddits ...« Seine Stimme waberte in der Dunkelheit -der Dunkelheit, seiner alten Freundin. »Duddits, wie soll ich das denn machen?«

Duddits' Stimme drang noch ein letztes Mal zu ihm durch, sehr müde, aber auch ganz ruhig: Schnell, Henry - ich kann nicht mehr lange - du musst mit ihm reden.

Henry nimmt den Hörer von der Gabel. Denkt absurderweise (aber ist nicht die ganze Situation ohnehin schon absurd?), dass er gar kein Münzgeld dabei hat... keinen einzigen Cent. Hält sich den Hörer ans Ohr.

Roberta Cavells Stimme meldet sich, unpersönlich und geschäftsmäßig: »Allgemeinkrankenhaus Boston, mit wem darf ich verbinden?«

Mr. Gray scheuchte Jonesys Körper den Pfad entlang, der vom Ende der Fast Road, am Ostufer des Stausees entlang führte. Er rutschte immer wieder aus, stürzte hin, zog sich an Ästen hoch, stand wieder auf. Jonesys Knie waren wund, seine Hose aufgerissen und blutgetränkt. Seine Lunge brannte, sein Herz pochte wie ein Dampfhammer. Doch das Einzige, was ihm Sorgen machte, war Jonesys Hüfte, die er sich bei dem Unfall gebrochen hatte. Sie war ein einziger heißer, pulsierender Knoten, von dem aus Schmerzen durch den Oberschenkel ins Knie schössen und über seine Wirbelsäule hoch in seinen Rücken. Das Gewicht des Hundes machte alles noch schlimmer. Er schlief immer noch, aber das Ding in ihm drin war hellwach und blieb nur, wo es war, weil Mr. Gray es so wollte. Als er eben den Fuß hob, blockierte das

Hüftgelenk vollkommen, und Mr. Gray musste mehrfach mit Jonesys Faust darauf einschlagen, bis sie sich wieder löste. Wie weit noch? Wie weit noch durch diesen verfluchten, erstickenden, ihm die Sicht raubenden, kein Ende nehmenden Schneefall? Und was trieb Jonesy währenddessen? Trieb er überhaupt irgendwas? Mr. Gray wagte nicht, den unbändigen Hunger des Byrums - es hatte nichts, was auch nur entfernt einem Gehirn ähnelte - lange genug allein zu lassen, um zu der verschlossenen Tür zu gehen und zu lauschen.

Geisterhaft tauchte ein Umriss vor ihm im Schnee auf. Mr. Gray blieb nach Luft schnappend stehen, sah sich das an und kämpfte sich dann weiter voran, hielt die schlaff herabhängenden Pfoten des Hundes gepackt und zog Jonesys rechten Fuß nach.

An einem Baumstamm war ein Schild festgenagelt: scHACHTHAUs - angeln streng verboten. Fünfzehn Meter weiter führte von dem Pfad eine Steintreppe in die Höhe. Sechs Stufen ... nein, acht. Oben stand auf einem steinernen, erhabenen Fundament ein Steinhäuschen, das sich von dem verschneiten, grauen Nichts abhob, in dem sich der Stausee befand - selbst beim rasenden, müden Pochen seines Herzens konnten Jonesys Ohren das gegen Stein schwappende Wasser hören.

Er war da.

Den Hund fest im Griff und das letzte bisschen Kraft aus Jonesys ausgelaugtem Körper herausziehend, schwankte Mr. Gray die verschneiten Stufen hoch, seinem Schicksal entgegen.

8

Als sie zwischen den Steinpfosten durchführen, die die Zufahrt zum Stausee markierten, sagte Kurtz: »Halten Sie hier am Straßenrand, Freddy.«

Freddy tat wie befohlen, ohne nachzufragen.

»Haben Sie Ihr Sturmgewehr, Bürschchen?«

Freddy hob es. Das gute alte M-16, in allen Lebenslagen bewährt. Kurtz nickte.

»Dienstpistole?«

»44er Magnum, Boss.«

Und Kurtz hatte eine Kaliber neun Millimeter, die er für den Nahkampf bevorzugte. Und es sollte ein Nahkampf werden. Er wollte die Farbe von Owen Underhills Hirn sehen. »Freddy?«

»Ja, Boss?«

»Ich möchte nur, dass Sie wissen, dass das mein letzter Einsatz ist und ich mir dabei keinen besseren Begleiter hätte wünschen können.« Er drückte Freddy kurz die Schulter. Neben Freddy schnarchte Perlmutter jetzt und hatte das Gesicht nach oben gedreht. Fünf Minuten bevor sie an den Steinpfosten angelangt waren, hatte er mehrere lang gedehnte, spektakulär übel riechende Fürze von sich gegeben. Danach hatte sich Pearlys aufgeblähter Bauch wieder gesenkt, und das war wahrscheinlich gut so.

Währenddessen strahlten Freddys Augen ganz erfreulich. Kurtz war entzückt. Wusste er doch anscheinend immer noch den richtigen Ton anzuschlagen.

»Also gut, Bursche«, sagte Kurtz. »Volle Kraft voraus und keine Bange vor den Torpedos. Klar?«

»Klar, Sir.« Kurtz störte sich nicht an dem Sir. Das ganze Protokoll konnten sie jetzt eigentlich abhaken. Jetzt waren sie Guérilleros, wie Quantrills Jungs damals während des Bürgerkriegs, die beiden letzten marodierenden Kansas-Boys, die hier über die Weiten des westlichen Massachusetts ritten.

Mit angewiderter Miene wies Freddy mit dem Daumen auf Perlmutter. »Soll ich versuchen, ihn zu wecken, Sir? Es könnte schon zu spät sein, aber -«

»Wozu die Mühe?«, sagte Kurtz. Immer noch mit einer Hand auf Freddys Schulter, zeigte er nach vorn, wo die Zufahrtsstraße zum See in einer weißen Wand verschwand -dem Schnee. Der verdammte Schnee hatte sie die ganze Zeit über verfolgt, ein Schnitter, der hier weiß gewandet war und nicht schwarz wie sonst. Die Spuren des Subaru waren nun gänzlich verschwunden, aber die des Humvee, den Owen gestohlen hatte, waren noch sichtbar. Wenn sie schnell machten, wäre die Verfolgung der Spuren nicht mehr als ein Spaziergang, gelobt sei der Herr. »Ich glaube nicht, dass wir ihn noch brauchen, und für mich persönlich ist das eine große Erleichterung. Fahren Sie, Freddy, fahren Sie.«

Der Humvee brach kurz hinten aus und fing sich dann wieder. Kurtz zog seine Pistole und legte sie sich ans Bein. Jetzt komme ich dich holen, Owen. Jetzt komme ich dich holen, Bursche. Überleg dir schon mai, was du sagen willst, wenn du vor den Herrn trittst, denn es ist keine Stunde mehr bis dahin.

9

Das Büro, das er - aus seinen Gedanken und Erinnerungen schöpfend - so hübsch eingerichtet hatte, fiel nun in Stücke.

Jonesy humpelte rastlos auf und ab und sah sich im Zimmer um, die Lippen so streng aufeinander gepresst, dass sie ganz weiß waren, und Schweißtropfen auf der Stirn, obwohl es verdammt kalt hier drin geworden war.

Das hier war zur Abwechslung mal nicht der Fall des Hauses Usher, sondern der Fall des Büros von Jonesy. Der Hochofen heulte und rumpelte unter ihm und ließ den Boden erbeben. Weißes Zeug - vielleicht Eiskristalle - wurde zum Lüftungsgitter hereingeweht und hinterließ eine pulvrige, dreieckige Spur an der Wand. Wo es landete, machte es sich sofort an der Holzvertäfelung zu schaffen, ließ sie faulen und gleichzeitig wellig werden. Die Bilder fielen nacheinander von den Wänden, stürzten sich wie Selbstmörder in die Tiefe. Der Charles-Eames-Sessel - den er immer hatte haben wollen, genau der - spaltete sich in der Mitte, wie von einer unsichtbaren Axt zerhackt. Die Mahagoniplatten an den Wänden fingen an, sich wie abgestorbene Haut zu lösen. Die Schubladen ruckelten aus den Schreibtischunter-schränken und knallten nacheinander auf den Boden. Die Fensterläden, die Mr. Gray angebracht hatte, um ihm die Aussicht nach draußen zu versperren, zitterten und rieben aneinander und erzeugten dabei ein metallisches Knirschen, das Jonesy wie Zahnschmerzen in den Kopf fuhr.

Nach Mr. Gray zu rufen und eine Erklärung dafür zu verlangen, was hier vor sich ging, wäre nutzlos gewesen ... und außerdem hatte Jonesy ja alle nötigen Informationen, um es sich selbst zusammenzureimen. Er hatte Mr. Gray gebremst, aber Mr. Gray hatte sich dieser Herausforderung gewachsen gezeigt. Ein Hoch auf Mr. Gray, der sein Ziel entweder bereits erreicht hatte oder es sehr bald erreichen würde. Als die Täfelung von den Wänden kam, sah er die schlichte Steinmauer dahinter - die Wände des Büros der Gebrüder Tra-cker, wie vier Jungs sie 1978 gesehen hatten, als sie nebeneinander die Stirn an die Fensterscheibe drückten und ihr neuer Freund, wie erbeten, an der Auffahrt stehen geblieben war und abwartete, dass sie damit fertig wurden, was auch immer sie da taten, und ihn nach Hause brachten. Jetzt löste sich eine weitere Holzplatte von der Wand - es hörte sich an wie zerreißendes Papier -, und darunter kam ein Schwarzes Brett zum Vorschein mit einem einzigen Foto daran, einem Polaroid. Es war keine Schönheitskönigin, nicht Tina Jean Schlossinger, sondern irgendeine Frau, die den Rock hob und ihre Unterhose zeigte, ziemlich blöde. Der schöne Teppichboden wurde plötzlich runzlig wie Haut, und darunter zeigten sich der schmutzige Fliesenboden der Gebrüder Tracker und diese weißen Kaulquappen, Wichsetüten, von Paaren hier liegen gelassen, die zum Bumsen hergekommen waren; all das unter dem desinteressierten Blick dieser Polaroidfrau, die eigentlich niemand war, wirklich nicht, sondern nur ein Überbleibsel aus einer schalen Vergangenheit.

Er ging humpelnd auf und ab, denn so schlimm hatte seine Hüfte seit der Zeit kurz nach dem Unfall nicht mehr wehgetan, und er verstand das alles, oh ja, tatsächlich, und ob. Seine Hüftgelenk fühlte sich an, als wäre es voller Splitter und gemahlenem Glas; Schultern und Nacken schmerzten und konnten nicht mehr. Mr. Gray ritt ihn bei seiner letzten Attacke zuschanden, und Jonesy konnte nichts dagegen tun.

Der Traumfänger war noch intakt. Er schaukelte in großem Bogen hin und her, war aber unversehrt. Jonesy konzentrierte sich auf diesen Anblick. Er hatte gedacht, er wäre bereit zu sterben, aber so wollte er nicht enden, nicht in diesem stinkenden Büro. Hinter diesem Gebäude hatten sie einmal etwas Gutes, fast Edelmütiges getan. Hier drin zu sterben, unter dem angestaubten, gleichgültigen Blick dieser Frau, deren Bild da ans Schwarze Brett geheftet war ... das wäre nicht fair. Vom Rest der Welt jetzt mal ganz abgesehen: Er, Gary Jones, aus Brookline, Massachusetts, ehemals Derry, Maine, letzter Aufenthalt Jefferson Tract, hatte Besseres verdient.

»Bitte, das habe ich nicht verdient!«, rief er zu der schaukelnden Spinnwebgestalt hoch, und da klingelte auf dem zer-bröselnden Schreibtisch hinter ihm das Telefon.

Jonesy wirbelte herum und stöhnte bei dem brennenden, überwältigenden Schmerz in seiner Hüfte auf. Das Telefon, mit dem er Henry angerufen hatte, war sein Bürotelefon gewesen, das blaue Trimline. Das dort nun auf der rissigen Schreibtischplatte stand, war schwarz und klobig, hatte eine Wählscheibe statt Tasten und einen Aufkleber mit dem Spruch möge die kraft mit dir sein drauf. Es war das Telefon, das er in seinem Kinderzimmer hatte, das ihm seine Eltern zum Geburtstag geschenkt hatten. 949 7784 - die Nummer, auf die er vor all den Jahren die Gebühren für den Anruf bei Duddits hatte buchen lassen.

Er stürzte sich darauf und achtete nicht auf seine Hüfte, inständig hoffend, die Leitung würde sich nicht auflösen oder gekappt werden, ehe er rangehen konnte.

»Hallo? Hallo!« Hin und her schwankend auf dem schwingenden und bebenden Boden. Das ganze Büro hob und senkte sich nun wie ein Schiff bei schwerem Seegang.

Mit Robertas Stimme hatte er nun wirklich überhaupt nicht gerechnet. »Ja, Doktor, Augenblick. Ein Gespräch für Sie.«

Es klickte so laut, dass ihm der Kopf davon wehtat, und dann herrschte Totenstille. Jonesy stöhnte und wollte eben schon auflegen, als es wieder klickte.

»Jonesy?« Es war Henry. Nur schwach und undeutlich, aber eindeutig Henry.

»Wo bist du?«, rief Jonesy. »Herrgott, Henry, das ganze Haus geht in die Brüche! Ich gehe in die Brüche!«

»Ich bin bei Gosselin's«, sagte Henry. »Aber nicht in Wirklichkeit. Und du bist auch nicht da, wo du bist. Wir sind beide in dem Krankenhaus, in das sie dich gebracht haben, als du überfahren wurdest ...« Es knackte in der Eei-tung, dann brummte es, und dann war Henry wieder da und klang jetzt näher und lauter. Jonesy schöpfte wieder etwas Mut in diesem ganzen Zusammenbruch. »... aber da sind wir in Wirklichkeit auch nicht!«

»Was?«

»Wir sind in dem Traumfänger, Jonesy! Wir sind in dem Traumfänger, und dort waren wir schon immer! Seit '78! Duddits ist der Traumfänger, aber er liegt im Sterben! Er hält noch etwas durch, aber ich weiß nicht, wie lange noch ...« Wieder klickte und brummte es, bitter und elektrisch klingend.

»Henry! Henry!«

»... komm raus!« Jetzt wieder schwach. Henry klang verzweifelt. »Du musst rauskommen, Jonesy! Komm her zu mir! Lauf an dem Traumfänger entlang, und komm her zu mir! Noch ist Zeit! Wir können dieses Schwein noch stoppen! Hörst du? Wir können —«

Es klickte wieder, und dann war die Leitung tot. Das Gehäuse seiner Kindertelefons krachte, brach auf und spuckte einen unsinnigen Kabelsalat aus. Die Kabel waren alle rotorangefarben und mit Byrus überzogen.

Jonesy ließ den Hörer los und sah zu dem schaukelnden Traumfänger hoch, diesem flüchtigen Spinnennetz. Ihm fiel ein Satz ein, den sie als Kinder toll gefunden hatten und der von irgendeinem Komiker stammte: Du bist der, wo du bist. Das hatte gleichen Stellenwert bei ihnen gehabt wie Selbe Scheiße, anderer Tag, ja, hatte vielleicht sogar den ersten Platz belegt, als sie dann älter wurden und sich für kultivierter hielten. Du bist der, wo du bist. Nur stimmte das, nach Henrys Anruf, nicht mehr. Denn wo sie zu sein glaubten, waren sie nicht.

Sie waren in dem Traumfänger.

Er bemerkte, dass der Traumfänger, der da über den Trümmern seines Schreibtischs baumelte, vier Speichen hatte, die von der Mitte ausgingen. Viele Verbindungsfäden wurden von diesen Speichen gehalten, aber die Speichen hielt nur der Mittelpunkt, der Kern, von dem sie ausgingen.

Lauf an dem Traumfänger entlang, und komm her zu mir! Noch ist Zeit!

Jonesy drehte sich um und rannte zur Tür.

10

Mr. Gray war ebenfalls an der Tür - der Tür des Schachthauses. Sie war verschlossen. Wenn er bedachte, was hier mit der Russin passiert war, wunderte ihn das nicht. Die Stalltür schließen, nachdem das Pferd gestohlen wurde - das war Jonesys übliche Redewendung für solche Fälle. Hätte er noch ein Kim gehabt, dann wäre das kein Problem gewesen. Aber auch so war er nicht allzu beunruhigt darüber. Eine interessante Begleiterscheinung, wenn man Gefühle hatte, das hatte er entdeckt, bestand darin, dass die Gefühle einen dazu brachten vorauszudenken, zu planen, damit man keine allgemeine Gefühlsattacke erlitt, wenn etwas nicht funktionierte. Das mochte eine der Ursachen dafür sein, dass diese Wesen so lange überlebt hatten.

Mr. Gray musste wieder an Jonesys Vorschlag denken, er solle sich dem ganz überantworten, aber er tat den Gedanken ab. Er würde seine Mission hier abschließen und das Gebot befolgen. Und dann - mal sehen. Baconsandwiches vielleicht. Und das, was in Jonesys Erinnerungen »Cocktail« hieß. Das war ein kühles, erfrischendes Getränk mit leicht giftiger Wirkung.

Ein Windstoß kam vom See herauf, wehte ihm feuchten Schnee ins Gesicht und nahm ihm kurz die Sicht. Es war, als hätte er ein feuchtes Handtuch ins Gesicht bekommen, und mit einem Schlag war er wieder ganz da und wusste, dass er eine Aufgabe zu erledigen hatte.

Er ging auf der Granittreppe vorsichtig weiter nach links, rutschte aus, fiel auf die Knie und achtete nicht auf den aufblitzenden Schmerz in Jonesys Hüfte. Er war nicht so weit gereist - schwarze Lichtjahre und weiße Meilen -, um dann auf dieser Treppe hintenüberzufallen und sich das Genick zu brechen oder in den Quabbin zu stürzen und in dem eiskalten Wasser an Unterkühlung zu sterben.

Unter der Treppe war ein Geröllhügel. Mr. Gray beugte sich links über die Treppe hinaus, wischte dort den Schnee weg und tastete nach einem losen Stein. Neben der verschlossenen Tür befanden sich Fenster, die zwar schmal waren, aber nicht zu schmal.

Der dichte, feuchte Schneefall dämpfte alle Geräusche, doch trotzdem hörte er den sich nähernden Motorenlärm.

Er hatte schon vorher einen Motor gehört, aber der war stehen geblieben, wahrscheinlich am Ende der East Street. Sie kamen, aber sie kamen zu spät. Der Pfad hierher war eine Meile lang, war überwuchert und rutschig. Wenn sie hier ankamen, war der Hund längst im Schacht, ertrank und transportierte dabei das Byrum sicher in das Aquädukt.

Er fand einen losen Geröllbrocken, zog ihn heraus, und achtete die ganze Zeit darauf, den vibrierenden Hundekörper, den er sich um die Schultern gelegt hatte, nicht groß zu verlagern. Er rutschte auf den Knien vom Treppenrand weg und versuchte dann aufzustehen. Erst gelang es ihm nicht. Jonesys geschwollenes Hüftgelenk blockierte wieder. Schließlich richtete er sich mit einem Ruck auf, obwohl es unglaublich wehtat und ihm dieser Schmerz bis in die Zähne und Schläfen fuhr.

So stand er einen Moment lang da und hob Jonesys schmerzendes rechtes Bein etwas an, wie ein Pferd, das sich einen Stein in den Huf getreten hatte, und stützte sich dabei an der verschlossenen Tür des Schachthauses ab. Als der Schmerz etwas nachließ, schlug er mit dem Stein das Fenster links neben der Tür ein. Dabei bekam Jonesys Hand mehrere Schnittwunden ab, auch eine tiefe. Einige gesprungene Glasstücke blieben oben lose im Fensterrahmen hängen, und es sah aus wie ein Billig-Schafott, aber das beachtete er alles nicht. Und er bekam auch nicht mit, dass Jonesy endlich doch sein Schlupfloch verlassen hatte.

Mr. Gray zwängte sich durch den Fensterrahmen, stürzte auf den kalten Betonboden und sah sich um.

Er befand sich in einem rechteckigen, etwa zehn mal zehn Meter großen Raum. Gegenüber sah man durch ein Fenster, das bei gutem Wetter sicherlich einen atemberaubenden Blick auf den See bot, nur Weiß, als wäre ein Ea-ken davor gespannt. Daneben stand etwas, das wie ein riesiger Stahlkübel aussah und rot übertupft war - nicht mit Byrus, sondern mit einem Oxid, das laut Jonesys Unterlagen »Rost« hieß. Mr. Gray wusste es nicht mit Sicherheit, nahm aber an, dass man mit diesem Kübel Menschen in den Schacht hinablassen konnte, sollte irgendein Notfall das erfordern.

Der runde Eisendeckel, der gut anderthalb Meter maß, ruhte mitten im Raum auf dem Schacht. Mr. Gray entdeckte an seinem Rand eine rechteckige Kerbe und schaute sich um. An der Wand standen einige Werkzeuge. Inmitten der Glasscherben des zerbrochenen Fensters stand dort auch eine Brechstange. Es war gut möglich, dass es eben die war, mit der die Russin ihren Selbstmord vorbereitet hatte.

Was man so hört, dachte Mr. Gray, werden die Leute in Boston so um den Valentinstag rum diesen letzten Byrum in ihrem Morgenkaffee trinken.

Er packte die Brechstange, humpelte unter Schmerzen in die Mitte des Raums, wobei sein Atem in kalten, weißen Schwaden vor ihm in der Luft stand, und steckte dann das gebogene Ende des Werkzeugs in die Kerbe des Deckels.

Es passte pefekt.

11

Henry knallt den Hörer auf, holt tief Luft ... und läuft dann zu der Tür, auf der sowohl Büro als auch privat steht.

»He!«, quakt die alte Reenie Gosselin an der Kasse. »Komm zurück, Junge! Da darfst du nicht rein!«

Henry bleibt nicht stehen, wird nicht einmal langsamer, und als er dann die Tür aufreißt, merkt er, dass er tatsächlich ein kleiner Junge ist, mindestens einen Kopf kleiner als später dann, und er hat zwar eine Brille auf, aber sie ist längst nicht so schwer wie seine späteren. Er ist ein Kind, aber unter dem ganzen flauschigen Haar (das auch ein bisschen schütterer sein wird, wenn er einmal über die dreißig hinaus ist) hat er das Gehirn eines Erwachsenen. Ich bin ja wie ein brauner Bär, innen mit Karamellkern, denkt er, und als er in das Büro des alten Gosselin platzt, kichert er wie blöde - er lacht, wie sie damals immer gelacht haben, als die Fäden des Traumfängers noch näher an seiner Mitte waren und Duddits ihnen die Stifte weiter steckte. Ich wäre fast geplatzt, haben sie immer gesagt; ich wäre fast geplatzt, so ein Brüller war das.

Er rennt in das Büro, aber es ist nicht das Büro des alten Gosselin, in dem ein Mann, der Owen Underhill hieß, einst einem Mann, der nicht Abraham Kurtz hieß, ein Tonband vorgespielt hatte, auf dem die Grauen mit den Stimmen prominenter Menschen sprachen; es ist ein Flur, ein Krankenhauskorridor, und Flenry ist nicht im Mindesten erstaunt darüber. Es ist das Allgemeinkrankenhaus in Boston. Er hat es erschaffen.

Es ist feucht hier und kälter, als es auf dem Korridor eines Krankenhauses sein sollte, und die Wände sind mit Byrus überwuchert. Irgendwo stöhnt jemand: leb will dich nicht, ich will auch keine Spritze, ich will Jonesy. Jonesy hat Duddits gekannt, Jonesy ist gestorben, ist im Krankenwagen gestorben, Jonesy ist der Einzige, den ich will. Bleib weg, knutsch mir die Kimme, ich will Jonesy.

Aber er wird nicht wegbleiben. Er ist der schlaue alte Mr. Tod, und er wird nicht wegbleiben. Er hat hier was zu erledigen.

Er geht ungesehen den Flur entlang, in dem es so kalt ist, dass er seinen Atem sehen kann, ein Junge in einer orangefarbenen Jacke, aus der er bald herauswachsen wird. Er hätte jetzt gern das Gewehr dabei, das ihm Petes Dad geliehen hat, aber dieses Gewehr ist weg, begraben unter den Jahren wie Jonesys Telefon mit dem Krieg-der-Sterne-Aufkleber drauf (wie sie ihn alle um dieses Telefon beneidet haben ...) und Bibers Jacke mit den vielen Reißverschlüssen und Petes Pulli mit dem NASA-Logo auf der Brust. Begraben unter den Jahren. Manche Träume sterben und lösen sich auf, das ist auch so eine bittere Wahrheit dieser Welt. Und wie viele solche bittere Wahrheiten es doch gibt.

Er geht an zwei plaudernden, lachenden Krankenschwestern vorbei - eine ist Josie Rinkenhauer, jetzt als Erwachsene, und die andere ist die Frau auf dem Polaroidfoto, das sie damals durch das Fenster im Büro der Gebrüder Tracker gesehen haben. Sie sehen ihn nicht, denn für sie ist er nicht hier; er ist jetzt im Traumfänger und läuft an einem Faden zum Mittelpunkt zurück. Ich bin der Eiermann, denkt er. Die Welt hing schief, die Zeit gerann, doch nichts hielt auf den Eiermann.

Henry ging über den Korridor in die Richtung, aus der er Mr. Grays Stimme hörte.

12

Kurtz hörte es durch das zerschossene Fenster ganz deutlich: das stotternde Rattern von automatischem Gewehrfeuer. Das löste bei ihm ein altes Unbehagen und eine alte Ungeduld aus: Er war wütend, dass die Schießerei schon ohne ihn losgegangen war, und fürchtete, sie würde vorüber sein, ehe er eintraf, und die Verwundeten würden dann nur noch nach den Sanitätern rufen.

»Geben Sie Gas, Freddy.« Direkt vor Kurtz schnarchte sich Perlmutter immer tiefer ins Koma hinein.

»Es ist ziemlich glatt hier, Boss.«

»Geben Sie trotzdem Gas. Ich habe so das Gefühl, dass wir fast —«

Er sah einen rosa Fleck aus dem reinweißen Schneevorhang auftauchen, wie Blut, das unter Rasierschaum hervorsickerte, und dann hatten sie den verunglückten Subaru direkt vor sich, den Kühler in den Boden gerammt und das Heck in die Luft ragend. In den folgenden Momenten nahm Kurtz alles zurück, was er je an Schlechtem über Freddys

Fahrkünste gedacht hatte. Sein zweiter Mann riss einfach das Lenkrad nach rechts und gab Vollgas, als der Humvee wegschlitterte. Der überbreite Jeep fing sich wieder und sprang über die Lücke in der Straße. Er landete polternd und mit lautem Krach. Kurtz wurde hochgeschleudert und schlug sich so heftig den Kopf, dass er Sterne sah. Perlmutters Arme schlackerten wie die einer Leiche; sein Kopf plumpste nach hinten, dann nach vorn. Der Humvee war so knapp am Subaru vorbeigerauscht, dass er dessen offen stehende Beifahrertür mitgerissen hatte. Jetzt brauste er weiter, nur noch einer relativ frischen Autospur folgend.

Jetzt mach ich dir die Hölle heiß, Owen, dachte Kurtz. Jetzt mach ich dir die Hölle heiß, und dann werden deine blauen Augen verschmoren.

Das Einzige, was ihm Kopfzerbrechen bereitete, war dieser Feuerstoß. Was war denn da losgewesen? Was es auch war, es hatte sich nicht wiederholt.

Dann, vor ihnen, noch so ein Fleck im Schnee. Diesmal olivgrün. Es war der andere Hummer. Sie saßen wahrscheinlich nicht mehr drin, aber -

»Entsichern und durchladen«, sagte Kurtz zu Freddy. Seine Stimme klang nur ein klein wenig schrill. »Jetzt präsentieren wir die Rechnung.«

13

Als Owen an der Stelle ankam, an der die East Street endete (oder, je nach Sicht des Betrachters, in die Fitzpatrick Road überging, die sich in nordöstliche Richtung davonschlängelte), konnte er Kurtz schon hinter sich hören und ging davon aus, dass auch Kurtz ihn hören konnte - diese Humvees waren zwar nicht so laut wie eine Harley, aber doch alles andere als leise.

Jonesys Stiefelabdrücke waren jetzt völlig verschwunden, aber Owen entdeckte den Pfad, der von der Straße ans Ufer und dann daran entlangführte.

Er schaltete den Motor ab. »Henry, es sieht so aus, als müssten wir ab hier gehen -«

Owen verstummte. Er hatte sich zu sehr auf das Fahren konzentriert, um sich umzusehen oder auch nur im Rückspiegel nachzusehen, und war nicht darauf vorbereitet, was er da sah. Und er war entsetzt darüber.

Henry und Duddits saßen in einer, wie Owen zunächst dachte, letzten Umarmung des Todes da, die stoppeligen Wangen aneinander geschmiegt, die Augen geschlossen, die Gesichter und Jacken mit Blut beschmiert. Er sah sie nicht atmen und dachte wirklich, sie wären da zusammen gestorben - Duddits an Leukämie und Henry wahrscheinlich an einem Herzinfarkt, den die Erschöpfung und die unablässige Anspannung der vergangenen gut dreißig Stunden ausgelöst hatten -, und dann sah er ihre Augenlider leicht zucken.

Einander im Arm haltend. Mit Blut besprenkelt. Aber nicht tot. Sie schliefen.

Sie träumten.

Owen rief Henry beim Namen und überlegte es sich dann anders. Henry hatte sich in Jefferson Tract geweigert, das Lager zu verlassen, ohne vorher die Internierten zu befreien, und sie waren zwar davongekommen, aber nur dank schierem Dusel ... oder dank der Vorsehung, wenn man denn an so etwas glaubte. Nichtsdestotrotz hatten sie sich damit Kurtz auf den Hals gehetzt, der wie eine Klette an ihnen hing, und jetzt war er ihnen viel näher, als er es gewesen wäre, wären Owen und Henry einfach nur im Schneesturm davongeschlichen.

Na ja, ich würde es immer wieder so machen, dachte Owen, machte seine Tür auf und stieg aus. Im Norden, fern im weißen Tosen des Sturms, beschwerte sich ein Adler über das Wetter. Hinter sich, im Süden, hörte er Kurtz näher kommen, diesen lästigen Wahnsinnigen. In diesem Scheiß-

Schnee konnte man unmöglich sagen, wie nah er schon war. Der Schnee fiel so heftig und in solchen Mengen, dass er wie ein Schalldämpfer wirkte. Es konnten zwei Meilen sein oder auch viel weniger. Er würde Freddy dabeihaben, Freddy, den perfekten Soldaten, den Dolph-Lundgren-Verschnitt aus der Hölle.

Owen ging schlitternd zur Rückseite des Wagens, verfluchte den Schnee und machte die Ladeklappe des Humvee auf, erwartete automatische Waffen und hoffte auf einen tragbaren Raketenwerfer. Sie hatten keinen Raketenwerfer dabei und auch keine Granaten, dafür aber vier Maschinengewehre Typ MP5 und einen Karton langer, bananenförmiger Magazine a hundertzwanzig Schuss.

Im Lager hatte er sich Henrys Willen gebeugt, und vermutlich hatten sie dadurch sogar einigen Menschen das Leben gerettet, aber Owen würde kein zweites Mal nach Henrys Pfeife tanzen; wenn er für die gottverdammte Porzellanplatte der Rapeloews jetzt noch nicht genug gezahlt hatte, dann musste er eben mit der Schuld leben. Aber auch das nicht mehr lange, wenn es nach Kurtz ging.

Henry war entweder eingeschlafen, bewusstlos oder mit seinem sterbenden Kindheitsfreund auf eigenartige Weise geistig vereint. Owen würde ihn nicht stören. Wäre er wach und ihm zur Seite, dann würde Henry vielleicht vor dem zurückschrecken, was jetzt zu tun war, zumal wenn Henry Recht mit der Annahme hatte, dass sein Freund Jonesy noch am Leben war und sich in dem Gehirn versteckte, das der Außerirdische jetzt kontrollierte. Owen würde nicht davor zurückschrecken ... und da seine telepathischen Fähigkeiten verschwunden waren, würde er Jonesy auch nicht um sein Leben betteln hören, wenn er denn noch da drin war. Die Glock-Pistole war eine gute Waffe, reichte aber nicht.

Das MP5 würde Gary Jones zerpflücken.

Owen nahm sich eins der Gewehre und noch drei Reservemagazine, die er sich in die Parkataschen steckte. Kurtz war jetzt nah, war nah und kam immer näher. Er schaute hinter sich auf die East Street und rechnete fast damit, dass der zweite Humvee dort wie ein grünbrauner Geist aus dem Schnee auftauchte, aber bisher war da nichts. Gelobt sei der Herr, wie Kurtz gesagt hätte.

Die Fenster der Hummer waren schon fast zugeschneit, aber er konnte die schemenhaften Umrisse zweier Menschen auf der Rückbank noch erkennen, als er im Laufschritt am Wagen vorbeikam. Sie hielten einander immer noch fest umarmt. »Lebt wohl, Jungs«, sagte er. »Schlaft schön.« Und mit etwas Glück würden sie noch schlafen, wenn Kurtz und Freddy kamen und ihrem Leben ein Ende setzten, ehe sie weiter ihrem Hauptziel nachjagten.

Owen blieb unvermittelt stehen, rutschte dabei im Schnee weg und hielt sich an der langen Motorhaube des Humvee fest. Duddits war eindeutig ein hoffnungsloser Fall, aber Henry Devlin konnte er vielleicht retten. Es war machbar.

Nein!, schrie eine Stimme in seinem Kopf, als er zurück zur Hintertür ging. Nein, dafür bleibt keine Zeit!

Aber Owen beschloss, darauf zu setzen, dass noch Zeit war - das Schicksal der ganzen Welt darauf zu setzen. Vielleicht um noch ein wenig mehr Buße zu tun für die Porzellanplatte der Rapeloews. Vielleicht auch als Buße dafür, was er am Vortag getan hatte (diese nackten grauen Gestalten, wie sie um ihr abgestürztes Schiff herumgestanden und die Arme gehoben hatten, wie um sich zu ergeben); wahrscheinlich aber nur um Henry willen, der ihm geweissagt hatte, sie würden Helden sein, und dann alles unternommen hatte, dieses Versprechen zu erfüllen.

Nichts da mit Mitgefühl mit dem Teufel, dachte er und riss die Hintertür auf. Nein, sein Mitgefühl kann sich dieses Schwein echt in den Arsch stecken.

Duddits saß ihm am nächsten. Owen packte ihn am Kragen seines mächtigen blauen Parkas und zerrte daran. Duddits purzelte seitlich auf den Sitz. Die Kappe fiel ihm vom

Kopf und entblößte seine schimmernde Glatze. Henry, der Duddits immer noch umarmt hielt, landete auf ihm drauf. Er schlug die Augen nicht auf, stöhnte aber leise. Owen beugte sich vor und flüsterte ihm hektisch ins Ohr.

»Nicht aufsetzen! Um Gottes willen, Henry, bleib jetzt bloß liegen!«

Owen schloss die Tür wieder, trat drei Schritte zurück, legte das MG in der Hüfte an und feuerte. Die Fenster des Humvee zersplitterten und sanken dann in sich zusammen. Patronenhülsen fielen Owen klackernd vor die Füße. Er trat wieder vor und schaute durch das zerschossene Fenster auf die Rückbank. Henry und Duddits lagen immer noch da, nun nicht mehr nur mit Duddits' Blut, sondern auch noch mit Krümeln von Sicherheitsglas bedeckt, und für Owen sahen sie wie die totesten Toten aus, die er je gesehen hatte. Owen hoffte, Kurtz würde zu sehr in Eile sein, um sich das genau anzusehen. Jedenfalls hatte er getan, was er konnte.

Er hörte einen lauten, metallischen Knall und musste grinsen. Jetzt wusste er, wo Kurtz war - an dem weggeschwemmten Straßenstück, an dem der Subaru verreckt war. Er wünschte sich inständig, Kurtz und Freddy wären mit voller Wucht auf den Subaru aufgefahren, aber so laut war der Knall leider nicht gewesen. Aber immerhin wusste er jetzt, wo sie waren. Mindestens eine Meile entfernt. Das war nicht so schlimm, wie er erwartet hatte.

»Mir bleibt noch genug Zeit«, murmelte er, und hinsichtlich Kurtz' mochte das stimmen, aber was war mit dem anderen? Wo war Mr. Gray?

Das MP5 im Anschlag, den Riemen über der Schulter, lief Owen zu dem Pfad, der zu Schacht zwölf führte.

Mr. Gray hatte noch ein weiteres unschönes menschliches Gefühl entdeckt: Panik. Da war er so weit gereist - Lichtjahre durchs All und hunderte Meilen durch den Schnee -, um dann an Jonesys schwachen, nicht trainierten Muskeln zu scheitern und an dem eisernen Schachtdeckel, der viel schwerer war, als er sich das vorgestellt hatte. Er zerrte an der Brechstange, bis Jonesys Muskeln gequält protestierten ... und wurde diesmal mit einer Spur Dunkelheit belohnt, die unter dem Rand des rostigen Eisendeckels auftauchte. Und mit einem knirschenden Geräusch, als sich der Deckel ein wenig - höchstens zwei, drei Zentimeter - auf dem Betonboden bewegte. Dann verkrampfte sich Jonesys untere Rückenmuskulatur, und Mr. Gray strauchelte von dem Schacht fort und schrie durch zusammengebissene Zähne (da er immun war, hatte Jonesy noch ein vollständiges Gebiss) und hielt Jonesys Lendenwirbelsäule, wie um sie am Platzen zu hindern.

Lad heulte mehrfach auf. Mr. Gray schaute hinüber und sah, dass die Dinge an einem kritischen Punkt angelangt waren. Lad schlief zwar noch, aber sein Unterleib war derart grotesk geschwollen, dass eines seiner Hinterbeine steif in die Luft ragte. Die Haut über seinem Bauch war zum Platzen gespannt, und in den Adern, die sich darauf abzeichneten, pochte es hektisch. Und unter seinem Schwanz rann ein hellrotes Blutrinnsal hervor.

Mr. Gray schaute mit scheelem Blick zu der Brechstange hinüber, die aus der Kerbe in dem Eisendeckel ragte. In Jonesys Fantasie war die Russin eine schlanke Schönheit mit schwarzem Haar und dunklen, melancholisch blickenden Augen gewesen. In Wirklichkeit, dachte Mr. Gray, war sie wahrscheinlich eher breitschultrig und muskulös gewesen. Wie hätte sie denn sonst -

Gewehrfeuer, beängstigend nah. Mr. Gray keuchte und sah sich um. Dank Jonesy war nun auch die menschliche Form der Korrosion, der Zweifel, auf ihn übergegangen, und zum ersten Mal ging ihm auf, dass er vielleicht gescheitert war - ja, selbst hier, seinem Ziel so nah, dass er es schon hören konnte, das rauschende Wasser, das hier seine Sech-zig-Meilen-Reise begann. Und von dieser ganzen Welt trennte das Byrum einzig und alleine noch eine runde Eisenplatte, die über einen Zentner wog.

Leise eine verzweifelte Litanei von Biberflüchen ausstoßend, eilte Mr. Gray los, und Jonesys versagender Körper zuckte dabei auf dem defekten Dreh- und Angelpunkt seines rechten Hüftgelenks vor und zurück. Einer von ihnen kam hierher, es war dieser Owen, und Mr. Gray wagte nicht zu glauben, dass er Owen dazu bringen konnte, die Waffe gegen sich selbst zu richten. Wenn er Zeit und das Überraschungsmoment auf seiner Seite gehabt hätte - dann vielleicht. Aber jetzt hatte er weder das eine noch das andere. Und dieser Mann, der da kam, war ein ausgebildeter Mörder; das war sein Beruf.

Mr. Gray sprang hoch. Es folgte ein sehr vernehmliches Knacken, als Jonesys überlastete Hüfte aus der geschwollenen Gelenkpfanne, die sie gehalten hatte, brach. Mr. Gray stürzte mit der Wucht von Jonesys ganzem Körpergewicht auf die Brechstange. Der Deckel hob sich wieder und rutschte diesmal gut dreißig Zentimeter beiseite. Das sichelförmige Loch, in das die Russin hinabgeglitten war, zeigte sich. »Sichelförmig« war schon fast übertrieben; es ähnelte eher einem großen C, gezogen von einer Kalligraphiefeder ... aber für den Hund reichte es.

Jonesys Bein konnte Jonesy nicht mehr tragen (und wo war Jonesy denn überhaupt? Seine Nervensäge von Wirt hatte immer noch keinen Piep von sich gegeben), aber das war nicht weiter schlimm. Es reichte jetzt, wenn er kriechen konnte.

Mr. Gray arbeitete sich auf diese Weise quer über den Betonboden zu dem schlafenden Border Collie vor, packte Lad am Halsband und fing an, ihn zum Schacht zwölf zu schleifen.

15

Der Gedächtnissaal - dieses riesenhafte Kartonlager - steht ebenfalls kurz vor dem Einsturz. Der Boden schwankt wie bei einem unaufhörlichen, langsamen Erdbeben. Die Neonröhren unter der Decke flackern, was in der riesigen Halle halluzinativ wirkt. Hohe Kartonstapel sind umgestürzt, versperren an einigen Stellen die Korridore.

Jonesy läuft so schnell er kann. Er rennt von einem Korridor zum nächsten, lässt sich allein von seinem Instinkt durch dieses Labyrinth leiten. Er sagt sich immer wieder, er solle nicht auf seine verdammte Hüfte achten, er sei jetzt sowieso nur noch reiner Geist, aber das ist, als würde ein Amputierter sein abgesägtes Bein dazu bringen wollen, dass es nicht so pocht. Er läuft an Kisten mit der Aufschrift erster Weltkrieg,

COLLEGEQUERELEN, KINDERGESCHICHTEN Und INHALT WANDSCHRANK OBEN

vorbei. Er springt über ein paar umgestürzte Kisten, auf denen Carla steht, landet auf seinem schmerzenden Bein und schreit vor Schmerz auf. Er hält sich an Kisten (mit der Aufschrift gettysburg) fest, um nicht hinzufallen; und endlich sieht er das andere Ende der Lagerhalle. Gott sei Dank; ihm kommt es vor, als wäre er meilenweit gelaufen.

Auf der Tür steht Intensivstation, ruhe bitte, besuch nur mit besucherausweis, und ja, genau: Hierhin haben sie ihn gebracht, hier ist er aufgewacht und hat den schlauen alten Mr. Tod gehört, der so getan hat, als würde er nach Marcy rufen.

Jonesy reißt die Tür auf, läuft weiter und befindet sich in einer anderen Welt, die er gleich wiedererkennt: der blauweiß gestrichene Korridor auf der Intensivstation, auf dem er vier Tage nach seiner Operation unter Schmerzen seine ersten täppischen Schritte machte. Er strauchelt ein paar Meter weit in den Korridor vor, und dann sieht er den Byrus an den Wänden wachsen und hört die Musikberieselung, ein Stück, das nun wirklich nicht in ein Krankenhaus passt; es ist zwar leise gestellt, aber doch eindeutig Sympathy for the Dev//von den Rolling Stones.

Er hat eben erst den Song erkannt, da explodiert etwas in seiner Hüfte. Jonesy schreit erschreckt auf, fällt auf den schwarzroten Fliesenboden und legt beide Hände darauf. Es ist wieder genau wie kurz nach dem Unfall: eine Explosion grellroter Qual. Er windet sich, schaut hoch zu den grellen Leuchtstoffröhren, den runden Lautsprechern, aus denen die Musik (»Anastasia screamed in vain«) kommt, Musik aus einer anderen Welt. Der Schmerz ist so intensiv, dass er alles andere in eine andere Welt versetzt, Schmerz macht alles zunichte und verhöhnt sogar die Liebe, das hat er im März gelernt und muss es jetzt wieder erfahren. Er windet sich und windet sich, beide Hände auf der geschwollenen Hüfte, mit vortretenden Augen, den Mund weit aufgerissen, und er weiß schon, was los ist: Mr. Gray. Dieses Schwein Mr. Gray hat ihm wieder die Hüfte gebrochen.

Dann, in weiter Ferne, in dieser anderen Welt, hört er eine Stimme, die er kennt, die Stimme eines Jungen.

Jonesy!

Widerhallend, verzerrt ... aber so weit gar nicht weg. Nicht auf diesem Flur, aber auf einem der anschließenden. Wessen Stimme ist das? Die eines seiner Söhne? John vielleicht? Nein -

Jonesy, du musst dich beeilen! Er kommt und will dich umbringen! Owen kommt und will dich umbringen!

Er weiß nicht, wer Owen ist, aber er weiß, wessen Stimme das ist: die von Henry Devlin. Aber sie ist nicht so, wie sie war, als er Henry zuletzt gesehen hat - als er mit Pete zu

Gosselin's aufgebrochen ist; es ist die Stimme, die Henry in seiner Jugend hatte, die Stimme, mit der er zu Richie Grenadeau gesagt hat, sie würden ihn verpetzen, wenn er nicht aufhörte, und dass Richie und seine Freunde Pete nie einkriegen würden, denn der sei schnell wie der Wind.

Ich kann nicht!, ruft er zurück, sich immer noch auf dem Boden windend. Er merkt, dass etwas anders geworden ist, immer noch anders wird, weiß aber nicht, was es ist. Ich kann nicht, er bat mir wieder die Hüfte gebrochen, dieses Schwein hat mir -

Und dann wird ihm klar, was da mit ihm vorgeht: der Schmerz verläuft umgekehrt. Es ist, als würde er einem Video beim Zurückspulen zusehen: Die Milch fließt aus dem Glas wieder hoch in die Tüte, die Blume, die durch das Wunder der Zeitrafferfotografie erblühen sollte, schließt stattdes-sen wieder ihren Kelch.

Die Ursache hierfür wird ihm klar, als er an sich herunterschaut und die hell orangefarbene Jacke sieht, die er anhat. Es ist die Jacke, die ihm seine Mutter für seinen ersten Jagdausflug eigens bei Sears gekauft hat, den Jagdausflug, bei dem Henry einen Hirsch erlegt hat und sie alle gemeinsam Richie Grenadeau und seine Freunde zur Strecke gebracht haben, sie totgeträumt haben - sie haben es nicht gewollt, es aber trotzdem getan.

Er ist wieder ein Kind, ein dreizehn Jahre alter Junge, und der Schmerz ist verschwunden. Und wieso sollte ihm auch irgendwas wehtun? Seine Hüfte wird ja erst in dreiundzwanzig Jahren gebrochen. Und dann geht ihm alles auf: In Wirklichkeit hat es nie einen Mr. Gray gegeben; Mr. Gray haust in dem Traumfänger und nirgendwo sonst. Er ist kein bisschen realer als der Schmerz in seiner Hüfte. Ich war immun dagegen, denkt er und steht auf. Der Byrus hat mir nichts anhaben können. Was ich da im Kopf habe, ist nicht nur eine Erinnerung, das nicht, sondern ein richtiger Geist in der Maschine. Er ist ich. Ach du lieber Gott, Mr. Gray - das bin ich!

Jonesy steht schnell auf und läuft los und fliegt fast aus der Bahn, als er um eine Ecke rast. Aber er bleibt auf den Beinen, er ist so beweglich und schnell, wie nur ein Dreizehnjähriger es sein kann, und er hat keine Schmerzen, überhaupt keine Schmerzen.

Den nächsten Korridor erkennt er. Dort steht eine abgestellte Trage mit einer Bettpfanne drauf. Und daran vorbei geht leichtfüßig der Hirsch, den er an jenem Tag, kurz vor seinem Unfall, in Cambridge gesehen hat. Er hat einen Riemen um den samtigen Hals, und daran hängt wie ein riesiges Amulett Jonesys magischer Achterball. Jonesy läuft an dem Hirsch vorbei, und der schaut ihm ruhig und verwundert hinterher. Jonesy!

Nah jetzt. Ganz nah.

Jonesy! Beeil dich!

Jonesy verdoppelt sein Tempo, seine Füße fliegen nur so, seiner jungen Lunge macht das alles nichts, er hat keinen Byrus, denn er ist immun, es gibt da keinen Mr. Gray, zumindest nicht in ihm drin, Mr. Gray ist in dem Krankenhaus und war es auch immer, Mr. Gray ist wie ein amputiertes Bein, das man immer noch spürt, man würde schwören, es sei noch da, Mr. Gray ist der Geist in der Maschine, und dieser Geist liegt an einem Lebenserhaltungssystem, und dieses Lebenserhaltungssystem ist Jonesy.

Er biegt wieder um eine Ecke. Hier gibt es drei Türen, die alle offen stehen. Dahinter, an der vierten Tür, die als einzige verschlossen ist, steht Henry. Henry ist dreizehn, wie Jonesy auch; Henry trägt eine orangefarbene Winterjacke, wie Jonesy auch. Die Brille ist ihm wie üblich auf die Nasenspitze gerutscht, und er winkt ihn hastig herbei.

Beeil dich! Mach schnell, Jonesy! Er hält nicht mehr lange durch! Er kann uns nicht mehr Zusammenhalten! Wenn er stirbt, ehe wir Mr. Gray töten -

Er kommt bei Henry an der Tür an. Er will ihn in die Arme schließen, aber dafür ist keine Zeit.

Das ist alles meine Schuld, sagt er zu Henry, und seine Stimme klingt so hoch wie seit Jahren nicht mehr.

Nein, das stimmt nicht, sagt Henry. Er sieht Jonesy mit seiner alten Ungeduld an, die Jonesy, Pete und Biber schon als Kinder immer beeindruckt hat - Henry schien ihnen immer einen Schritt voraus zu sein, wirkte immer drauf und dran, in die Zukunft davonzupreschen und die anderen hinter sich zurückzulassen. Es kam ihnen immer vor, als hielten sie ihn von irgendwas ab.

Aber-

Dann könntest du genauso gut behaupten, Duddits hätte Richte Grenadeau ermordet, und wir seien dabei seine Komplizen gewesen. Er war, was er war, Jonesy, und er hat uns zu dem gemacht, was wir sind ... aber das war keine Absicht. Absichtlich konnte er sich höchstens mal die Schuhe zubinden, weißt du nicht mehr?

Und Jonesy denkt: Was mahn? Pass nich?

Henry ... ist Duddits -

Für uns hält er noch durch, Jonesy, das habe ich dir doch gesagt. Er hält uns zusammen.

In dem Traumfänger.

Genau. Wollen wir jetzt also hier auf dem Flur stehen und diskutieren, während genau jetzt die ganze Welt den Bach runtergeht, oder wollen wir -

Das Schwein machen wir kalt, sagt Jonesy und greift zum Türknauf. Oben an der Tür steht auf einem Schild keine

ANSTECKUNGSGEFAHR - IL n'yA PAS Ü'INFECTION ICI, und

plötzlich sieht er diesen Text mit ganz anderen Augen. Es ist wie mit einer diesen optischen Täuschungen von M. C. Escher. Von einem bestimmten Gesichtspunkt aus ist es wahr und von einem anderen Gesichtspunkt aus gleichzeitig die abscheulichste Lüge des Universums.

Traumfänger, denkt Jonesy und dreht den Türknauf.

Der Raum hinter der Tür ist ein Byrus-Gewächshaus, ein albtraumhafter Dschungel, überwuchert von Ranken und

Reben und Lianen, die sich zu blutroten Zöpfen ineinander geflochten haben. Es stinkt nach Schwefel und Äthylalkohol, der Gestank von Startfix, das man an einem kalten Januarmorgen in einen bockigen Vergaser sprühte. Wenigstens müssen sie sich hier nicht auch noch vor irgendwelchen Kackwieseln vorsehen; das ist in einem anderen Faden des Traumfängers, an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit. Das Byrum ist jetzt Lads Problem; er ist ein Border Collie mit eher düsteren Zukunftsaussichten.

Der Fernseher ist an, und obwohl die Mattscheibe mit Byrus überwuchert ist, dringt geisterhaft ein Schwarzweißbild durch. Ein Mann schleift einen toten Hund über einen Betonboden. Der Boden ist staubig und mit trockenem Herbstlaub übersät, und es sieht aus wie in einer Gruft in einem Horrorfilm aus den Fünfziger jähren, die Jonesy immer noch gerne auf Video anschaut. Aber das hier ist keine Gruft; dumpf hört man Wasser rauschen.

In der Mitte des Bodens befindet sich ein rostiger runder Deckel, auf dem mwra eingeprägt ist - Massachusetts Water Resources Authority. Trotz der roten Fusseln auf dem Bildschirm sind diese Lettern deutlich zu erkennen. Natürlich sind sie das. Für Mr. Gray — der als eigenständiges Wesen schon damals in ihrer Hütte gestorben ist - bedeuten sie alles. Sie bedeuten ihm, sozusagen, die Welt.

Der Schachtdeckel ist ein wenig beiseite geschoben, und durch den sichelförmigen Schlitz sieht man in die absolute Dunkelheit. Der Mann, der da den Hund schleift, ist er selbst, das wird Jonesy bewusst, und der Hund ist auch noch nicht ganz tot. Er zieht eine Spur aus schaumigem, rosafarbenem Blut auf dem Beton hinter sich her, und seine Hinterläufe zucken, paddeln förmlich.

Lass doch den Film, raunzt ihn Henry an, und Jonesy richtet sein Augenmerk auf die Gestalt im Bett, auf das graue Ding, das sich die mit Byrus überwucherte Decke bis zur

Brust hochgezogen hat, die nur porenlose, unbehaarte Haut ohne Brustwarzen ist. Wegen der Decke kann er das zwar nicht sehen, aber Jonesy weiß auch so, dass da kein Bauchnabel ist, denn dieses Ding wurde nie geboren. Es sieht aus, wie sich Kinder eben einen Außerirdischen vorstellen, und wurde direkt den unbewussten Vorstellungen der Menschen nachempfunden, die als Erste mit dem Byrum in Kontakt kamen. Als Wesen im eigentlichen Sinne, als Aliens, ETs, hat es sie nie gegeben. Die Grauen sind als körperhafte Wesen immer erst aus der menschlichen Fantasie erstanden, aus dem Traumfänger, und das zu wissen erleichtert Jonesy sehr. Er ist nicht der Einzige, der sich hat täuschen lassen. Wenigstens das.

Und noch etwas gefällt ihm sehr: der Blick in diesen fürchterlichen schwarzen Augen. Die Furcht darin.

16

»Ich bin bereit«, sagte Freddy leise, als er hinter dem Humvee hielt, den sie über hunderte Meilen verfolgt hatten.

»Ausgezeichnet«, sagte Kurtz. »Erkunden Sie das Fahrzeug. Ich gebe Ihnen Deckung.«

»Okay.« Freddy sah zu Perlmutter hinüber, dem wieder der Bauch schwoll, und dann zu Owens Jeep. Jetzt war offensichtlich, warum sie vorhin Gewehrfeuer gehört hatten: Der Humvee sah ziemlich zerschossen aus. Fragte sich nur, wer hier ausgeteilt und wer eingesteckt hatte. Fußspuren führten vom Humvee fort, lösten sich bald in dem heftigen Schneefall auf, waren aber hier vorn noch deutlich zu erkennen. Ein Paar Stiefelabdrücke. Wahrscheinlich von Owen.

»Los, Freddy!«

Freddy trat hinaus in den Schnee. Kurtz glitt hinter ihm aus dem Wagen, und Freddy hörte ihn seine Dienstpistole durchladen. Jetzt hing sein Leben von dieser Pistole ab. Tja, vielleicht war das schon in Ordnung; Kurtz wusste schließlich damit umzugehen, das stand außer Frage.

Freddy lief es kalt den Rücken hinunter, als hätte Kurtz die Pistole genau darauf gerichtet. Aber das war ja lächerlich, nicht wahr? Auf Owen, ja, aber Owen war eben auch anders. Owen hatte die Grenze überschritten.

Freddy eilte geduckt zum Hummer, das Sturmgewehr im Anschlag. Es gefiel ihm nicht, Kurtz im Rücken zu haben, keine Frage. Nein, das gefiel ihm überhaupt nicht.

17

Als sich die beiden Jungs dem überwucherten Bett nähern, drückt Mr. Gray mehrfach auf den Knopf für die Schwestern, aber nichts passiert. Die ganze Anlage ist mit Byrus verstopft, denkt Jonesy. So ein Pech aber auch, Mr. Gray - das ist aber wirklich zu schade. Er schaut zum Fernseher hinüber und sieht, dass sein Film-Ich jetzt den Hund bis an den Rand des Schachts geschleift hat. Vielleicht kommen sie schon zu spät; vielleicht auch nicht. Man weiß es nicht. Es ist noch alles offen.

Hallo, Mr. Gray, ich wollte Sie so gerne kennen lernen, sagt Henry. Dabei zieht er das mit Byrus übertupfte Kissen unter Mr. Grays schmalem, ohrlosem Kopf hervor. Mr. Gray versucht, zur anderen Seite des Betts zu rutschen, aber Jonesy hält ihn fest, packt die kinderdünnen Arme des Außerirdischen. Seine Haut fühlt sich weder warm noch kalt an. Sie fühlt sich eigentlich überhaupt nicht wie Haut an. Sie fühlt sich an -

Als wäre sie Luft, denkt er, wie in einem Traum.

Mr. Gray?, sagt Henry. So begrüßen wir Typen wie Sie auf dem Planeten Erde. Und dann drückt er Mr. Gray das Kissen aufs Gesicht.

Unter Jonesys Händen fängt Mr. Gray an, sich zu wehren, versucht, um sich zu schlagen. Irgendwo piept nun hektisch eine Maschine, als ob dieses Wesen ein Herz hätte, das jetzt aufgehört hat zu schlagen.

Jonesy schaut auf das sterbende Monster hinab und wünscht sich nur noch, es möge das alles doch endlich vorbei sein.

18

Mr. Gray hatte den Hund bis an den Rand des Schachts geschleift, dessen Deckel er ein wenig beiseite geschoben hatte. Aus dem schmalen schwarzen Loch drang das stete dumpfe Rauschen von fließendem Wasser und ein feuchter, kalter Luftzug.

War's abgetan, wenn es getan, dann war's am besten schnell getan - das stammte aus einem Karton mit der Aufschrift Shakespeare. Der Hund strampelte hektisch mit den Hinterbeinen, und Mr. Gray hörte Fleisch reißen, während sich das Byrum mit dem einen Ende abstieß und mit dem anderen freibiss. Unter dem Schwanz des Hundes drang jetzt das Kreischen hervor. Es hörte sich an wie ein wütender Affe. Er musste den Hund in den Schacht bekommen, ehe es sich befreien konnte; es musste zwar nicht unbedingt unter Wasser geboren werden, aber seine Überiebenschancen waren dann viel größer.

Mr. Gray versuchte den Hund mit dem Kopf voran durch die Lücke zwischen Deckel und Schachtrand zu stopfen und schaffte es nicht. Der Hund hatte die wie irre grinsende Schnauze hochgereckt. Er schlief zwar noch (oder war bewusstlos), gab aber schon ein leises, gedämpftes Bellen von sich.

Und er passte nicht durch die Lücke.

»Gekörnte Scheiße!«, kreischte Mr. Gray. Er bemerkte den wütenden Schmerz in Jonesys Hüfte kaum und bekam schon gleich gar nicht mit, dass Jonesys Gesicht verzerrt und blass war und ihm vor Anspannung und Verzweiflung Tränen in den hellbraunen Augen standen. Aber er bekam mit -bekam nur zu deutlich mit -, dass hier irgendwas vor sich ging. Irgendwas passiert da hinter meinem Rücken, hätte Jonesy gesagt. Und wer sonst sollte denn auch dahinterstecken? Wer sonst als Jonesy, sein Wirt wider Willen?

»Du SCHEISSTEIL!«, kreischte er den verdammten, abscheulichen, sturen, nur ein klein wenig zu breiten Hund an. »Du kommst da rein, hörst du? HÖRST DU -«

Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Mit einem Mal konnte er nicht mehr schreien, so sehr er auch wollte; und wie er es doch liebte, zu schreien und mit der Faust auf irgendwas einzuschlagen (und sei es ein sterbender, schwangerer Hund)! Mit einem Mal konnte er nicht mal mehr atmen, von schreien ganz zu schweigen! Was machte Jonesy da mit ihm?

Er rechnete nicht mit einer Antwort, aber dann kam doch eine - mit der Stimme eines Fremden, die bebte vor kalter Wut: So begrüßen wir Typen wie Sie auf dem Planeten Erde.

19

Dem grauen Ding in dem Krankenhausbett gelingt es, die um sich schlagenden, dreifingrigen Hände zu heben, und für einen Moment schiebt es das Kissen beiseite. Den schwarzen Augen in dem sonst keine Züge aufweisenden Gesicht sind Furcht und Zorn anzusehen. Es ringt nach Luft. Wenn man bedenkt, dass es gar nicht wirklich existiert - nicht einmal in Jonesys Gehirn, jedenfalls nicht als körperhaftes Wesen -, ringt es wirklich verzweifelt um sein Leben. Henry kann kein Mitgefühl aufbringen, kann es aber nachvollziehen. Es will, was auch Jonesy will, was Duddits will ... was auch Henry will, denn hat trotz seiner ganzen schwarzen Gedanken nicht sein Herz weitergeschlagen? Hat seine Leber nicht weiter sein Blut gewaschen? Hat sein Körper nicht weiterhin ungesehene Kriege ausgefochten gegen alles Mögliche, von der gemeinen Erkältung über Krebs bis hin zum Byrus selbst? Der Körper ist entweder dumm oder sehr, sehr weise, aber in jedem Fall bleibt ihm die fürchterliche Hexerei des Denkens erspart; er versteht es nur, sich nicht unterkriegen zu lassen und sich zu wehren, bis es nicht mehr geht. Falls Mr. Gray da bisher irgendwie anders war, ist er es jetzt nicht mehr. Er will leben. Das können Sie vergessen, sagt Henry mit ruhiger, fast einlullender Stimme. Das wird nichts, mein Lieber. Und wieder drückt er Mr. Gray das Kissen aufs Gesicht.

20

Mr. Gray s Atemwege kamen wieder frei. Er atmete die kalte Schachthausluft ein ... dann noch einmal ... und dann waren seine Atemwege wieder verstopft. Sie erstickten ihn, sie brachten ihn um.

Nein! Knutscht mir die Kimme! Knutscht mir verdammt noch eins die Kimme! DAS KÖNNT IHR NICHT TUN!

Er riss den Hund wieder heraus und drehte ihn um; es war, als ob jemand, der für seinen Flug schon zu spät dran ist, versucht, einen letzten sperrigen Gegenstand in seinen Koffer zu zwängen.

So herum passt er durch, dachte er.

Ja, das würde er. Auch wenn er dazu mit Jonesys Händen den geschwollenen Bauch des Hundes platt drücken und dem Byrum gestatten musste, sich daraus zu befreien. Das verdammte Ding kam jetzt in den Schacht - so oder so.

Mit verquollenem Gesicht und vortretenden Augen, fast erstickend und mit einer dicken pochenden Ader mitten auf Jonesys Stirn, schob Mr. Gray Lad mit dem Rücken voran in

die Lücke und fing dann an, mit Jonesys Fäusten auf den Bauch des Hundes einzuschlagen.

Geh durch, Scheißteil, geh durch!

GEH DURCH!

21

Freddy Johnson richtete sein Sturmgewehr auf das Innere des Humvee, während Kurtz, der sich schlauerweise hinter ihm aufhielt (in dieser Hinsicht war es genau wie beim Angriff auf das Raumschiff der Grauen), abwartete, wie sich die Dinge entwickelten.

»Zwei Männer, Boss. Sieht so aus, als hätte Owen noch schnell Ballast abgeworfen.«

»Tot?«

»Sehen ziemlich tot aus. Das sind Devlin und dieser andere, den sie abgeholt haben.«

Kurtz kam zu Freddy, warf schnell einen Blick durch das zerschossene Fenster und nickte. Auch für ihn sahen sie ziemlich tot aus, zwei weiße Maulwürfe, die da beieinander auf der Rückbank lagen, von Blut und Glassplittern bedeckt. Er hob seine Dienstpistole, um da ganz sicher zu gehen - ein zusätzlicher Kopfschuss konnte nicht schaden -, und ließ sie dann wieder sinken. Owen hatte ihren Motor vielleicht nicht gehört. Der feuchte Schnee fiel in unglaublichen Mengen, wirkte wie eine akustische Decke, und das war durchaus möglich. Aber Schüsse würde er hören. Er drehte sich zu dem Pfad um.

»Gehn Sie voran, Bursche, und passen Sie auf, wohin Sie treten - sieht rutschig aus. Und wir haben immer noch das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Das sollten wir im Hinterkopf behalten, nicht wahr?«

Freddy nickte.

Kurtz lächelte. Das verwandelte sein Gesicht in einen Totenschädel. »Mit ein wenig Glück, Bursche, ist Owen Under-hill in der Hölle, ehe er auch nur merkt, dass er tot ist.«

22

Die Fernbedienung für den Fernseher, ein schwarzes, mit Byrus überwuchertes Plastikrechteck, liegt auf Mr. Grays Nachttisch. Jonesy nimmt sie. Mit einer Stimme, die sich unheimlicherweise wie die des Bibers anhört, sagt er »Jetzt reicht's« und knallt sie mit aller Kraft auf die Nachttischkante. Die Fernbedienung splittert, die Batterien fliegen heraus, und Jonesy hält nur noch einen gezackten Plastikstab in der Hand.

Er greift unter das Kissen, das Henry dem um sich schlagenden Wesen aufs Gesicht drückt. Er zögert noch für einen Moment und denkt an seine erste Begegnung mit Mr. Gray -seine einzige Begegnung mit ihm. Wie er plötzlich den Knauf der Badezimmertür in der Hand hatte, als die Achse des Schlosses gebrochen war. Dieses Gefühl von Dunkelheit, als der Schatten dieses Dings auf ihn fiel. Damals war es absolut real gewesen, so real wie Rosen und Regentropfen. Jonesy hatte sich umgedreht, und da hatte er ihn ... es ... das gesehen, was Mr. Gray gewesen war, ehe er dann Mr. Gray wurde ... es hatte da im großen Hauptraum ihrer Hütte gestanden. Das Thema hunderter Filme und Dokumentarsendungen über »unerklärliche Phänomene« - bloß eben alt. Alt und krank. Im Grunde schon reif für dieses Krankenhausbett hier auf der Intensivstation. Marcy, hatte es gesagt, hatte Jonesy dieses Wort direkt aus dem Gehirn gepflückt. Hatte es herausgezogen wie einen Korken. Und sich so ein Loch geschaffen, durch das es ein-dringen konnte. Und dann war es aufgeplatzt wie ein Tischfeuerwerk an Silvester, hatte statt des Konfettis Byrus versprüht, und ...

... und den Rest habe ich mir nur eingebildet. So war es doch, nicht wahr? Das war doch nur wieder ein Fall von intergalaktischer Schizophrenie, nicht wahr? Ja, im Grunde läuft es darauf hinaus.

Jonesy!, ruft Henry. Wenn du es tun willst, dann tu es jetzt!

jetzt zeig ich's dir, Mr. Gray, denkt Jonesy. Mach dich bereit. Denn Rache ist -

23

Mr. Gray hatte Lad schon halb durch die Lücke gezwängt, als Jonesy Stimme plötzlich seinen Kopf erfüllte.

Jetzt zeig ich's dir, Mr. Gray. Mach dich bereit. Denn Rache ist Blutwurst!

Durch Jonesys Kehle fuhr ein fürchterlicher Schmerz. Mr. Gray hob Jonesys Hände und gab ein würgendes Grunzen von sich, das man nicht so recht als Schrei bezeichnen konnte. Er fühlte nicht mehr die bartstoppelige, unversehrte Haut von Jonesys Kehle, sondern sein eigenes zerfetztes Fleisch. Und vor allem empfand er ganz deutlich schockierte Fassungslosigkeit - das war das letzte von Jonesys Gefühlen, auf das er noch zurückgreifen konnte. Das kann doch einfach nicht sein. Sie kamen immer mit den Schiffen der Alten, diesen Artefakten; sie hoben immer, wie um sich zu ergeben, die Hände; und jedes Mal siegten sie. Das konnte doch einfach nicht sein.

Und doch war es so.

Das Bewusstsein des Byrums erlosch nicht, sondern löste sich eher auf. Sterbend kehrte das als Mr. Gray bekannte Wesen in seinen ursprünglichen Zustand zurück. Als aus ihm wieder es wurde (und kurz bevor aus dem es dann nichts wurde), verpasste Mr. Gray dem Hund einen letzten heftigen Stoß. Er rutschte weiter durch die Lücke ... fiel aber immer noch nicht in den Schacht.

Der letzte von Jonesy inspirierte Gedanke des Byrums war: Ich hätte ihn beim Wort nehmen sollen. Ich hätte ein Mensch -

24

Jonesy schlitzt mit dem gezackten Ende der Fernbedienung Mr. Gray die nackte, lappige Kehle auf. Die Haut klafft wie ein Mund, und eine Wolke aus rötlich orangefarbenen Partikeln pufft heraus, färbt die Luft blutrot und geht dann als Schauer aus Staub und Fusseln auf der Tagesdecke nieder.

Mr. Grays Körper zuckt unter Jonesys und Henrys Händen noch einmal wie unter einem Stromstoß zusammen. Dann vergeht er wie der Traum, der er immer war, und verwandelt sich dabei in etwas Vertrautes. Jonesy ist es für einen Moment nicht klar, aber dann geht es ihm auf. Mr. Grays Überreste sehen aus wie eines der hingeworfenen, benutzten Kondome, die sie auf dem Boden des verlassenen Büros im Lagerhaus der Gebrüder Tracker gesehen haben.

Er ist -

— tot!, will Jonesy eben sagen, doch dann durchfährt ihn ein verheerender Schmerz. Diesmal ist es nicht seine Hüfte, sondern sein Kopf. Und seine Kehle. Plötzlich trägt er ein Halsband aus Feuer. Und der ganze Raum ist durchsichtig. Er kann es nicht fassen. Er sieht durch die Wand und in das Schachthaus hinein, wo der Hund, der in der Lücke festhängt, eben ein widerwärtiges rotes Wesen zur Welt bringt, das aussieht wie eine Kreuzung aus einem Wiesel und einem riesigen blutbedeckten Wurm. Er weiß ganz genau, was das ist: ein Byrum.

Mit Blut und Kot und den Resten seiner membranartigen Plazenta überzogen und mit seinen hirnlosen schwarzen Augen glotzend (es sind seine Augen, denkt Jonesy, Mr. Grays Augen], wird es da eben geboren, streckt seinen Körper heraus, will sich frei machen, will in die Dunkelheit hinabspringen und dem Rauschen des Wassers folgen.

Jonesy sieht Henry an.

Henry erwidert seinen Blick.

Nur für einen Moment begegnen sich die entsetzten Blicke ihrer jungen Augen ... und dann sind auch sie verschwunden.

Duddits, sagt Henry. Seine Stimme kommt aus weiter Ferne. Duddits stirbt Jonesy...

Leb wohl. Vielleicht wollte Henry Lebewohl sagen. Ehe er dazu kommt, sind sie beide weg.

25

Jonesy wurde kurz vom Schwindel gepackt, als er im Nirgendwo war - das Gefühl, von allem abgeschnitten zu sein. Er dachte, das wäre der Tod und er hätte mit Mr. Gray auch sich selbst umgebracht, hätte sich selbst die Kehle aufgeschlitzt.

Dann brachte ihn der Schmerz zurück. Nicht in seiner Kehle, der war vergangen, und er konnte wieder frei atmen -er hörte sich selbst in tiefen trockenen Atemzügen ein- und ausatmen. Nein, dieser Schmerz war ein alter Bekannter. Er kam aus seiner Hüfte. Er packte ihn und schleuderte ihn an seiner geschwollenen, quietschenden Achse zurück in die Welt. Er kniete auf Beton, hielt ein Tierfell gepackt und hörte ein unmenschliches Kreischen. Wenigstens ist das hier die Wirklichkeit, dachte er. Das ist jetzt außerhalb des Traumfängers.

Dieses abscheuliche Kreischen.

Jetzt sah Jonesy das Wieselwesen über der Dunkelheit baumeln, in dieser Welt hier oben nur noch von seinem Schwanz gehalten, der sich noch nicht ganz aus dem Hund gelöst hatte. Jonesy stürzte sich nach vorn und schnappte sich den glitschigen, zuckenden Leib in der Mitte, und in diesem Moment löste es sich ganz aus dem Hund.

Er wankte zurück, seine gebrochene Hüfte pochte, und er hielt das sich windende, kreischende Ding in die Luft wie ein Zirkusartist eine Boa Constrictor. Es peitschte mit dem Schwanz, schnappte mit den Zähnen ins Leere, senkte den Kopf und wollte Jonesy ins Handgelenk beißen, erwischte stattdessen seinen rechten Jackenärmel, riss ihn auf und ließ die weiße, fast gewichtslose Daunenfüllung durch die Luft schweben.

Jonesy drehte sich auf seiner gebrochenen Hüfte um, und da sah er einen Mann im Rahmen des eingeschlagenen Fensters, durch das sich Mr. Gray hereingezwängt hatte. Der Mann schaute verblüfft. Er trug einen Parka in Tarnfarben und hielt ein Gewehr in der Hand.

Jonesy schleuderte das sich windende Wiesel fort, so weit er konnte, was nicht sehr weit war. Es flog vielleicht drei Meter weit, landete mit feuchtem Plumps auf dem mit Laub übersäten Boden und schlängelte sich augenblicklich wieder auf den Schacht zu. Der Hundekadaver verstopfte die Lücke zwar größtenteils, aber daneben war noch reichlich Platz.

»Erschießen Sie's!«, brüllte Jonesy den Mann mit dem Gewehr an. » Um Gottes willen, knallen Sie es ab, ehe es ins Wasser springen kann!«

Aber der Mann da am Fenster tat gar nichts. Der letzte Mensch, auf den die Welt noch hoffen konnte, stand einfach nur mit heruntergeklappter Kinnlade da.

26

Owen konnte einfach nicht fassen, was er da sah. Ein rotes Monster, ein mutiertes Wiesel ohne Beine. Von so etwas erzählt zu bekommen, war eines, es dann aber mit eigenen Augen zu sehen, etwas ganz anderes. Es glitt auf das Loch in der Mitte des Bodens zu. Darin steckte rücklings schon ein Hund fest, dessen Beine steif in die Luft ragten.

Der Mann - das musste Typhoid Jonesy sein — schrie ihn an, er solle das Ding erschießen, aber Owen kriegte einfach nicht die Arme hoch. Sie fühlten sich an wie mit Blei ummantelt. Das Ding würde entkommen; nach allem, was passiert war, geschah genau das, was er verhindern wollte, direkt vor seinen Augen. Es war wie in der Hölle.

Er sah, wie es sich voranschlängelte, und dabei gab es ein scheußliches, affenartiges Kreischen von sich, das Owen durch Mark und Bein ging; er sah, wie Jonesy verzweifelt und unbeholfen in diese Richtung kroch und es abfangen oder ihm wenigstens den Weg abschneiden wollte. Aber das würde nichts werden. Der Hund war im Weg.

Owen befahl seinen Armen noch einmal, das Gewehr zu heben, und wieder passierte nichts. Das MP5 hätte sich genauso gut auch in einem anderen Universum befinden können. Er würde das Ding entkommen lassen. Er würde hier wie eine Salzsäule stehen und würde es entwischen lassen. Gott stehe ihm bei.

Gott stehe ihnen allen bei.

27

Henry setzte sich benommen auf der Rückbank des Humvee auf. Er hatte etwas im Haar. Er wischte es weg, immer noch in dem Krankenhaustraum gefangen (bloß dass das gar kein Traum war, dachte er), und dann holte ihn ein stechender Schmerz in die Wirklichkeit zurück. Es war Glas. Er hatte das Haar voller Glassplitter. Es waren Krümel von Sicherheitsglas, und sie lagen auch überall auf der Rückbank. Und auf Duddits.

»Dud?«

Das fruchtete natürlich nichts. Duddits war tot. Musste tot sein. Er hatte seine letzte Kraft dafür aufgewandt, Jonesy und Henry gemeinsam in dieses Krankenhauszimmer zu bringen.

Aber Duddits stöhnte. Er schlug die Augen auf, und als Henry in diese Augen sah, kam er auf dieser verschneiten Sackgasse endgültig wieder zu sich. Duddits' Augen waren blutrote Nullen, blickten sibyllinisch.

»Uuhbie!«, rief Duddits. Er hob schwächlich die Hände und tat, als würde er mit einem Gewehr auf etwas zielen. »Uuhbie-Duh! Ihr ham etz wassu tun!«

Aus dem Wald vor ihnen erklangen daraufhin zwei Gewehrschüsse. Nach einer Pause folgte ein dritter.

»Dud?«, flüsterte Henry. »Duddits?«

Duddits sah ihn. Selbst noch mit diesen blutigen Augen konnte Duddits ihn sehen. Henry spürte das nicht nur, nein, für einen Moment sah er sich selber mit Duddits' Augen. Es war, als schaute er in einen Zauberspiegel. Er sah den Henry, der er gewesen war: ein Junge, der durch eine Hornbrille, die ihm viel zu groß war und immer auf die Nasenspitze rutschte, in die Welt hinausschaute. Er spürte die Liebe, die Duddits für ihn empfand, ein einfaches, unkompliziertes Gefühl, nicht vergällt von Zweifeln oder Egoismus oder auch nur von Dankbarkeit. Henry nahm Duddits in die Arme, und als er merkte, wie leicht sich sein alter Freund anfühlte, fing Henry an zu weinen.

»Du hast uns Glück gebracht«, sagte er und wünschte sich den Biber herbei. Der Biber hätte tun können, was Henry nicht konnte; Biber hätte Duds in den Schlaf singen können. »Du hast uns immer Glück gebracht. So sehe ich das.«

»Ennie«, sagte Duddits und strich mit der Hand über Henrys Wange. Er lächelte, und seine letzten Worte sprach er ganz klar und deutlich aus: »Ich liebe dich, Ennie.«

Vor ihnen, ganz in der Nähe, erschollen zwei Gewehrschüsse. Kurtz blieb stehen. Freddy war gut sieben Meter voraus, stand neben einem Schild, das Kurtz gerade so lesen konnte:

SCHACHTHAUS - ANGELN STRENG VERBOTEN.

Ein dritter Schuss. Dann wieder Stille.

»Boss?«, flüsterte Freddy. »Voraus ist ein Gebäude.«

»Sehen Sie jemanden?«

Freddy schüttelte den Kopf.

Kurtz ging zu ihm und war sogar jetzt noch darüber amüsiert, wie Freddy zusammenzuckte, als ihm Kurtz eine Fland auf die Schulter legte. Und dieses Zucken war nur zu berechtigt. Wenn Abe Kurtz die nächsten fünfzehn, zwanzig Minuten überlebte, wollte er ganz allein zu neuen Ufern aufbrechen. Er brauchte niemanden, der ihn nur aufhielt, würde bei seinem letzten Guerilla-Einsatz keine Zeugen hinterlassen. Freddy ahnte das wohl, aber mit Sicherheit konnte Freddy es nicht wissen. Zu schade, dass die Telepathie verschwunden war. Wirklich ein Pech für Freddy.

»Hört sich an, als hätte Owen noch jemanden umgelegt«, flüsterte Kurtz Freddy ins Ohr, in dem noch ein paar Ripley-Fädchen hingen, die jetzt aber weiß und tot waren.

»Flolen wir ihn uns?«

»Um Flimmels willen: nein«, erwiderte Kurtz. »Gott behüte! Ich glaube, der Zeitpunkt ist gekommen - und leider kommt er bei fast jedem Menschen einmal -, da wir vom Pfade weichen müssen, Bursche. Wir gesellen uns zu den Bäumen. Wir schaun, wer dableibt und wer wiederkommt, wenn denn überhaupt jemand kommt. Wir warten zehn Minuten lang ab, was meinen Sie? Zehn Minuten dürften mehr als genug sein.«

Plötzlich erfüllten blödsinnige, aber deutlich verständliche Worte Owen Underhills Kopf: Scooby! Scooby-doo! Wir haben jetzt was zu tun!

Das Gewehr hob sich. Er trug nichts dazu bei, aber als ihn die Kraft wieder verließ, die das Gewehr anhob, konnte Owen zügig einspringen. Er schaltete auf Einzelfeuer, zielte und drückte zweimal ab. Die erste Kugel ging daneben, schlug vor dem Wieselwesen auf dem Beton auf und sirrte als Querschläger weiter. Betonbröckchen flogen umher. Das Ding wich zurück, drehte sich um, sah ihn und bleckte seinen Mund voller Zähne.

»So ist's schön«, sagte Owen. »Und jetzt sag: Cheese.«

Die zweite Kugel durchschlug das humorlose Grinsen des Wieselwesens. Es wurde nach hinten gestoßen, landete an der Mauer des Schachthauses und sank dann zu Boden. Doch obwohl Owen ihm den primitiven Kopf weggepustet hatte, blieben seine Instinkte intakt. Es kroch wieder vor. Owen zielte, und als er das Wesen im Visier hatte, dachte er an die Rape-Ioews, an Dick und Irene Rapeloew. Nette Leute. Gute Nachbarn. Wenn man mal eine Tasse Zucker brauchte oder eine Tüte Milch (oder jemanden, bei dem man sich ausweinen konnte), dann konnte man immer nach nebenan gehen und bekam prompt, was man wollte. Sie sagen, es war ein Schlag!, hatte Mr. Rapeloew gerufen, aber Owen hatte Storch verstanden. Kinder verstanden immer alles falsch.

Dieser Schuss war jetzt also für die Rapeloews. Und für das Kind, das auch später noch alles falsch verstanden hatte.

Owen feuerte ein drittes Mal. Diesmal traf die Kugel das Wiesel in der Mitte und riss es entzwei. Die Fetzen zuckten ... und zuckten ... und lagen dann still da.

Als das erledigt war, schwenkte Owen das Gewehr herum. Diesmal richtete er die Mündung mitten auf Gary Jones' Stirn.

Jonesy sah ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. Owen war schon müde, todmüde, aber dieser Mann schien selbst noch über diesen Punkt hinaus zu sein. Jonesy hob seine leeren Hände.

»Sie haben zwar keinen Grund, mir das zu glauben«, sagte er, »aber Mr. Gray ist tot. Ich habe ihm die Kehle aufgeschlitzt, während ihm Henry ein Kissen aufs Gesicht gedrückt hat - es war genau wie in Der Pate.«

»Tatsächlich«, sagte Owen mit vollkommen tonloser Stimme. »Und wo genau haben Sie diese Hinrichtung durchgeführt?«

»In einer rein geistigen Version des Allgemeinkrankenhauses von Boston«, sagte Jonesy. Dann lachte er derart freudlos auf, wie Owen das noch nie gehört hatte. »Wo Hirsche durch die Flure wandeln und im Fernsehen immer nur ein alter Film läuft, Mitgefühl mit dem Teufel.«

Da zuckte Owen leicht zusammen.

»Erschießen Sie mich, wenn Sie müssen, Soldat. Ich habe die Welt gerettet - mit ein klein wenig Hilfe von Ihnen im rechten Moment, das gebe ich gerne zu. Da können Sie mich eigentlich auch gleich auf die übliche Weise für diesen Dienst belohnen. Und dann hat mir das Schwein auch noch die Hüfte wieder gebrochen. Ein kleines Abschiedsgeschenk von dem Männchen, das es nie gegeben hat. Der Schmerz ist...« Jonesy biss die Zähne zusammen. »... schier unerträglich.«

Owen hielt die Waffe noch für einen Moment auf ihn gerichtet und ließ sie dann sinken. »Damit müssen Sie leben«, sagte er.

Jonesy sank rückwärts auf die Ellenbogen, stöhnte und verlagerte dann sein Gewicht, so gut er konnte, auf seine unverletzte Seite. »Duddits ist tot. Er war mehr wert als wir beide zusammen - und jetzt ist er tot.« Er hielt sich für einen Moment eine Hand vor die Augen und ließ den Arm dann wieder sinken. »Mann ist das alles ein Kackorama. Das hätte Biber jetzt gesagt: ein Rundum-Kackorama.«

Owen hatte keine Ahnung, worüber der Mann da redete; wahrscheinlich stand er unter Schock. »Duddits mag ja tot sein, aber Henry ist noch am Leben. Wir werden verfolgt, Jonesy. Von üblen Burschen. Hören Sie die? Wissen Sie, wo die gerade sind?«

Henry lag auf dem kalten, mit Laub übersäten Boden und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, mir sind nur die üblichen fünf Sinne geblieben. Die ASW ist futsch. Das Danaergeschenk galt nur auf Abruf.« Er lachte. »Der Spruch könnte mich meine Stelle kosten. Wollen Sie mich auch bestimmt nicht erschießen?«

Owen achtete nicht auf ihn. Kurtz war hierher unterwegs; das war das Problem, dem er sich jetzt stellen musste. Er hatte ihren Wagen nicht gehört, aber das musste nichts bedeuten. Es schneite so heftig, dass nur wirklich laute Geräusche weit zu hören waren. Schüsse zum Beispiel.

»Ich muss wieder zurück zur Straße«, sagte er. »Sie bleiben hier.«

»Habe ich die Wahl?«, fragte Jonesy und schloss die Augen. »Mann, ich wünschte, ich könnte zurück in mein nettes, warmes Büro. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber jetzt ist es so weit.«

Owen drehte sich um und ging die Treppe hinab. Sie war glatt, aber er konnte sich auf den Beinen halten. Er schaute zum Wald hinüber, aber nicht sehr aufmerksam. Wenn ihm Kurtz und Freddy irgendwo auf dem Weg zum Hummer auflauerten, bezweifelte er, dass er sie noch rechtzeitig erblicken würde. Vielleicht entdeckte er ihre Spuren, aber dann wäre er ihnen selbst so nah, dass sie das Letzte wären, was er sehen würde. Er konnte nur darauf hoffen, dass sie noch nicht eingetroffen waren, etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Er musste aufsein Glück vertrauen, und wieso denn auch nicht? Er hatte schon oft in der Klemme gesteckt, und sein Glück hatte ihn immer gerettet. Vielleicht würde es jetzt wi-Die erste Kugel traf ihn in den Bauch, stieß ihn nach hinten und riss glockenförmig den Rücken seines Parkas auf. Er kämpfte darum, stehen zu bleiben und das MP5 nicht loszulassen. Er spürte den Schmerz nicht, hatte eher das Gefühl, als hätte er beim Boxen einen mächtigen Schlag in die Magenkuhle abbekommen. Die zweite Kugel streifte ihn seitlich am Kopf und hinterließ ein Brennen, als wäre Alkohol beim Einreihen in eine offene Wunde gelangt. Der dritte Schuss traf ihn oben rechts in der Brust, und jetzt war Schicht; er stürzte hin und verlor das Gewehr.

Was hatte Jonesy noch gesagt? Dass er die Welt gerettet habe und nun auf die übliche Weise dafür belohnt würde. Und so schlecht war es doch auch gar nicht. Jesus hatte sechs Stunden dafür gebraucht, sie hatten ein Witzschild über Seinem Kopf angebracht, und zur Cocktailstunde hätten sie Ihm bestimmt auch noch ein Glas Essig mit einem Schuss Wasser spendiert.

Er lag zur Hälfte auf dem verschneiten Pfad und war sich undeutlich bewusst, dass da ein Schrei ertönte, der nicht von ihm selber kam. Es klang nach einem ziemlich großen und ziemlich genervten Eichelhäher.

Das ist ein Adler, dachte Owen.

Es gelang ihm einzuatmen, und obwohl er dann beim Ausatmen mehr Blut als Luft von sich gab, richtete er sich auf den Ellenbogen auf. Er sah, wie sich zwei Gestalten, die aus dem Birken- und Kiefernwald kamen, geduckt näherten, wie sie militärisch korrekt vorrückten. Einer der Männer war gedrungen und breitschultrig, der andere schlank, grauhaarig und eindeutig guter Laune. Johnson und Kurtz. Die Bulldogge und der Windhund. Sein Glück hatte ihn im Stich gelassen. Irgendwann war es immer so weit.

Kurtz kniete sich mit funkelndem Blick neben ihn. In einer Hand hielt er ein dreieckiges Stück Zeitungspapier. Es war von der langen Reise in Kurtz1 Gesäßtasche verknickt und verbogen, aber doch noch eindeutig erkennbar: Es war ein Papierhut. Eine Narrenkappe. »Pech gehabt, Bursche.«

Owen nickte. Das stimmte. Mordspech. »Wie ich sehe, hatten Sie noch Zeit, etwas für mich zu basteln.«

»Ja. Haben Sie denn wenigstens Ihr Hauptziel erreicht?« Kurtz wies mit einer Kinnbewegung zum Schachthaus hinüber.

»Hab ihn erledigt«, bekam Owen heraus. Sein Mund war voller Blut. Er spuckte es aus, versuchte wieder einzuatmen und hörte die Luft stattdessen durch ein ganz neues Loch pfeifen.

»Na dann«, sagte Kurtz gutmütig, »Ende gut, alles gut, meinen Sie nicht auch?« Er setzte Owen vorsichtig den Papierhut auf. Das Zeitungspapier sog sich sofort mit Blut voll und färbte den UFO-Artikel rot.

Von irgendwo draußen über dem See erscholl wieder ein Schrei, vielleicht von einer der Inseln, die eigentlich Hügel waren und nun aus einer vorsätzlich überschwemmten Landschaft ragten.

»Das ist ein Adler«, sagte Kurtz und tätschelte Owen die Schulter. »Schätzen Sie sich glücklich, Bursche. Gott hat Ihnen unseren Wappenvogel geschickt, auf dass er Ihnen -«

Kurtz' Kopf platzte in einem Nebel aus Blut, Gehirnmasse und Knochensplittern. Owen sah noch einen letzten Ausdruck in den blauen Augen mit den weißen Wimpern: absolute Fassungslosigkeit. Für einen Moment blieb Kurtz noch auf den Knien hocken, dann sackte er bäuchlings um. Hinter ihm stand Freddy, das Sturmgewehr immer noch im Anschlag, aus dessen Mündung es rauchte.

Freddy, versuchte Owen zu sagen. Er bekam kein Wort heraus, aber Freddy las es ihm wohl von den Lippen ab. Er nickte.

»Ich wollte es nicht, aber sonst hätte er das mit mir gemacht. Um das zu wissen, musste ich nicht groß seine Gedanken lesen. Nicht nach all den Jahren.«

Machen Sie ein Ende, versuchte Owen zu sagen. Freddy nickte wieder. Vielleicht war bei Freddy doch noch ein bisschen was von dieser verdammten Telepathie übrig.

Owen schwanden schon die Sinne. Gute Nacht, ihr süßen Ladies, gute Nacht, David, gute Nacht, Chet. Gute Nacht, süßer Prinz. Er legte sich in den Schnee zurück, und es fühlte sich an, als würde er sich in dem allerweichesten Daunenbett ausstrecken. Irgendwo leise in der Ferne hörte er wieder den Adler rufen. Sie waren in sein Revier eingedrungen, hatten im verschneiten Spätherbst seine Ruhe gestört, aber bald waren sie ja wieder fort. Dann hatte der Adler den See wieder ganz für sich allein.

Wir waren Helden, dachte Owen. Das steht mal fest. Wir waren H-

Den letzten Schuss hörte er nicht mehr.

30

Es waren weitere Schüsse gefallen; jetzt war es wieder still. Henry saß neben seinem toten Freund auf der Rückbank des Humvee und überlegte, was jetzt zu tun war. Die Chancen, dass sie sich alle gegenseitig umgebracht hatten, standen schlecht. Und die Chancen, dass die Guten - halt stopp: der Gute - die Bösen umgelegt hatte, standen wohl noch schlechter.

Nach diesem logischen Schluss bestand sein erster Impuls darin, den Humvee auf schnellstem Wege zu verlassen und sich im Wald zu verstecken. Dann schaute er in den Schneefall hinaus (Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder Schnee sehen will, dachte er) und tat die Idee ab. Wenn Kurtz oder einer seiner Begleiter in der nächsten halben Stunde hier vorbeikam, wären Henrys Spuren immer noch sichtbar. Sie würden seiner Spur folgen und ihn letztlich abknallen wie einen tollwütigen Hund. Oder wie ein Wiesel.

Dann besorg dir eine Waffe. Leg sie um, ehe sie dich umlegen.

Das war schon eine bessere Idee. Er war kein Wyatt Earp, konnte aber schießen. Auf Menschen zu schießen war etwas ganz anderes, als auf Hirsche zu schießen, und man musste kein Klapsdoktor sein, um das zu wissen, aber bei klarer Sicht, das glaubte er, würde er diese Typen umnieten, ohne groß zu zögern.

Er griff schon nach dem Türgriff, als er einen verblüfften Fluch, ein dumpfes Krachen und dann wieder einen Schuss hörte. Das war jetzt sehr nah. Henry nahm an, dass da jemand im Schnee ausgerutscht war und sich dann, als er auf dem Hintern landete, aus seiner Waffe ein Schuss gelöst hatte. Hatte sich das Schwein gerade selbst erschossen? War das zu viel gehofft? Würde das nicht einfach -

Aber nein. Zu früh gefreut. Henry hörte ein leises Grunzen, als sich der Mann, der hingefallen war, wieder erhob und weiterging. Henry blieb keine Wahl. Er legte sich wieder auf die Rückbank, drapierte wieder (so gut es ging) Duddits' Arme um sich und stellte sich tot. Er glaubte eigentlich nicht, dass diese Finte noch einmal ziehen würde. Die Bösen waren auf dem Hinweg - offensichtlich, denn er war ja noch am Leben - einfach weitergegangen, aber da hatten sie es wahrscheinlich auch mächtig eilig gehabt. Jetzt aber würden sie sich wohl kaum von ein paar Einschüssen, Glassplittern und dem Blut foppen lassen, das der arme alte Duddits in seinem Todeskampf vergossen hatte.

Henry hörte leise Schritte im Schnee. Den Geräuschen nach war es nur einer. Wahrscheinlich der berüchtigte Kurtz. Der letzte Überlebende. Die Dunkelheit rückte näher. Tod am Nachmittag. Das war jetzt nicht mehr seine alte Freundin -jetzt stellte er sich ja nur tot -, aber sie rückte trotzdem näher. Henry machte die Augen zu ... wartete ab ...

Die Schritte passierten den Humvee, ohne langsamer zu werden.

Freddy Johnsons strategische Ziele waren vorläufig einfach nur praktischer Natur und kurzfristig zu erreichen: Er wollte den verdammten Hummer wenden, ohne sich dabei festzufahren. Wenn ihm das gelungen war, wollte er die Lücke in der East Street (in welcher der Subaru, den Owen gejagt hatte, verendet war) überqueren, ohne im Straßengraben zu landen. Wenn er dann wieder auf der Zufahrtsstraße war, konnte er weitersehen. Als er die Fahrertür des Hummer öffnete und sich ans Steuer setzte, flackerte kurz bei ihm die Idee auf, dann auf dem Interstate Highway 90 weiterzufahren. Auf dem kam er in die Weiten des Westens, und dort gab es viele mögliche Verstecke.

Der Gestank von abgestandenen Fürzen und kaltem Äthylalkohol traf ihn wie ein Schlag, als er die Tür schloss. Pearly! Der gottverdammte Pearly! Den Spinner hatte er in der ganzen Aufregung völlig vergessen.

Freddy wandte sich ihm zu und hob das Sturmgewehr ... aber Pearly war immer noch nicht wieder bei sich. Es war nicht nötig, ihn zu erschießen. Er konnte den alten Pearly auch einfach in den Schnee kippen. Mit etwas Glück würde Perlmutter erfrieren, ohne noch einmal aufzuwachen. Und mit ihm sein kleines Schoßtier -

Doch Pearly schlief nicht. Er war auch nicht bewusstlos. Er war nicht einmal in ein Koma gefallen. Pearly war bereits tot. Und er war ... irgendwie geschrumpft. Wirkte fast mumifiziert. Seine Wangen waren eingefallen und runzelig. Auch seine Augenhöhlen wirkten eingefallen, als wären hinter dem dünnen Schleier der Lider die Augäpfel in den Schädel hineingeplumpst. Und er saß da eigenartig an die Beifahrertür gelehnt, hatte ein Bein gehoben und fast über das andere gelegt. Er sah aus, als wäre er beim allzeit beliebten Arschbackentango verreckt. Seine Arbeitshose war jetzt dunkel, und der Sitz unter ihm war feucht. Die Ausläufer des Flecks, der sich auf Freddy zu ausbreitete, waren rot.

»Was -«

Von der Rückbank erhob sich ein ohrenbetäubendes Kreischen; es war, als würde eine kräftige Stereoanlage mit einem Mal voll aufgedreht. Freddy erhaschte im rechten Augenwinkel eine Bewegung. Da tauchte ein unglaubliches Wesen im Rückspiegel auf. Es riss Freddy ein Ohr ab und peitschte dann auf seine Wange ein, drang von dort in seinen Mund vor und verbiss sich in das Zahnfleisch seines Oberkiefers. Und dann riss Archie Perlmutters Kackwiesel Freddys Wange auseinander, wie ein hungriger Mensch den Schenkel von einem Brathähnchen brach.

Freddy kreischte und feuerte versehentlich auf die Beifahrertür des Flummer. Er hob einen Arm und wollte das Vieh wegstoßen, aber seine Finger rutschten an der glatten, neugeborenen Flaut ab. Das Wiesel flitzte wieder auf die Rückbank, riss den Kopf zurück und schluckte, was er da abgerissen hatte, wie ein Papagei, der ein Stück rohes Fleisch bekommen hatte. Freddy tastete nach seinem Türgriff, doch ehe er die Tür öffnen konnte, stürzte sich das Vieh wieder auf ihn und schlug diesmal seine Zähne in Freddys Stiernacken. Als es Freddy die Drosselvene zerbiss, spritzte Blut in hohem Bogen an die Decke und tropfte dann als roter Regen wieder herab.

Freddys Füße zitterten und steppten hektisch auf dem breiten Bremspedal des Flummer. Das Wesen zog sich wieder auf die Rückbank zurück, wie um nachzudenken, und glitt Freddy dann wie eine Schlange über die Schulter. Es fiel ihm in den Schoß.

Freddy schrie noch einmal, als ihm das Wiesel den Schwanz abbiss ... und dann schrie er nicht mehr.

Henry hatte sich auf der Rückbank umgedreht und sah zu, wie der Mann am Steuer des hinter ihm abgestellten Wagens hin und her zuckte. Henry war froh, dass es so heftig schneite und ihm das Blut, das auf die Windschutzscheibe des anderen Humvee spritzte, größtenteils die Sicht nahm.

Er sah auch so wirklich schon genug.

Schließlich bewegte sich die Gestalt am Steuer nicht mehr und sackte seitlich weg. Ein gedrungener Umriss erhob sich über ihn, schien da als der Sieger zu hocken. Henry wusste, was es war; er hatte eines dieser Wesen auf Jonesys Bett in ihrer Hütte gesehen. Er sah, dass bei dem Humvee, der sie verfolgt hatte, ein Fenster eingeschlagen war. Er bezweifelte, dass dieses Wesen sonderlich intelligent war, aber wie viel Grips brauchte man schon, um frische Luft zu bemerken?

Die Kälte bekommt ihnen nicht. Das bringt sie um.

Ja, das stimmte. Aber Henry hatte nicht vor, es dabei zu belassen, und das nicht nur, weil das Trinkwasserreservoir so nah war, dass er hören konnte, wie das Wasser gegen die Felsen schwappte. Es war da noch eine exorbitante Rechnung offen, und er allein war hier und konnte diese Rechnung präsentieren. Rache ist Blutwurst, wie Jonesy oft gesagt hatte, und jetzt war der Moment der Rache gekommen.

Er beugte sich über die Vordersitze. Dort lagen keine Waffen. Er öffnete das Handschuhfach, in dem fand sich nur ein Wirrwarr aus Tankquittungen und Rechnungen und ein zerknülltes Taschenbuch mit dem Titel So werden Sie selbst Ihr bester Freund.

Henry machte die Tür auf und stieg hinaus in den Schnee ... und rutschte auf der Stelle aus. Er plumpste auf den Hintern und stieß sich an dem hoch angebrachten Spritzschutz des Wagens den Rücken. Gekörnte Scheiße. Er stand auf, rutschte gleich wieder weg und hielt sich an der offenen Tür fest. Jetzt gelang es ihm, stehen zu bleiben. Er schlurfte vorsichtig zum Heck des Wagens und ließ dabei den anderen Humvee nicht aus den Augen, der hinter ihrem stand. Er sah immer noch das Wesen darin, wie es um sich schlug und hin und her rutschte und den Fahrer verspeiste.

»Schön dableiben, mein Lieber«, sagte Henry und fing an zu lachen. Sein Gelächter klang vollkommen irre, aber das bremste ihn nicht. »Leg ein paar Eier. Ich bin ja schließlich der Eiermann. Der freundliche Eiermann in Ihrer Nachbarschaft. Oder wie wäre es mit einem Exemplar von So werden Sie selbst Ihr bester Freund? Ich habe eins dabei.«

Jetzt lachte er so, dass er kaum noch ein Wort rausbekam. Er glitt durch den Schnee wie ein kleiner Junge, der nach der Schule zum Schlittenfahren loszieht. Er hielt sich, so gut er konnte, seitlich am Hummer fest, nur dass da nicht mehr viel zum Festhalten war, wenn man sich erst einmal hinter den Türen aufhielt. Er sah zu, wie sich das Ding bewegte ... und dann war es plötzlich verschwunden. Oh-oh. Wo war es hin? In Jonesys blöden Filmen würde jetzt die unheimliche Musik einsetzen, dachte Henry. Angriff der Killer-Kackwiesel. Darüber musste er wieder lachen.

Jetzt stand er an der Rückseite des Wagens. Da war ein Knopf, mit dem sich die Heckklappe öffnen ließ ... natürlich nur, wenn sie nicht verschlossen war. War sie aber wahrscheinlich nicht. War Owen nicht hinten am Wagen gewesen? Henry wusste es nicht mehr. Er konnte sich ums Verrek-ken nicht erinnern. Er war eindeutig nicht sein eigener bester Freund.

Immer noch gackernd und mit Tränen in den Augen, drückte er auf den Knopf, und die Heckklappe hob sich. Henry öffnete sie ganz und schaute hinein. Waffen, Gott sei Dank. Armeegewehre wie das, das Owen bei seiner letzten Patrouille dabeihatte. Henry nahm sich eines und betrachtete es. Da war die Sicherung, aha, da ließ es sich auf Einzelfeuer oder Feuerstoß stellen, soso, und auf dem Magazin stand U. S. ARMYKAL. 5.56, 12.0 SCHUSS.

»Das ist ja so einfach, das würde sogar ein Byrum kapieren«, sagte Henry und brach wieder in Gelächter aus. Er bückte sich, hielt sich vor Lachen den Bauch, trippelte im Schneematsch hin und her und gab sich Mühe, nicht auszurutschen. Die Beine taten ihm weh, er hatte Rückenschmerzen, am meisten schmerzte ihn das Herz ... und trotz allem lachte er. Er war der Eiermann, er war der Eiermann, und er lachte sich scheckig.

Dann ging er mit der Waffe im Anschlag zur Fahrerseite von Kurtz' Humvee (er hoffte inständig, dass er den Sicherungshebel richtig herum betätigt hatte), und in seinem Kopf lief jetzt gruselige Musik, aber er lachte immer noch. Da war der Tankdeckel, kein Zweifel, aber wo war Gamera, der Schrecken aus den Weiten des Alls?

Als hätte es diesen Gedanken gehört - und das hatte es, ging Henry auf, wohl tatsächlich -, rannte das Wiesel mit dem Kopf gegen das Heckfenster an. Glücklicherweise gegen das noch intakte. An seinem Kopf klebten Blut, Haare und Fleischfasern. Seine abscheulichen traubenförmigen Augen starrten Henry an. Wusste es, dass es da einen Ausgang, eine Notluke gab? Vielleicht schon. Und vielleicht verstand es auch, dass ihm ein baldiger Tod bevorstand, wenn es den Wagen verließ.

Es bleckte die Zähne.

Henry Devlin, der einmal wegen seines New-York-Times-Artikels Dem Hass ein Ende setzen von der Psychiatrischen Vereinigung der USA als besonders fürsorglich ausgezeichnet worden war, bleckte im Gegenzug nun ebenfalls die Zähne. Das tat gut. Dann zeigte er dem Wesen den Mittelfinger. Für Biber. Und für Pete. Auch das war ein schönes Gefühl.

Als er das Gewehr hob, huschte das Wiesel - das zwar vielleicht dumm war, so dumm aber nun auch wieder nicht -außer Sicht. Das war schon in Ordnung; Henry hatte nie vorgehabt, es durch die Fensterscheibe zu erschießen. Und es gefiel ihm, dass das Vieh jetzt dort auf dem Boden hockte.

Rutsch noch ein Stückchen näher an den Tank ran, Schatz, dachte er. Henry schaltete auf automatisches Feuer und schickte eine ausgiebige Salve in den Benzintank.

Der Krach war ohrenbetäubend. Ein schartiges Loch entstand, wo einmal der Tankstutzen gewesen war, aber sonst tat sich einen Moment lang nichts. So machen die das doch in den Hollywoodfilmen immer, dachte Henry, und dann hörte er ein leises, heiseres Flüstern, das schnell zu einem rauen Zischen anwuchs. Er ging zwei Schritte zurück, rutschte wieder aus und plumpste auf den Hintern. Dieser Sturz rettete ihm sehr wahrscheinlich das Augenlicht und vielleicht sogar das Leben. Das Heck von Kurtz' Humvee explodierte nur Sekunden später, und große gelbe Flammen schlugen unter dem Wagen hervor. Die Hinterräder hoben sich aus dem Schnee. Glassplitter flogen durch den fallenden Schnee, glücklicherweise über Henrys Kopf hinweg. Dann kam die Hitze, und er kroch schnell weg, zog das Gewehr am Riemen hinter sich her und lachte wie ein Besengter. Es folgte eine zweite Explosion, und dann war die Luft erfüllt von wirbelnden, glühenden Schrapnellen.

Henry erhob sich, indem er sich langsam an den Ästen eines Baums aufrichtete, als würde er eine Leiter hochsteigen. Dann stand er keuchend und lachend da; die Beine taten ihm weh, der Rücken tat ihm weh, und im Nacken hatte er ein eigenartiges Gefühl, als hätte er sich dort etwas gerissen. Die hintere Hälfte von Kurtz' Humvee war in Flammen gehüllt. Er hörte das Ding dort wütend kreischen.

Er ging in weitem Bogen zur Beifahrerseite des lodernden Wagens und richtete das Gewehr auf das zerplatzte Fenster. So stand er für einen Moment da. Dann runzelte er die Stirn, und schließlich ging ihm auf, warum ihm das so blöde vorkam: Jetzt waren ja, bis auf die Windschutzscheibe, sämtliche Fenster des Humvee geplatzt. Er brach wieder in Gelächter aus. Was für ein Depp er doch war! Was für ein absoluter Blödhammel!

In der Flammenhölle des Humvee sah er immer noch das Wiesel wie betrunken herumtorkeln. Wie viele Schuss hatte er noch im Magazin, sollte das Scheißvieh tatsächlich herauskommen? Fünfzig? Zwanzig? Fünf? Wie viele Patronen es auch waren, sie mussten reichen. Er würde nicht risikie-ren, zu Owens Humvee zu gehen und ein zweites Magazin zu holen.

Aber das Vieh kam nicht heraus.

Henry hielt noch fünf Minuten Wache und dehnte es dann auf zehn Minuten aus. Es schneite, und der Humvee brannte und schickte schwarzen Rauch zum weißen Himmel hoch. Henry stand da und dachte an den Festumzug bei den Derry Days, wie Gary U.S. Bonds New Orleans sang, und da kam der große Mann auf Stelzen, da kam der legendäre Cowboy, und wie aufgeregt Duddits gewesen war, er hatte wirklich auf der Stelle gehüpft. Er dachte an Pete, wie er immer am Schultor auf sie gewartet und dabei mit den Händen vorm Mund so getan hatte, als würde er rauchen. Pete, der unbedingt Kapitän der ersten bemannten Marsexpedition der NASA hatte werden wollen. Er dachte an Biber und seine Motorradjacke, Biber mit seinen ewigen Zahnstochern, Biber, wie er Duddits Guten Abend, gute Nacht vorgesungen hatte, Biber, wie er Jonesy bei dessen Hochzeit umarmt und ihm gesagt hatte, er müsse jetzt für sie alle glücklich sein.

Jonesy.

Als sich Henry vollkommen sicher war, dass das Wiesel tot - verbrannt - war, ging er nachsehen, ob Jonesy noch am Leben war. Er setzte einerseits keine großen Hoffnungen darauf ... stellte andererseits aber fest, dass er die Hoffnung auch noch nicht ganz aufgegeben hatte.

Nur noch der Schmerz verband Jonesy mit der Welt, und erst dachte er, der abgehärmte, rußwangige Mann, der da vor ihm kniete, sei ein Traum, ein Hirngespinst. Denn dieser Mann sah aus wie Henry.

»Jonesy? Hey, Jonesy, jemand da?« Henry schnippte vor Jonesys Augen mit den Fingern. »Erde ruft Jonesy.«

»Henry? Bist du das? Bist du es wirklich?«

»Ich bin es«, sagte Henry. Er schaute kurz zu dem Hund hinüber, der immer noch in der Lücke über Schacht zwölf hing, und sah dann wieder Jonesy an. Mit unendlicher Zärtlichkeit strich er Jonesy das verschwitzte Haar aus der Stirn.

»Mann, du hast dir aber echt ...«, setzte Jonesy an, und dann verschwamm ihm alles vor Augen. Er schloss sie, konzentrierte sich mit aller Mühe und schlug sie dann wieder auf. »... hast dir echt Zeit gelassen beim Einkäufen. Hast du an das Brot gedacht?«

»Ja, aber die Würstchen habe ich unterwegs verloren.«

»So eine Scheiße.« Jonesy atmete tief ein. »Dann gehe ich das nächste Mal selber.«

»Knutsch mir die Kimme, Alter«, sagte Henry, und Jonesy lächelte, und dann wurde um ihn her alles schwarz.

Загрузка...