Missus Sharples erwachte, als die Glocken fünf Uhr schlugen, und gab ein Geräusch von sich, das wie Blort! klang. Ihre Augen füllten sich mit Gift, als sie Dodger gewahr wurden, und sofort hielt sie im Zimmer Ausschau nach Anzeichen von Kriminalität.
»Also gut, du junger Schlingel, du hast eine angenehme warme Nacht in einem christlichen Schlafzimmer verbracht, wie es dir versprochen war – vermutlich zum ersten Mal in deinem Leben. Geh und sei gewiss, dass ich wie ein Adler ein Auge auf dich habe, bis du durch die Hintertür verschwunden bist, lass dir das gegart sein.«
Gemein und undankbar waren diese Worte, o ja, und Missus Sharples sprach sie auch noch in einem gemeinen Ton aus, als sie Dodger die dunkle Hintertreppe nach unten und in die Küche brachte, wo sie die Hintertür mit solcher Wucht öffnete, dass diese von der Wand abprallte und wieder zufiel, sehr zur Erheiterung der Köchin, die das Theater beobachtete.
Die Tür hing vorwurfsvoll in den Angeln, als Dodger sich an Missus Sharples wandte. »Sie haben Mister Charlie gehört, Missus, er ist ein sehr wichtiger Mann und gab mir einen Auftrag, und so habe ich jetzt eine Mission, und wer eine Mission hat, bekommt ein ordentliches Frühstück, bevor man ihn nach draußen in die Kälte schickt. Und ich denke, Mister Charlie wäre nicht begeistert, wenn ich ihm von dem Mangel an Gastfreundschaft berichte, den ich hier erfahren habe, Missus Schnappig.«
Er veränderte den Namen der Haushälterin ohne einen bewussten Gedanken, war mit dem Ergebnis aber recht zufrieden. Missus Sharples schien die Verballhornung gar nicht zu bemerken, im Gegensatz zur Köchin, deren Lachen eine gehörige Portion Spott enthielt. Mit Büchern kannte sich Dodger nicht besonders gut aus; andernfalls hätte er das Gesicht der Köchin vielleicht mit einem leicht zu lesenden Buch verglichen. Es war erstaunlich, wie viel man einem Blick, einem kurzen Schnauben oder sogar einem Furz an der richtigen Stelle in einem Gespräch entnehmen konnte. Hier gab es die übliche Sprache und dort die andere, die aus Betonungen, kurzen Blicken und winzigen Bewegungen im Gesicht bestand, aus kleinen Angewohnheiten, von denen der Betreffende nichts wusste. Wer sein Gesicht für eine Maske hielt, die nichts verriet, begriff nicht, dass er seine geheimsten Gedanken für alle jene zur Schau stellte, die die Zeichen zu erkennen verstanden. Und das Zeichen, das gerade wie von einem Engel gehalten mitten in der Luft schwebte, verkündete, dass die Köchin die Haushälterin nicht mochte und sich sogar in Dodgers Beisein über sie lustig machte.
Also veränderte Dodger vorsichtig das eigene Gesicht, damit er etwas müder, schüchterner und auch bittender aussah. Sofort winkte ihn die Köchin zu sich und sagte leise, aber laut genug, damit auch die Haushälterin es hörte: »Also gut, Junge, ich habe Porridge auf dem Herd, davon kannst du was haben. Und Hammelfleisch, das nicht mehr ganz frisch ist, aber ich wette, du hast schon Schlimmeres gegessen, oder?«
Dodger brach in Tränen aus. Es waren gute Tränen – gewissermaßen Tränen mit Leib und Seele –, und dann sank er auf die Knie und faltete die Hände und sagte mit tiefer Aufrichtigkeit: »Gott segne Sie, Missus, Gott segne Sie.«
Diese schamlose Vorstellung brachte ihm einen großen Teller Porridge mit einer durchaus angemessenen Menge an Zucker ein. Das Hammelfleisch hatte noch nicht den Zustand erreicht, in dem es von allein gehen konnte, und so nahm er es dankbar entgegen – immerhin ließ es sich für einen Eintopf verwenden. Es war in Zeitungspapier eingehüllt, und er steckte es rasch in die Tasche, aus Furcht, dass es plötzlich verschwand. Was den Porridge betraf … Er schwang den Löffel, bis nichts mehr übrig war, was bei der Köchin ganz offensichtlich Anklang fand, einer Frau, die überall dort wabbelte, wo etwas wabbeln konnte, das Kinn eingeschlossen.
Dodger hatte sie als Verbündete verzeichnet, zumindest gegen die Haushälterin, die ihn noch immer unheilvoll anstarrte, doch dann ergriff sie plötzlich seine Hand und rief lauter als nötig: »Komm mit mir in die Speisekammer, dann sehen wir, wie viel du gestohlen hast, Bürschchen!«
Dodger versuchte sich aus ihrem Griff zu lösen, aber die Köchin war, wie bereits erwähnt, recht kräftig gebaut, was bei Köchen oft der Fall ist. Als er sich noch hin und her wand, beugte sie sich zu ihm hinüber und flüsterte: »Wehr dich nicht! Bist du etwa ein verdammter Narr? Halt den Mund und tu, was ich dir sage!« Sie öffnete eine Tür und zerrte ihn einige steinerne Stufen hinab in einen Raum, der nach Essig roch. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, entspannte sie sich ein wenig. »Die alte Schrulle von Haushälterin wird Stein und Bein schwören, dass du während der Nacht das eine oder andere gestohlen hast, und du kannst sicher sein, dass sie besagte Dinge selbst hat verschwinden lassen. Wodurch eventuelle Freundschaften, die du hier vielleicht geschlossen hast, wie Morgentau in der Sonne verschwänden. Die hiesige Familie ist recht anständig und hat immer ein offenes Ohr für die traurige Geschichte eines vom Pech verfolgten Handwerkers oder einer gefallenen Frau, die gern wieder aufstehen täte. Ich habe sie kommen und gehen gesehen. Ziemlich viele von ihnen waren keine Schwindler, das kann ich dir flüstern. Ich weiß Bescheid.«
So höflich wie möglich versuchte Dodger die Hände der Köchin von seiner Person zu entfernen. Sie schien ihn gründlicher abzuklopfen, als unbedingt nötig war. Ein gewisser Enthusiasmus kam darin zum Ausdruck, begleitet von einem Glanz in den Augen.
Sie bemerkte seinen Gesichtsausdruck und sagte: »Ich bin nicht immer die dicke alte Schachtel von heute gewesen. Einmal bin ich gefallen, vom Boden abgeprallt und wieder auf die Beine gekommen. So muss man das sehen, Junge. Jeder kann hochkommen, genug Hefe vorausgesetzt. Ich war nicht immer so, o nein. Du wärst erstaunt und wahrscheinlich auch belustigt, in ein, zwei Fällen vielleicht sogar verlegen.«
»Ja, Missus«, sagte Dodger. »Und würden Sie bitte damit aufhören, mich abzuklopfen!«
Die Köchin lachte, was ihr Mehrfachkinn in Bewegung versetzte, und dann sagte sie erheblich ernster: »Vom Küchenmädchen habe ich gehört, was man sich über dich erzählt. Angeblich hast du letzte Nacht ein süßes Mädchen vor Schlägern gerettet, und ich weiß – ich weiß es einfach –, dass man dir irgendetwas vorwerfen wird, wenn ich dir nicht zeige, wo’s langgeht. Also, Bürschchen, gib Tante Quickly alles, womit du dich aus dem Staub machen wolltest, und ich sorge dafür, dass es dorthin zurückkehrt, wohin es gehört. Ich mag diese Familie und möchte nicht, dass sie bestohlen wird, nicht einmal von einem so aufgeweckten Jungen wie dir. Wenn du also alle Sünden bekennst, so wird dir vergeben, und dann kannst du dieses Haus ohne einen Schandfleck verlassen, was ich gern auch von deinen anderen Flecken behaupten würde.« Sie rümpfte die Nase, als sie den Zustand seiner Hose begutachtete.
Dodger grinste, reichte ihr einen silbernen Löffel und sagte: »Ein Löffel – nur weil ich ihn in der Hand hielt, als Sie mich hier heruntergezogen haben«, sagte er. Dann holte er das Kartenspiel hervor. »Und dies, Missus, habe ich von Mister Dickens bekommen.«
Trotzdem klopfte ihn die Köchin noch einmal ab, wenn auch mit einem gutmütigen Lächeln, fand dabei sein Messer, den Schlagring und die Brechstange. Sie schenkte diesen Dingen demonstrativ keine Beachtung und forderte ihn auf, die Schuhe auszuziehen, woraufhin sie angesichts des Geruchs eine Grimasse schnitt und ihm zu verstehen gab, dass er die Schuhe schnell wieder anziehen solle. »Du hast doch nichts im Hintern, oder? Wärst nicht der Erste, der es auf diese Weise versuchen täte. Nein, ich werde nicht nachsehen, keine Sorge. Du hast mehr Fleisch auf den Rippen als die meisten anderen Jungen deiner Sorte, was bedeutet, dass du entweder sehr unschuldig oder sehr clever bist. Ich tippe auf Letzteres – es würde mich sehr überraschen, wenn Ersteres der Fall wäre. Als Nächstes wird Folgendes geschehen: Ich zerre dich die Treppe hoch und schimpfe dich als den Dreckskerl aus, der du bist, und zwar so laut, dass es die alte Schrulle nicht überhören kann. Ich werde rufen, dass ich dich gründlich durchsucht habe, trotz der Gefahr für meine Gesundheit, und dass ich dich mit völlig leeren Händen hinauswerfe. Anschließend versetze ich dir einen Tritt durch die Hintertür, damit alles echt aussieht, und dann setze ich meine Arbeit fort, die mir beim Gedanken daran, dass die alte Zicke vor Wut schäumt, viel mehr Spaß machen wird als vorher.« Sie maß Dodger mit einem langen Blick und sagte: »Du bist ein Tosher, nicht wahr, ein Dreckwühler?«
»Ja, Missus.«
»Viel Arbeit für wenig Geld, habe ich gehört.«
Man gebe so wenig wie möglich preis, dachte Dodger und erwiderte: »Oh, na ja, ich weiß nicht, Missus, ich komme irgendwie über die Runden.«
»Ach, lassen wir das Theater für die Leute, die Gefallen an so etwas finden tun! Hinaus mit dir, aber denk dran: Komm und besuch Missus Quickly, wenn du eine Freundin brauchst. Ich meine, was ich sage – du brauchst nur zu pfeifen, schon bin ich für dich da. Und wenn ich in schweren Zeiten an deine Tür klopfe, so lass sie nicht verschlossen.«
Draußen war die Sonne in der Mischung aus Rauch, Dunst und Nebel kaum zu erkennen, aber für einen wie Dodger bedeutete es helles Tageslicht. Gegen ein bisschen Sonnenschein gab es nichts einzuwenden, fand er, denn es half, die Kleidung zu trocknen, doch er liebte vor allem die Schatten, und wenn möglich die Kanalisation, und derzeit verlangte es ihn nach dem Trost der Dunkelheit.
Also hebelte er mit seiner Brechstange den nächsten Gullydeckel hoch, kletterte hinab und stand wenige Sekunden später auf einer Oberfläche, die eigentlich gar nicht so übel war. Das Unwetter der vergangenen Nacht war so freundlich gewesen, die Kanalisationstunnel in einen etwas erträglicheren Ort zu verwandeln. Natürlich waren hier unten andere Tosher unterwegs, aber Dodger hatte einen Riecher für Gold und Silber.
Solomon behauptete, sein Hund Onan besitze eine Spürnase für Schmuck. Dodger gestand ihm das gern zu, denn ihm tat der arme Hund leid, der manchmal ganz schön peinlich sein konnte. Doch aus irgendeinem Grund schien Onans spitze kleine Schnauze regelrecht aufzuglühen, wenn er Rubine roch. Manchmal nahm Dodger ihn mit in die Finsternis, und wenn Onan dann irgendwo im Dunkeln etwas von Wert entdeckte, bekam er dabei von Solomon zur Belohnung eine zusätzliche Portion Hühnergekröse.
Dodger bedauerte, dass ihn der Hund diesmal nicht begleitete, denn Onan hatte so gute Ohren, dass er einen plötzlichen Schauer meilenweit stromaufwärts hörte und mit einem Bellen darauf hinwies. Aber er begann seine Tour an der falschen Stelle und hatte keine Zeit, den Hund zu holen, was bedeutete, dass er allein zurechtkommen musste, und darauf verstand er sich gut. Wenn man gescheit und flink war wie Dodger, dann befand man sich schon wieder oben an der frischen Luft, wenn der erste Schwall Flutwasser kam.
Doch das Gewitter der vergangenen Nacht schien den Himmel geleert zu haben. An diesem Tag war es in dem Tunnel völlig ruhig. Es gab nur ein paar Pfützen hier und dort sowie ein kleines Rinnsal in der Mitte. Nach dem Unwetter roch es nach … nun, nach nassen toten Dingen, nach verfaulten Kartoffeln … und neuerdings auch nach Scheiße. Das ärgerte Dodger immer. Solomon hatte ihm erzählt, dass Typen namens Römer die Kanalisation gebaut hatten, damit der Regen zur Themse floss und nicht in die Häuser der Bewohner. Aber heutzutage legten feine Pinkel hier und dort Leitungen von den Senkgruben zu den Abwasserkanälen, und das hielt Dodger für eine Unverschämtheit. Mit den Ratten hier unten war es schlimm genug, auch ohne dass man ständig darauf achten musste, nicht in einen Haufen zu treten, die manchmal auch wie Würste aussahen, allerdings kaum damit verwechselt werden konnten – der Geruch war Warnung genug.
Dodger wusste nicht viel über die Römer, aber die von ihnen erbaute Kanalisation war alt und dem Verfall preisgegeben. Oh, gelegentlich kamen Arbeitstrupps, um das eine oder andere zusammenzuflicken, aber der allgemeine Zustand der Röhren und Tunnel veränderte sich dadurch kaum. Die Arbeiter, die manchmal in amtlichem Auftrag unterwegs waren und notwendige Reparaturen vornahmen, machten Jagd auf Tosher, wenn sie welche fanden, doch sie waren nicht so jung wie Dodger, der ihnen leicht entkam. Außerdem waren es Leute mit festen Arbeitszeiten, und ein Tosher arbeitete manchmal die ganze Nacht lang, wenn die Nacht gut war, suchte dort, wo Mauersteine fehlten oder wo der Boden nicht ganz eben war. Am besten waren die Stellen, wo das Wasser kleine Strudel bildete, denn dort sammelten sich Münzen an: Pennys, Sixpences, Viertelpennys, halbe Viertelpennys und – wenn man großes Glück hatte – sogar Sovereigns, halbe Sovereigns und Kronen. Gelegentlich verirrten sich auch Broschen, silberne Hutnadeln, Monokel, Uhren und goldene Ringe dorthin. Sie alle drehten sich in dem dunklen Karussell, Teil eines klebrigen großen Schlammballs. Und wenn du ein guter Tosher warst und an die Lady der Tosher glaubtest, dann konntest du – ja, du – vielleicht das Glück haben, eines Tages einen Schlammball wie einen großen Plumpudding zu finden, von den Toshern Tosheroon genannt: einen Ball, der ein Vermögen enthielt, genug für ein ganzes Leben.
Dodger hatte alle erwähnten Dinge gefunden, nacheinander, von Zeit zu Zeit, manchmal zwei oder drei von ihnen zusammen in einem kleinen Nest, das sich in einem Spalt gebildet hatte. Solche Stellen merkte er sich, er verzeichnete sie in der Karte, die er im Kopf mit sich herumtrug, und natürlich kehrte er dorthin zurück. Es geschah nicht selten, dass er mit Fundgut heimkehrte, über das sich Solomon freute, aber die große Pastete aus Dreck, Schmuck und Geld, die Tür und Tor für ein besseres Leben geöffnet hätte, war bisher noch nicht dabei gewesen.
Doch gab es ein besseres Leben als das Toshen, wenn man ein Dodger war? Die Welt – London, mit anderen Worten – schien wie für ihn geschaffen, nur für ihn. Sie arbeitete für ihn, als hätte die Lady es so bestimmt. Goldener Schmuck und Münzen waren schwer und blieben leicht irgendwo stecken, wohingegen tote Katzen, Ratten und Haufen gern schwammen, was gut war, denn es wäre nicht sehr angenehm gewesen, ständig durch Scheiße stapfen zu müssen. Während sich Dodger fast geistesabwesend an der Mauer des Abwasserkanals entlangtastete, bekannte Fundstellen überprüfte und nach neuen Ausschau hielt, überlegte er, was ein Tosher machen würde, wenn er einen richtigen Tosheroon fand. Er kannte sie alle, die Tosher, und woraus bestand ihre Beute, wenn sie einen guten Tag hatten? Was stellten sie mit dem hart erarbeiteten Geld an, für das sie im Dreck gewühlt hatten? Sie vertranken es, und je größer der Fund, desto mehr tranken sie. Wenn sie vernünftig waren, legten sie etwas beiseite, für eine Mahlzeit und ein Bett für die Nacht – am nächsten Morgen würden sie wieder arm sein.
Etwas klimperte unter seinen Fingern. Es war das Geräusch von zwei Sixpence-Münzen an der Stelle, die er Auf dich ist Verlass nannte – ein guter Anfang.
Dodger wusste, dass er den anderen Toshern überlegen war; deshalb hatte er sich über alle Tosherregeln hinweggesetzt und war während eines Unwetters in die Kanalisation eingestiegen. Sicher hätte er Erfolg gehabt, wenn der Kampf nicht stattgefunden hätte und der ganze Rattenschwanz danach nicht passiert wäre. Wenn man sich ganz auf die Suche konzentrierte, ließen sich in den Tunneln Plätze finden, wo man in einer Luftblase ausharren konnte, während ringsum die Welt tobte. Er hatte einen solchen guten Platz entdeckt. Dort war es zwar recht kalt, aber er hätte von dort aus als Erster die Gunst der Stunde nutzen und die Ernte der Nacht einbringen können. Jetzt musste er sich beeilen, denn andere Tosher kamen durch die Kanalisation auf ihn zu, und plötzlich glänzte etwas in der Düsternis weiter vorn. Der Glanz verschwand sofort wieder, aber er hatte die Stelle in Gedanken markiert und arbeitete sich langsam dorthin vor, wo er das Etwas gesehen hatte. Was er kurz darauf fand, war ein Haufen Unrat auf einer kleinen Sandbank, wo ein kleinerer Abwasserkanal in diesen einmündete. Und dort, in dem noch feuchten Dreck …
Eine tote Ratte lag da, im Maul etwas Glänzendes, das erst nach einem Goldzahn aussah, sich bei genauerem Hinsehen aber glücklicherweise als halber Sovereign erwies, fest eingeklemmt zwischen Herrn Rattes Zähnen. Man berührte nie eine Ratte, wenn man es irgendwie vermeiden konnte, und deshalb nahm Dodger seine kleine Brechstange immer mit nach unten. Er machte zusammen mit seinem Messer Gebrauch davon, hebelte das Maul der Ratte auf und stieß den halben Sovereign heraus. Anschließend balancierte er die Münze auf der Messerklinge und hielt sie ins Wasser, das über die Wand rann – auf diese Weise wusch er sie ein wenig sauber.
Wenn doch nur jeder Tag so gut wäre wie dieser! Wer wollte an einem solchen Tag oben einer Arbeit nachgehen? Ein geschickter Kaminkehrer musste eine Woche schuften, um das Geld zu verdienen, das Dodger gerade gefunden hatte. Oh, ein Tosher zu sein, an einem solchen Tag!
Dann hörte er das Stöhnen …
Dodger schlich an der Ratte vorbei in den kleineren Siel, in dem sich jede Menge Kram angesammelt hatte, ein großer Teil davon Holzteile, manche von ihnen scharf wie Messer. Hinzu kam viel anderes Geröll, von der Flut der vergangenen Nacht hierhergeschwemmt. Aber zu Dodgers großem Erstaunen schien der größte Teil des Schutts aus einem Mann zu bestehen, und dieser Mann sah nicht gesund aus. Wo sich eigentlich ein Auge befinden sollte, gab es nicht mehr viel, und das andere öffnete sich soeben und blickte Dodger unverwandt ins Gesicht. Es stank, das Gesicht, in das Dodger sah, und er schauderte, denn es war ihm vertraut.
»Das bist du, Opa, nicht wahr?«
Der älteste Tosher von London erweckte den Eindruck, gefoltert worden zu sein, und Dodger übergab sich fast, als er den übrigen Körper sah. Er musste allein gearbeitet haben, so wie Dodger, und war dann in die Flut geraten, in der zahlreiche Gegenstände herumgeschwommen waren, die Leute weggeworfen oder verloren hatten, die sie verstecken oder loswerden wollten. Viele dieser Gegenstände waren gegen Opa gekracht, der aufrecht zu sitzen versuchte – trotz der vielen blauen Flecken, des Bluts und der anderen Scheußlichkeiten, die einem nur die Kanalisation bescheren konnte.
Opa spuckte Schlamm – zumindest hoffte Dodger, dass es nur Schlamm war – und sagte: »Oh, du bist’s, Dodger. Freut mich, dich in so guter Verfassung zu sehen. Du bist ein braver Bursche und gescheiter, als ich es jemals gewesen bin. Was ich von dir möchte … Bitte hol mir eine Flasche vom schlechtesten Brandy, den du auftreiben kannst. Bring sie her und kipp sie in die Öffnung, die mal meine Kehle war, ja?«
Dodger versuchte einen Teil des Krams wegzuziehen, unter dem der Alte halb begraben lag. »Mich hat’s ganz schön erwischt, das kannst du mir glauben. Was bin ich doch für ein Narr! In meinem Alter … Ich hätte es besser wissen sollen. Ich schätze, diesmal habe ich zu viel abgekriegt. Wird Zeit für mich abzutreten. Sei ein guter Junge und hol mir den Fusel! In meiner rechten Hand befinden sich ein Sixpence, eine Krone und fünf Pennys. Die Münzen sind noch immer da, denn ich fühle sie, und sie sind alle für dich, du glücklicher Junge.«
»He«, sagte Dodger, »ich nehme nichts von dir, Opa!«
Der alte Tosher schüttelte den Kopf oder was davon übrig war, und sagte: »Zunächst einmal bin ich gar nicht dein Opa. Ihr Jungs habt mir diesen Namen nur deshalb gegeben, weil ich älter bin als ihr. Und bei der Lady – du wirst meine Sachen nehmen, wenn ich hinüber bin, denn du bist ein Tosher, und ein Tosher nimmt sich, was er findet. Nun, ich weiß, wo ich bin, und daher weiß ich auch, dass sich hinter der nächsten Ecke stromaufwärts ein Getränkeladen befindet. Brandy, habe ich gesagt, den schlechtesten, den sie haben, und dann behalt mich in guter Erinnerung. Mach dich auf die Socken, wenn dich nicht der Fluch eines sterbenden Toshers verfolgen soll!«
Dodger kam rennend aus dem nächsten Gully, fand den schmierigen Fuselladen, kaufte zwei Flaschen von einem Brandy, der roch, als könne er einem Mann das Bein abschneiden, und kletterte wieder in die Kanalisation hinab, kurz nachdem das Echo des angedrohten Fluchs verklungen war.
Opa war noch da und sabberte etwas Schreckliches, aber es lag so etwas wie ein Lächeln in seinem entstellten Gesicht, als er Dodger sah, der ihm die erste offene Flasche reichte – er leerte sie mit einem großen, langen Gluck. Einige Tropfen flossen ihm aus dem Mund, als er nach der zweiten Flasche winkte und sagte: »Dies ist genau richtig, so sollte ein Tosher aus dem Leben scheiden, o ja«. Dann senkte er die Stimme zu einem Flüstern, und mit der einen Hand, die noch einigermaßen in Ordnung war, packte er Dodger. »Ich habe sie gesehen, Junge. Die Lady höchstpersönlich. Sie stand dort, wo du jetzt stehst, scharlachrot und golden, und sie leuchtete wie die Sonne auf einem Sovereign. Dann warf sie mir eine Kusshand zu, winkte und verduftete, natürlich auf würdevolle Art, wie es der Lady geziemt.«
Dodger wusste nicht, was er dazu sagen sollte, schaffte es aber, es trotzdem auszusprechen. »Du hast mir viel beigebracht, Opa. Du hast mir von der Lady und den Ratten erzählt. Also, spül dir den Geschmack der Kanalisation aus dem Mund, und dann bringe ich dich irgendwie fort von hier, an einen besseren Platz. Lass es uns wenigstens versuchen, bitte!«
»Die Mühe können wir uns sparen, Junge. Wenn du mich hochhebst … Ich fürchte, ich falle auseinander. Aber es wäre schön, wenn du noch ein wenig bei mir bleiben könntest.« In der Dunkelheit gluckerte es erneut, als Opa einen weiteren großen Schluck vom feurigen Brandy nahm, und dann fuhr er fort: »Du hast verdammt schnell gelernt, das muss ich dir lassen. Ich meine, die meisten Jungs, die ich hier unten sehe, haben einfach nicht den richtigen Riecher fürs Toshen. Aber du … Es war mir eine große Freude zu sehen, wie du’s immer besser hingekriegt hast, so wie einer der Professoren oben, die ihre Nase in Bücher stecken. Ich hab gesehen, wie du einen ganzen Berg von Scheiße angestarrt hast, und dann war da ein Funkeln in deinen Augen, als hättest du gewusst, dass sich darunter etwas Wertvolles verbarg. So machen wir’s, Junge. Wir finden Wertvolles in dem Zeug, das die Leute oben wegwerfen, das sie nicht mehr haben wollen. Und das gilt auch für Menschen. Ich hab dich toshen sehen, Junge, und da wusste ich sofort: Ihm liegt das Toshen im Blut, so wie mir.« Der Alte hustete, und die Glieder seines geschundenen Leibs bewegten sich in einem gespenstischen Tanz. »Ich weiß, wie man mich nennt, Dodger – König der Tosher. So wie ich das sehe, trittst du meine Nachfolge an, und du hast meinen Segen.« Die Überbleibsel des Munds lächelten. »Hab nie erfahren, wer dein Vater ist. Weißt du es, Junge?«
»Nein, Opa«, erwiderte Dodger. »Ich hab’s nie gewusst, und wahrscheinlich wusste es auch meine Mutter nicht. Ich weiß nicht mal, wer sie war.« Wasser tropfte von der Decke, als Dodger eine Zeit lang ins Leere blickte und dann sagte: »Aber du bist immer Opa für mich gewesen. Dich kenne ich, und wenn du mich nicht das Toshen gelehrt hättest, wüsste ich überhaupt nichts von all den besonderen Plätzen hier unten, wie dem Mahlstrom, dem Schlafzimmer der Königin, dem Goldenen Irrgarten, der Sovereign Street, dem Hier-geht’s-rund und Atme-leicht. O ja, der Platz hat mir mehrmals die Haut gerettet, als ich noch lernte! Danke dafür, Opa. Opa …? Opa!«
Dann bemerkte Dodger etwas in der Luft, vielleicht ein leises Geräusch, das eben noch da gewesen war und plötzlich aufgehört hatte. Aber etwas war noch immer da, und als sich Dodger vorbeugte, hörte er den letzten Atem einige letzte Worte hauchen, und er lauschte Opas Seele, die den Körper bereits verlassen hatte. »Ich sehe die Lady, Junge, ich sehe sie …«
Opa lächelte, und das Lächeln verblasste erst, als das Licht aus seinen Augen verschwand. Dodger beugte sich vor, öffnete respektvoll die Hand des Toten und nahm sein Erbe entgegen, das ihm der Alte ausdrücklich vermacht hatte. Zwei Münzen legte er Opa auf die Augen, denn das musste sein, weil es der Tradition entsprach. Dann blickte er ins Dunkel und sprach: »Lady, ich schicke dir Opa, einen anständigen alten Typen, der mir alles Wissenswerte übers Toshen beibrachte. Versuch bitte, ihn nicht zu verärgern, denn er kennt einige üble Flüche.«
Dodger verließ die Kanalisation, als wären alle Dämonen der Hölle hinter ihm her. Er befürchtete, dass sie es tatsächlich auf ihn abgesehen haben könnten, und rannte die kurze Strecke nach Seven Dials und in die vergleichsweise Sicherheit der kleinen Mietshausmansarde, die Solomon Cohen als Heim und Werkstatt diente. Sie befand sich am Ende einer langen Treppe und gewährte ihm von weit oben einen Blick auf Dinge, die er wahrscheinlich gar nicht sehen wollte.