»Sie waren im Krieg mit Miss Brimley zusammen, nicht wahr?«
»Ich habe mit John Landsbury gearbeitet, ja.«
»Ich verstehe. Deswegen wandte sie sich an Sie?«
»Ja.«
»Gehören Sie zur Chapel-Sekte?«
»Nein.«
Er schwieg eine Weile, die Hände im Schoß gefaltet, die Briefe vor sich auf dem Tisch.
»Stanley gehörte zur Chapel, als sie heirateten. Dann trat er über. Wußten Sie das?«
»Ja.«
»Dort, wo ich herkomme, im Norden, tun wir das nicht. Unsere Religion war etwas, wofür wir eintraten und siegten. Fast wie das Stimmrecht.«
»Ich weiß.«
Seine Haltung war gerade, soldatisch. Er sah eher streng als traurig aus. Ganz plötzlich richtete er seinen Blick auf Smiley und sah ihn lange und aufmerksam an.
»Sind Sie ein Schulmeister?« fragte er, und Smiley fiel ein, daß Samuel Glaston zu seiner Zeit ein sehr schlauer Geschäftsmann gewesen war.
»Nein... Ich habe mich mehr oder weniger zurückgezogen.«
»Verheiratet?«
»Ich war es.«
Wieder fiel der alte Mann in Schweigen, und Smiley wünschte, er hätte ihn in Ruhe gelassen.
»Sie war eine große Klatschbase«, äußerte er endlich.
Smiley erwiderte nichts.
»Haben Sie es der Polizei gesagt?«
»Ja. Aber sie wußte schon Bescheid. Das heißt, sie wußte, daß Stella dachte, ihr Mann werde sie ermorden. Sie hatte versucht, es Mr. Cardew zu sagen...«
»Dem Prediger?«
»Ja. Er meinte, sie wäre überreizt und... von Wahnvorstellungen verfolgt.«
»Glauben Sie, daß sie das nicht war?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß es einfach nicht. Aber nach allem, was ich über Ihre Tochter gehört habe, glaube ich nicht, daß sie geistesgestört war. Irgend etwas erregte ihren Verdacht, irgend etwas erfüllte sie mit großer Furcht. Ich glaube nicht, daß wir das einfach außer acht lassen können. Ich halte es nicht für einen Zufall, daß sie Angst hatte, bevor sie starb. Und deswegen glaube ich nicht, daß die Bettlerin sie ermordet hat.«
Samuel Glaston nickte langsam. Smiley schien es, daß der alte Mann Interesse zu zeigen versuchte, teils aus Höflichkeit und andererseits, weil Teilnahmslosigkeit ein Eingeständnis sein würde, daß er das Interesse am Leben selbst verloren hatte.
Dann faltete er nach einem langen Schweigen die Briefe sorgfältig wieder zusammen und gab sie ihm zurück. Smiley wartete darauf, daß er etwas sagen werde, aber er sagte nichts.
Nach einigen Augenblicken stand Smiley auf und verließ leise den Raum.
KLEINE FRAUEN
Shane Hecht lächelte und nahm einen Schluck Sherry. »Sie müssen ja furchtbar wichtig sein«, sagte sie zu Smiley, »wenn D'Arcy anständigen Sherry serviert. Stehen Sie im Gotha?«
»Leider nicht. D'Arcy und ich haben Samstag abend bei Terence Fielding gegessen, und D'Arcy hat mich zum Sherry eingeladen.«
»Terence ist niederträchtig, nicht? Charles verabscheut ihn. Ich furchte, jeder von den beiden sieht Sparta mit ganz anderen Augen... Armer Terence, es ist sein letztes Semester.«
»Ich weiß.«
»So nett von Ihnen, daß Sie gestern zum Begräbnis gekommen sind. Ich hasse Begräbnisse, Sie nicht auch? Schwarz ist so unhygienisch. Ich werde mich immer an das Begräbnis Georgs V. erinnern. Lord Sawley war damals am Hof und gab Charles zwei Karten. So gütig. Ich glaube immer, es hat uns für gewöhnliche Begräbnisse in gewisser Weise verdorben. Obwohl ich mir über Begräbnisse nie ganz klar bin, und Sie? Ich habe den Verdacht, daß sie hauptsächlich eine Unterhaltung für die unteren Schichten sind; Cherry Brandy und Aniskuchen in der guten Stube. Ich finde, Leute unserer Art neigen in diesen Tagen zu einem stillen Begräbnis; keine Blumen, nur ein kurzer Nachruf und Gedächtnisgottesdienst später.« Ihre kleinen Augen strahlten vor Vergnügen. Sie trank ihren Sherry aus und hielt Smiley das leere Glas hin.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mein Bester? Ich hasse Sherry, aber Felix ist ja so knickrig.«
Smiley füllte ihr Glas aus der Karaffe auf dem Tisch.
»Schrecklicher Mord, nicht? Dieses Bettelweib muß verrückt sein. Stella Rode war eine so nette Person, habe ich immer gefunden... und so ungewöhnlich. Sie machte so geschickte Sachen aus ein und demselben Kleid... Aber sie hatte so merkwürdige Freunde. Alles für Hans, den Holzfäller, und Pedro, den Fischer, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»War sie beliebt in Carne?«
Shane Hecht lachte liebenswürdig. »Niemand ist beliebt in Carne... aber es war nicht leicht, sie zu mögen... An Sonntagen trug sie schwarzen Krepp... Verzeihen Sie, aber tun das die unteren Klassen immer? Die Leute in der Stadt mochten sie, glaube ich. Sie schätzen ja jeden, der Carne verrät. Aber sie war ja auch Christian Science oder so was.«
»Baptistin, soviel ich weiß«, sagte Smiley gedankenlos. Sie sah ihn einen Augenblick mit unverhohlener Neugier an. »Wie süß«, murmelte sie. »Sagen Sie, was sind Sie eigentlich?«
Smiley gab eine scherzhafte Antwort, indem er sagte, er sei arbeitslos, und merkte, daß er nur um Haaresbreite vermieden hatte, sich Shane Hecht zu offenbaren wie ein kleiner Junge. Gerade ihre Häßlichkeit, ihr Umfang und ihre Stimme, verbunden mit der blasierten Bosheit ihrer Unterhaltung, gaben ihr die gefährliche Fähigkeit, andere zu beherrschen. Smiley war versucht, sie mit Fielding zu vergleichen. Aber für Fielding existierten andere Menschen kaum. Für Shane Hecht existierten sie: sie waren da, um in kleinlichen Prüfungen ihres gesellschaftlichen Verhaltens als unzulänglich erkannt, lächerlich gemacht, isoliert und vernichtet zu werden.
»Ich las in der Zeitung, daß ihr Vater ziemlich wohlhabend war. Aus dem Norden. Zweite Generation. Wirklich bemerkenswert, wie wenig verwöhnt sie war... so natürlich. Man würde nicht denken, daß sie es nötig hatte, zur Waschanstalt zu gehen oder sich mit Bettlern anzufreunden... Aber die Midlands sind natürlich anders, nicht?... Nur ungefähr drei gute Familien zwischen Ipswich und Newcastle. Woher kommen Sie, mein Bester?«
»London.«
»Wie nett. Ich war einmal bei Stella zum Tee. Zuerst die Milch in die Tasse und dann indischen Tee! So anders.« Sie sah Smiley plötzlich an und meinte: »Ich will Ihnen etwas sagen. Ich bewunderte sie fast, so unerträglich fand ich sie. Sie war eine von den lästigen kleinen Snobs, die denken, daß nur die Demütigen tugendhaft sind.« Dann lächelte sie und fügte hinzu: »Ich stimmte sogar mit Charles über Stella Rode überein, und das will etwas heißen. Wenn Sie die Menschheit studieren wollen, gehen Sie hin und betrachten Sie ihn, der Gegensatz ist fesselnd.« Doch in diesem Augenblick gesellte sich D'Arcys Schwester zu ihnen, eine knochige, männlich wirkende Frau mit unordentlichem grauen Haar und einem arroganten, gierigen Mund.
»Dorothy, Liebling«, murmelte Shane; »so eine wunderbare Party, so nett. Und so aufregend, jemand aus London zu treffen, findest du nicht? Wir sprachen gerade über das Begräbnis der armen Mrs. Rode.«
»Stella Rode hat vielleicht verdammt schlechte Manieren gehabt, Shane, aber sie hat eine Menge für meine Flüchtlinge getan.«
»Flüchtlinge?« fragte Smiley unschuldig.
»Ungarn. Sammelte für sie. Kleider, Möbel, Geld.
Eine der wenigen Frauen, die etwas taten.« Sie blickte Shane Hecht, die milde an ihr vorbei zu ihrem Mann hinüberlächelte, scharf an: »Fleißiges kleines Geschöpf war sie; machte sich nichts daraus, die Ärmel hochzukrempeln und von Tür zu Tür zu gehen. Brachte ihre kleinen Frauen in der Baptistenkapelle auch dazu und schaffte eine Menge Zeug herbei. Das muß man ihnen lassen, wissen Sie. Sie haben Unternehmungsgeist. Felix, noch einen Sherry!«
Es waren ungefähr zwanzig Personen in den zwei Räumen, aber Smiley, der etwas verspätet eingetroffen war, blieb bei einer Gruppe von ungefähr acht kleben, die der Tür am nächsten standen: D'Arcy und seine Schwester; Charles und Shane Hecht; ein junger Mathematiker namens Snow mit seiner Frau; ein Hilfsgeistlicher von der Abtei und Smiley selbst, verwirrt und maulwurfähnlich hinter seiner Brille. Smiley blickte sich rasch im Zimmer um, konnte jedoch keine Spur von Fielding entdecken.
»...Ja«, fuhr Dorothy D'Arcy fort, »sie war eine gute kleine Arbeiterin, sehr... noch bis zum Ende. Ich ging am Freitag hinüber mit diesem Pfarrersmann vom Blech-Bethaus - Cardew-, um nachzusehen, ob es da noch Flüchtlingszeug aufzuräumen gebe. Da war nichts am falschen Platz - jedes Stück, das sie hatte, war verpackt und adressiert; wir brauchten es nur abzuschicken. Sie war eine verdammt gute kleine Arbeiterin, muß ich schon sagen. Machte ihre Sache im Basar glänzend, weißt du.«
»Ja, Liebling«, sagte Shane Hecht süß. »Ich erinnere mich genau. Es war der Tag, an dem ich sie Lady Sawley vorstellte. Sie trug einen so reizenden kleinen Hut - den, den sie sonntags trug, weißt du. Und so respektvoll. Sie redete sie mit >Milady< an.« Sie wandte sich an Smiley und hauchte: »Richtig feudal, finden Sie nicht, mein Bester? Ich schätze das immer. Wir sind nur noch wenige.«
Der Mathematiker und seine Frau sprachen in einer Ecke mit Charles Hecht, und einige Minuten später gelang es Smiley, sich aus der Gruppe herauszuwinden und sich ihnen zuzugesellen.
Ann Snow war eine hübsche junge Frau mit einem etwas eckigen Gesicht und einer Stupsnase. Ihr Mann war groß und hager und hatte eine angenehm gebeugte Haltung. Er hielt sein Sherryglas zwischen geraden, schlanken Fingern, als sei es eine chemische Retorte, und wenn er sprach, schien er sich mehr an den Sherry als an den Hörer zu wenden; Smiley erinnerte sich vom Begräbnis an die beiden. Hecht sah rot und ziemlich verärgert aus, er sog an seiner Pfeife. Sie sprachen unzusammenhängend, ihre Unterhaltung wurde von dem Meinungsaustausch der Nachbargruppe übertönt. Hecht wandte sich schließlich von ihnen ab, immer noch stirnrunzelnd und in sich gekehrt, und stand betont allein bei der Tür.
»Arme Stella«, sagte Ann Snow nach einem Augenblick der Stille. »Verzeihung, ich kann sie noch nicht aus meinen Gedanken bekommen. Es scheint verrückt, einfach verrückt. Ich meine, warum sollte sie es getan haben, dieses Janie-Weib?«
»Mochten Sie Stella?« fragte Smiley.
»Natürlich. Sie war reizend. Wir sind jetzt vier Semester hier, aber sie war die einzige hier, die zu uns wirklich freundlich gewesen ist.« Ihr Mann sagte nichts, nickte nur seinem Sherry zu. »Simon war kein Carne-Schüler, sehen Sie - die meisten Lehrer waren es-, daher kannten wir niemanden, und niemand interessierte sich wirklich für uns. Sie taten selbstverständlich alle so, als seien sie furchtbar eingenommen von uns, aber es war Stella, die wirklich...«
Dorothy D'Arcy stürzte sich auf sie. »Mrs. Snow«, sagte sie energisch, »ich wollte mit Ihnen sprechen. Ich möchte, daß Sie Stella Rodes Job bei den Flüchtlingen übernehmen.« Sie warf einen abschätzenden Blick in Simons Richtung: »Der Direktor ist an den Flüchtlingen sehr interessiert.«
»Du meine Güte!« antwortete Ann Snow erschrocken. »Ich könnte nicht, unmöglich, Miss D'Arcy, ich...«
»Sie könnten nicht? Warum könnten Sie nicht? Sie haben doch Mrs. Rode bei ihrem Stand im Basar geholfen, oder?«
»Daher hat sie also ihre Kleider bekommen«, hauchte Shane hinter ihnen.
Ann verhedderte sich immer mehr:
»Aber... Nun, ich habe nicht Stellas Energie, verstehen Sie mich; und außerdem war sie Baptistin: alle Ortsansässigen halfen ihr, gaben ihr Sachen, und alle mochten sie leiden. Bei mir wäre das anders.«
»Lauter verdammter Unsinn«, erklärte Miss D'Arcy, die zu allen, die jünger waren als sie, sprach, als seien sie Bediente oder unartige Kinder; und Shane Hecht sagte neben ihr: »Baptisten sind doch die Leute, die keine eigenen Kirchenstühle mögen, nicht? Sie haben ja so recht - man hat das Gefühl, wenn man schon dafür bezahlt hat, dann muß man auch hingehen.«
Der Hilfsgeistliche, der sich in einer Ecke über Cricket unterhalten hatte, fühlte sich zu mildem Protest veranlaßt: »Nein, wirklich, Mrs. Hecht, der eigene Kirchenstuhl hatte viele Vorteile...« und ließ sich auf eine weitschweifige Apologie des alten Brauchs ein, der Shane mit allen Anzeichen eifrigster Teilnahme lauschte. Als er endlich fertig war, sagte sie: »Danke, William, mein Bester, so süß«, wandte ihm den Rücken zu und fügte für Smiley im Bühnengeflüster hinzu: »William Trumper - einer von Charles' alten Schülern - solch ein Triumph, als er sein Abitur bestand.«
Smiley, erpicht darauf, sich von Shane Hechts Rache an dem Hilfsgeistlichen zu distanzieren, wandte sich Ann Snow zu, aber diese war noch immer Miss D'Arcys karitativen Absichten ausgeliefert, und Shane redete noch immer auf ihn ein: »Der einzige Smiley, von dem ich je gehört habe, heiratete Lady Ann Sercombe am Ende des Krieges. Sie verließ ihn natürlich bald danach. Eine sehr merkwürdige Verbindung. Ich habe gehört, er habe gar nicht zu ihr gepaßt. Sie war Lord Sawleys Kusine, wissen Sie. Die Sawleys sind seit vierhundert Jahren mit Carne verbunden. Der jetzige Erbe ist ein Schüler von Charles; wir dinieren oft im Schloß. Ich habe nie gehört, was aus Ann Sercombe geworden ist... sie ging nach Afrika... oder war es Indien? Nein, es war Amerika. So tragisch. Man spricht im Schloß nicht darüber.« Einen Augenblick hörte der Lärm im Zimmer auf. Einen Augenblick, nicht länger, konnte er nichts wahrnehmen als den beharrlichen Blick, den Shane Hecht auf ihn richtete, und er wußte, daß sie auf eine Antwort wartete. Und dann ließ sie ihn los, als wollte sie sagen: Ich könnte Sie zerquetschen, sehen Sie, aber ich will's nicht. Ich werde Sie leben lassen; und sie drehte sich um und ging davon.
Er richtete es so ein, daß er zur gleichen Zeit wie Ann und Simon Snow aufbrach. Sie hatten einen alten Wagen und bestanden darauf, Smiley zu seinem Hotel zurückzubringen. Unterwegs sagte er:
»Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, würde ich mich freuen, wenn ich Sie beide zum Dinner in meinem Hotel einladen dürfte. Ich fürchte bloß, das Essen ist gräßlich.«
Die Snows protestierten und nahmen an, und eine Viertelstunde später saßen alle drei in einer Ecke des riesigen Speisesaals im Hotel »Sawley Arms«, zur großen Verzweiflung von drei Kellnern und einem Dutzend Generationen von Lord Sawleys Ahnen, aufgedunsenen Herren in abbröckelnden Ölfarben.
»Wir lernten sie wirklich erst in unserem zweiten Semester kennen«, setzte Ann Snow fort. »Stella verkehrte nicht viel mit den anderen Frauen - sie wußte damals schon, warum. Sie ging nicht zu Kaffeegesellschaften und so weiter, daher war es ein wirkliches Glück, daß wir uns trafen. Als wir hierherkamen, war kein Lehrerhaus für uns verfügbar; wir mußten das erste Semester in einem Hotel verbringen. Am Ende unseres zweiten Semesters zogen wir in ein kleines Haus in der Bread Street. Der Umzug war ein Chaos - Simon hatte Prüfungen für die Stipendienkandidaten, und wir waren so schrecklich pleite, daß wir alles nur Mögliche selbst machen mußten. Es war ein nasser Donnerstagmorgen, als wir umzogen. Der Regen strömte nur so herunter; aber keines von unseren guten Möbelstücken wollte durch die Haustür gehen, und am Ende luden mich die Möbelpacker der Spedition Mulligan einfach an der Türschwelle ab und überließen es mir, damit fertig zu werden.« Sie lachte, und Smiley dachte, was für ein liebenswürdiges Kind sie doch war. »Sie waren absolut ekelhaft. Sie wären einfach weggefahren, glaube ich, aber sie wollten einen Scheck, sowie sie die Lieferung gemacht hatten, und die Rechnung betrug viel mehr als der Voranschlag. Ich hatte natürlich auch das Scheckbuch nicht. Simon war damit ausgegangen. Die Leute von Mulligan drohten sogar, das ganze Zeug wieder fortzubringen. Es war entsetzlich. Ich glaube, ich war den Tränen nahe.« Sie ist's beinahe jetzt noch, dachte Smiley. »Dann erschien Stella wie aus heiterem Himmel. Ich weiß nicht, woher sie überhaupt wußte, daß wir umzogen - ich bin sicher, niemand sonst wußte es. Sie hatte einen Overall und ein altes Paar Schuhe mitgebracht, und sie war gekommen, um zu helfen. Als sie sah, was vorging, kümmerte sie sich überhaupt nicht um die Männer, ging einfach zum Telefon und rief Mr. Mulligan selbst an. Ich weiß nicht, was sie ihm sagte, aber sie ließ den Vorarbeiter hinterher mit ihm sprechen, und danach gab es keinen Ärger mehr. Sie war schrecklich glücklich - glücklich zu helfen. So ein Mensch war sie. Sie hoben kurzerhand die Tür aus den Angeln und bekamen es fertig, alles hineinzuschaffen. Sie verstand es wunderbar zu helfen, ohne zu kommandieren. Die übrigen Frauen«, fügte sie bitter hinzu, »sind gut im Kommandieren, helfen aber überhaupt nicht.«
Smiley nickte und füllte diskret ihre Gläser.
»Simon geht«, sagte Ann, plötzlich vertraulich. »Er hat ein Stipendium, und wir gehen nach Oxford zurück. Er wird seinen Dr. phil. machen und eine Stelle an der Universität bekommen.«
Sie tranken auf seinen Erfolg, und die Unterhaltung wandte sich anderen Dingen zu, bis Smiley fragte: »Wie ist es denn, mit Rode zu arbeiten?«
»Er ist ein guter Lehrer«, sagte Simon langsam, »aber unangenehm als Kollege.«
»Oh, er war ganz anders als Stella«, sagte Ann; »schrecklich Carne-bewußt. D'Arcy nahm sich seiner an, und er wurde davon angesteckt. Simon sagt, alle Leute aus öffentlichen Schulen werden so - es ist die Wut des Konvertiten. Widerlich. Er wechselte sogar seine Religion, als er nach Carne kam. Aber Stella tat es nicht; sie dachte nicht im Traum daran.«
»Die Staatskirche hat in Carne viel zu bieten«, bemerkte Simon, und Smiley erfreute sich an der trockenen Präzision seiner Äußerung.
»Stella ist wohl nicht besonders gut mit Shane Hecht ausgekommen?« sondierte Smiley sanft.
»Natürlich nicht!« erklärte Ann zornig. »Shane war ekelhaft zu ihr, verhöhnte sie immer, weil sie ehrlich und schlicht über das sprach, was ihr gefiel. Shane haßte Stella - ich glaube deswegen, weil Stella gar keine distinguierte Lady sein wollte. Sie war ganz zufrieden, sie selbst zu sein. Genau das irritierte Shane. Shane hat es gern, wenn die Menschen miteinander konkurrieren, so daß sie sie lächerlich machen kann.«
»Das tut auch Carne«, sagte Simon leise.
»Bei der Flüchtlingshilfe war sie sehr gut. Dadurch kam sie erst richtig in Schwierigkeiten.« Ann Snows schlanke Hände wiegten sanft ihr Kognakglas. »Schwierigkeiten?«
»Unmittelbar vor ihrem Tod. Hat Ihnen das niemand erzählt? Von ihrem schrecklichen Krach mit D'Arcys Schwester?«
»Nein.«
»Natürlich hätte man es nicht getan. Stella klatschte nie.«
»Ich will's Ihnen erzählen«, sagte Simon. »Es ist eine gute Geschichte. Als die Sache mit dem Flüchtlingsjahr anfing, war Dorothy D'Arcy von karitativem Enthusiasmus entflammt. Ebenso der Direktor. Dorothys Schwärmereien scheinen immer den seinen zu entsprechen.
Sie begann, Kleider und Geld zu sammeln und es nach London zu verfrachten. Alles ganz lobenswert, aber es war ein völlig gleichwertiges, vom Bürgermeister gestartetes Unternehmen der Stadt im Gange. Das war aber nicht gut genug für Dorothy: Die Schule mußte ihren eigenen Aufruf machen; man kann seine Wohltätigkeit nicht vermischen. Ich glaube, dahinter stand hauptsächlich Felix. Wie dem auch sei, nachdem die Sache einige Monate im Gange gewesen war, schrieb das Flüchtlingszentrum offenbar an Dorothy und fragte, ob jemand bereit sei, ein Flüchtlingspaar bei sich aufzunehmen. Anstatt den Brief bekanntzumachen, schrieb Dorothy umgehend zurück, daß sie selbst es aufnehmen würde. So weit, so gut. Das Paar erschien, Dorothy und Felix wiesen mit stolzem Finger auf sie, und die Lokalpresse berichtete ausführlich über dieses Beispiel britischer Humanität.
Eines Nachmittags, sechs Wochen später, erschienen die beiden auf Stellas Schwelle. Die Rodes und die D'Arcys sind Nachbarn, wissen Sie, und Stella hatte jedenfalls versucht, sich für Dorothys Flüchtlinge zu interessieren. Die Frau vergoß Tränenfluten, und der Mann schrie Zeter und Mordio, aber das beängstigte Stella nicht. Sie holte sie direkt ins Wohnzimmer und gab ihnen Tee. Schließlich bekamen sie es fertig, in Basic English zu erklären, daß sie von den D'Arcys wegen der Behandlung, die sie erfuhren, weggelaufen seien. Von der Frau wurde erwartet, daß sie von morgens bis nachts in der Küche arbeitete, und der Mann wurde als unbezahlter Stallbursche für die biestigen Spaniels verwendet, die Dorothy züchtete. Die ohne Nasen.«
»King Charles«, soufflierte Ann.
»Es war ungefähr so schlimm, wie es nur sein konnte. Die Frau war schwanger, und er war ein voll ausgebildeter Mechaniker, so daß beide für Hausarbeit nicht gerade geeignet waren. Sie sagten Stella, daß Dorothy bis zum Abend fort sei - sie war zu einer Hundeschau gegangen. Stella riet ihnen, zunächst einmal bei ihr zu bleiben, und ging am Abend zu Dorothy hinüber und sagte ihr, was geschehen war. Sie hatte ziemlichen Mut, nicht wahr? Aber eigentlich war es nicht Mut. Sie tat das Natürliche.
Dorothy D'Arcy war sehr wütend und verlangte, Stella solle >ihre Flüchtlinge< sofort zurückgeben. Stella antwortete, sie sei sicher, daß sie nicht kommen würden, und ging wieder nach Hause. Zu Hause rief sie die Flüchtlingsstelle in London an und fragte um Rat. Man schickte eine Frau zu Dorothy und dem Paar, mit dem Ergebnis, daß sie am nächsten Tag nach London zurückkehrten ... Sie können sich vorstellen, was Shane Hecht aus dieser Geschichte gemacht hätte.«
»Kam sie nie darauf?«
»Stella erzählte niemandem außer uns davon, und wir gaben es nicht weiter. Dorothy ließ nur verlauten, daß die Flüchtlinge in London irgendeine Arbeit gefunden hätten, und damit hatte es sich.«
»Wie lange ist es her, daß das passierte?«
»Sie reisten vor genau drei Wochen ab«, sagte Ann zu ihrem Mann. »Stella sagte es mir, als sie an dem Abend, an dem du wegen deiner Vorsprache in Oxford warst, zum Abendessen kam. Das war heute vor drei Wochen.« Sie wandte sich an Smiley: »Der arme Simon machte eine gräßliche Zeit durch. Felix D'Arcy hatte Rodes sämtliche Prüfungskorrekturen auf ihn abgeladen. Es ist schon schlimm genug, die Korrekturen für eine Person zu machen - für zwei ist es wahnsinnig.«
»Ja«, antwortete Simon nachdenklich. »Es war eine schlimme Woche. Und ziemlich demütigend in gewisser Weise. Einige der Jungen, die in Naturwissenschaft bei mir waren, sind nun in Rodes Klassen. Ich betrachte ein oder zwei von ihnen als praktisch unbelehrbar, aber Rode scheint sie großartig vorangebracht zu haben. Ich gab einem der Schüler - Perkins - einundsechzig Prozent auf seine Arbeit in elementarer Naturwissenschaft. Im letzten Semester bekam er fünfzehn Prozent in einer viel leichteren Arbeit. Er wurde nur in die nächste Klasse versetzt, weil Fielding die Hölle losließ. Er war in Fieldings Haus.«
»Oh, ich weiß - ein rothaariger Junge, ein Präfekt.«
»Großer Gott!« rief Simon. »Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie ihn kennen?«
»Oh, Fielding machte uns bekannt«, sagte Smiley ausweichend. »Übrigens - sonst hat niemand diesen Zwischenfall mit Miss D'Arcys Flüchtlingen Ihnen gegenüber erwähnt? Hat ihn sozusagen bestätigt?«
Ann Snow sah ihn seltsam an. »Nein. Stella erzählte uns davon, aber Dorothy D'Arcy sprach natürlich überhaupt nie davon. Sie muß Stella jedoch gehaßt haben.«
Er brachte sie zu ihrem Wagen und wartete trotz ihrer Proteste, während Simon ihn anließ. Endlich fuhren sie ab, das Auto heulte die stille Straße hinunter. Smiley stand noch einen Augenblick auf dem Gehsteig, eine seltsame, einsame Gestalt, und blickte die leere Straße hinab.
EINEN MANTEL, UM SIE ZU WÄRMEN
Ein Hund, der den Postboten nicht gebissen hatte; ein Teufel, der auf dem Wind dahinfuhr; eine Frau, die wußte, daß sie sterben würde; ein besorgter kleiner Mann im Mantel, der vor seinem Hotel im Schnee stand, und vom Turm der Abtei das mühsame Glockenschlagen, das ihm zu Bett zu gehen befahl.
Smiley zögerte, überquerte dann mit einem Achselzucken die Straße zum Hoteleingang, stieg die Stufen hinauf und trat in das dürftige gelbe Licht der Halle. Langsam ging er die Treppe nach oben.
Er verabscheute das »Sawley Arms«. Das gedämpfte Licht in der Halle war typisch: unwirksam, antiquiert und selbstgefällig. Wie die Kellner im Speisesaal und die gedämpften Stimmen im Salon, wie sein eigenes scheußliches Zimmer mit den blauen und vergoldeten Urnen und dem gerahmten Wandteppich, dem Bild eines Gartens in Buckinghamshire.
Sein Zimmer war bitterkalt; das Mädchen mußte das Fenster geöffnet haben. Er steckte einen Shilling in den Zähler und stellte das Gas an. Das Feuer blubberte mißmutig und ging aus. Murrend sah Smiley sich nach Schreibpapier um und fand, sehr zu seiner Überraschung, etwas in der Schublade des Schreibtisches. Er zog seinen Pyjama und seinen Schlafrock an und kroch ins Bett. Nachdem er da ungemütlich einige Minuten gesessen hatte, stand er wieder auf, holte seinen Mantel und breitete ihn über die Daunendecke. Ein Mantel, um sie zu wärmen...
Wie hieß es in ihrer Aussage? »Eine gibt's, die wird's mir danken, das ist mein Liebling, und ich nahm ihren Schmuck, für die Heiligen tat ich's, und einen Mantel, um mich zu wärmen...« Der Mantel war Stella am letzten Mittwoch für die Flüchtlinge gegeben worden. Nach der Art ihrer Aussage schien die Annahme vernünftig, daß Janie den Mantel zur selben Zeit aus dem Schuppen genommen hatte wie die Perlen von Stellas Leiche. Aber Dorothy D'Arcy war am Freitagmorgen dort gewesen - natürlich, mit Mr. Cardew-, sie hatte an eben diesem Abend auf ihrer Party darüber gesprochen: »Da war nichts am falschen Platz - jedes Stück Kleidung, das sie hatte, war verpackt und adressiert - »eine verdammt gute kleine Arbeiterin, muß ich sagen...« Warum hatte dann Stella den Mantel nicht verpackt? Wenn sie alles andere verpackt hatte, warum nicht auch den Mantel?
Oder hatte Janie den Mantel früher am Tag gestohlen, noch ehe Stella ihr Paket machte? Wenn es so war, dann bedeutete es eine gewisse Entlastung für Janie. Aber so war es nicht. Es war nicht so, weil es völlig unwahrscheinlich war, daß Janie am Nachmittag einen Mantel stehlen und am selben Abend zum Haus zurückkehren würde.
»Beginn doch beim Anfang«, murmelte Smiley etwas lehrhaft zu dem wappengeschmückten Papier auf seinem Schoß. »Janie stahl den Mantel zu derselben Zeit, als sie die Perlen stahl - das heißt, nachdem Stella tot war. Folglich war der Mantel entweder nicht mit den anderen Kleidungsstücken verpackt worden oder...«
Oder was? Oder jemand anders, jemand, der nicht Stella Rode war, verpackte die Kleidungsstücke, nachdem Stella Rode gestorben und ehe Dorothy D'Arcy und Mr. Cardew am Freitagmorgen nach North Fields gekommen waren. Und warum, zum Teufel, dachte Smiley, sollte jemand das tun?
Es war eines von Smileys Grundprinzipien bei Nachforschungen gewesen, ob er sich mit den Inkunabeln eines obskuren Dichters oder den mühsam gesammelten Bruchstücken der Spionage befaßte, nicht weiter zu gehen, als das Beweismaterial reichte. Hatte man einmal eine Tatsache logisch festgestellt, dann durfte man ihr nicht mehr Bedeutung beimessen, als ihr zukam. Dementsprechend spekulierte er nicht weiter über die bemerkenswerte Entdeckung, die er gemacht hatte, sondern wandte sich der am schwersten zugänglichen Seite des Ganzen zu: dem Motiv für den Mord. Er begann zu schreiben:
Dorothy D'Arcy - Groll nach Flüchtlingsfiasko. Als Motiv für Mord - entschieden zu schwach. Und doch, warum schien sie solchen Wert darauf zu legen, Stellas Lob zu singen?
Felix D'Arcy - lehnte Stella ab, weil sie die Maßstäbe von Carne nicht beachtete. Als Motiv für Mord - lächerlich.
Shane Hecht - Haß.
Terence Fielding - in einer geistig normalen Welt, kein denkbares Motiv.
Aber war es eine geistig normale Welt? Jahraus, jahrein mußten sie das gleiche Leben teilen, den gleichen Leuten das gleiche sagen, die gleichen Hymnen singen. Sie hatten kein Geld, keine Hoffnung. Die Welt veränderte sich, die Mode; die Frauen sahen es aus zweiter Hand in den Magazinen; verkürzten ihre Kleider, steckten die Haare auf und haßten ihre Männer noch etwas mehr. Shane Hecht - tötete sie Stella Rode? Verbarg sie in der sterilen Allwissenheit ihres gewaltigen Körpers nicht nur Haß und Eifersucht, sondern auch den Mut zu töten? Hatte sie Angst für ihren dummen Mann, Angst vor Rodes Beförderung, vor seiner Klugheit? War sie wirklich so zornig, als Stella es ablehnte, sich an dem gemeinsamen Wettkampf um Vornehmheit zu beteiligen?
Rigby hatte recht - das zu wissen war unmöglich. Man mußte krank, mußte bettlägerig sein, um das zu verstehen, man mußte dort im Sanatorium sein, nicht wochen-, sondern jahrelang, mußte eines in der Reihe der weißen Betten sein, um den Geruch ihres Essens und die Gier in ihren Augen zu kennen. Man mußte es hören und sehen, ein Teil davon sein, um ihre Spielregeln zu kennen und ihre Übertretungen dieser Regeln zu begreifen. Diese Welt war in eine Form anomaler Konventionen zusammengepreßt: blind, pharisäerhaft, aber real.
Und doch zeichnete sich einiges deutlich genug ab: die seltsame Bindung, die Felix D'Arcy und Terence Fielding trotz ihrer gegenseitigen Abneigung aneinanderkettete; D'Arcys Widerstreben, über die Mordnacht zu sprechen; daß Fielding offenkundig Stella Rode ihrem Mann gegenüber vorzog; Shane Hechts Geringschätzung aller.
Er konnte Shane nicht aus seinen Gedanken verdrängen. Wäre Carne ein rationaler Ort gewesen und jemand mußte dort sterben, dann hätte es eigentlich Shane Hecht sein müssen. Sie speicherte die Geheimnisse anderer Leute, sie hatte einen untrüglichen Sinn für ihre Schwächen. Hatte sie nicht sogar Smiley ertappt? Sie hatte ihn mit seiner unglücklichen Heirat verspottet, sie hatte zu ihrem eigenen Vergnügen mit ihm gespielt. Ja, sie war als mögliches Opfer eines Mordes großartig geeignet.
Aber warum, in aller Welt, mußte Stella Rode sterben? Warum und wie? Wer verschnürte das Paket nach ihrem Tod? Und warum?
Er versuchte zu schlafen, aber er konnte es nicht. Als die Abteiglocke drei schlug, machte er schließlich wieder Licht und setzte sich auf. Das Zimmer war viel wärmer, und zuerst dachte Smiley, ob wohl jemand mitten in der Nacht die Zentralheizung angestellt hatte, nachdem sie den ganzen Tag nicht in Betrieb gewesen war. Dann nahm er das Rauschen des Regens wahr; er ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Ein stetiger Regen fiel; bis morgen würde der Schnee fortgewaschen sein. Zwei Polizisten gingen langsam die Straße hinunter; er konnte das Platschen ihrer Stiefel hören, als sie in den schmelzenden Schnee traten. Ihre nassen Umhänge schimmerten im Lichtkegel der Straßenlampe.
Und plötzlich schien er Rigbys Stimme zu hören: »Überall Blut. Wer sie auch getötet hat, muß davon bedeckt gewesen sein.« Und dann die Verrückte Janie, die ihm über den mondhellen Schnee zurief: »Janie hat ihn gesehen... Silberflügel wie Fische... fliegend auf dem Wind... nicht viele haben den Teufel fliegen sehn...« Natürlich, das Paket! Er blieb lange am Fenster und starrte in den Regen hinaus. Schließlich stieg er, nun doch zufrieden, ins Bett zurück und schlief ein.
Er versuchte den ganzen Morgen, Miss Brimley anzurufen. Jedesmal war sie ausgegangen und hatte keine Nachricht hinterlassen. Gegen Mittag erreichte er sie endlich.
»George, es tut mir furchtbar leid - irgendein Missionar ist in London - ich mußte wegen eines Interviews hingehen und habe diesen Nachmittag eine Baptistenkonferenz. Beides muß in dieser Woche sein! Genügt es morgen als erstes?«
»Ja«, sagte Smiley. »Sicher.« Es gab keine besondere Eile. Da waren sowieso ein oder zwei offene Fragen, die er an diesem Nachmittag erledigen wollte.
UNGEMÜTLICHE WORTE
Die Autobusfahrt amüsierte ihn. Der Fahrer war ein sehr griesgrämiger Mann, der über die Busgesellschaft und die Ursachen ihres Defizits allerhand zu sagen hatte. Von Smiley sanft ermutigt, taute er immer mehr auf, so daß er bei ihrer Ankunft in Sturminster die Direktoren der Allgemeinen Verkehrsgesellschaft von Dorsetshire in eine Herde von Schweinen der Gadarener verwandelt hatte, die dem Abgrund freiwilligen Bankrotts zustürmten. Der Chauffeur wies Smiley den Weg zum Zwinger von Sturminster, und als er in dem winzigen Dorf ausstieg, machte er sich zuversichtlich zu einer Gruppe von Katen auf den Weg, die etwa vierhundert Meter hinter der Kirche an der Okeford-Straße standen.
Er hatte das unangenehme Gefühl, daß er Mr. Harriman nicht sympathisch finden werde. Allein die Tatsache, daß D'Arcy ihn als einen überragenden Könner bezeichnet hatte, nahm Smiley gegen ihn ein. Smiley war nicht gegen gesellschaftliche Unterschiede, aber er machte sie gern selbst.
Am Eingang stand ein Schild: »Sturminster-Zwinger, Inhaber C.J. Reid-Harriman, Dipl.-Veterinär, Züchter von Schäfer- und Labradorhunden. Pension.«
Ein schmaler Weg führte zu so etwas wie einem Hinterhof. Überall hing Wäsche, Hemden, Unterzeug, das meiste in Khaki. Es roch kräftig nach Hunden. Smiley sah einen verrosteten Pumpbrunnen, etwa ein Dutzend Hundeleinen darüber drapiert, und ein kleines Mädchen. Sie beobachtete ihn traurig, während er sich durch den dicken Schmutz einen Weg zur Tür suchte. Er zog die Klingelschnur und wartete, versuchte es nochmals, bis das Kind sagte:
»Geht nicht. Ist kaputt. Ist seit Jahren kaputt.«
»Ist irgend jemand zu Hause?« fragte Smiley.
»Ich seh' mal nach«, erwiderte es kühl, bog nach einem weiteren langen Blick auf ihn um die Ecke und verschwand. Dann hörte Smiley aus dem Inneren des Hauses ein Geräusch; es näherte sich jemand, und einen Augenblick später öffnete sich die Tür.
»Schönen guten Tag.« Der Mann hatte sandfarbenes Haar und einen Schnurrbart. Er trug ein Khakihemd und einen Khakischlips von hellerem Ton, alte Militärhosen und eine Tweedjacke mit Lederknöpfen.
»Mr. Harriman?«
»Major«, entgegnete er leichthin. »Aber spielt keine Rolle, alter Junge. Was können wir für Sie tun?«
»Ich möchte einen Schäferhund kaufen«, antwortete Smiley, »als Wachhund.«
»Sicher. Kommen Sie bitte herein. Die Gnädige ist aus. Ignorieren Sie das Kind; ist von nebenan. Lungert nur hier herum; hat die Hunde gern.«
Smiley folgte Harriman ins Wohnzimmer, und sie setzten sich. Es brannte kein Feuer.
»Woher kommen Sie?« fragte Harriman.
»Ich halte mich zur Zeit in Carne auf, mein Vater lebt drüben in Dorchester. Er wird älter und ist nervös, er möchte, daß ich einen guten Hund für ihn finde. Es ist ein Gärtner da, der sich tagsüber um ihn kümmern, ihn füttern, ausführen würde und so weiter. Der Gärtner ist nachts natürlich nicht da, und gerade nachts wird der alte Herr so ängstlich. Ich habe schon seit einiger Zeit vor, ihm einen Hund zu kaufen, und diese Geschichte in Carne kürzlich hat mich wieder darauf gebracht.«
Harriman überhörte den Wink. »Der Gärtner ist ein zuverlässiger Kerl?«
»Ja, sehr.«
»Sie brauchen nichts Blendendes«, sagte Harriman. »Sie brauchen einen guten, verläßlichen Typ. Ich würde eine Hündin nehmen, wenn ich Sie wäre.« Seine Hände waren dunkelbraun, auch die Gelenke. Das Taschentuch hatte er in die Manschette gesteckt. Smiley bemerkte, daß seine Armbanduhr, entsprechend den obskuren Riten der militärischen Demimonde, der er zu entstammen schien, nach innen zeigte.
»Was wird sie tun, eine solche Hündin? Wird sie angreifen, oder was?«
»Hängt davon ab, wie sie abgerichtet ist, alter Junge; hängt davon ab, wie sie abgerichtet ist. Doch sie wird warnen; das ist ja die Hauptsache. Wird die Burschen verscheuchen. Bringen Sie ein Schild an >Bissiger Hund<, lassen Sie sie die Lieferanten ein bißchen beschnüffeln, und es wird sich schon herumsprechen. Sie werden im Umkreis von einem Kilometer keinen Einbrecher finden.«
Sie gingen wieder in den Garten hinaus, und Harriman führte zu einem Gehege mit einem halben Dutzend junger Schäferhunde, die durch den Draht wütend nach ihnen jappten.
»Gute kleine Biester, allesamt!« rief er. »Mutig wie der Teufel.« Er schloß die Tür auf und kam endlich mit einem plumpen Hundebaby heraus, das wild an seiner Jacke kaute.
»Diese kleine Dame wäre vielleicht die richtige«, sagte er. »Wir können sie nicht auf Ausstellungen zeigen, sie ist zu dunkel.«
Smiley tat so, als zögere er, ließ sich von Harriman überreden und stimmte schließlich zu. Sie kehrten ins Haus zurück.
»Ich möchte gern eine Anzahlung geben«, sagte Smiley, »und sie in etwa zehn Tagen abholen. Wäre das in Ordnung?« Er gab Harriman einen Scheck über fünf Pfund, und sie setzten sich wieder; Harriman stöberte in seinem Schreibtisch nach Impfscheinen und Stammbäumen. Dann sagte Smiley:
»Ist es nicht schade, daß Mrs. Rode keinen Hund hatte? Ich meine, er hätte ihr vielleicht das Leben gerettet.«
»Oh, sie hatte einen Hund, aber sie ließ ihn töten, unmittelbar bevor sie ermordet wurde. Verdammt merkwürdige Sache, unter uns gesagt. Sie hing an dem Tier. Merkwürdiger kleiner Köter, eine richtige Mischung, aber sie liebte ihn. Brachte ihn eines Tages hierher, mit einer Geschichte, daß er den Postboten gebissen hatte, ließ ihn durch mich töten - sagte, er sei gefährlich. Das stimmte gar nicht. Freunde von mir in Carne erkundigten sich. Nirgends Klagen. Postbote mochte das Vieh. Verdammt dumme Lüge für eine so kleine Gemeinde. Das mußte doch herauskommen.«
»Warum in aller Welt erzählte sie sie dann?«
Harriman machte eine Geste, die Smiley besonders irritierte. Er strich sich mit dem Zeigefinger der Länge nach über die Nase und zwirbelte dann sehr rasch jedes Ende seines absurden Schnurrbartes. Die ganze Bewegung hatte etwas Verschämtes, als maße er sich die Eigenheiten von Stabsoffizieren an und fürchte sich zugleich vor einer Zurechtweisung.
»Sie war schwierig«, sagte er. »Ich kann so was sofort sehen. Ich hatte ein paar im Regiment, Ehefrauen, die Ärger machen. Kleine weinerliche Typen. Sehen aus, als könnten sie nicht bis drei zählen, tugendhafter als irgendwer. Arrangieren die Blumen in der Kirche und so weiter - so gottesfürchtig wie nur möglich. Ich würde sagen, sie war von der hysterischen Sorte, theatralisch; die tagelang überall im Haus herumweinen. Alles für ein bißchen Drama.«
»War sie beliebt?« Smiley bot ihm eine Zigarette an.
»Glaube nicht. Danke. Sie trug sonntags Schwarz, höre ich. Typisch. Draußen im Osten pflegten wir sie >Krähen< zu nennen, die, die Schwarz trugen - Sonntags-Jungfrauen. Sie waren meistens A.K. - andere Konfessionen, nicht Staatskirche - einige waren Katholiken... Ich hoffe, daß ich Sie nicht...«
»Durchaus nicht.«
»Kann man nie wissen, wie? Ich kann sie selbst nicht ausstehen; kein Vorurteil, aber ich mag Katholiken nicht - das sagte schon mein alter Vater.«
»Kannten Sie ihren Mann?«
»Nicht so gut, den armen Teufel, nicht so gut.«
Harriman schien, so überlegte Smiley, weit mehr Sympathie für die Lebenden als für die Toten zu haben. Vielleicht waren Soldaten so. Er wußte es nicht.
»Er ist schrecklich zusammengebrochen, höre ich. Furchtbarer Schock - Laune des Schicksals, wie?« fügte er hinzu, und Smiley nickte. » Er ist der andere Typ. Einfache Herkunft, gute Offizierseigenschaften, macht dem Kasino Ehre. Das sind die, die am schwersten getroffen werden, die, die sich die Frauen aufs Korn nehmen.«
Sie gingen zum Gartentor. Smiley verabschiedete sich und versprach, in etwa einer Woche wiederzukommen, um den kleinen Hund zu holen.
Als er davonging, rief ihm Harriman nach: »Oh, übrigens...«
Smiley blieb stehen und drehte sich um.
»Ich werde diesen Scheck einlösen, wie, und Ihnen den Betrag gutschreiben?«
»Natürlich«, sagte Smiley. »Das ist ganz in Ordnung.« Er ging zur Bushaltestelle und dachte über die seltsamen Nebenwege des militärischen Denkens nach.
Derselbe Bus brachte ihn nach Carne zurück, derselbe Fahrer schimpfte auf seine Arbeitgeber, derselbe Fahrer fuhr die ganze Strecke im zweiten Gang. Smiley stieg am Bahnhof aus und ging zum roten Backstein-Bethaus. Leise die gotische Tür öffnend, die aus dick gelacktem, ockergelbem Kiefernholz bestand, trat er ein. Eine ältere Frau mit einer Schürze putzte den schweren Messingleuchter, der über dem Mittelschiff hing. Er wartete einen Augenblick, ging auf den Zehenspitzen zu ihr und fragte nach dem Prediger. Sie wies auf die Sakristeitür. Ihrer mimischen Anweisung folgend, ging er hinüber, klopfte und wartete. Ein großer Mann mit einem Kollar öffnete die Tür.
»Ich bin von der »Christlichen Stimme<«, sagte Smiley ruhig. »Kann ich Sie sprechen?«
Mr. Cardew führte ihn durch den Seiteneingang in einen kleinen Gemüsegarten, der sorgfältig bestellt war; hellgelbe Wege verliefen zwischen den leeren Beeten. Die Sonne erfüllte die frische Luft mit ihren Strahlen. Es war ein kalter, schöner Tag. Sie durchquerten den Garten und traten in eine Umzäunung. Trotz des Regens der letzten Nacht war der Boden hart und das Gras kurz. Sie gingen Seite an Seite und sprachen im Gehen.
»Dies ist Pfründe, es gehört der Schule. Wir veranstalten hier im Sommer unsere Gartenfeste. Sehr praktisch.«
Cardew schien mit seinem Stand nicht ganz in Einklang zu stehen. Smiley, der ein kindliches Mißtrauen gegen Geistliche hegte, hatte einen wesleyanischen Grobian, einen weitschweifigen, abweisenden Mann mit einem Hang zur Bildersprache erwartet.
»Miss Brimley, unsere Redakteurin, hat mich geschickt«, begann Smiley. »Mrs. Rode bezog unsere Zeitschrift; ihre Familie hat sie seit Beginn abonniert. Sie war fast ein Teil der Familie. Wir wollen einen Nachruf über ihre Arbeit für die Kirche schreiben.«
»Ach ja.«
»Es gelang mir, mit ihrem Mann zu sprechen; wir wollten den richtigen Ton treffen.«
»Was hat er gesagt?«
»Er sagte, ich solle mit Ihnen über ihre Arbeit sprechen - besonders ihre Arbeit für die Flüchtlinge.«
Schweigend gingen sie eine Weile weiter, dann meinte Cardew: »Sie kam aus dem Norden, nahe bei Derby. Ihr Vater war ein vermögender Mann im Norden, aber das Geld veränderte ihn nie.«
»Ich weiß.«
»Ich kenne die Familie seit Jahren, bin ihr immer wieder begegnet. Ihren alten Vater traf ich vor dem Begräbnis.«
»Was darf ich über ihre Arbeit für die Kirche, ihren Einfluß auf die hiesige Chapel-Gemeinde sagen? Darf ich sagen, daß sie allgemein geliebt wurde?«
»Verzeihen Sie«, sagte Cardew nach einer kurzen Pause, »aber ich halte von einer solchen Schreibweise nicht viel, Mr. Smiley. Menschen werden nie von allen geliebt, selbst wenn sie tot sind.« Sein nordenglischer Akzent war sehr stark.
»Was darf ich also sagen?« beharrte Smiley.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Cardew gelassen. »Und wenn ich etwas nicht weiß, schweige ich gewöhnlich. Aber da Sie so liebenswürdig sind, mich zu fragen: Ich bin noch nie einem Engel begegnet, und Stella Rode war keine Ausnahme.«
»Aber spielte sie nicht eine rührende Rolle in der Flüchtlingsarbeit?«
»Ja. Ja, das tat sie.«
»Und ermutigte sie nicht andere, ähnliche Anstrengungen zu machen?«
»Natürlich. Sie war eine gute Arbeiterin.«
Schweigend gingen sie weiter. Der Weg über das Feld führte abwärts, machte eine Biegung und folgte einem Bach, der von dem verfilzten Stachelginster und Weißdorn auf beiden Ufern fast verborgen war. Jenseits war eine Reihe kahler Ulmen und dahinter die vertraute Silhouette von Carne.
»Ist das alles, was Sie mich fragen wollten?« sagte Cardew plötzlich.
»Nein«, erwiderte Smiley. »Unsere Redakteurin war sehr beunruhigt über einen Brief, den sie von Mrs. Rode kurz vor ihrem Tode bekam. Es war eine Art... Anklage. Wir haben die Sache der Polizei übergeben. Miss Brimley machte sich irgendwie Vorwürfe, daß sie nicht imstande war, ihr zu helfen. Das ist vielleicht unlogisch, aber so ist es nun einmal. Ich möchte ihr gern versichern können, daß zwischen Stella Rodes Tod und diesem Brief kein Zusammenhang bestand. Das ist ein weiterer Grund meines Besuches...«
»Wen klagt der Brief an?«
»Ihren Gatten.«
»Ich würde Ihrer Miss Brimley mitteilen«, sagte Cardew langsam und mit einiger Betonung, »daß sie sich nicht den geringsten Vorwurf zu machen braucht.«
DIE HEIMFAHRT
Es war Montagabend. Ungefähr zu der Zeit, als Smiley nach seiner Unterhaltung mit Mr. Cardew in sein Hotel zurückkehrte, verabschiedete sich Tim Perkins, der Präfekt von Fieldings Haus, von Mrs. Harlowe, die ihm Cellounterricht erteilte. Sie war eine freundliche Frau, wenn auch neurotisch, und es betrübte sie, ihn so bedrückt zu sehen. Er war der beste Schüler, den Carne ihr je geschickt hatte, und sie mochte ihn.
»Du hast heute miserabel gespielt, Tim«, sagte sie, als sie ihm an der Tür auf Wiedersehen sagte. »Ganz miserabel. Du brauchst es mir nicht zu sagen - du hast nur noch ein Semester und hast noch immer nicht die drei Vorprüfungen fürs Abitur bestanden, du mußt deine Versetzung kriegen und bist ganz durcheinander. Wir werden nächsten Montag nicht üben, wenn du nicht willst - komm nur und iß Kuchen, und wir spielen ein paar Platten.«
»Ja, Mrs. Harlowe.« Er schnallte seine Notenmappe auf den Gepäckträger seines Fahrrades.
»Lampen in Ordnung, Tim?«
»Ja, Mrs. Harlowe.«
»Also, versuche nicht, heute abend den Rekord zu schlagen, Tim. Du hast genug Zeit bis zum Tee. Denk daran, daß die Straße vom Schnee ganz glitschig ist.«
Perkins sagte nichts. Er schob sein Fahrrad auf den Kiesweg und setzte sich zum Tor hin in Bewegung.
»Hast du auch nichts vergessen, Tim?«
»Entschuldigen Sie, Mrs. Harlowe.«
Er drehte sich um und reichte ihr im Türeingang die Hand. Sie bestand immer darauf.
»Hör mal, Tim, was ist denn los? Hast du eine Dummheit gemacht? Mir kannst du's doch sagen, nicht? Ich gehöre nicht zur Lehrerschaft, das weißt du.«
Perkins zögerte und sagte dann: »Es sind nur die Prüfungen, Mrs. Harlowe.«
»Geht's deinen Eltern gut? Kein Kummer zu Hause?«
»Nein, Mrs. Harlowe; es geht ihnen sehr gut.« Wieder zögerte er, dann: »Gute Nacht, Mrs. Harlowe.«
»Gute Nacht.«
Sie beobachtete, wie er das Gartentor hinter sich schloß und die lange Straße hinabfuhr. In einer Viertelstunde würde er in Carne sein; es ging praktisch die ganze Strecke bergab.
Gewöhnlich liebte er die Rückfahrt. Sie war der beste Teil der Woche. Aber an diesem Abend achtete er kaum darauf. Er fuhr rasch, wie immer; die Hecke raste gegen den dunklen Himmel, und die wilden Kaninchen flüchteten vor dem Strahl seiner Lampe; aber heute abend bemerkte er sie kaum.
Er würde es jemand sagen müssen. Er hätte es Mrs. Harlowe sagen sollen; hätte er das nur getan! Sie würde wissen, was er tun sollte. Bei Mr. Snow wäre es auch gegangen, aber der war in Naturwissenschaft ja nicht mehr sein Lehrer, sondern Rode. Das war der halbe Kummer. Das und Fielding.
E konnte es True sagen - ja, der würde er es sagen. Er würde heute nach der Abendkrankenvisite zu Miss Truebody gehen und ihr die Wahrheit sagen. Sein Vater würde es natürlich nie verwinden, weil es Versagen bedeutete und vielleicht Schande. Es bedeutete, daß er am Ende des nächsten Semesters nicht nach Sandhurst auf die Militärakademie kommen würde, es bedeutete noch mehr Ausgaben, für die sie nicht das Geld aufbringen konnten...
Jetzt näherte er sich dem steilsten Teil der abfallenden Straße. Die Hecke hörte an einer Seite auf und gab einen wunderbaren Blick auf Schloß Sawley gegen den Abendhimmel frei; es war wie ein Prospekt für »Macbeth«. Er liebte das Theaterspielen, hätte gewünscht, der Direktor ließe sie in Carne Theater spielen.
Er beugte sich über die Lenkstange nach vorn und ließ das Rad schneller laufen, um die seichte Furt am unteren Ende des Hügels zu durchfahren. Die kalte Luft schnitt ihm ins Gesicht, und einen Augenblick vergaß er beinahe... Plötzlich bremste er; fühlte das Rad wild unter sich weggleiten.
Irgend etwas stimmte nicht; voraus war ein Licht, ein blitzendes Licht, und eine vertraute Stimme rief ihm durch die Dunkelheit eindringlich zu.
DIE ART DER GNADE
Das Internatsschulen-Komitee für Flüchtlingshilfe (Patronin: Sarah, Gräfin von Sawley) hat ein Büro am Belgrave Square. Es ist durchaus nicht klar, ob diese luxuriöse Lage dazu bestimmt ist, die Reichen zu verlocken oder die Enterbten zu ermutigen - oder, wie einige respektlose Stimmen in der Gesellschaft wisperten - die Gräfin von Sawley mit einem billigen pied-á-terre im Londoner Westend zu versehen. Die Aufgabe der Flüchtlingshilfe ist geziemenderweise auf das Südufer der Themse verbannt worden, auf einen der ungepflegten Plätze von Kennington, die ein Teil der architektonischen Schizophrenie von London sind. York Gardens, wie der Platz heißt, wird eines Tages von der Welt entdeckt werden und seinen Charme verlieren, aber suchen Sie ihn jetzt auf, und Sie können dort richtige Kinder auf der Straße Himmel und Hölle spielen sehen und ihre Mütter, die mit Pantoffeln in der Haustür stehen, mit ihnen schimpfen hören.
Miss Brimley, durch Smileys Telefonanruf vom Vortag auf ihren Weg geschickt, hatte die ungewöhnliche Gabe, mit Kindern zu sprechen, als seien sie menschliche Wesen, und entdeckte so ohne Schwierigkeiten das verfallene Haus ohne Namen, das dem Komitee als Sammelzentrale diente. Mit der Assistenz von sieben kleinen Jungen zog sie die Klingel und wartete geduldig. Endlich hörte sie klappernde Schritte eine läuferlose Treppe herunterkommen, und die Tür wurde von einem sehr schönen Mädchen geöffnet. Sie sahen einander einen Moment mit Wohlwollen an.
»Entschuldigen Sie die Störung«, begann Miss Brimley, »aber eine Freundin von mir auf dem Lande hat mich gebeten, Erkundigungen über ein Kleiderpaket einzuziehen, das vor ein oder zwei Tagen hierher geschickt wurde. Sie hat einen ziemlich dummen Fehler gemacht.«
»Du meine Güte, wie schrecklich«, sagte das Mädchen freundlich. »Möchten Sie nicht hereinkommen? Alles ist schrecklich chaotisch, fürchte ich, und es gibt hier keine Sitzgelegenheit, aber wir können Ihnen Instant-Kaffee in einem Becher anbieten.«
Miss Brimley folgte ihr in das Haus und schloß die Tür fest vor den sieben Kindern, die in ihrem Kielwasser sanft nach vorne drängten. Sie war in der Halle. Wo sie auch hinsah, lagen Pakete jeder Art, einige in Jute mit schicken Anhängern verpackt, einige in zerrissenem und unordentlichem Packpapier, einige in Lattenkisten und Wäschekörben, alten Handkoffern und sogar in einem antiquierten Kabinenkoffer mit einem vergilbten Zettel, auf dem zu lesen stand: »Wird auf der Überfahrt nicht benötigt.«
Das Mädchen führte sie nach oben in einen Raum, der offenbar das Büro war, ein großes Zimmer, das einen mit Briefen übersäten Holztisch und einen Küchenstuhl enthielt. Ein Ölofen blubberte in einer Ecke, und ein elektrischer Kessel dampfte auf melancholische Weise daneben. »Entschuldigen Sie«, sagte das Mädchen, als sie das Zimmer betraten, »aber unten ist einfach kein Platz zum Sprechen. Ich meine, man kann ja nicht auf einem Bein reden wie die Inkas. Oder sind's nicht die Inkas? Vielleicht sind's die Afghanen. Wie haben Sie uns nur gefunden?«
»Ich bin zuerst in Ihr Westend-Büro gegangen«, antwortete Miss Brimley, »und dort sagte man mir, ich solle Sie aufsuchen. Ich glaube, sie waren dort ziemlich ungehalten. Danach verließ ich mich auf Kinder. Die wissen immer den Weg. Sie sind Miss Dawney, nicht wahr?«
»Himmel, nein. Ich bin so was wie die Aushilfe. Till Dawney ist zum Zollamt in Rotherhide gefahren - sie wird zur Teezeit zurück sein, wenn Sie sie sprechen wollen.«
»Meine Liebe, ich bin sicher, daß ich Sie nicht zwei Minuten aufhalten werde. Eine Freundin von mir, die in Carne lebt - (»Himmel! Wie großartig«, sagte das Mädchen), sie ist tatsächlich eine Art Kusine, aber es ist einfacher, sie eine Freundin zu nennen, nicht wahr?-, gab den Flüchtlingsleuten letzten Donnerstag ein altes graues Kleid, und nun ist sie überzeugt, daß sie ihre wertvolle Brosche am Oberteil steckengelassen hat. Ich bin sicher, daß sie nichts dergleichen getan hat, wissen Sie - sie ist ein schusseliges Geschöpf-, aber sie rief mich gestern früh in einem schrecklichen Zustand an, und ich mußte ihr versprechen, sofort vorbeizukommen und zu fragen. Gestern konnte ich leider nicht kommen - ich bin vom Morgen bis zum Abend an meine Zeitschrift gebunden. Aber ich höre, Sie sind etwas im Rückstand, und so ist's wohl nicht zu spät?«
»Du liebe Güte, nein. Wir sind gewaltig im Rückstand. Das ganze Zeug da unten wartet darauf, ausgepackt und sortiert zu werden. Es kommt von den freiwilligen Helfern an jeder Schule - manchmal Schülern, manchmal Lehrern-, und sie tun alle Kleider zusammen und schicken sie in großen Paketen, entweder per Bahn oder mit gewöhnlicher Post, meist per Bahn. Wir sortieren sie hier, bevor wir sie ins Ausland schicken.«
»Das erfuhr ich von Jane. Sobald sie ihren Irrtum bemerkte, wandte sie sich an die Frau, die das Sammeln und den Versand besorgte, aber es war natürlich zu spät. Das Paket war weg.«
»Wie furchtbar... Wissen Sie, wann das Paket abgeschickt wurde?«
»Ja. Am Freitagvormittag.«
»Aus Carne? Bahn oder Post?«
Miss Brimley hatte diese Frage gefürchtet, aber sie wagte eine Vermutung: »Post, glaube ich.«
An Miss Brimley vorbeistürzend, stöberte das Mädchen in einem Berg von Papieren auf dem Schreibtisch und zog schließlich ein steifgebundenes Schulheft mit einem Etikett »Hauptbuch« hervor. Sie öffnete es aufs Geratewohl und blätterte rasch die Seiten durch, indem sie hie und da auf eine etwas gehetzte Art eine Fingerspitze leckte.
»Wäre frühestens gestern angekommen«, sagte sie. »Wir werden es sicher noch nicht geöffnet haben. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie wir's je schaffen sollen, und jetzt knapp vor Ostern wird's nur noch schlimmer werden. Obendrein verfault die Hälfte von unserem Zeug in den Zollschuppen - hallo, da haben wir's!« Sie schob das Hauptbuch zu Miss Brimley hinüber, und ihr schlanker Finger deutete auf eine Bleistifteintragung in der Hauptspalte: »Carne, Postpaket, 27 Pfund.«
»Würde es Sie«, sagte Miss Brimley, »furchtbar stören, wenn wir schnell mal hineinblicken?«
Sie gingen nach unten in die Halle.
»Es ist nicht ganz so greulich, wie's aussieht«, rief das Mädchen über die Schulter. »Das ganze Zeug vom Montag wird der Tür am nächsten liegen.«
»Wie wissen Sie, woher sie kommen, wenn Sie den Poststempel nicht lesen können?« fragte Miss Brimley, als das junge Mädchen unter den Paketen zu wühlen begann.
»Wir verteilen unsere Aufklebeschildchen an die freiwilligen Helfer. Die Schildchen haben eine Herkunftsnummer. In anderen Fällen bitten wir sie einfach, den Namen ihrer Schule in Blockbuchstaben außen anzuschreiben. Sehen Sie, wir können einfach keine Begleitbriefe erlauben, es wäre zu schrecklich. Wenn wir ein Paket bekommen, brauchen wir nur eine vorgedruckte Karte abzuschicken und dankend den Empfang eines Pakets von dem und dem Datum, von soundsoviel Gewicht zu bestätigen. Leute, die keine freiwilligen Helfer sind, werden keine Pakete an diese Adresse schicken, wissen Sie - sie schicken sie an die angegebene Adresse am Beigrave Square.«
»Funktioniert das System?«
»Nein«, sagte das Mädchen, »es funktioniert nicht. Die Freiwilligen vergessen entweder, unsere Schildchen zu benutzen, oder diese gehen ihnen aus und sie haben keine Lust, es uns mitzuteilen. Zehn Tage später rufen sie wütend an, weil sie keine Empfangsbestätigung bekommen haben. Auch die Freiwilligen wechseln, ohne es uns mitzuteilen, und die Instruktionen fürs Verpacken und Beschriften werden nicht weitergegeben. Manchmal entschließen sich die Schuljungen, es selbst zu machen, und keiner sagt ihnen, wie sie es anfangen müssen. Lady Sarah wird so wild wie eine Schlange, wenn Pakete im Hauptbüro erscheinen - sie müssen alle zum Neuverpacken und Registrieren hierhergeschafft werden.«
»Ich bin im Bilde.« Miss Brimley sah besorgt zu, wie das Mädchen, immer noch weitersprechend, unter den Paketen stöberte.
»Sagten Sie, daß Ihre Freundin tatsächlich in Carne unterrichtet? Sie muß ja ganz großartig sein. Ich möchte wissen, wie der Prinz ist: er sieht auf den Fotos ziemlich weichlich aus. Mein Vetter war Schüler in Carne - er ist eine völlige Niete... Wissen Sie, was er mir erzählte? Während der Rennwoche von Ascot machten sie folgendes... Hallo! Da haben wir's!« Das Mädchen stand auf, ein großes viereckiges Paket in den Armen, und trug es zu einem Tisch, der im Schatten des Treppenhauses stand. Miss Brimley, die neben ihr stand, als sie sorgfältig die starken Bindfäden aufzuknüpfen begann, sah neugierig nach dem gedruckten Aufklebeschildchen. In der linken oberen Ecke war das Zeichen gestempelt, welches das Komitee offenbar Carne zugeteilt hatte: C 4. Nach der Vier war der Buchstabe B mit einem Kugelschreiber hineingeschrieben worden. »Was bedeutet das B?«
»Oh, das ist ein örtliches Arrangement in Carne. Miss D'Arcy ist dort die Vertreterin, aber sie haben ja neuerdings so gut gearbeitet, daß sie eine Freundin als Hilfe beim Versand angeworben hat. Wenn wir bestätigen, erwähnen wir immer, ob es A oder B gewesen ist. B muß schrecklich eifrig sein, wer immer sie ist.«
Miss Brimley unterdrückte die Frage, wie viele der Pakete aus Carne bei Miss D'Arcy ihren Ursprung hatten und wie viele bei ihrer anonymen Assistentin.
Das Mädchen entfernte den Bindfaden und stellte das Paket auf den Kopf, um das übereinandergreifende Einwickelpapier freizubekommen. Dabei sah Miss Brimley nahe der Verschlußstelle einen schwachen braunen verschmierten Fleck ungefähr von der Größe eines Shillings. Es entsprach ihrem angeborenen Rationalismus, daß sie nach jeder Erklärung suchte, nur nicht nach jener, die sich ihr so deutlich anbot. Das Mädchen setzte das Auswickeln fort und sagte plötzlich: »Carne, ist dort nicht der gräßliche Mord passiert - die Lehrersfrau, die von einer Zigeunerin ermordet wurde? Es ist wirklich furchtbar, wie viele solcher Sachen passieren, nicht? Hm! Hab' ich mir schon gedacht«, bemerkte sie, sich plötzlich unterbrechend. Sie hatte das äußere Papier entfernt und war dabei, das Bündel innen auszupacken, als ihre Aufmerksamkeit offensichtlich vom Aussehen des inneren Pakets erregt wurde.
»Was?« fragte Miss Brimley rasch.
Das Mädchen lachte. »Ach, nur die Verpackung«, sagte sie. »Die C-4-B-Sachen sind in der Regel so ordentlich - so ziemlich das Beste, was wir kriegen. Dies ist ganz anders. Überhaupt nicht dieselbe Person. Muß ein Ersatz sein. Ich habe es mir gleich gedacht.«
»Wie können Sie so sicher sein?«
»Oh, es ist wie eine Handschrift. Wir können es ablesen.« Sie lachte wieder und entfernte ohne weitere Umstände die letzte Umhüllung. »Graues Kleid, sagten Sie, nicht? Wir wollen mal sehen.« Mit beiden Händen begann sie, Kleider oben vom Haufen zu nehmen und nach links und rechts zu legen. Sie war fast zur Hälfte durch, als sie ausrief: »Nein, wirklich! Die müssen ja einen Dachschaden haben!« Dabei zog sie aus dem Bündel getragener Kleider einen durchsichtigen Kunststoffregenmantel, ein Paar sehr alte Lederhandschuhe und ein Paar Gummiüberschuhe.
Miss Brimley hielt sich an der Tischkante fest. In ihren Handflächen pochte das Blut.
»Hier ist ein Cape, auch noch feucht«, fügte das Mädchen mit Abscheu hinzu und schleuderte die anstößigen Gegenstände neben dem Tisch auf den Boden. Miss Brimley konnte nur an Smileys Brief denken: »Wer sie auch getötet hat, muß mit Blut bedeckt gewesen sein.« Ja, und wer sie getötet hatte, trug ein Kunststoffcape mit einer Kapuze, Gummiüberschuhe und jene alten Lederhandschuhe mit den rostbraunen Flecken. Wer Stella Rode getötet hatte, war nicht aufs Geratewohl in der Nacht auf sie losgegangen, sondern hatte lange im voraus geplant, hatte gewartet. Ja, dachte Miss Brimley, hatte auf die langen Nächte gewartet.
Das Mädchen sprach wieder: »Ich fürchte, es ist wirklich nicht dabei.«
»Nein, meine Liebe«, antwortete Miss Brimley. »Das sehe ich. Danke. Sie waren sehr nett.« Ihre Stimme schwankte einen Moment, dann bekam sie es fertig zu sagen: »Ich finde, meine Liebe, Sie sollten das Paket genauso lassen, wie es jetzt ist, die Verpackung und alles darin. Etwas Schreckliches ist passiert, und die Polizei wird... davon wissen und das Paket sehen wollen... Sie müssen mir vertrauen, meine Liebe - die Dinge sind nicht ganz das, was sie zu sein scheinen...« Und auf irgendeine Weise entfloh sie in die tröstliche Freiheit von York Gardens und zum großäugigen Wunder seiner Kinder.
Sie ging zu einer Telefonzelle. Sie bekam Verbindung mit dem »Sawley Arms« und fragte einen sehr gelangweilten Empfangschef nach Mr. Smiley. Völlige Stille senkte sich auf die Verbindung, bis das Fernamt sie aufforderte, nochmals drei Shilling und Sixpence einzuwerfen. Miss Brimley antwortete scharf, daß alles, was sie bisher für ihr Geld bekommen habe, ein Dreiminutenvakuum gewesen sei; darauf folgte das unmißverständliche Geräusch der an ihren Zähnen lutschenden Telefonistin und dann, ganz plötzlich, kam George Smileys Stimme.
»George, hier ist Brim. Ein Kunststoffregenmantel, ein Cape, Gummiüberschuhe und Lederhandschuhe, die blutbefleckt aussehen. Auch Flecken auf einem Teil der Verpackung allem Anschein nach.«
Eine Pause.
»Etwas Handschriftliches auf der Außenseite des Pakets?«
»Nichts. Die Wohltätigkeitsorganisation verteilt vorgedruckte Zettel.«
»Wo ist das Zeug jetzt? Hast du's?«
»Nein. Ich habe dem Mädchen gesagt, alles genauso zu lassen, wie es ist. Das wird für ein, zwei Stunden in Ordnung gehen... George, bist du noch da?«
»Ja.«
»Wer hat es getan? War es der Ehemann?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.«
»Soll ich irgend etwas tun - wegen der Kleider, meine ich? Sparrow anrufen oder irgend etwas?«
»Nein. Ich werde sofort mit Rigby sprechen. Adieu, Brim. Danke für den Anruf.«
Sie legte den Hörer auf. Er hörte sich seltsam an, fand sie. Er schien manchmal ganz geistesabwesend. Als wenn er abgeschaltet hätte. Sie ging in nordwestlicher Richtung zum Themsekai. Es war lange nach zehn - das erstemal, daß sie spät dran war. Das war weiß Gott wie lange nicht mehr vorgekommen. Sie sollte sich ein Taxi nehmen. Da sie jedoch eine sparsame Frau war, fuhr sie mit dem Bus.
Ailsa Brimley glaubte nicht an Notfälle, denn sie erfreute sich einer bei Männern ungewöhnlichen und bei Frauen noch selteneren geistigen Disziplin. Je größer der Notfall, desto größer ihre Ruhe. John Landsbury hatte darüber bemerkt: »Du widersetzt dich dem Dramatischen, Brim; du hast die seltene Gabe, das zu verachten, was dringend ist. Ich kenne ein Dutzend Leute, die dir fünftausend jährlich dafür zahlen würden, daß du ihnen täglich sagst, daß das, was wichtig ist, selten auch dringend ist. Das Dringende ist gleich dem Vergänglichen, und das Vergängliche ist gleich dem Unwichtigen.«
Sie stieg aus dem Bus und warf den Fahrschein sorgsam in den Abfallkorb. Als sie in dem warmen Sonnenlicht der Straße stand, gewahrte sie die Plakate, die die erste Ausgabe der Abendblätter anzeigten. Wäre die Sonne nicht gewesen, hätte sie vielleicht gar nicht hingesehen; aber die Sonne blendete sie und ließ sie nach unten blicken. Und so sah sie es, las sie im fetten Schwarz des feuchten Zeitungsdrucks, in der vorgefaßten Hysterie der Fleet-Street: »Nächtliche Suche nach verschwundenem Carne-Schüler.«
DER WEG ZU FIELDING
Smiley legte den Hörer hin und ging rasch am Empfangstisch vorbei zum Ausgang. Er mußte Rigby sofort sprechen.
Als er eben das Hotel verließ, hörte er jemanden seinen Namen rufen. Er drehte sich um und sah seinen alten Feind, den Nachtportier, der dem Tageslicht trotzte und ihm mit seiner grauen Hand wie Charon zuwinkte.
»Die von der Polizeistation haben Sie schon gesucht«, bemerkte er mit unverhohlenem Vergnügen: »Mr. Rigby möchte Sie sprechen, der Inspektor. Sie sollen sofort hinkommen. Sofort, verstehen Sie.«
»Ich bin ja schon dorthin unterwegs«, antwortete Smiley gereizt, und als er sich durch die Pendeltür schob, hörte er den alten Mann wiederholen: »Sofort, verstehen Sie; man wartet auf Sie.«
Auf dem Weg durch die Straßen von Carne dachte er zum hundertsten Male über die Unergründlichkeit des Motivs im menschlichen Handeln nach: Es gibt nichts Wahres auf Erden. Es gibt keinen festen, keinen verläßlichen Punkt, nicht einmal in der reinsten Logik oder im dunkelsten Mystizismus; am wenigsten in den Motiven von Menschen, wenn sie sich zu einer Gewalttat gedrängt fühlen.
Hatte der Mörder, der nun so nahe vor der Entdeckung stand, in der peinlich genauen Ausführung seiner Pläne Befriedigung gefunden? Denn jetzt war es über jeden Zweifel erhaben: Dies war ein bis in die letzten Einzelheiten vorbereiteter Mord - selbst bis zu der unerklärlich weit vom Tatort weggeschafften Waffe. Ein Mord mit Spuren, die zur Irreführung ausgestreut worden waren, ein Mord, geplant, um ungeplant zu wirken, ein Mord wegen einer Kette von Perlen. Nun war das Geheimnis der Fußabdrücke geklärt: nachdem er die Überschuhe ins Paket getan hatte, war der Mörder den Pfad hinunter zum Tor gegangen, und seine eigenen Spuren waren durch die zahlreichen Fußabdrücke anderer verwischt worden.
Rigby sah müde aus.
»Sie haben die Nachricht gehört, Sir, nehme ich an?«
»Was für eine Nachricht?«
»Über den Jungen, den Jungen in Fieldings Haus, der die ganze Nacht abgängig war.«
»Nein.« Smiley fühlte plötzliche Übelkeit. »Nein, ich habe nichts gehört.«
»Himmel, ich dachte, Sie wüßten Bescheid! Gestern abend um halb neun rief uns Fielding hier an. Perkins, sein Präfekt, sei nicht von einer Musikstunde bei Mrs. Harlowe, die in Richtung Longemede wohnt, nach Hause gekommen. Wir gaben Alarm und begannen, nach ihm zu suchen. Ein Streifenwagen wurde auf die Straße geschickt, auf der er hätte zurückkommen müssen - er fuhr mit dem Rad, wissen Sie. Zuerst sahen sie nichts, aber auf der Rückfahrt stoppte der Fahrer den Wagen am Fuß des Longemede-Hügels, da, wo die seichte Furt ist. Es fiel ihm ein, daß der Junge vielleicht vom oberen Ende des Steilstückes einen langen Anlauf auf die Furt zu gemacht haben und in der Vertiefung zu Schaden gekommen sein könnte. Sie fanden ihn halb im Graben, das Rad daneben. Tot.«
»Ach, mein Gott!«
»Wir haben der Presse zuerst nichts verlautbart. Die Eltern sind in Singapur. Der Vater ist Berufsoffizier, Fielding hat ihm ein Telegramm geschickt. Wir haben uns auch mit dem Kriegsministerium in Verbindung gesetzt.«
Sie schwiegen einen Augenblick, dann fragte Smiley: »Wie ist das passiert?«
»Wir haben die Straße gesperrt und versucht, den Unfall zu rekonstruieren. Ich habe jetzt einen Beamten drüben, nur zum Nachsehen. Das dumme ist, wir konnten bis zum Morgen nicht viel tun. Außerdem, die Männer sind überall herumgetrampelt; man kann's ihnen nicht übelnehmen. Es sieht so aus, als ob er nahe dem Ende des Gefälles hingefallen und mit seinem Kopf auf einem Stein aufgeschlagen wäre: die rechte Schläfe.«
»Wie hat Fielding es aufgenommen?«
»Er war sehr erschüttert. Sehr erschüttert, wirklich. Ehrlich gesagt, ich hätte es nicht geglaubt. Er schien einfach... zu resignieren. Es gab eine Menge zu tun - den Eltern zu telegrafieren, mit dem Onkel des Jungen in Windsor Verbindung aufzunehmen und so weiter. Aber er überließ das alles einfach Miss Truebody, seiner Haushälterin. Wenn sie nicht gewesen wäre, ich weiß nicht, wie wir fertig geworden wären. Ich war ungefähr eine halbe Stunde bei ihm, dann brach er einfach völlig zusammen und bat, allein gelassen zu werden.«
»Wie meinen Sie das: brach zusammen?« fragte Smiley rasch.
»Er weinte. Weinte wie ein Kind«, sagte Rigby gelassen. »Ich hätte's nie gedacht.«
Smiley bot Rigby eine Zigarette an und nahm selbst eine.
»Ich nehme an«, wagte er, »es war ein Unfall?«
»Das nehme ich an«, erwiderte Rigby hölzern.
»Vielleicht«, sagte Smiley, »teile ich Ihnen, ehe wir fortfahren, meine Neuigkeiten mit. Ich war unterwegs, um Sie aufzusuchen, als Sie anriefen. Ich habe gerade von Miss Brimley gehört.« Und auf seine präzise, ziemlich formelle Art berichtete er alles, was ihm Miss Brimley gesagt hatte und wie er auf den Inhalt des Paketes neugierig geworden war.
Smiley wartete, während Rigby mit London telefonierte. Fast mechanisch beschrieb Rigby alles, was er getan wissen wollte: das Paket und sein Inhalt waren zu beschlagnahmen und Vorkehrungen zu treffen, sie sofort einer gerichtsmedizinischen Untersuchung zu unterziehen; die Oberflächen waren nach Fingerabdrücken zu untersuchen. Er werde selbst mit einigen Proben der Handschrift eines Jungen und einer Examensarbeit nach London kommen; er werde das Gutachten eines Handschriftexperten einholen. Nein, er werde mit der Bahn, mit dem Zug 4 Uhr 25 ab Carne ankommen, der in Waterloo um 8 Uhr 05 eintrifft. Könne man ihn mit dem Wagen vom Bahnhof abholen lassen? Stille trat ein, und dann sagte Rigby verdrossen: »Schon gut, dann nehme ich mir so ein verfluchtes Taxi«, und legte ziemlich jäh auf. Er sah Smiley einen Moment ärgerlich an, grinste dann, zupfte sich am Ohr und sagte:
»Verzeihung, Sir, ich werde schon ein bißchen verdrossen.« Er deutete mit dem Kopf auf die entfernte Wand und fügte hinzu: »Kämpfe an zu vielen Fronten, nehme ich an. Ich werde den Chef über das Paket in Kenntnis setzen müssen, aber er ist im Augenblick auf der Jagd - nur Tauben, mit ein paar Freunden, er wird nicht lange weg sein -, aber ich habe Ihre Anwesenheit in Carne tatsächlich noch nicht erwähnt, und wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich...«
»Selbstverständlich«, unterbrach ihn Smiley schnell. »Ist ja viel einfacher, wenn Sie mich heraushalten.«
»Ich werde ihm sagen, daß es nur eine Routineerkundigung war. Wir werden Miss Brimley später erwähnen müssen... Aber es hat keinen Sinn, die Dinge noch schlimmer zu machen, wie?«
»Nein.«
»Ich muß Janie freilassen, glaube ich... Sie hatte doch recht, nicht wahr? Silberflügel im Mondschein.«
»Ich würde - nein, ich würde sie nicht freilassen, Rigby«, sagte Smiley mit ungewohnter Heftigkeit. »Behalten Sie sie so lange, wie Sie nur können, in Haft. Keine weiteren Unfälle, um Himmels willen! Wir haben genug davon gehabt.«
»Dann glauben Sie also nicht, daß Perkins' Tod ein Unfall war?«
»Lieber Himmel, nein«, rief Smiley plötzlich, »und Sie auch nicht, oder?«
»Ich habe einen Beamten darauf angesetzt«, erwiderte Rigby kühl. »Ich kann den Fall nicht selbst übernehmen. Ich werde beim Mordfall Rode benötigt. Der Chef wird jetzt Scotland Yard hinzuziehen müssen, und die Hölle wird los sein, kann ich Ihnen sagen. Er dachte, es sei alles so gut wie vorüber.«
»Und in der Zwischenzeit?«
»In der Zwischenzeit werde ich mein Bestes tun, um herauszufinden, wer Stella Rode ermordet hat.«
»Wenn man«, sagte Smiley langsam, »auf diesem Regenmantel Fingerabdrücke findet, was ich bezweifle, wird man irgendwelche... hier greifbar haben, um sie damit zu vergleichen?«
»Wir haben natürlich Rodes und Janies.«
»Aber nicht Fieldings?« Rigby zögerte.
»Tatsächlich haben wir welche«, sagte er endlich. »Aus lange zurückliegender Zeit. Das hat aber nichts mit dieser Art von Verbrechen zu tun.«
»Es war während des Krieges«, sagte Smiley. »Sein Bruder erzählte es mir. Oben im Norden. Es wurde vertuscht, nicht wahr?«
Rigby nickte. »Soviel ich gehört habe, wußten es nur die D'Arcys, und natürlich der Direktor. Es geschah in den Ferien - irgendein Junge aus der Air Force. Der Chef war sehr hilfsbereit...«
Smiley schüttelte Rigby die Hand und ging das vertraute mit Weichholz getäfelte Treppenhaus hinunter. Er bemerkte wieder den unbestimmten Institutsgeruch von Bohnerwachs und Karbolseife, ähnlich dem Geruch in Fieldings Haus.
Langsam ging er zum »Sawley Arms« zurück. An der Stelle jedoch, wo er sich nach links zu seinem Hotel hätte wenden müssen, zögerte er und schien sich anders zu entschließen. Dann überquerte er bedächtig, fast widerstrebend, die Straße zum Abteiplatz und ging um die Südecke herum auf Fieldings Haus zu. Er sah beunruhigt aus, fast erschrocken.
SINN FÜR MUSIK
Miss Truebody öffnete die Tür. Ihre Augenlider waren gerötet, als ob sie geweint hätte.
»Könnte ich vielleicht Mr. Fielding sprechen? Um mich zu verabschieden.«
Sie zögerte. »Mr. Fielding ist ganz außer sich. Ich bezweifle, daß er irgend jemanden empfangen möchte.«
Er folgte ihr durch die Halle und sah zu, wie sie zur Tür des Studierzimmers ging. Sie klopfte, neigte den Kopf, drückte dann sacht die Türklinke und trat ein. Es dauerte lange, bis sie zurückkam.
»Er wird gleich herauskommen«, sagte sie, ohne Smiley anzusehen.
»Wollen Sie Ihren Mantel ablegen?« Sie wartete, während er umständlich aus dem Mantel schlüpfte, nahm ihn dann und hängte ihn neben den Van-Gogh-Stuhl. Sie standen schweigend nebeneinander und blickten zur Tür des Arbeitszimmers.
Dann, ganz plötzlich, stand Fielding in der halboffenen Tür, unrasiert und in Hemdsärmeln. »Um Gottes willen«, sagte er heiser. »Was wollen Sie?«
»Ich wollte mich nur verabschieden, Fielding, und mein Beileid aussprechen.«
Fielding sah ihn einen Augenblick fest an; er lehnte sich schwer gegen die Türfüllung: »Also, adieu. Danke für Ihren Besuch.« Er fuchtelte mit einer Hand unbestimmt umher. »Sie hätten sich wirklich nicht zu bemühen brauchen«, setzte er unhöflich hinzu. »Sie hätten mir auch eine Karte schicken können, nicht?«
»Hätte ich tun können, ja; es schien nur so sehr tragisch, da er so nahe vor dem Erfolg war.«
»Was meinen Sie? Was, zum Teufel, meinen Sie?«
»Ich meine seine Arbeit... die Besserung. Simon Snow hat mir alles erzählt. Wirklich erstaunlich, die Art, wie ihn Rode weitergebracht hat.«
Ein langes Schweigen, dann sprach Fielding: »Adieu, Smiley. Danke für Ihren Besuch.« Er wandte sich zum Studierzimmer zurück, als Smiley rief:
»Aber bitte... bitte sehr. Ich nehme an, auch der arme Rode muß sich von diesen Prüfungsergebnissen aufgekratzt gefühlt haben. Ich meine, es war doch mehr oder weniger eine Sache von Leben und Tod für Perkins, diese Prüfung zu bestehen, nicht wahr? Er hätte doch seine Versetzung im nächsten Semester nicht bekommen, wenn er in Naturwissenschaft durchgefallen wäre. Sie hätten ihn vielleicht nicht zulassen können, nehme ich an, obwohl er Hauspräfekt war; dann hätte er nicht zur Aufnahmeprüfung in die Armee antreten dürfen. Armer Perkins, er hatte Rode eine Menge zu verdanken, nicht wahr? Und sicherlich auch Ihnen, Fielding. Sie müssen ihm wunderbar geholfen haben... Sie beide, Sie und Rode; Rode und Fielding. Seine Eltern sollten das wissen. Sie sind ziemlich in Geldnot, höre ich; der Vater ist Berufsoffizier, nicht wahr, in Singapur? Es muß eine große Anstrengung bedeutet haben, den Jungen in Carne zu halten. Es wird sie trösten, zu wissen wieviel für ihn getan wurde, nicht wahr, Fielding?« Smiley war sehr blaß. »Sie haben das Neueste wohl schon gehört?« fuhr er fort. »Über dieses elende Zigeunerweib, das Stella Rode getötet hat? Man hat entschieden, daß sie zurechnungsfähig ist. Ich nehme an, man wird sie hängen. Das wäre dann der dritte Tod, nicht wahr? Hören Sie, ich werde Ihnen etwas Seltsames erzählen - ganz unter uns-, Fielding. Ich glaube nicht, daß sie es getan hat. Glauben Sie's? Ich glaube einfach nicht, daß sie es getan hat.«
Er sah Fielding nicht an. Seine kleinen Hände hatte er fest hinter dem Rücken verschränkt; er stand mit hängenden Schultern da, den Kopf zur Seite geneigt, als lausche er auf eine Antwort.
Fielding schien Smileys Worte wie einen physischen Schmerz zu empfinden. Langsam schüttelte er den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Carne tötete sie; es war Carne. Es konnte nur hier passieren. Es ist das Spiel, das wir spielen: das Ausschließungsspiel. Teile und herrsche!« Er sah Smiley voll ins Gesicht und schrie: »Nun gehen Sie, um Himmels willen! Sie haben bekommen, was Sie wollten, nicht? Nun können Sie mich auf Ihr kleines Brett heften, wie?« Und dann begann er, zu Smileys Qual, in langgezogenen unbeherrschten Schluchzern zu wimmern, die Hand auf der Stirn. Plötzlich erschien er grotesk, wie er den kindlichen Tränen mit seiner kreideweißen Hand Einhalt gebot, die plumpen Füße nach innen gedreht. Sachte lockte ihn Smiley ins Studierzimmer zurück, sachte setzte er ihn vor das erloschene Feuer. Dann begann er leise und mitfühlend mit ihm zu sprechen.
»Wenn es wahr ist, was ich denke, ist nicht mehr viel Zeit«, begann er. »Ich möchte, daß Sie mir von Tim Perkins erzählen - von dem Examen.«
Fielding nickte, das Gesicht in die Hände vergraben.
»Er wäre durchgefallen, nicht wahr? Er wäre durchgefallen und nicht versetzt worden; er hätte abgehen müssen.« Fielding schwieg. »Nach der Prüfung, an jenem Tag, gab ihm Rode die Aktenmappe, um sie hierherzubringen, die Mappe, die die Arbeiten enthielt; Rode hatte in dieser Woche Kirchendienst und kam vor dem Abendessen nicht nach Hause, aber er wollte die Arbeiten in jener Nacht korrigieren, nach seinem Essen mit Ihnen.«
Fielding nahm die Hände vom Gesicht und lehnte sich im Stuhl zurück, den großen Kopf nach hinten geneigt, die Augen geschlossen. Smiley fuhr fort:
»Perkins kam nach Hause und brachte an diesem Abend die Mappe zu Ihnen, wie Rode es ihm gesagt hatte, zur sicheren Aufbewahrung. Perkins war schließlich Ihr Hauspräfekt, ein verantwortungsbewußter Junge... Er übergab Ihnen die Mappe, und Sie fragten ihn, wie er bei der Prüfung abgeschnitten habe.«
»Er weinte«, sagte Fielding plötzlich. »Er weinte, wie nur ein Kind weinen kann.«
»Und nachdem er zusammengebrochen war, sagte er Ihnen, daß er gemogelt hatte? Daß er die Antworten nachgesehen und in seine Prüfungsarbeit übertragen hatte. Stimmt das? Und nach der Ermordung von Stella Rode erinnerte er sich, was er sonst noch in der Mappe gesehen hatte?«
Fielding stand auf. »Nein! Sehen Sie's denn nicht? Tim hätte nicht gemogelt, um sein Leben zu retten! Das ist ja der springende Punkt, die ganze verdammte Ironie dabei«, rief er. »Er hat überhaupt nicht gemogelt. Ich mogelte für ihn.«
»Aber das konnten Sie doch nicht! Sie konnten seine Handschrift nicht kopieren!«
»Er schrieb mit einem Kugelschreiber. Es waren nur Formeln und Diagramme. Als er fortgegangen war und mich mit der Aktenmappe allein gelassen hatte, sah ich mir seine Arbeit an. Sie war hoffnungslos - er hatte nur zwei von sieben Aufgaben gelöst. So mogelte ich für ihn. Ich schrieb sie einfach aus dem Lehrbuch ab und trug sie mit blauem Kugelschreiber ein, wie wir ihn alle benutzen. Abbotts verkaufen sie. Ich ahmte seine Schrift nach, so gut ich konnte. Ich brauchte nur etwa drei Zahlenreihen. Das übrige waren Diagramme.«
»Dann waren Sie es, der die Mappe öffnete? Der sah...«
»Ja,- ich war es, sage ich Ihnen, nicht Tim! Er konnte für sein Leben nicht mogeln! Aber Tim bezahlte dafür, sehen Sie's nicht? Als die Zensuren bekanntgegeben wurden, muß Tim gewußt haben, daß etwas mit ihnen nicht in Ordnung war. Schließlich hatte er nur zwei Aufgaben von sieben versucht, und jetzt hatte er einundsechzig Prozent bekommen. Aber sonst wußte er nichts, gar nichts!«
Lange Zeit sprach keiner von ihnen. Fielding blickte auf Smiley herab, frohlockend vor Erleichterung darüber, daß jemand sein Geheimnis teilte, und Smiley sah vage an ihm vorbei, das Gesicht in vollkommener Konzentration gestrafft.
»Und natürlich«, sagte er endlich, »wußten Sie, als Stella ermordet wurde, wer es getan hatte.«
»Ja«, antwortete Fielding, »ich wußte, daß Rode sie getötet hatte.«
Fielding goß sich einen Brandy ein und gab auch Smiley einen. Er schien seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen zu haben, setzte sich und sah Smiley eine Weile nachdenklich an.
»Ich habe kein Geld«, sagte er endlich. »Keines. Niemand weiß das außer dem Direktor. Oh, sie wissen, daß ich mehr oder minder bankrott bin, aber sie wissen nicht, wie bankrott. Vor langer Zeit benahm ich mich wie ein Esel. Ich geriet in Schwierigkeiten. Es war im Krieg, als man keine Lehrer bekam. Ich hatte ein Internat für Jungen und leitete praktisch die Schule - D'Arcy und ich. Wir leiteten sie zusammen, und der Direktor leitete uns. Dann benahm ich mich wie ein Esel. Es war während der Ferien. Ich war damals oben im Norden und hielt eine Reihe von Vorträgen in einem Ausbildungsort der Royal Air Force. Und ich ließ mir was zuschulden kommen. Schlimm. Sie schnappten mich. Und herbei kam D'Arcy, mit seinem bäuerlichen Mantel angetan, und überbrachte die Bedingungen des Direktors: Kommen Sie zurück nach Carne, lieber Kollege, und wir werden nicht mehr darüber sprechen; leiten Sie weiter Ihr Haus, lieber Kollege, und leihen Sie uns weiter Ihre Weisheit. Es ist nicht an die Öffentlichkeit gedrungen. Wir wissen, es wird nie wieder geschehen, lieber Kollege, und wir sind sehr knapp an Lehrern. Kommen Sie als Aushilfslehrer zurück. So hab' ich's gemacht, bin seitdem immer einer gewesen und gehe jeden Dezember mit der Mütze in der Hand zum Liebling D'Arcy mit der Bitte, meinen Vertrag zu erneuern. Und natürlich - keine Pension. Ich werde an einem Einpaukinstitut unterrichten müssen. Es gibt einen Ort in Somerset, wo sie mich nehmen werden. Ich besuche den Direktor in London am Donnerstag. Es ist eine Art Abbruchshof für alte Professoren. Unser Direktor muß es gewußt haben; er gab mir eine Empfehlung.«
»Deswegen konnten Sie es niemandem sagen? Wegen Perkins?«
»In gewisser Weise, ja. Ich meine, die Polizei würde ja alles mögliche wissen wollen. Ich tat es für Tim, sehen Sie. Die Kuratoriumsmitglieder hätten das nicht besonders gemocht... ungebührliche Zuneigung... Es sieht schlimm aus, nicht wahr? Aber es war nicht jene Art von Zuneigung, Smiley, nicht mehr. Sie haben ihn nie Cello spielen hören. Er war nicht großartig, aber zuweilen spielte er so schön, mit einer Art gewählter Schlichtheit, die unbeschreiblich gut war. Er war ein linkischer Junge, und wenn er gut spielte, war es eine solche Überraschung. Sie hätten ihn spielen hören sollen.«
»Sie wollten ihn da nicht hineinziehen. Wenn Sie der Polizei sagten, was Sie gesehen hatten, würde es auch Tim ruinieren?«
Fielding nickte. »In ganz Carne war er das einzige, was ich liebte.«
»Liebte?« fragte Smiley.
»Um Himmels willen«, sagte Fielding mit erschöpfter Stimme, »warum nicht?«
»Seine Eltern wollten, daß er auf die Militärakademie nach Sandhurst geht, ich nicht, leider. Ich dachte, ich könnte ihm, wenn ich ihn noch ein oder zwei Semester hierbehalten könnte, vielleicht ein Musikstipendium verschaffen. Deswegen machte ich ihn zum Hauspräfekten: Ich wollte, daß seine Eltern ihn hierließen, weil er sich so gut machte.« Fielding machte eine Pause. »Er war ein miserabler Hauspräfekt«, fügte er hinzu.
»Und was genau war in der Aktenmappe«, fragte Smiley, »als Sie sie an jenem Abend öffneten, um Tims Prüfungsarbeit zu besehen?«
»Ein Packen aus durchsichtigem Kunststoff - es kann eines von diesen zusammenfaltbaren Capes gewesen sein, ein altes Paar Handschuhe und ein Paar selbstgemachte Gummischuhe.«
»Selbstgemacht?«
»Ja. Von einem Paar Gummistiefel abgetrennt, würde ich sagen.«
»Das ist alles?«
»Nein. Da war noch ein Stück schweres Kabel; wie ich annahm, um etwas in seinem Naturwissenschafts-Unterricht zu demonstrieren. Es schien natürlich genug, im Winter eine Regenhaut bei sich zu führen. Dann, nach dem Mord, begriff ich, wie er es gemacht hatte.«
»Wußten Sie«, fragte Smiley, »warum er es getan hatte?«
Fielding schien zu zögern. »Rode ist ein Versuchskaninchen«, begann er, »der erste, den wir von einer öffentlichen Schule hatten. Die meisten von uns sind tatsächlich selbst alte Carnianer. Schon darauf eingestellt, wenn wir anfangen. Rode war es nicht, und Carne regte ihn auf. Der Name Carne selbst bedeutet Qualität, und Rode liebte Qualität. Seine Frau war nicht so. Sie hatte ihren Standard, und der war anders, aber genausogut. Ich pflegte Rode mitunter in der Abtei am Sonntagmorgen zu beobachten. Die Lehrer sitzen am Ende der Bankreihen, ganz beim Mittelschiff, wissen Sie. Ich beobachtete sein Gesicht, wenn der Chor an ihm vorbeizog, in Weiß und Scharlach, und der Direktor in seinem Talar eines Doktors der Philosophie, die Kuratoren hinter sich. Rode war trunken - trunken vom Stolz auf Carne. Wir sind berauschender Wein für die Leute von öffentlichen Schulen, wissen Sie. Es muß ihn schrecklich geschmerzt haben, daß Stella daran überhaupt nicht teilnahm. Man konnte das sehen. Noch an dem Abend, als sie zu mir zum Dinner kamen, an demselben Abend, als sie starb, zankten sie sich. Ich habe es niemandem erzählt, aber es stimmt. Der Direktor hatte an jenem Abend bei der Komplet eine Predigt »Haltet fest am Guten< gehalten. Rode sprach bei Tisch darüber; er konnte nicht viel Alkohol vertragen, wissen Sie, er war nicht daran gewöhnt. Er war erfüllt von dieser Predigt und der Beredsamkeit des Direktors. Seine Frau kam nie in die Abtei - sie ging in das schäbige Bethaus beim Bahnhof. Er verbreitete sich über die Schönheit des Abteirituals, die Würde, die Ehrfurcht. Sie verhielt sich still, bis er fertig war, lachte dann und sagte: >Armer alter Stan. Du wirst immer Stan für mich bleiben. < Ich habe noch nie jemanden so zornig gesehen wie damals ihn. Er wurde ganz blaß.«
Fielding wischte sich das weiße Haar aus den Augen und fuhr beinahe mit der alten Großspurigkeit fort: »Ich habe sie bei den Mahlzeiten beobachtet. Nicht nur hier, sondern auch bei Dinnergesellschaften anderswo, wenn wir beide eingeladen waren. Ich habe beobachtet, wie sie die simpelsten Dinge tat - etwa einen Apfel aß. Sie schälte ihn in einem Stück rundherum, bis die ganze Schale abfiel. Dann schnitt sie den Apfel auf und würfelte die Viertel, machte alles fertig, ehe sie ihn aß. Sie hätte die Frau eines Bergarbeiters sein können, die den Apfel für ihren Mann vorbereitet. Sie mußte doch gesehen haben, wie die Leute so etwas hier machen, aber es fiel ihr nie ein, daß sie sie nachahmen sollte. Ich bewundere das. Sie, Mr. Smiley, vermutlich auch. Aber Carne nicht - und Rode nicht; vor allem Rode nicht. Er pflegte sie zu beobachten, und ich glaube, er begann sie zu hassen, weil sie sich nicht anpaßte. Er sah sie allmählich als Hindernis für seinen Erfolg, als den einen Faktor, der ihn einer großen Karriere berauben würde. Einmal zu diesem Ergebnis gekommen, was konnte er tun? Er konnte sich nicht scheiden lassen - das hätte ihm mehr Schaden zugefügt, als wenn er mit ihr verheiratet blieb. Rode wußte, was Carne über eine Scheidung denken würde; wir sind eine Kirchengründung, bedenken Sie das. Deswegen tötete er sie. Er plante seinen schäbigen Mord und gab ihnen mit seinem kleinen Naturwissenschaftlerverstand all die Spuren, die sie finden wollten. Fabrizierte Spuren. Spuren, die auf einen Mörder hindeuten sollten, der gar nicht existierte. Aber etwas ging schief; Tim Perkins bekam einundsechzig Prozent. Er hatte eine unwahrscheinlich gute Note bekommen - er mußte gemogelt haben. Er hatte die Gelegenheit dazu - er hatte die Arbeiten in der Aktentasche gehabt. Rode setzte seinen kleinen Verstand daran und entschied, was geschehen war: Tim hatte die Mappe geöffnet und das Cape, die Schuhe und Handschuhe gesehen. Und das Kabel. Deswegen tötete Rode auch ihn.«
Mit überraschender Energie stand Fielding auf und schenkte sich einen Brandy ein. Sein Gesicht war gerötet, fast triumphierend.
Smiley stand auf. »Wann, sagten Sie, würden Sie nach London kommen? Donnerstag, nicht wahr?«
»Ja. Ich hatte abgemacht, daß ich mit meinem Einpaukmann in einem dieser schrecklichen Clubs in Pall Mall essen würde. Ich gehe immer in den falschen, Sie auch? Aber ich fürchte, es hat nicht viel Sinn, ihn jetzt noch zu treffen, wenn dies alles herauskommen wird, nicht wahr? Nicht einmal ein Einpaukinstitut wird mich dann noch nehmen.«
Smiley zögerte.
»Kommen Sie, und essen Sie mit mir an jenem Abend. Bleiben Sie über Nacht, wenn Sie wollen. Ich werde noch ein oder zwei Leute dazubitten. Wir werden eine Party abhalten. Sie werden sich bis dahin besser fühlen. Wir können ein bißchen plaudern. Vielleicht bin ich imstande, Ihnen zu helfen... um Adrians willen.«
»Danke. Ich täte es gern. Abgesehen von der Unterredung habe ich ohnehin allerlei in London zu ordnen.«
»Gut. Viertel vor acht. Bywater Street, Chelsea, Nummer 9 A.«
Fielding schrieb es in sein Notizbuch. Seine Hand war ganz sicher.
»Smoking?« fragte Fielding, den Stift gezückt, und irgendein Kobold ließ Smiley antworten:
»Ich ziehe gewöhnlich einen an, aber es ist nicht wichtig.« Einen Moment war Schweigen.
»Ich nehme an«, begann Fielding tastend, »daß dies alles in der Gerichtsverhandlung herauskommen wird, über Tim und mich? Ich werde ruiniert sein, wenn das geschieht, wissen Sie, ruiniert.«
»Ich weiß nicht, wie man das verhindern könnte.«
»Jetzt fühle ich mich jedenfalls viel besser«, sagte Fielding, »viel besser.«
Mit einem flüchtigen Adieu ließ Smiley ihn allein. Still ging er zur Polizeistation zurück, ziemlich sicher, daß Fielding der vollendetste Lügner war, dem er seit langem begegnet war.
ENTWISCHT
Er klopfte an Rigbys Tür und trat sofort ein.
»Es tut mir furchtbar leid, Sie müssen Rode verhaften«, begann er und schilderte seine Unterredung mit Fielding.
»Ich werde es dem Chef berichten müssen«, sagte Rigby zweifelnd. »Möchten Sie das alles vor ihm wiederholen? Wenn wir einen Carne-Lehrer einnähen wollen, so meine ich, daß es der Chef zuerst wissen muß. Er ist gerade zurückgekehrt. Warten Sie eine Minute.« Er griff nach dem Telefon auf seinem Tisch und verlangte den Polizeidirektor. Einige Minuten später gingen sie schweigend einen teppichbelegten Korridor hinunter. An beiden Wänden hingen Fotos von Rugby- und Cricketmannschaften, einige vergilbt und von der indischen Sonne gebleicht, andere in dem Sepiaton, der bei Carne-Fotografen zu Beginn des Jahrhunderts in Gunst gestanden hatte. In Zwischenräumen den Korridor entlang standen leere Eimer in leuchtendem Rot, die in Weiß den sorgfältigen Aufdruck FEUER zeigten. Am hintersten Ende des Korridors war eine dunkle Eichentür. Rigby klopfte und wartete. Stille. Er klopfte wieder, und das wurde mit dem Ruf »Herein« beantwortet.
Zwei sehr große Spaniels beobachteten ihr Eintreten. Hinter den Spaniels, an einem enormen Schreibtisch, saß Brigadegeneral Havelock, O. B. E.* [Order of the British Empire] Polizeidirektor von Carne, wie eine Wasserratte auf einem Floß.
Die wenigen Strähnen weißen Haars, die seitwärts über seinen sonst kahlen Kopf liefen, waren sorgsam so angeordnet, daß sie eine möglichst große Fläche bedeckten. Das gab ihm ein merkwürdig nasses Aussehen, als sei er gerade aus dem Fluß aufgetaucht. Sein Schnurrbart, der üppig die Schütterkeit sonstigen Haarwuchses wettmachte, war gelb und schien recht kräftig zu sein. Er war ein sehr kleiner Mann, trug einen braunen Anzug und einen steifen weißen Kragen mit abgerundeten Ecken.
»Sir«, begann Rigby, »darf ich Ihnen Mr. Smiley aus London vorstellen?«
Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor, als ergebe er sich, nicht überzeugt, doch resigniert. Dann schob er eine kleine knorrige Hand vor und sagte: »Aus London, äh? Guten Tag, Sir«, alles auf einmal, als habe er es auswendig gelernt.
»Mr. Smiley ist zu einem Privatbesuch hier, Sir«, fuhr Rigby fort. »Er kennt Mr. Fielding.«
»Ein komischer Kauz, dieser Fielding, ein komischer Kauz«, schnauzte der Polizeidirektor.
»Ja, tatsächlich, Sir«, sagte Rigby und fuhr fort: »Mr. Smiley hat Mr. Fielding gerade besucht, Sir, um sich von ihm vor seiner Rückkehr nach London zu verabschieden.«
Havelock warf einen blitzenden Blick auf Smiley, als überlege er, ob dieser imstande sei, die Reise zu unternehmen.
»Mr. Fielding hat eine Art Aussage gemacht, die er mit neuem, eigenem Beweismaterial unterbaute. Über den Mord, Sir.«
»Nun, Rigby?« sagte er herausfordernd.
Smiley griff ein: »Er sagte, der Ehemann habe es getan; Stanley Rode. Fielding sagte, als ihm sein Präfekt Rodes Aktenmappe mit den Prüfungsarbeiten brachte...«
»Was für Prüfungsarbeiten?«
»Rode führte an jenem Nachmittag die Aufsicht, Sie erinnern sich. Er hatte außerdem Kirchendienst, bevor er zum Dinner in Fieldings Haus ging. Aus Gründen der Zweckmäßigkeit gab er die Prüfungsarbeiten Perkins, der sie...«
»Der Junge, der den Unfall hatte?« fragte Havelock.
»Ja.«
»Sie wissen eine Menge darüber«, meinte Havelock dunkel.
»Fielding sagte, als Perkins ihm die Mappe überbrachte, habe er, Fielding, sie geöffnet. Er habe sehen wollen, wie Perkins bei der Prüfungsarbeit abgeschnitten hatte. Es war für die Zukunft des Jungen von Bedeutung, daß er seine Versetzung bekam«, fuhr Smiley fort.
»Oh, Arbeit ist heute das einzige«, sagte Havelock mit Bitterkeit. »War nicht so, als ich hier Schüler war, versichere ich Ihnen.«
»Als Fielding die Mappe öffnete, waren die Prüfungsarbeiten darin. Aber auch ein Kunststoffcape, ein altes Paar Lederhandschuhe und ein Paar Gummischuhe, die von Stiefeln abgeschnitten waren.«
Eine Pause.
»Großer Gott! Großer Gott! Haben Sie's gehört, Rigby? Das ist doch das, was sie in dem Paket in London gefunden haben. Großer Gott!«
»Schließlich war auch ein Stück Kabel, schweres Kabel, in der Mappe. Wegen dieser Mappe ging Rode, wie Sie sich erinnern, in der Mordnacht zurück«, schloß Smiley. Es war wie das Füttern eines Kindes - man durfte den Löffel nicht zu voll machen.
Eine sehr lange Stille trat ein. Dann sagte Rigby, der seinen Mann zu kennen schien:
»Das Motiv war Vorankommen im Beruf, Sir. Mrs. Rode zeigte kein Verlangen, ihre Stellung zu verbessern, zog sich schlampig an und beteiligte sich nicht am religiösen Leben der Schule.«
»Augenblick mal«, sagte Havelock. »Rode plante den Mord von Anfang an, richtig?«
»Ja, Sir.«
»Er wollte, daß es so aussähe wie Raub unter Gewaltanwendung?«
»Ja, Sir.«
»Nachdem er die Aktenmappe an sich genommen hatte, ging er nach North Fields zurück. Was tat er danach?«
»Er zieht das Kunststoffcape mit Kapuze, Überschuhe und Handschuhe an. Er bewaffnet sich mit dem Kabel, Sir. Er öffnet das Gartentor, geht zur Vordertür und klingelt, Sir. Seine Frau kommt zur Tür. Er schlägt sie nieder, schleppt sie in den Wintergarten und ermordet sie. Er reinigt die Kleidung unter dem Wasserhahn und tut sie in das Paket. Nachdem er das Paket verschlossen hat, geht er die Zufahrt hinunter, diesmal auf dem Pfad zur vorderen Gartentür, Sir, da er weiß, daß seine eigenen Fußspuren bald von denen anderer Leute verwischt werden. An der Straße angelangt, wo der Schnee hart war und keine Abdrücke zeigte, drehte er sich um, betrat wieder das Haus, spielte die Rolle des entsetzten Ehemanns und achtete darauf, als er die Leiche entdeckte, Sir, seine eigenen Fingerabdrücke über die der Handschuhspuren zu bringen. Es gab einen Gegenstand, der zum Verschicken zu gefährlich war, Sir, die Waffe.«
»Schon gut, Rigby. Verhaften Sie ihn. Mr. Borrow wird Ihnen einen Haftbefehl ausstellen, wenn Sie einen brauchen; sonst rufe ich Lord Sawley an.«
»Ja, Sir. Und ich werde Sergeant Low schicken, um von Mr. Fieldings Aussage ein vollständiges Protokoll aufzunehmen, Sir?«
»Warum, zum Teufel, hat er nicht früher ausgepackt, Rigby?«
»Das muß ich ihn fragen, Sir«, sagte Rigby ausdruckslos und verließ das Zimmer.
»Sind Sie Carnianer?« fragte Havelock und schob eine silberne Zigarettendose über den Tisch.
»Nein. Nein, leider«, antwortete Smiley.
»Woher kennen Sie dann Fielding?«
»Wir trafen uns nach dem Kriege in Oxford.«
»Merkwürdiger Kauz, Fielding, sehr merkwürdig. Sagen Sie, Ihr Name ist Smiley?«
»Ja.«
»Da gab es einen Kerl namens Smiley, der heiratete Ann Sercombe, Lord Sawleys Kusine. Verdammt hübsches Mädchen, diese Ann, und ging hin und heiratete diesen Burschen. Irgendein kleiner komischer Mensch im Staatsdienst mit 'nem Orden des Britischen Empire und 'ner goldenen Uhr. Sawley war verdammt verärgert.« Smiley sagte nichts. »Sawley hat einen Sohn in Carne. Wußten Sie das?«
»Ich habe es in der Zeitung gelesen, glaube ich.«
»Sagen Sie - dieser Rode. Kommt von einer öffentlichen Schule, oder nicht?«
»Ich nehme es an, ja.«
»Verdammt merkwürdige Sache. Experimente machen sich nie bezahlt, nicht wahr? Man kann mit der Tradition nicht experimentieren.«
»Nein. Nein, wahrhaftig nicht.«
»Das ist der Jammer heutzutage. Wie Afrika. Niemand scheint zu begreifen, daß man eine Gesellschaft nicht über Nacht aufbauen kann. Es braucht Jahrhunderte, einen Gentleman zu formen.« Havelock blickte stirnrunzelnd vor sich hin und fuhr mit dem Papiermesser auf seinem Tisch herum.
»Möchte wissen, wie er sein Kabel in diesen Graben bekommen hat, das Ding, mit dem er sie tötete. Wir haben ihn doch achtundvierzig Stunden nach dem Mord nicht aus den Augen gelassen.«
»Das ist es«, sagte Smiley, »was mir Rätsel aufgibt. Ebenso Jane Lyn.«
»Was meinen Sie?«
»Ich glaube nicht, daß Rode den Mut gehabt hätte, zum Haus zurückzugehen, nachdem er seine Frau getötet hatte, wenn er wußte, daß Jane Lyn ihn dabei beobachtet hatte. Unter der Annahme natürlich, daß er es wußte, was wahrscheinlich ist. Es ist zu kaltblütig... viel zu kaltblütig.«
»Seltsam, verdammt seltsam«, murmelte Havelock. Er sah auf seine Uhr, indem er den linken Ellbogen in einer raschen Reiterbewegung, die Smiley komisch und etwas traurig fand, nach außen schob. Die Minuten tickten vorbei. Smiley überlegte, ob er gehen solle, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, daß Havelock seine Gesellschaft brauchte.
»Es wird ein höllisches Aufsehen geben«, sagte Havelock. »Nicht jeden Tag verhaftet man einen Lehrer von Carne wegen Mordes.« Er legte das Papiermesser heftig auf den Tisch. »Diese widerlichen Journalisten sollten ausgepeitscht werden!« erklärte er. »Sehen Sie mal das Zeug an, das sie über die Königsfamilie schreiben. Böse, böse!« Er stand auf, ging, durchs Zimmer und setzte sich in einen Ledersessel am Feuer. Einer der Spaniels kam und ließ sich zu seinen Füßen nieder. »Was, zum Teufel, hat ihn dazu veranlaßt? Seine eigene Frau, meine ich; ein Mensch wie er.« Havelock sagte dies schlicht, als bitte er um Aufklärung.
»Ich glaube nicht«, sagte Smiley langsam, »daß wir je ganz ergründen können, was irgend jemanden zu irgend etwas veranlaßt.«
»Mein Gott, Sie haben vollkommen recht... Womit verdienen Sie sich Ihren Lebensunterhalt, Smiley?«
»Nach dem Krieg war ich eine Zeitlang in Oxford. Unterricht und Forschung. Jetzt bin ich in London.«
»Einer von den klugen Burschen, äh?«
Smiley fragte sich, wann Rigby zurückkehren würde.
»Wissen Sie was über die Familie dieses Kerls? Hat er Verwandte?«
»Ich glaube, seine Eltern sind beide tot«, erwiderte Smiley, und das Telefon auf Havelocks Schreibtisch klingelte scharf. Es war Rigby. Stanley Rode war verschwunden.
NACH DEM FEST
Er nahm den Zug um ein Uhr dreißig nach London. Nach einer Auseinandersetzung über die Hotelrechnung erreichte er ihn gerade noch. Er ließ einen Zettel für Rigby zurück, auf dem er seine Londoner Adresse und Telefonnummer angab und ihn bat, ihn in dieser Nacht anzurufen, wenn die Laboratoriumsuntersuchungen abgeschlossen waren. Es gab in Carne sonst nichts mehr für ihn zu tun.
Als der Zug langsam aus Carne herausfuhr und die vertrauten Wahrzeichen eines nach dem anderen im kalten Februarnebel verschwanden, wurde Smiley von einem Gefühl der Erleichterung erfüllt. Er hatte nicht kommen wollen, das wußte er. Er hatte sich vor dem Ort gefürchtet, wo seine Frau ihre Kindheit verbracht, sich vor den Feldern gefürchtet, wo sie gelebt hatte. Doch er hatte nichts gefunden, nicht das leiseste Andenken, weder in den leblosen Umrissen von Schloß Sawley noch in der umgebenden Landschaft, nichts, was ihn an sie erinnert hätte. Nur der Klatsch blieb übrig, wie es nur zu selbstverständlich war, solange die Hechts und Havelocks weiterlebten, um mit ihrer Bekanntschaft mit der ersten Familie von Carne zu protzen.
Er nahm ein Taxi nach Chelsea, trug seinen Koffer nach oben und packte ihn mit der Sorgfalt eines Mannes aus, der allein zu leben gewohnt ist. Er dachte daran, ein Bad zu nehmen, entschied jedoch, zuerst Ailsa Brimley anzurufen. Das Telefon stand neben seinem Bett. Er setzte sich auf die Bettkante und wählte die Nummer. Eine blecherne Stimme sang »Unipress, guten Abend«, und er fragte nach Miss Brimley. Es gab ein langes Schweigen, und dann: »Ich bedaure, Miss Brimley ist in einer Konferenz. Kann jemand anderes Ihre Anfrage beantworten?«
Anfrage, dachte Smiley. Guter Gott! Warum in aller Welt Anfrage, warum nicht Frage oder Erkundigung?
»Nein«, sagte er. »Sagen Sie nur, Mr. Smiley habe angerufen.« Er legte den Hörer auf, ging ins Badezimmer und drehte den Heißwasserhahn auf. Er zerrte an seinen Manschettenknöpfen, als das Telefon klingelte. Es war Ailsa Brimley.
»George? Ich glaube, du solltest am besten gleich herüberkommen. Wir haben einen Besucher. Mr. Rode aus Carne. Er möchte mit uns sprechen.«
Er zog seine Jacke an, rannte auf die Straße und rief ein Taxi.
EINE LEGENDE WIRD ZERSTÖRT
Die von oben kommende Rolltreppe war gedrängt voll von Angestellten der Unipress. Sie waren mit müden Augen auf dem Heimweg. Der Anblick eines beleibten Herrn mittleren Alters, der die Treppe daneben hinaufstürmte, bereitete ihnen unerwartete Unterhaltung, so daß Smileys Aufstieg durch das Gespött von Bürojungen und das Gelächter von Stenotypistinnen beschleunigt wurde. Im ersten Stock hielt er an, um eine riesige Tafel zu studieren, auf der die Titel eines Viertels aller Tageszeitungen des Landes angeführt waren. Schließlich entdeckte er unter der Überschrift »Technik und Diverses« die »Christliche Stimme«, Zimmer 619. Der Lift schien sehr langsam nach oben zu gehen. Hinter seinem Plüsch strömte formlose Musik hervor, zu deren kräftigeren Takten ein Boy in einer Affenjacke mit den Hüften zuckte. Dann teilte sich die goldene Tür mit einem Seufzer, der Boy sagte »Sechster Stock«, und Smiley trat schnell in den Korridor. Kurz danach klopfte er an die Tür von Zimmer 619. Ailsa Brimley öffnete ihm.
»George, wie nett«, sagte sie fröhlich. »Mr. Rode wird sehr entzückt sein, dich zu sehen.« Und ohne weitere Einleitung führte sie ihn in ihr Büro. In einem Sessel nahe am Fenster saß Stanley Rode, Lehrer in Carne, in einem ordentlichen schwarzen Mantel. Als Smiley eintrat, stand er auf und streckte ihm die Hand entgegen.
»Nett, daß Sie gekommen sind, Sir«, sagte er steif. »Sehr nett.« Dieselbe farblose Art, dieselbe vorsichtige Stimme.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte Smiley.
Sie setzten sich alle. Smiley bot Miss Brimley eine Zigarette an und gab ihr Feuer.
»Es ist wegen dieses Artikels, den Sie über Stella schreiben«, begann Rode. »Ich habe wirklich ein schlechtes Gefühl dabei, weil Sie so gut zu ihr und ihrem Andenken gewesen sind, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich bin überzeugt, Sie meinen es gut, aber ich möchte nicht, daß Sie ihn schreiben.«
Smiley sagte nichts, und Ailsa war klug genug, sich still zu verhalten.
Von nun an war es Smileys Unterredung. Ihn störte das Schweigen nicht, aber Rode schien es zu bedrücken.
»Es wäre nicht richtig; es wäre ganz unpassend. Mr. Glaston stimmte zu; ich sprach gestern vor seiner Abreise mit ihm, und er stimmte zu. Ich könnte Sie einfach das Zeug nicht schreiben lassen.«
»Warum nicht?«
»Zu viele Leute wissen Bescheid. Der arme Mr. Cardew, ich habe ihn gefragt. Er weiß eine Menge, und auch eine Menge über Stella, daher fragte ich ihn. Er versteht auch, warum ich das Bethaus aufgegeben habe; ich konnte nicht mehr zusehen, wie sie jeden Sonntag hinging und auf die Knie sank.« Er schüttelte den Kopf. »Es war alles falsch. Es machte den Glauben lächerlich.«
»Was sagte Cardew dazu?«
»Er sagte, wir sollten uns nicht zu Richtern aufwerfen. Wir sollten Gott richten lassen. Aber ich erwiderte, es wäre nicht richtig, da die Leute sie kannten und wußten, was sie getan hatte, und dann all das Zeug in der >Stimme< lesen würden. Sie würden es für verrückt halten. Er schien das nicht einzusehen, er sagte nur, man solle es Gott überlassen. Aber ich kann es nicht, Mr. Smiley.«
Wieder sprach eine Weile niemand. Rode saß ganz still, wiegte nur leise den Kopf. Dann fing er wieder zu sprechen an:
»Zuerst glaubte ich dem alten Mr. Glaston nicht. Er sagte, sie sei schlecht, aber ich glaubte es nicht. Sie lebten damals oben auf dem Hügel, Gorse Hill, nur einen Schritt vom Bethaus; Stella und ihr Vater. Sie schienen ihr Personal nie lange zu behalten, daher machte sie die meiste Arbeit selbst. Ich besuchte sie manchmal an Sonntagvormittagen nach der Kirche. Stella versorgte ihren Vater, kochte für ihn und richtete alles, und ich fragte mich immer, wie ich jemals den Mut aufbringen würde, bei Mr. Glaston um ihre Hand anzuhalten. Die Glastons waren wichtige Leute in Branxome. Ich unterrichtete damals an einer öffentlichen Schule. Sie ließen mich mit verkürzter Arbeitszeit unterrichten, während ich mich auf mein Examen vorbereitete, und ich hatte mich entschlossen, Stella zu bitten, mich zu heiraten, wenn ich die Prüfung bestanden hatte.
Am Sonntag, nachdem die Ergebnisse bekanntgegeben worden waren, ging ich nach dem Morgengottesdienst zum Haus hinüber. Mr. Glaston öffnete selbst die Tür. Er brachte mich sofort in sein Studierzimmer. Vom Fenster konnte man die Hälfte der Töpfereifabriken von Poole sehen und die See dahinter. Er ließ mich Platz nehmen und sagte: >Ich weiß, warum Sie hier sind, Stanley. Sie wollen Stella heiraten. Aber Sie kennen sie nicht<, sagte er, >Sie kennen sie nicht<. >Ich komme seit zwei Jahren zu Besuch, Mr. Glaston<, erwiderte ich, >und ich glaube, ich weiß, was ich will.<
Dann begann er über sie zu sprechen. Ich hätte nie gedacht, daß ein Mensch je so über das eigene Kind sprechen würde. Er sagte, sie sei schlecht - schlecht im Herzen. Sie sei voll Tücke. Deswegen wollten keine Dienstboten auf dem Hügel bleiben. Er erzählte mir, wie sie die Leute an der Nase herumführte, ganz gutartig und warmherzig tat, bis sie ihr alles anvertrauten, und sie dann beleidigte, indem sie böse, ganz böse Dinge sagte, halb wahr, halb erlogen. Er erzählte mir noch viel mehr, und ich glaubte ihm nichts, nicht ein Wort. Ich glaube, ich verlor den Kopf und nannte ihn einen eifersüchtigen alten Mann, der seine Haushälterin nicht verlieren wolle, einen verlogenen, eifersüchtigen alten Mann, der wollte, daß ihn sein Kind bis zu seinem Tode bediente. Ich sagte, er sei schlecht, nicht Stella; und ich schrie ihn an: >Sie Lügner, Sie Lügner. < Er schien es nicht zu hören, schüttelte nur den Kopf, und ich rannte in die Halle und rief Stella. Sie war in der Küche gewesen, glaube ich; jetzt kam sie, legte die Arme um mich und küßte mich.
Wir heirateten einen Monat später, und er war Beistand der Braut. Auf der Hochzeit schüttelte er mir die Hand und nannte mich einen feinen Mann, und ich dachte, was für ein Heuchler er wäre. Er gab uns Geld - mir, nicht ihr -, zweitausend Pfund. Ich dachte, er versuchte vielleicht, die schrecklichen Dinge wiedergutzumachen, die er gesagt hatte, und so schrieb ich ihm später, daß ich ihm vergäbe. Er antwortete nie, und ich sah ihn danach nicht mehr oft.
Über ein Jahr waren wir in Branxome hinlänglich glücklich. Stella war genau das, was ich mir von ihr gedacht hatte, sauber und einfach. Sie ging gern spazieren und küßte mich an den Zaunübertritten; manchmal trat sie gern etwas großspurig auf, ging in großer Toilette in den >Delphin< zum Dinner. Damals bedeutete es mir viel, wie ich zugeben will, die richtigen Orte mit Mr. Glastons Tochter zu besuchen. Er war Rotarier und im Stadtrat und in Branxome ziemlich einflußreich. Sie pflegte mich damit zu necken - vor anderen Leuten noch dazu, was mich ein wenig irritierte. Ich erinnere mich, einmal, als wir den >Delphin< besuchten, war da ein Kellner, ein Kerl namens Johnnie Raglan. Wir waren zusammen auf der Schule gewesen. Johnnie war ein ziemlicher Herumtreiber und hatte, seitdem er die Schule verlassen hatte, nicht viel anderes getan, als Mädchen nachzulaufen und in Schwierigkeiten zu geraten. Stella kannte ihn, woher, weiß ich nicht, und winkte ihm, sowie wir uns gesetzt hatten. Johnnie kam herüber, und Stella forderte ihn auf, noch einen Stuhl zu bringen und sich zu uns zu setzen. Der Geschäftsführer warf Dolchblicke, wagte aber nichts zu tun, weil sie Samuel Glastons Tochter war. Johnnie blieb während des ganzen Essens da, und Stella sprach mit ihm über die Schule, und wie ich denn so gewesen wäre. Johnnie gefiel das großartig, er wurde frech und sagte, ich sei ein Streber, ein braver Junge und so weiter gewesen und wie er mich herumgeboxt habe - fast lauter Lügen, und Stella stachelte ihn auf. Ich stellte sie hinterher zur Rede und sagte, ich bezahlte nicht gutes Geld im >Delphin< dafür, um mir von Johnnie eine Menge Aufschneidereien anzuhören, und sie fuhr so rasch wie eine Katze auf mich los. Es sei ihr Geld, sagte sie, und Johnnie sei immer noch so gut wie ich. Dann tat es ihr leid, sie küßte mich, und ich tat so, als verzeihe ich ihr.«
Schweiß trat ihm ins Gesicht; er sprach rasch, die Worte überschlugen sich. Es war, als erinnere sich jemand eines Alpdrucks, als sei die Erinnerung noch da, die Furcht erst halb verschwunden. Er machte eine Pause und sah Smiley scharf an, als erwarte er von ihm eine Äußerung, doch Smiley schien an ihm vorbeizusehen, das Gesicht teilnahmslos; die weichen Umrisse seiner Züge waren hart geworden.
»Dann gingen wir nach Carne. Ich war gerade Abonnent der >Times< geworden und sah die Anzeige. Sie suchten einen Lehrer für Naturwissenschaft, und ich bewarb mich. Mr. D'Arcy interviewte mich, und ich bekam die Stelle. Erst als wir nach Carne kamen, erkannte ich, daß das, was ihr Vater gesagt hatte, wahr war. Sie war vorher nicht besonders auf ihre Sekte erpicht gewesen, aber sobald sie hier angekommen war, engagierte sie sich in großem Stil dafür. Sie wußte, es würde falsch aussehen, würde mich verletzen. Branxome hat eine schöne große Kirche; es war nichts Sonderbares daran, zum Branxome-Bethaus zu gehen. Aber in Carne war das anders; Carnes Bethaus ist ein kleines abgelegenes Gebäude mit einem Blechdach. Sie wollte anders sein als die anderen, wollte die Schule und mich kränken, indem sie die Demütige spielte. Es hätte mir nichts ausgemacht, wenn es ihr ernst gewesen wäre, aber das war es nicht; Mr. Cardew wußte es. Er lernte Stella kennen. Ich glaube, ihr Vater sagte es ihm; jedenfalls war Mr. Cardew schon vorher im Norden gewesen und kannte die Familie gut. Nach allem, was ich weiß, schrieb er an Mr. Glaston oder ging wohl hin und besuchte ihn.
Sie fing hier ganz gut an. Die Leute aus der Stadt waren alle entzückt, sie zu sehen - eine Frau aus dem College, die zum Bethaus kam, das hatte es nie zuvor gegeben. Dann machte sie sich daran, den Aufruf für die Flüchtlinge zu organisieren - Kleider zu sammeln und so weiter. Miss D'Arcy machte das für die Schule, Mr. D'Arcys Schwester, und Stella wollte sie in ihrem eigenen Spiel schlagen - mehr von den Bethaus-Leuten bekommen, als Miss D'Arcy von der Schule bekam. Aber ich wußte, was sie tat, Mr. Cardew wußte es auch, und am Ende wußten es auch die Stadtleute. Sie lauschte. Jeden Tropfen Klatsch und Schmutz sammelte sie. Manchmal kam sie abends nach Hause - Mittwoch und Freitag machte sie ihre Arbeit für die Gemeinde -, warf ihren Mantel ab und lachte, bis ich meinte, sie sei verrückt geworden.
>Ich hab' sie! Ich habe sie alle!< sagte sie dann. >Ich kenne alle ihre kleinen Geheimnisse, und ich habe sie in der Hand, Stan.< Das sagte sie immer wieder. Und die, die es herausbekamen, kriegten allmählich Angst vor ihr. Sie klatschten alle, weiß der Himmel, aber nicht, um davon zu profitieren wie Stella. Stella war verschlagen; alles Anständige, alles Gute zog sie in den Schmutz. Es gab ein Dutzend Leute, die sie genau durchschaut hatte. Da war Mulligan, der Spediteur; er hatte eine Tochter mit einem Kind bei Leamington. Irgendwie fand sie heraus, daß sie nicht verheiratet war, daß man sie zu einer Tante geschickt hatte, um ihr Baby zur Welt zu bringen und da oben neu anzufangen. Sie rief Mulligan einmal an, es hatte etwas mit einer Rechnung für den Transport von Simon Snows Möbeln zu tun, und sagte: >Grüße aus Bad Leamington, Mr. Mulligan. Wir brauchen etwas Mitarbeit.< Sie erzählte es mir - sie kam nach Hause, schüttelte sich vor Lachen und erzählte es mir. Aber sie kriegten sie am Ende, wie? Sie rächten sich!«
Smiley nickte langsam, seine Augen jetzt voll auf Rode gerichtet.
»Ja«, sagte er endlich. »Sie rächten sich.«
»Sie dachten, die verrückte Janie habe es getan, aber ich nicht. Janie hätte eher ihre eigene Schwester getötet als Stella. Sie waren sich so nahe wie Mond und Sterne, sagte Stella. Sie redeten abends stundenlang miteinander, wenn ich spät aus war, auf Versammlungen oder bei Nachhilfeunterricht. Stella kochte für sie, gab ihr Kleider und Geld. Es gab ihr ein Gefühl der Macht, einer Kreatur wie Janie zu helfen und sie um sich herumschwänzeln zu lassen. Nicht, weil sie gütig, sondern weil sie grausam war.
Sie hatte aus Branxome einen kleinen Hund mitgebracht, einen Köter. Vor einigen Monaten kam ich eines Tages nach Hause und fand ihn in der Garage liegen, winselnd, verschreckt. Er humpelte und hatte einen blutigen Rücken. Sie hatte ihn geschlagen. Sie mußte verrückt geworden sein. Sie hatte ihn schon früher geschlagen, aber so noch nie; noch nie. Dann geschah etwas - ich schrie sie an, und sie lachte, und dann schlug ich sie. Nicht heftig, aber doch heftig genug. Ins Gesicht. Ich gab ihr vierundzwanzig Stunden, entweder den Hund töten zu lassen, oder ich würde es der Polizei sagen. Sie kreischte mich an - es sei ihr Hund und sie könne mit ihm tun, was ihr, zum Teufel, gefalle -, aber am nächsten Tag setzte sie ihren kleinen schwarzen Hut auf und brachte den Hund zum Tierarzt. Ich nehme an, sie erzählte ihm irgendeine Geschichte. Sie konnte um alles eine gute Geschichte herumspinnen, das konnte Stella. Sie schlüpfte sozusagen in eine Rolle hinein und spielte sie bis zum Ende durch. Wie die Geschichte, die sie den Ungarn erzählte.
Miss D'Arcy hatte einmal Flüchtlinge aus London zum Aufenthalt bei sich, und Stella erzählte ihnen eine solche Geschichte, daß sie fortliefen und man sie wieder nach London zurückholen mußte. Miss D'Arcy bezahlte ihre Reisekosten und alles, bestellte sogar den Fürsorger her, um sie zu besuchen und den Versuch zu machen, alles wieder in Ordnung zu bringen. Ich glaube nicht, daß Miss D'Arcy wußte, wer sich an sie herangemacht hatte, aber ich wußte es - Stella erzählte es mir. Sie lachte, immer dasselbe Lachen: >Da hast du deine feine Lady, Stan. Sieh dir jetzt mal ihre Wohltätigkeit an.<
Nach der Sache mit dem Hund gewöhnte sie sich an, so zu tun, als sei ich gewalttätig; sie duckte sich weg, wann immer ich ihr nahe kam, hielt den Arm hoch, als wollte ich sie wieder schlagen. Sie gab sogar vor, daß ich plante, sie zu ermorden: sie ging hin und erzählte das Mr. Cardew. Sie glaubte es selbst nicht; manchmal lachte sie darüber. Sie sagte mir: >Es hat keinen Sinn, mich jetzt zu töten, Stan. Alle werden wissen, wer es getan hat.< Aber zu anderen Zeiten winselte sie, streichelte mich und bat, sie nicht zu töten. >Du wirst mich in den langen Nächten töten!< Sie schrie das heraus - das waren die Worte, an denen sie sich berauschte: >die langen Nächte<; sie liebte ihren Klang in der Art eines Schauspielers, und sie baute eine ganze Geschichte um sie herum. >Oh, Stan<, sagte sie, >beschütze mich in den langen Nächten.< Wissen Sie, wie es ist, wenn man ohnehin nie daran gedacht hat, irgend etwas zu tun, und jemand einen unentwegt bittet, es nicht zu tun? Man denkt, man tut es schließlich vielleicht doch, man beginnt, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen.«
Miss Brimley zog ziemlich scharf den Atem ein. Smiley stand auf und ging zu Rode hinüber.
»Warum gehen wir nicht in mein Haus zurück und essen etwas?« sagte er. »Wir können das in Ruhe miteinander besprechen. Unter Freunden.«
Sie nahmen ein Taxi zur Bywater Street, Rode saß neben Ailsa Brimley, jetzt etwas entspannter, und Smiley, ihm gegenüber auf einem Klappsitz, beobachtete ihn und dachte nach. Und es fiel ihm ein, daß das Wichtigste an Rode die Tatsache war, daß er keine Freunde hatte. Smiley erinnerte sich an Büchners Märchen von dem in einer leeren Welt allein gelassenen Kind, das, weil es niemanden fand, mit dem es sprechen konnte, auf den Mond ging, da dieser es anlächelte; aber der Mond war aus morschem Holz gemacht. Und als Sonne, Mond und Sterne alle zu nichts geworden waren, versuchte es, auf die Erde zurückzugelangen, aber sie war verschwunden.
Vielleicht, weil Smiley müde war, oder vielleicht, weil er ein wenig alt wurde, empfand 6r eine Regung plötzlichen Mitleids für Rode, wie sie Kinder für die Armen und Eltern für ihre Kinder empfinden. Rode hatte sich so sehr bemüht - er hatte Carnes Sprache gebraucht, die richtigen Kleider gekauft und nach bestem Vermögen die richtigen Gedanken gedacht und war doch hoffnungslos abseits, hoffnungslos allein geblieben.
Er zündete das Gasfeuer im Wohnzimmer an, während Ailsa Brimley in den Delikatessenladen in der King's Road ging, um Suppe und Eier zu kaufen. Er schenkte Whisky und Soda ein und gab Rode einen; dieser trank in kurzen Schlucken, ohne zu sprechen.
»Ich mußte es jemandem erzählen«, sagte er schließlich. »Ich dachte, Sie wären der richtige Mann dafür. Ich wollte aber nicht, daß Sie den Artikel veröffentlichen. Zu viele wußten Bescheid, sehen Sie.«
»Wie viele wußten wirklich Bescheid?«
»Nur die, hinter denen sie her war, glaube ich. Ungefähr ein Dutzend Stadtleute, nehme ich an. Und Mr. Cardew natürlich. Sie war schrecklich schlau, wissen Sie. Sie gab Klatsch nicht häufig weiter. Sie wußte aufs Haar genau, wie weit sie gehen konnte. Die Bescheid wußten, das waren die, die sie am Haken hatte. Oh - und D'Arcy, Felix D'Arcy, er wußte es. Sie hatte da etwas Besonderes, etwas, wovon sie mir nie erzählt hat. Es gab Nächte, da legte sie ihren Schal um und schlüpfte hinaus, ganz aufgeregt, als gehe sie zu einer Party. Manchmal ganz spät, elf oder zwölf. Ich fragte sie nie, wohin sie ging, weil es sie nur verstockt machte, aber manchmal sah sie mich ganz schlau an und sagte: >Du weißt es nicht, aber D'Arcy weiß es, und der darf nichts sagen.< Dann lachte sie wieder, versuchte geheimnisvoll auszusehen und ging fort.«
Smiley schwieg lange, beobachtete Rode und dachte nach. Dann fragte er plötzlich: »Was war Stellas Blutgruppe, wissen Sie es?«
»Meine ist B. Das weiß ich. Ich war Blutspender in Branxome. Ihre war anders.«
»Woher wissen Sie das?«
»Sie ließ einen Test machen, bevor wir heirateten. Sie litt unter Blutarmut. Ich erinnere mich nur, daß ihres anders war, das ist alles. Wahrscheinlich A. Ich kann mich nicht genau erinnern. Warum?«
»Wo waren Sie als Blutspender registriert?«
»In der Bluttransfusionszentrale North Poole.«
»Wird man Sie dort noch erkennen? Sind Sie noch registriert?«
»Ich nehme es an.«
Die Klingel an der Haustür ertönte. Es war Ailsa Brimley, die von ihrem Einkauf zurückkam.
Ailsa betätigte sich in der Küche, während Rode und Smiley in der warmen Behaglichkeit des Wohnzimmers saßen.
»Sagen Sie mir noch etwas«, sagte Smiley, »über die Nacht des Mordes. Warum ließen Sie die Aktenmappe zurück? War es Gedankenlosigkeit?«
»Nein, nicht eigentlich. Ich hatte an jenem Abend Kirchendienst, und daher kamen Stella und ich getrennt in Fieldings Haus an. Sie traf vor mir dort ein, und Fielding gab ihr, glaube ich, die Mappe - ganz zu Beginn des Abends, damit es nicht vergessen würde. Er sagte später am Abend etwas darüber. Sie hatte die Mappe neben ihren Mantel in der Halle hingelegt. Es war nur ein kleines Ding, ungefähr fünfundvierzig mal dreißig Zentimeter. Ich hätte schwören können, daß sie es trug, als wir in der Halle standen und uns verabschiedeten, aber ich muß mich wohl geirrt haben. Erst als wir zum Haus kamen, fragte sie mich, was ich damit gemacht hätte.«
»Sie fragte Sie, was Sie damit gemacht hätten?«
»Ja. Dann geriet sie außer sich und sagte, ich erwartete wohl, daß sie an alles dächte. Ich hatte keine besondere Lust zurückzugehen, ich hätte ja auch Fielding anrufen und verabreden können, daß ich sie gleich am nächsten Morgen abholen würde, aber Stella wollte davon nichts wissen. Sie ließ mich hingehen. Ich wollte der Polizei die Geschichte von unserem Streit nicht erzählen, es schien nicht richtig.«
Smiley nickte. »Als Sie zu Fielding zurückkamen, klingelten Sie?«
»Ja. Da ist die Haustür, dann eine innere Glastür, eine Art Windfang. Die Haustür war noch offen, und das Licht in der Halle brannte. Ich klingelte und bekam das Köfferchen von Fielding.«
Sie hatten das Abendessen beendet, als das Telefon läutete.
»Rigby hier, Mr. Smiley. Ich habe die Laboratoriumsergebnisse bekommen. Sie sind ziemlich rätselhaft.«
»Die Prüfungsarbeiten zuerst: Es stimmt nicht überein?«
»Nein, nicht. Unsere Experten sagen, alle Zahlen und alles Geschriebene seien mit demselben Kugelschreiber ausgeführt. Bei den Diagrammen sind sie nicht sicher, aber sie erklären, daß die Beschriftungen aller Diagramme der sonstigen Schrift auf dem Bogen entsprechen.«
»Alles tatsächlich doch von dem Jungen ausgeführt?«
»Ja. Ich habe einige andere Proben seiner Handschrift zum Vergleich beigebracht. Sie entsprechen durchgehend jenen auf der Prüfungsarbeit. Fielding kann daran nicht herumgepfuscht haben.«
»Gut. Und die Kleidung? Auch da nichts drauf?«
»Nur Blutspuren. Keine Abdrücke auf dem Kunststoff.«
»Nebenbei, was für Blutgruppe hatte sie?«
»Gruppe A.«
Smiley setzte sich auf die Bettkante. Den Hörer ans Ohr pressend, begann er leise zu sprechen. Zehn Minuten später ging er langsam nach unten. Er war ans Ende der Jagd gelangt und schon angewidert vom Kesseltreiben.
Es dauerte fast eine Stunde, bis Rigby eintraf.
DER AUSWURF DES FLUSSES
Die Albert Bridge war so grotesk wie je; knochiger Stahl, der sich vor dem geduldigen Londoner Himmel zu wagnerianischen Zinnen erhob; die Themse, die resigniert darunter dahinkroch, ihren Schmutz gegen die Werften von Battersea drängte und dann dem Nebel stromabwärts entgegenglitt.
Der Nebel war dicht. Smiley beobachtete, wie das Treibholz an ihm anstieß, sich zuerst in weißen Staub verwandelte, dann sich zu heben, sich aufzulösen und zu verschwinden schien.
So würde es enden, an einem abscheulichen Morgen wie diesem, wenn sie den winselnden Mörder aus seiner Zelle zerrten und den Hanfstrick um seinen Nacken legten. Würde Smiley in zwei Monaten den Mut haben, sich an dies zu erinnern, wenn draußen vor dem Fenster der Morgen anbrach und die Turmuhr laut die Stunde schlug? Wenn sie einem Mann auf dem Blutgerüst den Hals brachen und ihn beseitigten wie den Auswurf des Flusses?
Er nahm seinen Weg die Beaumont Street entlang zur King's Road. Der Milchmann surrte mit seinem elektrisch betriebenen Lieferwagen an ihm vorbei. Er würde an diesem Morgen auswärts frühstücken, dann ein Taxi zur Curzon Street nehmen und Wein zum Dinner bestellen. Er würde etwas Gutes aussuchen. Fielding würde das zu schätzen wissen.
Fielding schloß die Augen und trank, die linke Hand locker über die Brust haltend.
»Göttlich«, sagte er, »göttlich!«
Ailsa Brimley, ihm gegenüber, lächelte sanft. »Wie werden Sie Ihren Ruhestand verbringen, Mr. Fielding?« fragte sie. »Frankenwein trinkend?«
Sein Glas immer noch an den Lippen, sah er in die Kerzen. Das Silber war gut, besser als sein eigenes. Er überlegte, warum sie nur zu dritt bei Tisch waren. »In Frieden«, antwortete er endlich. »Ich habe kürzlich eine Entdeckung gemacht.«
»Was wäre das?«
»Daß ich vor einem leeren Haus gespielt habe. Aber jetzt tröstet mich der Gedanke, daß sich niemand daran erinnert, wie ich meine Worte vergaß oder einen Auftritt verpaßte. So viele von uns warten geduldig auf eine Zuschauerschaft, um zu sterben. In Carne wird sich niemand länger als ein oder zwei Semester daran erinnern, wie ich mein Leben verpfuscht habe. Ich war bis vor kurzem zu eitel, um das zu erkennen.« Er setzte das Glas vor sich hin und lächelte Ailsa Brimley plötzlich an. »Das ist der Frieden, den ich meine. In niemandes Gedanken zu existieren, außer in meinen eigenen; ein weltlicher Mönch zu sein, in Sicherheit und vergessen.«
Smiley schenkte ihm Wein nach. »Miss Brimley hat Ihren Bruder im Krieg gut gekannt. Wir waren alle in derselben Abteilung«, sagte er. »Sie war eine Weile Adrians Sekretärin. Nicht wahr, Brim?«
»Es ist eigentlich deprimierend, wie die Schlechten weiterleben«, erklärte Fielding. »Ziemlich verwirrend. Für die Schlechten, meine ich.« Er stieß einen kleinen feinschmeckerischen Seufzer aus. »Der Augenblick der Wahrheit in einem guten Mahl! Übergangsperiode« - er verwendete das deutsche Wort -»zwischen entremet und Dessert«, und sie lachten alle Und waren dann still.
Smiley stellte sein Glas hin und sagte: »Die Geschichte, die Sie mir am Donnerstag erzählten, als ich Sie besuchte...«
»Nun?« Fielding war gereizt.
»Über das Mogeln für Tim Perkins... wie Sie die Arbeit aus der Aktentasche nahmen und sie abänderten. ..«
»Ja?«
»Sie ist nicht wahr.« Es klang, als spräche er über das Wetter. »Man hat sie überprüft, und sie ist nicht wahr. Die Schrift stammt zur Gänze von einer Person - dem Jungen. Wenn einer gemogelt hat, dann muß es der Junge gewesen sein.«
Ein langes Schweigen trat ein. Fielding zuckte die Achseln. »Lieber Herr, Sie können doch von mir nicht erwarten, daß ich das glaube. Diese Leute sind ja wirklich schwachsinnig.«
»Natürlich bedeutet das an sich noch nichts. Ich meine, Sie könnten den Jungen ja schützen wollen, nicht? Indem Sie für ihn lügen, für seine Ehre sozusagen. Ist dies die Erklärung?«
»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt«, erwiderte er kurz. »Machen Sie daraus, was Sie wollen.«
»Ich glaube, ich kann mir eine Situation vorstellen, wo es ein geheimes betrügerisches Einverständnis gegeben haben mag, wo Sie von der Not des Jungen gerührt wurden, als er Ihnen die Arbeiten brachte; und wo Sie in einer Eingebung des Augenblicks die Mappe öffneten, seine Arbeit herausnahmen und ihm sagten, was er schreiben solle.«
»Hören Sie einmal«, sagte Fielding hitzig, »warum lassen Sie Ihre Finger nicht davon? Was haben Sie damit zu tun?«
Smiley erwiderte mit plötzlicher Leidenschaft: »Ich versuche zu helfen, Fielding. Ich bitte Sie, mir zu glauben, daß ich zu helfen versuche. Um Adrians willen. Ich möchte nicht, daß es... mehr Leid als nötig gibt, mehr Schmerz. Ich möchte es in Ordnung bringen, bevor Rigby kommt. Man hat die Anklage gegen Tanie fallenlassen. Sie wissen das, nicht? Man scheint zu denken, daß es Rode ist, aber man hat ihn nicht verhaftet. Man hätte es tun können, hat es aber nicht getan. Man hat nur noch mehr Aussagen von ihm protokolliert. Daher ist das mit der Aktenmappe schrecklich wichtig, sehen Sie. Alles hängt davon ab, ob Sie wirklich hineingesehen haben und ob Perkins hineingeblickt hat. Verstehen Sie das denn nicht? Wenn es Perkins gewesen ist, der schließlich doch gemogelt hat, wenn nur der Junge die Mappe geöffnet hat und nicht Sie, dann wird man die Antwort auf eine sehr wichtige Frage haben wollen: man wird wissen wollen, wieso Sie wußten, was darin war.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Die Polizei ist wirklich nicht schwachsinnig, wissen Sie. Lassen Sie uns mal einen Augenblick am anderen Ende beginnen. Angenommen, Sie waren es, der Stella Rode tötete, angenommen, Sie hatten einen Grund, einen außerordentlich triftigen Grund, und die Polizei wußte, was dieser Grund sein konnte; angenommen, Sie eilten Rode voraus, nachdem Sie ihm die Mappe in jener Nacht übergeben hatten - mit dem Fahrrad zum Beispiel; wie Jane es sagte, >auf dem Wind reitend<. Wenn das wirklich so war, so wäre keines von den Dingen, die Sie sahen, überhaupt in der Mappe gewesen. Sie hätten es fingieren können. Und als später die Prüfungsergebnisse herauskamen und Sie erkannten, daß Perkins gemogelt hatte, dann schlossen Sie, daß er in die Mappe gesehen hatte.
Gesehen hatte, daß sie nichts enthielt, nichts als Prüfungsarbeiten. Ich glaube, das würde erklären, warum Sie den Jungen töten mußten.« Er hielt inne und blickte zu Fielding. »Und in gewisser Weise«, fügte er fast widerstrebend hinzu, »klingt das vernünftiger, nicht wahr?«
»Und was, darf ich fragen, war der Grund, von dem Sie sprechen?«
»Vielleicht erpreßte sie Sie. Sie wußte bestimmt von Ihrer Verurteilung im Krieg, aus der Zeit, als sie im Norden war. Ihr Vater war Friedensrichter, nicht? Ich höre, daß man die Akten durchgesehen hat. Die Polizei, meine ich. Es war ihr Vater, der den Fall verhandelte. Sie wußte, daß Sie bankrott sind, eine neue Stelle brauchen, und sie hielt Sie an einem Haken. D'Arcy wußte es anscheinend auch. Sie erzählte es ihm. Sie hatte nichts zu verlieren; er war von Anfang an in der Geschichte drin, er würde nie erlauben, daß die Zeitungen davon erfuhren; sie wußte das, sie wußte, woran sie mit ihm war. Haben auch Sie es D'Arcy erzählt, Fielding? Ich glaube, Sie haben es vielleicht getan. Als sie zu Ihnen kam und sagte, sie wisse es, als sie Sie verspottete und verlachte, gingen Sie zu D'Arcy und erzählten es ihm. Sie fragten ihn, was Sie tun sollten. Und er sagte - was würde er wohl sagen?-, vielleicht sagte er: Finde heraus, was sie will. Aber sie wollte nichts; kein Geld zumindest, sondern etwas, das ihrem verkorksten kleinen Geist besser zusagte: sie wollte Sie beherrschen und besitzen. Sie liebte das Konspirieren, sie befahl Sie zu Zusammenkünften, zu absurden Zeiten, an absurden Orten; in Gehölzen, in leerstehenden Kirchen und vor allem bei Nacht. Und sie wollte nichts von Ihnen als Ihren Willen, sie ließ Sie ihre Prahlereien und verrückten Intrigen anhören, machte, daß Sie krochen und sich duckten, und ließ Sie dann laufen, bis zum nächsten Mal.« Er sah wieder auf. »In dieser Richtung denkt man vielleicht, sehen Sie. Deswegen ist es nötig, daß wir wissen, wer in die Mappe hineinsah. Und wer in der Prüfung schwindelte.«
Sie sahen ihn beide an, Ailsa in Schrecken, Fielding regungslos, passiv.
»Wenn man das bedenkt«, fragte Fielding endlich, »wieso nimmt man dann an, daß ich wußte, Rode werde wegen der Mappe in derselben Nacht noch zurückkommen?«
»Oh, man wußte, daß sie erwartete, Sie in jener Nacht nach dem Dinner in Ihrem Haus zu treffen.« Smiley warf dies hin, als sei es eine langweilige Einzelheit. »Es gehörte zu dem Spiel, das sie zu spielen liebte.«
»Woher weiß man das?«
»Nach Rodes Aussage«, fuhr Smiley fort, »trug Stella die Mappe in die Halle, hatte sie tatsächlich in der Hand. Als sie in North Fields ankamen, hatte sie sie nicht; sie geriet in Wut und bezichtigte ihn, sie vergessen zu haben. Sie veranlaßte ihn, deswegen zurückzugehen. Sie sehen die Folgerung?«
»Oh, klar«, sagte Fielding, und Smiley hörte Ailsa Brimley voll Schreck seinen Namen flüstern.
»Mit anderen Worten: Als Stella diesen Trick ausheckte, um ihren verschrobenen Willen zu befriedigen, sahen Sie es als eine Gelegenheit, sie zu töten, indem Sie die Schuld einem nicht existierenden Landstreicher zuschoben oder, wenn das fehlschlug, als zweiter Verteidigungslinie Rode. Angenommen, Sie hätten vorgehabt, sie zu töten. Sie hätten vorgehabt, nehme ich an, eines Nachts dort hinauszufahren, wenn Rode Abendunterricht hatte. Sie hatten Ihre Stiefel und Ihr Cape, selbst das aus Rodes Zimmer entwendete Kabel, und Sie hatten vor, eine falsche Fährte zu legen. Aber was für eine blendende Gelegenheit, als Perkins mit der Aktenmappe erschien! Stella wollte ihr Zusammentreffen - es war verabredet, daß die vergessene Mappe als Mittel dienen sollte, es herbeizuführen. In dieser Richtung, fürchte ich, werden sich vielleicht die Überlegungen bewegen. Und sehen Sie, man weiß, daß es Rode nicht war.«
»Wieso weiß man es? Wie kann man es wissen? Rode hat kein Alibi.«
Smiley schien nicht zu hören. Er sah zum Fenster und den sich unruhig bewegenden schweren Samtvorhängen.
»Was ist? Wohin sehen Sie?« fragte Fielding plötzlich drängend, aber Smiley antwortete nicht.
»Sehen Sie, Fielding«, sagte er endlich, »wir wissen einfach nicht, wie die Menschen sind, wir können es niemals erklären; es gibt keine Wahrheit über menschliche Wesen, keine Formel, die jedem von uns entspricht. Und es gibt einige unter uns - nicht wahr? -, die nichts sind, die so labil sind, daß wir uns selbst verblüffen; wir sind Chamäleons. Ich las einmal eine Geschichte von einem Dichter, der in kalten Quellen badete, so daß er in dem Gegensatz seine eigene Existenz erkennen konnte. Er mußte sich selbst bestätigen, sehen Sie, wie ein Kind, das gegen seine Eltern widerwärtig ist. Sie könnten vielleicht sagen, er habe die Sonne auf sich scheinen lassen, so daß er seinen Schatten sehen und sich lebendig fühlen konnte.«
Fielding machte eine ungeduldige Handbewegung. »Wieso wissen Sie, daß es nicht Rode war?«
»Die Leute, die so sind - es gibt wirklich einige, Fielding-, kennen Sie ihr Geheimnis? Sie können in ihrem Innern nichts empfinden, weder Freude noch Leid, weder Liebe noch Haß; sie schämen sich und sind erschrocken, daß sie nichts fühlen können. Und ihre Scham, diese Scham, Fielding, drängt sie zu Übertreibungen und Prunk; sie müssen das kalte Wasser spüren; ohne das sind sie nichts. Die Welt sieht sie als Showmen, Phantasten, Lügner, vielleicht als Sensualisten, aber nicht als das, was sie sind: lebende Leichname.«
»Woher wissen Sie es? Woher wissen Sie, daß es nicht Rode war?« rief Fielding mit Zorn in der Stimme, und Smiley antwortete: »Ich werde es Ihnen sagen.«
»Wenn Rode seine Frau ermordete, so hatte er das lange vorher geplant. Das Kunststoffcape, die Stiefel, die Waffe, die knifflige Zeiteinteilung, Perkins' Verwendung, um die Mappe zu Ihrem Haus zu tragen - dies sind Beweise langer Vorausplanung. Natürlich könnte man fragen: Wenn das so ist, warum gab er sich überhaupt mit Perkins ab - warum behielt er die Mappe nicht die ganze Zeit bei sich? Aber lassen wir das auf sich beruhen. Betrachten wir, wie er es macht. Er geht mit seiner Frau nach dem Dinner nach Hause, nachdem er absichtlich die Mappe vergessen hat. Nachdem er Stella zu Haus gelassen hat, kehrt er zu Ihrem Haus zurück, um sie abzuholen. Es war übrigens eine riskante Sache, die Mappe zurückzulassen. Ganz abgesehen von der Tatsache, daß man von ihm erwartet hätte, er habe sie abgeschlossen, hätte vielleicht seine Frau bemerken können, daß er sie nicht bei sich hatte, als sie fortgingen - oder Sie hätten es bemerken können, oder Miss Truebody -, aber glücklicherweise bemerkte es niemand. Er holt also die Mappe, eilt zurück, tötet seine Frau, fabriziert die Hinweise, die die Polizei irreführen. Er wirft Cape, Stiefel und Handschuhe in das Flüchtlingspaket, verschnürt es und trifft Vorbereitungen, sein Entkommen zu sichern. Er wird vielleicht von der verrückten Janie erschreckt, erreicht aber die Gasse und betritt von neuem das Haus als Stanley Rode. Fünf Minuten später ist er bei den D'Arcys. Von da an ist er für die nächsten achtundvierzig Stunden unter ständiger Überwachung. Vielleicht wußten Sie das nicht, Fielding, aber die Polizei fand die Mordwaffe sechs Kilometer straßenabwärts in einem Graben. Sie fand sie zehn Stunden nach der Entdeckung des Mordes, lange bevor Rode eine Chance hatte, sie dorthin zu werfen.
Darauf aber kommt es an, Fielding. Darüber kann die Polizei nicht hinwegkommen. Ich nehme an, es wäre möglich, eine fingierte Mordwaffe herzustellen. Rode hätte Haare von Stellas Kamm nehmen, sie mit Menschenblut auf ein Stück Koaxialkabel kleben und das Ding in einen Graben legen können, bevor er den Mord beging. Aber das einzige Blut, das er benutzen konnte, war sein eigenes - das zu einer anderen Blutgruppe gehört. Das Blut an der Waffe, die die Polizei fand, gehörte zu Stellas Blutgruppe. Er hat es also nicht getan. Es gibt einen noch konkreteren Beweis, der mit dem Paket zu tun hat. Rigby sprach gestern mit Miss Truebody. Es scheint, daß sie mit Stella Rode telefoniert hat, am Morgen des Tages, an dem sie ermordet wurde. In Ihrem Auftrag telefoniert hat, Fielding, um zu bestellen, daß ein Junge am Donnerstagvormittag einige alte Kleider nach North Fields bringen würde - würde sie wohl bis dahin das Paket bestimmt offenlassen... Was drohte Stella an, Fielding? Einen anonymen Brief an Ihre nächste Schule zu schreiben?«
Dann legte Smiley seine Hand auf Fieldings Arm und sagte: »Gehen Sie jetzt in Gottes Namen, gehen Sie jetzt. Es ist sehr wenig Zeit, um Adrians willen, gehen Sie jetzt«, und Ailsa Brimley flüsterte etwas, was er nicht verstehen konnte.
Fielding schien nicht zu hören. Er hatte den großen Kopf zurückgeworfen, die Augen halb geschlossen, hielt sein Weinglas noch immer zwischen den dicken Fingern. Und die Türglocke erklang wie der Schrei einer Frau in einem leeren Haus.
Smiley erfuhr nie, was das Geräusch verursachte, ob es Fieldings Hände auf dem Tisch waren, als er aufstand, oder sein Stuhl, der hintenüberfiel. Vielleicht war es gar kein Geräusch, sondern einfach der Schock heftiger Bewegung, wenn man sie am wenigsten erwartet; der Anblick Fieldings, der noch einen Augenblick zuvor lethargisch in seinem Stuhl gesessen hatte und nun vorwärts durchs Zimmer sprang. Dann hielt Rigby ihn, hatte Fieldings rechten Arm ergriffen und tat etwas mit ihm, daß Fielding vor Schmerz und Angst aufschrie, sich unter dem Zwang von Rigbys Griff herumdrehte, um ihnen ins Auge zu sehen. Dann sprach Rigby die Verhaftung aus, und Fieldings entsetzter Blick fiel auf Smiley.
»Halten Sie ihn auf, halten Sie ihn auf, Smiley, um Himmels willen! Sie werden mich hängen!« Und er schrie die letzten zwei Worte wieder und wieder: »Mich hängen, mich hängen«, bis die Kriminalbeamten von der Straße hereinkamen und ihn ohne Förmlichkeit in einen wartenden Wagen schoben.
Smiley sah zu, wie der Wagen abfuhr. Dieser beeilte sich nicht, suchte nur seinen Weg die nasse Straße hinunter und verschwand. Smiley blieb noch lange stehen, nachdem er fort war, und blickte zum Ende der Straße, so daß Vorübergehende ihn merkwürdig anstarrten oder versuchten, seinem Blick zu folgen. Aber es gab nichts zu sehen. Nur die halberleuchtete Straße und die Schatten, die sich auf ihr dahinbewegten.