Heiligabend

Dreißig

An der Rezeption erfuhr er, dass Ösp im ersten Stock arbeitete. Er holte sich Kaffee und ein Sandwich vom Frühstücksbüfett, und nachdem er gefrühstückt hatte, ging er die Treppe hinauf ins erste Stockwerk.

Er hatte mit Sigurður Óli telefoniert und ihn gebeten, ein paar Informationen für ihn einzuholen, und Elinborg angerufen, um zu erfahren, ob sie sich mit der Frau unterhalten hatte, die Stefania angeblich im Hotel getroffen hatte, als sie von den Überwachungskameras aufgenommen worden war. Elinborg war aber schon aus dem Haus und antwortete nicht auf ihrem Handy.

Erlendur hatte im Stockfinsteren bis zum Morgen hellwach im Bett gelegen. Als er endlich aufstand, schaute er aus dem Fenster. Dieses Jahr würde es doch keine grüne Weihnachten geben. Jetzt hatte es ordentlich angefangen zu schneien, wie er im Schein der Straßenlaternen erkennen konnte. Dichter Schnee rieselte in den Lichtkegeln sichtbar zu Boden und gab eine sehr weihnachtliche Kulisse ab.

Eva Lind hatte sich im Kellerflur von ihm verabschiedet und ihm gesagt, sie wolle am Abend zu ihm kommen. Sie hatte vor, geräuchertes Lammfleisch zuzubereiten, und er überlegte, was er ihr zu Weihnachten schenken sollte.

Er hatte ihr die eine oder andere Kleinigkeit geschenkt, seitdem sie angefangen hatte, Weihnachten bei ihm zu verbringen. Sie hatte ihm Socken geschenkt, von denen sie zugab, dass sie geklaut waren. Und einmal ein Paar Handschuhe, die sie angeblich für ihn gekauft hatte. Die hatte er längst wieder verloren, aber sie fragte nie danach.

Vielleicht war es das, was ihm am besten an seiner Tochter gefiel, dass sie niemals nach etwas fragte, es sei denn nach etwas, was wirklich wichtig war.

Sigurður Óli meldete sich wieder und gab ihm einige Informationen durch. Sie waren nicht besonders ergiebig, aber genügten ihm. Erlendur wusste nicht so ganz genau, wonach er suchte, fand es aber der Mühe wert, seine Theorie weiterzuverfolgen.

Genau wie beim letzten Mal beobachtete er Ösp geraume Zeit bei der Arbeit, bevor sie seiner gewahr wurde. Sie schien nicht überrascht, ihn zu sehen.

»Auch schon auf den Beinen?«, fragte sie, als sei er der faulste Gast im ganzen Hotel.

»Ich konnte nicht schlafen«, sagte er. »Ich habe sozusagen die ganze Nacht an dich denken müssen.«

»An mich?«, sagte Ösp und warf einen Haufen Handtücher in den Wäschekorb. »Hoffentlich keine Sauereien«, sagte sie. »Mir reichen echt die hier im Hotel.«

»Nein«, sagte Erlendur. »Keine Sauereien.«

»Schwabbel hat mich gefragt, ob ich irgendwelchen Quatsch habe durchsickern lassen. Und der Koch hat mich angeschnauzt, als hätte ich was von seinem Weihnachtsbüfett geklaut. Sie haben gewusst, dass du mit mir geredet hast.«

»Hier im Hotel wissen so ungefähr alle alles voneinander«, sagte Erlendur. »Aber es verrät im Grunde trotzdem niemand etwas über den anderen. Es ist ganz schön schwierig, es mit solchen Leuten zu tun zu haben. Beispielsweise mit dir.«

»Mit mir?« Ösp ging in das Zimmer, das sie gerade sauber machte, und Erlendur folgte ihr wie zuvor.

»Du sagst einem, was du weißt, man glaubt jedes Wort, weil du aufrichtig zu sein scheinst, aber trotzdem sagst du nur einen Bruchteil von dem, was du weißt. Und das ist im Endeffekt auch eine Art Lüge. Solche Art von Lügen nehmen wir bei der Polizei ebenfalls sehr ernst. Weißt du, worüber ich spreche?«

Ösp antwortete ihm nicht. Sie war damit beschäftigt, die Bettwäsche zu wechseln. Erlendur beobachtete sie. Ihr war nicht anzusehen, was sie dachte. Sie tat, als sei er gar nicht im Zimmer. Als könnte sie ihn abschütteln, indem sie so tat, als gäbe es ihn nicht.

»Du hast mir beispielsweise nicht gesagt, dass du einen Bruder hast«, sagte Erlendur.

»Weswegen sollte ich dir das sagen?«

»Weil er in Schwierigkeiten ist.«

»Er ist nicht in Schwierigkeiten.«

»Nicht meinetwegen«, sagte Erlendur. »Ich habe ihn nicht in Schwierigkeiten gebracht. Aber er ist in Schwierigkeiten und kommt dann manchmal zu seiner Schwester, wenn er sie braucht.«

»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«

»Ich werde es dir sagen. Er ist zweimal im Knast gewesen, nicht lange, immer wegen Einbruch und Diebstahl.

Hin und wieder ist er dabei erwischt worden, ein anderes Mal wiederum nicht, das Übliche halt. Typische Bereicherungsdelikte eines Kleinkriminellen. Typisch für Drogenkriminalität. Er ist bei den teuersten Drogen angelangt und hat nie genug Geld. Aber die Dealer kennen kein Pardon. Sie haben ihn öfter als einmal zu fassen gekriegt und ihn zusammengeschlagen. Einmal haben sie gedroht, ihm mit einem Vorschlaghammer das Knie zu zertrümmern. Außer Stehlen muss er noch diverse andere Dinge machen. Um die Schulden bezahlen zu können.«

Ösp legte die Bettwäsche ab.

»Er hat da verschiedene Mittel und Wege gefunden, um seinen Konsum zu finanzieren«, sagte Erlendur. »Das weißt du wahrscheinlich. Das ist so üblich bei diesen Kindern. Kindern, die haschen, kiffen, fixen.«

Ösp antwortete ihm nicht.

»Verstehst du, was ich sage?«

»Hast du das von Stina?«, fragte Ösp. »Ich habe sie gestern hier im Hotel gesehen. Ich habe sie oft hier gesehen, und wenn irgendjemand eine Nutte ist, dann sie.«

»Sie hat mir nichts von alldem gesagt«, erwiderte Erlendur und gestattete Ösp nicht, das Thema zu wechseln. »Es ist nicht lange her, seitdem dein Bruder unten in dem Flur war, wo Guðlaugur wohnte. Es kann sogar gut sein, dass er nach dem Mord gekommen ist. Am hintersten Ende des Gangs ist es stockfinster, dort kommt nie jemand hin. Es kann sein, dass er erst vor kurzem noch einmal dort gewesen ist, zumindest riecht es dort noch danach. Man kann den Geruch immer noch wahrnehmen. Jemand, der sich mit Hasch oder Speed und Heroin auskennt, riecht das sofort.«

Ösp starrte ihn an. Erlendur hatte nicht viel in der Hand, als er sie aufsuchte. Nur, dass diese dunkle Nische gründlich geputzt worden war, aber er sah an ihrer Reaktion, dass das, was er sagte, der Wahrheit ziemlich nahe kam. Er überlegte, ob er sich noch weiter aus dem Fenster hängen sollte, war eine Weile unschlüssig, entschied sich aber dann, es darauf ankommen zu lassen.

»Wir haben auch Kautabak von ihm gefunden«, sagte Erlendur. »Nimmt er das Zeug schon lange?«

Ösp starrte ihn an, ohne ein Wort zu sagen. Dann senkte sie die Augen, schaute auf das Bett und auf das Laken, das sie wieder in die Hand genommen hatte; sie schaute sehr lange auf das Laken, und dann schien sie zu kapitulieren und warf es auf das Bett.

»Seit er fünfzehn ist«, sagte sie so leise, dass Erlendur sie kaum verstehen konnte.

Er wartete darauf, dass sie fortfuhr, aber sie sagte nichts mehr, und die beiden standen einander wortlos im Hotelzimmer gegenüber. Erlendur ließ das Schweigen eine Weile andauern. Schließlich seufzte Ösp tief auf und setzte sich auf das Bett.

»Er hat nie Geld«, sagte sie leise. »Hat überall Schulden. Immer. Und die drohen ihm und schlagen ihn zusammen. Trotzdem geht es immer so weiter, und er macht noch mehr Schulden. Manchmal hat er Geld und kann dann etwas abbezahlen. Mama und Papa haben es schon längst aufgegeben mit ihm. Sie haben ihn aus dem Haus geworfen, als er siebzehn war. Sie haben ihn auch zu irgendwelchen Therapien geschleppt, aber er ist immer wieder abgehauen. Er kam oft nicht nach Hause, war manchmal eine ganze Woche weg, und einmal haben sie eine Suchmeldung in der Zeitung aufgegeben, aber das war ihm alles scheißegal.

Seitdem hat er keine feste Bleibe. Ich bin die Einzige in der Familie, die Verbindung zu ihm hat. Im Winter lasse ich ihn manchmal in den Keller. Er hat da unten am Ende des Flurs geschlafen, wenn er sich verstecken musste. Ich habe ihm verboten, da unten mit Dope rumzumachen. Aber er lässt sich auch von mir nichts sagen. Er lässt sich von niemandem was sagen.«

»Hast du ihm Geld gegeben? Um diesen Typen ihr Geld zu zahlen?«

»Manchmal, aber reichen tut es nie. Sie sind sogar zu Mama und Papa nach Hause gekommen und haben ihnen alles Mögliche angedroht. Papas Auto haben sie demoliert. Meine Eltern versuchen zu bezahlen, um sie loszuwerden, aber es ist einfach zu viel. Die Schulden müssen mit Zinsen zurückbezahlt werden, die einfach galaktisch sind. Wenn Papa und Mama mit der Polizei sprechen, mit solchen Typen wie dir, dann kriegen sie nur zu hören, dass man nichts machen kann, weil das bloß Drohungen sind. Anscheinend ist es völlig in Ordnung, andere zu bedrohen.«

Sie schaute Erlendur an.

»Wenn sie Papa umbringen, dann kümmert ihr euch vielleicht um die Sache.«

»Kannte er Guðlaugur? Dein Bruder? Die müssen doch voneinander gewusst haben da unten im Keller.«

»Sie haben sich gekannt«, sagte Ösp kleinlaut.

»Wie?«

»Gulli hat ihm Geld gegeben für …«

»Für was?«

»Verschiedene Dinge, die er für ihn gemacht hat.«

»Sexuell?«

»Ja, sexuell.«

»Woher weißt du das?«

»Mein Bruder hat es mir gesagt.«

»War er an jenem Nachmittag bei Guðlaugur?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn seit vielen Tagen nicht gesehen, nicht seit, …« Sie verstummte. »Nicht, seitdem Guðlaugur erstochen worden ist«, sagte sie schließlich. »Er hat sich nicht gemeldet.«

»Ich glaube, dass er vor nicht allzu langer Zeit da unten auf dem Flur gewesen ist. Nachdem Guðlaugur ermordet wurde.«

»Ich habe ihn nicht gesehen.«

»Glaubst du, dass er auf Guðlaugur losgegangen ist?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich weiß nur, dass er noch nie irgendjemanden angegriffen hat. Er ist ständig auf der Flucht. Und jetzt hält er sich ganz bestimmt auch deswegen versteckt, obwohl er gar nichts gemacht hat. Er hat nie irgendjemandem was zuleide tun können.«

»Und du weißt nicht, wo er jetzt steckt?«

»Nein, ich habe nichts von ihm gehört.«

»Weißt du, ob er diesen Engländer gekannt hat, den ich erwähnt habe? Henry Wapshott? Den mit den Kinderpornos.«

»Nein, den hat er nicht gekannt. Ich glaube es zumindest nicht. Warum fragst du danach?«

»Ist er homosexuell, dein Bruder?«

Ösp schaute ihn an.

»Ich weiß, dass er für Geld alles macht. Ich glaube nicht, dass er schwul ist.«

»Würdest du ihm bitte ausrichten, dass ich gerne mit ihm sprechen möchte. Falls er da auf dem Flur im Keller etwas mitbekommen hat, muss ich das von ihm selber hören. Ich muss ihn auch nach seiner Beziehung zu Guðlaugur fragen. Ich muss wissen, ob er ihn an dem Tag, an dem Guðlaugur ermordet wurde, gesehen hat. Wirst du das für mich tun? Ihm sagen, dass ich ihn sprechen muss?«

»Glaubst du, dass er es getan hat? Guðlaugur umgebracht hat?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur. »Falls ich nicht bald von ihm höre, lasse ich nach ihm fahnden.«

Ösp zeigte keinerlei Reaktion.

»Wusstest du, dass Guðlaugur schwul war?«

Ösp schaute hoch.

»Gemessen an dem, was mein Bruder mir gesagt hat, war er das. Und gemessen an der Tatsache, dass er meinen Bruder dafür bezahlt hat, es ihm zu besorgen …«

Ösp brach ab.

»Wusstest du, dass Guðlaugur tot war, als du zu ihm geschickt wurdest?«

Sie schaute ihn an.

»Nein, das wusste ich nicht. Versuch nicht, das auf mich zu schieben. Das versuchst du doch? Du glaubst, dass ich ihn umgebracht habe?«

»Du hast mir nichts von deinem Bruder da im Keller gesagt.«

»Er ist immer in Schwierigkeiten, aber ich weiß, dass er das nicht getan hat. Ich weiß, dass er niemals so etwas tun könnte. Niemals.«

»Zwischen euch muss ja wirklich ein gutes Verhältnis bestehen, wo du so gut auf ihn aufpasst.«

»Wir sind immer gute Freunde gewesen«, sagte Ösp und stand auf. »Ich werde mit ihm sprechen, wenn er sich meldet, und ihm sagen, dass du ihn sprechen musst, falls er was weiß über das, was passiert ist.«

Erlendur nickte und sagte, dass er im Verlauf des Tages im Hotel zu erreichen wäre.

»Es muss sofort sein, Ösp«, sagte er.

Einunddreißig

Als Erlendur wieder hinunter ins Foyer kam, sah er Elinborg an der Rezeption stehen. Der Empfangschef deutete in seine Richtung, und Elinborg drehte sich um. Sie hatte offenbar nach ihm gesucht und kam jetzt rasch mit einer mehr als sorgenvollen Miene auf ihn zu. So viel Kummer hatte sie selten ausgestrahlt.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte er, als sie sich näherte.

»Können wir uns vielleicht irgendwo setzen?«, sagte sie.

»Ist die Bar schon offen? Himmel, was ist das für ein mieser Job. Ich weiß nicht, wozu man sich damit abgibt.«

»Was ist denn los?«, fragte Erlendur, packte sie beim Arm und führte sie zur Bar. Die Tür war zu, aber nicht verschlossen, und sie gingen hinein. Die Bar schien noch nicht geöffnet zu sein. Erlendur entdeckte ein Schild, dem zufolge die Bar erst in einer Stunde aufmachte. Sie setzten sich in eine Nische.

»Weihnachten ist im Eimer bei mir«, sagte Elinborg. »Ich hab noch nie so wenig gebacken. Und die ganze Familie meines Mannes kommt heute Abend und …«

»Erzähl mir, was passiert ist«, sagte Erlendur.

»Was für eine Scheiße«, sagte sie. »Ich verstehe ihn einfach nicht. Ich verstehe ihn überhaupt nicht.«

»Wen?«

»Den Jungen!«, sagte Elinborg. »Ich begreife nicht, was das soll.«

Sie erzählte Erlendur, dass sie gestern Abend, anstatt nach Hause zu gehen und zu backen, noch einmal zur psychiatrischen Klinik gefahren war. Sie wusste nicht ganz genau, warum, aber die Sache mit dem Vater und seinem Sohn ließ sie einfach nicht los. Als Erlendur einwarf, es läge vielleicht daran, dass sie es satt hätte, für ihre angeheiratete Verwandtschaft zu backen und zu kochen, brachte sie nicht einmal ein Lächeln zustande.


Sie war bereits früher in der Klinik gewesen und hatte versucht, mit der Mutter des Jungen zu sprechen, aber zu diesem Zeitpunkt stand die Frau so neben sich, dass sie kein vernünftiges Wort aus ihr herauslocken konnte. Gestern Abend war es genau das Gleiche gewesen. Die Mutter saß da, wiegte den Oberkörper vor und zurück und war völlig weggetreten. Elinborg wusste nicht genau, was sie eigentlich aus ihr herausholen wollte, aber sie ging davon aus, dass die Frau etwas über das Verhältnis zwischen Vater und Sohn wissen könnte, was bislang noch nicht bekannt geworden war.

Sie wusste, dass die Mutter in regelmäßigen Abständen in der Psychiatrie behandelt werden musste. Sie wurde eingeliefert, wenn es ihr gerade mal wieder eingefallen war, ihre Medikamente im Klo hinunterzuspülen. Solange sie unter Psychopharmaka stand, war sie einigermaßen in Ordnung und kümmerte sich vorbildlich um den Haushalt. Auch die Lehrerin des Jungen, mit der Elinborg gesprochen hatte, schien einen guten Eindruck von ihr zu haben.

Elinborg saß im Aufenthaltsraum, wohin die Krankenschwester die Mutter gebracht hatte, und beobachtete die Frau, die sich unentwegt eine Haarsträhne um den Zeigefinger wickelte und etwas vor sich hin murmelte, was Elinborg nicht verstand. Sie versuchte mit ihr zu reden, aber es war, als sei sie überhaupt nicht anwesend. Die Frau zeigte keinerlei Reaktion auf ihre Fragen. Sie wirkte wie eine Schlafwandlerin.

Elinborg saß eine ganze Weile bei ihr, bis ihr wieder all die Plätzchensorten einfielen, die noch nicht gebacken waren.

Sie stand auf, um jemanden zu holen, der die Frau wieder auf ihre Station bringen würde, und traf auf dem Gang einen Aufseher, der um die dreißig zu sein schien und sich dem Aussehen nach in seiner Freizeit mit Gewichtheben beschäftigte. Er trug weiße Hosen und ein weißes T-Shirt, die kräftigen Muskeln spielten bei jeder Bewegung. Der Kopf mit den kurz geschorenen Haaren war rundlich, und die Augen lagen tief. Elinborg fragte ihn nicht nach seinem Namen.

Er folgte ihr in den Aufenthaltsraum.

»Ach, da haben wir ja die liebe Dóra«, sagte der Wärter, ging zu der Frau hin und packte sie am Arm. »Zur Abwechslung mal ruhig heute Abend.«

Die Frau erhob sich genauso apathisch wie zuvor.

»Haben sie dich so gedopt, du Ärmste«, sagte der Wärter, und Elinborg gefiel der Ton nicht. Er schien zu einem fünfjährigen Kind zu sprechen. Und was bedeutete das, dass sie heute Abend zur Abwechslung mal ruhig war? Sie konnte sich nicht zurückhalten.

»Sprich doch nicht mit ihr wie mit einem kleinen Kind«, sagte sie und klang schroffer, als sie eigentlich wollte.

Der Aufseher schaute sie an.

»Geht dich das etwas an?«, fragte er.

»Sie hat genau wie alle anderen das Recht, dass man ihre Menschenwürde respektiert«, sagte Elinborg und verkniff es sich, zu erwähnen, dass sie bei der Kriminalpolizei war.

»Das kann schon sein«, sagte der Wärter. »Ich glaube aber nicht, dass ich sie menschenunwürdig behandle. Na, jetzt komm schon, Dóra«, sagte er und führte die Frau hinaus auf den Korridor.

»Was meinst du damit, dass sie heute Abend zur Abwechslung mal ruhig ist?«

»Ruhig, heute Abend?«, wiederholte der Aufseher und drehte sich zu Elinborg um.

»Du hast gesagt, sie wäre ja geradezu ruhig heute Abend«, sagte Elinborg. »Sollte sie das vielleicht nicht sein?«

»Ich nenne Dóra manchmal The Fugitive«,sagte der Krankenwärter. »Sie reißt immer wieder aus.«

Elinborg verstand ihn nicht.

»Wovon redest du eigentlich?«

»Hast du den Film nicht gesehen?«, sagte der Aufseher.

»Haut sie von hier ab?«, sagte Elinborg. »Aus der Klinik?«

»Oder wenn wir einen Ausflug in die Stadt machen«, erklärte der Aufseher. »Das letzte Mal ist sie beim Ausflug in die Stadt abgehauen. Wir sind halb verrückt geworden auf der Suche nach ihr, aber dann habt ihr sie gefunden und hier auf die Station gebracht. Da habt ihr auch nicht sonderlich darauf Wert gelegt, ihre Menschenwürde zu respektieren.«

»Wir?«

»Ich weiß, dass du von der Polizei bist. Ihr seid nicht gerade sehr zuvorkommend mit ihr umgegangen.«

»Wann war das?«

Er überlegte. Er selber hatte sie und zwei andere Patienten begleitet, als sie am Lækjartorg urplötzlich verschwunden war. Er konnte sich gut erinnern, wann das gewesen war, denn am gleichen Tag hatte er einen persönlichen Rekord im Gewichtheben aufgestellt.

Das Datum stimmte überein mit dem Tag, an dem der Junge misshandelt worden war.

»Wurde ihr Ehemann nicht benachrichtigt, als sie abgehauen war?«, fragte Elinborg.

»Wir wollten ihn gerade anrufen, als ihr sie gefunden habt. Wir geben ihnen immer etwas Zeit, damit sie sich auch von selber wieder einfinden können. Sonst würden wir nur noch am Telefon hängen.«

»Weiß ihr Mann, dass sie bei euch The Fugitive genannt wird?«

»Sie wird nicht bei uns so genannt, sondern nur von mir. Er weiß nichts davon.«

»Weiß er, dass sie manchmal ausreißt?«

»Ich habe ihm nichts gesagt. Sie kommt ja immer wieder zurück.«

»Es ist nicht zu fassen«, sagte Elinborg.

»Man muss sie ganz schön unter Stoff stellen, damit sie nicht abhaut«, sagte der Aufseher.

»Das verändert die ganze Sachlage!«

»Komm jetzt, liebe Dóra«, sagte der Aufseher, und die Tür zur Station schloss sich hinter ihnen.


Elinborg starrte Erlendur an.

»Ich war mir so sicher, dass er es war. Dass es der Vater war. Aber jetzt kann es sein, dass sie sich nach Hause abgesetzt hat, über den Jungen hergefallen und dann wieder abgehauen ist. Wenn doch der dumme Junge endlich seinen Mund aufmachen würde!«

»Weswegen sollte sie ihrem Sohn etwas zuleide tun?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Elinborg. »Vielleicht hört sie Stimmen.«

»Und die gebrochenen Finger und die blauen Flecken? All das, was im Laufe der Jahre passiert ist. War das dann immer sie?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hast du mit dem Vater gesprochen?«

»Ich komme gerade von ihm.«

»Und?«

»Wir sind natürlich nicht gerade die besten Freunde. Er hat seinen Sohn nicht zu sehen bekommen, seit wir in sein Haus eingedrungen sind und alles auf den Kopf gestellt haben. Er hat jede Menge Verwünschungen für mich auf Lager gehabt und …«

»Was hat er über seine Frau gesagt, über die Mutter?«, unterbrach Erlendur sie ungeduldig. »Er muss sie doch im Verdacht gehabt haben.«

»Der Junge hat nichts gesagt.«

»Außer, dass er sich nach seinem Vater sehnt«, sagte Erlendur.

»Ja, genau. Der Vater findet ihn in seinem Zimmer und glaubt, dass er so aus der Schule nach Hause gekommen ist.«

»Du hast den Jungen im Krankenhaus besucht und gefragt, ob es sein Vater war, der ihn angegriffen hat, und du glaubtest eine Reaktion zu sehen, die dich zu der Überzeugung gebracht hat, dass es der Vater gewesen ist.«

»Ich muss das missverstanden haben«, sagte Elinborg deprimiert. »Ich habe da was in sein Verhalten hineininterpretiert …«

»Aber wir haben nichts in der Hand, was beweist, dass es die Mutter war. Wir haben nichts, was beweist, dass es nicht der Vater war.«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich seine Frau im Krankenhaus besucht und mit ihr gesprochen habe, und dass niemand weiß, was sie an diesem Tag unternommen hat, an dem Tag, als ihr Sohn zusammengeschlagen wurde. Er war völlig perplex. Es schien ihm überhaupt nicht eingefallen zu sein, dass seine Frau aus der Klinik entwischen könnte. Er behauptet immer noch, dass es die Jungs aus der Schule waren. Er sagte, der Junge würde es bestimmt sagen, wenn es seine Mutter gewesen wäre. Er ist davon überzeugt.«

»Warum sagt der Junge denn nicht, dass sie es war?«

»Er steht natürlich unter Schock, der Ärmste. Ich weiß es nicht.«

»Liebe?«, fragte Erlendur. »Trotz allem, was sie ihm angetan hat.«

»Oder Angst«, erwiderte Elinborg. »Vielleicht eine panische Angst davor, dass sie das noch einmal macht. Vielleicht will er seine Mutter durch Schweigen in Schutz nehmen. Keine Ahnung.«

»Was sollen wir deiner Meinung nach tun? Sollen wir die Anklage gegen den Vater zurückziehen?«

»Ich werde mal mit der Staatsanwaltschaft reden und hören, was sie dazu meinen.«

»Genau, damit würde ich an deiner Stelle anfangen. Noch was ganz anderes: Hast du die Frau angerufen, die sich, ein paar Tage bevor Guðlaugur ermordet wurde, mit Stefania hier im Hotel getroffen hat?«

»Ja«, sagte Elinborg abwesend. »Die hatte sie gebeten, ihr zuliebe zu lügen, aber im entscheidenden Augenblick brachte sie es nicht über sich.«

»Sollte sie für Stefania lügen?«

»Sie fing damit an, dass sie hier zusammengesessen und Kaffee getrunken hätten, aber dann hat sie wohl Muffensausen gekriegt, oder sie ist eine schlechte Lügnerin, jedenfalls brach sie am Telefon in Tränen aus, als ich ihr sagte, sie müsse aufs Revier kommen, um das zu Protokoll zu geben. Sie sagte, dass Stefania und sie befreundet seien, weil sie zusammen im Musikverein waren. Stefania hätte sie angerufen und sie gebeten auszusagen, dass sie sich hier im Hotel getroffen hätten, falls sie gefragt würde. Sie sagte, dass sie sich zuerst geweigert hätte, doch Stefania hat sie anscheinend mit irgendwas unter Druck gesetzt, aber sie hat mir nicht sagen wollen, mit was.«

»Das war von Anfang an eine miese Lüge«, erklärte Erlendur. »Wir haben es beide gewusst, als ihr das herausgerutscht ist. Ich weiß nicht, warum sie uns so bei der Arbeit behindert, es sei denn, sie hat Schuldgefühle.«

»Meinst du etwa, dass sie ihren Bruder getötet hat?«

»Oder sie weiß, wer es getan hat.«


Sie blieben noch eine Weile sitzen und sprachen über den Jungen und seine Mutter — und die schwierigen häuslichen Verhältnisse. Was Elinborg darauf brachte, Erlendur erneut danach zu fragen, was er an Weihnachten vorhatte.

Er sagte, er und Eva Lind würden am Heiligabend zusammen sein.

Er berichtete Elinborg von seiner Entdeckung im Kellerflur und seinem Verdacht, dass Ösps Bruder etwas mit der Sache zu tun haben könnte, der ins kriminelle Milieu abgerutscht sei und ständig Geld bräuchte. Er bedankte sich bei Elinborg für die Weihnachtseinladung und sagte ihr, sie solle sich doch für die restliche Zeit bis Weihnachten freinehmen.

»Da gibt’s keine restliche Zeit mehr«, sagte Elinborg grinsend und zuckte mit den Achseln. Anscheinend spielten Weihnachten, Hausputz, Plätzchen, Schwiegereltern keine Rolle mehr.

»Kriegst du irgendwelche Weihnachtsgeschenke?«, fragte sie.

»Vielleicht Socken«, sagte Erlendur. »Hoffentlich.«

Er zögerte.

»Lass dir das nicht zu nahe gehen mit dem Vater«, sagte er dann. »So was kann jedem mal passieren. Wir glauben, sicher zu sein, und sind felsenfest überzeugt von etwas, aber dann kommen die Zweifel. Dann, wenn plötzlich neue Fakten ans Licht kommen.«

Elinborg nickte.

Erlendur begleitete sie ins Foyer, wo sie sich verabschiedeten. Er wollte auf sein Zimmer, um seine Sachen zusammenzupacken. Jetzt reichte es mit der Distanz von zu Hause. Er hatte angefangen, seine Bude zu vermissen, wo nichts war. Doch, da waren seine Bücher, sein Sessel — und Eva Lind, auf dem Sofa.

Er stand am Aufzug und wartete, als Ösp auf einmal neben ihm auftauchte.

»Ich habe ihn gefunden«, sagte sie.

»Wen ihn?«, fragte Erlendur. »Deinen Bruder?«

»Komm mit«, sagte Ösp und ging zur Treppe, die in den Keller hinunterführte. Erlendur zögerte. Die Aufzugtür ging auf, und er schaute hinein. Er war dem Mörder auf der Spur. Vielleicht war der Bruder gekommen, um sich auf Anraten der Schwester zu stellen; der Junge mit dem Kautabak. Erlendur war deswegen nicht angespannt. Keine Erregung und Siegesgewissheit, die aufkamen, wenn ein Fall gelöst wurde. Er fühlte sich nur müde und unangenehm berührt, weil dieser Fall alle möglichen Erinnerungen aus seiner Kindheit heraufbeschworen hatte. Ihm war klar geworden, dass in seinem eigenen Leben noch so vieles ins Reine zu bringen war, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte. Im Augenblick sehnte er sich danach, die Arbeit hinter sich zu lassen und so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, um mit Eva Lind zusammen zu sein. Ihr zu helfen, mit den Problemen fertig zu werden, mit denen sie kämpfte. Er wollte damit aufhören, über andere nachzudenken, er wollte über sich selbst nachdenken und seine Nächsten.

»Kommst du nicht?«, fragte Ösp, die an der Treppe stand und auf ihn wartete.

»Ich komme«, sagte Erlendur.

Er folgte ihr die Treppe hinunter in die Kantine, wo er zuerst mit ihr gesprochen hatte. Da drinnen war es immer noch genauso schmutzig. Ösps Bruder saß an einem Tisch und sprang auf, als Erlendur hereinkam. Ösp machte die Tür hinter sich zu.

»Ich habe ihm nichts getan«, sagte er mit schwacher Stimme. »Ösp sagt, dass du glaubst, ich wärs gewesen, aber ich habe nichts getan. Ich hab ihm nichts getan!«

Er hatte einen schmierigen Parka an, der an der Schulter aufgerissen war, sodass man das Futter sehen konnte. Er trug vor Dreck starrende Jeans und klobige Schnürstiefel bis zu den Waden, Schnürsenkel konnte Erlendur keine entdecken. Zwischen den langen, schmutzigen Fingern hielt er eine Zigarette. Er sog den Rauch tief ein und blies ihn von sich.

Seine Stimme klang erregt, und er tigerte in einer Ecke der Kantine auf und ab, wie ein Tier im Käfig, das in die Enge getrieben wurde von einem Kriminalbeamten, der nur darauf lauerte, ihn zu verhaften.

Erlendur blickte sich um und sah Ösp an der Tür stehen, dann schaute er wieder zu ihrem Bruder hinüber.

»Du scheinst Vertrauen zu deiner Schwester zu haben, sonst wärst du nicht hier.«

»Ich hab nichts getan«, sagte er. »Sie hat gesagt, du wärst in Ordnung und wolltest nur ein paar Informationen.«

»Ich muss wissen, was für ein Verhältnis du zu Guðlaugur gehabt hast«, sagte Erlendur. »Ich habe keine Ahnung, ob du ihn erstochen hast.«

»Ich habe ihn nicht erstochen«, erklärte er.

Erlendur betrachtete ihn. Er befand sich irgendwo im Zwischenstadium zwischen Jugend und Erwachsenendasein, einerseits wirkte er merkwürdig kindlich, aber sein Gesichtsausdruck verriet eine ungeheure Härte und Verbitterung — und eine Wut auf etwas, von dem Erlendur nicht wusste, was es war.

»Niemand sagt, dass du es getan hast«, sagte Erlendur, um ihn zu beruhigen und seine Erregung zu dämpfen. »Wie hast du Guðlaugur kennen gelernt? Was für eine Verbindung war zwischen euch?«

Der Junge sah zu seiner Schwester hinüber, aber Ösp sagte keinen Ton, sondern stand nur stumm an der Tür. Er schaute wieder zu Erlendur.

»Ich habe ihm manchmal einen Gefallen getan, und dafür hat er mich bezahlt«, antwortete er.

»Und wie habt ihr euch kennen gelernt? Wie lange hast du ihn gekannt?«

»Er wusste, dass ich der Bruder von Ösp bin. Er fand es genau wie alle anderen komisch, dass wir Geschwister waren.«

»Wieso das?«

»Ich heiße Reynir.«

»Und? Was ist daran komisch?«

»Ösp und Reynir. Espe und Vogelbeerbaum. Geschwister. Ein Scherz von Papa und Mama. Klingt nach Aufforsten.«

»Was war mit Guðlaugur?«

»Ich habe ihn das erste Mal hier im Hotel gesehen, als ich mich mit Ösp traf. So vor einem halben Jahr.«

»Und?«

»Er wusste, wer ich war. Ösp hatte ihm was von mir erzählt. Sie hat mir manchmal erlaubt, hier im Hotel zu schlafen. Unten im Gang bei ihm.«

Erlendur drehte sich zu Ösp um.

»Du hast da unten in der Ecke ordentlich sauber gemacht«, sagte er.

Ösp schaute ihn an, als verstünde sie nicht, was er meinte, und antwortete ihm nicht. Er wandte sich wieder Reynir zu.

»Er wusste, wer du warst. Du hast auf dem Korridor vor seinem Zimmer geschlafen. Was sonst?«

»Er schuldete mir Geld, aber er sagte, dass er es mir geben würde.«

»Warum hattest du was von ihm zu kriegen?«

»Ich hab ihm manchmal einen Blow-job besorgt und …«

»Und?«

»Ab und zu durfte er mich ficken.«

»Hast du gewusst, dass er schwul war?«

»Was denn sonst?«

»Und das Kondom?«

»Wir haben immer so was benutzt. Da war er total paranoid und wollte nicht das geringste Risiko eingehen. Traute mir nicht, er könne doch nicht wissen, ob ich Aids habe oder nicht. Ich bin nicht infiziert«, sagte er mit Nachdruck und schaute seine Schwester an.

»Und du verwendest Kautabak.«

Er schaute Erlendur verblüfft an.

»Was hat das mit der Sache zu tun?«, fragte er.

»Spielt keine Rolle. Verwendest du Kautabak?«

»Ja.«

»Du warst mit ihm an dem Tag zusammen, als er erstochen wurde?«

»Ja. Er wollte mich treffen, weil er mir das Geld geben wollte.«

»Wie hat er dich erreicht?«

Reynir nahm sein Handy aus der Tasche und hielt es Erlendur hin.

»Als ich kam, zog er sich gerade dieses Weihnachtsmannkostüm an«, sagte er. »Er musste sich beeilen wegen der Weihnachtsfeier. Nachdem er mich bezahlt hatte, schaute er auf die Uhr und hat gesehen, dass er noch Zeit für ein bisschen Fun hatte.«

»Hat er da unten in seiner Kammer viel Geld gehabt?«

»Nicht, dass ich wüsste. Ich hab nur das gesehen, was er mir gegeben hat. Er hat aber gesagt, dass er jede Menge Kohle in Aussicht hätte.«

»Von wem?«

»Das weiß ich nicht. Er hat behauptet, er säße auf einer Goldmine.«

»Was hat er damit gemeint?«

»Irgendwas, was er verkaufen wollte. Keine Ahnung, was das war, das hat er mir nicht gesagt. Er sagte bloß, dass er einen Haufen Kohle in Aussicht hätte beziehungsweise sehr viel Geld. Er hätte nie ›einen Haufen Kohle‹ gesagt.

Er hat nicht so geredet. Hat immer richtig vornehm dahergeredet und sich gewählt ausgedrückt. Er war unheimlich höflich. Der Typ war in Ordnung. Hat mir nie was getan und mich immer bezahlt. Da gibt’s Schlimmere als ihn.

Manchmal wollte er auch bloß mit mir reden. Er war einsam, zumindest hat er das selber gesagt. Hat behauptet, er hätte außer mir keinen Freund.«

»Hat er irgendetwas über seine Vergangenheit gesagt?«

»Nein.«

»Nichts darüber, dass er einmal ein Kinderstar gewesen ist?«

»Nein. Kinderstar? Was hat er gemacht?«

»Hast du ein Messer bei ihm gesehen, das aus der Hotelküche hätte sein können?«

»Ja, ich habe ein Messer bei ihm gesehen, aber ich habe keine Ahnung, woher es stammte. Als ich zu ihm kam, hat er damit an seinem Weihnachtsmannkostüm rumgefummelt. Er sagte, dass er für nächstes Jahr ein neues Kostüm brauchen würde.«

»Und hatte er kein Geld bei sich, außer dem, was er dir gegeben hat?«

»Nein, das glaube ich nicht.«

»Du hast ihn nicht ausgeraubt?«

»Nein!«

»Hast ihm nicht die halbe Million weggenommen, die in seinem Zimmer war?«

»Eine halbe Million? Hat er ’ne halbe Million gehabt?«

»Soweit ich weiß, brauchst du immer Geld. Das kann man schon daran sehen, dass du anschaffen gehst. Da sind Leute hinter dir her, denen du eine Menge schuldest. Sie haben deiner Familie gedroht …«

Reynir warf seiner Schwester grimmige Blicke zu.

»Guck nicht sie an, sondern mich. Guðlaugur hatte Geld in seinem Zimmer, und zwar viel mehr, als er dir schuldete. Er hatte vielleicht die Goldmine schon angezapft. Du hast das Geld gesehen, und du wolltest mehr. Du hast ihm Gefälligkeiten erwiesen, von denen du glaubtest, dass du mehr dafür kriegen müsstest. Er hat sich geweigert, ihr habt euch gestritten, du hast dir das Messer geschnappt und ihn damit angegriffen, er hat sich so lange gewehrt, bis es dir gelungen ist, ihm das Messer in die Brust zu stoßen und ihn zu töten. Du hast das Geld genommen …«

»Du Scheißkerl!«, zischte Reynir. »So ein verdammter Schwachsinn!«

»… und hast seitdem gekifft oder gefixt, oder was auch immer …«

»Du bist echt ein Arsch!«, brüllte Reynir.

»Mach doch weiter mit der Geschichte«, rief Ösp. »Sag ihm das, was du mir gesagt hast, sag ihm alles!«

»Alles? Was meinst du damit?«, fragte Erlendur.

»Er hat mich gefragt, ob ich ihm einen Gefallen tun würde, bevor er zu der Weihnachtsfeier ging«, sagte Reynir. »Er sagte, dass die Zeit knapp sei, aber er hätte Geld und würde gut dafür bezahlen. Und als wir da gerade rummachten, ist diese alte Schrulle reingeplatzt.«

»Alte Schrulle?«

»Ja.«

»Was für eine alte Schrulle?«

»Die uns gestört hat.«

»Erzähl es ihm«, hörte man von Ösp, die hinter Erlendur stand. »Erzähl ihm, wer es war!«

»Über wen redest du?«

»Wir hatten vergessen abzuschließen, weil wir uns beeilen mussten, und auf einmal ging die Tür auf und sie ist da reingeschneit.«

»Wer?«

»Ich weiß nicht, wer das war. Irgendeine alte Tussi.«

»Und was geschah dann?«

»Ich weiß es nicht. Ich hab die Biege gemacht. Sie hat ihn angeschrien, und ich hab gemacht, dass ich wegkam.«

»Warum bist du nicht gleich mit diesen Informationen zu uns gekommen?«

»Ich hab nichts mit der Polizei am Hut. Hinter mir sind alle möglichen Leute her, und wenn die erfahren, dass ich mit den Bullen rede, glauben sie, dass ich sie verzinken will, und dann bin ich dran.«

»Wer war diese Frau, die euch gestört hat? Wie hat sie ausgesehen?«

»Ich hab sie mir nicht genau angeguckt. Ich hab gemacht, dass ich wegkam. Er klinkte völlig aus. Schob mich von sich weg, schrie irgendwas und klinkte völlig aus. Er schien eine Scheißangst vor ihr zu haben.«

»Was hat er geschrien?«

»Steffi.«

»Was?«

»Steffi. Das war das Einzige, was ich gehört habe. Steffi. Er hat sie Steffi genannt, und er hatte eine Scheißangst vor ihr.«

Zweiunddreißig

Sie stand vor der Tür zu seinem Zimmer und drehte ihm den Rücken zu. Erlendur blieb stehen, betrachtete sie eine Weile und sah, wie sie sich verändert hatte seit dem Augenblick, als sie zum ersten Mal mit ihrem Vater ins Hotel gerauscht kam. Jetzt war sie nur eine erschöpfte und müde Frau mittleren Alters, die immer noch allein mit ihrem querschnittsgelähmten Vater im gleichen Haus wohnte, das zeit ihres Lebens ihr Heim gewesen war. Aus Gründen, die er nicht kannte, war diese Frau womöglich ins Hotel gekommen und hatte ihren Bruder ermordet.

Sie schien zu spüren, dass er im Flur stand, denn auf einmal drehte sie sich um und blickte ihn an. Ihr war nicht anzusehen, was in ihr vorging. Er wusste nur, dass es diese Frau war, nach der er gesucht hatte, seitdem er zuerst das Hotel betreten und den Weihnachtsmann in seinem Blut vorgefunden hatte.

Sie stand unbeweglich an der Tür und sprach erst, als er direkt vor ihr stand.

»Ich muss dir noch etwas sagen«, sagte sie. »Falls es irgendwie von Bedeutung sein sollte.«

Erlendur ahnte, dass sie wegen der Lüge mit der Freundin zu ihm gekommen war, ihr jetzt die Zeit gekommen zu sein schien, die Wahrheit zu sagen. Er öffnete die Tür, sie trat vor ihm ein, ging zum Fenster und sah in das Schneetreiben hinaus.

»Das Wetteramt hatte grüne Weihnachten prophezeit«, sagte sie.

»Wirst du manchmal Steffi genannt?«, fragte er.

»Damals, als kleines Mädchen, ja«, sagte sie und starrte weiterhin aus dem Fenster.

»Hat dein Bruder dich Steffi genannt?«

»Ja, das hat er getan«, sagte sie. »Immer. Und ich habe ihn immer Gulli genannt. Warum fragst du danach?«

»Warum warst du fünf Tage vor dem Tod deines Bruders im Hotel?«

Stefania seufzte tief.

»Ich weiß, dass es falsch war, zu lügen.«

»Weswegen bist du gekommen?«

»Wegen seiner Platten. Wir waren der Meinung, dass uns auch ein Teil davon zustünde. Wir wussten, dass er eine ganze Menge davon besaß, wahrscheinlich den ganzen Rest der Auflage seinerzeit, der nicht verkauft wurde. Wir wollten an dem Gewinn teilhaben, falls er die Absicht hatte, sie zu verkaufen.«

»Wie ist er an die Auflage herangekommen?«

»Papa hat sie zugeschickt bekommen und zu Hause in Hafnarfjörður aufbewahrt. Als Guðlaugur auszog, hat er die Kartons einfach mitgenommen. Er fand, dass die Platten ihm gehörten, ihm und niemand anderem.«

»Wieso habt ihr gewusst, dass er verkaufen wollte?«

Stefania zögerte.

»Ich habe auch gelogen, was Henry Wapshott angeht. Ich kenne ihn ein wenig. Nicht besonders gut, aber ich hätte es dir sagen sollen. Hat er dir gegenüber nicht erwähnt, dass er sich mit uns getroffen hat?«

»Nein«, sagte Erlendur. »Der hat mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Ist überhaupt irgendetwas von dem, was du mir bisher erzählt hast, wahr?«

Sie antwortete ihm nicht.

»Warum sollte ich glauben, was du jetzt sagst?«

Stefania schwieg und beobachtete, wie der Schnee zur Erde fiel. Sie schien mit ihren Gedanken weit weg, schien in ein Leben zurückgekehrt zu sein, das sie vor langer Zeit gelebt hatte, als sie keine Lügen kannte und alles nur aus der Wahrheit bestand, wie frisch gefallener und reiner Schnee.

»Stefania?«, sagte Erlendur.

»Der Streit zwischen ihnen war nicht wegen seiner Stimme«, sagte sie plötzlich, »ich meine, als Papa die Treppe hinunterstürzte. Es war nicht wegen des Gesangs. Das war die letzte und größte Lüge.«

»Du meinst, als sie sich auf dem Treppenabsatz gestritten haben?«

»Weißt du, wie die Kinder in der Schule ihn nannten? Was für einen Spitznamen er hatte?«

»Ich glaube, ich weiß es«, sagte Erlendur.

»Sie haben ihn die ›Kleine Prinzessin‹ genannt.«

»Weil er im Chor gesungen hat und verwöhnt war und …«

»Weil sie ihn in einem Kleid von Mama gesehen haben«, unterbrach ihn Stefania.

Sie wandte sich vom Fenster ab.

»Es war nach ihrem Tod. Er vermisste sie in unvorstellbarem Maße, ganz besonders, als er kein Chorknabe mehr war und nur ein ganz normaler Junge mit einer ganz normalen Stimme. Papa wusste nichts davon, aber ich. Wenn Papa nicht zu Hause war, hat er sich manchmal Mamas Schmuck umgehängt und ihre Kleider angezogen und sich vor den Spiegel gestellt, und er schminkte sich sogar. Und einmal, es war im Sommer, haben ihn ein paar Jungen so gesehen, darunter auch Klassenkameraden von ihm. Sie spähten zum Wohnzimmerfenster hinein. Das haben sie manchmal gemacht, weil wir als etwas merkwürdig galten. Sie fingen an, ihn auszulachen, brutal, unbarmherzig und mitleidlos. Danach wurde er in der Schule nur noch verspottet. Die Kinder fingen an, ihn die ›kleine Prinzessin‹ zu nennen.«

Stefania schwieg eine Weile.

»Ich glaubte damals, dass er einfach nur Mama vermisst hat«, sagte sie dann. »Dass er versuchte, ihr nahe zu sein, indem er ihre Kleider anzog und ihren Schmuck trug. Ich glaubte nicht, dass es unnatürliche Gefühle waren. Aber dann kam etwas ganz anderes zutage.«

»Unnatürliche Gefühle?«, sagte Erlendur. »Ist das deine Einstellung dazu? Dein Bruder war homosexuell. Hast du ihm das nicht vergeben können? Hast du deswegen die ganzen Jahre keine Verbindung zu ihm gehabt?«

»Er war noch sehr jung, als unser Vater ihn einmal mit einem gleichaltrigen Jungen überrascht hat, als sie Dinge getrieben haben, die ich nicht beschreiben möchte. Ich wusste, dass er mit diesem Freund auf seinem Zimmer war, ich glaubte, sie würden zusammen lernen. Papa kam unerwartet nach Hause und suchte nach irgendwas, er ging in Gullis Zimmer und platzte in diese scheußliche, diese monströse Szene hinein. Er hat mir nie genau sagen wollen, was da los war. Als ich aus meinem Zimmer kam, sah ich, wie der Junge die Treppe hinuntersauste, die Hose hing ihm noch halb herunter. Papa und Gulli standen auf dem Flur und schrien einander an, und dann sah ich, wie Gulli ihm einen heftigen Stoß versetzte. Papa verlor das Gleichgewicht und stürzte die Treppe hinunter. Er ist nie wieder aufgestanden.«

Stefania drehte sich wieder zum Fenster und sah zu, wie der Weihnachtsschnee zur Erde rieselte. Erlendur schwieg und überlegte, was sie wohl dachte, wenn sie sich so wie jetzt in sich zurückzog. Er wusste es nicht, glaubte jedoch, eine Art Antwort zu bekommen, als sie das Schweigen endlich wieder brach.

»Mir hat nie jemand Aufmerksamkeit geschenkt«, sagte sie.

»Alles, was ich tat, war Nebensache. Ich sage das nicht aus Selbstmitleid, ich glaube, diese Zeiten sind längst vorbei.

Eher, weil ich versuche, zu verstehen und zu erklären, weswegen ich seit diesem Tag nie wieder Verbindung zu ihm aufgenommen habe. Manchmal glaube ich, dass ich einfach froh darüber war, wie alles gelaufen ist. Kannst du dir das vorstellen?«

Erlendur schüttelte den Kopf.

»Als er weg war, stand ich plötzlich im Mittelpunkt, nicht er. Nie wieder er. Und auf eine seltsame Weise war ich glücklich darüber und froh, dass er nicht dieser große Kinderstar wurde, der er hätte werden sollen. Ich nehme an, dass ich ihn die ganze Zeit beneidet habe, um die Aufmerksamkeit, die er bekam, und um die Stimme, die er als Kind hatte. Sie war übernatürlich schön. Es war, als wäre er mit all diesen Talenten gesegnet, während ich völlig talentlos war und auf dem Klavier herumhämmerte wie ein Trampel. So hat mein Papa sich ausgedrückt, als er versuchte, mir Klavierunterricht zu geben. Er sagte, ich sei völlig untalentiert. Trotzdem schaute ich zu ihm auf, denn ich glaubte, er hätte immer in allem Recht. Er war oft gut zu mir, und nachdem er völlig hilflos geworden war, besaß ich zumindest das Talent, für ihn zu sorgen, und das bedeutete natürlich alles für ihn. Und so vergingen die Jahre, eines nach dem anderen, ohne dass sich irgendetwas änderte. Gulli hatte uns verlassen, Papa war gelähmt, und ich sorgte für ihn. Ich habe niemals an mich selber gedacht, was ich selber wollte. So können die Jahre vergehen, ohne dass man irgendetwas anderes macht, als in den festen Bahnen zu leben, die man sich selber gesetzt hat. Jahr für Jahr für Jahr.«

Sie schwieg eine Weile und starrte in den Schnee hinaus.

»Wenn man dann auf einmal zu spüren beginnt, dass das womöglich alles gewesen sein soll, was man im Leben erreicht hat, fängt man an zu hassen — und nach einem Sündenbock zu suchen. Und ich fand plötzlich, dass mein Bruder die Schuld an allem trug. Mit der Zeit begann ich ihn zu hassen, ihn und seine perversen Neigungen, die unser Leben zerstört hatten.«

Erlendur wollte etwas sagen, aber sie sprach weiter.

»Ich weiß nicht, wie ich das besser beschreiben soll. Wenn man sich in sein eigenes, monotones Leben vergräbt, wegen etwas, das sich dann viele Jahre später als völlig unbedeutend herausstellt und überhaupt keine Rolle mehr spielt. Und in der Tat völlig belanglos ist.«

»Soweit wir verstanden haben, hat er es so aufgefasst, dass er seiner Jugend beraubt worden ist«, sagte Erlendur. »Dass er nicht der sein durfte, der er sein wollte, sondern gezwungen wurde, etwas ganz anderes zu sein; Solist, Kinderstar. Er bekam das zu spüren, als er in der Schule deswegen gehänselt wurde. Und dann scheitert das Ganze! Hinzu kommen ›unnatürliche Gefühle‹, wie du es ausdrückst. Ich glaube, dass es ihm alles andere als gut gegangen ist. Vielleicht wollte er diese ganze Aufmerksamkeit gar nicht, nach der du dich offensichtlich gesehnt hast.«

»Seiner Jugend beraubt«, wiederholte Stefania. »Das kann gut sein.«

»Hat dein Bruder irgendwann versucht, mit deinem Vater oder dir über seine Homosexualität zu reden?«, fragte Erlendur.

»Nein, aber man kann sich ja denken, worauf das hinausgelaufen wäre. Ich weiß auch nicht, ob er sich selber darüber völlig im Klaren war, was da mit ihm geschah. Darüber weiß ich gar nichts. Ich glaube nicht, dass er gewusst hat, warum er sich Mamas Kleider anzog. Ich weiß nicht, wie und wann die Leute feststellen, dass sie anders sind.«

»Auf irgendeine seltsame Weise hat er diesen Spitznamen gemocht«, sagte Erlendur. »Er hat das Plakat in seinem Zimmer hängen, und wir wissen, dass …« Erlendur verstummte mitten im Satz. Er wusste nicht, ob er von Guðlaugurs Liebhaber erzählen sollte, der ihn die kleine Prinzessin nennen sollte.

»Darüber weiß ich nichts«, sagte Stefania, »außer natürlich, dass er dieses Plakat da bei sich an der Wand hängen hatte. Vielleicht hat er sich selber auch mit den Erinnerungen an das, was passiert war, gequält. Vielleicht waren sie mit etwas verbunden, was wir nie begreifen werden.«

»Wie hast du Henry Wapshott kennen gelernt?«

»Er kam eines Tages zu uns und wollte mit Papa und mir über Gullis Platten reden. Er wollte wissen, ob wir noch welche besäßen. Das war voriges Jahr zu Weihnachten. Er hatte sich bei irgendwelchen Sammlern Informationen über uns, also Guðlaugur Egilsson und dessen Familie, beschafft, und er hat uns gesagt, dass seine Platten in anderen Ländern großen Wert besäßen. Er hatte mit meinem Bruder gesprochen, der ihm aber nichts verkaufen wollte, bis er plötzlich seine Meinung geändert hat und bereit war, dem Engländer alles zu überlassen, was er haben wollte.«

»Und ihr wolltet euren Anteil an dem Profit, oder was?«

»Wir fanden das nur recht und billig. Die Platten gehörten nicht nur ihm, sondern genauso gut unserem Vater, zumindest waren wir der Meinung. Unser Vater hat diese Platten mit seinem eigenen Geld finanziert.«

»Waren es nennenswerte Summen, die Wapshott euch angeboten hat?«

Stefania nickte abwesend.

»Millionen.«

»Das stimmt mit unseren Informationen überein.«

»Er hat genug Geld, dieser Wapshott. Wenn ich richtig verstanden habe, wollte er die ganze Auflage kaufen, um zu verhindern, dass zu viele Platten auf den Sammlermarkt gelangen. Er hat ganz offen darüber geredet und war bereit, ungeheure Summen für sämtliche Exemplare zu bezahlen. Ich glaube, dass es ihm in diesem Jahr gelungen ist, Guðlaugur auf seine Seite zu ziehen. Wahrscheinlich hat sich daran aber etwas geändert, denn sonst hätte er ihn wohl nicht angegriffen.«

»Ihn angegriffen? Wie meinst du das?«

»Habt ihr ihn denn nicht festgenommen?«

»Ja«, sagte Erlendur, »aber wir haben keine Beweise gegen ihn in der Hand, dass er wirklich der Täter ist. Was meinst du damit, dass sich etwas geändert hat?«

»Wapshott kam zu uns nach Hafnarfjörður und sagte, er hätte Guðlaugur dazu gebracht, ihm die komplette Auflage zu verkaufen, und er wollte sicherstellen, dass es wirklich nicht noch mehr Exemplare gab. Wir sagten ihm, dass das nicht der Fall wäre. Er fragte nach Papa …«

»Hat dich dein Vater dann zu Guðlaugur geschickt?«

»Nein, das hätte er nie getan. Seit dem Unfall durfte sein Name nicht mehr genannt werden.«

»Aber Guðlaugur hat als Erstes nach ihm gefragt, als er dich im Hotel gesehen hat.«

»Ja. Wir gingen hinunter in seine Kammer, und ich fragte ihn, wo die Platten wären.«


»Die sind an einem sicheren Ort«,sagte Guðlaugur und lächelte seine Schwester an. »Henry hat mir gesagt, dass er mit dir gesprochen hat.«

»Er hat uns gesagt, dass du bereit bist, ihm die Platten zu verkaufen. Papa ist der Meinung, dass die Hälfte davon ihm gehört, und deswegen wollen wir die Hälfte von dem Preis, den du dafür bekommst.«

»Ich habe meine Meinung geändert«,sagte Guðlaugur. »Ich werde niemandem was verkaufen.«

»Was hat Wapshott dazu gesagt?«

»Das hat ihm gar nicht gefallen.«

»Er bietet dir gutes Geld dafür an.«

»Ich kann mehr dafür bekommen, wenn ich sie selber einzeln verkaufe. Bei Sammlern besteht großes Interesse daran.

Ich glaube nämlich, dass Wapshott dasselbe vorhat, auch wenn er sagt, er wolle sie nur kaufen, um sie aus dem Verkehr zu ziehen. Ich habe den Eindruck, dass er lügt. Er will sie verkaufen und an mir verdienen. An mir wollten früher alle verdienen, nicht zuletzt Papa, und das hat sich kein bisschen geändert. Kein bisschen.«

Sie blickten einander lange an.

»Komm nach Hause und sprich mit Papa«,sagte sie. »Er wird nicht mehr lange leben.«

»Hat Wapshott mit ihm gesprochen?«

»Nein, er war nicht zu Hause, als Wapshott kam. Ich habe Papa von ihm erzählt.«

»Und was hat er dazu gesagt?«

»Nichts. Nur, dass er seinen Anteil haben wollte.«

»Und was ist mit dir?«

»Mit mir?«

»Warum bist du immer bei ihm geblieben? Warum hast du nie geheiratet und eine eigene Familie gegründet? Das ist nicht dein Leben, was du lebst, sondern seins. Wo ist dein Leben?«

»Wahrscheinlich hinter dem Rollstuhl, in den du ihn gebracht hast«,stieß Stefania hervor. »Untersteh dich, nach meinem Leben zu fragen.«

»Er hat dieselbe Macht über dich wie früher über mich.«

Der Zorn stieg in Stefania hoch.

»Irgendjemand musste sich um ihn kümmern. Sein Augenstern, sein Star war ein Schwuler, der ihn die Treppe hinuntergestoßen hat und seitdem nicht gewagt hat, mit ihm zu reden. Sitzt lieber nachts zu Hause bei ihm herum und schleicht sich weg, bevor er aufwacht. Was für eine Macht hat er über dich? Du glaubst, dass du ihn ein für alle Mal losgeworden bist, aber sieh dich an! Sieh dich doch endlich einmal an! Was ist aus dir geworden? Sag mir das! Du bist ein Niemand! Eine verkrachte Existenz!«

Sie verstummte.

»Entschuldige«,sagte er, »ich hätte nicht davon anfangen sollen.«

Sie antwortete ihm nicht.

»Hat er nach mir gefragt?«

»Nein.«

»Spricht er nie über mich?«

»Nein, niemals.«

»Er findet es unerträglich, wie ich lebe. Er findet es unerträglich, wie ich bin. Er findet mich unerträglich. Nach all diesen Jahren.«


»Warum hast du mir das nicht sofort gesagt?«, fragte Erlendur. »Warum dieses Versteckspiel?«

»Versteckspiel? Kannst du dir das nicht vorstellen? Ich wollte nicht über meine Familienangelegenheiten reden. Ich glaubte, dass ich uns abschirmen könnte, unser Privatleben.«

»Hast du da deinen Bruder zum letzten Mal getroffen?«

»Ja.«

»Bist du ganz sicher?«

»Ja.« Stefania schaute ihn an. »Was willst du damit andeuten?«

»Hast du ihn nicht mit einem Jungen bei der gleichen Beschäftigung erwischt wie damals, als dein Vater die Beherrschung verlor? Damals war das der Beginn deiner Lebensmisere, und dem wolltest du jetzt ein Ende machen.«

»Nein. Was …?«

»Wir haben einen Zeugen.«

»Zeugen?«

»Den Jungen, der bei ihm war. Ein junger Mann, der deinem Bruder gegen Bezahlung gewisse Gefälligkeiten erwiesen hat. Du hast sie in dem Kellerloch überrascht, der Junge hat das Weite gesucht, und du bist auf deinen Bruder losgegangen. Hast ein Messer auf dem Tisch liegen sehen und hast ihn attackiert.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Stefania, die spürte, dass es Erlendur ernst war mit dem, was er gesagt hatte, dass sich der Verdacht jetzt gegen sie richtete. Sie starrte Erlendur an, als traute sie ihren Ohren nicht.

»Es gibt einen Zeugen …«, begann Erlendur, konnte aber den Satz nicht zu Ende bringen.

»Was für einen Zeugen, über welchen Zeugen redest du eigentlich?«

»Leugnest du, deinen Bruder getötet zu haben?«

Das Zimmertelefon klingelte, und noch bevor Erlendur abheben konnte, begann sein Handy in der Jackentasche ebenfalls zu klingeln. Er entschuldigte sich bei Stefania, die ihm einen Blick zuwarf.

»Ich muss das Gespräch entgegennehmen.«

Stefania wandte sich ab, und er sah, wie sie eine von Guðlaugurs Platten aus der Hülle nahm. Während Erlendur den Hörer des Zimmertelefons abnahm, betrachtete sie die Platte. Sigurður Óli war in der Leitung. Erlendur nahm das Gespräch auf dem Handy entgegen und bat um einen Augenblick Geduld.

»Mich hat da ein Mann wegen des Mordes im Hotel angerufen, und ich habe ihm deine Handynummer gegeben«, sagte Sigurður Óli. »Hat er dich schon erreicht?«

»Da ist jemand bei mir auf dem Handy«, sagte Erlendur.

»Meines Erachtens haben wir den Fall geklärt. Sprich mit ihm, und dann melde dich wieder. Ich schicke drei Wagen hin, Elinborg wird mitkommen.«

Erlendur legte auf und griff wieder nach dem Handy. Er kannte die Stimme nicht, aber der Mann stellte sich vor und begann dann zu erzählen. Kaum hatte er angefangen, wurde Erlendurs Verdacht bestätigt, und er begriff die ganzen Zusammenhänge. Sie sprachen eine ganze Zeit miteinander, und am Ende des Gesprächs bat Erlendur den Mann, ins Dezernat zu kommen und alles zu Protokoll zu geben. Dann rief er Elinborg an und gab ihr Anweisungen.

Er stellte das Handy ab und wandte sich wieder Stefania zu, die Guðlaugurs Platte aufgelegt hatte.

»Manchmal waren früher«, sagte sie, »wenn diese Platten aufgenommen wurden, gewisse Nebengeräusche zu hören, weil man nicht sonderlich sorgfältig arbeitete. Die Aufnahmetechnik war noch nicht so gut und auch nicht die Studios. Man kann sogar den Straßenverkehr hören. Wusstest du das?«

»Nein«, sagte Erlendur und hatte keine Ahnung, worauf sie hinaus wollte.

»Das kann man beispielsweise bei dieser Platte hören, wenn man darauf achtet. Ich glaube aber, dass nur die das bemerken, die davon wissen.«

Sie stellte den Apparat lauter. Erlendur lauschte konzentriert, und mitten im Lied hörte er ein anderes Geräusch.

»Was ist das?«, fragte er.

»Das ist Papa«, sagte Stefania.

Sie spielte die Passage wieder, und jetzt hörte Erlendur das Nebengeräusch deutlich, ohne zu wissen, was es war.

»Ist das euer Vater?«, fragte Erlendur.

»Er sagt ihm, dass er eine Engelsstimme hat«, sagte Stefania und schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. »Er stand in der Nähe des Mikrofons und konnte sich nicht zurückhalten.«

Sie schaute Erlendur an.

»Mein Vater ist gestern Abend gestorben«, sagte sie. »Er hatte sich nach dem Abendessen etwas auf dem Sofa hingelegt und schlief ein, und aus diesem Schlummer ist er nicht mehr erwacht. Als ich ins Wohnzimmer kam, habe ich sofort gewusst, dass er tot war. Ich habe es gespürt, bevor ich ihn berührt habe. Der Arzt sagt, es war ein Herzinfarkt. Deswegen bin ich hier zu dir ins Hotel gekommen, um reinen Tisch zu machen. Das alles spielt keine Rolle mehr. Nicht für ihn, und auch nicht mehr für mich. Nichts von alledem spielt noch eine Rolle.«

Sie spielte den kleinen Ausschnitt ein drittes Mal, und jetzt glaubte Erlendur zu hören, was dort gesagt wurde, nur ein Wort, das wie eine Fußnote zu dem Gesang war.

Engelsstimme.

»Ich bin an dem Tag, als er ermordet wurde, hier unten zu ihm in den Keller gegangen, um ihm zu sagen, dass Papa ihn sehen und sich mit ihm versöhnen wollte. Ich hatte ihm nämlich gesagt, dass Gulli den Schlüssel zu unserem Haus aufbewahrt hatte und sich manchmal heimlich ins Haus geschlichen und im Wohnzimmer gesessen hatte, ohne dass wir ihn bemerkten. Ich wusste nicht, wie Gulli darauf reagieren würde, ob er Papa treffen wollte, oder ob es hoffnungslos wäre, sie auszusöhnen, aber ich wollte es versuchen. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen …«

Ihre Stimme zitterte.

»… und dort lag er in seinem Blut …«

Sie blieb eine Weile stumm.

»… in diesem Kostüm … die Hosen heruntergelassen … alles voller Blut …«

Erlendur ging zu ihr hin.

»Mein Gott«, stöhnte sie, »nie in meinem Leben habe ich … das war entsetzlicher, als Worte es ausdrücken können. Ich weiß nicht, was ich gedacht habe. Ich hatte solche Angst. Ich glaube, ich habe nur an eins gedacht, so schnell wie möglich wegzukommen und zu versuchen, das alles zu vergessen. Wie alles andere. Ich habe mir einzureden versucht, dass mich das nichts anginge. Dass es egal war, ob ich dort war oder nicht, das war alles passiert und ging mich nichts mehr an. Ich habe das wie ein Kind von mir fern zu halten versucht. Ich wollte nichts davon wissen und habe meinem Vater nicht gesagt, was ich gesehen hatte. Ich habe niemandem etwas davon gesagt.«

Sie schaute Erlendur an.

»Ich hätte um Hilfe rufen sollen. Ich hätte natürlich die Polizei rufen sollen … aber … das war so ekelhaft, so pervers … dass ich einfach weggelaufen bin. Das war das Einzige, woran ich denken konnte. Bloß weg von hier. Von diesem Ort des Grauens zu fliehen und von niemandem gesehen zu werden.«

Sie schwieg eine Weile.

»Ich glaube, dass ich immer vor ihm geflohen bin. Irgendwie immer vor ihm weggelaufen bin. Die ganze Zeit. Und dort …«

Sie weinte leise vor sich hin.

»Wir hätten schon vor langer Zeit versuchen können, das Ganze ins Reine zu bringen. Ich hätte das schon längst getan haben sollen. Darin besteht mein Versagen. Papa wollte es zum Schluss auch, bevor er starb.«

Sie schwiegen. Erlendur schaute zum Fenster hinaus und bemerkte, dass das Schneetreiben nachgelassen hatte.

»Das Entsetzlichste war …«

Sie verstummte, weil die Vorstellung sie überwältigte.

»Er war noch nicht tot, war es das?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Er sagte ein Wort, und dann starb er. Er sah mich in der Tür und brachte unter Stöhnen meinen Namen heraus. So wie er mich immer genannt hat, als wir klein waren. Er hat mich immer Steffi genannt.«

»Und die beiden haben gehört, wie er deinen Namen sagte, bevor er starb. Steffi.«

Sie blickte Erlendur verwundert an.

»Welche beiden?«

Plötzlich wurde die Zimmertür aufgestoßen, und Eva Lind erschien. Sie starrte von Stefania zu Erlendur und dann wieder auf Stefania und schüttelte den Kopf.

»Wie viele hast du eigentlich gleichzeitig?«, fragte sie und warf ihrem Vater vorwurfsvolle Blicke zu.

Dreiunddreißig

Ösps Verhalten hatte sich nach außen hin in keinerlei Weise verändert. Erlendur stand da und schaute ihr wieder einmal bei der Arbeit zu. Erlendur fragte sich, ob sie irgendwann Reue oder Anzeichen von Gewissensbissen zeigen würde.

»Hast du diese Steffi gefunden?«, fragte sie, als sie ihn im Gang stehen sah. Sie warf einen Haufen Handtücher in den Korb mit der schmutzigen Wäsche, nahm sich ein paar neue und ging damit ins Zimmer. Erlendur trat näher und blieb gedankenverloren in der Tür stehen.

Er dachte an seine Tochter. Es war ihm gelungen, ihr klar zu machen, wer Stefania war. Als Stefania gegangen war, hatte er Eva Lind gebeten, auf ihn zu warten. Es würde nicht lange dauern, dann würden sie zusammen nach Hause gehen. Eva setzte sich auf das Bett, und er sah sofort, dass sie erschöpft war, spürte gleich, dass sie nachgegeben hatte. Sie war gereizt und hektisch und gab ihm die Schuld für alles, was in ihrem Leben schief gelaufen war.

Er stand da und hörte zu, ohne ein Wort zu sagen, ohne ihr zu widersprechen, damit hätte er ihre Wut nur noch mehr geschürt. Er wusste, warum sie wütend war. Sie war nicht wütend auf ihn, sondern auf sich selbst, weil sie den Kampf aufgegeben hatte. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten.

Er wusste nicht, was sie genommen hatte. Er schaute auf die Uhr.

»Hast du es eilig?«, fragte sie. »Die Welt muss wohl mal wieder gerettet werden?«

»Kannst du hier auf mich warten?«, fragte er.

»Verpiss dich«, sagte sie, und ihre Stimme klang heiser und hässlich.

»Warum tust du das?«

»Halt die Klappe.«

»Wirst du auf mich warten? Es dauert nicht lange, und dann können wir zusammen nach Hause gehen. Hast du nicht Lust dazu?«

Sie antwortete ihm nicht, saß mit hängendem Kopf auf dem Bett und starrte zum Fenster hinaus, in die Leere.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte er.

»Nicht gehen«, sagte sie, die Stimme klang nicht mehr so hart. »Warum musst du ewig irgendwohin?«

»Was ist los?«, fragte er.

»Was ist los?!«, schrie sie. »Alles ist los, alles! Dieses Scheißleben, das ist los, dieses Scheißleben. In diesem Leben ist alles los. Ich habe keinen Schimmer, was das alles soll. Ich weiß echt nicht, wozu das alles gut sein soll. Wozu! Wozu?!«

»Eva, das wird schon …«

»Mein Gott, wie ich sie vermisse«, stöhnte sie.

Er nahm sie in die Arme.

»Jeden Tag. Morgens beim Aufwachen und abends beim Einschlafen. Ich muss jeden Tag an sie denken und das, was ich ihr angetan habe.«

»Das ist gut«, sagte Erlendur. »Ja, du musst dich jeden Tag an sie erinnern.«

»Aber es ist so verdammt schwer, und man wird das alles nie los. Nie. Was soll ich bloß machen? Was kann ich da überhaupt machen?«

»Sie nicht vergessen. An sie denken. Immer. Auf diese Weise hilft sie dir.«

»Mein Gott, wie ich das bereue. Was bin ich nur für ein Mensch? Wer tut seinem eigenen Kind so was an?«

»Eva.« Er nahm sie wieder in die Arme, und sie schmiegte sich an ihn. So saßen sie schweigend auf der Bettkante, während sich der Schnee leise über die Stadt legte.

Sie hatten eine ganze Weile dort gesessen, bis Erlendur ihr zuflüsterte, dass sie hier im Zimmer auf ihn warten solle.

Er wollte mit ihr bei sich zu Hause Weihnachten feiern. Sie schauten einander in die Augen. Sie war ruhiger geworden und nickte zustimmend.


Jetzt stand er eine Etage tiefer in der Zimmertür und beobachtete Ösp bei der Arbeit, konnte seine Gedanken jedoch nicht von Eva lösen. Er wusste, dass er so schnell wie möglich zu ihr zurück- und sie mit nach Hause nehmen musste, um an Weihnachten mit ihr zusammen zu sein.

»Wir haben mit Steffi gesprochen«, sagte er ins Zimmer hinein. »Sie heißt Stefania und ist die Schwester von Guðlaugur.«

Ösp kam aus dem Badezimmer.

»Und was ist, streitet sie alles ab, oder …?«

»Nein, sie streitet nichts ab«, sagte Erlendur. »Sie weiß um ihre Schuld, und sie denkt darüber nach, was schief gelaufen ist, wann es seinen Anfang nahm und weshalb. Ihr geht es nicht gut, aber sie hat angefangen, mit den Dingen ins Reine zu kommen. Das ist sehr schwer für sie, denn es ist zu spät, das, was geschehen ist, wieder gutzumachen.«

»Hat sie gestanden?«

»Ja«, sagte Erlendur. »Das meiste, im Grunde genommen. Sie hat es nicht direkt gestanden, aber sie weiß um ihren Anteil an der Sache.«

»Das meiste? Was bedeutet das?«

Ösp ging an ihm vorbei auf den Gang, holte Putzmittel und Lappen, kehrte dann zurück ins Badezimmer. Erlendur betrat das Zimmer und sah ihr beim Putzen zu, wie er es schon zuvor getan hatte, als die Lösung des Falls noch völlig im Dunkeln lag und sie durch so etwas wie Freundschaft verbunden gewesen waren.

»Eigentlich alles«, sagte er. »Nur nicht den Mord. Das ist das Einzige, was sie nicht auf ihre Kappe nehmen wird.«

Ösp sprühte Glasreiniger auf den Spiegel im Badezimmer und zeigte keinerlei Reaktion.

»Aber mein Bruder hat sie gesehen«, sagte sie. »Er hat gesehen, wie sie auf ihren Bruder eingestochen hat. Das kann sie nicht leugnen. Sie kann nicht leugnen, dass sie da gewesen ist.«

»Nein«, sagte Erlendur. »Sie war unten im Keller, als er starb. Bloß war es nicht sie, die ihn erstochen hat.«

»Doch, Reynir hat es gesehen«, sagte sie. »Sie kann das nicht abstreiten.«

»Wie viel schuldest du ihnen?«

»Schulde was?«

»Wie viel?«

»Schulde ich wem? Worüber redest du eigentlich?«

Ösp bearbeitete den Spiegel, als ginge es um Leben und Tod, als würde die Maske fallen, wenn sie damit aufhören würde, als wäre das gleichbedeutend mit einer Kapitulation. Sie sprühte, rieb und putzte — und vermied es, sich selber im Spiegel in die Augen zu schauen.

Erlendur schaute ihr zu, und ihm fiel ein Satz aus einem Buch über Armenhäusler früherer Zeiten ein: Sie war ein Stiefkind dieser Welt.

»Meine Mitarbeiterin Elinborg hat sich gerade eben deine Kartei bei der Notaufnahme angeschaut«, sagte er. »Bei der Notaufnahme für Vergewaltigungsopfer. Es gibt da vor ungefähr einem halben Jahr einen Eintrag. Es waren drei, in einer Hütte da oben am Rauðavatn. Mehr hast du nicht ausgesagt. Du hast gesagt, du wüsstest nicht, wer es gewesen ist. Sie haben dich am Freitagabend in der Innenstadt gekidnappt, sind mit dir im Auto zu dieser Hütte gefahren und haben dich einer nach dem anderen vergewaltigt.«

Ösp putzte weiter den Spiegel, ohne ihn anzuschauen.

Erlendur konnte nicht erkennen, ob das, was er sagte, sie irgendwie aus der Fassung brachte.

»Du hast dich geweigert zu sagen, wer sie waren, und du wolltest keine Anzeige gegen sie erstatten.«

Ösp sagte keinen Ton.

»Du hast den Job hier im Hotel, aber das reicht nicht, um deine Schulden abzuzahlen, und ebenso wenig reicht es für deinen täglichen Konsum. Du hast sie mit kleinen Raten auf Distanz halten wollen. Klar, dass du das versucht hast, du kriegst ja auch immer wieder was von ihnen, aber sie haben dir trotzdem gedroht, und du weißt, dass sie sich nicht scheuen, ihre Drohungen wahr zu machen.«

Ösp vermied es, ihn anzusehen.

»Hier im Hotel wird überhaupt nicht gestohlen, nicht wahr?«, sagte Erlendur. »Das hast du nur gesagt, um uns zu täuschen, um den Verdacht in eine andere Richtung zu lenken.«

Erlendur hörte Geräusche auf dem Gang. Elinborg und vier Polizisten erschienen draußen vor der Tür. Er gab ihnen ein Zeichen, zu warten.

»Dein Bruder ist in derselben Lage wie du. Vielleicht habt ihr ja sogar ein gemeinsames Konto bei denen, keine Ahnung. Ihn haben sie genommen und brutal zusammengeschlagen. Er hat auch Drohungen bekommen. Eure Eltern haben Drohungen bekommen. Ihr traut euch nicht, diese Typen anzuzeigen. Die Polizei kann nichts unternehmen, weil es nur Drohungen sind. Und wenn sie euch was tun, wenn sie dich in der Innenstadt kidnappen und dich in einer Hütte am Rauðavatn vergewaltigen, dann weigerst du dich zu sagen, wer es war. Wie dein Bruder.«

Erlendur schwieg eine Weile und beobachtete sie.

»Vorhin hat mich ein Mann angerufen. Er arbeitet bei der Polizei, im Rauschgiftdezernat. Er wird manchmal von Leuten angerufen, die ihm etwas zutragen, wenn sie irgendwas auf der Straße und in der Drogenszene hören. Er bekam spätabends einen Anruf von einem Mann, der berichtete, ihm sei von einem jungen Mädchen erzählt worden, das vor einem halben Jahr vergewaltigt wurde. Sie wäre bisher immer in argen Schwierigkeiten gewesen wegen ihrer Schulden bei den Dealern, bis sie plötzlich vor zwei Tagen die ganzen Schulden mit einem Mal bezahlt hat. Für sich und für ihren Bruder. Kommt dir das bekannt vor?«

Ösp schüttelte den Kopf.

»Du weißt also gar nichts darüber?«, fragte Erlendur noch einmal. »Der Mann, der da im Rauschgiftdezernat angerufen hat, kannte den Namen des Mädchens und wusste, dass sie in dem Hotel arbeitete, wo der Weihnachtsmann ermordet worden ist.«

Noch einmal schüttelte Ösp den Kopf.

»Wir wissen, dass da unten in Guðlaugurs Kammer mindestens eine halbe Million gewesen ist«, sagte Erlendur.

Sie hörte auf, den Spiegel zu putzen, die Hände sanken langsam herab, und sie starrte sich selbst im Spiegel an.

»Ich habe versucht aufzuhören.«

»Mit Dope?«

»Es hat keinen Zweck. Und die kennen keine Gnade, falls man ihnen etwas schuldet.«

»Willst du mir sagen, wer das ist?«

»Ich wollte ihn nicht umbringen. Er war immer nett zu mir. Aber dann …«

»Hast du das Geld gesehen?«

»Ich brauchte Geld.«

»War das wegen des Geldes? Bist du wegen des Geldes über ihn hergefallen?«

Sie antwortete ihm nicht.

»Hast du nichts von diesem Verhältnis zwischen Guðlaugur und deinem Bruder gewusst?«

Ösp schwieg.

»War es das Geld? Oder war es wegen deines Bruders?«

»Vielleicht wegen beidem«, sagte Ösp leise.

»Du wolltest das Geld.«

»Ja.«

»Und er hat deinen Bruder missbraucht.«

»Ja.«


Sie sah ihren Bruder vor ihm knien, sie sah den Haufen Geld auf dem Bett, und aus den Augenwinkeln sah sie das Messer. Ohne einen Augenblick zu zögern, ergriff sie das Messer und stach auf ihn ein. Er versuchte, sie mit den Händen abzuwehren, aber sie achtete nicht darauf, sondern stach immer und immer wieder zu, bis er aufhörte, sich zu wehren und gegen die Wand zurücksank. Blut spritzte aus der Herzwunde.

Das Messer war blutig, und sie hatte Blut an den Händen. Es war auch etwas auf ihren Kittel gespritzt. Ihr Bruder war aufgesprungen und in Richtung Treppe gelaufen.

Guðlaugur stöhnte schwer.

Tödliches Schweigen herrschte in der Kammer. Sie starrte Guðlaugur an und das Messer in ihren Händen. Plötzlich tauchte Reynir auf.

»Da kommt jemand die Treppe runter«,zischte er.

Er nahm das Geld, packte seine Schwester, die immer noch starr vor dem Bett stand, und zerrte sie mit sich auf den Gang, in die dunkle Nische am Ende des Korridors. Sie wagten kaum zu atmen, als sich die Frau näherte. Sie schaute in die Dunkelheit hinein, konnte sie aber nicht sehen.

Als sie in der Tür erschien, stieß sie einen Schrei aus, und dann hörten sie Guðlaugur.

»Steffi?«,ächzte er. Dann hörten sie nichts mehr.

Die Frau ging in das Zimmer hinein, und sie sahen, wie sie sofort wieder herausgetaumelt kam. Sie stolperte rückwärts, bis sie an die Wand des Flurs stieß, drehte sich um und hastete den Gang hinunter, ohne sich ein einziges Mal umzublicken.


»Den Kittel habe ich weggeworfen und mir einen anderen geholt. Reynir hat sich aus dem Staub gemacht. Ich konnte nichts anderes machen, als weiterzuarbeiten. Sonst hättet ihr sofort alles aufgedeckt, der Meinung war ich jedenfalls. Dann wurde ich nach unten geschickt, um ihn zur Weihnachtsfeier zu holen. Ich konnte das nicht ablehnen.

Ich durfte nichts tun, was irgendeinen Verdacht auf mich gelenkt hätte. Ich ging nach unten und wartete auf dem Korridor. Die Tür zu seinem Zimmer stand noch immer offen, aber ich bin nicht hineingegangen. Ich ging wieder nach oben und sagte, ich hätte ihn in der Kammer gefunden, und dass ich ihn für tot hielt.«

Ösp schaute auf den Boden.

»Das Schlimmste ist, dass er immer nett zu mir gewesen ist. Deswegen bin ich vielleicht so ausgerastet. Weil er einer von den wenigen hier im Haus war, die nett zu mir waren, und dann stellt sich heraus, dass er meinen Bruder als Strichjungen benutzt hat. Nach all dem …«

»Nach all dem, was sie dir angetan haben?«, fragte Erlendur.

»Es hat keinen Sinn, diese Schweine zu verklagen. Die können doch die brutalsten, schlimmsten Vergewaltigungen begehen und kriegen dafür dann ein paar Monate oder, wenn es hochkommt, anderthalb Jahre. Und danach sind sie wieder auf freiem Fuß. Ihr könnt da gar nichts machen.

Da gibt es keine Stelle, an die man sich wenden kann, wenn man Hilfe braucht. Man muss ganz einfach bezahlen. Egal, wie man das anstellt. Ich hab das Geld genommen, und ich hab bezahlt. Vielleicht habe ich ihn wegen dem Geld umgebracht, vielleicht wegen Reynir. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht …«

Sie schwiegen beide.

»Es war einfach aus bei mir«, fuhr sie fort. »Ich habe noch nie so etwas erlebt, ich bin noch nie so durchgedreht vor Wut. Ich habe plötzlich wieder vor mir gesehen, was in dieser Hütte passiert ist. Hab sie vor mir gesehen. Das ist alles vor mir abgespult, und da hab ich das Messer genommen und versucht, zuzustechen, wo ich konnte. Er hat versucht, sich zu wehren, aber ich habe immer wieder zugestochen, bis er sich nicht mehr bewegt hat.«

Sie schaute Erlendur an.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwierig ist. Dass es so schwierig ist, jemanden umzubringen.«

Elinborg erschien in der Zimmertür und gab Erlendur zu verstehen, dass sie sich wunderte, was da drinnen passierte und warum das Mädchen nicht festgenommen würde.

»Wo ist das Messer?«, fragte Erlendur.

»Das Messer?«, wiederholte Ösp und kam auf ihn zu.

»Das du verwendet hast.«

Sie zögerte einen Augenblick.

»Ich habe es wieder an seinen Platz getan«, sagte sie dann.

»Ich habe es gründlich gereinigt, sodass man nichts sehen konnte. Es lag schon wieder an Ort und Stelle, bevor ihr gekommen seid.«

»Und wo ist es?«

»Ich habe es an seinen Platz getan.«

»In der Küche, zusammen mit den anderen Messern?«

»Ja.«

»Es gibt bestimmt fünfhundert solcher Messer im Hotel«, sagte Erlendur resigniert. »Wie sollen wir es finden?«

»Ihr könnt beim Weihnachtsbüfett beginnen.«

»Beim Weihnachtsbüfett?«

»Da isst bestimmt gerade jemand damit.«

Vierunddreißig

Erlendur überließ Ösp Elinborg und den Polizisten und beeilte sich, wieder zurück zu seinem Zimmer, wo Eva Lind auf ihn wartete. Er steckte seine Karte in den Schlitz, riss die Tür auf und sah, dass Eva Lind das große Fenster weit geöffnet hatte. Sie saß auf dem Fensterbrett und starrte nach unten, wo der Schnee einige Stockwerke tiefer zu Boden fiel.

»Eva«, sagte Erlendur ruhig.

Eva sagte etwas, was er nicht hören konnte.

»Komm, mein Mädchen«, sagte er und näherte sich ihr vorsichtig.

»Das sieht ganz einfach aus«, sagte Eva Lind.

»Eva, komm«, sagte Erlendur leise. »Komm nach Hause.«

Sie drehte sich um. Sie schaute ihn eine ganze Weile an und nickte dann.

»Gehen wir«, sagte sie leise, schwang sich vom Fensterbrett herunter und machte das Fenster zu.

Er ging zu ihr hin und küsste sie auf die Stirn.

»Habe ich dir deine Jugend geraubt?«, fragte er leise.

»Hä?«, sagte sie.

»Nichts«, sagte er.

Erlendur schaute ihr lange in die Augen. Manchmal konnte er weiße Schwäne darin erkennen.

Jetzt waren sie schwarz.

Erlendurs Handy klingelte im Aufzug auf dem Weg nach unten ins Foyer. Er erkannte die Stimme sofort.

»Ich wollte dir bloß frohe Weihnachten wünschen«, sagte Valgerður, und es hatte den Anschein, als flüsterte sie ins Telefon.

»Danke gleichfalls«, sagte Erlendur. »Frohe Weihnachten.«

Als sie ins Foyer kamen, schaute Erlendur in den Speisesaal, der voller Ausländer war, die sich an den feierlich gedeckten Tischen in allen möglichen Sprachen so angeregt unterhielten, dass das Stimmengewirr das ganze Erdgeschoss erfüllte. Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass einer von ihnen die Mordwaffe in der Hand hielt.

Er sagte dem Empfangschef, dass es durchaus sein konnte, dass Rósant die Frau auf ihn angesetzt hatte, die mit ihm geschlafen und dafür Geld verlangt hatte. Der Empfangschef sagte, dass ihm auch schon dieser Verdacht gekommen sei. Er hatte bereits den Hoteleigentümern mitgeteilt, was hier im Hotel vor sich ging, aber er war sich nicht sicher, ob in dieser Sache etwas unternommen werden würde.


Erlendur sah, wie der Hotelmanager aus einiger Entfernung Eva Lind erstaunt anstarrte. Er wollte ihn einfach ignorieren, aber der Hotelmanager reagierte sofort und steuerte auf ihn zu.

»Ich wollte mich bloß bei dir bedanken, und du brauchst selbstverständlich nicht für das Zimmer zu bezahlen!«

»Ich habe die Rechnung bereits beglichen«, sagte Erlendur.

»Auf Wiedersehen.«

»Was ist mit Henry Wapshott?«, fragte der Hotelmanager, der jetzt dicht vor Erlendur stand. »Was wollt ihr mit ihm machen?«

Erlendur blieb stehen. Er hielt Eva Lind an der Hand, die den Hotelmanager stumpf anstarrte.

»Wir schicken ihn zurück nach England. Sonst noch was?«

Der Hotelmanager schwankte. »Wirst du etwas wegen dem unternehmen, was dir das Mädchen vorgelogen hat, das mit den Konferenzgästen?«

Erlendur spürte irgendwie eine innere Genugtuung. »Machst du dir Sorgen deswegen?«, fragte er.

»Das ist alles gelogen.«

Erlendur legte seinen Arm um Eva Lind, und sie machten sich gemeinsam auf den Weg.

»Das wird sich herausstellen«, sagte er.

Sie durchquerten das Foyer, und Erlendur sah, dass alle Leute stehen geblieben waren und sich umblickten. Die kitschigen amerikanischen Weihnachtslieder waren verstummt.

Erlendur lächelte im Stillen. Der Empfangschef war seinem Wunsch nachgekommen und hatte andere Musik aufgelegt. Er dachte an die Plattenauflage. Er hatte Stefania danach gefragt, ob ihr bekannt wäre, wo der Rest von den Platten sein könnte, aber sie wusste es nicht. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo ihr Bruder die Platten aufbewahrt hatte, und fand es unwahrscheinlich, dass sie jemals gefunden würden.

Nach und nach verebbte das Stimmengewirr im Speisesaal. Die Hotelgäste blickten einander mit erstaunten Mienen an, und schauten suchend zur Decke, denn von oben drang dieser wunderbar schöne Gesang an ihre Ohren.

Die Hotelangestellten rührten sich nicht vom Fleck und lauschten.

Es war, als bliebe die Zeit stehen.

Sie verließen das Hotel, und Erlendur sang das schöne Lied des Knaben Guðlaugur im Stillen mit. Und wieder spürte er in der Stimme des Jungen diese tiefe Sehnsucht.


O Vater, schür mein kleines Licht im kurzen Lauf des Lebens …

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