Es gab eine kurze Zeit, in der Father Brown so etwas wie Berühmtheit genoß, oder besser: er genoß sie nicht. In den Tageszeitungen galt er neun Tage lang als Wunder; selbst in den Wochenzeitschriften wurde er zum Thema kontroverser Diskussionen; und seine Heldentaten erzählte man sich in unzähligen Clubs und Wohnzimmern vor allem in Amerika eifrig und ungenau. Und so unpassend und tatsächlich unglaublich, wie es jedem erscheinen mag, der ihn kennt: seine Abenteuer als Detektiv wurden gar zum Thema von Kurzgeschichten gemacht, die in Illustrierten erschienen.
Seltsam genug erwischte ihn dieses huschende Rampenlicht im obskursten oder wenigstens entferntesten seiner vielen Wohnorte. Man hatte ihn entsandt, um als eine Mischung von Missionar und Gemeindepfarrer in einem jener Streifen an der Nordküste Südamerikas seines Amtes zu walten, wo gewisse Landstriche immer noch unsicher an europäischen Mächten hängen oder ständig drohen, im gigantischen Schatten Präsident Monroes unabhängige Republiken zu werden. Die Bevölkerung war rot und braun mit rosa Flecken; das heißt, sie war spanisch-amerikanisch, vorwiegend spanisch-amerikanisch-indianisch, aber es gab auch einen beachtlichen und zunehmenden Zustrom von Amerikanern der nördlichen Art – Engländer, Deutsche und so weiter. Der ganze Aufruhr scheint begonnen zu haben, als einer dieser Besucher, sehr frisch angekommen und sehr verärgert über den Verlust eines seiner Koffer, auf das erste Gebäude zusteuerte, das ihm in den Blick geriet – was zufällig das Missionshaus mit der zugehörigen Kapelle war, wovor eine lange Veranda entlanglief und eine lange Reihe von Pfählen, an denen schwarze gewundene Weinreben emporgezogen waren, deren eckige Blätter herbstlich rot leuchteten. Hinter ihnen saßen ebenfalls in einer Reihe eine Anzahl menschlicher Wesen, fast ebenso steif wie die Pfähle und den Reben ähnlich gefärbt. Denn während ihre breitkrempigen Hüte so schwarz waren wie ihre Augen, die nicht blinzelten, hätten die Gesichter vieler unter ihnen der Farbe nach aus dem dunkelroten Holz jener transatlantischen Wälder gemacht sein können. Manche von ihnen rauchten sehr lange dünne schwarze Zigarren; und in der ganzen Gruppe war der Rauch fast das einzige, was sich bewegte. Der Besucher würde sie vermutlich als Eingeborene beschrieben haben, obwohl einige unter ihnen sehr stolz auf spanisches Blut waren. Aber er gehörte nicht zu jenen, die da feine Unterscheidungen zwischen Spaniern und Indianern machen, sondern neigte eher dazu, die Leute von der Szene zu entlassen, sobald er sie überführt hatte, in ihr geboren zu sein.
Er war ein Zeitungsmann aus Kansas City, ein hagerer hellhaariger Mann mit einer, wie Meredith sagen würde, abenteuerlustigen Nase; man konnte sich fast vorstellen, wie sie ihren Weg fand, indem sie ihren Weg erfühlte und sich dabei bewegte wie der Rüssel eines Ameisenbären. Sein Name war Snaith, und seine Eltern hatten ihn nach einigem dunklem Nachdenken Saul getauft, eine Tatsache, die er so weit wie möglich zu verheimlichen den guten Geschmack hatte. Tatsächlich hatte er schließlich den Kompromiß geschlossen, sich Paul zu nennen, wenngleich keineswegs aus dem gleichen Grunde, der den Apostel der Heiden bewegt hatte. Im Gegenteil wäre, soweit er überhaupt Meinungen zu solchen Dingen hatte, der Name des Verfolgers angemessener gewesen; denn er betrachtete die organisierte Religion mit jener gewohnheitsmäßigen Verachtung, die man leichter bei Ingersoll als bei Voltaire erlernen kann. Und zufälligerweise war es diese nicht eben bedeutungsvolle Seite seines Charakters, die er der Missionsstation und der Gruppe vor der Veranda zuwendete. Etwas in ihrer schamlosen Gelassenheit und Teilnahmslosigkeit entflammte seine eigene wütige Tüchtigkeit; und da er auf seine ersten Fragen keine bemerkenswerte Antwort erhielt, übernahm er das ganze Reden selbst.
Wie er da im starken Sonnenschein stand, geschniegelt und gebügelt, mit Panamahut und sauberer Kleidung, den Reisesack in stählernem Griff, begann er, die Leute im Schatten anzuschreien. Er begann, ihnen sehr lautstark zu erklären, warum sie faul und schmutzig seien und viehisch unwissend und niedriger als das Vieh, das verrecke, falls diese Frage schon je zuvor ihren Geist bewegt haben sollte. Nach seiner Meinung war es der verderbliche Einfluß der Priester, der sie so elendiglich arm und so hoffnungslos unterdrückt gemacht habe, daß sie jetzt imstande seien, im Schatten zu sitzen und zu rauchen und nichts zu tun.
»Und außerdem müßt ihr’n schöner Haufen Schlappschwänze sein«, sagte er, »daß ihr euch von diesen hochnäsigen Ölgötzen tyrannisieren laßt, bloß weil sie in ihren Mitren und Tiaren und goldenen Chorröcken und anderen protzigen Fetzen herumwandern und auf alle anderen wie auf Dreck herabschauen – euch von Kronen und Baldachinen und heiligen Schirmen wie Kinder von der Pantomime ins Bockshorn jagen laßt; nur weil ein eingebildeter alter Oberbonze in diesem Hokuspokus aussieht, als sei er der Herr der Erde. Was ist mit euch? Wie seht denn ihr aus, ihr armen Hunde? Ich sage euch, daher kommt es, daß ihr noch so tief in der Barbarei steckt und nicht lesen und nicht schreiben könnt und – «
In diesem Augenblick kam der Oberbonze in diesem Hokuspokus mit würdeloser Eile aus dem Missionshaus und sah einem Herrn der Erde gar nicht ähnlich, sondern eher einem Bündel schwarzer Kleider aus dem Trödelladen, die man um ein kurzes Polster mit menschlichen Maßen zugeknöpft hatte. Er trug seine Tiara nicht, vorausgesetzt er besaß eine, sondern einen schäbigen breitrandigen Hut, der den Hüten der spanischen Indianer nicht sehr unähnlich war und den er mit einer Geste, als fühle er sich durch ihn belästigt, in den Nacken geschoben hatte. Schon wollte er die bewegungslosen Eingeborenen ansprechen, als er den Fremden erblickte und schnell fragte:
»Oh, kann ich Ihnen irgendwie helfen? Möchten Sie nicht hereinkommen?«
Mr. Paul Snaith kam herein; und damit begann für diesen Journalisten ein beachtlicher Zuwachs an Informationen über viele Dinge. Wahrscheinlich war sein journalistischer Instinkt stärker als seine Vorurteile, wie man das oft bei klugen Journalisten findet; und er fragte viele Fragen, wozu ihn die Antworten interessierten und überraschten. Er entdeckte, daß die Indianer lesen und schreiben konnten, aus dem einfachen Grunde, weil der Priester sie das gelehrt hatte; daß sie aber möglichst wenig lasen oder schrieben, weil sie eine natürliche Vorliebe für unmittelbarere Kommunikationen hatten. Er erfuhr, daß diese sonderbaren Leutchen, die da wie Häufchen auf der Veranda saßen und kein Haar bewegten, auf ihren eigenen Landstücken sehr hart arbeiten konnten; besonders jene, die mehr als nur halbe Spanier waren; und er erfuhr mit noch größerem Erstaunen, daß sie alle Landstücke hatten, die wirklich ihr Eigentum waren. So weit war das Teil einer dickschädeligen Tradition, die den Eingeborenen sehr eingeboren war. Aber auch dabei hatte der Priester eine gewisse Rolle gespielt und hatte dabei vielleicht zum ersten wie zum letzten Mal eine Rolle in der Politik gespielt, auch wenn es nur Lokalpolitik war. Kürzlich nämlich hatte jene Gegend eines dieser Fieber des atheistischen, ja fast anarchistischen Radikalismus heimgesucht, die periodisch in Ländern der lateinischen Kultur ausbrechen, gewöhnlich in einer Geheimgesellschaft beginnen und gewöhnlich in einem Bürgerkrieg und sehr wenig mehr enden. Der lokale Leiter der ikonoklastischen Partei war ein gewisser Alvarez, ein ziemlich pittoresker Abenteurer portugiesischer Nationalität, aber teilweise von, wie seine Gegner behaupteten, negerischem Ursprung, das Oberhaupt jeder beliebigen Anzahl von Logen und Tempeln der Initiation von jener Art, die an solchen Orten selbst den Atheismus noch mit Mystischem bekleidet. Der Führer der konservativeren Partei war ein sehr viel gewöhnlicherer Mensch, ein sehr reicher Mann namens Mendoza, der Besitzer vieler Fabriken und höchst ehrenwert, aber nicht sehr aufregend. Es war allgemeine Ansicht, daß die Sache von Recht und Ordnung völlig verloren gewesen wäre, hätte sie sich nicht eine populärere Politik zu eigen gemacht in der Form der Sicherung von Land für die Bauern; und diese Bewegung war besonders von der kleinen Missionsstation Father Browns ausgegangen.
Während er sich mit dem Journalisten unterhielt, kam Mendoza, der Führer der Konservativen, herein. Er war ein stämmiger dunkler Mann mit einem kahlen birnenförmigen Kopf auf einem runden birnenförmigen Körper; er rauchte eine kräftig duftende Zigarre, aber als er in die Gegenwart des Priesters kam, warf er sie – vielleicht ein bißchen theatralisch – fort, als betrete er eine Kirche; und er verbeugte sich so tief, wie man es bei einem so korpulenten Herrn nicht für möglich gehalten hätte. Er legte immer besonderen Wert auf seine Umgangsformen, insbesondere gegenüber religiösen Institutionen. Er war einer jener Laien, die viel kirchlicher sind als die Kirchenmänner. Das war Father Brown reichlich peinlich, vor allem, wenn es so auch ins private Leben eingebracht wurde.
»Ich glaube, ich bin antiklerikal«, pflegte Father Brown mit schwachem Lächeln zu sagen; »aber es gäbe auch kaum halb soviel Klerikalität, wenn man diese Dinge bloß den Klerikern überließe.«
»Hallo, Mr. Mendoza«, rief der Journalist neu belebt aus, »ich glaube, wir sind uns schon begegnet. Waren Sie nicht auf der Handelsmesse in Mexiko im letzten Jahr?«
Mendozas schwere Augenlider zeigten ein Flattern des Wiedererkennens, und er lächelte auf seine langsame Art. »Ich erinnere mich.«
»Schöne fette Geschäfte hat man da in einer Stunde oder zwei gemacht«, sagte Snaith mit Genuß. »Dürfte Ihnen auch ‘ne schöne Scheibe eingebracht haben, nehme ich an.«
»Ich hatte viel Glück«, sagte Mendoza bescheiden.
»Glauben Sie das ja nicht!« rief der begeisterte Snaith. »Das Glück kommt zu denen, die es festzuhalten wissen; und Sie haben gut und sauber festgehalten. Aber ich hoffe, ich störe Ihre Geschäfte nicht.«
»Keineswegs«, sagte der andere. »Ich habe oftmals die Ehre, auf ein kleines Gespräch beim Padre vorbeizukommen. Nur auf ein kleines Gespräch.«
Es sah so aus, als vollende diese Vertrautheit zwischen Father Brown und einem erfolgreichen und sogar berühmten Geschäftsmann die Versöhnung zwischen dem Priester und dem praktischen Mr. Snaith. Er spürte, darf man annehmen, wie eine neue Respektabilität Station und Mission einhüllte, und er war bereit, solche gelegentlichen Erinnerungen an die Existenz von Religion zu übersehen, wie sie eine Kapelle und ein Pfarrhaus nicht immer ganz vermeiden können. Er geriet ob des Priesters Programm in Begeisterung – wenigstens hinsichtlich seiner säkularen und sozialen Aspekte – und erklärte sich bereit, jederzeit als lebendiger Draht tätig zu werden, um es der Welt insgesamt mitzuteilen. Und genau zu diesem Zeitpunkt begann Father Brown, den Journalisten mit seiner Sympathie für lästiger zu halten als mit seiner Feindschaft.
Mr. Paul Snaith machte sich energisch daran, Father Brown groß herauszubringen. Er sandte lange und laute Lobgesänge auf ihn über den Kontinent hin zu seiner Zeitung im mittleren Westen. Er machte Schnappschüsse vom unglücklichen Kleriker bei seinen alltäglichsten Tätigkeiten und stellte sie in gigantischen Photos in den gigantischen Sonntagszeitungen der Vereinigten Staaten zur Schau. Er machte aus seinen Aussprüchen Schlagworte und übersandte der Welt ständig »Eine Botschaft« des Ehrwürdigen Herrn in Südamerika. Jede andere Rasse, die weniger stark und weniger heftig aufnahmebereit ist als die amerikanische, wäre von Father Brown höchst gelangweilt gewesen. Tatsächlich aber erhielt er ansehnliche und begierige Angebote, eine Vorlesungsreise durch die Staaten zu unternehmen; und als er ablehnte, wurden die Angebote mit dem Ausdruck respektvoller Verwunderung erhöht. Eine Serie von Berichten über ihn wurde wie die Geschichten über Sherlock Holmes durch Vermittlung von Mr. Snaith geplant und dem Helden mit der Bitte um seine Hilfe und Ermutigung unterbreitet. Als der Priester herausfand, daß sie bereits zu erscheinen begonnen hatten, konnte er keinen anderen Vorschlag unterbreiten als den, damit sofort wieder aufzuhören. Und dies wiederum griff Mr. Snaith als Text einer Diskussion darüber auf, ob Father Brown zeitweilig über eine Klippe verschwinden sollte in der Art von Dr. Watsons Helden. Auf all diese Anfragen mußte der Priester geduldig und schriftlich antworten und erklären, daß er unter solchen Bedingungen durchaus für eine zeitweilige Einstellung der Geschichten sei, und er bat darum, daß eine erhebliche Zeit verstreichen möge, ehe sie wieder begönnen. Die Stellungnahmen, die er schrieb, wurden kürzer und kürzer; und als er die letzte schrieb, seufzte er.
Überflüssig festzuhalten, daß diese sonderbare Hochkonjunktur im Norden sich auf seinen kleinen Vorposten im Süden auswirkte, wo er in einem so einsamen Exil zu leben erwartet hatte. Die bereits am Orte ansässige beachtliche englische und amerikanische Bevölkerung begann stolz darauf zu sein, einen so weithin bekannt gemachten Mann zu besitzen. Amerikanische Touristen jener Art, die mit einer lauten Forderung nach Westminster Abbey landen, landeten an jener fernen Küste mit einer lauten Forderung nach Father Brown. Es war bereits abzusehen, wann man Sonderzüge nach ihm benennen und die Massen damit herankarren würde, auf daß sie ihn besichtigten, als sei er ein öffentliches Denkmal. Besonders verstörten ihn energische und ehrgeizige neue Händler und Geschäftsleute am Orte, die ihn ständig anstachelten, ihre Waren zu erproben und für sie Zeugnis abzulegen. Und selbst wenn diese Zeugnisse nicht kamen, setzten sie die Korrespondenz doch fort, um seine Autographen zu sammeln. Da er ein gutmütiger Mensch war, erhielten sie von ihm ein Gutteil dessen, was sie von ihm wollten; doch als er in Beantwortung einer besonderen Bitte eines Frankfurter Weinhändlers namens Eckstein hastig ein paar Worte auf eine Karte kritzelte, sollte sich das als schrecklicher Wendepunkt in seinem Leben herausstellen.
Eckstein war ein aufgeregter kleiner Kerl mit faserigem Haar und einem Zwicker, und entsetzlich darauf bedacht, daß der Priester nicht nur seinen berühmten medizinischen Portwein probiere, sondern ihm auch noch mit der Empfangsbestätigung mitteile, wo und wann er ihn zu trinken gedenke. Der Priester war über dieses Ansinnen nicht weiter verwundert, denn er hatte es längst aufgegeben, sich über die Verrücktheiten des Werbewesens zu verwundern. Also kritzelte er etwas hin und wandte sich anderen Aufgaben zu, die ein wenig vernünftiger erschienen. Doch wieder wurde er unterbrochen, und zwar durch eine Nachricht von niemand Geringerem als seinem politischen Gegner Alvarez, der ihn bat, zu einer Konferenz zu kommen, auf der man hoffe, einen Kompromiß in einer besonders wichtigen Angelegenheit zu erzielen, und als Treffpunkt für den nämlichen Abend ein Café unmittelbar außerhalb der Mauern dieser kleinen Stadt vorschlug. Auch hierzu gab er dem darauf wartenden, reichlich aufgedonnerten militärischen Boten eine Botschaft der Zustimmung mit; und dann, da er noch ein oder zwei Stunden vor sich hatte, setzte er sich hin und versuchte, einen kleinen Teil seiner eigentlichen Aufgaben zu erledigen. Als diese Zeit um war, schenkte er sich ein Glas von Herrn Ecksteins bemerkenswertem Wein ein, blickte mit humorvollem Ausdruck auf die Uhr, trank es aus und trat hinaus in die Nacht.
Helles Mondenlicht lag auf der kleinen spanischen Stadt, und als er zu dem malerischen Stadttor mit seinem Rokokobogen und den phantastischen Rüschen der Palmwedel dahinter kam, sah es fast aus wie eine Szene in einer spanischen Oper. Ein langes Palmblatt mit gezackten Kanten hing schwarz vor dem Mond auf der anderen Seite des Bogens und durch den Torbogen sichtbar herab und sah fast aus wie der Kiefer eines schwarzen Krokodils. Dieses Phantasiebild hätte sich nicht in seiner Einbildung festgesetzt, wäre da nicht noch etwas anderes gewesen, das seinem natürlich aufmerksamen Blick aufgefallen war. Die Luft war totenstill, und es gab nicht den Hauch eines Windes; aber er sah deutlich, wie sich das hängende Blatt bewegte.
Er blickte sich um und stellte fest, daß er allein war. Er hatte die letzten Häuser hinter sich gelassen, die zum größten Teil geschlossen und verriegelt waren, und schritt zwischen zwei langen kahlen Mauern aus großen und formlosen, aber abgeflachten Steinen dahin, aus denen hier und da die sonderbar stachligen Büschel des Unkrauts jener Gegend sprossen – Mauern, die die ganze Strecke bis zum Torweg parallel dahinliefen. Die Lichter des Cafés vor dem Stadttor konnte er nicht sehen; vielleicht lag es zu weit entfernt. Unter dem Torbogen war nichts zu erkennen außer einer weiteren Fläche Pflasterung aus großen Platten, fahl unterm Mond, und hier und da auswuchernden Feigenkakteen. Er hatte den starken Eindruck vom Geruch des Bösen; er fühlte einen sonderbaren körperlichen Widerwillen; aber er dachte nicht daran, innezuhalten. Sein Mut, der beachtlich war, war vielleicht ein schwächerer Teil seines Wesens als seine Neugier. Während seines ganzen Lebens hatte ihn ein geistiger Hunger nach der Wahrheit angeleitet, selbst in Belanglosigkeiten. Oftmals kontrollierte er ihn im Namen der Ausgewogenheit; aber da war er immer. Er ging geradeaus durch den Torweg, und auf der anderen Seite sprang ein Mann wie ein Affe aus einem Baumgipfel herab und stach mit einem Messer nach ihm. Im gleichen Augenblick kam ein anderer Mann schnell die Mauer entlanggekrochen, wirbelte eine Keule um seinen Kopf und ließ sie niedersausen. Father Brown drehte sich, taumelte und sank zu einem Haufen zusammen, aber während er zusammensank, leuchtete auf seinem runden Gesicht der Ausdruck einer sanften und ungeheuren Überraschung auf.
Zur gleichen Zeit lebte in der gleichen kleinen Stadt ein anderer junger Amerikaner, der sich von Mr. Paul Snaith grundlegend unterschied. Sein Name war John Adams Race, und er war ein Elektroingenieur, den Mendoza angestellt hatte, um die alte Stadt mit allen neuen Bequemlichkeiten auszustatten. Er war ein Mensch von jener Art, die viel seltener in der Satire und dem internationalen Klatsch auftaucht als die des amerikanischen Journalisten. Und doch ist es eine Tatsache, daß in Amerika auf 1 Million Menschen von der moralischen Art eines Race nur 1 von der moralischen Art eines Snaith kommt. Er war außergewöhnlich insofern, als er in seiner Arbeit außergewöhnlich gut war, aber in jeder anderen Beziehung war er sehr einfach. Er hatte seine Laufbahn als Gehilfe eines Drogisten in einem Dorf im Westen begonnen und war lediglich durch Arbeit und Verdienst aufgestiegen; aber noch immer betrachtete er seine Vaterstadt als das natürliche Herz der bewohnbaren Welt. Er war in einer sehr puritanischen, oder rein evangelischen, Christlichkeit aus der Familienbibel auf den Knien seiner Mutter aufgezogen worden; und falls er Zeit hatte, um eine Religion zu haben, dann war das immer noch seine Religion. Zwischen all den blendenden Lichtern der jüngsten und selbst wildesten neuen Entdeckungen zweifelte er nie, selbst wenn er bei seinen Versuchen bis zum äußersten ging und aus Licht und Ton Wunder wirkte wie ein Gott, der neue Sterne und Sonnensysteme schafft, auch nur für einen Augenblick daran, daß die Dinge »zu Hause« die besten Dinge auf Erden seien; seine Mutter und die Familienbibel und die ruhige und altmodische Moral seines Dorfes. Er hatte einen ebenso ernsthaften und edlen Sinn für die Heiligkeit seiner Mutter, als wäre er ein frivoler Franzose. Er war vollkommen sicher, daß die biblische Religion wirklich die richtige Sache sei; nur vermißte er sie vage, wohin immer in der modernen Welt er wanderte. Man konnte kaum von ihm erwarten, daß er mit den religiösen Äußerlichkeiten in katholischen Landen sympathisiere; und in seiner Abneigung gegen Mitren und Rosenkränze sympathisierte er mit Mr. Snaith, wenngleich nicht auf eine so überhebliche Art. Er hatte für die öffentlichen Verneigungen und Kratzfüße Mendozas nichts übrig und verspürte gewißlich keinerlei Verlockung durch den freimaurerischen Mystizismus des Atheisten Alvarez. Vielleicht war all dieses halbtropische Leben, durchwirkt mit indianischem Rot und spanischem Gold, zu farbenfreudig für ihn. Wenn er aber sagte, nichts komme seiner Heimatstadt gleich, so war das keine Übertreibung. Er war wirklich davon überzeugt, daß es irgendwo dort irgend etwas Einfaches und Anspruchsloses und Anrührendes gebe, das er wirklich mehr als alles andere auf Erden respektierte. Bei solcher geistigen Haltung von John Adams Race auf einem südamerikanischen Posten war in ihm doch seit einiger Zeit ein sonderbares Gefühl entstanden, das all seinen Vorurteilen widersprach und über das er keine Rechenschaft ablegen konnte. Denn die Wahrheit war: Das einzige Ding, dem er jemals auf seinen Reisen begegnet war und das ihn an den alten Holzstoß und den provinziellen Anstand und die Bibel auf Mutters Knien erinnerte, waren (aus unerforschlichen Gründen) das rundliche Gesicht und der schwarze plumpe Regenschirm von Father Brown.
Er ertappte sich dabei, wie er unbewußt jene gewöhnliche und sogar komische Figur beobachtete, wie sie geschäftig umhereilte; sie mit einer fast morbiden Faszination beobachtete, als ob sie ein wandelndes Rätsel, ein wandelnder Widerspruch sei. Er hatte im Herzen von all dem, was er haßte, etwas gefunden, das er mögen mußte; es war so, als sei er von kleineren Dämonen entsetzlich gequält worden und habe dann entdeckt, daß der Teufel selbst nur ein gewöhnlicher Mensch sei.
So geschah es denn, daß er, in jener monddurchleuchteten Nacht aus dem Fenster blickend, den Teufel vorübergehen sah, den Dämon der unerklärlichen Makellosigkeit, in seinem breitrandigen schwarzen Hut und seinem langen schwarzen Rock, wie er die Straße zum Torweg hinabschlurfte, und er sah ihn mit einem Interesse, das er selbst nicht verstand. Er wunderte sich, wohin der Priester gehe und was er wirklich vorhabe; und blieb da und starrte hinaus auf die mondhelle Straße noch lange, nachdem die kleine schwarze Gestalt vorübergekommen war. Und dann sah er etwas anderes, das ihn noch mehr verwirrte. Zwei andere Männer, die er kannte, kamen vor seinem Fenster vorbei wie über eine beleuchtete Bühne. Eine Art bläulichen Rampenlichtes umfloß vom Monde her wie ein gespenstischer Heiligenschein das große Haarbüschel, das aufrecht stand auf dem Kopf des kleinen Eckstein, des Weinhändlers, und es umriß eine größere und dunklere Gestalt mit einem Adlerprofil und einem wunderlich altmodischen und sehr kopflastigen schwarzen Hut, der den ganzen Umriß noch bizarrer erscheinen ließ, wie eine Gestalt in einem Schattenspiel. Race tadelte sich selbst, daß er dem Mond erlaube, solche Tricks mit seiner Phantasie zu spielen; denn auf einen zweiten Blick hin erkannte er die schwarzen spanischen Koteletten und die länglichen Gesichtszüge von Dr. Calderon, einem ehrbaren Arzt aus der Stadt, dem er einmal begegnet war, als er Mendoza beruflich beistand. Und dennoch gab es da etwas in der Art, wie die beiden Männer miteinander flüsterten und die Straße hinabspähten, was ihm eigentümlich vorkam. Einer plötzlichen Regung folgend, sprang er über das niedrige Fenstersims und schritt selbst auf ihren Spuren barhäuptig die Straße hinab. Er sah sie unter dem dunklen Torbogen verschwinden, und einen Augenblick später erscholl von jenseits ein furchtbarer Schrei, merkwürdig laut und durchdringend, der Races Blut um so mehr erstarren ließ, als er etwas sehr deutlich in einer Sprache ausdrückte, die er nicht kannte.
Im nächsten Augenblick folgte ein Rennen von Füßen, mehr Schreie, dann ein wirres Gebrüll aus Zorn oder Kummer, das die Türmchen und die hohen Palmen am Platze erbeben ließ; dann gab es eine Bewegung in der Masse, die zusammengeströmt war, als brande sie rückwärts durch den Torbogen. Und dann erdröhnte der dunkle Torweg von einer neuen Stimme, die ihm diesmal verständlich war und im Tonfall des Verhängnisses erscholl, als jemand durch den Torweg rief:
»Father Brown ist tot!«
Er kam nie dahinter, welcher Stützpfeiler in seinem Geiste zusammenbrach, oder warum ihn etwas, auf das er stets gezählt hatte, plötzlich im Stich ließ; aber er rannte auf den Torweg zu und kam gerade rechtzeitig, um seinem Landsmann, dem Journalisten Snaith, zu begegnen, der aus dem dunklen Eingang kam, totenbleich, und nervös mit den Fingern schnalzend.
»Stimmt wirklich«, sagte Snaith in einem Ton, der für ihn fast schon der Ehrfurcht gleichkam. »Er ist hin. Der Arzt hat ihn sich angesehen, und da gibt es keine Hoffnung. Einer von diesen verdammten Dagos hat ihn niedergeschlagen, als er durch das Tor kam – Gott weiß warum. Wird ein schwerer Verlust für die Stadt.«
Race antwortete nicht oder konnte nicht antworten, rannte aber unter dem Bogen hindurch zu der Szene dahinter. Die kleine schwarze Gestalt lag da, wo sie in die Wildnis der weiten Steinplatten gesunken war, aus denen wie Sterne hier und da grüne Dornen hervorleuchteten; und die große Menge wurde fast ausschließlich durch die bloßen Gesten einer einzigen gigantischen Gestalt im Vordergrund zurückgehalten. Denn viele waren da, die nach den bloßen Bewegungen seiner Hand hin- und herschwankten, so als wäre er ein Zauberer.
Alvarez, der Diktator und Demagoge, war eine große und prahlerische Erscheinung, immer reichlich prunkvoll gekleidet, und bei dieser Gelegenheit trug er eine grüne Uniform mit Stickereien, die wie silberne Schlangen überall auf ihr umherkrochen, und einem Orden, der ihm an einem lebhaft leuchtenden kastanienbraunen Band um den Hals hing. Sein kurzgeschorenes krauses Haar war schon grau, und im Gegensatz dazu sah seine Gesichtsfarbe, die seine Freunde oliven und seine Feinde mulattenbraun nannten, fast buchstäblich golden aus, so als sei sie eine aus Gold geformte Maske. Doch in diesem Augenblick waren seine großflächigen Züge, sonst kraftvoll und humorvoll, ganz gewichtig und grimmig. Er hatte, erklärte er, im Café auf Father Brown gewartet, als er ein Geraschel und einen Sturz hörte, herauskam und den Körper auf dem Pflaster liegend fand.
»Ich weiß, was einige von Ihnen denken«, sagte er und sah sich stolz um, »und für den Fall, daß Sie Angst vor mir haben – was Sie haben –, will ich es an Ihrer Stelle sagen. Ich bin ein Atheist; ich habe keinen Gott, bei dem ich für jene schwören könnte, die meinem Wort nicht glauben. Aber ich sage Ihnen bei jeder letzten Faser der Ehre, die in einem Soldaten und einem Mann ist, daß ich daran keinen Teil habe. Wenn ich die Kerle hier hätte, die das getan haben, würde ich sie voller Freude an jenem Baum aufknüpfen.«
»Wir sind natürlich glücklich, Sie das sagen zu hören«, sagte der alte Mendoza, der neben dem Körper seines gefallenen Koadjutors stand, steif und feierlich. »Dieser Schlag ist viel zu entsetzlich für uns, als daß wir sagen könnten, was wir in diesem Augenblick noch verspüren. Ich bin der Meinung, daß es ziemlicher und angemessener wäre, wenn wir den Körper meines Freundes entfernten und diese unregelmäßige Versammlung auflösten. Soweit ich begriffen habe«, fügte er zum Arzte gewandt ernst hinzu, »besteht unglücklicherweise kein Zweifel.«
»Es besteht kein Zweifel«, sagte Dr. Calderon.
John Race ging traurig und mit einem eigenartigen Gefühl der Leere zu seiner Wohnung zurück. Es erschien ihm unmöglich, daß er einen Mann vermissen sollte, den er niemals gekannt hatte. Er erfuhr, daß die Beisetzung am nächsten Tag stattfinden werde; denn alle waren der Ansicht, daß die Krise so schnell wie möglich überstanden werden sollte, aus Angst vor Unruhen, deren Ausbrechen von Stunde zu Stunde wahrscheinlicher wurde. Als Snaith die Reihe roter Indianer auf der Veranda hatte sitzen sehen, hätten sie eine Reihe aus rotem Holz geschnitzter alter aztekischer Statuen sein können. Aber er hatte sie nicht gesehen, wie sie waren, als sie hörten, daß der Priester tot sei.
Sie hätten sich sicherlich zu einer Revolution erhoben und den republikanischen Führer gelyncht, wären sie nicht sofort durch die unmittelbare Notwendigkeit zurückgehalten worden, sich angesichts des Sarges ihres eigenen religiösen Führers respektvoll zu verhalten. Die wirklichen Meuchelmörder, die zu lynchen höchst natürlich gewesen wäre, schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Niemand kannte ihre Namen; und niemand würde je erfahren, ob der sterbende Mann ihre Gesichter gesehen hatte. Jener sonderbare Ausdruck der Überraschung auf seinem Gesicht, der offenbar sein letzter Ausdruck auf Erden war, mochte durchaus dem Erkennen ihrer Gesichter entsprungen sein. Alvarez erklärte erneut energisch, daß dies nicht sein Werk sei, und wohnte der Beisetzung bei, wobei er in seiner prangenden silbernen und grünen Uniform hinter dem Sarg einherschritt in einer Art herausfordernder Hochachtung.
Hinter der Veranda führte eine Flucht von Steinstufen einen steilen grünen Hang hinan, von einer Kaktushecke eingezäunt, und hier wurde der Sarg mühsam emporgewuchtet zu der Fläche da oben und dort vorübergehend zu Füßen des großen hageren Kruzifixes aufgebahrt, das die Straße beherrschte und den geweihten Grund bewachte. Unten in der Straße strömten Meere von Menschen zusammen, die klagten und den Rosenkranz beteten – ein Volk von Waisen, das seinen Vater verloren hatte. Trotz all dieser Symbole, die für ihn aufreizend genug waren, benahm Alvarez sich mit Zurückhaltung und Respekt; und alles wäre gut gegangen – wie Race sich selber sagte –, hätten die anderen ihn nur in Ruhe gelassen.
Race sagte sich bitter, daß der alte Mendoza stets wie ein alter Narr ausgesehen habe und sich nun sehr offenkundig und vollständig wie ein alter Narr benahm. Entsprechend einer in einfacheren Gesellschaften üblichen Sitte hatte man den Sarg offen und das Gesicht unbedeckt gelassen und steigerte so das Pathos all dieser einfachen Leute fast bis zur Agonie. Da auch das noch mit der Tradition übereinstimmte, hätte daraus kein Harm entstehen müssen; aber irgendeine amtliche Person hatte dem den Brauch der französischen Freidenker von Reden am Grabe hinzugefügt. Mendoza begann eine Rede – eine reichlich lange Rede, und je länger sie wurde, desto tiefer sanken John Races Stimmung und Sympathien für das betroffene religiöse Ritual. Eine Liste von heiligmäßigen Eigenschaften, eindeutig von der antiquiertesten Art, wurde mit der ausschweifenden Stumpfheit eines Redners nach Tische abgespult, der nicht weiß, wie er sich wieder hinsetzen kann. Das war schon übel genug; aber Mendoza brachte auch noch die unaussprechliche Dummheit auf, seine politischen Gegner nicht nur zu tadeln, sondern sie auch noch zu verhöhnen. Binnen drei Minuten hatte er eine Szene heraufbeschworen, und noch dazu eine äußerst ungewöhnliche.
»Mit Recht können wir fragen«, sagte er und blickte dabei wichtigtuerisch um sich, »mit Recht können wir fragen, wo solche Tugenden unter jenen gefunden werden können, die im Wahne den Glauben ihrer Väter aufgegeben haben. Nur wenn da Atheisten unter uns weilen, atheistische Führer, ja manchmal gar atheistische Herrscher, stellen wir fest, daß ihre infame Philosophie verbrecherische Früchte wie diese trägt. Wenn wir fragen, wer diesen heiligen Mann ermordet hat, werden wir sicherlich feststellen – «
Das Afrika der Dschungel blitzte aus den Augen von Alvarez, dem bastardischen Abenteurer; und Race bildete sich ein, er könne plötzlich sehen, daß der Mann trotz allem ein Barbar war, der sich nicht bis zum Ende unter Kontrolle halten konnte; man könnte erraten, daß all seinem »erleuchteten« Transzendentalismus ein Hauch Voodoo beigemischt war. Wie auch immer: Mendoza konnte nicht fortfahren, denn Alvarez war aufgesprungen und brüllte zurück und brüllte ihn mit unendlich überlegenen Lungen nieder.
»Wer hat ihn ermordet?« röhrte er. »Euer Gott ermordete ihn! Sein eigener Gott ermordete ihn! Eurer Lehre zufolge ermordet er alle seine treuen und törichten Diener – wie er jenen ermordet hat«, und mit einer gewalttätigen Geste wies er nicht auf den Sarg hin, sondern auf den Gekreuzigten. Dann schien er sich wieder etwas zu beherrschen und fuhr in einem immer noch ärgerlichen, aber doch mehr argumentativen Ton fort: »Ich glaube nicht daran, aber ihr tut es. Ist es nicht besser, keinen Gott zu haben als einen, der einen auf solche Weise beraubt? Ich jedenfalls fürchte mich nicht zu sagen, daß es keinen Gott gibt. Nirgendwo in diesem blinden und hirnlosen Universum gibt es eine Macht, die euer Gebet hören oder euren Freund zurückgeben kann. Auch wenn ihr den Himmel anfleht, ihn auferstehen zu lassen, wird er nicht auferstehen. Auch wenn ich den Himmel herausfordere, ihn auferstehen zu lassen, wird er nicht auferstehen. Hier und jetzt will ich den Versuch wagen – ich spotte jenes Gottes, der nicht da ist, den Mann aufzuerwecken, der für immer schläft.«
Ein Schock des Schweigens, und der Demagoge hatte seine Sensation.
»Das hätten wir wissen können«, schrie Mendoza mit dicker kollernder Stimme, »wenn man Männern wie Ihnen gestattet – «
Eine neue Stimme schnitt in seine Rede; eine hohe und schrille Stimme mit Yankee-Akzent.
»Halt! Halt!« schrie Snaith der Journalist. »Da tut sich was! Ich schwör es, ich hab ihn sich bewegen gesehn!«
Er raste die Stufen hinauf und rannte zum Sarg, während unten die Menge in unbeschreiblicher Ekstase schwankte. Im nächsten Augenblick wandte er ein Gesicht voller Verwunderung über seine Schulter und winkte mit dem Finger Dr. Calderon, der vorwärts hastete, um sich mit ihm zu besprechen. Als die beiden Männer wieder vom Sarg zurücktraten, konnten alle es sehen, daß die Lage des Kopfes sich verändert hatte. Ein Schrei der Erregung stieg aus der Menge und endete dann so plötzlich, als sei er in der Luft abgeschnitten worden; denn der Priester im Sarge stöhnte und richtete sich auf einen Ellenbogen auf und blickte mit trüben und blinzelnden Augen auf die Menge.
John Adams Race, der bis dahin nur die Wunder der Wissenschaft gekannt hatte, fand sich auch in späteren Jahren nie fähig, das Chaos der nächsten paar Tage zu beschreiben. Ihm erschien es, als sei er aus der Welt von Zeit und Raum gesprengt und lebe im Unmöglichen. Binnen einer halben Stunde hatten sich Stadt und Distrikt in etwas verwandelt, das man seit tausend Jahren nicht mehr gekannt hatte; ein mittelalterliches Volk verwandelte sich durch ein überwältigendes Wunder in eine Menge von Mönchen; eine griechische Stadt, in die der Gott zwischen die Menschen herabgestiegen war. Tausende warfen sich auf der Straße nieder; Hunderte legten auf der Stelle Gelübde ab; und sogar Außenseiter wie die beiden Amerikaner konnten an nichts anderes denken und von nichts anderem sprechen als dem Wunder. Alvarez selbst war erschüttert, und das mit Recht; und er setzte sich nieder, den Kopf in den Händen.
Und im Zentrum dieses Wirbelsturms der Glückseligkeit kämpfte ein kleiner Mann darum, daß man seine Stimme höre. Seine Stimme war klein und schwach, und der Lärm war ohrenbetäubend. Er machte schwache kleine Gesten, die eher solche der Verwirrung zu sein schienen als etwas anderes. Er kam an den Rand der Brüstung über der Menge und winkte ihr zu, ruhig zu sein, mit Bewegungen eher dem Flappen der kurzen Schwingen eines Pinguins ähnlich. Da entstand so etwas wie eine Stille im Gelärme; und dann erreichte Father Brown zum ersten Mal die äußersten Grenzen seiner Empörung, die er gegen seine Kinder zu richten vermochte.
»Oh ihr einfältigen Menschen«, sagte er mit hoher und bebender Stimme; »oh ihr einfältigen, einfältigen Menschen.«
Dann schien er sich plötzlich zusammenzureißen, machte in seiner nun wieder gewöhnlichen Haltung einen Satz zu den Stufen hin und begann, eilig hinabzusteigen.
»Wohin gehen Sie, Father?« fragte Mendoza mit mehr als seiner üblichen Verehrung.
»Zum Telegraphenamt«, sagte Father Brown hastig. »Was? Nein; natürlich ist das kein Wunder. Warum sollte es ein Wunder geben? Wunder sind so billig nicht wie das hier.«
Und er kam taumelnd die Stufen herab, und die Leute warfen sich ihm in den Weg und erflehten seinen Segen.
»Seid gesegnet, seid gesegnet«, sagte Father Brown hastig. »Gott segne euch alle und gebe euch mehr Vernunft.«
Und mit seinen kleinen Schritten eilte er mit außerordentlicher Geschwindigkeit zum Telegraphenamt, wo er dem Sekretär des Bischofs drahtete: »Verrückte Geschichte über Wunder hier läuft um; hoffe Seine Eminenz verweigert Anerkennung. Nichts daran.«
Als er sich von dieser Anstrengung abwandte, taumelte er in der Reaktion leicht, und John Race ergriff ihn am Arm.
»Darf ich Sie nach Hause bringen?« sagte er. »Sie verdienen mehr, als diese Leute Ihnen geben.«
John Race und der Priester saßen in der Pfarrei; auf dem Tisch türmten sich immer noch die Papiere, mit denen sich der letztere am Vortag herumgeschlagen hatte; die Flasche Wein und das geleerte Weinglas standen noch so da, wie er sie verlassen hatte.
»Und nun«, sagte Father Brown fast grimmig, »kann ich anfangen nachzudenken.«
»Ich würde nicht gerade jetzt allzu scharf nachdenken«, sagte der Amerikaner. »Sie müssen sich doch nach Ruhe sehnen. Und außerdem, worüber wollen Sie denn nachdenken?«
»Zufälligerweise stand ich ziemlich häufig vor der Aufgabe, einen Mord zu untersuchen«, sagte Father Brown. »Nun muß ich den Mord an mir untersuchen.«
»Wenn ich Sie wäre«, sagte Race, »würde ich mir erst einen Schluck Wein nehmen.«
Father Brown stand auf und füllte sich ein Glas, hob es, blickte nachdenklich ins Leere und setzte es wieder nieder. Dann setzte er sich selbst wieder nieder und sagte:
»Wissen Sie, wie ich mich fühlte, als ich starb? Sie werden es nicht glauben, aber mein Gefühl war das einer überwältigenden Verwunderung.«
»Nun ja«, antwortete Race, »ich nehme an, Sie waren verwundert, daß man Sie über den Kopf schlug.«
Father Brown beugte sich zu ihm hinüber und sagte leise: »Ich war verwundert, daß man mir nicht über den Kopf schlug.«
Race sah ihn einen Augenblick lang an, als dächte er, der Schlag über den Kopf sei nur allzu wirksam gewesen; aber er sagte lediglich: »Wie meinen Sie das?«
»Ich meine damit, daß, als der Mann seine Keule in großem Bogen niedersausen ließ, sie vor meinem Kopf innehielt und ihn nicht einmal berührte. Auf die gleiche Weise tat der andere Bursche so, als ob er mit dem Messer nach mir steche, aber er hat mich nicht einmal gekratzt. Das war wie Theater spielen. Ich glaube, das war es. Aber dann geschah das Außerordentliche.«
Er sah für einen Augenblick nachdenklich die Papiere auf dem Tisch an und fuhr dann fort:
»Obwohl mich weder Messer noch Knüttel berührt hatten, fühlte ich, wie meine Beine unter mir nachgaben und mein Leben erlosch. Ich wußte, daß mich etwas niederstreckte, aber es waren nicht jene Waffen. Wissen Sie, was ich glaube, was es war?«
Und er zeigte auf den Wein auf dem Tisch.
Race nahm das Weinglas hoch, sah es an und beroch es.
»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte er. »Ich habe als Drogist angefangen und dann Chemie studiert. Ich kann ohne Analyse nichts Genaues sagen, aber ich glaube, daß sich in diesem Zeug etwas sehr Ungewöhnliches befindet. Es gibt Drogen, mit denen die Asiaten einen zeitweiligen Schlaf verursachen, der wie der Tod aussieht.«
»Genau das«, sagte der Priester ruhig. »Dieses ganze Wunder wurde aus irgendeinem Grunde vorgetäuscht. Die Beisetzungsszene ist arrangiert und zeitlich geplant worden. Ich glaube, das ist Teil jenes irrsinnigen Publicity-Wahns, der Snaith befallen hat; aber ich kann kaum glauben, daß er nur deswegen so weit gehen würde. Schließlich ist es eine Sache, mit mir die Auflage zu steigern und mich als einen angeblichen Sherlock Holmes zu verkaufen, und – «
Noch während der Priester sprach, veränderte sich sein Gesicht. Seine blinzelnden Augenlider schlossen sich plötzlich, und er stand da, als ob er ersticke. Dann streckte er eine zitternde Hand aus, als wolle er sich seinen Weg zur Tür ertasten.
»Wo gehen Sie hin?« fragte der andere verwundert.
»Wenn Sie mich so fragen«, sagte Father Brown, der schneeweiß aussah, »ich wollte beten gehen. Oder besser lobpreisen.«
»Ich verstehe Sie nicht. Was ist mit Ihnen los?«
»Ich gehe, um Gott zu lobpreisen, daß er mich so merkwürdig und so unglaublich gerettet hat – um Haaresbreite gerettet hat.«
»Natürlich«, sagte Race, »ich gehöre zwar nicht Ihrer Religion an; aber glauben Sie mir, ich habe Religion genug, um das zu verstehen. Natürlich, Sie wollen Gott danken, daß er Sie vor dem Tode errettet hat.«
»Nein«, sagte der Priester. »Nicht vor dem Tode. Vor der Schande.«
Der andere saß da und starrte; und des Priesters nächste Worte brachen aus ihm heraus wie ein Schrei.
»Und wenn es nur meine Schande gewesen wäre! Aber es wäre die Schande alles dessen gewesen, wofür ich einstehe; die Schande des Glaubens, die sie heraufbeschworen haben. Was wäre daraus geworden! Der größte und grauenhafteste Skandal, der je gegen uns entfesselt wurde, seit die letzte Lüge in der Gurgel von Titus Oates erstickt ward.«
»Von was in aller Welt reden Sie eigentlich?« fragte ihn sein Gesprächspartner.
»Nun wohl, ich sollte es Ihnen wohl ganz erzählen«, sagte der Priester. Und während er sich niedersetzte, fuhr er gefaßter fort: »Es wurde mir blitzartig klar, als ich zufällig Snaith und Sherlock Holmes erwähnte. Nun erinnerte ich mich wieder, was ich ihm über seinen absurden Plan geschrieben habe; es schien das Natürlichste zu sein, so zu schreiben, und doch glaube ich jetzt, daß sie mich geradezu genial dahin gebracht haben, ausgerechnet jene Worte zu schreiben. Sie lauteten etwa: ›Ich bin bereit zu sterben und wieder lebendig zu werden wie Sherlock Holmes, wenn das der beste Weg ist.‹ Und im gleichen Augenblick, in dem mir das einfiel, wurde mir klar, daß man mich alle Arten Dinge dieser Art schreiben gemacht hat, die alle in dieselbe Richtung weisen. Ich habe wie an einen Komplizen geschrieben, daß ich den gedokterten Wein zu einer bestimmten Stunde trinken würde. Begreifen Sie jetzt?«
Race sprang immer noch starren Blickes auf: »Ja«, sagte er, »ich glaube, ich beginne zu begreifen.«
»Diese Leute hätten das Wunder zuerst richtig bekannt gemacht. Und dann hätten sie das Wunder platzen lassen. Und am schlimmsten ist, sie hätten beweisen können, daß ich mit in der Verschwörung war. Das wäre unser falsches Wunder gewesen. Das ist alles; und der Hölle so nahe, wie Sie und ich hoffentlich nie wieder sein werden.«
Dann sagte er nach einer Pause mit wahrhaft milder Stimme: »Sie hätten aus mir wirklich eine Menge Auflagensteigerung herausholen können.«
Race blickte auf den Tisch und fragte düster: »Wie viele dieser Schweine waren daran beteiligt?«
Father Brown schüttelte den Kopf. »Mehr, als ich mir vorstellen möchte«, sagte er; »aber ich hoffe, daß einige von ihnen nur Werkzeuge waren. Alvarez dürfte wahrscheinlich glauben, daß im Kriege alles erlaubt sei; er hat einen verdrehten Kopf. Ich muß leider fürchten, daß Mendoza ein alter Heuchler ist; ich habe ihm nie getraut, und er haßte meine Einmischung in eine Industriegeschichte. Aber all das kann warten; jetzt habe ich nur Gott dafür zu danken, daß ich entkommen bin. Und besonders dafür, daß ich dem Bischof sofort gekabelt habe.«
John Race schien sehr nachdenklich zu sein.
»Sie haben mir vieles erzählt, was ich nicht wußte«, sagte er schließlich, »und deshalb will ich Ihnen das einzige erzählen, was Sie nicht wissen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie die Brüder sich das ausgerechnet haben. Sie dachten sich, daß jeder lebende Mensch, der in einem Sarg aufwacht und wie ein Heiliger verehrt wird und in ein wandelndes Wunder verwandelt ist, das jedermann bewundert, von seinen Verehrern mitgerissen würde und die Krone des Ruhmes annähme, die da aus dem Himmel auf ihn gefallen ist. Und ich glaube, daß ihre Berechnung patente praktische Psychologie war, was normale Menschen angeht. Ich habe alle Arten Männer an allen Arten Orten gesehen; und ich sage Ihnen offen, ich glaube nicht, daß es 1 unter 1000 gibt, der unter solchen Umständen mit all seinem Grips parat aufwachen würde; und der, während er fast noch im Schlafe spricht, die Vernunft und die Schlichtheit und die Demut hätte, um – « Er war sehr überrascht, sich selbst bewegt und seine gelassene Stimme bebend zu finden.
Father Brown starrte geistesabwesend und ziemlich angeschlagen die Flasche auf dem Tisch an. »Sagen Sie mal«, sagte er, »was halten Sie von einer Flasche richtigen Weines?«
Es ist zu befürchten, daß rund 100 Detektivgeschichten mit der Entdeckung beginnen, daß ein amerikanischer Millionär ermordet wurde; ein Ereignis, das aus irgendwelchen Gründen als eine Art Unheil behandelt wird. Ich bin glücklich festzustellen, daß auch diese Geschichte mit einem ermordeten Millionär zu beginnen hat; in gewissem Sinne hat sie sogar mit drei ermordeten Millionären zu beginnen, was manche ohne Zweifel als einen »embarras de richesse« betrachten werden. Aber gerade dieses Zusammentreffen oder diese Kontinuität verbrecherischer Organisationskunst hob die ganze Angelegenheit aus dem üblichen Verlauf von Kriminalfällen heraus und machte aus ihr das außerordentliche Problem, das sie darstellte.
Ziemlich allgemein wurde behauptet, daß sie alle Opfer irgendeiner Fehde oder eines Fluches geworden waren, der am Besitz einer Antiquität großen Wertes sowohl im materiellen wie im historischen Sinne hing: eine Art Kelch, der mit kostbaren Steinen eingelegt war und gemeinhin der Koptenkelch hieß. Seine Ursprünge lagen im dunkeln, aber allgemein wurde angenommen, daß er religiöser Art sei; und manche schrieben das schlimme Geschick, das seine Besitzer verfolgte, dem Fanatismus irgendwelcher orientalischen Christen zu, die es entsetze, ihn in so materialistischen Händen zu sehen. Der geheimnisvolle Vernichter aber war, gleich ob ein solcher Fanatiker oder nicht, bereits zur Gestalt eines gierigen Sensationsinteresses in der Welt von Journalismus und Klatsch geworden. Der Namenlose wurde mit einem Namen oder besser mit einem Spitznamen bedacht. Hier aber haben wir es nur mit der Geschichte des dritten Opfers zu tun; denn nur in diesem dritten Fall fand ein gewisser Father Brown, der das Thema dieser Skizzen ist, Gelegenheit, seine Anwesenheit zur Geltung zu bringen.
Als Father Brown zum ersten Mal von einem Atlantikdampfer aus Amerikas Boden betrat, stellt er wie mancher andere Engländer fest, daß er eine viel bedeutendere Persönlichkeit war, als er je vermutet hätte. Seine kurze Gestalt, sein kurzsichtiges Gesicht ohne besonders markante Züge, seine reichlich schäbige schwarze klerikale Kleidung hätten in seinem eigenen Lande in jeder Menge durchgehen können, ohne als ungewöhnlich aufzufallen, höchstens vielleicht als ungewöhnlich unbedeutend. Amerika aber hat eine besondere Fähigkeit, Ruhm zu ermutigen; und sein Auftreten in ein oder zwei eigenartigen Kriminalfällen hatte zusammen mit seiner langen Beziehung zu Flambeau, dem Ex-Verbrecher und Detektiv, in Amerika zu einem Ruf verdichtet, was in England kaum mehr als ein Gerücht war. Sein rundes Gesicht war leer vor Staunen, als er sich am Kai von einer Gruppe Journalisten wie von einer Brigantenbande aufgehalten fand, die ihn Fragen zu all den Themen fragten, für die er sich selbst am wenigsten als Autorität ansehen würde, wie etwa nach Einzelheiten der Frauenmode und der Verbrechensstatistik des Landes, das er in jenem Augenblick zum ersten Mal sah. Vielleicht war es der Gegensatz zu der schwarzen, schlachterprobten Gemeinschaftlichkeit dieser Gruppe, die eine andere Gestalt um so deutlicher werden ließ, die sich ebenfalls schwarz gegen das brennend weiße Tageslicht jener strahlenden Örtlichkeit und Jahreszeit abhob, vollständig allein; ein großer, fast gelbgesichtiger Mann mit großen Brillengläsern, der ihn mit einer Handbewegung aufhielt, als die Journalisten fertig waren, und sagte: »Verzeihen Sie, aber vielleicht suchen Sie Hauptmann Wain.«
Eine Entschuldigung für Father Brown mag angebracht sein; denn er selbst hätte sich sicherlich sehr entschuldigt. Es muß daran erinnert werden, daß er Amerika niemals zuvor gesehen hatte, und vor allem, daß er diese Art von Schildpattbrillen niemals zuvor gesehen hatte; denn diese Mode hatte zu jener Zeit England noch nicht erreicht. Sein erstes Empfinden war, ein glotzäugiges Seeungeheuer mit einer schwachen Andeutung von Taucherhelm anzustarren. Davon abgesehen war der Mann ausgezeichnet gekleidet; und Brown erschien in seiner Unschuld die Brille als die sonderbarste Entstellung eines Dandys. Es war so, als habe sich ein Dandy als letzte Steigerung der Eleganz ein Holzbein zugelegt. Und auch die Frage verwirrte ihn. Ein amerikanischer Flieger namens Warn, ein Freund seiner Freunde in Frankreich, stand tatsächlich auf der langen Liste von Personen, die während seines Amerika-Besuches zu sehen er eine gewisse Hoffnung hegte; aber er hatte niemals erwartet, von ihm so früh zu hören.
»Um Vergebung«, sagte er zweifelnd, »sind Sie Hauptmann Wain? Kennen – kennen Sie ihn?«
»Nun, ich bin ziemlich sicher, daß ich nicht Hauptmann Wain bin«, sagte der Mann mit der Brille und einem Gesicht aus Holz. »Das war mir ziemlich klar, als ich ihn da drüben im Auto auf Sie warten sah. Aber die andere Frage ist ein bißchen problematischer. Ich nehme an, ich kenne Wain und seinen Onkel, und den alten Merton auch. Ich kenne den alten Merton, aber der alte Merton kennt mich nicht. Und deshalb glaubt er, er sei im Vorteil, und ich glaube, ich bin im Vorteil. Kapiert?«
Father Brown kapierte nicht ganz. Er blinzelte über das glitzernde Gewässer und die Zinnen der Stadt und dann den Mann mit der Brille an. Es war nicht nur diese Maskierung der Augen des Mannes, die den Eindruck des Undurchdringlichen heraufbeschwor. Etwas in seinem gelben Gesicht war fast asiatisch, gar chinesisch; und seine Konversation schien aus verfestigten Schichten Ironie zu bestehen. Er war ein Typ, wie man ihn hier und da in jener offenherzigen und geselligen Bevölkerung findet; er war der unergründliche Amerikaner.
»Mein Name ist Drage«, sagte er, »Norman Drage, und ich bin amerikanischer Bürger, was alles erklärt. Jedenfalls bilde ich mir ein, daß Ihr Freund Wain das übrige erklären möchte; also wollen wir den 4. Juli auf ein anderes Datum vertagen.«
Father Brown wurde in ziemlich benommenem Zustand zu einem Auto geschleppt, das in einiger Entfernung wartete, darinnen ein junger Mann mit Büscheln unordentlichen blonden Haares und gequältem und abgezehrtem Gesicht ihn bereits von ferne begrüßte und sich als Peter Wain vorstellte. Bevor er wußte, wo er war, wurde er in dem Wagen verstaut und reiste mit beachtlicher Geschwindigkeit durch die Stadt und aus ihr hinaus. Er war an den ungestümen Zugriff solchen amerikanischen Handelns nicht gewöhnt und fühlte sich etwa so verwirrt, als entführte ihn eine von Drachen gezogene Kutsche ins Märchenland. Unter diesen beunruhigenden Umständen hörte er zum ersten Mal in langen Monologen von Wain und kurzen Sätzen von Drage die Geschichte des Koptenkelches und der beiden Verbrechen, die bereits mit ihm verbunden waren.
Allem Anschein nach hatte Wain einen Onkel namens Crake, der einen Partner namens Merton hatte, der Nummer drei in der Reihe reicher Geschäftsleute war, denen der Kelch bisher gehört hatte. Der erste von ihnen, Titus P. Trant, der Kupferkönig, hatte von einem Unbekannten, der mit Daniel Doom unterzeichnete, Drohbriefe erhalten. Der Name war vermutlich ein Pseudonym, vertrat aber inzwischen eine sehr bekannte, wenn nicht gar beliebte Figur; jemanden, der so bekannt war wie Robin Hood und Jack the Ripper zusammen. Denn es wurde bald deutlich, daß der Schreiber der Drohbriefe sich nicht aufs Drohen beschränkte. Das Ergebnis jedenfalls war, daß man den alten Trant eines Morgens mit dem Kopf in seinem eigenen Seerosenteich fand, und es gab nicht den Hauch einer Spur. Der Kelch befand sich glücklicherweise sicher in der Bank; und er ging mit dem übrigen Vermögen von Trant in den Besitz seines Vetters Brian Horder über, der ebenfalls ein Mann von großem Reichtum war und ebenfalls von jenem namenlosen Feind bedroht wurde. Brian Horder wurde tot am Fuß einer Klippe vor seiner Strandvilla entdeckt, in die ein Einbruch, diesmal großen Stils, stattgefunden hatte. Denn obwohl der Kelch offenbar erneut entkommen war, wurden doch genug Aktien und Pfandbriefe gestohlen, daß Horders finanzielle Angelegenheiten in größte Unordnung gerieten.
»Brian Horders Witwe«, erklärte Wain, »mußte meines Wissens den größten Teil seiner Wertgegenstände verkaufen, und Brander Merton muß den Kelch bei dieser Gelegenheit gekauft haben, denn er hatte ihn bereits, als ich ihn kennenlernte. Aber Sie können sich ja selbst vorstellen, daß das kein sehr bequemes Besitztum ist.«
»Hat Mr. Merton je Drohbriefe bekommen?« fragte Father Brown nach einer Pause.
»Ich glaube ja«, sagte Mr. Drage; und irgend etwas in seiner Stimme ließ den Priester ihn neugierig ansehen, bis ihm klar wurde, daß der Mann mit der Brille leise lachte, auf eine Weise, die den Neuankömmling ein wenig schaudern machte.
»Ich bin ziemlich sicher, daß ja«, sagte Peter Wain stirnrunzelnd. »Ich habe die Briefe nicht gesehen, da nur sein Sekretär Briefe an ihn sieht, denn er ist in Geschäftsangelegenheiten sehr zurückhaltend, wie große Geschäftsleute zu sein haben. Aber ich habe ihn wegen Briefen sehr verstimmt und verärgert gesehen; und auch, wie er Briefe aufriß, bevor sogar sein Sekretär sie gesehen hat. Und der Sekretär selbst wird nervös und sagt, er sei sicher, daß jemand hinter dem alten Mann her sei; und, kurz und gut, wir wären für ein bißchen Rat in dieser Angelegenheit sehr dankbar. Jeder kennt hier Ihren großen Ruf, Father Brown, und der Sekretär hat mich gebeten, Sie zu fragen, ob es Ihnen etwas ausmachte, sofort zum Merton-Haus zu kommen.«
»Ach so«, sagte Father Brown, dem endlich die Bedeutung dieser offenbaren Entführung aufzugehen begann. »Aber ich sehe wirklich nicht, wie ich mehr tun könnte als Sie. Sie sind an Ort und Stelle und müssen hundertmal mehr Anhaltspunkte haben, um zu einer wissenschaftlichen Schlußfolgerung zu gelangen, als ein zufälliger Besucher.«
»Ja«, sagte Mr. Drage trocken, »unsere Schlußfolgerungen sind viel zu wissenschaftlich, als daß sie wahr sein könnten. Ich nehme an, wenn irgendwas einen Mann wie Titus P. Trant treffen konnte, dann kam das geradewegs von oben, ohne auf wissenschaftliche Erklärungen zu warten. Was man einen Blitz aus heiterem Himmel nennt.«
»Sie wollen doch nicht etwa behaupten«, rief Wain, »daß es übernatürlich war!«
Doch war es zu keiner Zeit besonders leicht herauszufinden, was Mr. Drage möglicherweise meinte, außer daß wenn er sagte, irgend jemand sei ein besonders schlauer Bursche, er mit großer Wahrscheinlichkeit meinte, er sei ein Narr. Mr. Drage behielt eine orientalische Unbeweglichkeit bei, bis der Wagen kurze Zeit danach anhielt, offenbar am Ort ihrer Bestimmung. Es war ein ziemlich einmaliger Ort. Sie waren durch dünn bewaldetes Land gefahren, das sich in eine weite Ebene öffnete, und unmittelbar vor ihnen lag ein Gebäude, das aus einer einzigen Mauer oder einem sehr hohen Zaun bestand, rund wie ein römisches Legionslager, und das eher wie eine Flughalle aussah. Die Umfriedung sah weder nach Holz noch nach Stein aus, und eine nähere Untersuchung erwies, daß sie aus Metall war.
Alle stiegen sie aus dem Wagen aus, und eine schmale Tür in der Mauer glitt nach erheblichen Vorsichtsmaßnahmen und nach Hantierungen, die dem Öffnen eines Safes ähnelten, auf. Sehr zu Father Browns Erstaunen aber zeigte der Mann namens Norman Drage keinerlei Neigung einzutreten, sondern verabschiedete sich von ihnen mit finsterer Fröhlichkeit.
»Ich komm nicht mit rein«, sagte er. »Schätze, das wär zu viel freudige Aufregung für’n alten Mann Merton. Er liebt meinen Anblick so sehr, der würde vor Freude sterben.«
Und er schritt von dannen, während Father Brown mit zunehmender Verwunderung durch die Stahltür eingelassen wurde, die sich unmittelbar hinter ihm klickend schloß. Im Inneren befand sich ein großer und kunstvoll angelegter Garten in heiteren und vielfältigen Farben, jedoch vollständig bar jeden Baumes oder hohen Gebüschs und von Blumen. In der Mitte erhob sich ein Haus von schöner, ja auffallender Architektur, aber so hoch und schmal, daß es eher einem Turm glich. Der brennende Sonnenschein schimmerte oben hier und da in Glasdächern, aber im ganzen unteren Teil schien es kein einziges Fenster zu geben. Über allem lag jene fleckenlose und funkelnde Reinlichkeit, die der klaren amerikanischen Luft so angemessen erscheint. Als sie in das Portal getreten waren, befanden sie sich inmitten von Marmor und Metallen und Emaillen der brillantesten Farben, aber es gab kein Treppenhaus. Zwischen den massiven Wänden stieg in der Mitte lediglich ein einzelner Schacht für einen Aufzug empor, und den Zugang zu ihm bewachten schwere kräftige Männer wie Polizisten in Zivil.
»Ich weiß, ziemlich ausgeklügelte Schutzmaßnahmen«, sagte Wain. »Vielleicht macht es Sie lächeln, Father Brown, daß Merton in einer Festung wie dieser leben muß, selbst ohne jeden Baum im Garten, hinter dem sich jemand verbergen könnte. Aber Sie wissen nicht, mit was wir es in diesem Lande zu tun haben. Und vielleicht wissen Sie auch nicht, was der Name Brander Merton bedeutet. Er sieht bescheiden genug aus, und auf der Straße würde sich niemand nach ihm umdrehen; nicht daß heutzutage viele Gelegenheit dazu bekommen, denn er kann nur noch ab und zu in einem geschlossenen Wagen ausfahren. Wenn aber Brander Merton etwas zustieße, entstünden daraus Erdbeben von Alaska bis zu den Karibischen Inseln. Ich glaube nicht, daß je ein König oder ein Kaiser solche Macht über die Nationen hatte wie er. Im übrigen nehme ich an, daß Sie, forderte man Sie auf, den Zaren oder den König von England zu besuchen, neugierig genug wären, hinzugehen. Sie mögen sich wenig aus Zaren oder Millionären machen; aber es bedeutet doch, daß solche Macht immer interessant ist. Und ich hoffe, daß es Ihren Grundsätzen nicht widerspricht, eine moderne Sorte Kaiser wie Merton zu besuchen.«
»Keineswegs«, sagte Father Brown ruhig. »Es ist meine Pflicht, Häftlinge und alle Unglücklichen in Gefangenschaft zu besuchen.«
Ein Schweigen entstand, und der junge Mann runzelte mit einem sonderbaren und fast durchtriebenen Ausdruck auf seinem hageren Gesicht die Stirn. Dann sagte er abrupt:
»Jedenfalls müssen Sie auch daran denken, daß er nicht bloß einfache Verbrecher oder die Schwarze Hand gegen sich hat. Dieser Daniel Doom ist ein wahrer Teufel. Sie müssen sich nur ansehen, wie er Trant in seinem eigenen Garten und Horder vor seinem Haus umlegte und damit davongekommen ist.«
Das oberste Stockwerk des Gebäudes bestand zwischen den ungeheuer dicken Mauern aus zwei Räumen; einem äußeren Raum, in den sie eintraten, und einem inneren Raum, dem Allerheiligsten des großen Millionärs. Sie betraten den äußeren Raum gerade, als zwei andere Besucher aus dem inneren kamen. Den einen begrüßte Peter Wain als seinen Onkel – ein kleiner, aber sehr kraftvoller und energischer Mann mit rasiertem Schädel, der kahl wirkte, und einem braunen Gesicht, das fast zu braun aussah, als daß es jemals hätte weiß gewesen sein können. Das war der alte Crake, den man gewöhnlich wegen seines Ruhmes aus den letzten Indianerkriegen Hickory Crake nannte in Erinnerung an den berühmteren Old Hickory. Sein Begleiter bildete einen einzigartigen Gegensatz – ein sehr kleiner und lebhafter Gentleman mit dunklem Haar wie ein schwarzer Lacküberzug und einem breiten schwarzen Band an seinem Monokel: Barnard Blake, der Rechtsanwalt des alten Merton, der mit den Partnern Geschäftsangelegenheiten der Firma besprochen hatte. Die vier Männer begegneten sich in der Mitte des äußeren Raumes und blieben im Akte des jeweiligen Gehens beziehungsweise Kommens zu einem kleinen höflichen Gespräch stehen. Und während all dieses Gehens und Kommens saß eine andere Gestalt im Hintergrund des Raumes nahe der Tür zum inneren Raum, mächtig und bewegungslos im Halblicht des inneren Fensters; ein Mann mit Negergesicht und gewaltigen Schultern. Er war das, was die humorvolle Selbstkritik Amerikas neckisch den Bösewicht nennt; den seine Freunde einen Leibwächter nennen mochten, und seine Feinde einen Meuchler.
Dieser Mann bewegte und rührte sich niemals, um jemanden zu begrüßen; aber sein Anblick im äußeren Raum bewegte Peter Wain zu seiner ersten nervösen Frage.
»Ist jemand beim Chef?« fragte er.
»Nun werd nicht nervös, Peter«, kicherte sein Onkel. »Der Sekretär Wilton ist bei ihm, und ich hoffe, das dürfte für jeden ausreichen. Ich glaube nicht, daß Wilton jemals schläft, vor lauter Aufpassen auf Merton. Er ist besser als zwanzig Leibwächter. Und er ist so schnell und lautlos wie ein Indianer.«
»Das mußt du ja wissen«, sagte sein Neffe lachend. »Ich erinnere mich an die Indianertricks, die du mir beigebracht hast, als ich noch ein Junge war und es liebte, Indianergeschichten zu lesen. Aber in meinen Indianergeschichten schienen immer die Indianer irgendwie das schlechte Ende erwischt zu haben.«
»Aber nicht in der Wirklichkeit«, sagte der alte Indianerkämpfer grimmig.
»Wirklich?« fragte der sanfte Mr. Blake. »Ich hätte gedacht, daß sie gegen unsere Feuerwaffen wenig ausrichten konnten.«
»Ich habe einen Indianer inmitten von 100 Gewehren gesehen, der nichts als ein kleines Skalpmesser hatte und damit einen Weißen tötete, der oben auf dem Fort stand«, sagte Crake.
»Ja, aber was tat er denn damit?« fragte der andere.
»Er schleuderte es«, erwiderte Crake, »schleuderte es wie einen Blitz, bevor noch jemand schießen konnte. Ich weiß nicht, wo er den Trick gelernt hat.«
»Nun, ich hoffe, daß du ihn nicht gelernt hast«, sagte sein Neffe lachend.
»Mir scheint«, sagte Father Brown nachdenklich, »daß diese Geschichte eine Moral haben könnte.«
Während sie noch sprachen, war Mr. Wilton, der Sekretär, aus dem inneren Raum gekommen und stand wartend da; ein blasser blonder Mann mit eckigem Kinn und steten Augen mit einem Blick wie der eines Hundes; es war nicht schwer zu glauben, daß er den Blick eines Wachhundes besaß.
Er sagte nur: »Mr. Merton kann Sie in ungefähr 10 Minuten empfangen«, aber das diente als Signal, um die schwatzende Gruppe aufzulösen. Der alte Crake sagte, er müsse sich auf den Weg machen, und sein Neffe begleitete ihn und seinen legalen Gefährten hinaus, so daß Father Brown einen Augenblick mit dem Sekretär allein blieb; denn der riesige Neger am anderen Ende des Raumes konnte kaum als menschlich oder lebendig empfunden werden; so bewegungslos saß er da, seinen breiten Rücken ihnen zugekehrt und auf den inneren Raum starrend.
»Ziemlich ausgeklügelte Vorkehrungen hier, fürchte ich«, sagte der Sekretär. »Sie haben sicherlich alles über diesen Daniel Doom gehört, und warum es nicht gut ist, den Boss zu sehr allein zu lassen.«
»Aber jetzt ist er allein, oder?« sagte Father Brown.
Der Sekretär sah ihn mit ernsten grauen Augen an.
»Für 15 Minuten«, sagte er. »Für 15 Minuten von 24 Stunden. Das ist die einzige Zeit, die er wirklich allein sein kann; und auf der er aus einem sehr bemerkenswerten Grund besteht.«
»Und was für ein Grund ist das?« fragte der Besucher.
Wilton, der Sekretär, behielt seinen stetigen Blick bei, aber sein Mund, der bisher lediglich ernst war, wurde grimmig.
»Der Koptenkelch«, sagte er. »Vielleicht haben Sie den Koptenkelch vergessen; aber er hat weder den noch sonst etwas vergessen. Mit dem Koptenkelch traut er keinem von uns. Der ist irgendwo und irgendwie in jenem Raum verschlossen, so daß nur er allein ihn finden kann; und er nimmt ihn nicht heraus, ehe wir nicht alle draußen sind. Also müssen wir diese Viertelstunde riskieren, während der er dasitzt und ihn anbetet; ich schätze, das ist seine einzige Anbetung. Und dann gibt es ja auch kein wirkliches Risiko; denn ich habe dieses ganze Haus in eine einzige Falle verwandelt, in die wohl nicht einmal der Teufel herein könnte – oder aus der er wenigstens nicht mehr hinauskäme. Wenn dieser höllische Daniel Doom uns einen Besuch abstattete, müßte er zum Abendessen bleiben und, bei Gott, eine ganze Weile länger! Ich sitze hier während der 15 Minuten auf glühenden Steinen, und im gleichen Augenblick, in dem ich einen Schuß hörte oder Geräusche eines Kampfes, würde ich diesen Knopf drücken, und elektrischer Strom würde ringsum die Gartenmauern aufladen, so daß es tödlich wäre, sie zu überklettern. Natürlich kann es gar keinen Schuß geben, denn das hier ist der einzige Eingang; und das einzige Fenster, an dem er sitzt, ist hoch oben an einem Turm, der so glatt wie ein geölter Pfahl ist. Und außerdem sind wir hier natürlich alle bewaffnet; und wenn Doom in jenen Raum käme, wäre er tot, ehe er hinaus könnte.«
Father Brown blinzelte den Teppich in träumerisches Nachdenken versunken an. Dann sagte er plötzlich und zuckte dabei fast zusammen:
»Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel, aber mir schoß gerade ein Gedanke durch den Kopf. Und der betrifft Sie.«
»Soso«, sagte Wilton, »und was ist mit mir?«
»Ich glaube, daß Sie von einer einzigen Idee besessen sind«, sagte Father Brown, »und Sie werden mir vergeben, wenn ich sage, daß das mehr noch die Idee zu sein scheint, Daniel Doom zu erwischen, als Brander Merton zu schützen.«
Wilton fuhr leicht zusammen und starrte seinen Gefährten weiter an; dann begann sein grimmer Mund sehr langsam auf eine sonderbare Weise zu lächeln.
»Wie sind Sie – was bringt Sie auf diesen Gedanken?« fragte er.
»Sie sagten, wenn Sie einen Schuß hörten, könnten Sie den fliehenden Feind sofort durch elektrischen Strom töten«, bemerkte der Priester. »Ich nehme an, Ihnen wird klar sein, daß der Schuß für Ihren Arbeitgeber tödlich sein könnte, ehe der Schock für seinen Feind tödlich würde. Ich meine nicht, daß Sie Mr. Merton nicht beschützen würden, wenn Sie können, daß das aber in Ihren Überlegungen erst an zweiter Stelle steht. Die Vorkehrungen sind ziemlich ausgeklügelt, wie Sie sagten, und Sie scheinen sie ausgeklügelt zu haben. Aber sie scheinen sehr viel mehr darauf angelegt, einen Mörder zu fassen, als einen Mann zu schützen.«
»Father Brown«, sagte der Sekretär, der seine ruhige Stimme wiedergefunden hatte, »Sie sind sehr klug, aber in Ihnen ist noch mehr als nur Klugheit. Irgendwie sind Sie die Art Mann, der man die Wahrheit erzählen möchte; und außerdem werden Sie sie sowieso erfahren, denn auf gewisse Weise ist sie bereits ein Witz, der gegen mich erzählt wird. Alle sagen, daß ich von der Idee, diesen Verbrecher zu fassen, besessen sei, und vielleicht bin ich das. Aber ich werde Ihnen etwas sagen, das die anderen alle nicht wissen. Mein voller Name lautet John Wilton Horder.« Father Brown nickte, als ob er vollständig auf dem laufenden sei, aber der andere fuhr fort:
»Dieser Kerl, der sich Daniel Doom nennt, ermordete meinen Vater und meinen Onkel und ruinierte meine Mutter. Als Merton sich nach einem Sekretär umsah, habe ich die Stellung angenommen, weil ich dachte, daß da, wo sich der Kelch befinde, der Verbrecher früher oder später auftauchen würde. Aber ich weiß nicht, wer der Verbrecher ist, und kann deshalb nur auf ihn warten; und ich habe die Absicht, Merton treu zu dienen.«
»Ich verstehe«, sagte Father Brown sanft; »und übrigens, ist es nicht an der Zeit, daß wir zu ihm hineingehen?«
»Wieso, ja«, antwortete Wilton, der wiederum aus seinem Brüten auffuhr, so daß der Priester schloß, es habe ihn sein Rachedurst wiederum für einen Augenblick verschlungen. »Natürlich, treten Sie ein.«
Father Brown ging geradewegs in den inneren Raum. Kein Geräusch von Begrüßungen folgte, nur ein tödliches Schweigen; und einen Augenblick später erschien der Priester wieder in der Tür.
Im gleichen Augenblick bewegte sich der schweigende Leibwächter, der nahe der Tür saß, plötzlich; es war, als werde ein riesiges Möbelstück lebendig. Es schien, als ob etwas in der Haltung des Priesters wie ein Signal gewirkt habe; denn sein Kopf stand vor dem Licht des inneren Fensters, und sein Gesicht war im Schatten.
»Ich glaube, daß Sie den Knopf jetzt drücken wollen«, sagte er mit einer Art Seufzer.
Wilton schien mit einem Ruck aus seinen wilden Brütereien aufzuwachen, und er sprang auf und rief mit gebrochener Stimme: »Es hat keinen Schuß gegeben!«
»Nun ja«, sagte Father Brown, »das hängt davon ab, was Sie unter einem Schuß verstehen.«
Wilton sprang vor, und gemeinsam stürzten sie in den inneren Raum. Es war ein verhältnismäßig kleiner und einfacher, aber elegant möblierter Raum. Ihnen gegenüber stand ein weites Fenster auf, das den Garten und die bewaldete Ebene überblickte. Nahe beim Fenster standen ein Sessel und ein kleiner Tisch, als hätte der Gefangene während des kurzen Glücks des Alleinseins gar nicht genug Luft und Licht bekommen können.
Auf dem kleinen Tisch unter dem Fenster stand der Koptenkelch; sein Besitzer hatte ihn sich offenbar bei bester Beleuchtung angesehen. Er war es wohl wert, angesehen zu werden, denn das blendendweiße Tageslicht verwandelte seine kostbaren Steine in vielfarbene Flammen, so daß er aussah wie das Urbild des Heiligen Grals. Er war es wohl wert, angesehen zu werden; aber Brander Merton sah ihn nicht an. Denn sein Kopf war ihm rückwärts über die Lehne gesunken, seine Mähne weißen Haares hing ihm nach unten, sein grauer Spitzbart wies zur Decke, und aus seiner Kehle ragte ein langer, braungestrichener Pfeil mit roten Federn am anderen Ende hervor.
»Ein lautloser Schuß«, sagte Father Brown mit leiser Stimme, »ich dachte gerade über diese neue Erfindung lautloser Feuerwaffen nach. Aber das hier ist eine sehr alte Erfindung, und ebenso lautlos.«
Dann fügte er nach einem Augenblick hinzu: »Ich fürchte, er ist tot. Was werden Sie jetzt tun?«
Der bleiche Sekretär erhob sich in jäher Entschlossenheit. »Ich werde natürlich zunächst auf den Knopf drücken«, sagte er, »und wenn das Daniel Doom nicht erledigt, werde ich ihn um die ganze Welt jagen, bis ich ihn finde.«
»Passen Sie auf, daß Sie unsere Freunde nicht erledigen«, bemerkte Father Brown; »sie können noch nicht weit sein; wir rufen sie besser zurück.«
»Die wissen alles über die Mauern«, antwortete Wilton. »Niemand von ihnen wird versuchen, sie zu überklettern, es sei denn, einer von ihnen… wäre in großer Eile.«
Father Brown ging zum Fenster, durch den der Pfeil offenbar hereingekommen war, und blickte hinaus. Der Garten mit seinen flachen Blumenbeeten lag tief drunten wie eine zart getönte Karte der Erde. Der ganze Ausblick erschien so weit und leer, der Turm so hoch in den Himmel gebaut, daß ihm, als er hinausstarrte, ein eigenartiger Satz wieder einfiel.
»Ein Blitz aus heiterem Himmel«, sagte er. »Wer hat doch was von einem Blitz aus heiterem Himmel gesagt und daß der Tod aus dem Himmel komme? Sehen Sie nur, wie weit entfernt alles aussieht; es erscheint außerordentlich, daß ein Pfeil von so weit her hätte kommen können, es sei denn, es wäre ein Pfeil aus dem Himmel.«
Wilton hatte sich umgedreht, aber er antwortete nicht, und der Priester fuhr wie im Selbstgespräch fort.
»Man denkt an die Fliegerei. Wir müssen den jungen Wain fragen… nach der Fliegerei.«
»Davon gibt es hierherum eine ganze Menge«, sagte der Sekretär.
»Der Fall sehr alter oder sehr neuer Waffen«, bemerkte Father Brown. »Einige davon dürften seinem alten Onkel wohl bekannt sein, nehme ich an; wir müssen ihn nach Pfeilen fragen. Der hier sieht eher nach einem Indianerpfeil aus. Ich weiß nicht, womit der Indianer ihn abgeschossen hat; aber erinnern Sie sich der Geschichte, die der alte Mann erzählte. Ich habe da gesagt, sie habe eine Moral.«
»Wenn sie eine Moral hatte«, sagte Wilton mit Wärme, »war es nur die, daß ein echter Indianer Dinge weiter schießen kann, als man sich vorstellt. Es ist Unfug, da Parallelen sehen zu wollen.«
»Ich glaube nicht, daß Sie die Moral richtig verstanden haben«, sagte Father Brown.
Obwohl der kleine Priester am nächsten Tag mit den Millionen in New York zu verschmelzen schien, ohne jeden erkennbaren Versuch, etwas anderes als eine Nummer in einer benummerten Straße zu sein, war er in Wirklichkeit während der nächsten vierzehn Tage doch unauffällig mit dem ihm anvertrauten Auftrag beschäftigt, denn ihn erfüllte eine tiefe Furcht vor einem möglichen Justizirrtum. Ohne daß er den Anschein erweckte, er bevorzuge sie vor seinen anderen neuen Bekannten, gelang es ihm doch leicht, mit den zwei oder drei Männern zu plaudern, die jüngst in den Fall verwickelt waren; und mit dem alten Hickory Crake insbesondere führte er ein eigenartiges und interessantes Gespräch. Das fand auf einer Bank im Central Park statt, wo der alte Kämpe saß und seine knochigen Hände und sein scharfgeschnittenes Gesicht auf den eigentümlich geformten Griff seines Spazierstocks stützte, der aus dunkelrotem Holz und vielleicht einem Tomahawk nachgebildet war.
»Nun, vielleicht war das ein weiter Schuß«, sagte er und schüttelte den Kopf, »aber ich warne Sie davor, sich zu genaue Vorstellungen davon zu machen, wie weit ein Indianerpfeil fliegen könnte. Ich habe einige Pfeilschüsse gesehen, die gerader flogen als irgendeine Kugel und ihr Ziel angesichts ihrer weiten Flugbahn mit erstaunlicher Sicherheit trafen. Natürlich hört man heute praktisch nie mehr von einem Indianer mit Pfeil und Bogen, noch weniger von einem Indianer, der hier in der Gegend wäre. Aber wenn sich zufälligerweise einer der alten indianischen Scharfschützen mit einem der alten indianischen Bögen da hinten in den Bäumen Hunderte Meter jenseits von Mertons Außenmauer versteckt halten sollte – nun, dann würde ich es einem edlen Wilden durchaus zutrauen, daß er einen Pfeil über die Mauer in das oberste Fenster von Mertons Haus schicken könnte; und auch in Merton selbst. Ich habe genauso wunderbare Taten in den alten Tagen geschehen sehen.«
»Zweifellos«, sagte der Priester, »haben Sie so wunderbare Taten nicht nur gesehen, sondern auch selbst getan.«
Der alte Crake kicherte und sagte dann schroff: »Ach, das ist alles längst vergangene Geschichte.«
»Manche Menschen neigen dazu, die vergangene Geschichte zu studieren«, sagte der Priester. »Ich nehme an, daß es in Ihrer Vergangenheit nichts gibt, was die Leute dazu bringen könnte, unfreundlich über diese Geschichte zu sprechen.«
»Was meinen Sie damit?« fragte der alte Crake, wobei sich seine Augen zum ersten Mal schnell hin und her bewegten in seinem roten hölzernen Gesicht, das eher dem Kopf eines Tomahawks ähnelte.
»Nun ja, da Sie mit allen Künsten und Schlichen der Rothäute so wohl vertraut waren – «, begann Father Brown langsam.
Crake hatte zusammengesunken und fast zusammengeschrumpft gewirkt, wie er so dasaß mit dem Kinn auf der sonderbar geformten Krücke. Aber im nächsten Augenblick stand er aufrecht auf dem Weg wie ein kampfbereiter wilder Indianer und umkrampfte die Krücke wie eine Keule.
»Was?« schrie er – in einer Art heiseren Kreischens. »Was zum Teufel! Wollen Sie mir etwa ins Gesicht sagen, daß ich meinen eigenen Schwager ermordet hätte?«
Von einem Dutzend Bänke, die entlang des Weges verstreut standen, blickten Menschen auf die Streitenden, die da auf dem Wege einander gegenüberstanden, der kahlköpfige energische kleine Mann, der seinen fremdartigen Stock wie eine Keule schwang, und die schwarze dickliche Gestalt des kleinen Klerikers, der ihn ansah, ohne mit einem Muskel zu zucken, abgesehen von den blinzelnden Augenlidern. Für einen Augenblick sah es so aus, als werde der schwarzen dicklichen Gestalt auf den Kopf geschlagen und als werde sie mit wahrhaft indianischer Raschheit und Gründlichkeit niedergestreckt; und in der Entfernung konnte man bereits die mächtigen Formen eines irischen Polizisten sich auftürmen und auf die Gruppe zustürmen sehen. Aber der Priester sagte nur ganz gelassen wie einer, der eine gewöhnliche Frage beantwortet:
»Ich bin darüber zu bestimmten Schlußfolgerungen gekommen, aber ich glaube nicht, daß ich sie erwähnen werde, ehe ich meinen Bericht vorlege.«
Ob nun unter dem Einfluß der Fußschritte des Polizisten oder der Augen des Priesters, der alte Hickory jedenfalls stopfte sich seinen Stock wieder unter den Arm und stülpte sich seinen Hut grummelnd wieder über. Der Priester entbot ihm gelassen einen guten Morgen, verließ ohne Eile den Park und machte sich auf den Weg zum Salon des Hotels, wo, wie er wußte, der junge Wain zu finden war. Der junge Mann sprang grüßend auf; er sah noch beunruhigter und abgemagerter aus als zuvor, so als ob irgendein Kummer an ihm zehre; und der Priester hegte den Verdacht, daß sich sein junger Freund in der jüngsten Zeit mit nur zu sichtbarem Erfolg bemüht hatte, dem letzten Zusatz zur amerikanischen Verfassung zu entkommen. Doch beim ersten Wort über seinen Lieblingssport beziehungsweise seine Lieblingswissenschaft war er wieder vollkommen wach und konzentriert. Denn Father Brown hatte auf eine müßige und gesprächige Art gefragt, ob man denn viel in jenem Distrikt flöge, und hatte erzählt, wie er zuerst Mr. Mertons kreisrunde Wallmauer für eine Flughalle gehalten habe.
»Wundert mich, daß Sie davon nichts gesehen haben, als wir da waren«, antwortete Hauptmann Wain. »Manchmal treiben sie sich da rum wie Fliegenschwärme; diese offene Ebene ist für sie ideales Gelände, und ich würde mich nicht wundern, wenn das in Zukunft sozusagen der Hauptbrutplatz für Vögel in meinem Sinn wäre. Ich habe da selbst natürlich schon viel geflogen, und ich kenne die meisten Burschen hier, die im Krieg geflogen sind; aber es gibt inzwischen ‘ne ganze Menge Leute, die sich jetzt da draußen herumtreiben und von denen ich noch nie in meinem Leben gehört habe. Ich nehme an, das wird bald wie Autofahren sein, und jeder in den Staaten wird im Besitze von einem Flugzeug sein.«
»Von seinem Schöpfer begabt«, sagte Father Brown mit einem Lächeln, »mit dem Recht auf Leben, Freiheit und Autofahren – vom Fliegen ganz zu schweigen. Also dürfen wir wohl annehmen, daß ein fremdes Flugzeug, das zu bestimmten Zeiten über das Haus fliegt, nicht besonders zur Kenntnis genommen würde.«
»Nein«, sagte der junge Mann; »ich glaube kaum, daß es würde.«
»Oder selbst wenn der Mann bekannt wäre«, fuhr der andere fort, »nehme ich an, könnte er sich eine Maschine beschaffen, die man nicht als seine erkennen würde. Wenn Sie zum Beispiel auf die übliche Weise vorbeiflögen, könnten Mr. Merton und seine Freunde Sie vielleicht an der Ausstattung erkennen; aber in einem anderen Flugzeugtyp, oder wie immer Sie das nennen, könnten Sie reichlich nahe an dem Fenster vorbeifliegen; nahe genug für praktische Zwecke.«
»Sicher, ja«, begann der junge Mann fast automatisch und brach dann ab und starrte den Kleriker mit offenem Munde und herausquellenden Augen an.
»Mein Gott!« sagte er leise. »Mein Gott!«
Dann erhob er sich bleich und von Kopf bis Fuß zitternd aus seinem Sessel und starrte weiter den Priester an.
»Sind Sie verrückt?« sagte er. »Sind Sie vollkommen verrückt?«
Nach einem Schweigen sprach er schnell und zischend weiter. »Sind Sie wirklich hergekommen, um anzudeuten – «
»Nein; nur um Anregungen zu sammeln«, sagte Father Brown und erhob sich. »Ich bin zu einigen vorläufigen Schlußfolgerungen gelangt, aber die werde ich für den Augenblick besser für mich behalten.«
Und indem er den anderen mit der gleichen steifen Höflichkeit grüßte, verließ er das Hotel, um seine eigenartigen Wanderungen wieder aufzunehmen.
Bei Anbruch des Abends an jenem Tage hatten sie ihn die schmutzigen Sträßchen und Treppen hinabgeführt, die im ältesten und unregelmäßigsten Teil der Stadt hinunter zum Flusse stolpern und taumeln. Unmittelbar unter den farbigen Laternen, die den Eingang zu einem reichlich verkommenen chinesischen Restaurant kennzeichneten, begegnete er einer Gestalt, die er bereits einmal gesehen hatte, die sich aber jetzt keineswegs so dem Blicke bot, wie er sie gesehen hatte.
Mr. Norman Drage trat der Welt immer noch grimmig hinter seiner großen Brille entgegen, die sein Gesicht irgendwie wie eine dunkle Glasmaske zu bedecken schien. Abgesehen von der Brille aber war seine Erscheinung in dem Monat seit dem Mord auf sonderbare Weise verwandelt worden. Damals war er, wie Father Brown bemerkt hatte, auf das Ausgesuchteste gekleidet gewesen – dermaßen, daß es schon fast unmöglich wurde, noch jene feinste Grenzlinie zwischen einem Dandy und einer Modepuppe vor einem Schneideratelier zu ziehen. Nun aber hatten sich all jene Äußerlichkeiten auf geheimnisvolle Weise zum Übelsten verkehrt; als ob die Schneiderpuppe zur Vogelscheuche geworden wäre. Sein Zylinder war noch da, aber zerbeult und schäbig; seine Kleidung war zerlumpt; seine Uhrkette und die kleineren Schmuckstücke waren verschwunden. Aber Father Brown begrüßte ihn, als ob sie sich erst gestern gesehen hätten und nahm keinerlei Anstand, sich neben ihm auf der Bank in dem billigen Eßlokal niederzulassen, wohin der andere seine Schritte gelenkt hatte. Doch war nicht er es, der dann die Unterhaltung begann.
»Nun?« knurrte Drage. »Ist es Ihnen gelungen, Ihren heiligen und heiliggesprochenen Millionär zu rächen? Wir wissen, daß alle Millionäre heilig und heiliggesprochen sind; man findet in der Zeitung am nächsten Tag alles darüber, wie sie vom Lichte der Familienbibel lebten, die sie auf Mutters Knien lasen. Teufel! Wenn sie doch nur die eine oder andere Geschichte aus der Familienbibel laut gelesen hätten, dann wäre wenigstens die Mutter ein bißchen erschrocken gewesen. Und der Millionär vielleicht auch, schätze ich. Das alte Buch ist voller großartiger grimmiger alter Vorstellungen, die heute nicht mehr wachsen; Sorte Weisheit aus der Steinzeit, unter Pyramiden begraben. Stellen Sie sich vor, jemand hätte den alten Mann Merton von der Spitze seines Turmes hinabgeschleudert und ihn unten von den Hunden fressen lassen, das wäre auch nicht schlimmer gewesen, als was Jesabel widerfuhr. Hat man nicht Agag in Stückchen gehackt, nur weil er empfindsam wandelte? Merton wandelte empfindsam all seine Tage, hol ihn der Teufel – bis er zum Schluß zu empfindsam zum Wandeln wurde. Aber der Wurfspieß des Herrn traf ihn, wie das in dem alten Buch hätte geschehen können, und streckte ihn tot nieder, oben auf seinem Turm, auf daß er ein Schauspiel gebe vor allem Volke.«
»Dieser Wurfspieß war aber schließlich materiell«, sagte sein Gefährte.
»Die Pyramiden sind mächtig materiell und halten doch die toten Könige drinnen ganz schön nieder«, grinste der Mann mit der Brille. »Ich glaube, man kann allerhand für diese alten materiellen Religionen sagen. Es gibt alte Skulpturen, die Jahrtausende überdauert haben und ihre Götter und Kaiser mit gespanntem Bogen zeigen; mit Händen, die aussehen, als könnten sie wirklich Bögen aus Stein biegen. Materiell vielleicht – aber aus was für Material. Stehen Sie nicht manchmal auch vor den alten orientalischen Formen und Dingen und betrachten sie, bis Sie das Gefühl haben, der alte Herr Gott führe noch immer daher wie ein dunkler Apoll und verschieße schwarze Todesstrahlen?«
»Wenn er das tut«, erwiderte Father Brown, »würde ich ihn mit einem anderen Namen nennen. Aber ich bezweifle, daß Merton durch einen schwarzen Strahl oder auch nur einen Steinpfeil starb.«
»Ich wette, Sie glauben, er ist der heilige Sebastian«, spottete Drage, »den ein Pfeil tötete. Ein Millionär muß auch ein Märtyrer sein. Woher wollen Sie wissen, daß er das nicht verdient hat? Sie wissen nicht viel über Ihren Millionär, nehme ich an. Na schön, dann lassen Sie mich Ihnen sagen, daß er das hundertmal verdient hat.«
»Und«, fragte Father Brown sanft, »warum haben Sie ihn nicht ermordet?«
»Sie wollen wissen, warum ich das nicht getan hab?« fragte der andere starrend. »Na also, Sie sind mir ‘ne schöne Art Kirchenmann.«
»Keineswegs«, sagte der andere, als ob er ein Kompliment beiseite wedeln wolle.
»Ich nehme an, das ist Ihre Art zu behaupten, daß ich es getan hab«, knurrte Drage. »Na schön, beweisen Sie’s, das ist alles. Aber was ihn angeht, schätze, der war kein Verlust.«
»Doch, war er«, sagte Father Brown scharf. »Er war ein Verlust für Sie. Deshalb haben nicht Sie ihn getötet.«
Und er schritt aus dem Raum und ließ den Mann mit der Brille offenen Mundes zurück.
Fast einen Monat später besuchte Father Brown erneut das Haus, in dem der dritte Millionär der Fehde des Daniel Doom erlegen war. Die besonders interessierten Personen hielten eine Art Rat ab. Der alte Crake saß am Kopf des Tisches, den Neffen zur Rechten, den Anwalt zur Linken; der riesige Mann mit den afrikanischen Zügen, dessen Name sich als Harris herausstellte, war wuchtig anwesend, wenn auch nur als materieller Zeuge; ein rothaariges spitznasiges Individuum, das als Dixon angesprochen wurde, war offenbar als Vertreter von Pinkerton oder irgend so einer Privatdetektei anwesend; und Father Brown glitt unauffällig auf den leeren Stuhl neben ihm.
Alle Zeitungen auf Erden waren voll von der Katastrophe des Finanzkolosses, des großen Organisators des Big Business, das die moderne Welt reitet; aber von der kleinen Gruppe, die ihm im Augenblick seines Todes am nächsten war, konnte man nur wenig erfahren. Onkel, Neffe und Rechtsbeistand erklärten, daß sie sich bereits außerhalb der Außenmauer befunden hätten, als der Alarm losging; und Erkundungen, die man bei den offiziellen Wachen an beiden Sperren einholte, ergaben zwar reichlich verwirrte Antworten, aber im Ganzen doch bestätigende. Nur eine einzige andere Schwierigkeit schien nach Erwägung zu schreien. Es schien, daß ungefähr zur Todeszeit, etwas zuvor oder danach, ein Fremder entdeckt worden war, der rätselhaft am Eingang herumlungerte und forderte, Mr. Merton zu sprechen. Die Bediensteten hatten einige Schwierigkeiten zu verstehen, was er wollte, denn seine Sprache war sehr dunkel; später aber wurde sie als ebenso verdächtig betrachtet, denn er hatte irgendetwas darüber gesagt, daß ein Bösewicht durch ein Wort aus dem Himmel vernichtet werde.
Peter Wain lehnte sich vorwärts, die Augen blitzten in seinem hageren Gesicht, und er sagte: »Darauf würde ich sowieso wetten. Norman Drage.«
»Und wer in aller Welt ist Norman Drage?« fragte sein Onkel.
»Das möchte ich auch wissen«, erwiderte der junge Mann. »Ich hab ihn so gut wie gefragt, aber er hat eine wunderbare Technik, jede gerade Frage krumm zu drehen; das ist, wie nach einem Fechter stechen. Er hat sich mit Hinweisen auf ein Flugschiff der Zukunft an mich gehängt; aber ich hab ihm nie richtig getraut.«
»Was für eine Art Mann ist er denn?« fragte Crake.
»Er ist ein Mystagoge«, sagte Father Brown mit unschuldiger Direktheit. »Von denen schwirrt eine ganze Menge herum; die Art von Männern, die sich in den Städten herumtreiben und einem in Pariser Cafés und Cabarets andeuten, sie hätten den Schleier der Isis gehoben oder kennten das Geheimnis von Stonehenge. In einem Fall wie diesem haben sie mit Sicherheit irgendeine mystische Erklärung.«
Der glatte dunkle Kopf von Barnard Blake, dem Anwalt, neigte sich höflich dem Sprecher zu, aber sein Lächeln war leicht feindselig.
»Ich hätte nicht gedacht, Sir«, sagte er, »daß Sie irgendwelche Vorurteile gegen mystische Erklärungen haben.«
»Im Gegenteil«, erwiderte Father Brown und blinzelte ihn freundlich an. »Aber gerade deshalb kann ich sie beurteilen. Jeder vorgetäuschte Rechtsanwalt könnte mich prellen, aber er könnte Sie nicht prellen, der Sie selber Anwalt sind. Jeder Narr könnte sich als Indianer verkleiden, und ich würde ihn für den originalen Hiawatha halten, aber Mr. Crake würde ihn sofort durchschauen. Jeder Schwindler könnte mir vormachen, daß er alles über Flugzeuge weiß, aber niemals Hauptmann Wain. Und so ist es mit dem anderen auch, wissen Sie? Gerade weil ich ein bißchen von Mystik verstehe, habe ich mit Mystagogen nichts im Sinn. Wirkliche Mystiker verbergen die Mysterien nicht, sie enthüllen sie. Sie stellen das Ding ins hellste Tageslicht, und wenn Sie es sich angesehen haben, ist es immer noch ein Mysterium. Aber der Mystagoge verbirgt die Dinge in Dunkelheit und Geheimnistuerei, und wenn man sie findet, sind es Platitüden. Im Falle von Drage allerdings gebe ich zu, daß er auch einen anderen und praktischeren Grund hatte, als er von Feuer aus dem Himmel oder Blitzen aus dem Blauen sprach.«
»Und welchen Grund hatte er?« fragte Wain. »Ich glaube, was immer der ist, man muß auf ihn eingehen.«
»Nun«, erwiderte der Priester langsam, »er wollte uns glauben machen, daß die Morde Wunder seien, weil… na ja, weil er weiß, daß sie keine waren.«
»Aha«, sagte Wain zischend, »darauf hab ich gewartet. In einfachen Worten, er ist der Verbrecher.«
»In einfachen Worten, er ist der Verbrecher, der das Verbrechen nicht beging«, sagte Father Brown gelassen.
»Entspricht das Ihrer Vorstellung von einfachen Worten?« erkundigte Blake sich höflich.
»Sie werden gleich behaupten, daß jetzt ich der Mystagoge bin«, sagte Father Brown beschämt, aber mit breitem Lächeln, »doch war es wirklich nur ein Zufall. Drage hat das Verbrechen nicht begangen – ich meine dieses Verbrechen. Sein einziges Verbrechen war, daß er jemanden erpreßte, und um das zu tun, trieb er sich hier herum; aber er wollte keineswegs, daß das Geheimnis öffentlich bekannt werde oder daß das ganze Geschäft durch den Tod beendet würde. Wir können uns später über ihn unterhalten. Im Augenblick möchte ich ihn nur aus dem Wege haben.«
»Aus welchem Wege?« fragte der andere.
»Aus dem Weg zur Wahrheit«, erwiderte der Priester und sah ihn mit ruhigen Augenlidern gelassen an.
»Sie meinen«, zögerte der andere, »daß Sie die Wahrheit kennen?«
»Ich glaube ja«, sagte Father Brown bescheiden.
Es gab ein jähes Schweigen, und dann rief Crake plötzlich und zusammenhanglos mit rauher Stimme:
»Und wo ist dieser Bursche, der Sekretär? Wilton! Er sollte jetzt hier sein.«
»Ich stehe in Verbindung mit Mr. Wilton«, sagte Father Brown feierlich; »tatsächlich habe ich ihn gebeten, mich hier in ein paar Minuten anzurufen. Ich darf sagen, daß wir die Sache gemeinsam aufgeklärt haben, gewissermaßen.«
»Wenn Sie zusammenarbeiten, dürfte das ja wohl in Ordnung sein«, brummte Crake. »Ich weiß, daß er andauernd wie ein Bluthund auf der Fährte dieses krummen Hundes war, und also war es vielleicht richtig, mit ihm gemeinsam zu jagen. Aber wenn Sie die Wahrheit darüber wissen, woher zum Teufel haben Sie sie erfahren?«
»Von Ihnen«, sagte der Priester ruhig und fuhr fort, den sprühenden Kämpen sanft anzublicken. »Ich will sagen, mich brachte ein Hinweis in einer Geschichte auf die Spur, die Sie von einem Indianer erzählten, der ein Messer warf und einen Mann oben auf einer Festung traf.«
»Sie haben das schon ein paarmal gesagt«, sagte Wain mit verwirrtem Gesichtsausdruck, »aber ich kann da keinerlei Zusammenhang erkennen, außer daß dieser Mörder einen Pfeil warf und einen Mann auf der Spitze eines Hauses traf, das einer Festung sehr ähnelt. Aber natürlich wurde der Pfeil nicht geworfen, sondern geschossen, und flog viel weiter. Gewiß flog er sogar ungewöhnlich weit; aber ich kann nicht sehen, wie das uns weiterbringen könnte.«
»Ich fürchte, daß Ihnen die Pointe der Geschichte entgangen ist«, sagte Father Brown. »Es handelt sich nicht darum, daß wenn ein Ding weit, ein anderes weiter fliegen kann. Es handelt sich hier darum, daß die falsche Verwendung eines Gerätes zur zweischneidigen Sache werden kann. Die Männer in Crakes Fort dachten an ein Messer als einen Gegenstand für den Nahkampf und vergaßen, daß es ein Geschoß wie ein Wurfspeer sein kann. Andere Männer, die ich kenne, denken an einen Gegenstand wie ein Geschoß ähnlich dem Wurfspeer und vergessen, daß es auch im Nahkampf wie ein Speer verwendet werden kann. Kurz und gut, die Moral von der Geschicht ist, daß wenn man einen Dolch in einen Pfeil verwandeln kann, man einen Pfeil auch in einen Dolch verwandeln kann.«
Jetzt sahen ihn alle an; er aber fuhr auf die gleiche beiläufige und unbewußte Weise fort:
»Natürlich haben wir uns alle gewundert und nach Kräften damit abgeplagt, wer den Pfeil durchs Fenster geschossen hat und ob er von fernher kam und so weiter. Die Wahrheit aber ist, daß niemand den Pfeil abgeschossen hat. Und er kam auch nie durchs Fenster.«
»Wie ist er denn dann gekommen?« fragte der dunkle Anwalt mit eher mürrischem Gesicht.
»Ich nehme an, daß ihn jemand mitgebracht hat«, sagte Father Brown; »es wäre nicht schwierig, ihn bei sich zu tragen oder ihn an sich zu verstecken. Jemand hatte ihn in der Hand, als er neben Merton in Mertons eigenem Zimmer stand. Jemand stach ihn wie einen Dolch in Mertons Kehle und hatte dann den höchst intelligenten Einfall, das Ganze so anzuordnen, daß wir alle sofort überzeugt waren, das Ding sei durchs Fenster hereingeflogen wie ein Vogel.«
»Jemand«, sagte der alte Crake mit einer Stimme so schwer wie Stein.
Das Telephon klingelte mit schneidendem und entsetzlich nachdrücklichem Ton. Es stand im Nebenzimmer, und Father Brown war bereits dorthin geschossen, ehe sich noch jemand anderer bewegen konnte.
»Was zum Teufel ist denn jetzt los?« schrie Peter Wain, der vollkommen zerrüttet und verwirrt schien.
»Er sagte, er erwarte von Wilton, dem Sekretär, angerufen zu werden«, erwiderte sein Onkel mit der gleichen toten Stimme.
»Ich nehme an, das ist Wilton«, bemerkte der Anwalt und sprach wie einer, der ein Schweigen ausfüllen will. Aber niemand antwortete darauf, bis Father Brown plötzlich und schweigend wieder im Raum erschien und die Antwort brachte.
»Meine Herren«, sagte er, als er sich wieder hingesetzt hatte, »Sie haben mich gebeten, die Wahrheit in diesem Rätsel zu suchen; und nachdem ich die Wahrheit gefunden habe, muß ich sie erzählen, ohne irgendwelche Versuche, den Schock zu mildern. Ich fürchte, jeder, der seine Nase in solche Dinge steckt, kann es sich nicht leisten, Rücksicht auf Menschen zu nehmen.«
»Ich nehme an«, sagte Crake und brach das folgende Schweigen, »das bedeutet, daß einige von uns angeklagt oder verdächtigt sind.«
»Wir alle sind verdächtig«, antwortete Father Brown. »Ich selbst könnte verdächtigt werden, denn ich habe die Leiche gefunden.«
»Natürlich sind wir alle verdächtig«, schnappte Wain. »Father Brown hat mir freundlicherweise erklärt, wie ich den Turm mit einem Flugapparat hätte belagern können.«
»Nein«, erwiderte der Priester mit einem Lächeln; »Sie haben mir beschrieben, wie Sie es hätten tun können. Und das war gerade das Interessante daran.«
»Ihm erschien es wahrscheinlich«, grollte Crake, »daß ich ihn selbst mit einem Indianerpfeil umgebracht hätte.«
»Mir erschien das höchst unwahrscheinlich«, sagte Father Brown und zog ein schiefes Gesicht. »Tut mir leid, wenn ich falsch handelte, aber ich konnte mir keine andere Möglichkeit ausdenken, die Fragen zu prüfen. Ich kann mir kaum etwas Unwahrscheinlicheres vorstellen als die Idee, wie Hauptmann Wain in einer großen Maschine am Fenster im Augenblick des Mordes vorbeisaust, und niemand bemerkt ihn; außer vielleicht der Idee, daß ein ehrenwerter alter Herr mit Pfeil und Bogen hinter den Büschen Indianer spielt, um jemanden zu töten, den er auf zwanzig einfachere Weisen hätte töten können. Aber ich mußte herausfinden, ob sie irgend etwas damit zu tun hatten; und so mußte ich sie anklagen, um ihre Unschuld zu beweisen.«
»Und wie haben Sie ihre Unschuld bewiesen?« fragte Blake, der Anwalt, und lehnte sich eifrig vor.
»Durch die Erregung, die sie zeigten, als sie angeklagt wurden«, antwortete der andere.
»Und was meinen Sie damit genau?«
»Wenn Sie mir erlauben, das zu sagen«, bemerkte Father Brown gelassen genug, »so hielt ich es für meine unbezweifelbare Pflicht, Sie und alle anderen zu verdächtigen. Ich verdächtigte Mr. Crake und ich verdächtigte Hauptmann Wain, in dem Sinne, daß ich die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit ihrer Schuld erwog. Ich erzählte ihnen, daß ich zu Schlußfolgerungen gekommen sei; und ich will Ihnen nun erzählen, was diese Schlußfolgerungen waren. Ich überzeugte mich von ihrer Unschuld durch die Art und den Zeitpunkt, in dem sie von Unwissenheit zu Empörung wechselten. So lange sie nicht daran dachten, daß sie angeklagt seien, gaben sie mir unbefangen Material, das die Anklage stützte. Sie haben mir praktisch erklärt, wie sie das Verbrechen hätten begehen können. Dann wurde ihnen plötzlich mit einem Schock und einem Schrei des Zornes klar, daß sie angeklagt waren; das wurde ihnen viel später klar, als sie eigentlich hätten erwarten sollen, angeklagt zu werden, und viel früher, als ich sie anklagte. Nun hätte keine schuldige Person sich so benehmen können. Sie hätte entweder von Anfang an kurz angebunden und mißtrauisch sein können; oder sie hätte Unwissenheit und Unschuld bis zum Ende vortäuschen können. Aber sie würde niemals damit anfangen, die Dinge für sich selbst noch schlimmer zu machen und dann einen großen Schreck bekommen und wütend eben jene Idee zu leugnen beginnen, die zu formen sie selbst beigetragen hatte. Das konnte nur jemand tun, der wirklich nicht begriffen hatte, was er da anregte. Das Selbstbewußtsein eines Mörders würde immer zumindest auf morbide Weise lebendig genug sein, um zu verhindern, daß er zuerst seine Beziehung zu der Tat vergißt und sich danach daran erinnert, sie zu leugnen. Also habe ich Sie beide und andere aus anderen Gründen, die ich jetzt nicht zu besprechen brauche, ausgeschlossen. Da war zum Beispiel der Sekretär – aber darüber werde ich nicht gerade jetzt sprechen. Hören Sie zu, ich habe gerade mit Wilton am Telephon gesprochen, und er hat mir die Erlaubnis erteilt, Ihnen einige sehr ernste Neuigkeiten mitzuteilen. Nun nehme ich an, daß Sie inzwischen alle wissen, wer Wilton war und wohinter er her war.«
»Ich weiß, er ist hinter Daniel Doom her und wird nie mehr glücklich sein, ehe er ihn nicht hat«, antwortete Peter Wain; »und ich habe gehört, daß er der Sohn vom alten Horder und deshalb der Bluträcher ist. Auf jeden Fall sucht er den Mann namens Doom.«
»Ja«, sagte Father Brown, »und er hat ihn gefunden.«
Peter Wain sprang aufgeregt auf.
»Den Mörder!« schrie er. »Sitzt der Mörder schon hinter Gittern?«
»Nein«, sagte Father Brown feierlich; »ich sagte, die Neuigkeiten seien ernst, und sie sind noch ernster als das. Ich fürchte, der arme Wilton hat eine furchtbare Verantwortung auf sich geladen. Ich fürchte, er wird eine furchtbare Verantwortung auf uns laden. Er hat den Verbrecher gestellt, und als er ihn endlich in die Ecke gedrängt hatte – nun ja, da hat er das Gesetz in die eigene Hand genommen.«
»Sie meinen, daß Daniel Doom – «, begann der Anwalt.
»Ich meine, daß Daniel Doom tot ist«, sagte der Priester. »Es gab eine Art wilden Kampfes, und Wilton tötete ihn.«
»Geschah ihm recht«, grollte Mr. Hickory Crake.
»Ich kann Wilton keinen Vorwurf machen, daß er einen solchen Verbrecher umgebracht hat, vor allem, wenn man an die Fehde denkt«, stimmte Wain bei; »das war wie eine Schlange zertreten.«
»Ich bin da anderer Ansicht«, sagte Father Brown. »Ich nehme an, daß wir alle ins Blaue hinein romantischen Unsinn schwatzen, um Lynchjustiz und gesetzlose Willkür zu verteidigen; aber ich habe den Verdacht, daß wir es bedauern werden, wenn wir unsere Rechte und Freiheiten verlieren. Außerdem erscheint es mir unlogisch zu sagen, man könne etwas für Wiltons Mord sagen, ohne auch nur zu fragen, ob man nicht auch etwas für Dooms Morde sagen könnte. Ich bezweifle, daß Doom nur ein einfacher Meuchelmörder war; er könnte ein Gesetzloser gewesen sein mit einer Wahnidee wegen des Kelches, der ihn mit Drohungen gefordert hat, und der erst nach einem Kampf tötete; beide Opfer wurden ganz in der Nähe ihrer Häuser umgebracht. Mein Widerspruch gegen Wiltons Art, die Sache zu regeln, ist, daß wir jetzt niemals Dooms Seite des Falles erfahren werden.«
»Oh, ich kann all dieses sentimentale Weißwaschen von wertlosen mörderischen Erpressern nicht mehr ertragen«, rief Wain hitzig. »Wenn Wilton den Verbrecher um die Ecke gebracht hat, hat er eine gute Tagesarbeit getan, und damit Schluß.«
»Genau das, genau das«, sagte sein Onkel und nickte energisch.
Father Browns Gesicht wurde noch ernster, als er sich langsam im Halbkreis der Gesichter umsah.
»Ist das wirklich Ihrer aller Meinung?« fragte er. Und noch während er das fragte, wurde ihm klar, daß er ein Engländer und im Exil war. Es wurde ihm klar, daß er unter Fremden, wenngleich unter Freunden war. Durch diesen Ring von Fremden lief ein rastloses Feuer, das seiner eigenen Art nicht angeboren war; der grimmigere Geist der westlichen Nation, der rebellieren und lynchen und vor allem kombinieren kann. Er wußte, daß sie bereits kombiniert hatten.
»Nun gut«, sagte Father Brown mit einem Seufzer, »ich muß also annehmen, daß Sie entschieden dieses unglückseligen Mannes Verbrechen vergeben, oder diesen Akt privater Justiz, oder wie immer Sie das nennen wollen. In diesem Fall kann es ihm nicht schaden, wenn ich Ihnen ein bißchen mehr darüber erzähle.«
Er erhob sich plötzlich auf seine Füße; und obwohl sie in seiner Bewegung keine Bedeutung erkennen konnten, schien sie doch selbst die Luft im Raume auf irgendeine Weise zu verändern, ja zu erkälten.
»Wilton tötete Doom auf eher merkwürdige Weise«, begann er.
»Wie hat Wilton ihn getötet?« fragte Crake abrupt.
»Mit einem Pfeil«, sagte Father Brown.
Zwielicht sammelte sich in dem langen Raum, und das Tageslicht schwand bis auf einen Schimmer im großen Fenster des inneren Raumes, wo der große Millionär gestorben war. Fast automatisch wandten die Augen der Gruppe sich ihm langsam zu, noch aber war da kein Ton. Dann kam die Stimme von Crake krächzend und hoch und senil in einer Art krähenden Plapperns.
»Was meinen Sie? Was meinen Sie? Brander Merton von einem Pfeil getötet. Dieser Verbrecher von einem Pfeil getötet – «
»Von demselben Pfeil«, sagte der Priester, »und im selben Augenblick.«
Und wieder war da eine Art von ersticktem, aber doch schwellendem und berstendem Schweigen, und der junge Wain begann: »Sie wollen sagen – «
»Ich will sagen, daß Ihr Freund Merton Daniel Doom war«, sagte Father Brown fest; »und zwar der einzige Daniel Doom, den Sie je finden werden. Ihr Freund Merton war immer verrückt nach dem Koptenkelch, den er jeden Tag wie einen Götzen zu verehren pflegte; und in seiner wilden Jugend hat er wirklich zwei Männer getötet, um ihn in seinen Besitz zu bekommen, obwohl ich immer noch glaube, daß die beiden Toten in gewisser Weise eher Opfer von Unfällen während des Raubes waren. Wie dem auch sei, jetzt hatte er ihn; und dieser Mann Drage kannte die Geschichte und erpreßte ihn. Wilton aber war aus einem ganz anderen Grunde hinter ihm her; ich vermute, daß er die Wahrheit erst entdeckte, nachdem er in sein Haus gekommen war. Wie auch immer, es war in diesem Haus und in jenem Zimmer, wo diese Jagd endete und er den Mörder seines Vaters tötete.«
Lange Zeit sagte niemand etwas. Dann konnte man hören, wie der alte Crake mit den Fingern auf dem Tisch trommelte und vor sich hin murmelte: »Brander muß verrückt gewesen sein. Er muß verrückt gewesen sein.«
»Aber guter Gott!« brach es aus Peter Wain hervor, »was sollen wir denn jetzt tun? Was sollen wir sagen? Aber dann ist ja alles ganz anders! Was ist mit den großen Zeitungen und den Big-Business-Leuten? Brander Merton ist sowas wie der Präsident oder der Papst in Rom.«
»Ich bin sicher, daß jetzt alles anders ist«, begann Barnard Blake, der Rechtsanwalt, mit leiser Stimme. »Die Andersartigkeit involviert ein ganzes – «
Father Brown schlug auf den Tisch, daß die auf ihm stehenden Gläser klirrten; und sie konnten sich fast ein gespenstisches Echo von dem rätselhaften Kelch vorstellen, der immer noch im Raum nebenan stand.
»Nein!« schrie er mit einer Stimme wie ein Pistolenschuß. »Es gibt keine Andersartigkeit. Ich habe Ihnen die Chance gegeben, den armen Teufel zu bedauern, als Sie dachten, er sei ein gewöhnlicher Verbrecher. Da wollten Sie nicht hören; da waren Sie alle für private Rache. Da wollten Sie ihn abschlachten lassen wie ein wildes Tier, ohne Anhörung und ohne öffentliches Gerichtsverfahren, und Sie sagten, er habe nur bekommen, was ihm zustand. Nun gut, wenn Daniel Doom bekommen hat, was ihm zustand, dann hat Brander Merton bekommen, was ihm zustand. Wenn das gut genug für Doom war, dann, bei allem was heilig ist, ist es auch gut genug für Merton. Entweder haltet euch an eure wilde Justiz oder an unsere langweilige Gesetzmäßigkeit; aber im Namen des allmächtigen Gottes, es herrsche entweder gleiche Gesetzlosigkeit oder gleiches Gesetz.«
Niemand antwortete außer dem Rechtsanwalt, und der antwortete mit Knurren:
»Was wird die Polizei sagen, wenn wir ihr erzählen, wir hätten die Absicht, ein Verbrechen zu vergeben?«
»Was wird sie sagen, wenn ich ihr erzähle, daß Sie das bereits getan haben?« erwiderte Father Brown. »Ihr Respekt vor dem Gesetz kommt reichlich spät, Mr. Barnard Blake.«
Und nach einer Pause fuhr er in milderem Ton fort: »Ich für meinen Teil bin bereit, die ganze Wahrheit zu sagen, wenn die richtigen Behörden danach fragen; und ihr übrigen könnt tun, was ihr wollt. Tatsächlich aber wird das wenig Unterschied machen. Wilton hat mich nur angerufen, um mir zu sagen, daß es mir jetzt frei stünde, Ihnen seine Beichte zu unterbreiten; denn wenn Sie sie hören würden, wäre er jenseits aller Verfolgung.«
Er schritt langsam in den inneren Raum und stand dort an dem Tischchen, neben dem der Millionär gestorben war. Der Koptenkelch stand immer noch an derselben Stelle, und dort blieb er eine Weile stehen und starrte in das Gefunkel aller Farben des Regenbogens und darüber hinweg in den blauen Abgrund des Himmels.
»Ja«, sagte Father Brown, »ich mag jeden Hund, solange er nicht rückwärts buchstabiert wird.«{*}
Schnelle Sprecher sind nicht immer schnelle Zuhörer. Manchmal bringt gerade ihre Brillanz eine Art von Dummheit hervor. Father Browns Freund und Begleiter war ein junger Mann, der von Ideen und Geschichten überströmte, ein enthusiastischer junger Mann namens Fiennes, mit eifrigen blauen Augen und blondem Haar, das nicht lediglich von einer Haarbürste zurückgebürstet erschien, sondern vielmehr von den Winden der Welt, wie er sie durchstürmte. Doch hielt er im Strom seiner Rede in einer augenblicklichen Verwirrung inne, ehe er des Priesters sehr einfache Meinung begriff.
»Sie meinen also, daß sich die Leute zu viel aus ihnen machen?« sagte er. »Nun, ich weiß nicht. Es sind wunderbare Geschöpfe. Manchmal glaube ich, daß sie sehr viel mehr wissen als wir.«
Father Brown sagte nichts, sondern fuhr fort, den Kopf des großen Apportierhundes in einer halb abwesenden, aber offensichtlich beruhigenden Weise zu streicheln.
»Nun gab es«, sagte Fiennes und erwärmte sich wieder für seinen Monolog, »einen Hund in diesem Fall, wegen dem ich Sie aufgesucht habe: was man den ›Fall des Unsichtbaren Mordes‹ nennt, wissen Sie. Das ist eine sonderbare Geschichte, aber nach meiner Ansicht ist dabei der Hund das Sonderbarste. Natürlich gibt es da das Rätsel des Verbrechens selbst und wie der alte Druce von jemandem umgebracht worden sein kann, wenn er sich doch ganz allein in dem Gartenhaus befunden hat – «
Die Hand, die den Hund streichelte, hielt für einen Augenblick in ihrer rhythmischen Bewegung inne, und Father Brown sagte ruhig: »Oh, es handelte sich also um ein Sommerhaus, nicht?«
»Ich dachte, Sie hätten alles darüber in den Zeitungen gelesen«, antwortete Fiennes. »Warten Sie; ich glaube, ich habe hier einen Zeitungsausschnitt bei mir, der Ihnen alle Einzelheiten berichten kann.« Er zog ein Stück Zeitung aus der Tasche und gab es dem Priester, der es zu lesen begann, indem er es mit der einen Hand nahe an seine blinzelnden Augen hielt, während die andere Hand mit ihren halb unbewußten Liebkosungen des Hundes fortfuhr. Das sah aus wie das Gleichnis von dem Mann, der seine rechte Hand nicht wissen läßt, was seine linke Hand tut.
»Viele mysteriöse Geschichten über Menschen, die man hinter verschlossenen Türen und Fenstern mordete, und über Mörder, die ohne Möglichkeiten des Ein- oder Ausgangs entkamen, wurden wahr im Laufe der außerordentlichen Ereignisse zu Cranston an den Küsten Yorkshires, wo man Oberst Druce fand, von hinten erstochen mit einem Dolch, der vollständig von der Szene, ja wohl gar aus der Gegend verschwunden ist. Das Gartenhaus, in dem er starb, war tatsächlich nur auf einem einzigen Wege zugänglich, durch die normale Haustür, die sich gegenüber dem Mittelpfad durch den Garten zum Haus hin befindet. Aber durch eine Zusammenfügung von Ereignissen, die man schon fast Zufall nennen könnte, war es so, daß sowohl der Pfad als auch die Eingangstür während der fraglichen Zeit überwacht wurden, und es gibt eine Reihe von Zeugen, die sich gegenseitig bestätigen. Das Gartenhaus steht am äußersten Ende des Gartens, wo es keinerlei Eingang oder Ausgang gibt. Der Mittelpfad ist eine Allee zwischen zwei Reihen hohen Rittersporns, die so eng gepflanzt sind, daß jeder Schritt vom Pfade ab seine Spuren hinterlassen würde; und beide, Pfad wie Pflanzen, laufen unmittelbar auf die Öffnung des Gartenhauses zu, so daß kein Abweichen von diesem geraden Wege unbeobachtet erfolgen könnte, und keine andere Art des Eintritts ist vorstellbar.
Patrick Floyd, Sekretär des ermordeten Mannes, bezeugt, daß er sich in einer Position befunden habe, von der aus er den ganzen Garten überschauen konnte, von dem Zeitpunkt an, in dem Oberst Druce zum letzten Mal lebendig in der Tür erschienen war, bis zu dem Zeitpunkt, da man ihn tot auffand; da er, Floyd, sich oben auf einer Treppenleiter befunden und die Gartenhecke geschnitten habe. Janet Druce, die Tochter des toten Mannes, bestätigte das und erklärte, sie habe während der ganzen Zeit auf der Terrasse gesessen und Floyd bei seiner Arbeit gesehen. Für einen Teil der Zeit wird das zusätzlich von Donald Druce, ihrem Bruder, bekräftigt, der den Garten überblickte, während er im Morgenmantel an seinem Schlafzimmerfenster stand, da er spät aufgestanden war. Schließlich stimmt dieser Bericht mit jenem überein, den Dr. Valentine, ein Nachbar, gegeben hat, der für eine Weile zu einem Gespräch mit Miss Druce auf der Terrasse vorbei kam, und mit dem vom Anwalt des Obersten, Mr. Aubrey Traill, der allem Anschein nach den ermordeten Mann als letzter lebend gesehen hat – wahrscheinlich mit der Ausnahme des Mörders.
Alle stimmen überein, daß sich der Ablauf der Ereignisse wie folgt abspielte: Gegen halb vier am Nachmittag ging Miss Druce den Pfad hinab, um ihren Vater zu fragen, wann er den Tee wünsche; doch sagte er, er wünsche keinen, sondern warte auf Traill, seinen Anwalt, den man ihm ins Gartenhaus senden solle. Daraufhin kam das Mädchen zurück und traf Traill, der gerade den Pfad herunterkam; sie wies ihn zu ihrem Vater, und er ging gemäß der Anweisung hinein. Etwa eine halbe Stunde später kam er wieder heraus, wobei ihn der Oberst bis zur Tür begleitete und sich allem Anschein nach gesund und sogar in guter Laune zeigte. Früher am Tage hatte er sich über den unregelmäßigen Lebenswandel seines Sohnes etwas verärgert gezeigt, aber er schien seine Fassung auf völlig normale Weise wiedergefunden zu haben und war bemerkenswert freundlich beim Empfang anderer Besucher, darunter zwei seiner Neffen, die für den Tag zu Besuch kamen. Da diese beiden aber während der ganzen Zeit der Tragödie auf einem Spaziergang waren, hatten sie nichts auszusagen. Es wird zwar behauptet, daß der Oberst sich mit Dr. Valentine nicht auf bestem Fuße befand, doch führte dieser Herr nur ein kurzes Gespräch mit der Tochter des Hauses, der er angeblich ernsthaft den Hof macht. Traill, der Rechtsanwalt, sagte aus, daß er den Oberst im Gartenhaus vollständig allein zurückließ, und dies wird von Floyds Vogelperspektive über den Garten bestätigt, dem sich niemand sonst zeigte, der den einzigen Eingang durchschritt. Zehn Minuten später ging Miss Druce wiederum den Garten hinab und hatte das Ende des Pfades noch nicht erreicht, als sie ihren Vater, auffällig durch seinen weißen Leinenrock, als einen Haufen auf dem Boden liegen sah. Sie stieß einen Schrei aus, der andere zur Stelle brachte, und als man das Haus betrat, fand man den Oberst tot neben seinem Korbstuhl liegen, der ebenfalls umgestürzt war. Dr. Valentine, der sich noch in der unmittelbaren Nachbarschaft aufhielt, bezeugte, daß die Wunde durch irgendeine Art Stilett verursacht worden sei, das unter dem Schulterblatt eindrang und das Herz durchbohrte. Die Polizei hat die Nachbarschaft nach einer solchen Waffe abgesucht, aber konnte keine Spur von ihr finden.«
»Also hat Oberst Druce einen weißen Rock getragen, oder?« sagte Father Brown, als er das Papier hinlegte.
»Hat er sich in den Tropen angewöhnt«, erwiderte Fiennes mit einiger Verwunderung. »Er muß da nach seinen eigenen Berichten die merkwürdigsten Abenteuer erlebt haben; ich glaube, seine Abneigung gegen Valentine stand im Zusammenhang damit, daß der Doktor ebenfalls aus den Tropen kam. Aber das Ganze ist ein höllisches Rätsel. Der Bericht da ist ziemlich genau; ich habe die Tragödie nicht mit angesehen, im Sinne der Entdeckung; ich war mit den beiden jungen Neffen spazieren, und mit dem Hund – dem Hund, von dem ich Ihnen erzählen wollte. Aber ich habe die Szenerie gesehen, wie sie da beschrieben wird; die gerade Allee zwischen den blauen Blumen direkt bis zum dunklen Eingang, und wie der Anwalt da in Schwarz und mit seidenem Zylinder hinabging, und den roten Schopf des Sekretärs hoch über der grünen Hecke, wie er sie mit seiner Schere bearbeitete. Niemand hätte diesen roten Schopf selbst auf die Entfernung hin verkennen können; und wenn die Leute sagen, sie hätten ihn die ganze Zeit da gesehen, dann können Sie sicher sein, daß sie das auch taten. Dieser rothaarige Sekretär Floyd ist schon eine Type; ein atemlos herumjagender Bursche, der ständig anderer Leute Arbeit erledigt, wie da die des Gärtners. Ich glaube, er ist Amerikaner; jedenfalls hat er die amerikanische Ansicht vom Leben – was sie drüben den Gesichtspunkt nennen. Der Teufel soll sie holen.«
»Und was ist mit dem Rechtsanwalt?« fragte Father Brown.
Es gab ein Schweigen, und dann sprach Fiennes für seine Verhältnisse reichlich langsam. »Traill ist mir als ein eigenartiger Mann aufgefallen. In seinem feinen schwarzen Anzug sah er fast wie ein Stutzer aus, und doch könnte man ihn nicht modebewußt nennen. Denn er trug ein Paar langer üppiger schwarzer Koteletten, wie man sie seit den Zeiten der Viktorianer nicht mehr gesehen hat. Er hatte ein vornehmes ernsthaftes Gesicht und vornehme Manieren, aber ab und zu schien er sich daran zu erinnern, wie man lächelt. Und wenn er seine weißen Zähne zeigte, schien er ein bißchen von seiner Würde zu verlieren, und dann umgab ihn etwas fast Kriecherisches. Aber das konnte auch nur Verlegenheit gewesen sein, denn er fummelte andauernd an seiner Krawatte und der Krawattennadel herum, die zugleich schön und ungewöhnlich waren, wie er selbst. Wenn ich mir irgend jemanden denken könnte – aber wozu, da die ganze Sache unmöglich ist? Niemand weiß, wer es getan hat. Niemand weiß, wie es getan werden konnte. Aber da muß ich eine Ausnahme machen, und deshalb habe ich die ganze Sache erwähnt. Der Hund weiß es.«
Father Brown seufzte und sagte dann abwesend: »Sie waren da als Freund des jungen Donald, oder? Und er hat Sie auf Ihrem Spaziergang nicht begleitet?«
»Nein«, erwiderte Fiennes lächelnd. »Der junge Schuft war erst am Morgen ins Bett gekommen und erst am Nachmittag wieder aufgestanden. Ich bin mit seinen Vettern losgezogen, zwei jungen Offizieren aus Indien, und unser Gespräch war recht alltäglich. Ich erinnere mich, daß der ältere, dessen Name wohl Herbert Druce ist, ein Fachmann im Bereich der Pferdezucht, nur über eine Stute sprach, die er gekauft hat, und über den Charakter des Mannes, der sie verkauft hat; während sein Bruder Harry über sein Pech in Monte Carlo zu brüten schien. Ich erwähne das nur, damit Sie im Hinblick auf das, was sich während unseres Spaziergangs ereignete, sehen können, daß es mit uns nichts Übersinnliches auf sich hatte. Der Hund war in unserer Gesellschaft der einzige Mystiker.«
»Was für eine Art Hund war er?« fragte der Priester.
»Die gleiche Rasse wie der da«, antwortete Fiennes. »Das hat mich ja erst auf diese Geschichte gebracht, als Sie sagten, Sie glaubten nicht, daß man einem Hund glauben könnte. Er ist ein großer schwarzer Apportierer namens Nacht, und das ist auch ein passender Name; denn mir scheint das, was er getan hat, ein noch dunkleres Mysterium als der Mord. Wie Sie wissen, befinden sich Druces Haus und Garten am Meer; wir sind zunächst rund eine Meile über den Sand davongegangen und haben uns dann umgedreht, um den Weg zurückzugehen. Wir kamen an einem reichlich seltsamen Felsen vorbei, den man den Schicksalsfelsen nennt und der in der Gegend berühmt ist, denn er ist ein Beispiel dafür, wie ein Fels auf einem anderen balanciert, so daß ein Stoß ihn hinabstürzen würde. Er ist nicht wirklich hoch, aber der überhängende Umriß läßt ihn ziemlich wild und schaurig erscheinen; jedenfalls für mich, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß meine fröhlichen jungen Gefährten Sinn für das Malerische haben. Vielleicht aber habe ich auch begonnen, eine Art Stimmung zu empfinden; denn gerade dann tauchte die Frage auf, ob es an der Zeit sei, zum Tee zurückzukehren, und schon da hatte ich wohl eine Art Vorahnung, daß die Frage der Zeit eine große Rolle spiele. Weder Herbert Druce noch ich hatten eine Uhr, und so riefen wir nach seinem Bruder, der ein paar Schritte zurückgeblieben war, um sich seine Pfeife im Schutz der Hecke anzuzünden. Daher kam es, daß er die Zeit, zwanzig nach vier, mit seiner starken Stimme durch das fallende Dämmerlicht ausrief; und irgendwie ließ diese Lautheit das wie die Verkündung von irgend etwas Ungeheurem erscheinen. Daß ihm das unbewußt war, vertiefte diesen Eindruck nur noch; aber so ist das mit Vorzeichen ja immer; und an jenem Nachmittag waren bestimmte Uhrschläge ja besonders unheilschwanger. Nach dem Zeugnis von Dr. Valentine war der arme Druce tatsächlich gegen halb fünf gestorben.
Na, die Jungens sagten jedenfalls, wir brauchten uns für weitere zehn Minuten nicht auf den Rückweg zu machen, und so schlenderten wir noch ein wenig weiter den Strand entlang und trieben nichts Besonderes – wir schleuderten Steine für den Hund und warfen ihm Stöcke in die See, damit er hinter ihnen herschwömme. Mir aber wurde die Dämmerung immer bedrückender, und der Schatten des kopflastigen Schicksalsfelsens lag wie eine Last auf mir. Und dann ereignete sich das Eigenartige. Nacht hatte gerade Herberts Spazierstock aus dem Meer zurückgebracht, und sein Bruder hatte den seinen hineingeschleudert. Der Hund schwamm wieder raus, aber in genau dem Augenblick, in dem es die halbe Stunde geschlagen haben muß, hielt er mit Schwimmen inne. Er kam ans Ufer zurück und stand da vor uns. Und dann warf er plötzlich den Kopf zurück und stieß ein Heulen, ein wahres Weheheulen aus – wie ich es noch nie gehört hatte.
›Was zum Teufel ist denn mit dem Hund los?‹ fragte Herbert; aber keiner von uns konnte antworten. Eine lange Stille herrschte, nachdem das Heulen und Winseln der Kreatur an dem verlassenen Strand erstorben war; und dann wurde die Stille gebrochen. Bei meinem Leben, sie wurde gebrochen von einem schwachen und fernen Schrei, wie dem Schrei einer Frau hinter den Hecken im Binnenland. Damals wußten wir nicht, was es war; aber später wußten wir es. Es war der Schrei, den das Mädchen ausstieß, als sie zuerst die Leiche ihres Vaters sah.«
»Ich nehme an, Sie sind dann zurückgegangen«, sagte Father Brown geduldig. »Und was geschah dann?«
»Ich werde Ihnen erzählen, was dann geschah«, sagte Fiennes mit grimmigem Nachdruck. »Als wir in jenen Garten zurückkamen, sahen wir als erstes Traill, den Anwalt; ich kann ihn immer noch sehen, wie er sich da mit dem schwarzen Hut und den schwarzen Koteletten vor dem Hintergrund der blauen Blumen abhob, die sich zum Gartenhaus hinab erstreckten, und vor dem Sonnenuntergang und dem sonderbaren Umriß des Schicksalsfelsens in der Ferne. Sein Gesicht und seine Gestalt befanden sich vor dem Sonnenuntergang im Schatten; aber ich schwöre, daß seine weißen Zähne leuchteten und daß er lächelte.
In dem Augenblick, als Nacht den Mann sah, stürmte der Hund vorwärts und stand da mitten auf dem Pfad und bellte ihn wie besessen mörderisch an, wobei er Verfluchungen hervorstieß, die in ihrer fürchterlichen Deutlichkeit des Hasses fast wie Worte wirkten. Und der Mann krümmte sich zusammen und floh zwischen den Blumen den Pfad hinab.«
Father Brown sprang mit erschreckender Ungeduld auf.
»Dann hat ihn also der Hund angeklagt, oder?« rief er. »Das Orakel des Hundes verurteilte ihn. Haben Sie auch gesehen, welche Vögel da flogen, und ob zur Rechten oder zur Linken? Haben Sie die Auguren nach den Opfern befragt? Sicherlich haben Sie nicht versäumt, den Hund aufzuschneiden und seine Eingeweide zu befragen. Das ist die Art wissenschaftlicher Prüfung, auf die ihr heidnischen Humanitarier euch zu verlassen scheint, wenn ihr einem Mann Leben und Ehre nehmen wollt.«
Fiennes saß einen Augenblick mit offenem Munde da, ehe er genügend Atem fand, um zu fragen: »Was ist denn mit Ihnen los? Was habe ich denn jetzt getan?«
In die Augen des Priesters kroch eine Art Besorgnis zurück – die Besorgnis eines Mannes, der im Dunkeln gegen einen Pfosten gerannt ist und sich nun fragt, ob er ihn verletzt habe.
»Tut mir furchtbar leid«, sagte er mit aufrichtiger Betrübnis. »Ich bitte Sie um Vergebung, daß ich so grob war; bitte verzeihen Sie mir.«
Fiennes sah ihn neugierig an. »Manchmal glaube ich, daß Sie von allen Geheimnissen das Geheimnisvollste sind«, sagte er. »Aber wenn Sie auch nicht an das Geheimnis des Hundes glauben, so kommen Sie doch nicht um das Geheimnis des Mannes herum. Sie können nicht leugnen, daß im gleichen Augenblick, da das Tier aus dem Meer stieg und heulte, die Seele seines Meisters durch den Hieb einer ungesehenen Macht aus dem Körper getrieben wurde, die kein Sterblicher aufspüren oder sich auch nur vorstellen kann. Und was den Anwalt angeht – ich halte mich da nicht nur an den Hund –, da gibt es auch noch andere merkwürdige Einzelheiten. Er kam mir wie ein glatter, lächelnder, doppelzüngiger Mensch vor; und eine seiner Angewohnheiten erschien wie eine Art Hinweis. Wie Sie wissen, waren der Doktor und die Polizei sehr rasch an Ort und Stelle; Valentine wurde zurückgeholt, während er vom Haus fortschritt, und er telephonierte sofort. Das machte es angesichts des abgeschlossenen Hauses, der kleinen Anzahl Leute und des eingefriedeten Geländes möglich, jeden zu durchsuchen, der auch nur in der Nähe gewesen sein konnte; und jeder wurde gründlich durchsucht – nach einer Waffe. Das ganze Haus, der Garten, das Ufer wurden nach einer Waffe durchkämmt. Das Verschwinden des Dolches ist fast ebenso irrsinnig wie das Verschwinden des Mannes.«
»Das Verschwinden des Dolches«, sagte Father Brown nickend. Er schien plötzlich aufmerksam geworden zu sein.
»Nun«, fuhr Fiennes fort, »ich habe Ihnen erzählt, daß dieser Traill die Angewohnheit hatte, an Krawatte und Krawattennadel herumzufummeln – vor allem an der Krawattennadel. Die Nadel war wie er selbst gleichzeitig prunkvoll und altmodisch. Sie besaß einen jener Steine mit konzentrischen farbigen Ringen, die wie ein Auge aussehen; und wie er sich auf ihn konzentrierte, ging mir auf die Nerven, so als ob er ein Zyklop mit einem Auge mitten auf seiner Brust wäre. Die Nadel war aber nicht nur groß, sondern auch lang; und mir kam es so vor, als komme seine Unruhe über ihren richtigen Sitz daher, daß sie noch länger war als sie aussah; so lang wie ein Stilett.«
Father Brown nickte nachdenklich. »Hat man auch noch an eine andere Waffe gedacht?« fragte er.
»Es gab noch einen anderen Gedanken«, antwortete Fiennes, »von einem der jungen Druces – den Vettern, meine ich. Weder Herbert noch Harry würden einem zunächst als mögliche Helfer bei einer wissenschaftlichen Aufklärung auffallen; während aber Herbert tatsächlich der typische schwere Dragoner war, den nichts anderes interessierte als Pferde, mit dem einzigen Wunsch, eine Zierde der berittenen Garde zu sein, war sein jüngerer Bruder Harry bei der Indien-Polizei gewesen und wußte einiges von solchen Dingen. Auf seine Weise war er sogar ganz schön schlau; und vielleicht ist er sogar zu schlau gewesen; ich glaube, er mußte die Polizei verlassen, weil er sich über irgendwelche Dienstvorschriften hinweggesetzt und irgendwelche Risiken und Verantwortungen selbst übernommen hat. Jedenfalls, er war auf eine gewisse Art ein Detektiv außer Diensten und warf sich auf diese Sache mit mehr als dem Eifer eines Amateurs. Und mit ihm hatte ich eine Diskussion über die Waffe – eine Diskussion, die zu etwas Neuem führte. Es begann damit, daß er meiner Beschreibung widersprach, wie der Hund Traill angebellt habe; er sagte, wenn ein Hund besonders zornig ist, belle er nicht mehr, sondern knurre.«
»Damit hatte er ganz recht«, bemerkte der Priester.
»Dieser junge Bursche sagte dann weiter, wenn es darum ginge, so habe er Nacht schon zuvor andere Menschen anknurren gehört; darunter auch Floyd, den Sekretär. Ich gab ihm zurück, daß sein Argument sich selbst widerlege; denn man könne das Verbrechen nicht zwei oder drei Menschen anhängen, und zu allerletzt Floyd, der so unschuldig sei wie ein ausgelassener Schuljunge und den jedermann die ganze Zeit gesehen habe, wie er sich mit seinem Büschel roter Haare so auffällig wie ein scharlachroter Kakadu über die Hecke gebeugt habe. ›Ich weiß, daß es da Schwierigkeiten gibt‹, sagte mein Kollege, ›aber kommen Sie bitte mal mit mir in den Garten. Ich möchte Ihnen etwas zeigen, das sonst wohl niemand gesehen hat.‹ Das war an dem Tag der Entdeckung, und der Garten war ganz unverändert. Die Treppenleiter stand noch an der Hecke, und unmittelbar an der Hecke blieb mein Führer stehen und zog etwas aus dem tiefen Gras hervor. Es war die Heckenschere, und an einer der Scherenspitzen war ein Blutfleck.«
Es gab ein kurzes Schweigen, und dann sagte Father Brown plötzlich: »Warum war der Anwalt gekommen?«
»Er erzählte uns, der Oberst habe nach ihm geschickt, um sein Testament zu ändern«, antwortete Fiennes. »Und übrigens, im Zusammenhang mit dem Testament gab es noch etwas anderes, das ich erwähnen sollte. Wissen Sie, das Testament wurde gar nicht an dem Nachmittag im Sommerhaus unterzeichnet.«
»Das nehme ich auch nicht an«, sagte Father Brown, »dazu hätte es zweier Zeugen bedurft.«
»Der Anwalt war bereits am Vortag gekommen, und da war es unterschrieben worden; aber es wurde am nächsten Tag wieder nach ihm geschickt, weil dem alten Mann Zweifel wegen eines der Zeugen gekommen waren und er sich deshalb vergewissern wollte.«
»Wer waren die Zeugen?« fragte Father Brown.
»Das ist es ja gerade«, erwiderte sein Informant eifrig, »die Zeugen waren Floyd, der Sekretär, und dieser Dr. Valentine, diese ausländische Art Chirurg oder was immer er ist; und die beiden hatten einen Streit miteinander. Nun muß ich sagen, daß der Sekretär die Art Mensch ist, die sich in alles einmischt. Er ist einer von diesen hitzigen und halsstarrigen Kerlen, deren Temperament sich unglücklicherweise meistens in Widerborstigkeit und knisterndes Mißtrauen verwandelt; den Menschen mißtrauen, statt ihnen zu trauen. Diese Sorte rothaariger rotglühender Burschen ist immer entweder unendlich zutraulich oder unendlich mißtrauisch; und manchmal auch beides. Er ist nicht nur ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen, sondern er weiß auch alles besser als jeder Fachmann. Er weiß nicht nur alles besser, sondern er warnt auch jeden vor jedem. All das muß man im Hinblick auf seine Verdächtigungen gegen Valentine mit in Rechnung stellen; aber in diesem besonderen Fall scheint doch etwas dahinter zu stecken. Er sagte, Valentine heiße nicht wirklich Valentine. Er sagte, er habe ihn anderswo gesehen, wo man ihn unter dem Namen de Villon kannte. Er sagte, das würde das Testament ungültig machen; natürlich besaß er die Freundlichkeit, dem Rechtsanwalt das Recht in dieser Frage zu erklären. Darauf gerieten sie sich ganz schön in die Haare.«
Father Brown lachte. »Leute sind oft so, wenn sie ein Testament bezeugen«, sagte er, »denn das bedeutet unter anderem, daß sie darin nicht bedacht werden können. Aber was hat Dr. Valentine gesagt? Zweifellos wußte der universale Sekretär mehr über den Namen des Doktors, als der Doktor selbst. Aber auch der Doktor sollte eigentlich etwas über seinen eigenen Namen wissen.«
Fiennes hielt einen Augenblick inne, ehe er antwortete.
»Dr. Valentine nahm das in einer eigenartigen Weise auf. Dr. Valentine ist ein eigenartiger Mann. Seine Erscheinung ist recht auffällig und sehr ausländisch. Er ist noch jung, aber trägt einen eckig geschnittenen Bart; sein Gesicht ist sehr blaß, schrecklich blaß und schrecklich ernsthaft. In seinen Augen schimmert ein Schmerz, als ob er Brillen tragen müsse oder als ob er sich durch Denken Kopfschmerzen verschafft hätte; aber er sieht sehr gut aus und ist immer sehr förmlich gekleidet, mit Zylinder und dunklem Jackett und einer kleinen roten Rosette. Sein Benehmen ist ziemlich kühl und hochmütig, und er hat eine Art, einen anzustarren, die einen ganz durcheinander bringt. Als man ihn bezichtigte, seinen Namen geändert zu haben, starrte er zunächst wie eine Sphinx und sagte dann mit einem kleinen Lachen, er nehme an, daß Amerikaner keine Namen hätten, die sie ändern könnten. Daraufhin geriet auch der Oberst in Fahrt und sagte dem Doktor alle Arten ärgerlicher Dinge; um so ärgerlicher wegen der Absichten des Doktors auf einen künftigen Platz in seiner Familie. Ich hätte mir aus all dem aber nicht viel gemacht, wären da nicht einige Worte, die ich zufällig später hörte, am frühen Nachmittag der Tragödie. Ich will ihnen aber nicht zuviel Gewicht beimessen, denn sie waren nicht von der Art, bei der man gewöhnlich gern den Lauscher macht. Als ich mit meinen beiden Gefährten und dem Hund zum Gartentor strebte, hörte ich Stimmen, die mir verrieten, daß sich Dr. Valentine und Miss Druce für einen Augenblick in den Schatten des Hauses zurückgezogen hatten, in einen Winkel hinter einer Reihe blühender Pflanzen, und daß sie miteinander in leidenschaftlichem Flüstern sprachen – manchmal fast wie ein Zischen; es war zugleich ein Streit und ein Stelldichein von Liebenden. Niemand wird da bereit sein zu wiederholen, was die beiden sich hauptsächlich sagten; aber in einer so unglücklichen Geschichte fühle ich mich doch verpflichtet zu sagen, daß mehr als einmal ein Satz wiederholt wurde, daß jemand getötet werden solle. Tatsächlich schien das Mädchen ihn anzuflehen, jemanden nicht zu töten, oder darauf hinzuweisen, daß keine Provokation es rechtfertigen könne, jemanden zu töten; was mir als eine unübliche Art von Rede erscheint, die man an einen Herrn richtet, der auf eine Tasse Tee vorbeigekommen ist.«
»Wissen Sie«, fragte der Priester, »ob Dr. Valentine nach der Szene mit dem Sekretär und dem Oberst sehr ärgerlich war – ich meine die Sache mit dem Bezeugen des Testaments?«
»Nach allen Berichten«, erwiderte der andere, »war er nicht halb so ärgerlich wie der Sekretär. Es war der Sekretär, der nach der Beglaubigung des Testamentes kochend vor Wut wegstürmte.«
»Und jetzt«, sagte Father Brown, »was ist mit dem Testament?«
»Der Oberst war ein sehr wohlhabender Mann, und sein Testament war daher wichtig. Traill wollte uns zu jenem Zeitpunkt die Änderung nicht mitteilen, und ich habe erst heute Morgen gehört, daß der Hauptteil des Geldes vom Sohn auf die Tochter übertragen wurde. Ich habe Ihnen ja erzählt, daß Druce mit meinem Freund Donald wegen dessen Lebenswandel ziemlich zornig war.«
»Die Frage des Motivs ist durch die Frage der Methode ziemlich überschattet worden«, bemerkte Father Brown nachdenklich. »In jenem Augenblick war also Miss Druce die offenkundige Nutznießerin aus dem Tod.«
»Guter Gott! Welch eine kaltblütige Weise zu reden«, rief Fiennes und starrte ihn an. »Sie wollen doch nicht wirklich andeuten, daß sie – «
»Wird sie diesen Dr. Valentine heiraten?« fragte der andere.
»Manche sind dagegen«, antwortete sein Freund. »Aber im Ort mag und respektiert man ihn, und er ist ein geschickter und gewissenhafter Chirurg.«
»Ein so gewissenhafter Chirurg«, sagte Father Brown, »daß er sein chirurgisches Besteck mit sich führte, als er der jungen Dame zur Teezeit einen Besuch abstattete. Er muß eine Lanzette oder so was Ähnliches benutzt haben, und er scheint niemals nach Hause gegangen zu sein.«
Fiennes sprang auf und starrte ihn in brennender Neugierde an. »Sie meinen, er könnte dieselbe Lanzette verwendet haben, die – «
Father Brown schüttelte den Kopf. »Alle diese Überlegungen sind jetzt noch reine Phantasiegebilde«, sagte er. »Die Frage ist nicht, wer es tat, oder was er tat, sondern wie es getan wurde. Wir können viele Männer finden und sogar viele Tatwerkzeuge – Krawattennadeln und Heckenscheren und Lanzetten. Aber wie ist ein Mann in den Raum gekommen? Oder wie ist auch nur eine Nadel hineingekommen?«
Er starrte nachdenklich an die Decke, während er sprach, aber als er die letzten Worte sagte, zuckte sein Auge wachsam, als habe er plötzlich an der Decke eine eigenartige Fliege gesehen.
»Und was würden Sie deswegen unternehmen?« fragte der junge Mann. »Sie haben doch eine Menge Erfahrungen; was würden Sie jetzt raten?«
»Ich fürchte, ich bin da nicht von großem Nutzen«, sagte Father Brown mit einem Seufzer. »Ich kann nicht gut Ratschläge geben, ohne dem Ort oder den Menschen auch nur nahe gewesen zu sein. Im Augenblick können Sie nur mit den örtlichen Untersuchungen fortfahren. Ich nehme an, daß Ihr Freund von der Indien-Polizei die Untersuchungen da unten mehr oder minder übernommen hat. Ich würde hinfahren und nachsehen, wie er vorankommt. Sehen, was er im Rahmen der Amateurermittlung getan hat. Es mag inzwischen Neuigkeiten geben.«
Nachdem seine Gäste, der zweibeinige und der vierbeinige, verschwunden waren, nahm Father Brown sich seinen Federhalter und kehrte zu seiner unterbrochenen Beschäftigung zurück, nämlich eine Vortragsreihe über die Enzyklika Rerum Novarum zu planen. Das Thema war umfangreich, und er hatte es mehr als einmal neu anzugehen, so daß er fast auf die gleiche Weise beschäftigt war, als zwei Tage später der große schwarze Hund erneut ins Zimmer stürmte und sich enthusiastisch und aufgeregt auf ihn warf. Sein Herr, der dem Hund folgte, teilte dessen Aufregung, wenn nicht seinen Enthusiasmus. Er war in weniger angenehmer Weise aufgeregt, denn seine blauen Augen schienen ihm vor den Kopf zu treten, und sein eifriges Gesicht war sogar ein bißchen bleich.
»Sie haben mir gesagt«, begann er abrupt und ohne Vorrede, »ich solle herausfinden, was Harry Druce tue. Wissen Sie, was er getan hat?«
Der Priester antwortete nicht, und der junge Mann fuhr ruckartig fort:
»Ich werd Ihnen sagen, was er getan hat. Er hat sich umgebracht.«
Father Browns Lippen bewegten sich nur schwach, und in dem, was er sagte, war nichts Praktisches – nichts, das irgend etwas mit dieser Geschichte oder dieser Welt zu tun hatte.
»Manchmal bekomme ich von Ihnen eine Gänsehaut«, sagte Fiennes. »Haben Sie – haben Sie das erwartet?«
»Ich hielt es für möglich«, sagte Father Brown, »deshalb habe ich Sie gebeten, hinzufahren und nachzusehen, was er tue. Ich hoffte, Sie kämen nicht zu spät.«
»Ich habe ihn gefunden«, sagte Fiennes mit belegter Stimme. »Es war die häßlichste und unheimlichste Erfahrung meines Lebens. Ich bin wieder durch den alten Garten gegangen, und ich wußte, daß es da etwas Neues und Unnatürliches außer dem Mord gab. Die Blumen drängten sich noch immer in blauen Mengen auf beiden Seiten des schwarzen Eingangs zum alten grauen Gartenhaus; aber auf mich wirkten die blauen Blumen wie blaue Teufel, die vor den dunklen Höhlen der Unterwelt tanzen. Ich sah in die Runde, alles schien an seinem üblichen Platz zu sein. Aber in mir wuchs der sonderbare Eindruck, daß irgendwas mit der Form des Himmels selbst nicht stimme. Und dann sah ich, was es war. Immer hatte sich der Schicksalsfelsen im Hintergrund jenseits der Gartenhecke vor der See erhoben. Der Schicksalsfelsen war nicht mehr da.«
Father Brown hatte den Kopf gehoben und lauschte aufmerksam.
»Es war, als sei ein Berg aus einer Landschaft weggewandert oder ein Mond aus dem Himmel gefallen; obwohl ich natürlich wußte, daß jederzeit eine Berührung das Ding umstürzen konnte. Ich war von irgendwas besessen, und ich raste wie der Wind den Gartenpfad hinab und rauschte krachend durch die Hecke, als wäre sie ein Spinnweb. In Wirklichkeit war es eine dünne Hecke, obwohl ihr ungestörter Beschnitt sie die Dienste einer Mauer hatte tun lassen. Am Ufer fand ich den losen Felsen, der von seinem Sockel gestürzt war; und der arme Harry Druce lag wie ein Wrack darunter. Einen Arm hatte er wie in einer Umarmung herumgeschlungen, als habe er ihn auf sich herabgezogen; und in den bräunlichen Sand daneben hatte er in großen wackeligen Buchstaben die Worte gekritzelt: ›Der Schicksalsfelsen stürzt auf den Narren.‹«
»Das Testament des Obersten hat das ausgelöst«, bemerkte Father Brown. »Der junge Mann hatte alles darauf gesetzt, von Donalds Ungnade zu profitieren, besonders, nachdem sein Onkel am gleichen Tage nach ihm schickte wie nach dem Anwalt und ihn mit solcher Wärme begrüßte. Andernfalls war es mit ihm aus; er hatte seinen Posten in der Polizei verloren; in Monte Carlo war er zum Bettler geworden. Und er brachte sich selbst um, als sich herausstellte, daß er seinen Verwandten umsonst umgebracht hatte.«
»Halt, einen Augenblick!« schrie Fiennes starren Blicks. »Sie sind zu schnell für mich.«
»Wenn wir übrigens vom Testament sprechen«, fuhr Father Brown ruhig fort, »ehe ich das vergesse oder wir zu wichtigeren Dingen kommen: Es gibt, glaube ich, für all den Wirrwarr um des Doktors Namen eine einfache Erklärung. Ich bilde mir ein, daß ich beide Namen schon früher irgendwo gehört habe. Der Doktor ist in Wirklichkeit ein französischer Edelmann mit dem Titel eines Marquis de Villon. Aber er ist ebensosehr ein glühender Republikaner, der seinen Titel aufgegeben hat und sich statt dessen des vergessenen Familiennamens bedient. ›Mit eurem Bürger Riquetti habt ihr Europa zehn Tage lang sehr verwirrt.‹«
»Was ist denn das?« fragte der junge Mann verständnislos.
»Egal«, sagte der Priester. »In 9 von 10 Fällen liegt einer Namensveränderung eine Schurkerei zugrunde; in diesem Fall aber war es ein Stück des feinsten Fanatismus. Und das ist die Pointe seiner sarkastischen Bemerkung, daß die Amerikaner keine Namen zum Ändern hätten – nämlich keine Titel. In England würde man den Marquis of Hartington niemals als Mr. Hartington anreden; aber in Frankreich wird der Marquis de Villon als Monsieur de Villon angeredet. Deshalb konnte das Ganze wie eine Namensänderung aussehen. Was nun das Gespräch übers Töten angeht, so vermute ich, daß es sich da ebenfalls um eine Frage der französischen Etiquette handelte. Der Doktor sprach davon, Floyd zu einem Duell zu fordern, und das Mädchen versuchte, ihm das auszureden.«
»Oh, ich verstehe«, rief Fiennes langsam. »Jetzt begreife ich auch, was sie gemeint hat.«
»Und was war das?« fragte ihn sein Gefährte lächelnd.
»Nun«, sagte der junge Mann, »mir ist da etwas zugestoßen, unmittelbar bevor ich die Leiche des armen Kerls gefunden habe; nur diese Katastrophe hat es mich vergessen gemacht. Vermutlich ist es schwierig, sich an eine kleine romantische Idylle zu erinnern, wenn man gerade den Gipfel einer Tragödie erreicht hat. Jedenfalls, als ich die Straßen zum alten Wohnhaus des Obersten hinabging, begegnete ich seiner Tochter, die mit Dr. Valentine spazieren ging. Sie war natürlich in Trauer, und er trug immer Schwarz, als ob er zu einer Beerdigung ginge; aber ich kann nicht behaupten, daß ihre Gesichter sehr nach Beerdigung aussahen. Nie habe ich zwei Menschen gesehen, die auf ihre Weise ehrbarer strahlend und fröhlich aussahen. Sie hielten an und begrüßten mich, und dann erzählte sie mir, sie seien verheiratet und lebten in einem kleinen Haus am Rande der Stadt, wo der Doktor weiterhin praktiziere. Das hat mich einigermaßen überrascht, denn ich wußte ja, daß das Testament ihres Vaters ihr seinen Besitz zugesprochen hatte; darauf wies ich vorsichtig hin, indem ich sagte, ich sei unterwegs zu ihres Vaters Haus und hätte halb erwartet, sie dort anzutreffen. Aber sie lachte nur und sagte: ›Wir haben das alles aufgegeben. Mein Mann liebt Erbinnen nicht.‹ Und dann stellte ich mit einigem Erstaunen fest, daß sie wirklich darauf bestanden hatte, den ganzen Besitz an den armen Donald zurückzugeben; also hoffe ich, daß er einen heilsamen Schock erlitten hat und ihn vernünftig behandelt. Es stand in Wirklichkeit nie ganz übel mit ihm; er war sehr jung, und sein Vater war nicht sehr klug. Aber in diesem Zusammenhang sagte sie etwas, was ich damals nicht verstanden habe; jetzt aber bin ich sicher, daß es so gewesen sein muß, wie Sie sagen. Sie sagte mit plötzlichem und glänzendem Hochmut, der vollkommen altruistisch war:
›Ich hoffe, das wird diesen rothaarigen Narren davon abhalten, noch weiter Aufhebens um das Testament zu machen. Glaubt er denn, mein Mann, der um seiner Grundsätze willen Helmschmuck und Wappenkrone aufgegeben hat, die so alt wie die Kreuzzüge waren, würde einen alten Mann in seinem Gartenhaus um einer solchen Erbschaft willen umbringen?‹ Dann lachte sie wieder und sagte: ›Mein Mann bringt niemanden außer beruflich um. Er hat ja nicht einmal seine Freunde gebeten, den Sekretär aufzusuchen.‹ Nun begreife ich natürlich, was sie da gemeint hat.«
»Ich begreife natürlich einen Teil dessen, was sie gemeint hat«, sagte Father Brown. »Aber was genau meinte sie mit dem Aufhebens, das der Sekretär um das Testament mache?«
Fiennes lächelte, als er antwortete: »Ich wünschte, Sie kennten den Sekretär, Father Brown. Es würde Ihnen Spaß machen zuzusehen, wie er alles sausen macht, wie er das nennt. Er machte das Trauerhaus sausen. Er stattete die Bestattung mit allem Biß und Zack einer sportlichen Großveranstaltung aus. Nichts kann ihn halten, wenn irgendwas wirklich geschehen ist. Ich habe Ihnen erzählt, wie er den Gärtner bei der Gartenarbeit überwachte und wie er den Rechtsanwalt die Rechte lehrte. Unnötig zu sagen, daß er auch den Chirurgen in der Chirurgie unterwies; und da der Chirurg Dr. Valentine war, dürfen Sie sicher sein, daß es damit endete, daß er ihn schlimmerer Dinge als nur chirurgischer Kunstfehler bezichtigte. Der Sekretär hat unter seinem roten Schopf die fixe Idee, daß der Doktor das Verbrechen begangen habe, und als die Polizei eintraf, benahm er sich unendlich erhaben. Muß ich betonen, daß er sich auf der Stelle in den größten aller Amateurdetektive verwandelte? Sherlock Holmes hat Scotland Yard niemals mit titanischerem intellektuellem Stolz und Spott überragt, als Oberst Druces Privatsekretär die Polizei, die Oberst Druces Tod untersuchte. Ich sage Ihnen, es war ein Genuß, ihm zuzusehen. Er schritt mit abwesendem Antlitz umher, warf seine rote Haarmähne zurück und gab kurze ungeduldige Antworten. Natürlich hat sein Verhalten während jener Tage Druces Tochter so gegen ihn aufgebracht. Natürlich hatte er eine Theorie. Genau die Art von Theorie, die ein Mann in einem Roman haben würde; und Floyd ist die Art von Mann, die in einem Roman vorkommen sollte. In einem Roman böte er mehr Spaß und weniger Verdruß.«
»Was ist denn seine Theorie?« fragte der andere.
»Oh, die war ganz schön gepfeffert«, erwiderte Fiennes düster. »Sie würde Riesenschlagzeilen gemacht haben, wenn sie nur für 10 Minuten länger zusammengehalten hätte. Er behauptete, der Oberst sei noch am Leben gewesen, als man ihn im Gartenhaus fand, und dann habe der Doktor ihn mit einem Skalpell unter dem Vorwand getötet, die Kleidung aufzuschneiden.«
»Aha«, sagte der Priester. »Ich nehme an, daß er bäuchlings auf dem Lehmboden lag, ausgestreckt zum Mittagsschlaf.«
»Wunderbar, was Betriebsamkeit alles schafft«, fuhr sein Informant fort. »Ich glaube, daß Floyd seine große Theorie auf alle Fälle in die Presse gebracht und den Doktor vielleicht verhaften lassen hätte, wäre das alles nicht wie durch Dynamit in die Luft geflogen durch die Entdeckung jener Leiche unter dem Schicksalsfelsen. Und damit sind wir wieder beim Anfang angekommen. Ich nehme an, daß der Selbstmord praktisch ein Geständnis ist. Aber niemand wird wohl je die ganze Geschichte kennen.«
Es herrschte Schweigen, und dann sagte der Priester bescheiden: »Ich glaube, daß ich die ganze Geschichte kenne.«
Fiennes starrte ihn an. »Aber wie denn«, schrie er; »wie könnten Sie denn die ganze Geschichte kennen? Oder sicher sein, daß es die wahre Geschichte ist? Sie haben hier hundert Meilen entfernt gesessen und an einer Predigt geschrieben; wollen Sie mir erzählen, daß Sie wirklich wüßten, was bisher geschehen ist? Wenn Sie wirklich das Ende erkannt haben, wo in aller Welt haben Sie begonnen? Was hat Sie denn auf Ihre Geschichte gebracht?«
Father Brown sprang in sehr ungewöhnlicher Aufregung auf, und sein erster Ausruf war wie ein Ausbruch.
»Der Hund!« rief er. »Natürlich der Hund! Mit der Geschichte vom Hund am Strand hatten Sie die ganze Geschichte in der Hand, wenn Sie nur den Hund richtig beachtet hätten.«
Fiennes starrte immer mehr. »Aber Sie selbst haben mir doch früher gesagt, daß meine Gefühle dem Hund gegenüber Unfug seien und daß der Hund nichts damit zu tun habe.«
»Der Hund hatte alles damit zu tun«, sagte Father Brown, »wie Sie selbst herausgefunden hätten, wenn Sie den Hund nur als Hund gesehen hätten und nicht als Gott den Allmächtigen, wie er die Seelen der Menschen richtet.«
Er hielt für einen Augenblick verwirrt inne und sagte dann mit einem pathetischen Ausdruck der Entschuldigung: »Die Wahrheit ist, daß ich Hunde zufällig furchtbar gern habe. Und mir scheint, daß bei all diesem unheimlichen Nimbus von Aberglauben um den Hund niemand wirklich an den armen Hund selbst gedacht hat. Um mit einer Kleinigkeit zu beginnen, wie er den Anwalt anbellte oder den Sekretär anknurrte. Sie haben mich gefragt, wie ich die Dinge hundert Meilen entfernt erraten konnte; die Ehre dafür gebührt vor allem Ihnen, denn Sie haben die Personen so gut beschrieben, daß ich sie genau kenne. Ein Mann wie Traill, der normalerweise die Stirne runzelt und dann plötzlich lächelt, ein Mann, der an den Dingen herumfummelt und besonders an seiner Kehle, ist ein nervöser und leicht in Verlegenheit geratender Mann. Ich würde mich nicht wundern, wenn auch Floyd, der so tüchtige Sekretär, ein aufgeregter und schreckhafter Mann wäre; diese übereifrigen Yankees sind das oft. Andernfalls hätte er sich nicht die Finger an der Schere geschnitten und sie fallen gelassen, als er Janet Druce schreien hörte.
Nun hassen Hunde nervöse Menschen. Ich weiß nicht, ob sie den Hund auch nervös machen; oder ob er, der schließlich nur ein Tier ist, auch ein bißchen vom Bramarbas hat; oder ob sich seine hündische Eitelkeit (die kolossal ist) einfach dadurch beleidigt fühlt, daß man ihn nicht mag. Wie auch immer, da war nichts anderes im armen Nacht, was gegen diese Leute protestierte, außer daß er sie nicht mochte, weil sie ihn fürchteten. Nun weiß ich, daß Sie sehr scharfsinnig sind, und kein vernünftiger Mann verspottet den Scharfsinn. Aber manchmal stelle ich mir beispielsweise vor, daß Sie zu scharfsinnig sind, um die Tiere zu verstehen. Manchmal sind Sie auch zu scharfsinnig, um die Menschen zu verstehen, vor allem, wenn sie fast so einfach wie Tiere handeln. Tiere nehmen alles wörtlich; sie leben in einer Welt der alltäglichen Wahrheiten. Nehmen Sie diesen Fall: Ein Hund bellt einen Mann an, und ein Mann flieht vor einem Hund. Nun scheinen Sie nicht einfach genug zu sein, um die Tatsachen zu erkennen: daß der Hund bellte, weil er den Mann nicht mochte, und daß der Mann floh, weil er vor dem Hund Angst hatte. Die hatten keine anderen Gründe, und sie brauchten keine; aber Sie müssen da psychologische Rätsel hineingeheimnissen und annehmen, der Hund besitze übernatürliche Erkenntnisse und sei das rätselhafte Sprachrohr des Schicksals. Sie müssen annehmen, daß der Mann nicht vor dem Hund, sondern vor dem Henker floh. Denken Sie aber darüber nach, so ist all diese tiefere Psychologie ungewöhnlich unwahrscheinlich. Wenn der Hund wirklich bewußt den Mörder seines Herrn erkennen könnte, stünde er nicht kläffend vor ihm wie vorm Dorfpriester bei der Teegesellschaft; dann würde er ihm viel eher an die Gurgel gehen. Und andererseits, glauben Sie wirklich, daß ein Mann, der sein Herz genug verhärtet hat, um einen alten Freund zu ermorden und dann lächelnd zwischen seiner Familie umherzugehen, unter den Augen der Tochter seines alten Freundes und des Arztes, der seinen Tod festgestellt hat – glauben Sie, ein solcher Mann würde vor lauter Gewissensbissen zusammenbrechen, bloß weil ein Hund bellt? Er könnte die tragische Ironie darin spüren; sie könnte seine Seele erschüttern wie jede andere tragische Kleinigkeit. Aber er würde nicht wie ein Verrückter durch den ganzen Garten fliehen, um dem einzigen Zeugen zu entkommen, von dem er weiß, daß er nicht reden kann. Menschen verfallen in solche Panik nicht aus Angst vor tragischer Ironie, sondern vor Zähnen. Die ganze Sache ist einfacher, als Sie begreifen können.
Wenn wir aber zu den Ereignissen am Ufer kommen, sind die Dinge sehr viel interessanter. Und wie Sie sie dargestellt haben, auch sehr viel verwirrender. Ich habe die Geschichte von dem Hund, der ins Wasser ging und wieder herauskam, einfach nicht verstanden; das erschien mir nicht wie hündisches Verhalten. Wenn Nacht wegen irgend etwas sehr aufgeregt gewesen wäre, hätte er sich möglicherweise geweigert, überhaupt hinter dem Stock herzulaufen. Er hätte vermutlich in jeder Richtung nachgeschnüffelt, in der er das Unheil vermutete. Aber wenn ein Hund einmal dabei ist, hinter irgendwas herzujagen, einem Stein oder einem Stock oder einem Kaninchen, dann würde ihn nach meiner Erfahrung nichts davon abbringen, außer dem schärfsten Befehl, und nicht einmal immer der. Daß er umgekehrt sein soll, weil sich seine Stimmung geändert hat, schien mir völlig undenkbar.«
»Aber er ist umgekehrt«, beharrte Fiennes, »und er kam ohne den Stock zurück.«
»Er kam aus dem besten Grund auf der Welt ohne den Stock zurück«, erwiderte der Priester. »Er kam zurück, weil er ihn nicht finden konnte. Er winselte, weil er ihn nicht finden konnte. Solche Sachen sind es, wegen denen ein Hund wirklich winselt. Ein Hund hängt höllisch an Ritualen. Er ist mit der exakten Routine eines Spiels ebenso eigen wie ein Kind mit der exakten Wiederholung eines Märchens. In diesem Fall war mit dem Spiel etwas falsch gelaufen. Er kam zurück, um sich ernstlich über das Benehmen des Stockes zu beschweren. So etwas war noch nie dagewesen. Noch nie war ein so bedeutender und ausgezeichneter Hund von einem üblen alten Spazierstock so behandelt worden.«
»Was hatte der Spazierstock denn getan?« fragte der junge Mann.
»Er war untergegangen«, sagte Father Brown.
Fiennes sagte nichts, sondern fuhr fort zu starren; und dann fuhr der Priester fort:
»Er war untergegangen, weil er nicht wirklich ein Stock war, sondern vielmehr eine Stahlstange mit einem sehr dünnen Bambusmantel und einer scharfen Spitze. Mit anderen Worten, ein Stockdegen. Ich nehme an, daß noch nie ein Mörder seine blutige Waffe auf eine so ungewöhnliche und doch zugleich so natürliche Weise losgeworden ist, indem er sie für einen Apportierhund ins Meer schleuderte.«
»Ich beginne zu begreifen, was Sie meinen«, gab Fiennes zu, »aber selbst wenn ein Stockdegen verwendet wurde, habe ich doch keine Ahnung, wie er verwendet wurde.«
»Ich hatte eine Ahnung«, sagte Father Brown, »bereits ganz im Anfang, als Sie das Wort Gartenhaus sagten. Und eine andere, als Sie sagten, daß Druce eine weiße Jacke trug. Solange jeder nach einem kurzen Dolch suchte, hat niemand daran gedacht; aber wenn wir die Möglichkeit einer langen Klinge wie die eines Rapiers einräumen, ist es nicht mehr unmöglich.«
Er lehnte sich zurück, blickte an die Decke und begann wie jemand, der sich auf seine Anfangsgedanken und Grundsätze zurückbesinnt.
»All dies Gerede über Detektivromane wie Das Gelbe Zimmer, über einen Mann, der in geschlossenen Räumen tot aufgefunden wurde, zu denen niemand Zutritt hat, paßt nicht auf diesen Fall, weil es sich um ein Sommerhaus handelt. Wenn wir von einem Gelben Zimmer oder sonst einem Raum sprechen, gehen wir davon aus, daß die Mauern wirklich massiv und undurchdringlich sind. Aber so ist ein Gartenhaus nicht gebaut; es besteht meistens und auch in diesem Fall aus dicht verbundenen, aber einzelnen Holzplanken und Holzstücken, zwischen denen es da und dort Lücken gibt. Eine befand sich unmittelbar hinter Druces Rücken, als er in seinem Stuhl gegen die Wand gelehnt saß. Aber ebenso wie der Raum ein Gartenhaus war, war der Stuhl ein Korbstuhl. Auch das war ein Geflecht mit Schlitzen. Und schließlich stand das Gartenhaus unmittelbar an der Hecke; und Sie selbst haben mir erzählt, daß es eine dünne Hecke war. Ein Mann, der hinter ihr stand, konnte leicht durch das Gewirr von Zweigen und Planken und Rohr das Weiß von der Jacke des Obersten sehen, so deutlich wie das Weiß einer Zielscheibe.
Nun haben Sie die Geographie ein bißchen undeutlich gehalten; aber es war möglich, zwei und zwei zusammenzuzählen. Sie sagten, der Schicksalsfelsen sei nicht besonders hoch gewesen; aber Sie sagten auch, man habe ihn den Garten wie eine Bergspitze beherrschen gesehen. Mit anderen Worten, er befand sich nahe dem Gartenende, obwohl Ihr Spaziergang Sie einen weiten Weg um ihn herumgeführt hatte. Und dann ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß die junge Dame wirklich so laut gebrüllt hat, daß man sie eine halbe Meile weit gehört hätte. Sie stieß unwillkürlich einen Schrei aus, und doch hörten Sie den am Strand. Und unter anderen interessanten Dingen, die Sie mir erzählt haben, war auch, woran ich Sie erinnern darf, daß Harry Druce zurückgeblieben war, um sich seine Pfeife im Schatten der Hecke anzuzünden.«
Fiennes schauerte leicht. »Sie meinen, er hat da die Klinge gezogen und sie durch die Hecke in die weiße Stelle gejagt? Aber das war doch eine sehr kleine Chance und ein sehr plötzlicher Entschluß. Und außerdem konnte er sich gar nicht sicher sein, daß das Geld des alten Mannes an ihn fiele, was es dann ja auch nicht tat.«
Father Browns Gesicht belebte sich.
»Sie verstehen den Charakter des Mannes nicht«, sagte er, als ob er selbst den Mann sein ganzes Leben lang gekannt hätte. »Ein eigenartiger, aber nicht ungewöhnlicher Charakter. Wenn er wirklich gewußt hätte, daß ihm das Geld zufiele, dann hätte er es nach meiner festen Überzeugung nicht getan. Dann wäre es ihm als die schmutzige Tat erschienen, die sie ist.«
»Ist das denn nicht paradox?« fragte der andere.
»Dieser Mann war ein Spieler«, sagte der Priester, »und ein Mann, der in Ungnade gefallen war, weil er Risiken auf sich genommen und Befehlen zuvorgekommen war. Wahrscheinlich wegen etwas reichlich Skrupellosem, denn jede Reichspolizei ähnelt der russischen Geheimpolizei mehr, als wir wahrhaben wollen. Er aber hatte die Grenze überschritten und war gescheitert. Nun besteht die Verlockung für diesen Typ Mann, etwas Verrücktes zu tun, gerade darin, daß sich das Risiko in der Rückschau wunderbar ausnehmen wird. Er möchte sagen: ›Niemand außer mir hätte diese Chance ergreifen oder erkennen können, daß sie dann oder nie da war. Welch eine wilde und wunderbare Kombination war das doch, als ich all diese Dinge zusammenfügte; Donald in Ungnade; nach dem Anwalt war geschickt worden; und zugleich war nach Herbert und mir geschickt worden – und dann nichts mehr als die Art, wie der alte Mann mich angrinste und mir die Hand schüttelte. Jeder würde sagen, daß ich verrückt war, das Risiko auf mich zu nehmen; aber so werden eben Vermögen gewonnen, von einem Mann, der verrückt genug war, ein bißchen Weitblick zu haben.‹ Kurz, das ist die Eitelkeit des Raters. Das ist der Größenwahn des Spielers. Je unwahrscheinlicher der Zufall, je spontaner der Entschluß, desto sicherer glaubt er, die Chance zu erwischen. Der Zufall, die tatsächliche Alltäglichkeit des weißen Flecks und des Lochs in der Hecke berauschte ihn wie eine Vision der Schätze dieser Erde. Keiner, der klug genug war, ein solches Zusammentreffen von Zufällen zu erkennen, konnte feige genug sein, das nicht zu nutzen! So spricht der Teufel zum Spieler. Aber selbst der Teufel hätte jenen unglückseligen Mann schwerlich dazu verleiten können, auf eine langweilige überlegte Art hinzugehen und einen alten Erbonkel umzubringen. Das wäre ihm zu bürgerlich erschienen.«
Er hielt für einen Augenblick inne, und fuhr dann mit einer gewissen ruhigen Betonung fort.
»Und nun versuchen Sie, sich der Szene zu erinnern, wie Sie selbst sie gesehen haben. Als er da stand, trunken von dieser teuflischen Gelegenheit, blickte er auf und sah jenen sonderbaren Umriß, der ein Abbild seiner eigenen schwanken Seele hätte sein können; den einen großen Felsbrocken, wie der da gefährlich auf dem anderen lagerte, wie eine Pyramide auf ihrer eigenen Spitze, und er erinnerte sich, daß man ihn den Schicksalsfelsen nannte. Können Sie sich vorstellen, wie solch ein Mann in solch einem Augenblick solch ein Zeichen liest? Ich bin sicher, daß es ihn zur Tat und sogar zur Wachsamkeit aufpeitschte. Er, der ein Turm sein würde, brauchte nicht zu fürchten, ein stürzender Turm zu sein. Und er handelte; seine nächste Schwierigkeit war, seine Spuren zu verbergen. Wenn man ihn während der folgenden Suche mit einem Stockdegen und gar einem blutbefleckten anträfe, würde das fatal sein. Wenn er ihn irgendwo liegen ließe, würde man ihn finden und die Spur verfolgen. Und selbst wenn er ihn ins Meer schleuderte, würde man die Tat bemerken und für bemerkenswert halten – außer es gelänge ihm, sich irgendeine natürlichere Weise auszudenken, die Tat zu verdecken. Wie Sie wissen, dachte er sich eine aus, und eine ungewöhnlich gute dazu. Da er der einzige von Ihnen mit einer Uhr war, erzählte er Ihnen, es sei noch nicht an der Zeit zurückzukehren, schlenderte noch ein Stückchen weiter und begann mit dem Spiel, dem Apportierer Stöckchen hineinzuwerfen. Aber wie verzweifelt muß sein Blick über jenes verlassene Meeresufer hingeflogen sein, bis er an dem Hund hängenblieb!«
Fiennes nickte und blickte gedankenvoll ins Weite. Sein Geist schien sich zu einem weniger faßlichen Teil der Geschichte zurückzubewegen.
»Sonderbar«, sagte er, »daß der Hund nach allem nun doch eine Rolle in der Geschichte spielt.«
»Der Hund hätte Ihnen fast die ganze Geschichte erzählen können, wenn er nur hätte reden können«, sagte der Priester. »Ich beschwere mich lediglich darüber, daß Sie sich seine Geschichte ausdachten, weil er sie nicht erzählen konnte, und ihn dabei mit den Zeugen von Menschen und Engeln sprechen ließen. Das ist ein Teil von etwas, das mir in der modernen Welt mehr und mehr auffällt, wie es in allen Arten von Zeitungsgerüchten und gesellschaftlichen Schlagworten auftaucht; etwas Willkürliches ohne Entscheidungsvollmacht. Die Leute schlucken die Ansprüche von diesem oder jenem oder noch anderem ungeprüft. Das schwemmt euren ganzen alten Rationalismus und Skeptizismus fort und wallt heran wie Meereswogen; und sein Name ist Aberglaube.«
Er stand plötzlich auf, sein Gesicht von einem gewissen Runzeln schwer, und er sprach weiter fast so, als ob er allein wäre. »Das ist die erste Folge davon, wenn man nicht mehr an Gott glaubt, daß man seinen gesunden Verstand verliert und die Dinge nicht mehr sehen kann, wie sie sind. Alles, wovon jemand spricht und behauptet, da stecke doch eine ganze Menge drin, dehnt sich aus ins Unendliche wie die Aussicht in einem Alptraum. Und ein Hund ist ein Vorzeichen und eine Katze ist ein Geheimnis und ein Schwein ist ein Glücksbringer und ein Käfer ist ein Skarabäus, der die ganze Menagerie des Polytheismus Ägyptens und des alten Indiens heraufbeschwört; der Hund Anubis und die große grünäugige Pascht und alle die heiligen brüllenden Bullen von Bashan; zurück zu den Tiergöttern des Anbeginns, Flucht in Elefanten und Schlangen und Krokodile; und das alles, weil ihr Angst vor den vier Worten habt: ›Er ist Mensch geworden.‹«
Der junge Mann stand ein bißchen verlegen auf, als ob er ein Selbstgespräch belauscht hätte. Er rief den Hund zu sich und verließ das Zimmer mit vagen, aber unbeschwerten Abschiedsworten. Doch mußte er den Hund zweimal rufen, denn der Hund war einen Augenblick lang bewegungslos zurückgeblieben und blickte Father Brown ebenso stetig an wie einst der Wolf den heiligen Franz.
Moon Crescent war in einem gewissen Sinne so romantisch gedacht wie sein Name; und die Ereignisse, die sich da begaben, waren auf ihre Weise romantisch genug. Zumindest war es ein Ausdruck jenes ehrlichen Elementes von Gefühl – historischem und fast heroischem –, das es schafft, sich in den älteren Städten an der Ostküste Amerikas Seite an Seite mit dem Kommerzialismus zu behaupten. Ursprünglich war es ein gebogener Gebäudekomplex klassizistischer Architektur, der wirklich noch die Atmosphäre jenes 18. Jahrhunderts heraufbeschwor, in dem Männer wie Washington und Jefferson als um so bessere Republikaner erschienen, weil sie Aristokraten waren. Von Reisenden, denen man immer wieder die Frage stellte, was sie denn von unserer Stadt dächten, erwartete man, daß sie sich insbesondere über unser Moon Crescent äußerten. Gerade die Gegensätze, die seine ursprüngliche Harmonie störten, waren charakteristisch für sein Überleben. Am einen Ende oder Horn der Halbmondform blickten die letzten Fenster über eine zu einem Herrenhaus passende parkähnliche Anlage, deren Bäume und Hecken so förmlich ausgerichtet waren wie in einem Garten zu Queen Annes Zeiten. Aber unmittelbar um die Ecke blickten die anderen Fenster der gleichen Zimmer oder eher »Apartments« auf die kahle unansehnliche Mauer eines riesigen Lagerhauses, das zu einem häßlichen Industriebetrieb gehörte. Die Wohnungen im Moon Crescent selbst waren an jenem Ende nach dem monotonen Muster eines amerikanischen Hotels umgebaut und erhoben sich bis in eine Höhe, die man, obzwar niedriger als das riesige Lagerhaus, in London doch einen Wolkenkratzer genannt haben würde. Der Säulengang aber, der die ganze Straßenfront entlanglief, trug eine solch graue und verwitterte Stattlichkeit zur Schau, als wanderten die Geister der Gründerväter dieser Republik noch immer in ihm auf und nieder. Das Innere der Zimmer war hingegen so sauber und neu, wie die modernste New Yorker Innenausstattung sie nur gestalten konnte, vor allem am nördlichen Ende zwischen dem ordentlichen Garten und der nackten Lagerhauswand. Sie bildeten zusammen ein System sehr kleiner Wohnungen, wie wir in England sagen würden, von denen jede aus Wohnzimmer, Schlafzimmer und Badezimmer bestand, einander jeweils so gleich wie die hundert Zellen einer Bienenwabe. In einer davon saß der berühmte Warren Wynd an seinem Schreibtisch, sortierte Briefe und streute Befehle mit wunderbarer Schnelligkeit und Genauigkeit um sich. Man konnte ihn nur mit einem Ordnung schaffenden Wirbelwind vergleichen. Warren Wynd war ein sehr kleiner Mann mit schütterem grauem Haar und einem Spitzbart, dem Anschein nach zart, doch von hitzigster Tätigkeit. Er hatte herrliche Augen, heller als Sterne und stärker als Magneten, die niemand, der sie je gesehen hatte, jemals vergessen konnte. Und tatsächlich hatte er bei seiner Arbeit als Reformer und Organisator von vielerlei Wohltätigkeiten bewiesen, daß er zumindest Augen im Kopf hatte. Es wurden allerlei Arten von Geschichten und sogar Legenden über die wundersame Geschwindigkeit erzählt, mit der er sich ein gesundes Urteil bilden konnte, besonders über den Charakter von Menschen. Es wurde behauptet, daß er sich seine Frau, die mit ihm so lange auf so wohltätige Art zusammengearbeitet hatte, aus einem ganzen Regiment uniformierter Frauen herausgepickt habe, die während irgendeiner offiziellen Veranstaltung vorbeimarschierten, Pfadfinderinnen sagen die einen, Polizistinnen andere. Und eine weitere Geschichte wird erzählt, wie drei Landstreicher, untereinander ob der Gemeinsamkeit von Schmutz und Lumpen nicht zu unterscheiden, ihn um ein Almosen angegangen waren. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, schickte er den einen in ein spezielles Krankenhaus für gewisse Nervenkrankheiten, empfahl dem anderen eine Entziehungsanstalt und stellte den dritten für ein sehr anständiges Gehalt als seinen privaten Diener ein, eine Stellung, die er in den folgenden Jahren erfolgreich ausfüllte. Natürlich gab es auch jene unvermeidlichen Anekdoten über seine prompte Kritik und seine schlagfertigen Antworten bei Begegnungen mit Roosevelt, mit Henry Ford und mit Mrs. Asquith und all jenen anderen Persönlichkeiten, mit denen ein Mann der amerikanischen Öffentlichkeit ein historisches Gespräch führen sollte, wenn auch nur in den Zeitungen. Mit Sicherheit ließ er sich von solchen Persönlichkeiten nicht einschüchtern; und in diesem Augenblick fuhr er gelassen mit seinem zentrifugalen Papiergewirbel fort, obwohl der Mann ihm gegenüber eine Persönlichkeit von annähernd gleicher Bedeutung war.
Silas T. Vandam, der Millionär und Erdölmagnat, war ein hagerer Mann mit einem langen gelblichen Gesicht und blauschwarzem Haar, Farben, die weniger auffällig, aber dafür um so bedrohlicher wirkten, als sich Gesicht und Gestalt dunkel vor dem Fenster und der weißen Lagerhauswand dahinter abhoben; er trug einen enggeknöpften eleganten Mantel mit Astrachanbesatz. Das eifrige Gesicht und die strahlenden Augen von Wynd andererseits befanden sich im hellen Licht des anderen Fensters, das den kleinen Garten überschaute, denn Stuhl und Schreibtisch standen ihm gegenüber; und obwohl das Gesicht beschäftigt erschien, erschien es nicht besonders mit dem Millionär beschäftigt. Wynds Lakai oder persönlicher Diener, ein großer kraftvoller Mann mit glattem blondem Haar, stand hinter dem Tisch seines Herrn und hielt ein Bündel Briefe; und Wynds Privatsekretär, ein adretter rothaariger junger Mann mit einem harten Gesicht, hatte seine Hand schon auf der Türklinke, als ob er einen Auftrag errate oder einer Geste seines Arbeitgebers gehorche. Das Zimmer war nicht nur ordentlich, sondern bis an den Rand der Leere karg; denn Wynd hatte mit charakteristischer Gründlichkeit die ganze Wohnung darüber gemietet und daraus eine Art Lager- und Archivraum gemacht, wo alle seine anderen Papiere und Besitztümer in Kästen und verschnürten Ballen lagerten.
»Gib das dem Etagendiener, Wilson«, sagte Wynd zu dem Diener, der die Briefe hielt, »und dann hol mir die Flugschrift über die Nachtclubs in Minneapolis; du findest sie in dem Ballen mit dem Buchstaben ›G‹. Ich brauche sie in einer halben Stunde, aber bis dahin stör mich nicht. Nun, Mr. Vandam, ich glaube, daß Ihr Vorschlag vielversprechend ist; aber ich kann eine endgültige Antwort erst geben, wenn ich den Bericht gelesen habe. Der sollte mich morgen nachmittag erreichen, und dann werde ich Sie sofort anrufen. Tut mir leid, daß ich im Augenblick nichts Definitiveres sagen kann.«
Mr. Vandam empfand das als eine Art höflicher Verabschiedung; und sein blasses melancholisches Gesicht ließ erkennen, daß er darin eine gewisse Ironie sah.
»Na, dann werde ich wohl gehen müssen«, sagte er.
»Sehr freundlich, Mr. Vandam, daß Sie vorbeigekommen sind«, sagte Wynd höflich; »Sie werden verzeihen, daß ich Sie nicht hinausbegleite, aber ich muß hier sofort etwas erledigen. Fenner«, setzte er zum Sekretär gewandt hinzu, »begleiten Sie Mr. Vandam zu seinem Wagen und kommen Sie während der nächsten halben Stunde nicht zurück. Ich habe hier was, das ich selbst ausarbeiten muß; danach aber werde ich Sie wieder brauchen.«
Die drei Männer gingen zusammen in den Korridor hinaus und schlossen die Türe hinter sich. Der große Diener Wilson ging den Korridor hinab zum Etagendiener, und die beiden anderen begaben sich in die entgegengesetzte Richtung zum Aufzug; denn Wynds Apartment befand sich hoch oben im 14. Stock. Sie hatten sich noch kaum einen Meter von der geschlossenen Tür entfernt, als ihnen bewußt wurde, daß den Korridor eine heranschreitende, ja majestätische Gestalt ausfüllte. Der Mann war sehr groß und breitschultrig, und seine Massigkeit war um so auffälliger, als er in Weiß gekleidet war, oder in ein helles Grau, das wie Weiß wirkte, mit einem sehr weitkrempigen weißen Panamahut und einem fast ebenso weiten Heiligenschein von fast ebenso weißem Haar. In dieser Aureole wirkte sein Gesicht stark und schön wie das eines römischen Kaisers, nur lag da etwas mehr als nur Jungenhaftes, etwas fast Kindliches um den Glanz seiner Augen und die Glückseligkeit seines Lächelns.
»Ist Mr. Warren Wynd da?« fragte er mit herzlicher Stimme.
»Mr. Warren Wynd ist beschäftigt«, sagte Fenner; »er kann unter keinen Umständen gestört werden. Ich bin sein Sekretär und kann jede Botschaft entgegennehmen.«
»Mr. Warren Wynd ist weder für den Papst noch für gekrönte Häupter anwesend«, sagte Vandam, der Erdölmagnat, mit saurem Sarkasmus. »Mr. Warren Wynd ist sehr eigen. Ich bin hergekommen, um ihm die Kleinigkeit von 20000 Dollar unter bestimmten Bedingungen zu übergeben, und er hat mir gesagt, ich solle wieder vorbeikommen, als wäre ich ein Botenjunge.«
»Es ist schön, ein Junge zu sein«, sagte der Fremde, »und noch schöner, eine Botschaft zu haben; und ich habe eine Botschaft, die er einfach anzuhören hat. Es ist eine Botschaft aus dem großen guten Land im Westen, wo der wirkliche Amerikaner entsteht, während ihr alle schnarcht. Sagen Sie ihm, daß Art Alboin aus der Stadt Oklahoma gekommen ist, um ihn zu bekehren.«
»Ich sagte Ihnen doch, daß niemand ihn sprechen kann«, sagte der rothaarige Sekretär scharf. »Er hat Anweisungen gegeben, daß er für eine halbe Stunde nicht gestört werden darf.«
»Ihr Leutchen hier im Osten wollt euch alle nicht stören lassen«, sagte der lärmige Mr. Alboin, »aber ich schätze, daß da im Westen ein großer Lärm entsteht, der euch schon aufstören wird. Er rechnet herum, wieviel Geld er der einen oder anderen verstaubten alten Religion geben soll; ich aber sage Ihnen, daß jede Verteilung, die die neue Großer-Geist-Bewegung draußen in Texas und Oklahoma außer acht läßt, die Religion der Zukunft außer acht läßt.«
»Oha; ich hab mir all diese Religionen der Zukunft genau angesehen«, sagte der Millionär verächtlich. »Ich bin sie mit dem Läusekamm durchgegangen, und sie sind alle so räudig wie gelbe Hunde. Da war die Frau, die sich Sophia nannte: die hätte sich besser Saphira genannt, schätze ich. Nichts als plumper Schwindel. Überall Fäden an Tischen und Tamburinen. Dann war da der Haufen vom Unsichtbaren Leben; sie behaupteten, sie könnten nach Willen verschwinden, und verschwinden taten sie, und 100000 meiner Dollars verschwanden mit ihnen. Ich kannte Jupiter Jesus drüben in Denver; war wochenlang mit ihm zusammen; und er war doch nur ein gewöhnlicher Gauner. Ebenso der Patagonische Prophet; Sie können drauf wetten, daß er sich nach Patagonien davongemacht hat. Nein, mit all dem bin ich durch; von jetzt an glaube ich nur noch, was ich sehe. Ich nehme an, das nennt man einen Atheisten.«
»Ich schätze, Sie haben mich falsch verstanden«, sagte der Mann aus Oklahoma eifrig. »Ich schätze, ich bin ebensosehr Atheist wie Sie. In unserer Bewegung gibt es keinen übernatürlichen oder abergläubischen Quatsch; nur reine Wissenschaft. Die einzige wirkliche Wissenschaft heißt ganz einfach Gesundheit, und die einzige wirkliche Gesundheit heißt ganz einfach Atmen. Füllen Sie sich Ihre Lungen mit der freien Luft der Prärie, und Sie können alle Ihre alten Städte des Ostens ins Meer pusten. Sie können Ihre größten Männer wegpusten wie Pusteblumen. Das tun wir in der neuen Bewegung draußen zu Hause: Wir atmen. Wir beten nicht; wir atmen.«
»Ja, das nehme ich an«, sagte der Sekretär gelangweilt. Er hatte ein scharfes intelligentes Gesicht, das die Langeweile kaum verbergen konnte; aber er hatte den beiden Monologen mit jener bewunderungswürdigen Geduld und Höflichkeit (so sehr im Widerspruch zu den Legenden über Ungeduld und Unverfrorenheit) gelauscht, mit denen man in Amerika solchen Monologen lauscht.
»Nichts Übernatürliches«, fuhr Alboin fort, »nur die große natürliche Wahrheit hinter all den übernatürlichen Phantasien. Wofür brauchten die Juden einen Gott, außer daß er dem Menschen den Odem des Lebens in die Nüstern blase? Wir betreiben draußen in Oklahoma das Blasen in unsere Nüstern selbst. Was bedeutet denn das Wort ›spiritus‹ genau? Es ist griechisch und bedeutet Atemübung. Leben, Fortschritt, Prophetien; alles ist Atmen.«
»Manche würden auch sagen, es sei Wind«, sagte Vandam, »aber ich bin froh, daß Sie von dem Göttlichkeitshumbug losgekommen sind.«
Das scharfe Gesicht des Sekretärs, ziemlich blaß unter seinem roten Haar, zeigte das Flackern eines eigenartigen Gefühls, das auf eine heimliche Bitternis hinwies.
»Ich bin nicht froh«, sagte er, »ich bin nur sicher. Sie scheinen gerne Atheisten zu sein; da können Sie glauben, was Sie glauben wollen. Aber ich wünschte bei Gott, es gäbe einen Gott; doch da ist keiner. Mein Pech.«
Und in diesem Augenblick wurden sie sich fast mit einer Gänsehaut bewußt, daß die Gruppe, die da vor Wynds Tür stand, ohne ein Geräusch oder eine Bewegung von drei auf vier Menschen angewachsen war. Wie lange die vierte Gestalt bereits da gestanden hatte, konnte keiner der drei ernsthaften Disputanten sagen, aber es schien ganz so, als stünde sie da und warte respektvoll und sogar schüchtern auf die Gelegenheit, etwas Dringliches zu sagen. Für ihre nervöse Empfindsamkeit aber schien sie plötzlich und schweigend emporgeschossen zu sein wie ein Pilz. Und sie sah tatsächlich einem großen schwarzen Pilz ähnlich, denn sie war sehr klein, und die untersetzte Figur verschwand im Schatten ihres großen schwarzen klerikalen Hutes; die Ähnlichkeit wäre noch vollständiger gewesen, wenn Pilze die Angewohnheit hätten, Regenschirme von einer schäbigen und unförmigen Art bei sich zu haben.
Fenner, der Sekretär, wurde sich einer eigenartigen zusätzlichen Überraschung bewußt, als er die Gestalt eines Priesters erkannte; als aber der Priester unter dem runden Hut sein rundes Gesicht aufwärts wandte und unschuldig nach Mr. Warren Wynd fragte, gab er die übliche negative Antwort fast noch schroffer als zuvor. Doch der Priester ließ sich nicht abschrecken.
»Ich möchte aber wirklich Mr. Wynd sehen«, sagte er. »Das mag merkwürdig erscheinen, aber genau das möchte ich tun. Ich will nicht mit ihm sprechen. Ich will ihn nur sehen. Ich will nur sehen, ob er zu sehen ist.«
»Also, ich sage Ihnen, daß er da ist, daß man ihn aber nicht sehen kann«, sagte Fenner zunehmend gereizt. »Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, Sie wollten nur sehen, ob er zu sehen ist? Natürlich ist er da. Wir haben ihn alle vor 5 Minuten verlassen, und seither haben wir hier vor der Tür gestanden.«
»Nun, dann möchte ich sehen, ob er in Ordnung ist«, sagte der Priester.
»Warum?« fragte der Sekretär verärgert.
»Weil ich einen gewichtigen, ich möchte fast sagen feierlichen Grund habe«, sagte der Kleriker sehr ernst, »daran zu zweifeln, daß er in Ordnung ist.«
»O Gott!« rief Vandam fast wütend, »nicht noch mehr Aberglaube.«
»Ich sehe schon, daß ich Ihnen meine Gründe angeben muß«, bemerkte der kleine Kleriker sehr ernst. »Ich nehme an, ich kann nicht einmal erwarten, daß Sie mich durch einen Türspalt schauen lassen, ehe ich Ihnen nicht die ganze Geschichte erzählt habe.«
Er schwieg einen Augenblick lang nachdenklich und fuhr dann fort, ohne die verwunderten Gesichter um ihn herum zu beachten. »Ich ging da unten am Säulengang entlang, als ich einen reichlich zerlumpten Mann schnell um die Ecke am Ende des Halbmondbogens rennen sah. Er raste über das Pflaster auf mich zu und ließ mich eine große grobknochige Gestalt und ein Gesicht sehen, das ich erkannte. Es war das Gesicht eines wilden Iren, dem ich früher mal ein bißchen geholfen habe; seinen Namen werde ich Ihnen nicht sagen. Als er mich sah, taumelte er, rief meinen Namen und sagte: ›Bei allen Heiligen, das ist Father Brown; Sie sind der einzige Mann, dessen Gesicht mir heute Angst machen kann.‹ Da wußte ich, er meinte, daß er heute etwas Übles angestellt hatte, und ich glaube nicht, daß ihm mein Gesicht wirklich Angst gemacht hat, denn sofort danach erzählte er mir davon. Und das war eine sehr merkwürdige Geschichte. Er fragte mich, ob ich Warren Wynd kenne, und ich sagte nein, obwohl ich wußte, daß er ziemlich hoch oben in diesem Gebäudekomplex wohnt. Er sagte: ›Das ist ein Mann, der sich einbildet, ein Heiliger Gottes zu sein; aber wenn er wüßte, was ich von ihm sage, dann wäre er bereit, sich selbst aufzuhängen.‹ Und hysterisch wiederholte er mehrere Male: ›Ja, bereit, sich selbst aufzuhängen.‹ Ich fragte ihn, ob er Wynd irgendein Leid angetan habe, und seine Antwort war reichlich sonderbar. Er sagte: ›Ich habe mir eine Pistole genommen und sie weder mit Kugel noch mit Schrot geladen, sondern mit einem Fluch.‹ Soweit ich verstanden habe, war alles, was er getan hat, daß er die kleine Straße zwischen diesem Gebäude und dem großen Lagerhaus hinabgegangen ist mit einer alten Pistole, die mit einer Platzpatrone geladen war, und daß er damit gegen die Mauer geschossen hat, als könne dies das Gebäude zum Einsturz bringen. ›Aber als ich das getan habe‹, sagte er, ›verfluchte ich ihn mit dem großen Fluch, daß die Gerechtigkeit Gottes ihn beim Schopf ergreifen solle und die Rache der Hölle bei den Fersen und daß er auseinandergerissen werden solle wie Judas, auf daß die Welt ihn nicht mehr kenne.‹ Nun, es spielt jetzt keine Rolle, was ich dem armen verrückten Kerl sonst noch gesagt habe; jedenfalls ging er ein bißchen beruhigter davon, und ich ging zur Rückseite des Gebäudes, um mir die Sache anzusehen. Und tatsächlich lag da in der kleinen Straße am Fuß dieser Mauer eine verrostete uralte Pistole; ich weiß genug von Pistolen, um zu wissen, daß sie nur mit ein bißchen Pulver geladen war; denn an der Mauer fanden sich die schwarzen Spuren von Pulver und Rauch und sogar der Abdruck der Mündung, aber nicht die geringste Vertiefung durch eine Kugel. Er hatte keine Spur der Zerstörung hinterlassen; er hatte überhaupt keine Spur hinterlassen, abgesehen von jenen schwarzen Spuren und dem schwarzen Fluch, den er in den Himmel geschleudert hatte. Also kam ich hierher zurück, um mich nach Warren Wynd zu erkundigen und herauszufinden, ob er in Ordnung ist.«
Fenner, der Sekretär, lachte. »Die kleine Schwierigkeit kann ich bald für Sie aus der Welt schaffen. Ich versichere Ihnen, daß er völlig in Ordnung ist; wir haben ihn vor wenigen Minuten verlassen, wie er an seinem Schreibtisch saß und schrieb. Er war allein in der Wohnung; sie liegt hundert Fuß über der Straße und hat eine solche Lage, daß kein Schuß ihn hätte treffen können, selbst wenn ihr Freund nicht mit einer Platzpatrone geschossen hätte. Es gibt zu dieser Wohnung keinen anderen Eingang als diese Tür, und wir haben die ganze Zeit vor ihr gestanden.«
»Dennoch«, sagte Father Brown sehr ernst, »würde ich gerne hineinblicken und selbst sehen.«
»Das können Sie nicht«, erwiderte der andere. »Guter Gott, Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, daß Sie an den Fluch glauben.«
»Sie vergessen«, sagte der Millionär mit leichtem Spott, »daß das Geschäft von Hochwürden aus Segnen und Fluchen besteht. Na los doch, Sir, wenn man ihn in die Hölle verflucht hat, warum segnen Sie ihn denn nicht wieder her? Was hat Ihr Segen denn für einen Wert, wenn er nicht einmal den Fluch eines irischen Rowdys schlagen kann?«
»Glaubt denn heute noch jemand an so etwas?« protestierte der Westmann.
»Ich nehme an, daß Father Brown an eine ganze Menge Dinge glaubt«, sagte Vandam, dessen Laune unter der knappen Abfertigung vorhin ebenso wie unter dem jetzigen Zank litt. »Father Brown glaubt an einen Einsiedler, der auf einem Krokodil über einen Fluß setzte, das er zuerst aus dem Nichts herbeigezaubert hatte und dem er dann sagte, jetzt solle es sterben, was es auch prompt tat. Father Brown glaubt, daß irgendein gesegneter Heiliger starb und dann seine Leiche in drei Leichen verwandelte, damit drei Gemeinden gedient sei, die alle drauf aus waren, als seine Vaterstadt zu gelten. Father Brown glaubt, daß der eine Heilige seinen Mantel an einem Sonnenstrahl aufhängte und daß ein anderer den seinen als Boot benutzte, um den Atlantik zu überqueren. Father Brown glaubt, daß der heilige Esel 6 Beine hatte und daß das Haus von Loreto durch die Luft geflogen ist. Er glaubt an Hunderte von steinernen Jungfrauen, die den ganzen Tag lang blinzeln und weinen. Ihm ist es ein leichtes zu glauben, daß ein Mann durch ein Schlüsselloch entkommt oder aus einem verschlossenen Zimmer verschwindet. Ich schätze, er mißt den Naturgesetzen wenig Bedeutung bei.«
»Ich hingegen muß den Gesetzen von Warren Wynd große Bedeutung beimessen«, sagte der Sekretär erschöpft, »und sein Gesetz lautet, daß man ihn allein zu lassen hat, wenn er das so will. Wilson wird Ihnen das Gleiche sagen«, denn der große Diener, der nach der Flugschrift ausgeschickt worden war, kam in diesem Augenblick gelassen den Korridor herab und trug die Flugschrift mit sich, ging aber unbekümmert an der Tür vorüber. »Er wird sich da hinten auf die Bank beim Etagendiener setzen und Däumchen drehen, bis er gewünscht wird; vorher aber wird er keinesfalls hineingehen; und ich auch nicht. Ich schätze, wir wissen beide, auf welcher Seite unser Brot gebuttert ist, und es würde eine ganze Menge von Father Browns Heiligen und Engeln nötig sein, uns das vergessen zu machen.«
»Was die Heiligen und die Engel angeht – «, begann der Priester.
»Alles Unfug«, sagte Fenner. »Ich möchte nichts Beleidigendes sagen, aber all dieses Zeugs paßt nur gut zu Krypten und Klöstern und anderen mondbeglänzten Bauten. Doch durch eine geschlossene Tür in einem amerikanischen Hotel können Geister nicht gehen.«
»Aber Menschen können eine Tür öffnen, sogar in einem amerikanischen Hotel«, sagte Father Brown geduldig. »Und mir will scheinen, die einfachste Sache wäre, sie zu öffnen.«
»Das wäre einfach genug, um mich meinen Job zu kosten«, antwortete der Sekretär, »und Warren Wynd wünscht sich so einfache Sekretäre nicht. Nicht einfach genug, um an die Art von Märchen zu glauben, an die Sie zu glauben scheinen.«
»Nun«, sagte der Priester ernst, »es ist sicherlich wahr, daß ich an viele Dinge glaube, an die Sie wahrscheinlich nicht glauben. Aber es würde lange Zeit dauern, um all die Dinge zu erklären, an die ich glaube, und all die Gründe, weshalb ich annehme, daß ich damit recht habe. Es würde etwa 2 Sekunden dauern, diese Tür zu öffnen und mir zu beweisen, daß ich unrecht habe.«
Irgend etwas in diesem Satz schien dem ungezügelteren und ruhelosen Geist des Mannes aus dem Westen zu gefallen.
»Ich geb’ zu, ich würd’ Ihnen gern beweisen, wie unrecht Sie haben«, sagte Alboin und schritt plötzlich an ihnen vorüber, »und ich werde es tun.«
Er öffnete die Tür zur Wohnung weit und blickte hinein. Der erste Blick zeigte, daß Warren Wynds Stuhl leer war. Der zweite Blick zeigte, daß auch sein Zimmer leer war.
Fenner wurde seinerseits durch Energie elektrifiziert und stürzte an den anderen vorbei ins Apartment.
»Er ist im Schlafzimmer«, sagte er kurz, »er muß da sein.« Als er in dem inneren Zimmer verschwand, standen die anderen Männer im leeren äußeren Zimmer und starrten um sich. Die Kargheit und Einfachheit der Einrichtung, die bereits zuvor bemerkt worden war, wandte sich mit kalter Herausforderung wider sie. In diesem Zimmer hätte sich sicherlich nicht einmal eine Maus verbergen können, geschweige denn ein Mann. Es gab keine Vorhänge und, was bei amerikanischen Einrichtungen selten ist, keine Wandschränke. Selbst der Schreibtisch war nicht mehr als ein einfacher Tisch mit einer flachen Schublade und einer hochgestellten Platte. Die Stühle waren harte und hochrückige Skelette. Einen Augenblick später erschien der Sekretär wieder an der inneren Tür, nachdem er die beiden inneren Zimmer durchsucht hatte. In seinen Augen stand starrende Verneinung, und sein Mund schien sich selbständig zu bewegen, als er scharf fragte: »Hier ist er wohl nicht herausgekommen?«
Den anderen erschien es offenbar nicht einmal nötig, der Verneinung verneinend zu antworten. Ihr Geist war gegen etwas geraten wie die kahle Wand des Lagerhauses, die durch das gegenüberliegende Fenster hereinstarrte und nach und nach von Weiß zu Grau wechselte, als mit dem voranschreitenden Nachmittag die Dämmerung langsam sank. Vandam schritt hinüber zu dem Fensterbrett, gegen das er sich eine halbe Stunde zuvor gelehnt hatte, und sah aus dem offenen Fenster. Da gab es keine Röhren oder Feuerleitern, keine Gesimse oder Fußhalte irgendeiner Art an der glatten Mauer, die zu der kleinen Nebenstraße unten hinabfiel, und nichts war da an derselben Erstreckung der Wand aufwärts, die sich noch viele Stockwerke höher erhob. Und noch weniger Abwechslung gab es auf der anderen Straßenseite; da gab es nichts außer der ermüdenden Erstreckung der weiß gekalkten Wand. Er starrte nach unten, als erwarte er, den verschwundenen Philantropen als selbstmörderisches Wrack auf dem Fußsteig liegen zu sehen. Er konnte aber nichts erblicken außer einem kleinen dunklen Gegenstand, der, obwohl durch die Entfernung verkleinert, sehr wohl jene Pistole sein mochte, die der Priester dort gefunden hatte. Inzwischen war Fenner zu dem anderen Fenster gegangen, das aus einer ebenso kahlen und unbesteigbaren Mauer hinausschaute, aber über einen kleinen kunstreichen Park statt über eine Seitenstraße hinblickte. Eine Gruppe von Bäumen unterbrach dort die tatsächliche Sicht hinab auf die Erde; aber sie reichten nur einen kleinen Weg die riesige, von Menschen erbaute Klippe hinan. Beide wandten sich in das Zimmer zurück und sahen einander in dem zunehmenden Zwielicht an, während die letzten Silberstrahlen des Tageslichtes auf den schimmernden Platten von Pulten und Tischen schnell grau wurden. Fenner drückte den Schalter, und die Szene sprang in die erschreckende Deutlichkeit des elektrischen Lichtes.
»Wie Sie eben sagten«, sagte Vandam grimmig, »kein Schuß von da unten hätte ihn treffen können, auch wenn eine Kugel im Lauf gesteckt hätte. Aber selbst wenn ihn eine Kugel getroffen hätte, würde er nicht einfach wie eine Seifenblase zerplatzt sein.«
Der Sekretär, der bleicher denn je war, blickte zornig in das gallenbittere Gesicht des Millionärs.
»Was hat Sie denn auf so morbide Gedanken gebracht? Wer redet denn von Kugeln und Seifenblasen? Warum sollte er denn nicht mehr am Leben sein?«
»Ja, warum nicht?« erwiderte Vandam glatt. »Wenn Sie mir sagen, wo er ist, werde ich Ihnen sagen, wie er dahin gekommen ist.«
Nach einer Pause murmelte der Sekretär verdrießlich: »Ich nehme an, daß Sie recht haben. Wir stehen da genau vor der Frage, über die wir gesprochen haben. War schon ‘ne komische Sache, wenn Sie oder ich je zu der Überzeugung kommen sollten, daß es mit Verfluchungen etwas auf sich hat. Wer aber könnte Wynd, der hier drinnen eingeschlossen war, etwas Böses zugefügt haben?«
Mr. Alboin aus Oklahoma stand spreizbeinig in der Mitte des Zimmers, und sein weißer haariger Heiligenschein schien ebenso wie seine runden Augen Erstaunen auszustrahlen. An dieser Stelle sagte er etwas abwesend mit der unaufmerksamen Unverschämtheit eines »enfant terrible«:
»Sie hatten wohl nicht viel für ihn übrig, oder, Mr. Vandam?«
Mr. Vandams langes gelbliches Gesicht schien im selben Maße noch länger zu werden, in dem es noch finsterer wurde, während er lächelte und ruhig antwortete:
»Wenn wir denn von diesen Zufällen reden, so waren Sie es, glaube ich, der sagte, daß ein Wind aus dem Westen unsere großen Männer wegpusten würde wie Pusteblumen.«
»Ich weiß, daß ich das gesagt habe«, sagte der Westmann offenherzig; »aber wie zum Teufel könnte er denn?«
Das Schweigen brach Fenner, der mit einer Plötzlichkeit, die an Gewalttätigkeit grenzte, sagte:
»Hierzu kann ich nur eins sagen. Es hat einfach nicht stattgefunden. Es kann nicht stattgefunden haben.«
»O doch«, sagte Father Brown aus seiner Ecke, »es hat wirklich stattgefunden.«
Sie fuhren alle zusammen; denn sie hatten tatsächlich alle den unbedeutenden kleinen Mann vergessen, der sie ursprünglich dazu veranlaßt hatte, die Tür zu öffnen. Und die Wiederkehr der Erinnerung ging einher mit einem jähen Umschwung der Stimmung; ihnen allen fiel plötzlich wieder ein, daß sie ihn als abergläubischen Träumer zurückgewiesen hatten, als er auf genau das anspielte, was sich seither unter ihren Augen abgespielt hatte.
»Donnerwetter!« schrie der impulsive Westmensch wie einer, der spricht, ehe er sich zügeln kann; »angenommen, da ist doch etwas dran!«
»Ich muß gestehen«, sagte Fenner und starrte stirnrunzelnd auf den Tisch, »daß die Vorahnungen von Hochwürden offenbar wohlbegründet waren. Ich weiß nicht, ob er uns noch etwas anderes zu sagen hat.«
»Er könnte uns möglicherweise sagen«, sagte Vandam sardonisch, »was zum Teufel wir jetzt machen sollen.«
Der kleine Priester nahm diese Stellung auf bescheidene, aber sachliche Weise ein. »Das einzige, woran ich jetzt denken kann«, sagte er, »ist, daß wir die Verwaltung des Gebäudes unterrichten und nachsehen, ob es irgendwelche weiteren Spuren von dem Mann gibt, der die Pistole abfeuerte. Er verschwand am anderen Ende des Crescent, wo sich der kleine Park befindet. Dort gibt es Bänke, ein bei Landstreichern beliebter Ort.«
Direkte Konsultationen mit der Gebäudeverwaltung, die zu indirekten Konsultationen mit den Polizeibehörden führten, beschäftigten sie eine beträchtliche Zeit; und die Nacht brach bereits herein, als sie unter den langen klassizistischen Bogen des Säulenganges hinaustraten. Das crescentische Halbrund sah so kalt und hohl aus wie der Mond, nach dem es benannt war, und der Mond selbst stieg leuchtend, aber gespenstisch hinter den schwarzen Baumwipfeln auf, als sie um die Ecke bei der kleinen öffentlichen Gartenanlage bogen. Die Nacht verhüllte viel von dem, was an ihr nur städtisch und künstlich war; und als sie in den Schatten der Bäume tauchten, hatten sie ein eigenartiges Gefühl, so als seien sie plötzlich viele hundert Meilen von zu Hause fort. Als sie schweigend ein Weilchen dahingeschritten waren, ging Alboin, der etwas Elementares an sich hatte, plötzlich in die Luft.
»Ich geb’s auf«, schrie er, »ich bin geschlagen. Ich hab nie geglaubt, daß ich eines Tages an solche Dinge geriete; aber was geschieht, wenn solche Dinge an einen geraten? Um Vergebung, Father Brown; schätze, ich geb’ klein bei, was Sie und Ihre Märchen angeht. Ab jetzt bin ich auch für Märchen. Und Sie, Mr. Vandam, Sie haben selbst gesagt, daß Sie Atheist sind und nur glauben, was Sie sehen. Also los, was haben Sie gesehen? Oder vielmehr, was haben Sie nicht gesehen?«
»Ich weiß«, sagte Vandam und nickte düster.
»Ach, teilweise sind das dieser Mond und diese Bäume, die einem an die Nerven gehen«, sagte Fenner hartnäckig. »Bäume sehen im Mondschein immer sonderbar aus mit ihren umherkriechenden Zweigen. Sehen Sie sich nur – «
»Ja«, sagte Father Brown, der stehengeblieben war und durch ein Gewirr von Bäumen nach dem Monde starrte. »Das da oben ist ein sehr eigenartiger Ast.«
Und als er wieder sprach, sagte er nur: »Ich glaubte, es sei ein gebrochener Ast.«
Aber dieses Mal war da ein Bruch in seiner Stimme, die seine Zuhörer unerklärlich erstarren ließ. Etwas, das tatsächlich einem toten Ast ähnlich sah, hing schlaff von dem Baum herab, der sich dunkel vor dem Mond abzeichnete; aber es war kein toter Ast. Als sie nahe genug waren, um zu erkennen, was es war, sprang Fenner mit einem hallenden Fluch zurück. Dann eilte er wieder herbei und löste eine Schlinge vom Hals des schmutzigbraunen kleinen Körpers, der da mit herabhängenden Federn grauer Haare baumelte. Irgendwie wußte er, daß der Körper ein toter Körper war, noch ehe er ihn aus dem Baum hatte herabheben können. Ein sehr langes Stück Seil war um die Äste geschlungen, und ein sehr kurzes Stück davon führte von der Astgabel zu dem Körper. Ein großer Gartenbottich war etwa einen Meter unter den Füßen weggerollt, wie ein Stuhl, den die Füße eines Selbstmörders weggetreten haben.
»O mein Gott!« sagte Alboin, und es klang wie ein Gebet und ein Fluch. »Was hat noch der Mann über ihn gesagt? – ›Wenn er wüßte, wäre er bereit, sich selbst aufzuhängen!‹ Hat er das nicht gesagt, Father Brown?«
»Ja«, sagte Father Brown.
»Nun«, sagte Vandam mit hohler Stimme, »ich habe nie geglaubt, so etwas zu sehen oder zu sagen. Was aber könnte man sagen, außer daß der Fluch gewirkt hat?«
Fenner stand da und bedeckte sein Gesicht mit den Händen; und der Priester legte ihm eine Hand auf den Arm und sagte sanft: »Haben Sie ihn sehr gemocht?«
Der Sekretär ließ die Hände sinken, und sein weißes Gesicht sah unterm Mond gespenstisch aus.
»Ich habe ihn gehaßt wie die Hölle«, sagte er, »und wenn er durch einen Fluch gestorben ist, dann könnte es meiner gewesen sein.«
Der Druck der Hand des Priesters auf seinem Arm verstärkte sich; und der Priester sagte mit einem so tiefen Ernst, wie er ihn bisher noch kaum gezeigt hatte:
»Es war nicht Ihr Fluch; seien Sie dessen gewiß.«
Die Bezirkspolizei hatte erhebliche Schwierigkeiten im Umgang mit den vier Zeugen, die in den Fall verwickelt waren. Alle von ihnen waren ehrbare und im üblichen Sinne sogar verläßliche Menschen; und einer von ihnen war eine Persönlichkeit von erheblicher Macht und Bedeutung: Silas Vandam von der Oil Trust. Der erste Polizeibeamte, der versuchte, seiner Geschichte gegenüber Skepsis zu zeigen, schlug sehr schnell Funken aus dem Stahl des Geistes jenes Magnaten.
»Hören Sie auf damit, mir vorzuschwafeln, ich solle mich an die Fakten halten«, sagte der Millionär harsch. »Ich hab’ mich an eine ganze Menge Fakten gehalten, bevor Sie geboren waren, und ein paar Fakten haben sich an mich gehalten. Ich geb’ Ihnen die Fakten schon richtig an, wenn Sie nur auch genügend Verstand haben, sie korrekt aufzuschreiben.«
Der fragliche Polizist war noch jung und untergeordnet und hatte die undeutliche Vorstellung, daß der Millionär politisch zu bedeutend war, um wie ein gewöhnlicher Bürger behandelt zu werden; also reichte er ihn zunebst seinen Gefährten an einen unerschütterlicheren Vorgesetzten weiter, einen Inspektor Collins, einen ergrauten Mann mit einer grimmig behaglichen Redeweise; an einen, der zwar freundlich war, sich aber keinen Unsinn bieten lassen würde.
»Soso«, sagte er und sah sich die drei Gestalten vor ihm mit zwinkernden Augen an, »das scheint mir eine merkwürdige Geschichte zu sein.«
Father Brown war bereits wieder in seinen täglichen Geschäften unterwegs; aber Silas Vandam ließ sogar seine gigantischen Geschäfte auf den Finanzmärkten für eine Stunde oder so allein, um seine bemerkenswerten Erlebnisse zu bezeugen. Fenners Geschäfte als Sekretär waren in gewisser Weise mit dem Leben seines Arbeitgebers zu Ende gegangen; und der große Art Alboin, der weder in New York noch sonstwo irgendwelche Geschäfte hatte außer der Verbreitung der Atem-des-Lebens- oder Großer-Geist-Religion, hatte nichts, das ihn im Augenblick von der anliegenden Angelegenheit fortgezogen hätte. So standen sie denn in des Inspektors Zimmer in einer Reihe, bereit, einander zu bestätigen.
»Nun sollte ich Ihnen wohl zunächst einmal klarmachen«, sagte der Inspektor fröhlich, »daß es keinem guttut, wenn er mir mit irgendwelchem Wunderquatsch kommt. Ich bin ein praktischer Mann und ein Polizist, und die Sorte Zeugs ist höchstens gut für Priester und Pastöre. Dieser Ihr Priester scheint Sie alle mit einer Geschichte über einen furchtbaren Tod und einen Urteilsspruch verrückt gemacht zu haben; ich werde ihn aber mitsamt seiner Religion ganz raushalten. Wenn Wynd aus jenem Zimmer rausgekommen ist, dann hat ihn jemand rausgelassen. Und wenn man Wynd in einem Baum hängend vorgefunden hat, dann hat ihn jemand dahin gehängt.«
»So ist es«, sagte Fenner, »da aber unsere Aussagen beweisen, daß niemand ihn herausgelassen hat, bleibt die Frage, wie irgendwer ihn dahin gehängt haben kann?«
»Wie kann jemand eine Nase im Gesicht haben?« fragte der Inspektor. »Er hatte eine Nase im Gesicht und eine Schlinge um den Hals. Das sind die Tatsachen; und da ich, wie gesagt, ein praktischer Mann bin, halte ich mich an die Tatsachen. Es kann nicht durch ein Wunder getan worden sein, also muß es ein Mensch getan haben.«
Alboin hatte mehr im Hintergrund gestanden; und seine breite Gestalt schien tatsächlich den natürlichen Hintergrund für die schlankeren und beweglicheren Männer vor ihm zu bilden. Sein weißer Kopf war mit einer gewissen Selbstvergessenheit niedergebeugt; als aber der Inspektor seinen letzten Satz gesprochen hatte, hob er ihn, schüttelte seine haarige Mähne wie ein Löwe und sah verdutzt, aber wach um sich. Er bewegte sich vorwärts in die Mitte der Gruppe, und sie hatten den vagen Eindruck, daß er noch massiger als zuvor war. Sie waren nur zu bereit gewesen, ihn als einen Narren oder einen Scharlatan abzutun; aber es war nicht ganz falsch gewesen, als er von sich sagte, in ihm befänden sich gewisse Tiefen an Lunge und Leben, wie ein Westwind, der seine Stärke in sich birgt und eines Tages leichtere Dinge hinwegpusten mag.
»Sie also sind ein praktischer Mann, Mr. Collins«, sagte er in einer Stimme, die zugleich weich und schwer war. »Sie haben in unserer kleinen Unterhaltung bisher mindestens schon zwei- oder dreimal gesagt, daß Sie ein praktischer Mann sind; also kann ich mich darin nicht irren. Und das ist sicherlich eine sehr interessante kleine Tatsache für jemanden, der damit beauftragt ist, Ihr Leben, Ihre Werke und Ihre Tischgespräche aufzuschreiben, mit einem Porträt des Fünfjährigen, einer Daguerreotypie der Großmutter und alten Ansichten Ihrer Vaterstadt; und ich bin sicher, Ihr Biograph wird nicht versäumen, das ebenso zu erwähnen wie die Tatsache, daß Sie eine Knollennase mit einem Pickel darauf hatten und fast zu fett zum Laufen waren. Und da Sie ein praktischer Mann sind, wäre es nett von Ihnen, wenn Sie weiter praktizierten, bis Sie Warren Wynd wieder ins Leben gebracht und herausgefunden haben, wie genau ein praktischer Mann durch eine massive Holztür gehen kann. Aber ich glaube, Sie irren sich. Sie sind kein praktischer Mann. Sie sind ein praktischer Witz; genau das sind Sie. Der Allmächtige machte sich einen Spaß mit uns, als er sich Sie ausgedacht hat.«
Mit einem charakteristischen Sinn für dramatische Effekte segelte er bereits der Tür zu, ehe noch der erstaunte Inspektor antworten konnte; und keine spätere Beschuldigung konnte ihm einen gewissen Anschein von Triumph rauben.
»Ich glaube, Sie haben vollkommen recht«, sagte Fenner. »Wenn das praktische Männer sind, ziehe ich Priester vor.«
Ein weiterer Versuch ward unternommen, eine amtliche Version der Vorgänge zu erhalten, als die Behörden sich klar darüber wurden, wer die Zeugen der Geschichte wirklich waren und was das bedeutete. Schon hatte die Presse die Sache in ihrer sensationellsten und sogar schamlosesten Weise herausgebracht. Interviews mit Vandam über sein wundersames Abenteuer, Artikel über Father Brown und seine mystischen Eingebungen brachten bald jene, die sich für die Anleitung des Publikums verantwortlich fühlten, zu dem Wunsch, es in weisere Kanäle zu leiten. Beim nächsten Mal ging man die unbequemen Zeugen auf eine indirektere und taktvollere Weise an. Man erzählte ihnen auf fast beiläufige Art, daß Professor Vair an solchen ungewöhnlichen Erfahrungen sehr interessiert sei; und daß er besonders an ihrem so erstaunlichen Fall interessiert sei. Professor Vair war ein Psychologe von großem Ruf; er war dafür bekannt, daß er ein unparteiisches Interesse an der Kriminologie hatte; und erst einige Zeit später entdeckten sie, daß er überhaupt mit der Polizei in Beziehung stand.
Professor Vair war ein höflicher Mann, er trug einen ruhigen hellgrauen Anzug, eine künstlerische Krawatte und einen blonden Spitzbart; für jemanden, dem ein bestimmter Typ des Hochschullehrers unbekannt ist, sah er eher wie ein Landschaftsmaler aus. Sein Gesicht drückte nicht allein Höflichkeit, sondern sogar Offenheit aus.
»Ja ja, ich weiß«, sagte er lächelnd, »ich kann mir vorstellen, was Sie durchgemacht haben. Die Polizei zeigt sich bei Untersuchungen psychischer Art nicht in ihrem besten Licht, oder? Natürlich, der gute alte Collins sagt, daß er nur Tatsachen haben will. Welch ein absurder Fehler! In einem Fall dieser Art wünschen wir aufs entschiedenste nicht nur die Tatsachen. Es ist uns viel wesentlicher, auch die Phantasien zu erfahren.«
»Wollen Sie damit sagen«, fragte Vandam gewichtig, »daß alles, was wir Tatsachen nennen, nur Phantasien waren?«
»Keineswegs«, sagte der Professor, »ich wollte nur sagen, daß die Polizei dumm ist, wenn sie sich einbildet, sie könne das psychologische Moment dieser Dinge außer acht lassen. Dabei ist doch das psychologische Element alles in allem, obwohl man das erst jetzt zu begreifen beginnt. Nehmen wir, um damit zu beginnen, das Persönlichkeit genannte Element. Nun habe ich von diesem Priester Father Brown schon früher gehört; und sicherlich ist er einer der bemerkenswertesten Männer unserer Zeit. Männer dieser Art tragen eine gewisse Art von Atmosphäre mit sich; und niemand weiß bis anhin, wie sehr Nerven und sogar Sinne durch sie beeinflußt werden. Die Leute sind hypnotisiert – ja, hypnotisiert; denn auch Hypnose ist wie alles andere eine Frage des Grades; sie schleicht sich leicht in alle Alltagsgespräche ein: Sie braucht nicht unbedingt von einem Herrn im Smoking auf einer Bühne in einem Varieté vorgeführt zu werden. Father Browns Religion hat schon immer die Psychologie des Atmosphärischen verstanden und weiß, wie sie alles gleichzeitig anspricht; selbst zum Beispiel den Geruchssinn. Sie versteht jene eigenartigen Wirkungen, die Musik auf Tiere und Menschen ausübt; sie kann – «
»Hol’s der Henker«, protestierte Fenner, »glauben Sie denn, er wäre mit einer Kirchenorgel unterm Arm den Korridor hinabspaziert?«
»Er ist zu klug, um so was zu tun«, sagte Professor Vair lachend. »Er weiß, wie man die Essenz all dieser geistigen Töne und Ansichten und sogar Gerüche in einige wenige zurückhaltende Gesten konzentriert; in eine Kunst oder Schule des Verhaltens. Er könnte Ihren Geist allein durch die Tatsache seiner Gegenwart so auf das Übernatürliche konzentrieren, daß Natürliches rechts und links an Ihrem Geist unbemerkt vorüberglitte. Nun müssen Sie wissen«, fuhr er fort und kehrte in eine heitere Vernünftigkeit zurück, »daß die Frage menschlicher Bezeugungen um so sonderbarer wird, je mehr wir sie studieren. Nicht einer unter 20 nimmt Dinge überhaupt wahr. Nicht einer unter 100 nimmt sie wirklich genau wahr; und sicherlich kann nicht einer unter 100 zunächst wahrnehmen, sich dann erinnern und schließlich beschreiben. Immer und immer wiederholte wissenschaftliche Experimente haben erwiesen, daß Menschen unter Druck geglaubt haben, eine Tür sei geschlossen, wenn sie offen war, oder offen, wenn sie geschlossen war. Menschen waren sich uneins über die Anzahl von Türen oder Fenstern in einer Mauer ihnen direkt gegenüber. Sie erlitten bei hellem Tageslicht optische Täuschungen. Ihnen widerfuhr das sogar ohne die hypnotische Wirkung von Persönlichkeit; hier aber haben wir eine ungemein kraftvolle und überzeugende Persönlichkeit, die darauf aus ist, ein ganz bestimmtes Bild in Ihrem Geist zu fixieren; das Bild eines wilden irischen Rebellen, der seine Pistole wider den Himmel schüttelt und jene schußlose Salve abfeuert, dessen Echo der Donner vom Himmel war.«
»Professor«, schrie Fenner, »ich werd noch auf meinem Sterbebett beschwören, daß jene Tür niemals geöffnet wurde.«
»Jüngste Versuche«, fuhr der Professor ruhig fort, »haben den Verdacht nahegelegt, daß unser Bewußtsein nicht beständig ist, sondern aus einer Folge sehr schneller Eindrücke besteht, etwa wie ein Film; es ist möglich, daß jemand oder etwas sozusagen zwischen den Szenen herein- oder hinausschlüpft. Das geschieht nur in den Augenblicken, in denen der Vorhang zu ist. Wahrscheinlich beruhen alle Zauberei und alle Taschenspielertricks auf dem, was wir schwarze Blitze oder die Blindheit zwischen den Sichtblitzen nennen können. Nun hat Sie dieser Priester und Prediger transzendentaler Vorstellungen ganz mit einer transzendentalen Bilderwelt erfüllt; mit dem Bild des Kelten, wie er gleich einem Titan den Turm durch seinen Fluch erschüttert. Vermutlich hat er das mit leichten, aber zwingenden Gesten begleitet, die Ihre Augen und Ihren Geist in die Richtung zum unbekannten Zerstörer drunten lenkten. Oder vielleicht geschah sonst etwas, oder sonstwer kam vorüber.«
»Wilson der Diener«, knurrte Alboin, »ging den Korridor hinab, um dort auf der Bank zu warten, aber ich schätze, er hat uns nicht sehr abgelenkt.«
»Wie sehr, werden Sie nie wissen«, erwiderte Vair; »vielleicht war es das, oder wahrscheinlicher noch, daß Ihre Blicke irgendwelchen Gesten des Priesters folgten, als er Ihnen sein Märchen von Magie erzählte. Und in einem dieser schwarzen Blitze schlüpfte Mr. Warren Wynd aus seiner Tür und ging in seinen Tod. Das ist die wahrscheinlichste Erklärung. Es ist eine Veranschaulichung der neuen Entdeckung. Der Geist ähnelt nicht einer durchgezogenen Linie, sondern einer gepunkteten Linie.«
»Sehr gepunktet«, sagte Fenner schwach. »Um nicht zu sagen bekloppt.«
»Sie glauben doch wohl nicht wirklich«, fragte Vair, »daß Ihr Arbeitgeber in einem Zimmer wie in einem Kasten eingeschlossen war?«
»Besser als zu glauben, daß ich in ein Zimmer mit Gummiwänden eingeschlossen gehörte«, antwortete Fenner. »Darüber, Professor, beklage ich mich bei Ihren Vermutungen. Ich könnte genausogut einem Priester glauben, der an ein Wunder glaubt, wie irgendeinem Manne nicht zu glauben, der irgendein Recht hat, an irgendeine Tatsache zu glauben. Der Priester erzählt mir, daß ein Mann einen Gott anrufen kann, von dem ich nichts weiß, er möge ihn nach den Gesetzen einer höheren Gerechtigkeit rächen, von der ich nichts weiß. Ich kann dazu nicht mehr sagen, als daß ich davon nichts weiß. Wenn aber jenes armen Iren Gebet und Gewehr schließlich doch in einer höheren Welt vernommen wurden, könnte jene höhere Welt auf eine Weise gehandelt haben, die uns verquer erscheint. Sie aber fordern mich auf, den Tatsachen dieser Welt nicht zu glauben, wie sie meinen fünf Sinnen erscheinen. Ihnen zufolge hätte ja eine ganze Prozession Iren mit Donnerbüchsen durch dieses Zimmer marschieren können, während wir miteinander sprachen, solange sie nur darauf achteten, daß sie lediglich auf die blinden Flecken in unserem Geist traten. Wunder von der mönchischen Art wie das Materialisieren von Krokodilen oder das Aufhängen von Mänteln an Sonnenstrahlen scheinen mir im Vergleich zu Ihnen geradezu vernünftig zu sein.«
»Na schön«, sagte Professor Vair kurz, »wenn Sie entschlossen sind, an Ihren Priester und seinen mirakulösen Iren zu glauben, kann ich nichts mehr sagen. Ich fürchte, Sie hatten keine Gelegenheit, Psychologie zu studieren.«
»Nein«, sagte Fenner trocken, »aber ich hatte eine Gelegenheit, Psychologen zu studieren.«
Und führte, indem er sich höflich verneigte, seine Abordnung aus dem Zimmer und sagte kein einziges Wort, ehe er nicht auf der Straße war; dann sprach er sie reichlich explosiv an.
»Diese Irren!« schrie Fenner in aufbrausendem Zorn. »Was zum Teufel bilden die sich ein geschieht mit der Welt, wenn niemand weiß, ob er etwas gesehen hat oder nicht? Ich wünschte, ich hätte ihm seinen blöden Schädel mit einer Platzpatrone weggeschossen und dann erklärt, ich hätte das in einem blinden Blitz getan. Father Browns Wunder mag wunderbar sein oder nicht, aber er hat gesagt, es werde geschehen, und es geschah. Alles, was diese verdammten Spinner können, ist zusehen, wie sich etwas ereignet, und dann behaupten, es habe sich nicht ereignet. Hören Sie, ich glaube, wir sind es dem Padre schuldig, daß wir seine kleine Vorführung bezeugen. Wir sind alle vernünftige, solide Männer, die nie an irgendwas geglaubt haben. Wir waren nicht betrunken. Wir waren nicht fromm. Es ist ganz einfach geschehen, wie er es vorausgesagt hat.«
»Ganz meine Meinung«, sagte der Millionär. »Vielleicht ist das der Anfang von mächtig großen Dingen auf der spirituellen Linie; aber jedenfalls hat der Mann, der selbst auf der spirituellen Linie ist, Father Brown, bei diesem Geschäft mit Sicherheit Pluspunkte gemacht.«
Einige Tage danach erhielt Father Brown eine sehr höfliche Note, gezeichnet von Silas T. Vandam, die ihn bat, zu einer bestimmten Stunde in jenem Apartment zu erscheinen, das die Szene des Verschwindens war, um die notwendigen Schritte zu unternehmen, jenes wundersame Ereignis festzuhalten. Das Ereignis selbst begann bereits, sich in den Zeitungen auszubreiten, und überall bemächtigten sich die Anhänger des Okkulten seiner. Father Brown erblickte die schreienden Plakate mit Aufschriften wie »Selbstmord des Mannes, der sich in Luft auflösen konnte« und »Fluch hängt Philanthropen«, als er auf dem Wege nach Moon Crescent vorüberkam und die Treppen auf dem Weg zum Aufzug hinaufstieg. Er fand die kleine Gruppe ziemlich genau so vor, wie er sie verlassen hatte, Vandam, Alboin und den Sekretär; aber in ihrem Ton ihm gegenüber war eine ganz neue Hochachtung und sogar Verehrung. Sie standen an Wynds Schreibtisch, auf dem ein großer Papierbogen und Schreibgeräte lagen, als sie sich umdrehten, um ihn zu begrüßen.
»Father Brown«, sagte der Sprecher, der weißhaarige Westmann, durch seine Verantwortlichkeit einigermaßen ernüchtert, »wir haben Sie in erster Linie hergebeten, um Sie um Entschuldigung zu bitten und Ihnen unseren Dank abzustatten. Wir anerkennen, daß Sie es waren, der die spirituelle Manifestation von Anfang an erkannte. Wir alle waren in der Schale hartgesottene Skeptiker; aber jetzt erkennen wir, daß ein Mann zunächst diese Schale durchbrechen muß, um zu den großen Dingen hinter der Welt vorzudringen. Sie stehen für diese Dinge ein; Sie treten für die paranormale Erklärung der Dinge ein; und wir müssen uns vor Ihnen verneigen. Und in zweiter Linie haben wir Sie hergebeten, weil wir meinen, daß dieses Dokument ohne Ihre Unterschrift nicht vollständig wäre. Darin unterbreiten wir die exakten Tatsachen der Gesellschaft für Para-Forschung, denn die Zeitungsberichte sind nicht gerade das, was man exakt nennen könnte. Wir haben niedergelegt, wie der Fluch in der Straße ausgesprochen wurde; wie der Mann sich hier in einem Zimmer eingeschlossen befand wie in einem Kasten, wie der Fluch ihn unmittelbar in Luft auflöste und auf eine unausdenkbare Weise als Selbstmörder am Galgen wieder materialisierte. Das ist alles, was wir dazu sagen können; aber alles das wissen wir und haben es mit eigenen Augen gesehen. Und da Sie der erste waren, der an das Wunder glaubte, sind wir alle der Ansicht, daß Sie auch der erste sein sollten, zu unterschreiben.«
»Aber nicht doch«, sagte Father Brown in heftiger Verwirrung. »Ich glaube wirklich nicht, daß ich das tun möchte.«
»Heißt das, Sie wollen nicht als erster unterschreiben?«
»Ich meine, ich möchte gar nicht unterschreiben«, sagte Father Brown bescheiden. »Wissen Sie, für einen Mann in meiner Position schickt es sich nicht, über Wunder zu scherzen.«
»Aber Sie waren es doch, der sagte, es sei ein Wunder«, sagte Alboin und starrte ihn an.
»Tut mir leid«, sagte Father Brown, »aber ich fürchte, daß es sich hier um einen Irrtum handelt. Ich glaube nicht, daß ich je gesagt habe, es sei ein Wunder. Alles, was ich gesagt habe, war, daß es sich ereignen könnte. Sie haben dann gesagt, es könne sich nicht ereignen, denn es wäre ein Wunder, wenn es doch geschähe. Und dann geschah es. Und deshalb haben Sie gesagt, es sei ein Wunder. Aber ich habe von Anfang bis Ende nie ein Wort gesagt über Wunder oder Zauberei, oder etwas dergleichen.«
»Aber ich dachte, Sie glauben an Wunder«, brach es aus dem Sekretär heraus.
»Ja«, sagte Father Brown, »ich glaube an Wunder. Ich glaube an menschenfressende Tiger, aber ich sehe sie nicht überall herumlaufen. Wenn ich mir Wunder wünsche, weiß ich, wo ich sie bekommen kann.«
»Ich kann nicht verstehen, wie Sie diese Haltung einnehmen können, Father Brown«, sagte Vandam ernsthaft. »Das erscheint so engstirnig; und Sie erscheinen mir gar nicht engstirnig, auch wenn Sie wie ein Pastor aussehen. Begreifen Sie denn nicht, daß ein Wunder wie dieses den Materialismus endgültig erledigt? Es bezeugt der ganzen Welt in riesigen Schlagzeilen, daß spirituelle Kräfte wirken können und wirklich wirken. Damit würden Sie der Religion einen Dienst erweisen, wie ihn ihr noch nie ein Pastor erwiesen hat.«
Der Priester hatte sich ein wenig versteift und schien auf eine eigenartige Weise trotz seiner plumpen Gestalt in eine unbewußte und unpersönliche Würde gehüllt. »Aber«, sagte er, »Sie wollen doch nicht etwa, daß ich der Religion durch etwas diene, von dem ich genau weiß, daß es eine Lüge ist? Ich weiß nicht genau, was Sie mit dem Satz gemeint haben; und, um ehrlich zu sein, weiß ich auch nicht, ob Sie das tun. Lügen mag der Religion dienen; aber ich bin sicher, daß es nicht Gott dient. Und da Sie so sehr darauf herumharfen, was ich glaube, wäre es da nicht angebracht, wenn Sie wenigstens eine Ahnung davon bekämen, was das ist?«
»Ich glaube nicht, daß ich Sie ganz verstehe«, bemerkte der Millionär neugierig.
»Ich glaube nicht, daß Sie das tun«, sagte Father Brown einfach. »Sie sagen, diese Geschichte sei durch spirituelle Kräfte geschehen. Welche spirituellen Kräfte? Sie glauben doch nicht etwa, die heiligen Engel hätten ihn sich geschnappt und in den Parkbaum gehängt, oder? Und was die unheiligen Engel angeht – nein, nein, nein. Die Männer, die das taten, taten ein böses Ding, aber sie gingen nicht über ihre eigene Bosheit hinaus; sie waren nicht böse genug, um mit spirituellen Kräften umzugehen. Ich weiß, bei meinen Sünden, einiges über den Satanismus; ich war gezwungen, es zu wissen. Ich weiß, was das ist, was es praktisch immer ist. Es ist stolz, und es ist verschlagen. Es liebt es, überlegen zu sein; es liebt es, die Unschuldigen mit halbverstandenen Dingen zu entsetzen, den Kindern Gänsehaut zu verursachen. Deshalb liebt es Mysterien und Initiationen und Geheimgesellschaften und all das andere so sehr. Seine Augen sind nach innen gewendet, und wie groß und erhaben es auch erscheinen mag, es verbirgt immer ein kleines verrücktes Lächeln.« Er schauerte plötzlich zusammen, als habe ihn ein eiskalter Luftzug getroffen. »Kümmern Sie sich nicht um die; sie haben mit dem hier nichts zu tun, glauben Sie mir. Glauben Sie denn, daß mein armer wilder Ire, der wie rasend die Straße herabrannte und die Hälfte der Geschichte heraussprudelte, als er nur mein Gesicht sah, und der davonlief vor lauter Angst, noch mehr herauszusprudeln, glauben Sie, daß Satan dem irgendwelche Geheimnisse anvertraut? Ich gebe zu, daß er sich an einer Verschwörung beteiligte, wahrscheinlich an einer Verschwörung mit zwei anderen Männern, die schlimmer sind als er; aber trotz allem befand er sich nur in einem ungeheuren Zorn, als er die Straße hinabrannte und seine Pistole und seinen Fluch losfeuerte.«
»Aber was auf Erden soll denn das alles bedeuten?« fragte Vandam. »Eine Spielzeugpistole und einen lächerlichen Fluch abzufeuern würde niemals getan haben, was getan worden ist, es sei denn durch ein Wunder. Sonst hätte es Wynd nicht wie einen Elf verschwinden lassen. Sonst hätte es ihn nicht eine Viertelmeile weiter mit einem Strick um den Hals wieder auftauchen lassen.«
»Nein«, sagte Father Brown scharf; »aber was hätte es getan?«
»Ich kann Ihnen immer noch nicht folgen«, sagte der Millionär ernsthaft.
»Ich frage, was hätte es getan?« wiederholte der Priester und zeigte zum ersten Mal Anzeichen einer Bewegung, die an Ärger grenzte. »Sie wiederholen ständig, daß der Schuß mit einer Platzpatrone dieses oder jenes nicht tun würde; daß, wenn das alles wäre, der Mord nicht geschehen wäre oder das Wunder nicht geschehen wäre. Es scheint Ihnen nicht einzufallen, zu fragen, was wirklich geschehen würde. Was würde geschehen, wenn ein Verrückter genau unter Ihrem Fenster ohne Sinn und Verstand losfeuerte? Was wäre das allererste, was geschähe?«
Vandam blickte nachdenklich drein. »Ich schätze, ich würde aus dem Fenster schauen«, sagte er.
»Ja«, sagte Father Brown, »Sie würden aus dem Fenster schauen. Das ist die ganze Geschichte. Es ist eine traurige Geschichte; aber jetzt ist sie vorüber; und außerdem gibt es mildernde Umstände.«
»Wieso sollte er aber zu Schaden kommen, nur indem er aus dem Fenster schaute?« fragte Alboin. »Er stürzte nicht hinaus, sonst wäre er unten in der Straße gefunden worden.«
»Nein«, sagte Father Brown mit leiser Stimme. »Er stürzte nicht ab. Er stieg empor.«
In seiner Stimme war etwas wie das Grollen eines Gongs, wie ein Klang des Schicksals, sonst aber fuhr er gleichmäßig fort:
»Er stieg empor, aber nicht auf Flügeln; nicht auf den Flügeln heiliger oder unheiliger Engel. Er stieg empor am Ende eines Strickes, genau so, wie Sie ihn im Park gesehen haben; eine Schlinge senkte sich ihm über den Kopf im gleichen Augenblick, in dem er ihn aus dem Fenster streckte. Erinnern Sie sich nicht an Wilson, seinen großen Diener, ein Mann von riesiger Stärke, während Wynd so klein und leicht wie eine Krabbe war? Ist nicht Wilson in die Etage darüber gestiegen, um eine Flugschrift zu holen, aus einem Zimmer voller Gepäck, das mit Stricken über Stricken verschnürt war? Hat man Wilson seit jenem Tag noch einmal gesehen? Ich glaube nicht.«
»Sie meinen«, fragte der Sekretär, »daß Wilson ihn sich direkt aus dem Fenster geangelt hat wie eine Forelle an der Angelschnur?«
»Ja«, sagte der andere, »und ließ ihn dann wiederum aus dem anderen Fenster hinab in den Park, wo der dritte Komplize ihn in einen Baum hing. Erinnern Sie sich, daß die Straße immer leer war; erinnern Sie sich, daß die gegenüberliegende Wand völlig kahl ist; erinnern Sie sich, daß alles knapp 5 Minuten, nachdem der Ire mit der Pistole das Zeichen gegeben hatte, vorüber war. Natürlich waren sie zu dritt; und ich frage mich, ob Sie sie nicht alle erraten können.«
Alle drei starrten das einfache viereckige Fenster und die kahle weiße Wand dahinter an; und niemand antwortete.
»Übrigens«, fuhr Father Brown fort, »denken Sie nicht, daß ich Ihnen Vorwürfe machte, weil Sie so schnell zu übernatürlichen Schlußfolgerungen fanden. Der Grund dafür ist wirklich sehr einfach. Sie haben alle geschworen, daß Sie in der Schale hartgesottene Materialisten seien; und in Wirklichkeit balancierten Sie alle am Rande des Glaubens – des Glaubens an fast alles. Tausende balancieren heute so; aber es ist eine sehr scharfe und unbequeme Kante, wenn man daraufsitzt. Sie werden keine Ruhe finden, ehe Sie nicht irgend etwas glauben; deshalb ist Mr. Vandam die neuen Religionen mit einem Läusekamm durchgegangen, und deshalb zitiert Mr. Alboin die Bibel im Dienste seiner Religion der Atemübungen, und deshalb grollt Mr. Fenner demselben Gott, den er leugnet. Darin sind Sie alle gespalten; es ist natürlich, ans Übernatürliche zu glauben. Es erscheint nie natürlich, nur Natürliches anzunehmen. Und obgleich es nur eines kleinen Anstoßes bedurfte, um Sie in diesen Dingen ins Widernatürliche zu stoßen, waren diese Dinge doch nur natürliche Dinge. Sie waren nicht nur natürlich, sie waren auch fast unnatürlich einfach. Ich glaube, es hat niemals eine Geschichte gegeben, die so einfach wie diese war.«
Fenner lachte und sah dann verwirrt aus. »Eins verstehe ich nicht«, sagte er. »Wenn es Wilson war, wie kam dann Wynd dazu, sich einen Mann unter so intimen Umständen zu halten? Wie kam es, daß ihn ein Mann umbrachte, den er seit Jahren täglich gesehen hat? Er war berühmt für seine Beurteilung von Menschen?«
Father Brown stieß seinen Regenschirm mit einer Heftigkeit auf den Boden, die man selten an ihm sah.
»Ja«, sagte er fast wütend, »deshalb wurde er umgebracht. Genau dafür wurde er umgebracht. Er wurde umgebracht, weil er ein Verurteiler von Menschen war.«
Sie alle starrten ihn an, aber er fuhr fort, fast so, als seien sie gar nicht anwesend.
»Was ist denn der Mensch, daß er der Beurteiler von Menschen wäre?« fragte er. »Die drei waren diese Landstreicher, die einst vor ihm standen und blitzschnell zur Rechten und zur Linken auf diesen oder jenen Platz gewiesen wurden; als ob es für sie keine Höflichkeit, keine Stufen der Vertrautheit, keinen freien Willen zur Freundschaft gäbe. Und 20 Jahre konnten die Empörung nicht erschöpfen, die aus jener bodenlosen Beleidigung in jenem Augenblick entstand, da er sich erdreistete zu glauben, er könne sie auf einen Blick erkennen.«
»Ja«, sagte der Sekretär, »ich verstehe… und ich verstehe, wieso Sie alle Arten Dinge verstehen.«
»Ich aber will verflucht sein, wenn ich verstehe«, schrie der lärmige Westmensch stürmisch. »Ihr Wilson und Ihr Ire scheinen mir nur ein paar gurgelschlitzender Mörder zu sein, die ihren Wohltäter umgebracht haben. Ich habe keinen Platz für solche verräterischen und blutigen Meuchler in meiner Moral, ob sie nun eine Religion ist oder nicht.«
»Er war ein verräterischer und blutiger Meuchler, kein Zweifel«, sagte Fenner ruhig. »Ich verteidige ihn nicht; aber ich nehme an, daß es Father Browns Geschäft ist, für alle Menschen zu beten, selbst für einen Mann wie – «
»Ja«, stimmte Father Brown zu, »es ist mein Geschäft, für alle Menschen zu beten, selbst für einen Mann wie Warren Wynd.«
Menschen saßen um einen kleinen Tisch herum, so zusammenhanglos und zufällig, als hätten sie jeder einzeln an demselben kleinen menschenleeren Eiland Schiffbruch erlitten. Jedenfalls umgab sie die See, denn in gewissem Sinn war ihr Eiland von einem anderen Eiland umschlossen, einer großen und fliegenden Insel wie Laputa. Der kleine Tisch war nämlich einer von vielen kleinen Tischen, die im Speisesaal jenes gigantischen Schiffes Moravia umherstanden, das durch die Nacht und die ewige Leere des Atlantiks jagte. Die kleine Gesellschaft hatte nichts gemeinsam, außer daß sie alle von Amerika nach England reisten. Mindestens zwei unter ihnen hätte man Berühmtheiten nennen können; andere hätte man düster nennen können und in ein oder zwei Fällen gar dubios.
Der erste war der berühmte Professor Smaill, eine Autorität auf dem Gebiet archäologischer Studien zum spätbyzantinischen Reich. Seine Vorlesungen, gehalten an einer amerikanischen Universität, wurden selbst an den autoritativsten europäischen Sitzen der Gelehrsamkeit als von erstrangiger Autorität anerkannt. Seine literarischen Werke waren so sehr von einer reifen und einbildungsmächtigen Sympathie für die europäische Vergangenheit durchtränkt, daß es Fremde oft erstaunte, ihn mit amerikanischem Akzent sprechen zu hören. Aber auf seine Weise war er sehr amerikanisch; er hatte langes blondes Haar, das er aus einer hohen viereckigen Stirn zurückgebürstet trug, lange gerade Gesichtszüge und einen eigentümlich gemischten Ausdruck von Gedankenverlorenheit und verhaltener Schnelligkeit, wie ein Löwe, der geistesabwesend über seinen nächsten Sprung nachgrübelt.
Es gab nur eine Dame in der Gruppe; aber sie stellte für sich allein (wie die Journalisten oftmals von ihr sagten) eine ganze Heerschar dar; und war durchaus bereit, an diesem oder jedem anderen Tisch die Gastgeberin, um nicht zu sagen: die Kaiserin zu spielen. Es war Lady Diana Wales, die berühmte Forschungsreisende in tropischen und anderen Ländern; aber ihr Erscheinen bei Tisch wies nichts Rauhes oder Männliches auf. Sie selbst war auf fast tropische Weise eine Schönheit, mit einer Fülle brennendrotem, schwerem Haar; sie war, wie die Journalisten das bezeichnen, gewagt gekleidet, aber ihr Gesicht war intelligent, und ihre Augen hatten jenes helle und ziemlich auffallende Aussehen, das zu den Augen von Damen gehört, die auf politischen Versammlungen Fragen stellen.
Die anderen vier Gestalten erschienen zunächst in dieser strahlenden Gegenwart wie Schatten; aber bei näherer Betrachtung wiesen sie Unterschiede auf. Einer von ihnen war ein junger Mann, den das Schiffsregister als Paul T. Tarrant führte. Er war ein amerikanischer Typus, den man besser einen amerikanischen Antitypus nennen könnte. Jede Nation hat wahrscheinlich einen Antitypus; eine Art von extremer Ausnahme, die die nationale Regel bestätigt. Amerikaner achten wirklich die Arbeit, so wie Europäer den Krieg achten. Es umgibt sie ein Heiligenschein von Heldentum; und wer vor ihr zurückschreckt, ist weniger als ein Mann. Der Antitypus erweist sich dadurch, daß er ausnehmend selten ist. Er ist der Stutzer, der feine Stadtpinkel: der wohlhabende Verschwender, der in so vielen amerikanischen Romanen den schwachen Schurken abgibt. Paul Tarrant schien absolut nichts anderes zu tun zu haben, als seine Kleidung zu wechseln, was er ungefähr sechsmal am Tage tat; er schlüpfte in schwächere oder stärkere Schattierungen seines Anzugs aus erlesenem Hellgrau wie die delikaten silbrigen Wechsel des Zwielichts. Anders als die meisten Amerikaner kultivierte er sehr sorgsam einen kurzen lockigen Bart; und anders als die meisten Stutzer selbst seines Typs schien er eher trotzig als protzig. In seinem Schweigen und seiner Düsternis lag etwas, das eigentlich fast an Lord Byron erinnerte.
Die beiden nächsten Reisenden schienen automatisch zusammenzugehören; lediglich weil sie beide englische Vertragsreisende waren, die von einer Amerikatour zurückkehrten. Einen von ihnen nannte man Leonard Smyth, offenbar ein kleiner Poet, aber ein großer Journalist; langschädlig, blond, vollkommen gekleidet und vollkommen imstande, sich um sich selbst zu kümmern. Der andere stellte fast einen komischen Kontrast dar, kurz und breit, mit einem schwarzen Walroßschnurrbart, und so schweigsam, wie der andere gesprächig war. Doch da man ihn sowohl des Raubes angeklagt wie wegen der Rettung einer rumänischen Prinzessin vor den Pranken eines Jaguars in seinem Wanderzoo bejubelt und er so in einer Gesellschaftsangelegenheit eine Rolle gespielt hatte, war man natürlich der Meinung, seine Ansichten über Gott, den Fortschritt, seine Kinderzeit und die Zukunft der anglo-amerikanischen Beziehungen wären von großem Interesse und Wert für die Einwohner von Minneapolis und Omaha. Die sechste und unbedeutendste Gestalt war die eines kleinen englischen Priesters, der auf den Namen Brown hörte. Er lauschte der Konversation mit respektvoller Aufmerksamkeit und gewann in jenem Augenblick den Eindruck, daß sie in einem Punkte ziemlich seltsam sei.
»Ich nehme an, Professor«, sagte Leonard Smyth, »daß Ihre byzantinischen Studien einiges Licht auf die Geschichte des Grabes werfen könnten, das man irgendwo an der Südküste entdeckt hat, bei Brighton, oder? Nun ist Brighton natürlich eine mächtige Strecke von Byzanz entfernt. Aber ich habe da irgendwas gelesen, daß der Stil der Beisetzung oder Einbalsamierung oder so für byzantinisch gehalten wird.«
»Byzantinische Studien haben tatsächlich eine mächtige Strecke zu bewältigen«, erwiderte der Professor trocken. »Man spricht von Spezialisten; aber ich glaube, das schwierigste auf Erden ist, sich zu spezialisieren. Nehmen Sie als Beispiel diesen Fall: Wie kann ein Mann irgend etwas über Byzanz wissen, solange er nicht alles über Rom zuvor und den Islam danach weiß? Die meisten arabischen Künste sind alte byzantinische Künste. Nehmen Sie zum Beispiel Algebra – «
»Aber ich will Algebra nicht nehmen«, rief die Dame entschieden. »Ich habe das nie getan, und ich werde es nie tun. Aber am Einbalsamieren bin ich ganz furchtbar interessiert. Ich war bei Gatton, müssen Sie wissen, als er die babylonischen Gräber öffnete. Und seither sind für mich Mumien und erhaltene Körper und all das absolut aufregend. Erzählen Sie uns doch bitte von diesem.«
»Gatton war ein interessanter Mann«, sagte der Professor. »Es war eine interessante Familie. Sein Bruder, der ins Parlament gewählt wurde, war sehr viel mehr als ein gewöhnlicher Politiker. Ich habe die Faschisten nie verstanden, bis er seine Rede über Italien hielt.«
»Ja, aber auf dieser Reise gehen wir nicht nach Italien«, sagte Lady Diana hartnäckig, »während ich glaube, daß Sie zu jenem kleinen Ort gehen, wo man das Grab gefunden hat. In Sussex, oder?«
»Sussex ist ziemlich groß für so einen kleinen englischen Bezirk«, erwiderte der Professor. »Man kann darin lange Zeit umherwandern; und es ist wie geschaffen, um darin umherzuwandern. Es ist wunderbar, wie hoch diese niedrigen Hügel scheinen, wenn man sich auf ihnen befindet.«
Es entstand ein jähes zufälliges Schweigen; und dann sagte die Dame: »Ach, ich gehe an Deck«, und erhob sich, und die Männer erhoben sich mit ihr. Aber der Professor blieb zurück, und der kleine Priester war der letzte, der sich anschickte, den Tisch zu verlassen, da er noch seine Serviette sorgfältig zusammenfaltete. Als sie so allein zusammen zurückgeblieben waren, sagte der Professor plötzlich zu seinem Gefährten:
»Was war denn nach Ihrer Ansicht das Thema dieser kleinen Unterhaltung?«
»Nun ja«, sagte Father Brown lächelnd, »wenn Sie mich schon fragen, da gab es etwas, das mich ein bißchen erheiterte. Ich mag mich irren; aber mir erschien es so, als ob die Gesellschaft drei Versuche unternahm, Sie dazu zu bringen, über einen einbalsamierten Körper zu sprechen, den man angeblich in Sussex gefunden hat. Und Sie Ihrerseits haben sehr höflich angeboten zu sprechen – zunächst über Algebra, dann über die Faschisten und dann über die Landschaft der Downs.«
»Kurz«, erwiderte der Professor, »Sie dachten, daß ich bereit war, über jedes beliebige Thema zu sprechen, nur nicht über das eine. Sie hatten ganz recht.«
Der Professor schwieg eine kleine Weile und blickte auf das Tischtuch hinab; dann blickte er auf und sprach mit jener schnellen Impulsivität, die an den Sprung des Löwen gemahnt.
»Hören Sie, Father Brown«, sagte er, »für mich sind Sie der weiseste und anständigste Mann, dem ich je begegnet bin.«
Father Brown war der typische Engländer. Ihm eignete die ganze normale Hilflosigkeit seiner Nation gegenüber einem ernsten und gewichtigen Kompliment, das ihm jählings auf die amerikanische Art ins Gesicht gesagt wurde. Seine Antwort bestand aus einem sinnlosen Murmeln; und es war der Professor, der in der gleichen abgehackten Ernsthaftigkeit fortfuhr:
»Sehen Sie, bis zu einem bestimmten Punkt ist alles ganz einfach. Ein christliches Grab aus dem frühen Mittelalter, offenbar ein Bischofsgrab, ist unter einer kleinen Kirche in Dulham an der Küste von Sussex gefunden worden. Zufälligerweise ist der Vikar selbst ein tüchtiges Stück von Archäologe, und er konnte eine ganze Menge mehr herausfinden, als ich bisher selbst wußte. Es gab Gerüchte, daß der Leichnam auf eine Weise einbalsamiert worden sei, die für Griechen und Ägypter eigentümlich, aber im Westen unbekannt ist, vor allem zu jener Zeit. Also hat Mr. Walters (der Vikar) natürlich an byzantinische Einflüsse gedacht. Aber er hat auch noch etwas anderes erwähnt, das für mich von weit größerem persönlichem Interesse ist.«
Sein langes ernstes Gesicht schien noch länger und ernster zu werden, als er auf das Tischtuch hinabstarrte. Sein langer Finger schien darauf Muster zu zeichnen wie die Pläne toter Städte und ihrer Tempel und Grabstätten.
»Und nun werde ich Ihnen, und sonst niemandem, erzählen, warum ich mich davor hüten muß, diese Angelegenheit in gemischter Gesellschaft zu erwähnen; und warum ich um so vorsichtiger sein muß, je begieriger sie sind, darüber zu sprechen. Es wurde auch erklärt, daß sich in dem Grab eine Kette mit einem Kreuz befinde, von einfachem Aussehen, aber mit einem ganz bestimmten geheimen Symbol auf der Rückseite, das man bisher nur auf einem einzigen anderen Kreuz auf Erden gefunden hat. Es entstammt den Geheimzeichen der frühesten Kirche und bezeichnet vermutlich die Errichtung des Stuhls von Sankt Peter zu Antiochien, ehe er nach Rom kam. Wie auch immer, ich glaube, daß es nur noch ein anderes dieser Art gibt, und das gehört mir. Angeblich gibt es eine Geschichte, daß auf ihm ein Fluch laste; aber darum kümmere ich mich nicht. Aber ob nun ein Fluch oder nicht, tatsächlich gibt es in gewisser Weise eine Verschwörung; obwohl diese Verschwörung sicherlich nur aus einem Mann besteht.«
»Aus einem Mann?« wiederholte Father Brown fast mechanisch.
»Aus einem Verrückten, soviel ich weiß«, sagte Professor Smaill. »Es ist eine lange Geschichte, und in gewisser Weise eine alberne.«
Er hielt erneut inne, zog mit seinem Finger auf dem Tischtuch Linien wie in einer Bauzeichnung und fuhr dann fort:
»Vielleicht sollte ich Ihnen die Geschichte von Anfang an erzählen, für den Fall, daß Sie irgendeine Kleinigkeit in ihr bemerken, die für mich bedeutungslos ist. Es begann vor vielen Jahren, als ich auf eigene Rechnung bestimmte Nachforschungen in den Altertümern Kretas und der griechischen Inseln betrieb. Den größten Teil davon machte ich praktisch allein, manchmal mit der gröbsten Hilfe von Ortsansässigen auf Zeit, und manchmal buchstäblich allein. Unter diesem letzten Umstand nun entdeckte ich ein Labyrinth unterirdischer Gänge, die mich schließlich zu einem Haufen reicher Reste führten, zerbrochener Ornamente und verstreuter Edelsteine, die ich für die Überbleibsel eines versunkenen Altars hielt, und unter ihnen fand ich das eigenartige goldene Kreuz. Ich drehte es um, und ich fand auf seiner Rückseite den Ichthys oder Fisch, ein frühes christliches Symbol, doch nach Form und Ausführung völlig unterschiedlich von den üblichen Funden; und mir erschien es realistischer, so als habe der alte Zeichner die Absicht gehabt, es nicht nur wie eine konventionelle Umrahmung, wie einen Nimbus aussehen zu lassen, sondern eher wie einen richtigen Fisch. Ich hatte den Eindruck, daß es da zum einen Ende hin eine Abflachung gab, die nicht so sehr wie eine bloße mathematische Dekoration aussah, sondern vielmehr wie eine Art grober oder gar heidnischer Zoologie.
Um kurz zu erklären, warum ich diesen Fund für so bedeutsam hielt, muß ich Ihnen die Fundstelle beschreiben. Zum einen war sie gewissermaßen eine Ausgrabung in der Ausgrabung. Wir befanden uns auf der Spur nicht nur von Antiquitäten, sondern von Antiquitätenhändlern der Antike. Wir hatten Grund zu der Annahme, oder einige von uns dachten, wir hätten Grund zu der Annahme, daß diese unterirdischen Gänge, die meisten aus der minoischen Periode wie jener berühmte, den man jetzt mit dem Labyrinth des Minotaurus identifiziert, während all jener Jahrhunderte zwischen dem Minotaurus und den modernen Erforschern keineswegs vergessen und ungestört geblieben waren. Wir nahmen an, daß in diese unterirdischen Stätten, fast möchte ich sagen diese unterirdischen Städte und Dörfer, bereits während der Zwischenzeit irgendwelche Personen aus irgendwelchen Gründen eingedrungen waren. Hinsichtlich der Gründe gibt es verschiedene Ansichten: Einige Schulen meinen, daß die Kaiser amtliche Untersuchungen aus rein wissenschaftlicher Neugier angeordnet haben; andere, daß die verrückte Mode während des späten Römischen Reiches, sich mit allen Arten düsteren Aberglaubens Asiens zu befassen, irgendeine namenlose manichäische Sekte oder andere Zusammenrottung dazu vermochte, sich in jenen Höhlen wüsten Orgien hinzugeben, die das Licht der Sonne scheuen mußten. Ich selbst gehöre jener Gruppe an, die glaubt, daß diese Höhlen in der gleichen Weise wie die Katakomben verwendet wurden. Das heißt, wir glaubten, daß während einer der Verfolgungen, die wie Feuer das ganze Reich überzogen, die Christen sich in diesen alten heidnischen Steinlabyrinthen verbargen. Deshalb durchrann mich ein Schauer so scharf wie ein Donnerschlag, als ich das gefallene goldene Kreuz fand und aufhob und die Zeichnung sah; und es war ein noch stärkerer Schock der Beglückung, als ich, indem ich mich umwandte, um mich erneut nach draußen und droben ins Tageslicht auf den Weg zu machen, die Wände aus nacktem Fels hochblickte, die sich endlos entlang der niedrigen Gänge erstreckten, und in noch gröberen, aber wenn möglich noch unverkennbareren Umrissen die Form des Fisches geritzt sah.
Irgend etwas daran gab ihm den Anschein, als sei es ein fossiler Fisch oder irgendein anderer rudimentärer Organismus, für immer in einer erfrorenen See festgehalten. Ich konnte diese Analogie zunächst nicht analysieren, da sonst nichts sie mit dieser Ritzzeichnung im Stein verband, bis mir klar wurde, daß ich mir im Unterbewußten sagte, die ersten Christen müßten wie Fische gewirkt haben, die da stumm in einer versunkenen Welt aus Zwielicht und Schweigen hausten, tief unter den Füßen der Menschen, und die sich im Dunkel und Zwielicht einer lautlosen Welt bewegten.
Jeder, der je durch eine Steinpassage geschritten ist, weiß, wie das ist, wenn einem Phantomschritte folgen. Das Echo folgt einem tappernd nach oder läuft klappernd vorauf, so daß es einem Mann, der wirklich allein ist, fast unmöglich ist, an sein Alleinsein zu glauben. Ich hatte mich an die Wirkung dieses Echos gewöhnt und es schon seit einiger Zeit nicht mehr wahrgenommen, als mein Blick auf den symbolischen Umriß fiel, der da in die Felswand geritzt war. Ich blieb stehen, und im gleichen Augenblick erschien es mir, als bliebe mein Herz ebenfalls stehen; denn zwar waren meine Füße stehengeblieben, aber das Echo marschierte weiter.
Ich rannte vorwärts, und es schien, als ob die gespenstischen Fußschritte ebenfalls rannten, aber nicht in jener exakten Nachahmung, die das materielle Nachbeben eines Tons kennzeichnet. Ich hielt wieder an, und die Schritte ebenfalls; aber ich hätte schwören können, daß sie einen Augenblick zu spät anhielten; ich rief eine Frage; und mein Ruf wurde beantwortet; aber die Stimme war nicht meine.
Sie kam um die Ecke eines Felsens genau vor mir; und während jener ganzen unheimlichen Jagd bemerkte ich, daß sie immer an solchen Ecken des krummen Ganges innehielt und redete. Das bißchen Raum vor mir, das meine kleine elektrische Lampe erhellen konnte, war immer so leer wie ein leerer Raum. Und unter solchen Umständen führte ich ein Gespräch mit ich weiß nicht wem, das bis zum ersten weißen Schimmer des Tageslichtes währte, und selbst da konnte ich nicht erkennen, wie er ins Licht des Tages verschwand. Doch die Mündung des Labyrinthes war voller Öffnungen und Risse und Spalten, und für ihn wäre es nicht schwierig gewesen, sich irgendwie zurückzustürzen und aufs neue in der Unterwelt der Höhlen zu verschwinden. Ich weiß nur, daß ich auf die einsamen Stufen eines großen Berges wie auf eine Marmorterrasse hinaustrat, nur von grüner Vegetation überstreut, die irgendwie tropischer als die Reinheit des Felsens wirkte, so wie die orientalischen Invasionen, die sich sporadisch über den Untergang des klassischen Hellas ergossen. Ich blickte hinaus auf eine See von fleckenloser Bläue, und die Sonne schien stetig auf die äußerste Einsamkeit und Stille; und da war nicht ein Grashalm, den der Hauch einer Flucht bewegt hätte, und nicht der Schatten vom Schatten eines Mannes.
Es war ein schreckliches Gespräch gewesen; so intim und so persönlich und in gewisser Weise so beiläufig. Dieses Wesen – körperlos, gesichtslos, namenlos, das aber mich beim Namen rief – hatte zu mir in jenen Grüften und Klüften, in denen wir lebendig begraben waren, mit nicht mehr Leidenschaft oder Dramatik gesprochen, als säßen wir in einem Club in zwei Sesseln. Und dennoch hatte er mir gesagt, daß er ohne jeden Zweifel mich oder jeden anderen Mann töten werde, der in den Besitz des Kreuzes mit dem Zeichen des Fisches komme. Er erklärte mir offen, daß er nicht verrückt genug sei, mich dort in jenem Labyrinth anzugreifen, da er wisse, daß ich einen geladenen Revolver bei mir trage und er also das gleiche Risiko wie ich laufe. Aber er erklärte mir ebenso gelassen, daß er meine Ermordung mit der Gewißheit des Erfolges plane, wobei er jede Einzelheit ausarbeiten und jede Gefährdung abwenden werde nach Art jener künstlerischen Vollkommenheit, die ein chinesischer Kunsthandwerker oder ein indischer Sticker einem Lebenskunstwerk widme. Und doch war er kein Orientale; ich bin sicher, er war ein weißer Mann. Ich habe den Verdacht, daß er ein Landsmann von mir ist.
Seither habe ich von Zeit zu Zeit Zeichen und Symbole und sonderbare unpersönliche Nachrichten empfangen, die mir zumindest die Gewißheit gegeben haben, daß der Mann, wenn er denn ein Wahnsinniger ist, ein Monomane ist. Ständig erzählt er mir auf diese leichte und leidenschaftslose Art, daß die Vorbereitungen für meinen Tod und meine Beisetzung zufriedenstellend voranschritten; und daß der einzige Weg, auf dem ich verhindern könne, daß sie ein bequemer Erfolg kröne, darin bestehe, auf die Reliquie in meinem Besitz zu verzichten – das einzigartige Kreuz, das ich in den Höhlen fand. Ihn scheinen in dieser Angelegenheit keinerlei religiöse Gefühle oder Fanatismen zu bewegen; er scheint keine Leidenschaft außer der Leidenschaft eines Sammlers von Raritäten zu haben. Das ist einer der Gründe, die mich sicher machen, daß er ein Mann des Westens und nicht des Ostens ist. Aber diese besondere Rarität scheint ihn verrückt gemacht zu haben.
Und dann kam dieser noch unbestätigte Bericht über die zweite Reliquie, die man auf einem einbalsamierten Leichnam in einem Grab in Sussex gefunden habe. Wenn er zuvor ein Wahnsinniger war, dann verwandelte ihn diese Nachricht in einen von sieben Teufeln Besessenen. Daß es da deren eine geben sollte, die einem anderen Mann gehörte, war übel genug, aber daß es deren zwei geben sollte, von denen keine ihm gehörte, war ihm eine unerträgliche Qual. Seine verrückten Nachrichten kamen massiert und schnell, wie ein Regen vergifteter Pfeile, und jede schrie zuversichtlicher als die letzte hinaus, daß der Tod mich in dem Augenblick ereilen werde, in dem ich meine unwürdige Hand nach dem Kreuz im Grab ausstrecke.
›Sie werden mich niemals kennen‹, schrieb er, ›Sie werden niemals meinen Namen sagen; Sie werden niemals mein Gesicht sehen; Sie werden sterben und niemals wissen, wer Sie getötet hat. Ich könnte jeder von denen sein, die Sie umgeben; aber ich werde nur in jenem sein, auf den zu achten Sie vergessen haben.‹
Aus diesen Drohungen schließe ich, daß er mich während dieser Expedition wahrscheinlich beschattet und versuchen wird, mir die Reliquie zu stehlen oder mir irgend etwas anzutun, um in ihren Besitz zu kommen. Aber da ich den Mann nie in meinem Leben gesehen habe, kann er praktisch jeder Mann sein, dem ich begegne. Logisch gesprochen, kann er jeder der Aufwärter sein, die mir bei Tisch aufwarten. Er kann jeder der Passagiere sein, die mit mir am Tisch sitzen.«
»Er kann mich sein«, sagte Father Brown in fröhlicher Mißachtung der Grammatik.
»Er kann jeder andere sein«, antwortete Smaill ernst. »Das habe ich mit dem gemeint, was ich bisher gesagt habe. Sie sind der einzige, bei dem ich die Gewißheit fühle, daß er nicht der Feind ist.«
Father Brown sah wiederum verlegen aus; dann lächelte er und sagte: »Nun ja, sonderbarerweise bin ich es wirklich nicht. Jetzt sollten wir erwägen, ob es irgendeine Möglichkeit gibt herauszufinden, ob er wirklich hier ist, bevor er – bevor er sich unangenehm bemerkbar macht.«
»Ich glaube, daß es eine Möglichkeit gibt, das herauszufinden«, bemerkte der Professor grimmig. »Wenn wir in Southampton ankommen, werde ich mir sofort einen Wagen entlang der Küste nehmen; ich wäre froh, wenn Sie mit mir kämen, im übrigen aber wird sich unsere kleine Gesellschaft natürlich auflösen. Wenn aber einer von ihnen auf jenem kleinen Friedhof an der Küste von Sussex wieder auftaucht, dann werden wir wissen, wer er wirklich ist.«
Das Programm des Professors wurde entsprechend ausgeführt, wenigstens im Hinblick auf den Wagen und seine Ladung in Gestalt von Father Brown. Sie fuhren entlang der Küstenstraße mit dem Meer auf der einen Seite und den Hügeln von Hampshire und Sussex auf der anderen; und dem Auge ward kein Schatten eines Verfolgers sichtbar. Als sie sich dem Dorfe Dulham näherten, kreuzte nur ein Mann ihren Weg, der in irgendeiner Weise mit der Angelegenheit in Beziehung stand; ein Journalist, der gerade die Kirche besucht hatte und vom Vikar höflich durch die neu ausgegrabene Kapelle geführt worden war; doch schienen seine Bemerkungen und Notizen von der üblichen Zeitungsart zu sein. Der Professor aber war vielleicht etwas phantasievoll, denn er wurde das Gefühl nicht los, daß etwas Eigentümliches und Entmutigendes in der Haltung des Mannes sei, der groß und schäbig gekleidet war, mit Hakennase und eingesunkenen Augen und einem wehmütig herabhängenden Schnurrbart. Und seine jüngste Besichtigung schien auf ihn alles andere als belebend gewirkt zu haben; tatsächlich schien er so schnell wie möglich von diesem Orte fortzustreben, als sie ihn mit einer Frage aufhielten.
»Dreht sich alles um einen Fluch«, sagte er, »einen Fluch auf der Stätte, laut Fremdenführer oder Pfarrer oder ältestem Einwohner oder wer da immer als Autorität gilt; und wirklich fühl’ ich mich, als ob es stimmt. Fluch oder nicht Fluch, ich bin froh, daß ich wieder raus bin.«
»Glauben Sie an Flüche?« fragte Smaill neugierig.
»Ich glaube an gar nichts; ich bin Journalist«, antwortete die traurige Gestalt – »Boon, vom ›Daily Wire‹. Aber irgendwas ist in der Krypta nicht geheuer; und ich werde niemals leugnen, daß es mich kalt überrieselt hat.« Und mit neuerlich beschleunigtem Schritt strebte er dem Bahnhof zu.
»Der Bursche sieht wie ein Rabe oder eine Krähe aus«, bemerkte Smaill, als sie sich dem Friedhof zuwandten. »Was sagt man doch von einem Vogel, der Unheil bedeutet?«
Als sie langsam den Friedhof betraten, glitten die Blicke des amerikanischen Altertumsforschers genüßlich über das einsame Dach der Totenpforte und den tiefen unergründlichen schwarzen Wuchs der Eibe, die aussah wie die Nacht selbst, die das Tageslicht verwehrt. Der Pfad klomm zwischen wogenden Rasenflächen empor, auf denen die Grabsteine in alle Richtungen wiesen wie steinerne Flöße, die auf einer grünen See umhergeworfen werden, bis er den Kamm erreichte, hinter dem die große See selbst lag wie eine Eisenplatte, mit fahlen Lichtern wie aus Stahl darinnen. Fast unmittelbar zu ihren Füßen wandelte sich das zähe verwilderte Gras in Büschel von Mannstreu und lief in graugelbem Sand aus; und ein oder zwei Fuß vor dem Mannstreu stand dunkel vor der stählernen See eine bewegungslose Gestalt. Von ihrem dunkelgrauen Anzug abgesehen, hätte es fast die Statue auf einem Grabmal sein können. Father Brown aber erkannte sofort die elegante Beugung der Schultern und den fast trotzigen Vorstoß des kurzen Bartes.
»Nanu!« rief der Professor der Archäologie aus, »das ist ja der Mann Tarrant, wenn man ihn einen Mann nennen kann. Haben Sie geglaubt, als ich auf dem Schiff davon gesprochen habe, daß ich so schnell eine Antwort auf meine Frage erhalten würde?«
»Ich glaubte, daß Sie zu viele Antworten darauf bekommen würden.«
»Wie meinen Sie das?« erkundigte sich der Professor und warf einen Blick über die Schulter zurück.
»Ich meine«, antwortete der andere mild, »daß ich glaube, Stimmen hinter der Eibe gehört zu haben. Ich glaube nicht, daß Mr. Tarrant so einsam ist, wie er aussieht; ich möchte sogar wagen zu behaupten, so einsam, wie er aussehen möchte.«
Und noch während Tarrant sich langsam in seiner mürrischen Weise umdrehte, kam die Bestätigung. Eine andere Stimme, hoch und ziemlich hart, aber deshalb nicht weniger die einer Frau, sagte mit erprobter Koketterie:
»Und woher sollte ich wissen, daß es hier sein würde?«
Es dämmerte Professor Smaill, daß diese fröhliche Bemerkung nicht an ihn gerichtet war; also hatte er in einiger Verwirrung den Schluß zu ziehen, daß noch eine dritte Person anwesend war. Als Lady Diana Wales strahlend und entschlossen wie nur je aus dem Schatten der Eibe auftauchte, nahm er ingrimmig zur Kenntnis, daß sie einen eigenen lebenden Schatten mit sich führte. Die schlanke schmucke Gestalt von Leonard Smythe, jenes einschmeichelnden Mannes der Feder, erschien unmittelbar hinter ihrer prunkvollen Erscheinung, lächelnd, den Kopf ein wenig wie ein Hund auf die Seite geneigt.
»Schlangen!« murmelte Smaill, »wie denn, die sind ja alle hier! Oder doch alle mit Ausnahme des kleinen Schaustellers mit seinem Walroßschnurrbart.«
Er hörte Father Brown leise neben sich lachen; und in der Tat wurde die Situation inzwischen mehr als lächerlich. Sie schien Purzelbäume zu schlagen und ihnen wie der Trick einer Pantomime um die Ohren zu wirbeln; denn noch während der Professor sprach, erfuhren seine Worte den komischsten Widerspruch. Der runde Kopf mit dem grotesken schwarzen Schnurrbarthalbmond war plötzlich und so wie aus einem Loch im Boden aufgetaucht. Einen Augenblick später wurde ihnen klar, daß das Loch in Wahrheit ein sehr großes Loch war und zu einer Leiter führte, die ins Erdinnere hinabstieg; daß es sich tatsächlich um den Eingang zu jenem unterirdischen Schauplatz handelte, den zu besuchen sie gekommen waren. Der kleine Mann war der erste gewesen, der den Zugang entdeckt hatte, und war bereits ein oder zwei Leitersprossen hinabgestiegen, bevor er seinen Kopf wieder hinausschob, um sich an seine Mitreisenden zu wenden. Er sah wie ein besonders abgeschmackter Totengräber in einer Hamlet-Burleske aus. Er sagte nur mit dicker Stimme hinter seinem dicken Schnurrbart: »Hier unten ist es.« Aber das erreichte die übrige Gesellschaft zugleich mit dem Schock des Begreifens, daß, obwohl sie ihm bei den Mahlzeiten während einer Woche gegenübergesessen hatten, sie ihn kaum je zuvor hatten sprechen hören; und daß er, obwohl angeblich ein englischer Vortragsreisender, mit einem nicht erkennbaren ausländischen Akzent sprach.
»Wissen Sie, mein lieber Professor«, rief Lady Diana mit schneidender Fröhlichkeit, »Ihre byzantinische Mumie ist einfach zu aufregend, um verpaßt zu werden. Ich mußte einfach kommen und sie sehen; und ich bin sicher, daß die Herren genauso empfinden. Aber jetzt müssen Sie uns alles darüber erzählen.«
»Ich weiß aber nicht alles darüber«, sagte der Professor ernst, um nicht zu sagen grimmig. »Teilweise weiß ich nicht einmal, um was es sich eigentlich handelt. Auf jeden Fall erscheint es merkwürdig, daß wir alle so schnell wieder zusammengetroffen sind; doch nehme ich an, daß der moderne Durst nach Neuigkeiten keine Grenzen kennt. Wenn wir aber alle den Ort besichtigen wollen, dann muß das in einer verantwortlichen Weise geschehen und, um Vergebung, unter verantwortlicher Führung. Wir müssen den Leiter der Ausgrabungen benachrichtigen; und wir werden uns vermutlich wenigstens in eine Liste eintragen müssen.«
Eine Art Streit entstand aus diesem Zusammenprall zwischen der Ungeduld der Dame und dem Mißtrauen des Archäologen; doch trug dessen Beharren auf den amtlichen Rechten des Vikars und der örtlichen Untersuchung schließlich den Sieg davon; der kleine Mann mit dem Schnurrbart kam widerstrebend wieder aus seinem Grab hervor und stimmte schweigend einem weniger stürmischen Abstieg zu. Glücklicherweise erschien zu diesem Zeitpunkt der Kirchenmann selbst – ein grauhaariger, gutaussehender Gentleman mit vorgebeugter Haltung, die durch besonders dicke Brillengläser noch betont wurde; und während er schnell freundschaftliche Beziehungen zu dem Professor als einem Mitbruder der Altertumskunde anknüpfte, schien er dessen buntscheckige Begleitschar mit nichts Feindseligerem als mit Belustigung zu betrachten.
»Hoffentlich ist niemand unter Ihnen abergläubisch«, sagte er freundlich. »Ich muß Ihnen nämlich sofort sagen, daß angeblich alle Arten von Verhängnissen und Verfluchungen in dieser Angelegenheit über unseren hingebungsvollen Häuptern hängen. Ich habe gerade eine lateinische Inschrift entziffert, die über dem Eingang zur Kapelle gefunden wurde, und danach sind mindestens drei Verfluchungen im Spiel: eine Verfluchung für das Eindringen in den versiegelten Raum, eine doppelte Verfluchung für das Öffnen des Sarges, und eine dreifache und höchst fürchterliche Verfluchung für das Antasten der darin gefundenen goldenen Reliquie. Die beiden ersten Verwünschungen habe ich bereits auf mich gezogen«, fügte er lächelnd hinzu, »aber ich befürchte, daß auch Sie zumindest die erste und mildeste auf sich nehmen müssen, wenn Sie überhaupt etwas sehen wollen. Der Geschichte zufolge erfüllen sich die Verwünschungen in einer zögerlichen Weise, nach langen Pausen und zu späteren Gelegenheiten. Allerdings weiß ich nicht, ob Ihnen das zum Troste gereicht.« Und Hochwürden Walters lächelte wieder auf seine vorgebeugte und wohlwollende Art.
»Geschichte«, wiederholte Professor Smaill, »was für eine Geschichte ist das denn?«
»Es ist eine reichlich lange Geschichte mit vielen Abwandlungen, wie andere örtliche Legenden«, antwortete der Vikar. »Zweifellos aber entstammt sie der gleichen Zeit wie das Grab; und ihr Kern, den die Inschrift enthält, ist ungefähr folgender: Guy de Gisors, ein hiesiger Grundherr des 13. Jahrhunderts, hatte sein Herz an ein herrliches schwarzes Pferd im Besitz eines Abgesandten von Genua gehängt, das dieser weltkluge Handelsfürst aber nur für einen hohen Preis zu verkaufen bereit war. Guy wurde durch seinen Geiz zum Verbrechen der Ausplünderung dieses Heiligtums getrieben und, einer anderen Version zufolge, sogar zur Erschlagung des damals hier residierenden Bischofs. Jedenfalls stieß der Bischof eine Verfluchung aus, die jeden treffen solle, der dem goldenen Kreuz seinen Ruheplatz im Grabe versage oder Schritte unternehme, ihn zu stören, sobald es dahin zurückgekehrt sei. Der Landherr brachte das Geld für das Pferd auf, indem er die goldene Reliquie an einen Goldschmied in der Stadt verkaufte; aber am ersten Tag, da er das Pferd bestieg, bäumte das Tier sich auf und warf ihn vor dem Kirchenportal ab, wobei er sich den Hals brach. Den Goldschmied, bis dahin wohlhabend und erfolgreich, ruinierte eine Reihe unerklärbarer Zwischenfälle, und er geriet in die Gewalt eines jüdischen Geldverleihers, der auf dem Herrengut lebte. Als dem unglücklichen Goldschmied schließlich nichts mehr als das Verhungern übrigblieb, erhängte er sich an einem Apfelbaum. Das Goldkreuz war da schon lange mit all seinem anderen Eigentum, Haus und Laden und Handwerkszeug, in den Besitz des Geldverleihers übergegangen. Inzwischen war der Sohn und Erbe des Landherrn, entsetzt vom Gericht über seinen gotteslästerlichen Erzeuger, zu einem Anhänger der Religion im düsteren und strengen Sinne jener Zeiten geworden, der es als seine Pflicht ansah, Ketzerei und Unglauben bei seinen Untertanen zu verfolgen. So wurde der Jude, den der Vater zynisch geduldet hatte, auf Befehl des Sohnes erbarmungslos verbrannt und litt so seinerseits für den Besitz der Reliquie. Nach diesem dreifachen Gericht aber wurde sie in das Grab des Bischofs zurückgelegt; und seit dieser Zeit hat kein Auge sie mehr gesehen, keine Hand sie mehr berührt.«
Lady Diana Wales schien tiefer beeindruckt, als zu erwarten gewesen wäre.
»Es läuft einem wirklich kalt über den Rücken«, sagte sie, »wenn man daran denkt, daß wir die ersten außer dem Vikar sein werden.«
Der Pionier mit dem großen Schnurrbart und dem gebrochenen Englisch stieg nun doch nicht auf seiner geliebten Leiter hinab, die tatsächlich nur von einigen Arbeitern während der Ausgrabung benutzt worden war; denn der Kirchenmann führte sie zu einem größeren und bequemeren Eingang etwa 90 Meter weiter, durch den er selbst gerade aus seinen unterirdischen Untersuchungen aufgetaucht war. Hier geschah der Abstieg über eine ziemlich sanfte Schräge, die außer der zunehmenden Dunkelheit keine Schwierigkeiten bot; denn bald befanden sie sich im Gänsemarsch in einem Tunnel unterwegs, der schwarz wie Teer war, und es dauerte eine kleine Weile, ehe sie vor sich einen Lichtschimmer erblickten. Einmal gab es während jenes schweigsamen Marsches ein Geräusch, als habe jemand plötzlich den Atem angehalten, unmöglich zu sagen, wer; und einmal gab es einen Fluch wie eine dumpfe Explosion, und das geschah in einer unbekannten Sprache.
Schließlich betraten sie einen runden Raum wie eine Basilika in einem Ring von Rundbögen; denn diese Kapelle war erbaut worden, ehe noch der erste Spitzbogen der Gotik unsere Zivilisation wie ein Speer durchbohrte. Ein Schimmer grünlichen Lichtes zwischen einigen der Säulen kennzeichnete die andere Öffnung zur Oberwelt und vermittelte ein undeutliches Gefühl, als befinde man sich unter Wasser, das durch ein oder zwei zufällige Ähnlichkeiten, die vielleicht nur in der Phantasie existierten, verstärkt wurde. Denn das normannische Zahnziermuster zog sich schwach um alle Bögen und gab ihnen über der Dunkelheit der Höhlungen das Aussehen der Rachen ungeheurer Haie. Und die dunkle Masse des Grabes selbst in der Mitte mit dem hochgeklappten Steindeckel hätte fast die Kiefer eines solchen Leviathans sein können.
Ob nun aus einem Sinn fürs Angemessene oder aus Mangel an modernerer Ausrüstung, der geistliche Altertumskundler hatte zur Beleuchtung der Kapelle lediglich für 4 große Kerzen gesorgt, die in großen hölzernen Kerzenhaltern auf der Erde standen. Nur eine von diesen brannte, als sie eintraten, und warf einen schwachen Schimmer über die mächtigen architektonischen Formen. Nachdem sie sich alle versammelt hatten, entzündete der Kirchenmann auch die drei anderen, und Aussehen und Inhalt des großen Sarkophags traten deutlicher in Sicht.
Aller Augen wandten sich zunächst dem Antlitz des Toten zu, das durch all diese Jahrhunderte einen Anschein von Leben bewahrt hatte dank geheimer Verfahren aus dem Orient, die, wie man sagte, aus heidnischer Vorzeit überkommen und den einfachen Friedhöfen unserer Insel unbekannt waren. Der Professor konnte kaum einen Ausruf des Erstaunens unterdrücken; denn obgleich das Gesicht bleich wie eine Wachsmaske war, sah es doch aus wie das eines schlafenden Mannes, der soeben erst die Augen geschlossen hatte. Das Gesicht war vom asketischen, vielleicht gar fanatischen Typus, mit hohem Knochenbau; die Gestalt war in einen goldenen Chorrock und in prächtige Gewänder gekleidet, und hoch oben auf der Brust glänzte am Halsansatz das berühmte Goldkreuz an einer kurzen goldenen Kette, oder richtiger an einem Halsband. Der Steinsarg war geöffnet worden, indem man seinen Deckel am Kopfende hochgehoben und mittels zweier starker hölzerner Stempel aufgestützt hatte, die oben unter die Kante des Deckels geklemmt und unten hinter dem Kopf des Leichnams in die Ecken des Sarges verkeilt waren. Daher konnte man weniger von den Füßen oder dem unteren Teil der Gestalt sehen, doch war das Antlitz voll von Kerzenlicht beschienen, und im Gegensatz zu seiner Farbe toten Elfenbeins schien das Kreuz aus Gold zu flackern und zu funkeln wie Feuer.
Professor Smaills hohe Stirn trug eine tiefe Denker- oder gar Sorgenfalte, seit der Kirchenmann die Geschichte des Fluches erzählt hatte. Weibliche Intuition aber, nicht frei von weiblicher Hysterie, verstand die Bedeutung dieser brütenden Unbeweglichkeit besser als die Männer. In das Schweigen jener vom Kerzenlicht erhellten Höhle rief Lady Diana plötzlich hinein:
»Rühren Sie es nicht an, sage ich Ihnen!«
Aber der Mann hatte bereits eine seiner schnellen löwenähnlichen Bewegungen vollzogen und lehnte sich vorwärts über den Körper. Im nächsten Augenblick fuhren sie alle auseinander, manche vorwärts, manche rückwärts, aber alle mit einer erschreckten wegduckenden Bewegung, als stürze der Himmel ein.
Als der Professor einen Finger an das goldene Kreuz legte, schienen die hölzernen Stempel, die sich beim Halten des hochgeklappten Steindeckels nur leicht gebogen hatten, zusammenzuzucken und sich mit einem Ruck zu strecken. Der Rand der Steinplatte rutschte von seinen hölzernen Stützen; und in ihren Seelen und Mägen entstand das Übelkeit erregende Gefühl niedersausenden Unheils, als ob sie alle von einer steilen Klippe hinabgeschleudert worden seien. Smaill hatte seinen Kopf schnell zurückgezogen, aber nicht mehr rechtzeitig; und er lag besinnungslos neben dem Sarg, in einer roten Pfütze von Blut aus Schwarte oder Schädel. Und der alte Steinsarg war erneut geschlossen, wie er es durch die Jahrhunderte gewesen war; nur daß ein oder zwei Splitter oder Späne in dem Spalt staken und entsetzlich an Knochen erinnerten, die ein Ungeheuer zermalmt hatte. Der Leviathan hatte mit seinen steinernen Kiefern zugebissen.
Lady Diana starrte den Niedergeschmetterten mit Augen an, die einen elektrischen Glanz wie vom Wahnsinn hatten; ihr rotes Haar sah über ihrem bleichen Gesicht im grünlichen Zwielicht scharlachfarben aus. Smyth sah sie immer noch mit etwas Hündischem in der Neigung seines Kopfes an; aber es war der Ausdruck eines Hundes, der einen Herrn anstarrt, dessen Katastrophe er nur teilweise verstehen kann. Tarrant und der Ausländer waren in ihrer üblichen mürrischen Haltung erstarrt, aber ihre Gesichter waren lehmfarben geworden. Der Vikar schien ohnmächtig zu sein. Father Brown kniete neben der hingestreckten Gestalt und versuchte, deren Zustand zu ergründen.
Zum allgemeinen Erstaunen kam der byronische Müßiggänger Paul Tarrant ihm zu Hilfe.
»Am besten tragen wir ihn rauf an die Luft«, sagte er. »Vielleicht hat er da noch eine Chance.«
»Er ist nicht tot«, sagte Father Brown mit leiser Stimme, »doch glaube ich, daß es sehr schlimm um ihn steht; Sie sind nicht zufällig Arzt?«
»Nein; aber ich mußte mir im Laufe der Zeit mancherlei aneignen«, sagte der andere. »Aber lassen wir mich jetzt beiseite. Mein wirklicher Beruf würde Sie vermutlich überraschen.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Father Brown mit leichtem Lächeln. »Nach etwa der halben Reise bin ich draufgekommen. Sie sind ein Detektiv, der jemanden beschattet. Auf jeden Fall aber ist das Kreuz jetzt vor Dieben sicher.«
Während sie sprachen, hatte Tarrant die zarte Gestalt des niedergestreckten Mannes leicht und geschickt hochgehoben und trug ihn sorgsam zum Ausgang. Er antwortete über die Schulter: »Ja, das Kreuz ist sicher genug.«
»Sie meinen damit, daß dies sonst niemand ist«, erwiderte Brown. »Denken Sie auch an den Fluch?«
Father Brown wanderte während der nächsten ein oder zwei Stunden unter einer Last grübelnder Verwirrung umher, die etwas anderes war als der Schock des tragischen Zwischenfalls. Er half dabei, das Opfer in den kleinen Gasthof gegenüber der Kirche zu tragen, befragte den Arzt, der die Verletzung als ernst und bedrohlich, aber nicht unbedingt tödlich beschrieb, und brachte diese Nachricht zu der kleinen Reisegruppe, die sich um den Tisch im Schankraum des Gasthofes versammelt hatte. Aber wohin auch immer er sich begab, die Wolke des Rätselhaften lagerte über ihm und schien um so düsterer zu werden, je tiefer er nachdachte. Denn das zentrale Geheimnis wurde immer geheimnisvoller, und zwar in dem gleichen Maße, in dem sich die kleineren Geheimnisse in seinem Geiste klärten. Genau in dem Maße, in dem die Bedeutung der einzelnen Personen in der buntscheckigen Gruppe sich selbst erklärte, wurde es immer schwieriger, die Sache zu erklären, die sich ereignet hatte. Leonard Smyth war nur gekommen, weil Lady Diana gekommen war; und Lady Diana war nur gekommen, weil sie es wollte. Sie hatten einen jener oberflächlichen Gesellschaftsflirts miteinander, die um so alberner sind, da sie sich auf halbintellektueller Ebene abspielen. Aber die Romantik der Dame hatte auch eine abergläubische Seite; und das schreckliche Ende ihres Abenteuers hatte sie fast niedergeworfen. Paul Tarrant war Privatdetektiv, der möglicherweise im Auftrag irgendeiner Ehefrau oder eines Ehemannes den Flirt beobachtete oder möglicherweise den fremden Vortragsreisenden mit Schnurrbart beschattete, der ganz das Aussehen eines unerwünschten Ausländers hatte. Wenn aber der oder sonst jemand die Absicht gehabt hatte, die Reliquie zu stehlen, so war diese Absicht endgültig gescheitert. Und allem irdischen Anschein nach hatte entweder ein unglaublicher Zufall sie scheitern lassen, oder die Einwirkung eines uralten Fluches.
Als er so in unüblicher Verwirrung mitten auf der Dorfstraße zwischen Gasthof und Kirche stand, fühlte er sich sanft überrascht, als er eine seit kurzem bekannte, aber reichlich unerwartete Gestalt die Straße heraufkommen sah. Mr. Boon, der Journalist, der ziemlich abgespannt aussah im Sonnenlicht, welches seine schäbige Kleidung wie die einer Vogelscheuche erscheinen ließ, hatte seine dunklen und tiefliegenden Augen (die an den Seiten seiner langen herabhängenden Nase eng beieinander standen) auf den Priester gerichtet. Dieser mußte zweimal hinsehen, ehe er begriff, daß der dichte dunkle Schnurrbart etwas wie ein Grinsen oder wenigstens ein grimmiges Lächeln verbarg.
»Ich dachte, Sie führen ab«, sagte Father Brown ein wenig scharf. »Ich dachte, Sie wären mit dem Zug vor zwei Stunden abgereist.«
»Na ja, Sie sehen ja, daß ich das nicht getan habe«, sagte Boon.
»Warum sind Sie zurückgekommen?« fragte der Priester fast streng.
»Das hier ist nicht die Art kleinen ländlichen Paradieses, die ein Journalist schnell wieder verläßt«, erwiderte der andere. »Hier ereignen sich die Dinge zu rasch, als daß es sich lohne, an einen so langweiligen Ort wie London zurückzukehren. Außerdem kann man mich aus dieser Geschichte nicht raushalten – ich meine diese zweite Geschichte. Schließlich hab ich die Leiche gefunden, oder wenigstens ihre Kleider. Reichlich verdächtiges Verhalten meinerseits, oder? Vielleicht glauben Sie, ich wollte mich mit seinen Kleidern verkleiden. Gäbe ich nicht einen herrlichen Pfarrer ab?«
Und der hagere langnasige Schmierenkomödiant vollführte plötzlich inmitten des Marktplatzes eine theatralische Geste, indem er seine Arme ausstreckte und seine Hände in dunklen Handschuhen zu einem komischen Segen spreizte und sagte: »Oh, meine geliebten Brüder und Schwestern, wie sehr ich euch doch alle umarmen möchte…«
»Um Himmels willen, wovon reden Sie?« rief Father Brown und schlug leicht mit seinem ungefügen Regenschirm auf die Pflastersteine, denn er war etwas weniger geduldig als üblich.
»Ach, das werden Sie alles herausfinden, wenn Sie Ihre Picknick-Party dahinten im Gasthof befragen«, erwiderte Boon höhnisch. »Dieser Tarrant scheint mich zu verdächtigen, bloß weil ich die Kleidung gefunden habe; obwohl er selbst nur eine Minute zu spät kam, um sie selbst zu finden. Aber in dieser Geschichte stecken alle Arten von Geheimnissen. Der kleine Mann mit dem großen Schnurrbart könnte mehr in sich haben, als man sehen kann. Und schließlich sehe ich keinen Grund, warum Sie nicht selbst den armen Kerl umgebracht haben sollten.«
Father Brown schien über diese Verdächtigung nicht im geringsten verärgert, wohl aber durch die Bemerkung zutiefst verstört und verwirrt.
»Wollen Sie damit sagen«, fragte er schlicht, »daß ich es war, der versucht hat, Professor Smaill umzubringen?«
»Aber nicht doch«, sagte der andere und wedelte mit der Hand wie jemand, der ein freundliches Zugeständnis macht. »Es gibt genug Tote, unter denen Sie wählen können. Nicht auf Professor Smaill beschränkt. Wieso, wissen Sie denn nicht, daß noch jemand aufgetaucht ist, der noch viel toter ist als Professor Smaill? Und ich sehe keinen Grund, warum Sie den nicht auf eine ruhige Weise beiseite gebracht haben sollten. Religiöse Differenzen, wissen Sie… beklagenswerte Uneinigkeit des Christentums… Ich nehme an, daß Sie schon immer die englischen Gemeinden zurückhaben wollten.«
»Ich gehe zurück in den Gasthof«, sagte der Priester ruhig; »Sie haben gesagt, die Leute da wüßten, wovon Sie reden, und vielleicht sind sie imstande, es mir zu sagen.«
Und wirklich wurden unmittelbar danach seine privaten Besorgnisse für den Augenblick durch die Neuigkeit von neuem Unglück zerstreut. In dem Augenblick, in dem er den kleinen Schankraum betrat, wo der Rest der Gesellschaft versammelt war, erzählte ihm etwas in ihren bleichen Gesichtern, daß sie von etwas Neuerem als dem Unfall im Grabe erschüttert waren. Und während er noch eintrat, sagte Leonard Smyth: »Wo soll das alles enden?«
»Das wird niemals enden, sage ich Ihnen«, erwiderte Lady Diana und starrte mit glasigen Augen ins Leere; »das wird nicht enden, ehe wir nicht alle enden. Einen nach dem anderen wird der Fluch uns dahinraffen; vielleicht langsam, wie der arme Vikar gesagt hat; aber er wird uns alle dahinraffen, wie er ihn dahingerafft hat.«
»Was um alles in der Welt ist denn jetzt geschehen?« fragte Father Brown.
Zunächst war Schweigen, und dann sagte Tarrant mit einer etwas hohl klingenden Stimme:
»Mr. Walters, der Vikar, hat Selbstmord begangen. Ich nehme an, daß der Schock ihn um den Verstand gebracht hat. Auf jeden Fall gibt es, fürchte ich, keinen Zweifel. Wir haben gerade seinen schwarzen Hut und seine Kleidung auf einem Felsen gefunden, der aus der Küste herausragt. Er scheint sich ins Meer gestürzt zu haben. Ich hatte den Eindruck, als sähe er wie halb von Sinnen aus, und vielleicht hätten wir nach ihm sehen sollen; aber da gab es so vieles, nach dem wir sehen mußten.«
»Sie hätten nichts tun können«, sagte die Dame. »Begreifen Sie denn nicht, daß das Verhängnis in einer fürchterlichen Reihenfolge seinen Lauf nimmt? Der Professor hat das Kreuz berührt, und er ging als erster; der Vikar hat das Grab geöffnet, und er ging als zweiter; wir haben nur die Kapelle betreten, und wir – «
»Halt«, sagte Father Brown mit einer scharfen Stimme, wie er sie nur sehr selten benutzte, »das muß ein Ende haben.«
Er trug immer noch ein tiefes wenn auch unbewußtes Stirnrunzeln, aber in seinen Augen hing nicht mehr die Wolke des Geheimnisses, sondern vielmehr das Licht schrecklichen Verstehens.
»Was bin ich doch für ein Narr!« murmelte er. »Ich hätte das schon lange sehen sollen. Die Geschichte vom Fluch hätte es mir erzählen sollen.«
»Wollen Sie damit sagen«, fragte Tarrant, »daß wir tatsächlich jetzt von irgend etwas getötet werden können, das sich im 13. Jahrhundert abgespielt hat?«
Father Brown schüttelte den Kopf und antwortete mit ruhiger Betonung:
»Ich will nicht erörtern, ob wir von irgend etwas getötet werden können, das sich im 13. Jahrhundert abgespielt hat; aber ich bin völlig sicher, daß wir nicht von etwas getötet werden können, das sich im 13. Jahrhundert nie ereignet hat, das sich überhaupt nie ereignet hat.«
»Fein«, sagte Tarrant, »es ist erfrischend, einem Priester zu begegnen, der dem Übernatürlichen so skeptisch gegenübersteht.«
»Durchaus nicht«, erwiderte der Priester gelassen, »ich zweifle nicht an der übernatürlichen Seite der Sache. Aber an der natürlichen. Ich befinde mich genau in der Lage des Mannes, der sagte: ›Ich kann an das Unmögliche glauben, aber nicht an das Unwahrscheinliche.‹«
»Das würden Sie ja wohl ein Paradox nennen, oder?« fragte der andere.
»Das würde ich gesunden Menschenverstand nennen, richtig verstanden«, erwiderte Father Brown. »Es ist viel natürlicher, eine übernatürliche Geschichte zu glauben, die für uns unverständliche Dinge behandelt, als eine natürliche Geschichte, die uns verständlichen Dingen widerspricht. Wenn Sie mir erzählen, daß den großen Gladstone in seiner letzten Stunde der Geist Parnells heimsuchte, werde ich mich agnostisch verhalten. Wenn Sie mir aber erzählen, daß Gladstone, als er zum ersten Mal der Königin Viktoria vorgestellt wurde, in ihrem Boudoir den Hut aufbehielt, ihr auf die Schulter klopfte und ihr eine Zigarre anbot, dann werde ich mich alles andere als agnostisch verhalten. Das wäre nicht unmöglich; sondern nur unglaublich. Und doch bin ich sehr viel sicherer, daß es nicht geschehen ist, als daß Parnells Geist nicht erschienen wäre; weil es die Gesetze der Welt verletzt, die ich verstehe. So ist das auch mit der Geschichte vom Fluch. Nicht die Legende glaube ich nicht – sondern die Geschichte.«
Lady Diana hatte sich etwas von ihrer Kassandra-Erstarrung erholt, und ihre ewige Neugier nach neuen Dingen begann wieder, ihr aus den hellen und auffallenden Augen zu blicken.
»Was sind Sie doch für ein eigenartiger Mensch!« sagte sie. »Warum sollten Sie die Geschichte nicht glauben?«
»Ich glaube die Geschichte nicht, weil sie nicht Geschichte ist«, antwortete Father Brown. »Für jeden, der auch nur etwas übers Mittelalter weiß, ist die ganze Geschichte ebenso wahrscheinlich wie die von Gladstone, der der Königin Viktoria eine Zigarre anbietet. Aber wer weiß schon was übers Mittelalter? Wissen Sie, was eine Gilde war? Haben Sie je von salvo managio suo gehört? Wissen Sie, was für Leute die Servi Regis waren?«
»Natürlich nicht«, sagte die Dame eher ärgerlich. »Was für ein Haufen lateinischer Wörter!«
»Natürlich nicht«, sagte Father Brown. »Hätte es sich um Tutenchamun und eine Gruppe vertrockneter Afrikaner gehandelt, die aus Gott weiß welchen Gründen am anderen Ende der Welt erhalten geblieben sind; hätte es sich um Babylon oder China gehandelt; hätte es sich um irgendeine Rasse gehandelt, die so entfernt und geheimnisvoll ist wie der Mann im Mond, dann hätten Ihre Zeitungen Ihnen alles darüber berichtet, bis hin zur letzten Auffindung einer Zahnbürste oder eines Kragenknopfes. Aber die Männer, die Ihre eigenen Pfarrkirchen erbaut haben und Ihren Städten und Gewerben die Namen gaben, und selbst den Straßen, auf denen Sie wandeln – es ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, über sie etwas zu erfahren. Ich will nicht behaupten, daß ich selbst viel wüßte; aber ich weiß genug, um zu erkennen, daß diese ganze Geschichte von Anfang bis Ende Quatsch und Unfug ist. Geldverleiher durften einem Mann seinen Laden und seine Werkzeuge nicht wegpfänden. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß die Gilde einen Mann nicht vor solch äußerstem Ruin gerettet hätte, vor allem wenn ihn ein Jude ruinierte. Diese Menschen hatten ihre eigenen Laster und Tragödien; manchmal haben sie andere Menschen gefoltert und verbrannt. Aber der Gedanke, daß ein Mann ohne Gott oder Hoffnung sich verkrieche, um zu sterben, weil sich niemand darum kümmerte, ob er lebe – das ist kein mittelalterlicher Gedanke. Das ist ein Produkt von Wissenschaft und Fortschritt in unserer Wirtschaft. Der Jude würde auch kein Vasall des Feudalherrn gewesen sein. Juden hatten normalerweise eine Sonderstellung als Diener des Königs. Vor allem anderen aber hätte der Jude nicht wegen seiner Religion verbrannt werden können.«
»Die Paradoxe vermehren sich«, bemerkte Tarrant, »aber Sie werden doch sicherlich nicht ableugnen, daß Juden im Mittelalter verfolgt wurden?«
»Es käme der Wahrheit näher«, sagte Father Brown, »wenn man sagte, daß sie die einzigen waren, die im Mittelalter nicht verfolgt wurden. Wenn man die Zeit des Mittelalters satirisch zeichnen wollte, könnte man das gut tun, indem man sagte, daß mancher arme Christ lebenden Leibes verbrannt werden konnte, weil er in Sachen Homousios einen Fehler machte, während ein reicher Jude die Straße hinabgehen und öffentlich Christus und die Mutter Gottes verhöhnen mochte. So also sieht die Geschichte aus. Es war niemals eine Geschichte aus dem Mittelalter; es war niemals auch nur eine Legende übers Mittelalter. Sie wurde von jemandem erfunden, dessen Vorstellungen aus Zeitungen und Romanen stammen, und höchstwahrscheinlich aus dem Stegreif.«
Die anderen schienen von der geschichtlichen Abschweifung etwas benommen zu sein und sich zu wundern, warum der Priester sie so betonte und zu einem so wichtigen Teil des Rätsels machte. Aber Tarrant, dessen Geschäft es war, die handfesten Einzelheiten aus vielen verworrenen Abschweifungen herauszuklauben, war plötzlich aufmerksam geworden. Sein bärtiges Kinn war weiter denn je vorgestreckt, seine düsteren Augen aber waren hellwach.
»Aha«, sagte er, »aus dem Stegreif erfunden!«
»Das ist vielleicht eine Übertreibung«, räumte Father Brown ruhig ein. »Ich hätte besser sagen sollen: zufälliger und sorgloser erfunden als der Rest des ungewöhnlich sorgfältigen Planes. Aber der Planer dachte nicht daran, daß Einzelheiten einer mittelalterlichen Geschichte irgendwem etwas bedeuten könnten. Und diese seine Berechnung war ja im allgemeinen auch ziemlich richtig wie die meisten seiner anderen Berechnungen.«
»Wessen Berechnungen? Wer hatte recht?« fragte die Dame mit einem plötzlichen Anflug von leidenschaftlicher Ungeduld. »Von wem reden Sie eigentlich? Haben wir noch nicht genug durchgemacht, ohne daß Sie uns mit Ihren ›ers‹ und ›seins‹ zum Gruseln bringen?«
»Ich spreche vom Mörder«, sagte Father Brown.
»Welcher Mörder?« fragte sie scharf. »Wollen Sie behaupten, daß der arme Professor ermordet wurde?«
»Nun«, knurrte Tarrant starräugig in seinen Bart, »wir können nicht sagen ›ermordet‹, denn wir wissen nicht, wie er zu Tode kam.«
»Der Mörder tötete jemand anderen, der nicht Professor Smaill war«, sagte der Priester ernst.
»Wieso, wen hat er denn getötet?« fragte der andere.
»Er tötete Hochwürden John Walters, den Vikar von Dulham«, erwiderte Father Brown mit Präzision. »Er wollte nur diese beiden töten, denn beide waren sie in den Besitz von Reliquien einer seltenen Art gekommen. In dieser Frage war der Mörder monoman.«
»Das klingt alles sehr sonderbar«, murmelte Tarrant. »Natürlich können wir auch nicht beschwören, daß der Vikar wirklich tot ist. Wir haben seine Leiche nicht gesehen.«
»O doch, haben Sie«, sagte Father Brown.
Eine Stille entstand so plötzlich wie der Schlag eines Gongs; eine Stille, in der das unbewußte Rätselraten, das in der Frau so aktiv und akkurat war, sie fast zu einem Aufschrei brachte.
»Genau das haben Sie gesehen«, fuhr der Priester fort. »Sie haben seine Leiche gesehen. Sie haben nicht ihn gesehen – den wirklichen lebendigen Mann; aber Sie haben tatsächlich seine Leiche gesehen. Sie haben sie im Lichte von vier großen Kerzen aufmerksam angestarrt; und sie trieb nicht als Folge eines Selbstmordes in der See umher, sondern sie war prunkvoll aufgebahrt wie die eines Kirchenfürsten, in einem vor den Kreuzzügen erbauten Schrein.«
»Mit anderen Worten«, sagte Tarrant, »wollen Sie uns glauben machen, daß der einbalsamierte Körper tatsächlich die Leiche eines ermordeten Mannes war.«
Father Brown schwieg einen Augenblick; dann sagte er mit einem Ausdruck, als sei es nebensächlich:
»Was mir als erstes auffiel, war das Kreuz, oder vielmehr die Schnur, an der das Kreuz hing. Natürlich war es für die meisten von Ihnen nur eine Perlenschnur und nichts weiter; aber ebenso natürlich lag das mehr auf meiner als auf Ihrer Linie. Sie werden sich erinnern, daß es dem Kinn sehr nahe lag und daß nur wenige Perlen sichtbar waren, als ob das ganze Halsband sehr kurz sei. Aber die Perlen, die sichtbar waren, waren auf eine besondere Weise angeordnet, erst eine und dann drei, und so weiter; tatsächlich erkannte ich auf den ersten Blick, daß es ein Rosenkranz war, ein einfacher Rosenkranz mit einem Kreuz am Ende. Nun weist aber ein Rosenkranz mindestens fünf Zehnergruppen und außerdem zusätzliche Perlen auf; deshalb fragte ich mich natürlich, wo wohl der Rest von ihnen war. Er würde sehr viel häufiger als nur einmal um den Hals des alten Mannes reichen. Damals verstand ich das nicht; und erst später erriet ich, wo die überschüssige Länge geblieben war. Sie war um den Fuß der Holzstütze gewickelt, die in der Ecke des Sarges festgekeilt war und den Deckel offen hielt. So daß, als der arme Smaill auch nur leicht an dem Kreuz zupfte, dies die Stütze aus ihrer Stellung zog und der Deckel ihm auf den Schädel krachte wie eine Steinkeule.«
»Donnerwetter!« sagte Tarrant, »ich beginne zu glauben, daß Sie recht haben könnten. Eine eigenartige Geschichte, wenn sie zutrifft.«
»Als mir das klar geworden war«, fuhr Father Brown fort, »konnte ich den Rest mehr oder weniger erraten. Denken Sie vor allem daran, daß es bisher außer für die Untersuchung selbst keinerlei kompetente archäologische Autorität gab. Der arme alte Walters war ein redlicher Altertumskundler, der damit beschäftigt war, das Grab zu öffnen, um herauszufinden, ob die Legende von einbalsamierten Körpern irgendeine Wahrheit enthielt. Alles andere waren Gerüchte von jener Art, die so oft solche Entdeckungen vorausnehmen oder übertreiben. Tatsächlich fand er heraus, daß die Leiche nicht einbalsamiert worden, sondern bereits vor langer Zeit zu Staub zerfallen war. Aber als er da beim Schein seiner einsamen Kerze in jener versunkenen Kapelle arbeitete, warf das Kerzenlicht noch einen Schatten außer dem seinen.«
»Ah!« rief Lady Diana mit stockendem Atem. »Und jetzt weiß ich, was Sie sagen wollen. Sie wollen uns sagen, daß wir dem Mörder begegnet sind, mit dem Mörder sprachen und scherzten, ihn uns romantische Erzählungen erzählen ließen, und ihn dann unangetastet gehen ließen.«
»Wobei er seine geistliche Verkleidung auf einem Felsen zurückließ«, stimmte Brown zu. »Es ist alles wirklich schrecklich einfach. Dieser Mensch kam dem Professor bei dem Wettlauf nach Friedhof und Kapelle vorauf, möglicherweise, während der Professor mit jenem melancholischen Journalisten sprach. Er fand den alten Geistlichen neben dem leeren Sarge vor und tötete ihn. Dann zog er sich selbst das schwarze Gewand der Leiche an und hüllte sie in einen alten Chorrock, der zu den wirklichen Funden der Untersuchung gehörte, und legte sie in den Sarg, wobei er den Rosenkranz und die hölzerne Stütze so arrangierte, wie ich das bereits beschrieben habe. Und nachdem er so die Falle für seinen zweiten Gegner aufgestellt hatte, stieg er hinauf ans Tageslicht und begrüßte uns alle mit der liebenswürdigen Höflichkeit eines Landgeistlichen.«
»Da setzte er sich aber der erheblichen Gefahr aus«, wandte Tarrant ein, »daß jemand Walters vom Sehen kannte.«
»Ich gebe zu, daß er halb von Sinnen war«, stimmte Father Brown zu, »aber Sie werden zugeben, daß die Gefahr sich gelohnt hat, denn schließlich ist er damit durchgekommen.«
»Ich gebe zu, daß er großes Glück gehabt hat«, murrte Tarrant. »Und wer beim Teufel ist er?«
»Wie Sie sagen, hatte er großes Glück«, antwortete Father Brown, »und nicht zuletzt in diesem Punkt. Denn das ist das einzige, was wir vielleicht niemals erfahren werden.«
Er blickte einen Augenblick lang den Tisch mit gerunzelter Stirn an und fuhr dann fort: »Dieser Bursche hat seit Jahren auf der Lauer gelegen und gedroht, und dabei als einziges äußerst sorgfältig das Geheimnis gewahrt, wer er ist; und das hat er auch jetzt gewahrt. Wenn aber der arme Smaill wieder gesund wird, wovon ich überzeugt bin, dann werden Sie sicherlich noch mehr davon hören.«
»Was wird denn Professor Smaill nach Ihrer Meinung tun?« fragte Lady Diana.
»Als erstes wird er wohl«, sagte Tarrant, »diesem mörderischen Teufel Detektive wie Hetzhunde auf die Spur setzen. Am liebsten würde ich selbst mein Glück versuchen.«
»Nun ja«, sagte Father Brown und lächelte plötzlich wieder nach jenem langen Anfall stirnrunzelnder Verwirrtheit, »ich glaube, ich weiß, was er als erstes tun sollte.«
»Und was ist das?« fragte Lady Diana mit anmutigem Eifer.
»Er sollte sich bei Ihnen allen entschuldigen«, sagte Father Brown.
Doch stellte Father Brown fest, daß er nicht diese Frage mit Professor Smaill besprach, als er während der langsamen Genesung des bedeutenden Archäologen an seinem Bett saß. Auch war es nicht vorwiegend Father Brown, der sprach; denn obwohl dem Professor nur kleine Dosen des Anregungsmittels Gespräch erlaubt waren, konzentrierte er davon den Großteil auf diese Unterredungen mit seinem geistlichen Freund. Father Brown hatte die Gabe, auf ermutigende Weise zu schweigen, und Smaill ward dadurch ermutigt, über viele eigentümliche Themen zu sprechen, über die zu sprechen nicht immer leicht ist; etwa über die morbiden Phasen der Genesung und die monströsen Träume, die oftmals das Delirium begleiten. Es kann einen oftmals das Geschäft, sich langsam von einem bösen Schlag auf den Kopf zu erholen, aus dem Gleichgewicht bringen; aber wenn der Kopf so interessant ist wie der von Professor Smaill, können selbst seine Verstörungen und Verzerrungen originell und interessant sein. Seine Träume glichen kühnen und großen Entwürfen eher im Zeichenstil, wie sie in jenen starken, aber starren archaischen Kunstwerken zu finden sind, die er studiert hatte; sie waren voll von seltsamen Heiligen mit viereckigen und dreieckigen Heiligenscheinen, von ungewöhnlichen goldenen Kronen und Gloriolen rund um dunkle flache Gesichter, von Adlern aus dem Osten und jenem hohen Kopfputz bärtiger Männer, die ihre Haare wie Frauen aufbinden. Doch gab es, wie er seinem Freund erzählte, eine sehr viel einfachere und weniger verschlungene Gestalt, die ständig in seine einbildungskräftige Erinnerung zurückkehrte. Wieder und wieder wichen alle diese byzantinischen Muster verblassend zurück wie das verblassende Gold, auf das sie wie auf Feuer gezeichnet waren; und nichts blieb, als die dunkle nackte Felswand, auf die die schimmernde Form des Fisches gezeichnet war wie von einem Finger, der in die Phosphoreszenz der Fische tauchte. Denn dies war das Zeichen, das er einst emporschauend entdeckte in jenem Augenblick, als er zum ersten Mal um die Ecke des dunklen Ganges die Stimme seines Feindes hörte. »Und schließlich«, sagte er, »glaube ich, in Bild und Stimme eine Bedeutung erkannt zu haben; eine, die ich nie zuvor verstanden habe. Warum sollte es mich beunruhigen, daß ein Verrückter unter einer Million Gesunder, die in einer großen Gemeinschaft gegen ihn verbündet sind, sich rühmt, mich zu verfolgen oder mich in den Tod zu hetzen? Der Mann, der in der dunklen Katakombe das geheime Zeichen Christi zeichnete, wurde auf eine ganz andere Weise verfolgt. Er war der einsame Verrückte; die ganze gesunde Gesellschaft hatte sich zusammengeschlossen, nicht, um ihn zu retten, sondern um ihn zu ermorden. Ich habe manchmal herumgerätselt und gegrübelt und mich gefragt, ob dieser oder jener mein Verfolger sei; ob Tarrant; ob Leonard Smyth; ob irgend jemand von ihnen. Wenn sie es nun alle gewesen wären? Wenn es nun alle Menschen auf dem Schiff und im Zug und in dem Dorf gewesen wären. Wenn sie nun alle, was mich anging, Mörder gewesen wären. Ich glaubte, ich hätte ein Recht, besorgt zu sein, weil ich im Dunklen durch das Innere der Erde kroch und es da einen Mann gab, der mich vernichten wollte. Was wäre gewesen, wenn der Vernichter im Licht des Tages Herr der ganzen Erde und Befehlshaber aller Heere und aller Massen gewesen wäre? Was, wenn er imstande gewesen wäre, die Erde anzuhalten oder mich aus meinem Loch rauszuräuchern oder mich zu töten in dem Augenblick, in dem ich meine Nase ins Tageslicht hob? Wie wäre es, sich mit Mord in solchem Ausmaß befassen zu müssen? Die Welt hat derartige Dinge vergessen, wie sie bis vor kurzem Krieg vergessen hatte.«
»Ja«, sagte Father Brown, »aber der Krieg kam. Der Fisch mag wieder in den Untergrund getrieben werden, aber er wird erneut ins Tageslicht auftauchen. Wie der heilige Antonius von Padua humorvoll bemerkte: ›Nur Fische überleben die Sintflut.‹«
Father Brown fiel es zu einer gewissen Zeit seines Lebens schwer, seinen Hut an einen Garderobehaken zu hängen, ohne ein leichtes Schaudern zu unterdrücken. Der Ursprung dieser Idiosynkrasie war freilich nur ein Detail sehr viel komplizierterer Ereignisse; aber es war vielleicht das einzige Detail, das ihm in seinem geschäftigen Leben verblieb, um ihn an die ganze Angelegenheit zu erinnern. Der ferne Ursprung ist in den Tatsachen zu finden, die Dr. Boyne, den Polizeiarzt, veranlaßten, an einem besonders frostkalten Dezembermorgen nach dem Priester zu schicken.
Dr. Boyne war ein großer dunkler Ire, einer jener ziemlich verblüffenden Iren, die man in der ganzen Welt finden kann und die des langen und breiten wissenschaftliche Skepsis, Materialismus und Zynismus vertreten, aber nicht einmal im Traume daran dächten, in Fragen, die religiöse Riten betreffen, etwas anderes als die traditionelle Religion ihres Vaterlandes heranzuziehen. Es wäre schwierig zu entscheiden, ob ihr Glaube ein sehr oberflächlicher Firnis ist oder ein sehr fundamentaler Untergrund; am wahrscheinlichsten ist er beides mit einer Menge Materialismus dazwischen. Wie dem auch sei: Als er zu der Ansicht kam, daß Fragen dieser Art auftauchen könnten, bat er Father Brown um seinen Besuch, obwohl er nicht den Anschein erweckte, als würde er in jenen Dingen diesem Aspekt den Vorzug geben.
»Wissen Sie, ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie dabeihaben will«, war seine Begrüßung. »Eigentlich bin ich mir noch über gar nichts sicher. Ich kann beim Henker nicht rausfinden, ob das ein Fall für den Arzt, den Polizisten oder den Priester ist.«
»Nun«, sagte Father Brown lächelnd, »da Sie sowohl Polizist wie Arzt sind, bin ich ja wohl eher in der Minderheit.«
»Ich will zugeben, daß Sie in der Sprache der Politiker eine unterrichtete Minderheit sind«, erwiderte der Doktor. »Ich meine, ich weiß, daß Sie auch schon ein bißchen auf unserem Gebiet gearbeitet haben, genau wie auf Ihrem eigenen. Aber es ist reichlich schwierig zu sagen, ob diese Angelegenheit in Ihr Gebiet fällt oder in unseres, oder ganz einfach in das der Irrenärzte. Wir haben da gerade eine Nachricht von einem Mann bekommen, der hier in der Nähe lebt, in dem weißen Haus da oben auf dem Hügel, und der um Schutz vor mörderischer Nachstellung bittet. Wir haben die Tatsachen, so weit wir konnten, überprüft, aber vielleicht erzähle ich Ihnen die Geschichte, wie sie sich angeblich ereignet haben soll, besser von Anfang an.
Anscheinend hat ein Mann namens Aylmer, ein reicher Grundbesitzer im Westen des Landes, erst ziemlich spät im Leben geheiratet und drei Söhne bekommen, Philip, Stephen und Arnold. Während seiner Junggesellentage aber, als er glaubte, er werde keinen Leibeserben haben, hatte er einen Knaben adoptiert, den er für brillant und vielversprechend hielt, mit Namen John Strake. Seine Herkunft scheint unklar; manche sagen, er sei ein Findelkind; andere, er sei ein Zigeuner. Ich glaube, daß diese zweite Behauptung mit dem Umstand zusammenhängt, daß Aylmer sich auf seine alten Tage mit allen möglichen zweifelhaften Okkultismen beschäftigt hat, einschließlich Handlesen und Astrologie, und die drei Söhne sagten, daß Strake ihn darin bestärkt habe. Aber sie haben noch eine ganze Menge Dinge außer dem behauptet. Sie behaupteten, daß Strake ein erstaunlicher Schuft und vor allem ein erstaunlicher Lügner sei; ein Genie im spontanen Erfinden von Lügen, die er so erzählen könne, daß er selbst Detektive täusche. Aber im Lichte der Ereignisse könnte das auch ganz gut ein natürliches Vorurteil sein. Vermutlich können Sie sich mehr oder weniger vorstellen, was sich ereignet hat. Der alte Mann hinterließ dem Adoptivsohn praktisch alles; und nachdem er gestorben war, fochten die leiblichen Söhne das Testament an. Sie behaupteten, ihr Vater sei so lange in Angst versetzt worden, bis er nachgegeben habe oder, um es rundheraus zu sagen, bis er zum lallenden Idioten wurde. Sie behaupteten, Strake habe über die sonderbarsten und ausgefuchstesten Wege verfügt, um trotz der Pflegerinnen und der Familie an ihn heranzukommen und ihn noch auf dem Sterbebett zu terrorisieren. Irgendwie scheinen sie aber irgend etwas im Zusammenhang mit dem Geisteszustand des toten Mannes nachgewiesen zu haben, denn die Gerichte verwarfen das Testament, und die Söhne erbten. Strake soll in der schrecklichsten Weise getobt haben und geschworen, er werde alle drei umbringen, einen nach dem anderen, und nichts könne sie vor seiner Rache verbergen. Jetzt hat sich der dritte oder letzte der Brüder, Arnold Aylmer, um Schutz an die Polizei gewandt.«
»Der dritte und letzte«, sagte der Priester und blickte ihn ernst an.
»Ja«, sagte Boyne. »Die beiden anderen sind tot.«
Schweigen herrschte, bevor er fortfuhr. »Hier treten nun Zweifel auf. Es gibt keine Beweise, daß sie ermordet wurden, aber es könnte sein. Der älteste, der seine Stellung als ländlicher Grundherr einnahm, soll in seinem Garten Selbstmord begangen haben. Den zweiten, der sich als Fabrikant etablierte, traf in seiner Fabrik eine Maschine am Kopf; er könnte sehr wohl einen falschen Tritt getan haben und gestürzt sein. Wenn aber Strake sie getötet hat, dann ist er wahrlich außerordentlich geschickt dabei, wie er es macht und wie er sich danach aus dem Staube macht. Andererseits ist es mehr als wahrscheinlich, daß die ganze Angelegenheit eine Frage des Verfolgungswahns ist, der sich auf Zufällen gründet. Ich möchte, daß ein vernünftiger Mensch, der nicht Beamter ist, hinaufgeht, mit Arnold Aylmer spricht und sich eine Meinung von ihm bildet. Sie wissen, wie ein Mensch mit einer fixen Idee ist, und Sie wissen, wie ein Mensch aussieht, der die Wahrheit sagt. Ich möchte Sie als Vorhut, bevor wir die Sache in die Hand nehmen.«
»Es erscheint mir ziemlich merkwürdig«, sagte Father Brown, »daß Sie die Sache nicht schon früher in die Hand nehmen mußten. Wenn irgendwas an dieser Geschichte dran ist, dann muß sie doch schon seit geraumer Zeit im Gange sein. Gibt es irgendeinen besonderen Grund, weshalb er gerade jetzt nach Ihnen geschickt hat und nicht zu einem anderen Zeitpunkt?«
»Daran habe ich auch schon gedacht, wie Sie sich denken können«, antwortete Dr. Boyne. »Er hat einen Grund angegeben, aber ich gestehe, daß gerade der einer der Gründe ist, weshalb ich mich frage, ob die ganze Sache nicht wirklich nur die Schrulle eines halbverrückten Sonderlings ist. Er erklärt, daß alle seine Bediensteten plötzlich streikten und ihn verlassen hätten, was ihn dazu zwinge, sich an die Polizei zu wenden, damit die sich um sein Haus kümmere. Und als ich nachfragte, stellte ich fest, daß es tatsächlich einen allgemeinen Auszug der Dienerschaft aus jenem Haus auf dem Hügel gegeben hat; und natürlich schwirrt die ganze Stadt von Gerüchten, sehr einseitigen, wie ich sagen muß. Danach sieht es so aus, als ob ihr Arbeitgeber in seiner Unruhe und Furcht und mit seinen Anforderungen reichlich unmöglich geworden ist; daß er von ihnen verlangte, das Haus wie Wachtposten zu bewachen oder nachts wie Nachtschwestern im Krankenhaus aufzubleiben; daß sie niemals allein sein konnten, weil er niemals allein sein wollte. Und da haben sie alle einstimmig erklärt, er sei verrückt, und sind abgezogen. Natürlich beweist das nicht, daß er wirklich verrückt ist; aber heutzutage erscheint es doch reichlich merkwürdig, wenn ein Mann von seinem Kammerdiener oder seinem Stubenmädchen verlangt, als bewaffnete Leibgarde zu agieren.«
»Und also«, sagte der Priester mit einem Lächeln, »möchte er, daß ein Polizist als sein Stubenmädchen agiert, weil sein Stubenmädchen nicht als Polizist agieren will.«
»Ich fand das auch ein starkes Stück«, stimmte der Doktor zu, »aber ich kann die Verantwortung für eine schlichte Ablehnung nicht auf mich nehmen, ehe ich es nicht mit einem Kompromiß versucht habe. Und Sie sind der Kompromiß.«
»In Ordnung«, sagte Father Brown einfach. »Ich werde hingehen und ihn jetzt besuchen, wenn Sie wollen.«
Die wellige Landschaft um die kleine Stadt war vom Frost versiegelt und in Fesseln geschlagen, und der Himmel war klar und kalt wie Stahl außer im Nordosten, wo Wolken mit düsteren Rädern am Himmel aufzuziehen begannen. Vor diesen dunkleren und drohenderen Farben erglänzte das Haus auf dem Hügel mit einer Reihe blasser Säulen, die eine kurze Kolonnade nach klassischem Muster bildeten. Eine Straße wand sich über die Rundung des Hügels dort hinauf und verschwand in einer Masse dunklen Buschwerks. Unmittelbar bevor sie das Buschwerk erreichte, schien die Luft kälter und kälter zu werden, als nahe er sich einem Eiskeller oder dem Nordpol. Aber er war ein höchst praktisch veranlagter Mensch, der solche Phantasien nur als Phantasien gelten ließ. Und der großen bleigrauen Wolke, die über dem Haus emporkroch, warf er lediglich einen Blick zu und bemerkte heiter: »Bald schneit es.«
Durch einen niedrigen eisernen Torweg mit Ornamenten im italienischen Stil betrat er einen Garten, dem einiges von jener Trostlosigkeit eignete, die nur zur Unordnung ordentlicher Dinge gehört. Dunkelgrüne Büsche waren grau vom leichten Puder des Frostes, große Gräser umfaßten die vergehenden Formen der Blumenbeete wie zerborstene Rahmen; und das Haus stand bis zu den Hüften in einem verkümmerten Wald aus Sträuchern und Büschen. Die Vegetation bestand vor allem aus Immergrün oder sehr widerstandsfähigen Pflanzen; und obwohl sie so dicht und füllig war, war sie doch zu nördlich, um üppig genannt zu werden. Man könnte sie als einen arktischen Dschungel beschreiben. So war es in gewisser Weise auch mit dem Haus selbst, dessen Säulenreihen und dessen klassische Fassade über das Mittelmeer hätten blicken können, die aber jetzt im Wind der Nordsee dahinzuwelken schienen. Hier und da betonten klassische Ornamente den Kontrast. Karyatiden und skulptierte Masken aus Komödie und Tragödie blickten von den Ecken des Gebäudes auf die graue Wirrnis der Gartenwege; aber die Gesichter erschienen wie vom Frost zerbissen. Und selbst die Voluten der Kapitelle wirkten wie vor Kälte eingerollt.
Father Brown schritt die grasigen Stufen zu einer viereckigen Vorhalle hinauf, die von großen Pfeilern flankiert war, und klopfte an die Tür. Ungefähr 4 Minuten später klopfte er erneut. Dann stand er still und wartete geduldig mit dem Rücken zur Tür und blickte hinaus auf die langsam dunkler werdende Landschaft. Sie wurde dunkler durch den Schatten jenes einen großen Wolkenkontinents, der aus dem Norden herangezogen kam; und während er noch zwischen den Pfeilern der Vorhalle hinaussah, die im Zwielicht hoch und schwarz über ihm erschien, erblickte er den schillernd einherschleichenden Rand der großen Wolke, wie sie über das Dach segelte und sich wie ein Baldachin über die Vorhalle wölbte. Der graue Baldachin schien mit seinen schwach gefärbten Fransen tiefer und tiefer auf den Garten hinabzusinken, bis von dem eben noch klaren und blaßfarbenen Winterhimmel nicht mehr als ein paar silberne Streifen und Fetzen wie bei einem kränklichen Sonnenuntergang übriggeblieben war. Father Brown wartete, doch von innen hörte man keinen Ton.
Dann begab er sich rasch die Stufen hinab und um das Haus herum, um nach einem anderen Eingang zu suchen. Schließlich fand er einen, eine Seitentür in der glatten Mauer, und auch an diese klopfte er, und auch vor dieser wartete er. Dann versuchte er den Türgriff und stellte fest, daß die Tür offenbar verriegelt oder sonstwie verschlossen war; und dann bewegte er sich an dieser Seite des Hauses entlang und grübelte über die Möglichkeiten der Situation nach und fragte sich, ob der exzentrische Mr. Aylmer sich vielleicht so tief im Hause verbarrikadiert habe, daß er kein Klopfen und Rufen hören könne; oder ob er sich in der Annahme, jedes Klopfen und Rufen müsse die Herausforderung des rachedurstigen Strake sein, nur um so mehr verbarrikadiere. Es mochte auch sein, daß die abziehenden Dienstboten am Morgen beim Weggehen lediglich eine Tür aufgeschlossen hatten, die ihr Herr dann wieder verschloß; was immer aber er getan haben mochte, so war es unwahrscheinlich, daß sie in der Stimmung jenes Augenblicks so sorgsam auf die Verteidigungssysteme geachtet haben sollten. Er setzte seine Erkundung um das Haus herum fort; es war gar keine so große Anlage, wenngleich vielleicht ein bißchen angeberisch; und nach wenigen Augenblicken stellte er fest, daß er sie vollständig umrundet hatte. Einen Augenblick später fand er, was er vermutet und gesucht hatte. Die Terrassentür eines Zimmers stand, von Vorhängen bedeckt und von Schlinggewächsen überschattet, einen Spaltbreit offen, sicherlich versehentlich offengelassen, und so fand er sich in einem zentralen Raum, bequem eingerichtet auf eine ziemlich altmodische Weise, aus dem auf der einen Seite eine Treppe nach oben und auf der anderen Seite eine Tür hinausführte. Unmittelbar ihm gegenüber befand sich eine weitere Tür, in die rotes Glas eingelassen war, ein bißchen zu bunt für den neueren Geschmack; etwas, das wie eine rotgekleidete Figur in billigem Buntglas aussah. Auf einem runden Tisch zur Rechten stand eine Art Aquarium – ein großer Behälter, gefüllt mit grünlichem Wasser, in dem sich Fische und ähnliche Geschöpfe wie in einem Weiher bewegten, und ihm genau gegenüber eine Pflanze der Gattung Palme mit sehr großen grünen Blättern. Alles das sah so sehr verstaubt und frühviktorianisch aus, daß das Telephon, sichtbar hinter den Vorhängen des Alkovens, fast überraschend wirkte.
»Wer ist da?« rief eine Stimme scharf und ziemlich mißtrauisch hinter der Buntglastür hervor.
»Könnte ich Mr. Aylmer sprechen?« fragte der Priester entschuldigend.
Die Tür öffnete sich, und ein Gentleman in pfauengrünem Morgenrock trat mit fragendem Gesichtsausdruck ein. Sein Haar war ziemlich struppig und unordentlich, als ob er im Bett gewesen wäre oder gerade dabei, langsam aufzustehen, aber seine Augen waren nicht nur wach, sondern geradezu wachsam, ja, mancher würde gesagt haben alarmiert. Father Brown wußte, daß ein solcher Widerspruch bei einem Manne, der im Schatten einer Wahnvorstellung oder einer Gefahr dahinvegetiert, ganz natürlich war. Von der Seite hatte er ein schönes Adlerprofil, aber von vorne gesehen herrschte als erster Eindruck der seines ungepflegten, ja wilden unordentlichen braunen Bartes vor.
»Ich bin Mr. Aylmer«, sagte er, »aber ich habe mir abgewöhnt, Besucher zu erwarten.«
Etwas in Mr. Aylmers unruhigem Blick brachte den Priester dazu, sofort zum Kern zu kommen. Wenn der Verfolgungswahn des Mannes bloß eine fixe Idee war, würde er das um so weniger übelnehmen.
»Ich frage mich«, sagte Father Brown sanft, »ob Sie wirklich niemals Besucher erwarten.«
»Sie haben recht«, erwiderte der Hausherr unverwandt. »Ich erwarte einen Besucher immer. Und vielleicht ist er der letzte.«
»Ich hoffe nicht«, sagte Father Brown, »jedenfalls aber erleichtert es mich, zu schließen, daß ich ihm nicht sehr ähnlich sehe.«
Mr. Aylmer schüttelte sich in einer Art grimmen Lachens. »Das tun Sie sicherlich nicht«, sagte er.
»Mr. Aylmer«, sagte Father Brown offen, »ich bitte um Entschuldigung, daß ich mir die Freiheit herausnehme, aber Freunde von mir haben mir von Ihren Schwierigkeiten erzählt und mich gebeten, nachzusehen, ob ich nicht irgend etwas für Sie tun kann. Denn ich habe einige Erfahrung in Angelegenheiten wie dieser.«
»Angelegenheiten wie diese gibt es nicht«, sagte Aylmer.
»Wollen Sie sagen«, bemerkte Father Brown, »daß die Tragödien in Ihrer unglücklichen Familie keine normalen Todesfälle waren?«
»Ich will sagen, daß sie nicht einmal normale Morde waren«, antwortete der andere. »Der Mann, der uns alle zu Tode hetzt, ist ein Hetzhund der Hölle, und seine Macht stammt aus der Hölle.«
»Alles Böse hat eine einzige Wurzel«, sagte der Priester ernst. »Aber woher wissen Sie, daß es sich nicht um normale Morde handelte?«
Aylmer antwortete mit einer Geste, die seinem Gast einen Stuhl anbot; dann setzte er sich selbst langsam in einen anderen und runzelte die Stirn, während seine Hände auf seinen Knien lagen; als er aber wieder aufblickte, war sein Ausdruck milder und nachdenklicher geworden, und seine Stimme war herzlich und gefaßt.
»Sir«, sagte er, »ich möchte nicht, daß Sie sich einbilden, ich sei unvernünftig. Ich bin zu meinen Schlüssen durch die Vernunft gekommen, denn unglücklicherweise führt die Vernunft eben zu ihnen. Ich habe über solche Dinge viel gelesen; denn ich war der einzige, der meines Vaters Gelehrsamkeit in okkulten Angelegenheiten geerbt hat, und seither habe ich auch seine Bibliothek geerbt. Was ich Ihnen aber erzähle, beruht nicht auf dem, was ich gelesen habe, sondern auf dem, was ich gesehen habe.«
Father Brown nickte, und der andere fuhr fort, als müsse er seine Worte einzeln aufpicken:
»Im Fall meines älteren Bruders war ich zunächst nicht sicher. Es gab dort, wo er erschossen aufgefunden wurde, keinerlei Anzeichen oder Fußspuren, und die Pistole lag neben ihm. Doch hatte er gerade zuvor einen Drohbrief erhalten, sicherlich von unserem Feind, denn er war mit einem Zeichen wie ein geflügelter Dolch gekennzeichnet, einem seiner teuflischen kabalistischen Tricks. Und ein Dienstmädchen sagte aus, sie habe gesehen, wie sich im Zwielicht etwas entlang der Gartenmauer bewegte, das viel zu groß für eine Katze war. Ich will es dabei belassen; alles, was ich sagen kann, ist, daß der Mörder, wenn er denn gekommen ist, es fertig brachte, keinerlei Spuren seines Kommens zu hinterlassen. Als aber mein Bruder Stephen starb, war es anders; und seither weiß ich. Eine Maschine arbeitete auf einem offenen Gerüst unter dem Fabrikschlot; ich bestieg die Plattform unmittelbar nachdem er unter den Eisenhammer gestürzt war, der ihn erschlug; ich sah nichts anderes ihn erschlagen, aber ich sah, was ich sah.
Eine große Wolke Fabrikrauch hing zwischen mir und dem Fabrikschlot; aber durch einen Riß in ihr sah ich oben auf dem Schlot eine dunkle menschliche Gestalt in etwas gehüllt, das wie ein schwarzer Umhang aussah. Dann trieb der schweflige Rauch wieder zwischen uns; und als er sich verzogen hatte und ich wieder zu dem fernen Schlot emporblickte – war da niemand. Ich bin ein vernünftiger Mensch, und ich möchte alle vernünftigen Menschen fragen, wie sie auf jenen schwindelerregenden, unzugänglichen Turm gekommen ist und wie sie ihn wieder verließ.«
Er starrte den Priester herausfordernd wie eine Sphinx an; dann sagte er nach einem Schweigen plötzlich:
»Meines Bruders Schädel war zerschlagen, aber sein Körper war nicht stark verletzt. Und in seiner Tasche fanden wir eine jener warnenden Botschaften, die am Vortag datiert und mit dem geflügelten Dolch gestempelt war.
Ich bin überzeugt«, fuhr er düster fort, »daß das Symbol des geflügelten Dolches weder willkürlich noch zufällig ist. Nichts an diesem abscheulichen Menschen ist zufällig. Er ist ganz Absicht; und alles ist finstere und höchst vertrackte Absicht. Sein Geist besteht nicht nur aus einem Gewebe der ausgeklügeltsten Pläne, sondern auch aus allen Arten geheimer Sprachen und Zeichen, stummer Signale und wortloser Bilder, die Namen für namenlose Dinge sind. Er ist die schlimmste Art Mensch, die die Welt kennt: er ist der böse Mystiker. Nun will ich nicht behaupten, daß ich alles durchschaute, was dieses Symbol ausdrückt; mir scheint es aber sicher zu sein, daß es eine Beziehung zu all dem hat, was an seinen Bewegungen, während er meine unglückliche Familie umlauerte, besonders bemerkenswert oder gar unglaublich ist. Oder gibt es vielleicht keine Beziehung zwischen einer geflügelten Waffe und dem Geheimnis, das Philip tot auf seinem eigenen Rasen niederstreckte, ohne daß die leichteste Berührung eines Fußabdrucks Staub oder Gras störte? Gibt es keine Beziehung zwischen dem geflügelten Dolch, der wie ein gefiederter Dolch dahinfliegt, und jener Gestalt, die am obersten Rand des hochragenden Schlotes hing, gehüllt in ein Schwingengewand?«
»Sie glauben also«, sagte Father Brown nachdenklich, »daß er sich ständig im Zustand der Levitation befindet.«
»Simon Magus tat es«, erwiderte Aylmer, »und es gehörte zu den verbreitetsten Weissagungen des Mittelalters, daß der Antichrist fliegen könne. Auf jeden Fall gab es den geflügelten Dolch auf dem Dokument; und ob er nun fliegen konnte oder nicht – mit Sicherheit konnte er zustoßen.«
»Haben Sie bemerkt, auf welcher Sorte Papier er sich fand?« fragte Father Brown. »Gewöhnliches Papier?«
Das sphinxähnliche Gesicht brach plötzlich in ein harsches Lachen aus.
»Sie können selbst sehen, wie sie aussehen«, sagte Aylmer grimmig, »denn heute morgen habe ich auch eines bekommen.«
Er saß nun in seinen Sitz zurückgelehnt, seine langen Beine ragten unter dem grünen Morgenmantel hervor, der etwas zu kurz für ihn war, und sein bärtiges Kinn ruhte auf seiner Brust. Ohne sich sonst zu bewegen, schob er die Hand tief in die Tasche des Morgenmantels und streckte dann mit steifem Arm einen zitternden Fetzen Papier hin. Seine ganze Haltung gemahnte an eine Art Lähmung, die gleichermaßen aus Starre und Zusammenbruch bestand. Doch die nächste Bemerkung des Priesters übte einen merkwürdig aufweckenden Einfluß auf ihn aus.
Father Brown blinzelte in seiner kurzsichtigen Weise auf das ihm hingehaltene Papier. Es war eine eigenartige Art Papier, rauh, aber nicht gewöhnlich, wie aus dem Skizzenblock eines Künstlers; darauf war mit kühnen Zügen in roter Tinte ein Dolch gezeichnet, den Flügel schmückten wie den Stab des Hermes, und geschrieben standen die Worte: »Der Tod kommt am folgenden Tag, wie er zu deinen Brüdern kam.«
Father Brown schleuderte das Papier auf den Boden und saß kerzengerade auf seinem Stuhl.
»Sie dürfen sich von diesem Zeugs nicht verblüffen lassen«, sagte er scharf. »Diese Teufel versuchen immer wieder, uns hilflos zu machen, indem sie uns hoffnungslos machen.«
Zu seinem eigenen Erstaunen überlief eine belebende Welle die hingestreckte Gestalt, die aus ihrem Stuhl emporsprang, wie aus einem Traum aufgescheucht.
»Sie haben recht, Sie haben recht!« schrie Aylmer in geradezu unheimlicher Lebhaftigkeit; »und diese Teufel werden herausfinden, daß ich trotz allem nicht so hoffnungslos bin und auch nicht so hilflos. Vielleicht habe ich mehr Hoffnung und bessere Hilfe, als Sie sich vorstellen können.«
Er stand da mit den Händen in den Taschen und starrte mit gerunzelten Brauen auf den Priester hinab, der während dieses angespannten Schweigens für einen Augenblick befürchtete, daß des Mannes lange Gefährdung sein Gehirn angegriffen habe. Doch als er sprach, geschah das ganz nüchtern.
»Ich glaube, daß meine unglücklichen Brüder scheiterten, weil sie sich der falschen Waffen bedienten. Philip trug einen Revolver bei sich, und daher nannte man seinen Tod Selbstmord. Stephen hatte zwar Polizeischutz, aber auch ein starkes Gefühl dafür, was ihn lächerlich erscheinen ließ; und deshalb konnte er nicht zulassen, daß ihm ein Polizist die Leiter hinauf zu einem Gerüst nachkletterte, auf dem er sich nur einen Augenblick aufhalten wollte. Sie waren beide Spötter, die sich vor dem sonderbaren Mystizismus der letzten Tage meines Vaters in Skepsis zurückzogen. Ich aber wußte immer, daß mehr in meinem Vater war, als sie verstehen konnten. Es ist wahr, daß er durch das Studium der Magie zuletzt dem Pesthauch der Schwarzen Magie erlag; der Schwarzen Magie jenes Schurken Strake. Meine Brüder aber irrten sich im Gegenmittel. Das Gegenmittel zur Schwarzen Magie ist nicht harter Materialismus oder weltliche Klugheit. Das Gegenmittel zur Schwarzen Magie ist Weiße Magie.«
»Das hängt ganz davon ab«, sagte Father Brown, »was Sie unter Weißer Magie verstehen.«
»Ich meine silberne Magie«, sagte der andere mit leiser Stimme wie einer, der von einer geheimen Offenbarung spricht. Und nach einer Pause sagte er: »Wissen Sie, was ich mit silberner Magie meine? Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«
Er wandte sich um, öffnete die Mitteltür mit dem roten Glas und trat in einen Korridor hinter ihr. Das Haus hatte weniger Tiefe, als Brown angenommen hatte; statt daß die Tür sich auf Innenräume hin öffnete, führte der Korridor, den sie freigab, zu einer anderen Tür in den Garten. Auf der einen Seite des Korridors war die Tür eines Zimmers; zweifellos, wie der Priester sich sagte, die zum Schlafzimmer des Besitzers, von wo er in seinem Morgenmantel herausgeeilt war. An jener Wand befand sich weiter nichts als ein gewöhnlicher Kleiderständer mit dem gewöhnlichen staubigen Durcheinander alter Hüte und Mäntel; aber an der anderen Wand befand sich etwas Interessanteres: ein sehr dunkles altes Eichenbüffet, auf dem altes Silber ausgelegt war und über dem eine Trophäe oder ein Ornament aus alten Waffen hing. Hier war Arnold Aylmer stehengeblieben und blickte empor zu einer langläufigen altmodischen Pistole mit glockenförmiger Mündung.
Die Tür am anderen Ende des Korridors war nur angelehnt, und durch den Spalt floß ein Streifen weißen Tageslichts. Der Priester hatte für Naturereignisse einen schnellen Instinkt, und etwas an der ungewöhnlichen Helligkeit dieses weißen Striches verriet ihm, was sich draußen ereignet hatte. Eben das, was er vorausgesagt hatte, als er sich dem Hause näherte. Er rannte an seinem ziemlich erschreckten Gastgeber vorbei und öffnete die Tür und sah sich etwas gegenüber, das zugleich ein Nichts und ein Glanz war. Was er durch den Spalt hatte schimmern gesehen, war nicht nur die höchst negative Weiße des Tageslichts, sondern die positive Weiße des Schnees. Ringsum war die hinstreichende Senkung der Landschaft von jener schimmernden Blässe bedeckt, die zugleich altersgrau und unschuldig wirkt.
»Hier jedenfalls ist Weiße Magie«, sagte Father Brown mit seiner fröhlichen Stimme. Dann, als er sich zurück in die Halle wandte, murmelte er: »Und vermutlich auch silberne Magie«, denn der weiße Schein ließ das Silber erglänzen und den alten Stahl der dunkelnden Waffen hier und da aufleuchten. Das zottige Haupt des brütenden Aylmer schien umgeben von einem Strahlenkranz aus silbernem Feuer, als er sich umdrehte, das Gesicht im Schatten und die fremdartige Pistole in der Hand.
»Wissen Sie, warum ich mir gerade diese alte Art Donnerbüchse ausgesucht habe?« fragte er. »Weil ich sie mit dieser Art Kugeln laden kann.«
Er hatte einen kleinen Zierlöffel mit Apostelfigur am Griff vom Büffet aufgenommen und brach jetzt mit schierer Gewalt die kleine Gestalt ab. »Wir wollen in das andere Zimmer zurückgehen«, fügte er hinzu.
»Haben Sie je über Dundees Tod gelesen?« fragte er, als sie wieder Platz genommen hatten. Er hatte sich von seinem Ärger über die Rastlosigkeit des Priesters erholt. »Graham von Claverhouse, wissen Sie, der die Covenanters verfolgte und ein schwarzes Pferd besaß, das einen Abgrund geradewegs hinaufreiten konnte. Wissen Sie denn nicht, daß er nur mit einer Silberkugel erschossen werden konnte, weil er sich dem Teufel verkauft hatte? Das ist das Angenehme an Ihnen; Sie wissen wenigstens genug, um an den Teufel zu glauben.«
»O ja«, erwiderte Father Brown, »ich glaube an den Teufel. Woran ich nicht glaube, ist der Dundee. Ich meine den Dundee der Covenanter-Legenden, mit seinem Alptraum von Pferd. John Graham war nur ein Berufssoldat des 17. Jahrhunderts, eher besser als die meisten. Wenn er ihnen die Hölle heiß machte, so weil er ein Dragoner war, nicht aber ein Drache. Nun sind es nach meiner Erfahrung gerade nicht solche prahlerischen Haudegen, die sich dem Teufel verkaufen. Die Teufelsanbeter, die ich gekannt habe, waren ganz anders. Um keine Namen zu nennen, die gesellschaftlich Aufsehen erregen würden, will ich einen Mann aus Dundees Tagen nehmen. Haben Sie je von Dalrymple von Stair gehört?«
»Nein«, erwiderte der andere mürrisch.
»Sie haben von dem gehört, was er getan hat«, sagte Father Brown, »und das war schlimmer als alles, was Dundee jemals tat; doch entging er der Schande durch Vergessen. Er war es, der das Massaker von Glencoe verursachte. Er war ein sehr gelehrter Mann und ein glänzender Jurist, ein Staatsmann mit sehr ernsthaften und weitblickenden Vorstellungen von der Staatskunst, ein ruhiger Mann mit einem sehr feinen und intellektuellen Gesicht. Das ist die Art Mensch, die sich selbst dem Teufel verschachert.«
Aylmer sprang im Enthusiasmus jäher Zustimmung halb aus seinem Stuhl hoch.
»Bei Gott! Sie haben recht«, rief er. »Ein feines intellektuelles Gesicht! Das ist das Gesicht von John Strake.«
Dann erhob er sich und sah den Priester in sonderbarer Konzentration an. »Warten Sie bitte hier einen Augenblick«, sagte er, »ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Er ging durch die Mitteltür hinaus und schloß sie hinter sich; er ging, wie der Priester annahm, zum alten Büffet oder vielleicht auch in sein Schlafzimmer. Father Brown blieb sitzen und starrte geistesabwesend auf den Teppich, auf dem ein schwacher roter Schimmer von dem Glas in der Tür schien. Mal schien er wie ein Rubin aufzuleuchten, und dann wurde er wieder dunkler, als ob die Sonne an jenem stürmischen Tage von Wolke zu Wolke wanderte. Nichts rührte sich außer den Wasserwesen, die in dem mattgrünen Gefäß hin und her trieben. Father Brown dachte angestrengt nach.
Nach ein oder zwei Minuten stand er auf und schlüpfte leise zum Telephon im Alkoven, von wo aus er seinen Freund Dr. Boyne in der amtlichen Dienststelle anrief. »Ich möchte Ihnen über Aylmer und seine Angelegenheiten berichten«, sagte er ruhig. »Das ist eine merkwürdige Geschichte, aber ich glaube doch, daß etwas dahinter steckt. Wenn ich Sie wäre, würde ich sofort einige Männer herschicken, vier oder fünf vielleicht, und sie das Haus umstellen lassen. Wenn etwas geschehen sollte, dann wird sich wahrscheinlich eine spektakuläre Flucht ereignen.«
Dann ging er zurück und setzte sich wieder hin und starrte auf den dunklen Teppich, der wieder im Lichte der Glastür blutrot aufglühte. Etwas in dem gefilterten Licht ließ seinen Geist in bestimmte Grenzbereiche des Denkens wandern, in das erste weiße Tageslicht vor dem Aufdämmern von Farben und in all jene Geheimnisse, die das Symbol von Fenstern und Türen zugleich verhüllt und entschleiert.
Ein unmenschliches Geheul aus menschlicher Kehle erscholl von jenseits der verschlossenen Türen, fast zugleich mit dem Geräusch eines Schusses. Bevor das Echo des Schusses erstorben war, wurde die Tür gewaltsam aufgestoßen und sein Gastgeber stolperte in das Zimmer, den Morgenmantel halb von der Schulter gerissen, die lange Pistole rauchend in der Hand. Er schien am ganzen Körper zu zittern, aber teilweise ward er von einem unnatürlichen Gelächter geschüttelt.
»Gepriesen sei die Weiße Magie!« schrie er. »Gepriesen sei die silberne Kugel! Der Höllenhund hat einmal zu oft gejagt, und meine Brüder sind endlich gerächt.«
Er sank in einen Sessel, die Pistole glitt ihm aus der Hand und fiel zu Boden. Father Brown schoß an ihm vorüber, schlüpfte durch die Glastür und ging den Korridor hinab. Dabei legte er die Hand auf die Klinke der Schlafzimmertür, als habe er halb die Absicht, dort einzutreten; dann bückte er sich einen Augenblick, als untersuche er etwas – und dann rannte er zur Außentür und öffnete sie.
Auf dem Schneefeld, das vor kurzem noch so leer gewesen war, lag ein schwarzer Gegenstand. Auf den ersten Blick sah er fast so aus wie eine riesige Fledermaus. Ein zweiter Blick zeigte, daß es sich trotz allem um eine menschliche Gestalt handelte, aufs Gesicht gestürzt, den ganzen Kopf von einem breitkrämpigen schwarzen Hut bedeckt, der fast lateinamerikanisch aussah, während der Anschein schwarzer Schwingen von den beiden losen Ärmeln eines sehr weiten schwarzen Umhangs erweckt wurde, die, vielleicht aus Zufall, auf jeder Seite in voller Länge ausgespreitet waren. Beide Hände waren verborgen, obwohl Father Brown glaubte, er könne die Position der einen von ihnen ausmachen, und er sah nahebei, unter dem Saum des Umhangs, den Schimmer einer metallischen Waffe. Die Hauptwirkung jedoch war eigenartigerweise die der einfachen Übertriebenheit der Heraldik; wie ein schwarzer Adler, ausgebreitet auf weißem Grunde. Als er aber um die Gestalt herumging und unter den Hut sah, erhaschte der Priester einen Blick in das Gesicht, das in der Tat so war, wie der Gastgeber es genannt hatte, fein und intellektuell; auch skeptisch und streng: das Gesicht von John Strake.
»Da soll mich doch«, murmelte Father Brown. »Das sieht wirklich so aus, als ob ein großer Vampir herabgestoßen sei wie ein Vogel.«
»Wie sonst hätte er gekommen sein können?« klang eine Stimme von der Tür her, und als Father Brown aufblickte, sah er erneut Aylmer da stehen.
»Hätte er nicht zu Fuß gehen können?« erwiderte Father Brown ausweichend.
Aylmer streckte den Arm aus und überstrich die weiße Landschaft mit einer Geste.
»Betrachten Sie den Schnee«, sagte er mit einer tiefen Stimme, die auf eine Art rollend vibrierte. »Ist der Schnee nicht unberührt – rein wie die Weiße Magie, wie Sie selbst ihn genannt haben? Gibt es auf ihm meilenweit auch nur einen Flecken, abgesehen von jenem widerlichen schwarzen Klecks, der dorthin gefallen ist? Es gibt keine Fußspuren außer den wenigen von Ihnen und mir; und keine, die sich von irgendwo dem Haus näherten.«
Dann blickte er den kleinen Priester einen Augenblick lang mit einem konzentrierten und eigenartigen Ausdruck an und sagte:
»Ich will Ihnen noch etwas sagen. Jener Umhang, mit dem er fliegt, ist zu lang, um darin zu gehen. Er war kein sehr großer Mann, und er würde hinter ihm herschleifen wie die Schleppe eines Königs. Breiten Sie ihn über seinen Körper aus, wenn Sie wollen, und sehen Sie selbst.«
»Was hat sich zwischen Ihnen ereignet?« fragte Father Brown abrupt.
»Das ging zu schnell, um es zu beschreiben«, antwortete Aylmer. »Ich hatte einen Blick durch die Tür hinaus geworfen und wandte mich wieder um, als plötzlich eine Art Windrauschen mich umgab, als werde ich von einem frei in der Luft drehenden Rad herumgeschwungen. Irgendwie wirbelte ich herum und feuerte blindlings; und danach sah ich nur, was Sie jetzt auch sehen. Aber ich bin zutiefst überzeugt, daß Sie das nicht sehen würden, wenn ich nicht ein silbernes Geschoß in meiner Pistole gehabt hätte. Dann läge dort ein anderer Körper im Schnee.«
»Sollen wir übrigens«, bemerkte Father Brown, »das dort im Schnee liegen lassen? Oder würden Sie es lieber in Ihr Zimmer bringen – ich nehme an, das ist Ihr Schlafzimmer dort im Korridor?«
»Nein, nein«, erwiderte Aylmer hastig, »wir müssen es dort liegen lassen, bis die Polizei es gesehen hat. Außerdem habe ich von diesen Dingen jetzt mehr gehabt, als ich im Augenblick ertragen kann. Was auch geschehen mag, ich muß jetzt einen Schluck trinken. Danach mögen sie mich hängen, wenn sie wollen.«
Im mittleren Zimmer taumelte Aylmer zwischen der Palmenpflanze und dem Fischgefäß in einen Sessel. Zwar hätte er fast das Gefäß umgestoßen, als er ins Zimmer torkelte, aber es war ihm gelungen, die Brandy-Karaffe zu finden, nachdem er mit der Hand fast blindlings in verschiedene Fächer und Winkel gefahren war. Er wirkte zu keiner Zeit wie ein methodischer Mensch, aber in diesem Augenblick erreichte seine Zerstreutheit ihren Höhepunkt. Er trank einen tiefen Schluck und begann dann, fieberhaft zu reden, so als müsse er die Stille füllen.
»Sie haben immer noch Zweifel«, sagte er, »obwohl Sie das Ding mit Ihren eigenen Augen gesehen haben. Glauben Sie mir, da war mehr in dem Streit zwischen dem Geist von Strake und dem Geist des Hauses Aylmer. Außerdem ist es nicht Ihre Sache, ein Ungläubiger zu sein. Ihre Sache ist es, für all die Dinge einzutreten, die diese dummen Leute Aberglauben nennen. Oder glauben Sie etwa nicht, daß da eine ganze Menge in den Altweibergeschichten von Amuletten und Zaubermitteln und so weiter steckt, silberne Kugeln eingeschlossen? Was halten Sie als Katholik davon?«
»Ich halte mich für einen Agnostiker«, erwiderte Father Brown lächelnd.
»Unfug«, sagte Aylmer ungeduldig. »Es ist Ihre Aufgabe, an die Dinge zu glauben.«
»Nun ja, ich glaube natürlich an einige Dinge«, räumte Father Brown ein, »und deshalb glaube ich natürlich an andere Dinge nicht.«
Aylmer lehnte sich vornüber und blickte ihn mit einer sonderbaren Intensität an, die fast die eines Hypnotiseurs war.
»Sie glauben es«, sagte er. »Sie glauben alles. Wir alle glauben alles, selbst wenn wir alles ableugnen. Die Leugner glauben. Die Ungläubigen glauben. Spüren Sie nicht in tiefster Seele, daß diese Widersprüche keine wirklichen Widersprüche sind: daß es einen Kosmos gibt, der sie alle umfängt? Die Seele dreht sich auf einem Sternenrad, und alle Dinge kehren wieder; vielleicht haben Strake und ich uns in vielerlei Gestalt bekämpft, Tier wider Tier und Vogel wider Vogel, und vielleicht werden wir uns ewig bekämpfen. Aber da wir einander suchen und brauchen, ist selbst dieser ewige Haß ewige Liebe. Gut und Böse drehen sich in einem Rad, das ein Ding ist und nicht viele. Erkennen Sie denn nicht in Ihrem Herzen, glauben Sie denn nicht hinter all Ihren Gläubigkeiten, daß es nur eine Wirklichkeit gibt und wir deren Schatten sind; und daß alle Dinge nur die Aspekte des einen sind: eines Zentrums, in dem die Menschen zum Menschen verschmelzen, und der Mensch zu Gott?«
»Nein«, sagte Father Brown.
Draußen begann die Dämmerung zu sinken, in jenem Stadium eines so schneebeladenen Abends, in dem die Erde heller aussieht als der Himmel. In der Vorhalle des Haupteingangs, sichtbar durch ein halbverhängtes Fenster, konnte Father Brown schwach eine vierschrötige Gestalt stehen sehen. Er blickte flüchtig zur Terrassentür, durch die er ursprünglich eingetreten war, und sah sie von zwei ebenfalls bewegungslosen Gestalten verdunkelt. Die Innentür mit dem Buntglas stand leicht angelehnt; und in dem kurzen Korridor hinter ihr konnte er die Enden zweier langer Schatten sehen, vom flachen Abendlicht übertrieben und verzerrt, aber immer noch graue Karikaturen menschlicher Gestalten. Dr. Boyne hatte bereits auf die telephonische Botschaft gehört. Das Haus war umstellt.
»Welchen Sinn hat es, nein zu sagen?« beharrte sein Gastgeber, immer noch mit dem gleichen hypnotischen Blick. »Sie haben einen Teil jenes ewigen Dramas mit eigenen Augen gesehen. Sie haben die Drohung John Strakes gesehen, Arnold Aylmer mittels Schwarzer Magie zu erschlagen. Sie haben gesehen, wie Arnold Aylmer John Strake mittels Weißer Magie schlug. Sie sehen Arnold Aylmer lebendig und mit Ihnen redend vor sich. Und doch glauben Sie es nicht.«
»Nein, ich glaube es nicht«, sagte Father Brown und erhob sich aus seinem Stuhl wie einer, der einen Besuch beendet.
»Warum nicht?« fragte der andere.
Der Priester hob seine Stimme nur ein wenig an, aber in jede Ecke des Zimmers hallte sie wie eine Glocke.
»Weil Sie nicht Arnold Aylmer sind«, sagte er. »Ich weiß, wer Sie sind. Ihr Name ist John Strake; und Sie haben den letzten der Brüder ermordet, der jetzt draußen im Schnee liegt.«
Ein weißer Ring erschien um die Iris im Auge des anderen Mannes; er schien mit hervorquellenden Augäpfeln einen letzten Versuch zu machen, seinen Gefährten zu hypnotisieren und zu beherrschen. Dann machte er jäh eine Bewegung zur Seite; aber noch während er sie machte, öffnete sich die Tür hinter ihm, und ein großer Detektiv in Zivil legte ihm ruhig eine Hand auf die Schulter. Die andere Hand hing hinab, aber sie hielt einen Revolver. Der Mann blickte wild um sich und sah in allen Ecken des stillen Zimmers Männer in Zivil.
An jenem Abend hatte Father Brown ein anderes und längeres Gespräch mit Dr. Boyne über die Tragödie der Aylmer-Familie. Zu jenem Zeitpunkt gab es keinerlei Zweifel mehr an der zentralen Tatsache des Falles, denn John Strake hatte seine Identität bekannt, und sogar seine Verbrechen; das heißt, richtiger müßte man sagen, daß er sich seiner Siege rühmte. Gemessen an der Tatsache, daß er sein Lebenswerk abgeschlossen hatte, nachdem der letzte Aylmer tot war, schien ihm alles übrige einschließlich der Existenz selbst gleichgültig zu sein.
»Der Mann ist sozusagen monoman«, sagte Father Brown. »Er ist an nichts anderem interessiert; nicht einmal an einem anderen Mord. Dafür muß ich ihm dankbar sein; denn mit dieser Überlegung hatte ich mich während dieses Nachmittags häufig genug zu beruhigen. Wie auch Sie zweifellos erkannt haben, hätte er, statt diesen wilden, aber einfallsreichen Roman um beschwingte Vampire und silberne Kugeln zu spinnen, eine einfache Bleikugel in mich schießen und aus dem Hause gehen können. Ich versichere Ihnen, daß dieser Gedanke mir reichlich häufig kam.«
»Und ich frage mich, warum er das nicht getan hat«, bemerkte Boyne. »Ich verstehe das nicht; aber bisher verstehe ich überhaupt nichts. Wie in aller Welt sind Sie dahinter gekommen, und was in aller Welt haben Sie da entdeckt?«
»Oh, Sie haben mich mit sehr wertvollen Informationen versorgt«, erwiderte Father Brown bescheiden, »vor allem mit jenem Stück Information, das wirklich zählte. Ich meine die Feststellung, daß Strake ein sehr erfindungsreicher und einfallsreicher Lügner sei, und bei der Verfertigung seiner Lügen von großer Geistesgegenwart. Heute nachmittag brauchte er sie; aber er war der Gelegenheit gewachsen. Sein vielleicht einziger Fehler war, daß er eine übernatürliche Geschichte wählte; er war der Ansicht, daß ich als Kleriker alles zu glauben hätte. Viele Leute haben Vorstellungen dieser Art.«
»Mir aber ist das alles unverständlich«, sagte der Arzt. »Sie müssen wirklich mit dem Anfang anfangen.«
»Der Anfang war ein Morgenrock«, sagte Father Brown einfach. »Das war die einzige gute Verkleidung, die ich je gesehen habe. Wenn man in einem Haus einem Mann im Morgenrock begegnet, nimmt man ganz automatisch an, daß er sich in seinem eigenen Haus befindet. Ich selbst nahm das auch an; aber danach begannen sich sonderbare kleine Dinge zu ereignen. Als er die Pistole herabnahm, zog er den Hahn mit ausgestrecktem Arm durch, wie man das zu tun pflegt, um sicher zu gehen, daß eine fremde Waffe nicht geladen ist; aber natürlich hätte er wissen müssen, ob die Pistolen in seinem eigenen Flur geladen waren oder nicht. Dann gefiel mir die Art nicht, wie er nach Brandy suchte oder wie er fast das Fischgefäß über den Haufen rannte. Denn ein Mann, der ein so zerbrechliches Ding als Inventarstück in seinen Gemächern hat, entwickelt eine Art mechanischer Gewohnheit, es zu umgehen. Doch mochten diese Dinge Phantasieprodukte sein; der erste reale Hinweis aber war dieser. Er war aus dem kleinen Korridor zwischen den beiden Türen gekommen; und in jenem Korridor gibt es lediglich noch eine Tür, die in ein anderes Zimmer führt; also nahm ich an, es sei das Schlafzimmer, aus dem er gerade gekommen war. Ich versuchte die Klinke; aber die Tür war verschlossen. Das kam mir seltsam vor, und ich blickte durchs Schlüsselloch. Es war ein völlig leerer Raum, offenbar unbenutzt; kein Bett, kein Garnichts. Also war er nicht aus irgendeinem Zimmer gekommen, sondern von außerhalb des Hauses. Und als ich das erkannte, habe ich wohl das ganze Bild erkannt.
Der arme Arnold Aylmer schlief sicherlich und lebte vielleicht oben, und er kam im Morgenmantel herab und ging durch die Tür mit dem roten Glas. Am Ende des Korridors sah er, schwarz vor dem Licht des Wintertages, den Feind seines Hauses. Er sah einen großen bärtigen Mann in einem breitkrempigen schwarzen Hut und einem weiten flappenden schwarzen Umhang. Sehr viel mehr sah er nicht in dieser Welt. Strake sprang ihn an und erwürgte oder erstach ihn; das werden wir sicher erst nach der Leichenschau wissen. Dann hörte Strake, der in dem engen Durchgang zwischen Kleiderständer und altem Büffet stand und im Triumph auf den letzten seiner Feinde hinabschaute, etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. Er hörte Schritte im Wohnzimmer. Das war ich selbst, der durch die Terrassentür eintrat.
Seine Verkleidung war ein Wunder an Schnelligkeit. Sie umfaßte nicht nur eine Maskierung, sondern auch einen Roman – einen Stegreifroman. Er nahm seinen großen schwarzen Hut und den Umhang ab und zog sich des toten Mannes Morgenrock an. Dann tat er etwas Grausiges; zumindest berührt es meine Einbildungskraft als grausiger denn alles andere. Er hängte die Leiche wie einen Mantel an den Kleiderständer. Er hüllte sie in seinen eigenen langen Umhang ein und sah, daß der ihr weit über die Füße hinabhing; und er verdeckte den Kopf vollständig mit seinem eigenen breiten Hut. Das war der einzige mögliche Weg, sie in jenem kleinen Korridor mit der geschlossenen Tür zu verbergen; aber ein wirklich kluger. Ich selbst bin einmal an diesem Kleiderständer vorbeigegangen, ohne zu merken, daß er etwas anderes als ein Kleiderständer war. Ich glaube, daß mich diese meine Ahnungslosigkeit immer schaudern machen wird.
Er hätte es vielleicht dabei belassen können; aber ich hätte die Leiche jeden Augenblick entdecken können; und eine solchermaßen aufgehängte Leiche schreit sozusagen nach einer Erklärung. So entschloß er sich zu dem kühneren Streich, sie selbst zu entdecken und sie selbst zu erklären.
Und da dämmerte diesem sonderbaren und furchtbar fruchtbaren Geist der Gedanke einer Verwechslungsgeschichte; die Vertauschung der Rollen. Er hatte bereits die Rolle von Arnold Aylmer übernommen. Warum sollte da nicht sein toter Feind die Rolle von John Strake übernehmen? Irgend etwas in diesem Verwirrspiel muß die Phantasie dieses düster-phantasievollen Mannes angesprochen haben. Das war wie ein schrecklicher Maskenball, auf den die beiden Todfeinde gehen, der eine als der andere verkleidet. Nur sollte der Maskenball ein Todestanz sein: und einer der Tänzer tot. So kann ich mir vorstellen, wie sich das in seinem Kopf entwickelt hat, und ich kann mir vorstellen, wie er dabei schmunzelte.«
Father Brown starrte ins Leere mit seinen großen grauen Augen, die das einzig Bemerkenswerte in seinem Gesicht waren, wenn er sie nicht mit seinem Zwinkertick verschleierte. Er redete einfach und ernst weiter:
»Alle Dinge sind von Gott; und vor allen anderen Vernunft und Einbildungskraft und die großen Gaben des Geistes. Sie sind gut in sich selbst; und niemals dürfen wir ihren Ursprung vergessen, selbst nicht in ihrer Verdrehung. Nun hatte dieser Mann in sich eine sehr noble Kraft, die sich verdrehen ließ; die Kraft, Geschichten zu erzählen. Er war ein großer Erzähler; nur hatte er seine Vorstellungskraft auf praktische und böse Zwecke gerichtet; Menschen mit falschen Tatsachen zu betrügen, statt mit wahren Erfindungen. Es begann damit, daß er den alten Aylmer mit ausgeklügelten Ausreden und geistreich ausgedachten Lügen betrog; doch selbst das mag zu Anfang wenig mehr gewesen sein als jene tollen Geschichten und Flunkereien von Kindern, die gleichermaßen erzählen können, sie hätten den König von England und den König des Feenreiches gesehen. Das wurde in ihm immer stärker durch das Laster aller Laster, den Stolz; er wurde immer eitler auf seine rasche Fähigkeit, originelle Geschichten zu erfinden und sie aufs feinste weiterzuspinnen. Das meinten die jungen Aylmers, als sie sagten, John habe ihren Vater immer in seinen Bann ziehen können; und das war wahr. Es war jener Bann, den die Erzählerin in Tausendundeiner Nacht über den Tyrannen wirft. Und bis zuletzt wandelte er in der Welt mit dem Stolz des Dichters und dem falschen aber unauslotbaren Mut des großen Lügners. Immer wieder konnte er neue Märchen aus Tausendundeiner Nacht erfinden, wenn sein Kopf in Gefahr war. Und heute war sein Kopf in Gefahr.
Aber ich bin ganz sicher, daß er das ebensosehr als Phantasmagorie wie als Irreführung genoß. Er machte sich an die Aufgabe, die wahre Geschichte falsch herum zu erzählen: den toten Mann für den Lebenden und den lebenden Mann für den Toten auszugeben. Er hatte sich bereits in Aylmers Morgenrock begeben; nun machte er sich daran, sich in Aylmers Körper und Seele zu begeben. Er blickte auf die Leiche, als sei es seine Leiche, die da kalt im Schnee lag. Dann spreitete er sie in jener seltsamen Weise adlergleich aus, um den sausenden Niedersturz eines Greifvogels anzudeuten, und bedeckte sie nicht allein mit seinen eigenen dunklen und fliegenden Gewändern, sondern auch mit einem ganzen düsteren Märchen vom Schwarzen Vogel, den lediglich die Silberkugel fällen kann. Ich weiß nicht, ob es das Silber war, das auf dem Büffet glitzerte, oder der Schnee, der hinter der Tür schimmerte, was sein so intensives künstlerisches Temperament auf das Thema der Weißen Magie und des weißen Metalls brachte, das man gegen Zauberer verwendet. Was immer aber auch der Ursprung, er machte es sich wie ein Dichter zu eigen; und tat es rasch wie ein praktischer Mann. Er vollendete den Austausch und die Verkehrung der Teile, indem er die Leiche als Strakes Leiche hinaus auf den Schnee schleuderte. Er tat sein Bestes, um ein gruseliges Gedankenbild von Strake als einem Wesen heraufzubeschwören, das überall in der Luft lauere, eine Harpyie mit den Schwingen der Schnelligkeit und den Klauen des Todes, und um die Abwesenheit von Fußspuren und andere Dinge zu erklären. Wegen eines Stückchens künstlerischer Unverfrorenheit bewundere ich ihn zutiefst. Er wendete tatsächlich einen der Widersprüche in seinem Argument in einen Beweis zu seinen Gunsten um und sagte, daß der Umhang des Mannes für ihn zu lang sei beweise, daß er niemals wie ein normaler Sterblicher über die Erde ging. Während er das sagte, starrte er mich aber durchdringend an; und irgend etwas sagte mir, daß er in diesem Augenblick einen besonders großen Bluff versuchte.«
Dr. Boyne sah nachdenklich drein. »Hatten Sie da schon die Wahrheit entdeckt?« fragte er. »Es gibt in Fragen, die die Identität berühren, etwas Eigenartiges und die Nerven Aufregendes. Ich weiß nicht, ob es unheimlicher ist, ein solches Rätsel schnell oder langsam zu lösen. Ich frage mich, wann Sie Verdacht schöpften und wann Sie sicher waren.«
»Ich glaube, daß ich wirklich Verdacht schöpfte, als ich Sie anrief«, erwiderte sein Freund. »Und das kam von nicht mehr als dem roten Licht von der geschlossenen Tür, das auf dem Teppich aufleuchtete und wieder dunkel wurde. Es sah aus wie eine Blutlache, die lebendig wurde, während sie nach Rache schrie. Warum sollte es sich so verändern? Ich wußte, daß die Sonne nicht herausgekommen war; also konnte es nur dadurch kommen, daß die zweite Tür hinter ihm sich auf den Garten hin geöffnet und geschlossen hatte. Wenn er jedoch hinausgegangen war und dabei seinen Feind gesehen hatte, dann hätte er in diesem Augenblick Alarm geschlagen; aber der Krach begann erst einige Zeit danach. Ich begann zu spüren, daß er hinausgegangen war, um etwas zu tun… um etwas vorzubereiten… aber was den Zeitpunkt angeht, zu dem ich mir sicher war, das ist eine andere Sache. Ich wußte, daß er ganz zum Schluß versuchte, mich zu hypnotisieren, mich mit der schwarzen Kunst von Augen wie Talismane und einer Stimme voller Beschwörung zu beherrschen. Das pflegte er zweifellos beim alten Aylmer zu machen. Aber es war nicht nur die Art, wie er es sagte, es war, was er sagte. Es war die Religion und die Philosophie darin.«
»Ich fürchte, ich bin ein Praktikus«, sagte der Doktor mit rauhem Humor, »und ich kümmere mich nicht viel um Religion und Philosophie.«
»Sie werden niemals ein Praktikus werden, wenn Sie das nicht tun«, sagte Father Brown. »Hören Sie, Doktor; Sie kennen mich ziemlich gut; und ich glaube, Sie wissen, daß ich nicht bigott bin. Sie wissen, wie ich weiß, daß es in allen Religionen alle Arten gibt; gute Menschen in schlechten und schlechte Menschen in guten. Aber eine kleine Tatsache habe ich einfach als Praktikus gelernt, eine ganz praktische Sache, die ich durch Erfahrung aufgeschnappt habe wie die Verhaltensweisen eines Tieres oder die Marken guter Weine. Ich habe kaum je einen Verbrecher getroffen, der, wenn er denn überhaupt philosophierte, nicht nach diesen Grundsätzen von Orientalismus und Wiederkehr und Reinkarnation und Schicksalsrad und Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, philosophiert hätte. Ich habe ausschließlich durch die Praxis herausgefunden, daß ein Fluch auf den Dienern jener Schlange liegt; auf ihrem Bauch sollen sie kriechen und Staub sollen sie fressen; und nie noch ward ein Schuft oder ein Lump geboren, der nicht in dieser Art Geistigkeit hätte schwatzen können. Vielleicht ist das in ihren wirklichen religiösen Ursprüngen anders; aber hier in unserer Welt der arbeitenden Menschen ist das die Religion von Schurken; und da wußte ich, daß ein Schurke sprach.«
»Wie«, sagte Boyne, »ich hätte gedacht, daß ein Schurke sich zu jeder beliebigen Religion bekennen kann.«
»Ja«, stimmte der andere bei, »er könnte sich zu jeder Religion bekennen; das heißt, er könnte jede vortäuschen, wenn es denn alles Vortäuschung ist. Wenn es lediglich eine mechanische Heuchelei und nichts sonst ist, könnte es zweifellos von jedem mechanischen Heuchler getan werden. Jede Sorte Maske kann auf jede Sorte Gesicht gesetzt werden. Jeder kann bestimmte Phrasen lernen oder in Worten behaupten, daß er bestimmte Meinungen habe. Ich kann auf die Straße gehen und behaupten, daß ich ein Wesleyscher Methodist sei oder ein Sandemanit, obwohl ich fürchte, daß ich nicht sehr überzeugend wäre. Wir sprechen aber über einen Künstler; und damit der Künstler Gefallen findet, muß ihm die Maske in einem gewissen Ausmaß aufs Gesicht geformt sein. Was er nach außen vorstellt, muß etwas in ihm entsprechen; er kann seine Wirkungen nur aus den Materialien seiner Seele erzielen. Ich nehme an, er hätte behaupten können, Wesleyaner zu sein; aber er hätte niemals ein so überzeugender Methodist sein können, wie er als Mystiker und Fatalist überzeugen konnte. Ich spreche von der Art Ideale, an die ein solcher Mann denkt, wenn er wirklich idealistisch zu sein versucht. Sein ganzes Spiel mir gegenüber war es, so idealistisch wie nur möglich zu sein; und wann immer das von dieser Art Mann versucht wird, werden Sie im allgemeinen genau diese Art Ideal finden. Diese Art Mensch mag von Blut triefen; aber dennoch wird er immer imstande sein, einem ernsthaft zu erzählen, daß der Buddhismus besser als das Christentum sei. Nein, er wird sogar ganz ernsthaft erzählen, daß der Buddhismus christlicher als das Christentum sei. Das allein genügt, um ein häßliches und gespenstisches Licht auf seine Vorstellungen von Christentum zu werfen.«
»Bei meiner Seele«, sagte der Doktor lachend, »ich komme nicht dahinter, ob Sie ihn nun anklagen oder verteidigen.«
»Es heißt nicht einen Mann verteidigen, wenn man sagt, daß er ein Genie ist«, sagte Father Brown. »Bei weitem nicht. Und es ist eine einfache psychologische Tatsache, daß ein Künstler sich immer durch eine gewisse Wahrhaftigkeit verraten wird. Leonardo da Vinci kann nicht zeichnen, als ob er nicht zeichnen könnte. Selbst wenn er das versuchte, würde doch immer die starke Parodie einer schwachen Sache dabei herauskommen. Dieser Mann hätte aus einem Wesleyaner etwas viel zu Schreckliches und Wunderbares gemacht.«
Als der Priester sich wieder aufmachte und sein Gesicht nach Hause richtete, war die Kälte noch intensiver geworden und war doch irgendwie berauschend. Die Bäume standen da wie silberne Kerzenhalter bei einem unglaublich kalten Kerzenfest der Läuterung. Es war stechend kalt, so wie das silberne Schwert des reinen Schmerzes, das einst die Reinheit selbst durchstach. Aber das war keine tödliche Kälte, abgesehen davon, daß sie jeden sterblichen Widerstand gegen unsere unsterbliche und unmeßbare Lebendigkeit tötete. Der blaßgrüne Himmel der Dämmerung erschien mit seinem einen Stern wie dem Stern von Bethlehem seltsam widersprüchlich als eine Höhle der Klarheit. Es war, als könne es eine grüne Esse der Kälte geben, die alle Dinge wie die Wärme zum Leben erweckte, und daß, je tiefer sie in diese kalten kristallinen Farben eindrängen, sie um so leichter würden wie geflügelte Wesen und klar wie farbiges Glas. Es prickelte von Wahrheit und trennte Wahrheit von Irrtum mit einer Klinge wie Eis; was aber übrigblieb, hatte sich nie zuvor so lebendig gefühlt. Es war, als ob alle Freude ein Juwel im Herzen eines Eisbergs wäre. Der Priester verstand seine Stimmung selber kaum, als er tiefer und tiefer in das grüne Glühen hineinschritt und tiefer und tiefer die jungfräuliche Lebenskraft der Luft einsog. Vergessene Krummheiten und Krankheiten schienen zurückzubleiben oder ausgelöscht zu sein, wie der Schnee die Fußspuren des Blutmannes ausgestrichen hatte.
Als er heimwärts durch den Schnee schlurfte, murmelte er zu sich selbst: »Und doch hat er ganz recht mit seiner Weißen Magie, wenn er nur wüßte, wo er nach ihr suchen muß.«
Zwei Landschaftsmaler standen da und betrachteten eine Landschaft, die zugleich ein Seestück war, und beide waren von ihr eigenartig beeindruckt, wenngleich ihre Eindrücke nicht unbedingt die gleichen waren. Für den einen, der ein aufsteigender Künstler aus London war, war sie zugleich neu und fremdartig. Für den anderen, der ein Künstler aus dem Ort, aber über den Ort hinaus berühmt war, war sie zwar besser bekannt; aber vielleicht gerade wegen allem, was er über sie wußte, um so fremder.
Nach Farbe und Form, wie diese Männer sahen, war sie ein Strich Sand gegen einen Strich Sonnenuntergang, und die ganze Szenerie lag da in Strichen düsterer Farben, ein stumpfes Grün und Bronze und Braun und ein Graubraun, das nicht nur matt war, sondern in jenem Dämmerlicht noch geheimnisvoller als Gold. Unterbrochen wurden diese gleichmäßigen Linien nur durch ein langes Gebäude, das sich aus den Feldern in die Sande der See erstreckte, so daß sich seine Umfransung aus traurigem Unkraut und Binsen fast mit dem Seetang zu treffen schien. Doch seine eigentümlichste Eigenart war, daß sein oberer Teil die zersplitterten Umrisse einer Ruine aufwies, von so vielen weiten Fensteröffnungen und breiten Rissen durchlöchert, daß er vor dem ersterbenden Licht nur mehr ein dunkles Skelett war, während die untere Masse des Bauwerks praktisch überhaupt keine Fenster hatte, denn die meisten von ihnen waren blind und zugemauert, und ihre Umrisse im Dämmerlicht nur schwach erkennbar. Ein Fenster zumindest war aber immer noch ein Fenster; und das Sonderbarste daran schien, daß es erleuchtet war.
»Wer in aller Welt kann denn in dem alten Gehäuse leben?« rief der Londoner aus, ein großer Mann mit dem Aussehen eines Bohemiens, jung, doch mit einem struppigen roten Bart, der ihn älter aussehen ließ; Chelsea kannte ihn als Harry Payne.
»Gespenster, möchte man annehmen«, erwiderte sein Freund Martin Wood. »Und die Leute, die da leben, sind tatsächlich eher Gespenster.«
Es mag wie ein Paradox erscheinen, daß der Londoner Künstler mit seiner lärmigen Frische und Neugier fast ländlich wirkte, während der örtliche Künstler sehr viel gewiegter und erfahrener schien und ihn mit reifer und gutmütiger Belustigung betrachtete; und tatsächlich war er insgesamt eine ruhigere und konventionellere Erscheinung mit seiner dunkleren Kleidung und dem glattrasierten, eckigen, unerschütterlichen Gesicht.
»Das ist natürlich nur ein Zeichen der Zeit«, fuhr er fort, »oder vielmehr des Vergehens der alten Zeiten, und der alten Familien mit ihnen. In dem Haus leben die letzten der großen Darnaways, und nicht viele der neuen Armen sind so arm wie sie. Sie können es sich nicht einmal leisten, ihr eigenes Obergeschoß bewohnbar zu machen; statt dessen müssen sie in den unteren Räumen einer Ruine leben wie Fledermäuse und Eulen. Und doch besitzen sie Familienporträts, die bis in die Zeit der Rosenkriege und der frühesten Porträtmalerei in England zurückreichen, und manche davon sind sehr schön; ich weiß das, weil sie für deren Auffrischung meinen professionellen Rat erbeten haben. Da ist vor allem eines, und eines der frühesten, das ist so gut, daß man eine Gänsehaut bekommt.«
»Nach dem Aussehen zu schließen macht einem das ganze Haus Gänsehaut«, erwiderte Payne.
»Nun ja«, sagte sein Freund, »um die Wahrheit zu sagen, das stimmt.«
Das folgende Schweigen wurde durch ein schwaches Rascheln in den Binsen am Wassergraben gestört; und verständlicherweise fahren sie leicht zusammen, als eine dunkle Gestalt schnell und fast wie ein aufgeschreckter Vogel am Ufer dahinstrich. Aber es war nur ein Mann, der mit einer schwarzen Tasche in der Hand schnell ausschritt: ein Mann mit einem langen blassen Gesicht und scharfen Augen, die den Fremden aus London auf leicht düstere und mißtrauische Weise betrachteten.
»Das ist nur Dr. Barnet«, sagte Wood einigermaßen erleichtert. »Guten Abend, Doktor. Gehen Sie ins Haus? Ich hoffe, daß niemand krank ist.«
»In einem solchen Haus ist jeder immer krank«, grummelte der Arzt, »nur sind sie manchmal zu krank, um es selbst zu merken. Schon die Luft da drin ist Gifthauch und Pestilenz. Ich beneide den jungen Mann aus Australien nicht.«
»Und wer«, fragte Payne plötzlich und ziemlich geistesabwesend, »könnte der junge Mann aus Australien sein?«
»Ah!« schnob der Arzt. »Hat Ihnen Ihr Freund nichts über ihn erzählt? Soviel ich weiß, kommt er heute an. Roman ganz im alten Stil des Melodrams: Der Erbe kehrt aus den Kolonien in sein zerfallenes Schloß zurück, und alles komplett einschließlich eines alten Familienvertrags, wonach er die Dame zu heiraten hat, die aus dem alten efeubewachsenen Turm Ausschau hält. Komischer alter Unfug, nicht wahr? Aber es geschieht tatsächlich von Zeit zu Zeit. Er hat sogar ein bißchen Geld, der einzige Lichtblick, den es in dieser Angelegenheit je gegeben hat.«
»Was hält denn Miss Darnaway in ihrem efeuumsponnenen Turm selbst von der ganzen Angelegenheit?« fragte Martin Wood trocken.
»Was sie inzwischen auch von allem übrigen hält«, erwiderte der Doktor. »In dieser alten verwucherten Höhle des Aberglaubens denkt man nicht, man träumt nur und läßt sich treiben. Ich glaube, daß sie den Familienvertrag und den Eheherrn aus den Kolonien als Teil des Verhängnisses der Darnaways hinnimmt, wissen Sie. Ich glaube wirklich, wenn er sich als buckliger Neger mit einem Auge und mörderischen Neigungen herausstellt, wird sie lediglich finden, daß das das Tüpfelchen auf dem i ist und ausgezeichnet in diese düstere Szenerie paßt.«
»Sie geben meinem Freund aus London da kein sehr heiteres Bild von meinen Freunden auf dem Lande«, sagte Wood lachend. »Ich hatte eigentlich die Absicht, ihn mit auf Besuch zu nehmen; denn kein Künstler sollte sich die Darnaway-Porträts entgehen lassen, wenn er die Gelegenheit hat. Aber vielleicht sollte ich das besser verschieben, wenn sie sich gerade inmitten der australischen Invasion befinden.«
»Aber um Himmels willen, gehen Sie und besuchen Sie sie«, sagte Dr. Barnet mit Wärme. »Alles, was ihr vergiftetes Leben aufhellt, macht mir meine Aufgabe leichter. Ich fürchte, daß es einer ganzen Menge Vettern aus den Kolonien bedarf, um die Dinge aufzuheitern; je mehr desto heiterer. Kommen Sie, ich werde Sie selbst mit hineinnehmen.«
Als sie sich dem Hause näherten, sahen sie es isoliert wie eine Insel durch einen Graben faulichten Wassers, den sie auf einer Brücke überquerten. Auf der anderen Seite erstreckte sich ein ziemlich weiter Steinboden oder Damm mit großen Rissen, aus denen hier und da Büschel Unkraut und Dornen emporsprossen. Diese Felsenplattform sah im grauen Zwielicht groß und kahl aus, und Payne hätte niemals geglaubt, daß eine solche Ecke der Welt so viel von der Seele einer Wildnis enthalten könnte. Diese Plattform ragte nur nach einer Seite vor wie eine riesige Türschwelle, und dahinter war die Tür; ein sehr niedriger Torbogen aus der Tudor-Zeit stand offen, war aber dunkel wie eine Höhle.
Als der lebhafte Doktor sie ohne Förmlichkeiten hineinführte, erhielt Payne einen weiteren niederschmetternden Eindruck. Er hätte erwarten können, daß er sich beim Aufstieg in einen sehr zerfallenen Turm auf einer sehr engen Wendeltreppe wiederfinde; doch waren in diesem Fall die ersten Schritte ins Haus tatsächlich Stufen abwärts. Sie stiegen mehrere kurze, zerbrochene Treppen hinab in große dämmrige Räume, die, abgesehen von den Reihen dunkler Bilder und staubiger Bücherregale, die traditionellen Kerker entlang dem Burggraben hätten sein können. Hier und da erhellte eine Kerze in einem alten Kerzenhalter einige staubige, zufällige Einzelheiten erstorbener Pracht; aber den Besucher beeindruckte oder bedrückte dieses künstliche Licht weniger als der einzige fahle Schimmer natürlichen Lichtes. Als er den langen Raum hinabschritt, erblickte er das einzige Fenster in jener Mauer – ein sonderbar niedriges ovales Fenster im Stil des späten 17. Jahrhunderts. Das Fremdartige daran aber war, daß es sich nicht unmittelbar zum Himmel hin öffnete, sondern nur zu einer Widerspiegelung des Himmels, einem fahlen Streifen Tageslicht, zurückgeworfen vom Spiegel des Wassergrabens im überhängenden Schatten des Ufers. Payne kam eine Erinnerung an die Dame von Shallot, die die Außenwelt nie anders als in einem Spiegel sah. Die Dame dieses Shallot aber sah die Welt gewissermaßen nicht nur in einem Spiegel, sondern auch noch auf dem Kopfe stehend.
»Das ist, als ob das Haus der Darnaways nicht nur buchstäblich, sondern auch bildlich falle«, sagte Wood mit leiser Stimme, »als ob es langsam in Sumpf oder Treibsand versinke, bis die See es wie ein grünes Dach bedeckt.«
Selbst der derbe Dr. Barnet zuckte ein wenig zusammen beim schweigenden Näherkommen einer Gestalt, die sie empfangen wollte. Tatsächlich war der Raum so still, daß die Erkenntnis, er sei nicht leer, sie alle erschreckte. Drei Menschen befanden sich in ihm, als sie ihn betraten: drei undeutliche Gestalten bewegungslos im undeutlichen Raum; alle drei in Schwarz gekleidet und dunklen Schatten ähnlich. Als die vorderste der Gestalten in das graue Licht des Fensters kam, zeigte sie ein Gesicht fast so grau wie ihr Haarkranz. Das war der alte Vine, der Verwalter, seit langem in loco parentis, seit dem Tode jenes exzentrischen Vaters, des letzten Lord Darnaway. Er wäre ein schöner alter Mann gewesen, hätte er nur keine Zähne gehabt. Aber er hatte einen, der ab und zu sichtbar wurde und ihm ein reichlich finsteres Aussehen gab. Er empfing den Doktor und dessen Freunde mit ausgesuchter Höflichkeit und geleitete sie dorthin, wo die beiden anderen Gestalten in Schwarz saßen. Die eine davon, schien Payne, gab dem Schloß einen weiteren passenden Hauch düsteren Alters durch die einfache Tatsache, daß es sich um einen katholischen Priester handelte, der aus einem der Priesterlöcher der finsteren alten Tage hervorgekrochen sein mochte. Payne konnte sich vorstellen, wie er Gebete murmelte oder den Rosenkranz betete oder Glocken läutete oder andere undeutliche und melancholische Dinge an jenem melancholischen Ort trieb. Im Augenblick hätte man annehmen können, daß er der Dame religiöse Tröstungen zuteil werden ließ; doch konnte man kaum annehmen, daß die Tröstungen sehr tröstlich, oder auch nur besonders aufheiternd waren. Im übrigen erschien der Priester als Person reichlich unbedeutend mit seinem derben und eher ausdruckslosen Gesicht; mit der Dame aber war es eine ganz andere Sache. Ihr Gesicht war weit davon entfernt, derb oder unbedeutend zu sein; es hob sich aus der Dunkelheit von Kleidung und Haar und Hintergrund mit einer Blässe hervor, die fast furchterregend war, und mit einer Schönheit, die fast furchterregend lebendig war. Payne sah es so lange an, wie er nur wagte; und bevor er starb, sollte er es noch viel länger ansehen.
Wood tauschte mit seinen Bekannten nur jene freundlichen und höflichen Sätze, die für sein Ziel nötig waren, die Porträts erneut zu besuchen. Er bat um Entschuldigung dafür, daß er an einem Tag zu Besuch kam, der, wie er gehört habe, der Tag eines Familienempfangs sei; aber er war bald überzeugt, daß die Familie doch eher erleichtert war, Besucher zu haben, die sie ablenken oder den Schock mildern konnten. Deshalb zögerte er nicht, Payne durch den zentralen Empfangsraum in die dahinter liegende Bibliothek zu führen, wo das Porträt hing, denn eines gab es da, das zu zeigen er besonders erpicht war, nicht als Bild allein, sondern fast als Rätsel. Der kleine Priester schlurfte mit ihnen; er schien sowohl von alten Bildern etwas zu verstehen als auch von alten Gebeten.
»Ich bin eigentlich stolz darauf, es entdeckt zu haben«, sagte Wood. »Ich glaube, es ist ein Holbein. Und wenn nicht, so doch von jemandem, der in Holbeins Zeit lebte und ebenso groß war wie Holbein.«
Es war ein Porträt im harten, aber ehrlichen und lebendigen Stil jener Zeit, das einen Mann in schwarzer, mit Gold und Pelzen verzierter Kleidung darstellte, mit einem schweren und vollen, ziemlich bleichen Gesicht, aber wachsamen Augen.
»Welch ein Jammer, daß die Kunst nicht für immer in jener Übergangszeit stehenbleiben konnte«, rief Wood, »und nie mehr zu anderem überging. Sehen Sie nicht, wie es gerade realistisch genug ist, um real zu sein? Wie das Gesicht um so deutlicher spricht, weil es aus einem steiferen Rahmen weniger wichtiger Dinge hervortritt? Und die Augen sind noch wirklicher als das Gesicht. Bei meiner Seele, ich glaube, die Augen sind zu wirklich für das Gesicht! Es ist fast so, als ob diese schlauen schnellen Augäpfel aus einer großen blassen Maske hervorträten.«
»Mir scheint, daß auch die Gestalt etwas Steifes hat«, sagte Payne. »Als das Mittelalter endete, war man zumindest im Norden noch nicht ganz Herr der Anatomie. Das linke Bein da scheint mir ziemlich verzeichnet.«
»Ich bin da nicht so sicher«, erwiderte Wood ruhig. »Diese Burschen, die gerade malten, als der Realismus Auftrieb bekam und ehe er übertrieben wurde, waren oft realistischer als wir glauben. Sie gaben Dingen, die wir für lediglich konventionell halten, porträthafte Ähnlichkeit. Du kannst sagen, daß dieses Mannes Augenbrauen oder Augenhöhlen ein bißchen schief liegen; aber ich wette, du würdest, falls du ihn kenntest, feststellen, daß die eine seiner Augenbrauen tatsächlich höher hinaufreicht als die andere. Und ich würde mich nicht wundern, wenn er tatsächlich lahm oder so etwas gewesen wäre und das schwarze Bein wirklich krumm sein sollte.«
»Wie ein alter Teufel sieht er aus!« brach Payne plötzlich heraus. »Ich hoffe, Hochwürden wird mir das vergeben.«
»Ich glaube an den Teufel, danke«, sagte der Priester mit undurchdringlichem Gesicht. »Seltsamerweise gibt es eine Legende, daß der Teufel lahm war.«
»Aber«, protestierte Payne, »Sie wollen doch nicht wirklich behaupten, daß er der Teufel ist; aber wer beim Teufel war er?«
»Er war der Lord Darnaway unter Heinrich VII. und Heinrich VIII.«, erwiderte sein Gefährte. »Aber auch ihn umgeben eigenartige Legenden; auf deren eine weist jene Inschrift im Rahmen hin, und sie ist weiter in einigen Notizen ausgeführt, die jemand in einem Buch hinterließ, das ich hier gefunden habe. Beides liest sich reichlich eigenartig.«
Payne beugte sich vor und verdrehte den Hals so, daß er der archaischen Inschrift folgen konnte, die rings um den Rahmen lief. Wenn man die altertümliche Schreibweise und Rechtschreibung beiseite ließ, handelte es sich um eine Art Reim, der etwa so lautete:
»Im siebenten Erben bin ich erneut:
In der siebenten Stunde mach’ ich mich fort:
Niemand halte dann meine Hand:
Und weh der, die dann mein Herz erfreut.«
»Klingt irgendwie gruselig«, sagte Payne, »aber das kommt vielleicht daher, daß ich kein Wort davon verstehe.«
»Es ist auch reichlich gruselig, wenn du es verstehst«, sagte Wood leise. »Der Eintrag, der zu einem späteren Zeitpunkt in das alte Buch gemacht wurde, das ich gefunden habe, berichtet, wie dieser reizende Knabe sich absichtlich selbst so getötet hat, daß seine Frau als Mörderin hingerichtet wurde. Eine andere Eintragung erinnert an eine spätere Tragödie, sieben Erbfolgen später – unter den Georges –, bei der sich ein anderer Darnaway umbringt, nachdem er zuvor vorsorglich Gift in den Wein seiner Frau gegeben hatte. Es wird behauptet, daß beide Selbstmorde um 7 Uhr abends stattfanden. Ich nehme an, die Schlußfolgerung daraus lautet, daß er wirklich in jedem 7. Erben wiederkehrt und, wie der Reim andeutet, dann die Dinge für jene Dame, die unklug genug war, ihn zu heiraten, höchst unerfreulich gestaltet.«
»Nach dieser Argumentation«, erwiderte Payne, »wird es für den nächsten 7. Gentleman ein bißchen unbequem werden.«
Woods Stimme wurde noch leiser, als er sagte:
»Der neue Erbe wird der 7. sein.«
Harry Payne wölbte plötzlich seine breite Brust und reckte seine Schultern wie ein Mann, der eine Last abwirft.
»Was schwatzen wir bloß für dämlichen Quatsch?« rief er. »Wir sind doch schließlich alle gebildete Männer in einem aufgeklärten Zeitalter. Bevor ich in diese verdammte dumpfige Atmosphäre gekommen bin, hätte ich niemals geglaubt, daß ich über so was redete, außer um darüber zu lachen.«
»Du hast recht«, sagte Wood. »Wenn du lange genug in diesem unterirdischen Schloß lebst, fängst du an, die Dinge anders zu empfinden. Ich selbst habe angefangen, sonderbar für dieses Bild zu empfinden, nachdem ich es so oft in der Hand gehalten und es aufgehängt habe. Manchmal erscheint es mir, als ob dieses gemalte Gesicht da lebendiger sei als die toten Gesichter der Menschen, die hier leben; daß es eine Art Talisman oder Magnet ist: daß es den Elementen befiehlt und das Schicksal von Menschen und Dingen vollstreckt. Ich nehme an, du würdest das reichlich phantasievoll nennen.«
»Was ist das für ein Geräusch?« rief Payne plötzlich.
Sie alle lauschten, aber da schien kein Geräusch zu sein außer dem dumpfen Dröhnen der fernen See; dann stieg in ihnen das Gefühl auf, als menge sich etwas anderes hinein; etwas wie eine Stimme, die durch das Brausen der Brandung rief, zunächst durch sie gedämpft, doch näher und näher kommend. Im darauffolgenden Augenblick waren sie sicher: Jemand rief draußen in der Dämmerung.
Payne wandte sich zu dem niedrigen Fenster hinter ihm und beugte sich, um hinauszublicken. Es war das Fenster, von dem aus nichts zu sehen war als der Wassergraben mit seinen Spiegelungen von Ufer und Himmel. Doch war dieses umgekehrte Spiegelbild nicht das gleiche, das er zuvor gesehen hatte. Aus dem überhängenden Schatten des Ufers im Wasser hingen zwei dunkle Schatten herab, die Füße und Beine einer Gestalt widerspiegelten, welche oben auf dem Ufer stand. Durch jene begrenzte Öffnung konnten sie nichts anderes sehen als die beiden Beine, schwarz vor der Spiegelung eines bleichen und fahlen Sonnenuntergangs. Aber irgendwie gab gerade die Tatsache, daß der Kopf unsichtbar war, als stecke er in den Wolken, dem nachfolgenden Ton etwas Schreckliches; der Stimme eines Mannes, welcher laut etwas rief, das sie nicht genau hören oder verstehen konnten. Payne besonders starrte mit verändertem Gesicht aus dem kleinen Fenster, und er sagte mit veränderter Stimme:
»Wie sonderbar er dasteht!«
»Nein, nein«, sagte Wood in einer Art beruhigenden Flüsterns. »Dinge sehen in der Widerspiegelung oft so aus. Es ist das Wabern des Wassers, was dich das denken läßt.«
»Was denken läßt?« fragte der Priester kurz.
»Daß sein linkes Bein krumm sei«, sagte Wood.
Payne hatte das ovale Fenster wie eine Art mystischen Spiegels gesehen; und ihm schien es, als wären darin noch andere unergründliche Bildnisse des Verhängnisses. Neben der Gestalt gab es noch etwas anderes, das er nicht verstand; drei dünnere Beine zeigten sich wie dunkle Linien gegen das Licht, als stünde dreibeinig eine ungeheure Spinne oder ein Vogel neben dem Fremden. Dann kam ihm der weniger verrückte Gedanke an ein Dreibein wie das der heidnischen Orakel; und im nächsten Augenblick war das Ding verschwunden, und die Beine der menschlichen Gestalt bewegten sich aus dem Bild.
Er wandte sich um und sah in das fahle Gesicht des alten Vine, des Hausverwalters, dem der Mund offen stand, bereit zu sprechen, der einzige Zahn sichtbar.
»Er ist gekommen«, sagte er. »Das Schiff aus Australien ist heute früh angekommen.«
Und noch während sie aus der Bibliothek in den zentralen Salon gingen, hörten sie die Schritte des Neuankömmlings, wie er die Eingangsstufen herabklapperte und eine Reihe leichter Gepäckstücke hinter sich herzog. Als Payne eines davon erblickte, lachte er erleichtert auf. Sein Dreibein war nichts anderes als das Stativ einer tragbaren Kamera, leicht ein- und auszupacken; und der Mann, der es trug, schien ebenso handfeste und normale Eigenschaften anzunehmen. Er trug dunkle Kleidung, aber von salopper und feriengemäßer Art; sein Hemd war aus grauem Flanell, und seine Stiefel hallten selbstbewußt genug in jenen stillen Räumen wider. Als er vortrat, um seine neue Umgebung zu begrüßen, hing seinem Schritt kaum mehr als der Hauch eines Hinkens an. Aber Payne und seine Gefährten sahen ihm ins Gesicht, und konnten den Blick kaum davon abwenden.
Er bemerkte offenbar etwas Sonderbares und Ungemütliches in seinem Empfang; aber sie hätten beschwören können, daß er selbst die Ursache davon nicht kannte. Die Dame, die in einem gewissen Sinne bereits als ihm anverlobt galt, war wahrlich schön genug, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln; aber zugleich erschreckte sie ihn offensichtlich auch. Der alte Hausverwalter brachte ihm eine Art feudaler Huldigung dar, behandelte ihn aber zugleich so, als sei er das Familiengespenst. Der Priester schließlich blickte ihn mit einem Gesicht an, das vollkommen undeutbar und daher vielleicht um so entnervender war. Eine neue Art Ironie, der griechischen Ironie ähnlicher, zog in Paynes Geist ein. Er hatte sich den Fremden als einen Teufel gedacht, und nun erschien es fast schlimmer, daß er ein unbewußtes Schicksal war. Er schien auf das Verbrechen zuzumarschieren mit der ungeheuerlichen Unschuld eine Ödipus. Er hatte sich dem Haus seiner Väter mit so blinder Heiterkeit genaht, daß er seine Kamera aufgebaut hatte, um den ersten Anblick zu photographieren; aber selbst die Kamera hatte das Aussehen des Dreifußes einer tragischen Pythia angenommen.
Payne war, als er wenig später Abschied nahm, überrascht über etwas, das zeigte, daß sich der Australier seiner Umwelt bereits nicht mehr so unbewußt war. Er sagte nämlich mit leiser Stimme:
»Gehen Sie nicht… oder kommen Sie bald zurück. Sie sehen wie ein menschliches Wesen aus. Dieses Haus macht mich verrückt.«
Als Payne aus diesen fast unterirdischen Hallen auftauchte in die Nachtluft und den Duft des Meeres, fühlte er sich, als komme er aus jener Unterwelt der Träume, in der Ereignisse sich gleichzeitig auf unruhige und unwirkliche Art überstürzen. Die Ankunft des fremden Verwandten war irgendwie unbefriedigend und sozusagen unüberzeugend erfolgt. Die Verdoppelung des Gesichtes aus dem alten Porträt in dem neu Angekommenen beunruhigte ihn wie ein zweiköpfiges Monstrum. Und doch war es nicht unbedingt ein Alptraum; und möglicherweise war es nicht das Gesicht, das er am deutlichsten vor sich sah.
»Sagten Sie«, fragte er den Arzt, als sie gemeinsam über die gestreiften dunklen Sande an der dunkelnden See dahinschritten, »sagten Sie, daß der junge Mann Miss Darnaway durch einen Familienvertrag oder so was verlobt sei? Klingt ja fast wie ein Roman.«
»Aber wie ein historischer«, antwortete Dr. Barnet. »Die Darnaways versanken alle vor einigen Jahrhunderten in Schlaf, als jene Dinge wirklich getan wurden, von denen wir nur noch in Romanen lesen. Ja, ich glaube, daß es da so eine Familientradition gibt, wonach Vettern und Cousinen zweiten oder dritten Grades immer dann heiraten, wenn sie in einem bestimmten Alter zueinander stehen, um das Vermögen zusammenzuhalten. Verdammt dumme Tradition, würde ich sagen; und wenn sie auf diese Weise oft untereinander geheiratet haben, dann könnte das auf Grund der Vererbungsgesetze Ursache dafür sein, daß sie so degeneriert sind.«
»Ich würde nicht behaupten«, antwortete Payne etwas steif, »daß sie alle degeneriert sind.«
»Nun ja«, erwiderte der Doktor, »der junge Mann sieht natürlich nicht degeneriert aus, auch wenn er mit Sicherheit hinkt.«
»Der junge Mann!« schrie Payne, der plötzlich und unvernünftig Ärger empfand. »Nun, wenn Sie glauben, daß die junge Dame degeneriert aussieht, dann, glaube ich, haben Sie einen degenerierten Geschmack.«
Das Gesicht des Arztes wurde dunkel und bitter. »Ich glaube, davon weiß ich mehr als Sie«, schnappte er.
Sie beendeten ihren Marsch schweigend, wobei jeder das Gefühl hatte, unvernünftig grob gewesen zu sein, und ebenso unter unvernünftiger Grobheit gelitten zu haben; und Payne mußte allein über der Angelegenheit brüten, denn sein Freund Wood war zurückgeblieben, um sich um seine Angelegenheiten im Zusammenhang mit den Bildern zu kümmern.
Payne nahm die Einladung des Vetters aus den Kolonien, der jemanden brauchte, um ihn aufzuheitern, höchst ausführlich wahr. Während der nächsten Wochen sah er ein Gutteil vom dunklen Inneren des Hauses der Darnaways; obwohl gesagt werden mag, daß er sich nicht ausschließlich darauf beschränkte, den kolonialen Vetter aufzuheitern. Die Melancholie der Dame war bereits älteren Ursprungs und bedurfte vielleicht größerer Aufhellung; wie auch immer, er zeigte eifrige Bereitschaft, sie aufzuhellen. Er war jedoch nicht ohne Gewissen, und die Situation machte ihn nachdenklich und war ihm unbehaglich. Die Wochen vergingen, und niemand konnte aus dem Verhalten des neuen Darnaway erkennen, ob er sich dem alten Familienvertrag entsprechend als verlobt betrachtete oder nicht. Er durchwandelte träumend die dunklen Galerien und starrte leeren Blickes auf die dunklen und düsteren Bildnisse. Die Schatten dieses Gefangenenhauses begannen offenkundig, sich um ihn zu schließen, und von seiner australischen Selbstsicherheit war wenig übriggeblieben. Payne aber konnte zu jener Frage, die ihn am meisten beschäftigte, nichts herausfinden. Einmal versuchte er, sich seinem Freund Martin Wood anzuvertrauen, als der in seiner Eigenschaft als Bilderaufhänger herumwirtschaftete; aber selbst der verschaffte ihm kaum Aufschluß.
»Mir scheint, du kannst dich da nicht einmischen«, sagte er kurz, »wegen der Verlobung.«
»Natürlich werde ich mich nicht einmischen, wenn es da eine Verlobung gibt«, gab sein Freund zurück; »aber gibt es eine? Ich habe zu ihr natürlich kein Wort gesagt; aber ich habe von ihr genug gesehen, um ziemlich sicher zu sein, daß sie nicht glaubt, es gäbe eine, selbst wenn sie glaubt, es könnte eine geben. Und er sagt nicht, daß es eine gibt, und deutet nicht einmal an, daß es eine geben sollte. Dieses Hin- und Hergeschwanke scheint mir allen gegenüber reichlich unfair.«
»Vor allem dir gegenüber, nehme ich an«, sagte Wood einigermaßen barsch. »Wenn du aber mich fragst, dann sage ich dir, was ich mir denke – ich glaube, er hat Angst.«
»Angst, einen Korb zu bekommen?« fragte Payne.
»Nein; Angst, angenommen zu werden«, antwortete der andere. »Beiß mir den Kopf nicht ab – ich meine nicht, Angst vor der Dame. Ich meine, Angst vor dem Bild.«
»Angst vor dem Bild!« wiederholte Payne.
»Ich meine, Angst vor dem Fluch«, sagte Wood. »Erinnerst du dich nicht an den Reim, wonach das Verhängnis der Darnaways über ihn und sie kommt?«
»Ja gut, aber hör mal«, rief Payne, »selbst das Verhängnis der Darnaways kann nicht beides zugleich haben. Erst sagst du mir, daß ich meinen Willen wegen des Vertrages nicht durchsetzen kann, und dann, daß der Vertrag sich wegen des Fluches nicht durchsetzen kann. Wenn aber der Fluch den Vertrag zerstört, warum sollte sie dann an den Vertrag gebunden sein? Wenn sie Angst davor haben, einander zu heiraten, sind sie frei, sonst jemanden zu heiraten, und Schluß damit. Warum sollte ich darunter leiden, etwas zu beachten, das sie zu beachten nicht die Absicht haben? Mir erscheint deine Haltung reichlich unvernünftig.«
»Natürlich ist das alles ein wüstes Durcheinander«, sagte Wood reichlich ärgerlich, und fuhr fort, den Rahmen eines Gemäldes abzuklopfen.
Plötzlich brach eines Morgens der neue Erbe sein langes und verwirrendes Schweigen. Er tat das auf eine eigentümliche Weise, ein bißchen ungehobelt, wie das seine Art war, offensichtlich besorgt, das Richtige zu tun. Er bat offen um Rat, nicht diese oder jene Person, wie Payne getan hatte, sondern alle zusammen als Gruppe. Als er zu sprechen begann, stellte er sich der ganzen Gesellschaft wie ein Politiker entgegen, der auf Wahlkampfreise ist. Er nannte das einen Showdown. Glücklicherweise war die Dame nicht in diese weiträumige Geste einbezogen; und Payne schüttelte es, wenn er an ihre Gefühle dachte. Aber der Australier war durch und durch redlich; da er es für natürlich hielt, um Hilfe und Information zu bitten, berief er eine Art Familienrat ein, vor dem er seine Karten auf den Tisch legte. Oder besser gesagt: Er schmiß seine Karten auf den Tisch, denn er tat es mit einem ziemlich verzweifelten Ausdruck wie einer, den durch Tage und Nächte der zunehmende Druck eines Problems gequält hat. In dieser kurzen Zeit hatten die Schatten jenes Hauses der niedrigen Fenster und der absackenden Fußböden ihn sonderbar verändert und eine bestimmte Ähnlichkeit gesteigert, die ihnen durch all die Erinnerungen kroch.
Die fünf Männer einschließlich des Doktors saßen um einen Tisch herum; und Payne überlegte sich müßig, daß sein heller Tweedanzug und seine roten Haare die einzigen Farben im Raum sein dürften, denn der Priester und der Hausverwalter trugen Schwarz, und Wood und Darnaway trugen gewöhnlich dunkelgraue Anzüge, die fast wie schwarz aussahen. Vielleicht hatte der junge Mann diesen Unterschied gemeint, als er ihn ein menschliches Wesen nannte. In diesem Augenblick wandte sich der junge Mann selbst in seinem Sessel um und begann zu sprechen. Einen Augenblick später wußte der verblüffte Künstler, daß er über die fürchterlichste Sache auf Erden sprach.
»Ist da irgendwas dran?« sagte er. »Das habe ich mich immer wieder fast bis zum Wahnsinn gefragt. Ich hätte niemals geglaubt, daß ich eines Tages über solche Dinge nachdenken würde; aber dann denke ich an das Porträt und an den Reim und an die Übereinstimmungen, oder wie immer Sie das nennen wollen, und dann wird mir eiskalt. Ist da irgendwas dran? Gibt es ein Verhängnis der Darnaways oder nur einen verdammt eigenartigen Unglücksfall? Habe ich ein Recht zu heiraten, oder bringe ich dadurch etwas Großes und Schwarzes, von dem ich nichts weiß, aus dem Himmel herab auf mich und noch jemanden?«
Sein rollendes Auge schweifte über den Tisch und blieb an dem derben Gesicht des Priesters hängen, zu dem er nun zu sprechen schien. Paynes versunkener praktischer Verstand tauchte wieder auf und protestierte dagegen, daß das Problem des Aberglaubens ausgerechnet vor dieses höchst abergläubische Tribunal gebracht werde. Er saß neben Darnaway und mischte sich ein, ehe der Priester antworten konnte.
»Nun ja, die Übereinstimmungen sind schon merkwürdig, will ich zugeben«, sagte er und bemühte sich um eine Note der Heiterkeit, »aber sicherlich werden wir – « und dann hielt er wie vom Blitz getroffen inne. Denn Darnaway hatte bei der Unterbrechung seinen Kopf scharf über die Schulter gedreht, und während dieser Bewegung schob sich die linke Augenbraue weit höher empor als die andere, und für einen Augenblick starrte ihn das Porträt mit einer gespenstischen Übertreibung der Genauigkeit an. Die anderen sahen es auch; und alle sahen aus, als habe sie ein grelles Licht geblendet. Der alte Verwalter stöhnte dumpf auf.
»Das hat keinen Zweck«, sagte er heiser, »wir haben es mit etwas zu Furchtbarem zu tun.«
»Ja«, stimmte der Priester mit leiser Stimme zu, »wir haben es mit etwas Furchtbarem zu tun; dem Furchtbarsten, das ich kenne, und sein Name ist Unsinn.«
»Was haben Sie gesagt?« sagte Darnaway und sah ihn immer noch an.
»Ich sagte Unsinn«, wiederholte der Priester. »Bisher habe ich nichts dazu gesagt, denn es war nicht meine Angelegenheit; ich hatte in der Nachbarschaft nur vorübergehende Pflichten und Miss Darnaway wollte mich sehen. Aber da Sie mich jetzt persönlich und unmittelbar fragen, ist es leicht zu antworten. Natürlich gibt es kein Verhängnis der Darnaways, das Sie hindern könnte, irgend jemanden zu heiraten, den zu heiraten Sie einen anständigen Grund haben. Kein Mensch ist dazu bestimmt, auch nur die kleinste läßliche Sünde zu begehen, geschweige denn Verbrechen wie Selbstmord und Mord. Sie können nicht dazu gezwungen werden, gegen Ihren Willen böse Dinge zu tun, nur weil Ihr Name Darnaway ist, ebensowenig wie ich, weil mein Name Brown ist. Das Verhängnis der Browns«, fügte er geschmäcklerisch hinzu, »der Fluch der Browns würde sogar noch besser klingen.«
»Und ausgerechnet Sie«, wiederholte der Australier starren Blicks, »raten mir, so darüber zu denken?«
»Ich rate Ihnen, an anderes zu denken«, erwiderte der Priester heiter. »Was ist denn aus der aufsteigenden Kunst des Photographierens geworden? Wie klappt es mit der Kamera? Ich weiß, daß es unten reichlich düster ist, aber die leeren Bögen oben im ersten Stock könnte man leicht in ein erstklassiges Photoatelier verwandeln. Ein paar Arbeiter könnten es im Handumdrehen mit einem Glasdach versehen.«
»Also wirklich«, protestierte Martin Wood, »ich glaube, Sie sollten der letzte Mann auf Erden sein, mit diesen wundervollen gotischen Bögen herumzumachen, die mit zum Besten gehören, was Ihre eigene Religion auf Erden je hervorgebracht hat. Ich hätte mir gedacht, daß Sie ein Gespür für diese Art Kunst haben; aber ich kann nicht verstehen, warum Sie so ungewöhnlich scharf aufs Photographieren sind.«
»Ich bin ungewöhnlich scharf aufs Tageslicht«, antwortete Father Brown, »besonders in dieser dumpfigen Angelegenheit; und die Photographie besitzt die Tugend, aufs Tageslicht angewiesen zu sein. Und wenn Sie nicht wissen, daß ich alle gotischen Spitzbögen auf Erden zu Staub zermahlen würde, um die Gesundheit einer einzigen menschlichen Seele zu retten, dann wissen Sie über meine Religion nicht so viel, wie Sie zu wissen glauben.«
Der junge Australier war wie ein verjüngter Mann auf die Füße gesprungen. »Beim Himmel! Das nenne ich reden«, rief er; »obwohl ich niemals gedacht hätte, das ausgerechnet von dieser Seite zu hören. Ich sage Ihnen, Hochwürden, ich werde etwas tun, um zu zeigen, daß ich meinen Mut noch nicht verloren habe.«
Der alte Hausverwalter sah ihn mit bebender Wachsamkeit an, als spüre er im Trotz des jungen Mannes den Todgeweihten. »Oh«, rief er, »und was wollen Sie jetzt tun?«
»Ich werde das Porträt photographieren«, erwiderte Darnaway.
Und doch schien kaum eine Woche später der Sturm der Katastrophe aus dem Himmel zu brausen und jene Sonne der Vernunft zu verdunkeln, die der Priester vergeblich beschworen hatte, und das Haus der Darnaways erneut in die Düsternis ihres Verhängnisses zu stürzen. Es war leicht genug gewesen, das neue Studio einzurichten; und von innen betrachtet, sah es aus wie jedes andere Studio dieser Art, leer bis auf die Fülle des weißen Lichtes. Wer aus den düsteren Räumen unten kam, hatte mehr als üblich das Gefühl, in eine mehr als moderne Helligkeit zu treten, so leer wie die Zukunft. Auf Anregung von Wood, der das Schloß gut kannte und seinen ersten ästhetischen Widerwillen überwunden hatte, war ein kleiner Raum, der in der oberen Ruine intakt geblieben war, leicht in eine Dunkelkammer umgewandelt worden, in die Darnaway aus dem weißen Tageslicht ging, um dort beim karmesinen Schein einer roten Lampe herumzuwirtschaften. Wood sagte lachend, daß ihn die rote Lampe mit dem Vandalismus versöhnt habe, denn die blutrote Dunkelheit sei so romantisch wie die Höhle eines Alchimisten.
Darnaway war an jenem Tag, da er das rätselhafte Porträt photographieren wollte, bei Tagesanbruch aufgestanden und hatte es aus der Bibliothek über die einzige Wendeltreppe hinauftragen lassen, welche die beiden Stockwerke miteinander verband. Dort hatte er es im vollen weißen Tageslicht auf eine Art Staffelei gestellt und seinen photographischen Dreifuß davor aufgebaut. Er sagte, er sei begierig, eine Reproduktion an einen berühmten Antiquar zu schicken, der bereits über die Antiquitäten des Hauses geschrieben hatte; aber die anderen wußten, daß diese Ausrede sehr viel Tieferes überdeckte. Es war, wenn schon nicht ein geistiger Zweikampf zwischen Darnaway und dem dämonischen Bild, so doch zumindest ein Zweikampf zwischen Darnaway und seinen eigenen Zweifeln. Er wollte das Tageslicht der Photographie von Angesicht zu Angesicht dem dunklen Meisterwerk der Malerei gegenüberstellen und sehen, ob nicht das Sonnenlicht der neuen Kunst die Schatten der alten vertreiben könne.
Vielleicht wollte er deshalb alles allein machen, auch wenn einige Einzelheiten länger zu dauern und mehr als die üblichen Verzögerungen mit sich zu bringen schienen. Auf jeden Fall entmutigte er die wenigen, die sein Studio am Tag dieses Experiments aufsuchten und ihn beim Fokussieren und Herumhantieren in einer sehr einsamen und unzugänglichen Stimmung vorfanden. Der Verwalter hatte ihm eine Mahlzeit hingestellt, da er sich weigerte, herunterzukommen; der alte Herr kam auch einige Stunden später zurück und stellte fest, daß über das Essen mehr oder minder normal verfügt worden war; aber als er es brachte, erfuhr er nicht mehr Dank als ein Grunzen. Payne stieg einmal hinauf, um zu sehen, wie er vorankomme, aber da er den Photographen jeder Unterhaltung abgeneigt vorfand, kam er wieder herunter. Father Brown war den gleichen Weg in unauffälliger Weise gewandert, um Darnaway einen Brief jenes Experten zu bringen, dem die Photographie geschickt werden sollte. Doch ließ er den Brief auf einem Tablett liegen, behielt all seine Gedanken über jenes große Glashaus voller Licht und Ergebenheit in ein Steckenpferd, eine Welt, die er gewissermaßen selber geschaffen hatte, für sich und kam wieder herab. Er sollte Grund haben, sich sehr bald daran zu erinnern, daß er der letzte war, der jene einsame Treppe zwischen den Stockwerken herabgekommen war und einen einsamen Mann und einen leeren Raum hinter sich gelassen hatte. Die anderen standen in dem Salon, der zur Bibliothek führte, genau unter der großen schwarzen Ebenholzuhr, die aussah wie ein riesiger Sarg.
»Wie kam Darnaway voran«, fragte Payne ein wenig später, »als Sie zuletzt oben waren?«
Der Priester fuhr mit der Hand über seine Stirn. »Sagen Sie mir bloß nicht, daß ich anfange zu spinnen«, sagte er mit einem traurigen Lächeln. »Ich glaube, daß mich das grelle Tageslicht da oben geblendet hat und daß ich die Dinge nicht genau erkennen konnte. Aber um ehrlich zu sein: Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, als sei an Darnaways Gestalt, wie er da vor dem Porträt stand, etwas nicht geheuer.«
»Oh, das ist nur das lahme Bein«, sagte Barnet prompt. »Darüber wissen wir doch alles.«
»Wissen Sie«, sagte Payne plötzlich und senkte seine Stimme, »ich glaube nicht, daß wir alles darüber wissen, oder überhaupt etwas. Was ist mit seinem Bein los? Was war mit dem Bein seines Ahnen los?«
»Darüber steht was in dem Buch, das ich dort drinnen gelesen habe, im Familienarchiv«, sagte Wood, »ich werde es Ihnen holen.« Und er ging in die gerade dahinter liegende Bibliothek.
»Ich glaube«, sagte Father Brown ruhig, »daß Mr. Payne einen besonderen Grund hat, gerade das zu fragen.«
»Ich kann es ja ein für alle Mal ausspucken«, sagte Payne, aber mit noch leiserer Stimme. »Schließlich gibt es ja eine vernünftige Erklärung. Jeder Hergelaufene könnte sich so hergerichtet haben, daß er aussieht wie das Porträt. Was wissen wir über Darnaway? Er benimmt sich ziemlich merkwürdig – «
Die anderen starrten ihn reichlich aufgeschreckt an; nur der Priester schien es ruhig aufzunehmen.
»Ich glaube nicht, daß das alte Porträt jemals photographiert worden ist«, sagte er. »Deshalb will er das machen. Darin ist, glaube ich, nichts Merkwürdiges.«
»Wirklich das Natürlichste von der Welt«, sagte Wood lächelnd; er war gerade mit dem Buch in der Hand zurückgekommen. Doch während er noch redete, rührte sich etwas im Uhrwerk der großen dunklen Uhr hinter ihm, und nacheinander hallten die Schläge durch den Raum, bis sie die Zahl 7 erreicht hatten. Mit dem letzten Schlag erscholl ein großes Krachen in der oberen Etage, das das Haus wie ein Donnerschlag erschütterte; und Father Brown hatte bereits die ersten beiden Stufen der Wendeltreppe hinter sich, ehe noch das Geräusch erstorben war.
»Mein Gott!« rief Payne unwillkürlich; »er ist allein da oben.«
»Ja«, sagte Father Brown ohne sich umzuwenden, als er im Treppenaufgang verschwand. »Wir werden ihn allein vorfinden.«
Als sich die übrigen von ihrer ersten Lähmung erholt hatten und in wildem Durcheinander die Steinstufen hinaufrannten und ihren Weg ins neue Studio fanden, da stimmte es in dem Sinne, daß sie ihn allein vorfanden. Sie fanden ihn in den Trümmern seiner großen Kamera, deren lange zersplitterte Beine grotesk in drei verschiedene Richtungen ragten; und Darnaway war auf sie gestürzt, und das eine schwarze krumme Bein lag im vierten Winkel auf dem Fußboden. Für einen Augenblick sah der dunkle Haufen aus, als sei er mit einer riesigen scheußlichen Spinne verschlungen. Doch brauchte es nur wenig mehr als einen Blick und eine Berührung, um zu erkennen, daß er tot war. Nur das Porträt stand unberührt auf der Staffel, und man konnte sich einbilden, daß die lächelnden Augen leuchteten.
Eine Stunde später traf Father Brown bei seinem Bemühen, die Verwirrung des geschlagenen Hauses zu lindern, den alten Hausverwalter, der so mechanisch murmelte, wie die Uhr die schreckliche Stunde gezählt und geschlagen hatte. Und fast ohne hinzuhören wußte er, wie die gemurmelten Worte lauten mußten:
»Im siebenten Erben bin ich erneut,
In der siebenten Stunde mach’ ich mich fort.«
Als er etwas Tröstliches sagen wollte, schien der alte Mann plötzlich aufzuwachen und vor Zorn zu erstarren; sein Murmeln wandelte sich in einen wilden Schrei.
»Sie!« schrie er, »Sie und Ihr Tageslicht! Selbst Sie werden jetzt nicht mehr sagen, es gebe kein Verhängnis der Darnaways.«
»Meine Ansicht darüber ist unverändert«, sagte Father Brown sanft.
Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich hoffe, Sie werden den letzten Wunsch des armen Darnaway erfüllen und dafür sorgen, daß die Photographie abgeschickt wird.«
»Die Photographie!« rief der Doktor scharf. »Zu was soll das gut sein? Und außerdem, es ist merkwürdig, aber es gibt keine Photographie. Es scheint, als habe er gar keine gemacht, trotz seines Herumwirtschaftens während des ganzen Tages.«
Father Brown drehte sich jäh um. »Dann machen Sie sie«, sagte er. »Der arme Darnaway hatte völlig recht. Es ist von größter Wichtigkeit, daß die Aufnahme gemacht wird.«
Als all die Besucher, der Arzt und der Priester und die beiden Künstler, in schwarzer und trübseliger Prozession über die braungelben Sande davonzogen, waren sie zunächst mehr oder minder schweigsam, so als ob sie betäubt wären. Und in der Tat hatte die Erfüllung jenes vergessenen Aberglaubens in eben dem Augenblick, als sie ihn am meisten vergessen hatten, etwas von einem Donnerschlag aus heiterem Himmel an sich, als Arzt und Priester ihre Köpfe ebenso mit Rationalismus angefüllt hatten wie der Photograph seine Räume mit Tageslicht. Sie mochten so rationalistisch sein, wie sie wollten; aber in hellem Tageslicht war der siebente Erbe wiedergekehrt, und im hellen Tageslicht war er in der siebenten Stunde zu Grunde gegangen.
»Ich fürchte, daß nun alle für ewige Zeiten an den Darnaway-Aberglauben glauben werden«, sagte Martin Wood.
»Ich kenne einen, der das nicht tut«, sagte der Doktor scharf. »Warum sollte ich dem Aberglauben frönen, bloß weil ein anderer dem Selbstmord frönt?«
»Sie glauben, daß der arme Mr. Darnaway Selbstmord begangen hat?« fragte der Priester.
»Ich bin sicher, daß er Selbstmord begangen hat«, erwiderte der Doktor.
»Möglich ist es«, stimmte der andere zu.
»Er war ganz allein da oben, und in seiner Dunkelkammer hatte er eine ganze Apotheke von Giften. Außerdem ist es genau das, was Darnaways zu tun pflegen.«
»Sie glauben also nicht, daß es irgendwas mit der Erfüllung des Familienfluchs zu tun hat?«
»Doch«, sagte der Arzt, »ich glaube an einen Familienfluch, und das ist die Familienkonstitution. Ich habe Ihnen gesagt, es sei erblich und daß sie alle halb verrückt sind. Wenn man dermaßen stagniert und Inzucht betreibt und im eigenen Sumpf brütet, muß man degenerieren, ob man will oder nicht. Die Vererbungsgesetze kann man nicht umgehen; die Wahrheit der Wissenschaft kann man nicht leugnen. Der Verstand der Darnaways zerfällt in Stücke, so wie ihr verrottetes Gebälk und Gemäuer in Stücke zerfällt, zerfressen von der See und der Salzluft. Selbstmord – natürlich hat er Selbstmord begangen; und ich wage zu behaupten, auch alle übrigen werden Selbstmord begehen. Vielleicht das Beste, was sie tun können.«
Während der Mann der Wissenschaft sprach, sprang Payne plötzlich und mit aufschreckender Deutlichkeit das Gesicht der Tochter des Hauses Darnaway in die Erinnerung, eine tragische Maske, blaß vor unergründbarer Schwärze, aber selbst von blendender und sterbliches Maß überstrahlender Schönheit. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, und fand sich sprachlos.
»Aha«, sagte Father Brown zum Doktor, »dann glauben Sie also doch an den Aberglauben?«
»Was meinen Sie – glauben an den Aberglauben? Ich glaube an den Selbstmord als Folge wissenschaftlicher Notwendigkeit.«
»Nun ja«, erwiderte der Priester, »ich kann aber nicht den Deut eines Unterschiedes zwischen Ihrem wissenschaftlichen Aberglauben und jenem anderen magischen Aberglauben erkennen. Beide verwandeln mir am Ende Menschen in Gelähmte, die ihre eigenen Beine und Arme nicht mehr bewegen und ihre eigenen Leben und Seelen nicht mehr retten können. Im Vers heißt es, es sei das Verhängnis der Darnaways, getötet zu werden, und im wissenschaftlichen Lehrbuch heißt es, es sei der Fluch der Darnaways, sich selbst zu töten. In beiden Fällen erscheinen sie mir als Sklaven.«
»Aber ich dachte, Sie hätten gesagt, daß Sie an eine vernünftige Sicht auf diese Dinge glaubten«, sagte Dr. Barnet. »Glauben Sie denn nicht an die Vererbung?«
»Ich sagte, ich glaubte ans Tageslicht«, erwiderte der Priester mit lauter und klarer Stimme, »und ich denke nicht daran, zwischen zwei Gängen untergründigen Aberglaubens zu wählen, die beide im Dunkel enden. Und der Beweis dafür ist: daß Sie sich alle vollständig im dunkeln darüber befinden, was sich wirklich in jenem Haus abgespielt hat.«
»Meinen Sie den Selbstmord?« fragte Payne.
»Ich meine den Mord«, sagte Father Brown, und seine Stimme, obwohl nur leicht angehoben, schien irgendwie über das ganze Uferland zu hallen. »Es war Mord; Mord aber kommt aus dem Willen, den Gott frei geschaffen hat.«
Was die anderen in diesem Augenblick darauf antworteten, sollte Payne nie erfahren. Denn das Wort hatte eine eigentümliche Wirkung auf ihn; es jagte ihn hoch wie ein Trompetenstoß und ließ ihn doch innehalten. Er blieb inmitten der sandigen Einöde stehen und ließ die anderen weitergehen; er spürte das Blut durch seine Adern kribbeln und jene Empfindung, die man Haare-zu-Berge-Stehen nennt; und doch verspürte er ein neues und unnatürliches Glücksgefühl. Ein psychologischer Vorgang, der zu schnell und zu kompliziert war, als daß er ihm hätte folgen können, war bereits zu einer Schlußfolgerung gelangt, die er nicht zu analysieren vermochte; doch war diese Schlußfolgerung erleichternd. Nachdem er für einen Augenblick stehengeblieben war, kehrte er um und ging langsam über die Sande zurück zum Haus der Darnaways.
Er überquerte den Wassergraben mit einem Tritt, der die Brücke erschütterte, und stieg die Treppen hinab und durchquerte die langen Räume mit hallenden Schritten, bis er die Stelle erreichte, wo Adelaide Darnaway saß, vom niedrigen Licht des ovalen Fensters mit einem Heiligenschein umgeben, fast wie eine vergessene Heilige, die man im Lande des Todes zurückgelassen hat. Sie blickte auf, und ein Ausdruck der Verwunderung machte ihr Antlitz nur noch wunderbarer.
»Was ist?« sagte sie. »Warum sind Sie zurückgekommen?«
»Ich bin wegen Dornröschen gekommen«, sagte er in einem Ton, der den Widerhall eines Lachens hatte. »Dieses alte Haus sank vor langer Zeit in Schlaf, wie der Doktor gesagt hat; aber es wäre töricht, wenn Sie vorgäben, alt zu sein. Kommen Sie hinauf ins Tageslicht, und vernehmen Sie die Wahrheit. Ich bringe Ihnen ein Wort; es ist ein schreckliches Wort, aber es sprengt den Bann Ihrer Gefangenschaft.«
Sie verstand kein Wort von dem, was er sagte, aber etwas machte sie aufstehen und sich von ihm die lange Halle hinabgeleiten lassen und die Treppen hinauf und hinaus unter den Abendhimmel. Die Ruinen eines toten Gartens erstreckten sich seewärts, ein alter Springbrunnen mit der Gestalt eines grünspanbedeckten Tritons stand da, der aus einem ausgetrockneten Horn nichts in ein leeres Becken goß. Er hatte diesen trostlosen Umriß oftmals vor dem Abendhimmel gesehen, wenn er vorüberkam, und er war ihm in mehr als einer Hinsicht wie das Sinnbild versunkenen Glücks erschienen. Nicht lange mehr, und zweifellos würden sich diese leeren Brunnen wieder füllen, aber mit den fahlen grünen bitteren Wässern der See, und die Blumen würden ertrinken und ersticken im Seetang. So, hatte er sich gesagt, würde auch die Tochter der Darnaways verheiratet werden; verheiratet werden aber dem Tod und einem Verhängnis, so gehörlos und gefühllos wie die See. Nun aber legte er seine Hand auf den bronzenen Triton wie die Hand eines Riesen und schüttelte ihn, als wolle er ihn wie ein Götzenbild oder einen bösen Gott des Gartens umstürzen.
»Was soll das heißen?« fragte sie gefaßt. »Was ist dieses Wort, das uns frei machen wird?«
»Es ist das Wort Mord«, sagte er, »und die Freiheit, die es bringt, ist so frisch wie Frühlingsblumen. Nein; ich will nicht sagen, daß ich jemanden ermordet habe. Aber die Tatsache, daß irgend jemand ermordet werden kann, ist schon in sich selbst eine gute Neuigkeit nach all den bösen Träumen, in denen Sie gelebt haben. Verstehen Sie denn nicht? In diesem Ihrem Traum geschah alles, was Ihnen geschah, aus Ihnen heraus: Das Verhängnis der Darnaways schlummerte in den Darnaways und entfaltete sich wie eine schreckliche Blume. Es gab selbst durch glücklichen Zufall keine Flucht; alles geschah unausweichlich; ob nun nach Vine und seinem Altweibermärchen, oder nach Barnet und seiner neumodischen Vererbungslehre. Aber dieser Mann, der starb, ist nicht das Opfer eines Zauberfluchs oder ererbten Wahnsinns. Er wurde ermordet; und für uns ist dieser Mord nichts als ein Zufall; ja, requiescat in pace: aber ein glücklicher Zufall. Ein Strahl Tageslicht, denn er ist von außen gekommen.«
Sie lächelte plötzlich. »Ja, ich glaube, ich verstehe. Sie scheinen wie ein Wahnsinniger zu sprechen, aber ich verstehe. Aber wer hat ihn ermordet?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er ruhig, »aber Father Brown weiß es. Und wie Father Brown sagt, geschieht Mord durch den Willen, frei wie der Wind vom Meer.«
»Father Brown ist ein wunderbarer Mensch«, sagte sie nach einer Pause, »er war der einzige Mensch, der je mein Dasein erhellt hat, bis – «
»Bis was?« fragte Payne und machte eine ungestüme Geste, in der er sich ihr zuneigte und das bronzene Monster so von sich stieß, daß es auf seinem Sockel zu wackeln schien.
»Nun, bis Sie es taten«, sagte sie und lächelte wieder.
So ward das Dornröschenschloß erweckt, und es ist nicht Aufgabe dieser Geschichte, die einzelnen Stadien seines Erwachens zu schildern, obwohl sich die meisten ereignet hatten, noch ehe die Dunkelheit dieses Abends auf das Ufer niedersank. Als Harry Payne ein weiteres Mal über jene dunklen Sande heimwärts schritt, die er schon in so vielen Stimmungen überquert hatte, befand er sich auf jenem höchsten Gipfel der Glückseligkeit, der diesem sterblichen Leben beschieden ist, und das ganze rote Meer in ihm wogte in seiner höchsten Flut. Er hätte keinerlei Schwierigkeiten gehabt, sich den ganzen Ort nochmals in Blütenpracht vorzustellen, und den bronzenen Triton strahlend als goldenen Gott, und den Springbrunnen strömend mit Wasser oder Wein. Doch all dieses Prangen und Blühen hatte sich ihm mit dem einen Wort »Mord« entfaltet, und immer noch war es ein Wort, das er nicht verstand. Er hatte es vertrauensvoll aufgenommen, aber das war nicht unweise; denn er gehörte zu jenen, die einen Sinn für den Klang der Wahrheit haben.
Über einen Monat später kehrte Payne in sein Londoner Haus zurück, um eine Verabredung mit Father Brown einzuhalten, und er brachte die gewünschte Photographie mit. Seine Liebesgeschichte war so wohl gediehen, wie das im Schatten einer solchen Tragödie ziemlich war, und um so leichter lag der Schatten selbst auf ihm; aber es war schwierig, ihn als etwas anderes denn den Schatten eines Familiengeschickes anzusehen. Er war auf manche Weise sehr beschäftigt gewesen, und erst nachdem der Haushalt der Darnaways seine strenge Gleichförmigkeit wieder gefunden und das Porträt schon lange wieder seinen Platz in der Bibliothek eingenommen hatte, hatte er es geschafft, es mit einem Magnesiumblitz aufzunehmen. Bevor er es aber wie ursprünglich verabredet dem Antiquar zuschickte, brachte er es dem Priester, der so dringend danach verlangt hatte.
»Ich kann Ihr Verhalten in all dem nicht verstehen, Father Brown«, sagte er. »Sie benehmen sich so, als hätten Sie das Problem schon auf Ihre Weise gelöst.«
Der Priester schüttelte kummervoll den Kopf. »Nicht im geringsten«, antwortete er. »Ich bin wohl sehr dumm, denn ich stecke fest – stecke bei der handfestesten Frage von allen fest. Es ist eine eigenartige Angelegenheit, so einfach bis zu einer gewissen Stelle, und dann – lassen Sie mich einen Blick auf die Photographie werfen, bitte.«
Er hielt sie einen Augenblick lang nahe vor seine zusammengekniffenen kurzsichtigen Augen und sagte dann: »Haben Sie ein Vergrößerungsglas?«
Payne brachte ihm eines, und der Priester schaute einige Zeit höchst aufmerksam hindurch und sagte dann: »Sehen Sie sich den Titel des Buches in der Ecke des Bücherregals neben dem Rahmen an: ›Die Geschichte der Päpstin Johanna‹. Nun frage ich mich… ja, beim Himmel; und das darüber ist irgendwas über Island. Gott! Was für ein eigenartiger Weg, es herauszufinden! Was war ich doch für ein dummer Dackel, daß ich es nicht bemerkt habe, als ich da war!«
»Aber was haben Sie denn herausgefunden?« fragte Payne ungeduldig.
»Das letzte Glied«, sagte Father Brown, »und jetzt stecke ich nicht mehr fest. Ja, ich glaube, ich weiß jetzt, wie sich die ganze unglückliche Geschichte von Anfang bis Ende abspielte.«
»Aber warum?« beharrte der andere.
»Nun, weil«, sagte der Priester mit einem Lächeln, »die Bibliothek der Darnaways Bücher über die Päpstin Johanna und über Island enthält, von einem anderen ganz zu schweigen, das ich da sehe und dessen Titel anfängt ›Die Religion Friedrichs‹, was nicht schwer zu ergänzen ist.« Dann aber, da er den Ärger des anderen sah, erlosch sein Lächeln, und er sagte ernsthafter:
»Tatsächlich ist dieser letzte Punkt, obwohl er das fehlende Glied darstellt, nicht die Hauptfrage. In dem Fall gibt es viel merkwürdigere Dinge. Eines davon ist ein eher merkwürdiges Beweisstück. Lassen Sie mich zuerst etwas sagen, das Sie erstaunen mag. Darnaway starb nicht an jenem Abend um 7 Uhr. Da war er bereits einen ganzen Tag lang tot.«
»Überraschung wäre ein zu mildes Wort«, sagte Payne grimmig, »angesichts der Tatsache, daß wir beide ihn später noch herumgehen sahen.«
»Nein, taten wir nicht«, erwiderte Father Brown gelassen. »Ich meine, wir sahen ihn, oder dachten ihn zu sehen, wie er mit dem Fokussieren seiner Kamera herumhantierte. War aber nicht sein Kopf unter jenem schwarzen Tuch, als Sie durchs Zimmer kamen? Als ich kam, war er. Und da hatte ich den Eindruck, daß etwas an dem Zimmer und der Gestalt sonderbar war. Nicht weil das Bein krumm war, sondern weil es gerade nicht krumm war. Sie war zwar mit der gleichen Art dunkler Kleidung angezogen, aber wenn Sie glauben, einen bestimmten Mann dastehen zu sehen, doch auf eine Weise, wie ein bestimmter anderer Mann zu stehen pflegt, dann werden Sie den Eindruck gewinnen, er stünde da in einer eigenartigen und angestrengten Haltung.«
»Wollen Sie wirklich sagen«, rief Payne mit einem leichten Schauer, »daß das irgendein Unbekannter war?«
»Es war der Mörder«, sagte Father Brown. »Er hatte Darnaway bereits bei Tagesanbruch getötet und die Leiche und sich in der Dunkelkammer versteckt – ein ausgezeichnetes Versteck, da gewöhnlich niemand da reingeht oder viel sehen kann, wenn er es tut. Aber um 7 Uhr ließ er sie natürlich heraus auf den Boden fallen, damit man sich die Sache durch den Fluch erkläre.«
»Aber ich verstehe das nicht«, bemerkte Payne. »Warum hat er ihn denn nicht um 7 Uhr getötet, statt sich für 14 Stunden mit einem Leichnam zu belasten?«
»Lassen Sie mich Ihnen eine andere Frage stellen«, sagte der Priester. »Warum ist die Aufnahme nicht gemacht worden? Weil der Mörder ihn sofort tötete, als er hinaufkam, und ehe er die Aufnahme machen konnte. Für den Mörder war es wesentlich zu verhindern, daß die Photographie den Fachmann für die Antiquitäten der Darnaways erreichte.«
Ein plötzliches Schweigen trat ein, und dann fuhr der Priester mit leiserer Stimme fort:
»Sehen Sie denn nicht, wie einfach das ist? Sie selbst haben doch die eine Möglichkeit erkannt; aber es ist noch einfacher, als selbst Sie gedacht haben. Sie haben gesagt, ein Mann könne hergerichtet werden, um einem alten Bild zu gleichen. Sicherlich aber ist es noch einfacher, ein Bild herzurichten, damit es einem Mann gleicht. In einfachen Worten: Es stimmt auf eine ganz besondere Weise, daß es kein Verhängnis der Darnaways gibt. Es gibt kein altes Bild; es gibt keinen alten Reim; es gibt keine Geschichte von einem Mann, der den Tod seiner Frau verursachte. Aber es gab einen sehr bösen und sehr klugen Mann, der bereit war, den Tod eines anderen Mannes zu verursachen, um ihm die versprochene Frau zu nehmen.«
Der Priester lächelte Payne plötzlich traurig an, als ob er ihm Mut machen wolle. »Für einen Augenblick haben Sie, glaube ich, gedacht, ich meinte Sie«, sagte er, »aber Sie waren nicht der einzige, der das Haus aus Gefühlsgründen immer wieder heimsuchte. Sie kennen den Mann oder denken vielmehr, daß Sie ihn kennten. Doch gibt es Abgründe in dem Mann namens Martin Wood, Künstler und Antiquar, die keine seiner künstlerischen Bekanntschaften zu erraten vermochten. Erinnern Sie sich, daß er gerufen wurde, um die Bilder zu beurteilen und zu katalogisieren; in einer aristokratischen Rumpelkammer dieser Art bedeutet das soviel wie den Darnaways einfach zu sagen, welche Kunstschätze sie überhaupt besaßen. Sie würden keineswegs überrascht sein, wenn Dinge auftauchten, die sie vorher nie gesehen hatten. Es mußte nur gut gemacht werden, und das wurde es; vielleicht hatte er recht, als er sagte, wenn es nicht von Holbein sei, dann von einem ähnlichen Genie.«
»Ich bin wie betäubt«, sagte Payne, »und dabei gibt es zwanzig Dinge, die ich immer noch nicht begreife. Woher wußte er, wie Darnaway aussah? Wie hat er ihn wirklich getötet? Die Ärzte scheinen daran immer noch herumzurätseln.«
»Ich habe bei der Dame eine Photographie gesehen, die der Australier voraufgeschickt hatte«, sagte der Priester, »und es gibt mancherlei Wege, auf denen er Dinge erfahren konnte, sobald der neue Erbe anerkannt war. Wir kennen diese Einzelheiten nicht, aber sie bieten keine Schwierigkeiten. Erinnern Sie sich, daß er in der Dunkelkammer zu helfen pflegte; das scheint mir ein idealer Platz zu sein, um inmitten all der herumstehenden Gifte einen Mann, sagen wir mal, mit einer vergifteten Nadel zu stechen. Nein, das alles sind keine Schwierigkeiten. Die Schwierigkeit, die mich in Verlegenheit brachte, war, wie Wood gleichzeitig an zwei Stellen sein konnte. Wie konnte er den Leichnam aus der Dunkelkammer nehmen und so gegen die Kamera lehnen, daß der in Sekundenschnelle zusammenstürzte, und das, ohne die Treppe herabzukommen, während er doch in der Bibliothek war und ein Buch suchte? Und ich war ein solcher Trottel, daß ich nicht einmal die Bücher in der Bibliothek angesehen habe; und erst auf dieser Photographie habe ich durch unverdientes Glück die einfache Tatsache eines Buches über die Päpstin Johanna gesehen.«
»Sie heben sich Ihr bestes Rätsel für den Schluß auf«, sagte Payne grimmig. »Was in aller Welt hat denn die Päpstin Johanna damit zu tun?«
»Vergessen Sie nicht das Buch über irgend etwas Isländisches«, mahnte der Priester, »oder das über die Religion irgendeines Friedrich. Es bleibt nur noch die Frage, was für eine Art Mensch der letzte Lord Darnaway war.«
»So, bleibt sie das?« bemerkte Payne nachdrücklich.
»Er war ein kultivierter, humorvoller Exzentriker, nehme ich an«, fuhr Father Brown fort. »Als kultivierter Mann wußte er, daß es niemals eine Päpstin Johanna gegeben hat. Als humorvoller Mensch kann er sich durchaus einen Titel wie ›Die Schlangen von Island‹ ausgedacht haben oder etwas Ähnliches, das es auch nicht gibt. Und ich wage, den dritten Titel als ›Die Religion von Friedrich dem Großen‹ zu rekonstruieren, den es ebenfalls nicht gibt. Nun, fällt Ihnen nicht auf, daß genau das die Titel sind, die man auf den Rücken von Büchern kleben könnte, die es auch nicht gibt; oder mit anderen Worten in ein Buchregal, das kein Buchregal ist?«
»Oha!« rief Payne. »Jetzt begreife ich, was Sie meinen. Es gab da eine Geheimtreppe – «
»Hinauf in jenen Raum, den Wood selbst als Dunkelkammer ausgewählt hatte«, sagte der Priester und nickte. »Tut mir leid. Es konnte nicht verhindert werden. Furchtbar banal und dumm, so dumm, wie ich es in diesem ganzen reichlich banalen Fall war. Aber wir waren da in einen wirklich muffigen alten Roman von verfallendem Adel und einem verrottenden Familiensitz verwickelt; und es wäre zuviel gewesen, zu hoffen, daß wir der Geheimtreppe hätten entkommen können. Das war das Priesterloch; und ich verdiente, da reingesperrt zu werden.«
Father Brown hat diesen Fall immer als das vertrackteste Beispiel für die Theorie des Alibis betrachtet: jene Theorie, die behauptet, daß es trotz des mythologischen irischen Vogels für jeden unmöglich ist, gleichzeitig an zwei Stellen zu sein. Um damit anzufangen: James Byrne, ein irischer Journalist, kam vielleicht dem irischen Vogel am nächsten. Er kam dem An-zwei-Stellen-gleichzeitig-Sein so nahe, wie nur irgend jemand das kann: denn er befand sich binnen 20 Minuten an zwei Stellen in den gegensätzlichsten Extremen der sozialen und politischen Welt. Die erste war in den Hallen des Grandhotels Babylon, das der Treffpunkt jener drei Wirtschaftsmagnaten war, die sich damit befaßten, eine Aussperrung in der Kohleindustrie zu organisieren und sie als Kohlestreik zu denunzieren, die zweite war in einer eigenartigen Kneipe, die nach außen die Fassade eines Gemüseladens hatte, wo sich das eher unterirdische Triumvirat jener traf, die die Aussperrung liebend gerne in einen Streik verwandelt hätten – und den Streik in eine Revolution. Der Reporter wechselte zwischen den drei Millionären und den drei bolschewistischen Führern mit der Immunität des modernen Herolds oder des neuen Botschafters hin und her.
Er traf die drei Bergbaumagnaten verborgen in einem Dschungel blühender Pflanzen und einem Wald kannelierter und überladener Säulen aus vergoldetem Gips an; vergoldete Vogelkäfige hingen hoch oben unter ausgemalten Kuppeln zwischen den höchsten Blättern der Palmen; und in ihnen befanden sich Vögel der buntscheckigsten Farben und der unterschiedlichsten Stimmen. Kein Vogel sang je in der Wildnis ungehörter, und keine Blume verschwendete ihren süßen Duft je unbeachteter an die Wüstenluft, als die Blüten jener hohen Gewächse an diese eifrigen und atemlosen Geschäftsleute, meist Amerikaner, die an jenem Orte miteinander redeten und hin und her liefen. Und dort saßen inmitten einer Explosion von Rokoko-Ornamenten, die nie jemand ansah, und dem Geschnatter teurer fremdländischer Vögel, auf das nie jemand hörte, und in Massen opulenter Polsterungen und einem Labyrinth luxuriöser Architektur jene drei Männer und sprachen darüber, daß Erfolg auf Überlegung, Sparsamkeit, Wachsamkeit in der Wirtschaft und auf Selbstbeherrschung gründe. Einer von ihnen sprach allerdings nicht so viel wie die anderen; aber er beobachtete mit seinen hellen und bewegungslosen Augen, die von seinem Zwicker zusammengeklemmt erschienen, und das ständige Lächeln unter seinem schwarzen Schnurrbart sah eher wie ständiger Hohn aus. Das war der berühmte Jacob P. Stein, und er sprach nie, bevor er etwas zu sagen hatte. Sein Gefährte jedoch, Gallup der alte Pennsylvanier, ein riesiger fetter Kerl mit ehrwürdig grauen Haaren, aber dem Gesicht eines Boxers, redete viel. Er war in jovialer Stimmung und gerade dabei, den dritten Millionär halb zu verspotten, halb zu bedrohen, Gideon Wise – ein harter, trockener, eckiger, alter Vogel von jenem Typus, den seine Landsleute mit Hickoryholz vergleichen, mit steifem grauem Kinnbart und den Manieren und der Kleidung eines x-beliebigen alten Farmers aus dem mittleren Westen. Es gab da einen alten Streit zwischen Wise und Gallup über Zusammenarbeit und Wettbewerb. Denn der alte Wise hatte, mit den Manieren eines Hinterwäldlers, gewisse seiner Ansichten eines alten Individualisten beibehalten; er gehörte, wie wir in England sagen würden, der Manchester-Schule an; Gallup hingegen versuchte immer wieder, ihn zu überreden, den Wettbewerb auszuschließen und die Ressourcen der ganzen Welt zusammenzuschließen.
»Früher oder später müssen Sie einsteigen, alter Knabe«, sagte Gallup gerade freundschaftlich, als Byrne eintrat. »Das ist nun mal der Lauf der Welt, und zum 1-Mann-Geschäft können wir nicht zurück. Wir müssen alle zusammenhalten.«
»Wenn ich dazu was sagen darf«, sagte Stein in seiner ruhigen Art, »dann möchte ich sagen, daß es etwas noch Dringenderes gibt als unseren wirtschaftlichen Zusammenhalt. Es geht auf jeden Fall um politischen Zusammenhalt; und deshalb habe ich Mr. Byrne gebeten, uns heute hier zu treffen. Wir müssen uns in der politischen Frage zusammenschließen; aus dem einfachen Grund, weil alle unsere gefährlichsten Gegner sich bereits zusammengeschlossen haben.«
»O ja, dem politischen Zusammenschluß stimme ich völlig zu«, knurrte Gideon Wise.
»Hören Sie«, sagte Stein zu dem Journalisten, »ich weiß, daß Sie Zugang zu jenen sonderbaren Plätzen haben, und deshalb möchte ich, daß Sie für uns inoffiziell etwas tun. Sie wissen, wo sich diese Männer treffen; nur zwei oder drei von ihnen zählen wirklich, John Elias und Jake Halket, der das große Wort führt, und vielleicht noch dieser dichtende Knabe Horne.«
»Horne war doch ein Freund von Gideon«, sagte der spottende Mr. Gallup, »war mit ihm in der Sonntagsschule, oder sowas.«
»Damals war er ein Christ«, sagte der alte Gideon feierlich, »aber wenn sich ein Mann mit Atheisten einläßt, weiß man nie. Ich treffe ihn immer noch ab und zu. Ich war natürlich bereit, ihn gegen Krieg und Konskription und all das zu unterstützen, aber wenn es sich um all diese verdammten Bolschies handelt, die da überall aufblühen – «
»Um Vergebung«, unterbrach Stein, »aber da die Sache reichlich dringend ist, werden Sie mir erlauben, sie Mr. Byrne sofort zu unterbreiten. Mr. Byrne, ich kann Ihnen im Vertrauen mitteilen, daß ich Informationen oder besser Beweise habe, die wenigstens zwei dieser Männer für lange Zeit ins Gefängnis brächten, und zwar wegen Verschwörung im letzten Krieg. Ich will diese Beweise nicht verwenden. Aber ich möchte, daß Sie unauffällig zu ihnen gehen und ihnen sagen, daß ich sie verwenden werde, und zwar morgen verwenden werde, wenn sie ihre Haltung nicht ändern.«
»Nun«, erwiderte Byrne, »was Sie da vorschlagen, würde mit Sicherheit Mitwisserschaft eines Verbrechens und vielleicht sogar Erpressung genannt werden. Erscheint Ihnen das nicht reichlich gefährlich?«
»Ich glaube, es ist reichlich gefährlich für sie«, schnappte Stein, »und ich wünsche, daß Sie zu ihnen gehen und ihnen das sagen.«
»Na schön«, sagte Byrne und stand mit einem halb humorvollen Seufzer auf. »Das gehört zwar zu meiner täglichen Arbeit; aber ich warne Sie: Wenn ich in Schwierigkeiten gerate, werde ich Sie in die Geschichte reinziehen.«
»Dann ziehen Sie mal, mein Junge«, sagte der alte Gallup mit einem herzhaften Lachen.
Denn noch ist von jenem großen Traum Jeffersons und dem Ding, das die Menschen Demokratie nennen, so viel übrig geblieben, daß in seinem Land die Armen, während die Reichen wie Tyrannen herrschen, nicht wie Sklaven reden; vielmehr herrscht Offenheit zwischen Unterdrückern und Unterdrückten.
Der Treffpunkt der Revolutionäre war ein eigenartiges, kahles, weiß gekalktes Lokal, an dessen Wänden sich ein oder zwei verzerrte ungeschlachte Schwarzweiß-Zeichnungen befanden, in jenem Stil, der angeblich proletarische Kunst ist, die aber nicht einmal für 1 Proletarier unter 1 Million Hand und Fuß hat. Die einzige Gemeinsamkeit beider Ratsversammlungen war vielleicht die, daß beide die amerikanische Verfassung durch den Ausschank alkoholischer Getränke verletzten. Cocktails der unterschiedlichsten Farben hatten vor den drei Millionären gestanden. Halket, der gewalttätigste der Bolschewiken, hielt es durchaus für angebracht, Wodka zu trinken. Er war ein langer, schwerfälliger Kerl mit bedrohlich vorgebeugter Haltung, und sogar sein Profil war angriffslustig wie das eines Hundes, Nase und Lippen waren vorwärts gestülpt, wobei die letzteren einen struppigen roten Schnurrbart trugen, und das Ganze krümmte sich in ständiger Verachtung auswärts. John Elias war ein dunkler wachsamer Mann mit Brille und einem schwarzen Spitzbart; er hatte in vielen europäischen Cafés Geschmack an Absinth gewonnen. Des Journalisten tiefster Eindruck war, wie ähnlich sich doch trotz allem John Elias und Jacob P. Stein waren. Sie waren sich in Gesicht und Geist und Gestik so ähnlich, daß der Millionär im Hotel Babylon durch eine Falltür hätte verschwinden und in der Festung der Bolschewiken wieder auftauchen können.
Auch der dritte Mann hatte einen eigenartigen Geschmack bei Getränken, und sein Getränk war charakteristisch für ihn. Denn was vor dem Poeten Horne stand, war ein Glas Milch, und gerade dessen Mildheit schien in dieser Umgebung etwas Bedrohliches an sich zu haben, als ob seine undurchsichtige farblose Farbe die einer verdorbenen Paste sei, viel giftiger als das tote kranke Grün des Absinths. Doch in Wahrheit war diese Mildheit soweit recht ehrlich; denn Henry Horne war auf ganz anderen Wegen und von ganz anderen Ursprüngen ins Lager der Revolution gekommen als Jake, der einfache Spengler, und Elias, der kosmopolitische Drahtzieher. Er hatte eine sogenannte sorgfältige Erziehung genossen, war während seiner Kindheit in die Kirche gegangen und schleppte ein Abstinenzlertum mit sich durchs Leben, das er auch nicht abschütteln konnte, nachdem er solche Nebensächlichkeiten wie Christentum und Ehe abgeworfen hatte. Er hatte blondes Haar und ein feines Gesicht, das dem Shelleys ähnlich gewesen wäre, hätte er sein Kinn nicht durch einen kleinen ausländischen Fransenbart geschwächt. Irgendwie ließ ihn der Bart eher wie eine Frau aussehen; als ob jene weniger goldenen Haare alles wären, was er leisten konnte.
Als der Journalist eintrat, redete wie meistens der unvermeidliche Jake. Horne hatte irgendeine beiläufige konventionelle Bemerkung gemacht, »der Himmel verbiete« dieses und jenes, was völlig ausreichte, um Jake sich in einem Sturzbach von Lästerungen ergießen zu lassen.
»Der Himmel verbiete! Und was anderes tut er ja verflucht auch nicht«, sagte er. »Der Himmel tut nie was anderes, als dies und das und jenes zu verbieten; verbietet uns zu streiken, und verbietet uns zu kämpfen, und verbietet uns, die verdammten Wucherer und Blutsauger abzuknallen, wo sie gerade sitzen. Warum verbietet der Himmel denen nicht mal was? Warum stehen eure verdammten Priester und Pfaffen nicht mal auf und erzählen zur Abwechslung die Wahrheit über diese Viecher? Warum tut ihr feiner Gott nicht mal – «
Elias erlaubte sich einen sanften Seufzer, wie aus matter Müdigkeit, um ihm zu entrinnen.
»Priester«, sagte er, »gehörten, wie Marx gezeigt hat, zur Feudaletappe der wirtschaftlichen Entwicklung und sind daher kein wirklicher Teil des Problems mehr. Die Rolle, die einst der Priester gespielt hat, hat heute der kapitalistische Experte übernommen und – «
»Ja«, unterbrach der Journalist mit seiner grimmigen und ironischen Unparteilichkeit, »und ihr solltet endlich zur Kenntnis nehmen, daß manche von ihnen wahre Experten darin sind, sie zu spielen.« Und ohne seinen Blick von dem hellen aber toten Blick Elias’ abzuwenden, berichtete er ihm von Steins Drohung.
»Ich war auf so was vorbereitet«, sagte der lächelnde Elias ohne Bewegung, »ich darf sagen, gut vorbereitet.«
»Dreckige Hunde!« explodierte Jake. »Wenn ein armer Mann so was sagen würde, würde er zu Zwangsarbeit verdonnert. Aber ich schätze, sie werden früher an schlimmere Orte kommen, als sie ahnen. Wenn die nicht zur Hölle fahren, weiß ich beim Teufel nicht, wo die hinfahren – «
Horne machte eine Geste des Protestes, vielleicht nicht so sehr wegen dem, was der Mann gerade sagte, als vielmehr wegen dem, was er gleich sagen würde, und Elias schnitt die Rede mit kalter Präzision ab.
»Wir haben es wirklich nicht nötig«, sagte er und blickte dabei Byrne stetig durch seine Brille an, »Drohungen mit der anderen Seite auszutauschen. Es ist völlig ausreichend, daß ihre Drohungen, was uns betrifft, recht unwirksam sind. Auch wir haben all unsere Vorbereitungen getroffen, von denen einige erst sichtbar werden, wenn sie in Aktionen sichtbar werden. Soweit es uns betrifft, entspräche ein sofortiger Bruch und ein äußerstes Kräftemessen durchaus unserem Plan.«
Während er auf seine wirklich ruhige und würdige Weise sprach, ließ etwas in seinem bewegungslosen gelben Gesicht mit den großen Brillengläsern dem Journalisten eine ferne Furcht über den Rücken kriechen. Halkets wüste Visage mochte, von der Seite betrachtet, allein durch ihren Umriß ein Knurren zeigen; doch von vorne gesehen enthielt der schwelende Zorn in seinen Augen auch Furcht, als ob das ethische und das wirtschaftliche Rätsel nachgerade zuviel für ihn wären; und Horne schien noch mehr in Drähten aus Sorge und Selbstkritik zu hängen. Um diesen dritten Mann aber, den mit den Brillengläsern, der so vernünftig und einfach sprach, um ihn war etwas Unheimliches; es war, als ob am Tisch ein toter Mann rede.
Als Byrne mit seiner Fehdebotschaft abging und durch die sehr enge Passage neben dem Gemüseladen schritt, fand er ihren Ausgang durch eine eigenartige, wenngleich eigenartig vertraute Gestalt blockiert: kurz und stämmig sah sie als dunkler Umriß mit rundem Kopf und breitkrämpigem Hut reichlich sonderbar aus.
»Father Brown!« rief der überraschte Journalist. »Ich glaube, Sie sind hier an der falschen Tür. Zu dieser kleinen Verschwörung passen Sie nicht.«
»Ich bin an einer sehr viel älteren Verschwörung beteiligt«, erwiderte Father Brown lächelnd, »dennoch aber einer weitverbreiteten Verschwörung.«
»Nun ja«, erwiderte Byrne, »aber von den Leuten hier ist Ihren Aufgaben keiner näher als 1000 Meilen.«
»Kann man nicht immer sagen«, erwiderte der Priester gleichmütig, »Tatsache aber ist, daß eine Person hier kaum mehr als 1 Zoll von ihnen entfernt ist.«
Er verschwand in dem dunklen Eingang, und der Journalist setzte seinen Weg reichlich verwirrt fort. Noch mehr verwirrte ihn ein kleiner Zwischenfall, der ihm zustieß, als er sich in das Hotel begab, um seinen kapitalistischen Klienten Bericht zu erstatten. Man erreichte die Laube voll Blüten und Vogelbauern, in die jene mürrischen alten Herren eingebettet waren, über eine Flucht von Marmorstufen, die vergoldete Nymphen und Tritonen flankierten. Diese Stufen herab rannte ein eifriger junger Mann mit schwarzen Haaren, einer Stubsnase und einer Blume im Knopfloch, der ihn ergriff und zur Seite zog, ehe er die Stufen hinaufsteigen konnte.
»Was ich sagen wollte«, wisperte der junge Mann, »ich bin Potter – der Sekretär vom alten Gid, wissen Sie: Unter uns, wird da jetzt ein Donnerkeil geschmiedet oder was?«
»Ich bin zu der Schlußfolgerung gelangt«, erwiderte Byrne vorsichtig, »daß der Zyklop etwas auf dem Amboß hat. Denken Sie aber immer daran, der Zyklop ist zwar ein Riese, hat aber nur ein Auge. Ich glaube, der Bolschewismus ist – «
Während er sprach, lauschte ihm der Sekretär mit einem Gesicht von fast mongolischer Unbewegtheit, trotz der Lebendigkeit seiner Beine und seiner Aufmachung. Als aber Byrne das Wort »Bolschewismus« verwendete, bewegten sich die scharfen Augen des jungen Mannes, und er sagte schnell: »Was hat denn das – o ja, die Art von Donnerkeil; tut mir leid, mein Fehler. Man sagt so leicht Amboß, wenn man eigentlich Eisschrank meint.«
Womit der außergewöhnliche junge Mann die Treppe hinunter verschwand, während Byrne sie hinaufstieg und immer neue Mystifikationen sein Gehirn umnebelten.
Er fand die Gruppe der drei auf vier erweitert vor durch die Anwesenheit einer Person mit scharfgeschnittenem Gesicht, sehr dünnem strohfarbenem Haar und Monokel, die eine Art Berater vom alten Gallup war, vielleicht sein Rechtsanwalt, obwohl sie so eindeutig nicht angeredet wurde. Sein Name war Nares, und die Fragen, die er an Byrne richtete, bezogen sich aus dem einen oder anderen Grund vorwiegend auf die Anzahl derer, die möglicherweise der revolutionären Organisation angehörten. Davon berichtete Byrne, der nur wenig wußte, noch weniger; und schließlich erhoben sich die vier Männer von ihren Sitzen, und das letzte Wort hatte der Mann, der am schweigsamsten gewesen war.
»Vielen Dank, Mr. Byrne«, sagte Stein und klappte seine Brille zusammen. »Bleibt nur noch festzustellen, daß alles vorbereitet ist; darin stimme ich vollkommen mit Mr. Elias überein. Morgen wird die Polizei noch vor Mittag Mr. Elias auf Grund von Beweisen, die ich ihr vorlegen werde, verhaftet haben, und wenigstens jene drei werden noch vor dem Abend im Gefängnis sitzen. Wie Sie wissen, habe ich mich bemüht, diesen Schritt zu vermeiden. Ich glaube, das ist alles, meine Herren.«
Doch Mr. Jacob P. Stein legte seine formellen Informationen am nächsten Tag nicht vor, und zwar aus einem Grund, der schon oft die Tätigkeiten so tatkräftiger Charaktere unterbrochen hat. Er tat es nicht, weil er zufällig tot war; und auch das übrige Programm wurde nicht ausgeführt aus Gründen, die Byrne in Riesenschlagzeilen fand, als er seine Morgenzeitung aufschlug: »Schrecklicher Dreifachmord: Drei Millionäre in einer Nacht erschlagen!« Weitere Ausrufsätze folgten in kleinerer Schrift, kaum viermal größer als die normale Schrift, die auf der Besonderheit des Geheimnisses bestanden: der Tatsache, daß die drei Männer nicht nur gleichzeitig ermordet worden waren, sondern auch an drei weit voneinander liegenden Orten – Stein auf seinem künstlerisch ausgestatteten Luxuslandsitz hundert Meilen landein, Wise vor dem kleinen Bungalow an der Küste, wo er von Seebrisen und dem einfachen Leben lebte, und der alte Gallup in einem Dickicht unmittelbar vor dem Parktor seines großen Hauses am anderen Ende der Grafschaft. In allen drei Fällen konnte es keinen Zweifel an den Szenen der Gewalttätigkeit geben, die dem Tode voraufgegangen waren, obwohl man die Leiche Gallups erst am zweiten Tage fand, dort, wo sie groß und gräßlich zwischen den zerborstenen Gabeln und Ästen des kleinen Waldes hing, in den sie mit ihrem ganzen Gewicht gekracht war wie ein Bison in die Lanzen, während Wise ganz offenkundig über die Klippen in die See geschleudert worden war, nicht ohne Kampf, denn die Spuren seiner schürfenden und ausrutschenden Fußabdrücke konnten bis an den Rand verfolgt werden. Doch war das erste Anzeichen der Tragödie der Anblick seines großen schlappen Strohhuts gewesen, der weit draußen auf den Wogen schwamm, deutlich sichtbar von den Klippen oben. Auch Steins Leichnam hatte sich zunächst der Suche entzogen, bis eine schwache Blutspur die Suchenden zu einem Badhaus nach altrömischem Muster führte, das er sich in seinem Garten errichtet hatte; denn er war ein Mann von experimenteller Denkart mit einem Hang zu Altertümern gewesen.
Was immer er sich auch denken mochte, Byrne mußte zugeben, daß es nach dem Stand der Dinge gegen niemanden irgendwelche gesetzlichen Beweise gab. Ein Motiv für den Mord reichte nicht aus. Selbst die moralische Eignung zum Mord reichte nicht aus. Und er konnte sich jenen blassen jungen Pazifisten Henry Horne nicht vorstellen, wie er einen anderen Mann mit brutaler Gewalt abschlachtete, obwohl ihm der lästerliche Jake und selbst der höhnische Jude fähig zu allem erschienen. Der Polizei und dem Mann, der ihr offenbar assistierte (und der kein anderer war als der geheimnisvolle Mann mit dem Monokel, der als Mr. Nares eingeführt worden war), war die Lage ebenso klar wie dem Journalisten. Sie wußten, daß die bolschewistischen Verschwörer im Augenblick nicht vor Gericht gestellt und verurteilt werden konnten und daß es eine höchst sensationelle Pleite wäre, wenn sie vor Gericht gestellt und freigesprochen würden. Nares begann mit kunstvoller Offenheit, indem er sie sozusagen zur Beratung hinzuzog, sie einlud zu einem privaten Konklave und sie aufforderte, im Interesse der Menschheit frei ihre Meinungen zu äußern. Er hatte seine Untersuchungen an dem der Tragödie am nächsten liegenden Platz begonnen, dem Bungalow an der See; und Byrne war es gestattet, der eigenartigen Szene beizuwohnen, die zugleich ein friedliches Gespräch unter Diplomaten war, und eine verschleierte Inquisition, ein Verhör von Verdächtigen. Sehr zu Byrnes Überraschung gehörten der ungleichen Gesellschaft, die da rund um den Tisch im Bungalow am Meer saß, auch die dickliche Gestalt und der eulenhafte Kopf Father Browns an, obwohl seine Verbindung zu der Angelegenheit erst eine ganze Weile später sichtbar wurde. Die Anwesenheit des jungen Potter, dem Sekretär des toten Mannes, erschien da viel natürlicher; jedoch war sein Benehmen nicht ganz so natürlich. Ihm allein war der Ort ihres Treffens wohlbekannt, und in einem grimmigen Sinne war er sogar ihr Gastgeber; und doch bot er nur geringe Hilfe oder Information. Sein rundes, stubsnäsiges Gesicht war eher trotzig als traurig.
Jake Halket redete wie üblich am meisten; und von einem Mann seines Naturells konnte man auch nicht erwarten, daß er die höfliche Fiktion aufrechterhielte, er und seine Freunde seien nicht angeklagt. Der junge Horne versuchte auf seine feinere Weise, ihn zurückzuhalten, als er begann, die Männer zu beschimpfen, die ermordet worden waren; aber Jake war jederzeit ebenso bereit, seine Freunde niederzubrüllen wie seine Feinde. Er erleichterte seine Seele in einer großen blasphemischen Rede von einem sehr unamtlichen Nachruf auf den verblichenen Gideon Wise. Elias saß ganz still und scheinbar unbeteiligt hinter der Brille, die seine Augen verbarg.
»Ich nehme an, es wäre nutzlos«, sagte Nares kalt, »Ihnen zu sagen, wie unschicklich Ihre Bemerkungen sind. Wahrscheinlich berührt es Sie eher, wenn ich Ihnen sage, daß sie unklug sind. Sie haben praktisch zugegeben, daß Sie den toten Mann haßten.«
»Und dafür wollen Sie mich einbuchten lassen, was?« höhnte der Demagoge. »Na schön. Aber Sie müssen ein Gefängnis für ‘ne Million Menschen bauen, wenn Sie alle armen Schweine einbuchten lassen wollen, die Grund hatten, Gid Wise zu hassen. Und Sie wissen so gut wie ich, daß das bei Gott die Wahrheit ist.«
Nares schwieg; und niemand sprach, bis Elias sich mit seiner klaren, wenn auch etwas schleppenden Sprechweise einschaltete.
»Mir scheint das auf beiden Seiten eine höchst unergiebige Unterredung zu sein«, sagte er. »Sie haben uns herbestellt entweder, um nach Informationen zu fragen, oder um uns einem Kreuzverhör zu unterziehen. Falls Sie uns vertrauen, sagen wir Ihnen, daß wir keinerlei Informationen besitzen. Wenn Sie uns mißtrauen, müssen Sie uns mitteilen, wessen wir angeklagt sind, oder Sie müssen die Höflichkeit haben, die Tatsache für sich zu behalten. Niemand ist imstande gewesen, auch nur den schwächsten Hauch eines Beweises dafür aufzuzeigen, daß irgendeiner von uns mit diesen Tragödien mehr zu tun hätte, als mit der Ermordung von Julius Caesar. Sie wagen nicht, uns zu verhaften, und Sie wollen uns nicht glauben. Wozu sollen wir also noch länger hierbleiben?«
Und er stand auf, knöpfte sich ruhig seine Jacke zu, und seine Freunde folgten seinem Beispiel. Als sie zur Tür gingen, wandte sich der junge Horne um und blickte die Untersucher einen Augenblick lang aus seinem fahlen fanatischen Gesicht an.
»Ich möchte sagen«, sagte er, »daß ich während des ganzen Krieges in einem schmutzigen Gefängnis gesessen habe, weil ich nicht bereit war, Menschen zu töten.«
Damit gingen sie hinaus, und die Mitglieder der zurückbleibenden Gruppe sahen einander grimmig an.
»Ich glaube kaum«, sagte Father Brown, »daß wir siegreich dastehen, trotz ihres Rückzugs.«
»Mir ist das gleichgültig«, sagte Nares, »außer mich von diesem lästerlichen Lumpen Halket anbrüllen zu lassen. Horne jedenfalls ist ein Gentleman. Was immer sie aber behaupten, ich bin absolut sicher, daß sie etwas wissen; sie stecken mit drin, oder doch die meisten von ihnen. Sie haben es ja fast zugegeben. Sie haben uns ja fast mehr deshalb verspottet, daß wir nicht imstande sind zu beweisen, daß wir recht haben, als weil wir unrecht hätten. Was meinen Sie, Father Brown?«
Die angesprochene Person blickte mit einem Blick, der geradezu beunruhigend mild und nachdenklich war, zu Nares hinüber.
»Es stimmt«, sagte er, »daß ich mir über eine ganz bestimmte Person die Meinung gebildet habe, sie wisse mehr, als sie uns erzählt hat. Aber ich glaube, es wäre ganz gut, wenn ich den Namen jetzt noch nicht nenne.«
Nares Monokel fiel ihm aus dem Auge, und er blickte scharf auf. »Bisher ist das alles inoffiziell«, sagte er. »Ich nehme aber an, Sie wissen, daß Sie zu einem späteren Zeitpunkt in eine schwierige Position geraten, wenn Sie Ihre Informationen zurückhalten.«
»Meine Position ist einfach«, erwiderte der Priester. »Ich bin hier, um mich um die legitimen Interessen meines Freundes Halket zu kümmern. Ich glaube, daß es unter diesen Umständen in seinem Interesse ist, wenn ich Ihnen sage, daß ich vermute, er werde in Kürze seine Beziehungen zu dieser Organisation lösen und aufhören, in diesem Sinne Sozialist zu sein. Ich habe sogar jeden Grund zu der Annahme, daß er wahrscheinlich zum Schluß Katholik werden wird.«
»Halket!« platzte der andere ungläubig heraus. »Wie denn, der verflucht die Priester doch vom Morgen bis zum Abend!«
»Ich glaube nicht, daß Sie diese Art Mensch wirklich verstehen«, sagte Father Brown milde. »Er verflucht die Priester, weil sie (seiner Meinung nach) ihre Pflicht versäumen, sich um der Gerechtigkeit willen der ganzen Welt entgegenzustellen. Warum aber sollte er von ihnen erwarten, daß sie sich der ganzen Welt um der Gerechtigkeit willen entgegenstellten, wenn er nicht bereits begonnen hätte anzunehmen, daß sie sind – was sie sind? Doch sind wir hier nicht zusammengekommen, um die Psychologie des Religionswechsels zu diskutieren. Ich habe das nur erwähnt, weil es Ihre Aufgabe erleichtern kann – vielleicht Ihre Suche eingrenzt.«
»Wenn das wahr ist, würde es sie tatsächlich eingrenzen auf diesen enggesichtigen Schurken Elias – und mich würde das nicht erstaunen, denn einen unheimlicheren, kaltblütigeren, spöttischeren Teufel habe ich nie gesehen.«
Father Brown seufzte. »Mich hat er immer an den armen Stein erinnert«, sagte er, »und tatsächlich nehme ich an, daß sie irgendwie verwandt sind.«
»Na hören Sie«, begann Nares, als sein Protest dadurch abgeschnitten wurde, daß die Tür aufflog und erneut die lange schlaksige Gestalt und das blasse Gesicht des jungen Horne freigab; diesmal aber schien es, als trüge es nicht nur seine natürliche Blässe, sondern hinzu noch eine neue und unnatürliche.
»Hallo«, rief Nares und setzte sich das Monokel ein, »warum sind denn Sie zurückgekommen?«
Horne durchquerte eher schwankend und schweigend den Raum und ließ sich schwer in einen Sessel fallen. Dann sagte er in einer Art von Betäubung: »Ich habe die anderen verpaßt… ich hab den Weg verloren. Ich dachte mir, ich käme besser zurück.«
Die Überreste der abendlichen Erfrischungen standen noch auf dem Tisch, und Henry Horne, der lebenslängliche Abstinenzler, goß sich ein Weinglas mit Brandy voll und trank es auf einen Zug leer.
»Sie scheinen aufgeregt zu sein«, sagte Father Brown.
Horne hatte die Hände an die Stirn gelegt und sprach wie aus ihrem Schatten heraus: Er schien mit leiser Stimme nur zu dem Priester zu sprechen.
»Ich kann es Ihnen ja genausogut sagen. Ich habe einen Geist gesehen.«
»Einen Geist!« wiederholte Nares erstaunt. »Wessen Geist?«
»Den Geist von Gideon Wise, dem Herrn dieses Hauses«, antwortete Horne fester, »wie er über dem Abgrund stand, in den er stürzte.«
»Ach Unfug!« sagte Nares. »Kein vernünftiger Mensch glaubt an Geister.«
»Das stimmt so nicht ganz«, sagte Father Brown und lächelte leicht. »Für viele Geister gibt es ebenso gute Beweise wie für die meisten Verbrechen.«
»Schön, es ist meine Aufgabe, hinter Verbrechern herzulaufen«, sagte Nares ziemlich grob, »und ich überlasse es anderen Leuten, vor Geistern wegzulaufen. Wenn irgend jemand zu dieser Tageszeit wünscht, sich vor Geistern zu fürchten, ist das seine Angelegenheit.«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich mich vor ihnen fürchte, obwohl ich zu behaupten wage, daß ich es vielleicht täte«, sagte Father Brown. »Niemand weiß es, ehe er es ausprobiert hat. Ich habe gesagt, ich glaubte an sie, jedenfalls genug, um mehr über diesen einen hören zu wollen. Was genau haben Sie denn nun gesehen, Mr. Horne?«
»Es war drüben am Rand dieser brüchigen Klippen; Sie wissen, da gibt es eine Art Spalt oder Lücke genau an der Stelle, wo er hinuntergeschleudert worden ist. Die anderen waren voraufgegangen, und ich kreuzte die Heide in Richtung auf den Pfad entlang den Klippen. Ich bin oft diesen Weg gegangen, weil ich den Anblick der hohen Wellen liebe, wie sie gegen die Felsen schlagen. Heute nacht machte ich mir wenig daraus, bis auf ein gewisses Erstaunen darüber, daß die See in einer so mondhellen Nacht so rauh ist. Ich konnte die fahlen Schaumkämme erscheinen und vergehen sehen, während die großen Wellen ans Land schlugen. Dreimal sah ich das Aufschimmern des Schaumes im Mondenlicht, und dann sah ich etwas Unergründliches. Das vierte Aufleuchten der Silbergischt schien im Himmel festzuhaften. Es stürzte nicht; – ich wartete mit wahnwitziger Intensität darauf, daß es stürze. Ich bildete mir ein, daß ich verrückt und daß die Zeit für mich geheimnisvoll angehalten oder verlängert worden sei. Dann kam ich näher, und dann habe ich, glaube ich, laut geschrieen. Denn jene frei schwebende Gischt, diese ungefallenen Schneeflocken, sie hatten sich zu einem Gesicht und einer Gestalt zusammengefügt, weiß wie der schimmernde Leprakranke in der Legende, und schrecklich wie der erstarrte Blitz.«
»Und das war Gideon Wise, sagen Sie?«
Horne nickte, ohne zu sprechen. Und dann wurde das Schweigen plötzlich von Nares gebrochen, der aufstand; so jäh, daß er einen Stuhl umwarf.
»Ach, das ist alles Unfug«, sagte er, »aber wir gehen besser raus und sehen uns das an.«
»Ich werde nicht gehen«, sagte Horne mit plötzlicher Wildheit. »Ich werde diesen Pfad niemals mehr betreten.«
»Ich glaube, daß wir diesen Pfad heute nacht alle betreten müssen«, sagte der Priester gewichtig; »obwohl ich niemals leugnen werde, daß es ein gefährlicher Pfad ist… für mehr als nur einen Menschen.«
»Ich werde nicht… Gott, wie ihr mich alle hetzt«, rief Horne, und seine Augen begannen, in ganz eigenartiger Weise zu rollen. Er war mit den übrigen aufgestanden, machte aber keine Bewegung zur Tür hin.
»Mr. Horne«, sagte Nares entschieden, »ich bin Polizeibeamter, und dieses Haus ist, auch wenn Sie das nicht wissen, von der Polizei umstellt. Ich habe versucht, die Untersuchungen in freundlicher Art durchzuführen, aber ich muß alles untersuchen, selbst etwas so Törichtes wie einen Geist. Ich muß Sie also ersuchen, mich zu der Stelle zu führen, von der Sie gesprochen haben.«
Erneut herrschte Schweigen, während Horne wie in unbeschreiblichen Ängsten stöhnte und keuchte. Dann ließ er sich plötzlich wieder in seinem Sessel nieder und sagte mit ganz neuer und viel gefaßterer Stimme:
»Ich kann das nicht tun. Sie können auch erfahren, warum nicht. Sie werden es früher oder später doch herausfinden. Ich habe ihn getötet.«
Für einen Augenblick herrschte die Stille eines Hauses, das nach einem Blitzschlag voller Leichen ist. Dann ertönte in dieser ungeheuren Stille die Stimme von Father Brown seltsam klein wie das Quieken einer Maus.
»Haben Sie ihn absichtlich getötet?« fragte er.
»Wie soll man eine solche Frage beantworten?«, antwortete der Mann im Stuhl und nagte trübsinnig an seinen Fingern. »Ich war verrückt, nehme ich an. Ich weiß, daß er unausstehlich und unverschämt war. Ich befand mich auf seinem Land, und ich glaube, er hat mich geschlagen; jedenfalls kam es zu einem Handgemenge, und er stürzte über die Klippe. Als ich schon ein gutes Stück vom Tatort entfernt war, wurde mir plötzlich klar, daß ich ein Verbrechen begangen hatte, das mich aus der Menschheit ausschloß; das Zeichen Kains pulsierte auf meiner Stirn und in meinem Hirn; ich machte mir zum ersten Mal klar, daß ich tatsächlich einen Menschen getötet hatte. Ich wußte, ich würde das früher oder später gestehen müssen.« Plötzlich setzte er sich aufrecht hin. »Aber ich werde nichts gegen andere aussagen. Es hat keinen Zweck, mich über Komplotte oder Komplizen auszufragen – ich werde nichts sagen.«
»Angesichts der anderen Morde«, sagte Nares, »ist es schwer zu glauben, daß die Auseinandersetzung tatsächlich so unvorbedacht entstanden ist. Sicherlich hat jemand Sie hergeschickt?«
»Ich werde nichts gegen jemanden aussagen, mit dem ich zusammengearbeitet habe«, sagte Horne stolz. »Ich bin ein Mörder, aber ich werde kein Verräter sein.«
Nares stellte sich zwischen den Mann und die Tür und rief mit amtlicher Stimme jemandem draußen etwas zu.
»Wir alle werden dennoch jetzt zum Tatort gehen«, sagte er leise zum Sekretär, »dieser Mann aber muß in Haft genommen werden.«
Die ganze Gesellschaft hatte das Gefühl, daß eine Gespensterjagd auf einer Klippe am Meer nach dem Geständnis des Mörders eine reichlich törichte Antiklimax sei. Nares aber, obwohl der skeptischste und spöttischste von allen, hielt es für seine Pflicht, keinen Stein ungewendet zu lassen; man könnte sagen, keinen Grabstein ungewendet. Denn schließlich war jene brüchige Klippe der einzige Grabstein über dem nassen Grab des armen Gideon Wise. Nares, der als letzter aus dem Haus kam, schloß die Tür und folgte den übrigen über die Heide zur Klippe, als er überrascht sah, wie der junge Potter, der Sekretär, schnell auf sie zu zurückkam mit einem Gesicht im Mondlicht so weiß wie ein Mond.
»Bei Gott, Sir«, sagte er, als er zum ersten Mal in jener Nacht sprach, »da ist wirklich irgendwas. Es – es sieht genau wie er aus.«
»Sie sind ja verrückt«, keuchte der Detektiv. »Hier ist wohl jeder verrückt.«
»Glauben Sie denn, ich kennte ihn nicht, wenn ich ihn sehe?« schrie der Sekretär mit außerordentlicher Bitterkeit. »Ich habe dazu Gründe.«
»Vielleicht«, sagte der Detektiv scharf, »gehören Sie zu jenen, die Grund hatten, ihn zu hassen, wie Halket sagte.«
»Vielleicht«, sagte der Sekretär; »jedenfalls kenne ich ihn, und ich sage Ihnen, ich kann ihn da stehen sehen, starr und starräugig unter diesem höllischen Mond.«
Und er wies auf die Spalte in den Klippen, in der sie bereits etwas erblicken konnten, das ein Mondstrahl sein konnte oder ein Gischtfetzen, das aber bereits begann, kompakter auszusehen. Sie waren 100 Meter näher herangekrochen, und immer noch war es bewegungslos; aber es sah aus wie eine Statue aus Silber.
Nares selbst sah ein bißchen blaß aus, und er schien dazustehen und mit sich zu diskutieren, was jetzt zu tun sei. Potter fürchtete sich offenkundig ebensosehr wie Horne; und selbst Byrne, der ein hartgesottener Reporter war, empfand Widerwillen dagegen, näher heran zu gehen als unbedingt nötig. Daher kam es ihm einigermaßen merkwürdig vor, daß der einzige Mann, der sich vor dem Geist nicht zu fürchten schien, der Mann war, der öffentlich erklärt hatte, daß er sich vielleicht fürchten werde. Denn Father Brown ging mit seinem schwerfälligen Schritt ebenso stetig vorwärts, als ob er eine Anschlagtafel konsultieren wolle.
»Das scheint Sie ja nicht sehr zu beunruhigen«, sagte Byrne zu dem Priester, »und dabei waren Sie doch der einzige, der an Gespenster glaubt.«
»Wenn es darum geht«, sagte Father Brown, »so dachte ich, daß Sie derjenige wären, der nicht an sie glaubte. Aber es ist eine Sache, an Geister zu glauben, und eine andere, an einen Geist zu glauben.«
Byrne sah einigermaßen beschämt aus und warf einen verstohlenen Blick hinaus auf die im kalten Mondlicht daliegende bröckelige Landspitze, die Stätte jener Vision oder Wahngestalt.
»Ich hab’ es nicht geglaubt, bis ich es gesehen habe«, sagte er.
»Und ich hab’ es geglaubt, bis ich es gesehen habe«, sagte Father Brown.
Der Journalist starrte ihm nach, wie er über die große kahle Fläche stapfte, die zum gespalteten Vorgebirge hinanstieg wie die Steilseite eines in zwei gespaltenen Hügels. Unter dem ausbleichenden Mond sah das Gras wie langes graues Haar aus, das der Wind in eine Richtung gekämmt hatte und das zu jener Stelle zu weisen schien, wo die abbröckelnde Klippe in der graugrünen Grasnarbe fahle Kalkstellen zeigte und wo jene fahle Gestalt, jener schimmernde Schatten stand, den bisher niemand begreifen konnte. Noch beherrschte jene fahle Gestalt eine verlassene Landschaft, die leer war bis auf den schwarzen vierschrötigen Rücken und die geschäftsmäßige Gestalt des Priesters, der allein auf sie zuging. Dann riß sich der Häftling Horne plötzlich mit einem durchdringenden Schrei von seinen Bewachern los und rannte an dem Priester vorbei und sank vor der Erscheinung auf die Knie.
»Ich habe gestanden«, hörten sie ihn schreien. »Warum sind Sie gekommen, um ihnen zu sagen, daß ich Sie getötet habe?«
»Ich bin gekommen, um ihnen zu sagen, daß Sie es nicht getan haben«, sagte der Geist und streckte ihm seine Hand hin. Da sprang der kniende Mann mit einer ganz neuen Art Schrei auf; und da wußten sie, daß es eine Hand aus Fleisch war.
In jüngster Zeit sei niemand auf so bemerkenswerte Weise dem Tode entronnen, sagte der erfahrene Detektiv ebenso wie der nicht minder erfahrene Journalist. Und dabei war letzten Endes alles sehr einfach. Flocken und Bruchstücke brachen ständig von der Klippe ab, und manche davon hatten sich in dem riesigen Spalt verfangen und eine Art Sims oder Tasche dort gebildet, wo man einen glatten Absturz durch die Dunkelheit in die See vermutete. Der alte Mann, der ein sehr zäher und drahtiger alter Mann war, war auf diese tiefere Felsschulter gestürzt und hatte schreckliche 24 Stunden mit Versuchen verbracht, über Felsplatten zurückzuklettern, die beständig unter ihm zusammenbrachen, schließlich aber aus ihren eigenen Trümmern eine Art Fluchttreppe bildeten. Das mochte die Erklärung für Hornes optische Täuschung sein, eine weiße Woge sei erschienen und verschwunden, und schließlich zum Stehen gekommen. Auf jeden Fall aber war da jetzt Gideon Wise, solide aus Knochen und Flechsen, mit weißem Haar und weiß bestaubter ländlicher Kleidung und harten ländlichen Zügen, die jedoch sehr viel weniger hart waren als üblich. Vielleicht ist es förderlich für Millionäre, 24 Stunden auf einer Felsschulter einen Fußbreit von der Ewigkeit entfernt zuzubringen. Jedenfalls verzichtete er nicht nur auf jeden Groll gegenüber dem Verbrecher, sondern gab auch einen Bericht über die Angelegenheit, die das Verbrechen erheblich modifizierte. Er erklärte, daß Horne ihn überhaupt nicht hinabgestürzt hätte; daß vielmehr der ständig abbröckelnde Boden unter ihm nachgegeben habe und daß Horne sogar einige Anstalten gemacht habe, als ob er ihn retten wolle.
»Auf jenem schicksalhaften Felsstück da unten«, sagte er feierlich, »habe ich Gott versprochen, meinen Feinden zu vergeben; und Gott würde es verdammt schäbig finden, wenn ich da nicht einen kleinen Unfall wie diesen vergäbe.«
Horne mußte natürlich unter polizeilicher Bewachung abgeführt werden, aber der Detektiv verhehlte sich nicht, daß die Haft des Häftlings vermutlich nur kurz sein und seine Bestrafung, wenn überhaupt, nur sehr gering ausfallen werde. Nicht jeder Mörder kann schließlich den Ermordeten in den Zeugenstand stellen, daß er für ihn aussage.
»Das ist ein merkwürdiger Fall«, sagte Byrne, als der Detektiv und die anderen über den Klippenpfad zur Stadt hin davonhasteten.
»Ist es«, sagte Father Brown. »Es geht uns zwar nichts an; aber es würde mich freuen, wenn Sie noch bei mir blieben und wir es durchsprächen.«
Nach einem Schweigen stimmte Byrne plötzlich zu, indem er sagte: »Ich nehme an, Sie dachten bereits an Horne, als Sie sagten, jemand sage nicht alles, was er wisse.«
»Als ich das sagte«, erwiderte sein Freund, »dachte ich an den außergewöhnlich schweigsamen Mr. Potter, den Sekretär des nun nicht länger verblichenen oder (sagen wir mal) beklagten Mr. Gideon Wise.«
»Nun ja, das einzige Mal, als Potter überhaupt etwas zu mir sagte, dachte ich, er wäre verrückt«, sagte Byrne und starrte vor sich hin, »aber ich habe mir nie vorgestellt, daß er ein Verbrecher sei. Er sagte irgendwas, das habe alles mit einem Eisschrank zu tun.«
»Ja, ich habe mir gedacht, daß er einiges darüber gewußt hat«, sagte Father Brown nachdenklich. »Ich habe niemals gesagt, daß er irgendwas damit zu tun hatte… Ich nehme an, der alte Wise ist wirklich stark genug, um allein aus dem Abgrund raufzuklettern.«
»Wie meinen Sie das?« fragte der erstaunte Reporter. »Natürlich ist er aus jenem Abgrund herausgekommen; denn er ist ja da.«
Der Priester beantwortete die Frage nicht, sondern fragte abrupt: »Was denken Sie über Horne?«
»Na ja, man kann ihn nicht gerade einen Verbrecher nennen«, antwortete Byrne. »Er hat nie irgendeinem Verbrecher geähnelt, den ich je gekannt habe, und ich habe da einige Erfahrung; und Nares hat natürlich noch viel mehr. Meiner Meinung nach haben wir nie wirklich geglaubt, daß er ein Verbrecher sei.«
»Und ich habe ihm in einer anderen Hinsicht nicht geglaubt«, sagte der Priester gelassen. »Sie mögen mehr über Verbrecher wissen. Aber es gibt eine Gruppe Menschen, über die ich vermutlich mehr weiß als Sie, oder auch Nares. Davon habe ich viele gekannt, und ich kenne ihre kleinen Tricks.«
»Eine andere Gruppe Menschen«, wiederholte Byrne verdutzt. »Über welche Gruppe wissen Sie was?«
»Reuige Sünder«, sagte Father Brown.
»Das verstehe ich nicht«, widersprach Byrne. »Sie meinen, Sie glauben ihm sein Verbrechen nicht?«
»Ich glaube ihm seine Beichte nicht«, sagte Father Brown. »Ich habe viele Beichten gehört, aber niemals eine ehrliche von dieser Art. Sie war romantisch; sie war literarisch. Sehen Sie mal, wie er darüber sprach, das Kainszeichen zu tragen. Das war literarisch. Niemand würde so empfinden, der gerade mit eigener Person getan hat, was ihm bisher entsetzlich war. Stellen Sie sich vor, Sie wären ein ehrlicher Angestellter oder Ladenjunge und stellten schockiert fest, daß Sie soeben zum ersten Mal Geld gestohlen haben. Würden Sie dann sofort darüber nachdenken, daß Sie die Tat des Barrabas getan haben? Stellen Sie sich vor, Sie brächten in einem furchtbaren Wutanfall ein Kind um. Würden Sie danach durch die Geschichte zurückgehen, bis Sie Ihre Tat mit der eines idumäischen Herrschers namens Herodes identifizieren könnten? Glauben Sie mir, unsere eigenen Verbrechen sind viel zu häßlich, privat und prosaisch, als daß wir unsere ersten Gedanken auf historische Parallelen richteten, wie zutreffend auch immer. Und warum ist er so weit gegangen zu sagen, er werde seine Mittäter nicht preisgeben? Indem er das sagte, gab er sie doch preis. Bis dahin hatte niemand von ihm verlangt, irgend etwas oder irgend jemanden preiszugeben. Nein, ich glaube nicht, daß er ehrlich war, und ich würde ihm nicht die Absolution erteilen. Ein schöner Zustand, wenn die Leute die Absolution für Dinge bekämen, die sie nicht begangen haben.« Und Father Brown blickte mit abgewandtem Kopf stetig aufs Meer hinaus.
»Aber ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen«, rief Byrne. »Warum ihn mit Verdächtigungen überhäufen, wenn er schon freigesprochen ist? Er ist da raus. Er ist auf jeden Fall in Sicherheit.«
Father Brown wirbelte herum wie ein Kreisel und ergriff seinen Freund mit unerwarteter und unerklärlicher Erregung beim Mantel.
»Das ist es«, rief er nachdrücklich. »Halten Sie das fest! Er ist in Sicherheit. Er ist da raus. Deshalb ist er der Schlüssel zu dem ganzen Rätsel.«
»O Hilfe«, sagte Byrne schwach.
»Ich meine«, beharrte der kleine Priester, »daß er drin ist, weil er raus ist. Das ist die ganze Erklärung.«
»Und auch noch eine sehr einleuchtende«, sagte der Journalist mit Gefühl.
Sie standen da und schauten eine Weile schweigend auf die See hinaus, und dann sagte Father Brown fröhlich:
»Und damit kommen wir zurück zum Eisschrank. Wo ihr euch in diesem Fall von Anfang an geirrt habt, ist, wo so viele Zeitungen und Politiker sich irren. Weil ihr annehmt, daß es in der modernen Welt nichts anderes als den Bolschewismus zu bekämpfen gäbe. Diese Geschichte hat nichts mit Bolschewismus zu tun; oder nur als Irreführung.«
»Ich verstehe nicht, wie das gehen sollte«, protestierte Byrne. »Hier haben Sie drei Millionäre, die in diesem einen Fall ermordet wurden – «
»Nein!« sagte der Priester mit scharfer klingender Stimme. »Haben Sie nicht. Das ist es ja gerade. Sie haben nicht drei ermordete Millionäre. Sie haben zwei ermordete Millionäre; und Sie haben den dritten Millionär putzmunter um sich schlagend und bereit, weiter um sich zu schlagen. Und Sie haben diesen dritten Millionär, für immer befreit von der Drohung, die ihm vor Ihren eigenen Augen an den Kopf geworfen wurde, in spielerisch höflichen Formulierungen während jenes Gesprächs, das nach Ihrem Bericht im Hotel stattgefunden hat. Gallup und Stein drohten dem altmodischeren und unabhängigen alten Schurken, sie würden ihn auf Eis legen, wenn er sich ihrem Verbund nicht anschlösse. Daher natürlich der Eisschrank.«
Nach einer Pause fuhr er fort. »Natürlich gibt es eine bolschewistische Bewegung in der modernen Welt, und ihr muß zweifellos widerstanden werden, obwohl ich nicht so recht an Ihren Weg des Widerstandes glaube. Was aber niemand zu bemerken scheint, ist, daß es noch eine andere Bewegung gibt, die ebenso modern und ebenso bewegend ist: die große Bewegung hin zu Monopolen oder die Umwandlung aller Betriebe in Konzerne. Auch das ist eine Revolution. Auch das bringt hervor, was alle Revolutionen hervorbringen. Menschen töten dafür und dagegen, wie sie es für und gegen den Bolschewismus tun. Sie hat ihre Ultimaten und ihre Invasionen und ihre Exekutionen. Diese Konzernmagnaten halten hof wie die Könige; sie haben ihre Leibwächter und ihre Meuchelmörder; sie haben ihre Spione im Lager des Gegners. Horne war einer der Spione des alten Gideon in einem der Lager des Gegners. Hier aber wurde er gegen einen anderen Gegner eingesetzt: die Rivalen, die ihn ruinierten, weil er nicht mitmachte.«
»Ich verstehe immer noch nicht, wie er eingesetzt wurde«, sagte Byrne, »oder wozu.«
»Aber begreifen Sie denn nicht«, rief Father Brown scharf, »daß sie sich gegenseitig ein Alibi verschafften?«
Byrne sah ihn immer noch etwas zweifelnd an, obwohl Verständnis auf seinem Gesicht aufdämmerte.
»Das meinte ich«, fuhr der andere fort, »als ich sagte, sie seien drin, weil sie raus seien. Die meisten Leute würden sagen, daß sie aus den beiden anderen Verbrechen raus sind, weil sie in diesem drin waren. Tatsächlich aber sind sie in den beiden anderen drin, weil sie aus diesem einen raus sind; weil dieses eine niemals stattgefunden hat. Eine sehr eigentümliche und unwahrscheinliche Art Alibi, natürlich; unwahrscheinlich und deshalb undurchdringlich. Die meisten Leute würden sagen, daß ein Mann, der einen Mord gesteht, aufrichtig sein muß; daß ein Mann, der seinem Mörder vergibt, aufrichtig sein muß. Niemand würde annehmen, daß das Ding gar nicht stattgefunden hat, so daß der eine Mann nichts zu vergeben und der andere nichts zu fürchten hat. Sie waren für jene Nacht durch eine Geschichte, die gegen sie zeugt, an dieser Stelle fixiert. Aber sie waren in jener Nacht nicht hier; denn Horne ermordete da den alten Gallup im Walde, während Wise den kleinen Juden in seinem römischen Badhaus erwürgte. Deshalb habe ich gefragt, ob Wise wirklich stark genug für ein solches Kletterabenteuer ist.«
»Das war wirklich ein gutes Abenteuer«, sagte Byrne bedauernd. »Es paßte in die Landschaft und war wirklich sehr überzeugend.«
»Zu überzeugend, um zu überzeugen«, sagte Father Brown und schüttelte den Kopf. »Wie lebendig wurde jener mondbeschienene Schaum hochgeschleudert und in einen Geist verwandelt. Und wie literarisch! Horne ist ein Kriecher und ein Stinktier, aber vergessen Sie niemals, daß er wie viele andere Kriecher und Stinktiere in der Geschichte auch ein Dichter ist.«
DIE AUFERSTEHUNG VON FATHER BROWN
The Resurrection of Father Brown
S. 675: »Die Auferstehung…« – es empfiehlt sich, bei dieser Geschichte sowohl die Geschichte von der Marterung Jesu, seinem Tod am Kreuz, seiner Auferstehung und die symbolische Darstellung dieser Vorgänge in der katholischen Messe im Sinne zu behalten wie auch die entsprechende biblische Sprache, da Chesterton mit diesen Elementen und ihren Formeln hier teils paraphrasierend, teils ironisierend umgeht.
»Thema von Kurzgeschichten« – die nur Chesterton schrieb.
»Präsident Monroe« – James M. (1758–1831), Politiker aus Virginia, der 1811 Staatssekretär des Präsidenten Madison wurde und von 1817 bis 1825 selbst als 5. Präsident der USA amtierte; er ließ am 2.12.1823 seinen Staatssekretär John Quincy Adams die Erklärung verkünden, daß den europäischen Mächten hinfort die Einmischung in amerikanische Angelegenheiten (nämlich die des gesamten Doppelkontinentes) verwehrt sei, wofür umgekehrt die USA sich nicht in europäische Angelegenheiten einmischen wollten; daraus wurde unter Präsident Theodor Roosevelt 1904 eine Art Aufsichtsrecht der USA über die anderen amerikanischen Staaten; in diesem Sinne ist die Monroe-Doktrin bis heute mehr oder minder gültiger Grundsatz der US-Außenpolitik.
S. 676: »Meredith« – George M. (1828–1909), englischer ironisch-satirischer Schriftsteller, der vor allem Menschen schilderte, die mit dem Gegensatz zwischen Natur und Vernunft in sich fertig wurden (seine Frauengestalten) oder nicht (seine Männergestalten).
»Snaith« – klingt in der Aussprache fast wie »snails«, eine seit ca. 1825 gängige Fluchformel aus »God’s nails«, nämlich den Nägeln, mit denen Jesus ans Kreuz geschlagen wurde. In dieser Erzählung wird besonders deutlich, wie Chesterton seine Namen zusätzlich als direkte oder indirekte Elemente einsetzt: Zu dem Spiel mit dem Vornamen Saul/Paul steht Snaith als Gegenbild John Adams Race gegenüber, Hans Adams Rasse; die fragwürdigen Herren Alvarez und Mendoza tragen die Namen ebenso fragwürdiger spanischer Eroberer Lateinamerikas; Calderon de la Barca schließlich (1600–1681), einer der bedeutendsten spanischen Dichter, liebte es, in seinen Theaterstücken mit dem Wunderbaren zu spielen und Wirklichkeitsnähe mit der gleichnishaften Auffassung alles Irdischen abzuwechseln.
S. 677: »Ingersoll… Voltaire« – Robert Green Ingersoll (1833–1899), US-Jurist, Dozent und Schriftsteller, ein bedeutender Agnostiker; als dessen wichtigste Werke in diesem Zusammenhang gelten »Some Mistakes of Moses«, 1879, und »Foundations of Faith«, o. J.; Voltaire: Pseudonym von Francois-Marie Arouet l. j. (= le jeune bzw. junior), der sein Pseudonym durch Anagramm aus seinem Namen bildete; französischer Schriftsteller, Dichter und Philosoph (1694–1778); gilt als einer der bedeutendsten Geister Frankreichs und vor allem der französischen Aufklärung, der nicht zu Unrecht schärfste antiklerikale Positionen einnahm.
S. 679: »ikonoklastische Partei« – Ikonoklasten = Bilderstürmer nennt man nach ihrer aller Vorbild im Byzanz des 8. Jh. alle Fanatiker, die ihrem Haß gegen einen anderen als ihren Glauben dadurch Ausdruck verleihen, daß sie seine Bilder und Bildwerke zerstören.
»Initiation« – eigentlich Vorgang der rituellen Einweihung in Glaubensmysterien zum Zeitpunkt des Erwachsenwerdens; das zugehörige Verb »initiieren« wird heute jedoch leider fast ausschließlich in einem falschen säkularisierten Sinn als Synonym für »anregen« o. ä. mißbraucht.
S. 682: »über eine Klippe verschwinden…« – als der Erfinder von Sherlock Holmes, Dr. Conan Doyle, diese Kunstfigur nicht mehr leiden konnte, weil er sich selbst für den Verfasser seriöser Bücher ansah, ließ er ihn in einem gigantischen Ring- und Endkampf mit dessen Erzfeind, dem Professor Moriarty, in der Schweiz in den Wasserfällen von Reichenbach verschwinden; der Protest des Publikums zwang ihn aber, ihn später wieder auferstehen zu lassen und die merkwürdige Art seiner Rettung ausführlich zu erzählen.
S. 683: »Dagos« – angelsächsisches Schimpfwort für Angehörige aller romanischen Völker, außer den Franzosen, die man Froschfresser schimpft – (entstanden aus Sankt Jakob zu spanisch Santiago zum Vornamen Diego = spanisch Jakob, verangelsächsischt zum Schimpfwort Dagoj etwa wie »Fritz« als Schimpfwort für die Deutschen).
S. 693: »Voodoo« – vom dahomeischen Wort »vodu«; eine Mischung aus afrikanisch-animistischen und christlichen Glaubens- und Ritualvorstellungen mit Zauberei, Schlangenkult, Opferungen usw. die vor allem auf den westindischen Inseln mit Zentrum Jamaika und in den Südstaaten der USA unter Negern und Negerblütigen gepflegt wird; zugehörig der Glaube an Zombies = Lebendtote ohne eigenen Willen.
S. 694: »… den Himmel herausfordere…« – man denke an Don Juans Einladung an seinen Steinernen Gast.
S. 696: »Seine Eminenz verweigert Anerkennung« – an Wunder dürfen Katholiken nach der Lehre der Kirche nur dann glauben, wenn das sogenannte Wunder vom zuständigen Bischof förmlich als Wunder anerkannt worden ist.
S. 698: »Wo gehen Sie hin?« – in diesem Zusammenhang Anspielung auf eine Stelle in der Petrus-Legende: als Petrus aus Rom vor den drohenden Marterungen floh, begegnete er Jesus, den er verwundert fragte: »Quo vadis, Domine?« = Wo gehst du hin, Herr. Antwort: nach Rom zu deiner Gemeinde, die du verlassen hast.
S. 699: »Titus Oates« – lebte 1649 bis 1705 und wird in Lexika bis heute als »englischer Verschwörer« bezeichnet: Er war Priester der Church of England, wurde aber wegen unsauberen Lebenswandels aus ihr ausgeschlossen und entschied sich, das »Popish Plot« (Päpstische Verschwörung) zu inszenieren, 1677 trat er angeblich zum Katholizismus über, verbrachte einige Zeit bei den Jesuiten und enthüllte alsdann den Behörden den angeblichen Versuch der Jesuiten, mit Billigung des Papstes Innozenz XI. London niederzubrennen, die Protestanten zu massakrieren und König Karl II. zu ermorden. Als Konsequenz dieser »Enthüllung« wurden mindestens 35 Katholiken ermordet. 1685 wurde er zu Pranger, Auspeitschung und lebenslanger Haft verurteilt; 1689 wurde er von König Wilhelm III. (aus dem Hause Oranien) begnadigt und mit einer Pension bedacht.
DER PFEIL AUS DEM HIMMEL
The Arrow of Heaven
S. 702: »embarras de richesse« – französisch, etwa »belästigender Überfluß«, z. B. an Beweisen oder Begründungen.
S. 704: »Dandy« – nicht übersetzbares Wort, da seine Bedeutung drei Elemente in sich zusammenfügt, die im Deutschen nur einzeln zu nennen sind: geschmackvollst in allen Äußerlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens, vor allem durch die Kleidung ausgedrückt; als Voraussetzung dazu Müßiggänger; und das beides bis an den Rand des Stutzers (= haarscharf jenseits der Grenze, wo der gute Geschmack aufhört, den die gesellschaftliche Konvention bestimmt, die ihrerseits aus dem absoluten Selbstverständnis einer sich selbst nie in Frage stellenden führenden Gesellschaftsschicht stammt).
S. 705: »4. Juli« – der Nationalfeiertag der USA, an dem sich alle mit allen in freundschaftlichsten Formen für diesen Tag für verbrüdert halten.
S. 706: »Daniel Doom« – »doom« ist im Englischen sowohl das Schicksal, das Geschick; wie auch – meist wie hier groß geschrieben – das Jüngste Gericht.
S. 709: »Karibische Inseln« – im Original »Cannibal Islands«. Das Wort »Kannibale/Cannibals« o. a. ist vom spanischen »cannibales« abgeleitet, das wiederum aus »caribales« entstand und ursprünglich die Kariben bezeichnete, die von Spanien ausgemordeten Ureinwohner der Karibischen Inseln; die Selbstbezeichnung »caribe« bedeutete »die Tapferen, die Mutigen« und bezog sich ursprünglich nur auf die Kriegerkaste. Da die Kariben rituellen Verzehr von Menschenfleisch kannten und betrieben, wurde ihr Name zum Synonym für Menschenfresser.
S. 710: »Schwarze Hand« – generelle Bezeichnung für kriminelle Vereinigungen wie weiland in Berlin z. B. »Ringverein« oder im alten Italien »Mafia«.
»Old Hickory« – hier sind zwei Begriffe zu betrachten: a) »old« – im Englischen, vor allem im USAnischen nicht unbedingt identisch, mit »alt«, sondern durchaus auch Ehrentitel im Sinne etwa von »in seiner Profession ungemein erfahren«; weshalb »old«, zusätzlich zum Aspekt der Bewunderung mit dem der Zuneigung oder zumindest wohlwollenden Betrachtung verbunden, selbst Jünglinge ehren kann; daher in diesen adjektivischen Zufügungen unübersetzbar und durch »der alte…« nur andeutend wiederzugeben, b) »Hickory« – bedeutet zunächst eine Walnußbaumart, die nur in Nordamerika vorkommt und zur Familie der weißen Walnußbäume gehört; aufgrund ihrer besonderen Holzstruktur beliebtes Material für Schnitzarbeiten, die wegen der Zähigkeit des Holzes sehr scharf konturierte Ausarbeitungen ermöglicht; schließlich wegen des nachdunkelnden Farbtons gerne für »verwitterte« Männergesichter aus der Geschichte der Indianerabschlachterei gebraucht; der »berühmtere Old Hickory« meint den 7. Präsidenten der USA, Andrew Jackson, der »Old Hickory« genannt wurde, nicht zuletzt wegen seiner bösartigen Behandlung der Indianer (da zu dieser Zeit den Denkenden in den USA bereits die Haltlosigkeit aller Entschuldigungsargumente für die Behandlung der Indianer durch die angelsächsischen Protestanten durch Ausrottung im physischen wie im kulturellen und wirtschaftlichen Sinne durchaus klar war und ihnen nur die Wahl zwischen Bewunderung des Indianerschlächters und Indianerkulturzerstörers Jackson einerseits und Eingeständnis begangener Fehler andererseits blieb, wozu aber Protestanten bekanntlich noch weniger fähig sind als Katholiken, weshalb dem relativ kleinen Fehler des unwissenden und daher unschuldigen Anfangs als Abhilfe der Vernichtungsreflex aus moralischer Feigheit folgt: das nicht mehr Existente hat es nie gegeben. Leider sind die Spuren des Ermordeten nie vollständig zu tilgen).
S. 712: »Indianerkämpfer« – im Original »frontier man«: als Grenze (= frontier) sahen die Weißen die Linie zwischen den schon ausgemordeten Indianergebieten und jenen an, in denen es noch Indianer gab; das Verfahren endete logischerweise mit der Zeit an der Pazifikküste; aus dieser Ausmordungskampagne zogen die USAner ihr Eigenbewußtsein gegenüber ihren europäischen Herkunftsländern (die sie aus eben den Verhaltensweisen ihnen gegenüber haßten, die sie jetzt den Indianern gegenüber selbst anwendeten); und als es keine Indianer mehr zu ermorden gab, verließ die USA das Selbstbewußtsein, bis Kennedy den Mond als neue »frontier« proklamierte.
S. 714: »in träumerisches Nachdenken versunken« – ist die sinngerechte Umsetzung des seltenen idiomatischen Begriffs »in a brown study«: diesen raren Ausdruck wählte Chesterton zweifellos als wortspielerische Ergänzung zum Namen Father Brown; das Wortspiel ist unübersetzbar.
S. 721: »letzter Zusatz zur amerikanischen Verfassung« – das 1919 verabschiedete 18. Amendment verbot Herstellung, Verkauf und Transport berauschender Getränke und bildete damit die Grundlage der Prohibition, die nicht nur ihr Ziel nicht erreichte, sondern darüber hinaus das organisierte Verbrechen gebar.
S. 722: »Von seinem Schöpfer begabt…« – Father Brown parodiert hier eine Passage des 2. Satzes aus der Unabhängigkeitserklärung der 13 nordamerikanischen Kolonien vom 4. Juli 1776: »…endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among diese are Life, Liberty and the pursuit of Happiness« (… von ihrem Schöpfer begabt mit bestimmten unveräußerlichen Rechten, darunter Leben, Freiheit und Streben nach Glück).
S. 724: »das alte Buch« – gemeint ist die Bibel in der althergebrachten Form, im Englischen die James-Bibel, im Deutschen die Luther-Bibel, und nicht die neue glatte ökumenische Variante.
»Jesabel« – die nicht eben feinen Geschichten über diese alttestamentarische Dame finden sich detailliert im Buch der Könige I, 16ff. Und was Agag, den König der Amalekiter und sein merkwürdiges Schicksal angeht, lese man im AT, Buch Numeri 24, 7 und Samuel 1, 15 ff. nach.
S. 725: »Apoll« – ein von den Griechen aus Kleinasien importierter Gott.
»der heilige Sebastian« – nach der Legende Märtyrer in der diokletianischen Zeit, der mit Pfeilschüssen zu Tode gebracht wurde.
S. 728: »Hiawatha« – bedeutende Algonkin-Gestalt des 15./16. Jahrhunderts, die wesentlichen Anteil an der Ausarbeitung der Verfassung der »Fünf Nationen« hatte – die ihrerseits erheblichen Anteil an der Entwicklung der modernen europäischen Staatsideologie und am Prozeß der Umsetzung von Menschenrechten in Staatsgesetze hatten – und eine bedeutende Gestalt der Literatur um den »edlen Wilden« wurde; daß die US-Verfassung von der Hiawatha-Verfassung erheblicher als von den alteuropäischen Philosophien beeinflußt wurde, sei mit allen Nebenfolgen nur am Rande vermerkt (siehe die Tagebücher Benjamin Franklins und den Impeachment-Prozeß der US-Verfassung).
»Mystiker« – echte Mystiker sind solche, die das Wunder des Kontaktes mit der Transzendenz in der Alltäglichkeit erleben. (Eine Äbtissin sagte einmal: »Wenn eine meiner Nonnen mit dem Bauch voller Leberwurstbrote in gemäßer Menge glaubt, mystische Erlebnisse gehabt zu haben, glaube ich das eher, als wenn sie vorher 24 Stunden gehungert hat.«)
DAS ORAKEL DES HUNDES
The Oracle of the Dog
S. 741: »Apportierhund« – im Englischen »retriever«.
S. 746: »Viktorianer« – Königin Viktoria (aus dem seit 1714 herrschenden Haus Hannover) saß von 1837 bis 1901 auf dem britischen Thron (siehe auch Anmerkung zu S. 842).
S. 747: »namens Nacht« – im Original »Nox«, lateinisch = Nacht.
S. 748: »Schicksalsfelsen« – im englischen Original »Rock of Fortune«, »fortune« = Schicksal, Glück, Reichtum usw.
S. 750: »Auguren« – im alten Rom jene Priester, die bei wichtigen Staatshandlungen aus bestimmten Vorzeichen den Willen der Götter zu erforschen hatten.
S. 758: »Enzyklika Rerum Novarum« – Papst Leo XIII. erließ diese Enzyklika »der neuen Dinge« 1891 – sie stellt den grundlegenden Text der katholischen Soziallehre (abgesehen vom Neuen Testament) dar.
S. 761: »Bürger Riquetti« – Gabriel de Riqueti, Graf von Mirabeau (1749–1791), französischer Denker, Schriftsteller, Staatsmann, er erstrebte als bedeutendster Kopf der Französischen Revolution eine konstitutionelle Staatsreform nach englischem Vorbild; sein vorzeitiger Tod öffnete der radikalen Entwicklung der Revolution den Weg. Das Zitat (dessen Herkunft nicht festgestellt werden konnte) spielt darauf an, daß Mirabeau sich in den ersten Tagen der Revolution nicht mehr mit seinem Grafentitel nannte, sondern ihn gemäß den anti-aristokratischen Strömungen ablegte und sich nur mehr mit dem Namen seiner Familie nannte, den niemand kannte, weshalb die Reden des Bürgers Riqueti verhallten, was die Revolutionsführung dazu veranlaßte, ihn aufzufordern, doch wieder seinen berühmten Adelsnamen zu verwenden.
»Hartington« – bereits im 13. Jh. tauchen in der englischen »Chronica Majora« Hartingtons auf; so ritt ein Graf H. 1213 als Mitglied einer Geheimgesandtschaft des Königs Johann Ohneland zum almohadischen Kalifen Muhammad an-Nasir nach Sevilla, um diesem eine Allianz mit England gegen Papst und Frankreich anzutragen; falls man gemeinsam siege, wolle Johann mit seinem Volk (gemeint war hier wohl Aquitanien) zum Islam übertreten. Der Kalif lehnte bekanntlich ab, Johann unterlag, Aquitanien blieb bisher vorwiegend katholisch.
S. 763: »seine Freunde gebeten, den Sekretär aufzusuchen« – nämlich, um ihm die Forderung zum Duell zu überbringen und die Einzelheiten des Duells zu besprechen (die Freunde = die Sekundanten).
S. 766: »Yankee« – ein in seiner Herkunft und Urbedeutung bis heute ungeklärter Ausdruck, der ab 1683 mit zunächst niederländischen Assoziationen belegt ist (also vielleicht die Anglisierung eines niederländischen Janke als spöttisch-herabsetzendes Diminutiv zu Jan: ergo etwa Hänschen); ab 1758 als Spitzname zunächst für Neuengland-Bewohner, dann für solche der Nordstaaten überhaupt (während des US-Bürgerkrieges allgemeine herabsetzende Bezeichnung des Südens für die Nordstaatensoldaten), ab 1784 in England für alle US-Einwohner (als die natürlich nur weiße protestantische Menschen galten); seit 1781 zunehmend auch Charakterkennzeichnung mit den Bedeutungen Schläue, pfiffige Hinterlist, kaltes Profitkalkül usw.
»Bramarbas« – ein prahlerischer Feigling, der gerne versucht, Schwächere durch seine Haltung zu beeindrucken und dann unter Druck zu setzen.
S. 767: »Dorfpriester« – der unbeholfene Dorfpriester in der feinen Gesellschaft, dessen Befangenheit den kleinen Schoßhund veranlaßt, ihn herausfordernd anzukläffen, taucht in der englischen Literatur immer wieder auf.
S. 769: »Das Gelbe Zimmer« – 1907 erschien von Gaston Leroux Le mystère de la chambre jaune (Das Geheimnis des gelben Zimmers), eine durchaus auch in der Tradition des Schelmenromans stehende, als klassisch geltende Darstellung des Problems vom Mord im verschlossenen Raum.
S. 774: »Anubis… Pascht… Bullen von Bashan« – Anubis ist der ägyptische Totenkopf in Hundegestalt oder in Menschengestalt mit Hundekopf; Pascht (auch Bascht, Bastet u. a.) ist die bekannteste katzengestaltige (zumindest katzenköpfige) Göttin Altägyptens: im Neuen Reich war die Katze eine der Erscheinungsformen des Sonnengottes Re, der als »Großer Kater« die Apophis-Schlange vernichtet; die Katze wurde zum Erscheinungsbild ursprünglich löwengestaltiger Göttinnen wie Hathor, Mut und eben Bastet, wobei die Katzengestalt die Gnade der besänftigten Gottheit darstellt; Bastet vor allem spielte eine große Rolle im Tierkult der Spätzeit (Statuen, Friedhöfe mit Katzenmumien usw. beweisen das ausgiebig). Zu den Bullen von Bashan heißt es im Buch der Psalmen 22, 13–14: »Mich umgaben starke Stiere, Riesen Basans umzingelten mich. Sie rissen wider mich ihr Maul auf, ein reißender, brüllender Löwe«, wozu der Übersetzer und Herausgeber A. Bertholet in Kautzsch’s AT-Ausgabe 1923 anmerkt, die Riesen von Basan, nämlich die Stiere, seien das Zeichen für Basan, eine Landschaft, die für ihre fetten Weiden und als ein Hauptherd der Viehzucht berühmt sei.
»Er ist Mensch geworden« – nämlich Gott in der Gestalt Jesu (Hauptthema des NT).
»der heilige Franz« – Giovanni Bernardone (1181–1126), erhielt vom Vater den Beinamen Francesco, Begründer des Ordens der Franziskaner, war von fröhlichem Wesen und tiefer Liebe zu Gott und allen Dingen, also auch Pflanzen und Tieren, mit denen er sprach und die sich um ihn zu sammeln pflegten.
DAS WUNDER VON MOON CRESCENT
The Miracle of Moon Crescent
S. 775: »Moon Crescent… romantisch« – M.C. = Mondsichel.
»Washington und Jefferson« – George Washington (1732–1799), Nationalheld und 1. Präsident der USA (1789/97), entstammte der virginischen Pflanzeraristokratie, war im Unabhängigkeitskrieg gegen Großbritannien Oberbefehlshaber der nordamerikanischen Freiheitstruppen, leitete 1787 den Verfassungskonvent. Thomas Jefferson (1743–1826), Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und 3. Präsident der USA (1801/09), war 1779/82 Gouverneur von Virginia, 1785/89 Gesandter in Paris, 1790/93 Washingtons Staatssekretär (= Außenminister); als Präsident erwarb er von Frankreich 1803 Louisiana, wodurch sich das Territorium der USA mehr als verdoppelte.
»Queen Anne« – die zweite Tochter des 1688 gestürzten katholischen Stuartkönigs James II. war selbst protestantisch (1665–1714) und herrschte als Königin von Großbritannien und Irland 1702/14; durchkämpfte den Spanischen Erbfolgekrieg, vereinigte 1707 England und Schottland zu Großbritannien; unter ihr entstanden Parkanlagen der strengsten Komposition, ehe später der »naturähnliche« typisch englische Park entstand.
S. 777: »Roosevelt… Henry Ford… Mrs. Asquith« – gemeint sind Theodore Roosevelt (1858–1919), der 1901/09 der 26. Präsident der USA war und u. a. den Panama-Kanal verwirklichte, die Monroe-Doktrin (vgl. Anmerkung zu S. 675), gegen starken Widerstand Lateinamerikas erweiterte und innenpolitisch gegen die Trustbildung kämpfte; Henry Ford (1863–1947), US-Unternehmer, Konstrukteur des Ford-Automobils und Gründer der Ford Motor Company, übernahm aus Deutschland das Fließbandsystem und entwickelte es zum Träger seiner Fertigungsverfahren, das zum Ziel Massenanfertigung weniger Muster, gesteigerte Arbeitsteilung und hohe Rationalisierung hatte und kurze Arbeitszeiten bei hohen Löhnen erreichen sollte; Mrs. Asquith, die Löwin der New Yorker Salons zu Beginn des 20. Jh. war die Frau des Eisenbahntycoons Asquith.
S. 780: »Sophia… Saphira« – Sophia heißt auf griechisch »Weisheit«; Saphira bedeutet »der Saphir« = Geldgier.
S. 781: »Patagonien« – der südlichste Teil Südamerikas mit Feuerland.
S. 782: »Spiritus« ist lateinisch und bedeutet Luft/hauch, Wind, Atem, Odem, Leben, Seele, Geist usw. (im Christlichen ist »sanctus Spiritus« der Heilige Geist); das griechische Wort ist »pneuma«.
S. 785: »auseinandergerissen wie Judas« – Judas wurde nicht auseinandergerissen, sondern er hat sich erhängt.
S. 786: »Einsiedler auf einem Krokodil« – der Einsiedler, der sich von einem Krokodil über einen Fluß tragen ließ, war Antonius der Große, der Vater des Mönchstums (251–356; bekannt durch »die Versuchung des hl. A.«).
»Heiliger mit drei Leichen« – Heilige mit mehreren Leichen waren die englischen Heiligen Baltherus und Bilfridus, die nach ihrem Tod ihre Leichen vervielfachten, damit jede danach begierige Gemeinde eine bekomme.
»Heiliger hängt seinen Mantel an den Sonnenstrahl« – Heilige, die ihren Mantel an einen Sonnenstrahl hängten, waren: (a) der hl. Lucanus, Bischof von Säben-Brixen, der das tat, als er sich vor Papst Cölestin I. (422–432) rechtfertigen mußte; (b) der hl. Deicola (auch Deicolus, Dichuill, Desle, Diey), ein Ire, der Ende des 6. Jh. in den Vogesen das Kloster Lure/Lüders gründete und ablehnend den ihm angebotenen Bischofsmantel aufhängte; (c) der hl. Goar aus Aquitanien, der um 500 als Einsiedler am Rhein wirkte (aus seiner Zelle entstand die Stadt St. Goar) und sein Habit ebenfalls bei Gelegenheit an einen Sonnenstrahl hängte; sowie (d) die hl. Brigida von Kildare (453–523), uneheliche Tochter des irischen Königs Dubtach, Begründerin des Doppelklosters Kildare, dessen erste Äbtissin und Begründerin des Brigittenordens, die St. Brendan bei der Rückkehr von seiner 7jährigen Meerfahrt empfing und ihr nasses Habit so zum Trocknen aufhängte.
»Heiliger benutzt Mantel als Atlantikboot« – seinen Mantel als Boot benutzte niemand, doch rettete (a) der hl. Hyazinth beim Mongolensturm 1240 gegen Kiew seine dominikanischen Ordensbrüder in seinem Mantel über den Dnjestr (der damals zugefroren war, was den mongolischen Reitern ihren Angriff sehr erleichterte), reiste (b) der hl, Penafort (1238/40, 3. General der Dominikaner) in seinem Mantel als Segelboot von Mallorca nach Spanien; doch dürfte Chesterton (c) irrtümlich an die Seefahrt des hl. Brendan gedacht haben.
»heilige Esel mit 6 Beinen« – ihm war nicht auf die Spur zu kommen.
S. 787: »Haus von Loreto« – dieses war das Wohnhaus der Muttergottes und des Lieblingsjüngers Johannes in Ephesos, von wo es Engel 1295 vor den Seldschuken durch die Lüfte nach Loreto in Sicherheit brachten (die andere Version, es sei das Haus der hl. Familie in Nazareth gewesen, ist abzulehnen, da das Haus in Nazareth immer noch zu besichtigen ist: das Haus in Ephesos nicht mehr!).
»Hunderte von steinernen Jungfrauen, die blinzeln und weinen« – bezieht sich auf Marienstatuen und die mit ihnen verbundenen Legenden.
S. 791: »enfant terrible« – französisch = schreckliches Kind.
S. 792: »sardonisch« – sardonisches Lachen bedeutet ein krampfhaftes Lachen, das seinen Namen nach dem Kraut Sardonia hat, das Gesichtszuckungen verursachen soll.
S. 796: »Nase im Gesicht… Schlinge um den Hals« – unübertragbares Wortspiel mit »nose« = Nase und »noose« = Schlinge.
S. 797: »Daguerreotypie« – ein von dem französischen Maler Louis Jacques Mande Daguerre (1789–1851) im Jahr(e) 1837 erfundenes frühes Photographierverfahren bzw. die so entstandenen Photographien.
S. 798: »praktischer Mann… praktischer Witz« – »practical man… practical joke«: der Begriff des »practical joke« ist praktisch unübertragbar; er bedeutet ungefähr einen handfesten Schabernack (etwa die Äquatortaufe bei Schiffsreisen).
S. 802: »Professor Vair« – der Name spielt spöttisch auf »fair« an.
S. 802: »Sehr gepunktet… bekloppt« – unübertragbares Wortspiel »very dotted… dotty«.
S. 807: »spirituelle Kräfte… Satanismus« – Father Brown meint hier mit spirituellen Kräften, was üblicherweise als »Schwarze Magie« bezeichnet wird, und verweist mit der Bemerkung über den Satanismus auf die Kenntnisse des katholischen Geistlichen im Bereich des Exorzismus, wie gleichzeitig auf die Kenntnisse des Autors Chesterton auf diesem Gebiet.
S. 810: »Beurteilung von Menschen« – im Original hier und im folgenden »judge of men« in all seinen Bedeutungen: Beurteiler, Verurteiler, Richter usw. von/der Menschen: Gott ist am Tag des Jüngsten Gerichts der »judge of men«.
DER FLUCH DES GOLDENEN KREUZES
The Curse of the Golden Cross
S. 812: »Insel… Laputa« – der Wundarzt und nachmalige Kapitän verschiedener Schiffe Lemuel Gulliver besuchte – dem Herausgeber seiner Abenteuer, Jonathan Swift, zufolge – während seiner dritten Reise die fliegende Insel Laputa, deren Bewohner sich so tief in Probleme von Mathematik, Musik und Astronomie versenkt haben, daß sie zu zwischenmenschlichen Beziehungen nicht mehr fähig sind.
S. 826: »Mannstreu« – lateinisch Eryngium maritinum, auch Strand- oder Dünendistel genannt.
S. 839: »die englischen Gemeinden zurückhaben wollen« – gemeint ist, daß die katholische Kirche jene Gemeinden zurückhaben wolle, die ihr durch die sogenannte Kirchenreform Heinrichs VIII. entrissen und in anglikanische Gemeinden umgewandelt wurden.
S. 842: »Gladstone… Parnell… Viktoria« – William Ewart Gladstone (1809–1898), britischer Politiker und Staatsmann, 1852/55 und 1859/66 Schatzkanzler, 1880/85, 1886, 1892/94 Premierminister, bemühte sich innenpolitisch vor allem um die Lösung der irischen Frage durch irische Selbstregierung (»Home Rule«), scheiterte aber damit 1886 und 1893; außenpolitisch stand er im Gegensatz zum Kolonialimperialismus der Konservativen, aus deren Reihen er nach dem Krimkrieg zur liberalen Partei übergewechselt war. Charles Stewart Parnell (1846–1891), irischer Politiker, ab 1875 im House of Commons Großbritanniens Führer der ›Home Rule-Gruppe‹, also der Abgeordneten, die für die Selbstverwaltung Irlands eintraten; in zahlreiche Skandale, politische Morde usw. angeblich verwickelt, die jedoch allesamt nicht eindeutig zu belegen sind, außer in der Publizistik seiner politischen Gegner. Königin Viktoria (1819–1901), aus dem Hause Hannover und Tochter einer Prinzessin von Sachsen-Coburg (daher ihre Liebe zu ihrem Vetter Prinz Albert von Sachsen-Coburg-Gotha, den sie 1840 heiratete), herrschte von 1837 bis 1901 als Königin von Großbritannien und Nordirland und zusätzlich ab 1876 als Kaiserin von Indien.
»Gilde… salvo managio suo… Servi Regis…« – die Gilde (das Wort gehört zur Wortgruppe »Geld« und »gelten« in der Urbedeutung zurückzahlen, opfern) bezeichnete ursprünglich das Opfergelage zur Besiegelung einer eingegangenen rechtlichen Verbindung und wurde dann zur Bezeichnung genossenschaftlicher Vereinigungen des Mittelalters, zunächst von Kaufleuten (Gewerbsgilde, Hanse) und Handwerkern, aber auch z. B. von Bauern; der Gewerbsgilde wuchsen sehr bald auch Funktionen der Schutzgilde zur Verteidigung gemeinsamer Interessen zu; neben diese Berufsvereinigungen im Rahmen des Innungs- oder Zunftwesens traten bald auch religiöse Gilden = Bruder-/Schwesterschaften. Salvo managio suo: mittellateinischer Rechtsgrundsatz, wörtlich »mit Ausnahme seines Handwerkszeugs«, welcher die Wegpfändung der zur Berufsausübung notwendigen Gerätschaften, Ladengeschäftseinrichtungen usw. verbot (ist modifiziert bis heute gültig). Servi Regis: mittellateinischer Rechtsbegriff, wörtlich »Diener des Königs«, der die so bezeichneten Personen der ausschließlichen Rechtsgewalt des Königs unterstellte Juden waren (z. B. als »Kammerknechte«) fast immer Servi Regis und insofern grundsätzlich vor Übergriffen geschützt (auch wenn die Praxis oftmals wegen der Schwäche der Herrscher oder ihrer Geldgier anders aussah).
S. 844: »Homousios« – in der alten Kirche vertrat der Presbyter Arius aus Alexandria (gest. 336) die Lehre, daß Christus nicht wesensgleich mit Gott sei, sondern nur wesensähnlich; in dem Arianerstreit bezeichnete das griechische Wort »Homousie« die Wesensgleichheit, »Homoiusie« die Wesensähnlichkeit; die Konzile von Nizäa 325 und Konstantinopel 381 verdammten die arianische Lehre und damit die »Homoiusie« und sprachen sich (im »nizäanischen Glaubensbekenntnis«) für die Wesensgleichheit aus; wer sich danach noch für die Wesensähnlichkeit aussprach, galt als Ketzer und wurde entsprechend von der Kirche verworfen und anschließend vom Staat bestraft (da der Kirche das Recht auf Strafen an Leib und Leben nicht zustand, der Staat aber angesichts der damaligen Auffassung religiöse Ketzerei als Hochverrat ansah und verfolgte); da zwischen beiden Begriffen in der Schreib- wie Sprechweise der Unterschied nur durch das »i« ausgedrückt ist, konnten sich vor allem Ungebildete leicht vertun (auf dieses »i«, im Griechischen Iota genannt, und diese seine spezielle Bedeutung geht die Formel zurück, daß an einem Text »kein Iota geändert« werden dürfe).
S. 851: »bis vor kurzem Krieg vergessen« – gemeint ist mit dem dann doch gekommenen Krieg der 1. Weltkrieg.
»Antonius von Padua« – der 1195 in Lissabon geborene, in Padua 1231 gestorbene Franziskaner war ein bedeutender seelsorgerischer und sozialkritischer Prediger (z. B. gegen Wucherei und erfolgreich gegen Freiheitsstrafen für zahlungsunfähige Schuldner); er gilt als Patron der Liebenden, der Ehe, der Frauen, der Kinder, von Reisenden, Pferden, Eseln, Bergleuten und Fayenceherstellern und ist »Helfer gegen alle Nöte« wie Unfruchtbarkeit, Fieber, Dämonen, Kriegsnot und Pest sowie für das Wiederfinden verlorener Dinge; außerdem ist er Stadtpatron von Padua, Lissabon, Spalato, Paderborn und Hildesheim.
DER GEFLÜGELTE DOLCH
The Dagger with Wings
S. 864: »Levitation… Simon Magus« – als Levitation gilt das freie Schweben des menschlichen Körpers, eine Fähigkeit, die einzelnen Heiligen im christlichen Bereich, aber auch Fakiren, Medien usw. zugeschrieben wird. Über Simon Magus, den samaritanischen Zauberer, heißt es in der Apostelgeschichte 8, 9 ff. er habe sich dem Glauben an Jesus anschließen wollen, sei aber von Petrus scharf abgewiesen worden, da er apostolische Befugnisse mit Geld kaufen wollte (daher Simonie = Schacher mit Kirchenämtern); Simon gilt seit Justin als der Erzketzer.
»Stab des Hermes« – Hermes bzw. Merkur ist der Gott u. a. des Handels, der Wege, der Wanderer, der Diebe, des Schlafs und des Traums; außerdem aber auch der Götterbote, als welchen ihn sein geflügelter Heroldsstab auszeichnet (als Gott der Wanderer und Wege kennzeichnet ihn gelegentlich sein Paar geflügelter Schuhe).
S. 868: »Dundee… John Graham von Claverhouse… die Covenanters« – John Graham (1649–1689) war Berufssoldat, der zunächst in Frankreich und den Niederlanden diente, nach England zurückkehrte und dort 1678 Hauptmann wurde und 1688 für seine Verdienste als John Graham of Claverhouse als Viscount Dundee in den Adelsstand erhoben wurde; er erwarb sich als regierungstreuer Offizier große Verdienste bei der Niederschlagung der Rebellion der Covenanters; später focht er an der Seite James’ II. für das Haus der Stuart mit den Highlanders (Schotten) gegen die Truppen der englischen Regierung bzw. Wilhelms III. aus dem Hause Oranien; er fiel als Stellvertreter James’ II. im Oberkommando am 27.07.1689 im Verlauf der Schlacht von Killiecrankie während einer wirren Reiterattacke; da er als unverwundbar galt und die genauen Umstände seines Todes nie geklärt wurden, entstand sofort die Legende, er sei mit einem silbernen Knopf von seiner eigenen Jacke erschossen worden. Die Covenanters haben ihren Namen von covenant (lat. »conventio«) = Übereinkunft, Vertrag usw. und spielten vor allem im 17. Jh. eine bedeutende Rolle in der Geschichte Schottlands und Englands; sie waren/sind Presbyterianer, die ihre Lehre und ihr Dogma als das einzige Gesetz Schottlands durchsetzen wollten. Der erste »covenant« zwischen ihnen wurde 1575 geschlossen, von 1638 bis 1651 waren sie die politische Hauptmacht und -partei in Schottland; ihre Machtstellung wurde faktisch zerstört durch die Inthronisation Karls II. 1665, woraufhin die Rebellion der Covenanters gegen die englische Krone ausbrach (die englische Armee kämpfte, wie gesagt, erfolgreich unter John Graham). Als es 1689 zur Regelung der Religionsfrage kam, fanden die Covenanters in dem Dokument keine Berücksichtigung.
»Wenn er ihnen die Hölle heiß machte…«: – im Original ein unübersetzbares Wortspiel: »If he dragooned them it was because he was a dragoon, but not a dragon.«
»Dalrymple von Stair« – Sir John Dalrymple of Stair (1648–1707), aus bedeutender schottischer Familie, großer Jurist und Politiker, Berater Wilhelms von Oranien und verantwortlich für das Massaker an den Macdonalds zu Glencoe am 13.11.1692, dem Versuch zur Unterdrückung der Rebellion der Highlanders (Schotten) für die Stuarts gegen Oranien bzw. England. (Böse Menschen bezeichnen den Big Mac und andere Produkte des Hauses Macdonald als dessen Rache an der Menschheit für den Verrat Dalrymples und das Massaker von Glencoe.)
S. 881: »Harpyie« – in der griechischen Mythologie waren Harpyien weibliche Unheilsdämonen mit Flügeln und Vogelkrallen.
S. 883: »Wesleyscher Methodist… Sandemanit…« – der Methodismus ist eine aus der anglikanischen Kirche hervorgegangene Erweckungsbewegung des 18. Jh. die auf reformatorischer Grundlage beruht, die Erlösung des Menschen von Sünde und Schuld als Hauptziel ansieht, keine eigentliche Glaubenslehre besitzt, vielmehr Vielfältigkeit und Freiheit in der Gestaltung des religiösen Lebens betont und sich erst seit 1891 offiziell als Kirche bezeichnet. Als Begründer des M. gilt John Wesley (1703–1791), der 1729 mit seinem Bruder Charles W. als Student in Oxford einen religiösen Bund gründete, dessen Mitglieder wegen ihres methodisch geordneten frommen Lebens den Spottnamen »Methodisten« erhielten. Sandemaniten nennt man Anhänger Robert Sandemans (1718–1771), der aus den Glassiten eine eigene Sekte entwickelte; die Glassiten wiederum (heute meist nur mehr Sandemaniten genannt) waren/sind eine von John Sandeman, einem Priester der Established Church of Scotland (die ihn 1728 ausschloß), gegründete Sekte.
S. 884: »von Blut triefen… Buddhismus« – es gehört zum Wesen des Buddhismus, daß er Leben in jeder Art hochachtet und jedes Töten strikt ablehnt.
DAS VERHÄNGNIS DER DARNAWAYS
The Doom of the Darnaways
S. 886: »Darnaways« – im Englischen ist »darn« ein Euphemismus für »damn«, also für verfluchen, verdammen. Kombiniert mit »away« = weg, fort mit, ist Chestertons Absicht bei der Namensgebung einmal mehr leicht erkennbar.
S. 887: »Chelsea« – Vorort bzw. Stadtteil Londons; da dort 1745/69 farbenprächtig bemaltes Porzellan hergestellt wurde, entwickelte es sich anschließend zum Künstlerviertel der Stadt.
»Zeit der Rosenkriege« – das normannische Herrscherhaus (1066–1154) der Nachfolger Wilhelms des Eroberers wurde 1154 von dem ihm verschwägerten Haus der Anjou-Plantagenet abgelöst, welches bis 1485 herrschte (Graf Gottfried V. von Anjou, der in 2. Ehe die normannische Erbin Mathilde geheiratet hatte, trug als Helmzier den Ginsterbusch = planta genista = Plantagenet). Zusammen mit dem Großteil des englischen Hochadels ging es in den Rosenkriegen 1455/85 unter, in denen die jüngere Nebenlinie der Plantagenet – das Haus York mit dem Wappen der weißen Rose – die ältere Nebenlinie – das Haus Lancaster (das seit 1399 herrschte) mit dem Wappen der roten Rose – im Kampf um den Thron zu vernichten trachtete, das Haus Lancaster ging 1471 unter, das Haus York herrschte durch Eduard IV. ab 1461 und ging 1485 unter, als Richard III. von Heinrich VII. aus dem Hause Tudor gestürzt wurde (zu diesen Vorgängen vergleiche man die Königsdramen Shakespeares); das Haus Tudor, eine Nebenlinie der Lancaster, herrschte bis 1603; als Jakob I. von Schottland aus dem Hause Stuart Elisabeth I. auf den Thron folgte; den Stuarts folgte 1714–1901 das Haus Hannover, diesem das Haus Sachsen-Coburg-Gotha, das sich seit 1917 Windsor nennt.
S. 890: »niedriger Torbogen aus der Tudor-Zeit« – als Tudor-Stil bezeichnet man in der englischen Kunst den bis zum Regierungsantritt Elisabeths I. 1558 vorherrschenden Stil, den in der Architektur vor allem der flach gewölbte, aber im Scheitel schwach gespitzte Tudor-Bogen auszeichnet.
S. 891: »Die Dame von Shallot« – gehört zu jenen verwunschenen Maiden aus dem Umkreis der Artus-Sage, die ein beliebtes Thema der viktorianischen Zeit waren; »Lady of Shallott« ist der Titel eines Gedichtes von Alfred Lord Tennyson von 1832, das später stark überarbeitet wurde.
»in loco parenti« – Rechtsformel, lateinisch = an der Stelle des Vaters (= Vormundschaft).
S. 892: »Priesterlöcher« – (in Deutschland ist eine Parallelerscheinung auch als »Pfaffenlöcher« bekannt) Heinrich VIII. aus dem Hause Tudor ließ 1533 durch den »Act of Appeals« endgültig die rechtliche Bindung der englischen Kirche an Rom aufheben und sie dem englischen Staat integrieren, wobei der Monarch Oberhaupt der Kirche wurde; 1534 ergeht die »Suprematsakte«: Dem König als Oberhaupt der Kirche muß von Geistlichen und Beamten als Anerkennung seiner vollen kirchlichen Oberhoheit der »Suprematseid« geleistet werden, auf dessen Verweigerung die Todesstrafe steht (berühmtestes Opfer Thomas More bzw. Morus), was 1673 durch die »Testakte« erneuert wurde, die 1688 durch den katholischen König Jakob II. aus dem Hause Stuart aufgehoben wird. Während dieser Zeit richteten vor allem Adlige, aber auch wohlhabende Bürgerliche, die aus religiösen oder politischen Gründen gegen Supremats- und Testakte waren, in ihren Schlössern bzw. Häusern Verstecke für katholische Geistliche ein, die den Eid verweigerten und weiterhin als katholische Priester im Untergrund fungierten: die »priest’s holes« = Priesterlöcher. Sie spielen in der romantischen englischen Literatur eine bedeutende Rolle.
S. 893: »Holbein« – gemeint ist Hans Holbein der Jüngere (1497–1543), Sohn von Hans Holbein dem Älteren (1465–1524); Hans H. d. J. ließ sich 1532 in London nieder, wurde 1536 Hofmaler Heinrichs VIII. und gilt als letzter der großen altdeutschen Maler, der jedoch die Formen der Renaissance bereits mühelos aufnahm, die dem aus der Gotik stammenden Dürer noch so große Schwierigkeiten machten.
S. 894: »Heinrich VII.« – herrschte 1485/1509 als erster Tudor-König, Heinrich VIII. (sein Sohn) als zweiter 1509/1547 (ihnen folgten Eduard VI. bis 1553, Maria I. – die Katholische, die Blutige – bis 1558, Elisabeth 1. als letzte des Hauses bis 1603).
S. 895: »die Georges« – sind die ersten vier Könige aus dem Haus Hannover: Georg I. Ludwig 1714/1727, Georg II. August 1727/1770, Georg III. Wilhelm Friedrich 1760/1820 (ab 1811 unheilbar erkrankt), Georg IV. August Friedrich 1820/1830 (ihnen folgten Wilhelm IV. Heinrich bis 1837 und Alexandrine Viktoria als letzte des Hauses bis 1901).
S. 916: »requiescat in pace« – lateinischer Segensspruch über Gestorbene = er/sie/es ruhe in Frieden.
DER GEIST VON GIDEON WISE
The Ghost of Gideon Wise
S. 924: »der mythologische irische Vogel« – ob mythisch oder mythologisch: auch hier irrt Chesterton, wie so oft in irischen Fragen nach der Weise gebildeter Engländer (vgl. hierzu auch Father Browns Argumentation zum Mittelalter, S. ##541). Nirgends sind Spuren eines solchen Vogels zu entdecken; wohl aber sagt ein irisches Sprichwort im Gegenteil: »Ni feidir leis an gobadán an dá thra do freastal«, daß nämlich auch der Gobadán nicht auf beiden Flußufern gleichzeitig sein kann (der kleine Vogel G. lebt an Flußmündungen).
S. 925: »Hickoryholz« – Hickory, der weiße nordamerikanische Walnußbaum, liefert ein Holz, das als besonders hart und knorrig gilt (vgl. die Anmerkung zu S. 710).
S. 926: »die Manchester-Schule« – den Begriff verwendete erstmals Disraeli (1804–1881) auf die Theorien Cobdens und Brights sowie ihre Anhänger, die sich im Kampf gegen das staatliche Getreidemonopol in Manchester zu versammeln pflegten und für den absolut freien Handel eintraten; daher auch der Begriff des Manchester-Liberalismus, der für die Freiheit des Handels ohne jede soziale Rücksicht war/ist.
S. 927: »Konskription« – staatlich verfügte Einziehung von Privatvermögen und -material zur Finanzierung und Förderung des Krieges.
»Bolschies« – wie man sieht, griff der kindliche US-Unfug, fremdartige Dinge und Namen nach Art der Kinderzimmerstammelsprache zu verkürzen, bereits früh um sich.
S. 928: »Jefferson« – siehe Anmerkung zu S. 775.
»Ausschank alkoholischer Getränke« – in den USA fand die »Trockenlegung« von 1917 bis 1933 statt; sie sollte den Alkoholismus bekämpfen und förderte statt dessen das organisierte Verbrechen.
»Absinth« – ein aus der Wermutwurzel hergestelltes Destillat in Likörform, das wegen seiner überaus hohen Toxizität bereits vor dem 1. Weltkrieg in Europa verboten wurde.
S. 929: »Shelley« – Percy Bysshe Sh. (1792–1822), englischer Dichter und Dramatiker pantheistischer Religiosität und empörter Streiter wider alle Unterdrückung.
S. 941: »der schimmernde Leprakranke in der Legende…« – diese Legende geht zweifellos zurück auf »Die Heilung Naemans vom Aussatz«, 2. Buch der Könige, 5; sie spielt eine besondere Rolle in der Legende von St. Julian dem Gastfreundlichen, der einen Leprakranken über einen Fluß trug, der sich danach als Jesus zu erkennen gab. (Die bedeutendste literarische Ausformung schuf Gustave Flaubert in seiner 1877 erschienenen »Legende de Saint Julien l’Hospitalier«).
S. 943: »das Zeichen Kains« – laut Altem Testament (1. Moses 4,15) zeichnete Gott Kain nach dessen Mord an seinem Bruder Abel auf der Stirn, was ihn als einen nur von Gott zu Richtenden kennzeichnen sollte. Erst später als Zeichen der Schuld verstanden.
S. 950: »die Tat des Barrabas« – Barabbas (= Sohn des Vaters) war laut NT Matthäus 27, 15ff. Markus 15, 6ff. und Lukas 23, 13ff. ein Verschwörer gegen Rom, Mörder und Räuber, den Pontius Pilatus »dem Volk« zur Wahl stellte in der Hoffnung, es möge Jesus als den Freizulassenden wählen: Doch wollte es nach Aufstachlung durch die Hohen Priester den Barabbas, und Jesus kam ans Kreuz. (Undeutliche Legenden wollen wissen, daß jener Schacher, der Jesus am Kreuze anerkannte, ebenfalls Barabbas geheißen habe, weshalb es in manchen orientalischen Kirchen zeitweilig eine nie kirchlich anerkannte Verehrung des »hl. Barabbas« gab.)
»die Tat des idumäischen Herrschers… Herodes« – laut NT ließ der König Herodes einer Weissagung zufolge alle Neugeborenen in Bethlehem abschlachten, damit ihm keines von ihnen den Thron streitig mache; vor dieser Abschlachtung entflohen Joseph und Maria mit Jesus nach Ägypten, so daß Herodes auch durch den Kindermord seinem Schicksal nicht entging.
* siehe die Erzählung Die falsche Form, nachfolgend S. 173
* siehe Die Flüchtigen Sterne, S. 101
* »Hund«, auf englisch »dog«, ergibt rückwärts buchstabiert »god« = »Gott«.