Sebastian Haffner


Geschichte eines Deutschen


Die Erinnerungen 1914–1933


Stuttgart – München 2000


Deutsche Verlags–Anstalt


Editorische Notiz

»Geschichte eines Deutschen« von Sebastian Haffner ist ein Jugendwerk aus dem Nachlaß. Die Niederschrift des Textes kann auf den Beginn des Jahres 1939 datiert werden. Eine englische Übersetzung war für eine Veröffentlichung in England angefertigt worden. Der Text ist jedoch nie erschienen, weder auf englisch noch auf deutsch. Eine Lücke in der deutschen Textfassung konnte durch eine Rückübersetzung aus dem Englischen von Oliver Pretzel geschlossen werden (S. 54–68).


Deutschland ist nichts,

aber jeder einzelne De utsche ist viel.

(GOETHE, 1808)

Zunächst das Wichtigste: »was tun und treiben

Sie eigentlich in dieser großen Zeit?

Ich sage: groß: denn alle Zeiten scheinen

mir Groß, wo sich der Einzelne zuletzt,

auf gar nichts stehend als auf seinen Beinen,

dazu vom Zehengeist halbtotgehetzt,

Besinnen muß, ob nolens oder volens,

auf nichts geringeres als eben SICH!

Die Pause eines bloßen Atemholens

genügt bisweilen – Sie verstehen mich.«

(PETER GAN, 1935)


Prolog

1

Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, hat zum Gegenstand eine Art von Duell.

Es ist ein Duell zwischen zwei sehr ungleichen Gegnern: einem überaus mächtigen, starken und rücksichtslosen Staat, und einem kleinen, anonymen, unbekannten Privatmann. Dies Duell spielt sich nicht auf dem Felde ab, das man gemeinhin als das Feld der Politik betrachtet; der Privatmann ist keineswegs ein Politiker, noch weniger ein Verschwörer, ein »Staatsfeind«. Er befindet sich die ganze Zeit über durchaus in der Defensive. Er will nichts weiter, als das bewahren, was er, schlecht und recht, als seine eigene Persönlichkeit, sein eigenes Leben und seine private Ehre betrachtet.

Dies alles wird von dem Staat, in dem er lebt und mit dem er es zu tun hat, ständig angegriffen, mit äußerst brutalen, wenn auch etwas plumpen Mitteln.

Unter furchtbaren Drohungen verlangt dieser Staat von diesem Privatmann, daß er seine Freunde aufgibt, seine Freundinnen verläßt, seine Gesinnungen ablegt, vorgeschriebene Gesinnungen annimmt, anders grüßt als er es gewohnt ist, anders ißt und trinkt als er es liebt, seine Freizeit für Beschäftigungen verwendet, die er verabscheut, seine Person für Abenteuer zur Verfügung stellt, die er ablehnt, seine Vergangenheit und sein Ich verleugnet, und vor allem für alles dies ständig äußerste Begeisterung und Dankbarkeit an den Tag legt.

Das alles will der Privatmann nicht. Er ist wenig vorbereitet auf den Angriff, dessen Opfer er ist, er ist kein geborener Held, noch weniger ein geborener Märtyrer. Er ist einfach ein Durchschnittsmensch mit vielen Schwächen, noch dazu das Produkt einer gefährlichen Epoche: Dies aber will er nicht. Und so läßt er sich auf das Duell ein – ohne Begeisterung, eher mit Achselzucken; aber mit einer stillen Entschlossenheit, nicht nachzugeben. Er ist selbstverständlich viel schwächer als sein Gegner, dafür freilich etwas geschmeidiger. Man wird sehen, wie er Ablenkungsmanöver macht, ausweicht, plötzlich wieder ausfällt, wie er balanciert und schwere Stöße um Haaresbreite pariert. Man wird zugeben, daß er sich im Ganzen für einen Durchschnittsmenschen ohne besonders heldische oder märtyrerhafte Züge ganz wacker hält. Dennoch wird man sehen, wie er zum Schluß den Kampf abbrechen – oder, wenn man will, auf eine andere Ebene übertragen muß.

Der Staat ist das Deutsche Reich, der Privatmann bin ich. Das Kampfspiel zwischen uns mag interessant zu betrachten sein, wie jedes Kampfspiel. (Ich hoffe, es wird interessant sein!) Aber ich erzähle es nicht allein um der Unterhaltung willen. Ich habe noch eine andere Absicht dabei, die mir noch mehr am Herzen liegt.

Mein privates Duell mit dem Dritten Reich ist kein vereinzelter Vorgang. Solche Duelle, in denen ein Privatmann sein privates Ich und seine private Ehre gegen einen übermächtigen feindlichen Staat zu verteidigen sucht, werden seit sechs Jahren in Deutschland zu Tausenden und Hunderttausenden ausgefochten – jedes in absoluter Isolierung und alle unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Manche von den Duellanten, heldischere oder märtyrerhaftere Naturen, haben es weiter gebracht als ich: bis zum Konzentrationslager, bis zum Block, und bis zu einer Anwartschaft auf künftige Denkmäler.

Andere sind schon viel früher erlegen und sind heute schon längst still murrende S.A.–Reservisten oder N.S.V.–Blockwalter. Mein Fall mag gerade ein Durchschnittsfall sein. Man kann recht gut an ihm ablesen, wie heute die Chancen in Deutschland für den Menschen stehen.

Man wird sehen, daß sie ziemlich hoffnungslos stehen. Sie brauchten nicht ganz so hoffnungslos zu stehen, wenn die Außenwelt wollte. Ich glaube, daß die Außenwelt ein Interesse daran hat, zu wollen, daß sie weniger hoffnungslos stehen. Sie könnte – zwar nicht mehr den Krieg; dazu ist es zu spät – aber ein paar Kriegsjahre dadurch sparen. Denn die Deutschen guten Willens, die ihren privaten Frieden und ihre private Freiheit zu verteidigen suchen, verteidigen, ohne es zu wissen, noch etwas anderes mit: den Frieden und die Freiheit der Welt.

Es scheint mir deswegen immer noch der Mühe wert, die Aufmerksamkeit der Welt auf diese Vorgänge im unbekannten Deutschland zu lenken.

Ich will in diesem Buch nur erzählen, keine Moral predigen. Aber das Buch hat eine Moral, welche, wie das »andere und größere Thema« in Elgars Enigma–Variationen »durch und über das Ganze geht«

– stumm. Ich habe nichts dagegen, daß man nach der Lektüre alle die Abenteuer und Wechselfälle wieder vergißt, die ich erzähle. Aber ich wäre sehr befriedigt, wenn man die Moral, die ich verschweige, nicht vergäße.

2

Ehe der totale Staat fordernd und drohend auf mich zutrat und mich lehrte, was es heißt, Geschichte am eigenen Leibe zu erleben, hatte ich schon eine ganz hübsche Menge von dem miterlebt, was man »historische Ereignisse« nennt. Alle Europäer der jetzt lebenden Generation können das von sich sagen; und gewiß niemand mehr als die Deutschen.

Alle diese historischen Ereignisse haben selbstverständlich ihre Spuren hinterlassen: in mir so gut wie in allen meinen Landsleuten; und man versteht nicht, was später geschehen konnte, wenn man dies nicht versteht.

Aber es ist ein wichtiger Unterschied zwischen allem, was vor 1933 geschah, und dem, was dann kam: Alles frühere zog an uns vorbei und über uns hin, es beschäftigte und es regte uns auf, und den einen oder andern tötete es oder ließ ihn verarmen; aber keinen stellte es vor letzte Gewissensentscheidungen. Ein innerster Lebensbezirk blieb unberührt. Man machte Erfahrungen, man bildete Überzeugungen: Aber man blieb, was man war. Keiner, der, willig oder widerstrebend, in die Maschine des Dritten Reichs geraten ist, kann das ehrlich von sich sagen.

Offenbar hat geschichtliches Geschehen einen verschiedenen Intensitätsgrad. Ein »historisches Ereignis« kann in der wirklichen Wirklichkeit, also im eigentlichsten, privatesten Leben der einzelnen Menschen, fast unregistriert bleiben – oder es kann dort Verheerungen anrichten, die keinen Stein auf dem andern lassen. In der normalen Geschichtsdarstellung sieht man ihm das nicht an. »1890: Wilhelm II. entläßt Bismarck.« Gewiß ein großes, fettgedrucktes Datum in der deutschen Geschichte.

Aber schwerlich ein Datum in der Biographie irgendeines Deutschen, außerhalb des kleinen Kreises der Beteiligten. Jedes Leben ging weiter wie zuvor. Keine Familie wurde auseinandergerissen, keine Freundschaft ging in die Brüche, keiner verließ seine Heimat, nichts dergleichen. Nicht einmal ein Rendezvous oder eine Opernvorstellung wurde abgesagt. Wer unglücklich verliebt war, blieb es, wer glücklich verliebt war, blieb es, die Armen blieben arm, die Reichen reich... Und nun vergleiche man damit das Datum »1933: Hindenburg betraut Hitler.« Ein Erdbeben beginnt in 66 Millionen Menschenleben!

Wie gesagt, die wissenschaftlich–pragmatische Geschichtsdarstellung sagt über diesen Intensitätsunterschied des Geschichtsgeschehens nichts. Wer etwas darüber erfahren will, muß Biographien lesen, und zwar nicht die Biographien von Staatsmännern, sondern die viel zu raren Biographien der unbekannten Privatleute. Dort wird er sehen: Das eine »historische Ereignis« zieht über das private – d. h. wirkliche – Leben hin wie eine Wolke über einen See; nichts regt sich, nur ein flüchtiges Bild spiegelt sich. Das andere peitscht den See auf wie Sturm und Gewitter; man erkennt ihn kaum mehr wieder. Das dritte besteht vielleicht darin, daß alle Seen ausgetrocknet werden.

Ich glaube, Geschichte wird falsch verstanden, wenn man diese ihre Dimension vergißt (und sie wird fast immer vergessen). Man lasse mich daher einmal, zum Spaß, 20 Jahre deutsche Geschichte aus meiner Perspektive erzählen, ehe ich zum eigentlichen Thema komme: Geschichte Deutschlands als Teil meiner privaten Lebensgeschichte. Es wird ganz schnell gehen, und es wird das Verständnis für alles folgende erleichtern. Außerdem werden wir uns dabei ein wenig näher kennenlernen.

3

Der Ausbruch des vorigen Weltkrieges, mit dem mein bewußtes Leben wie mit einem Paukenschlag einsetzt, traf mich, wie er die meisten Europäer traf: in den Sommerferien. Um es gleich zu sagen: Die Zerstörung dieser Ferien war das Ärgste, was mir der ganze Krieg persönlich antat.

Mit welcher gnädigen Plötzlichkeit der vorige Krieg ausbrach, wenn man es mit dem marternd langsamen Näherrücken des jetzt kommenden vergleicht! Am 1. August 1914 hatten wir noch gerade beschlossen, das Ganze nicht ernstzunehmen und in unserer Sommerfrische zu bleiben. Wir saßen auf einem Gut in Hinterpommern, sehr weltverloren, zwischen Wäldern, die ich, ein kleiner Schuljunge, kannte und liebte wie nichts anderes auf der Welt. Die Rückkehr aus diesen Wäldern in die Stadt, alljährlich Mitte August, war das traurigste, unerträglichste Ereignis des Jahres für mich, vergleichbar nur noch etwa dem Plündern und Verbrennen des Weihnachtsbaums nach dem

Neujahrsfest. Am 1. August lag es noch um zwei Wochen fern – eine Unendlichkeit.

In den Tagen zuvor freilich war einiges Beunruhigendes geschehen. Die Zeitung hatte etwas, was sie nie gehabt hatte: Überschriften. Mein Vater las sie länger als sonst, hatte ein besorgtes Gesicht dabei und schalt auf die Österreicher, wenn er sie ausgelesen hatte. Einmal hieß die Überschrift:

»Krieg!« Ich hörte ständig neue Worte, deren Bedeutung ich nicht kannte und mir umständlich erklären lassen mußte: »Ultimatum«; »Mobilmachung«; »Allianz«; »die Entente«. Ein Major, der auf demselben Gut wohnte und mit dessen beiden Töchtern ich auf Neck– und Kriegsfuß stand, bekam plötzlich eine »Order«, auch so ein neues Wort, und reiste Hals über Kopf ab. Auch einer der Söhne unseres Wirts wurde eingezogen. Alle liefen ein Stück hinterher, als er im Jagdwagen zur Bahn fuhr, und riefen »Sei tapfer!«, »Bleib heil und gesund!«, »Komm bald wieder!« Einer rief: »Hau die Serben!«, worauf ich, eingedenk dessen, was mein Vater nach der Zeitungslektüre zu äußern pflegte, rief: »Und die Österreicher!« Ich war sehr erstaunt, daß alle plötzlich lachten.

Stärker als alles dies traf es mich, als ich hörte, daß auch die schönsten Pferde auf dem Gut,

»Hanns« und »Wachtel«, wegkommen sollten, und zwar weil sie, welche Menge von

erklärungsbedürftigen Erklärungen!, zur »Kavalleriereserve« gehörten. Die Pferde liebte ich jedes einzeln, und daß die zwei schönsten plötzlich weg sollten, gab mir einen Stich ins Herz.

Aber das Ärgste von allem war, daß zwischendrein auch immer wieder das Wort »Abreise« fiel.

»Vielleicht müssen wir morgen schon abreisen.« Das klang für mich genau so, als ob man gesagt hätte: »Vielleicht müssen wir morgen schon sterben.« Morgen – anstatt nach einer Unendlichkeit von zwei Wochen!

Damals gab es bekanntlich noch kein Radio, und die Zeitung kam mit 24 Stunden Verspätung in unsere Wälder. Es stand übrigens auch weit weniger darin, als heute in den Zeitungen zu stehen pflegt. Die Diplomaten waren damals noch viel diskreter als heute... Und so konnte es geschehen, daß wir gerade am 1. August 1914 beschlossen, daß der Krieg gar nicht stattfinden würde und daß wir bleiben würden, wo wir waren.

Nie werde ich diesen 1. August 1914 vergessen, und immer wird die Erinnerung an diesen Tag ein tiefes Gefühl von Beruhigung, von gelöster Spannung, von »Alles wieder gut« mit heraufbringen. So seltsam kann das »Geschichte–Miterleben« vor sich gehen.

Es war ein Sonnabend, mit all der wundervollen Friedlichkeit, die ein Sonnabend auf dem Lande haben kann. Die Arbeit war vorbei, Geläute heimkehrender Herden in der Luft, Ordnung und Stille über dem ganzen Gutshof, die Knechte und Mägde putzten sich in ihren Kammern für irgendein abendliches Tanzvergnügen. Unten aber in der Halle mit den Hirschgeweihen an den Wänden und den Zinngeräten und blanken Steinguttellern auf den Borden fand ich, in tiefen Lehnstühlen sitzend, meinen Vater und den Gutsherrn, unsern Wirt, vor, wie sie in besonnenem Gespräch alles bedächtig erwogen. Selbstverständlich verstand ich nicht viel von dem, was sie redeten, und ich habe es auch völlig vergessen. Nicht vergessen habe ich, wie ruhig und tröstlich ihre Stimmen klangen, die hellere meines Vaters und der tiefe Baß des Gutsherrn, wie vertrauenseinflößend der wohlriechende Rauch ihrer langsam gerauchten Zigarren in kleinen Säulen vor ihnen in die Luft stieg, und wie, je länger sie redeten, alles immer klarer, immer besser und immer tröstlicher wurde. Ja, es wurde schließlich geradezu unwiderleglich klar, daß es Krieg gar nicht geben konnte, und infolgedessen würden wir uns natürlich nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern bis zum Ende der Ferien hierbleiben, wie immer.

Als ich so weit zugehört hatte, ging ich hinaus, das Herz ganz geschwellt von Erlöstheit, Zufriedenheit und Dankbarkeit, und sah mit geradezu frommen Gefühlen über den Wäldern, die nun wieder mein Besitz waren, die Sonne untergehen. Der Tag war bedeckt gewesen, aber gegen Abend hatte er sich immer mehr aufgeklärt, und jetzt schwamm die Sonne, golden und rötlich, im reinsten Blau, einen wolkenlosen neuen Tag verheißend. So wolkenlos, ich war gewiß, würde die ganze Unendlichkeit von 14 Ferientagen sein, die jetzt wieder vor mir lag! –

Als ich am nächsten Tag geweckt wurde, war das Packen schon in vollem Gang. Erst verstand ich überhaupt gar nicht, was geschehen war; das Wort »Mobilmachung«, obwohl man es mir ein paar Tage vorher zu erklären versucht hatte, sagte mir gar nichts. Es war aber wenig Zeit, mir überhaupt irgend etwas zu erklären. Denn mittags mußten wir bereits mit Sack und Pack fahren – es war zweifelhaft, ob später noch irgendein Zug für uns dasein würde. »Heute gehts Null komma fünf«, sagte unser tüchtiges Dienstmädchen; eine Redensart, deren eigentlicher Sinn mir heutigentags noch dunkel ist, die aber jedenfalls besagte, daß es drüber und drunter ging und daß jeder sehen mußte, wo er bliebe. So konnte es auch geschehen, daß ich mich unbemerkt noch einmal davonmachen und in die Wälder laufen konnte – wo man mich gerade noch rechtzeitig vor der Abfahrt auffand, auf einem Baumstumpf sitzend, Kopf in den Händen, fassungslos heulend und ohne jedes Verständnis für den Zuspruch, daß nun Krieg sei und daß jeder Opfer bringen müsse.

Irgendwie wurde ich in den Wagen verstaut und fort gings hinter zwei trabenden braunen Pferden –

nicht mehr Hanns und Wachtel, die waren schon fort –, mit Staubwolken hinter uns, die alles verhüllten. Nie habe ich die Wälder meiner Kindheit wiedergesehen.

Es war das erste und letzte Mal, daß ich ein Stück vom Kriege als Wirklichkeit erlebte, mit dem natürlichen Schmerz des Menschen, dem etwas genommen und zerstört wird. Schon unterwegs wurde alles anders, aufregender, abenteuerlicher – festlicher. Die Eisenbahnfahrt dauerte nicht sieben Stunden wie sonst, sondern zwölf. Ständig gab es Aufenthalte, Züge voller Soldaten kamen an uns vorüber, und jedesmal stürzte alles zu den Fenstern, mit Winken und brausendem Rufen. Wir hatten kein Abteil für uns wie sonst, wenn wir reisten, sondern standen in Gängen oder saßen auf unseren Koffern, eingequetscht zwischen vielen Menschen, die alle unaufhörlich schnatterten und redeten, als wären es keine Fremden, sondern alte Bekannte. Am meisten sprachen sie über Spione.

Ich lernte auf dieser Fahrt alles über das abenteuerliche Gewerbe der Spione, von dem ich noch nie gehört hatte. Über alle Brücken fuhren wir ganz langsam, und ich empfand jedesmal ein angenehmes Gruseln dabei; konnte doch ein Spion Bomben unter die Brücke gelegt haben! Als wir in Berlin ankamen, war es Mitternacht. Nie in meinem Leben war ich so lange aufgeblieben! Und unsere Wohnung war keineswegs auf uns vorbereitet, Bezüge über den Möbeln, die Betten nicht instand. Man machte mir ein Lager auf einem Sofa im tabakduftenden Arbeitszimmer meines Vaters. Kein Zweifel: Ein Krieg brachte auch vieles Erfreuliche mit sich.

In den nächsten Tagen lernte ich unglaublich viel in unglaublich kurzer Zeit. Ich, ein siebenjähriger Junge, der noch vor kurzem kaum gewußt hatte, was ein Krieg, geschweige was »Ultimatum«,

»Mobilisierung« und »Kavalleriereserve« ist, wußte alsbald, als hätte ich es immer gewußt, ganz genau nicht nur das Was, Wie und Wo des Krieges, sondern sogar das Warum: Ich wußte, daß am Kriege Frankreichs Revanchelüsternheit, Englands Handelsneid und Rußlands Barbarei schuld waren – ganz geläufig konnte ich alle diese Worte alsbald aussprechen. Ich fing einfach eines Tages an, die Zeitung zu lesen, und wunderte mich, wie überaus leicht verständlich sie war. Ich ließ mir die Karte von Europa zeigen, sah auf einen Blick, daß »wir« mit Frankreich und England schon fertig werden würden, empfand allerdings einen dumpfen Schreck über die Größe Rußlands, ließ mich aber dadurch trösten, daß die Russen ihre beängstigende Zahl durch unglaubliche Dummheit und Verkommenheit und beständiges Wodkatrinken wieder wettmachten. Ich lernte – und zwar, wie gesagt, so schnell, als hätte ich es immer gewußt – die Namen von Heerführern, die Stärke von Armeen, die Bewaffnung mit naiver Lust und ohne eine Spur von Zweifel oder Konflikt, die Auswirkung der seltsamen Begabung meines Volkes, Massenpsychosen zu bilden. (Eine Begabung, die vielleicht ein Ausgleich für sein geringes Talent zum individuellen Glück ist.) Ich hatte keine Ahnung, daß es überhaupt möglich sein könnte, bei einer solchen festlich–allgemeinen Raserei sich auszuschließen. Ich kam auch nicht im entferntesten auf den Gedanken, daß etwas Schlimmes oder Gefährliches an einer Sache sein könnte, die so offensichtlich glücklich machte und so unalltäglich–

festliche Rauschzustände verschenkte.

Nun war ein Krieg damals für einen Schuljungen in Berlin freilich etwas tief Unwirkliches: unwirklich wie ein Spiel. Es gab keine Fliegerangriffe und keine Bomben. Verwundete gab es, aber nur von fern, mit malerischen Verbänden. Man hatte Verwandte an der Front, gewiß, und hin und wieder kam eine Todesanzeige. Aber dafür war man ein Kind, daß man sich schnell an ihre Abwesenheit gewöhnte; und daß diese Abwesenheit eines Tages endgültig wurde, machte schon gar keinen Unterschied mehr. Was es an wirklichen Härten und fühlbaren Unannehmlichkeiten gab, zählte wenig.

Schlechtes Essen – nun ja. Später auch zu wenig Essen, klappernde Holzsohlen an den Schuhen, gewendete Anzüge, Knochen– und Kirschkernsammlungen in der Schule, und, seltsamerweise, häufiges Kranksein. Aber ich muß gestehen, daß mir das alles keinen tiefen Eindruck machte. Nicht etwa, daß ich es »trug wie ein kleiner Held«. Sondern ich hatte gar nicht so besonders daran zu tragen. Ich dachte so wenig an Essen, wie der Fußball–Enthusiast beim Cup–Final an Essen denkt.

Der Heeresbericht interessierte mich viel stärker als der Küchenzettel.

Der Vergleich mit dem Fußball–Enthusiasten trägt sehr weit. Tatsächlich war ich damals, als Kind, ein Kriegsenthusiast wie man ein Fußballenthusiast ist. Ich würde mich schlechter machen als ich war, wollte ich behaupten, daß ich wirklich ein Opfer der eigentlichen Haßpropaganda gewesen wäre, die während der Jahre 15 bis 18 die erlahmende Begeisterung der ersten Monate

hochpeitschen sollte. Ich haßte die Franzosen, Engländer und Russen so wenig wie der Portsmouth–

Anhänger die Leute von Wolverhampton »haßt«. Selbstverständlich wünschte ich ihnen Niederlage und Demütigung, aber nur weil sie die unvermeidliche Kehrseite von Sieg und Triumph meiner Partei waren.

Was zählte, war die Faszination des kriegerischen Spiels: eines Spiels, in dem nach geheimnisvollen Regeln Gefangenenzahlen, Geländegewinne, eroberte Festungen und versenkte Schiffe ungefähr die Rolle spielten wie Torschüsse beim Fußball oder »Punkte« beim Boxen. Ich wurde nicht müde, innerlich Punktetabellen zu führen. Ich war ein eifriger Leser der Heeresberichte, die ich nach einer Art »umrechnete«, nach wiederum sehr geheimnisvollen, irrationalen Regeln, in denen beispielsweise zehn gefangene Russen einen gefangenen Franzosen oder Engländer wert waren, oder 50

Flugzeuge einen Panzerkreuzer. Hätte es Gefallenenstatistiken gegeben, ich würde sicher auch unbedenklich die Toten »umgerechnet« haben, ohne mir vorzustellen, wie das in der Wirklichkeit aussah, womit ich da rechnete. Es war ein dunkles, geheimnisvolles Spiel, von einem nie endenden, lasterhaften Reiz, der alles auslöschte, das wirkliche Leben nichtig machte, narkotisierend wie Roulette oder Opiumrauchen. Ich und meine Kameraden spielten es den ganzen Krieg hindurch, vier Jahre lang, ungestraft und ungestört – und dieses Spiel, nicht die harmlosen »Kriegsspiele«, die wir nebenbei auf Straßen und Spielplätzen aufführten, war es, was seine gefährlichen Marken in uns allen hinterlassen hat.

4

Vielleicht findet man es nicht der Mühe wert, daß ich die offensichtlich unadäquaten Reaktionen eines Kindes auf den Weltkrieg so ausführlich darstelle. Gewiß wäre es nicht der Mühe wert, wenn es sich dabei um einen Einzelfall handelte. Es ist aber kein Einzelfall. So oder so ähnlich hat eine ganze deutsche Generation in ihrer Kindheit oder frühen Jugend den Krieg erlebt – und zwar sehr bezeichnenderweise die Generation, die heute seine Wiederholung vorbereitet.

Es schwächt die Kraft und Nachwirkung dieses Erlebnisses keineswegs ab, daß die, die es erfuhren, Kinder oder junge Burschen waren; im Gegenteil: Die Massenseele und die kindliche Seele sind sehr ähnlich in ihren Reaktionen. Man kann sich die Konzeptionen, mit denen Massen gefüttert und bewegt werden, gar nicht kindlich genug vorstellen. Echte Ideen müssen, um massenbewegende historische Kräfte zu werden, im allgemeinen erst bis auf die Fassungskraft eines Kindes heruntersimplifiziert werden. Und eine kindische Wahnvorstellung, gebildet in den Köpfen von zehn Kinderjahrgängen und vier Jahre hindurch in ihnen festgenagelt, kann sehr wohl zwanzig Jahre später als tödlich ernsthafte »Weltanschauung« ihren Einzug in die große Politik halten.

Der Krieg als ein großes, aufregend–begeisterndes Spiel der Nationen, das tiefere Unterhaltung und lustvollere Emotionen beschert als irgendetwas, was der Frieden zu bieten hat; das war 1914 bis 1918 die tägliche Erfahrung von zehn Jahrgängen deutscher Schuljungen; und das ist die positive Grundvision des Nazitums geworden. Von dieser Vision her bezieht es seine Werbekraft, seine Simplizität, seinen Appell an Phantasie und Aktionslust; und von ihr bezieht es ebenso seine Intoleranz und Grausamkeit gegen den innenpolitischen Gegner: weil der, der dieses Spiel nicht mitmachen will, gar nicht als »Gegner« anerkannt, sondern einfach als Spielverderber empfunden wird. Und schließlich bezieht es von ihr seine selbstverständlich kriegsmäßige Einstellung gegen den Nachbarstaat: weil jeder andere Staat wiederum nicht als »Nachbar« anerkannt wird, sondern nolens volens Gegner zu sein hat – sonst könnte ja das ganze Spiel nicht stattfinden!

Vieles hat dem Nazismus später geholfen und sein Wesen modifiziert. Aber hier liegt seine Wurzel: nicht etwa im »Fronterlebnis«, sondern im Kriegserlebnis des deutschen Schuljungen. Die Frontgeneration hat ja im ganzen wenig echte Nazis geliefert und liefert heute noch im wesentlichen die »Nörgler und Meckerer«; sehr verständlich, denn wer den Krieg als Wirklichkeit erlebt hat, bewertet ihn meistens anders. (Ausnahmen zugegeben: die ewigen Krieger, die in der Wirklichkeit des Krieges mit allen Schrecken dennoch ihre Lebensform fanden und immer wieder finden – und die ewigen »gescheiterten Existenzen«, die gerade die Schrecken und Zerstörungen des Krieges mit Jubel erlebten und erleben, als eine Rache an dem Leben, dem sie nicht gewachsen sind. Zum ersten Typ gehört vielleicht Göring; zum zweiten bestimmt Hitler.) Die eigentliche Generation des Nazismus aber sind die in der Dekade 1900 bis 1910 Geborenen, die den Krieg, ganz ungestört von seiner Tatsächlichkeit, als großes Spiel erlebt haben.

– Ganz ungestört! Man wird einwenden, daß sie immerhin gehungert haben. Das ist richtig; aber ich habe schon erzählt, wie wenig der Hunger das Spiel störte. Vielleicht begünstigte er es sogar. Satte und gutgenährte Menschen neigen nicht zu Visionen und Phantasien ... auf jeden Fall: Der Hunger allein desillusionierte nicht. Es wurde, sozusagen, verdaut. Was übrig geblieben ist, ist sogar eine gewisse Abhärtung gegen Unterernährung – vielleicht einer der sympathischeren Züge dieser Generation.

Wir sind sehr früh daran gewöhnt worden, mit einem Minimum von Essen auszukommen. Die meisten jetzt lebenden Deutschen haben dreimal eine unterdurchschnittliche Ernährung gehabt: das erste Mal im Kriege, das zweite Mal in der Hochinflation, das dritte Mal jetzt, unter dem Motto

»Kanonen statt Butter«. Sie sind in dieser Hinsicht, sozusagen, trainiert, und nicht besonders anspruchsvoll.

Es ist mir sehr zweifelhaft, ob die weitverbreitete Ansicht stimmt, daß die Deutschen den Weltkrieg aus Hunger abgebrochen hätten. Sie hungerten 1918 schon drei Jahre lang, und 1917 war ein schlimmeres Hungerjahr gewesen als 1918. Meiner Meinung nach brachen die Deutschen den Krieg ab, nicht weil sie hungerten, sondern weil sie ihn als militärisch verloren und aussichtslos ansahen.

Wie dem auch sei – die Deutschen werden jedenfalls kaum den Nazismus oder den zweiten Weltkrieg aus Hunger abbrechen. Sie finden heute, daß Hungern halb und halb eine sittliche Pflicht und jedenfalls nicht so schlimm ist. Sie sind nachgerade ein Volk geworden, das sich seiner natürlichen Eßbedürfnisse geradezu geniert, und paradoxerweise gewinnen die Nazis aus der Tatsache, daß sie dem Volk nichts zu essen geben, nebenbei sogar noch ein indirektes Propagandamittel.

Sie schieben nämlich jedem, der »schimpft«, öffentlich als Motiv unter, er schimpfe, weil er keine Butter und keinen Kaffee bekomme. Nun wird zwar sehr viel in Deutschland »geschimpft«, aber die meisten schimpfen aus ganz anderen – und tatsächlich meist weit ehrenvolleren – Gründen als wegen der schlechten Ernährung, und sie würden sich schämen, wegen der schlechten Ernährung zu schimpfen. Es wird weit weniger in Deutschland gerade über die Nahrungsmittelknappheit geschimpft, als man nach der Lektüre der Naziblätter glauben sollte. Die Naziblätter wissen aber recht gut, was sie tun, wenn sie das Gegenteil glauben machen: Denn ehe der unzufriedene Deutsche in den Ruf kommen will, er sei aus niederer Eßgier unzufrieden, verstummt er ganz.

Wie gesagt übrigens, ich halte das für einen der sympathischeren Züge der gegenwärtigen Deutschen.

5

Ich verlor während der vier Kriegsjahre allmählich das Gefühl dafür, wie und was der Frieden sein könne. Meine Erinnerung an die Zeit vor dem Kriege verblaßte allmählich. Ich konnte mir einen Tag ohne Heeresbericht nicht mehr vorstellen. Ein solcher Tag hätte auch seinen Hauptreiz entbehrt.

Was bot denn der Tag sonst schon? Man ging zur Schule, man lernte Schreiben und Rechnen und später Latein und Geschichte, man spielte mit Freunden, man ging mit seinen Eltern spazieren, aber war das ein Lebensinhalt? Was dem Leben Spannung und dem Tag seine Farbe gab, waren die jeweiligen militärischen Ereignisse. War eine große Offensive im Gange, mit fünfstelligen Gefangenenzahlen und gefallenen Festungen und »unermeßlicher Ausbeute an Kriegsmaterial«, dann war Festzeit, man hatte unendlichen Stoff für die Phantasie, und das Leben ging hoch, ganz ähnlich, wie später, wenn man verliebt war. Waren nur langweilige Abwehrkämpfe, »im Westen nichts Neues«, oder gar »planmäßig durchgeführter strategischer Rückzug«, dann war das ganze Leben angegraut, die Kriegsspiele mit den Kameraden ohne Reiz und die Schularbeiten doppelt langweilig.

Jeden Tag ging ich zu einem Polizeirevier, ein paar Straßenecken von unserer Wohnung: Dort war an einem schwarzen Brett der Heeresbericht angeschlagen, schon mehrere Stunden, ehe er in der Zeitung stand. Ein schmales weißes Blatt, manchmal länger, manchmal kürzer, mit tanzenden Majuskeln besät, die aus einer offenbar reichlich abgenutzten Vervielfältigungsmaschine stammten.

Ich mußte mich etwas auf die Zehenspitzen stellen und den Kopf in den Nacken legen, um alles zu entziffern. Ich tat es geduldig und voll Hingabe, jeden Tag.

Wie gesagt, ich hatte keine rechte Vorstellung mehr vom Frieden, wohl aber hatte ich eine Vorstellung vom »Endsieg«. Der Endsieg, die große Summe, zu der sich alle die vielen Teilsiege, die der Heeresbericht enthielt, unvermeidlich einmal zusammenaddieren mußten, war für mich damals ungefähr das, was für den frommen Christen das Jüngste Gericht und die Auferstehung des Fleisches ist, oder für den frommen Juden die Ankunft des Messias. Es war eine unvorstellbare Steigerung aller Siegesnachrichten, in der die Gefangenenzahlen, Landeroberungen und Beuteziffern vor Ungeheuerlichkeit sich selber aufhoben. Danach war nichts mehr vorzustellen. Ich wartete mit einer gewissen wilden und doch zagen Spannung auf den Endsieg; daß er einmal kam, war unvermeidlich. Fraglich war nur, was das Leben danach noch zu bieten haben konnte.

Ich wartete tatsächlich auf den Endsieg auch noch in den Monaten Juli bis Oktober 1918, obwohl ich nicht so töricht war, nicht zu merken, daß die Heeresberichte trüber und trüber wurden und daß ich nachgerade gegen alle Vernunft wartete. Immerhin, war nicht Rußland geschlagen? Besaßen »wir«

nicht die Ukraine, die alles liefern würde, was nötig war, um den Krieg zu gewinnen? Standen »wir«

nicht immer noch tief in Frankreich?

Unüberhörbar wurde es zwar auch mir in dieser Zeit, daß viele, sehr viele, ja fast alle Leute sich mit der Zeit eine andere Ansicht vom Kriege gebildet hatten als ich, obwohl meine Ansicht doch ursprünglich diejenige aller gewesen war – sie war doch erst meine geworden, eben weil sie die allgemeine war! Überaus ärgerlich, daß gerade jetzt fast alle die Lust am Kriege verloren zu haben schienen – gerade jetzt, wo eine kleine Sonderanstrengung nötig gewesen wäre, um die Heeresberichte aus der trüben Depression »vereitelter Aufrollungsversuche« und »planmäßiger Zurücknahme in vorbereitete Riegelstellungen« wieder in die strahlende Schön–Wetter–Sphäre von

»Vorstoß bis zu 30 Kilometer Tiefe«, »das feindliche Stellungssystem zertrümmert«, »30000

Gefangene« zu bringen!

Von den Läden, wo ich nach Kunsthonig oder Magermilch anstand – denn meine Mutter und das Dienstmädchen konnten es allein nicht mehr schaffen, und auch ich mußte mich gelegentlich anstellen – hörte ich die Frauen grollen und häßliche Worte tiefsten Unverständnisses äußern. Nicht immer begnügte ich mich, es anzuhören: Ich erhob furchtlos meine noch ziemlich hohe

Kinderstimme zu Vorträgen über die Notwendigkeit des »Durchhaltens«. Die Frauen lachten meist zunächst, wunderten sich dann, und wurden rührenderweise mitunter unsicher oder gar kleinlaut.

Siegreich verließ ich die Stätte des Redekampfes, selbstvergessen einen Viertelliter Magermilch schwenkend... Aber die Heeresberichte wollten nicht besser werden.

Und dann nahte, von Oktober ab, die Revolution heran. Sie bereitete sich ähnlich vor wie der Krieg, mit plötzlich in der Luft herumschwirrenden neuen Worten und Begriffen, und wie der Krieg kam sie dann zuletzt doch fast überraschend. Aber hier hört der Vergleich auf. Der Krieg, was immer man über ihn sagen kann, war etwas Ganzes gewesen, eine Sache, die klappte, in seiner Art ein Erfolg, zunächst wenigstens. Von der Revolution kann man das nicht sagen.

Es ist für die gesamte weitere deutsche Geschichte von verhängnisvoller Bedeutung gewesen, daß der Kriegsausbruch, trotz allem fürchterlichen Unglück, das ihm folgte, für fast alle mit ein paar unvergeßlichen Tagen größter Erhebung und gesteigerten Lebens verbunden geblieben ist, während an die Revolution von 1918, die doch schließlich Frieden und Freiheit brachte, eigentlich fast alle Deutschen nur trübe Erinnerungen haben. Schon daß der Kriegsausbruch bei prächtigem

Sommerwetter und die Revolution bei naßkaltem Novembernebel vor sich ging, war ein schweres Handicap für die Revolution. So etwas mag lächerlich klingen, aber es ist wahr. Die Republikaner fühlten es später selbst; sie haben nie so recht an den 9. November erinnert sein wollen, und haben ihn nie öffentlich gefeiert. Die Nazis, die den August 14 gegen den November 18 ausspielten, hatten immer ein leichtes Spiel. November 18: Obwohl der Krieg zu Ende ging, die Frauen ihre Männer, die Männer ihr Leben zurückgeschenkt bekamen, ist seltsamerweise kein festliches Nachgefühl mit dem Datum verbunden; vielmehr Mißmut, Niederlage, Angst, sinnlose Schießerei, Konfusion, ja und schlechtes Wetter.

Ich habe persönlich von der eigentlichen Revolution wenig gemerkt. Am Sonnabend meldete die Zeitung, der Kaiser habe abgedankt. Irgendwie überraschte es mich, daß so wenig dabei war. Es war eben auch nur eine Zeitungsüberschrift, und im Kriege hatte ich größere gesehen. In Wahrheit hatte er übrigens noch nicht einmal abgedankt, als wir es in der Zeitung lasen. Da er es dann aber bald nachholte, war auch das nicht mehr so wesentlich.

Erschütternder als die Überschrift »Abdankung des Kaisers« war es schon, daß am Sonntag die Zeitung »Tägliche Rundschau« plötzlich »Die Rote Fahne« hieß. Irgendwelche revolutionären Druckereiarbeiter hatten das durchgesetzt. Im übrigen war der Inhalt wenig verändert, und nach ein paar Tagen hieß sie auch wieder »Tägliche Rundschau«. Ein kleiner Zug, der nicht unsymbolisch für die ganze Revolution von 1918 ist.

An diesem Sonntag hörte ich auch zum ersten Mal Schüsse. Während des ganzen Krieges hatte ich keinen Schuß fallen gehört. Jetzt aber, da der Krieg zu Ende ging, fing man bei uns in Berlin zu schießen an. Wir standen in einem unserer Hinterzimmer, öffneten die Fenster und hörten leise aber deutlich abgerissene Maschinengewehrfeuer. Mir war beklommen zu Mute. Irgend jemand erklärte uns, wie die schweren und wie die leichten Maschinengewehre klangen. Wir stellen Mutmaßungen an, was für ein Kampf da wohl stattfinde. Das Schießen kam aus der Gegend des Schlosses. Ob die Berliner Garnison sich doch wehrte? Ob nicht alles so glatt ging mit der Revolution?

Wenn ich darauf etwa Hoffnungen gesetzt hatte – denn ich war natürlich, was nach allem hier Erzählten keinen wundernehmen wird, von ganzem Herzen gegen die Revolution – so wurden sie am nächsten Tag enttäuscht. Es war eine ziemlich sinnlose Schießerei zwischen verschiedenen revolutionären Gruppen gewesen, deren jede sich zum Besitz des Marstalls berechtigt fühlte. Von Gegenwehr keine Spur. Die Revolution hatte offenbar gesiegt.

Andererseits, was bedeutete das nun? Wenigstens festliche Unordnung, Drunter und Drüber, Abenteuer und bunte Anarchie? Keineswegs. Vielmehr erklärte noch an diesem selben Montag der gefürchtetste unter unseren Lehrern, ein cholerischer Tyrann mit böse rollenden Äuglein, »hier«, in der Schule nämlich, habe jedenfalls keine Revolution stattgefunden, hier herrsche weiterhin Ordnung, und zur Bekräftigung dessen legte er ein paar von uns, die sich in der Pause beim Revolution–Spielen besonders hervorgetan hatten, über die Bank und verabreichte ihnen eine demonstrative Tracht Prügel. Wir alle, die wir der Exekution beiwohnten, empfanden dunkel, daß sie ein Symbol von böser und umfassender Vorbedeutung war. An einer Revolution stimmte etwas nicht, wenn bereits am Tage darauf die Jungen in der Schule für Revolution–Spielen verhauen wurden. Aus einer solchen Revolution konnte nichts werden. Es wurde ja denn auch nichts aus ihr.

Inzwischen stand noch das Kriegsende aus. Daß die Revolution gleichbedeutend mit dem Ende des Krieges sei, war mir wie jedermann klar, und zwar offensichtlich mit einem Ende ohne Endsieg, da ja die kleine dazu nötige Extra–Anstrengung unverständlicherweise unterblieben war. Wie aber so ein Kriegsende ohne Endsieg aussehen würde, davon hatte ich keinen Begriff; ich mußte es erst sehen, um es mir vorstellen zu können.

Da ja der Krieg sich irgendwo im fernen Frankreich abspielte, in einer unwirklichen Welt, aus der nur die Heeresberichte wie Botschaften aus dem Jenseits zu uns herüberkamen, hatte auch sein Ende keine eigentliche Wirklichkeit für mich. Nichts änderte sich in meiner unmittelbaren, sinnlich wahrnehmbaren Umgebung. Das Ereignis spielte ausschließlich in jener Traumwelt des großen Spiels, in der ich vier Jahre lang gelebt hatte ... Aber freilich, diese Welt war ja viel bedeutender für mich geworden als die wirkliche.

Am 9. und 10. November gab es noch Heeresberichte, üblichen Stils: »Feindliche

Durchbruchsversuche abgewiesen«, »... gingen unsere Truppen nach tapferer Gegenwehr in vorbereitete Stellungen zurück...« Am 11. November hing kein Heeresbericht mehr am schwarzen Brett meines Polizeireviers, als ich mich zur üblichen Stunde einstellte. Leer und schwarz gähnte mich das Brett an, und ich ermaß mit Schrecken, wie es sein würde, wenn dort, wo ich jahrelang täglich die Nahrung meines Geistes und den Inhalt meiner Träume geschöpft hatte, nichts mehr sein würde als, für immer und ewig, ein leeres schwarzes Brett. Inzwischen aber ging ich weiter.

Irgendwelche Nachrichten vom Kriegsschauplatz mußte es doch, schließlich geben. Wenn schon der Krieg aus war (womit man rechnen mußte) – wenigstens das Ende mußte doch noch stattgefunden haben, irgendetwas wie der Abpfiff beim Spiel, berichtenswert immerhin. Eine Anzahl Straßen weiter war ein anderes Polizeirevier. Vielleicht hing dort ein Bericht.

Auch dort hing keiner. Die Polizei war eben auch von der Revolution angesteckt worden, und die alte Ordnung war zerstört. Ich konnte mich aber nicht abfinden. Ich trieb weiter durch die Straßen, in einem feinen nässenden Novemberregen, auf der Suche nach irgendwelchen Nachrichten. Ich kam in fremdere Gegenden.

Irgendwo fand ich einen kleinen Menschenhaufen vor der Auslage eines Zeitungsladens. Ich stellte mich an, drängelte mich sachte durch und konnte schließlich auch lesen, was alle, schweigend und mißmutig, lasen. Es war ein verfrühtes Zeitungsblatt, das da aushing, und es hatte die Überschrift:

»Waffenstillstand unterzeichnet«. Darunter standen die Bedingungen, eine lange Liste. Ich las sie.

Während ich las, erstarrte ich.

– Womit soll ich meine Empfindungen vergleichen – die Empfindungen eines elfjährigen Jungen, dem eine ganze Phantasiewelt zusammenbricht? Soviel ich nachdenke, es ist schwer, im normalen, wirklichen Leben ein Äquivalent dafür zu finden. Gewisse traumhafte Katastrophen sind eben nur in Traumwelten möglich. Wenn jemand, der jahrelang große Summen zur Bank getragen hat, eines Tages seinen Kontoauszug anfordert und erfährt, daß, er statt eines Vermögens eine erdrückende Schuldenlast besitzt, mag ihm ähnlich zumute sein. Aber so etwas gibt es eben nur im Traum.

Diese Bedingungen sprachen nicht mehr die schonende Sprache der letzten Heeresberichte. Sie sprachen erbarmungslos die Sprache der Niederlage; so erbarmungslos, wie die Heeresberichte immer nur von feindlichen Niederlagen gesprochen hatten. Daß es so etwas auch für »uns« geben konnte – und zwar nicht als Zwischenfall, sondern als das Endergebnis von lauter Siegen und Siegen

– mein Kopf faßte es nicht.

Ich las die Bedingungen wieder und wieder, den Kopf im Nacken, wie ich vier Jahre lang die Heeresberichte gelesen hatte. Schließlich löste ich mich aus der Menschenmenge und ging davon, ohne zu wissen, wohin ich ging. Die Gegend, in die ich auf der Suche nach Nachrichten geraten war, war mir fast fremd, und jetzt geriet ich in eine noch fremdere; ich trieb durch Straßen, die ich nie gesehen hatte. Ein feiner Novemberregen fiel.

Wie diese fremden Straßen, war mir die ganze Welt fremd und unheimlich geworden. Das große Spiel hatte offenbar außer seinen faszinierenden Regeln, die ich kannte, noch geheime Regeln besessen, die mir entgangen waren. Es mußte etwas daran scheinbar und falsch gewesen sein. Wo aber war ein Halt, wo Sicherheit, Glauben und Vertrauen, wenn das Weltgeschehen so hinterhältig war, wenn Siege und Siege zu endgültiger Niederlage führten und die wahren Regeln des Geschehens nicht verlautbart wurden, sondern sich erst nachträglich enthüllten, im

niederschmetternden Ergebnis? Ich blickte in Abgründe. Ich empfand ein Grauen vor dem Leben.

Ich glaube nicht, daß die deutsche Niederlage irgendjemandem einen tieferen Schock versetzt haben kann als dem elfjährigen Jungen, der da durch die novemberfeuchten fremden Straßen irrte, ohne zu merken, wo er ging, und ohne zu merken, wie ihn der feine Regen allmählich durchnäßte.

Ich glaube insbesondere nicht, daß der Schmerz des Gefreiten Hitler tiefer gewesen sein kann, der, ungefähr um dieselbe Stunde, im Pasewalker Lazarett es nicht aushielt, die Bekanntgabe der Niederlage mitanzuhören. Er reagierte zwar dramatischer als ich: »Mir wurde es unmöglich, noch länger zu bleiben,« schreibt er. »Während es mir um die Augen wieder schwarz ward, tastete und taumelte ich zum Schlafsaal zurück, warf mich auf mein Lager und grub den brennenden Kopf in Decke und Kissen.« Worauf er beschloß, ein Politiker zu werden.

Seltsamerweise eine weit kindlich–trotzigere Geste zugleich als meine. Und das gilt nicht nur für das Äußere. Wenn ich vergleiche, welche inneren Folgerungen Hitler und ich aus dem gemeinsam erlebten Schmerz zogen: der eine Wut, Trotz und den Beschluß, ein Politiker zu werden, der andere Zweifel an der Gültigkeit der Spielregeln und ahnendes Grauen vor der Unberechenbarkeit des Lebens – wenn ich dies vergleiche, kann ich mir nicht helfen: Ich finde die Reaktion des elfjährigen Jungen reifer als die des neunundzwanzigjährigen Mannes.

Jedenfalls stand es von diesem Augenblick an zweifellos in den Sternen, daß ich mit Hitlers Reich auf keinem freundlichen Fuß würde stehen können.

6

Vorerst hatte ich es ja aber nun nicht mit Hitlers Reich zu tun, sondern mit der Revolution von 1918

und mit der deutschen Republik.

Die Revolution wirkte auf mich und meine Altersgenossen gerade umgekehrt wie der Krieg: Der Krieg hatte unser wirkliches, tägliches Leben bis zur Langweiligkeit unverändert gelassen, dafür aber unserer Phantasie reichsten und unerschöpflichen Stoff gegeben. Die Revolution brachte viel Neues in die tägliche Wirklichkeit, und das Neue war bunt und aufregend genug – ich werde gleich davon erzählen –, aber sie ließ die Phantasie unbeschäftigt. Sie hatte nicht, wie der Krieg, sozusagen ein einfaches und einleuchtendes Dasein, in das man die Ereignisse einordnen konnte. Alle ihre Krisen, Streiks, Schießereien, Putsche, Demonstrationszüge blieben widerspruchsvoll und verwirrend. Nie wurde es recht klar, um was es eigentlich ging. Man konnte sich nicht begeistern. Man konnte nicht einmal verstehen.

Bekanntlich war die Revolution von 1918 keine vorausbedachte und geplante Operation. Sie war ein Nebenprodukt des militärischen Zusammenbruchs. Das Volk – wirklich das Volk! An Führung fehlte es fast vollständig – fühlte sich von seinen militärischen und politischen Führern hintergangen und verscheuchte sie. Verscheuchte; nicht einmal: vertrieb. Denn auf die erste drohende und wegscheuchende Geste hin verschwanden alle, vom Kaiser abwärts, geräusch– und spurlos; ungefähr ebenso geräusch– und spurlos wie später, 1932/33, die Führer der Republik. Die deutschen Politiker von rechts bis links verstehen sich schlecht auf die Kunst des Verlierens.

Die Macht lag auf der Straße. Unter denen, die sie aufnahmen, befanden sich nur sehr wenige wirkliche Revolutionäre; und auch die hatten, wenn man es rückschauend betrachtet, wenig klare Vorstellungen von dem, was sie nun eigentlich wollten und wie sie es zustande bringen wollten (es ist schließlich doch nicht nur Pech, sondern auch ein Zeichen mangelnder Begabung, daß sie fast sämtlich binnen eines halben Jahres nach der Revolution abgeknallt waren).

Die meisten unter den neuen Machthabern waren verlegene Biedermänner, längst alt und bequem geworden in den Gewohnheiten loyaler Opposition, überaus bedrückt von der unerwartet in ihre Hände gefallenen Macht und ängstlich darauf bedacht, sie so bald wie möglich wieder auf gute Art loszuwerden.

Und schließlich gab es eine Anzahl Saboteure unter ihnen, die entschlossen waren, die Revolution

»aufzufangen«, will sagen: zu verraten. Der schauerliche Noske ist der bekannteste unter ihnen geworden.

Es entwickelte sich nun das Spiel, daß die wirklichen Revolutionäre eine Anzahl schlecht organisierter und dilettantischer Putsche machten, und die Saboteure gegen sie die Gegenrevolution auf den Plan riefen, die sogenannten »Freicorps«, die dann, als Regierungstruppen verkleidet, binnen ein paar Monaten mit der Revolution blutig aufräumten.

An diesem ganzen Schauspiel war beim besten Willen nichts Begeisterndes zu entdecken. Als bürgerliche Jungen, die obendrein eben erst unsanft aus einem vierjahrelangen patriotisch–

kriegerischen Rausch gerissen waren, konnten wir selbstverständlich nur »gegen« die roten Revolutionäre sein: gegen Liebknecht, Rosa Luxemburg und ihren »Spartakusbund«, von dem wir nur dunkel wußten, daß er uns »alles wegnehmen«, unsere Eltern, soweit sie wohlhabend waren, wahrscheinlich töten und überhaupt schreckliche, »russische« Zustände einführen wollte. Wir waren also, schlecht und recht, »für« Ebert und Noske und ihre Freicorps. Aber sich irgendwie für diese Gestalten zu erwärmen, war leider auch wieder unmöglich. Das Schauspiel, das sie boten, war zu offensichtlich widerlich. Das Aroma von Verrat, das ihnen anhaftete, war zu penetrant: Es drang bis in die Nasen der Zehnjährigen. (Ich möchte hier noch einmal betonen, daß die politische Reaktion von Kindern, historisch gesehen, durchaus beachtenswert ist: Was »jedes Kind weiß«, ist meist die letzte, unableugbarste Quintessenz eines politischen Vorgangs.) Es war irgendetwas faul daran, daß die martialischen und grausamen Freicorps – die wir vielleicht nicht ungern hätten Hindenburg und den Kaiser zurückholen sehen – mit Emphase für »die Regierung« kämpften: also für Ebert und Noske, Leute, die offensichtlich Verräter ihrer eigenen Sache waren und übrigens auch genau so aussahen.

Dazu kam noch, daß die Ereignisse, seit sie uns so nah auf den Leib gerückt waren, viel unübersichtlicher und schwerer zu verstehen waren als zuvor, solange sie im fernen Frankreich gespielt hatten und vom Heeresbericht täglich ins rechte Licht gesetzt worden waren. Jetzt hörte man zeitweise fast täglich schießen, aber man erfuhr keineswegs immer, was es bedeutete.

Den einen Tag gab es keine Elektrizität, am andern fuhren die Straßenbahnen nicht, aber es blieb undeutlich, ob man gerade den Spartakisten oder der Regierung zuliebe Petroleum brennen oder zu Fuß gehen mußte. Man bekam Flugzettel in die Hand gedrückt oder las Plakate mit der Überschrift

»Die Stunde der Abrechnung naht!«, und man mußte sich erst durch lange Absätze voller Beschimpfungen und unentwirrbarer Vorwürfe hindurchlesen, bis man merkte, ob mit den

»Verrätern«, »Arbeitermördern«, »gewissenlosen Volksverführern« usw. jeweils Ebert und Scheidemann oder Liebknecht und Eichhorn gemeint sein sollten. Demonstrationszüge sah man täglich. Die Demonstranten hatten damals die Gewohnheit, auf irgendwelche aus ihrer Mitte gleichsam ausgebrachten Toaste im Chor je nachdem »Hoch« oder »Nieder« zu rufen. Aus einiger Entfernung nun hörte man jeweils nur das tausendstimmige »Hoch« oder »Nieder« – die Solostimme, die das Stichwort gegeben hatte, war unhörbar aus der Entfernung; und so wußte man wiederum nicht, woran man war.

Das ging so, mit Unterbrechungen, ein gutes halbes Jahr lang; dann begann es abzuklingen, nachdem es schon lange zuvor sinnlos geworden war. Das Schicksal der Revolution war im Grunde besiegelt – ich wußte es damals allerdings natürlich nicht –, als am 24. Dezember die Arbeiter und Matrosen nach siegreicher Straßenschlacht vor dem Schloß sich zerstreuten und nach Hause gingen, um Weihnachten zu feiern. Nach dem Fest gingen sie zwar aufs neue auf den Kriegspfad, aber inzwischen hatte die Regierung bereits hinlängliche Freicorps zusammengezogen. Vierzehn Tage lang gab es in Berlin keine Zeitungen, sondern nur näheres und entfernteres Schießen – und Gerüchte. Dann gab es wieder Zeitungen, die Regierung hatte gesiegt, und einen Tag später kam die Nachricht, daß Liebknecht und Rosa Luxemburg erschossen seien, beide auf der Flucht. Meines Wissens ist dies die Entstehung des »Auf der Flucht Erschießens«, das seither die übliche Umgangsform mit politischen Gegnern östlich des Rheins geworden ist. Damals war man noch so wenig daran gewöhnt, daß viele es sogar wörtlich auffaßten und glaubten: Zivilisierte Zeiten!

So war die Entscheidung gegen die Revolution gefallen, aber keineswegs trat Ruhe ein; im Gegenteil, die schwersten Straßenkämpfe kamen in Berlin erst im März (und in München im April), als es eigentlich nur noch, sozusagen, um die Bestattung des Leichnams der Revolution ging. In Berlin brachen sie aus, als die »Volksmarinedivision«, die ursprüngliche Truppe der Revolution, formell und mit schlichtem Abschied von Noske aufgelöst wurde: Sie ließ sich nicht auflösen, sie wehrte sich, die Arbeiter des Berliner Nordostens fielen ihr bei, und acht Tage lang kämpften die »irregeleiteten Massen«, die es nicht verstehen konnten, daß ihre eigene Regierung wieder ihre Feinde gegen sie führte, einen verzweifelten, aussichtslosen und furchtbar erbitterten Kampf. Der Ausgang stand von vornherein fest, und die Rache der Sieger war schrecklich. Es ist bemerkenswert, daß damals, im Frühjahr 1919, als die linke Revolution sich vergebens bemühte, Form zu gewinnen, die spätere Nazirevolution, nur ohne Hitler, bereits fertig und mächtig dastand: Die Freicorps, von denen sich damals Ebert und Noske retten ließen, waren bis zur personellen Identität, und erst recht in Ansichten, Gehaben und Kampfstil einfach dasselbe wie die späteren Nazi–Sturmtruppen. Sie hatten bereits das »Erschießen auf der Flucht« erfunden, sie waren schon ein gutes Stück weit in die Folterwissenschaft eingedrungen, und sie hatten bereits eine großzügige Art, unbedeutendere Kampfgegner einfach ohne viel Fragen und ohne Unterschied an die Wand zu stellen, die den 30.

Juni 1934 vorausnimmt. Es fehlte nur noch die Theorie zur Praxis: Die lieferte später Hitler.

7

Wenn ich es recht bedenke, muß ich sagen, daß auch die Hitlerjugend damals schon fast fertig dastand. In unserer Klasse zum Beispiel hatten wir damals einen Club gebildet, der sich »Rennbund Altpreußen« nannte und das Motto führte: Anti–Spartakus, Sport und Politik! Die Politik bestand darin, daß wir einige Unglückliche, die erklärten, sie seien für die Revolution, gelegentlich auf dem Schulweg verprügelten. Im übrigen war die Hauptbetätigung der Sport: Wir organisierten Wettläufe auf Schulhöfen oder in öffentlichen Anlagen, hatten dabei das Gefühl, uns überaus

antispartakistisch zu betätigen, kamen uns sehr wichtig und patriotisch vor und rannten fürs Vaterland. Was war das eigentlich anderes als die spätere Hitlerjugend? Wiederum fehlten nur noch ein paar Züge, die Hitlers persönliche Neigungen später hinzugefügt haben, zum Beispiel der Antisemitismus. Bei uns rannten unsere jüdischen Mitschüler noch genau so antispartakistisch und patriotisch mit wie alle anderen; ein Jude war sogar unser bester Läufer. Ich kann beeiden, daß sie nichts taten, um die nationale Einigkeit zu unterminieren.

Während der Märzkämpfe 1919 fand die normale Tätigkeit des Rennbunds Altpreußen eine vorübergehende Unterbrechung, weil unsere Sportplätze sich für einige Zeit in Schlachtfelder verwandelten. Unser Stadtviertel rückte in den Mittelpunkt der Straßenkämpfe. Unsere Schule wurde ein Hauptquartier der Regierungstruppen, eine danebenliegende Volksschule, wie symbolisch!, ein Stützpunkt der »Roten«, und tagelang wurde um den Besitz der beiden Gebäude gekämpft. Unser Direktor, der in seiner Amtswohnung geblieben war, wurde totgeschossen, die Hausfassade war, als wir sie wiedersahen, ganz durchlöchert von Einschüssen, und unter meiner Schulbank war noch wochenlang, als die Schule wieder stattfand, ein nicht zu beseitigender riesiger Blutfleck. Wir hatten unprogrammäßige Ferien, wochen– und wochenlang, und wir empfingen während dieser Zeit sozusagen unsere Feuertaufe: Denn wann immer wir nur konnten, drückten wir uns zu Hause davon und suchten die Stellen auf, wo gekämpft wurde, um »etwas zu sehen«.

Viel bekamen wir nicht zu sehen – selbst die Straßenkämpfe zeigten die »moderne Leere des Schlachtfeldes«. Aber umso mehr gab es zu hören: Gegen den Klang von normalen

Maschinengewehren, Feldartillerie oder gar Schützenfeuer waren wir bald ganz abgehärtet.

Aufregend wurde es erst, wenn Minenwerfer und schwere Geschütze herauszuhören waren.

Es wurde ein Sport, in abgesperrte Straßen hineinzukommen, indem man durch Häuser, Höfe und Keller schlich und plötzlich im Rücken der Absperrungstruppen auftauchte, weit hinter den Schildern: »Halt! Wer weitergeht, wird erschossen.« Wir wurden nicht erschossen. Niemand tat uns etwas.

Die Absperrungen funktionierten überhaupt nicht immer besonders gut, und das normale zivile Straßenleben vermischte sich oft mit den Kampfhandlungen auf eine Art, die den Sinn für das Groteske wecken mußte. Ich erinnere mich an einen schönen Sonntag, einen der ersten warmen Sonntage im Jahr, mit Massen von Spaziergängern eine breite Allee entlangwogend; es war überaus friedlich, nicht einmal Schießen irgendwo zu hören. Auf einmal flutete alles Volk rechts und links in die Hauseingänge, Panzerwagen kamen herangerasselt, man hörte draußen furchtbar nahe Detonationen, Maschinengewehre erwachten plötzlich, fünf Minuten lang war die Hölle los – dann rasselten die Wagen weiter und davon, entfernten sich, das Maschinengewehrfeuer starb weg. Wir Jungen wagten uns als erste aus dem Hausflur und sahen ein seltsames Bild; die ganze Allee leergefegt von Menschen, dafür aber vor jedem Haus kleinere und größere Haufen von

Glasscherben: die Fensterscheiben hatten die Erschütterung der nahen Schüsse nicht ausgehalten.

Dann kamen, da nichts mehr geschah, schüchtern die Spaziergänger wieder aus den Hausfluren hervor, und ein paar Minuten später wogte die Straße wieder von frühlingshaft spazierengehendem Volk, als ob nichts geschehen wäre.

Seltsam unwirklich war das alles. Man bekam auch nie eine Erklärung für Einzelheiten. Nie erfuhr ich zum Beispiel, was gerade diese Schießerei bedeutet hatte. Die Zeitungen brachten nichts darüber.

Dagegen erfuhr man aus ihnen, daß gerade an diesem Sonntag, während wir unter dem blauen Frühlingshimmel spazieren gingen, wenige Kilometer entfernt, im Vorort Lichtenberg, mehrere hundert (oder gar tausend? die Zahlenangaben schwankten) gefangene Arbeiter

zusammengetrieben und durch Reihenfeuer »umgelegt« worden waren. Das erschreckte uns. Es war so viel näher und wirklicher als alles, was die Jahre vorher im fernen Frankreich geschehen war.

Da aber nichts darauf erfolgte, niemand von uns einen der Toten gekannt hatte und auch die Zeitungen am nächsten Tage schon wieder anderes zu berichten hatten, wurde der Schrecken auch wieder vergessen. Das Leben ging weiter. Das Jahr rückte vor, in den schönen Sommer hinein. Die Schule fing irgendwann wieder an, und auch der »Rennbund Altpreußen« nahm seine segensreiche und patriotische Tätigkeit wieder auf.

8

Seltsamerweise hielt sich die Republik. Seltsamerweise – so muß man wohl sagen angesichts der Tatsache, daß ihre Verteidigung spätestens vom Frühjahr 1919 ab ausschließlich in den Händen ihrer Feinde ruhte; denn damals waren alle militanten revolutionären Organisationen zerschlagen, ihre Führer tot, ihre Mannschaften dezimiert, und nur die »Freicorps« trugen Waffen – die Freicorps, die in Wirklichkeit bereits gute Nazis waren, nur ohne den Namen. Warum stürzten sie ihre schwachen Herren nicht und richteten schon damals ein Drittes Reich auf? Schwer wäre es kaum gewesen.

Ja, warum taten sie es nicht? Warum enttäuschten sie die Hoffnungen, die sicher viele auf sie setzten, nicht nur wir vom »Rennbund Altpreußen«?

Wahrscheinlich aus demselben höchst irrationalen Grunde, aus dem später die Reichswehr die Hoffnungen all der vielen enttäuschte, die in den ersten Jahren des Dritten Reichs dachten, sie würde eines Tages der entsetzlichen Kompromittierung ihrer eigenen Ideale und Ziele durch Hitler ein Ende machen: Weil deutsches Militär keine Zivilcourage hat.

Zivilcourage – also der Mut zum eigenen Entschluß und zur eigenen Verantwortung – ist in Deutschland ohnehin eine rare Tugend, wie schon Bismarck in einem bekannten Ausspruch bemerkt hat. Aber sie verläßt den Deutschen vollkommen, wenn er eine Uniform anzieht. Der deutsche Soldat und Offizier, zweifellos hervorragend tapfer auf dem Schlachtfeld, fast stets auch bereit, auf Befehl der Obrigkeit auf seine zivilen Landsleute zu schießen, wird furchtsam wie ein Hase, wenn er sich gegen diese Obrigkeit stellen soll. Der Gedanke daran zaubert ihm sofort das Schreckbild eines Erschießungspelotons vor Augen, und das lähmt ihn vollkommen. Er fürchtet gewiß nicht den Tod: Aber diese eine bestimmte Todesart fürchtet er, und sie fürchterlich. Dieser Umstand macht jeden Ungehorsams– und Staatsstreichversuch deutschen Militärs ein für allemal unmöglich – mag regieren, wer will.

Das einzige scheinbare Gegenbeispiel ist in Wirklichkeit gerade ein Beispiel für meine Behauptung: Der Kapp–Putsch vom März 1920, der Staatsstreichversuch einiger antirepublikanischer politischer Außenseiter. Obwohl sie einen Teil der republikanischen Heerführung ganz und den Rest halb und halb auf ihrer Seite hatten, obwohl die Administration sofort ihre Schwäche zeigte und keinen eigenen Widerstand wagte, obwohl Leute mit solcher militärischen Werbekraft wie Ludendorff mit von der Partie waren, war es doch schließlich nur ein einziger Truppenteil, die sogenannte Brigade Ehrhardt, die das Unternehmen mitmachte. Alle anderen Freicorps blieben »regierungstreu« – und sorgten dann freilich dafür, daß auch dieser Putschversuch der Rechten mit einer Züchtigung der Linken endete.

Das ist eine trübe Geschichte, und sie ist schnell erzählt. Als die Brigade Ehrhardt eines Sonnabends morgens durch das Brandenburger Tor marschierte, entwich die Regierung und brachte sich in Sicherheit, nachdem sie noch schnell die Arbeiter zum Generalstreik aufgerufen hatte.

Kapp, der Führer des Putschs, rief die nationale Republik unter der schwarzweißroten Fahne aus, die Arbeiter streikten, die Armee blieb »regierungstreu«, die neue Administration kam nicht in Gang, und fünf Tage später dankte Kapp wieder ab.

Die Regierung kam zurück und forderte die Arbeiter auf, wieder an die Arbeit zu gehen. Die aber verlangten jetzt ihren Lohn: Mindestens sollten erst einige gar zu offensichtlich kompromittierte Minister verschwinden, voran der berüchtigte Noske – worauf die Regierung wieder ihre treuen Truppen gegen sie einsetzte; und die leisteten aufs neue großzügige Blutarbeit, namentlich in Westdeutschland, wo es zu richtigen Schlachten kam.

Jahre später hörte ich einen ehemaligen Freicorpsmann davon erzählen, der dabeigewesen war.

Nicht ohne ein gewisses gutmütiges Mitgefühl berichtete er von den Opfern, die damals zu Hunderten gefallen oder »auf der Flucht erschossen« worden waren. »Es war die Blüte der Arbeiterjugend«, sagte er mehrfach gedankenvoll und melancholisch. Dies war offenbar die Formel, unter der er die Ereignisse in seinem Gehirn aufbewahrte. »Tapfere Jungens zum Teil«, fuhr er anerkennend fort. »Nicht wie 1919 in München: Das waren Schlawiner, Juden und Tagediebe, mit denen hatte ich keinen Funken Mitleid. Aber 1920 im Ruhrgebiet, das war wirklich die Blüte der Arbeiterjugend. Um manche hat es mir richtig leidgetan. Aber sie waren so dickköpfig, sie ließen uns gar keine Wahl, wir mußten sie eben erschießen. Wenn wir ihnen eine Chance geben wollten und beim Verhör fragten: Also, ihr seid nur verführt, nicht wahr, dann schrien sie, nein, und nieder mit den Arbeitermördern und Volksverrätern. Na, da half es ja dann nichts, und wir mußten sie eben erschießen, immer dutzendweise. Unser Oberst sagte am Abend, so weh wäre ihm nie ums Herz gewesen. Ja, das war die Blüte der Arbeiterjugend, die da gefallen ist, 1920 im Ruhrgebiet.«

Als diese Dinge geschahen, wußte ich freilich nichts von ihnen. Sie geschahen ja auch fern im Ruhrgebiet; in Berlin ging es weniger dramatisch zu, ja geradezu unblutig und zivil. Nach den wilden Schießereien von 1919 wirkte dieser März 1920 lautlos und unheimlich. Gerade daß nichts geschah, und nur alles Leben stillstand, war das Unheimliche. Eine seltsame Revolution. Ich will erzählen:

An einem Sonnabend geschah es. Mittags im Bäckerladen erzählten sich die Leute, daß jetzt »Der Kaiser wiederkäm«. Nachmittags in der Schule – wir hatten damals oft nachmittags Schule, die Hälfte der Schulgebäude war wegen Kohlenknappheit geschlossen, und je zwei Schulen teilten sich vor– und nachmittags in ein Gebäude – fiel der Unterricht aus, und wir spielten bei schönem Wetter auf dem Schulhof »Rote und Nationale«, wobei die Schwierigkeit darin bestand, daß keiner Roter sein wollte. Alles war durchaus erfreulich, nur einstweilen noch etwas unglaubhaft; es war so plötzlich gekommen, und man wußte keine Einzelheiten.

Man erfuhr auch weiterhin keine, denn bereits am Abend gab es keine Zeitungen, und übrigens, wie sich nachher herausstellte, auch kein Licht. Am nächsten Morgen gab es, zum ersten Mal, auch kein Wasser. Auch die Post bestellte nicht. Es fuhren auch keine Verkehrsmittel. Und die Läden waren geschlossen. Es gab, mit einem Wort, überhaupt nichts.

An einigen Straßenecken in unserer Gegend gab es noch altertümliche Brunnen, die nichts mit den Wasserwerken zu tun hatten. Diese Brunnen erlebten jetzt große Tage: Zu Hunderten standen die Leute vor ihnen Schlange, mit Kannen und Eimern, und holten sich ihre Wasserrationen; ein paar rüstige junge Männer pumpten. Vorsichtig balancierte man nachher mit seinen vollen Eimern durch die Straßen, um nichts von dem kostbaren Naß zu verschütten.

Sonst, wie gesagt, geschah nichts. Es geschah sogar gewissermaßen weniger als nichts, nämlich nicht einmal das, was an jedem gewöhnlichen Tag ohnehin geschieht. Keine Schießereien, keine Demonstrationszüge, keine Aufläufe und Straßendiskussionen. Nichts.

Am Montag fiel auch die Schule wieder aus. Es herrschte immer noch eitel Befriedigung dort, gemischt freilich mit leichter Beklemmung, weil alles gar seltsam vonstatten ging. Unser Turnlehrer, der sehr »national« war (alle Lehrer waren »national«, aber niemand mehr als die Turnlehrer) erklärte zwar mehrfach mit Überzeugung: »Man merkt doch gleich, daß eine ganz andere Hand am Steuer ist«. Aber, um die Wahrheit zu sagen, man merkte überhaupt nichts, und auch er sagte das wohl nur, um sich darüber hinwegzutrösten, daß er überhaupt nichts merkte.

Wir zogen von der Schule aus nach den »Linden«, aus einem dunklen Gefühl heraus, daß man an großen vaterländischen Tagen »Unter den Linden« sein müsse, und auch in der Hoffnung, man werde dort etwas sehen oder etwas erfahren. Aber es war nichts zu sehen und nichts zu erfahren. Ein paar Soldaten standen gelangweilt hinter überflüssigerweise aufgebauten Maschinengewehren herum.

Niemand kam, sie anzugreifen. Alles wirkte eigentümlich sonntäglich, besinnlich und friedlich. Das machte der Generalstreik.

In den nächsten Tagen wurde es einfach langweilig. Das Anstehen nach Wasser am Brunnen, das zuerst immerhin den Reiz der Neuheit gehabt hatte, wurde bald ebenso lästig wie das

Nichtfunktionieren der WCs, der Mangel irgendwelcher Neuigkeiten oder auch nur Briefe, die Schwierigkeit, Nahrungsmittel zu beschaffen, die abendliche Stockdunkelheit und überhaupt der ganze ewige Übersonntag. Auch geschah nichts national Begeisterndes zum Ausgleich, keine Truppenparaden, keine Aufrufe »An mein Volk«, nichts, gar nichts. (Ja, wenn es das Radio schon gegeben hätte!) Nur einmal erschienen Maueranschläge: »Das Ausland interveniert nicht.« Nicht einmal das also!

Und dann hieß es eines Tages plötzlich wieder, Kapp habe abgedankt. Genaueres erfuhr man nicht, aber da man am nächsten Tag hier und da wieder Schießen hörte, merkte man schon, die gute alte Regierung war wieder da. Irgendwann begann es in den Wasserleitungen wieder zu schnauben und zu sausen. Kurz darauf war wieder Schule. Alles sah dort ein wenig begossen aus. Und dann gab es sogar wieder Zeitungen.

Nach dem Kapp–Putsch erlahmte unter uns Jungen das Interesse an der Tagespolitik allgemein. Alle Richtungen waren jetzt gleichermaßen blamiert, und das ganze Gebiet verlor seinen Reiz. Der

»Rennbund Altpreußen« löste sich auf. Viele von uns suchten neue Interessengebiete:

Markensammeln zum Beispiel, Klavierspielen oder Theater. Nur ein paar blieben der Politik treu, und zwar fiel es mir zum ersten Mal auf, daß das komischerweise mehr die Dummen, Rohen und Unsympathischen waren. Sie traten jetzt in »richtige« Bünde ein, in den Deutschnationalen Jugendverein zum Beispiel oder in den Bismarckbund (die Hitlerjugend gab es noch nicht), und bald zeigten sie in der Schule Schlagringe, Gummiknüppel oder gar »Totschläger« vor, rühmten sich gefährlicher nächtlicher Plakatanklebe– oder Plakatabreißpartien und begannen, einen bestimmten Jargon zu sprechen, der sie von allen anderen unterschied. Auch fingen sie an, sich

unkameradschaftlich gegen die Juden unter uns zu benehmen.

Einen von ihnen sah ich damals, bald nach dem Kapp–Putsch, in einer langweiligen Stunde seltsame Figuren auf sein Heft kritzeln, immer wieder dasselbe: Ein paar Striche, die sich auf überraschende und befriedigende Weise zu einem symmetrischen, kästchenartigen Ornament formten. Ich war gleich in Versuchung, es nachzumachen. »Was ist das?« fragte ich, flüsternd, denn es war in einer, wenn auch langweiligen, Schulstunde. »Antisemitenabzeichen«, flüsterte er im Telegrammstil zurück. »Haben die Ehrhardt–Truppen am Stahlhelm getragen. Bedeutet: Juden raus.

Muß man kennen.« Und er kritzelte geläufig weiter.

Das war meine erste Bekanntschaft mit dem Hakenkreuz. Es war das einzige, was der Kapp–Putsch Bleibendes hinterließ. Man sah es öfter in der nächsten Zeit.

9

Erst zwei Jahre später wurde Politik mit einem Schlage wieder interessant, und zwar dank dem Auftreten eines einzigen Mannes: Walther Rathenau.

Nie vorher und nie nachher hat die deutsche Republik einen Politiker hervorgebracht, der so auf die Phantasie der Massen und der Jugend wirkte. Stresemann und Brüning, die längere Wirkungszeiten hatten und die durch ihre Politik in gewissem Sinne zwei kurze Geschichtsperioden prägten, hatten niemals als Personen dieselbe Magie. Höchstens Hitler kann in einem bestimmten Sinn zum Vergleich herangezogen werden, und auch mit einer Einschränkung: Um ihn ist seit langem soviel bewußt gelenkte Publicity, daß es heute kaum mehr möglich ist, die echte Wirkung der Person von der Mache zu unterscheiden.

Zu Rathenaus Zeiten gab es noch kein politisches Starwesen, und er selbst tat nicht das Geringste, um sich in Szene zu setzen. Er ist das stärkste Beispiel, das ich erlebt habe, für den geheimnisvollen Vorgang, der stattfindet, wenn in der öffentlichen Sphäre »der große Mann« erscheint: ein plötzlicher Kontakt mit der Masse durch alle Winde hindurch; ein allgemeines Wittern und Aufhorchen, eine plötzliche Spannung, ein Interessantwerdendes Uninteressanten; ein »Nicht–um–ihn–

herumkommen«, unvermeidliche leidenschaftliche Parteinahme; aufschießende Legende,

aufschießender Persönlichkeitskult, Liebe, Haß. Das alles unwillkürlich und unvermeidlich, fast unbewußt. Es ist die Wirkung des Magneten in einem Haufen von Eisenspänen – genauso

unvernünftig, genau so unentrinnbar, genau so unerklärlich.

Rathenau wurde Wiederaufbauminister, dann Außenminister – und auf einmal fühlte man, daß Politik wieder stattfand. Wenn er auf eine internationale Konferenz reiste, hatte man zum ersten Mal wieder das Gefühl, daß Deutschland vertreten war. Er schloß ein »Sachlieferungsabkommen« mit Loucheur, er schloß einen Freundschaftsvertrag mit Tschitscherin – und obwohl kaum einer sich vorher unter »Sachlieferungen« irgendetwas hatte vorstellen können, und obwohl der Text des russischen Vertrages mit seiner diplomatischen Formalsprache den wenigsten etwas sagte, redete man über beides erregt in den Lebensmittelläden und vor den Zeitungsständen, und wir Sekundaner boten uns Ohrfeigen an, weil die einen die Verträge »genial« nannten, während die andern von

»jüdischem Volksverrat« sprachen.

Aber es war nicht die Politik allein. Man sah in den illustrierten Zeitungen das Gesicht, wie das aller anderen Politiker, und während man die anderen vergaß, verfolgte einen dies und sah einen an: mit dunklen Augen voller Klugheit und Trauer. Man las seine Reden und man spürte, jenseits des Inhalts, einen unüberhörbaren Ton, in dem Anklage, Forderung und Verheißung war: einen Prophetenton. Viele griffen zu seinen Büchern (auch ich tat es): Und wieder spürte man einen dunkel–pathetischen Appell, etwas zugleich Bezwingendes und Überredendes, Forderndes und Werbendes. Zugleich: In diesem Zugleich lag ihr tiefer Reiz. Sie waren zugleich nüchtern und phantastisch, zugleich desillusionierend und aufrüttelnd, zugleich skeptisch und gläubig. Das kühnste sprachen sie mit der zögerndsten, leisesten Stimme aus.

Rathenau hat seltsamerweise noch nicht die große Biographie gefunden, die er verdient. Er gehört ohne jeden Zweifel zu den fünf, sechs großen Persönlichkeiten dieses Jahrhunderts. Er war ein aristokratischer Revolutionär, ein idealistischer Wirtschaftsorganisator, als Jude deutscher Patriot, als deutscher Patriot liberaler Weltbürger, und als liberaler Weltbürger wiederum ein Chiliast und strenger Diener des Gesetzes (also, in dem einzigen ernsthaften Sinn: Jude). Er war gebildet genug, um über Bildung, reich genug, um über Reichtum, Weltmann genug, um über die Welt erhaben zu sein. Es war zu spüren, daß er, wäre er nicht deutscher Außenminister von 1922 gewesen, auch ein deutscher Philosoph von 1800, ein internationaler Finanzkönig von 1850, ein großer Rabbi oder ein Anachoret hätte sein können. Er vereinte in sich das Unvereinbare auf eine gefährliche, gerade dieses eine Mal mögliche, etwas beängstigende Weise. Die Synthese eines ganzen Bündels von Kulturen und Ideenströmen war in ihm – nicht: Gedanke; nicht: Tat; aber: Person geworden.

Sieht so ein Massenführer aus? wird man fragen. Seltsamerweise heißt die Antwort: Ja. Die Masse –

womit ich nicht das Proletariat meine, sondern jenes anonyme Kollektivwesen, zu dem wir alle, hoch oder niedrig, immer wieder in gewissen Augenblicken zusammenschießen – die Masse reagiert am stärksten auf den, der ihr am unähnlichsten ist. Normalität, gepaart mit Tüchtigkeit, mag populär machen; aber letzte Liebe und letzter Haß, Vergottung und Verteufelung, gilt nur dem äußerst Abnormalen, der Masse ganz Unerreichbaren, mag er weit über oder weit unter ihr stehen. Wenn irgendetwas, glaube ich dies aus meiner deutschen Erfahrung zu wissen. Rathenau und Hitler sind die beiden Erscheinungen gewesen, die die Phantasie der deutschen Masse aufs äußerste gereizt haben: der eine durch seine unfaßliche Kultur, der andere durch seine unfaßliche Gemeinheit.

Beide, das ist das Entscheidende, kamen aus unzugänglichen Regionen, aus irgendeinem »Jenseits«.

Der eine aus jener Sphäre letzter Spiritualität, wo die Kulturen dreier Jahrtausende und zweier Erdteile ihr Symposion halten – der andere aus einem Dschungel weit unterhalb der Lotung letzter Schundliteratur, aus einer Unterwelt, wo dem zusammengebrauten Muff von

Kleinbürgerhinterzimmern, Obdachlosenasylen, Kasernenaborten und Hinrichtungshöfen Dämonen entsteigen. Beide besaßen, aus ihrem »Jenseits« heraus, echte Zauberkraft; gleichgültig, was ihre Politik war.

Es ist schwer zu sagen, wohin Rathenaus Politik Deutschland und Europa geführt hätte, hätte er Zeit gehabt, sie durchzuführen. Bekanntlich hatte er diese Zeit nicht, da er nach einem halben Jahr Amtsführung ermordet wurde.

Ich erzählte schon, daß Rathenau massenhaft echte Liebe und echten Haß erregte. Dieser Haß war ein wilder, irrationaler, zu keiner Diskussion bereiter Urhaß, wie ihn wiederum seither nur ein deutscher Politiker geerntet hat: Hitler. Es versteht sich, daß die Hasser Rathenaus und die Hasser Hitlers sich irgendwie entsprechend von einander unterschieden wie diese beiden Persönlichkeiten selbst. »Das Schwein muß gekillt werden« – das war die Sprache der Gegner Rathenaus. Dennoch war es überraschend, daß eines Tages die Mittagszeitungen ganz schlicht und ohne weiteres die Überschrift hatten: Außenminister Rathenau ermordet. Man hatte ein Gefühl, als wiche einem der Boden unter den Füssen, und dies Gefühl verstärkte sich, wenn man las, wie überaus leicht, mühelos und geradezu selbstverständlich die Tat vonstattengegangen war:

Rathenau fuhr allmorgendlich um eine bestimmte Zeit von seinem Haus im Grunewald im offenen Auto zur Wilhelmstraße. Eines Morgens nun wartete in der stillen Villenstraße ein anderes Auto, fuhr hinter dem Wagen des Ministers her, überholte es – und im Moment des Überholens schossen seine Insassen, drei junge Leute, alle zugleich, aus nächster Nähe, ihre Revolver auf Kopf und Brust des Opfers ab. Dann mit Vollgas davon. (Heut steht ein Gedenkstein für sie an der Stelle.) So einfach war das also. Ein Columbus–Ei, in gewissem Sinne. Hier war es passiert, bei uns in Berlin–Grunewald, nicht etwa in Caracas oder Montevideo. Man konnte sich die Stelle ansehen: Eine Vorortstraße wie alle andern. Die Täter, wie man bald erfuhr, waren Jungens wie wir, der eine ein Obersekundaner. Hätte es nicht ebensogut dieser oder jener Mitschüler sein können, der neulich noch erklärt hatte: »... muß gekillt werden.«? Neben aller Empörung, allem Zorn und allem Schmerz, war etwas von der fast Lachreiz erregenden Wirkung der erfolgreichen Frechheit zu spüren: Natürlich, furchtbar einfach, man wäre gar nicht darauf gekommen vor Einfachheit. Auf diese Art wurde es wirklich unheimlich, ja unheimlich leicht, Geschichte zu machen. Offenbar gehörte die Zukunft nicht den Rathenaus, die sich die Mühe machten, ungewöhnliche Persönlichkeiten zu werden, sondern den Techows und Fischers, die einfach Autofahren und Schießen lernten.

Diese Empfindung wurde freilich im Augenblick übertönt von einer überwältigenden Mischung aus Trauer und Wut. Nicht die Erschießung der tausend Arbeiter in Lichtenberg 1919 hatte die Massen so aufgebracht wie jetzt die Ermordung dieses einen Mannes, der eigentlich sogar ein Kapitalist gewesen war. Ein paar Tage über den Tod hinaus hielt der Persönlichkeitszauber noch an; es herrschte, einige Tage, etwas, was ich später nie mehr erlebt habe: echte Revolutionsstimmung. Zur Bestattung fanden sich, ohne Zwang und ohne Drohung, ein paar hunderttausend Menschen ein.

Und nachher gingen sie nicht auseinander, sondern zogen stundenlang durch die Straßen, in nicht endenden Zügen, schweigend, grimmig, fordernd. Man spürte: Hätte man diese Massen an diesem Tage aufgefordert, Schluß zu machen mit denen, die damals noch »Reaktionäre« hießen und in Wahrheit bereits die Nazis waren, sie hätten es ohne weiteres getan, rasch, durchgreifend und gründlich.

Niemand forderte sie dazu auf. Man forderte sie vielmehr auf, Disziplin und Ordnung zu bewahren.

Die Regierung beriet viele Wochen lang über ein »Gesetz zum Schutze der Republik«, das leichte Gefängnisstrafen für Ministerbeleidigung einführte und rascher Lächerlichkeit verfiel. Ein paar Monate später stürzte sie trübe und lautlos in sich zusammen und machte einer Rechts–Regierung Platz.

Das letzte, was die kurze Rathenau–Epoche als Nachgefühl zurückließ, war die Bestätigung dessen, was schon 1918/19 gelehrt hatten: daß nichts, was die Linke tut, klappt.

10

Es kam das Jahr 1923. Dieses phantastische Jahr ist es wahrscheinlich, was in den heutigen Deutschen jene Züge hinterlassen hat, die der gesamten übrigen Menschheit unverständlich und unheimlich und die auch dem normalen »deutschen Volkscharakter« fremd sind: jene hemmungslos zynische Phantastik, jene nihilistische Freude am »Unmöglichen« um seiner selbst willen, jene zum Selbstzweck gewordene »Dynamik«. Einer ganzen deutschen Generation ist damals ein seelisches Organ entfernt worden: ein Organ, das dem Menschen Standfestigkeit, Gleichgewicht, freilich auch Schwere gibt, und das sich je nachdem als Gewissen, Vernunft, Erfahrungsweisheit, Grundsatztreue, Moral oder Gottesfurcht äußert. Eine ganze Generation hat damals gelernt – oder zu lernen geglaubt

– daß es ohne Ballast geht. Die Jahre vorher waren eine gute Vorschule des Nihilismus. Im Jahre 1923 aber wurden seine höheren Weihen ausgeteilt.

Kein Volk der Welt hat etwas erlebt, was dem deutschen »1923«–Erlebnis entspricht. Den Weltkrieg haben alle erlebt, die meisten auch Revolutionen, soziale Krisen, Streiks,

Vermögensumschichtungen, Geldentwertungen. Aber keins die phantastische, groteske

Übersteigerung von alledem auf einmal, die 1923 in Deutschland stattfand. Keins diesen gigantischen karnevalistischen Totentanz, dieses nicht endende blutig–groteske Saturnalienfest, in dem nicht nur das Geld, in dem alle Werte entwertet wurden. Das Jahr 1923 machte Deutschland fertig – nicht speziell zum Nazismus, aber zu jedem phantastischen Abenteuer. Die psychologischen und machtpolitischen Wurzeln des Nazismus liegen tiefer zurück, wie wir sahen. Aber damals entstand das, was ihm heute seinen Wahnsinnszug gibt: die kalte Tollheit, die hochfahrend hemmungslose, blinde Entschlossenheit zum Unmöglichen; das »Recht ist, was uns nutzt« und »das Wort unmöglich gibt es nicht«. Offenbar liegen Erlebnisse dieser Art jenseits der Grenze dessen, was Völker ohne seelischen Schaden durchmachen können. Ich schaudere bei dem Gedanken, daß wahrscheinlich ganz Europa nach dem Kriege ein vergrößertes 1923 erleben wird – wenn nicht sehr weise Männer den Frieden machen.

Das Jahr 1923 begann mit einer patriotischen Hochstimmung, fast war es eine Wiedergeburt von 1914. Poincaré besetzte das Ruhrgebiet, die Regierung rief zum passiven Widerstand auf, und bei der deutschen Bevölkerung überwand das Gefühl nationaler Erniedrigung und Gefahr –

wahrscheinlich echter und ernster als 1914 – die angehäuften Bürden der Müdigkeit und Enttäuschung. Das Volk »erhob sich«, es machte eine leidenschaftliche Seelenanstrengung und zeigte seine Bereitschaft – ja wozu? zum Opfer? zum Streit? Es war nicht ganz klar. Nichts wurde von ihm erwartet. Der »Ruhrkrieg« war kein Krieg. Niemand wurde eingezogen. Es gab keine Kriegsberichte. Ohne ein Ziel ließ die kriegerische Stimmung nach. Überall intonierten tagelang Menschenmengen den Rütli–Schwur aus Wilhelm Tell.

Allmählich bekam die Geste etwas Lächerliches, Schamhaftes, weil sie in einer solchen Leere zur Schau gestellt wurde. Außerhalb des Ruhrgebietes geschah überhaupt nichts. An der Ruhr selbst gab es eine Art bezahlten Streik. Nicht nur wurden die Arbeiter bezahlt, sondern auch die Arbeitgeber

– nur zu gut bezahlt, wie bald bekannt wurde. Vaterlandsliebe – oder Ersatz für entfallenen Gewinn?

Einige Monate später bekam der Ruhrkrieg, der so vielversprechend mit dem Rütli Schwur begonnen hatte, den unverkennbaren Geruch der Korruption. Bald regte er niemanden mehr auf. Keiner kümmerte sich um das Ruhrgebiet, weil viel verrücktere Sachen zu Hause sich ereigneten.

Der Zeitungsleser konnte in jenem Jahr wieder eine Variante des aufregenden Zahlenspiels spielen, wie während des Krieges, als die Gefangenenzahlen und die Höhe der Beute die Schlagzeilen beherrscht hatten. Diesmal bezogen sich die Ziffern nicht auf kriegerische Ereignisse, obwohl das Jahr so kriegerisch begonnen hatte, sondern auf eine sonst ganz uninteressante alltägliche Börsenangelegenheit, nämlich die Notierung des Dollarkurses. Die Schwankungen des Dollarwertes waren das Barometer, an dem man mit einer Mischung aus Angst und Erregung den Sturz der Mark ablas. Man konnte mehr beobachten. Je höher der Dollar stieg, desto wilder wurden unsere Flüge ins Reich der Phantasie.

Es war eigentlich nichts Neues an der Abwertung der Mark. Schon 1920 hatte die erste Zigarette, die ich heimlich geraucht habe, fünfzig Pfennig gekostet. Bis Ende 1922 hatten sich die Preise allmählich auf das Zehn– bis Hundertfache des Vorkriegsniveaus erhöht, und der Dollar stand bei etwa 500 Mark. Dies hat sich jedoch allmählich ereignet; Löhne, Gehälter und Preise hatten sich im großen und ganzen gleichmäßig erhöht. Es war etwas unbequem mit den großen Zahlen zu rechnen, aber sonst nicht außergewöhnlich. Viele Leute redeten noch von »Preisanstieg«. Es gab Aufregenderes als das.

Aber nun wurde die Mark verrückt. Schon bald nach dem Ruhrkrieg schoß der Dollar auf 20 000 , hielt eine Weile an, kletterte auf 40 000, zögerte kurze Zeit, und fing dann an, mit kleinen periodischen Schwankungen stoßweise die Zehntausende und Hunderttausende abzuleiern. Keiner wußte genau, wie es geschah. Wir folgten augenreibend dem Vorgang, als ob es sich um ein bemerkenswertes Naturphänomen handelte. Der Dollar wurde Tagesthema, und dann plötzlich sahen wir uns um und erkannten, daß das Ereignis unser Alltagsleben zerstört hatte.

Wer ein Sparkonto, eine Hypothek oder sonst eine Geldanlage besaß, sah es über Nacht verschwinden. Bald machte es nichts aus, ob es sich um einen Spargroschen oder ein

Großvermögen handelte. Alles wurde ausgelöscht. Viele Leute wechselten schnell ihre Anlagen, nur um zu sehen, daß es überhaupt nichts ausmachte. Bald wurde es klar, daß etwas geschehen war, das alle ihr Vermögen verlorengehen ließ und ihre Gedanken auf etwas viel dringlicheres richten ließ.

Die Lebensunterhaltskosten hatten angefangen davon zu jagen, denn die Händler folgten dem Dollar dicht auf den Fersen. Ein Pfund Kartoffeln, das noch am Vortage fünfzigtausend Mark gekostet hatte, kostete heute schon hunderttausend; ein Gehalt von fünfundsechzigtausend Mark, das man am vorigen Freitag nach Hause gebracht hatte, reichte am Dienstag nicht aus, um ein Paket Zigaretten zu kaufen.

Was sollte geschehen? Plötzlich entdeckten Leute eine Insel der Sicherheit: Aktien. Das war die einzige Form der Geldanlage, die irgendwie der Geschwindigkeit standhielt. Nicht regelmäßig und nicht alle im gleichen Maße, aber sie schafften es ungefähr schrittzuhalten. Also ging man und kaufte Aktien. Jeder kleine Beamte, jeder Angestellte, jeder Schichtarbeiter wurde Aktionär. Man bezahlte seine täglichen Einkäufe, indem man Aktien verkaufte. An Zahltagen gab es einen allgemeinen Ansturm auf die Banken, und die Aktienkurse schossen himmelwärts wie Raketen. Die Banken waren von Reichtum aufgeschwemmt. Unbekannte neue Banken schossen wie Pilze aus dem Boden und machten ein reißendes Geschäft. Täglich verschlang die ganze Bevölkerung den Börsenbericht. Manchmal stürzten einige der Aktien, und mit ihnen stürzten Tausende schreiend dem Abgrund entgegen. In jedem Laden, jeder Fabrik, jeder Schule wurden einem Aktientips zugeflüstert.

Den Alten und Weltfremden ging es am schlechtesten. Viele wurden zum Betteln getrieben, viele zum Selbstmord. Den Jungen, Flinken ging es gut. Über Nacht wurden sie frei, reich, unabhängig. Es war eine Lage, in der Geistesträgheit und Verlaß auf frühere Erfahrung mit Hunger und Tod bestraft, aber Impulshandeln und schnelles Erfassen einer neuen Lage mit plötzlichem ungeheurem Reichtum belohnt wurde. Der einundzwanzigjährige Bankdirektor trat auf, wie auch der Primaner, der sich an die Börsenratschläge seiner etwas älteren Freunde hielt. Er trug Oscar–Wilde–Schlipse, organisierte Champagnerfeste, und unterhielt seinen verlegenen Vater.

Unter soviel Leid, Verzweiflung und Bettelarmut, gedieh eine fieberhafte, heißblütige Jugendhaftigkeit, Lüsternheit und ein allgemeiner Karnevalsgeist. Jetzt hatten auf einmal die Jungen und nicht die Alten das Geld; und überdies noch hatte seine Natur sich so geändert, daß es seinen Wert nur wenige Stunden hielt, und es wurde ausgegeben wie nie vorher oder seither; und für andere Sachen als solche, für die alte Leute ihr Geld ausgeben.

Zahllose Bars und Nachtklubs sprangen plötzlich auf. Junge Paare wirbelten durch die Straßen der Vergnügungsviertel, wie in einem Film über die oberen Zehntausend. Überall war jeder mit der Liebe beschäftigt mit Hast und Lust. Ja die Liebe selbst hatte einen inflationären Charakter angenommen.

Die Gelegenheit mußte ergriffen werden; die Masse mußte sie bieten.

Der »neue Realismus« der Liebe wurde entdeckt. Es gab einen Ausbruch, sorgloser, hektischer, fröhlicher Leichtlebigkeit. Typisch folgten Liebesaffären einem extrem schnellen Lauf ohne Umwege.

Die Jungen, die in jenen Tagen lieben lernten, übersprangen die Romantik und umarmten den Zynismus. Ich selber und meine Zeitgenossen gehörten nicht dazu. Wir waren mit fünfzehn, sechzehn gerade zwei, drei Jahre zu jung. In den folgenden Jahren, als wir die Rolle des Liebhabers mit rund zwanzig Mark Taschengeld spielen mußten, haben wir oft insgeheim die älteren Jungen beneidet, die damals ihre Chance gehabt hatten. Wir hatten gerade einen flüchtigen Blick durchs Schlüsselloch getan; gerade genug um den Duft der Zeit für immer in der Nase zu behalten. Zu einem Fest mitgenommen zu werden, wo Verrücktes sich ereignen mußte; ein frühreifes, ermüdendes Sichgehenlassen, und ein kleiner Kater von zu vielen Cocktails; all die Geschichten der älteren Jungen, deren Gesichter seltsam ihre ausschweifenden Nächte verrieten; der plötzliche, entzückende Kuß eines gewagt geschminkten Mädchens.

Es gab eine andere Seite des Bildes. Die Bettler häuften sich mit einem Mal; auch die Berichte über Selbstmorde in den Zeitungen, und die »Gesucht wegen Einbruch«–Anzeigen der Polizei auf den Litfaßsäulen, denn Raub und Diebstahl fanden überall in großem Maße statt. Einmal sah ich eine alte Frau – vielleicht sollte ich eine alte Dame sagen – seltsam steif auf einer Parkbank sitzen. Eine kleine Menge hatte sich angesammelt. »Tot«, sagte einer; »Verhungert«, sagte ein anderer. Es hat mich nicht besonders gewundert. Zu Hause hungerten wir auch manchmal.

Ja, mein Vater war einer von denen, die die Zeit nicht verstanden, oder nicht verstehen wollten, wie er sich schon geweigert hatte, den Krieg zu verstehen. Er begrub sich hinter dem Leitspruch »Ein preußischer Beamter spekuliert nicht« und kaufte keine Aktien. Damals hielt ich das für ein außerordentliches Beispiel von Engstirnigkeit, das schlecht zu seinem Charakter paßte, denn er war einer der klügsten Männer, die ich gekannt habe. Heute verstehe ich ihn besser. Rückblickend kann ich ein bißchen den Ekel nachempfinden, mit dem er »diese Ungeheuerlichkeit« ablehnte, und die ungeduldige Abscheu, die sich hinter der Platitüde, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, verbarg.

Leider artete das praktische Ergebnis solcher hohen Prinzipien manchmal in Posse aus. Und die Posse hätte zur Tragödie werden können, wenn sich meine Mutter nicht auf ihre Art der Lage angepaßt hätte.

So gestaltete sich äußerlich das Leben in der Familie eines hohen preußischen Beamten. Am 31.

oder ersten des Monats bekam mein Vater sein Monatsgehalt, das unseren Lebensunterhalt darstellte – Bankguthaben und Sparbriefe waren längst wertlos geworden. Wieviel das Gehalt wert war, war schwer abzuschätzen; sein Wert schwankte von Monat zu Monat; einmal konnten hundert Millionen eine beachtliche Summe darstellen, wenig später waren eine halbe Milliarde ein Taschengeld. Auf jeden Fall versuchte mein Vater, eine Monatskarte für die U–Bahn so schnell wie möglich zu kaufen, so daß er wenigstens im nächsten Monat zur Arbeit und nach Hause fahren konnte, obwohl dieses Transportmittel einen beträchtlichen Umweg und Zeitverlust mit sich brachte.

Dann wurden Schecks für die Miete und das Schulgeld ausgestellt, und am Nachmittag ging die ganze Familie zum Friseur. Was übrig blieb, wurde meiner Mutter ausgehändigt – und am nächsten Tag stand die ganze Familie, auch das Dienstmädchen, nur nicht mein Vater, um vier oder fünf Uhr früh auf, und fuhr mit dem Taxi zum Großmarkt. Dort wurde ein Großeinkauf organisiert und innerhalb einer Stunde wurde das Monatsgehalt eines Oberregierungsrates für unverderbliche Speisen ausgegeben. Riesige Käse, ganze Schinken, Kartoffeln zentnerweise wurden in das Taxi geladen. Wenn der Platz nicht ausreichte, besorgte das Dienstmädchen mit einem von uns noch einen Handkarren. Ungefähr um acht Uhr, noch vor Schulanfang kehrten wir nach Hause, mehr oder weniger für eine einmonatige Belagerung versorgt. Und das war das Ende. Es gab einen Monat lang kein weiteres Geld. Ein freundlicher Bäcker lieferte Brot auf Kredit. Sonst lebte man von Kartoffeln, Geräuchertem, Büchsen, Suppenwürfel. Gelegentlich kam eine unerwartete Nachzahlung, aber es war gut möglich, daß man einen Monat lang so arm war, wie der Ärmste der Armen, nicht einmal imstande, eine einfache Straßenbahnfahrt oder eine Zeitung zu bezahlen. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn uns etwas zugestoßen wäre, eine schwere Krankheit oder ein anderes Unglück.

Für meine Eltern muß dies eine böse und schwere Zeit gewesen sein. Für mich war sie seltsam eher als unangenehm. Die Tatsache, daß mein Vater zur Arbeit einen überaus umständlichen Umweg nehmen mußte, hielt ihn den größten Teil des Tages von Zuhause fern, und gab mir dadurch viele unbeaufsichtigte Stunden der absoluten Freiheit. Ich hatte kein Taschengeld mehr; aber meine älteren Schulgenossen waren buchstäblich reich, und man raubte ihnen nichts, indem man sich zu ihren verrückten Festen einladen ließ. Ich schaffte es, eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber unserer Armut zu Hause und dem Reichtum meiner Freunde zu bewahren. Ich bedauerte weder das eine, noch beneidete ich das andere, sondern fand beides nur seltsam und merkwürdig. In der Tat lebte ich damals nur mit einem Teil meines Ichs in der Gegenwart, so anregend sie auch immer sein mochte. Viel aufregender war die Welt der Bücher, in die ich eintauchte, und die den größeren Teil meines Wesens erobert hatte. Ich las die »Buddenbrooks« und »Tonio Kröger«, »Niels Lyhne« und

»Malte Laurids Brigge« und die Gedichte von Verlaine, dem frühen Rilke, George und Hofmannsthal, Flauberts »Novembre«, Wildes »Dorian Gray«, und Heinrich Manns »Flöten und Dolche«.

Ich verwandelte mich in etwas den Helden dieser Bücher ähnliches, einen weltmüden, fin–de–siècle dekadenten Schönheitssuchenden. Ein schäbiger, etwas wild aussehender Sechzehnjähriger, der seinen Anzügen entwachsen war und einen Haarschnitt dringend nötig hatte, ging ich durch die fieberhaften, leprösen Straßen des inflationären Berlins mit der Haltung und dem Gefühl eines Mannschen Patriziers oder eines Wildeschen Dandys. Es tat diesen Gefühlen keinen Abbruch, daß ich am gleichen Morgen mit dem Dienstmädchen Schachteln Käse und Säcke Kartoffeln auf eine Karre gestapelt hatte.

Und waren diese Gefühle ganz ungerechtfertigt? Waren sie nur durch den Lesestoff eingeimpft worden? Ganz abgesehen davon, daß ein Sechzehnjähriger zwischen Herbst und Frühling zur Lebensmüdigkeit, Langeweile, und Trübsinn neigt, hatten wir nicht genug hinter uns – ich und meinesgleichen – um uns das Recht zu geben, das Leben mit müden skeptischen, blasierten, leicht höhnischen Augen anzusehen, und in uns selbst etwas von Thomas Buddenbrook und Tonio Kröger zu finden?

Wir hatten das große Kriegsspiel hinter uns, und den Schock des Ausgangs; einen sehr desillusionierenden politischen Lehrgang in Revolution, und jetzt das tägliche Schaustück des Zusammenbruchs aller Lebensregeln und des Bankrotts von Alter und Erfahrung. Wir hatten schon eine ganze Reihe widersprüchlicher Glauben durchgemacht. Zunächst waren wir eine Weile Pazifisten gewesen, dann Nationalisten, später hatte uns die marxistische Aufklärung unterworfen (ein Vorgang, der viel mit der sexuellen Aufklärung gemein hat: beide sind inoffiziell und etwas illegal; beide benutzen die Schockmethode der Erziehung, und beide machen den Fehler, einen einzigen Teil, wichtig, aber im öffentlichen Umgang verpönt und aus Gewohnheits–Anstand ignoriert, für das Ganze zu halten, die Liebe in dem einen Fall und die Geschichte im anderen). Rathenau und sein Ende hatten uns die Sterblichkeit auch eines großen Mannes gelehrt; der Ruhrkrieg, daß, edle Absichten und anrüchige Geschäfte mit gleicher Leichtigkeit geschluckt werden konnten. Gab es noch etwas, das uns begeistern konnte? (Denn die Begeisterung ist für die Jugend die Würze des Lebens.) Nichts außer der Betrachtung zeitloser Schönheit, wie sie die Gedichte von George und Hofmannsthal durchglühte, der Arroganz des Skeptikers, und nicht zu vergessen, den Träumen der Liebe.

Kein Mädchen hatte bisher meine Liebe erweckt, aber ein Junge, der meine Ideale teilte und meinen Büchergeschmack. Es war eines jener fast pathologischen, ätherischen, verschämten,

leidenschaftlichen Verhältnisse, wie sie nur Jungen miteinander unterhalten können, und nur solange Mädchen noch nicht richtig in ihr Leben eingetreten sind. Die Fähigkeit dazu verwelkt bald.

Nach der Schule pflegten wir die Straßen stundenlang zu durchwandern, den Dollarkurs irgendwo nachzuschlagen, uns mit einem herablassenden Minimum an Gedanken und Worten über die politische Lage zu einigen, und dann über Bücher zu reden. Wir hatten ausgemacht, bei jedem Gang ein neues Buch gründlich zu analysieren, und das taten wir. Schüchtern und voll ängstlicher Erregung tasteten wir uns so jeder durch des anderen Seele. Inzwischen tobte um uns herum das Fieber, die Gesellschaft zerbröckelte fast spürbar, und das deutsche Reich brach in Trümmer zusammen – aber nur um einen Hintergrund für tiefe Erörterungen über, sagen wir, das Wesen des Genies und ob es sich mit moralischer Schwäche und Dekadenz verträgt, zu stellen.

Was für ein Hintergrund: unvorhersehbar – unvergeßlich.

Im August erreichte der Dollar die Million. Wir lasen es mit leichten Atemstocken, als ob es die Ansage eines unglaublichen Rekords gewesen wäre. Vierzehn Tage später neigten wir schon dazu, darüber zu lachen, denn als ob er neue Energie an der Millionengrenze aufgenommen hatte, erhöhte der Dollar sein Tempo um das Zehnfache und fing sofort an, in Hundert–Millionen– und dann Milliardenschritten zu steigen. Im September hatte die Million keinen praktischen Wert mehr und die Milliarde wurde die Zahlungseinheit. Ende Oktober war es die Billion. Inzwischen ereignete sich Schreckliches. Die Reichsbank hörte auf, Noten zu drucken. Bei den Bankschaltern vorgelegt hatten einige ihrer Scheine – 10 Millionen? 100 Millionen? – nicht mit den Ereignissen Schritt gehalten.

Der Dollar und die allgemeine Preisentwicklung waren ihnen zuvorgekommen. Es gab nichts, das als Geld für praktische Bedürfnisse fungieren konnte. Einige Tage lang kam der Handel zum Stillstand, und in den ärmeren Stadtteilen bedienten sich die Leute, aller Zahlungsmittel beraubt, ihrer Fäuste und plünderten die Kolonialwarenläden. Einmal wieder wurde die Stimmung revolutionär.

Mitte August fiel die Regierung unter wilden Straßenunruhen. Wenig später wurde der »Ruhrkrieg«

aufgegeben. Wir dachten überhaupt nicht mehr daran. Wie lange war es her, daß die Besetzung des Ruhrgebietes uns hatte schwören lassen, ein einig Volk von Brüdern zu sein! Statt dessen erwarteten wir jetzt den Staatssturz, ja die Auflösung des Reichs – irgendein entsetzliches politisches Ereignis, das den Geschehnissen in unserem Privatleben entsprach. Nie hatte es so viel Gerüchte gegeben: das Rheinland war abtrünnig geworden, Bayern war abtrünnig geworden, der Kaiser war zurückgekehrt, die Franzosen waren einmarschiert. Die politischen »Bünde«, der Linken wie der Rechten, die jahrelang dahinvegetiert hatten, wurden plötzlich fieberhaft aktiv. Sie hielten Gewehrübungen in den Wäldern um Berlin; Gerüchte einer »schwarzen Reichswehr« sickerten durch, und man hörte eine Menge über »den Tag«.

Es war schwer, das Mögliche vom Unmöglichen zu unterscheiden. Eine rheinische Republik bestand tatsächlich einige Tage. In Sachsen gab es für einige Wochen eine: kommunistische Regierung, gegen die die Reichswehr von der Reichsregierung losgeschickt wurde. Und eines schönen Tages erklärte die Zeitung, daß die Garnison von Küstrin zu einem »Marsch auf Berlin« angetreten sei.

Um diese Zeit verbreitete sich das Schlagwort »Verräter werden von der Feme gerichtet«. Und zu den Diebstahlsanzeigen der Polizei gesellten sich auf den Litfaßsäulen Vermißten– und Mord–Anzeigen.

Es verschwanden Leute dutzendweise. Fast immer war es jemand, der etwas mit den »Bünden« zu tun hatte. Jahre später wurden ihre Skelette in den Wäldern um Berlin oder in der Nähe ausgegraben. Innerhalb der Bünde war es Usus geworden, unzuverlässige oder verdächtige Kameraden ohne viel Federlesens zu beseitigen und sie irgendwo einzuscharren.

Wenn das Gerücht darüber einen erreichte, schien es nicht so unglaublich, wie es in »normalen«, zivilisierten Tagen gewesen wäre. Allmählich war die Stimmung sogar apokalyptisch geworden.

Erlöser rannten in Berlin hundertweise herum, Leute mit langem Haar, härenen Hemden, die erklärten, von Gott zur Errettung der Welt gesandt worden zu sein, und die durch diese Mission irgendwie ein Leben fristeten. Der erfolgreichste war ein gewisser Häusler, der mit

Litfaßsäulenreklamen und Massenversammlungen arbeitete, und viele Anhänger hatte.

Sein Münchner Gegenstück war laut den Zeitungen ein gewisser Hitler, der sich jedoch vom ersteren in seinen Reden unterschied, die einen aufregenden Gebrauch der Gemeinheit aufwiesen, die sie zu einem unerreichten Grad steigerten, in der Übertriebenheit ihrer Drohungen und unverhohlenen Grausamkeit. Während Hitler das Tausendjährige Reich durch den Massenmord aller Juden herbeiführen wollte, gab es in Thüringen einen gewissen Lamberty, der es durch allgemeinen Volkstanz, Singen und Luftsprünge erreichen wollte. Jeder Erlöser hatte seinen eigenen Stil. Nichts und niemand war überraschend; die Überraschung war etwas schon lange vergessenes.

Der Münchner Häusler, das heißt Hitler, füllte die Schlagzeilen zwei Tage lang im November mit der unglaublichen Unternehmung, eine Revolution in einem Bierkeller zu veranstalten. In Wirklichkeit war der Revolutionszug durch eine Feuerrunde der Polizei gewaltsam auseinander getrieben worden, sobald er den Keller verlassen hatte, und das war das Ende der Revolution. Einen ganzen Tag lang jedoch dachten Leute ernsthaft, dies sei die erwartete Revolution. Unser Griechischlehrer hat, als er die Nachricht hörte, uns freudig mit einem nicht unsicheren Instinkt vorhergesagt, daß wir in wenigen Jahren alle wieder Soldaten sein würden. Und war nicht die Tatsache, daß ein solches Abenteuer überhaupt stattfinden konnte, viel interessanter als sein Fehlschlag? Die Erlöser hatten offensichtlich eine Chance. Nichts war unmöglich. Der Dollar stand bei einer Billion. Und das Paradies war um Haaresbreite versäumt worden.

Dann passierte etwas seltsames. Die unglaubliche Mär begann eines Tages die Runde zu machen, es würde bald wieder Geld »von beständigem Wert« geben, und etwas später wurde es Wirklichkeit.

Kleine häßlich grau–grüne Scheine mit dem Schriftzug »eine Rentenmark«. Wenn jemand sie zum ersten Mal in Zahlung gab, wartete er etwas erstaunt um zu sehen, was geschehen würde. Es geschah nichts. Sie wurden tatsächlich angenommen und er erhielt seine Ware – Ware im Werte einer Billion. Das gleiche geschah am nächsten Tag, und am Tag danach, und am folgenden Tag.

Unglaublich.

Der Dollar hörte aufzusteigen. Aktien auch. Und wenn man sie in Rentenmark verwandelte, siehe! sie waren zu nichts geworden, wie alles andere. Also behielt keiner etwas. Aber plötzlich wurden Löhne und Gehälter in Rentenmark ausgezahlt, und etwas später, Wunder über Wunder, erschienen sogar Groschen und Sechsen feste blinkende Münzen. Man konnte sie in der Tasche klingen lassen, und außerdem behielten sie ihren Wert. Man konnte am Donnerstag noch etwas kaufen mit dem Geld, das man am vorigen Freitag erhalten hatte. Die Welt war voller Überraschungen.

Einige Wochen davor war Stresemann Kanzler geworden. Die Politik wurde mit einem Schlage viel ruhiger. Niemand sprach mehr von Reichsverfall. Murrend zogen sich die »Bünde« in eine Art Winterschlaf zurück. Viele Mitglieder wurden abtrünnig. Man hörte kaum noch von Vermißten. Die Erlöser verschwanden aus den Städten. Die Politik schien ausschließlich aus einem Streit unter den Parteien zu bestehen darüber, wer die Rentenmark erfunden hatte. Die Nationalisten behaupteten es sei Helfferich, ein konservativer Abgeordneter und früherer Minister unter dem Kaiser. Das wurde von der Linken feurig abgestritten: sie behauptete es sei ein zuverlässiger Demokrat und fester Republikaner, ein gewisser Dr. Schacht. Das waren die Tage nach der Sintflut. Alles war verloren –

aber die Wasser ließen nach. Die Alten konnten noch nicht auf der Alterserfahrung herumleiern; die Jungen waren etwas vor den Kopf gestoßen. Die einundzwanzigjährigen Bankdirektoren mußten wieder Gehilfenstellen suchen und die Primaner mußten sich wieder mit ihren zwanzig Mark Taschengeld begnügen. Natürlich gab es einige »Opfer der Währungsstabilisation«, die Selbstmord begingen. Aber die Zahl derer war viel größer, die jetzt zaghaft aus ihren Schlupflöchern hervorlugten und sich fragten, ob es wieder möglich war zu leben.

Eine Katerstimmung hing in der Luft, aber auch eine gewisse Erleichterung. Zu Weihnachten wurde ganz Berlin ein riesiger Weihnachtsmarkt. Alles kostete zehn Pfennig und jeder kaufte Klappern, Marzipantiere und sonstiges kindisches Zeug, nur um sich zu beweisen, daß man wieder etwas für zehn Pfennig kaufen konnte. Vielleicht auch um das letzte Jahr, die ganzen letzten zehn Jahre, zu vergessen und sich wieder wie ein Kind zu fühlen.

An allen Ständen hingen Plakate: »Friedenspreise wieder«. Zum ersten Mal sah es wirklich nach Frieden aus.

11

Und so war es. Die einzige echte Friedenszeit, die meine Generation in Deutschland erlebt hat, war angebrochen: ein Zeitraum von sechs Jahren, 1924 bis 1929, in dem Stresemann die deutsche Politik vom Außenamt beherrschte. »Die Stresemann–Epoche«.

Vielleicht kann man von der Politik das gleiche sagen wie von den Frauen, die Beste ist die am wenigsten beredete. Wenn das stimmt, war Stresemanns Politik überragend. Zu seiner Zeit gab es kaum eine politische Diskussion. Ein bißchen die ersten zwei oder drei Jahre: das Aufräumen der Verwüstungen der Inflation, der Dawes–Plan, Locarno, Thoiry, und der Beitritt zum Völkerbund waren Ereignisse, die noch diskutiert wurden, aber nur diskutiert. Auf einmal war Politik nicht mehr etwas, über das man Teller zerbrach.

Nach etwa 1926 gab es überhaupt nichts mehr beredenswertes. Die Zeitungen mußten ihre Schlagzeilen in fernen Ländern suchen.

Bei uns war nichts Neues, alles war geordnet, alles ging seinen ruhigen Gang. Manchmal gab es einen Regierungswechsel, manchmal regierten die Rechtsparteien, manchmal die Linksparteien.

Man merkte keinen großen Unterschied. Immer hieß der Außenminister Gustav Stresemann. Das bedeutete: Frieden, keine Krisen zu erwarten, business as usual.

Es kam Geld ins Land, das Geld behielt seinen Wert, die Geschäfte gingen gut, die älteren Leute fingen an, ihre Lebenserfahrung wieder aus der Rumpelkammer zu holen, blank zu putzen und zur Schau zu stellen, als wäre sie nie außer Kurs gesetzt gewesen. Die letzten zehn Jahre gerieten in Vergessenheit wie ein böser Traum. Das Himmelreich war wieder weit entfernt, keinerlei Nachfrage nach Heilanden oder Revolutionären. In der öffentlichen Sphäre konnte man nur ordentliche Verwaltungsbeamte gebrauchen, in der privaten tüchtige Kaufleute. Es gab jedes vernünftige Maß von Freiheit, Ruhe, Ordnung, wohlwollendste Liberalität weit und breit, gute Löhne, gutes Essen und ein wenig öffentliche Langeweile. Jedermann war seinem Privatleben zurückgegeben und herzlichst eingeladen, sich sein Leben nach seinem Geschmack einzurichten und auf seine Fasson selig zu werden.

Nun aber ereignete sich etwas Seltsames – und hiermit glaube ich eins der fundamentalsten politischen Ereignisse unserer Zeit bekanntzugeben, das in keiner Zeitung gestanden hat: Diese Einladung blieb im großen und ganzen unbefolgt. Man wollte gar nicht. Es zeigte sich, daß eine ganze Generation in Deutschland mit dem Geschenk eines freien Privatlebens nichts anzufangen wußte.

Ungefähr zwanzig Jahrgänge junger und jüngster Deutscher waren daran gewöhnt worden, ihren ganzen Lebensinhalt, allen Stoff für tiefere Emotionen, für Liebe und Haß, Jubel und Trauer, aber auch alle Sensationen und jeden Nervenkitzel sozusagen gratis aus der öffentlichen Sphäre geliefert zu bekommen – sei es auch zugleich mit Armut, Hunger, Tod, Wirrsal und Gefahr. Nun, da diese Belieferung plötzlich ausblieb, standen sie ziemlich hilflos da, verarmt, beraubt, enttäuscht und gelangweilt. Wie man aus eigenem lebt, wie man ein kleines privates Leben groß, schön und lohnend machen kann, wie man es genießt und wo es interessant wird, das hatten sie nie gelernt.

So empfanden sie das Aufhören der öffentlichen Spannung und die Wiederkehr der privaten Freiheit nicht als Geschenk, sondern als Beraubung. Sie begannen sich zu langweilen, sie kamen auf dumme Gedanken, sie wurden mürrisch – und sie warteten schließlich geradezu gierig auf die erste Störung, den ersten Rückschlag oder Zwischenfall, um die ganze Friedenszeit zu liquidieren und neue kollektive Abenteuer zu starten.

Um genau zu sein – die Angelegenheit verdient Genauigkeit, denn nach meiner Ansicht bildet sie den Schlüssel zu dem ganzen weltgeschichtlichen Abschnitt, in dem wir leben –: Nicht alle, nicht jeder einzelne aus der jüngeren deutschen Generation reagierte so. Es gab auch welche, die in dieser Zeit, ein wenig unbeholfen und verspätet, sozusagen leben lernten; die Geschmack am eigenen Leben fanden, sich erfolgreich vom Fusel der Kriegs– und Revolutionsspiele entwöhnten und begannen, Persönlichkeiten zu werden. Tatsächlich bereitete sich damals, vollkommen unsichtbar und unregistriert, jener ungeheure Riß vor, der heute das deutsche Volk in Nazis und Nichtnazis spaltet.

Ich erwähnte schon im Vorübergehen, daß die Begabung meines Volkes zum persönlichen Leben und persönlichen Glück ohnehin schwächer ausgebildet ist als die anderer Völker. Ich habe später in Frankreich und England mit einem gewissen Staunen und nicht ohne Neid beobachtet und nachempfinden gelernt, welche Fälle von unverwelklichem Glück und welche unerschöpfliche Quelle von lebenslänglicher Unterhaltung etwa der Franzose aus dem verständig–geistreichen Essen und Trinken, dem männlichen Redestreit und der heidnisch–künstlerisch kultivierten Liebe, der Engländer aus seinen Gärten, dem Umgang mit Tieren und seinen vielen, kindlich–ernsthaft betriebenen Spielen und Hobbys gewinnt. Der Durchschnittsdeutsche hat nichts Entsprechendes.

Nur eine bestimmte Bildungsschicht – nicht gar zu klein, aber doch natürlich eine Minderheit – fand und findet ähnliche Lebensinhalte und Lebensfreuden in Büchern und Musik, eigenem Denken und dem Bilden einer eigenen »Weltanschauung«. Gedankenaustausch, nachdenkliches Gespräch beim Glase Wein, treu und etwas sentimental bewahrte und gepflegte wenige Freundschaften, schließlich, nicht zu vergessen, ein inniges und intensives Familienleben – das sind die Lebensgüter und –

freuden, die in dieser Schicht zu Hause waren. Fast alles davon war in der Dekade 1914–24 in Unordnung und Verfall geraten, und die Jüngeren wuchsen in keine feste Gewohnheit und Überlieferung hinein.

Jenseits der Bildungsschicht heißt und hieß die große Gefahr des Lebens in Deutschland immer: Leere und Langeweile. (Ausgenommen vielleicht in gewissen geographischen Randgebieten: Bayern, Rheinland – wo etwas Süden, Romantik und Humor ins Bild kommen.) Über den großen Flächen Nord– und Ost–Deutschlands, in seinen farblosen Städten, hinter seinen allzu fleißig, gründlich und pflichtbewußt betriebenen Geschäften und Organisationen droht und drohte immer der Stumpfsinn.

Und zugleich der horror vacui und der Wunsch nach »Erlösung«: Erlösung durch Alkohol, durch Aberglauben oder, am besten, durch einen großen, alles überschwemmenden, billigen

Massenrausch.

Dieser Grundtatbestand, daß in Deutschland nur eine Minderheit (die sich übrigens weder mit der Aristokratie noch mit dem »Besitz« deckt) etwas vom Leben versteht und etwas mit dem Leben anzufangen weiß – nebenbei gesagt, ein Tatbestand, der Deutschland grundsätzlich ungeeignet zur demokratischen Regierungsweise macht – dieser Grundtatbestand hatte durch die Ereignisse von 1914 bis 1924 eine furchtbar bedrohliche Zuspitzung erfahren. Die ältere Generation war in ihren Idealen und Vorstellungen unsicher und schüchtern geworden; man begann abdankungslüstern auf

»die Jugend« zu blicken, sie zu umschmeicheln und Wunder von ihr zu erwarten. Diese Jugend selbst kannte nichts als öffentlichen Lärm, Sensation, Anarchie und den gefährlichen Reiz

unverantwortlicher Zahlenspiele. Sie wartete nur darauf, das alles in noch größerem Stil, als man es ihr vorgemacht hatte, selber veranstalten zu können, und fand inzwischen alles private Leben

»langweilig«, »bürgerlich« und »vorgestrig«. Die Massen waren gleichfalls an alle Sensationen der Unordnung gewöhnt – und übrigens in ihrem letzten großen Aberglauben, dem pedantisch und orthodox zelebrierten Glauben an die Wunderkraft des allwissenden St. Marx und die

Unvermeidlichkeit der von ihm prophezeiten automatischen Entwicklung schwach und wankend geworden.

So lag, unter der Oberfläche, bereits alles bereit für ein großes Unheil.

Inzwischen aber herrschte in der sichtbaren öffentlichen Welt durchaus goldener Friede, Windstille, Ordnung, Wohlwollen und guter Wille. Selbst die Vorboten des kommenden Unheils schienen durchaus in das freundliche Bild zu passen.

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Einer dieser Vorboten, der durchaus mißverstanden und gar noch öffentlich gefördert und belobigt wurde, war der Sportfimmel, der in jenen Jahren die deutsche Jugend ergriff.

In den Jahren 1924, 25 und 26 entwickelte sich Deutschland schlagartig zu einer Sportgroßmacht.

Nie vorher war Deutschland ein Sportland gewesen, nie ist es im Sport eigentlich schöpferisch und erfinderisch gewesen, wie England und Amerika, und der eigentliche Geist des Sports, das selbstvergessen–spielerische Aufgehen in einer Phantasiewelt mit ihren eigenen Regeln und Gesetzen, ist der deutschen Seelenverfassung ganz fremd. Dennoch verzehnfachten sich in jenen Jahren auf einmal die Mitgliederzahlen der Sportclubs und die Zuschauerzahlen der Sportfeste.

Boxer und Hundertmeterläufer wurden zu Volkshelden, und die Zwanzigjährigen hatten den ganzen Kopf voll von Rennergebnissen, Namen und jenen Zahlenhieroglyphen, in die sich in den Zeitungen bestimmte Schnelligkeits– und Gewandtheitsleistungen verwandeln.

Es ist der letzte große deutsche Massenwahn, dem ich selbst miterlegen bin. Zwei Jahre lang stand mein geistiges Leben fast still, und ich trainierte verbissen Mittel– und Langstreckenlauf und hätte meine Seele unbedenklich dem Teufel dafür verkauft, ein einziges Mal 800 Meter unter 2 Minuten zu laufen. Ich ging zu jedem Sportfest, und ich kannte jeden Läufer und die beste Zeit, die er laufen konnte, nicht zu reden von der Liste der deutschen und Weltrekorde, die ich im Schlafe hätte herunterschnurren können. Die Sportberichte spielten eine Rolle wie vor zehn Jahren die Heeresberichte, und was damals Gefangenenzahlen und Beuteziffern gewesen waren, das waren jetzt Rekorde und Rennzeiten. »Houben läuft 100 Meter in 10,6«, das löste genau dieselben Empfindungen aus wie seinerzeit »20 000 Russen gefangen«, und »Peltzer gewinnt die englische Meisterschaft in Weltrekordzeit« entsprach sogar Ereignissen, zu denen es, ach, im Kriege nie gekommen war, etwa »Paris genommen« oder »England bittet um Frieden«. Ich träumte Tag und Nacht davon, es den Peltzer und Houben gleichzutun. Ich versäumte kein Sportfest. Ich trainierte dreimal in der Woche, ich hörte auf zu rauchen und machte statt dessen Freiübungen vor dem Schlafengehen. Und ich empfand das volle Glück, mich dabei mit Tausenden, Zehntausenden, ja eigentlich mit allen in voller Übereinstimmung zu befinden. Es gab keinen Altersgenossen, mochte er noch so fremd, noch so ungebildet, noch so unsympathisch sein, mit dem ich mich nicht sofort beim ersten Sehen glänzend und stundenlang unterhalten konnte – über Sport natürlich. Alle hatten dieselben Zahlen im Kopf. Alle dachten sich, unausgesprochen und selbstverständlich, dasselbe dabei. Es war fast so schön, wie es im Kriege gewesen war. Es war noch einmal dasselbe große Spiel. Wir verstanden uns alle ohne jede Verständigung. Unseres Geistes Nahrung waren Zahlen, und unsere Seele zitterte ständig vor Spannung: Würde Peltzer auch Nurmi schlagen können?

Würde Körnig 10,3 erreichen? Würde endlich ein deutscher 400–Meter–Läufer unter 48 kommen?

Und mit den Gedanken ganz bei unseren »deutschen Meistern« auf den internationalen Sportfeldern, trainierten wir und liefen unsere eigenen kleinen Rennen, wie wir im Kriege auf den Spielplätzen und Straßen, mit den Gedanken ganz bei Hindenburg und Ludendorff, auf Spielplätzen und Straßen mit Teschings und Holzsäbeln unsere eigenen kleinen Schlachten geschlagen hatten. Welch leichtes, welch aufregendes Leben!

Das Komische ist, daß die Politiker von rechts bis links dieser auffallenden anfallsweisen Massenverblödung der Jugend nicht Lob genug zu spenden wußten. Nicht genug, daß wir wieder einmal dem alten Laster unserer Generation frönen konnten, dem Rauschgift des kalten, wirklichkeitsentblößten Zahlenspiels: Wir taten es diesmal unter der konzentrierten Aufmerksamkeit und dem einmütigen Beifall unserer Erzieher. Die »Nationalen«, dumm und plump wie immer, fanden, wir hätten mit gesundem Instinkt einen prächtigen Ersatz für die fehlende

Militärdienstpflicht entdeckt. Als ob es irgendeinem von uns auf die »körperliche Ertüchtigung«

angekommen wäre! Die »Linken«, überschlau und daher im Ergebnis fast noch dümmer als die

»Nationalen« (wie immer), hielten es für eine großartige Erfindung, daß von nun an die kriegerischen Instinkte auf dem friedlichen grünen Rasen mit Rennen und Freiübungen »abreagiert« würden, und sahen den Weltfrieden gesichert. Es fiel ihnen nicht auf, daß die »deutschen Meister« sich ausnahmslos schwarz–weiß–rote Schleifchen ansteckten, obwohl die Reichsfarben damals schwarz–rot–gold waren. Sie kamen nicht auf die Idee, daß der Reiz des Kriegsspiels, die alte Figur des großen, spannenden Wettkampfs der Nationen, hier nur geübt und wachgehalten wurde –

keineswegs »kriegerische Instinkte« »abreagiert«. Sie sahen die Verbindung nicht und nicht den Rückfall.

Der einzige, der anscheinend ein Gefühl dafür hatte, daß die Kräfte, die er freigesetzt hatte, einen falschen und gefährlichen Weg einschlugen, war Stresemann selber. Er machte gelegentlich befremdliche Bemerkungen über die »neue Bizeps–Aristokratie«, die zu seiner Unpopularität beitrugen. Er mochte eine Ahnung davon haben, was sich hier zeigte: daß die blinden Kräfte und Süchte, denen er die Züge zur Politik verstopft hatte, nicht etwa tot waren; daß sie sich sofort irgendein Ventil suchten. Daß die Generation, die »dran war«, sich weigerte, ehrlich und menschlich leben zu lernen, und daß sie jede Freiheit nur zu irgendeinem kollektiven Unfug benutzte.

Im übrigen hielt die Sportkrankheit als Massenerscheinung nur etwa drei Jahre vor. (Ich persönlich überwand sie noch schneller.) Zu einem längeren Leben fehlte ihr die Vorstellung von dem, was im Kriege »der Endsieg« gewesen war: ein Ziel und ein Ende. Es war im Grunde immer dasselbe: dieselben Namen, dieselben Zahlen, dieselben Sensationen. Es konnte endlos so weiter gehen. Aber es konnte nicht endlos die Phantasie beschäftigen. Obwohl Deutschland bei der Amsterdamer Olympiade von 1928 den zweiten Platz besetzt hatte, trat unmittelbar danach merkliche Enttäuschung und Abkühlung ein. Die Sportberichte verschwanden wieder von den Frontseiten der Zeitungen und kehrten in den Sportteil zurück. Die Sportplätze wurden leerer. Es war nicht mehr ohne weiteres sicher, daß jeder Zwanzigjährige die letzte »Zeit« jedes Hundertmeterläufers parat im Kopfe hatte. Es gab sogar wieder welche, die nicht einmal die Weltrekorde auswendig wußten.

Aber zugleich begannen jene »Bünde« und Parteien, in denen Politik als Sport getrieben wurde und die ein paar Jahre lang fast tot gewesen waren, langsam, langsam wieder aufzuleben.

13

Nein, eine »große Zeit« war die Stresemannzeit nicht. Sie war kein voller Erfolg, nicht einmal, solange sie dauerte. Zuviel Unheil grollte unter der Oberfläche, zuviel dämonisch böse Kräfte blieben im Hintergrund fühlbar, zwar gebunden und stumm gemacht für den Augenblick, aber nicht wirklich ausgelöscht. Und kein großes Zeichen wurde aufgerichtet, das die Dämonen bannen konnte. Die Zeit blieb ohne Pathos, ohne Größe, ohne volle Überzeugung von der eigenen Sache. Eine schüchterne Restaurationsepoche. Die alten, bürgerlich–patriotischen, friedlich–liberalen Anschauungen waren noch einmal in Geltung gesetzt – aber mit einer deutlichen Geste von Platzhalterschaft und Lückenbüßertum, von »faute de mieux« und »bis auf weiteres«. Keine Epoche, um später als »große Vergangenheit« einer trüben Gegenwart entgegengestellt zu werden.

Und doch ...

Talleyrand hat gesagt, wer nicht vor 1789 gelebt habe, habe die Süßigkeit des Lebens nie gekannt.

Ältere Deutsche haben ähnliche Aussprüche mit Bezug auf die Zeit vor 1914 getan. Es würde ein wenig lächerlich klingen, wollte man etwas so Radikales über die Stresemannzeit sagen. Aber wie auch immer, für uns jüngere Deutsche ist sie, mit all ihren Schwächen, die beste gewesen, die wir erlebt haben. Und was wir überhaupt an Süßigkeit des Lebens erfahren haben, verbindet sich mit ihr. Es war die einzige Zeit, in der die Grundtonart des Lebens einmal nicht Moll, sondern ein, wenn auch etwas zages und verwaschenes, Dur war. Es war die einzige Zeit, in der man überhaupt eigentlich leben konnte. Die meisten, wie schon erzählt, wußten nichts damit anzufangen oder scheiterten daran. Für uns andere knüpft sich doch das Beste, wovon wir zehren, an diese Zeit.

Es ist schwer, von Dingen zu reden, die sich nie entfaltet haben, von Ansätzen, die im Stadium des

»Vielleicht« und »Beinahe« stecken blieben. Und doch will mir scheinen, als ob damals in Deutschland, zwischen viel Unheildrohendem und außermenschlich Bösem, auch einiges Rare und Köstliche sich zu entwickeln begann. Der größere Teil der aufsteigenden Generation war unheilbar verdorben. Die übrigbleibende Minderheit aber trug vielleicht mehr Verheißung als irgendeine Generation der letzten hundert Jahre. Die wüste Dekade von 1914 bis 1923 hatte allen Halt und alle Tradition weggeschwemmt, aber auch allen Muff und alles Gerümpel. Die meisten fanden sich danach als haltlose Zyniker wieder. Die aber überhaupt wieder leben lernten, lernten es gleichsam in einer Klasse für Vorgeschrittene – jenseits der Illusion und Torheiten, mit denen sich eine eingesperrte Jugend nährt. Wir waren manchen Winden ausgesetzt gewesen, aber dafür nicht eingesperrt; wir waren verarmt, auch an geistigen Traditionswerten, aber dafür auch befreit von ererbten Vorurteilen; wir waren abgebrüht und abgehärtet. Entgingen wir der Gefahr der Verhärtung

– die Gefahr der Verweichlichung drohte uns nicht. Entgingen wir dem Zynismus – wir brauchten nicht zu fürchten, parsifalhafte Schwärmer zu werden. Bei den Besten der deutschen Jugend von 1925 bis 1930 bereitete sich damals in aller Stille etwas sehr Schönes, sehr Zukunftsträchtiges vor: ein neuer Idealismus jenseits des Zweifels und der Enttäuschung; eine zweite Liberalität, die weiter, umfassender und reifer war als der politische Liberalismus des 19. Jahrhunderts; ja, vielleicht sogar die Grundlagen einer neuen Vornehmheit, einer neuen Aristie, einer neuen Ästhetik des Lebens. Das alles war noch weit davon entfernt, Wirklichkeit und Macht zu werden; es war noch kaum Gedanke und Wort geworden, als die Quadrupeden kamen und alles zertrampelten.

Es war damals, trotz allem, viel frische Luft in Deutschland zu spüren und eine bemerkenswerte Abwesenheit der konventionellen Lüge. Die Schranken zwischen den Klassen waren dünn und brüchig geworden – vielleicht ein segensvolles Nebenergebnis der allgemeinen Verarmung. Viele Studenten waren nebenbei Arbeiter – und viele junge Arbeiter nebenbei Studenten. Klassendünkel und Stehkragengesinnung waren einfach unmodern geworden. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern waren offener und freier als je – vielleicht ein segensvolles Nebenergebnis der langen Verwilderung. Wir hatten schon nicht einmal mehr verächtliche Überlegenheitsgefühle, sondern nur noch staunendes Mitleid für jene Generationen, die in ihrer Jugend nur unerreichbare Jungfrauen zum Anschwärmen und Huren zum Abreagieren vorgefunden hatten. Schließlich begann sogar in den Beziehungen zwischen den Nationen eine neue Möglichkeit aufzudämmern, eine größere Unbefangenheit, ein größeres Interesse füreinander und eine ausgesprochene Freude an der Buntheit, die die Welt dadurch bekam, daß es so viele Völker gibt. Berlin war damals eine ziemlich internationale Stadt. Und freilich gab es im Hintergrund, mit tiefem Ekel von »uns« wahrgenommen, immer schon damals jene düsteren Nazi–Typen, die mordblickend von »östlichem Geschmeiß«

redeten oder naserümpfend von »Amerikanisierung«; aber »wir« – ein undefinierbarer Teil der deutschen Jugend, der sich erkannte, wo er sich begegnete – waren nicht nur fremdenfreundlich, sondern fremdenenthusiastisch: Wieviel interessanter, schöner und reicher wurde das Leben, dadurch, daß es nicht nur Deutsche gab! Unsere Gäste waren uns alle willkommen, gleichgültig ob sie freiwillig kamen, wie die Amerikaner und Chinesen, oder als Vertriebene, wie die Russen. Es herrschte Aufgeschlossenheit, liebevoll–neugieriges Wohlwollen, ein bewußter Vorsatz, gerade das Fremdeste verstehen und lieben zu lernen; manche Freundschaft, manche Liebe knüpfte sich damals mit dem fernsten Osten und dem fernsten Westen.

Für mich verbinden sich meine köstlichsten und geliebtesten Erinnerungen mit einem solchen heimatlich–internationalen Kreis, einem Stück Globus mitten in Berlin. Es war ein kleiner akademischer Tennisclub, in dem wir Deutschen kaum stärker vertreten waren als andere Nationen.

Franzosen und Engländer waren seltsamerweise rar, aber sonst war der ganze Erdball bei uns vertreten: Amerikaner und Skandinavier, Balten und Russen, Chinesen und Japaner, Ungarn und Balkanleute, sogar ein witzig–melancholischer Türke fehlte nicht. Nie habe ich wieder eine so gelöste, jugendlich–offene Atmosphäre gefunden – es sei denn, als flüchtiger Gast, im Pariser Quartier Latin. Die tiefste Wehmut ergreift mich, wenn ich an die Sommerabende denke, die wir nach den Spielen, oft tief in die Nächte hinein, im Clubhaus verbrachten, noch in unsern Tennishosen in Korbsesseln sitzend, bei Wein und Scherzen, bei langen eifrigen Gesprächen, die so gar nichts von den bohrenden politischen Diskussionen der früheren und der späteren Jahre hatten, und die wir manchmal unterbrachen, um eine Partie Ping–Pong zu spielen oder um das Grammophon in Gang zu setzen und zu tanzen. Wieviel Harmlosigkeit und jugendlicher Ernst, welche Zukunftsträume, wieviel Aufgeschlossenheit, Weltfreundlichkeit und Vertrauen! Ich muß mich an die Stirn fassen, wenn ich daran denke; ich weiß nicht, was heute schwerer zu begreifen ist: daß es dies einmal in Deutschland gegeben hat, vor kaum zehn Jahren – oder: daß dies so völlig, so spurlos weggewischt werden konnte, in kaum zehn Jahren.

Es ist auch dieser Kreis, in dem ich meine tiefste, nachhaltigste Liebeserfahrung erlebte. Ich glaube, sie gehört in diesen Zusammenhang, weil sie eine überpersönliche Seite hat. Es ist gewiß eine romantische Lüge – wenn auch eine, die im vorigen Jahrhundert weiteste Popularität genoß – daß man »nur einmal wirklich liebe«, und es ist auch ziemlich müßig, unter allen unvergleichbaren Liebeserlebnissen Rangordnungen zu machen und zu sagen: »Die oder die habe ich am meisten geliebt«. Aber etwas anderes ist wahr: daß es einmal, meist um das zwanzigste Jahr herum, einen Zeitpunkt im Leben gibt, in dem das Liebeserlebnis und die Liebeswahl mehr als sonst schicksal–

und charakterbestimmend wird; in dem man in einer Frau etwas anderes liebt als eben nur diese Frau: nämlich einen ganzen Weltaspekt, eine ganze Lebenskonzeption – wenn man will: ein Ideal; aber ein lebendig gewordenes, in Fleisch und Blut wandelndes Ideal. Es ist das Vorrecht der Zwanzigjährigen – und auch nicht aller – einmal in einer Frau das zu lieben, was später der Mann als seinen Stern empfinden wird.

Heut muß ich abstrakte Ausdrücke suchen, um zu beschreiben, was ich auf der Welt liebe, was ich auf der Welt um jeden Preis bewahrt sehen will, und was man nicht verraten darf, man sterbe denn des ewigen Feuers: Freiheit und menschliche Klugheit, Mut, Grazie, Witz und Musik – und ich weiß nicht einmal, ob man mich versteht. Damals brauchte ich nur einen Namen für dasselbe auszusprechen, einen Kosenamen sogar: Teddy, und ich konnte sicher sein, daß wenigstens in unserm Kreise jeder mich verstehen würde. Wir liebten sie alle, die Trägerin dieses Namens, eine kleine Österreicherin, honigblond, sommersprossig, beweglich wie eine Flamme, und wir lernten und verlernten um ihretwillen die Eifersucht, wir erlebten Komödien und kleine Tragödien und wir empfanden Hymnen und Dithyramben ihretwegen, und wir erfuhren, daß das Leben schön wird, wenn man es mit Mut und Klugheit führt, mit Grazie und Freiheit, wenn man auf seinen Witz zu lauschen versteht und auf seine Musik. Wir hatten, in unserm Kreis, eine Göttin. Die Frau, die damals Teddy hieß, mag inzwischen älter und menschlicher geworden sein, und keiner von uns mag auf der Höhe seines damaligen Gefühls geblieben sein: daß es sie einmal gab und dies Gefühl einmal gab, ist nicht auszulöschen. Es formte uns mächtiger und nachhaltiger als irgendein

»historisches Ereignis«.

Teddy schwand früh aus unserm Kreis, wie es Göttinnen pflegen. Schon 1930 ging sie fort, nach Paris, schon damals mit dem Vorsatz, nicht umzukehren. Sie war vielleicht die erste Emigrantin. Sie spürte, ahnungsvoller und empfindlicher als wir, schon längst vor Hitler das Anwachsen und Bedrohlichwerden des Dummen und Bösen in Deutschland. Einmal im Sommer kam sie noch alljährlich zu Besuch zurück und fand die Luft jedesmal stickiger und schwerer zu atmen. Das letzte Mal kam sie 1933. Dann nicht mehr.

Schon lange vorher waren »wir« – dies unbestimmte »wir«, das keinen Namen hat, keine Partei, keine Organisation und keine Macht – eine Minderheit in Deutschland. Wir spürten es auch. Das selbstverständliche Gefühl des allgemeinen Verstehens, das die Zahlenspiele sei es des Krieges, sei es der Sportzeiten begleitet hatte, war längst in sein Gegenteil verkehrt: Wir wußten, mit vielen unserer Altersgenossen konnten wir kein Wort reden, weil wir eine andere Sprache sprachen. Wir fühlten um uns herum das »braune Deutsch« entstehen – »Einsatz«, »Garant«, »fanatisch«,

»Volksgenosse«, »Scholle«, »artfremd«, »Untermensch« – ein abscheuliches Idiom, das in jeder Vokabel eine ganze Welt von gewalttätiger Dummheit implizierte. Auch wir hatten unsere Geheimsprache. Wir verständigten uns über Menschen sehr kurz dahin, ob sie »klug« seien – was nicht hieß, daß ihre Intelligenz besonders gut arbeitete, sondern daß sie eine Ahnung davon hatten, was persönliches Leben heißt; also: zu »uns« gehörten. Wir wußten, daß die Dummen überwältigend in der Überzahl waren. Aber solange Stresemann da war, empfanden wir eine gewisse Sicherheit, daß sie in Schach gehalten waren. Wir bewegten uns unter ihnen mit der Sorglosigkeit, mit der die Menschen in einem modernen, käfiglosen Zoo zwischen den Raubtieren herumgehen, im Vertrauen darauf, daß die Gräben und Hecken alle gerade richtig berechnet sind. Die Raubtiere ihrerseits mochten ein entsprechendes Gefühl haben: Mit tiefem Haß prägten sie für die unsichtbare Ordnung, die sie bei aller Freiheit in Schranken hielt, ein vielsagendes Wort: »Das System«. Aber sie blieben in ihren Schranken.

Sie machten in all den Jahren nicht einmal einen Mordanschlag auf Stresemann, obwohl es leicht gewesen wäre. Denn er hatte keine Leibwache und er verschanzte sich nicht. Öfters sahen wir ihn Unter den Linden spazierengehen, einen unauffälligen, untersetzten Mann mit einem Derby–Hut. »Ist das nicht Stresemann da drüben?« fragte einer, und richtig, er war es. Man sah ihn etwa am Pariser Platz vor einem Blumenbeet stehen, eine Blume mit dem Spazierstock anheben und gedankenvoll mit seinen vorquellenden Augen betrachten. Vielleicht sann er nach, welches ihr botanischer Name war.

Seltsam: Hitler, heutzutage, zeigt sich nur im Auto, in raschem Tempo, umgeben von zehn oder zwölf Autos mit schwer bewaffneter SS. Wahrscheinlich tut er auch gut daran. Rathenau, 1922, verzichtete auf bewaffnete Begleitung und wurde dann auch prompt ermordet. Aber Stresemann, in der Zwischenzeit, konnte unbewaffnet und unbegleitet am Pariser Platz Blumen betrachten.

Vielleicht war er doch ein Zauberer, der breite, unauffällige, unschöne, unpopuläre Mann mit dem Stiernacken und den vorquellenden Augen. Oder war es gerade nur seine Unpopularität und Unauffälligkeit, was ihn schützte?

Wir folgten ihm von weitem mit den Augen, wie er, langsam und gedankenvoll schlendernd, von den Linden zur Wilhelmstraße einbog – viele erkannten und beachteten ihn nicht einmal; andere grüßten ihn, und er grüßte höflich und zivil wieder, durch Hutabnehmen, nicht etwa durch Armausstrecken, und einzeln, nicht massenweise – und wir fragten uns, ob er wohl »klug« sei. Und wie auch die Antwort ausfiel, wir fühlten ein stilles Vertrauen und eine respektvolle Dankbarkeit für den Unauffälligen. Mehr kaum. Er war nicht der Mann, heiße Gefühle zu entzünden.

Das stärkste Gefühl erregte er durch seinen Tod: einen plötzlichen kalten Schreck. Er war lange leidend gewesen, aber man wußte nicht, wie sehr. Freilich, später erinnerte man sich: Das letzte Mal, vor vier Wochen Unter den Linden, hatte er bleicher und aufgeschwemmter als gewöhnlich ausgesehen. Aber er war so unauffällig. Man hatte es nicht besonders bemerkt. Er starb auch überaus unauffällig: nach einem anstrengenden Tage, abends, während er sich wie jeder schlichteste Bürger vor dem Zubettgehen die Zähne putzte. Auf einmal taumelte er, so las man später, das Mundwasserglas fiel ihm aus der Hand ... Am nächsten Tag hatten die Zeitungen die Überschrift: Stresemann ist.

Und wir, die es lasen, empfanden einen eisigen Schreck. Wer sollte jetzt die Bestien bändigen?

Gerade hatten sie begonnen, sich zu rühren, mit einem unglaubwürdig–tollen »Volksbegehren«, dem ersten seiner Art: Alle Minister, die weiterhin Verträge »auf der Grundlage der Kriegsschuldlüge«

abschlossen, sollten mit Zuchthaus bestraft werden. Es war so etwas für die Dummen. Plakate und Umzüge, Massenversammlungen, Märsche, hier und da eine Schießerei. Die Friedenszeit ging zu Ende. Solange Stresemann da war, hatte man es noch nicht so recht geglaubt. Jetzt auf einmal wußte man es.

Oktober 1929. Böser Herbst nach einem schönen Sommer, Regen und rauhes Wetter, und

obendrein in der Luft etwas Drückendes, das nicht vom Wetter herrührte. Böse Worte an den Anschlagsäulen; auf den Straßen, zum ersten Mal, kotbraune Uniformen und unerfreuliche Gesichter darüber; das Rattern und Pfeifen einer ungewohnten, schrill–ordinären Marschmusik. In den Ämtern Verlegenheit, im Reichstag Lärmszenen, die Zeitungen voll von einer schleichenden, nicht endenden Regierungskrise. Es war alles trüb bekannt; es roch nach 1919 oder 20. War nicht auch der arme Hermann Müller Reichskanzler, der es damals schon gewesen war? Solange Stresemann

Außenminister gewesen war, hatte man nicht viel nach dem Reichskanzler gefragt. Sein Tod war der Anfang vom Ende.

14

Im Frühjahr 1930 wurde Brüning Reichskanzler, und zum ersten Mal, seit wir denken konnten, hatte Deutschland einen strengen Herrn. Von 14 bis 23 waren alle Regierungen schwächlich gewesen.

Stresemann hatte sehr geschickt und durchgreifend regiert, aber mit weicher Hand, ohne irgend jemand wehzutun. Brüning tat ständig sehr vielen Leuten weh, es war sein Stil, und er war mit einem gewissen Stolz »unpopulär«. Ein harter, knochiger Mann, der mit streng zusammengekniffenen Augen durch eine randlose Brille blickte. Alles Verbindliche und Abrundende war seiner Natur entgegen. Seine Erfolge – unbestreitbar erzielte er einige – hatten durchweg das Schema »Operation gelungen, Patient tot« oder »Stellung gehalten, Mannschaft aufgerieben«. Um die

Reparationszahlungen ad absurdum zu führen, ließ er es zu, daß die deutsche Wirtschaft fast zu Bruch ging, die Banken schlossen, die Arbeitslosenziffer auf 6 Millionen stieg. Um den Staatshaushalt bei all dem in Ordnung zu halten, wandte er eisern und grimmig das Rezept des strengen Hausvaters an: »den Gürtel enger schnallen«. In regelmäßiger Folge, etwa jedes halbe Jahr, kam eine »Notverordnung« heraus, die die Gehälter, Pensionen, sozialen Wohlfahrtsleistungen, schließlich sogar die privaten Löhne und Zinsen heruntersetzte und wieder heruntersetzte. Eins erzwang das andere, und mit zusammengebissenen Zähnen zog Brüning jede schmerzhafte

Konsequenz. Manches von dem, was später zu Hitlers effektvollsten Folterinstrumenten gehören sollte, wurde von Brüning eingeführt: die »Devisenbewirtschaftung«, die die Auslandsreisen, die

»Reichsfluchtsteuer«, die die Auswanderung unmöglich machte; sogar die Beschränkung der Pressefreiheit und die Knebelung des Parlaments gehen, in den Anfängen, auf ihn zurück. Dabei tat er das alles, paradox genug, im tiefsten Grunde zur Verteidigung der Republik. Aber die Republikaner begannen sich begreiflicherweise allmählich zu fragen, was ihnen nach alledem eigentlich noch zu verteidigen blieb.

Meines Wissens ist das Brüningregime die erste Studie und, sozusagen, das Modell gewesen zu einer Regierungsart, die seither in vielen Ländern Europas Nachahmung gefunden hat: Der Semi–

Diktatur im Namen der Demokratie und zur Abwehr der echten Diktatur. Wer sich der Mühe unterziehen würde, die Regierungszeit Brünings eingehend zu studieren, würde hier schon alle die Elemente vorgebildet finden, die diese Regierungsweise im Effekt fast unentrinnbar zur Vorschule dessen machen, was sie eigentlich bekämpfen soll: die Entmutigung der eigenen Anhänger; die Aushöhlung der eigenen Position; die Gewöhnung an Unfreiheit; die ideelle Wehrlosigkeit gegen die feindliche Propaganda; die Abgabe der Initiative an den Gegner; und schließlich das Versagen in dem Augenblick, wo alles sich zu einer nackten Machtfrage zuspitzt.

Brüning hatte keine wirkliche Gefolgschaft. Er wurde »toleriert«. Er war das kleinere Übel: der strenge Schullehrer, der die Züchtigung seiner Schüler mit dem Spruch begleitet: »Es tut mir mehr weh als euch« – gegen den hochsadistischen Foltermeister. Man deckte Brüning, weil er der einzige Schutz gegen Hitler zu sein schien. Da er dies natürlich wußte, durfte er Hitler, von dessen Bekämpfung –

und somit: von dessen Existenz – er politisch lebte, auf keinen Fall vernichten. Er mußte Hitler zwar bekämpfen, aber zugleich erhalten. Hitler durfte nicht wirklich zur Macht kommen, mußte aber immer gefährlich bleiben. Ein schwieriger Balanceakt! Brüning hielt ihn, mit Pokerface und zusammengebissenen Zähnen, zwei Jahre lang durch, und schon das war eine große Leistung. Der Augenblick, in dem er aus dem Gleichgewicht kommen mußte, konnte unmöglich ausbleiben. Was dann? Hinter der ganzen Brüningzeitstand die Frage: Was dann? Es war eine Zeit, in der eine trübe Gegenwart nur durch die Aussicht auf eine grauenvolle Zukunft gemildert wurde.

Brüning selbst hatte dem Lande nichts zu bieten als Armut, Trübsinn, Freiheitsbeschränkung und die Versicherung, daß etwas Besseres nicht zu haben sei. Allenfalls noch die Aufforderung zu einer stoischen Haltung. Aber er war eine zu karge Natur, um auch nur dieser Aufforderung eindrucksvolle Worte zu verleihen. Er warf keine Idee, keinen Appell ins Land. Er warf nur einen Schatten von Freudlosigkeit darüber.

Inzwischen sammelten sich geräuschvoll die Kräfte, die so lange brach gelegen hatten.

Am 14. September 1930 fanden jene Reichstagswahlen statt, in denen die Nazis mit einem Schlage von einer lächerlichen Splitterpartei zur zweitstärksten heraufschnellten, von 12 Mandaten auf 107.

Von diesem Tage an war die Mittelpunktsfigur schon der Brüningzeit nicht mehr Brüning, sondern Hitler. Die Frage hieß nicht mehr: Wird Brüning bleiben?, sondern: Wird Hitler kommen? Die quälenden und erbitterten politischen Diskussionen gingen nicht mehr darum, ob man für oder gegen Brüning, sondern: ob man für oder gegen Hitler sei. Und in den Vorstädten, wo das Schießen wieder anging, schossen sich nicht etwa die Brüninganhänger und Brüninggegner, sondern die Hitleranhänger und Hitlergegner tot.

Dabei mochte Hitlers Person, seine Vergangenheit, sein Wesen, sein Reden, zunächst eher ein Handicap für die Bewegung sein, die sich hinter ihm sammelte. In weiten Kreisen war er 1930 noch eine eher peinliche Figur aus grauer Vergangenheit: der Münchener Heiland von 1923, der Mann des grotesken Bierhausputsches. Zudem war seine persönliche Atmosphäre für den normalen Deutschen (nicht etwa nur für die »Klugen«) durchaus abstoßend: die Zuhälterfrisur; die Talmieleganz; der Wiener Vorstadtdialekt; das viele und lange Reden überhaupt, das

Epileptikergehaben dazu, die wilde Gestikulation, der Geifer, der abwechselnd flackernde und stierende Blick. Und dann der Inhalt der Reden: die Freude am Drohen, die Freude am Grausamen, die blutrünstigen Hinrichtungsphantasien. Die meisten der Leute, die ihm 1930 im Sportpalast zuzujubeln begannen, hätten es wahrscheinlich vermieden, sich von diesem Mann auf der Straße Feuer geben zu lassen. Aber hier zeigte sich bereits das Seltsame: die Faszination gerade des ganzen Widerlichen, Pfuhlhaften, triefend Eklen – wenn es auf die Spitze getrieben wird. Kein Mensch hätte sich gewundert, wenn dieses Lebewesen bei seiner ersten Rede von einem

Schutzmann am Kragen genommen und irgendwo abgestellt worden wäre, wo man nie wieder etwas von ihm sah und wohin es ohne Zweifel gehörte. Da nichts dergleichen geschah, da der Mensch sich im Gegenteil immer weiter steigerte, immer wahnsinniger und monströser und dabei nur immer berühmter und unübersehbarer wurde, schlug die Wirkung um: Die Faszination durch das Monstrum setzte ein; und zugleich das eigentliche Geheimnis des Falles Hitler, jene seltsame Benebelung und Betäubung der Gegner, die mit dem Phänomen einfach nicht fertig wurden und gleichsam unter der Wirkung eines Basiliskenblicks standen, unfähig zu erfassen, daß die personifizierte Unterwelt sie herausforderte.

Hitler, vor dem höchsten deutschen Gericht als Zeuge vorgeladen, brüllte in den Gerichtssaal, eines Tages werde er, streng legal, zur Macht kommen, und dann würden Köpfe rollen. Nichts geschah.

Der weißhaarige Senatspräsident kam nicht auf den Gedanken, den Zeugen abführen zulassen.

Hitler, im Reichspräsidentenwahlkampl mit Hindenburg, erklärte, dieser Kampf sei ohnehin für ihn gewonnen. Sein Gegner sei 85, er 43 Jahre alt; er könne warten. Nichts geschah. Als er es zum zweiten Male sagte, in der nächsten Versammlung, lachte das Publikum bereits wie gekitzelt. –

Sechs Sturmtruppleute, die einen »Andersdenkenden« eines Nachts in seinem Bett überfallen und buchstäblich totgetrampelt hatten, wurden dafür zum Tode verurteilt. Hitler sandte ihnen ein Telegramm mit Anerkennungs– und Belobigungsworten. Nichts geschah. Doch, es geschah etwas.

Die sechs Mörder wurden begnadigt.

Es war seltsam zu beobachten, wie sich dies gegenseitig steigerte: die wilde Frechheit, die den unangenehmen kleinen Hetzapostel allmählich zum Dämon wachsen ließ, die Begriffsstutzigkeit seiner Bändiger, die immer erst einen Augenblick zu spät erfaßten, was er eigentlich gerade gesagt oder getan hatte – nämlich, wenn er es durch ein noch tolleres dictum oder eine noch monströsere Tat gerade schon wieder in den Schatten gestellt hatte; und die Hypnose seines Publikums, das dem Zauber des Ekelhaften und dem Rausch des Bösen immer widerstandsloser erlag.

Hitler versprach im übrigen allen alles, und das brachte ihm selbstverständlich eine große, lose Gefolgs– und Wählerschaft von Urteilslosen, Enttäuschten und Verarmten ein. Das Entscheidende aber war nicht dies. Jenseits der bloßen Demagogie und der Programmpunkte versprach er, deutlich und fühlbar ehrlich, zweierlei: die Wiederherstellung des großen Kriegsspiels von 1914–18; und die Wiederholung des großen sieghaft–anarchischen Beutezuges von 1923. Mit anderen Worten: seine spätere Außenpolitik und seine spätere Wirtschaftspolitik. Er brauchte dies nicht wörtlich zu versprechen; er konnte ihm sogar scheinbar widersprechen (wie in den späteren »Friedensreden«): man verstand ihn doch. Und das schuf ihm seine wirklichen Jünger, den Kern der eigentlichen Nazipartei. Es appellierte an die beiden großen Erlebnisse, die sich der jüngeren Generation eingeprägt hatten. Es sprang als elektrischer Funke auf alle über, die heimlich diesen Erlebnissen nachhingen. Draußen blieben nur die, die gerade diese Erlebnisse abgeschrieben und innerlich mit einem negativen Vorzeichen versehen hatten. Also »wir«.

»Wir« aber hatten keine andere Partei, keine Fahne, der wir folgen konnten, kein Programm und keinen Kampfruf. Wem hätten wir folgen sollen? Außer den Nazis, den Favoriten, gab es jene zivilisierten bürgerlichen Reaktionäre, die sich um den »Stahlhehlm« sammelten, Leute, die sich ein wenig unklar für das »Fronterlebnis« und die »Scholle« begeisterten und zwar nicht die rasante Pöbelhaftigkeit der Nazis, aber durchaus ebenfalls ihre ganze ressentimentale Dumpfheit und inhärente Lebensfeindschaft besaßen. Es gab die längst vor dem Kampf geschlagenen, vielfach blamierten Sozialdemokraten, und es gab schließlich die Kommunisten mit ihrem sektiererischen Dogmatikerzug und dem Kometenschweif von Niederlage hinter sich. (Seltsam, die Kommunisten, was auch immer sie unternahmen, waren zum Schluß stets sie die Geschlagenen und auf der Flucht Erschossenen. Das schien ein Naturgesetz zu sein.)

Im übrigen gab es die sphinxhafte Reichswehr, geführt von einem intrigenfreudigen Bürogeneral, und die preußische Polizei, von der man hörte, sie sei ein guttrainiertes, zuverlässig republikanisches Machtinstrument. Man hörte es freilich, nach allen Erfahrungen, nicht ohne Mißtrauen.

Das waren die Kräfte im Spiel. Das Spiel selbst schleppte sich zäh und trübe hin, ohne Höhepunkte, ohne Dramatik, ohne sichtbare Entscheidungen. Die Atmosphäre in Deutschland erinnerte in vielem an die Atmosphäre in Europa heute: Gelähmtes Warten auf das Unentrinnbare, dem man doch bis zum letzten Augenblick zu entrinnen hofft. Was heute in Europa der kommende Krieg ist, war damals in Deutschland die kommende Machtergreifung Hitlers und die »Nacht der langen Messer«, von der die Nazis vorausschauend redeten. Selbst die Einzelheiten waren ähnlich: das langsame Näherkommen des Furchtbaren, die Zerfahrenheit der Abwehrkräfte, ihr hoffnungsloses Festhalten an den Spielregeln, die der Feind täglich brach, der einseitig geführte Krieg, der Schwebezustand zwischen »Ruhe und Ordnung« und »Bürgerkrieg« (es gab keine Barrikaden, aber es gab täglich sinnlose und kindische Schlägereien und Schießereien, Überfälle auf »Parteilokale« und ständig auch Tote). Es gab sogar schon damals die Denkfigur des »Appeasement«: Mächtige Gruppen waren dafür, Hitler »unschädlich zu machen«, indem man ihn »in die Verantwortung« zöge. Es gab ständige politische Diskussionen, unfruchtbar und erbittert, überall: in den Cafés, in den Kneipen, in den Läden, in den Schulen, in den Familien. Es gab, nicht zu vergessen, wieder Zahlenspiele: Ständig fanden kleinere und größere Wahlen statt, und jetzt hatte jeder Stimmen und Mandatsziffern im Kopf. Die Zahlen der Nazis stiegen ständig. Was es nicht mehr gab, war Lebensfreude, Liebenswürdigkeit, Harmlosigkeit, Wohlwollen, Verständnis, Gutwilligkeit, Großzügigkeit und Humor.

Es gab auch kaum mehr gute Bücher, und sicher keine Leute mehr, die sich dafür interessierten. Die Luft in Deutschland war rapide stickig geworden.

Bis zum Sommer 1932 wurde sie immer stickiger. Dann stürzte Brüning, grundlos und über Nacht, und es kam das seltsame Zwischenspiel Papen–Schleicher: eine Regierung von adligen Herren, von denen eigentlich niemand wußte, wer sie waren, und sechs Monate eines wilden politischen Husarenritts. Damals wurde die Republik liquidiert, die Verfassung außer Kraft gesetzt, der Reichstag aufgelöst, neugewählt, wieder aufgelöst und wieder neugewählt, Zeitungen verboten, die preußische Regierung entlassen, die ganze höhere Verwaltung umbesetzt – und dies alles ging in einer fast heiteren Atmosphäre letzten und äußersten Hazards vonstatten. Das Jahr 1939 schmeckt in ganz Europa sehr nach jenem deutschen Sommer 1932: Man war nun wirklich nur noch um Haaresbreite von dem Ende entfernt, das Gefürchtete konnte täglich eintreten; die Nazis füllten mit ihren jetzt endgültig erlaubten Uniformen schon alle Straßen, warfen schon Bomben, entwarfen schon Proskriptionslisten; schon verhandelte man, im August, mit Hitler, ob er nicht Vizekanzler werden wolle, und im November, nachdem sich Papen und Schleicher entzweit hatten, bot man ihm sogar die Kanzlerschaft an; zwischen Hitler und der Macht stand nichts mehr als das Spielerglück einiger adliger politischer Kavaliere, alle ernsthaften Hindernisse waren weggeräumt, keine Verfassung mehr, keine Rechtsgarantien, keine Republik, nichts, nichts, auch keine republikanische preußische Polizei mehr. So ist heute der Völkerbund versunken und die kollektive Sicherheit, der Wert der Verträge und der Sinn der Verhandlungen, so ist Spanien gefallen, Österreich und die Tschechoslowakei: Und doch breitete sich damals wie heute gerade im letzten, gefährlichsten, verlorensten Augenblick noch einmal ein kranker und seliger Optimismus aus, ein

Spieleroptimismus, ein heiteres Vertrauen, daß alles um Haaresbreite gut gehen würde. Waren nicht Hitlers Kassen leer? Sind nicht Hitlers Kassen leer? Waren nicht endlich selbst die ehemaligen Freunde Hitlers jetzt zum Widerstand entschlossen? Sind sie es nicht auch heute? War nicht noch einmal Bewegung und Leben in das erstarrte politische Bild gekommen – wie 1939 in Europa?

Damals, wie heute, begann man eben mit dem Gedanken zu spielen, das Schlimmste sei vorüber.

15

Wir sind soweit. Die Anreise ist beendet. Wir sind am Kampfplatz. Das Duell kann beginnen.

DIE REVOLUTION

16

Ich: das war Anfang 1933 ein junger Mann von 25 Jahren, gut ernährt, gut angezogen, gut erzogen, freundlich, korrekt, schon ein wenig abgeschliffen und geglättet, jenseits der eigentlichen schlenkrigen Studentenjugendlichkeit, aber im Ernst noch unausprobiert – ein Durchschnittsprodukt der deutschen bürgerlichen Bildungsschicht im Ganzen und im übrigen ein ziemlich

unbeschriebenes Blatt. Abgesehen davon, daß ich ständig vor einem ziemlich interessanten und dramatischen zeitgeschichtlichen Hintergrund gelebt hatte, hatte mein Leben bis dahin keine besonders interessanten und dramatischen Züge aufzuweisen. Die einzigen persönlichen Erlebnisse, die tiefer gegangen waren und bereits ein paar Narben, Erfahrungen, Charakterzüge hinterlassen hatten, waren jene lustvollen und schmerzlichen Experimente mit der Liebe, die jeder junge Mensch dieses Alters anstellt; sie interessierten mich damals noch tiefer als irgendetwas anderes; sie waren das eigentliche »Leben«. Im übrigen war ich – wiederum wie jeder junge Mensch meines Alters und meiner Klassenzugehörigkeit in Deutschland – noch ein Haussohn: gut ernährt und gut angezogen, aber aus Prinzip mit Taschengeld knapp gehalten von einem bedeutenden, alternden, interessanten, unbequemen aber heimlich geliebten Vater. Mein Vater war, wenn ich auch manchmal darüber nicht allzu erbaut war, damals durchaus die Hauptperson meines Lebens. Wollte ich etwas Ernsthaftes unternehmen oder entscheiden, so konnte ich nicht umhin, meinen Vater zu fragen. Will ich schildern, was ich damals war – oder besser: zu werden angelegt war, so kann ich noch heute nicht umhin, meinen Vater zu schildern.

Mein Vater war der Gesinnung nach ein Liberaler, der Haltung und Lebensführung nach ein preußischer Puritaner.

Es gibt eine spezifisch preußische Abart des Puritanismus, die vor 1933 eine der beherrschendsten Geistesmächte im deutschen Leben war und noch heute unter der Oberfläche eine gewisse Rolle spielt. Sie ist dem klassischen englischen Puritanismus verwandt, aber mit einigen

charakteristischen Unterschieden. Ihr Prophet ist Kant, nicht Calvin; ihr großes Beispiel ist Fridericus, nicht Cromwell. Wie der englische Puritanismus fordert der preußische Strenge, Würde, Enthaltsamkeit gegenüber den Freuden des Lebens, Pflichterfüllung, treu und Ehrenhaftigkeit bis zur Selbstverleugnung, Weltverachtung bis zur Düsterkeit. Wie der englische Puritaner gibt der preußische seinen Söhnen aus Prinzip wenig Taschengeld und runzelt die Brauen über ihre jugendlichen Experimente mit der Liebe. Aber der preußische Puritanismus ist säkularisiert. Er dient und opfert nicht Jehovah, sondern dem roi de Prusse. Seine Auszeichnungen und irdischen Belohnungen sind nicht private Reichtümer, sondern amtliche Würden. Und, was vielleicht das Wichtigste ist: der preußische Puritanismus hat eine Hintertür ins Freie und Unkontrollierte, an der das Wort »Privat« steht.

Der düstere Asket Fridericus, diese Denkmalfigur des preußischen Puritanismus, war bekanntlich

»privat« ein Flötenspieler, Versemacher, Freigeist und Freund Voltaires. Fast alle seine Jünger, diese hohen preußischen Bürokraten und Offiziere zweier Jahrhunderte, mit ihren streng

zusammengefalteten Gesichtern, waren privat etwas Ähnliches. Der preußische Puritanismus liebt die Figur »raube Schale – weicher Kern«. Der preußische Puritaner ist der Erfinder jener seltsamen deutschen Selbstaufstellung, die da spricht: »Als Mensch sage ich Ihnen... Aber als Beamter sage ich Ihnen ...« Er ist die Grundlage des bis heute von vielen Ausländern nie recht verstandenen Zustandes, daß Preußen – und Preußen–Deutschland – als Ganzes stets wie eine unmenschliche, grausam–gefräßige Maschine handelt und wirkt, aber im einzelnen, wenn man es besucht und mit den einzelnen Preußen und Deutschen »privat« in Fühlung kommt, oft einen durchaus

sympathischen, menschlichen, harmlosen und liebenswürdigen Eindruck macht. Deutschland führt als Nation ein Doppelleben, weil fast jeder einzelne Deutsche ein Doppelleben führt.

Mein Vater war »privat« ein leidenschaftlicher Literaturkenner und –liebhaber. Er hatte eine Bibliothek von einigen 10 000 Bänden, die er bis zu seinem Tode erweiterte und ausbaute, und die er nicht nur »hatte«, sondern gelesen hatte. Die großen Namen des europäischen 19. Jahrhunderts –

Dickens und Thackeray, Balzac und Hugo, Turgenjew und Tolstoj, Raabe und Keller (um nur seine Favoriten unter ihnen zu nennen) – für ihn waren sie nicht Namen, sondern intime Bekannte, mit denen er leidenschaftliche lange stumme Diskussionen gehabt hatte. Nie blühte er im Gespräch so auf, als wenn er jemand traf, mit dem er diese Diskussionen laut fortsetzen konnte.

Nun ist aber Literatur ein seltsames Hobby. Man kann wohl »privat« und ungestraft ein Sammler und Blumenzüchter, vielleicht sogar noch ein Bilder– und Musikkenner sein: Aber der tägliche Umgang mit dem lebendigen Geist bleibt nie »privat«. Es ist leicht vorzustellen, daß ein Mann, der jahrelang

»privat« alle Abgründe und Gipfel des europäischen Dichtens und Denkens durchmißt, eines Tages einfach unfähig wird, ein enger, strenger, pedantisch pflichtgetreuer preußischer Beamter zu sein.

Nicht so mein Vater. Er blieb es. Aber er bildete, ohne die preußisch–puritanische Daseinsform zu zerbrechen, eine skeptisch–weise Liberalität in sich aus, die sein Beamtengesicht mehr und mehr zur bloßen Maske werden ließ. Das Mittel, beides zusammenzuhalten, war eine sehr sublime, nie lautwerdende geheime Ironie – das einzige Mittel übrigens, wie mir scheint, das den menschlich hochproblematischen Typus des Beamten adeln und legitim machen kann. Ein immer waches Wissen darum, daß der mächtige und würdige Mann hinter der Schranke und der schwache und ausgelieferte vor ihr beide Menschen und nichts weiter sind; daß sie Rollen in einem Spiel haben; daß die Rolle des Beamten zwar Strenge und Kühle verlangt, aber ebenso größte Behutsamkeit, Wohlwollen und Umsicht; daß eine im kältesten Amtsdeutsch zu schreibende Verfügung in einer heiklen Sache mehr Zartgefühl verlangen kann als ein lyrisches Gedicht, mehr Weisheit und Sinn für Balance als die Lösung eines Roman–Knotens. Auf den Spaziergängen, die mein Vater in diesen Jahren mit mir zu machen liebte, versuchte er mich vorsichtig in diese höheren Geheimnisse der Bürokratie einzuweihen.

Denn ihm lag daran, daß ich Beamter wurde. Er hatte nicht ohne eine gewisse Bestürzung wahrgenommen, daß das, was bei ihm Lektüre und Diskussion geblieben war, bei mir die Tendenz zeigte, ins Schreiben auszuarten, und er hatte es nicht übermäßig ermutigt. Selbstverständlich war er nicht mit plumpen Verboten vorgegangen, gewiß nicht, keineswegs: Ich mochte in meiner Freizeit soviel Romane, Novellen und Essays schreiben, wie ich wollte, und sollten sie gedruckt werden und mich ernähren, umso besser. Aber inzwischen hatte ich »etwas Vernünftiges« zu studieren und meine Examina zu machen. Im tiefsten Grunde sah er mit puritanischem Mißtrauen auf eine Existenz, die darin bestand, in Caféhäuser zu gehen und zu unregelmäßigen Zeiten Blätter vollzukritzeln; und war mit liberaler Weisheit abgeneigt dagegen, den Staat und die Verwaltung den Banausen zu überlassen, die sich in Machtgenuß und Schikane gefielen, das hohe Kapital von wirklicher Staatsautorität mit sinnlosem Auftrumpfen und Dekretieren verschleuderten und, seiner Meinung nach, ohnehin bereits in allen Verwaltungen überhandnahmen. Er tat das Seinige, um das aus mir zu machen, was er gewesen war: einen gebildeten Beamten. Und wahrscheinlich glaubte er damit sowohl mir wie dem Deutschen Reich den besten Dienst zu erweisen.

So hatte ich also Jura studiert und war »Referendar« geworden. Anders als in den angelsächsischen Ländern, wird in Deutschland der angehende Richter oder Verwaltungsbeamte unmittelbar nach beendetem Studium – mit 22, 23 Jahren – an die Ausübung von Autorität gewöhnt: Als »Referendar«, d.h., ungefähr, Volontär, arbeitet er an allen Gerichten und Behörden wie ein Richter oder Regierungsbeamter mit, nur ohne eigene Verantwortung und eigene Entscheidungsgewalt (auch ohne Gehalt). Immerhin: Viele Urteile, von Richtern unterzeichnet, sind von Referendaren abgefaßt; in den Beratungen hat der Referendar zwar keine Stimme, aber Vortragsrecht und gar nicht so selten tatsächlichen Einfluß; an zwei meiner Ausbildungsstellen ließ mich der Richter, entlastungsfroh, sogar die Verhandlungen leiten ... Diese plötzliche Amtsgewalt ist für einen jungen Menschen, der sonst nichts als ein Haussohn ist, zweifellos ein Erlebnis, das, zum Guten oder zum Schlechten, erheblichen Einfluß auf ihn haben muß. Mir gab es, zum mindesten, zweierlei: eine bestimmte »Haltung« – eine Attitüde von Kühle, Ruhe und wohlwollender Trockenheit, die man vielleicht nur hinter einer Amtsschranke lernt; und eine gewisse Fähigkeit zum Denken in

»Behördenlogik«, in einer gewissen Art von legaler Abstraktion. Wie alles wurde, habe ich wenig Gelegenheit gehabt, von beidem den vorgesehenen Gebrauch zu machen. Wohl aber hat es –

namentlich das zweite – ein paar Jahre später mir und meiner Frau buchstäblich das Leben gerettet; das konnte mein Vater freilich nicht ahnen, als er dafür sorgte, daß ich es lernte.

Abgesehen hiervon kann ich heute nur mitleidig lächeln, wenn ich mich frage, wie ich auf das Abenteuer vorbereitet war, das mir bevorstand. Ich war es überhaupt nicht. Ich konnte nicht einmal boxen oder Jiu–Jitsu – gar nicht zu reden von solchen Wissenschaften wie Schmuggeln, Grenzen passieren, Geheimzeichen benutzen usw.; lauter Dinge, deren Kenntnis in den nächsten Jahren überaus nützlich gewesen wäre. Aber auch mit meiner spirituellen Vorbereitung auf das Bevorstehende war es überaus schwach bestellt. Sagt man nicht, daß die Generalstäbe ihre Armeen in Friedenszeiten immer vorzüglich vorbereiten – auf den letztvergangenen Krieg? Ich weiß nicht, wie es damit ist. Aber sicher erziehen alle gewissenhaften Familien ihre Söhne stets vorzüglich für die letztvergangene Epoche. Ich besaß das gesamte intellektuelle Rüstzeug, um eine gute Rolle in der bürgerlichen Epoche von vor 1914 zu spielen; und außerdem, aus gewissen zeitgeschichtlichen Erfahrungen heraus, ein gewisses Vorgefühl dafür, daß es mir möglicherweise wenig nützen würde.

Das war aber auch alles. Von dem, womit ich im Begriff war konfrontiert zu werden, hatte ich bestenfalls einen warnenden Geruch in der Nase; aber ich besaß keine Begriffswelt, in der es unterzubringen gewesen wäre.

So ging es freilich nicht nur mir, sondern im großen und ganzen meiner gesamten Generation, und der älteren natürlich erst recht. (Und so geht es noch heute den meisten Ausländern, die den Nazismus nur aus den Zeitungen und Filmwochenschauen kennen). All unser Denken spielte sich innerhalb einer gewissen Zivilisation ab, in der die Grundlagen selbstverständlich – und vor lauter Selbstverständlichkeit schon fast vergessen waren. Wenn wir uns um gewisse Antithesen stritten –

Freiheit und Bindung etwa, oder Nationalismus und Humanismus, oder Individualismus und Sozialismus – so geschah es doch immer unbeschadet gewisser christlich–humanistisch–

zivilisatorischer Selbstverständlichkeiten, die außerhalb aller Diskussion standen. Nicht einmal alle, die damals Nazis wurden, wußten recht eigentlich, was sie damit wurden; sie mochten meinen, für Nationalismus, für Sozialismus, gegen die Juden, für 1914–18 zu sein, und heimlich freuten sich die meisten von ihnen auf neue öffentliche Abenteuer und ein neues 1923 – aber alles natürlich in den

»humanen« Formen eines »Kulturvolkes«. Die meisten von ihnen hätten einen wahrscheinlich ganz erschreckt angesehen, wenn man sie gefragt hätte, ob sie (um nur ein paar Augenfälligkeiten zu nennen, die gewiß nicht die letzte, schauerlichste Pointe sind) für permanente staatliche Folterstätten und für staatlich angeordnete Pogrome seien. Es gibt heute noch Nazis, die einen ganz erschreckt ansehen, wenn man ihnen solche Fragen stellt.

Ich selbst hatte damals keine entschiedenen politischen Ansichten. Es fiel mir sogar schwer, zu entscheiden, ob ich, um nur die allerallgemeinste politische Grundtendenz festzulegen, »rechts« oder

»links« sei. Als mir einmal jemand 1932 diese Gewissensfrage stellte, antwortete ich, betroffen und sehr zögernd: »Eher rechts...« In Tagesfragen nahm ich nur von Fall zu Fall innerlich Partei; in manchen gar nicht. Von den bestehenden politischen Parteien zog mich keine besonders an, so groß die Auswahl war. Allerdings hätte mich auch, ut exempla docent, die Zugehörigkeit zu keiner davor geschützt, ein Nazi zu werden.

Was mich davor schützte, war – meine Nase. Ich besitze einen ziemlich ausgebildeten geistigen Geruchssinn, oder, anders ausgedrückt, ein Gefühl für die ästhetischen Valeurs (und Non–valeurs!) einer menschlichen, moralischen, politischen Haltung oder Gesinnung. Den meisten Deutschen fehlt leider das gerade vollständig. Die Klügsten unter ihnen sind imstande, sich mit lauter Abstraktionen und Deduktionen vollständig dumm zu diskutieren über den Wert einer Sache, von der man einfach mittels seiner Nase feststellen kann, daß sie übelriechend ist. Ich meinerseits hatte schon damals die Gewohnheit, meine wenigen feststehenden Überzeugungen vermittels meiner Nase zu bilden.

Was die Nazis betraf, so entschied meine Nase ganz eindeutig. Es war einfach ermüdend, darüber zu reden, was unter ihren vorgeblichen Zielen und Absichten etwa doch diskutabel oder wenigstens

»historisch gerechtfertigt« sei, da das Ganze so roch, wie es roch. Daß die Nazis Feinde seien –

Feinde für mich und für alles, was mir teuer war – darüber täuschte ich mich keinen Augenblick.

Worüber ich mich freilich vollkommen täuschte, war, wie furchtbare Feinde sie sein würden. Ich neigte damals noch dazu, sie nicht ganz ernstzunehmen – eine verbreitete Haltung unter ihren unerfahrenen Gegnern, die ihnen viel geholfen hat und heute noch hilft.

Es gibt wenig so Komisches, wie die unbeteiligt–überlegene Ruhe, mit der wir, ich und meinesgleichen, den Anfängen der Nazi–Revolution in Deutschland wie von einer Theaterloge aus zusahen – einem Vorgang, der immerhin exakt darauf abzielte, uns aus der Welt zu schaffen. Noch komischer ist es vielleicht nur, daß noch Jahre später, mit unserm Beispiel vor Augen, ganz Europa sich dieselbe überlegen–amüsierte, tatenlose Zuschauerhaltung leistete, während die Nazis schon längst dabei waren, es an allen vier Ecken anzuzünden.

17

Im Anfang sah diese Revolution auch tatsächlich so aus, als würde sie ein »historisches Ereignis«

werden wie gehabt: eine Angelegenheit der Zeitungen und allenfalls der öffentlichen Atmosphäre.

Die Nazis feiern als den Tag ihrer Revolution den 30. Januar. Mit Unrecht. Der 30. Januar 1933

brachte keine Revolution, sondern einen Regierungswechsel. Hitler wurde Reichskanzler, übrigens beileibe nicht als Führer einer Nazi–Regierung (nur zwei Nazis saßen außer ihm im Kabinett), und schwur Treue der Weimarer Reichsverfassung. Die Sieger des Tages waren, in der allgemeinen Auffassung, keineswegs die Nazis, sondern die Leute der bürgerlichen Rechten, die die Nazis

»eingefangen« hatten und ihrerseits alle Schlüsselpositionen in der Regierung besetzten.

Verfassungsrechtlich war der Vorgang weit normaler und unrevolutionärer als das meiste, was sich im Jahr zuvor abgespielt hatte. Und äußerlich verlief der Tag ebenfalls ohne alle revolutionären Merkmale – wenn man nicht einen Fackelzug der Nazis durch die Wilhelmstraße und eine belanglose nächtliche Schießerei in einem Vorort als solche gelten lassen will.

Für uns andere bestand das Erlebnis des 30. Januar tatsächlich nur in Zeitungslektüre – und den Empfindungen, die sie auslöste.

Morgens hieß die Überschrift: Hitler zum Reichspräsidenten gerufen – und man empfand einen gewissen hilflosen nervösen Ärger: Hitler war im August und war im November zum

Reichspräsidenten gerufen worden und hatte den Vizekanzler– und Kanzlerposten angeboten bekommen; jedesmal hatte er unmögliche Bedingungen gestellt, und jedesmal war danach feierlich erklärt worden: Nie wieder... Das »Nie wieder« hielt jeweils immer gerade ein Vierteljahr vor. Es herrschte damals in Deutschland bereits dieselbe krankhafte Sucht unter Hitlers Gegenspielern, ihm alles, was er wünschte, unverdrossen immer wieder und immer billiger anzubieten und geradezu aufzudrängen, wie heute in der Welt. Immer wieder wurde diesem »appeasement« feierlich abgeschworen, und immer wieder, wenn es darauf ankam, feierte es fröhliche Auferstehung – genau wie heute. Damals wie heute war die einzige Hoffnung, die einem blieb, Hitlers eigene Verblendung.

Mußte sie nicht schließlich selbst die Geduld seiner Gegner erschöpfen? Damals wie heute zeigte sich, daß diese Geduld in der Tat durch nichts zu erschöpfen war...

Mittags hieß die Überschrift: Hitler verlangt wieder zuviel. Man nickte halbberuhigt. Sehr glaubhaft.

Es hätte seiner Natur durchaus nicht entsprochen, weniger als zuviel zu verlangen. So mochte der Kelch noch einmal vorübergehen. Hitler – die letzte Rettung vor Hitler.

Gegen 5 Uhr dann waren die Abendzeitungen da: Kabinett der nationalen Konzentration gebildet –

Hitler Reichskanzler.

Ich weiß nicht genau, wie die allgemeine erste Reaktion war. Die meine war etwa eine Minute lang richtig: Eisiger Schreck. Gewiß, es war »drin« gewesen, schon lange. Man hatte damit rechnen müssen. Dennoch, es war so phantastisch. So unglaubhaft, wenn man es jetzt wirklich schwarz auf weiß vor sich sah. Hitler – Reichskanzler... Einen Augenblick spürte ich fast körperlich den Blut– und Schmutzgeruch um diesen Mann Hitler, und ich empfand etwas wie die zugleich bedrohliche und ekelerregende Annäherung eines mörderischen Tiers – eine schmutzige scharfkrallige Pfote an meinem Gesicht.

Dann schüttelte ich das ab, versuchte zu lächeln, versuchte nachzudenken, und fand in der Tat viel Grund zur Beruhigung. Am Abend diskutierte ich die Aussichten der neuen Regierung mit meinem Vater, und wir waren uns einig darüber, daß sie zwar eine Chance hatte, eine ganz hübsche Menge Unheil anzurichten, aber kaum eine Chance, lange zu regieren. Eine schwarz–reaktionäre Regierung im ganzen, mit Hitler als Mundstück. Bis auf diesen Zusatz unterschied sie sich wenig von den beiden letzten, die Brüning gefolgt waren. Eine Reichstagsmehrheit würde sie auch mit den Nazis nicht haben. Gut, den Reichstag konnte man immer wieder auflösen. Aber auch in der Bevölkerung hatte die Regierung eine klare Mehrheit gegen sich; vor allem die kompakte Arbeiterschaft, die nach der endgültigen Blamage der maßvollen Sozialdemokraten wahrscheinlich kommunistisch werden würde. Natürlich konnte man die Kommunisten »verbieten« – und damit umso gefährlicher machen.

Die Regierung würde inzwischen soziale und kulturelle Reaktionen treiben, wie bisher, wahrscheinlich schärfer als bisher, und außerdem, Hitler zuliebe, Antisemitismus. Werben würde sie damit keinen ihrer Gegner. Nach Außen wahrscheinlich eine Politik des Auftrumpfens; vielleicht ein Aufrüstungsversuch. Das mußte, zu den 60 Prozent im Lande, die gegen die Regierung standen, automatisch das ganze Ausland gegen sie versammeln. Außerdem, was waren das für Leute, die seit drei Jahren plötzlich Nazi wählten? Urteilslose größtenteils, Propagandaopfer, fluktuierende Masse; nach der ersten Enttäuschung würden sie auseinanderlaufen. Nein, alles in allem genommen, war diese Regierung kein Grund zur Beunruhigung. Fraglich nur, was eigentlich nach ihr kommen sollte; und zu befürchten möglicherweise, daß sie es bis zum Bürgerkrieg treiben würde. Den Kommunisten war es zuzutrauen, daß sie eines Tages losschlagen würden, ehe sie sich verbieten ließen.

Dies war, wie sich am nächsten Tag erwies, auch so ungefähr die Prognose der intelligenten Presse.

Seltsam, wie überzeugend sie sich selbst heute noch liest, wo man doch weiß, wie alles gekommen ist. Wie konnte es nur so anders kommen? Etwa vielleicht gerade deshalb, weil wir alle so sicher waren, daß es nicht anders kommen könnte – und uns gar so fest darauf verließen – und so gar nichts ins Auge faßten, um es schlimmstenfalls zu verhindern, daß es anders käme – ?

Noch den ganzen Februar hindurch blieb alles, was geschah, auf Zeitungsnachrichten beschränkt –

d.h. es spielte in einer Sphäre, die für 99 Prozent aller Menschen jede Realität in dem Augenblick verlieren würde, wo es einmal keine Zeitungen gäbe. In dieser Sphäre geschah freilich genug: Der Reichstag wurde aufgelöst, dann, unter flagranter Verfassungsverletzung durch Hindenburg, der preußische Landtag. Ein wilder Beamtenschub setzte in der höheren Verwaltung ein und ein wilder Terror im Wahlkampf. Die Nazis genierten sich nicht mehr, das mußte man zugeben: Sie brachen jetzt regelmäßig mit Sprengkolonnen in die Wahlversammlungen anderer Parteien ein, sie erschossen fast täglich einen bis zwei politische Gegner, in einem Berliner Vorort brannten sie auch eines Tages das ganze Haus einer sozialdemokratischen Familie nieder. Der neue preußische Innenminister (ein Nazi: ein gewisser Hauptmann Göring), promulgierte einen tollen Erlaß, in dem er die Polizei anwies, bei Zusammenstößen ohne Prüfung der Schuldfrage die Partei der Nazis zu nehmen und auf die andern ohne Warnung zu schießen – und wenig später wurde sogar eine

»Hilfspolizei« aus S.A.–Leuten gebildet.

Indes, wie gesagt, das waren Zeitungsnachrichten. Mit seinen Augen und Ohren sah und hörte man nicht viel anderes, als woran man ohnehin in den letzten Jahren gewöhnt worden war. Braune Uniformen in den Straßen, Aufmärsche, Heilrufe – und im übrigen Business as usual. Auf dem Kammergericht, dem höchsten preußischen Gericht, wo ich damals als Referendar arbeitete, änderte sich nichts im Justizbetrieb dadurch, daß der preußische Innenminister gleichzeitig tolle Erlasse herausgab. Die Verfassung mochte, laut Zeitungsnachrichten, zum Teufel gehen: Aber jeder einzelne Paragraph des Bürgerlichen Gesetzbuchs galt weiter und wurde so sorgfältig um– und umgedreht wie je zuvor. Wo lag die eigentliche Realität? Der Reichskanzler mochte täglich öffentlich wüste Schmähungen gegen die Juden ausstoßen – aber in unserm Senat saß nach wie vor ein jüdischer Kammergerichtsrat und machte seine überaus scharfsinnigen und gewissenhaften Urteile, und diese Urteile galten und setzten den vollen Staatsapparat zu ihrer Vollziehung in Aktion –

mochte auch die höchste Spitze dieses Staatsapparats ihren Verfasser täglich als »Parasiten«,

»Untermenschen« oder »Pest« bezeichnen. Wer war eigentlich der Blamierte dabei? Gegen wen richtete sich die Ironie dieses Zustandes?

Ich gestehe, ich neigte dazu, allein das ungestörte Weiterfunktionieren der Justiz, aber überhaupt alles ungestörte Weitergehen des Lebens wie einen Triumph über die Nazis zu empfinden: Mochten sie sich noch so laut und wild gebärden, seht doch, sie konnten höchstens die politische Oberfläche aufrühren – hier unten die ganze Meerestiefe des wirklichen Lebens blieb unberührt von ihnen.

Blieb sie ganz unberührt? Drang nicht schon damals etwas von den Wirbeln auf der Oberfläche bis hier herunter – in einer neuen zitternden Spannung, einer plötzlichen Unversöhnlichkeit und hitzigen Haßbereitschaft, die in die politischen Privatdiskussionen drang, überhaupt in diesem Stets–und–

ständig–an–Politik–denken–müssen? War es nicht schon eine seltsame Wirkung der Politik auf das Privatleben, daß man auf einmal jedes normale unpolitische Weiterleben wie eine politische Demonstration empfand?

Wie dem auch sei: Noch klammerte ich mich an dieses normale unpolitische Weiterleben. Es gab keine Stelle, von wo aus ich gegen die Nazis kämpfen konnte. Nun gut, so wollte ich mich wenigstens nicht im geringsten von ihnen stören lassen. Es mochte sogar mit einem gewissen Trotz geschehen, daß ich beschloß, nun gerade auf einen großen Faschingsball zu gehen, obwohl mir gar nicht besonders nach Fasching zumute war. Aber das wollen wir doch erst sehen, ob die Nazis dem Fasching etwas anhaben können – !

18

Der Berliner Fasching ist, wie so viele Berliner Einrichtungen, eine etwas künstliche, gemachte und ausgedachte Sache. Er hat kein skurril–geheiligtes Ritual, wie in den katholischen Zentren, er hat auch nicht das Spontane, Herzliche und Mitreißende des Münchener Faschings. Seine wesentlichen Merkmale sind, sehr berlinisch, »Betrieb« und »Organisation«. Ein Berliner Faschingsfest ist, sozusagen, eine große, bunte, glänzend organisierte Liebestombola, mit Glückslosen und Nieten: eine Gelegenheit, ein Mädchen zu greifen wie man ein Tombolalos greift, sie zu küssen und binnen einer Nacht alle Vorbereitungsstadien einer Liebesgeschichte mit ihr zu durchlaufen. Das Ende ist im allgemeinen eine gemeinsame Taxenfahrt im Morgengrauen und der Austausch zweier

Telefonnummern. Hiernach weiß man dann meistens, ob eine Geschichte gestartet ist, die hübsch zu werden verspricht, oder ob man sich nur gerade einen ehrlichen Katzenjammer verdient hat. Das Ganze spielt sich – und damit kommt der »Betrieb« zu seinem Recht – ab in einer überaus bunten und wilddekorierten Umgebung, unter dem Lärm durcheinanderspielender Tanzkapellen, unter großer Verschwendung von allen obligaten Faschingsutensilien wie Papierschlangen, Lampions usw., mit Hilfe von soviel Alkohol wie man bezahlen kann, und in der sardinenbüchsenhaft engen Umgebung von einigen tausend Leuten, die alle dasselbe tun und sich daher gegenseitig wenig genieren.

Der Ball, auf den ich damals ging, hieß aus irgendeinem Grund »Dachkahn«, wurde von irgendeiner Kunstschule veranstaltet, und war ein großer, lauter, bunter, überfüllter Ball wie alle diese Berliner Faschingsbälle. Es war am 25. Februar, einem Sonnabend. Ich kam ziemlich spät, und es war schon voller Betrieb, eine wimmelnde Fülle von bunten Seidenfetzen, nackten Schultern und nackten Mädchenbeinen, ein Gedränge, in dem man nicht von der Stelle kam, kein Platz an den Garderoben, kein Platz an den Buffets. Die Fülle gehörte zum »Betrieb«.

Ich kam nicht ganz in der richtigen Stimmung, im Gegenteil, ich war ein wenig niedergeschlagen, als ich kam. Ich hatte beunruhigende Gerüchte gehört diesen Nachmittag: Der Wahlkampf ginge nicht nach Wunsch; die Nazis planten einen Staatsstreich, Massenverhaftungen, Schreckensherrschaft; man müsse sich auf einiges gefaßt machen in den nächsten Wochen. Unbehaglich – obwohl natürlich wieder nur Zeitungsstoff. Die Wirklichkeit war hier, nicht wahr?, in diesen vorbeischwirrenden Stimmen, dem Gelächter, der Tanzmusik, dem freigiebig verschenkten Mädchenlächeln.

Aber plötzlich, während ich unschlüssig und abgelenkt auf irgendeiner Stufe stand und den ganzen Strudel um mich herumwogen sah – hitzige, glühende, eifrig lächelnde Gesichter, so massenhaft, ach und so harmlos, alle nur darauf aus, sich eine nette Freundin, einen netten Freund auszulosen, für eine Nacht oder für einen Sommer, einen Tropfen Lebenssüßigkeit, ein kleines Abenteuer, ein Erlebnis zum Sich–dran–erinnern – plötzlich überkam mich ein seltsames, schwindlig machendes Gefühl: als wäre ich mit allen diesen tausend bunt herausgeputzten jungen Leuten eingeschlossen in einem riesigen, unentrinnbaren, schwer schlingernden und rollenden Schiff, in dessen entlegenster, mauseloch–kleinster Kajüte wir noch tanzten, während oben auf der Brücke gerade schon beschlossen war, diesen ganzen Schiffsteil zu überfluten und uns alle zu ersäufen, Mann und Maus.

Dann schob sich ein Arm von hinten unter meinem Arm, ich hörte eine nette bekannte Stimme, und ich kehrte – ja, wohin? Sagen wir also: in die Wirklichkeit – zurück. Es war eine alte Bekannte aus glücklichen Tenniszeiten, ein Mädchen namens Lisl, lange aus den Augen verloren, fast vergessen, nun also plötzlich wieder da, altbekannt und freundlich, sehr trost– und scherzbereit. Sie stellte sich resolut zwischen mich und meine schwarzen Gedanken, verdeckte mir mit ihrer kleinen, standfesten Person Gott, die Welt und die Nazis und führte mich zurück auf den Pfad meiner Faschingspflicht.

Binnen einer Stunde war ich verkuppelt, mein Lotterielos war gezogen: ein kleines schwarzes Mädchen, gekleidet wie ein Türkenknabe, sehr zierlich anzusehen, große braune Frauenaugen im Gesicht. Flüchtig betrachtet, erinnerte sie ein wenig an die Schauspielerin Elisabeth Bergner. Das war auch ihr Ehrgeiz; es war der Ehrgeiz jedes Berliner Mädchens damals. Man durfte sich nichts besseres wünschen.

Lisl, mit aufmunterndem Winken, verlor sich im Gewühl, und das Bergnermädchen wurde meine Freundin für diese Nacht. Nicht nur für diese Nacht, für eine ganze elende Zeit, die kommen sollte.

Keine ganz glückliche Freundschaft, aber was wußte ich davon jetzt! Sie war leicht wie eine Feder, sie lag angenehm im Arm beim Tanzen; sie sprach altklug mit einer kleinen hohen Stimme, sie machte, mit einem gewissen trocken–spröden berlinischen Charme, kleine freche Scherze und bekam dabei Lichter in ihre großen Augen, die älter waren als ihr Gesicht. Sie war reizend genug, ich war zufrieden mit meinem Lose. Eine Weile tanzten wir, dann gingen wir irgendwann etwas zusammen trinken, dann gingen wir spazieren, und irgendwo in einem kleinen Raum, wo die Tanzmusik nur gedämpft hereinlärmte, ließen wir uns nieder, versuchten, unsere Namen zu erraten, und zogen es schließlich vor, uns welche zu geben. Sie taufte mich »Peter«. Ich taufte sie »Charlie«.

Gute Namen für ein Liebespaar aus einem Vicky–Baum–Roman. Man konnte sich keine besseren wünschen. Indem wir sie uns gaben, schickten wir uns an, ein braves kleines à–la–mode–

Liebespaar zu werden. Einige andere Paare rechts und links waren mit sich beschäftigt. Sie störten uns nicht. Ein alter Schauspieler aber, einsam und gebietend im Raume aufgepflanzt, mischte sich wehmütig–segnend ein, nannte uns »Kinderehen« und bestellte Cocktails für alle. Es war fast eine Familienszene. Allmählich bekam man schon wieder Lust, ein wenig zu tanzen. Ich hatte auch Lisl versprochen, sie noch einmal irgendwo zu besuchen. Es kam aber anders.

Ich weiß nicht, wie es sich zuerst zu uns herumsprach, die Polizei sei im Haus. Es kamen ja immer einmal Leute hindurch, die sich weinselig bemerkbar zu machen suchten und mehr oder weniger gelungene Scherze in die Gegend riefen, jeder nach seinem Vermögen. Einer mochte geschrien haben: »Aufstehen, Polizei ist im Haus!« Ich hielt es für keinen besonders guten Witz. Dann verdichtete sich das Gerücht aber. Ein paar Mädchen wurden nervös, sprangen auf, verschwanden, gefolgt von ihren Rittern. Ein junger Mensch, schwarz angezogen von Kopf bis Fuß und ebenso schwarz von Haar und Auge, stand plötzlich wie ein Volksredner mitten im Raum und erklärte mit grimmiger, rauher Stimme, wir täten gut, alle zusammen zu machen, daß wir fortkämen, wenn wir nicht die Nacht am Alexanderplatz verbringen wollten. (Am Alexanderplatz war das Polizeipräsidium, und auch das Polizeigefängnis.) Er gebärdete sich halb und halb, als sei er selber die Polizei. Bei näherer Betrachtung sah ich, daß er lange Zeit hier selbst gesessen und friedlich mit einem Mädchen herumgeküßt hatte. Das Mädchen war verschwunden. Er übrigens trug, wie ich jetzt sah, ein Liktorenbündel an der Kappe, und sein schwarzes Kostüm, mein Gott, das war ja eine Faszistenuniform! Seltsames Kostüm! Seltsames Benehmen! Der alte Schauspieler erhob sich langsam von seinem Sitz und ging schweigend und schwer schwankend davon. Es war alles plötzlich ein wenig wie in einem Traum.

Irgendwo in einem Saal draußen ging das Licht aus, von dem wir hier mitbeleuchtet wurden, zugleich ertönte vielstimmiges Gekreisch von dort, und wir alle sahen mit einem Schlag fahl aus – ein Beleuchtungseffekt wie auf der Bühne. »Stimmt das tatsächlich mit der Polizei? fragte ich den Schwarzen. »Es stimmt, mein Sohn!« rief er mit Stentorstimme. »Und warum? Was ist los?« »Was los ist?« schrie der Schwarze. »Das kannst du dir vielleicht selber sagen. Es gibt eben Leute, die so etwas nicht gerne sehen«, und er schlug irgendein Mädchen, das in der Nähe stand, rauh und klatschend auf den nackten Schenkel. Es war mir nicht ganz klar, ob er damit die Partei der Polizei zu nehmen beabsichtigte, oder ob es eine verwahrloste Trotzgeste sein sollte. Ich zuckte die Achseln. »Wir wollen mal selber sehen, wie, Charlie?« sagte ich. Sie nickte und folgte mir treu und ergeben.

Tatsächlich, überall war aufgestörte Bewegung, Gewühl, Unbehagen und leichte Panik. Irgendetwas war los. Vielleicht war etwas Unangenehmes passiert, ein Unglücksfall, ein Streit? Sollten gar hier vielleicht ein paar Leute aufeinander geschossen haben, ein Nazi und ein Kommunist? Unmöglich schien es nicht. Wir wanden uns durch die Zimmer und Säle. Da! Da war wirklich Polizei. Tschakos und blaue Uniformen. Dastanden sie zwischen den durcheinanderstrudelnden, aufgestörten Kostümen wie Felsen in der Brandung. Nun würde man ja alles erfahren. Ich wandte mich an einen, ein bißchen ungläubig, lächelnd und vertrauensvoll, wie man sich eben an einen Schutzmann um Auskunft wendet: »Müssen wir wirklich nach Hause gehen?«

– »Sie dürfen nach Hause gehen«, erwiderte er – und ich prallte fast zurück, so überaus drohend hatte er es gesagt, langsam, eisig und tückisch. Ich sah ihn an – und prallte zum zweiten Mal zurück: denn was für ein Gesicht war das! Das war nicht das übliche, bekannte, treue und biedere Schupogesicht. Es war ein Gesicht, das nur aus Zähnen zu bestehen schien. Der Mann hatte mir tatsächlich die Zähne entgegengefletscht, und zwar zeigte er unwahrscheinlicherweise beide Gebißreihen, ein seltener Anblick bei einem Menschen; seine Zähnchen standen klein, spitzig und böse da, wie bei einem Raubfisch. Und fischig, haifischig war das ganze blonde und blasse Gesicht unter dem Tschako: mit toten, wäßrigen, farblosen Augen, farblosen Haaren, farbloser Haut, farblosen Lippen und einer hechtartig vorspringenden Nase über den Zähnen. Sehr »nordisch«, das mußte man zugeben, aber freilich durchaus kein Menschengesicht mehr, sondern etwa das Gesicht eines Krokodils. Ich schauderte. Ich hatte das SS–Gesicht gesehen.

19

Zwei Tage später brannte der Reichstag.

Es gibt wenig zeitgeschichtliche Ereignisse, die ich so vollständig »versäumt« habe wie den Reichstagsbrand. Während er stattfand, war ich in einem Vorort bei einem Freund und Mitreferendar zu Besuch und redete Politik. Dieser Mann ist heute ein recht hoher Militärfunktionär, »streng unpolitisch« von Gesinnung, und nur berufseifrig und pflichtstreng mit der technischen Seite der Eroberung fremder Länder beschäftigt. Damals war er ein Referendar wie ich, ein guter Kamerad, etwas trocken von Wesensanlage und unter dieser Trockenheit leidend, allzugut behütet von einem Elternpaar, dessen einziger Sohn und einzige große Hoffnung er war, und außerstande, dem liebevollen Gefängnis dieses Elternhauses zu entrinnen. Der große Kummer seines Lebens war, daß es ihm niemals gelingen wollte, eine rechte Liebesgeschichte zu erleben: Er war kein Nazi, gewiß nicht. Die bevorstehende Reichstagswahl setzte ihn in Verlegenheit. Er war »national«, aber »für Rechtsstaat«. Er konnte aus diesem Konflikt nicht herausfinden. Bisher hatte er »Deutsche Volkspartei« gewählt, aber er fühlte, daß das jetzt keinen rechten Zweck mehr hatte. Vielleicht würde er gar nicht wählen.

Wir Besucher rangen um seine arme Seele. »Du mußt doch einfach merken,« sagte einer, »daß jetzt eine klare nationale Politik gemacht wird. Wie kann man da noch schwanken! Jetzt heißts Entweder

– oder. Und wenn schon ein paar Paragraphen darüber zum Teufel gehen!« Ein anderer gab dagegen zu bedenken, daß die Sozialdemokraten immerhin das Verdienst gehabt hätten, »die Arbeiterschaft in den Staat hineinzuintegrieren.« Die jetzige Regierung gefährde dieses mühevolle Werk wieder. Ich erregte leichte Mißbilligung durch die »frivole« Bemerkung, gegen die Nazis zu wählen, schiene mir eine Angelegenheit des guten Geschmacks zu sein – ganz gleichgültig, wie man im übrigen politisch stehe. »Schön, dann wähle wenigstens schwarz–weiß–rot«, bemerkte der Champion der Nazis gutmütig.

Während wir so dummes Zeug redeten und Moselwein tranken, brannte also der Reichstag, fand sich der unglückselige van der Lubbe mit jedem wünschenswerten Ausweispapier versehen im brennenden Hause vor, sprach Hitler flammenumloht wie ein Wagnerscher Wotan vor dem

Reichstagsportal die großen Worte: »Wenn das die Kommunisten getan haben, woran ich nicht zweifle, dann gnade ihnen Gott!« Wir hatten keine Ahnung davon. Das Radio war nicht angestellt.

Gegen Mitternacht fuhren wir schläfrig in späten Autobussen nach Hause, während schon überall die Überfallkommandos unterwegs waren und ihre Opfer aus den Betten holten, den ersten großen Schub für die ersten Konzentrationslager: linke Abgeordnete, linke Literaten, unbeliebte Ärzte, Beamte, Anwälte.

Erst am nächsten Morgen las ich in der Zeitung, der Reichstag brenne. Erst mittags las ich von den Verhaftungen. Ungefähr gleichzeitig wurde jene Verordnung Hindenburgs angeschlagen, die für die Privatleute Meinungsfreiheit, Brief– und Telefongeheimnis aufhob und der Polizei dafür unbeschränkte Haussuchungs–, Beschlagnahme– und Verhaftungsrechte gab. Am Nachmittag gingen Leute mit Leitern herum, biedere Handwerker, und begannen an allen Anschlagsäulen und Zäunen Wahlplakate säuberlich mit weißem Papier zu überkleben: Den Linksparteien war jede weitere Wahlpropaganda verboten worden. Die Zeitungen, soweit sie noch erschienen, berichteten fast ausnahmslos mit einem gewissen weichen, patriotisch–beseligten Jubelton über alles. Wir waren gerettet! Heil uns, Deutschland war frei! Am Sonnabend würden alle Deutschen mit dankgeschwelltem Herzen das Fest der nationalen Erhebung zusammen begehen! Fackeln heraus, Fahnen heraus!

So die Zeitungen. Die Straßen sahen genau so aus wie an gewöhnlichen Tagen. Die Kinos spielten, die Gerichte sprachen Recht. Revolution? Keine Spur. In den Wohnungen saßen die Leute, ein wenig verwirrt, ein wenig verängstigt, und versuchten sich über alles klar zu werden. Schwer, schwer war das in der kurzen Zeit!

Also die Kommunisten hatten den Reichstag angezündet. Soso. Das war schon möglich, das war sogar sehr glaublich. Komisch freilich, weshalb gerade den Reichstag – ein leeres Haus, von dessen Abbrennen keiner etwas hatte. Nun, vielleicht hatte es wirklich ein »Fanal« für die Revolution sein sollen, und das »entschlossene Zupacken« der Regierung hatte die Revolution dann verhindert. So stand es in der Zeitung, und es ließ sich hören. Komisch allerdings auch, daß die Nazis sich gerade über den Reichstag so aufregten. Bis dahin hatten sie ihn immer »Quatschbude« genannt, und jetzt auf einmal war es wie eine Schändung des Allerheiligsten, daß ihn einer angezündet hatte. Nun ja, immer wie es gerade in den Kram paßt – das ist Politik, nicht wahr, Herr Nachbar? Davon verstehen wir Gott sei Dank nichts. Hauptsache, die Gefahr der kommunistischen Revolution ist nun vorüber, und wir können ruhig schlafen gehen. Gute Nacht.

Ernsthaft gesprochen: Das Interessanteste am Reichstagsbrand war vielleicht, daß die Beschuldigung der Kommunisten so gut wie allgemein geglaubt wurde. Selbst die Zweifler fanden es immerhin nicht ganz unmöglich. Daran waren die Kommunisten selbst schuld. Sie waren in den letzten Jahren eine starke Partei geworden, sie hatten stets und ständig mit ihrer »Bereitschaft«

gedroht, und eigentlich niemand traute ihnen zu, daß sie sich ohne Gegenwehr würden »verbieten«

und abschlachten lassen. Den ganzen Februar hindurch hatte man ein wenig »Augen links«

gestanden und auf den Gegenzug der Kommunisten gewartet. Nicht der Sozialdemokraten – von denen erwartete niemand mehr etwas, seit am 20. Juli 1932 Severing und Grzesinski mit der vollen Legalität und 80 000 Mann schwerbewaffneter Polizei im Rücken »der Gewalt« einer

Reichswehrkompagnie »gewichen« waren –; aber der Kommunisten. Die Kommunisten waren

entschlossene Leute mit finsteren Gesichtern, sie hoben die Faust zum Gruß, hatten Waffen –

jedenfalls schossen sie oft genug bei den üblichen Kneipenschießereien –, pochten fortgesetzt auf ihre Stärke und Organisation und waren sicher von Rußland aus belehrt, wie man »so etwas« macht.

Die Nazis ließen keinen Zweifel, daß sie ihnen ans Leben wollten: Also würden sie sich wehren. Das war eigentlich nur selbstverständlich. Man wunderte sich ohnehin, daß man von der Gegenwehr so lange nichts merkte.

Man brauchte sehr lange, um in Deutschland dahinterzukommen, daß die Kommunisten Schafe im Wolfspelz gewesen waren. Der Nazi–Mythos vom verhinderten kommunistischen Putsch fand einen Boden von Gläubigkeit, den die Kommunisten selbst präpariert hatten. Daß hinter ihren erhobenen Fäusten nichts gewesen war – wer hatte das wissen können? Es gibt heute noch Leute in Deutschland, die auf den Kommunistenschreck hereinfallen – alles der Kommunisten eigenes Werk.

Sehr viele sind es freilich jetzt nicht mehr. Die Blamage der deutschen Kommunisten hat sich allmählich ziemlich herumgesprochen. Selbst die Nazis ziehen dieses Register heute nicht mehr gern. Höchstens distinguierten Ausländern gegenüber; denen kann man immer noch alles vormachen.

Daß die meisten Deutschen damals, im Februar 1933, an die kommunistische Brandstiftung glaubten, kann man ihnen, scheint mir, nach alledem nicht übelnehmen. Was man ihnen

übelnehmen kann, und worin sich zum ersten Mal in der Nazizeit ihre schreckliche kollektive Charakterschwäche zeigte, ist, daß damit die Angelegenheit für sie erledigt war. Daß man ihnen, jedem einzelnen von ihnen, sein bißchen verfassungsmäßig garantierte persönliche Freiheit und Bürgerwürde wegnahm, nur weil es im Reichstag ein bißchen gebrannt hatte – das nahmen sie mit einer schafsmäßigen Ergebenheit hin, als müßte es so sein. Wenn die Kommunisten den Reichstag angesteckt hatten, war es doch ganz in der Ordnung, daß die Regierung »hart zupackte«! Am nächsten Morgen diskutierte ich diese Dinge mit ein paar Referendarkollegen. Alle waren sehr interessiert für die Täterschaftsfrage des Reichstagsbrandes, und mehr als einer äußerte seine augenzwinkernden Zweifel an der offiziellen Version. Aber keiner fand etwas Besonderes dabei, daß man in Zukunft seine Telefongespräche belauschen, seine Briefe öffnen und seinen Schreibtisch erbrechen durfte. »Ich empfinde es als persönliche Beleidigung«, sagte ich, »daß man mich verhindert, zu lesen welche Zeitung ich will – weil angeblich ein Kommunist den Reichstag angesteckt hat. Sie nicht?« Einer antwortete fröhlich und harmlos: »Nein. Wieso? Lasen Sie denn etwa bis jetzt den »Vorwärts« und »Die Rote Fahne«?«

– Am Abend des ereignisreichen Dienstags hatte ich drei Telefongespräche. Zuerst rief ich meine neue Freundin Charlie an und verabredete mich mit ihr. Ein wenig vielleicht aus echter Verliebtheit; aber weit mehr aus Trotz. Ich wollte mich nicht stören lassen. Nun gerade nicht! Außerdem war Charlie jüdisch.

Sodann rief ich eine Jiu–Jitsu–Schule an und fragte nach Prospekten und Bedingungen. Ich hatte das Gefühl, daß eine Zeit kam, wo man Jiu–Jitsu würde können müssen. (Bald darauf merkte ich freilich, daß die Zeit, wo Jiu–Jitsu noch half, schon vorüber war, und daß man sich vielmehr eine Art geistiges Jiu–Jitsu aneignen mußte.)

Und schließlich rief ich die gute Lisl an: nicht, um mich zu verabreden, nur um mich zu entschuldigen, daß ich sie auf dem Ball nicht mehr gesehen hatte, und zu fragen, »wie sie es überstanden hätte« – eine etwas berechtigtere Frage diesmal als für gewöhnlich.

Aber Lisl klang verweint am Telephon. Ich sei doch ein Justizmensch, sagte sie. Ob ich eine Ahnung hätte, was aus den Verhafteten von gestern nacht geworden sei? Ihre Stimme setzte aus, und dann fragte sie hart, ob sie wenigstens lebten. Sie war noch nicht an die Aufhebung des

Telephongeheimnisses gewöhnt.

Ihr Freund war unter ihnen – nicht irgendein Faschingsfreund, sondern der Mann, den sie liebte. Er war ein sehr bekannter linker Stadtarzt. Er hatte einen berühmt großartigen sozial–medizinischen Dienst in seinem Bezirk – einem Arbeiterviertel – organisiert, und er hatte Aufsätze veröffentlicht, in denen er für Straflosigkeit der Abtreibung bei sozialen Notständen eingetreten war. Er hatte auf der ersten Liste der Nazis gestanden.

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