Ich sprach Lisl noch ein paarmal in den nächsten Wochen. Es war nicht möglich, ihr zu helfen, und es wurde immer schwerer, ihr etwas Tröstliches zu sagen.

20

Was ist eine Revolution?

Staatsrechtler sagen: Die Änderung einer Verfassung mit anderen als den in ihr vorgesehenen Mitteln. Akzeptiert man diese dürre Definition, dann war die Nazi–«Revolution« vom März 1933 keine Revolution. Denn alles ging streng »legal« vor sich, mit Mitteln, die durchaus in der Verfassung vorgesehen waren, »Notverordnungen« des Reichspräsidenten zunächst und schließlich einem Beschluß, die unbeschränkte Gesetzgebungsgewalt auf die Regierung zu übertragen, gefaßt von einer Zweidrittelmehrheit des Reichstages, wie sie für Verfassungsänderungen vorgesehen war.

Nun, das ist offensichtliche Spiegelfechterei. Aber wenn man die Sache sieht, wie sie wirklich war, bleiben immer noch Zweifel genug, ob das, was sich da im März abspielte, wirklich den Namen

»Revolution« verdient. Einfach vom Standpunkt des Common Sense aus scheint das Wesentliche an einer Revolution doch zu sein, daß Leute mit Gewalt die bestehende Ordnung und ihre Vertreter: Polizei, Militär usw. angreifen und besiegen. Das braucht nichts durchweg Begeisterndes und Herrliches zu sein, es kann mit Ausschreitung, Gewalttat, Pöbelbrutalität, Plünderung, Mord und Brand einhergehen. Was man von Leuten, die »Revolutionäre« sein wollen, immerhin erwarten muß, ist, daß sie angreifen, Mut zeigen, ihr Leben riskieren. Barrikaden sind vielleicht etwas Veraltetes, aber irgendeine Form von Spontaneität, Erhebung, Einsatz und Aufstand scheint doch wohl essentiell zu einer echten Revolution zu gehören.

Der März 1933 enthielt nichts davon. Sein Geschehen war aus den seltsamsten Elementen zusammengebraut, aber das einzige, was völlig darin fehlte, war irgendeine Tat des Muts, der Tapferkeit und Hochherzigkeit von irgendeiner Seite. Vier Dinge brachte dieser März, als deren Ergebnis schließlich die unangreifbare Nazi–Herrschaft dastand: Terror; Feste und Deklamationen; Verrat; und schließlich einen kollektiven Kollaps – einen millionenfachen simultanen individuellen Nervenzusammenbruch. Viele, ja die meisten europäischen Staatswesen sind bluti ger geboren worden. Aber es gibt keins, dessen Entstehung in diesem Maße ekelhaft war.

Die europäische Geschichte kennt zwei Formen von Terror: Die eine ist der zügellose Blutrausch einer losgelassenen, siegestrunkenen revolutionären Masse; die andere ist die kalte, überlegte Grausamkeit eines siegreichen, auf Abschreckung und Machtdemonstration bedachten

Staatsapparats. Die beiden Formen sind, normalerweise, auf Revolution und Repression verteilt. Die erste ist die revolutionäre; sie nimmt ihre Entschuldigung aus der Erregung und der Wut des Augenblicks, aus dem Außersichsein. Die zweite ist die repressive; sie nimmt ihre Entschuldigung aus der Vergeltung der vorangegangenen revolutionären Greuel.

Den Nazis ist es vorbehalten geblieben, beides zu kombinieren in einer Weise, für die beide Entschuldigungen nicht gelten. Der Terror von 1933 wurde geübt von echtem, blutberauschtem Pöbel (nämlich der SA – die SS spielte damals noch nicht die Rolle wie später) – aber die SA trat dabei als »Hilfspolizei« auf, sie handelte ohne jede Erregung und Spontaneität und insbesondere ohne jede eigene Gefahr; vielmehr aus völliger Sicherheit heraus, befehlsgemäß und in strikter Disziplin. Das äußere Bild war revolutionärer Terror: Wilder unrasierter Mob, nächtlich in Wohnungen einbrechend und Wehrlose in irgendwelche Folterkeller schleppend. Der innere Vorgang war repressiver Terror: Kalte, genau berechnete, staatliche Anordnung und Lenkung und volle polizeiliche und militärische Deckung. Das Ganze geschah nicht aus dem Erregungszustand, der einem siegreichen Kampf folgt, einer großen überstandenen Gefahr – nichts dergleichen hatte stattgefunden; es geschah auch nicht zur Vergeltung irgendwelcher vorher von der Gegenseite verübter Greuel – es hatte keine gegeben. Was stattfand, war vielmehr einfach die albtraumhafte Umkehrung der normalen Begriffe: Räuber und Mörder als Polizei auftretend, bekleidet mit der vollen Staatsgewalt; ihre Opfer als Verbrecher behandelt, geächtet und im Voraus zum Tode verurteilt. Ein Beispielfall, der wegen der Ausmaße, die er annahm, in die Öffentlichkeit drang: Ein Cöpenicker sozialdemokratischer Gewerkschaftsfunktionär setzte sich mit seinen Söhnen gegen eine SA–Patrouille, die nachts in sein Haus einbrach, um ihn zu »verhaften«, zur Wehr, und erschoß in offensichtlicher Notwehr zwei SA–Leute. Darauf wurden zunächst, noch in der gleichen Nacht, er und seine Söhne von einer zweiten, stärkeren SA–Gruppe überwältigt und im Schuppen seines Hauses aufgehängt. Am nächsten Tag aber erschienen, befehlsgemäß und diszipliniert, SA–

Patrouillen in Cöpenick in den Wohnungen aller Einwohner, die als Sozialdemokraten bekannt waren, und erschlugen sie an Ort und Stelle. Die Zahl der Toten ist nie bekannt geworden.

Diese Art von Terror hatte den Vorteil, daß man je nachdem bedauernd die Achseln zucken und von

»unvermeidlichen traurigen Begleitumständen jeder Revolution« sprechen konnte – also die Entschuldigung des revolutionären Terrors – oder auch auf die strikte Disziplin hinweisen konnte und darlegen, daß vollkommene Ruhe und Ordnung herrschte, daß ausschließlich gewisse notwendige Polizeiaktionen stattfanden und daß revolutionäre Unordnung gerade dadurch von Deutschland ferngehalten würde – die Entschuldigung des repressiven Terrors. Beides geschah denn auch abwechselnd, je nach der Art des Publikums.

Diese Art der Publicity trug und trägt freilich weiter dazu bei, den Nazi–Terror abstoßender zu machen als irgendeinen sonst in der europäischen Geschichte bekannten. Selbst Grausamkeit kann einen Zug von Größe haben, wenn sie mit dem Pathos höchster offener Entschlossenheit geübt wird; wenn die, die sie verüben, lodernd zu ihren Taten stehen – wie es in der französischen Revolution, in den russischen und spanischen Bürgerkriegen der Fall war. Die Nazis, im Gegensatz dazu, zeigten nie etwas anderes als die scheue, feige und bleiche Fratze des leugnenden Mörders. Während sie systematisch Wehrlose folterten und mordeten, versicherten sie täglich in edlen und weichen Tönen, daß niemandem ein Haar gekrümmt würde, und daß nie eine Revolution so human und so unblutig vonstatten gegangen sei. Ja, wenige Wochen nach dem Einsetzen der Greuel wurde durch ein Gesetz jedem, der auch nur in seinen vier Wänden die Behauptung aufstellte, daß Greuel geschähen, strenge Strafe angedroht.

Selbstverständlich bezweckte das nicht, die Greuel wirklich geheimzuhalten. Dann hätten sie ja ihren Zweck, allgemein Furcht, Schrecken und Unterwerfung hervorzubringen, nicht erreichen können.

Vielmehr sollte die Terrorwirkung gerade durch das Geheimnis gesteigert werden und durch die Gefahr, die darin lag, auch nur darüber zu reden. Die offene Darstellung dessen, was in den SA–

Kellern und Konzentrationslagern geschah – etwa von der Rednertribüne herab oder in den Zeitungen –, hätte möglicherweise selbst in Deutschland verzweifelte Gegenwehr hervorgerufen. Die heimlich herumgeflüsterten schaudervollen Geschichten – »Seien Sie nur vorsichtig, Herr Nachbar!

Wissen Sie, was dem X passiert ist?« – brachen viel sicherer jedes Rückgrat.

Umso mehr, als man gleichzeitig vollkommen beschäftigt und abgelenkt wurde durch eine nicht abreißende Folge von Festen, Feiern und nationalen Weihestunden. Das begann bereits mit einer riesigen Siegesfeier vor den Wahlen, dem »Tag der nationalen Erhebung« am 4. März:

Massenaufmärsche und Feuerwerke, Trommeln, Kapellen und Fahnen über ganz Deutschland, Hitler aus Tausenden von Lautsprechern tönend, Schwüre und Gelöbnisse – alles, obwohl ja noch gar nicht feststand, ob nicht die Wahlen den Nazis vielleicht eine Schlappe bringen würden. Tatsächlich taten sie das: Diese Wahlen, die letzten, die je in Deutschland abgehalten wurden, brachten den Nazis nur 44 Prozent der Stimmen (vorher hatten sie 37 gehabt) – die Mehrheit wählte immer noch gegen sie. Wenn man bedenkt, daß der Terror schon in vollem Gange, daß den Linksparteien in der letzten entscheidenden Woche vor der Wahl bereits der Mund verboten war, muß man sagen, daß sich das deutsche Volk in seiner Masse noch ganz anständig gehalten hatte. Das war aber gar keine Störung. Die Niederlage wurde einfach wie ein Sieg gefeiert, der Terror verstärkt, die Feste verzehnfacht. Die Fahnen verschwanden jetzt für vierzehn Tage überhaupt nicht mehr aus den Fenstern, eine Woche später schaffte Hindenburg die alten Reichsfarben ab, und die

Hakenkreuzfahne wurde zusammen mit der schwarzweißroten »vorläufige Reichsflagge«. Und zugleich täglich Umzüge, Massenweihestunden, Dankkundgebungen für die nationale Befreiung, Militärmusik von früh bis spät, Heldenehrungen, Fahnenweihen, schließlich, als Höhepunkt, die bombastische Schmierenvorstellung des »Tages von Potsdam«, mit dem alten Verräter Hindenburg am Grabe Friedrichs des Großen, Hitler zum x–ten Male Treue zu irgendetwas gelobend, Glockengeläute, feierlicher Zug der Abgeordneten zur Kirche, Militärparade, gesenkte Degen, fähnchenschwenkende Kinder, Fackelzüge.

Die ungeheuerliche Leere und Sinnentblößtheit dieser nicht abreißenden Veranstaltungen dürfte wiederum keineswegs unabsichtlich gewesen sein. Die Bevölkerung sollte eben daran gewöhnt werden, zu jubeln und sich zu erheben, auch ohne daß sie einen eigentlichen Grund dazu sah.

Grund genug, daß Leute, die allzudeutlich nicht mitmachten – psst! – alltäglich und allnächtlich mit Stahlpeitschen und Drillbohrern zu Tode gebracht wurden. Jubeln wir also und heulen wir mit den Wölfen, heil, heil! Außerdem kam man auf den Geschmack dabei. Der März 1933 brachte

wundervolles Wetter. War es nicht wirklich schön, festlich im Frühlingssonnenschein auf beflaggten Plätzen in hochgestimmten Mengen unterzutauchen und hehren Worten zu lauschen von Vaterland und Freiheit, Erhebung und heiligem Gelöbnis? (Besser jedenfalls, als unter Ausschluß der Öffentlichkeit in einer SA–Kaserne mit einem Wasserschlauch den Darm aufgepumpt zu

bekommen.)

Man begann mitzumachen – zunächst aus Furcht. Nachdem man aber einmal mitmachte, wollte man es nicht mehr aus Furcht tun – das wäre ja gemein und verächtlich gewesen. So lieferte man die zugehörige Gesinnung nach. Dies ist die seelische Grundfigur des Sieges der

nationalsozialistischen Revolution.

Freilich mußte noch etwas anderes hinzukommen, um ihn zu vollenden: das war der feige Verrat aller Partei– und Organisationsführer, denen sich die 56 Prozent Deutsche, die noch am 5. März 1933 gegen die Nazis wählten, anvertraut hatten. Dieser furchtbare und entscheidende Vorgang ist wenig ins historische Bewußtsein der Welt getreten: Die Nazis hatten kein besonderes Interesse daran, ihn hervorzuheben, weil er den Wert ihres »Sieges« beträchtlich herabmindern muß; und die Verräter selber – nun, sie hatten erst recht kein Interesse daran. Dennoch liefert nur dieser Verrat die letzte Erklärung für die zunächst unerklärlich scheinende Tatsache, daß ein großes Volk, das immerhin nicht nur aus Feiglingen besteht, widerstandslos der Schande verfallen konnte.

Der Verrat war durchgehend, allgemein und ausnahmslos, von links bis rechts. Daß die Kommunisten, hinter einer prahlerischen Façade von »Bereitschaft« und Bürgerkriegsvorbereitung, in Wahrheit nur die rechtzeitige Flucht ihrer höheren Funktionäre ins Ausland vorbereiteten, hatte ich schon erzählt.

Was die sozialdemokratische Führung betrifft, so hatte ihr Verrat an ihrer treuen und blind–loyalen Millionengefolgschaft von anständigen kleinen Leuten bereits am 20. Juli 1932 begonnen, als Severing und Grzesinski »der Gewalt wichen«. Den Wahlkampf von 1933 führten die


Sozialdemokraten bereits auf eine entsetzlich demütigende Weise, indem sie hinter den Parolen der Nazis herliefen und ihr »Auch–national–sein« betonten. Am 4. März, einen Tag vor der Wahl, fuhr ihr

»starker Wann«, der preußische Ministerpräsident Otto Braun, im Auto über die Schweizer Grenze; er hatte sich vorsorglich im Tessin ein Häuschen gekauft. Im Mai, einen Monat vor ihrer Auflösung, waren die Sozialdemokraten dann so weit, daß sie im Reichstag geschlossen der Regierung Hitler das Vertrauen aussprachen und das Horst–Wessel–Lied mitsangen. (Der Parlamentsbericht bemerkte: »Nichtendenwollender Beifall und Händeklatschen im Haus und auf den Tribünen. Auch der Reichskanzler, zu den Sozialdemokraten gewendet klatscht.«)

Das Zentrum, die große bürgerlich–katholische Partei, die in den letzten Jahren mehr und mehr auch das protestantische Bürgertum hinter sich gesammelt hatte, war bereits im März soweit. Es schuf durch seine Stimmen die Zweidrittelmehrheit, die der Regierung Hitler »legal« die Diktatur Übertrug.

Es handelte dabei unter Führung des einstigen Reichskanzlers Brüning. Dies ist im Ausland heute vielfach vergessen, und Brüning gilt dort vielfach noch als eine mögliche künftige Ablösung für Hitler.

Aber man glaube mir: In Deutschland ist es unvergessen, und ein Mann, der noch am 23. März 1933

glaubte, aus taktischen Gründen die ihm anvertraute Partei in einer vitalen Abstimmung Hitler zuführen zu dürfen, ist dort für immer unmöglich geworden.

Die Deutschnationalen schließlich, die konservativen Rechtskreise, die »Ehre« und »Heroismus«

geradezu als ihr Parteiprogramm vindizierten – o Gott, wie überaus ehrlos und feige war das Schauspiel, das ihre Führer ihren Anhängern im Jahre 1933 und seither vorführten! Nachdem sich die Erwartung des 30. Januar, daß sie die Nazis »eingefangen« hätten und »unschädlich machen«

würden, enttäuscht hatten, erwartete man wenigstens von ihnen, daß sie »bremsen« und »das Schlimmste verhüten« würden. Nichts da; sie machten alles mit, den Terror, die Judenverfolgungen, die Christenverfolgungen, ja sie ließen sich nicht dadurch stören, daß man ihre Partei verbot, ihre Anhänger verhaftete. Sozialistische Funktionäre, die ihre Wähler und Anhänger im Stich lassen und fliehen, sind, als Erscheinung, trübselig genug. Was aber soll man zu adligen Offizieren sagen, die zusehen, wie ihre nächsten Freunde und Mitarbeiter erschossen werden – wie der Herr von Papen –

und weiter im Amt bleiben und »Heil Hitler« rufen?!

Wie die Parteien, so die Bünde. Es gab einen »Kommunistischen Frontkämpferbund«, es gab ein

»Reichsbanner Schwarz–Rot–Gold«, militärisch organisiert, nicht ganz waffenlos, mit Millionen Angehöriger, ausdrücklich dazu bestimmt, im Notfall die SA in Schach zu halten. Man bemerkte die ganze Zeit über nichts von diesem »Reichsbanner«, überhaupt nichts, nicht das Geringste. Es verschwand spurlos, als wäre es nie dagewesen. Widerstand gab es in ganz Deutschland höchstens als individuelle Verzweiflungstat – wie bei jenem Gewerkschaftsmann aus Cöpenick. Die Reichsbanneroffiziere schwangen sich nirgends auch nur zu einer Spur von Gegenwehr auf, wenn ihre Verbandshäuser von der SA »übernommen« wurden. Der »Stahlhelm«, die Armee der

Deutschnationalen, ließ sich gleichschalten und später stückweise auflösen, murrend aber widerstandslos. Es gab nicht ein Beispiel von Verteidigungsenergie, Mannhaftigkeit, Haltung. Es gab nur Panik, Flucht und Überläuferei. Millionen waren im März 1933 noch kampfbereit. Sie fanden sich über Nacht führerlos, waffenlos und verraten. Ein Teil von ihnen suchte noch, verzweifelt, Anschluß beim »Stahlhelm« und bei den Deutschnationalen, als sich zeigte, daß die andern nicht kämpften. Deren Mitgliederzahlen schwollen ein paar Wochen lang unheimlich an. Dann wurden auch sie aufgelöst – und kapitulierten kampflos.

Dieses furchtbare moralische Versagen der gegnerischen Führung ist ein Grundzug der »Revolution«

vom März 1933. Es machte den Nazis den Sieg sehr leicht. Es stellt freilich auch den Wert und die Dauerhaftigkeit dieses Sieges in Frage. Das Hakenkreuz ist in die deutsche Masse nicht hineingeprägt worden wie in eine widerstrebende, aber dafür auch formfähige, feste Substanz, sondern wie in einen formlos–nachgiebigen, breiigen Teig. Der Teig mag ebenso leicht und widerstandslos eine andere Form annehmen, wenn der Tag kommt. Freilich besteht seit März 1933

die unbeantwortete Frage, ob es überhaupt lohnt, ihn zu formen. Denn die moralische

Wesensschwäche Deutschlands, die damals zutagegetreten ist, ist zu ungeheuerlich, als daß nicht die Geschichte eines Tages Konsequenzen aus ihr ziehen sollte.

Jede Revolution bei anderen Völkern hat, wieviel Blutverlust und momentane Schwächung sie immer mit sich bringen mochte, zu einer ungeheuren Steigerung aller moralischen Energien auf beiden kämpfenden Seiten geführt – und damit, auf lange Sicht, zu einer ungeheuren Stärkung der Nation.

Man betrachte die ungeheure Menge von Heldenmut, Todesverachtung und menschlicher Größe, die

– gewiß neben Ausschreitung, Grausamkeit und Gewalt – von Jakobinern wie Royalisten im revolutionären Frankreich, von Francoleuten wie von Republikanern im heutigen Spanien entfaltet worden ist! Wie immer der Ausgang sein mag – die Tapferkeit, mit der um ihn gerungen wurde, bleibt als unerschöpflicher Kraftquell im Bewußtsein der Nation. Die heutigen Deutschen haben an der Stelle, wo dieser Kraftquell entspringen müßte, nur die Erinnerung an Schande, Feigheit und Schwäche. Das wird unfehlbar eines Tages seine Wirkungen zeigen; sehr möglicherweise in der Auflösung der deutschen Nation und ihrer staatlichen Form.

– Aus diesem Verrat der Gegner und dem Gefühl der Hilflosigkeit, der Schwäche und des Ekels, das er erzeugte, wurde das Dritte Reich geboren. Am 5. März waren die Nazis noch in der Minderheit geblieben. Drei Wochen später hätten sie, wäre noch einmal gewählt worden, wahrscheinlich wirklich die Mehrheit gehabt. Nicht nur der Terror hatte inzwischen seine Wirkung getan, nicht nur die Feste hatten viele berauscht (die Deutschen berauschen sich so gern an patriotischen Festen).

Entscheidend war, daß die Wut und der Ekel gegen die eigene feig–verräterische Führung im Augenblick stärker wurde als die Wut und der Haß gegen den eigentlichen Feind. Zu

Hunderttausenden traten auf einmal während des März 1933 Leute der Nazipartei bei, die bis dahin gegen sie gestanden hatten – die sogenannten »Märzgefallenen«, beargwöhnt und verachtet von den Nazis selbst. Zu Hunderttausenden gingen, jetzt zu allererst, auch Arbeiter aus ihren sozialdemokratischen oder kommunistischen Organisationen hinüber in die nazistischen

»Betriebszellen« oder in die SA. Die Gründe, aus denen sie es taten, waren verschieden, und oft war es ein ganzer Knäuel von Gründen. Aber wie lange man auch sucht, man wird nicht einen starken, stichfesten, haltbaren und positiven darunter finden – nicht einen, der sich sehen lassen kann. Der Vorgang trug, in jedem Einzelfall, unverkennbar alle Merkmale eines Nervenzusammenbruchs.

Der einfachste Grund, und fast überall, wenn man bohrte, der innerste, war: Angst. Mitprügeln, um nicht zu den Geprügelten zu gehören. Sodann: ein wenig unklarer Rausch, Einigkeitsrausch, Magnetismus der Masse. Ferner bei vielen: Ekel und Rachsucht gegenüber denen, die sie im Stich gelassen hatten. Ferner, eine seltsam deutsche Figur, dieser Gedankengang: »Alle Voraussagen der Gegner der Nazis sind nicht eingetroffen. Sie haben behauptet, die Nazis würden nicht siegen. Nun haben sie doch gesiegt. Also hatten ihre Gegner Unrecht. Also haben die Nazis Recht.« Ferner bei einigen (namentlich Intellekuellen) der Glaube, jetzt noch das Gesicht der Nazipartei ändern und ihre Richtung abbiegen zu können, indem man selbst hineinging. Sodann, selbstverständlich, auch echte gewöhnliche Mitläuferei und Konjunkturgesinnung. Bei den primitiver und massenartiger Empfindenden, Einfacheren schließlich ein Vorgang, wie er sich in mythischen Zeiten abgespielt haben mag, wenn ein geschlagener Stamm seinem offenbar ungetreuen Stammesgott abschwur und den Gott des siegreichen Feindesstamms zum Schutzherrn wählte. St. Marx, an den man immer geglaubt hatte, hatte nicht geholfen. St. Hitler war offenbar stärker. Zerstören wir also St. Marx'

Bilder auf den Altären und weihen wir sie St. Hitler. Lernen wir beten: Die Juden sind schuld, anstatt: Der Kapitalismus ist schuld. Vielleicht wird uns das erlösen.

Alles dies ist, wie man sieht, als Vorgang gar nicht so unnatürlich, es liegt durchaus innerhalb des normalen psychologischen Funktionierens, und es erklärt das scheinbar Unerklärliche fast vollkommen. Der einzige Rest, der bei alledem bleibt, ist die völlige Abwesenheit von dem, was man, an einem Volk wie an einem Menschen, »Rasse« nennt: also eines festen, durch Druck und Zug von außen nicht zu erschütternden Kerns, einer gewissen adligen Härte, einer allerinnersten, gerade erst in der Stunde der Prüfung mobilisierbaren Reserve an Stolz, Gesinnung, Selbstgewißheit, Würde.

Das haben die Deutschen nicht. Sie sind als Nation unzuverlässig, weich, kernlos. Der März 1933

hat es bewiesen. Im Augenblick der Herausforderung, wo bei Völkern von Rasse wie auf Verabredung ein allgemeiner spontaner Aufschwung erfolgt, erfolgte in Deutschland wie auf Verabredung ein allgemeines Auslassen und Schlappmachen, ein Nachgeben und Kapitulieren – kurz und gut: ein Nervenzusammenbruch.

Das Ergebnis dieses millionenfachen Nervenzusammenbruchs war das geeinte, zu allem bereite Volk, das heute den Albdruck der ganzen Welt bildet.

21

Dies war der Vorgang, wie er heute, unverkennbar, klar und abgerückt, vor der rückschauenden Betrachtung steht. Während ich ihn erlebte, war es freilich unmöglich, ihn zu übersehen. Ich spürte, furchtbar genug, das Würgend–Ekelhafte des Ganzen, aber ich war unfähig, seine Elemente zu erfassen und zu ordnen. Vor jeden Versuch, sich klar zu werden, legten sich wie Schleier jene, ach so unendlich müßigen und sinnlosen Diskussionen, in denen man sich immer wieder abmühte, die Dinge in ein ihnen nicht mehr passendes System obsoleter politischer Begriffe einzuordnen. Wie gespenstisch diese Diskussionen heute anmuten, wenn man sich, durch einen Zufall der Erinnerung, noch einmal Stücke und Fetzen von ihnen vergegenwärtigt! Wie völlig hilflos wir geistig waren, mit all unserer historisch–bürgerlichen Bildung, vor diesem Vorgang, der in allem, was wir gelernt hatten, einfach nicht vorkam! Wie sinnlos die Erklärungen, wie unendlich töricht die

Rechtfertigungsversuche, aber auch wie hoffnungslos oberflächlich die Notkonstruktionen, mit denen der Verstand das unbeirrbare Gefühl des Grauens und des Ekels zu umbauen versuchte! Wie überaus abgestanden alle die –Ismen, die man ins Feld führte. Ich denke mit einem gewissen Schauder daran.

Und außerdem war das tägliche Leben der klaren Erkenntnis im Wege – das Leben, das weiterging, nun freilich endgültig gespenstisch und unwirklich geworden und täglich verhöhnt von dem Geschehen, in das es eingebettet war. Noch ging ich wie zuvor aufs Kammergericht, noch sprach man dort Recht, als habe das noch irgendetwas zu bedeuten, auch der jüdische Kammergerichtsrat meines Senats saß noch unbelästigt in seiner Toga hinter der Schranke, freilich schon von seinen Richterkollegen mit einem gewissen besonderen taktvollen Zartgefühl behandelt, wie man es Schwerkranken gegenüber walten läßt. Noch rief ich meine Freundin Charlie an, und wir gingen ins Kino oder saßen in einer kleinen Weinstube und tranken Chianti oder tanzten irgendwo zusammen.

Noch sah ich Freunde, noch diskutierte ich mit Bekannten, und Familiengeburtstage wurden gefeiert wie immer – aber wenn man im Februar noch hatte schwanken können, ob mit alledem nicht die eigentliche, unzerstörbare Wirklichkeit über das Treiben der Nazis triumphierte: Jetzt war es nicht mehr zu leugnen, daß vielmehr eben dies alles mechanisch, hohl, leblos geworden war und in jeder Minute nur den Triumph des Feindlichen bewies, das es von allen Seiten überflutete.

Dennoch war es, seltsam genug, auch und gerade dies mechanisch und automatisch weiterlaufende tägliche Leben, was es verhindern half, daß irgendwo eine kraftvolle, lebendige Reaktion gegen das Ungeheuerliche stattfand. Ich habe geschildert, wie der Verrat und die Feigheit der Führer es verhinderte, daß die Mannschaften der andern politischen Machtgruppen gegen die Nazis eingesetzt wurden und Widerstand leisteten. Das laßt immer noch die Frage offen, warum nicht ganz spontan, hier und da und dort, ein Einzelner aufstand und sich wehrte – wenn nicht gegen das Ganze, so doch vielleicht gegen irgendein spezielles Unrecht, irgendeine besondere Schandtat, die gerade in seiner Reichweite geschah? (Ich übersehe nicht, daß diese Frage auch einen Vorwurf gegen mich selbst einschließt.)

Dem war eben der weiterlaufende Mechanismus des täglichen Lebens im Wege. Wie anders würden wahrscheinlich Revolutionen, wie anders würde die gesamte Geschichte verlaufen, wenn die Menschen heute noch, wie vielleicht im antiken Athen, auf sich stehende Wesen mit einer Beziehung zum Ganzen wären – und nicht so rettungslos eingespannt in ihren Beruf und ihren Tagesplan, abhängig von tausend Unübersehbarkeiten, Glieder eines unkontrollierbaren Mechanismus, auf Schienen laufend gleichsam und hilflos, wenn sie entgleisen! Nur in der täglichen Routine ist Sicherheit und Weiterbestehen – gleich daneben fängt der Dschungel an. Jeder europäische Mensch des 20. Jahrhunderts hat das mit dunkler Angst im Gefühl. Daher sein Zögern, irgendetwas zu unternehmen, was ihn »entgleisen« lassen könnte – etwas Kühnes, Unalltägliches, nur aus ihm selbst Kommendes. Daher die Möglichkeit solcher immenser Zivilisationskatastrophen wie der Naziherrschaft in Deutschland.

Zwar schäumte und tobte ich in diesem März 1933. Zwar erschreckte ich meine Familie mit wilden Vorschlägen: den Staatsdienst zu quittieren; auszuwandern; demonstrativ zum Judentum überzutreten. Aber mit dem Aussprechen solcher Absichten war es jeweils noch getan. Mein Vater, aus der reichen, freilich diese neuen Vorgänge nicht bedeckenden Erfahrung eines Lebens, das sich zwischen 1870 und 1933 abgespielt hatte, wiegelte ab, entdramatisierte, suchte mein Pathos leise zu ironisieren. Ich ließ es zu. Schließlich war ich an seine Autorität gewöhnt und meiner selbst noch nicht sicher. Auch hat ruhige Skepsis auf mich immer überzeugender gewirkt als radikales Pathos, und ich habe eine ganze Weile gebraucht, um zu lernen, daß in diesem Fall mein erster jugendlicher Instinkt tatsächlich gegenüber der Erfahrungsweisheit meines Vaters recht hatte, und daß es Dinge gibt, denen man mit ruhiger Skepsis nicht beikommen kann. Damals war ich noch zu schüchtern, um aus meinen Gefühlen positive Konsequenzen zu ziehen.

Vielleicht, nicht wahr, sah ich die Dinge wirklich nicht richtig. Vielleicht mußte man sie wirklich durchstehen und vorüberrauschen lassen. Sicher und fertig fühlte ich mich nur im Amt, beschirmt von den Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Zivilprozeßordnung. Sie standen noch.

Auch das Kammergericht stand noch. Sinnentleert wie sein Betrieb im Augenblick scheinen mochte, geändert hatte sich noch nichts daran. Vielleicht würde sich wirklich dies am Ende doch als das Bleibende und Stärkere erweisen.

Und so, unsicher, abwartend, die tägliche Routine weitererfüllend, Wut und Grauen herunterwürgend oder, sehr unfruchtbar und sehr komisch, in Ausbrüchen am häuslichen Eßtisch verströmend – so ausgeschaltet weiterlebend wie Millionen andere, ließ ich die Dinge an mich herankommen.

Sie kamen an mich heran.

22

Ende März fühlten die Nazis sich stark genug, um den ersten Akt ihrer wirklichen Revolution zu starten, jener Revolution, die sich nicht gegen irgendeine Staatsverfassung, sondern gegen die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens auf der Erde richtet, und die, wenn sie unbehelligt bleibt, ihre Höhepunkte immer noch vor sich hat. Ihr erster, schüchterner Akt war der Judenboykott vom 1. April 1933.

Er wurde am Sonntag zuvor von Hitler und Goebbels auf dem Obersalzberg bei Tee und Biskuits beschlossen. Am Montag hatte die Zeitung die seltsam ironische Überschrift: »Massenaktion angekündigt«. Vom Sonnabend, den 1. April ab, so hieß es, sollten sämtliche jüdischen Geschäfte boykottiert werden. SA–Posten sollten vor ihnen Aufstellung nehmen und verhindern, daß jemand sie betrat. Ebenso sollten alle jüdischen Ärzte und Anwälte boykottiert werden. SA–Patrouillen sollten in ihren Büros und Sprechzimmern kontrollieren, daß der Boykott durchgeführt wurde.

Die Begründung dieser Maßnahme ließ den Fortschritt ermessen, den die Nazis seit einem Monat gemacht hatten. Die Legende vom geplanten Kommunistenputsch, die man damals erzählt hatte, um die Verfassung und die bürgerliche Freiheit abzuschaffen, war noch eine gutkonstruierte, auf Glaubwürdigkeit bedachte Story gewesen; ja, sogar eine Art Augenscheinsbeweis zu konstruieren hatte man noch für nötig gehalten, indem man den Reichstag brennen ließ. Die offizielle Begründung des Judenboykotts dagegen war bereits eine freche Beleidigung und Verhöhnung derjenigen, denen man zumutete, so zu tun, als glaubten sie daran. Der Judenboykott sollte nämlich veranstaltet werden als Abwehr– und Vergeltungsmaßnahme gegen die jeder Grundlage entbehrenden

Greuelmärchen über das neue Deutschland, die von den deutschen Juden auf spitzfindige Weise ins Ausland lanciert würden. So, darum.

Andere Maßnahmen wurden in den nächsten Tagen zur Ergänzung angeordnet (einige davon wurden später wieder, zunächst, gemildert): Alle »arischen« Geschäfte hatten ihre jüdischen Angestellten zu entlassen. Dann: Auch alle jüdischen Geschäfte hatten dies zu tun. Die jüdischen Geschäfte hatten ihren »arischen« Angestellten Löhne und Gehälter weiterzuzahlen, während sie durch den Boykott geschlossen waren. Die jüdischen Geschäftsinhaber hatten sich überhaupt zurückzuziehen und

»arische« Geschäftsführer zu bestellen. Usw.

Zugleich setzte ein großer »Aufklärungsfeldzug« gegen die Juden ein. Die Deutschen wurden in Flugblättern, Plakaten und Massenversammlungen darüber aufgeklärt, daß sie einem Irrtum unterlegen seien, wenn sie die Juden bisher für Menschen gehalten hätten. Die Juden seien vielmehr »Untermenschen«, eine Art Tiere, aber zugleich mit den Eigenschaften von Teufeln. Welche Folgerungen daraus zu ziehen waren, blieb einstweilen unausgesprochen. Doch wurde immerhin als Schlachtruf und Parole die Aufforderung ausgegeben: »Juda verrecke!« Zum Leiter des Boykotts wurde ein Mann ernannt, dessen Namen die meisten Deutschen damals zum ersten Male lasen: Julius Streicher.

Alles dies erregte, was man den Deutschen nach den letzten vier Wochen kaum mehr zugetraut hätte: weitverbreiteten Schrecken. Ein gewisses Murmeln der Mißbilligung, unterdrückt aber hörbar, lief durch das Land. Feinfühlig merkten die Nazis, daß sie im Moment einen zu großen Schritt gemacht hatten, und ließen nach dem 1. April einen Teil der Maßnahmen wieder fallen. Aber nicht, ohne vorher den vollen Schrecken haben wirken zu lassen. Wieviel sie von ihren eigentlichen Absichten aufgegeben hatten, weiß man inzwischen.

Das Seltsame und Entmutigende freilich war, daß – jenseits des ersten Schreckens – diese erste großzügige Bekundung einer neuen Mordgesinnung in ganz Deutschland eine Flut von

Unterhaltungen und Diskussionen entfesselte – nicht etwa über die Antisemitenfrage, sondern über die »Judenfrage«. Ein Trick, der den Nazis seither auch in vielen anderen »Fragen« und in internationalem Maßstabe geglückt ist: Indem sie irgend jemand – ein Land, ein Volk, eine Menschengruppe – öffentlich mit dem Tode bedrohten, brachten sie es zustande, daß nicht ihre, sondern seine Lebensberechtigung plötzlich allgemein diskutiert – d.h. in Frage gestellt wurde.

Jeder fühlte sich auf einmal bemüßigt und berechtigt, sich eine Meinung über die Juden zu bilden und sie zum besten zu geben. Man machte feine Unterscheidungen zwischen »anständigen« Juden und anderen; wenn die einen, gleichsam zur Rechtfertigung der Juden – Rechtfertigung wofür?

wogegen? – ihre wissenschaftlichen, künstlerischen, medizinischen Leistungen anführten, warfen die anderen ihnen gerade dies vor: Sie hätten Wissenschaft, Kunst, Medizin »überfremdet«.

Überhaupt wurde es schnell allgemein üblich und populär, die Ausübung anständiger und geistig wertvoller Berufe den Juden als Verbrechen oder zum mindesten als Taktlosigkeit anzurechnen. Man hielt den Verteidigern der Juden stirnrunzelnd vor, daß die Juden aber, höchst verwerflicherweise, einen so und so hohen Prozentsatz der Ärzte, Rechtsanwälte, Presseleute usw. stellten. Man liebte überhaupt, die »Judenfrage« mit Prozentrechnung zu entscheiden. Man untersuchte, ob der prozentuale Anteil der Juden an der Mitgliederzahl der Kommunistischen Partei nicht zu hoch, und der an der Gefallenenzahl des Weltkrieges nicht etwa zu niedrig sei. (Tatsächlich, auch dies letztere habe ich erlebt, von Seiten eines Mannes, der sich zu den »gebildeten Ständen« rechnete und einen Doktortitel führte. Er bewies mir toternst, daß die 12 000 im Weltkrieg gefallenen deutschen Juden in einem geringeren Verhältnis zur Gesamtzahl der deutschen Juden ständen als die entsprechende Zahl bei Ariern, und leitete daraus »eine gewisse Berechtigung« des nazistischen Antisemitismus her.)

Nun ist es wohl heute keinem mehr zweifelhaft, daß in Wahrheit der nazistische Antisemitismus so gut wie nichts mit den Juden, ihren Verdiensten und Fehlern, zu tun hat. Das Interessante an der nachgerade nicht mehr verheimlichten Absicht der Nazis, die Deutschen dazu abzurichten, daß sie die Juden über die ganze Welt hin verfolgen und möglichst ausrotten, ist nicht die Begründung, die sie dafür geben – die ist so unverblümter Nonsens, daß es eine Selbsterniedrigung bedeutet, sie auch nur bekämpfend zu diskutieren – sondern eben diese Absicht selbst. Sie nämlich ist etwas tatsächlich weltgeschichtlich Neues: der Versuch, die Ursolidarität jeder Tiergattung untereinander, die sie allein zum Überleben im Existenzkampf befähigt, innerhalb des Menschengeschlechts außer Kraft zu setzen, die menschlichen Raubtierinstinkte, die sich sonst nur gegen die Tierwelt richten, auf Objekte innerhalb der eigenen Gattung zu lenken, und ein ganzes Volk wie ein Rudel Hunde auf Menschen »scharf zu machen«. Ist erst einmal die grundsätzliche immerwährende Mordbereitschaft gegen Mitmenschen geweckt und sogar zur Pflicht gemacht, so ist es eine Kleinigkeit, die Einzelobjekte zu wechseln. Schon heute zeigt sich ziemlich deutlich, daß man statt »Juden« auch

»Tschechen«, »Polen« oder irgendetwas anderes setzen kann. Worum es sich hier handelt, ist die systematische Impfung eines ganzen Volkes – des deutschen – mit einem Bazillus, der bewirkt, daß die von ihm Befallenen gegen Mitmenschen wölfisch handeln; oder, anders ausgedrückt, die Entfesselung und Hochzüchtung jener sadistischen Instinkte, deren Niederhaltung und Abtötung das Werk eines vieltausendjährigen Zivilisationsprozesses war. Ich werde in einem späteren Kapitel Gelegenheit haben, zu zeigen, daß große Teile des deutschen Volkes – trotz seiner allgemeinen Schwächung und Entehrung – hiergegen denn doch noch innere Abwehrkräfte aufbringen,

wahrscheinlich aus einem dunklen Instinkt heraus, was hier auf dem Spiel steht. Wäre es anders und sollte dieser Versuch der Nazis – der eigentliche Kern ihrer gesamten Bestrebungen –

tatsächlich gelingen, so würde das freilich zu einer Menschheitskrise allerersten Ranges führen, in der die physische Fortexistenz der Gattung Mensch in Frage gestellt werden würde und in der wahrscheinlich nur noch ungeheuerliche Mittel wie die physische Destruktion aller mit dem Wolfsbazillus Behafteten Rettung bringen könnte.

Man ersieht aus diesem kurzen Aufriß bereits, daß es genau der nazistische Antisemitismus ist, was

– nicht etwa für die Juden – an die letzten Existenzfragen rührt, in die keiner ihrer anderen Programmpunkte hinabreicht. Und man mag daran die ganze Lächerlichkeit jenes in Deutschland noch heute nicht seltenen Standpunktes ermessen, der den Antisemitismus der Nazis als eine kleine Nebensache, allenfalls einen Schönheitsfehler der Bewegung betrachten möchte, den man, je nachdem ob man die Juden mehr oder weniger sympathisch findet, hinnehmen oder bedauern kann, der aber »neben den großen nationalen Fragen natürlich gar nichts bedeutet«. In Wahrheit sind diese

»großen nationalen Fragen« gerade höchst unbedeutender Tageskram, Teilwirren einer vielleicht noch ein paar Dekaden währenden europäischen Übergangsperiode – verglichen mit den

Urgefahren einer Menschheitsdämmerung, die der nazistische Antisemitismus heraufbeschwört.

Wiederum sind das alles Dinge, über die im März 1933 noch keiner völlig klar sah. Aber in diesem Fall darf ich mir zugute halten, daß ich schon damals eine Witterung dafür hatte. Ich spürte deutlich: Was bis dahin geschehen war, war ekelhaft und nichts weiter. Was jetzt begann, hatte etwas Apokalyptisches. Es stellte – ich spürte es an einem Ruck in selten betretenen Gebieten der Seele –

äußerste Fragen; wenn ich diese Fragen auch noch nicht zu benennen wußte.

Zugleich spürte ich mit einem Gefühl, in dem dicht neben dem Schrecken eine gewisse – ja, fast freudige Spannung saß, daß die Dinge jetzt auf mich zukamen. Ich bin, was die Nazis einen »Arier«

nennen; was für Rassen tatsächlich an meiner Person Anteil haben, weiß ich natürlich so wenig wie irgend jemand. Jüdisches Blut ist jedenfalls in den zwei–, dreihundert Jahren, die ich meine Abstammung allenfalls zurückverfolgen kann, in meiner Familie nicht festzustellen. Dennoch habe ich zu der deutsch–jüdischen Welt stets eine stärkere instinktive Affinität gehabt als zu dem durchschnittlich–norddeutschen Typ, in dessen Mitte ich aufgewachsen bin, und meine Beziehungen zu ihr waren alt und eng. Mein ältester und bester Freund war ein Jude. Selbst meine neue kleine Freundin Charlie war eine Jüdin, und, unverkennbar: Ich liebte sie, mit der ich eigentlich immer noch unentschlossen spielte, plötzlich ein wenig heißer und stolzer nun, da das Verderben nach ihr langte.

Ich wußte: Man würde mich nicht veranlassen, sie zu boykottieren.

Ich rief sie noch an demselben Abend an, als die ersten Ankündigungen in der Zeitung standen. Ich sah sie in dieser Woche fast täglich, und unsere Geschichte begann nun wie eine richtige Liebesgeschichte auszusehen. Charlie war freilich, nun, im Alltag, kein Türkenknabe mehr wie damals in der Ballbeleuchtung, sondern eben ein gutes kleines Mädchen aus einer

kleinbürgerlichen, sorgenvollen jüdischen Familie, aus einer unübersichtlichen Welt mit vielen Verwandten. Aber sie war ein kleines, zartes und freundliches Geschöpf, und das Verderben war über ihr. In diesen Wochen liebte ich sie.

Ich erinnere mich einer seltsamen Szene mit ihr aus der letzten Märzwoche, während der Boykott herangrollte. Wir waren in den Grunewald hinausgefahren, es war wundervolles, unnatürlich warmes Frühlingswetter, wie in diesem ganzen März 1933. Unter kleinen Wölkchen, die über einen unbeschreiblich lichten Himmel zogen, zwischen harzig duftenden Kiefern saßen wir auf irgendeinem Mooshügel und küßten uns, wie das musterhafteste kleine Filmliebespaar. Die Welt war überaus friedlich und frühlingshaft. Wir saßen vielleicht ein oder zwei Stunden dort, und wohl alle zehn Minuten kam eine Schulklasse an uns vorüber, es schien ein allgemeiner Schulwandertag zu sein; lauter frische nette Jungen, geführt und behütet jeweils von ihrem Lehrer, der meist einen Zwicker trug oder ein Bärtchen, wie es sich für einen Lehrer geziemt, und treu über seine Schäflein wachte. Und jede dieser Schulklassen, wenn sie an uns vorüber kam, wandte sich uns zu und rief, wie einen fröhlichen Wandergruß, im Chor mit fröhlichen Jungenstimmen: »Juda verrecke!« Vielleicht bezog es sich gar nicht auf uns – ich sehe nicht jüdisch aus, und Charlie, dafür daß sie es war, auch nicht besonders – sondern war wirklich nur als eine nette Grußformel gemeint. Ich weiß es nicht.

Vielleicht auch bezog es sich doch auf uns und sollte eine Aufforderung sein.

Da saß ich »auf dem Frühlingshügel«, ein kleines, zierlich–lebendiges Mädchen im Arm, das ich küßte und streichelte, und immer wieder und wieder zogen muntere wandernde Jungen vorbei und forderten uns auf zu verrecken. Wir taten übrigens nicht dergleichen, und auch sie zogen immer ruhig weiter, unbekümmert darum, daß wir noch nicht verreckten.

Ein surrealistisches Bild.

23

Freitag, der 31. März. Am nächsten Tag sollte es Ernst werden. Ganz glaublich schien es immer noch nicht. Man blätterte die Zeitungen durch, ob sie nicht doch irgendeine Abschwächung enthielten, irgendein Einlenken ins halbwegs Normale und Vorstellbare. Nein, nichts. Nur ein paar weitere Verschärfungen und ruhig–pedantische Einzelanweisungen, wie alles auszuführen sei und wie man sich zu verhalten habe.

Im übrigen business as usual. Den Straßen mit ihrem gleichmäßig–eiligen, geschäftlichen Leben war nicht anzusehen, daß in dieser Stadt irgend etwas Besonderes bevorstehe. Die jüdischen Geschäfte waren offen und verkauften wie immer. Es war heute noch nicht verboten, in ihnen zu kaufen.

Vielmehr erst morgen: morgen früh Schlag 8 Uhr.

Ich ging aufs Kammergericht. Es stand grau, kühl und gelassen wie immer, vornehm abgerückt von der Straße, hinter Rasenflächen und Bäumen. Durch seine weiten Gänge und Hallen huschten wie immer eilig und fledermausartig in ihren wehenden schwarzen Seidentogen die Anwälte, Aktentaschen unter dem Arm, mit gesammelten und korrekten Gesichtern. Die jüdischen Anwälte plädierten ihre Sachen, als wäre dies ein Tag wie alle Tage.

Ich ging in die Bibliothek, als wäre dies ein Tag wie alle Tage – ich hatte keine Sitzung – und richtete mich an einem der langen Arbeitstische mit einem Aktenstück ein, über das ich ein Gutachten zu machen hatte. Irgendeine komplizierte Sache mit intrikaten Rechtsfragen. Ich schleppte die dicken Kommentarbände auf meinen Platz und umstellte mich mit ihnen, ich schlug

Reichsgerichtsentscheidungen nach, machte Notizen. In dem weiten Raun herrschte – wie alle Tage

– die unhörbar knisternde Stille vielfältiger, gesammelter geistiger Arbeit. Während man mit dem Bleistift auf dem Papier spielte, setzte man die unsichtbaren feinen Hobel und Feilen der juristischen Prozedur an einen Fall, subsummierte, verglich, wog die Bedeutung eines Wortes in irgendeinem Vertrag, untersuchte, welche Tragweite das Reichsgericht irgendeinem Paragraphen gab. Dann ein paar gekritzelte Worte auf einem Blatt Papier – und etwas war geschehen wie ein Schnitt in einer Operation, eine Frage geklärt, ein Element des Urteils gewonnen. Noch nicht die Entscheidung selbst natürlich: »Ist es somit irrelevant, ob der Kläger..., so ist nunmehr zu untersuchen ...« Vorsichtige, genaue, stumme Arbeit. Jeder im Raum vertieft und isoliert in die seine. Selbst die Wachtmeister, halb Amtsdiener, halb Polizeiposten, hatten hier in der Bibliothek einen leisen Gang und eine Tendenz, sich selbst auszulöschen. Es herrschte zugleich die äußerste Stille, und, in dieser Stille, die äußerste Spannung vielfältiger Tätigkeit: Etwas wie ein stummes Konzert. Ich liebte diese Atmosphäre. Sie war sehr dicht und hilfreich. Zu Hause an meinem vereinzelten Schreibtisch hätte ich schwer heute arbeiten können. Hier war es ganz leicht. Die Gedanken konnten hier gar nicht abirren. Man war wie in einer Festung, nein, wie in einer Retorte. Keine Luft von draußen kam herein. Hier gab es keine Revolution.

– Was war das erste auffällige Geräusch? Ein Türenschlagen? Irgendein schriller unartikulierter Ruf, ein Kommando? Auf einmal saß alles aufgeschreckt da, mit dem Ausdruck gespannten Horchens.

Immer noch herrschte vollkommene Stille, aber ihr Wesen war verändert: keine Arbeitsstille mehr, vielmehr die Stille des Schrecks und der Spannung. Draußen in den Gängen hörte man Getrappel, vielschrittiges grobes Laufen die Treppen herauf, dann fernes unentwirrbares Getöse, Rufen, Türenschlagen. Ein paar standen auf, gingen zur Tür, öffneten sie, spähten hinaus und kamen zurück. Ein paar traten zu den Wachtmeistern und sprachen mit ihnen, immer noch gedämpft – in diesem Raum durfte nur gedämpft gesprochen werden. Draußen der Lärm wurde stärker. Einer sagte in die vorhaltende Stille hinein: »SA«. Darauf sagte ein anderer, mit nicht besonders erhobener Stimme: »Die schmeißen die Juden raus«, und zwei oder drei Leute lachten dazu. Dieses Lachen war im Augenblick erschreckender als der Vorgang selbst: Es ließ blitzhaft daran denken, daß ja auch in diesem Raum, wie sonderbar, Nazis saßen.

Allmählich wurde die Unruhe sichtbar – zuerst war sie nur fühlbar gewesen. Die Arbeitenden standen auf, versuchten irgendetwas zueinander zu sagen und gingen langsam und sinnlos hin und her. Ein offenbar jüdischer Herr schlug schweigend seine Bücher zu, stellte sie sorgfältig in die Regale zurück, verstaute seine Akten und ging hinaus. Kurz darauf erschien jemand am Eingang, vielleicht eine Art Oberwachtmeister, und rief laut, aber mit besonnener Stimme, in den Raum: »Die SA ist im Haus. Die jüdischen Herren tun besser, für heute das Haus zu verlassen.« Zugleich hörte man von draußen, wie zur Illustration, rufen: »Juden raus!« Eine Stimme antwortete: »Sind schon raus«, und wieder hörte ich die zwei oder drei Lacher von vorhin kurz und fröhlich aufglucksen. Ich sah sie jetzt.

Es waren Referendare wie ich.

Das Ganze erinnerte plötzlich auf befremdliche Art an das aufgelöste Faschingsfest vor vier Wochen.

Auflösung hier wie dort. Viele packten ihre Mappen und gingen. »Sie dürfen nach Hause gehen«, fiel mir wieder ein. Durften sie noch? Heute war es schon nicht mehr so selbstverständlich. Andere ließen ihre Sachen hier und gingen ins Gebäude, zu sehen, was es zu sehen gab. Die Wachtmeister zeigten noch mehr als sonst in ihrer ganzen Haltung das Bestreben, sich selbst auszulöschen. Einer oder zwei von den Zurückgebliebenen steckten sich eine Zigarette an – hier, in der Bibliothek des Kammergerichts! Und die Wachtmeister schwiegen. Auch das war Revolution.

Die Sightseer erzählten später, was sich im Gebäude abgespielt hatte. Keine Greuelberichte, o durchaus nicht. Es war alles überaus glatt gegangen. Die Sitzungen waren offenbar größtenteils aufgehoben worden. Die Richter hatten ihre Togen ausgezogen und waren bescheiden und zivil aus dem Hause gegangen, die Treppe hinunter flankiert von aufgestellten SA–Leuten. Nur im Anwaltszimmer war es etwas wild zugegangen. Ein jüdischer Anwalt hatte »Menkenke gemacht« und war verprügelt worden. Später hörte ich auch, wer es war: ein Mann, der im Kriege nicht nur fünfmal verwundet worden war und ein Auge verloren hatte, sondern damals auch Hauptmann geworden war; er mochte, zu seinem Schaden, noch die Geste im Instinkt gehabt haben, mit der man Meuterer zur Raison bringt.

Inzwischen erschienen die Eindringlinge auch bei uns. Die Tür wurde aufgerissen, braune Uniformen quollen herein, und einer, offenbar der Anführer, rief mit schallender, strammer Ausruferstimme:

»Nichtarier haben sofort das Lokal zu verlassen!« Es fiel mir auf, daß er den gewählten Ausdruck

»Nichtarier« und den höchst ungewählten Ausdruck »Lokal« verwendete. Wieder antwortete einer, offenbar derselbe wie vorhin: »Sind schon raus.« Unsere Wachtmeister standen in einer Haltung da, als wollten sie die Hand an die Mütze legen. Mir schlug das Herz. Was konnte man tun, wie wahrte man seine Haltung? Ignorieren, sich gar nicht stören lassen! Ich senkte mich auf mein Aktenstück.

Ich las mechanisch irgendwelche Sätze: »Unrichtig, aber auch unerheblich ist die Behauptung des Beklagten ...« Keine Notiz nehmen!

Indem kam eine braune Uniform auf mich zu und machte Front vor mir: »Sind Sie arisch?« Ehe ich mich besinnen konnte, hatte ich geantwortet: »Ja.« Ein prüfender Blick auf meine Nase – und er retirierte. Mir aber Schoß das Blut ins Gesicht. Ich empfand, einen Augenblick zu spät, die Blamage, die Niederlage. Ich hatte »ja« gesagt! Nun ja, ich war ein »Arier«, in Gottes Namen. Ich hatte nicht gelogen. Ich hatte nur viel Schlimmeres geschehen lassen. Welche Demütigung, Unbefugten auf Befragen pünktlich zu erklären, ich sei arisch – worauf ich übrigens keinen Wert legte. Welche Schande, damit zu erkaufen, daß ich hier hinter meinem Aktenstück in Frieden gelassen würde!

Überrumpelt auch jetzt noch! Versagt in der ersten Prüfung! Ich hätte mich ohrfeigen können.

– Als ich das Kammergericht verließ, stand es grau, kühl und gelassen da wie immer, vornehm abgerückt von der Straße hinter seinen Parkbäumen. Man sah ihm keineswegs an, daß es soeben als Institution zusammengebrochen war. Man sah wahrscheinlich auch mir nicht an, daß ich soeben eine furchtbare Schlappe erlitten hatte, eine kaum zu reparierende Demütigung. Ein gut angezogener junger Mann ging ruhig die Potsdamer Straße hinunter. Man sah auch den Straßen nichts an. Business as usual. Und immer noch das Herangrollen des Unbekannten in der Luft ...

24

An diesem Abend hatte ich noch zwei merkwürdige kleine Erlebnisse. Das erste bestand darin, daß ich eine Stunde lang Todesangst um meine kleine Freundin Charlie ausstand. Unbegründete Angst –

aber freilich nicht grundlose.

Der Anlaß war lächerlich genug. Wir verfehlten uns. Ich war vor dem Geschäftshaus mit ihr verabredet, wo sie tagsüber mit irgendwelcher Tipparbeit 100 Mark im Monat verdiente – sie war, wie gesagt, kein Türkenknabe, sondern ein kleines Mädchen aus einer kleinbürgerlichen, sorgenvollen und hart arbeitenden Familie. Das Haus war, um 7 Uhr, als ich ankam, bereits geschlossen und tot, mit abweisenden Rolläden vor den Eingängen. Es war ein jüdisches Haus.

Niemand stand davor. Vielleicht war auch hier heute bereits die SA gewesen?

Ich setzte mich auf die Untergrundbahn und fuhr zu Charlies Wohnung. Ich stieg die Treppen einer großen Mietskaserne hinauf und klingelte. Ich klingelte zweimal und dreimal. Nichts rührte sich in der Wohnung. Ich ging hinunter zu einer Telefonzelle und rief das Geschäft an. Keine Antwort. Ich rief die Wohnung an. Keine Antwort. Ich stellte mich, sinnlos genug, an den Ausgang der

Untergrundbahnstation, wo sie ankommen wußte, wenn sie von ihrem Geschäft nach Hause kam.

Viele Leute strömten herein und heraus, unbelästigt und unaufgehalten wie jeden Tag; aber keine Charlie darunter. Ab und zu telephonierte ich wieder, höchst sinnloserweise.

Und die ganze Zeit empfand ich eine in den Kniekehlen ziehende äußerste Hilflosigkeit. War sie in ihrer Wohnung »abgeholt« worden, aus dem Geschäft »mitgenommen«? Vielleicht schon am Alexanderplatz, vielleicht schon auf dem Weg nach Oranienburg, wo damals das erste

Konzentrationslager aufgemacht war? Man konnte nichts wissen. Möglich war alles. Der Boykott konnte eine bloße Demonstration sein; er konnte ebensogut – »Juda verrecke!« – einen Vorwand für allgemeinen, befohlenen und disziplinierten Mord und Totschlag bedeuten. Die Ungewißheit darüber gehörte zu seinen feinsten, berechnetsten Effekten. Um ein jüdisches Mädchen am Abend des 31.

März 1933 Todesangst zu empfinden, war nicht grundlos – auch wenn es unbegründet war.

In diesem Fall war es unbegründet. Nach einer Stunde ungefähr war plötzlich Charlies Stimme an ihrem häuslichen Telephon, als ich, schon völlig ohne jede Erwartung, wieder einmal anrief. Die Angestellten ihres Geschäfts hatten noch eine Stunde irgendwo gesessen und, ergebnislos, beratschlagt, was nun eigentlich werden sollte, nachdem sie offenbar ihre Stellen verloren hatten.

Nein, SA war noch nicht dagewesen heute. »Entschuldige, es hat so lange gedauert. Ich saß schon die ganze Zeit auf Kohlen ...« Und ihre Eltern: – Waren in einer Klinik bei einer Tante, die ausgerechnet heute ein Baby bekommen hatte, dem Gebot »Juda verrecke« frech zuwiderhandelnd!

Was nun freilich morgen mit ihr werden sollte, da doch die Klinik und der Doktor zu boykottieren waren ... Schwer vorzustellen. Die Möglichkeit, die fünf Jahre später Wirklichkeit wurde, daß man die Kranken und Wöchnerinnen aus ihren Betten treiben würde, war schon irgendwie »drin«; man empfand sie dunkel, aber man konnte sich noch nicht ganz entschließen, sie auszusprechen. Alles, was der nächste Tag bringen würde, entzog sich einstweilen der Vorstellung.

Inzwischen empfand ich Erleichterung und das Gefühl, mich fürs erste ein wenig vor mir selbst lächerlich gemacht zu haben mit meiner Angst. Fünf Minuten später kam Charlie, durchaus chic anzusehen, mit einem schiefen Federhütchen auf dem Kopf: junges Großstadtmädchen zum abendlichen Ausgang gerüstet. Tatsächlich war unsere nächste Sorge, wo wir noch »hingehen«

sollten: Es war schon 9 vorbei, selbst fürs Kino schon zu spät – und irgendwo »hingehen« mußten wir doch, dazu waren wir doch verabredet. Schließlich fiel mir etwas ein, was erst um halb zehn anfing, und wir nahmen ein Taxi und fuhren zur »Katakombe«.

Das alles hatte einen leichten Zug von Irrsinn, spürbar schon während man es erlebte, und sehr deutlich jetzt, da ich es abgerückt vor mir sehe: Eben erlöst von deutlichster Todesangst und vollständig gefaßt darauf, daß der nächste Tag wenigstens für einen von uns wirklich akute Todesgefahr bringen würde, sahen wir uns dennoch weder äußerlich noch innerlich verhindert, in irgendein Kabarett zu gehen.

Es ist typisch wenigstens für die ersten Jahre der Nazizeit, daß die ganze Façade des normalen Lebens kaum verändert stehen blieb: volle Kinos, Theater, Cafés, tanzende Paare in Gärten und Dielen, Spaziergänger hammlos flanierend auf den Straßen, junge Leute glücklich ausgestreckt an den Badestränden. Die Nazis haben das auch in ihrer Propaganda weidlich ausgenutzt: »Kommt und seht unser normales, ruhiges, fröhliches Land. Kommt und seht, wie gut es sogar die Juden bei uns noch haben.« Den geheimen Zug von Wahnsinn, von Angst und Spannung, von »heute ist heut« und Totentanzstimmung konnte man freilich nicht sehen – so wenig man es dem Bilde des prächtigen, sieghaft lächelnden jungen Mannes, das heute noch auf den Berliner Untergrundbahnhöfen mit der Unterschrift »Gut rasiert – gut gelaunt« Reklame für eine Rasierklinge macht, ansehen kann, daß ebendiesem jungen Mann, den es darstellt, bereits vor vier Jahren wegen Hochverrats oder was man heute so nennt im Hof des Plötzenseer Gefängnisses der Kopf vom Rumpfe rasiert worden ist.

Es spricht freilich auch ein wenig gegen uns, daß wir mit dem Erlebnis der Todesangst und der letzten Ausgeliefertheit nichts Besseres anzufangen wußten als es, so gut wir konnten, zu ignorieren und uns in unsern Vergnügen nicht stören zu lassen. Ich glaube, ein junges Paar von vor hundert Jahren hätte mehr daraus zu machen gewußt – sei es selbst nur eine große Liebesnacht, gewürzt von Gefahr und Verlorenheit. Wir kamen nicht darauf, etwas Besonderes daraus zu machen, und fuhren eben ins Kabarett, da uns keiner daran hinderte: erstens weil wir es sowieso getan hätten, zweitens, um so wenig wie möglich an das Unangenehme zu denken. Das mag sehr kaltblütig und unerschrocken aussehen, ist aber wahrscheinlich doch ein Zeichen einer gewissen Gefühlsschwäche und zeigt, daß wir, wenn auch nur im Leiden, nicht auf der Höhe der Situation waren. Es ist, wenn man mir diese Verallgemeinerung hier schon gestatten will, überhaupt einer der unheimlichsten Züge des neuen deutschen Geschehens, daß zu seinen Taten die Täter, zu seinen Leiden die Märtyrer fehlen, daß alles in einer Art von halber Narkose geschieht, mit einer dünnen, kümmerlichen Gefühlssubstanz hinter dem objektiv Ungeheuerlichen: daß Morde begangen werden aus der Stimmung eines Dumme–Jungen–Streichs, daß Selbsterniedrigung und moralischer Tod hingenommen werden wie ein kleiner störender Zwischenfall, und selbst der physische Martertod nur ungefähr bedeutet »Pech gehabt«.

Wir wurden indessen für unsere Indolenz an diesem Tage über Gebühr belohnt, denn der Zufall führte uns gerade in die Katakombe, und dies war das zweite bemerkenswerte Erlebnis dieses Abends. Wir kamen an den einzigen öffentlichen Ort in Deutschland, wo eine Art Widerstand geleistet wurde – mutig, witzig und elegant geleistet wurde. Vormittags hatte ich erlebt, wie das Preußische Kammergericht mit seiner vielhundertjährigen Tradition ruhmlos vor den Nazis zusammenbrach. Abends erlebte ich, wie eine Handvoll kleiner Berliner Kabarettschauspieler ohne alle Tradition glorreich und mit Grazie die Ehre rettete. Das Kammergericht war gefallen. Die Katakombe stand.

Der Mann, der hier sein Fähnlein von Schauspielern zum Siege führte – denn jedes Feststehen und Haltungbewahren angesichts der morddrohenden Übermacht ist eine Art Sieg – war Werner Finck, und dieser kleine Kabarett–Conferencier hat ohne Zweifel seinen Platz in der Geschichte des Dritten Reichs – einen der wenigen Ehrenplätze, die darin zu vergeben sind. Er sah nicht aus wie ein Held, und wenn er schließlich doch beinah einer wurde, dann wurde er es malgré lui. Kein revolutionärer Schauspieler, kein beißender Spötter, kein David mit der Schleuder. Sein innerstes Wesen war Harmlosigkeit und Liebenswürdigkeit. Sein Witz war sanft, tänzerisch und schwebend; sein Hauptmittel der Doppelsinn und das Wortspiel, in dem er allmählich ein Virtuose wurde. Er hatte etwas erfunden, was man die »versteckte Pointe« nannte – und freilich tat er je länger je mehr gut daran, seine Pointen zu verstecken. Aber seine Gesinnung versteckte er nicht. Er blieb ein Hort der Harmlosigkeit und Liebenswürdigkeit in einem Lande, wo gerade diese Eigenschaften auf der Ausrottungsliste standen. Und in dieser Harmlosigkeit und Liebenswürdigkeit saß als »versteckte Pointe« ein wirklicher, unbeugsamer Mut. Er wagte es, über die Wirklichkeit der Nazis zu sprechen –

mitten in Deutschland. In seinen Conferencen kamen die Konzentrationslager vor, die

Haussuchungen, die allgemeine Angst, die allgemeine Lüge; sein Spott darüber hatte etwas unsäglich Leises, Wehmütiges und Betrübtes; und eine ungewöhnliche Trostkraft.

Dieser 31. März 1933 war vielleicht sein größter Abend. Das Haus saß voller Leute, die in den nächsten Tag wie in einen offenen Abgrund starrten. Finck machte sie lachen, wie ich nie ein Publikum lachen gehört habe. Es war ein pathetisches Lachen, das Lachen eines neugeborenen Trotzes, der Betäubung und Verzweiflung hinter sich ließ, und die Gefahr half dieses Lachen nähren

– war es nicht fast ein Wunder, daß die SA nicht schon längst hier war, um das ganze Haus zu verhaften? Wahrscheinlich hätten wir an diesem Abend noch auf dem Grünen Wagen weitergelacht.

Wir waren auf eine unwahrscheinliche Weise über Gefahr und Angst hinweggehoben.

25

Um 10 Uhr früh kam am 1. April 1933 ein Telegramm. »Komm bitte, wenn du kannst. Frank.« Ich verabschiedete mich von meinen Eltern, ein bißchen wie jemand, der in den Krieg zieht, setzte mich auf die Vorortbahn, fuhr nach dem Osten hinaus zu Frank Landau. Er war mein bester und ältester Freund. Wir kannten uns seit der untersten Gymnasialklasse, wir hatten zusammen im »Rennbund Altpreußen« Rennen gelaufen und später in »richtigen« Sportclubs. Wir hatten zusammen studiert und waren jetzt Referendare.

Wir hatten so ziemlich jedes knabenhafte Hobby und jede knabenhafte Schwärmerei gemeinsam gehabt. Wir hatten einander unsere ersten literarischen Versuche vorgelesen, und wir taten dies mit unseren schon ernsthafteren literarischen Bemühungen – Wir fühlten uns beide »eigentlich« mehr als Literaten denn als Referendare. In manchen Jahren hatten wir uns tagtäglich gesehen, und wir waren gewohnt, alles miteinander zu teilen – einschließlich sogar unserer Liebesgeschichten, die wir voreinander ohne das Gefühl der Indiskretion auszubreiten pflegten. In den siebzehn Jahren, die wir uns kannten, hatten wir nicht einen ernsthaften Streit gehabt. Unsere Verschiedenheiten – unter denen die der Abstammung die unbedeutendste war – hatten wir in Jünglingszeiten genießerisch analysiert und hochinteressant gefunden. Sie trennten uns nicht.

Nun also fuhr ich zu ihm hinaus. Sein Vater, bei dem er wohnte, war Arzt und also zu boykottieren.

Ich war neugierig, wie alles aussehen würde.

Es sah wüst, aber innerhalb der Wüstheit eher harmlos aus. Die jüdischen Geschäfte – es gab ziemlich viele in den östlichen Straßen – standen offen, vor den Ladentüren standen breitbeinig aufgepflanzt SA–Leute. An die Schaufenster waren Unflätigkeiten geschmiert, und die Ladeninhaber hatten sich meistens unsichtbar gemacht. Neugieriges Volk lungerte herum, halb ängstlich, halb schadenfroh. Der ganze Vorgang wirkte unbeholfen, so als erwarteten alle noch irgend etwas, wußten aber im Moment nicht recht was. Nach öffentlichem Blutvergießen sah es nicht aus. Ich kam auch unbehelligt in die Wohnung der Landaus. »Sie« kamen anscheinend noch nicht in die Wohnungen, stellte ich mit Beruhigung fest. Frank war nicht da. Sein Vater empfing mich statt seiner, ein breiter, jovialer alter Herr. Er hatte sich öfter mit mir unterhalten, wenn ich da war, hatte sich großmütig nach meiner literarischen Produktion erkundigt, Preisgesänge auf Maupassant angestimmt, den er über alles verehrte, und mich mit einer gewissen Strenge genötigt, viele Spirituosen durchzuprobieren, wobei er meine Feinschmeckerschaft gewissermaßen examinierte.

Heute empfing er mich beleidigt. Er war nicht verstört, nicht ängstlich. Er war beleidigt.

Viele Juden waren es damals noch, und ich beeile mich zu sagen, daß das in meinen Augen außerordentlich für sie spricht. Inzwischen haben die meisten die Kraft dazu verloren. Sie sind zu furchtbar geschlagen. Es ist derselbe Vorgang, wie er sich, auf ein paar Minuten zusammengedrängt, bei den einzelnen abspielt, die in den Konzentrationslagern, auf Blöcke geschnallt, zu Brei geprügelt werden: Der erste Schlag trifft den Stolz und erzeugt ein wildes Aufbäumen der Seele; der zehnte und zwanzigste treffen nur noch den Körper und bringen nichts mehr als ein Wimmern hervor. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland hat in sechs Jahren kollektiv und im großen diese Entwicklung durchgemacht.

Der alte Landau war noch nicht zu Brei geschlagen damals. Er war beleidigt – und was mich ein wenig erschreckte, war nur, daß er mich wie einen Gesandten seiner Beleidiger empfing. »Nun, was sagen Sie dazu«, begann er. »Glauben Sie wirklich, ich hätte Greuelnachrichten erfunden und ins Ausland geschickt? Glaubt es irgendeiner von Ihnen?« Mit einer gewissen Erschütterung sah ich, daß er gleichsam zu plädieren sich anschickte. »Wir Juden müßten wirklich dümmer sein, als wir sind, wenn ausgerechnet wir jetzt Greuelberichte ins Ausland schreiben sollten. Als ob wir nicht auch in den Zeitungen gelesen hätten, daß das Briefgeheimnis aufgehoben ist! Die Zeitungen dürfen wir ja sonderbarerweise noch lesen. Glaubt wirklich irgendeiner diesen dummen Schwindel, daß wir Greuelnachrichten fabriziert hätten? Und wenn es keiner glaubt, was soll es dann? Können Sie mir das sagen?«

»Selbstverständlich glaubt es kein vernünftiger Mensch«, sagte ich. »Aber was bedeutet das schon?

Der Tatbestand ist doch einfach der, daß Sie in die Hände von Feinden gefallen sind. Wir alle sind es. Sie haben uns jetzt und machen mit uns, was sie wollen.« Er starrte erbittert vor sich in den Aschenbecher und hörte nur halb zu. »Die Lüge ist es, was mich so aufbringt«, sagte er, »die verdammte, ekelhafte Lüge bei alledem. Sollen sie uns doch umbringen, wenn sie wollen. Ich für meine Person bin alt genug. Aber sie sollen nicht so dreckig lügen dazu. Sagen Sie mir, warum sie das tun!« Er war offenbar doch im Innersten nicht davon abzubringen, daß ich mit den Nazis irgendwie zusammensteckte und um ihre Geheimnisse wußte.

Frau Landau kam dazu, begrüßte mich traurig lächelnd und versuchte mich zu entlasten. »Was fragst du Franks Freund«, sagte sie, »er weiß es doch so wenig wie wir. Er ist doch kein Nationalsozialist.«

(»Nationalsozialist« sagte sie höflich und umständlich.) Ihr Mann aber schüttelte weiter den Kopf, als wollte er alles abschütteln, was wir sagten.

»Das soll mir einer sagen, warum sie lügen«, beharrte er. »Warum sie noch lügen, wo sie doch schon die Macht haben und tun können, was sie wollen. Ich will es wissen.«

»Ich glaube, du mußt nach dem Jungen sehen«, sagte sie. »Er stöhnt so.«

»Um Gottes willen«, sagte ich, »ist Ihr Sohn krank?« Frank hatte noch einen jüngeren Bruder. Von dem war offenbar die Rede.

»Es scheint so«, sagte Frau Landau. »Er hat sich so furchtbar aufgeregt, als er gestern aus der Universität herausgeworfen wurde, und heute übergibt er sich ständig und klagt über

Bauchschmerzen. Es sieht ein bißchen wie Blinddarmentzündung aus, obwohl«, und sie machte einen Versuch zu lächeln, »obwohl ich noch nie gehört habe, daß man Blinddarmentzündung von Aufregung kriegt.«

»Heut passiert vieles, wovon man noch nie gehört hat«, sagte der alte Herr grimmig, indem er sich erhob. Er ging schwerschrittig zur Tür, drehte sich noch einmal um und sagte: »Sie sind doch ein guter Jurist, nicht wahr? Können Sie mir sagen: Macht sich mein Sohn eigentlich strafbar, indem er sich heute von mir untersuchen laßt, statt mich zu boykottieren?«

»Sie dürfen es ihm nicht übelnehmen«, sagte Frau Landau. »Er kommt noch nicht los davon. Frank muß gleich kommen, wir werden dann Mittag essen.«

Frank kam, er kam mit raschen Schritten ins Zimmer, erklärte sehr ruhig, seine Ruhe hatte etwas überaus Angespanntes und Umsichtiges, wie die Ruhe von Generälen am Kartentisch oder auch von gewissen Geisteskranken, die mit überlegener Konsequenz ihre fixe Idee entwickeln.

»Nett, daß du gekommen bist«, sagte er, »entschuldige, daß ich mich verspätet habe. Es ging nicht anders. Ich möchte dich nachher um verschiedenes bitten. Ich fahre weg.«

»Wann und wohin?« fragte ich, mit derselben angespannten Ruhe. »Nach Zürich«, sagte er. »Morgen früh, wenn es geht. Mein Vater will es noch nicht, aber ich werde fahren. Es hat hier keinen Zweck mehr für mich. Bei den Vorbereitungen der Abreise mußt du mir helfen.«

Dann wurde zum Essen gerufen. Frau Landau versuchte dabei vergebens, eine normale

Tischunterhaltung zustande zu bringen. Ihr Mann zerstörte sie immer wieder durch Ausbrüche; wir immer wieder durch Schweigsamkeit.

»Nun, hat er's Ihnen schon gesagt, daß er weg will?« fragte Franks Vater übergangslos. »Was sagen Sie dazu?«

»Ich finde es sehr vernünftig«, sagte ich. »Er sollte fortfahren, solange er noch kann. Was soll er noch hier?«

»Dableiben«, sagte der alte Herr. »Nun gerade dableiben und sich nicht wegjagen lassen. Er hat seine Examina gemacht, er hat ein Recht darauf, Richter zu werden.«

»Ich fürchte«, sagte ich, »mit dem Recht ist es vorbei, seit gestern die Kammergerichtsräte vor der SA das Lokal geräumt haben. Wir sind jetzt alle so gut wie Gefangene, und Flucht ist die einzige Art von Tat, die uns übrigbleibt. Ich will auch fort.«

»Sie auch?« fragte Herr Landau. »Warum denn Sie?« Er war offenbar nicht mehr davon abzubringen, daß ich als »Arier« auch ein Nazi geworden war; er mußte wohl zuviel derartiges frisch erfahren haben, um an andere Möglichkeiten zu glauben. Der alte Herr versank in Schweigen. »Ich werde wohl meine beiden Söhne an einem Tag loswerden«, sagte er nach einer Weile.

»Aber Ernst!« rief seine Frau.

»Der Kleine muß operiert werden«, sagte er. »Die schönste akute Blinddarmentzündung. Ich kann's nicht machen. Habe keine sichere Hand heute. Und ob es ein anderer heute tun wird? Soll ich herumtelefonieren und betteln: Ach, Herr Kollege oder nicht mehr Kollege, würden Sie um Gottes willen meinen Jungen operieren – er ist aber Jude?«

»Soundso wird es tun«, sagte Frau Landau. Sie nannte einen Namen, den ich vergessen habe.

»Er sollte schon«, sagte ihr Mann. Er lachte und sagte zu mir: »Wir haben zwei Jahre lang im Feldlazarett miteinander Beine abgesäbelt. Aber weiß man heute?«

»Ich werde ihn anrufen«, sagte Frau Landau. »Er tut's bestimmt.« Sie hielt sich großartig an diesem Tag.

Nach dem Essen gingen wir ein paar Minuten zu dem kranken Jungen. Er lächelte verlegen, als hätte er etwas Dummes angestellt, und unterdrückte immer wieder ein Stöhnen. »Also du fährst weg?«

fragte er seinen Bruder. »Ja.«

Frank sah beklommen aus, als wir aus dem Zimmer traten. »Es ist scheußlich«, sagte ich. »Ja, das ist wirklich scheußlich,« sagte er. »Ich weiß gar nicht, was aus dem Jungen werden soll. Er hält es noch so gar nicht aus, Unrecht mit anzusehen, und er hat keine richtige Vorstellung dafür. Weißt du, was er mir gestern erzählt hat, was er sich wünscht, nach allem? Einmal Hitler das Leben zu retten; und ihm nachher zu sagen: ›So. Ich bin ein Jude. Und jetzt wollen wir uns eine Stunde über alles unterhalten‹.«

Wir gingen in Franks Zimmer. Aufgeklappte Koffer standen herum, und Anzüge waren herausgelegt.

Es war 2 Uhr oder so. »Um sechs muß ich Ellen am Bahnhof Wannsee treffen«, sagte Frank. Ellen war seine Freundin, mit der er sich verloben wollte, um dann gemeinsam mit ihr zu verschwinden. »Bis dahin müssen wir viel tun.«

»Packen?« fragte ich. »Auch«, sagte er. »In der Hauptsache etwas anderes. Ich habe da einen Haufen Zeug – alte Briefe, alte Bilder, alte Tagebücher, Gedichte, Erinnerungen, was weiß ich. Ich möchte es nicht hierlassen. Ich kann es auch nicht mitnehmen. Ich möchte auch nicht gern alles vernichten.

Würdest du es an dich nehmen?«

»Natürlich.«

»Das müssen wir jetzt durchsehen.«

Er schloß ein Schubfach auf. Ein paar große Haufen Papiere, Alben, Diarien lagen darin herum: sein vergangenes Leben. Ein guter Teil davon war zugleich das meine. Frank atmete tief ein und lächelte.

»Wir müssen uns ranhalten, wir haben nicht viel Zeit.«

Und so gingen wir an die Papiere, öffneten die alten Briefe, ließen die alten Fotos durch die Finger gleiten: Das war unsere Jugend, die hier in diesem Schubfach aufbewahrt gelegen hatte. Jeder kennt dieses große Aufräumen, es ist eine Arbeit für regnerische Sonntage, und jeder kennt den tiefwehmütigen Kitzel dieser Totenbeschwörung, die unwiderstehliche Versuchung, noch einmal alles zu lesen, noch einmal alles zu leben. Auch die opiumähnliche Betäubung kennt man, die einen allmählich darüber befällt, das Nachgeben, das Weichwerden.

Wir hatten nur knapp drei Stunden Zeit, und wir hetzten durch unsere Traumländer mit der flackernden Geschwindigkeit, mit der eine Flucht in einem Trickfilm vor sich geht. Auch hatten wir streng zu sein und zu zerstören. Nur das Wertvollste hatte Platz in einer großen Kiste, der Rest mußte zum Papierkorb verurteilt werden.

Zweimal wurden wir unterbrochen. Das eine Mal kam Frau Landau und sagte, der Krankenwagen sei nun unten. Franks Bruder würde zur Operation in eine Klinik gefahren werden. Sie und ihr Mann würden mitfahren. Wenn Frank sich noch von ihm verabschieden wolle, sei es Zeit. Ein merkwürdiger Abschied; der eine Bruder fuhr auf den Operationstisch, der andere in die Verbannung.

»Entschuldige mich einen Augenblick«, sagte Frank und ging mit seiner Mutter hinaus. Er blieb fünf Minuten.

Die andere Unterbrechung erfolgte ungefähr eine Stunde später. Die Wohnung war leer, bis auf uns beide und das Dienstmädchen. Wir hörten es klingeln, und dann klopfte das Dienstmädchen bei uns und sagte, draußen ständen zwei SA–Leute.

Es waren zwei dicke und plumpe Burschen in braunen Hemden und braunen Breeches und

Marschstiefeln; keine SS–Haifische, sondern Leute, die einem sonst einen Kasten Bier ins Haus bringen und nach Empfang eines Trinkgeldes rauhen Dank brummend zwei Finger an die Mütze legen. Ihre neue Stellung und Aufgabe war ihnen sichtlich noch etwas ungewohnt, und sie verdeckten Verlegenheit durch eine gewisse wilde Strammheit.

»Heil Hitler«, riefen sie überlaut im Chor. Pause. Dann fragte der eine, der offenbar ein Übergeordneter war:

»Sind Sie Doktor Landau?«

»Nein«, antwortete Frank. »Sein Sohn.«

»Und Sie?«

»Ich bin ein Freund von Herrn Landau«, sagte ich.

»Und wo ist Ihr Vater?«

»Mit meinem Bruder zur Klinik«, erwiderte Frank. Er sprach sehr gemessen und sparte die Worte.

»Was macht er'n da?«

»Mein Bruder muß operiert werden.«

»Na, denn jeht's ja«, sagte der SA–Mann gemütlich und befriedigt. »Zeigen Sie uns mal das Sprechzimmer.«

»Bitte sehr«, sagte Frank und öffnete die Tür. Die beiden polterten zwischen uns in das Sprechzimmer, das leer, weiß und ordentlich dalag, und blickten streng auf die vielen blitzenden Instrumente.

»Jemand dagewesen heute?« fragte der Wortführer.

»Nein«, sagte Frank.

»Na, denn jeht's ja«, sagte der Wortführer aufs neue. Dies schien sein Spruch zu sein. »Dann zeigen Sie uns mal die anderen Räumlichkeiten.«

Und er polterte mit seinem Kumpan durch die Wohnung, überall mißbilligende und forschende Blicke hemmwerfend, ein wenig wie ein Gerichtsvollzieher, der Pfandstücke aussucht. »Also keiner da sonst«, fragte er schließlich, und nachdem Frank verneint hatte, sagte er zum dritten Mal: »Na, denn jeht's ja.«

Wir standen wieder am Ausgang, und die beiden zögerten noch etwas, als hätten sie das Gefühl, sie müßten jetzt irgend etwas unternehmen, wüßten aber nicht recht was. Dann, aus dem allgemeinen Schweigen heraus, schrien sie plötzlich wieder, im Chor und mit Stentorstimme: »Heil Hitler!« – und polterten hinaus und die Treppe hinunter. Wir schlossen die Tür hinter ihnen und kehrten schweigend zurück an unser Geschäft.

Die Zeit lief uns davon, und zum Schluß gingen wir immer summarischer vor. Ganze Briefpacken wanderten unangesehen in den Papierkorb. 5 Uhr. Wir schnürten die Kiste zusammen und überblickten unser Zerstörungswerk. Dann gingen wir. Wir setzten uns auf die Stadtbahn und fuhren von Osten nach Berlin hinein und durch die ganze Stadt hindurch und nach Westen wieder hinaus.

Im Zuge hatten wir zum ersten Mal Zeit zu reden. Aber ein vernünftiges Gespräch wurde es nicht.

Zuviele Leute kamen und gingen und saßen um uns herum, von denen man nicht mehr wissen konnte, ob sie nicht Feinde waren. Auch waren immer wieder noch Dinge zu bedenken, mit denen wir uns selbst unterbrechen mußten – Abmachungen, Bestellungen, Aufträge, die wir uns noch zu geben hatten.

Seine Pläne? Sie waren noch unklar genug. Zunächst wollte er noch einen Schweizer Doktor machen, studieren und mit 200 Mark monatlich leben. (200 Mark monatlich konnte man damals noch hinausschicken!) Im übrigen hatte er irgendeinen Onkel in der Schweiz. Vielleicht, daß er ihm irgendwie helfen könne ... »Zunächst nur raus. Ich fürchte nämlich, lange läßt man uns nicht mehr raus.« Am Bahnhof Wannsee erwartete uns das Mädchen Ellen und präsentierte uns wortlos ein Zeitungsblatt. Es enthielt eine Notiz: »Ausreisevisum eingeführt.« Die Begründung war wieder, glaube ich, daß die Verbreitung von Greuelnachrichten im Ausland verhindert werden solle. »Das sieht verdammt so aus, als ob wir schon in der Falle sitzen«, sagte Frank.

»Vielleicht tritt es noch nicht sofort in Kraft«, sagte ich.

»Egal jedenfalls«, sagte Frank, »wir müssen uns jetzt erst recht beeilen. Vielleicht haben wir noch Glück.«

Wir gingen stumm ein paar Villenstraßen hinunter, an Gärten vorbei, es war still hier und nichts zu sehen, was den Tag verriet, nicht einmal beschmierte Ladenfenster. Ellen hatte sich in Franks Arm gehängt, und ich hatte die Kiste genommen, die seine Hinterlassenschaften barg. Es dämmerte, und ein lauwarmer feiner Regen begann zu fallen. Ich fühlte eine sanfte Betäubung im Kopf. Alle Dinge waren gemildert durch ein tiefes Gefühl von Unwirklichkeit. Darin lag auch freilich wieder etwas Bedrohliches. Wir waren zu plötzlich und zu tief ins Unmögliche geraten, als daß es noch Grenzen gab. Wenn morgen zur Strafe für irgend etwas alle Juden verhaftet wurden oder Selbstmord zu begehen hatten, würde es auch nicht mehr weiter erstaunlich sein. Die SA–Leute würden gemütlich und befriedigt »Na, denn jeht's ja« sagen, wenn man ihnen mitteilen würde, daß alle sich ordnungsgemäß umgebracht hätten. Die Straßen würden genau wie immer aussehen. »Na, denn jeht's ja.«

Ich schrak auf. Wir waren angekommen. Ellens Elternhaus war so voll, daß ich als Fremder gar nicht weiter auffiel. In den großen, schönen Empfangszimmern saßen und standen wohl an die zwanzig Gäste herum, vor allem junge Freunde des Hauses. Ellens Vater, ein runder und freundlicher Herr, zeigte ein Gastgeberlächeln und versuchte vergebens mit Scherzen gegen die gedrückte Stimmung anzukommen. Ellens Mutter begann in einer Ecke eine Diskussion mit Frank über die Meldung von dem Ausreisevisum. »Wenn man wenigstens wüßte, wann es in Kraft tritt!« sagte einer.

»Man müßte mal im Polizeipräsidium anrufen«, schlug ich vor. »Wenn man sich damit nicht gerade ans Messer lieferte«, wandte einer ein. »Man kann ja einen falschen Namen nennen«, sagte ich.

»Übrigens, wenn Sie wollen, ich bin gern bereit dazu.« »Ach ja, wollen Sie das wirklich tun?« rief Ellens Mutter. »Aber bitte, bitte – nicht von unserem Apparat«, setzte sie dann hinzu.

Ich verschwand, um die Telefonzelle gleich um die Ecke aufzusuchen. Am Apparat nannte ich einen falschen Namen. Nach längerer Wartezeit konnte mich schließlich jemand im Polizeipräsidium aufklären. Die Verordnung trat erst am Dienstag in Kraft. »Danke sehr«, sagte ich und hängte mit großer Genugtuung ein.

Als ich zurückkam, war das Zimmer, das ich verlassen hatte, fast leer. Dann steckte die Dame des Hauses ihren Kopf zur Tür herein: »Nun?« fragte sie gespannt, und ich sagte meine gute Nachricht und empfing dafür ihren überschwenglichen Dank. »Jetzt müssen Sie aber auch noch rasch ein Glas Wein mittrinken auf das Glück des jungen Paares«, sagte sie und zog mich fort. »Sie wissen doch schon alles?«

In einem anderen Raum standen Frank und Ellen und empfingen Händedrücke. Sie sahen weder glücklich noch unglücklich aus. Meine Nachricht, daß man noch zwei Tage freie Flucht aus dem Lande hatte, war genau das richtige Verlobungsgeschenk.

Eine halbe Stunde später saß auch ich wieder mit Frank in der Vorortbahn. Unser Abteil war leer. Wir schwiegen. Plötzlich sagte er: »Was hältst du nun von alledem, du hast noch gar nichts gesagt. War es richtig?«

»Auf jeden Fall ist es richtig, daß du morgen fährst. Ich wollte, ich könnte mit.« Wir schwiegen wieder vor uns hin.

Bahnhof Zoo kam näher, wo wir ausstiegen. Zum ersten Mal sah man den Straßen etwas von der Revolution an, freilich nur Negatives: Die hellen, funkelnden Vergnügungsstraßen um den Zoo lagen tot und öde da, wie man sie noch nie gesehen hatte.

»Glückliche Reise«, sagte ich zu ihm, »übersteh diese Nacht gut. Morgen hast du alles hinter dir und bist fort.« Und in diesem Augenblick, zum ersten Mal, erfaßte ich völlig, daß dies ein Abschied war.

ABSCHIED

26

Ehe ich fortfahre, meine Geschichte zu erzählen – die Privatgeschichte eines zufälligen, gewiß nicht besonders interessanten und nicht besonders bedeutenden jungen Menschen aus dem

Deutschland von 1933 –, sei mir eine kleine Verständigung mit dem Leser zugestanden: mit dem

Leser, der, nicht ohne einen Schein von Recht, findet, daß ich sein Interesse an meiner zufälligen, privaten und wirklich nicht allzu bedeutenden Person nachgerade ein wenig überanstrenge.

Täusche ich mich – oder höre ich nicht wirklich an dieser Stelle manchen Leser, der mir soweit Geduld und Wohlwollen geschenkt hat, ein wenig ungeduldig in dem Buche blättern? Ein Blättern, das, in Worte gefaßt, etwa so spricht: »Was soll das alles? Was geht es uns an, daß 1933 in Berlin ein junger Herr XY Angst um seine Freundin hatte, wenn sie zu spät zu einer Verabredung kam, sich ungeistesgegenwärtig gegen SA–Leute benahm, in jüdischen Familien herumlungerte und – wie es in den nächsten Seiten scheint – in Bausch und Bogen Abschied von seinen Kameraden, seinen Lebensplänen und seinen ziemlich konventionellen und ungereiften Anschauungen zu nehmen hatte? 1933 spielten sich doch in Berlin, wie es scheint, Dinge von wirklicher historischer Bedeutung ab. Wenn wir uns schon damit beschäftigen sollen, dann wollen wir wenigstens von diesen Dingen hören: hören, was hinter den Kulissen zwischen Hitler und Blomberg oder Schleicher und Röhm besprochen wurde, wer den Reichstag angesteckt hat, warum Byam floh und Oberfuhren Selbstmord beging – und nicht mit den Privaterlebnissen eines jungen Mannes abgespeist werden, der von alledem nicht viel mehr weiß als unsereiner, obwohl er näher daran war, und der offensichtlich keinen Augenblick in die Ereignisse eingegriffen hat, ja nicht einmal ein besonders eingeweihter Augenzeuge war.«

Eine wuchtige Anklage; ich muß meinen ganzen Mut zusammennehmen, um zu gestehen, daß ich sie dennoch nicht für berechtigt halte, und daß ich tatsächlich auch dem ernsthaften Leser mit meiner Privatgeschichte seine Zeit nicht zu stehlen glaube. Es ist alles wahr: Ich habe in die Ereignisse nicht eingegriffen, ich war nicht einmal ein besonders eingeweihter Augenzeuge, und niemand kann die Bedeutung meiner Person skeptischer einschätzen als ich selber. Und doch glaube ich – und ich bitte, es mir nicht als Anmaßung auszulegen –, daß ich mit der zufälligen und privaten Geschichte meiner zufälligen und privaten Person ein wichtiges, unerzähltes Stück deutscher und europäischer Geschichte erzähle – wichtiger und für alles Zukünftige bedeutsamer, als wenn ich erzählte, wer den Reichstag angesteckt hat und was zwischen Hitler und Röhm nun wirklich gesprochen worden ist.

Was ist Geschichte? Wo spielt sie sich ab?

Liest man eine der normalen Geschichtsdarstellungen – von denen man allzuleicht vergißt, daß sie immer nur den Umriß der Dinge enthalten und nicht die Dinge selbst –, so ist man versucht zu glauben, Geschichte spiele sich zwischen einigen Dutzend Leuten ab, die gerade »die Geschicke der Völker lenken« und deren Entschlüsse und Taten dann das ergeben, was später »Geschichte« heißt.

Die Geschichte des gegenwärtigen Jahrzehnts erscheint dann etwa wie eine Art Schachtournier zwischen Hitler, Mussolini, Tschiangkaischek, Roosevelt, Chamberlain, Daladier und einigen Dutzend anderen Männern, deren Namen mehr oder weniger in aller Munde sind. Wir anderen, Anonymen, sind, so scheint es, bestenfalls Objekte der Geschichte, Bauern in einer Schachpartie, die vorgeschoben, stehen gelassen, geopfert und geschlagen werden, und deren Leben, falls sie eins haben, sich in einer ganz anderen Welt abspielt, ohne Beziehung zu dem, was auf dem Schachbrett mit ihnen geschieht, auf dem – sie stehen, ohne es zu wissen.

Es mag demgegenüber paradox klingen, aber es ist nichtsdestoweniger eine schlichte Tatsache, daß sich die wirklich zählenden geschichtlichen Ereignisse und Entscheidungen unter uns Anonymen abspielen, in der Brust einer jeden zufälligen und privaten Einzelperson, und daß gegenüber diesen simultanen Massenentscheidungen, von denen ihre Träger oft selbst nichts wissen, die mächtigsten Diktatoren, Minister und Generale vollständig wehrlos sind. Und es ist ein Merkmal dieser entscheidenden Ereignisse, daß sie niemals als Massenerscheinung und Massendemonstration sichtbar werden – sowie die Masse massiert dasteht, ist sie funktionsunfähig –, sondern stets nur als scheinbar privates Erlebnis Tausender und Millionen Einzelner.

Ich spreche hier nicht etwa von irgendwelchen nebelhaften historischen Konstruktionen, sondern von Dingen, deren höchst realen Charakter niemand abstreiten wird. Was, z. B., hat bewirkt, daß 1918 Deutschland den Weltkrieg verlor und die Alliierten ihn gewannen? Ein Fortschritt in der Feldherrnkunst Fochs und Haigs und ein Nachlassen in der Ludendorffs? Keineswegs; sondern die Tatsache, daß »der deutsche Soldat«, also die Mehrzahl einer Masse von anonymen 10 Millionen, plötzlich nicht mehr, wie bisher, willig war, bei jedem Angriff sein Leben einzusetzen und die eigene Stellung bis zum letzten Mann zu halten. Wo hat sich dieser entscheidende Wandel abgespielt?

Keineswegs in geheimen meuterischen Massenzusammenkünften der deutschen Soldaten, sondern unkontrolliert und unkontrollierbar in der Brust jedes Einzelnen von ihnen. Die meisten hätten ihn kaum zu bezeichnen gewußt und einen höchst komplizierten, höchst geschichtsträchtigen seelischen Vorgang höchstens in dem Ausruf »Scheiße« zusammengefaßt. Hätte man diejenigen unter ihnen, die die Gabe der Sprache besaßen, interviewt, so hätte man bei jedem ein Bündel höchst zufälliger, höchst privater (und gewiß auch wenig interessanter und bedeutender) Gedanken, Gefühle und Erlebnisse vorgefunden, in dem Briefe von zu Hause, persönliche Beziehungen zum Feldwebel, Ansichten über das Essen dicht neben Gedanken über Aussichten und Sinn des Krieges und (da jeder Deutsche ein wenig Philosoph ist) über den Sinn und Wert des Lebens gelegen hätten.

Es ist nicht meine Sache, diesen seelischen Vorgang, der den Weltkrieg entschied, hier zu analysieren, aber es dürfte für jeden von Interesse sein, dem daran gelegen ist, solche oder ähnliche Vorgänge früher oder später zu reproduzieren.

Ich habe es aber hier mit einem anderen, vielleicht noch interessanteren, wichtigeren und komplizierteren Vorgang ähnlicher Art zu tun: nämlich mit denjenigen seelischen Bewegungen, Reaktionen und Verwandlungen, die in ihrer Simultanität und Massierung das Dritte Reich Hitlers erst möglich gemacht haben, und die heute seinen unsichtbaren Hintergrund bilden.

In der Entstehungsgeschichte des Dritten Reichs gibt es ein ungelöstes Rätsel, das, wie mir scheint, noch interessanter ist, als die Frage, wer den Reichstag angezündet hat. Das ist die Frage: Wo sind eigentlich die Deutschen geblieben? Noch am 5. März 1933 hat die Mehrheit von ihnen gegen Hitler gewählt. Was ist aus dieser Mehrheit geworden? Ist sie gestorben? Vom Erdboden verschwunden?

Oder, so spät noch, Nazi geworden? Wie konnte es kommen, daß jede merkliche Reaktion von ihrer Seite ausblieb?

Fast jeder meiner Leser wird, von früher her, den einen oder anderen Deutschen kennen, und die meisten werden finden, daß ihre deutschen Bekannten normale, freundliche, zivilisierte Leute sind, Menschen wie jeder andere –abgesehen von ein paar nationalen Eigentümlichkeiten, wie sie auch jeder andere hat. Fast jeder wird, wenn er die Reden hört, die heute in Deutschland heraustönen (und die Taten wahrnimmt, die heute aus Deutschland herausduften), an diese seine Bekannten denken und entgeistert fragen: Was ist mit ihnen? Gehören sie wirklich zu diesem Irrenhaus?

Merken sie nicht, was mit ihnen geschieht –und was in ihrem Namen geschieht? Billigen sie es etwa gar? Was sind das für Leute? Was sollen wir von ihnen halten?

Tatsächlich stecken hinter diesen Unerklärlichkeiten sonderbare seelische Vorgänge und Erfahrungen – höchst seltsame, höchst enthüllende Vorgänge, deren historische Auswirkungen noch nicht abzusehen sind. Mit ihnen habe ich es zu tun. Man kommt ihnen nicht bei, ohne sie dorthin zu verfolgen, wo sie sich abspielen: im privaten Leben, Fühlen und Denken der einzelnen Deutschen.

Sie spielen sich umso mehr dort ab, als ja längst, nach der Räumung des politischen Feldes, der erobernde und gefräßige Staat in die einstigen Privatzonen vorgestoßen ist und auch dort seinen Gegner, den widerspenstigen Menschen, herauszuwerfen und zu unterjochen am Werk ist; dort, im Privatesten, spielt sich heute in Deutschland jener Kampf ab, nach dem man vergeblich mit Fernrohren das politische Feld absucht. Was einer ißt und trinkt, wen er liebt, was er in seiner Freizeit tut, mit wem er sich unterhält, ob er lächelt oder finster aussieht, was er liest und was er sich für Bilder an die Wände hängt – das ist heute die Form, in der in Deutschland politisch gekämpft wird. Das ist das Feld, wo im voraus die Schlachten des künftigen Weltkriegs entschieden werden. Es mag grotesk klingen, aber es ist so.

Deswegen glaube ich, mit meiner scheinbar so privaten und unbedeutenden Geschichte wirklich Geschichte zu erzählen – und vielleicht sogar zukünftige Geschichte. Und deswegen bin ich geradezu froh, in meiner Person einen nicht allzu bedeutenden und hervorstehenden Gegenstand der Darstellung zu haben; wäre er bedeutender, er wäre weniger typisch. Und deswegen hoffe ich schließlich, gerade vor dem ernsthaften Leser, der keine Zeit zu verschenken hat, und von einem Buch, das er liest, wirkliche Information und wirklichen Nutzen erwartet, diese meine intime Chronik vertreten zu können.

Dafür habe ich mich nun freilich vor dem harmloseren Leser, der mir seine Teilnahme

bedingungsloser schenkt und die Geschichte eines seltsamen Lebens unter seltsamen Umständen um ihrer selbst willen zu lesen bereit ist, für diese Abschweifung zu entschuldigen – und für so manchen anderen Einschub, in dem ich es mir nicht versagen kann, schon selbst einige von den Gedankengängen anzuspinnen, die sich, wie mir scheint, an meine Geschichte anspinnen lassen.

Aber wie kann ich mich besser vor ihm entschuldigen, als indem ich rasch wieder zu erzählen anfange!

27

Der 1. April war fürs erste der Höhepunkt der Nazirevolution gewesen. In den nächsten Wochen zeigten die Ereignisse eine Tendenz, sich wieder in die Sphäre der Zeitungsberichte zurückzuziehen.

Gewiß, der Terror ging weiter, die Feste und Aufmärsche gingen weiter, aber nicht mehr ganz im tempo furioso des März. Die Konzentrationslager waren nun eben eine Institution geworden, und man war eingeladen, sich daran zu gewöhnen und seine Zunge zu hüten. Die »Gleichschaltung«, also die Besetzung aller Behörden, Lokalverwaltungen, großen Geschäfte, Verbands– und

Vereinsvorstände mit Nazis, ging weiter, aber jetzt systematisch und auf fast pedantisch–ordentliche Weise, mit Gesetzen und Verordnungen, nicht mehr so sehr mit wilden und unberechenbaren

»Einzelaktionen«. Die Revolution nahm eine Beamtenmiene an. Es bildete sich so etwas wie ein

»Boden der Tatsachen« – etwas, womit der Deutsche kraft alter Gewöhnung gar nichts anderes tun kann, als sich darauf stellen.

Man durfte wieder in den jüdischen Geschäften kaufen. Man wurde zwar weiter aufgefordert, es zu unterlassen, man wurde auch in Dauerplakaten als »Volksverräter« bezeichnet, wenn man es dennoch tat, aber man durfte es. Keine SA–Posten standen mehr vor den Ladentüren. Die jüdischen Beamten, Ärzte, Anwälte, Journalisten wurden zwar entlassen, aber nunmehr gesetzlich und ordentlich, nach Paragraph soundso, und es gab Ausnahmen für Frontkämpfer und alte Leute, die schon unter dem Kaiserreich gedient hatten – konnte man mehr verlangen? Die Gerichte, nachdem sie eine Woche lang suspendiert gewesen waren, durften wieder zusammentreten und Recht sprechen. Die Unabsetzbarkeit der Richter allerdings wurde aufgehoben, streng gesetzlich und ordentlich. Zugleich wurde den Richtern, die nunmehr also jeden Tag auf die Straße gesetzt werden konnten, erklärt, daß man ihre Macht unermeßlich gesteigert habe: Sie seien jetzt »Volksrichter«,

»Richterkönige« geworden. Sie brauchten sich nicht mehr ängstlich an das Gesetz zu halten. Sie sollten es nicht einmal. Verstanden?

Seltsam war es, wieder im Kammergericht zu sitzen, in demselben Saal wie stets, auf denselben Bänken, und so zu tun, als sei eigentlich nichts vorgefallen. Dieselben Wachtmeister standen wieder an den Türen und schützten wie stets die Würde des Gerichtshofs gegen jede Störung. Sogar die Richter waren zum größten Teil dieselben. Der jüdische Kammergerichtsrat in unserm Senat freilich war nicht mehr da, selbstverständlich. Er war zwar nicht entlassen, er war ein alter Herr und hatte längst unter dem Kaiserreich Recht gesprochen, aber man hatte ihn in die Grundbuch– oder Rechnungsabteilung irgendeines Amtsgerichts gesteckt. Statt seiner saß in unserm Senat, seltsam anzusehen zwischen den greisen Kammergerichtsräten, ein junger blonder Amtsgerichtsrat, rotwangig und aufgeschossen. Ein Kammergerichtsrat ist etwa ein General, ein Amtsgerichtsrat etwa ein Oberleutnant. Man flüsterte sich zu, daß er privat eine hohe SS–Charge habe. Er grüßte mit ausgestrecktem Arm und schallendem »Heil Hitler«. Der Senatspräsident und die andern alten Herren wedelten darauf unbestimmt mit dem Arm und murmelten etwas Undeutliches. Im

Beratungszimmer, während der Frühstückspause, hatten sie früher manchmal ein wenig geplaudert, leise und abgeklärt nach Art kultivierter älterer Herren, über die Tagesereignisse oder über Justizpersonalien. Damit war es jetzt aus. Tiefes verlegenes Schweigen herrschte, während sie zwischen den Beratungen ihre Butterbrote aßen.

Seltsam verliefen oft die Beratungen. Das neue Senatsmitglied gab mit frischer, selbstbewußter Stimme befremdliche Rechtskenntnisse zum besten. Wir Referendare, mit unseren frischen Examenskenntnissen, wechselten Blicke, während er referierte. »Sollten Sie nicht, Herr Kollege«, sagte schließlich mit vollkommener Höflichkeit der Senatspräsident, »§ 816 des Bürgerlichen Gesetzbuchs übersehen haben?« Worauf der hohe Richter, ein wenig einem ertappten

Examenskandidaten gleich, in seinem Gesetzbuch blätterte und leicht verlegen, aber immer noch frisch und leichtherzig zugab: »Ach so, ja. Na, dann ist es also gerade umgekehrt.« Das waren so die Triumphe der alten Justiz.

Es gab aber auch andere Fälle – Fälle, in denen der Neukömmling sich nicht geschlagen gab, sondern eloquent und mit etwas zu lauter Stimme Vorträge darüber hielt, daß das alte Paragraphenrecht hier zurückstehen müsse; seine alten Richterkollegen darüber belehrte, daß man auf den Sinn und nicht auf den Buchstaben blicken müsse; Hitler zitierte; und mit der Geste eines jugendlichen Bühnenhelden auf irgendeiner unhaltbaren Entscheidung bestand. Es war

mitleiderregend, währenddessen die Gesichter der alten Kammergerichtsräte zu studieren. Sie blickten mit einem Ausdruck unbeschreiblicher Betrübtheit vor sich nieder in ihre Akten, während ihre Finger leicht gequält an einer Büroklammer oder einem Stückchen Löschpapier drehten. Für Gerede, wie sie es da jetzt als hohe Weisheit anhören mußten, waren sie sonst gewöhnt, Kandidaten durchs Assessorexamen fallen zu lassen; aber hinter diesem Gerede stand jetzt die Staatsmacht; dahinter drohte Entlassung wegen mangelnder nationalpolitischer Zuverlässigkeit, Brotlosigkeit, Konzentrationslager... Man hüstelte; »wir sind natürlich ganz Ihrer Ansicht, Herr Kollege«, sagte man,

»aber Sie werden verstehen...« Und man flehte um ein wenig Verständnis für das Bürgerliche Gesetzbuch und versuchte zu retten, was zu retten war.

So das Kammergericht in Berlin im April 1933. Es war dasselbe Kammergericht, dessen Räte sich einige 150 Jahre früher von Friedrich dem Großen lieber hatten einsperren lassen, als daß sie auf königliche Kabinettsorder hin ein Urteil änderten, das sie für richtig hielten. In Preußen kennt jedes Schulkind noch heute eine Legende aus jener Zeit, die, wahr oder nicht, den Ruf dieses Gerichtshofs kennzeichnet: Fridericus wollte danach beim Bau Sans–Soucis eine Windmühle, die noch heute neben dem Schloß steht, beseitigen lassen und machte dem Müller ein Kaufangebot. Der Müller lehnte ab; er wollte seine Mühle nicht hergeben. Der König drohte darauf, er werde den Müller einfach enteignen lassen – worauf der Müller: »Ja, Majestät – wenn das Kammergericht in Berlin nicht wäre!«

1933 brauchte kein Fridericus, brauchte nicht einmal ein Hitler sich persönlich zu bemühen, um das Kammergericht und seine Rechtsprechung »gleichzuschalten«. Ein paar junge Amtsgerichtsräte mit forschen Manieren und mangelhaften Rechtskenntnissen genügten dazu.

Ich war nicht mehr lange ein Zeuge des Niedergangs dieser großen, alten und stolzen Institution.

Meine Ausbildungszeit näherte sich ihrem Ende; nur ein paar kurze Monate erlebte ich noch das Kammergericht des Dritten Reichs. Es waren traurige Monate, Abschiedsmonate in mehr als einem Sinn. Ich fühlte mich an einem Sterbelager. Ich fühlte, daß ich in diesem Gebäude nichts mehr zu suchen hatte, daß der Geist, der darin geherrscht hatte, immer spurloser entwich, und ich hatte ein fröstelndes Gefühl von Heimatlosigkeit. Ich war kein begeisterter Jurist gewesen, nein, und ich hatte nicht besonders innig an der richterlich–gouvernementalen Zukunft gehangen, die mein Vater für mich geplant hatte. Dennoch hatte ich etwas wie Zugehörigkeit hier gespürt, und ich sah mit Bedrückung das trübe, ruhmlose Verenden und Versacken einer Welt mit an, in der ich immerhin nicht ganz ohne Heimatsgefühl, nicht ganz ohne Teilnahme und nicht ohne einen kleinen Stolz zu Hause gewesen war. Sie löste sich vor meinen Augen auf, sie zersetzte sich und verweste, ohne daß ich irgendetwas daran ändern konnte; das einzige, was mir blieb, war Achselzucken und das sichere und trübe Wissen, daß es hier keine Zukunft mehr für mich gab.

Äußerlich übrigens sah alles ganz anders aus. Wir Referendare stiegen täglich und sichtbar im Kurs.

Der Nationalsozialistische Juristenbund schrieb uns – auch mir – höchst schmeichelhafte Briefe: Wir seien die Generation, die das neue deutsche Recht aufzubauen habe. »Kommt in unsere Reihen, arbeitet mit an den gewaltigen Aufgaben, die der Wille des Führers uns stellt!« Ich ließ die Schreiben in den Papierkorb sinken, aber so taten nicht alle. Man fühlte es den Referendaren an, wie sie an Wichtigkeit und Selbstbewußtsein gewannen. Sie waren es jetzt, und nicht mehr die

Kammergerichtsräte, die in den Sitzungspausen eingeweiht die höheren Justizpersonalien diskutierten. Man hörte die unsichtbaren Marschallstäbe in den unsichtbaren Tornistern rascheln.

Selbst die, die bisher keine Nazis gewesen waren, fühlten ihre Chance. »Ja, es weht ein scharfer Wind, Herr Kollege«, sagten sie und berichteten mit stillem Triumph von Leuten, die frisch aus dem Assessorexamen ins Justizministerium gestiegen waren, und umgekehrt von »scharfen« und gefürchteten Senatspräsidenten, die schlechthin entlassen worden waren – »er war mit dem Reichsbanner zu intim gewesen, wissen Sie? Das rächt sich jetzt« – oder in obskure Amtsgerichte in der Provinz geschickt. Man witterte wieder ein wenig die glorreiche Luft von 1923, als plötzlich die jungen Leute das Heft in der Hand gehabt hatten, als man von heute auf morgen Bankdirektor und Autobesitzer hatte sein können – während Alter und begriffsstutziges Vertrauen auf

Lebenserfahrung nur ins Leichenschauhaus führten.

Freilich, so ganz wie 1923 war es auch wieder nicht. Der Eintrittspreis war ein wenig höher. Man mußte ein bißchen vorsichtig mit seinen Gedanken und Worten sein, damit man nicht etwa statt ins Justizministerium aus Versehen ins Konzentrationslager kam. So hochgeschwellt und siegesbewußt die Unterhaltungen in den Korridoren des Kammergerichts waren – ein bißchen klangen sie zugleich behindert, ein Unterton von Angst und Mißtrauen fehlte nicht, die Ansichten, die geäußert wurden, klangen ein wenig wie auswendig gelernte Examensantworten, und nicht selten schnappte einer plötzlich ab und sah sich rasch um, ob auch nicht etwa jemand seine Worte falsch aufgefaßt hatte.

Hochgestimmte Jugend, aber ein bißchen hatten alle einen Kloß im Hals. Eines Tages – ich weiß nicht mehr, was ich Ketzerisches geäußert hatte – nahm mich einer meiner Mitreferendare aus dem großen Kreis beiseite und sah mir treu in die Augen. »Ich möchte Sie warnen, Herr Kollege«, sagte er.

»Ich meine es gut mit Ihnen.« Erneuter tiefer Blick in die Augen. »Sie sind Republikaner, nicht wahr?«

Er legte mir gleich beruhigend seine Hand auf den Arm. »Pst, haben Sie keine Angst. Ich bin es auch, im Herzen. Ich freue mich, daß Sie es sind. Aber Sie müssen vorsichtiger sein. Unterschätzen Sie die Faszisten nicht!« (»Faszisten«, sagte er.) »Mit skeptischen Bemerkungen ist heute nichts zu machen.

Damit graben Sie sich nur Ihr eigenes Grab. Glauben Sie nur nicht, daß sich heute gegen die Faszisten etwas ausrichten läßt. Mit offener Opposition schon gar nicht! Glauben Sie mir! Ich kenne die Faszisten vielleicht besser als Sie. Wir Republikaner müssen jetzt mit den Wölfen heulen.«

So die Republikaner.

28

Es war nicht nur das Kammergericht, von dem ich damals Abschied zu nehmen hatte. »Abschied«

war die Parole geworden – durchgehend, radikal und ausnahmslos. Die Welt, in der ich gelebt hatte, löste sich auf, verschwand, wurde unsichtbar, täglich und selbstverständlich, in aller Lautlosigkeit.

Täglich fast konnte man feststellen, daß wieder ein Stück von ihr verschwunden und versunken war: Man sah sich danach um, und es war nicht mehr da. Nie wieder habe ich einen so seltsamen Vorgang erlebt. Es war ähnlich, als ob der Boden, auf dem man steht, ständig und unaufhaltsam unter den Füßen wegrieselt – oder, besser noch: als würde die Atemluft von irgendwoher gleichmäßig und unaufhörlich weggesaugt.

Fast das Harmloseste war, was, sichtbar und augenfällig, in der öffentlichen Sphäre geschah. Gut: Die Parteien verschwanden, wurden aufgelöst; erst die Linksparteien, dann die Rechtsparteien; ich hatte zu keiner gehört. Die Männer, deren Namen man im Munde geführt hatte, deren Bücher man gelesen, deren Reden man diskutiert hatte, verschwanden: in die Emigration oder in die Konzentrationslager; hin und wieder hörte man von einem, er habe »bei der Verhaftung Selbstmord begangen« oder sei »auf der Flucht erschossen«. Irgendwann im Sommer erschien in den Zeitungen eine Liste von 30 oder 40 der bekanntesten wissenschaftlichen und literarischen Namen: Ihre Träger waren zu »Volksverrätern« erklärt, ausgebürgert, geächtet.

Fast unheimlicher war das Verschwinden einer Anzahl ganz harmloser Personen, die aber irgendwie zum täglichen Leben gehört hatten: Der Rundfunkansager, dessen Stimme man täglich gehört hatte, und an den man wie an einen guten Bekannten gewöhnt war, war in einem Konzentrationslager verschwunden, und wehe, wenn man noch seinen Namen in den Mund nahm. Die Schauspieler und Schauspielerinnen, die einen durch die Jahre begleitet hatten, verschwanden von heute auf morgen: Die charmante Carola Neher war plötzlich eine ausgebürgerte Volksverräterin; der junge strahlende Hans Otto, dessen Stern gerade im letzten Winter so glänzend aufgegangen war – in jeder Abendgesellschaft hatte man sich darüber unterhalten, ob dies nun endlich der »neue Matkowski«

sei, auf den die deutsche Bühne so lange wartete –, lag eines Tages zerschmettert im Hof einer SS–

Kaserne: Er habe sich nach seiner Verhaftung »in einem unbewachten Augenblick« aus dem Fenster des vierten Stocks gestürzt, hieß es. Der bekannteste humoristische Pressezeichner, über dessen harmlose Witze ganz Berlin jede Woche lachte, beging Selbstmord. So tat der Conferencier des bekannten Kabaretts. Andere waren einfach weg, und man wußte nicht: waren sie tot, verhaftet, ausgewandert – sie waren verschollen.

Die symbolische Bücherverbrennung im Mai war eine Zeitungsnachricht gewesen, aber wirklich und unheimlich war, daß nun die Bücher aus den Buchhandlungen und Bibliotheken verschwanden. Die lebende deutsche Literatur, so gut oder schlecht sie nun sein mochte, war wegrasiert. Die Bücher des letzten Winters, zu denen man vor April noch nicht gekommen war, würde man nicht mehr lesen.

Ein paar Autoren, die man aus irgendeinem Grunde geduldet hatte, standen einsam wie Kegelkönige im Leeren. Im übrigen gab es nur die Klassiker – und eine plötzlich wild aufschießende Blut– und Bodenliteratur von entsetzlicher und beschämender Qualität. Die Bücherfreunde – gewiß nur eine Minderheit in Deutschland, und, wie sie jetzt täglich hören durften, eine höchst unbeachtliche –

sahen sich über Nacht ihrer Welt beraubt. Und da man sehr schnell begriffen hatte, daß jeder Beraubte obendrein Gefahr lief, bestraft zu werden, fühlten sie sich gleichzeitig sehr eingeschüchtert und schoben ihre Heinrich Manns und Feuchtwangers in die zweite Reihe des Bücherschranks; und wenn sie noch wagten sich über den letzten Joseph Roth oder Wassermann zu unterhalten, steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten wie Verschwörer.

Viele Zeitungen und Zeitschriften verschwanden von den Kiosken – aber viel unheimlicher war, was mit den übrigbleibenden geschah. Man erkannte sie nicht mehr recht wieder. Man ist gewöhnt, mit einer Zeitung wie mit einem Menschen zu verkehren, nicht wahr, man hat im Gefühl, wie sie auf bestimmte Dinge reagieren, was sie sagen und wie sie es sagen wird. Sagt sie plötzlich das Gegenteil von allem, was sie gestern gesagt hat, verleugnet sie sich völlig und zeigt sie dazu ganz entstellte Züge, so entgeht man nicht einem Gefühl von Irrenhaus. Dies geschah. Altdemokratische Intelligenzblätter, wie das »Berliner Tageblatt« oder die »Vossische Zeitung« waren von heute auf morgen in Naziorgane verwandelt; mit ihren alten, besonnenen und gebildeten Stimmen sprachen sie dasselbe aus, was der »Angriff« oder der »Völkische Beobachter« herausschrien und –geiferten.

Später gewöhnte man sich daran und pickte dankbar zwischen den Zeilen des Feuilletons gelegentliche Anspielungen heraus. Das Hauptblatt verleugnete sie stets und strikt.

Nun ja, teilweise hatten die Redaktionen gewechselt. Oft aber versagte diese nahehegende Erklärung. Es gab da etwa eine Zeitschrift mit dem Titel »Die Tat« – ein Organ, dessen Haltung so anspruchsvoll war wie sein Titel. In den letzten Jahren vor 1933 war es fast allgemein gelesen worden; es wurde von einer Gruppe intelligenter und radikaler junger Leute geschrieben, schwelgte mit einer gewissen Eleganz in Weltenwende und Jahrtausendperspektive und war,

selbstverständlich, viel zu vornehm, gebildet und tief, um irgendeiner Partei anzugehören – am wenigsten den Nazis, denen seine Redakteure noch im Februar bescheinigt hatten, daß sie selbstverständlich eine ganz vorübergehende Episode seien. Nun, der Chefredakteur des Blattes hatte sich zu weit vorgewagt, er verlor seinen Posten und entging mit knapper Not dem Tode (heute darf er immerhin wieder Unterhaltungsromane schreiben); die übrige Redaktion aber blieb und war auf einmal vollkommen selbstverständlich und ohne den geringsten Verlust an Eleganz und Jahrtausendperspektive Nazi – sie war es immer gewesen, selbstverständlich, besser, eigentlicher und tiefer als die Nazis selbst. Man staunte in das Blatt hinein: Derselbe Druckspiegel, derselbe Satz, dieselbe großartige Unfehlbarkeitsgeste, dieselben Namen – und das Ganze auf einmal, ohne Wimpernzucken, ein vollblütiges, smartes Naziblatt. Bekehrung? Zynismus? Oder waren die Herren Fried, Eschmann, Wirsing usw. wirklich im Herzen immer gute Nazis gewesen? Wahrscheinlich wußten sie es selbst nicht genau. Übrigens gab man das Rätselraten bald auf. Man war angeekelt und müde, und begnügte sich, Abschied von einem Blatt mehr zu nehmen.

Schließlich waren diese Abschiede nicht die schmerzlichsten – Abschiede von all den schwer benennbaren, halb unpersönlichen Erscheinungen und Elementen, die zusammen die Atmosphäre eines Zeitalters ausmachen. Man soll sie nicht unterschätzen: Sie reichen hin, um das Leben recht düster zu machen; es ist unangenehm genug, wenn die Luft über einem Land – die allgemeine, öffentliche Luft – Wohlgeruch und Würze verliert und giftig und qualmig wird. Aber diese allgemeine Luft kann man bis zu einem gewissen Grade aussperren, man kann seine Fenster dicht zumachen, und sich in die vier Wände eines ausgesparten Privatlebens zurückziehen. Man kann sich abkapseln, sich Blumen ins Zimmer stellen, und sich auf der Straße Ohren und Nase zuhalten. Die Versuchung, so zu verfahren – viele haben es seither getan – war groß genug, auch bei mir. Gottlob gelang mir der Versuch keinen Augenblick, wenn ich ihn machte. Die Fenster schlossen nicht mehr.

Auch im privatesten Leben wartete Abschied über Abschied auf mich.

29

Immerhin: Die Versuchung der Abkapselung ist als Zeiterscheinung wichtig genug, um etwas genauer auf sie einzugehen. Sie hat ihren Anteil an dem psycho–pathologischen Prozeß, der sich seit 1933 in millionenfacher Wiederholung in Deutschland abspielt. Die meisten Deutschen befinden sich heute bekanntlich in einer Gemütsverfassung, die sich für den normalen Betrachter schlechthin als Geisteskrankheit oder mindestens als schwere Hysterie darstellt. Wenn man verstehen will, wie es dazu kommen konnte, muß man sich die Mühe machen, sich in die eigentümliche Lage zu versetzen, in der sich im Sommer 1933 die nichtnazistischen Deutschen – also immer noch die Mehrzahl unter ihnen – fanden, und die schon an sich befremdlichen und perversen Konflikte zu begreifen, in die sie sich gestellt sahen.

Die Lage der nichtnazistischen Deutschen im Sommer 1933 war gewiß eine der schwierigsten, in der sich Menschen befinden können: nämlich ein Zustand völligen und ausweglosen

Überwältigtseins, zusammen mit den Nachwirkungen des Schocks der äußersten Überrumpelung.

Die Nazis hatten uns, auf Gnade und Ungnade, in der Hand. Alle Festungen waren gefallen, jeder kollektive Widerstand war unmöglich geworden, individueller Widerstand nur noch eine Form des Selbstmordes. Wir waren verfolgt bis in die Schlupfwinkel unseres Privatlebens, auf allen Lebensgebieten herrschte Déroute, eine aufgelöste Flucht, von der man nicht wußte, wo sie enden würde. Zugleich wurde man täglich aufgefordert: nicht, sich zu ergeben, sondern: überzulaufen. Ein kleiner Pakt mit dem Teufel – und man gehörte nicht mehr zu den Gefangenen und Gejagten, sondern zu den Siegern und Verfolgern.

Das war die einfachste und gröbste Versuchung. Viele erlagen ihr. Später zeigte sich dann oft, daß sie den Kaufpreis unterschätzt hatten und daß sie dem wirklichen Nazisein nicht gewachsen waren.

Sie laufen heute zu vielen Tausenden in Deutschland herum, die Nazis mit dem schlechten Gewissen, Leute, die an ihrem Parteiabzeichen tragen wie Macbeth an seinem Königspurpur, die, mitgefangen, mitgehangen, eine Gewissenslast nach der andern schultern müssen, vergeblich noch nach Absprungsmöglichkeiten spähen, trinken und Schlafmittel nehmen, nicht mehr nachzudenken wagen, nicht mehr wissen, ob sie das Ende der Nazizeit – ihrer eigenen Zeit! – mehr herbeisehnen oder mehr fürchten sollen, und die, wenn der Tag kommt, ganz bestimmt es nicht werden gewesen sein wollen. Inzwischen aber sind sie der Albdruck der Welt, und tatsächlich ist es ganz unberechenbar, wessen diese Leute in ihrer moralischen und nervösen Zerrüttung etwa noch fähig sind, ehe sie zusammensacken. Ihre Geschichte muß noch geschrieben werden.

Aber die Situation von 1933 barg noch viele andere Versuchungen neben dieser gröbsten; jede einzelne eine Quelle des Wahnsinns und der seelischen Erkrankung für den, der ihr erlag. Der Teufel hat viele Netze: grobe für die groben Seelen, feine für die feineren.

Wer sich weigerte, Nazi zu werden, hatte eine böse Situation vor sich: völlige und aussichtslose Trostlosigkeit; wehrloses Hinnehmen täglicher Beleidigungen und Demütigungen; hilfloses Mitansehen des Unerträglichen; vollkommene Heimatlosigkeit; unqualifiziertes Leiden. Diese Situation hat wieder ihre eigenen Versuchungen: scheinbare Trost– und Erleichterungsmittel, die den Widerhaken des Teufels bergen.

Das eine, bevorzugt von Älteren, war Flucht in die Illusion: am liebsten in die Illusion der Überlegenheit. Die ihr erlagen, klammerten sich an die Züge von Dilettantismus und Anfängerhaftigkeit, die der nazistischen Staatskunst gewiß zunächst anhafteten. Sie bewiesen sich und anderen täglich, daß dies alles unmöglich lange so weitergehen könnte, sie posierten in einer Haltung amüsierten Besserwissens, sie ersparten sich die Wahrnehmung des Teuflischen, indem sie den Blick auf das Kindische hefteten; ihr völliges ohnmächtiges Ausgeliefertsein fälschten sie vor sich selber in überlegen–beobachtendes Abseitsstehen um, und sie fühlten sich völlig beruhigt und getröstet, wenn sie einen neuen Witz oder einen neuen Times–Artikel zitieren konnten. Es waren die Leute, die, zunächst in völliger ruhiger Überzeugtheit, später mit allen Anzeichen der bewußten krampfhaften Selbsttäuschung, von Monat zu Monat das unvermeidliche Ende des Regimes voraussagten. Das Schlimmste kam für sie erst, als das Regime sich sichtbar konsolidierte und als die Erfolge kamen: Hiergegen waren sie nicht gewappnet. Diese Gruppe war es, auf die, in sehr schlauer psychologischer Berechnung, das Trommelfeuer statistischer Prahlereien in den späteren Jahren losgelassen wurde; sie hat tatsächlich die Masse der späten Kapitulierer aus den Jahren 1935 bis 1938 geliefert. Nachdem ihnen ihre krampfhaft gehütete Überlegenheitsgeste unmöglich gemacht worden war, gaben diese Leute in großen Massen auf. Nachdem die Erfolge, die sie immer als unmöglich erklärt hatten, eingetreten waren, bekannten sie sich geschlagen. Zu der Einsicht, daß gerade diese Erfolge das Fürchterliche waren, hatten sie nicht die Kraft. »Aber er hat doch wirklich geschafft, was keiner geschafft hat!« »Genau das ist ja gerade das Schlimme!« »Ach, Sie sind ein alter Paradoxienjäger.« (Gespräch aus dem Jahre 1938. )

Ein paar von ihnen halten noch heute die Fahne hoch und lassen nach allen Niederlagen nicht ab, von Monat zu Monat oder wenigstens von Jahr zu Jahr den unvermeidlichen Zusammenbruch zu prophezeien. Ihre Haltung hat, das muß man zugeben, nachgerade eine gewisse Größe gewonnen, aber freilich auch eine gewisse Schrulligkeit. Das Komische ist, daß sie wahrscheinlich eines Tages, nachdem sie noch ein paar grausame Enttäuschungen durchgestanden haben, Recht behalten werden. Ich sehe sie schon nach dem Sturz der Nazis herumgehen und jedem erzählen, daß sie es gleich und immer gesagt hätten. Freilich werden sie bis dahin tragikomische Figuren geworden sein.

Es gibt eine Art, Recht zu behalten, die blamabel ist und nur dem Gegner zu unverdienter Glorie verhilft. Denken wir an Ludwig XVIII.

Die zweite Gefahr war Verbitterung – masochistische Selbstauslieferung an Haß, Leiden und schrankenlosen Pessimismus. Es ist fast die natürlichste deutsche Reaktion auf Niederlagen. Jeder Deutsche hat in bösen Stunden (seines Privatlebens – oder des nationalen Lebens) mit dieser Versuchung zu kämpfen: ganz und für immer aufzugeben, und sich und die Welt mit einer erschlafften Gleichgültigkeit, die an Bereitwilligkeit grenzt, dem Teufel anheimzustellen; trotzig und böse moralischen Selbstmord zu begehen.

»Ich fang an, müd zu sein des Sonnenlichts,

Ach, stürze gleich der Weltenbau zu nichts!«

Es sieht sehr heroisch aus: Man weist jeden Trost weit von sich – und übersieht, daß in dieser Haltung selbst der giftigste, gefährlichste und lasterhafteste Trost liegt. Die perverse Wollust der Selbstaufgabe, eine wagnerianische Todes– und Untergangsgeilheit – genau das ist die umfassendste Tröstung, die sich dem Geschlagenen anbietet, der nicht die Kraft aufbringt, seine Niederlage als seine Niederlage zu ertragen. Ich wage zu prophezeien, daß dies die Grundhaltung Deutschlands nach dem verlorenen Nazikriege sein wird – das wilde bockige Heulen eines pathologischen Kindes, das den Verlust seiner Puppe begierig mit dem Weltuntergang gleichsetzt.

(Viel davon war bereits in der deutschen Haltung nach 1918.) 1933 drang wenig davon in die, sozusagen, »öffentliche« Haltung – wie von alledem, was damals in den Seelen der geschlagenen Mehrheit vorging; denn offiziell war ja keiner geschlagen, offiziell gab es ja nur Jubel, Aufstieg,

»Befreiung«, »Erlösung«, Heil und rauschende Einigkeit, und das Leiden hatte den Mund zu halten.

Dennoch war diese typische deutsche Verliererhaltung nach 1933 sehr häufig; ich allein bin ihr in soviel individuellen Fällen begegnet, daß ich glaube, man darf die Gesamtzahl ihrer Vertreter ruhig mit Millionen ansetzen.

Es ist schwer, allgemein zu sagen, welches die realen, äußeren Konsequenzen dieser inneren Haltung sind. In manchen Fällen führt sie zum Selbstmord. Sehr viel mehr Menschen aber richten sich darauf ein, damit weiterzuleben; mit verzerrten Gesichtern sozusagen. Sie bilden, leider, die Mehrzahl unter denen, denen man in Deutschland als Vertretern einer sichtbaren »Opposition«

begegnet, und es ist daher kein Wunder, daß diese Opposition nie Ziele, Methoden, Pläne und Aussichten entwickelt hat. Die Leute, die sie in der Hauptsache verkörpern, gehen herum und

»greueln«. Das Entsetzliche, das geschieht, ist allmählich die unentbehrliche Nahrung ihres Geistes geworden; das einzige, düstere Vergnügen, das ihnen geblieben ist, ist die schwelgerische Ausmalung der Furchtbarkeiten, und es ist unmöglich, eine Unterhaltung mit ihnen zu führen, die nicht hierin besteht. Es ist nachgerade mit vielen unter ihnen dahin gekommen, daß ihnen etwas fehlen würde, wenn sie dies nicht mehr hätten, und bei manchen hat sich die pessimistische Verzweiflung geradezu in eine Art Behaglichkeit umgesetzt. Im allgemeinen freilich ist auch dies eine Art, »gefährlich zu leben«; es greift die Galle an, es führt ins Sanatorium und nicht selten zu wirklichem Wahnsinn. Und ein schmaler Seitenweg führt schließlich auch von hier aus zum Nazitum: Wenn doch schon alles egal, alles verloren, alles des Teufels ist, warum dann nicht, mit dem traurigsten und wütendsten aller Zynismen, selber sich zu den Teufeln schlagen; warum nicht, mit innerem Hohngelächter, alles mitmachen? Auch das gibt es.

Noch von einer dritten Versuchung muß ich sprechen. Es ist die, mit der ich es selber zu tun hatte, und wiederum ganz und gar nicht als Vereinzelter. Ihr Ausgangspunkt ist gerade die Erkenntnis der vorigen: Man will sich nicht durch Haß und Leiden seelisch korrumpieren, man will gutartig, friedlich, freundlich, »nett« bleiben. Wie aber Haß und Leiden vermeiden, wenn täglich, täglich das auf einen einstürmt, was Haß und Leiden verursacht? Es geht nur mit Ignorieren, Wegsehen, Wachs in die Ohren tun, Sich–Abkapseln. Und es führt zur Verhärtung aus Weichheit und schließlich wieder zu einer Form des Wahnsinns: zum Realitätsverlust.

Sprechen wir einfachheitshalber von mir, aber vergessen wir nicht, daß mein Fall wiederum durchaus mit einem sechs– oder siebenstelligen Multiplikator zu multiplizieren ist.

Ich habe kein Talent zum Haß. Ich habe immer zu wissen geglaubt, daß man schon durch ein zu tiefes Sich–Einlassen in Polemik, Streiten mit Unbelehrbaren, Haß auf das Häßliche etwas in sich selber zerstört – etwas, das wert zu erhalten, und schwer wiederherzustellen ist. Meine natürliche Geste der Ablehnung ist Abwendung, nicht Angriff.

Auch habe ich ein sehr deutliches Gefühl für die Ehre, die man einem Gegner antut, wenn man ihn des Hasses würdigt – und genau dieser Ehre schienen mir die Nazis nicht würdig. Ich scheute die Intimität mit ihnen, die schon der Haß auf sie mit sich bringt; und als die stärkste persönliche Beleidigung, die sie mir antaten, empfand ich nicht so sehr ihre zudringlichen Aufforderungen mitzumachen – die lagen außerhalb der Dinge, an die man irgendeinen Gedanken oder irgendein Gefühl wendet – als die Tatsache, daß sie mich täglich durch ihre Unübersehbarkeit zwangen, Haß und Ekel zu empfinden, wo doch Haß und Ekel mir so gar nicht »liegen«.

War nicht eine Haltung möglich, in der man zu nichts, zu gar nichts gezwungen wurde – nicht einmal zu Haß und Ekel? Gab es nicht die Möglichkeit einer souveränen, ungestörten Verachtung, eines

»Sieh hin und geh vorüber«? Und sei es auch auf Kosten des halben, meinetwegen des ganzen äußeren Lebens?

Gerade damals begegnete ich einem gefährlichen, verlockend–zweideutigen Ausspruch Stendhals.

Er schrieb ihn programmatisch nieder, nach einem Zeitereignis, das er genau so als »Sturz in den Dreck« empfand wie ich den Vorgang vom Frühjahr 1933 – nach der Restauration von 1814. Nur eins gebe es jetzt, so schrieb er, was wert sei, noch Aufmerksamkeit und Mühe darauf zu verwenden: »das Ich heilig und rein zu erhalten«. Heilig und rein! Das hieß, daß man sich nicht nur von jeder Mittäterschaft frei zu halten hatte: sondern auch von jeder Verheerung durch den Schmerz und jeder Entstellung durch den Haß – von jeder Einwirkung kurzweg, von jeder Reaktion, von jeder Berührung, selbst der, die im Zurückstoßen besteht. Abwendung – Rückzug auf das schmalste Fleckchen, wenn es sein muß, vorausgesetzt nur, daß keine Pestluft dorthin gelangt, und daß man das einzige unversehrt retten kann, auf dessen Rettung es ankommt; nämlich, um ihm seinen guten alten theologischen Namen zu geben, seine unsterbliche Seele.

Ich glaube noch heute, daß an diesem Ausgangspunkt etwas richtig ist, und ich verleugne ihn nicht.

Aber freilich, so wie ich es mir damals dachte, mit einfachem Ignorieren und Rückzug in den Elfenbeinturm, ging es nicht, und ich danke Gott dafür, daß mir der Versuch rasch und gründlich mißlang. Ich kenne andere, denen er nicht so schnell mißlang, und die die Erkenntnis, daß man mitunter seinen Seelenfrieden nur retten kann, indem man ihn opfert und preisgibt, sehr, sehr teuer haben bezahlen müssen.

Im Gegensatz zu den beiden ersten Formen von Ausweichen hat diese in den folgenden Jahren in Deutschland eine Art von öffentlichem Ausdruck gefunden, und zwar in einer heftig und vielfältig aufschießenden Idyllenliteratur. Es ist in der Welt, selbst in literarischen Kreisen, nur wenig bemerkt worden, daß in Deutschland in den Jahren 1934 bis 1938 so viele Kindheitserinnerungen, Familienromane, Landschaftsbücher, so viel Naturlyrik, so viele zarte und zärtliche Sächelchen und Spielereien geschrieben worden sind wie nie vorher. Was neben der abgestempelten nazistischen Propagandaliteratur in Deutschland noch veröffentlicht worden ist, liegt fast ausschließlich auf diesem Gebiet. Seit etwa zwei Jahren ist es freilich im Abflauen, offenbar weil die nötige Harmlosigkeit allmählich auch mit der größten Anstrengung nicht mehr aufzubringen ist. Aber vorher war es einfach unheimlich. Eine ganze Literatur voller Herdenglöckchen und Gänseblümchen, voller Große–Ferien–Kinderglück und erster Liebe und Märchenduft und Bratäpfeln und

Weihnachtsbäumen, eine Literatur von geradezu penetranter Innerlichkeit und Zeitlosigkeit, wie auf Verabredung massenhaft hergestellt inmitten von Aufmärschen, Konzentrationslagern,

Munitionsfabriken und Stürmerkästen. Wer, wie der Verfasser dieses, zufällig diese Bücher in einer gewissen Massierung zu lesen hatte, fühlte sich al mählich in aller Feinfühligkeit, Leisheit und Zärtlichkeit geradezu angeschrien von ihnen. »Merkst du nicht«, schrie es zwischen ihren Zeilen,

»merkst du nicht, wie zeitlos und innerlich wir sind? Merkst du nicht, wie nichts uns etwas anhaben kann? Merkst du nicht, wie wir nichts merken? Merk es doch, merk es doch, wir bitten dich!«

Ich habe auch einige von den Dichtern persönlich gekannt. Für jeden von ihnen, oder doch fast jeden, ist inzwischen irgendwann ein Zeitpunkt gekommen, wo es nicht mehr ging; irgendein Ereignis, das mit allem Wachs in den Ohren nicht mehr zu überhören war; eine Verhaftung im nächsten Bekanntenkreis etwa, oder Ähnliches. Keine Kindheitserinnerungen schützten mehr dagegen. Das gab dann beträchtliche Zusammenbrüche. Es sind traurige Geschichten. Die eine oder andere werde ich vielleicht noch zu ihrer Zeit erzählen.

Das waren so die Konflikte der Deutschen im Sommer 1933. Sie sahen ein bißchen so aus wie die Auswahl zwischen verschiedenen seelischen Todesarten, und jemand, der sein Leben in normalen Umständen verbracht hat, mag sich schon hier ein wenig wie in einem Irrenhaus vorkommen, oder, sagen wir, in einer psycho–pathologischen Versuchsanstalt. Aber, was hilft es: Es war so, und ich kann es nicht ändern. Es waren übrigens noch verhältnismäßig harmlose Zeiten. Es kommt noch ganz anders.

30

Mir also mißlang der Versuch, mich in einem kleinen, geschützten, privaten Bezirk abzukapseln, sehr rasch, und zwar aus dem Grunde, daß es einen solchen Bezirk nicht gab. In mein Privatleben bliesen sehr schnell von allen Seiten die Winde hinein und bliesen es auseinander. Von dem, was ich etwa meinen »Freundeskreis« hätte nennen können, war bis zum Herbst 1933 nichts mehr übrig.

Es gab da etwa eine kleine »Arbeitsgemeinschaft«, bestehend aus sechs intellektuellen jungen Leuten, alle Referendare, alle kurz vor dem Assessorexamen stehend, alle aus derselben Schicht; ich war einer von ihnen. Wir bereiteten uns zusammen auf das Examen vor, das war der äußere Anlaß, aus dem sich die Gruppe gebildet hatte; aber sie war längst darüber hinausgewachsen und bildete einen kleinen, intimen Debattierclub. Wir hatten sehr verschiedene Ansichten, aber wir wären nie darauf gekommen, uns deswegen zu hassen. Wir mochten uns alle recht gern. Auch konnte man nicht sagen, daß die Ansichten sich einfach frontal gegenüberstanden; sie bildeten eher – sehr typisch für das intellektuelle junge Deutschland von 1932 – einen Kreis, und die scheinbar entferntesten Enden berührten sich wieder.

Am meisten »links« war zum Beispiel Hessel, ein Arztsohn mit kommunistischen Sympathien, am meisten »rechts« Holz, ein Offizierssohn, der militärisch und nationalistisch dachte. Aber beide machten auch oft wieder gemeinsame Front gegen uns andere – denn beide kamen irgendwoher aus der »Jugendbewegung«, beide dachten »bündisch«, beide waren antibürgerlich und

antiindividualistisch; beiden schwebte ein Ideal von »Gemeinschaft« und »Gemeinschaftsgeist« vor, für beide waren das eigentliche rote Tuch Jazzmusik, Modejournale, »Kurfürstendamm«, kurz die Welt des leichtfertigen Geldverdienens und Geldausgebens, und beide hatten eine kleine heimliche Liebe zum Terror, die bei dem einen mehr humanitär, bei dem andern mehr nationalistisch verkleidet war. Wie ähnliche Anschauungen ähnliche Gesichter formen, hatten denn auch beide etwas leicht Steifes, Dünnlippiges und Humorloses an sich, und beide hatten übrigens die größte Achtung voreinander. Ritterlichkeit verstand sich überhaupt, so schien es, unter uns von selbst.

Zwei andere Gegner, die sich gut verstanden – und aus diesem Verständnis heraus manchmal gemeinsame Front jeder gegen seine Bundesgenossen machten – waren Brock und ich. Wir waren beide noch schwerer in der politischen Skala unterzubringen als Hessel und Holz. Brocks politische Ansichten waren revolutionär und extrem nationalistisch, während ich konservativ und extrem individualistisch empfand – aus dem Ideenvorrat der »Rechtem und der »Linken« hatten wir jeder uns genau das Gegenteil herausgepickt. Und dabei gab es doch etwas, das uns einte: Im Grunde waren wir beide Ästheten, und beide beteten wir unpolitische Götter an. Brocks Gott war das Abenteuer, und zwar das kollektive Abenteuer, Stil 1914–18 oder 1923, am liebsten beides vereint; mein Gott war der Gott Goethes und Mozarts – man verzeihe mir, daß ich im Augenblick keinen Namen für ihn nenne. Wir waren also wohl oder übel in all und jedem Gegner, aber Gegner, die sich mitunter zuzwinkerten. Wir konnten auch recht gut zusammen trinken. Was Hessel betraf, so trank er überhaupt nicht, er war grundsätzlich gegen Alkohol, und Holz trank so verzweifelt maßvoll, daß es eine Schande war.

Dann gab es zwei Vermittlernaturen, Hirsch, Sohn eines jüdischen Universitätsprofessors, und von Hagen, Sohn eines sehr hohen Ministerialbeamten. Von Hagen war der einzige unter uns, der politisch organisiert war: Er gehörte der Deutschen Demokratischen Partei und dem Reichsbanner an; das hinderte ihn aber nicht, sondern prädestinierte ihn sogar im Gegenteil dazu, nach allen Seiten zu vermitteln und für alle Ansichten Verständnis zu haben; auch war er die verkörperte gute Erziehung, geradezu ein Virtuose des Takts und der guten Manieren. Keine Diskussion in seiner Gegenwart konnte in Streit ausarten. Hirsch sekundierte ihm. Seine Spezialitäten waren sanfte Skepsis und versuchsweiser Antisemitismus. Ja, er hatte eine Schwäche für die Antisemiten und versuchte ihnen immer wieder eine Chance zu geben; ich erinnere mich eines Gesprächs zwischen uns beiden, in dem er ganz ernsthaft den antisemitischen Part übernahm und ich, damit es doch wenigstens ein Gleichgewicht gäbe, den antiteutonischen. So ritterlich ging es bei uns zu. Im übrigen taten Hirsch und von Hagen ihr möglichstes, um Holz und Hessel ein gelegentliches duldsames Lächeln abzunötigen und Brock und mir ein gelegentliches seriöses »Bekenntnis«, und um zu verhindern, daß Holz und ich, oder Hessel und Brock einander das Heiligste zerstörten (nur in diesen Kombinationen war so etwas möglich).

Ja, eine nette Gruppe hoffnungsvoller junger Leute; wer sie 1932 um einen runden Tisch rauchend und eifrig debattierend vereint gesehen hätte, hätte schwerlich geglaubt, daß ihre Angehörigen sich ein paar Jahre später schußbereit auf der Weltbarrikade gegenüberliegen würden. Denn heute, um das kurz festzustellen, sind Hirsch, Hessel und ich Emigranten, Brock und Holz sind hohe Nazifunktionäre, und von Hagen, Rechtsanwalt in Berlin, ist immerhin Mitglied des

Nationalsozialistischen Juristenbundes und des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps, vielleicht auch schon (bedauernd, aber man muß) der Partei. Man sieht freilich, daß er immer noch seiner Vermittlerrolle treu geblieben ist.

Von Anfang März ab etwa begann sich die Atmosphäre in unserer Gruppe zu vergiften. Es war plötzlich nicht mehr so leicht wie vorher, ritterlich–akademische Diskussionen über die Nazis zu führen. Es gab da eine höchst peinlich–angespannte Sitzung bei Hirsch kurz vor dem 1. April. Brock machte kein Hehl daraus, daß er das, was da im Anrollen war, mit einer gewissen angenehm erwärmten Amüsiertheit betrachtete, und er genoß die Überlegenheit, mit der er etwa feststellte, daß

»unter seinen jüdischen Freunden natürlich eine gewisse Nervosität herrschte«; die Organisation scheine einstweilen noch ziemlich miserabel, fand er übrigens, immer in demselben Ton, aber interessant sei es schon, wie so ein Massenexperiment klappe; es eröffne in jedem Fall die interessantesten Zukunftsaussichten. So etwa Brock, und es war schwer, ihm etwas zu sagen, worauf er nicht ein gewisses verwegenes Lächeln als Antwort bereit hatte. Holz wiederum meinte besonnen, es möchten zwar recht bedauerliche Einzelheiten bei so einem summarischen und improvisierten Verfahren unterlaufen, aber man dürfe doch nicht vergessen, daß die Juden usw.

usw. Unser Gastgeber Hirsch; auf diese Weise der Notwendigkeit überhoben, noch seinerseits die Partei der Antisemiten zu nehmen, saß stumm da und biß sich ein wenig die Lippen. Von Hagen wies taktvoll darauf hin, daß ja doch die Juden aber andererseits usw. Es war die schönste Unterhaltung über die Juden, und sie schleppte sich hin. Hirsch saß stumm dabei und bot gelegentlich Zigaretten herum. Hessel versuchte mit wissenschaftlichen Argumenten die Rassenlehre anzugreifen, und Holz verteidigte sie mit ebenso wissenschaftlichen Gegenargumenten, sehr pedantisch und sehr besonnen. »Schön, Hessel«, meinte er etwa, indem er langsam an seiner Zigarette sog, inhalierte, ausatmete und dem Rauch nachblickte, »in einem Menschheitsstaat, wie Sie ihn stillschweigend immer voraussetzen, mögen alle diese Probleme nicht existieren. Aber Sie werden doch zugeben müssen, daß im Rahmen der Aufrichtung eines nationalen Staatsgebildes, um die es sich im Augenblick allein handelt, die völkische Homogenität ...« Mir wurde allmählich schlecht, und ich beschloß, taktlos zu werden. »Was mir hier zur Debatte zu stehen scheint«, sagte ich, »scheint mir noch nicht einmal die Gründung eines Nationalstaats zu sein, sondern schlechtweg die persönliche Haltung jedes einzelnen von uns, nicht wahr? Darüber hinaus gibt es ja wohl augenblicklich nichts, worüber wir praktisch zu bestimmen haben. Was mich an Ihrer Haltung interessiert, Herr Holz, ist, wie Sie Ihre Ansichten mit Ihrem Aufenthalt in diesem Hause unter einen Hut bringen.« Nun war es an Hirsch, mir ins Wort zu fallen und zu betonen, er habe niemals seine Einladung an irgendeinen von uns davon abhängig gemacht, daß unsere Ansichten usw. »Gewiß,« sagte ich, ganz böse auch schon auf ihn, »es ist ja auch nicht Ihre Haltung, die ich kritisiere, sondern die unseres Herrn Holz.

Ich würde gern wissen, wie es in einem Menschen aussieht, der die Gastfreundschaft jemandes annimmt, den er grundsätzlich mit allen seinesgleichen umzubringen wünscht.« »Aber wer spricht von Umbringen!« rief Holz, und fast alle protestierten nun, außer Brock, der sagte, er für seine Person sehe hier keinen unüberbrückbaren Gegensatz. »Sie wissen vielleicht, daß Offiziere im Kriege sehr oft in Häusern zu Gast sind, die sie am nächsten Morgen in die Luft zu sprengen haben.« Holz aber bewies mir besonnen, daß man nicht von »Umbringen« reden könne, wenn die jüdischen Geschäftsleute ordentlich und diszipliniert boykottiert würden. »Wieso ist das kein Umbringen?« rief ich empört. »Wenn man jemanden systematisch ruiniert, ihm jede Verdienstmöglichkeit nimmt, muß er schließlich am Ende verhungern, nicht wahr? Jemanden absichtlich verhungern lassen, nenne ich Umbringen, Sie nicht?« »Ruhig, ruhig«, sagte Holz. »Niemand verhungert in Deutschland. Wenn die jüdischen Geschäftsinhaber wirklich ruiniert werden sollten, werden sie Wohlfahrtsunterstützung beziehen.« Das Schrecklichste war, daß er dies ganz ernsthaft sagte, ohne jeden beabsichtigten Hohn. Wir schieden in Erbitterung.

Im Laufe des April, ganz kurz ehe sie »geschlossen« wurde, traten sowohl Brock wie Holz der Partei bei. Es wäre falsch, sie als reine Konjunkturritter zu klassifizieren. Beide hatten ohne Zweifel schon immer in ihren Ansichten Berührungspunkte mit den Nazis gehabt. Immerhin hatte es bisher nicht dazu gereicht, daß sie Parteigenossen wurden. Die Werbekraft des Sieges mußte erst dazu kommen.

Es wurde von nun an schwer, die »Arbeitsgemeinschaft« aufrechtzuerhalten. Von Hagen und Hirsch hatten viel zu tun. Immerhin hielt sich die Gruppe noch etwa fünf, sechs Wochen lang. Dann, Ende Mai, gab es eine Sitzung, in der sie aufflog.

Es war unmittelbar nach dem Cöpenicker Massenmord, und Brock und Holz kamen zu unserer Zusammenkunft wie Mörder von ihrer Tat. Nicht, daß sie selbst an der Schlächterei teilgenommen hätten. Aber in ihren neuen Kreisen war sie offenbar das Tagesgespräch, man hatte sich deutlich in eine gewisse kollektive Täterschaft hineingeredet, und die beiden brachten in unsere zivilisiert–

bürgerliche Zigaretten– und Kaffeetassen–Atmosphäre einen sonderbaren roten Nebel von Blut und Todesschweiß mit.

Sie fingen gleich von der Sache zu reden an, und aus ihren plastischen Schilderungen erfuhren wir erst das Ganze. Die Zeitungen hatten nur Andeutungen gebracht.

»Recht toll gestern in Cöpenick, wie?« meinte Brock, und auf diesen Ton etwa war sein Bericht abgestimmt. Er gab Einzelheiten, schilderte, wie man die Frauen und Kinder jeweils erst ins Nebenzimmer geschickt hätte, um dann die Männer entweder mit dem aufgesetzten Revolver zu erschießen oder mit einem Knüppel über den Kopf zu schlagen oder aber auch mit den SA–Dolchen abzutun. Die meisten hätten sich erstaunlicherweise überhaupt nicht gewehrt und in ihren Nachthemden eine traurige Vorstellung abgegeben. Die Leichen hätte man in den Fluß geworfen, und noch heute würden ständig neue in der Gegend dort ans Ufer geschwemmt. Während seines ganzen Berichts stand das gewisse verwegene Lächeln auf seinem Gesicht, das in der letzten Zeit bei ihm ziemlich starr und stereotyp geworden war. Er verteidigte nicht, fand aber auch nicht allzuviel dabei. In der Hauptsache wertete er das Ereignis als eine Sensation.

Wir schüttelten die Köpfe und fanden alles sehr schauerlich, was ihn zu befriedigen schien.

»Und Sie fühlen sich nicht weiter in Ihrer neuen Parteizugehörigkeit behindert durch diese Dinge«, bemerkte ich schließlich.

Sofort nahm er Abwehrstellung ein und bekam einen unerschrockenen Mussoliniblick. »Nein, keineswegs«, erklärte er. »Haben Sie etwa Mitleid mit den Leuten? Das ist ganz unangebracht. Der Mann, der zuerst geschossen hat, vorgestern, hat selbstverständlich gewußt, daß es ihm das Leben kosten wird. Es wäre geradezu stilwidrig gewesen, ihn nicht aufzuhängen. Alle Achtung übrigens vor ihm. Was die andern betrifft – pfui Teufel. Warum haben sie sich nicht gewehrt? Es waren alles alte Sozialdemokraten und »Eiserne–Front«–Leute. Was haben sie sich ihre Nachthemden anzuziehen und sich ins Bett zu legen? Sie hätten sich wehren und anständig sterben können. Aber es ist eine schlappe Bande. Ich habe kein Mitleid mit ihnen.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich langsam, »ob ich viel Mitleid mit ihnen habe, aber was ich habe, ist ein schwer zu beschreibender Ekel vor den Leuten, die da schwerbewaffnet herumgehen und Wehrlose abschlachten.«

»Sie hätten sich wehren solleng, sagte Brock störrisch und verwegen, »dann wären sie keine Wehrlosen gewesen. Das ist ja gerade der ekelhafte marxistische Trick, sich wehrlos zu stellen, wenns ernst wird.«

Hier mischte sich Holz ein. »Ich halte das ganze für eine bedauerliche revolutionäre Ausschreitung«, sagte er, »und unter uns gesagt, ich glaube, daß der betreffende Standartenführer eins aufs Dach kriegen wird. Aber ich glaube allerdings auch, man sollte doch nicht übersehen, daß es ein Sozialdemokrat war, der zuerst geschossen hat. Es ist begreiflich, und es ist in gewissem Sinne sogar berechtigt, daß die SA in so einem Fall zu sehr, äh, energischen Repressalien greift.«

Es war sonderbar, Brock ertrug ich immer gerade noch, aber Holz wirkte neuerdings wie das rote Tuch auf mich. Ich konnte nicht anders, ich mußte ihn beleidigen.

»Es ist mir interessant, Ihre neue Theorie der Rechtfertigungsgründe zu hören«, sagte ich. »Wenn ich nicht irre, haben Sie doch auch einmal Jura studiert?«

Er blickte mich »stahlhart« an und nahm den Handschuh umständlich auf. »Jawohl, ich habe Jura studiert«, sagte er langsam, »und ich erinnere mich, während meines juristischen Studiums auch einmal etwas über Staatsnotwehr gehört zu haben. Vielleicht haben Sie das betreffende Kolleg versäumt.«

»Staatsnotwehr«, sagte ich, »interessant. Sie erachten den Staat als angegriffen und in Notwehr versetzt dadurch, daß ein paar hundert sozialdemokratische Staatsbürger sich mit Nachthemden bekleiden und in ihre Betten legen?«

»Nicht doch«, sagte er. »Sie vergessen immer wieder, daß zunächst ein Sozialdemokrat zwei SA–

Leute niedergeschossen hat –«

»– die bei ihm Hausfriedensbruch begingen –«

»– die bei ihm in Ausübung obrigkeitlicher Funktionen vorsprachen.«

»Und das gibt dem Staat ein Notwehrrecht gegen beliebige andere Bürger? Gegen mich und Sie?«

»Gegen mich nicht«, sagte er, »aber vielleicht gegen Sie.«

Er sah mich jetzt wirklich sehr stählern an, und ich hatte plötzlich ein komisches Gefühl in den Kniekehlen.

»Sie versuchen mit einer gewissen Kleinlichkeit«, sagte er, »immer wieder daran vorbeizusehen, was für ein gewaltiger Akt in der deutschen Volkwerdung sich heute vollzieht.« (Ich höre ihn noch heute

»Volkwerdung« sagen!) »Sie klammern sich an jede kleine Ausschreitung und an jede juristische Spitzfindigkeit, um daran herumzukritteln und zu mäkeln. Sie sind sich, fürchte ich, nicht ganz bewußt, daß Leute wie Sie heute eine latente Gefahr für den Staat bilden, und daß der Staat das Recht und die Pflicht hat, daraus seine Konsequenzen zu ziehen – zum mindesten dann, wenn einer von Ihnen sich soweit vorwagt, sich offen zu widersetzen.«

So sprach er, besonnen und langsam, und im Stil eines BGB–Kommentars. Dazu blickte er mir stahlhart in die Augen.

»Wenn wir in Drohungen sprechen wollen«, sagte ich, »warum dann nicht ganz offen? Beabsichtigen Sie also, mich bei der Gestapo als Staatsfeind anzuzeigen?«

Hier etwa begannen von Hagen und Hirsch zu lachen, mit einem Versuch, nun denn doch alles ins Scherzhafte zu ziehen. Aber diesmal machte ihnen Holz einen Strich durch die Rechnung. Er sagte leise und gezielt (und jetzt zum erstenmal merkte ich mit einer gewissen ganz neuen Befriedigung, wie bis aufs Blut gereizt er war):

»Ich gestehe, daß ich mir seit einiger Zeit überlege, ob das nicht meine Pflicht ist.«

»Ach«, sagte ich. Ich mußte erst einen Augenblick die vielen Geschmäcker durchkosten, die einen Augenblick alle durcheinander auf meiner Zunge entstanden: ein wenig Schreck, und ein wenig Bewunderung dafür, wie weit er ging, und ein wenig schlechter Geschmack wegen der »Pflicht«, und ein wenig Befriedigung, wie weit ich ihn gebracht hatte, und eine ganz neue, kühle Einsicht: So ist jetzt also das Leben, und dies genau ist die Art, wie es sich verändert hat – und auch ein bißchen Angst und schnelles Überschlagen, was er eigentlich wirklich alles von mir zu erzählen wußte, wenn er Ernst machte. Dann sagte ich: »Ich gestehe, daß es mir nicht für den Ernst Ihrer Absichten zu sprechen scheint, wenn Sie sich das schon seit einiger Zeit überlegen, nur mit dem Ergebnis, mir dann Ihre Überlegungen mitzuteilen.«

»Sagen Sie das nicht«, sagte er still. Es waren nun offenbar alle Trümpfe ausgespielt, und wenn wir uns noch weiter hätten steigern wollen, hätten wir zu Tätlichkeiten übergehen müssen. Das Ganze spielte sich aber im Sitzen ab, wir rauchten Zigaretten dabei, und außerdem mischten sich nun die andern ein und begütigten vorwurfsvoll nach allen Seiten.

Sonderbarerweise setzten wir nachher noch einige Stunden lang still und erbittert die politische Debatte fort. Aber die »Arbeitsgemeinschaft« war trotzdem damit aufgeflogen. Stillschweigend sahen wir von allen weiteren Zusammenkünften ab.

Hirsch verabschiedete sich im September von mir, um nach Paris zu gehen. Brock und Holz waren damals schon meinem Gesichtskreis entschwunden. Nur gerüchtweise hörte ich später noch ab und zu von ihrer Karriere. Hessel ging erst im nächsten Jahr endgültig fort, nach Amerika. Aber der Kreis war zerstoben.

Übrigens war ich noch ein paar Tage lang gespannt darauf, ob Holz nun wirklich die Gestapo gegen mich in Gang setzen würde. Allmählich merkte ich, daß er es offenbar nicht getan hatte. Eigentlich anständig von ihm!

31

Nein, es war nichts mit dem Rückzug ins Private. Wohin immer man sich zurückzog – überall fand man gerade das wieder vor, wovor man hatte fliehen wollen. Ich lernte, daß die Nazi–Revolution die alte Trennung zwischen Politik und Privatleben aufgehoben hatte, und daß es unmöglich war, sie einfach als »politisches Ereignis« zu behandeln. Sie ereignete sich nicht nur in der politischen Sphäre, sondern genau ebenso in jedem privaten Leben; sie wirkte wie ein Giftgas, das durch alle Wände dringt. Wenn man diesem Giftgas wirklich entgehen wollte, gab es nur eins: physische Entfernung; Emigration; Abschied von dem Lande, zu dem man nach Geburt, Sprache, Erziehung gehörte, und von allen patriotischen Bindungen.

In diesem Sommer 1933 schickte ich mich an, auch diesen Abschied zu nehmen. Ich war nun an Abschied im großen und kleinen bereits gewöhnt, ich hatte meine Freunde verloren, ich hatte Leute, mit denen ich harmlos verkehrte, sich in virtuelle Mörder verwandeln sehen oder in Feinde, die mich der Gestapo ausliefern wollten, ich hatte die Atmosphärilien des täglichen Lebens spurlos entweichen gefühlt, festgegründete Institutionen wie die preußische Justiz waren vor meinen Augen versunken, die Welt der Bücher und der Diskussionen hatte sich aufgelöst, Ansichten, Meinungen, Gedankengebäude hatten sich verbraucht wie nie zuvor, und die so sicheren und vernünftigen Lebenspläne und –aussichten, die mich noch vor ein paar Monaten begleitet hatten, wo waren sie?

Das Abenteuer hatte begonnen. Schon hatte sich das Grundgefühl des Lebens für mich verändert.

Nicht nur der Schmerz, auch die Narkose und der Rausch des Abschieds hatten sich eingestellt: Ich fühlte mich nicht mehr auf festem Boden stehend, sondern im leeren Raum schwebend und schwimmend, eigentümlich getragen und vogelfrei. Schon machten neue Verluste und Abschiede kaum mehr Schmerz; eher ein Gefühl von »Laß fahren dahin« oder »Wohlan, auch dies kannst du entbehren –«, und ich fühlte, wie ich zwar immer ärmer, aber auch immer leichter wurde. Dennoch war dieser Abschied – der innere Abschied vom eigenen Land – noch immer schwer, mühsam und schmerzlich. Er vollzog sich stockend und unter Rückfällen; manchmal glaubte ich, ich würde nicht die Kraft haben, ihn wirklich zu vollziehen.

Wieder erzähle ich nicht mein zufälliges Einzelerlebnis, sondern ein Erlebnis vieler Tausender, wenn ich darstelle, wie es mir damit ging.

Gewiß: Im März und April, während sich vor meinen Augen der Sturz in den Dreck abspielte, begleitet von patriotischem Jubel und »nationalem« Triumphgebrüll, hatte ich bereits in wütenden Ausbrüchen erklärt, ich wolle auswandern, mit »diesem Land« nichts mehr zu tun haben, ich wolle lieber einen Zigarettenladen in Chicago aufmachen als in Deutschland Staatssekretär werden, usw. Aber das waren Ausbrüche, und es war wenig Überlegung und wenig Realität dahinter. Etwas ganz anderes war es, jetzt, in der luftleeren, fröstelnden Kühle dieser Abschiedsmonate, die Trennung von meinem Land wirklich und im Ernst ins Auge zu fassen.

Nun war ich gewiß kein deutscher Nationalist. Der Sportclub–Nationalismus, wie er im Weltkriege geherrscht hatte und heute die Geistesnahrung der Nazis ist, die gierig–kindische Freude daran, das eigene Land auf der Landkarte als großen und immer größeren Farbklecks dargestellt zu sehen, das Triumphgefühl über »Siege«, das Vergnügen an der Demütigung und Unterwerfung anderer, das genießerische Auskosten der Furcht, die man erweckt, das bombastische nationale Eigenlob im

»Meistersinger«–Stil, das onanistische Getue um »deutsches« Denken, »deutsches« Fühlen,

»deutsche« Treue, ein »deutscher« Mann, »sei deutsch!« – das alles war mir seit langem nur widerlich und abstoßend, ich hatte nichts davon aufzuopfern. Das hinderte mich indessen nicht, ein ziemlich guter Deutscher zu sein, und ich wurde mir dessen oft genug bewußt – und sei es nur in der Scham über die Ausartungen des deutschen Nationalismus. Wie die meisten Angehörigen einer Nation, fühlte ich mich beschämt, wenn Landsleute von mir, oder gar mein Land im Ganzen, eine schlechte Figur machten; getroffen von den gelegentlichen Beleidigungen, die die Nationalisten anderer Länder zuzeiten Deutschland in Wort oder Tat zufügten; und stolz auf gelegentliches unerwartetes Lob meines Landes, und auf die schönen Züge, die die deutsche Geschichte und der deutsche Charakter hier und da aufweisen. Mit einem Wort, ich gehörte zu meinem Volk, wie man zu seiner Familie gehört: selbst mehr als andere bereit zu jeder Kritik, nicht immer auf dem freundlichsten Fuße mit allen ihren Mitgliedern, und ganz gewiß nicht gewillt, mein ganzes Leben auf sie zu stellen und »meine Familie über alles« zu rufen; aber doch schließlich zugehörig, und im Ernst diese Zugehörigkeit nicht verleugnend. Diese Zugehörigkeit aufzugeben, sich ganz abzuwenden, die Heimat als Feindesland empfinden zu lernen, war in keinem Fall eine Kleinigkeit.

Ich »liebe« Deutschland nicht, sowenig wie ich mich selbst »liebe«. Wenn ich ein Land liebe, ist es Frankreich, aber auch jedes andere Land könnte ich eher lieben als mein eigenes – auch ohne Nazis. Das eigene Land hat aber eine ganz andere, viel unersetzlichere Rolle als die des Geliebten; es ist – eben das eigene Land. Verliert man es, so verliert man fast auch die Befugnis, ein anderes Land zu lieben. Man verliert alle Voraussetzungen zu dem schönen Spiel nationaler Gastlichkeit –

zum Austausch, Einandereinladen, Einanderverstehen–Lehren, Voreinander–Paradieren. Man wird –

nun eben ein »Sans–patrie«, ein Mann ohne Schatten, ohne Hintergrund, bestenfalls ein irgendwo Geduldeter – oder, wenn man freiwillig oder unfreiwillig darauf verzichtet, der inneren Emigration die äußere hinzuzufügen, ein gänzlich Heimatloser, ein Verbannter im eigenen Land.

Diese Operation, die innere Loslösung vom eigenen Land, freiwillig zu vollziehen, ist ein Akt von biblischer Radikalität: »Wenn dich dein Auge ärgert – reiß es aus!« Sehr viele, die genau so dicht daran waren wie ich, haben sie denn auch nicht fertig gebracht, und stolpern seither seelisch und geistig bewegungsunfähig dahin, schaudernd vor den Verbrechen, die in ihrem Namen begangen werden, eher unfähig, sich von der Verantwortung dafür offen loszusagen, eingefangen in einem Netz scheinbar unlöslicher Konflikte: Müssen sie nicht ihrem Lande Opfer bringen – Opfer auch der besseren Einsicht, der Moral, der Menschenwürde und des Gewissens? Zeigt nicht das, was sie »den unerhörten Aufstieg Deutschlands« nennen, daß es lohnt und daß die Rechnung aufgeht? Sie übersehen, daß es sowenig einer Nation wie einem Menschen das Geringste nützt, daß sie die ganze Welt gewönne, wenn sie dabei Schaden an ihrer Seele nimmt; und sie übersehen genauso, daß sie ihrem Patriotismus (oder was sie dafür halten) nicht nur sich opfern – sondern auch ihr Land.

Denn – und dies war es, was den Abschied schließlich fast unvermeidlich machte – Deutschland blieb nicht Deutschland. Die deutschen Nationalisten selbst haben es zerstört. Es wurde allmählich unübersehbar, daß es nur die Oberfläche des Konflikts war, ob man sich von seinem Lande lösen müsse, um sich selbst die Treue zu halten. Der eigentliche Konflikt dahinter, freilich verdeckt unter einer Unzahl von gängigen Phrasen und Platitüden, spielte sich ab zwischen Nationalismus und –

Treue zum eigenen Land.

Das Deutschland, das für mich und meinesgleichen »unser Land« war, war schließlich nicht einfach ein Fleck auf der Landkarte Europas. Es war ein Gebilde von bestimmten, charakteristischen Zügen: Humanität gehörte dazu, Offenheit nach allen Seiten, grüblerische Gründlichkeit des Denkens, ein Niezufriedensein mit der Welt und mit sich selbst, Mut, immer wieder zu versuchen und zu verwerfen, Selbstkritik, Wahrheitsliebe, Objektivität, Ungenügsamkeit, Unbedingtheit, Vielgestaltigkeit, eine gewisse Schwerfälligkeit, aber auch eine Lust zur freiesten Improvisation, Langsamkeit und Ernst, aber ebenso ein spielerischer Reichtum des Produzierens, der immer neue Formen aus sich herauswarf und als ungültige Versuche wieder zurückzog, Respekt für alles Eigenwillige und Eigenartige, Gutmütigkeit, Großzügigkeit, Sentimentalität, Musikalität, und vor allem eine große Freiheit: etwas Schweifendes, Unbegrenztes, Maßloses, nie sich Festlegendes, nie Resignierendes. Heimlich waren wir stolz darauf, daß unser Land, geistig, ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten sei. Aber wie auch immer, dies war das Land, dem wir uns verbunden, in dem wir uns zu Hause fühlten.

Dieses Deutschland ist nun endlich von den deutschen Nationalisten zerstört und niedergetrampelt worden, und es ist endlich klar geworden, wer sein Todfeind ist: der deutsche Nationalismus und das

»Deutsche Reich«. Wer ihm treu bleiben und weiter zu ihm gehören will, muß den Mut zu dieser Erkenntnis aufbringen – und zu allen ihren Folgen.

Nationalismus, also nationale Selbstbespiegelung und Selbstanbetung, ist sicher überall eine gefährliche geistige Krankheit, fähig, die Züge einer Nation zu entstellen und häßlich zu machen, genau wie Eitelkeit und Egoismus die Züge eines Menschen entstellen und häßlich machen. Aber nirgends hat diese Krankheit einen so bösartigen und zerstörerischen Charakter wie gerade in Deutschland, und zwar, weil gerade »Deutschlands« innerstes Wesen Weite, Offenheit, Allseitigkeit, ja, in einem bestimmten Sinne, Selbstlosigkeit ist. Bei anderen Völkern bleibt Nationalismus, wenn sie davon befallen werden, eine akzidentielle Schwäche, neben der ihre eigentlichen Qualitäten erhalten bleiben können: In Deutschland aber, wie es sich trifft, tötet gerade Nationalismus den Grundwert des nationalen Charakters. Dies erklärt, warum die Deutschen – in gesundem Zustand zweifellos ein feines, empfindungsfähiges und sehr menschliches Volk – in dem Augenblick, wo sie der nationalistischen Krankheit verfallen, schlechthin unmenschlich werden und eine bestialische Häßlichkeit entwickeln, deren kein anderes Volk fähig ist: Sie, und gerade und nur sie, verlieren durch Nationalismus alles, den Kern ihres menschlichen Wesens, ihrer Existenz, ihres Selbst. Diese Krankheit, die bei anderen nur die äußere Haltung beschädigt, zerfrißt bei ihnen die Seele. Ein nationalistischer Franzose kann unter Umständen immer noch ein sehr typischer (und sonst sehr liebenswürdiger) Franzose bleiben. Ein Deutscher, der dem Nationalismus verfällt, bleibt kein Deutscher mehr; er bleibt kaum noch ein Mensch. Und was er zustande bringt, ist ein deutsches, vielleicht sogar ein großdeutsches oder alldeutsches Reich – und die Zerstörung Deutschlands.

Freilich darf man es sich nicht so vorstellen, als hätte Deutschland und seine Kultur 1932 blühend und prächtig dagestanden, und die Nazis hätten es mit einem Schlage über den Haufen geworfen.

Die Geschichte der Selbstzerstörung Deutschlands durch seinen krankhaften Nationalismus reicht weiter zurück, und es wäre der Mühe wert, sie zu schreiben. Ihr großes Paradox ist, daß jeder Akt dieser Selbstzerstörung in einem siegreichen Krieg, einem äußeren Triumph bestand. Vor 150

Jahren war »Deutschland« groß im Aufsteigen; die »Freiheitskriege« von 1813 bis 1815 brachten den ersten großen Rückschlag, die Kriege von 1864 bis 1870 den zweiten. Nietzsche war der erste, der prophetisch erkannte, daß damals die deutsche Kultur ihren Krieg gegen das deutsche »Reich«

verloren hatte. Damals bereits verlor Deutschland für lange Zeit jede Chance, seine politische Form zu finden; in dem preußisch–deutschen Reich Bismarcks bereits steckte es wie in einer Zwangsjacke. Es hatte seither auch keine politische Vertretung mehr (es sei denn in seinem katholischen Sektor): Die nationalistische Rechte haßte es, die marxistische Linke ignorierte es. Aber immer noch blieb es am Leben, still und zäh: bis 1933. Man fand es noch, in Tausenden von Häusern, Familien, Privatzirkeln, in manchen Redaktionsstuben, Theatern, Konzerthäusern, Verlagen, an verstreuten Stellen des öffentlichen Lebens von Kirchen bis zu Kabaretts. Die Nazis erst, als die radikalen und guten Organisatoren, die sie sind, haben es überall aufgestöbert und ausgeräuchert. Nicht erst Österreich und die Tschechoslowakei: Deutschland war ihr erstes besetztes Gebiet. Daß sie es unter der Parole »Deutschland« besetzten und zertrampelten, war nur einer ihrer nachgerade bekannten Tricks – und freilich zugleich ein Teil des Zerstörungswerks selbst.

Dem Deutschen, der sich diesem Deutschland verbunden fühlte – und nicht jedem Gebilde, daß sich auf einem bestimmten geographischen Raum jeweils gerade breitmachen würde – blieb wiederum nichts als Abschied: so erschreckend dieser Abschied aussah, der ihn äußerlich sein Land kosten mußte. Freilich macht gerade die Weite und allseitige Aufgeschlossenheit, die im ursprünglich deutschen Charakter liegt, diesen Verlust vielleicht ein wenig leichter, als er für andere wäre. Jede Fremde, das fühlte man allmählich immer unausweichlicher, würde heimatlicher sein als das »Reich«

Adolf Hitlers. Und würde sich nicht – so fragte man manchmal mit leiser Hoffnung – »draußen«

vielleicht hier und da sogar wieder ein Stück Deutschland bilden?

32

Ja, man setzte damals in Deutschland ein wenig vage Hoffnungen auf die Emigration. Sie hatten nicht allzuviel Fundierung; aber da es im Reich so offenbar gar nichts mehr zu hoffen gab, und da es schwer ist, ohne Hoffnung zu leben, so hoffte man eben auf das Draußen.

Die eine Hoffnung – eine »Hoffnung« freilich, die noch vor wenigen Monaten allgemein eine Furcht gewesen wäre, und von der noch jetzt viele nicht wußten ob sie sie Hoffnung oder Furcht nennen sollten – galt »dem Ausland« schlechthin: »das Ausland«, das heißt in Deutschland Frankreich und England. Konnten Frankreich und England dem, was jetzt in Deutschland geschah, lange zusehen?

Mußte nicht die humanitäre Linke in beiden Ländern mit Entsetzen die Aufrichtung einer barbarischen Tyrannis in ihrer Nachbarschaft sehen – und die nationalistische Rechte mit Besorgnis das Aufschießen einer Kriegsgesinnung, die sich nicht einmal versteckte, und die vom ersten Tage an kaum verhüllte Aufrüstung? Mußten nicht diese Länder, ganz gleich ob Links oder Rechts in ihnen regierte, eines sehr nahen Tages die Geduld verlieren und ihre damals noch unvergleichlich überlegenen Machtmittel einsetzen, um den Spuk in einer Woche zu beenden? Wenn die

Staatsmänner dort nicht geradezu mit Blindheit geschlagen waren, war etwas anderes eigentlich gar nicht möglich. Man konnte doch beim besten Willen nicht erwarten, daß sie geduldig zusehen würden, wie hier ganz offen ein Messer für ihre Länder geschliffen wurde – und sich durch ein paar

»Friedensreden« beruhigen lassen, von denen jedes Schulkind in Deutschland wußte, wie sie gemeint waren.

Inzwischen aber mochte dort in Frankreich und England eine deutsche intellektuelle politische Emigration, von vernünftigen Staatsmännern bewußt gepflegt und begünstigt, die Kader für die Organisation einer wirklich effektiven deutschen Republik bilden, die aus den Fehlern der ersten gelernt hätte. Vielleicht würde dann alles nachträglich wie ein Spuk aussehen, wie ein reinigendes Gewitter, wie das rasche und entschiedene Aufschneiden eines Geschwürs. Man würde noch einmal, ein bißchen klüger, mit ein bißchen weniger Vorausbelastungen, dort beginnen können, wo man 1919 – nicht begonnen hatte.

Dies waren so die Hoffnungen. Man hatte freilich wenig Anhaltspunkte für sie, außer etwa, daß es wünschenswert und vernünftig so gewesen wäre. Diese Hoffnungen – und dazu das allmählich in mir überhandnehmende Gefühl, daß ohnehin jetzt alles unberechenbar geworden sei und daß es nichts gäbe als das Vertrauen auf den Augenblick – ersetzten bei mir zugleich alle überlegten Pläne für eine wirkliche Auswanderung. Ich würde eben, so dachte ich mir, einfach wegfahren – wohin? Nach Paris selbstverständlich! –, mir eine Weile, solange es noch ging, 200 Mark monatlich nachschicken lassen, und im übrigen sehen. Es würden sich schon Aufgaben für mich finden. War etwa Mangel an Aufgaben?

In der Naivität dieses Plans drückte sich zugleich etwas von meiner persönlichen Lebenssituation aus: der Situation eines jungen Menschen, der bisher als Haussohn gelebt hatte und ohnehin fällig war, nun endlich einmal »in die Welt« zu gehen. Daß dies »In die Welt gehen« in diesem Falle gleichbedeutend war mit einem Weg ins Exil und daß es ein Abenteuer mit lauter Unbekannten war, focht mich verhältnismäßig wenig an. Eine gewisse betäubte Verzweiflung (»Schlimmer kann es nicht werden«) und eine gewisse jugendliche Abenteuerlust wirkten sehr seltsam zusammen, um mir meinen Entschluß leicht zu machen; nicht zu vergessen den Umstand, daß ich, wie alle Deutschen meiner Generation, von meinen zeitgeschichtlichen Erfahrungen her die Unsicherheit und Unberechenbarkeit aller Dinge tief im Gefühl hatte. Der Vorsichtige, so empfinden wir alle, riskiert in Wahrheit genau so viel wie der Kühne; er verzichtet nur obendrein auf den Rausch der Kühnheit.

Übrigens habe ich in der Tat bis heute nichts erlebt, was diesen Satz nicht bestätigt hätte.

Und so erklärte ich also eines Tages, als meine Ausbildungszeit am Kammergericht beendet war, meinem Vater, ich wolle nun »fortgehen«; ich sähe nicht, was ich hier noch solle; insbesondere schiene es mir unmöglich und sinnlos, unter den jetzigen Umständen ein deutscher Richter oder Verwaltungsbeamter zu werden. Ich wolle hinaus, nach Paris einstweilen. Und er möge mir seinen Segen dazu geben, und, so lange es ginge, 200 Mark im Monat.

Es war fast überraschend, wie schwachen Widerstand mein Vater leistete. Im März hatte er pathetische Vorschläge ähnlicher Art noch mit dem Lächeln der stillsten Überlegenheit zu den Akten gelegt. Inzwischen war er sehr alt geworden. Er schlief nachts nicht. Das Trommeln und Alarmblasen von einer nahen SS–Kaserne hielt ihn wach, aber noch mehr vielleicht die Gedanken.

Das Verschwinden und Versinken alles dessen, wofür und womit er gelebt hat, ist für einen alten Mann schwerer zu ertragen als für einen jungen. Für mich war ein Abschied, auch der radikalste, noch zugleich ein neuer Start; für ihn hatte der Abschied Endgültigkeit. Sein beherrschendes Gefühl wurde: Ich habe umsonst gelebt. Es gab da gewisse Gesetzgebungswerke auf seinem

Verwaltungsgebiet, an denen er mitgearbeitet hatte, gewichtige, kühn–besonnene geistige Leistungen, die Frucht einiger Jahrzehnte Erfahrung und einiger Jahre inständigen, fast künstlerischen Abwägens und Ausfeilens. Sie waren mit einem Federstrich außer Kraft gesetzt worden; es war nicht einmal ein großes Ereignis gewesen. Aber nicht nur das: Die Basis, auf der so etwas gebaut oder ersetzt werden konnte, war weggeschwemmt; die ganze rechtsstaatliche Tradition, an der Generationen von Leuten, wie mein Vater einer war, gebaut und gearbeitet hatten und die endgültig gefestigt und unzerstörbar geschienen hatte, war über Nacht dahin. Es war nicht nur Niederlage, womit das Leben meines Vaters – ein strenges, gezügeltes, unablässig bemühtes, im ganzen höchst erfolgreiches Leben – abschloß: Es war Katastrophe. Was er triumphieren sah, waren nicht seine Gegner – das hätte er mit Weisheit hingenommen –, sondern Barbaren, die nie auch nur als Gegner in Frage gekommen waren. Ich sah meinen Vater damals mitunter lange an seinem Schreibtisch sitzen und, ohne die Blätter, die vor ihm lagen, zu berühren, starr in die Luft blicken, mit einem leeren, trostlosen Blick, als blickte er über eine weite Fläche voller Zerstörung hinweg.

»Und was denkst du draußen zu tun?« fragte er. Es steckte noch seine alte Skepsis in der Frage und sein alter Juristenblick auf den wesentlichen Punkt, aber sie klang so müde, daß ich am Ton schon merkte, es war nur der Form halber gefragt und er würde fast jede Antwort hinnehmen.

Ich sagte irgend etwas und faßte meine Planlosigkeit in so gutklingende Worte wie ich konnte.

»Na«, sagte er, und mit einem kleinen, traurig–verständnisvollen Lächeln: »So sehr vielversprechend klingt das eigentlich nicht, wie?«

»Ja«, sagte ich, »aber was soll ich mir hier versprechen?«

»Ich fürchte nur«, sagte er, und er begann sich nun doch ein wenig zu erwärmen und fester Stellung zu nehmen, als er zuerst vielleicht vorgehabt hatte, »daß du dir Illusionen machst. Sie haben dort draußen nicht auf uns gewartet. Emigranten sind für jedes Land eine Last, und es ist nicht angenehm zu fühlen, daß man lästig ist. Es ist ein großer Unterschied, ob man in ein Land kommt wie eine Art Botschafter, einer, der etwas zu tun und zu bringen hat, oder als ein Geschlagener, der Unterschlupf sucht. Ein großer Unterschied.«

»Haben wir nicht etwas zu bringen?« sagte ich. »Wenn wirklich die ganze deutsche Intelligenz, die Literatur, die Wissenschaft auswanderte – welches Land könnte sich nicht dazu gratulieren, das alles so einfach geschenkt zu bekommen?«

Er hob einen Arm hoch und ließ ihn müde wieder sinken. »Konkursmasse«, sagte er. »Man fällt im Kurse, wenn man flieht. Sie dir die Russen an. Das war auch eine Elite, was da auswanderte. Jetzt sind die Heerführer und Staatsräte und Schriftsteller froh, wenn man sie hier oder in Paris Kellner oder Chauffeure spielen läßt.«

»Vielleicht sind sie lieber jetzt Kellner in Paris als Staatsräte in Moskau«, sagte ich.

»Vielleicht«, sagte mein Vater. »Vielleicht auch nicht. So etwas sagt sich sehr schön, vorher. Nachher und in Wirklichkeit sieht es oft anders aus. Hunger und Elend sind immer halb so schlimm, solange man satt zu essen hat.«

»Und soll ich aus Angst vor Hunger und Elend jetzt hier Nazi werden?« sagte ich.

»Nein«, sagte er, »das sollst du nicht. Das sollst du gewiß nicht.«

»Und glaubst du, ich könnte hier auch nur Amtsgerichtsrat werden, ohne Nazi zu werden?«

»Amtsgerichtsrat wohl nicht«, sagte mein Vater. »Wenigstens einstweilen nicht. Was die Zukunft bringt – wer will das sagen. Aber ich dächte, du könntest vielleicht noch Rechtsanwalt werden. Und fängst du nicht gerade an, mit Schreiberei Geld zu verdienen?«

Das stimmte. Eine Zeitung, ein großes und angesehenes Blatt, in dem ich hier und da kleine Sachen veröffentlicht hatte, hatte mir geschrieben, mich eingeladen, von sich aus eine engere Verbindung vorgeschlagen – es gab damals in den ehemals demokratischen großen Blättern eine seltsame kleine Zwischenkonjunktur für junge Leute, die keine Nazis, aber auch mit keiner »linken«

Vergangenheit belastet, arisch und möglichst unbeschriebene Blätter waren. Ich hatte nicht widerstanden. Ich war hingegangen und hatte zu meiner erstaunten Freude eine Redaktion gefunden, die ganz und gar nicht Nazi war, die genau so dachte und fühlte wie ich. Es war eine Wonne, in den Redaktionsstuben zu sitzen, Informationen zu tauschen und zu lästern; es war ein angenehmes Gefühl, Artikel zu diktieren und zu sehen, wie sie nach hinten gereicht wurden, zum Botenstand, um in die Setzerei zu gehen. Man fühlte sich manchmal fast wie in einem Verschwörernest. Und seltsam und beunruhigend war nur, daß das Blatt doch am nächsten Morgen, wenn es herauskam, trotz aller anspielungsgespickten Artikelchen, die man geschrieben hatte und die in der Redaktion so berauscht belacht worden waren, ganz wie ein verständig–überzeugtes Naziblatt wirkte.

»Ich glaube, gerade für die Zeitung werde ich zunächst vielleicht von draußen arbeiten können«, sagte ich.

»Das läßt sich hören«, sagte mein Vater. »Hast du schon mit deinen Redakteuren darüber gesprochen?«

Ich mußte verneinen.

»Ich denke«, sagte mein Vater, »wir lassen die Sache heute ruhen und überlegen es uns beide noch ein paar Tage. Du mußt übrigens nicht glauben, daß es für Mama und mich leicht wäre, dich gehen zu lassen – und so ganz ins Ungewisse noch dazu. Übrigens würde ich in jedem Fall erwarten, daß du erst noch dein Examen machst. Schon aus Ordnungssinn.«

Und hierauf freilich bestand er. Nach einigen Tagen legte er selbst mir einen Plan vor.

»Du wirst jetzt ordentlich dein Assessor–Examen machen, wie es vorgesehen ist. Es geht nicht, daß du nach zwanzig Jahren Ausbildung einfach davonläufst und alles liegen läßt, gerade vor dem Abschluß. Das sind etwa fünf Monate. Wenn du danach die Dinge noch ebenso siehst, habe ich mir überlegt, daß du ja sowieso noch ein halbes Jahr gut hast, um deinen Doktor zu machen. Deine Doktorarbeit kannst du schließlich so gut in Paris wie hier schreiben. Du kannst dir also Urlaub nehmen, und ein halbes Jahr irgendwo hinfahren, sagen wir also nach Paris meinetwegen, und an deiner Doktorarbeit arbeiten und dich bei dieser Gelegenheit umsehen. Wenn du dann siehst, daß du fort Fuß fassen kannst, gut. Wenn nicht, ist hier nichts für dich verbaut und du kannst immer noch zurück. Das wird etwa in einem Jahr sein, und wer will überhaupt heute sagen, was in einem Jahr sein wird.«

Bei diesem Plan blieb es, nach einigem Hin und Her. Ich fand es zwar sehr überflüssig, noch mein Assessorexamen zu machen, sah aber ein, daß ich es meinem Vater sozusagen schuldig war. Meine einzige Angst war, daß, noch während ich hier sei, in den nächsten fünf Monaten der Krieg stattfinden könnte, der unvermeidliche Präventivkrieg der Westmächte gegen Hitler, und daß ich gezwungen sein würde, ihn auf der falschen Seite mitzumachen.

»Auf der falschen Seite?« sagte mein Vater. »Glaubst du vielleicht, die französische Seite sei die richtige für dich?«

»Ja«, sagte ich entschlossen, »das glaube ich in diesem Fall. Wie die Dinge jetzt liegen, kann Deutschland nur vom Ausland aus befreit werden.«

»Ach Gott«, sagte mein Vater bitter, »vom Ausland aus befreit werden! Das glaubst du wahrscheinlich selber nicht im Ernst. Übrigens kann niemand gegen seinen Willen befreit werden. So etwas gibt es nicht. Wenn die Deutschen die Freiheit haben wollten, müßten sie sich schon selbst darum bemühen.«

»Aber siehst du denn irgendeinen Weg dazu, so gefesselt wie wir hier sind?«

»Nein.«

»Also bleibt doch nur –«

»Das ›also‹ ist unlogisch«, sagte mein Vater. »Weil ein Weg versperrt ist, ist noch nicht gesagt, daß es einen andern gibt. Wir sollten uns nicht mit Illusionen zu trösten versuchen. Deutschland hat es nach 1918 mit Illusionen versucht, und das Ergebnis sind die Nazis. Wenn die deutschen Liberalen sich heute wieder in Illusionen flüchten, wird das Ergebnis die Fremdherrschaft sein.«

»Vielleicht wäre sie besser als die Naziherrschaft.«

»Ich weiß es nicht«, sagte mein Vater. »Das entferntere Übel sieht immer kleiner aus als das gegenwärtige. Es braucht darum nicht kleiner zu sein. Ich für meine Person würde doch meine Hand nicht rühren mögen, um die Fremdherrschaft herbeizuführen.«

»Aber dann siehst du gar kein Ziel und keine Hoffnung?«

»Kaum«, sagte mein Vater. »Einstweilen kaum.«

Und in seine Augen trat wieder jener Ausdruck von Leere und starrer gefußter Trostlosigkeit, als sähe er über weite Flächen voll Zerstörung hin.

Öfters bekam mein Vater Besuch von Beamten seiner ehemaligen Behörde. Er war seit mehreren Jahren pensioniert, aber noch bestanden die persönlichen Beziehungen, und mein Vater hatte es genossen, noch immer gelegentlich zu hören, wie diese oder jene Angelegenheit sich

weiterentwickelt hatte, die Karriere dieses oder jenen Assessors oder jungen Regierungsrats zu verfolgen, noch teilzunehmen und unformell den einen oder andern Rat oder Tip zu geben. Auch jetzt kamen diese Besucher noch, aber die Unterhaltungen waren einförmig und trübe geworden. Mein Vater fragte etwa nach diesem und jenem Beamten, er nannte die Namen, und sein Besucher antwortete lakonisch: »§ 4«, oder »§ 6«.

Das waren Paragraphen eines Gesetzes, das kürzlich herausgekommen war; es nannte sich »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, und seine einzelnen Vorschriften besagten, daß Beamte in untergeordnete Stellen versetzt werden konnten, zwangspensioniert, mit einem Übergangsgeld entlassen oder auch ohne Gehalt in Pension ausgestoßen werden. Jeder Paragraph enthielt ein Schicksal. »§ 4« war ein zerschmetternder Schlag. »§ 6« war Deklassierung und Demütigung. In allen Beamtenkreisen beherrschten diese Ziffern damals die Gespräche.

Eines Tages kam der Präsident der Behörde. Er war ein viel jüngerer Mann als mein Vater, und die beiden hatten manchen amtlichen Zusammenstoß gehabt. Der Präsident war ein Sozialdemokrat gewesen; mein Vater hatte viel weiter »rechts« gestanden, und mehr als einmal waren die Gegensätze aufeinandergeprallt, wobei es die Dinge nicht leichter gemacht hatte, daß der Jüngere die höhere Machtstellung hatte. Dennoch hatten die beiden Männer sich geachtet, und die gesellschaftliche Beziehung war nie ganz abgerissen.

Diesmal war der Besuch quälend. Der Präsident, ein Mann zwischen vierzig und fünfzig Jahren, sah so alt aus wie mein siebzigjähriger Vater. Er war völlig weiß geworden. Mein Vater erzählte nachher, daß er oft im Gespräch den Faden verloren hatte, nicht geantwortet und abwesend vor sich niedergeblickt hatte, um dann zusammenhanglos zu sagen: »Es ist grauenvoll, Herr Kollege. Es ist einfach grauenvoll.« Er kam, um sich zu verabschieden. Er verließ Berlin, um »sich irgendwo auf dem Lande zu verkriechen.« Er kam aus dem Konzentrationslager.

Im übrigen war er »§ 4«.

Mein Vater selbst, wie gesagt, war lange pensioniert, er besaß keine Amtsmacht mehr, und er hätte, selbst wenn er gewollt hätte, den Nazis durch seine Amtsführung nicht mehr schaden können. So schien es, als stände er außerhalb der Feuerlinie. Aber eines Tages kam auch zu ihm ein amtliches Schreiben, und darin lag ein ausführlicher Fragebogen. »Laut § x des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums werden Sie ersucht, die untenstehenden Fragen ausführlich und

wahrheitsgemäß zu beantworten ... Nichtbeantwortung oder unzutreffende Beantwortung zieht gemäß § y Verlust des Ruhegehalts nach sich ...«

Es waren eine Menge Fragen. Mein Vater hatte anzugeben, welchen politischen Parteien, welchen Verbänden und Organisationen er in seinem Leben angehört hatte, er hatte seine nationalen Verdienste darzulegen, dies zu erklären und jenes zu entschuldigen, und zum Schluß,

vorgedrucktermaßen, zu versichern, daß er »rückhaltlos hinter der Regierung der nationalen Erhebung stehe«. Kurz und gut, nachdem er 45 Jahre lang dem Staat gedient hatte, hatte er nun, um seine verdiente Pension wiederzuerhalten, sich noch einmal dafür zu demütigen.

Mein Vater blickte lange auf den Fragebogen und schwieg.

Am nächsten Tag sah ich ihn an seinem Schreibtisch sitzen, den Fragebogen vor sich; er starrte darüber hinweg.

»Wirst du ihn beantworten?« fragte ich.

Mein Vater blickte auf den Fragebogen, schnitt eine Grimasse und schwieg lange. Dann sagte er: »Du meinst, ich sollte es nicht tun?«

Schweigen.

»Ich weiß nicht recht, wovon du und deine Mutter leben sollten«, sagte mein Vater dann.

»Ich weiß es wirklich nicht«, wiederholte er nach einer Weile. »Ich weiß nicht einmal«, und er versuchte zu lächeln, »wovon du nach Paris fahren willst und deine Doktorarbeit verfassen.«

Ich schwieg beklommen. Dann schob mein Vater den Fragebogen auf die Seite, aber er legte ihn nicht fort.

Der Bogen lag noch mehrere Tage auf dem Schreibtisch, unausgefüllt. Eines Nachmittags aber sah ich meinen Vater, als ich in sein Zimmer kam, am Schreibtisch sitzen und mit langsamer Schrift, wie ein Schüler, der einen Schulaufsatz schreibt, den Bogen ausfüllen. Eine halbe Stunde später ging er selbst fort und trug den Brief in den Briefkasten, ehe er sich eines anderen besinnen konnte. Er zeigte keine äußere Veränderung, er sprach nicht erregter als sonst, aber es war dennoch zuviel für ihn gewesen. Bei Leuten, die sich nicht in ihren Gesten und Worten sehr zu beherrschen gewöhnt sind, übernimmt meist irgendein körperliches Organ die Belastung der Seele, wenn sie zu stark wird, und reproduziert sie als Krankheit. Manche bekommen Herzattacken in solchen Fällen. Bei meinem Vater war das Ausdrucksorgan der Magen. Mein Vater hatte sich kaum wieder an seinen

Schreibtisch gesetzt, als er aufsprang und sich krampfhaft zu übergeben begann. Zwei oder drei Tage lang gelang es ihm nicht, etwas zu sich zu nehmen oder bei sich zu behalten. Es war er Anfang eines Hungerstreiks seiner Physis, an dem er zwei Jahre später elend und schrecklich starb.

33

Je länger dieser Sommer 1933 dauerte, umso unwirklicher wurde alles. Die Dinge verloren mehr und mehr ihr volles Gewicht, verwandelten sich in skurrile Träume, ich lebte allmählich wie unter der angenehmen, erschlaffenden und jeder Verantwortung enthebenden Betäubung von ein paar Fiebergraden.

Jetzt also meldete ich mich zum Assessorexamen, dem großen Abschlußexamen eines deutschen Juristen, das die Berechtigung zum Richteramt, zur höheren Verwaltungskarriere, zur Anwaltschaft usw. gibt. Ich tat es ohne jede Absicht, von diesen Berechtigungen je Gebrauch zu machen. Nichts war mir gleichgültiger als die Frage, ob ich das Examen bestand oder nicht. Ein Examen ist doch normalerweise eine etwas aufregende und anspannende Angelegenheit, nicht wahr?, man spricht sogar von Examensfieber. Ich spürte nichts davon. Das Fieber war völlig paralysiert von einem größeren anderen Fieber.

Ich saß im »Rechtsarchiv«, einer Bibliothek im Dachgeschoß eines großen Bürohauses, in luftigen Atelierräumen mit Glaswänden, gerade unter dem blauen windigen Sommerhimmel, und schrieb meine Examensarbeiten, leichtfertig und unbekümmert wie man einen Brief schreibt. Es war schlechthin nicht mehr möglich, sie ernstzunehmen. Sie setzten, mit ihren Aufgaben und Fragestellungen, eine Welt voraus, die es gar nicht mehr gab. Nicht nur das BGB, sogar die Weimarer Reichsverfassung spielte in einer von ihnen noch eine Rolle; ich las in den obsolet gewordenen, gestern noch vielgenannten Kommentaren zu ihren begrabenen Artikeln, und statt mir die Sätze herauszupicken, auf die es für meine Arbeit ankam, geriet ich erst ins Lesen und dann ins Träumen.

Von unten tönte quäkige Marschmusik. Wenn man sich aus dem Fenster beugte, sah man

braungekleidete Heersäulen sich durch die Straße wälzen, unterbrochen von Hakenkreuzfahnen; und wo die Fahnen jeweils vorbeikamen, hoben die Leute auf den Bürgersteigen rechts und links die Arme hoch (wir hatten gelernt, daß, wer es nicht tat, verprügelt wurde). Was war nun wieder los? Ach so, sie marschierten zum Lustgarten, Ley war vom Genfer Internationalen Arbeitsamt abgereist, weil er sich über irgend etwas geärgert hatte, und nun zog Berlins SA zum Lustgarten, um dort mit Gesang und Geheule den Drachen endgültig zu erlegen.

Täglich sah man marschieren und hörte man singen, und man mußte sehr auf seiner Hut sein, daß man jeweils rechtzeitig in einem Hausflur verschwand, wenn man das Fahnengrüßen vermeiden wollte. Wir lebten in einer Art Kriegszustand, einem komischen Krieg freilich, in dem alle Siege durch Gesang und Marschieren errungen wurden. Die SA, SS, Hitlerjugend, Arbeitsfront oder was auch immer, marschierte durch die Straßen, sang »Siehst du im Osten das Morgenrot?« oder »Märkische Heide«, »trat« irgendwo »an«, hörte eine Rede, rief vieltausendstimmig grollend »Heil«, und wieder war ein Feind erschlagen. Für eine bestimmte Art von Deutschen war das einfach das Paradies, und es herrschte die entschiedenste August–1914–Stimmung unter ihnen. Alte Damen mit

Einkaufstaschen sah ich stehen und mit leuchtenden Augen so einem marschierenden und markig singenden braunen Heerwurm nachblicken. »Man sieht doch, man sieht es doch geradezu, nicht wahr?«, sagten sie, »wie es wieder aufwärts geht auf allen Gebieten.«

Manchmal wurden auch bestimmtere Siege erfochten. Eines Morgens wurde die »Künstlersiedlung«

in Wilmersdorf, wo viele linke Literaten gewohnt hatten und einige noch wohnten, von starken Polizeikräften umzingelt und besetzt. Sieg! Reiche Kriegsbeute wurde gemacht, Dutzende feindlicher Fahnen fielen in die Hände unserer Truppen, kiloweise wurde staatsfeindliche Literatur, von Karl Marx bis Heinrich Mann, auf die Wagen geladen, und auch die Gefangenenzahlen konnten sich sehen lassen. Tatsächlich war dies der Stil, in dem die Zeitungen über das Ereignis berichteten; es war so etwas wie die Schlacht bei Tannenberg. Oder eines anderen Tages wurden »schlagartig« um 12 Uhr mittags alle Züge und Autos im Reich angehalten und durchsucht. Sieg! Was man da alles zu Tage förderte! Von Juwelen und Devisen bis zu »Propagandamaterial staatsfeindlicher Kuriere«I. Es lohnte geradezu eine »spontane Großkundgebung« im Lustgarten.

Ende Juni meldeten die Zeitungen übereinstimmend, in großen Schlagzeilen: »Feindliche Flugzeuge über Berlin!« Niemand glaubte es, nicht einmal die Nazis, aber niemand wunderte sich auch so recht mehr darüber. Dies war eben der Stil geworden. Eine spontane Großkundgebung folgte:

»Deutschland braucht Luftfreiheit.« Märsche und Fahnen, Horst–Wessel–Lied, Heil. Um dieselbe Zeit etwa setzte der Kultusminister die Kirchenverwaltung ab, ernannte den nazistischen Militärpfarrer Müller zum »Reichsbischof«, und in einer »Großkundgebung« im Sportpalast wurde der Sieg des neuen, »deutschen« Christentums gefeiert, mit Adolf Hitler als deutschem Heiland, Fahnen, Horst–

Wessel–Lied und »Heil«. Zum Schluß aber wurde diesmal, offenbar zu Ehren der bestatteten Institution oder aus irgendwelchen anderen feinen Geschmacksgründen, gesungen: »Ein feste Burg ist unser Gott.« Dann gab es »Kirchenwahlen«. Die Nazis kommandierten ihre ganze Armee von Namenschristen an die Urne, und am nächsten Tage meldeten die Zeitungen Siege. Überwältigender Wahlsieg der Deutschen Christen! Am Abend, als ich durch die Stadt fuhr, wehten von allen Kirchtürmen Hakenkreuzfahnen.

Von dem Ernst des Widerstandes, den die Nazis hier treffen sollten, merkte man damals, im ersten Augenblick, in außerkirchlichen Kreisen nichts. Ich hatte nicht ohne seltsame Gefühle mich zum ersten Mal an einer kirchlichen Verwaltungshandlung beteiligt und einen Zettel in die Urne gelegt, auf dem die feierlichen Worte »Bekennende Kirche« standen. Ich fühlte mich nicht sehr als Bekenner. Ich hatte die Kirche all die Jahre lang »geehrt – doch ohn Verlangen«. Freilich war ich sehr entschieden dafür, daß sie geehrt würde, auch ohne Verlangen, und ich war angeekelt von dem blasphemisch–maskenballhaften Treiben der »Deutschen Christen« – im übrigen tief und im voraus durchdrungen von der Aussichtslosigkeit irgendwelchen Widerstandes gerade hier. Um des Anstandes willen, so etwa dachte ich, mochte man jetzt zu einer geschlagenen und geschändeten Kirche sich denn doch auch einmal »bekennen«. Und ich fühlte ein gewisses Verständnis für das Diktum eines sympathischen und rotweinliebenden konservativen älteren Herrn, den ich in diesen Tagen sagen hörte: »Um Gottes willen, nun muß man sogar noch um seinen Glauben kämpfen, den man gar nicht mal hat.«

Die Gefühle überhaupt wurden matter im Laufe des Sommers, die Spannung ließ nach, und selbst den Ekel empfand man nur noch abgeschwächt, durch eine Wolke von halber Betäubung hindurch.

Für viele, die zu bleiben hatten, fing damals die Gewöhnung an, mit allen ihren Gefahren. Was mich betraf, ich fühlte mich schon nicht mehr eigentlich hier. Ein paar Monate noch, und ich würde nach Paris gehen – an die Möglichkeit einer Rückkehr von dort dachte ich gar nicht mehr. Das hier war Leben auf Abbruch, es zählte nicht mehr.

Es gab freilich auch nicht viel mehr zu leben. Meine Freunde waren nachgerade alle weg – oder sie waren nicht mehr meine Freunde. Manchmal kamen Karten mit ausländischen Marken. Hin und wieder schrieb Frank Landau einen Brief; diese Briefe verdüsterten sich allmählich. Erst klangen sie entschieden und hoffnungsvoll, dann wurden sie ein wenig kärglich und vieldeutig, und einmal, Mitte August, kam plötzlich ein ganzes Paket von einem Brief, zwölf oder vierzehn Seiten, vor sich hin geschrieben wie in einem Selbstgespräch, müde und verzagt im Ton und überaus ratlos; es war alles nichts, mit Ellen war alles äußerst schief gegangen, sie würden sich wohl trennen, es gab auch keine Aussichten in der Schweiz, nichts zu sehen, was nach dem Doktor werden sollte. Auch war Hanni nicht zu vergessen, auch unsere Gespräche nicht, es gab nichts, um alles Zurückgelassene zu ersetzen, keine Anknüpfung an das Vergangene, keine wirkliche Lebensluft, keine Substanz, von der man innerlich zehren konnte. »Ich schreibe das alles nicht, um einen Rat von dir zu bekommen, denn ich weiß, es gibt keinen ...«

Etwas später kam Ellen plötzlich zurück, einfach zurück, es war nun also aus, und sie streckte die Waffen. Sie schrieb mir, und zwei oder dreimal besuchte ich sie in Wannsee, saß mit komischen Gefühlen in dem Garten des Hauses, wo ich den 1. April verbracht hatte, und sollte ihr alles erklären, trösten, Rat geben. Sie war in einer traurigen Lage, verwirrt und aus dem Gleichgewicht gebracht: Sie liebte Frank, aber sie glaubte nicht mehr, daß sie mit ihm leben könne, es war alles so schrecklich übereilt gewesen und nun vielleicht schon für immer verdorben; wenn man Zeit hätte, wenn man alles sich langsam entwickeln lassen könnte, sehen, wohin es lief! Aber das war das Schreckliche, daß jetzt alles immer sofort entschieden werden mußte, man stand an lauter Kreuzwegen, hier und jetzt entschied sich alles, die Lebensstraßen liefen ins Unabsehbare auseinander. Ihre Familie rüstete jetzt zur Auswanderung nach Amerika. Sollte sie mit? Aber das hieß Frank nie wiedersehen.

Sollte sie zurück nach Zürich? Aber das hieß endgültig an ihn gebunden sein; und der Sommer war nicht ermutigend gewesen. Andererseits, sie liebte ihn doch. »Sie kennen ihn. Sagen Sie mir, wie er wirklich ist. Sagen Sie mir, was ich tun soll.«

Anfang April hatte ich Hanni gesprochen, die damals ein paar Tage im verdunkelten Zimmer gelegen hatte, nichts gegessen und tagelang geweint hatte. Später waren wir von Konsulat zu Konsulat gelaufen, hatten Briefe an irgendwelche tschechischen Ämter geschrieben und Unterhaltungen auf Polizeirevieren gehabt. Es half alles nichts, die Frage ihrer Staatsangehörigkeit war nicht zu entwirren. Hanni war in Deutschland gefangen.

Seltsames Leben; ein wenig war es wie die Konkursverwalterschaft eines anderen Lebens. Und zwischenein schrieb ich meine Examensarbeiten für ein Examen, das mich nichts anging und auch schon ein wenig zu einem andern Leben gehörte – meinem vergangenen. Und gelegentlich schrieb ich kleine Zeitungsartikel, Sachen, in die ich soviel bittere Witzigkeit legte wie mir zu Gebote stand –

und staunte, wenn ich sie ein paar Tage später in diesem leicht irre wirkenden, besonnen redenden Zwangs–Naziblatt las, das noch vor ein paar Monaten eine weltberühmte Zeitung gewesen war. Wie stolz wäre ich damals gewesen, dazuzugehören! Jetzt ging mich auch das eigentlich nichts an, es geschah auf Abbruch und galt nicht.

Von allen Menschen, mit denen ich zu tun hatte, war, seltsam, nur das Mädchen Charlie übriggeblieben – gerade diese kleine Faschingsliebe. Sie blieb. Sie ging als roter Faden durch das graue Gewebe dieses unwirklichen Sommers: eine leise quälende, ein wenig verfehlte, nicht ganz glückliche Liebesgeschichte – immerhin eine Liebesgeschichte, nicht ganz ohne ein wenig Süßigkeit darin.

Sie war ein gutes, einfaches kleines berlinisches Mädchen, und in glücklichen Zeiten hätte unsere Geschichte eine einfache, banale und süße kleine Geschichte sein können. Nun band uns das Unglück fester zusammen als gut war und verlangte mehr von uns als wir einander geben konnten: nämlich, genau genommen, Entschädigung für alles, für den Verlust einer Welt oder für tägliches, quälendes und würgendes Elend; und dazu reichte es bei keinem von uns. Ich konnte ihr kaum von dem reden, was damals mit mir vorging; war doch ihr eigenes Unglück soviel realer, einfacher, drückender, überzeugender. Sie war eine Jüdin, sie war verfolgt, sie mußte täglich um ihr Weiterleben bangen und um das ihrer Eltern und ihrer großen Familie, an der sie herzlich Anteil nahm, in der soviel Schreckliches geschah jetzt, und von der es mir immer so schwergefallen war, alle Personen richtig auseinanderzuhalten. Wie viele junge Juden, sah sie in dem, was geschah –

sehr begreiflicherweise – kaum mehr als das, was den Juden geschah; und sie reagierte darauf ganz unschuldig so, daß sie von heute auf morgen Zionistin, jüdische Nationalistin wurde. Ein verbreiteter Vorgang, den ich mit Verständnis, aber auch mit ein wenig Trauer beobachtete: Es lag soviel Einlenken in die Absichten der Nazis darin, soviel schwachherzige Hinnahme der feindlichen Fragestellung. Aber hätte ich mit Charlie darüber diskutieren wollen, ich hätte ihr nur den einzigen Trost geraubt. »Aber was sollen wir denn machen, Peter«, sagte sie mit traurigen großen Augen, als ich einmal ganz vorsichtig meine Skepsis andeutete. Sie lernte Hebräisch und dachte an Palästina.

Aber noch war sie nicht dort. Noch ging sie ins Geschäft – sie durfte wieder, wer weiß zwar wie lange

– und half ihre Familie ernähren und sorgte sich rührend um ihren Vater und um ihre Verwandten und arbeitete und litt. Und magerte ab und weinte viel, und ließ sich wohl einmal trösten und lachte einen Abend wieder und war reizend albern und ausgelassen, aber es hielt nicht vor. Im August wurde sie ernsthaft krank, und man nahm ihr den Blinddarm heraus. Es war seltsamerweise schon das zweite Mal in diesem Jahr, daß ich eine Blinddarmentzündung aller Wahrscheinlichkeit nach aus seelischen Ursachen entstehen sah.

Und zwischen alledem brachten wir also eine kleine Liebesgeschichte unter, so gut es ging. Wir gingen ins Kino und gingen Wein trinken und suchten lustig und verliebt zu sein, wie es sich gehört, und spät nachts trennten wir uns, und ich fuhr mit letzten U–Bahnzügen aus ihrem entfernten Stadtteil nach Haus und saß übermüdet, etwas leeren Kopfs, auf nächtlichen menschenleeren Untergrundbahnhöfen, wo nur die Rolltreppen noch lebendig waren.

Sonntags fuhren wir oft hinaus und liefen durch Wälder oder lagen am Wasser herum oder auf irgendwelchen Waldlichtungen. Die Umgebung Berlins ist schön, von einer gewissen ungezähmten Urweltlichkeit. Verläßt man die vielbegangenen Ausflugswege, so kann man noch im Umkreis der Vorortbahn in Gegenden kommen, die unbetreten wirken, großartig einsam und eintönig, und hinreißend traurig. Wir suchten sie und wanderten zwischen düstergrünen Kiefern lange Schneisen entlang, oder lagen unter einem fast drohend blauen Himmel auf einer Waldwiese. Der Himmel war schön und vollkommen in Ordnung, und so waren die großen überhohen und dichtstehenden Räume, das Gras, das Moos, die Ameisen, die vielfältig summenden Insekten. Es hatte alles etwas unendlich, tödlich Tröstliches. Nur wir hätten nicht im Bild sein dürfen. Ohne uns wäre es noch schöner gewesen. Wir störten.

Das Wetter war in diesem Sommer wundervoll, die Sonne war unermüdlich, und ein spöttischer Gott ließ gerade 1933 in Deutschland einen Weinjahrgang reifen, von dem die Kenner noch lange singen und sagen werden.

34

Plötzlich schrieb Teddy aus Paris. Unglaublich, sie schrieb, sie würde kommen – bald, nächste Woche. Mein Herz fing an zu schlagen wie eine Pauke. Sie wolle sehen, ihre Mutter herüberzuholen, schrieb sie, und überhaupt wolle sie sich alles doch einmal von nah ansehen. Sie sei ein bißchen ängstlich, aber auf vieles freue sie sich auch sehr, und sie hoffe, mich oft zu sehen.

Während ich den Brief in meine Brusttasche schob, hatte ich ein Gefühl, als kehre mit ungeheurem ameisenhaften Gekribbel das Leben in mich zurück. Ich merkte auf einmal, daß ich die ganze Zeit starr und empfindungslos, tot gewesen war. Ich lief in der Wohnung herum und pfiff und rauchte eine Zigarette nach der andern und wußte nicht, wohin mit mir. In dem Zustand, in dem ich nachgerade war, war es fast unerträglich, sich auf einmal so zu freuen.

Am nächsten Tag hatte die Zeitung die Überschrift: »Gemeinschaftslager für Referendare«. Alle Referendare, die im Assessorexamen standen, würden nach Beendigung ihrer häuslichen

Examensarbeiten in Gemeinschaftslagern versammelt werden, wo sie unter Wehrsport und gesundem Gemeinschaftsleben weltanschaulich geschult und für ihre kommenden großen Aufgaben als deutsche Volksrichter erzogen werden würden. Der erste Schub werde in den nächsten Tagen seine Gestellungsbefehle erhalten. Und dann ein redaktioneller Artikel mit Preis und Heil und »jeder junge deutsche Jurist wird dem preußischen Justizminister dankbar sein ...«

Dies war das erste Mal, glaube ich, daß ich einen richtigen Tobsuchtsanfall hatte. Der Anlaß mag recht unbedeutend scheinen, aber die Reaktionen von uns schwachen und gebrechlichen Menschen richten sich ja nicht immer streng nach der Größe und allgemeinen Bedeutung des Anlasses. Ich schlug mit den Fäusten gegen die Wände wie ein Eingesperrter und schrie und schluchzte und verfluchte Gott und die Welt, meinen Vater, mich, das deutsche Reich, die Zeitung und all und jeden.

Ich war gerade dabei, meine letzte häusliche Examensarbeit abzugeben, und hatte also jede Aussicht, zum ersten Schub zu gehören. Ich sah rot vor Augen und benahm mich wie ein Irrsinniger.

Und dann sackte ich zusammen und schrieb einen kurzen und verzweifelten Brief an Teddy, sie möchte schnell kommen, damit wir uns wenigstens noch einen oder zwei Tage lang sehen könnten.

Und gab am nächsten oder übernächsten Tag gehorsam und brav und mit einem Gefühl

vollkommener Verprügeltheit und Zerbrochenheit meine letzte häusliche Arbeit ab.

Aber dann, Lob und Preis dem preußischen Amtsschimmel, geschah nichts. Meine Arbeiten mochten in irgendwelchen Büros herumliegen; bis sie dort durchgeschleust waren, bis mein Name in irgendwelchen Listen angehakt und in irgendwelche anderen Listen übertragen war, bis die Schübe für das Lager zusammengestellt, die Gestellungsbefehle gedruckt, ausgeschrieben, expediert waren, vergingen jedesmal, wie wundersam, kostbare Tage. Nachdem ein paar Tage vergangen waren, ohne daß etwas geschah, begann ich mir beruhigt den Geschäftsgang in einer preußischen Behörde zu vergegenwärtigen und mir klarzumachen, daß Hoffnung bestand: Hoffnung auf zwei, drei, selbst vier freie Wochen. Jeden Tag konnten sie freilich zu Ende sein, aber sie brauchten es nicht. Jeden Tag blickte ich auf die Post und stellte erst mit ängstlichem Aufatmen, dann mit ruhigerer Zuversicht, und schließlich, je kritischer es wurde, mit immer vertrauensvollerer, frevelhafter Selbstgewißheit fest, daß wieder noch kein amtliches Schreiben gekommen war. Es konnte nachgerade jeden Tag kommen, aber es kam nicht. Und Teddy kam.

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