Der greise Staatspräsident schwieg, strich mit der Rechten wie verträumt über seinen gepflegten Spitzbart, der Kammerdiener schenkte Champagner ein, und draußen hörte man die zackigen Befehle, den Stechschritt der Leibwache. Auch Archilochos hatte sich in seinen Sessel zurückgelehnt und dachte mit Befremden an die nun so nutzlose Bombe in seiner Manteltasche, als erzwischenden Vorhängen des Fensters hindurch spähte und Fahrcks' Wagen vor dem Wirtschaftsministerium warten sah.

«Was nun Sie betrifft, Bester, Liebster«, fuhr der Staatspräsident nach einer Weile leise fort, sich eine kleine helle Zigarre anzündend, die ihm der Kammerdiener gereicht hatte (auch Archilochos rauchte),»so begreife ich Ihre stürmischen Gefühle. Welcher Mann wäre in Ihrer Situation nicht beleidigt. Doch sind es gerade diese so natürlichen Gefühle, die es zu bekämpfen gilt, da doch sie den größten Unfug anrichten. Helfen kann ich nicht, wer vermöchte dies auch, ich kann nur hoffen, daß Sie über eine Tatsache hinwegkommen, die niemand zu leugnen vermag, die nur dann hinfällig und unbedeutend wird, wenn Sie die Kraft haben, an die Liebe zu glauben, die Ihnen Chloé entgegenbringt. Das Wunder, das da zwischen euch beiden geschah, ist nur durch die Liebe möglich und glaubwürdig und wird außerhalb dieser Liebe zu einer Farce. So wandeln Sie denn auf einer schmalen Brücke, über gefährliche Abgründe, auf einem Schwert wie die Mohammedaner, wenn sie in ihr Paradies einziehen, habe wenigstens einmal so was gelesen; aber nehmen Sie doch noch etwas vom Hähnchen«, forderte er seinen verhinderten Mörder auf,»es ist wirklich vortrefflich und immer etwas Tröstliches. «Archilochos saß da, von Kerzen umschimmert, versunken in die wohlige Wärme des Raumes. An den Wänden hingen in schweren goldenen Rahmen ernste, längst verblichene Staatsmänner und Helden und betrachteten ihn nachdenklich, fremd, erhaben, eingegangen in die Ewigkeit. Eine ihm sonst unbekannte Ruhe war in seine Seele eingezogen, eine unbegreifliche Heiterkeit, nicht nur durch die Worte des Staatspräsidenten bewirkt, was waren auch Worte, doch durch dessen gütige, väterliche, höfliche Art.

«Sie sind begnadet worden«, bemerkte der alte Herr noch,»der Grund dieser Gnade kann zweierlei sein, und es hängt von Ihnen ab, was er sei: die Liebe, wenn Sie an diese Liebe glauben, oder das Böse, wenn Sie an diese Liebe nicht glauben. Die Liebe ist ein Wunder, das immer wieder möglich, das Böse eine Tatsache, die immer vorhanden ist. Die Gerechtigkeit verdammt das Böse, die Hoffnung will bessern, und die Liebe übersieht. Nur sie ist imstande, die Gnade anzunehmen, wie sie ist. Es gibt nichts Schwereres, ich weiß es. Die Welt ist schrecklich und sinnlos. Die Hoffnung, ein Sinn sei hinter all dem Unsinn, hinter all diesen Schrecken, vermögen nur jene zu bewahren, die dennoch lieben.»

Er schwieg, und zum ersten Male konnte Archilochos wieder an Chloé denken, ohne Grauen, ohne Entsetzen.


Dann, als die Kerzen niedergebrannt waren, half der Staatspräsident Archilochos in den Mantel mit der nun nutzlosen Bombe und begleitete ihn, da der Lift gerade nicht funktionierte, zum Hauptportal hinunter, weil er, wie er sagte, Ludewig nicht embêtieren wolle, der steif und korrekt neben dem Sessel seines Herrn stehend eingeschlafen war, ein Kunststück, worüber der alte Herr äußerte, es sei unter allen Umständen zu respektieren. So gingen sie denn beide durch das leere Staatspalais nach unten, die breite, geschwungene Treppe hinab, Archilochos getröstet, mit der Welt zufrieden, sich nach Chloé sehnend, der Staatspräsident mehr wie ein Museumsdirektor, bald in diesem, bald in jenem Saal die Lichter anzündend und die nötigen Erklärungen abgebend. Hier repräsentiere er, sagte er etwa und deutete in einen monumentalen Prunksaal, oder hier nehme er die Demission der Ministerpräsidenten entgegen, zweimal im Monat, und hier in diesem intimen Salon mit dem beinahe ganz echten Raffael habe er mit der englischen Königin und ihrem Prinzgemahl den Tee genommen und sei dabei fast eingeschlafen, als der Prinzgemahl auf die Marine zu sprechen gekommen sei, nichts langweile ihn eben so wie Marinegeschichten, und nur die Geschicklichkeit des Chefs des Protokolls habe ein Unglück verhütet; der habe ihn im entscheidenden Augenblick geweckt und ihm eine marinegemäße Antwort zugeflüstert. Sonst seien sie ganz nett gewesen, die Engländer. Dann nahmen sie Abschied, zwei Freunde, die sich ausgesprochen, die Frieden miteinander geschlossen hatten. Vom Hauptportal winkte der Alte noch einmal lächelnd, heiter. Archilochos blickte zurück. Das Palais ragte in die kalte Nacht, nun düster, wie eine riesenhafte, verschnörkelte Kommode, der Viertelsmond war nicht mehr zu sehen. Er schritt zwischen den salutierenden Leibwachen hindurch und gelangte auf den Quai de l'Etat, schwenkte jedoch in die Ruelle Etter zwischen der Nuntiatur und der Schweizerischen Gesandtschaft ein, da er vom Wirtschaftsministerium her Fahrcks' Wagen heranbrausen sah, gelangte in der Rue Stäbi vor die Pfyffersche Bar und nahm dort ein Taxi; mit Fahrcks wünschte er nicht mehr zusammenzutreffen. Dann rannte er durch den Park, nur von dem Gedanken beherrscht, Chloé in die Arme zu schließen. Das Rokokoschlößchen war hell erleuchtet. Wilder Gesang dröhnte ihm entgegen. Die Haustüre war offen. Zigarren- und Pfeifenrauch qualmte in dicken gelben Schwaden, Bruder Bibi mit seinen Kinderchen hatte nun vom ganzen Haus Besitz ergriffen. Überall saßen und lagen Mitglieder der Bande betrunken und lallend herum, auf den Sofas, unter den Tischen, eingewickelt in die heruntergerissenen Vorhänge, die Vaganten, Zuhälter und Strichjungen der Stadt schienen versammelt, in den Betten kreischten Weiber, entblößte Busen schimmerten, Galgenvögel saßen in der Küche und fraßen, schmatzten, soffen die Vorratskammer und den Keller leer, Matthäus und Sebastian spielten mit zwei Holzbeinen im Eßzimmer Hockey, im Korridor übte der Onkel Kapitän Messerwerfen mit Mammachen, während Jean-Christoph und Jean-Daniel mit dessen Glasauge Marmeln spielten und Theophil und Gottlieb, Dirnen auf dem Schoß, die Treppengeländer hinunterrutschten; Arnolph rannte, von böser Ahnung gepeinigt, ins obere Stockwerk, am Galeriebesitzer Nadelör vorbei, der immer noch fiebernd in seinem Bett lag, durch das Boudoir, wo aus dem Badezimmer Männergesang und Wasserplantschen zu vernehmen war und die schrille Stimme Magda-Marias, und als er ins Schlafzimmer stürzte, lag im Bett Bruder Bibi mit einer Mätresse (unbekleidet); Chloé war nirgends, wo er auch gesucht, geforscht, gestöbert hatte.

«Wo ist Chloé?»

«Was denn, Bruder«, sagte Bibi vorwurfsvoll, eine Zigarre schmauchend:»Betritt nie ein Schlafzimmer ohne anzuklopfen.»

Bibi kam nicht weiter in seiner Rede. Mit seinem Bruder hatte sich eine Wandlung vollzogen. War er mit den zärtlichsten Gefühlen in sein Schlößchen gestürzt, voll Liebe, voll Sehnsucht nach Chloé, so verwandelten sich nun diese Gefühle in Zorn. Der Unsinn, diese Familie jahrelang unterhalten zu haben, die Frechheit, mit der sie sein Schlößchen erobert hatte, die Angst, Chloé durch eigene Schuld verloren zu haben, verwandelten ihn in einen Wüterich. Er wurde ein Ares, ein griechischer Kriegsgott, wie es Passap vorausgesagt hatte, mit dessen Drahtplastik er denn auch auf den zigarreschmauchenden und sich mit seiner Mätresse im Ehebett seines Bruders breitmachenden Bibi einhieb, daß der mit einem Schrei hochfuhr und, von einem Kinnhaken getroffen, zur Türe torkelte, wo ihn Arnolph noch einmal zusammenschlug, doch nun schon mit der Mätresse beschäftigt, die er an den Haaren in den Korridor schleppte und dem durch Bibis Gebrüll gewarnten und herbeirasenden Kapitän entgegenschmiß, worauf beide die Treppe hinunterpolterten. Aus allen Türen stürzten sich nun Messerstecher, Zuhälter und anderes Gesindel auf ihn, bald Mitglieder seiner Familie, wie Theophil und Gottlieb, die er die Wendeltreppe hinunterschmetterte, samt Nadelör, der mit dem Renaissancebett folgte, bald Sebastian und Matthäus, die er verprügelte, bald Magda-Maria mit ihrem Verehrer (Chinese), die er nackt durch die zersplitternden Scheiben zum Fenster hinaus in den Park hinunterwarf, bald unbekanntes Gelichter. Prothesen pfiffen durch die Luft, Stuhlbeine, Blut spritzte, Dirnen flohen, Mammachen wurde ohnmächtig, Strichjungen, Falschmünzer huschten davon, die Köpfe geduckt, vor Angst pfeifend wie Ratten. Er hieb um sich, würgte, kratzte, stieß zu, schmetterte zu Boden, schlug Köpfe ein, Stirnen zusammen, vergewaltigte eine Mätresse, während Holzbeine, Schlagringe, Gummiknüttel, Flaschen auf ihn niedersausten, kam wieder hoch, befreite sich, schäumend, splitterbesät, brauchte einen runden Tisch als Schild, Vasen, Stühle, Ölgemälde, Jean-Christoph und Jean-Daniel als Geschosse, und trieb so, vorrückend, alles niederstampfend, zerfetzend, mit unermeßlichen Flüchen, die ganze Mörderbande aus seinem Haus, in welchem nun die Tapeten in Fetzen herunterhingen, wehende Fahnen in der eisigen Zugluft, in dem sich verziehenden Tabaksqualm, der jaulenden Meute noch die Handgranate nachwerfend, die den Garten zugleich mit der ersten Dämmerung erhellte.


Dann stand er lange vor dem Eingang seines demolierten Schlößchens und starrte in den Morgen, der heraufstieg, silbern hinter den Ulmen und Tannen des Parks. Warme Windstöße brausten, peitschten die Bäume, schüttelten sie, Tauwetter brach herein. Das Eis auf dem Dach schmolz, Wasser rauschte im Kännel. Alles tropfte, riesige Wolkenwände fegten über die Dächer und Gärten, schwer, trächtig; Regen rieselte in dünnen Schleiern. Zerschlagen, notdürftig angezogen, hinkte, schlotterte Nadelör an ihm vorbei in den nassen Morgen.

«Sie als Christ.»

Archilochos beachtete ihn nicht. Er stierte aus verschwollenen Augen vor sich hin, blutverkrustet, den Hochzeitsfrack zerfetzt, mit heraushängendem Futter, die Brille verloren.


ENDE I

(Es folgt das Ende für Leihbibliotheken.)


Er begann nach Chloé zu suchen.

«Mein Gott, Herr Arnolph«, rief Georgette, als er vor der Theke stand und einen Pernod verlangte,»mein Gott, was haben Sie denn?»

«Ich kann Chloé nicht finden.»

Das Lokal war voller Gäste. Auguste bediente. Archilochos trank seinen Pernod leer und verlangte einen zweiten.

«Haben Sie denn überall gesucht?«fragte Madame Bieler,

«Bei Passap, beim Bischof, überall.»

«Sie wird schon zum Vorschein kommen«, tröstete Georgette,»Frauen gehen nicht so schnell verloren und sind oft gerade dort, wo man sie nicht vermutet.»

Dann schenkte sie ihm einen dritten Pernod ein.

«Endlich«, sagte Auguste erleichtert zu den Radsportfreunden:

«Jetzt säuft er.»

Archilochos suchte weiter. Er drang in die Klöster, in die Pensionen, in die Appartementshäuser; Chloé blieb verschwunden. Er irrte durch sein leeres Schlößchen, durch den leeren Park, stand im nassen Laub. Nur die Bäume brausten, nur die Wolken jagten über die Dächer. Jähes Heimweh überfiel ihn, Sehnsucht nach Griechenland, nach rötlichen Felsen und dunklen Hainen, nach dem Peloponnes.

Zwei Stunden später schiffte er sich ein, und das heranbrausende Auto mit den Fahrcks-Banditen sandte der >Julia<, die aufheulend in den Nebel glitt, verfangen in den Rauch ihres Kamins, einige Kugeln nach, die dem abtrünnigen Attentäter galten, jedoch nur die müde wehende grün-goldene Landesfahne zerfetzten.


Auf der >Julia< befanden sich Mr. und Mrs. Weeman, die ihn besorgt betrachteten, als er eines Nachmittags vor sie trat.

Mittelmeer. Das Deck voll Sonne. Überall Liegestühle. Archilochos sagte:

«Ich hatte schon einigemale die Ehre, mit Ihnen zu sprechen.»

«Well«, brummte Mr. Weeman.

Arnolph entschuldigte sich. Es sei nur ein Mißverständnis gewesen.

«Yes«, meinte Mr. Weeman.

Dann bat Archilochos, bei den Ausgrabungen in seiner alten Heimat mithelfen zu dürfen.

«Well«, entgegnete Mr. Weeman, faltete das Fachorgan für Altertumswissenschaft zusammen, und dann sagte er, seine kurze Pfeife stopfend:»Yes —»


So grub er denn in Griechenland nach Altertümern, in einer Gegend des Peloponnes, welche der Vorstellung, die er sich von seiner Heimat gemacht hatte, auch nicht im geringsten entsprach. Er schaufelte unter einer unbarmherzigen Sonne. Steingeröll, Schlangen, Skorpione und einige verkrüppelte Ölbäume gegen den Horizont hin. Niedrige kahle Berge, versiegte Quellen, nicht einmal Sträucher. Ein kreisender Geier über seinem Haupt, hartnäckig, nicht zu verscheuchen. Er pickelte wochenlang an einem Hügel herum, schweißüberströmt, den er langsam aushöhlte, Sand kam in einem endlich freigelegten schäbigen Gemäuer zum Vorschein; Sand, der in der Sonne glühend wurde, unter seine Nägel schlich, seine Augen entzündete. Mr. Weeman hoffte, einen Tempel des Zeus freigelegt zu haben, Mrs. Weeman vermutete eine Kultstätte der Aphrodite. Das Zanken der beiden war meilenweit zu hören. Die Griechen hatten sich längst verzogen. Stechmücken summten, Fliegen bedeckten sein Gesicht, krochen über seine Augen. Dämmerung brach herein, von ferne schrie ein Maultier, schrill und klagend. Die Nacht war kalt. Archilochos lag in seinem Zelt neben der Ausgrabungsstätte, Mrs. und Mr. Weeman in der zehn Kilometer entfernten Hauptstadt des Distrikts, in einem armseligen Nest. Nachtvögel umstrichen das Zelt, Fledermäuse. In der Nähe heulte ein unbekanntes Tier, vielleicht ein Wolf, dann war es wieder still. Er schlief ein. Gegen Morgen meinte er einige leichte Schritte zu hören. Er schlief weiter. Sobald die Sonne rot und glühend von den sinnlosen kahlen Hügeln her sein Zelt berührte, erhob er sich. Er torkelte zu seiner einsamen Arbeitsstätte, zum Gemäuer. Es war immer noch kalt. Hoch oben kreiste wieder der Geier. Im Gemäuer war es fast noch dunkel. Die Glieder schmerzten. Er machte sich an die Arbeit und setzte die Schaufel an. Vor ihm lag ein länglicher Haufen Sand, schimmernd im Halbdunkel, doch schon nach dem ersten vorsichtigen Zustoßen spürte er Widerstand. Die Liebesgöttin oder der Zeus, dachte er, neugierig, wer nun recht habe, die Archäologin oder der Archäologe, griff er mit beiden Händen zu, scharrte den Sand weg und legte Chloé frei.

Er wagte kaum zu atmen und starrte auf die Geliebte.

«Chloé«, rief er,»Chloé, wie kommst du denn hieher?»

Sie öffnete die Augen, blieb jedoch im Sand liegen.

«Ganz einfach«, sagte sie,»ich bin dir nachgereist. Wir hatten zwei Fahrscheine.»


Dann saßen sie auf dem Gemäuer und schauten in die griechische Gegend, nach den niedrigen, kahlen Bergen mit der gewaltigen Sonne darüber, den verkrüppelten Olbäumen in der Ferne und nach dem weißen Schimmer der Hauptstadt des Distrikts am Horizont.

«Das ist die Heimat«, sagte sie,»die deine und die meine.»

«Wo bist du denn gewesen?«fragte er.»Ich habe dich gesucht in der ganzen Stadt.»

«Bei Georgette. Oben in der Wohnung.»

Zwei Punkte bewegten sich in der Ferne, kamen näher. Mr. und Mrs. Weeman.

Dann hielt sie ihm ihre Liebesrede, ein wenig wie einst Diotima dem Sokrates (eine nicht ganz so tiefsinnige freilich, als Kind eines griechischen Großkaufmanns war Chloé Saloniki robuster, praktischer — (damit sei auch ihre Herkunft berichtigt).

«Siehst du«, sagte sie, während der Wind mit ihren Haaren spielte und die Sonne immer höher in den Himmel rollte und die Engländer immer näher rückten auf ihren Maultieren,»du weißt nun, was ich gewesen bin, dies ist klar geworden zwischen uns. Ich hatte meinen Beruf satt, der ein harter Beruf war, wie jeder ehrliche Beruf. Aber ich war traurig dabei. Ich hatte Sehnsucht nach Liebe, danach, für jemanden zu sorgen, nicht nur zu seiner Freude dazusein, sondern auch für sein Leid, und wie ich eines Morgens, als der Nebel mein Schlößchen umgab, winterlich, dunkel, seit Wochen schon, in >Le Soir< las, daß ein Grieche eine Griechin suche, war ich entschlossen, diesen Griechen zu lieben, nur ihn und niemand anderen, geschehe was wolle, wie er auch wäre. So bin ich zu dir gekommen, an jenem Sonntagmorgen um zehn, mit der Rose. Ich wollte mich nicht verstellen. Ich kam mit meinen besten Kleidern. Wie ich dich annehmen wollte, so wie du warst, solltest du mich annehmen, so wie ich war, und als ich dich am Tische sitzen sah, verlegen, unbeholfen, mit der dampfenden Milch und die Brille reinigend, geschah es, daß ich dich liebte. Doch da du glaubtest, ich sei noch ein Mädchen, da du so wenig Kenntnis der Welt aufwiesest, daß du meinen Beruf nicht zu erraten vermochtest, wie es doch Georgette und ihr Mann taten, wagte ich deinen Traum nicht zu zerstören. Ich fürchtete, dich zu verlieren, und machte alles nur schlimmer. Deine Liebe wurde lächerlich, und als du in der Heloisenkapelle die Wahrheit erkanntest, brach mit deiner Welt auch deine Liebe zusammen. Es war gut so. Du vermochtest mich nicht zu lieben ohne die Wahrheit, und nur die Liebe ist stärker denn sie, die uns zu vernichten drohte. Die Liebe deiner Blindheit mußte zerstört werden um der Liebe willen, die sieht und die allein zählt.»


Doch dauerte es einige Zeit, bis Chloé und Archilochos zurückkehren konnten. Der Staat krachte zusammen. Fahrcks mit den Kreml-Orden unter dem Doppelkinn kam ans Ruder, rot färbte sich der Nachthimmel. Überall Fahnen, überall Sprechchöre: Ami go home; überall Transparente, überall Riesenbilder Lenins und des gerade nicht gestürzten russischen Ministerpräsidenten. Doch der Kreml war fern, der Dollar notwendig, die eigene Macht verlockend. Fahrcks zog ins westliche Lager, ließ den Chef der Geheimpolizei (Petit-Paysans Sekretär) aufknüpfen und residierte aufs würdigste im Staatspalais am Quai de l'Etat, von der gleichen Leibwache mit den goldenen Helmen und den weißen Federbüschen beschützt wie sein Vorgänger, das rote Haar sorgfältig frisiert, den Schnurrbart gestutzt. Er milderte sein Regiment, seine Weltanschauung verblich, und eines schönen Ostertags besuchte er die Sankt Lukas-Kathedrale. Die bürgerliche Ordnung kehrte wieder ein, doch fanden sich Chloé und Archilochos nicht mehr zurecht. Sie versuchten es noch einige Zeit lang. Sie eröffneten im Schlößchen eine Pension. Passap mietete sich ein, außer Kurs gekommen (auf dem Gebiet der Kunst hielt Fahrcks am sozialistischen Realismus fest), Maître Dutour, auch er verkracht, Hercule Wagner mit seiner gewaltigen Gattin, auch er abgesetzt, und der gestürzte Staatspräsident, höflich, den Gang der Dinge betrachtend, schließlich Petit-Paysan (die Verbindung mit dem Gummi- und Schmieröl-Trust war sein Pech), Hausarbeit verrichtend: eine bankerotte Gesellschaft. Nur der Bischof fehlte. Er war zu den Neupresbyteranern der vorletzten Christen übergetreten. Die Pensionäre tranken Milch und sonntags Perrier, lebten still, sommers unter den Bäumen des Parks, verträumt, eingesponnen in eine milde Welt. Archilochos war bestürzt. Er wanderte zu seinem Bruder, der in der Vorstadt mit Mammachen, dem Onkel Kapitän und den Kinderchen eine Kleingärtnerei betrieb, hatte doch die Prügelei Wunder bewirkt (Matthäus bestand das Lehrerexamen, Magda-Maria die Kindergärtnerinnenprüfung, die ändern gingen teils in die Fabrik, teils in die Heilsarmee). Doch blieb er nicht lange dort. Die wackere Atmosphäre, der pfeifeschmauchende Kapitän und die strickende Mama langweilten ihn samt Bibi, der nun an seiner Stelle die Heloisen-Kapelle besuchte. Viermal in der Woche.

«Sie sehen bleich aus, Monsieur Arnolph«, sagte Georgette, während er wieder einmal bei ihr an der Theke stand (hinter ihr über den Schnaps- und Likörflaschen nun Fahrcks im Edelweißrahmen),»haben Sie Kummer?»

Sie reichte ihm ein Glas Pernod.

«Alles trinkt Milch«, brummte er.»Die Radsportfreunde und nun auch Ihr Mann.»

«Was will unsereiner«, sagte Auguste, immer noch im Maillot jaune, und rieb sich die flimmrigen Beine:»Die Regierung hat eine neue Antialkoholkampagne beschlossen. Außerdem bin ich schließlich ein Sportler.»

Dann bemerkte Archilochos, wie Georgette eine Flasche Perrier öffnete.

«Auch sie«, dachte er schmerzlich. Und während er neben Chloé im Himmelbett lag, hinter den roten Vorhängen, und im Kamin die Holzscheite brannten, sagte er:»Es ist ja ganz schön in unserem kleinen Schlößchen mit den zufriedenen, alternden Pensionären, ich möchte nicht klagen, doch kommt mir die tugendhafte Welt, in der wir nun leben, unheimlich vor. Es scheint mir, als hätte ich die Welt bekehrt und sie mich, so daß die Sache wieder aufs gleiche hinauskomme und alles unnütz gewesen sei.»

Chloé hatte sich aufgerichtet.

«Ich muß an unser Gemäuer denken, die ganze Zeit, in unserer Heimat«, sagte sie.»Als ich mich damals mit Sand bedeckte, dich zu überraschen, und so dalag an diesem dunklen Morgen und nach dem Geier spähte, der über dem Gemäuer kreiste, spürte ich etwas Hartes unter mir, etwas Steiniges, wie zwei große Halbkugeln.»

«Die Liebesgöttin«, schrie Archilochos und sprang aus dem Bett. Auch Chloé hatte es verlassen.

«Wir dürfen nie aufhören, nach der Liebesgöttin zu suchen«, flüsterte sie,»sonst werden wir von ihr verlassen.»

Sie zogen sich an, geräuschlos, packten einen Koffer, und als Sophie am ändern Morgen das Schlafzimmer gegen elf nach langem vergeblichem Klopfen betrat, von den besorgten Pensionären begleitet, fand sie es leer.


ENDE II

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