1

Der weithin sich erstreckende Friedhof war im Morgenlicht ein Anblick von atemberaubender Schönheit. Die Reihen schimmernder Grabmäler verliefen durch das Tal und über alle Hänge und Hügel. Der Rasen, gemäht und geschnitten mit hingebungsvoller Sorgfalt, glich einem smaragdgrünen Tuch und verbarg die Rauheit des Erdreichs, in das er seine Wurzeln grub. Die stattlichen Kiefern auf den Wegen zwischen den Gräberfeldern bewirkten ein leises, klagendes Ächzen.

»Ergreifend«, sagte der Kapitän des Leichentransporters.

Er pochte sich auf die Brust, um mir genau zu zeigen, wo es ihn ergriff. Er war ein Dummkopf, dieser Kapitän.

»Man erinnert sich der Mutter Erde«, versicherte er mir, »an jedem Tag, den man fort ist, während all der Jahre im Weltraum und auf den anderen Planeten. Man ruft sie sich genau in Erinnerung. Dann landet man, öffnet die Schleuse und betritt ihre Oberfläche, und plötzlich sieht man, daß man sich nur der Hälfte von allem entsonnen hat, daß Mutter Erde zu groß ist und zu schön, um sie ganz im Gedächtnis behalten zu können.«

Hinter uns, im zugewiesenen Areal, zischte der Leichentransporter noch von der Reibungshitze der Landung. Aber die Mannschaft wartete nicht darauf, daß die Hitze wich. In der Höhe schwangen die schwarzen Pfortluken auf, Kräne fuhren aus, deren Ketten klirrten und rasselten, und man schickte sich an, die Fracht zu löschen. Von einem langen, flachen Gebäude, das ich für eine Lagerhalle hielt, kamen Fahrzeuge schnell über das Feld gerollt, um die Särge in Empfang zu nehmen.

Der Kapitän widmete den Vorgängen keine Aufmerksamkeit. Er stand da und starrte über den Friedhof. Er schien wie gebannt davon zu sein. Er vollführte eine alles umfassende Geste.

»Meilen um Meilen«, sagte er. »Nicht bloß hier in Nordamerika, sondern auch anderswo. Das ist nur ein winziger Teil.«

Er erzählte mir nichts, das ich nicht schon wußte. Ich hatte alle Lektüre gelesen, welche es über die Erde gab. Ich hatte jeden Fetzen Spule, der etwas über diesen Planeten enthielt und den ich in die Hände bekommen konnte, angesehen und angehört. Seit Jahren hatte ich von der Erde geträumt und mir Wissen über sie angeeignet, und endlich war ich hier auf der Erde, und dieser ungeheure Clown von einem Kapitän wollte eine Fremdenführung daraus machen. Als ob sie ihm persönlich gehöre. Vielleicht war das jedoch verständlich, denn er zählte zum Personal.

Natürlich hatte er recht damit, daß dies nur ein winziger Teil war. Die Grabmäler, der samtene Teppich des Rasens und die Reihen stattlicher Kiefern zogen sich über Meilen und Meilen hin. Hier im alten Nordamerika und auf den alten Britischen Inseln und dem europäischen Kontinent, in Nordafrika und China.

»Und jeder Quadratmeter davon«, sagte der Kapitän, »ist so ordentlich und gepflegt, so schön und friedlich und so erhaben wie dieser kleine Ausschnitt.«

»Und was ist mit dem Rest?« fragte ich.

Verärgert wandte sich der Kapitän mir zu. »Dem Rest?« wiederholte er.

»Dem Rest der Erde. Nicht alles ist Friedhof.«

»Ich glaube«, sagte der Kapitän mit einem Anflug von Schärfe, »Sie haben die Frage schon einmal gestellt. Anscheinend sind Sie davon besessen. Sie müssen begreifen, daß allein der Friedhof Bedeutung besitzt, sonst nichts.«

Gewiß, das war es eben. In der gesamten neueren Literatur über die Erde - das hieß, die der letzten ungefähr tausend Jahre - fand man nur selten eine Erwähnung des Restes der Erde. Die Erde war ein Friedhof, ließ man die wenigen Orte historischen oder kulturellen Interesses, welche die Pilgrim Tours so hoch anpries und auch förderte, einmal unberücksichtigt, und selbst im Falle dieser Attraktionen der Pilgrim Tours gewann man den Eindruck, daß lediglich der Großmut der Friedhofsverwaltung sie für künftige Generationen ausnahm und erhielt. Davon abgesehen, gab es keine Erwähnung, auch keine flüchtige, irgendeiner anderen Erde - als bestehe der ganze Rest der Erde nur aus Boden, der darauf wartete, daß man ihn dem Friedhof angliederte, als handle es sich bloß um einsames, kahles Gelände, schon so lange unbewohnt, daß es sogar jeglicher Erinnerung an frühere Zeiten ermangelte.

Der Kapitän blieb unfreundlich. »Wir werden Ihre Fracht entladen«, sagte er, »und sie in der Halle lagern. Dort ist sie Ihnen leicht zugänglich. Ich werde die Männer darauf hinweisen, daß man sie von den Särgen getrennt hält.«

»Sehr gütig von Ihnen«, sagte ich. Mein Verhältnis zu diesem Kapitän war längst abgekühlt. Ich hatte genug von ihm - am dritten Tag im Raum hatte ich schon genug gehabt. Ich hatte mich sehr bemüht, ihn zu meiden, aber das ist schwer an Bord eines Leichentransporters und wenn man sozusagen der Gast des Kapitäns ist - allerdings hatte ich ansehnlich dafür bezahlt, es sein zu dürfen.

»Ich hoffe«, sagte er in unverändert leicht verärgertem Tonfall, »daß Ihre Fracht nichts von irgendwie aufrührerischem Charakter enthält.«

»Mir war unbekannt«, erwiderte ich, »daß die Stellung der Mother Earth Inc. Anlaß zum Aufruhr bieten könnte.«

»Ich habe Sie nicht gefragt«, sagte er, »weil ich nicht aufdringlich sein wollte. Ich habe Sie für einen Ehrenmann gehalten.«

»Von Ehre war bei unserer Abmachung nie die Rede«, antwortete ich. »Sie war eine Angelegenheit rein monetärer Natur.«

Vielleicht, überlegte ich, hätte ich den Rest der Erde nicht erwähnen sollen. Wir hatten schon einmal davon gesprochen, und da bereits war mir aufgefallen, daß es sich um ein heikles Thema handelte. Aus meiner umfangreichen Lektüre hätte ich mir das denken können und besser den Mund gehalten. Aber sie war etwas, das mich nie losließ, meine Überzeugung, daß Die Alte Erde kein Planet ohne Antlitz geworden sein konnte, selbst in zehntausend Jahren nicht. Jemand, der danach Ausschau hielt, so war ich überzeugt, würde noch alte Narben finden, alte Triumphe, uralte Erinnerungen, niedergeschrieben in Erdreich und Stein.

Der Kapitän hatte sich zum Gehen gewandt, aber ich richtete noch eine Frage an ihn. »Dieser Mann«, meinte ich. »Der Manager. An den ich mich wenden soll.«

»Sein Name«, sagte der Kapitän steif, »lautet Maxwell Peter Bell. Sie finden ihn dort drüben im Verwaltungsgebäude.«

Er wies auf das schimmernde Massiv eines großen, weißen Bauwerks am anderen Ende des Landeplatzes. Eine Straße führte dorthin. Es war eine ziemlich lange Strecke, doch ich dachte, es würde mir gefallen, sie zu laufen. Personenfahrzeuge befanden sich ohnehin nicht in Sichtweite. Alle Fahrzeuge, welche die Lagerhalle verlassen hatten, standen vor dem Schiff aufgereiht und erwarteten die Särge.

»Das andere Gebäude dort«, sagte der Kapitän und streckte nochmals den Arm aus, »ist das von der Pilgrim Tours betriebene Hotel. Wahrscheinlich werden Sie darin ein Quartier bekommen können.«

Dann, nachdem er seine Pflicht und Schuldigkeit getan hatte, entfernte der Kapitän sich gemessenen Schritts.

Das Hotel, ein flacher, nicht mehr als drei Etagen hoher Bau, lag noch ein bedeutendes Stück weiter entfernt als das Verwaltungsgebäude. Abgesehen von den Bauten und dem Schiff, das in seinem Landefeld stand, war das Gelände ringsum frei, und bis auf die Fahrzeuge, die beim Schiff warteten, herrschte kein Verkehr.

Ich machte mich auf den Weg. Es wird angenehm sein, dachte ich, die Beine zu bewegen, gut, festen Boden unter den Füßen zu spüren, gut, nach den Monaten im Weltraum wieder reine Luft zu atmen. Und gut, auf der Erde zu sein. Oftmals war ich schon über der Aussicht, sie vielleicht nie betreten zu dürfen, in Verzweiflung geraten.

Elmer würde höchstwahrscheinlich außer Rand und Band sein, weil ich ihn nach der Landung nicht sofort ausgepackt hatte. Es wäre auch vernünftig gewesen, das zu tun, denn während ich Bell aufsuchte, hätte er, wäre er jetzt ausgepackt, schon den Bronco vorbereiten können. Doch zu diesem Zweck hätte ich hier warten müssen, bis die Kisten ausgeladen und in die Lagerhalle geschafft worden waren, und es verlangte mich danach, etwas zu unternehmen, ich war begierig, die Dinge anzukurbeln.

Ich fragte mich, während ich ausschritt, warum ich bei diesem Maxwell Peter Bell vorsprechen sollte. Nur eine Gefälligkeit, hatte der Kapitän zu mir gesagt, aber das glaubte ich nicht recht. Die ganze Reise hatte verdammt wenig mit Gefälligkeit gemein gehabt, sondern vielmehr mit harter Barzahlung, dem Rest von Elmers Lebensersparnissen. Es schien so, dachte ich, als sei der Friedhof eine Art von Regierung, die von jedem Besucher diplomatische Aufwartung verlangen konnte. Aber das war er nicht im geringsten. Er war ein bloßes Geschäft, seiner Natur nach kalt berechnend und zynisch. Schon lange seit Beginn meiner Studien über Die Alte Erde war meine Meinung von der Mother Earth Inc. die denkbar schlechteste.

2

Maxwell Peter Bell, Manager der Mother Earth Inc., Abteilung Nordamerika, war ein dicklicher Mann, dem daran lag, daß man ihn mochte. Er saß in seinem abgewetzten, schweren, dick gepolsterten Sessel hinter einem wuchtigen, glänzenden Tisch in seinem Büro, das sich innerhalb eines Aufbaus auf dem Dach des Verwaltungsgebäudes befand. Er rieb sich die Hände und lächelte mich beinahe zärtlich an, und es hätte mich nicht gewundert, wäre das runde, weiche Braun seiner Augen geschmolzen und wie Schokoladenguß über die Wangen gelaufen.

»Hatten Sie eine angenehme Reise?« fragte er. »Hat Kapitän Anderson für Ihre Bequemlichkeit gesorgt?«

Ich nickte. »So gut wie möglich. Natürlich bin ich dankbar. Ich hatte kein Geld für den Flug auf einem Schiff der Pilgrim Tours.«

»Schweigen Sie von Dankbarkeit«, meinte er sanftmütig. »Wir sind es, die Grund zur Freude besitzen. Nur wenige Leute der Künste entwickeln Interesse an dieser unserer Mutter Erde.«

In seiner netten, glatten Art trug er eine Spur zu dick auf, denn im Lauf der Jahre hatten viele Leute der Künste, wie er sie nannte, der Erde ihre Aufmerksamkeit geschenkt, und zwar ausnahmslos unter der äußerst zuvorkommenden und mütterlichen Anleitung der Mother Earth Inc. selbst. Auch ohne das Wissen um diese Gönnerschaft vermochte man sie zu erraten. Das meiste ihrer Werke klang, las sich oder sah so aus wie hochdotierte Reklamemachwerke zur Werbung für den Friedhof.

»Eine freundliche Gegend hier«, sagte ich, eher gesprächsweise beiläufig als aus besonderem Grund.

Er wußte nicht, daß ich es hören wollte, aber das wollte ich. Er rückte sich bequemer im Sessel zurecht, wie eine Henne, die über ihre Eier das Gefieder plustert, bevor sie sich zum Brüten niederläßt.

»Gewiß haben Sie die Kiefern gehört«, sagte er. »Sie singen ein Lied. Sogar hier oben, wenn man ein Fenster öffnet, vernimmt man ihren Gesang. Auch nach dreißig Jahren kann ich ihnen noch stundenlang lauschen. Es ist das Lied eines ewigen Friedens, den man so vollständig nirgendwo zu finden vermag wie hier auf der Erde. Manchmal habe ich den Eindruck, daß es nicht bloß ein Lied der Kiefern und des Windes ist, auch nicht allein eins der Erde, sondern das Lied einer über die Galaxis verstreuten Menschheit, die am Ende gemeinsam hier in der Heimat ihre Ruhe findet.«

»Soviel habe ich nicht gehört«, antwortete ich. Mir war das Ächzen und Knarren der Bäume eher wie das Stöhnen unerlöster Seelen erschienen. »Vielleicht fällt es mir mit der Zeit noch auf, wenn ich länger gelauscht habe. Deshalb bin ich ja hier.«

Genauso gut hätte ich schweigen können. Er hörte mir gar nicht zu. Er hatte sein Sprüchlein aufzusagen, so eine großmächtige Leier, und er beabsichtigte das zu tun und sonst nichts.

»Seit mehr als dreißig Jahren«, sprach er weiter, »verneige ich mich in jedem bewußten Moment vor den großen Idealen der Letzten Heimkehr. Meine Aufgabe zählt nicht zu denen, die man leichten Herzens übernimmt. Viele Männer haben es vor mir getan, viele andere Manager haben schon vor mir auf diesem Platz gesessen, sehr viele, und jeder einzelne war ein ehrbarer und feinfühliger Mensch. Ich bin angetreten, um ihr Werk fortzusetzen, aber nicht nur das. Ebenso muß ich die großen Traditionen wahren, die die Mother Earth während ihrer gesamten Geschichte stets gepflegt hat.«

Er sank im Sessel zurück, und seine braunen Augen blickten womöglich noch sanfter drein und ein wenig wäßrig.

»Bisweilen ist das keine leichte Aufgabe«, versicherte er. »Es gibt vielerlei Umstände, mit denen man sich auseinandersetzen muß. Da sind diese Andeutungen und Flüsterreden und unterschwelligen Vorwürfe, die man verbreitet, aber nie öffentlich ausspricht, so daß man sie widerlegen könnte. Ich nehme an, Sie haben dergleichen auch schon gehört.«

»Etwas davon«, sagte ich vorsichtig.

»Und sie geglaubt?« »Etwas davon«, wiederholte ich.

»Wir wollen nicht um die Dinge herumreden«, sagte er mit einem Anflug von Schroffheit. »Betrachten wir die Angelegenheit einmal. Man kann unschwer feststellen, daß die Mother Earth Inc. eine Friedhofsgesellschaft ist und die Erde ein Friedhof. Aber sie ist weder ein raffgieriges Schwindelunternehmen noch ein Betrug mit der Frömmigkeit oder eine ausschließlich dem Profit nachjagende Maklerfirma, die aus wertlosem Grund und Boden Riesensummen herausschlüge. Selbstverständlich operieren wir im Rahmen allgemein zulässiger Geschäftsmethoden. Anders ginge es nicht. Nur auf diese Weise können wir der menschlichen Galaxis unsere Dienste bieten. Sie erfordern eine Organisation, die ausgedehnter ist als man sie sich zunächst vorzustellen vermag. Und weil sie so ausgedehnt ist, ist sie zwangsläufig locker. Es gibt keine ständige, straffe Kontrolle des Gesamtunternehmens. Daher besteht immer die Möglichkeit, daß wir hier in der Verwaltung von vielen Handlungen gar nicht erfahren, die wir niemals billigen würden. Wir beschäftigen eine umfangreiche Truppe von Public RelationsSpezialisten, um unser Unternehmen zu fördern. Notwendigerweise müssen wir bis hin zu den entferntesten Winkeln der von der Menschheit besiedelten Gebiete für uns Werbung betreiben. Wir geben gerne zu, daß wir auf jedem von Menschen bewohnten Planeten eine Vertretung unterhalten. Doch all das kann durchaus als normale Geschäftspraxis gelten. Und berücksichtigen Sie - indem wir unser Unternehmen so nachdrücklich führen, erweisen wir der Menschheit einen großen Nutzen, und zwar in wenigstens zweierlei Beziehung.«

»Zweierlei«, sagte ich erstaunt - mehr erstaunt über diesen Mann als über seinen Redestrom. »Ich dachte ...«

»Die persönliche Seite«, unterbrach er mich, »daran haben Sie gedacht. Und natürlich ist sie die grundlegende Erwägung. Glauben Sie mir, es liegt eine ganze Welt von Trost in dem Bewußtsein, daß geliebte Menschen, sobald sie gestorben sind, in den heiligen Schoß von Mutter Erde heimkehren. Es liegt eine tiefe Befriedigung im Bewußtsein, daß man selber, wenn die Zeit schließlich gekommen ist, ebenfalls zwischen den Hügeln dieses liebreizenden Planeten zur Ruhe gebettet wird, auf dem die Menschheit ihren Anfang genommen hat. Es ist eine Rückkehr in die Heimat, den Ursprung.«

Unruhig wand ich mich in meinem Sessel. Ich schämte mich für ihn. Er bereitete mir Unbehagen, und ich empfand Widerwillen gegen ihn. Er muß, überlegte ich, mich für einen kompletten Dummkopf halten, wenn er glaubt, daß dieses blumige Geschwätz voller süßlicher Wendungen irgend welche meiner eventuellen Zweifel an der Mother Earth Inc. ausräumen und mich zum Friedhofsbüttel machen könnte.

»Darüber hinaus«, sagte er, »erweisen wir einen zweiten, vielleicht noch wertvolleren Dienst. Wir von der Mother Earth, so glaube ich ernsthaft, dienen als eine Art Bindemittel, das den Rassegedanken aufrecht erhält. Ohne das Wirken der Mother Earth wäre der Mensch ein heimatloser Wanderer geworden. Er hätte längst seine rassische Verwurzlung verloren. Nichts hätte ihn an dies relativ winzige Klümpchen Materie gebunden, das einen ziemlich unbedeutenden Stern umkreist. Gleichgültig, wie dünn das Band sein mag, es scheint von wesentlicher Bedeutung zu sein, daß überhaupt eins existiert, das alle Menschen verbindet, ein Umstand, der allen Menschen eine gewisse Gemeinsamkeit vermittelt. Was könnte dazu besser dienen als ein Gefühl persönlicher Verbundenheit mit dem Ursprungsplaneten ihrer Rasse!«

Für einen Moment zögerte er und starrte mich an. Vielleicht erwartete er irgendeine Reaktion auf diese konzentrierte Darstellung der Edelmütigkeit. Falls er das tat, enttäuschte ich ihn.

»Die Erde ist also ein riesiger galaktischer Friedhof«, fuhr er fort, als feststand, daß ich auf seine bisherigen Äußerungen nicht eingehen wollte. »Man muß jedoch bedenken, daß er weit mehr ist als eine normale Begräbnisstätte. Er ist zugleich Ort des Gedenkens und Denkmal und das Band, das die gesamte Menschheit eint, wo auch das einzelne Individuum sich befinden mag. Ohne unsere Arbeit wäre die Erde längst aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwunden. Es ist keineswegs unvorstellbar, daß der Planet, worauf die Menschheit ihren Aufstieg begann, unter anderen Umständen zum Gegenstand rein akademischen Interesses und sinnloser Diskussionen herabgesunken wäre, auf dem Expeditionen blindlings nach schemenhaften Beweisen forschten, die die Vermutung zu untermauern hülfen, daß der Ursprung der Menschheit in diesem Sonnensystem zu suchen ist.«

Er beugte sich in seinem Sessel vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Langweile ich Sie, Mr. Carson?«

»Beileibe nicht«, erwiderte ich. Und ich sprach die Wahrheit. Er langweilte mich nicht. Er faszinierte mich. Mir schien es unglaublich, daß er bei gesundem Verstand all diesen blühenden Unsinn glauben konnte.

»Mr. Carson«, wiederholte er. »Aber der Vorname? Entschuldigen Sie, aber Ihr Vorname fällt mir im Moment nicht ein.«

»Fletcher«, sagte ich.

»O ja, Fletcher Carson. Und Sie haben diese Geschichten natürlich gehört. Darüber, wie wir die Leute betrügen würden, daß unsere Preise zu hoch seien, und wie ... «

»Einige solcher Geschichten«, gestand ich, »habe ich kennengelernt.« »Und Sie dachten, sie könnten wahr sein.«

»Mr. Bell«, sagte ich, »mir entgeht wirklich der Sinn ...«

Er unterbrach mich. »Manche unserer Repräsentanten haben sich gewisse Exzesse geleistet«, bekannte er. »Es kann sein, daß der Enthusiasmus unserer Spezialisten zu etwas übertriebenen Werbemethoden geführt hat, die dem widersprechen, was der gute Geschmack vorschreibt. Doch im großen und ganzen haben wir uns stets aufrichtig Mühe gegeben, um eine allgemeine Lauterkeit zu gewährleisten, wie die Verantwortung sie uns abverlangt, die auf unseren Schultern ruht. Jeder Pilger, der unsere Mutter Erde besucht hat, wird bestätigen, daß nichts schöner ist als die fertigen Resultate unseres Projekts. Die Friedhofsgelände sind landschaftsmäßig angelegt, in der geschmackvollsten Weise, mit Immergrün und Eiben, der Rasen wird mit liebevoller Sorgfalt gepflegt, und die Blumenbeete sind höchst exquisit ... aber Sie haben das ja selbst gesehen, Mr. Carson.«

»Einen winzigen Teil«, sagte ich. »Und flüchtig.«

»Um die Art von Schwierigkeiten, vor denen wir stehen, einmal zu illustrieren, will ich Ihnen folgendes erzählen«, sagte er, anscheinend in einer plötzlichen Regung von Vertrauen, als hätte ich irgendwie Verständnis geäußert. »Einer unserer Verkaufsvertreter in einem abgelegenen Sektor der Galaxis brachte vor mehreren Jahren das Gerücht in Umlauf, daß der Mother Earth der Platz ausgehe, die Erde bald voll belegt sei, so daß jene Familien, die ihre Toten dort zu begraben wünschten, gut daran täten, sich unverzüglich die wenigen noch verbliebenen Grabstellen reservieren zu lassen.«

»Und das Gerücht konnte natürlich nicht den Tatsachen entsprechen«, bemerkte ich. »Oder doch, Mr. Bell?«

Selbstverständlich wußte ich, daß es das nicht konnte. Ich wollte ihn lediglich sticheln, aber anscheinend entging das ihm.

Er seufzte. »Freilich ist es nicht wahr. Auch die Leute, die es gehört haben, hätten das wissen müssen. Sie hätten wissen müssen, daß es sich nur um ein bösartiges Gerücht handelt und die Achseln darüber zucken sollen. Aber eine Menge von ihnen beschwerte sich, und es gab eine höchst peinliche Untersuchung des Falls, die uns endlosen Ärger bescherte, sowohl nervlich wie auch finanziell. Das Schlimmste ist, daß das Gerücht noch immer durch die Galaxis geistert. Auf manchen Planeten flüstert man's sich noch heute zu. Wir versuchen es zu unterdrücken. Wann immer wir darauf aufmerksam werden, wenden wir uns dagegen. Wir haben es stets mit allem Nachdruck dementiert, aber allem Anschein nach nutzt das nichts.«

»Womöglich verkaufen Sie dadurch noch immer zusätzliche Grabstellen«, bemerkte ich. »An Ihrer Stelle würde ich mir nicht zu große Mühe machen, um es zu unterdrücken.«

Er blies seine Wangen auf. »Sie verstehen mich nicht«, sagte er.

»Fairness und äußerste Korrektheit gehören seit jeher zu unseren Geschäftsprinzipien. Und unter Berücksichtigung dieser Tatsache sind wir der Auffassung, daß man die Schuld am Verhalten dieses einen Verkaufsmitarbeiters nicht uns anlasten darf. Infolge der Entfernungen und Kommunikationsprobleme ist unsere Organisation - aus reinem Sachzwang - ziemlich lockerer Art.«

»Das leitet uns zu der Frage des Restes der Erde«, behauptete ich, »des Teils, der nicht Friedhof ist. Wie ist er wohl beschaffen? Ich bin sehr neugierig, zu ... «

Er winkte mit seiner plumpen Hand ab und mißachtete nicht nur die Fragestellung, sondern sogar den Rest der Erde.

»Da ist überhaupt nichts«, sagte er. »Bloß Wildnis. Nichts als Wildnis. Allein der Friedhof besitzt auf diesem Planeten Bedeutung. Die Erde ist praktisch ein Friedhof.«

»Nichtsdestotrotz«, widersprach ich, »würde ich gerne ...« Aber er unterbrach mich erneut und setzte seine Belehrung über die Führung des Friedhofsunternehmens fort.

»Ständig erhebt sich die Problematik unserer Preisgestaltung«, erläuterte er, »immer im Zusammenhang mit der Unterstellung, die Preise seien viel zu hoch. Aber lassen Sie uns einmal für einen Moment die anfallenden Kosten begutachten. Die Kosten für den bloßen Unterhalt einer Organisation wie der unseren übersteigen die Grenzen der Vorstellungskraft. Addieren Sie zu diesen Kosten jene für den Betrieb unserer Flotte von Sargtransportern, die unaufhörlich rundum all die vielen Planeten anfliegen und die Leichname kürzlich Verstorbener einsammeln, um sie heim zur Erde zu befördern. Nun addieren Sie noch die Kosten hinzu, die uns hier auf unserer Mutter Erde entstehen, und sie erhalten eine Gesamtsumme, welche unsere Preise sehr wohl verständlich macht. Nur wenige Verwandte, müssen Sie wissen, nehmen die Unbequemlichkeit auf sich, die es zwangsläufig bedeutet, ihre lieben Toten an Bord der Sargtransporter zu begleiten. Selbst wenn die Bereitschaft bestände, könnten wir ihnen kaum eine bequeme Reise bieten. Sie waren selbst ein paar Monate lang unterwegs und wissen, daß ein Raumflug an Bord eines Sargtransporters keine Luxuskreuzfahrt ist. Die Kosten für Charterschiffe sind zu hoch, außer für sehr Wohlhabende, und die Pilgerschiffe, auf denen ein Flug nicht billig ist, treffen in der Regel nie zur gleichen Zeit wie die Sargtransporter ein. Da also die Angehörigen zumeist verhindert sind, der Feierlichkeit des Begräbnisses im heiligen Boden beizuwohnen, müssen wir für alle traditionellen Gepflogenheiten sorgen. Natürlich ist es undenkbar, jemanden der Mutter Erde zu übergeben, ohne ihm ein entsprechendes Maß eines Ausdrucks von Trauer und schmerzlichen Verlusts zu entbieten. Aus diesem Grund müssen wir eine große Truppe von Sargträgern und Trauergästen beschäftigen. Außerdem braucht es Floristen und Grabarbeiter, Steinmetze und Gärtner, nicht zu vergessen die Pastoren. Die Pastoren sind ein Fall für sich. Es gibt, wie Ihnen klar sein dürfte, eine ganze Menge von Pastoren. Während die Menschheit sich zu den Sternen ausbreitete, haben ihre Religionsgemeinschaften sich immer wieder gespalten, und nun existieren mehrere Tausend Sekten und Glaubensbekenntnisse. Trotzdem jedoch kann die Mother Earth voller Stolz auf die Tatsache verweisen, daß kein Verstorbener in sein Grab gebettet wird, ohne daß das korrekte Begräbniszeremoniell genau jener besonderen Sekte vollzogen wird, welcher der liebe Tote angehörte. Um das gewährleisten zu können, müssen wir eine hohe Anzahl von Pastoren unterhalten, von denen jeder in seinem Bekenntnis Amt und Würde besitzt, und viele davon sind Mitglieder eher obskurer Sekten, so daß wir ihre Dienste nicht häufiger als zweimal im Jahr beanspruchen müssen. Dennoch, damit sie zur Verfügung stehen, sobald ein solcher Fall eintritt, zahlen wir ihre Gehälter ganzjährig. Natürlich stimmt es, daß wir gewisse Einsparungen machen könnten. Es ließen sich erhebliche Einsparungen durch den Einsatz von Erdbewegungsmaschinen zum Ausheben der Gräber realisieren. Aber wir stehen unerschütterlich fest in einer großen Tradition, und folglich zählen unsere Grabarbeiter nach Tausenden. Ferner ergäbe sich eine Ersparnis aus dem Gebrauch metallener Grabsteine, doch auch in dieser Hinsicht erkennen wir die Tradition an. Jeder Grabstein auf dem gesamten Friedhof ist aus dem Fels von Mutter Erde selbst handgemeißelt. Es gibt einen weiteren Aspekt, den viele verständnislos zu ignorieren geneigt sind. Einmal wird der Tag anbrechen - in ferner Zukunft, aber er wird kommen -, da Mutter Erde voll ist, wenn jeder Fußbreit Boden den lieben Verstorbenen als letzte Ruhestätte dient. Dann wird unser Einkommen fortfallen, wogegen uns die Pflicht und die Kosten der weiteren Pflege verbleiben. Deshalb müssen wir, im Hinblick auf dieses Ende, alljährlich unseren Fond der Ewigen Pflege aufstocken, um sicherzugehen, daß niemals, so lange die Erde besteht, die Monumente des Ewigen Gedenkens, welche hier errichtet wurden, dem Vergessen und dem Verfall preisgegeben und ausgelöscht werden.«

»Das ist alles sehr schön«, meinte ich, »und ich freue mich darüber, daß Sie's mir erzählt haben. Aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu verraten, warum?«

»Nun«, antwortete er in leichtem Erstaunen über meine Frage, »nur um Mißverständnisse auszuräumen. Um das Bild zurechtzurücken. Damit Sie eine Vorstellung von den Problemen bekommen, vor denen wir stehen.«

»Und somit Ihr tiefes Pflichtgefühl und Ihre unerschütterliche Hingebung kennenlerne.«

»Ja, das ebenso«, antwortete er ohne jede Verlegenheit und ohne jede Scham. »Wir möchten Ihnen alles zeigen, das es hier zu sehen gibt. Die hübschen kleinen Dörfer, worin unsere Arbeiter wohnen, die Schönheit unserer zahlreichen Waldkapellen, die Werkstätten, wo man die Grabsteine herstellt.«

»Mr. Bell«, sagte ich, »um an einer Fremdenführung teilzunehmen, bin ich nicht hier. Ich bin kein Pilger.«

»Aber sicherlich werden Sie die geringfügige Unterstützung und die kleinen Gefälligkeiten nicht ausschlagen, welche wir Ihnen zu unserer Freude zukommen lassen können.«

Ich schüttelte den Kopf, wie ich hoffte, nicht zu störrisch. »Ich muß alles selbst erledigen. Es geht nur auf diese Weise. Ich und Elmer und der Bron-co.«

»Sie und Elmer und der was?«

»Der Bronco.«

»Der Bronco? Ich verstehe Sie nicht.«

»Mr. Bell«, sagte ich, »um es richtig zu verstehen, müßten Sie die Geschichte der Erde kennen, einige der alten Legenden.«

»Wegen dieses - Broncos?«

»Bronco ist eine alte irdische Bezeichnung für ein Pferd. Eine besondere Art von Pferd.«

»Dieser Bronco ist ein Pferd?«

»Nein, das nicht«, entgegnete ich.

»Mr. Carson, ich bin mir wirklich nicht länger dessen sicher, ob ich weiß, wer Sie sind oder was Sie beabsichtigen.«

»Ich bin Kompositor-Operateur, Mr. Bell. Ich beabsichtige eine Komposition des Planeten Erde zu schaffen.«

Er nickte mit weiser Miene. Jeder Zweifel schien von ihm gewichen zu sein. »Ach, ja, eine Komposition. Ich hätte es mir denken sollen. Sie besitzen eine Ausstrahlung von Einfühlsamkeit. Und Sie hätten keinen besseren Gegenstand oder besseren Ort wählen können. Hier auf unserer Mutter Erde werden Sie eine Inspiration erhalten wie sonst nirgendwo. Dieser Planet weist eine gewisse - wie soll ich sagen? - flüchtige Eigenschaft auf, die sich bisher der Beschreibung entzogen hat. Jeder Hügel und jedes Tal klingt von eigener Musik wieder ...«

»Nicht Musik«, meinte ich. »Nicht Musik.«

»Sie wollen sagen, eine Komposition ist keine Musik?«

»Nicht in diesem Sinn. Eine Komposition ist wesentlich mehr als nur Musik. Sie ist eine totale Kunstform. Sie schließt Musik ein, aber ebenso umfaßt sie das geschriebene und gesprochene Wort, Bildhauerei, Malerei, Gesang.«

»Sie meinen, das alles machen Sie?«

Ich schüttelte den Kopf. »In Wirklichkeit mache ich das wenigste. Bronco leistet die Hauptsache.«

Er klatschte in die Hände. »Ich fürchte«, sagte er, »nun komme ich ganz durcheinander.«

»Bronco ist ein Kompositor«, erklärte ich. »Er absorbiert die Stimmung, die visuellen Eindrücke, die unterschwelligen Nuancen, die Geräusche und Formen, die Gestalt. All das nimmt er auf und verarbeitet es zu einem Produkt. Keinem restlos fertigen Produkt, doch den Grundzügen und Grundstoffen des Produkts. Damit setze ich dann die Arbeit fort. Wir beide arbeiten zusammen. Zeitweise - so kann man, wie ich glaube, wohl sagen -werde ich zu einem Teil von ihm. Er sammelt die Basismaterialien, und ich liefere die Interpretation, allerdings nicht die ganze. Das machen wir ebenfalls arbeitsteilig. Es wird nun, fürchte ich, ein bißchen schwierig zu erläutern ...«

Er schüttelte den Kopf. »Von so etwas habe ich noch nie gehört. Das ist mir völlig neu.«

»Es handelt sich in der Tat um eine ziemlich neue Methode«, verriet ich. »Erst vor zwei Jahrhunderten wurde sie auf dem Planeten Alden entwickelt, und seitdem unterliegt sie einem ständigen Prozeß der Verfeinerung. Keine zwei Instrumente sind jemals einander gleich. Immer läßt das nächste sich irgendwie verbessern. Es ist ein Projekt mit ungewissem Ausgang, wenn man sich anschickt, einen Kompositor zu konstruieren. Das ist übrigens ein mißlicher Name dafür, aber ein besserer ist noch keinem eingefallen.«

»Aber dieses Instrument nennen Sie Bronco. Der Name muß doch irgendeinen Sinn ...«

»Es verhält sich so«, sagte ich, »daß der Kompositor sehr groß ist und schwer. Er ist ein komplexer Mechanismus mit zahlreichen höchst empfindlichen Teilen, die starken Schutz benötigen. Ich kann ihn nicht bei mir tragen. Er muß sich aus eigener Kraft bewegen. Während wir mit ihm unterwegs sind und die Landschaft durchstreifen, um unsere Eindrücke zu sammeln, montieren wir einen Sattel auf, so daß man darauf sitzen kann.«

»Womit Sie, vermute ich, sich und Elmer meinen. Wieso hat Elmer Sie nicht zu mir begleitet?«

»Elmer ist ein Roboter«, teilte ich ihm mit, »und liegt gegenwärtig in einer Kiste. Er ist als Fracht an Bord des Raumschiffes gegangen.«

Bell wand sich beunruhigt und erhob Einspruch. »Aber, Mr. Carson, Sie müssen das doch wissen. Bestimmt wissen Sie es. Roboter sind auf unserer Mutter Erde nicht erlaubt. Ich fürchte sehr, daß wir ...«

»In diesem Fall haben Sie keine Wahl«, sagte ich. »Sie können ihm den Aufenthalt nicht verweigern. Er ist ein Eingeborener der Erde, und das können weder Sie von sich, noch ich von mir behaupten.«

»Ein Eingeborener!. Das ist ausgeschlossen! Sie müssen scherzen, Mr. Carson.«

»Nicht im geringsten. Hier ist er hergestellt worden. In den Tagen des Letzten Krieges. Er half beim Bau der letzten großen Kriegsmaschine. Später erhielt er den Status eines Freien Roboters, und nach Maßgabe der galaktischen Gesetze besitzt er - mit wenigen Ausnahmen - die gleichen Rechte wie ein Mensch.«

Bell schüttelte den Kopf. »Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte er. »Ich bin mir wirklich nicht sicher ...«

»Sie brauchen sich dessen auch nicht sicher zu sein«, gab ich zur Antwort. »Ich bin es. Ich habe die Rechtslage mit größter Sorgfalt geprüft. Elmer ist nicht allein ein Eingeborener, sondern im Sinne des Gesetzes sogar ein natürlicher Eingeborener. Nicht fabriziert. Geboren. Auf Alden befindet sich ein amtliches Dokument, welches das bestätigt, und ich habe eine Kopie dabei.«

Er bat nicht darum, die Kopie sehen zu dürfen.

»Elmer gilt in jeglicher Hinsicht als Mensch«, ergänzte ich.

»Aber der Kapitän muß sich doch erkundigt haben ...«

»Dank der Bestechungssumme, die ich dem Kapitän gezahlt habe«, sagte ich, »war ihm alles gleichgültig. Und für den Fall, daß Ihnen das Gesetz nicht genügt, möchte ich auf die Tatsache hinweisen, daß Elmer zwei Meter groß ist und außerordentlich schwer. Schlimmer noch, er ist leicht reizbar. Er wollte sich nicht abschalten lassen, als ich seine Kiste zugenagelt habe. Ich wage gar nicht daran zudenken, was geschehen könnte, würde jemand anders als ich die Kiste öffnen.«

Bell musterte mich mit beinahe schläfrigen Augen, doch hinter der Schläfrigkeit lauerte Wachsamkeit. »Nanu, Mr. Carson«, fragte er, »denken Sie so schlecht von uns? Wir begrüßen Ihren Besuch, Ihr Interesse an uns. Die Mother Earth wird Ihnen im Rahmen ihrer Möglichkeiten jede Hilfe leisten, sobald Sie nur sagen, welche Sie brauchen. Sollte es finanzielle Schwierigkeiten geben ...«

»Selbstverständlich gibt es finanzielle Probleme. Aber wir verzichten auf Unterstützung.«

Er blieb verstockt. »Gelegentlich haben wir schon anderen Künstlern fi-nanzielle Zuwendungen gemacht. Schriftstellern, Malern ...«

»Ich habe so einfach wie ich's kann«, sagte ich, »klarzustellen versucht, daß wir mit der Mother Earth oder dem Friedhof keine Verbindungen einzugehen wünschen. Dennoch verharren Sie absichtlich in Ihrem Mißverständnis. Muß ich mich deutlicher ausdrücken?«

»Nein«, antwortete er. »Ich glaube, das ist nicht erforderlich. Sie arbeiten unter der romantischen, aber falschen Voraussetzung, auf der Erde gäbe es mehr als den Friedhof, doch ich sage Ihnen, Mr. Carson, nichts anderes existiert. Die Erde ist wertlos. Vor zehntausend Jahren wurde sie zerstört und verlassen, und ohne unser Wirken wäre sie schon längst in Vergessenheit geraten. Wollen Sie's sich nicht überlegen? Es wäre für alle Beteiligten von gegenseitigem Vorteil. Ich bin sehr interessiert an dieser neuen Kunstform, die Sie da beschrieben haben.«

»Hören Sie zu«, sagte ich, »damit Sie mich endlich richtig verstehen. Ich beabsichtige nicht den Friedhof zu verherrlichen. Mir ist keinesfalls daran gelegen, mich als Public Relations-Agent an die Mother Earth zu verdingen. Ich schulde Ihnen nichts. Ich habe Ihrem ehrenwerten Kapitän für den Flug fünftausend Kredits bezahlt und ...«

»Das war weniger, als Sie auf einem Pilgerschiff bezahlt hätten«, sagte Bell verärgert. »Und ein Pilgerschiff hätte nicht Ihre gesamte Fracht an Bord genommen.«

»Ich habe das Entgelt«, versicherte ich, »als ausreichend erachtet.«

Ich widmete ihm kein Abschiedswort. Ich drehte mich um und ging. Als ich die Treppe vor dem Eingang des Verwaltungsgebäudes hinabschritt, sah ich vor den Stufen, innerhalb der Verkehrszone, einen Wagen geparkt. Er war das einzige Fahrzeug in Sichtweite. Die Frau, die darin saß, blickte mir entgegen, als habe sie gewußt, daß ich mich im Gebäude befinde, und auf mich gewartet.

Der Wagen war schreiend grell rosafarben, und diese Farbe, das Rosa, lenkte meine Gedanken zurück nach Alden, wo alles begonnen hatte.

3

Früher Abend war es gewesen, und ich hatte im Garten gesessen und die purpurnen Wolken beobachtet, die über dem rosafarbenen Horizont hingen (denn Alden ist eine durchwegs rosa Welt), während ich dem abendlichen Gesang der Tempelvögel lauschte, die sich im Hain am unteren Ende des Gartens versammelt hatten. Ich lauschte mit Vergnügen, als plötzlich über den staubigen Pfad, der durch die rosa-staubige Prärie führte, dieses riesige achtfüßige Monstrum getrampelt kam; mit unbeholfenen Schritten taumelte es daher wie ein betrunkener Behemoth. Ich verfolgte seinen Weg und hoffte, es möge vorüberstampfen und mich allein mit dem Abend und den Vögeln lassen, denn mir stand nicht der Sinn danach, mich mit Fremden zu befassen. Ich war deprimiert und wollte nichts so dringlich wie in Ruhe gelassen werden, damit ich hinreichend Gelegenheit erhielt, um mein Gemüt zu stabilisieren. Es war nämlich der Tag gewesen, an welchem ich der grausamen Wirklichkeit ins Antlitz blickte und begriff, daß mein Traum von der Erde aus und vorbei sein mußte, falls ich nicht irgendwie zu mehr Geld gelangte. Ich wußte, wie gering meine Aussichten auf mehr Geld standen. Ich hatte alles zusammengekratzt, was ich besaß, und soviel geborgt, wie man mir zu leihen bereit gewesen war, und ich hätte welches gestohlen, hätte ich irgendwo eine Möglichkeit zum Stehlen gesehen. Ich sah den unerbittlichen Tatsachen ins Angesicht und wußte, daß ich außerstande sein würde, einen solchen Kompositor zu bauen, wie ich ihn brauchte, und daß es um so besser für mich war, je schneller ich die ganze Sache aus meinem Herzen verbannte.

Ich saß im Garten und sah dieses große Monstrum den Pfad entlangkriechen, und ich versuchte mir einzureden, es strebe woandershin und werde nicht bei mir stehenbleiben. Doch das war reines Wunschdenken, denn mein Garten war das einzige Ziel, auf das es zusteuerte. Es sah aus wie ein Arbeitsroboter; vielleicht handelte es sich um einen schweren Montageroboter, doch vermochte ich mir nicht vorzustellen, was ein schwerer Montageroboter auf einem Planeten wie Alden tun sollte. Schwerindustrie zählt zu den vielen Dingen, die man auf Alden nicht betreibt.

Er trampelte heran und verharrte vor dem Gartentor. »Mit Ihrer Erlaubnis, Sir«, sagte er.

»Willkommen«, erwiderte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Er öffnete das Gartentor und marschierte hindurch, dann schloß er gewissenhaft hinter sich, bevor er zu mir herüber stampfte und sich so vorsichtig auf sein Heckteil niederließ, wie er's vermochte. Aus Höflichkeit äußerte er ein kurzes dezentes Zischen. Haben Sie schon einmal einen Roboter von drei Tonnen Gewicht zischen hören? Wahrhaftig, es ist unheimlich.

»Die Vögel singen schön«, sagte dieser Riesenklotz Metall, der neben mir kauerte.

»Sehr schön«, pflichtete ich ihm bei.

»Erlauben Sie mir«, bat der Roboter, »daß ich mich vorstelle.«

»Ich bitte darum«, antwortete ich.

»Mein Name lautet Elmer«, erklärte der Roboter. »Ich bin eine Freie Maschine. Die diesbezüglichen Dokumente habe ich bereits vor Jahrhunderten ausgehändigt bekommen. Seither führe ich meine eigene Existenz.«

»Na, dann herzlichen Glückwunsch«, sagte ich. »Und wie geht's Ihnen?«

»Sehr gut«, meinte Elmer. »Ich reise umher, dahin und dorthin.«

Ich nickte; ich glaubte ihm. Man sah sie bisweilen, diese umherschweifenden Freien Roboter, die nach vielen Dienstjahren technisch den Status von Menschen erhalten hatten.

»Ich habe gehört«, sagte Elmer, »daß Sie heim zur Erde gehen.«

Nicht zur Erde, sondern heim zur Erde - so nannte man es. Nach länger als zehn Jahrtausenden war die Erde noch immer die Heimat Erde. Als habe die Menschheit sie erst gestern aufgegeben.

»Man hat Sie falsch unterrichtet«, sagte ich.

»Aber Sie besitzen einen Kompositor ...«

»Ein Basisinstrument«, klärte ich ihn auf, »dem noch eine Million Teile fehlen, bevor es die Arbeit anpacken kann, die mir vorschwebt. Es wäre eine Schande, mit einem solchen Schrotthaufen die Erde zu betreten.«

»Sehr bedauerlich«, sagte Elmer. »Die Erde ermöglichte Ihnen eine glorreiche Komposition. Da ist nur eins, Sir ...«

Er stotterte und verstummte, verlegen aus einem Grund, den ich nicht entdecken konnte.

Ich wartete, da ich seine Verlegenheit nicht durch irgendeine Äußerung zu vertiefen wünschte.

»Was ich sagen wollte, Sir - obwohl es mir womöglich nicht zusteht, Ihnen Ratschläge zu erteilen -, Sie dürfen sich nicht vom Friedhof beeinflussen lassen. Der Friedhof ist kein Bestandteil der Erde. Er ist etwas, das man der Erde aufgepfropft hat. Aufgepfropft, wenn Sie die Bemerkung gestatten, mit kolossalem Zynismus.«

Diese Worte erregten meine Aufmerksamkeit. Hier, so stellte ich mit größerer Überraschung fest, als ich zu zeigen gedachte, war jemand, der meine Meinung teilte. In der Dämmerung, die heraufzog, betrachtete ich ihn näher. Er bot keinen umwerfenden Anblick. Sein Rumpf war altertümlich, jedenfalls nach Aldener Standard, ein ungefüges Ding, zweckmäßig und leistungsstark, ohne Feinheiten, und ins Kopfstück hatte man nicht die leiseste Mühe investiert, um ihm ein angenehmes Aussehen zu verleihen. Doch trotz seiner rohen, kraftvollen Erscheinung bediente er sich nicht der Sprache, die man von einem plumpen, veralteten Arbeitsroboter erwartete.

»Ich bin ein wenig überrascht«, sagte ich zu ihm, »und zugleich erfreut, einem Roboter zu begegnen, der Interesse für die Kunst hegt, insbesondere für eine so komplizierte Kunstform.«

»Ich habe versucht, einen ganzen Menschen aus mir zu machen«, sagte Elmer. »Die Tatsache, daß ich keiner bin, so vermute ich, dürfte erklären, warum ich es so mühevoll versucht habe. Nach Erhalt meiner Freisetzungsurkunde und der darin fixierten Einsetzung in den Status eines Menschen fühlte ich mich zu dem Versuch verpflichtet, mich zu einem Menschen zu entwickeln. Natürlich ist es unmöglich. In meinem Innern steckt noch sehr viel von einer Maschine ...«

»Aber das Komponieren und mich«, sagte ich, »wie sind Sie darauf gekommen - woher wissen Sie, daß ich an einem Instrument gearbeitet habe?«

»Ich bin Mechaniker, verstehen Sie«, meinte Elmer. »Naturgemäß war ich mein ganzes Leben lang Mechaniker, Sir. Ich schaue einen Gegenstand an und erkenne sofort, wie er funktioniert oder was daran nicht stimmt. Sagen Sie mir, welche Art von Maschine Sie bauen wollen, und es besteht die Möglichkeit, daß ich sie für Sie herstellen kann. Und wenn man es sich genau überlegt, ist ein Kompositor ein so komplizierter Typ von Mechanismus, wie man ihn sich nur vorzustellen vermag, und mehr als das, er ist ein noch bei weitem nicht ausgereifter Typ von Mechanismus. Er befindet sich noch im Stadium seiner Entwicklung, und es läßt sich nicht abschätzen, zu welchen Resultaten der Entwicklungsprozeß führen wird. Ich sehe, daß Sie meine Greifwerkzeuge anblicken und sich fragen, wie ich die Art von Arbeit, welche zum Bau eines Kompositors vonnöten ist, wohl zu leisten vermöchte. Die Antwort lautet, daß ich weitere, andere Hände besitze, sehr spezialisierte Hände. Ich schraube meine Alltagshände ab und jene an, die gerade erforderlich sind. Gewiß haben Sie bereits von so etwas gehört?«

Ich nickte. »Ja. Und wahrscheinlich verfügen Sie auch über Spezialaugen.«

»O ja, in der Tat«, bestätigte Elmer.

»Sie empfinden einen Kompositor als Herausforderung Ihrer mechanischen Fähigkeiten?«

»Nicht als Herausforderung«, berichtigte Elmer. »Das ist ein ungeschicktes Wort dafür. Die Arbeit mit komplizierten Mechanismen schenkt mir Befriedigung. Sie verleiht mir mehr Leben. Sie vermittelt mir das Gefühl, einen Wert zu besitzen. Und Sie haben gefragt, woher ich von Ihnen weiß. Nun, ich glaube, es war nur eine beiläufige Bemerkung - darüber, daß Sie sich mit dem Bau eines Kompositors beschäftigen und heim zur Erde wollten. Also stellte ich Nachforschungen an. Ich fand heraus, daß Sie an der Universität studiert haben, daher ging ich dorthin und wandte mich an verschiedene Leute. Einen Professor traf ich, der hegte enormes Vertrauen zu Ihnen. Er sagte, Sie besäßen die richtige Seele zur Größe und seien auf dem besten Wege. Sein Name, glaube ich, lautete Adams.«

»Dr. Adams«, sagte ich, »ist ein sehr freundlicher Mensch und jetzt alt und vergeßlich.«

Ich kicherte, als ich mir das vorstellte - wie dieser mächtige Vagabund namens Elmer über das schöne Universitätsgelände stampfte und durch die ehrwürdigen, beinahe heiligen Hallen rumpelte, Professoren aus ihren akademischen Tätigkeiten aufscheuchte, um ihnen todernst und hartnäckig Fragen nach einem längst abgegangenen Studenten zu stellen, an den die meisten sich zweifellos nur mit Mühe zu erinnern vermochten.

»Da war noch ein anderer Professor«, sagte Elmer, »der mich ungemein beeindruckt hat, und wir führten ein ausgedehntes Gespräch. Er hatte sich nicht der Kunst verschrieben, sondern der Archäologie. Er sagte, daß er Sie gut kenne.«

»Das muß Thorndyke sein. Ein alter, zuverlässiger Freund.«

»Das ist der Name«, sagte Elmer.

Ich amüsierte mich ein wenig, empfand jedoch auch einen gewissen Groll. Aus welchem Anlaß hatte dieser Robotvagabund Erkundigungen über mich eingezogen?

»Und nun sind Sie davon überzeugt«, fragte ich, »daß ich durchaus imstande bin, einen Kompositor zu bauen?«

»Oh, ganz gewiß«, sagte er.

»Falls Sie in der Hoffnung zu mir kommen«, erklärte ich, »bei mir Arbeit zu finden, haben Sie Ihre Zeit verschwendet. Nicht etwa, weil ich keine Hilfe gebrauchen könnte. Nicht, daß ich Sie ungern nehmen würde. Aber mir ist das Geld ausgegangen.«

»So war es nicht ganz, Sir. Natürlich wäre es mir eine Freude, mit Ihnen zu arbeiten. Doch war mein eigentlicher Grund der, daß ich heim zur Erde möchte. Ich bin dort geboren, müssen Sie wissen. Dort hat man mich hergestellt.«

»Sie sind was?!« rief ich entgeistert.

»Ich bin auf der Erde angefertigt worden«, sagte Elmer. »Ich bin ein Erdgeborener. Ich würde den Planeten gerne einmal wiedersehen. Und ich dachte, daß ich, falls Sie ... «

»Noch einmal«, sagte ich, »und langsam. Wollen Sie wirklich behaupten, Sie seien auf der Erde produziert worden? In den Alten Zeiten?«

»Ich habe das Ende der Erde erlebt«, versicherte Elmer. »Ich arbeitete an der letzten Kriegsmaschine. Ich war Projektleiter.«

»Aber Sie müßten doch längst abgenutzt sein«, sagte ich. »Sie müßten inzwischen abgenutzt sein. Roboter sind langlebig, gewiß, aber ...«

»Man hat mir hohen Wert beigemessen«, erläuterte Elmer. »Als die Menschheit zu den Sternen aufbrach, fand sich auch für mich Schiffsraum. Ich galt nicht als gewöhnlicher Roboter. Ich war ein Mechaniker, ein Tech-niker. Die Menschen benötigten solche Roboter wie mich, um Unterstützung beim Bau ihrer neuen Städte auf den fernen Welten zu haben. Sie sind äußerst sorgsam mit mir umgegangen. Abgenutzte Teile hat man ersetzt, mich stets in gutem Zustand gehalten. Und seit ich frei bin, habe ich immer selbst gut auf mich geachtet. Um das Rumpfäußere habe ich mich nie sonderlich gekümmert. Ich habe es nie verändert. Von Rost habe ich den Rumpf freigehalten und ihn später panzermäßig verstärkt, das ist alles. Der Rumpf zählt nicht, nur die internen Teile sind wichtig. Allerdings ist es heutzutage unmöglich, seriengefertigte Ersatzteile zu bekommen. Sie werden nicht länger produziert, so daß ich Ersatzteile speziell anfertigen lassen muß.«

Was er sagte, hörte sich alles plausibel und wahr an. In jener lange zurückliegenden Zeit des Aufbruchs, als die Menschheit im Verlauf ungefähr eines Jahrhunderts die Erde geflohen hatte, einen zerstörten, verwüsteten Planeten, weil es dort länger nichts gab, um sie zu halten, mußte man solche Roboter wie Elmer gebraucht haben. Doch es war nicht bloß das. Elmers Worte klangen glaubwürdig. Dies war keine übertriebene Geschichte, die den Zuhörer beeindrucken sollte, dessen war ich sicher.

Und hier saß er neben mir, nach all jenen Jahren, und bäte ich ihn darum, würde er mir von der Erde erzählen. Denn er mußte noch alles wissen -alles, das er jemals gesehen oder gehört oder erfahren hatte, mußte er noch wissen, weil Roboter, im Gegensatz zu biologischen Geschöpfen, nicht vergessen. Die Erinnerungen an die uralte Erde mußten in seinem Gedächtnisspeicher zum Abruf bereitliegen, so frisch, als wären sie erst gestern eingegeben worden.

Ich bemerkte, daß ich zitterte - nicht äußerlich, körperlich, sondern in meinem Innern. Jahrelang hatte ich die Erde studiert, und es gab so wenig zu studieren. Die Aufzeichnungen und Schriften waren verloren und verstreut, und in jenen Fällen, da noch welche existierten, handelte es sich oftmals lediglich um Fragmente. In jenen fernen Tagen, als die Menschheit die Erde verließ, zu den Sternen floh, hatte man kaum einen Gedanken an die Erhaltung des planetaren Erbes verschwenden können. Tausende von verschiedenen Planeten mochten noch etwas von diesem Erbe besitzen, irgend etwas, das erhalten geblieben war, weil man es vergessen hatte, verborgen in alten Koffern oder Büchsen unter den Dächern. Aber es würde viele Lebensalter beanspruchen, diese Dinge aufzuspüren, und wenn man etwas fand, wäre sehr wahrscheinlich der größte Teil eine Enttäuschung -nur Kram, ohne entscheidende Bedeutung für die Fragen, die einen Forscher beschäftigten.

Aber hier saß ein Roboter, der die Erde gekannt hatte und von ihr zu be-richten vermochte - allerdings womöglich nicht soviel, wie man hoffen könnte, denn es mußte eine verzweifelte Zeit harter Arbeit für ihn gewesen sein, und weite Teile der Erde waren bereits verwüstet.

Ich versuchte, mir eine Frage zurechtzulegen, doch mir fiel keine ein, die den Eindruck machte, er könne sie beantworten. Eine Frage um die andere kreiste durch mein Bewußtsein, und jede war untauglich, weil sie in keinem Zusammenhang mit einem Roboter stand, der Kriegsmaschinen gebaut hatte.

Und während ich noch nach einer geeigneten Frage suchte, sagte er etwas, das die Fragen vollständig aus meinen Überlegungen verbannte.

»Jahrelang bin ich umhergezogen, von einer Arbeitsstelle zur nächsten«, sagte er, »und man hat mich immer gut bezahlt. Ein Roboter, wie Sie gewiß begreifen, kennt keine regelrechten Bedürfnisse, es gibt nichts, wofür er ohne Notwendigkeit Geld ausgeben würde. Deshalb hat es sich angesammelt. Und hier ist endlich etwas, das mir mein Geld wert wäre. Falls Sie es nicht als Beleidigung empfinden, Sir ...«

»Was denn?« fragte ich, da ich den Sinn seiner ganzen Erklärungen noch nicht ganz erfaßt hatte.

»Nun«, meinte er, »ich würde mein Geld gerne in Ihren Kompositor investieren. Ich glaube, es reicht aus, um ihn fertigstellen zu können.«

Vermutlich hätte ich überglücklich sein müssen. Ich hätte aufspringen sollen und meine Freude hinausschreien. Statt dessen saß ich starr und steif, aus Furcht, jede Bewegung könne mich aus diesem Traum aufschrecken.

»Das ist keine gute Investition«, sagte ich, unverändert reglos und starr. »Ich würde davon abraten.«

Er flehte mich nahezu an. »Verstehen Sie, da ist nicht nur das Geld. Ich habe mehr zu bieten. Ich bin ein guter Techniker. Wir beide könnten gemeinsam das beste Instrument konstruieren, das man jemals gebaut hat.«

4

Als ich die Stufen hinabschritt, sprach die Frau hinter dem Lenkrad des rosa Fahrzeugs mich an.

»Sie sind Fletcher Carson, nicht wahr?«

»Ja«, bekannte ich höchst verwirrt. »Woher wissen Sie, daß ich mich hier befinde? Ich kann mir nicht vorstellen, woher Sie das erfahren haben.«

»Ich habe Sie erwartet«, sagte sie. »Ich wußte, daß Sie mit dem Leichentransporter eintreffen würden, aber ich war so lange unterwegs. Mein Name ist Cynthia Lansing. Ich muß mit Ihnen sprechen.« »Ich habe nicht sonderlich viel Zeit«, antwortete ich. »Vielleicht etwas später.«

Sie war nicht ausgesprochen schön, aber sie wirkte, selbst auf den ersten Blick, irgend wie anziehend und sehr sympathisch. Ihrem Gesicht fehlte nur wenig, um herzförmig zu sein, ihre Augen blickten ruhig und sanft, das schwarze Haar fiel auf die Schultern; sie lächelte nicht mit den Lippen, doch ihr ganzes Gesicht hielt sich in ständiger Bereitschaft zu einem Lächeln.

»Sie möchten zum Lager«, sagte sie, »um Elmer und Bronco auszupak-ken. Ich kann Sie hinfahren.«

»Gibt es etwas«, erkundigte ich mich, »das Sie noch nicht über mich wissen?«

Nun lächelte sie. »Mir war klar, daß Sie unmittelbar nach Ihrer Ankunft einen Höflichkeitsbesuch bei Bell machen mußten. Wie ist er ausgegangen?«

»In Maxwell Peter Bells Stück spiele ich einen Schurken.«

»Also hat er Sie nicht zu überreden vermocht?«

Ich schüttelte den Kopf. Fast wagte ich nicht mehr zu sprechen. Wie, zum Teufel, überlegte ich mir, kann sie all das wissen, was sie anscheinend weiß. Es gab nur einen Ort, wo sie überhaupt etwas davon hatte erfahren können die Aldener Universität. Meine alten Freunde, so entschied ich, hatten Herzen aus Gold, aber sie waren Plappermäuler.

»Kommen Sie, steigen Sie schon ein«, forderte sie mich auf. »Wir unterhalten uns auf dem Weg zur Halle. Ich möchte diesen wunderbaren Roboter kennenlernen, diesen legendären Elmer.«

Ich stieg in den Wagen. In ihrem Schoß lag ein Umschlag, den sie mir reichte.

»Für Sie.«

Mein Name war auf den Umschlag gekritzelt, und es war unmöglich, das fürchterliche Gekritzel zu verkennen. Thorney, durchzuckte es mich. Was, zur Hölle, hatte Thorney mit Cynthia Lansing zu tun, die mir auflauerte, sobald ich die Erde betrat?

Sie ließ den Wagen an und lenkte ihn auf die Straße. Ich riß den Umschlag auf. Es handelte sich um einen Bogen mit dem offiziellen Briefkopf der Aldener Universität, und in die obere linke Ecke war säuberlich eingedruckt: Dr. phil. William J. Thorndyke, Archäologische Abteilung.

Der Text war in der gleichen Sudelschrift wie auf dem Umschlag verfaßt. Er lautet:

Lieber Fletch!

Die Überbringerin dieses Briefs ist Miß Cynthia Lansing, und ich möchte Dich dringend bitten, alles zu glauben, das sie Dir erzählt. Ich habe die Beweise untersucht und würde für ihre Authentizität jederzeit meinen Ruf aufs Spiel setzen. Sie möchte Dich bei Deiner Erkundung der Erde begleiten, und ich würde es als den größten Gefallen auffassen, den Du mir tun kannst, wenn Du ihre Begleitung duldest und ihr, soweit möglich, alle Unterstützung und Mitarbeit gewährst. Sie wird ein Pilgerschiff zur Erde nehmen und Dich dort erwarten. Ich habe Gelder der Fakultät zu ihrer Verfügung gestellt, und Du kannst sie erforderlichenfalls verwenden. Ich brauche Dir vorerst lediglich mitzuteilen, . daß ihre Anwesenheit auf der Erde mit dem zusammenhängt, worüber wir bei Deinem letzten Besuch, kurz vor Deinem Abflug, gesprochen haben.

Ich saß mit dem Brief in der Hand und erinnerte mich, wie ich ihn zuletzt gesehen hatte, in dem vom Feuer erhellten, unordentlichen Raum, den er sein Arbeitszimmer nannte, voller Bücherregale bis unter die Decke, mit schäbigem Mobiliar, der Hund auf dem Kaminvorleger zusammengerollt, die Katze auf ihrem Kissen. Er hatte auf einem Polsterschemel gehockt und das Glas mit dem Brandy zwischen seinen Handflächen gedreht. »Fletch«, hatte er gesagt, »ich bin sicher, daß ich recht habe, daß meine Theorie stimmt. Die Anachronier waren keine galaktischen Händler, wie so viele meiner Kollegen glauben. Sie waren Beobachter, sie waren Kulturspione. Bei genauer Betrachtung ist das einleuchtend. Sagen wir einmal, eine große Zivilisation besaß die Kapazität, um zwischen den Sternen umherzustreifen. Nehmen wir einmal an, irgendwie entdeckte sie einen Planeten, auf dem eine intellektuelle Kultur im Entstehen war oder am Anfang ihres Entstehens. Daraufhin stationierte sie einen Beobachter auf diesem Planeten, um auf Entwicklungen aufmerksam zu werden, die sich als wertvoll erweisen mochten. Wie wir wissen, unterscheiden Kulturen sich stark voneinander. Das läßt sich sogar unter den menschlichen Kolonien feststellen, deren Ursprung auf der Erde liegt. Schon wenige Jahrhunderte genügen, um Abweichungen herauszubilden. Derartige Unterschiede sind natürlich viel größer auf solchen Planeten, wo außerdem fremde Kulturen existieren oder einmal existiert haben - fremde Kulturen, die im Gegensatz zu den menschlichen Kulturen stehen. Keine zwei Gruppen von Intelligenzen gehen jemals an irgendeine Sache auf gleichartige Weise heran. Sie mögen schließlich zum gleichen Resultat gelangen, aber sie erzielen es auf unterschiedlichen Wegen, und während dieses Prozesses entwickelt jede eine Fähigkeit oder eine Idee, welche der anderen fehlt. Sogar eine große galaktische Kultur müßte sich auf diese Weise entwickeln, und weil sie es auf diese Weise müßte, würde sie zahlreiche Errungenschaften, viele Ideen und viele Fähigkeiten versäumen oder unterschätzen. Setzt man diese Erkenntnis als richtig voraus, scheint es doch vernünftig zu sein, daß unsere große galaktische Kultur es als vertretbaren Aufwand betrachtet, andere kulturelle Entwicklungen zu verfolgen, um herauszufinden, was sie versäumt und woran sie vielleicht noch nie gedacht hat. Wahrscheinlich wäre nur eine von zehn neuartigen Entdeckungen für die eigene Kultur nutzbar, aber gerade diese eine könnte von allergrößter Wichtigkeit sein. Sie könnte ihnen eine neue Dimension verleihen, sie zu einer reichhaltigeren und solideren Kultur erheben. Angenommen, die Erde wäre - was sie natürlich nicht war - die einzige Kultur gewesen, die das Rad erdacht hat. Selbst wenn nun jene große galaktische Kultur nicht auf das Rad verfallen wäre, hätte sie sich dennoch zu ihrer Größe entwickelt, mittels eines anderen Prinzips, das die Ermangelung des Rads aufhebt. Wäre es aber nicht trotzdem wahrscheinlich, daß die Kenntnis des Rads, sogar eine sehr verspätete, für sie wertvoll sein dürfte? Das Rad ist ein überaus nützliches Ding - wenn man's hat.«

Meine Gedanken kehrten zurück zur Gegenwart. Ich hielt noch immer den Brief in der Hand .Das Fahrzeug näherte sich der Lagerhalle. Der Leichentransporter stand nach wie vor auf seinem Landefeld, aber die Lastfahrzeuge waren verschwunden. Die Entladung mußte abgeschlossen sein.

»Thorney schreibt, daß Sie uns zu begleiten wünschen«, wandte ich mich an Cynthia Lansing. »Ich bezweifle, daß das möglich sein wird. Uns stehen Anstrengungen bevor. Wir kampieren bei jedem Wetter.«

»Ich kann Anstrengungen vertragen. Ich kann kampieren.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Hören Sie«, erhob sie Widerspruch, »ich habe alles riskiert, um hier sein zu können, bevor Sie eintreffen. Ich habe jeden Kredit, den ich hatte, für den unverschämten Flugpreis des Pilgerschiffs geopfert ...«

»Thorney schreibt von einem finanziellen Zuschuß.«

»Ich hatte bei weitem nicht genug für den Flug«, sagte sie. »Zum großen Teil mußte ich dafür den Zuschuß ausschöpfen. Und bis zu Ihrer Ankunft habe ich im Pilgrim Inn gewohnt, das beileibe nicht billig ist. Vom Zuschuß ist nicht viel übrig. Wirklich so gut wie gar nichts ...«

»Sehr bedauerlich«, bemerkte ich. »Aber Sie haben gewußt, was für ein Risiko Sie eingehen. Sie hatten keinen Grund zu der Annahme ...«

»O doch«, sagte sie. »Sie sind genauso bankrott wie ich.«

»Und was heißt das?«

»Das heißt, Sie besitzen kein Geld, um nach Fertigstellung Ihrer Komposition nach Alden zurückzukehren.«

»Das ist mir bewußt«, erwiderte ich, »aber wenn ich die Komposition fer-tig habe ...«

»Dann fehlt Ihnen das Geld noch immer«, meinte sie. »Und die Mother Earth wird es Ihnen nicht leicht machen.«

»Das kann sein«, sagte ich, »aber ich begreife nicht, wieso ich durch Ihre Begleitung ... «

»Das versuche ich Ihnen ja zu erklären. Vielleicht klingt es töricht ...« Sie verstummte und sah mich an. Ihr Gesicht wirkte nicht länger, als neige es zum Lächeln.

»Verdammt nochmal!« entfuhr es ihr dann. »Warum sagen Sie nichts? Warum helfen Sie mir kein bißchen? Weshalb fragen Sie mich überhaupt nicht, was ich zu bieten habe?«

»Also gut. Was haben Sie zu bieten?«

»Ich weiß, wo der Schatz ist.«

»Um Himmelswillen, welcher Schatz?«

»Der Schatz der Anachronier.«

»Thorney ist davon überzeugt«, berichtete ich, »daß die Anachronier auf der Erde gewesen seien. Er wollte, daß ich auf irgendwelche Spuren ihrer Anwesenheit achte. Klar, daß das kein ernsthafter Auftrag ist. Die Archäologen sind sich noch nicht einmal sicher, ob eine solche Rasse überhaupt jemals existiert hat. Ihre Heimatwelt hat man nie gefunden. Es sind lediglich auf einem halben Dutzend Planeten Fragmente von Schriften entdeckt worden, fragmentarische Schriften unter dem Schriftgut und anderen Funden der heimischen Kultur. Einiges spricht anscheinend dafür, obwohl mir die Beweiskraft recht anfechtbar zu sein scheint, daß einst Mitglieder dieser geheimnisvollen Rasse auf anderen Planeten gelebt haben - vielleicht als Händler, wie die Mehrzahl der Archäologen annimmt, oder als Beobachter, wie Thorney glaubt, oder aus anderen Gründen, weder als Händler noch als Beobachter. Er hat mir alles darüber erzählt, aber nie einen Schatz erwähnt.«

»Doch es gab einen Schatz«, sagte sie. »Während des Letzten Kriegs wurde er aus dem alten Griechenland ins alte Amerika gebracht. Ich habe einen Hinweis darauf entdeckt, und Professor Thorndyke ...«

»Erklären Sie mir bitte einmal, welchen Sinn das ergeben sollte«, sagte ich. »Falls Thorney recht hat, waren sie nicht hier, um Schätze anzuhäufen, sondern um Daten zu sammeln, zu beobachten ...«

»Um Daten zu sammeln, gewiß«, bekräftigte sie, »aber was ist mit dem Beobachter? Er dürfte ein Spezialist gewesen sein, oder? Ein Historiker, vielleicht weit mehr als das. Er muß den kulturellen Wert gewisser Artefakte erkannt haben - das Opferbeil eines prähistorischen Stammes, eine griechische Amphore, ägyptischen Schmuck ...«

Ich schob den Brief in meine Jackentasche und sprang aus dem Wagen. »Sprechen wir später darüber«, sagte ich. »Jetzt muß ich mich um Elmer und den Bronco kümmern.«

»Darf ich Sie begleiten?«

»Wir werden sehen«, wich ich aus.

Ich überlegte, wie sie sich wohl am besten abwimmeln ließ. Sie hatte Thorneys Segen; möglicherweise wußte sie tatsächlich etwas von den Anachroniern, vielleicht sogar über einen Schatz. Und ich konnte sie nicht einfach ohne Geld hier sitzenlassen - denn wenn sie jetzt noch nicht pleite war, würde sie es bald sein, falls sie im Pilgrims Inn bleib, und woandershin konnte man nicht. Bei Gott, ich verspürte keine Lust, sie mitzunehmen. Sie würde eine Last und Quelle von Ärgernissen sein. Ich war kein Schatzsucher. Ich war zur Erde gekommen, um eine Komposition zu machen. Ich hoffte, etwas von den Schwingungen der Erde einfangen zu können - der Erde minus Friedhof, der ursprünglichen Erde. Ich konnte mich nicht auf die Suche nach Anachroniern oder Schätzen begeben. Thorney hatte ich nur versprochen, die Augen nach irgendwelchen Spuren offenzuhalten, und das bedeutete, daß ich nicht danach jagte.

Ich schritt zur offenen Tür der Halle; Cynthia blieb mir auf den Fersen. Drinnen war es dunkel und ich verharrte für einen Moment, um meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Etwas bewegte sich, und ich erspähte drei Männer - drei Arbeiter, ihrem Aussehen zufolge.

»Hier stehen einige Kisten von mir«, sagte ich. Ringsum standen eine Menge Särge aufgestapelt, die Fracht des Leichentransporters.

»Dort drüben, Mr. Carson«, sagte einer von ihnen. Er winkte hinüber, und ich sah sie - die Riesenkiste, worin Elmer steckte, und die vier Kisten, in die wir den Bronco verpackt hatten.

»Danke«, sagte ich. »Sehr freundlich, daß Sie sie getrennt vom Rest abgestellt haben. Ich hatte den Kapitän darum gebeten, aber ...«

»Nur noch eine Kleinigkeit«, meinte der Mann. »Bearbeitung und Lagerung.«

»Was soll das heißen, Bearbeitung und Lagerung?«

»Na, die Rechnung. Meine Männer arbeiten nicht umsonst.«

»Sind Sie hier der Vorarbeiter?«

»Ja. Reilly ist mein Name.«

»Wie hoch ist die Rechnung?«

Reilly griff in seine Gesäßtasche und holte einen Zettel hervor. Er musterte ihn angestrengt, als vergewissere er sich, daß er sich nicht verrechnet hatte.

»Also«, sagte er, »sie beläuft sich auf vierhundertsiebenundzwanzig Kre-dits, aber sagen wir, vierhundert.«

»Sie müssen sich irren«, entgegnete ich und rang um Beherrschung. »Sie haben die Kisten doch nur ausgeladen und hier untergestellt, und was die Lagerung betrifft, sie stehen ja erst seit ungefähr einer Stunde hier.«

Reilly schüttelte trübsinnig den Kopf. »Ich kann's nicht ändern. Das ist Ihre Rechnung. Entweder begleichen Sie sie oder wir behalten die Fracht. So ist das geregelt.«

Die beiden anderen Männer waren lautlos an seine Seite getreten.

»Das ist völlig lächerlich«, widersprach ich. »Das muß ein Scherz sein.«

»Mister«, sagte der Vorarbeiter, »das ist durchaus kein Scherz.«

Ich besaß keine vierhundert Kredits, aber auch andernfalls hätte ich die Rechnung nicht bezahlt; allerdings konnte ich ebensowenig mit dem Vorarbeiter und den beiden strammen Packern neben ihm fertig werden.

»Ich werde die Rechnung prüfen lassen«, sagte ich, indem ich das Gesicht zu wahren versuchte, während ich keine Vorstellung davon hatte, was ich als nächstes unternehmen sollte. Sie hatten mich kaltgestellt, ich wußte es. Nicht sie allerdings; es war Maxwell Peter Bell. Er hatte mich kaltgestellt.

»Tun Sie das, Mister«, sagte Reilly. »Das dürfen Sie ruhig tun.«

Ich konnte bei Bell vorsprechen, doch genau das wollte er. Er rechnete damit, daß ich es tun würde, und dann wäre natürlich alles in Ordnung, man würde mir alles verzeihen, wenn ich eine Zuwendung des Friedhofs akzeptierte und meine Arbeit im Sinne des Friedhofs durchführte. Aber auch darauf beabsichtigte ich mich nicht einzulassen.

»Fletcher«, sagte hinter mir Cynthia, »sie rotten sich gegen uns zusammen.«

Ich drehte den Kopf und sah weitere Männer durch die Tür kommen.

»Das ist keine Zusammenrottung«, bemerkte Reilly. »Wir möchten bloß dafür sorgen, daß Sie uns unmißverständlich begreifen.«

Hinter Reilly ertönte ein leises, schrill knarrendes Geräusch, und als ich es vernahm, begriff ich sofort, was es verursachte, nämlich ein Nagel, den man aus dem Holz zwang, worin er steckte.

Reilly und seine Gefolgsmannen fuhren herum.

»Also los, Elmer! Heraus und zeig ihnen was du kannst!« brüllte ich.

Auf meinen Ruf hin, schien die Kiste zu explodieren, die Bretter, die über die Oberseite genagelt lagen, bogen sich und zerbrachen, und aus der Kiste erhob sich Elmer auf seine acht Beine.

Beinahe behutsam trat er heraus.

»Was gibt es, Fletch?«

»Sei nachsichtig mit ihnen, Elmer«, sagte ich. »Töte sie nicht. Brich ihnen nur ein paar Knochen.«

Er trat einen Schritt vor, und Reilly und die beiden Männer zu seinen Seiten wichen zurück.

»Ich werde sie nicht verletzen«, beschloß Elmer, »sondern nur ein wenig durchmangeln. Wer ist das dort hinter dir, Fletch?«

»Das ist Cynthia«, antwortete ich. »Sie wird uns begleiten.«

»Wirklich?« meinte Cynthia.

»Hören Sie mal, Carson«, schnauzte Reilly, »versuchen Sie's nicht auf die harte Tour ...«

»Verschwindet! sagte Elmer drohend. Er tat einen schnellen Schritt vorwärts und schwang seinen Arm. Alle stürzten davon und zur Tür hinaus.

»O nein!« rief Elmer. Er eilte an uns vorüber. Sie schlossen die Tür, doch bevor sie zufallen konnte, zwängte er eine Hand in den Spalt, packte die Tür, drückte sie auf und rammte die Schulter dagegen. Sie wölbte sich und hing schief.

»Das wird sie lehren«, sagte Elmer, »uns einsperren zu wollen! Stelle sich einer so etwas vor! Aber jetzt läßt die Tür sich nicht länger schließen. Erzähl mir, Fletch, was los ist.«

»Maxwell Peter Bell«, erklärte ich, »hat etwas gegen uns. Komm, packen wir den Bronco aus. Je schneller wir abhauen, um so ...«

»Ich muß den Wagen holen«, sagte Cynthia. »Meine ganzen Vorräte und meine Kleidung sind darin.«

»Vorräte?« fragte ich.

»Klar. Nahrung und anderes Zeug, das wir brauchen werden. Ich bezweifle, daß Sie dergleichen mitgebracht haben. Das ist einer der Gründe, warum ich so blank bin. Ich habe sie vom letzten Geld gekauft ...«

»Gehen Sie und holen Sie den Wagen«, sagte Elmer. »Ich passe auf. Niemand wird Sie belästigen.«

»Sie haben an alles gedacht«, stellte ich fest. »Sie waren sich offenbar ihrer Sache sehr sicher ...«

Aber sie lief schon aus der Tür. Von Reilly oder seinen Männern war nichts zu sehen. Sie stieg in den Wagen und fuhr ihn durch den Eingang in die Halle.

Elmer trat zu den übrigen Kisten und klopfte gegen die kleinste. »Bist du das, Bronco?« fragte er. »Bist du da drin?«

»Ich bin es«, antwortete eine gedämpfte Stimme. »Elmer, bist du es? Haben wir die Erde erreicht?«

»Ich wußte nicht«, sagte Cynthia, »daß Bronco ein Sensualapparat ist und sprechen kann. Professor Thorndyke hat davon nichts erwähnt.«

»Er ist sensorisch«, klärte Elmer sie auf, »besitzt jedoch nur einen niedrigen Intellekt. Nicht gerade ein Geistesriese.«

Er wandte sich an Bronco. »Hast du den Flug gut überstanden ?«

»Ich bin in Ordnung«, antwortete Bronco.

»Wir brauchen eine Zange, um die Kisten zu öffnen«, sagte ich.

»Überflüssig«, sagte Elmer. Er ballte eine Faust und schmetterte sie auf eine Ecke der Kiste. Das Holz brach und splitterte, und er schob seine Finger in das entstandene Loch und riß ein Brett los.

»Das ist leicht«, behauptete er. »Ob ich aus meiner Kiste kommen würde, dessen war ich mir weniger sicher. Es war nicht viel Platz darin, ungünstig für den Einsatz von Hebelkraft. Aber als ich hörte, was sich abspielte ...«

»Ist Fletch hier?« fragte Bronco.

»Fletch kommt ganz gut allein zurecht«, meinte Elmer. »Er ist zur Stelle und hat schon ein Mädchen abgeschleppt.«

Er riß weitere Bretter aus der Kiste.

»Gehen wir an die Arbeit«, sagte er.

Das taten wir; wir beide.

Bronco war ein komplizierter Apparat und nicht leicht zu montieren. Die Kisten enthielten zahlreiche Teile, und sie alle mußten mit größter Präzision zusammengefügt und aufeinander abgestimmt werden. Aber wir beide arbeiteten schon seit fast zwei Jahren mit Bronco und kannten ihn in- und auswendig. Zuerst hatten wir uns nach der Bauanleitung gerichtet, doch die brauchten wir längst nicht mehr. Wir hatten sie fortgeworfen, als sie sich in derart zerfleddertem Zustand befand, daß sie ohnehin unbrauchbar war, und unterdessen hatte Bronco, immer wieder verfeinert, verbessert und umgebaut, sich zu einem Apparat entwickelt, der nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Modell der Bauanleitung besaß. Wir beide kannten infolge unserer Zusammenarbeit jedes Teil ganz genau. Wir vermochten Bronco zu demontieren und im Dunkeln wieder zusammenzusetzen. Keinen überflüssigen Handgriff taten wir, eine Verständigung oder Anweisungen erübrigten sich. Elmer und ich arbeiteten wie Maschinen zusammen. Innerhalb einer Stunde hatten wir Bronco montiert.

Zusammengesetzt war er ein ziemlich verrücktes Ding. Er hatte acht Gliederbeine, die insektenhaft wirkten. Jedes ließ sich in so gut wie alle Winkelstellungen bringen. Er verfügte über ausfahrbare Klauen zum besseren Zugreifen. Er konnte sich überall bewegen, in jeglichem Gelände. Er vermochte fast senkrechte Wände zu erklettern. Sein walzenförmiger Rumpf, mit einem Sattel ausgestattet, bot den empfindlichen Instrumenten in seinem Innern ausgezeichneten Schutz. Darauf befand sich eine Reihe von Ringen zum Festschnallen von Gepäck. Er besaß ein einziehbares Schwanzstück, ausgerüstet mit verschiedenen Sensoren, und den Kopf krönte ein seltsamer Aufbau mit einem weiteren Sortiment von Sensoren.

»Ich fühle mich gut«, sagte er. »Brechen wir nun auf?«

Cynthia hatte ihre Anschaffungen aus dem Wagen geladen.

»Lagerausrüstung«, sagte sie. »Konzentratnahrung, Decken, Wetterkleidung und ähnliches. Keine Luxusartikel. Für so etwas hatte ich kein Geld.«

Elmer begann die Kisten und Kästen auf Broncos Rücken zu laden, wo er sie befestigte.

»Meinen Sie, Sie können ihn reiten?« fragte ich Cynthia.

»Sicher kann ich das. Aber was ist mit Ihnen?«

»Er reitet auf mir«, sagte Elmer.

»Nein, keineswegs«, widersetzte ich mich.

»Sei einsichtig«, empfahl Elmer. »Vielleicht müssen wir sehr schnell von hier fort. Möglicherweise lauern sie uns auf.«

Cynthia ging zur Tür und schaute hinaus. »Niemand in Sicht«, sagte sie.

»Wie kommen wir am schnellsten aus dem Friedhof?« fragte Elmer.

»Auf der Straße nach Westen«, erklärte Cynthia, »am Verwaltungsgebäude vorbei. Nach ungefähr fünfundzwanzig Meilen endet der Friedhof.«

Elmer schnallte die letzten Gepäckstücke auf Broncos Rücken; dann warf er einen abschließenden Blick in die Runde. »Ich glaube, das ist alles«, sagte er. »Steigen Sie auf, Miß.«

Er half ihr hinauf. »Halten Sie sich gut fest«, warnte er sie. »Bronco ist nicht das zahmste Reittier.«

»Ich gebe acht«, sagte sie ein wenig unsicher.

»Und jetzt du«, sagte Elmer zu mir. Ich öffnete den Mund zu erneutem Widerspruch, schwieg jedoch, weil ich seine Eigensinnigkeit kannte. Außerdem war es tatsächlich klüger, auf ihm zu reiten. Falls wir uns wirklich fluchtartig absetzen mußten, konnte er es zehnmal schneller tun als ich. Seine langen Metallbeine waren die reinsten Kilometerfresser.

Er hob mich auf seine Schultern; ich setzte mich in seinen Nacken. »Du hältst dich an meinem Kopf fest, damit du im Gleichgewicht bleibst«, sagte er. »Ich halte deine Beine. Ich werde dafür sorgen, daß du nicht herunterfällst.«

Ich nickte, obwohl ich mich nicht sonderlich wohl fühlte. Ich fand es verdammt würdelos.

Wir brauchten uns nicht zu beeilen. Ringsum war niemand zu sehen, ausgenommen eine Gestalt, die fern in nördlicher Richtung auf einem Weg zwischen den Grabsteinen schwerfällig einherstapfte. Dennoch mußten uns Menschen beobachten; ich konnte ihre Blicke beinahe spüren. Wir müssen ein merkwürdiger Anblick gewesen sein - Cynthia, die auf diesem grashüpferähnlichen, hoch mit Kästen und Ballen bepackten Bronco ritt, und ich, der ich auf dem zwei Meter großen Elmer schaukelte.

Wir liefen nicht, zeigten nicht einmal Eile, aber wir kamen zügig voran. Bronco und Elmer waren gute Marschierer. Selbst bei ihrer normalen Gangart hätte ein Mensch rennen müssen, um mit ihnen Schritt halten zu können.

Unter Geschlinger und Gerassel bogen wir auf die Straße ein, passierten das Verwaltungsgebäude und drangen in den Hauptteil des Friedhofsgeländes vor. Die Straße lag verlassen, und die Gegend schien friedlich. Gelegentlich sahen wir in der Ferne ein kleines Dorf, in eine Mulde geschmiegt, den schlanken Finger eines Kirchturms, der gen Himmel wies, verwaschene Farben, bei denen es sich um die Hausdächer handelte. Ich nahm an, daß diese kleinen Dörfer die Wohnstätten der Arbeiter waren, welche der Friedhof beschäftigte.

Während ich so ritt und unter Elmers schlenkernden Schritten schaukelte und schwankte, erlangte ich die Erkenntnis, daß der Friedhof, all seiner gepriesenen Schönheit zum Trotz, in Wirklichkeit ein äußerst bedrückender Ort war, öde und schaurig. Seine Gleichmäßigkeit, seine endlose Ordentlichkeit waren zermürbend, und über allem schwebte ein Hauch von Tod und Vergänglichkeit.

Zuvor hatte ich keine Zeit dafür erübrigen können, um mir Sorgen zu machen, doch nun begann ich mich zu sorgen. Am stärksten sorgte mich seltsamerweise, daß die Friedhofsverwaltung, nach einem reichlich läppischen Versuch, keine echte Anstrengung unternommen hatte, um uns aufzuhalten. Wäre Elmer außerstande gewesen, überlegte ich, seine Kiste zu sprengen, hätten Reilly und seine Männer mich allerdings in eine schwierige Lage gebracht. Doch wie die Dinge jetzt standen, hatte ich nahezu den Eindruck, daß Bell uns getrost gehen ließ, weil er wußte, daß er jederzeit und überall zuschlagen konnte. Hinsichtlich Maxwell Peter Bell wollte ich mich keinem Selbstbetrug hingeben.

Außerdem fragte ich mich, ob man andere Maßnahmen gegen uns einleiten würde. Vielleicht hatten sie das nicht nötig; höchstwahrscheinlich interessierten sich Bell und der Friedhof nicht länger sonderlich für uns. Wir durften uns herumtreiben, wo wir's wünschten, und es war gleichgültig. Wohin wir auch gingen oder was wir taten, es gab keine Möglichkeit, die Erde ohne die Unterstützung des Friedhofs wieder zu verlassen.

Ich hatte alles verdorben, so sagte ich mir. Ich war angekommen und hatte angesichts von Bells hochtrabendem Verhalten den Neunmalklugen gespielt; damit hatte ich jede Chance irgendeiner konstruktiven Übereinkunft mit Bell oder dem Friedhof vertan. Vielleicht wäre die Art meines Auftretens aber auch gleichgültig gewesen. Mir hätte klar sein müssen, daß man auf der Erde nach den Noten des Friedhofs musizierte oder überhaupt nicht. Das ganze verdammte Abenteuer war vom Anfang an zum Scheitern verur-teilt gewesen.

Es war mir zwar nicht lange erschienen, aber wir mußten schon seit geraumer Zeit unterwegs sein - ich war in meine sorgenvollen Gedanken vertieft gewesen, daß ich das Zeitgefühl völlig verloren hatte -, als die Straße sich über einen Hügel hinzog - und endete; und damit hatten wir auch die Friedhofsgrenze erreicht.

Ich starrte ins Tal unter uns hinab und auf die Reihen von Hügeln, die sich jenseits des Tals erhoben, und bei diesem Anblick sog ich vor Staunen heftig den Atem ein. Vor uns erstreckte sich ein seltsames Waldgebiet, gekleidet in eine flammende Farbenpracht, die in der nachmittäglichen Sonne zu brennen schien.

»Herbst«, sagte Elmer. »Ich hatte vergessen, daß es auf der Erde einen Herbst gibt. Auf dem Friedhof konnte man es nicht feststellen. Dort sind alle Bäume grün.«

»Herbst?« fragte ich.

»Eine Jahreszeit«, sagte Elmer. »Eine bestimmte Zeit des Jahres, in der das Laub der Bäume sich verfärbt. Ich hatte es seltsamerweise ganz vergessen.«

Er drehte seinen Kopf so, daß er auf zu mir blicken konnte. Wäre er zum Weinen fähig gewesen, er hätte geweint.

»Man vergißt so vieles«, gestand er.

5

Es war eine Welt der Schönheit, aber kraftvoller, strenger, rauher Schönheit, anders als die zarte, fast zerbrechliche Schönheit von Alden, feierlich und beeindruckend, und in ihre Beschaffenheit und ihre Farben war ein Anflug von Ergriffenheit und Furcht verflochten.

Ich saß auf einem mit Moos überwachsenen Felsblock neben einem plätschernden, dunkelbraunen Bach, der auf seiner Oberfläche jene roten und goldenen und gelben, zauberhaften Boote mittrug, die gefallenen Blätter. Wenn man scharf lauschte, konnte man am Ufer das dunkelbraune Wasser kehlig gurgeln hören, und das leise, ferne Geräusch anderer Blätter, die von den Bäumen sanken und sich raschelnd zu ihresgleichen gesellten. Und trotz all der Farben und der Schönheit spürte man eine uralte Trauer. Ich saß und lauschte dem Vorübergleiten des Wassers und dem leisen Rascheln der Blätter; ich betrachtete die Bäume und sah, daß sie massive Gewächse waren, ein Gefühl von Alter verbreiteten, eine Empfindung von Sicherheit, Geborgenheit und Trost. Hier gab es Farben, Geräusche und Stimmung, Qualität und Struktur, und ein Gewebe, das sich mit den geistigen Fingern betasten ließ.

Die Sonne sank und warf nebelhafte Lichtschleier über den Fluß und die Bäume, und die Luft begann abzukühlen. Ich wußte, daß es an der Zeit war, ins Lager zurückzukehren. Aber ich wollte nicht gehen. Denn ich spürte, daß man diesen Ort, nachdem man ihn einmal gesehen hatte, niemals wiedersehen würde. Ging man und kam später zurück, würde er nicht der gleiche sein; wie oft ich auch diese Stelle aufsuchen mochte, dieser Ort und das Gefühl, das er vermittelte, würden niemals gleichartig sein, etwas würde fehlen oder etwas anderes hinzugekommen sein, und nie wieder, bis in alle Ewigkeit, würden all die aufeinander abgestimmten Einzelheiten, die integrierten Faktoren, wieder in genau der Zusammenstellung existieren, die den Ort zu dem machte, was er in diesem magischen Moment war.

Hinter mir kollerte ein Stein; ich drehte mich um und erkannte Elmer, der sich durch den abendlichen Dunst näherte. Ich sagte nichts zu ihm, und er schwieg ebenfalls, kauerte sich jedoch neben mich nieder; wir schwiegen beide, denn es brauchte nichts gesagt zu werden. Während ich dort saß, erinnerte ich mich an die zahlreichen Gelegenheiten, die ähnlich gewesen waren wie diese - als es zwischen Elmer und mir keiner Worte bedurft hatte. Wir saßen noch am Fluß, als die Dämmerung sich verdichtete, und in der Ferne erklang ein Heulen, dem wenig später ein leises Bellen folgte. Unaufhörlich und geschwätzig strömte das Wasser vorüber, während die Dunkelheit heraufzog.

»Ich habe ein Feuer entzündet«, sagte schließlich Elmer. »Wir brauchen es zum Kochen, aber ich hätte es auch getan, brauchten wir es nicht. Die Erde verlangt nach Feuer. Die beiden sind unzertrennlich. Der Mensch hat die Wildnis um sich und in sich mit Feuer überwunden. In seiner ganzen, langen Geschichte hat er das Feuer nie erlöschen lassen.«

»Entsinnst du dich dessen«, fragte ich, »daß es so gewesen ist?«

Er schüttelte den massigen Kopf. »Ob es so gewesen ist, daran erinnere ich mich nicht, aber irgendwie weiß ich, daß es so gewesen sein muß. Damals gab es keine Bäume wie diese und keinen solchen Fluß. Aber wenn man nur einen Baum im Herbstsonnenschein glühen sieht, kann man sich ausmalen, wie es mit einem ganzen Wald derartiger Bäume wäre. Man sieht, wie ein Fluß stirbt, am Dreck erstickt, und man vermag sich vorzustellen, wie es sein könnte, wäre das Land rein.«

Wieder ertönte das Bellen und kroch mit eisigem Griff mein Rückgrat entlang.

»Hunde«, sagte Elmer, »die einer Fährte folgen. Entweder Hunde oder Wölfe.«

»Während des Letzten Kriegs warst du hier«, sagte ich. »Damals war alles anders.«

»Anders«, wiederholte Elmer. »Fast alles war tot oder starb. Aber da und dort gab es Flecken, wo die alte Erde erhalten blieb. Kleine Nester, wohin das Gift und die Strahlung nicht vordrangen, Ortschaften, die der Krieg nur streifte. Genug dergleichen, um erkennen zu können, wie es einst gewesen war. Die Menschen lebten vorwiegend unter dem Erdboden. Ich arbeitete an der Oberfläche, an einer Kriegsmaschine - vielleicht war es die letzte ihrer Art, die man jemals gebaut hat. Abgesehen von seinem Zweck war es ein wundervoller Mechanismus, er hätte wirklich hervorragend sein können, denn er war nicht bloß eine Maschine. Er besaß einen Maschinenkörper, aber das Gehirn war etwas anderes - ein Mittelding aus Maschine und Mensch, ein robotisches Hirn in Kopplung mit menschlichen Gehirnen. Ich habe keine Ahnung, wer diese Hirne waren. Jemand muß es gewußt haben, aber ich erfuhr es nie. Oft habe ich darüber nachgedacht. Das war die einzige Methode, mit der sich der Krieg noch weiterführen ließ. Kein Mensch konnte das tun. Deshalb fochten die Diener und Gefährten der Menschen ihn aus, die Maschinen. Ich weiß nicht, warum er überhaupt fortgeführt worden ist. Danach habe ich mich häufig gefragt. Sie hatten bereits alles zerstört, worum gekämpft wurde, und das Weiterkämpfen war längst sinnlos geworden.«

Er verstummte und erhob sich.

»Laß uns umkehren«, sagte er. »Du mußt hungrig sein, und die junge Dame auch. Fletch, ich habe keine Klarheit darüber, weshalb sie uns begleitet.«

»Wegen irgendeinem Schatz.«

»Was für einen Schatz?«

»Ich weiß es nicht genau. Wir hatten keine Zeit zur Aussprache.«

Von unserem Standort aus vermochten wir den Feuerschein wahrzunehmen und schlugen die Richtung dorthin ein.

Cynthia kniete vor einem Häufchen Kohlen, die sie aus der Glut gescharrt hatte, und hielt einen Topf darüber, in dem sie mit einem Löffel rührte.

»Ich hoffe, es ist annehmbar«, meinte sie. »Das ist so etwas wie eine Suppe.«

»Es ist nicht erforderlich, daß Sie sich damit abmühen«, sagte Elmer leicht verstimmt. »Wenn es darauf ankommt, bin ich ein ausgezeichneter Koch.«

»Ich auch«, sagte Cynthia.

»Morgen verschaffe ich uns Fleisch«, versprach Elmer. »Ich habe ein paar Eichhörnchen und einige Hasen gesehen.« »Wir besitzen keine Jagdausrüstung«, gab ich zu bedenken. »Keine Gewehre.«

»Wir stellen einen Bogen her«, sagte Cynthia.

»Weder Gewehre noch Bogen sind notwendig«, versicherte Elmer. »Steine genügen. Ich werde einige Kieselsteine sammeln ...«

»Mit Steinen kann man nicht jagen«, wandte Cynthia ein. »Damit kann man nicht treffsicher genug werfen.«

»Ich kann es sehr wohl«, erklärte Elmer. »Ich bin eine Maschine. Ich brauche mich nicht auf Muskeln oder ein menschliches Auge zu verlassen, das, so wunderbar es auch sein mag ...«

»Wo ist Bronco?« fragte ich.

Elmer wies nach hinten.

»Er befindet sich in Trance«, sagte er.

Ich ging ums Feuer, um nach ihm zu sehen. Es stimmte, was Elmer gesagt hatte. Bronco stand am Rand unseres Lagerplatzes, die sensorischen Apparaturen ausgefahren, und absorbierte sämtliche Eindrücke.

»Der beste Kompositor, den es jemals gegeben hat«, sagte Elmer stolz. »Er hat sich geradezu auf die Arbeit gestürzt. Er ist wirklich sensitiv.«

Cynthia holte zwei Näpfe heraus und füllte sie mit Suppe. Einen Napf reichte sie mir.

»Aufgepaßt«, mahnte sie, »heiß.«

Ich setzte mich neben sie und begann vorsichtig zu essen. Die Suppe schmeckte nicht allzu schlecht, und sie war heiß. Jede Löffelfüllung mußte ich zum Abkühlen anpusten, bis ich sie in den Mund schieben konnte.

Erneut erklang das Bellen, und diesmal näher, hinter dem nächsten oder übernächsten Hügel.

»Es sind Hunde«, sagte Elmer. »Sie verfolgen etwas. Vielleicht sind dort Menschen.«

»Vielleicht ist es bloß ein wildes Rudel«, meinte ich.

Cynthia schüttelte den Kopf. »Nein. Während des Aufenthalts im Pilgrim Inn habe ich mich ein bißchen umgehört. Hier draußen in der Wildnis gibt es tatsächlich Menschen - oder was man beim Friedhof Wildnis nennt. Anscheinend weiß niemand sonderlich viel über sie, oder zumindest spricht keiner gern viel darüber. Als stünden sie außerhalb jedes menschlichen Interesses. Die übliche Haltung von Friedhofspilgern, wie zu erwarten. Sie haben eine Kostprobe davon bekommen, Fletcher, als Sie Maxwell Peter Bell aufsuchten. Was sich dabei ergeben hat, haben Sie noch gar nicht erzählt.«

»Er wollte mich einspannen. Ich habe abgelehnt, nicht besonders diplomatisch. Mir ist klar, daß ich hätte höflicher sein sollen, aber er hat mich gereizt.«

»Es hätte nichts geändert«, sagte sie. »Beim Friedhof ist man an Verweigerungen nicht gewöhnt - nicht einmal an höfliche.«

»Warum hast du dich überhaupt mit ihm beschäftigt?« fragte Elmer.

»Man erwartet das«, erklärte ich. »Der Kapitän hat mich darauf aufmerksam gemacht. Ein Höflichkeitsbesuch. Als wäre er ein König oder Premierminister oder Potentat oder etwas Ähnliches. Ich konnte mich schlecht drücken.«

»Was ich nicht verstehe«, wandte Elmer sich an Cynthia, »ist, wie Sie in diese Angelegenheit verwickelt sind. Das heißt nicht, daß Sie unwillkommen wären.«

Cynthia sah mich an. »Hat Fletcher Sie nicht in Kenntnis gesetzt?«

»Er hat etwas von einem Schatz erwähnt...«

»Ich glaube«, sagte sie, »ich erzähle lieber die ganze Geschichte. Schließlich besitzen Sie ein Recht darauf, sie zu erfahren. Und ich möchte nicht, daß Sie mich für eine gewöhnliche Abenteurerin halten. Wollen Sie mir zuhören?«

»Durchaus«, sagte Elmer.

Sie schwieg einen Moment lang, und man vermochte zu spüren, wie sie ihre Gedanken sammelte, sich einen Ruck gab, als stehe sie vor einer schwierigen Aufgabe, die gut zu lösen sie sich entschlossen hatte.

»Geboren bin ich auf Alden«, begann sie. »Meine Vorfahren befanden sich unter den ersten Siedlern. Die Familiengeschichte - vielleicht sollte ich besser sagen, die Familienlegende, denn nichts davon ist dokumentiert -reicht zurück bis zu ihrer Ankunft. Aber Sie würden den Namen Lansing nicht unter denen der Ersten Familien finden - die Ersten Familien großgeschrieben. Die Ersten Familien sind jene, die zu Reichtum gelangten. Meine Familie wurde nicht reich. Schlechte Wirtschaft, reine Trägheit, vielleicht Faulheit, Mangel an Ehrgeiz, eine Pechsträhne - ich weiß nicht, woran es lag, doch auf jeden Fall blieben ihre Abkömmlinge arm wie Kirchenmäuse. Es gibt ein winziges Kaff, fernab von allem auf dem flachen Land gelegen, das heißt Lansing Corners, aber das ist alles, andere Spuren hat meine Familie auf Alden oder in Aldens Geschichte nicht hinterlassen. Sie waren Farmer, Kleinhändler, Arbeiter - sie verfolgten keine politischen Bestrebungen, sie brachten keine Genies hervor. Sie gaben sich damit zufrieden, nach dem Tagwerk auf der Treppe ihres Häuschens zu hocken, ihr Bier zu trinken und mit den Nachbarn zu plaudern, oder - allein - den fabelhaften Al-dener Sonnenuntergängen zuzuschauen. Es waren einfache Leute. Einige, vermutlich sogar viele, verließen im Laufe der Jahre den Planeten, um woanders ihr Glück zu suchen; ich glaube, daß sie's nie gefunden haben, an-dernfalls hätten die Lansings auf Alden davon erfahren, aber die Familienlegenden erwähnen nichts dergleichen. Die, die zurückblieben, taten es wahrscheinlich bloß, weil es ihnen mißfallen hätte, zu gehen - sie besaßen nicht viel, aber Alden ist ein entzückender Planet.«

»Das ist wahr«, sagte ich. »Ich habe an der dortigen Universität studiert. Bis jetzt vermochte ich mich nie dazu durchzuringen, ihn für immer zu verlassen.«

»Woher stammen Sie, Fletcher?«

»Rattlesnake«, antwortete ich. »Schon einmal davon gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Da haben Sie Glück«, meinte ich. »Stellen Sie keine Fragen. Erzählen Sie bitte weiter.«

»Am besten über mich, schätze ich«, sagte sie. »Ein paar Informationen über mich. Ich wollte schon immer etwas aus mir machen. Ich kann mir denken, daß in der Vergangenheit viele Lansings das gleiche versucht haben, aber es wurde nichts daraus. Wie vielleicht auch aus mir nichts wird. Es ist ein wenig zu spät, um noch etwas für das Image der Lansings tun zu können. Mein Vater starb schon in jungen Jahren. Er besaß eine einigermaßen einträgliche Farm - keine reiche Farm, aber eine, die den Unterhalt sicherte und darüber hinaus ein bißchen abwarf. Meine Mutter führte sie nach seinem Tod weiter und erwirtschaftete genug, um mir ein Universitätsstudium zu ermöglichen. Mein Interesse galt der Geschichte. Ich träumte davon, einmal einen Lehrstuhl zu erhalten, sachkundige Forschungen zu betreiben und bahnbrechende Untersuchungen zu verfassen. Ich war eine gute Studentin. Ich mußte wohl eine sein. Meine ganze Zeit habe ich dem Studium gewidmet. Viele andere Dinge, die das Studentenleben bieten kann, habe ich versäumt. Heute ist mir das klar, aber es macht mir nichts aus. Nichts in der Welt faszinierte mich mehr als Geschichte. Ich schwelgte regelrecht darin - untergegangene Stätten, längst verstorbene Menschen, alte Zeiten. Des Nachts, im Bett, im Finstern, stellte ich mir vor, ich reiste mit einer Zeitmaschine in die ferne Vergangenheit, zu jenen fernen Stätten, und beobachtete die Menschen der alten Zeiten. Ich lag in der Dunkelheit und stellte mir vor, ich läge in meiner Zeitmaschine, die durch die alten Länder und Zeiten reiste, und dicht hinter der Wand verdunkelter Zeit wohnten und atmeten und regten sich jene Menschen, denen nachzuspionieren ich unterwegs war, daß ringsum jene großen Ereignisse geschähen, welche den Lauf der Zeit bestimmten. Als es soweit kam, daß ich mich spezialisieren, mich für ein Spezialgebiet entscheiden mußte, wurde mir bewußt, daß mich das Studium Der Alten Erde unwiderstehlich anzog. Mein Berater warnte mich. Er setzte mir auseinander, daß das ein sehr begrenztes Fachgebiet sei und das Quellenmaterial sehr beschränkt. Ich wußte, daß er recht hatte, und gab mir Mühe, mich von ihm überzeugen zu lassen, aber es half nicht. Ich war besessen von der Erde. Diese meine Besessenheit, dessen bin ich ziemlich sicher, beruhte teilweise auf einer Verbindung mit der Vergangenheit, meiner Teilnahme für die frühen Anfänge. Die Farm meines Vaters lag nur wenige Meilen entfernt vom ursprünglichen Siedlungsplatz der ersten Lansings auf Alden, das heißt, jedenfalls den Familienlegenden zufolge. Tief in einer kleinen Felsschlucht, an einer Stelle, wo sie sich gegen eine Landschaft öffnete, die einmal ein fruchtbares, anbaufähiges Tal gewesen sein mußte, stand ein altes, steinernes Haus, oder etwas, das einst ein Steinhaus war. Weite Teile waren eingestürzt, die Steine selbst mit der Zeit verwittert, schief durch die geringfügigen Erdbewegungen, die sich erst nach vielen Jahrhunderten ernsthaft auswirken würden. Um dieses Haus gab es keine Geschichten. Es war kein Spukhaus. Es stand bloß ganz einfach dort. Für ein Spukhaus war es schon zu alt. Die Zeit hatte es in einen Teil der Landschaft verwandelt. Es blieb unbemerkt. Es war zu alt und verfallen, um die Aufmerksamkeit von Menschen zu erregen, allerdings hatten viele kleine Wildtiere, wie ich bei meinem Besuch feststellte, es zu ihrem Heim gemacht. Der Boden, worauf es stand, und das Land ringsum waren so armselig und wertlos, daß das Haus nichts und niemanden störte, und deshalb war es dem Abbruch und der Vernichtung entgangen, dem herkömmlichen Schicksal so vieler alter Dinge. Tatsächlich ist das gesamte Gebiet durch die ökonomische Nutzung vollständig ausgelaugt, durch Jahrhunderte inzwischen in Vergessenheit geratenen Anbaus völlig verdorben, so daß sich dort selten jemand blicken läßt. Eine Familienlegende - jedoch eine sehr fragwürdige, wie ich zugeben muß - behauptete, das Haus sei einst der Wohnsitz eines sehr frühen Lansing gewesen. Ich ging hin, weil es so uralt war, glaube ich, und nicht, weil es vielleicht einem Lansing gehört hatte -einfach, weil es so alt war, älter als das Gedächtnis der Menschen zurückreicht, ein Bauwerk aus ferner Vergangenheit. Ich versprach mir nichts davon. Ich besuchte es an einem freien Tag. Sie müssen mich verstehen, es war nur ein Ausflug, ein Zeitvertreib. Ich kannte das Haus natürlich schon seit langem und hatte es übersehen, wie alle anderen. Viele andere wußten ebenfalls von seiner Existenz und akzeptierten sie wie die Existenz eines Baums oder eines Felsens. Das Haus besaß keinerlei Anziehungskraft, gar keine. Vielleicht hätte ich nie daran gedacht, außer im Vorübergehen, womöglich wäre ich nie hingegangen, hätte mein Sinn für alte Dinge sich nicht allmählich immer mehr geschärft. Begreifen Sie, was ich Ihnen klarzumachen versuche?«

»Ich glaube«, sagte ich, »daß ich Sie weitaus besser verstehe, als Sie an-nehmen. Ich kenne die Symptome. Ich habe höchst akut darunter gelitten.«

»Also ging ich hin«, sprach sie weiter, »und streichelte mit meinen Händen die alten, roh behauenen Steine, und ich dachte an jene Menschenhände, längst zu Staub zerfallen, die sie geklopft und aufeinandergetürmt hatten, zum Schutz gegen die Nacht und die Unbill des Wetters, zum Heim auf einem neuentdeckten Planeten. Ich sah es durch die uralten Augen der Erbauer und verstand, was sie an diesem Ort zum Hausbau verlockt haben mochte, warum sie ausgerechnet diese Stelle gewählt hatten, um ein Haus zu errichten. Die Wände des Canyons boten Schutz gegen den heftigen Wind, die stille, erschütternde Schönheit der Gegend, das Wasser aus der Quelle, die noch immer als spärliches Rinnsal aus der Felswand sprudelte, das weite, furchtbare Tal - jetzt nicht länger fruchtbar - welches sich praktisch direkt vor der Tür zu erstrecken begann. Ich stand dort an ihrer Stelle und fühlte mich so, wie sie sich gefühlt haben mußten. Einen Moment lang war ich sie. Und es zählte wirklich nicht sonderlich, ob sie nun Lansings gewesen waren oder keine; sie waren Menschen gewesen, hatten der menschlichen Rasse angehört. Wäre ich gleich wieder gegangen, das allein hätte mich für die aufgewandte Zeit reichlich belohnt. Die Berührung der Steine, die Zeugnisse der Vergangenheit, sie wären bei weitem genug gewesen, aber dann betrat ich das Haus ...«

Sie schwieg für einen Moment, als müsse sie sich für den Rest des Berichts erneut sammeln.

»Ich ging ins Haus«, sagte sie, »und das war eine Tollkühnheit, denn in jedem Augenblick hätten Teile davon niederbrechen können, auf mich herab. Manche Steine hingen gefährlich locker, das ganze Ding war schlichtweg baufällig. Ich erinnere mich nicht, ob ich damals überhaupt einen Gedanken daran verschwendet habe. Ich tat meine Schritte behutsam, nicht wegen einer Gefahr, sondern wegen jener Heiligkeit von Zeit, die das Haus erfüllte. Es war seltsam, dieses Gefühl, das mich bewegte - oder, genauer gesagt, die einander widerstreitenden Gefühle. Zuerst, beim Eintreten, hatte ich das Gefühl, ein Eindringling zu sein, ein Außenseiter, der kein Recht dazu besaß, sich dort aufzuhalten. Ich drang in alte Erinnerungen ein, in alte Leben, alte Gefühle, die allein und in Frieden gelassen werden sollten, die schon so lange dort weilten, daß sie das Recht erworben hatten, alleingelassen zu werden. Ich ging hinein, in etwas, das einmal ein ziemlich großer Raum gewesen sein mußte, vielleicht so etwas wie ein Wohnzimmer. Am Boden lag dick der Staub, und dem Staub hatten kleine Wildtiere ihre Spuren aufgedrückt, und der Geruch wilder Tiere, die während der verstrichenen Jahrtausende dort gewohnt hatten, haftete allem an. In den Ecken hatten Insekten seidene Netze gesponnen, und manche ältere Netze waren so ver-staubt wie der Boden. Aber als ich dort stand, unmittelbar hinter der Tür, widerfuhr mir etwas Seltsames - ein Gefühl überkam mich, daß ich das Recht besaß, dort zu sein, dorthin zu gehören, daß ich nach langer, langer Zeit zurückkehrte an eine vertraute Stätte und ein willkommener Gast war. Denn hier hatte Blut von meinem Blut gelebt, Fleisch von meinem Fleisch, und die Zeit vermag das Recht von Fleisch und Blut nicht auszulöschen. In einer Ecke befand sich ein Kamin. Der Schornstein war fort, längst eingestürzt, aber der Kamin war noch vorhanden. Ich ging hinüber, kniete mich nieder und berührte den Herdstein mit meinen Fingern, fühlte unter dem Staub die Beschaffenheit seiner Oberfläche. Ich blickte in den geschwärzten Rachen des Kamins, geschwärzt von den einstigen Kaminfeuern; der Ruß war geblieben, er widerstand der Zeit und dem Wetter, und für einen Moment schien es mir, als könne ich die aufgestapelten Scheite und die Flammen sehen. Und ich sagte - ich weiß nicht, ob ich es laut aussprach oder nur dachte -, ich sagte: Es ist gut, ich bin heimgekommen, um euch zu sagen, daß die Lansings noch bestehen. Ich befand mich keine Sekunde lang darüber im Zweifel, zu wem ich es sagte. Ich wartete nicht auf eine Antwort. Ich rechnete mit keiner Antwort. Niemand war dort, um zu antworten. Es genügte, daß ich es gesagt hatte. Ich war es ihnen schuldig gewesen.«

Sie blickte mich aus furchtsamen Augen an. »Ich weiß nicht, warum ich das alles erzähle«, meinte sie. »Es war gar nicht meine Absicht. Es gibt keinen Grund dafür, es Ihnen zu erzählen, und keinen Grund, weshalb sie es sich anhören sollten. Die Tatsachen - die Tatsachen könnte ich mit wenigen Sätzen zusammenfassen, aber ich habe den Eindruck, daß sie mit den Hintergründen erzählt werden müssen ...«

Ich streckte eine Hand aus und berührte ihren Arm. »Gewisse Tatsachen lassen sich nicht einfach darlegen«, ermutigte ich sie. »Sie machen es richtig.«

»Stört es Sie bestimmt nicht?«

»Beileibe nicht«, antwortete Elmer an meiner Stelle. »Ich bin fasziniert.«

»Viel mehr habe ich nicht zu berichten«, sagte sie. »Es gab eine noch intakte Tür, die aus dem großen Raum ins Innere des Hauses führte, und ich betrat den nächsten Raum und sah, daß er eine Küche gewesen sein mußte, obwohl sie nur teilweise erhalten war. Das Haus besaß ein Obergeschoß, von dem noch ein Teil stand, obschon das ganze Dach fehlte, es war bereits vor langer Zeit eingestürzt, ins Innere. Über der Küche jedoch war kein Obergeschoß. Anscheinend hatte sich ein Dachvorsprung über die Küche erstreckt, und ein Haufen Schutt lag entlang der früheren Außenwand der Küche aufgetürmt, die Trümmer des Dachvorsprungs. Ich weiß nicht, wieso ich es bemerkte, es war schwer zu erkennen, aber ein eckiger Gegenstand ragte ein kurzes Stück weit aus dem Schutt. Er wirkte fremdartig, sah nicht aus wie ein Trümmerstück. Er war staubbedeckt wie alles im Haus. Man konnte ihm nicht auf Anhieb ansehen, daß er aus Metall bestand. Er schimmerte nicht. Ich vermute, es lag an der Eckigkeit. Schutt ist nicht eckig. Also ging ich zu dem Trümmerhaufen und grub das Ding aus. Es war eine Kassette, verrostet, aber unbeschädigt - das Metall war nirgendwo gebrochen oder durchgerostet. Ich hockte mich neben sie auf den Boden und versuchte es zu rekonstruieren, was mit ihr geschehen sein mochte, und ich folgerte, daß sie irgendwann unter dem Dachvorsprung, oben im Dachgeschoß, untergebracht worden, dann in Vergessenheit geraten und beim Einsturz des Dachvorsprungs durch die Küchendecke geschlagen sein mußte, oder vielleicht besaß die Küche zu jener Zeit keine Decke.«

»So ist die Geschichte also«, sagte ich. »Eine Kassette mit einer Zeichnung, auf der ein Schatz ...«

»Ich glaube, ja«, meinte sie, »aber nicht auf die Art, wie Sie denken. Ich konnte die Kassette nicht öffnen, daher nahm ich sie mit in mein Apartment, besorgte mit einige Werkzeuge und erbrach sie. Viel war nicht darin. Eine alte Urkunde über die Zuteilung einer kleinen Parzelle Land, ein Wechsel mit Zahlungsvermerk, zwei vergilbte Umschläge mit unglaublich alten Briefmarken, aber ohne Briefe, einen oder zwei entwertete Schecks und eine dokumentarische Bestätigung über die leihweise Abgabe einiger alter Familienpapiere an die Archivarische Abteilung der Universität. Keine Geschenke - sie waren nur eine Leihgabe. Am folgenden Tag suchte ich das Archiv auf und forschte nach. Sie wissen, wie es mit solchen Archiven steht... «

»Das weiß ich in der Tat«, sagte ich.

»Es dauerte eine Weile, aber mein Status als promovierte Erdhistorikerin und die Tatsache, daß es sich immerhin um Papiere meiner Familie handelte, gewährleisteten schließlich die Aushändigung. Man erwartete, ich wollte sie lediglich begutachten, aber als ich sie endlich bekam - ich nehme mit einiger Wahrscheinlichkeit an, daß man sie falsch eingeordnet hatte und eine Zeitlang brauchte, um sie wiederzufinden -, war ich so aufgebracht, daß ich die Verleihung offiziell widerrief und mit den Papieren abrauschte. Natürlich war das für eine hingebungsvolle Historikerin ein unmögliches Verhalten, aber zu jener Zeit, weil ich so außer mir war, machte ich mir keine Gedanken darüber. Die Abteilung drohte mir mit gerichtlichen Schritten, und hätte man die Drohung verwirklicht, wäre ein ganz hübscher Schlamassel zu entwirren gewesen, aber man tat es nie. Wahrscheinlich hielten sie die Papiere für wertlos, aber wieso sie das zu beurteilen wagten, vermochte ich mir nicht vorzustellen. Es handelte sich um einen kleinen Stapel Papiere, wirklich unbedeutendes Zeug in einem derartigen Archiv. Sie steckten gemeinsam in einem versiegelten Umschlag. Nichts verwies darauf, daß sie jemals studiert worden wären, sie waren alle durcheinander, ungeordnet. Hätte sich jemand mit ihnen befaßt, wären sie sortiert und klassifiziert worden, aber offensichtlich hatte man das ursprüngliche Siegel niemals erbrochen. Der ganze Stoß war einfach archiviert und vergessen worden.« Sie verstummte und sah mich eindringlich an. Ich schwieg. Wie lange sie auch brauchen mochte, irgendwann würde sie zum Schluß kommen. Vielleicht besaß sie einen guten Grund dafür, es auf diese Weise zu erzählen. Vielleicht mußte sie alles noch einmal durchleben, um es zu prüfen, damit sie dessen sicher sein konnte, daß sie nicht in die Irre gegangen war, daß sie richtig gehandelt hatte. Ich dachte keineswegs daran, sie zu drängen, obwohl ich ein wenig Ungeduld verspürte.

»Viel war's nicht«, sagte sie. »Eine Reihe von Briefen, die etwas Licht auf die Anfänge der menschlichen Kolonisierung Aldens warfen - nichts Überraschendes, keine Neuigkeiten, aber sie vermittelten ein Gefühl von jener Zeit. Ein schmales Bündel reichlich laienhafter Gedichte, verfaßt von einem Mädchen. Rechnungen von einer kleinen Handelsfirma, die womöglich für einen Wirtschaftshistoriker von gelindem Interesse gewesen wären, und ein Memorandum, von einem alten Mann in ziemlich pompöser Sprache niedergeschrieben, worin er eine Geschichte wiederholte, die ihm sein Großvater erzählt hatte, der zu den ersten Siedlern gehörte, die von der Erde kamen.«

»Und das Memorandum?«

»Es enthielt eine seltsame Geschichte«, sagte sie. »Ich ging damit zu Professor Thorndyke und berichtete ihm das gleiche wie eben Ihnen, bat ihn, das Schriftstück zu lesen, und nachdem er es gelesen hatte, saß er da und blickte weder mich an, noch das Papier oder überhaupt irgend etwas, und dann sprach er ein Wort, das ich noch nie vernommen hatte - Anachron.«

»Was ist Anachron?« fragte Elmer.

»Das ist ein mythischer Planet«, erklärte ich, »eine Art von Nirgendland. Eine Welt, die sich die Archäologen zurechtfantasiert haben, deren Existenz sie theoretisch annehmen ...«

»Es ist eine Wortneuprägung«, sagte Cynthia. »Ich habe Professor Thorn-dyke nicht gefragt, aber ich vermute, es kommt von Anachronismus - das ist etwas, das nicht in eine Zeit paßt, ganz und gar nicht paßt. Sie wissen, seit Jahrzehnten finden die Archäologen rätselhafte Spuren einer unbekannten Rasse, die auf einer Anzahl anderer Planeten Schriften zurückgelassen hat, vielleicht auf viel mehr Planeten als sie ahnen, denn diese fragmentarischen Texte hat man bisher ausschließlich zusammen mit heimischen Arte-fakten entdeckt ...«

»Als seien sie Besucher gewesen«, meinte ich, »die ein paar Kleinigkeiten mitgebracht hatten. Sie können viele Planeten besucht haben, doch ihre Hinterlassenschaften fände man dennoch nur auf ein paar davon, durch reinen Zufall.«

»Sie sagten, bei den Papieren befand sich ein Memorandum?« fragte Elmer.

»Ich habe es hier«, sagte Cynthia. Sie griff in die Innentasche ihrer Jacke und holte eine längliche Brieftasche heraus, der sie ein gefaltetes Bündel Blätter entnahm. »Nicht das Original«, fügte sie hinzu. »Eine Kopie. Das Original war alt und brüchig. Es hätte nichts ausgehalten.«

Sie reichte die Blätter Elmer, der sie entfaltete, einen kurzen Blick darauf warf und sie dann an mich weitergab. »Ich schüre das Feuer«, sagte er, »so daß wir mehr Licht haben. Lies laut vor, damit wir es alle hören.«

Der Text war in krakliger Schrift verfaßt, höchstwahrscheinlich von der Hand eines alten, zittrigen Mannes, der des Schreibens nicht gerade geübt war. Stellenweise war die Schrift ein wenig verwaschen, aber alles war zur Genüge leserlich. Rechts oben auf der ersten Seite stand eine Zahl - 2305.

Cynthia beobachtete mich. »Die Jahreszahl«, sagte sie. »Dafür habe ich sie gehalten, und Professor Thorndyke pflichtete mir bei. Sie dürfte ungefähr stimmen, falls der Mann, der sie geschrieben hat, wirklich jener war, von dem ich's glaube.«

Elmer hatte das Feuer geschürt, das Holz aufgehäuft, und die Lichtverhältnisse waren gut. »So, Fletch«, meinte Elmer. »Warum fängst du nicht an?«

Also fing ich an.

6

2305

Meinem Enkel, Howard Lansing.

Mein Großvater erzählte mir, als ich noch ein junger Mann war, von einem Ereignis, das ihm widerfuhr, als er selbst ungefähr in meinem Alter stand, und nun, da ich das Alter erreicht habe, das er besaß, als er mir davon erzählte, oder gar ein höheres Alter, will ich Dir das Wissen um dies Ereignis weiterreichen, aber da Du noch ein Junge bist, schreibe ich es nieder, damit Du es liest, sobald Du an Jahren und Reife gewonnen hast und seine Bedeutung und seine Tragweite besser zu begreifen vermagst.

Zu jener Zeit, da er mir von dem Geschehnis berichtete, befand er sich im Zustand geistiger Gesundheit und litt lediglich unter den körperlichen Gebrechen, welche sich mit den Jahren in den Leib eines Menschen schleichen. Und so seltsam die Geschichte auch wirken mag, sie erklingt wider, oder jedenfalls hatte ich stets diesen Eindruck, von jener inneren logischen Stimmigkeit, welche die Wahrheit auszeichnet.

Mein Großvater, so mußt Du beachten, erblickte das Licht der Welt auf der Erde und kam in seinen mittleren Jahren auf diesen unseren Planeten Alden. Er wurde in der frühen Zeit des Letzten Krieges geboren, als zwei mächtige Blöcke von Nationen über die Erde Grauen und Zerstörung brachten, die sich jeglicher Vorstellungskraft entziehen. Während seiner Jugend nahm er Teil an diesem Krieg - in dem Maße, wie ein Mensch daran teilzunehmen vermochte, denn in Wirklichkeit war es weniger ein Krieg, worin Menschen einander bekämpften, als ein Krieg, den Maschinen und Instrumente austrugen, die in besinnungsloser Wut miteinander fochten, welche eine Verlängerung des Grimms war, den ihre Erbauer hegten. Am Ende, als seine gesamte Familie und die Mehrzahl seiner Freunde tot waren oder vermißt (ich weiß nicht, was für wen zutraf, und ich besitze keine Sicherheit darüber, ob selbst er es wußte), zählte er zu jenem Kontingent von Menschen, einem winzigen Bruchteil der Massen, die einst die Erde bevölkert hatten, das in den großen Sternenschiffen aufbrach, um andere Planeten zu besiedeln, weil die Erde unwirtlich geworden war, vergiftet und verseucht, ausgelaugt.

Doch stand die Geschichte, die er mir erzählte, weder im Zusammenhang mit dem Krieg noch mit dem Flug in den Weltraum, sondern vielmehr mit einem Zwischenfall, dessen Zeitpunkt er gar nicht und dessen Ort er nur ungefähr erwähnte. Mein Eindruck ist, daß er sich zutrug, als er noch ein verhältnismäßig junger Mann war, obwohl ich mich nicht entsinne, ob er mir dies gesagt hat oder ob ich es aus mittlerweile vergessenen Einzelheiten der Erzählung selbst gefolgert habe. Freimütig gestehe ich, daß ich im Lauf der Jahre vieles vergessen habe, doch die hauptsächlichen Tatsachen sind meinem Gedächtnis nach wie vor mit aller Deutlichkeit eingeprägt.

Durch gewisse Umstände, die meiner Erinnerung inzwischen entfallen sind (falls er sie mir überhaupt jemals geschildert hat), gelangte er in ein Gebiet, das er als Sicherheitszone bezeichnete, ein kleines Areal, eine Fläche der Landschaft, die durch irgendwelche Eigenschaften der Lage, vielleicht in topografischer oder meteorologischer Beziehung, durch die Kriegshandlungen weniger verseucht war als andere, nicht so glückliche Gegenden, oder vielleicht gar nicht verseucht, und wo ein Mensch sich ohne die andernorts erforderlichen, umfangreichen Schutzmaßnahmen ver-gleichsweise sicher aufhalten konnte. Wie ich oben geschrieben habe, erwähnte er die genaue Lage dieses Gebiets nicht, aber er bemerkte, es liege in einem Bereich, wo ein kleiner Fluß aus dem Norden in einen großen Strom münde; dieser Strom hieß Ohaio oder so ähnlich.

Es schien mir so gewesen zu sein (wiewohl er dergleichen nicht sagte, und ich auch keine diesbezügliche Frage an ihn richtete), daß mein Großvater derzeit keinem besonderen Auftrag oder einer dienstlichen Mission nachging, sondern daß er jenes Gebiet nur durch einen Zufall entdeckt hatte und dort blieb, um den Vorteil verhältnismäßiger Sicherheit, das es bot, wahrzunehmen. In Anbetracht der Situation wäre das jedenfalls außerordentlich vernünftig gewesen.

Ich habe keine Ahnung, wie lange er sich insgesamt dort aufgehalten hat, und weiß auch nicht, wie lange er dort war, als der Vorfall sich zutrug. All das ist jedoch für das eigentliche Ereignis unwesentlich.

Eines Tages dann, erzählte er, sah er die Flugmaschine kommen. Derzeit waren sehr wenige Luftfahrzeuge in Betrieb, die meisten waren bereits zerstört, und andernfalls hätte man sie, wenn sie sich dazu verwenden ließen, als Vergeltungswaffen im Krieg eingesetzt, der immer noch hartnäckig weitergeführt wurde. Und außerdem handelte es sich um eine Flugmaschine, wie er noch nie zuvor eine erblickt hatte. Ich erinnere mich, daß er mir erklärte, auf welche Weise sie sich von den Flugapparaten unterschied, die er kannte, doch sind die Details in meinem Gedächtnis sehr verschwommen, und außerdem verstehe ich als Landwirt zu wenig davon, so daß ich, versuchte ich sie aufzuschreiben, nur falsche Angaben machen würde - das weiß ich genau.

Als vorsichtiger Mann, wie in jenen Zeiten alle Menschen vorsichtig sein mußten, verbarg mein Großvater sich so gut es ging und blieb so nahe wie möglich, um unbemerkt zu beobachten, was geschehen möge.

Die Maschine landete auf der Kuppe eines der Hügel, die sich über den Fluß erhoben, und heraus kamen fünf Roboter und eine weitere Person, die war kein Roboter - in der Tat schien sie ein Mann zu sein, aber mein Großvater hatte in seinem Versteck das unbestimmte Gefühl, daß es kein Mensch war, sondern etwas, das nur die äußere Erscheinung eines Menschen besaß. Als ich meinen Großvater fragte, wie er denn dies Gefühl erkläre, fiel es ihm sehr schwer, es einleuchtend zu begründen. Es lag weder an der Art des Mannes, wie er ging oder stand, noch an seiner Art zu sprechen (später hörte mein Großvater ihn sprechen), aber da war eine seltsame Fremdartigkeit, vielleicht eine psychische Ausstrahlung, eine unterbewußte Schaltung des Gehirns, die ihm verriet, daß dieses Geschöpf, das kein Roboter war, ebensowenig ein Mensch sein konnte.

Zwei der Roboter entfernten sich ein kurzes Stück weit von der Maschine und stellten sich anscheinend als Wächter auf; sie schauten nicht immer in die gleiche Richtung, sondern drehten sich gelegentlich, als würden sie das Gelände an allen Seiten untersuchen oder abtasten. Die anderen begannen eine große Menge von Kisten zu entladen und irgendwelche Gerätschaften.

Mein Großvater glaubte sich gut versteckt zu haben. Er lag in einem Dik-kicht unmittelbar am Flußufer an den Boden gedrückt, so daß die Zweige seine Umrisse tarnten, und außerdem war es Sommer, so daß die Sträucher Blattwerk trugen.

Aber nach kürzester Frist, noch bevor der Flugapparat restlos entladen war, verließ einer der Roboter, die das Entladen besorgten, die Hügelkuppe und kam den Hang herab; er ging direkt auf das Dickicht zu, worin mein Großvater sich verborgen hielt. Zunächst vermeinte er, es sei nur ein Zufall, daß der Roboter die Schritte in seine Richtung lenkte und blieb ganz still, atmete sogar so flach, wie er es nur vermochte.

Es war jedoch kein Zweifel. Der Roboter muß genau gewußt haben, wo er sich befand. Mein Großvater hegte die Auffassung, daß einer der Wachroboter ihn irgendwie ausgemacht hatte, wahrscheinlich durch eine Ther-malmessung, und die Information - während er selbst auf seinem Posten verblieb -, daß es einen Beobachter gab, weitervermittelte.

Der Roboter packte, als er das Dickicht erreichte, meinen Großvater am Arm, zerrte ihn heraus und führte ihn hinauf zum Hügel.

Mein Großvater räumte mir gegenüber ein, daß sein Gedächtnis von diesem Moment an nicht länger zuverlässig war. Der weitere Ablauf des Geschehens prägte sich ihm zwar zeitlich in richtiger Reihenfolge ein, chronologisch korrekt, aber es gab Lücken, für die er keine Erklärung wußte. Er war davon überzeugt, daß man, bevor man ihn freiließ oder er entfliehen konnte (obwohl auch dies im Ungewissen liegt, denn er hatte, soweit er sich entsann, nie das Gefühl, man halte ihn gefangen), einen Versuch unternahm, die Erinnerung an das Ereignis aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Eine Zeitlang glaubte er, daß diese Maßnahme vollauf wirksam sei; erst nach seiner Ankunft auf Alden begann er sich bruchstückhaft an den Vorfall zu entsinnen, in zusammenhanglosen Einzelheiten - als wäre die Erinnerung an jenes Ereignis unterdrückt, tief in seinem Hirn versunken gewesen und treibe nun, nach einer Anzahl von Jahren, zurück an die Oberfläche, Er entsann sich, mit dem Mann gesprochen zu haben, der ihm nicht ganz menschlich erschienen war, und er hatte den Eindruck, daß dieses Wesen eine sanfte Stimme besessen und sich durchaus nicht feindselig verhalten hatte, obwohl er sich an kein Detail des Gesprächs zu erinnern vermochte, mit einer Ausnahme: Der Mann (falls es ein Mann war) sagte zu ihm, so erinnerte er sich, daß er aus Griechenland gekommen sei (damals existierte kein Land dieses Namens mehr, aber es hatte früher einmal eins dieses Namens gegeben), wo er für lange gelebt habe - mein Großvater entsann sich ganz deutlich an diese Formulierung, »für lange«, und er hielt das für eine seltsame Ausdrucksweise. Außerdem sagte der Mann meinem Großvater, er habe nach einem Ort gesucht, an dem keine Lebensgefahr drohe, und aufgrund gewisser Messungen oder aufgrund anderer bestimmter Tatsachen, welche mein Großvater nicht verstand, glaube er hier, wo er gelandet war, die geeignete Gegend gefunden zu haben.

Mein Großvater vermochte sich auch daran zu erinnern, daß die Roboter die Geräte, die sie aus dem Flugapparat geladen hatten, dazu einsetzten, um in den harten Fels einen Schacht zu treiben und nach dessen Fertigstellung große unterirdische Kammern anzulegen. Anschließend errichteten sie darüber eine kleine Holzhütte, äußerlich sehr roh, und präparierten sie so, daß sie sehr alt und baufällig wirkte, wogegen sie das Innere sauber verarbeiteten und komfortabel ausstatteten. Im Schacht führten Treppen hinab in die aus dem Fels geschmolzenen Kammern, und eine raffiniert konstruierte Falltür verbarg den Zugang zum Schacht, so daß niemand, wenn sie geschlossen war, seine Existenz vermuten würde.

Die Kisten, welche man aus der Flugmaschine geladen hatte, beförderte man hinunter in die Kammern, ausgenommen einige wenige, die Mobiliar und Ausstattungsgegenstände für die Hütte oberhalb des Schachts enthielten.

Dabei entglitt eine der Kisten auf den Stufen, die hinunter in die Kammern führten, dem Zugriff des Roboters, der sie trug, und mein Großvater, der sich aus irgendeinem Grund, den er nicht mehr wußte, in der darunter befindlichen Kammer aufhielt, sah sie herabpoltern und sprang ihr aus dem Weg. Es war eine solide Kiste, aber dennoch ging sie, während sie über die Treppe fiel, beim wiederholten Aufprall auf die Stufen zu Bruch, und als sie am Fuß der Treppe aufschlug, war sie vollends zerstört, so daß der gesamte Inhalt auf den Stufen verstreut oder am Boden der Kammer ausgeschüttet lag.

Ein gewaltiger Schatz befand sich in dieser Kiste, erzählte mir mein Großvater - juwelenstrotzender Zierat, Armreifen und Ringe, alles mit schimmernden Steinen besetzt; kleine goldene Scheiben mit seltsamen Zeichen darauf (mein Großvater blieb bei der Behauptung, sie wären aus Gold gewesen, obwohl ich nicht begreife, wie er beim bloßen Anblick eines Gegenstands zu bestimmen vermocht hätte, er sei aus Gold); Statuetten von Vögeln und anderen Tieren aus wertvollen Metallen und mit kostbaren Steinen; ein halbes Dutzend Kronen (von der Art, wie Könige und Königin-nen der Erde sie zu tragen pflegten); aufgeplatzte Säcke, aus denen sich eine Flut von Münzen ergoß, und viele andere Dinge, darunter ein paar uralte Vasen, doch diese waren alle zerschmettert.

Die Roboter eilten die Treppe herab, um die verstreuten Kostbarkeiten aufzusammeln, und ihnen nach kam ihr Meister; als er den Fuß der Treppe erreichte, schenkte er all den anderen Dingen keine Beachtung, sondern bückte sich und hob einige Stücke einer zerbrochenen Vase auf, die er zusammenzupassen versuchte, doch das wollte ihm nicht gelingen, denn die Vase war in zu viele Scherben zersprungen. Doch von den wenigen Bruchstücken, die er zu ordnen vermochte, die er alle zugleich in der richtigen Anordnung in den Händen zu halten versuchte, ersah mein Großvater, daß in die Vase Bildnisse eingebrannt gewesen waren - Bildnisse von seltsamen Menschen, die noch weitaus seltsamere Tiere jagten, oder vielleicht wirkten sie nur seltsam, weil ihre Ausführung so miserabel war, ohne jede Berücksichtigung von Perspektive und ohne die anatomischen Kenntnisse, die zu den grundsätzlichen Fähigkeiten eines Künstlers zählen.

Der Mann (falls es ein Mann war) stand dort, die Scherben in seinen Händen, darüber hielt er den Kopf gesenkt, sein Gesicht spiegelte Trauer, und über seine Wange rollte eine Träne. Mein Großvater erachtete es als äußerst merkwürdig, ja geradezu lächerlich, daß ein Mann über eine zerschlagene alte Vase weinte, die zudem mit überaus primitiven Bildern geschmückt gewesen war.

Unter dessen sammelten die Roboter all die Kostbarkeiten ein und stapelten sie zu einem Haufen auf, und einer ging und holte einen Korb, in den er alles packte; den Korb trug er fort, um ihn bei den anderen Kisten in einer der aus dem Fels geschmolzenen Kammern zu lagern.

Aber sie sammelten nicht alles ein, denn mein Großvater, ohne daß man es bemerkte, hob eine Münze auf und verbarg sie bei sich, und diese Münze, die er an mich weitergegeben hat, werde ich nun einhüllen und in diesen Umschlag stecken ...

7

Ich hörte zu lesen auf und blickte über die Flammen zu Cynthia Lansing hinüber.

»Die Münze?« fragte ich.

Sie nickte. »Sie befand sich im Umschlag, in ein Stück Plastikfolie gewickelt, eine Art von Folie, die man seit Jahrhunderten nicht mehr verwendet. Ich gab sie Professor Thorndyke und bat ihn, sie aufzubewahren ...«

»Aber er wußte nicht, was für eine Münze das war?«

»Er war sich nicht sicher. Er hat sie jemandem gezeigt, einem Experten für alte irdische Münzen und dergleichen. Es war eine unumgelaufene athenische Drachme, wahrscheinlich wenige Jahre nach einer Schlacht geprägt, die bei einem Ort namens Marathon stattgefunden hatte.«

»Unumgelaufenl« fragte Elmer.

»Ungebraucht. Sie war nicht abgenutzt. Wenn eine Münze zirkuliert, wird sie durchs Herumreichen flach und stumpf. Diese Münze jedoch, abgesehen von einer gewissen, durch das Alter bedingten Verwitterung, war genauso wie am Tag, als man sie geprägt hat.«

»Und es gibt keinen Zweifel?« erkundigte ich mich.

»Professor Thorndyke zufolge nicht den geringsten.«

Hinter dem Hügel, der sich über unser Lager erhob, hörte man wieder das Bellen der Hunde. Es waren einsame, wilde Laute, und mir schauderte, als ich hinhörte; ich rückte näher ans Feuer.

»Sie hetzen etwas«, sagte Elmer. »Vielleicht einen Waschbären oder ein Opossum. Irgendwo dort drüben sind Jäger und lauschen auf die Hunde.«

»Aber warum jagen sie ?« fragte Cynthia. »Die Menschen, meine ich, die Menschen, die die Hunde losgeschickt haben?«

»Aus Vergnügen und um Fleisch zu bekommen«, sagte Elmer.

Ich sah, wie sie zusammenzuckte.

»Dies ist kein Planet wie Alden«, meinte Elmer. »Kein Planet voller Sanftheit und voller Rosa. Die Menschen, die hier in den Wäldern leben, sind vermutlich Halbwilde.«

Wir saßen und lauschten, bis das Hundegebell, so schien es, sich entfernte.

»Was nun diese Geschichte mit dem Schatz betrifft«, sagte Elmer, »sollten wir einmal festzustellen versuchen, welche verwendbaren Anhaltspunkte wir haben. Irgendwo in diesem Land, westlich von unserem Standort, in der Nähe eines Flusses, der früher Ohio hieß, traf jemand aus Griechenland ein und versteckte eine Anzahl von Kisten, von denen einige wahrscheinlich einen Schatz enthielten. Wir wissen, daß eine Kiste Wertgegenstände enthielt und das gleiche bei einigen anderen der Fall gewesen sein mag. Aber die Lage dürfte ziemlich schwierig zu ermitteln sein. Die Angabe ist unbestimmt. Ein Fluß, der von Norden her in den alten Ohio mündet. Es wird wohl eine ganze Menge von Flüssen geben, die aus dem Norden kommen. Außerdem dürften sich die Flußläufe in den Jahrtausenden verlagert haben.«

»Da war diese Hütte«, sagte Cynthia.

»Vor mehr als zehntausend Jahren. Die Hütte wird längst nicht mehr stehen. Wir müßten nach einem Loch suchen, einem Stollen, und der dürfte inzwischen längst verschüttet sein.«

»Ich möchte gerne wissen«, sagte ich, »wieso Thorney zu der Meinung gelangte, diese seltsame Person aus Griechenland sei ein Anachronier.«

»Die Frage habe ich ihm auch gestellt«, sagte Cynthia, »und er gab mir zur Antwort, daß Griechenland oder ein benachbartes Gebiet des Planeten höchstwahrscheinlich genau der Bereich sei, in dem ein außerirdischer Beobachter seinen Beobachtungsposten beziehen würde. Die ersten Siedlungsgemeinschaften der menschlichen Rasse wurden vor unvordenklichen Zeiten in einem Land gegründet, das man Türkei nannte. Ein Beobachter hätte sich nicht zu nahe am Gegenstand seiner Studien etabliert. Er würde es vorgezogen haben, gewisse Observationen vornehmen und dann verschwinden zu können. Griechenland wäre der logischerweise naheliegendste Stützpunkt, sagte Professor Thorndyke. Ein solcher Beobachter dürfte über recht schnelle Beförderungsmittel verfügt haben, so daß die Entfernung zwischen den ersten Menschheitssiedlungen und Griechenland kein Problem für ihn gewesen wären.«

»Für mich klingt das nicht logisch«, sagte Elmer schlichtweg. »Warum Griechenland? Warum nicht der Sinai? Oder am Kaspischen Meer? Oder an einem Dutzend anderer Orte?«

»Thorney verläßt sich auf seinen Spürsinn so gut wie auf Beweise oder auf die Logik«, erklärte ich in die Runde. »Er besitzt einen sehr entwickelten Spürsinn. Häufig behält er recht. Wenn er auf Griechenland beharrt, würde ich mich auf ihn verlassen. Obwohl es natürlich sein könnte, daß unser hypothetischer Beobachter den Standort seines Stützpunkts ab und zu gewechselt hat.«

»Nicht, wenn er überall Beute gemacht hat«, sagte Elmer. »Das Gewicht hätte ihm bald Schwierigkeiten verursacht. Es wäre ein gewaltiger Aufwand gewesen, den Stützpunkt zu verlegen. Als er zum Ohio umzog, brachte er wahrscheinlich mehrere Tonnen davon mit.«

»Aber es war keine Beute!« rief Cynthia. »Sie müssen begreifen, daß er keine Beutezüge unternommen hat. Keine Beute im Sinne von Geld oder welcher Wertäquivalente sich die Anachronier auch bedienen mögen. Was er sich angeeignet hat, waren kulturelle Artefakte.«

»Kulturelle Artefakte«, sagte Elmer, »die weitgehend aus Gold und Edelsteinen bestanden.«

»Wir wollen gerecht sein«, wandte ich mich an Elmer. »Diese Kiste könnte zufällig ausgerechnet mit derartigem Zeug gefüllt gewesen sein. Einige andere Kisten könnten Speer- oder Pfeilspitzen enthalten haben, oder Leinen, Mörser und Stößel.«

»Dr. Thorndyke nahm an«, sagte Cynthia, »daß die Kisten, welche mein früher Vorfahr sah, nur einen winzigen Bruchteil jener Dinge enthielten, die der Beobachter gesammelt hatte. Wahrscheinlich nur eine Auswahl der wichtigsten Gegenstände. Vielleicht liegt irgendwo in Griechenland, in anderen Felshöhlen, die hundertfache Menge dessen, das sich in den Kisten befand.«

Ich nickte, während ich an Thorney dachte, wie er im Zimmer hin und her schritt, die geballte Faust in die Hand klatschte und schimpfte. »Es kommt wahrhaftig soweit«, hatte er ausgerufen, »daß ein ehrlicher Archäologe keine Aussichten mehr hat. Weißt du, wieviel geplünderte Fundstellen während der vergangenen hundert Jahre lokalisiert worden sind, ausgegraben und geplündert, ehe wir sie überhaupt begutachten konnten? Die verschiedenen archäologischen Gesellschaften und einige Regierungen haben Nachforschungen angestellt, aber es gibt keinerlei Hinweise darauf, wer das macht oder wo man die Fundgegenstände verbirgt. Wir haben nie eine Spur von ihnen oder den Verantwortlichen entdeckt. Die Artefakte werden regelrecht geraubt, irgendwo gelagert, und dann gelangen sie ganz allmählich in die Hände der Sammler. Ein großes Geschäft, das organisiert sein muß. Wir haben auf Gesetze gedrängt, die das Privateigentum an Artefakten verbieten, aber das führt zu nichts. Auch in Regierungskreisen gibt es Leute mit speziellen Interessen, Personen, die selbst Sammler sind. Und unzweifelhaft fließen aus irgendeiner Quelle Gelder zur Bekämpfung solcher Gesetzesvorlagen. Wir kommen ganz einfach zu gar nichts. Und aufgrund dieses Van-dalismus entgeht uns die einzige Chance, ein tieferes Verständnis der Entwicklung galaktischer Kulturen zu erringen.«

Das Bellen der Hunde war einem erregten Kläffen gewichen.

»Auf einen Baum«, sagte Elmer. »Was sie gehetzt haben, ist auf einen Baum geflüchtet.«

Ich streckte den Arm zum kleinen Holzstapel hinüber, den Elmer aufgeschichtet hatte, legte neue Äste ins Feuer und scharrte mit einem Zweig die verstreuten Kohlen zusammen. Aus den Kohlen loderten kleine Flammen mit blauen Zungen empor und leckten am neuen Holz. Trockene Rinde entzündete sich und spie Funken. Das frische Holz begann zu brennen, und das Feuer erwachte zu neuem Leben.

»Ein Feuer ist eine angenehme Sache«, bemerkte Cynthia.

»Könnte es sein«, fragte Elmer, »daß eine so lächerliche Flamme sogar jemanden wie mich erwärmt? Ich schwöre, daß mir wärmer zumute ist, hier daneben.«

»Könnte sein«, sagte ich. »Dir stand sehr viel Zeit zur Verfügung, um dich zu einem Menschen zu entwickeln.«

»Ich bin ein Mensch«, sagte Elmer. »Juristisch, meine ich. Und wenn in dieser Hinsicht, warum nicht auch in anderer?«

»Wie kommt Bronco voran?« fragte ich. »Er sollte sich zu uns gesellen.«

»Er sitzt noch abseits und absorbiert alles«, sagte Elmer. »Er webt eine ländliche Fantasie aus den dunklen Umrissen der Bäume, dem Geräusch des Nachtwinds im Laub, dem Gluckern des Wassers, dem Glitzern der Sterne und drei schwarzen Gestalten, die um ein Lagerfeuer kauern. Ein Lagerfeuergemälde, eine Nachtmusik, ein Gedicht, vielleicht eine zierliche Skulptur - er fügt alles zusammen.«

»Er arbeitet pausenlos, der arme Kerl«, sagte Cynthia.

»Für ihn ist es keine Arbeit«, antwortete Elmer. »Es ist sein wahres Dasein. Bronco ist ein Künstler.«

Irgendwo fern in der Finsternis ertönte ein trockener Knall, dem einen Moment später ein zweiter folgte. Die Hunde, die eine Zeitlang ruhig gewesen waren, begannen wieder aufgeregt zu bellen.

»Die Jäger haben vom Baum geschossen, was die Hunde hinaufgejagt haben«, stellte Elmer fest.

Nachdem er gesprochen hatte, sagte niemand mehr ein Wort. Wir saßen am Feuer und stellten uns vor - oder wenigstens stellte ich es mir vor -, was sich dort in den dunklen Wäldern abgespielt hatte; wie die Hunde aufgeregt um den Baum springen, das angelegte Gewehr und das Aufzucken des Mündungsfeuers, ein dunkler Schatten, der vom Baum fällt, die Hunde, die sich auf ihn stürzen.

Während ich dasaß und lauschte und mich meinen Vorstellungen hingab, ertönte ein anderes Geräusch, leise, entfernt - ein Rauschen und Krachen. Ein Windstoß, der hinab in unsere Bodenmulde fuhr, fegte das Geräusch fort, aber als der Wind ausblieb, konnte man es wieder hören, und nun lauter und eindringlicher.

Elmer hatte sich erhoben. Das Flackern der Flammen warf einen geisterhaften, metallischen Widerschein über seinen Rumpf.

»Was ist das?« fragte Cynthia; Elmer gab keine Antwort. Das Geräusch war nun noch näher. Was es auch verursachen mochte, es kam auf uns zu, und es näherte sich schnell.

»Bronco!« rief Elmer. »Komm zu uns ans Feuer, rasch.«

Bronco kam der Aufforderung eilig nach.

»Miß Cynthia«, sagte Elmer, »steigen Sie auf.«

»Aufsteigen?« »Steigen Sie auf Bronco und halten Sie sich fest. Falls er laufen muß, ducken Sie sich auf seinen Rücken, damit kein Ast sie abwirft.«

»Was ist los?« fragte Bronco. »Was ist das für ein Lärm?«

»Ich weiß es nicht«, behauptete Elmer.

»Den Teufel weißt du nicht«, sagte ich, aber er hörte mich nicht; falls doch, ging er nicht darauf ein.

Der Lärm war nun sehr nahe. Es war keine Geräuschentwicklung, wie ich sie schon jemals vernommen hatte. Es klang, als reiße etwas den ganzen Wald nieder. Durch lautes Krachen drang das grelle Knarren und Knacken von mißhandeltem Holz, das schrille Kreischen von Metall. Der Boden bebte, als bearbeite etwas sehr Schweres ihn mit einer Serie von gigantischen Hammerschlägen. Grollend, jaulend, donnernd, das Geräusch von gewaltigen Turbinen oder Motoren.

Ich sah mich um. Cynthia saß auf Bronco, und Bronco tänzelte aus dem Bereich des Feuers und tauchte in der Finsternis unter; er rannte noch nicht, aber er bewegte sich geschmeidig und in ständiger Bereitschaft, im nächsten Moment loszustürmen.

Das Getöse hatte uns fast erreicht, ein Röhren und Heulen von ohrenbetäubender Lautstärke, und das Erdreich stöhnte auf. Ich sprang in Deckung und duckte mich, bereit zur Flucht, und ich glaube, ich wäre fortgelaufen, hätte ich nur gewußt, wohin, und in diesem Augenblick sah ich die riesige Masse - was immer es sein mochte - über uns auf dem Kamm des Hügels, ein gewaltiges dunkles Etwas, das die Sterne verfinsterte. Die Bäume wankten wild und krachten nieder, wurden gebrochen und zermalmt von der schwarzen Masse, die sich über den Hügel schob, fast das Lager streifte und dann vorübergrollte, uns unbeachtet ließ, während das Gerumpel sich durch die Geländemulde fortwälzte. Oben auf dem Hügel stöhnten leise die zerspellten Bäume, bevor sie vollends niedersanken. Ich stand und lauschte dem Lärm, der sich allmählich entfernte, und nach kurzer Zeit war er nicht länger zu vernehmen, aber ich stand noch immer still auf der Stelle, gebannt von dem Ereignis, ohne zu begreifen, was geschehen war, und überlegte angestrengt, was es gewesen sein mochte. Elmer stand, wie ich sah, nicht minder erstarrt als ich.

Erschüttert nahm ich wieder am Feuer Platz, und auch Elmer wandte sich um und kehrte ans Feuer zurück. Cynthia stieg von Bronco.

»Elmer«, sagte ich.

Er schüttelte seinen wuchtigen Schädel. »Es kann nicht sein« murmelte er, mehr zu sich selbst als zu mir. »Es ist einfach ausgeschlossen. Sie kann unmöglich überdauert haben ...«

»Eine Kriegsmaschine?« fragte ich.

Er hob den Kopf und starrte mich über das Feuer hinweg an. »Es ist einfach verrückt, Fletch«, sagte er.

Ich nahm Holz und schob es ins Feuer. Ich legte viel Holz nach. Es verlangte mich dringlich nach Feuer. Die Flammen krochen über das Holz und entzündeten es rasch.

Cynthia kam ans Feuer und setzte sich neben mich.

»Die Kriegsmaschinen«, meinte Elmer, noch immer hauptsächlich an sich selbst gewandt, »sind zum Kampf gebaut worden. Zum Kampf gegen Menschen, gegen Städte, gegen feindliche Kriegsmaschinen. Sie kämpften bis zur vollständigen Zerstörung, bis sie ihre letzte Quantität von Energie ausgezehrt hatten. Sie wurden nicht zum Überdauern konstruiert. Sie waren nicht zum Überleben bestimmt. Sie wußten es, und wir, die wir sie gebaut haben, wußten es auch. Ihre einzige Aufgabe war die Zerstörung. Wir bauten sie für den Tod, und wir schickten sie in den Tod ...«

Eine Stimme sprach aus jener vergangenen Zeit vor zehntausend Jahren, sprach von der alten Ethik und altem Streben, vom uralten blutigen Ringen, vom urzeitlichen Haß.

»Jene, die darin waren, kannten nicht den Wunsch zu leben. Sie waren bereits tot. Sie besaßen ein Recht aufs Sterben und verschoben den Zeitpunkt ihres Todes ... «

»Elmer, bitte«, sagte Cynthia. »Jene, die darin waren? Wer war darin? Ich habe noch nie gehört, daß man ins Innere dieser Maschinen steigen konnte. Sie hatten keine Besatzungen. Sie waren ...«

»Miß«, sagte Elmer, »es waren keine bloßen Maschinen. Sie enthielten zwar ein robotisches Hirn, aber sie enthielten auch menschliche Gehirne. Die Maschine, an der ich gearbeitet habe, verfügte über mehr als ein menschliches Hirn. Wie viele es waren, habe ich nie erfahren, auch nicht ihre Identität; allerdings war uns allen bekannt, daß es sich um die noch funktionstüchtigen Hirne fähiger Männer handelte, vielleicht der fähigsten Soldaten, die das Leben ein wenig zu verlängern bereit waren, um dem Feind einen letzten Schlag zu versetzen. Robothirn und Menschenhirn gingen ein Bündnis ein ...«

»Unheiliges Bündnis«, sagte Cynthia.

Elmer widmete ihr einen kurzen Blick, dann richtete er ihn zurück ins Feuer. »Ich glaube, so könnte man es nennen, Miß. Aber Sie begreifen nicht recht, was in einem Krieg geschieht - das ist eine Art sublimer Wahnsinn, ein erbitterter Haß, der zu einem irrationalen Gefühl, im Recht zu sein, verzerrt wird ...«

»Hören wir auf damit«, schlug ich vor. »Womöglich war es keine Kriegsmaschine. Es kann etwas ganz anderes gewesen sein.«

»Und was?« fragte Cynthia.

»Zehntausend Jahre sind verstrichen«, sagte ich.

»Das schon«, meinte Cynthia. »Inzwischen kann es vieles andere geben.«

Elmer sagte nichts. Er saß reglos.

Auf dem Hügelkamm über uns rief jemand, und wir sprangen alle auf die Füße. Irgendwo oben tanzte ein Licht, und wir vernahmen die Geräusche, mit denen Gestalten sich einen Weg durch die Wirrnis der gefallenen Bäume bahnten.

Wieder rief jemand. »Ho, ihr am Feuer!« rief er.

»Ho, ihr da!« antwortete Elmer. Das Licht tanzte unverändert.

»Eine Laterne«, sagte Elmer. »Höchstwahrscheinlich sind das die Leute, die mit den Hunden auf Jagd waren.«

Wir beobachteten die Laterne. Man rief uns nicht mehr an. Schließlich hörte das Licht zu tanzen auf und wanderte den Hügel herab, auf uns zu.

Es waren drei; drei hochgewachsene Männer, die Vogelscheuchen ähnelten und grinsten, daß ihre Zähne im Flackern unseres Feuers blitzten, Gewehre über den Schultern, und einer trug etwas auf dem Rücken. Ihre Hunde sprangen um sie herum.

Am Rand des Lagerplatzes blieben sie stehen, verharrten für einen Moment wortlos und betrachteten uns, musterten uns.

»Wer seid ihr denn?« erkundigte sich einer schließlich.

»Besucher«, sagte Elmer. »Reisende. Fremde.«

»Was bist du? Du bist kein Mensch.« Er sprach das Wort aus wie >Mänsch<.

»Ich bin ein Roboter«, sagte Elmer. »Ich bin Einheimischer. Man hat mich hier auf der Erde hergestellt.«

»Große Begebenheiten«, sagte ein anderer von ihnen. »Eine Nacht großer Begebenheiten.«

»Wißt ihr, was das war?« fragte Elmer.

»Der Räuber«, sagte jener, der zuerst gesprochen hatte. »Man erzählt alte Geschichten über ihn. Die kannte schon Urgroßväterchen sein Pappi.«

»Wenn er euch verschont hat«, sagte der dritte, »braucht ihr euch nicht länger zu fürchten. Kein Mensch sieht ihn zweimal im Leben Er kommt erst nach vielen Jahren wieder.«

»Und ihr habt keine Ahnung, was es ist?«

»Der Räuber.« Die Antwort klang, als erübrige sich jede nähere Erklärung, als brauche man weitere Fragen erst gar nicht zu stellen.

»Wir haben euer Feuer gesehen«, sagte der erste, »und wollten mal kurz Tagchen sagen.«

»Setzt euch zu uns«, forderte Elmer sie auf.

Sie traten vor und kauerten sich ans Feuer, die Gewehrkolben auf den Boden gestützt, so daß die Läufe an ihren Schultern lehnten. Jener mit der Last auf dem Rücken warf sie nun vor sich hin.

»Ein Waschbär«, konstatierte Elmer. »Eure Jagd hat sich gelohnt.«

Die Hunde kamen ebenfalls heran und streckten sich hechelnd am Boden aus. Gelegentlich wedelten sie freundlich mit den Schwänzen, ließen Elmer aber nicht aus den Augen.

Die drei saßen nebeneinander und grinsten uns an. »Ich bin Luther«, sagte einer, »und das da ist Zeke, und der Bursche dort heißt Tom.«

»Ich freue mich, euch kennenzulernen«, sagte Elmer, der so höflich sprach wie er es vermochte. »Mein Name ist Elmer. Die junge Dame hier heißt Cynthia, und dieser Gentleman ist Fletcher.«

Sie nickten. »Und was habt ihr da für ein Tier?« fragte Tom.

»Sein Name ist Bronco«, erwiderte Elmer. »Er ist ein Instrument.«

»Ich bin erfreut«, sagte Bronco, »eure Bekanntschaft zu machen.«

Sie starrten ihn an. »Denkt euch nichts dabei«, meinte Elmer. »Wir kommen alle von den Siedlerwelten.«

»Nun, ach«, sagte Zeke, »das macht wirklich nichts. Wir haben euer Feuer bemerkt und beschlossen, einmal vorbeizuschauen.«

Luther griff in seine Hüfttasche und zog eine Flasche hervor. Einladend fuchtelte er damit.

Elmer schüttelte den Kopf. »Ich bin zum Trinken außerstande«, erklärte er.

Ich trat hinüber und langte nach der Flasche. Es war an der Zeit, daß ich mitmischte; bis jetzt hatte Elmer das Gespräch allein geführt.

»Ist richtig gut, das Zeug«, versicherte Zeke. »Timothy der Alte, der hat's gemacht. Kann was mit seiner Matschpresse.«

Ich entkorkte die Flasche und setzte sie an die Lippen. Fast wäre ich erstickt. Ich unterdrückte verzweifelt einen Hustenanfall. Das Gesöff brannte in meinem Magen. Meine Knie wurden weich.

Sie beobachteten mich aufmerksam, mit erstarrtem Grinsen.

»Ein sehr männliches Getränk«, versicherte ich. Nach einem zweiten Zug reichte ich die Flasche zurück.

»Die Dame?« fragte Zeke.

»Für sie ungeeignet«, sagte ich.

Sie ließen die Flasche untereinander kreisen. Ich setzte mich ihnen gegenüber. Sie boten mir die Flasche nochmals an. Ich trank einen weiteren Schluck. Von den drei Zügen, die ich in kurzen Abständen genommen hatte, begann sich mein Verstand ein wenig zu umnebeln, aber ich sagte mir, das sei bloß gut für die Stimmung. Jemand von uns mußte nach ihrer Art mit ihnen reden.

»Noch einen?« fragte Tom.

»Jetzt nicht«, sagte ich. »Vielleicht später. Ich will euch nicht alles wegsaufen.«

»Ich habe noch eine in Reserve«, sagte Luther und klopfte auf eine Ta-sche.

Zeke zog ein Messer aus dem Gürtel, streckte einen Arm aus und zerrte den Waschbären zu sich heran.

»Luther, hol'n paar Äste für'n Bratspieß«, sagte er. »Wir haben Frischfleisch und Schnaps und ein schönes warmes Feuer. Wir machen eine gemütliche Nacht.«

Über meine Schulter sah ich Cynthia an. Ihr Gesicht war bleich und verzerrt, ihre Augen beobachteten voller Entsetzen, wie Zekes Messer säuberlich den breiten Bauch des Waschbären der Länge nach aufschlitzte.

»Nur die Ruhe«, sagte ich.

Sie schenkte mir ein kränkliches Lächeln.

»Am Morgen«, sagte Tom, »kehren wir heim. Im Hellen kommt man durch den Wald besser voran. Großer Tanz morgen abend. Könnt uns begleiten, würde uns freuen. Bestimmt macht ihr mit.«

»Natürlich kommen wir«, sagte Cynthia.

Ich schaute zu Bronco hinüber. Er stand starr, alle seine Sensoren ausgefahren verfolgte er das Abhäuten und Ausnehmen des Tiers.

8

Er hatte mir die Felder mit den aufgetürmten Garbenhaufen von Korn und den Kürbissen gezeigt, die golden in der Sonne glänzten; die Gärten, in denen noch ein paar Gemüsesorten standen, doch das meiste war schon abgeerntet; die Schweine, aus dem Gehölz geholt, fettgefressen von Eicheln, schlachtreif; die Rinder und Schafe im kniehohen Weideland; das Räucherhaus, vorbereitet für die Schinken und Speckseiten; das Eisenhaus, worin man in sorgsam sortierten Haufen verschiedene Arten von ausgegrabenem, geborgenem Metall aufhob; die Hühnerfarm, das Werkzeuglager, die Schmiede und die Scheunen, und nun hockten wir beide auf dem obersten Balken einer morschen Umzäunung.

»Wie lange sind Sie schon hier?« fragte ich ihn. »Ich meine, seit wann wohnen Menschen in diesem Tal?«

Er wandte mir sein runzliges altes Patriarchengesicht zu, die sanften blauen Augen, den Vollbart, der wie weiße Seide auf seine Brust hing. »Das ist eine alberne Frage«, sagte er. »Wir waren schon immer hier. Überall im Tal leben kleine Gemeinschaften von uns. Ein paar Leute wohnen allein, aber wenige. Zumeist leben wir zusammen. Einige Familien bilden schon länger Gemeinschaften als ein Mensch zurückzudenken vermag. Natürlich ziehen manche fort, um sich in einer besseren Gegend niederzulassen, oder was sie für besser halten. Wir sind nicht viele, wir waren nie viele. Manche Frauen gebären nicht. Viele Kinder sterben. Man sagt, in uns stecke eine uralte Krankheit die das Licht über uns gebracht habe. Ich weiß es nicht. Man sagt so vieles, erzählt alte Geschichten aus der Vergangenheit, aber man kann nicht feststellen, ob sie wahr sind oder nicht.«

Er stemmte seine Absätze fester gegen den zweiten Querbalken und stützte seine Arme auf die Knie. Seine Hände waren krumm vom Alter. Die Knöchel wölbten sich wie Knoten, die Finger waren steif und verkrümmt. Auf seinen Handrücken bildeten die heraustretenden Adern ein faszinierendes, blaues Profil.

»Kommen Sie mit den Friedhofsleuten gut aus?« erkundigte ich mich.

Bevor er antwortete, dachte er einen Moment lang nach; er zählte zu der Art von Menschen, urteilte ich, die sich jede Antwort genau überlegen, ehe sie sie aussprechen. »Meistens«, sagte er schließlich. »Im Lauf der Jahre haben sie sich immer näher herangeschoben, haben sich Land angeeignet, das früher frei war, in meiner Jugend. Zweimal bin ich hingegangen und habe mit diesem Kerl geredet ...« Er versuchte sich an den Namen zu erinnern.

»Bell«, sagte ich. »Maxwell Peter Bell.«

»Der ist es«, bestätigte er. »Ich gehe hin und rede mit ihm, obwohl dabei nichts herauskommt. Er ist zu ölig, glatt wie ein Fisch. Er lächelt, aber hinter dem Lächeln ist nichts. Er ist selbstsicher; groß und mächtig ist er, und wir sind klein und schwach. Ihr bedrängt uns schon wieder, sage ich zu ihm, ihr breitet euch schon wieder aus, und zu unserem Schaden, und dabei muß das nicht sein, es gibt eine Menge anderes Land, das ihr nehmen könnte, unendlich viel Brachland, das niemand benutzt. Und er sagt, aber ihr verwendet doch dieses Land auch nicht, und darauf sage ich ihm, daß wir es benötigen, auch wenn wir es nicht bebauen, wir brauchen es, um Ellbogenfreiheit zu haben, wir hatten immer viel Ellbogenfreiheit, ohne sie fühlen wir uns eingezwängt, wir ersticken. Und dann sagte er, aber ihr habt keinen Besitztitel darüber; und ich frage ihn, was ein Besitztitel ist; und er versucht mir zu erklären, was ein Besitztitel ist, und es ist alles bloß Quatsch. Ich frage ihn, hat er Besitztitel dafür, und nie gibt er Antwort. Sie kommen von irgendwo weit draußen, Mister, vielleicht könnten Sie mir sagen, hat er Besitztitel dafür?«

»Ich bezweifle es sehr«, antworte ich.

»Sonst kommen wir ganz gut mit ihnen zurecht, finde ich«, sagte er. »Manche von uns arbeiten ab und zu für den Friedhof, heben Gräber aus, mähen den Rasen, beschneiden Bäume und Sträucher, säubern die Gräber und Grabsteine von Unkraut. Man hat eine Menge Arbeit mit einem Fried-hof, wenn er stets ordentlich und gepflegt aussehen soll. Gelegentlich brauchen sie uns, wenn die Arbeit ihnen über den Kopf wächst. Wir könnten dort viel mehr Arbeit tun, glaube ich, wenn wir's wollten, aber wozu wäre es gut? Wir haben alles, das wir wollen. Sie können uns kaum etwas bieten für die Arbeit. Modische Kleider, dann und wann, aber unsere Schafe versorgen uns mit aller Kleidung, die man braucht, genug zum Anziehen, genug zum Warmhalten. Mancherlei neumodische Getränke, aber wir haben reichlich Selbstgebrannten, und ich bezweifle, daß er schlechter ist als irgendein Friedhofsschnaps. Selbstgebrannter steht bei Kennern in gutem Ruf, und er hat einen eigentümlichen Geschmack, an den ein Mann sich gewöhnen kann. Töpfe und Pfannen, gewiß, aber wieviel Töpfe und Pfannen braucht eine Frau? Es ist nicht so, daß wir faul wären oder nicht rechnen gönnten. Wir sind sehr fleißig. Wir bauen an und fischen und jagen. Wir graben viel altes Metall aus. Es gibt viele Stellen, die meisten ein ganzes Stück weit von hier entfernt, wo man in Erdwällen Metall findet. Das verwenden wir, um daraus unsere Werkzeuge und Schießeisen zu machen. Bisweilen kommen aus dem Westen oder vom Süden her Händler und tauschen ihr Pulver und Blei gegen unser Mehl, unsere Wolle und Selbstgebrannten ein - auch andere Dinge, klar, aber hauptsächlich Blei und Pulver.«

Er schwieg, und wir hockten nahe beieinander im milden Sonnenschein auf dem Balken. Die Bäume glichen zur Reglosigkeit erstarrten Freudenfeuern; die Felder waren lohfarben, durchsetzt mit den Garbenhaufen aus Korn, übersät vom verstreuten Gold der Kürbisse. Am Fuß des Hügels, unter uns, in der Schmiede, hämmerte jemand, und aus dem Schornstein quoll eine Rauchwolke. Auch aus den Schornsteinen der nächstgelegenen Häuser erhob sich Rauch. Eine Tür knallte, und ich sah Cynthia heraustreten. Sie hatte eine Schürze umgebunden und trug eine Pfanne. Sie ging in den Hof und entleerte den Inhalt der Pfanne in ein Faß, das dort stand. Ich winkte ihr zu, und sie winkte zurück, dann betrat sie wieder das Haus; hinter ihr schloß sich die Tür mit einem neuen Knall.

Der Alte bemerkte, daß ich das Faß anstarrte. »Das Schweinefaß«, sagte er. »Wir werfen Kartoffelschalen und saure Milch und Kohlblätter hinein, alle Reste aus der Küche. Wir verfüttern alles an die Schweine. Sagen Sie bloß nicht, Sie hätten noch nie ein Schweinefaß gesehen.«

»In der Tat wußte ich bis zu diesem Moment nicht«, gestand ich, »daß eine solche Einrichtung existiert.«

»Ich glaube«, sagte der alte Mann, »ich habe nicht richtig kapiert, woher Sie kommen und was Sie hier tun wollen.«

Ich erzählte ihm von Alden und bemühte mich, ihm den Zweck unseres Aufenthalts zu erklären. Ob er es verstand, dessen bin ich nicht sicher.

Er winkte zu den Ställen hinüber, wo Bronco bereits seit einem Gutteil des Tages stand. »Sie meinen, dieses Ding da arbeitet für Sie.«

»Sehr schwer«, versicherte ich, »und höchst sachverständig. Bronco ist äußerst sensitiv.

Er absorbiert die Muster der Ställe und Heuhaufen, der Tauben auf dem Dach, der Kälber in den Pferchen, der Pferde in der Sonne. Dadurch erhalten wir alles, das wir brauchen, um Musik zu machen und ...«

»Musik? Sie meinen so etwas wie Fiedelspiel?«

»Ja«, sagte ich, »so etwas könnte es werden.«

Er schüttelte den Kopf, halb verwirrt, halb ungläubig.

»Da ist etwas, wonach ich Sie fragen wollte«, meinte ich. »Nach diesem Ding, das die Jäger den >Räuber< nennen.«

»Ich weiß wirklich nicht«, erwiderte er, »ob ich Ihnen darüber viel verraten kann. Man nennt es den Räuber, aber warum, das habe ich mich selbst schon oft gefragt. Ich habe noch nie gehört, daß er etwas geraubt hätte. Es wäre nur gefährlich, wenn Sie ihm direkt in den Weg kämen. Er zeigt sich sehr selten. Meistens weit entfernt, und man merkt es erst, nachdem er wieder fort ist. Vergangene Nacht, das war das erste Mal, daß er bis in Rufweite gekommen ist. Niemals hat ihn jemand, soweit ich Bescheid weiß, aus der Nähe angeschaut oder ist seiner Spur gefolgt. Um gewisse Dinge kümmert man sich lieber nicht.«

Ich besaß völlige Klarheit darüber, daß er mir nicht sein ganzes Wissen mitgeteilt hatte, und ich ahnte, daß er es auch nicht tun würde, aber ich versuchte dennoch, mehr aus ihm herauszuholen.

»Aber es muß doch Geschichten geben. Vielleicht alte Geschichten aus den alten Zeiten. Haben Sie schon einmal erwähnen hören, es sei eine Kriegsmaschine?«

Verblüfft und furchtsam schaute er mich an. »Was für eine Maschine?« fragte er. »Welcher Krieg?«

»Wollen Sie damit andeuten«, fragte ich zurück, »daß Sie nichts von jenem Krieg wissen, der die Erde zerstört hat? Darüber, wie die Menschen geflohen sind?«

Er gab keine direkte Antwort, aber ich schloß aus seiner Äußerung, daß er keine Ahnung hatte - die Geschichte des Planeten war im Dunkel der Jahrhunderte in Vergessenheit geraten.

»Geschichten gibt es viele«, sagte er, »und viele sind wahr und andere vielleicht unwahr. Und kein Mensch, der richtig im Kopf ist, wird sich sonderlich darum kümmern. Da gibt es zum Beispiel den Volkszähler, der die Geister zählt; und ich dachte immer, das sei nur so eine Geschichte, bis zu dem Tag, da ich ihm tatsächlich begegnet bin. Und dann gibt es die Geschichte vom Unsterblichen, aber ihm bin ich nie begegnet, obwohl es Leute gibt, die das von sich behaupten. Man hört von Zauberwerk und Hexerei, aber an diesem Ort geschieht weder das eine noch das andere, und wir vermissen es wahrlich nicht. Wir wünschen ein gutes Leben zu führen und wünschen uns, daß es so bleibt, und wir achten kaum auf die Geschichten, die man erzählt.«

»Aber es muß Bücher geben«, sagte ich.

»Vielleicht früher einmal«, antwortete er. »Davon habe ich gehört, aber nie eins gesehen. Ich kenne niemanden, der welche besitzt. Wir hier haben keine. Ich glaube, wir hatten nie welche. Können Sie mir genau sagen, was Bücher überhaupt sind?«

Ich versuchte es ihm zu erklären, doch bin ich nicht sicher, ob er mich überhaupt verstand; er wirkte von Staunen ergriffen. Und um seinen Mangel an Verständnis zu verdecken, wechselte er behutsam den Gesprächsstoff.

»Ihre Maschine da unten«, meinte er, »wird sie auch beim Tanz dabei sein? Wird sie zuschauen und zuhören?«

»Das wird sie in der Tat«, sagte ich. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, uns einzuladen.«

»Viele Leute werden kommen, aus dem ganzen Tal. Sie treffen ein, sobald die Sonne untergegangen ist. Man wird Musik machen und tanzen und große Tafeln mit vielen Speisen aufstellen. Dort auf Alden, geht man dort auch zum Tanz?«

»Gewiß. Aber wenn vermutlich auch nicht ganz auf diese Art«, sagte ich, »so führt man doch recht ähnliche Veranstaltungen durch.«

Wir saßen, und ich kam zu der Auffassung, daß ein guter Tag sich zum Abend neigte. Wir waren durch die Felder gestreift und hatten einige Ähren aus den Garbenhaufen gezupft, woran der Alte mir zeigte, was für vortreffliches Korn sie aufzogen; wir hatten unsere Arme auf den Zaun des Schweinepferchs gelehnt und den Mastschweinen zugeschaut, die grunzten und ihre Rüssel durch den Schlamm der Futterstelle schoben, auf der Suche nach einem verlorenen Bissen; wir hatten herumgestanden und einem Mann bei der Arbeit in der Schmiede zugesehen, bis das Blatt einer Pflugschar rot glühte, worauf er es mit Zangen auf einen Amboß legte und zu hämmern begann, daß die Funken stoben; wir waren durch die kühlen Ställe geschlendert und hatten dem Gurren der Tauben unter den Dächern gelauscht; wir hatten uns geruhsam unterhalten, wie Menschen, die nicht in Eile sind, es zu tun pflegen, und alles war sehr schön gewesen.

Die Haustür öffnete sich, und eine Frau steckte ihren Kopf heraus. »Henry!« rief sie. »Henry, wo bist du?«

Der Alte kletterte gemächlich von der Umzäunung. »Das bin ich, den sie meint«, brummte er. »Keinen Schimmer, was los ist. Alles mögliche. Diese Frauen haben die merkwürdigsten Vorstellungen von Hausarbeiten, die man ihnen abnehmen soll. Tun Sie sich keinen Zwang an, ich sehe bloß nach, was es gibt.«

Ich beobachtete ihn, wie er den Hang hinunter zum Haus trottete und eintrat. Die Sonne schien warm auf meinen Rücken, und ich wußte, daß ich von der Einzäunung steigen und mich ein wenig umschauen oder nachsehen sollte, was ich tun konnte. Ich mußte einen absonderlichen Anblick bieten, nahm ich an, wie ich dort untätig auf dem Balken hockte, und ich empfand ein Schuldgefühl, weil ich nichts zu tun hatte oder nichts tun wollte. Doch ich verspürte eine seltsame Abneigung gegen irgendeine Tätigkeit. Dies war das erste Mal in meinem Leben, daß ich nicht Angelegenheiten aufgehäuft hatte, die der Erledigung harrten. Und mit einem gewissem Widerwillen stellte ich fest, daß ich die Situation genoß.

Bronco stand noch immer zwischen den Ställen, alle Sensoren im Einsatz, und seit Cynthias Gang zum Schweinefaß war sie nicht wieder aufgetaucht. Ich überlegte, wo Elmer sein mochte; ihn hatte ich den ganzen Tag lang nicht gesehen. Und während ich mir noch Gedanken darüber machte, sah ich ihn um einen Stall biegen. Anscheinend erblickte er mich sofort, denn er strebte gleich den Hang empor auf mich zu. Er trat dicht zu mir, bevor er sprach, und er hielt seine Stimme gedämpft; ich spürte, daß er sich Sorgen machte.

»Ich war unterwegs und habe die Spuren untersucht«, berichtete er, »und es gibt keinen Zweifel. Das Ding in der vergangenen Nacht war eine Kriegsmaschine. Ich habe Kettenspuren gefunden, und hier gibt es nichts, das derartige Spuren hinterlassen könnte, außer einer Kriegsmaschine. Ich bin ihnen gefolgt und habe entdeckt, daß sie sich westwärts gewandt hat. Dort in den Bergen besitzt eine Kriegsmaschine viele Möglichkeiten, um sich zu verbergen.«

»Warum sollte sie sich verbergen wollen?«

»Das kann ich mir auch nicht vorstellen«, bekannte Elmer. »Man kann nicht sagen, wie eine Kriegsmaschine denkt. Menschenhirn und Maschinenhirn, und sie hatten zehntausend Jahre lang Zeit, um sich zu irgend etwas anderem zu entwickeln. Fletch, mit soviel Zeit zur Verfügung, was könnte aus einem kombinierten Hirnapparat dieser Art werden?«

»Vielleicht nichts«, antwortete ich. »Vielleicht etwas sehr fremdartiges. Falls eine Kriegsmaschine der Vernichtung entgangen ist, was sollte aus ihr geworden sein? Welchen Grund zum Weiterleben hätte sie? Wie würde sie eine Umwelt betrachten, die sich so sehr von jener unterscheidet, für die sie gebaut wurde? Eines allerdings ist seltsam. Die Leute hier fürchten sie anscheinend nicht. Für sie ist sie nur etwas, das sie nicht verstehen, und die Welt scheint für sie voller unverständlicher Dinge zu ein.«

»Sie sind merkwürdige Menschen«, sagte Elmer. »Ich mag es nicht, wie sie mich anblicken. Es mißfällt mir ganz und gar. Ich finde es unwahrscheinlich, daß diese drei jungen Burschen, die Waschbärjäger, sich in der letzten Nacht völlig grundlos zu uns gesellt haben sollen. Um uns zu erreichen, mußten sie die Bresche durchqueren, welche die Kriegsmaschine durch den Wald geschlagen hat.«

»Neugier«, sagte ich. »Hier ereignet sich nicht viel. Wenn etwas geschieht, wie unser Erscheinen, interessieren sie sich natürlich dafür.«

»Klar, ich weiß«, sagte Elmer, »aber es ist nicht das allein.« »Hast du einen besonderen Grund zu dieser Annahme?« »Nein, nichts dergleichen. Nichts Genaues. Nur ein Gefühl im Innern. Fletch, laß uns von hier verschwinden.«

»Ich möchte noch zum Tanz bleiben. Damit Bronco alles speichern kann. Sobald er vorbei ist, brechen wir auf.«

9

Die Leute hatten, wie vom Alten angekündigt, kurz nach Sonnenuntergang einzutreffen begonnen. Sie waren allein gekommen, in Paaren und in Dreiergruppen, manchmal kam auch ein ganzes Dutzend zugleich, und nun war der Hof voll von ihnen, und sie drängten sich um die Tafeln, worauf die Speisen standen. Andere befanden sich im Haus, und in der Scheune hoben einige Männer ununterbrochen die Flaschen.

Die Tafeln hatte man am Spätnachmittag aufgestellt; ein paar Männer hatten aus dem Geräteschuppen Sägeböcke geholt, sie im Hof aufgereiht und Bretter über sie gelegt. Für die Musikanten hatte man auf die gleiche Weise eine Bühne errichtet, und inzwischen saßen sie darauf und stimmten ihre Instrumente, quietschten mit ihren Fiedeln und klimperten mit den Gitarren.

Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber im Osten deutete sich ein Schimmer an, und die Bäume rings um die Lichtung erhoben sich dunkel gegen den helleren Himmel. Jemand trat einen Hund, und der Hund rannte aufheulend in die Finsternis davon. Ich mochte es nicht, wenn man Tiere mißhandelte. Ich verachte Menschen, die ihre Aggressionen an abhängigen Geschöpfen abreagieren. Plötzlich erscholl aus einer Gruppe von Männern neben einem Tisch ein brüllendes Gelächter, wahrscheinlich über einen Witz. Man entzündete ein Feuer und häufte eine Menge Holz darauf, und die Flammen, als sie sich durch das Holz fraßen, loderten hoch empor.

Bronco stand abseits, nahe am Waldrand, und im Feuerschein schien er zu flimmern. Elmer stand inmitten einer der Gruppen an der Tafel mit den Speisen und war anscheinend in etwas Ähnliches wie eine geistreiche Unterhaltung verwickelt. Ich hielt nach Cynthia Ausschau, sah sie jedoch nirgendwo.

Ich spürte eine Berührung an meinem Arm, und als ich mich umsah, stand der Alte neben mir, Henry. In diesem Moment setzte die Musik ein, und die ersten Paare formierten sich zum Tanz.

»Sie stehen so verloren herum«, sagte der Alte. Der leichte Wind, der wehte, zauste an seinem Bart.

»Ich stehe hier, um zuzuschauen«, antwortete ich. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.« Und das hatte ich tatsächlich noch nicht. Eine Stimmung von unglaublicher Wildheit, Primitivität und Barbarei erfüllte die Lichtung; hier war etwas, dem die Menschheit mittlerweile hätte entwachsen sein sollen. Hier existierte noch ein Rest jenes bodenständigen Mystizismus, dessen Ursprünge einhergingen mit abgenagten Schenkelknochen von Menschen und Feuersteinäxten.

»Sie werden sicher eine Weile bei uns bleiben«, meinte der Alte. »Sie wissen, daß Sie willkommen sind. Sie können hier bleiben und die Arbeit ausführen, die Sie vorhaben.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das bedarf genauer Überlegung. Wir werden unsere Pläne beraten. Aber vielen Dank.«

Sie tanzten nun einen derben und ziemlich wilden Tanz, aber mit einer gewissen Würde und Beschwingtheit, und oben auf der Bühne, bei den Musikanten, röhrte ein Mann, der lederne Lungen besitzen mußte, ein Lied.

Der Alte kicherte. »Das ist ein Square Dance. Haben Sie noch nie davon gehört?«

»Noch nie«, sagte ich.

»Ich werde auch mitmachen«, versicherte der Alte, »sobald ich noch einen oder zwei getrunken und meine Gelenke geschmiert habe. Da fällt mir ein ...«

Er holte eine Flasche aus seiner Tasche, entkorkte sie und reichte sie mir. In meinen Händen fühlte sie sich kalt an; ich hob sie an den Mund und tat einen Zug. Das Getränk war erheblich besser als jenes, das ich in der Nacht zuvor gekostet hatte. Es rann schnell und leicht in den Magen und brannte nicht.

Ich hielt ihm die Flasche hin, aber er schob meine Hand zurück. »Nehmen Sie noch einen«, sagte er. »Sie sind im Rückstand.«

Also nahm ich noch einen Schluck. Innerlich wurde mir wärmer, und ein Wohlgefühl durchströmte mich.

Ich händigte die Flasche aus, und der Alte trank. »Whiskey vom Friedhof«, sagte er. »Den machen sie besser als wir. Ein paar Jungs waren heute früh beim Friedhof und haben eine ganze Kiste erhandelt.«

Der erste Tanz war beendet, und ein neuer bahnte sich an. Unter diesen Tänzern war auch Cynthia. Im Feuerschein war sie schön, und sie tanzte mit einer geschmeidigen Anmut, die mich überraschte, obwohl ich eigentlich keinen Grund zu der Auffassung hatte, sie könne nicht anmutig sein.

Der Mond war unterdessen aufgegangen und erklomm den Nachthimmel. So wohl hatte ich mich noch nie im Leben gefühlt.

»Hier, trinken Sie noch einen«, sagte der Alte und reichte mir die Flasche.

Die Nacht war warm, die Menschen waren erhitzt, die Wälder dunkel, das Feuer loderte hell, und dort tanzte Cynthia, und ich wollte zu ihr und mit ihr tanzen.

Die Musik verstummte, und ich begann mich nach vorn zu schieben, in der Absicht, Cynthia zu fragen, ob sie mit mir tanze. Doch bevor ich mehr als ein paar Schritte getan hatte, betrat Elmer den Tanzplatz. Er stellte sich in die Mitte und vollführte so etwas wie einen Stegreifstep, und dann erhob sich auf der Bühne einer der Fiedler und begann zu spielen, vielleicht keinen Step, aber immerhin eine sehr spritzige Melodie, und gleich darauf fielen die anderen Musikanten ein.

Elmer tanzte. Er hatte stets wie ein sturer, schwerfälliger Roboter auf mich gewirkt, doch nun stampften seine Füße verblüffend schnell über den Boden, sein Rumpf schaukelte. Die Menschen bildeten einen Kreis um ihn und schrien und riefen begeistert und klatschten beifällig, zu seiner Ermutigung, in die Hände. Bronco verließ seinen Posten am Waldrand und strebte zum Tanzplatz. Einige Menschen, die ihn kommen sahen, kreischten auf, und der Kreis öffnete sich, um ihn durchzulassen. Er trat hinein, stellte sich vor Elmer auf und begann zu wackeln und mit allen acht Füßen auf den Boden zu trampeln.

Die Musikanten spielten wie verrückt und steigerten das Tempo der Musik immer weiter, und Elmer und Bronco, im Kreis der Zuschauer, hielten mit. Broncos acht Beine fuhren auf und nieder wie durchgedrehte Kolben, und zwischen den Beinen, die stampften und tanzten, wand sich und zuckte sein Rumpf. Unter den Füßen der beiden rumpelte der Boden wie eine Trommel, und es schien mir, als spüre ich die Vibration durch meine Sohlen. Die Leute schrien und jubelten vor Begeisterung. Ein paar außerhalb des Kreises hatten zu tanzen angefangen, und die anderen begannen nun ebenfalls damit, sie tanzten mit Bronco und Elmer.

Ich blickte zur Seite, und auch der Alte tanzte, sprang wie verrückt her-um, sein weißes Haar flog, sein weißer Bart hüpfte im Rhythmus seiner Raserei auf und nieder. »Tanz!« brüllte er mich an, kurzatmig und mit einem Rasseln in den Bronchien. »Was'n los, du tanzt nicht?«

Dabei griff er in seine Tasche, zog die Flasche heraus und streckte sie mir entgegen. Ich packte zu, nahm sie und begann zu tanzen. Während ich tanzte, riß ich den Korken heraus und setzte die Flasche an, und das Glas klapperte gegen meine Zähne, worauf etwas vom Getränk in mein Gesicht spritzte, aber ein guter, anständiger Schluck ergoß sich in meine Kehle. Er rann in meinen Magen, wo er warm schwappte und gluckerte, und ich tanzte, fuchtelte mit der Flasche, und ich glaube, ich schrie auch irgend etwas, nicht aus besonderem Anlaß, sondern aus schierer Freude an dieser Nacht.

Wir waren alle schlicht und einfach verrückt - verrückt von der Nacht, dem Feuer und der Musik. Wir tanzten ohne Bewußtsein und ohne Sinn. Jeder tanzte, weil alle anderen tanzten, oder weil zwei Maschinen tanzten, ihre wesensmäßige Plumpheit in unglaubliche, unvergleichliche Anmut verwandelt - oder vielleicht tanzten wir bloß aus reiner Lebensfreude, weil wir alle tief im Innern wußten, daß das Leben nicht ewig währte.

Der Mond segelte über den Himmel, und der Rauch des Feuers wälzte sich in schlanken weißen Fahnen zu ihm empor. Die quietschenden Fiedeln und die klimpernden Gitarren kreischten, schluchzten und sangen.

Urplötzlich, wie auf einen Befehl (obwohl niemand einen Befehl erteilte), verstummte die Musik unter Mißtönen, die Tänzer hielten inne. Ich sah, wie die anderen verharrten und blieb ebenfalls stehen, die Flasche noch fest umklammert.

Ich spürte, wie jemand an meinem erhobenen Arm zerrte und hörte eine Stimme. »Die Flasche, Mann! Um Gottes willen, die Flasche!« Es war der Alte. Ich gab ihm die Flasche. Er deutete damit zur einen Seite des Kreises hinüber, dann schob er ihren Hals unter seinen Schnurrbart und warf den Kopf in den Nacken. Die Flasche gluckerte, und im Einklang mit dem Gluckern zuckte sein Kehlkopf auf und ab.

Ich schaute in die Richtung, in die er gewiesen hatte, und sah dort einen Mann reglos stehen. Er trug eine schwarze Robe, die herab bis über seine Füße fiel, und sie besaß eine Kapuze, die seinen Kopf bedeckte, so daß man von ihm nur den weißen Flecken seines Gesichts sah.

Der Alte sabberte und spuckte, halb erstickt, und löste die Flasche von seinen Lippen. Wieder zeigte er damit hinüber.

»Der Volkszähler«, sagte er.

Die Menschen wichen zurück, fort vom Volkszähler; auf der Bühne saßen zusammengesunken die Musikanten und wischten sich die Gesichter mit den Hemdsärmeln ab.

Der Volkszähler stand einen Moment lang ruhig da, während all die Leute ihn anstarrten, dann schwebte er - er ging nicht, er schwebte! - in die Mitte des Tanzplatzes. Der Mann mit der Rohrflöte hob das Instrument an die Lippen und begann mit einem Pfeifen, das dem Geräusch des Windes glich, der durch die Grashalme der Weiden fährt, dann anschwoll, eine Reihe von Noten trillerte, die man nahezu in der Luft hängen sehen konnte. Die Geigen fielen leise ein und untermalten den Klang der Flöte, und wie aus weiter Ferne knarrten die Gitarren hohle Laute; dann fingen die Geigen zu schluchzen an, die Flöte schraubte sich zu wahnwitzigen Tönen empor, und die Gitarren summten wie vibrierende Trommelhäute.

Inmitten des Tanzplatzes tanzte der Volkszähler, nicht mit den Füßen -seine Füße konnte man wegen der langen Robe nicht sehen -, sondern mit dem Körper, der wallte wie ein Tischtuch an einer Leine und im Wind schwankte, einen seltsamen, bizarren, eckigen Tanz, wie eine Puppe ihn darbieten würde.

Er war nicht allein. Andere tanzten mit ihm; eine Vielzahl schemenhafter Gestalten, erschienen aus dem Nichts, hatten sich ihm zum Tanz beigesellt, und der Feuerschein durchdrang hell den substanzlosen Schimmer ihrer geisterhaften Leiber. Zuerst zeigten sie sich nur als Umrisse, aber während ich sie voller Staunen anstarrte, nahmen sie langsam eine eindeutigere Form und erkennbare Züge an, obwohl sie nicht an Substanz gewannen. Sie blieben nebelhaft und verwaschen, aber sie glichen nun mehr Personen als bloßen Gestalten, und entsetzt erkannte ich, daß sie die Kleidung vieler verschiedener Rassen trugen, die fern zwischen den Sternen lebten. Da war ein bärtiger Brigant in Kilt und Umhang jenes abgelegenen Planeten mit dem höchst seltsamen Namen >End of Nothing<; dort ein riesiger Händler in stattlicher Toga vom Planeten Cash; und zwischen ihnen tanzte in einem Fransenkleid, eine Kette aus Edelsteinen um den Hals, selbstvergessen ein Mädchen, das nirgendwoher als vom Vergnügungsplaneten Vegas stammen konnte.

Sie berührte mich nicht, auch hörte ich sie nicht kommen, doch mit irgendeinem Sinn, von dem ich bislang nicht gewußt hatte, daß ich ihn besaß, spürte ich, daß Cynthia an meiner Seite stand. Ich wandte ihr meinen Blick zu und sah, daß sie mich anstarrte; ihre Miene spiegelte Furcht wider und zugleich Verwunderung. Ihre Lippen bewegten sich, aber wegen der Lautstärke der Musik konnte ich sie nicht hören.

»Was haben Sie gesagt?« schrie ich, aber zur Antwort erhielt sie keine Zeit, denn in dem Augenblick, da ich meine Frage ausgesprochen hatte, warf mich eine Erschütterung von den Beinen, und ich stürzte so schwer zu Boden, daß mir der Atem wegblieb. Ich prallte seitlich auf und rollte auf den Rücken; dann sah ich - einigermaßen erstaunt - Bronco durch die Luft fliegen, alle acht Beine grotesk ausgestreckt, während ringsum brennende Scheite und Glut in alle Richtungen davonstoben und eine Rauchwolke in die Nacht emporschoß und den Glanz des Mondes verdunkelte.

Ich versuchte nach Luft zu schnappen und konnte es nicht, und plötzlich befiel mich eine panikartige Furcht, daß ich nie wieder atmen würde, daß es aus war mit dem Atmen. Dann atmete ich doch, sog die Luft heftig ein, und jeder Atemzug bereitete mir solche Schmerzen, so daß ich zu atmen aufhören wollte, doch nun gelang mir das nicht. Auf der ganzen Lichtung, so sah ich, waren die Menschen zu Boden geworfen worden. Einige rafften sich auf, andere versuchten das gleiche, aber viele von ihnen lagen reglos.

Mühsam erhob ich mich auf die Knie und sah neben mir Cynthia, die sich ebenfalls aufzurichten versuchte, und ich streckte eine Hand aus, um ihr zu helfen. Bronco lag verdreht am Boden, rappelte sich jedoch, noch während ich hinsah, wieder auf, aber zwei seiner Beine, beide an einer Seite, baumelten herab, und er stand unsicher auf den restlichen sechs Beinen.

Das Donnern von Füßen eilte an mir vorüber, und ich sah Elmer bei Bronco und ihm aufhelfen, ihn stützen, ihn im Gleichgewicht halten, ihm Beistand leisten. Ich richtete mich vollends auf und zog auch Cynthia neben mir empor. Elmer und Bronco eilten herbei; unterwegs schrie Elmer herüber. »Fort von hier! Auf den Hügel!«

Wir wandten uns um und liefen, bis wir die Umzäunung erreichten, wo der Alte namens Henry und ich den halben Nachmittag hindurch gehockt hatten. Und als wir dort ankamen, sah ich, daß der verkrüppelte Bronco sie niemals würde überwinden können. Ich packte mit beiden Händen einen Pfosten und versuchte ihn loszureißen, ihn umzulegen. Er schwankte hin und her, aber ich vermochte ihn nicht zu lösen.

»Laß mich das machen«, sagte Elmer neben mir. Er hob einen Fuß und trat zu; das Holz zersplitterte, der Pfahl kippte. Cynthia war bereits durch die Balken gestiegen und lief den Hügel hinauf. Ich rannte hinterdrein.

Im Laufen sah ich mich flüchtig um und sah in unmittelbarer Nähe der Scheune Heu in Flammen stehen, höchstwahrscheinlich durch die Glut des Feuers entzündet, welche die Explosion, die Bronco verkrüppelte, in die Luft geschleudert hatte. Menschen liefen ziellos durch den Schein der emporlodernden Flammen.

Beim Umschauen, als ich nicht darauf achtete, wohin ich rannte, stolperte ich in einen Garbenhaufen und überschlug mich.

Als ich mich aus dem Ährengewirr befreit hatte und wieder stand, hatten Elmer und Bronco mich überholt und verschwanden soeben hinter der vom Mond erhellten Kuppe des Hügels. Ich hetzte ihnen nach. Mein Gesicht und meine Hände waren aufgerissen und brannten, was vom unfreiwilligen Sturz in die von der Sonne getrockneten Ähren herrührte, und als ich mit den Händen mein Gesicht berührte, besudelte ich sie mit Blut, das von den Schnittwunden stammte, die die trockenen, stichligen Ähren meiner Haut zugefügt hatten.

Ich überquerte die Höhe und stürzte den jenseitigen Hand hinunter, und weit voraus sah ich das Weiß von Cynthias Jacke, schon fast am Wald, der unterhalb vom Feld lag. Nicht weit hinter ihr folgten Bronco und Elmer. Bronco hatte sich auf Elmers hilfreichen Zugriff, den er ihm während der Flucht gewährte, gut eingestellt, und die beiden kamen schnell voran.

Die Stoppeln des geschnittenen Weizens und das herbstlich trockene Unkraut, das zwischen den Stoppelreihen gewuchert war, kratzten an meinen Hosenbeinen, während ich lief, und hinter mir, von der Lichtung hinter dem Hügel, vernahm ich Geschrei und Gebrüll.

Ich erreichte den Zaun, der das Feld vom Wald trennte; dort war ein Tor, das Elmer schon eingetreten hatte. Ich stürmte durch die Lücke und zwischen die Bäume, und dort, obwohl Mondlicht durchs Geäst fiel, mußte ich meine Flucht verlangsamen, aus Furcht, sonst kopfüber gegen einen Baum zu krachen.

Jemand stieß ein Zischen aus, irgendwo neben mir, und ich verharrte und fuhr herum. Ich sah die drei um eine Eiche mit niedrig gewachsenen Ästen versammelt. Bronco stand auf sechs Beinen, und offenbar recht gut. Elmer kletterte soeben vom Baum herab, mit Bündeln beladen.

»Ich habe sie kurz nach Anbruch der Dämmerung hergebracht und hier deponiert«, sagte er. »Ich habe geahnt, daß so etwas geschehen würde.«

»Weißt du, was es war?«

»Jemand hat eine Bombe geworfen«, sagte Elmer.

»Eine Friedhofsbombe«, erwiderte ich. »Sie hatten eine Kiste Whiskey eingehandelt.«

»Der Lohn«, sagte Elmer.

»Vermutlich. Ich hatte mich schon gewundert. Der Whiskey war verdammt gut.«

»Aber was ist mit dem Volkszähler und den Geistern?« fragte Cynthia. »Falls es Geister waren.«

»Ein Ablenkungsmanöver«, sagte Elmer.

Ich schüttelte den Kopf. »Das wäre zu kompliziert. Es kann nicht jeder darin verwickelt gewesen sein.«

»Du unterschätzt unsere Freunde«, sagte Elmer. »Was hast du Bell erzählt?«

»Nicht viel. Ich habe es abgelehnt, mich kaufen zu lassen.«

Elmer grunzte.

»Das ist lese majeste«, sagte er.

»Was tun wir jetzt?« fragte Cynthia.

»Kannst du es«, wandte Elmer sich an Bronco, »für eine Weile ohne mich schaffen?«

»Wenn ich langsam gehe«, erwiderte Bronco.

»Fletch wird dabei sein. Er kann dich nicht stützen wie ich, aber solltest du fallen, kann er dir aufhelfen. Mit ihm wirst du es schaffen. Ich muß einige Werkzeuge holen.«

»Du hast dein Werkzeugsortiment«, sagte ich. Er trug alle seine Austauschhände und eine Menge anderer Dinge bei sich. Sie lagerten in einem Fach in seiner Brust.

»Vielleicht werde ich einen Hammer und anderes schweres Werkzeug brauchen. Diese beiden Beine von Bronco sind völlig verformt. Wahrscheinlich müssen wir sie reparieren und ausbeulen, um ihre Funktionstüchtigkeit wiederherzustellen. Drüben steht ein Werkzeugschuppen. Er ist verschlossen, aber das ist kein Problem.«

»Ich dachte, es sei am besten, schnellstens zu verschwinden. Wenn du jetzt umkehrst... «

»Sie sind alle durcheinander. Die Scheune ist gefährdet, und sie müssen das Feuer bekämpfen. Ich komme ungesehen hinein und wieder heraus.«

»Du mußt dich beeilen«, sagte Cynthia.

Er nickte. »Das werde ich. Ihr drei überquert diesen Hügel bis hinab ins jenseitige Tal, dann wendet ihr euch nach rechts, stromabwärts. Nimm du dies Bündel, Fletch. Cynthia, du dürftest wohl dies kleinere hier tragen können. Laßt den Rest für mich zurück. Ich bringe alles mit. Bronco kann nichts schleppen in dem Zustand, in dem er sich befindet.«

»Nur eins noch«, sagte ich.

»Und was?«

»Woher weißt du, daß wir uns nach rechts wenden müssen, stromabwärts?«

»Weil ich auf Kundschaft war, während du mit diesem bärtigen Gevatter auf einem Balken gedöst hast und Cynthia Kartoffeln schälte und andere hausfrauliche Tätigkeiten verrichtete. Durch jahrelange Erfahrungen habe ich gelernt, daß es immer von Nutzen ist, sich in der Gegend auszukennen.«

»Aber wohin gehen wir?« fragte Cynthia.

»Fort vom Friedhof«, antwortete er. »So weit wie möglich.«

10

Bronco hatte gesagt, er könne es schaffen, aber wir kamen nur sehr langsam vorwärts. Der Hang war steil und unwegsam, und bis in die Tiefe des Tals war es ein weiter Weg. Dreimal kam Bronco zu Fall, ehe wir die Talsohle erreichten; jedesmal gelang es mir, ihn wieder auf die Beine zu stellen, aber es kostete viel Kraft und Zeit.

Eine Zeitlang waberte und flackerte hinter uns ein Feuerschein am Himmel; es mußte die Scheune sein, denn der Heuhaufen wäre viel schneller abgebrannt. Zum Zeitpunkt jedoch, als wir ins Tal kamen, war der Feuerschein verschwunden. Entweder war die Scheune niedergebrannt oder das Feuer gelöscht worden.

Im Tal kamen wir leichter voran. Das Gelände war einigermaßen begehbar, obwohl es stellenweise schwierige Strecken gab. Der Wald stand dürftiger, und der Mond spendete mehr Licht als auf dem dichtbewachsenen Hügel. Irgendwo zu unserer Linken floß ein Gewässer. Wir gelangten nicht ans Ufer, aber gelegentlich ließ sich das Gluckern des Wassers an einer kiesigen Sandbank vernehmen.

Wir wanderten durch eine unheimliche Welt silbernen Zaubers, und von den Hängen erscholl in regelmäßigen Abständen ein entferntes Schnarren, manchmal ertönten auch andere Laute. Einmal schwebte ein großer Vogel über uns hinweg, ohne daß von seinen Schwingen das leiseste Flüstern kam, schwenkte ab und glitt über eine Baumgruppe außer Sicht.

»Ich hätte lieber ein Bein auf jeder Seite beschädigt«, sagte Bronco, »statt zwei auf einer Seite, das wäre nicht schwierig, aber das hier, vier Beine auf der einen und zwei auf der anderen Seite, das verwirrt mich, ich fühle mich seitenlastig.«

»Du hältst prächtig durch«, sagte Cynthia. »Tut's weh?«

»Ich fühle keinen Schmerz«, sagte Bronco. »Ich kann keinen Schmerz fühlen.«

»Ihr glaubt, der Friedhof habe das getan«, sagte Cynthia zu mir, »du und Elmer, und ich neige auch zu dieser Annahme. Aber sie können uns doch unmöglich als Bedrohung empfinden ...«

»Jeder, der vorm Friedhof nicht auf die Knie fällt«, erwiderte ich, »ist automatisch eine Bedrohung. Er besteht schon so lange, man hat die Erde bereits so lange im Griff, daß man nicht die geringste Störung zu ertragen vermag.«

»Aber wir stören doch nicht.«

»Wir könnten es. Falls wir nach Alden zurückkehren, wenn wir die Erde mit dem verlassen, das wir haben wollen, könnten wir ihnen in die Quere kommen. Wir könnten ein Bild der Erde präsentieren, das nicht nur aus Friedhof besteht. Und es schlägt womöglich ein, findet vielleicht ein Publikum und künstlerische Anerkennung. Die Menschen könnten erfreut darüber sein, daß die Erde nicht ausschließlich Friedhof ist.«

»Selbst das würde ihnen in keiner Hinsicht schaden«, sagte sie. »Ihr Geschäft würde dadurch nicht beeinträchtigt. Es würde sich überhaupt nichts ändern.«

»Ihr Stolz wäre verletzt«, antwortete ich.

»Aber Stolz ist eine so geringfügige Sache - eine rein persönliche Angelegenheit. Wessen Stolz? Den Stolz Maxwell Peter Bells, den Stolz anderer kleiner Autokraten wie Bell. Nicht den Stolz des Friedhofs. Der Friedhof ist eine Korporation, eine bedeutende Korporation. Dort denkt man in Einnahmen, Jahresumsätzen, Profiten und Kosten. Für so etwas wie Stolz ist kein Platz in ihren Hauptbüchern. Es muß sich um etwas anderes handeln, Fletch. Es kann nicht bloß Stolz sein.«

Vielleicht hatte sie recht, überlegte ich. Es konnte etwas wichtigeres als Stolz sein, aber was?

»Sie sind ans Herrschen gewöhnt«, sagte ich. »Sie können kaufen, wen und was sie wollen. Sie haben jemanden gemietet, damit er eine Bombe nach Bronco wirft. Sogar ohne Rücksicht auf die Möglichkeit, daß andere dabei verletzt werden. Sie können sich Rücksichtslosigkeit erlauben, verstehst du? Ihnen ist alles gleichgültig, denn sie bekommen alles. Und sie erhalten es billig. Weil sie so sind, wie sie eben sind, kann niemand Forderungen stellen. Wir kennen den Preis des Bombenwerfers, und er war niedrig. Eine Kiste voll Whiskey. Möglicherweise müssen sie, um die Oberhand zu behalten, gelegentlich mit allem Nachdruck demonstrieren, wie es jenen Leuten ergeht, die nicht nach ihrer Pfeife tanzen.«

»Du sprichst immer in der Mehrzahl«, sagte Cynthia. »Aber da ist niemand anders, wir haben es nicht mit dem ganzen Friedhof zu tun, sondern mit nur einem Mann.«

»Das ist wahr«, sagte ich, »und aus genau diesem Grund könnte Stolz eine Rolle spielen. Weniger der Stolz des Friedhofs als der Stolz Maxwell Bells.«

Das Tal lag vor uns ausgebreitet, ein weites Grasland, durchsetzt mit kleinen Baumgruppen und umsäumt von dunklen, waldreichen Hügeln. Zu unserer Linken floß der Strom, aber es war bereits eine Weile her, daß wir einen Laut von dort vernommen hatten. Der Untergrund war eben, und Bronco vermochte ohne Schwierigkeiten auszuschreiten, aber sein unbeholfener Humpelgang war schmerzlich anzuschauen. Dennoch konnte er leicht mit unserer menschlichen Marschgeschwindigkeit mithalten.

Von Elmer keine Spur. Ich hob mein Handgelenk dicht vor die Augen; auf meiner Uhr war es fast zwei Uhr morgens. Ich besaß keine Vorstellung davon, wann unsere Flucht begonnen hatte, aber nach eingehender Überlegung kam ich zu der Überzeugung, daß es nicht wesentlich später als zweiundzwanzig Uhr gewesen sein konnte, und das hieß, daß wir seit ungefähr vier Stunden unterwegs waren. Ich fragte mich, ob Elmer etwas zugestoßen sein konnte. Es hatte ihn doch kaum viel Zeit gekostet, in den Werkzeugschuppen einzubrechen und sich anzueignen, was er brauchte. Er hatte die restlichen Bündel mitbringen wollen, die wir zurückgelassen hatten, und alles zusammen ergab sicherlich eine schwere Last, aber ihn sollte ein solches Gewicht wenig behelligen, so daß er eigentlich ziemlich schnell hätte nachkommen müssen.

Falls er bis Tagesanbruch nicht auftauchte, beschloß ich, würden wir uns einen Unterschlupf suchen, um auf ihn zu warten und nach ihm Ausschau zu halten. Weder Cynthia noch ich hatten seit der Ankunft auf der Erde geschlafen, und ich begann es zu spüren; wahrscheinlich ging es ihr ebenso. Bronco brauchte keinen Schlaf. Er konnte nach Elmer ausspähen, während wir uns ein wenig Schlaf gönnten.

»Fletcher«, sagte Cynthia. Sie war unmittelbar vor mir stehengeblieben, und ich prallte gegen sie. Bronco stoppte ebenfalls und geriet dabei ins Schleudern.

»Rauch«, sagte sie. »Ich rieche Rauch. Von einem Holzfeuer.«

Ich roch keinen Rauch.

»Du bildest es dir nur ein«, sagte ich. »Hier ist weit und breit niemand.«

Das Tal schien nichts Menschliches zu enthalten. Es vermittelte die Eindrücke von Mondlicht, Gras und Bäumen und Hügeln, von Licht und Schatten, Nachtluft und fliegenden Lebewesen. Zwischen den Hügeln erklangen gelegentlich das Schnarren und andere nächtliche Geräusche, aber hier waren keine Menschen, ich spürte oder ahnte keine Nähe von Menschen.

Dann roch auch ich den Rauch, schwach, kaum wahrnehmbar, nicht mehr als ein flüchtiger scharfer Duft, im einen Moment vorhanden, im nächsten dahin.

»Du hast recht«, sagte ich. »Irgendwo brennt ein Feuer.«

»Feuer bedeutet Menschen«, bemerkte Bronco.

»Von Menschen habe ich vorerst die Nase voll«, sagte Cynthia. »Für einen oder zwei Tage will ich keinen sehen.«

»Ich auch nicht«, sagte Bronco.

Wir standen still und warteten auf die nächste Duftwelle, aber es kam keine.

»Vielleicht sind es doch keine Leute«, sagte ich. »Vielleicht ein Baum, den vor Tagen ein Blitz getroffen hat und der noch glimmt. Ein altes Lagerfeuer, nicht gelöscht, das noch schwelt.«

»Wir sollten Deckung suchen«, schlug Cynthia vor, »und nicht hier herumstehen, wo uns jeder sehen kann.«

»Da links von uns ist ein Gehölz«, sagte Bronco. »Dorthin kommen wir ziemlich schnell.«

Wir wandten uns nach links und strebten langsam und vorsichtig zum Gehölz. Und ich dachte, wie töricht wir alles am hellen Tag finden würden, denn das Feuer, das den Rauch verursachte, konnte meilenweit von uns entfernt sein. Wahrscheinlich hatten wir auf keinen Fall Grund zur Furcht. Vorausgesetzt, sie waren noch dort, handelte es sich bei den Personen, die das Feuer entzündet hatten, vermutlich um anständige Leute.

Kurz vor dem Gehölz blieben wir stehen und lauschten; vom Gehölz her drang das Geräusch fließenden Wassers. Um so besser, dachte ich. Ich verspürte nämlich Durst. Die Bäume wuchsen höchstwahrscheinlich am Ufer des Flusses, der durch das Tal floß.

Wir drangen ins Gehölz ein. Nach dem hellen Mondlicht überm offenen Land vermochten wir in den dunklen Schatten unter den Bäumen so gut wie gar nichts zu erkennen, und während wir durch die Schatten schritten, erhoben sich einige davon und schlugen mich zu Boden.

11

Irgendwie war ich in einen Teich gefallen und versank zum dritten und endgültigen Mal, erstickte am Wasser im Gesicht und in meiner Nase, bekam keine Luft. Ich gurgelte und keuchte und öffnete die Augen, und aus meinem Haar lief mir Wasser übers Gesicht.

Ich sah, daß ich keineswegs in irgendeinem Teich schwamm, sondern mich auf dem Trockenen befand; im Schein eines Feuers, das ein Stück entfernt brannte, sah ich die Gestalt eines Mannes, der in beiden Händen einen hölzernen Eimer hielt und begriff, daß er mir den Inhalt des Eimers übers Haupt gegossen hatte.

Ich konnte sein Gesicht nicht gut sehen, weil er dem Feuer den Rücken zukehrte, aber plötzlich blitzten weiße Zahnreihen auf, und er rief mit wütender Stimme etwas, das ich nicht verstand.

Rechts von mir herrschte ein schrecklicher Tumult, und als ich den Kopf in diese Richtung wandte, sah ich Bronco auf dem Rücken ausgestreckt liegen, während eine Anzahl brüllender Männer ihn umzingelt hielt; sie sprangen vor und zurück, indem sie versuchten, sich auf ihn zu stürzen. Das allerdings blieb weitgehend erfolglos, denn mit zwei beschädigten Beinen besaß Bronco nach wie vor sechs unbeschädigte, und alle sechs keilten wild nach den Männern aus, die ihm umringt hatten.

Ich schaute mich nach Cynthia um und sah sie am Feuer. Sie saß in seltsam unbeholfener Haltung am Boden und hatte einen Arm auf merkwürdige Weise erhoben, und ich erkannte, daß ein großer Kerl, der neben ihr stand, den Arm gepackt hielt und ihn umdrehte, sobald sie aufzustehen versuchte, und daraufhin setzte sie sich notgedrungen wieder hin.

Ich begann mich aufzuraffen, und da sprang der Mann mit dem Holzeimer heran und schwang den Eimer, als wolle er mir den Schädel einschlagen. Ich vermochte mich nicht ganz aufzurichten, aber als der Eimer herabsauste, befand ich mich immerhin bereits zusammengekauert auf den Beinen und ließ mich zur Seite fallen. Der Eimer verfehlte mich knapp, und dann, als er handgreiflich werden wollte, packte ich seine Beine. Als er vornüber auf mich kippte, hob ich eine Schulter und rammte sie gegen seine Knie, er flog über mich hinweg wie von einem Katapult abgeschossen und krachte hinter mir auf den Boden. Ich kümmerte mich nicht darum, was ihm geschehen sein oder was er tun mochte, sondern überwand die wenigen Meter, die uns trennten, und stürzte mich auf den Mann, der Cynthias Arm umklammerte.

Er sah mich kommen, gab ihren Arm frei und griff nach dem Messer in seinem Gürtel, aber er war zu langsam, und mit einem Aufwärtshaken knallte ich ihm die Faust unters Kinn. Er fiel stocksteif um, blieb liegen, und ich faßte zu, um Cynthia auf die Beine zu helfen.

Während ich sie noch stützte, ertönte hinter mir Gebrüll, und als ich herumfuhr, sah ich, daß die Männer, die Bronco bedrängt hatten, sich von ihm abwandten und sich uns näherten.

Von dem Moment an, als ich den Eimer voll Wasser ins Gesicht bekommen hatte, der mich aus der Betäubung aufschreckte, war ich zu beschäftigt gewesen, um den Einzelheiten der Situation viel Aufmerksamkeit widmen zu können, aber nun sah ich, daß die Männer einer wüsten Horde angehörten. Einige waren in etwas gekleidet, das vermutlich Wildleder war; manche trugen auf den Köpfen Pelzmützen, und trotz des schwachen Feuers konnte ich erkennen, daß sie ein zerlumpter, schmutziger Haufen waren und sich krummbucklig heranschoben, statt aufrecht und gerade zu gehen, wie Männer es tun sollten. Ein paar führten irgendwelche Gewehre mit, und da und dort sah ich die Klingen blanker Messer blitzen; alles in allem, sagte ich mir, hatte ich keine große Chance, mich gegen sie behaupten zu können.

»Du solltest lieber abhauen«, sagte ich zu Cynthia. »Versuch ein Versteck zu finden.«

Sie gab keine Antwort, und als ich mich umblickte, sah ich sie gebückt am Boden herumklauben. Sie richtete sich auf und hielt in jeder Hand einen Knüppel, plumpe Scheite, die sie aus einem Holzstapel gesucht hatte, der angelegt worden war, um das Lagerfeuer zu nähren. Einen davon reichte sie mir, nahm den anderen in beide Hände und bezog neben mir Stellung.

Als die Männer bemerkten, daß wir plötzlich mit Keulen bewaffnet waren, verharrten sie, doch sie konnten sich auf uns stürzen und uns fertigmachen, wann immer es ihnen paßte. Einige würden sich vielleicht Beulen holen, aber durch ihre bloße Überzahl vermochten sie uns auf jeden Fall zu überwältigen.

Ein riesiger Kerl, der einen Schritt vor den anderen stand, öffnete das Maul. »Was'n los mit euch?«

»Ihr habt uns überfallen«, antwortete ich.

»Ihr habt uns nachspioniert«, behauptete der Mann.

»Wir hatten bloß den Rauch gerochen«, entgegnete Cynthia. »Wir haben nicht spioniert.«

Irgendwo zur Linken ertönten Schnauflaute und das Geräusch von Füßen oder Hufen, die am Boden scharrten. Im Gehölz jenseits des Feuers mußten Tiere sein.

»Ihr habt uns belauert«, beharrte der Mann. »Ihr und euer Riesenviech da.«

Während er sprach, stahlen sich andere Männer nach beiden Seiten. Sie begannen uns in die Zange zu nehmen.

»Unterhalten wir uns einmal vernünftig«, sagte ich. »Wir sind Reisende. Wir wußten überhaupt nicht, daß ihr hier seid, und ...«

Rechts und links von uns trampelten plötzlich Füße los, und von irgendwo aus dem Wald erscholl ein heulender Schrei, der diese Füße sogleich zum Halt brachte - ein wilder, grausamer Kriegsruf, der das Blut gerinnen und die Haare zu Berge stehen ließ. Aus dem Finstern der Bäume brach eine mächtige stählerne Gestalt, die mit hoher Geschwindigkeit heranstürmte, und bei ihrem Anblick begann das Gesindel, das sich hatte auf uns stürzen wollen, ums Leben zu rennen.

»Elmer!« schrie Cynthia, aber er beachtete uns nicht. Einer der Fliehenden war gestolpert, als er sich zur Flucht wandte, und Elmer packte ihn noch im Fall, hob den wie rasend sich windenden Körper hoch in die Luft und schleuderte ihn weit fort in die Dunkelheit. Ein Schuß peitschte, und die Kugel traf mit einem hohlen Schlag Elmers metallenen Rumpf, aber das blieb der einzige Schuß, den abzufeuern die Fliehenden sich die Zeit nahmen. Sie liefen schreiend am Feuer vorbei und hinein in den Wald, und Elmer war ihnen dicht auf den Fersen. Sie brüllten vor Entsetzen, und durch ihr Gebrüll vernahm man das Platschen des Wassers, als sie sich in den Fluß jenseits des Lagers stürzten.

Загрузка...