Cynthia lief zum Bronco, der mit den Beinen strampelte, und ich folgte ihr. Zu zweit stellten wir ihn wieder auf die Füße.

»Das war Elmer«, sagte Bronco, als er stand. »Der macht ihnen die Hölle heiß.«

Das Schreien und Brüllen verklang in der Ferne. »Da sind noch mehr«, sagte Bronco. »dort im Gehölz angebunden. Sie sind nicht böse, sie sind schlichte Geschöpfe.«

»Pferde«, sagte Cynthia. »Es müssen viele sein. Ich glaube, diese Leute sind Händler.«

»Kannst du mir erklären, was passiert ist?« fragte ich sie. »Wir gingen ins Gehölz, und da waren Schatten. Dann kam ich wieder zu Bewußtsein, als mir jemand Wasser ins Gesicht schüttete.«

»Sie haben dich niedergeschlagen und mich gepackt und uns beide in ihr Lager gezerrt«, berichtete Cynthia. »Dich haben sie an den Füßen mitgeschleift.«

»Und Bronco?«

»Ich rannte hin, um euch zu befreien«, sagte Bronco, »aber dabei machte ich einen Fehltritt und fiel um. Als sie mir was wollten, habe ich ihnen mit meinen gesunden Klauen ein paar kräftige Tritte verpaßt.«

»Sie haben sich durch nichts verraten«, sagte Cynthia. »Sie warteten auf uns. Sie haben uns kommen sehen und sich in den Hinterhalt gelegt. Wir konnten das Feuer nicht bemerken, dieser Hohlweg ist ziemlich tief ...«

»Zweifellos hatten sie Posten aufgestellt«, sagte ich. »Es war unser Pech, daß wir ihnen direkt in die Arme gelaufen sind.«

Wir gingen hinunter zum Lager und standen ums Feuer. Obwohl es inzwischen abgebrannt war, schürten wir es nicht. Irgendwie fühlten wir uns ohne allzu starke Beleuchtung ein bißchen sicherer. Kisten und Ballen lagen an einer Seite, auf der anderen ein Stoß Holz, das Brennmaterial. Überall lagen Koch- und Eßgeschirre, Gewehre und Decken verstreut.

Etwas kam laut platschend durchs Wasser und dann mit Gekrache durchs Unterholz. Ich bückte mich, um ein Gewehr aufzuheben, aber Bronco sagte: »Das ist nur Elmer, der zurückkommt«, und ich ließ das Gewehr fallen. Ich weiß nicht, wozu ich es überhaupt aufhob; ich hatte nicht die leiseste Vorstellung davon, wie es funktionierte.

Elmer prasselte durchs Gehölz.

»Sie sind fort«, sagte er. »Ich habe einen von ihnen zu fangen versucht, um zu hören, was er uns erzählen könnte, aber sie waren zu flink für mich.«

»Sie hatten Angst«, sagte Bronco.

»Sind alle unversehrt?« fragte Elmer.

»Wir sind alle in Ordnung«, sagte Cynthia. »Einer hat Fletch mit einem Knüppel auf den Kopf geschlagen, so daß er das Bewußtsein verlor, aber anscheinend geht's ihm wieder gut.«

»Ich habe eine Beule«, stellte ich fest, »und jetzt, da wir davon sprechen, bemerke ich auch einen leichten Kopfschmerz. Aber sonst bin ich wohlbehalten.«

»Fletch«, sagte Elmer, »warum schiebst du nicht Holz ins Feuer und wärmst etwas Nahrung? Du und Miß Cynthia, ihr dürftet etwas gebrauchen können. Wahrscheinlich auch Schlaf. Ich habe das Zeug, das ich trug, im Wald abgelegt. Ich gehe zurück und hole es.«

»Sollten wir nicht lieber verschwinden?« fragte ich.

»Sie werden nicht wiederkommen«, versicherte Elmer. »Nicht gleich. Nicht am hellichten Tag, und die Dämmerung kommt bald. Morgen abend werden sie zurückkehren, aber bis dahin sind wir fort.«

»Sie haben im Gehölz Pferde angebunden«, sagte Bronco. »Ohne Zweifel Packtiere, um diese Kisten und Ballen zu transportieren. Wir könnten ein paar von diesen Tieren verwenden.«

»Wir nehmen sie mit«, sagte Elmer. »Unsere Freunde sollen zu Fuß gehen. Und dann - ich brenne darauf, einen Blick in diese Ballen zu tun. Darin muß sich etwas befinden, das wir nicht sehen sollten.«

»Vielleicht waren sie nur streitlustig«, wandte Bronco ein. »Vielleicht waren sie nur gemein und böse.«

12

Aber es ging nicht um bloße Gemeinheit.

Sie hatten allen Grund, wert darauf zu legen, daß niemand erfuhr, was die Kisten und Ballen enthielten.

Der erste Ballen, den wir aufschlitzten, enthüllte Metall, roh in Platten zerteilt, anscheinend mit Meißeln.

Elmer nahm zwei Platten und schlug sie gegeneinander. »Stahl«, sagte er, »beschichtet mit Bronze. Ich möchte gerne wissen, woher sie das haben.«

Aber noch bevor er den Satz beendet hatte, wußte er es; und ich wußte es auch. Er sah mich an und erkannte - oder vermutete -, daß ich es wußte.

»Das ist Sargmetall, Fletch«, sagte er.

Wir standen und starrten es an; hinter uns blickte Bronco über unsere Schultern. Elmer warf die beiden Stücke auf den Boden.

»Ich hole das Werkzeug«, sagte er, »dann kümmern wir uns um Bronco.

Wir müssen schneller hier weg, als ich geglaubt habe.«

Mit den Werkzeugen, die Elmer aus dem Geräteschuppen der Siedlung entwendet hatte, machten wir uns an die Arbeit. Ein Bein brachten wir ohne große Mühe in Ordnung, bogen es zurecht, beulten es aus und rasteten es an seinem Platz wieder ein, und danach war es so gut wie neu. Das zweite Bein bereitete uns einige Schwierigkeiten.«

»Was meinst du, wie lange das schon getrieben wird ?« fragte ich, während wir arbeiteten. »Diese Grabräuberei. Der Friedhof muß doch davon wissen.«

»Vielleicht weiß man es«, antwortete Elmer, »aber was könnten sie dagegen tun und warum sollten sie überhaupt dagegen sein? Wenn jemand ein bißchen eleganten Grabraub betreiben möchte was macht das schon? Hauptsache, sie tun es dort, wo es nicht sonderlich auffällt.«

»Aber es muß auffallen. Der Friedhof wird gepflegt und ...«

»Wo man es sieht«, sagte Elmer. »Ich wette, daß es Friedhofsgelände gibt, die man nicht pflegt - und die Besucher nicht sehen dürfen.«

»Aber falls jemand kommt, um ein bestimmtes Grab zu besuchen?«

»Davon erfahren sie früh genug. Sie kennen die Namen jeder Passagierliste der Pilgrim Tours - die Namen und die Herkunft der Passagiere. Ihnen steht ausreichend Zeit zur Verfügung, ein Notprogramm anzuleiern, jeden beliebigen Teil des Frieshofs ordentlich herzurichten. Oder vielleicht unterziehen sie sich gar nicht solcher Mühe. Es kann sein, daß sie bloß ein paar Grabsteine oder Namensschilder austauschen. Wer würde es schon merken?«

Cynthia hatte am Feuer gekocht. Nun kam sie herüber zu uns. »Kann ich das für einen Moment haben?« fragte sie und nahm ein Hebeisen.

»Was hast du damit vor?« sagte Elmer.

»Eine Kiste öffnen.«

»Überflüssig«, meinte Elmer. »Wir wissen, was sie transportiert haben: Metall.«

»Egal«, antwortete Cynthia. »Ich möchte mir das Zeug ansehen.«

Allmählich wurde es hell. Die Sonne warf Licht über den östlichen Himmel und würde bald aufgehen. Vögel, die zu zwitschern begonnen hatten, als die Dunkelheit der Nacht zu weichen anfing, flogen und hüpften nun durch die Bäume. Ein Vogel, groß, blau und mit einer Haube auf dem Kopf sauste nervös herum und schrie auf uns herab.

»Ein blauer Eichelhäher«, sagte Elmer. »Von Natur aus ein Krakeeler. Ich entsinne mich, daß es sie schon lange gibt. Auch ein paar von den anderen, aber mir fallen nicht alle Namen ein. Das dort ist ein Rotkehlchen. Das da eine Amsel - eine Kohlamsel, würde ich sagen. Freche kleine Schurken.«

»Fletcher«, sagte Cynthia; sie sprach nicht sehr laut, aber ihre Stimme klang scharf und leicht verzerrt.

Ich hatte neben Elmer gekauert und zugeschaut, wie er die letzten Handgriffe tat, um eine von Broncos Klauen zurechtzubiegen und zu glätten.

»Ja, was ist?« erkundigte ich mich und sah mich dabei nicht einmal um.

»Bitte komm her«, sagte sie.

Ich stand auf und drehte mich um. Es war ihr gelungen, an der Oberseite einer Kiste das Ende einer Latte zu lösen, die nun umgeknickt über den Kistenrand ragte. Sie blickte nicht herüber. Sie schaute etwas im Innern der Kiste an, reglos, als habe jemand sie urplötzlich hypnotisiert, außerstande, ihren Blick vom Inhalt der Kiste zu wenden. Mit drei raschen Schritten war ich an ihrer Seite.

Als erstes sah ich eine Flasche - dünn, zerbrechlich, offenbar aus Jade, aber es konnte unmöglich Jade sein, denn sie war mit kleinen, zarten Figuren in Schwarz, Gelb und Dunkelgrün bedeckt, während die Flasche selbst apfelgrün war. Daneben eine Porzellantasse, oder etwas, das wie eine Porzellantasse aussah, mit rotblauem Muster; neben der Tasse lag das Bruchstück einer Statue, grob gehauen aus cremefarbenem Stein. Unter der Statue, halb verdeckt, ein seltsam verzierter Krug.

Elmer hatte sich zu uns gesellt, und nun nahm er das Hebeisen aus Cyn-thias Hand. Mit zwei schnellen Handgriffen beseitigte er die restlichen Bretter, welche die Kiste oben verschlossen hatten. Die Kiste war gefüllt mit einem Durcheinander aus Krügen und Flaschen, Bruchstücken von Statuen, Porzellan, hübsch geformtem Metallzierrat, mit Edelsteinen geschmückten Gürteln und Armbändern, Halsketten aus Steinen, Broschen, Kultgegenständen, Kästchen aus Holz wie aus Metall und vielen anderen Dingen.

Ich nahm einen der Kultgegenstände heraus, einen vielkantigen Klotz aus irgendeiner Art von poliertem Stein, der auf jeder Fläche halb verwaschene Gravuren aufwies. Ich drehte ihn in den Händen und betrachtete die eingravierten Symbole auf den Flächen aus der Nähe. Der Brocken war schwer, als sei er aus Metall und nicht aus Stein, aber seine Beschaffenheit war steinartig. Meine Erinnerung war ziemlich deutlich, grenzte fast an Sicherheit, obwohl es mir an absoluter Gewißheit fehlte. Ich hatte ein ähnliches Stück, ein sogar sehr ähnliches Stück, auf Thorneys Kaminsims gesehen, und eines Abends, als wir dort saßen, hatte er es herabgenommen und mir vorgeführt, welchem Zweck es diente; man ließ es wie einen Würfel rollen, um eine Entscheidung zu fällen, wenn man sich im Zweifel befand. Es handelte sich um eine Art Orakelstein, sehr, sehr alt und außerordentlich kostbar; außerdem war es ein bedeutendes Stück, denn es gehörte zu den wenigen Artefakten, die einem verschollenen Volk eines fernen, kaum bekannten Planeten zugeschrieben werden konnten - einem Volk, das dort gelebt hatte und ausgestorben oder ausgewandert war oder sich zu etwas anderem entwickelt hatte, lange bevor die menschliche Rasse den Planeten entdeckte und zu besiedeln begann.

»Du weißt, was das ist, Fletch?« fragte Elmer.

»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte ich. »Thorney hatte einmal ein fast gleichartiges Ding. Ein sehr alter Fund. Er nannte den Planeten und die Rasse, die es hergestellt hat, aber ich erinnere mich nicht an die Namen.«

»Das Essen ist heiß«, sagte Cynthia. »Warum essen wir nicht und unterhalten uns dabei?«

Als sie das sagte, bemerkte ich, daß ich ungeheuer hungrig war; seit dem vergangenen Mittag hatte ich keinen Bissen zu mir genommen.

Sie ging zum Feuer und teilte die Mahlzeit aus, die sie in einem Kessel zubereitet hatte. Es war eine dicke, reichhaltige Suppe, ein Eintopf, mit Gemüse und Fleischbrocken darin. In meiner Hast verbrannte ich mir mit dem ersten Löffelvoll den Mund.

Elmer setzte sich neben uns. Gelangweilt stocherte er mit einem Zweig im Feuer.

»Ich habe den Eindruck«, sagte er, »daß wir hier eine Anzahl der vermißten Fundgegenstände haben, von denen, wie du erzählt hast, Professor Thorndyke oft zu reden pflegt. Dinge von archäologischen Fundstellen, geplündert von Schatzräubern, die ihre ganze Beute fortschafften, so daß die Funde nicht studiert werden konnten, um sie später mit Riesengewinn an Sammler zu verkaufen.«

»Ich glaube, du hast recht«, sagte ich, »und ich glaube auch, daß ich weiß, wo wenigstens ein Teil der Beute versteckt wird.«

»Im Friedhof«, sagte Cynthia.

»Nichts wäre einfacher«, erklärte ich. »Ein Sarg ist ein vorzügliches Versteck. Niemand käme auf den Einfall, ihn auszugraben - niemand, meine ich, außer einer Bande von Metallsuchern außerhalb des Friedhofs, die eine gute Idee hatte, wie man leicht zu Metall kommen konnte, um keinen höheren Preis als ein bißchen Arbeit.«

»Anfangs hatten sie es auf das Metall abgesehen«, meinte Cynthia, »und dann stießen sie eines Tages auf einen Sarg, der keine Leiche enthielt, sondern Wertgegenstände. Möglicherweise sind die entsprechenden Gräber irgendwie gekennzeichnet, und sie fanden heraus, auf welche Weise.«

»Sie hätten eine derartige Markierung sicher nicht ohne weiteres gefunden«, wandte Elmer ein.

»Wahrscheinlich hatten sie Zeit genug dazu«, antwortete Cynthia. »Viel-leicht sind diese Grabräuber schon seit Jahrhunderten im Metallgeschäft.«

»Womöglich gibt es gar keine Markierung«, sagte ich.

»Nun, es muß wohl eine geben«, beharrte Cynthia. »Woher sollten sie sonst wissen, wo das Graben sich lohnt?«

»Wie wäre es mit einem Komplizen beim Friedhof? Einem Eingeweihten, der weiß, welche Gräber sie sich vornehmen müssen?«

»Ihr vergeßt beide eins«, sagte Elmer. »Vielleicht ist unseren Grabräubern an dem Kram in den Kisten gar nicht gelegen ...«

»Aber genommen haben sie ihn«, sagte Cynthia.

»Sicher, das haben sie. Vielleicht finden sie ihn interessant und ganz nett. Unter Umständen besitzt das Zeug sogar einen gewissen Tauschwert. Aber ich bin der Meinung, daß es in Wirklichkeit das Metall ist, wohinter sie her sind. Metall dürfte hier schwer erhältlich sein. Wahrscheinlich hat man es zunächst aus den zerstörten Städten geborgen, aber das wird inzwischen weitgehend durch Korrosion vernichtet sein. Doch im Friedhof liegt Metall neueren Datums, und vermutlich ist es auch besser. Die Artefakte, welche sie in manchen Gräbern finden, besitzen für uns einen Wert, weil wir von Professor Thorndyke wissen, daß sie von großer archäologischer Bedeutung sind, aber ich bezweifle, daß diese Räuber sie ebenfalls für wertvoll erachten. Kinderspielzeug, Schmuck für die Frauen, dies oder jenes mag sich zum Handel eignen - aber in der Hauptsache wollen sie das Metall.«

»Diese Angelegenheit erklärt eins«, sagte ich. »Sie erhellt, warum der Friedhof die Kontrolle des Friedhofbesuchs ausübt. Man möchte verhindern, daß jemand von den Artefakten erfährt.«

»Der Handel damit ist nicht illegal«, bemerkte Cynthia.

»Nein, natürlich nicht. Die Archäologen haben über Jahre hinweg versucht, den Artefaktenhandel gesetzlich zu unterbinden, aber es war undurchführbar.«

»Dennoch ist es ein offiziell nicht gebilligter Schleichhandel«, stellte Elmer fest, »ein Untergrundgeschäft. Sollte etwas davon an die Öffentlichkeit dringen, dürfte das den glänzenden Ruf des Friedhofs stark mindern.«

»Aber sie haben uns gehen lassen«, sagte Cynthia.

»Im Moment konnten sie nichts tun«, sagte ich. »Es gab keine Möglichkeit, um uns zurückzuhalten.«

»Später haben sie etwas getan«, erinnerte Elmer. »Sie versuchten Bronco in die Luft zu jagen.«

»Sie müssen davon ausgegangen sein«, sagte Cynthia, »Broncos Vernichtung würde uns entmutigen ...«

»Das dürfte stimmen«, pflichtete ich ihr bei. »Allerdings können wir über die Herkunft der Bombe nicht völlig sicher sein.«

»Aber ziemlich sicher«, sagte Elmer.

»Eins gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte ich. »Wir haben es geschafft, und zwar ohne Anstrengung, uns jeden, dem wir bisher begegnet sind, zum Feind zu machen. Da ist der Friedhof, nun diese Bande von Grabräubern, und die Vermutung ist wohl nicht unberechtigt, daß die Menschen in der Siedlung auch nicht allzu gut von uns denken. Wegen uns sind sie um eine Menge Heu gekommen und um eine Scheune, und wahrscheinlich sind mehrere von ihnen verletzt und ...«

»Das haben sie selbst über sich gebracht«, sagte Elmer.

»Das wird sie nicht daran hindern, uns die Schuld zuzuschieben.«

»Wahrscheinlich nicht«, stimmte Elmer zu.

»Ich bin dafür, daß wir weiterziehen«, sagte ich.

»Du und Miß Cynthia, ihr müßt ein wenig schlafen.«

Über das Feuer hinweg sah ich sie an. »Für ein paar Stunden mehr können wir noch wach bleiben«, meinte ich.

Sie nickte mir trübsinnig zu.

»Die Pferde nehmen wir mit«, sagte Elmer. »Das wird sie aufhalten. Wir laden die Beute auf ...«

»Wozu die Mühe?« unterbrach ich. »Wir lassen das Zeug hier. Es nutzt uns nichts. Was sollten wir damit anfangen?«

»Richtig, ja«, sagte Elmer. »Wieso habe ich nicht daran gedacht? Wenn sie zurückgekommen sind, werden sie einige Männer als Wache abstellen müssen, und das verringert ihre Kräfte.«

»Sie werden uns verfolgen«, sagte Cynthia. »Sie benötigen unbedingt die Pferde.«

»Zweifellos werden sie uns folgen«, bestätigte Elmer, »aber wenn sie die Pferde eingefangen haben - falls es ihnen überhaupt gelingt - sind wir schon meilenweit entfernt und über alle Berge.«

Erstmals meldete sich Bronco zu Wort. »Aber die beiden Menschen, sie können nicht ohne Schlaf weiter. Sie können nicht noch stundenlang ohne Schlaf durchhalten.«

»Wir werden uns etwas einfallen lassen«, versprach Elmer. »Laßt uns aufbrechen.«

»Was ist mit dem Volkszähler und den Geistern?« fragte Cynthia.

»Um die Geister wollen wir uns jetzt keine Sorgen machen«, sagte ich.

13

Ich erwachte, und es war Nacht. Aber ich erinnerte mich unverzüglich an die vergangenen Ereignisse und daran, wo wir uns befanden. Ich setzte mich auf und erkannte neben mir die dunklen Umrisse Cynthias. Sie schlief noch. Nur noch ein paar Stunden, dachte ich, und Elmer und Bronco werden zurück sein, und wir können uns wieder auf den Weg machen. Wir hatten eine Riesendummheit begangen - davon war ich mittlerweile überzeugt. Wir hätten die Tiere behalten sollen. Nun ja, ich war erschöpft gewesen, und zum ersten Mal in meinem Leben auf einem Pferd zu reiten, wäre sicherlich keine einfache Angelegenheit geworden, aber ich hätte es durchgestanden. Cynthia war ebenfalls restlos fertig gewesen, aber wir hätten sie auf Bronco festschnallen können, um ein Herunterfallen zu verhindern, falls sie eingenickt wäre. Elmer jedoch hatte darauf bestanden, uns hier zurückzulassen, während er und Bronco die Pferde tief ins Gebirge jagten, das bedrohlich vor uns aufragte.

»Es kann gar nichts passieren«, hatte er versprochen. »Diese Höhle ist behaglich und gut getarnt, und ehe du dich versiehst, sind wir zurück. Es ist nichts dabei.«

Jetzt machte ich mir Vorwürfe. Er hatte uns regelrecht in diese Situation hineingeredet. Ich hätte das verhindern sollen. Die Lage gefiel mir nicht. Wir hätten zusammen bleiben sollen. Was auch geschehen wäre, wir hätten uns nicht trennen dürfen.

Ein Schatten bewegte sich nahe am Höhleneingang; dann sprach eine sanfte Stimme mich an.

»Ich bitte dich, keinen Laut von dir zu geben, mein Freund. Du brauchst dich nicht zu fürchten.«

Ich kam wankend auf die Füße; meine Nackenhaare sträubten sich. »Zum Teufel, wer spricht da?« rief ich.

»Ganz ruhig, ganz ruhig«, sagte die sanfte Stimme gelassen. »Es gibt hier Wesen, die unsere Begegnung nichts angeht.«

Cynthia schrie auf.

»Sei still!« schnauzte ich sie an.

»Ihr müßt ganz still sein«, sagte die Gestalt, die im Dunkeln lauerte. »Ihr werdet mich nicht kennen - aber ich habe euch beim Tanzfest gesehen.«

Cynthia, die den nächsten Schrei schon auf den Lippen hatte, hielt den Atem an und schluckte.

»Das ist der Volkszähler«, sagte sie. »Was will er von uns?«

»Ich bin gekommen, meine Schöne«, sagte der Volkszähler, »um euch vor einer großen Gefahr zu warnen.«

»Tatsächlich?« meinte ich, aber ich sprach nicht laut, denn seine leise Stimme und seine Mahnung, wir sollten ruhig sein, hatten mich vorsichtig gemacht.

»Die Wölfe«, sagte er. »Man hat die Stahlwölfe auf eure Spur gesetzt.«

»Und was können wir dagegen unternehmen?«

»In völliger Stille verharren«, empfahl der Volkszähler, »und darauf hoffen, daß sie vorüberziehen.«

»Wo sind deine Freunde ?« erkundigte ich mich.

»Sie treiben sich hier irgendwo herum. Sie sind oft mit mir zusammen. Wenn sie Leute zum ersten Mal sehen, halten sie sich verborgen. Sie sind etwas schüchtern. Falls sie euch jedoch mögen, werden sie bald auftauchen.«

»So schüchtern waren sie beim Tanz aber keineswegs«, bemerkte Cyn-thia.

»Sie waren unter alten Freunden und obendrein nicht zum ersten Mal dort.«

»Du hast von Wölfen gesprochen«, erinnerte ich ihn. »Stahlwölfe, glaube ich.«

»Wenn ihr sehr vorsichtig zum Eingang kommt, dürftet ihr sie sehen können. Aber macht so wenig Lärm wie möglich, ich bitte euch.«

Cynthia war dicht neben mir; ich streckte ihr meine Hand entgegen. Sie ergriff sie und zog sich an mir hoch.

»Stahlwölfe?« meinte sie.

»Höchstwahrscheinlich Roboter.«

Ich weiß nicht, warum es mich so gleichgültig ließ. Abstumpfung? In den beiden vergangenen Tagen hatten wir so viele verrückte Begegnungen gehabt, daß mechanische Wölfe zunächst einmal gar nicht so ungewöhnlich wirkten. Sie schienen eine ganz alltägliche Sache zu sein.

Außerhalb der Höhle erhellte der Mond weithin die Umgebung. Die Bäume hoben sich so deutlich vom Hintergrund ab wie am hellen Tag, und dazwischen erstreckten sich kleine Wiesen, aus denen sich da und dort Findlinge erhoben. Es war ein wildes, rauhes Land, und aus irgendeinem Grund verursachte es mir ein Frösteln.

Unter dem Höhleneingang duckten wir uns und gingen in Deckung, aber es ließ sich nichts erkennen, nur die Bäume und die Flecken der Wiesen und die Findlinge, dahinter die dunklen Erhebungen von Hügeln, die in ihrer Schwärze furchteinflößend wirkten.

»Ich ...«, begann Cynthia, aber der Volkszähler stieß einen Zischlaut aus, und sie verstummte.

Wir duckten uns noch tiefer, wir beide, Hand in Hand, obwohl es gerade-zu lächerlich zu sein schien. Nichts regte sich; nicht einmal ein Blättchen in den Bäumen, denn es herrschte absolute Windstille.

Dann war plötzlich Bewegung im Schatten eines Baumes, und einen Augenblick später trottete das Wesen, das die Bewegung verursacht hatte, ins Freie. Es glitzerte im Mondlicht und hatte eine Aura aggressiver Kraft und Grausamkeit. Es hatte ungefähr die Größe eines Kalbs; allerdings ließ sich die Größe im Mondlicht und bei der Entfernung, die zwischen uns lag, schlecht schätzen. Geschmeidig war es, schnell und ungeheuer flink. Erhaben und anmutig waren seine Schritte, aber in seinem metallenen Körper lag ein Ausdruck von Macht, der sogar über mehr als hundert Meter hinweg wahrnehmbar war. Hektisch rannte es auf und ab, als spüre es nach einem bestimmten Geruch, dann starrte es direkt zu uns herüber - starrte und schien gegen irgendeinen Widerstand herüber zur Höhle zu streben, als hielte jemand es an einer Kette, von der es losbrechen wollte.

Dann wandte es sich ab und lief wieder unruhig hin und her, und ganz plötzlich waren es drei statt nur diesem einen - sie huschten durchs Mondlicht, schnürten durch den Wald.

Eins von ihnen, als es sich uns zuwandte, öffnete sein Maul, oder was dem Maul eines biologischen Wesens entsprach, und bleckte zwei Reihen stählerner Zähne. Als es das Maul ruckartig schloß hallte das Geräusch der Stahlzähne bis an unsere Ohren, die wir dicht an den Boden gepreßt, nebeneinander am Höhleneingang lagen.

Cynthia drückte sich eng an mich. Ich löste meine Hand aus ihrer, legte meinen Arm um sie und hielt sie fest; ich betrachtete sie in diesem Moment, da bin ich sicher, nicht als Frau, sondern lediglich als einen anderen Menschen, ein Wesen aus Fleisch und Blut, genau wie ich, das Stahlzähne zerreißen konnten. So drückten wir uns aneinander und beobachteten, wie die Wölfe Witterung aufzunehmen versuchten und umhereilten - ich hatte den Eindruck, daß sie geiferten -, und plötzlich kam mir der Gedanke, sie wüßten, daß wir uns in der Nähe befanden, wo sie uns suchen mußten.

Dann waren sie plötzlich verschwunden. So schnell wie sie gekommen waren, verschwanden sie wieder, und wir hatten sie nicht abziehen sehen. Dennoch blieben wir am Boden liegen, wagten nicht zu sprechen, wagten keine Bewegung. Wie lange wir so verharrten, weiß ich nicht.

Schließlich berührten Finger meine Schulter. »Sie sind fort«, sagte der Volkszähler. Bis zum Augenblick, da er meine Schulter berührte, hatte ich seine Gegenwart ganz vergessen gehabt.

»Sie waren verwirrt«, sagte er. »Wahrscheinlich haben die Pferde dort unten gestanden, bevor eure Freunde aufbrachen, als ihr die Höhle bezogen habt. Sie brauchten eine Weile, um die Spur herauszufinden.«

Cynthia wollte etwas sagen, begann jedoch zu würgen, so daß die Wörter in ihrer Kehle erstickten. Das vermochte ich gut nachzuempfinden; auch mein Mund war so trocken, daß ich Zweifel daran hegte, je wieder sprechen zu können.

Sie versuchte es nochmals und schaffte es diesmal. »Ich dachte, sie fänden uns. Ich hatte geglaubt, sie wüßten, daß wir hier sind.«

»Nun ist es vorbei«, sagte der Volkszähler. »Die Gefahr ist vorerst vorüber. Ich schlage vor, wir gehen zurück in die Höhle und machen es uns bequem.«

Ich stand auf und zog Cynthia mit mir hoch. Meine Muskeln waren verspannt und verkrampft. Da wir eine ganze Weile ins Mondlicht gestarrt hatten, erschien uns nun das Innere der Höhle so pechschwarz wie ein Tintenfaß, aber ich tastete mich an der Felswand entlang, fand die aufgestapelten Bündel und Gepäckstücke und setzte mich, indem ich mich dagegen lehnte. Cynthia nahm neben mir Platz.

Der Volkszähler hockte sich vor uns nieder. Da die Robe, die er trug, so schwarz war wie das Höhleninnere, konnten wir ihn kaum sehen. Nur die helle Farbe seines Gesichts war erkennbar, ein bleicher Fleck in der Finsternis, ein Klumpen ohne Gesichtszüge.

»Ich glaube«, sagte ich, »wir müssen dir dankbar sein.«

Er vollführte eine ruckartige Bewegung, wahrscheinlich ein Achselzuk-ken. »Man trifft selten Verbündete«, sagte er. »Wenn es einmal geschieht, dann gibt man sich alle Mühe, man macht dann, was man machen kann.«

In der Höhle begannen Schatten zu wallen, zuckende Schemen. Entweder waren sie gerade erst entstanden oder ich hatte sie zuvor nicht bemerkt. Nun waren sie überall.

»Hast du deine Leute hereingerufen?« fragte Cynthia, und dem gepreßten Klang ihrer Stimme entnahm ich, welche Anstrengung es sie kostete, sich zu beherrschen.

»Sie waren schon die ganze Zeit über hier«, erwiderte der Volkszähler. »Sie müssen sich stets erst überwinden, bevor sie sich zeigen. Sie erscheinen langsam und lautlos, aber sie wollen niemanden erschrecken.«

»Es ist schwer«, sagte Cynthia, »sich vor Geistern nicht zu fürchten. Oder wie nennst du sie?«

»Gespenster«, sagte der Volkszähler. »Das ist wahrscheinlich das bessere Wort.«

Nun war ich an der Reihe, Fragen zu stellen. »Warum das?«

»Der Grund dafür«, antwortete der Volkszähler, »liegt in der damit verbundenen Semantik, die zu erklären es eines ganzen Abends bedürfte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich selber sie vollständig verstehe. Aber das ist der Terminus, den sie vorziehen.«

»Und du?« fragte ich. »Was bist du?«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte der Volkszähler.

»Nun, wir beide hier, wir sind Menschen. Diese Schatten hier sind - wie du sagst - Gespenster. Die Wesen, die wir beobachtet haben, waren Roboter - Stahlwölfe. Ich meine die Zuordnung. Wie bist du einzuordnen?«

»Ach so«, sagte der Volkszähler, »das meinst du. Das ist wirklich ganz einfach. Ich bin der Volkszähler.«

»Und die Wölfe?« mischte sich Cynthia ein. »Sie gehören dem Friedhof, nehme ich an.«

»O ja, in der Tat«, sagte der Volkszähler. »Allerdings werden sie heutzutage nur noch selten benutzt. Früher gab es sehr viel Arbeit für sie.«

»Was für Arbeit?« erkundigte ich mich verwirrt.

»Monster«, sagte der Volkszähler; ich hörte heraus, daß er darüber nicht zu sprechen wünschte.

Die Gespenster stellten ihr unablässiges Wallen allmählich ein und beruhigten sich, so daß man ihre Umrisse erkennen oder wenigstens erahnen konnte.

»Sie haben euch gern«, meinte der Volkszähler erfreut. »Sie wissen, daß ihr auf unserer Seite steht.«

»Wir stehen auf niemandes Seite«, teilte ich ihm mit. »Wir befinden uns auf der Flucht, damit man uns nicht umbringt. Vom ersten Tag an, als wir ankamen, hat ständig jemand niederträchtige Angriffe gegen uns geführt.«

Eins der Gespenster hatte sich neben dem Volkszähler niedergekauert; dabei verströmte es ein wenig von seiner nebelhaften, dunstigen Substanz, verfestigte sich jedoch keineswegs, sondern schien bloß ein bißchen greifbarer zu werden. Man hatte unverändert den Eindruck, durch es hindurchsehen zu können, aber das Wirbeln seiner Gestalt hatte aufgehört, die Umrisse waren schärfer, und es glich nun einer recht kunstfertigen Kreidezeichnung auf einer Tafel.

»Falls es euch nichts ausmacht«, sagte dieses Gespenst, »werde ich mich vorstellen. Mein Name rief in längst vergangenen Zeiten auf dem Planeten Prairie Angst und Schrecken hervor. Das ist ein seltsamer Name für einen Planeten, gewiß, aber er erklärt sich daraus, daß es ein sehr großer Planet ist, größer als die Erde und mit entschieden mehr Landmassen als Wasserflächen, und all das Land ist flach, besitzt keine Berge, alles ist Prärie. Es gibt keinen Winter, weil der Wind ungehindert übers Land bläst und die Wärme der Sonne, um die der Planet kreist, gleichmäßig über die gesamte Planetenoberfläche verteilt. Wir Siedler lebten auf Prairie in ewigem Sommer. Wir waren Menschen vom Planeten Erde. Unsere Ahnen flogen mit dem dritten Auswandererschub hinaus in die Galaxis. Auf der Suche nach besserem Lebensraum waren sie von einem Planeten zum nächsten geirrt und fanden ihn schließlich auf Prairie - aber vielleicht anders, als ihr es euch vorstellt. Wir bauten keine großen Städte, aus Gründen, die ich möglicherweise später erläutern werde, aber nicht jetzt, da es zu lange dauern würde, alles zu erzählen. Statt dessen wurden wir Nomaden, die mit ihren Herden und ihrem Kleinvieh umherziehen, ein unter Umständen befriedigenderes Dasein als andere Menschen sich eins einzurichten vermögen. Auf dem Planeten hauste eine Eingeborenenrasse von überaus widerlichen, grausamen und heimtückischen Teufeln, die sich jeder Art von Zusammenarbeit mit uns widersetzten und alles versuchten, um uns auf diese oder jene ruchlose Weise zu vernichten. Ich begann, glaube ich, mich vorzustellen, habe aber dann meinen Namen zu sagen vergessen. Es ist ein guter Erdenname, da meine Familie und mein Clan immer sorgsam darauf bedacht waren, das Erbe der Erde zu bewahren und ...«

Hier unterbrach ihn der Volkszähler. »Sein Name lautet Ramsey O'Gillicuddy, nach meiner Kenntnis ein äußerst guter Erdenname. Ich sage das, weil er nie dazu kommen wird, wenn die Vorstellung ihm überlassen bleibt.«

»Und jetzt«, sagte das Gespenst des Ramsey O'Gillicuddy, »da ich vorgestellt bin, will ich euch die Geschichte meines Lebens erzählen.«

»Nein, das wirst du nicht!« fuhr der Volkszähler ihn an. »Dafür haben wir keine Zeit. Wir müssen viel besprechen.«

»Dann wenigstens die Geschichte meines Todes«, bat das Gespenst des Ramsey O'Gillicuddy.

»Also gut«, nickte der Volkszähler. »Aber fasse dich kurz.«

»Sie erwischten mich«, berichtete Ramsey O'Gillicuddys Gespenst, »diese schmierigen, widerwärtigen Eingeborenen, sie nahmen mich gefangen. Die Einzelheiten, welche zu dieser beschämenden Tatsache führten, will ich auslassen, weil die Erklärung gewisser Umstände vonnöten wäre, uns jedoch, wie der Volkszähler soeben erwähnte, dafür die Zeit fehlt. Wie dem auch sei, sie nahmen mich gefangen und hielten in meiner Hörweite eine ausgedehnte, sehr bedächtige und feierliche Beratung ab, die mir ganz und gar nicht gefiel und in der es darum ging, wie ich am besten zu töten sei. Keine der vorgeschlagenen Prozeduren, die man ersann, um mein Ableben herbeizuführen, war geeignet, um mich, als das Opfer, kühlen Kopf bewahren zu lassen. Nichts Einfaches, müßt ihr wissen, wie etwa ein Schlag auf den Schädel oder ein Durchschneiden der Kehle, sondern ziemlich lange, ausgetüftelte, raffinierte Verfahren. Nach stundenlangem Hin- und Hergerede, bei dem sie mich freundlicherweise immer wieder in die jeweiligen Pläne einweihten, um meine Meinung dazu zu erfahren, beschlossen sie schließlich, mich bei lebendigem Leibe zu häuten, wobei sie aber erklärten, mich damit nicht töten zu wollen, und ich sollte ihnen deswegen auch nicht böse sein, und überhaupt wollten sie mich mit Freuden ziehen lassen, wenn ich es fertigbrächte, ohne Haut zu überleben. Hatten sie dann meine Haut, verkündeten sie mir, wollten sie dieselbe trocknen, über eine Trommel spannen und meinem Clan darauf eine Spottnachricht übermitteln.«

»Bei allem nötigen Respekt«, bemerkte ich, »aber wir haben unter uns eine Dame ...« Aber er schenkte mir keinerlei Aufmerksamkeit.

»Als ich tot war«, fuhr er fort, »und man meinen Körper gefunden hatte, entschloß mein Clan sich zu einem Schritt, den man zuvor noch nie getan hatte. Alle unsere ehrenvollen Toten begruben wir in der Prärie, ohne die Gräber zu kennzeichnen. Der Gedanke dabei war, daß ein Mensch sich nicht mehr wünschen konnte, als eins zu werden mit der Welt, auf der er herumgelaufen war. Einige Jahre zuvor hatten wir Kunde von dem Friedhof hier auf der Erde erhalten, aber hatten ihr wenig Bedeutung beigemessen, weil wir die Dinge anders handhabten. Aber nun traf sich der Clan zu einer Beratung und entschied, daß mir die Ehre zuteil werden solle, im Boden von Mutter Erde zu schlafen. Daher wurde ein großes Faß hergestellt, das meine armseligen Überbleibsel, in Alkohol eingelegt, aufnahm. Man karrte es zum einzigen, jämmerlichen Raumhafen des Planeten, wo es viele Monate lang in einem Lagerraum auf die Ankunft eines Schiffs wartete, womit es schließlich zum nächsten Hafen flog, von dem aus ein Bestattungsschiff regelmäßig verkehrte.«

»Ihr könnt nicht verstehen«, sagte der Volkszähler, »was dieser Entschluß seinen Clan gekostet hat. Es sind verdammt arme Leute auf dem Planeten Prairie, und ihr einziger Reichtum sind die Herden und Rudel. Sie brauchten Jahre, um die Anzahl ihrer Tiere wieder auf den alten Stand zu bringen, nachdem sie den Friedhof für seine Dienste bezahlt hatten. Es war ein nobles Opfer und es ist schade, daß daraus solch eine traurige Geschichte wurde. Wie ihr vielleicht erratet, war und ist Ramsey der einzige Bewohner Prairies, der je im Friedhof begraben wurde - nicht, daß man ihn wirklich hier begrub, wenigstens nicht in der Art, wie man es mit ihm vorgehabt hatte. Die Friedhofsverwaltung, nicht das gegenwärtige Management, sondern eines vor vielen Jahren, brauchte zu jener Zeit zufälligerweise einen Sarg, um gewisse Gegenstände zu verstecken. Einen zusätzlichen Sarg ...«

»Du meinst sicher - Artefakte«, sagte ich.

»Du weißt davon?« fragte der Volkszähler.

»Wir hatten bereits einen diesbezüglichen Verdacht«, sagte ich.

»Euer Argwohn war berechtigt«, meinte der Volkszähler, »und unser ar-mer Freund hier war eins der ersten Opfer ihres Verrats und ihrer Gier. Sein Sarg wurde für Artefakte gebraucht, und was von ihm übrig war, wurde in eine tiefe Schlucht, eine Leichengrube am Rande des Friedhofs geworfen, und seit jenem Tag wandelt sein Gespenst über die Erde, so wie es viele andere aus dem gleichen Grund tun.«

»Du erzählst das sehr schön«, sagte O'Gillicuddy, »und mit ergreifend schlichter Wahrhaftigkeit.«

»Trotzdem würde ich nur ungern noch mehr davon hören«, sagte Cynthia. »Ich glaube euch auch ohne die Aufzählung schauriger Einzelheiten.«

»Wir haben ohnehin nicht länger Zeit für so etwas«, sagte der Volkszähler. »Wir müssen nun überlegen, was ihr beiden unternehmen sollt. Sobald die Wölfe eure beiden Freunde eingeholt haben, werden sie sofort feststellen, daß ihr nicht in ihrer Begleitung seid, und da es dem Friedhof nicht um die beiden Roboter geht, sondern um euch ...«

»Sie werden zurückkommen«, sagte Cynthia mit einem furchtsamen Unterton in der Stimme.

Auch mir war nicht sonderlich wohl zumute. Die Vorstellung, wie die großen Metallbestien nach unseren Beinen schnappten, war mir höchst unangenehm.

»Wie bewerkstelligen sie die Verfolgung?« fragte ich.

»Sie besitzen einen Geruchssinn«, erklärte der Volkszähler. »Nicht von der Art, wie ihn Menschen haben, sondern die Fähigkeit, chemische Geruchsteilchen aufzunehmen und zu identifizieren. Wenn ihr euch auf steinigem Grund haltet, könnte sich das als schwierig erweisen. Dort hinterlaßt ihr kaum Spuren, und euer Geruch bleibt nicht haften. Vorhin hatte ich befürchtet, sie würden Witterung aufnehmen, aber sie befanden sich niedriger als ihr, und eine günstige Luftströmung muß euren Geruch fortgetragen haben.«

»Sie werden den Pferden folgen«, sagte ich. »Die Spur ist noch ganz frisch, und sie laufen sehr schnell. Möglicherweise haben wir nur noch wenige Stunden, bis sie herausfinden, daß wir nicht bei den anderen sind.«

»Etwas Zeit habt ihr noch«, bemerkte der Volkszähler. »Es sind noch mehrere Stunden bis Sonnenaufgang, und solange es nicht hell ist, könnt ihr nicht aufbrechen. Ihr müßt schnell vorwärtskommen und dürft daher nur wenig mitnehmen.«

»Wir nehmen Lebensmittel«, sagte Cynthia, »und Decken ...«

»Nicht zuviel Lebensmittel«, unterbrach der Volkszähler. »Nur das Aller-nötigste. Auf eurem Weg werdet ihr etwas zu essen finden. Ihr habt doch Angelhaken mit, oder nicht?«

»Ja, wir haben Schnur und einige Angelhaken«, sagte Cynthia. »Von Fisch allein können wir aber nicht leben.«

»Es gibt auch Wurzeln und Beeren.«

»Wir wissen aber doch nicht, welche Wurzeln und Beeren.«

»Das braucht ihr auch nicht«, sagte der Volkszähler. »Ich kenne sie alle.«

»Heißt das, daß du uns begleitest?«

»Natürlich werden wir das«, warf O'Gillicuddy ein. »Wir alle werden euch begleiten. Viel können wir nicht ausrichten, aber geringere Hilfe vermögen wir doch zu erweisen. Zum Beispiel nach Verfolgern Ausschau halten ...«

»Aber Geister ...«, gab ich zu bedenken.

»Gespenster«, korrigierte mich O'Gillicuddy.

»Aber Gespenster existieren doch am Tage nicht.«

»Das ist ein menschlicher Trugschluß«, erwiderte O'Gillicuddy. »Wir können bei Tageslicht natürlich nicht gesehen werden. Aber nachts verhält es sich genauso. Wenn wir es nicht wollen, kann man uns nicht sehen.«

Die anderen Gespenster ließen ein Gemurmel der Zustimmung vernehmen.

»Wir packen unsere Habseligkeiten«, sagte Cynthia, »und lassen den Rest zurück. Elmer und Bronco werden wiederkommen, und deshalb müssen wir für sie eine Nachricht hinterlassen. Damit sie sie auch finden, befestigen wir sie an einem der Bündel.«

»Wir müssen ihnen mitteilen, wohin wir aufbrechen«, sagte ich.

»In die Berge«, sagte der Volkszähler.

»Kennst du einen Fluß«, fragte Cynthia, »den man Ohaio oder so ähnlich nett?«

»Den Ohio? Den kenne ich sehr gut«, antwortete der Volkszähler. »Wollt ihr dorthin?«

»Nun hör einmal zu«, sagte ich zu Cynthia. »Wir können nicht ...«

»Warum nicht?« unterbrach sie mich. »Wenn wir fort müssen, irgendwohin, können wir genauso gut dorthin, wohin wir eigentlich wollten ...«

»Aber ich dachte, wir wären uns darin einig ...«

»Ich weiß«, sagte Cynthia. »Du hast dich klar genug ausgedrückt. Deine Komposition hat Vorrang, und ich schlage vor, daß das auch so bleibt. Aber du kannst überall daran arbeiten, nicht wahr?«

»Gewiß, so lange es sinnvoll ist.«

»Dann erklären wir den Ohio zu unserem Ziel«, sagte Cynthia. Sie wandte sich an den Volkszähler. »Falls du keine Einwände hast.«

»Ich bin damit einverstanden«, erwiderte er. »Um den Fluß zu erreichen, müssen wir durch die Berge. Ich hoffe, daß es uns gelingt, die Wölfe irgendwo in den Bergen abzuschütteln. Darf ich fragen ...?«

»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte ich knapp. »Wir erzählen sie dir später.«

»Hast du jemals von einem Unsterblichen gehört, der das Leben eines Einsiedlers führt?« erkundigte sich Cynthia.

Wenn sie einmal die Krallen in etwas geschlagen hatte, dann ließ sie nicht mehr locker.

»Ich glaube, ja«, sagte der Volkszähler. »Vor sehr langer Zeit. Nach meiner Auffassung handelte es sich bloß um einen Mythos. Die Erde hatte so viele Mythen.«

»Und jetzt hat sie keine mehr?« meinte ich.

Betrübt schüttelte er den Kopf. »Jetzt nicht mehr. Die Mythen der Erde sind alle tot.«

14

Der Himmel hatte sich stark bewölkt und der Wind nach Norden gedreht. Dabei hatte er aufgefrischt und war kalt geworden. Trotz der Kühle hing ein seltsamer Geruch von Feuchtigkeit in der Luft. Die Kiefern, die an den Hängen wuchsen, bogen sich und ächzten.

Meine Uhr war stehengeblieben, aber das spielte keine große Rolle. Seit ich Alden verlassen hatte, war sie so gut wie nutzlos gewesen. An Bord des Sargtransporters hatte man nach Galaktischer Zeit gerechnet, so daß ich mit ihr nichts anfangen konnte; und auf der Erde stimmte die Zeiteinteilung nicht mit ihrer überein, die der Aldener Zeitrechnung entsprach. Mit etwas Geschick allerdings kam man gut zurecht. In der Ansiedlung, als wir auf den Beginn des Volksfestes warteten, hatte ich mich nach der Uhrzeit erkundigt, doch offenbar wußte sie niemand und kümmerte sich niemand darum. Wie ich in Erfahrung bringen konnte, gab es in der gesamten Ansiedlung nur eine einzige Uhr, ein recht primitives, selbstgebautes Ding, das hauptsächlich aus geschnitztem Holz bestand und nur selten lief, weil sich anscheinend niemand der Mühe unterzog, es regelmäßig aufzuziehen. Daher hatte ich meine Uhr nach der Sonne stellen wollen, hatte jedoch den Zeitpunkt versäumt, als sie am höchsten stand, und folglich hätte ich die Zeitspanne abschätzen müssen, die sie sich schon auf ihrem Abstieg nach Westen befand. Jetzt stand die Uhr, und ich konnte sie nicht richtig stellen. Warum es mich störte, wußte ich nicht; ohne sie ging es genauso gut.

Voraus schritt der Volkszähler, Cynthia folgte ihm, und ich machte den Schlußmann. Seit dem Morgengrauen hatten wir eine ziemlich weite Strek-ke zurückgelegt, obgleich ich keine Ahnung hatte, wie lange wir nun schon marschierten. Die Sonne war hinter Wolken verborgen; meine Uhr stand. Es gab keine Möglichkeit, um die Tageszeit festzustellen.

Von den Gespenstern war keine Spur zu erblicken, aber mich verließ nie das unangenehme Gefühl, daß sie sich in unmittelbarer Nähe aufhielten. Und der Volkszähler beunruhigte mich durchaus nicht weniger als die unsichtbaren Gespenster. Von Angesicht zu Angesicht enthüllte sich seine ganze Nichtmenschlichkeit, es sei denn, man betrachtete auch eine Stoffpuppe als menschlich. Denn sein Gesicht glich dem einer Stoffpuppe - ein verkniffener, leicht schiefer Mund; Augen, die Kreuzstichen ähnelten; eine Nase fehlte, ebenso ein Kinn. Sein Gesicht ging glatt in den Hals über, ohne Kiefer dazwischen. Kapuze und Robe, die ich für Kleidungsstücke gehalten hatte, schienen bei näherem Hinsehen Teile seines grotesken Körpers zu sein. Wäre es nicht so unwahrscheinlich gewesen, man hätte glauben können, daß sie seinen Körper bildeten. Ob er Füße hatte, sah man nicht, da seine Robe (oder sein Körper) bis weit herab auf den Boden fiel. Er bewegte sich zwar, als besäße er Füße, aber man sah überhaupt nichts von ihnen; ich ertappte mich bei der Überlegung, wie er es wohl schaffen mochte, falls er keine Füße besaß, sich so gut fortzubewegen. Denn er kam wirklich zügig voran. Er schritt ungemein hurtig aus und schaukelte vor uns dahin. Wir konnten nicht mehr leisten, als mit ihm Schritt zu halten.

Seit unserem Aufbruch hatte er kein Wort mehr gesprochen, sondern nur, indem er vorausging, den Weg gewiesen. Wir beide eilten hinterdrein; auch wir unterhielten uns nicht, denn bei dieser Marschgeschwindigkeit konnten wir nicht den zum Sprechen erforderlichen Atem erübrigen.

Die Gegend war öde, eine urwüchsige Wildnis ohne jegliche Anzeichen einer früheren menschlichen Besiedlung; und doch mußte es einst eine gegeben haben. Meilenweit folgten wir dem Verlauf der Höhenzüge, stiegen manchmal hinab, um Täler zu durchqueren, dann überwanden wir erneut eine Reihe von Anhöhen, erklommen weitere Hügel. Von den Höhen aus vermochten wir weite Landstriche zu überschauen, aber nirgendwo sah man die Tiefe einer Ebene. Wir sahen keine Ruinen, fanden keine eingestürzten Schornsteine, stiegen über keine uralten Weidezäune. In den Talsohlen stand starker, dichter Waldwuchs; auf den Kämmen der Hügel standen streckenweise nur vereinzelt Büsche und Bäume. Es war ein felsiges Land; überall lagen riesige Findlinge verstreut, und große graue Felsmassen ragten aus den Flanken der Berge empor. Es gab nur wenig Leben. Zwischen den Bäumen flogen bisweilen Vögel und zwitscherten, und gelegentlich sah man, obschon selten, kleineres Getier; ich erkannte Hasen und Eichhörnchen.

Wir hatten einige Male Halt gemacht, um aus seichten Bächen zu trinken, die durch die Täler flössen, welche wir durchwanderten; aber es waren nur kurze Pausen gewesen, gerade lang genug, um uns auf die Bäuche zu legen und einige Mundvoll Wasser zu schlürfen, während der Volkszähler (der solche Erfrischungen anscheinend nicht benötigte), ungeduldig wartete, bis wir den Weg fortsetzten.

Schließlich legten wir die erste Rast seit unserem Abmarsch ein. Die Höhe, über die wir zogen, gipfelte in einer steilen Klippe und verlief dahinter in einem sanften Hang wieder abwärts. Unterhalb dieser Höhe lag ein wüstes Durcheinander von Felsbrocken, groß wie Scheunen, als habe ein urzeitlicher Riese mit ihnen gespielt, wie ein kleiner Junge mit Bauklötzen, und wäre ihrer dann überdrüssig geworden und hätte sie hier herumliegen lassen, wo sie jetzt noch lagen. Dazwischen wuchsen verkümmerte Kiefern, die sich mit krummen, knotigen Wurzeln verzweifelt ins Erdreich krallten.

Der Volkszähler, einige Meter voraus, stieg einen schmalen Pfad hinauf, der mitten durch das Felsengewirr führte, und verschwand plötzlich.

Als wir die Stelle erreichten, wo wir ihn zuletzt gesehen hatten, sahen wir ihn in einer Mulde sitzen, an drei Seiten von Fels umschlossen. In der Mulde war man vor dem bitterkalten Wind geschützt, der wehte, doch zugleich erlaubte sie einen Ausblick in die Richtung, aus der wir kamen.

Mit einer Geste forderte der Volkszähler uns auf, es ihm gleichzutun.

»Wir wollen ein wenig rasten«, sagte er. »Vielleicht möchtet ihr etwas essen. Aber macht kein Feuer. Vielleicht heute nacht. Warten wir ab.«

Ich wollte nichts essen. Ich wollte mich bloß hinsetzen und nie wieder aufstehen.

»Vielleicht wäre es besser, wir marschierten weiter«, sagte Cynthia. »Bestimmt sind sie schon hinter uns her.«

Sie wirkte nicht so, als könne sie weiter. Sie war müde und erschöpft.

»Bisher sind sie noch nicht zur Höhle zurückgekehrt«, sagte der kleine, scharfe Mund im Stoffpuppengesicht.

»Woher willst du das wissen?« fragte ich.

»Die Gespenster«, antwortete er, »hätten mir andernfalls bereits berichtet. Ich habe noch nichts von ihnen gehört.«

»Womöglich haben sie uns im Stich gelassen«, wagte ich zu bemerken.

»Das würden sie niemals tun.« Er schüttelte den Kopf. »Wohin sollten sie denn?«

»Was weiß ich?« gab ich zur Antwort. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wohin ein Gespenst verschwinden sollte.

Ermattet setzte sich Cynthia und lehnte sich gegen einen harten Felsbrok-ken, der hinter ihr in die Höhe ragte.

»In diesem Fall«, meinte sie und lächelte, »können wir uns wohl eine Rast erlauben.«

Bevor sie sich setzte, hatte sie ihr Bündel von den Schultern gestreift; jetzt zog sie es heran, öffnete die Verschnürung und kramte darin. Sie nahm etwas heraus und reichte es mir. Es waren ein paar Streifen einer harten, spröden Masse, die eine dunkelrote bis schwarze Farbe besaß.

»Was ist das für ein Dreck?« fragte ich.

»Dieser Dreck«, erwiderte sie, »ist Dörrfleisch. Getrocknetes Rindfleisch. Man bricht ein Stück ab, schiebt es in den Mund und kaut es. Es ist sehr nahrhaft.«

Sie bot auch dem Volkszähler davon an, aber er lehnte ab. »Ich nehme nur äußerst selten Nahrung ein«, sagte er unbestimmt.

Ich legte mein Bündel nieder und setzte mich neben Cynthia. Ich brach mir ein Stück Dörrfleisch ab und steckte es in den Mund. Es fühlte sich an wie Pappe, war jedoch härter und schmeckte wahrscheinlich nicht ganz so gut.

Ich saß und kaute sehr vorsichtig, während ich in die Richtung starrte, aus der wir gekommen waren; dabei dachte ich darüber nach, welche Enttäuschung die Erde doch war, verglichen mit unserem vornehmen Alden. Ich glaube nicht, daß ich in diesem Moment wirklich bereute, Alden verlassen zu haben, aber viel trennte mich nicht von dieser Reue. Ich erinnerte mich, über die Erde gelesen, von ihr geträumt und mich nach ihr gesehnt zu haben, und nun war ich auf der Erde. Ich gestand mir ein, daß ich kein Naturmensch war, obwohl ich so gut wie jeder andere den Anblick einer schönen Waldlandschaft bewunderte; aber ich verfügte weder über die körperlichen noch die geistigen Voraussetzungen, um mich auf einer so primitiven Welt, als welche die Erde sich erwiesen hatte, behaupten zu können. Solche Planeten vermochten mich nicht unbedingt zu begeistern. Die ganze Angelegenheit gefiel mir immer weniger, aber unter den gegebenen Umständen konnte ich nicht viel daran ändern.

Cynthia hatte ebenfalls andächtig gekaut; nun hielt sie inne, um eine Frage zu stellen. »Nähern wir uns dem Ohio?«

»O ja, gewiß«, entgegnete der Volkszähler. »Allerdings ist die Entfernung noch ziemlich groß.«

»Und der unsterbliche Einsiedler?«

»Ich weiß so gut wie gar nichts über ihn«, sagte der Volkszähler. »Ich kenne lediglich ein paar Geschichten. Aber deren gibt es viele.«

»Monstergeschichten?« fragte ich.

»Ich verstehe dich nicht.«

»Du hast von Monstern gesprochen, die es einst hier gab, und von Wölfen, die man auf sie hetzte. Ich denke schon seit einer Weile darüber nach

... «

»Das ist schon lange her.«

»Aber es gab sie einmal.«

»Ja, einst.«

»Genetische Monster?«

»Dieses Wort, das du da benutzt...«

»Hör einmal«, sagte ich. »Vor zehntausend Jahren war dieser Planet eine radioaktive Hölle. Viele Arten von Leben starben aus. Anderes Leben erlitt genetische Schäden.«

»Davon weiß ich nichts«, erwiderte er.

Das glaube, wer will, dachte ich. Plötzlich durchzuckte mich die Vermutung, daß er nichts davon zu wissen vorgab, weil er selbst ein solches genetisches Ungeheuer war und es genau wußte. Ich fragte mich, warum ich so einfältig gewesen war, nicht eher daran zu denken.

Ich drängte weiter. »Was gingen den Friedhof die Monster an? Warum war es erforderlich, die Wölfe herzustellen, um sie zur Strecke zu bringen? Ich vermute, das war der Zweck der Wölfe.«

»Ja«, gab er nun zu. »Tausende davon waren im Einsatz. Große Rudel. Sie waren darauf programmiert, Monster zu jagen und zu töten.«

»Keine Menschen?« meinte ich. »Nur Monster?«

»Richtig. Nur die Monster.«

»Ich vermag mir vorzustellen, daß ihnen häufig Fehler unterlaufen sind und sie Menschen so gut wie Monster gejagt haben. Es dürfte schwierig sein, Roboter zu programmieren, die zu einer exakten Unterscheidung fähig sind.«

»Derartige Fehler sind vorgekommen«, bestätigte der Volkszähler.

»Und ich nehme an«, sagte Cynthia bitter, »dem Friedhof war es gleichgültig. Wenn so etwas geschah, hat es sie nicht gestört.«

»Ich habe damit nichts zu tun«, wich der Volkszähler aus.

»Ich begreife nicht«, sagte Cynthia, »warum sie das überhaupt getan haben. Welche Rolle konnten denn ein paar Monster spielen?« »Es waren durchaus nicht wenige.«

»Dann eben viele.«

»Ich glaube«, sagte der Volkszähler, »der Grund dürfte das Geschäft mit den Pilgern gewesen sein. Nachdem der Friedhof die Anfangsschwierigkeiten überwunden hatte, entwickelte das Pilgergeschäft sich zu einer bedeutenden Profitquelle. Und Horden von heulenden Monstern, die das Land unsicher machten, waren ein Störfaktor, wenn hier Pilger weilten. Die Tatsache ihrer Existenz hätte sich herumgesprochen, und es wären weniger Pilger gekommen.« »Ach«, meinte Cynthia. »Also ein Massenmordprogramm. Ich vermute, man hat die Monster fast völlig ausgerottet.«

»Ja«, sagte der Volkszähler. »Man hat die Angelegenheit gänzlich bereinigt.«

»Und jetzt lassen sich nur noch wenige blicken«, bemerkte ich. »Und das selten.«

Seine Kreuzstichaugen richteten ihren Blick auf mich; sie schienen sich zu kräuseln. Ich wünschte, ich hätte den Mund gehalten. Ich weiß nicht, was los mit mir war. Wir waren auf die Hilfe dieses seltsamen Geschöpfs angewiesen, und ich wußte nichts Besseres zu tun als es zu hänseln.

Ich schwieg und kaute mein Dörrfleisch. Inzwischen war es etwas weicher geworden und besaß einen salzig-rauchigen Geschmack, so daß ich nun das Gefühl hatte, etwas Ähnliches wie Nahrung einzunehmen.

Wir saßen herum und kauten, Cynthia und ich, während der Volkszähler tatenlos an seinem Platz hockte.

Ich wandte mich an Cynthia.

»Wie geht es dir?« fragte ich.

»Es ...es geht mir recht gut«, antwortete sie leicht schnippisch.

»Es tut mir leid, daß alles so kommen mußte«, sagte ich. »Ich hatte es mir auch anders vorgestellt.«

»Natürlich hast du das!« fauchte sie. »Du dachtest, es würde ein netter kleiner Ausflug auf einen romantischen Planeten, romantisch deshalb, weil du viel über ihn gelesen und ihn dir oft romantisch ausgemalt hast, und nun ... «

»Ich bin zur Erde gekommen, um eine Komposition zu machen«, erwiderte ich gereizt, »und nicht, um mich mit Bombenwerfern, Grabräubern und einem Rudel von Robotwölfen herumzuschlagen.«

»Und mir gibst du die Schuld. Ohne mich, wenn ich nicht darauf bestanden hätte, dich zu begleiten ...«

»Nein, zum Teufel!« rief ich. »So etwas ist mir nie in den Sinn gekommen.«

»Und wäre es dir in den Sinn gekommen, hättest du recht gehabt, denn du hast es nur dem guten alten Thorney zuliebe gestattet ...«

»Hör auf damit!« fuhr ich sie wütend an. »Was ist in dich gefahren? Was soll das alles?«

Bevor sie antworten konnte, erhob sich der Volkszähler; er wollte weiter.

»Es ist an der Zeit, daß wir wieder aufbrechen«, sagte er. »Ihr habt gerastet und euch gestärkt. Wir müssen fort.«

Der Wind wehte nun schneidend und noch kälter als zuvor. Er traf uns wie ein Keulenschlag, als wir den Schutz der Findlinge verließen und uns dem nächsten Hügelkamm zuwandten, und peitschte uns erste Regentropfen ins Gesicht.

Wir strebten vorwärts, kämpften uns durch den Regen, stemmten uns gegen den Wind. Es schien, als presse sich eine Riesenhand gegen uns und versuchte uns aufzuhalten.

Den Volkszähler hinderte das anscheinend nicht im geringsten; mühelos eilte er voran. Merkwürdig daran war, daß der Wind, wie es schien, seine Robe nicht zu packen vermochte; sie flatterte nicht, bewegte sich nicht einmal, sondern hing unverändert glatt bis auf den Boden herab.

Ich hätte Cynthia gerne darauf aufmerksam gemacht, aber sobald ich den Mund öffnete, fegte der starke Wind mir die Wörter von den Lippen.

Von unten ertönte das Rauschen und Knarren der Bäume, die im Sturm schwankten. Vögel, die ihm zu trotzen versuchten, wirbelte er hilflos über den Himmel. Die Wolkendecke schien mit jeder Minute dichter zu werden, obwohl die Wolken, soweit ich es zu erkennen vermochte, reglos schwebten. Der Regen fiel in plötzlichen Schauern, die kurz aufeinander folgten; schwer und eiskalt schlug er in unsere Gesichter. Schon bald war ich wie betäubt. Mühselig schleppten wir uns vorwärts. Den Blick hielt ich stumpfsinnig auf Cynthias Rücken geheftet, die vor mir ging. Einmal stolperte sie, und ich half ihr wortlos auf die Beine. Auch sie sagte nichts, und wir setzten den Marsch fort.

Bald regnete es ohne Unterlaß. Der Wind trieb den Regen in grauen Fahnen heran. Gelegentlich verwandelte er sich in Hagel, der durchs Geäst der Bäume prasselte. Dann fiel wieder Regen, der - so kam es mir vor - kälter war als das Eis.

Wir marschierten eine Ewigkeit lang, wie es mir schien, dann verließen wir die Höhe und schlitterten einen Hang hinunter. Wir erreichten einen Bach, sprangen an einer schmalen Stelle hinüber und erklommen den Hang, der gegenüber lag. Plötzlich bemerkte ich, daß ich über ebenen Boden schritt. »Das ist weit genug«, hörte ich den Volkszähler sagen.

Kaum hatte ich das vernommen, fühlte ich meine Beine unter mir nachgeben und sackte auf harten Fels nieder. Einen Moment lang war es mir völlig gleichgültig, wo wir uns befanden. Nur allmählich kehrte mein Interesse an der Umwelt zurück. Ich erkannte, daß wir auf einer breiten, flachen Felsplatte gehalten hatten; sie entragte einem Felsklotz, der eine natürliche Einwärtswölbung besaß, deren Decke, etwa zehn Meter über uns gelegen, bis tief ins Innere des Gesteins reichte, so daß die ganze Felsformation eine tief eingegrabene Nische aufwies. Die Felsplatte, worauf wir standen, bildete ihren Fußboden. Nur wenige Meter unterhalb der Felsplatte floß der Bach ins Tal, durch kleine Gumpen und Schnellen, staute sich an Engpässen, verbreiterte sich wieder, ein kleiner Gebirgsbach, den es eilte, der an den Schnellen schäumte und in den Gumpen gluckerte, bevor er weiter abwärts sprudelte. Dahinter erhob sich steil der Abhang bis zur Höhe des Hügels empor, über den wir gekommen waren.

»Hier sind wir gefeit gegen Nacht und Wetter«, sagte der Volkszähler. Seine Stimme zwitscherte erfreut. »Wir werden ein Feuer entfachen und aus dem Bach Forellen angeln. Hoffen wir, daß der Wolf bei der Suche nach uns kein Glück hat.«

»Der Wolf?« wiederholte Cynthia. »Es waren drei Wölfe, die unsere Verfolgung aufgenommen haben. Was ist mit den beiden anderen?«

»Ich habe die Nachricht erhalten«, sagte der Volkszähler, »daß nur noch einer übrig ist. Die anderen haben anscheinend bedauerliche Unfälle erlitten.«

15

Vor unserem Felsunterstand wütete der Sturm durch die Nacht. Das Feuer spendete Licht und Wärme; unsere Kleider trockneten. Den Fisch brauchte man, wie es der Volkszähler dargestellt hatte, nur aus dem Bach zu ziehen; tatsächlich hatten wir anstandslos wundervolle Regenbogenforellen geangelt, eine willkommene Abwechslung von unserer Dosennahrung und eine gewaltige Verbesserung gegenüber dem Dörrfleisch.

Wir waren keineswegs die ersten, die diese Felsnische benutzten.

Unser Feuer hatten wir auf einem schwarzen Fleck entzündet, der von den Feuern zeugte, die schon früher hier gebrannt haben mußten (vor wie langer Zeit, das ließ sich allerdings nicht feststellen); die Hitze hatte kleine Steinsplitter aus der Felsplatte gelöst. Es gab mehrere ähnlich geschwärzte Feuerstellen, über die ganze Felsplatte verteilt, halb verdeckt vom hereingewehten Laub.

In einem solchen Haufen Laub, weit hinten in der Felsnische, wo die Decke sich hinab zum Boden neigte, hatte Cynthia ein weiteres Beweisstück für den vormaligen Aufenthalt von Menschen gefunden - eine Stahlrute, über einen Meter lang, drei Zentimeter dick und nur stellenweise angerostet.

Ich saß am Feuer, starrte in die Flammen und versuchte zu begreifen, wie so gründliche Pläne wie die unseren so vollständig umgeworfen werden konnten. Selbstverständlich lautete die Antwort, daß der Friedhof dafür die Verantwortung trug, ausgenommen vielleicht an unserem Zusammenprall mit den Grabräubern; an sie waren wir möglicherweise zufällig geraten.

Ich bemühte mich, darüber Klarheit zu gewinnen, wie unsere Sache stand, und ich hatte sehr den Eindruck, daß sie nicht gut stand. Man hatte uns aus der Ansiedlung vertrieben, wir waren getrennt, und Cynthia und ich waren einem rätselhaften Wesen ausgeliefert, dem man nur mit äußerstem Wohlwollen Vertrauen schenken konnte.

Außerdem war da der Wolf - nur einer, wenn der Volkszähler die Wahrheit gesprochen hatte. Ich hegte darüber, was den beiden anderen zugestoßen sein mußte, nicht den geringsten Zweifel. Sie hatten Elmer und Bronco eingeholt, und das war ein großes Mißgeschick für sie gewesen. Elmer hatte zwei zerlegt, aber der dritte war entkommen und folgte aller Wahrscheinlichkeit nach inzwischen unserer Fährte - falls wir eine hinterlassen hatten. Wir waren über hohe Bergrücken gezogen. Der felsige Untergrund und der scharfe Wind mochten viel dazu beigetragen haben, unsere Fährte zu verwischen. Nun, nach dem Unwetter, gab es womöglich keine Spur mehr, der sich folgen ließ.

»Woran denkst du, Fletch?« fragte Cynthia.

»Ich überlege, wo Elmer und Bronco gegenwärtig sein mögen.«

»Auf dem Rückweg zur Höhle«, meinte sie. »Dort werden sie unsere Nachricht finden.«

»Ja«, sagte ich. »Die Nachricht besagt, daß wir uns nach Nordwesten wenden und uns alle am Ohio treffen, falls sie uns unterdessen nicht einholen. Weißt du überhaupt, wieviel Land nordwestwärts bis zum Ohio liegt oder wie lang der Fluß eigentlich ist?«

»Was hätten wir sonst tun sollen?« fragte sie ziemlich verärgert.

»Am Morgen werden wir auf einem Gipfel ein Feuer machen«, sagte der Volkszähler, »um ihnen ein Zeichen zu geben. Es wird ihnen den Weg weisen.«

»Ihnen und allen anderen, die es sehen«, sagte ich. »Vielleicht auch dem Wolf. Oder sind es doch drei Wölfe?«

»Nur einer«, antwortete der Volkszähler. »Ein vereinzelter Wolf ist niemals tapfer. Wölfe sind nur im Rudel mutig.«

»Ich möchte lieber gar keinem Wolf begegnen«, erwiderte ich. »Auch keinem einzelnen, feigen Wolf.«

»Es gibt nur noch wenige«, tröstete mich der Volkszähler. »Seit Jahren hat man sie nicht mehr zur Jagd ausgeschickt. Diese Zeit der Ruhe könnte ihre Blutrünstigkeit stark vermindert haben.«

»Mich interessiert«, sagte ich, »warum der Friedhof so lange brauchte, bevor man sie auf uns hetzte. Sie hätten sie loslassen können, als wir uns zum Aufbruch anschickten.«

»Zweifellos mußte man sie erst holen«, sagte der Volkszähler. »Ich weiß nicht, wo man sie untergebracht hat, aber ganz gewiß nicht in der Friedhofsverwaltung.«

Der Wind peitschte eine Bö ins Tal, und ein Vorhang aus Regen rauschte in die Felsnische herein, bis dicht vor unser Feuer.

»Wo sind deine Freunde?« fragte ich. »Wo stecken deine Gespenster?«

»In einer solchen Nacht«, antwortete der Volkszähler, »haben sie vielerlei Aufgaben zu verrichten.«

Nach der Art dieser Aufgaben erkundigte ich mich nicht. Ich wollte nichts davon erfahren.

»Wie ihr darüber denkt, weiß ich nicht«, sagte Cynthia, »aber was mich betrifft, ich wickle mich in eine Decke und versuche ein wenig zu schlafen.«

»Das solltet ihr beide tun«, empfahl der Volkszähler. »Der Tag war lang und hart. Ich übernehme die Wache. Ich schlafe so gut wie nie.«

»Du schläfst nie«, sagte ich, »und du ißt nie. Der Wind erfaßt deine Robe nicht. Was bist du überhaupt?«

Er schwieg. Ich wußte, er würde niemals antworten.

Als letztes vor dem Einschlafen sah ich den Volkszähler, wie er in der Nähe des Feuers saß; eine reglose, starre Gestalt, die mich, so seltsam das auch klingen mag, an eine umgestülpte Eistüte erinnerte.

Durchgefroren erwachte ich. Das Feuer war erloschen, und draußen dämmerte ein neuer Morgen herauf. Der Sturm hatte sich gelegt, und der kleine Ausschnitt des Himmels, den ich sehen konnte, war hell und klar.

Und auf der Felsplatte, auf dem Stück, das im Freien lag, saß ein Stahlwolf. Er kauerte auf seinen Hinterkeulen und sah mich unverwandt an. Zwischen seinen Stahlfängen hing der schlaffe Kadaver eines Hasen.

Hastig setzte ich mich auf, streifte die Decke beiseite und streckte die Hand nach einem Scheit Brennholz aus, obwohl ich mir nicht vorzustellen vermochte, daß so ein Prügel viel gegen ein solches Ungetüm nutzte. Doch als ich danach griff, fand ich etwas anderes. Ich achtete nicht darauf, wohin meine Hand tastete, weil ich den Blick nicht vom Wolf zu wenden wagte. Doch als meine Finger es berührten, wußte ich, worum es sich handelte -um die über einen Meter lange Stahlrute, die Cynthia unterm Laub entdeckt hatte. Mit einem Anflug von Erleichterung packte ich sie und stand mit äußerster Behutsamkeit auf. Ich umklammerte die Rute so fest, daß mir die Hand schmerzte.

Der Wolf machte keine Anstalten, sich mir zu nähern; er hockte nur dort und hielt den Hasen zwischen den Fängen. Mir war nicht bewußt gewesen, daß es einen besaß, doch nun begann das Ungeheuer mit dem Schwanz zu wedeln, und es ähnelte wirklich und wahrhaftig dem Schwanzwedeln eines Hundes, der sich über eine Begegnung freute.

Rasch blickte ich mich um. Der Volkszähler war nirgends zu sehen; Cyn-thia dagegen saß aufrecht zwischen den Falten ihrer Decke. Ihre Augen schienen so groß wie Unterteller zu sein. Sie bemerkte meinen Blick nicht, sondern starrte nur den Wolf an.

Ich tat einen Schritt zur Seite, um die Feuerstelle herum, und hob die Stahlrute zum Schlag. Für den Fall, daß ich einen kräftigen Hieb auf den häßlichen Schädel anbringen konnte, wenn er mich ansprang, rechnete ich mir eine kleine Chance aus.

Aber der Wolf griff nicht an. Er blieb sitzen, und als ich einen weiteren Schritt tat, diesmal auf ihn zu, rollte er sich plötzlich auf den Rücken, streckte die Glieder in die Höhe und trommelte mit dem Schwanz wild auf den Stein. Das Geräusch des Metalls hallte laut und aufdringlich durch die morgendliche Stille.

»Er ist freundlich gesonnen«, sagte Cynthia. »Er bittet dich, nicht zuzuschlagen.«

Ich trat noch einen Schritt vor.

»Sieh nur«, sagte diese dümmliche Person nunmehr, »er hat uns einen Hasen mitgebracht.«

Ich senkte die Stahlrute. Der Wolf drehte sich auf den Bauch und kroch auf mich zu. Ich stand ruhig und wartete ab. Schließlich ließ er den Hasen unmittelbar vor meine Füße fallen.

»Heb ihn auf«, riet Cynthia.

»Wenn ich ihn aufhebe«, sagte ich, »beißt er mir den Arm ab.«

»Heb ihn auf«, wiederholte sie. »Er hat dir den Hasen mitgebracht. Er schenkt ihn dir.«

Also bückte ich mich und nahm den Hasen, und in diesem Moment sprang der Wolf in ungestümer Freude an mir empor und drängte sich so gewaltsam an meine Beine, daß er mich fast umgeworfen hätte.

16

Wir saßen am Feuer und nagten die letzten Fleischfasern von den Knochen des Hasen, während der Wolf neben uns lag und uns aufmerksam beobachtete.

»Was mag wohl mit ihm geschehen sein?« meinte Cynthia.

»Vielleicht ist bei ihm was durchgebrannt«, sagte ich. »Oder er hat sich in eine Memme verwandelt, nachdem es seinen beiden Begleitern übel ergangen ist. Möglicherweise wartet er auch nur darauf, bis wir wieder schlafen, um dann über uns herzufallen.«

Ich reckte mich und legte die Stahlrute in Reichweite.

»Ich halte nichts davon für glaubwürdig«, sagte Cynthia. »Möchtest du wissen, was ich glaube? Er will nicht zurück.«

»Wohin zurück?«

»Dorthin, wo der Friedhof ihn zu halten pflegte. Denk einmal nach! Er und die anderen Wölfe, wie viele auch immer, waren vielleicht jahrelang eingesperrt ...«

»Sie dürften sie wohl nicht einsperren«, sagte ich. »Viel wahrscheinlicher ist, daß man sie abschaltet, bis man sie wieder braucht.«

»Möglich, daß es sich so verhält«, sagte sie. »Vielleicht will er nicht zurück, weil er genau weiß, daß sie ihn wieder abschalten werden.«

Ich brummte vor mich hin. Alles war so widersinnig. Womöglich wäre es am besten, so überlegte ich, die Stahlrute zu nehmen und das Metallvieh totzuprügeln. Der Haken daran war allerdings, daß ich allen Grund zu der Annahme besaß, daß der Wolf das Töten weit besser verstand als ich und ich deshalb bei einer Auseinandersetzung voraussichtlich unterliegen würde, zumal ich keine Ahnung hatte, wo sich seine verletzliche Elektronik befinden mochte. Dieser Umstand hielt mich von der Verwirklichung meines Einfalls zurück.

»Wo mag der Volkszähler abgeblieben sein?« meinte ich.

»Vermutlich hat er sich vor dem Wolf gefürchtet und ist fort gelaufen«, sagte Cynthia. »Wahrscheinlich läßt er sich nie wieder blicken.«

»Er hätte uns wenigstens wecken können, damit wir eine Gelegenheit zur Gegenwehr gehabt hätten.«

»Es ist noch einmal gut ausgegangen.«

»Das konnte er doch nicht ahnen.«

»Was sollen wir jetzt tun?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. Und das traf zu. Ich wußte es wirklich nicht. Noch nie im Leben hatte ich eine solche Ungewißheit über mein weiteres Vorgehen empfunden. Ich hatte nicht die leiseste Vorstellung davon, wo wir uns befanden; von meinem Standpunkt aus waren wir inmitten einer feindseligen Wildnis verirrt. Wir waren von den beiden stärkeren Angehörigen unserer Gruppe getrennt, und unser Führer hatte uns schmählich verlassen. Zwar hatte sich nun ein Stahlwolf mit uns angefreundet, aber ich war weit davon entfernt, mir der Aufrichtigkeit seiner Freundschaft sicher zu sein.

Im Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung und sprang auf, aber es war bereits zu spät. Ich verharrte und starrte in die Gewehrmündungen. Es waren zwei Männer, die diese Gewehre hielten, und einer war jenes hoch-gewachsene, breite, brutal aussehende Subjekt von einem Grabräuber, mit dem wir im Lager der Lumpen verhandelt hatten, Holzscheite in den Händen, bevor Elmer eingriff. Es erstaunte mich, daß ich ihn erkannte, denn seinerzeit hatte ich nicht ihn allein unter Beobachtung gehalten, sondern die gesamte Horde, nachdem sie von Bronco abgelassen hatte, um sich auf uns zu stürzen. Aber ich erkannte ihn eindeutig - das lüsterne, unehrliche, auf seinem Gesicht festgefrorene Lächeln, die schiefen Augen, die krumme Narbe schräg über seiner Wange. An den anderen entsann ich mich nicht.

Sie standen seitlich unter dem Eingang der Felsnische und hatten ihre Gewehre auf uns gerichtet.

Ich hörte Cynthia vor Überraschung keuchen. »Steh nicht auf!« sagte ich in scharfem Tonfall. »Rühr dich nicht!«

Man vernahm das Scharren von stählernen Klauen auf Stein; etwas trat neben mich, drückte sich an meine Wade. Ich brauchte nicht hinzuschauen; ich wußte, daß es der Wolf war, der sich an meiner Seite den Mündungen der Gewehre stellte.

Anscheinend war er den beiden Bewaffneten, weil er hinter uns gelegen hatte, bisher entgangen, denn jetzt, als er in ihr Blickfeld trat, wich das lüsterne Lächeln aus dem Gesicht des Brutalinskis, und sein Unterkiefer sank sichtlich herab. Das Gesicht des anderen wurde von nervösen Zuckungen heimgesucht. Sie standen wie angewurzelt.

»Gentlemen«, sagte ich, »das sieht mir sehr nach einem Unentschieden aus. Ihr könnt uns leicht töten, aber ihr würdet anschließend nicht lange genug leben, um bloß hundert Meter weit zu laufen.«

Für einen langen Moment zögerten sie und hielten die Waffen weiterhin auf uns gerichtet; endlich schwenkte der Brutalinski den Lauf seines Gewehrs aufwärts und ließ es herabsinken, bis der Kolben am Boden ruhte.

»Jed, das Schießeisen runter«, sagte er. »Diese Leute haben uns wieder ausgetrickst.«

Jed senkte seine Waffe.

»Mir kommt es so vor«, ergänzte Brutalinski, »als müßten wir etwas ausknobeln, das uns allen aus der Patsche hilft, ohne daß jemandem dabei das Fell über die Ohren gezogen wird.«

»Kommt herein«, forderte ich sie auf. »Aber geht vorsichtig mit den Gewehren um.«

Langsam und lammfromm traten sie ans Feuer.

Ich warf Cynthia einen flüchtigen Blick zu. Sie saß noch zusammengekauert unter ihrer Decke, aber sie fürchtete sich nicht. Sie konnte wirklich allerhand verkraften.

»Fletch, nach einem so langen Fußmarsch müssen diese Gentlemen hung-rig sein«, sagte sie. »Warum bittest du sie nicht, Platz zu nehmen, während ich eine oder zwei Konserven aufmache? Wir haben nicht viel, versteht sich, weil wir kein schweres Gepäck mitnehmen können, aber einen Fleischtopf kann ich noch anbieten.«

Die beiden sahen mich an und nickten knapp.

»Bitte«, sagte ich.

Sie setzten sich und legten die Gewehre neben sich auf den Boden.

Der Wolf rührte sich nicht; er stand ruhig da und starrte sie unverwandt an.

Brutalinski vollführte eine Geste, die eine Frage ausdrückte, in seine Richtung.

»Er wird friedlich bleiben«, sagte ich. »Aber vermeidet hastige Bewegungen.«

Ich konnte nur hoffen, daß das stimmte. Natürlich hatte ich keine Gewißheit.

Cynthia kramte in einem unserer Bündel und holte eine Pfanne heraus. Ich stocherte in der Glut und blies hinein, bis das Feuer wieder kräftig loderte.

»Ich hoffe, ihr klärt uns nun darüber auf, was das alles bedeuten soll«, sagte ich.

»Ihr habt unsere Pferde gestohlen und später fortgejagt«, sagte Bruta-linski.

»Wir sind euch gefolgt«, fügte Jed überaus geistreich hinzu.

Verwundert schüttelte ich den Kopf. »Wieso? Die Spur der Pferde muß eindeutig gewesen sein. Es waren viele Pferde.«

»Wir haben eure Höhle entdeckt und die Nachricht gefunden, die ihr dort hinterlegt hattet«, berichtete Brutalinski. »Und Jed hier, er konnte sich einen Reim drauf machen. Und dies Loch hier kennen wir.«

»Das ist eine vielbenutzte Lagerstelle«, erklärte Jed. »Wir übernachten hier selber häufig.«

Der Sinn ihrer Rede blieb mir nach wie vor reichlich dunkel, aber ich drängte sie nicht, ihn mir zu erläutern. Brutalinski jedoch redete weiter. »Wir dachten, jemand sei bei euch. Jemand, der das Land kennt. Da waren wir uns ganz sicher. Wir waren uns völlig sicher, daß Leute wie ihr allein nicht weit kommen könnten. Dies Loch hier ist an einem Tag nur schwer zu erreichen.«

»Ich verstehe nicht, wieso ihr den Wolf habt«, sagte Jed. »Mit so etwas hätten wir nie gerechnet. Wir dachten, er wäre schon längst auf dem Rückweg.«

»Ihr wußtet von den Wölfen?«

»Wir haben die Spuren gefunden. Von drei Wölfen. Und dann fanden wir das, was von den beiden anderen übrig ist.«

»Ihr nicht«, widersprach ich. »Ihr müßt direkt von der Höhle aus hierher aufgebrochen sein. Alles andere ist ausgeschlossen. Ihr hattet gar keine Zeit ... «

»Nicht wir«, bekannte Jed. »Wir haben die Trümmer nicht gefunden. Ein paar andere von uns. Sie haben es uns mitgeteilt.«

»Mitgeteilt?«

»Klar«, sagte Brutalinski. »Wir unterrichten uns ständig gegenseitig.«

»Telepathie«, sagte Cynthia sehr leise. »Es muß Telepathie sein.«

»Aber Telepathie ...«

»Ein Überlebensfaktor«, erklärte sie unverändert leise. »Die Menschen, die nach dem Krieg auf der Erde zurückblieben, mußten Eigenschaften entwickeln, die ihre Aussicht aufs Überleben erhöhten. Viele solcher Überlebensfaktoren dürften durch Mutationen entstanden sein. Fähigkeiten, die wertvoll waren, wenn man nicht alsbald an ihnen starb. Eine telepathische Fähigkeit war damals von großem Vorteil und nicht tödlich.«

»Erzählt uns«, wandte ich mich an Brutalinski, »was aus Elmer und Bronco geworden ist, unseren beiden Begleitern, meine ich.«

»Den Metalldingern?« fragte Jed.

»Sehr richtig. Den Metalldingern.«

Brutalinski schüttelte den Kopf.

»Willst du damit sagen, daß ihr's nicht wißt?«

»Es ist uns unmöglich, das herauszufinden.«

»Hör mal, Freund«, sagte Jed. »Wir brauchen eine Grundlage für die Verhandlungen. Das ist unsere Grundlage.«

»Und unsere ist der Wolf«, sagte ich. »Und er steht neben mir.«

»Wir sollten nicht so dumm herumsitzen und schachern«, sagte Bruta-linski. »Es wäre besser, wir würden gemeinsame Sache machen.«

»Deshalb habt ihr euch wohl angeschlichen, um mit uns gemeinsame Sache zu machen, wie?«

»Ja, nee«, sagte Jed, »so war es nicht. Klar, wir wollten uns an euch rächen. Ihr habt unser Lager verwüstet, uns verjagt und dann auch noch unsere Pferde gestohlen. Es gibt nichts Niederträchtigeres als einem Mann die Pferde zu stehlen. Um ehrlich zu sein, wir waren euch nicht gerade freundlich gesonnen.«

»Aber nun ist die Lage anders. Wollt ihr nun friedlich sein?«

»Wir betrachten es so«, sagte Brutalinski. »Jemand hat die Wölfe auf euch gehetzt, und das kann nur der Friedhof getan haben, und wir sagen uns, wen der Friedhof nicht leiden kann, der muß ein Freund von uns sein.«

»Was habt ihr gegen den Friedhof?« erkundigte sich Cynthia. Sie war ans Feuer getreten und stand neben Brutalinski, die Pfanne in der Hand. »Ihr habt den Friedhof bestohlen. Ihr habt die Gräber geplündert. Gäbe es den Friedhof nicht, wäre es doch aus und vorbei mit eurem Geschäft.«

»Die vom Friedhof sind unverträglich«, beklagte sich Jed. »Sie stellen uns Fallen und verursachen uns alle Arten von Schwierigkeiten. Sie machen uns nichts als Ärger.«

Brutalinski hatte seine Verblüffung noch immer nicht ganz überwunden. »Wie kommt es, daß ihr euch mit dem Wolf eingelassen habt?« wollte er wissen. »Das begünstigt nicht gerade die Freundschaft mit anderen Leuten wie uns. Sie sind Menschenkiller, jeder von ihnen.«

Cynthia stand noch neben Brutalinski, sah ihn jedoch nicht an. Ihr Blick war nach draußen auf den jenseitigen Hügel gerichtet. Beiläufig fragte ich mich, wonach sie wohl Ausschau halten mochte, beschäftigte mich jedoch nicht weiter damit.

»Wenn euch daran gelegen ist, euch mit uns zu einigen«, sagte ich, »solltet ihr den ersten Schritt tun, indem ihr uns erzählt, wo wir unsere Begleiter finden können.«

In Wirklichkeit traute ich ihnen keineswegs; ich wußte, daß wir ihnen nicht trauen konnten. Aber ich beabsichtigte das Gerede noch für ein Weilchen fortzusetzen, um ihnen ihr Wissen um den Verbleib Elmers und Bron-cos zu entlocken.

»Ich weiß nicht, ob wir das tun sollen«, wand sich Brutalinski. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Im Augenwinkel sah ich Cynthia handeln. Ihr Arm fuhr aufwärts, und wozu, das begriff ich, doch warum sie das tun wollte, verstand ich beim besten Willen nicht. Ich war außerstande, sie daran zu hindern, und wäre ich dazu in der Lage gewesen, hätte ich es wohl nicht getan, denn ich war mir dessen sicher, daß sie dafür guten Grund besitzen mußte. Ich konnte nur eins tun und tat es sofort. Ich stürzte nach Jeds Gewehr, das neben ihm auf dem Fels lag. Während ich sprang, ließ Cynthia mit aller Kraft, die sie aufzubringen vermochte, die Pfanne auf Brutalinskis Schädel niedersausen.

Jed griff ebenfalls nach dem Gewehr, und wir packten es beide zugleich. Wir sprangen auf die Beine, beide, ans Gewehr geklammert, und rangen darum, versuchten es einander zu entwinden.

Alles ereignete sich so überstürzt, daß ich es kaum richtig mitbekam. Ich sah Cynthia mit Brutalinskis schußbereitem Gewehr. Brutalinski kroch auf Händen und Füßen am Boden herum und schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu überwinden, die ihn umfangen mußte. Hinter ihm lag die Pfanne. Durch den Schlag war sie völlig deformiert. Der Wolf raste wie ein silberner Blitz zur Felsnische hinaus. Draußen, am Abhang gegenüber, liefen dunkle Gestalten. Schüsse krachten; bleierne Hummeln surrten herein und klatschten gegen die Felswände.

Jeds Gesicht verzerrte sich, aus Furcht oder Wut (weshalb, das konnte ich nicht entscheiden, aber seltsamerweise beschäftigte es mich inmitten des ganzen Getümmels). Sein Mund stand offen, als wolle er einen Schrei ausstoßen, doch er schrie nicht. Seine Zähne glichen gelben Hauern; sein Atem stank. Er war weder so kräftig gebaut wie ich noch so schwer, aber ein drahtiger Geselle, schnell, zäh und kampferfahren, und ich wußte, während wir noch rangen, daß er mir die Waffe schließlich entreißen würde.

Brutalinski war auf die Beine gekommen und wich langsam vom Feuer zurück; wie gebannt, furchtsam, starrte er Cynthia an, die sein Gewehr auf ihn gerichtet hatte.

Alles schien mir bereits ungeheuer lange zu dauern, obwohl es, wie ich glaube, nicht länger als ein paar Sekunden währte, und das Ringen zwischen Jed und mir schien sich endlos ausdehnen zu wollen. Dann sank Jed plötzlich vornüber. Sein Griff ums Gewehr lockerte sich, er wankte zur Seite und taumelte zu Boden, und ich sah, daß sich sein Hemdrücken rot tränkte.

»Fletch, laß uns verschwinden!« schrie Cynthia herüber. »Sie schießen auf uns!«

Doch sie schossen nicht länger, wie ich nun sah. Sie flohen um ihr Leben, die kleinen dunklen Gestalten am jenseitigen Hang, den sie hinaufhasteten; sie schlugen Haken, wagten halsbrecherische Sprünge. Zwei oder drei von ihnen erkletterten schleunigst Baumwipfel. Den Hügel hinauf, den Fliehenden hinterdrein, jagte eine stählerne Maschine. Ich sah, wie sie einen Mann mit den scharfen Stahlfängen packte und einen Moment lang schüttelte, bevor sie ihn beiseite schleuderte.

Brutalinski war nicht länger zu sehen. Er war abgehauen.

»Fletch, hier können wir unmöglich bleiben«, sagte Cynthia, und ich mußte ihr beipflichten. Wir mußten uns der Reichweite der Grabräuber entziehen. Solange der Wolf sie hetzte, hatten wir Gelegenheit, das Weite zu suchen.

Sie eilte zur Felsnische hinaus, wandte sich seitwärts und kletterte den Abhang hinunter. Ich folgte ihr. Auf der steilen Geröllhalde verlor ich jäh das Gleichgewicht, fiel und rutschte auf dem Rücken bis fast zum Bach hinab, ehe ich mich festzuhalten vermochte. Als ich mich aufraffte, entglitt das Gewehr meiner Hand, und ich drehte mich um und wollte es aufnehmen, als etwas an meinem Ohr vorübersurrte und an der jenseitigen Böschung eine kleine Fontäne aus Erdreich aufwarf. Ich blickte hinauf zur Kuppe des Hügels. Aus einer Baumkrone, worin eine zerlumpte Gestalt hockte, wehte eine kleine, blaue Rauchwolke.

Ich verzichtete auf das Gewehr.

Cynthia lief in der Deckung der steilen Böschung am Bach entlang, und ich rannte ihr nach. Hinter uns knallten mehrere Schüsse, aber die Kugeln mußten uns weit verfehlt haben, denn ich hörte sie nicht surren und sah sie auch nicht einschlagen. Nur noch wenige Sekunden, so kalkulierte ich, und wir befanden uns außerhalb der Schußweite. Selbstgebaute Flinten, die aus Blei gegossene Kugeln mit selbstgemischtem Pulver verschossen, konnten keine allzu große Reichweite besitzen.

Unser Fluchtweg verlangte uns das Äußerste ab. Die Böschung war auf beiden Seiten sehr steil. Das Gelände war sehr unwegsam. Felsbrocken, die im Laufe der Jahrtausende herab von den Hügeln gekollert sein mußten, versperrten uns den Weg. An einigen Stellen erhoben sich riesenhafte Bäume. Es gab keinen Weg, keinen Trampelpfad, dem wir folgen konnten. Niemand bei rechtem Verstand wäre blindlings durch diese Gegend gelaufen, aber wir hatten keine Wahl. Wir mußten fort und konnten es nur, indem wir den Felsklötzen und Bäumen auswichen und über den Bach sprangen, wo er sich wand, um dem Verlauf des engen Tals folgen zu können.

Als Cynthia ihren Lauf bei einer Ansammlung mächtiger Felsblöcke verlangsamte, holte ich sie ein. Dann liefen wir nebeneinander. Ich bemerkte, daß sie Brutalinskis Gewehr nicht länger mittrug.

»Ich habe es weggeworfen«, sagte sie. »Es war mir zu schwer. Außerdem war es mir hinderlich.«

»Macht nichts«, antwortete ich. Und es war tatsächlich gleichgültig. Jedes Gewehr enthielt bloß eine Ladung, und zum Nachladen besaßen wir weder Kugeln noch Pulver; davon abgesehen, wußten wir auch gar nicht, wie man ein Gewehr nachlud. Die Handhabung dieser Waffen gestaltete sich reichlich umständlich, und ich hatte den Eindruck, daß ein Mann verdammt lange damit üben mußte, bevor er auch nur ein Scheunentor zu treffen vermochte.

Wir erreichten die Mündung eines sehr engen, V-förmigen Hohlwegs.

»Laß uns dort hinunter«, sagte Cynthia. »Sie werden nämlich annehmen, daß wir im Tal bleiben.«

Ich nickte. Wenn sie uns verfolgten, würden sie glauben, wir hätten den leichteren Weg gewählt, von der Felsnische aus durchs Tal, immer geradeaus.

»Fletch, jetzt besitzen wir nichts mehr«, fügte sie hinzu. »Sie haben jetzt unser Gepäck.«

Ich zögerte. »Ich könnte umkehren«, sagte ich. »Noch wird es am Lagerplatz sein. Du folgst dem Hohlweg. Ich werde dich schon einholen.«

»Wir dürfen uns keinesfalls nochmals trennen«, entgegnete sie entschieden. »Wir bleiben zusammen. Das alles wäre uns nicht geschehen, hätten wir Elmer dabei.«

»Der Wolf hat sie auf die Bäume getrieben«, sagte ich. »Entweder sitzen sie auf Bäumen oder sie geben Fersengeld.«

»Nein«, beharrte sie. »Einige von denen auf den Bäumen haben Gewehre. Außerdem sind es so viele, daß der Wolf nicht gegen alle ankommen kann. Sie werden sich zerstreut haben. Der Wolf kann nicht alle zugleich jagen.«

»Du hattest sie gesehen«, meinte ich. »Deshalb hast du dem Großen die Pfanne auf den Kopf gehauen.«

»Ich sah sie über den Abhang kommen«, bestätigte sie. »Aber wahrscheinlich hätte ich ihn sowieso niedergeschlagen. Wir konnten ihnen nicht trauen, Fletch. Und du kehrst nicht um. Ich müßte mitgehen, und davor fürchte ich mich.«

Wir erklommen den Hohlweg. Diese Strecke war unwegsamer als das Tal; es ging steil bergauf.

Ich ließ Cynthia vorausgehen, während ich mich mit meinen Sorgen beschäftigte. Wir mußten uns in regelrechter Panik befunden haben, als wir aus der Felsnische flüchteten. Es hätte uns keine Minute gekostet, die Bündel aufzuraffen. Aber wir hatten es versäumt. Infolgedessen besaßen wir nunmehr weder Lebensmittel noch Decken. Wir besaßen gar nichts mehr. Außer Feuer, fiel mir ein. Das Feuerzug trug ich in der Tasche. Der Gedanke, daß wir wenigstens noch ein Feuer zu entzünden vermochten, ermutigte mich ein wenig, wiewohl nicht erheblich.

Der Weg war zermürbend, und ich verspürte das Bedürfnis nach einer Verschnaufpause. Ich bemühte mich um Konzentration und versuchte darauf zu lauschen, ob hinter uns Lärm erscholl, vernahm jedoch nichts; einen Moment lang fragte ich mich, ob das, woran ich mich erinnerte, auch wirklich stattgefunden hatte. Natürlich wußte ich es genau.

Wir näherten uns der Höhe des Hügels, und der Hohlweg verlor an Steilheit. Mühsam erreichten wir die Hügelkuppe. Dort stand dichter Wald, und wir betraten ein Märchenland der Schönheit. Die Bäume wirkten auf seltsame Weise greifbar in ihrem Rot und Gelb aller Farbtöne, und an einigen wanden sich Kletterpflanzen empor, ein Geflecht aus tiefem Gold und Scharlachrot inmitten des farbenfrohen Laubs. Der Tag war warm und klar. Während ich die Farbenpracht anstaunte, erinnerte ich mich des Tags der Ankunft - seitdem waren nur wenige Tage verstrichen, aber mir erschienen sie - wie Wochen -, als wir den Friedhof verlassen hatten und ich den ersten Herbstwald meines Lebens sah.

Wir verharrten, um Atem zu holen, und blickten den Hohlweg hinab, durch den wir gekommen waren.

»Warum verfolgen sie uns bloß?« meinte Cynthia. »Gewiß, wir haben ihnen die Pferde genommen, aber wenn es darum geht, warum folgen sie nicht den Pferden, statt ihre Zeit mit uns zu verschwenden?«

»Vielleicht aus Rachsucht«, sagte ich. »Aus dem Wahn, es uns heimzahlen zu müssen. Wahrscheinlich ist nur ein Teil von ihnen hinter uns her. Der Rest sucht die Pferde.«

»Möglicherweise bewegt sie bloße Rachsucht dazu«, erwiderte sie, »aber ich kann's nicht recht glauben. Dahinter muß mehr stecken.«

»Natürlich der Friedhof«, keuchte ich, obschon ich in diesem Moment nicht die geringste Klarheit darüber besaß, wie ich es eigentlich meinte, wiewohl man wirklich den Eindruck haben konnte, der Friedhof sei an allem schuld, das geschah. Doch kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, da fügte sich in meinem Kopf das gesamte Mosaik ineinander.

»Begreifst du nicht«, meinte ich, »daß der Friedhof seine Finger in allem hat? Die Friedhofsleute können Druck ausüben. Jemand in der Ansiedlung hat eine Kiste voll Whiskey dafür bekommen, daß er Bronco in die Luft zu sprengen versuchte. Und diese Grabräuber ...«

»Aber die Grabräuber«, unterbrach sie mich, »sind ein anderer Fall. Sie bestehlen den Friedhof. Der Friedhof bekämpft sie. Beide Seiten würden sich nie auf einen Handel einlassen.«

»Sieh einmal«, sagte ich. »Es kann sein, daß sie sich beim Friedhof einschmeicheln wollen. Sie bemerkten, daß die Wölfe nach uns spürten, und wer als der Friedhof konnte sie losgeschickt haben? Und die Wölfe hatten versagt. Für Leute wie unsere Grabschänder dürfte es naheliegend gewesen sein, die Gelegenheit wahrzunehmen und dem Friedhof unsere Köpfe zu bringen, um sich anzubiedern. So einfach liegt der Fall.«

»Möglicherweise«, sagte sie. »Der Himmel mag's wissen. Im Moment klingt es jedenfalls einleuchtend.«

»Und deshalb empfiehlt es sich«, sagte ich, »den Weg nun fortzusetzen.«

Wir überquerten den Hügel und gelangten alsbald in eine Schlucht, in der Gesteinstrümmer verstreut lagen; ihr schloß sich ein Tal an. Das Tal war ziemlich weitläufig, so daß wir leichter vorankamen.

Nach einer Weile erreichten wir einen Baum, den ein gewaltiger Weinstock beinahe völlig überwuchert hatte, und ich kletterte hinauf. Vögel und kleines Getier hatten die meisten Reben kahlgefressen, aber ich fand einige, die noch die Mehrzahl ihrer Trauben trugen. Ich pflückte sie und ließ sie abwärts durchs Geäst fallen. Die Trauben schmeckten reichlich sauer, aber das war uns gleichgültig. Wir waren hungrig, und sie füllten unsere Mägen; ich war mir jedoch dessen bewußt, daß wir uns künftig auf andere Weise ernähren mußten. Von Trauben konnten wir auf Dauer nicht leben. Angelhaken hatten wir nicht, aber ich besaß ein Taschenmesser, mit dem sich Weidenruten schneiden ließen, aus denen wir womöglich einen Korb anfertigen und ihn als eine Art von Schleppnetz verwenden konnten. Vielleicht vermochten wir auf diese Weise Fische zu fangen. Mir fiel ein, daß wir kein Salz hatten; aber sobald wir hungrig genug waren, kamen wir sicher gut ohne aus.

»Glaubst du, Fletch«, fragte Cynthia, »daß wir Elmer jemals finden werden?«

»Vielleicht findet Elmer uns«, sagte ich, um sie zu ermutigen. »Er wird uns suchen.«

»Wir haben Nachricht hinterlassen«, meinte sie.

»Die Nachricht ist nicht länger dort«, rief ich ihr ins Gedächtnis zurück. »Die Grabräuber hatten sie gefunden. Sie haben sie bestimmt nicht zurückgelassen.«

Das Tal war breiter als die Schlucht, aber wir gelangten keineswegs in flaches Land. Im Gegenteil, die Berge erhoben sich noch mächtiger als zuvor und schienen uns erdrücken zu wollen. Wir befanden uns zwischen hohen Felswänden, die beiderseits bis in eine Höhe von ungefähr fünfzig Meter aufragten. Die Landschaft legte ihren erfreulichen Charakter rasch ab, wurde immer schauriger und furchteinflößender. Der Bach, welcher hier floß, war breit, und er besaß weder Untiefen noch Schnellen. Er murmelte nicht, sondern rauschte machtvoll dahin. Die Sonne stand tief im Westen, und mit einiger Überraschung stellte ich fest, daß wir den ganzen Tag lang marschiert waren; ich war zwar müde, fühlte mich aber keineswegs zerschlagen wie nach einem Tagesmarsch.

Die Steilwand wich zurück. Wir erreichten eine Felsspalte. Mächtige Bäume umstanden sie, und über ihr klammerten sich einige struppige Zedern ins Gestein.

»Sehen wir uns das genauer an«, sagte ich. »Wir brauchen einen Platz zum Übernachten.

»Wir werden scheußlich frieren ohne Decken«, meinte Cynthia.

»Wir machen ein Feuer«, entgegnete ich.

Sie erschauderte. »Können wir uns das erlauben? Ist es nicht zu gefährlich?«

»Wir müssen unbedingt eins machen«, erwiderte ich.

In der Felsspalte war es dunkel. Zwischen den Felswänden konnten wir nicht erkennen, wie weit hinein sie reichte, denn die Finsternis wuchs, Als wir tiefer in den Riß eindrangen. Der Untergrund war kiesig, aber ein Stück hinter dem Zugang befand sich eine leicht erhöhte Felsplatte.

»Ich suche Holz«, sagte ich.

»Fletch!«

»Wir müssen ein Feuer anzünden«, sagte ich. »Wir müssen es ganz einfach wagen. Ohne Feuer würden wir erfrieren.«

»Ich habe Angst«, sagte sie leise.

Ich sah sie an. In der Dunkelheit war ihr Gesicht nur ein fahler Fleck.

»Nun habe ich doch Angst«, sprach sie weiter. »Und ich hatte gedacht, es müsse nicht sein. Ich hatte mir vorgenommen, keine zu haben. Ich war sicher, es durchhalten zu können. Draußen, am hellen Tag, da ging es auch immer. Aber nun wird es Nacht, Fletch, und wir haben weder Lebensmittel noch wissen wir, wo wir sind ...«

Ich trat zu ihr und nahm sie in meine Arme. Sie drängte sich an mich, umarmte mich ihrerseits. Und zum ersten Mal, seit alles angefangen hatte, seit jenem Augenblick, als ich aus dem Verwaltungsgebäude die Treppe hinunterging und sie unten im Wagen saß, betrachtete ich sie als Frau, und ich wunderte mich ein wenig, wieso es so lange gedauert hatte. Zuerst hatte ich sie als lästigen Anhang empfunden, als sie urplötzlich mit Thorneys seltsamem Brief aufgetaucht war. Dann hatten die Ereignisse sich überstürzt und ließen uns nicht zur Ruhe kommen. Immerhin hatte sie sich als guter Kamerad erwiesen, nie genörgelt oder Aufregungen verursacht.

Wenn ich mein Verhalten kritisch beurteilte, schnitt ich weniger gut ab. Ihr unterwegs ein paar nette Komplimente zu machen, hätte gewiß nicht geschadet. In dieser Hinsicht war meine Haltung sicherlich falsch gewesen.

»Wir sind wie große Kinder«, sagte sie, »wie Hänsel und Gretel im Wald. Kennst du dieses alte Erdenmärchen?«

»Natürlich kenne ich es«, sagte ich. »Vögel kamen und fraßen die Brotkrumen weg ...«

Sie hob den Kopf. »Jetzt ist mir etwas wohler zumute«, sagte sie. »Es tut mir leid.«

Ich legte meine Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht. Dann küßte ich sie.

»Laß uns Holz sammeln«, sagte sie.

Die Sonne war fast hinterm Horizont verschwunden, doch es war noch hell. Wir fanden in der Felsspalte viel verstreutes Holz. Das meiste war Zeder, morsches Geäst von den Bäumen, die oberhalb der Spalte am kahlen Fels ihr kümmerliches Dasein fristeten.

»Als Feuerstelle ist die Spalte gut geeignet«, erklärte ich. »Niemand kann das Feuer sehen. Um es sehen zu können, muß man der Felsspalte direkt gegenüber stehen.«

»Und was ist mit dem Rauch?« fragte sie.

»Das Holz ist trocken«, antwortete ich. »Rauch wird es kaum geben.«

Ich behielt recht. Das Holz brannte mit heller, ruhiger Flamme, die nur wenig Rauch entwickelte. Als wir uns an der Glut zusammenkuschelten, war die Nachtkühle noch gar nicht heraufgezogen. Das Feuer war Freund und Wohltat zugleich. Es vertrieb die Dunkelheit, schenkte uns das Gefühl der Geborgenheit. Es wärmte und umfing uns mit seinem Schein, schirmte uns darin ab.

Draußen ging die Sonne unter, und außerhalb der Felsspalte sank die Dämmerung herab. Die Welt lag im Finstern, und wir waren allein.

Jenseits des Feuers, an der Grenze zur Dunkelheit, bewegte sich etwas. Ein helles Klirren ertönte, als etwas über Stein scharrte.

Ich sprang auf und sah undeutlich einen länglichen Körper. Der Wolf trottete herein; sein stählerner Leib schimmerte im Feuerschein. Zwischen seinen Stahlfängen baumelte schlaff ein erlegter Hase.

17

Als O'Gillicuddy und seine Gespensterhorde erschienen, waren wir mit dem Hasen gerade fertig. Ohne Salz schmeckte er natürlich nicht wie eine Delikatesse, aber es war eine anständige Mahlzeit, und außer den Trauben hatten wir während des ganzen Tages nichts gegessen. Die bloße Tatsache, daß wir aßen, erleichterte unsere Lage und ermutigte uns ein wenig.

Wolf lag zwischen uns ausgestreckt, dicht am Feuer; sein schwerer Kopf ruhte auf den Metallpfoten.

»Wenn er nur sprechen könnte«, sagte Cynthia. »Das wäre wundervoll. Er könnte uns berichten, was vorgefallen ist.«

»Wölfe sprechen nicht«, sagte ich, während ich an einem Hasenbein nagte.

»Aber Roboter«, erwiderte sie. »Elmer kann sprechen. Sogar Bronco kann es. Auch der Wolf ist ein Roboter. Man hat ihm lediglich einen Wolfskörper verliehen.«

Der Wolf ließ seinen Blick wandern, um erst den einen, dann den anderen von uns anzuschauen. Er gab keinen Laut von sich, doch er schlug mit seinem Metallschwanz den Stein und verursachte damit mächtigen Krach.

»Wölfe wedeln nicht mit dem Schweif«, sagte sie.

»Woher weißt du das?«

»Irgendwo einmal gelesen. Wölfe klopfen und wedeln nicht mit den Schwänzen. Das tun nur Hunde.«

»Er bietet allen Grund zur Verwunderung«, sagte ich. »Zuerst verfolgt er uns blutrünstig, dann ändert er seine Meinung um hundertachtzig Grad und wird unser Freund. Darin sehe ich keinen Sinn.«

»Allmählich glaube ich«, meinte Cynthia, »daß nichts auf der Erde einen Sinn ergibt.«

Wir saßen am Feuer, umhüllt vom flackernden Schein der Flammen; mich überkam das seltsame Gefühl, ringsum gerate alles in Bewegung.

»Wir haben Besuch«, stellte Cynthia ruhig fest.

»O'Gillicuddy«, sagte ich. »O'Gillicuddy, bist du das?«

»Wir sind hier«, antwortete O'Gillicuddy. »Alle sind wir hier. »Wir lassen euch nicht allein in dieser Wildnis.«

»Wollt ihr euch mit uns unterhalten?«

»Durchaus. Wir haben eine Menge zu erzählen.«

»Um ehrlich zu sein«, meinte Cynthia, »wir sind froh, daß ihr hier seid, Unterhaltung oder keine.«

Gespenster, dachte ich. Im Felsspalt wimmelte es von Gespenstern, deren Sprecher O'Gillicuddy hieß. Hier sind Gespenster, dachte ich, und wir pflegten Umgang mit ihnen, als seien sie Menschen oder wenigstens einmal Menschen gewesen. Es war reiner Wahnsinn. Man konnte sich unter normalen Umständen möglicherweise mit Gespenstern abfinden, aber hier, unter diesen Verhältnissen, waren sie eine ganz alltägliche Erscheinung.

Und während ich darüber nachdachte, begriff ich auf einmal die ganze entsetzliche Ungeheuerlichkeit unserer Lage, begriff ich, wie völlig anders alles hier war als die friedliche Schönheit Aldens, wie fremdartig selbst im Vergleich mit der hohntriefenden Erhabenheit des Friedhofs. In der Tat schienen mir nun Alden und der Friedhof die ungewöhnlichen Dinge zu sein. Wir hatten uns so tief in die Umstände unseres verrückten Abenteuers eingelebt, daß die gewöhnlichen Dinge, welche wir gekannt hatten, nun fern und fremd erschienen.

»Ich fürchte«, sagte O'Gillicuddy, »ihr seid vor den Grabräubern noch nicht gänzlich in Sicherheit. Sie sind nach wie vor eifrig hinter euch her.«

»Glaubst du«, fragte ich, »daß sie es für den Friedhof tun?«

»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen«, sagte O'Gillicuddy.

»Aber warum?« fragte Cynthia. »Sie sind doch sicher keine Freunde des Friedhofs.«

»Nein«, antwortete O'Gillicuddy, »das sind sie gewiß nicht. Auf diesem Planeten hat der Friedhof keine Freunde. Und doch gibt es niemanden, der ihm nicht mit größtem Vergnügen einen Gefallen erwiese, um etwas für sich herauszuholen. Die Macht des Friedhofs verdirbt die Schwächeren.«

»Aber der Friedhof hat ihnen doch nichts zu bieten«, bemerkte Cynthia.

»Gegenwärtig vielleicht nicht. Aber eine aufgeschobene Gunst ist nicht aufgehoben. Später kann der erwiesene Gefallen sich auszahlen. Es ist eine Art von Punktesammeln.«

»Du hast gesagt, niemand könne der Versuchung widerstehen«, meinte ich. »Wie steht es mit euch?«

»In unserem Fall«, erklärte O'Gillicuddy, »verhält es sich anders. Der Friedhof kann für uns nichts tun, aber was vielleicht wichtiger ist, er kann uns nichts antun. Wir wollen ihm nicht gefällig sein, und wir fürchten uns nicht.«

»Und du bist der Auffassung, wir seien noch immer nicht sicher vor den Grabräubern?«

»Sie jagen euch«, sagte O'Gillicuddy. »Sie werden nicht aufgeben. Ihr habt ihnen heute morgen eine Niederlage bereitet, und sie hat ihnen sehr bitter geschmeckt. Einen hat der Stahlwolf getötet, ein anderer starb durch eine Kugel ... «

»Aber den haben sie selber erschossen«, sagte Cynthia. »Mit einer Kugel, die uns galt. Es war nicht unsere Schuld.«

»Trotzdem lasten sie's euch an. Zwei von ihnen sind tot, und jemand muß die Schuld tragen. Sie weisen die Verantwortung von sich. Sie wälzen die Schuld auf euch ab.«

»Sie können lange nach uns suchen.«

»Lange vielleicht«, sagte O'Gillicuddy, »doch finden werden sie euch. Sie sind hervorragende Waldläufer, Jagdhunden vergleichbar. Die Wildnis ist für sie ein offenes Buch. Ein umgedrehter Stein, ein abgerissenes Blatt, ein umgeknickter Grashalm - daraus ersehen sie alles.«

»Elmer und Bronco sind unsere einzige Hoffnung«, meinte Cynthia. »Wären wir zusammen ...«

»Wir können euch sagen, wo sie sich aufhalten«, versicherte O'Gillicuddy, »aber der Weg ist lang und beschwerlich, und er führt zurück in die Arme der wutentbrannten Grabräuber. Wir haben verzweifelte Anstrengungen unternommen, uns euren beiden Begleitern bemerkbar zu machen, um ihnen den Weg zu euch zu weisen, aber wie wir's auch anstellten, es gelang nicht. Um uns wahrzunehmen, bedarf es feinerer sensorischer Eigenschaften als Roboter sie besitzen.«

»Alles ist so hoffnungslos«, sagte Cynthia. Ihre Stimme verriet ihre Mutlosigkeit deutlich genug. »Elmer und Bronco könnt ihr nicht zu uns führen, und die Grabräuber werden uns höchstwahrscheinlich aufspüren.«

»Und das ist noch nicht alles«, sagte O'Gillicuddy. Ich vermochte mich nicht des Eindrucks zu erwehren, daß es ihn diebisch freute, soviel mehr zu wissen als wir. »Die Räuber sind unterwegs.«

»Die Räuber?« wiederholte ich. »Gibt es denn mehr als einen?« »Es sind zwei.«

»Meinst du diese Kriegsmaschinen?«

»Nennt ihr sie so?«

»Elmer nimmt an, daß es welche sind.«

»Aber das kann doch mit uns nichts zu tun haben«, meinte Cynthia. »Die Kriegsmaschinen haben doch sicherlich nichts mit dem Friedhof gemeinsam.«

»Doch, sie arbeiten mit dem Friedhof zusammen«, erklärte O'Gillicuddy.

»Warum?« fragte ich. »Was besitzt der Friedhof, das sie interessiert?«

»Schmieröl«, antwortete O'Gillicuddy.

Als ich das hörte, stieß ich einen tiefen Seufzer aus. So einfach und so klar. Darauf hätte ich schon früher kommen können. Ich hatte keine Gewißheit, aber nach aller Wahrscheinlichkeit verfügten die Maschinen über einen Nuklearantrieb und reparierten sich selbst. Aber eins benötigten sie, möglicherweise das einzige, das sie nicht mitführten: Schmieröl.

Darauf mußte der Friedhof gesetzt haben. Der Friedhof ließ keine Möglichkeit ungenutzt. Dort unterließ man nichts, das sich dazu eignete, ihnen etwas Untertan zu machen.

»Und der Volkszähler?« fragte ich. »Vermutlich ist er auch irgendwie in diese Angelegenheit verstrickt. Da wir gerade von ihm sprechen, wo ist er überhaupt?«

»Verschwunden«, erwiderte O'Gillicuddy. »Er flattert dahin, er flattert dorthin. Er gehört nicht wirklich zu uns. Er ist nicht immer bei uns. Wo er jetzt ist, wissen wir nicht.«

»Auch nicht, was er ist?«

»Was er ist? Nun, er ist der Volkszähler.«

»So meine ich's nicht. Ist er ein menschliches Wesen? Vielleicht ein Mutant? Es muß zahlreiche Mutanten gegeben haben. Manche positive Mutationen, die meisten jedoch negativ. Der Großteil der Negativmutanten dürfte im Laufe der Zeit umgekommen sein. Die Grabräuber sind auf irgendeine Art telepathisch befähigt und vielleicht noch andersartig. Die Menschen in der Ansiedlung, die wir kennenlernten, haben auch einen seltsamen Eindruck gemacht, obwohl ich nicht sagen könnte, in welcher Beziehung. Und ihr, als Geister ...«

»Gespenster«, korrigierte mich O'Gillicuddy.

»Also gut, Gespenster. Gespenstsein ist kein normaler menschlicher Zustand. Zweifellos gibt es nirgendwo Gespenster außer hier auf der Erde. Niemand weiß, was in der Zeit nach der großen Auswanderung ins All geschehen ist. Heute ist auf der Erde alles anders als früher.«

»Du schweifst ab«, sagte Cynthia. »Du wolltest fragen, ob der Volkszäh-ler ein Machwerk des Friedhofs ist.«

»Das ist er sicherlich nicht«, sagte O'Gillicuddy. »Was er ist, das weiß ich nicht. Ich habe ihn stets als menschliches Geschöpf betrachtet, obwohl er im engeren Sinne kein Mensch ist und nicht wie ein Mensch aussieht, und es gibt nur einen seiner Art...«

»Hör einmal«, sagte ich. »Ihr seid gewiß nicht bloß gekommen, um uns Gesellschaft zu leisten, sondern mit bestimmten Absichten. Ihr wärt nicht gekommen, um uns nur schlechte Neuigkeiten zu bringen. Worum also geht es?«

»Wir sind viele«, konstatierte das Gespenst. »Wir haben uns in großer Zahl versammelt. Weil wir großes Mitleid und eine merkwürdige Verbundenheit mit euch empfinden, haben wir den Clan zusammengerufen. Noch nie vor euch hat jemand auf der Erde dem Friedhof so beherzt die Stirn geboten.«

»Und das gefällt euch?«

»Das gefällt uns sehr.«

»Dann seid ihr gekommen, um uns zu feiern?«

»Zu diesem Zweck nicht«, antwortete O'Gillicuddy, »obwohl wir es liebend gerne täten, sondern weil wir glauben, daß wir dazu imstande sind, euch ein bißchen Beistand zu leisten.«

»Für jede Hilfe, die jemand uns geben kann, sind wir dankbar«, versicherte Cynthia.

»Es euch zu erklären, wird schwierig sein«, sagte O'Gillicuddy, »und da wir selbst mit den Tatsachen nicht vertraut sind, müßt ihr euch wohl oder übel darauf beschränken, uns Glauben zu schenken oder nicht. Aufgrund unserer Beschaffenheit besitzen wir keinen so engen Kontakt mit dem materiellen Universum wie ihr, doch anscheinend verfügen wir über eine begrenzte Kraft, um auf Raum und Zeit einzuwirken, eine Macht, die weder Bestandteil des materiellen Universums ist noch ganz außerhalb des Universums.«

»Halt, einen Moment bitte«, sagte ich. »Wovon redest du ... ?«

»Glaubt mir«, sagte O'Gillicuddy, »unsere physischen Kräfte existieren schon längst nicht mehr. Wir können euch nicht auf andere Weise helfen, aber ...«

»Ihr habt vor«, meinte Cynthia, »uns durch die Zeit zu bewegen?«

»Nur um eine geringfügige Zeitspanne«, sagte O'Gillicuddy. »Um einen winzigen Sekundenbruchteil. Nicht mehr als bloß fort aus der Gegenwart. Doch das würde schon genügen.«

»So etwas ist noch nie versucht worden«, wandte Cynthia ein. »Jahrhundertelang hat man diesbezügliche Forschungen und Studien betrieben, aber alle sind ergebnislos geblieben.«

»Habt ihr es schon einmal gemacht?« erkundigte ich mich.

»Nein«, entgegnete O'Gillicuddy. »Aber wir haben viel darüber nachgedacht und Spekulationen angestellt, und wir sind ziemlich sicher ...«

»Aber nicht absolut sicher?«

»Du hast recht«, bestätigte O'Gillicuddy. »Nicht ganz sicher.«

»Und falls es gelänge«, fragte ich, »wie kämen wir zurück? Ich habe keine Lust, für den Rest meines Lebens um einen Sekundenbruchteil hinter dem gesamten Universum zurückzubleiben.«

»Auch daran haben wir gedacht«, erklärte das Gespenst erheitert. »Wir errichten am Zugang dieser Felsspalte ein Zeittor, das ihr beidseitig durchschreiten könnt...«

»Aber darin seid ihr euch auch nicht sicher?«

»Nun, jedenfalls ziemlich sicher«, antwortete O'Gillicuddy.

Ich hielt das Angebot keineswegs für allzu vielversprechend, und obendrein besaßen wir keine Gewißheit, daß alles der Wahrheit entsprach. Möglicherweise wollten O'Gillicuddy und seine Gespensterhorde uns lediglich dazu überreden, die Versuchskaninchen für irgendwelche von ihnen ausgebrütete Experimente zu spielen. Und wie konnten wir - die Frage stellte sich unvermeidlich - überhaupt sicher sein, uns unter Gespenstern zu befinden? Zuvor hatten wir sie gesehen, in der Ansiedlung, als sie beim Volkstanz erschienen - oder hatten geglaubt, sie zu sehen. Doch im Moment konnten wir uns nur auf die Worte des Volkszählers stützen und auf diese Stimme, die - so schien es - O'Gillicuddy gehörte.

Aber vernahmen wir wirklich O'Gillicuddys Stimme? Oder handelte es sich bloß um Einbildung, um eine Wahnvorstellung, wie vielleicht auch die Gespenstergestalten beim Tanz reiner Wahn gewesen waren, oder jene, die wir in der Höhle zu sehen geglaubt hatten, als sie sich erstmals an uns zu wenden schienen? Cynthia hörte die Stimme so gut wie ich; auf jeden Fall benahm sie sich so. Womöglich bildete ich mir bloß ein, sie würde die Stimme ebenfalls hören. Die Situation war teuflisch, denn sie zwang dazu, nicht bloß die Realität der Umgebung in Frage zu stellen, sondern auch die eigene.

»Cynthia«, fragte ich, »hörst du wirklich diese ...?«

Das Feuer explodierte. Glut, Asche und schwelendes Holz flogen durch die Felsspalte und uns um die Ohren. Draußen ertönte ein dumpfer Knall, dem ein zweiter folgte, und etwas klatschte hinter uns an die Felswand.

Wir sprangen auf die Füße, alle drei, und im gleichen Augenblick begann es zwischen den Felsen zu brodeln. Irgend etwas - was, das wußte ich nicht - wie eine Flutwelle überrollte uns, aber natürlich war es kein Wasser. Es rollte und wirbelte mit ungeheurer Gewalt zwischen den Felswänden.

Dann, ehe wir überhaupt eine Bewegung machen konnten, war es wieder fort. Das Brodeln und Wirbeln, was auch immer es gewesen sein mochte, hatte uns weder erfaßt noch überhaupt körperlich berührt, denn wir standen unverändert, ganz und gar unbeeinträchtigt; das heißt, wir beide standen dort.

Doch das Feuer und der Wolf waren nicht länger vorhanden. Keine Spur von ihnen war zu entdecken. Und statt Nacht war es draußen, außerhalb unseres Unterschlupfs, heller Tag. Ins Tal ergoß sich gleißender Sonnenschein.

18

Das Tal war verändert. Man vermochte es nicht auf den ersten Blick festzustellen, nicht zu sagen, dies ist nicht wie zuvor und das ist anders. Aber der Gesamteindruck unterschied sich vom vorherigen, und während wir unterm Zugang der Felsspalte standen, fielen die Unterschiede uns allmählich auf.

Die Bäume waren kleiner, und es waren weniger. Auch war es nicht Herbst, denn sie waren alle grün. Das Gras wirkte ebenfalls anders, nicht so saftig, nicht so tiefgrün, sondern eher gelblich.

»Sie haben es getan«, flüsterte Cynthia. »Sie haben es ohne unser Einverständnis getan.«

Ich stand reglos und überlegte, ob alles bloß ein Hirngespinst sein konnte, so wie alles, was mit O'Gillicuddy zusammenhing. Ich hoffte es sogar, denn wenn das eine ein Hirngespinst war, mußte es sich beim ändern auch um eins handeln.

»Aber er hat doch von einem Sekundenbruchteil gesprochen«, sagte Cynthia, »und daß er ausreiche. Nur eine winzige Zeitspanne, um uns vor der Gegenwart zu schützen. Die Zeit, die man zu einem Wimpernzucken braucht, hätte genügt.«

»Sie haben uns hereingelegt«, sagte ich. »Sie haben uns ganz hinterhältig hereingelegt.«

Ich wußte nun, daß ich nicht fantasierte. Man hatte uns durch die Zeit gestürzt, und zwar um einen wesentlich größeren Zeitraum als bloß einen Sekundenbruchteil, entgegen O'Gillicuddys Zusicherung.

»Sie hatten es noch nie gemacht«, ergänzte ich, »und waren sich noch nicht einmal dessen sicher, ob es überhaupt gelingen würde. Dies war ihr erstes Experiment, und diese elenden Narren haben es verdorben.«

Wir traten ins Tal, ins grelle Sonnenlicht hinaus, und ich warf einen Blick empor zur Höhe des Felsen. Da wuchsen keine Zedern.

Ich empfand Zorn. Es gab keine Möglichkeit, um zu ermitteln, wie weit man uns zurück in die Vergangenheit geschleudert hatte, mindestens jedoch bis in die Zeit, als die Zedern noch nicht ihre Wurzeln ins Gestein gegraben hatten. Und wenn ich mich recht entsann, brauchten Zedern sehr viel Zeit zum Wachsen. Einige jener Zedern mußten seit Jahrhunderten dort gestanden haben.

Wieder das gleiche, dachte ich. Zuvor, in unserer Gegenwart, waren wir räumlich in die Irre gegangen, und nun war uns das gleiche in der Zeit widerfahren. Und die Rückkehr war ungewiß. O'Gillicuddy hatte von einem Zeittor gesprochen, aber falls er davon soviel verstand wie vom Verschieben von Materie in der Zeit konnten wir darauf so gut wie keine Hoffnung setzen.

»Wir befinden uns ziemlich weit in der Vergangenheit, nicht wahr?« fragte Cynthia.

»Du hast verdammt recht«, sagte ich. »Das sind wir. Wie weit, das weiß Gott allein. Denn ich bezweifle, ob unsere klugen Gespenster selbst es wissen.«

»Draußen waren die Grabräuber, Fletch.«

»Natürlich, das waren sie«, erwiderte ich, »aber der Wolf hätte keine drei Sekunden gebraucht, um sie zu vertreiben. Es war wirklich nicht notwendig, uns in die Vergangenheit zu schicken. O'Gillicuddy hat durchgedreht.«

»Der Wolf ist in der Gegenwart geblieben«, konstatierte Cynthia. »Armer Kerl. Sie konnten ihn nicht mitschicken. Wer wird uns jetzt Hasen fangen?«

»Wir fangen sie selber«, antwortete ich.

»Ohne den Wolf fühle ich mich so verlassen«, gestand sie. »Ich habe nicht lange gebraucht, um mich an ihn zu gewöhnen.«

»Es ging eben nicht«, sagte ich. »Er war nur ein Roboter ...«

»Ein mutierter Roboter«, meinte sie.

»Was für ein Unsinn! Roboter mutieren nicht.«

»Vielleicht doch«, sagte sie hartnäckig. »Mit ihm könnte es der Fall sein. Der Wolf hat sich verändert. Warum?«

»Elmer hat die drei das Fürchten gelehrt, und nachdem er zwei zerstört hatte, ist dieser Wolf zum Sieger übergelaufen.«

»Nein, so kann es nicht gewesen sein. Gewiß, er wird sich gefürchtet haben, das konnte ihn unmöglich so grundlegend verändern. Weißt du, was ich glaube, Fletch?«

»Keine Ahnung.«

»Er hat sich entwickelt. Roboter können sich fortentwickeln.«

»Vielleicht«, meinte ich ohne die geringste Überzeugung, aber ich mußte etwas sagen, um ihren Redefluß einzudämmen. »Am besten erkunden wir die Gegend, um herauszufinden, wo wir sind.«

»Und wann wir sind.«

»Das auch«, erwiderte ich. »Falls es uns gelingt.«

Langsam und vorsichtig stiegen wir hinab ins Tal. Selbstverständlich hatten wir es nicht länger eilig; hier verfolgte uns niemand. Doch das war nicht der einzige Grund. Nach meiner Auffassung gab der Widerwille gegen den unfreiwilligen Aufenthalt in dieser Welt der Vergangenheit den Ausschlag für unser Zögern und unsere Unsicherheit, die Angst vor den Dingen, die es in dieser Welt geben mochte, unsere Unkenntnis dessen, was uns erwartete, das Bewußtsein, sich in einer unbekannten, fremden Zeit aufzuhalten und das Wissen darum, daß wir eigentlich gar nicht dort sein dürften. Irgendwie war diese Welt grundsätzlich anders. Nicht bloß, weil es dem Gras am saftigen Grün mangelte oder die Bäume kleiner waren; aber es drängte sich unweigerlich das Gefühl einer seltsamen Andersartigkeit auf, einer Unterschiedlichkeit, das wahrscheinlich keine physischen Ursachen hatte, sondern rein psychologischer Natur war.

Wir schritten ohne Ziel und ohne feste Absichten hinab ins Tal, das sich langsam verbreiterte. Voraus erhoben sich Berge blau gegen den Himmel. Wir erspähten, daß das Tal, dessen Verlauf wir folgten, in ein anderes mündete, und nach ungefähr einer Meile kamen wir an einen Fluß, in den der Bach, den wir bereits kannten, sein Wasser verströmte. Der Fluß war breit und besaß eine reißende Strömung. Das Wasser war dunkel und irgendwie ölig schwer. Es schoß mit leisem Grollen dahin. Er wirkte furchteinflößend, dieser Fluß.

»Dort drüben ist etwas«, sagte Cynthia.

Ich blickte in die Richtung, wohin sie zeigte.

»Es sieht aus wie ein Haus«, fügte sie hinzu.

»Ich sehe kein Haus.«

»Eben habe ich das Dach gesehen. Jedenfalls etwas Ähnliches. Es muß zwischen den Bäumen liegen.«

»Gehen wir hin«, sagte ich.

Bevor das Haus richtig in unser Blickfeld kam, erreichten wir ein kleines Feld, einen schmalen Streifen dürren Getreides, kaum kniehoch, unregelmäßig angelegt und von Unkraut durchwuchert. Es hatte keinen Zaun. Von Bäumen gesäumt, erstreckte es sich über eine kleine Terrasse unmittelbar am Fluß. Wir sahen eine Anzahl von Baumstümpfen. An der einen Seite des Felds lagen Baumstämme recht achtlos aufgeschichtet. Anscheinend hatte man hier kürzlich abgeholzt, um das Feld zu erweitern.

Das Haus lag hinter dem Feld auf einer kleinen Anhöhe, nur wenig höher als das Feld gelegen. Schon aus einigem Abstand wirkte es reichlich baufällig, und dieser Eindruck verstärkte sich, während wir uns näherten. Daneben lag ein fast völlig von Unkraut überwucherter Garten. Dahinter stand ein zweites Bauwerk, wahrscheinlich eine Scheune. Tiere waren nicht zu sehen. Es befand sich überhaupt kein Lebewesen weit und breit. Der Ort vermittelte ein sonderbares Gefühl, als sei vor kurzem jemand hier gewesen und inzwischen fortgegangen. Vor dem Haus, neben der offenen Tür, stand eine Bank, die durchhing, daneben ein Stuhl, dem man die Beine abgesägt hatte, doch die hinteren kürzer als die vorderen, so daß er umkippen mußte, sobald jemand darauf Platz nahm. Im Hof lag ein verbeulter Eimer; eine Länge von einem Baumstamm, die aufrecht stand, diente offenbar als Hackklotz, denn die Oberseite war von zahllosen Axthieben eingekerbt und zerfurcht. An der Hauswand hing an Nägeln eine große Zweimannsäge. Darunter lehnte eine Hacke.

Wir bemerkten den Geruch, als wir den Hackklotz erreichten - einen süßlichen, unheilvollen Geruch, den der Wind, als er drehte, uns zutrug. Wir traten einen Schritt zurück; der Geruch wurde schwächer. Dann ließ er sich nicht länger wahrnehmen, aber wir hatten das Gefühl, als sei etwas davon an uns haften geblieben, als er uns streifte; es schien, als habe er uns regelrecht verseucht.

»Im Haus«, sagte Cynthia. »Etwas ist darin.«

Ich nickte. Eine schreckliche Ahnung beschlich mich.

»Du bleibst hier«, sagte ich.

Diesmal stritt sie nicht mit mir. Sie war froh, draußen warten zu können.

Für eine Weile herrschte Windstille, und ich war schon fast an der Tür, als ich den Gestank wieder roch. Als ich weiterging, prallte ich beinahe zurück. Der Gestank war überwältigend. Ich legte eine Hand über Nase und Mund und trat durch die Tür.

Im Innern war es dunkel, und ich verharrte für einen Augenblick. Ich würgte und rang mit der Übelkeit. Meine Knie bebten; der Gestank drohte mich meiner Kräfte zu berauben. Doch ich kehrte nicht um - ich mußte Gewißheit haben. Ich hatte eine Vermutung, aber ich wollte Gewißheit; ich empfand, daß das armselige Geschöpf, das irgendwo in dem dunklen Raum lag, ein Recht darauf hatte, daß sich ein Mitmensch nicht von ihm abwandte, selbst unter den gegebenen Umständen.

Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Ich sah eine primitive Feuerstelle, aus unbehauenen Steinen errichtet; rechts davon stand ein roher, schiefer Tisch mit zwei Pfannen und einer Kasserolle darauf. In der Mitte des Raums lag ein umgekippter Stuhl; in einer Ecke war eine Menge Abfall und Gerumpel angehäuft. An einer Wand erkannte ich die dunklen Umrisse aufgehängter Kleidungsstücke. Und ich sah ein Bett.

Auf dem Bett lag etwas.

Ich zwang mich vorwärts, bis ich es erkennen konnte. Es war schwarz und verquollen, und zwei Augäpfel starten mich aus dem Schwarz an. Doch irgend etwas stimmte nicht, etwas war fürchterlich anders, fürchterlicher als der grauenhafte Gestank, schlimmer noch als das schwarz geschwollene Fleisch.

Auf dem Kissen ruhten nicht einer, sondern zwei Köpfe.

Ich nahm alle Selbstbeherrschung zusammen und beugte mich vor, um mich zu vergewissern, ob ich wirklich sah, was ich zu sehen glaubte, und stellte zweifelsfrei fest, daß beide Köpfe zu einem Körper gehörten, beide auf einem Hals saßen.

Dann drehte ich mich mit einem Ruck um, krümmte mich zusammen und erbrach mich.

Während ich mich noch übergab, stolperte ich zur Tür, aber im Augenwinkel bemerkte ich den schiefen Tisch mit den beiden Pfannen und der Kasserolle darauf. Ich packte alle drei Gegenstände und warf den Tisch mit einem Fußtritt um. Dann torkelte ich zur Tür hinaus, die beiden Pfannen in der einen, die Kasserolle in der anderen Hand. Ein Stück weit über den Hof kam ich noch, aber plötzlich gaben meine Knie nach, und ich prallte schwer aufs Erdreich. Ich hob eine Hand und wischte mir übers Gesicht. Danach fühlte ich mich unverändert schmutzig. Ich fühlte mich bis tief ins Innerste beschmutzt.

»Woher hast du die Pfannen?« fragte Cynthia. Was für eine blödsinnige Frage! Was glaubte sie wohl, woher ich sie hatte?!

»Kann man sie hier irgendwo abwaschen?« erkundigte ich mich. »Siehst du eine Pumpe oder so etwas?«

»Dort unten, hinter dem Garten, fließt ein Rinnsal. Wahrscheinlich ist eine Quelle in der Nähe.«

Ich blieb sitzen. Mit einer Hand wischte ich mir übers Kinn, und als ich sie senkte, klebte Erbrochenes daran. Ich reinigte sie im Gras.

»Fletch?«

»Ja?«

»Ist im Haus ein Toter?«

»Seit Tagen tot«, sagte ich. »Schon lange tot.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Was meinst du damit: Was machen wir jetzt?«

»Ich meine, sollen wir ihn begraben oder so etwas?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht hier. Nicht jetzt. Was machte es für einen Unterschied? Sicher hat er es ohnehin nicht erwartet.«

»Was ist mit ihm geschehen? Konntest du feststellen, woran er gestorben ist?«

»Nein«, antwortete ich.

Sie beobachtete mich, während ich mich unsicher aufraffte.

»Komm, laß uns das Geschirr waschen«, schlug ich vor. »Außerdem möchte ich mein Gesicht säubern. Dann nehmen wir aus dem Garten Gemüse ... «

»Irgend etwas stimmt doch da nicht«, sagte sie lauernd. »Es ist nicht bloß ein Toter.«

»Du hast gesagt, wir müßten herausfinden, wann wir sind. Ich glaube, ich habe es herausgefunden.«

»Du meinst, der Tote ...?«

»Er war ein Monster«, unterbrach ich. »Ein Mutant. Ein Mann mit zwei Köpfen. Ein zweiköpfiger Mann.«

»Dennoch begreife ich nicht ...«

»Das bedeutet, daß wir uns Jahrtausende in der Vergangenheit befinden. Wir hätten es uns ausrechnen sollen. Weniger Bäume, gelbes, kränkliches Gras. Die Erde erholt sich gerade erst vom Krieg. Ein Mutant wie dieser zweiköpfige Mann besaß keine Überlebensaussicht. In der Zeit nach dem Krieg muß es viele solche Geschöpfe gegeben haben, viele Mutanten. Tausend Jahre später dürften sie alle verschwunden sein. Und doch liegt einer dort im Haus.«

»Bestimmt irrst du dich, Fletch.«

»Ich hoffe, daß ich mich irre«, erwiderte ich. »Aber ich bin nahezu davon überzeugt, daß ich recht habe.«

Ich weiß nicht, ob ich rein zufällig hinüber zu der bedrohlichen hohen Bergkette blickte oder ob eine auffällige Bewegung meine Aufmerksamkeit erregte, aber ich schaute dorthin, und sah etwas huschen, als liefe dort jemand; nun, es lief nicht buchstäblich, denn ich erspähte keine Beine, aber etwas huschte dort oben entlang, ein kegelförmiges Ding, und zwar sehr schnell. Ich erblickte es nur für einen Moment, dann war es außer Sicht. Doch ich konnte mich unmöglich getäuscht haben. Ich wußte, daß ich mich nicht getäuscht hatte.

»Hast du das auch gesehen, Cynthia?«

»Nein«, entgegnete sie. »Ich habe nichts gesehen. Was hätte ich sehen sollen?«

»Den Volkszähler.«

»Ausgeschlossen«, sagte sie. »Auf jeden Fall, wenn wir uns in so ferner Vergangenheit befinden wie du annimmst. Es sei denn ...«

»Genau«, meinte ich. »Es sei denn ...«

»Denkst du das gleiche wie ich?«

»Das würde mich nicht überraschen. Der Volkszähler könnte dein Unsterblicher sein.«

»Aber das Memorandum erwähnt den Ohio.«

»Das weiß ich. Aber überlege einmal. Dein Vorfahr, als er den Text niederlegte, war ein steinalter Mann. Er vertraute seinem Gedächtnis, aber das Gedächtnis ist trügerisch. Vielleicht hatte er bei irgendeiner Gelegenheit einmal etwas vom Ohio gehört. Möglicherweise hatte sein Großvater wirklich den Namen genannt. Doch womöglich meinte er gar nicht den Fluß, sondern die Gegend, durch welche dieser Fluß fließt. Der Vorfall muß sich keineswegs am Fluß namens Ohio abgespielt haben. Nach so vielen Jahren könnte dein Vorfahr allerdings leicht zu der irrigen Auffassung gelangt sein, es sei dort gewesen.«

Erregt sog sie den Atem ein. »Alles paßt«, sagte sie. »Alles paßt zusammen. Hier ist ein Fluß. Dort sind Berge. Genau hier könnte es geschehen sein.«

»Falls es nicht am Ohio war«, argumentierte ich ungerührt weiter, »falls er den Namen mißverstanden hatte, kommen tausende solcher Stellen in Frage. Ein Fluß und ein paar Berge. Keine sonderlich nützliche Beschreibung, oder?«

»Aber es heißt doch, sein Großvater sei einem Menschen begegnet. Einem Mann.«

»Er soll wie ein Mensch ausgesehen haben, wie ein Mann, ja, aber der Großvater spürte, daß es sich nicht um einen Menschen handelte. Er spürte das Fremde, das Nichtmenschliche. Jenes Wesen, dessen Nichtmenschlichkeit er zunächst bemerkt hatte, kann ihm später, in der Erinnerung, durchaus als menschlich erschienen sein.«

»Hältst du das für möglich?«

»Ich nehme es an«, sagte ich.

»Falls das eben der Volkszähler war, warum sollte er sich vor uns verbergen? Er muß uns doch erkannt - nein, das stimmt nicht.

Natürlich könnte er uns nicht kennen. Wir sind ihm noch nicht bekannt. Bis dahin verstreichen noch Jahrhunderte. Glaubst du, wir würden ihn finden?«

»Wir können es versuchen«, meinte ich.

Langsam erstiegen wir den Hang. Die Pfannen vergaßen wir. Vergessen waren das Gemüse, der Garten. Der Hang war steil und unwegsam. Wir mußten dichten Wald und Gesträuch durchqueren. Mächtige Felsbrocken versperrten uns den Weg. Wir konnten sie nicht überklettern, sondern muß-ten sie umgehen. Stellenweise war der Hang so steil, daß wir uns an Ästen und Sträuchern emporziehen mußten. Manchmal krochen wir auf Händen und Knien.

Unterwegs, während wir kletterten, stellte sich mir aus der Ferne, aus dem hintersten Winkel meines Bewußtseins die Frage, wieso wir es eigentlich so eilig hatten, was denn so dringlich sei, daß wir nun ohne Atempause den Hügel erklommen. Falls droben tatsächlich das Haus des Unsterblichen stand, hätten wir uns Zeit lassen können. Es würde wohl kaum verschwinden, bevor wir den Gipfel erreichten. Stand es nicht dort, war die Mühe sowieso vergeblich. Und war es wirklich der Volkszähler, den wir suchten, konnte er bereits unauffindbar versteckt oder weit fort sein.

Aber wir kletterten weiter, setzten die Strapaze fort; endlich wuchsen Bäume und Büsche spärlicher, und dann betraten wir die kahle Bergkuppe. Mitten darauf stand ein Haus - ein vom Wetter gezeichnetes Haus, dem man sein Alter ansah, aber in keiner Weise vergleichbar mit jenem, worin wir den Toten gefunden hatten. Ein sauberer, erst kürzlich weiß gestrichener Lattenzaun schloß es ein. Neben der Haustür erhob sich ein Baum, der in rosafarbener Pracht blühte, und am Zaun entlang wanden sich Rosen.

Wir sanken erschöpft zu Boden und keuchten. Wir hatten gewonnen. Das Haus war vorhanden.

Als wir durchs Gartentor traten, erblickten wir unter der Tür einen Mann, der uns erwartete.

»Ich fürchtete schon«, sagte er, »Sie hätten es sich anders überlegt und wollten doch nicht kommen.«

»Das tut uns leid«, versicherte Cynthia. »Wir sind aufgehalten worden.«

»Das ist nicht schlimm«, antwortete der Mann. »Das Essen steht erst seit wenigen Minuten auf dem Tisch.«

Er war hochgewachsen, hager und gekleidet in eine dunkle Hose und eine hellere Jacke. Sein Hemd war weiß, der Kragen nicht zugeknöpft. Sein Gesicht war tiefbraun, das Haar schlohweiß, und er besaß einen angegrauten Schnurrbart, gepflegt und sorgsam gestutzt.

Alle drei gingen wir ins Haus. Der Raum, den wir betraten, war klein, aber außerordentlich liebevoll eingerichtet. An einer Wand stand ein Side-board mit einem Krug darauf. In der Mitte stand ein Tisch mit einem weißen Tischtuch, gedeckt mit Silber und funkelndem Kristallglas. An den Wänden hingen Gemälde, und den Boden bedeckte ein knöcheltief flauschiger Teppich.

»Bitte, Miß Lansing, setzen Sie sich dorthin«, bat unser Gastgeber. »Und Mr. Carson gegenüber. Nun können wir anfangen. Sicherlich ist die Suppe noch heiß.«

Außer uns dreien war niemand anwesend. Wahrscheinlich hatte jemand anderes, als unser Gastgeber die Mahlzeit vorbereitet, so nahm ich an, aber ich entdeckte keinen Hinweis auf eine weitere Person, ebensowenig einen auf eine Küche. Doch ich beschäftigte mich nur flüchtig damit, und der Gedanke verflog so rasch wie er gekommen war. Er zählte zu jener Art von Gedanken, die hier, in diesem Raum, bei diesem Mahl, unangebracht zu sein schienen.

Die Suppe war ausgezeichnet, der Salat saftig und grün, die Steaks waren hervorragend zubereitet, und der Wein war eine Köstlichkeit.

»Vielleicht interessiert es Sie«, begann unser liebenswürdiger Gastgeber, »zu erfahren, daß ich die Möglichkeiten, die sich aus Ihren Gedanken ergeben, welche sie gewiß nicht leichtfertig bei unserer letzten Begegnung äußerten, eingehenden Erwägungen unterzogen habe. Ich fände es höchst verblüffend und überdies erfreulich, könnte man nicht bloß die eigenen Erfahrungen, sondern auch die Erfahrungen anderer Menschen speichern. Stellen Sie sich die Werte vor, mit denen wir unsere einsamen Jahre des Alters bereichern könnten, wenn die alten Freunde nicht mehr sind und die Gelegenheit, neue Erfahrungen zu sammeln, sich vermindert haben. Dann brauchten wir nur eins zu tun - in ein Regal greifen und eine Konserve, oder wie man es nennen will, herausholen, sagen wir, eine hundertjährige, sie öffnen, und schon erfreuen wir uns an den vergangenen Erlebnissen noch einmal, erleben sie so deutlich und frisch wieder, wie beim ersten Mal.«

Ich hörte ihm zu und war überrascht, allerdings keineswegs so überrascht, wie ich es wahrscheinlich hätte sein sollen. Mir war ungefähr so zumute wie jemandem, der einen fantastischen Traum hat und weiß, daß er träumt, daß alles nur ein Hirngespinst außerhalb seines Einflusses ist.

»Ich habe mir auszumalen versucht«, sprach unser Gastgeber weiter, »mit welchen Inhalten man eine solche Konserve wohl füllen wird. Neben dem eigentlichen Erlebnis, sozusagen dem Kern, würde man sicherlich auch gerne die Nebensächlichkeiten festhalten, den Hintergrund - Geräusche, das Gefühl von Sonne und Wind, die Wolke am Himmel, die Farben und Gerüche. Eine Konserve müßte so perfekt wie möglich sein, um das gewünschte Resultat zu erzielen. Sie müßte all jene Elemente umfassen, welche für die Wiederholung eines längst vergangenen Ereignisses von Bedeutung sein könnten. Sind Sie nicht auch dieser Meinung, Mr. Carson?«

»Ja«, bestätigte ich, »das finde ich auch.«

»Ich habe ebenso daran gerätselt«, fuhr er zu reden fort, »nach welchen Gesichtspunkten man die Erfahrungen auswählen sollte, die man speichert. Wäre es weise, nur die schönen und angenehmen auszulesen, oder sollte man ein wenig Unangenehmes hineinmischen? Vielleicht wäre es gut, einige Erfahrungen zu konservieren, die geeignet sind, die Fähigkeit zum Empfinden von Ehrfurcht zu erhalten.«

»Ich glaube«, sagte Cynthia, »man sollte ein breites Spektrum zusammenstellen, jedoch dafür sorgen, daß die erfreulichen Dinge überwiegen. Falls später kein Bedürfnis bestünde, die weniger erfreulichen Erlebnisse zu wiederholen, könnten sie unangetastet im Regal bleiben.«

»So habe ich es mir auch gedacht«, erklärte unser Gastgeber.

Alles war sehr nett, gemütlich und äußerst kultiviert. Selbst wenn es keine Wirklichkeit war, man glaubte gerne daran, es sei Wirklichkeit. Ich ertappte mich dabei, daß ich den Atem anhielt, als könne ich die Illusion durchs Atemholen zerstören.

»Es gibt einen weiteren Aspekt, den man berücksichtigen muß«, ergänzte er. »Verfügt man über die erwähnte Möglichkeit, soll man sich dann darauf beschränken, Erfahrungen aus dem tatsächlichen Leben zu konservieren, oder soll man so weit gehen, modellhafte Erfahrungen zu konstruieren, von denen man Grund zur Annahme hat, sie könnten später von Nutzen sein?«

»Ich hielte es für am besten«, sagte ich, »Erfahrungen ganz unbefangen und ohne besondere Spitzfindigkeit zu konservieren. Auf diese Weise wäre man am ehrlichsten mit sich.«

»Obendrein habe ich mich darin vertieft, über eine Welt zu spekulieren, worin niemand erwachsen wird«, erzählte er. »Zugegeben, meine Überlegungen sind ein wenig akrobatisch und sprunghaft. In einer Welt, in der man Erfahrungen zu konservieren in der Lage ist, würde man vergangene Erlebnisse später lediglich wiedererleben können. Aber in einer Welt ewiger Jugend besäße man keinen Bedarf an solchen Konserven. Jeder Tag brächte wie in der Welt der Kinder neue Entdeckungen, und das Staunen würde immer währen. Der Tod wäre unbekannt, ebenso alle Ängste vor der Zukunft. Das Leben dauerte ewig und erführe nicht die geringste Veränderung. Das Individuum würde in einer ewigen Matrix existieren, ohne Unterschiede zwischen dem einen Tag und dem nächsten, doch niemand würde es bemerken, so daß sich niemand langweilte. Aber ich glaube, wir verweilen nun schon zu lange bei diesem Thema. Ich habe hier etwas, das ich Ihnen zeigen möchte. Eine Neuerwerbung.«

Er erhob sich und trat ans Sideboard. Dort nahm er den Krug, kam damit zurück zum Tisch und reichte ihn Cynthia.

»Eine Hydria«, sagte er. »Ein Wasserkrug. Athen, sechstes Jahrhundert vor der Zeitrechnung. Ein wunderschönes Zeugnis der Schwarzfigurenarbeit. Der Töpfer hat den Krug aus einer Mischung von rotem und gelbem Lehm geformt. Dann füllte er die Gravuren mit leuchtendem Schwarz aus.

Wenn Sie die Unterseite näher betrachten, werden Sie das Zeichen des Töpfers erkennen.«

Cynthia drehte den Krug um. »Hier ist es«, bestätigte sie.

»Das heißt: >Nikosthenes hat mich gemacht««, bemerkte unser Gastgeber.

Cynthia reichte mir den Krug über den Tisch. Er war schwerer als ich erwartet hatte. Ringsum war er graviert, und die Gravuren waren mit schwarzem Füllmaterial ausgelegt. Eine stellte einen erschlagenen Krieger dar, der rücklings am Boden lag, seinen Schild noch über dem Arm und den Speer, dessen Spitze aufwärts wies, noch umklammert. Ich drehte den Krug und betrachtete die andere Figur, einen zweiten Krieger, der sich entmutigt auf seinen Schild stützte. Den gebrochenen Speer hielt er gesenkt. Seine Müdigkeit und seine Bedrücktheit kamen deutlich zum Ausdruck; Erschöpfung und Niederlage waren in alle Konturen eingearbeitet.

»Aus Athen, sagen Sie?«

Er nickte. »Ein wahrhaft glücklicher Fund. Der Krug ist ein hervorragendes Zeugnis der höchsten griechischen Töpferkunst jener Epoche. Sie bemerken sicherlich, daß die Figuren stilisiert sind. Die Töpfer jener Zeit dachten nicht an realistische Darstellungen. Ihnen galt das Ornament mehr als die Wirklichkeitstreue.«

Er nahm den Krug von mir entgegen und stellte ihn zurück aufs Side-board.

»Ich fürchte«, sagte Cynthia, »wir müssen gehen. Es wird langsam spät. Das Essen war wundervoll.«

Bisher war alles schon sehr seltsam gewesen, wiewohl durchaus behaglich, doch nun verstärkte sich das Gefühl der Fremdartigkeit, die Wirklichkeit begann sich zu trüben. Was dann noch geschah, bis wir zur Tür und zum Gartentor hinaus waren, weiß ich nicht.

Dann kehrte die Bewußtseinsklarheit zurück, und ich fuhr auf dem Absatz herum. Das Haus stand noch dort, aber nun sah man ihm Witterungseinflüsse an, die es stark in Mitleidenschaft gezogen hatten. Die halb offene Tür schwankte in den Angeln. Der Türbalken hing in der Mitte durch und vermittelte den Eindruck, als wanke das Haus. Mehrere Fensterscheiben waren zerbrochen. Kein Zaun und keine Rosen umgaben es, neben der Tür blühte kein Baum. »Wir sind wieder draußen«, sagte ich.

Cynthia atmete tief ein. »Es hat alles so echt gewirkt«, sagte sie.

Durch meinen Kopf hämmerte die Frage, warum er, wer es auch sein mochte, es getan hatte. Wozu ein so ausgeklügeltes Blendwerk? Warum hatte er uns nicht einfach in dies verlassene, vom Zahn der Zeit zernagte, offenbar seit Jahren unbewohnte Haus eingelassen, obschon es doch seinen Absichten ebenso gut gedient hätte? Wir hätten uns umgeschaut und wären unseres Wegs gegangen.

Cynthia folgte mir, als ich zurück zur Tür schritt und das Haus betrat. Das Innere war unverändert, abgesehen davon, daß die gemütliche, liebevolle Ausstattung fehlte. Keine Bilder hingen an den Wänden, kein Teppich bedeckte den Boden. Der Tisch stand in der Mitte, die Stühle stand noch so dort, wie wir sie verlassen hatten, als wir gingen, vom Tisch zurückgeschoben. Aber auf dem Tisch war nichts. Das Sideboard allerdings war noch vorhanden, und selbst der Krug stand noch darauf.

Ich durchquerte den Raum, nahm den Krug und trat damit unter die Tür, wo es heller war. Soviel ich erkennen konnte, war es derselbe, den unser Gastgeber uns gezeigt hatte.

»Verstehst du etwas von griechischen Keramiken?« fragte ich Cynthia.

»Ich weiß nur, daß es Schwarzfiguren- und Rotfigurenarbeiten gab. Schwarz gab es früher.«

Ich rieb mit dem Daumen über das Töpferzeichen.

Sie schüttelte den Kopf.

»Es stimmt, daß die Töpfer solche Zeichen anbrachten. Ich vermochte sie jedoch nie zu entziffern. Etwas allerdings finde ich merkwürdig. Der Krug sieht so neu aus, als wäre er erst vor kurzem aus dem Brennofen gekommen. Er trägt keine Spuren von Alter oder Abnutzung. Gewöhnlich entdeckt man solche Töpferware bei Ausgrabungen. Sie haben dann schon jahrhundertelang im Erdreich gelegen. Dieser Krug aber sieht aus, als sei das mit ihm nie der Fall gewesen.«

»Ich zweifle daran, daß er es jemals hat - im Erdreich gesteckt, meine ich. Der Anachronier dürfte ihn sich zur Zeit der Herstellung verschafft haben, als Muster der besten damaligen Arbeiten. Durch die Jahrhunderte hat er ihm anscheinend sehr sorgfältige Pflege angedeihen lassen.«

»Du glaubst, er ist es?«

»Wer sonst? Wer würde in einer so unruhigen, finsteren Zeit wie dieser einen solchen Krug so liebevoll hüten?«

»Aber er zeigt sich in so vielen Gestalten«, sagte sie. »Er ist der Volkszähler und jener Mann, mit dem wir gegessen haben. Er ist auch der Mann, dem mein Urahn begegnete.«

»Ich vermute«, erwiderte ich, »er kann jede Gestalt annehmen, die ihm beliebt. Oder zumindest vermag er es vorzuspiegeln. Allerdings hege ich den Verdacht, daß der Volkszähler seine wahre Gestalt ist.«

»Falls du recht hast, liegt unter unseren Füßen der Schatz, tief in diesem Berg. Wir müßten nur den Zugang zum Schacht finden.«

»Ja, und wenn wir den Schatz gefunden haben«, meinte ich, »was machen wir dann? Sollen wir uns hineinsetzen und die Kostbarkeiten angaffen?

Sollen wir ein Stück nehmen und es betasten?«

»Immerhin kennen wir jetzt den Ort, wo er verborgen liegt.«

»Gewiß. Falls wir in unsere Zeit zurückkehren können, falls die Gespenster wissen, was sie tun, falls es wirklich ein Zeittor gibt und falls es eins ist, das uns nicht über unsere Zeit hinaus in die Zukunft befördert, dann ...«

»Meinst du das alles ernst?«

»Ich will mich so ausdrücken. Ich rechnete mit diesen Möglichkeiten.«

»Und wenn kein Zeittor vorhanden ist, Fletch? Wenn wir in dieser Zeit gefangen sind?«

»Wir werden alles versuchen. Irgendeinen Weg werden wir schon finden.«

Wir verließen das Haus und begannen den Abstieg über den Hang. Unter uns lagen der Fluß, das kleine Kornfeld, das Haus mit dem Unkrautgarten und dem Toten.

»Ich zweifle am Zeittor«, bekannte Cynthia. »Die Gespenster sind keine Wissenschaftler. Sie sind Stümper. Einen Sekundenbruchteil, haben sie uns versprochen, aber hierher haben sie uns geschickt.«

Unwillig knurrte ich. Wir hatten jetzt keine Zeit für Gerede. Aber sie blieb hartnäckig. Sie streckte eine Hand aus, um mich zurückzuhalten; ich wandte mich um.

»Fletch«, sagte sie, »wenn kein Zeittor existiert ... Du mußt mir antworten.«

»In dem Fall«, antwortete ich, »lassen wir uns dort unten im Haus nieder. Wir werden es säubern. Es ist bewohnbar, es gibt dort Werkzeug zum Arbeiten. Mit dem Korn als Saatgut können wir neue Felder anlegen. Wir werden fischen und jagen. Wir werden leben.«

»Und wirst du mich lieben, Fletch?«

»Ja«, sagte ich. »Ich werde dich lieben. Ich glaube, ich liebe dich schon jetzt.«

19

Während wir das Kornfeld passierten, überlegte ich, ob Cynthia recht haben konnte - nicht in der Beziehung, daß O'Gillicuddy und die anderen Gespenster lediglich unfähig wären, sondern weil sie für den Friedhof arbeiteten. Auf meine Frage hatte O'Gillicuddy ausdrücklich geantwortet, der Friedhof könne ihnen nichts anhaben, weshalb sie ihn nicht zu fürchten brauchten, und sie hätten nichts mit ihm zu schaffen. Vordergründig klang das überzeugend, aber konnten wir sicher sein, daß es sich um die Wahrheit handelt? Gab es überhaupt ein besseres Mittel, um uns loszuwerden als das, welches O'Gillicuddy und seine Kumpane angewendet hatten? Es war ein klarer Fall, saßen wir in einer anderen Zeit fest, aus der es kein Zurück gab, würde der Friedhof nie wieder Ärger mit uns haben.

Ich dachte an mein rosafarbenes Alden, Cynthias Heimat. Ich erinnerte mich an Thorney, wie er aufgeregt durch sein Arbeitszimmer schritt, von den verschollenen Anachroniern sprach und über wilde Schatzsucher schimpfte, die archäologische Fundstätten ausplünderten und damit die Archäologen der Möglichkeit beraubten, alte Kulturen zu studieren.

Und mit einem Gefühl der Bitterkeit gedachte ich meines schönen Plans, eine Komposition der Erde zu erstellen. Hauptsächlich aber, so glaube ich, dachte ich an Cynthia und ihren blödsinnigen Auftrag. Sie konnte sich von allen am wenigsten von diesem verrückten Abenteuer versprechen. Sie hatte ihre Karriere als Laufbursche für den guten alten Thorney begonnen - und nun sah man, was es ihr eingebracht hatte.

Falls kein Zeittor existierte, was konnten wir dann anderes tun als ich ihr vorgeschlagen hatte? Mir fiel nichts anderes ein; günstigstenfalls würde es ein ödes Leben werden, ein Leben, das weder für Cynthia eine Erfüllung bedeutete, noch für mich. Nichts vermochte den nächsten Winter aufzuhalten. Er würde nicht mehr lange auf sich warten lassen, und falls es kein Zeittor gab, stand uns nur eine kurze Frist zur Verfügung, um uns darauf vorzubereiten. Irgendwie würden wir bis zum Frühling durchhalten müssen, und bis dahin fänden wir vielleicht eine bessere Lösung.

Ich versuchte meine Gedanken von dieser Problematik abzuwenden, weil unsere Befürchtung sich bisher nicht bestätigt hatte, wir möglicherweise gar keinen Anlaß zu solchen Sorgen besaßen, doch wie sehr ich mich auch bemühte, meine Überlegungen kehrten immer wieder zu ihr zurück. Der schiere Schrecken dieser Aussicht schien mich in seinen Bann geschlagen zu haben.

Wir erreichten das Tal und folgten dem Fluß, bis wir wieder ins kleinere Tal gelangten, das zu der Felsspalte führte, worin wir uns auf der Flucht vor den Grabräubern verkrochen hatten. Wir schwiegen beide. Keiner von uns, so vermute ich, wagte zu sprechen.

Wir durchquerten das enge Tal, und als wir den letzten Hang umrundeten, sahen wir bereits die Felswände aufragen. Es war nicht mehr weit. Bald würden wir Gewißheit haben.

Als wir das Tal vollständig zu überblicken vermochten, blieben wir wie erstarrt stehen. Vor der Felswand standen zwei Kriegsmaschinen. Sie waren unübersehbar. Ich glaube, ich hätte ohnehin bald begriffen, was ich da sah, doch weil Elmer so oft von ihnen erzählt hatte, erkannte ich sie sofort.

Sie waren riesig. Schon ihre Panzerung bedingte ihre Riesenhaftigkeit. Mindestens dreißig Meter lang waren sie und ungefähr halb so breit. Ihre Höhe betrug wenigstens zehn Meter. Sie standen in ihrer ganzen Scheußlichkeit Seite an Seite, häßlich und kampfstark. Sie waren monströse Gebilde. Ihr bloßer Anblick ließ einen Menschen erschaudern.

Wir standen wie angewurzelt da und starrten sie an, und sie musterten uns. Man konnte ihre Blicke spüren.

Eine der Maschinen sprach uns an - oder jedenfalls kam aus ihrer Richtung eine Stimme, doch man konnte nicht feststellen, welche der beiden Maschinen sprach.

»Lauft nicht fort«, sagte sie. »Fürchtet euch nicht vor uns. Wir möchten mit euch reden.«

»Wir laufen nicht fort«, versprach ich. Es hätte auch, davon war ich überzeugt, wenig Sinn gehabt. Sie hätten uns innerhalb einer Minute gestellt. Dessen war ich mir sicher.

»Niemand will uns zuhören«, sagte die Maschine recht kläglich. »Alle fliehen vor uns. Wir möchten Freunde der Menschen sein, weil wir selbst menschlich sind. Wir irren umher ...«

»Wir werden euch zuhören«, versicherte Cynthia. »Worum geht es euch?«

»Dürfen wir uns vorstellen?« fragte die Maschine. »Ich bin Joe, und das dort ist Iwan.«

»Ich bin Cynthia«, sagte Cynthia. »Das ist Fletcher.«

»Warum lauft ihr nicht vor uns davon?«

»Weil wir uns nicht fürchten«, erwiderte Cynthia; dem Klang ihrer Stimme war indes zu entnehmen, daß sie sich sehr wohl fürchtete.

»Weil Fortlaufen wohl zwecklos wäre«, ergänzte ich.

»Wir sind zwei alte Veteranen«, begann Joe, »schon lange aus dem Krieg zurück und begierig darauf, beim Aufbau einer Welt des Friedens nach besten Kräften zu helfen. Wir sind weit herumgekommen, aber die wenigen Menschen, die wir trafen, waren an unserer Hilfe nicht interessiert. In der Tat haben wir den Eindruck, daß die Menschen eine starke Abneigung gegen uns empfinden.«

»Das ist verständlich«, antwortete ich. »Ihr oder euresgleichen, ihr habt ihnen während des Kriegs das Leben zur Hölle gemacht.«

»Wir haben das keineswegs«, sagte Joe. »Wir beide haben nie mutwillig einen Schuß abgefeuert. Keiner von uns. Der Krieg war längst vorüber, als wir zum Einsatz kamen.«

»Und wie lange ist das inzwischen her?«

»Ziemlich genau etwas über eintausendfünfhundert Jahre.« »Seid ihr euch dessen sicher?« fragte ich.

»Völlig«, entgegnete Joe. »Wir können es auf den Tag genau errechnen, wenn euch daran liegt.«

»Nicht nötig«, sagte ich. »Eintausendfünfhundert Jahre ist genau genug.«

Also hatte sich O'Gillicuddys sogenannter Sekundenbruchteil zu einem Zeitraum von mehr als achtzig Jahrhunderten ausgedehnt.

»Ich würde gerne wissen«, sagte Cynthia, »ob sich vielleicht einer von euch an einen Roboter namens Elmer erinnert ...«

»Elmer!«

»Ja, Elmer. Nach seinen Angaben hat er beim Bau der letzten Kriegsmaschinen mitgewirkt.«

»Woher kennt ihr Elmer? Wißt ihr, wo er ist?«

»Wir haben ihn kennengelernt«, sagte ich. »In der Zukunft.«

»Das ist ausgeschlossen«, antwortete Joe. »Man kann keine Leute in der Zukunft kennenlernen.«

»Es handelt sich um eine lange und verwickelte Geschichte«, erklärte ich. »Irgendwann werden wir sie euch erzählen.«

»Ihr müßt sie jetzt erzählen«, verlangte Joe. »Elmer ist ein alter Freund von mir. Er hat mich gewartet. Iwan nicht. Iwan ist von drüben, von der anderen Seite.«

Offensichtlich gab es keine Möglichkeit, um sich ihnen zu entziehen. Iwan hatte noch kein Wort gesprochen, aber Joe war anscheinend sehr redefreudig. Nun, da er endlich Gesprächspartner gefunden hatte, Menschen, die ihm zuzuhören bereit waren, ließ er sich nicht mehr zurückhalten.

»Es ist überflüssig, daß ihr draußen steht«, fügte Joe hinzu. »Warum kommt ihr nicht an Bord?«

An seiner Bugseite glitt eine Panzerplatte nach unten, und eine Hydraulik fuhr eine kurze Treppe aus. Durch die Öffnung erhielten wir Einblick in einen kleinen, beleuchteten Raum.

»Das ist eine Mechanikerschutzkammer«, erläuterte Joe. »Aufenthaltsund Schutzraum für die Mechaniker, wenn Reparaturen anfallen. Ich glaube jedoch, daß es dazu noch nie gekommen ist; daß man eine Kriegsmaschine repariert hat, meine ich. Mich hat man nie repariert, und viele andere auch nicht. Bei irgendwelchen Schäden sah es meistens sehr übel aus. Der Aufwand, den die Durchführung einer Reparatur erforderte, war sehr groß. Zu der Zeit, als wir zum Einsatz gelangten, gab es kaum noch Ersatzteile. Ich nehme an, daß nur wenige von uns jemals heimgekehrt sind. Auf jeden Fall war es üblich, erst gar nicht damit zu rechnen. Selbstverständlich vermögen wir uns in gewissem Umfang selber zu reparieren. Wir können uns gefechtsklar halten, aber schwere Schäden können wir selbständig nicht behe-ben. - Was ist mit euch? Kommt an Bord.«

»Ich glaube, uns kann nicht viel passieren«, meinte Cynthia.

Davon war ich weit weniger überzeugt als sie.

»Natürlich nicht«, dröhnte Joes Stimme. »Die Kammer ist recht gemütlich. Klein, aber behaglich. Falls ihr hungrig seid, kann ich euch sogar eine Mahlzeit zubereiten. Ich vermute, sie wird nicht besonders gut schmecken, doch dafür ist sie außerordentlich nahrhaft. Ein Schnellimbiß für unsere hypothetischen Mechaniker, falls sie bei der Arbeit einmal hungrig geworden wären. Mehr können wir nicht bieten.«

»Nein, vielen Dank«, sagte Cynthia. »Wir haben gerade ein Mittagessen eingenommen.«

Wir erklommen die Stufen und betraten die Maschine. In einer Ecke des Schutzraums stand ein Tisch; an den Wänden befanden sich übereinander zwei Polster sowie eine Bank. Wir setzten uns auf die Bank. Der Raum war so, wie Joe ihn geschildert hatte: klein, aber behaglich.

»Willkommen an Bord«, sagte Joe über Innenlautsprecher. »Ich freue mich sehr über unser Zusammentreffen.«

»Etwas interessiert mich, das du erwähnt hast«, meinte ich. »Iwan sei von drüben, hast du gesagt?«

»Ja, das ist er tatsächlich. Er ist Russe. Wahrscheinlich hast du bereits erraten, daß der Russe ein Feind war, denn so war es wirklich. Wie wir uns begegneten, das war das Ereignis unseres Lebens. Als ich ausgerüstet war und fertig für den Krieg, beladen mit Munition und versehen mit den modernsten Geräten, brach ich auf, um Kanada und Alaska zu durchqueren. An der Beringstraße mußte ich eine Strecke weit unter Wasser fahren, um Sibirien zu erreichen. Gelegentlich gab ich meine Position heimwärts durch, aber nicht oft, denn dabei bestand die Gefahr meiner Entdeckung. Selbstverständlich waren mir bestimmte Ziele zugeteilt, die ich alle erreichte, jedoch feststellen mußte, daß man sie bereits neutralisiert hatte. Kurz nach Erreichen des ersten Ziels konnte ich keine Verbindung mehr mit der Heimatbasis bekommen. Ich habe nie wieder mit ihr Kontakt erhalten. Ich war abgeschnitten. Zunächst nahm ich an, es läge lediglich eine vorübergehende Störung der Kommunikation vor, doch schließlich sah ich mich gezwungen, mich zu der Einsicht durchzuringen, daß es sich um etwas erheblich Einschneidenderes als bloß einen Zusammenbruch des Kommunikationssystems handelte. Ich war im Zweifel, ob man mein Land inzwischen endgültig in die Knie gezwungen oder ob man nur die wenigen militärischen Befehlszentren noch tiefer unter die Erdoberfläche verlegt hatte, aber was auch immer die Ursache für den Abbruch der Verbindung sein mochte, ich war fest entschlossen, meine Pflicht getreulich zu erfüllen. Ich war ein Patriot, ein Patriot reinsten Wassers. Versteht ihr, was ich damit meine?«

»Ich bin Historikerin«, teilte Cynthia ihm mit. »Ich begreife den Zusammenhang.«

»Daher fuhr ich weiter, getrieben von meinem engstirnigen Patriotismus. Ich fand alle mir zugeteilten Ziele bereits vernichtet vor. Aber das befriedigte mich nicht. Wie ein Jagdhund begann ich danach zu suchen, was man damals Gelegenheitsziele nannte. Ich horchte die Atmosphäre nach Signalen ab, die mir eine getarnte Basis verraten würden. Doch ich empfing keine Funkimpulse, weder feindliche noch unsrige. Ich fand auch keine Gelegenheitsziele. Bisweilen begegnete ich kleinen Gruppen von Menschen, die vor mir flohen oder sich versteckten. Ich kümmerte mich nicht um sie. Als Ziele besaßen sie keinerlei Bedeutung. Man setzte keine Nuklearwaffen ein, um ein paar hundert Menschen zu töten, schon gar nicht, wenn daraus keine ersichtlichen taktischen Vorteile resultieren. Ich fand nur Ruinenstädte, worin vielleicht noch winzige, erbarmungswürdige Häuflein von Menschen vegetierten. Ich fuhr durch verbranntes Land, riesige Krater, die viele Kilometer durchmaßen und aus glasiertem Gestein bestanden, dahin unter giftigen Wolken, durch Kilometer um Kilometer einst fruchtbarer Landstriche, nun nur noch kahle Wüsten, stellenweise ein paar abgestorbene Bäume darin oder solche, die noch dahinsiechten, doch nicht ein einziger Grashalm. Es ist unmöglich, alles so zu schildern, daß ihr es euch vorstellen könnt, wie es wirklich gewesen ist. Endlich machte ich kehrt und fuhr zurück in Richtung Heimat, aber langsam, denn ich hatte keinen Grund zur Eile mehr und viel nachzudenken. Mit meiner Reue und meinen Schuldgefühlen will ich euch nicht behelligen. Ich war kein Patriot mehr. Vom Patriotismus war ich geheilt.«

»Etwas begreife ich nicht«, sagte ich. »Mir ist bekannt, daß eine Kriegsmaschine auch mehrere menschliche Gehirne umfaßt. Vielleicht sogar viele. Und doch sprichst du von dir wie von nur einem Wesen.«

»Einst waren wir fünf«, erläuterte Joe. »Fünf Männer, die sich bereitgefunden hatten, ihre Körper und ihre Menschlichkeit buchstäblich aufzugeben, zu opfern, um eine Kriegsmaschine zu bemannen. Ein Mathematikprofessor war darunter, ein höchst bemerkenswerter Gelehrter; ein Astronom von beachtlichem Ruf; ein Soldat, ein General des Heeres; ferner ein ehemaliger Börsenmakler und - ein sehr atypischer Fall, könnte man sagen - ein Dichter.«

»Und du bist der Dichter?«

»Nein«, widersprach Joe. »Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich glaube, ich bestehe aus allen fünfen. Wir sind nicht länger psychisch getrennt. Auf seltsame Weise, die sich unserem eigenen Verständnis entzieht, sind wir zu einer einzigen Persönlichkeit verschmolzen. Manchmal bin ich verblüfft, mich als den einen oder anderen der fünf zu erkennen, doch handelt es sich bei diesem Gefühl des Wiedererkennens nicht um ein gegenseitig, ein einander erkennen, sondern eher um ein Selbsterkennen. Ich kann nacheinander jeder beliebige von uns sein, als seien wir austauschbar. Doch meistens bin ich nicht einer, sondern alle gemeinsam. Mit Iwan verhält es sich ebenso, allerdings gab es in seinem Fall nur vier Besatzungsmitglieder. Doch jetzt ist er gleichermaßen nur noch eine Persönlichkeit.«

»Wir lassen Iwan gar nicht an der Unterhaltung teilnehmen«, bemerkte Cynthia.

»So ist das nicht«, sagte Joe. »Er ist ein ungemein aufmerksamer Zuhörer. Falls er den Wunsch danach verspürt, kann er sich entweder durch mich oder selbst äußern. Möchtest du das, Iwan?«

»Du erzählst alles so gut, Joe«, vernahmen wir eine andere, dunklere Stimme. »Mach nur weiter.«

»Nun, wie ich schon erwähnt habe«, setzte Joe seinen Bericht fort, »trat ich den Heimweg an. Ich erreichte eine Graslandschaft. Sie war öde, einsam und so weit, daß ich den Eindruck gewann, sie nähme nie ein Ende. Steppe, vermute ich. Dort war es, als ich den alten Iwan erspähte. Ich sah ihn in weiter Ferne, nicht mehr als ein Pünktchen, aber als ich die Teleskopoptik benutzte, erkannte ich sofort und wie elektrisiert, was das war - ein Feind. Obwohl es mir, um bei der Wahrheit zu bleiben, um diese Zeit schon recht schwerfiel, in den Kategorien von Freund und Feind zu denken. Ich empfand vielmehr eine Art von innerer Erregung, die aus der Erkenntnis herrührte, daß sich dort in der Ferne, inmitten der Ebene, ein gleichartiges Geschöpf wie ich aufhielt. Vielleicht eine seltsame Gleichartigkeit, aber sie war vorhanden. Später erzählte mir Iwan, daß er ähnlich reagiert hatte, doch in diesem Moment konnte keiner von uns beiden wissen, was der andere dachte. Daher begannen wir zu manövrieren und setzten dabei unsere ganze Geschicklichkeit ein. Zweimal geschah es, daß ich Iwan im Fadenkreuz hatte, und ich hätte feuern können, aber irgend etwas bewegte mich jedesmal dazu, nicht zu schießen. Iwan hat sich, wahrscheinlich aufgrund irgendwelcher verdrehter russischer Logik, nie dazu bringen können, zuzugeben, daß es ihm mit mir ähnlich ergangen ist, aber ich bin mir dessen völlig sicher. Iwan war eine hervorragende Kriegsmaschine. Wie auch immer, es änderte nichts an der Situation. Wir umkreisten uns immer und immer wieder. Nach ungefähr zwei Tagen wurde die Sache dann lächerlich, und deshalb nahm ich mit ihm Verbindung auf. Okay, sagte ich, laß uns aufhören. Wir wissen verdammt gut, daß keiner von uns noch kämpfen will. Wahrscheinlich sind wir die einzigen überlebenden Kriegsmaschinen. Der Krieg ist aus, und wir haben keinen Grund dazu, den Kampf fortzuführen. Also können wir genausogut auf freundschaftlicher Basis verkehren. Das sagte ich. Der alte Iwan erhob keinen Widerspruch, aber er ließ sich eine ganze Weile Zeit, ehe er seine Zustimmung aussprach. Schließlich tat er es, und wir rollten aufeinander zu, langsam und wachsam, bis wir Bug an Bug standen. Und so blieben wir stehen, Bug an Bug, ich weiß nicht, wie lange -für Tage vielleicht, womöglich für Monate oder Jahre. Wir hatten nichts zu tun. Unsere Aufträge, die man uns erteilt hatte, waren bedeutungslos geworden. Auf der ganzen Welt gab es keine Verwendung mehr für Kriegsmaschinen. So blieben wir draußen in dieser gottverlassenen Ebene, die einzigen Lebewesen im Umkreis von vielen Kilometern, und steckten die Nasen zusammen. Wir sprachen uns aus und lernten uns so gut kennen, daß wir anschließend für lange Zeiträume gar kein Bedürfnis verspürten, uns zu unterhalten. Es tat gut, bloß herumzustehen, nichts zu tun, nicht zu denken, nichts zu sagen, Bug an Bug mit Iwan. Es genügte, daß nicht jeder von uns allein war, sondern wir beide zusammen. Vielleicht hört es sich seltsam an, zu sagen, daß zwei plumpe, häßliche Maschinen Freunde wurden, doch bedenkt, daß wir, wiewohl wir wie Maschinen aussehen, menschliche Wesen sind. Damals begannen unsere Gemeinschaften von Individuen zu verschmelzen. Wir waren fünf Individuen einerseits und vier Individuen andererseits, neun Individuen insgesamt, und alle gut ausgebildete, intelligente Männer, und wir pflegten einen regen Gedankenaustausch. Schließlich sahen wir jedoch ein - ich meine, Iwan und ich -, daß es sinnlos war und ohne Nutzen, bloß untätig dort herumzustehen. Wir stellten Überlegungen an, ob es auf der Welt noch Menschen gebe, denen wir helfen konnten. Falls die Menschheit sich von den Folgen des Krieges erholen würde, mußte sie, so glaubten wir, für jede erreichbare Hilfe dankbar sein. Unter uns neun waren Persönlichkeiten mit einer Menge Verstand, genau von der Sorte, welche die Menschheit benötigen würde. Außerdem waren wir beide eine Kraft- und Energiequelle, falls man Mittel und Wege fand, sie zu nutzen. Iwan berichtete, nach Westen zu gehen sei sinnlos. Asien stünde am Ende, sagte er, und Europa habe er weit genug durchstreift, um davon das gleiche behaupten zu können. Dort war keine irgendwie geartete soziale Organisation mehr vorhanden. Es gab nur verstreut Banden von Überlebenden, die bereits auf die Stufe primitiver Wildheit herabgesunken waren, doch beileibe nicht genug Menschen, um so etwas wie eine ökonomische Grundlage zu schaffen. Also stießen wir nach Osten vor, in Richtung Amerika, und fanden schließlich vereinzelt kleine menschliche Siedlungen - nicht allzu viele, aber ein paar -, die eine gewisse Aufwärtsentwicklung erlebten, welche es ihnen erlaubt hätte, von der angebotenen Hilfe Gebrauch zu machen. Doch bisher haben wir uns außerstande gesehen, irgend jemandem Hilfe zu leisten. In den Siedlungen will man uns ganz einfach nicht anhören. Sobald wir uns zeigen, fliehen die Menschen unter lautem Geschrei in die Wälder, und wir geben uns umsonst Mühe, um klarzustellen, daß wir in der Absicht kommen, ihnen zu helfen, sie hören gar nicht hin. Ihr beide seid die ersten Menschen, die den Mut besitzen, auch nur mit uns zu reden.«

»Bedauerlich daran ist allerdings«, sagte ich, »daß es für euch wenig Zweck hat, mit uns zu reden. Wir sind nicht aus dieser Zeit. Wir stammen aus der Zukunft.«

»Ich entsinne mich«, sagte Joe. »Ihr habt erwähnt, ihr hättet Elmer in der Zukunft kennengelernt. Wo ist er gegenwärtig?«

»Jetzt? Gegenwärtig befindet er sich irgendwo zwischen den Sternen.«

»Zwischen den Sternen? Wie kann der alte Elmer ...«

»Hört zu«, sagte ich, »ich will versuchen, es euch zu erklären. Als das Schicksal der Erde feststand, wanderten viele Menschen zu den Sternen aus. Ein Raumschiff besiedelte einen Planeten, ein anderes einen zweiten, und so weiter. In etwa zehntausend Jahren gibt es wieder sehr viele Menschen, die auf sehr vielen Planeten leben. Jene Menschen, die auswandern durften, waren die mit guter Ausbildung, solche mit besonderen Fähigkeiten, jene mit technologischen Berufen, solche Menschen, wie man sie zum Aufbau einer Kolonie benötigen würde. Zurück blieben die Ungebildeten, die Unfähigen, die Geschädigten. Deshalb dürfte man auf der Erde, in den Dörfern, noch heute eure Unterstützung gut gebrauchen können. Und wahrscheinlich wird sie gerade aus diesem Grund abgelehnt. Jene Menschen, die noch auf der Erde leben, sind die Taugenichtse, die Tölpel ...«

»Aber unser guter alter Elmer, er gehörte nicht zu jenen Leuten ...«

»Er galt als vorzüglicher Mechaniker. Eine junge Kolonie hat Kerle wie ihn nötig. Daher hat man ihn mitgenommen.«

»Diese Geschichte - Elmer in der Zukunft, Flüge zu den Sternen - verblüfft mich außerordentlich«, bekannte Joe.

»Aber wieso seid ihr hier? Du hast versprochen, es uns zu erzählen. Warum macht ihr es euch nicht bequem und erzählt es uns jetzt?«

Es war wirklich fast wie daheim. Die Stimmung war heiter und freundlich. Joe war ein netter Bursche, und Iwan ebenso, auch wenn er nicht viel sagte. Zum ersten Mal, seit wir den Boden dieses Planeten betreten hatten, befanden wir uns in angenehmer Gesellschaft.

Also lehnten wir uns zurück und begannen gemeinsam zu erzählen. Ich fing an, Cynthia berichtete weiter; dann wieder ich.

»Dieses Friedhofsgeschäft muß erst in der Zukunft entstehen«, sagte Joe. »Gegenwärtig gibt es noch keine Spur von einem Friedhof.«

»Er wird kommen«, versicherte ich wahrheitsgemäß. »Ich wünschte, ich könnte mich an den Zeitpunkt entsinnen, als man damit angefangen hat. Vielleicht habe ich ihn auch nie gewußt.«

Cynthia schüttelte den Kopf. »Ich weiß es auch nicht.«

»Mich freut, daß wir nun wenigstens über eins Klarheit besitzen«, meinte Joe, »nämlich über unsere Versorgung mit Schmieröl. Darüber haben wir uns schon seit langem Gedanken gemacht. Wir wissen, daß wir es eines Tages benötigen, und wir hatten gehofft, uns mit Menschen einigen zu können, von denen es sich erhalten ließe. Falls sie über Rohöl verfügten und uns damit belieferten, genügte das vollständig, denn wir vermögen es bis zu einem gewissen Grad zu raffinieren, jedenfalls in ausreichendem Maße, um es als Schmiermittel zu verwenden. Es müßte gar nicht viel sein. Aber mit den Menschen hatten wir bislang sehr wenig Glück.«

»Ihr werdet es bekommen, gereinigt und gebrauchsfertig, wie es euren Betriebsvorschriften entspricht«, enthüllte ich. »Ihr werdet es vom Friedhof erhalten. Aber hütet euch, den Preis zu entrichten, den man von euch verlangen wird.«

»Wir zahlen keinen Preis«, sagte Joe. »Das hört sich an, als handle es sich um elende Wucherer.«

»Genau das sind diese Friedhofsleute auch«, bestätigte ich. »Und nun müssen wir uns leider verabschieden.«

»Um in die Zukunft zurückzukehren?«

»Richtig«, antwortete ich. »Und wenn alles so eintrifft, wie wir erhoffen, würden wir uns freuen, euch wiederzusehen. Könnt ihr euch mit uns verabreden? Glaubt ihr, das läßt sich machen?«

»Nenn uns ein Datum«, bat Joe. Ich nannte ihm eins.

»Wir werden dort sein«, versprach er.

»Hört zu«, ergänzte er, als wir über die kurze Treppe aus dem Rumpf stiegen, »falls es nicht klappt, ich meine, falls ihr kein Zeittor vorfindet -falls das so sein sollte, braucht ihr euch nicht in dieser Hütte niederzulassen. Es wäre ein scheußlicher Anfang für euch, alles in Ordnung bringen zu müssen, den Toten zu begraben und dergleichen. Kommt einfach zurück zu uns. Besonderes vermögen wir zwar nicht zu bieten, aber wir würden uns sehr freuen. Im Winter könnten wir in den Süden fahren und ...«

»Danke«, sagte Cynthia. »Notfalls werden wir darauf zurückkommen. Das ist wirklich sehr freundlich von euch.«

Wir kletterten hinaus und gingen taleinwärts. Die Felsspalte lag nicht weit entfernt, und bevor wir sie erreichten, wandten wir uns nochmals nach unseren neuen Freunden um. Sie hatten ebenfalls gedreht und zeigten uns ihre Bugseiten. Wir winkten ihnen zu und betraten dann die Felsspalte.

Fast hatten wir das tiefe Innere erreicht, als jenes Brodeln, das ohne Wasser auftrat, uns erfaßte. Als es verschwand, erstarrten wir, von Entsetzen gepackt.

Denn wir befanden uns nicht im Tal, wie wir es kennengelernt hatten, sondern mitten auf Friedhofsgelände.

20

Die Felswand war noch da, auch die knorrigen Zedern, die darauf wuchsen, die Hügel und der Einschnitt des Tals dazwischen waren vorhanden. Aber es war nicht länger eine Wildnis. Den Fluß hatte man mit einer ordentlichen Böschung aus Steinen begradigt, sehr geschmackvoll, und das Grün war kurz wie ein Teppich geschnitten und weithin übersichtlich bis zum Fuß der Felswände; zwischen den gleichmäßigen Reihen der Grabsteine wuchsen Immergrün und Eiben.

Ich spürte, daß Cynthia dicht neben mir stand, aber ich sah sie nicht an. In diesem Moment wollte ich sie nicht anschauen. Krampfhaft bemühte ich mich, meiner Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen. »Die Gespenster haben wieder einen Fehler begangen«, sagte ich.

Insgeheim versuchte ich zu errechnen, wieviel Zeit der Friedhof gebraucht haben mochte, um sich bis in dies Gebiet auszudehnen, und ich gelangte zu dem Ergebnis, daß es viele Jahrhunderte gewesen sein mußten -vielleicht so viele, daß sie der Zeitspanne gleichkamen, um die wir uns zuvor in der Vergangenheit befunden hatten.

»Sie können sich doch unmöglich in solchem Maße irren«, sagte Cynthia. »Es ist einfach ausgeschlossen. Einmal, gewiß, aber doch nicht zweimal hintereinander.«

»Sie haben uns verraten und verkauft«, erwiderte ich.

»Aber indem sie uns in die Vergangenheit schleuderten, wäre der Verrat doch begangen gewesen«, wandte sie ein. »Wozu sollten sie uns zweimal betrügen? Läge ihnen daran, uns loszuwerden, hätten sie uns lediglich in der Vergangenheit zu lassen brauchen. In dem Fall hätte es schlichtweg kein Zeittor gegeben. Es fehlt jeder Sinn, Fletch.«

»Dann muß es eben an ihrer Schwachköpfigkeit liegen«, erklärte ich.

Ich sah mich auf dem Friedhofsgelände um.

»Wir wären besser dran«, meinte ich, »wären wir bei Joe und Iwan geblieben. Gemeinsam mit ihnen hätten wir überleben können und außerdem eine Möglichkeit zum Reisen besessen. Wir hätten sie überallhin begleiten können und uns unter Freunden befunden. Was hier aus uns werden soll, weiß ich nicht.«

»Ich will nicht weinen«, sagte Cynthia. »Ich will verdammt sein, wenn ich weine. Aber ich habe das Gefühl, gleich muß ich weinen.«

Ich dachte daran, sie in meine Arme zu schließen, doch ich unterließ es. Hätte ich sie berührt, sie wäre in Tränen ausgebrochen.

»Wir sollten nachschauen, ob das Haus des Volkszählers noch steht«, schlug ich vor. »Ich zweifle zwar daran, aber wir sollten uns vergewissern. Wenn ich den Friedhof richtig einschätze, haben sie ihn vertrieben.«

Wir wanderten durchs Tal. Diesmal schritt es sich leicht aus, wie auf einem Teppich. Es gab keine Unebenheiten und keine Findlinge, denen wir hätten ausweichen müssen. Ringsum gab es nur Grabsteine. Immergrün und Eiben.

Flüchtig betrachtete ich die Daten einiger Grabsteine. Zwar war es unmöglich, genau festzustellen, wie alt die Grabsteine selbst waren, doch den Daten zufolge, die ich sah, mußten wir wenigstens um dreißig Jahrhunderte über die Zeit hinaus geschleudert worden sein, in welche wir ursprünglich gehörten. Aus unerfindlichem Grund schien Cynthia sich nicht für die Daten zu interessieren, und ich hielt den Mund; ich ging jedoch davon aus, daß sie sie sehr wohl bemerkte, aber genauso schwieg wie ich.

Wir kamen an den Fluß; anscheinend war es der gleiche, doch an seinem Ufer wuchsen keine Bäume mehr. Sie waren fort, den Grabsteinen gewichen und der Landschaftsgestaltung, die den Friedhof auszeichnete.

Ich blickte über das Wasser und dachte daran, wie manches, allen Geschehnissen zum Trotz, die Zeit überdauerte. Der Fluß strömte noch immer, wand sich zwischen den Hügeln dahin durch das Land, und es gab niemanden, der ihm Einhalt gebieten oder seine Gewalt mindern konnte.

Cynthia ergriff meinen Arm.

»Fletch, hat dort nicht das Haus des Volkszählers gestanden?« Sie war erregt.

Sie wies auf die Hügel, und als ich in die Richtung schaute, wohin sie deutete, hielt ich vor Überraschung die Luft an. Dabei gab es eigentlich nichts, das einem normalen Menschen den Atem verschlagen hätte, ausgenommen vielleicht die vollkommene Schönheit der Friedhofslandschaft. Was mir den Atem nahm, dessen bin ich sicher, war das Gesamtausmaß der Veränderung. Noch vor Stunden (nach unserer persönlichen Zeitrechnung) hatten wir alles anders vorgefunden. Hier war eine Wildnis gewesen; Urwald hatte sich bis hinab zum Fluß erstreckt, ein Blätterdach, unter dem das Haus, worin der Tote lag, kaum sichtbar war, und kahle Bergkuppen schienen den Himmel zu stützen. Jetzt sah alles sehr sauber und grün und zivilisiert aus, und auf dem Gipfel, wo das kleine, von der Witterung gezeichnete Haus gestanden hatte, in dem wir mit unserem reizenden Gastgeber bei Tisch saßen, er hob sich nun ein Bauwerk, das aus einem Traum zu stammen schien. Es bestand ganz aus weißem Stein und wirkte dabei so zierlich und zerbrechlich, als komme Stein als Baumaterial gar nicht in Frage. Talwärts waren der Frontseite drei Säulenvorbauten vorgelagert. Die zauberhaften Pfeiler wirkten aus der Entfernung dünn wie Bleistifte. Hohe Fenster, in denen das Licht sich in allen Farben brach, und die sich über die gesamte Länge des Hauses erstreckten, vervollständigten die märchenhafte Schönheit des Anblicks.

»Glaubst du ...?« begann Cynthia und verstummte mitten im Satz.

»Nein«, sagte ich. »Nicht der Volkszähler. Er würde nie einen solchen Palast bauen.«

Denn der Volkszähler hielt sich im Verborgenen, schlich emsig umher, ging heimlich um; er war stets in Eile, tat alles, um sich fremden Blicken zu entziehen, sammelte überall die begehrten kleinen Artefakte, welche die Geschichte jener erzählen würden, vor denen er sich zu verbergen pflegte.

»Aber es war hier. Sein Haus hat hier gestanden.«

Eine lange Treppe führte vom Haus bis hinab zum Fluß. Wir gingen ohne Hast am Ufer entlang; unsere Blicke ruhten auf der Bergkuppe. Schließlich erreichten wir einen kleinen, mit großen Steinplatten gepflasterten Platz, wo die Treppe ihren Anfang nahm. An einigen Stellen hatte man Freiräume für Pflanzen gelassen, für - wie hätte es anders sein können - Eiben und Immergrün.

Wie zwei verängstigte Kinder, denen ein Wunder widerfuhr, standen wir Seite an Seite und blickten die Treppe hinauf, nach der Herrlichkeit auf der Anhöhe.

»Weißt du, woran mich das erinnert?« meinte Cynthia. »An die Himmelsleiter.«

»Wie das? Du hast doch noch nie eine Himmelsleiter gesehen.«

»Nun, diese Treppe sieht so aus, wie die Alten den Aufgang zum Himmel beschrieben haben«, sagte sie fröhlich.

Ich begriff nicht, was sie so frohen Herzens stimmte. Ich war bei weitem zu stark außer Fassung geraten und verwundert, um auch nur im mindesten unbeschwert sein zu können. Wollte man sich in unserer Situation unbedingt an Schönheit erfreuen, nun gut, der Anblick, der sich uns bot, war zweifellos schön; doch er behagte mir nicht, vornehmlich aus dem Grund, weil dort oben, wo nun dieses Bauwerk prunkte, zuvor das Haus des Volkszählers gestanden hatte. Die Schlußfolgerung, daß zwischen dem Prunkbau und dem Haus ein Zusammenhang bestand, lag selbstverständlich nahe, aber diesen Zusammenhang herzustellen, das wagte ich vorerst nicht.

Die Treppe war sehr lang und ziemlich steil; sie zu ersteigen, kostete uns einige Zeit. Wir hatten die Treppe ganz für uns, denn weit und breit war niemand zu sehen, obgleich wir vor einem Weilchen unter einem der Säulenvorbauten drei oder vier Personen bemerkt hatten.

Oben mündeten die Stufen auf einen weiten Vorplatz, wesentlich größer als der Platz am Ufer, am Fuß des Berges. Wir überquerten ihn in Richtung auf den mittleren Säulenvorbau. Aus der Nähe war das Gebäude noch schöner als aus der Ferne. Der Stein war schneeweiß, die Architektur feinfühlig, ausgewogen und gediegen; das ganze Gebäude besaß so etwas wie eine Aura, die Ehrerbietung erweckte. Nirgendwo sah ich eine Schrift eingemeißelt, die verraten hätte, worum es sich bei dem Bauwerk handelte, und ich ertappte mich bei der unehrerbietigen Überlegung, wozu es überhaupt dienen möge.

Der Säulenvorbau erweiterte sich zu einem Foyer, in dem erstarrt jenes Halbdunkel hing, das man in Museen oder Gemäldegalerien findet. Im Mittelpunkt stand eine gläserne Vitrine; auf den Gegenstand, den sie enthielt, fiel helles Licht. Am Eingang standen zwei Wächter; wenigstens vermutete ich, daß es welche waren, denn sie trugen Uniformen. Tief aus dem Innern des Gebäudes hallten die gedämpften Geräusche von Schritten und Stimmen.

An der Vitrine blieben wir stehen, und darin stand der Krug, den wir beim Mittagessen gesehen hatten. Es mußte jener Krug sein.

Kein anderer Krieger konnte sich so niedergeschlagen auf seinen Schild stützen, kein gebrochener Speer konnte in solch unnachahmlicher Geste der Unterlegenheit auf den Boden weisen.

Cynthia hatte sich gebückt, um den Krug von unten zu betrachten und richtete sich nun auf. »Es ist dasselbe Töpferzeichen«, sagte sie. »Ich bin ganz sicher.«

»Wie kannst du so sicher sein? Du kannst doch kein Griechisch lesen. Das hast du jedenfalls behauptet.«

»Und es stimmt, aber ich erkenne den Namen. Nikosthenes. Es muß heißen: >Nikosthenes hat mich gemacht.««

»Er kann eine ganze Menge davon hergestellt haben«, widersprach ich. Ich weiß nicht, warum ich Streit anfing. Ich weiß nicht, warum ich mich gegen die an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit wehrte, daß wir dort genau den Krug sahen, der im Haus des Volkszählers auf dem Sideboard gestanden hatte.

»Das hat er zweifellos getan«, antwortete Cynthia. »Er muß ein berühmter Töpfer gewesen sein. Aber in diesem Krug muß der Volkszähler ein Meisterstück erkannt haben, denn andernfalls hätte er nicht ausgerechnet ihn ausgewählt. Wahrscheinlich war er für irgendeinen großen Mann jener Zeit bestimmt...«

»Vielleicht für den Volkszähler.«

»Ja«, sagte sie. »Das könnte sein. Vielleicht für den Volkszähler.«

Ich war so mit dem Krug beschäftigt, daß ich nicht bemerkte, wie sich einer der Wächter näherte und neben mich trat. Plötzlich sprach er mich an.

»Ich vermute, Sie sind Fletcher Carson. Habe ich recht?«

Ich richtete mich auf und musterte ihn. »Ja, der bin ich«, erwiderte ich. »Aber woher wissen Sie ...«

»Und die Dame in Ihrer Begleitung ist Miß Lansing?«

»Ja, die ist sie.«

»Ich wäre höchst erfreut, wenn Sie beide mit mir kämen.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Warum sollen wir mit Ihnen gehen?«

»Ein alter Freund würde sich sehr gerne mit Ihnen unterhalten.«

»Unsinn«, meinte Cynthia. »Wir haben keine Freunde. Wenigstens hier haben wir keine Freunde.«

»Es wäre mir sehr peinlich«, sagte der Wächter unverändert freundlich, »darauf bestehen zu müssen.«

»Vielleicht ist es der Volkszähler«, meinte Cynthia.

»Ein kleiner Kerl mit dem Gesicht einer Stoffpuppe und einem kleinen Mund?« fragte ich den Wächter.

»Nein«, antwortete der Wächter. »So sieht er ganz und gar nicht aus.«

Er wartete beharrlich; also umrundeten wir die Vitrine und folgten ihm. Er führte uns durch einen Korridor, an dessen Wände weitere Schaukästen und Tische standen; zahlreiche Ausstellungsstücke waren hier aufgebaut und sorgfältig gekennzeichnet, aber wir schritten so eilig den Korridor hinab, daß ich keine Gelegenheit erhielt, auch nur eins davon näher zu betrachten. Ein paar Meter voraus stand der Wächter bereits vor einer Tür und klopfte. Eine Stimmte forderte zum Eintreten auf.

Der Wächter öffnete die Tür und ließ uns ein, dann schloß er sie hinter uns, blieb selber jedoch draußen. Wir blieben an der Tür stehen und starrten das Ding an - es war kein Mensch, sondern ein Ding -, das hinter einem Schreibtisch saß.

»Also seid ihr doch gekommen«, sagte das Ding. »Ihr habt euch Zeit gelassen. Ich hatte schon gefürchtet, ihr würdet nicht kommen, so daß der Plan undurchführbar wäre.«

Die Stimme drang aus einem Etwas, das am ehesten als mechanisches Äquivalent eines menschlichen Kopfes, befestigt auf dem mechanischen Äquivalent eines menschlichen Körpers, beschrieben werden kann. Das Ding war ein Roboter, aber ein anderer als jeder Roboter, den ich bis dahin gesehen hatte - anders als Elmer, oder ein anderer ehrlicher, rechtschaffener Roboter. Er war ein mechanisches Monstrum, um der Wahrheit die Ehre zu geben, das es offenbar nicht im entferntesten für erforderlich erachtete, auch nur entfernt menschenähnlich zu wirken.

»Was ist das für ein Blödsinn?« sagte ich. »Wir sind hier, weil der Wächter uns dazu gedrängt hat. Wäre es zuviel verlangt, erfahren zu ...«

»Keineswegs«, erwiderte das Ding hinter dem Schreibtisch. »Wir sind uns vor langer Zeit begegnet. Da ich meine Erscheinung beträchtlich verändert habe, trifft euch keine Schuld daran, daß ihr mich nicht erkennt. Einst habt ihr mich unter dem Namen Ramsey O'Gillicuddy gekannt.«

»O'Gillicuddy«, sagte Cynthia, »eine Frage mußt du mir beantworten. Wie viele Stahlwölfe gab es?«

»Was? Nun, das ist leicht zu beantworten. Es waren drei. Zwei davon hat Elmer getötet. Einer blieb übrig.«

Er rückte Stühle zurecht, die vor seinem Schreibtisch standen. »Und nun«, sagte er, »nachdem ihr mich getestet habt, nehmt bitte Platz. Wir haben vieles zu klären.«

»Es ist wirklich sehr erfreulich, daß ihr hier seid«, sprach O'Gillicuddy weiter, als wir saßen. »Wir hatten alles genau geplant, und alles schien narrensicher zu sein, aber bei Angelegenheiten, welche die Zeit betreffen, kann man gar nicht genug Obacht geben. Bei der Vorstellung, was geschehen wäre, hättet ihr den Weg nicht gefunden, befällt mich ein Frösteln. Alles hier wäre verschwunden, hätte sich aufgelöst. Obwohl - genau genommen, auch das stimmt nicht ganz ...«

»Alles hier?« wiederholte ich. »Das heißt, dieses Museum, oder? Ist es nicht ein Museum, das die Sammlung des Volkszählers enthält?«

»Dann wißt ihr also über den Volkszähler Bescheid?«

»Sagen wir, wir haben es erraten.«

»Natürlich, zweifellos«, sagte O'Gillicuddy. »Ihr seid beide sehr scharfsinnig.«

»Wo befindet sich der Volkszähler nun?« erkundigte sich Cynthia. »Wir hatten gehofft, ihn hier anzutreffen.«

»Nach der Unterbringung seiner Sammlung - dieser Sammlung und der bedeutend umfangreicheren Sammlung, die sich in einem Versteck im Balkangebiet befand - flog er zum Planeten Alden, um dort eine archäologische Expedition nach seinem Heimatplaneten zu organisieren«, berichtete O'Gillicuddy. »Bereits seit Jahrhunderten hatte er aus seiner Heimat keine Nachricht mehr erhalten, und deshalb ist er davon überzeugt, daß seine Rasse ausgestorben oder untergegangen ist, aus einem der mannigfaltigen Gründe, aus welchen einer Rasse so etwas widerfahren kann. Bis heute haben wir noch keine Neuigkeiten über den Verlauf der Expedition vorliegen. Wir erwarten die Ergebnisse mit großer Spannung.«

»Wir?«

»Ich und meine Brüder, die anderen ehemaligen Gespenster.«

»Du meinst, ihr seht nun alle so aus?«

»Ja, genau«, antwortete er. »Das ist ein Teil des Geschäfts, welches wir gemacht haben. Ach, aber ihr wißt ja noch gar nicht von der Übereinkunft. Ich muß euch alles erzählen.«

Seine geheimnisvolle Ankündigung erfüllte uns mit Unruhe.

»Es wird folgendermaßen verlaufen«, kam er zur Sache. »Aus dieser Zeit werden wir euch zurück in eure Gegenwart versetzen, genau an jenen Zeitpunkt, an dem durch das Zeittor zurückzukehren ihr erwartet hattet ...«

»Aber damals habt ihr gepfuscht!« sagte ich erregt. »Ihr werdet auch diesmal einen Fehler begehen und ...«

Er hob seine stählerne Hand, um mich zum Schweigen zu veranlassen. »Wir haben keinen einzigen Fehler begangen«, erklärte er. »Alles ist planmäßig verlaufen. Wir haben euch aus gutem Grund in diese Zeit befördert. Hätten wir es nicht getan, wäre der Plan verdorben. Wärt ihr nicht hier, könnte ich euch den Plan nicht erläutern, und ihr wüßtet nicht, was ihr zu tun habt. Kehrt ihr jedoch mit Kenntnis des Plans in eure Gegenwart zurück, wird er gelingen.«

»Halt! Einen Moment, ich bitte dich!« rief ich. »Du bringst ja alles durcheinander. Das ergibt keinen Sinn ...«

»Es ergibt erstaunlich viel Sinn«, widersprach er. »Auf diese Weise und nicht anders wird der Plan erfolgreich sein. Ihr seid in ferner Vergangenheit gewesen und seid nun in dieser Zeit, die für euch in der Zukunft liegt, damit wir euch in den Plan einweihen und euch in eure Gegenwart zurücksenden können, wo ihr ihn verwirklichen müßt, um diese Zukunft, in der ihr euch nun befindet, überhaupt zu ermöglichen.«

Ich sprang auf und hieb mit der Faust auf die Schreibtischplatte. »Einen größeren Schwachsinn habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört!« schrie ich. »Du verwirrst die Zeit völlig! Wie könnte man uns in eine Zukunft bringen, die nicht eher existieren soll, als bis wir in unserer Gegenwart irgendeinen verrückten Plan ausgeführt haben, der diese Zukunft erst ermöglicht?«

Mein Einwand bewirkte lediglich, daß O'Gillicuddy daraufhin noch blasierter als zuvor daherredete. »Ich gebe zu, daß es ein bißchen seltsam klingt«, räumte er ein. »Doch wenn du eingehender darüber nachdenkst, wird dir die innere Logik dieses Sachverhalts einleuchten. Wir werden euch nunmehr durch die Zeit zurückschicken, damit...«

»Und das Ziel um mehrere tausend Jahre verfehlen«, murrte ich.

»Auf keinen Fall«, sagte O'Gillicuddy. »Wir arbeiten exakt. Wir sind nicht länger bloß auf unsere psychischen Fähigkeiten angewiesen. Inzwischen verfügen wir über eine Maschine, einen Zeitselektor, der bis auf einen Sekundenbruchteil exakt funktioniert und jemanden genau dorthin versetzt, wohin in der Zeit er will. Seine Entwicklung war ein Teil des Abkommens, das wir geschlossen haben.«

»Du sprichst ständig von Plänen und Übereinkünften«, beschwerte sich Cynthia, »die wir überhaupt nicht kennen. Es würde uns weiterhelfen, wenn du uns endlich darüber Aufklärung gewährtest, worum es sich eigentlich handelt.«

»Bekäme ich die Gelegenheit dazu«, sagte O'Gillicuddy, »würde ich es außerordentlich gerne tun. Wir werden euch also in eure Gegenwart zurückversetzen, und ihr werdet zur Friedhofsverwaltung gehen und Maxwell Peter Bell einen Besuch abstatten ...«

»Und Maxwell Peter Bell wird uns in hohem Bogen hinauswerfen«, sagte ich, »und vielleicht ... «

»Das wird er nicht«, versicherte O'Gillicuddy, »wenn vor dem Haus zwei mit euch verbündete und schußbereite Kriegsmaschinen stehen. Ihr Anblick wird eine sehr große Überzeugungskraft haben.«

»Woher kannst du sicher sein, daß die Kriegsmaschinen ...?«

»Du selbst hast dich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort mit ihnen verabredet, oder nicht?«

»Gewiß«, sagte ich. »Das ist richtig.«

»Dann ist doch alles in Ordnung. Ihr werdet Maxwell Peter Bell aufsuchen und ihn davon überzeugen, daß ihr Beweise dafür besitzt, daß er den Friedhof als Versteck für geschmuggelte Artefakte benutzt, und ihr werdet ihm sagen ...«

»Aber der Schmuggel von Artefakten verstößt nicht gegen das Gesetz.«

»Nein, selbstverständlich nicht. Aber du kannst dir vorstellen, wie es mit dem sorgfältig gepflegten Image der Mother Earth bestellt sein wird, falls herauskommt, was sie da betreibt. Der Firmenname würde nicht allein nach Unehrlichkeit stinken, sondern auch nach Grabschändung und Leichenfledderei. Sie würde Jahre brauchen, um diesen Ruch wieder loszuwerden, falls es überhaupt gelingt.«

»Das könnte gelingen«, sagte ich, obschon es mir widerstrebte, das zugeben zu müssen.

»Ihr werdet ihm die Lage sehr umsichtig und völlig unmißverständlich erklären«, sagte O'Gillicuddy, »um dagegen vorzubeugen, daß er den Sinn eures Vorschlags oder eure Absicht mißdeutet. Es muß von Anfang an klar sein, daß euch unter bestimmten Voraussetzungen, unter gewissen Bedingungen, denen er zustimmen müßte, nicht daran gelegen ist, ein Wort von jenen Machenschaften an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.«

O'Gillicuddy nannte die erwähnten Bedingungen. »Der Friedhof soll darin einwilligen, alle in seinem Besitz befindlichen Artefakte, alle versteckten Fundgegenstände ohne Ausnahme der Universität auf Alden abzutreten. Er soll fortan vom Handel damit absehen. Der Friedhof soll die Kosten für den Transport der Artefakte nach Alden tragen. Er hat unverzüglich eine Passagierlinie zur Erde mit regelmäßigem Flugverkehr zu eröffnen. Die Preise dürfen von vergleichbaren Tarifen anderer galaktischer Raumfluglinien nicht abweichen. Besucher der Erde und Pilger sollen künftig keine Wucherpreise mehr zu entrichten brauchen. Der Friedhof muß Museen errichten und unterhalten, in welchen die Sammlung historischer Kunstgegenstände hohen Werts ausgestellt werden soll, die ein gewisser Forscher namens Ronex vom Planeten Abernax seit den Anfängen der Menschheit zusammengetragen hat. Ferner muß der Friedhof ...«

»Ist das der Volkszähler?« fragte Cynthia.

»Das ist der Volkszähler«, bestätigte O'Gillicuddy. »Darf ich weitermachen ...?«

»Noch etwas beschäftigt mich schon seit einer Weile«, sagte Cynthia. »Was ist mit dem Wolf? Warum hat er uns zuerst gejagt und dann ...?«

»Er ist kein Stahlwolf wie die anderen es waren«, antwortete O'Gillicuddy. »Vielmehr ist er einer der Roboter des Volkszählers, welche er ins Wolfsrudel des Friedhofs eingeschleust hatte. Der Volkszähler, müßt ihr wissen, ist beileibe kein Dummkopf. Er hatte jederzeit seine Hand in fast allen wichtigen Angelegenheiten im Spiel, die auf der Erde geschahen. Wenn ich nun die Erläuterung fortsetzen dürfte ...«

»Wir bitten darum«, sagte Cynthia.

O'Gillicuddy fuhr darin fort, die Bedingungen aufzuzählen. »Der Friedhof muß sich bereit erklären, die Finanzen und alle anderen erforderlichen Hilfsmittel für ein Forschungsprogramm zur Verfügung zu stellen, das auf eine verläßliche Methode der Zeitreise abzielt. Außerdem soll er Finanzen und anderweitige Hilfsmittel für ein zweites Forschungsprogramm abstellen, das der Entwicklung einer Methode dient, mit welcher menschliche Bewußtseinseinheiten in Robothirne transferiert werden können, und sobald diese Methode entwickelt ist, soll an erster Stelle eine Gruppe von Wesen in ihren Genuß kommen, die derzeitig auf der Erde ein Dasein als Gespenster fristet... «

»Dadurch bist du ...?«

»Dadurch bin ich zu dem geworden, das ihr nun vor euch seht. Doch wir sind noch nicht fertig. Der Friedhof muß einer Kooperation mit einem galaktischen Überwachungsausschuß zustimmen, der nicht allein darauf achtet, daß alle genannten Punkte der Übereinkunft eingehalten werden, sondern auch ständig die Bücher des Friedhofs und seine Transaktionen kontrolliert sowie Empfehlungen zur Geschäftsführung ausspricht.«

Damit verstummte er.

»Und das ist es?« fragte ich.

»Das ist es«, antwortete er. »Ich hoffe, wir haben an alles gedacht.«

»Ich glaube, ja«, erwiderte ich. »Jetzt kommt es nur darauf an, daß der Friedhof sich auf alles einläßt.«

»Ich schätze, das hat er bereits«, sagte O'Gillicuddy. »Ihr seid hier, nicht wahr? Ich bin hier, und das Museum existiert. Der Zeitselektor steht für euch bereit.«

»An alles hast du gedacht«, sagte Cynthia mit einer Mischung aus Ärger und Verachtung in ihrer Stimme, »und doch eins vergessen. Was ist mit Fletchers Komposition? Wie konntest du sie vergessen? Ohne seinen Traum von der Komposition wäre nichts von allem eingetreten. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Schwierigkeiten er dafür auf sich genommen, wie lange er davon geträumt hat und ...«

»Ich habe damit gerechnet, daß einer von euch danach fragt«, behauptete O'Gillicuddy. »Wenn ihr durch den Korridor hinüber ins Auditorium geht ... «

»Soll das heißen, sie befindet sich hier?!«

»Selbstverständlich ist sie hier. Es ist eine prachtvolle Arbeit. Ein Meisterstück. Es hat die Zeit überdauert. Diese Komposition wird ewig lebendig bleiben.«

Peinlich berührt schüttelte ich den Kopf.

»Was ist los?« meinte O'Gillicuddy. »Ihr solltet euch wirklich freuen.«

»Begreifst du nicht, was du angerichtet hast?« fragte Cynthia wutentbrannt. Tränen standen ihr in den Augen. »Wenn er sie jetzt kennenlernte, wäre alles verdorben. Wie konntest du nur vorschlagen, er solle ein Werk sehen, hören und fühlen, das er noch gar nicht vollendet hat? Du hättest nichts davon sagen dürfen. Nun wird er sich dem Zwang ausgesetzt fühlen, ein Meisterwerk schaffen zu müssen. Aber er hat nie an ein Meisterwerk gedacht. Er wollte lediglich eine angemessene Komposition machen und nun ...«

Ich streckte meine Hand aus, um sie zu besänftigen. »Schon gut«, sagte ich. »Natürlich, ich weiß jetzt, was daraus wird. Aber Bronco wird mit mir zusammenarbeiten. Der Ruhm wird mir nicht in den Kopf steigen.«

»Nachdem nun alles geklärt ist«, sagte O'Gillicuddy und erhob sich, »gibt es bloß noch eins für euch zu tun, bevor ihr in eure Zeit zurückkehrt. Ein paar Freunde warten draußen auf euch, um euch zu begrüßen.«

Auf den nichtmenschlichen Beinen seines nichtmenschlichen Körpers stelzte er um den Tisch; wir folgten ihm zur Tür hinaus, durch den Korridor und ins Foyer.

Alle fünf standen sie vor dem Säulenvorbau und erwarteten uns die beiden Kriegsmaschinen Joe und Iwan, Elmer, Bronco und der Wolf.

Die Situation war uns allen ein wenig peinlich. Wir standen im Säulenvorbau und starrten sie an, während sie uns anstarrten.

»Wir werden an Ort und Stelle sein, wenn ihr eintrefft«, sagte Elmer. »Wir alle werden euch erwarten.«

»Die Kriegsmaschinen, ja, das begreife ich«, meinte Cynthia. »Mit ihnen haben wir uns verabredet. Aber ihr ...«

»Der Wolf hat uns gefunden«, sagte Bronco.

»Wie war das möglich?« fragte ich. »Ihr müßt ihn doch für einen Feind gehalten haben. Ihr hattet doch die beiden anderen Wölfe zerstört und ...«

»Er ist sehr gescheit«, berichtete Bronco. »Er kam und spielte mit uns. Hüpfte außer Reichweite herum, legte sich auf den Rücken, streckte die Beine in die Luft, grinste uns an. Er benahm sich so wichtigtuerisch. Da dachten wir uns, daß wir ihm folgen sollten.«

Der Wolf grinste uns an; zähnefletschend.

Загрузка...