Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und die Gefiederte Schlange

8. Juni 1929 Piedras Negras/Yucatan

Vom Himmel regnete es noch immer Feuer. Das letzte schwere Beben war jetzt fünf Minuten her, aber die Erde hatte noch lange danach gezittert und gegrollt. Und der Wald stand in hellen Flammen — nicht nur unten am Fuße des Vulkans, wo ihn der Strom aus weißglühender Lava getroffen hatte, sondern der ganze Wald, soweit er blicken konnte. Die Luft roch nach Schwefel und brennendem Stein und war so heiß, daß jeder Atemzug zur Qual wurde. Hier und da schwelte der Boden, und selbst hier unten, über zwei Meilen vom feuerspeienden Herz des Vulkans entfernt, schimmerte es da und dort rot durch die Erde; ein Netz dünner, gezackter Risse durchzog den Boden, und manchmal traf ihn ein Hauch so kochendheißer, ätzender Luft, daß Indiana vor Schmerz aufstöhnte.

Er war nicht sicher, ob er es schaffen würde. Direkt vor ihm, vielleicht noch eine oder anderthalb Meilen entfernt, ragte ein steiler Hügel aus dem Wald; eine gezackte Kuppe aus schwarzer, glasartig erstarrter Lava, auf der keine Pflanzen hatten Fuß fassen können und wo es somit auch nichts gab, was brennen konnte. Aber diese eineinhalb Meilen konnten genau eineinhalb Meilen zuviel sein.

Aus der Flanke des Vulkankegels lösten sich immer wieder große und kleine Felstrümmer, die wie tödliche Wurfgeschosse eines zornigen Mayagottes auf sie herabflogen; der Boden zitterte und bebte so stark, daß Indiana manchmal Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten; er bekam kaum noch Luft und glaubte, ersticken zu müssen; und immer wieder explodierten rings um ihn herum kleine, brüllende Geysire aus kochendem Stein und erstickenden, glühendheißen Dämpfen.

Und Swanson war schwer.

In den ersten Minuten hatte Indiana sein Gewicht kaum gespürt, denn er war in schierer Todesangst losgerannt, und allein der Gedanke an den weißglühenden Lavastrom, der sie verfolgte — nicht besonders schnell, aber mit der unerbittlichen Beharrlichkeit der Naturgewalt —, allein der Gedanke an diesen brüllenden Strom weißflüssigen Gesteins, der direkt aus der Hölle zu kommen schien, hatte ihm fast unermeßliche Kräfte verliehen.

Doch selbst die übermenschliche Kraft der Angst hatte Grenzen, und Indiana spürte, daß er diese Grenze wohl bald erreicht haben würde. Er stolperte immer öfter. Zweimal war er bereits gestürzt und hatte Swanson nur mit Mühe und Not festhalten können, und der reglose Körper auf seiner Schulter schien mittlerweile Tonnen zu wiegen. Und als ahnten die finsteren, uralten Mächte, die sie mit ihrem Frevel aufgeweckt hatten, daß ihre Opfer ihnen im letzten Moment entkommen könnten, waren die Eruptionen jetzt stärker geworden. Nicht nur der Berg, das ganze Land schien unter seinen Füßen zu zucken und sich zu winden wie ein riesiges, waidwundes Tier.

Indiana erreichte den Fuß der Lavahalde und wandte sich hastig nach links, als dort, wo er gerade hatte hinauflaufen wollen, der Boden aufbrach und ein mannsdicker Strahl flüssigen Gesteins in die Höhe schoß. Instinktiv zog er den Kopf zwischen die Schultern. Zwei, drei Tropfen der weißglühenden Lava trafen ihn und brannten winzige, rauchende Löcher in seine Jacke und die Haut darunter.

Indiana keuchte vor Schmerz und verdoppelte seine Anstrengungen. Der Waldrand lag jetzt scheinbar zum Greifen nahe vor ihm. Aber so schnell er auch lief, die Apokalypse, vor der er floh, folgte ihm. Und als spiele sie ein grausames, böses Spiel mit ihm, war sie immer um eine Winzigkeit schneller, als er sich bewegte.

Auch hier züngelten bereits Flammen aus dem Unterholz. Die Blätter des mannshohen Farnes hatten sich braun gefärbt und eingerollt; schwarzer Qualm verdunkelte den Himmel; und durch das Prasseln der Flammen drang ein Chor kreischender, panikerfüllter Tierstimmen. Als der Vulkan ausbrach, waren die Tiere voller Panik aus der unmittelbaren Umgebung des Berges geflohen, aber die Naturgewalten waren einfach schneller. In einem Umkreis von drei, vielleicht sogar vier oder fünf Meilen regneten Flammen und brennender Stein vom Himmel. Und es gab nichts mehr, wohin sie sich wenden konnten. Der ganze Dschungel schien zu einer einzigen, riesigen Falle geworden zu sein. Nicht nur für seine tierischen Bewohner.

Indiana blieb einen Moment lang stehen, um Atem zu schöpfen. Gehetzt blickte er sich um. Er konnte den Hügel von hier aus nicht mehr sehen. Flammen und schwarzer, fettiger Qualm verwehrten ihm den Blick. Auch aus dem Dschungel schlug ihm eine Woge erstickender, trockener Hitze entgegen, aber er wußte, daß die Anhöhe unmittelbar vor ihm liegen mußte. Sie mußte einfach dort sein — denn wenn nicht, dann konnte er genausogut hier stehenbleiben und auf den Tod warten.

Er verlagerte Swansons Gewicht auf seiner Schulter und versuchte, mit einem raschen Blick einen wenigstens halbwegs sicheren Weg durch den brennenden Dschungel auszumachen. Dann stürmte er los.

Der Weg vom Vulkankrater herab war schlimm gewesen; er hatte gedacht, es könnte nicht schlimmer kommen. Aber das hier war noch schlimmer. Der ganze Wald stand in Flammen. Der Boden war so heiß, daß er trotz der dicken Stiefelsohlen kaum noch auftreten konnte, und immer wieder fiel brennendes Geäst auf Swanson und ihn herab. Die Hitze und das grelle, flackernde Licht trieben ihm die Tränen in die Augen, so daß er fast blind wurde. Er stürmte einfach geradeaus, prallte schmerzhaft gegen einen Baum, der so abrupt aus dem Rauch auftauchte, daß Indiana nicht schnell genug reagieren konnte, und fiel schwer zu Boden. Swanson glitt von seiner Schulter und stürzte mit einem schmerzerfüllten Keuchen in einen Busch; für einen Moment blieb Indiana benommen liegen.

Als er sich mühsam wieder in die Höhe stemmte, glaubte er plötzlich eine Gestalt zu sehen.

Es war nur ein Schatten, den er aus den Augenwinkeln wahrnahm, kaum mehr als ein flacher, verzerrter Umriß vor dem Hintergrund der brüllenden Flammenwand, wie ein Dämon, riesig und schwarz und mit einer verzerrten, blutigroten Teufelsfratze, den die Hölle selbst ausgespien zu haben schien, um ihn im letzten Moment doch noch am Entkommen zu hindern. Indiana fuhr erschrocken hoch und herum, aber im selben Moment stieß der Berg eine neue, brüllende Explosion aus und überzog den Himmel mit sengender Weißglut, und als Indiana wieder hinsah, war die Gestalt verschwunden.

Eine Sekunde lang starrte er die Stelle an, an der sie gestanden hatte, dann kam er zu dem Schluß, daß es wohl doch nur ein Trugbild gewesen war, und er beugte sich hinauf, um Swanson aufzuheben.

Swanson stöhnte vor Schmerz, als Indiana ihn ächzend auf seine Schultern hievte. Seine Fingernägel zerkratzten Indianas Gesicht, als er instinktiv versuchte, der Qual zu entgehen. Indiana ignorierte den neuerlichen, brennenden Schmerz, balancierte Swansons Gewicht auf den Schultern aus, so gut er konnte, und wankte weiter.

Daß er den Felshügel fand, war ein reiner Zufall. Sein Fuß stieß plötzlich gegen etwas Hartes, er stolperte, fand im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder und griff haltsuchend mit der freien Hand nach vorn. Seine Finger schrammten über schwarze, glasharte Lava, die wie mit Messerklingen in seine Haut schnitt. Und durch den Vorhang aus Rauch und grauer Asche konnte er die steil in die Höhe strebenden Flanken eines zerschundenen Hügels erkennen, der plötzlich vor ihnen aufragte.

Selbst unter normalen Umständen wäre es schwierig gewesen, diesen Hügel hinaufzuklettern; mit Swansons Gewicht auf der Schulter war es beinahe unmöglich. Aber die Angst gab ihm noch einmal zusätzliche Kraft, und irgendwie brachte er auch dieses Kunststück fertig.

Keuchend, halb blind vor Erschöpfung und Schmerz und mit dem letzten bißchen Energie kroch er den zerfurchten Hang hinauf und schleppte sich in den Schutz eines mächtigen schwarzen Lavabrockens. Gegen den Feuerregen vom Himmel bot der Felsen keine Deckung, aber er hielt wenigstens die Flammen und den glühenden Wind ein wenig zurück.

Indiana brach vor Erschöpfung zusammen. Eine Weile blieb er einfach so liegen, atmete keuchend ein und aus und wartete darauf, daß die Welt endlich aufhörte, sich um ihn herum zu drehen. Minutenlang konnte er nichts anderes tun, als einfach dazuliegen, zu atmen und dem rasenden Stakkato seines eigenen Herzens zu lauschen, das in seiner Brust hämmerte, als würde es jeden Moment zerspringen. Es schien keinen einzigen Knochen in seinem Körper zu geben, der nicht schmerzte; keinen einzigen Muskel, der nicht gezerrt war, und keinen Quadratzentimeter Haut, der nicht verbrannt, verbrüht oder aufgeschürft war. Der bittere Geschmack von Erbrochenem war in seinem Mund, und seine Augen tränten von dem Qualm und dem gleißenden Licht, in das er immer wieder hatte sehen müssen.

Es war nicht die erste gefährliche Situation, in der sich Dr. Indiana Jones befand; aber es war die schlimmste. Was als harmloser Spaziergang begonnen und als Abenteuer weitergegangen war, das hatte sich in ein Inferno verwandelt. Dabei erinnerte er sich kaum mehr, wie es angefangen hatte — alles war so schnell gegangen und scheinbar gleichzeitig passiert, daß die Bilder in seiner Erinnerung durcheinandergerieten und zu einem einzigen, irren Kaleidoskop des Schreckens wurden. Obwohl er versuchte, sich mit aller Macht gegen die Erinnerung zu wehren, stieg immer wieder dasselbe Bild vor seinem geistigen Auge auf: Swan-son, der plötzlich aufschrie und sich mit seinem eigenen Körper zwischen Indiana und die Feuerlohe warf, die ohne irgendeine Vorwarnung aus dem Krater des Vulkans emporschoß. Dabei waren sie sehr wohl gewarnt worden, dachte Indiana bitter. O ja, man hatte sie gewarnt, mehr als einmal, aber sie hatten ja nicht hören können — wie üblich. Für einen Moment glaubte er, noch einmal das Gesicht des alten Indios vor sich zu sehen, der sich ihrem Lastwagen mit ausgebreiteten Armen in den Weg gestellt hatte; eine schmale, zerlumpte Gestalt, deren Anblick fast mitleiderregend war, wie sie so auf der staubigen Hauptstraße von Piedras Negras stand und ganz allein den dröhnenden Koloß aus einer anderen Zeit aufzuhalten versuchte.

«Was willst du?«hatte Swanson ihn angefahren, kaum daß er den Wagen zum Stehen gebracht hatte und aus dem Fahrerhaus auf die Straße hinabgesprungen war, wo der Indio noch immer mit ausgebreiteten Armen stand, zitternd, das Gesicht ohne jedes bißchen Farbe und die dürren Beine unter dem zerschlissenen Poncho nur noch Zentimeter von der Stoßstange des Wagens entfernt, aber ohne zu weichen, und trotz aller unübersehbaren Furcht in seinen Augen von einer Würde, die Indiana vollkommen verwirrte.

«Bist du lebensmüde, du verrückter alter Mann?«brüllte Swan-son. Auch er war bleich und zitterte am ganzen Leib, aber Indiana begriff auch, daß das, was er im ersten Moment für Zorn gehalten hatte, nur der Ausdruck seines Schreckens war. Es hätte nicht viel gefehlt, und der fünf Tonnen schwere Laster hätte den alten Mann niedergewalzt.

Der Indio antwortete auf Swansons erregte Worte mit ruhiger, volltönender Stimme, die im krassen Gegensatz zu seinem erbarmungswürdigen Äußeren stand. Indiana konnte nicht verstehen, was er sagte, denn der Alte bediente sich eines Dialekts, den Indiana niemals zuvor gehört hatte. Zweimal glaubte er das Wort Quetzalcoatl zu verstehen, war aber nicht sicher, denn Swanson unterbrach den Indio sofort wieder, und diesmal brüllte der amerikanische Wissenschaftler wirklich vor Wut; und diesmal in derselben kehligen Sprache wie der Alte.

Einen Moment lang blickte der Indio Swanson noch mit einem Ausdruck an, der merkwürdig zwischen Trauer und Zorn schwankte, dann drehte er sich um und schlurfte mit hängenden Schultern davon.

«Was hat er gewollt?«fragte Indiana, als Swanson in den Wagen zurückkletterte und mit einer zornigen Bewegung den Anlasser betätigte; so heftig, daß der altersschwache Hebel um ein Haar abgebrochen wäre.

«Nichts«, antwortete Swanson — mehr als nur eine Spur zu hastig, um überzeugend zu klingen.»Gar nichts.«

Indiana sah ihn fragend an.»Gar nichts?«wiederholte er zweifelnd.»Du meinst, er hätte sich wegen gar nichts um ein Haar überfahren lassen?«

Swanson hatte den Motor endlich gestartet und hämmerte den Gang so grob hinein, daß das Getriebe hörbar knirschte.»Du weißt doch, wie abergläubisch diese alten Indios sind«, sagte er. Er lachte verkrampft.»Er hat den Lastwagen gesehen und behauptet, wir würden heiligen Boden entweihen, wenn wir mit dieser Teufelsmaschine in die Berge fahren.«

«Und dann hat er dir mit Quetzalcoatls Fluch gedroht«, vermutete Indiana.

Swanson fuhr kaum merklich zusammen und gab so heftig Gas, daß Indiana in den Sitz zurückgeschleudert wurde. Der uralte Motor des Lkw kreischte protestierend.»Quetzalcoatl? Wie kommst du darauf?«

«Weil er es gesagt hat«, antwortete Indiana.

«Hat er nicht«, knurrte Swanson.»Du mußt dich getäuscht haben.«

«Aber ich habe es ganz deutlich gehört«, widersprach Indiana.»Zweimal.«

«Dann hast du dich eben zweimal getäuscht«, behauptete Swanson.»Der Alte war verrückt, mehr nicht.«

Aber er war nicht verrückt gewesen, und Indiana hatte sich nicht getäuscht. Sie hatten den Zorn der alten Maya-Götter heraufbeschworen, und jetzt lag Swanson im Sterben, und wenn kein Wunder geschah, dann würde auch Indiana nur wenige Augenblicke länger leben als er.

Er verscheuchte dies düstere Bild, als er neben sich ein Geräusch hörte, das er erst nach wenigen Augenblicken als das qualvolle Stöhnen eines Menschen identifizierte. Swanson bewegte sich. Seine verbrannte Hand hob sich mühsam, tastete zitternd einen Moment blind herum und berührte schließlich Indianas Schulter. Langsam, mit mühevollen Bewegungen kroch sie weiter, glitt über seinen Hals und erreichte schließlich sein Kinn. Es war die Bewegung eines Blinden, der das Gesicht seines Gegenübers ertastet, weil er es nicht sehen kann.

Und Swanson war blind.

Ich habe gar kein Recht mehr, am Leben zu sein, dachte Indiana entsetzt, als sein Blick auf das zerstörte Gesicht seines Freundes fiel. Swansons Antlitz war schwarz, nicht dunkel, nicht voller Ruß, sondern schwarz. Nur hier und da schimmerte durch die Schlacke- und Rußschichten auf seinen Zügen das helle Rot verbrannten Fleisches, erinnerte eine Linie an das Gesicht, das er kannte, bahnte sich ein Tropfen Blut durch schwarzgebranntes Fleisch. Es war ein Anblick, der Indiana die Kehle zuschnürte; und nicht nur, weil dieses Gesicht so furchtbar entstellt war.

Eigentlich müßte ich an seiner Stelle sein, dachte Indiana matt. Er war es gewesen, der als erster an den Kraterrand getreten war, und er war es gewesen, nach dem der Vulkan seinen feurigen Atem gespien hatte. Swanson hatte ihm das Leben gerettet und sein eigenes dabei geopfert.

Indiana wußte, daß der Freund sterben würde. Es war ein Wunder, daß er überhaupt noch am Leben war. Kein Arzt der Welt würde ihn noch retten können. Und selbst wenn es denkbar wäre — bis in die Stadt waren es sieben, wenn nicht acht oder neun Stunden Fußmarsch, den Wagen hatten sie schon auf dem Herweg verloren, und Indianas Kräfte würden einfach nicht ausreichen, ihn so weit zu tragen.

«Indiana?«

Indiana lächelte, obwohl die erloschenen Augen seines Freundes es nicht mehr sehen konnten. Behutsam griff er nach Swan-sons Hand, nahm sie und hielt sie fest. Er spürte, wie heiß die Haut des Sterbenden war. Sein Herz schlug ganz langsam, aber so schwer, daß Indiana jeden einzelnen Schlag wie eine vibrierende Erschütterung spürte.

«Ich bin hier«, sagte er.

Swanson versuchte zu lächeln, aber das, was mit seinem Gesicht geschehen war, machte eine fürchterliche Grimasse daraus.»Bist du … okay?«fragte er mühsam.

Indiana nickte. Erst dann fiel ihm ein, daß Swanson auch das nicht mehr sehen konnte, so wie er überhaupt nichts mehr sehen konnte.»Mir fehlt nichts«, sagte er.»Ich habe nur ein paar Kratzer abgekriegt. Aber dich hat es ganz schön erwischt, alter Junge.«

«Ich weiß«, flüsterte Swanson.»Es ist … schlimm.«

«Ja«, antwortete Indiana.»Aber du kommst schon durch. Keine Angst.«

Swanson hustete: ein gräßlicher, röchelnder Laut, der Indiana schier das Blut in den Adern gerinnen ließ.»Belüg … mich nicht«, flüsterte er. Und wie um diese Worte zu unterstreichen, stieß der Berg im selben Moment eine weitere brüllende Feuerwolke aus. Indiana sah instinktiv auf.

Diese Bewegung rettete ihm das Leben.

Wie beim ersten Mal sah er die Gestalt wieder nur aus den Augenwinkeln, und nur als verzerrten, schwarzen Schatten. Aber irgend etwas sagte ihm mit unerschütterlicher Gewißheit, daß sie alles andere als ein Schatten war, und ließ ihn instinktiv reagieren.

Den Bruchteil einer Sekunde, nachdem Indiana sich hatte zur Seite kippen lassen, zerbrach die Schneide einer Obsidian-Axt dort an dem Lavafelsen, wo sich gerade noch sein Gesicht befunden hatte.

Indiana stürzte, rollte sich auf den Rücken und zog die Beine an. Mit aller Macht trat er nach der riesenhaften Gestalt, die plötzlich über Swanson und ihm emporwuchs.

Er traf. Die Gestalt taumelte zurück, kämpfte einen Moment lang mit wild rudernden Armen um ihr Gleichgewicht auf der glasglatten Lava und stürzte schließlich schwer zu Boden. Indiana und der Angreifer kamen gleichzeitig wieder auf die Füße. Allerdings bezweifelte Indiana im allerersten Moment fast, daß er wirklich aufgestanden war, denn der andere überragte ihn um einen guten halben Meter! Und es war nicht nur seine enorme Größe, die Indiana den Atem anhalten ließ …

Der Mann war ein Riese, mit einer Schulterbreite, die fast das Doppelte der eines normal gewachsenen Mannes betragen mußte. Unter der Haut seiner Arme und Beine wölbten sich Muskelstränge, die ihn beinahe mißgestaltet aussehen ließen, und um seiner ohnehin schon furchteinflößenden Erscheinung noch das i-Tüpfelchen aufzusetzen, war er nur mit einem Lendenschurz bekleidet, dafür aber von Kopf bis Fuß mit grellen Farben beschmiert. Sein Gesicht war eine Teufelsfratze; unter dem schreiend grün und rot und gelb gemalten Dämonengesicht waren seine wirklichen Züge kaum noch zu erkennen.

Indiana verschwendete allerdings keine Sekunde darauf, dieser Kriegsbemalung des Indios die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Denn der sprang mit einem wütenden, fast tierischen Knurren auf ihn zu, und Indiana flankte mit einer ebenso raschen Bewegung zur Seite und löste die Peitsche von seinem Gürtel. Die Waffe des Indios war zerbrochen, und er hatte den nutzlosen Stiel davongeschleudert — aber dieser Riese brauchte keine Waffe, um mit einem normal gewachsenen Gegner fertig zu werden. Oder auch mit fünf.

Der Indio schien das Kräfteverhältnis ähnlich einzuschätzen, denn er schenkte der Peitsche in Indianas Hand nicht einmal einen Blick, sondern fuhr herum und stürzte sich mit weit ausgebreiteten Armen ein zweites Mal auf ihn, um ihn einfach zu zerquetschen.

Indiana wartete, bis er ganz dicht heran war, tauchte im letzten Moment unter seinen zupackenden Armen hindurch und trat ihm in die Kniekehle, als der Riese an ihm vorüberstolperte. Der Indianer grunzte überrascht, machte zwei, drei unbeholfene Schritte und fiel zum zweiten Mal auf die Knie.

Als er sich dieses Mal wieder aufrichtete, war er weit genug von Indiana entfernt, daß dieser seine Waffe einsetzen konnte. Die Peitsche knallte. Die Schnur zuckte wie eine zustoßende Schlange nach dem Hals des Indios, wickelte sich darum und zog sich mit einem Ruck zusammen. Der Hieb hatte ausgereicht, jeden anderen Mann auf der Stelle bewußtlos zusammenbrechen zu lassen oder ihn zumindest davon zu überzeugen, daß er in den nächsten Minuten Wichtigeres zu tun habe, als harmlose Archäologie-Professoren umzubringen — zum Beispiel, das Atmen wieder zu lernen …

Den Indio überzeugte er nicht.

Statt auf der Stelle zusammenzubrechen, griff er mit beiden Händen nach der Peitschenschnur und zerrte daran; und Indiana kam einen Sekundenbruchteil zu spät auf die Idee, den Stiel loszulassen, als er es plötzlich war, der haltlos auf den Indio zuge-zerrt wurde.

Als er es endlich tat, war es zu spät.

Der Indio ließ die Peitschenschnur los und packte statt dessen Indianas Schultern. Indiana fühlte sich von den Füßen und in die Höhe gerissen und herumgewirbelt, und eine Sekunde später wurde er mit solcher Wucht zwischen die scharfkantigen Felsen geschleudert, daß ihm schwarz vor Augen wurde.

Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen, so daß aus seinem schmerzerfüllten Schrei nur ein pfeifendes Keuchen wurde. Für einen Sekundenbruchteil drohten ihm die Sinne zu schwinden, und als sich sein Blick wieder klärte, war der Maya bereits wieder über ihm. Der Mann war ein Gigant, aber er hatte nichts von der plumpen Schwerfälligkeit der meisten großen Männer, sondern bewegte sich mit der kraftvollen Eleganz einer Raubkatze. Indiana hob in einer schwachen Abwehrbewegung die Hände, aber der Indio schlug seine Arme einfach beiseite, warf sich auf ihn und preßte ihn mit den Knien gegen den Boden, während sich seine gewaltigen Pranken wie die Backen eines Schraubstockes um Indianas Hals schlossen und unbarmherzig zuzudrücken begannen.

Indiana bäumte sich verzweifelt auf. Drei-, vier-, fünfmal hintereinander schlug er dem Riesen die Fäuste ins Gesicht, aber der schien die Schläge gar nicht zu spüren. Indianas Lungen schrien nach Luft. Vergeblich versuchte er den Indio abzuschütteln, warf sich hin und her und griff schließlich mit letzter Kraft nach seinen Händen, um die Daumen zurückzubiegen und so den Griff zu sprengen. Aber er spürte sehr bald, daß seine Kraft dazu nicht mehr reichte. Seine Sinne begannen sich bereits zu verwirren. Die Gestalt des Mayas verschwamm vor seinen Augen, sein Gesicht schien sich aufzublähen, bis es sein gesamtes Blickfeld ausfüllte …

Und dann geschah etwas völlig Unerwartetes. Der Griff des Indios lockerte sich. Zuerst noch zögernd, nach einer Sekunde zog er endgültig die Hände von Indianas Kehle zurück und starrte seinen Hals an.

Indiana rang keuchend nach Luft. Der Indio stand auf, blickte ihn noch einen Moment lang verstört an und wandte sich dann mit einer schwerfälligen Bewegung um.

Indiana sprang ihn an, als er sich über Swanson beugte.

Er legte jedes bißchen Kraft, das sich noch in seinem geschundenen Körper regte, in diese Bewegung, und sein Aufprall reichte, selbst diesen Giganten von den Füßen zu reißen.

Aber zu mehr auch nicht. Der Riese fiel, aber er drehte sich noch im Sturz herum und packte Indiana, und eine Sekunde später fand der sich zum zweiten Mal auf dem Rücken liegend, mit einem mindestens fünf Zentner schweren lebenden Berg aus Muskeln und Knochen auf seiner Brust. Und sein Gesichtsausdruck machte klar, daß er diesmal Ernst machen würde.

Der Indio ballte die Faust, um der Sache (und wahrscheinlich auch Indianas Leben) ein für allemal ein Ende zu bereiten. Blitzschnell stieß ihm Indiana Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand ins Auge.

Der Maya brüllte vor Schmerz, schlug beide Hände vor das Gesicht und kippte rücklings von Indianas Brust herunter. Indiana half der Bewegung mit einem gezielten Tritt nach, sprang auf die Füße — und stürzte zum dritten Mal, als der Maya nach seinem Fußgelenk griff und ihn mit einem harten Ruck aus dem Gleichgewicht brachte.

Diesmal kamen sie gleichzeitig auf die Füße. Indiana tauchte unter einem Fausthieb des Maya hindurch, schlug ihm drei-, viermal hintereinander gegen Brust und Leib und machte einen entsetzten Hüpfer zur Seite, als die Arme des Riesen wie Dreschflegel nach ihm schlugen.

Er war nicht schnell genug. Die Fäuste des Indios verfehlten ihn, aber seine Arme schlossen sich mit tödlicher Kraft um seinen Oberkörper und drückten zu.

Indiana versuchte seinen Griff zu sprengen, aber ebensogut hätte er auch versuchen können, die Backen einer Fünfzig-Tonnen-Presse mit bloßen Händen auseinanderzudrücken. Seine Rippen knackten hörbar. Pfeifend entwich die Luft aus seinen Lungen. Der Indio riß ihn in die Höhe und wirbelte ihn herum, wobei sich der Druck auf Indianas Brustkorb noch weiter verstärkte. Verzweifelt riß er die Arme hoch und schlug dem Riesen die flachen Hände gegen die Ohren; mehrmals und mit aller Gewalt. Der Indio stöhnte vor Schmerz, ließ aber nicht los, sondern drückte noch fester zu. Vor Indianas Augen begannen bunte Kreise zu tanzen, und er glaubte, sein Rückgrat knirschen zu hören. Mit einer letzten, verzweifelten Bewegung riß er das rechte Knie in die Höhe und stieß es dem Indio mit aller Kraft zwischen die Oberschenkel.

Der Maya brüllte auf, ließ Indiana fallen und stolperte in einer grotesken, halb zusammengekrümmten Haltung rückwärts. Aber aus seinem schmerzerfüllten Kreischen wurde schon nach wenigen Augenblicken ein zorniges Knurren, und als Indiana sich taumelnd auf die Füße stemmte, war das Flackern in seinem Blick kein Schmerz mehr, sondern pure Mordlust. Wenn er ihn jetzt in die Finger bekam, das begriff Indiana, dann würde er ihn umbringen. Schnell und gnadenlos und wahrscheinlich ohne daß Indiana auch nur das geringste dagegen tun konnte.

Aber zumindest konnte er es versuchen.

Als sich der Maya völlig aufrichtete, stürmte Indiana los und rammte ihm mit aller Kraft seinen Schädel in den Magen.

Es war ein Gefühl, als wäre er geradewegs gegen etwas von der Größe und Massigkeit der Cheopspyramide gelaufen. Ein dumpfer Schmerz raste durch seinen Kopf, jagte sein Rückgrat entlang und explodierte in seinem Rücken. Sein Mund war plötzlich voller Blut, als er sich selbst auf die Zunge biß.

Der Indio wankte nicht einmal.

Indiana brach wie in Zeitlupe in die Knie, sackte nach vorne und fing den Sturz im letzten Moment mit den Händen ab. Alles drehte sich um ihn herum. Stöhnend hob er den Kopf und blickte zu dem riesigen Maya empor, den er nur noch schemenhaft, aber ungeheuer groß über sich aufragen sah.

Der Indio rührte sich noch immer nicht.

Eine Sekunde verging, dann noch eine und noch eine, und der Riese verzichtete noch immer darauf, sowohl die Gelegenheit als auch Dr. Indiana Jones beim Schopfe zu ergreifen und ihm kurzerhand den Kopf von den Schultern zu reißen. Er starrte einfach auf ihn herab; aus großen, sonderbar starren Augen.

Dann fiel Indiana zweierlei auf.

Der Indio blickte eigentlich gar nicht ihn an, sondern starrte aus weit aufgerissenen Augen ins Leere.

Und der Geruch.

Der Gestank von schmorendem Haar und verbranntem Fleisch.

Trotzdem hätte er fast zu spät reagiert, als der Indio zu stürzen begann.

Stocksteif, in der gleichen starren Haltung, in der er dagestanden hatte, kippte der Maya nach vorne, und Indiana fand gerade noch Zeit, sich mit einer hastigen Bewegung zur Seite zu werfen, ehe der Riese wie ein Meteor aus Fleisch und Knochen dort aufprallte, wo er noch eben gekniet hatte.

Zwischen seinen Schulterblättern steckte wie die abgebrochene Klinge einer Axt ein dreieckiger, rotglühender Lavasplitter.

Indiana starrte das entsetzliche Bild eine Sekunde lang fassungslos an, dann sprang er mit einem entsetzten Hüpfer in die Höhe und wich zwei, drei Schritte von dem Toten zurück.

Alarmiert sah er sich um. Der Berg spie noch immer Feuer und brennende Steine aus, und das Schicksal des Maya zeigte deutlich, wie trügerisch die Sicherheit war, die der Lavahügel bot. Trotzdem überzeugte er sich gewissenhaft davon, daß dieser Maya der einzige war und sich zwischen den Spalten und Rissen des Hügels nicht noch mehr tödliche Überraschungen verbargen. Erst dann ging er zu Swanson zurück.

Sein Freund hatte das Bewußtsein verloren. Aber zumindest lebte er noch: seine Brust hob und senkte sich mit schnellen, unregelmäßigen Stößen, und seine Lippen zitterten. Als Indiana neben ihm niederkniete und ihm die Hand auf die Stirn legte, öffnete er die Augen und versuchte, den Kopf zu heben.

«Nicht bewegen«, sagte Indiana hastig.

«Was war … los?«murmelte Swanson schwach.»Wo bist du … gewesen? Ich … ich habe … gehört. Ist noch jemand … hier?«

Indiana blickte einen Herzschlag lang zu dem toten Maya hinüber. Er hatte gehofft, daß Swanson vielleicht gar nichts von dem mitbekommen hätte, was geschehen war.

Schließlich schüttelte er den Kopf und sagte laut:»Nein. Es ist nichts. Ich habe mich nur rasch umgesehen.«

«Und wie sieht es aus?«fragte Swanson.

«Nicht gut«, gestand Indiana nach kurzem Zögern.»Aber wir kommen schon durch. Ich glaube, dieser verdammte Berg beruhigt sich allmählich.«

«Hau ab, Indy«, murmelte Swanson.»Verschwinde, solange du es noch kannst. Rette dich.«

«Blödsinn. Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich dich hier einfach liegenlasse?«

«Ich sterbe«, sagte Swanson. Seine Stimme klang beinahe erleichtert, und es war nicht die mindeste Spur von Furcht darin.

«Unsinn!«widersprach Indiana.»So schnell stirbt es sich nicht. Laß mich nur ein paar Minuten ausruhen, dann bringe ich dich in die Stadt. Die Ärzte werden dich schon wieder zusammenflik-ken.«

Es war eine Lüge, und sie wußten es beide. Aber für einen Moment glaubte Indiana selbst daran, einfach weil er es glauben wollte.

«Laß mich … hier«, sagte Swanson mühsam. Seine Stimme wurde leiser. Sie zitterte jetzt, aber nicht vor Furcht, sondern nur vor Schwäche. Indiana brachte sein Ohr ganz dicht an das verwüstete Gesicht seines Freundes heran, um die Worte überhaupt noch verstehen zu können.

«Rette dich!«flüsterte Swanson.»Bring dich in Sicherheit. Ich sterbe sowieso.«

Diesmal widersprach Indiana nicht. Aber er ruhte sich auch nicht von der Stelle. Er wußte, daß Swanson die nächsten Minuten nicht überleben würde, und Swanson seinerseits schien zu spüren, daß Indiana nicht gehen würde. Er konnte es nicht. Das mindeste, was Indiana seinem Freund schuldig war, war, hier neben ihm sitzen zu bleiben, bis alles vorbei war.

Er hob den Kopf und blickte zum Berg hinauf. Der Gipfel des Vulkans war in blutiges, flackerndes Rot getaucht; dieselbe Farbe, die sich auf der Unterseite der brodelnden Wolken widerspiegelte, die den Himmel über dem Berg bedeckten. Immer wieder schossen Flammen und ganze Lawinen glühender Gesteinsbrok-ken aus dem Krater empor, und überall an seinen Flanken brachen neue glutrote Risse auf. Der Wald brannte, soweit er blicken konnte, aber sie hatten trotz allem noch Glück im Unglück gehabt: Die Regenzeit hatte vor wenigen Tagen mit aller Macht eingesetzt, und der tropische Regenwald war vollgesogen mit Feuchtigkeit, so daß selbst das Höllenfeuer des Vulkans ihn nicht vollständig in Brand setzen konnte.

Vielleicht hatte er noch eine Chance. Er.

Der Gedanke erfüllte ihn beinahe mit Zorn. Es war einfach nicht gerecht! Für einen Moment haßte er sich fast selbst dafür, noch am Leben zu sein. Dann begriff er, wie absurd dieser Gedanke war und wie falsch. Denn er machte das, was Swanson für ihn getan hatte, zu einem Nichts. Er schämte sich für seine eigenen Gedanken.

Indianas Augen füllten sich mit Tränen, als er seinen Blick vom feuerspeienden Gipfel des Berges losriß und wieder seinen sterbenden Freund ansah.

Wären sie doch niemals hierhergekommen! Er hatte kein gutes Gefühl dabei gehabt, von Anfang an nicht, aber der Abenteurer in ihm war stärker gewesen als die schwache Stimme seiner Vernunft. Swanson hatte sich nicht einmal sonderlich anstrengen müssen, um ihn zu dieser improvisierten Expedition zu überreden. Die Vorstellung allein, im Krater dieses erloschenen Vulkans vielleicht etwas zu finden, das seit fünfhundert oder auch tausend Jahren keines Menschen Auge mehr erblickt hatte, hatte auch seine letzten Zweifel beseitigt.

Erloschener Vulkan …

Die Worte hallten wie böser Spott hinter Indianas Stirn nach. Der letzte Ausbruch dieses Vulkans war mehr als zweihundert Jahre her. Jedenfalls hatte man ihm das gesagt. Und dann mußte er ausgerechnet in dem Moment wieder ausbrechen, in dem sie sich dem Kraterrand näherten!

Er verscheuchte auch diesen Gedanken, fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht, um die Tränen fortzuwischen, von denen er sich vergeblich einzureden versuchte, daß sie nur durch Rauch und Hitze entstanden waren, und beugte sich wieder zu Swanson hinab. Dessen Lippen bewegten sich. Im ersten Moment hatte Indiana Mühe, die geflüsterten Worte überhaupt noch zu verstehen. Swansons Stimme war nur noch ein Hauch.

«…Tochter«, verstand Indiana. Swanson sagte noch mehr, aber dieses eine Wort war das einzige, das er wirklich identifizieren konnte.

Swansons Hand löste sich aus der seinen, kroch langsam über seinen Oberkörper und versuchte, etwas unter dem Hemd hervorzuziehen. Indiana sah ein dünnes goldenes Blitzen und streckte ebenfalls die Hand aus. Sehr behutsam, um Swanson nicht noch mehr Qualen zu bereiten, löste er die dünne Kette mit dem kleinen goldenen Anhänger vom Hals seines Freundes und ließ sie in dessen offene Hand fallen. Swansons Finger schlossen sich mit einem Ruck darum, hielten sie für einen Moment mit aller Kraft fest und öffneten sich wieder.

«Gib das … meiner … Tochter«, sagte er. Er schien all seine Kraft mobilisiert zu haben, um diese vier Worte zu sprechen, denn seine Stimme wurde noch einmal klar und verständlich.»Bring es … ihr. Sag ihr … daß …«

Er sprach nicht weiter.

Und es dauerte fast zehn Sekunden, bis Indiana begriff, daß er den Satz nie beenden würde.

Er war tot.

Wieder füllten sich seine Augen mit Tränen, und diesmal versuchte er nicht mehr, sie zurückzuhalten. Minutenlang saß er einfach da und ließ seinem Schmerz freien Lauf, bis er sich wieder soweit in der Gewalt hatte, die Hand auszustrecken und vorsichtig die Kette mit dem kleinen Goldanhänger aus Swansons Fingern zu nehmen.

Der Anhänger war winzig, beinahe unscheinbar; kaum größer als der Nagel seines kleinen Fingers. Auf den ersten Blick wirkte er wie wertloser Tand, aber wenn man genauer hinsah, dann konnte man eine verborgene Eleganz und Kunstfertigkeit unter den scheinbar groben Linien erkennen. Er stellte eine zusammengerollte Schlange dar, aus deren Schädel ein weit gespreizter Federbusch wuchs: Quetzalcoatl, der gefiederte Schlangengott der Maya.

Die Geschichte der alten südamerikanischen Völker war Swansons Spezialgebiet gewesen. Indiana erinnerte sich gut an all die zahllosen Abende und Nächte, die sie zusammengesessen und über die Geheimnisse dieser versunkenen Hochkultur geredet hatten. Und sie war letztendlich auch der Grund ihres Hierseins. Swanson hatte ihm bis zum letzten Moment nichts wirklich Definitives erzählt, aber er hatte gewisse Andeutungen gemacht, aus denen Indiana geschlossen hatte, daß er im Inneren dieses erloschenen Vulkankraters etwas Sensationelles zu finden hoffte.

Das einzige, was er gefunden hat, dachte Indiana bitter, ist der Tod.

Zwei endlose Minuten saß er einfach da und blickte den winzigen, blitzenden Anhänger an, dann richtete er sich auf, wollte die Kette in die Tasche stecken und überlegte es sich im letzten Moment anders. Mit einer raschen Bewegung streifte er sie über den Kopf und verstaute den Anhänger sorgsam unter dem Hemd.

Indiana ging noch einmal zu dem toten Maya hinüber. Er war jetzt sicher, daß er sich die Gestalt unten im Wald nicht eingebildet hatte, sondern daß es sich um denselben Mann handelte. Er mußte ihnen vom Berg aus bis hierher gefolgt sein; und vielleicht schon vorher.

Vorsichtig und von dem absurden, aber sehr intensiven Gefühl erfüllt, etwas zu tun, das er besser nicht tun sollte, ließ er sich neben dem toten Riesen auf die Knie sinken und drehte ihn auf den Rücken.

Das Gesicht des Riesen war im Tode verzerrt, aber nicht einmal die für alle Zeit erstarrte Qual und die dicke Farbschicht konnten die charakteristischen Züge verbergen: die scharfe Nase, das breite Kinn und die leicht fliehende Stirn. Der Mann war ein reinrassiger Maya.

Indiana blieb so lange sitzen und blickte abwechselnd das Gesicht des toten Indios, den winzigen Quetzalcoatl-Anhänger und den feuerspeienden Vulkankegel an. Was um alles in der Welt hatte Swanson dort oben zu finden gehofft?

Er zögerte noch ein letztes Mal, ehe er sich erhob und langsam den Hügel hinabstieg. Swanson einfach hier liegenzulassen kam ihm wie ein Verrat vor, aber er hatte gar keine andere Wahl. Und Swanson hätte nicht gewollt, daß er jetzt etwas Dummes tat und vielleicht doch noch starb.

Dafür war der Preis, den er selbst für Indianas Leben gezahlt hatte, entschieden zu hoch.

Und plötzlich fühlte Indiana fast so etwas wie Trotz. Es war, als gehöre sein Leben jetzt nicht mehr ganz ihm. Mit dem, was Swanson getan hatte, hatte er es ein bißchen auch zu seinem eigenen gemacht, und er würde nicht zulassen, daß dieser verdammte Berg seinen Freund zum zweiten Mal umbrachte.

Rings um ihn herum stand der Wald in Flammen, und vielleicht verbargen sich irgendwo in diesem Dschungel noch mehr Nachkommen Montezumas, die ihm nach dem Leben trachteten, bebte die Erde und regnete Asche, glühendes Gestein und Flammen vom Himmel, aber irgendwie würde er es schon schaffen, hier herauszukommen.

Irgendwie.

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