Piedras Negras. Yucatan

Obwohl mehr als drei Jahre vergangen waren, hatte sich nichts in der Stadt verändert. Die Zeit schien hier stehengeblieben zu sein. Die Häuser rechts und links der schlammigen Straße waren noch immer klein und schmutzig, die vornehmlich weiß gekleideten Menschen mit den dunklen Gesichtern und breitkrempigen Sombreros blickten die hellhäutigen Gringos noch immer voller Mißtrauen und Furcht an, und selbst der Staub in den Gläsern, die der Besitzer der Cantina vor ihnen auf den Tisch gestellt hatte, schien noch derselbe zu sein wie vor drei Jahren.

Es war ein sonderbares Gefühl, hierher zurückzukehren — und nicht nur, weil dies der Ort war, von dem aus Greg und er zu ihrer letzten Expedition aufgebrochen waren. Wie schon damals, so hatte er auch jetzt kein gutes Gefühl. Sie waren Fremde hier, und sie waren Fremde, die nicht erwünscht waren. Niemand hatte es gesagt, niemand ließ es sie spüren, und doch fühlte Indiana es überdeutlich. Sie sollten nicht hier sein. Schon Greg und er hätten nicht herkommen sollen, und Norten und Bentley und er erst recht nicht.

Nortens Rückkehr riß ihn aus seinen düsteren Überlegungen in die Wirklichkeit zurück. Sie waren vor zwei Stunden hier angekommen — er selbst, Professor Norten und Bentley, der Offizier, von dem er gesprochen hatte, sowie zwei breitschultrige Marinesoldaten, an deren Loyalität Bentley gegenüber Indiana nicht den Bruchteil einer Sekunde zweifelte.

Obwohl Indiana dagegen Einspruch erhoben hatte, hatten Bent-ley und auch Norten darauf bestanden, daß Anita an Bord der SARATOGA zurückblieb; eingeschlossen in ihre Kabine und bewacht von zwei bewaffneten Matrosen.

Und wahrscheinlich hatte Bentley auch entsprechende Befehle gegeben, was mit ihr zu geschehen hatte, sollten er und die anderen nicht zurückkehren.

Norten hatte sie hier in diesem schmuddeligen Lokal im Stadtzentrum von Piedras Negras zurückgelassen, um gewisse Erkundigungen einzuziehen, wie er es ausgedrückt hatte. Welcher Art diese Erkundigungen waren, hatte er nicht gesagt — aber dem Ausdruck seines Gesichts nach zu schließen, war das Ergebnis alles andere als zufriedenstellend ausgefallen.

Norten kam an ihren Tisch, gab dem Mann hinter der Theke einen Wink und ließ sich schwer auf einen der wackeligen Stühle fallen, der unter der groben Behandlung protestierend ächzte. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Auf dem Rücken und unter den Achseln seines weißen Leinenanzugs hatten sich dunkle Flecken gebildet, und in seinen Augen stand ein Ausdruck tiefer Erschöpfung. Nichts davon überraschte Indiana. Selbst hier drinnen war es so warm, daß sie alle in Schweiß gebadet waren; draußen war es schlichtweg unerträglich.

«Nun?«Indiana wandte sich fragend an Norten.

Norten seufzte tief und wollte antworten, wartete dann aber, denn im selben Moment trat der Wirt an den Tisch und servierte ihm das bestellte Getränk. Erst als der Mann wieder außer Hörweite war, seufzte er abermals und schüttelte den Kopf.»Es sieht so aus, als wäre José noch nicht hier«, sagte er.»Anscheinend waren wir schneller als er.«

«Oder er und seine Begleiter gehen direkt zum Tempel«, murmelte Indiana.

Norten zuckte mit den Achseln und kippte den Inhalt seines Glases in einem Zug hinunter.»Das ist möglich«, sagte er.»Aber ich glaube es nicht. Seine Kanus werden kaum schneller gewesen sein als unser Flugzeug.«

«Und woher kommt diese Niedergeschlagenheit?«erkundigte sich Bentley.

Norten maß ihn mit einem fast zornigen Blick.»Ich habe versucht, einen Lastwagen auf zutreiben«, antwortete er.

«Versucht?«

«Keine Chance«, sagte Norten.»Es gibt nur zwei Wagen im ganzen Ort. Ich habe am Schluß genug geboten, um die beiden Schrotthaufen zu kaufen. Es war sinnlos.«

«Dann beschlagnahmen wir sie«, schlug Bentley vor.

Norten antwortete gar nicht darauf, während Indiana nur leise und humorlos lachte.»Wir sind hier in Mexiko, Commander«, sagte er ruhig.»Sie können hier nichts beschlagnahmen.«

«Wenn Ihnen das Wort ›stehlen‹ lieber ist — bitte«, erwiderte Bentley achselzuckend. Er warf den beiden Marinesoldaten einen fragenden Blick zu.»Sehen Sie darin irgendwelche Probleme?«

Die beiden schüttelten fast in einer Bewegung den Kopf.»Keine Probleme, Sir.«

«Sehen Sie, Dr. Jones«, grinste Bentley.»Die Transportfrage wäre also geklärt. Ich schlage allerdings vor, daß wir bis nach dem Dunkelwerden warten, ehe wir die beiden Wagen requirieren.«

«Und so etwas aus dem Mund eines amerikanischen Offiziers?«fragte Indiana spöttisch.

Bentleys Gesicht verdüsterte sich.»Ich glaube, es geht hier um mehr als um zwei altersschwache Lastwagen, Dr. Jones.«

Indiana wollte antworten, aber in diesem Moment fiel ihm eine Bewegung draußen auf der Straße auf, und er stockte.

Vor der offenstehenden Tür der Cantina stand ein alter Mann. Im grellen Gegenlicht der Sonne war er fast nur ein Schatten, flach und schwarz und mit einem Gesicht, dessen Züge mehr zu erahnen als wirklich zu erkennen waren. Und trotzdem hatte Indiana das Gefühl, ihn kennen zu müssen. Zwar …

Der Mann drehte sich um und schlurfte mit kleinen, mühsamen Schritten und weit vorgebeugten Schultern davon, und im gleichen Augenblick entglitt Indiana der Gedanke; so abrupt, als hindere ihn etwas daran, ihn zu Ende zu denken.

«Was haben Sie?«fragte Norten alarmiert. Auch er blickte auf die Straße hinaus, aber der alte Mann war mittlerweile schon verschwunden, so daß er nichts als die staubige Hauptstraße von Piedras Negras sehen konnte, die in der Mittagsglut stöhnte.

«Nichts«, antwortete Indiana verstört.»Ich dachte, ich hätte … etwas gesehen.«

«Was gesehen?«hakte Bentley nach. Einer der beiden Soldaten stand auf und warf ihm einen fragenden Blick zu, aber Bentley hob beruhigend die Hand, als Indiana abermals den Kopf schüttelte.

«Nichts«, sagte Indiana noch einmal.»Ich sagte doch: Ich habe mich geirrt.«

Norten musterte ihn noch eine Sekunde lang sehr mißtrauisch, aber dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder an Bentley.»Wir sollten uns um Zimmer kümmern«, sagte er.»Bis heute abend können wir ohnehin nichts unternehmen. Ein paar Stunden Schlaf tun uns sicher allen gut — wer weiß, ob wir heute nacht welchen bekommen.«

«Das ist schon erledigt«, antwortete Bentley mit einer Kopfbewegung auf den Mann hinter der Theke.»Er hat ein paar Zimmer, gleich hier im Haus.«

Norten seufzte, fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht und stand mit einer müden Bewegung auf. Auch Bentley, der Offizier und die beiden Soldaten erhoben sich. Nur Indiana blieb sitzen.

«Worauf warten Sie, Dr. Jones?«fragte Norten.

«Ich … bin nicht müde«, antwortete Indiana zögernd.»Aber ich würde hier gerne noch etwas sitzen und trinken — wenn Sie nichts dagegen haben.«

Ein fast mitleidiges Lächeln huschte über Nortens Züge.»Ich habe sehr wohl etwas dagegen, Dr. Jones«, antwortete er.

«So?«

«Ja«, bestätigte Norten.»Ich möchte nämlich sicher sein, daß Wir alle zusammen heute abend die Stadt verlassen und versuchen, den Tempel zu finden.«

Indiana ersparte sich jeden Protest. Norten lächelte zwar weiter, und auch Bentleys Gesicht blieb unbewegt, aber einer der beiden Soldaten war hinter seinen Stuhl getreten. Und er sah nicht nur so aus, als wäre er kräftig genug, Indiana mit einer Hand zu packen und die Treppe hinaufzuschleifen, sondern auch durchaus willens, dies zu tun, wenn ihm Bentley oder der Professor den entsprechenden Befehl erteilten.

«Einen Versuch war es wert, oder?«fragte Indiana seufzend, während er seinen Stuhl zurückschob und aufstand.

«Sicher«, erklärte Norten ungerührt.»Und damit Sie nicht auf die Idee kommen, noch weitere Versuche in dieser Richtung zu unternehmen, wird einer dieser beiden Herren vor Ihrer Tür Wache halten, bis wir aufbrechen.«

Ohne ein weiteres Wort wandte sich Indiana um und ging die Treppe ins erste Stockwerk hinauf.

Die drei Zimmer, die Bentley angemietet hatte, lagen nebeneinander und waren winzig. Indianas Kammer bot kaum genug Platz für das wackelige Bett und den nicht minder wackeligen Stuhl, der daneben stand. Ein Luxus wie einen Tisch oder gar einen Schrank gab es nicht.

Norten trat hinter ihm ein, machte einen Schritt an ihm vorbei zum Fenster und öffnete es. Ein Schwall stickiger, warmer Luft drang von draußen herein und machte das Atmen noch schwieriger. Norten blinzelte eine Sekunde lang in das grelle Sonnenlicht, dann deutete er mit einer Handbewegung auf die Straße hinab.»Eine hübsche Aussicht, nicht?«

Indiana zögerte einen Moment, aber dann tat er ihm den Gefallen, neben ihn zu treten und aus dem Fenster zu sehen.

Die Straße lag wie ausgestorben in der Mittagsglut da. Die Luft flimmerte vor Hitze, und das Sonnenlicht war so intensiv, daß es ihm Tränen in die Augen trieb. Trotzdem konnte er die Gestalt, die auf der anderen Straßenseite an einer Mauer lehnte und rauchte, deutlich erkennen. Sie war sehr groß, dunkelhaarig, trug einen mit dunklen Schweißflecken übersäten weißen Leinenanzug und hatte vor zwei Minuten noch neben ihm unten am Tisch gesessen. So viel zu seinem Gedanken, zu warten, bis Norten und die anderen eingeschlafen waren, und dann aus dem Fenster zu steigen.

Mit einem Ruck wandte er sich vom Fenster ab, ließ sich auf das Bett fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Nor-ten sah ihn noch einen Moment lang an, als erwarte er, daß er etwas sagen wolle, aber dann zuckte er nur mit den Achseln und wollte zur Tür gehen.

Als er die Hand nach der Klinke ausstreckte, rief Indiana ihn noch einmal zurück.»Norten?«

«Ja?«

«Nur eine Frage«, sagte Indiana, ohne den Professor anzusehen.»Und ich hätte gerne eine ehrliche Antwort darauf.«

Norten schwieg.

«Waren Sie wirklich mit Greg befreundet?«fragte Indiana, noch immer, ohne den grauhaarigen Archäologen anzusehen.»Oder haben Sie es ihm nur vorgespielt, weil Sie ihn brauchten — so wie mich?«

«Freunde …«Norten betonte das Wort, als müsse er erst über seine wirkliche Bedeutung nachdenken. Dann zuckte er mit den Schultern.»Ich weiß es nicht«, gestand er.»Das ist ein großes Wort, Dr. Jones. Swanson war mein Schüler, wenn Sie das meinen, und einer meiner besten Schüler, möchte ich hinzufügen. Ich … mochte ihn.«

Er überlegte einen Moment.»Ich glaube, ja. Es muß wohl so etwas wie Freundschaft gewesen sein, was ich für ihn empfand. Warum fragen Sie?«

«Wenn das wirklich die Wahrheit ist«, antwortete Indiana,»dann müßte Ihnen das Mädchen doch auch etwas bedeuten.«

«Joana?«Norten nickte.»Sicher. Ich mag sie. Und Sie …«

«Sie hat Sie wirklich gern, Norten«, unterbrach ihn Indiana und richtete sich auf die Ellbogen auf, um Norten ins Gesicht zu sehen.»Sie wissen das. Für das Mädchen sind Sie so etwas wie ein zweiter Vater. Ist Ihnen das klar?«

Norten wirkte ein bißchen betroffen. Aber er antwortete nicht, sondern sah Indiana nur fragend an.

«Wenn Sie Ihnen wirklich etwas bedeutet«, fuhr Indiana fort,»dann verstehe ich nicht, warum Sie ihr nicht helfen wollen. Sie ist in Gefahr, solange sie sich in der Gewalt dieses Verrückten befindet. In Lebensgefahr.«

«Er wird ihr nichts tun«, antwortete Norten. Aber es klang nicht sehr überzeugt.»Nicht, solange er glaubt, sie als Druckmittel gegen Sie benutzen zu können, Dr. Jones.«

«So wie Sie?«hakte Indiana nach.

Diesmal war der betroffene Ausdruck auf Nortens Gesicht sehr viel stärker. Drei, vier Sekunden lang blickte er Indiana mit einer Mischung aus Bestürzung und Zorn an, seine Lippen wurden zu einem dünnen, blutleeren Strich, und er bewegte die Hände, als wolle er sie zu Fäusten ballen. Aber dann fuhr er wortlos auf dem Absatz herum, stürmte aus dem winzigen Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloß.

Indiana ließ sich enttäuscht zurücksinken. Im Grunde hätte ihm klar sein müssen, wie wenig Sinn es hatte, auf diese Weise mit Norten reden zu wollen. Der Professor war besessen; so verrannt in seine Idee, daß er weder auf sich noch auf andere Rücksicht nehmen würde. Aber Indiana war der warme, fast väterliche Blick keineswegs entgangen, mit dem Norten Joana auf seiner Hazienda auf Kuba in die Arme geschlossen hatte. Er hatte es wenigstens versuchen müssen.

Eine gute halbe Stunde blieb er mit offenen Augen auf dem Bett liegen und starrte die schmutzige Decke über sich an. Er sah fünf- oder sechsmal auf die Uhr in dieser Zeit, und jedesmal kam es ihm so vor, als hätten sich die Zeiger nicht einmal weiterbewegt. Und bis zum Sonnenuntergang waren noch mindestens sieben oder acht Stunden — Norten hatte schließlich keinen Zweifel daran gelassen, daß sie spätestens bei Dunkelwerden aufbrechen würden, um den Maya-Tempel zu suchen; ob José und Joa-na bis dahin eingetroffen waren oder nicht.

Schließlich hielt er die Untätigkeit nicht mehr aus, stand auf und ging zur Tür. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter, öffnete sie einen Spaltbreit und lugte hindurch.

Das einzige, was er sah, war der durchgeschwitzte Rücken eines khakifarbenen Hemdes, das sich über einem Paar mit gewaltigen Muskeln bepackter Schultern spannte. Indiana überlegte eine Sekunde lang, es einfach zu riskieren und den Mann niederzuschlagen; mit Norten und Bentley fertig zu werden, traute er sich ohne weiteres zu. Und ehe der zweite Mann von der Straße hereingelaufen war, konnte er das Gebäude vielleicht schon verlassen haben.

Aber als hätte er seine Gedanken gelesen, drehte sich der Soldat vor der Tür in diesem Moment herum und blickte ihn an.»Haben Sie irgendwelche Wünsche, Dr. Jones?«fragte er.

«Nein«, antwortete Indiana.»Ich wollte nur nachsehen ob …«

«Ob?«

«Nichts«, sagte Indiana.»Es ist schon gut. «Er schloß die Tür wieder, ging zum Fenster und blickte auf die Straße hinab.

Das Bild hatte sich nicht geändert, als wäre die Zeit tatsächlich stehengeblieben. Der Ort lag noch immer wie ausgestorben unter ihm, und das einzige menschliche Wesen, das er sah, war noch immer der Mann, der auf der anderen Straßenseite an einer Wand lehnte und sein Zimmer im Blick behielt. Als er Indiana am Fenster entdeckte, hob er die Hand und winkte ihm spöttisch zu.

Indiana schenkte ihm einen finsteren Blick und wollte sich schon wieder umwenden, als er doch noch eine Bewegung bemerkte: am nördlichen Ende der Straße, fast schon außerhalb seines Blickfeldes, hatte sich eine Tür geöffnet, und eine weißgekleidete Frau mit dunklem Haar trat aus dem Haus.

Und es war nicht irgendeine Frau — es war Anita.

Indiana riß verblüfft die Augen auf. Was er sah, war vollkommen ausgeschlossen! Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Bentley Josés Frau in ihre Kabine eingeschlossen hatte. Und selbst, wenn es ihr irgendwie gelungen sein sollte, daraus zu entkommen — es war einfach unmöglich, daß sie hier war! Das Schiff befand sich gute dreißig Seemeilen von der Küste von Yu-catan, und der Weg von dort bis hierher betrug noch einmal gute zweihundert Meilen! Selbst mit dem Flugzeug hatten sie fast vier Stunden gebraucht, um hierherzukommen.

Aber unmöglich oder nicht — sie war es. Es gab überhaupt keinen Zweifel. Es war ihr Gesicht, ihr Haar, ihre Art, sich zu bewegen.

Indiana beobachtete fassungslos, wie sie weiter auf die Straße hinaustrat, einen Moment stehenblieb und sich aufmerksam nach rechts und links umsah; in der Haltung eines Menschen, der etwas sucht — oder auf jemand wartet. Und es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich auszurechnen, auf wen sie wartete.

Indiana blickte noch einmal zu dem Soldaten auf der anderen Straßenseite hinüber. Auch er hatte Anita bemerkt und sah in ihre Richtung; aber er stand weiter völlig entspannt und gegen die Hausmauer gelehnt da. Ganz offensichtlich hatte er sie nicht erkannt, sondern blickte sie einfach nur an, weil sie eine attraktive Frau war.

Indiana warf alle Bedenken über Bord, eilte noch einmal zum Bett zurück, um seinen Hut und die zusammengerollte Peitsche zu holen, die Norten ihm als einzige Waffe mitzunehmen gestattet hatte, und schwang sich dann mit einer einzigen, entschlossenen Bewegung aus dem Fenster. Seine Finger fanden an dem mürben Holz des Rahmens kaum Halt, aber seine tastenden Füße trafen auf Widerstand. Eine halbe Sekunde lang hing er so fast erstarrt an der Wand, dann löste er mit klopfenden Herzen die rechte Hand von ihrem Halt und suchte nach irgend etwas, woran er sich festhalten konnte, um an der Mauer hinabzuklettern.

«Heda!«

Indiana widerstand der Versuchung, sich herumzudrehen und zu dem Mann hinüberzublicken, der seinen Fluchtversuch offensichtlich bemerkt hatte. Mit zusammengebissenen Zähnen kletterte er weiter an der Mauer hinab.

«Dr. Jones! Was soll der Unsinn?! Wollen Sie sich den Hals brechen?«

Schwere, schnelle Schritte näherten sich ihm, und Indiana sah nun doch über die Schulter zurück.

Der Mann hatte seinen Posten auf der anderen Straßenseite verlassen und kam mit weit ausgreifenden Schritten und sehr wütendem Gesichtsausdruck auf ihn zu. Gleichzeitig hörte er, wie im Zimmer über ihm die Tür aufflog und knallend gegen die Wand prallte, und eine halbe Sekunde später erschien ein zweites, ebenso aufgebrachtes Gesicht in der Fensteröffnung über ihm. Eine Hand streckte sich nach ihm aus und versuchte ihn zu packen. Indiana drehte hastig den Kopf zur Seite, so daß die ausgestreckten Finger ihm nur den Hut vom Kopf fegten, aber die plötzliche Bewegung war zuviel. Seine Finger- und Zehenspitzen, die sich in winzige Vertiefungen und Risse des Mauerwerks gekrallt hatten, verloren ihren Halt, und er spürte, wie er zu stürzen begann.

Indiana tat das einzige, was ihm noch blieb — er versuchte nicht, sich weiter festzuklammern, sondern stieß sich im Gegenteil mit aller Kraft von der Wand ab und drehte sich gleichzeitig herum.

Der Mann unter ihm war so verblüfft, daß er nicht einmal einen Schreckenslaut hervorstieß, als Indiana aus gut vier Metern Höhe auf ihn herunterstürzte und ihn mit sich zu Boden riß.

Der Aufprall trieb Indiana die Luft aus den Lungen und ließ bunte Sterne vor seinen Augen tanzen, aber der Soldat verlor auf der Stelle das Bewußtsein.

«Stehenbleiben!«brüllte der Mann über ihm im Fenster.»Dr. Jones, bleiben Sie stehen, oder ich schieße!«

Was Indiana natürlich nicht tat.

Ganz im Gegenteil sprang er hastig hoch, machte einen Schritt in Anitas Richtung, die bei dem plötzlichen Lärm stehengeblieben war, und lief dann noch einmal zwei Schritte zurück, um seinen Hut aufzuheben.

Die Bewegung rettete ihm wahrscheinlich das Leben, denn die Worte des Soldaten waren keine leere Drohung gewesen. Über ihm krachte ein Schuß, und da, wo er gestanden hätte, hätte er sich nicht noch einmal herumgedreht, riß eine winzige Explosion den Straßenstaub auf.

Indiana prallte entsetzt zurück, preßte sich eine halbe Sekunde lang gegen die Wand unter dem Fenster und warf sich instinktiv zur Seite, als er eine Bewegung über sich registrierte.

Die zweite Kugel verfehlte ihn nur um Millimeter, riß eine qualmende Furche in den Putz neben seiner Schulter und heulte als Querschläger davon.

Als sich der Soldat fluchend vorbeugte, um zum dritten Mal auf ihn zu zielen, schlug Indiana mit der Peitsche zu.

Die Schnur war nicht einmal lang genug, um das Fenster zu erreichen, aber die vermeintliche Gefahr erschreckte den Mann so sehr, daß er in seiner weit vorgebeugten Haltung im Fenster die Balance verlor und mit einem Schrei nach vorne kippte.

Indiana wartete nicht einmal, bis er zu Boden gestürzt war, sondern rannte mit weit ausgreifenden Schritten hinter Josés Frau her.

«Anita!«schrie er.»Bleiben Sie stehen!«

Doch statt auf ihn zu warten, fuhr Anita mit einer erschrockenen Bewegung herum und lief die Straße hinab. Ihr enges Kleid und die hohen Schuhe, die sie trug, behinderten sie, so daß sie nicht sehr schnell laufen konnte. Aber sie hatte einen gehörigen Vorsprung, und ehe Indiana diesen auch nur zur Hälfte hatte wettmachen können, wandte sie sich nach links und verschwand in einer schmalen Gasse zwischen zwei Häusern.

Indiana fluchte ungehemmt, rannte noch schneller und warf im Laufen Blicke über die Schulter zurück. Einer der beiden Soldaten erhob sich bereits wieder, und genau in diesem Moment flog auch die Tür der Cantina auf, und Norten, Bentley und der Offizier der SARATOGA stürmten ins Freie.

Indiana verdoppelte seine Anstrengungen, Josés Frau einzuholen. Keuchend stürmte er in die Gasse, in der sie untergetaucht war, gerade noch rechtzeitig, um einen Zipfel ihres weißen Kleides in einer Tür verschwinden zu sehen. Mit weit ausgreifenden Schritten setzte Indiana ihr nach, sprengte die Tür kurzerhand mit der Schulter auf und fand sich unversehens in einem dunklen, von angenehmer Kühle erfüllten Hausflur wieder. Ein halbes Dutzend Türen zweigte von diesem Korridor ab, und zur Linken führte eine steile Treppe mit ausgetretenen Stufen in den oberen Teil des Gebäudes.

Indiana verschwendete eine Sekunde damit, mit geschlossenen Augen stehenzubleiben und zu lauschen, aber er hörte nichts. Das Haus schien genauso ausgestorben zu sein wie die Straße und die gesamte Stadt.

Seine Gedanken rasten. Norten und die anderen waren bereits auf dem Weg hierher. Er hatte einfach keine Zeit, eine Tür nach der anderen aufzureißen und die dahinterliegenden Räume zu durchsuchen; ganz davon abgesehen, daß deren Bewohner mit Sicherheit nicht damit einverstanden wären. Einer Panik nahe, versuchte er sich in die Lage eines Menschen zu versetzen, der blindlings hier hereingestürzt kam. Wohin würde er sich wenden?

Sein Blick blieb an der Treppe hängen. Er hatte keine Ahnung, wohin sie führte — aber die hatte Anita wahrscheinlich auch nicht gehabt. Kurz entschlossen wandte er sich nach links und lief, jedesmal drei oder vier Stufen auf einmal mit gewaltigen Sätzen nehmend, nach oben.

Als er den ersten Absatz erreicht hatte, flog die Tür unter ihm mit einem gewaltigen Krachen auf, und Norten und die anderen stürmten herein. Indiana konnte ihre aufgeregten Stimmen hören, und einen Augenblick später ein weiteres Krachen und Poltern, als sie unverzüglich damit begannen, die Türen aufzureißen. Zornige Stimmen erklangen, und fast unmittelbar darauf das helle Klatschen eines Schlages, gefolgt vom dumpfen Aufprall eines Körpers. Offensichtlich hielten sich Bentleys Männer nicht damit auf, Fragen zu stellen.

Indiana sah sich gehetzt um. Sie würden nur Augenblicke brauchen, um die unteren Räume zu durchsuchen und Anita entweder aufzuspüren — oder hier heraufzukommen, um ihre Suche hier oben fortzusetzen. Sein Blick tastete über die geschlossenen Türen, von denen es auch hier oben ein gutes halbes Dutzend gab.

Beinahe wahllos entschied er sich für die nächstliegende, ging hin und drückte die Klinke herunter.

Die Tür rührte sich nicht. Sie war verschlossen. Das Holz machte zwar nicht den Eindruck, als würde es einem ernstgemeinten Versuch, es aufzubrechen, länger als ein paar Sekunden widerstehen. Aber der Lärm, den er dabei machen würde, mußte unten gehört werden.

Indiana wandte sich der nächsten Tür zu und fand auch sie verschlossen. Plötzlich hörte er ein Geräusch am Ende des Korridors.

Die letzte Tür auf dem Gang hatte sich einen Spaltbreit geöffnet, und ein Schimmern von weißem Stoff leuchtete im Halbdunkel dahinter. Ein Paar dunkler, schreckgeweiteter Augen blickte zu Indiana hinaus.»Dr. Jones! Hierher!«

Anitas Stimme war nur ein gehetztes Flüstern, und trotzdem bildete sich Indiana für eine Sekunde lang ein, es müßte überall im Haus deutlich zu hören sein. Er warf noch einen sichernden Blick zur Treppe zurück und huschte dann zu ihr, so schnell und so leise er konnte.

Anita öffnete die Tür gerade weit genug, daß er hindurchschlüpfen konnte, drückte sie hastig hinter ihm wieder zu und legte einen Riegel vor, der so aussah, als könnte ihn selbst ein fünfjähriges Kind aufbrechen.

Indiana drehte sich verwirrt zu ihr herum und wollte eine Frage stellen, aber Anita winkte hastig ab und legte den Zeigefinger auf die Lippen.»Nicht jetzt!«flüsterte sie.»Still!«

Indiana gehorchte. Während Anita an der Tür stehenblieb und das Ohr gegen das Holz preßte, um zu lauschen, trat er einen Schritt zurück und sah sich im Zimmer um. Sie waren nicht allein. An einem dreibeinigen Tisch unter dem einzigen Fenster saßen ein vielleicht dreißigjähriger Mann und eine dunkelhaarige Frau im gleichen Alter, die ein schmuddeliges Kind auf den Knien hielt. Keiner von ihnen gab auch nur einen Laut von sich, aber alle drei blickten Indiana und Anita mit einer Mischung aus Verwirrung und tiefem Schrecken an, die er im ersten Moment nicht verstand.

Dann sah er, daß sie gar nicht sie ansahen — ihr Blick war auf einen Punkt irgendwo zwischen Anita und ihm fixiert, auf eine Stelle mitten im Zimmer, wo absolut nichts war, und als er sich bewegte, reagierte keiner der drei. Es war, als wären sie in einem Moment zeitlosen Schreckens erstarrt und nähmen gar nicht mehr wahr, was rings um sie vorging.

Verblüfft riß sich Indiana von dem Anblick los und wandte sich wieder Anita zu, aber sie fuchtelte erneut mit der Hand und bedeutete ihm, still zu sein.

Draußen auf dem Gang polterten jetzt Schritte, und Indiana konnte hören, wie die Türen eine nach der anderen geöffnet — und zum Teil auch aufgebrochen — wurden. Noch ein paar Sekunden, dachte er, und sie sind hier.

Er sah sich nach etwas um, was er als Waffe gebrauchen konnte. Das Zimmer war winzig und diente zugleich als Wohn- und Schlafraum wie als Küche. Auf dem Herd stand eine schwere gußeiserne Pfanne; vielleicht nicht unbedingt eine elegante Waffe, aber eine sehr wirkungsvolle.

Indiana ging hin, nahm sie und trat neben Anita auf die andere Seite der Tür.

Ein flüchtiges Lächeln stahl sich in den Blick der dunkelhaarigen Mexikanerin, als sie sah, was er in den Händen hielt. Sie deutete ein Kopfschütteln an, legte abermals den Zeigefinger auf die Lippen und signalisierte ihm mit Blicken, ein Stück zur Seite zu treten, als sich Schritte der Tür näherten.

Die Klinke wurde heruntergedrückt, und jemand rüttelte heftig an der Tür. Der dünne Riegel ächzte, als wolle er jeden Augenblick zerbrechen. Anita streckte rasch die Hand aus und schob ihn zurück, und die Tür wurde mit einem Ruck halb aufgerissen; das verschwollene Gesicht des Soldaten, den Indiana zu Boden geschlagen hatte, erschien in der Öffnung und blickte herein.

Indiana holte mit der Bratpfanne aus und spannte alle Muskeln zu einem gewaltigen Schlag, um die Symmetrie dieses Gesichtes durch einen Treffer auf die andere Seite wiederherzustellen, aber Anita hielt ihn mit einer hastigen Handbewegung zurück und sah dem Soldaten ins Gesicht.

«Sie brauchen dieses Zimmer nicht zu durchsuchen«, sagte sie.

Der Soldat blinzelte. Für den Bruchteil einer Sekunde verdunkelte sich sein Gesicht vor Zorn — und dann geschah etwas Seltsames. Irgend etwas in seinen Augen erlosch, seine Züge erschlafften, und Indiana konnte regelrecht sehen, wie jedes bißchen Energie aus seinem Körper wich.

Langsam wandte er den Kopf und sah auf den Flur zurück.»Wir brauchen dieses Zimmer nicht zu durchsuchen«, sagte er.

«Dr. Jones ist nicht hier«, sagte Anita.

«Dr. Jones ist nicht hier«, wiederholte der Mann, so gehorsam wie ein Automat, der auf Knopfdruck einen bestimmten Satz wiedergibt. Dann drehte er sich mit langsamen, sonderbar mechanischen Bewegungen um und zog die Tür wieder hinter sich zu.

Anita trat mit einem erleichterten Aufatmen zurück, während Indiana verblüfft die Bratpfanne sinken ließ und abwechselnd sie und die geschlossene Tür anstarrte.»Wie … wie haben Sie das gemacht?«

Anita hob den Kopf und blickte ihn an. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß. Was immer sie getan hatte, schien all ihre Kraft aufgezehrt zu haben.

«Das erkläre ich Ihnen später«, murmelte sie.»Lassen Sie uns von hier verschwinden, Dr. Jones. Ich glaube nicht, daß ich sie lange täuschen kann. «Sie deutete auf das Fenster.»Kommen Sie.«

Die drei Menschen am Tisch rührten sich noch immer nicht, als Indiana und Anita sich an ihnen vorbeischoben und das Fenster öffneten. Indiana musterte ihre Gesichter mit einer Mischung aus Furcht und tiefster Verwirrung. Er wußte nicht, was ihn mehr erschreckte — der unheimliche Zustand dieses Mannes, seiner Frau und des Kindes oder das, was Anita mit dem Soldaten gemacht hatte.

Anita beugte sich vor, warf einen raschen Blick nach rechts und links auf die Straße hinab und sah dann nach oben.»Helfen Sie mir«, sagte sie.

Auch Indiana lehnte sich aus dem Fenster. Die Straße lag noch immer wie ausgestorben drei Meter unter ihnen, aber Anita hatte nicht vor, dort hinab zu steigen. Ganz im Gegenteil kletterte sie geschickt auf das Fensterbrett, suchte mit der linken Hand an seiner Schulter Halt und streckte die andere nach oben aus. Mit erstaunlicher Kraft klammerte sie sich an die Kante des flachen Daches, die sich nicht weit über dem Fenster befand, stieß sich ab und schwang sich mit einer eleganten Bewegung nach oben. Einen Herzschlag später erschienen ihr Gesicht und ihre hektisch winkende Hand wieder über der Kante.»Schnell«, sagte sie.»Sie kommen!«

Indiana verschwendete keine Zeit mehr damit, sich zu fragen, woher Anita das wußte, sondern streckte die Hand nach der Kante aus und folgte ihr auf das Dach. Beinahe im gleichen Augenblick hörte er, wie die Tür in dem Zimmer unter ihnen zum zweiten Mal aufgerissen wurde und schwere Schritte durch den Raum polterten.

Anita deutete heftig gestikulierend zur anderen Seite des Gebäudes. Über der jenseitigen Kante des Daches war das Ende einer Leiter zu erkennen. So schnell sie konnten, überquerten sie das flache, geteerte Dach. Anita schwang sich ohne zu zögern auf die Leiter und begann rasch in die Tiefe zu steigen. Und Indiana folgte ihr, zögerte aber im letzten Augenblick noch einmal und sah zurück — gerade noch rechtzeitig, um eine große Hand zu erkennen, die sich nach der Dachkante ausstreckte und sich daran festklammerte.

Der Anblick zerstreute auch seine letzten Zweifel, ob Anita wirklich wußte, wovon sie sprach. So schnell er konnte, kletterte er hinter ihr die Leiter hinab, die unter dem Gewicht der beiden Menschen bedrohlich zu ächzen und zittern begann.

Als sie den Boden erreicht hatten, wandte sich Anita wahllos nach links und stürmte los. Indiana folgte ihr. Josés Frau bog in eine weitere, kaum einen Meter breite Gasse ein, lief bis zu ihrem Ende und wandte sich dann nach links, in der nächsten nach rechts und dann wieder nach links.

Gute fünf Minuten lang rannten sie durch das Gewirr schmaler, verwinkelter Gäßchen und Lücken, das sich wie ein minoisches Labyrinth zwischen den kleinen weißen Häusern Piedras Negras erstreckte, bis Indiana sowohl völlig die Orientierung verloren hatte als auch sicher war, daß ihre Verfolger sie hier nicht mehr aufspüren konnten.

Und ganz davon abgesehen, war Anita so schnell gelaufen, daß Indiana einfach nicht mehr weiterkonnte.

Seine Lungen brannten, und seine Knie zitterten. Keuchend ließ er sich gegen die Wand sinken, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß aus dem Gesicht und versuchte wenigstens genug Luft für eine Frage zu sammeln.

Es blieb bei dem Versuch und einem hilflosen Keuchen.

Auch Anita war stehengeblieben. Trotz des mörderischen Tempos, das sie vorgelegt hatte, ging ihr Atem nicht einmal schneller, und auch der Ausdruck von Erschöpfung war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie wirkte nur noch angespannt.

«Ich glaube, wir haben sie abgehängt«, sagte sie, nachdem sie einen langen, prüfenden Blick in die Gasse hinter Indiana geworfen hatte.

«Wer zum Teufel sind Sie?«murmelte Indiana erschöpft.»Und wie kommen Sie hierher?«

Anita lächelte amüsiert.»Sie wissen doch, wer ich bin, Dr. Jones«, antwortete sie.

«Ja«, murmelte Indiana. Seine Lungen brannten noch immer wie Feuer, und sein Herz hämmerte, als wollte es zerspringen.»Sie haben mir nur nicht erzählt, daß Sie ganz nebenbei Weltmeisterin im Marathonlauf sind.«

Anitas Lächeln wurde noch etwas spöttischer.»Ich verwende viel Zeit darauf, mich in Form zu halten«, antwortete sie.»Das sollten Sie auch tun, Dr. Jones. Wie Sie gerade erlebt haben, hat es gewisse Vorteile.«

Indiana blickte sie ärgerlich an und machte eine entsprechende Handbewegung.»Sie wissen genau, was ich meine«, antwortete er.»Wie kommen Sie hierher?«

Anita schwieg einen Moment.»Das Wie ist nicht so wichtig, Dr. Jones«, antwortete sie ernst.»Wichtiger ist, warum ich hier bin.«

Indiana verdrehte seufzend die Augen, fügte sich aber in sein Schicksal. Jetzt war weder die Zeit noch der passende Ort, Spielchen mit Anita zu spielen.

«Wir müssen José aufhalten«, fuhr Anita fort.

«Wissen Sie denn, wo er ist?«

Anita nickte.»Im Tempel, Dr. Jones. Ich kenne den Weg. Aber ich fürchte, ich kann ihn nicht allein aufhalten. Ich brauche Ihre Hilfe.«

«Wobei?«

«Er will die Beschwörung durchführen«, antwortete Anita.»Heute abend, sobald der Mond hoch am Himmel steht. Wir müssen ihn daran hindern.«

«Ach?«fragte Indiana böse,»müssen wir das, so?«Er machte eine zornige Handbewegung, als Anita antworten wollte.»Wissen Sie, Schätzchen, ich bin es allmählich leid, daß mir jedermann sagt, was ich zu tun und zu lassen habe. Von mir aus kann sich Ihr José selbst in die Hölle zaubern und seine sauberen Freunde gleich dazu. Das ist mir völlig egal. Das einzige, was ich will, ist Joana.«

«Aber es geht doch auch um sie«, antwortete Anita ernst.»Glauben Sie mir, Dr. Jones — wenn wir ihn nicht aufhalten, dann wird Joana sterben. Und nicht nur sie, sondern viele andere.«

Indiana blickte sie weiter voll brodelndem Zorn an, aber er sagte nichts mehr. Und er wußte im Grunde auch selbst, daß Anita recht hatte. Ebenso wie seine Worte nicht wirklich das wiedergaben, was er empfand. Es war ihm nicht egal, was passierte, nicht einmal mit José. Er war einfach nur wütend, und ein guter Teil dieses Zornes galt niemand anderem als ihm selbst. Er kam sich vor, als wäre er plötzlich blind und taub. Was mußte noch passieren, bis er endlich begriff, was hier wirklich vorging? Wo war seine Fähigkeit geblieben, logisch zu denken und verborgene Zusammenhänge zu erkennen?

«Also gut«, sagte er resignierend.»Ich helfe Ihnen — unter einer Bedingung.«

«Ja?«

«Sie erzählen mir, was hier eigentlich vorgeht«, antwortete Indiana.»Die ganze Geschichte. Ich will alles wissen.«

«Dazu ist jetzt keine Zeit …«, begann Anita, aber Indiana unterbrach sie sofort wieder.

«Sie werden Sie sich nehmen müssen«, sagte er grob.»Die Kurzfassung. Nur Tatsachen, keine Hintergründe. Ich habe genug Phantasie, mir den Rest zu denken.«

Anita blickte ihn sekundenlang fast erschrocken an, aber was sie in seinem Gesicht las, das schien sie davon zu überzeugen, daß seine Worte ernst gemeint waren. Einen Moment lang zögerte sie noch, dann seufzte sie tief, nickte ergeben — und sog erschrocken die Luft ein.

Es dauerte einen Moment, bis Indiana begriff, daß das Entsetzen in ihren Augen nicht ihm galt, sondern etwas hinter ihm.

Er fuhr herum — und prallte ebenso erschrocken zurück wie Anita.

Hinter ihnen war eine Gestalt erschienen. Aber es war weder Norten noch einer seiner Männer. Es war ein riesiger, weit über zwei Meter großer Mann mit sonnengebräunter Haut, einem breiten, scharfgeschnittenen Gesicht, leicht fliehender Stirn und einer Hakennase, die aristokratisch gewirkt hätte, wäre sie nicht dick angeschwollen und blau gefärbt gewesen.

Indiana wußte, woher das kam. Es war erst ein paar Tage her, daß er diese Nase höchstpersönlich gebrochen hatte. Hinter ihnen stand der riesige Maya, der im Hafen von New Orleans versucht hatte, Joana zu entführen.

Dem tückischen Glitzern in den Augen des Maya nach zu schließen, erinnerte sich dieser ebenso deutlich wie Indiana an ihre letzte Begegnung. Er lächelte, aber das erinnerte an das Grinsen eines ausgehungerten Wolfes, der seine Beute endlich in die Enge getrieben hat.

Indiana machte einen erschrockenen Schritt zurück und stellte sich schützend vor Anita, und das Grinsen des Mayakriegers wurde noch breiter. Langsam hob er die gewaltigen Hände und spreizte die Finger, rührte sich aber noch nicht von der Stelle.

Indiana hob seine Peitsche. Der Indio lachte leise, schüttelte den Kopf und kam einen Schritt näher.

Indiana war nicht einmal überrascht, als er hinter sich ein Geräusch hörte und auch auf der anderen Seite der Gasse einen braungebrannten Giganten erblickte, der wie aus dem Nichts dort aufgetaucht war.

«Tun Sie etwas!«flüsterte er.»Um Gottes willen, unternehmen Sie etwas, Anita.«

«Aber was denn?«fragte Anita kläglich.

Indianas Blick wanderte zwischen den beiden Riesen hin und her. Sie rührten sich nicht, aber allein die stumme Art, in der sie dastanden und sie anstarrten, war Drohung genug. Indiana wußte, daß er diesmal nicht mit ein paar blauen Flecken und Kopfschmerzen davonkommen würde. Das Glitzern in den Augen des Riesen mit der gebrochenen Nase war pure Mordlust.

«Dasselbe, was Sie mit Nortens Mann gemacht haben«, flüsterte er.»Hypnotisieren Sie ihn, oder was immer es war.«

Anita schüttelte abgehackt den Kopf.»Das geht bei ihnen nicht«, sagte sie.

Einer der beiden machte einen Schritt. In seiner Hand lag plötzlich ein Messer, dessen Klinge in seiner gewaltigen Pranke winzig wirkte, es aber ganz und gar nicht war.

Indianas Gedanken überschlugen sich. Er wußte, daß er gegen diese beiden Titanen nicht die Spur einer Chance hatte. Die Peitsche nutzte ihm in der engen Gasse herzlich wenig, und selbst wenn es ihm gelingen sollte, einen der beiden niederzuschlagen, würde der andere die Gelegenheit nutzen, über ihn herzufallen, und ihn mit einer einzigen Bewegung umbringen.

«Tun Sie etwas!«keuchte er, schon beinahe hysterisch.»Sagen Sie einen Zauberspruch oder irgend etwas!«

Anita blickte ihn irritiert an, schwieg aber.

Der Indio mit dem Messer kam näher und stand nur noch zwei Schritte vor ihm. Lächelnd schwenkte er die Klinge von rechts nach links, machte einen spielerischen, nicht ernst gemeinten Ausfall nach Indianas Gesicht und lachte böse, als der erschrocken zurückprallte und gegen die Wand stieß.

Hinter ihm bewegte sich etwas. Eine dritte Gestalt erschien in der Gasse, längst nicht so groß und breitschultrig wie der Indio und aus irgendeinem Grunde nicht richtig zu erkennen. Es kam Indiana vor, als stünde nur ein Schatten hinter dem riesenhaften Krieger. Aber irgend etwas an diesem Schatten kannte er.

Der Maya schien die Verwirrung in seinem Blick zu registrieren, denn er starrte ihn eine Sekunde lang mißtrauisch an, dann wechselte er das Messer von der Linken in die Rechte, machte vorsichtshalber einen Schritt zurück und drehte sich herum.

Obwohl Indiana ihn nicht einmal ansah, registrierte er, wie der Maya entsetzt mitten in der Bewegung erstarrte.

Hinter dem Riesen stand ein alter Mann. Und es war nicht irgendein alter Mann — es war der Alte, den Indiana schon zweimal gesehen hatte: vor einer Stunde, als er auf der Straße vor der Can-tina stand und zu ihnen hereinblickte, und vor drei Jahren, als er sich Greg und ihm in den Weg gestellt hatte.

Der alte Mann sagte kein Wort. Er bewegte sich auch nicht, sondern stand nur da und blickte die beiden Mayas an. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war nicht einmal unfreundlich. Ja, er lächelte sogar — aber er tat es auf die Art eines Vaters, der seine Kinder dabei beobachtet, wie sie etwas Falsches tun, von dem sie allerdings nicht wissen, daß sie es nicht dürfen. Und trotz dieses milden, verzeihenden Lächelns lag in seinem Blick solch eine Stärke und ein Wissen, daß Indiana innerlich erschauerte.

Die beiden Mayas erschauerten nicht nur innerlich.

Der mit dem Messer taumelte Schritt für Schritt zurück, bis er an ihnen vorübergewankt war und neben seinem Kameraden stand. Auf den Gesichtern der beiden breitete sich ein ungläubiges Entsetzen aus; eine Angst, wie Indiana sie selten auf dem Gesicht eines Menschen gesehen hatte.

Sekundenlang standen sie einfach da, reglos, scheinbar gelähmt durch den Anblick des alten Mannes, dann hob der Greis die Hand und machte eine knappe, fast nur angedeutete Bewegung — und die beiden Riesen fuhren auf der Stelle herum und rannten davon, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her.

Indiana blickte ihnen verblüfft nach, ehe er sich wieder umwandte und den Alten ansah. Auch dieser Mann war kein Mexikaner, wie er bisher angenommen hatte. Jetzt, als Indiana ihm ganz nahe war und sein Gesicht deutlich erkennen konnte, sah er die gleichen Züge darin wie auf denen der beiden Mayas. Das gleiche scharf geschnittene Gesicht, das gleiche markante Kinn, die gleiche, leicht fliehende Stirn, was diesem Antlitz ein für die Augen eines Europäers täuschend dümmliches Aussehen verlieh. Und diese Augen …

Indiana hatte niemals solche Augen gesehen. Es waren die Augen eines alten, eines uralten Mannes. Sie waren trübe von den Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, die sie gesehen hatten, und zugleich las Indiana ein Wissen und eine Überlegenheit darin, die ihn tief berührte.

«Wer … wer sind Sie?«flüsterte er.

Es war ihm nicht möglich, laut zu sprechen. Die bloße Nähe dieses alten Mannes schien etwas in ihm zu Eis erstarren zu lassen. Es war das gleiche Gefühl, das er auf Nortens Hazienda gehabt hatte, als ihn die Feuerschlange berührte: das Gefühl, sich in der Nähe von etwas Uraltem, unvorstellbaren Mächtigem zu befinden. Doch was hier fehlte, das war der brodelnde, bodenlose Haß, die sinnlose Zerstörungswut, die dem Flammenkörper der Dämonenschlange innegewohnt hatte. Statt dessen spürte er etwas wie … Weisheit. Die Abgeklärtheit eines Wesens, das Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende gelebt hatte und wußte, wie nichtig alles war, was Menschen taten.

«Wer sind Sie?«fragte er noch einmal.

Der alte Mann lächelte sanft, trat an ihm vorbei und wandte sich an Anita. Er sagte ein Wort in einer fremden, Indiana völlig unverständlichen Sprache, und sie antwortete auf die gleiche Weise, deutete auf ihn und dann auf sich und machte dann eine Bewegung nach Süden. Der Alte nickte, und in das Lächeln auf seinen greisen Zügen mischte sich eine Spur von Trauer, als er sich an Indiana wandte.

Wieder verging eine Sekunde, in der er ihn einfach nur anblickte, und wieder erschauerte Indiana unter diesem Blick wie unter der Berührung einer eiskalten unsichtbaren Hand.»Ich wußte, daß wir uns wiedersehen«, sagte er schließlich.

Er sprach leise, und seine Stimme hatte einen sonderbar vollen, wohltuenden Klang; es war nicht die Stimme eines alten Mannes.

«Es ist … lange her«, antwortete Indiana stockend. Er kam sich selbst albern vor bei diesen Worten, aber es war das einzige, was ihm überhaupt einfiel; die einzigen Worte, die er überhaupt zustande brachte.

Der alte Mann maß ihn mit einem weiteren sehr langen und — zumindest versuchte Indiana sich das einzureden — durchaus wohlwollenden Blick, dann antwortete er:»Du hättest nicht gehen sollen, damals. Nun mußt du gehen.«

«Ich weiß«, flüsterte Indiana. Er fühlte sich wie betäubt. Sein Kopf war wie leergefegt. Er stellte keine der hundert Fragen, die er diesem alten Mann hatte stellen wollen, sagte nichts von den tausend Dingen, die er hatte sagen wollen; er stand einfach nur da, blickte den uralten Maya an und erschauerte vor der Aura unvorstellbarer Macht, die den Mann mit dem Greisengesicht umgab.

«Wer … wer sind Sie?«fragte er mühsam.

Wieder lächelte der alte Mann.»Ich glaube, das weißt du«, sagte er.

«Nein«, antwortete Indiana.»Ich …«

«Jetzt ist nicht die Zeit, zu reden«, unterbrach ihn der Alte sanft, aber in einem Tonfall, der keinerlei Widerspruch duldete.»Du mußt gehen und sie aufhalten. Das Mädchen wird dir den Weg weisen.«

«Ich … ich verstehe nicht ganz …«, stammelte Indiana, aber wieder unterbrach ihn der alte Mann:

«Es ist nicht mehr viel Zeit. Geh und tu, was du tun mußt. Tu es, bevor der Mond hoch am Himmel steht.«

«Aber ich …«Indiana verstummte verwirrt mitten im Satz, als sich der alte Mann einfach herumdrehte und mit langsamen, gemessenen Schritten und mit nach vorn gebeugten Schultern ging. Alles in ihm schrie danach, ihm nachzulaufen, ihn einfach an der Schulter zu ergreifen und zurückzureißen und ihm all die Fragen zu stellen, die ihm auf der Zunge brannten. Aber er konnte sich nicht rühren. Er war noch immer wie erstarrt.

Erst als der Alte das Ende der Gasse erreicht hatte und verschwunden war, wich die Lähmung aus seinen Gliedern. Zutiefst verstört wandte sich Indiana wieder zu Anita um und blickte sie aus großen Augen an.»Wer war das?«flüsterte er.

«Das kann ich Ihnen nicht sagen, Indiana«, antwortete Anita.»Noch nicht. Er hat recht — wir haben nicht mehr sehr viel Zeit. Wir müssen zum Tempel und José aufhalten, ehe ein schreckliches Unglück geschieht.«

«Aber ich weiß ja nicht einmal genau, wo er ist«, protestierte Indiana.

«Ich werde Ihnen den Weg zeigen«, antwortete Anita.

«Aber das … das sind fast fünfzig Meilen!«sagte Indiana.

«Quer durch den Dschungel und ohne Fahrzeug! Sie können sicher sein, daß Bentleys Männer die beiden Lastwagen bewachen wie ihre Augäpfel!«

«Sie sind mit dem Flugzeug gekommen«, erinnerte ihn Anita.»Trauen Sie sich zu, es zu fliegen?«

Indiana schüttelte impulsiv den Kopf.»Fliegen vielleicht, aber nicht starten und schon gar nicht landen.«

«Wir müssen es versuchen«, beharrte Anita.»Ohne ein Transportmittel brauchen wir zwei Tage, um den Tempel zu erreichen. Und die haben wir nicht.«

«Aber das ist Selbstmord«, protestierte Indiana.

Anita hörte ihm gar nicht mehr zu. Wie der Alte zuvor drehte sie sich einfach um und ging mit gemessenen Schritten die Gasse hinab. Und nach wenigen weiteren Sekunden folgte Indiana ihr dann doch.

Der Fluß verlief drei oder vier Meilen südöstlich der Stadt, und Bentleys Männer hatten das kleine Wasserfahrzeug so geschickt mit Zweigen und Laub getarnt, daß selbst Indiana fast eine halbe Stunde brauchte, ehe er es wiederfand. Eine weitere halbe Stunde verging, bis sie die Maschine so weit von ihrer Tarnung befreit hatten, daß Indiana einen Start riskieren zu können glaubte.

Der einzige Schönheitsfehler an dieser Einschätzung war, daß er nicht wußte, wie er überhaupt die Maschine starten sollte.

Sie hatten die Stadt in einem weiten Bogen umgangen, um nicht Norten oder einem seiner Männer über den Weg zu laufen. Daher hatten sie aber auch fast zwei Stunden gebraucht, um den Fluß und das Versteck der Cessna zu erreichen, und Indiana hatte während dieser Zeit mindestens zwanzigmal versucht, Josés Frau davon zu überzeugen, daß es purer Selbstmord war, wenn er versuchte, das Flugzeug in die Luft zu bringen.

Aber sie hatte sich nicht beirren lassen, sondern nur beharrlich erklärt, daß er es schon irgendwie schaffen würde. Indiana hätte viel darum gegeben, hätte er auch nur ein Zehntel ihres Optimismus verspürt. Ihm selbst brach schon bei dem bloßen Gedanken daran der kalte Schweiß aus.

Aber etwas sagte ihm, daß alles, was geschehen würde, wenn sie nicht rechtzeitig den Tempel erreichen und José aufhalten konnten, sehr viel schlimmer sein würde als ein mißglückter Startversuch.

Trotzdem zitterten seine Hände, als er neben Anita in die Kabine der Cessna kletterte und die Finger um den Steuerknüppel legte. Vor ihm lag eine geradezu chaotische Ansammlung von Zeigern und Meßinstrumenten, von denen er mit viel Mühe und Not gerade die Tankuhr lesen konnte; sie stand im unteren Drittel, mehr als genug Treibstoff also für die fünfzig Meilen zum Vulkan hin und auch wieder zurück.

«Machen Sie sich Sorgen wegen des Benzins?«fragte Anita, die seinen langen Blick auf die Tankuhr bemerkte und offensichtlich falsch gedeutet hatte.

Indiana schüttelte den Kopf.»Nein. Es sind ja nur fünfzig Meilen. Sorgen mache ich mir um die halbe Meile dort hinauf. «Er deutete mit der Hand in den Himmel, und Anita lächelte flüchtig.

«Sie werden es schon schaffen, Dr. Jones«, lächelte sie zuversichtlich.

Indiana verdrehte die Augen, wandte sich wieder den Kontrollen des Flugzeuges zu und kramte verzweifelt in seiner Erinnerung. Er hatte zugesehen, als Joana die Maschine im Hafen von New Orleans gestartet hatte — aber natürlich hatte er nicht wirklich darauf geachtet, was sie tat. Er war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, Angst zu haben. Und außerdem — daß er selbst einmal dieses Flugzeug starten sollte, war so ungefähr das letzte gewesen, woran er gedacht hatte.

«Ich schaffe das nicht«, murmelte er.

«Das sollten Sie aber, Dr. Jones«, antwortete Anita ruhig.»Und sei es nur ihretwegen.«

Indiana sah sie einen Moment lang irritiert an, bis er überhaupt begriff, was sie meinte. Sein Blick wandte sich dorthin, wohin ihre ausgestreckte Hand wies.

Weniger als fünfzig Meter von ihnen entfernt waren zwei Gestalten aus dem Unterholz getreten, das den Fluß säumte. Norten und einer von Bentleys Soldaten!

Indiana sah, wie der Professor erschrocken zusammenfuhr und dann mit dem ausgestreckten Arm auf das Flugzeug deutete, schluckte selbst einen Fluch herunter und streckte die Hand nach dem aus, was er für den Startknopf hielt.

Wahrscheinlich war es pures Glück, aber er erwischte auf Anhieb den richtigen Schalter, und das Glück blieb ihnen auch weiter treu: Der Motor der Cessna drehte nur einmal kurz durch und sprang dann an; ein tiefes, beunruhigendes Zittern lief durch den Rumpf des Wasserflugzeugs, und Indianas Herz machte einen erschrockenen Hüpfer, als sich die Maschine auf der Stelle zu drehen begann und gleichzeitig auf den Fluß hinausglitt. Gleichzeitig bemerkte er aus den Augenwinkeln, daß Norten und sein Begleiter zu rennen begannen. Und der Abstand zwischen ihnen und dem Flugzeug schmolz rasch dahin, während sich das Flugzeug nur träge vom Ufer fortbewegte.

Indiana fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen, unterdrückte den Impuls, ständig zu Norten und seinem Begleiter zurückzusehen und konzentrierte sich statt dessen darauf, die Instrumentenpalette vor sich zu mustern. Vorsichtig schob er den Gashebel nach vorne und spürte erleichtert, daß die Maschine schneller wurde. Irgend etwas schrammte aber gleich darauf mit einem häßlichen Geräusch über den Flügel, und für einen kurzen Augenblick war er fast sicher, daß das Flugzeug irgendwo festsaß. Dann kam die Cessna mit einem Ruck frei — und im gleichen Augenblick spürte er, wie etwas Schweres unter ihm wuchtig auf dem Leitwerk landete. Das ganze Flugzeug begann zu zittern und sich mit zunehmender Geschwindigkeit auf der Stelle zu drehen.

«Jones!«Nortens Stimme drang nur gedämpft über den Motorenlärm in die Kabine.»Sind Sie wahnsinnig?«

Indiana schob den Gashebel um ein winziges Stückchen weiter nach vorne und blickte gleichzeitig zum Ufer: Norten war bis zu den Knien ins Wasser gewatet, wagte aber nicht weiterzugehen. Er gestikulierte wild mit beiden Armen.»Kommen Sie zurück!«schrie er.»Sie bringen sich um!«

In diesem Punkt waren Indiana und er ausnahmsweise sogar der gleichen Meinung — aber Indiana war nicht besonders überzeugt davon, daß er wesentlich länger leben würde, falls er den Motor jetzt abstellte und zum Ufer zurückfuhr und damit Norten und seinem Begleiter in die Hände fiel.

«Wo ist der andere?«fragte er, während er den Steuerknüppel mit aller Kraft festhielt und versuchte, den Propeller des Flugzeuges auf die Flußmitte auszurichten.

«Welcher andere?«fragte Anita.

Vom Dach des Flugzeugs erscholl ein dumpfes Poltern und dann das Geräusch schwerer, hämmernder Schritte, unter der die dünne Holzkonstruktion der Maschine hörbar ächzte.

«Der«, sagte Indiana düster.

Das Poltern kam näher und befand sich jetzt genau über der Kabine. Indiana sah eine verzerrte Spiegelung auf dem Wasser vor dem Flugzeug, streckte die Hand nach dem Gashebel aus und schob ihn mit einem Ruck ein Stück nach vorn. Den Bruchteil einer Sekunde später ging ein zweiter, sehr viel heftigerer Ruck durch den Flugzeugleib, und aus dem Geräusch von Schritten wurde der dumpfe Aufprall eines schweren Körpers, dem fast unmittelbar darauf ein wütender Schlag folgte.

Aber das Klatschen eines Körpers, der aus drei Metern Höhe ins Wasser fällt, dieses Geräusch, auf das Indiana sehnlichst wartete, kam nicht. Statt dessen erscholl über ihm plötzlich ein splitternder Laut, und als er erschrocken den Kopf hob und nach oben blickte, sah er eine gewaltige, geballte Faust, die das dünne Sperrholz des Kabinendaches glatt durchschlagen hatte.

Anita schrie erschrocken auf, während Indiana noch mehr Gas gab und gleichzeitig den Kopf einzog, denn in dem gewaltsam in das Dach gebrochenen Loch erschien nun ein wutverzerrtes Gesicht, und die Hand hörte auf, nur ziellos hin und her zu fahren, sondern versuchte statt dessen, nach seinem Haar zu grabschen. Nur eine Sekunde später erscholl das splitternde Geräusch ein zweites Mal, und auch die zweite Hand des Soldaten fuhr durch das Kabinendach herunter und tastete nach Indianas Gesicht.

Der beugte sich vor wie ein Rennfahrer über den Lenker seines Motorrades, schrie Anita zu, ebenfalls den Kopf einzuziehen, und schob den Gashebel bis zum Anschlag nach vorne. Der Motor der Cessna brüllte auf, und hinter den beiden Schwimmkufen erschienen kleine, schäumende Bugwellen, als das Flugzeug immer schneller und schneller wurde und auf die Flußmitte hinausschoß. Der Mann auf dem Dach der Maschine schrie vor Schrecken, hörte aber nicht auf, wie wild nach Indiana zu greifen und hämmerte nun auch mit den Füßen auf das Kabinendach ein. Indiana fragte sich, wie lange die Maschine diese grobe Belastung noch aushaken würde.

Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort, erscholl das splitternde Geräusch zum dritten Mal, und im Dach des Flugzeuges erschien ein drittes, ausgezacktes Loch, durch das sich ein gewaltiger Militärstiefel schob. Das ganze Flugzeug schien zu stöhnen, und Indiana hatte das Gefühl, er könne es unter seinen Händen auseinanderbrechen spüren.

Er vergaß alles, was er Anita erzählt und selbst gedacht hatte, und zog den Steuerknüppel langsam zu sich heran. Die Cessna zitterte, hob sich eine Handspanne weit aus dem Wasser und fiel mit einem furchtbaren Schlag wieder zurück.

Plötzlich schrie Anita spitz und erschrocken auf, und als Indiana aufsah und nach vorne blickte, konnte auch er nur noch mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Weniger als eine Meile vor ihnen machte der Fluß einen scharfen Knick. Das Flußbett bog beinahe im rechten Winkel ab — und es war entschieden zu schmal, als daß Indiana hoffen konnte, das Flugzeug nicht direkt in die Uferböschung zu rammen. Nicht bei der hohen Geschwindigkeit, die die Maschine mittlerweile erreicht hatte.

Er schloß die Augen, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und zog den Steuerknüppel ein zweites Mal sehr viel entschlossener zu sich heran. Wieder zitterte und ächzte die Cessna, als wolle sie auseinanderbrechen, aber dann spürte er, wie sich das Flugzeug langsam vom Wasser hob, und diesmal sackte es nicht wieder zurück. Langsam, quälend langsam hob sich die Nase der Cessna, und ebenso quälend langsam begann der Dschungel am Flußufer unter ihnen in die Tiefe zu sacken.

Vom Dach des Flugzeuges drang ein schriller, entsetzter Schrei zu ihnen herab. Indiana zog die Nase des Flugzeuges behutsam noch ein wenig höher und schloß erschrocken die Augen, als der Waldrand ihnen regelrecht entgegenzuspringen schien. Irgend etwas fuhr mit einem häßlichen Schrammen über die Unterseite der Maschine; die Cessna bockte und schüttelte sich wie ein störrisches Pferd, und das Schreien auf dem Dach steigerte sich zu einem hysterischen Kreischen. So dicht, daß einige Äste gegen die Kabinenscheibe klatschten, raste die Cessna über die Wipfel des Waldes hinweg und legte sich in eine sanfte Linkskurve, als Indiana behutsam am Steuer drehte.

Der unerwünschte Passagier auf dem Dach hörte auf, wie am Spieß zu schreien, und verwandte seine Kräfte lieber darauf, mit aller Gewalt auf das Flugzeug einzuschlagen. Die dünnen Sparren ächzten und knirschten unter der groben Behandlung, und im Sperrholzdach über Indiana klaffte plötzlich ein weiterer Riß. Er duckte sich instinktiv, als die Hand des Mannes sein Gesicht nur um Zentimeter verfehlte und ihm den Hut vom Kopf fegte.

Durch diese plötzliche Bewegung des Piloten geriet die Maschine ins Trudeln. Auch Anita schrie erschrocken auf, als sich die Cessna in eine Linkskurve legte und fast im Sturzflug wieder auf den Fluß hinabstieß. Indiana zerrte verzweifelt am Steuer, aber das Flugzeug schien ihm endgültig die Freundschaft gekündigt zu haben und raste nur in einem noch steileren Winkel dem Fluß entgegen.

Der Mann auf dem Dach begann wieder zu brüllen und warf sich wie von Sinnen hin und her. Seine Fäuste fuhren ziellos durch die Kabine, und diesmal kam Indianas Bewegung den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Die riesige Hand des Soldaten klatschte in sein Gesicht und warf ihn in den Sitz zurück, und Indiana klammerte sich automatisch an dem einzigen Halt fest, den er fand: dem Steuer.

Das Wasserflugzeug reagierte höchst unwillig auf diese grobe Behandlung, wenn auch so, wie Flugzeuge vielleicht im allgemeinen reagieren, wenn man an ihrem Steuer kurbelt wie an einem verklemmten Wasserhahn: Es schlug einen Salto. Indiana schrie erschrocken auf, als der Himmel plötzlich unter ihnen war und der Fluß über ihnen, und der Mann auf dem Dach schrie noch erschrockener und klammerte sich mit aller Gewalt an den Rändern der Löcher fest, die er in die Kabine geschlagen hatte.

Eine halbe Sekunde später war er verschwunden, zusammen mit dem größten Teil des Kabinendaches.

Himmel und Erde vollendeten ihre Drehung vor dem Kabinenfenster, und wie durch ein Wunder — vielleicht auch durch pures Glück — gelang es Indiana, die Maschine noch einmal in seine Gewalt zu bringen. Das Flugzeug trudelte immer noch wild hin und her, drohte jetzt aber nicht mehr abzustürzen oder sich in einen völlig außer Kontrolle geratenen Kreisel zu verwandeln, und eine Sekunde, bevor er die Nase des Wasserflugzeuges wieder in die Höhe zwang, sah Indiana tief unter sich im Fluß eine gewaltige Wassersäule hochspritzen.

Fast eine Minute lang saß Anita völlig erstarrt neben ihm auf dem Sitz und wagte nicht einmal zu atmen. Dann schluckte sie laut und sehr hörbar, drehte ihm ganz langsam das Gesicht zu und starrte ihn aus ungläubig aufgerissenen Augen an.

«Und Sie … Sie behaupten, nicht fliegen zu können?«murmelte sie.»Das … das war ein Looping!«

«Ich weiß«, antwortete Indiana gequält, während er vergeblich versuchte, das flaue Gefühl in seinem Magen niederzukämpfen.

«Großer Gott!«flüsterte Anita.»Ich habe noch nie gehört, daß man mit einem Wasserflugzeug einen Looping fliegen kann.«

«Ich auch nicht«, antwortete Indiana. Aber er tat es sehr leise. So leise, daß er fast sicher war, daß Josés Frau es nicht gehört hatte.

Und wenn doch, so zog sie es augenscheinlich vor, es zu ignorieren.

Seine Hände hatten fast ganz aufgehört zu zittern, als sie sich nach einer knappen halben Stunde dem Krater näherten. Allerdings hatte Indiana das Gefühl, daß sie sehr bald wieder damit beginnen würden. Er sah nämlich weit und breit nichts, worauf er das Flugzeug landen konnte.

Sie waren dem Verlauf des Flusses nur wenige Minuten lang gefolgt und dann in südlicher Richtung abgebogen. Eine Weile hatten sich noch Dschungel und scheinbar wahllos hineingerodete Felder unter ihnen abgewechselt, aber seit gut zehn Minuten erstreckte sich unter ihnen nichts als eine gewaltige, undurchdringliche grüne Decke. Indiana hatte Anita bisher nicht gefragt, wo er das Flugzeug landen solle. Er hatte das sichere Gefühl, daß ihm die Antwort, die sie ihm geben würde, ohnehin nicht gefallen würde.

Statt weiter an die Landung und damit ihren wahrscheinlichen Tod zu denken, hob er den Blick und sah zum Kegel des erloschenen Vulkans hinüber. Der Berg war in den letzten Minuten von einem verschwommenen Schatten am Horizont zu einem gewaltigen Kegel aus Granit und schwarz erstarrter Lava geworden, und in Indianas Angst hatte sich immer stärker ein Gefühl von Trauer und Verbitterung gemischt. Dies war der Ort, an dem Greg gestorben war. Er hatte geahnt, daß ihn die Erinnerungen einholen würden, sobald sie sich dem Berg näherten — aber er hatte nicht geglaubt, daß es so schlimm sein würde. Während der letzten Minuten hatte er geglaubt, jene schreckliche Stunde noch einmal zu durchleben. Er glaubte sogar Gregs Stimme noch einmal zu hören, die ihn anflehte, zu fliehen und sein eigenes Leben zu retten. Und für einen Moment mußte er sich mit aller Gewalt gegen das Bild von seinem verbrannten Gesicht wehren, das vor seinem geistigen Auge aufstieg, und den entsetzlichen Schmerz, den diese Gedanken mit sich brachten.

Mit aller Macht schob er die Erinnerung von sich und wandte sich an Anita.»Wo zum Teufel sollen wir landen?«fragte er.»Ich sehe hier nirgends einen Fluß oder einen See.«

Anita warf ihm einen flüchtigen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf die grüne Dschungellandschaft, die eine halbe Meile unter dem Flugzeug dahinhuschte. Ohne ein Wort deutete sie auf den Berg.

Indiana blickte sie irritiert an, begriff aber bald, daß er keine andere Antwort erhalten würde, und ließ die Maschine gehorsam etwas höher steigen. Die schwarz glänzenden Flanken des Vulkans sackten unter ihnen hinweg — und dann sah er es blau und silbern am Grunde des gewaltigen Kratzers aufblitzen!

Ungläubig riß er die Augen auf.»Der Krater ist …«

«… voll Wasser gelaufen, ja«, führte Anita den Satz zu Ende, als er nicht weitersprach.»Das ist nicht ungewöhnlich, Dr. Jones.«

Indiana starrte abwechselnd sie und den kreisrunden See im Herzen des Vulkankraters fassungslos an.

«Sie … Sie glauben doch nicht … daß ich darauf landen kann?!«krächzte er.

«Es ist die einzige Möglichkeit«, antwortete Anita gleichmütig.

Indiana bewegte das Steuer und ließ die Maschine in einer langgezogenen Schleife ein zweites Mal über den Vulkan hinweggleiten.»Sie sind völlig verrückt«, flüsterte er.»Dieser See ist winzig!«

«Er mißt mindestens anderthalb Meilen«, korrigierte ihn Anita ruhig.

«Anderthalb Meilen!«, stöhnte Indiana.»Verdammt, ich bin kein Pilot! Ich wäre schon froh, wenn ich die Kiste auf dem Atlantischen Ozean aufsetzen könnte.«

«Das würde uns im Moment wenig nützen«, antwortete Anita lächelnd. Dann wurde sie übergangslos wieder ernst.»Bitte, Dr. Jones! Sie müssen es versuchen! Wir haben keine andere Wahl. Ich bin sicher, daß Sie es schaffen«, fügte sie mit einem aufmunternden, aber leicht verunglückten Lächeln hinzu.

Indiana blickte sie an, als zweifelte er ernsthaft an ihrem Verstand (was er in diesem Moment auch tat), dann schickte er ein letztes Stoßgebet zum Himmel, wendete das Flugzeug noch einmal und setzte zur Landung an.

Hinterher begriff er sehr wohl, daß es alles in allem nicht einmal fünf Minuten gedauert hatte. Aber während er zu landen versuchte, hatte er das Gefühl, die Zeit würde stehenbleiben. Die scharfkantigen Lavafelsen schienen nur Zentimeter unter den Kufen des Flugzeuges hinwegzuhuschen, während er versuchte, die Maschine in immer enger werdenden Spiralen und immer langsamer in den Vulkankrater hinab zu steuern. Einmal rammte er tatsächlich ein Hindernis, und die Cessna geriet ins Trudeln und näherte sich der Oberfläche des Sees sehr viel schneller, als Indiana beabsichtigt hatte. Aber er fand die Kontrolle über das Flugzeug auch diesmal wieder, und endlich setzte die Maschine in einer gewaltigen Gischtwolke auf dem Wasser auf, mit hoher Geschwindigkeit, viel zu hoch, als daß er sich wirklich einbilden konnte, sie noch vor dem jenseitigen Ufer zum Stehen zu bringen.

Irgendwie gelang es ihm trotzdem. Indiana wußte hinterher nicht mehr genau, was er getan hatte; er hämmerte einfach wild auf alles ein, was er auf dem Instrumentenpult fand und zerrte wie besessen am Steuer. Nicht einmal einen halben Meter vor dem mit scharfkantigen Lavaspeeren und — klingen übersäten Ufer des Kratersees kam die Cessna zum Stehen.

Indiana schaltete den Motor aus, starrte eine halbe Minute lang aus weit aufgerissenen Augen und ohne auch nur zu atmen auf das Gewirr tödlicher Felsen und Grate vor ihnen und sank dann mit einem krächzenden Laut über dem Steuer zusammen. Sein Herz begann zu rasen, als wolle es in seiner Brust auseinanderbrechen, und mit einem Male zitterte er am ganzen Leib.

«Sie haben es geschafft, Dr. Jones«, sagte Anita. Auch ihre Stimme zitterte, und als er nach einigen Sekunden mühsam den Kopf hob und sie ansah, bemerkte er, daß ihr Gesicht alle Farbe verloren hatte.»Sie … Sie haben es tatsächlich geschafft. Jetzt haben wir vielleicht noch eine Chance.«

Sie atmete tief und hörbar ein, deutete auf die Felsen am Ufer und sagte:»Der Eingang zum Tempel ist gleich in der Nähe, aber wir müssen vorsichtig sein, Dr. Jones. Ich fürchte, José ist bereits hier. Und wenn er unsere Ankunft bemerkt hat, dann könnte es gefährlich werden.«

«Gefährlich!« Indiana starrte sie fassungslos an. Plötzlich hatte er alle Mühe, nicht laut und hysterisch loszulachen.

Der Höhleneingang war so perfekt getarnt, daß Indiana wahrscheinlich glattweg daran vorbeigelaufen wäre, hätte Anita nicht plötzlich innegehalten und wortlos auf einen Schatten zwischen den kantigen Umrissen der Lavafelsen gedeutet. Indiana sah genauer und aufmerksamer hin, konnte aber immer noch nichts Bemerkenswertes erkennen. Schließlich begann Anita — sehr vorsichtig, um sich an den scharfkantigen Steinen und Lavaspitzen nicht zu verletzen — die steil ansteigende Innenwand des Kraters hinaufzuklettern. Und plötzlich war sie verschwunden.

Indiana starrte eine Sekunde lang verblüfft auf die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte, bis ihm klar wurde, daß der Schatten, der ihm aufgefallen war, gar kein Schatten war — sondern ein schwarzes Loch in dem schwarzen Felsen, in dem das Sonnenlicht verschwand. Sehr hastig und sehr viel weniger vorsichtig als Anita vor ihm — mit dem Ergebnis, daß er sich Hände und Knie an den scharfen Felsen blutig schrammte —, folgte er Josés Frau und fand sich nach Augenblicken im Inneren einer niedrigen, aber sehr großen Höhle wieder, die tief in den Berg hineinreichen mußte.

«Wo sind wir hier?«fragte er.»Führt dieser Weg zum Tempel?«

Anita antwortete nicht sofort, sondern sah sich einen Moment schweigend und sichtlich voller Nervosität um. Es war zu dunkel in der Höhle, als daß Indiana ihr Gesicht erkennen konnte, aber er spürte ihre Unsicherheit.

«Ich hoffe es«, sagte sie schließlich.

«Sie hoffen es? Das ist ein bißchen wenig — finden Sie nicht?«

«Möglich«, antwortete Anita ungerührt.»Aber es ist das einzige, was ich Ihnen im Moment anbieten kann. «Sie ging weiter, ehe Indiana Gelegenheit fand zu antworten, und Indiana seinerseits schluckte die Bemerkung herunter, die ihm auf der Zunge lag, und beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten, ehe er sie in der Dämmerung der Höhle verlor.

Schon nach einem knappen Dutzend Schritte wurde aus dieser Dämmerung vollkommene Dunkelheit. Indiana bedauerte es jetzt, so rasch aus dem Flugzeug gestiegen zu sein. Er hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, die Maschine nach einer Lampe, einem Seil oder sonst einem nützlichen Gegenstand zu durchsuchen. So blieb ihm keine andere Wahl, als sich darauf zu verlassen, daß Anita den Weg auch in absoluter Dunkelheit finden würde. Auch der letzte graue Schimmer des Tageslichts war längst hinter ihnen zurückgeblieben, und als sich Indiana einmal im Laufen umdrehte und in die Richtung sah, aus der sie gekommen waren, da bedauerte er dies fast augenblicklich wieder, denn hinter ihnen herrschte die gleiche, undurchdringliche Schwärze wie vor ihnen. Er sah seine Führerin jetzt auch nicht mehr, sondern orientierte sich nur noch am Geräusch ihrer Schritte und ihren leisen Atemzügen.

«Weiß José von diesem Eingang?«fragte er in die Dunkelheit hinein.

«Ich hoffe nicht«, murmelte sie. In leicht spöttischem Tonfall fügte sie hinzu:»Aber er wird es bald, wenn Sie weiter so brüllen, Dr. Jones. «Sie machte eine Bewegung, die er nur hören, aber nicht sehen konnte.»Er ist jetzt nicht mehr weit. Aber seien Sie vorsichtig. Das letzte Stück ist gefährlich.«

Ungeachtet ihrer Warnung setzte Indiana dazu an, nachzubohren, was sie damit meinte — und verlor im gleichen Augenblick den Boden unter den Füßen.

Der bisher in sanfter Neigung in die Erde führende Felsboden ging in eine Geröll- und Schutthalde über, deren Oberfläche unter seinem Gewicht sofort nachgab. Indiana unterdrückte im letzten Moment einen Schrei, ruderte sekundenlang vergeblich mit den Armen und stürzte schwer nach hinten. In einer Lawine aus Schutt, Geröll und Felstrümmern rutschte er gute zehn oder zwölf Meter weit in die Tiefe, bis er mit einem schmerzhaften Ruck liegen blieb.

Als er einen Moment später stöhnend den Kopf hob und die Augen öffnete, sah er wenigstens wieder etwas; auch wenn es nur die bunten Sterne waren, die der Schmerz vor seinen Augen tanzen ließ.

«Verstehen Sie das unter vorsichtig oder leise?«fragte Anita.

Indiana schluckte sämtliche Unhöflichkeiten herunter, die ihm auf der Zunge lagen, und rappelte sich mühsam auf. Die bunten Sterne vor seinen Augen erloschen allmählich, aber ein trüber, roter Schein blieb zurück, und es dauerte einen Augenblick, bis Indiana begriff, daß er nun wirklich Licht sah. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder sah er Anita als verschwommenen Schatten vor sich.

«Sind Sie verletzt?«fragte sie, plötzlich sehr ernst und ohne die mindeste Spur von Spott oder Hohn.

«Nein«, sagte Indiana.»Ein paar Kratzer, das ist alles.«

«Gut«, erwiderte Anita.»Dann folgen Sie mir. Und — bitte, Dr. Jones: Seien Sie um Gottes willen leise!«

Indiana fragte sich flüchtig, von welchem Gott sie wohl gesprochen haben mochte, sprach aber auch diese Frage vorsichtshalber nicht aus, sondern folgte ihr wortlos.

Sie bewegten sich in Richtung auf den roten Lichtschein weiter, der rasch an Intensität zunahm und sich bald als der flackernde Schein zahlloser Fackeln entpuppte, die irgendwo vor ihnen brannten. In die kalte, bisher abgestanden riechende Luft der Höhle mischte sich Brandgeruch, und nach einigen weiteren Augenblicken glaubte Indiana auch etwas zu hören: ein dunkles, an-und abschwellendes Murmeln, wie das entfernte Rauschen von Wasser oder Gesang.

Anita ging immer zwei, drei Schritte voraus. Dann und wann hob sie die Hand, um ihm mit einer Geste zu bedeuten, auch ja ruhig zu sein, und obwohl Indiana ihr Gesicht noch immer nicht erkennen konnte, spürte er ihre Furcht.

Aber vielleicht stimmte das gar nicht. Vielleicht war es gar nicht ihre Angst, deren Nagen er fühlte, sondern seine eigene. Dabei war es nicht diese Höhle, die ihm angst machte. Er hatte schon in schlimmeren Löchern gesteckt. Er hatte weder Angst vor engen Räumen noch vor der Dunkelheit; Klaustrophobie hätte er sich in einem Beruf wie dem seinen gar nicht leisten können. Aber er war niemals an einem Ort wie diesem gewesen. Irgend etwas … war hier, das ihm angst machte. Und es wurde stärker, stärker mit jedem Schritt, den sie sich auf das rote Licht und den Gesang zubewegten.

Und dann wußte er, was es war.

Es war das gleiche Gefühl, das ihn schon zweimal befallen hatte; einmal auf Nortens Hazienda und dann vor wenigen Stunden, in Gegenwart des alten Mayas. Das Gefühl, sich etwas Uraltem, ungeheuer Mächtigem zu nähern.

Sie blieben stehen, als sie das Ende des Tunnels erreicht hatten. Vor ihnen lag ein etwas mehr als mannshoher, ungleichmäßig geformter Durchbruch in der Wand, hinter dem sich eine gewaltige Höhle erstreckte. Und es war nicht einfach nur eine Höhle, sondern ein gewaltiger Felsendom, eine Kathedrale aus schwarzer, zu bizarren Formen erstarrter Lava, deren Decke sich so hoch über ihren Köpfen befand, wie ihr Boden unter ihnen lag, und die von Dutzenden, wenn nicht Hunderten brennender Fackeln er- hellt war. Trotzdem reichte das Licht kaum aus, einen kleinen Teil der riesigen Höhle aus der Dunkelheit zu reißen.

Und als Indiana sah, was die Höhle enthielt, sog er ungläubig die Luft zwischen den Zähnen ein.

Unter ihnen erhob sich ein Berg im Berg. Doch dieser gewaltige Keil aus schwarzer Lava war von Menschenhand erschaffen worden. Genau in der Mitte der gewaltigen Höhle erhob sich eine riesige Stufenpyramide. Ihre Form glich der aller anderen Maya-Pyramiden, aber sie war nicht aus rotem Sandstein, sondern aus schwarzer Lava erbaut, und sie bestand auch nicht aus sorgsam aufeinandergetürmten Blöcken, sondern war direkt aus dem Fels des Berges herausgemeißelt worden. Und sie war größer, viel, viel größer als jede andere Maya-Pyramide, die er jemals gesehen hatte. Eine gewaltige Treppe führte zu der Plattform auf ihrer Spitze hinauf, und dort oben brannten zahllose Feuer in kleinen Metallschalen, die im Kreis um einen gewaltigen Altarstein aufgestellt worden waren.

«Was ist das?«flüsterte er fassungslos.

Anita fuhr erschrocken zusammen. Obwohl er sehr leise gesprochen hatte, hallten seine Worte in unheimlich verzerrten Echos von der schwarzglänzenden Lava ringsum zurück.

«Der Tempel der Schlange«, flüsterte sie, nachdem sie sich hastig wieder in den Gang zurückgezogen hatten.»Das Heiligtum befindet sich im Inneren der Pyramide.«

Sie sprach sehr leise, und ihre Worte kamen nur stockend über ihre Lippen. Auch sie wirkte erschüttert. Indiana mußte sie nicht erst fragen, um zu wissen, daß Anita hier noch nie zuvor gewesen war. Und daß der Anblick sie ebenso erschütterte wie ihn. Der Gedanke beruhigte ihn, obgleich er nicht einmal selbst sagen konnte, warum. Gleichzeitig fragte er sich, wie sie den Weg hierher hatte finden können.

Aber das war jetzt unwichtig.»Wissen Sie, wo Ihr Mann ist?«fragte er.

Anita machte eine Bewegung, die eine Mischung aus dem Kopfschütteln und einem Achselzucken zu sein schien.»Wahrscheinlich im Inneren der Pyramide«, sagte sie.»Aber genau weiß ich es auch nicht.«

«Dann müssen wir dort hinein«, entschied Indiana. Anita erschrak sichtbar, und auch er fühlte sich nicht halb so selbstsicher, wie er sich gab. Diese unsichtbare, dunkle Präsenz war noch immer zu spüren, und das stärker denn je. Und die schwarze Pyramide im Herzen des Vulkans war der Quell dieser beklemmenden Gefühle.

Er ging zurück zum Durchlaß in die große Höhle, suchte mit der Hand nach festem Halt an der Wand und beugte sich vor, so weit er es wagen konnte. Der Anblick ließ ihn schwindeln. Unter ihm stürzte die Wand aus schwarzer Lava sicherlich dreißig, wenn nicht vierzig oder mehr Meter senkrecht in die Tiefe, ehe sie in etwas endete, das aus der Höhe betrachtet wie ein Nadelkissen aus winzigen Spitzen und Graten aussah, in Wirklichkeit jedoch ein Gewirr aus mannshohen Lavaspeeren und rasiermesserscharfen Kanten war. Und die Wand darüber war so glatt, als wäre sie sorgfältig poliert worden. Nur hier und da bemerkte Indiana einen Riß, einen Spalt, in dem die Finger eines geschickten Kletterers Halt finden mochten. Aber er fühlte sich im Moment nicht wie ein geschickter Kletterer.

«Gibt es keinen anderen Weg hinunter?«fragte er leise.

Er mußte sich nicht einmal zu Anita umdrehen, um ihr Kopfschütteln zu spüren.

Indiana seufzte ergeben, ließ sich auf Hände und Knie hinab und schob die Beine über den Rand des Felsens. Seine Stiefelspitzen fuhren scharrend über die glasharte Wand und fanden Halt in einem winzigen Riß. Mit klopfendem Herzen und schweißnassen Händen kletterte er Zentimeter für Zentimeter weiter in die Tiefe.

Es war ein Alptraum. Die Wand war so glatt wie Glas, und seine Hände waren feucht und rutschten immer wieder ab. Zweimal erreichte er eine Stelle, an der es einfach nicht weiterging, so daß er ein gutes Stück weit wieder in die Höhe steigen mußte, um einen anderen Weg zu suchen. Seine Muskeln waren bald hart und verkrampft und schmerzten unerträglich, und aus seinen aufgerissenen Fingerspitzen quoll Blut und machte den Felsen noch schlüpfriger. Daß er nicht schon nach Minuten aufgab und wieder zurückkletterte, lag wahrscheinlich einzig und allein daran, daß er das gar nicht mehr gekonnt hätte.

Als er endlich am Fuß der Wand angelangt war, war er so erschöpft, daß er mit einem Keuchen zusammenbrach und minutenlang schweratmend und mit rasendem Herzen dalag, ehe er wieder weit genug bei Kräften war, um wenigstens die Augen öffnen zu können.

Als er die Lider hob, stand Anita vor ihm. Auch sie wirkte erschöpft, aber längst nicht so sehr wie er. Ihre Hände waren nicht blutig, nicht einmal ihre Kleidung war in Unordnung.

«Wie sind Sie denn hierhergekommen?«flüsterte er erschöpft.»Geflogen?«

Anita schüttelte den Kopf.»Es gibt Wege, die nur ich gehen kann«, antwortete sie geheimnisvoll.

Mit einem unwilligen Knurren richtete sich Indiana halb auf und blickte auf seine zerschundenen Hände.»Wenn das alles hier vorbei ist«, sagte er,»dann werden Sie mir eine Menge Fragen beantworten müssen.«

«Das werde ich, Dr. Jones«, antwortete Anita sehr ernst.

Die Worte — und vor allem ihre Betonung — erinnerten ihn wieder daran, warum er diese lebensgefährliche Kletterei überhaupt gewagt hatte. Er stand vollends auf, sah sich sichernd nach allen Seiten um und huschte dann zwischen den bizarren Skulpturen aus Lava hindurch auf die Pyramide zu.

Der unheimliche Gesang wurde lauter, je weiter sie sich der Pyramide näherten. Und Indiana sah auch, daß der unheimliche rote Schein, der die Höhle erfüllte, nicht nur von den Fackeln und Feuerschalen herrührte — der Boden, über den sie gingen, war warm, an manchen Stellen sogar heiß, und hier und da drang düsterrote Glut aus Rissen und Spalten im Boden. Je mehr sie sich der Pyramide näherten, desto intensiver wurde der Geruch nach Feuer und heißem Stein, und ein paarmal drang dunkles Grollen aus dem Boden. Die Höhle mußte direkt über einem noch aktiven Teil des Vulkans liegen.

Schließlich waren sie dicht an das gewaltige Bauwerk herangekommen, und Anita deutete auf ein von rotem Licht erfülltes Tor. Das an- und abschwellende Summen des unheimlichen Gesangs war so laut geworden, daß sie in normaler Lautstärke miteinander reden konnten, ohne daß die Gefahr bestand, daß man sie hörte. Trotzdem ertappte sich Indiana dabei, seine Stimme zu einem fast angstvollen Flüstern zu senken, als er sich an Anita wandte:»Bleiben Sie hier. Ich gehe erst einmal vor und sehe nach, ob die Luft rein ist.«

Anita schüttelte heftig den Kopf, aber Indiana ließ sie gar nicht zu Wort kommen.»Ich brauche jemanden, der mir den Rücken frei hält«, fuhr er fort.»Also seien Sie ein braves Mädchen, und warten Sie hier.«

Rasch und ehe Anita Gelegenheit fand, zu antworten oder ihn zurückzuhalten, stand er auf und huschte geduckt die letzten Meter zur Pyramide hinüber. Er war ganz und gar nicht sicher, daß sie ihm nicht trotzdem folgen würde; aber als er sich unter dem Tor noch einmal umdrehte und zu ihr zurücksah, da entdeckte er den weißen Schimmer ihres Kleides zwischen den Lavapfeilern. Es war ein bizarrer Anblick; sie sah klein und verletzlich aus, wie eine Fee, die sich in einem versteinerten Wald verirrt hat und den Rückweg nicht mehr findet.

Indiana verscheuchte den verrückten Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das, was vor ihm lag.

Sein Herz klopfte, als er durch das gewaltige Tor in der Flanke der Lavapyramide trat. Er stellte fest, daß sein erster Eindruck nicht getrogen hatte — die Pyramide war nicht aus aufeinanderge-schichteten Blöcken errichtet, sondern aus der Lava des Berges herausgemeißelt worden. Allein bei der Vorstellung, welch ungeheuerliche Anstrengung dies bedeutet hatte, schauderte Indiana. Mit welchen Mächten hatte er sich da eingelassen?

Langsam ging er weiter. Vor ihm lag ein gewaltiger Tunnel von quadratischem Querschnitt, dessen Wände mit Relief arbeiten und gemeißelten Bildern übersät waren, die die alten Maya-Gottheiten, aber auch Szenen aus dem täglichen Leben dieses untergegangenen Volkes zeigten. Roter Lichtschein und das an-und abschwellende, monotone Geräusch des Gesanges schlugen ihm entgegen, und in einiger Entfernung konnte er die Stufen einer Treppe erkennen, die sich in engen Windungen tiefer ins Herz des Berges hinabwand. Allein bei der Vorstellung, dort hinunter zu gehen, sträubte sich alles in ihm. Aber er hatte keine andere Wahl, wenn er Joana retten wollte. Und davon abgesehen — Indiana hatte das sichere Gefühl, daß er jetzt gar nicht mehr zurück gekonnt hätte; selbst, wenn er wollte. So ging er langsam weiter, wobei sein Blick über die in den Stein gemeißelten Bilder und Dämonengestalten glitt.

Die meisten davon kannte er — die Maya waren ein Volk von erstaunlich weit entwickelter Kultur gewesen, trotz der zum Teil barbarischen Riten, die zu ihrer Religion gehört hatten. Aber sie waren auch ein Volk zahlreicher Götter gewesen, und während er sich langsam den obersten Stufen der Treppe näherte, begann er zu begreifen, daß sie noch sehr viel mehr Götter gehabt und angebetet hatten, als die moderne Archäologie bisher annahm. Er sah Quetzalcoatl, die Gefiederte Schlange, in hundert verschiedenen Gestalten, aber er sah auch … Dinge. Zuckende schwarze Wesen, deren Anblick ihm fast körperliches Unbehagen bereitete, gewaltige Scheußlichkeiten mit glotzenden Augen und schrecklichen Schnäbeln, die Menschen verschlangen, während andere Menschen sie anbeteten, geflügelte Kolosse, die über das Land glitten und alles verwüsteten, was Menschen dem steinigen Boden mühsam abgerungen hatten. Und — es war verrückt, aber trotzdem — für einen Moment fragte er sich allen Ernstes, ob all diese Dinge wirklich nur Ausgeburten der Phantasie waren oder ob es sie vielleicht gegeben hatte, keine eingebildeten Götter, die nur in den Köpfen derer lebten, die sie verehrten, sondern lebende Dämonen, die töteten und verwüsteten und von den Gebeten und der Angst derer lebten, über die sie herrschten. Vielleicht, dachte er schaudernd, irrte sich Bentley. Vielleicht war es das, was José in dieser Nacht wiederzuerwecken versuchte, und wenn es so war, dann würden dem Commander all seine Kanonen und Kriegsschiffe nichts mehr nutzen, denn das waren Gewalten, gegen die von Menschen erschaffene Waffen nutzlos waren.

Er streifte auch diese Vorstellung ab und versuchte sie dorthin zu schieben, wo sie hingehörten — ins Reich des Lächerlichen — und setzte den Fuß auf die oberste Treppenstufe.

Das rote Licht wurde intensiver, als er den Windungen des Treppenschachtes in die Tiefe folgte. Gleichzeitig wurde es wärmer. Der Geruch nach heißem Stein wurde so intensiv, daß ihm das Atmen immer schwerer fiel, und er war am ganzen Leib in Schweiß gebadet.

Um nicht völlig die Orientierung zu verlieren, zählte er die Stufen, die er hinabschritt, gab es aber bei zweihundertfünfzig wieder auf. Er mußte sich längst tief, tief unter der Pyramide und der Höhle befinden; auf halbem Weg zum lodernden Herzen des Vulkans; vielleicht auf halbem Weg zur Hölle.

Schließlich endete die Treppe — und diesmal gelang es Indiana nicht mehr, einen überraschten Aufschrei zu unterdrücken, der ihn nur deshalb nicht verriet, weil er im monotonen Singsang Hunderter und Aberhunderter Stimmen unterging.

Vor ihm lag eine weitere, kreisrunde Höhle, deren Decke sich zwanzig oder dreißig Yard über ihm zu einem spitzen, von nadelscharfen Stacheln und Speeren aus Lava gespicktem Dom wölbte. Wie tief ihr Boden unter ihm lag, konnte er nicht sagen — und es spielte auch keine Rolle, denn der Boden war kein Boden, sondern ein See aus kochendem, rotflüssigem Gestein, in dem es immer wieder aufblitzte und zuckte, aus dem zischende Blasen aufstiegen und Flammen züngelten. Es gab nur einen schmalen Felsring entlang der Wand, der den Lavasee umlief und auf den der Gang mündete.

Und trotzdem war er im Herzen des Tempels angelangt.

Direkt über dem See aus kochendem Stein, wie das Netz einer phantastischen Alptraumspinne, hing eine Plattform aus schwarzem Obsidian, die von einem Gewirr lächerlich dünner Felsstränge und Pfeiler gehalten wurde. Manche von ihnen waren kaum dicker als ein Finger, andere so breit, daß er bequem darauf hätte gehen können, und sie alle wuchsen völlig waagerecht aus den Wänden der Höhle, sämtlichen Naturgesetzen und allen Regeln der Logik ins Gesicht lachend, um die steinerne Plattform zu halten. Goldene Schmuckstücke, Waffen und rituelle Gegenstände von unvorstellbarem Wert waren überall an den Wänden der Höhle aufgehängt, und als Indiana einen weiteren Schritt machte, prallte er erschrocken zurück, denn er sah sich unversehens zwei Wächtern gegenüber, die Federmantel und — krone eines Maya-Königs trugen.

Die beiden Krieger rührten sich nicht. Und das konnten sie auch nicht, denn sie waren keine lebenden Menschen, sondern Statuen aus schwarzer Lava, lebensecht und so kunstvoll gearbeitet, daß Indiana verblüfft die Hand hob und über das Gesicht des einen strich, um sich von dem zu überzeugen, was seine Augen ihm sagten. Der Stein war warm. Alles hier war warm. Der Stein unter seinen Füßen war sogar heiß, und die Luft hatte mittlerweile eine solche Temperatur erreicht, daß er bei jedem Atemzug das Gefühl hatte, gemahlenes Glas einzuatmen. Glühendes gemahlenes Glas.

Nur mühsam riß er sich vom Anblick der beiden steinernen Wächter neben dem Eingang los und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem steinernen Spinnennetz über dem Krater zu. Der logische Teil seines Denkens schlug Purzelbäume bei diesem Anblick. Aber da war noch etwas anderes in ihm, etwas viel, viel Älteres, und dieses andere wußte genau, was er da vor sich hatte, und es spürte die uralten, bösen Mächte, die diesem Ort innewohnten, und schrie ihm zu, herumzufahren und zu fliehen, solange er es noch konnte.

Statt auf seine innere Stimme zu hören, schlich Indiana geduckt weiter, bis er eine Stelle an der Wand entdeckte, an der er ein Stück hinaufsteigen konnte, um einen besseren Blick auf die Plattform zu haben.

Auf dem schwarzen Rund aus schimmerndem Lavagestein standen Hunderte und Aberhunderte von Mayas, nackt bis auf den Lendenschurz und den Federkopfschmuck ihres Volkes, aber jeder einzelne bewaffnet und manche mit grellen Erdfarben bemalt. Die Mayas bildeten einen weiten, — zigfach gestaffelten Halbkreis, in dessen Zentrum sich der quadratische schwarze Block eines Altars befand.

Vor dem Altar stand José.

Indiana war viel zu weit von ihm entfernt, um sein Gesicht erkennen zu können, aber er trug den gleichen, grünen Zeremonienmantel, in dem er ihn an Bord der SARATOGA erblickt hatte, allerdings einen Kopfschmuck von anderer Farbe. Er stand reglos da, wie erstarrt, und hatte beide Arme in einer beschwörenden Geste erhoben. Nur seine Finger bewegten sich, und obwohl Indiana so weit von ihm entfernt war, daß er die Bewegung mehr ahnte als wirklich sah, ließ sie ihn doch schaudern. Sie bestimmte den Takt des unheimlichen Singsangs, in den die Maya-Krieger eingestimmt hatten, aber sie hatten gleichzeitig auch etwas Schlängelndes, Unheimliches, das Indianas kreatürliche Furcht vor diesem Ort noch verstärkte.

Und plötzlich sah er, daß es nicht nur Josés Finger waren, die sich bewegten.

Der Boden, auf dem er stand, zuckte. Glitzernde Schatten huschten hierhin und dorthin, schuppige schlanke Körper glitten über- und nebeneinander, strichen um Josés Füße und wanden sich an seinen Beinen empor.

Schlangen!

José stand inmitten eines lebenden Teppichs aus kriechenden, zitternden Schlangen.

Ein eisiger Schauer lief über Indianas Rücken. Schlangen! Warum mußten es ausgerechnet Schlangen sein, die einzigen Tiere auf der Welt, vor denen er wirklich Angst hatte?

Indiana schüttelte den Gedanken an diese widerwärtigen Kreaturen ab und versuchte, sich statt dessen auf die Gestalt im grünen Federmantel zu konzentrieren, — doch das fiel ihm nun immer schwerer, denn seine überreizte Phantasie gaukelte ihm plötzlich in jedem Schatten huschende Bewegung vor, in jedem Laut das helle Scharren harter Schuppen auf dem Fels und in jedem Lichtreflex das Blinzeln starrer Reptilienaugen.

José stand noch immer mit erhobenen Armen und bis auf die Bewegungen seiner Hände reglos da, aber in seine Krieger war Bewegung gekommen. Die meisten Mayas hockten noch immer auf den Knien, mit gesenkten Häuptern, die Oberkörper im Takt des unheimlichen Singsangs hin- und herwiegend, aber in ihrer Mitte war eine schmale Gasse entstanden, und Indiana fuhr erschrocken zusammen, als er sah, wie zwei der Maya-Krieger auf ihren Priester zutraten, wobei sie eine dritte, kleinere Gestalt in einem knöchellangen, weißen Gewand zwischen sich führten.

Es war Joana.

Indiana konnte den Ausdruck auf ihrem Gesicht noch nicht erkennen, aber sie bewegte sich langsam, mit den eckigen Schritten eines Menschen, der nicht mehr Herr seines Willens ist. Indianas Gesicht verdüsterte sich bei dem Gedanken, was José getan haben mochte, um sie in diesen Zustand zu versetzen.

Sein Blick tastete durch das weite Rund der Kraterhöhle. Er mußte näher an José und den Altar herankommen, wenn er Joana helfen wollte — aber wie? Zwar gab es sicherlich ein Dutzend steinerne Stränge, die breit genug waren, um über sie zu der Felsplattform in der Mitte des Kraters zu gelangen, aber sie boten nicht die mindeste Deckung, und er hatte sein Glück bisher schon genug strapaziert. Für einen Moment tastete sein Blick sogar über die Decke, und für einen noch kürzeren Moment spielte er ernsthaft mit dem Gedanken, sich an den Graten dort oben entlangzu-hangeln, verwarf ihn aber rasch wieder. Es hätte schon der Geschicklichkeit — und der Anzahl von Beinen — einer Spinne bedurft, um sich dort oben festhalten zu können. So tat er das einzige, was ihm übrigblieb — er sah weiter zu, was vor ihm geschah.

Die beiden Mayas hatten den Altar erreicht und Joana losgelassen. Sie war sehr bleich, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht war der von Leere, zugleich aber auch von tiefer Qual, die Indiana erschütterte. Der weiße Verband um ihre Stirn schien im blutroten Licht der Kraterhöhle unheimlich zu leuchten.

Langsam wandte sich José um und trat auf das Mädchen zu, dann streckte er die Hand aus.

«Gib mir das Amulett«, befahl er.

Joana begann zu zittern. Ihre Lippen bewegten sich, als wolle sie etwas sagen, doch kein Laut war zu hören. Langsam, als kämpfe sie mit aller Macht gegen die Bewegung an, hob sie die Arme, stockte, hob sie noch ein Stückchen weiter — und ließ sie wieder fallen.

José sagte nichts mehr. Einen Moment lang starrte er Joana noch durchdringend an, dann wandte er sich mit einer bedächtigen Geste um, trat ganz dicht an den Altar heran und legte die gespreizten Finger beider Hände auf den schwarzen Stein. Indiana sah erst jetzt, daß die Oberfläche des Lavaquaders nicht leer war: In einem fast geschlossenen Kreis glitzerten zwölf winzige goldene Metallscheiben — die Amulette, die José bereits erbeutet hatte. Nur eine einzige Lücke gab es noch.

«Du bist stark, mein Kind«, sagte er mit einer sonderbar sanften Stimme und ohne Joana dabei anzusehen.»Doch deine Stärke nützt dir nichts. Der Tag ist gekommen, an dem Quetzalcoatl erwachen wird. Nichts kann das jetzt noch ändern. «Er wandte mit einem Ruck den Kopf und sah Joana nun doch an.»Willst du wirklich dein Leben wegwerfen nur um einer Geste willen?«

Joanas Lippen begannen stärker zu zittern. Ihre Augen füllten sich wieder mit Leben, aber auch mit Furcht. Mit einer unbeschreiblichen Furcht. Ihre Hände bebten.

«Gib mir das Amulett«, sagte José noch einmal mit dieser sanften und doch fast unwiderstehlichen Stimme.»Ich spüre, daß du es bei dir hast. Zwinge mich nicht, Gewalt anzuwenden.«

Joana rührte sich noch immer nicht. Selbst über die große Entfernung hinweg glaubte Indiana, die zwingende Macht von Josés Worten zu fühlen — aber das Mädchen widerstand ihr. Wieder bewegte sie die Arme, als wolle sie die Hände heben, und wieder führte sie die Bewegung nicht zu Ende.

José seufzte tief.»Du enttäuschst mich, Kind«, sagte er.»Dein Leben ist noch zu jung, um es wegzuwerfen. Denn wisse, daß ich die Beschwörung auch ohne dieses Schmuckstück durchführen kann. Gibst du mir nicht das Amulett, so wird Quetzalcoatl dein Blut trinken, um zu erwachen. Erwachen wird er so oder so.«

Ein eisiger Schauer lief über Indianas Rücken. José war völlig wahnsinnig, das war ihm jetzt klar. Er würde die Beschwörung durchführen, ob mit oder ohne das dreizehnte Amulett, und Gott allein mochte wissen, was dann geschah; und vielleicht nicht einmal er. Langsam griff José unter seinen grünen Federmantel, und als er die Hand wieder hervorzog, hielt sie einen schmalen Dolch mit einer Klinge aus schwarzem Obsidian. Er trat zurück und machte eine befehlende Geste mit der freien linken Hand, und Indiana beobachtete aus ungläubig aufgerissenen Augen, wie Joana sich mit starren Bewegungen umwandte und sich nach einer weiteren, auffordernden Geste von José auf der Oberseite des Altars ausstreckte. Sie berührte die im Kreis ausgelegten Amulette nicht, und ihr Kopf lag so, daß er die Stelle des fehlenden, dreizehnten Anhängers ausfüllte.

«Quetzalcoatl!«rief José mit schriller, laut hallender Stimme, und die knienden Maya nahmen den Ruf auf und wiederholten ihn:»Quetzalcoatl!«

Indiana schauderte. Aus den Kehlen dieser Männer hörte sich das Wort anders an, völlig anders, als er es jemals gehört hatte. Es war nicht einfach nur ein Name; es war etwas Düsteres, etwas ungeheuer Mächtiges, ein Wort, dessen bloßer Klang schon Furcht und Schrecken und Terror verbreitete, und plötzlich wußte er, daß, was immer er sein mochte, Quetzalcoatl kein gnädiger Gott war, kein Gott des Trostes und der Liebe, kein Gott, der gab, sondern einer, der nur forderte und nahm.

Abermals rief José Quetzalcoatls Namen und abermals intonierte der Chor aus Hunderten und Aberhunderten von Mayas das Wort.

Indianas Gedanken überschlugen sich. Er mußte etwas tun — aber was?!

José trat mit langsamen Schritten um den Altar herum, blieb hinter Joanas Kopf stehen und ergriff das Messer mit beiden Händen. Langsam, ganz langsam, hob er es hoch über den Kopf, und Indiana konnte sehen, wie sich seine Muskeln unter dem grünen Federmantel spannten.»Quetzalcoatl!«schrie José zum dritten Mal.

Aber bevor noch der Chor der Indios das Wort zum dritten Mal aufnehmen und zu einem düsteren Sturm machen konnte, der diesen ganzen Berg zum Erzittern brachte, sprang Indiana aus seinem Versteck hervor und schrie aus Leibeskräften: »Nein!«

José erstarrte mitten in der Bewegung. Die Köpfe Dutzender, dann Hunderter Maya-Krieger wandten sich mit einem Ruck in seine Richtung, und nicht wenige von ihnen sprangen auf und griffen nach ihren Waffen.

José ließ das Messer sinken und machte eine beruhigende Geste zu seinen Kriegern.»Nein«, sagte er.»Laßt ihn.«

Einige Sekunden lang stand er einfach da und starrte ihn an, und Indiana konnte die Mischung aus Überraschung und bösem Triumph in seinen Augen erkennen. Dann senkte er die Hand mit dem Dolch, kam mit gemessenen Schritten um den Altar herum und machte eine auffordernde Handbewegung.

«Du bist also gekommen, Indiana. Ich wußte, daß du das Mädchen nicht im Stich lassen würdest.«

«Laß sie in Ruhe!«rief Indiana zornig.»Wenn du ein Menschenopfer brauchst, dann …«

«Ja?«fragte José lauernd, als Indiana nicht weitersprach.

Indiana atmete tief ein. Seine Gedanken drehten sich wild im Kreis, und er entwickelte und verwarf in Bruchteilen von Sekunden Hunderte von Plänen.»Dann nimm mich«, sagte er schließlich.

José wirkte nicht einmal sonderlich überrascht. Er lächelte, aber es war ein böses, ein durch und durch böses Lächeln. Schließlich wiederholte er seine auffordernde Geste, und Indiana setzte sich mit langsamen Schritten in Bewegung. Er mußte all seine Willenskraft aufwenden, um auf den schmalen Felsgrat hinauszutreten. Was ihm bisher wie eine breite, natürlich gewachsene Brük-ke über die kochende Lava vorgekommen war, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als ein kaum handtuchbreiter Streifen aus Stein, der so glatt war wie poliertes Glas. Fünfzig oder auch hundert Meter unter ihm brodelte der Fels in roter Glut, und aus der Tiefe stieg ein erstickender Hauch empor, der ihm das Atmen unmöglich machte. Trotzdem ging er weiter, ohne auch nur einen Schritt innezuhalten.

Die Maya wichen rechts und links von ihm zur Seite, als er den Steinkreis in der Mitte des Kraters betrat und sich José näherte. Aber hinter ihm schlossen sich ihre Reihen sofort wieder.

«Ich nehme an, du bist gekommen, um mir mein Eigentum zurückzugeben«, sagte José, als er ihn erreicht hatte und zwei Schritte vor ihm stehenblieb.

«Dein Eigentum?«

Ein Schatten huschte über Josés Gesicht.»Spiel nicht den Narren, Indy«, sagte er.»Das Amulett. Gib es mir!«Er streckte fordernd die Hand aus.

Indiana schüttelte den Kopf.»Du täuschst dich, José«, sagte er.»Ich habe es nicht.«

«Du lügst!«

«Laß mich von deinen Männern durchsuchen, wenn du mir nicht glaubst«, sagte Indiana ruhig.»Ich habe das Amulett nicht.

So wenig wie Joana.«

Josés Gesicht schien in einer Maske zu erstarren. Sekundenlang musterte er Indiana eindringlich und auf eine Art, als versuche er, die Gedanken hinter seiner Stirn zu ergründen, dann sagte er noch einmal:»Du lügst.«

«Ich sage die Wahrheit«, beharrte Indiana.»Du hättest dich etwas gründlicher umsehen sollen, mein Freund. Was du suchst, ist auf dem Schiff zurückgeblieben.«

«Dann muß Blut das fehlende Glied der Kette ersetzen«, sagte José.

«Du bist ja vollkommen wahnsinnig«, flüsterte Indiana.

José lächelte, als hätte er ihm geschmeichelt.»Vielleicht«, sagte er.»Aber ich will mich nicht mit dir streiten, Indy. Und um unserer alten Freundschaft willen mache ich dir ein letztes Geschenk — du darfst wählen, wessen Blut es ist, das vergossen wird. Deines — oder das des Mädchens.«

Er trat einen halben Schritt beiseite und drehte sich gleichzeitig so, daß er mit einer einladenden Handbewegung auf den Altar deuten konnte. Tatsächlich machte Indiana einen Schritt — und blieb wie erstarrt wieder stehen.

Die Schlangen! Sie waren noch immer da, wie von einer unsichtbaren Mauer in einem Kreis zwei oder drei Meter rings um den Altar gehalten. Es waren Hunderte, wenn nicht Tausende dieser Reptilien, die einen lebenden Teppich auf dem Boden bildeten. In Indiana zog sich alles schmerzhaft zusammen bei der bloßen Vorstellung, die unsichtbare Grenze zu überschreiten und inmitten dieses wimmelnden, kriechenden Gewürms zu stehen.

Ein Lächeln verzog Josés Lippen, als er Indianas Zögern bemerkte.»Hast du deine Angst vor Schlangen noch immer nicht überwunden, Indy, mein Freund?«fragte er spöttisch.

«Nenn mich nicht so«, knurrte Indiana böse. Josés Lächeln wurde noch breiter. Indiana machte einen weiteren Schritt und blieb wieder stehen. Und wider besseren Wissens versuchte er ein letztes Mal, an Josés Vernunft zu appellieren:»Das kann nicht dein Ernst sein!«sagte er.»Hast du wirklich vor, dieses … dieses Ding zu erwecken?«

Es gelang ihm nicht, José zu erschüttern. Das Lächeln auf dem Gesicht des Südamerikaners blieb unbeweglich.»Du sprichst von Quetzalcoatl, unserem Herrn und Gott«, sagte er.

«Ich weiß nicht, was das ist!«erwiderte Indiana aufgebracht.»Aber du mußt es doch auch spüren. Du mußt doch fühlen, was hier geschieht.«

«Natürlich«, antwortete José ruhig.

«Dann bist du noch verrückter, als ich dachte«, erwiderte Indiana.»Spürst du es nicht? Was immer an diesem Ort gefangen ist, es ist böse. Es ist kein Gott, den du erwecken wirst!«

«Sicher keiner nach deiner Definition, Indiana«, antwortete Jo-sé ruhig.

«Es wird dir nicht gelingen«, sagte Indiana.»Du kannst die Beschwörung nicht durchführen ohne das richtige Amulett.«

«Vielleicht habe ich es ja«, sagte José.»Nur eines von dreizehn ist das richtige, aber zwölf davon befinden sich in meinem Besitz. Die Chancen stehen nicht schlecht.«

«Eins zu zwölf, daß du dich und uns alle hier umbringst, du Narr?«

«Quetzalcoatl wird mein Gebet erhören. Und es ist egal, ob das richtige Amulett dabei ist oder nicht. Blut wird ersetzen, was Metall nicht zu tun vermag. Und nun geh!«Die drei letzten Worte hatte er in herrischem, befehlendem Ton gesprochen, und als Indiana abermals zögerte weiterzugehen, traten zwei Maya-Krieger hinter ihn und versetzten ihm einen Stoß, der ihn an José vorüberstolpern ließ.

Ein Schuß krachte.

Der Maya links neben Indiana stolperte mit einem krächzenden Schrei nach vorn, brach auf die Knie und fiel dann vornüber in die Masse wimmelnder Schlangen. Genau zwischen seinen Schulterblättern war ein kleines, rundes Loch entstanden.

Eine halbe Sekunde lang schien jedermann vor Überraschung den Atem anzuhalten; und dann brach rings um Indiana ein heilloses Chaos aus. Ein zweiter, dritter, vierter und fünfter Schuß peitschte, und weitere Maya-Krieger stürzten getroffen zu Boden, aber Indiana achtete gar nicht darauf, sondern riß sich mit einem plötzlichen Ruck los, nahm einen Schritt Anlauf und sprang mit aller Kraft. Für einen entsetzlichen Moment hatte er das Gefühl, zu kurz gesprungen zu sein und inmitten der Menge aus glitzernden Schlangenleibern landen zu müssen, dann prallte er unsanft mit der Hüfte gegen die Kante des steinernen Altars, klammerte sich instinktiv fest und zog sich, den Schwung seiner eigenen Bewegung nutzend, auf die Oberseite des Felsblocks hinauf. Unsanft prallte er gegen Joana und brachte den Ring aus münzgroßen Anhängern durcheinander, in dessen Zentrum sie lag.

Noch immer fielen Schüsse, aber als Indiana sich aufrichtete, sah er, daß das gesamte gewaltige Maya-Heer ebenfalls zu den Waffen gegriffen hatte und mit Blasrohren, Pfeilen und Äxten auf eine Handvoll Gestalten zielte, die in dem Torbogen zu dem Tunnel erschienen war, durch den auch Indiana die Höhle betreten hatte.

Aber keiner der Mayas schoß, denn genau in diesem Moment krachten dicht hintereinander zwei weitere Schüsse, und unmittelbar vor Josés Füßen stoben Funken aus dem Fels, so dicht und so präzise nebeneinander, daß es kein Zufall sein konnte.

«Halt sie lieber zurück, mein Freund«, tönte eine Indiana wohlbekannte Stimme vom Rand des Kraters her.»Ich weiß, daß sie uns umbringen können — aber du stirbst gleichzeitig.«

José erstarrte. Indiana sah, wie es in seinem Gesicht arbeitete, während er entsetzt auf die beiden Gewehrläufe blickte, die Bent-ley und einer seiner Matrosen auf ihn gerichtet hatten. Norten und die beiden anderen Männer standen neben dem Schiffskapitän und richteten drohend die Mündungen von zwei klobigen Maschinenpistolen auf das kampfbereite Maya-Heer. Und dann beobachtete Indiana ungläubig, wie zwei, drei, schließlich vier weitere Gestalten aus dem niedrigen Tunnel traten. Eine von ihnen war Anita, die sich heftig und vergebens gegen den Griff eines mehr als zwei Meter großen Riesen mit Hakennase und fliehender Stirn zu wehren versuchte. Diesen Riesen gab es gleich dreimal. Es waren die drei hünenhaften Maya-Krieger, mit denen Indiana schon mehrmals unliebsame Bekanntschaft geschlossen hatte!

«Das sieht ja so aus, als wäre ich gerade noch im richtigen Moment gekommen«, fuhr Norten mit einem meckernden Lachen fort.»Du wolltest doch nicht etwa dein Wort brechen und das Zeremoniell auf eigene Faust durchführen, alter Freund?«Er schüttelte tadelnd den Kopf.

«Was willst du?«fragte José ruhig.

Norten lachte. Als gäbe es die gut zwei- oder dreihundert Maya-Krieger gar nicht, die drohend ihre Waffen auf ihn richteten, bewegte er sich auf den Kraterrand zu und trat, ohne zu zögern, auf eines der schmalen Felsbänder hinaus.»Ruf deine Männer zurück«, sagte er.»Sie sollen die Waffen senken, oder ich schwöre dir, daß keiner von uns lebend hier herauskommt.«

José rührte sich nicht. Auch seine Krieger senkten ihre Blasrohre und Bögen keineswegs, aber sie zögerten doch, auf Norten zu feuern, obwohl er ein sicheres und wehrloses Ziel bot. Den Männern war offenbar klar, daß sie mit ihren Pfeilen gleichzeitig das Leben des Herrn verspielen würden, denn Bentley und die Soldaten hatten bewiesen, daß sie wahre Meisterschützen waren. Und Indiana war auf einmal auch nicht mehr so sicher, daß die Chancen wirklich so ungleich verteilt waren. Die beiden Soldaten mit den Maschinenpistolen standen ein Stück zu weit entfernt, um von den Blasrohren sicher getroffen zu werden; andererseits gab es auf dem kleinen Rund aus Felsen nichts, wohinter sich die Maya verstecken oder wohin sie fliehen konnten, so daß sie dem Feuer der Maschinenpistolen hilflos ausgeliefert sein würden.

Während Norten mit langsamen Schritten über den Felsen heranspaziert kam, beugte sich Indiana über Joana und rüttelte sie an der Schulter. Sie stöhnte leise, ihr Kopf rollte hin und her, und ihre Lider flatterten, aber sie wachte nicht auf. Er schüttelte sie noch heftiger, zog sie schließlich an den Schultern in die Höhe und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige — und das half. Verwirrt öffnete Joana die Augen, hob die Hand an die brennende Wange und blickte ihn mit einer Mischung aus Vorwurf und Überraschung an.»Was …?«

«Jetzt nicht«, unterbrach sie Indiana hastig.»Sag kein Wort bitte!«

Verzweifelt sah er sich um und suchte nach einem Ausweg. Aber es gab keinen. Ringsum drängte sich das Heer der Maya-Krieger, und auf der anderen Seite endete der Felsen in einem Abgrund, unter dem lodernde Lava kochte.

Ohne zu zögern und mit der Selbstverständlichkeit eines Mannes, der sich seiner völligen Unverwundbarkeit bewußt ist, schritt Norten durch die Reihen der Maya-Krieger auf José zu und blieb zwei Schritte vor ihm stehen.»Überrascht, mich wiederzusehen, alter Freund?«fragte er lächelnd.

José starrte ihn mit unverhohlenem Haß an.»Was willst du?«fragte er.

Norten schüttelte spöttisch den Kopf.»Ich denke, wir müssen uns unterhalten, mein Freund«, sagte er.»Daß du das alles hier allein machst, war nicht verabredet — glaube ich.«

José schwieg. Hinter seiner Stirn arbeitete es, und es hätte Indiana nicht gewundert, hätte er trotz der drohend auf ihn gerichteten Gewehrläufe in diesem Moment das Zeichen zum Angriff gegeben. Auch Norten schien zu dem gleichen Schluß gekommen zu sein, denn er schüttelte abermals den Kopf und machte eine besänftigte, gleichzeitig aber auch drohende Handbewegung.

«Was immer du jetzt vorhast, tu es nicht«, sagte er.»Ich weiß, daß du mich umbringen lassen kannst. Aber dann würden sie«— er deutete auf Bentley und den Soldaten —»dich töten. In der gleichen Sekunde. Und dann wäre niemand mehr da, der die Aufgabe erfüllen kann. Das möchtest du doch nicht, oder?«

«Du bist ein Ungläubiger«, sagte José haßerfüllt.»Deine Anwesenheit hier beleidigt die Götter.«

«Das mag sein«, antwortete Norten mit einem Achselzucken.»Aber ich bin nun einmal hier, nicht wahr?«Er lächelte, trat an José vorbei und blickte auf den Altar.»Ah, Dr. Jones«, sagte er mit gespielter Überraschung.»Sie sind auch da, welche Freude.«

«Wie sind Sie so schnell hierhergekommen?«fragte Indiana.

«Wenn man etwas wirklich will, gibt es immer Mittel und Wege«, erwiderte Norten.»Ich muß Ihnen mein Kompliment aussprechen, Dr. Jones. Für einen Mann, der angeblich überhaupt nicht fliegen kann, haben Sie das Flugzeug in einer Meisterlandung in den Vulkankessel gesetzt. Der Rückweg wird sich allerdings etwas komplizierter gestalten, fürchte ich.«

Indianas Blick wanderte zwischen Nortens und Josés Gesichtern hin und her. Seine anfängliche Erleichterung, Norten und die Soldaten zu sehen, machte einem immer heftiger werdenden Unbehagen Platz. Er war mit einem Male nicht mehr sicher, ob er nicht vom Regen in die Traufe geraten war.

Norten trat wieder einen Schritt zurück und machte eine Handbewegung.»Wenn ich Sie jetzt bitten dürfte, dort herunterzukommen.«

Indiana zögerte. Langsam stand er auf, zog Joana mit sich in die Höhe und schätzte die Entfernung ab, in der der Boden mit einem Teppich aus Schlangenleibern bedeckt war. Es waren gute drei Meter — eine Distanz, die er normalerweise ohne Schwierigkeiten übersprungen hätte. Aber Joana war immer noch unsicher und stand nur schwankend auf ihren eigenen Füßen.

«Oh, ich vergaß«, sagte Norten lächelnd.»Ihre Angst vor Schlangen. Entschuldigen Sie, Dr. Jones. «Und dann tat er etwas, was Indiana vollkommen überraschte. Lächelnd trat er weiter auf den Altar zu, und da, wo er entlangging, teilte sich die Masse der Schlangen und gab einen schmalen Weg frei.

«Bitte, Dr. Jones.«

Indiana stieg zögernd von dem Altarblock herunter, und Norten streckte die Hand aus, um Joana beim Absteigen behilflich zu sein. Ohne von den Schlangen auch nur berührt zu werden, schritten sie durch die Masse aus Tausenden von Tieren hindurch, die sich hinter ihnen so lautlos wieder schloß, wie sich der Weg aufgetan hatte. Und plötzlich hatte Indiana das Gefühl, einen fürchterlichen Fehler gemacht zu haben. Etwas war anders, völlig anders, als er bisher angenommen hatte.

Norten wartete, bis sich Indiana und das Mädchen ein paar Schritte weit entfernt hatten, dann trat er abermals an den Altar heran und musterte die Anordnung aus Amuletten, die José vorbereitet hatte. Mit bedächtigen Bewegungen schob er sie wieder an ihren angestammten Platz zurück, bis der Kreis fast geschlossen war. Dann drehte er sich zu Joana herum und streckte die Hand aus.»Du hast etwas, das mir gehört, Liebling«, sagte er.

Joana starrte ihn an und schwieg. José sagte:»Sie hat es nicht.«

«Hat sie dir das gesagt?«fragte Norten lächelnd. José nickte, und Nortens Lächeln wurde noch breiter — und eine Spur böser.»Ich fürchte, das liebe Kind hat dich belogen, alter Freund«, sagte er spöttisch.»Sie hatte das Amulett bei sich, als du sie von Bord des Schiffes entführt hast. Ich weiß es. «Er schwieg einen Moment, in dem er Joana weiter durchdringend anstarrte, dann streckte er abermals und diesmal mit einer herrischen Geste die Hand aus.»Bitte!«

Joana rührte sich immer noch nicht. Für einen Moment huschte ein Ausdruck von Zorn über Nortens Gesicht, machte aber sofort wieder diesem bösen, durch und durch zynischen Lächeln Platz. Mit fast bedächtigen Bewegungen zog er ein beidseitig geschliffenes Messer aus dem Gürtel und ließ die Klinge im roten Licht aufblitzen.»Ich könnte dich zwingen, es mir zu geben«, sagte er.»Aber eigentlich möchte ich das nicht. Ein Gesicht wie das deine wäre viel zu schade, um entstellt zu werden — finden Sie nicht auch, Dr. Jones?«Bei den letzten Worten hatte er sich herumgedreht und war auf Indiana zu getreten. Die Messerklinge näherte sich dessen Kehle.

«Ich denke, ich werde Ihr Gesicht in Streifen schneiden, Dr. Jones«, fuhr Norten in einem Tonfall fort, als rede er über das Wetter.»Es ist sicherlich interessant, herauszufinden, wieviel Schmerz Sie ertragen können. Und wie lange Ihre kleine Freundin dabei zuhören kann. Das vor allem.«

Indiana wich so weit vor der näherkommenden Messerklinge zurück, wie er konnte, stieß aber schon nach ein paar Schritten gegen die vordersten Maya-Krieger. Kräftige Hände packten ihn und hielten ihn fest, während sich Nortens Messerspitze abermals seinem Gesicht näherte. Ganz leicht, ohne die Haut auch nur zu ritzen, fuhr sie über seine Wange und zielte auf sein linkes Auge.

«Hör auf!«

Norten hielt tatsächlich mitten in der Bewegung inne, zog das Messer aber nicht zurück, sondern wandte nur den Kopf zu Joana um.»Ja?«

«Hör auf, Onkel Norten«, sagte Joana noch einmal.»Ich … gebe es dir.«

«Ich wußte doch, daß du ein vernünftiges Kind bist. «Norten senkte das Messer, drehte sich vollends zu dem Mädchen herum und streckte wieder die Hand aus. Joana zögerte noch eine Sekunde, dann hob sie die rechte Hand an den Kopf, griff mit den Fingern unter den weißen Verband über ihrer Stirn und zog das winzige Amulett hervor, um es Norten zu geben.

«Nicht schlecht«, sagte Norten anerkennend.»Du hast Phantasie, das muß man dir lassen.«

Er schloß die Hand um das Amulett, blickte José einen Moment lang triumphierend an und trat dann ohne ein weiteres Wort wieder an den Altar. Mit einer raschen Bewegung legte er das letzte Amulett an den noch freien Platz, wodurch der Kreis aus winzigen, runden Goldmünzen geschlossen wurde, und trat wieder zurück.

Indiana erwartete, daß jetzt irgend etwas geschehen würde. Auch José wirkte mit einem Male fast sprungbereit, aber nichts änderte sich. Nach einigen Sekunden griff Norten in die Tasche, zog eine Uhr hervor und klappte den Deckel auf.»Es ist noch Zeit«, sagte er.»Nur noch fünf Minuten, aber das sollte reichen. «Er drehte sich zu José herum.»Ich nehme es dir nicht übel, daß du versucht hast, mich hereinzulegen«, sagte er.»Um ehrlich zu sein — ich hätte dasselbe getan, hätte ich es gekonnt. Aber so, wie die Dinge liegen, sind wir wohl aufeinander angewiesen, nicht wahr?«

«Es wird dir niemals gelingen, Quetzalcoatl zu erwecken«, sagte José düster.

Norten zuckte mit den Achseln.»Da wäre ich nicht so sicher, mein Freund«, antwortete er.»Und selbst wenn — dann gelingt es eben uns beiden gemeinsam. «Seine Hand machte eine weit ausholende, flatternde Geste, die die ganze Höhle einschloß.»Ich würde sagen, die Situation ist ein klassisches Patt. Wir können uns gegenseitig umbringen oder das große Werk zusammen vollenden. Was ist dir lieber?«

«Das kann nicht Ihr Ernst sein, Norten«, rief Indiana entsetzt.

Indiana deutete mit einer Kopfbewegung auf José.»Von diesem Wahnsinnigen habe ich nichts anderes erwartet — aber Sie? Sie sind ein vernünftiger Mann, Norten! Kommen Sie zu sich! Spüren Sie denn nicht, was es mit diesem Ort auf sich hat?«

Norten fuhr herum. Seine Augen flammten auf wie die eines Wahnsinnigen.»Ob ich es spüre?«wiederholte er.»Was für eine Frage?! Hier liegt der Quell ungeheurer Macht, Dr. Jones. Und sie wird mir gehören! Mein Leben lang habe ich danach gesucht, und jetzt bin ich am Ziel.«

«Alles, was Sie finden werden, ist der Tod«, murmelte Indiana ernst.»Oder etwas Schlimmeres.«

«Das wird sich zeigen«, antwortete Norten. Noch immer lächelnd griff er in die Jackentasche, zog ohne Hast einen kurzläufigen Revolver hervor und schoß José aus allernächster Nähe in den Kopf.

Joana schlug erschrocken die Hand vor den Mund, und aus dem Heer der Maya-Krieger erscholl ein hundertstimmiger, entsetzter Aufschrei. Doch ehe auch nur einer der Krieger seine Waffe auf Norten richten konnte, trat dieser mit einer blitzschnellen Bewegung zurück und riß beide Arme in die Höhe, und etwas — Unheimliches geschah.

Norten sagte kein Wort, trotzdem konnte Indiana die zwingende, hypnotische Macht fühlen, die plötzlich von ihm ausging. Seine Augen schienen zu leuchten, als wären sie von der gleichen lodernden Glut erfüllt wie das Herz des Vulkans unter ihnen, und etwas wie eine unsichtbare Aura knisternder Macht umgab ihn. Sekundenlang stand er einfach so da, reglos, mit hoch erhobenen Armen, in einer beschwörenden Haltung, und dann konnte Indiana ahnen, wie die Indios hinter ihm einer nach dem anderen ihre Waffen wieder senkten.

«Der Verräter ist tot!«rief er.»Dieser Mann hat euch belogen! Er war nicht Mossadera. Auch ich bin es nicht, aber ich kann tun, was er niemals vollbracht hätte. Ich werde euren Gott wieder zum Leben erwecken, und ihr werdet mächtig und stark sein wie einst.«

Und obwohl Indiana sicher war, daß die allermeisten der Maya hinter ihm die Worte nicht einmal verstanden, taten sie doch ihre Wirkung. Einer nach dem anderen sank auf die Knie, bis alle demütig das Haupt senkten.

Langsam ließ Norten die Arme wieder sinken. In seinen Augen loderte noch immer dieses unheimliche, wahnsinnige Feuer, als er sich an Indiana wandte.»Und Sie, Dr. Jones«, sagte er,»werden das einmalige Schauspiel erleben, das Erwachen eines wirklichen Gottes mitanzusehen. «Er kicherte.»Ist das nicht der Traum eines jeden Wissenschaftlers?«

«Sie … Sie sind ja verrückt«, flüsterte Indiana erschüttert.

Norten sprach weiter, als hätte er die letzten Worte gar nicht gehört.»Ich fürchte, Sie werden dieses Schauspiel nicht überleben, Dr. Jones«, sagte er.»Aber für einen wirklichen Mann der Wissenschaft, wie Sie es sind, dürfte dieser Preis nicht zu hoch sein.«

Wieder sah er auf die Uhr. Dann hob er die Hand und gab den Männern am Kraterrand einen Wink. Die drei Maya-Krieger, Anita und Bentley und einer seiner Begleiter bewegten sich über den schmalen Felsgrat auf sie zu. Die beiden Männer mit den Maschinenpistolen blieben, wo sie waren. Auch ihre Waffen blieben drohend auf das Maya-Heer gerichtet, wie Indiana registrierte.

Die Zeit schien stillzustehen. Norten hatte von fünf Minuten gesprochen, und wenn er die Wahrheit gesagt hatte, dann mußte diese Frist jetzt so gut wie abgelaufen sein. Noch wenige Sekunden, dachte Indiana — und etwas Unvorstellbares würde geschehen. Auf dem Altar lagen jetzt alle dreizehn Amulette, und das bedeutete, daß das richtige, das magische Amulett, in dem Quet-zalcoatls ganze düstere Macht gefangen war, sich darunter befinden mußte. Wenn kein Wunder geschah, dann würde nichts mehr das Erwachen dieses finsteren, urzeitlichen Gottes verhindern können.

Während seine Begleiter langsam durch das Heer der knienden Maya näher kamen, drehte sich Norten wieder zum Altar herum und hob abermals die Hände. Seine Lippen begannen düstere, unverständliche Worte in einer längst untergegangenen Sprache zu murmeln, und gleichzeitig vollführten seine Hände die gleichen, unheimlichen, schlängelnden Bewegungen wie Josés vorhin. Einige Sekunden lang stand er so da, dann senkte er die Arme wieder, trat zurück und ging den drei riesigen Maya entgegen, die Anita zwischen sich führten. Auf einen befehlenden Wink hin reichte ihm einer der Männer ein in Segeltuch eingeschlagenes Päckchen.

Und im selben Moment, in dem Indiana es wiedererkannte, begriff er die volle Wahrheit. Er hatte dieses Paket schon einmal gesehen, und das war noch nicht einmal lange her. Er wußte, was es enthielt, noch bevor Norten es öffnete und den grünen Federmantel und den dazu passenden Federkopfschmuck hervorzog und überstreifte.

«Sie?«flüsterte er fassungslos, als Norten sich wieder herumwandte und mit einem Lächeln auf ihn zutrat.

Norten nickte.»Ja. Ich gebe zu, Sie haben mir einen gehörigen Schrecken eingejagt, als ich Sie an Bord des Schiffes in meiner Kabine überraschte.«

«Ich Idiot«, flüsterte Indiana.»Es … es war gar nicht Josés Kabine. Es war Ihre!«

Norten lächelte amüsiert und schwieg.

«Sie waren der Mann, den ich gesehen habe«, fuhr Indiana fort.»Nicht José. «Er deutete auf die hünenhaften Maya-Drillinge.»Und Sie haben diese Männer geschickt, um Joana und mich umzubringen.«

«Nicht umzubringen«, antwortete Norten kopfschüttelnd.»Sie sollten die Anhänger holen, das war alles. Aber das ist heutzutage das Problem mit Bediensteten — sie tun nicht immer, was man ihnen sagt. «Er seufzte spöttisch.»Es ist schwer, gutes Personal zu finden.«

Einen Moment lang wartete er vergeblich darauf, daß Indiana antwortete, dann ging er wieder zum Altar zurück und hob abermals die Hände. Wieder begann er mit diesen schlängelnden, beschwörenden Bewegungen, und wieder flüsterten seine Lippen diese düsteren Worte in einer Sprache, die Indiana nicht verstand, die aber irgend etwas in ihm zum Erstaunen brachte. Und diesmal nahm der Chor der Maya-Krieger die Worte auf, sprach sie nach und wiederholte sie, lauter und immer lauter werdend und dabei in einen unrhythmischen, an- und abschwellenden Gesang verfallend, der aus Worten eine Beschwörung, aus Lauten einen Schlüssel machte, der das Tor in die Vergangenheit, in eine düstere Epoche finsterer Götter öffnete.

Indiana spürte, daß etwas geschah, schon eine Sekunde, bevor es geschah. Es war nichts Sichtbares. Etwas … schien sich zu regen. Es war, als glitte die ganze Welt ein winziges Stückchen weiter in die Richtung, in der die Schatten und die Alpträume wohnen. Das bange Gefühl in Indiana wurde zu einem lautlosen, gellenden Schrei, und er sah aus den Augenwinkeln, wie sich auch Joana neben ihm krümmte, war aber nicht fähig, den Blick von Nortens hoch aufgerichteter Gestalt vor dem schwarzen Altar zu wenden.

Der Boden unter ihren Füßen begann zu zittern. Ein dumpfes, unheimliches Grollen drang aus der Oberfläche des Lava-Sees unter ihnen, und es wurde spürbar wärmer. Das rote Licht aus der Tiefe nahm an Intensität zu, und der Gesang der Maya-Krieger wurde lauter, hektischer, zwingender.

Die Oberfläche des Lava-Sees begann Blasen zu werfen. Zischende Linien aus weißem Feuer zuckten in der roten Glut, Flammen erhoben sich brüllend fast bis an den Rand des Felsenkreises, und plötzlich glaubte Indiana etwas wie einen gewaltigen, sich windenden Körper zu sehen, etwas wie eine Schlange aus purer Glut, die inmitten des flüssigen Gesteins schwamm.

Nortens Oberkörper begann sich hin- und herzuwiegen. Seine Stimme wurde lauter, die Worte, die er hervorstieß, waren jetzt Schreie, unverständliche, kehlige Laute, die keiner von Menschen oder für Menschen gemachten Sprache entstammten, sondern älter waren, unendlich älter. Indiana sah, wie Bentley und sein Begleiter immer nervöser wurden, während sich auf den Gesichtern der drei riesigen Maya ein Ausdruck von Verzückung breitmachte.»Jetzt«, flüsterte er, so leise, daß nur Joana es verstehen konnte.»Wenn wir eine Chance haben, dann jetzt.«

Das Mädchen nickte fast unmerklich, und Indiana spannte alle Muskeln, um den Griff des Maya hinter ihm zu sprengen. Aber er kam nicht dazu.

Ein dumpfer Schlag erschütterte die Höhle. Das Felsplateau wankte, die schmalen Stränge aus Lava und Stein, die es hielten, knirschten hörbar, Steine brachen von der Decke und stürzten in die Tiefe, um in der auflodernden Lava zu versinken — und plötzlich bäumte sich etwas Ungeheuerliches, Weiß-glühendes aus der kochenden Gesteinsmasse empor!

QUETZALCOATL!

Ein gellender Schrei aus Hunderten von Kehlen ließ die Höhle erbeben, als sich Quetzalcoatls feuriger Körper hoch aus der Lava erhob und der Schlangengott mit Augen aus Glut auf die winzigen Menschen herabstarrte.

Langsam, mit pendelnden Bewegungen, wie der Kopf einer Kobra, die ihre Beute mustert, bewegte sich der gewaltige Schädel des feurigen Gottes hin und her, und Norten riß mit einem Schrei die Arme noch höher — und deutete auf die beiden Soldaten am Kraterrand!

Die Männer begriffen wohl im allerletzten Moment, was da geschah, und rissen auch noch ihre Waffen in die Höhe. Das dumpfe Rattern der Maschinenpistolen ging im Tosen des Vulkans und den Schreien der Maya unter, aber Indiana sah das Aufblitzen des Mündungsfeuers — und dann berührte Quetzalcoatl den Fels dort, wo die Soldaten standen, und der Stein glühte in grellem Weiß auf. Die Körper der beiden Männer zerfielen zu Asche, noch bevor sie auch nur aufflammen konnten, und fast in derselben Sekunde starben auch Bentley und der dritte Soldat, getroffen von Dutzenden winziger Blasrohrpfeile, die die Maya-Krieger auf sie abschossen. Alles ging so schnell, daß Indiana nicht einmal wirklich erschrecken konnte.

Norten drehte sich herum, blickte einen Moment lang verächtlich auf die beiden reglosen Körper hinab, die neben Josés Leichnam lagen, und wandte sich dann wieder dem Altar zu. Der lodernde Flammenkörper des Maya-Gottes glitt zurück, verschwand für einen Moment völlig in der Lava und richtete sich dann wieder auf, ein ungeheuerliches Etwas aus purer Energie, das eine mörderische Hitze und eine noch mörderischere Wut ausstrahlte. Der Blick seiner kleinen, bösen Augen tastete über die Gestalt im grünen Federmantel, glitt über die Menge der knienden Maya und richtete sich dann auf den Altar. Selbst Nor-ten wich ein Stück zurück, als sich das weißglühende Etwas herabsenkte und Quetzalcoatls Schädel den ersten der dreizehn Anhänger berührte.

Das winzige Amulett glühte für eine Sekunde weiß auf und zerfiel dann zu Schlacke.

Nortens Hände vollführten weiter diese kreisenden, schlängelnden Bewegungen, und Quetzalcoatls Kopf glitt weiter, berührte den zweiten Anhänger und vernichtete auch ihn, den dritten, vierten, fünften. Einer nach dem anderen glühten die kleinen Metallscheiben auf und zerfielen zu Asche, bis nur noch ein einziger übrig war — das Amulett, das Joana bei sich getragen hatte.

Und Indiana war kein bißchen überrascht. Tief in sich hatte er es gefühlt, schon auf Nortens Hacienda, als ihm dieses fürchterliche Wesen schon einmal nahe gewesen war. Er hatte geahnt, daß er den einzigen richtigen Anhänger bei sich trug; den, den er von Swanson in der Stunde seines Todes bekommen hatte.

Und dann berührte Quetzalcoatls feuergeborener Schlangenschädel auch dieses Amulett — und vernichtete es.

Norten erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Augen quollen vor Fassungslosigkeit fast aus den Höhlen, und aus seinem Gesicht wich jedes bißchen Farbe. Auch der Gesang der Maya verstummte abrupt, und die drei Krieger, die Anita gepackt hielten, fuhren wie unter einem Hieb zusammen.

«Nein!«stammelte Norten.»Das … das kann nicht sein.«

Die Höllenschlange richtete sich mit einem ungeheuren Brüllen wieder auf, so daß ihr Schädel gegen die Decke stieß und einen Teil davon in weiße Glut verwandelte, die zu Boden tropfte und einige der Krieger traf. Aus dem beschwörenden Gesang der Männer wurde ein Chor aus entsetzten Stimmen, während sich Quetzalcoatl abermals mit einem noch lauteren, zornigen Brüllen herumwarf und Feuer und Tod über die versammelte Menge streute.

«Nein!«schrie Norten immer wieder.»Nein! Nein!«

Auf dem steinernen Rund brach Chaos aus. Plötzlich sprangen die Männer auf und rannten blind und kopflos durcheinander, Norten schrie immer wieder Quetzalcoatls Namen und streckte dem Ungeheuer die Arme entgegen, als könne er es durch die bloße Kraft seiner Verzweiflung zurückhalten. Entschlossen packte Indiana mit der linken Hand Joana und Anita mit der rechten und rannte los. Der Maya, der sie bisher gehalten hatte, war so verblüfft, daß er nicht einmal versuchte, sie zurückzuhalten.

Die Höhle bebte. Haushohe Flammen brachen aus dem Schlund des Vulkans, und der Boden wurde so heiß, daß Indiana vor Schmerz aufschrie. Quetzalcoatl tobte wie ein entfesselter Dämon aus der Hölle, und immer mehr Felsen und flüssiges Gestein stürzten von der Decke, fuhren wie tödliche Geschosse unter die Maya-Krieger oder klatschten in die Lava hinab. Der ganze Berg schien zu wanken. Ein tiefes, mahlendes Grollen drang aus dem Boden, und plötzlich spaltete sich die Rückwand des Felsendoms auf ganzer Länge und spie einen Strahl weißen, kochenden Gesteins aus, der das Felsplateau nur um Meter verfehlte.

Die Lavabrücke begann hinter ihnen zusammenzubrechen, als sie auf den Kraterrand zustürmten. Indiana sah voller Entsetzen, wie der Fels unter ihren Füßen barst, wie dünne, rote Adern aus flüssigem Gestein wie blutende Wunden auf der Oberfläche des Felsens erschienen, und er spürte, wie sich die schmale Brücke langsam, aber unbarmherzig unter ihnen zu senken begann. Sie waren noch drei Meter vom Kraterrand entfernt, dann noch zwei, einen — und dann brach der Fels zusammen! Indiana versetzte Anita und Joana einen Stoß, der sie das letzte Stück weiter stolpern und auf der Sicherheit des Kraterrandes zusammenbrechen ließ, warf sich mit verzweifelter Kraft nach vorn und spürte, noch während er sprang, daß er es nicht schaffen würde. Seine Hände glitten über den glasglatten Fels, rutschten ab — und klammerten sich irgendwo fest.

Mit einem Ruck, der ihm das Rückgrat in zwei Teile zu reißen schien, kam er zum Halten, suchte mit verzweifelt strampelnden Füßen nach einer Unebenheit in der Wand, an der er sich halten konnte, und spürte, wie er weiter abzugleiten begann. Hinter ihm tobte Quetzalcoatl, spie Tod und Feuer auf die Männer, die gekommen waren, um ihn zu erwecken, und Norten schrie noch immer aus Leibeskräften. Sein Federmantel und sein Kopfschmuck standen in hellen Flammen, und seine Stimme klang nicht mehr wie die eines Menschen. Aber es war nicht Quetzal-coatl, dessen feurige Glut ihn versengte. Es waren die Schlangen, die den Altar zu Hunderten und Tausenden umgaben. Wie auf einen lautlosen Befehl hin krochen sie auf Norten zu, glitten an seinen Beinen in die Höhe, krochen über seine Arme und seine Schultern und sein Gesicht, und wo sie seine Haut berührten, da flammte diese auf wie trockenes Holz.

Wieder erzitterte der ganze Berg wie unter einem Schlag, und als Indiana in die Tiefe blickte, sah er, daß sich die Oberfläche des Lava-Sees gehoben hatte. Flammen und Funken und Hitze speiend, stieg der brodelnde See in die Höhe, und die Hitze wurde unerträglich. Der Fels, an den er sich klammerte, schien zu glühen. Indiana roch sein eigenes, verschmortes Haar und sah voller Entsetzen, wie sich grauer Rauch unter seinen Fingerspitzen hervorkräuselte. Seine Kräfte versagten. Er ließ los.

Und im gleichen Moment, in dem er zu stürzen begann, ergriffen schmale, aber ungeheuer starke Finger sein Handgelenk und hielten ihn fest.

Indiana sah auf und blickte in ein uraltes, von tiefen Falten und Runzeln durchzogenes Gesicht. Mühelos, wie ein Erwachsener ein Kind am Arm in die Höhe zu heben vermag, zog ihn der uralte Maya auf den Kraterrand hinauf und ließ seinen Arm los. Indiana wankte, sank vor Erschöpfung gegen die Wand und prallte mit einem Schrei wieder zurück, denn auch hier war der Stein glühend heiß.

Fassungslos starrte er den alten Indio an, suchte vergeblich nach Worten und blickte dann wieder in die Höhle zurück. Auf dem steinernen Rund über dem Krater lebte niemand mehr. Der Fels glühte rot und begann zu schmelzen, und dort, wo der Altar gestanden hatte, pulsierte ein Ball aus unerträglich grellem, weißem Licht, wie ein riesiges, schlagendes böses Herz. Aus dem Riß in der gegenüberliegenden Wand floß noch immer Lava und füllte den See auf, dessen Oberfläche immer schneller in die Höhe schoß, und die Luft war so heiß, daß Indiana das Gefühl hatte, Flammen zu atmen.

«Wer …?«begann er, aber der alte Mann hob die Hand und schnitt ihm das Wort ab.

«Du mußt gehen, weißer Mann. Schnell. Ich kann dich nicht mehr lange schützen.«

«Mossadera?«flüsterte Indiana.»Du bist …?«

Der alte Mann lächelte.»Geh«, sagte er.»Nimm das weiße Mädchen und geh, solange du es noch kannst.«

Und wie um seine Worte zu unterstreichen, erzitterte die Höhle unter einem weiteren gewaltigen Schlag, und diesmal brach ein ganzer Teil der Decke zusammen und riß das, was von der Altarplattform geblieben war, mit sich in die Tiefe.

Indiana fuhr herum, ergriff Joanas Hand und rannte los. Dicht gefolgt von Anita und dem alten Mann stürmten sie die Treppe wieder hinauf, und hinter ihnen stieg kochendes, zischendes Gestein in die Höhle, verschlang die Höhle und den Tempel und die Stufen der Treppe fast schneller, als sie vor ihm davonlaufen konnten. Es war so heiß, daß der Stein rings um sie herum Blasen zu werfen begann und wie weiches Wachs in der Sonne schmolz, aber irgend etwas schützte sie. Irgendeine Macht, so alt und vielleicht noch stärker als die Quetzalcoatls, ließ sie weiterleben, und sie gab ihnen die Kraft, weiterzustürmen, obwohl Indiana schon nach wenigen Schritten das Gefühl hatte, in der nächsten Sekunde einfach zusammenbrechen zu müssen. Eingehüllt in eine Woge aus brennender Luft taumelten sie aus dem Ausgang der Pyramide heraus.

Indiana wollte sich in die Richtung wenden, aus der sie gekommen waren, aber der alte Mann deutete nach rechts, und er folgte der Geste, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Hinter ihnen begann das ganze gewaltige Gebäude zu zerbrechen. Gezackte Risse wie erstarrte rot-glühende Blitze spalteten seine Oberfläche, und auch aus seinen Flanken begann glühende Lava zu tropfen. Selbst die große Höhle, die sich über ihnen spannte, bebte, und auch hier regneten Steine, Felstrümmer und Glut von der Decke, verfehlten sie aber wie durch ein Wunder. Sie durchquerten die Höhle, verfolgt von Rissen im Boden, in denen Glut wie weißflüssige Schlangen nach ihnen züngelte, geduckt unter einem Bombardement aus glühendem Stein und gepeinigt vom unablässigen Grollen und Krachen des Berges, der rings um sie herum zusammenzubrechen begann. Es wurde zu einem Wettlauf mit dem Tod, und daß sie ihn gewannen, war nicht ihr Verdienst, sondern einzig das des alten Mannes, dessen unfaßbare Kräfte sie schützten.

Irgendwann, nach Stunden, wie es Indiana vorkam, taumelten sie keuchend ins Freie und fanden sich am Ufer des Kratersees wieder. Das Flugzeug schaukelte vor ihnen auf den Wellen, die das brodelnde Wasser schlug. Gewaltige Gasblasen stiegen aus der Tiefe des Kraters empor und zerplatzten, und über dem Wasser hing grauer Dampf.

Indiana wollte einfach weiterstürmen, aber als sein Fuß das Wasser berührte, schrie er auf vor Schmerz und prallte zurück. Der See kochte. Weißer Schaum zischte auf den Wellen, und hier und da glühte es rot und drohend aus seiner Tiefe.

Im Zickzack rannten sie am Ufer entlang auf das Flugzeug zu und erreichten es wie durch ein Wunder abermals unverletzt. Joana riß sich los und kletterte hastig durch die offenstehende Tür der Cessna, aber Indiana blieb noch einmal stehen und drehte sich um.

Anita und der alte Mann standen hinter ihm. Anita wirkte erschöpft und war verletzt, aber Indiana entdeckte auf ihrem Gesicht nicht die mindeste Furcht, und obwohl ihm der Gedanke selbst aberwitzig erschien, wußte er, daß ihr nichts geschehen würde; so wenig wie diesem alten Mann, der älter, viel viel älter war, als er bisher geglaubt hatte.

Er wollte sich wieder umwenden und ebenfalls ins Flugzeug steigen, aber er spürte, daß noch etwas zu tun war. Abermals wandte er sich um, trat dem alten Mann entgegen und sah ihn an.

«Ihr könnt uns begleiten«, sagte er wider besseren Wissens.»Das Flugzeug ist groß genug.«

Mossadera schüttelte mit einem sanften Lächeln den Kopf.»Uns wird nichts geschehen«, sagte er.»Mach dir keine Sorgen um uns, weißer Mann. Bring das Mädchen in Sicherheit. «Er hob die Hand.

Indiana starrte seine schmalen, faltigen Finger einen Moment lang an, dann versenkte er die Hand in die Jackentasche und schloß sie um das, was er darin trug. Für einen Moment fragte er sich, wieso es ihm nicht aufgefallen war; spätestens an Bord des Schiffes. Aber vielleicht hatte es so kommen müssen. Vielleicht hatte irgend etwas dafür gesorgt, daß er es nicht merkte, damit die Dinge ihren vorgegebenen Lauf liefen.

Langsam zog er die Hand wieder hervor, betrachtete einen Moment lang die winzige, unscheinbare Kette, von deren Gliedern jedes einzelne die Form einer winzigen Schlange hatte, die sich selbst in den Schwanz biß, und ließ sie schließlich in die Handfläche des alten Mannes fallen.

«Bedauerst du es?«frage Mossadera.

Indiana dachte einen Moment lang über diese Frage nach, dann schüttelte er den Kopf.»Nein«, sagte er ehrlich.»Es gibt Dinge, die besser vergessen bleiben.«

Der alte Maya-Zauberer lächelte auf eine schwer zu deutende Art und sah auf die Kette in seiner Hand, den magischen Gegenstand, in den er selbst vor Jahrhunderten Quetzalcoatls Zauberkraft gebannt hatte. Und während er das tat, begann sie sich zu verwandeln. Die einzelnen Glieder schienen zusammenzulaufen, verbanden sich zu einem einzigen, golden schimmernden Schlangenkörper, aus dessen Schädel zwei winzige Flügel wuchsen. Eine Sekunde später war er verschwunden, und die Hand des alten Mannes war leer.

«Geh«, sagte Mossadera.»Nimm meinen Segen und den meiner Tochter und geh. Und vergiß niemals, weißer Mann, was deine eigenen Worte waren: Es gibt Geheimnisse, die besser auf ewig ungelöst bleiben.«

Langsam drehte sich Indiana um und ging auf das wartende Flugzeug zu. Joana hatte den Motor bereits gestartet und wartete ungeduldig darauf, daß er in die Kabine kletterte, und der See begann immer heftiger zu zittern und zu brodeln. Für eine Sekunde fragte er sich, ob sie es noch schaffen würden, aber schon im gleichen Moment wußte er, wie die Antwort lauten mußte. Und ohne die mindeste Hast stieg er an Bord des Flugzeugs und blickte den alten Maya und seine Tochter an, bis Joana das Flugzeug gewendet hatte und die beiden Gestalten im grauen Dunst über dem See verschwunden waren.

Zehn Minuten später jagte die Cessna mit aufheulendem Motor aus der gewaltigen Dampfwolke hervor, die sich aus dem Krater des erloschen geglaubten Vulkans erhob, und nur Augenblicke danach explodierte der Berg in einer brüllenden Feuerwolke, deren Donner noch Hunderte von Meilen entfernt zu hören war. Indiana empfand ein leises Bedauern bei dem Gedanken, daß nunmehr unwiderruflich alles vernichtet war, was von der Magie dieses uralten Volkes die Jahrhunderte überlebt hatte. Aber gleichzeitig dachte er noch einmal daran, was er selbst gesagt und Mossadera wiederholt hatte: daß es Geheimnisse gab, die besser ungelöst blieben.

Für alle Zeiten.

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