Aber ich wusste, was ich wollte. Ich wollte sie. Und ich werde alle Anstrengungen unternehmen, um der Mann zu sein, nach dem sie sich sehnt, den sie bisher jedoch nie hatte.

Mir war klar, dass ich die Wogen nicht nur meines Zorns über die Ausbeutung des jungen Zimmermädchens, sondern auch der Trauer über Mr. Nowrys Herzinfarkt glätten und auf andere Gedanken kommen musste. Ich entschied dann, mich in der Stille des sauberen Zimmers zu entspannen, daher setzte ich mich auf mein Bett und schlug mein Lieblingsbuch auf: Schatten über Innsmouth. Allerdings wollte ich jetzt nicht konzentriert darin lesen; das sparte ich mir für den kommenden Tag auf, wenn ich den perfekten Platz, vielleicht sogar mit Blick auf den Hafen, gefunden hatte. Auch wenn dort andere Gebäude standen, waren das Hafenbecken selbst ebenso wie die geheimnisvolle See dahinter die gleichen, die Lovecraft erspäht hatte, als ihm die Grundzüge zu seinem Meisterwerk erstmals in den Sinn gekommen waren, eine brillante Verschmelzung aus Atmosphäre, Konzept, Charakteren und letztendlich Horror. Augenscheinlich war Lovecraft derart von Irwin Cobbs angeberischem, doch höchst makabrem »Fischkopf« und auch Robert Chambers’ fehlerhaftem, aber bildergetränktem »Hafenmeister« beeinflusst gewesen, dass er die Grundlagen dieser Geschichten ergriffen und diese in geniale neue Richtungen geführt hatte, um seine eigene überragende Geschichte über symbolische – und gänzlich monströse – Rassenmischung zu weben. Als der Erzähler Robert Olmstead darin zufällig auf den verfallenden und legendenumwobenen Seehafen von Innsmouth stößt, kommt er als Erstes dahinter, dass die Stadtbewohner vor langer Zeit eine Art Pakt mit einer Rasse schrecklicher amphibischer Meereswesen eingegangen sind, die Captain Obed Marsh, ein Seehändler, auf einer Reise nach Ostindien entdeckt hatte; als Zweites und Schlimmstes, dass dieser monströse, von Habgier getriebene Pakt nicht nur Menschenopfer beinhaltete, sondern auch die ungezügelte Kreuzung der Kreaturen – der Tiefen Wesen – mit der menschlichen Bevölkerung von Innsmouth. Jede Seite, auf die ich umblätterte, führte mich zu einem Bild oder einer Zeile, das beziehungsweise die ich leicht als meinen Favoriten erachten konnte.

Dies war so eine, eine Dialogzeile, gesprochen von niemand anderem als dem »alten Säufer« Zadok Allen, dessen Vorbild aus dem wirklichen Leben Zalens Großvater Adok gewesen war. Die Zeile lautete wie folgt: »So ein’n wie den Käpt’n Obed gibt’s kein zweites Mal nich – der alte Satansbraten. Ho, ho! Ich weiß noch gut, wie er immer von fremde Länder erzählt hat un die Leute für blöd erklärt hat, weilse inde christliche Kirche gegang sind und sich demütich mit ihr’m Schicksal abgefund’n hab’n. Soll’n sich bessere Götter anschaffen, sagt er, wie die Völker auf’n Westindischen – solche Götter, wo ihn’n für ihre Opfer jede Menge Fisch geb’n und wirklich die Gebete von’n Leuten erhörn.«

Naturgemäß amüsierte mich die sich anbietende Parallele: »jede Menge Fisch«, den die Tiefen Wesen nach Innsmouth gebracht hatten im Austausch für blutige Opfergaben. Ich musste kichern wegen des Reichtums an lokalem Fisch in dieser sehr realen Stadt. Beinahe hätte ich laut aufgelacht!

Etwas, das ich meinem Unterbewusstsein zuschrieb, bewirkte, dass ich mit dem ziellosen Blättern aufhörte, und als Nächstes rasteten meine Augen auf einer weiteren Zeile von Zadok Allens volltrunkenem Gestammel ein: »Obed Marsh, der hat drei Schiffe gehabt – die Brigantine Columby, die Brigg Hetty un die Bark Sumatry Queen …«

Ein Schwindel befiel mich, als ich diese Worte anstarrte. Dann: Natürlich! Ich wusste, dass ich diese Namen schon einmal gesehen hatte! Sie waren die ganze Zeit hier … Denn jetzt erinnerte ich mich daran, dieselben Namen an den dekorativen Schiffsplaketten im Restaurant gesehen zu haben.

Also existierte nicht nur die Stadt »Innsmouth«, wenngleich unter ihrem wahren und nicht allzu verschiedenen Namen Innswich, ebenso hatte es in der dunklen Vergangenheit dieser Stadt diese Handelsschiffe gegeben. Ich konnte nicht anders, als Lovecraft ob der Gewissenhaftigkeit seiner Nachforschungen zu bewundern – etwas, für das er durchaus bekannt war –, dass er solch minutiöse Details aus der Realität übernahm und in seine fiktive Handlung einflocht.

Ich las Teile einiger weiterer Szenen erneut, alle mit außergewöhnlichem Vergnügen, dann legte ich das Buch beiseite in heißer Erwartung, es am nächsten Tag noch einmal komplett zu lesen. Aber in Bezug auf den nächsten Tag gab es etwas, auf das ich mich noch mehr freute …

Ich muss möglichst gut aussehen, erkannte ich und erschauderte dann, als ich meinen Koffer öffnete und meinen besten Anzug in zerknittertem Zustand vorfand. Um diese Zeit würde nirgends mehr offen sein, wo ich ihn frisch aufbügeln lassen konnte; daher konnte ich nur hoffen …

Als ich in den Wandschrank blickte, erkannte ich, dass ich Glück hatte! Dort, angelehnt, stand ein aufklappbares Bügelbrett, und auf dem obersten Regalbrett befand sich ein Dampfbügeleisen. Ich wusste so gut wie nichts über derartige Tätigkeiten, aber wie schwer konnte es schon sein? Ich nahm das Bügelbrett heraus und suchte nach einer Art Verriegelungsstift, um die Beine auszuklappen, als …

»Verflixt!«

… es rutschte mir aus den Händen und schlug gegen die Rückwand des Schrankes.

»Oh, um Himmels willen!«, beschwerte ich mich lautstark, als ich sah, dass das leichte Brett mit solcher Kraft gegen die Rückwand geschlagen war, dass es darin tatsächlich ein Loch hinterlassen hatte. Die Hotelleitung wird darüber nicht allzu sehr erfreut sein, dachte ich. Bis ich ihnen das Doppelte der Reparaturkosten bezahle. Ich trat hinein, um das Bügelbrett herauszuholen, ließ mich dann herunter auf ein Knie, um den Schaden zu inspizieren. Stücke von Putz lagen herum, indes schien die Beschädigung der Gipswand 30 cm lang und mehrere Zoll breit. Das war eine unsolide Konstruktion, gelinde gesagt, doch hatte ich diesen stümperhaften Unfall allein meiner eigenen Ungeschicklichkeit zuzuschreiben.

Doch bevor ich aufstehen konnte …

Als ich mein Gesicht vor den Spalt hielt, schien ein ganz schwacher Lichtfaden in der Dunkelheit jenseits der Gipswand zu hängen. Kurze Überlegung sagte mir, ich hatte ein kleines Loch in der Seitenwand entdeckt, die nur die Wand zu meinem Badezimmer sein konnte. Als ich hastig aufstand und ins Bad ging, stellte ich fest, dass ich dort versehentlich das Licht angelassen hatte.

Ein Loch, grübelte ich. In der Wand …

Ein Guckloch?

Der Gedanke erschien absurd, jedoch konnte ich meinen früheren Eindruck nicht vergessen: Als ich gebadet hatte, hätte ich nicht nur schwören können, einen Menschen hinter der Wand atmen zu hören, sondern war erfüllt gewesen von dem Verdacht, beobachtet zu werden …

Mit Logik ließ sich mein nächstes Unterfangen nicht erklären. Zurück im Schrank entfernte ich vorsichtig weitere Stücke des Putzes. Der Schaden war bereits angerichtet, also machte eine weitere Beschädigung der Wand wenig aus; ich würde dafür bezahlen, unabhängig von der Größe des Loches. Ich schätze, meine Motive zu diesem frühen Zeitpunkt waren von meinem Unterbewusstsein bestimmt, doch nachdem ich weitere Putzstücke von der Wand entfernt hatte und mit meiner kleinen Taschenlampe in das Loch leuchtete, entdeckte ich einen Zwischenraum dahinter, der leicht für einen schmalen Gang gehalten werden konnte. Freilich hätte es sich dabei auch nur um einen Wartungsgang handeln können, für Zugang zu Rohren, elektrischen Leitungen oder so. Dennoch …

Ich entfernte noch einige Stücke, bis das Loch groß genug war, damit ich hindurchsteigen konnte, und dann krabbelte ich hinein.

Im Inneren wieder auf die Beine gekommen, näherte ich mich dem fadengleichen Lichtstrahl. Der Instinkt, selbstredend, führte mein Auge spornstreichs an ihn heran.

Ich blickte direkt in mein Badezimmer.

Es IST ein Guckloch, war mein erster Gedanke, doch dann: Nein, das ist lächerlich! Das Hilman war offenkundig eine respektable Herberge. Für das Loch konnte es eine Reihe vernünftiger Erklärungen geben: ein einfacher Baufehler, ein Nagelloch, wo ein Bild gehangen hatte.

Tiefer in der Dunkelheit bemerkte ich allerdings einen weiteren Lichtfaden.

Jede Vorsichtsmaßnahme ergreifend, um nicht zu stolpern, ging ich zu dieser Stelle und entdeckte zu meiner Bestürzung ein weiteres Loch, durch das ich direkt in das Schlafzimmer der Suite neben der meinen sehen konnte.

Jetzt war ich ratlos, was ich davon halten sollte. Ein leises Klappern drang an meine Ohren und, das Auge an das Loch gepresst, bemerkte ich Bewegung.

Es war das Zimmermädchen, mit dem ich gerade gesprochen hatte und das an diesem Morgen noch schwanger gewesen war. Mit ernstem Gesicht und leerem Blick nahm sie lethargisch die Aufgaben in Angriff, das Bett zu machen und das Zimmer aufzuräumen. Auf einem Stuhl neben der Tür bemerkte ich jedoch eine kleine Reisetasche, die offen stand und mit Kleidung gefüllt war. Und auf der Kommode?

Da lag ein schöner beigefarbener Koko-Kooler-Hut, identisch zu dem, den William Garret heute Morgen getragen hatte, als ich ihm begegnet war. Nahe der Tür stand zudem ein Aktenkoffer, der seinem allzu ähnlich erschien.

Aber Garret und sein Freund sind bereits abgereist, entsann ich mich.

Sobald das Zimmermädchen das Bett gemacht hatte, stopfte sie den Hut in die Reisetasche, schloss diese und trug sie und den Aktenkoffer aus dem Zimmer …

Nur die nüchternsten und sachlichsten Gedanken beschäftigten nun meinen Geist. Ich glaubte, dass sich auf dieser Seite des Flurs zwei weitere Zimmer befanden, und als ich in diese Richtung schaute – tatsächlich –, machte ich zwei weitere der dünnen Lichtstrahlen aus, die die Existenz zweier weiterer Gucklöcher anzeigten. In der entgegengesetzten Richtung dieses verborgenen Ganges waren einige mehr solcher Lichtstrahlen zu entdecken …

Ich hielt die Taschenlampe nach unten auf den Boden gerichtet. Falls dieser Gang in der Tat zu einem üblen Zweck existierte – entweder aus Perversität oder um sich aus der Ferne einen Eindruck von den Wertsachen eines Gastes zu verschaffen –, dann musste es eine Art unbeobachtbaren Zugang geben. Ganz am Ende des Ganges stieß ich auf etwas am Boden, das nur eine Falltür sein konnte.

Ich öffnete sie, entdeckte eine Sprossenleiter und ohne großartige bewusste Entscheidung fand ich mich als Nächstes die Leiter herunterklettern in den zweiten Stock des Hotels …

Der Abstieg geschah in völliger Finsternis, und ich glaubte mich schon in der Speiseröhre einer mesozoischen Kreatur auf dem Weg zu deren Magen. Eine türlose Öffnung kennzeichnete den verborgenen Gang parallel zum Flur des zweiten Stocks. Ich betrat ihn und sah mich ähnlicher Dunkelheit gegenüber. Ein Lichtfaden markierte jedes Zimmer in diesem Stockwerk, doch als ich einen schnellen Blick hineinwarf, sah ich nur unbewohnte Räume.

Also stieg ich weiter hinab zur nächsten Etage. Dem ersten Stock. Durch die Öffnung gelangte ich in einen anderen Korridor, dessen Dunkelheit nur durch weitere periodisch auftretende Lichtfäden erhellt wurde. Hier allerdings nahm ich schwach Stimmen wahr.

Ich schlich so langsam – und leise – wie möglich zum ersten Guckloch.

Aus meinem Blickwinkel konnte ich nur einen Teil des einfachen, sauberen Raumes dahinter erkennen und sah Regale mit Dosen, Schwämmen, Eimern, Handtüchern und anderen derartigen Dingen. Die Stimmen waren eindeutig weiblich und klangen ungezwungen. Mehrere junge Frauen befanden sich in dem Raum, die ich nur teilweise sehen konnte; sie schienen auf verschiedenen Sofas zu sitzen. Alle befanden sich in irgendeiner Phase der Schwangerschaft.

»… aus Providence, glaube ich, und er sieht ziemlich gut aus«, sagte eine.

»Oh, den kenne ich – er ist ziemlich schüchtern«, bemerkte eine andere.

»Und ziemlich reich! Habe ich zumindest gehört. Aus diesem Grund wollen sie ihn auch nicht nehmen.«

Mein Verstand geriet ins Stocken, während mein Auge auf dem Loch verblieb. Sprachen sie etwa … über mich?

Eine Dritte, kaum sichtbar, fügte hinzu: »Oh, ich weiß, wen du meinst.« Ein Kichern. »Ich war oben, habe durch die Gucklöcher geschaut und gesehen, wie er – ihr wisst schon – an sich herumgespielt hat!«

»Nein!«

»Er hat sich einen runtergeholt! In der Badewanne …«

Die anderen lachten, während ich, wie zu erwarten, meine Stimmung in den Keller rutschen spürte. Sie konnten nur über mich sprechen.

»… und du hast recht, er sieht recht gut aus, aber mir haben die anderen beiden viel besser gefallen.«

»Die Männer aus Boston?«

»Genau. Ich hätte nichts dagegen gehabt, es mal mit einem von ihnen zu tun zu bekommen.«

»Aber, Lisa! Von denen sieht jetzt keiner mehr besonders gut aus!« Daraufhin kicherten sie alle los.

Ich konnte nur durch das Loch starren, mehr mit meinen konfusen Gedanken beschäftigt als mit der Szene im Raum. Das war unerhört, Frauen, die überaus wahrscheinlich Zimmermädchen waren, spionierten Hotelgäste aus. Das war sicher strafbar, und ich hatte ganz sicher einen Anwalt, der das Hotel nur zu gern verklagen würde, aber …

Was war der Grund für all das?, fragte ich mich trotz meiner Beschämung und meines Schrecks. Frauen waren nicht gerade als Voyeure bekannt; diese Verirrung war allein Männern vorbehalten. Und der Verweis auf zwei Männer aus Boston konnte sich nur auf Mr. Garret und Mr. Poynter bezogen haben. Von denen sieht jetzt keiner mehr besonders gut aus?

»Gott, es ist nur so deprimierend, es tun zu müssen, wenn sie so sind«, kam eine andere Anmerkung. »Ich bin froh, dass ich schwanger bin.«

»Genau. Und sie werden den Mann aus Providence nicht behalten.«

»Warum nicht?«

»Ich hab doch gesagt, dass er reich ist. Die anderen sind immer arme Schlucker – keiner weiß, dass sie hier sind –, aber der Mann aus Providence …«

»Der ist kein armer Schlucker, wenn er reich ist. Jemand würde kommen und nach ihm suchen …«

Selbst wenn ich meine Vorstellungskraft aufs Äußerste anstrengte, hatte ich keine Erklärung für die Worte, die ich da hörte, noch für die haarsträubenden Beweise, die ich aufgrund meiner Neugier aufgedeckt hatte.

Ich ging weiter zum nächsten Loch …

Großer Gott …

… und sah die wohl makaberste Szene, die ich in meinem dreiunddreißigjährigen Leben bisher gesehen hatte.

Mehrere Matratzen lagen auf dem Boden, und in den Ecken standen einige Metallpfannen. »Gott, wie ich es hasse«, erklang die Beschwerde einer Frau. Es handelte sich um noch eine schwangere Frau, diese war aber eher schäbig und älter. Sie hatte sich auf die Knie niedergelassen und neigte sich zu einem Mann, der auf einer der Matratzen lag.

Oder, um mich schleunigst zu korrigieren: zu den Überresten eines Mannes …

Er lag zergliedert da, nackt, mit Narben an den Stellen, wo man ihm die Arme an den Ellenbogen und die Beine an den Knien abgenommen hatte. Er war schlank, hatte blasse Haut und trug einen Bart, und die schwangere Frau wusch ihn gerade mit einem klatschnassen Schwamm im Lendenbereich. Ihr Ausdruck des Widerwillens hätte nicht anschaulicher sein können. »Die stinken bloß so! Oh, und die Läuse! Ich hasse das wirklich so sehr

»Du hasst es!«, beschwerte sich eine zweite Frau. »Du musst es ja nicht tun

Dieser Einwand war von der vordersten Matratze gekommen, auf der ein Mann in identischem Zustand wie der erste lag, nur dass dieser glatt rasiert und blond war. Ich konnte Stiche an seinen Stümpfen erkennen. Doch die Frau war nicht dabei, ihn zu waschen – sie hatte gerade unverhohlen Geschlechtsverkehr mit ihm, einen Ausdruck des Unwillens im Gesicht.

Und dieses Gesicht kannte ich.

Monica, schoss es mir durch den Kopf, vom Pier. Ich hatte sie erst vor Kurzem im Treppenhaus gesehen, als sie durch die ständig verschlossene Tür im ersten Stock gegangen war.

Jetzt wusste ich, warum man die Tür immer absperrte.

Welche Art von Wahnsinn konnte erklären, was ich da gerade vor mir sah? Diese armen Männer waren eindeutig zu Invaliden gemacht worden. Dass sie identische Unfälle erlitten hatten? Ausgeschlossen. Und ihre Amputation spiegelten exakt die von Marys Bruder Paul wider. Welche üble Ahnung drängte mich zu glauben, dass diese Männer mit Absicht und vorsätzlich ebendieser obszönen Absicht wegen verstümmelt worden waren?

Am hintersten Rand meines Sichtfelds erkannte ich ein drittes Opfer auf einer Matratze. Auf dessen Lende hatte sich eine andere dünne, junge Frau energisch niedergelassen und ihren Rock hochgezogen, um ihr Privates zugänglich zu machen. »Beeil dich, du stinkendes Schwein«, murmelte sie.

»Der hier scheißt sich auch ein«, sagte die schwangere Frau verächtlich. »Das macht er mit Absicht.«

»Das tue ich nicht!«, protestierte das Opfer, das sie gerade wusch. Der Mann schien eine Sprachbehinderung zu haben. »Ich kann nichts dagegen tun …«

»Du weißt doch, wo die Pfannen stehen!«, kreischte die Frau. »Vielleicht sollten wir eine Weile aufhören, dich zu füttern! Mal sehen, wie dir das gefällt!«

»Lass ihn in Ruhe, Joanie«, rief die jüngere Frau mit dem hochgezogenen Rock. »Ich habe ihn als Nächstes, und wenn er aufgeregt ist, schafft er es nicht. Er wird noch so enden wie Paul.«

Wie Paul, hallte es in meinem Kopf wider.

Im blanken Horror des Ganzen beobachtete ich eine Szene, die sicher der Hölle entsprungen war. Als diese Joanie ihre Zusammenkunft beendet hatte, ächzte sie, stand auf und blickte auf ihren verkrüppelten Spender hinunter. Nach etwa einer Minute oder so rollte sich der arme Mann von der besudelten Matratze, sodass er auf dem Bauch lag, dann hüpfte er auf die Enden seiner Gliedmaßen. Daraufhin schlenderte er unbeholfen – wie ein Hund, auf allen vieren – zu einem der Metallbehälter, um zu urinieren. Derweil begann der blonde Mann in etwas wie gequälter Glückseligkeit zu keuchen, während ihn seine unwillige Partnerin, Monica, mit einer Mischung aus erbittertem Hass und Brechreiz anblickte. Es schien eine Art Zuchtgehege der Hölle zu sein, auf was mein Auge gestoßen war.

Unfassbar, dachte ich in tiefster Verzweiflung. Monströs …, denn die Absicht, so makaber sie auch war, ließ sich allzu deutlich erkennen.

Ein perverses Teufelchen muss mein unmittelbares Verlangen vereitelt haben, diesen Ort des Grauens zu verlassen – ebenso das komplette Gebäude – und einfach zu fliehen; stattdessen blickte ich durch weitere dieser furchtbaren Gucklöcher. Ähnliche Szenen unbegreiflicher Obszönität waren die Belohnung für meine Mühe: Männer, reduziert auf nackte Torsi, lagen entweder reglos auf schmutzigen Matratzen oder durchquerten auf ihren abgehackten Stummeln den Raum. Einer schleckte Wasser aus einer Schüssel, wiederum wie ein Hund. Ein Raum nach dem anderen glänzte mit diesen unbegreiflichen, grotesken Szenen. Aber hinter dem nächsten Guckloch …

Gott, erlöse mich, betete ich.

Dies war keine Kammer aufgezwungener Zeugung. Stattdessen erspähte ich einen klinisch ausgestatteten Raum: medizinische Vorräte, Infusionsflaschen an Ständern, mehrere erhöhte Betten. In zwei dieser Betten lagen bewusstlose Männer mit bandagierten Gliedmaßen: der eine quasselnd und sabbernd, in den Fängen eines Albtraums, der andere mit offenem Mund und gänzlich still. Der Mann wirkte jung, aber ich konnte klar erkennen, dass er keine Zähne mehr hatte.

Doch das vorderste Bett bekümmerte mich am meisten.

Darin lag Mr. William Garret, die Stümpfe der kürzlich amputierten Gliedmaßen ähnlich bandagiert. Eine Schale mit blutigen chirurgischen Instrumenten, darunter auch eine Knochensäge, belegte einen Tisch in der Nähe; zu dem Flaschen, die deutlich lesbar mit CHLOROFORM beschriftet waren. Das ist eine Operationssuite, erkannte ich jetzt, verborgen in einem Hotel, dessen erster Stock stets verschlossen ist. Watte steckte in Garrets Mund, und als er plötzlich auf dem Bett zu zucken und zu blinzeln begann, trat eine schwangere Krankenschwester an seine Seite und tätschelte ihm beruhigend die Schulter. »Ganz ruhig, Sie kommen wieder in Ordnung«, sagte sie leise zu ihm. »Das geschieht alles aus einem Grund, der viel wichtiger ist als irgendeiner von uns.« Sie versuchte, munter zu klingen. »Und denken Sie nur an all die hübschen Mädchen, die Sie genießen werden.«

Garret wimmerte durch die Watte in seinem Mund hindurch. Diese hatte sich scharlachrot gefärbt, und in diesem Moment bemerkte ich auch eine kleinere Schale aus rostfreiem Stahl, voll mit kürzlich gezogenen Zähnen.

»Er kommt zu sich, Doktor«, sagte die schwangere Krankenschwester. »Bald wird er mehr Schmerzmittel brauchen.«

»Bereiten Sie die Injektion bitte vor, Lucy.«

Die Stimme kam von außerhalb meines Blickfeldes, aber ich war nicht überrascht, als Nächstes Dr. Anstruther in Laborkittel ans Krankenbett treten zu sehen. »Sie sollten sich lieber nicht wehren, Mr. Garret, sondern vielmehr Ihr neues Schicksal akzeptieren. Hören Sie auf, sich Ihr früheres Leben zurückzuwünschen. Dann geht es Ihnen gleich viel besser, das versichere ich Ihnen.« Er übernahm eine Spritze von der Schwester und injizierte sie schließlich in eine Vene. »Das Morphinsulfat ist ziemlich wirksam und wird Ihnen regelmäßig so lange verabreicht, wie es nötig ist – nur eine Frage von Tagen, ehrlich.« Dann zog er Garret mit einer Pinzette die Watte aus dem Mund. »Und wie Sie bereits gefolgert haben, habe ich Ihnen sämtliche Zähne gezogen.«

Garret sah den Arzt mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck an. »W… W… Warum?«

»Mit der Zeit werden Sie es verstehen. Oh, und ich freue mich, berichten zu können, dass ich Ihren Samen unter dem Mikroskop untersucht und eine beeindruckende Spermienanzahl und exzellente Motilität vorgefunden habe. Sie sind ein hervorragender Kandidat für die Erzeugerschaft.«

Garret starrte nur, als blickte er in einen unberechenbaren kosmischen Abgrund.

Anstruther drehte sich der Krankenschwester zu, während er fix etwas auf einer Tafel notierte. »Lucy, der Herr in Bett Nummer zwei ist leider verstorben. Er muss ebenso wie Mr. Garrets Gliedmaßen entsorgt werden.«

»Ja, Doktor.«

»In wenigen Tagen wird es Ihnen sehr viel besser gehen«, sprach der Arzt wieder Garret an. »Und wie Lucy bereits gesagt hat, werden Sie zukünftig für geraume Zeit die Gesellschaft vieler, vieler Frauen genießen können, die größtenteils sehr begehrenswert sind. Das ist das Los eines Erzeugers, Mr. Garret. Tun Sie sich einen Gefallen und bewahren Sie sich Ihre mentale Gesundheit. Solange Sie viril sind, bleiben Sie am Leben, und ich rate Ihnen, in Ihren Ruhezeiten zu Ihrem Gott zu beten, an welchen auch immer Sie glauben.«

Der von der Operation erschütterte und jetzt zahnlose William Garret brabbelte: »Sehen Sie, was Sie mir angetan haben! Sie … Sie … Sie sind ein Monster!«

Anstruther lächelte ruhig. »Nein, Mr. Garret. Sie haben das Glück, dass Sie die wahren Monster niemals sehen müssen …«

Als ich mich zwang, den Blick von diesem Tartarosloch in der Wand abzuwenden, fühlte ich mich wie ein 100 Jahre alter Mann. Mit geweiteten Augen taumelte ich den Weg zurück, den ich gekommen war, zu der Leiter; mit der unbedingten Absicht, hinauf zurück in mein Zimmer zu gelangen, meine Sachen zu packen und diesen von Gott verlassenen Ort schnellstmöglich hinter mir zu lassen. Aber als ich zu der Öffnung kam, hinter der sich die Leiter befand …

Mein Herz pochte wie wild in meiner Brust.

Ich hörte Schritte. Die nach oben kamen.

Dem Eindringling zuvorkommen und unentdeckt mein Zimmer erreichen zu können, hielt ich für gänzlich unwahrscheinlich. Eine unterbewusste Direktive brachte mich stattdessen zurück in den fast lichtlosen Gang und hindurch bis ans gegenüberliegende Ende; ich vermutete – und betete –, dass es dort einen identischen Aufgang geben würde. Bitte, Gott, flehte ich innerlich.

Entweder war mein Gebet erhört worden oder ich hatte einfach Glück gehabt, denn ja, dort befand sich ebenfalls eine Leiter. Ich trat hinaus und packte die Sprossen, doch bevor ich nach oben klettern konnte …

»Sie da«, rief eine Stimme vom anderen Ende.

Ich drehte mich nicht um, um nachzusehen, sondern versuchte stattdessen, mich in der Dunkelheit des Aufgangs zu verstecken.

»Wer ist da? Nowry? Peters?«

Ich vergeudete keine Zeit, um darüber nachzudenken, warum die männliche Stimme den Namen eines Toten rief, allerdings war leicht vorstellbar, dass Nowry Verwandte in der Stadt besessen hatte. Stattdessen schritt ich zur Tat. Ich kletterte nicht nach oben, sondern nach unten, denn in die oberen Stockwerke zurückzukehren mochte jede Chance zur Flucht zunichtemachen. Ein ähnlicher versteckter Gang zweigte im Erdgeschoss; ich wusste, dass ich die Gucklöcher dort nicht überprüfen musste. Aber es muss einen Ausgang geben, und ich muss ihn finden!

Doch im Licht meiner Taschenlampe waren weder eine Tür noch ein anderer Gang zu sehen …

Dann hörte ich, wie die Schritte die Leiter herunterkamen, die ich soeben verlassen hatte.

Ich hastete zum anderen Ende des Ganges, wo hätte ich sonst hingehen können? Ich überlegte, dass es einen Zugang von draußen zu diesen verborgenen Gängen geben musste. Wie etwa war mein Verfolger hierher gelangt?

Eine Tür!, betete ich. Dort muss eine Tür sein!

Aber als ich an das Ende des Ganges kam, fand ich keine Tür, und die Schritte kamen immer näher.

Meine Schuhsohle war es, die auf sie stieß: keine aufrechte Tür, auch keine Klappe, sondern eine drehbare Luke aus Metall. Erleichtert öffnete ich sie, nur um sogleich aufzukeuchen, als meine Taschenlampe Einzelheiten des unansehnlichen Ausgangs offenbarte – ein alter, gemauerter Schacht mit einer mit Schleim bedeckten Eisenleiter, der direkt nach unten führte. Mit größter Entschlossenheit begab ich mich in diese unheilvollen Tiefen, schloss die Luke über mir und stieg hinab. Ich musste mich in völliger Dunkelheit vorwärtsbewegen und rechnete halb damit, jeden Augenblick in einen offenen Abwasserkanal mit dessen fäkalen Gerüchen und den sie sie begleitenden Stoffen zu stürzen. Doch als meine Füße festen Boden trafen und ich meine Taschenlampe wieder einschaltete, fand ich mich in einem weiteren Gang wieder. Meine Panik hatte meinen Orientierungssinn durcheinandergebracht, aber ein Instinkt sagte mir, dass der gemauerte Weg von Norden nach Süden führte. Aus einem mir unbekannten Grund entschied ich mich für die südliche Richtung.

Die Taschenlampe nach vorne gerichtet legte ich mindestens neunzig Meter in der übel riechenden Finsternis zurück. Ich wusste jetzt, dass dieser Gang kein außer Dienst gestellter Kanal war; es gab keine Anzeichen der erwarteten Rückstände. Das ist ein Tunnel, erkannte ich und so deutlich, als wären sie laut ausgesprochen worden, hallten Zalens Worte in meinem Kopf wider: Und mein Großvater hat nicht gelogen, als er Lovecraft erzählt hat, dass es unter dem alten Hafen ein Netzwerk aus Tunneln gibt …

Ich brauche wohl kaum das Ausmaß des Kältegefühls beschreiben, das mir raupengleich das Rückgrat hochkroch. Von der höllischen Szene, die ich im Hotel mit angesehen hatte, konnte ich nur vermuten, dass zeugungsfähige Männer mit geeignet vorteilhaftem Aussehen gezwungen wurden, hiesige Frauen zu befruchten, deren Neugeborene dann an eine illegale Adoptionsagentur verkauft wurden. Doch warum war ich mehr verstört von dem, was Zalen mir erzählt hatte, insbesondere von seinem abschließenden, geheimnisvollen Monolog: Was passiert in der Geschichte mit Außenseitern, die zu viel herumschnüffeln?

Nun schien es, als wäre ich durch schauderhafteste Umstände selbst in Lovecrafts fiktiven Robert Olmstead verwandelt worden, den Außerstädter, versessen darauf, dem Schrecken von Innsmouth zu entrinnen.

Ich könnte heute Nacht noch zu Zalen gehen, schoss es mir durch den Kopf, wenn ich doch nur den Ausgang aus diesen verfluchten Katakomben finden würde …

Minuten später überreichten das Schicksal oder Gott mir besagten Ausgang als Geschenk.

Der Tunnel entließ mich nahe einem steinernen Landungssteg am Rand des Hafens. Ein spektakulärer, frostweißer Mond hing zwischen den Wolken; das Wasser im Hafenbecken war glatt wie Glas. Der Blick hinunter auf den Hafen im Zwielicht unter dem violetten Nachthimmel wirkte übernatürlich, aber alles andere, was ich zuvor gesehen hatte, war alles andere als übernatürlich, sondern eher fantastisch oder bösartig. Der ganz normal wirkende Hafen war bei genauerer Betrachtung mit geheimnisvollen Schlünden übersät. Von den Eingängen zu von Felsen verdeckten Grotten und von Tunnelausgängen gingen seltsame Gerüche aus. Kein menschlicher Instinkt konnte mich daran hindern, einen dieser Schlünde zu betreten …

Weitere von Flechten und Salpeter überzogene Katakomben erwarteten mich, wobei mehrere Gänge vom Hauptweg abzweigten. Ich musste schärfstens aufpassen, dass ich mich hier nicht verlief. Ich entschied mich für die am weitesten links liegende Abzweigung. Immer auf sicheren Stand bedacht schritt ich voran und schaltete die Taschenlampe jeweils nur kurz ein, um die Batterien zu schonen. Ich musste nicht allzu weit laufen, bis ein höchst abscheulicher Verwesungsgeruch meine Nase bestürmte; das Taschentuch vor meinem Gesicht vermochte kaum die Übelkeit erregenden Dämpfe abzuwehren. Schließlich ging der Tunnel in eine gewaltige Höhle über, nach dem ersten Blick hinein hätte ich beinahe aufgekreischt und wäre geflohen.

Aber wie konnte ich das tun? Ich musste herausfinden, was das war …

Ein Beinhaus, dachte ich. Eine behelfsmäßige Grabstätte …

Es waren überwiegend Skelette, die in der obszönen, tropfenden Kaverne aufgeschichtet lagen, ganze Stapel von ihnen. Einige hatten noch immer Kleidungsfetzen an sich, die die Auswirkung der menschlichen Verwesung überstanden hatten. Die Knochenhaufen am entfernten Ende schienen die ältesten zu sein, während jene auf dem Weg dorthin – nordwestlich, schätzte ich – vor jüngerer Zeit angelegt worden waren. Zur Mitte hin sah ich weniger Skelette, dafür mehr mumifizierte Körper. Das war ein ausgewachsener Hügel aus menschlichen Leichen, den die Vorsehung für angebracht hielt, mir vor Augen zu führen; Hunderte, mindestens, hatte man hier abgelegt, anstatt sie auf einem anständigen Friedhof zu begraben. Warum? Diese Frage machte mir zu schaffen. Wer könnte dafür verantwortlich sein? Die von der Zeit geleerten Augen der Schädel schienen mich zu beobachten, als ich den Rand der widerlichen Aufschüttung entlangschritt, und als ich schließlich an deren Ende ankam, wäre ich inmitten des Gestanks und der gottlosen Anspielung beinahe kollabiert.

Die hier – Dutzende von ihnen – waren offensichtlich die jüngsten Neuzugänge der Grabstätte, und während die meisten der anderen Leichen mehr oder weniger »ganz« gewesen waren, erforderte der Zustand der Bestandteile des verwesenden, aufgedunsenen Haufens wenig Spekulation hinsichtlich der Herkunft.

Was vorrangig den grausigen Haufen aus mit verrottendem Fleisch bedeckten Knochen und Schädeln und von Würmern durchlöcherten Körpern beherrschte, waren die Überreste zergliedeter menschlicher Wesen, denen die Arme ab den Ellenbogen und die Beine unterhalb der Knie fehlten. Stofffetzen lagen wie willkürlich hingeworfene Flaggen zwischen den gestapelten Leibern herum. Ich sah zu viele Koffer und Reisetaschen. In der Nähe befand sich eine kleinere, Krankheiten verbreitende Ansammlung aus abgetrennten Armen und Beinen.

Ein Keller voller Leichen, ein Ablageplatz für Mordopfer, wurde mir klar. Ich wusste nicht, wie lange es diesen Ort schon gab, und ich wollte es auch gar nicht wissen.

Ein schlurfendes Geräusch in der Ferne bewirkte, dass ich die Augen aufriss und die Taschenlampe ausschaltete. Vorsichtig ging ich zurück und betete, nicht hinzufallen, denn der unverkennbare Klang von Schritten – und ein geheimnisvolleres, ununterbrochenes knirschendes Geräusch – schienen auf dem Weg zu der Grabstätte zu sein. Aber von wo?, wollte ich wissen. Der Weg, auf dem ich gekommen war, lag hinter mir, wohingegen die Geräusche von vorn kamen. Ich duckte mich hinter einen Stapel halb mumifizierter Leichen, gerade als ein tanzender Lichtschein zu sehen war.

Noch ein Eingang, erkannte ich, von einem weiteren dieser stygischen Tunnel. Ich versteckte mich und verhielt mich so still wie die Leichen um mich herum, als schließlich das Licht einer Öllaterne aufflackerte und der Eindringling aus einem bisher noch nicht gesehenen Zugang auftauchte. Die Gestalt schob eine hölzerne Schubkarre vor sich her, in der sich der erwartete Inhalt befand: der nackte, an den Stümpfen bandagierte Torso des unglücklichen Opfers, das nach der Operation in Dr. Anstruthers Schreckenssuite gestorben war. Seine halben Gliedmaßen wackelten bei jeder Bewegung der Schubkarre, und auf seinem toten Bauch lagen mehrere Sätze abgetrennter Gliedmaßen sowie einige Koffer. Dann hielt die Karre an, und die Laterne wurde auf den Boden gestellt. Die Koffer wurden als Erstes auf den Haufen geschmissen, dann die Gliedmaßen und schließlich, begleitet von einem leisen Grunzen, auch der Torso. Bei dem Eindringling selbst konnte ich nur den Körperbau eines Mannes feststellen, und ich konnte sehen, dass er sich kein Taschentuch vor Mund und Nase hielt. Wie er den Gestank ertragen konnte, war mir ein Rätsel … bis er die Laterne wieder aufnahm und das flackernde Licht sein Gesicht offenbarte.

Es war Mr. Nowry, den ich nur Stunden zuvor tot im Krankenwagen gesehen hatte.

Mit welchem Trick sich das erklären ließ, darüber wollte ich gar nicht nachsinnen, aber beim ersten Anblick seines blassen Gesichts in dem Licht, wenngleich dieser nur kurz war, keuchte ich auf.

Die Gestalt erstarrte und drehte sich um. Ich erstarrte ebenso, betete und machte mich bereit, meine Pistole hervorzuholen …

Die Laterne wurde hierhin und dorthin geschwenkt, doch dank der Gnade Gottes verrieten ihre Strahlen mich nicht in meiner gehockten Stellung. Schließlich kehrte Nowry zu seiner Schubkarre zurück und verschwand auf dem Weg, den er gekommen war.

Ich wartete ganze fünf Minuten, bevor ich mich auch nur bewegte, dann stand ich auf und drehte mich um, schaltete meine Taschenlampe ein und marschierte flotten Schrittes auf meinen eigenen Ausgang zu. Doch als ich das tat, bemerkte ich wider Willen eine weitere, längliche Öffnung in der Felswand. Jawohl, ein weiterer Tunnel.

Den werde ich unter gar keinen Umständen betreten, gab ich mir die Selbstanweisung, doch bevor ich es bewusst registrierte, entsandten meine Füße mich in diesen in den Fels gehauenen Eingang. Ungeachtet all der Bitterkeit dessen, was ich bisher gesehen hatte, drängte sich mir die Frage auf, ob Lovecraft selbst sich in einen dieser Tunnel hineingewagt hatte; dann wurde mir klar, dass er es getan haben musste, denn woher sonst hätte er vergleichbare unterirdische Netzwerke in Meisterwerken wie nicht nur »Schatten über Innsmouth«, sondern auch »Das Fest«, »Der Außenseiter«, »Ratten im Gemäuer« und so weiter ableiten können. Ich befand mich nun inmitten einer Geschichte von Lovecraft, wusste allerdings, dass das obszöne Gemetzel, das im Hilman stattfand, sowie die Höhle des Schreckens beileibe keine »Geschichte« waren. Dennoch überstieg das Ausmaß meiner Neugier die Leistungsfähigkeit meiner Vernunft.

Ich musste sehen, was sich am Ende dieses Tunnels befand.

Während die hin und wieder eingeschaltete Taschenlampe mich voranführte, drang mir ein weiterer Geruch in die Nase, dankenswerterweise war es nicht der des Todes noch so übel riechend. Es war ein starker Duft mit einer bestimmten Ausprägung. Je tiefer ich in den Tunnel vordrang, desto vertrauter wurde das Odeur:

Es roch zweifellos nach Fisch.

Mir blieb die Luft weg, als der Tunnel in eine unterirdische Kammer überging, die mehrfach so lang und breit war wie die vorherige, und in dieser ruhten mehrfach so viele Leichen.

Diese hier waren allerdings irgendwie anders …

Warum kein Gestank nach Verwesung und natürlichem Verfall?, überlegte ich. Warum lediglich der Geruch nach frischem Fisch? Aber als meine Augen die Einzelheiten dessen registrierten, was meine Netzhäute erfassten, wurde mir hier noch übler als in der vorangegangenen Grabstätte.

Der Berg aus Körpern war riesig, fünf bis sieben Meter hoch und bestimmt dreißig Meter lang. Doch mein Wahrnehmungsvermögen schien sich zu verzerren, als ich diesen Morast aus aufgetürmten Leichen blinzelnd musterte. Sie … sie … sie sind nicht völlig menschlich, begriff ich. Einige mehr, andere weniger … Fast allen hatte man die Kleidung abgenommen. Ihre tote, nackte Haut schimmerte wachsweiß und unter dieser lichtdurchlässigen Blässe zeichneten sich grün geaderte Verfärbungen ab. Schwerwiegende körperliche Deformationen hatten den Löwenanteil der Leichen in abscheuliche Missbildungen verwandelt. Die meisten waren kahlköpfig, aber alle besaßen weit offene, überwiegend blaue, übermäßig vorstehende Augen. Bei näherer Inspektion entdeckte ich mal mehr, mal weniger verlängerte Hände und Füße, und zwischen den Fingern und Zehen sah ich eindeutig …

Mein Gott …

… Schwimmhäute.

Beim Anfassen – und ich weiß nicht, was mich dazu veranlasst hat, eines dieser Dinger anzufassen –, fühlte die Haut sich seltsam feucht, schleimig und gummiartig an, ähnlich wie Froschhaut. Aber die schrecklichste Entdeckung erwartete mich noch: Wenigstens die Hälfte dieser deformierten Verblichenen hatte Schlitze entlang der Kehle. Wie Kiemen.

Genau wie in der Geschichte, ratterten meine Gedanken. Konnte das denn wirklich wahr sein? Wahnsinn, dachte ich stattdessen. Gewiss konnten unterirdische Gase, die bekannt dafür waren, sich in Höhlen und Tunneln wie diesen zu sammeln, Halluzinationen hervorrufen. Es war mein Unterbewusstsein, derzeit benebelt von solchen Ausströmungen, das mich glauben ließ, Lovecrafts größtes Werk würde auf einer Art biologischer Tatsache basieren. Ich trat zurück von dem grausamen Haufen klaffender Münder; nicht blinzelnder glasiger kugelförmiger Augen; blasser, verbogener Gliedmaßen; und Ohren, die teilweise oder komplett geschrumpft zu sein schienen, auf haarlosen, halbmenschlichen Schädeln. Verletzungen waren ohne Frage die Todesursache dieser missgebildeten Opfer gewesen: Wunden, fast ausschließlich am Kopf und an der Brust, und es gab Hinweise, dass der überwiegende Teil der Wunden von Klauen und Zähnen hervorgerufen worden war.

Ich war von diesem höchst monströsen und unglaublichen Anblick zu überrascht, um weiter nachdenken zu können. Ich hatte keine Wahl, als meine geistige Gesundheit ernsthaft zu bezweifeln, doch dann hörte ich wie in der ersten Kammer des Todes erneut das Geräusch näher kommender Schritte …

Erneut löschte ich mein Licht und duckte mich hinter eine Flanke aufgeschichteter halbmenschlicher Leichen, als ein Licht – nein, mehrere – erkennbar wurden. Aber auch Stimmen waren dieses Mal zu vernehmen, wenigstens zwei; und das an der entferntesten Ecke der Kammer hereinscheinende Licht ermöglichte mir, einen weiteren rückwärtigen Ausgang zu erspähen. Inzwischen musste ich davon ausgehen, dass das Tunnelnetzwerk wahrhaft gigantisch war. Zwei Gestalten tauchten auf, eine größere und eine kleine, von denen jede eine Kerzenfischfackel in der Hand hielt. Die flackernden, qualmenden Flammen warfen überall schroffe Schatten, die einem grauenvollen, kaleidoskopischen Albtraum entsprungen schienen.

»Müssen uns beeilen, Sohn, wie wir’s immer tun«, sagte eine raue, erwachsene Stimme mit erkennbarem Akzent. »Man weiß nie, wann einer ihrer Wächter hier herumschnüffelt.«

»Ich weiß, Dad«, erwiderte die Stimme eindeutig eines Jungen.

»Schneid die Bizepse und Waden raus, wie ich’s dir gezeigt hab, und ich hacke die Rippen und Bäuche raus. Lass uns versuchen, eine ganze Menge in kurzer Zeit zusammenzukriegen, ja, Sohn?«

»Klar, Dad.«

Das qualmende Licht entlarvte mühelos die neuen Eindringlinge: Onderdonk und sein junger Sohn. Sie mussten einen eigenen Tunnel entdeckt haben, der ihnen Zutritt verschaffte, ohne dass sie von der Stadt aus gesehen wurden, in der sie offensichtlich nicht willkommen waren. Mit beachtlichem Geschick holte der Junge mehrere Leichen vom Haufen und schnitt innerhalb von Sekunden das Fleisch von Armen und Beinen ab. Derweil hackte der Vater mit einem Beil in jeder Hand systematisch die Rippen weiterer Leichname klein und trennte sorgsam die Bauchdecke ab. Nachdem sie jeder etwa ein halbes Dutzend der toten, halb menschlichen, halb amphibischen Monstren bearbeitet hatten, wechselten sie. Minuten später hatten sie ihre Schlachtwaren in Leinensäcken verpackt.

»Gute Arbeit, Sohn«, lobte Onderdonk den Jungen. »Wette, wir haben hier genug Fleisch für mehr als eine Woche zum Räuchern.«

»Hoffentlich verdienen wir viel Geld damit, Dad.«

»Das ist mein Junge.« Der Erwachsene lächelte stolz und tätschelte seinem Sohn den Kopf. »Das ist Gottes Art, auf gottesfürchtige Menschen wie uns aufzupassen, indem er dafür sorgt, dass diese Halbblüter gleichermaßen nach Fisch und Schwein schmecken. Welche Wahl haben wir auch schon, wo uns diese Teufelsanbeter aus Olmstead nicht in ihrem Meer fischen lassen?«

»Ja, Dad. Ich bin froh, dass Gott derart auf uns aufpasst.«

»Wir haben ziemliches Glück, Sohn, und das dürfen wir niemals vergessen. Für viele andere sind die Zeiten härter.«

»Aber, Dad?« Der Junge sah seinen Vater einen Moment zweifelnd an. »Wie kommt es, dass sie nicht verrotten und stinken, du weißt schon, so wie an dem anderen Ort?«

»Es ist, weil die Leichen an dem anderen Ort alles reinblütige Menschen wie wir sind, aber diese hier?« Onderdonk tätschelte den glatten grünlichen Bauch einer Frau, deren Gesicht und Brust eher krötenartig aussahen, inklusive der Warzen. »Alle von denen hier sind wenigstens halb voll mit Fischblut wie dieses Weibsstück hier«, bei diesen Worten wiegte er herzlos eine warzenschimmernde Brust. »Diese hier gehört vermutlich zur vierten Generation, so wie viele andere – die sind bereits verwandelt. Aber selbst die erste Generation reicht, um zu verhindern, dass sie richtig verrotten, Junge, und Käfer und Ungeziefer wollen nicht an die ran. Das liegt am Fischblut, weißt du? Darum verrotten sie nicht und darum können sie auch nicht sterben, es sei denn, man bringt sie um, absichtlich oder durch einen Unfall.«

»Oh«, erwiderte der Junge, »das ist irgendwie klasse.«

»Hmmm. Jetzt hilf mir, diese Überbleibsel zurückzuwerfen.«

Entgeistert sah ich von meinem Versteck aus mit an, wie die beiden die Schlachtreste hochhievten und über den Grat der Haufen hinwegwarfen, offensichtlich um zu verhindern, dass die »Wächter« herausfanden, was sich hier abgespielt hatte.

»So«, hallte Onderdonks Flüstern durch die Höhle, »lass uns abhauen.«

In dem flackernden Licht beobachtete, wie sie davonzogen, die Säcke mit dem stibitzen Fleisch über die Schulter geworfen.

Doch das Übelkeitsgefühl in meinem Magen hatte mich längst gepackt: Die Beute aus dieser außergewöhnlichen Leichenkammer war offensichtlich das, was Onderdonk ahnungslosen Kunden als »mit Fisch gefüttertes Schwein« verkaufte. Eine kleine Portion davon befand sich derzeit in meinem Verdauungstrakt. Als es mir sicher erschien, taumelte ich davon. Mir war nur allzu bewusst, dass dies alles nicht der Effekt halluzinogener Gase war. Nachdem ich einige Meter zurück in den Tunnel gegangen war, erbrach ich den gesamten Inhalt meines Magens.

Draußen auf den felsigen Klippen außerhalb des Tunnels fiel ich auf die Knie und war erleichtert über die frische Luft und den Anblick der normalen Welt: das Mondlicht, der Hafen, die Docks und die Häuser entlang der Küste. Ja, die normale Welt. Ich dankte Gott, denn ich wusste jetzt, wie dünn der Schleier war zwischen Normalität und vollkommener, unsagbarer Bösartigkeit. Wer wusste schon, welche anderen anomalen Scheußlichkeiten die Welt direkt unter ihrer Oberfläche verbarg? Ich lehnte mich an den Felsen und lauschte dem Wasser, das gegen die Pfosten des Piers und gegen die Küste schlug – ein Teil von mir war wie gelähmt, nicht bloß wegen dem, was ich gesehen hatte, sondern wegen dem, was dies alles bedeutete.

Ich ließ die salzige Luft über mein Gesicht streifen und meine Lungen füllen. Ich wusste, mein Körper und mein Geist benötigten einige Augenblicke der Ruhe, bevor ich die Folgen meines nächsten Schrittes berechnen konnte. Ich starrte stumm auf das vom Pier umgebene Hafenbecken und beobachtete, wie die Boote vom Wellengang sanft hin und her geschaukelt wurden, als mein Blick auf die kaum erkennbare Anhöhe der Sandbank fiel.

Lovecrafts Teufelsriff, schoss es mir durch den Kopf. Wenigstens das war reine Erfindung gewesen, aber wer würde den Rest glauben? Glaubte ich selbst es denn?

Anfänglich glaubte ich, ich müsse einen Partikel von irgendwas im Auge haben, aber je länger ich starrte, desto überzeugter war ich, dass etwas Kleines die nächtliche Ruhe im Hafen störte.

Ein Boot, dachte ich.

Es war lediglich ein kleines Ruderboot, und nur eine Person befand sich an Bord, die es leise ins Hafenbecken hineinruderte. Einige Augenblicke fluchte ich gotteslästerlich in mich hinein, als einige tiefer stehende Wolken den Mond verdeckten und die mysteriöse Szene in Dunkelheit tauchten. Wahrscheinlich war es nur ein Krebsfischer oder jemand, der die Bojen überprüfte, aber ich konnte den Verdacht nicht abschütteln, dass es sich um etwas anderes handelte. Als die Wolken sich verzogen, sah ich, dass das kleine Boot zum längsten Finger der Sandbank gesteuert und dort an Land gezogen worden war; die Einmanncrew war bereits ausgestiegen …

Er läuft die Sandbank entlang, erkannte ich sogleich. Und … was führt er da mit sich?

Tatsächlich war die Gestalt in der Ferne geschlagen mit etwas, das nach einem Sack aussah, den er hinter sich herschleppte. In diesem Augenblick verzog sich der Wolkenschleier vollständig vom strahlenden Angesicht des Mondes, und auf einmal erstrahlte der gesamte Hafen in sprödem, geisterhaft weißem Licht.

Selbst aus dieser Entfernung konnte ich genug erkennen. Die Gestalt trug etwas, das ich eindeutig als langen, verschmierten schwarzen Regenmantel mit Kapuze erkannte …

Zalen.

Er blieb stehen, als er am breitesten Punkt der Sandbank angekommen war. Dann stand er einfach minutenlang da, den Kopf nach unten geneigt, als ob er …

Als ob er auf etwas wartet, kam mir morbiderweise in den Sinn. Auf etwas, das sich im Wasser befindet …

Und dann tauchte aus ebendiesem Wasser tatsächlich etwas auf.

Ja, eine Gestalt, aber eine unbekleidete, die von Beulen übersät war und in einem grünlichen Farbton glänzte. Schlank und hochgewachsen stand sie da, besaß jedoch sehr lange Gliedmaßen, einen fast flachen Kopf sowie ein Gesicht, das nach vorne spitz zulief. Selbst aus dieser weiten Entfernung konnte ich erkennen, wie riesig die niemals blinzelnden Augen waren; wie Kristallkugeln wirkten sie, in denen eine unterschwellige Bedrohung glitzerte. Schließlich erhoben sich zwei weitere dieser urzeitlichen Gesichter langsam aus dem Wasser und legten im Mondlicht den gesamten Körperbau offen. Eine der Gestalten war definitiv weiblich mit großen Brüsten und breiteren Hüften als die anderen beiden, während deren Männlichkeit lang an der Lende herunterhing. Ich war dankbar, dass mir die Distanz weiteren Aufschluss über die physischen Details verwehrte.

Das erste Wesen streckte den Arm aus und nahm Zalen den angebotenen Sack ab …

Niemand musste mich über den Inhalt des Sackes aufklären, denn als die Kreatur ihn öffnete und hineinsah, ertönte ein leises Geräusch, leise, jedoch unverkennbar.

Das qualvolle Wimmern eines neugeborenen Babys.

Mehr und mehr wurde alles Wirklichkeit. Wie konnte ich leugnen, was meine Augen sahen? In all diesem schaurigen Wahnsinn, was konnte es da für eine vernünftige Erklärung? Auf der Sandbank nahmen die drei Monstren ihre menschliche Beute an sich und kehrten in die nassen Tiefen zurück, während Zalen wieder in sein Boot stieg und fortruderte, und dann …

Bums!

Ich gehe davon aus, dass der plötzliche Schock mich aufbrüllen ließ. Eine spindeldürre, jedoch angriffslustige Masse sprang von oberhalb der Felszunge, wo ich saß, herab und landete auf mir: blassweiße Haut und ein dünnes, grimmiges Gesicht, aber seltsam tote Augen und umgeben von einer Aura aus langem, dünnem, umherwehendem Haar. Eine dünne Hand schnappte auf einmal nach meiner Kehle und begann, mit großer Kraft zuzudrücken. Es war der Schreck über die Plötzlichkeit des Angriffs sowie die vorherigen Enthüllungen, der meine Gedanken beeinträchtigte. Mehr der Instinkt denn entschlossene geistige Berechnung steuerte meine Verteidigungsversuche, so schwächlich sie auch sein mochten. Nur einen Bruchteil meiner Willenskraft aufbringend, konnte ich dennoch feststellen, dass meine todesfeeartige Angreiferin weder zu den Wesen gehörte, die Zalen auf der mondbeschienenen Sandbank bedrängt hatten, noch ein lebendiges Exemplar der Halbmensch-Halbmonster-Hybriden war, die ich unter der Erde entdeckt hatte. Stattdessen hatte ich es mit einer feindseligen und völlig menschlichen Frau zu tun, die mit einer Hand an meiner Kehle zerrte, während sie mit der anderen nach meinen Augen stach. Weiße Zähne schnappten nach mir und schlossen sich Zentimeter vor meinem entsetzten Gesicht wieder, aber als ich mir ihr Gesicht genauer ansah, schrie ich erneut und sehr viel lauter als zuvor. Diesen Schrei musste jeder in Ufernähe gehört haben, denn er hallte kanonengleich über das dunkle Wasser.

Das nackte, wilde Ding, das über mir hockte, war Candace, die ehemals schwangere Prostituierte, die Zalen als obszönes Fotomodell gedient hatte. Von ihrem aufgeblähten Bauch befreit, sahen ihre von der Milch angeschwollenen Brüste viel zu groß aus für eine so dünne Frau. Ihr Tod direkt nach der Geburt hatte dafür gesorgt, dass sie unter den Augen dunkle Flecken hatte, die wie Teerspuren aussahen, und dass ihre geschwollenen Brustwarzen blau angelaufen waren.

»Ich habe dich gesehen«, keuchte ich, »im Krankenwagen! Du bist tot!«

»Bin ich das?«, erwiderte sie trocken und abgehackt. Kein Atemzug drang aus ihrem Mund, während sie dies sagte, aber noch schlimmer klang ihr Faksimile eines Lachens, als sie mir die Kehle noch fester zudrückte und mir mit der anderen Hand in den Schritt fasste.

»Wir … Wir könnten eine schöne Zeit zusammen haben, Sir …«

Es war so abscheulich. Mit der Sanftheit einer Geliebten streichelte sie mich zärtlich im Schritt, während die Finger ihrer anderen Hand sich so tief in meine Kehle gruben, dass ich schon glaubte, sie würde mir jeden Moment die Luftröhre durchtrennen und den Adamsapfel aus dem Hals reißen. Mir war klar, dass der Tod sie in die Rolle des zuvor erwähnten »Wächters« berufen hatte.

Falls meine Schreie die Anwohner am Ufer noch nicht alarmiert hatten, dann hatte es der darauf folgende Schuss auf jeden Fall getan. Dieser verjüngte Kadaver, der vor nicht allzu langer Zeit noch eine missratene junge Frau namens Candace gewesen war, krachte gegen die Felsen. Die Todesangst hatte mich unterbewusst meinen Schrecken überwinden lassen, sodass ich die Hand in die Tasche stecken und meinen kleinen, mehrschüssigen Revolver Kaliber .32 hervorholen konnte. Der blind abgegebene Schuss hatte sie in der Nähe des linken Ohres getroffen und einen ordentlichen Teil ihrer Schädeldecke mit sich gerissen. Keuchend schnappte ich nach Luft, während ich mit ansah, wie der nackte Leichnam gegen die Felsen prallte. Durch den Schuss war ich mit kalten Brocken ihrer verschlungenen Hirnmasse bespritzt worden sowie mit übel riechendem Blut, das schwärzlich aussah und nicht rot, außer dass es in schwachem Maße von Fäden eines fremdartigen Bestandteils durchzogen war, die blassgrün leuchteten. Insgesamt roch es nach schwerem Motoröl und Fisch.

Die Überlegung, einen Abgang zu machen, kam schlagartig, da in vielen Häusern entlang des Ufers Lichter angingen. Obwohl Candace einen moderaten Teil ihres Gehirns verloren hatte, erhob sie sich zögernd und taumelte mir hinterher, doch nicht, bevor ich genug Vorsprung erlangt hatte, dass er ihre Jagd sinnlos machte.

Ich eilte an der Felswand entlang und hoffte, dass mich die düsteren Brocken und das unregelmäßige Licht verbergen würden. Schließlich überquerte ich die Anliegerstraße, rannte zwischen zwei Fischfabriken hindurch und entkam diesem unheimlichen Hafengebiet in den Wald.

Gott schütze mich, Gott schütze mich, spann mir das vergebliche Gebet im Kopf herum. Nur vereinzelt drang das Mondlicht in die Randzone des Waldes; ich wagte es nicht, tiefer einzudringen, da ich sonst gar nichts sehen würde – und ich wollte meine Position nicht möglicherweise dadurch verraten, dass ich auf meine Taschenlampe angewiesen war, deren Batterien bereits schwächer wurden. Doch so desorientiert ich nach meinen Erlebnissen auch war, war ich halbwegs sicher, dass ich mich in nördlicher Richtung voranbewegte – in die Richtung, die mich zwangsläufig zuerst zu Marys Haus und dann letzten Endes aus der Stadt heraus führen würde. Ich wusste, dass Kilometer angestrengten Gehens vor mir lagen, bis ich die nächste, sichere Stadt erreicht hätte. Wenn ich doch nur ein Telegrafenbüro finden konnte – von einigen wusste man, dass sie vierundzwanzig Stunden am Tag besetzt waren – oder gar eines der seltenen Telefone. Doch als ich mich zwischen den stämmigen Bäumen hindurchschlängelte, wusste ich, dass es einen Ort gab, den ich vor allen anderen aufsuchen musste

Es müsste ganz in der Nähe sein, überlegte ich nach einer halben Stunde, und als ich zwischen zwei schäbigen Gebäuden hindurchblinzelte, glaubte ich, den Kopfsteinpflasterweg vor der Feuerwehr zu erkennen. Ja! Da stand sie mit geöffnetem Tor, aber merkwürdigerweise war in der Nähe keine Menschenseele zu sehen. Nur noch zwanzig Meter, wusste ich, dann würde ich an der unbeleuchteten Rückwand des Gebäudes stehen, in dem Cyrus Zalen und seine armen Nachbarn hausten. Tatsächlich konnte ich jetzt dieses Appartment komprimierter Verzweiflung vom Wald aus sogar riechen.

Sollte ich es wagen, zur Vordertür zu gehen, oder wäre es besser, hinten an eines der Fenster zu klopfen? Beides gefiel mir nicht besonders, aber ich wusste, dass ich mit diesem Mann sprechen musste. Zalens Wohnung lag an einem Ende des altersfleckigen Gebäudes; ich schlich ganz langsam an der Seite entlang, erstarrte dann jedoch, als wäre ich in eine Salzsäule verwandelt wie Lots Frau Edith …

Hinter mehreren gewundenen, Jahrhunderte alten Bäumen auf der Vorderseite konnte ich die schattigen Umrisse von Menschen erkennen.

Mein Herz wäre beinahe zersprungen, als sich von hinten eine Hand, rau wie Schmirgelpapier, auf meinen Mund legte und ich zurück in den Wald gezogen wurde. Zweifellos hatte einer ihrer »Wächter« mein Vordringen bemerkt. Erstickend und vergeblich rang ich mit dem drahtigen, doch grausam starken Schatten. Alle Luft wich mir aus der Brust, als ich zu Boden gerammt wurde.

»Seien Sie doch leise, Sie Narr!«, flüsterte eine Stimme verzweifelt. Es gelang mir, meine Pistole hervorzuholen und sie nach oben zu richten, doch der gesichtslose Schatten sprach weiter: »Wenn Sie den Abzug drücken, sind wir beide tot.«

Auf einmal erkannte ich an der Stimme, dass ich Zalen vor mir hatte.

»Pst!«

Die Gestalt in dem schäbigen Regenmantel hatte überhaupt keine Angst vor meiner Waffe. Stattdessen ließ Zalen mich auf dem Boden liegen, um heimlich an dem Baum vorbeizugucken, hinter dem wir uns beide versteckten. Als er zurückkehrte, wirkte sein Flüstern ruhiger.

»Sie haben Glück, dass die Sie nicht gesehen haben. Verdammt, wir hatten beide Glück.«

»Was wollen Sie …«

Er wirkte zornig. »Die überwachen meine Wohnung, Mann! Die warten auf mich, und die sind auch hinter Ihnen her, Sie Idiot! Sie hätten uns beinahe verraten, und inzwischen muss ich Ihnen wohl nicht mehr erklären, was die mit uns machen würden. Sie würden sich nicht im Wald verstecken, wenn sie es nicht wüssten.«

Mein rasender Herzschlag begann sich zu beruhigen. »Wächter. So hat Onderdonk sie genannt.«

»Jeder, der zum Stadtkollektiv gehört, weiß Bescheid«, flüsterte Zalen. »Sie dienen ihnen.«

»Ich habe Sie gesehen!«, flüsterte ich ebenso heftig zurück. »Sie erzählen mir, dass Lovecrafts Geschichte der Wahrheit entspricht! Und jetzt glaube ich Ihnen sogar!«

»Wie könnten Sie nicht?« Kicherte die hagere Gestalt etwa? »Sie müssen von der Küste kommen, obwohl ich Ihnen gesagt habe, dass Sie da nach Einbruch der Dunkelheit nicht hingehen sollen. Zwischen Ihrer Rumschnüffelei und meiner großen Klappe …«

»Jetzt weiß ich, warum so viele Frauen hier schwanger sind – ich habe gesehen, was sie im ersten Stock des Hilman treiben!«, knurrte ich. »Sie verkrüppeln Männer und benutzen sie zu …«

»Sicher, denken Sie doch mal drüber nach. Anstruther ist einer der Bonzen hier. Er schneidet ihnen die Beine ab, damit sie nicht weglaufen können, die Arme, damit sie sich nicht wehren können, und er zieht ihnen die Zähne, damit sie die Mädchen nicht beißen können. Das Bestreben ist, jede Frau aus dem Kollektiv fortwährend schwanger zu halten. Wann immer ein Kerl auf der Durchreise hier herkommt, der jung und von guter Abstammung ist, Bingo! Dafür benutzen sie sie. Das wollen diese Dinger: Neugeborene …«

»Als Opfer! Das ist widerwärtig!«

Zalen verdrehte im Mondlicht die Augen. »Oh Mann, sie sind wirklich unterbelichtet. Das ist nicht irgendein okkulter Hexenkram. Das ist Wissenschaft. Genau darüber hat Lovecraft geschrieben, wenn man zwischen den Zeilen liest. Je mehr Neugeborene die Stadt ihnen geben kann, desto glücklicher sind sie. Dann belohnen sie das Kollektiv.«

»Sie belohnen es?«

»Dies ist eine Fischereistadt, Morley. Sie belohnen uns mit einem Überschwang an Fisch. Vor dem Neuen Weg, in alten Tagen, haben sie uns auch Gold gegeben.«

Ich starrte ihn an. »Wie in der Geschichte.«

»Ja, Mann, genau wie in der Geschichte. Sie geben uns jetzt kein Gold mehr, weil das zu auffällig wurde. Die Stadt braucht es nicht. Das Gold hat nur bewirkt, dass die Leute faul wurden. Jetzt geht es ausschließlich um die Ressource, Fisch. In den letzten zehn Jahren ist dieses kleine verschissene Fischerdorf zum profitabelsten Meeresfrüchtehäfen des Landes geworden. Wir geben ihnen, was sie wollen, und sie geben uns, was wir wollen: Wohlstand. Und jedes Mal, wenn ein Boot von außerhalb der Stadt versucht, sich hier reinzuschleichen und Netze oder Angeln auszuwerfen …« Zalen kicherte erneut. »Die Boote sinken und die Leute darauf sieht man nie wieder. Denke nur ungern an das, was sie den armen Schweinen antun …«

Seine Worte wurden langsam von meinem Gehirn verarbeitet. »Sie«, murmelte ich verächtlich. »Lovecrafts Tiefe Wesen, die Dagoniten.«

»Ach, das sind doch nur Namen, die er sich ausgedacht hat, Morley. Wir wissen nicht, wie sie genannt werden …« Er zuckte mit den Achseln. »… daher nennen wir sie einfach die Vollblütigen oder die Dinger. Lovecraft hat dennoch genug rausgefunden. Er war ’21 zum ersten Mal hier, konnte aber nichts herausfinden, aber ’27?« Zalens freches Grinsen strahlte im Dunklen. »Sie sind ihm irgendwie ähnlich, wissen Sie das? Er kam her, weil ihm die Ausblicke hier gefielen, aber dann begann er, herumzuschnüffeln. Sie haben ihn gehen lassen, weil sie nicht wirklich wussten, wer er war. Doch diese gottverdammte Geschichte.« Er seufzte. »Sie sind hier, seitdem Obed Larsh einige der Mischlinge aus Ostindien mitgebracht hat. Er hat die Vollblütigen mit einer Art Bake gerufen, die ihm die Inselbewohner gegeben haben, bevor sie alle ausgelöscht wurden.«

Kalte Schweißperlen liefen mir die Wangen herunter wie krabbelnde Käfer. Ich konnte ihn nur anstarren ob der furchtbaren Bedeutung der Dinge, die er sagte, und ich hatte keine andere Wahl, als ihm zu glauben. »In der Geschichte haben Bundesagenten und Schiffe der Marine die Wesen vernichtet, also warum …«

Er schnitt mir mit einem beleidigten Grinsen das Wort ab. »Das ist der einzige Teil, den er frei erfunden hat – des Dramas wegen, Mann. Ja, ich weiß, sie haben das Riff mit Torpedos beschossen, aber Sie wissen bereits, dass es nie ein Riff gegeben hat. Was Lovecraft gut hinbekommen hat, viel zu gut, war die Geschichte. Es war eine reale Geschichte über soziale Dekadenz und den moralischen Zusammenbruch. Sie haben ihre eigene Machtstruktur, genau wie wir; unsere Anführer wechseln, ihre ebenso. Eine ganze Weile haben sie die Vermischung zwischen ihrer Rasse und den Menschen gefördert, doch dabei ging es nur um pure Lust. Ein Mensch mit vermischtem Blut verändert sich mit der Zeit – irgendwas in jeder Zelle seines Körpers – und schließlich wird er den Dingern so ähnlich, dass er nicht stirbt. Sie ließen all die armen Toren in der Stadt in dem Glauben, dass, nachdem die sich komplett verwandelt hätten, ins Wasser gehen und auf ewig in Harmonie mit ihnen leben würden, doch was die Dinger in Wirklichkeit getan haben, war, die Mischlinge als Sklaven zu verwenden. Denn selbst nachdem die sich verändert hatten, waren sie noch teilweise menschlich und behielten ihre menschlichen Schwächen. Süchte, Unehrlichkeit, Verrat. Es kam an den Punkt, dass die teilmenschlichen Mischlinge begannen, ihre Gesellschaft zu verderben. Und was haben sie getan? Dasselbe, was wir nach Herbert Hoover gemacht haben und die Russen nach den korrupten Zaren. Sie haben ihre Machtstruktur geändert; sie haben ihre eigene Gesellschaft gereinigt, indem sie das verderbliche Element – das menschliche Blut – beseitigt haben. Es gab keine Bundesagenten, die hierher kamen und alle Mischlinge ausgerottet haben. Das haben die Dinger selbst gemacht – es war ein richtiges Gemetzel, so um 1930, schätze ich. Sie kamen eines Nachts aus dem Wasser und haben jeden in der Stadt ermordet, der auch nur einen Tropfen ihres Blutes in sich hatte.« Zalen machte eine Pause und dachte nach. »Lovecraft hätte es sehr gefallen. Sie taten genau das, was er geglaubt hatte: die lebendigen Resultate des Geschlechtsverkehrs zwischen den Rassen – oder in diesem Fall Spezies – auslöschen.«

Als ich meine rasenden Gedanken in Worte fasste, schienen sie nur unwillig aus meiner Kehle zu kommen. »Die erste Höhle, auf die ich im Tunnelnetzwerk gestoßen bin, von dem Sie mir erzählt haben, war voller verwesender, verstümmelter Leichen. Sie verwesten, sage ich Ihnen; sie verbreiteten Krankheitserreger. Die Luft war nahezu toxisch.«

»Die Höhle ist für die verstorbenen Erzeuger.«

»Erzeuger?«

»Die Kerle, die sie verstümmeln und im ersten Stock einsperren. Alle Frauen aus dem Kollektiv kommen jeden Abend dorthin, bis sie schwanger sind, aber das haben Sie ja selbst schon herausgefunden. Nun, die Männer leben nicht ewig, und manchmal wird ein Erzeuger auch impotent. Sie dann zu nichts mehr nütze, daher bringen die Stadtältesten sie um und lassen deren Leichen zusammen mit all den anderen verrotten.«

Die Dinge ergaben zunehmend einen, wenngleich widerlichen Sinn. »Und die größte Grotte, in der Unmengen an Leichen liegen, das sind die Mischlinge, die 1930 Opfer des Genozids geworden sind?«

»Genau. Die verwesen nicht, weil ihr Fleisch mehr oder weniger unsterblich ist. Selbst wenn sie durch Gewaltanwendung umkommen, zerfallen sie nicht. Was glauben Sie, wo dieser verrückte Onderdonk und sein Kind das ganze Frischfleisch herbekommen?« Dann lachte er leise auf. »Na los«, flüsterte er, »lassen Sie uns von hier verschwinden.«

Ich hatte keine Ahnung, warum mir dieser Mann – dieser Babymörder – auf einmal wie ein Verbündeter erschien. Vermutlich lag es an den Umständen. Entlang Flecken von Mondlicht folgte ich ihm ein gutes Stück weg von der Rückseite der Apartmentreihe, bis er an einen kaum erkennbaren Pfad kam. Ich hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Dabei dachte ich darüber nach, dass Zalens primitive Interpretation einige der neuesten wissenschaftlichen Durchbrüche nur zu abschreckend widerspiegelte. Die letzte Dekade war durch die Werke des darwinistischen Engländers William Bateson dominiert, der diese neue und bemerkenswerte Wissenschaft namens Genetik begründet und benannt hatte: Die Idee, dass mikroskopische Zellbestandteile das Erbgut innerhalb einer Spezies weitergeben und dass andere, als Mutagene bekannte Komponenten, sei es per Zufall oder absichtlich, besagtes Erbgut verändern können. Überdies hatte die berühmte, preisgekrönte Mikrobiologin Hattie Alexander gerade erst diesen Monat die Funktionsfähigkeit eines wundersamen Impfstoffes gegen die Lungenentzündung bewiesen, bei dem sie den von ihr so genannten genetischen Code, der innerhalb der Virenzellen zu finden ist, manipuliert hatte. Wenn das menschliche Wissen nun erst derartige Entdeckungen machte, wie viel überlegener mochten Zalens Dinger hinsichtlich ähnlicher Wissenschaften sein?

Ich hatte zu große Angst, um länger über diesen Gedanken nachzusinnen.

Wir schienen jetzt in Richtung Nordwesten abzubiegen, und zum ersten Mal fühlte ich mich im Wald sicher. Doch in Lovecrafts Geschichte, da gab es so etwas wie Sicherheit nicht, und seine eigene Version der Wächter konnte sich überall verbergen, dazu bereit, verbotenes Gerede zu belauschen …

Und es dann zu melden …

»Wie viele wurden insgesamt umgebracht?«, ließ mich ein morbides Interesse fragen.

»Von den Mischlingen? Etwa eintausend, denke ich«, antwortete Zalen. »Viele stammten aus der vierten oder fünften Generation. Sie lebten in den Ruinen rings um Innswich Point – dem alten Hafengebiet. Als die Regierung tatsächlich herkam, war die ganze Stadt blitzsauber. Kein Gesindel, verstehen Sie? Darum konnten wir uns überhaupt für den Wiederaufbau qualifizieren.«

Etwas noch Morbideres ging mir durch den Kopf. »Wo«, traute ich mich zu fragen, »sind Marys Kinder? Sie hat mir erzählt, sie hätte acht geboren – und würde das neunte erwarten –, aber ich habe nur eins auf ihrem Anwesen gesehen.«

Zalen schnaufte, während wir weitergingen. »Keine Frau im Kollektiv darf all ihre Kinder behalten. Sie dürfen nur eins behalten – ihr erstes.«

»Ich weiß ja bereits, was mit den anderen passiert.« Ich musste beinahe würgen. »Aber ich muss es ganz genau wissen.«

»Ach, müssen Sie das, jetzt?«

»Sie haben mich unterbelichtet genannt, weil ich vermutet habe, dass die Neugeborenen bei einem okkulten Ritual geopfert werden. Wenn das nicht der Fall ist, was genau machen diese Dinger dann mit all den Neugeborenen?«

»Woher soll ich das wissen, Mann?« Er grinste mich an. »Ich bin keiner von denen, schon vergessen? Mich hat man nie ins Stadtkollektiv aufgenommen – ich werde hier als Ausgestoßener betrachtet.«

Aber nicht als derart ausgestoßen, dass man Sie davon ausschließt, diesen Dingern zu dienen, überlegte ich. Ich verabscheute diesen Mann – für das, was er war, und das, was ich ihn hatte tun sehen –, aber ich wusste, dass ich ihn nicht verärgern durfte. Seine Informationen waren zu wertvoll und konnten mir gut bei meiner Flucht helfen. Einer Flucht, die ich entschlossen war, zusammen mit Mary zu unternehmen …

»Die Babys, die nicht in Ordnung sind«, sagte er ernst, »ich schätze, die werden als Futter verwendet. Candace’ Kind zum Beispiel. Sie hat es heute bekommen, und es war durch den Schuss total versaut, den sie sich gesetzt hat – ich hab die Schlampe gewarnt –, aber am Ende hat sie Schwein gehabt. Sie ist noch während der Geburt gestorben.«

»Nur in gewisser Hinsicht«, erlaubte ich mir, anderer Meinung zu sein. »Dieses tote Mädchen hätte mich an der Küste vorhin fast umgebracht.«

»Oh, das erklärt den Schuss, den ich gehört habe …«

»In der Tat, das tut es. Ich habe sie getötet, aber sie war bereits tot. Ich habe außerdem Mr. Nowry gesehen, der in der ersten Höhle Leichen entsorgt hat. Nur Stunden zuvor hatte er tot neben Candace im selben Krankenwagen gelegen.«

Zalen zuckte mit den Achseln. »Das tun sie nicht oft, nur wenn sie weitere Arbeiter brauchen …«

»Sie sprechen davon, die Toten wieder zum Leben zu erwecken!«, rief ich aus.

»Seien Sie doch leise!«, fuhr er mich an. »Und ich rede von weitaus mehr als das. Sie sollten besser beten, dass Sie keinen der Vollblütigen je zu Gesicht bekommen, aber lassen Sie sich nicht täuschen. Sie mögen primitiv aussehen, aber sie sind den Menschen in jeder Hinsicht überlegen. Und, ja, sie haben eine Art Reagenz, mit dem sie Leuten das Leben wiedergeben können, die unter gewissen Umständen gestorben sind. Das hatten sie schon immer. Es ist eher so ein zelluläres Zeugs …«

Mehr genetische Wissenschaft, erkannte ich, aber meine Gedanken waren weiterhin abgelenkt. Ich bekam sie einfach nicht mehr aus dem Kopf. »Wie lange … ist Mary schon Teil des Stadtkollektivs?«

»Fünf Jahre, vielleicht auch sechs. Wen interessiert das schon? Und wo wir gerade von Ihrer kostbaren Mary sprechen …« Zalen blieb mitten im Wald stehen und drängte mich in westliche Richtung. Plötzlich riss ich im kühlen Mondlicht die Augen auf; ich erblickte etwas, das ich schon einmal gesehen hatte …

Wo der bescheidene See zuvor im Sonnenlicht geglänzt hatte, schimmerte er nun im Licht des Mondes. Am Ufer konnte ich flüchtig einige Gestalten erkennen.

Zalen hielt mich zwischen den Bäumen zurück, bevor ich die Gelegenheit hatte, vorwärtszustolpern. »Keinen Ton!«, warnte er.

Es wäre mir nicht einmal im Traum eingefallen, jetzt etwas zu sagen; ich wollte es sehen. Mehrere Dutzend Frauen standen im Halbkreis direkt am Ufer, und ich muss zugeben, dass ich beim ersten flüchtigen Blick an Okkultismus gedacht habe. Die späte Stunde, das Mondlicht und der Ort, all das provozierte eine namenlose finstere Assoziation in meinem Kopf …

Die Frauen trugen einfache Roben, deren Farbe ich im intensiven Mondlicht nicht ausmachen konnte, doch was man erkennen konnte, waren fransige Stoffstreifen, durch Stickereien in einer helleren Farbe unterteilt. Innerhalb dieser Segmente waren aufwendigere Stickereien zu sehen; recht glyphenartige Symbole und die merkwürdigsten geometrischen Formen, die mir Kopfschmerzen bereiteten, wenn ich sie zu lange ansah. Bewegten sich die Ränder dieser schrecklichen geometrischen Symbole tatsächlich? Jede der Frauen hielt außerdem eine Kerze vor sich – eine Kerze, deren Flamme grün brannte –, und ich glaubte, einen leisen Gesang zu vernehmen, dessen Noten bis tief in mein Innerstes eindrangen; ein Gefühl unsagbarer Furcht aufgrund der Illusion vollkommener Abwesenheit. Kein Licht, keine Güte, keine Moral, Abwesenheit von allem Vernünftigen. Noch leiser als die Klänge unbekannten Ursprungs drang eine vokale Diafonie an mein Ort, bei der ich am liebsten auf die Knie gefallen wäre und mich übergeben hätte: eine misstönende und kakodämonisch unstrukturierte Sequenz aus Worten, die sich anhörten wie:

»Ei …«

»Cf’ayak vulgtuum …«

»Ei …«

»Vugtlagln, sjulnu …«

»Ei, ph’nglui, hkcthtul’ei …«

»Wgah’nagl fhtagen–ei …«

»Ei, ei, ei …«

Die perversen Gesänge schienen eher leiser als lauter zu werden, aber aus irgendeinem Grund, je schwerer dieses teuflische Lied zu verstehen war, eine umso größere Wirkung hatte es auf meinen Geist; ein veritabler Druck, ein Tasten auf dem Gesicht. Doch so krank ich mich fühlte, spürte ich gleichzeitig etwas anderes: eine äußerst starke sexuelle Erregung.

»Halten Sie sich zurück«, flüsterte Zalen. Er zwang mich tiefer in die Hocke. »Dieser See geht in die Bucht über …«

Der Ernst dieser Information wurde mir zuerst nicht klar. Mein Blick blieb weiterhin gefangen von diesen makaberen Frauen in ihren Roben. Der Refrain wurde erneut gesungen, als auf einmal alle Frauen ihre Roben fallen ließen und nackt dastanden.

Nackt, wie mir unweigerlich auffiel, und schwanger.

Alldieweil schien der Gesang mein Gehirn in meinem Schädel zusammenzudrücken. Es war schmutzig und erotisch, dies auf solch eine Weise zu sehen, dass ich einfach nicht wegschauen konnte – es war in der Tat böse. Die meisten der Frauen schienen in den Zwanzigern zu sein, aber ich machte auch Mrs. Nowry aus und einige andere mittleren Alters. Dann warfen sie alle nacheinander ihre seltsame grüne Kerze ins Wasser, und ich hätte schwören können, als diese unter die Oberfläche sanken, ging keine der grünen Flammen aus. Gleichzeitig schienen sich meine Augen besser an die glänzende Nacht zu gewöhnen: Das Mondlicht wurde heller und klarer, wodurch ich schärfer sehen konnte. Selbst aus dieser beträchtlichen Entfernung konnte ich kleinste Details an jeder der schwangeren Frauen erkennen. Ich sah die Poren auf deren weißer Haut, die feine Linie zwischen Iris und dem Weiß der Augen, die Feinheiten jeder einzelnen Brustwarze sowie das filigrane Venenmuster jeder mit Milch gefüllten Brust. Schließlich ließen sich alle in die Brühe am Uferrand nieder; was sich dann abspielte, werde ich lediglich als obszönes Bacchanal des Fleisches bezeichnen, eine freizügige Orgie, fixiert auf die gegenseitige Befriedigung wie auf der Insel Lesbos. Ich muss wohl nicht gesondert erwähnen, dass es sich bei einer der lüsternen Beteiligten um Mary handelte …

Meine Augen starrten hingerissen die orgiastische Szene an, und für eine Weile glaubte ich, dass ich selbst mit einer Waffe an meinem Kopf nicht hätte wegschauen können, und das trotz der Selbsterkenntnis, dass die Augen abzuwenden die einzige gottgefällige Handlungsweise gewesen wäre. Aber es war Zalen, nicht Gott, der mich zum Ablassen drängte.

»Es kommt gleich raus …«

»Es?«, fragte ich flüsternd.

»Wir werden nicht hierbleiben, um es anzuschauen. Glauben Sie mir, Morley, Sie wollen es gar nicht sehen …«

Er schleifte mich zurück in den Wald, genau in dem Moment, in dem sich eine Gestalt aus dem Wasser zu erheben begann.

Glücklicherweise wurde mein Kopf wieder annähernd klar. »Was … Was war das, Zalen?«

»Das war einer von ihnen. Was dachten Sie denn?«, rügte mich der langhaarige Mann in dem schmutzigen Regenmantel.

Einer von ihnen, dachte ich. Ein Vollblütiger …

»Einer der Hierarchen, aber es könnten auch andere in der Nähe sein.«

Ich schreckte ob des Aberwitzes zurück. »Das war ein okkultes Ritual, das wir da gerade beobachtet haben, Zalen. Nach allem, was ich herausgefunden und was Sie mir erzählt haben, muss da noch mehr sein …«

»Natürlich ist da noch mehr«, erwiderte der dürre Strolch. »Aber der ganze Scheiß da draußen am See?« Er wirkte amüsiert. »Das ist nur Tradition, Morley; es ist nur ein Ritual; es bedeutet gar nichts. Es beweist lediglich, wie viel armseliger die Mentalität der Menschheit ist; der einzige Weg, auf dem wir jemals wirklich eine Verbindung zu den Vollblütigen aufbauen konnten – selbst schon zu Zeiten von Obed Larsh –, ist ignorante Rituale wie dieses ausführen …«

»Nichts als Fassade«, spekulierte ich, denn der Okkultismus im Werk des Meisters war ebenso gestaltet. »Wollen Sie mir das damit sagen?«

»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Was wie eine Teufelsanbetung und schlichtes Heidentum aussieht, ist nur der Zuckerguss auf einem ganz anderen Kuchen.«

Diese Analogie, so banal sie auch gewesen war, bestätigte meine Vermutungen. Ich folgte Zalen eine Zeit lang unbewusst, da mein Kopf mit einer Überfülle an Spekulationen beschäftigt war. »Doch alle gesellschaftlichen Systeme haben letzten Endes einen bestimmten Zweck«, insistierte ich. »Wenn dieser Okkultismus nur Fassade ist – oder ›Zuckerguss‹ –, dazu da, um etwas anderes zu verbergen … was ist dann dieses andere?«

»Sie stellen zu viele Fragen. Ich habe Sie diesbezüglich doch gewarnt«, sagte er. »Wir müssen hier weg, das ist alles. Sie haben Geld und eine Waffe, und ich habe den Weg hier raus. Wenn wir Glück haben, können wir es schaffen.«

»Jetzt erzählen Sie mir nicht, Sie haben einen Personenkraftwagen«, rief ich schon beinahe.

»Natürlich habe ich den – besser gesagt, ich weiß, wo wir einen bekommen können«, fügte er kichernd hinzu. »Die Onderdonks haben einen Lieferwagen. Da kommt dann Ihre Waffe ins Spiel.«

Aus irgendeinem Grund verringerte diese ausgesprochen vielversprechende Neuigkeit nicht die Wichtigkeit weiterer meiner Fragen. »Sie hätten den Wagen jederzeit stehlen können. Warum wollen Sie ausgerechnet jetzt fliehen?«

»Ich habe es Ihnen doch gesagt«, grinste er im Mondlicht. »Weil sie uns jetzt auf den Fersen sind. Jemand hat unsere Unterhaltung von vorhin mit angehört …«

»Das ist es also, ein Bruch der Verschwiegenheit, die hier jeder einzuhalten hat«, vermutete ich. »Mehr, Weiteres aus der Geschichte.«

»Weil Lovecrafts Geschichte eigentlich gar keine ist. Das habe ich Ihnen ebenfalls gesagt. Der Großteil ist wahr. Und jetzt werden wir damit leben müssen – oder sterben.«

Ich folgte ihm weiterhin, immer noch verwirrt und – weshalb, da bin ich nicht sicher – eher wütend als ängstlich. Der Geruch von langsam geräuchertem Fleisch wurde dominant; er kam uns auf dem schmalen Weg entgegen, sodass ich wusste, dass Onderdonks Haus in der Nähe sein musste. Bestürzt stellte ich fest, dass ich diesen Duft – obwohl ich jetzt den Ursprung des Fleisches kannte – köstlich fand. Ebenso entsetzte mich, dass Zalen, ein unverbesserlicher Dieb, Verbrecher und – schlimmer – jemand, der sich bereitwillig an Kindstötung beteiligte, meine größte Chance darstellte, mit Mary fliehen zu können.

»Mary«, sagte ich daraufhin. »Sie muss mit uns kommen.«

»Das kann nicht Ihr Ernst sein!«, fuhr er mich an.

»Ich bestehe darauf. Ich besitze sehr viel Geld, Zalen. Es wäre klug von Ihnen, meine Interessen zu unterstützen. Mary, ihr Sohn, ihr Bruder und ihr Stiefvater werden uns auf unserer Flucht begleiten.«

Daraufhin lachte er sogar. »Sie und ihr Kind vielleicht. Aber Paul ist eine Last; er ist ein Erzeuger, der impotent geworden ist. Der einzige Grund dafür, dass er nicht getötet und in die Tunnel gebracht wurde, ist, dass sie den Hierarchen um sein Leben angefleht hat.«

»Und der Stiefvater? Haben Sie mir nicht zugehört?«

Sein folgendes Kichern hätte als Todesröcheln durchgehen können.

»Ich kann Sie nicht begreifen, Zalen. Marys Stiefvater ist alt und von Gebrechen geplagt. Es wäre unchristlich von uns, den alten Mann zurückzulassen.«

»Der Stiefvater ist ein Mischling!«

Ich gaffte bei diesen Worten, als seien sie Schrapnellsplitter. »Aber … aber … ich dachte …«

»Die Vermischung der beiden Spezies wurde von den neuen Hierarchen verboten, daher …«

»Daher wurden alle existierenden Mischlinge bei besagtem Genozid ausgelöscht.« So viel hatte ich inzwischen begriffen. »Was nicht erklärt, warum Marys Stiefvater noch am Leben ist.«

Zalen blieb stehen und drehte sich mit dem nihilistischen Grinsen zu mir um, an das ich mich schon – zu sehr – gewöhnt hatte. »Sie werden diesen Teil lieben, Morley … Aber sind Sie sich sicher, dass Sie den hören wollen?«

»Spielen Sie keine Spielchen mit mir, Zalen. Ihre psychologischen Salonkunststückchen sind ziemlich kindisch, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. Also erzählen Sie es mir freundlicherweise – die Wahrheit.«

»Wir wissen nicht genau, wie ihr politisches System funktioniert, aber wir glauben, dass mehrere von ihnen das Sagen haben und dass es einen gibt, der mehr Macht hat als die anderen.«

»Das nennt man eine oligarchische Monarchie, Zalen. Der oberste Hierarch ist der Souverän, ähnlich wie es heute in der Sowjetunion der Fall ist oder wie bei diesem Mann in Deutschland, Hitler.«

»Ja. Der Souverän. Der Souverän ist scharf auf Ihre wunderschöne kleine Mary. Wie gefällt Ihnen das? Er steht wirklich sehr auf sie. Das war er vermutlich, vorhin am See. Keine Sorge, er wird sie nicht ficken – das ist nicht erlaubt –, aber er wird vermutlich alles andere tun.«

Diese Information ekelte mich an, aber machte mich auch ruhelos. Ohne nachzudenken, zog ich meine Waffe und drehte mich um, um zum See zurückzugehen.

»Sie sind wirklich ein Idiot, Morley«, meinte Zalen lachend. Er packte meinen Arm und stieß mich nach hinten. »Selbst wenn Sie ein gutes Schussfeld hätten, wären innerhalb von zwei Minuten Hunderte von denen hinter Ihnen her. Sie können uns erschnüffeln. Wir hätten nicht die geringste Chance.«

Ich lehnte mich gegen einen Baum, gepackt von einer quälenden Verzweiflung. »Sie wollen mir also erzählen, dass Marys Stiefvater dem Genozid entkommen konnte, weil …«

»… weil Mary den Hierarchen angefleht hat, ihn nicht zu töten. Sie stimmte zu, den alten Knacker bei sich in ihrem Haus zu verstecken.« Zalen nickte. »Möchte gar nicht drüber nachdenken, was sie als Gegenleistung für diesen Gefallen tun musste.«

Ich hätte ihn auf der Stelle umbringen können, weil er so etwas sagte, aber ich wusste, dass er nicht unrecht hatte; Verzweiflung führte zu verzweifelten Taten. Stattdessen riss ich mich zusammen und fuhr fort, ihm zu folgen. »Was ist mit den Leuten, die nicht im Stadtkollektiv von Olmstead sind?«

»Abgewiesene wie ich werden in Ruhe gelassen, solange wir keinem Außenseiter verraten, was hier vor sich geht, und solange wir die Stadt nicht verlassen.«

»Diese Dinger können unmöglich überall sein«, verkündete ich. »Mit einem Mindestmaß an Voraussicht, vermute ich, sollte die Flucht einfach zu bewerkstelligen sein.«

»Klar, dass Sie das denken würden«, meinte er, »aber was glauben Sie, warum es niemand versucht? Warum ist Mary Ihrer Meinung nach immer noch hier? Es ist nicht so, dass sie hier sein möchte, das kann ich Ihnen versichern. Niemand von uns will das.«

»Also Angst?«

»Oh ja. In der Vergangenheit haben Leute – meist Frauen – versucht zu fliehen. Sie kamen einfach nicht damit klar, dass sie ihre Babys abgeben mussten. Aber jeder Einzelne wurde wieder hergebracht …« Jetzt verfinsterte sich Zalens Miene. »… und an ihm wurde ein Exempel statuiert. Es gibt eine ganze Menge mehr von diesen Dingern, als irgendwer sich vorstellen kann. Wenn man geht, dann spüren sie einen auf die Art auf, wie ein Bluthund eine Fährte aufnimmt, Morley. Sie reisen alle bestehenden Wasserwege entlang, und sie sind sehr schnell.«

Ich hatte keine andere Wahl, als es auszusprechen. »Also, selbst wenn es uns gelingt, von hier wegzukommen, halten Sie unsere Erfolgsaussichten für nicht sehr hoch.«

»Nein, aber wenn sie einen Wutanfall haben wie gerade jetzt, dann wären wir morgen früh mit Sicherheit nicht mehr am Leben, wenn wir es nicht versuchen.«

Wasserwege, eine Fährte aufnehmen, dachte ich. Falls wir es bis nach Providence schafften, dann würde ich Pinkertons Männer rund um die Uhr einsetzen. Entweder das oder ich zöge um an einen Ort, der weit entfernt von jeglichem Wasserweg läge.

»Da ist der Lieferwagen«, flüsterte Zalen, gerade als uns der Weg zu einer freien Stelle im Wald direkt hinter Onderdonks Grundstück führte. Das Aroma geräucherten Fleisches hing schwer in der Luft. Mehrere Hütten standen schwankend in den Schatten; zwischen zweien von ihnen erspähte ich einen Pritschenwagen, der ebenso heruntergekommen aussah wie alles andere. Das einzige Geräusch, das ich hören konnte, war das glucksender Schweine.

»Onderdonk hat seit Jahren dieselben Schweine«, kam Zalens nächste höhnische Bemerkung, »aber die sind nur Tarnung. Ich würde wetten, dass dieser Hinterwäldler und sein Kind in Wirklichkeit seit einem Jahrzehnt kein Schweinefleisch mehr geräuchert haben.«

»Aber wo steckt er?«, fragte ich. »Der Ort sieht verlassen aus.«

»Wahrscheinlich sind sie zu Bett gegangen, nachdem sie das Fleisch zum Räuchern aufgehängt haben«, vermutete er und deutete auf die Reihen hochgelagerter Metallfässer, die als Kochgerät herhielten. »Das wäre gut für uns … Aber halten Sie Ihre Waffe vorsichtshalber bereit.«

Ich gehorchte der Anweisung und folgte ihm auf das überwucherte Gelände. Wir gingen mit großer Sorgfalt weiter, um ja nicht auf einen Ast zu treten. Mondlicht und Schatten tauchten die diversen Hütten in helle und dunkle Flecken; mehrere Paare kleiner Augen funkelten uns an, als die Schweine im Pferch uns bemerkten. Eine Eule stieß einen Schrei aus und wurde dann still.

»Das scheint nicht ordnungsgemäß«, kommentierte ich die Leinensäcke in der Nähe der Fässer. »Diese Säcke scheinen voll zu sein. Ich habe Onderdonk mit eigenen Augen gesehen, wie er die Säcke aus der Höhle getragen hat, nachdem er und sein Sohn einige der Mischlingsleichen zerhackt haben.«

Zalen öffnete einen Sack; in ihm befanden sich noch Streifen frisch zerkleinerten Fleisches. »Ja, und wenn das Fleisch noch in den Säcken ist, was zur Hölle ist dann …«

Die Frage erforderte keine Vervollständigung. Ich nehme an, tief in meinem Inneren kannte ich die Antwort schon, bevor wir die Deckel der Räucherfässer abhoben. Ich leuchtete mit meiner Taschenlampe hinein, dann zuckten wir beide zusammen.

Rauch quoll von Onderdonks mit rosa Pusteln übersätem Gesicht auf, während Schwaden davon an den Haaren auf seinem Kopf herunterhingen. Weiterer Rauch kam aus seinem Mund, der im Tode zu einem schrecklichen Schrei erstarrt war; seine Augen waren wolkenweiß geronnen. Ein starker, schweineartiger Geruch verbreitete einen Bodennebel überall in dem Kuddelmuddel der Hütten. Ein weiteres Fass besiegelte das Schicksal von Onderdonks Jungen – ein wahrhaft mitleiderregender Anblick. Das geringere Körpergewicht und die Wahrscheinlichkeit, dass der Junge schon länger »gekocht« wurde als sein Vater, wurde durch den Fakt bewiesen, dass seine Augenhöhlen mit brodelnden Körperflüssigkeiten gefüllt waren. Dampf aus dem pochierten Gehirn des armen Jungen quoll aus seinen Nasenlöchern und Ohren.

»Gott steh uns bei«, quäkte ich.

»Die Vollblütigen haben sie erwischt«, stellte Zalen ernüchtert fest, »was bedeutet, dass sie immer noch hier sein könnten.«

Diese Aussicht ergriff mein Herz wie mit einer Geierklaue und drückte zu. Wir schlitterten beinahe in Richtung des Wagens und wagten nicht zu blinzeln. Aber dennoch wirbelten meine Fragen strudelartig im Kopf herum. »Vorhin haben Sie mir erzählt, dass die Frauen ihr erstgeborenes Kind behalten dürfen, während die anderen den Vollblütigen überlassen werden müssen.«

»Ja, und?«

»Aber Sie haben auch gesagt, dass Sie der Vater von Marys drittem oder viertem Kind wären. Was für ein verräterischer Kretin könnte denn sein eigenes Kind diesen Dingern im Wasser ausliefern?«

»Ich hatte dabei keinerlei Mitspracherecht, Morley. Wir haben keine Wahl hier – begreifen Sie das denn nicht? Wenn ich ›verräterisch‹ bin, dann ist Ihre geliebte Mary es auch.«

Davon wollte ich nichts hören. Ich wusste, ich wusste im tiefsten Innern meiner Seele, dass Marys Verfehlungen nur unter Zwang geschehen waren. Hätte sie sich geweigert, wären ihr Sohn, ihr Bruder und ihr Stiefvater zu Futter für die Vollblütigen verarbeitet worden.

»Und das Kind, das wir bekamen, war ein Unfall«, berichtete er. »Ich nehme an, damals habe ich sie wirklich geliebt – bevor sie dem Kollektiv beigetreten ist.«

Bei dieser Ausrede zuckte ich zusammen. »Nur ein gottloser Mann kann behaupten, eine Frau zu lieben, die er wie eine Handelsware prostituiert.«

»Sie haben ja keine Ahnung, wovon Sie reden.« Dann kicherte er. »Und ich glaube sowieso nicht an Gott.«

»Ich würde sagen, das ist offensichtlich …«

»Also, falls Ihr Gott wirklich existiert, werden Sie eine Menge beten müssen, um uns hier wegzubringen.« Wie erreichten den Lieferwagen; auf dessen Ladefläche standen zwei Benzinkanister. Zalen duckte sich, nahm einen und entleerte ihn vorsichtig in den Tank des Fahrzeugs. »Und«, fügte er hinzu, »Sie sollten beten, dass diese Rostschüssel anspringt …«

»Zuerst noch eine letzte Frage.« Ich konnte einfach nicht locker lassen und packte seine Schulter. Meine Neugier brannte glühend wie ein Brandeisen. »Ich will die Antwort, die Sie mir vorhin nicht geben wollten.«

»Ach, kommen Sie, Morley, wir müssen …«

»Ich bestehe darauf! Sie haben gesagt, dass das Ritual nur Fassade ist und sich auf ignorante, uralte Traditionen stützt: Okkultismus als ›Zuckerguss‹, um etwas anderes zu verbergen.«

»Genau!«

»Also, was ist mit den Babys? Was ist mit den Opfern? Wenn das Opfern von Neugeborenen keine okkulte Opfergabe ist, was kann es denn dann sein?«

»Es ist kein Opfer, um Himmels willen. Sie wollen die Neugeborenen studieren – um uns zu studieren. Ihr Gehirn, ihre Zellen, ihr Blut – einfach alles, um zu sehen, wie sie wachsen. Etwa, wie ich bereits sagte – die mikroskopischen Dinge in jeder Zelle, die uns zu dem machen, was wir sind … Das ist es, was sie studieren, damit experimentieren sie.«

»Ihr Verständnis der genetischen Wissenschaft muss das unsere tausenfach übersteigen«, meinte ich. »Das ist es also.«

»Ja. Opfergaben an den Teufel? Schwarze Magie? Das ist alles Stuss, wie es mein Großvater so schön ausgedrückt hat. Verzierung, Morley, um die unwissende Masse zu täuschen: uns.«

Wenig positiv gestimmt dachte ich über das Potenzial seiner Erklärung nach. Basierend auf dem Wenigen, was ich gelesen hatte, wusste ich, dass, theoretisch, das Studium der menschlichen Gene (insbesondere jener, die sich noch in der Entwicklung befanden wie bei Kindern) nicht nur das Verständnis über das menschliche Leben vergrößern konnte, mit dessen Hilfe ließ sich das menschliche Leben sogar verändern. Daher sah ich mich gezwungen, als Nächstes zu fragen: »Was ist der Zweck dahinter, dass sie uns auf genetischer Ebene studieren, Zalen?«

»Das ist der schlimmste Teil«, entgegnete er. »Sie hassen uns, Morley. Sie wollen uns auslöschen, aber nicht mit brutaler Gewalt.«

»Wie dann?«

»Mit Krankheiten, Missbildungen, Unfruchtbarkeit.«

»Natürlich«, krächzte ich, mir nun der Folgen bewusst. »Durch die Erforschung der Neugeborenen und durch Experimente an ihnen können die Vollblütigen unsere biologischen Schwachstellen herausfinden und Viren, Malignome und ansteckende Krankheiten entwickeln, mit dem sie die Menschen aus einer Vielzahl von Richtungen verheeren können.«

»Das ist richtig. Das ist es, was sie letzten Endes tun wollen …«

»Und Sie helfen ihnen dabei!«, fuhr ich ihn an.

Er runzelte im Mondlicht die Stirn. »Ich dachte, ich helfe Ihnen. Ich helfe Ihnen und Ihrer kostbaren Mary fliehen. Vergessen Sie das nicht.« Dann wandte er sich dem heruntergekommenen Fahrzeug zu. »Fangen Sie an zu beten, Morley. Beten Sie zu Ihrem Gott, dass es einen Anlasserknopf hat anstelle eines Zündschlosses …«

Ich betete tatsächlich darum, doch bevor ich damit fertig war, sprang ich zurück und schrie vor Angst auf, denn als Zalen die eingedellte und ausgeblichene Tür des Wagens öffnete, stieg er nicht etwa hinein, sondern er wurde hineingezogen

… von zwei langen, dünnen, seltsam verdrehten, muskulösen Armen mit Händen, die eher den Vorderpfoten eines Frosches glichen, aber glatte, mit Schwimmhäuten verbundene, etwa 30 Zentimeter lange Finger hatten. Ich habe sein Gesicht nie gesehen, doch mir war völlig klar, was es war, aufgrund des penetranten Geruchs, der aus dem Wagen drang, nachdem Zalen die rostfleckige Tür geöffnet hatte. Es war der Geruch nach einem Fischberg, angereichert mit dem erdigen Geruch von Brackwasser. Ebenfalls nach Brackwasser sah die Haut dieses Dings aus. Es dauerte einige Momente, bis ich in den Schatten wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Ich glaubte, die von Beulen übersäte, kränklich grüne Haut schimmern zu sehen, als wäre sie nass, und als es im Lastwagen zur Auseinandersetzung kam, hörte ich überdies nasse Geräuscheüberschwappende Geräusche –; und danach Geräusche, die noch gräßlicher waren.

Nur das Wort böse konnte das beschreiben, was ich als Nächstes hörte, und um einen direkten Vergleich zu ziehen, müsste ich sagen, es klang, als würde jemand einem rohen Huhn die Gelenke auskugeln, nur dass das »Huhn« in diesem Fall Zalen war. Ein heftigeres, reißendes Geräusch ertönte, anschließend ein lautes, feuchtes Platschen, als die inneren Organe des langhaarigen Strolchs aus dem Wagen geworfen wurden, gefolgt von dem abgenutzten schwarzen Regenmantel des Süchtigen.

Danach folgten die Arme, an den Schultergelenken entwurzelt.

Dann die Beine.

Das Ding nimmt ihn Stück für Stück auseinander, wurde mir bewusst.

Zuletzt folgte der Torso, doch Zalens Genitalien schienen sich nicht an der Leiste zu befinden. Ich konnte nur hoffen, dass ich mir das Kaugeräusch, das ich aus dem Wagen hörte, bloß einbildete.

Ich betrachte mich nicht als Feigling, dass ich allerdings nicht versucht habe, mit meiner Pistole dazwischenzugehen, dazu müssen Sie wissen, dass die oben beschriebene Zerlegung von Cyrus Zalen eine Angelegenheit von lediglich ein paar Sekunden gewesen ist. Stattdessen rollte ich hinter einen verrotteten Baumstumpf von beträchtlicher Breite. Eher Reflex denn bewusste Entscheidung lenkte meine Positionierung; ich lag auf dem Bauch, die Hände ausgestreckt und die Waffe haltend, tat ich mein Bestes, um eine Schussbahn zu etablieren zu dem Bereich, von dem ich wusste, dass die Kreatur ihn durchqueren müsste, falls sie mir nachjagte. Mit meinem Schussauge zielte ich über den Lauf der Waffe hinweg und wartete.

Und wartete.

Komm raus!, flehte ich.

Innerhalb des Wagens war keine bedeutsame Bewegung zu erkennen, wenngleich ich glaubte, ein geringfügiges Zucken darin bemerkt zu haben. Einen Augenblick später – und nur für einen Augenblick – schien ein ganz schwaches grünliches Leuchten darin zu fluoreszieren, und ich kann nur schätzen, dass es vom Beifahrersitz ausgegangen war. Eine Sekunde später war es fort.

Was mich dazu bewogen hat, Zalens Torso zu untersuchen, liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft, aber als ich es tat, hatte ich die abscheuliche Offenbarung, dass der Kopf des Schuftes nicht länger Anschluss an dessen Hals besaß. Warum hatte das froschartige Monstrum alles herauskatapultiert bis auf den Kopf?

Etwas beschrieb in der Dunkelheit einen Bogen, schlug auf und rollte dann herbei, um meine Frage zu beantworten.

Zalens Kopf.

Der Kopf grinste auf eine Art und Weise, der Zalens abfälligen Ausdruck perfekt widerspiegelte. Das Weiß in seinen Augen glühte schwach und weniger als eine Minute lang in demselben grünlichen, geisterhaften Licht, dass ich im Wagen bemerkt hatte. »Überlegen Sie sich gut, was Sie tun, Morley«, sagte Zalens zerstörte Stimme, die von einem feuchten, matschigen Kichern begleitet wurde. »Sie haben nicht genug Kugeln, um die alle in Angriff zu nehmen, aber Sie haben eine Wahl.«

Die Worte des Toten paralysierten mich nahezu. Zalens Kopf kicherte, als ich mit der Waffe zitternd auf seine Stirn zielte. Mir fiel außerdem auf, dass der abgerissene und blutige Stumpf seines Halses phosphoreszierend glühte; ganz feine, rankenartige Spuren des Unterweltelixiers, das man dem Kopf verabreicht hatte – ich vermutete, das Elixier hatte auch Mr. Nowry, Candace und Gott weiß wie viele andere wiederbelebt.

»Was für eine … Wahl?«, brachte ich schließlich heraus.

»Schließen Sie sich dem Stadtkollektiv von Olmstead an …«

»Bombast«, stieß ich ungeachtet meines Ekels und meiner Furcht hervor. »Ich werde mich nicht am Kindsmord beteiligen noch werde ich den Feinden meiner Rasse Behilfe leisten.«

»Großer Gott, Mann. Wenn Sie sich ihnen nicht anschließen, sind Sie tot. Oh, sicher, vielleicht können Sie ein paar von denen niederschießen mit ihrem Pusterohr, aber letzten Endes werden die Sie kriegen.« Er zwinkerte. »Und wenn sie das tun, dann wird das kein schöner Anblick.«

»Eher würde ich mich selbst erschießen.«

»Nun, das ist die einzige andere Wahl, die Sie haben. Wenn Sie sich ihnen nicht anschließen wollen, dann tun Sie sich einen großen Gefallen, halten sich gleich jetzt die Waffe an den Kopf und betätigen den Abzug, Morley. Das Ding im Wagen hat mich in kürzerer Zeit auseinandergerissen, als man für einen Lidschlag braucht. Haben Sie eine Ahnung, wie weh das getan hat?« Dann begann der tote Mund bellend, feucht und matschig zu lachen.

Als ich aufblickte, sah ich die Silhouette des Dings direkt neben dem Wagen stehen, von wo aus es mich aufmerksam anstarrte. Seine Augen, die in der Dunkelheit leuchteten, hatten eine goldene Iris und schienen von der Größe von Fäusten eines Erwachsenen. Seine bösartig schwimmhäutigen Hände hingen weit runter bis unterhalb der Gelenke, die als Knie fungierten.

»Allerdings«, fuhr der verfluchte Kopf fort, »falls Sie sich umbringen wollen, müssen Sie zuerst Mary umbringen …«

»Mary?«, rief ich aus.

»Wenn Sie sich nicht dem Kollektiv anschließen, werden die ihr Dinge antun, gegen die die Heilige Inquisition wie zwei Kinder wirken würde, die im Sandkasten spielen. Sie werden sie bis zum Gehtnichtmehr foltern, Morley, mit ihren Chemikalien und ihren Werkzeugen, und dann bringen sie sie um. Und danach holen sie sie einfach zurück und fangen von vorne an.«

»Seien Sie still!«, schrie ich und hielt ihm die Waffe vor ein Auge.

»Aber nichts davon wird geschehen, wenn Sie sich dem Kollektiv anschließen. Sie werden mit Ihrer Mary zusammen sein bis an Ihr seliges Ende.«

So verlockend das sein mochte, wusste ich, dass ich seinen Versprechungen nicht anheimfallen durfte. Falls ich zustimmte, würden sie mich trotzdem umbringen, wegen dem, was ich wusste. Ich machte Ausflüchten, wartete die rechte Zeit ab – da war noch immer der Vollblütige am Wagen, um den ich mich kümmern musste –: »Lassen Sie mich darüber nachdenken«, wich ich aus, doch dann sah ich zurück zum Wagen und bemerkte, dass die abscheuliche, schlammhäutige Kreatur nicht länger dort war.

»Zu spät«, meinte Zalen und kicherte.

Von hinten kam eine schleimige Hand und umfasste mein ganzes Gesicht. Ich wurde zurückgerissen, konnte nicht mehr atmen, und die Pistole fiel mir aus der Hand. Die rund 30 cm langen Finger hüllten meinen Kopf vollständig ein, und so dünn sie sein mochten, übten sie doch solche Kraft aus, dass ich wusste, es konnte nur Sekunden dauern, bis mein Schädel wie ein Kürbis unter Druck platzen würde. Zalens scheußlicher Kopf fuhr fort zu gackern, während meine Anstrengungen schwächer wurden; schlimmer, die andere schändliche Hand dieser Abnormität glitt unter meinen Gürtel und in meine Hose. Das, wessen ich sie verdächtigte, mit Zalens Genitalien getan zu haben, wollte sie mit meinen anscheinend wiederholen.

»Sieht so aus, als hätte sich Ihr Gott vom Acker gemacht, Morley«, kommentierte der abgetrennte Kopf und lachte böse. »Ich kann es ihm nicht verdenken …«

Es war beinahe eine Gnade, dass mein Bewusstsein sich trübte, als die marodierende Hand meine Genitalien ergriff und zu verdrehen begann. Würde mein Schädel platzen, bevor ich letztendlich erstickte? Ich spürte die dünnen, knochigen, von Froschschleim bedeckten Finger sich straffen. Dann schien das Wesen sich zu mäßigen, als ob es simultan mein Gemächt entwurzeln und mein Kopf zum Platzen bringen wollte; doch als ich fühlte, was ich sicher für meine letzten Herzschläge hielt, ließ mich die Abscheulichkeit los, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen, sprang hoch auf ihre widerlichen Füße und stieß einen Schrei aus, so misstönend und unmenschlich, dass ich glaubte, allein durch den Klang den Verstand zu verlieren.

Er klang wie ein an- und abschwellender Schrei, verflochten mit einem Plätschern, wie wenn Flüssigkeit verschüttet würde.

Ich fiel auf die Seite und rang verzweifelt nach Luft. Ziehende Wolken über dem Wald ließen ungnädigerweise mehr Mondlicht hindurch, genau in dem Moment, als ich aufblickte …

Das scheußlich gebaute, schaudernde Ding war irgendwie mit einem von Onderdonks Schüreisen, durch einen seiner kugelförmigen Augäpfel gerammt, an einen Baum gepflockt worden. Während der unmögliche Protestschrei leiser wurde, zuckte es krampfhaft und erzeugte dabei ein zusätzliches Geräusch ähnlich dem von flatterndem nassen Leder.

Schnelle Schritte; ein dunkler Fleck trübte meine Sicht, als ich deutlich eine Gestalt im Wald verschwinden sah.

Wer hatte mich gerettet? Mary?, überlegte ich, aber nein, wenn sie es gewesen wäre, hätte sie etwas gesagt, und keine Frau in ihrem Stadium der Schwangerschaft konnte sich derart flink bewegen. Möglicherweise hatte ein Stadtbewohner gewisse Einwände gegen die garstigen Aktionen der Stadt. Oder …

Konnte es Klein Walter gewesen sein?

Der Wahnsinn der vergangenen Minuten gab meine Sinne frei. Ich war noch immer auf einer Mission: Mary und ihren Sohn retten, für ihre Flucht sorgen aus dieser makabren, geheimen Unterweltherrschaft. Entferntes Knacken aus dem Wald sagte mir, dass mein Retter in Richtung Westen lief, über die Straße …

Zu Marys Haus …

Jetzt erholt griff ich wieder meine Pistole.

»Bringen Sie sie um«, forderte mich Zalens Kopf auf, »und dann sich selbst.«

Mit mehr als nur einem bisschen Abscheu hob ich den Kopf an den fettigen Haaren auf und …

»Wagen Sie es nicht, Morley!«

… ließ ihn in das Fass fallen, in dem Mr. Onderdonk bereits schonend gegart wurde. Als ich den Deckel wieder schloss, konnte ich gedämpft seine Vorhaltung hören: »Nichts als ein reicher Waschlappen …«

»Aber ein reicher Waschlappen weiterhin im Besitz seines Kopfes«, erwiderte ich. Dann rannte ich los – der Gestalt hinterher, die mir das Leben gerettet hatte.

Es war größtenteils blindes Vertrauen, das mich durch das nachtumwobene Dickicht und das Labyrinth aus knorrigen Bäumen leitete. Glühwürmchen erhellten stellenweise die Dunkelheit. Ich seufzte erleichtert auf, als ich endlich den flachen, finsteren Umriss von Marys überwuchertem Domizil erblickte; Kerzenlicht schimmerte schwach aus den Fenstern. Und …

Da ist er!

Vor einem dieser Fenster sah ich die obskure Gestalt, die Person, die mir das Leben gerettet hatte. Doch bevor ich auch nur einen Schritt vorwärts machen konnte, wirbelte sie herum und verschwand gewandt wie ein Waldgeist zwischen den Bäumen. Mein erster Impuls war, ihr laut hinterherzurufen, dann erinnerte ich mich an die Notwendigkeit, nicht aufzufallen. Wer wusste schon, wie viele Vollblütige in der Nähe lauerten? Auch rannte ich der Gestalt nicht nach, denn das wäre ein kompletter Umweg zu meinem Ziel. Stattdessen spähte ich durch das matt erleuchtete Fenster, vor dem die Gestalt eben gestanden hatte, und dort sah ich Marys jungen Sohn Walter auf einem armseligen Sack voller Blätter und trockenem Gras liegen und schlafen. Nur der Kerzenrest, der in einem Leuchter auf dem schmutzigen Boden stand, spendete ein wenig Licht.

Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken; leisere und unregelmäßigere Schritte auf der Südseite des Hauses schreckten mich auf. Mit der Pistole im Anschlag ging ich hinter einem Baum in Deckung und hielt den Atem an …

Die Gestalt, die in das Mondlicht hinaustrat, war Mary …

Sie schleppte sich mühsam vorwärts; offenbar kehrte sie von dem erzwungenen Bacchanal am See zurück. Erschöpft keuchte sie auf, dann beugte sie sich über und erbrach sich. Ich eilte an ihre Seite, während sie sich quälte.

»Oh Foster!«, schluchzte sie. »Ich habe gebetet, dass Sie noch am Leben sind …«

»Ihre Gebete wurden erhört«, sagte ich, half ihr auf und umarmte sie. Aber wir werden mehr als nur Gebete brauchen, fürchte ich, kam mir ein ergänzender Gedanke. Sie trug die esoterische Robe von vorhin mit der verwirrenden Stickerei am Saum. Ihr warmer, schwerer Körper bebte in meinen Armen. »Ich bin Ihret- und Ihres Sohns wegen hergekommen …«

Sie entwand sich meiner beruhigenden Umarmung. »Wir müssen ins Haus und ganz leise sein.«

»Mary, ich …«

»Pst! Sie verstehen nicht!« Sie nahm meine Hand und zog mich durch eine schmale, ungleichmäßige Tür in das armselige Haus. Völlige Dunkelheit und ein dichter Geruch nach Staub hüllten mich mit einem Mal ein; nur Marys warme Hand leitete mich noch.

Sie lotste mich in ein anderes Zimmer mit niedriger Decke, das von einer einzelnen Kerze erleuchtet wurde und in dem deutlich als provisorisch erkennbare Möbel herumstanden. Ich half ihr, sich auf eine zum Stuhl umfunktionierte Milchkiste zu setzen, und als sie endlich zu Atem gekommen war, sah sie mich mit traurigen Augen an. »Oh Foster, es tut mir so leid. Sie haben Ihr Leben in Gefahr gebracht, indem Sie hierher gekommen sind.«

»Ich bin hierher gekommen, um Sie und Ihren Sohn zu holen, Mary«, versicherte ich ihr.

Sie schlug die Hände vor ihr errötetes Gesicht. »Es gibt so vieles, das Sie nicht wissen.«

»Beruhigen Sie sich. Ich weiß jetzt alles.«

Erstaunt blickte sie auf. »Sie haben … Sie haben die Dinger gesehen?«

»Ja, vorhin am See, bei dem bedauerlichen Ritual, zu dem Sie durch die Umstände gezwungen wurden, und ebenso vor wenigen Minuten bei Onderdonk. Einer der Vollblütigen hätte mich beinahe umgebracht.«

»Dann … wissen Sie von den Vollblütigen?«

»Ich weiß alles. Ich weiß, was im ersten Stock des Hilman House vor sich geht, ich weiß von den beiden Leichenlagern in den Höhlen unterhalb der Küste. Ich weiß, warum Ihr Bruder Paul invalide ist, und ich weiß außerdem, dass Ihr Stiefvater ein Mischling zwischen deren und unserer Rasse ist und der Einzige seiner Art, dem nach dem vor ein paar Jahren angeordneten Genozid weiterzuleben erlaubt wurde.« Ich nahm ihre Hand. »Und, Mary, ich weiß, warum sie die Frauen des Kollektivs dazu zwingen, ständig schwanger zu sein. Die Neugeborenen werden nicht geopfert, sie werden für Forschungszwecke benutzt, die zum Untergang der Menschheit führen sollen. Vor einigen Stunden habe ich mit angesehen, wie Zalen den Vollblütigen einige Neugeborene überreicht hat, draußen auf der Sandbank.«

Sie schluchzte erneut auf. »Zalen? Oh mein Gott, Sie müssen mich für eine Teufelin halten, dass ich meine Babys dafür hergebe.«

»Ich denke nichts dergleichen«, stellte ich klar, »denn ich weiß auch, dass Sie in diesen perversen Dienst gezwungen werden. Wenn Sie sich weigern, dem nachzukommen, würden Sie und Ihre Familie abgeschlachtet.« Ich wurde still und drückte ihre Hand noch ein wenig fester, um sie zu beruhigen. »Mary, ich weiß auch von den servilen Diensten, die auszuüben Sie in der Vergangenheit gezwungen waren, aus Verzweiflung, unter Cyrus Zalens kuppelndem Einfluss und pornografischen Bestrebungen.«

Sie schluchzte heftig. Tränen liefen aus ihren Augen und platschten buchstäblich auf den schmutzigen Boden. »Wie kann ein moralischer Mann wie Sie es dann überhaupt ertragen, sich im gleichen Raum mit mir aufzuhalten?«

Mein Grund ließ keinen Spielraum zum Zögern. »Ich habe mich in Sie verliebt, Mary. Mein Herz würde es nie verwinden können, wenn Sie mir das nicht glauben.«

Sie legte erneut die Hände vor das Gesicht. »Das macht alles nur noch schlimmer …«

»Warum!«, erwiderte ich, vielleicht ein wenig zu laut. »Ich erwarte nicht, dass Sie mich ebenfalls lieben, aber ich kann beten und mit der Hoffnung leben, dass Sie es eines Tages vielleicht tun werden, und sollte es nie passieren, dann werde ich Sie dennoch ebenso sehr lieben wie am heutigen Tag.«

Ganz plötzlich schlang sie die Arme um mich. »Oh, Foster, aber ich liebe dich, schon seit du heute das Restaurant betreten hast …«

Der Freudentaumel, der mich überkam, ließ mich beinahe zusammenbrechen. In diesem Moment wusste ich, dass ich in meinem Leben im Überfluss eigentlich nichts besessen hatte – bis jetzt.

Jetzt besaß ich alles.

»Warum in aller Welt sagst du dann, dass unsere Liebe alles schlimmer macht?«, wollte ich wissen.

»Foster! Denk doch mal darüber nach! Lovecrafts Geschichte ist wahr, und ich lebe mittendrin!«

»Was Zalen mir nicht erzählt hat, habe ich selbst herausgefunden.«

»Aber, Foster – Zalen ist der Grund dafür, dass die Vollblütigen auf der Jagd sind. Sie jagen … nach dir.«

»Als ich am alten Innswich Point war, war ich gezwungen, auf eine ihrer Wiederbelebten zu schießen, eine von Zalens Prostituierten«, berichtete ich ihr und erinnerte mich dann an den verstörendsten Punkt. »Ich habe sie nicht wirklich getötet, da sie bereits tot war. Doch mein Schuss hat sie lange genug abgelenkt, dass ich entkommen konnte. Es ist durchaus möglich, dass einer oder mehrere Vollblütige das gesehen oder gehört haben, und noch wahrscheinlicher, dass Candace sie direkt nach meiner Flucht darüber informiert hat.«

»Das ist nicht der Grund, Foster«, warf sie ein und legte eine Hand auf ihren Bauch, als ob es ihr nicht gut gehen würde. »Es liegt an dem, was Zalen viel früher am heutigen Tag gemacht hat. Die Wächter sind überall. Jeder einzelne Bewohner der Stadt erstattet ihnen Bericht. Und einige von ihnen sind wie Candace körperlich tot. Einer von ihnen hat belauscht, wie Zalen dir von den Tunneln unterhalb der Küste am Innswich Point erzählt hat. Niemand darf etwas darüber wissen, Foster. Das ist eins ihrer größten Geheimnisse, daher wird jeder, der davon erfährt … zur Strecke gebracht.«

Das war fraglich, dennoch hätte ich mehr Kapital aus meiner Erinnerung an Lovecrafts Geschichte ziehen sollen. Selbst das leiseste Flüstern wurde gehört, wenn nicht von den degradierten Stadtbewohnern, dann von den Tiefen Wesen selbst, deren auditive Fähigkeiten übernatürlich waren. Doch ein entscheidender Punkt kollidierte mit meinen Schlussfolgerungen aus den gesammelten Daten. »Ich nehme an, dann sind wir in deinem Haus nicht sicher. Wir sollten sofort aufbrechen.«

»Sie werden nicht hierher kommen, Foster«, versicherte sie mir mit niedergeschlagenen Augen. »Einer ihrer Anführer … hat Gefallen an mir gefunden.«

»Dafür musst du dich nicht schämen«, beruhigte ich sie. »Zalen hat das bereits erwähnt. Er nannte sie ›Souveräne‹, aber er hat auch erwähnt, dass Geschlechtsverkehr mit Menschen selbst diesen Hierarchen von ihren neuen Gesetzen verboten wird. Ich weiß auch, dass diese Schwäche des Souveräns für dich der Grund dafür ist, dass dein Bruder und dein Stiefvater verschont wurden.«

Sie begann zu sprechen, aber beugte sich dann nach vorne und verzog das Gesicht.

»Mary! Du hast Schmerzen.«

»Nein, nein, mir geht es gut. Ich muss mich nur kurz ausruhen …« Sie streckte die Hand aus. »Bitte hilf mir, zum Bett zu gelangen, Foster.«

Mit großer Sorgfalt leistete ich ihr Hilfestellung; sie wirkte erschöpft und ausgelaugt und schien Schmerzen zu haben, alles auf einmal. Ein Blick auf das ›Bett‹ zwang eine Grimasse auf mein Gesicht, denn es bestand eigentlich nur aus einer äußerst primitiven Strohmatratze. Mit etwas Glück kann sie morgen in einem RICHTIGEN Bett schlafen, vermutlich zum ersten Mal in ihrem schrecklich schweren Leben.

Ein freudiger Seufzer entfleuchte ihren Lippen. »Das ist sehr viel besser, Foster. Danke. Dr. Anstruther hat gesagt, ich wäre in einer Woche oder so fällig.«

»Anstruther«, spuckte ich den Namen giftig aus. »Seiner Hände Werk habe ich gesehen. Ich nehme an, er ist ein führendes Mitglied des Olmstead-Kollektivs.«

Sie nickte. »Er ist derjenige, der hier alles leitet – für sie.«

»Ich hätte es wissen müssen.«

Sie legte sich hin, jetzt sehr viel ruhiger, und – betete ich zu Gott – verbannte den gottlosen Ausflug zum See aus ihrem müden Geist. »Hier, Foster«, murmelte sie, nahm meine Hand und legte diese mitten auf ihren aufgedunsenen Bauch. »Spüre das Leben in mir.«

Das tat ich voller Staunen. Ein Segen, grübelte ich. Jedes Leben ist ein Segen …

»Ich würde es so gern behalten«, murmelte sie weiter. Tränen flossen. »Ich würde alles dafür geben …«

»Du wirst es behalten, Mary – das schwöre ich.« Der große Fleischwulst unter der okkulten Robe schien vor Hitze zu glühen. »Du bleibst hier und ruhst dich aus, während ich zu den Onderdonks zurückgehe und den Wagen hole. In weniger als einer Stunde bringe ich dich und Walter von hier weg, in die Sicherheit meines Anwesens in Providence …«

»Du verstehst einfach nicht«, stöhnte sie frustriert. »Wenn ich versuche wegzulaufen, werden sie hinter mir her sein. Niemand aus dem Kollektiv kann jemals von hier weggehen.«

»Das wird sich finden«, erwiderte ich, aber weiterhin eingedenk dessen, was mir Zalen über das Schicksal derjenigen angedeutet hatte, die es versucht hatten. »Überlass das mir. Ich werde dich in Sicherheit bringen oder bei dem Versuch sterben.«

Als sie mich anblickte, sah ich etwas in ihren Augen, das nur ein verzweifelter Hoffnungsfunke sein konnte.

»Ich liebe dich nur noch mehr, dass du das für uns tun möchtest. Aber ich kann das nicht zulassen. Wir würden es niemals herausschaffen; wir würden alle sterben.«

»Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen«, sagte ich ihr ohne ein Zögern jeglicher Art. »Bist du es auch? Würdest du die Chance ergreifen, damit Walter endlich ein gutes Leben haben und wie andere Jungen auf eine gute Schule gehen kann? Würdest du diese Chance ergreifen«, ich streichelte zärtlich ihren trächtigen Bauch, »damit dieses ungeborene Kind leben und die Schönheit dieser Welt sehen kann, damit es nicht den blasphemischen Tod erleiden muss, der es ansonsten erwarten würde?«

Sie schluchzte, schluckte schwer und nickte dann. »Ja! Ich werde das Risiko eingehen! Selbst wenn wir alle sterben, dann sterbe ich wenigstens zusammen mit dir …«

»Warte hier«, sagte ich mit belegter Stimme. »Ich komme gleich wieder.« Dann war ich auch schon aus der Tür und stand wieder in der mondhellen Nacht.

Ich gestattete mir keine Gedanken, die mich ablenken konnten, auch wenn sie noch so wohltuend gewesen wären. Mit den sprichwörtlichen geöffneten Augen ging ich zu Onderdonks Haus zurück, meine Colt-Pistole lag rutschig in der schweißnassen Hand. Der Wald war jetzt überreich an nächtlichen Klängen, die zuvor nicht da gewesen waren. Das gab mir zu denken. Falls diese vollblütigen Monstrositäten tatsächlich Jagd auf mich machten, so sah ich doch auf dem ganzen Weg zu Onderdonks heruntergekommenem Anwesen keine Spur von ihnen.

Die Räucherfässer qualmten, und ich ignorierte den reichhaltigen, köstlichen – und unaussprechlichen – Duft. Nur aus dem Augenwinkel erlaubte ich mir einen Blick auf die tote, an den Baum gepflockte Kreatur. Die Aussicht, eine dieser Abscheulichkeiten im Detail betrachten zu können, ließ meine Neugier kalt. Näher beim Wagen musste ich um Zalens Innereien und Körperteile herumgehen, eine an sich ziemlich einschüchternde Aufgabe, jedoch ersparte ich mir einen mentalen Ausrutscher: Es hätte keinen ehrlicheren und aufrechteren Gentleman treffen können.

Großer Gott!, dachte ich angewidert, als ich in das altersschwache Fahrzeug stieg; meine Hose wurde augenblicklich von dem Vorkommen an Zalens Blut durchtränkt, das sich hier bei dessen Ausweidung und Zerstückelung gebildet hatte. Ich saß einen Augenblick lang still da, begutachtete bedächtig die unmittelbare Umgebung durch die Windschutzscheibe und sah nichts – absolut nichts – Ungewöhnliches. Wenn mich diese Vollblütigen jagen, dann geben sie sich dabei bisher aber keine große Mühe. Doch dann überfiel mich eine düstere Erinnerung: Zalens frühere Besorgnis über den Zündmechanismus des Wagens. Ich war Antiquar und Philanthrop, kein Autodieb. Wenn der Wagen ein Zündschloss hat, dann habe ich keine andere Wahl, als Onderdonks halb garen Körper aus dem Räucherfass zu holen und in seinen Taschen nach dem Schlüssel zu suchen … Ich holte meine Taschenlampe heraus, schloss mein Zielauge, um dessen Nachtsicht zu bewahren, dann, bloß für einen Sekundenbruchteil, schaltete ich vor dem Armaturenbrett die Lampe ein.

Mir rutschte das Herz in die Hose.

Die Lampe beleuchtete den Schlitz eines Zylinderschlosses, das in das Armaturenbrett eingebaut war.

»Hier ist der Schlüssel, Mr. Morley«, sagte auf einmal eine leise Stimme direkt neben dem offenen Wagenfenster. War mein Herz eben noch in tiefster Verzweiflung versunken, hüpfte es mir nun vor Schreck beinahe aus dem Mund.

Es war Klein Walter, der neben dem Wagen stand.

»In Himmels Namen, Junge!«, flüsterte ich zurück. »Deinetwegen wäre mein Herz fast stehen geblieben!« Doch dann wanderte mein Blick zu seiner jugendlichen Hand, und ich stellte fest, dass seine Behauptung zutraf. »Wie … Wie in aller Welt hast du …«

Ein leicht stolzes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. »Mr. Onderdonk hat den Schlüssel immer unter dem Fußabtreter aufbewahrt; ich habe ihn den oft dort hinlegen sehen, Sir, während meiner Wanderungen durch den Wald.«

»Du hast nicht nur gute Manieren«, lobte ich ihn, »sondern bist auch noch tüchtig.« Ich blinzelte. »Aber du hast doch eben noch geschlafen.«

»Ich bin aufgewacht und habe Sie und meine Mom reden gehört, deshalb bin ich auf eigene Faust hierher gekommen, um den Schlüssel für Sie zu holen.«

Das war freilich ein Geschenk, mit dem ich niemals hätte rechnen können. »Du bist ein guter Junge, Walter, und ein sehr tapferer noch dazu. Doch hier draußen ist es über die Maßen gefährlich. Weißt du über …« Ich wusste nicht, wie ich es sagen sollte.

»Ich weiß alles über die Vollblütigen, Sir. Ich habe sie ein paar Mal gesehen, aber heute Nacht habe ich eine ganze Menge von ihnen gesehen.«

Und das ist meine Schuld, rief ich mir ins Gedächtnis. Walters Mut war lobenswert, aber er brachte ihn durchaus in große Gefahr. »Steig in den Wagen zu mir, Walter. Wir holen jetzt deine Mutter ab, dann nehme ich euch beide mit und ihr könnt bei mir leben.«

»Aber Sie werden Hilfe brauchen, Sir«, entgegnete er. »Es wäre am besten, wenn ich auf der Ladefläche sitze. Ich bekomme kein gutes Ziel, wenn ich mit Ihnen im Wagen sitze.«

»Kein gutes Ziel? Walter, wovon redest du?«

Er hob seinen selbst gebauten Bogen hoch. »Sie könnten versuchen, die Straße zum Haus zu versperren, aber ich bin ein ziemlich guter Schütze.«

Unwillkürlich musste ich grinsen. »Bursche, du bist bestimmt der mutigste Junge, der mir je begegnet ist, aber ich befürchte, Pfeile mit Saugnäpfen werden gegen die Vollblütigen nicht viel ausrichten können.«

Dann zeigte er mir eine Handvoll echter Pfeile.

»Sehen Sie, Mr. Morley? Wir sollten lieber losfahren, bevor sie kommen.«

Was konnte ich solch jugendlichem Genie und bereitwilligem Wagemut entgegenhalten? »Gut, Walter, steig hinten ein und sei wachsam … Und drück uns die Daumen, dass diese alte Kiste anspringt.«

Der Junge sprang hinten auf. Mit geweiteten Augen und zitternden Lippen steckte ich den Schlüssel ins Schloss, sprach ein Gebet, das jedoch deprimierend kraftlos schien, und drehte den Schlüssel herum.

Der verrostete Koloss ruckelte und stieß ein lautes, metallisches Jaulen aus, bei dem mir die Nackenstränge rausstanden, sprang dann aber rumpelnd an. Es knirschte bei meinem Versuch, den ersten Gang einzulegen, und ich biss die Zähne zusammen, dann setzten wir uns endlich in Bewegung. Der Wagen war tatsächlich fahrtüchtig, doch der Krach, den er beim Starten gemacht hatte, musste bestimmt noch in der Stadt zu hören gewesen sein.

Ich fuhr los und wendete schleunigst, sodass der Kies und die Austernschalen unter den abgenutzten Reifen knirschten. »Pass gut auf!«, rief ich Walter zu, als ich über die Notwendigkeit nachdachte, die Frontscheinwerfer ausgeschaltet zu lassen. »Ja, Mr. Morley!«, erwiderte der Junge, und als ich durch das Loch, in dem sich einst eine Glasscheibe befunden hatte, nach hinten blickte, sah ich, dass der Junge sich auf der Ladefläche postiert hatte und seinen primitiven Bogen bereithielt. Mir wurde bewusst, dass ich in seinem Alter nicht ein Zehntel seines Muts besessen hatte. Ich werde ihn großziehen, als wäre er mein eigener Sohn, schwor ich, und ich werde der Vater sein, den er nie hatte, und dasselbe gilt auch für Marys Baby … Rostige Federn knirschten, als ich das archaische Vehikel über die zerfurchte Straße Richtung Stadt steuerte. Der Mond schien sein Licht in den wenigen Sekunden, in der die Straße uns preisgab, derart auf uns zu versprühen, dass die Straße selbst sowie die Bäume und die Vegetation an deren Rand zu schillern schienen, und das ließ mich an Lovecrafts Meisterwerk Die Farbe aus dem All denken, von dem es heißt, es sei seine Lieblingsgeschichte gewesen. Auch wenn der Grad meiner Angst durch die Bloßstellung sprunghaft anstieg, ermöglichte das Licht mir, die Straße in beide Richtungen zu überblicken. Doch wo ich erwartet hatte, Feinde zu Gesicht zu bekommen, war erneut nichts dergleichen zu entdecken.

Seltsam, dachte ich. Es sei denn, sie liegen irgendwo auf der Lauer …

Der altersschwache Wagen schaukelte, als ich das Lenkrad drehte und ihn auf den langen, holperigen Waldweg steuerte, der uns zum Haus führen würde. Auf einmal wurden wir von der Dunkelheit verschluckt, die nur hin und wieder vom Mondlicht durchbrochen wurde; die Kronen der Bäume verschmolzen über dem Weg beinahe miteinander und verwandelten unsere Fahrstrecke in eine Art Tunnel. Ich musste die Geschwindigkeit wegen der reduzierten Sicht jetzt deutlich heruntersetzen.

Walters blasses Gesicht spähte durch das Loch in der Rückwand herein. »Mr. Morley? Vielleicht sollten Sie die Scheinwerfer einschalten. Ich kann rein gar nichts sehen.«

Die Lichtdisziplin eines Soldaten kannte gewiss taktische Ausnahmen, ganz abgesehen davon war ich nicht im Entferntesten so etwas wie ein Soldat. Nur ein reicher Waschlappen, rief ich mir Zalens Beleidigung ins Gedächtnis, doch er hatte recht. Ich wähnte, ihn nun über mich lachen zu hören, selbst da sein verhasster Kopf derzeit gegart wurde. Doch jetzt würde ich ein Soldat sein müssen, und ich würde Risiken eingehen müssen, um erfolgreich zu sein. Ich befolgte den Rat des Jungen und schaltete die Scheinwerfer ein.

Der Junge kreischte auf, und ich tat es ihm nach.

Gestalten stürmten aus dem mit Brombeersträuchern gesäumten Wald hervor. Bevor ich auch nur zum Zielen kam, sah ich eine seltsam gekleidete Kreatur – jedoch eine mit einem eindeutig menschlichen Gesicht – sich vorwärtsstürzen, dann jedoch zurückschrecken; ihre Hand schoss an ihr Gesicht, wo ein Pfeil sie direkt in den offenen Mund getroffen hatte.

»Guter Schuss, Walter!«

Als eine Hand – eine menschliche Hand, nicht die schwimmhäutige Extremität, die ich erwartet hatte – zum Beifahrerfenster hereinkam, richtete ich die Hand mit der Pistole auf sie und dann …

PENG!

Der Glückstreffer erwischte den Eindringling direkt am Adamsapfel. Schäumendes Blut schoss aus der Wunde, als der mit einer Robe bekleidete Angreifer schrie.

Und es war ein Mann, erkannte ich. Mr. Wraxall, der Restaurantbesitzer …

Das waren nicht die monströsen Vollblütigen, mit denen ich gerechnet hatte, dass sie mir auflauerten, sondern Stadtbewohner, alle in jener Robe mit dem esoterischen Saum gekleidet. Weitere Gesichtsfetzen kamen zum Vorschein: der Rezeptionist, der Wartungstechniker, der Mann aus dem Restaurant, der dort mit seiner Geliebten gegessen hatte, und andere. Als zwei weitere von links und rechts auf uns zuschossen, traf Walter den einen an der Schulter; dieser blieb unklugerweise stehen und brüllte dann, als ihn die Räder des Wagens unter das Chassis zogen. Der zweite Angreifer versuchte, in mein offenes Fenster zu klettern, woraufhin ich ihm einfach in den Kopf schoss. Er fiel nach hinten, doch nicht, bevor ich das Gesicht unter der Kapuze erkennen konnte: Dr. Anstruther.

Sünde oder nicht, ich kicherte über den Tod dieses Schuftes, und ich betrachtete die Kleckse seiner Hirnmasse auf mein Hemd als eine ganz besondere Ehrenmedaille.

Der restliche Weg bis zum Haus war frei.

Wo ich mit erheblichem Widerstand gerechnet hatte, waren wir nur auf halbherzige Angriffsversuche gestoßen. Das flache Haus kam jetzt in den Sichtbereich der Scheinwerfer.

»Das war fast schon zu einfach, Walter«, rief ich nach hinten. »Und das macht mir ein bisschen Sorge.« Ich schaltete den Motor ab und hüpfte raus. »Wir müssen uns jetzt beeilen und deine Mutter holen. Aufgrund der Motorengeräusche und der Schüsse werden bald mehr hinter uns her sein …«

Ich ging zur Ladefläche, um Walter herunterzuhelfen, aber …

Oh, großer Gott, nein …

Die einzigen Objekte, die hier Platz belegten, waren der jämmerliche Bogen des Jungen und der letzte Benzinkanister.

Ich blickte hinüber in den Wald, aber sah und hörte nichts.

Wie konnte ich das nur geschehen lassen?, verdammte ich mich. Das Stadtkollektiv hat Walter von der Ladefläche geholt … und ihn weggeschafft …

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