ERSTER TEIL Kleine kahlköpfige Ärzte

Es existiert ein Abgrund zwischen denen, die schlafen können, und denen, die es nicht können. Das ist eine der großen Unterscheidungen der menschlichen Rasse.

Iris Murdoch Nonnen und Soldaten


Kapitel 1

Etwa einen Monat nach dem Tod seiner Frau litt Ralph Roberts zum erstenmal in seinem Leben an Schlaflosigkeit.

Das Problem war anfangs noch unerheblich, aber es wurde immer schlimmer. Sechs Monate nach den ersten Störungen seines bis dato ungetrübten Schlafzyklus' hatte Ralph einen Zustand des Elends erreicht, den er kaum aussprechen, geschweige denn akzeptieren konnte. Gegen Ende des Sommers 1993 fragte er sich allmählich, wie es sein würde, seine verbleibenden Jahre auf Erden mit aufgedunsenen Augen in einem Nebel des Wachseins zu verbringen. Selbstverständlich würde es nicht soweit kommen, sagte er sich, es kommt nie soweit.

Aber stimmte das? Er wußte es wirklich nicht, das war das Teuflische daran, und die Bücher zum Thema, die ihm Mike Hanion in der öffentlichen Bibliothek von Derry gab, halfen ihm nicht weiter. Es gab mehrere über Schlafstörungen, aber sie schienen einander zu widersprechen. Manche nannten Schlaflosigkeit ein Symptom, andere eine Krankheit, und mindestens eines einen Mythos. Das Problem ging aber noch weiter; soweit Ralph den Büchern entnehmen konnte, schien sich niemand hundertprozentig sicher zu sein, was Schlaf überhaupt war, wie er funktionierte und was er bewirkte.

Er wußte, er sollte aufhören, den Amateurforscher zu spielen, und zum Arzt gehen, aber das fiel ihm überraschend schwer. Er vermutete, daß er immer noch einen Groll gegen Dr. Litchfield hegte. Immerhin war es Litchfield gewesen, der Carolyns Gehirntumor anfänglich als nervöse Kopfschmerzen abgetan hatte (und Ralph vermutete, daß Litchfield, Zeit seines Lebens Junggeselle, tatsächlich geglaubt haben könnte, es handle sich bei Carolyns Kopfschmerzen lediglich um einen gelinden Anfall von Hitzewallungen), und er war es auch gewesen, der sich medizinisch gesehen so rar machte, wie er nur konnte, als Carolyns wahre Diagnose schließlich feststand. Ralph war überzeugt, wenn er den Mann unverblümt danach fragen würde, würde Litchfield sagen, daß er den Fall an Jamal abgegeben hatte, den Spezialisten... alles ganz ordentlich und vorschriftsmäßig. Ja. Aber Ralph hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Litchfield bei den wenigen Gelegenheiten im Zeitraum zwischen Carolyns ersten Anfällen letzten Juli und ihrem Tod im März, wo er den Arzt gesehen hatte, direkt in seine Augen zu schauen, und er glaubte, eine Mischung aus Unbehagen und Schuldgefühlen in diesen Augen zu erkennen. Es waren die Augen eines Mannes, der mit aller Gewalt zu vergessen suchte, daß er Scheiße gebaut hatte. Ralph vermutete, er konnte Litchfield nur deshalb ansehen, ohne ihm die Fresse polieren zu wollen, weil ihm Dr. Jamal versichert hatte, eine frühere Diagnose hätte wahrscheinlich nichts ändern können; als Carolyns Kopfschmerzen anfingen, war der Tumor schon ziemlich groß gewesen und hatte zweifellos schon kleine Salven bösartiger Zellen in andere Bereiche des Gehirns geschickt wie tödliche kleine Care-Pakete.

Ende April war Dr. Jamal weggezogen, um eine Praxis im südlichen Connecticut aufzubauen, und Ralph vermißte ihn. Er glaubte, mit Dr. Jamal hätte er über seine Schlaflosigkeit reden können, und er glaubte auch, Jamal hätte ihm auf eine Weise zugehört, wie Litchfield es nicht wollte... oder konnte.

Im Spätsommer hatte Ralph genug über Schlaflosigkeit gelesen und wußte, daß der Typus, mit dem er geschlagen war, obwohl keineswegs selten, weitaus weniger häufig vorkam als die gewöhnliche langsame Schlaflosigkeit. Menschen, die nicht unter Schlaflosigkeit litten, befanden sich normalerweise sieben bis zwanzig Minuten nach dem Zubettgehen im ersten Schlaf Stadium. Langsame Schläfer dagegen brauchten manchmal bis zu drei Stunden, bis sie unter die Oberfläche eintauchten, und während normale Schlafende etwa fünfundvierzig Minuten nach dem Eindösen ins dritte Schlafstadium sanken (das in manchen Büchern Theta-Schlaf genannt wurde, wie Ralph herausfand), brauchten langsame Schläfer normalerweise noch einmal eine Stunde, um dorthin zu gelangen... und in vielen Nächten schafften sie es gar nicht. Sie erwachten unausgeruht, manchmal mit verschwommenen Erinnerungen an unangenehme, wirre Träume, und häufig mit dem Eindruck, daß sie die ganze Nacht wachgelegen hätten.

Nach Carolyns Tod litt Ralph zunächst an vorzeitigem Wiedererwachen. Er ging an den meisten Abenden nach den Nachrichten um elf Uhr ins Bett und schlief fast sofort ein, aber statt pünktlich um 6: j 5 Uhr zu erwachen, fünf Minuten bevor der Wecker klingelte, wachte er um sechs auf. Zuerst führte er das lediglich darauf zurück, daß er mit einer leicht vergrößerten Prostata und einem siebzig Jahre alten Nierenpaar leben mußte, aber er schien nie so dringend gehen zu müssen, wenn er aufwachte, und selbst wenn er das bißchen abgelassen hatte, das sich angesammelt hatte, konnte er nicht mehr einschlafen. Er lag einfach in dem Bett, in dem er so viele Jahre lang mit Carolyn gelegen hatte, und wartete darauf, daß es fünf vor sieben wurde (zumindest Viertel vor), damit er aufstehen konnte. Schließlich gab er sogar den Versuch auf, wieder einschlafen zu wollen; er lag einfach nur da, verschränkte die Hände mit den langen, leicht geschwollenen Fingern auf der Brust und sah mit Augen, die sich so groß wie Türknaufe anfühlten, zur schattigen Decke hinauf. Manchmal dachte er an Dr. Jamal da unten in Westport, der mit seinem sanften und tröstlichen indischen Akzent sprach und sich sein kleines Stück des amerikanischen Traums aufbaute. Manchmal dachte er an die Orte, die er und Carolyn in alten Zeiten besucht hatten, und einer, der ihm immer wieder einfiel, war ein heißer Nachmittag am Sand Beach in Bar Harbor, wo sie beide in Badesachen unter einem großen bunten Sonnenschirm an einem Picknicktisch gesessen, frittierte Muscheln gegessen, Budweiser aus Flaschen mit langen Hälsen getrunken und zugesehen hatten, wie Segelboote über den dunkelblauen Ozean dahinzogen. Wann war das gewesen? 1964? 1967? Spielte das eine Rolle? Wahrscheinlich nicht.

Die Veränderungen in seinem Schlafschema hätten an sich auch keine Rolle gespielt, wenn es dabei geblieben wäre; Ralph hätte sich nicht nur mit Wohlbehagen, sondern mit Dankbarkeit damit abgefunden. Alle Bücher, die er in diesem Sommer durchstöberte, schienen eine Weisheit des Volksmunds zu bestätigen, die er sein ganzes Leben lang gehört hatte - die Leute schliefen weniger, wenn sie älter wurden. Wenn eine Stunde Schlaf pro Nacht weniger der einzige Preis sein sollte, den er für das fragwürdige Vergnügen bezahlen mußte, »siebzig Jahre jung« zu sein, würde er ihn mit Freuden bezahlen und sich glücklich schätzen.

Aber es blieb nicht dabei. In der ersten Maiwoche erwachte Ralph um 5:15 Uhr durch das Zwitschern der Vögel. Ein paar Nächte lang versuchte er es mit Ohrenstöpseln, obwohl er von Anfang an bezweifelte, daß das funktionieren würde. Es waren nicht die gerade zurückgekehrten Vögel, die ihn weckten, auch nicht die vereinzelten Laster mit ihren Fehlzündungen auf der Harris Avenue draußen. Er hatte immer zu den Leuten gehört, die mitten in einer Marschkapelle schlafen konnten, und er glaubte nicht, daß sich daran etwas geändert hatte. Die Veränderung war in seinem Kopf vonstatten gegangen. Da drinnen befand sich ein Schalter, etwas drückte jeden Tag ein bißchen früher darauf, und Ralph hatte nicht die geringste Ahnung, wie er etwas dagegen tun konnte.

Im Juni schrak er wie ein Stehaufmännchen um 4:30, spätestens 4:34 Uhr aus dem Schlaf hoch. Und Mitte Juli - nicht ganz so heiß wie der Juli '92, aber immer noch heiß genug, recht schönen Dank - war er um vier Uhr wach. In diesen langen Nächten, in denen er zu wenig Platz in dem breiten Bett beanspruchte, wo er und Carolyn in so vielen heißen (und kalten) Nächten miteinander geschlafen hatten, überlegte er sich allmählich, daß das Leben zur Hölle werden würde, sollte der Schlaf sich endgültig von ihm verabschieden. Bei Tageslicht konnte er immer noch über die Vorstellung lachen, aber er fand einige schlimme Wahrheiten über F. Scott Fitzgeralds dunkle Nacht der Seele heraus, und den Hauptgewinn bekam folgende: Um 4:15 Uhr am Morgen scheint alles möglich zu sein. Alles.

Bei Tag konnte er sich einreden, daß er lediglich eine Veränderung seines Schlafrhythmus durchmachte, daß sein Körper auf ganz normale Weise auf eine Anzahl großer Veränderungen in seinem Leben reagierte, deren größte die Pensionierung und der Tod seiner Frau waren. Manchmal benutzte er das Wort »Einsamkeit«, wenn er über sein neues Leben nachdachte, aber er scheute vor dem gräßlichen Wort zurück, das mit »D« anfing, und versteckte es im tiefsten Fach seines Unterbewußtseins, wann immer es einen Augenblick in seinen Gedanken aufblitzte. Einsamkeit war okay. Depressionen waren es eindeutig nicht.

Vielleicht brauchst du mehr Bewegung, dachte er. Vielleicht solltest du Spazierengehen, wie letzten Sommer. Schließlich hast du ein ziemlich ereignisloses Leben geführt - du stehst auf, ißt Toast, liest ein Euch, siehst etwas fern, holst dir zum Mittagessen ein Sandwich gegenüber im Red Apple, beschäftigst dich ein bißchen im Garten, gehst in die Bibliothek oder besuchst Helen und das Baby, wenn sie zu Hause sind, ißt zu Abend, sitzt auf der Veranda und besuchst eventuell McGovern oder Lois Chasse eine Weile. Und dann? Du liest noch ein bißchen, siehst noch ein bißchen fern, spülst das Geschirr, gehst ins Bett. Ereignislos. Langweilig. Kein Wunder, daß du so früh aufwachst.

Nur war das Quatsch. Sein Leben hörte sich ereignislos an, richtig, kein Zweifel, aber in Wirklichkeit war es das nicht. Der Garten war ein gutes Beispiel. Was er da draußen tat, würde ihm nie irgendwelche Preise einbringen, aber es war auch weitaus mehr als nur »herumtüfteln.« An den meisten Nachmittagen jätete er, bis Schweiß einen dunklen Baumumriß auf dem Rücken des Hemds und feuchte Ringe unter den Achseln bildete, und wenn er wieder ins Haus ging, zitterte er nicht selten vor Erschöpfung. »Strafe« wäre wahrscheinlich ein treffenderes Wort gewesen als »tüfteln«, aber Strafe wofür? Daß er vor der Dämmerung aufwachte?

Ralph wußte es nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Die Arbeit im Garten beanspruchte einen erheblichen Teil des Nachmittags, sie lenkte ihn von Dingen ab, über die er lieber nicht nachdenken wollte, und das reichte aus, die schmerzenden Muskeln und die gelegentlich vor seinen Augen tanzenden schwarzen Punkte zu rechtfertigen. Er begann seine ausgiebigen Ausflüge in den Garten kurz nach dem vierten Juli und setzte sie den ganzen August hindurch fort, lange nachdem das Frühgemüse geerntet und das Spätgemüse durch die Dürre hoffnungslos vertrocknet war.

»Du solltest damit aufhören«, sagte Bill McGovern eines Abends zu ihm, als sie auf der Veranda saßen und Limonade tranken. Es war Mitte August, und Ralph wachte jeden Morgen gegen 3:30 Uhr auf. »Es scheint abträglich für deine Gesundheit zu sein. Schlimmer, du siehst wie ein Irrer aus.«

»Vielleicht bin ich ein Irrer«, antwortete Ralph kurz angebunden, und sein Tonfall oder der Ausdruck in seinen Augen mußten überzeugend gewesen sein, denn McGovem wechselte das Thema.

2

Er fing wieder an spazierenzugehen - nicht die Marathons von 1992, aber normalerweise schaffte er zwei Meilen täglich, wenn es nicht regnete. Seine übliche Route führte ihn zum pervers benannten Up-Mile Hill, zur öffentlichen Bibliothek von Derry und dann zu Back Pages, einem Antiquariat und Zeitschriftenladen an der Ecke Witcham und Main.

Back Pages stand neben einem vollgestopften Trödlerladen namens Secondhand Rose, Secondhand Clothes, und als er eines Tages im August seines Mißvergnügens an diesem Geschäft vorbeiging, sah Ralph ein neues Plakat zwischen veralteten Ankündigungen von Bohnenmahlzeiten und uralten Kirchentreffen - so aufgeklebt, daß es etwa die Hälfte eines vergilbten Pat-Buchanan-for-President-Plakats verdeckte.

Die Frau auf den beiden Fotos im oberen Teil des Plakats war eine hübsche Blondine Ende Dreißig oder Anfang Vierzig, aber der Stil der Fotos - ernste Totale links, ernstes Profil rechts, bei beiden ein nüchterner weißer Hintergrund - war so beunruhigend, daß Ralph wie angewurzelt stehenblieb. Auf den Fotos sah die Frau aus, als gehörte sie an die Wand eines Postamts oder in ein Fernseh-Dokudrama... und das war, wie der Text des Plakats deutlich machte, kein Zufall.

Die Fotos hatten seine Aufmerksamkeit erweckt, aber der Name der Frau hielt ihn fest.

GESUCHT WEGEN MORDES SUSAN EDWINA DAY stand in großen schwarzen Buchstaben am oberen Rand. Und unter den simulierten Fahndungsfotos, in Rot:

BLEIB AUS UNSERER STADT WEG!

Ganz unten auf dem Plakat stand noch eine Zeile Kleingedrucktes. Ralphs Nahsicht hatte seit Carolyns Tod ziemlich nachgelassen - war mit Pauken und Trompeten zum Teufel gegangen wäre vielleicht ein zutreffenderer Ausdruck gewesen -, daher mußte er sich nach vorne beugen, bis seine Stirn die schmutzige Scheibe von Secondhand Rose, Secondhand Clothes berührte, bevor er sie entziffern konnte:

Mit Unterstützung des Maine Life-Watch Komitees.

Weit hinten in seinem Kopf flüsterte eine Stimme: Hey, hey, Susan Day! How many kids did you kill today?

Susan Day, fiel Ralph wieder ein, war eine politische Aktivistin entweder aus New York oder aus Washington, eine Frau mit schneller Zunge, die Taxifahrer, Friseure und Bauarbeiter mit Helmen regelmäßig zum Wahnsinn trieb. Aber er konnte nicht sagen, warum ihm gerade dieser spezielle Knittelvers in den Sinn gekommen war; er erinnerte ihn an irgend etwas, das ihm nicht einfallen wollte. Vielleicht wandelte sein Verstand einfach nur den alten Protestspruch aus den sechziger Jahren ab, der gelautet hatte: Hey, hey, LBJ! How many kids did you kill today?

Nein, das ist es nicht, dachte er. Nahe dran, aber kein Treffer. Es war...

Kurz bevor sein Gehirn den Namen Ed Deepneau aushusten konnte, sagte eine Stimme fast unmittelbar hinter ihm: »Erde an Ralph, Erde an Ralph, bitte kommen, Ralphie-Baby!«

Ralph wurde aus seinen Gedanken geschreckt und drehte sich um. Er stellte erschrocken und amüsiert fest, daß er fast im Stehen eingeschlafen war. Herrgott, dachte er, man weiß nie, wie wichtig Schlaf ist, bis man keinen mehr bekommt. Dann kippt auf einmal der Boden, und alle Ecken werden irgendwie rund.

Es war Hamilton Davenport, der Inhaber von Back Pages, der ihn angesprochen hatte. Er bestückte den Bibliothekswagen, den er vor seinem Geschäft stehen hatte, mit Taschenbüchern in grellen Umschlägen. Die alte Maiskolbenpfeife - für Ralph hatte sie immer wie der Schlot eines Modellbaudampfers ausgesehen - steckte in seinem Mundwinkel und stieß kleine Wölkchen blauen Rauchs in die heiße, klare Luft aus. Winston Smith, sein alter grauer Kater, saß in der offenen Tür des Geschäfts und hatte den Schwanz um die Pfoten gewickelt. Er sah Ralph mit gleichgültigen gelben Augen an, als wollte er sagen: Du glaubst, daß du weißt, wie es ist, alt zu sein? Ich bin hier, um dir zu beweisen, du hast keinen blassen Schimmer, wie es ist, alt zu sein.

»Mann, Ralph«, sagte Davenport. »Ich muß deinen Namen mindestens dreimal gerufen haben.«

»Ich schätze, ich war geistesabwesend«, sagte Ralph. Er ging an dem Bibliothekswagen vorbei, lehnte sich an den Türrahmen (Winston Smith behielt seinen Platz mit königlicher Gleichgültigkeit bei) und nahm die beiden Zeitungen, die er jeden Tag kaufte: den Boston Globe und USA Today. Dank Pat, dem Zeitungsjungen, wurde die Derry News direkt ins Haus geliefert. Er erzählte den Leuten manchmal, daß er eine der drei Zeitungen nur zur Erheiterung las, aber er hatte sich nie entscheiden können, welche das war. »Ich habe in...« Er verstummte, als ihm Ed Deepneaus Gesicht einfiel. Von Ed hatte er das garstige kleine Lied im letzten Sommer gehört, draußen am Flughafen, und es war kein Wunder, daß er eine Weile gebraucht hatte, bis er die Erinnerung ausgegraben hatte. Ed Deepneau war der letzte Mensch auf der Welt, von dem man so etwas erwartete.

»Ralphie?« sagte Davenport. »Du hast gerade wieder abgeschaltet.«

Ralph blinzelte. »Oh, entschuldige. Ich habe in letzter Zeit nicht besonders gut geschlafen, wollte ich sagen.«

»Scheißspiel... aber es gibt schlimmere Probleme. Trink ein Glas warme Milch und hör dir eine halbe Stunde, bevor du ins Bett gehst, ruhige Musik an.«

Ralph hatte allmählich festgestellt, daß jeder in Amerika offenbar ein Privatrezept gegen Schlaflosigkeit hatte, eine Art Schlafzauber, der seit Generationen weitergereicht wurde wie die Familienbibel.

»Bach ist gut, Beethoven, und William Ackerman ist auch nicht schlecht. Aber der wahre Trick...« Davenport hob beschwörend einen Finger, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, »... besteht darin, während dieser halben Stunde nicht vom Sessel aufzustehen. Um nichts auf der Welt. Geh nicht ans Telefon, zieh den Hund nicht auf und laß den Wecker nicht raus, komm nicht auf die Idee, dir die Zähne zu putzen... nichts! Und wenn du dann ins Bett gehst... bumm! Weg wie nichts!«

»Und wenn man in seinem Lieblingssessel sitzt und plötzlich feststellt, daß einen die Natur ruft?« fragte Ralph. »Das kann ziemlich schnell gehen, wenn man in meinem Alter ist.«

»Dann mach in die Hose«, antwortete Davenport ohne mit der Wimper zu zucken und fing an zu lachen. Ralph lächelte, aber mehr aus Pflichtgefühl. Seine Schlaflosigkeit war mittlerweile kein bißchen spaßig mehr für ihn. »In die Hose!« prustete Harn. Er schlug auf den Bibliothekswagen und schüttelte den Kopf.

Ralph sah auf die Katze hinunter. Winston Smith erwiderte den Blick gelassen, und für Ralph schienen die ruhigen gelben Augen zu sagen: Ja, er ist ein Trottel, aber er ist mein Trottel.

»Nicht schlecht, hm? Hamilton Davenport, der Meister der schlagfertigen Antwort. Mach in die...« Er schnaubte wieder vor Lachen, schüttelte den Kopf und nahm die beiden Dollarscheine, die Ralph ihm entgegenstreckte. Er steckte sie in die Tasche seiner kurzen roten Schürze und gab etwas Wechselgeld heraus. »Kommt das hin?«

»Auf jeden Fall. Danke, Harn.«

»Hm-hmm. Spaß beiseite, versuch das mit der Musik. Es funktioniert wirklich. Glättet die Hirnwellen oder sowas.«

»Mach ich.« Und das Vertrackte daran war, er würde es wahrscheinlich ausprobieren, so wie er schon Mrs. Rapaports Zitrone-und-heißes-Wasser-Rezept und Shawna McClures Rat probiert hatte, wie er sein Denken klären könnte, indem er seine Atmung verlangsamte und sich auf das Wort cool konzentrierte (nur wenn Shawna das Wort aussprach, hörte es sich wie cuhhhh-ooooooooooool an). Wenn man es mit einer langsamen, aber unbarmherzigen Erosion seines gesunden Schlafs zu tun hatte, sah jedes Hausmittel gut aus.

Ralph wollte sich abwenden, überlegte es sich dann aber anders. »Was ist mit diesem Plakat nebenan?«

Harn Davenport rümpfte die Nase. »Dan Daltons Laden? Da schau ich überhaupt nicht rein, wenn es sich vermeiden läßt. Verdirbt mir den Appetit. Hat er etwas Neues und Ekelerregendes im Schaufenster?«

»Ich glaube, es ist neu - es ist nicht so vergilbt wie die anderen, und außerdem ist kaum Fliegendreck darauf. Sieht aus wie ein Steckbrief, aber das Plakat zeigt Susan Day.«

»Susan Day auf einem - verflucht!«Er warf einen finsteren, humorlosen Blick auf das Geschäft nebenan.

»Was ist sie, Präsidentin der National Organization of Women, oder so?«

»Ex-Präsidentin und Gründerin von Sisters in Arms. Autorin von Der Schatten meiner Mutter und Lilien im Tal - das ist eine Studie über geprügelte Frauen, und warum so viele sich weigern, die Männer zu verpfeifen, die sie prügeln. Ich glaube, dafür hat sie den Pulitzerpreis gewonnen. Susie Day ist augenblicklich eine der drei oder vier politisch einflußreichsten Frauen in Amerika, und sie kann auch so gut schreiben, wie sie denkt. Dieser Clown weiß, daß ich eine ihrer Petitionen gleich neben der Ladenkasse liegen habe.« »Was für Petitionen?«

»Wir versuchen, sie zu einem Vortrag hierherzuholen«, sagte Davenport. »Du weißt doch, daß die Recht-auf-Leben-Fraktion letztes Weihnachten einen Bombenanschlag auf Woman-Care versucht hat, oder?«

Ralph sah im Geiste argwöhnisch in die schwarze Grube, in der er Ende 1992 gelebt hatte, und sagte: »Nun, ich erinnere mich, daß die Polizei einen Mann mit einem Kanister Benzin auf dem Parkplatz des Krankenhauses geschnappt hat, aber ich wußte nicht... «

»Das war Charlie Pickering. Er ist Mitglied von Daily Bread, einer der Recht-auf-Leben-Gruppen, die da draußen die Streikposten am Marschieren halten«, sagte Davenport. »Sie haben ihn dazu angestiftet - glaub mir. Aber dieses Jahr werden sie sich nicht mit Benzin abgeben; sie wollen den Stadtrat dazu bringen, die Bezirksvorschriften zu ändern und Woman-Care einfach rauszudrängen. Und möglicherweise gelingt ihnen das auch. Du kennst ja Derry, Ralph - es ist nicht gerade eine Hochburg des Liberalismus.«

»Nein«, sagte Ralph mit einem schwachen Lächeln. »Das ist es nie gewesen. Und Woman-Care ist eine Abtreibungsklinik, oder nicht?«

Dave warf ihm einen ungeduldigen Blick zu und nickte mit dem Kopf in Richtung von Secondhand Rose. »So sagen Arschlöcher wie der da dazu«, sagte er, »nur benutzen sie lieber das Wort Fabrik statt Klinik. Sie übersehen alles andere, das Woman-Care macht.« Für Ralph hörte sich Davenport ein wenig wie der Fernsehsprecher an, der zwischen dem Sonntagnachmittagsfilm laufmaschenfreie Strumpfhosen anpries. »Sie machen Familienberatung, sie kümmern sich um mißbrauchte Frauen und Kinder, und sie leiten ein Frauenhaus drüben an der Stadtgrenze von Newport. Sie haben ein Hilfszentrum für Vergewaltigungsopfer im städtischen Gebäude beim Krankenhaus und eine Telefonbetreuung rund um die Uhr für vergewaltigte und mißhandelte Frauen. Kurz gesagt, sie stehen für alles, bei dem Marlboro-Männer wie Dalton Backsteine scheißen.«

»Aber sie machen Abtreibungen«, sagte Ralph. »Deshalb die Demonstranten, richtig?«

Ralph kam es so vor, als würden seit Jahren Demonstranten vor dem flachen, unscheinbaren Backsteingebäude auf und ab gehen, in dem Woman-Care untergebracht war. Ihm kamen sie immer zu blaß vor, zu fanatisch, zu mager oder zu fett, zu überzeugt, daß sie Gott auf ihrer Seite hatten. Auf den Transparenten, die sie trugen, standen Sachen wie AUCH DIE UNGEBORENEN HABEN RECHTE oder LEBEN, WAS FÜR EINE WUNDERBARE ENTSCHEIDUNG oder der unsterbliche Klassiker ABTREIBUNG IST MORD! Mehrmals waren Frauen, die die Klinik aufgesucht hatten - die in der Nähe des Derry Home lag, aber nichts damit zu tun hatte, glaubte Ralph - mit Plastikbeuteln beworfen worden, in denen sich rot gefärbter Sirup Marke Karo befand.

»Ja, sie führen Abtreibungen durch«, sagte Harn. »Stört dich etwas daran?«

Ralph dachte an die vielen Jahre, die er und Carolyn versucht hatten, ein Baby zu bekommen - Jahre, die nichts weiter als mehrere Fehlalarme und eine einzige katastrophale Fehlgeburt nach fünf Monaten hervorgebracht hatten - und zuckte die Achseln. Plötzlich schien der Tag zu heiß und seine Beine zu müde zu sein. Der Gedanke an den Rückweg - besonders die Strecke den Up-Mile Hill hinauf - hing im hinteren Teil seines Verstands wie etwas, das an einer Leine mit Angelhaken aufgehängt worden ist. »Herrgott, ich weiß nicht«, sagte er. »Ich wünschte mir nur, die Leute wären nicht immer so... so schrill.«

Davenport grunzte, ging zum Schaufenster seines Nachbarn und betrachtete das Plakat mit dem getürkten Steckbrief. Während er es studierte, kam ein großer, blasser Mann mit Ziegenbärtchen - die absolute Antithese des Marlboro-Manns, hätte Ralph gesagt - aus den dunklen Tiefen von Secondhand Rose wie ein Vaudevillegespenst, das ein bißchen schimmlig an den Rändern geworden ist. Er sah, was Davenport studierte, worauf ein knappes, mißfälliges Lächeln seine Mundwinkel kräuselte. Ralph fand, es war die Art von Lächeln, die einen Mann ein paar Zähne oder eine gebrochene Nase kosten konnte. Besonders an einem knallheißen Tag wie heute.

Davenport deutete auf das Plakat und schüttelte heftig den Kopf.

Daltons Lächeln wurde breiter. Er machte eine Geste mit den Händen zu Davenport - Wen interessiert einen Scheißdreck, was du denkst? sagte die Geste - und verschwand wieder in den Tiefen seines Ladens.

Davenport kam zu Ralph zurück, und rote Flecken brannten auf seinen Wangen. »Das Bild dieses Mannes müßte im Lexikon direkt neben Arsch abgebildet sein«, sagte er.

Genau das, was er von dir denkt, könnte ich mir vorstellen, dachte Ralph, sagte es aber selbstverständlich nicht.

Davenport blieb vor dem Bibliothekswagen mit Taschenbüchern stehen, steckte die Hände unter der roten Schürze in die Taschen und betrachtete verdrossen das Plakat von (hey hey)

Susan Day.

»Nun«, sagte Ralph, »ich sollte lieber wieder...«

Davenport riß sich aus seiner Verdrossenheit. »Geh noch nicht«, sagte er. »Unterschreib zuerst meine Petition, ja? Das würde meinen Morgen wieder etwas aufpolieren.«

Ralph trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Normalerweise lasse ich mich nicht in Konfrontationen wie diese hineinziehen... «

»Komm schon, Ralph«, sagte Davenport mit einer Seien-wir-doch-vernünftig-Stimme. »Wir sprechen nicht von Konfrontationen; es geht nur darum: Wir müssen dafür sorgen, daß die armen Irren von Daily Bread - und politische Neandertaler wie Dalton - nicht ein wirklich nützliches Frauenzentrum dichtmachen können. Ich verlange ja nicht von dir, daß du Versuche mit chemischen Kampfstoffen an Delphinen unterstützt.«

»Nein«, sagte Ralph. »Eindeutig nicht.«

»Wir hoffen, daß wir bis zum ersten September fünftausend Unterschriften an Susan Day schicken können. Wird wahrscheinlich nichts nützen - Derry ist nichts weiter als ein Fliegenschiß auf der Landkarte, und wahrscheinlich ist sie bis ins nächste Jahrhundert ausgebucht -, aber ein Versuch kann nicht schaden.«

Ralph überlegte sich, ob er Harn sagen sollte, daß die einzige Petition, die er unterschreiben wollte, eine an die Götter des Schlafs wäre, ihm die drei Stunden Ruhe in der Nacht wiederzugeben, die sie ihm gestohlen hatten, aber dann sah er dem Mann ins Gesicht und beschloß, es bleiben zu lassen.

Carolyn hätte diese verdammte Petition unterschrieben, dachte er. Sie hat Abtreibung nicht gutgeheißen, aber sie hat es auch nicht gutgeheißen, daß Männer nach Hause kommen, wenn die Bars schließen, und ihre Frauen und Kinder mit Fußbällen verwechseln.

Das war sicher richtig, aber es wäre nicht der Hauptgrund dafür gewesen, daß sie unterschrieben hätte; sie hätte es wegen der vagen Möglichkeit getan, einen authentischen Wirbelwind wie Susan Day persönlich und aus der Nähe zu sehen. Sie hätte es aus der tief verwurzelten Neugier getan, die wahrscheinlich ihr offenkundigster Charakterzug gewesen war - etwas so Starkes, daß nicht einmal der Hirntumor es hatte abtöten können. Zwei Tage vor ihrem Tod hatte sie die Kinokarte, die er als Lesezeichen benützte, aus dem Taschenbuch gezogen, das er auf ihrem Nachttisch hatte liegen lassen, weil sie wissen wollte, in welchem Film er gewesen war. Es war Eine Frage der Ehre mit Tom Cruise gewesen, und er war erstaunt und betroffen, wie sehr ihm die Erinnerung daran weh tat. Selbst heute tat sie noch weh wie der Teufel.

»Klar«, sagte er zu Ham. »Ich unterschreibe mit Vergnügen.«

»Prima!« rief Davenport und schlug ihm auf die Schulter. Der düstere Gesichtsausdruck wich einem Grinsen, aber Ralph fand, daß die Veränderung nicht unbedingt zum Besseren war. »Komm in meine Lasterhöhle!«

Ralph folgte ihm in den Laden, der nach Tabak roch und um neun Uhr morgen nicht besonders lasterhaft wirkte. Winston Smith floh vor ihnen und blieb nur einmal stehen, um sie mit seinen uralten gelben Augen anzusehen. Er ist ein Trottel, und du bist auch einer, schien dieser Abschiedsblick zu sagen. Unter den gegebenen Umständen war das eine Schlußfolgerung, der Ralph nicht unbedingt widersprechen wollte. Er klemmte seine Zeitungen unter den Arm, beugte sich über das linierte Blatt auf dem Tresen neben der Registrierkasse und unterschrieb die Petition, die Susan Day bat, nach Derry zu kommen und zur Verteidigung von Woman-Care zu sprechen.

Den Up-Mile Hill hinauf ging es besser, als er erwartet hatte, und als er die Kreuzung Witcham und Jackson überquerte, dachte er: Na also, das war ja gar nicht so schlimm, es war...

Plötzlich stellte er fest, daß seine Ohren klingelten und seine Beine unter ihm angefangen hatten zu zittern. Er blieb auf der anderen Seite der Witcham stehen und preßte eine Hand auf das Hemd. Er tonnte das Herz unmittelbar darunter schlagen spüren; es hämmerte mit einer unregelmäßigen Heftigkeit, die angsteinflößend war. Er hörte Papier rascheln und sah eine Werbebeilage aus dem Boston Globe fallen und schaukelnd in den Rinnstein fallen. Er wollte sich bücken, um sie aufzuheben, ließ es aber bleiben.

Keine gute Idee, Ralph - wenn du dich bückst, wirst du höchstwahrscheinlich hinfallen. Ich würde vorschlagen, du läßt die Beilage für die Straßenreinigung liegen.

»Ja, okay, gute Idee«, murmelte er und richtete sich wieder auf. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen wie ein surrealistischer Krähenschwarm, und einen Moment war Ralph überzeugt, er würde schließlich auf der Werbebeilage landen, egal was er tun oder lassen mochte.

»Ralph? Alles in Ordnung?«

Er schaute vorsichtig auf und erblickte Lois Chasse, die auf der anderen Seite der Harris Avenue und einen halben Block von dem Haus entfernt wohnte, das er sich mit Bill McGovern teilte. Sie saß auf einer der Bänke vor dem Strawford Park und wartete wahrscheinlich auf den Canal Street Bus, mit dem sie Richtung Innenstadt fahren konnte.

»Klar, bestens«, sagte er und setzte die Beine in Bewegung. Ihm war, als würde er durch Sirup waten, glaubte aber, daß er es bis zu der Bank schaffte, ohne eine allzu schlechte Figur abzugeben. Aber als er sich neben sie setzte, konnte er ein dankbares Stöhnen nicht unterdrücken.

Lois Chasse hatte große, dunkle Augen - die man »Spanish Eyes« genannt hatte, als Ralph noch ein Kind war -, und er wettete, daß sie in den Köpfen vieler junger Männer herumgespukt hatten, als Lois noch die High School besuchte. Sie waren immer noch der interessanteste Zug an ihr, aber Ralph gefiel der Ausdruck von Sorge nicht besonders, den er jetzt in ihnen sah. Das war... was? Ein bißchen zu gutnachbarlich für meinen Geschmack, war der erste Gedanke, der ihm einfiel, aber er war nicht sicher, ob das der richtige Gedanke war.

»Bestens«, wiederholte Lois.

»Klar doch.« Er holte das Taschentuch aus der Gesäßtasche, vergewisserte sich, daß es sauber war, und wischte sich damit über die Stirn.

»Ich hoffe, du nimmst mir meine Offenheit nicht übel, aber du siehst nicht bestens aus, Ralph.«

Ralph nahm ihr ihre Offenheit übel, wußte aber nicht, wie er es ihr sagen sollte.

»Du bist blaß, du schwitzt, und du bist ein Umweltverschmutzer.«

Ralph sah sie erstaunt an.

»Etwas ist aus deiner Zeitung gefallen. Ich glaube, es war eine Werbebeilage.«

»Tatsächlich?«

»Du weißt genau, daß es so war. Entschuldige mich einen Augenblick.«

Sie stand auf, ging über den Gehweg, bückte sich (Ralph stellte fest, daß ihre Hüften zwar ziemlich breit, ihre Beine aber noch bewundernswert straff für eine Frau waren, die mindestens achtundsechzig sein mußte) und hob die Werbebeilage auf. Sie kam damit zur Bank zurück und setzte sich.

»Da«, sagte sie. »Jetzt bist du kein Umweltverschmutzer mehr.«

Er mußte unwillkürlich lächeln. »Danke.«

»Nichts zu danken. Ich kann den Maxwell House-Coupon brauchen. Und den für Hamburger Helper und Diet Coke. Ich bin so fett geworden seit Mr. Chasse gestorben ist.«

»Du bist kein bißchen fett, Lois.«

»Danke, Ralph, du bist der vollendete Gentleman, aber wechseln wir das Thema nicht. Du hast einen Schwindelanfall gehabt, richtig? Du bist sogar fast umgekippt.«

»Ich habe nur Luft geholt«, sagte er steif und beobachtete einen Haufen Kinder, die vorne im Park Baseball spielten. Sie gaben sich echt Mühe, lachten und wuselten herum. Ralph beneidete sie um ihre funktionstüchtigen Klimaanlagen.

»Luft geholt, was?«

»Ja.«

»Nur Luft geholt.«

»Lois, du hörst dich wie eine kaputte Schallplatte an.«

»Nun, die kaputte Schallplatte wird dir etwas sagen, okay? Du bist verrückt, daß du bei dieser Hitze den Up-Mile Hill rauf gehst. Wenn du Spazierengehen willst, warum dann nicht wie früher auf der Extension, wo es flach ist?«

»Weil mich das an Carolyn erinnert«, sagte er, und ihm gefiel der steife, fast grobe Ton nicht, mit dem es herauskam, aber er konnte nichts dagegen tun.

»O Scheiße«, sagte sie und berührte kurz seine Hand. »Tut mir leid.«

»Ist schon gut.«

»Nein, ist es nicht. Ich hätte es wissen müssen. Aber wie du gerade ausgesehen hast, das ist auch nicht gut. Du bist keine zwanzig mehr, Ralph. Nicht einmal vierzig. Ich will nicht sagen, daß du nicht gut in Form bist - jeder kann sehen, daß du für jemand in deinem Alter toll in Form bist -, aber du solltest besser auf dich achten. Carolyn hätte gewollt, daß du besser auf dich achtgibst.«

»Ich weiß«, sagte er, »aber ich bin wirklich....... in Ordnung, wollte er sagen, aber dann sah er von seinen Händen auf in ihre dunklen Augen, und was er da sah, machte es ihm einen Augenblick unmöglich, weiterzusprechen. Auch in ihren Augen stand die Erschöpfung geschrieben, sah er... oder war es Einsamkeit? Vielleicht beides. Auf jeden Fall war das nicht das einzige, das er sah. Er sah auch sich selbst. Du bist albern, sagten die Augen, in die er sah. Vielleicht sind wir es beide. Du bist siebzig und Witwer, ich bin achtundsechzig und Witwe. Wie lange sotten wir abends noch auf deiner Veranda sitzen - mit Bill McGovern als ältester Anstandsdame der Welt? Ich hoffe, nicht mehr allzu lange, weil wir beide nicht mehr gerade frisch von der Stange sind.

»Ralph?« sagte Lois plötzlich besorgt. »Alles in Ordnung?« »Ja«, sagte er und sah wieder auf seine Hände. »Ja, klar.« »Du hast einen Gesichtsausdruck gehabt, als ob... nun, ich weiß auch nicht.«

Ralph fragte sich, ob das Zusammenwirken von Hitze und dem Spaziergang den Up-Mile Hill hinauf sein Gehirn doch ein bißchen durcheinandergebracht hatte. Schließlich war das Lois, die McGovern immer (mit einer klein wenig sardonisch hochgezogenen linken Augenbraue) »unsere Lois« nannte. Und ja, okay, sie war immer noch gut in Form - feste Beine, ansehnlicher Busen und diese bemerkenswerten Augen -, und möglicherweise würde es ihm nichts ausmachen, sie mit ins Bett zu nehmen, und möglicherweise würde es ihr nichts ausmachen, mitgenommen zu werden. Aber was würde danach kommen? Wenn sie die Kinokarte sah, die aus dem Buch herausragte, das er gerade las, würde sie sie auch herausziehen, weil sie zu neugierig war, welchen Film er gesehen hatte, um auf sein Lesezeichen zu achten?

Ralph glaubte nicht. Lois' Augen waren bemerkenswert, und er hatte mehr als einmal festgestellt, wie sein Blick das V ihrer Bluse hinunterwanderte, wenn sie zu dritt auf der vorderen Veranda saßen und an kühlen Abenden Eistee tranken, aber er hatte eine Ahnung, daß der kleine Mann den großen Mann auch mit siebzig noch in Schwierigkeiten bringen konnte. Alt zu werden war keine Entschuldigung dafür, sorglos zu werden.

Er stand auf und spürte, wie Lois ihn ansah, weshalb er sich besonders um eine aufrechte Haltung bemühte. »Danke für deine Anteilnahme«, sagte er. »Möchtest du einen alten Mann die Straße hoch bringen?«

»Danke, aber ich fahre in die Innenstadt. Sie haben ein wunderschönes rosa Garn im Sewing Circle, und ich habe an einen Teppich gedacht. Derweil werde ich einfach hier auf den Bus warten und mich über meine Gutscheine freuen.«

Ralph grinste. »Mach das.« Er sah zu den Kindern auf dem Baseballfeld. Vor seinen Augen startete ein Junge mit einem außergewöhnlichen roten Haarschopf vom dritten Mal, warf sich mit dem Kopf voran nach vorne und prallte mit einem vernehmlichen Klonk mit den Schienbeinschonern des Fängers zusammen. Ralph zuckte zusammen und dachte an Krankenwagen mit Blinklichtem und heulenden Sirenen, aber der Rotschopf sprang lachend wieder auf die Füße.

»Hast nicht berührt, du Flasche!« rief er.

»Einen Scheißdreck hab ich!« antwortete der Fänger beleidigt, aber dann fing er auch an zu lachen.

»Wünschst du dir manchmal, du wärst auch noch in dem Alter, Ralph?« fragte Lois.

Er dachte darüber nach. »Manchmal«, sagte er. »Meistens sieht es mir einfach zu anstrengend aus. Komm heute abend vorbei, Lois - setz dich eine Weile zu uns.«

»Könnte ich machen«, sagte sie, und Ralph ging die Harris Avenue entlang, spürte den Blick ihrer bemerkenswerten Augen im Rücken und gab sich große Mühe, ihn geradezuhalten. Er dachte, daß es ihm ziemlich gut gelang, aber es war Schwerstarbeit. Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so müde gefühlt.

Kapitel 2

Ralph vereinbarte keine Stunde nach seiner Unterhaltung mit Lois auf der Parkbank einen Termin mit Dr. Litchfield; die Arzthelferin mit der kühlen, sexy Stimme sagte ihm, sie könnte ihn am nächsten Dienstag vormittag um zehn eintragen, ob es ihm recht wäre, und Ralph sagte ihr, das wäre astrein. Dann legte er auf, ging in sein Wohnzimmer, setzte sich in den Sessel mit Blick auf die Harris Avenue und dachte daran, wie Dr. Litchfield den Gehirntumor seiner Frau anfangs mit Tylenol-3 und Broschüren über verschiedene Entspannungstechniken behandelt hatte. Dann ging er weiter zum Ausdruck in Litchfields Augen, als die Magnetresonanztomographietests die bösen Ergebnisse der CAT-Scans bestätigt hatten... den Ausdruck von Schuldbewußtsein und Unbehagen.

Auf der anderen Straßenseite kamen ein paar Kinder, die bald wieder in der Schule sein würden, mit Schokoriegeln und Slurpies aus dem Red Apple. Während Ralph ihnen zusah, wie sie auf ihre Fahrräder stiegen und in der grellen Elf-Uhr-Hitze davonfuhren, dachte er, was er immer dachte, wenn die Erinnerung an Dr. Litchfields Augen an die Oberfläche kam: daß es höchstwahrscheinlich eine falsche Erinnerung war.

Es ist so, alter Freund, du wolltest, daß Litchfield unbehaglich aussieht... aber noch mehr wolltest du, daß er schuldbewußt aussieht.

Wahrscheinlich war das zutreffend, wahrscheinlich war Carl Litchfield eine Seele von Mensch und ein super Arzt, aber Ralph stellte trotzdem fest, daß er eine halbe Stunde später wieder in Litchfields Praxis anrief. Er sagte der Arzthelferin mit der sexy Stimme, daß er gerade in seinen Terminkalender gesehen und festgestellt hätte, daß nächsten Dienstag um zehn doch nicht so gut wäre. Er hätte an dem Tag einen Termin bei der Fußpflege, den er vollkommen vergessen hätte.

»Mein Gedächtnis ist nicht mehr, was es einmal war«, sagte Ralph zu ihr.

Die Arzthelferin schlug nächsten Donnerstag um zwei vor. Ralph entgegnete, er würde zurückrufen.

Lügen haben kurze Beine, dachte er, als er den Hörer auflegte, langsam zum Sessel zurückging und sich darauf niederließ. Du bist fertig mit ihm, oder nicht?

Er ging davon aus. Nicht, daß Dr. Litchfield deswegen schlaflose Nächte haben würde; wenn er überhaupt an Ralph dachte, dann als einen alten Tattergreis weniger, der ihm bei der Prostata-Untersuchung ins Gesicht furzte.

Na gut, und was willst du gegen die Schlaflosigkeit tun, Ralph?

»Eine halbe Stunde vor dem Schlafengehen still dasitzen und klassische Musik hören«, sagte er laut. »Und ein paar Pampers kaufen, falls die Natur doch ihr Recht verlangt.«

Er war selbst erstaunt, als er laut lachte, wie er sich vorstellte, wie er in seinem Sessel saß und nichts außer einer Wegwerfwindel für Erwachsene trug, während er Bach hörte. Das Lachen hatte einen hysterischen Unterton, der ihm nicht besonders gefiel - er war sogar verdammt unheimlich -, aber es dauerte trotzdem eine Weile, bis er wieder aufhören konnte.

Und doch vermutete er, daß er Hamilton Davenports Vorschlag ausprobieren würde (aber auf die Windeln würde er verzichten, herzlichen Dank), wie er die meisten Hausmittel ausprobiert hatte, die ihm wohlmeinende Zeitgenossen anvertraut hatten. Dabei mußte er an sein erstes Bona-fide-Hausmittel denken, und das bewirkte ein neuerliches Grinsen.

Es war McGoverns Vorschlag gewesen. Er hatte am Abend auf der Veranda gesessen, als Ralph mit Nudeln und Spaghettisauce aus dem Red Apple zurückkam, hatte seinen Nachbarn vom Stock über sich angesehen, ein Tss-tss von sich gegeben und traurig den Kopf geschüttelt.

»Was soll das heißen?« fragte Ralph und setzte sich neben ihn. Ein Stück weiter die Straße hinunter hatte ein kleines Mädchen in Jeans und einem zu großen weißen T-Shirt in der zunehmenden Düsternis gesungen und Seilhüpfen gespielt.

»Es heißt, daß du übernächtigt, hohlwangig und verstümmelt aussiehst«, sagte McGovern. Er schob den Panamahut auf dem Kopf mit dem Daumen zurück und sah Ralph eingehend an. »Immer noch kein Schlaf?«

»Immer noch kein Schlaf«, stimmte Ralph zu.

McGovern schwieg ein paar Augenblicke. Als er wieder sprach, geschah es in einem Tonfall absoluter - sogar beinahe apokalyptischer - Endgültigkeit. »Die Lösung ist Whiskey«, sagte er.

»Pardon?«

»Für deine Schlaflosigkeit, Ralph. Ich meine nicht, daß du darin baden solltest - dazu besteht kein Grund. Du solltest einfach einen Eßlöffel Honig mit einem halben Glas Whiskey mischen und das fünfzehn oder zwanzig Minuten, bevor du dich in die Falle haust, trinken.«

»Meinst du?« hatte Ralph hoffnungsvoll gefragt.

»Ich kann nur sagen, daß es mir geholfen hat, und ich hatte wirklich Schlafstörungen, als ich um die Vierzig war. Wenn ich heute zurückdenke, schätze ich, daß das meine Midlife-Crisis gewesen sein muß - sechs Monate Schlaflosigkeit und ein Jahr lang Depressionen wegen meiner kahlen Stelle.«

Obwohl in allen Büchern, die er konsultiert hatte, zu lesen stand, daß Alkohol ein weit überschätztes Mittel gegen Schlaflosigkeit sei - daß er das Problem nicht selten schlimmer statt besser mache -, hatte Ralph es trotzdem versucht. Er war nie ein nennenswerter Trinker gewesen, daher reduzierte er McGoverns empfohlene Dosis von einem halben Glas auf ein Viertelglas, aber nach einer Woche ohne Besserung hatte er sie auf ein volles Glas hochgeschraubt... dann zwei. Er wachte um 4:22 Uhr mit garstigen Kopfschmerzen auf, die den dumpfen braunen Geschmack von Early Times auf seinem Gaumen begleiteten, und hatte festgestellt, daß er mit dem ersten Kater seit fünfzehn Jahren aufgewacht war.

»Das Leben ist zu kurz für diesen Quatsch«, verkündete er seiner leeren Wohnung, und das war das Ende des großen Whiskeyexperiments gewesen.

2

Okay, dachte Ralph jetzt, während er den sporadischen Strom der Kunden beobachtete, die auf der anderen Straßenseite ins Red Apple hinein und wieder heraus gingen. Das ist die Situation: McGovern sagt, du siehst beschissen aus, heute morgen bist du fast vor Lois Chasse ohnmächtig geworden, und du hast gerade einen Termin beim alten Hausarzt abgesagt. Was nun? Läßt du es einfach dabei bewenden? Akzeptierst du die Situation und beläßt es dabei?

Der Gedanke besaß einen gewissen orientalischen Charme -Schicksal, Karma, und so weiter -, aber er würde mehr als Charme brauchen, um die langen, frühen Morgenstunden zu überstehen. In den Büchern stand, daß es Menschen auf der Welt gab, und nicht einmal wenige, die ganz gut mit nicht mehr als drei oder vier Stunden Schlaf täglich auskamen. Es gab sogar einige, denen reichten zwei. Sie waren eine extrem kleine Minderheit, aber sie existierten. Ralph Roberts jedoch gehörte nicht zu ihnen.

Wie er aussah, war ihm nicht besonders wichtig - er hatte das Gefühl, daß seine Tage als Fernseh-Idol vorbei waren -, aber wie er sich fühlte, das war ihm wichtig, und es ging nicht mehr darum, daß er sich schlecht fühlte, er fühlte sich beschissen. Die Schlaflosigkeit durchdrang jeden Aspekt seines Lebens, so wie der Geruch von brutzelndem Knoblauch im vierten Stock letztendlich das ganze Gebäude durchzieht. Die Umwelt verlor ihre Farben; die Welt nahm das graue, körnige Aussehen eines Zeitungsfotos an.

Einfache Entscheidungen - zum Beispiel ob er sich ein tiefgekühltes Fertiggericht auftauen oder sich im Red Apple ein Sandwich holen und zum Picknickplatz an der Startbahn 3 gehen sollte - wurden schwierig, fast quälend. In den vergangenen zwei Wochen war er immer häufiger mit leeren Händen von Dave's Video Stop zurückgekommen, aber nicht, weil er bei Dave nichts fand, das er sehen wollte, sondern weil es zuviel gab - er konnte sich nicht entscheiden, ob er einen der Dirty Harry-Filme, eine Komödie mit Billy Crystal oder ein paar der alten Folgen von Raumschiff Enterprise sehen wollte. Nach ein paar erfolglosen Ausflügen war er in seinen Sessel gefallen und hatte vor Frustration fast geweint... und vor Angst, vermutete er.

Die schleichende Lähmung der Sinne und die Erosion seiner Entscheidungsfähigkeit waren aber nicht die einzigen Probleme, die er mit seiner Schlaflosigkeit in Verbindung brachte; sein Kurzzeitgedächtnis ließ ebenfalls deutlich nach. Er ging gewohnheitsmäßig mindestens einmal pro Woche ins Kino, mitunter zweimal, seit er von der Druckerei, wo er als Buchhalter und Mädchen für alles gearbeitet hatte, in den Ruhestand geschickt worden war. Bis letztes Jahr hatte er Carolyn mitgenommen, dann war sie so krank geworden, daß sie sich an nichts mehr erfreuen konnte. Nach ihrem Tod war er meistens alleine gegangen, nur ein- oder zweimal hatte ihn Helen Deepneau begleitet, wenn Ed zu Hause auf das Baby aufpaßte (Ed selbst ging fast nie aus; er behauptete, daß er im Kino Kopfschmerzen bekam). Ralph hatte die automatische Telefonauskunft des Kinos so häufig angewählt, um Anfangszeiten zu erfahren, daß er die Nummer auswendig kannte. Aber im Verlauf des Sommers mußte er sie immer häufiger in den Gelben Seiten nachschlagen - er war nicht mehr sicher, ob die letzten Ziffern 1317 oder 1713 waren.

»Sie sind 1713«, sagte er jetzt. »Ich weiß es.« Aber wußte er es wirklich?

Ruf Litchfield zurück. Los doch, Ralph - hör auf, in den Trümmern zu wühlen. Tu etwas Produktives. Und wenn dir Litchfield tatsächlich so gegen den Strich geht, dann ruf einen anderen Arzt an. Im Telefonbuch stehen mehr Ärzte denn je.

Das stimmte wahrscheinlich, aber mit siebzig war man vielleicht ein bißchen zu alt, um sich einen neuen Knochenflicker nach der Eene-meene-mu-Methode auszusuchen. Und Litchfield würde er nicht zurückrufen. Definitiv.

Okay, was dann, du störrischer alter Bock? Noch ein paar Hausmittel? Ich hoffe nicht, denn bei deinem Verschleiß wirst du in Null Komma nichts bei Lurchaugen und Krötenzungen landen.

Die Lösung, die ihm einfiel, war wie ein kühles Lüftchen an einem heißen Tag... und es war eine grotesk simple Lösung. Seine Lektüre den ganzen Sommer über hatte darauf abgezielt, das Problem zu verstehen, statt eine Lösung dafür zu finden. Wenn es um Lösungen ging, hatte er sich fast ausschließlich auf private Hausmittelchen wie Whiskey und Honig verlassen, selbst wenn die Bücher ihm versichert hatten, daß sie gar nicht oder nur kurze Zeit helfen würden. Obwohl man in den Büchern ein paar angeblich zuverlässige Methoden nachlesen konnte, mit Schlaflosigkeit fertigzuwerden, hatte Ralph bisher nur die einfachste und einsichtigste ausprobiert: früher am Abend ins Bett zu gehen. Diese Lösung hatte nicht funktioniert - er hatte einfach bis halb zwölf oder so wachgelegen, war dann eingeschlafen und zu einem neuen, früheren Zeitpunkt aufgewacht -, aber möglicherweise half etwas anderes.

Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.

3

Statt den Nachmittag mit seiner üblichen hektischen Gartenarbeit zu verbringen, ging Ralph in die Bibliothek und blätterte ein paar Bücher durch, die er schon gelesen hatte. Der allgemeine Konsens schien zu sein, wenn es nichts half, früher ins Bett zu gehen, dann vielleicht, wenn man später ging. Ralph kehrte von verhaltener Hoffnung erfüllt nach Hause zurück (eingedenk seines früheren Abenteuers mit dem Bus). Es könnte klappen. Und wenn nicht, blieben ihm immer noch Bach, Beethoven und William Ackerman.

Sein erster Versuch, diese Technik auszuprobieren, die in einem der Bücher als »Schlafverzögerung« bezeichnet wurde, endete komisch. Er erwachte zur inzwischen üblichen Zeit (3:45, wie ihm die Digitaluhr auf dem Kaminsims im Wohnzimmer verriet) mit wundem Rücken und schmerzendem Hals und hatte zunächst keine Ahnung, wie er in den Sessel am Fenster gelangt war und weshalb der Fernseher lief, der außer Schnee und einem leisen, brandungsähnlichen Rauschen nichts sendete.

Erst als er den Kopf vorsichtig drehte und dabei den Nacken mit der Hand stützte, wurde ihm klar, was geschehen war. Er hatte vorgehabt, bis mindestens drei, wenn möglich vier Uhr wachzubleiben. Dann wollte er ins Bett gehen und den Schlaf des Gerechten schlafen. So jedenfalls hatte der Plan ausgesehen. Statt dessen war der Superschlaflose der Harris Avenue bei Jay Lenos Eröffnungsmonolog eingenickt wie ein Kind, das versucht, die ganze Nacht aufzubleiben, nur um zu sehen, wie es ist. Und dann hatte das Abenteuer selbstverständlich seinen Abschluß damit gefunden, daß er zur gewohnten Zeit wieder aufgewacht war. Das Problem war dasselbe, würde Joe Friday wahrscheinlich gesagt haben; nur der Schauplatz hatte sich verändert.

Ralph schlenderte trotzdem ins Bett und hoffte entgegen jeder Hoffnung, aber der Drang (wenn nicht das Bedürfnis) zu schlafen, war vergangen. Nachdem er eine Stunde wachgelegen hatte, war er wieder zu seinem Sessel gegangen, diesmal mit einem Kissen, das er hinter seinen steifen Hals steckte, und einem reumütigen Grinsen im Gesicht.

Sein zweiter Versuch, der in der darauffolgenden Nacht stattfand, hatte nichts Komisches. Die Müdigkeit stellte sich zur gewohnten Zeit ein - 23:20, als Pete Cherney gerade die Wettervorhersage für den folgenden Tag verlas. Diesmal kämpfte Ralph erfolgreich dagegen an und schaffte es, bis Whoopi wachzubleiben (obwohl er bei Whoopis Unterhaltung mit Roseanne Arnold, dem Gast des heutigen Abends, fast eingenickt wäre), ind dann bis zum anschließenden Spätfilm. Es handelte sich um einen alten Streifen mit Audie Murphy, in dem Audie den Krieg im Pazifik praktisch im Alleingang zu gewinnen schien. Manchmal hatte Ralph den Eindruck, als existiere eine unausgesprochene Abmachung zwischen den lokalen Fernsehsendern, wonach Filme, die in den frühen Morgenstunden gesendet wurden, nur Audie Murphy oder James Brolin in den Hauptrollen haben durften.

Nachdem der letzte japanische Bunker gesprengt worden war, verabschiedete sich Kanal 2. Ralph schaltete herum und suchte nach einem anderen Film, fand aber nichts als Flimmern. Er vermutete, wenn er Kabel gehabt hätte, hätte er die ganze Nacht Filme sehen können, wie Bill oder Lois; er erinnerte sich, daß er es auch auf seine Liste zu erledigender Dinge im neuen Jahr geschrieben hatte. Aber dann war Carolyn gestorben, und Kabelfernsehen schien - mit oder ohne Home Box Office - nicht mehr wichtig zu sein.

Er fand eine Ausgabe von Sports Illustrated und las einen Artikel über Damentennis durch, den er beim erstenmal vergessen hatte, und sah immer wieder auf die Uhr, als sich die Zeiger der Drei näherten. Er war fast überzeugt, daß es funktionieren würde. Seine Lider waren so schwer, daß ihm schien, sie wären in Beton getunkt worden, und obwohl er den Tennisartikel gründlich las, Wort für Wort, hatte er keine Ahnung, worauf der Verfasser hinauswollte. Ganze Sätze schössen durch sein Gehirn, ohne sich festzusetzen, wie kosmische Strahlen.

Ich werde heute nacht schlafen - das glaube ich wirklich. Zum erstenmal seit Monaten wird die Sonne ohne meine Hilfe aufgehen müssen, und das ist nicht nur gut, Freunde und Nachbarn, das ist großartig.

Kurz nach drei Uhr löste sich die angenehme Schläfrigkeit dann langsam auf. Sie ging nicht mit einem Knall, wie ein Sektkorken, sondern schien wegzutröpfeln wie Sand durch ein feines Sieb oder Wasser einen teilweise verstopften Abfluß hinunter. Als Ralph feststellte, was passierte, verspürte er keine Panik, sondern niedergeschlagene Resignation. Er kannte das Gefühl als wahres Gegenteil von Hoffnung, und als er um Viertel nach drei mit seinen Hausschuhen ins Schlafzimmer schlurfte, konnte er sich nicht erinnern, schon einmal eine Depression erlebt zu haben wie die, die ihn jetzt umfing. Ihm war, als müßte er daran ersticken.

»Bitte, Gott, nur ein kleines Nickerchen«, murmelte er, als er das Licht ausschaltete, aber er vermutete sehr, daß dieses Gebet nicht erhört werden würde.

Es wurde nicht erhört. Inzwischen war er fast vierundzwanzig Stunden wach, aber um Viertel vor vier war jedes Quentchen Müdigkeit aus seinem Geist und seinem Körper verschwunden. Er war müde, ja - müder und erschöpfter als jemals zuvor in seinem Leben -, aber müde und schläfrig zu sein, hatte er feststellen müssen, waren mitunter nicht immer dasselbe. Der Schlaf, der unparteiische Freund, die beste und zuverlässigste Krankenschwester der Menschheit seit Anbeginn der Zeit, hatte ihn wieder im Stich gelassen.

Um vier Uhr war ihm sein Bett verhaßt geworden, wie immer wenn er feststellte, daß er es nicht seinem Verwendungszweck zuführen konnte. Er schwang die Füße wieder auf den Boden und kratzte sich das - inzwischen fast graue Haar, das sich aus dem weitgehend aufgeknöpften Pyjamaoberteil kräuselte. Er schlüpfte in die Hausschuhe und schlurfte ins Wohnzimmer zurück, wo er sich in seinen Ohrensessel fallenließ und auf die Harris Avenue hinausschaute. Diese lag wie eine Bühnenkulisse vor ihm, und der einzige Schauspieler, der im Augenblick zu sehen war, war nicht einmal ein Mensch: Es war ein streunender Hund, der langsam Richtung Strawford Park und Up-Mile Hill die Harris Avenue entlanglief. Er hielt das linke Hinterbein so weit wie möglich hoch und hinkte so gut es ging auf den drei anderen.

»Hallo, Rosalie«, murmelte Ralph und strich sich mit einer Hand über die Augen.

Es war Donnerstag morgen, in der Harris Avenue wurde der Müll abgeholt, daher war er nicht überrascht, Rosalie hier zu sehen, die seit etwa einem Jahr quasi als wanderndes Inventar die Gegend unsicher machte. Sie schlich gemächlich die Straße entlang und untersuchte die Reihen und Gruppen der Mülltonnen so wählerisch wie ein Flohmarktprofi.

Rosalie - die heute morgen schlimmer denn je hinkte und so müde aussah wie Ralph sich fühlte - fand etwas, das wie ein mittelgroßer Rinderknochen aussah, und hinkte mit diesem Knochen im Maul davon. Ralph sah ihr nach, bis sie nicht mehr zu sehen war, dann saß er einfach mit den Händen im Schoß da und betrachtete die stille Nachbarschaft, wo die grellen orangefarbenen Lampen die Illusion verstärkten, daß Harris Avenue eine Kulisse war, die nach Beendigung der Abendvorstellung, als die Schauspieler nach Hause gegangen waren, einsam und verlassen zurückgeblieben war; die Lampen leuchteten wie Scheinwerfer, eine perfekte, immer kleiner werdende Reihe, deren Perspektive wie eine Halluzination wirkte.

Ralph Roberts saß in dem Ohrensessel, wo er in letzter Zeit so viele frühe Morgenstunden verbracht hatte, und wartete darauf, daß Licht und Bewegung die leblose Welt unter ihm erfüllen würden. Schließlich betrat der erste menschliche Schauspieler -Pat, der Zeitungsjunge, der auf seinem Raleigh fuhr - die Bühne. Er radelte die Straße herauf, warf zusammengerollte Zeitungen aus dem Beutel, den er über der Schulter hängen hatte, und traf die Veranden, die er anvisierte, mit hinreichend großer Treffsicherheit.

Ralph beobachtete ihn eine Weile, dann stieß er ein Seufzen aus, das sich anhörte, als wäre es von ganz unten aus dem Keller gekommen, und stand auf, um sich Tee zu machen.

»Ich kann mich nicht erinnern, daß ich jemals etwas von dieser Scheiße in meinem Horoskop gelesen habe«, sagte er hohl, dann drehte er den Wasserhahn in der Küche auf und füllte den Kessel.

5

Der lange Donnerstagvormittag und der noch längere Donnerstagnachmittag lehrten Ralph Roberts eine wertvolle Lektion: drei oder vier Stunden Schlaf täglich nicht verächtlich abzutun, nur weil er sein ganzes Leben von der irrigen Voraussetzung ausgegangen war, daß er ein Anrecht auf mindestens sechs, normalerweise sieben Stunden hatte. Außerdem diente er als gräßliche Vorschau. Wenn sich sein Zustand nicht besserte, konnte er sich darauf einstellen, daß er sich bald meistens so fühlen würde. Verdammt, immer. Er ging um zehn Uhr ins Bett und dann wieder um eins und hoffte auf ein kleines Nickerchen - ein paar Minuten die Augen zumachen hätte ihm schon gereicht, und für eine halbe Stunde hätte er sein Leben hingegeben -, aber er konnte nicht einmal dösen. Er war erbärmlich müde, aber kein bißchen schläfrig.

Gegen drei Uhr beschloß er, sich eine Packung Lipton Cup-A-Soup zu machen. Er füllte den Teekessel mit frischem Wasser, stellte ihn auf die Herdplatte und machte den Schrank über dem Tresen auf, wo er Gewürze, Würzmischungen und verschiedene Tüten mit Essen aufbewahrte, die nur Astronauten und alte Männer tatsächlich zu sich zu nehmen schienen - Pulver, die der Verbraucher nur mit heißem Wasser aufgießen mußte.

Er schob ziellos Dosen und Flaschen herum und starrte dann einfach eine Weile in den Schrank, als würde er darauf warten, daß der Karton mit den Suppentüten auf wundersame Weise in dem freien Raum auftauchte, den er geschaffen hatte. Als das nicht geschah, wiederholte er den Vorgang, aber diesmal schob er alles wieder an seinen ursprünglichen Platz zurück, bevor er wieder mit dem Ausdruck geistesabwesender Verwirrung hinstarrte, der (was Ralph barmherzigerweise nicht wußte) allmählich sein vorherrschender Gesichtsausdruck wurde.

Als der Teekessel pfiff, stellte er ihn auf eine der hinteren Platten und sah weiter in den Schrank. Dann dämmerte ihm sehr, sehr langsam -, daß er die letzte Packung Suppe gestern oder vorgestern aufgegossen haben mußte, obwohl er sich nicht daran hätte erinnern können, wenn sein Leben auf dem Spiel gestanden hätte.

»Ist das eine Überraschung?« fragte er die Kartons und Flaschen in dem offenen Schrank. »Ich bin so müde, daß ich mich nicht einmal an meinen eigenen Namen erinnern kann.«

Doch, das kann ich, dachte er. Er ist Leon Redbone. Na also!

Es war kein besonders guter Witz, trotzdem spürte er, wie ein zaghaftes Lächeln - leicht wie eine Feder - seine Lippen umspielte. Er ging ins Bad, kämmte sich das Haar und ging nach unten. Hier ist Audie Murphy auf dem Weg in feindliches Gebiet, um Vorräte zu beschaffen, dachte er. Primäres Ziel: ein Karton Lipton Cup-A-Soup Reis und Hühnerbrühe. Sollte es sich als unmöglich erweisen, dieses Ziel zu finden und anzuvisieren, werde ich auf das sekundäre Ziel ausweichen: Nudeln und Rindfleisch. Ich weiß, es ist ein riskantes Unternehmen, aber...

»... aber ich arbeite am besten allein«, sagte er laut, als er auf die Veranda trat.

Die alte Mrs. Perrine ging vorbei und warf Ralph einen stechenden Blick zu, sagte aber nichts. Er wartete, bis sie ein Stück weitergegangen war - er fühlte sich nicht imstande, heute nachmittag mit jemandem ein Gespräch zu führen, schon gar nicht mit Mrs. Perrine, die mit ihren zweiundachtzig immer noch nützliche Arbeit bei den Marines auf Parris Island gefunden hätte. Er tat so, als würde er den Farn betrachten, der vom Haken unter dem Giebel der Veranda hing, bis sie ihn sicherer Entfernung zu sein schien, dann überquerte er die Harris Avenue und betrat das Red Apple. Und da fing der Ärger des Tages erst richtig an.

Er betrat den Gemischtwarenladen, staunte wieder über das spektakuläre Scheitern des Schlafverzögerungsexperiments und fragte sich, ob die Ratschläge in den Büchern aus der Bibliothek nichts weiter waren als hochtrabende Versionen der Hausmittel, die ihm seine Bekannten nur zu gerne aufschwatzen wollten. Es war ein unangenehmer Gedanke, aber er glaubte, daß sein Verstand (oder die Kraft unter seinem Verstand, die für diese langsame Tortur verantwortlich zeichnete) ihm eine Botschaft geschickt hatte, die noch unangenehmer war: Du hast ein Schlaffenster, Ralph. Es ist nicht so groß, wie es einmal war, und es wird mit jeder Woche, die verstreicht, kleiner, aber du solltest besser dankbar für das sein, was du hast, denn ein kleines Fenster ist besser als gar kein Fenster. Das siehst du jetzt ein, oder?

»Ja«, murmelte Ralph, während er den Mittelgang entlang zu den hellroten Kartons mit Cup-A-Soup ging. »Das sehe ich jetzt voll und ganz ein.«

Sue, die Nachmittagskassiererin, lachte fröhlich. »Sie müssen Geld auf der Bank haben, Ralph«, sagte sie.

»Pardon?« Ralph drehte sich nicht um; er begutachtete die roten Kartons. Da war Zwiebel... Erbsen... Rindfleisch mit Nudeln... aber wo, zum Teufel, war Huhn mit Reis?

»Meine Mom hat immer gesagt, Leute, die Selbstgespräche führen, haben... O mein Gott!«

Einen Augenblick glaubte Ralph, sie hätte eine Bemerkung gemacht, die einfach zu komplex für seinen übermüdeten Verstand war, etwa daß Leute, die Selbstgespräche führten, Gott gefunden hätten, aber dann schrie sie. Er hatte sich gebückt, um die Kartons auf dem untersten Regal zu betrachten, aber bei dem Schrei schnellte er so ruckartig und hastig wieder hoch, daß seine Knie knackten. Er wirbelte zum Eingang des Ladens herum, stieß mit dem Ellbogen gegen den oberen Teil des Suppenregals und stieß ein halbes Dutzend rote Kartons in den Mittelgang.

»Sue? Was ist denn?«

Sue beachtete ihn gar nicht. Sie sah zur Tür hinaus, preßte die zur Faust geballte Hand an die Lippen und riß die braunen Augen darüber auf. »O Gott, seht euch das viele Blut an!« schrie sie mit erstickter Stimme.

Ralph drehte sich noch weiter herum, stieß einige weitere Lipton-Kartons auf den Boden und sah zum schmutzigen Schaufenster des Red Apple hinaus. Was er sah, entlockte ihm einen tiefen Seufzer, und er brauchte einige Sekunden - fünf, möglicherweise -, bis er erkannte, daß es sich bei der blutenden, verprügelten Frau, die auf das Red Apple zutaumelte, um Helen Deepneau handelte. Ralph hatte Helen stets für die hübscheste Frau im westlichen Teil der Stadt gehalten, aber heute hatte sie nichts Hübsches an sich. Eines ihrer Augen war so geschwollen, daß sie es nicht mehr aufbekam; an der linken Schläfe hatte sie eine Platzwunde, die bald zwischen den purpurnen Schwellungen verschwinden würde; ihre gesprungenen Lippen und Wangen waren mit Blut bedeckt. Das Blut kam aus ihrer Nase, die immer noch triefte. Sie schwankte wie eine Betrunkene über den Parkplatz des Red Apple auf die Tür zu, aber ihr unversehrtes Auge schien nichts zu sehen; es starrte nur blicklos.

Aber noch beängstigender als ihr Aussehen war die Art, wie sie mit Natalie umging. Sie hatte das brüllende, verängstigte Baby beiläufig um eine Hüfte geschwungen und trug es, wie sie vor zwölf Jahren ihre Bücher zur High School getragen haben könnte.

»O Gott, sie wird das Kind fallenlassen!« schrie Sue, aber obwohl sie zehn Schritte näher bei der Tür war als er, bewegte sie sich nicht - sie blieb einfach stehen, wo sie war, preßte die Hände auf den Mund, und ihre Augen schienen das ganze Gesicht verschlingen zu wollen.

Plötzlich fühlte sich Ralph überhaupt nicht mehr müde. Er sprintete den Gang entlang, riß die Tür auf und lief nach draußen. Er kam gerade noch rechtzeitig, um Helen an den Schultern zu halten, als diese mit der Hüfte an die Kühltruhe stieß - glücklicherweise nicht die Hüfte, auf der Natalie ruhte und in eine andere Richtung weitertorkelte.

»Helen!« rief er. »Mein Gott, Helen, was ist denn passiert?«

»Hmh?« fragte sie mit dumpf neugieriger Stimme, die keine Ähnlichkeit mit der Stimme der munteren jungen Frau hatte, die ihn manchmal ins Kino begleitete und wegen Mel Gibson seufzte. Ihr gutes Auge drehte sich zu ihm, und er sah dieselbe dumpfe Neugier darin, ein Ausdruck, der zeigte, sie wußte nicht, wer sie war, geschweige denn, wo sie war oder was geschehen war, oder wann. »Hmh? Ral? Wa?«

Das Baby rutschte. Ralph ließ Helen los, griff nach Natalie und schaffte es, einen Träger ihrer Strampelhose zu fassen zu bekommen. Nat schrie, ruderte mit den Händen und sah ihn mit ihren großen, dunkelblauen Augen an. Er schob die andere Hand einen Augenblick bevor der Träger der Strampelhose riß, zwischen Nats Beine. Einen Moment lang balancierte das weinende Baby auf seiner Hand wie ein Turner auf dem Schwebebalken, und Ralph konnte den feuchten Wulst seiner Windeln durch den Overall spüren, den es trug. Dann schob er die andere Hand hinter seinen Rücken und drückte es an seine Brust. Sein Herz schlug heftig, und obwohl er das Baby nun sicher in Händen hielt, sah er es immer noch wegrutschen, sah den Kopf mit dem seidenweichen Haar mit einem ekelerregenden Knirschen auf den abfallübersäten Asphalt prallen.

»Hnh? Ar? Ral?« fragte Helen. Sie sah Natalie in Ralphs Armen, und da verschwand die Ausdruckslosigkeit teilweise aus ihrem guten Auge. Sie hob die Hände zu dem Kind, und in Ralphs Armen ahmte Natalie die Bewegung mit ihren eigenen Patschhändchen nach. Dann stolperte Helen, stieß gegen die Hauswand und torkelte einen Schritt zurück. Ein Fuß verfing sich im anderen (Ralph sah Blutspritzer auf ihren weißen Turnschuhen, und es war erstaunlich, wie hell auf einmal alles war; die Farbe war in die Welt zurückgekommen, zumindest vorübergehend), und sie wäre gestürzt, hätte Sue sich nicht in diesem Augenblick entschieden, auch endlich nach draußen zu kommen. Daher fiel Helen statt umzukippen einfach gegen die offene Tür und lehnte sich daran wie ein Betrunkener an einen Laternenpfahl.

»Ral?« Der Ausdruck in ihren Augen war jetzt ein wenig schärfer, und Ralph sah, daß es weniger Neugier als vielmehr Fassungslosigkeit war. Sie holte tief Luft und bemühte sich mit äußerster Anstrengung, verständliche Worte über die geschwollenen Lippen zu bringen. »Gi. Gi mi mein Bäh-bie. Gi mi Nah-lie.«

»Jetzt nicht, Helen«, sagte Ralph. »Im Augenblick bist du nicht sicher genug auf den Beinen.«

Sue stand immer noch auf der anderen Seite der Tür und stemmte sich dagegen, damit Helen nicht fiel. Wangen und Stirn des Mädchens waren aschfahl, Tränen standen in ihren Augen.

»Kommen Sie raus«, sagte Ralph. »Stützen Sie sie.«

»Ich kann nicht«, blubberte sie. »Sie ist ganz bluh-bluhblutig!«

»Um Himmels willen, hören Sie auf! Das ist Helen! Helen Deepneau, die hier in der Straße wohnt!«

Obwohl Sue das gewußt haben mußte, schien allein der Klang des Namens Wirkung zu zeigen. Sie kam um die offene Tür herum, und als Helen wieder rückwärts taumelte, legte Sue ihr einen Arm um die Schultern und stützte sie. Der Ausdruck ungläubiger Überraschung schwand nicht von Helens Gesicht. Ralph fiel es immer schwerer, sie anzusehen. Er fühlte sich durch und durch elend.

»Ralph? Was ist passiert? War das ein Unfall?«

Er drehte sich um und sah Bill McGovern am Rand des Parkplatzes stehen. Er trug eines seiner piekfeinen blauen Hemden, bei dem die Bügelfalten noch an den Ärmeln zu sehen waren, und hielt eine seiner seltsam zierlichen Hände mit den langen Fingern hoch, um die Augen abzuschirmen. So sah er merkwürdig und irgendwie nackt aus, aber Ralph hatte keine Zeit, über den Grund dafür nachzudenken; zuviel spielte sich hier ab.

»Es war kein Unfall«, sagte er. »Sie ist verprügelt worden. Hier, nimm das Kind.«

Er hielt Natalie zu McGovern hin, der zuerst zurückzuckte, dann aber das Baby nahm. Natalie fing sofort wieder an zu kreischen. McGovern, der aussah, als hätte ihm gerade jemand eine randvolle Kotztüte in die Hand gedrückt, hielt sie mit baumelnden Füßen auf Armeslänge von sich. Hinter ihm fand sich eine kleinere Menschenmenge ein, darunter zahlreiche Kinder in Baseballtrikots, die von ihrem nachmittäglichen Spiel auf dem Sportplatz um die Ecke zurückkamen. Sie betrachteten Helens geschwollenes und blutiges Gesicht mit einem ungesunden Interesse, und Ralph mußte an die Geschichte in der Bibel denken, wie sich Noah auf der Arche betrunken hatte

- an die guten Söhne, die sich von dem nackten alten Mann auf seinem Bett abgewendet hatten, und den böse Sohn, der hingesehen... und gelacht hatte.

Sanft schob er Sues Arm weg und seinen eigenen hin. Helens unversehrtes Auge drehte sich zu ihm. Diesmal sprach sie seinen Namen deutlicher aus, positiver, und als Ralph die Dankbarkeit in der nuschelnden Stimme hörte, war ihm zum Weinen zumute.

»Sue - nehmen Sie das Baby. Bill hat keine Ahnung.«

Sie gehorchte und nahm Nat sanft und geübt in die Arme. McGovern schenkte ihr ein dankbares Lächeln, und plötzlich merkte Ralph, was an seinem Äußeren nicht stimmte. McGovern trug seinen Panamahut nicht, der ebenso zu ihm zu gehören schien (jedenfalls im Sommer) wie die Geschwulst auf seinem Nasenansatz.

»He, Mister, was ist denn passiert?« fragte einer der Baseballjungs.

»Nichts, das dich etwas angehen würde«, sagte Ralph.

»Sieht aus, als hätte sie ein paar Runden mit Riddick Bowe hinter sich.«

»Nee, Tyson«, sagte einer der anderen Baseballjungs, und dann lachten sie unvorstellbarerweise.

»Verschwindet!« schrie Ralph sie plötzlich wütend an. »Geht eure Zeitungen austragen! Kümmert euch um eure Angelegenheiten!«

Sie schlurften ein paar Schritte zurück, aber keiner entfernte sich. Immerhin sahen sie echtes Blut hier, und nicht auf einer Kinoleinwand.

»Helen, kannst du gehen?«

»Ja«, sagte sie. »Glaube son.«

Er führte sie vorsichtig um die offene Tür herum und ins Red Apple. Sie bewegte sich langsam und schlurfte von einem Fuß auf den anderen wie eine alte Frau. Der Geruch von Schweiß und verbrauchtem Adrenalin drang als saurer Gestank aus ihren Poren, und Ralph spürte, wie sich ihm wieder der Magen umdrehte. Es lag nicht an dem Geruch, wirklich nicht; es lag an seinem Bemühen, diese Helen mit der adretten und attraktiven Frau in Einklang zu bringen, mit der er erst gestern gesprochen hatte, als sie in ihrem Vorgarten gearbeitet hatte._

Plötzlich fiel Ralph noch etwas von gestern ein. Helen hatte blaue Shorts getragen, ziemlich weit oben abgeschnitten, und da waren ihm zwei Blutergüsse an ihren Beinen aufgefallen ein großer, gelber Fleck oben am linken Oberschenkel und ein frischerer, dunkler an der rechten Wade.

Er ging mit Helen auf den kleinen Bürobereich hinter der Registrierkasse zu. Als er in den konvexen Überwachungsspiegel in der Ecke sah, erblickte er McGovern, der Sue die Tür aufhielt.

»Schließ die Tür ab«, sagte er über die Schulter.

»Herrgott, Ralph, ich darf nicht...«

»Nur ein paar Minuten«, sagte Ralph. »Bitte.«

»Nun... okay. Denke ich.«

Ralph hörte das Klicken des Schlosses, als er Helen auf den Plastiksessel hinter dem unordentlichen Schreibtisch sinken ließ. Er griff zum Telefon und schlug auf die Taste 911. Aber bevor das Telefon am anderen Ende läuten konnte, wurde eine blutige Hand ausgestreckt und drückte auf den grauen Unterbrechungsknopf.

»Gicht... Ral.« Helen schluckte gequält und versuchte es noch einmal. »Nicht.«

»Doch«, sagte Ralph. »Ich werde anrufen.«

Jetzt sah er Angst in ihrem guten Auge, das nichts Stumpfes mehr an sich hatte.

»Nein«, sagte sie. »Bitte, Ralph. Nicht.« Sie sah an ihm vorbei und streckte wieder die Hände aus. Als Ralph den unterwürfigen, flehenden Ausdruck in ihrem Gesicht sah, zuckte er vor Mißfallen zusammen.

»Ralph?« fragte Sue. »Sie will das Baby.«

»Ich weiß. Nur zu.«

Sue gab Natalie an Helen, und Ralph sah zu, wie das Baby -das inzwischen etwas über ein Jahr alt sein mußte, da war er ziemlich sicher - die Arme um den Hals seiner Mutter schlang und das Gesicht an ihre Schulter drückte. Helen küßte Nats Kopf. Es tat ihr eindeutig weh, aber sie machte es noch einmal. Und noch einmal. Ralph, der auf sie hinunterschaute, konnte geronnenes Blut wie Schmutz auf Helens Nacken erkennen. Als er das sah, pochte wieder die Wut in ihm.

»Es war Ed, richtig?« fragte er. Natürlich war er es gewesen -man hinderte niemanden daran, 911 anzurufen, wenn man von einem Wildfremden zusammengeschlagen worden war -, aber er mußte es fragen.

»Ja«, sagte sie. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, die Antwort ein Geheimnis, das sie ins feine, seidige Haar ihres Babys hauchte. »Ja, es war Ed. Aber das darfst du nicht der Polizei erzählen.« Jetzt sah sie mit Augen voll Angst und Elend zu ihm auf. »Bitte ruf die Polizei nicht an, Ralph. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß Natalies Dad im Gefängnis sitzt wegen... wegen...«

Helen fing an zu weinen. Natalie sah ihre Mutter einen Moment mit einem Ausdruck komischer Überraschung an, dann stimmte sie ein.

7

»Ralph?« fragte McGovern zögernd. »Möchtest du ihr eine Tylenol oder so was geben?«

»Besser nicht«, sagte er. »Wir wissen nicht, was ihr fehlt, wie schlimm die Verletzungen sind.« Sein Blick wanderte zum Schaufenster, er wollte nicht sehen, was da draußen war, hoffte, es nicht zu sehen, und sah es trotzdem: neugierige Gesichter in einer Reihe bis zu der Stelle, wo der Kühlschrank mit dem Bier den Blick ins Innere verdeckte. Manche hielten die Hände seitlich ans Gesicht, um das Gleißen zu mildern.

»Was sollen wir tun, Männer?« fragte Sue. Sie betrachtete die Gaffer und zupfte nervös am Saum der Red Apple-Schürze, die Angestellte tragen mußten. »Wenn die Firmenleitung herausfindet, daß ich während der Geschäftszeit die Tür abgeschlossen habe, können sie mich feuern.«

Helen zupfte an seiner Hand. »Bitte, Ralph«, wiederholte sie, aber mit ihren geschwollenen Lippen hörte es sich wie Biii, Raff an. »Ruf niemand an.«

Ralph sah sie unsicher an. Er hatte im Lauf seines Lebens viele Frauen mit Blutergüssen gesehen, und einige (aber um ehrlich zu sein, nicht viele), die schlimmer zusammengeschlagen worden waren als Helen. Aber es hatte nicht immer so schlimm ausgesehen. Sein Denken und seine Moralvorstellungen waren in einer Zeit geprägt worden, als die Leute glaubten, was hinter verschlossenen Türen zwischen Mann und Frau in der Ehe vor sich ging, sei ausschließlich deren Sache, das galt auch für den Mann, der mit den Fäusten zuschlug, und die Frau, die mit ihrer spitzen Zunge Schaden zufügte. Man konnte die Leute nicht zwingen, sich zu benehmen, und wenn man sich in ihre Angelegenheiten einmischte - selbst mit besten Absichten -, wurden nicht selten Freunde zu Feinden.

Aber dann dachte er daran, wie sie Natalie getragen hatte, als sie über den Parkplatz gestolpert war: achtlos auf der Hüfte wie ein Schulbuch. Wenn sie das Baby auf dem Parkplatz fallengelassen hätte, oder als sie die Harris Avenue überquerte, hätte sie es wahrscheinlich nicht gemerkt; Ralph vermutete, daß nur ein Instinkt Helen veranlaßt hatte, das Baby überhaupt mitzunehmen. Sie hatte Nat nicht in der Obhut des Mannes zurücklassen wollen, der sie so schlimm verprügelt hatte, daß sie nur noch aus einem Auge sehen und nuschelnde, verschliffene Silben von sich geben konnte.

Er dachte aber auch noch an etwas anderes, etwas, das mit Carolyns Tod Anfang des Jahres zu tun hatte. Das Ausmaß seines Kummers hatte ihn überrascht - immerhin hatte er mit ihrem Tod rechnen können; er hatte geglaubt, er hätte den größten Teil seines Kummers noch zu Carolyns Lebzeiten aufgebraucht -, und dieser Kummer hatte ihn linkisch und hilflos gemacht, als es um die letzten Vorkehrungen gegangen war, die getroffen werden mußten. Es war ihm gelungen, das Bestattungsinstitut Brookings-Smith anzurufen, aber Helen hatte die Todesanzeige in die Derry News gesetzt und ihm geholfen, sie abzufassen, Helen war mit ihm gegangen, einen Sarg auszuwählen (McGovern, der den Tod verabscheute, und alles, was damit zusammenhing, hatte sich dünne gemacht); und Helen hatte ihm geholfen, ein Blumenbukett auszusuchen -auf dem Meiner geliebten Frau stand. Und selbstverständlich hatte Helen den Leichenschmaus hinterher organisiert, Sandwiches bei Frank's Lieferservice bestellt und alkoholfreie Getränke und Bier aus dem Red Apple geholt.

Helen hatte ihm geholfen, als er sich selbst nicht helfen konnte. War er nicht verpflichtet, ihr diese Freundlichkeit zu vergelten, selbst wenn Helen es im Augenblick nicht als Hilfe ansah?

»Bill?« fragte er. »Was denkst du?«

McGovern sah von Ralph zu Helen, die mit gesenktem, zerschlagenem Gesicht auf dem Stuhl saß, und dann wieder zu Ralph. Er holte ein Taschentuch heraus und strich sich nervös über die Lippen. »Ich weiß nicht. Ich mag Helen sehr, und ich will nichts falsch machen - das weißt du -, aber bei so etwas... wer weiß da schon, was richtig ist?«

Ralph fiel plötzlich ein, was Carolyn immer gesagt hatte, wenn er sich über eine Aufgabe beschwerte, die er nicht ausführen, eine Besorgung, die er nicht machen oder einen Pflichtbesuch, den er nicht erledigen wollte: Es ist ein langer Weg zurück ins Paradies, Liebes, also hör auf, dich über Kleinigkeiten aufzuregen.

Er griff wieder zum Telefon, und als Helen diesmal nach seiner Hand griff, stieß er sie weg.

»Sie haben das Polizeirevier Derry angerufen«, sagte eine Stimme vom Band. Drücken Sie eins für Notfälle. Drücken Sie zwei für Polizeiberatung. Drücken Sie drei für die Information.«

Ralph, dem plötzlich klar wurde, daß er alle drei Nummern benötigte, zögerte einen Moment und drückte dann zwei. Das Telefon summte, und eine Frauenstimme sagte: »Hier ist der Polizeinotruf 911, wie kann ich Ihnen helfen?«

Er holte tief Luft und sagte: »Hier spricht Ralph Roberts. Ich befinde mich im Red Apple Laden in der Harris Avenue mit einer Nachbarin aus der Straße. Ihr Name ist Helen Deepneau. Sie ist ziemlich übel zusammengeschlagen worden.« Er legte Helen behutsam die Hand ans Gesicht, worauf sie die Stirn an seine Seite drückte. Er konnte ihre warme Haut durch das Hemd spüren. »Bitte kommen Sie so schnell Sie können.«

Er legte den Hörer auf, dann kauerte er sich neben Helen. Natalie sah ihn, krähte vor Freude und streckte die Hand aus, um ihn freundschaftlich in die Nase zu kneifen. Ralph lächelte, küßte ihre winzige Handfläche und sah Helen ins Gesicht.

»Es tut mir leid, Helen«, sagte er, »aber es mußte sein. Ich konnte es nicht lassen. Das verstehst du doch? Ich konnte es nicht lassen.«

»Ich verste gar nichts mehr!« sagte sie. Ihre Nase hatte aufgehört zu bluten, aber als sie die Hand hob, um darüberzustreichen, zuckte sie unter der eigenen Berührung zusammen.

»Helen, warum hat er es getan? Warum hat Ed dich so verprügelt?« Er mußte an andere Blutergüsse denken, überwiegend auf Helens Armen - möglicherweise war es häufiger vorgekommen. Falls es häufiger vorgekommen war, war es ihm bis heute nicht aufgefallen. Wegen Carolyns Tod. Und wegen der Schlaflosigkeit, die danach gekommen war. In jedem Fall glaubte er nicht, daß Ed heute zum erstenmal Hand an seine Frau gelegt hatte. Heute mochte die drastische Eskalation stattgefunden haben, aber das erstemal war es nicht. Er konnte den Gedanken begreifen und seine zwingende Logik einsehen, aber er konnte sich trotzdem nicht vorstellen, wie Ed es tat. Er konnte Eds rasches Grinsen sehen, seine lebhaften Augen, wie er beim Sprechen rastlos die Hände bewegte... aber er konnte sich nicht vorstellen, wie Ed seine Frau mit diesen Händen krankenhausreif schlug, so sehr er es sich auch vorstellte.

Dann kam eine Erinnerung an die Oberfläche zurück, die Erinnerung daran, wie Ed steifbeinig auf den Mann zuging, der den blauen Pritschenwagen gefahren hatte - ein Ford Ranger war es gewesen, oder nicht? -, und dem Mann dann mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen hatte. Als er sich daran erinnerte, war es, als hätte er die Tür von Fibber McGees Schrank in der alten Rundfunksendung aufgemacht, aber heraus kam kein Erdrutsch von Plunder, sondern eine Folge lebhafter Bilder von diesem Tag im letzten Juli. Die Gewitterwolken über dem Flughafen. Eds Arm, der zum Fenster des Datsun herausragte und auf und ab winkte, als könnte er damit das Tor veranlassen, sich schneller zu öffnen. Der Schal mit den chinesischen Symbolen darauf.

Hey, hey, Susan Day, how many kids did you kill today? dachte Ralph, aber es war Eds Stimme, nur Eds Stimme, die er hörte, und er wußte ziemlich genau, was Helen sagen würde, noch bevor sie den Mund aufmachte.

»So dumm«, sagte sie traurig. »Er hat mich geschlagen, weil ich eine Petition unterschrieben habe - das war alles. Die Listen gehen in der ganzen Stadt herum. Jemand hat sie mir vors Gesicht gehalten, als ich vorgestern in den Supermarkt gegangen bin. Er sagte etwas von einer Benefizveranstaltung für Woman-Care, und das schien mir völlig in Ordnung zu sein.

Außerdem war das Baby unruhig, darum habe ich eben... «

»Du hast unterschrieben«, sagte Ralph leise.

Sie nickte und fing wieder an zu weinen.

»Was für eine Petition?« fragte McGovern.

»Susan Day nach Derry zu holen«, antwortete Ralph. »Sie ist eine Feministin -«

»Ich weiß, wer Susan Day ist«, sagte McGovern gereizt.

»Jedenfalls wollen ein paar Leute sie hierher holen, damit sie eine Rede hält. Zugunsten von Woman-Care.«

»Als Ed heute nach Hause kam, war er bester Laune«, sagte Helen unter Tränen. »Das ist er donnerstags fast immer, weil das sein halber Tag ist. Er hat davon gesprochen, daß er den Nachmittag über so tun würde, als ob er ein Buch lese, in Wirklichkeit aber nur dem Rasensprenger zusehen, wie er sich im Kreis herumdrehte... du weißt ja, wie er ist...«

»Ja«, sagte Ralph, der sich erinnerte, wie Ed den Arm in eines der Fässer des vierschrötigen Mannes gebohrt hatte, und an sein verschlagenes Grinsen (Ich kenne bessere Tricks als den) im Gesicht. »Ja, ich weiß, wie er ist.«

»Ich habe ihn weggeschickt, um etwas Babypuder zu holen...«Ihre Stimme schwoll an, wurde furchtsam und ängstlich. »Ich wußte nicht, daß er sich so aufregen würde... ich hatte schon fast vergessen, daß ich das verdammte Ding unterschrieben hatte, um ehrlich zu sein... und ich verstehe immer noch nicht, warum er sich so aufgeregt hat... aber... aber als er zurückkam... « Sie zitterte und drückte Natalie an sich.

»Pssst, Helen, beruhige dich, alles ist gut.«

»Nein, nichts ist gut!« Sie sah zu ihm auf, und Tränen rannen aus dem einen Auge und quollen unter dem geschwollenen Lid des anderen hervor. »Ni-ni-nihichts ist gut l Warum hat er diesmal nicht aufgehört? Und was soll aus mir und dem Baby werden? Wohin sollen wir gehen? Ich habe kein Geld, abgesehen von dem auf dem gemeinsamen Girokonto... ich habe keinen Job... O Ralph, warum hast du die Polizei gerufen? Das hättest du nicht tun sollen!« Und sie schlug ihm mit einer kraftlosen kleinen Faust auf den Unterarm.

»Du wirst das prima überstehen«, sagte er. »Du hast eine Menge Freunde in der Nachbarschaft.«

Aber er hörte kaum, was er sagte, und ihren kleinen Knuff hatte er überhaupt nicht gespürt. Der Zorn pochte in seiner Brust und in den Schläfen wie ein zweiter Herzschlag.

Nicht: Warum hat er nicht aufgehört; das hatte sie nicht gesagt. Sie hatte gesagt: Warum hat er diesmal nicht aufgehört?

Diesmal.

»Helen, wo ist Ed jetzt?«

»Zu Hause, denke ich«, sagte sie niedergeschlagen.

Ralph tätschelte ihr die Schulter, dann drehte er sich um und ging zur Tür.

»Ralph?« fragte Bill McGovern. Er hörte sich erschrocken an. »Wo gehst du hin?«

»Schließen Sie die Tür hinter mir ab«, sagte Ralph zu Sue.

»Herrje, ich weiß nicht, ob ich das kann.« Sue sah zweifelnd zu der Reihe der Schaulustigen, die zu dem schmutzigen Fenster hereinsahen. Jetzt waren es noch mehr geworden.

»Sie können«, sagte er, dann legte er den Kopf schief, als er das erste Heulen der näherkommenden Sirene hörte. »Hören Sie das?«

»Ja, aber... «

»Die Polizisten werden Ihnen sagen, was Sie tun sollen, und Ihr Boss wird auch nicht wütend auf Sie sein - wahrscheinlich gibt er Ihnen einen Orden, weil Sie alles genau richtig gemacht haben.«

»Wenn er das tut, dann teile ich ihn mit Ihnen«, sagte sie, dann betrachtete sie Helen wieder. »Herrje, Ralph, sehen Sie sie an. Hat er sie wirklich so verprügelt, weil sie ein blödes Stück Papier bei Shaw's unterschrieben hat?«

»Sieht so aus«, sagte Ralph. Die Unterhaltung ergab durchaus einen Sinn für ihn, schien aber aus weiter Ferne zu kommen. Seine Wut war viel näher; ihm kam es vor, als hätte sie die Arme um seinen Hals geschlungen. Er wünschte sich, er wäre noch einmal vierzig, höchstens fünfzig, damit er Ed eine Dosis seiner eigenen Medizin verabreichen könnte. Und er hatte eine Ahnung, als würde er es trotzdem versuchen.

Er drehte den Schlüssel im Schloß herum, als McGovern ihn an der Schulter packte. »Was hast du vor?«

»Ich gehe Ed besuchen.«

»Soll das ein Witz sän? Er wird dich auseinandernehmen, wenn du ihm unter die Augen kommst. Hast du nicht gesehen, was er mit ihr gemacht hat?«

»Worauf du dich verlassen kannst«, antwortete Ralph. Die Worte waren nicht gerade ein Fauchen, kamen dem aber so nahe, daß McGovern die Hand sinken ließ.

»Du bist siebzig beschissene Jahre alt, Ralph, falls du das vergessen hast. Und Helen braucht im Augenblick einen Freund, und nicht einen durch den Fleischwolf gedrehten alten Tattergreis, den sie besuchen kann, weil er im Krankenhaus nur drei Zimmer von ihrem entfernt liegt.«

Bill hatte selbstverständlich recht, aber das machte Ralph noch wütender. Er vermutete, daß seine Schlaflosigkeit auch hier die Hand im Spiel hatte, seine Wut entfachte und seine Vernunft beeinträchtige, aber das spielte keine Rolle. In gewisser Weise kam die Wut einer Erleichterung gleich. Sie war immer noch besser, als durch eine Welt zu gehen, in der alles dunkle Grautöne angenommen hatte.

»Wenn er mich genügend zusammenschlägt, geben sie mir Demerol, und ich kann endlich mal wieder eine Nacht durchschlafen«, sagte er. »Und jetzt laß mich in Ruhe, Bill.«

Er überquerte den Parkplatz des Big Apple mit raschen Schritten. Ein Polizeiauto näherte sich mit blauem Blinklicht. Fragen - Was ist passiert? Geht es ihr gut? - wurden ihm entgegengeschleudert, aber Ralph achtete nicht darauf. Er wartete auf dem Bürger steig bis das Polizeiauto auf den Parkplatz gefahren war, dann überquerte er die Harris Avenue in derselben hastigen Gangart, während McGovern ihm in einiger Entfernung ängstlich folgte.

Kapitel 3

Ed und Helen Deepneau lebten in einem kleinen Cape Cod schokoladenbraun, Verzierungen wie Schlagsahne, ein Haus, wie es ältere Frauen häufig »Darling« nennen - vier Häuser von dem entfernt, das sich Ralph und Bill McGovern teilten. Carolyn hatte immer gesagt, die Deepneaus gehörten »der Kirche der Yuppies der Letzten Tage« an, aber die Tatsache, daß sie sie wirklich gern hatte, hatte der Bemerkung vieles von ihrer Schärfe genommen. Sie waren Laissez-faire-Vegetarier, die Fisch und Milchprodukte okay fanden, sie hatten bei der letzten Wahl für Clinton gearbeitet, und das Auto, das in der Einfahrt stand - kein Datsun, sondern einer der neuen Kleinbusse -, trug Stoßstangenaufkleber wie SPALTET HOLZ, KEINE ATOME oder PELZ AN TIEREN, NICHT AN MENSCHEN.

Außerdem hatten die Deepneaus jede Platte behalten, die sie in den sechziger Jahren gekauft hatten - das war für Carolyn eine ihrer liebenswertesten Eigenheiten gewesen -, und als sich Ralph nun mit zu Fäusten geballten Händen dem Cape Cod näherte, hörte er Grace Slick eine der alten Hymnen aus San Francisco singen:

»One pull makes you larger,

One pill makes you small,

And the ones that Mother gives you Don't do anything at all,

Go ask Alice, when she's ten feet tall.«

Die Musik kam aus einem Gettoblaster auf der briefmarkengroßen Veranda des Cape Cod. Auf dem Rasen drehte sich ein Sprinkler, der ein Hischa-hischa-hischa von sich gab, während er Regenbogen in die Luft warf und einen schimmernden feuchten Fleck auf dem Rasen hinterließ. Ed Deepneau saß mit bloßem Oberkörper in einem Liegestuhl, hatte die Beine übereinandergeschlagen und sah mit dem nachdenklichen Ausdruck eines Mannes zum Himmel, der zu entscheiden versucht, ob eine Wolke, die vorüberzieht, mehr wie ein Pferd oder wie ein Einhorn aussieht. Ein Fuß wippte im Takt der Musik auf und ab. Das Buch, das aufgeschlagen und verkehrt herum auf seinem Schoß lag, paßte perfekt zu der Musik: Sogar Cowgirls kriegen mal Blues von Tom Robbins.

Eine fast perfekte Sommervignette; eine Szene kleinstädtischen Friedens, die Norman Rockwell gemalt und mit dem Titel »Freier Tag« versehen haben könnte. Man mußte nur über das Blut auf Eds Knöcheln und den Spritzer auf dem linken Glas seiner John Lennon-Brille hinwegsehen.

»Ralph, um Gottes willen, laß dich nicht auf einen Kampf mit ihm ein!« zischte McGovern, als Ralph den Bürgersteig verließ und über den Rasen ging. Er schritt durch die feine, kalte Gischt des Rasensprengers und bemerkte sie fast nicht.

Ed drehte sich um und ließ ein sonniges Grinsen sehen. »He, Ralph!« sagte er. »Schön, dich zu sehen, Mann!«

Vor seinem geistigen Auge sah Ralph, wie er den Arm ausstreckte, Eds Stuhl umschubste und Ed auf den Rasen stieß. Er sah, wie Ed hinter der Brille die Augen erschrocken und überrascht aufriß. Die Vision war so real, daß er sogar sah, wie sich die Sonne auf dem Ziffernblatt von Eds Uhr spiegelte, als er versuchte, sich aufzurichten.

»Hol dir ein Bier und zieh dir einen Stuhl her«, sagte Ed. »Wenn dir nach einer Partie Schach zumute ist...«

»Bier? Eine Partie Schach? Herrgott, Ed, was stimmt denn nicht mit dir?«

Ed antwortete nicht gleich, sondern sah Ralph nur mit einem Ausdruck an, der furchteinflößend und nervtötend zugleich war. Es war eine Mischung aus Heiterkeit und Scham, der Ausdruck eines Mannes, der sich anschickt zu sagen: Oh, Scheiße, Liebling, hob ich schon wieder vergessen, den Müll rauszustellen?

Ralph deutete an McGovern vorbei den Hügel hinunter McGovern stand bei dem nassen Fleck, den der Rasensprenger auf dem Bürgersteig hinterlassen hatte, und hätte sich versteckt, hätte es etwas gegeben, wohinter er sich hätte verkriechen können, und beobachtete sie nervös. Zu dem ersten Polizeiauto hatte sich ein zweites gesellt, und Ralph konnte leise das Knistern von Funkverkehr hören durch die offenen Fenster hören. Die Menschenmenge war beachtlich angewachsen.

»Die Polizei ist wegen Helen hier!« sagte er und ermahnte sich, nicht zu schreien, es würde nichts nützen, zu schreien, schrie aber trotzdem. »Sie sind hier, weil du deine Frau verprügelt hast, kapierst du das?«

»Oh«, sagte Ed und rieb sich reumütig die Wangen. »Deswegen.«

»Ja, deswegen«, sagte Ralph. Er war jetzt fast besinnungslos vor Wut.

Ed sah an ihm vorbei zu den Polizeiautos, zu der Menschenmenge, die vor dem Red Apple stand... und dann sah er McGovern.

»Bill!« rief er. McGovern zuckte zusammen. Ed bemerkte es entweder nicht oder wollte es nicht bemerken. »He, Mann! Zieh dir einen Stuhl ran! Willst du ein Bier?«

Da wußte Ralph, daß er Ed schlagen, seine alberne runde Brille zerbrechen, ihm möglicherweise einen Glassplitter ins Auge treiben würde. Er würde es tun, nichts auf der Welt konnte ihn davon abhalten, aber im letzten Augenblick hielt ihn doch etwas ab. Carolyns Stimme hörte er heutzutage immer häufiger in seinem Kopf - das heißt, wenn er nicht einfach vor sich hinmurmelte -, aber es war nicht Carolyns Stimme; diese Stimme gehörte, so unwahrscheinlich es sich anhörte, Trigger Vachon, den er nur ein- oder zweimal gesehen hatte, seit dieser ihn vor dem Gewitter rettete, als Carolyn ihren ersten Anfall gehabt hatte.

Jawoll, Ralph! Sei verdammt vorsischtisch! Der ist völlisch von der Rolle! Vielleischt will er, daß du ihn 'aust!

Ja, entschied er. Vielleicht wollte Ed genau das. Warum?

Wer weiß. Vielleicht, um das Wasser etwas zu trüben, vielleicht auch nur, weil er verrückt war.

»Hör auf mit dem Scheiß«, sagte er mit fast zu einem Flüstern gesenkter Stimme. Er stellte dankbar fest, daß ihm sofort wieder Eds ungeteilte Aufmerksamkeit galt, und es freute ihn noch mehr, daß Eds angenehm vager Ausdruck verschämter Heiterkeit verschwand. Er wurde von einer verkniffenen, argwöhnischen Miene ersetzt. Es war, fand Ralph, der Ausdruck eines gefährlichen, gereizten Tieres.

Ralph bückte sich, damit er Ed direkt ansehen konnte. »War es wegen Susan Day?« fragte er mit derselben leisen Stimme. »Susan Day und dieser Abtreibungsgeschichte? Wegen der toten Babys? Hast du das alles an Helen ausgelassen?«

Eine andere Frage ging ihm durch den Kopf - Wer bist du wirklich, Ed? -, aber bevor er sie stellen konnte, streckte Ed eine Hand aus, drückte sie auf Ralphs Brust und stieß zu. Ralph fiel rückwärts auf das nasse Gras, wo er sich mit Ellbogen und Schultern abstützte. Er lag mit flach auf den Boden gepreßten Füßen und aufgestellten Knien da und beobachtete, wie Ed plötzlich aus dem Liegestuhl sprang.

»Ralph, leg dich nicht mit ihm an!« rief McGovern von seiner relativ sicheren Position auf dem Bürgersteig.

Ralph schenkte ihm keine Beachtung. Er blieb einfach, wo er war, auf die Ellbogen gestützt, und beobachtete Ed aufmerksam. Er war immer noch ängstlich und wütend, aber diese Empfindungen wurden von einer seltsam kalten Faszination überschattet. Es war Wahnsinn, was er da vor sich sah - der absolut helle Wahnsinn. Kein Comic-Bösewicht, kein Norman Bates, kein Kapitän Ahab. Nur Ed Deepneau, der unten an der Küste in den Hawking Labors arbeitete - eines der Superhirne, wie die alten Männer draußen auf dem Picknickplatz gesagt hätten, aber trotzdem ein ziemlich netter Kerl für einen Demokraten. Und jetzt war der nette Kerl verrückt geworden, total plemplem, und das war nicht erst heute nachmittag passiert, als Ed den Namen seiner Frau auf der Liste gesehen hatte, die im Shaw's am schwarzen Brett hing. Ralph begriff jetzt, daß Eds Wahnsinn mindestens ein Jahr alt war, und dabei fragte er sich, was für Geheimnisse Helen hinter ihrem normalen, fröhlichen Verhalten und ihrem unbekümmerten Lächeln verborgen haben mochte, und welche kleinen, verzweifelten Signale - abgesehen von den Blutergüssen - ihm möglicherweise entgangen sein konnten.

Und dann ist da noch Natalie, dachte er. Was hat sie gesehen? Was hat sie erlebt? Davon abgesehen, daß sie auf der blutigen Hüfte ihrer stolpernden Mutter über den Parkplatz des Red Apple getragen worden war.

Gänsehaut bildete sich auf Ralphs Armen.

Derweil ging Ed auf und ab, überquerte ununterbrochen den Betonweg und zertrat die Zinnien, die Helen an dessen Rand entlang gepflanzt hatte. Er war wieder zu dem Ed geworden, den Ralph vor einem Jahr am Flughafen gesehen hatte, bis hin zu den knappen, ruckartigen Kopfbewegungen und den stechenden Blicken ins Leere.

Das sollte das arglose Benehmen von vorhin verbergen, dachte Ralph. Er sieht jetzt genauso aus wie damals, als er hinter dem Mann her war, der den Pickup gefahren hat. Wie ein Hahn, der sein kleines Stück des Hofs verteidigt.

»Das alles ist strenggenommen nicht ihre Schuld, das gebe ich zu.« Ed sprach hastig und schlug mit der rechten Faust in die linke Handfläche, während er durch den Gischtschleier des Rasensprengers ging. Ralph fiel auf, daß er jede Rippe von Eds Brustkorb sehen konnte; der Mann sah aus, als hätte er seit Monaten keine anständige Mahlzeit mehr eingenommen.

»Aber wenn die Dummheit einmal ein bestimmtes Maß erreicht hat, fällt es einem schwer, damit zu leben«, fuhr Ed fort. »Sie ist im Grunde genommen wie die drei Weisen, die zu König Herodes kommen und Informationen wollen. Ich meine, wie dumm kann man werden? > Wo ist der, der zum König der Juden geboren ist?< Das fragen sie Herodes. Ich meine, von wegen weise Männer! Richtig, Ralph?«

Ralph nickte. Klar, Ed. Wie du meinst, Ed.

Ed erwiderte das Nicken, trampelte weiter durch die Gischt und die geisterhaften, ineinander verflochtenen Regenbogen und schlug die Faust in die Handfläche. »Es ist wie in diesem Song der Rolling Stones - >Look at that, look at that, look at that stupid girl< - >Sieh dir das dumme Mädchen an.< Daran erinnerst du dich wahrscheinlich nicht, oder?« Ed lachte, ein sprödes, kurzatmiges Geräusch, bei dem Ralph an Ratten denken mußte, die auf Glasscherben tanzten.

McGovern kniete neben ihm. »Laß uns von hier verschwinden«, murmelte er. Ralph schüttelte den Kopf, und als sich Ed wieder in ihre Richtung umdrehte, stand McGovern hastig auf und zog sich auf den Bürgersteig zurück.

»Sie hat gedacht, sie könnte dich hinters Licht führen, ist es das?« fragte Ralph. Er lag immer noch auf die Ellbogen gestützt auf dem Rasen. »Sie hat gedacht, du würdest nicht herausfinden, daß sie die Petition unterschrieben hat.«

Ed sprang über den Weg, beugte sich über Ralph und schüttelte seine Fäuste über dessen Kopf wie ein Bösewicht in einem Stummfilm. »Nein-nein-nein-nein!« schrie er.

Die Jefferson Airplane waren den Animals gewichen, Eric Burdon röhrte das Evangelium nach John Lee Hooker: Boomboom-boom-boom, gonna shoot ya right down. McGovern stieß einen dünnen Schrei aus, weil er offenbar dachte, Ed würde Ralph angreifen, aber statt dessen sank Ed nach unten, preßte die Knöchel ins Gras und nahm die Haltung eines Sprinters an, der bereit ist, aus den Startlöchern zu schnellen, sobald die Starterpistole ertönt. Perlen bedeckten sein Gesicht, die Ralph anfangs für Schweiß hielt, bis ihm einfiel, daß Ed durch die Gischt des Sprengers hin und her gegangen war. Ralph mußte ständig den Blutspritzer auf dem linken Brillenglas von Ed ansehen. Der war ein wenig verschmiert, so daß die Pupille des linken Auges jetzt aussah, als wäre sie mit Blut gefüllt.

»Es war Schicksal, daß ich herausfand, daß sie die Petition unterschrieben hatte! Einfach Schicksal! Willst du mir einreden, daß du das nicht einsiehst? Beleidige nicht meine Intelligenz, Ralph! Du bist vielleicht in die Jahre gekommen, aber du bist alles andere als dumm. Es ist so, ich gehe runter zum Supermarkt, um Simulac zu kaufen - Babypuder, das nenne ich Ironie! -, und muß feststellen, daß sie bei den Babykillern unterschrieben hat! Den Zenturions! Dem Scharlachroten König persönlich! Und weißt du was? Ich... habe... einfach... rot gesehen!«

»Der Scharlachrote König, Ed? Wer ist das?«

»Oh, bitte.« Ed warf Ralph einen listigen Blick zu. >»Da Herodes nun sah, daß er von den Weisen betrogen worden war, ward er sehr zornig und schickt aus und ließ alle Knäblein zu Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die da zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er mit Fleiß von den Weisen erkundet hatte.< Es steht in der Bibel, Ralph. In der guten King James-Ausgabe. Matthäus, Kapitel 2, Vers 16. Zweifelst du daran? Hast du etwa den geringsten verschissenen Zweifel, daß das dort steht?«

»Nein. Wenn du es sagst, glaube ich dir.«

Ed nickte. Der Blick seiner tiefen und erstaunlich grünen Augen schnellte hierhin und dorthin. Dann beugte er sich langsam nach vorne über Ralph und plazierte seine Hände auf beiden Seiten von Ralphs Armen. Es war, als wollte er ihn küssen. Ralph konnte Schweiß und ein Aftershave riechen, das sich fast völlig verflüchtigt hatte, und noch etwas - einen Geruch wie von alter, saurer Milch. Er fragte sich, ob das der Gestank von Eds Wahnsinn sein konnte.

Ein Krankenwagen kam mit Blaulicht, aber ohne Sirene, die Harris Avenue entlanggefahren. Er bog auf den Parkplatz des Red Apple ein.

»Das solltest du«, atmete Ed ihm ins Gesicht. »Das solltest du besser glauben.«

Sein Blick hörte auf zu schweifen und heftete sich auf Ralph.

»Sie töten die Babys en gros«, sagte er mit leiser, nicht ganz standhafter Stimme. »Reißen Sie aus den Leibern ihrer Mütter und befördern sie mit verdeckten Lastwagen aus der Stadt. Überwiegend Pritschenwagen. Stell dir eine Frage, Ralph: Wie oft am Tag siehst du einen dieser großen Pritschenwagen die Straße entlangfahren? Einen Pritschenwagen, über den eine Plane gespannt ist? Hast du dich schon mal gefragt, was sich unter diesen Planen befindet?«

Ed grinste. Er verdrehte die Augen.

»Die meisten Embryos verbrennen sie drüben in Newport. Auf dem Schild steht Mülldeponie, aber in Wirklichkeit ist es ein Krematorium. Aber manche transportieren sie auch über die Staatsgrenze. Mit Lastwagen und kleinen Flugzeugen. Weil das Gewebe von Embryos überaus wertvoll ist. Das sage ich dir nicht nur als besorgter Bürger, Ralph, sondern als Angestellter der Hawking Labors. Embryogewebe ist... wertvoller... als Gold.«

Plötzlich drehte er sich um und sah Bill McGovern an, der wieder etwas nähergekommen war, damit er alles mitbekam, was Ed sagte.

»JA, WERTVOLLER ALS GOLD UND KOSTBARER ALS RUBINE!« kreischte er, worauf McGovern zurücksprang und vor Angst und Unbehagen die Augen aufriß. »WEISST DU DAS, DU ALTE SCHWUCHTEL?«

»Ja«, sagte McGovern. »Ich... ich denke schon.« Er warf hastig einen Blick die Straße hinunter, wo eines der Polizeiautos gerade rückwärts aus dem Parkplatz des Red Apple stieß und in ihre Richtung gefahren kam. »Ich glaube, ich habe darüber gelesen. Möglicherweise in Scientific American.«

»Scientific American!« Ed lachte verächtlich und verdrehte die Augen vor Ralph, als wollte er sagen: Da siehst du, womit ich es zu tun habe. Dann wurde sein Gesicht wieder nüchtern. »Mord en gros«, sagte er, »genau wie zu Zeiten Christi. Nur ist es jetzt Mord an den Ungeborenen. Nicht nur hier, sondern überall auf der Welt. Sie schlachten sie zu Tausenden ab, Ralph, zu Millionen, und weißt du warum? Weißt du, weshalb wir in diesem neuen dunklen Zeitalter wieder am Hof des Scharlachroten Königs sind?«

Ralph wußte es. Es war nicht schwer, eins und eins zusammenzuzählen, wenn man genügend Puzzleteile hatte, mit denen man arbeiten konnte. Wenn man Ed gesehen hatte, wie er mit den Armen in einem Faß Dünger nach den toten Babys suchte, die er zu finden erwartet hatte.

»König Herodes ist diesmal etwas früher gewarnt worden«, sagte Ralph. »Willst du das damit sagen? Die alte MessiasGeschichte, richtig?«

Er richtete sich auf und rechnete halb damit, daß Ed ihn wieder zurückstoßen würde, hoffte fast darauf. Seine Wut stellte sich wieder ein. Es war sicher falsch, die unsinnigen Hirngespinste eines Wahnsinnigen zu kritisieren wie ein Schauspiel oder einen Film - vielleicht sogar blasphemisch -, aber Ralph versetzte der Gedanke, daß Helen wegen dieser ungereimten alten Scheiße verprügelt war, in Raserei.

Ed rührte ihn nicht an, er stand lediglich auf und wischte sich geschäftsmäßig die Hände ab. Er schien sich wieder abzuregen. Der Polizeifunk knisterte lauter, als der Streifenwagen, der vom Red Apple hergekommen war, an den Bordstein fuhr. Ed sah zu dem Streifenwagen, dann zu Ralph, der ebenfalls aufstand.

»Du kannst dich darüber lustig machen, aber es ist wahr«, sagte er leise. »Aber es ist nicht König Herodes - es ist der Scharlachrote König. Herodes war lediglich eine seiner Inkarnationen. Der Scharlachrote König springt von einem Körper zum nächsten, von einer Generation zur nächsten, wie ein Kind, das von Stein zu Stein über eine Brücke hüpft, Ralph, ständig auf der Suche nach dem Messias. Er hat ihn immer verpaßt, aber diesmal könnte es anders sein. Weil Derry anders ist. Alle Kraftlinien laufen hier zusammen. Ich weiß, das ist schwer zu glauben, aber es stimmt.«

Der Scharlachrote König, dachte Ralph. O Helen, es tut mir so leid. Wie traurig das alles ist.

Zwei Männer - einer in Uniform, einer in Zivil, wahrscheinlich beides Polizisten - stiegen aus dem Streifenwagen aus und näherten sich McGovern. Hinter ihnen konnte Ralph zwei weitere Männer in weißen Hosen und kurzärmligen weißen Hemden sehen, die aus dem Red Apple kamen. Einer hatte den Arm um Helen gelegt, die mit den zaghaften Schritten einer gerade Operierten ging. Der andere trug Natalie.

Diese beiden Männer - Ralph vermutete, daß es sich um Arzthelfer handelte - halfen Helen, in den Krankenwagen einzusteigen. Der mit dem Baby stieg hinter ihr ein, während der andere zum Fahrersitz ging. Ralph spürte aus ihren Bewegungen mehr Kompetenz als Panik und dachte, daß das gut für Helen sein mußte. Vielleicht hatte Ed sie nicht allzu schlimm verletzt... jedenfalls nicht diesmal.

Der Polizist in Zivil - untersetzt, mit breiten Schultern und einem blonden Schnurrbart und Koteletten, deren Stil Ralph als »Frühe Amerikanische Single-Bar« bezeichnete - hatte sich McGovern genähert, den er zu kennen schien. Der Zivilbeamte stellte ein breites Grinsen zur Schau.

Ed legte Ralph einen Arm um die Schultern und zog ihn ein paar Schritte von den Männern auf dem Bürgersteig fort. Außerdem senkt er seine Stimme zu einem leisen Murmeln. »Will nicht, daß sie uns hören«, sagte er.

»Das kann ich mir denken.«

»Diese Kreaturen... Zenturions... Diener des Scharlachroten Königs... werden vor nichts zurückschrecken. Sie sind unerbittlich.«

»Jede Wette.« Ralph sah über die Schulter und bekam gerade noch mit, wie McGovern auf Ed deutete. Der untersetzte Mann nickte ruhig. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und immer noch ein dünnes, mildes Lächeln auf den Lippen.

»Du solltest aber nicht den Eindruck gewinnen, daß es nur um Abtreibung geht! Nicht mehr. Sie nehmen die Ungeborenen von allen Müttern, nicht nur von den Junkies und Huren - acht Tage, acht Wochen, acht Monate, für die Zenturions ist das alles eins. Die Ernte geht Tag und Nacht weiter. Das Gemetzel. Ich habe die Leichen von Kindern auf Dächern gesehen, Ralph... unter Hecken... sie sind in den Abwasserkanälen... sie schweben in der Kanalisation und im Kenduskeag unten in den Barrens...«

Seine Augen, groß und grün und funkelnd wie kitschige Smaragde, starrten in die Ferne.

»Ralph«, flüsterte er, »manchmal ist die Welt voller Farben. Ich habe sie gesehen, seit er hier war und es mir gesagt hat. Aber jetzt werden alle Farben schwarz.«

»Seit wer gekommen ist und es dir gesagt hat, Ed?«

»Wir reden später darüber«, antwortete Ed aus dem Mundwinkel wie ein Ganove in einem Gangsterfilm. Unter anderen Umständen wäre es komisch gewesen.

Ein breites Quizmastergrinsen breitete sich über sein Gesicht aus und vertrieb den Wahnsinn so sicher wie der Sonnenaufgang die Nacht. Die Veränderung war in ihrer Plötzlichkeit beinahe tropisch und verdammt unheimlich, aber für Ralph hatte sie dennoch etwas Tröstliches. Vielleicht mußten sie - er, McGovern, Lois, alle anderen, die in diesem kurzen Abschnitt der Harris Avenue wohnten- sich doch nicht so sehr die Schuld daran geben, daß sie Eds Wahnsinn nicht schon früher gesehen hatten. Denn Ed war gut; Ed hatte seine Rolle wirklich einstudiert. Das Grinsen wäre einen Oscar wert gewesen. Selbst in einer bizarren Situation wie dieser verlangte es förmlich, daß man darauf reagierte.

»He, hallo!« sagte er zu den beiden Polizisten. Der untersetzte hatte sein Gespräch mit McGovern beendet, beide kamen über den Rasen auf sie zu. »Zieht euch einen Stuhl her, Jungs!« Ed ging mit ausgestreckter Hand um Ralph herum.

Der untersetzte Zivilbeamte schüttelte sie und lächelte weiter sein angedeutetes mildes Lächeln. »Edward Deepneau?« fragte er.

»Ganz recht.« Ed schüttelte dem uniformierten Polizisten, der ein wenig amüsiert wirkte, die Hand, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Untersetzten zu.

»Ich bin Detective Sergeant John Leydecker«, sagte der untersetzte Mann. »Das ist Officer Chris Nell. Soweit wir wissen, gab es hier ein bißchen Ärger, Sir.«

»Nun, ja. So könnte man wohl sagen. Ein bißchen Ärger. Oder, wenn Sie die Dinge beim Namen nennen wollen, ich habe mich aufgeführt wie ein Arsch.« Eds kurzes, verlegenes Kichern klang besorgniserregend normal. Ralph mußte an alle charmanten Psychopathen denken, die er im Kino gesehen hatte - George Sanders war immer besonders gut in dieser Rolle gewesen -, und fragte sich, ob es möglich sein konnte, daß ein kluger Chemiker einen gerissenen Kleinstadtpolizisten aufs Kreuz legen konnte, der aussah, als hätte er seine Saturday Night Feuer-Phase nie richtig überwunden. Ralph hatte schreckliche Angst, daß es ihm gelingen könnte.

»Helen und ich hatten einen Streit wegen einer Petition, die sie unterschrieben hatte«, sagte Ed, »und eins führte zum anderen. Mann, ich kann selbst nicht glauben, daß ich sie geschlagen habe.«

Er ruderte mit den Armen, um zu zeigen, wie aufgewühlt er war

- um nicht zu sagen verwirrt und beschämt. Leydecker erwiderte das Lächeln. Ralphs Gedanken kreisten wieder um die Konfrontation zwischen Ed und dem Fahrer des Pickups letzten Sommer. Ed hatte den vierschrötigen Mann einen Mörder genannt, hatte ihm sogar ins Gesicht geschlagen, und trotzdem hatte der Mann Ed am Ende fast mit Respekt angesehen. Es war fast eine Art Hypnose gewesen, und Ralph glaubte, daß er dieselbe Macht hier am Wirken sah.

»Die Sache ist nur ein wenig außer Kontrolle geraten, wollen Sie mir das damit sagen?« fragte Leydecker verständnisvoll.

»So könnte man sagen, ja.« Ed mußte mindestens fünfunddreißig sein, aber mit seinen großen Augen und der Unschuldsmiene sah er aus, als wäre er gerade alt genug, selbst ein Bier zu bestellen.

»Moment mal«, stieß Ralph hervor. »Sie können ihm nicht glauben, er ist verrückt. Und gemeingefährlich. Er hat mir gerade gesagt... «

»Das ist Mr. Roberts, richtig?« wandte sich Leydecker an McGovern und beachtete Ralph überhaupt nicht.

»Ja«, sagte McGovern, der sich für Ralph unvorstellbar wichtigtuerisch anhörte. »Das ist Ralph Roberts.«

»Hm-hmm.« Nun endlich sah Leydecker Ralph an. »Ich möchte mich in ein paar Minuten mit Ihnen unterhalten, Mr. Roberts, aber vorläufig wäre es mir lieb, wenn Sie bei Ihrem Freund dort stehenbleiben und still sein würden. Okay?«

»Aber... «

»Okay?«

Ralph stapfte wütender denn je zu der Stelle hinüber, wo McGovern stand. Was Leydecker nicht im geringsten zu stören schien. Er wandte sich an Officer Nell. »Würden Sie bitte die Musik abstellen, Chris, damit wir ungestört nachdenken können?«

»Yo.« Der uniformierte Polizist ging zu dem Gettoblaster, inspizierte die verschiedenen Knöpfe und Schalter und würgte dann die Who mitten in ihrem Stück über den blinden Pinball Wizard ab.

»Ich glaube, ich hatte echt ein bißchen zu sehr aufgedreht.« Ed sah ein wenig schafsmäßig drein. »Ein Wunder, daß sich die Nachbarn nicht beschwert haben.«

»Nun ja, das Leben geht weiter«, sagte Leydecker. Er richtete sein mildes Lächeln zu den Wolken, die über den blauen Sommerhimmel zogen.

Na großartig, dachte Ralph. Der Typ ist ja ein richtiger Will Rogers. Ed dagegen nickte, als hätte der Polizist nicht eine einzige Perle der Weisheit von sich gegeben, sondern eine ganze Kette.

Leydecker kramte in seinen Taschen und brachte ein kleines Päckchen Zahnstocher zum Vorschein. Er hielt es Ed hin, der ablehnte, dann schüttelte er selbst einen heraus und steckte ihn in den Mundwinkel. »Also«, sagte er. »Kleiner Familienstreit. Wollen Sie das damit sagen?«

Ed nickte eifrig. Er lächelte immer noch sein aufrichtiges, etwas verwirrtes Lächeln. »Eigentlich mehr eine Diskussion. Eine politische... «

»Hm-hmm, hm-hmm«, sagte Leydecker, nickte und lächelte, »aber bevor Sie fortfahren, Mr. Deepneau... «

»Ed. Bitte.«

»Bevor wir fortfahren, Mr. Deepneau, möchte ich Ihnen nur noch mitteilen, daß alles, was Sie sagen, gegen Sie verwendet werden kann - Sie wissen schon, vor Gericht. Außerdem haben Sie das Recht auf einen Anwalt.«

Eds freundliches, aber verwirrtes Lächeln - Herrje, was habe ich getan? Könnten Sie mir nicht etwas auf die Sprünge helfen? erlosch einen Augenblick. Es wurde von dem verkniffenen, argwöhnischen Ausdruck ersetzt. Ralph sah McGovern an, und die Erleichterung, die er in Bills Augen sah, spiegelte seine eigenen Gefühle. Vielleicht war Leydecker doch nicht so ein Trottel.

»Wozu, um alles in der Welt, sollte ich einen Anwalt brauchen?« fragte Ed. Er machte eine halbe Drehung und erprobte das verwirrte Lächeln an Chris Nell, der immer noch neben dem Gettoblaster auf der Verandatreppe stand.

»Ich weiß nicht, und vielleicht brauchen Sie keinen«, sagte Leydecker nach wie vor lächelnd. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie einen haben können. Und wenn Sie sich keinen leisten können, wird Ihnen die Stadt Derry einen stellen.«

»Aber ich weiß nicht... «

Leydecker nickte und lächelte. »Schon gut, klar, wie auch immer. Aber das sind Ihre Rechte. Verstehen Sie Ihre Rechte, wie ich Sie Ihnen erklärt habe, Mr. Deepneau?«

Ed stand einen Moment völlig reglos, und seine Augen wurden wieder groß und leer. Ralph fand, er sah wie ein menschlicher Computer aus, der versucht, einen riesigen und komplizierten Input zu verarbeiten. Dann schien ihm aufzugehen, daß sein Täuschungsmanöver nicht funktionierte. Seine Schultern sackten ab. Die Leere wich einer unglücklichen Miene, die zu echt war, als daß man sie in Zweifel ziehen konnte... aber Ralph zog sie dennoch in Zweifel. Er mußte daran zweifeln; er hatte den Wahnsinn in Eds Gesicht gesehen, bevor Leydecker und Nell eingetroffen waren. Bill McGovern ebenfalls. Aber Zweifel war nicht dasselbe wie Ungläubigkeit, und Ralph vermutete, Ed bedauerte auf einer bestimmten Ebene aufrichtig, daß er Helen geschlagen hatte.

Ja, dachte er, so wie er auf einer bestimmten Ebene glaubt, daß diese Zenturions ganze Wagenladungen toter Embryos zur Müllkippe von Newport fahren. Und daß sich die Kräfte von Gut und Böse in Derry zusammenziehen, um ein Drama auszuspielen, das nur in seinem Verstand stattfindet. Nennen wir es Omen V: Am Hof des Scharlachroten Königs.

Und doch kam er nicht umhin, ein gewisses Mitgefühl für Ed Deepneau zu empfinden, der Carolyn während ihres letzten Aufenthalts im Derry Home getreulich dreimal die Woche besucht, immer Blumen mitgebracht und ihr immer einen Kuß gegeben hatte, bevor er gegangen war. Er hatte ihr diesen Abschiedskuß auch dann noch gegeben, als sie längst vom Geruch des Todes umgeben gewesen war, und Carolyn hatte nie vergessen, seine Hand zu drücken und ihm ein dankbares Lächeln zu schenken. Danke, weil du nicht vergessen hast, daß ich ein menschliches Wesen bin, hatte dieses Lächeln gesagt. Und danke, daß du mich wie eines behandelst. Das war der Ed, den Ralph als seinen Freund betrachtet hatte, und er dachte oder hoffte vielleicht nur -, daß dieser Ed immer noch da war.

»Ich bin in Schwierigkeiten, richtig?« fragte er Leydecker leise.

»Nun, mal sehen«, sagte Leydecker immer noch lächelnd. »Sie haben Ihrer Frau zwei Zähne ausgeschlagen. Sieht aus, als wäre ihr Wangenknochen gebrochen. Ich würde die Uhr meines Großvaters verwetten, daß sie eine Gehirnerschütterung hat. Dazu eine kleine Auswahl geringfügigerer Verletzungen -Platzwunden, Blutergüsse und diese komische kahle Stelle über der Schläfe. Was hatten Sie vor? Ihr die Haare vom Kopf zu reißen?«

Ed schwieg und sah mit seinen grünen Augen in Leydeckers Gesicht.

»Sie wird die Nacht unter Bewachung im Krankenhaus verbringen, weil irgendein Arschloch sie halbtot geprügelt hat, und alle scheinen sich darin einig zu sein, daß Sie dieses Arschloch waren, Mr. Deepneau. Ich sehe das Blut an Ihren Händen und das Blut auf Ihrer Brille und komme auch zum Ergebnis, daß Sie es gewesen sein müssen. Und was meinen Sie dazu? Sie scheinen ein kluger Mann zu sein. Glauben Sie, daß Sie in Schwierigkeiten sind?«

»Es tut mir sehr leid, daß ich sie geschlagen habe«, sagte Ed. »Ich wollte es nicht.«

»Hm-hmm, und wenn ich einen Vierteldollar für jedes Mal bekommen würde, wo ich das schon gehört habe, müßte ich nie wieder einen Drink von meinem Gehaltsscheck bezahlen. Ich nehme Sie fest unter dem Vorwurf der schweren Körperverletzung, Mr. Deepneau. Das Vergehen fällt unter das Gesetz des Staates Maine über Familienstreitigkeiten. Ich möchte Sie bitten, mir noch einmal zu bestätigen, daß ich Sie über Ihre Rechte auf geklärt habe.«

»Ja«, sagte Ed mit leiser, unglücklicher Stimme. Das Lächeln -verwirrt oder sonstwie - war verschwunden.

»Wir nehmen Sie mit zum Polizeirevier und sperren Sie ein«, sagte Leydecker. »Danach dürfen Sie einen Telefonanruf tätigen und eine Kaution beantragen. Chris, bring ihn in den Wagen, ja?«

Nell näherte sich Ed. »Werden Sie Schwierigkeiten machen, Mr. Deepneau?«

»Nein«, sagte Ed mit derselben leisen Stimme, und Ralph sah eine Träne aus Eds rechtem Auge kullern. Er wischte sie geistesabwesend mit dem Handrücken weg. »Keine Schwierigkeiten.«

»Prima!« sagte Nell herzlich und ging mit ihm zu dem Streifenwagen.

Ed warf Ralph einen Blick zu, als er den Bürgersteig überquerte. »Tut mir leid, alter Junge«, sagte er, dann nahm er auf dem Rücksitz Platz. Bevor Officer Nell die Tür zuschlug, konnte Ralph sehen, daß sie innen keinen Griff hatte.

2

»Okay«, sagte Leydecker, drehte sich zu Ralph um und streckte die Hand aus. »Tut mir leid, wenn ich ein wenig schroff war, Mr. Roberts, aber manchmal können diese Leute unberechenbar sein. Besonders mache ich mir bei denen Sorgen, die ganz normal wirken, weil man nie weiß, was sie anstellen werden. John Leydecker.«

»Johnny war mein Student, als ich noch am Community College unterrichtet habe«, sagte McGovern. Nachdem Ed nun sicher in dem Streifenwagen verwahrt war, schien er fast hysterisch vor Erleichterung zu sein. »Guter Schüler. Hat eine ausgezeichnete Hausarbeit über den Kinderkreuzzug geschrieben.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Ralph und schüttelte Leydecker die Hand. »Und keine Bange. Sie haben mich nicht vor den Kopf gestoßen.«

»Wissen Sie, es war Wahnsinn, hierherzukommen und ihm gegenüberzutreten«, sagte Leydecker fröhlich.

»Ich war stinksauer. Ich bin noch stinksauer.«

»Das kann ich verstehen. Und es ist Ihnen nichts passiert nur darauf kommt es an.«

»Nein, auf Helen kommt es an. Auf Helen und das Baby.« »Dem stimme ich zu. Erzählen Sie mir, worüber Sie und Mr. Deepneau gesprochen haben, bevor wir eingetroffen sind, Mr. Roberts... oder darf ich Sie Ralph nennen?«

»Ralph, bitte.« Er wiederholte seine Unterhaltung mit Ed und versuchte, sich kurzzufassen. McGovern, der einen Teil gehört hatte, aber nicht alles, hörte stumm und mit großen Augen zu. Jedesmal, wenn Ralph ihn ansah, wünschte er sich, Bill würde seinen Panamahut tragen. Ohne ihn sah er älter aus. Fast uralt.

»Nun, das hört sich auf jeden Fall ziemlich verschroben an, was?« bemerkte Leydecker, als Ralph fertig war.

»Was wird jetzt passieren? Kommt er ins Gefängnis? Er gehört nicht ins Gefängnis, er gehört in eine geschlossene Anstalt.«

»Wahrscheinlich schon«, stimmte Leydecker zu, »aber zwischen sollte und wird besteht ein großer Unterschied. Er wird nicht ins Gefängnis kommen, und sie werden ihn auch nicht ins Sunnyvale Sanatorium abtransportieren - so etwas passiert nur in alten Filmen. Wir können im günstigsten Fall darauf hoffen, daß das Gericht eine Therapie anordnet.«

»Aber hat Ihnen Helen denn nicht erzählt...«

»Die Dame hat uns gar nichts erzählt, und wir haben nicht versucht, sie in dem Laden zu verhören. Sie litt große Schmerzen, körperlich wie seelisch.«

»Ja, selbstverständlich«, sagte Ralph. »Dumm von mir.«

»Später bestätigt sie vielleicht das, was Sie gesagt haben... vielleicht aber auch nicht. Opfer ehelicher Gewalt neigen häufig dazu, stumm wie Austern zu werden, wissen Sie. Glücklicherweise spielt das unter dem neuen Gesetz so oder so keine Rolle. Wir haben ihn mit dem Rücken an der Wand. Sie und die junge Dame unten im Laden können Mrs. Deepneaus Zustand bestätigen, und wer sie nach eigener Aussage so zugerichtet hat. Ich kann beschwören, daß der Ehemann des Opfers Blut an den Händen hatte. Und am allerbesten, er hat die Zauberformel gesprochen: >Mann, ich kann nicht glauben, daß ich sie geschlagen habe.< Ich werde vorbeikommen wahrscheinlich morgen vormittag, wenn Ihnen das recht ist und Ihre vollständige Aussage zu Protokoll nehmen, Ralph, aber das heißt nur, ich werde die freien Stellen ausfüllen. Im Grunde genommen ist die Sache gelaufen.«

Leydecker nahm den Zahnstocher aus dem Mund, zerbrach ihn, warf ihn in den Rinnstein und holte die Packung wieder heraus. »Zahnstocher?«

»Nein, danke«, sagte Ralph mit verhaltenem Lächeln.

»Kann ich Ihnen nicht verdenken. Scheißangewohnheit, aber ich versuche, mir das Rauchen abzugewöhnen, was noch schlimmer ist. Das Problem mit Typen wie Deepneau ist, sie sind schlauer als gut für sie ist. Sie drehen durch, verletzen jemand, und dann machen sie einen Rückzieher. Wenn man nach der Explosion schnell genug da ist - wie Sie, Ralph -, dann kann man fast sehen, wie sie mit schräggelegtem Kopf dastehen, der Musik lauschen und versuchen, wieder in den Rhythmus zu kommen.«

»Genau so war es«, sagte Ralph. »Ganz genau so.«

»Es ist ein Trick, den die guten ziemlich lange durchziehen können - sie scheinen von Reue ergriffen zu sein, von ihrem eigenen Tun abgestoßen, entschlossen, es wieder gutzumachen. Sie sind überzeugend, sie sind charmant, und manchmal ist es unmöglich zu sehen, daß sie unter dem Zuckerguß vollkommen meschugge sind. Sogar Extremfälle wie Ted Bundy schaffen es manchmal jahrelang, vollkommen normal zu wirken. Zum Glück gibt es nicht viele Typen wie Ted Bundy da draußen, trotz Psychokiller-Büchern und Filmen.«

Ralph seufzte tief. »Was für ein Schlamassel.«

»Ja. Aber Sie sollten es von der guten Seite sehen, Ralph. Wir werden ihn zumindest eine Zeitlang von ihr fernhalten können. Bis zum Abend wird er mit fünfundzwanzig Dollar Kaution wieder draußen sein, aber... «

»Fünfundzwanzig Dollar?« fragte McGovern. Er hörte sich schockiert und zynisch zugleich an. »Das ist alles?«

»Jawohl«, sagte Leydecker. »Ich habe Deepneau das mit der schweren Körperverletzung an den Kopf geworfen, weil es sich furchterregend anhört, aber im Staat Maine ist es nur ungebührliches Verhalten, wenn man seine Frau verhaut.«

»Aber es gibt einen hübschen neuen Kniff in dem Gesetz«, sagte Chris Nell, der zu ihnen kam. »Wenn Deepneau Kaution will, muß er zustimmen, daß er überhaupt keinen Kontakt mit seiner Frau haben darf, bis die Sache vor Gericht geregelt worden ist - er darf das Haus nicht betreten, sie nicht auf der Straße ansprechen, sie nicht einmal anrufen. Wenn er nicht einwilligt, bleibt er im Gefängnis.«

»Angenommen, er stimmt zu und kommt dann trotzdem zurück?« fragte Ralph.

»Dann packen wir ihn am Arsch«, sagte Nell, »denn das ist ein Verbrechen... oder kann eines sein, wenn es der Bezirksanwalt auf die harte Tour wll. Wie auch immer, wer in so einem Fall gegen die Kautionsvereinbarung verstößt, verbringt normalerweise mehr als nur einen Nachmittag im Gefängnis.«

»Und hoffentlich ist die Frau, der zuliebe er diese Vereinbarung bricht, noch am Leben, bis es zur Verhandlung kommt«, sagte McGovern.

»Ja«, sagte Leydecker resigniert. »Das ist manchmal das Problem.«

Ralph ging nach Hause und sah etwa eine Stunde nicht in den Fernseher, sondern durch ihn hindurch. Während einer Werbepause stand er auf und suchte im Kühlschrank nach einer kalten Cola, taumelte und mußte sich an einer Wand abstützen. Er zitterte am ganzen Körper und verspürte einen unangenehmen Brechreiz im Hals. Ihm war klar, es handelte sich lediglich um eine verspätete Reaktion, aber der Schwächeanfall und die Übelkeit machten ihm trotzdem Angst.

Er setzte sich wieder, holte eine Minute mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen tief Luft, stand auf und ging langsam ins Bad. Er füllte die Wanne mit warmem Wasser und legte sich hinein, bis er im Femseher im Wohnzimmer Night Court hörte, die erste der nachmittäglichen Fernsehkomödien, die anfing. Inzwischen war das Wasser in der Wanne fast kalt geworden, und Ralph war froh, daß er aufstehen konnte. Er trocknete sich ab, zog frische Sachen an und entschied, daß eine leichte Mahlzeit zumindest im Bereich des Möglichen lag. Er rief nach unten, weil er dachte, McGovern würde ihm vielleicht gerne auf einen Happen Gesellschaft leisten, aber er bekam keine Antwort.

Ralph stellte Wasser auf, um Eier zu kochen, und rief vom Telefon neben dem Herd das Derry Home Hospital an. Sein Anruf wurde zu einer Frau in der Aufnahme durchgestellt, die im Computer nachsah und ihm versicherte, ja, ganz recht, Helen Deepneau sei eingeliefert worden. Ihr Zustand wurde als stabil beschrieben. Nein, sie hätte keine Ahnung, wer sich um Mrs. Deepneaus Baby kümmere; sie wüßte nur, daß sie eine Natalie Deepneau nicht in der Liste der aufgenommenen Patienten hätte. Nein, Ralph könnte Mrs. Deepneau heute abend nicht besuchen, weil der Arzt eine Besuchersperre verhängt hätte; Mrs. Deepneau selbst hätte darauf bestanden.

Warum sollte sie das tun? wollte Ralph fragen, ließ es aber bleiben. Wahrscheinlich würde die Frau in der Aufnahme ihm sagen, daß sie diese Information nicht im Computer hätte, aber Ralph entschied, daß er sie in seinem Computer hätte, in dem zwischen seinen beiden Ohren. Helen wollte keine Besucher, weil sie sich schämte. Was geschehen war, war nicht ihre Schuld, aber Ralph bezweifelte, ob das etwas an ihrer Einstellung geändert haben würde. Sie war von der halben Harris Avenue gesehen worden, wie sie herumgetaumelt war wie ein übel zusammengeschlagener Boxer, nachdem der Ringrichter den Kampf unterbrochen hatte, sie war im Notarztwagen ins Krankenhaus gefahren worden, und ihr Mann der Vater ihrer Tochter - war dafür verantwortlich. Ralph hoffte, sie würden ihr etwas geben, das ihr half, die Nacht durchzuschlafen; er hatte eine Ahnung, daß am Morgen alles etwas besser aussehen würde. Weiß Gott, viel schlimmer konnte es nicht mehr aussehen.

Verdammt, ich wünschte, jemand würde mir etwas geben, das mir hilft, die Nacht durchzuschlafen, dachte er.

Dann geh zu Dr. Litchfield, Idiot, sagte ein anderer Teil seines Verstands sofort.

Die Frau in der Aufnahme fragte Ralph, ob sie noch etwas für ihn tun könne. Ralph sagte nein und wollte sich gerade bedanken, als es in der Leitung klickte.

»Nett«, sagte Ralph. »Wirklich nett.« Er legte selbst auf, holte sich einen Eßlöffel und ließ die Eier behutsam ins Wasser gleiten. Zehn Minuten später setzte er sich hin, und die gekochten Eier rutschten auf dem Teller herum wie die größten Perlen der Welt, als das Telefon läutete. Er stellte sein Essen auf den Tisch und nahm den Hörer ab. »Hallo?«

Schweigen, nur das Geräusch von Atemzügen.

»Hallo?« wiederholte Ralph.

Ein weiterer Atemzug, diesmal fast so laut wie ein ersticktes Schluchzen, dann wieder ein Klicken in der Leitung. Ralph legte den Hörer auf und sah das Telefon einen Moment an; seine finstere Miene grub drei aufsteigende Wellenlinien in seine Stirn.

»Komm schon, Helen«, sagte er. »Ruf mich zurück. Bitte.« Dann kehrte er zum Tisch zurück, setzte sich und nahm seine kleine Junggesellenmahlzeit ein.

Fünfzehn Minuten später spülte er das Geschirr, als das Telefon wieder läutete. Das ist sie nicht, dachte er, wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und warf es sich über die Schulter, als er zum Telefon ging. Das kann sie unmöglich sein.

Wahrscheinlich Lois oder Bill. Aber ein anderer Teil von ihm wußte es besser.

»Hi, Ralph.«

»Hallo, Helen.«

»Das war ich vor ein paar Minuten.«Ihre Stimme klang heiser, als hätte sie getrunken oder geweint, und Ralph glaubte nicht, daß sie im Krankenhaus Alkohol duldeten.

»Ich dachte es mir.«

»Ich habe deine Stimme gehört und ich... ich konnte nicht...« »Schon gut. Ich verstehe.«

»Wirklich?« Sie stieß ein langes, feuchtes Schniefen aus.

»Ich glaube ja.«

»Die Schwester war hier und hat mir eine Schmerztablette gegeben. Die kann ich echt gebrauchen - mein Gesicht tut weh. Aber ich wollte sie nicht nehmen, bevor ich dich angerufen und dir gesagt habe, was ich sagen muß. Schmerzen sind beschissen, aber ein ausgezeichneter Ansporn.«

»Helen, du mußt gar nichts sagen.« Aber er fürchtete, daß sie es doch mußte, und er hatte Angst davor, was es sein könnte... er hatte Angst, er würde herausfinden, daß sie wütend auf ihn war, weil sie auf Ed nicht wütend sein konnte.

»Doch, das muß ich. Ich muß mich bei dir bedanken.«

Ralph lehnte sich an den Türrahmen und machte einen Moment die Augen zu. Er war erleichtert, wußte aber nicht, wie er antworten sollte. Er hatte mit seiner ruhigsten Stimme sagen wollen: Tut mir leid, Helen, daß du so denkst, so sicher war er gewesen, daß sie ihn als erstes fragen würde, warum er sich nicht um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte.

Und als hätte sie seine Gedanken gelesen und wollte ihn wissen lassen, daß er nicht völlig danebenlag, sagte Helen : »Den größten Teil der Fahrt und hier in der Notaufnahme, und die erste Stunde hier im Zimmer war ich schrecklich wütend auf dich. Ich habe Candy Shoemaker angerufen, meine Freundin von der Kansas Street, und die ist hergekommen und hat Nat geholt. Sie behält sie die Nacht über bei sich. Sie wollte wissen, was passiert ist, aber ich habe es ihr nicht gesagt. Ich wollte nur hier liegen und wütend auf dich sein, weil du 911 angerufen hast, obwohl ich es dir verboten hatte.«

»Helen...«

»Laß mich ausreden, damit ich meine Tablette nehmen und schlafen kann, okay?«

»Okay.«

»Kurz nachdem Candy mit dem Baby gegangen war - Nat hat Gott sei Dank nicht geweint, ich weiß nicht, wie ich damit fertiggeworden wäre -, kam eine Frau herein. Zuerst dachte ich, sie müßte im falschen Zimmer sein, weil ich sie nicht von Eve kannte, und als mir endlich in den Kopf ging, daß sie mich sehen wollte, sagte ich ihr, daß ich keine Besucher wünschte. Sie hörte nicht auf mich. Sie machte die Tür zu und hob den Rock, damit ich ihren linken Schenkel sehen konnte. Eine tiefe Narbe verlief daran entlang, fast ganz von der Hüfte bis zum Knie.

Sie sagte, ihr Name sei Gretchen Tillbury, sie sei Beraterin für mißhandelte Ehefrauen bei Woman-Care, und ihr Mann habe ihr 1978 mit einem Küchenmesser das Bein aufgeschlitzt. Sie sagte, wenn der Mann aus der Wohnung unter ihr keinen Druckverband angelegt hätte, wäre sie verblutet. Ich sagte ihr, das täte mir sehr leid, ich wollte aber erst über meine eigene Situation sprechen, wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, darüber nachzudenken.« Nach einer Pause fuhr Helen fort: »Aber weißt du, das war eine Lüge. Ich hatte genügend Zeit gehabt, darüber nachzudenken, denn Ed hatte mich zum erstenmal vor zwei Jahren geschlagen, lange bevor ich mit Nat schwanger wurde.

Ich habe es einfach... verdrängt.«

»Ich verstehe, daß man das tun kann«, sagte Ralph.

»Diese Frau... nun, sie müssen Leuten wie ihr Unterricht geben, wie man die Abwehrhaltung anderer überwindet.«

Ralph lächelte. »Ich glaube, darin besteht ihre halbe Ausbildung.«

»Sie sagte, ich könnte es nicht hinausschieben, ich befände mich in einer schlechten Lage und müßte mich auf der Stelle damit auseinandersetzen. Ich sagte, was immer ich tun würde, ich müßte es nicht vorher mit ihr besprechen oder mir ihren Mist anhören, nur weil ihr Mann sie einmal geschnitten hatte. Ich hätte fast gesagt, daß er es wahrscheinlich getan hatte, weil sie nicht aufhörte zu reden und ihn in Frieden ließ, kannst du dir das vorstellen? Aber ich war echt sauer, Ralph. Verletzt... verwirrt... beschämt... aber zum größten Teil einfach wütend.«

»Ich glaube, das ist eine ziemlich normale Reaktion.«

»Sie fragte mich, was ich von mir halten würde - nicht von Ed, sondern von mir -, wenn ich die Beziehung fortsetzen und Ed mich wieder verprügeln würde. Und sie fragte mich, was ich von mir halten würde, wenn Ed dasselbe mit Nat machen würde. Das machte mich wütend. Es macht mich noch wütend. Ed hat ihr nie auch nur ein Haar gekrümmt, und das habe ich ihr gesagt. Sie nickte und antwortete: >Das heißt nicht, daß er es nicht einmal tun könnte, Helen. Ich weiß, Sie wollen nicht darüber nachdenken, aber Sie müssen. Nehmen wir einmal an, Sie haben recht. Angenommen, er gibt ihr niemals auch nur einen Klaps auf die Hand. Möchten Sie, daß sie aufwächst und zusehen muß, wie er Sie schlägt? Soll sie aufwachsen und so etwas mit ansehen, was sie heute mit ansehen mußte?< Und das brachte mich zur Besinnung. Eiskalt. Ich erinnerte mich, wie Ed ausgesehen hatte, als er hereinkam... daß ich wußte, als ich sein weißes Gesicht sah... wie er den Kopf bewegte...«

»Wie ein Hahn«, murmelte Ralph.

»Was?«

»Nichts. Sprich weiter.«

»Ich weiß nicht, was ihn zur Raserei gebracht hat... heutzutage weiß ich das nie, aber ich wußte, er würde es an mir auslassen. Wenn ein bestimmter Punkt überschritten wurde, kann man nichts mehr tun oder sagen. Ich lief zum Schlafzimmer, aber er packte mich an den Haaren... er hat mir ein ganzes Büschel ausgerissen... ich schrie... und Natalie saß da in ihrem Hochstuhl... saß da und beobachtete uns... und als ich schrie, schrie sie auch... «

Da brach Helen zusammen und schluchzte hemmungslos. Ralph wartete und lehnte die Stirn an den Rahmen der Tür zwischen Küche und Wohnzimmer. Mit dem Geschirrtuch, das er über der Schulter hängen hatte, wischte er sich, fast ohne es zu merken, selbst die Tränen weg.

»Wie auch immer«, sagte Helen, als sie wieder sprechen konnte, »ich redete schließlich fast eine Stunde mit dieser Frau. Sie nennen es Opferberatung, und sie verdient ihren Lebensunterhalt damit, kannst du dir das vorstellen?«

»Ja«, sagte Ralph, »das kann ich. Es ist eine gute Sache, Helen.«

»Ich werde mich morgen wieder mit ihr treffen, bei Woman-Care. Weißt du, es ist reine Ironie, daß ich dorthin gehe. Ich meine, wenn ich die Petition nicht unterschrieben hätte...«

»Wenn es die Petition nicht gewesen wäre, dann etwas anderes.«

Sie seufzte. »Ja, das wird wohl wahr sein. Es ist wahr. Wie auch immer, Gretchen sagt, ich kann Eds Probleme nicht lösen, aber ich kann anfangen, einige meiner eigenen zu lösen.« Helen fing wieder an zu weinen, dann holte sie tief Luft. »Tut mir leid - ich habe heute so oft geweint, daß ich nie wieder weinen möchte. Ich habe ihr gesagt, daß ich ihn geliebt habe. Ich habe mich geschämt, es zu sagen, und ich bin nicht einmal sicher, ob es wahr ist, aber es scheint wahr zu sein. Ich sagte, ich wollte ihm noch eine Chance geben. Sie sagte, das würde bedeuten, daß ich auch Natalie verpflichten würde, ihm noch eine Chance zu geben, und da mußte ich daran denken, wie sie da in der Küche saß, pürierten Spinat überall im Gesicht, und sich die Seele aus dem Leib schrie, während Ed mich geschlagen hat. Herrgott, ich hasse es, wie Leute wie sie einen in die Ecke treiben und nicht mehr herauslassen.«

»Sie versucht nur, dir zu helfen, mehr nicht.«

»Das stinkt mir auch. Ich bin sehr verwirrt, Ralph. Wahrscheinlich hast du das nicht gewußt, aber es ist so.« Ein müdes Kichern drang aus dem Telefonhörer.

»Schon gut, Helen. Kein Wunder, daß du verwirrt bist.«

»Kurz bevor sie gegangen ist, hat sie mir von High Ridge erzählt. Im Augenblick hört es sich an, als wäre das genau der richtige Ort für mich.«

»Was ist das?«

»Eine Art Reha-Zentrum - sie hat immer wieder darauf bestanden, daß es ein Haus ist, kein Asyl - für mißhandelte Frauen. Was ich jetzt wohl offiziell bin.« Diesmal hörte sich das müde Kichern gefährlich nach einem Schluchzen an. »Ich kann Nat mitnehmen, wenn ich hingehe, und das macht einen Großteil des Reizes aus.«

»Wo liegt es?«

»Auf dem Land. Richtung Newport, glaube ich.«

»Ja, ich glaube, ich habe davon gehört.«

Natürlich wußte er es; Harn Davenport hatte es ihm während seines Vertrags über Woman-Care gesagt. Sie machen Familienberatung, sie kümmern sich um mißbrauchte Frauen und Kinder, und sie leiten ein Frauenhaus drüben an der Stadtgrenze von Newport. Auf einmal schien Woman-Care überall in seinem Leben zu sein. Ed hätte zweifellos eine bedrohliche Verschwörung darin gesehen.

»Diese Gretchen Tillbury ist ein zähes Stück«, sagte Helen. »Kurz bevor sie ging sagte sie mir, es wäre in Ordnung, daß ich Ed liebe - >Es muß in Ordnung sein<, sagte sie, >denn Liebe kommt nicht aus einem Hahn, den man auf- und zudrehen kann, wann man will< -, aber ich dürfte nicht vergessen, daß meine Liebe ihn nicht heilen könnte, daß nicht einmal Eds Liebe zu Natalie ihn heilen könnte, und daß keine noch so große Liebe mich meiner Verantwortung für mein Kind entheben würde. Ich habe im Bett gelegen und darüber nachgedacht. Ich glaube, im Bett zu liegen und wütend zu sein, hat mir besser gefallen. Es war auf jeden Fall einfacher.«

»Ja«, sagte er, »das kann ich mir vorstellen. Helen, warum nimmst du nicht einfach deine Tablette und läßt es eine Weile dabei bewenden?«

»Mach ich, aber vorher wollte ich mich bedanken.« »Du weißt, daß das nicht nötig ist.«

»Ich glaube nicht, daß ich das weiß«, sagte sie, und Ralph war froh, die Gefühlsregung in ihrer Stimme zu hören. Es bedeutete, daß die eigentliche Helen Deepneau immer noch da war. »Ich bin immer noch wütend auf dich, Ralph, aber ich bin froh, daß du nicht auf mich gehört hast, als ich dich gebeten habe, nicht die Polizei zu rufen. Es ist nur so, daß ich Angst hatte, weißt du? Angst.«

»Helen, ich...« Seine Stimme klang belegt und brach fast. Er räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Ich wollte nur nicht, daß du noch schlimmer verletzt werden würdest, als du es schon warst. Als ich dich mit dem blutigen Gesicht über den Parkplatz kommen sah, hatte ich solche Angst...«

»Sprich nicht mehr davon. Bitte. Ich müßte weinen, und ich kann nicht mehr weinen.«

»Okay.« Er hatte tausend Fragen über Ed, aber dies war eindeutig nicht der Zeitpunkt, sie zu stellen. »Kann ich dich morgen besuchen kommen?«

Nach kurzem Zögern sagte Helen : »Ich glaube nicht. Vorerst nicht. Ich muß viel nachdenken, mir über vieles klar werden, und das wird nicht leicht. Ich melde mich bei dir, Ralph. Okay?«

»Natürlich. Wie du willst. Was machst du mit dem Haus?«

»Candys Mann geht hin und schließt es ab. Ich habe ihm meine Schlüssel gegeben. Gretchen Tillbury sagt, Ed darf um nichts auf der Welt hingehen, nicht einmal, um sein Scheckbuch zu holen oder frische Unterwäsche anzuziehen. Wenn er etwas braucht, gibt er eine Liste und den Hausschlüssel einem Polizisten, und der Polizist geht es holen. Ich vermute, er geht nach Fresh Harbor. Dort gibt es eine Menge Unterkünfte für Laborangestellte. Diese kleinen Hütten. Irgendwie sind sie niedlich... « Das kurze Aufflackern des Feuers in ihrer Stimme, das er gehört hatte, war längst erloschen. Jetzt hörte sich Helen deprimiert, verloren und sehr, sehr müde an.

»Helen, es freut mich, daß du angerufen hast. Und ich bin erleichtert, das muß ich sagen. Und jetzt geh schlafen.«

»Was ist mit dir, Ralph?« fragte sie unerwartet. »Schläfst du neuerdings?«

Der abrupte Themenwechsel verblüffte ihn so, daß er so aufrichtig antwortete, wie es ihm andernfalls vielleicht nicht möglich gewesen wäre. »Etwas... aber vielleicht nicht soviel, wie ich brauche. Wahrscheinlich nicht soviel, wie ich brauche.«

»Nun, gib auf dich acht. Du warst heute sehr tapfer, wie ein Ritter in einer Geschichte von König Artus, aber ich glaube, selbst Sir Lancelot mußte sich ab und zu einmal ausruhen.«

Das rührte ihn und amüsierte ihn gleichzeitig. Im Geiste sah er kurz ein überaus deutliches Bild vor sich: Ralph Roberts in Rüstung und auf einem schneeweißen Pferd, während Bill McGovern, sein getreuer Knappe, in Lederwams und mit seinem kecken Panamahut auf einem Pony hinter ihm ritt.

»Danke, mein Schatz«, sagte er. »Ich glaube, so etwas Liebes hat mir keiner mehr gesagt, seit Lyndon Johnson Präsident war. Schlaf so gut du kannst, okay?«

»Okay. Du auch.«

Sie legte auf. Ralph betrachtete das Telefon einen oder zwei Augenblicke nachdenklich, dann legte auch er den Hörer auf. Vielleicht würde er ja tatsächlich gut schlafen. Nach allem, was heute passiert war, hatte er das mit Sicherheit verdient. Aber vorerst beschloß er, nach unten zu gehen, auf der Veranda zu sitzen und einfach abzuwarten, was sich später ergeben würde.

5

McGovern war wieder da und fläzte sich in seinen Lieblingssessel auf der Veranda. Er beobachtete irgend etwas weiter oben auf der Straße und drehte sich nicht gleich um, als sein Hausgenosse die Veranda betrat. Ralph folgte seinem Blick und sah einen blauen Kleinbus einen halben Block entfernt am Bordstein der Harris Avenue auf der Seite des Red Apple parken. DERRY MEDICAL SERVICE stand in großen weißen Buchstaben auf der Hecktür.

»Hi, Bill«, sagte Ralph und ließ sich auch in einen Sessel fallen. Der Schaukelstuhl, auf dem Lois Chasse immer saß, wenn sie herüberkam, stand zwischen ihnen. In der Abenddämmerung war eine leichte Brise aufgekommen und wirkte erfrischend nach der Hitze des Nachmittags; der Schaukelstuhl bewegte sich wie von selbst träge hin und her.

»Hi«, sagte McGovern und sah Ralph an. Er wollte sich abwenden, fuhr aber noch einmal herum. »Mann, du solltest besser die Tränensäcke unter deinen Augen hochstecken. Wenn nicht, wirst du bald drauftreten.« Ralph vermutete, das sollte sich wie eines der galligen kleinen Bonmots anhören, für die McGovern in der ganzen Straße berühmt war, aber in seinen Augen stand aufrichtige Besorgnis geschrieben.

»War ein Scheißtag«, sagte er. Er erzählte McGovern von Helens Anruf, ließ aber alles weg, was ihr McGovern gegenüber vielleicht peinlich sein konnte. Bill hatte nie zu ihren besten Freunden gehört.

»Freut mich, daß es ihr gutgeht«, sagte McGovern. »Ich will dir was sagen, Ralph - du hast mich heute nachmittag schwer beeindruckt, als du die Straße entlanggegangen bist wie Gary Cooper in Zwölf Uhr mittags. Vielleicht war es Wahnsinn, aber es war auch ziemlich cool. Um die Wahrheit zu sagen, ich war schwer beeindruckt von dir.«

Zum zweitenmal innerhalb von fünfzehn Minuten bezeichnete jemand Ralph fast als Helden. Er fühlte sich unbehaglich. »Ich war so wütend auf ihn, daß mir erst später klargeworden ist, wie dumm ich war. Wo bist du gewesen, Bill, ich hab vor einer Weile nach dir gerufen.«

»Ich war auf der Extension spazieren«, sagte McGovern. »Hab versucht, meinen Motor etwas abzukühlen, denke ich. Mir war schlecht, und ich hatte Kopfweh seit Johnny Leydecker und der andere Ed mitgenommen haben.«

Ralph nickte. »Ich auch.«

»Wirklich?« McGovern sah ihn überrascht und ein wenig skeptisch an.

»Wirklich«, antwortete Ralph mit einem knappen Lächeln.

»Wie auch immer, Faye Chapin war draußen beim Picknickgelände, wo die alten Tattergreise normalerweise herumhängen, wenn es warm ist, und hat mich zu einer Partie Schach eingeladen. Das ist vielleicht eine Marke, Ralph - er hält sich für die Reinkarnation von Ruy Lopez, dabei spielt er Schach mehr wie Soupy Sales... und hält nicht eine Sekunde lang den Mund.«

»Aber Faye ist in Ordnung«, sagte Ralph leise.

McGovern schien ihn nicht gehört zu haben. »Und dieser gruselige Dorrance Marstellar war auch dort«, fuhr er fort. »Wenn wir alt sind, dann ist der ein Fossil. Er steht einfach mit einem Gedichtband in der Hand am Zaun zwischen dem Picknickplatz und dem Flughafen und schaut den Flugzeugen beim Starten und Landen zu. Was meinst du, liest er die Bücher wirklich, die er herumträgt, oder sind sie nur Requisiten?«

»Gute Frage«, sagte Ralph, aber er dachte über das Wort nach, das McGovern benutzt hatte, um Dorrance zu beschreiben -gruselig. Er selbst hätte es nicht benützt, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß der alte Dor ein Original war. Er war nicht senil (jedenfalls glaubte Ralph das nicht); es war mehr, als wären seine wenigen Bemerkungen das Produkt eines leicht verschrobenen Geistes und einer leicht gekrümmten Wahrnehmung.

Er erinnerte sich, daß Dorrance letzten Sommer dabeigewesen war, als Ed mit dem Fahrer des Lastwagens aneinandergeraten war. Damals hatte er geglaubt, daß Dorrance' Ankunft den Festivitäten die Krone des Irrsinns aufsetzte. Und Dorrance hatte etwas Komisches gesagt. Ralph versuchte, sich daran zu erinnern, konnte es aber nicht.

McGovern sah wieder die Straße entlang, wo ein pfeifender junger Mann im Overall gerade aus dem Haus gekommen war, vor dem der Kleinbus von Medical Services parkte. Dieser junge Mann, der aussah, als wäre er höchstens vierundzwanzig und hätte in seinem ganzen Leben noch keinen medizinischen Beistand gebraucht, schob einen Wagen, auf den eine lange grüne Gasflasche geschnallt war.

»Das ist die leere«, sagte McGovern. »Du hast verpaßt, wie sie die volle reingebracht haben.«

Ein zweiter junger Mann, ebenfalls in einen Overall gekleidet, kam zur Eingangstür des kleinen Hauses heraus, das gelbe Farbe und dunkelrosa Verzierungen auf unschöne Weise miteinander verband. Er blieb einen Moment auf der Stufe stehen, Hand auf dem Türknauf, und sprach offenbar mit jemand im Inneren. Dann zog er die Tür zu und lief leichtfüßig den Fußweg entlang. Er kam gerade rechtzeitig, daß er seinem Kollegen helfen konnte, den Wagen, auf dem noch die festgeschnallte Flasche lag, ins Heck des Kleinbusses zu heben.

»Sauerstoff?« fragte Ralph.

McGovern nickte.

»Für Mrs. Locher?«

McGovern nickte wieder und sah zu, wie die Arbeiter von Medical Services die Tür des Kleinbusses zuschlugen und dann davor stehenblieben und sich im Dämmerlicht leise unterhielten. »Ich war in der Grundschule und der Junior High mit May Locher zusammen. Drüben in Cardville, Heimat der Tapferen und Land der Kühe. Nur fünf von uns waren in der Abschlußklasse. Damals, in den alten Zeiten, galt sie als ein toller Käfer, und Burschen wie mich nannte man >einen fröhlichen Stutzer.< In dieser heiteren alten Zeit gebrauchte man den Ausdruck >gay< für den Weihnachtsbaum, wenn er geschmückt war, und nicht für Schwule.«

Ralph betrachtete nervös und befangen seine Hände. Er wußte selbstverständlich, daß McGovern homosexuell war, das wußte er schon seit Jahren, aber bis zum heutigen Abend hatte er es nie laut ausgesprochen. Er wünschte sich, Bill hätte es sich für einen anderen Tag aufgehoben... vorzugsweise einen, an dem Ralph selbst sich nicht fühlte, als wäre der größte Teil seines Gehirns durch Watte ersetzt worden.

»Das war vor schätzungsweise tausend Jahren«, sagte McGovern. »Wer hätte gedacht, daß wir einmal beide ans Ufer der Harris Avenue gespült werden würden.«

»Sie hat ein Emphysem, ist es nicht so? Habe ich jedenfalls gehört.«

»Jawohl. Eine dieser Krankheiten, von denen man immer etwas hat. Alt zu werden ist sicher nichts für Memmen, oder?«

»Ganz bestimmt nicht«, sagte Ralph, und dann erkannte sein Verstand die Wahrheit mit plötzlicher Wucht. Er dachte an Carolyn, an die Angst, die er verspürt hatte, als er in seinen durchnäßten Converse-Turnschuhen ins Apartment geputscht kam und sie halb in und halb außerhalb der Küche liegen sah... genau an der Stelle, wo er den größten Teil seines Gesprächs mit Helen gestanden hatte. Ed Deepneau gegenüberzutreten war nichts verglichen mit der Angst, die er in dem Augenblick verspürte, als er glaubte, Carolyn wäre tot.

»Ich kann mich erinnern, als sie May alle zwei Wochen oder so Sauerstoff brachten«, sagte McGovern. »Jetzt kommen sie jeden Dienstag- und Donnerstagabend, wie ein Uhrwerk. Ich gehe sie besuchen wenn ich kann. Manchmal lese ich ihr vor -die langweiligste Frauenzeitschriftenscheiße, die du dir vorstellen kannst -, und manchmal sitzen wir nur da und reden. Sie sagt, es fühle sich an, als würden sich ihre Lungen mit Seetang füllen. Es wird nicht mehr lange dauern. Eines Tages werden sie kommen, und statt einer leeren Sauerstoffflasche werden sie May auf ihren Wagen laden. Sie werden sie ins Derry Home bringen, und das ist das Ende.«

»Waren es Zigaretten?« fragte Ralph.

McGovern bedachte ihn mit einem Ausdruck, der dem schmalen, sanften Gesicht so fremd war, daß Ralph einige Augenblicke brauchte, bis ihm klar wurde, daß es sich um Verachtung handelte. »May Perrault hat in ihrem ganzen Leben keine einzige Zigarette geraucht. Sie bezahlt hier für zwanzig Jahre Arbeit in der Färberei einer Fabrik in Corinna, und weitere zwanzig am Webstuhl einer Fabrik in Newport. Sie versucht, durch Baumwolle, Wolle und Nylon zu atmen, nicht durch Seetang.«

Die beiden jungen Männer von Derry Medical Services stiegen in ihren Kleinbus ein und fuhren davon.

»Maine ist der nordöstliche Anker der Appalachen, Ralph das ist vielen Leuten nicht klar, aber es stimmt - und May stirbt an einer typischen Appalachenkrankheit. Die Ärzte nennen sie Textillunge.«

»Eine Schande. Ich glaube, sie bedeutet dir viel.«

McGovern lachte reumütig. »Nee. Ich besuche sie, weil sie das letzte sichtbare Überbleibsel meiner mißratenen Jugend ist. Manchmal lese ich ihr vor, und ich bringe es immer fertig, einen oder zwei ihrer trockenen alten Weizenschrotkekse runterzuwürgen, aber das ist auch schon alles. Ich versichere dir, mein Mitgefühl ist selbstredend selbstsüchtiger Natur.«

Selbstredend selbstsüchtig, dachte Ralph. Was für ein wirklich seltsamer Ausdruck. Was für ein typischer McGovem-Ausdruck.

»Vergessen wir May«, sagte McGovern. »Die Frage, die Amerikanern allerorten unter den Nägeln brennt, ist die: Was sollen wir deinetwegen unternehmen, Ralph? Der Whiskey hat nicht funktioniert, was?«

»Nein«, sagte Ralph. »Leider nicht.« »Hast du ihm auch eine echte Chance gegeben?«

Ralph nickte.

»Nun, etwas mußt du gegen die Tränensäcke unter den Augen unternehmen, sonst wirst du nie bei der reizenden Lois landen.« McGovern studierte Ralphs Mienenspiel darauf und seufzte. »Nicht besonders komisch, hm?«

»Nee. Es war ein langer Tag.«

»Entschuldige.«

»Macht nichts.«

Sie blieben eine Zeitlang in behaglichem Schweigen sitzen und betrachteten das Kommen und Gehen in ihrem Abschnitt der Harris Avenue. Drei kleine Mädchen spielten auf der anderen Straßenseite Hüpfkästchen auf dem Parkplatz vor dem Red Apple. Mrs. Perrine stand aufrecht wie ein Wachtposten in der Nähe und beobachtete sie. Ein Junge, der seine Red Sox-Baseballmütze verkehrt herum aufgesetzt hatte, ging vorbei und wippte zur Musik seines Walkmans. Zwei Kinder warfen vor Lois' Haus einen Frisbee hin und her. Ein Hund bellte. Irgendwo rief eine Frau, daß Sam sich seine Schwester schnappen und hereinkommen sollte. Die übliche Serenade des Straßenlebens, nicht mehr und nicht weniger, aber Ralph kam alles seltsam falsch vor. Er vermutete, es lag daran, daß er sich in letzter Zeit so sehr daran gewöhnt hatte, die Harris Avenue verlassen zu sehen.

Er drehte sich zu McGovern um und sagte: »Weißt du, was ich als erstes dachte, als ich dich heute nachmittag auf dem Parkplatz des Red Apple gesehen habe? Obwohl soviel los war?«

McGovern schüttelte den Kopf.

»Ich habe mich gefragt, wo du bloß deinen Hut hast. Den Panama. Ohne ihn bist du mir ziemlich seltsam vorgekommen. Fast nackt. Also rück raus damit - wo hast du ihn gelassen, Junge?«

McGovern berührte seinen Kopf, wo die verbliebenen Strähnen seines feinen weißen Babyhaars sorgsam von links nach rechts über den rosa Schädel gekämmt waren. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich habe ihn heute morgen vermißt. Ich denke fast immer daran, daß ich ihn auf den Tisch neben der Eingangstür werfe, wenn ich reinkomme, aber dort ist er nicht. Ich vermute, ich habe ihn diesmal anderswo abgelegt, und der exakte Standort ist mir vorübergehend entfallen. Laß mir noch ein paar Jahre Zeit, dann werde ich in der Unterwäsche herumlaufen, weil mir nicht mehr einfällt, wo ich meine Hosen gelassen habe. Gehört alles zum wunderbaren Erlebnis des Alterns, richtig, Ralph?«

Ralph nickte und lächelte und dachte bei sich, daß von allen älteren Menschen, die er kannte - und er kannte mindestens drei Dutzend auf einer oberflächlichen Spaziergang-im-Park-, Hallo-wie-geht's-Basis -, McGovern sich am meisten darüber beschwerte, wie es war, in die Jahre zu kommen. Er schien seine entschwundene Jugend und die mittleren Jahre, die er hinter sich gelassen hatte, so zu betrachten wie ein General ein paar Soldaten, die am Vorabend einer großen Schlacht desertiert sind. Aber das hätte er selbstverständlich niemals zugegeben. Jeder hatte seine kleinen exzentrischen Macken; das theatralisch morbide Gehabe wegen des Älterwerdens war einfach die von McGovern.

»Hab ich was Komisches gesagt?« fragte McGovern.

»Pardon?«

»Du hast gelächelt, daher dachte ich, ich müßte etwas Komisches gesagt haben.« Er hörte sich ein bißchen empfindlich an, besonders für einen Mann, dem es so großen Spaß machte, seinen Hausgenossen wegen einer hübschen Witwe aufzuziehen, aber Ralph dachte daran, daß es auch für McGovern ein langer Tag gewesen war.

»Ich habe überhaupt nicht an dich gedacht«, sagte Ralph. »Ich habe daran gedacht, daß Carolyn praktisch immer dasselbe gesagt hat - älter werden ist, als würde man ein schlechtes Dessert nach einer wirklich guten Mahlzeit bekommen.«

Das war zumindest eine halbe Lüge. Carolyn hatte es gesagt, aber sie hatte damit ihren Gehirntumor gemeint, und nicht ihr Leben als ältere Frau. So alt war sie überhaupt auch gar nicht gewesen, erst vierundsechzig, als sie starb, und bis zu den letzten sechs oder acht Wochen hatte sie immer behauptet, daß sie sich an den meisten Tagen nur halb so alt fühlte.

Auf der anderen Straßenseite sahen die Mädchen, die Hüpfkästchen gespielt hatten, auf beiden Seiten nach Autos, dann hielten sie einander an den Händen und liefen lachend über die Straße. Einen Augenblick hatte er den Eindruck, als wären sie von einem grauen Leuchten umgeben - einer Aura, die ihre Wangen und Stirnen und lachenden Augen wie ein seltsames Elmsfeuer beleuchtete. Ein wenig beängstigt kniff Ralph die Augen zu und machte sie wieder auf. Die graue Aura, die er sich um das Trio der Mädchen herum eingebildet hatte, war verschwunden, was ihn erleichterte, aber er mußte bald wieder richtig schlafen. Er mußte.

»Ralph?« McGoverns Stimme schien vom anderen Ende der Veranda zu kommen, obwohl er sich nicht bewegt hatte. »Alles in Ordnung?«

»Klar«, sagte Ralph. »Ich mußte an Ed und Helen denken, das ist alles. Hast du eine Ahnung gehabt, daß er so durchgedreht war?«

McGovem schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nicht die geringste«, sagte er. »Ich habe zwar ab und zu Helens Blutergüsse gesehen, aber ihren Erklärungen immer geglaubt. Ich habe mich nie für einen übertrieben leichtgläubigen Menschen gehalten, aber vielleicht muß ich diese Einschätzung einmal revidieren.«

»Was meinst du wird mit ihnen passieren? Irgendwelche Prognosen?«

McGovern seufzte, griff mit den Fingerspitzen auf den Kopf und tastete, ohne es zu merken, nach dem fehlenden Panamahut. »Du kennst mich, Ralph - ich bin ein Zyniker und entstamme einem Geschlecht von Zynikern. Ich glaube, normale menschliche Konflikte lösen sich selten so auf wie im Fernsehen. In Wirklichkeit kommen sie immer wieder und drehen sich in konzentrischen Kreisen, bis sie verschwinden. Aber sie verschwinden eigentlich nicht; sie trocknen aus wie Schlammpfützen in der Sonne.« McGovern machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Und die meisten lassen dieselben schmutzigen Rückstände zurück.«

»Herrgott«, sagte Ralph. »Das ist zynisch.«

McGovern zuckte die Achseln. »Die meisten pensionierten Lehrer sind zynisch, Ralph. Wir sehen sie kommen, so jung und stark, so überzeugt, daß es bei ihnen anders sein wird, und wir sehen, wie sie ihren eigenen Mist bauen und dann darin herumkrabbeln, genau wie ihre Eltern und Großeltern. Ich glaube, Helen wird zu ihm zurückkehren, Ed wird sich eine Weile zusammenreißen, und dann wird er sie wieder verprügeln, und sie wird wieder weggehen. Wie in einem dieser kitschigen Westernsongs in der Musicbox draußen im Nicky's Lunch, und manche Leute müssen so einen Song eine lange, lange Zeit anhören, bis sie zu dem Ergebnis kommen, daß sie ihn nicht mehr hören wollen. Aber Helen ist eine kluge junge Frau. Ich glaube, mehr als eine Strophe braucht sie nicht mehr.«

»Mehr als eine Strophe bekommt sie vielleicht auch nicht mehr«, sagte Ralph leise. »Wir reden hier nicht von einem betrunkenen Ehemann, der seiner Frau eine runterhaut, weil er seinen Lohnscheck beim Pokern verloren hat und sie es gewagt hat, deswegen zu keifen.«

»Ich weiß«, sagte McGovern, »aber du hast mich nach meiner Meinung gefragt, und ich habe sie dir gesagt. Ich glaube, Helen braucht noch eine Strophe aus der Musicbox, bevor sie es fertigbringt und Schluß macht. Und selbst dann werden sie einander manchmal über den Weg laufen. Dies ist nach wie vor eine ziemlich kleine Stadt.« Er verstummte und sah blinzelnd die Straße hinab. »Oh, sieh mal«, sagte er und zog die linke Braue hoch. »Unsere Lois. Sie wandelt in Schönheit, wie die Nacht.«

Ralph warf ihm einen ungeduldigen Blick zu, aber McGovern bemerkte ihn entweder nicht oder wollte ihn nicht bemerken. Er stand auf und griff mit den Fingern wieder an die Stelle, wo der Panama sitzen sollte, dann ging er die Stufen hinunter, um sie vor dem Haus zu empfangen.

»Lois!« rief McGovern, sank vor ihr auf ein Knie und breitete theatralisch die Arme aus. »Wäre unser beider Leben doch durch das Sternenband der Liebe verknüpft! Verknüpfe dein Schicksal mit meinem und laß dich im goldenen Wagen meiner Leidenschaft in andere Breiten hinforttragen!«

»Herrje, sprichst du von Flitterwochen oder von einer Nacht?« fragte Lois und lächelte unsicher.

Ralph stieß McGovern in den Rücken. »Steh auf, du Narr«, sagte er und nahm Lois die kleine Tüte ab. Er sah hinein und fand drei Dosen Bier.

McGovern stand auf. »Entschuldige, Lois«, sagte er. »Es lag am Licht der Abenddämmerung und deiner Schönheit. Mit anderen Worten, ich plädiere auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit.«

Lois lächelte ihm zu, dann wandte sie sich an Ralph. »Ich habe gerade gehört, was passiert ist«, sagte sie, »und da bin ich so schnell ich konnte hergekommen. Ich war den ganzen Nachmittag in Ludlow und hab mit den Mädchen gepokert.« Ralph mußte McGovern nicht ansehen, um zu wissen, daß dessen linke Augenbraue - die sagte: Mit den Mädchen gepokert! Wie wunderbar, typisch, ganz unsere Lois! - bis zum Anschlag in die Höhe gezogen sein würde. »Geht es Helen einigermaßen?«

»Ja«, sagte Ralph. »Vielleicht nicht unbedingt gut - sie behalten sie über Nacht im Krankenhaus -, aber sie ist nicht in Lebensgefahr oder so.«

»Und das Baby?«

»Ausgezeichnet. Ist bei einer Freundin von Helen.«

»Na gut, kommt auf die Veranda, ihr beiden, und erzählt mir alles darüber.« Sie hakte sich mit einem Arm bei McGovern und mit dem anderen bei Ralph unter und ging mit ihnen zurück. Und so stiegen sie die Stufen hinauf, wie zwei in die Jahre gekommene Musketiere, die die Dame, um deren Gunst sie in ihrer Jugend gebuhlt hatten, wohlbehalten zwischen sich führten, und als sich Lois auf den Schaukelstuhl setzte, gingen in der Harris Avenue die Lampen an und leuchteten in der Dämmerung wie eine doppelte Perlenkette.

Ralph schlief in dieser Nacht ein, als sein Kopf noch nicht einmal richtig auf dem Bässen lag, und am Freitag morgen wachte er pünktlich um 3:30 Uhr wieder auf. Er wußte sofort, daß es keinen Zweck haben würde, noch einmal einschlafen zu wollen; ebenso gut konnte er sich gleich in den Ohrensessel am Fenster setzen.

Er blieb aber noch einen Moment liegen, sah in die Dunkelheit und versuchte, sich an den Traum zu erinnern, den er gehabt hatte. Es gelang ihm nicht. Er erinnerte sich nur, daß Ed darin vorgekommen war... und Helen... und Rosalie, die Hündin, die er manchmal durch die Harris Avenue hinken sah, bevor Pat, der Zeitungsjunge, kam.

Dorrance kam auch darin vor. Dorrance Marstellar. Vergiß den nicht.

Ja, richtig. Und als wäre ein Schlüssel im Schloß gedreht worden, erinnerte sich Ralph plötzlich an die seltsame Bemerkung von Dorrance, als Ed sich letztes Jahr mit dem vierschrötigen Mann gestritten hatte... woran er sich heute abend nicht hatte erinnern können, als McGovern den Namen des alten Mannes erwähnt hatte.

Er hatte Ed aufhalten wollen und ihn so lange an die eingedrückte Haube seines Autos gedrückt, bis er sich wieder beruhigt hatte, und Dorrance hatte gesagt,

(Ich würde das nicht tun) daß Ralph ihn nicht anfassen sollte.

»Er sagte, daß er meine Hände nicht mehr sehen könnte«, murmelte Ralph und schwang die Füße aus dem Bett. »Das war es.«

Er blieb noch eine Weile sitzen, hielt den Kopf gesenkt und die Finger zwischen den Schenkeln gefaltet, und sein Haar stand zerzaust in die Höhe. Schließlich stand er auf und schlurfte ins Wohnzimmer. Es wurde Zeit, auf den Sonnenaufgang zu warten.

Kapitel 4

Obwohl sich Zyniker immer plausibler als die blauäugigen Optimisten dieser Welt anhörten, irrten sie sich nach Ralphs Erfahrung zumindest in fünfzig Prozent aller Fälle, und er freute sich, daß McGovern sich hinsichtlich Helen Deepneau geirrt hatte - in ihrem Fall schien eine Strophe des »Heartbreak-Prügel-Blues« auszureichen.

Am Mittwoch der darauffolgenden Woche, als Ralph sich gerade überlegt hatte, daß es besser wäre, die Frau aufzuspüren, von der Helen im Krankenhaus gesprochen hatte (Tillbury, ihr Name war Gretchen Tillbury), um sich zu vergewissern, daß mit Helen alles in Ordnung war, bekam er einen Brief von ihr. Der Absender war schlicht - nur Helen und Nat, High Ridge -, aber er reichte aus, Ralph sichtlich zu erleichtern. Er setzte sich in seinen Sessel auf der Veranda, riß das Ende des Umschlags auf und schüttelte zwei Blätter heraus, die mit Helens schräger Handschrift vollgeschrieben waren.

»Lieber Ralph«, begann der Brief, »ich nehme an, inzwischen mußt Du denken, daß ich doch wütend auf Dich bin, aber das bin ich wirklich nicht. Es ist nur so, daß wir die ersten paar Tage mit niemand Verbindung aufnehmen sollen weder telefonisch noch brieflich. Hausvorschriften. Es gefällt nur hier ausgezeichnet, und Nat ebenfalls. Logisch - es sind mindestens sechs Kinder in ihrem Alter hier, mit denen sie herumkrabbeln kann. Was mich betrifft, ich habe hier mehr Frauen kennengelernt, die wissen, was ich durchgemacht habe, als ich mir je hätte träumen lassen. Ich meine, man sieht die Fernsehsendungen - Oprah im Gespräch mit Frauen, die Männer lieben, die sie als Punchingbälle gebrauchen -, aber wenn es einem selbst passiert, dann nimmt man immer an, es passierte auf eine Weise wie keiner anderen vorher, auf eine Weise, die brandneu auf der Welt ist. Die Erleichterung darüber, daß das nicht stimmt, war das Beste, das mir seit langer, langer Zeit widerfahren ist... «

Sie erzählte von den Aufgaben, die sie übertragen bekommen hatte - Gartenarbeit, Mithilfe beim Streichen eines Geräteschuppens, die Sturmläden mit Essig und Wasser abwaschen -, und von Nats Abenteuern beim Laufenlernen. Der Rest des Briefes handelte davon, was passiert war und was sie unternehmen wollte, und da spürte Ralph zum erstenmal die emotionale Aufgewühltheit, die Helen empfinden mußte, ihre Angst vor der Zukunft und, als Gegengewicht zu dem allen, die feste Entschlossenheit, das Richtige für Nat zu tun... und für sich selbst auch. Helen schien gerade herauszufinden, daß sie auch ein Anrecht auf das Richtige hatte. Ralph war froh, daß sie das herausgefunden hatte, aber traurig, wenn er an die finstere Zeit dachte, die sie hatte durchmachen müssen, um zu dieser simplen Einsicht zu kommen.

»Ich werde mich von ihm scheiden lassen«, schrieb sie. »Ein Teil in mir (er hört sich an wie meine Mutter, wenn er spricht) heult lauthals auf, wenn ich es so unverblümt ausdrücke, aber ich habe es satt, mir wegen meiner Situation etwas vorzumachen. Hier finden jede Menge Therapien statt, bei denen Leute im Kreis sitzen und binnen einer Stunde vier Packungen Kleenex verbrauchen, aber alles scheint darauf hinauszulaufen, daß man seine Lage besser erkennt. In meinem Falle sieht es schlicht und einfach so aus, daß aus dem Mann, den ich geheiratet habe, ein gefährlicher Paranoiker geworden ist. Daß er manchmal liebevoll und zärtlich sein kann, ist nicht das Wesentliche, sondern lenkt nur davon ab. Ich darf nicht vergessen, daß der Mann, der mir selbstgepflückte Blumen brachte, heute manchmal auf der Veranda sitzt und mit jemandem redet, der gar nicht da ist, einem Mann, den er > den kleinen kahlköpfigen Arzt< nennt. Ist das nicht allerliebst? Ich glaube, ich weiß, wie das alles angefangen hat, und wenn ich Dich sehe, werde ich es Dir erzählen, wenn Du es wirklich hören willst.

Mitte September dürfte ich (zumindest eine Weile) wieder in dem Haus in der Harris Avenue sein, und sei es nur, um einen Job zu suchen... aber davon nichts mehr, das ganze Thema versetzt mich in Todesangst! Ich habe eine Nachricht von Ed bekommen - nur ein Absatz, aber trotzdem eine Erleichterung -, in der er mir mitteilt, daß er in einer der Hütten auf dem Gelände der Hawking Labors in Fresh Harbor wohnt und das Besuchsverbot der Bewährungsvorschriften einhalten würde. Er schreibt, daß ihm alles leid täte, aber daß er das wirklich ernst meint, konnte ich nicht feststellen. Nicht, daß ich Tränenflecken auf dem Brief oder ein Päckchen mit seinem Ohr darin erwartet hätte, aber... ich weiß auch nicht. Es war, als wollte er sich überhaupt nicht wirklich entschuldigen, sondern es nur fürs Protokoll erwähnen. Ergibt das einen Sinn? Außerdem hat er einen Scheck über 750 Dollar beigelegt, was darauf hinzudeuten scheint, daß er sich seiner Verpflichtungen bewußt ist. Das ist gut, aber ich glaube, ich wäre glücklicher gewesen, wenn er sich wegen seiner seelischen Probleme ärztliche Hilfe gesucht hätte. Das müßte seine Strafe sein, weißt Du: achtzehn Monate intensive Therapie. Das habe ich in der Gruppe gesagt, und einige haben gelacht, als wäre es ein Witz. Es war aber keiner.

Wenn ich an die Zukunft denke, sehe ich manchmal nur furchterregende Bilder vor mir. Ich stelle mir vor, wie wir im Manna in der Schlange stehen, um eine kostenlose Mahlzeit zu bekommen, oder wie ich mit der in eine Decke gewickelten Nat unter dem Arm das Obdachlosenasyl in der Third Street betrete. Wenn ich an so etwas denke, fange ich an zu zittern, und manchmal weine ich. Ich weiß, das ist dumm; ich habe einen Abschluß in Bibliothekswissenschaft, Herrgott noch mal, aber ich kann nichts dafür. Und weißt Du, was mir wieder Halt gibt, wenn diese schrecklichen Bilder kommen? Was Du zu mir gesagt hast, als Du mich im Red Apple hinter den Tresen geführt und auf den Sessel gesetzt hattest. Du hast mir gesagt, daß ich eine Menge Freunde in der Nachbarschaft hätte, und daß ich es überstehen würde. Ich weiß, daß ich mindestens einen Freund habe. Einen wahren Freund.«

Unterschrieben war der Brief mit: Alles Liebe, Helen.

Ralph wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln - in letzter Zeit schien es, als würde er wegen verschütteter Milch weinen, wahrscheinlich lag das daran, daß er so gottverdammt müde war - und las das P.S., das sie an den unteren und rechten Rand des Briefs gequetscht hatte: »Ich würde mich freuen, wenn Du mich hier besuchen könntest, aber aus Gründen, die Du sicher einsiehst, haben Männer hier keinen Zutritt. Sie möchten nicht einmal, daß wir die genaue Lage verraten! H.«

Ralph blieb eine oder zwei Minuten mit Helens Brief auf dem Schoß sitzen und sah über die Harris Avenue hinaus. Inzwischen schrieb man Ende August, noch Sommer, aber die Blätter der Pappeln schimmerten silbern, wenn der Wind darüberstrich, und der erste kühle Hauch lag in der Luft. Ein Schild im Schaufenster des Red Apple verkündete: SCHULBEDARF JEDER ART! FRAGEN SIE ZUERST HIER! Und irgendwo an der Stadtgrenze von Newport wusch Helen Deepneau in einem großen alten Farmhaus, wo mißhandelte Ehefrauen Zuflucht suchten und versuchten, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen, die Sturmläden und machte sie für einen weiteren langen Winter bereit.

Er schob den Brief behutsam wieder in den Umschlag und versuchte sich zu erinnern, wie lange Ed und Helen verheiratet gewesen waren. Sieben oder acht Jahre, dachte er. Carolyn hätte es genau gewußt. Wieviel Mut ist erforderlich, einen Traktor zu nehmen und Frucht umzupflügen, die man sieben oder acht Jahre gehegt hat? fragte er sich. Wieviel Mut, das zu tun, wenn man die ganze Zeit damit verbracht hat herauszufinden, wie man den Boden vorbereitet, wann man pflanzt, wieviel Wasser erforderlich ist und wann man erntet? Wieviel Mut kostete es, einfach zu sagen: »Ich muß diese Erbsen aufgeben, Erbsen sind nichts für mich. Ich versuche es lieber mit Mais oder Bohnen.«

»Eine Menge«, sagte er und wischte sich wieder die Augen.

»Verdammt viel, das ist meine Meinung.«

Plötzlich wollte er Helen unbedingt wiedersehen, wollte wiederholen, woran sie sich so gut erinnerte und woran er selbst sich kaum erinnern konnte: Du wirst das prima überstehen, du hast eine Menge Freunde in der Nachbarschaft.

»Bring das auf die Bank«, sagte Ralph. Daß er von Helen gehört hatte, schien ihm eine große Last von der Seele genommen zu haben. Er stand auf, steckte den Brief in die Gesäßtasche und ging die Harris Avenue entlang zum Picknickplatz an der Extension. Wenn er Glück hatte, fand er Faye Chapin oder Don Veazie und konnte eine Partie Schach spielen.

Seine Erleichterung darüber, von Helen zu hören, konnte Ralphs Schlaflosigkeit nicht lindern; er wachte auch weiterhin vorzeitig auf, und am Labor Day schlug er die Augen gegen 2:45 Uhr auf. Am zehnten September - dem Tag, an dem Ed Deepneau wieder verhaftet wurde, diesmal zusammen mit fünfzehn anderen - schlief Ralph noch rund drei Stunden pro Nacht, und er fühlte sich fast wie etwas auf einem Objektträger unter dem Mikroskop. Nur ein einsamer Einzeller, das bin ich, dachte er, als er in seinem Sessel saß und auf die Harris Avenue hinaussah, und er wünschte sich, er hätte lachen können.

Seine Liste todsicherer, zuverlässiger Hausmittel wuchs, und er hatte sich schon mehr als einmal überlegt, daß er ein heiteres kleines Buch zum Thema hätte schreiben können... das hieß, sollte er jemals wieder genug Schlaf bekommen, daß ihm zusammenhängendes Denken möglich wäre. Diesen Spätsommer war er schon froh, wenn es ihm gelang, jeden Tag ein Paar zusammenpassende Socken anzuziehen, und sein Denken kehrte immer wieder zu der höllischen Anstrengung zurück, an dem Tag, als Helen verprügelt worden war, eine Packung Cup-A-Soup im Küchenschrank zu finden. Soweit war es seither nicht wieder gekommen, weil es ihm gelungen war, jede Nacht zumindest etwas Schlaf zu bekommen, aber Ralph hatte schreckliche Angst, es würde bald wieder soweit sein -wenn nicht noch schlimmer -, sollte sein Zustand nicht besser werden. Es gab Zeiten (für gewöhnlich wenn er um halb fünf Uhr morgens im Sessel saß), da hätte er schwören können, daß er spüren konnte, wie sein Gehirn langsam austrocknete.

Das Spektrum der Hausmittel reichte vom Erhabenen bis zum Lächerlichen. Zu ersterem gehörte eine vierfarbige Broschüre, die die Wunder des Minnesota Institute for Sleep Studies in St. Paul anpries. Ein hinreichend gutes Beispiel für letzteres war das »Magische Auge«, ein Allzweckamulett, das über Anzeigen in Boulevardblättern wie dem National Enquirer und Inside View vertrieben wurde. Sue, die Kassiererin im Red Apple, kaufte eines und überreichte es ihm eines Nachmittags. Ralph betrachtete das schlecht gezeichnete blaue Auge, das von dem Medaillon (das sein Leben wahrscheinlich einmal als Pokerchip begonnen hatte) zu ihm aufsah und spürte, wie unbändiges Lachen in ihm emporwallte. Irgendwie gelang es ihm, dieses Gelächter zu unterdrücken, bis er wohlbehalten auf der anderen Straßenseite in seinem Apartment im ersten Stock eingetroffen war, und dafür war er mehr als dankbar. Der Ernst, mit dem Sue es ihm überreicht hatte - und die teuer aussehende Goldkette, die sie durch die Öse gezogen hatte -, deuteten darauf hin, daß sie eine Stange Geld dafür hingelegt haben mußte. Seit dem Tag, als sie beide Helen gerettet hatten, betrachtete sie Ralph fast ehrfürchtig. Das machte Ralph verlegen, aber er wußte nicht, was er dagegen tun sollte. Vorläufig entschied er, konnte es nicht schaden, das Medaillon zu tragen, damit sie seinen Umriß unter seinem Hemd erkennen konnte. Beim Einschlafen half es ihm allerdings nicht.

Nachdem er Ralphs Aussage zu den häuslichen Problemen der Deepneaus aufgenommen hatte, hatte Detective John Leydecker den Bürostuhl zurückgeschoben, die Finger hinter seinem nicht unerheblich starken Nacken verschränkt und ihm eröffnet, McGovern hätte ihm verraten, daß Ralph an Schlaflosigkeit leide. Ralph gab es zu. Leydecker nickte, rollte den Stuhl wieder vorwärts, verschränkte die Hände auf dem Durcheinander von Papieren, unter denen sein Schreibtisch größtenteils verborgen war, und sah Ralph ernst an.

»Honigwabe«, sagte er. Sein Tonfall erinnerte Ralph an McGoverns Ton, als er Whiskey als Heilmittel empfohlen hatte, und Ralphs Antwort darauf fiel genau gleich aus.

»Pardon?«

»Mein Großvater hat darauf geschworen«, sagte Leydecker. »Ein kleines Stück Honigwabe vor dem Schlafengehen. Saugen Sie den Honig aus den Waben, kauen Sie das Wachs ein wenig

- wie einen Kaugummi -, und spucken Sie es dann in den Abfall.

Bienen scheiden eine Art natürliches Schlafmittel aus, wenn sie Honig machen. Das hilft Ihnen garantiert.«

»Ohne Flachs«, sagte Ralph, der es gleichzeitig für völligen Unsinn hielt und jedes Wort glaubte. »Was meinen Sie, wo könnte man Honigwaben bekommen?«

»Nutra - der Naturkostladen draußen im Einkaufszentrum. Versuchen Sie es. Nächste Woche um diese Zeit hat sich Ihr Problem erledigt.«

Ralph genoß das Experiment - die Honigwabe war so süß und würzig, daß sie sein gesamtes Wesen zu durchdringen schien -, aber er wachte trotzdem nach der ersten Dosis um 3:07 Uhr, nach der zweiten um 3:08 und nach der dritten um 3:06 Uhr auf. Da war das kleine Stück Honigwabe verbraucht, das er gekauft hatte, und er ging sofort wieder zu Nutra und holte ein neues. Sein Wert als Schlafmittel mochte gleich Null sein, aber es war ein wunderbarer Snack; er wünschte nur, er wäre füher darauf gekommen.

Er versuchte es damit, die Füße in warmes Wasser zu stellen. Lois kaufte ihm etwas, das Allzweck-Gelmanschette hieß, im Versandhandel - man sollte sie um den Hals legen, wo sie gegen Arthritis wirkte und einem beim Schlafen half (bei Ralph tat sie beides nicht, aber er hatte sowieso nur einen milden Fall von Arthritis gehabt). Nach einer zufälligen Begegnung mit Trigger Vachon am Tresen von Nicky's Lunch versuchte er es mit Kamillentee. »Das Kraut wirkt wahre Wunder«, erzählte ihm Trig. »Du wirst schlafen wie ein Murmeltier, Ralphie.« Und Ralph schlief tatsächlich - bis 2:58 Uhr.

Das waren die Hausmittel und homöopathischen Arzneien, mit denen es Ralph versuchte. Zu denen, die er nicht versuchte, gehörten Multivitamintabletten, die mehr kosteten, als sich Ralph mit seinem beschränkten Einkommen leisten konnte, eine Yogastellung namens »Der Träumer« (wie der Briefträger sie beschrieb, hörte sich »Der Träumer« nach einer ausgezeichneten Methode an, sich seine eigenen Hämorrhoiden anzusehen) und Marihuana. Ralph dachte lange und gründlich über letzteres nach, bis er zum Ergebnis kam, daß es sich wahrscheinlich nur um eine illegale Version von Whiskey und Honigwabe und Kamillentee handelte. Außerdem, wenn McGovern herausfand, daß Ralph Pot auchte, würde er es sich bis an sein Lebensende anhören müssen.

Und während der ganzen Experimente fragte ihn eine Stimme in seinem Kopf, ob er es wirklich mit Lurchaugen und Krötenzungen versuchen mußte, bevor er endlich zu einem Arzt ging. Diese Stimme war mehr neugierig als kritisch. Ralph selbst war ziemlich neugierig geworden.

Am zehnten September, der ersten Demonstration der Friends of Life vor Woman-Care, entschied Ralph, daß er es mit etwas aus der Drogerie versuchen würde... aber nicht unten im Rexall, wo er Carolyns Rezepte geholt hatte. Dort kannten sie ihn, kannten ihn gut, und Ralph wollte nicht, daß Paul Durgin, der Drogist von Rexall, ihn dabei sah, wie er Schlaftabletten kaufte. Wahrscheinlich war das albern - als würde man quer durch die ganze Stadt fahren, um Kondome zu kaufen -, änderte aber nichts an seiner Einstellung. Er war noch nie im Rite Aid gegenüber des Strawford Park gewesen, daher wollte er es dort versuchen. Und wenn die Apothekenversion von Lurchaugen und Krötenzungen nicht wirkte, würde er wirklich zu einem Doktor gehen.

Ist das wahr, Ralph? Ist das wirklich dein Ernst?

»Ja«, sagte er laut, während er langsam im hellen Septembersonnenschein die Harris Avenue entlangging. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich das noch lange mitmache.«

Große Worte, Ralph, erwiderte die Stimme skeptisch.

Bill McGovern und Lois Chasse standen vor dem Park und schienen in eine angeregte Unterhaltung vertieft zu sein. Bill sah auf, erkannte ihn und winkte ihn herüber. Ralph ging hin, aber ihre Mienen gefielen ihm nicht: sichtliches Interesse bei McGovern, Besorgnis und Beunruhigung bei Lois.

»Hast du von der Sache beim Krankenhaus gehört?« fragte sie, als Ralph bei ihnen war.

»Es war nicht beim Krankenhaus und es war keine >Sache<«, sagte McGovern ärgerlich. »Es war eine Demonstration - so haben sie es jedenfalls genannt -, und die fand bei Woman-Care statt, das eigentlich hinter dem Krankenhaus liegt. Sie haben ein paar Leute ins Gefängnis gesperrt - zwischen sechs und zwei Dutzend, niemand scheint es genau zu wissen.«

»Einer davon war Ed Deepneau!« sagte Lois atemlos, worauf McGovern ihr einen mißfälligen Blick zuwarf. Er war eindeutig der Meinung, daß es ihm zugestanden hätte, diese Information zu überbringen.

»Ed!« sagte Ralph erstaunt. »Er ist in Fresh Harbor!«

»Falsch«, sagte McGovern. Der ausgebeulte Fedora, den er trug, verlieh ihm ein etwas verwegenes Aussehen, wie ein Reporter in einem Kriminalfilm aus den vierziger Jahren. Ralph fragte sich, ob der Panama immer noch verschwunden oder nur bis zum Herbst in den Ruhestand versetzt worden war. »Heute kühlt er sich sein Mütchen wieder in unserem malerischen Stadtgefängnis ab.«

»Was ist genau passiert?«

Aber das wußten sie beide im Grunde genommen nicht. Im momentanen Zustand war die Geschichte wenig mehr als ein Gerücht, das sich durch den Park verbreitet hatte wie eine ansteckende Kopfgrippe, ein Gerücht, das in diesem Viertel auf besonderes Interesse stieß, da Ed Deepneaus Name darin vorkam. Marie Callan hatte Lois erzählt, daß Pflastersteine geworfen worden waren, darum hatten sie die Demonstranten festgenommen. Laut Stan Eberly, der McGovern die Geschichte erzählt hatte, kurz bevor McGovern Lois getroffen hatte, hatte jemand - möglicherweise Ed, möglicherweise auch einer der anderen - zwei Ärzte mit Tränengas besprüht, als diese den Fußweg zwischen Woman-Care und dem Hintereingang des Krankenhauses benutzt hatten. Dieser Weg war rechtlich gesehen öffentliches Gelände und in den sieben Jahren, seit Woman-Care Abtreibungen auf Verlangen durchführte, zu einem Lieblingsplatz für demonstrierende Abtreibungsgegner geworden.

Die beiden Versionen der Geschichte waren so vage und widersprüchlich, daß Ralph hinreichend Hoffnung aufbringen konnte, keine davon würde sich als wahr erweisen, daß es sich vielleicht nur um ein paar übereifrige Leute gehandelt hätte, die wegen Hausfriedensbruchs oder so etwas verhaftet worden wären. In Städten wie Derry kam so etwas vor; Geschichten wurden aufgeblasen wie Wasserbälle, wenn sie weitererzählt wurden.

Aber er konnte das Gefühl nicht abschütteln, daß es diesmal ernster wäre, und zwar weil in der Version von Bill und in der von Lois Ed Deepneau vorkam, und Ed war keineswegs der normale, durchschnittliche Abtreibungsgegner. Immerhin handelte es sich um den Mann, der seiner Frau ein Büschel Haare ausgerissen, ihr das Gebiß neu eingerichtet und ihr einen Wangenknochen gebrochen hatte, und das nur, weil er ihren Namen auf einer Petition von Woman-Care fand. Es handelte sich um den Mann, der allen Ernstes davon überzeugt war, daß jemand, der sich der Scharlachrote König nannte -toller Name für einen Profi-Catcher, fand Ralph -, in Derry herumspazierte, und daß seine Untergebenen ihre ungeborenen Opfer mit Lastwagen aus der Stadt schafften (und ein paar Pickups, auf denen die Embryos in Fässern mit der Aufschrift DÜNGER versteckt waren). Nein, er hatte das Gefühl, wenn Ed dort gewesen war, ging es wahrscheinlich nicht nur darum, daß jemand aus Versehen mit einem Protestschild auf den Kopf geschlagen worden war.

»Gehen wir zu mir nach Hause«, schlug Lois plötzlich vor. »Ich rufe Simone Castonguay an. Ihre Nichte ist tagsüber an der Rezeption von Woman-Care. Wenn jemand genau weiß, was heute morgen dort passiert ist, dann Simone - sie wird Barbara angerufen haben.«

»Ich war gerade auf dem Weg zum Supermarkt«, sagte Ralph. Das war selbstverständlich eine Lüge, aber sicher eine kleine; der Markt befand sich im Einkaufszentrum einen halben Block vom Park entfernt gleich neben dem Rite Aid. »Kann ich auf dem Rückweg vorbeikommen?«

»Na klar«, sagte Lois und lächelte ihm zu. »Wir erwarten dich in ein paar Minuten, nicht, Bill?«

»Ja«, sagte McGovern und zog sie plötzlich in seine Arme. Es war eine ziemliche Strecke, aber es gelang ihm. »Bis dahin habe ich dich ganz für mich alleine. Oh, Lois, wie diese süßen Minuten dahinfliegen werden!«

Direkt innerhalb des Parks hatte eine Gruppe junger Frauen mit Babys in Kinderwagen (Mütterklatsch, dachte Ralph) sie beobachtet - wahrscheinlich von Lois' Gesten angelockt, die einen Hang zum Grandiosen hatten, wenn sie aufgeregt war. Als McGovern Lois nun nach hinten kippte und sich mit der gespielten Leidenschaft eines schlechten Schauspielers am Ende eines Bühnentangos über sie beugte, sagte eine der Mütter etwas zu einer anderen, worauf sie beide lachten. Es war ein schrilles, freudloses Geräusch, bei dem Ralph an Kreide auf einer Tafel und Gabeln denken mußte, die über Porzellan kratzten. Seht euch die komischen alten Leute an, sagte das Lachen. Seht euch die komischen alten Leute an, die so tun, als wären sie wieder jung.

Ralph sah sie durchdringend an und versuchte, ihnen einen Gedanken zu senden: Das blüht euch auch noch. Vielleicht glaubt ihr es jetzt noch nicht, aber es ist so.

»Hör auf, Bill«, sagte Lois. Sie errötete, aber möglicherweise nicht nur, weil Bill seine üblichen Albernheiten abzog. Sie hatte das Gelächter aus dem Park auch gehört. McGovern zweifellos auch, aber McGovern glaubte sicher, daß sie mit ihm lachten, nicht über ihn. Manchmal, überlegte sich Ralph, konnte ein etwas aufgeblasenes Ego ein Selbstschutz sein.

McGovern ließ sie los, dann nahm er den Fedora ab und schwenkte ihn über die Taille, während er eine übertriebene Verbeugung machte. Lois war zu sehr damit beschäftigt, sich zu vergewissern, daß ihre Seidenbluse noch im Rocksaum steckte, um auf ihn zu achten. Ihre Röte verblaßte schon wieder, und Ralph sah, daß sie müde und nicht besonders gut aussah. Er hoffte, daß sie keine Krankheit ausbrütete.

»Komm vorbei, wenn du kannst«, sagte sie leise zu Ralph.

»Mach ich, Lois.«

McGovern legte ihr einen Arm um die Taille, eine diesmal freundschaftlich und ehrlich gemeinte Geste der Zuneigung, und sie gingen gemeinsam über die Straße. Als Ralph sie beobachtete, überkam ihn plötzlich ein starkes Gefühl des deja vu, als hätte er sie an einem anderen Ort schon einmal so gesehen. Oder in einem anderen Leben. Dann, als McGovern gerade den Arm sinken ließ und die Illusion zerstörte, fiel es ihm ein: Fred Astaire, der eine dunkelhaarige und etwas plumpe Ginger Rogers in eine Kleinstadtfilmkulisse führte, wo sie gemeinsam zu einer Melodie von Jerome Kern oder vielleicht Lerner und Loewe tanzen würden.

Das ist unheimlich, dachte er und drehte sich wieder dem kleinen Einkaufszentrum auf halbem Wege am Up-Mile Hill zu. Das ist sehr unheimlich, Ralph. Bill McGovern und Lois Chasse sind so weit von Fred Astaire und Ginger Rogers entf...

»Ralph?« rief Lois, und er drehte sich um. Eine Kreuzung und fast ein ganzer Block lagen nun zwischen ihnen. Autos fuhren auf der Elizabeth Street hin und her, so daß Ralph sie nur mit stotternden Unterbrechungen sehen konnte.

»Was?« rief er zurück.

»Du siehst besser aus! Ausgeruhter! Kannst du endlich wieder schlafen?«

»Ja!« antwortete er und dachte: Noch eine kleine Notlüge für einen guten Zweck.

»Habe ich dir nicht gesagt, daß es dir wieder besser gehen würde, wenn das Wetter umschlägt? Wir sehen uns gleich!«

Lois winkte ihm mit den Fingern, und Ralph sah zu seinem Erstaunen, daß hellblaue diagonale Linien von den kurzen, aber sorgfältig manikürten Nägeln ausgingen. Sie sahen wie Kondensstreifen aus.

Was, zum Teufel -?

Er preßte die Augen fest zu und riß sie wieder auf. Nichts. Nur Bill und Lois, die ihm die Rücken zukehrten und die Straße entlang zu Lois' Haus gingen. Keine hellblauen Diagonalen in der Luft, nichts dergleichen – Ralphs Blick fiel auf den Bürgersteig, und er stellte fest, daß Lois und Bill Spuren auf dem Beton zurückließen, Spuren, die haargenau wie die Fußabdrücke in den alten Tanzkursen von Arthur Murray aussahen, die man per Post bestellen konnte. Die von Lois waren grau. McGoverns - größer, aber dennoch seltsam zierlich - waren von einem dunklen Olivgrün. Sie leuchteten auf dem Bürgersteig, und Ralph, der auf der anderen Seite der Elizabeth Street stand und das Bonn fast bis zum Brustbein hängen ließ, stellte plötzlich fest, daß er kleine Kringel bunten Rauchs von ihnen aufsteigen sehen konnte. Möglicherweise war es auch Dampf.

Ein städtischer Bus Richtung Old Cape schnarchte vorbei und versperrte ihm vorübergehend die Sicht auf die Straße, und als der Bus vorbei war, waren die Spuren verschwunden. Nichts war auf dem Bürgersteig zu sehen, abgesehen von einer Kreidebotschaft in einem verblaßten rosa Herz: Sam + Deanie 4-ever.

Diese Spuren sind nicht verschwunden, Ralph; sie waren nie da. Das weißt du doch, oder nicht?

Ja, er wußte es. Der Gedanke, daß Bill und Lois wie Fred Astaire und Ginger Rogers aussahen, war ihm zu Kopf gestiegen; es hatte eine seltsame bizarre Logik, sich nach diesem Gedanken Fußspuren einzubilden, die wie Schritte in alten Arthur Murray-Tanzdiagrammen aussahen. Dennoch war es beängstigend. Sein Herz schlug zu schnell, und als er einen Moment die Augen zumachte und versuchte, sich zu beruhigen, sah er die Linien von Lois' winkenden Fingern ausgehen wie hellblaue Kondensstreifen.

Ich muß mehr schlafen, dachte Ralph. Ich muß. Wenn ich nicht bald schlafen kann, werde ich alles mögliche sehen.

»Das stimmt«, murmelte er, als er sich wieder zur Drogerie umdrehte. »Alles mögliche.«

3

Zehn Minuten später stand Ralph vor der Drogerie Rite Aid und betrachtete das Schild, das an einer Kette von der Decke hing: FÜHLEN SIE SICH BESSER MIT RITE AID! stand darauf, was den Anschein zu erwecken schien, als wäre sich besser zu fühlen ein Ziel, das jeder vernünftige, hart arbeitende Konsument erreichen konnte. Ralph hatte da seine Zweifel.

Das, dachte sich Ralph, war Einzelhandel mit Arzneimitteln im größten Maßstab - dagegen sah das Rexall, wo er normalerweise kaufte, wie ein Souterrain aus. Die hellen, neonbeleuchteten Gänge schienen so lang wie Bowlingbahnen zu sein und enthielten alles von Toastern bis Puzzlespielen. Nach kurzer Erkundung kam Ralph zum Ergebnis, daß Gang 3 den größten Teil der Arzneimittel enthielt und wahrscheinlich am ehesten einen Versuch wert war. Er schlenderte langsam durch ein Regal mit der Aufschrift MAGENHEILMITTEL, verweilte kurz im Königreich der SCHMERZMITTEL und durchquerte hastig das Land der ABFÜHRMITTEL. Zwischen ABFÜHRMITTEL und VERSTOPFUNGSZÄPFCHEN blieb er stehen.

Das ist er, Leute - mein letzter Versuch. Danach bleibt nur Dr. Litchfield, und wenn der vorschlägt, Honigwaben zu lutschen oder Kamillentee zu trinken, werde ich wahrscheinlich durchdrehen, und beide Sprechstundenhilfen und die Sekretärin werden nötig sein, mich von ihm runterzuziehen.

SCHLAFMITTEL, stand auf dem Schild dieses Abschnitts von Gang 3.

Ralph, der nie besonders viel Medikamente eingenommen hatte (andernfalls wäre er zweifellos schon viel früher hier gelandet), wußte nicht genau, was er erwartete, aber ganz sicher nicht diese hemmungslose, fast unanständige Produktvielfalt. Sein Blick schweifte über Verpackungen (die meisten in beruhigendem Dunkelblau), deren Aufschriften er las. Die meisten Namen waren seltsam und irgendwie geheimnisvoll: Compoz, Nytol, Sleepinal, Z-Power, Sominex, Sleepinex, Drow-Zee. Es gab sogar eine No-name-Marke.

Das kann nicht dein Ernst sein, dachte er. Nichts davon wird dir helfen. Es wird Zeit, daß du aufhörst, Mist zu bauen, weißt du das nicht? Wenn man anfängt, bunte Fußspuren auf dem Bürgersteig zu sehen, wird es höchste Zeit, mit dem Herumalbern aufzuhören und einen Arzt aufzusuchen.

Aber unmittelbar danach hörte er Dr. Litchfield, hörte ihn so deutlich, als wäre in seinem Kopf ein Tonband eingeschaltet worden: Ihre Frau leidet an nervösen Kopfschmerzen, Ralph unangenehm und schmerzhaft, aber nicht lebensgefährlich. Ich glaube, wir werden das Problem in den Griff bekommen.

Unangenehm und schmerzhaft, aber nicht lebensgefährlich - ja, richtig, das hatte der Mann gesagt. Und dann hatte er nach seinem Rezeptblock gegriffen und das Rezept für die ersten nutzlosen Tabletten ausgeschrieben, während winzige Klumpen fremder Zellen in Carolyns Kopf weiterhin ihre Mikrosalven der Zerstörung ausgesandt hatten, und vielleicht hatte Dr. Jamal recht gehabt, vielleicht war es da schon zu spät gewesen, aber vielleicht redete Jamal auch Scheiße, vielleicht war Jamal nur ein Mann in einer fremden Welt, der zurechtzukommen versuchte, ohne viel Aufsehen zu erregen. Vielleicht dies und vielleicht das; Ralph wußte es nicht mit Sicherheit und würde es nie erfahren. Er wußte nur, daß Litchfield nicht dabei gewesen war, als es an die beiden letzten Aufgaben ihrer Ehe gegangen war: für sie, zu sterben, und für ihn, ihr dabei zuzusehen.

Möchtest du das tun? Zu Litchfield gehen und ihm zusehen, wie er nach seinem Rezeptblock greift?

Vielleicht klappte es diesmal, sagte er sich. Gleichzeitig streckte sich seine Hand fast aus freien Stücken aus und griff nach einer Packung Sleepinex auf dem Regal. Er drehte sie herum, hielt sie ein Stück von sich weg, damit er das Kleingedruckte auf der Rückseite sehen konnte, und ließ den Blick langsam und gründlich über die Liste der Wirkstoffe wandern. Er hatte keine Ahnung, wie man die meisten der zungenbrecherischen Worte auch nur aussprach, und noch weniger, was sie waren oder wie sie einem beim Schlafen helfen sollten.

Ja, antwortete er der Stimme. Vielleicht klappte es diesmal.

Aber vielleicht lag die wahre Lösung einfach darin, einen anderen Arzt zu su-

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte eine Stimme unmittelbar hinter Ralphs Schulter.

Er war gerade dabei, die Packung Sleepinex wieder an ihren Platz zu stellen, weil er etwas nehmen wollte, das sich nicht so sehr nach einer finsteren Droge aus einem Roman von Robin Cook anhörte, als die Stimme zu sprechen anfing. Ralph zuckte zusammen und stieß ein Dutzend verschiedene Packungen synthetischen Schlafs auf den Boden.

»Oh, Entschuldigung - wie ungeschickt!« sagte Ralph und sah über die Schulter.

»Überhaupt nicht. Einzig und allein meine Schuld.« Und bevor Ralph mehr als zwei Packungen Sleepinex und eine Packung Drow-Zee Gelkapseln aufheben konnte, hatte der Mann im weißen Kittel, der ihn angesprochen hatte, den ganzen Rest aufgehoben und verteilte alles mit der Behendigkeit eines professionellen Pokerspielers. Laut dem goldenen Namensschild auf seiner Brust handelte es sich um JOE WYZER, RITE AID APOTHEKER.

»Und jetzt«, sagte Wyzer, der sich die Hände abwischte und mit einem freundlichen Grinsen zu Ralph umdrehte, »fangen wir noch mal von vorne an. Kann ich Ihnen helfen? Sie sehen ein wenig hilflos aus.«

Ralphs erste Reaktion - Zorn darüber, daß er gestört wurde, während er eine wichtige und bedeutsame Unterredung mit sich selbst führte - wich einem wachsamen Interesse. »Nun, ich weiß nicht«, sagte er und deutete auf die Auswahl von Schlafmitteln. »Helfen die tatsächlich?«

Wyzers Grinsen wurde breiter. Er war ein großer Mann mittleren Alters mit heller Haut und schütterem braunen Haar, das er in der Mitte scheitelte. Er streckte die Hand aus, und Ralph hatte kaum zur höflichen Erwiderungsgeste angesetzt, als seine ganze Hand schon verschluckt wurde. »Ich bin Joe«, sagte der Apotheker und klopfte mit der freien Hand auf sein goldenes Namensschild. »Früher war ich Joe Wyze, aber heute bin ich älter und Wyzer.«

Das war mit Sicherheit ein uralter Witz, aber für Joe Wyzer, der brüllend lachte, hatte er eindeutig nichts von seiner Wirkung eingebüßt. Ralph lächelte ein höfliches schmales Lächeln mit einer winzigen Spur Angst an den Rändern. Die Hand, die seine umfangen hatte, war eindeutig kräftig, und er fürchtete, wenn der Apotheker noch ein bißchen mehr zudrückte, würde seine eigene Hand den Tag in einem Gips beenden. Er wünschte sich, zumindest vorübergehend, daß er mit seinem Problem doch zu Paul Durgin gegangen wäre. Dann schüttelte Wyzer ihm die Hand zweimal mit Nachdruck und ließ sie los.

»Ich bin Ralph Roberts. Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Wyzer.«

»Meinerseits. Und nun zur Wirksamkeit dieser ausgezeichneten Produkte. Lassen Sie mich Ihre Frage mit einer Gegenfrage beantworten: Scheißt ein Bär in einer Telefonzelle?«

Ralph lachte auf. »Selten, würde ich sagen«, antwortete er, als er wieder sprechen konnte.

»Korrekt.« Wyzer betrachtete die Schlaftabletten, eine Wand aus Blautönen. »Gott sei Dank bin ich Apotheker und kein Händler, Mr. Roberts; ich würde verhungern, wenn ich versuchen müßte, das Zeug an der Tür zu verkaufen. Leiden Sie an Schlaflosigkeit? Ich frage teilweise, weil Sie nach Schlaftabletten suchen, aber hauptsächlich, weil Sie das hagere und hohläugige Aussehen haben.«

Ralph sagte: »Mr. Wyzer, ich wäre der glücklichste Mensch auf der Welt, wenn ich einmal fünf Stunden pro Nacht schlafen könnte, ich würde mich aber auch schon mit vier zufriedengeben.«

»Wie lange geht das schon so, Mr. Roberts? Oder würden Sie Ralph vorziehen?«

»Ralph ist okay.«

»Gut. Und ich bin Joe.«

»Ich glaube, es hat im April angefangen. Einen Monat oder sechs Wochen nach dem Tod meiner Frau.« »Herrje, tut mir leid, daß Sie Ihre Frau verloren haben. Mein Beileid.«

»Danke«, sagte Ralph, dann wiederholte er den alten Spruch. »Ich vermisse sie sehr, aber ich war froh, daß ihr Leid ein Ende hatte.«

»Aber jetzt leiden Sie. Seit... mal sehen.« Wyzer zählte rasch mit seinen großen Fingern. »Seit über einem halben Jahr.«

Plötzlich faszinierten diese Finger Ralph. Diesmal keine Kondensstreifen, aber die Spitze jedes einzelnen schien in einen hellen, silbernen Dunst gehüllt zu sein, wie Alufolie, durch die man irgendwie hindurchsehen konnte. Plötzlich mußte er wieder an Carolyn und die Phantomgerüche denken, über de sie sich letzten Herbst beschwert hatte - Gewürznelken, Abwasser, angebrannter Speck. Vielleicht war dies das männliche Gegenstück dazu und der Anfang seines eigenen Gehirntumors, der sich nicht durch Kopfschmerzen, sondern durch Schlaflosigkeit ankündigte.

Selbstdiagnose ist dummes Zeug, Ralph, also warum hörst du nicht einfach damit auf?

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Wyzers breites, freundliches Gesicht. Da war kein silberner Dunst; nicht einmal die Andeutung eines Dunsts. Er hätte es fast schwören können.

»Ganz recht«, sagte er. »Ein halbes Jahr. Mir kommt es länger vor. Viel länger.«

»Gibt es ein ersichtliches Muster? Normalerweise gibt es eines. Ich meine, wälzen Sie sich herum, bevor Sie einschlafen, oder... «

»Ich wache zu früh auf.«

Wyzer zog die Brauen hoch. »Und Sie haben das eine oder andere Buch zum Thema gelesen, vermute ich.« Hätte Litchfield diese Bemerkung gemacht, hätte Ralph Herablassung hineininterpretiert. Bei Joe Wyzer spürte er keine Herablassung, sondern aufrichtige Bewunderung.

»Ich habe gelesen, was ich in der Bibliothek finden konnte, aber das war nicht viel, und es hat auch kaum geholfen.« Nach einer Pause fügte Ralph hinzu: »In Wahrheit hat gar nichts geholfen.«

»Nun, dann will ich Ihnen mal sagen, was ich zu dem Thema weiß, und Sie schütteln einfach nur den Kopf, wenn ich in Bereiche vordringe, die Sie schon abgedeckt haben. Wer ist übrigens Ihr Hausarzt?«

»Litchfield.«

»Hm-hmm. Und normalerweise kaufen Sie... wo? Im Peoples Drug draußen im Einkaufszentrum? Im Rexall in der Innenstadt?«

»Im Rexall.«

»Verstehe. Sie sind heute inkognito hier.«

Ralph errötete... dann grinste er. »Ja, so was in der Art.«

»Hm-hmm. Und ich muß wohl nicht erst fragen, ob Sie mit Ihrem Problem bei Litchfield gewesen sind, oder? Wenn ja, dann wären Sie jetzt nicht hier und würden die wunderbare Welt der Patentmedizin erforschen.«

»Sind sie das? Patentarzneien?«

»Drücken wir es einmal so aus - ich würde mich viel wohler fühlen, wenn ich dieses ganze Zeug auf einem großen roten Wagen mit knalligen gelben Rädern verkaufen würde.«

Ralph lachte, und die helle silberne Wolke, die er vor Wyzers Kittel gesehen hatte, zerstob dabei.

»Auf diese Art von Händlerdasein könnte ich mich vielleicht einlassen«, sagte Wyzer mit einem verklärten kleinen Grinsen. »Ich würde mir eine süße kleine Zuckerpuppe besorgen, die in einem Pailetten-BH und einer Pluderhose tanzt... ich würde sie Little Egypt nennen, wie in dem alten Song der Coasters... sie wäre meine Anheiznummer. Außerdem hätte ich einen Banjospieler. Meiner Meinung nach gibt es nichts Besseres als eine gute Dosis Banjomusik, um die Leute in Kauflaune zu versetzen.«

Wyzer sah an den Abführmitteln und Verstopfungsmitteln vorbei und genoß seinen fröhlichen Tagtraum. Dann schaute er Ralph wieder an.

»Für jemand, der zu früh aufwacht, so wie Sie, Ralph, ist dieses Zeug definitiv nutzlos. Sie wären mit einem Schuß Fusel oder einem dieser Wellengeneratoren, wie man sie in Katalogen anbietet, besser dran, und wenn ich Sie so ansehe, dann denke ich mir, daß Sie wahrscheinlich beides schon versucht haben.« »Ja.«

»Zusammen mit rund zwei Dutzend weiteren alten, erprobten Hausmitteln.«

Ralph lachte wieder. Der Mann gefiel ihm immer besser. »Versuchen Sie es mit vier Dutzend, dann sind Sie im Rennen.«

»Nun, Sie sind ein durchtriebener Gauner, das muß ich Ihnen lassen«, sagte Wyzer und winkte mit einer Hand zu den blauen Verpackungen. »Diese Dinger da sind nichts weiter als Antihistamine. Im Grunde genommen machen sie sich eine Nebenwirkung zunutze - Antihistamine machen die Leute schläfrig. Nehmen Sie eine Packung Comtrex oder Bandryl drüben bei den Verstopfungsmitteln, und Sie werden sehen, daß daraufsteht, man soll sie nicht nehmen, wenn man Auto fährt oder schwere Maschinen bedient. Leuten, die gelegentlich an Schlaflosigkeit leiden, könnte eine Sominex ab und zu helfen. Gibt ihnen einen Stups. Aber bei Ihnen würde das nicht funktionieren, denn Ihr Problem ist nicht das Einschlafen, sondern das Durchschlafen, richtig?«

»Richtig.«

»Darf ich Ihnen eine heikle Frage stellen?«

»Klar. Ich denke schon.«

»Haben Sie in der Hinsicht Probleme mit Dr. Litchfield? Vielleicht Zweifel, daß er begreifen könnte, wie beschissen Sie sich durch Ihre Schlaflosigkeit fühlen?«

»Ja«, sagte Ralph dankbar. »Meinen Sie, ich sollte ihn aufsuchen? Es ihm zu erklären versuchen, damit er es versteht?« Diese Frage würde Wyzer selbstverständlich bejahen, und Ralph würde endlich anrufen. Und es würde, sollte Litchfield sein, auch das wurde ihm jetzt klar. Es wäre Wahnsinn, sich in seinem Alter noch einen neuen Arzt zu suchen.

Kannst du Dr. Litchfield sagen, daß du Visionen hast? Kannst du ihm von den blauen Fäden erzählen, die aus Lois' Fingern kamen? Den Spuren auf dem Bürgersteig, wie bei einem Tanzdiagramm von Arthur Murray? Dem silbernen Dunst um Joe Wyzers Finger? Wirst du wirklich Litchfield erzählen, daß du das siehst? Und wenn nicht, wenn du es nicht kannst, warum gehst du dann überhaupt zu ihm, ganz egal, was dieser Mann empfiehlt?

Wyzer überraschte ihn jedoch, indem er eine völlig andere Richtung einschlug. »Träumen Sie noch?«

»Ja. Sogar ziemlich oft, wenn man bedenkt, daß ich bei drei Stunden Schlaf pro Nacht angelangt bin.«

»Sind das zusammenhängende Träume - Träume, die aus vorstellbaren Ereignissen bestehen und eine Art Erzählfluß haben, wie weit hergeholt er auch sein mag - oder sind es nur zusammenhanglose Bilder?«

Ralph erinnerte sich an einen Traum, den er in der Nacht zuvor gehabt hatte. Er und Helen Deepneau und Bill McGovern hatten mitten auf der Harris Avenue zu dritt Frisbee gespielt. Helen hatte ein paar riesige, unbeholfene Gamaschenschuhe getragen; McGovern trug ein Sweatshirt mit einer Wodkaflasche darauf. ABSOLUTLY THE BEST, verkündete das Sweatshirt. Der Frisbee war grellrot mit grünen Leuchtstreifen gewesen. Dann hatte sich die Hündin Rosalie sehen lassen. Das verblichene blaue Taschentuch, das ihr jemand um den Hals gebunden hatte, flatterte deutlich, als sie sich ihnen hinkend näherte. Plötzlich sprang sie in die Luft, schnappte den Frisbee und lief mit ihm im Maul davon. Ralph wollte sie verfolgen, aber McGovern sagte: Ganz ruhig, Ralph, wir bekommen eine ganze Kiste davon zu Weihnachten. Ralph wollte sich zu ihm umdrehen, darauf hinweisen, daß Weihnachten noch drei Monate entfernt war, und fragen, was sie bis dahin machen sollten, wenn sie wieder mal Frisbee spielen wollten, aber bevor er es konnte, war der Traum entweder zu Ende gewesen oder in einen anderen, nicht mehr so lebhaften geistigen Film übergegangen.

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe«, antwortete Ralph, »sind meine Träume zusammenhängend.«

»Gut. Ich möchte auch noch wissen, ob es lichte Träume sind. Lichte Träume erfüllen zwei Voraussetzungen. Erstens, man weiß, daß man träumt. Zweitens, man kann häufig den Verlauf beeinflussen, den der Traum nimmt - man ist mehr als nur ein passiver Beobachter.«

Ralph nickte. »Klar, die habe ich auch. Tatsächlich scheine ich in letzter Zeit eine ganze Menge davon zu haben. Ich mußte gerade an einen denken, den ich letzte Nacht hatte. Darin ist eine streunende Hündin, die ich ab und zu auf der Straße sehe, mit einem Frisbee davongelaufen, mit dem Freunde von mir und ich gespielt hatten. Ich war wütend, weil sie das Spiel unterbrochen hatte, und wollte sie dazu bringen, den Frisbee fallenzulassen, indem ich ihr einfach den Gedanken hinterherschickte. Eine Art telepathischen Befehl, verstehen Sie?«

Er stieß ein leises, verlegenes Kichern aus, aber Wyzer nickte nur nüchtern. »Hat es funktioniert?«

»Diesmal nicht«, sagte Ralph. »Aber ich glaube, in anderen Träumen ist es mir schon gelungen. Aber sicher bin ich nicht, denn die meisten Träume scheinen gleich nach dem Aufwachen zu verschwinden.«

»Das ist bei allen so«, sagte Wyzer. »Das Gehirn behandelt Träume als Abfallprodukte, die in einem extremen Kurzzeitgedächtnis gespeichert werden.«

»Sie wissen eine Menge darüber, was?«

»Schlaflosigkeit interessiert mich sehr. Als ich am College war, habe ich zwei Forschungsarbeiten über den Zusammenhang zwischen Träumen und Schlafstörungen gemacht.« Wyzer sah auf die Uhr. »Ich habe jetzt Pause. Möchten Sie gerne eine Tasse Kaffee und ein Stück Apfelkuchen mit mir zu sich nehmen? Es gibt ein Cafe gleich zwei Türen weiter, und der Kuchen ist phantastisch.«

»Hört sich nicht schlecht an, aber ich begnüge mich mit einer Orangenlimo. Ich versuche, meinen Kaffeekonsum einzuschränken.«

»Verständlich, aber vollkommen nutzlos«, sagte Wyzer fröhlich. »Koffein ist nicht Ihr Problem, Ralph.«

»Nein, wahrscheinlich nicht... aber was dann?« Bis zu diesem Punkt war es Ralph erfolgreich gelungen, das Elend aus seiner Stimme herauszuhalten, aber jetzt stahl es sich wieder hinein.

Wyzer klopfte ihm auf die Schulter und sah ihn freundlich an. »Darüber«, sagte er, »werden wir uns jetzt unterhalten. Kommen Sie.«

Kapitel 5

»Betrachten Sie es einmal auf diese Weise«, empfahl Wyzer fünf Minuten später. Sie befanden sich in einem New-Age-Imbiß namens Day Break, Sun Down. Das Innere war ein wenig zu grün für Ralphs Geschmack, der eher für altmodische Imbißbuden schwärmte, in denen Chrom glänzte und wo es nach Fett roch, aber der Kuchen war gut, und der Kaffee entsprach zwar nicht den Maßstäben von Lois Chasse - Lois machte den besten Kaffee, den er je getrunken hatte -, aber er war heiß und stark.

»Und welche Weise wäre das?« fragte Ralph.

»Es gibt bestimmte Dinge, nach denen die Menschheit strebt. Nicht das, worüber in den Geschichts- und Staatsbürgerkundebüchern geschrieben wird, jedenfalls zum überwiegenden Teil; ich spreche hier von den grundsätzlichen Dingen. Ein Dach über dem Kopf. Drei Herdplatten und ein Bett. Ein anständiges Liebesleben. Gesunde Eingeweide. Aber das wichtigste von allen ist wahrscheinlich das, was Ihnen fehlt, mein Freund. Denn nichts auf der Welt geht über einen gesunden Schlaf, oder?«

»Mann, da haben Sie völlig recht«, sagte Ralph.

Wyzer nickte. »Schlaf ist der Held, der übersehen wird, der Arzt des armen Mannes. Shakespeare nannte ihn den Faden, der den zerrissenen Ärmel der Sorge flickt, Napoleon nannte ihn das segensreiche Ende der Nacht, und Winston Churchill -einer der großen Schlaflosen des zwanzigsten Jahrhunderts -bezeichnete ihn als einzige Erleichterung von seinen tiefen Depressionen. Das hatte ich alles in meinen Arbeiten zitiert, aber worauf die ganzen Zitate letztendlich hinauslaufen, ist das, was ich gerade gesagt habe: Nichts auf der Welt kommt einem gesunden Schlaf gleich.«

»Sie haben das Problem selbst gehabt, richtig?« fragte Ralph plötzlich. »Haben Sie mich deshalb... nun... deshalb unter Ihre Fittiche genommen?«

Joe Wyzer grinste. »Habe ich das denn?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Nun, damit kann ich leben. Die Antwort ist ja. Ich habe, seit ich dreizehn Jahre alt war, an Schlaflosigkeit gelitten. Darum habe ich nicht nur eine Forschungsarbeit über das Thema geschrieben, sondern zwei.«

»Und wie geht es Ihnen heute?«

Wyzer zuckte die Achseln. »Bis jetzt war es ein ziemlich gutes Jahr. Nicht das beste, aber ich bin zufrieden. Als ich Anfang Zwanzig war, war das Problem zwei Jahre lang akut - ich ging um zehn Uhr ins Bett, schlief gegen vier Uhr ein, stand um sieben wieder auf, schleppte mich durch den Tag und fühlte mich wie eine Nebenrolle im Alptraum eines anderen.«

Das kam Ralph so bekannt vor, daß er Gänsehaut auf Rücken und Oberarmen bekam.

»Und jetzt kommt das Wichtigste, das ich Ihnen erzählen kann, Ralph, also hören Sie gut zu.«

»Mach ich.«

»Sie müssen sich darauf konzentrieren, daß es Ihnen im Grunde genommen immer noch gut geht, obwohl Sie sich meistens beschissen fühlen. Nicht jeder Schlaf ist gleich, wissen Sie es gibt guten Schlaf und schlechten Schlaf. Wenn Sie immer noch zusammenhängende Träume haben, und was noch wichtiger ist, lichte Träume, dann haben Sie immer noch guten Schlaf. Und deswegen wäre ein Rezept für Schlaftabletten momentan das Schlechteste auf der Welt für Sie. Und ich kenne Litchfield. Er ist ein netter Kerl, aber er liebt seinen Rezeptblock.«

»Das können Sie laut sagen«, erwiderte Ralph, der an Carolyn dachte.

»Wenn Sie Litchfield erzählen, was Sie mir auf dem Weg hierher erzählt haben, verschreibt er Ihnen ein Benzodiazepin wahrscheinlich Dalmane oder Restoril, vielleicht auch Halcion oder sogar Valium. Sie werden schlafen, aber Sie werden den Preis dafür bezahlen. Benzodiazepine machen süchtig, sie wirken atmungslähmend und, was wahrscheinlich am schlimmsten ist, sie reduzieren bei Leuten wie Ihnen und mir deutlich den REM-Schlaf. Mit anderen Worten, den Traumschlaf.

Wie schmeckt der Kuchen? Ich frage nur, weil Sie ihn kaum angerührt haben.«

Ralph biß einmal kräftig ab und schluckte ohne zu schmecken.

»Gut«, sagte er. »Und jetzt verraten Sie mir, warum man Träume haben muß, damit Schlaf guter Schlaf ist.«

»Wenn ich das beantworten könnte, würde ich mich vom Tablettenverkaufen zurückziehen und Schlafguru werden.« Wyzer hatte seinen Kuchen gegessen und benützte die Kuppe des Zeigefingers, um die größeren Krümel vom Teller zu picken. »REM bedeutet Rapid Eye Movement, und nach Meinung der Öffentlichkeit sind REM-Schlaf und Traumschlaf ein und dasselbe, aber niemand weiß, in welchem Zusammenhang die Augenbewegungen der Schlafenden mit ihren Träumen stehen. Es scheint unwahrscheinlich, daß die Augenbewegungen >beobachten< oder >nachsehen< anzeigen, denn Traumforscher können jede Menge davon nachweisen, auch wenn die Schlafenden später behaupten, daß sie vergleichsweise statische Träume hatten, beispielsweise Unterredungen wie unsere jetzt. Ebenso scheint niemand zu wissen, warum ein deutlicher Zusammenhang zwischen lichten, zusammenhängenden Träumen und allgemeiner geistiger Gesundheit zu bestehen scheint: Je mehr derartige Träume jemand hat, desto besser scheint seine Verfassung zu sein, je weniger er hat, desto schlechter. Da besteht ein echter Zusammenhang.«

»Geistige Gesundheit ist ein ziemlich vager Ausdruck«, sagte Ralph skeptisch.

»Ja.« Wyzer grinste. »Dabei muß ich an einen Stoßstangenaufkleber denken, den ich vor ein paar Jahren einmal gesehen habe - FÖRDERT DIE GEISTIGE GESUNDHEIT ODER ICH BRING EUCH UM. Wie auch immer, wir sprechen hier von einigen grundlegenden, meßbaren Komponenten: kognitive Fähigkeit, die Fähigkeit, Probleme zu lösen, sei es durch induktive oder deduktive Methoden, die Fähigkeit, Beziehungen einzugehen, Gedächtnis...«

»Mein Gedächtnis ist neuerdings bescheiden«, sagte Ralph.

Er dachte an sein Unvermögen, sich die Nummer des Kinos einzuprägen oder die lange Suche nach der letzten Packung Cup-A-Soup im Küchenschrank.

»Ja, wahrscheinlich leiden Sie an einem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, aber Ihr Hosenschlitz ist zu, Sie haben das Hemd mit der richtigen Seite nach außen angezogen, und ich wette, wenn ich Sie nach Ihrem zweiten Vornamen fragen würde, könnten Sie ihn mir sagen. Ich will Ihr Problem nicht herunterspielen - ich wäre der letzte Mensch auf der Welt, der das tun würde -, aber ich bitte Sie, einmal eine oder zwei Minuten ihren Standpunkt zu wechseln. An alle Bereiche Ihres Lebens zu denken, wo Sie keinerlei Probleme haben.«

»Na gut. Diese lichten und zusammenhängenden Träume sind die nur ein Anzeichen dafür, wie gut man noch funktioniert, wie die Benzinanzeige am Armaturenbrett, oder helfen sie einem tatsächlich beim Funktionieren?«

»Das weiß niemand mit Sicherheit, aber wahrscheinlich ist die Antwort von beidem ein bißchen. Ende der fünfziger Jahre, etwa zu der Zeit, als die Ärzte die Barbiturate ausrangierten -das letzte wirklich populäre war eine Spaßdroge namens Thalidomid -, versuchten ein paar von ihnen sogar nachzuweisen, daß der gute Schlaf, von dem wir gesprochen haben, und Träume überhaupt nichts miteinander zu tun haben.«

»Und?«

»Die Testergebnisse unterstützen diese Hypothese nicht. Menschen, die an konstanter Traumunterbrechung leiden, haben alle möglichen Probleme, einschließlich Verlust der kognitiven Fähigkeit und emotionaler Stabilität. Sie leiden sogar unter Wahrnehmungsstörungen wie Hyperrealität.«

Hinter Wyzer saß ein Mann am anderen Ende des Tresens und las eine Ausgabe der Derry News. Nur seine Hände und der Scheitel waren zu sehen. Am kleinen Finger der linken Hand trug er einen auffälligen Ring. Die Schlagzeile auf der ersten Seite lautete: ABTREIBUNGSBEFÜRWORTERIN SPRICHT NÄCHSTEN MONAT IN DERRY. Darunter, in etwas kleineren Buchstaben, die Unterzeile: Pro-Life Gruppen kündigen organisierten Protest an. In der Mitte der Seite prangte ein Farbfoto von Susan Day, das ihr weitaus gerechter wurde als die geschmacklosen Fotografien auf dem Plakat im Schaufenster von Secondhand Rose, Secondhand Clothes. Da hatte sie gewöhnlich ausgesehen, vielleicht sogar etwas bedrohlich; auf diesem Bild strahlte sie. Ihre Augen waren dunkel, intelligent, fesselnd. Hamilton Davenports Pessimismus war anscheinend fehl am Platze gewesen. Susan Day kam doch in die Stadt.

Dann sah Ralph etwas, bei dem er Harn Davenport und Susan Day vergaß.

Eine graublaue Aura erschien um die Hände und den gerade sichtbaren Scheitel des Mannes herum, der die Zeitung las. Um den Onyxring am kleinen Finger herum schien sie besonders hell zu sein. Sie verdeckte ihn nicht, sondern schien ihn zu klären und verwandelte den Stein in etwas, das wie ein Asteroid in einem wirklich realistischen Science-Fiction-Film aussah...

»Was haben Sie gesagt, Ralph?«

»Hmm?« Ralph wandte den Blick unter Anstrengung vom Ring des zeitunglesenden Mannes ab. »Ich weiß nicht... habe ich etwas gesagt? Ich glaube, ich habe Sie gefragt, was Hyperrealität ist.«

»Gesteigerte Sinneswahrnehmung«, antwortete Wyzer. »Als würde man einen LSD-Trip haben ohne Chemikalien einnehmen zu müssen.«

»Oh«, sagte Ralph und sah zu, wie die helle, graublaue Aura komplizierte Runenmuster auf dem Nagel des Fingers bildete, mit dem Wyzer Krümel aufsammelte. Zuerst sahen sie wie in Frost geschriebene Buchstaben aus... dann wie in Nebel geschriebene Sätze... dann wie seltsame, staunende Gesichter.

Er blinzelte, und sie waren fort.

»Ralph? Sind Sie noch da?«

»Klar, worauf Sie sich verlassen können. Aber was ich fragen wollte, Joe - wenn die Hausmittel nicht wirken und die Pillen in Gang 3 nicht helfen und die verschreibungspflichtigen Medikamente die Lage verschlimmern statt verbessern können, was bleibt dann noch? Nichts, richtig?«

»Essen Sie das noch?« fragte Wyzer und deutete auf Ralphs Teller. Kaltes graublaues Licht löste sich von seinem Finger wie in Trockeneisnebel geschriebene arabische Buchstaben.

»Nee. Ich bin satt. Bedienen Sie sich.«

Wyzer zog Ralphs Teller zu sich. »Geben Sie nicht so schnell auf«, sagte er. »Ich möchte, daß Sie noch einmal mit mir in die Apotheke kommen, damit ich Ihnen ein paar Visitenkarten geben kann. Mein Rat als freundlicher Apotheker aus der Nachbarschaft ist, daß Sie es einmal mit diesen Leuten versuchen sollten.« »Was für Leuten?« Ralph beobachtete fasziniert, wie Wyzer den Mund aufmachte, um das letzte Stück Kuchen zu essen. Jeder seiner Zähne war von einem grellen grauen Leuchten umgeben. Die Plomben in seinen Backenzähnen glühten wie winzige Sonnen. Die Bruchstücke von Kruste und Apfelfüllung auf seiner Zunge waberten in (licht Ralph licht) hellem Glanz. Dann schloß Wyzer den Mund, um zu kauen, und das Leuchten war verschwunden.

»James Roy Hong und Anthony Forbes. Hong ist Akupunkteur mit einer Praxis in der Kansas Street. Forbes ist Hypnotiseur und arbeitet an der East Side - Hesser Street, glaube ich. Und bevor Sie Quacksalberei schreien -«

»Ich werde nicht Quacksalberei schreien«, sagte Ralph leise. Er hob die Hand und berührte das magische Auge, das er immer noch unter dem Hemd trug. »Glauben Sie mir, das werde ich nicht.«

»Okay, gut. Mein Rat ist, daß Sie es zuerst bei Hong versuchen. Die Nadeln sehen furchterregend aus, tun aber nur ein kleines bißchen weh, aber er hat da was am Laufen. Ich habe keine Ahnung, was es ist und wie, zum Teufel, es funktioniert, aber ich weiß, als ich vor zwei Jahren eine schlimme Zeit durchgemacht habe, hat er mir viel geholfen. Forbes ist auch gut - habe ich jedenfalls gehört -, aber meine Wahl wäre Hong. Er ist schrecklich beschäftigt, aber da könnte ich Ihnen vielleicht helfen. Was meinen Sie?«

Ralph sah ein hellgraues Leuchten, nicht dicker als ein Faden, aus Wyzers Augenwinkel quellen und wie eine übernatürliche Träne an seiner Wange hinunterlaufen. Das gab den Ausschlag. »Ich würde sagen, gehen wir.«

Wyzer klopfte ihm auf die Schulter. »Guter Mann! Bezahlen wir und sehen zu, daß wir verschwinden.« Er holte einen Vierteldollar heraus. »Kopf oder Zahl, wer die Rechnung übernimmt?«

Auf halbem Weg zur Drogerie zurück blieb Wyzer stehen und betrachtete ein Plakat, das ans Schaufenster eines leerstehenden Ladens zwischen Rite Aid und dem Imbiß geklebt worden war. Ralph warf nur einen Blick darauf. Er hatte es schon einmal gesehen, im Schaufenster von Secondhand Rose, Secondhand Clothes.

»Wegen Mordes gesucht«, staunte Wyzer. »Die Leute haben jeden gottverdammten Sinn für Perspektive verloren, finden Sie nicht auch?«

»Ja«, sagte Ralph. »Wenn wir Schwänze hätten, würden, glaube ich, die meisten von uns den ganzen Tag hinter ihnen herjagen und versuchen, sie abzubeißen.«

»Das Plakat ist schon schlimm genug«, sagte Wyzer indigniert, »aber sehen Sie sich das an!«

Er deutete auf etwas neben dem Plakat, das in den Staub auf dem leeren Schaufenster geschrieben worden war. Ralph beugte sich nach vorne und las die kurze Botschaft. TÖTET DIESE FOTZE, stand da. Unter diesen Worten war ein Pfeil, der auf das linke Foto von Susan Day zeigte.

»Mein Gott«, sagte Ralph leise.

»Ja«, stimmte Wyzer zu. Er holte ein Taschentuch aus der Gesäßtasche, wischte die Botschaft weg und hinterließ an deren Stelle lediglich einen hellen silbernen Fächer, den Ralph, wie er wußte, als einziger sehen konnte.

3

Er folgte Wyzer in den hinteren Teil der Drogerie und blieb unter der Tür eines Büros stehen, das nicht viel größer als die Kabine einer öffentlichen Toilette war, während Wyzer sich auf das einzige Möbelstück setzte - einen hohen Stuhl, der in Ebenezer Scrooges Kontor gepaßt hätte - und in der Praxis des Akupunkteurs James Roy Hong anrief. Wyzer drückte den Lautsprecherknopf des Telefons, damit Ralph die Unterhaltung mithören konnte.

Hongs Vorzimmerdame (jemand namens Anne, die Wyzer auf einer freundschaftlicheren als nur beruflichen Basis zu kennen schien) sagte zuerst, daß Dr. Hong unmöglich vor Thanksgiving einen neuen Patienten empfangen konnte. Ralphs Schultern sackten herunter. Wyzer hob eine offene Handfläche in seine Richtung - Moment mal, Ralph -, dann überredete er Anne, Anfang Oktober einen Termin für Ralph zu finden oder freizumachen. Das war in einem Monat, aber immer noch besser als Thanksgiving.

»Danke, Annie«, sagte Wyzer. »Bleibt es beim Essen am Freitag abend?«

»Ja«, sagte sie. »Und jetzt schalt den verdammten Lautsprecher ab, Joe. Ich hab was, das nur für dich bestimmt ist.«

Wyzer gehorchte, lauschte und lachte, bis ihm Tränen in die Augen traten - für Ralph sahen sie wie strahlende flüssige Perlen aus. Dann schmatzte er zweimal ins Telefon und legte auf.

»Alles geregelt«, sagte er und gab Ralph die Visitenkarte von James Roy Hong, auf die er Tag und Uhrzeit des Termins geschrieben hatte. »Vierter Oktober, nicht toll, aber mehr konnte sie wirklich nicht tun. Annie ist ein guter Mensch.«

»Es genügt vollauf.«

»Hier ist die Karte von Anthony Forbes, falls Sie ihn in der Zwischenzeit anrufen wollen.«

»Danke«, sagte Ralph und nahm die zweite Karte. »Ich stehe in Ihrer Schuld.«

»Sie schulden mir nur einen weiteren Besuch, damit ich erfahre, wie es gelaufen ist. Ich bin besorgt. Es gibt Ärzte, die verschreiben nichts gegen Schlaflosigkeit, wissen Sie. Sie sagen, daß noch nie jemand an Schlafmangel gestorben ist, aber ich sage Ihnen, das ist Quatsch.«

Ralph nahm an, daß ihn das eigentlich hätte in Angst versetzen sollen, aber er fühlte sich ziemlich gelassen, zumindest im Augenblick. Die Erscheinungen waren verschwunden - der hellgraue Glanz in Wyzers Augen, als er über das lachte, was Hongs Vorzimmerdame zu ihm gesagt hatte, war die letzte gewesen. Er wiegte sich in dem Glauben, daß sie nur ein geistiges Zwischenspiel gewesen waren, das durch die Kombination von extremer Müdigkeit und Wyzers Anmerkungen über Hyperrealität hervorgerufen wurde. Und er hatte noch einen guten Grund für seine Zuversicht - er hatte einen Termin bei einem Mann, der diesem Mann durch eine ähnlich schlimme Zeit geholfen hatte. Ralph dachte sich, er würde sich von Hong mit Nadeln pieksen lassen bis er wie ein Stachelschwein aussah, wenn er hinterher wieder schlafen konnte, bis die Sonne aufging.

Und da war noch etwas: Die graue Aura war eigentlich gar nicht beängstigend gewesen. Sie war irgendwie... interessant.

»Andauernd sterben Menschen an Schlafmangel«, sagte Wyzer gerade, »aber der Leichenbeschauer schreibt normalerweise Selbstmord in die Spalte Todesursache, und nicht Schlaflosigkeit. Schlaflosigkeit und Alkoholismus haben vieles gemeinsam, aber das Wichtigste ist: Beides sind Krankheiten des Herzens und des Verstandes, und wenn man ihnen ihren Lauf läßt, vernichten sie die Seele normalerweise lange vor dem Körper. Daher kommt es doch vor, daß Leute an Schlafmangel sterben. Dies ist eine gefährliche Zeit für Sie, und Sie müssen gut auf sich achtgeben. Wenn Sie sich echt beschissen fühlen, rufen Sie Litchfield an. Haben Sie verstanden? Sitzen Sie nicht auf dem hohen Roß.«

Ralph verzog das Gesicht. »Ich glaube, eher werde ich Sie anrufen.«

Wyzer nickte, als hätte er fest damit gerechnet. »Die Nummer unter der von Hong ist meine«, sagte er.

Überrascht betrachtete Ralph die Karte wieder. Es stand tatsächlich eine zweite Nummer da, daneben die Buchstaben J.W.

»Tag und Nacht«, sagte Wyzer. »Wirklich. Sie werden meine Frau nicht stören; wir sind seit 1983 geschieden.«

Ralph wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Nur einen erstickten, sinnlosen Laut. Er schluckte heftig und versuchte, den Kloß in der Kehle zu beseitigen.

Wyzer sah, daß er mit den Tränen rang, und klopfte ihm auf die Schulter. »Kein Flennen im Laden, Ralph - das verschreckt die zahlungskräftigen Kunden. Möchten Sie ein Kleenex?«

»Nein, mir geht es gut.« Seine Stimme klang ein wenig wäßrig, aber verständlich und beherrscht.

Wyzer betrachtete ihn mit einem kritischen Blick. »Noch nicht, aber bald.« Wyzers gewaltige Hand verschluckte die von Ralph noch einmal, und diesmal machte sich Ralph keine Sorgen. »Versuchen Sie sich erst einmal zu entspannen. Und vergessen Sie nicht, seien Sie dankbar für den Schlaf, den Sie bekommen.«

»Okay. Nochmals danke.«_

Wyzer nickte und ging wieder hinter seinen Tresen.

Ralph ging durch den Gang 3 zurück, bog an dem formidablen Kondomschaukasten links ab und ging durch eine Tür hinaus, über deren Griff mit Abziehbuchstaben die Worte. DANKE, DASS SIE BEI RITE AID EINGEKAUFT HABEN standen. Zuerst dachte er sich nichts dabei, daß er in der grellen Helligkeit die Augen zukneifen mußte - immerhin war es Mittag, und womöglich war es in der Drogerie dunkler gewesen, als er gemerkt hatte. Dann machte er die Augen wieder weit auf, und der Atem stockte ihm in der Kehle.

Ein Ausdruck des Erstaunens, als wäre er vom Donner gerührt, breitete sich in seinem Gesicht aus. Es war der Ausdruck eines Entdeckers, der sich durch ein letztes Dickicht von Büschen gekämpft hat und plötzlich eine sagenhafte versunkene Stadt vor sich sieht, oder eine atemberaubende geologische Formation eine Diamantklippe oder einen spiralförmigen Wasserfall.

Ralph drückte sich an einen blauen Briefkasten, der neben dem Eingang der Drogerie stand, atmete immer noch nicht, und sein Blick schweifte hektisch von einer Seite auf die andere, während das Gehirn dahinter versuchte, die wunderbaren und schrecklichen Eindrücke zu verstehen, die es empfing.

Die Auren waren wieder da, aber das war etwa so, als würde man sagen, daß Hawaii ein Ort ist, wo man keinen Mantel tragen muß. Diesmal war das Licht überall, grell und fließend, seltsam und wunderschön.

Ralph hatte nur ein einziges Mal in seinem Leben ein Erlebnis gehabt, das mit diesem vergleichbar war. Im Sommer 1941, dem Jahr, als er achtzehn geworden war, war er per Daumen von Derry zur Farm seines Onkels in Poughkeepsie, New York, gereist, eine Strecke von rund vierhundert Meilen. Als am zweiten Tag seiner Reise ein Gewitter aufgekommen war, war er zum nächstbesten Unterschlupf gelaufen - einer verfallenen alten Scheune, die trunken am Ende einer langen Wiese schwankte. An diesem Tag war er mehr zu Fuß gegangen als gefahren, und er war fest in einer der längst verlassenen Pferdenischen der Scheune eingeschlafen, noch bevor das Donnergrollen droben am Himmel aufgehört hatte.

Am nächsten Tag war er am frühen Vormittag nach vierzehn Stunden Schlaf erwacht, hatte sich staunend umgesehen und im ersten Augenblick nicht gewußt, wo er sich befand. Er wußte nur, es war ein dunkler, süßlich riechender Ort, und in der Welt über ihm und ringsum waren funkelnde, leuchtende Nähte aufgeplatzt. Dann erinnerte er sich, wie er Zuflucht in der Scheune gesucht hatte, und dann merkte er, daß die seltsame Vision durch die Ritzen und Fugen in Wänden und Dach der Scheune, verbunden mit dem hellen Sommersonnenschein, verursacht worden war... nur das, sonst nichts. Trotzdem saß er weitere fünf Minuten stumm staunend da, ein Teenager mit großen Augen und Heu im Haar und von Spreu staubigen Armen; er saß da und sah zum flutenden Gold winziger Staubkörnchen hinauf, die träge in den schrägen Strahlen der Sonne tanzten. Er wußte noch, er hatte gedacht, daß es wie in einer Kirche war.

Dies war dasselbe Erlebnis in der zehnten Potenz. Und das Verflixte daran: Er konnte nicht genau beschreiben, was geschehen war, wie die Welt sich verändert hatte und so wunderschön werden konnte. Gegenstände und Menschen, besonders die Menschen, hatten Auren, ja, aber das war nur der Anfang dieses erstaunlichen Phänomens. Die Dinge waren noch niemals so gleißend gewesen, so durch und durch da. Die Autos, Telefonmasten, die Einkaufswagen vor dem Supermarkt, die Holzhäuser auf der anderen Straßenseite - das alles schien ihn anzuspringen wie 3 D-Bilder aus alten Filmen. Mit einem Mal war das schäbige kleine Einkaufszentrum in der Witcham Street zu einem Wunderland geworden, und obwohl Ralph es unmittelbar vor sich sah, war er nicht hundertprozentig sicher, was er sah, nur daß es bunt und atemberaubend und auf wundersame Weise fremdartig war.

Das einzige, das er isolieren konnte, waren die Auren der Leute, die in die Geschäfte gingen und herauskamen, die Tüten im Kofferraum verstauten oder in ihre Autos einstiegen und wegfuhren. Manche der Auren waren heller als andere, aber selbst die trübsten waren hundertmal heller als bei seinen ersten Blicken auf dieses Phänomen.

Aber es ist das, worüber Wyzer gesprochen hat, kein Zweifel. Es ist die Hyperrealität, und was du vor dir siehst, ist nichts weiter als die Halluzinationen von Leuten, die unter Einfluß von LSD stehen. Du siehst nur ein weiteres Symptom deiner Schlaflosigkeit, nicht mehr und nicht weniger. Schau es dir an, Ralph, und staune soviel du willst - es ist wunderbar -, nur glaub nicht daran.

Aber er mußte sich nicht zum Staunen ermuntern - es gab überall etwas zu staunen. Ein Bäckerwagen fuhr aus einem Parkplatz vor dem Day Break, Sun Down, und eine strahlende kastanienfarbene Substanz - fast die Farbe von getrocknetem Blut - kam aus dem Auspuff. Es handelte sich weder um Rauch noch um Dampf, aber es besaß einige Charakteristiken von beidem. Die Helligkeit nahm in allmählich steigenden Wellenspitzen zu, wie die Kurven eines EEG-Ausdrucks. Ralph schaute zu Boden und sah die Reifenspuren des Lasters im selben Kastanienton auf den Asphalt geprägt. Der Lastwagen beschleunigte, als er den Parkplatz verlassen hatte, und dabei nahm das geisterhafte Diagramm aus dem Auspuff die helle Farbe von arteriellem Blut an.

Allerorten war vergleichbar Seltsames zu sehen, Phänomene, die einander in schrägen Pfaden überschnitten, wobei Ralph wieder an das schräge Sonnenlicht denken mußte, das vor langer Zeit durch die Ritzen in Dach und Wänden der alten Scheune geschienen hatte. Aber das größte Wunder waren die Menschen, und um sie herum schienen die Auren am deutlichsten und schärfsten umrissen zu sein.

Ein Botenjunge kam aus dem Supermarkt; er schob einen Einkaufswagen voll Lebensmitteln vor sich her und war in den Nimbus eines so brillanten Weiß gehüllt, daß er wie ein wandelnder Scheinwerfer aussah. Im Vergleich dazu war die Aura der Frau neben ihm schäbig: die graugrüne Farbe von Käse, der zu schimmeln angefangen hat.

Ein junges Mädchen rief dem Botenjungen aus dem offenen Fenster eines Subaru etwas zu und winkte; ihre linke Hand hinterließ grelle Kondensstreifen, rosa wie Zuckerwatte, als sie sie in der Luft bewegte. Sie verblaßten, kaum daß sie erschienen waren. Der Junge grinste und winkte zurück; seine Hand hinterließ einen gelb-weißen Fächer hinter sich. Für Ralph sah er wie die Flosse eines tropischen Fischs aus. Auch der Fächer begann zu verblassen, aber langsamer.

Ralphs Angst vor dieser verwirrenden, funkelnden Vision war beträchtlich, aber zumindest im Augenblick nahm die Angst nach Staunen, Ehrfurcht und schlichter Fassungslosigkeit den vierten Platz ein. Aber das ist nicht real, ermahnte er sich. Vergiß das nicht, Ralph. Er versprach sich, daß er es versuchen würde, aber im Moment schien diese mahnende Stimme sehr weit entfernt zu sein.

Jetzt fiel ihm noch etwas auf: Eine Linie dieser lichten Helligkeit kam aus dem Kopf jedes Menschen, den er sehen konnte. Sie verlief nach oben wie eine Girlande aus Flaggen oder buntem Kreppapier, bis sie sich verjüngte und verschwand. Bei manchen Leuten verschwand sie anderthalb Meter über dem Kopf; bei anderen drei oder vier. In den meisten Fällen entsprach die Farbe der hellen, aufsteigenden Linie der restlichen Aura - zum Beispiel grellweiß bei dem Botenjungen, käsig grau-grün bei der Kundin neben ihm -, aber es gab einige auffällige Ausnahmen. Ralph sah eine rostrote Linie von einem Mann in mittleren Jahren aufsteigen, der inmitten einer dunkelblauen Aura dahinschritt, und eine Frau mit hellgrauer Aura, deren aufsteigende Linie eine erstaunliche (und etwas beunruhigende) Magentafärbung hatte. In einigen Fällen -zweien oder dreien, nicht besonders vielen - waren die aufsteigenden Linien fast schwarz. Diese gefielen Ralph nicht, und er stellte fest, daß die Leute, zu denen diese »Ballonschnüre« gehörten (so einfach und schnell gab er ihnen im Geiste einen Namen), alle unwohl aussahen.

Logisch. Diese Ballonschnüre sind Indikatoren für Gesundheit... oder Krankheit, in manchen Fällen. Wie die Kirilian-Auren, von denen die Leute Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre so sehr fasziniert waren.

Ralph, warnte ihn eine andere Stimme, du siehst das alles nicht, okay? Ich meine, ich wiederhole mich nur ungern, aber -aber wäre es nicht mindestens möglich, daß das Phänomen doch echt war? Daß seine hartnäckige Schlaflosigkeit in Verbindung mit dem stabilisierenden Einfluß seiner lichten, zusammenhängenden Träume ihm einen Blick in eine sagenhafte Dimension eröffnet hatte, die außerhalb der Reichweite gewöhnlicher Wahrnehmung lag?

Hör auf damit, Ralph, und zwar sofort. Du solltest dir etwas Besseres einfallen lassen, sonst sitzt du am Ende im selben Boot wie der arme alte Ed Deepneau.

Als er an Ed dachte, wurden einige Assoziationen wachgerufen

- etwas, das er an dem Tag gesagt hatte, als er wegen Mißhandlung seiner Frau verhaftet worden war -, aber bevor Ralph sie isolieren konnte, sprach eine Stimme fast direkt neben seinem linken Ellbogen.

»Mom? Mommy? Können wir wieder die Honey-Nut Cheerios kaufen?«

»Das werden wir sehen, wenn wir drinnen sind, Liebes.«

Eine junge Frau und ein kleiner Junge gingen Hand in Hand vor ihm vorbei. Der Junge, der vier oder fünf zu sein schien, hatte gesprochen. Seine Mutter schritt in einer fast grellweißen Umhüllung dahin. Die »Ballonschnur«, die von ihrem kastanienfarbenen Haar aufstieg, war ebenfalls weiß und sehr breit - mehr wie das Band um eine hübsche Geschenkbox als eine Schnur. Sie stieg bis zu einer Höhe von mindestens sechs Metern hoch und wehte beim Gehen leicht hinter ihr her. Ralph mußte an Brautschmuck denken - Schleppen, Schleier, weiße, bauschige Röcke.

Die Aura ihres Sohns war gesund und dunkelblau, fast violett, und als die beiden vorübergingen, sah Ralph etwas Faszinierendes. Fäden der Auras stiegen auch von ihren ineinander verschlungenen Händen auf: weiß von der Frau, dunkelblau von dem Jungen. Sie waren verflochten wie ein Zopf, stiegen empor, verjüngten sich und verschwanden.

Mutter und Sohn, Mutter und Sohn, dachte Ralph. Die beiden Bänder, die umeinander geflochten waren wie wilder Wein, der an einem Pflock im Garten hinaufwuchs, hatten etwas Perfektes, etwas schlicht Symbolisches. Als er sie sah, jubilierte sein Herz - kitschig, aber genau so empfand er. Mutter und Sohn, blau-und-weiß, Mutter und»Mom, warum schaut der Mann so?«

Die Frau mit dem kastanienfarbenen Haar sah Ralph nur kurz an, aber ihm entging nicht, wie sie die Lippen zusammenkniff, bevor sie sich abwandte. Aber wichtiger war, daß er sah, wie die brillante Aura, die sie umgab, plötzlich dunkler wurde, sich zusammenzog und dunkelrote, spiralförmige Schattierungen bekam.

Das ist die Farbe der Angst, dachte Ralph. Oder vielleicht der Wut.

»Ich weiß nicht, Tim. Komm mit, hör auf herumzutrödeln.« Sie ging schneller, und ihr Pferdeschwanz wippte hin und her und hinterließ kleine graue, rotgemusterte Fächer in der Luft. Für Ralph sahen sie wie die Halbkreise aus, die Scheibenwischer manchmal auf schmutzigen Windschutzscheiben hinterließen.

»He, Mom, laß mich leben! Hör auf, so zu ziehen!« Der kleine Junge mußte laufen, damit er Schritt halten konnte.

Das ist meine Schuld, dachte Ralph und sah ein Bild vor sich, wie er für die junge Mutter ausgesehen haben mußte: alter Mann, müdes Gesicht, große, purpurne Tränensäcke unter den Augen. Er steht - lauert - am Briefkasten neben der Rite Aid Drogerie und starrt sie und ihren kleinen Jungen an, als wären sie das Bemerkenswerteste auf der Welt.

Was Sie auch ganz genau sind, Ma'am, wenn Sie es nur wüßten.

Für sie mußte er wie der größte Perversling aller Zeiten ausgesehen haben. Er mußte es wieder loswerden. Echt oder Halluzination spielte keine Rolle - er mußte dafür sorgen, daß es aufhörte. Wenn es ihm nicht gelang, würde jemand die Polizei oder die Männer mit den Schmetterlingsnetzen rufen. Möglicherweise würde die hübsche Mutter die Münzfernsprecher gleich neben der Haupttür des Markts zu ihrem ersten Ziel machen.

Er fragte sich gerade, wie man etwas zum Verschwinden bringen konnte, das sich nur im eigenen Kopf abspielte, als ihm klar wurde, daß es schon geschehen war. Ob übersinnliches Phänomen oder Halluzination, es war einfach verschwunden, während er darüber nachgedacht hatte, wie schrecklich er für die hübsche junge Mutter ausgesehen haben mußte. Der Tag war in sein normales Altweibersommerleuchten zurückgefallen, das wunderbar war, aber immer noch weit von diesem strahlenden, allumfassenden Glanz entfernt. Die Menschen, die über den Parkplatz der Einkaufspassage gingen, waren wieder nur Menschen: keine Auren, keine Ballonschnüre, kein Feuerwerk. Nur Menschen auf dem Weg, Lebensmittel im Shop 'n Save einzukaufen oder ihre letzten Urlaubsbilder bei PhotoMat abzuholen oder einen Kaffee zum Mitnehmen im Day Break, Sun Down zu bestellen. Manche gingen vielleicht sogar ins Rite Aid, um eine Packung Fromms zu kaufen oder, Gott beschütze uns und stehe uns bei, ein SCHLAFMITTEL.

Nur gewöhnliche, alltägliche Mitbürger aus Derry, die ihren gewöhnlichen Alltagsverrichtungen nachgingen.

Ralph stieß den angehaltenen Atem mit einem Stoßseufzer aus und wappnete sich für eine Woge der Erleichterung. Die Erleichterung kam, aber nicht die Sturzflut, mit der er gerechnet hatte. Kein Gefühl, daß er gerade noch rechtzeitig vom Rand des Wahnsinns weggekommen war; kein Gefühl, daß er überhaupt am Rand eines Abgrunds gestanden hatte. Und doch wußte er genau, daß er nicht lange in einer so grellen und wunderbaren Welt leben konnte, ohne seine geistige Gesundheit in Gefahr zu bringen; es wäre, als hätte man einen Orgasmus, der vier Stunden dauert. So erlebten möglicherweise Genies und große Künstler die Welt, aber für ihn war das nichts; soviel Saft würde binnen kürzester Zeit seine Sicherungen durchbrennen, und wenn die Männer mit den Schmetterlingsnetzen kamen, ihm eine Spritze gaben und ihn mitnahmen, wäre er vielleicht froh darüber.

Sein am deutlichsten zu identifizierendes Gefühl war nicht Erleichterung, sondern eine Art angenehmer Melancholie, die er, wie er sich erinnerte, manchmal als sehr junger Mann nach dem Geschlechtsverkehr verspürt hatte. Die Melancholie war nicht tief, aber breit, sie schien die leeren Stellen seines Körpers und Geistes zu füllen, so wie eine zurückweichende Flut eine Schicht lockerer, fruchtbarer Erde zurückläßt. Er fragte sich, ob er jemals wieder einen so erschreckenden, erhabenen Augenblick der Epiphanie erleben würde. Er dachte, daß die Chancen ziemlich gut standen... zumindest bis nächsten Monat, bis James Roy Hong seine Nadeln in ihn steckte, oder bis Anthony Forbes seine goldene Taschenuhr vor seinen Augen schwenkte und ihm sagte, daß er sehr... sehr... müde werde. Möglicherweise würde es weder Hong noch Forbes gelingen, ihn von seiner Schlaflosigkeit zu heilen, aber falls doch, vermutete Ralph, würde er nach der ersten durchschlafenen Nacht aufhören, Auren und Ballonschnüre zu sehen. Und nach einem Monat oder so voll ruhiger Nächte, würde er wahrscheinlich vergessen, daß dies jemals geschehen war. Soweit es ihn betraf, war das ein ausreichend guter Grund, einen Anflug von Melancholie zu spüren.

Du solltest dich in Bewegung setzen, Kumpel - wenn dein neuer Freund zum Schaufenster der Drogerie heraussieht und du immer noch wie ein Trottel hier stehst, wird er wahrscheinlich selbst die Männer mit den Schmetterlingsnetzen rufen.

»Eher Dr. Litchfield anrufen«, murmelte Ralph und ging über den Parkplatz zur Harris Avenue.

5

Er steckte den Kopf zu Lois' Eingangstür hinein und rief: »Yo! Jemand zu Hause?«

»Komm rein, Ralph!« rief Lois zurück. »Wir sind im Wohnzimmer!«

Ralph hatte sich immer vorgestellt, daß eine Hobbithöhle wie Lois Chasses Haus aussehen müßte, das etwa einen halben Block bergab vom Red Apple lag - hübsch und vollgestellt, möglicherweise ein bißchen zu dunkel, aber makellos sauber. Und er vermutete, ein Hobbit wie Bilbo Beutlin, dessen Interesse an seinen Vorfahren nur noch von dem Interesse übertroffen wurde, was es zum Essen gab, wäre bezaubert gewesen von dem winzigen Wohnzimmer, wo von jeder Wand Verwandte heruntersahen. Den Ehrenplatz über dem Fernseher beanspruchte eine verblaßte Studiofotografie des Mannes, den Lois stets als »Mr. Chasse« bezeichnete.

McGovern saß vornübergebeugt auf der Couch und balancierte einen Teller Makkaroni mit Käse auf den knochigen Knien. Der Fernseher war eingeschaltet, eine Spielshow ging gerade in die Bonusrunde.

»Was meint sie damit, wir sind im Wohnzimmer?« fragte Ralph, aber bevor McGovern antworten konnte, kam Lois mit einem dampfenden Teller in der Hand herein.

»Hier«, sagte sie. »Setz dich und iß. Ich habe mit Simone geredet, und sie sagte, daß es wahrscheinlich gleich in den Mittagsnachrichten kommen muß.«

»Herrje, Lois, das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte er, als er den Teller nahm, aber sein Magen knurrte laut, als der Geruch von Zwiebeln und geschmolzenem Cheddar aufstieg. Er sah auf die Uhr an der Wand - die man gerade noch zwischen Fotos eines Mannes im Waschbärmantel und einer Frau, die aussah, als würde Ju-du-di-huu-du zu ihrem Vokabular gehören, erkennen konnte - und stellte erstaunt fest, daß es fünf Minuten vor zwölf war.

»Ich habe nichts weiter getan, als ein paar Reste in die Mikrowelle zu stellen«, sagte sie. »Eines Tages, Ralph, werde ich einmal für dich kochen. Und jetzt setz dich.«

»Aber nicht auf meinen Hut«, sagte McGovern, ohne einen Blick von der Bonusrunde zu nehmen. Er nahm den Fedora von der Couch, warf ihn neben sich auf den Boden und machte sich wieder über seine Portion der Mahlzeit her. »Schmeckt ausgezeichnet, Lois.«

»Danke.« Sie sah gerade lange genug zu, bis eine der Kandidatinnen eine Reise nach Barbados und ein neues Auto eingesackt hatte, dann eilte sie wieder in die Küche. Die kreischende Gewinnerin wurde ausgeblendet und von einem Mann im zerknitterten Pyjama ersetzt, der sich im Bett herumwarf und wälzte. Er richtete sich auf und sah zur Uhr auf dem Nachttisch. Die zeigte 3:18, eine Tageszeit, mit der Ralph inzwischen ziemlich vertraut geworden war.

»Können Sie nicht schlafen?« fragte ein Sprecher teilnahmsvoll. »Haben Sie es satt, Nacht für Nacht wachzuliegen?« Eine kleine leuchtende Tablette kam zum Fenster des Schlaflosen hereingeschwebt. Ralph fand, sie sah wie die kleinste fliegende Untertasse der Welt aus, und es überraschte ihn nicht im geringsten, daß sie blau war.

Ralph setzte sich neben McGovern. Beide Männer waren schlank (hager wäre bei Bill sicher der zutreffendere Ausdruck gewesen), beanspruchten aber dennoch fast den gesamten Platz auf der Couch.

Lois kam mit ihrem eigenen Teller herein und setzte sich auf den Schaukelstuhl am Fenster. Über die Musik vom Band und den Studioapplaus, der das Ende der Show verkündete, sagte eine Frauenstimme: »Hier ist Lisette Benson. Schlagzeile der Nachrichten am Mittag: Eine bekannte Frauenrechtlerin willigt ein, in Derry zu sprechen, was zu Protesten - und sechs Verhaftungen - in einer Klinik der Stadt führt. Außerdem haben wir Chris Altoberg mit dem Wetter und Bob McClanahan mit dem Neuesten vom Sport. Bleiben Sie dran.«

Ralph schaufelte sich Makkaroni mit Käse in den Mund, sah auf und stellte fest, daß Lois ihn beobachtete. »Gut?« fragte sie.

»Köstlich«, sagte er, und das stimmte, aber er dachte, im Augenblick hätte ihm eine große Portion kalte frankoamerikanische Spaghetti direkt aus der Dose genauso gut geschmeckt. Er war nicht nur hungrig, er war heißhungrig.

Offenbar verbrauchte man eine Menge Kalorien, wenn man Auren sah.

»Kurz gesagt ist folgendes passiert«, sagte McGovern, schluckte den letzten Happen seines Essens hinunter und stellte den Teller neben seinen Hut. »Etwa achtzehn Leute sind heute morgen um halb neun vor dem Haus von Woman-Care aufgetaucht, als gerade Arbeitsbeginn war. Lois' Freundin Simone sagt, sie bezeichnen sich selbst als >Friends of Life<, aber den Kern der Gruppe bilden die verschiedenen Irren und Wahnsinnigen, die früher unter dem Namen Daily Bread operierten. Sie hat gesagt, einer davon sei Charlie Pickering, den die Polizei offenbar Ende letzten Jahres gefaßt hat, als er gerade dabei war, einen Sprengsatz auf das Gebäude abzufeuern. Simones Nichte hat gesagt, die Polizei hätte nur vier Personen festgenommen. Offenbar hat sie sich ein wenig verschätzt.«

»War Ed wirklich dabei?« fragte Ralph.

»Ja«, sagte Lois, »und er wurde auch festgenommen. Aber zumindest wurde kein Tränengas eingesetzt. Das war ein Gerücht. Niemand wurde verletzt.«

»Diesmal«, sagte McGovern düster.

Das Symbol der Nachrichten am Mittag erschien auf Lois' hobbitgroßem Farbfernseher und löste sich zu Lisette Benson auf. »Guten Tag«, sagte sie. »Schlagzeile heute an diesem schönen Sommertag: Die prominente Schriftstellerin und umstrittene Frauenrechtlerin Susan Day hat eingewilligt, nächsten Monat im Bürgerhaus zu sprechen. Die Bekanntgabe dieser Absicht führte zu einer Demonstration vor Woman-Care, dem Frauenzentrum in Derry mit angeschlossener Abtreibungsklinik, die die öffentliche Meinung gespalten -«

»Da kommen sie schon wieder mit dieser Abtreibungsklinik!« rief McGovern aus. »Herrgott!«

»Still«, sagte Lois in einem herrschenden Tonfall, der sich sehr von ihrem sonstigen zaghaften Murmeln unterschied. McGovern warf ihr einen überraschten Blick zu und verstummte.

»- John Kirkland bei Woman-Care mit dem ersten von zwei Berichten«, kam Lisette Benson zum Ende, und das Bild wechselte zu einem Reporter, der vor einem langen, flachen Back-Steingebäude stand. Eine Legende am unteren Bildschirmrand informierte die Zuschauer, daß es sich hier um eine LIVE VOR ORT-Reportage handelte. An einer Seite von Woman-Care verlief eine Fensterreihe. Zwei waren eingeworfen worden, mehrere andere mit roter Farbe beschmiert, die wie Blut aussah. Gelbes Absperrungsband der Polizei war zwischen dem Reporter und dem Gebäude gespannt; drei uniformierte Polizisten aus Derry und ein Beamter in Zivil standen in einer kleinen Gruppe am anderen Ende zusammen. Es überraschte Ralph nicht besonders, daß er in dem Polizisten John Leydecker erkannte.

»Sie nennen sich selbst Friends of Life, Lisette, und sie behaupten, ihre Demonstration heute morgen sei eine spontane Bekundung ihres Mißfallens nach Bekanntwerden der Neuigkeit gewesen, daß Susan Day - die von radikalen Pro-Life-Gruppen landesweit >Amerikas Babymörderin Nummer eins< genannt wird - nächsten Monat nach Derry kommen wird, um eine Rede im Bürgerhaus zu halten. Aber mindestens ein Beamter der Polizei von Derry glaubt nicht, daß es sich tatsächlich so abgespielt hat.«

Eine Bandaufzeichnung wurde in Kirklands Bericht eingespielt, angefangen mit einer Nahaufnahme von Leydecker, der resigniert das Mikrofon vor seinem Gesicht betrachtete.

»Diese Tat war ganz und gar nicht spontan«, sagte er. »Eindeutig wurden eine Menge Vorbereitungen getroffen. Wahrscheinlich waren sie schon die ganze Woche bereit und haben nur darauf gewartet, daß Susan Days Entscheidung, hierherzukommen und eine Rede zu halten, öffentlich bekanntgegeben würde, was heute morgen durch die Zeitung geschehen ist.«

Die Kamera splittete das Bild. Kirkland warf Leydecker seinen durchdringendsten Geraldo-Blick zu. »Was meinen Sie mit eine Menge Vorbereitungen?« fragte er.

»Die meisten Schilder, die sie dabei hatten, trugen Ms. Days Namen. Außerdem hatten sie mehr als ein Dutzend hiervon bei sich.«

Eine überraschend menschliche Regung stahl sich durch Leydeckers Polizist-wird-interviewt-Maske; Ralph hielt sie für Mißfallen. Er hob einen großen Probenbeutel aus Plastik, und Ralph war einen gräßlichen Augenblick davon überzeugt, daß sich ein zerquetschtes und blutiges Baby darin befände. Dann wurde ihm klar, daß es eine Puppe war, worum auch immer es sich bei der roten Substanz handeln mochte.

»Die haben sie nicht im K-Mart gekauft«, sagte Leydecker dem Fernsehreporter. »Das kann ich Ihnen garantieren.«

Die nächste Einstellung zeigte eine Weitwinkeltotale der beschmierten und eingeworfenen Scheiben. Die Kamera fuhr langsam daran entlang. Das Zeug auf den beschmierten Scheiben sah mehr denn je wie Blut aus, und Ralph entschied, daß er die letzten zwei oder drei Gabeln Makkaroni mit Käse nicht mehr wollte.

»Die Demonstranten kamen mit Babypuppen bewaffnet, deren Inneres mit einer Mischung aus Karo-Sirup und roter Lebensmittelfarbe gefüllt worden war«, sagte Kirkland aus dem Off. »Sie warfen die Puppen auf das Gebäude, während Anti-Susan-Day-Parolen gesungen wurden. Zwei Fenster wurden zertrümmert, aber sonst kam es nicht zu nennenswerten Schäden.«

Die Kamera blieb stehen und verweilte auf einer besonders schlimm verschmierten Scheibe.

»Die meisten Puppen sind aufgeplatzt«, sagte Kirkland, »und die Substanz, die verspritzt wurde, hatte so große Ähnlichkeit mit Blut, daß die Angestellten hier, die Zeugen des Bombardements wurden, einen ziemlichen Schrecken bekamen.«

Das Bild der verschmierten Scheibe wich dem einer reizenden dunkelhaarigen Frau in weiten Hosen und Pullover.

»Oh, seht euch das an, das ist Barbie!« rief Lois. »Herrje, ich hoffe, Simone sieht zu! Vielleicht sollte ich -«

Nun war McGovern derjenige, der sie zum Schweigen brachte.

»Ich hatte schreckliche Angst«, sagte Barbara Richards zu Kirkland. »Zuerst dachte ich, sie würden wirklich tote Babys oder Embryos werfen, die sie irgendwie in die Finger bekommen hatten. Auch nachdem Dr. Harper hier vorbeigelaufen war und gesagt hatte, daß es sich nur um Puppen handelte, war ich mir nicht sicher.«

»Sie sagten, sie haben gesungen?« fragte Kirkland.

»Ja. Am deutlichsten hörte ich: >Laßt den Todesengel nicht nach Derry kommen.<«

Der Bericht wechselte wieder zu Kirkland live am Schauplatz. »Die Demonstranten wurden heute morgen gegen neun Uhr von Woman-Care zum Polizeirevier von Derry in der Maine Street abtransportiert, Lisette. Soweit ich weiß, wurden zwölf verhört und wieder freigelassen; sechs weitere wurden wegen Ruhestörung angeklagt, ein geringfügiges Vergehen. Sieht so aus, als wäre ein weiterer Schuß im andauernden Gefecht um die Abtreibung in Derry abgefeuert worden. Das war John Kirkland mit den Nachrichten auf Kanal Vier.«

>»Ein weiterer Schuß im -<«, begann McGovern und warf die Arme hoch.

Lisette Benson war wieder auf dem Bildschirm erschienen. »Wir schalten jetzt um zu Anne Rivers, die vor weniger als einer Stunde mit zwei der sogenannten Friends of Life geredet hat, die nach der Demonstration heute morgen verhaftet wurden.«

Anne Rivers stand auf den Stufen des Polizeireviers in der Maine Street, Ed Deepneau auf einer Seite, ein großes, blasses Individuum mit Ziegenbärtchen auf der anderen. Ed sah schick und richtiggehend stattlich in seiner grauen Tweedjacke und der Marinehose aus. Der große Mann mit dem Ziegenbärtchen trug etwas, das sich nur ein Liberaler in seinen kühnsten Träumen von angemessener Kleidung eines »Proletariers in Maine« ausdenken konnte: verblichene Jeans, verblichenes blaues Baumwollhemd, breite rote Feuerwehrhosenträger. Ralph brauchte nur einen Augenblick, bis er ihn identifiziert hatte. Es war Dan Dalton, Inhaber von Secondhand Rose, Secondhand Clothes. Als Ralph ihn zum letztenmal gesehen hatte, da hatte er hinter den hängenden Gitarren und Vogelkäfigen in seinem Schaufenster gestanden und Harn Davenport gegenüber eine Geste gemacht, die besagen sollte: Wen interessiert einen Scheißdreck, was du denkst?

Aber es war natürlich Ed, der in mehr als einer Weise adrett und gefaßt aussah, der seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.

McGovern schien offenbar genauso zu denken. »Mein Gott, ich kann nicht glauben, daß das derselbe Mann ist«, murmelte er.

»Lisette«, sagte die gutaussehende Blondine, »ich habe hier bei mir Edward Deepneau und Daniel Dalton, beide aus Derry, beide wurden heute Morgen nach der Demonstration festgenommen. Ist das richtig, meine Herren? Wurden Sie verhaftet?«

Sie nickten, Ed mit einem Anflug von Humor, Dalton mit mürrischer, verkniffener Entschlossenheit. Bei dem Blick, den er Anne Rivers zuwarf, hätte man denken können - Ralph zumindest -, daß er sich zu erinnern versuchte, in welche Abtreibungsklinik er sie schon einmal mit gesenktem Kopf und vorgezogenen Schultern laufen gesehen hatte.

»Wurden Sie auf Kaution freigelassen?«

»Wir wurden auf eigene Sicherheitsleistung freigelassen«, antwortete Ed. »Die Vorwürfe waren geringfügig. Es war nicht unsere Absicht, daß jemand zu Schaden kommt, und es ist niemand zu Schaden gekommen.«

»Wir wurden nur deshalb verhaftet, weil die gottlose verfilzte Stadtverwaltung ein Exempel an uns statuieren wollte«, sagte Dalton, und Ralph glaubte zu sehen, wie Ed kurz das Gesicht verzog. Ein Nicht-schon-wieder-Ausdruck.

Anne Rivers schwenkte das Mikro wieder zu Ed.

»Der Schwerpunkt hier liegt nicht auf dem Philosophischen, sondern auf dem Praktischen«, sagte er. »Die Leiterinnen von Woman-Care heben zwar gerne ihre Familienberatung, ihre Therapieeinrichtungen, die kostenlose Mammographie und andere bewundernswerte Dienstleistungen hervor, aber es gibt auch eine andere Seite von Woman-Care. Ströme von Blut fließen heraus -«

»Das Blut Unschuldiger!« kreischte Dalton. Die Augen in dem langen, hageren Gesicht glühten, und Ralph kam eine beunruhigende Einsicht: Überall im östlichen Maine sahen sich Leute das an und dachten sich, daß der Mann mit den roten Hosenträgern verrückt sein mußte, während sein Partner ein ziemlich vernünftiger Typ zu sein schien. Es hatte fast etwas Komisches.

Ed behandelte Daltons Einwurf als das Pro-Life-Äquivalent von Halleluja und wartete respektvoll eine Sekunde, bevor er fortfuhr.

»Das Gemetzel bei Woman-Care geht jetzt schon seit acht Jahren so«, sagte Ed zu ihr. »Viele Leute - besonders radikale Feministinnen wie Dr. Roberta Harper, die Geschäftsführerin von Woman-Care, betreiben gerne mit Ausdrücken wie frühzeitige Terminierung< Schönfärberei, aber in Wahrheit sprechen sie von Abtreibung - die höchste Form des Mißbrauchs von Frauen in einer sexistischen Gesellschaft.«

»Aber wenn man mit falschem Blut gefüllte Puppen gegen die Fenster einer Privatklinik wirft, ist das die richtige Methode, mit seinem Anliegen an die Öffentlichkeit zu treten, Mr. Deepneau?«

Einen Augenblick - ganz kurz, und schon wieder vorbei -verschwand das gutmütige Funkeln aus Eds Augen und wurde von etwas Härterem und Kälterem ersetzt. In diesem Moment sah Ralph wieder den Ed Deepneau, der bereit gewesen war, es mit einem Lastwagenfahrer aufzunehmen, der hundert Pfund schwerer war als er. Ralph vergaß, daß es sich um eine Aufzeichnung handelte, die vor über einer Stunde gemacht worden war, und bekam Angst um die schlanke Blondine, die fast so hübsch war wie die Frau, mit der ihr Gesprächspartner immer noch verheiratet war. Seien Sie vorsichtig, junge Dame, dachte Ralph. Seien Sie vorsichtig und fürchten Sie sich. Sie stehen neben einem ausgesprochen gefährlichen Mann.

Dann war das Aufflackern vorbei, und der Mann in der Tweedjacke war wieder nur ein aufrechter junger Mann, der für sein Gewissen ins Gefängnis gegangen war. Und wieder war es Dalton, der nervös seine Hosenträger wie große rote Gummibänder schnalzen ließ und aussah, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank.

»Wir tun hier, was die sogenannten guten Deutschen in den dreißiger Jahren versäumt haben«, sagte Ed. Er sprach mit der geduldigen, schulmeisterlichen Stimme eines Mannes, der gezwungen gewesen ist, immer und immer wieder auf diesen Punkt hinzuweisen... meistens denen gegenüber, die es bereits wissen sollten. »Sie haben geschwiegen, und sechs Millionen Juden mußten sterben. In diesem Land findet ein vergleichbarer Holocaust-«

»Mehr als tausend Babys jeden Tag«, sagte Dalton. Seine Stimme klang nicht mehr so schrill. Er hörte sich entsetzt und schrecklich resigniert an. »Viele von ihnen werden n Stücken aus den Leibern ihrer Mütter gerissen und protestieren verzweifelt mit den kleinen Ärmchen, während sie sterben.«

»O gütiger Gott«, sagte McGovern. »Das ist das Lächerlichste, das ich jemals -«

»Psst, Bill!« sagte Lois streng.

»- Zweck dieses Protests?« fragte Rivers gerade Dalton.

»Wie Sie sicher wissen«, antwortete Dalton, »hat der Stadtrat beschlossen, die Bezirksvorschriften noch einmal zu untersuchen, die es Woman-Care ermöglichen, ihrer Arbeit nachzugehen, wo und wie sie es tun. Sie könnten schon im November über das Thema abstimmen. Die Abtreibungsbefürworter haben Angst, der Stadtrat könnte Sand ins Getriebe ihrer Todesmaschine streuen, daher haben sie Susan Day eingeladen, die berüchtigtste Abtreibungsbefürworterin in diesem Land, damit sie versucht, diese Maschine am Laufen zu halten. Wir organisieren unsere Kräfte... «

Das Pendel des Mikrofons schwenkte wieder zu Ed. »Wird es weitere Protestaktionen geben, Mr. Deepneau?« fragte sie, und plötzlich hatte Ralph den Eindruck, als würde sie sich nicht nur auf rein beruflicher Basis für ihn interessieren. Warum auch nicht? Ed war ein gutaussehender Mann, und Ms. Rivers konnte schließlich nicht wissen, daß er fest an den Scharlachroten König glaubte, dessen Zenturionen sich in Derry aufhielten und sich mit den Babymörderinnen von Woman-Care zusammentaten.

»Die Proteste werden weitergehen bis die gesetzliche Verirrung, die dieses Gemetzel möglich gemacht hat, beseitigt worden ist«, antwortete Ed. »Und wir hoffen alle, daß die Geschichtsschreiber des nächsten Jahrhunderts festhalten werden, daß nicht alle Amerikaner in dieser dunklen Phase unserer Geschichte gute Nazis waren.«

»Gewalttätige Protestaktionen?«

»Wir treten gegen Gewalt ein.« Jetzt wahrten die beiden Blickkontakt, und Ralph fand, daß Anne Rivers etwas hatte, das Carolyn einen »schlimmen Anfall von Juckreiz zwischen den Beinen« genannt hätte. Dan Dalton stand vergessen am Bildschirmrand.

»Und wenn Susan Day im nächsten Monat nach Derry kommt, können Sie für Ihre Sicherheit garantieren?«

Ed lächelte, und Ralph sah ihn im Geiste, wie er an jenem heißen Augustnachmittag vor nicht einmal einem Monat gewesen war - wie er kniete, eine Hand auf jeder Seite von Ralphs Schultern auf den Boden stemmte und ihm ins Gesicht hauchte: Sie verbrennen die Embryos drüben in Newport. Ralph erschauerte.

»In einem Land, wo Tausende Kinder mit medizinischen Gegenstücken von Staubsaugern aus den Leibern ihrer Mütter abgesaugt werden, kann, glaube ich, niemand für irgend etwas garantieren«, antwortete Ed.

Anne Rivers sah ihn einen Moment unsicher an, als überlegte sie, ob sie ihm noch eine Frage stellen wollte oder nicht (möglicherweise nach seiner Telefonnummer), aber dann drehte sie sich wieder in die Kamera. »Das war Anne Rivers vor dem Polizeipräsidium von Derry«, sagte sie.

Lisette Benson erschien wieder, und ihr nachdenklich verzogener Mund weckte die Überzeugung in Ralph, daß er nicht der einzige war, dem die Anziehungskraft z wischen den beiden Interviewpartnern aufgefallen war. »Wir werden täglich über den weiteren Verlauf berichten«, sagte sie. »Vergessen Sie nicht, um sechs zu den neuesten Meldungen wieder einzuschalten. In Augusta reagierte Gouverneurin Greta Powers auf Vorwürfe, sie habe -«

Lois stand auf und schaltete den Fernseher aus. Sie betrachtete einfach den leeren Bildschirm einen Moment, dann seufzte sie schwer und setzte sich. »Ich habe Blaubeerkompott«, sagte sie, »aber möchte einer von euch danach noch etwas?«

Beide Männer schüttelten die Köpfe. McGovern sah Ralph an und sagte: »Das war beängstigend.«

Ralph nickte. Er mußte daran denken, wie Ed in der Gischt des Rasensprengers hin und her gelaufen war, die Regenbogen mit seinem Körper zerrissen und sich mit der Faust in die offene Handfläche geschlagen hatte.

»Wie konnten sie ihn nur auf Kaution freilassen und dann im Fernsehen interviewen, als wäre er ein normaler Mensch?« fragte Lois betroffen. »Nach allem, was er der armen Helen angetan hat? Mein Gott, diese Anne Rivers hat ausgesehen, als würde sie ihn zu sich zum Essen einladen!«

»Oder um Cracker mit ihr im Bett zu essen«, sagte Ralph trocken.

»Die Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung und das heute sind zwei vollkommen verschiedene Dinge«, sagte McGovern, »und ihr könnt todsicher sein, daß der Anwalt oder die Anwälte dieser Jo-jos darauf achten, daß das auch so bleibt.«

»Und selbst die Körperverletzung war nur eine Ordnungswidrigkeit«, erinnerte Ralph sie.

»Wie kann ein tätlicher Angriff eine Ordnungswidrigkeit sein?« fragte Lois. »Tut mir leid, aber das habe ich nicht verstanden.«

»Es ist nur eine Ordnungswidrigkeit, wenn man es mit der eigenen Frau macht«, sagte McGovern und zog sardonisch eine Braue hoch. »Das ist der American way of life, Lo.«

Sie verdrehte unablässig die Hände ineinander, holte Mr. Chasse vom Fernseher herunter, sah ihn einen Moment an, stellte ihn wieder hin und verdrehte weiter die Hände. »Nun, das Gesetz ist eines«, sagte sie, »und ich bin die erste, die zugibt, daß ich es nicht ganz verstehe. Aber jemand müßte ihnen sagen, daß er verrückt ist. Daß er seine Frau prügelt und verrückt ist.«

»Du weißt gar nicht, wie verrückt«, sagte Ralph, und dann erzählte er ihnen zum erstenmal die Geschichte, was sich im vergangenen Sommer draußen beim Flughafen abgespielt hatte. Es dauerte etwa zehn Minuten. Als er fertig war, sagte keiner etwas - sie sahen ihn nur mit aufgerissenen Augen an.

»Was?« fragte Ralph unbehaglich. »Glaubt ihr mir nicht? Denkt ihr, ich habe mir alles nur eingebildet?«

»Selbstverständlich glaube ich dir«, sagte Lois. »Ich bin nur... nun... fassungslos. Und ich habe Angst.«

»Ralph, ich glaube, du solltest John Leydecker die Geschichte erzählen«, sagte McGovern. »Ich glaube nicht, daß er irgendwas damit anfangen kann, aber wenn ich mir Eds neue Spielkameraden ansehe, finde ich, er müßte die Information haben.«

Ralph dachte gründlich darüber nach, dann nickte er und stand auf. »Es geht nichts über die Gegenwart«, sagte er. »Möchtest du mitkommen, Lois?«

Sie überlegte, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich bin müde«, sagte sie. »Und ein bißchen - wie nennen die jungen Leute das heutzutage? - ein bißchen ausgenippt. Ich glaube, ich werde eine Weile die Füße hochlegen. Ein Nickerchen machen.«

»Tu das«, sagte Ralph. »Du siehst wirklich ein wenig mitgenommen aus. Und danke für das Essen.« Er beugte sich impulsiv über sie und gab ihr einen Kuß auf den Mundwinkel. Lois sah erstaunt und dankbar zu ihm auf.

Ralph schaltete etwas mehr als sechs Stunden später den Fernseher ein, als Lisette Benson gerade die Abendnachrichten beendete und an den Sportmoderator weitergab. Die Demonstration vor Woman-Care war auf den zweiten Platz verdrängt worden - Aufmacher des Abends waren die anhaltenden Vorwürfe, daß Gouverneurin Greta Powers als Studentin Kokain genommen hätte -, und es gab nichts Neues, davon abgesehen, daß Dan Dalton jetzt als Kopf der Friends of Life dargestellt wurde. Ralph dachte sich, daß Galionsfigur der zutreffendere Ausdruck gewesen wäre. Hatte Ed tatsächlich schon das Sagen? Wenn nicht, würde er es wahrscheinlich bald haben, vermutete Ralph - spätestens Weihnachten. Eine interessantere Frage war, was Eds Arbeitgeber von seinen Problemen mit Recht und Ordnung in Derry halten mochten. Ralph hatte eine Ahnung, daß ihnen das von heute weitaus weniger gefallen würde als letzten Monat die Anzeige wegen ehelicher Grausamkeit; er hatte erst kürzlich gelesen, daß die Hawking Laboratorien demnächst zum fünften Forschungslabor im Nordosten werden würden, das mit Embryogewebe arbeitete. Wahrscheinlich gefiel ihnen die Neuigkeit nicht, daß einer ihrer Chemiker festgenommen worden war, weil er mit falschem Blut gefüllte Puppen auf eine Klinik geworfen hatte, wo Abtreibungen durchgeführt wurden. Und wenn sie erfuhren, wie verrückt er tatsächlich war -

Wer sollte es ihnen sagen, Ralph? Du?

Nein. Das war ein Schritt weiter, als er zu gehen bereit war, jedenfalls vorläufig. Im Gegensatz zu dem Ausflug zum Polizeirevier mit Bill McGovern heute nachmittag, um John Leydecker von dem Zwischenfall letzten Sommer zu erzählen, kam ihm das wie Aufhetzerei vor. Als würde man TÖTET DIESE FOTZE neben das Bild einer Frau schreiben, deren Ansichten man nicht teilte.

Das ist Quatsch, wie du sehr genau weißt.

»Ich weiß gar nichts«, sagte er, stand auf und ging zum Fenster. »Ich bin zu müde, etwas zu wissen.« Aber als er dort stand und auf der anderen Straßenseite zwei Männer mit je einem Sechserpack Bier aus dem Red Apple kommen sah, wußte er plötzlich doch etwas, erinnerte sich an etwas, das ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Heute morgen, als er aus dem Rite Aid gekommen und überwältigt von den Auren gewesen war - und dem Gefühl, als hätte er eine neue Stufe der Wahrnehmung erreicht -, hatte er sich immer wieder ermahnt, sich daran zu erfreuen, es aber nicht zu glauben; wenn es ihm nicht gelänge, diese lebenswichtige Unterscheidung zu treffen, würde er im selben Boot wie Ed Deepneau enden. Dieser Gedanke hatte fast die Tür zu einer assoziativen Erinnerung aufgestoßen, aber die wabernden Auren auf dem Parkplatz hatten ihn davon abgelenkt, bevor er sie ganz zu fassen bekommen hatte. Jetzt fiel es ihm wieder ein: Ed hatte etwas davon gesagt, daß er Auren sah, oder nicht?

Nein, er hat vielleicht Auren gemeint, aber das Wort, das er tatsächlich benutzt hat, war Farben. Ich bin fast sicher. Gleich nachdem er davon gesprochen hatte, daß er überall die Leichen von Babys sah, sogar auf den Dächern. Er sagte – Ralph sah den beiden Männern zu, wie sie in einen schrottreifen alten Lastwagen einstiegen, und dachte sich, daß er sich nicht mehr an Eds genaue Worte erinnern würde; er war einfach zu müde. Dann fuhr der Lastwagen los und zog eine Abgaswolke hinter sich her, die ihn an den roten Dunst erinnerte, den er heute vormittag aus dem Auspuff des Bäckereiwagens kommen gesehen hatte, und da wurde eine weitere Tür auf gestoßen, und die Erinnerung kam.

»Er hat gesagt, manchmal wäre die Welt voller Farben«, sagte Ralph zu seinem einsamen Apartment, »aber irgendwann würden sie alle schwarz werden. Ich glaube, das war es.«

Er war nahe dran, aber war das alles? Ralph dachte, daß Ed noch etwas mehr gesagt hatte, aber er konnte sich nicht erinnern. Spielte das eine Rolle? Seine Nerven bejahten diese Frage nachdrücklich - der kalte Schauer auf seinem Rücken war stärker geworden.

Hinter ihm läutete das Telefon. Ralph drehte sich um und sah es in einem Schimmer widerlichen roten Lichts, dunkelrot, die Farbe von Nasenbluten und

(Hähnen Kampfhähnen)

Hahnenkämmen.

Nein, stöhnte es in seinem Inneren. O nein, Ralph, nicht schon wieder -

Jedesmal wenn das Telefon läutete, wurde die Aura des Lichts heller. In den Intervallen der Stille wurde sie dunkler. Es war, als würde man ein geisterhaftes Herz mit einem Telefon in der Mitte sehen.

Ralph kniff die Augen fest zusammen, und als er sie wieder aufschlug, war die rote Aura um das Telefon herum verschwunden.

Nein, du kannst sie jetzt gerade nur nicht sehen. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, ich habe sie verschwinden lassen. Wie etwas in einem lichten Traum.

Als er durch das Zimmer zum Telefon ging, sagte er sich - und zwar klipp und klar -, daß dieser Gedanke so verrückt sei wie die Auren überhaupt. Aber das stimmte nicht, und er wußte es. Denn wenn es verrückt war, wieso hatte er dann die hahnenkammrote Aura um das Telefon nur einmal angesehen und gewußt, daß Ed Deepneau der Anrufer war?

Das ist doch Unsinn, Ralph. Du glaubst, daß es Ed ist, weil dir Ed im Moment nicht aus dem Kopf geht... und weil du so müde bist, daß du schon ganz wunderlich im Kopf wirst. Los doch, nimm ab, wirst schon sehen. Es ist nicht das verräterische Herz, nicht einmal das verräterische Telefon. Wahrscheinlich ein Typ, der dir ein Zeitschriftenabo verkaufen will, oder die Dame von der Blutbank, die sich wundert, warum du schon lange nicht mehr dort warst.

Aber er wußte es besser.

Ralph nahm den Hörer ab und sagte Hallo.

Keine Antwort. Aber es war jemand dran; Ralph konnte das Atmen hören.

»Hallo?« rief er noch einmal.

Immer noch keine sofortige Antwort, und er wollte gerade ankündigen: Ich lege jetzt auf, als Ed Deepneau sagte: »Ich habe wegen deinem Mund angerufen, Ralph. Er versucht, dich in Schwierigkeiten zu bringen.«

Der kalte Schauer auf seinem Rücken war kein Schauer mehr, sondern eine dünne Eisschicht, die ihn vom Nacken bis zum Steißbein überzog.

»Hallo, Ed. Ich hab dich heute in den Nachrichten gesehen.« Etwas anderes fiel ihm nicht ein. Seine Hand schien den Telefonhörer nicht zu halten, sondern sich daran zu klammern.

»Unwichtig, alter Junge. Hör mir nur gut zu. Ich hatte einen Besuch von diesem Detective, der mich letzten Sommer verhaftet hat - Leydecker. Er ist gerade eben gegangen.«

Ralph rutschte das Herz in die Hose, aber nicht so tief, wie er gedacht hatte. Schließlich war es nicht überraschend, daß Leydecker Ed besucht hatte, oder nicht? Er hatte sich sehr für Ralphs Schilderung der Konfrontation beim Flughafen im Sommer 1992 interessiert. Wirklich sehr.

»Tatsächlich?« fragte Ralph gelassen.

»Detective Leydecker scheint den Eindruck zu haben, daß ich denke, Leute - möglicherweise übernatürliche Wesen - karrten Embryos auf Lastwagen aus der Stadt. Was für ein Lachschlager, hm?«

Ralph stand neben dem Sofa, zog die Telefonleitung müßig zwischen den Fingern hindurch und stellte fest, daß er dunkelrotes Licht wie Schweiß aus dem Kabel quellen sehen konnte. Das Licht pulsierte im Rhythmus von Eds Sprechweise.

»Du hast aus dem Nähkästchen geplaudert, alter Junge.«

Ralph schwieg.

»Es hat mich nicht gestört, daß du die Polizei gerufen hast, nachdem ich dem Flittchen die Lektion verpaßt hatte, die sie verdiente«, sagte Ed zu ihm. »Das habe ich auf, nun, großväterliche Fürsorge zurückgeführt. Oder vielleicht hast du gedacht, wenn sie dir dankbar genug ist, läßt sie sich vielleicht auf einen Gnadenfick mit dir ein. Schließlich bist du alt, aber noch nicht gerade reif für den Dino-Park. Vielleicht hast du gedacht, daß du zumindest mal einen Finger reinstecken dürftest.«

Ralph sagte nichts.

»Richtig, alter Junge?«

Ralph sagte nichts.

»Glaubst du, du kannst mich mit der Schweigenummer aus der Fassung bringen? Vergiß es.« Aber Ed hörte sich doch aus der Fassung gebracht an. Es war, als hätte er den Anruf mit einem bestimmten Drehbuch im Kopf unternommen, und Ralph weigerte sich nun, seine Dialogzeilen zu sprechen. »Das kannst du nicht... du solltest besser nicht...«

»Daß ich die Polizei angerufen habe, nachdem du Helen verprügelt hattest, hat dich nicht gestört, aber dein Gespräch heute mit Leydecker offensichtlich doch. Warum nur, Ed? Stellst du dir langsam ein paar Fragen nach deinem Verhalten? Und möglicherweise deinem Verstand?«

Nun war es an Ed, zu schweigen. Schließlich flüsterte er schroff: »Wenn du das nicht ernst nimmst, Ralph, wäre das dein größter Fehler -«

»Oh, ich nehme es ernst«, sagte Ralph. »Ich habe gesehen, was du heute getan hast, ich habe gesehen, was du letzten Monat mit deiner Frau gemacht hast... und ich habe gesehen, was du letzten Sommer gemacht hast. Jetzt weiß es die Polizei auch. Ich habe dir zugehört, Ed, und jetzt hörst du mir zu. Du bist krank. Du hast eine Art Nervenzusammenbruch gehabt, du hast Halluzinationen -«

»Ich muß mir diese Scheiße nicht anhören!« kreischte Ed fast.

»Nein, das mußt du nicht. Du kannst auflegen. Schließlich ist es dein Geld. Aber bis du das tust, werde ich sprechen. Weil ich dich gern gehabt habe, Ed., und ich möchte dich wieder gern haben können. Du bist ein kluger Kopf, Halluzinationen hin oder her, und ich glaube, du verstehst mich: Leydecker weiß Bescheid, und Leydecker wird dich im Auge be -«

»Siehst du die Farben schon?« fragte Ed. Seine Stimme klang wieder ruhig. Im selben Augenblick verschwand das rote Leuchten um das Telefonkabel herum.

»Was für Farben?« fragte Ralph schließlich.

Ed achtete nicht auf die Frage. »Du hast gesagt, du hast mich gern. Nun, ich mag dich auch. Ich habe dich immer gemocht. Daher werde ich dir jetzt einen gutgemeinten Rat geben. Du schwimmst in tiefem Wasser, und es kreisen Dinge in der Strömung, die du dir nicht einmal vorstellen kannst. Du glaubst, ich bin verrückt, aber ich muß dir sagen, du weißt nicht, was Wahnsinn ist. Du hast nicht die geringste Ahnung. Aber du wirst es erfahren, wenn du dich weiter in Dinge einmischst, die dich nichts angehen. Glaub mir.«

»Was für Dinge?« fragte Ralph. Er versuchte, mit unbekümmerter Stimme zu sprechen, aber er umklammerte den Hörer immer noch so fest, daß seine Finger schmerzten.

»Mächte«, antwortete Ed. »Hier in Derry sind Mächte am Werk, von denen du gar nichts wissen willst. Hier gibt es... nun, sagen wir einfach, hier gibt es Wesenheiten. Sie haben dich noch nicht bemerkt, aber wenn du dich weiter mit mir anlegst, werden sie es. Und das möchtest du sicher nicht. Glaub mir.«

Mächte. Wesenheiten.

»Du hast mich gefragt, wie ich das alles herausgefunden habe. Wer mich ins Spiel gebracht hat. Erinnerst du dich, Ralph?«

»Ja.« Und das stimmte. Jetzt. Das hatte Ed als letztes zu ihm gesagt, bevor er das breite Quizmastergrinsen aufgesetzt und zu den Polizisten gegangen war. Ich habe die Farben gesehen, seit er hier war und es mir gesagt hat. Wir reden später darüber.

»Der Arzt hat es mir gesagt. Der kleine kahle Arzt. Ich glaube, mit ihm wirst du es zu tun bekommen, wenn du wieder versuchen solltest, dich in meine Angelegenheiten einzumischen. Und dann gnade dir Gott.«

»Der kleine kahle Arzt, hm-hmm«, sagte Ralph. »Ja, ich verstehe. Zuerst der Scharlachrote König und seine Zenturionen, jetzt der kleine kahle Arzt. Ich nehme an, als nächstes ist es -«

»Verschon mich mit deinem Sarkasmus, Ralph. Bleib einfach weg von mir und meinen Interessen, hast du verstanden? Bleib weg.«

Ein Klick, und die Leitung war tot. Ralph betrachtete den Telefonhörer in seiner Hand lange Zeit, dann legte er auf.

Bleib einfach weg von mir und meinen Interessen.

Ja, warum nicht? Er hatte genug vor seiner eigenen Tür zu kehren.

Ralph ging langsam in die Küche, schob ein tiefgefrorenes Fertiggericht in den Herd (Schellfischfilet, um genau zu sein) und versuchte, Abtreibungsproteste, Auren, Ed Deepneau und den Scharlachroten König aus seinen Gedanken zu verdrängen.

Das war leichter, als er erwartet hatte.

Kapitel 6

Der Sommer verging wie immer in Maine, fast unbemerkt. Ralph wachte auch weiterhin viel zu früh auf, und als das Laub der Bäume entlang der Harris Avenue in leuchtenden Farben brannte, schlug er jeden Morgen gegen 2:15 Uhr die Augen auf. Das war beschissen, aber er sah seinem Termin bei James Roy Hong entgegen, und das unheimliche Feuerwerk nach seiner ersten Begegnung mit Joe Wyzer hatte sich nicht mehr wiederholt. Gelegentlich sah er ein Flackern an den Rändern von Gegenständen, aber Ralph stellte fest, wenn er die Augen zukniff und bis fünf zählte, war das Flackern verschwunden, wenn er sie wieder aufschlug.

Nun... normalerweise verschwunden.

Susan Days Rede war auf Freitag, den achten Oktober, festgesetzt worden, und als der September zu Ende ging, nahmen die Proteste und öffentlichen Abtreibungsdebatten an Schärfe zu und kreisten immer mehr um ihren Auftritt. Ralph sah Ed häufig in den Fernsehnachrichten, manchmal in Begleitung von Dan Dalton, aber immer häufiger allein; er sprach stets rasch, argumentierte überzeugend und nicht selten mit einen schwachen Anflug von Humor nicht nur in den Augen, sondern auch in der Stimme.

Die Leute mochten ihn, und die Friends of Life zogen offenbar die großen Mitgliederzahlen an, von denen Daily Bread, die politische Vorläuferorganisation, nur hatte träumen können. Es wurden keine Puppen mehr geworfen oder andere gewalttätige Demonstrationen durchgeführt, aber es gab jede Menge Protestmärsche und Gegenmärsche, jede Menge Beschimpfungen und Fäusteschütteln und wütende Leserbriefe. Prediger verhießen Verdammnis; Lehrer traten für Mäßigung und Bildung ein; ein halbes Dutzend junge Frauen, die sich selbst Kesse Lesben für Jesus Christus nannten, wurden verhaftet, weil sie mit Spruchbändern wie VERPISST EUCH AUS MEINEM KÖRPER vor der Baptistenkirche von Derry demonstrierten. Ein ungenannter Polizist wurde in den Derry News zitiert, er hoffe, Susan Day würde die Grippe oder so etwas bekommen und ihren Auftritt in Derry absagen.

Ralph bekam keine Nachricht mehr von Ed, aber am einundzwanzigsten September erhielt er eine Postkarte von Helen mit siebzehn jubilierenden Worten, die auf die Rückseite gekritzelt waren: »Hurra, ein Job! Öffentliche Bibliothek in Derry! Ich fange nächsten Monat an! Wir sehen uns bald -Helen.«

Ralph, der sich fröhlicher als in der Nacht von Helens Anruf fühlte, ging nach unten, um McGovern die Karte zu zeigen, aber die Tür der unteren Wohnung war verschlossen und verriegelt.

Dann Lois... aber Lois war auch nicht da, wahrscheinlich zum Kartenspielen oder in die Stadt gegangen, um Wolle für einen neuen Pullover zu kaufen.

Gelinde verdrossen dachte Ralph darüber nach, daß die Leute, mit denen man gute Nachrichten am meisten teilen wollte, nie da waren, wenn man förmlich davon platzte, und schlenderte in den Strawford Park. Und da fand er Bill McGovern, der auf der Bank beim Softballfeld saß und weinte.

Weinen war vielleicht übertrieben; Tränen vergießen hätte es besser getroffen. Ein Taschentuch lugte aus einer knotigen Faust von McGovern heraus, und er beobachtete eine Mutter und ihren kleinen Sohn, die einen Ball an der Linie des ersten Mals entlangrollten, wo das letzte große Softballereignis der Saison das Intramural City Tournament - gerade erst vor zwei Tagen zu Ende gegangen war.

Ab und zu hob er die Faust mit dem Taschentuch zum Gesicht und wischte sich die Augen ab. Ralph, der McGovern noch nie weinen gesehen hatte - nicht einmal bei Carolyns Beerdigung -, verweilte noch einen Moment beim Spielplatz und fragte sich, ob er zu McGovern oder einfach wieder nach Hause gehen sollte.

Schließlich nahm er allen Mut zusammen und ging zu der Parkbank. »Hallo, Bill«, sagte er.

McGovern sah mit roten, feuchten Augen und ein wenig verlegen auf. Er wischte sie wieder ab und versuchte zu lächeln. »Hi, Ralph. Du hast mich beim Flennen erwischt. Entschuldige.«

»Schon gut«, sagte Ralph und setzte sich. »Ich habe auch schon oft genug geweint. Was ist denn?«

McGovern zuckte die Achseln, dann tupfte er sich wieder die Augen ab. »Nichts weiter. Ich leide an den Folgen eines Paradoxons, das ist alles.«

»Und was wäre das für ein Paradoxon?«

»Etwas Gutes passiert mit einem meiner ältesten Freunde dem Mann, der mir meine erste Stelle als Lehrer gegeben hat. Er stirbt.«

Ralph zog die Brauen hoch, sagte aber nichts.

»Er hat eine Lungenentzündung. Seine Tochter will ihn heute oder morgen ins Krankenhaus schaffen, dort werden sie ihn zumindest eine Weile an die eiserne Lunge anschließen, aber er wird mit ziemlicher Sicherheit sterben. Ich werde seinen Tod feiern, wenn es soweit ist, und ich glaube, das deprimiert mich am allermeisten.« McGovern machte eine Pause. »Du verstehst kein Wort von dem, was ich sage, oder?«

»Nee«, sagte Ralph. »Aber das macht nichts.«

McGovern sah ihm ins Gesicht, stutzte und schnaubte. Das Geräusch hörte sich schroff und tränenfeucht an, aber Ralph fand, daß es trotzdem als richtiges Lachen gelten konnte und riskierte ein zaghaftes Lächeln als Erwiderung.

»Hab ich was Komisches gesagt?«

»Nein«, sagte McGovern und klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Ich habe nur dein Gesicht betrachtet, so ernst und aufrichtig -du bist wirklich ein offenes Buch, Ralph -, und mußte daran denken, wie sehr ich dich mag. Manchmal wünschte ich, ich könnte du sein.«

»Ganz bestimmt nicht um drei Uhr morgens«, sagte Ralph leise.

McGovern seufzte und nickte. »Die Schlaflosigkeit.«

»Ganz recht. Die Schlaflosigkeit.«

»Tut mir leid, daß ich gelacht habe, aber -«

»Du mußt dich nicht entschuldigen, Bill.«

»- aber bitte glaube mir, wenn ich sage, daß es ein bewunderndes Lachen war.«

»Wer ist dein Freund, und warum ist es gut, daß er stirbt?« fragte Ralph. Er vermutete bereits, was die Wurzel von McGoverns Paradoxon war; ganz so blauäugig naiv, wie Bill manchmal zu glauben schien, war er nun doch nicht.

»Sein Name lautet Bob Polhurst, und seine Lungenentzündung ist eine gute Nachricht, weil er seit dem Sommer '88 an der Alzheimerschen Krankheit leidet.«

Daran hatte Ralph gedacht... aber AIDS war ihm auch kurz durch den Kopf gegangen. Er fragte sich, ob das McGovern schockieren würde, und er verspürte leichte Erheiterung bei dem Gedanken. Dann sah er den Mann an und schämte sich seiner Erheiterung. Er wußte, wenn es um Niedergeschlagenheit ging, war McGovern zumindest ein halber Profi, aber er glaubte nicht, daß die Trauer um seinen alten Freund deshalb weniger aufrichtig war.

»Bob war seit 1948, als er kaum älter als fünfundzwanzig gewesen sein konnte, bis 1981 oder 82 Dekan der historischen Fakultät der Derry High. Er war ein großartiger Lehrer, einer dieser immens klugen Köpfe, die man manchmal im Hinterland findet, wo sie ihr Licht unter den Scheffel stellen. Normalerweise werden sie Dekan ihrer Fakultät und lassen sich darüber hinaus ein halbes Dutzend fachfremde Aufgaben aufhalsen, weil sie einfach nicht nein sagen können. Bob konnte es sicher nicht.«

Die Mutter führte jetzt ihren kleinen Sohn an ihnen vorbei in Richtung der Snackbar, die saisonbedingt bald schließen würde. Das Gesicht des Kindes war außergewöhnlich durchscheinend, eine Schönheit, die durch die rosenfarbene Aura verstärkt wurde, die Ralph um den Kopf kreisen und in Form sanfter Wogen über das kleine, lebhafte Gesicht wabern sah.

»Können wir nach Hause gehen, Mom? Ich will jetzt mit meinem Play-Doh spielen. Ich möchte die Knetfamilie machen.«

»Gehen wir vorher etwas essen, großer Junge - okay? Mommy hat Hunger.«

»Okay.«

Eine hakenförmige Narbe verlief über den Nasenansatz des Jungen, und dort wurde das rosa Leuchten der Aura tief scharlachrot.

Ist mit acht Monaten aus der Krippe gefallen, dachte Ralph. Wollte nach den Schmetterlingen des Mobiles greifen, das seine Mutter an die Decke gehängt hatte. Sie ist zu Tode erschrocken, als sie hineingelaufen ist und das viele Blut gesehen hat; sie dachte, der arme Junge würde sterben. Patrick, das ist sein Name. Sie nennt ihn Pat. Er wurde nach seinem Großvater genannt und -

Er kniff einen Moment fest die Augen zu. Sein Magen flatterte leicht unmittelbar unter dem Adamsapfel, und plötzlich war er überzeugt, daß er sich übergeben müßte.

»Ralph?« fragte McGovern. »Alles in Ordnung?«

Er schlug die Augen auf. Keine Aura, weder rosa noch sonstwie; nur eine Mutter und deren Sohn, die in die Snackbar gingen, um etwas Kaltes zu trinken, und er konnte unmöglich wissen, auf gar keinen Fall, daß sie Pat nicht nach Hause bringen wollte, weil Pats Vater nach fast sechs trockenen Monaten wieder trank, und wenn er trank, wurde er bösartig -

Hör auf, um Gottes willen, hör auf.

»Mir geht es gut«, sagte er zu McGovern. »Hab etwas Staub ins Auge bekommen, das ist alles. Nur weiter. Erzähl mir von deinem Freund.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Er war ein Genie, aber im Lauf der Jahre bin ich zur Überzeugung gelangt, daß Genie eine völlig überschätzte Eigenschaft ist. Ich glaube, dieses Land ist voll von Genies, von Typen, die so klug sind, daß das durchschnittliche MENSA-Mitglied mit Ausweis dagegen wie Ficko der Clown aussieht. Und ich glaube, die meisten davon sind Lehrer, die in der Anonymität von Kleinstädten leben, weil sie es so haben wollen. Bob Polhurst wollte es auf jeden Fall so.

Er hat die Leute in einer Weise durchschaut, die mir Angst machte... jedenfalls anfangs. Nach einer Weile stellte man fest, daß man keine Angst haben mußte, weil Bob gütig war, auch wenn er zunächst ein Gefühl von Furcht in einem erweckte. Manchmal fragte man sich, ob er einen mit gewöhnlichen Augen ansah, oder mit einer Art Röntgenapparat.«

An der Snackbar bückte sich die Frau mit einem kleinen Pappbecher Limonade. Der Junge griff grinsend mit beiden Händen danach und nahm ihn. Er trank durstig. Dabei pulsierte rosa Leuchten ganz kurz wieder um ihn herum, und Ralph wußte, daß er recht gehabt hatte: Der Junge hieß Patrick, und seine Mutter wollte nicht mit ihm nach Hause gehen. Das konnte er unmöglich wissen, aber er wußte es trotzdem.

»Wenn man damals«, sagte McGovern, »mitten aus dem tiefsten Maine kam und nicht hundertprozentig heterosexuell war, versuchte man wie der Teufel, dafür zu gelten. Eine andere Möglichkeit gab es nicht, es sei denn, man wäre nach Greenwich Village gezogen, hätte ein Barett getragen und die Samstagabende in den Jazzclubs verbracht, wo sie applaudierten, indem sie mit den Fingern schnippten. Damals war die Vorstellung von einem >coming out< aus dem Versteck lächerlich. Für die meisten von uns gab es nur das Versteck. Wenn man nicht wollte, daß ein paar abgefüllte Jungs aus einer Studentenverbindung in einer dunklen Gasse auf einem saßen und versuchten, einem das Gesicht vom Kopf zu ziehen, war die Welt dein Versteck.«

Pat trank den Pappbecher leer und warf ihn auf den Boden. Seine Mutter befahl ihm, ihn aufzuheben und in den Mülleimer zu werfen, eine Aufgabe, die er mit ausgelassener Fröhlichkeit erfüllte. Dann nahm sie seine Hand, und sie schlenderten langsam aus dem Park. Ralph sah ihnen mit einem Gefühl der Bestürzung nach; er hoffte, die Ängste und Sorgen der Frau würden sich als unzutreffend erweisen, fürchtete aber, daß es sich nicht so verhielt.

»Als ich mich um die Stelle an der historischen Fakultät der Derry High bewarb-das war 1951 -hatte ich gerade zwei Jahre im Hinterland unterrichtet, in Lubec, wo sie abends die Bürgersteige hochklappen, und ich dachte mir, wenn ich dort zurechtkam, ohne daß Fragen gestellt wurden, würde ich überall zurechtkommen. Aber Bob sah mich nur einmal mit seinem Röntgenblick an - verdammt, er sah in mein Innerstes -, und da wußte er es. Und er war auch nicht schüchtern. > Wenn ich mich entscheide, Ihnen diesen Job zu geben, und wenn Sie sich entscheiden, ihn anzunehmen, Mr. McGovern, darf ich dann davon ausgehen, daß es niemals auch nur den geringsten Ärger wegen ihrer sexuellen Präferenzen geben wird?<

Sexuelle Präferenzen, Ralph! Mann, oh Mann! Vor diesem Tag hätte ich mir nicht einmal träumen lassen, daß es so einen Ausdruck überhaupt gab, aber ihm kam er leichter als ein geschmiertes Kugellager über die Lippen. Ich wollte aufbrausen und ihm sagen, ich hätte nicht die geringste Ahnung, wovon er redete, aber ich sei trotzdem äußerst verärgert - aus allgemeinen Prinzipien, gewissermaßen -, aber dann sah ich ihm noch einmal ins Gesicht und wußte, ich konnte es mir sparen. Ich hatte vielleicht ein paar Leute in Lubec hinters Licht fuhren können, aber bei Bob Polhurst würde mir das nicht gelingen. Er war selbst noch keine dreißig und wahrscheinlich in seinem ganzen Leben nicht mehr als ein dutzendmal südlich von Kittery gewesen, aber er wußte alles von mir, das zählte, und um es herauszufinden, hatte er nur ein zwanzigminütiges Gespräch gebraucht.

»Nein, Sir, nicht den geringstem, sagte ich so sanftmütig wie Marys kleines Lamm.«

McGovern tupfte sich wieder die Augen mit dem Taschentuch ab, aber diesmal fand Ralph, daß es hauptsächlich eine theatralische Geste war.

»In den dreiundzwanzig Jahren, bevor ich ans Derry Community College ging, hat Bob mir alles beigebracht, was ich über das Unterrichten und Schachspielen weiß. Er war ein brillanter Spieler... ich kann dir sagen, er hätte diesem Windbeutel Faye Chapin mit Sicherheit eine harte Nuß zu knacken gegeben. Ich habe ihn nur einmal geschlagen, aber da hatte die Alzheimersche Krankheit ihn schon in den Klauen. Danach habe ich nie wieder mit ihm gespielt.

Und da war noch viel mehr. Er hat nie einen Witz vergessen. Er vergaß nie die Geburts- oder Festtage der Menschen, die ihm nahestanden - er schickte keine Karten oder machte Geschenke, aber er gratulierte immer und wünschte alles Gute, und niemand zweifelte je daran, daß er es ehrlich meinte. Er veröffentlichte über siebzig Artikel zur Didaktik des Geschichtsunterrichts und über den Bürgerkrieg, der sein Spezialgebiet war. 1967und 1968 hat er ein Buch mit dem Titel Later That Summer geschrieben, über die Monate nach Gettysburg. Er hat mich das Manuskript vor zehn Jahren lesen lassen, und ich finde, es ist das beste Buch über den Bürgerkrieg, das ich jemals gelesen habe - das einzige, das auch nur in die Nähe kommt, ist ein Roman mit dem Titel The Killer Angels von Michael Shaara. Aber von einer Veröffentlichung wollte Bob nichts hören. Als ich ihn nach dem Grund fragte, antwortete er, daß ausgerechnet ich das doch verstehen müßte.«

McGovern verstummte kurz und sah durch den Park, der von grün-goldenem Licht und einem schwarzen Gitter von Schatten erfüllt war, die sich bei jedem Hauch des Windes bewegten.

»Er sagte, er hätte Angst davor, an die Öffentlichkeit zu gehen.«

»Okay«, sagte Ralph. »Ich verstehe.«

»Vielleicht vermittelt das den besten Eindruck von ihm: Er hat das große Sonntagskreuzworträtsel der New York Times mit Tinte ausgefüllt. Ich habe ihn einmal deswegen aufgezogen habe ihm Hybris vorgeworfen. Er grinste und sagte zu mir: >Es ist ein großer Unterschied zwischen Stolz und Optimismus, Bill -ich bin Optimist, das ist alles.<

Wie dem auch sei, du wirst verstehen, was ich meine. Ein gütiger Mann, ein guter Lehrer, ein brillanter Denker. Sein Fachgebiet war der Bürgerkrieg, und heute weiß er nicht einmal mehr, was ein Bürgerkrieg ist, geschweige denn, wer unseren gewonnen hat. Verdammt, er weiß nicht einmal seinen eigenen Namen, und irgendwann einmal - je früher, desto besser - wird er sterben ohne zu wissen, daß er je gelebt hat.«

Ein Mann mittleren Alters in einem T-Shirt der University of Maine und ein paar zerrissenen Bluejeans, der eine zerknitterte Papiertüte unter einem Arm trug, kam über den Spielplatz geschlurft. Er blieb neben der Snackbar stehen, um den Inhalt einer Abfalltonne in der Hoffnung zu untersuchen, er könnte vielleicht eine oder zwei Pfanddosen finden. Als er sich bückte, sah Ralph die dunkelgrüne Hülle, die ihn umgab, und die hellgrüne Ballonschnur, die flatternd über seinem Kopf aufstieg. Und plötzlich war er zu müde, um die Augen zu schließen und es wegzuwünschen.

Er drehte sich zu McGovern um und sagte: »Seit letzten Monat sehe ich Dinge, die -«

»Ich glaube, ich bin in Trauer«, sagte McGovern und wischte sich noch einmal theatralisch über die Augen, »aber ich weiß nicht, ob wegen Bob oder meinetwegen. Ist das nicht ein Heuler? Aber wenn du hättest sehen können, wie scharfsinnig er damals war, wie gottverdammt erschreckend scharfsinnig... «

»Bill? Siehst du den Mann da drüben bei der Snackbar? Der sich durch den Abfall wühlt. Ich sehe -«

»Ja, diese Typen sieht man heute überall«, sagte McGovern und warf dem Penner (der zwei leere Budweiser-Dosen gefunden und in seiner Tüte verstaut hatte) einen flüchtigen Blick zu, bevor er sich wieder zu Ralph umdrehte. »Ich hasse es, alt zu sein - ich schätze, darauf läuft es letztendlich wirklich hinaus. Ich meine, im großen Stil.«

Der Penner näherte sich ihrer Bank, mit leicht gebeugten Knien schlurfend, und der Wind kündigte sein Kommen mit einem Duft an, der alles andere als English Leather war. Seine Aura - ein leuchtendes, lebhaftes Grün, bei dem Ralph an Girlanden für den St.-Patricks-Tag denken mußte - vertrug sich schwerlich mit der unterwürfigen Haltung und dem schiefen Grinsen.

»Hallo, Jungs! Wie geht's uns denn?«

»Ging schon besser«, sagte McGovern und zog seine sardonische Braue hoch, »und ich nehme an, es wird uns auch wieder besser gehen, wenn du dich verzogen hast.«

Der Penner sah McGovern unsicher an, schien zu dem Ergebnis zu kommen, daß hier nichts zu holen war, und wandte sich an Ralph. »Habn Sie'n bißchen Kleingeld, Mister? Muß nach Dexter. Mein Onkel hat mich da im Asyl in der Neibolt Street angerufen und gesagt, ich kann mein' alten Job in der Fabrik wieder ham, aber nur wenn ich... «

»Verzieh dich, Kumpel«, sagte McGovern.

Der Penner warf ihm einen kurzen, ängstlichen Blick zu, dann richtete er seine blutunterlaufenen Augen wieder auf Ralph. »Iss'n guter Job, wissense? Ich könnte ihn wiederham, aber nur, wenn ich heute noch hinkomm. Da iss'n Bus...«

Ralph griff in die Tasche, fand einen Vierteldollar und zehn Cent und ließ sie in die ausgestreckte Hand fallen. Der Penner grinste. Die Aura um ihn herum wurde heller und verschwand plötzlich. Für Ralph war es eine große Erleichterung.

»He, Klasse! Danke, Mister!«

»Nichts zu danken«, sagte Ralph.

Der Penner schlurfte in Richtung des Shop 'n Save, wo Marken wie Night Train, Old Duke und Silver Satin immer im Sonderangebot waren.

O Scheiße, Ralph, würde es schaden, wenn du auch im Kopf ein wenig wohltätig wärst? fragte er sich selbst. Noch eine halbe Meile in diese Richtung, und man kommt zur Bushaltestelle.

Das stimmte zwar, aber Ralph hatte lange genug gelebt, um zu wissen, daß ein himmelweiter Unterschied zwischen wohltätigem Denken und Illusionen herrschte. Wenn der Penner mit der dunkelgrünen Aura tatsächlich zur Bushaltestelle schlurfte, dann würde Ralph als Staatssekretär nach Washington gehen.

»Das solltest du nicht tun«, sagte McGovern vorwurfsvoll. »Es ermutigt sie nur.«

»Kann sein«, sagte Ralph resigniert.

»Was hast du gesagt, als wir so unhöflich unterbrochen wurden?«

Jetzt schien es eine unglaublich schlechte Idee zu sein, McGovern von den Auren zu erzählen, und er konnte sich um nichts auf der Welt mehr vorstellen, wieso er überhaupt daran gedacht hatte. Die Schlaflosigkeit - das war selbstverständlich die Antwort. Sie hatte neben seinem Kurzzeitgedächtnis und seiner Sinneswahrnehmung auch seinen gesunden Menschenverstand beeinträchtigt.

»Daß ich heute morgen etwas mit der Post bekommen habe«, sagte Ralph. »Ich dachte mir, daß dich das vielleicht ein wenig aufmuntert.« Er gab Helens Postkarte an McGovern, der sie las und dann noch einmal las. Beim zweitenmal erstrahlte sein langes Pferdegesicht zu einem breiten Grinsen. Als Ralph die Mischung aus Erleichterung und aufrichtiger Freude in diesem Ausdruck sah, verzieh er McGovern seine selbstgefällige Art augenblicklich. Man vergaß allzu leicht, daß Bill nicht nur schwülstig, sondern auch großzügig sein konnte._ »Das ist ja toll, oder nicht? Ein Job!«

»Das ist es. Möchtest du es mit einem Mittagessen feiern? Zwei Türen vom Rite Aid entfernt gibt es einen hübschen kleinen Imbiß - Day Break, Sun Down heißt er. Vielleicht ein bißchen zu alternativ angehaucht, aber -«

»Danke, aber ich habe Bobs Tochter versprochen, daß ich vorbeikommen und eine Weile bei ihm sitzenbleiben würde. Selbstverständlich hat er nicht die geringste Ahnung, wer ich bin, aber das spielt keine Rolle, weil ich weiß, wer er ist. Capisce?«

»Jawoll«, sagte Ralph. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, ja?«

»So ist es.« McGovern las die Postkarte noch einmal, immer noch grinsend. »Das ist die Wucht - die absolute Wucht in Tüten!«

Ralph mußte über diesen reizenden, altmodischen Ausdruck lachen. »Fand ich auch.«

»Ich hätte fünf Piepen mit dir gewettet, daß sie wieder in die Ehe mit diesem Verstörten zurückkehren und das Baby mit seinem verdammten Wagen vor sich herschieben würde... aber ich hätte das Geld mit Freuden verloren. Ich nehme an, das klingt verrückt.«

»Ein wenig«, sagte Ralph, aber nur weil er wußte, daß McGovern das zu hören erwartete. In Wirklichkeit dachte er, daß Bill McGovern gerade seinen Charakter und sein Weltbild treffender zusammengefaßt hatte, als Ralph es selbst je vermocht hätte.

»Schön zu wissen, daß es jemandem besser statt schlechter geht, was?«

»Worauf du dich verlassen kannst.«

»Hat Lois das schon gesehen?«

Ralph schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht zu Hause. Ich zeige ihr die Karte aber, wenn ich sie sehe.«

»Tu das. Schläfst du besser, Ralph?«

»Ich denke, es geht ganz gut.« »Prima. Du siehst ein bißchen besser aus. Ein bißchen kräftiger. Wir dürfen nicht aufgeben, Ralph, nur darauf kommt es an. Hab ich recht?«

»Ich schätze schon«, sagte Ralph und seufzte. »Ich schätze schon, jedenfalls damit.«

3

Zwei Tage später saß Ralph an seinem Küchentisch, aß eine Schüssel Kleieflocken, die er eigentlich gar nicht wollte (von denen er aber auf eine vage Weise vermutete, daß sie gut für ihn waren), und las die erste Seite der Derry News. Er hatte den Leitartikel hastig überflogen, aber sein Blick fiel immer wieder auf das Foto; es schien sämtliche negativen Gefühle auszudrücken, mit denen er den vergangenen Monat gelebt hatte, ohne sie in irgendeiner Form zu erklären.

Ralph fand, daß die Schlagzeile über der Fotografie -DEMONSTRATION VOR WOMAN-CARE ENDET IN GEWALT

- keineswegs den anschließenden Artikel reflektierte, aber das überraschte ihn nicht; er las die News nun schon seit Jahren und hatte sich an ihre Voreingenommenheit gewöhnt, zu der auch ein entschiedener Anti-Abtreibungs-Standpunkt gehörte. Dennoch hatte das Blatt sorgfältig darauf geachtet, sich im heutigen »Tss-tss, nun aber Schluß damit, Jungs«-Editorial von den Friends of Life zu distanzieren, und das überraschte Ralph nicht. Die Friends hatten sich auf dem Parkplatz zwischen Woman-Care und dem Derry Home Hospital versammelt und auf eine Gruppe von zweihundert Abtreibungsbefürwortern gewartet, die vom Bürgerzentrum durch die Stadt marschiert waren. Die meisten Protestierenden trugen Schilder mit dem Bild von Susan Day und dem Motto FREIE ENTSCHEIDUNG STATT ANGST.

Es war die Absicht der Demonstranten gewesen, unterwegs Anhänger mitzureißen, wie ein Schneeball, der bergab rollt. Bei Woman-Care sollte eine kurze Veranstaltung stattfinden - um die Leute auf den bevorstehenden Besuch von Susan Day einzustimmen -, anschließend sollten Erfrischungen gereicht werden. Die Veranstaltung fand nie statt. Als sich die Befürworter dem Parkplatz näherten, kamen die Anhänger der Friends of Life aus ihrem Versteck und versperrten die Straße, wobei sie ihre eigenen Schilder (MORD IST MORD, SUSAN DAY, BLEIB FORT; STOPPT DAS GEMETZEL AN UNSCHULDIGEN) wie Schutzschilde vor sich hertrugen.

Die Demonstranten waren von der Polizei eskortiert worden, aber niemand war darauf vorbereitet gewesen, wie schnell Zwischenrufe und böse Worte zu Fußtritten und Faustschlägen eskalieren könnten. Angefangen hatte es damit, daß eine Angehörige der Friends of Life ihre eigene Tochter unter den Befürwortern entdeckt hatte. Die ältere Frau hatte ihr Schild fallen lassen und war auf die jüngere zugestürmt. Der Freund der Tochter hatte die ältere Frau abgefangen und versucht, sie festzuhalten. Als Mom ihm mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzte, hatte der junge Mann sie zu Boden geworfen. Das hatte zu einem zehnminütigen Handgemenge und über dreißig Festnahmen geführt, etwa zu gleichen Teilen aus beiden Gruppen.

Das Bild auf der Titelseite der heutigen News zeigte Hamilton Davenport und Dan Dalton. Der Fotograf hatte Davenport mit einem verzerrten Gesichtsausdruck erwischt, der sich völlig von seinem sonstigen Ausdruck gelassener Selbstzufriedenheit unterschied. Eine Faust hatte er als primitive Geste des Triumphs über den Kopf erhoben. Ihm gegenüber stand der große Zampano der Friends of Life, der Hams FREIE ENTSCHEIDUNG STATT ANGST-Schild oben um den Kopf herum trug wie einen surrealistischen Heiligenschein aus Pappe. Daltons Augen waren umwölkt, sein Mund schlaff. Auf dem kontrastreichen Schwarzweißfoto sah das Blut, das aus seinen Nasenlöchern floß, wie Schokoladensauce aus.

Ralph wandte den Blick eine Zeitlang davon ab, versuchte sich auf seine Frühstücksflocken zu konzentrieren, und dann mußte er wieder an den Tag im vergangenen Sommer denken, als er zum erstenmal einen dieser »Pseudo-Steckbriefe« gesehen hatten, die nun überall in Derry hingen - den Tag, als er vor dem Strawford-Park fast das Bewußtsein verloren hatte. Am meisten konzentrierte sich sein Verstand auf die Gesichter: Davenports voll wütender Intensität, als er zum staubigen Schaufenster von Secondhand Rose, Secondhand Clothes hineinschaute, Daltons mit einem kleinen, abfälligen Lächeln, als wollte er sagen, daß man von einem Affen wie Hamilton Davenport nicht erwarten konnte, daß er die höhere Moral der Abtreibungsfrage begriff, wie sie beide sehr wohl wußten.

Ralph mußte an diese beiden Mienen und die Distanz zwischen den beiden Männern denken, die sie zur Schau stellten, und nach einer Weile wanderte sein bestürzter Blick zu dem Zeitungsfoto zurück. Zwei Männer standen dicht hinter Dalton, beide trugen Pro-Life-Spruchbänder und beobachteten die Auseinandersetzung aufmerksam. Ralph kannte den hageren Mann mit der Hornbrille und dem schütteren grauen Haarschopf nicht, aber den Mann neben ihm kannte er durchaus. Es war Ed Deepneau. Doch in diesem Zusammenhang schien Ed fast gar keine Rolle zu spielen. Was Ralph fesselte - und ängstigte -, waren die Gesichter der beiden Männer, die seit Jahren benachbarte Geschäfte in der Lower Witcham Street betrieben-Davenport mit seiner Höhlenmenschengrimasse und der geballten Faust, Dalton mit dem leeren Blick und der blutigen Nase.

Er dachte: Wenn man mit seiner Leidenschaft nicht aufpaßt, bringt sie einen so weit. Aber an dieser Stelle sollte es besser aufhören, denn...

»Denn wenn die beiden Kanonen gehabt hätten, hätten sie sich gegenseitig erschossen«, murmelte er, und in diesem Augenblick läutete es an der Tür - der zur vorderen Veranda. Ralph stand auf, betrachtete das Bild noch einmal und spürte, wie eine Art Schwindel über ihn kam. Eine seltsame, bedrückende Gewißheit ging damit einher: Ed stand da unten, und weiß Gott, was er wollte.

Dann mach nicht auf, Ralph!

Er stand einen unentschlossenen Augenblick neben dem Küchentisch und wünschte sich verzweifelt, er könnte den Nebel durchdringen, der dieses Jahr Dauergast in seinem Kopf zu sein schien. Dann läutete es noch einmal, und er stellte fest, daß er sich schon entschieden hatte. Es hätte keine Rolle gespielt, wenn Saddam Hussein da unten gestanden hätte; dies war sein Haus, und er würde sich nicht darin verstecken wie ein geprügelter Köter.

Ralph durchquerte das Wohnzimmer, machte die Tür zur Diele auf und ging die schattige Treppe hinunter.

Auf halbem Weg nach unten entspannte er sich ein wenig. Die obere Hälfte der Tür zur vorderen Veranda bestand aus dicken Glasscheiben. Sie verzerrten den Blick, aber nicht sehr, und daher konnte Ralph sehen, daß es sich bei seinen beiden Besuchern um Frauen handelte. Er erriet sofort, wer eine von ihnen sein mußte, daher hastete er den Rest des Wegs nach unten und ließ eine Hand leicht auf dem Geländer hinabgleiten. Er riß die Tür auf, und da stand Helen Deepneau mit einer Tragetasche (BABYSTATION ERSTE HILFE war auf eine Seite aufgedruckt) über der einen Schulter; über die andere sah Natalie, deren Augen so sehr glänzten wie die einer Zeichentrickmaus. Helen lächelte hoffnungsvoll und ein wenig nervös.

Plötzlich strahlte Natalie über das ganze Gesicht, hüpfte in dem Babytragegurt von Papoose auf und ab, den Helen trug, und winkte mit den Armen aufgeregt in Ralphs Richtung.

Sie erinnert sich an mich, dachte Ralph. Was sagt man dazu. Und als er den Arm ausstreckte und eine der winkenden Hände seinen rechten Zeigefinger ergreifen ließ, schössen ihm Tränen in die Augen.

»Ralph?« fragte Helen. »Alles in Ordnung?«

Er lächelte, nickte, kam näher und umarmte sie. Er spürte, wie ihm Helen die Arme um den Hals legte. Einen Augenblick machte ihn der Duft ihres Parfüms schwindlig, in den sich der Milchgeruch des gesunden Babys mischte, dann gab sie ihm einen hallenden Schmatz aufs Ohr und ließ ihn los.

»Es ist alles in Ordnung, oder nicht?« fragte sie. Auch in ihren Augen standen Tränen, aber Ralph bemerkte sie kaum; er war zu sehr mit seiner Inventur beschäftigt, da er sicherstellen wollte, daß keine Spuren der Prügel zurückgeblieben waren. Soweit er erkennen konnte, waren keine mehr zu sehen. Sie sah makellos aus.

»Im Augenblick mehr als in den letzten Wochen«, sagte er. »Du bist so ein wunderschöner Anblick für meine alten Augen. Und du auch, Nat.« Er küßte die kleine, pummelige Hand, die noch seinen Finger hielt, und war nicht völlig überrascht, als er den geisterhaften grau-blauen Lippenabdruck sah, den sein Mund hinterlassen hatte. Er verblaßte fast, ehe Ralph ihn richtig zur Kenntnis genommen hatte, und er umarmte Helen noch einmal

- in erster Linie um sicherzustellen, daß sie wirklich da war.

»Lieber Ralph« murmelte sie ihm ins Ohr. »Lieber, süßer Ralph.«

Er spürte eine Regung in den Lenden, die offenbar durch das Zusammenwirken ihres Parfüms und des sanften Kitzels ihres Atems an seinem Ohr hervorgerufen wurde... und dann fiel ihm eine andere Stimme ein, die ihm ins Ohr gesprochen hatte. Eds Stimme. Ich habe wegen deinem Mund angerufen, Ralph. Er versucht, dich in Schwierigkeiten zu bringen.

Ralph ließ sie los und hielt sie lächelnd auf Armeslänge von sich. »Du bist ein Anblick für meine trüben Augen, Helen. Der Blitz soll mich treffen, wenn es nicht so ist.«

»Du auch. Ich möchte, daß du eine Freundin von mir kennenlernst. Ralph Robert, Gretchen Tillbury. Gretchen, Ralph.«

Ralph drehte sich zu der anderen Frau um und sah sie zum erstenmal genau an, während er ihre schlanke weiße Hand behutsam in seine große, knotige nahm. Sie war der Typ Frau, bei der ein Mann (auch einer, der die Sechzig schon hinter sich gelassen hatte) gerade stehen und den Bauch einziehen wollte. Sie war groß, etwa einsachtzig, und sie war blond, aber das allein war es nicht. Da war noch etwas anderes - etwas wie ein Geruch, eine Vibration oder eine Aura.

Ja, genau, wie eine Aura. Sie war schlicht und einfach eine Frau, die man nicht übersehen, an der man nicht vorbeidenken konnte, eine Frau, bei deren Anblick man automatisch ins Spekulieren geriet.

Ralph erinnerte sich, wie Helen ihm erzählt hatte, daß Gretchens Mann ihr den Oberschenkel mit einem Küchenmesser aufgeschlitzt und sie liegengelassen hatte, damit sie verblutete. Er fragte sich, wie ein Mann so etwas tun konnte; wie ein Mann ein solches Geschöpf überhaupt mit etwas anderem als Ehrfurcht und Liebe ansehen konnte.

Und möglicherweise ein wenig Lust, nachdem er das »Sie-wandelt-in-Schönheit-wie-die-Nacht«-Stadium hinter sich gelassen hatte. Und übrigens, Ralph, es wäre vielleicht der geeignete Zeitpunkt, deine Augäpfel in die Höhlen zurückzukurbeln.

»Freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen«, sagte er und ließ ihre Hand los. »Helen hat mir erzählt, wie Sie sie im Krankenhaus besucht haben. Danke für Ihre Hilfe.«

»Es war ein Vergnügen, Helen zu helfen«, sagte Gretchen und schenkte ihm ein atemberaubendes Lächeln. »Sie ist die Art Frau, für die sich die ganze Arbeit lohnt... aber ich denke, das wissen Sie bereits.«

»Das könnte schon sein«, sagte Ralph. »Habt ihr Zeit für eine Tasse Kaffee? Bitte, sagt ja, wenn ihr könnt. Ich möchte euch wirklich noch eine Weile bei mir haben.«

Gretchen sah Helen an, die nickte.

»Das wäre schön«, sagte Helen. »Denn... nun...«

»Es ist nicht nur ein reiner Höflichkeitsbesuch, richtig?« fragte Ralph, der von Helen zu Gretchen Tillbury und wieder zurück zu Helen sah.

»Nein«, sagte Helen. »Wir müssen uns über etwas unterhalten, Ralph.«

5

Kaum hatten sie das obere Ende der halbdunklen Treppe erreicht, zappelte Natalie unruhig in dem Papoose-Träger und plapperte in dem gebieterischen Babylatein, das nur allzu bald richtigen, verständlichen Wörtern weichen würde.

»Kann ich sie nehmen?« fragte Ralph.

»Einverstanden«, sagte Helen. »Wenn sie weint, nehme ich sie wieder.«

»Abgemacht.«

Aber das Verherrlichte & Angebetete Baby weinte nicht. Kaum hatte Ralph es aus dem Papoose genommen, schlang es ihm freundschaftlich einen Arm um den Hals und nestelte seine Kehrseite in die Beuge seines rechten Arms, als wäre der sein eigener, persönlicher Liegestuhl.

»Mann«, sagte Gretchen. »Ich bin beeindruckt.«

»Blig!« sagte Natalie, ergriff Ralphs Unterlippe und zog sie wie eine Jalousie heraus. »Ganna-wig! Andoo-sis!«

»Ich glaube, sie hat gerade etwas über die Andrews Sisters gesagt«, sagte Ralph. Helen warf den Kopf zurück und lachte ihr herzliches Lachen, das von ganz unten, von den Fersen, heraufzukommen schien. Erst als Ralph es hörte, wurde ihm klar, wie sehr er es vermißt hatte.

Natalie ließ Ralphs Unterlippe zurückschnappen, als er sie in die Küche führte, um diese Tageszeit der sonnigste Raum im ganzen Haus. Er stellte fest, daß Helen sich neugierig umsah, als er den Herd einschaltete, und ihm wurde klar, daß sie lange nicht mehr hiergewesen war. Zu lange. Sie nahm das Bild von Carolyn, das auf dem Küchentisch stand, und betrachtete es eingehend, während ein verhaltenes Lächeln um ihre Lippen spielte. Die Sonne ließ die Spitzen ihres Haars aufleuchten, das sie kurzgeschnitten hatte, bildete eine Korona um ihren Kopf, und Ralph erlebte eine plötzliche Offenbarung: Er liebte sie zum großen Teil deshalb, weil Carolyn sie geliebt hatte - sie waren beide von Carolyn ins Herz geschlossen worden.

»Sie war so hübsch«, murmelte Helen. »Oder nicht, Ralph?«

»Ja«, sagte er und stellte die Tassen hin (sorgsam darauf achtend, daß sie außer Reichweite von Natalies rastlosen, neugierigen Händen blieben). »Das wurde einen oder zwei Monate bevor die Kopfschmerzen anfingen aufgenommen. Ich nehme an, es ist exzentrisch, ein gerahmtes Portrait auf dem Küchentisch vor der Zuckerdose stehen zu haben, aber dies scheint das Zimmer zu sein, in dem ich neuerdings die meiste Zeit verbringe, daher... «

»Ich finde, das ist ein reizender Platz dafür«, sagte Gretchen. Ihre Stimme war tief und bezaubernd heiser. Ralph dachte: Wenn sie mir vorhin ins Ohr geflüstert hätte, dann hätte die alte Hosenmaus mit Sicherheit mehr gemacht, als sich nur einmal im Schlaf herumzudrehen.

»Ich auch«, sagte Helen. Sie bedachte ihn mit einem zaghaften Lächeln, ohne ihm in die Augen zu sehen, dann ließ sie die Umhängetasche von der Schulter gleiten und stellte sie auf den Küchentresen. Natalie fing ungeduldig an zu plappern und die Hände auszustrecken, als sie die Plastikhülle des PlaytexFläschchens sah. Ralph sah deutlich, aber glücklicherweise nur kurz, eine Erinnerung aufblitzen: Helen, die zum Red Apple stolperte, ein Auge zugeschwollen, Blut auf der Wange und Natalie auf einer Hüfte, wie ein Teenager seine Schulbücher tragen würde.

»Möchtest du es versuchen, alter Freund?« fragte Helen. Ihr Lächeln war etwas zuversichtlicher, und sie sah ihm direkt in die Augen.

»Klar, warum nicht. Aber der Kaffee...« »Ich kümmere mich um den Kaffee, Väterchen«, sagte Gretchen. »Zu meiner Zeit habe ich eine Million Tassen gemacht. Haben Sie Kondensmilch?«

»Im Kühlschrank.« Ralph setzte sich an den Tisch, ließ Natalie den Kopf an seine Schulter lehnen und das Fläschchen mit ihren winzigen, faszinierenden Händen umklammern. Das tat sie mit vollkommener Selbstsicherheit, steckte den Schnuller in den Mund und fing gleich an zu saugen. Ralph sah grinsend zu Helen auf und tat so, als bemerke er nicht, daß sie wieder ein wenig zu weinen angefangen hatte. »Sie lernen schnell, oder nicht?«

»Ja«, sagte sie und riß ein Küchentuch von der Rolle über dem Spülbecken. Sie wischte sich damit die Augen ab. »Ich komme nicht darüber hinweg, wie unbefangen sie bei dir ist, Ralph - so war sie doch vorher nicht, oder?«

»Ich kann mich wirklich nicht erinnern«, log er. Sie war es nicht gewesen. Nicht abweisend, nein, aber längst nicht so anschmiegsam.

»Drück weiter auf den Plastikmantel der Flasche, okay? Sonst schluckt sie zuviel Luft und wird völlig aufgebläht.«

»Roger.« Er sah zu Gretchen. »Alles klar?«

»Bestens. Wie nehmen Sie ihn, Ralph?«

»Nur in der Tasse, das reicht schon.«

Sie lachte und stellte die Tasse außerhalb von Natalies Reichweite auf den Tisch. Als sie sich hinsetzte und die Beine übereinanderschlug, sah Ralph hin - er konnte nicht anders. Als er wieder aufsah, lächelte Gretchen unmerklich und ironisch.

Und wenn schon, dachte Ralph. Ein alter Bock bleibt ein alter Bock, schätze ich. Auch ein alter Bock, der es auf nicht mehr als zwei oder zweieinhalb Stunden Schlaf pro Nacht bringt.

»Erzähl mir von deinem Job«, sagte er, als Helen sich setzte und von ihrem Kaffee trank.

»Nun, ich finde, sie sollten Mike Hanions Geburtstag zu einem nationalen Feiertag machen - sagt dir das was?«

»Ein wenig«, sagte Ralph lächelnd.

»Ich war ziemlich sicher, daß ich Derry verlassen müßte. Ich habe mich bei Bibliotheken bis hinauf nach Portsmouth beworben, aber mir war nicht wohl dabei. Ich werde fünfunddreißig und lebe erst sieben Jahre hier, aber Derry ist meine Heimat ich kann es nicht erklären, aber es ist so.«

»Das mußt du nicht erklären, Helen. Ich finde, das Zuhause gehört zu den Dingen, die einem Menschen eben zufallen, wie der Teint oder die Farbe der Augen.«

Gretchen nickte. »Ja«, sagte sie. »Genau so.«

»Mike rief mich am Montag an und sagte mir, daß eine Assistentinnenstelle in der Banderbibliothek freigeworden wäre. Ich konnte es kaum glauben. Ich meine, ich laufe schon die ganze Woche herum und kneife mich selbst. Oder etwa nicht, Gretchen?«

»Nun, du hast ziemliches Glück gehabt«, sagte Gretchen, »und das war schön anzusehen.«

Sie lächelte Helen zu, und für Ralph war dieses Lächeln eine Offenbarung. Plötzlich wurde ihm klar, daß er Gretchen Tillbury anstarren konnte soviel er wollte, und es würde nichts ausmachen. Selbst wenn der einzige Mann im Zimmer Tom Cruise gewesen wäre, hatte das nichts geändert. Er fragte sich, ob Helen es wußte, aber dann schalt er sich wegen seiner Dummheit. Helen mochte vieles sein, aber dumm war sie nicht.

»Wann fängst du an?« fragte er sie.

»In der Woche des Columbus Day«, sagte sie. »Am zwölften. Nachmittags und abends. Das Gehalt ist nicht gerade fürstlich, aber es wird uns über den Winter bringen, wie sich... meine Situation sonst auch entwickeln mag. Ist das nicht toll, Ralph?«

»Doch«, sagte er. »Riesig.«

Das Baby hatte die halbe Flasche getrunken und ließ Anzeichen erkennen, daß seine Konzentration nachließ. Der Schnuller glitt ihm halb aus dem Mund, und ein Milchtropfen lief ihm vom Mundwinkel herunter zum Kinn. Ralph wischte ihn weg, und seine Finger hinterließen eine Reihe delikater graublauer Linien in der Luft.

Natalie griff danach und lachte, als sie sich in ihrer Faust auflösten. Ralph stockte der Atem in der Kehle.

Sie sieht es. Das Baby sieht, was ich sehe.

Aber das ist verrückt, Ralph. Das ist verrückt, und du weißt es genau.

Aber das wußte er nicht. Er hatte es gerade gesehen - hatte gesehen, wie Nat versuchte, die Kondensstreifen der Aura zu packen, die seine Finger hinterließen.

»Ralph?« fragte Helen. »Geht es dir nicht gut?«

»Doch.« Er sah auf und stellte fest, daß Helen jetzt von einer üppigen elfenbeinfarbenen Aura umgeben war. Sie hatte den Seidenglanz eines teuren Slips. Die Ballonschnur, die davon aufstieg, war ebenfalls elfenbeinfarben und so breit und flach wie das Band um ein Hochzeitsgeschenk. Die Aura um Gretchen Tillbury war dunkelorange und ging an den Rändern ins Gelbliche über. »Wirst du wieder in das Haus einziehen?«

Helen und Gretchen wechselten wieder einen Blick, aber Ralph bemerkte es kaum. Er stellte fest, daß er ihre Gesichter oder Gesten oder ihre Körpersprache nicht sehen mußte, um ihre Gefühle zu erraten; er mußte nur ihre Auren ansehen. Die gelblichen Ränder von Gretchens Aura wurden dunkler, so daß alles einheitlich orange war. Gleichzeitig schrumpfte die von Helen und wurde heller, bis er sie kaum noch ansehen konnte. Helen hatte Angst davor, zurückzukehren. Gretchen wußte es und war wütend deswegen.

Und wegen ihrer eigenen Hilflosigkeit, dachte Ralph. Das macht sie am wütendsten.

Und er wußte das alles. Wußte es. Einfach so.

»Ich werde noch eine Weile in High Ridge bleiben«, sagte Helen. »Vielleicht bis zum Winter. Nat und ich werden letztendlich wieder in die Stadt ziehen, nehme ich an, aber das Haus wird zum Verkauf angeboten. Wenn es jemand tatsächlich kauft und da der Immobilienmarkt am Boden liegt, ist das mit einem großen Fragezeichen versehen -, geht das Geld auf ein Sperrkonto. Dieses Konto wird dann entsprechend dem Urteil aufgeteilt. Du weißt schon - dem Scheidungsurteil.«

Ihre Unterlippe zitterte. Ihre Aura war noch mehr geschrumpft und umgab den Körper jetzt wie eine zweite Haut, und Ralph konnte winzige rote Pünktchen darin pulsieren sehen. Sie sahen aus wie Funken, die über einem Verbrennungsofen tanzten. Er streckte den Arm über den Tisch aus, ergriff ihre Hand und drückte sie. Sie lächelte ihm dankbar zu.

»Damit hast du mir zwei Dinge verraten«, sagte er. »Daß du die Scheidung durchziehst und daß du immer noch Angst vor ihm hast.«

»Sie ist in den letzten drei Jahren ihrer Ehe regelmäßig verprügelt und mißbraucht worden«, sagte Gretchen. »Logisch, daß sie immer noch Angst vor ihm hat.« Sie sagte es ruhig und vernünftig, aber als er ihre Aura jetzt ansah, war es, als würde er in eines der kleinen Marienglasfenster sehen, die man früher in den Türen von Kohleöfen fand.

Er blickte auf das Baby hinunter und sah es in seiner eigenen gazeartigen, gleißenden Aura aus Hochzeitssatin. Sie war kleiner als die der Mutter, aber ansonsten identisch... wie seine grünen Augen und das kastanienfarbene Haar. Natalies Ballonschnur stieg als reines weißes Band von ihrem Kopf auf und schwebte bis unter die Decke, wo sie sich tatsächlich neben der Lampe zu einem ätherischen Knäuel krümmte. Als ein Lufthauch zum offenen Fenster beim Herd hereinwehte, sah er das weiße Band wanken und flattern. Er sah auf und stellte fest, daß die Ballonschnüre von Helen und Gretchen ebenfalls flatterten.

Und wenn ich meine eigene sehen könnte, würde sie es auch tun, dachte er. Es ist echt - was immer der Zwei-plus-zweigleich-vier-Teil meines Verstandes auch denken mag, die Auren sind real. Sie sind real, und ich kann sie sehen.

Er wartete auf den unausweichlichen Widerspruch, aber diesmal erfolgte keiner.

»Im Augenblick komme ich mir vor, als würde ich die meiste Zeit in einer emotionalen Waschmaschine verbringen«, sagte Helen. »Meine Mom ist wütend auf mich... fehlt nur noch, daß sie mich einen Drückeberger nennt... und manchmal fühle ich mich wie ein Drückeberger... ich schäme mich... «

»Du hast keinen Grund, dich zu schämen«, sagte Ralph. Er schaute auf, als Natalies Ballonschnur wieder in der Brise flatterte. Es war wunderschön, aber er verspürte keinen Wunsch, sie zu berühren; ein tiefverwurzelter Instinkt sagte ihm, daß das gefährlich für sie beide sein könnte.

»Ich glaube, das weiß ich«, sagte Helen, »aber Mädchen machen eine Menge Indoktrination durch. Ungefähr so: >Hier ist deine Barbie, hier ist dein Ken, hier ist deine Hosteß-

Spielküche. Lerne viel, denn wenn es ernst wird, ist das deine Aufgabe, und wenn etwas kaputtgeht, wird man dir die Schuld geben.< Und ich glaube, ich hätte damit leben können -wirklich. Aber niemand hat mir gesagt, daß Ken in manchen Ehen verrückt wird. Hört sich das an, als wäre ich nachsichtig gegen mich selbst?«

»Nein. Soweit ich das beurteilen kann, hat es sich ziemlich genauso zugetragen.«

Helen lachte - ein abgehacktes, verbittertes, schuldbewußtes Lachen. »Versuch nicht, das meiner Mutter zu erklären. Sie weigert sich zu glauben, daß Ed jemals mehr getan hat, als mir ab und zu als Ehemann einen kleinen Klaps auf den Hintern zu geben... damit ich wieder auf den rechten Weg zurückkomme, sollte ich davon abgekommen sein. Sie glaubt, den Rest habe ich mir eingebildet. Sie rückt nicht offen damit heraus und sagt es, aber ich höre es jedesmal in ihrer Stimme, wenn wir telefonieren.«

»Ich glaube nicht, daß du es dir eingebildet hast«, sagte Ralph. »Ich habe dich gesehen, weißt du nicht mehr? Und ich war da, als du mich angefleht hast, nicht die Polizei zu rufen.«

Er spürte, wie sein Oberschenkel unter dem Tisch sanft gequetscht wurde, und sah verblüfft auf. Gretchen Tillbury nickte ihm fast unmerklich zu und kniff ihn noch einmal - jetzt nachdrücklicher.

»Ja«, sagte Helen. »Du warst da, richtig?« Sie lächelte ein wenig, das war gut, aber was mit ihrer Aura passierte, war noch besser - die winzigen roten Fünkchen verblaßten, und die Aura selbst dehnte sich wieder aus.

Nein, dachte er. Sie dehnt sich nicht aus. Sie lockert sich wieder. Entspannt sich.

Helen stand auf und kam um den Tisch herum. »Nat wird deiner überdrüssig - laß lieber mich sie nehmen.«

Ralph schaute auf und sah Nat an, die mit großen, faszinierten Augen durch das Zimmer sah. Er folgte ihrem Blick zu der kleinen Vase auf dem Fenstersims. Vor nicht einmal zwei Stunden hatte er sie mit Herbstblumen gefüllt, und jetzt strömte ein dunkelgrüner Nebel aus den Stengeln und hüllte die Blüten mit seinem feinen, dunstigen Schimmer ein.

Ich sehe, wie sie ihren letzten Atem aushauchen, dachte Ralph. O mein Gott, ich werde nie wieder in meinem Leben Blumen pflücken. Ich verspreche es.

Helen nahm ihm das Baby behutsam aus den Armen. Nat ließ es fügsam mit sich geschehen, ließ aber die dampfenden Blumen nicht aus den Augen, während ihre Mutter wieder um den Tisch herumging, sich setzte und sie in die Armbeuge bettete.

Gretchen klopfte leicht auf die Uhr. »Wenn wir noch zu der Versammlung am Mittag kommen wollen -«

»Ja, natürlich«, sagte Helen ein wenig entschuldigend. »Wir gehören zum offiziellen Begrüßungskomitee von Susan Day«, informierte sie Ralph, »und in diesem Fall ist das nicht ganz so typisch Juniorenliga, wie es sich anhört. Unsere Hauptaufgabe besteht eigentlich nicht darin, sie zu begrüßen, sondern sie beschützen zu helfen.«

»Glaubst du, daß das ein Problem wird?«

»Sagen wir mal so, die Gefahr besteht«, sagte Gretchen. »Sie hat ein halbes Dutzend eigene Leibwächter dabei, und die haben uns sämtliche Drohbriefe im Zusammenhang mit Derry gefaxt, die sie bekommen hat. Das ist Standardprozedur bei ihnen - sie ist schon seit einigen Jahren im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Sie halten uns auf dem laufenden, haben aber durchblicken lassen, daß Woman-Care als Organisation, die sie eingeladen hat, ebenso für ihre Sicherheit verantwortlich ist wie sie.«

Ralph machte den Mund auf, um zu fragen, ob es viele Drohungen gegeben hätte, aber er vermutete, daß er die Antwort darauf bereits kannte. Er hatte mit Unterbrechungen siebzig Jahre lang in Derry gelebt und wußte, daß es eine gefährliche Maschine war - unter der Oberfläche lauerten viele scharfe Spitzen und Schnittkanten. Das traf selbstverständlich auf viele Städte zu, aber in Derry schien das Häßliche schon immer eine zusätzliche Dimension gehabt zu haben. Helen hatte es ihre Heimat genannt, und es war auch seine Heimat, aber...

Er erinnerte sich an etwas, das sich vor fast zehn Jahren abgespielt hatte, kurz nach dem Ende des jährlichen KanalFestivals. Drei Jungs hatten einen bescheidenen und harmlosen jungen Schwulen namens Adrian Mellon in den Kenduskeag geworfen, nachdem sie ihn mehrmals gebissen und auf ihn eingestochen hatten; man munkelte, daß sie auf der Brücke hinter der Falcon Tavern gestanden und zugesehen hätten, wie er starb. Der Polizei sagten sie, daß ihnen der Hut nicht gefallen hätte, den er trug. Auch das war Derry, und nur ein Narr hätte so getan, als wüßte er es nicht.

Als hätte der Gedanke ihn daran erinnert (was möglicherweise zutraf), betrachtete Ralph wieder das Foto auf der ersten Seite der heutigen Zeitung - Harn Davenport mit erhobenen Fäusten, Dan Dalton mit der blutigen Nase und dem leeren Blick, der Harns Schild auf dem Kopf trug.

»Wie viele Drohungen?« fragte er. »Mehr als ein Dutzend?«

»Etwa dreißig«, sagte Gretchen. »Davon nehmen ihre Leibwächter ein halbes Dutzend ernst. In zweien ist davon die Rede, das Bürgerhaus in die Luft zu sprengen, sollte sie nicht absagen. Einer - ein echtes Herzblatt -behauptet, daß er eine Big Squirt Wasserpistole hat, die mit Batteriesäure gefüllt ist. >Wenn ich Dich damit direkt treffe, wird Dich nicht einmal mehr eine Deiner Lesbenfreundinnen ansehen können, ohne zu kotzen<, stand darin.«

»Nett«, sagte Ralph.

»Damit kommen wir auf jeden Fall zum Wesentlichen«, sagte Gretchen. Sie kramte in ihrer Handtasche, holte eine kleine Dose mit rotem Deckel heraus und stellte sie auf den Tisch. »Ein kleines Geschenk von Ihren dankbaren Freundinnen bei Woman-Care.«

Ralph hob die Dose auf. Auf einer Seite sah er das Bild einer Frau, die einem Mann mit Schlapphut und Augenmaske a la Panzerknacker eine Gaswolke ins Gesicht sprühte. Auf der anderen Seite stand ein einziges Wort in grellroten Großbuchstaben:

BODYGUARD.

»Was ist das?« fragte er unwillkürlich erschrocken. »Tränengas?«

»Nein«, sagte Gretchen. »Tränengas ist rechtlich gesehen eine fragwürdige Sache in Maine. Dieses Zeug ist viel milder... aber wenn man jemand eine volle Ladung ins Gesicht sprüht, wird er mindestens zwei Minuten nicht mehr daran denken, einen zu überfallen. Es betäubt die Haut, reizt die Augen und verursacht Brechreiz.«

Ralph nahm den Deckel ab, betrachtete das rote Sprühventil darunter und drückte den Deckel wieder darauf. »Großer Gott, gute Frau, weshalb sollte ich diese Spraydose mit mir herumschleppen.«

»Weil Sie offiziell zum Zenturio ernannt worden sind«, sagte Gretchen.

»Zum was?« fragte Ralph, aber die Erinnerung stellte sich bereits ein: Ed Deepneau, der in der Gischt des Rasensprengers auf und ab ging und die Regenbogen mit seinem Körper zerstörte, während Grace Slick »White Rabbit« sang.

»Zum Zenturio«, wiederholte Helen. Nat schlief fest in ihren Armen, und Ralph stellte fest, daß die Auren wieder verschwunden waren. »So nennen die Friends of Life ihre Hauptgegner - die Anführer der Opposition.«

»Okay«, sagte Ralph. »Jetzt habe ich verstanden. Ed hat an dem Tag, als er dich... geschlagen hat, von Leuten geredet, die er Zenturionen nannte. An dem Tag hat er eine Menge geredet, und alles war verrückt.«

»Ja, Ed steckt hinter alledem, und er ist verrückt«, sagte Helen. »Wir glauben nicht, daß er diese Zenturiogeschichte außerhalb eines kleinen Kreises von Eingeweihten erwähnt hat - Leute, die fast so plemplem sind wie er selbst. Der Rest der Friends of Life... ich glaube nicht, daß die eine Ahnung haben. Ich meine, du etwa? Hattest du bis letzten Monat eine Ahnung, daß er verrückt ist?«

Ralph schüttelte den Kopf. Nein, und das ist das Beängstigende, dachte er, sagte es aber nicht.

»Die Hawking Labors haben ihn jetzt gefeuert«, sagte Helen. »Gestern. Sie haben ihn so lange gehalten, wie sie konnten - er ist ein As in seinem Beruf -, aber schließlich mußten sie ihn gehenlassen. Drei Monatsgehälter Abfindung aufgrund fristloser Kündigung... nicht schlecht für einen Mann, der seine Frau verprügelt und mit falschem Blut gefüllte Puppen an die Fenster der örtlichen Frauenklinik wirft.« Sie klopfte auf die Zeitung. »Diese letzte Demonstration war der Tropfen, der das Faß zum

Überlaufen brachte. Er wurde zum dritten- oder viertenmal verhaftet, seit er sich mit den Friends of Life eingelassen hat.«

»Ihr habt jemanden eingeschleust, richtig?« sagte Ralph. »Daher wißt ihr das alles.«

Gretchen lächelte. »Wir sind nicht die einzigen, die jemanden eingeschleust haben; ein geflügeltes Wort bei uns ist, daß es gar keine Friends of Life gibt, nur eine Bande von Doppelagenten. Die Polizei von Derry hat jemanden; die Staatspolizei auch. Und das sind nur die, von der unser... unsere Person weiß. Verdammt, das FBI könnte sie ebenfalls überwachen. Man kann die Friends of Life so ungeheuer leicht infiltrieren, Ralph, weil sie überzeugt sind, daß in seinem tiefsten Inneren jeder auf ihrer Seite steht. Aber wir sind überzeugt, daß unsere Person als einzige in den inneren Kreis vorgedrungen ist, und wenn man dort angelangt ist, dann ist Dan Dalton nur der Schwanz, mit dem Ed Deepneau wedelt.«

»Das habe ich mir schon gedacht, als ich sie zum erstenmal im Fernsehen gesehen habe«, sagte Ralph.

Gretchen stand auf, sammelte die Kaffeetassen ein, ging zum Waschbecken und spülte sie aus. »Ich bin jetzt seit dreizehn Jahren in der Frauenbewegung aktiv, und ich habe eine Menge irrsinnige Scheiße mit ansehen müssen, aber so etwas ist mir noch nicht untergekommen. Er macht diesen Trotteln weis, daß Frauen in Derry unfreiwillig Abtreibungen unterzogen würden, daß die Hälfte von ihnen nicht einmal wüßten, daß sie schwanger seien, bevor die Zenturionen kämen und ihnen die Babys wegnähmen.«

»Hat er ihnen von der Müllverbrennungsanlage drüben in Newport erzählt?« fragte Ralph. »Die in Wirklichkeit ein Babykrematorium sein soll?«

Gretchen drehte sich mit aufgerissenen Augen zu ihm um. »Woher wissen Sie das?«

»Oh, ich habe es von Ed selbst erfahren, höchstpersönlich und aus nächster Nähe. Angefangen hat es im Juli 1992.« Er zögerte nur einen Augenblick, dann schilderte er ihnen, was sich an dem Tag zugetragen hatte, als er Ed beim Flughafen traf, und wie Ed dem Mann im Lastwagen vorwarf, er würde tote Babys in Fässern mit der Aufschrift Dünger transportieren. Helen hörte stumm zu, aber ihre Augen wurden immer größer und runder. »Dasselbe hat er an dem Tag erzählt, als er dich verprügelte«, kam Ralph zum Ende, »aber da hatte er es schon ziemlich ausgeschmückt.«

»Das erklärt wahrscheinlich, warum er so auf Sie fixiert ist«, sagte Gretchen, »aber das Warum spielt in durchaus realem Sinne überhaupt keine Rolle. Tatsache ist, er hat seinen verdrehteren Freunden eine Liste dieser sogenannten Zenturionen gegeben. Wir wissen nicht, wer alles darauf steht, aber ich und Helen und Susan Day, logischerweise... und Sie.«

Warum ich? hätte Ralph fast gefragt, aber dann wurde ihm klar, daß auch das eine sinnlose Frage gewesen wäre. Vielleicht hatte Ed ihn auserkoren, weil er, Ralph, die Polizei gerufen hatte, als er Helen verprügelt hatte; wahrscheinlich aber aus keinem ersichtlichen Grund. Ralph erinnerte sich, daß er irgendwo gelesen hatte, David Berkowitz - auch als Son of Sam bekannt - habe behauptet, er hätte manchmal auf Befehl seines Hundes getötet.

»Was meinen Sie, werden sie versuchen?« fragte Ralph. »Bewaffneten Überfall, wie in einem Chuck-Norris-Film?«

Er lächelte, aber Gretchen erwiderte das Lächeln nicht. »Leider haben wir keine Ahnung, was sie versuchen könnten«, sagte sie. »Die wahrscheinlichste Antwort ist, gar nichts. Aber andererseits könnte es sich Ed oder einer der anderen in den Kopf setzen, Sie aus Ihrem eigenen Küchenfenster hinauszuwerfen. Bei dem Spray handelt es sich im Grunde genommen um nichts anderes als verdünntes Tränengas. Eine kleine Versicherungspolice, mehr nicht.«

»Versicherung«, sagte er nachdenklich.

»Du befindest dich in einer sehr erlesenen Gesellschaft«, sagte Helen mit matten Lächeln. »Der einzige andere männliche Zenturio auf ihrer Liste - jedenfalls soweit wir wissen - ist Bürgermeister Cohen.«

»Habt ihr dem auch so eine gegeben?« fragte Ralph und hob die Spraydose auf. Sie sah nicht gefährlicher aus als die Gratisproben Rasierschaum, die er von Zeit zu Zeit mit der Post bekam.

»Das war nicht nötig«, sagte Gretchen. Sie sah wieder auf die Uhr. Helen bemerkte die Geste und stand mit dem schlafenden Baby auf dem Arm auf. »Er hat die Erlaubnis, eine Schußwaffe bei sich tragen zu dürfen.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Ralph.

»Wir haben die Akten im Rathaus durchgesehen«, antwortete sie und grinste. »Waffenscheine sind öffentliche Unterlagen.«

»Oh.« Dann kam ihm ein Gedanke. »Was ist mit Ed? habt ihr ihn überprüft? Hat er eine?«

»Nee«, sagte sie. »Aber Typen wie Ed beantragen nicht unbedingt einen Waffenschein, wenn sie einen bestimmten Punkt überschritten haben... das wissen Sie doch, oder nicht?«

»Ja«, antwortete Ralph, der ebenfalls aufstand. »Ich denke schon. Was ist mit euch beiden? Seid ihr auf der Hut?«

»Worauf Sie sich verlassen können, Väterchen. Worauf Sie sich verlassen können.«

Er nickte, war aber nicht völlig zufrieden. Ihre Stimme hatte einen gönnerhaften Unterton, der ihm nicht besonders gefiel, als wäre die Frage an sich albern. Aber die Frage war nicht albern, und wenn sie das nicht wußte, konnten sie und ihre Freundinnen in Schwierigkeiten kommen. In große Schwierigkeiten.

»Das hoffe ich«, sagte er. »Wirklich. Kann ich Nat für dich nach unten tragen, Helen?«

»Besser richt - du würdest sie aufwecken.« Sie sah ihn ernst an. »Würdest du mir zuliebe die Spraydose nehmen, Ralph? Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, daß dir etwas zustößt, weil du versucht hast, mir zu helfen, und dieser Kerl nicht mehr ganz bei Trost ist.«

»Ich denke ernsthaft darüber nach. Reicht dir das?«

»Ich glaube, das muß es wohl.« Sie betrachtete prüfend sein Gesicht. »Du siehst viel besser aus als bei unserer letzten Begegnung - du schläfst wieder, richtig?«

Er grinste. »Nun, um die Wahrheit zu sagen, ich habe immer noch meine Probleme, aber es muß mir besser gehen, weil mir jeder dasselbe sagt.«

Sie stellte sich auf Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß auf den Mundwinkel. »Wir bleiben in Verbindung, oder?« »Ich werde meinen Teil dazu beitragen, wenn du deinen beiträgst, meine Süße.«

Sie lächelte. »Darauf kannst du dich verlassen, Ralph - du bist der netteste männliche Zenturio, den ich kenne.«

Darüber mußten sie alle lachen, und zwar so laut, daß Natalie aufwachte und sie voll verschlafener Überraschung ansah.

6

Nachdem er sich von den Frauen verabschiedet hatte (ICH BIN FÜR FREIE ENTSCHEIDUNG, UND ICH GEHE WÄHLEN! stand auf der hinteren Stoßstange von Gretchen Tillburys Accord), ging Ralph langsam wieder in den ersten Stock hinauf. Die Müdigkeit zog wie unsichtbare Gewichte an seinen Füßen. Als er wieder in der Küche war, sah er zuerst zu der Blumenvase und versuchte, den seltsamen und atemberaubenden grünen Dunst von den Stengeln aufsteigen zu sehen. Nichts. Dann nahm er die Spraydose in die Hand und betrachtete die Zeichnung auf der Seite. Eine bedrohte Frau, die ihren Angreifer heldenhaft abwehrte; ein böser Bube mit Augenmaske und Schlapphut. Keine Grautöne, nur ein Fall von Los doch, Dreckskerl, mach mir die Freude.

Ralph überlegte sich, ob Eds Wahnsinn ansteckend sein könnte. Überall in Derry gab es Frauen - darunter Gretchen Tillbury und seine reizende Helen -, die mit diesen kleinen Spraydosen in den Handtaschen herumliefen, und sämtliche Spraydosen sagten im Grunde genommen das gleiche: Ich habe Angst. Böse Männer mit Schlapphüten und Augenmasken sind in Derry eingetroffen, und ich habe Angst.

Ralph wollte nichts damit zu tun haben. Er stellte sich auf Zehenspitzen und verstaute die Spraydose Bodyguard auf dem Küchenschrank neben der Spüle, dann schlüpfte er in seine alte graue Lederjacke. Er wollte zum Picknickplatz beim Flughafen gehen und sehen, ob er eine Partie Schach spielen konnte. Und wenn daraus nichts wurde, vielleicht ein paar Runden Cribbage.

Unter der Tür blieb er stehen, sah die Blumen starr an und versuchte, den wabernden grünen Nebel herbeizuzwingen. Nichts geschah.

Aber er war da. Du hast ihn gesehen; Natalie auch.

Hatte sie das? Hatte sie das wirklich? Babys sahen andauernd etwas an, alles setzte sie in Erstaunen, wie also wollte er es mit Sicherheit wissen?

»Ich weiß es eben«, sagte er zu der verlassenen Wohnung. Richtig. Der grüne Nebel, der von den Stengeln der Blumen aufgestiegen war, war da gewesen, alle Auren waren da gewesen, und...

»Und sie sind noch da«, sagte er und wußte nicht, ob die Gewißheit in seiner Stimme ihn betroffen oder erleichtert machen sollte.

Warum im Augenblick nicht beides, Süßer?

Sein Gedanke, Carolyns Stimme, ein guter Rat.

Ralph schloß sein Apartment ab und ging ins Derry der Altvorderen, um eine Partie Schach zu spielen.

Kapitel 7

Als Ralph am zweiten Oktober auf dem Weg zu seinem Apartment die Harris Avenue hoch kam, in einer Hand zwei Secondhandwestern von Eimer Kelton aus dem Back Pages, sah er jemand mit seinem eigenen Buch auf der Veranda sitzen. Aber der Besucher las nicht; er beobachtete mit verträumter Aufmerksamkeit, wie der warme Wind, der den ganzen Tag geweht hatte, die gelben und goldenen Blätter von den Eichen und den drei verbliebenen Ulmen auf der anderen Straßenseite erntete.

Ralph kam näher, sah das dünne weiße Haar, das dem Mann auf der Veranda um den Schädel wehte, und sein Körpergewicht, das sich einzig und allein in Bauch, Hüften und Hintern zu konzentrieren schien. Die üppige Leibesmitte in Verbindung mit dem dünnen Hals, der schmalen Brust und den spindeldürren Beinen verliehen ihm das Aussehen eines Mannes, der einen Schwimmreifen trug. Selbst aus hundertfünfzig Meter Entfernung konnte kein Zweifel daran bestehen, um wen es sich bei seinem Besucher handelte: Dorrance Marstellar.

Seufzend legte Ralph die restliche Strecke bis zu seinem Haus zurück. Dorrance, der von den bunten, fallenden Blättern hypnotisiert zu sein schien, sah erst auf, als Ralphs Schatten auf ihn fiel. Dann drehte er den Hals und lächelte sein seltsames, verwundbares Lächeln.

Faye Chapin, Don Veazie und einige der anderem Oldtimer, die auf dem Picknickplatz bei Startbahn 3 herumhingen (sie würden sich bald ins Billard Emporium in der Jackson Street zurückziehen, da der Indianersommer angefangen hatte und das Wetter langsam kalt wurde), betrachteten dieses Lächeln als weiteren Beweis dafür, daß der alte Dor Gedichtbände hin oder her, im Grunde genommen senil war. Don Veazie, den gewiß niemand für Mr. Feinfühlig hielt, hatte sich angewöhnt, Dorrance den Alten Dummkopf zu nennen, und Faye hatte Ralph einmal erzählt, daß es ihn nicht im geringsten wunderte, wie der alte Dor fünfundneunzig hatte werden können. »Leute, die nichts mehr im Oberstübchen haben, leben immer am längsten«, hatte er Ralph Anfang des Jahres erklärt. »Sie müssen sich um nichts Sorgen machen. Das senkt den Blutdruck und die Wahrscheinlichkeit, daß ein Ventil platzt oder ein Brennstab durchschmort.«

Ralph jedoch war nicht so sicher. Für ihn sah der alte Mann mit seinem liebenswürdigen Lächeln nicht hohlköpfig aus; es machte ihn irgendwie ätherisch und gleichzeitig wissend... eine Art Kleinstadt-Merlin. Trotzdem hätte er heute auf einen Besuch von Dor verzichten können; heute morgen hatte er einen neuen Rekord aufgestellt und war um 1:58 Uhr aufgewacht, und er war erschöpft. Er wollte nur in seinem Wohnzimmer sitzen, Kaffee trinken und versuchen, die Western zu lesen, die er sich in der Stadt gekauft hatte. Vielleicht würde er später noch einmal versuchen, ein Nickerchen zu machen.

»Hallo«, sagte Dorrance. Das Buch, das er bei sich hatte, war ein Taschenbuch - Cemetery Nights, von einem Autor namens Stephen Dobbyns.

»Hallo, Dor«, sagte er. »Gutes Buch?«

Dorrance sah auf das Buch hinunter, als hätte er vergessen, daß er eines hatte, lächelte und nickte. »O ja, sehr gut. Er schreibt Gedichte, die wie Geschichten sind. Das gefällt mir nicht immer, aber manchmal schon.«

»Das ist gut. Hör zu, Dor, es ist schön, dich zu sehen, aber der Spaziergang den Hügel herauf hat mich müde gemacht, also könntest du vielleicht ein anderm -« »Oh, schon gut«, sagte Dorrance und stand auf. Ein schwacher Zimtgeruch umgab ihn, bei dem Ralph immer an ägyptische Mumien hinter roten Samtkordeln in dunklen Museen denken mußte. Sein Gesicht war fast ohne Falten, abgesehen von winzigen Krähenfüßen um die Augen, aber an sein Alter stand außer Frage (und war ein wenig beängstigend): Seine blauen Augen waren zum wäßrigen Grau eines Aprilhimmels verblaßt, und seine Haut hatte etwas Durchscheinendes, das Ralph an Nats Haut erinnerte. Seine Lippen waren schlaff und fast lavendelfarben. Sie erzeugten kurze Schmatzlaute, wenn er sprach. »Schon gut, ich bin nicht auf einen Besuch gekommen. Ich bin gekommen, um dir eine Botschaft zu überbringen.«

»Was für eine Botschaft? Von wem?«

»Ich weiß nicht, von wem sie ist«, sagte er und warf Ralph einen Blick zu, als würde er ihn entweder für begriffsstutzig halten oder denken, daß er sich dumm stellte. »Ich lasse mich nicht in langfristige Geschäfte ein. Und ich habe dir gesagt, daß du es auch nicht tun sollst, weißt du nicht mehr?«

Ralph konnte sich an etwas erinnern, aber er wußte nicht genau, an was. Er war erschöpft und hatte sich schon einen ermüdenden Vortrag zum Thema Susan Day von Harn Davenport anhören müssen. Er hatte keine Lust, sich jetzt auch noch mit Dorrance Marstellar herumzuschlagen, so wunderschön der Samstagvormittag auch sein mochte. »Nun, dann gib mir einfach die Botschaft«, sagte er, »und ich schleppe mich nach oben. Wie wäre das?«

»Oh, sicher, bestens, gerne.« Aber dann verstummte Dorrance und sah über die Straße, als eine frische Windbö einen Trichter aus Laub in den strahlenden Oktoberhimmel zog. Seine verblaßten Augen wurden groß, und etwas darin ließ Ralph wieder an das Verherrlichte & Angebetete Baby denken - wie es nach den grau-blauen Spuren seiner Finger gegriffen und die dampfenden Blumen in der Vase über der Spüle betrachtet hatte. Ralph hatte Dor schon gesehen, wie er mit demselben schlaffen Gesichtsausdruck Flugzeugen auf der Rollbahn 3 beim Starten und Landen zugesehen hatte - manchmal eine Stunde oder noch länger.

»Dor?« drängte er.

Dorrance' dünne Wimpern flatterten. »Oh! Richtig! Die Botschaft! Die Botschaft ist... « Er runzelte verhalten die Stirn und betrachtete das Buch, das er in den Händen hin und her bog. Dann strahlte er übers ganze Gesicht und sah wieder zu Ralph auf. »Die Botschaft ist: >Sag den Termin ab.<«

Nun war Ralph derjenige, der die Stirn runzelte. »Was für einen Termin?«

»Du hättest dich nicht einmischen sollen«, wiederholte Dorrance und stieß einen Seufzer ajs. »Aber jetzt ist es zu spät. Geschehenes läßt sich nicht mehr ungeschehen machen. Sag nur den Termin ab. Laß den Kerl keine Nadeln in dich stecken.«

Ralph hatte schon die Verandatreppe hinaufgehen wollen, jetzt drehte er sich wieder um. »Hong? Redest du von Hong?«

»Woher soll ich das wissen?« fragte Dorrance mit gereizter Stimme. »Ich mische mich nicht ein, das habe ich dir gesagt. Ab und zu überbringe ich eine Botschaft, das ist alles, so wie jetzt. Ich sollte dir ausrichten, daß du den Termin bei dem Nadelpiekser absagen sollst, und das habe ich. Der Rest liegt bei dir.«

Dorrance sah wieder zu den Bäumen auf der anderen Straßenseite, und sein seltsames, glattes Gesicht nahm einen Ausdruck sanfter Ekstase an. Der kräftige Herbstwind zerzauste ihm das Haar wie Tang. Als Ralph ihn an der Schulter berührte, drehte sich der alte Mann bereitwillig um, und Ralph wurde plötzlich klar: Was Faye Chapin und die anderen als Senilität betrachteten, könnte in Wirklichkeit Freude sein. Wenn ja, sagte der Irrtum wahrscheinlich mehr über sie aus als über den alten Dor.

»Dorrance?«

»Was, Ralph?«

»Diese Botschaft - wer hat sie dir gegeben?«

Dorrance dachte darüber nach - vielleicht sah es auch nur so aus, als würde er darüber nachdenken -, dann hielt er ihm seine Ausgabe von Cemetery Nights hin. »Nimm.«

»Nein, ich passe«, sagte Ralph. »Ich mag Gedichte nicht besonders, Dor.«

»Die hier werden dir gefallen. Sie sind wie Geschichten...«

Ralph unterdrückte das starke Bedürfnis, den alten Mann zu packen und zu schütteln, bis seine Knochen wie Kastagnetten klapperten. »Ich hab mir gerade zwei Western in der Stadt gekauft, im Back Pages. Ich wollte wissen, wer dir die Botschaft gegeben hat -«

Dorrance drückte Ralph den Gedichtband mit überraschender Kraft in die rechte Hand - die Western hielt dieser in der linken. »Eines fängt an: >Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann.<«

Und bevor Ralph noch ein Wort sagen konnte, ging der alte Dor über den Rasen zum Bürgersteig. Er wandte sich nach links zur Extension und wandte das Gesicht verträumt zum blauen Himmel, wo die Blätter ungestüm verwehten, als erwartete sie ein Rendezvous hinter dem Horizont.

»Dorrance!« schrie Ralph plötzlich wütend. Auf der anderen Straßenseite, vor dem Red Apple, fegte Sue Laub vom Boden vor der Eingangstür. Als sie Ralphs Stimme hörte, hielt sie inne und sah neugierig über die Straße. Ralph, der sich dumm vorkam - der sich alt vorkam -, brachte ein, wie er hoffte, breites, fröhliches Grinsen zustande und winkte ihr zu. Sue winkte zurück und fegte weiter. Derweil war Dorrance geistesabwesend seines Weges gegangen. Er war schon fast einen halben Block weit weg.

Ralph beschloß, ihn gehen zu lassen.

Er ging die Stufen zur Veranda hinauf, nahm das Buch, das Dorrance ihm gegeben hatte, in die linke Hand, damit er nach dem Schlüsselbund suchen konnte, und sah, daß er sich die Mühe sparen konnte - die Tür war nicht nur unabgeschlossen, sie stand einen Spalt offen. Ralph hatte schon mehrfach mit McGovern wegen seiner Sorglosigkeit geschimpft und gedacht, er hätte die Botschaft endlich in den Dickschädel seines Untermieters hineingehämmert bekommen. Aber jetzt sah es so aus, als hätte McGovern einen Rückfall gehabt.

»Verdammt, Bill«, sagte er schnaufend, betrat die dunkle Diele und sah nervös die Treppe hinauf. Er konnte sich nur zu leicht vorstellen, daß Ed Deepneau da oben lauern würde, hellichter Tag hin oder her. Dennoch konnte er nicht den ganzen Tag hier in der Diele bleiben. Er ließ den Riegel der Eingangstür einrasten und ging hinauf.

Selbstverständlich hätte er sich keine Sorgen machen müssen.

Er erlebte eine Schrecksekunde, als er jemand gegenüber in der Ecke des Wohnzimmers stehen sah, aber es war nur seine alte graue Jacke. Er hatte sie zur Abwechslung tatsächlich einmal auf den Kleiderständer gehängt, statt sie einfach über die Stuhllehne oder die Armlehne des Sofas zu werfen; kein Wunder, daß er erschrocken war.

Er ging in die Küche und betrachtete mit den Händen in den Hosentaschen den Kalender. Montag war eingekreist, und im Inneren des Kreises stand gekritzelt: HONG -10:00.

Ich sollte dir ausrichten, daß du den Termin bei dem Nadelpiekser absagen sollst, und das habe ich. Der Rest liegt bei dir.

Einen Augenblick war es Ralph möglich, aus seinem Leben herauszutreten und den letzten Abschnitt des Freskos zu betrachten, nicht nur den winzigen Ausschnitt des heutigen Tages. Was er sah, versetzte ihn in Angst: eine unbekannte Straße, die in einen dunklen Tunnel führte, wo alles lauern konnte. Einfach alles.

Dann dreh um, Ralph!

Aber er hatte eine Ahnung, daß ihm das nicht möglich sein würde. Er hatte eine Ahnung, daß er für diesen Tunnel bestimmt war, ob es ihm gefiel oder nicht. Es war ein Gefühl, als würde er nicht hineingeführt, sondern von kräftigen, unsichtbaren Händen vorwärtsgeschoben werden.

»Vergiß es«, murmelte er, rieb sich die Schläfen nervös mit den Fingerspitzen und betrachtete weiter den markierten Termin übermorgen - auf dem Kalender. »Es liegt an der Schlaflosigkeit. Da hat wirklich alles angefangen, zu...«

Wirklich angefangen zu was?

»Unheimlich zu werden«, sagte er in die verlassene Wohnung. »Da hat wirklich alles angefangen, unheimlich zu werden.«

Ja, unheimlich. Eine Menge Unheimliches, aber die Auren, die er sah, waren eindeutig das Unheimlichste. Kaltes graues Licht es hatte wie lebendiger Frost ausgesehen - kroch über den Mann, der im Day Break, Sun Down Zeitung las. Mutter und Sohn, die in den Supermarkt gingen, hatten ineinander verschlungene Auren, die wie Zöpfe von ihren Händen aufstiegen, an denen sie sich hielten. Helen und Nat inmitten einer strahlenden Wolke elfenbeinfarbenen Lichts; Natalie, die nach den geisterhaften Kondensstreifen griff, die seine Finger hinterließen und die nur sie beide sehen konnten.

Und jetzt der alte Dor, der auf seiner Türschwelle erschien wie ein absonderlicher Prophet aus dem Alten Testament... aber statt ihn aufzufordern, seine Sünden zu bereuen, hatte Dor ihm mitgeteilt, er solle seinen Termin bei dem Akupunkteur absagen, den ihm Joe Wyzer empfohlen hatte. Das hätte komisch sein müssen, war es aber nicht.

Der Schlund des Tunnels. Jeden Tag ein Stück näher. Gab es wirklich einen Tunnel? Und wenn ja, wohin führte er?

Mich interessiert mehr, was mich da drinnen erwarten könnte, dachte Ralph. Im Dunkeln.

Du hättest dich nicht einmischen sollen, hatte Dorrance gesagt. Wie dem auch sei, jetzt ist es zu spät.

»Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen«, murmelte Ralph, und plötzlich beschloß er, daß er das größere Panorama nicht mehr sehen wollte; es war beängstigend. Es war besser, wieder hineinzutreten und sich eine Einzelheit nach der anderen zu betrachten, angefangen mit dem Termin für die Akupunkturbehandlung. Würde er den Termin wahrnehmen oder dem Rat von Dor, alias dem Geist von Hamlets Vater, folgen?

Das war eine Frage, die nicht besonders viel Nachdenken erforderte, fand Ralph. Joe Wyzer hatte Hongs Sekretärin dazu überredet, ihm einen Termin Anfang Oktober freizumachen, und Ralph hatte vor, ihn einzuhalten. Wenn es einen Ausweg aus diesem Dickicht gab, dann wahrscheinlich den, endlich wieder die Nacht durchzuschlafen. Und dafür war Hong der nächste logische Schritt.

»Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen«, wiederholte er und ging ins Wohnzimmer, um einen seiner Western zu lesen.

Statt dessen blätterte er den Gedichtband cLirch, den Dorrance ihm gegeben hatte - Cemetery Nights von Stephen Dobbyns. Dorrance hatte in beiden Fällen recht gehabt: die Mehrzahl der Gedichte waren wie Geschichten, und Ralph stellte darüber hinaus fest, daß sie ihm wirklich gut gefielen. Das Gedicht, aus dem Dor zitiert hatte, trug den Titel »Pursuit« und begann folgendermaßen:

Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann. So verstreichen die Tage... Verschmelzung von Autorennen und dem endlosen Bau einer gotischen Kathedrale. Durch die Fenster meines rasenden Autos sehe ich zurückbleiben, was ich liebe; nichtgelesene Bücher, nichterzählte Witze, nichtbesuchte Landschaften...

Ralph las das Gedicht völlig gefesselt zweimal und überlegte sich, daß er es Carolyn vorlesen müßte. Carolyn würde es gefallen, und noch mehr würde ihr gefallen, daß er, der sonst nur Western und historische Romane las, es gefunden und zu ihr gebracht hatte wie einen Blumenstrauß. Er war schon aufgestanden und suchte einen Fetzen Papier, um die Stelle zu markieren, als ihm einfiel, daß Carolyn schon seit einem halben Jahr tot war, und er fing an zu weinen. Er saß fast fünfzehn Minuten im Ohrensessel, hielt Cemetery Nights auf dem Schoß und wischte sich die Augen mit der linken Hand ab. Schließlich ging er ins Schlafzimmer, legte sich hin und versuchte zu schlafen. Nachdem er eine Stunde die Decke angestarrt hatte, stand er wieder auf, machte sich eine Tasse Kaffee und sah sich ein Collegefootballspiel im Fernsehen an.

Die öffentliche Bibliothek hatte Sonntagnachmittags von eins bis sechs geöffnet, und am Tag nach Dorrance' Besuch ging Ralph hauptsächlich deshalb dorthin, weil er nichts Besseres zu tun hatte. Normalerweise hätten sich im Lesesaal mit seiner hohen Decke eine ganze Anzahl älterer Männer wie er selbst aufhalten müssen, die die verschiedenen Sonntagszeitungen durchblätterten, für deren Lektüre sie jetzt Zeit hatten, aber als Ralph aus den Regalreihen zurückkehrte, in denen er vierzig Minuten herumgestöbert hatte, stellte er fest, daß er den ganzen Raum für sich allein hatte. Der strahlend blaue Himmel von gestern war einem Dauerregen gewichen, der die frisch gefallenen Blätter auf den Bürgersteigen festklebte oder in die Rinnsteine und in das eigentümliche und unheimlich labyrinthartige Abwassersystem von Derry spülte. Der Wind wehte nach wie vor, hatte aber auf Nord gedreht und eine beißende Schärfe angenommen. Alte Leute mit Verstand (oder Glück) waren zu Hause, wo sie im Warmen sitzen konnten, sahen sich möglicherweise das letzte Spiel einer neuerlich enttäuschenden Saison der Red Sox an, spielten möglicherweise Old Maid oder Candyland mit den Enkeln oder machten möglicherweise nach einer üppigen Hähnchenmahlzeit ein Nickerchen.

Ralph dagegen interessierte sich nicht für die Red Sox, hatte keine Kinder oder Enkel und schien jede Fähigkeit für ein Nickerchen, die er einmal gehabt haben mochte, verloren zu haben. Daher war er mit dem Green Route Bus um dreizehn Uhr zur Bibliothek gefahren, und da war er nun und wünschte sich, er hätte etwas Dickeres als seine alte graue Jacke angezogen- es war bitter kalt im Lesesaal. Und düster. Der Kamin war ausgeräumt, und die stummen Heizkörper wiesen deutlich darauf hin, daß die Zentralheizung noch nicht angestellt worden war. Und der Sonntagsbibliothekar hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, die Kugeln der Deckenbeleuchtung einzuschalten. Das bißchen Licht, das den Weg von draußen herein fand, schien tot auf den Boden zu fallen, und in den Ecken ballten sich die Schatten. Die Holzfäller und Soldaten und Trommler und Indianer auf den alten Gemälden an den Wänden sahen wie böse Geister aus. Kalter Regen seufzte und prasselte gegen das Fenster.

Ich hätte zu Hause bleiben sollen, dachte Ralph, glaubte es aber selbst nicht; dieser Tage war es noch schlimmer in seinem Apartment. Außerdem hatte er ein interessantes neues Buch in der - wie er sie neuerdings bezeichnete -Sandmännchenabteilung entdeckt: Patterns of Dreaming, von Dr. James A. Hall. Er schaltete die Deckenbeleuchtung selbst ein, was den Raum geringfügig weniger trostlos aussehen ließ, setzte sich an einen der vier langen, leeren Tische und war bald in seine Lektüre versunken.

Vor der Erkenntnis, daß REM-Schlaf und NREM-Schlaf verschiedene Stadien sind, schrieb Hall, führten Studien über Entzug eines bestimmten Schlafstadiums zu Dements Theorie (1960), wonach dieser Entzug... zur Desorganisation der wachen Persönlichkeitführt...

Mann, damit hast du aber recht, mein Freund, dachte Ralph. Man kann nicht mal eine Scheißpackung Cup-A-Soup finden, wenn man eine sucht.

... frühe Studien über Traumentzug führten auch zu der aufregenden Spekulation, daß es sich bei Schizophrenie um eine Störung handeln könnte, bei der Entzug des nächtlichen Träumens zu einem Durchbruch des Traumprozesses ins alltägliche wache Leben handeln könnte.

Ralph hatte die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, die geballten Fäuste an die Schläfen gestützt und kauerte mit gerunzelter Stirn und konzentriert zusammengezogenen Brauen über dem Buch. Er fragte sich, ob Hall, möglicherweise ohne es zu wissen, von den Auren sprach. Aber er hatte doch noch Träume, verdammt - und größtenteils ziemlich deutliche. Erst gestern hatte er einen gehabt, in dem er mit Lois Chasse im alten Derry-Pavillon getanzt hatte (der nicht mehr existierte; er war bei dem großen Sturm vor acht Jahren vernichtet worden, der den größten Teil der Innenstadt dem Erdboden gleichgemacht hatte). Er schien sie mit der Absicht ausgeführt zu haben, ihr einen Antrag zu machen, aber ausgerechnet Trigger Vachon hatte dauernd versucht, sich dazwischenzudrängen.

Er rieb sich die Augen mit den Knöcheln, versuchte, sich zu konzentrieren, und las weiter. Er sah nicht, wie der Mann im ausgebeulten grauen Sweatshirt in der Tür des Lesesaals auftauchte, dort stehenblieb und ihn stumm beobachtete. Nach etwa drei Minuten griff der Mann unter sein Sweatshirt (Charlie Browns Hund Snoopy war mit seiner Joe-Cool-Sonnenbrille darauf abgebildet) und zog ein Jagdmesser aus der Scheide an seinem Gürtel. Die hängenden, kugelförmigen Deckenlampen warfen einen Lichtstrahl an der gezackten Schneide des Messers entlang, als der Mann es herumdrehte und die Schnittkante bewunderte. Dann ging er zu dem Tisch, wo Ralph mit auf die Hände gestütztem Kopf saß. Er setzte sich neben Ralph, der nur ganz am Rande mitbekam, daß jemand gekommen war.

Toleranz gegenüber Schlafverlust variiert etwas mit dem Alter der Testperson. Jüngere Testpersonen zeigen einen früheren Beginn von Störungen und mehr körperliche Reaktionen, während ältere Testpersonen -

Eine Hand legte sich sanft auf Ralphs Schulter und ließ ihn von dem Buch hochschrecken.

»Ich frage mich, wie sie aussehen?« flüsterte ihm eine ekstatische Stimme ins Ohr, und mit den Worten kam ein Schwall Atemluft, die wie verdorbener Speck roch, der langsam in einer Pfanne voll Knoblauch und ranziger Butter schmort. »Deine Eingeweide, meine ich. Ich frage mich, wie sie aussehen, wenn ich sie auf den Boden quellen lasse. Was meinst du dazu, du gottloser babytötender Zenturio? Glaubst du sie sind gelb oder schwarz oder rot oder was?«

Etwas Hartes und Scharfes wurde an Ralphs linke Seite gepreßt und strich dann langsam an den Rippen entlang.

»Ich kann es kaum erwarten, bis ich es herausfinde«, flüsterte die ekstatische Stimme. »Ich kann es kaum erwarten.«

Ralph drehte ganz langsam den Kopf herum und hörte die Sehnen in seinem Hals knacken. Er kannte den Namen des Mannes mit dem üblen Mundgeruch nicht, der ihm etwas in die Seite bohrte, das sich so sehr nach einem Messer anfühlte, daß es unmöglich etwas anderes sein konnte - aber er erkannte ihn trotzdem auf der Stelle. Die Hornbrille trug ihren Teil dazu bei, aber das störrische graue Haar, das zerzaust in die Höhe stand und Ralph gleichzeitig an Don King und Albert Einstein erinnerte, gab den Ausschlag. Es war der Mann, der auf dem Bild in der Zeitung, das Harn Davenport mit erhobener Faust und Dan Dalton mit Davenports Schild FREIE ENTSCHEIDUNG STATT ANGST als Hut zeigte, neben Ed Deepneau im Hintergrund gestanden hatte. Ralph glaubte, daß er den Mann auch in einigen Fernsehberichten über die anhaltenden Abtreibungsdemonstrationen gesehen hatte. Eines von vielen Gesichtern in der singenden, Parolen schwenkenden Menge; ein weiterer Speerträger. Nur sah es jetzt so aus, als hätte dieser spezielle Speerträger die Absicht, ihn zu töten.

»Was meinst du?« fragte der Mann im Snoopy-Sweatshirt immer noch ekstatisch flüsternd. Der Klang seiner Stimme ängstigte Ralph mehr als die Klinge, die langsam an seiner Lederjacke hinauf und hinab glitt und die verwundbaren Organe an der linken Seite seines Körpers zu vermessen schien: Lunge, Herz, Nieren. Därme. »Was für eine Farbe?«

Sein Atem war ekelerregend, aber Ralph hatte Angst, sich wegzudrücken oder den Kopf zu drehen, da er befürchtete, jede Bewegung seinerseits könnte das Messer veranlassen, seine Suche einzustellen und zuzustoßen. Jetzt glitt es wieder an seiner Seite hinauf. Die braunen Augen des Mannes schwebten hinter den dicken Gläsern seiner Hornbrille wie seltsame Fische. Der Ausdruck darin war geistesabwesend und irgendwie ängstlich, fand Ralph. Die Augen eines Mannes, der Zeichen am Himmel sieht und vielleicht tief in der Nacht

Stimmen aus dem Schrank flüstern hört.

»Ich weiß nicht«, sagte Ralph. »Ich weiß nicht einmal, warum Sie mir überhaupt wehtun wollen.« Er warf schnelle Blicke nach links und rechts, ohne den Kopf zu drehen, und hoffte, er würde jemanden sehen, irgend jemanden, aber der Lesesaal blieb verlassen. Draußen wehte der Wind in Böen und heulte gegen die Fenster.

»Weil du ein Scheißzenturio bist!« spie der grauhaarige Mann heraus. »Ein elender Babymörder! Du stiehlst ungeborene Embryos! Verkaufst sie an den Höchstbietenden! Ich weiß alles über dich!«

Ralph ließ die rechte Hand langsam vom Kopf sinken. Er war Rechtshänder, daher wanderte alles, was er im Lauf des Tages aufhob, normalerweise in die rechte Tasche der Jacke, die er trug. Die alte graue Lederjacke hatte große, aufgenähte Taschen, aber er fürchtete, selbst wenn er unbemerkt die Hand hätte hineinschieben können, hätte er schwerlich etwas Tödlicheres als ein zusammengeknülltes Schokoriegelpapier gefunden. Er bezweifelte, daß er auch nur eine Nagelschere dabei hatte.

»Das hat Ed Deepneau Ihnen erzählt, richtig?« fragte Ralph und grunzte, als sich das Messer unterhalb der Stelle, wo die Rippen aufhörten, schmerzhaft in seine Seite bohrte.

»Sprich seinen Namen nicht aus«, flüsterte der Mann im Snoopy-Sweatshirt. »Wage es nicht, seinen Namen auszusprechen! Babydieb! Feiger Mörder! Zenturio!« Er stieß wieder mit dem Messer zu, und diesmal verspürte Ralph echte Schmerzen, als die Spitze durch die Lederjacke drang. Ralph glaubte nicht, daß er eine Schnittwunde hatte - jedenfalls noch nicht -, aber er war überzeugt, der Irre hatte bereits soviel Druck ausgeübt, daß ein häßlicher Bluterguß entstehen würde. Aber das war nicht weiter schlimm; er konnte sich glücklich schätzen, wenn er dies nur mit einem Bluterguß überstand.

»Okay«, sagte er. »Ich werde seinen Namen nicht erwähnen.«

»Sag, daß es dir leid tut!« zischte der Mann mit dem Snoopy-Sweatshirt und stieß wieder mit dem Messer zu. Diesmal drang es durch Ralphs Hemd, und er spürte das erste warme Rinnsal Blut an der Seite. Was ist gerade unter dieser Messerspitze? fragte er sich. Leber? Gallenblase? Was ist auf der linken Seite?

Er konnte sich entweder nicht erinnern oder wollte es nicht. Ein Bild war ihm in den Sinn gekommen, das zu einem organisierten Gedanken werden wollte - ein Hirsch, der während der Jagdzeit kopfunter am Haken eines Country Store hing. Glasige Augen, hängende Zunge und ein dunkler Schnitt am Bauch, wo ein Mann mit einem Messer - einem Messer wie diesem hier ihn aufgeschlitzt, die Innereien herausgezogen und lediglich Kopf, Fleisch und Decke übriggelassen hatte.

»Es tut nur leid«, sagte Ralph mit einer Stimme, die nicht mehr fest klang. »Wirklich.«

»Ja, ganz recht! Das sollte es auch, aber es tut dir nicht leid. Nie und nimmer!«

Wieder ein Stoß. Eine grelle Lanze aus Schmerz. Neuerliche nasse Wärme, die an seiner Seite hinunterrann. Und plötzlich wurde es heller in dem Raum, als hätten sich zwei oder drei der Kamerateams, die seit Beginn der Abtreibungsdemonstrationen durch Derry zogen, hier hereingedrängt und die Flutlichter über ihren Videokameras eingeschaltet. Es gab selbstverständlich keine Kameras; das Licht war in seinem Inneren angegangen.

Er drehte sich zu dem Mann mit dem Messer um - dem Mann, der das Messer nun wahrhaftig in ihn bohrte - und stellte fest, daß dieser Mann von einer wabernden grünen und schwarzen Aura umgeben war, bei der Ralph an (Sumpffeuer) die trübe Phosphoreszenz denken mußte, die er manchmal nach Einbruch der Dunkelheit in marschigen Wäldern gesehen hatte. Dornenranken von tiefster Schwärze waren durch sie geflochten. Er betrachtete die Aura seines Angreifers mit zunehmendem Unbehagen und spürte kaum, wie sich die Messerspitze zwei Millimeter tiefer in ihn bohrte. Er merkte am Rande, daß das Blut in seinem Hemd, entlang der Linie des Gürtels, sich allmählich sammelte, aber das war alles.

Er ist verrückt und hat wirklich vor, mich zu töten - das ist nicht nur Gerede. Er ist noch nicht ganz bereit, es zu tun, er hat sich noch nicht in die richtige Stimmung gebracht, aber fast. Und wenn ich wegzulaufen versuche, wenn ich mich auch nur einen Zentimeter von dem Messer entfernen will, das er in mich gebohrt hat - dann wird er es auf der Stelle tun. Ich glaube, er hofft, daß ich mich zu einem Fluchtversuch entschließe... dann kann er sich einreden, daß ich selbst schuld daran bin, daß ich es nicht anders gewollt habe.

»Du und deinesgleichen, oh Mann«, sagte der Mann mit dem zerzausten Haarschopf. »Wir wissen alles über euch.«

Ralphs Hand griff an die rechte Tasche... und ertastete ein großes Etwas darin; er konnte sich nicht erinnern, daß er es da hineingetan hatte. Nicht, daß das viel zu sagen hatte; wenn man sich nicht mehr erinnern konnte, ob die letzten vier Ziffern der Telefonnummer des Kino-Centers 1317 oder 1713 waren, war alles möglich.

»Ihr Typen, oh Mann!« sagte der Mann mit dem wirren Haar. »Oh mann ohmann ohMANN!« Diesmal konnte Ralph die Schmerzen eindeutig spüren, als der Mann mit dem Messer wieder zustach; der Stich ließ ein dünnes rotes Netz über den gesamten seitlichen Brustkorb bis hinauf zum Genick entstehen.

Er stieß ein leises Stöhnen aus und verkrampfte die Hand an der rechten Tasche der Jacke, wo er das Leder über den Gegenstand darin drückte.

»Nicht schreien«, sagte der Mann mit dem wirren Haar in seinem leisen, erregten Flüstern. »Herrgott im Himmel, das solltest du nicht machen!« Seine braunen Augen sahen in Ralphs Gesicht, und die Brillengläser vergrößerten sie so sehr, daß die winzigen Schuppen auf den Wimpern wie Kieselsteine aussahen. Ralph konnte die Aura des Mannes sogar in seinen Augen sehen - sie waberte über die Pupillen wie grüner Rauch über schwarzes Wasser. Die schlangengleichen Ranken, die sich durch das grüne Licht zogen, waren jetzt dicker, ineinander verschlungen, und Ralph begriff, wenn das Messer ganz hineingestoßen würde, wäre der Teil der Persönlichkeit des Mannes, der diese schwarzen Strudel erzeugte, dafür verantwortlich. Das Grün war Verwirrung und Paranoia; das Schwarz war etwas anderes. Etwas (von außen) viel Schlimmeres.

»Nein«, keuchte er. »Nein. Ich werde nicht schreien.«

»Gut. Ich kann dein Herz spüren, weißt du. Durch die Messerklinge bis in die Handfläche. Es muß echt heftig schlagen.« Der Mann fletschte die Zähne zu einem ruckartigen, humorlosen Grinsen. Speichel klebte ihm in den Mundwinkeln. »Vielleicht kippst du einfach um und stirbst an einem Herzanfall, das würde mir die Mühe abnehmen, dich zu töten.« Ein weiterer übelkeiterregender Atemzug strich über Ralph hinweg. »Du bist schrecklich alt.«

Das Blut schien mittlerweile in zwei Strömen an seiner Seite hinabzufließen, vielleicht sogar dreien. Die Schmerzen des bohrenden Messers waren nervtötend - wie der Stachel einer riesigen Biene.

Oder einer Nadel, dachte Ralph und stellte fest, daß diese Vorstellung trotz seiner mißlichen Lage etwas Komisches hatte... oder vielleicht gerade deswegen. Das war der richtige Nadelpiekser; James Roy Hong konnte nur ein blasser Abklatsch davon sein.

Und ich hatte nie die Chance, meinen Termin abzusagen, dachte Ralph. Aber andererseits hatte er eine Ahnung, als würden Irre wie der Mann im Snoopy-Sweatshirt keine Absagen akzeptieren. Irre wie er hatten ihren eigenen Terminplan und hielten sich daran, was immer auch passieren mochte.

Wie auch immer, Ralph wußte, er würde die Messerspitze, die sich in ihn bohrte, nicht mehr lange ertragen können. Er hob mit dem Daumen die Klappe der Tasche hoch und schob die Hand hinein. Er wußte in dem Augenblick, als seine Hand ihn berührte, worum es sich bei dem Gegenstand handelte: die Spraydose, die Gretchen aus der Handtasche geholt und auf den Küchentisch gestellt hatte. Ein kleines Geschenk von Ihren dankbaren Freundinnen bei Woman-Care, hatte sie gesagt.

Ralph hatte keine Ahnung, wie sie von dem Küchenschrank, auf den er sie gestellt hatte, in die Tasche seiner abgeschabten alten Lederjacke gekommen war, und es war ihm auch egal. Er schloß die Hand darum und benutzte wieder den Daumen, diesmal, um den Deckel von der Dose herunterzuschnippen. Dabei ließ er das zuckende, ängstliche, erregte Gesicht des Mannes mit dem wirren Haar nicht aus den Augen.

»Ich weiß etwas«, sagte Ralph. »Wenn Sie mir versprechen, mich nicht zu töten, sage ich es Ihnen.«

»Was?« fragte der Mann mit dem wirren Haar begierig, und jetzt roch sein Atem wie Muschelbänke bei Ebbe. »Himmel Herrgott, was könnte ein Dreckskerl wie du schon wissen?«

Was könnte ein Dreckskerl wie ich schon wissen? fragte Ralph sich, und die Antwort fiel ihm auf der Stelle ein, sie schnellte in sein Gehirn wie die Jackpot-Symbole eines Spielautomaten. Er zwang sich dazu, sich in die grüne Aura des Mannes zu lehnen, in die schreckliche stinkende Wolke seiner nervösen Eingeweide. Gleichzeitig zog er die kleine Dose aus der Tasche, drückte sie an den Schenkel und legte den Zeigefinger auf den Knopf der Spraydüse.

»Ich weiß, wer der Scharlachrote König ist«, murmelte er.

Die Augen hinter der schmutzigen Hornbrille wurden groß nicht nur vor Überraschung, sondern vor Schrecken -, und der Mann mit dem wirren Haar wich ein kleines Stück zurück.

Einen Moment ließ der schreckliche Druck an Ralphs linker Seite nach. Das war seine Chance, die einzige, die er bekommen würde, und er nutzte sie, warf sich nach rechts, fiel vom Stuhl und stürzte zu Boden. Sein Hinterkopf schlug auf den Fliesen auf, aber der Schmerz war fern und unwichtig, verglichen mit der Erleichterung darüber, daß die Messerspitze nicht mehr da war.

Der Mann mit dem wirren Haar quiekte - ein Laut der Wut und Resignation, als hätte er sich im Lauf seines langen und schwierigen Lebens an Rückschläge gewöhnt. Er beugte sich über Ralphs jetzt leeren Stuhl, streckte das verzerrte Gesicht nach vorne, und seine Augen sahen aus wie die phantastischen, leuchtenden Kreaturen, die in den tiefsten Meeresgräben leben. Ralph hob die Spraydose und konnte nur einen Augenblick darüber nachdenken, daß er nicht wußte, in welche Richtung die Spraydüse zeigte - möglicherweise verpaßt er nur sich selbst einen Schwall Bodyguard.

Jetzt hatte er keine Zeit mehr, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er drückte das Ventil nieder, als der Mann mit dem wirren Haar gerade das Messer hob. Das Gesicht des Mannes wurde von einem Film winziger Tröpfchen eingehüllt, die aussahen, als kämen sie aus dem Luftfrischer mit Pinienduft, den Ralph auf dem Spülkasten der Toilette stehen hatte. Die Gläser seiner Brille beschlugen.

Das Ergebnis stellte sich sofort ein und erfüllte Ralphs kühnste Erwartungen. Der Mann mit dem wirren Haar schrie vor Schmerzen auf, ließ das Messer fallen (es landete auf Ralphs linkem Knie und blieb zwischen seinen Beinen liegen), griff nach seinem Gesicht und riß die Brille herunter. Die landete auf dem Tisch. Gleichzeitig leuchtete die dünne, irgendwie fettige Aura um ihn herum gleißend rot auf und erlosch, jedenfalls für Ralphs Wahrnehmung.

»Ich bin blind!« schrie der Mann mit dem wirren Haar mit hoher, schriller Stimme. »Ich bin Wind! Ich bin blind!«

»Nein, das sind Sie nicht«, sagte Ralph und stand zitternd auf. »Sie sind nur... «

Der Mann mit dem wirren Haar schrie wieder und fiel zu Boden. Er wälzte sich auf dem schwarzweiß gefliesten Boden, preßte die Hände auf das Gesicht und heulte wie ein Kind, das sich eine Hand in der Tür eingeklemmt hat. Ralph konnte kleine Partien seiner Wangen wie Kuchenstücke zwischen den gespreizten Fingern sehen. Die Haut dort nahm einen erschreckend roten Farbton an, als hätte der Mann mit dem wirren Haar zu lange am Strand gelegen und sich einen schlimmen Sonnenbrand geholt.

Ralph sagte sich, daß er den Mann in Ruhe lassen sollte, weil er vollkommen verrückt und gefährlich wie eine Klapperschlange war, aber er war zu erschrocken und schämte sich so sehr dafür, was er getan hatte, daß er diesem zweifellos ausgezeichneten Rat nicht folgte. Die Vorstellung einer Konfrontation auf Leben und Tod, den Angreifer kampfunfähig zu machen oder zu sterben, kam ihm bereits unwirklich vor. Er bückte sich und legte dem Mann zaghaft eine Hand auf den Arm. Der Irre rollte sich von ihm weg und trommelte mit den flachen Turnschuhen auf den Boden wie ein Kind, das einen Wutanfall hat. »Oh, du Hurensohn!« schrie er. »Du hast auf mich geschossen!« Und dann, unvorstellbarerweise: »Ich werde dich bis auf den letzten Cent verklagen!«

»Ich glaube, Sie werden erst mal das Messer erklären müssen, bevor Sie mit Ihrer Klage besonders weit kommen«, sagte Ralph. Er sah das Messer auf dem Boden liegen, streckte die Hand danach aus, besann sich dann aber eines Besseren. Es wäre besser, wenn seine Fingerabdrücke nicht daraufwaren. Als er sich aufrichtete, schlug eine Woge des Schwindelgefühls über ihm zusammen, und einen Moment hörte sich der Regen, der gegen die Fensterscheiben trommelte, hohl und fern an. Er kickte das Messer weg, dann richtete er sich auf und mußte sich an der Lehne des Stuhls festhalten, auf dem er gesessen hatte, damit er nicht umkippte.

Die Welt um ihn herum stabilisierte sich wieder. Er hörte Schritte aus der Eingangshalle näherkommen, dazu murmelnde, fragende Stimmen.

Jetzt kommt ihr, dachte Ralph resigniert. Wo seid ihr vor drei Minuten gewesen, als dieser Kerl kurz davor war, meinen linken Lungenflügel wie einen Ballon platzen zu lassen?

Mike Hanion, der schlank und trotz seines dichten grauen Haarschopfs nicht älter als dreißig aussah, erschien unter der Tür. Hinter ihm stand der Junge, in dem Ralph die Aushilfskraft für das Wochenende erkannte, und dahinter vier oder fünf Gaffer, wahrscheinlich aus dem Zeitschriftenlesesaal.

»Mr. Roberts!« rief Mike aus. »Herrgott, sind Sie schwer verletzt?«

»Mir geht es gut, er ist verletzt«, sagte Ralph. Aber als er auf den Mann am Boden zeigte und an sich heruntersah, stellte er fest, daß es ihm nicht gut ging. Sein Mantel war zurückgerutscht, und die ganze linke Seite seines karierten Hemds hatte eine dunkelrote Färbung angenommen, wie eine Träne geformt, die direkt unter der Achselhöhle anfing und sich von dort ausbreitete. »Scheiße«, sagte er leise und setzte sich wieder auf den Stuhl. Er stieß mit dem Ellbogen an die Hornbrille, die über den ganzen Tisch schlitterte. Mit den Tröpfchen auf den Gläsern sah sie wie ein Augenpaar aus, das der graue Star getrübt hatte.

»Er hat mir Säure ins Gesicht geschüttet!« schrie der Mann auf dem Boden. »Ich kann nichts sehen, und meine Haut brennt wie der Teufel!« Für Ralph hörte er sich fast wie eine bewußte Parodie der bösen Hexe aus dem Westen an.

Mike warf dem Mann auf dem Boden einen kurzen Blick zu, dann setzte er sich neben Ralph. »Was ist passiert?«

»Nun, Säure war es auf jeden Fall nicht«, sagte Ralph und hielt die Dose Bodyguard hoch. Er stellte sie neben Patterns of Dreaming auf. den Tisch. »Die Lady, die sie mir gegeben hat, hat gesagt, das Zeug sei nicht so stark wie Tränengas, es reize nur die Augen und verursache Übelkeit -«

»Ich mache mir keine Sorgen, was mit ihm los ist«, sagte Mike ungeduldig. »Wer so laut schreien kann, wird wahrscheinlich nicht in den nächsten drei Minuten sterben. Ich mache mir um Sie Sorgen, Mr. Roberts - haben Sie eine Ahnung, wie stark er auf Sie eingestochen hat?«

»Eigentlich hat er gar nicht auf mich eingestochen«, sagte Ralph. »Er hat mich... mehr gepiekst. Damit.« Er zeigte auf das Messer, das auf dem Fliesenboden lag. Als er die rote Spitze sah, spürte er einen erneuten Schwächeanfall. Sein Kopf fühlte sich an wie ein Schnellzug aus Daunenkissen. Das war selbstverständlich dumm und ergab überhaupt keinen Sinn, aber sein Kopf war in keiner besonders guten Verfassung.

Der Assistent sah vorsichtig auf den Mann am Boden hinunter. »Wir kennen den Kerl, Mike«, sagte er, »es ist Charlie Pickering.«

»Ach du meine Güte«, sagte Mike. »Warum überrascht mich das bloß nicht?« Er sah den Teenager an und seufzte. »Du solltest besser die Polizei rufen, Justin. Sieht so aus, als hätten wir es hier mit einer ernsten Situation zu tun.«

5

»Bekomme ich Schwierigkeiten, weil ich das hier benutzt habe?« fragte Ralph eine Stunde später und deutete auf eines von zwei versiegelten Plastiktütchen, die auf dem überquellenden Schreibtisch in Mike Hanions Büro lagen. Ein Streifen gelben Bands mit der Aufschrift BEWEISMITTEL Spraydose DATUM 10.3.93 ORT Öffentliche Bibliothek Derry war daraufgeklebt worden.

»Nicht soviel wie unser alter Freund Charlie Pickering, weil er das hier benutzt hat«, sagte John Leydecker und deutete auf den zweiten versiegelten Beutel. Darin befand sich das Jagdmesser, auf dessen Spitze das Blut zu einem klebrigen Kastanienbraun getrocknet war. Leydecker trug heute einen Footballsweater mit der Aufschrift »University of Maine«. Er wirkte damit ungefähr so groß wie eine Scheune. »Hier draußen im Hinterland halten wir noch ziemlich viel von Selbstverteidigung. Aber wir reden nicht sehr viel darüber - es ist irgendwie, als würde man zugeben, daß man die Welt für eine Scheibe hält.«

Mike Hanion, der sich an den Türrahmen lehnte, lachte und nickte.

Ralph hoffte, daß man seinem Gesicht die große Erleichterung nicht ansah, die er empfand. Während ein Notarzt (möglicherweise derselbe, der im August Helen Deepneau ins Krankenhaus gefahren hatte) an ihm arbeitete - er fotografierte zuerst, dann desinfizierte er, und schließlich nähte und verband er -, saß Ralph mit zusammengebissenen Zähnen da und stellte sich vor, wie ein Richter ihn wegen des Gebrauchs einer halbwegs tödlichen Waffe zu sechs Monaten im hiesigen Bezirksgefängnis verurteilte. Hoffentlich, Mr. Roberts, dient dies als Exempel und als Warnung an alle anderen alten Knacker hier in der Gegend, die es als gerechtfertigt betrachten, Spraydosen mit lähmendem Nervengas mit sich herumzutragen...

Leydecker betrachtete noch einmal die sechs Polaroidfotos, die an der Seite von Hanions Computer aufgereiht waren. Der milchgesichtige Techniker der Unfallrettung hatte drei davon gemacht, bevor er Ralph zusammengeflickt hatte. Sie zeigten einen kleinen dunklen Kreis - er sah aus wie die übergroßen Kleckse, die Kinder manchmal machen, wenn sie gerade schreiben lernen - an Ralphs Hüfte. Nachdem er die Wunde genäht und Ralph eine Erklärung hatte unterschreiben lassen, daß man ihm eine Behandlung im Krankenhaus angeboten, er sie jedoch abgelehnt hatte, machte der Techniker noch einmal drei Fotos. Auf dieser zweiten Dreierstaffel konnte man die Anfänge eines absolut spektakulären Blutergusses erkennen.

»Gott segne Edwin Land und Richard Polaroid«, sagte Leydecker und verstaute die Fotos in einem dritten BEWEISMITTEL-Beutel.

»Ich glaube nicht, daß es einen Richard Polaroid gegeben hat«, sagte Mike Hanion von der Tür.

»Wahrscheinlich nicht, aber Gott segne ihn trotzdem. Die Geschworenen, die diese Fotos sehen, werden Ihnen mit absoluter Sicherheit eine Tapferkeitsmedaille verleihen wollen, und nicht einmal Clarence Darrow könnte sie als Beweismittel ausschließen lassen.« Er sah Mike an. »Charlie Pickering.«

Mike nickte. »Charlie Pickering.«

»Dummfick.«

»Dummfick de luxe.«

Die beiden sahen einander ernst an, dann prusteten sie gleichzeitig vor unbändigem Gelächter. Ralph verstand genau, wie ihnen zumute war - es war komisch, weil es schrecklich war, und schrecklich, weil es komisch war -, und mußte sich auf die Lippen beißen, damit er nicht einstimmte. Lachen wollte er im Augenblick als allerletztes auf der Welt; es würde teuflisch wehtun.

Leydecker holte ein Taschentuch aus der Gesäßtasche, wischte sich damit die tränenden Augen ab und riß sich allmählich wieder zusammen.

»Pickering gehört zu der Recht-auf-Leben-Bande, oder nicht?« fragte Ralph. Er erinnerte sich daran, wie Pickering ausgesehen hatte, als Hanions Assistent ihm aufgeholfen hatte. Ohne seine Brille hatte der Mann ungefähr so gefährlich ausgesehen wie ein Kaninchen im Schaufenster einer Tierhandlung.

»Könnte man sagen«, stimmte Mike trocken zu. »Er ist derjenige, den sie letztes Jahr in der Garage geschnappt haben, die sich das Krankenhaus und Woman-Care teilen. Er hatte einen Kanister Benzin in der Hand und einen Rucksack mit leeren Flaschen auf dem Rücken gehabt.«

»Die Stoffstreifen nicht zu vergessen«, sagte Leydecker. »Das sollten die Zündschnüre werden. Damals war Charlie noch überzeugtes Mitglied von Daily Bread.«

»War er nahe daran, ein Feuer zu legen?« fragte Ralph neugierig.

Leydecker zuckte die Achseln. »Nicht sehr. Jemand aus der Gruppe hat offenbar eingesehen, daß es eher ein Akt des Terrorismus als eine politische Aktion sein könnte, die hiesige Frauenklinik anzuzünden, und einen anonymen Anruf bei der hiesigen Polizei gemacht.«

»Keine schlechte Idee«, sagte Mike. Er schnaubte wieder ein kurzes Kichern und verschränkte dann die Arme vor der Brust, als wollte er alle weiteren Geräusche im Inneren halten.

»Ja«, sagte Leydecker. Er verschränkte die Finger ineinander, streckte die Arme aus und ließ die Knöchel knacken. »Statt ins Gefängnis, schickte ein umsichtiger Richter Charlie sechs Monate zur Behandlung und Therapie nach Juniper Hill, und da müssen sie zu dem Ergebnis gekommen sein, daß er wieder auf Vordermann gebracht worden ist, denn seit Juli oder so hält er sich wieder in der Stadt auf.« »Jawoll«, stimmte Mike zu. »Er ist fast jeden Tag hier. Verbessert sozusagen die Atmosphäre. Labert praktisch jeden voll, der hier reinkommt, und hält ihnen seine kleine Predigt, wonach jede Frau, die eine Abtreibung durchführen läßt, in Schwefel vergehen wird, und daß die wirklichen Bösewichter wie Susan Day für alle Zeiten in einem See flüssigen Feuers brennen werden. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, weshalb er es auf Sie abgesehen hatte, Mr. Roberts.«

»Wie geht es Ihnen, Ralph?« fragte Leydecker. »Sie sehen blaß aus.«

»Mir geht es ausgezeichnet«, sagte Ralph, obwohl es ihm alles andere als ausgezeichnet ging; tatsächlich wurde ihm immer übler.

»Ob ausgezeichnet oder nicht, Sie haben auf jeden Fall Glück gehabt. Glück, daß diese Frauen Ihnen die Tränengasdose gegeben haben. Glück, daß Sie sie bei sich hatten. Und am meisten Glück, daß Pickering sich nicht einfach hinter Sie geschlichen und Ihnen das Messer bis zum Heft in den Hals gestoßen hat. Fühlen Sie sich kräftig genug, mit zum Revier zu kommen und eine offizielle Aussage zu machen, oder -«

Plötzlich schnellte Ralph aus Mike Hanions uraltem Drehstuhl, drückte die linke Hand vor den Mund, raste durch das Zimmer und riß die Tür in der hinteren rechten Ecke des Büros auf, wobei er verzweifelt betete, es möge sich nicht um einen Schrank handeln. In diesem Fall würde er wahrscheinlich Mikes Galoschen mit halbverdautem Käsetoast und leicht gebrauchter Tomatensuppe füllen.

Glücklicherweise handelte es sich um den Raum, den er brauchte. Ralph ließ sich vor der Toilettenschüssel auf die Knie nieder, übergab sich mit geschlossenen Augen und drückte den linken Arm fest an die Seite, in die Pickering ein Loch gemacht hatte. Die Schmerzen, als die Bauchmuskeln sich zuerst verkrampften und dann lockerten, waren trotzdem enorm.

»Ich betrachte das als Nein«, sagte Mike Hanion hinter ihm und legte Ralph dann tröstend eine Hand auf den Nacken. »Alles in Ordnung? Hat es wieder angefangen zu bluten?«

»Ich glaube nicht«, sagte Ralph. Er fing an, das Hemd aufzuknöpfen, aber dann hielt er inne und preßte den Arm noch einmal fest an die Seite, als sein Magen sich gefährlich hob und dann Ruhe gab. Er hielt den Arm hoch und betrachtete den Verband. Sah einwandfrei aus. »Scheint alles in Ordnung zu sein.«

»Gut«, sagte Leydecker. Er stand direkt hinter dem Bibliothekar. »Sind Sie fertig?«

»Ich glaube ja.« Ralph sah Mike beschämt an. »Ich entschuldige mich dafür.«

»Seien Sie nicht albern.« Mike half Ralph wieder auf die Füße.

»Kommen Sie«, sagte Leydecker, »ich fahre Sie nach Hause. Morgen ist auch noch Zeit für die Aussage. Sie sollten den Rest des Tages die Füße hochlegen und heute nacht mal richtig ausschlafen.«

»Nichts geht darüber, mal richtig auszuschlafen«, stimmte Ralph zu. Sie hatten die Tür des Büros erreicht. »Würden Se jetzt bitte meinen Arm loslassen, Detective Leydecker? Schließlich gehen wir noch nicht fest miteinander, oder?«

Leydecker sah ihn verblüfft an, dann ließ er Ralphs Arm los. Mike fing an zu lachen. »>Gehen nicht -< Das war ziemlich gut, Mr. Roberts.«

Leydecker lächelte. »Wohl nicht, aber Sie dürfen mich Jack nenne, wenn Sie wollen. Oder John. Nur nicht Johnny. Seit meine Mutter vor zwei Jahren gestorben ist, darf mich nur noch der alte Prof McGovern Johnny nennen.«

Der alte Prof McGovern, dachte Ralph. Wie seltsam sich das anhört.

»Okay - dann John. Und ihr könnt mich beide Ralph nennen. Soweit es mich betrifft, wird Mr. Roberts immer ein BroadwayStück mit Jack Lemmon bleiben.«

»Wie Sie wollen«, sagte Mike Hanion. »Und geben Sie auf sich acht.«

»Ich werde es versuchen«, sagte er, dann blieb er wie angewurzelt stehen. »Hören Sie, ich muß Ihnen noch für etwas anderes danken, abgesehen von Ihrer Hilfe heute.«

Mike zog die Brauen hoch. »Ach ja?«

»Ja. Sie haben Helen Deepneau eine Stelle gegeben. Sie gehört zumeinen besten Freunden und hat den Job dringend gebraucht. Danke.«

Mike lächelte und nickte. »Ich nehme die Lorbeeren gerne an, aber eigentlich ist sie diejenige, die mir einen Gefallen getan hat. Eigentlich ist sie überqualifiziert für die Stelle, aber ich glaube, sie möchte in der Stadt bleiben.«

»Das möchte ich auch, und Sie haben ihr geholfen, daß das möglich ist. Also, nochmals danke.«

Mike grinste. »War mir ein Vergnügen.«

Als Ralph und Leydecker hinter dem Ausgabeschalter hervorkamen, sagte Leydecker: »Ich schätze, die Honigwabe hat wirklich geholfen, was?«

Das war so weit von dem entfernt, was Ralph gerade durch den Kopf ging, daß er zunächst nicht die geringste Ahnung hatte, wovon der große Detective sprach - er hätte ihm ebensogut eine Frage in Esperanto stellen können.

»Ihre Schlaflosigkeit«, sagte Leydecker geduldig. »Sie haben sie überwunden, richtig? Bestimmt - Sie sehen eine Zillionmal besser aus als an dem Tag, als wir uns kennenlernten.«

»An dem Tag war ich ein wenig gestreßt«, sagte Ralph. Er mußte an den alten Scherz von Billy Crystal über Fernande denken - der folgendermaßen ging: Hör zu, Darling, sei kein Schluri; es geht nicht darum, wie du dich fühlst; es geht darum, wie du aussiehst! Und du... siehst... RIESIG aus!

»Und heute nicht? Kommen Sie, Ralph, ich bin es. Also raus damit - war es die Honigwabe?«

Ralph tat so, als würde er darüber nachdenken, dann nickt er. »Ja, ich glaube, die muß es geschafft haben.«

»Phantastisch! Habe ich es Ihnen nicht gleich gesagt?« sagte Leydecker fröhlich, als sie in den verregneten Nachmittag hinausgingen.

7

Sie warteten darauf, daß die Ampel auf dem Up-Mile Hill umsprang, die an der Ecke Witcham und Jackson, als Ralph sich zu Leydecker umdrehte und fragte, wie die Chancen stünden, Ed als Charlie Pickerings Komplizen festzunageln.

»Weil Ed ihn dazu angestiftet hat«, sagte er. »Das weiß ich so sicher, wie ich weiß, daß das da drüben der Strawford Park ist.«

»Sie haben wahrscheinlich recht«, antwortete Leydecker, »aber machen Sie sich nichts vor - die Chancen, ihn als Komplizen festzunageln, sind beschissen. Sie wären auch dann nicht besser, wenn der Bezirks-Staatsanwalt nicht so konservativ wäre wie Dale Cox.«

»Warum nicht?«

»Als allererstes bezweifle ich, daß wir eine innige Beziehung zwischen den beiden Männern beweisen könnten. Zweitens, Typen wie Pickering neigen zu rückhaltloser Loyalität gegenüber den Leuten, die sie als >Freunde< bezeichnen, weil sie so wenige haben - ihre Welt besteht überwiegend aus Gegnern. Ich glaube nicht, daß Pickering bei einem Verhör vieles von dem wiederholen würde, was er Ihnen gesagt hat, als er Sie mit dem Jagdmesser an den Rippen kitzelte. Drittens, Ed Deepneau ist kein Dummkopf. Verrückt, ja - verrückter als Pickering, wenn man es recht bedenkt -, aber kein Dummkopf. Er würde nichts zugeben.«

Ralph nickte. Das entsprach genau seiner Meinung von Ed.

»Wenn Pickering tatsächlich sagen würde, daß Deepneau ihm befohlen hätte, Sie zu suchen und auszuschalten - weil sie nämlich einer dieser babytötenden, embryostehlenden Zenturionen wären -, würde Ed uns anlächeln und nicken und sagen, daß er überzeugt sei, der arme Charlie hätte uns das gesagt, der arme Charlie würde es wahrscheinlich selbst glauben, aber deshalb wäre es noch lange nicht wahr.«

Die Ampel wurde grün. Leydecker fuhr über die Kreuzung und bog bei der nächsten Gelegenheit links in die Harris Avenue ein. Die Scheibenwischer quietschten und klopften. Strawford Park rechts von ihnen sah durch den Regen, der an der Scheibe herabfloß, wie ein Wackelbild aus.

»Und was könnten wir dazu sagen?« fragte Leydecker. »Tatsache ist, Charlie Pickering kann eine lange Krankengeschichte geistiger Instabilität vorweisen - wenn es um Klapsmühlen geht, hat er die große Rundreise hinter sich: Juniper Hill, Acadia Hospital, Bangor Mental Health Institute... wenn irgendwo kostenlose Elektroschockbehandlungen und Jacken, die man auf dem Rücken zuknöpft, abgegeben werden, ist Charlie Pickering mit Sicherheit schon dort gewesen. Heutzutage ist Abtreibung sein Steckenpferd. Ende der sechziger Jahre hatte er wegen Margaret Chase Smith Hummeln im Arsch. Er schrieb Briefe an alle - die Polizei von Derry, die Staatspolizei, das FBI - und behauptete, sie sei eine russische Spionin. Er sagte, er könne es beweisen.«

»Großer Gott, das ist unglaublich.«

»Nee; das ist Charlie Pickering, und ich wette, solche wie ihn gibt es in jeder Stadt dieser Größe in den Vereinigten Staaten ein Dutzend. Verdammt, überall auf der Welt.«

Ralphs Hand stahl sich an die Seite und berührte den Verband dort. Seine Finger strichen die Schmetterlingsform unter dem Mull nach. Er erinnerte sich an Pickerings vergrößerte braune Augen - wie sie ängstlich und ekstatisch zugleich ausgesehen hatten. Er hegte schon Zweifel, daß der Mann, dem diese Augen gehörten, ihn wirklich fast umgebracht hätte, und er fürchtete, morgen würde die ganze Angelegenheit wie einer der sogenannten »Traumübergriffe« wirken, von denen er in James A. Halls Buch gelesen hatte.

»Das Schlimme ist, Ralph, ein Irrer wie Charlie Pickering ist das perfekte Werkzeug für jemanden wie Deepneau. Im Augenblick hat unser kleiner Ehefrauenprügler etwa eine Tonne Gegenargumente auf seiner Seite.«

Leydecker bog in die Einfahrt neben dem Haus von Ralph ein und parkte hinter einem großen Oldsmobile mit Rostflecken auf dem Kofferraumdeckel und einem uralten Aufkleber - DUKAKIS '88 - auf der Stoßstange.

»Wem gehört denn dieser Brontosaurier? Dem Prof?«

»Nein«, sagte Ralph, »das ist mein Brontosaurier.«

Leydecker sah ihn ungläubig an, während er den Schalthebel seines völlig schrdckschnacklosen Polizei-Chevys auf Parken stellte. »Wenn Sie ein Auto haben, warum stehen Sie dann im strömenden Regen an der Bushaltestelle herum? Läuft es nicht?«

»Es läuft«, sagte Ralph ein wenig steif, wollte aber nicht hinzufügen, daß er sich irren könnte; er hatte den Olds seit über zwei Monaten nicht mehr auf der Straße gehabt. »Und ich habe nicht im strömenden Regen herumgestanden; die Haltestelle hat einen Unterstand. Mit Dach. Sogar mit einer Bank. Kein Kabelfernsehen, aber warten Sie bis nächstes Jahr.«

»Trotzdem...« sagte Leydecker und sah den Olds zweifelnd an.

»Ich habe zwar die letzten fünfzehn Jahre als Schreibtischhengst verbracht, aber vorher war ich Vertreter. Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich schätzungsweise achthundert Meilen pro Woche zurückgelegt. Als ich mich in der Druckerei niedergelassen habe, wollte ich mich nie wieder ans Steuer eines Autos setzen. Und seit meine Frau gestorben ist, gibt es eigentlich selten einen Grund zu fahren. Meistens genügt mir der Bus vollkommen.«

Das alles stimmte; Ralph sah keine Veranlassung hinzuzufügen, daß er seinen Reflexen und seiner Nahsicht zunehmend mißtraute. Vor cirka einem Jahr war ein etwa siebenjähriges Kind seinem Football auf die Straße nachgelaufen, als Ralph gerade vom Kino nach Hause kam, und obwohl er nur mit zwanzig Meilen pro Stunde fuhr, hatte Ralph zwei endlose, gräßliche Sekunden lang geglaubt, daß er den kleinen Jungen überfahren würde. Selbstverständlich hatte er es nicht - es war nicht einmal knapp gewesen -, aber er glaubte, seither konnte er die Anlässe, wenn er mit dem Olds gefahren war, an den Fingern beider Händen abzählen.

Er sah auch keine Veranlassung, das John Leydecker zu erzählen.

»Nun, ich will Ihnen da auch nicht reinreden«, sagte Leydecker und winkte unbestimmt in Richtung des Olds. »Was meinen Sie zu morgen nachmittag für die Aussage, Ralph? Ich komme gegen Mittag vorbei, damit ich Ihnen sozusagen über die Schulter sehen kann. Und hinterher lade ich Sie vielleicht auf einen Kaffee ein.«

»Klingt nicht schlecht. Und danke, daß Sie mich nach Hause gefahren haben.«

»Kein Problem. Eines noch... «

Ralph hatte gerade die Autotür aufgemacht. Jetzt schlug er sie wieder zu und drehte sich mit hochgezogenen Brauen zu Leydecker um.

Leydecker betrachtete nervös seine Hände, rutschte unbehaglich auf dem Sitz hin und her, räusperte sich und sah wieder auf. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich Sie für einen Klasse-Typ halte«, sagte er. »Eine Menge Leute, die vierzig Jahre jünger sind als Sie, hätten das kleine Abenteuer heute im Krankenhaus beendet. Oder in der Leichenhalle.«

»Mein Schutzengel hat auf mich aufgepaßt, schätze ich«, sagte Ralph und dachte daran, wie überrascht er gewesen war, als ihm klar wurde, worum es sich bei dem runden Gegenstand in seiner Tasche handelte.

»Nun, vielleicht stimmt das, aber Sie sollten trotzdem heute nacht nicht vergessen, Ihre Tür abzuschließen. Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?«

Ralph lächelte und nickte. Berechtigt oder nicht, Leydeckers Lob hatte seine Brust mit Wärme erfüllt. »Das werde ich, und wenn ich McGovern dazu bringe, daß er mitmacht, dürfte alles astrein gehen.«

Außerdem, dachte er, kann ich immer noch runtergehen und das Schloß überprüfen, wenn ich wach werde. Wie es im Augenblick aussieht, dürfte das etwa zweieinhalb Stunden nach dem Einschlafen sein.

»Es wird alles astrein gehen«, sagte John Leydecker. »Niemand bei uns war gerade begeistert, als Deepneau die Friends of Life mehr oder weniger übernahm, aber ich kann nicht sagen, daß es uns überrascht hat - er ist ein attraktiver, charismatischer Bursche... das heißt, wenn man ihn nicht gerade an einem Tag erwischt, an dem er seine Frau als Punchingball benutzt hat.«

Ralph nickte.

»Andererseits sehen wir Typen wie ihn nicht zum erstenmal, und sie haben immer eine selbstzerstörerische Ader. Bei Deepneau hat dieser Prozeß der Selbstzerstörung schon angefangen. Er hat seine Frau verloren, er hat seinen Job verloren... haben Sie das gewußt?«

»Hm-hmm. Helen hat es mir gesagt.«

»Jetzt verliert er seine gemäßigteren Anhänger. Sie fallen ab wie Düsenjäger, die zum Stützpunkt zurückkehren, weil ihnen der Treibstoff ausgeht. Aber Ed nicht - der wird weitermachen, komme was da wolle. Ich schätze, er kann einige zumindest bis zum Tag von Susan Days Rede an sich binden, aber danach, schätze ich, wird der große Führer allein dastehen.«

»Haben Sie sich schon einmal überlegt, daß er am Freitag etwas versuchen könnte? Daß er versuchen könnte, Susan Day zu verletzen?«

»O ja«, sagte Leydecker. »Das haben wir uns überlegt. Und wie wir das haben.«

8

Ralph war überaus glücklich festzustellen, daß die Verandatür diesmal abgeschlossen war. Er schloß gerade lange genug auf, daß er das Haus betreten konnte, dann stapfte er die Treppe hinauf, die heute nachmittag länger und düsterer denn je wirkte.

Obwohl der Regen konstant auf das Dach prasselte, schien es in dem Apartment zu still, und die Luft schien nach zu vielen schlaflosen Nächten zu riechen. Ralph holte einen Stuhl vom Küchentisch zum Tresen, stellte sich darauf und suchte die Decke des Schränkchens gleich neben der Spüle ab. Es war, als hätte er erwartet, eine andere Dose Bodyguard dort zu finden die ursprüngliche Dose, die er dort versteckt hatte, nachdem Helen und ihre Freundin Gretchen gegangen waren -, und ein Teil von ihm erwartete das tatsächlich. Aber er fand nichts da oben, außer einem Zahnstocher, einer alten Sicherung Marke Buss und einer Menge Staub.

Er stieg vorsichtig von dem Stuhl herunter, sah die schmutzigen Fußabdrücke, die er auf dem Polster hinterlassen hatte, und holte Küchentücher, um sie abzuwischen. Dann stellte er den Stuhl an den Tisch zurück und ging ins Wohnzimmer. Dort blieb er stehen und ließ den Blick von der Couch mit ihrem schäbigen Blumenmusterbezug über den Ohrensessel zu dem alten Fernseher wandern, der auf seinem Eichentisch zwischen den beiden Fenstern zur Harris Avenue stand. Vom Fernseher wanderte sein Blick in die gegenüberliegende Ecke. Als er gestern sein Apartment betreten hatte, noch etwas nervös, weil die Verandatür offen gewesen war, hatte er seine Jacke, die am Kleiderständer in dieser Ecke hing, kurz für einen Eindringling gehalten. Nun, er konnte die Dinge getrost beim Namen nennen; er hatte einen Augenblick geglaubt, Ed hätte beschlossen, ihm einen Besuch abzustatten.

Ich hänge meine Jacke niemals auf. Das war eine Angewohnheit von mir - eine der wenigen, glaube ich -, die Carolyn immer richtig auf die Palme gebracht hat. Und da ich mir zu ihren Lebzeiten nie angewöhnen konnte, sie aufzuhängen, dann mit Sicherheit auch nicht nach ihrem Tod. Nein, ich habe diese Jacke nicht aufgehängt.

Ralph ging durch das Zimmer, kramte in den Taschen der grauen Lederjacke und legte alles, was er fand, auf den Fernseher. Nichts außer einer alten Rolle Life Savers - Fusseln klebten an der obersten - in der linken, aber die rechte erwies sich als wahre Fundgrube, auch wenn die Spraydose nicht mehr darin war. Ein Tootsie Pop Zitrone, noch eingewickelt; ein zerknitterter Werbezettel vom Derry House of Pizza; eine Batterie; ein kleiner Pappkarton, in dem einmal ein Stück Apfelkuchen von McDonalds gewesen war; sein Mitgliederausweis von Dave's Video Stop, nur vier Rabattmarken von einem Gratisfilm entfernt (die Karte war seit zwei Wochen verschwunden und Ralph war sicher gewesen, daß er sie verloren hatte); ein Streichholzbriefchen; eine Master-Card-Quittung für ein Essen im Panda Garden; mehrere Fetzen Alufolie... und ein zusammengefaltetes Blatt liniertes, blaues Papier.

Ralph faltete es auseinander und las den einen Satz, der mit der krakeligen, etwas unsicheren Schrift eines alten Mannes geschrieben worden war: Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann.

Das war alles, aber es reichte aus, seinem Hirn zu bestätigen, was sein Herz bereits wußte: Dorrance Marstellar hatte auf der Veranda gewartet, als Ralph mit seinen Büchern von Back Pages zurückgekommen war, aber er hatte noch etwas anderes erledigt, bevor er sich dort niedergelassen hatte. Er hatte sogar seine Visitenkarte hinterlassen: eine Zeile aus einem Gedicht auf einem Blatt Papier, das er wahrscheinlich aus dem alten, zerfledderten Notizbuch gerissen hatte, in das er manchmal Ankunfts- und Abflugzeiten auf Rollbahn 3 schrieb. Statt die Jacke dorthin zu legen, wo Ralph sie hingeworfen hatte, hatte der alte Dor sie ordentlich an den Kleiderständer gehängt. Danach (Geschehenes läßt sich nicht mehr ungeschehen machen) ging er wieder auf die Veranda hinunter und wartete.

Gestern abend hatte Ralph mit McGovern geschimpft, weil der die Eingangstür wieder offengelassen hatte, und McGovern hatte es so geduldig über sich ergehen lassen, wie Ralph selbst Carolyns Schelte über sich hatte ergehen lassen, wenn er beim Nachhausekommen die Jacke auf den nächstbesten Stuhl warf, statt sie an den Kleiderständer zu hängen, aber jetzt fragte sich Ralph, ob er Bill nicht möglicherweise zu Unrecht Vorwürfe gemacht hatte. Vielleicht hatte der alte Dor das Schloß geknackt... oder auf gezaubert. Unter den Umständen schien Zauberei wahrscheinlicher zu sein. Denn...

»Denn stellt euch vor«, sagte Ralph mit leiser Stimme, während er mechanisch den Krimskrams auf dem Fernseher wieder in den Taschen verstaute, »er hat nicht nur gewußt, daß ich das Zeug brauchen würde, er hat auch gewußt, wo er es finden konnte und wo er es verstauen mußte.«

Da lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, und sein Verstand versuchte, die ganze Angelegenheit herunterzuspielen sie als Wahnsinn zu bezeichnen, als unlogisch, als genau das, was sich ein Mann mit Schlaflosigkeit Güteklasse A ausdenken würde. Aber das erklärte nicht das Stück Papier, oder?

Er betrachtete wieder die gekritzelten Worte auf dem linierten blauen Blatt - Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann. Dies war ebenso wenig seine Handschrift, wie Cemetery Nights sein Buch war.

»Aber jetzt ist es meins; Dor hat es mir gegeben«, sagte Ralph, und der kalte Schauer fuhr ihm wieder über den Rücken, unregelmäßig wie ein Sprung in einer Windschutzscheibe.

Was für eine andere Erklärung fällt dir ein? Diese Dose ist nicht von selbst in deine Tasche geflogen. Und das Stück Notizpapier auch nicht.

Das Gefühl, als würde er von unsichtbaren Händen auf den klaffenden Schlund eines Tunnels zugeschoben werden, hatte sich wieder eingestellt. Ralph kam sich wie ein Mann in einem Traum vor, als er zur Küche zurückkehrte. Unterwegs schlüpfte er aus der grauen Jacke und warf sie über die Couchlehne, ohne auch nur darüber nachzudenken. Er blieb eine Zeitlang unter der Tür stehen und betrachtete starr den Kalender mit dem Bild zweier lachender Jungs, die eine Kürbislaterne schnitzten. Betrachtete das morgige Datum, das eingekreist war.

Du sollst den Termin bei dem Nadelpiekser absagen, hatte Dorrance gesagt; das war die Botschaft, und heute hatte der Messerstecher sie mehr oder weniger bekräftigt. Verdammt, er hatte sie in Neonbuchstaben wiederholt.

Ralph suchte eine Nummer in den Gelben Seiten und wählte sie.

»Dies ist die Praxis von Dr. James Roy Hong«, informierte ihn eine angenehme Frauenstimme. »Im Augenblick können wir Ihren Anruf leider nicht persönlich entgegennehmen, daher hinterlassen Sie bitte eine Nachricht nach dem Pfeifton. Wir rufen Sie schnellstmöglich zurück.«

Der Anrufbeantworter piepste. Mit einer Stimme, deren Festigkeit ihn überraschte, sagte Ralph: »Hier spricht Ralph Roberts. Ich habe morgen früh um zehn Uhr einen Termin. Es tut mir leid, aber ich werde ihn nicht wahrnehmen können. Es ist mir etwas dazwischengekommen. Vielen Dank.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Selbstverständlich werde ich für die Kosten aufkommen.«

Er schloß die Augen und legte den Hörer wieder auf die Gabel. Dann preßte er die Stirn an die Wand.

Was machst du, Ralph? Was, in Gottes Namen, machst du da?

»Es ist ein langer Weg zurück ins Paradies, Liebling.«

Du kannst doch nicht allen Ernstes denken, was du da denkst... oder?

»... ein langer Weg, also hör auf, dich über Kleinigkeiten aufzuregen.«

Was genau denkst du denn, Ralph?

Er wußte es nicht, er hatte nicht die geringste Idee. Er wußte nur, daß Kreise des Schmerzes von dem kleinen Loch in seiner linken Seite ausgingen, dem Loch, das der Messerstecher gemacht hatte. Der Notarzt hatte ihm ein halbes Dutzend Schmerztabletten gegeben, und er vermutete, er sollte eine nehmen, aber im Augenblick war er zu müde, zur Spüle zu gehen und sich ein Glas Wasser zu holen... und wenn er zu müde war, durch ein beschissenes kleines Zimmer zu gehen, wie, um alles in der Welt, sollte er dann den langen Weg zurück ins Paradies bewerkstelligen?

Ralph wußte es nicht, und im Augenblick war es ihm auch egal. Er wollte nur stehenbleiben, wo er war, die Stirn an die Wand pressen und die Augen geschlossen halten, damit er überhaupt nichts ansehen mußte.

Kapitel 8

Der Strand war ein langes weißes Band und glich ein wenig dem Aufblitzen eines weißen Seidenslips am Saum des schimmernden blauen Meeres; er war vollkommen verlassen, abgesehen von einem runden Gegenstand etwa sechzig Meter entfernt. Dieser runde Gegenstand war etwa so groß wie ein Basketball und erfüllte Ralph mit einer Angst, die ebenso tief verwurzelt wie - jedenfalls im Augenblick - grundlos war.

Geh nicht näher hin, sagte er sich. Das hat etwas Böses an sich. Etwas wirklich Böses. Es ist ein schwarzer Hund, der einen blauen Mond anbellt, Blut im Spülbecken, ein Rabe auf der Büste der Pallas Athene direkt neben der Kammertür. Du solltest nicht in seine Nähe gehen, und du mußt nicht in seine Nähe gehen, denn dies ist einer von Joe Wyzers lichten Träumen. Du kannst einfach umkehren und weggehen, wenn du willst.

Aber seine Füße trugen ihn trotzdem weiter, also war es vielleicht doch kein lichter Traum. Und nicht angenehm, ganz und gar nicht. Denn je näher er dem Gegenstand am Strand kam, desto weniger Ähnlichkeit hatte dieser mit einem Basketball.

Es war bei weitem der realistischste Traum, den Ralph je erlebt hatte, und weil er wußte, daß er träumte, schien das Gefühl von Realismus noch stärker als sonst zu sein. Er konnte den feinen, lockeren Sand unter den bloßen Füßen spüren, warm, aber nicht heiß; er konnte das knirschende, felsige Tosen der Wellen hören, die das Gleichgewicht verloren und über dem Strand zusammenstürzten, wo der Sand wie sonnengebräunte, nasse Haut glänzte; er konnte Salz und trocknenden Seetang riechen, einen starken, tränenreichen Geruch, der ihn an Sommerferien in Old Orchard Beach erinnerte, als er ein Kind gewesen war.

He, alter Kumpel, wenn du diesen Traum nicht verändern kannst, solltest du vielleicht die Notbremse ziehen und aussteigen - mit anderen Worten, weck dich auf, aber sofort.

Er hatte die halbe Strecke zu dem Gegenstand am Strand zurückgelegt, und nun konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, worum es sich handelte - kein Baseball, sondern ein Menschenkopf. Jemand hatte einen Menschen bis zum Hals im Sand eingegraben... und plötzlich stellte Ralph fest, daß die Flut kam.

Er stieg nicht aus, er fing an zu laufen. Als er das tat, berührte die Schaumkrone einer Welle den Kopf. Der Kopf riß den Mund auf und fing an zu schreien. Trotz des schrillen Schreis erkannte Ralph die Stimme sofort. Es war die von Carolyn.

Die Gischt einer zweiten Welle strömte über den Strand und spülte das Haar zurück, das an den nassen Wangen des Kopfs geklebt hatte. Ralph lief schneller, obwohl er wußte, er würde mit ziemlicher Sicherheit zu spät kommen. Die Flut kam immer schneller. Carolyn würde, lange bevor er ihren eingegrabenen Leib freilegen konnte, ertrinken.

Du mußt sie nicht retten, Ralph. Carolyn ist schon tot, und sie ist nicht an einem menschenleeren Strand gestorben. Es ist im Zimmer 317 des Derry Home Hospital passiert. Du warst bis zum Ende bei ihr, und du hast keine Brandung gehört, sondern Schneeregen, der ans Fenster prasselte. Weißt du das nicht mehr?

Er wußte es noch, lief aber nichtsdestotrotz schneller; staubige Sandwölkchen stoben hinter ihm hoch.

Aber du wirst sie nie erreichen; du weißt, wie das in Träumen ist, oder nicht? Alles, wohin du läufst, verwandelt sich in etwas anderes.

Nein, so hatte das in dem Gedicht nicht geheißen... oder doch? Ralph war sich nicht mehr sicher. Er wußte nur noch genau, daß am Ende der Erzähler vor etwas Tödlichem geflohen war (ich sehe über die Schulter und erkenne seine Gestalt) das ihn durch den Wald verfolgte... ihn verfolgte und näherkam.

Aber er näherte sich tatsächlich dem dunklen Gegenstand im Sand. Und der verwandelte sich auch nicht in etwas anderes, und als Ralph vor Carolyn auf die Knie fiel, wurde ihm sofort klar, warum er die Frau, mit der er dreiunddreißig Jahre lang verheiratet gewesen war, nicht einmal aus der Ferne hatte erkennen können: Etwas stimmte nicht mit ihrer Aura. Sie klebte an ihrer Haut wie ein Schmutzwäschebeutel für die chemische Reinigung. Als Ralphs Schatten über sie fiel, verdrehte Carolyn die Augen wie ein Pferd, das sich beim Sprung über einen hohen Zaun ein Bein gebrochen hat. Sie atmete in raschen, erschrockenen Zügen, und bei jedem Ausatmen schössen grauschwarze Aurastrahlen aus ihren Nasenlöchern.

Die zerfetzte Ballonschnur, die von ihrem Kopf aufstieg, war so purpur-schwarz wie eine schwärende Wunde. Als sie den Mund aufmachte, um noch einmal zu schreien, strömte eine häßlich leuchtende Substanz in gummiartigen Fäden von ihren Lippen, die fast wieder verschwunden waren, bevor seine Augen ihre Existenz richtig wahrgenommen hatten.

Ich werde dich retten, Caroll rief er. Er ließ sich auf die Knie fallen und grub im Sand um sie herum wie ein Hund, der einen Knochen ausbuddelt... und bei diesem Gedanken wurde ihm bewußt, daß Rosalie, der frühmorgendliche Streuner der Harris Avenue, müde hinter seiner schreienden Frau saß. Es war, als wäre der Hund durch den Gedanken herbeibeschworen worden. Rosalie, sah er, war ebenfalls von einer schmutzigen schwarzen Aura umgeben. Sie hielt Bill McGoverns verschwundenen Panamahut zwischen den Pfoten, der aussah, als hätte sie kräftig darauf herumgekaut, seit er in ihren Besitz gelangt war.

Dahin ist der verfluchte Hut also verschwunden, dachte Ralph, drehte sich wieder zu Carolyn um und fing noch schneller an zu graben. Bis jetzt war es ihm nicht gelungen, auch nur eine Schulter freizulegen.

Laß mich! schrie Carolyn ihn an. Ich bin schon tot, weißt du nicht mehr? Achte auf die Spuren des weißen Mannes, Ralph! Die eine Welle, glasig grün unten, oben mit weißem Schaum gekrönt, brach keine drei Meter entfernt am Strand. Sie rannte auf dem Sand auf sie zu, brachte Ralphs Hoden in dem kalten Wasser zum Erschauern, und begrub Carolyns Kopf vorübergehend unter einer Flutwelle sandigen Schaums. Als das Wasser zurückging, stieß Ralph selbst einen gräßlichen Schrei himmelwärts aus. Die Welle hatte in Sekunden geschafft, wozu die Bestrahlungen fast einen Monat gebraucht hatten; sie hatte ihr das Haar genommen und sie kahl zurückgelassen. Und ihr Kopf blähte sich an der Stelle auf, wo die schwarze Ballonschnur befestigt war.

Carolyn, nein! heulte er und grub noch schneller. Der Sand war jetzt naß und unangenehm schwer.

Vergiß es, sagte sie. Schwarzgraue Wölkchen kamen bei jedem Wort aus ihrem Mund wie schmutziger Rauch aus einem Industrieschlot. Es ist nur der Tumor, und der ist inoperabel, also hab keine schlaflosen Nächte wegen dem Teil der Vorstellung. Zum Teufel, es ist ein langer Weg zurück ins Paradies, also hör auf, dich über Kleinigkeiten aufzuregen, richtig? Aber du mußt nach diesen Spuren Ausschau halten...

Carolyn, ich weiß nicht, wovon du sprichst!

Eine weitere Welle kam, durchnäßte Ralph bis zur Taille und begrub Carolyn wieder unter sich. Als die Welle zurückwich, platzte die Schwellung auf Carolyns Kopf allmählich auf.

Das wirst du bald herausfinden, antwortete Carolyn, und dann barst die Schwellung auf ihrem Kopf mit einem Geräusch, als hätte ein Hammer auf ein Stück Fleisch geschlagen. Ein Blutschwall spritzte in die kalte, nach Salz riechende Luft, und plötzlich ergoß sich ein Schwärm Käfer so groß wie Kakerlaken aus ihrem Inneren. Ralph hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen nicht einmal in einem Traum -, daher erfüllten sie ihn mit fast hysterischem Abscheu. Er wäre geflohen, trotz Carolyn, aber er war erstarrt und konnte nicht einmal einen Finger rühren, geschweige denn aufstehen und weglaufen.

Einige der Käfer liefen durch den schreienden Mund in Carolyn zurück, aber die meisten wuselten über die Wangen und Schultern auf den nassen Sand. Dabei betrachteten sie Ralph unablässig mit ihren vorwurfsvollen Insektenaugen. Das ist alles deine Schuld, schienen die Augen zu sagen. Du hättest sie retten können, Ralph, und ein besserer Mann hätte sie gerettet.

Carolyn! schrie er. Er streckte die Hand nach ihr aus, aber dann zog er sie zurück, weil ihn vor den schwarzen Käfern ekelte, die immer noch aus ihrem Kopf quollen. Hinter ihr saß Rosalie in ihrer eigenen dunklen Vertiefung, sah ihn ernst an und hielt McGoverns verlegten chapeau im Maul.

Eines von Carolyns Augen ploppte heraus und fiel wie ein Tropfen Blaubeergelee in den nassen Sand. Käfer ergossen sich aus der leeren Augenhöhle.

»Carolyn! « schrie er. Carolyn! Carolyn! Carolyn! Carolyn! Car-«

Plötzlich, in dem Augenblick, als ihm klar wurde, daß der Traum vorbei war, fiel Ralph. Er registrierte die Tatsache praktisch erst, als er auf dem Schlafzimmerboden landete. Es gelang ihm, seinen Sturz mit einer ausgestreckten Hand abzufangen, womit er wahrscheinlich vermied, sich schlimm den Kopf anzustoßen, was aber dafür einen heftigen Schmerz unter dem Verband an der linken Seite auslöste. Einen Augenblick lang nahm er den Schmerz jedoch kaum wahr. Er verspürte Angst, Ekel, Grauen, einen schrecklichen, schmerzhaften Kummer... am meisten aber ein überwältigendes Gefühl der Dankbarkeit. Der böse Traum - sicherlich der schlimmste Alptraum, den er je gehabt hatte - war vorbei, und er befand sich wieder in der Welt der wirklichen Dinge.

Er zog das weitgehend aufgeknöpfte Pyjamaoberteil zurück, untersuchte den Verband nach Blutspuren, fand keine und richtete sich auf. Das allein schien ihn schon auszulaugen; die Vorstellung, aufzustehen - und sei es nur gerade lange genug, um wieder ins Bett zu fallen, stand vorläufig außer Frage. Vielleicht wenn sich sein von Panik ergriffenes, rasendes Herz ein wenig beruhigt hatte.

Kann man an Alpträumen sterben? fragte er sich, und als Antwort hörte er Joe Wyzers Stimme: Worauf Sie sich verlassen können, Ralph, aber der Leichenbeschauer schreibt normalerweise Selbstmord in die Spalte Todesursache.

Ralph, der, von den Nachwirkungen seines Alptraums zitternd, auf dem Boden saß und die Knie mit dem rechten Arm umschlang, hatte nicht den geringsten Zweifel daran, daß manche Träume schlimm genug waren, töten zu können. Die Einzelheiten seines eigenen verblaßten jetzt, aber an den Höhepunkt konnte er sich nur allzu deutlich erinnern: das pochende Geräusch, als würde ein Hammer auf eine dicke Scheibe Rindersteak schlagen, und die widerliche Sturzflut der Käfer aus Carolyns Kopf. Fett waren sie gewesen, fett und lebhaft, und warum auch nicht? Sie hatten sich am Gehirn seiner toten Frau gütlich getan.

Ralph stieß ein leises, schluchzendes Stöhnen aus, strich sich mit der linken Hand über das Gesicht und löste damit einen erneuten stechenden Schmerz unter dem Verband aus. Seine Handfläche war schweißnaß.

Was genau hatte sie ihm gesagt, wonach sollte er Ausschau halten? Sporen weißer Männer? Nein - Spuren, nicht Sporen. Spuren des weißen Mannes, was immer das auch sein mochte. War das alles gewesen? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es war ein Traum, Herrgott noch mal, nur ein Traum, und außerhalb der Fantasy-Welt, wie sie in der Regenbogenpresse geschildert wurde, bedeuteten Träume nichts und bewiesen nichts. Wenn ein Mensch schlafen ging, schien sich der Verstand in eine Art Trödler zu verwandeln, der den Flohmarkt des Kurzzeitgedächtnisses nach überwiegend wertlosen Erinnerungen durchsuchte, aber nicht nach Dingen Ausschau hielt, die wertvoll oder gar nützlich waren, sondern nur nach welchen, die noch strahlend glänzten. Diese stellte er zu Collagen aus dem Gruselkabinett zusammen, die nicht selten atemberaubend waren, aber nicht mehr Sinn ergaben als Natalie Deepneaus Gesprächsbeiträge. Rosalie, die Hündin, war darin vorgekommen, selbst Bills verschwundener Panamahut hatte einen Gastauftritt absolviert, aber das hatte alles nichts zu bedeuten... aber morgen nacht würde er keine der Schmerztabletten nehmen, die der Notarzt ihm gegeben hatte, selbst wenn sein Arm sich anfühlte, als würde er abfallen. Diejenige, die er vor den Spätnachrichten genommen hatte, hatte ihn nicht nur nicht ausschlafen lassen, wie er insgeheim gehofft und halb erwartet hatte, sondern hatte wahrscheinlich ihren Teil dazu beigetragen, den Alptraum zu inszenieren.

Es gelang Ralph, vom Boden aufzustehen und sich auf die Bettkante zu setzen. Eine Welle von Schwindelgefühl durchdrang seinen Kopf wie Fallschirmseide, und er machte die Augen zu, bis das Gefühl vorbei war. Während er mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen dasaß, tastete er nach der Nachttischlampe und schaltete sie ein. Als er die Augen aufschlug, sah der Teil des Schlafzimmers, der von dem warmen gelben Schein erhellt wurde, sehr hell und real aus.

Er sah auf die Uhr neben der Lampe. 11:48 Uhr, und er fühlte sich hellwach und voll da, Schmerzmittel hin oder her. Er stand auf, ging langsam in die Küche und stellte den Teekessel auf. Dann lehnte er sich an den Tresen, massierte geistesabwesend den Verband unter der linken Achselhöhle und versuchte, das Pochen zu stillen, das seine jüngsten Abenteuer dort geweckt hatten. Als der Kessel dampfte, goss er heißes Wasser über einen Beutel Sleepy Time - das war ein Witz - und ging mit der Tasse ins Wohnzimmer. Er ließ sich in den Ohrensessel fallen und machte sich gar nicht erst die Mühe, ein Licht einzuschalten; die Straßenlampen und das spärliche Licht aus dem Schlafzimmer reichten völlig aus.

Nun, dachte er, da bin ich wieder, erste Reihe Mitte. Das Stück kann beginnen.

Zeit verging, aber wieviel konnte er nicht sagen; das Pochen unter seinem Arm ließ jedoch nach, und der Tee in der Tasse war nicht mehr heiß, sondern lauwarm, als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Ralph drehte den Kopf und rechnete damit, daß er Rosalie sehen würde, aber es war nicht Rosalie. Zwei Männer betraten die Veranda eines Hauses auf der anderen Seite der Harris Avenue. Ralph konnte die Farben des Hauses nicht erkennen - das gelborange Licht der Natriumdampflampen, die die Stadt vor einigen Jahren aufgestellt hatte, leuchtete zwar jeden Winkel aus, machte es aber unmöglich, Farben naturgetreu zu erkennen - er konnte nur sehen, daß sich die Farbe der Verzierungen radikal von der Farbe der Fassade unterschied. In Verbindung mit dem Standort des Hauses war Ralph fast überzeugt, daß es sich um May Lochers Haus handelte.

Die beiden Männer auf May Lochers Veranda waren sehr klein, wahrscheinlich nicht größer als einen Meter zwanzig. Sie schienen von grünen Auren umgeben zu sein. Gekleidet waren sie in identische weiße Kittel, die für Ralph aussahen wie diejenigen, die Schauspieler in alten Krankenhaus-Seifenopern getragen hatten - Schwarzweißmelodrame wie Ben Casey und Dr. Kildare. Einer hielt etwas in der Hand. Ralph kniff die Augen zusammen. Er konnte es nicht genau erkennen, aber es sah scharf und hungrig aus. Er hätte nicht unter Eid beschwören können, daß es sich um ein Messer handelte, aber er hielt es für eines. Ja, es konnte durchaus ein Messer sein.

Sein erster klarer Gedanke war, daß die Männer da drüben wie Außerirdische in einem Film über eine Entführung per UFO aussahen - Die Besucher oder A Fire in the Sky. Sein zweiter Gedanke war, daß er wieder eingeschlafen sein mußte, hier im Ohrensessel, ohne es zu merken.

Ganz recht, Ralph - nur noch ein bißchen Flohmarkt-Action, wahrscheinlich ausgelöst durch die Aufregung über das Messer Attentat und gefördert von dieser verflixten Schmerztablette.

Aber er spürte nichts Furchteinflößendes an den beiden Gestalten auf May Lochers Veranda, abgesehen von dem langen, scharfen Gegenstand, den einer in der Hand hielt. Ralph vermutete, daß nicht einmal das träumende Bewußtsein etwas Bedrohliches aus zwei kleinen kahlköpfigen Typen in weißen Kitteln machen konnte, die aussahen, als wären sie aus der Requisite übriggeblieben. Auch ihr Verhalten hatte nichts Furchterregendes - nichts Verstohlenes, nichts Bedrohliches. Sie standen auf der Treppe, als hätten sie das Recht, in der dunkelsten, ruhigsten Morgenstunde dort zu sein. Sie standen einander zugewandt, und die Haltung ihrer Körper und ihrer großen, kahlen Schädel deutete auf zwei Freunde hin, die ein ernstes, zivilisiertes Gespräch führten. Sie sahen umsichtig und intelligent aus - die Sorte Weltraumfahrer, die eher sagen würde: »Wir kommen in Frieden«, als dich zu entführen und dir Sonden in den Arsch zu stecken und dann die Reaktionen darauf zu studieren.

Na gut, also ist dieser neue Traum vielleicht doch nicht durch und durch ein Alptraum. Willst du dich nach dem letzten etwa darüber beschweren?

Nein, selbstverständlich nicht. Einmal pro Nacht auf dem Boden zu landen reichte voll und ganz, recht schönen Dank. Und dennoch hatte gerade dieser Traum etwas ungeheuer Beunruhigendes; er wirkte in einer Weise real, die dem Traum von Carolyn abgegangen war. Schließlich war dies sein eigenes Wohnzimmer, kein unheimlicher fremder Strand, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er saß in demselben Ohrensessel, in dem er jeden Morgen saß, und er hielt eine Tasse Tee, die fast kalt geworden war, in der linken Hand; wenn er die Finger der rechten Hand zur Nase hob, so wie jetzt, konnte er einen leichten Hauch Seife unter den Nägeln riechen... Irischer Frühling, die er gern unter der Dusche benutzte...

Plötzlich griff sich Ralph unter die Achsel und drückte die Finger auf den Verband dort. Er spürte den Schmerz augenblicklich und stechend... aber die beiden kleinen kahlen Männer in den weißen Kitteln blieben genau da, wo sie waren, auf May Lochers Türschwelle.

Es spielt keine Rolle, was du zu spüren glaubst, Ralph. Es kann keine Rolle spielen, weil -

»Scheiße!« sagte Ralph mit heiserer, leiser Stimme. Er stand von seinem Sessel auf und stellte dabei die Tasse auf den kleinen Tisch daneben. Sleepy Time schwappte auf das Magazin TV Guide, das dort lag. »Scheiße, das ist kein Traum!«

Er schlurfte mit flatterndem Pyjama und in seinen alten, ausgetretenen Pantoffeln, so schnell er konnte, durch das Wohnzimmer in die Küche, während kleine, heiße Schmerzstiche von der Stelle ausgingen, wo Charlie Pickering ihn gestochen hatte. Er schnappte sich einen Stuhl und trug ihn in die kleine Diele des Apartments. Dort befand sich ein begehbarer Schrank. Ralph machte die Tür auf, schaltete das Licht im Inneren ein, stellte den Stuhl so hin, daß er das oberste Fach des Schranks erreichen konnte, und stieg darauf.

Auf dem Regal herrschte ein Durcheinander vergessener Gegenstände, die größtenteils Carolyn gehört hatten. Es waren Kleinigkeiten, kaum mehr als Krimskrams, aber als er sie sah, verschwand die letzte hartnäckige Überzeugung, dies könnte ein Traum sein. Er sah eine uralte Tüte M&Ms - ihre heimliche Nascherei, ihr Seelenfutter. Er fand ein herzförmiges Spitzendeckchen, einen einzelnen weißen Satinstöckelschuh mit abgebrochenem Absatz, ein Fotoalbum. Das alles schmerzte weitaus mehr als der Messerstich unter dem Arm, aber im Augenblick hatte er keine Zeit für Schmerz.

Ralph beugte sich nach vorne, stützte die linke Hand auf das hohe, staubige Regal, um sein Gewicht auszugleichen, tastete sich mit der rechten Hand durch den Plunder und betete dabei die ganze Zeit, daß es dem Stuhl nicht in den Sinn kommen möge, unter ihm wegzurutschen. Die Verletzung unter seiner Achselhöhle pochte jetzt gewaltig, und er wußte, sie würde wieder zu bluten anfangen, wenn er nicht bald mit den akrobatischen Übungen aufhörte, aber...

Ich bin sicher, daß es da oben irgendwo ist... nun... fast sicher...

Er schob die alte Schachtel mit den Fliegen und den Weidenfischkorb beiseite. Hinter dem Korb lag ein Stapel Zeitschriften. Die oberste war eine Ausgabe von Look mit Andy Williams auf dem Umschlag. Ralph schob sie mit dem Handballen beiseite, was eine Staubwolke aufwirbelte. Die alte Tüte M&Ms fiel auf den Boden und platzte auf, bunte Schokodrops spritzten in alle Richtungen. Ralph beugte sich noch weiter nach vorne; jetzt stand er fast auf den Zehenspitzen. Er vermutete, daß er es sich nur einbildete, aber der Küchenstuhl schien sich darauf vorzubereiten, ihm einen Schabernack zu spielen.

Der Gedanke war ihm kaum durch den Kopf gegangen, als der Stuhl knirschte und auf dem Holzboden langsam nach hinten rutschte. Ralph achtete nicht darauf, achtete nicht auf seine pochende Seite und achtete nicht auf die Stimme, die ihm sagte, daß er aufhören sollte, wirklich aufhören, weil er einen Wachtraum hatte, was laut dem Buch von Hall bei vielen Schlaflosen früher oder später eintrat, und auch wenn die kleinen Burschen auf der anderen Straßenseite nicht wirklich existierten, konnte es doch sein, daß er hier auf diesem langsam rutschenden Stuhl stand, und er konnte sich wirklich die Hüfte brechen, wenn der Stuhl unter ihm wegrutschte, und wie wollte er erklären, was passiert war, wenn ein klugscheißerischer Arzt in der Notaufnahme des Derry Home ihn danach fragte?

Grunzend streckte er die Hand bis ganz nach hinten aus, stieß einen Karton beiseite, aus dem ein halber Weihnachtsstern herausragte wie ein seltsames stacheliges Periskop (dabei stieß er auch den Stöckelschuh ohne Absatz auf den Boden), und dann sah er, wonach er gesucht hatte, in der hinteren linken Ecke des Regals: das Etui, in dem sich sein altes Fernglas von Zeiss-Ikon befand.

Ralph stieg von dem Stuhl herunter, bevor dieser ganz unter ihm wegrutschen konnte, schob ihn näher heran und stieg wieder hinauf. Er kam nicht bis ganz in die Ecke, wo das Fernglas lag, daher nahm er das Netz in die Hand, das seit ach so vielen Jahren da oben neben seiner Fliegenschachtel und dem Fischkorb lag, und konnte das Etui beim zweiten Versuch fassen. Er zog es nach vorne, bis er den Gurt ergreifen konnte, stieg von dem Stuhl herunter und trat auf den heruntergefallenen Stöckelschuh. Sein Knöchel knickte schmerzhaft um. Ralph stolperte, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und vermied es so knapp, mit dem Gesicht voran gegen die Wand zu prallen. Aber als er ins Wohnzimmer zurück ging, spürte er nasse Wärme unter dem Verband an der Seite. Jetzt hatte er es doch geschafft, daß die Messerwunde wieder aufgebrochen war. Prima. Eine wunderbare Nacht im Chez Robert... und wie lange war er von dem Fenster weg gewesen? Er wußte es nicht, aber es schien ziemlich lange gewesen zu sein, und er war sicher, daß die kleinen kahlköpfigen Ärzte fort sein würden, wenn er zurückkam. Die Straße würde verlassen sein und...

Er blieb wie angewurzelt stehen, das Etui des Fernglases baumelte an seinem Gurt und warf einen langen, trapezförmigen Schatten auf dem Boden hin und her, den das orangegelbe Leuchten der Straßenlaternen überzog wie eine häßliche Farbschicht.

Kleine kahlköpige Ärzte? Hatte er sie gerade so genannt? Ja, natürlich, denn so nannten die anderen sie - die Leute, die behaupteten, daß sie von ihnen entführt... untersucht... in manchen Fällen operiert worden waren. Sie waren die Mediziner aus dem Weltall, die Proktologen aus der unendlichen Weite. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war -

Ed hat den Ausdruck gebraucht, dachte Ralph. Er hat ihn in der Nacht gebraucht, als er angerufen und mich gewarnt hat, ich sollte mich von ihm und seinen Interessen fernhalten. Er sagte, der Arzt hätte ihm von dem Scharlachroten König und den Zenturionen und dem ganzen Rest erzählt.

»Ja«, flüsterte Ralph. Er hatte am ganzen Rücken eine Gänsehaut. »Ja, das hat er gesagt. >Der Arzt hat es mir gesagt. Der kleine kahlköpfige Arzt.<«

Als er zum Fenster zurückkehrte, sah er, daß die Fremden immer noch draußen waren, aber während er nach dem Fernglas gesucht hatte, waren sie von der Verandatreppe auf den Bürgersteig gegangen. In der Tat standen sie direkt unter einer der verdammten orangegelben Lampen. Ralphs Eindruck, daß die Harris Avenue wie eine verlassene Bühnenkulisse nach der abendlichen Vorstellung aussah, stellte sich mit unheimlicher, theatralischer Gewißheit wieder ein... aber mit einer anderen Bedeutung. Zunächst einmal war die Bühne nicht mehr verlassen, oder? Ein geheimnisvolles Schauspiel lange nach Mitternacht hatte seinen Anfang in einem Theater genommen, das die beiden seltsamen Wesen da unten zweifellos für vollkommen menschenleer hielten.

Was würden sie tun, wenn sie wüßten, daß sie ein Publikum haben? fragte sich Ralph. Was würden sie mit mir anstellen?

Die kahlköpfigen Ärzte legten nun das Gebaren von Männern an den Tag, die fast zu einer Einigung gelangt sind. In diesem Augenblick sahen sie für Ralph trotz der Kittel überhaupt nicht nach Ärzten aus - sie sahen aus wie Fabrikarbeiter, deren Schicht im Werk gerade zu Ende gegangen war. Diese beiden Typen, eindeutig gute Kumpels, sind einen Moment vor dem Haupttor stehengeblieben, um ein Thema zu Ende zu bringen, das nicht warten kann, bis sie einen Block weiter zur nächsten Bar gegangen sind, weil sie wissen, daß es in jedem Fall sowieso nur noch etwa eine Minute dauert; völlige Übereinstimmung ist nur noch ein oder zwei Sätze entfernt.

Ralph holte das Fernglas aus seinem Etui, hielt es an die Augen und vergeudete einen oder zwei Augenblicke, als er am Schärfeknopf herumdrehte, bis ihm klar wurde, der Grund, weshalb er nichts sah, war der, daß er vergessen hatte, die Abdeckung von den Linsen zu entfernen. Das holte er nach, und dann hielt er das Fernglas wieder an die Augen. Diesmal schnellten die beiden Gestalten unter der Straßenlaterne sofort in sein Gesichtsfeld, groß und perfekt ausgeleuchtet, aber verschwommen. Ralph drehte den kleinen Knopf zwischen den Linsen, worauf die beiden Gestalten sofort in aller Schärfe zu erkennen waren. Ralph stockte der Atem in der Kehle.

Er konnte nur einen extrem kurzen Blick auf sie werfen, nicht mehr als drei Sekunden vergingen, bis einer der Männer (wenn sie denn Männer waren) nickte und seinem Gefährten eine Hand auf die Schulter legte. Dann wandten sie sich beide ab, und Ralph konnte nur noch ihre kahlen Schädel und die glatten, weiß gekleideten Rücken sehen. Höchstens drei Sekunden, aber Ralph sah in diesem kurzen Augenblick soviel, daß ihm durch und durch mulmig wurde.

Er war das Fernglas aus zwei Gründen holen gegangen, die beide auf seinem Unvermögen beruhten, dies für einen Traum zu halten. Erstens wollte er sicherstellen, daß er die beiden Männer identifizieren konnte, sollte es jemals erforderlich sein. Zweitens (was sich sein bewußter Verstand nur ungern eingestand, was aber deshalb nicht weniger dringend war), er wollte den beunruhigenden Verdacht zerstreuen, daß er es mit seiner eigenen unheimlichen Begegnung der dritten Art zu tun hatte.

Aber statt den Verdacht zu zerstreuen, erhärtete ihn der kurze Blick durch das Fernglas. Die kleinen kahlköpfigen Ärzte schienen gar keine Gesichtszüge zu haben. Sie hatten Gesichter, ja Augen, Nase, Mund -, aber die sahen so austauschbar aus wie verchromte Zierleisten am selben Modell desselben Baujahrs eines Autos. Sie hätten eineiige Zwillinge sein können, aber das war auch nicht der Eindruck, den Ralph hatte. Sie sahen mehr wie Schaufensterpuppen aus, die über Nacht ihre Perücken abgezogen hatten; als wäre ihre unheimliche Ähnlichkeit keine Folge genetischer Zusammenhänge, sondern von Massenproduktion.

Das einzige eigentlich Seltsame, das er herausgreifen und benennen konnte, war das übernatürlich glatte Aussehen ihrer Haut - keiner von ihnen hatte auch nur eine einzige sichtbare Falte oder Runzel. Auch keine Muttermale, Flecken oder Narben, aber Ralph vermutete, daß man so etwas nicht einmal mit einem besonders guten Fernglas erkennen konnte. Abgesehen von der glatten und seltsam faltenlosen Oberfläche der Haut war alles subjektiv. Und er hatte nur einen so gottverdammt kurzen Blick darauf werfen können! Wäre er schneller an das Fernglas herangekommen, ohne das Brimborium mit Stuhl und Fischernetz, und hätte er gleich bemerkt, daß die Linsenabdeckungen noch darauf waren, statt sich an der Schärfeeinstellung zu schaffen zu machen, hätte er sich vielleicht einen Teil oder alles Unbehagen ersparen können, das er jetzt empfand.

Sie sehen wie Skizzen aus, dachte er in dem Augenblick, bevor sie ihm die Rücken zudrehten. Das ist es, was mir so zu schaffen macht, glaube ich. Nicht die identischen kahlen Köpfe, die identischen weißen Kittel oder die fehlenden Falten. Daß sie wie Skizzen aussehen - die Augen nur Kreise, die kleinen Ohren nur Filzstiftkrakel, die Münder zwei rasche, fast achtlose Striche mit Wasserfarben. Sie sehen weder wie Außerirdische noch wie Menschen aus; sie sehen aus wie hastige Abbildungen von... nun, ich weiß auch nicht.

Er wußte nur eines mit Sicherheit: Doc Nr. 1 und Doc Nr. 2 waren beide in helle Auren gehüllt, die durch das Fernglas grüngolden mit rötlich-orangefarbenen Flecken durchwirkt ausgesehen hatten, die glühten wie aufwirbelnde Funken eines Lagerfeuers. Diese Auren hatten ein Gefühl von Kraft und Vitalität vermittelt, was die konturlosen, uninteressanten Gesichter nicht vermocht hatten.

Gesichter? Ich bin nicht sicher, ob ich sie wiedererkennen könnte, wenn mir jemand eine Pistole an die Schläfe halten würde. Es ist fast, als wären sie gemacht worden, damit man sie wieder vergißt. Wenn sie immer noch kahl wären, sicher-kein Problem. Aber wenn sie Perücken trügen und säßen, so daß ich nicht sehen kann, wie klein sie sind? Vielleicht... die fehlenden Falten könnten sie verraten... aber andererseits, vielleicht auch nicht. Aber die Auren... diese grün-goldenen Auren, in denen rote Fünkchen tanzen... die würde ich überall erkennen. Aber etwas stimmt nicht damit, oder? Aber was?

Die Antwort fiel Ralph so plötzlich und mühelos ein, wie die beiden Wesen sichtbar geworden waren, als er endlich daran gedacht hatte, die Blende von den Linsen des Fernglases zu nehmen. Beide kleine Ärzte waren in strahlende Auren gehüllt... aber bei keinem war eine Ballonschnur von dem haarlosen Kopf in die Höhe geschwebt. Nicht einmal eine Spur davon.

Sie schlenderten mit der Sorglosigkeit von zwei guten Freunden beim Sonntagsspaziergang die Harris Avenue in Richtung Strawford Park hinunter. Kurz bevor sie aus dem hellen Lichtkreis der Straßenlaterne vor May Lochers Haus heraustraten, senkte Ralph das Fernglas ein wenig, damit er den Gegenstand in der rechten Hand von Doc Nr. 1 erkennen konnte. Es war kein Messer, wie er vermutet hatte, aber es war dennoch kein Gegenstand, den man gerne in den frühen Morgenstunden in den Händen eines fortgehenden Fremden sah.

Es handelte sich um eine lange Schere aus Edelstahl.

Das Gefühl, als würde er unbarmherzig auf den Schlund eines Tunnels zugeschoben werden, wo alle möglichen unangenehmen Sachen auf ihn warteten, hatte sich wieder eingestellt, nur wurde es jetzt von einem Gefühl der Panik begleitet, weil es schien, als hätte er den letzten, größten Schubs bekommen, während er schlief und von seiner toten Frau träumte. Etwas in Ralphs Inneren wollte vor Entsetzen aufschreien, und er begriff, wenn er nicht sofort etwas dagegen unternahm, würde er in Kürze wirklich laut schreien. Er machte die Augen zu, holte tief Luft und versuchte, sich bei jedem Atemzug ein anderes Nahrungsmittel vorzustellen: eine Tomate, eine Kartoffel, eine Eiswaffel, Rosenkohl. Dr. Jamal hatte Carolyn diese einfache Entspannungstechnik beigebracht, und sie hatte die Kopfschmerzen manchmal vertrieben, bevor sie richtig loslegen konnten; sogar in den letzten sechs Wochen, als der Tumor außer Kontrolle geraten war, hatte die Technik manchmal geholfen, und sie unterdrückte jetzt auch Ralphs Panik. Sein Herz schlug langsamer, und das Gefühl, als ob er schreien müßte, ließ nach.

Ralph atmete weiter tief durch und dachte (Apfel Birne Stück Zitronentorte) an Nahrungsmittel, während er vorsichtig die Abdeckung wieder auf das Fernglas schob. Seine Hände zitterten immer noch, aber nicht so sehr, daß er sie nicht benützen konnte. Als das Fernglas wieder in seinem Etui verstaut war, hob Ralph zaghaft den linken Arm und betrachtete den Verband. In der Mitte befand sich ein roter Fleck so groß wie eine Aspirintablette, aber der schien nicht größer zu werden. Gut.

Es ist überhaupt nicht gut, Ralph.

Richtig, aber das würde ihm nicht bei der Klärung helfen, was genau geschehen war und was er deswegen unternehmen wollte. Der erste Schritt bestand darin, den gräßlichen Traum von Carolyn vorerst zu verdrängen und sich darüber klarzuwerden, was sich tatsächlich zugetragen hatte.

»Ich bin wach, seit ich auf den Boden gefallen bin«, sagte Ralph in das verlassene Zimmer. »Das weiß ich, und ich weiß, daß ich diese Männer gesehen habe.«

Ja. Er hatte sie wirklich gesehen, ebenso die grün-goldenen Auren um sie herum. Und damit war er nicht allein; Ed Deepneau hatte ebenfalls mindestens einen von ihnen gesehen. Ralph hätte seine Farm darauf gewettet, hätte er eine Farm zum Verwetten besessen. Es war freilich nicht sehr beruhigend, daß ein Paranoider aus der Nachbarschaft, der seine Ehefrau verprügelte, dieselben kleinen kahlen Typen sah.

Und die Auren, Ralph - hat er nicht auch etwas von Auren gesagt?

Nun, er hatte nicht gerade dieses Wort benutzt, aber Ralph war ziemlich sicher, daß er trotzdem mindestens zweimal von den Auren gesprochen hatte. Ralph, manchmal ist die Welt voller Farben. Das war im August gewesen, kurz bevor John Leydecker Ed wegen häuslicher Tätlichkeiten verhaftet hatte, einer Ordnungswidrigkeit. Dann, fast einen Monat später, als er Ralph angerufen hatte: Siehst du die Farben schon?

Zuerst die Farben, jetzt die kleinen kahlköpfigen Ärzte; mit Sicherheit konnte der Scharlachrote König nicht mehr weit sein. Und von alledem einmal abgesehen, was wollte er in der Sache unternehmen, deren Zeuge er gerade geworden war?

Die Antwort fiel ihm in einem unerwarteten, aber willkommenen Anflug von Erleuchtung ein. Das Thema, dachte er, war nicht sein Geisteszustand, nicht die Auren, nicht die kleinen kahlköpfigen Ärzte, sondern May Locher. Er hatte gerade die beiden Fremden mitten in der Nacht aus May Lochers Haus kommen gesehen... und einer hatte eine Schere in der Hand gehabt.

Ralph griff mit der Hand an dem Fernglas vorbei, nahm das Telefon und wählte 911.

»Hier spricht Officer Hagen.« Eine Frauenstimme. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Indem Sie genau zuhören und rasch handeln«, sagte Ralph kurz angebunden. Der Ausdruck benommener Unentschlossenheit, den er in diesem Sommer so häufig zur Schau gestellt hatte, war jetzt völlig verschwunden; er saß aufrecht in seinem Sessel, hatte das Telefon auf dem Schoß, und sah nicht mehr wie siebzig aus, sondern wie ein gesunder und kräftiger Fünfundfünfzigjähriger. »Dann können Sie vielleicht einer Frau das Leben retten.«

»Sir, würden Sie mir bitte Ihren Namen und -« »Bitte unterbrechen Sie mich nicht, Officer Hagen«, sagte der Mann, der sich nicht mehr an die letzten vier Ziffern der Telefonnummer des Kino-Centers erinnern konnte. »Ich bin vor kurzer Zeit aufgewacht, konnte nicht mehr einschlafen und beschloß, eine Weile aufzubleiben. Von meinem Wohnzimmer aus kann ich den oberen Abschnitt der Harris Avenue überblicken. Ich habe gerade gesehen -«

Hier geriet Ralph einen Sekundenbruchteil ins Stocken, dachte aber nicht darüber nach, was er gesehen hatte, sondern was er Officer Hagen erzählen sollte. Die Antwort kam ihm so schnell und mühelos wie der Entschluß, 911 anzurufen.

»Ich habe zwei Männer gesehen, die aus einem Haus auf der Straßenseite des Red Apple gekommen snd. Es gehört einer Frau namens May Locher. Ich buchstabiere: LO-C-H-E-R, mit einem L wie Lexington. Mrs. Locher ist schwer krank. Ich habe die beiden Männer vorher noch nie gesehen.« Er machte wieder eine Pause, diesmal jedoch absichtlich, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. »Einer hatte eine Schere in der Hand.«

»Adresse?« fragte Officer Hagen. Sie war vollkommen ruhig, aber Ralph spürte, daß eine Menge Lämpchen bei ihr angegangen waren.

»Das weiß ich nicht«, sagte er. »Schlagen Sie sie im Telefonbuch nach, Officer Hagen, oder sagen Sie den Beamten auf Streife, sie sollen einfach nach dem gelben Haus mit den rosa Verzierungen etwa einen halben Block vom Red Apple entfernt Ausschau halten. Wahrscheinlich müssen sie es mit einer Taschenlampe suchen, wegen dieser verfluchten orangefarbenen Straßenlaternen, aber sie werden es finden.«

»Ja, Sir, ich bin ganz sicher, aber ich brauche trotzdem Ihren Namen und Ihre Anschrift für unsere Unterla...«

Ralph legte den Hörer behutsam auf. Er betrachtete das Telefon fast eine ganze Minute und rechnete damit, daß es läuten würde. Als es stumm blieb, kam er zum Ergebnis, daß sie entweder nicht über die raffinierten Geräte verfügten, mit denen man einen Telefonanruf zurückverfolgen konnte, wie man sie in True-Crime-Sendungen im Fernsehen immer sah, oder sie waren nicht eingeschaltet gewesen. Das war gut. Es löste nicht das Problem, was er tun oder sagen sollte, wenn sie May Locher in Fetzen aus ihrem scheußlichen gelb-rosa Haus schleppten, aber es verschaffte ihm wenigstens etwas Zeit zum Nachdenken.

Unter ihm blieb die Harris Avenue still und stumm im Licht der grellen Lampen, die sich in beide Richtungen erstreckten wie der Traum eines Surrealisten von Perspektive. Das Schauspiel kurz, aber voller Dramatik - schien vorbei zu sein. Die Bühne war wieder verlassen. Sie -

Nein, doch nicht ganz verlassen. Rosalie kam aus der Gasse zwischen dem Red Apple und dem Tru-Value-Eisenwarenladen daneben herausgehinkt. Das verblaßte Taschentuch flatterte um ihren Hals. Es war kein Donnerstag, daher standen keine Mülltonnen draußen, die Rosalie untersuchen konnte, und so ging sie rasch den Bürgersteig entlang bis zu May Lochers Haus. Dort blieb sie stehen und senkte die Nase (als er die lange und hübsche Schnauze sah, dachte Ralph, daß sich ein Collie unter Rosalies Vorfahren befunden haben mußte).

Ralph stellte fest, daß dort etwas glänzte.

Er holte das Fernglas wieder aus der Hülle und richtete es auf Rosalie. Dabei schweifte sein Denken wieder zum zehnten

September ab - diesmal zum Treffen mit Bill und Lois vor dem Eingang des Strawford Park. Er erinnerte sich, wie Bill Lois den Arm um die Taille gelegt und sie die Straße entlanggeführt hatte; wie Ralph, als er die beiden zusammen sah, an Ginger Rogers und Fred Astaire hatte denken müssen. Am deutlichsten aber erinnerte er sich an die gespenstischen Spuren, die die beiden hinterlassen hatten - Spuren, die ihn an die alten Tanzunterrichtsdiagramme von Arthur Murray erinnert hatten. Die von Lois waren grau gewesen; die von Bill olivgrün. Damals hatte er sie für Halluzinationen gehalten - in der guten alten Zeit, bevor er die Aufmerksamkeit von Irren wie Charlie Pickering auf sich gezogen und mitten in der Nacht kleine kahlköpfige Ärzte gesehen hatte.

Rosalie schnupperte an einer ähnlichen Spur. Sie hatte dieselbe grün-goldene Farbe wie die Auren, die Doc Nr. 1 und Doc Nr. 2 umgeben hatten. Ralph schwenkte das Fernglas langsam von dem Hund weg und sah weitere Spuren, zwei Linien, die in Richtung des Parks den Bürgersteig entlangführten. Sie verblaßten - er konnte fast sehen, wie sie vor seinen Augen verblaßten -, aber sie waren da.

Ralph richtete das Fernglas wieder auf Rosalie und verspürte plötzlich eine ungeheure Zuneigung zu dem räudigen alten Streuner... warum auch nicht? Wenn er einen letzten, endgültigen Beweis gebraucht hätte, daß er tatsächlich gesehen hatte, was er gesehen zu haben glaubte, dann war es Rosalie.

Wenn die kleine Natalie hier wäre, würde sie sie auch sehen, dachte Ralph... Und dann bestürmten ihn wieder sämtliche Zweifel. Würde sie sie sehen? Wirklich? Er hatte geglaubt, daß das Baby nach den schwachen Auren gegriffen hatte, die seine Finger hinterließen, und er war sicher, sie hatte den geisterhaften grünen Dunst bestaunt, der von den Blumen in der Küche aufgestiegen war, aber wie konnte er sicher sein? Wie konnte überhaupt jemand mit Sicherheit wissen, was ein Baby sah oder anzufassen versuchte?

Aber Rosalie... schau doch, da unten, siehst du sie?

Das Problem war nur, überlegte Ralph, er hatte die Spuren erst gesehen, nachdem Rosalie angefangen hatte, auf dem Bürgersteig zu schnuppern. Vielleicht schnupperte sie ja an einem leckeren Hauch des Briefträgers, und was er sah, gaukelte ihm lediglich sein übermüdeter, schlafloser Geist vor... wie die kleinen kahlköpfigen Ärzte selbst.

Im vergrößerten Bereich des Fernglases hinkte Rosalie nun mit der Schnauze am Boden und langsam wedelndem, struppigem Schwanz die Harris Avenue entlang. Sie ging von der grüngoldenen Spur von Doc Nr. 1 zu der von Doc Nr. 2 und dann wieder zu der von Doc Nr. 1 zurück.

Warum sagst du mir nicht, was diese streunende Hündin verfolgt, Ralph? Hältst du es für möglich, daß ein Hund eine verfluchte Halluzination wittert? Es ist keine Halluzination; es sind Spuren. Richtige Spuren. Die Spuren des weißen Mannes, auf die du achten sollst, wie Carolyn gesagt hat. Das weißt du. Du siehst es.

»Es ist trotzdem verrückt«, sagte er sich. »Verrückt!«

Aber war es das? Wirklich? Der Traum war möglicherweise mehr als ein Traum gewesen. Wenn es so etwas gab wie Hyperrealität - und das konnte er mittlerweile beschwören -, dann konnte es auch so etwas wie Präkognition geben. Oder Gespenster, die in Träumen erschienen und die Zukunft vorhersagten. Wer weiß? Es war, als wäre eine Tür in der Mauer der Wirklichkeit geöffnet worden... und jetzt konnten alle möglichen unerwünschten Erscheinungen durchkommen.

Eines wußte er mit Sicherheit: Die Spuren waren wirklich da. Er sah sie, Rosalie roch sie, und das war alles. Ralph hatte in den sechs Monaten seiner Schlaflosigkeit eine Anzahl seltsamer und interessanter Dinge herausgefunden, darunter auch, daß die Fähigkeit, sich selbst etwas vorzumachen, zwischen drei und sechs Uhr morgens ihren Tiefststand erreicht zu haben schien, und jetzt war es...

Ralph beugte sich nach vorne, damit er die Uhr an der Küchenwand sehen konnte. Kurz nach halb vier. Hm-hmm.

Er hob das Fernglas wieder hoch und sah, daß Rosalie immer noch den Spuren der kahlköpfigen Ärzte folgte. Sollte jemand jetzt die Harris Avenue entlanggeschlendert kommen -unwahrscheinlich um diese Tageszeit, aber nicht ausgeschlossen -, würde er nur einen streunenden Köter mit schmutzigem Fell sehen, der ziellos wie unerzogene, herrenlose Hunde überall auf dem Bürgersteig herumschnupperte. Aber Ralph konnte sehen, was Rosalie schnupperte, und darum glaubte er nun endlich seinen Augen. Möglicherweise änderte sich das wieder, wenn die Sonne aufging, aber im Augenblick wußte er hundertprozentig, was er sah.

Rosalie hob plötzlich den Kopf. Sie spitzte die Ohren. Einen Moment war sie fast schön anzusehen, so wie ein vorstehender Jagdhund schön ist. Dann ging sie, Sekunden bevor die Scheinwerfer eines Autos, das sich der Kreuzung Harris Avenue und Witcham Street näherte, die Straße ausleuchteten, den Weg zurück, den sie gekommen war - mit ihrem hinkenden, schwankenden Gang, und sie tat Ralph leid. Wenn man es recht überlegte, war Rosalie nicht auch eine der Harris Avenue Altvorderen, der nicht einmal ab und zu der Trost einer Partie Romme oder Poker um Pennys mit ihresgleichen vergönnt war? Sie verschwand in der Gasse zwischen dem Red Apple und dem Eisenwarenladen, und Sekunden später bog ein Streifenwagen der Polizei von Derry um die Ecke und rollte langsam die Straße entlang. Die Sirene war nicht eingeschaltet, wohl aber das Blinklicht. Es ließ die schlafenden Häuser und kleinen Geschäfte in diesem Teil der Harris Avenue abwechselnd rot und blau aufleuchten.

Ralph legte das Fernglas auf den Schoß, beugte sich auf dem Sessel nach vorne, stützte die Unterarme auf die Oberschenkel und wartete gespannt. Sein Herz schlug so fest, daß er es in den Schläfen spüren konnte.

Vor dem Red Apple bremste der Streifenwagen auf Schritttempo. Der Suchscheinwerfer an der rechten Seite wurde eingeschaltet, der Lichtstrahl wanderte an den Fassaden der schlafenden Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang. In den meisten Fällen glitt er auch über Hausnummern neben Türen oder an Verandabalken. Als er die Nummer von May Lochers Haus anstrahlte (86, sah Ralph, und er brauchte das Fernglas nicht, um es zu entziffern), leuchteten die Bremslichter auf, und der Wagen kam zum Stillstand.

Zwei uniformierte Polizisten stiegen aus und näherten sich dem Fußweg zum Haus, ohne etwas von dem Mann zu ahnen, der sie von einem dunklen Fenster im ersten Stock auf der anderen Straßenseite beobachtete, und ohne die gold-grünen Fußspuren zu sehen, über die sie schritten. Sie unterhielten sich miteinander, und Ralph hob das Fernglas erneut, damit er sie besser sehen konnte. Er war ziemlich sicher, daß es sich bei dem jüngeren der beiden um den uniformierten Beamten handelte, der mit Leydecker bei Ed gewesen war, als sie Ed festgenommen hatten. Knoll? War das sein Name gewesen?

»Nein«, murmelte Ralph. »Nell. Chris Nell. Oder vielleicht Jess.«

Nell und sein Partner schienen ein ernstes Gespräch über etwas zu führen - viel ernster als das der beiden kahlköpfigen Ärzte, bevor sie fortgegangen waren. Das Gespräch endete damit, daß die beiden Polizisten ihre Schußwaffen zogen und dann nacheinander die schmale Treppe von Mrs. Lochers Haus hinaufgingen, Nell voraus. Er läutete an der Tür, wartete, läutete noch einmal. Diesmal hielt er den Knopf gute fünf Sekunden lang gedrückt. Sie warteten noch einen Moment, dann drängte sich der zweite Polizist an Nell vorbei und versuchte selbst sein Glück an der Klingel.

Vielleicht beherrscht der ja die geheime Kunst des Läutens, dachte Ralph. Hat er wahrscheinlich gelernt, indem er einen Kurs der Rosenkreuzer besucht hat.

Wenn ja, zeitigte seine Technik diesmal keine Wirkung. Sie bekamen immer noch keine Antwort, und das überraschte Ralph nicht im geringsten. Er bezweifelte, ob May Locher überhaupt aus dem Bett steigen konnte, seltsame kahlköpfige Männer mit Scheren hin oder her.

Aber wenn sie bettlägerig ist, muß sie eine Hilfe haben, jemanden, der ihr die Mahlzeiten zubereitet, ihr zur Toilette hilft oder die Bettpfanne gibt...

Chris Nell - oder möglicherweise auch Jess - trat wieder vor zur Tür. Diesmal jedoch zog er der Klingel die alte Poch-poch-poch-Im-Namen-des-Gesetzes-aufmachen-Methode vor. Dazu nahm er die linke Faust. Mit der rechten Hand hielt er immer noch die Waffe, den Lauf an das Bein seiner Uniformhose gepreßt.

Ein schreckliches Bild, so klar und deutlich wie die Auren, die er gesehen hatte, kam Ralph plötzlich in den Sinn. Er sah eine Frau mit einer durchsichtigen Sauerstoffmaske über Mund und Nase im Bett liegen. Über der Maske starrten die weit aufgerissenen Augen blicklos aus den Höhlen. Darunter klaffte der Hals zu einem breiten, gezackten Lachen auf. Bettzeug und Nachthemd der Frau waren blutgetränkt. Ganz in der Nähe lag eine zweite Frau Gesicht nach unten auf dem Boden - die Mitbewohnerin. Ein halbes Dutzend Stichwunden der spitzen Schere von Doc Nr. 1 verunzierten den Rücken des rosa Flanellnachthemds dieser Frau. Und Ralph wußte, würde man das Nachthemd hochheben, würde jede Wunde genau wie die unter seinem eigenen Arm aussehen... mit anderen Worten, wie der übergroße Punkt eines Kindes, das gerade Schreiben lernt.

Ralph versuchte, die gräßliche Vision wegzublinzeln. Sie wollte nicht verschwinden. Er verspürte dumpfe Schmerzen in den Händen und stellte fest, daß er sie zu Fäusten geballt hatte; die Nägel gruben sich in seine Handflächen. Er spreizte die Finger und umklammerte seine Oberschenkel. Jetzt sah er vor seinem geistigen Auge, wie die Frau im rosa Nachthemd leicht zuckte -sie war noch am Leben. Aber wahrscheinlich nicht mehr lange. Mit Sicherheit nicht mehr lange, wenn diese beiden Trottel nicht etwas Produktiveres unternahmen, als nur vor der Tür zu stehen und abwechselnd zu klopfen und zu läuten.

»Los doch, Jungs«, sagte Ralph und umklammerte seine Oberschenkel noch fester. »Kommt schon, kommt schon, unternehmt etwas, was meint ihr?«

Du weißt, daß du dir das alles nur eingebildet hast, oder nicht? fragte er sich unbehaglich. Ich meine, sicher, es könnten zwei tote Frauen da drüben liegen, könnte sein, aber das weißt du nicht, richtig? Das ist nicht wie bei den Auren oder den Spuren...

Nein, es war nicht wie bei den Auren oder den Spuren, das wußte er, ja. Aber er sah auch, daß da drüben in Nummer 86 niemand die Tür aufmachte, und das sah nicht gerade gut aus für Bill McGoverns alte Klassenkameradin aus Cardville. Er hatte kein Blut an der Schere von Doc Nr. 1 gesehen, aber angesichts der fragwürdigen Qualität des alten Zeiss bewies das nichts. Außerdem hätte der Typ sie abwischen können, bevor er das Haus verlassen hatte. Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, fügte seine Phantasie dem Bild ein blutiges Handtuch hinzu, das neben der toten Mitbewohnerin im rosa Nachthemd lag.

»Los doch, ihr beiden!« rief Ralph mit leiser Stimme. »Herrgott, wollt ihr die ganze Nacht da stehenbleiben?«

Zwei neue Scheinwerfer leuchteten die Harris Avenue aus. Es handelte sich um eine Ford-Limousine mit rotem Blinklicht auf dem Armaturenbrett. Der Mann, der ausstieg, trug Zivil - graue Popelinwindjacke und eine blaue Strickmütze. Ralph hatte kurz gehofft, der Neuankömmling würde sich als Johnny Leydecker entpuppen, obwohl Leydecker ihm gesagt hatte, daß er erst um die Mittagszeit kommen würde, aber er brauchte das Fernglas nicht, um sich zu vergewissern, daß er es nicht war. Dieser Mann war viel schlanker und trug einen dunklen Schnurrbart. Cop Nr. 2 kam ihm auf dem Fußweg entgegen, während Chris-oder Jess Nell um die Ecke von Mrs. Lochers Haus verschwand.

Es folgte eine der Pausen, die im Film erfreulicherweise geschnitten wurden. Cop Nr. 2 steckte die Waffe ein. Er und der gerade eingetroffene Detective standen vor der Treppe zu Mrs. Lochers Veranda, unterhielten sich anscheinend und warfen ab und zu einen Blick auf die geschlossene Tür. Einmal machte der uniformierte Polizist einen Schritt in die Richtung, in die Nell gegangen war. Der Detective hielt ihn am Arm fest und hinderte ihn daran. Sie redeten weiter miteinander. Ralph stieß einen leisen Grunzlaut der Hilflosigkeit aus.

Ein paar Minuten krochen dahin, und dann geschah alles gleichzeitig auf diese verwirrende, sich überschlagende, unschlüssige Weise, mit der sich Notfallsituationen zu entwickeln scheinen. Ein drittes Polizeiauto traf ein (Mrs. Lochers Haus und die benachbarten Häuser wurden jetzt wechselweise in rotes und gelbes Licht getaucht). Zwei weitere uniformierte Beamte stiegen aus, öffneten den Kofferraum und holten einen klobigen Apparat heraus, der für Ralph wie ein tragbares Folterinstrument aussah. Er glaubte, daß man dieses Gerät als »Jaws of Life« bezeichnete. Nach dem schweren Sturm des Jahres 1985, einem Sturm, bei dem über vierzig Menschen ums Leben gekommen waren - von denen viele in ihren Autos feststeckten und ertranken -, hatten die Schulkinder von Derry Geld gesammelt, um eines zu kaufen.

Während die beiden neuen Cops die Jaws of Life über den Bürgersteig trugen, ging die Eingangstür des Hauses oberhalb von Mrs. Lochers auf, und die Eberlys, Stan und Georgina, kamen auf ihre Veranda heraus. Ihre Haare standen zerzaust vom Kopf ab, wobei Ralph an Charlie Pickering denken mußte. Er hob das Fernglas, betrachtete kurz ihre neugierigen, aufgeregten Gesichter und legte es wieder in den Schoß.

Als nächstes kam ein Krankenwagen vom Derry Home Hospital. Die Sirene war mit Rücksicht auf die frühe Morgenstunde nicht eingeschaltet, wie bei den Streifenwagen, aber das ganze Dach schien voller Rotlichter zu sein, und die blinkten allesamt hektisch. Für Ralph sah die Szene auf der anderen Straßenseite wie aus einem seiner geliebten Dirty-Harry-Filme aus - mit abgestelltem Ton.

Die beiden Cops schleppten die Jaws of Life halb über den Rasen, dann stellten sie sie ab. Der Detective mit der Windjacke und der Strickmütze drehte sich zu ihnen um und hob die Hände mit ausgebreiteten Handflächen auf Schulterhöhe, als wollte er sagen: Was habt ihr denn mit dem Ding vorgehabt? Die gottverdammte Tür aufbrechen? Im selben Augenblick kam Officer Nell wieder hinter dem Haus hervor. Er schüttelte den Kopf.

Der Detective mit der Mütze drehte sich unvermittelt um, ging an Nell und seinem Partner vorbei die Treppe hinauf, hob einen Fuß und trat May Lochers Eingangstür ein. Er wartete einen Moment, machte den Reißverschluß der Jacke auf, wahrscheinlich, damit er an seine Waffe herankam, und betrat das Haus dann, ohne sich noch einmal umzusehen.

Ralph hätte am liebsten applaudiert.

Nell und sein Partner sahen einander unsicher an, dann folgten sie dem Detective die Treppe hinauf und zur Tür hinein. Ralph beugte sich nach weiter in seinem Sessel nach vorne, so weit, daß seine Nasenlöcher kleine Nebelwölkchen auf der Scheibe erzeugten. Drei Männer, deren weiße Anzüge im Schein der grellen orangefarbenen Laternen leuchteten, stiegen aus dem Krankenwagen aus. Einer machte die Hecktür auf, und danach standen die drei einfach nur mit den Händen in den Hosentaschen herum und warteten darauf, ob man sie brauchte. Die beiden Polizisten, die die Jaws of Life halb über Mrs. Lochers Rasen getragen hatten, sahen einander an, zuckten die Achseln, hoben sie wieder auf und trugen sie zu dem Streifenwagen zurück. Mehrere tiefe Druckstellen waren im Rasen zu sehen, wo sie sie abgestellt hatten.

Hoffentlich ist ihr nichts geschehen, dachte Ralph. Hoffentlich geht es ihr gut - und allen anderen, die bei ihr im Haus gewesen sind.

Der Detective erschien wieder unter der Tür, und Ralphs Hoffnung sank, als er den Männern winkte, die hinter dem Krankenwagen standen. Zwei zogen eine Bahre mit ausklappbarem Fahrgestell heraus; der dritte blieb, wo er war. Die Männer mit der Bahre gingen schnellen Schrittes den Fußweg entlang zum Haus, aber sie rannten nicht, und als der Sanitäter, der zurückgeblieben war, eine Packung Zigaretten aus der Tasche holte und sich eine anzündete, da wußte Ralph plötzlich - und ohne jeden Zweifel -, daß May Locher tot war.

Stan und Georgina Eberly gingen zu der niederen Hecke, die ihren Vorgarten von Mrs. Lochers trennte. Sie hatten einander die Arme um die Taillen gelegt und sahen für Ralph wie die alt und fett und ängstlich gewordenen Bobbsey Zwillinge aus.

Nun kamen auch andere Nachbarn heraus, die entweder von den Blinklichtern angelockt wurden, oder weil das Telefonnetz in diesem kurzen Abschnitt der Harris Avenue schon heißlief. Die meisten Leute, die Ralph sah, waren alt (»Wir Leute im goldenen Alter«, pflegte Bill McGovern zu sagen, selbstverständlich immer mit seiner sardonisch hochgezogenen Braue), Männer und Frauen, deren Schlaf schon unter günstigsten Bedingungen oberflächlich und leicht zu stören war. Plötzlich wurde ihm klar, daß Ed, Helen und die kleine Natalie die jüngsten Anwohner zwischen hier und der Extension gewesen waren... und jetzt waren die Deepneaus fort.

Ich könnte da runtergehen, dachte er. Ich würde zu ihnen passen. Einer von Bills Leuten im goldenen Alter.

Aber das konnte er nicht. Seine Beine fühlten sich an wie von schwachen Fäden gehaltene Teebeutel, und er war überzeugt, wenn er aufzustehen versuchte, würde er zu Boden stürzen, als wären seine Knochen weich geworden. Daher blieb er sitzen, beobachtete alles von seinem Fenster aus und verfolgte, wie sich das Stück auf der Bühne entwickelte, die zu dieser Zeit stets einsam und verlassen gewesen war... das heißt, abgesehen von den vereinzelten Auftritten Rosalies. Es war ein Schauspiel, das er selbst mit einem einzigen anonymen Telefonanruf inszeniert hatte. Er sah die Notärzte wieder mit der Bahre herauskommen, aber diesmal bewegten sie sich langsamer, weil eine Gestalt unter einem Laken auf der Bahre festgeschnallt war. Rotes und gelbes Licht flackerte abwechselnd über das Laken und die Umrisse von Beinen, Hüften, Armen, Hals und Kopf darunter.

Plötzlich wurde Ralph in seinen Traum zurückversetzt. Er sah seine Frau unter diesem Laken - nicht May Locher, sondern Carolyn Roberts, deren Kopf jeden Moment aufplatzen würde, so daß die schwarzen Käfer, die von ihrem kranken Gehirn fett geworden waren, herausquellen konnten.

Ralph drückte die Handflächen auf die Augen. Ein Laut ein unartikulierter Laut von Trauer und Wut, Grauen und Erschöpfung - entrang sich ihm. So saß er lange Zeit da, wünschte sich, er hätte das alles nie gesehen, und hoffte, daß er den Tunnel niemals würde betreten müssen, sollte es doch einen geben. Die Auren waren seltsam und wunderschön, aber nicht so schön, daß sie den schrecklichen Augenblick seines Traums wettmachen konnten, als er seine am Strand begrabene Frau entdeckt hatte; nicht schön genug, um das Grauen seiner verlorenen, schlaflosen Nächte auszugleichen, ganz zu schweigen vom Anblick der verhüllten Gestalt, die aus dem Haus auf der anderen Straßenseite gerollt wurde.

Aber er wünschte sich nicht nur, daß das Schauspiel zu Ende gehen würde; während er dasaß und die Handflächen auf die geschlossenen Lider preßte, wünschte er sich, daß alles vorbei wäre - einfach alles. Zum erstenmal in den fünfundzwanzigtausend Tagen seines Lebens wünschte sich Ralph Roberts, er wäre tot.

Kapitel 9

An einer Wand des winzigen Zimmers, das Detective John Leydecker als Büro diente, hing ein Filmplakat, das er wahrscheinlich für zwei oder drei Dollar von einer der hiesigen Videotheken bekommen hatte. Es zeigte Dumbo, den Elefanten, der mit ausgestreckten Zauberohren flog. Ein Foto von Susan Days Gesicht war über das von Dumbo geklebt worden, sorgfältig ausgeschnitten, damit der Rüssel erhalten blieb. Der gezeichneten Landschaft darunter hatte jemand ein Hinweisschild hinzugefügt, auf dem stand: DERRY 250.

»Oh, reizend«, sagte Ralph.

Leydecker lachte. »Politisch nicht besonders korrekt, was?«

»Das halte ich für eine Untertreibung«, sagte Ralph und fragte sich, was Carolyn von dem Plakat gehalten hätte - und was Helen davon halten würde. Es war Viertel vor zwei an einem wolkenverhangenen, kalten Montagnachmittag, und er und Leydecker waren gerade aus dem gegenüberliegenden Gerichtsgebäude von Derry zurückgekommen, wo Ralph seine Zeugenaussage über seine Begegnung mit Charlie Pickering tags zuvor abgelegt hatte. Er war von einem stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt verhört worden, der für Ralph ausgesehen hatte, als würde er sich in etwa einem oder zwei Jahren zum erstenmal rasieren.

Leydecker hatte ihn begleitet, wie versprochen; er saß in einer Ecke im Büro des Bezirksstaatsanwalts und sagte nichts. Sein Angebot, Ralph zu einer Tasse Kaffee einzuladen, entpuppte sich als leere Versprechung- das teuflisch aussehende Gebräu stammte aus einer Silex in einer Ecke des völlig überfüllten Aufenthaltsraums im ersten Stock des Polizeireviers. Ralph kostete es vorsichtig und stellte zu seiner Erleichterung fest, daß es etwas besser schmeckte, als es aussah.

»Zucker? Sahne?« fragte Leydecker. »Eine Waffe, damit sie darauf schießen können?«

Ralph schüttelte lächelnd den Kopf. »Schmeckt gut... aber es wäre wahrscheinlich ein Fehler, meinem Urteilsvermögen zu trauen. Ich habe meinen Konsum letzten Sommer auf zwei Tassen am Tag eingeschränkt, und seither schmeckt mir jeder Kaffee ziemlich gut.«

»So geht es mir mit Zigaretten - je weniger ich rauche, desto besser schmecken sie. Laster haben es in sich.« Leydecker holte sein Päckchen Zahnstocher heraus, nahm sich einen und steckte ihn in den Mundwinkel. Dann stellte er seine Tasse auf seinen Computer, ging zu dem Dumbo-Plakat und zog die Reißzwecken heraus, die die Ecken festhielten.

»Meinetwegen müssen Sie das nicht tun«, sagte Ralph. »Es ist Ihr Büro.«

»Falsch.« Leydecker zog das sorgfältig ausgeschnittene Foto von Susan Day von dem Plakat, knüllte es zusammen und warf es in den Mülleimer. Dann rollte er das Plakat selbst zu einem engen Zylinder zusammen.

»Oh? Und wie kommt es dann, daß Ihr Name an der Tür steht und die Kinder auf diesem Foto Ähnlichkeit mit Ihnen haben?« Ralph deutete auf ein Foto, das eine untersetzte, hübsche Frau mit zwei Jungs zeigte, schätzungsweise zehn und acht. Die Frau lächelte; die Jungs sahen ernst in die Kamera.

»Es ist mein Name und meine Familie, aber das Büro gehört Ihnen und den anderen Steuerzahlern, Ralph. Und darüber hinaus jedem Nachrichten-Vidioten, der mit einer Minicam hier reinspaziert, und wenn dieses Plakat in den Nachrichten am Mittag auftauchen würde, würde ich eine Menge Ärger bekommen. Ich habe vergessen, es abzuhängen, als ich Freitag abend gegangen bin, und ich hatte fast das ganze Wochenende über frei - was hier ziemlich selten vorkommt, das kann ich Ihnen sagen.«

»Ich nehme an, Sie haben es nicht aufgehängt.« Ralph entfernte einen Stapel Unterlagen vom einzigen Stuhl des Büros und setzte sich darauf.

»Nee. Ein paar Jungs haben am Freitag nachmittag eine Party für mich organisiert. Mit Kuchen, Eis und Geschenken.« Leydecker kramte in seiner Schreibtischschublade und brachte ein Gummiband zum Vorschein. Er schlang es um das Plakat, damit es sich nicht wieder aufrollen konnte, sah amüsiert mit einem Auge durch die Röhre auf Ralph und warf es dann in den Mülleimer. »Ich habe einen Satz Unterhöschen mit den Wochentagen drauf und ausgeschnittenem Schritt bekommen, eine Intimwaschlotion mit Erdbeergeschmack, ein Paket AntiAbtreibungsliteratur der Friends of Life, einschließlich eines Comics mit dem Titel >Denise' ungewollte Schwangerschaft<, und dieses Plakat.«

»Ich schätze, es war keine Geburtstagsparty, hm?« »Nee.« Leydecker ließ die Knöchel knacken und seufzte zur Decke. »Die Jungs haben gefeiert, daß ich für einen Spezialauftrag eingeteilt wurde.«

Ralph konnte das Flackern einer blauen Aura um Leydeckers Gesicht und Schultern sehen, aber in diesem Fall mußte er nicht erst versuchen, sie zu lesen. »Es ist Susan Day, nicht? Sie haben den Auftrag bekommen, sie zu beschützen, solange sie in der Stadt ist.«

»Treffer. Natürlich wird auch die Staatspolizei anwesend sein, aber in solchen Situationen beschränken die sich weitgehend auf die Verkehrskontrolle. Möglicherweise kommt auch das FBI, aber die halten sich meistens im Hintergrund, machen Bilder und begrüßen einander mit dem geheimen Clubzeichen.«

»Sie hat ihre eigenen Leibwächter, oder nicht?« »Ja, aber ich weiß nicht wie viele, und wie gut sie sind. Ich habe heute morgen mit ihrem Chef gesprochen, und der kann immerhin zusammenhängend reden, aber wir müssen unsere eigenen Leute einsetzen. Fünf laut den Befehlen, die ich am Freitag bekommen habe. Das sind außer mir vier Jungs, die sich freiwillig melden, sobald ich es ihnen sage. Unsere Aufgabe ist es... warten Sie... das wird Ihnen gefallen...« - Leydecker suchte zwischen den Papieren auf seinem Schreibtisch, fand, was er suchte, und hielt es hoch -, »>... deutliche Präsenz zu beweisen und stets gut sichtbar zu sein<.«

Er ließ das Blatt Papier wieder sinken und sah Ralph grinsend an. Das Grinsen war nicht sehr humorvoll.

»Mit anderen Worten, wenn jemand versucht, das Miststück zu erschießen oder ihr ein Säureshampoo zu verpassen, wollen Lisette Benson und die anderen Vidioten wenigstens die Tatsache aufzeichnen lassen, daß wir da waren.« Leydecker betrachtete das zusammengerollte Plakat in seinem Mülleimer und zeigte ihm den Vogel.

»Wieso verabscheuen Sie sie so sehr, wo Sie sie doch gar nicht kennen?« fragte Ralph.

»Ich verabscheue sie nicht, Ralph; ich hasse sie. Hören Sie, ich bin katholisch, mein liebendes Weib ist katholisch, meine Kinder sind Meßdiener in St. Joe's. Großartig. Es ist großartig, Katholik zu sein. Sie lassen einen heutzutage sogar freitags Fleisch essen. Aber wenn Sie denken, nur weil ich katholisch bin, bin ich dafür, die Abtreibung wieder zu verbieten, haben Sie sich getäuscht. Sehen Sie, ich bin der Katholik, der die Typen verhören muß, die ihre Kinder mit dem Gummischlauch verprügelt oder die Treppe hinuntergestoßen haben, nachdem sie sich die ganze Nacht guten irischen Whiskey hinter die Binde gekippt haben und wegen ihren Müttern ganz sentimental geworden sind.«

Leydecker griff in sein Hemd und zog ein kleines Goldmedaillon heraus. Er legte es auf die Finger und reichte es Ralph hinüber.

»Maria, Mutter Gottes. Das trage ich, seit ich dreizehn bin. Vor fünf Jahren habe ich einen Mann verhaftet, der genau dasselbe trug. Er hatte gerade seinen zweijährigen Stiefsohn gekocht. Ich sage Ihnen die Wahrheit. Er hat einen Riesentopf Wasser aufgestellt, und als das Wasser gekocht hat, hat er das Kind an den Knöcheln hochgehoben und in den Topf geworfen wie einen Hummer. Warum? Weil das Kind nicht aufhörte, ins Bett zu machen, sagte er uns. Ich habe den Leichnam gesehen, und ich kann Ihnen sagen, danach sehen die Bilder von abgesaugten Embryos, die diese Recht-auf-Leben-Arschlöcher zeigen, nicht mehr so schlimm aus.«

Leydeckers Stimme hatte leicht zu zittern angefangen.

»Am deutlichsten kann ich mich daran erinnern, wie der Kerl geweint hat, wie er das Marienmedaillon um seinen Hals gehalten und beteuert hat, daß er zur Beichte gehen wollte. Da war ich echt stolz darauf, Katholik zu sein, das kann ich Ihnen sagen, Ralph... und was den Papst angeht, ich bin der Meinung, er dürfte keine Meinung zu dem Thema haben, solange er nicht selbst Kinder hat oder sich zumindest einmal ein Jahr um Heroinbabys kümmern mußte.«

»Okay«, sagte Ralph. »Was haben Sie dann für ein Problem mit Susan Day?«

»Sie ist eine verdammte Aufwieglerin!« brüllte Leydecker. »Sie kommt in meine Stadt, und ich muß sie beschützen. Gut. Ich habe gute Männer, und mit etwas Glück wird ihr Kopf noch an der richtigen Stelle sitzen und ihre Titten in die richtige Richtung zeigen, wenn sie die Stadt verläßt, aber was passiert davor? Und danach? Glauben Sie, das interessiert die auch nur im geringsten? Und was das betrifft, glauben Sie, die Leute von Woman-Care kümmern sich einen Scheißdreck um die Folgen?«

»Ich weiß nicht.«

»Die Befürworter von Woman-Care neigen nicht ganz so sehr zu Gewalttaten wie die Friends of Life, aber was den entscheidenden Faktor betrifft, nämlich wieviel Scheiße sie bauen, die wir ausbaden müssen, ist kein großer Unterschied zwischen ihnen. Wissen Sie, worum es hier ging, als das alles angefangen hat?«

Ralph versuchte, sich an seine erste Unterhaltung über Susan Day zu erinnern, die er mit Ham Davenport geführt hatte. Einen Moment wäre er fast darauf gekommen, aber dann entwischte es ihm wieder. Die Schlaflosigkeit hatte wieder gewonnen. Er schüttelte den Kopf.

»Bebauungspläne«, sagte Leydecker und lachte voll mißfälligem Staunen. »Stinknormale Bebauungspläne. Klasse, was? Im Frühsommer kamen George Tandy und Emma Wheaton, zwei der konservativeren Stadträte, auf die Idee, beim Bauausschuß einen Antrag zu stellen, ob man den Bebauungsplan des Viertels mit Woman-Care nicht ändern könnte; der Hintergedanke war, die Klinik einfach wegzumanipulieren. Ich bezweifle, daß das der richtige Ausdruck ist, aber Sie verstehen, worum es geht, oder?«

»Klar.«

»Hm-hmm. Also haben die Befürworter Susan Day eingeladen, damit sie in die Stadt kommt und eine Rede hält, ihnen hilft, gegen die Abtreibungsgegner Front zu machen. Das Problem ist nur, die Gegner hatten nie die geringste Chance, den Bebauungsplan für Bezirk 7 zu ändern, und das wußten die Leute von Woman-Care! Verdammt, eine ihrer Direktorinnen, June Halliday, sitzt im Stadtrat. Sie und die Wheaton spucken einander fast an, wenn sie auf dem Flur aneinander vorbeigehen.

Die Änderung des Bebauungsplans für Bezirk 7 war von vorneherein nichts weiter als ein Hirngespinst, denn rechtlich gesehen ist Woman-Care ein Krankenhaus, genau wie das Derry Home, das nur einen Steinwurf entfernt liegt. Wenn man den Bebauungsplan ändert und Woman-Care illegal macht, dann gilt das auch für eines von nur drei Krankenhäusern in Derry County - dem drittgrößten County im Bundesstaat Maine. Deshalb wird es nie dazu kommen, aber das macht nichts, denn darum ging es gar nicht in erster Linie. Es ging darum, aufmüpfig und dreist zu sein. Ein Ärgernis zu sein. Und für die meisten Befürworter geht es darum, recht zu haben.«

»Recht? Ich verstehe Sie nicht.«

»Es ist nicht genug, daß eine Frau jederzeit da reingehen und sich das ärgerliche kleine Fischchen, das in ihr wächst, wegmachen lassen kann, wenn sie will; die Befürworter wollen den Streit bis zum Ende ausgetragen wissen. Tief in ihrem Innersten wollen sie, daß Leute wie Dan Dalton zugeben, sie haben recht, und dazu wird es nie kommen. Eher werden die Araber und die Juden beschließen, daß alles nur ein Irrtum war, und die Waffen niederlegen. Ich bin für das Recht einer Frau, eine Abtreibung durchführen zu lassen, wenn sie wirklich eine braucht, aber das Katholischer-als-der-Papst-Gehabe der Befürworter finde ich zum Kotzen. Was mich betrifft, sind sie die neuen Puritaner, sie denken, wenn man nicht so denkt, wie sie selbst, kommt man in die Hölle... nur ist ihre Version davon ein Ort, wo man nur Hillbilly-Musik im Radio hören kann und Putenschnitzel zu essen bekommt.«

»Sie klingen ziemlich verbittert.«

»Sitzen Sie einmal drei Monate auf dem Pulverfaß, dann wollen wir sehen, wie Ihnen zumute ist. Sagen Sie mir eines glauben Sie, Pickering hätte Ihnen gestern ein Messer in die Achselhöhle gebohrt, wenn Woman-Care, die Friends of Life und Susan-Laß-meine-heilige-Pflaume-in-Ruhe-Day nicht wären?«

Ralph tat so, als würde er ernsthaft über die Frage nachdenken, aber in Wirklichkeit betrachtete er John Leydeckers Aura. Sie war von einer gesunden, dunkelblaue Farbe, aber die Ränder wallten in einem rasch wechselnden grünen Licht. Dieses Phänomen interessierte Ralph; er hatte eine Ahnung, als ob er wußte, was es bedeutete.

Schließlich sagte er: »Nein, ich glaube nicht.«

»Ich auch nicht. Sie sind in einem Krieg verwundet worden, der eigentlich schon entschieden ist, Ralph, und Sie werden nicht der letzte sein. Aber wenn Sie zu den Woman-Care Leuten -oder zu Susan Day - gehen und Ihr Hemd aufmachen, auf die Verletzung zeigen und sagen würden: >Das ist teilweise eure Schuld, also steht für den Teil gerade, der auf euer Konto geht<, würden sie die Hände hochheben und antworten: >O nein, großer Gott, nein, es tut uns leid, daß Sie verletzt worden sind, Ralph, wir verabscheuen Gewalt, aber es war nicht unsere Schuld, wir müssen Woman-Care geöffnet halten, wir müssen die Barrikaden mit Kämpferinnen besetzen, und wenn ein wenig Blut vergossen werden muß, so sei es.< Aber es geht gar nicht um Woman-Care, und das ist es, was mich so fuchsteufelswild macht. Es geht um -«

»-Abtreibung.«

»Scheiße, nein! Das Recht auf Abtreibung in Maine und in Derry ist sicher, was Susan Day Freitag abend im Bürgerhaus auch immer sagen mag. Es geht darum, wessen Mannschaft die bessere ist, um mehr nicht. Es geht darum, auf wessen Seite Gott ist. Es geht darum, wer recht hat. Ich wünschte mir, sie würden alle einfach nur >We Are the Champions< singen und sich betrinken.«

Ralph warf den Kopf zurück und lachte. Leydecker lachte mit ihm.

»Sie sind Arschlöcher«, kam er achselzuckend zum Ende. »Aber sie sind unsere Arschlöcher. Hört sich das an, als würde ich Witze machen? Keineswegs. Woman-Care, Friends of Life, Body Watch, Daily Bread... sie sind alle unsere Arschlöcher, Arschlöcher von Derry, und es macht mir wirklich nichts aus, auf die unseren aufzupassen. Darum habe ich diesen Job angenommen, und darum bleibe ich dabei. Aber Sie müssen mir schon verzeihen, wenn ich nicht ganz so verrückt darauf bin, wenn ich dazu verknackt zu werden, auf eine langbeinige amerikanische Schönheit aus New York aufzupassen, die hierher fliegt, eine aufrührerische Rede hält und mit einigen weiteren Zeitungsberichten und Kapitel fünf ihres neuen Buchs wieder nach Hause fliegt.

In die Gesichter wird sie uns sagen, was für eine wunderschöne ländliche Gemeinde wir sind, und wenn sie wieder in ihrer Maisonette-Wohnung in der Park Avenue South sitzt, wird sie ihren Freundinnen erzählen, daß sie es bis jetzt noch nicht geschafft hat, den Gestank der Papierfabriken aus den Haaren zu shampoonieren. Sie ist eine Frau, wir werden ihr Geschrei anhören... und mit etwas Glück wird sich die ganze Sache wieder beruhigen, ohne daß jemand getötet oder verstümmelt wird.«

Ralph war inzwischen überzeugt, was das grüne Flackern zu bedeuten hatte. »Aber Sie haben Angst, oder nicht?« fragte er.

Leydecker sah ihn überrascht an. »Sieht man das, ja?«

»Nur ein bißchen«, sagte Ralph und dachte: Nur in Ihrer Aura, John, sonst nicht. Nur in Ihrer Aura.

»Ja, ich habe Angst. Auf persönlicher Ebene habe ich Angst davor, daß ich meinen Auftrag versaue, der überhaupt nichts Positives hat, das kompensieren könnte, was alles schiefgehen kann. Auf beruflicher Ebene habe ich Angst, daß ihr etwas passiert, solange sie unter meinem Schutz steht. Auf Gemeindeebene habe ich Todesangst davor, was passieren könnte, sollte es zu einer Art Konfrontation kommen und der Geist aus der Flasche befreit werden... noch Kaffee, Ralph?«

»Ich passe. Ich sollte sowieso bald gehen. Was wird aus Pickering werden?«

Eigentlich lag ihm nicht viel an Charlie Pickerings Schicksal, aber der große Polizist würde sich wahrscheinlich wundern, wenn er nach May Locher fragte, bevor er sich nach Pickering erkundigt hatte. Vielleicht sogar argwöhnisch werden.

»Steve Offenbach - der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt, der Sie verhört hat - und Pickerings Pflichtverteidiger machen wahrscheinlich, während wir uns hier unterhalten, einen Kuhhandel. Pickerings Typ wird sagen, daß er seinen Klienten -übrigens, macht mich der Gedanke völlig fertig, Charlie Pickering könnte irgend jemandes Klient sein, egal weswegen -dazu überreden könnte, einen tätlichen Angriff zweiten Grades zu gestehen. Offenbach wird sagen, es wäre an der Zeit, Pickering ein für allemal aus dem Verkehr zu ziehen, daher würde er auf versuchten Mord plädieren. Pickerings Verteidiger wird so tun, als wäre er schockiert, und morgen wird unser Freund wegen tätlichen Angriffs ersten Grades mit einer tödlichen Waffe unter Anklage gestellt und in Untersuchungshaft genommen werden. Und im Dezember, oder eher nächstes Jahr, werden Sie dann als Kronzeuge auftreten.«

»Kaution?«

»Wird wahrscheinlich im Bereich von vierzigtausend Dollar festgesetzt. Man kommt mit zehn Prozent davon raus, wenn der Rest für den Fall einer Flucht in Form von Sicherheiten hinterlegt werden kann, aber Charlie Pickering besitzt kein Haus, kein Auto, nicht einmal eine Timex. Wahrscheinlich wird er letztendlich nach Juniper Hill zurückkehren müssen, aber das ist eigentlich nicht der Sinn des Spiels. Diesmal werden wir ihn eine ganze Weile hinter schwedischen Gardinen behalten können, und bei Leuten wie Charlie ist das der Sinn des Spiels.«

»Besteht die Möglichkeit, daß die Friends of Life die Kaution bezahlen?«

»Nee. Ed Deepneau hat letzte Woche eine Menge Zeit mit ihm verbracht, die beiden haben zusammen Kaffee im Bagel Shop getrunken. Ich könnte mir vorstellen, Ed hat Charlie über Zenturionen und den Karokönig informiert -«

»Den Scharlachroten König hat Ed -«

»Egal«, stimmte Leydecker mit einer wegwerfenden Handbewegung zu. »Aber ich denke, den größten Teil der Zeit hat er darauf verwendet, ihm zu erklären, daß Sie der Handlanger des Teufels sind und nur ein kluger, tapferer, entschlossener Mann wie Charlie Pickering Sie von der Bildfläche verschwinden lassen könnte.«

»Sie stellen ihn wie ein Arschloch hin«, sagte Ralph. Er erinnerte sich an den Ed Deepneau, mit dem er Schach gespielt hatte, bevor Carolyn krank geworden war. Der Ed war ein intelligenter, wortgewandter, zivilisierter Mann von großer Güte gewesen. Für Ralph war es immer noch unmöglich, diesen Ed mit dem in Einklang zu bringen, den er zum erstenmal im Juli 1992 erlebt hatte. Die neue Version bezeichnete er im Geiste immer als »Kampfhahn Ed.«

»Nicht nur wie ein Arschloch, sondern wie ein gemeingefährliches Arschloch«, sagte Leydecker. »Für ihn war Charlie nur ein Werkzeug, wie ein Obstmesser, mit dem man einen Apfel schält. Wenn die Klinge eines Obstmessers abbricht, geht man nicht zum Scherenschleifer und läßt sich eine neue dranmachen; das wäre zuviel Aufwand. Man wirft es in den Mülleimer und kauft sich statt dessen ein neues. So behandeln Leute wie Ed Leute wie Charlie, und da Ed zumindest im Augenblick die Friends of Life ist, glaube ich nicht, daß wir uns Gedanken machen müßten, Charlie könnte gegen Kaution rauskommen. In den nächsten paar Tagen wird er einsamer als der Reparaturmann von Maytag sein. Okay?«

»Okay«, sagte Ralph. Er stellte ein wenig entsetzt fest, daß er Mitleid mit Pickering empfand. »Ich möchte Ihnen auch dafür danken, daß Sie meinen Namen nicht in die Zeitung gebracht haben... das heißt, falls Sie es waren.«

Der Vorfall war kurz in der Polizei-Rubrik der Derry News erwähnt worden, aber da stand nur, daß Charles H. Pickering wegen »bewaffneten Überfalls« in der öffentlichen Bibliothek von Derry festgenommen worden war.

»Manchmal bitten wir sie um einen Gefallen, manchmal bitten sie uns um einen Gefallen«, sagte Leydecker und stand auf. »So läuft das in der wirklichen Welt. Und wenn die Irren bei den Friends of Life und die selbstgerechten Pedanten bei Woman-Care das einmal begreifen würden, wäre meine Aufgabe viel leichter.«

Ralph zog das zusammengerollte Dumbo-Plakat aus dem Papierkorb, dann stand er auf seiner Seite von Leydeckers Schreibtisch auf. »Könnte ich das haben? Ich kenne ein kleines Mädchen, dem würde das in etwa einem Jahr bestimmt gefallen.«

Leydecker breitete übertrieben die Arme aus. »Jederzeit betrachten Sie es als eine Art Prämie, weil Sie so ein guter Mitbürger sind. Bitten Sie mich nur nicht um meinen Satz Höschen mit offenem Schritt.«

Ralph lachte. »Würde mir nicht im Traum einfallen.«

»Im Ernst, es freut mich, daß Sie gekommen sind. Danke, Ralph.«

»Kein Problem.« Er streckte die Hand über den Schreibtisch aus, schüttelte Leydecker die Hand und ging zur Tür. Er kam sich auf absurde Weise wie Inspektor Columbo im Fernsehen vor - nur die Zigarre und der schäbige Trenchcoat fehlten. Er legte die Hand auf den Türknauf, dann wartete er noch einen Moment und drehte sich um. »Dürfte ich Sie etwas fragen, das überhaupt nichts mit Charlie Pickering zu tun hat?«

»Schießen Sie los.«

»Heute morgen habe ich im Red Apple gehört, daß Mrs. Locher von gegenüber in der Nacht gestorben ist. Das ist nicht überraschend, sie hatte ein Emphysem. Aber zwischen dem Bürgersteig und ihrem Vorgarten sind Absperrungen, auf denen steht, daß das Haus von der Polizei von Derry abgeriegelt wurde. Wissen Sie etwas darüber?«

Leydecker sah ihn so lang und fest an, daß Ralph sich unbehaglich gefühlt hätte... hätte er die Aura des Mannes nicht sehen können. Nichts daran verriet ein Gefühl von Argwohn.

Großer Gott, Ralph, du nimmst das ein bißchen zu ernst, oder nicht?

Nun, vielleicht ja, vielleicht nein. Wie auch immer, er war froh, daß sich das grüne Flackern an den Rändern von Leydeckers Aura nicht wieder eingestellt hatte.

»Warum sehen Sie mich so an?« fragte Ralph. »Tut mir leid, wenn ich mich erdreistet habe, etwas Ungebührliches zu fragen.«

»Ganz und gar nicht«, sagte Leydecker. »Es ist nur ein bißchen unheimlich, das ist alles. Können Sie es für sich behalten, wenn ich es Ihnen erzähle?«

»Ja.«

»Ich mache mir hauptsächlich wegen Ihrem Untermieter Gedanken. Wenn das Wort >Diskretion< genannt wird, denke ich nicht unbedingt an den Prof.«

Ralph lachte herzlich. »Ich werde kein Wort zu ihm sagen Pfadfinderehrenwort -, aber es ist interessant, daß Sie ihn erwähnen; Bill war damals mit Mrs. Locher in der Schule. In der Grundschule.«

»Mann, ich kann mir den Prof überhaupt nicht in der Grundschule vorstellen«, sagte Leydecker. »Sie?«

»Irgendwie schon«, sagte Ralph, aber das Bild, das ihm in den Sinn kam, war ausgesprochen eigentümlich: Bill McGovern, der wie eine Kreuzung zwischen dem kleinen Lord Fauntleroy und Tom Sawyer aussah - mit Knickerbockern, langen weißen Socken... und einem Panamahut.

»Wir sind nicht sicher, was mit Mrs. Locher passiert ist«, sagte Leydecker. »Wir wissen nur, daß kurz nach drei Uhr nachts 911 einen anonymen Anruf von jemandem - einem Mann -bekommen hat, der behauptete, er habe gesehen, wie zwei Männer, einer mit einer Schere bewaffnet, aus Mrs. Lochers Haus gekommen seien.«

»Sie wurde ermordet?« rief er aus und stellte zweierlei gleichzeitig fest: daß er sich glaubwürdiger anhörte, als er je für möglich gehalten hätte, und daß er gerade eine Brücke überquert hatte. Er hatte sie nicht hinter sich verbrannt - noch nicht jedenfalls -, aber er würde nicht mehr auf die andere Seite zurückkehren können, ohne eine Menge Erklärungen abzugeben.

Leydecker kehrte die Handflächen nach oben und zuckte die Achseln. »Wenn, dann jedenfalls nicht mit einer Schere oder einem anderen scharfen Gegenstand. Sie wies keinerlei Verletzungen auf.«

Das zumindest war eine Erleichterung.

»Andererseits ist es möglich, bei der Ausführung eines Verbrechens jemanden zu Tode zu erschrecken - besonders jemanden, der alt und krank ist«, sagte Leydecker. »Wie auch immer, es wird einfacher zu erklären sein, wenn Sie mich einfach erzählen lassen, was ich weiß. Es wird nicht lange dauern, glauben Sie mir.«

»Natürlich. Entschuldigen Sie.«

»Möchten Sie etwas Komisches hören? Als ich den Meldebogen der Notrufannahme 911 gelesen habe, mußte ich zuerst an Sie denken.«

»Wegen der Schlaflosigkeit, richtig?« fragte Ralph. Seine Stimme klang gelassen.

»Und weil der Anrufer behauptete, er hätte diese Männer aus seinem Wohnzimmerfenster gesehen. Ihr Wohnzimmer geht doch auf die Harris Avenue hinaus, oder nicht?«

»Ja.«

»Hm-hmm. Ich wollte mir sogar das Band anhören, aber dann fiel mir ein, daß Sie heute vorbeikommen wollten... und daß Sie wieder durchschlafen. Das stimmt doch, oder nicht?«

Ohne einen Augenblick zu zögern oder zu überlegen, setzte Ralph die Brücke in Brand, die er gerade überquert hatte. »Nun, ich schlafe nicht so gut wie mit sechzehn, als ich nach der Schule zwei Jobs hatte, da will ich Ihnen nichts vormachen, aber wenn ich der Mann war, der gestern nacht 911 angerufen hat, dann muß ich es im Schlaf getan haben.«

»Das habe ich mir auch gedacht. Und außerdem, wenn Sie auf der Straße etwas Ungewöhnliches gesehen hätten, weshalb hätten Sie den Anruf anonym machen sollen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Ralph und dachte: Aber angenommen, es war etwas mehr als ungewöhnlich, John? Angenommen, es war vollkommen unmöglich? Ich meine, wir reden hier von kleinen kahlköpfigen Ärzten aus dem Weltraum und leuchtenden Fußabdrücken und Auren, die nur ich sehen kann. Beziehungsweise die nur Ed Deepneau und ich sehen können.

»Ich auch nicht«, sagte Leydecker. »Ihr Haus hat Fenster zur Harris Avenue raus, richtig, aber das haben rund drei Dutzend andere auch... und daß der Anrufer gesagt hat, er hätte sich drinnen aufgehalten, heißt ja noch lange nicht, daß es so war, oder?«

»Wohl nicht. Vor dem Red Apple steht eine Telefonzelle, von der er angerufen haben könnte, und beim Spirituosenladen ist auch eine. Und zwei im Strawford Park, wenn sie funktionieren.«

»Tatsächlich sind es vier im Park, und die funktionieren alle. Wir haben es überprüft.«

»Warum sollte er nicht sagen, von wo er angerufen hat?«

»Höchstwahrscheinlich weil alles andere auch gelogen war. Wie auch immer, Donna Hagen sagte, der Mann hätte sich sehr jung und selbstsicher angehört.« Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, zuckte er zusammen und schlug sich mit der Hand auf die Stirn. »Das war nicht so gemeint, Ralph. Bitte entschuldigen Sie.«

»Schon gut - der Gedanke, daß ich mich wie ein pensionierter alter Furz anhöre, ist nicht gerade neu für mich. Ich bin ein pensionierter alter Furz. Nur weiter.«

»Chris Nell kümmerte sich um den Anruf - er war der erste am Tatort. Sie erinnern sich, er war auch dabei, als wir Ed festgenommen haben.«

»Ich erinnere mich an den Namen.«

»Hm-hmm. Steve Utterback nahm den Notruf als diensthabender Detective entgegen. Er ist ein guter Mann.«

Der mit der Strickmütze, dachte Ralph.

»Die Dame lag tot im Bett, aber Spuren von Gewaltanwendung waren nicht zu sehen. Und es war offensichtlich auch nichts mitgenommen worden, obwohl alte Damen wie May Locher normalerweise nicht viel besitzen, was sich mitzunehmen lohnt

- keinen Videorecorder, keine große teure Stereoanlage, nichts dergleichen. Aber sie hatte einen dieser Böse Waves und zwei oder drei hübsche Schmuckstücke. Was nicht heißen soll, daß es keinen Schmuck gegeben hat, der nicht genauso hübsch oder hübscher gewesen wäre, aber -«

»Aber warum sollte ein Einbrecher einiges und nicht alles nehmen?«

»Genau. Interessanter ist, daß die Eingangstür - wo die beiden Männer laut dem Anrufer angeblich herausgekommen sind -von innen verschlossen war. Und nicht nur mit einem Türschloß, sondern mit Riegel und Kette. Dasselbe übrigens an der Hintertür. Wenn also der Anrufer nicht gelogen hat und May Locher tot war, als die beiden Männer gegangen sind, wer hat dann die Türen abgesperrt?«

Vielleicht war es der Scharlachrote König, dachte Ralph... und hätte es zu seinem Entsetzen fast laut ausgesprochen.

»Ich weiß nicht, was ist mit den Fenstern?«

»Geschlossen. Riegel nach unten. Und falls sich das für Sie noch nicht genug nach Agatha Christie anhört, Steve sagt, daß die Sturmläden geschlossen waren. Ein Nachbar hat gesagt, sie hat erst letzte Woche einen Jungen dafür bezahlt, daß er sie anbringt.«

»Klar, das ha., öie«, sagte Ralph. »Pat Monroe, der auch die Zeitung austrägt. Jetzt fällt mir wieder ein, ich habe ihn dabei gesehen.«

»Kriminalroman-Quatsch«, sagte Leydecker, aber Ralph glaubte, er hätte Susan Day in Null Komma nichts gegen May Locher getauscht. »Der vorläufige Autopsiebericht kam, kurz bevor ich ins Gerichtsgebäude aufgebrochen bin, um Sie in Empfang zu nehmen. Ich konnte einen Blick darauf werfen. Myocardial hier, Thrombose da... letztlich läuft es auf Herzstillstand hinaus. Wir behandeln den Anruf bei 911 im Augenblick als schlechten Scherz - wir bekommen andauernd welche, wie andere Städte auch - und die Todesursache der Dame als durch das Emphysem ausgelösten Herzanfall.«

»Mit anderen Worten, ein bloßer Zufall.« Diese Schlußfolgerung ersparte ihm vielleicht eine Menge Ärger - das heißt, wenn sie akzeptiert wurde -, aber Ralph konnte in seiner eigenen Stimme Zweifel hören.

»Ja, mir gefällt es auch nicht. Und Steve ebensowenig, darum wurde das Haus abgeriegelt. Die staatliche Spurensicherung wird es von unten bis oben durchsuchen, wahrscheinlich fangen sie morgen früh schon an. Derweil ist Mrs. Locher zu einer gründlicheren pathologischen Untersuchung nach Augusta gereist. Wer weiß, was dabei rauskommt? Manchmal kommt nämlich etwas dabei heraus. Sie würden staunen.«

»Kann schon sein«, sagte Ralph.

Leydecker warf den Zahnstocher in den Müll, schien einen Augenblick finster zu brüten, dann strahlte er. »He, vielleicht bringe ich einen von den Bürohengsten dazu, daß er den Anruf als Scherz zu den Akten nimmt. Oder ich könnte ihn vorbeibringen und Ihnen vorspielen. Vielleicht erkennen Sie die Stimme. Wer weiß? Man hat schon Pferde kotzen sehen.«

»Das ist wohl wahr«, sagte Ralph mit nervösem Lächeln.

»Wie auch immer, es ist Utterbacks Fall. Kommen Sie, ich bringe Sie hinaus.«

Auf dem Flur betrachtete Leydecker Ralph noch einmal mit einem abschätzenden Blick. Dabei fühlte sich Ralph wesentlich unbehaglicher, weil er keine Ahnung hatte, was der Blick bedeuten sollte. Die Aura war wieder verschwunden.

Er versuchte ein Lächeln, das einen gekünstelten Eindruck hinterließ. »Hängt mir etwas aus der Nase, das nicht hingehört?«

»Nee. Ich staune nur, wie gut Sie aussehen, wenn man bedenkt, was Sie gestern durchgemacht haben. Und verglichen damit, wie Sie vergangenen Sommer ausgesehen haben... wenn Honigwaben das fertigbringen, werde ich mir einen ganzen Bienenstock zulegen.«

Ralph lachte, als wäre das das Komischste, das er je gehört hatte.

1:42 Uhr, Dienstagmorgen.

Ralph saß in seinem Ohrensessel und sah zu, wie Ringe aus feinem Dunst um die Straßenlaternen kreisten. Weiter oben in der Straße hingen die Absperrbänder der Polizei niedergeschlagen vor May Lochers Haus.

Kaum zwei Stunden Schlaf heute nacht, und wieder einmal dachte er sich, daß es besser wäre, tot zu sein. Keine Schlaflosigkeit mehr. Kein langes Warten auf die Dämmerung in diesem verhaßten Sessel. Keine Tage mehr, an denen er die Welt durch den unsichtbaren Schutzschirm zu sehen schien, von dem sie immer in der Werbung für Gardol-Zahnpasta sprachen. Damals war das Fernsehen fast brandneu gewesen, zu der Zeit hatte er noch keine graue Strähne in seinem Haar gefunden und war stets fünf Minuten nachdem er und Carol sich geliebt hatten, eingeschlafen.

Und die Leute sagen mir immer, wie gut ich aussehe. Das ist das Unheimlichste daran.

Aber das stimmte nicht. Wenn man einiges von dem bedachte, was er in letzter Zeit gesehen hatte, stand die Tatsache, daß einige Leute bemerkten, er würde wie ein neuer Mensch aussehen, ganz weit unten auf seiner Liste unheimlicher Vorkommnisse.

Ralph drehte sich zu May Lochers Haus um. Laut Leydecker war das Haus versperrt gewesen, aber Ralph hatte die beiden kleinen kahlköpfigen Ärzte zur Vordertür herauskommen gesehen, er hatte sie gesehen, gottverdammt...

Hatte er sie gesehen?

Wirklich?

Ralph dachte an den vergangenen Morgen zurück. Er hatte sich mit einer Tasse Tee in eben diesem Sessel niedergelassen und gedacht: Das Stück kann beginnen. Und dann hatte er diese beiden kleinen kahlköpfigen Mistkerle herauskommen sehen, verdammt, er hatte sie aus May Lochers Haus kommen sehen!

Aber vielleicht stimmte das gar nicht, denn er hatte eigentlich gar nicht Mrs. Lochers Haus beobachtet; er hatte mehr in Richtung des Red Apple gesessen. Er hatte die Bewegung, die er aus den Augenwinkeln wahrnahm, für Rosalie gehalten und den Kopf gedreht, um nachzusehen. Da hatte er die kleinen kahlköpfigen Ärzte auf der Veranda von May Lochers Haus gesehen. Er war nicht mehr sicher, ob er die offene Haustür gesehen hatte; vielleicht hatte er das einfach vorausgesetzt, warum auch nicht? Sie waren auf jeden Fall nicht Mrs. Lochers Einfahrt entlanggekommen.

Das kannst du nicht mit Sicherheit sagen, Ralph.

Aber er konnte es. Um drei Uhr morgens war die Harris Avenue so ausgestorben wie die Mondoberfläche - die kleinste Bewegung innerhalb seines Gesichtsfelds hatte er registriert.

Waren Doc Nr. 1 und Doc Nr. 2 zur Eingangstür herausgekommen? Je länger Ralph darüber nachdachte, desto mehr bezweifelte er es.

Was ist dann passiert, Ralph? Sind Sie möglicherweise hinter dem unsichtbaren Schutzschild von Gardol hervorgekommen? Oder-wie wäre es damit? - vielleicht sind sie durch die Tür gelaufen, wie die Geister, die Cosmo Topper in dem alten Fernsehfilm heimgesucht haben!

Und das Verrückteste war, genau das schien zuzutreffen.

Was? Daß sie durch die ScheißTÜR spaziert sind? O Ralph, du brauchst Hilfe. Du mußt mit jemandem darüber reden, was mit dir los ist.

Ja. Dessen war er ganz sicher: Er mußte mit jemandem darüber reden, bevor er verrückt wurde. Aber mit wem? Carolyn wäre die Beste gewesen, aber die war tot. Leydecker? Das Problem hier war, Ralph hatte ihn schon wegen des Anrufs bei 911 belogen. Warum? Weil sich die Wahrheit verrückt angehört hätte. Sie hätte sich sogar so angehört, als hätte er sich mit Ed Deepneaus Paranoia angesteckt wie mit einer Erkältung. Und wenn man die Situation ganz unvoreingenommen betrachtete, war das nicht die wahrscheinlichste Erklärung?

»Aber so ist es nicht«, flüsterte er. »Sie waren da. Und die Auren auch.«

Es ist ein langer Weg zurück ins Paradies, Liebling... und wenn du schon dabei bist, gib auch auf diese grün-goldenen Spuren des weißen Mannes acht.

Jemanden einweihen. Sich alles von der Seele reden. Ja. Und das sollte er tun, bevor sich John Leydecker das Band von 911 anhörte und eine Erklärung haben wollte. Wissen wollte, warum Ralph gelogen hatte und wieso er vom Tod von May Locher wußte.

Jemanden einweihen. Sich alles von der Seele reden.

Aber Carolyn war tot, Leydecker war noch zu neu, Helen versteckte sich irgendwo da draußen im Unterschlupf von Woman-Care, und Lois Chasse tratschte vielleicht bei ihren Freundinnen. Wer blieb dann noch?

Die Antwort fiel ihm sofort ein, nachdem er die Frage formuliert hatte, aber er verspürte einen überraschenden Widerwillen dagegen, McGovern anzuvertrauen, was ihm alles widerfahren war. Er erinnerte sich an den Tag, als er Bill auf der Bank beim Softballfeld gefunden hatte, wo er über seinen alten Freund und Mentor Bob Polhurst weinte. Ralph hatte versucht, Bill von den Auren zu erzählen, und es war gewesen, als hätte McGovern ihn gar nicht hören können; er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, sein abgegriffenes Drehbuch herunterzuleiern, wie beschissen es war, alt zu werden.

Ralph dachte an die sardonisch hochgezogene Braue. Den unweigerlichen Zynismus. Das lange, immer so düstere Gesicht. Die literarischen Anspielungen, bei denen Ralph häufig lächeln mußte, sich aber häufig auch ein wenig unterlegen fühlte. Und dann McGoverns Verhalten gegenüber Lois: herablassend, sogar ein bißchen grausam.

Doch das war alles andere als fair, und Ralph wußte es. Bill McGovern konnte gütig sein, und - was in diesem Fall wahrscheinlich wichtiger war -, verständnisvoll. Er und Ralph kannten sich seit mehr als zwanzig Jahren; die letzten fünf davon wohnten sie unter einem Dach. Er war einer von Carolyns Sargträgern gewesen, und wenn Ralph mit Bill nicht über das reden konnte, was ihm widerfahren war, mit wem dann?

Mit niemandem, schien die Antwort zu lauten.

Kapitel 10

Die dunstigen Ringe um die Straßenlaternen waren verschwunden, als der Morgen am Himmel im Osten graute, und um neun Uhr war der Tag klar und warm - möglicherweise der Anfang der letzten kurzen Phase des Indianersommers. Ralph ging nach unten, sobald Good Morning America zu Ende war, und war fest entschlossen, McGovern zu erzählen, was mit ihm los war (jedenfalls soviel er sich traute), bevor er wieder den Mut verlor. Als er jedoch vor der Tür der Erdgeschoßwohnung stand, konnte er die Dusche prasseln und William D. McGovern gnädigerweise gedämpft singen hören: »I Left My Heart In San Francisco.«

Ralph ging auf die Veranda hinaus, steckte die Hände in die Gesäßtaschen und las den Tag wie einen Katalog. Es gab nichts, überlegte er, wirklich nichts auf der Welt, das dem Oktobersonnenschein gleichkam; er konnte fast spüren, wie sich sein nächtliches Elend verflüchtigte. Es würde zweifellos zurückkehren, aber im Augenblick fühlte er sich gut - müde und schwindlig im Kopf, ja, aber trotzdem weitgehend in Ordnung. Der Tag war mehr als schön; er war regelrecht atemberaubend, und Ralph bezweifelte, daß er vor dem nächsten Mai noch einmal einen ähnlich schönen erleben würde. Er kam zu dem Ergebnis, er wäre ein Narr, ihn nicht auszunützen. Ein Spaziergang zur Harris Avenue Extension würde eine halbe Stunde dauern, eine Dreiviertelstunde, wenn er jemanden treffen sollte, mit dem es sich lohnte, einen Plausch zu halten, und bis dahin würde sich Bill geduscht, rasiert, gekämmt und angezogen haben. Und bereit sein, ihm teilnahmsvoll zuzuhören, wenn Ralph Glück hatte.

Er ging bis zum Picknickgelände vor dem Zaun des County Airport ohne sich richtig einzugestehen, daß er insgeheim hoffte, den alten Dor zu treffen. Wenn ja, konnten sie beide sich vielleicht ein bißchen über Lyrik unterhalten - zum Beispiel über Stephen Dobyns -, vielleicht sogar ein wenig über Philosophie. Diesen Teil ihrer Unterhaltung könnten sie vielleicht mit einer Begriffsbestimmung beginnen, was »langfristige Geschäfte« waren, um danach zu klären, weshalb Ralph sich Dors Meinung zufolge »nicht einmischen« sollte.

Aber Dorrance hielt sich nicht am Picknickplatz auf; niemand war dort, außer Don Veazie, der Ralph erklären wollte, warum Bill Clinton als Präsident so einen Mist baute und warum es für die guten alten Vereinigten Staaten besser gewesen wäre, wenn das Volk das Finanzgenie Ross Perot gewählt hätte. Ralph (der für Clinton gestimmt hatte und fand, daß der Mann seine Aufgabe ziemlich gut erfüllte) hörte lange genug zu, um nicht als unhöflich zu gelten, dann behauptete er, er hätte einen Termin beim Friseur. Etwas Besseres fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.

»Und noch was!« plärrte Don hinter ihm her. »Seine hochnäsige Frau! Die ist eine Lesbe! So was erkenne ich immer! Weißt du, woran? Ich seh mir ihre Schuhe an! Schuhe sind eine Art Geheimcode bei denen! Sie tragen immer welche, die vorne ganz breit sind und -«

»Bis bald, Don!« rief Ralph und trat hastig den Rückzug an.

Er war etwa eine Viertelmeile bergab gegangen, als der Tag lautlos um ihn herum explodierte.

Er befand sich gegenüber von May Lochers Haus, als es passierte. Er blieb wie angewurzelt stehen und sah mit großen, ungläubigen Augen die Harris Avenue entlang. Die rechte Hand hatte er an den Halsansatz gepreßt, sein Mund stand offen. Er sah aus wie ein Mann, der einen Herzanfall hat, und obwohl mit seinem Herzen alles in Ordnung war - jedenfalls im Augenblick -, kam er sich gewiß vor, als hätte er eine Art Anfall. Er hatte den ganzen Herbst über nichts gesehen, das ihn darauf hätte vorbereiten können. Ralph glaubte nicht, daß ihn überhaupt etwas hätte darauf vorbereiten können.

Die andere Welt - die heimliche Welt der Auren - war wieder sichtbar geworden, und diesmal intensiver, als Ralph es sich je hätte träumen lassen können... so intensiv, daß er sich sogar einen Moment fragte, ob ein Mensch an einer Wahrnehmungsüberdosis sterben konnte. Die obere Harris Avenue war ein grell leuchtendes Wunderland voll überlappender Kugeln und Kegel und bunter Sicheln. Die Bäume, die immer noch etwa eine Woche vom Höhepunkt ihrer herbstlichen Verwandlung entfernt waren, brannten dennoch wie Fackeln in Ralphs Augen und Denken. Der Himmel war jenseits der Farbe; er glich einem endlosen blauen Überschallknall.

Die Telefonleitungen der West Side von Derry verliefen noch oberirdisch, und Ralph starrte sie an, während er am Rande bemerkte, daß er aufgehört hatte zu atmen und besser schnellstens wieder damit anfangen sollte, wenn er nicht umkippen wollte. Unregelmäßige gelbe Spiralen sausten schnell an den schwarzen Leitungen entlang und erinnerten Ralph daran, wie die rotierenden Stangen vor den Friseurläden in seiner Jugend ausgesehen hatten. Ab und zu wurde dieses Wespenmuster von einem stacheligen, vertikalen roten Aufleuchten oder einem grünen Blitz unterbrochen, die in beide Richtungen gleichzeitig zu verlaufen schienen und die gelben Ringe einen Moment auslöschten, bevor sie verblaßten.

Du siehst, wie Leute miteinander reden, dachte er benommen. Weißt du das, Ralph? Tante Sadie in Dallas hält ein Schwätzchen mit ihrem Lieblingsneffen, der in Derry wohnt; ein Farmer in Haven plauscht mit dem Großhändler, von dem er seine Traktorteile bezieht; ein Pastor versucht, einem in Not geratenen Gemeindemitglied zu helfen. Das sind Stimmen, und ich glaube, die grellen Blitze und das Aufleuchten kommen von Leuten, die von einem starken Gefühl beherrscht werden -Liebe oder Hass, Glück oder Eifersucht.

Und Ralph spürte, daß das, was er sah und fühlte, nicht alles war; daß eine ganze Welt außerhalb der momentanen Reichweite seiner Sinne wartete. Möglicherweise so gewaltig, daß sogar dieses, was er jetzt sah, kümmerlich und blaß wirken würde. Und wenn es tatsächlich mehr gab, wie sollte er es ertragen können, ohne den Verstand zu verlieren? Es würde nicht einmal helfen, sich die Augen herauszureißen; er begriff, der Eindruck des »Sehens« rührte nur daher, daß er das Sehen sein Leben lang als primäre Sinneswahrnehmung akzeptiert hatte. Aber hier spielte sich eine Menge mehr als nur im Bereich des Sichtbaren ab.

Um sich das selbst zu beweisen, machte er die Augen zu... und sah die Harris Avenue trotzdem weiter. Als wären seine Lider zu Glas geworden. Der einzige Unterschied bestand darin, daß sich alle Farben in ihr Gegenteil verkehrt hatten und eine Welt entstanden war, die wie das Negativ eines Farbfotos aussah. Die Bäume waren nicht mehr orange und gelb, sondern so grell und unnatürlich grün wie Limonen-Gatorade. Die Oberfläche der Harris Avenue, im Juni erst frisch asphaltiert, war zu einem breiten weißen Weg geworden, und der Himmel zu einem erstaunlichen roten See. Er schlug die Augen wieder auf und war fast überzeugt, daß die Auren verschwunden sein würden, aber sie waren noch da; die Welt erbebte immer noch in Farben und Bewegungen und einem tiefen, hallenden Geräusch.

Wann fange ich an, sie zu sehen? fragte sich Ralph, während er langsam weiter bergab ging. Wann kommen die kleinen kahlköpfigen Ärzte aus dem Unterholz?

Aber es waren keine Ärzte zu sehen, weder kahlköpfig noch sonstwie, keine Engel in der Architektur; keine Teufel, die aus den Gullydeckeln hervorlugten. Da war nur -

»Paß auf, Roberts, gib acht, wo du hinläufst!«

Die schroffen und etwas erschrockenen Worte schienen wahrhaftig eine stoffliche Beschaffenheit zu haben; sie waren, als würde man in einer uralten Abtei oder einem Ahnensaal mit der Hand über Eichenpaneele streichen. Ralph blieb unvermittelt stehen und sah Mrs. Perrine von weiter unten in der Straße. Sie war vom Bürgersteig auf die Straße getreten, damit sie nicht umgestoßen wurde wie ein Kegel, und nun stand sie bis zu den Knöcheln in herabgefallenem Laub und betrachtete Ralph unter ihren buschigen melierten Brauen hervor. Die Aura um sie herum hatte die strenge, nüchterne graue Farbe einer Uniform von West Point.

»Bist du betrunken, Roberts?« fragte sie mit abgehackter Stimme, und da verschwand das Chaos der Farben und Empfindungen aus der Welt, und er befand sich wieder nur in der Harris Avenue, die an einem herrlichen Herbstmorgen vor sich hindämmerte.

»Betrunken? Ich? Ganz und gar nicht. Nüchtern wie ein Richter, im Ernst.«

Er hielt ihr die Hand hin. Mrs. Perrine, die schon mindestens achtzig war, es sich aber nicht anmerken ließ, betrachtete seine Hand, als könnte er einen Elektrosummer darin verborgen haben. Das würde ich dir zutrauen, Roberts, schienen ihre kalten grauen Augen zu sagen. Das würde ich dir durchaus zutrauen. Sie kam ohne Ralphs Hilfe wieder auf den Bürger steig.

»Tut mir leid, Mrs. Perrine. Ich habe nicht auf den Weg geachtet.«

»Nein, das hast du eindeutig nicht. Bist mit offenen Mund herumspaziert. Du hast ausgesehen wie der Dorftrottel.«

»Tut mir leid«, wiederholte er, und dann mußte er sich auf die Zunge beißen, um wieherndes Gelächter zu unterdrücken.

»Hm.« Mrs. Perrine sah ihn langsam von oben bis unten an wie ein Ausbilder der Marines, der einen widerborstigen Rekruten mustert. »Dein Hemd ist unter der Achsel zerrissen, Roberts.«

Ralph hob den linken Arm und sah nach. Sein kariertes Lieblingshemd hatte tatsächlich einen großen Riß. Er konnte den Verband mit dem getrockneten Blutfleck darauf sehen; außerdem ein unansehnliches Gestrüpp Achselbehaarung eines alten Mannes. Er ließ den Arm hastig wieder sinken und spürte, wie ihm die Röte in die Wangen schoß.

»Hm«, sagte Mrs. Perrine noch einmal und drückte damit ihre vollständige Meinung über Ralph Roberts ohne einen einzigen Vokal aus. »Bring es mir zu Hause vorbei, wenn du möchtest. Und alles andere, das du zu nähen hast. Ich kann immer noch mit der Nadel umgehen, weißt du.«

»Oh, daran zweifle ich nicht, Mrs. Perrine.«

Nun bedachte Mrs. Perrine ihn mit einem Blick, der sagte: Du bist ein vertrockneter alter Arschkriecher, Ralph Roberts, aber dafür kannst du wahrscheinlich nichts.

»Aber nicht am Nachmittag«, sagte sie. »Nachmittags helfe ich, das Essen im Obdachlosenasyl zu machen, und um fünf helfe ich, es zu servieren. Das ist Gottes Arbeit.« »Ja, da bin ich ganz sicher... «

»Im Himmel wird es keine Obdachlosen geben, Roberts. Verlaß dich drauf. Und auch keine zerrissenen Hemden, da bin ich ganz sicher. Aber solange wir hier sind, müssen wir auf Zack sein und zurechtkommen. Das ist unsere Aufgabe.« Und ich erledige sie außergewöhnlich gut, fügte Mrs. Perrines Gesicht hinzu. »Bring am Morgen oder am Abend, was du zu nähen hast, Roberts. Du mußt nicht auf Etikette achten, aber wage es nicht, nach halb neun bei mir aufzukreuzen. Ich gehe um neun zu Bett.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs. Perrine«, sagte Ralph und mußte sich wieder auf die Zunge beißen. Er spürte, daß dieser Trick bald nicht mehr funktionieren würde; bald würde es heißen: Lach oder stirb.

»Keineswegs. Christenpflicht. Außerdem war ich mit Carolyn befreundet.«

»Danke«, sagte Ralph. »Schrecklich, das mit May Locher, nicht?«

»Nein«, sagte Mrs. Perrine. »Gottes Gnade.« Und sie zog ihres Weges, bevor Ralph ein weiteres Wort sagen konnte. Ihr Rücken war so unglaublich gerade, daß es wehtat, ihn anzusehen.

Er ging ein Dutzend Schritte weiter, dann konnte er nicht mehr an sich halten. Er stützte sich mit einem Arm an einem Telefonmast ab, preßte den Mund auf den Arm und lachte so leise er konnte - bis ihm Tränen die Wangen hinabliefen. Als der Anfall (genau so fühlte es sich an, wie ein hysterischer Anfall) vorbei war, hob Ralph den Kopf und sah sich mit wachsamen, neugierigen, leicht tränenverschleierten Augen um. Er sah nichts, das nicht jeder andere auch sehen konnte, was ihn mit Erleichterung erfüllte.

Aber es wird wiederkommen, Ralph. Du weißt es. Alles.

Ja, er vermutete, daß er das wußte, aber darum konnte er sich später kümmern. Zunächst mußte er mit jemandem reden.

Als Ralph schließlich von seiner erstaunlichen Tour die Straße entlang zurückkehrte, saß McGovern im Sessel auf der Veranda und blätterte müßig die Morgenzeitung durch. Als Ralph den Weg zum Haus hochging, faßte er einen spontanen Entschluß. Er würde Bill eine Menge erzählen, aber nicht alles. Auf jeden Fall weglassen wollte er, daß die beiden Typen, die er aus May Lochers Haus kommen sah, wie die Außerirdischen in den Sensationsblättern ausgesehen hatten, die man im Red Apple kaufen konnte.

McGovern sah auf, als er die Stufen heraufkam. »Hi, Ralph.«

»Hi, Bill. Kann ich mit dir reden?«

»Klar.« Er schlug die Zeitung zu und legte sie sorgfältig zusammen. »Gestern haben sie meinen alten Freund Bob Polhurst doch noch ins Krankenhaus gebracht.«

»Ja? Ich dachte, du hättest schon viel früher damit gerechnet.«

»Hab ich. Haben alle. Er hat uns an der Nase herumgeführt. Tatsächlich schien sich sein Zustand zu verbessern - jedenfalls was die Lungenentzündung betrifft -, aber dann hatte er einen Rückfall. Gestern hatte er einen Atemstillstand, und seine Nichte dachte, er würde sterben, bevor der Krankenwagen eintrifft. Aber er hat es geschafft, und jetzt scheint sein Zustand wieder stabil zu sein.« McGovern sah seufzend auf die Straße. »May Locher tritt mitten in der Nacht ab, und Bob schleppt sich einfach weiter durch. Was für eine Welt, hm?«

»Kann man wohl sagen.«

»Worüber wolltest du reden? Hast du dich endlich entschlossen, Lois einen Antrag zu machen? Brauchst du einen väterlichen Rat, wie du es anfangen sollst?«

»Ich brauche einen Rat, aber nicht wegen meines Liebeslebens.«

»Raus damit«, sagte McGovern gepreßt.

Ralph gehorchte und war mehr als nur ein wenig erleichtert über McGoverns stumme Aufmerksamkeit. Er fing damit an, daß er kurz skizzierte, was Bill schon wußte - der Vorfall mit Ed und dem Lastwagenfahrer im Sommer 1992, seine damaligen Äußerungen, die so sehr mit dem übereinstimmten, was er an dem Tag von sich gab, als er Helen verprügelte, weil sie die Petition unterschrieben hatte. Während Ralph sprach, spürte er deutlicher denn je, daß es Zusammenhänge zwischen den seltsamen Dingen gab, die ihm widerfahren waren, Zusammenhänge, die er fast sehen konnte.

Er erzählte McGovern von den Auren, aber nicht von dem lautlosen Inferno, das er vor nicht mal einer halben Stunde erlebt hatte - soweit wollte er zumindest vorläufig noch nicht gehen. McGovern wußte selbstverständlich von Charlie Pickering und Charlies Angriff auf Ralph, ebenso, daß Ralph ernste Schäden vermieden hatte, indem er die Spraydose einsetzte, die Helen und ihre Freundin ihm gegeben hatten, aber jetzt erzählte Ralph ihm etwas, das er am Sonntag abend verschwiegen hatte, als er McGovern bei einem improvisierten Essen von dem Überfall berichtete: wie die Spraydose wie durch ein Wunder in seiner Jackentasche aufgetaucht war. Nur, gestand er, daß seiner Vermutung nach der alte Dor der Wundertäter gewesen war.

»Ach du Scheiße!« rief McGovern aus. »Du lebst gefährlich, Ralph!«

»Kann sein.«

»Wieviel davon hast du Johnny Leydecker erzählt?«

Sehr wenig, wollte Ralph sagen, aber dann wurde ihm klar, daß selbst das eine Übertreibung gewesen wäre. »Fast nichts«, sagte er. »Und noch etwas habe ich ihm nicht gesagt. Etwas weitaus mehr... nun, weitaus Wichtigeres, schätze ich. Hat damit zu tun, was da oben passiert ist.« Er deutete zu May Lochers Haus, wo gerade zwei blauweiße Kleinbusse vorgefahren waren. MAINE STATE POLICE stand auf den Seiten geschrieben. Ralph vermutete, daß das die Leute von der Spurensicherung waren, die Leydecker erwähnt hatte.

»May?« McGovern beugte sich auf dem Sessel nach vorne. »Weißt du etwas darüber, was May zugestoßen ist?«

»Ich glaube ja.« Ralph, der bedächtig sprach und von Wort zu Wort sprang wie ein Mann, der einen gefährlichen Wildbach auf Steinen überquert, schilderte McGovern, wie er aufgewacht, ins Wohnzimmer gegangen war und die beiden Männer aus May Lochers Haus hatte kommen sehen. Er berichtete von seiner erfolgreichen Suche nach dem Fernglas und erzählte McGovern von der Schere, die einer der beiden bei sich gehabt hatte. Er erwähnte nicht seinen Alptraum von Carolyn oder die leuchtenden Spuren, und ganz sicher nicht seinen nachträglichen Eindruck, als wären die beiden Männer einfach durch die Tür gegangen; damit hätte er sich auch noch den letzten Rest Glaubwürdigkeit kaputt gemacht, den er noch besitzen mochte. Er kam mit seinem anonymen Anruf bei 911 zum Ende, dann saß er stumm in seinem Sessel und sah McGovern ängstlich an.

McGovern schüttelte den Kopf, als müßte er sein Denken klären. »Auren, Orakel, geheimnisvolle Einbrecher mit Scheren... du lebst wirklich gefährlich.«

»Was meinst du, Bill?«

McGovern schwieg einige Augenblicke. Er hatte die Zeitung zusammengerollt, während Ralph erzählt hatte, und nun klopfte er sich geistesabwesend damit ans Bein. Ralph verspürte den Drang, seine Frage noch unverhohlener zu stellen - Hältst du mich für verrückt, Bill? -, ließ es aber bleiben. Glaubte er wirklich, daß jemand darauf eine ehrliche Antwort gab - wenn man ihm vorher nicht eine gehörige Spritze Natriumpentathol verpaßt hatte? Daß Bill sagen würde: Na klar, Ralphie, ich finde, du bist so verrückt wie eine Bettwanze, also warum rufen wir nicht gleich in Juniper HUI an und fragen, ob Sie ein Zimmer für dich frei haben? Unwahrscheinlich... und da eine Antwort von Bill nicht viel besagen würde, war es besser, die Frage zu vergessen.

Was sich als ungemein schwierig erwies.

»Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll«, sagte Bill schließlich. »Jedenfalls noch nicht. Wie haben sie ausgesehen?«

»Ihre Gesichter waren selbst mit dem Fernglas schwer zu erkennen«, sagte Ralph. Seine Stimme klang so fest wie gestern, als er bestritten hatte, den Notruf getätigt zu haben.

»Wahrscheinlich hast du auch keine Ahnung, wie alt sie waren?«

»Nein.«

»Könnte einer von ihnen unser alter Freund aus dieser Straße gewesen sein?«

»Ed Deepneau?« Ralph sah McGovern überrascht an. »Nein, Ed war nicht dabei.«

»Was ist mit Pickering?«

»Nein. Ed nicht. Charlie Pickering auch nicht. Die hätte ich beide erkannt. Worauf willst du hinaus? Daß mein Unterbewußtsein einfach die beiden Typen auf May Lochers Veranda gezaubert hat, die mir in den letzten Monaten den größten Streß gemacht haben?«

»Selbstverständlich nicht«, antwortete McGovern, aber das konstante Tap-tap-tap der Zeitung an seinem Bein hörte auf, und seine Augen flackerten. Ralph spürte ein Ziehen in der Magengrube. Ja; genau darauf hatte McGovern hinausgewollt, und eigentlich war das gar nicht so überraschend, oder?

Vielleicht nicht, aber das änderte nichts an dem Gefühl in seiner Magengrube.

»Und Johnny hat gesagt, alle Türen waren abgeschlossen?«

»Ja.«

»Von innen.«

»Hm-hmm, aber -«

McGovern stand so schnell von seinem Stuhl auf, daß Ralph einen irren Augenblick lang glaubte, er würde weglaufen und unterwegs möglicherweise schreien: Hütet euch vor Roberts! Er hat den Verstand verloren! Aber statt die Treppe hinunterzuspringen, drehte er sich zur Haustür um. Das fand Ralph in gewisser Weise noch beunruhigender.

»Was hast du vor?«

»Larry Perrault anrufen«, sagte McGovern. »Mays jüngeren Bruder. Er wohnt noch in Cardville. Ich denke, sie wird in Cardville begraben werden.« McGovern sah Ralph seltsam nachdenklich an. »Was hast du denn gedacht?«

»Ich weiß nicht«, sagte Ralph nervös. »Einen Moment dachte ich, du würdest weglaufen wie der Pfefferkuchenmann.«

»Nee.« McGovern streckte eine Hand aus und klopfte ihm auf die Schulter, aber Ralph kam die Geste kalt und trostlos vor. Oberflächlich.

»Was hat Mrs. Lochers Bruder damit zu tun?«

»Johnny hat gesagt, sie haben Mays Leichnam zu einer gründlicheren Autopsie nach Augusta geschickt, richtig?«

»Nun, ich glaube, tatsächlich hat er den Ausdruck pathologisch«

McGovern winkte ab. »Glaub mir, das ist dasselbe. Wenn sich etwas Merkwürdiges herausstellen sollte - das darauf hindeutet, daß sie ermordet worden ist -, dann müßte Larry informiert worden sein. Er ist der einzige lebende Verwandte in der Nähe.«

»Aber wird er sich nicht fragen, warum dich das interessiert?«

»Oh, darüber müssen wir uns keine Gedanken machen«, sagte McGovern. »Ich werde ihm sagen, die Polizei hat das Haus versiegelt und die Gerüchteküche der Harris Avenue brodelt. Er weiß, daß May und ich Schulfreunde waren und ich sie in den letzten Jahren regelmäßig besucht habe. Larry und ich sind keine Busenfreunde, aber wir kommen ganz gut miteinander aus. Er wird mir sagen, was ich wissen will, und sei es nur, weil wir beide Überlebende von Cardville sind. Alles klar?«

»Ich schätze schon, aber -«

»Ich hoffe es«, sagte McGovern, und plötzlich sah er wie ein sehr altes und sehr häßliches Reptil aus - ein Gilamonster oder womöglich ein Basilisk. Er deutete mit einem Finger auf Ralph. »Ich bin nicht dumm, und ich weiß, wie man ein Geheimnis bewahrt. Dein Gesicht hat gerade gesagt, daß du dir da nicht so sicher bist, und das gefällt mir nicht. Das gefällt mir überhaupt nicht.«

»Tut mir leid«, sagte Ralph. McGoverns Ausbruch hatte ihn verblüfft.

McGovern sah ihn noch einen Moment mit gefletschten Zähnen seines zu großen Gebisses an, dann nickte er. »Okay, ja, Entschuldigung akzeptiert. Du hast beschissen geschlafen, das muß ich in die Gleichung mit einbeziehen, und was mich betrifft, ich bekomme Bob Polhuf st nicht aus dem Kopf.« Er stieß einen seiner tiefsten Armer-alter-Bill-Stoßseufzer aus. »Hör zu, wenn es dir lieber wäre, daß ich Mays Bruder nicht anrufe -«

»Nein, nein«, sagte Ralph und dachte sich, daß er am liebsten die Uhr zehn Minuten zurückdrehen und die ganze Unterhaltung ungeschehen machen würde. Und dann fiel ihm eine Floskel ein, die Bill McGovern bestimmt gefallen würde, voll ausgebildet und gebrauchsfertig. »Tut mir leid, wenn ich an deiner Diskretion gezweifelt habe.«

McGovern lächelte, anfangs zögernd, aber dann über das ganze Gesicht. »Jetzt weiß ich, was dich wachhält - daß du dir so einen Mist ausdenkst. Bleib still sitzen, Ralph, und denk etwas Gutes über ein Nilpferd, wie meine Mutter immer zu sagen pflegte. Bin gleich wieder da. Wahrscheinlich erwische ich ihn nicht mal; du weißt schon, Beerdigungsvorbereitungen und so weiter. Möchtest du in die Zeitung sehen, während du wartest?«

»Klar. Danke.«

McGovern gab ihm die Zeitung, die immer noch die Röhrenform besaß, in die er sie gerollt hatte, dann ging er hinein. Ralph studierte die erste Seite. Die Schlagzeile lautete: ABTREIBUNGSBEFÜRWORTER UND GEGNER SIND BEREIT FÜR DIE ANKUNFT DER AKTIVISTIN. Die Story wurde von zwei Fotos illustriert. Eines zeigte ein halbes Dutzend junge Frauen mit Transparenten, auf denen Sprüche standen wie: UNSERE KÖRPER, UNSERE ENTSCHEIDUNG und EIN NEUER TAG BRICHT AN IN DERRY! Das andere zeigte Demonstranten, die vor Woman-Care marschierten. Sie trugen keine Schilder und brauchten auch keine; die schwarzen Gewänder mit Kapuzen und die Sensen, die sie trugen, sagten alles.

Ralph stieß einen Seufzer aus, warf die Zeitung auf den Schaukelstuhl neben sich und sah zu, wie sich der Dienstagvormittag in der Harris Avenue entfaltete. Ihm kam der Gedanke, daß McGovern auch mit John Leydecker telefonieren könnte, statt mit Larry Perrault, und die beiden vielleicht gerade eine kleine Lehrer-Schüler-Konferenz über den verrückten, alten, schlaflosen Ralph Roberts führten.

Ich dachte mir, du möchtest vielleicht wissen, wer den Notruf bei 911 wirklich gemacht hat, Johnny.

Danke, Prof. Wir waren sowieso ziemlich sicher, aber es ist schön, daß wir eine Bestätigung haben. Ich denke, daß er harmlos ist. Irgendwie mag ich ihn sogar.

Ralph verdrängte Spekulationen darüber, mit wem Bill telefonierte und mit wem nicht. Es war leichter, einfach hier zu sitzen und gar nicht zu denken, nicht einmal etwas Gutes über ein Nilpferd. Es war leichter, dem Lastwagen von Budweiser zuzusehen, der auf den Parkplatz des Red Apple fuhr und anhielt, um den Truck von Magazines Incorporated vorbeizulassen, der seine wöchentliche Ration von Sensationsblättern, Zeitschriften und Taschenbüchern abgeladen hatte und gerade wegfuhr. Es war leichter, die alte Harriet Bennigan zu beobachten, neben der sich Mrs. Perrine wie ein junges Mädchen ausnahm, wie sie in ihrem hellroten Herbstmantel und auf den Gehstock gestützt ihren morgendlichen schlurfenden Spaziergang machte. Es war leichter, dem jungen Mädchen in Jeans, einem weiten weißen T-Shirt und einem Herrenhut, der vier Nummern zu groß für sie war, dabei zuzusehen, wie sie auf dem unkrautüberwucherten Brachgrundstück zwischen Frank's Bäckerei und Vicky Moons Kosmetikstudio (Körperpackungen sind unsere Spezialität) seilhüpfte. Es war leichter, die kleinen Hände des Mädchens auf und ab wippen zu sehen. Leichter, ihr zuzuhören, wie sie ihren endlosen Schüttelreim sang.

Drei-sechs-neun, die Gans trank Wein...

Ein entlegener Teil von Ralphs Verstand stellte mit großem Erstaunen fest, daß er kurz vor dem Einschlafen war, während er hier auf der Veranda saß. Gleichzeitig stahlen sich die Auren wieder in die Welt und erfüllten sie mit wundersamen Farben und Bewegungen. Es war herrlich, aber...

... aber etwas stimmte nicht damit. Etwas. Aber was?

Das Mädchen auf dem Brachgrundstück. Sie stimmte nicht. Ihre jeansbekleideten Beine hämmerten auf und ab wie eine Nähmaschine. Ihr Schatten hüpfte neben ihr auf dem bruchstückhaften Pflaster einer uralten, von Unkraut und Sonnenblumen überwucherten Gasse. Das Seil peitschte auf und ab... rings herum... auf und ab und rings herum...

Und auch kein weites T-Shirt, da hatte er sich geirrt. Die Gestalt trug einen Kittel. Einen weißen Kittel, wie sie die Schauspieler in den alten Arztserien im Fernsehen getragen hatten.

Drei-sechs-neun, die Gans trank Wein,

Der Affe wollte Schaffner in der Straßenbahn sein...

Eine Wolke verdeckte die Sonne, ein häßliches grünes Licht segelte durch den Tag und trieb ihn unter Wasser. Ralph wurde zuerst kalt, dann bekam er eine Gänsehaut. Der hüpfende Schatten des Mädchens verschwand. Sie sah zu Ralph herüber und war überhaupt kein kleines Mädchen mehr. Die Kreatur, die ihn ansah, war ein etwa einen Meter zwanzig großer Mann. Ralph hatte das Gesicht im Schatten des Huts anfänglich für das eines Kindes gehalten, weil es völlig glatt war, nicht von einer einzigen Falte durchzogen. Und dennoch vermittelte es Ralph einen eindeutigen Eindruck - ein Gefühl des Bösen, des Boshaften, wie es ein geistig gesunder Verstand nicht mehr begreifen konnte.

Das ist es, dachte Ralph benommen, während er die hüpfende Kreatur ansah. Genau das ist es. Was immer das Ding da drüben ist, es ist wahnsinnig. Völlig wahnsinnig.

Möglicherweise hatte die Kreatur Ralphs Gedanken gelesen, denn in diesem Augenblick verzerrte sie die Lippen zu einem Grinsen, das schüchtern und gemein zugleich war, als würden sie beide ein finsteres Geheimnis teilen. Und er war sicher-ja, ziemlich sicher, fast überzeugt-, daß sie irgendwie trotz dieses Grinsens sang, ohne die Lippen im geringsten zu bewegen.

[Die Bahn geriet in NOT! Der Affe war gleich TOT! Die ändern starben alle in 'nem RuderBOOT!]

Ralph war ganz sicher, daß dies keiner der kleinen Ärzte war, die er aus dem Haus von May Locher hatte kommen sehen. Möglicherweise mit ihnen verwandt, aber nicht identisch. Es war

Die Kreatur warf das Sprungseil weg. Das Seil wurde zuerst gelb, dann rot, und es schien Funken zu sprühen, als es durch die Luft flog. Die kleine Gestalt - Doc Nr. 3 - sah Ralph grinsend an, und da wurde Ralph noch etwas klar, das ihn mit Grauen erfüllte. Jetzt endlich erkannte er, was die Kreatur auf dem Kopf trug.

Es war Bill McGoverns verschwundener Panamahut.

Wieder war es, als hätte die Kreatur seine Gedanken gelesen. Sie zog den Hut vom Kopf, entblößte den runden, haarlosen Schädel darunter und schwenkte McGoverns Panama in der Luft wie ein Cowboy auf einem bockenden Hengst. Während sie mit dem Hut winkte, verschwand das unsägliche Grinsen nicht einmal.

Plötzlich zeigte sie auf Ralph, als wollte sie ihn markieren. Dann setzte sie den Hut wieder auf und verschwand in der schmalen, unkrautüberwucherten Öffnung zwischen dem Sonnenstudio und der Bäckerei. Die Sonne kam hinter der Wolke hervor, die sie verdeckt hatte, und die wabernde Helligkeit der Auren ließ wieder nach. Einen oder zwei Augenblicke nachdem die Kreatur verschwunden war, lag wieder nur die Harris Avenue vor Ralph

- die alte, langweilige Harris Avenue, wie immer.

Ralph holte zitternd Luft und dachte an den Wahnsinn, den das kleine, grinsende Gesicht ausgedrückt hatte. Und er erinnerte sich daran, wie das Wesen auf ihn gedeutet hatte (der Affe war gleich TOT) als wollte es (die ändern starben alle in 'nem RuderBOOT!) ihn markieren.

»Sag mir, daß ich eingeschlafen bin«, flüsterte er heiser. »Sag mir, daß ich eingeschlafen bin und den kleinen Wichser geträumt hab.«

Aber sein Verstand verweigerte ihm den Trost dieses Gedankens; er brachte statt dessen die Erinnerung an den Anruf von Ed Deepneau letzten Monat an die Oberfläche. Als Ralph ihn fragte, wer ihm von dem Scharlachroten König erzählt hatte, hatte Ed geantwortet, es wäre der kleine kahlköpfige Arzt gewesen. Ich glaube, du wirst es mit ihm zu tun bekommen, wenn du wieder versuchst, dich in meine Angelegenheiten einzumischen, Ralph, hatte Helens zukünftiger Ex-Mann gesagt. Und dann gnade dir Gott.

Und zu Beginn der Unterhaltung hatte er etwas ähnlich Beunruhigendes gesagt - daß es Wesen in Derry gab, von denen Ralph lieber nichts wissen wollte... und bestimmt nicht, daß sie von ihm erführen.

»Wesenheiten«, murmelte Ralph. »Er hat sie Wesenheiten genannt.«

Die Tür hinter ihm ging auf. »Herrje, du führst Selbstgespräche«, sagte McGovern. »Du mußt Geld auf der Bank haben, Ralphie.«

»Ja, gerade genug, daß es für die Beerdigung reicht«, sagte Ralph. Er fand, er hörte sich wie ein Mann an, der gerade einen schlimmen Schock erlitten hat und immer noch versucht, den Rest Angst zu verarbeiten; er rechnete fast damit, daß Bill mit besorgtem (oder auch argwöhnischem) Gesicht auf ihn zugestürzt kommen und fragen würde, was nicht mit ihm stimmte.

Aber McGovern tat nichts dergleichen. Er ließ sich auf den Schaukelstuhl fallen, verschränkte die Arme über der Brust zu einem abweisenden X und betrachtete die Harris Avenue, die Bühne, auf der er und Ralph und Lois und Dorrance Märstellar und so viele andere alte Leute - wir im goldenen Alter, auf McGovemesisch - ihre häufig langweiligen und manchmal schmerzlichen letzten Akte spielen mußten.

Wenn ich ihm jetzt von seinem Hut erzählen würde? dachte Ralph. Angenommen, ich beginne das Gespräch einfach mit den Worten: »Bill, ich weiß auch, wo dein Panama abgeblieben ist. Ein böser Verwandter der Typen, die ich gestern nacht gesehen habe, hat ihn. Er trägt ihn, wenn er zwischen der Bäckerei und dem Sonnenstudio Seilhüpfen spielt.«

Wenn Bill noch Zweifel an seinem Geisteszustand hatte, würde ihn diese Neuigkeit mit Sicherheit überzeugen. Jawoll.

Ralph hielt den Mund.

»Tut mir leid, daß ich so lange weg war«, sagte McGovem. »Larry behauptete, ich hätte hn erwischt, wie er gerade zum Bestattungsinstitut gehen wollte, aber bevor ich meine Fragen stellen konnte, hatte er mir Mays halbes Leben und seines so gut wie ganz geschildert. Er hat fünfundvierzig Minuten nonstop geredet.«

Ralph war überzeugt, daß das eine Übertreibung sein mußte -McGovern war mit Sicherheit nicht länger als fünf Minuten weg gewesen -, aber als er auf die Uhr sah, stellte er zu seinem Erstaunen fest, daß es Viertel nach elf geworden war. Er sah die Straße entlang und stellte fest, daß Mrs. Bennigan fort war. Ebenso der Laster von Budweiser. Hatte er doch geschlafen? Anscheinend... aber er konnte um nichts auf der Welt einen Bruch in seiner bewußten Wahrnehmung entdecken.

Oh, komm schon, mach dich nicht lächerlich. Du hast geschlafen, als du den kleinen kahlköpfigen Kerl gesehen hast. Du hast ihn nur geträumt.

Das schien die sinnvollste Erklärung zu sein. Sogar die Tatsache, daß er Bills Panamahut getragen hatte, ergab einen Sinn. Derselbe Hut war in seinem Alptraum von Carolyn vorgekommen. Da hatte ihn Rosalie zwischen den Pfoten gehabt.

Aber diesmal hatte er nicht geträumt. Er war ganz sicher.

Nun... fast sicher.

»Willst du mich nicht fragen, was Mays Bruder gesagt hat?« McGovern hörte sich ein wenig pikiert an.

»Entschuldige«, sagte Ralph. »Ich muß mit meinen Gedanken woanders gewesen sein.«

»Vergeben, mein Sohn... das heißt, immer vorausgesetzt, daß du von jetzt an genau zuhörst. Der Detective, der den Fall betreut, Funderburke...«

»Ich bin ziemlich sicher, daß er Utterback heißt. Steve Utterback.«

McGovern winkte unbekümmert mit der Hand, seine übliche Reaktion, wenn er verbessert wurde. »Wie auch immer. Jedenfalls hat er Larry angerufen und gesagt, daß die Autopsie die natürliche Todesursache bestätigt hat. Was ihnen angesichts deines Anrufs am meisten Kopfzerbrechen bereitete, ist die Möglichkeit, daß May durch Einbrecher erschreckt wurde, was zum Herzschlag führte - buchstäblich zu Tode geängstigt. Daß die Türen von innen abgeschlossen waren und keine wertvollen Gegenstände fehlen, spricht dagegen, aber sie haben deinen Anruf so ernst genommen, daß sie die Möglichkeit immerhin in Betracht gezogen haben.«

Sein vorwurfsvoller Ton - als hätte Ralph absichtlich Leim in den Mechanismus einer funktionstüchtigen Maschine geschüttet - erfüllte Ralph mit Ungeduld. »Natürlich haben sie ihn ernstgenommen. Ich habe gesehen, wie zwei Männer ihr Haus verlassen haben, und das habe ich den Behörden gemeldet. Als sie dort ankamen, fanden sie die Lady tot vor. Wie sollten sie den Anruf da nicht ernst nehmen?«

»Warum hast du deinen Namen nicht genannt, als du den Anruf gemacht hast?«

»Ich weiß nicht. Was spielt das schon für eine Rolle? Und wie, um alles in der Welt, können sie sicher sein, daß sie nicht vor Angst einen Herzschlag bekommen hat?«

»Ich weiß nicht, ob sie hundertprozentig sicher sein können«, sagte McGovern und hörte sich jetzt selbst ein wenig gekränkt an, »aber ich denke mir, sie müssen sich ihrer Sache ziemlich sicher sein, wenn sie den Leichnam zur Beerdigung freigeben. Wahrscheinlich ein Bluttest oder so. Ich weiß nur, daß dieser Funderburke -«

»Utterback -«

»- Larry gesagt hat, daß May wahrscheinlich im Schlaf gestorben ist.«

McGovern überkreuzte die Beine, machte sich an den Bügelfalten seiner blauen Hose zu schaffen und betrachtete Ralph mit einem klaren und durchdringenden Blick.

»Ich werde dir einen Rat geben, also hör gut zu. Geh zum Arzt. Jetzt. Heute noch. Geh nicht über Los, zieh keine zweihundert Dollar ein, geh direkt zu Litchfield. Es wird allmählich ernst.«

Die beiden, die aus Mrs. Lochers Haus gekommen sind, haben mich nicht gesehen, aber der vorhin schon, dachte Ralph. Er hat mich gesehen und auf mich gezeigt. Könnte sein, daß er sogar nach mir gesucht hat.

Das war ein hübscher paranoider Gedanke.

»Ralph? Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Ja. Ich entnehme daraus, du glaubst nicht, daß ich tatsächlich jemanden aus dem Haus von May Locher habe kommen sehen habe.«

»Da hast du ganz recht. Ich habe eben deinen Gesichtsausdruck gesehen, als ich dir sagte, daß ich fünfundvierzig Minuten weg war, und ich habe auch mitbekommen, wie du auf die Uhr gesehen hast. Du hast nicht geglaubt, daß soviel Zeit vergangen war, richtig? Und der Grund dafür ist, du bist eingedöst und hast es nicht einmal bemerkt. Hast ein kleines Nickerchen gemacht. Dasselbe ist dir wahrscheinlich gestern nacht passiert. Nur hast du gestern nacht von den beiden Männern geträumt, und der Traum war so realistisch, daß du nach dem Aufwachen 911 angerufen hast. Klingt das nicht logisch?«

Drei-sechs-neun, dachte Ralph. Die Gans trank Wein.

»Was ist mit dem Fernglas?« fragte er. »Es liegt immer noch auf dem Tisch neben dem Sessel am Fenster. Beweist das nicht, daß ich wach war?«

»Ich wüßte nicht warum. Vielleicht hast du schlaf gewandelt, hast du dir das schon mal überlegt? Du hast die Eindringlinge gesehen, aber du kannst sie nicht richtig beschreiben.«_ »Die grellen orangefarbenen Lampen -«

»Alle Türen waren von innen abgeschlossen... «

»Trotzdem habe ich -«

»Und diese Auren, von denen du gesprochen hast. Die Schlaflosigkeit bewirkt sie - da bin ich mir fast sicher. Aber es könnte ernster sein.«

Ralph stand auf, ging die Treppe hinunter, blieb am Anfang des Fußwegs stehen und drehte McGovern den Rücken zu. In seinen Schläfen pochte es, und sein Herz schlug schnell. Zu schnell.

Er hat nicht nur auf mich gezeigt. Ich hatte gleich beim erstenmal recht, der kleine Hurensohn hat mich markiert. Und er war kein Traum. Ebenso wenig wie die, die ich aus Mrs. Lochers Haus habe kommen sehen. Ich bin mir ganz sicher.

Selbstverständlich, Ralph, antwortete eine andere Stimme. Verrückte sind immer überzeugt, daß die verrückten Sachen, die sie sehen und hören, wirklich sind. Das macht sie ja verrückt, nicht die Halluzinationen selbst. Wenn du wirklich gesehen hast, was du zu sehen glaubtest, was ist dann aus Mrs. Bennigan geworden? Und dem Lastwagen von Budweiser? Wie hast du die fünfundvierzig Minuten verlieren können, die McGovern mit Larry Perrault telefoniert hat?

»Du leidest an einigen ziemlich schwerwiegenden Symptomen«, sagte McGovern hinter ihm, und Ralph fand, er hörte etwas Schreckliches in der Stimme des Mannes. Genugtuung? Konnte es tatsächlich Genugtuung sein?

»Einer hatte eine Schere bei sich«, sagte Ralph, ohne sich umzudrehen. »Ich habe sie gesehen.«

»Ach, komm schon, Ralph! Denk nach! Benutz dein Gehirn und denk nach! An einem Sonntagnachmittag, keine vierundzwanzig Stunden vor deiner Akupunkturbehandlung, kommt ein Irrer und spießt dich fast mit dem Messer auf. Ist es ein Wunder, daß dein Gehirn in der Nacht einen Alptraum fabriziert, in dem ein scharfer Gegenstand vorkommt? Aus Hongs Nadeln und Pickerings Jagdmesser ist eine Schere geworden, das ist alles. Siehst du nicht ein, daß diese Hypothese alles erklärt, während das, was du gesehen haben willst, überhaupt nichts erklärt?« »Und ich habe geschlafwandelt, als ich das Fernglas geholt habe? Denkst du das?«

»Es wäre möglich. Wahrscheinlich.«

»Auch das mit der Spraydose in meiner Jackentasche, richtig? Der alte Dor hatte überhaupt nichts damit zu tun.«

»Mich interessieren die Spraydose und der alte Dor nicht!« schrie McGovern. »Du interessierst mich. Du leidest seit April oder Mai an Schlaflosigkeit, du bist seit dem Tod von Carolyn deprimiert und niedergeschlagen -«

»Ich bin nicht deprimiert!« brüllte Ralph. Auf der anderen Straßenseite blieb der Briefträger stehen und sah zu ihnen herüber, bevor er in Richtung Park weiterging.

»Wie du willst«, sagte McGovern. »Du warst nicht deprimiert. Außerdem hast du nicht geschlafen, du siehst Auren, Typen mitten in der Nacht aus abgeschlossenen Häusern kommen... « Und dann sagte McGovern mit trügerisch unbekümmerter Stimme das, wovor Ralph sich die ganze Zeit gefürchtet hatte: »Du solltest aufpassen, alter Junge. Du hörst dich verdächtig wie Ed Deepneau an.«

Ralph drehte sich um. Heißes Blut pulsierte hinter seinem Gesicht. »Warum tust du das? Warum versuchst du so sehr, mir eins auszuwischen?«

»Ich versuche nicht, dir eins auszuwischen, Ralph, ich versuche, dir zu helfen. Dein Freund zu sein.«

»Den Eindruck habe ich nicht.«

»Nun, manchmal tut die Wahrheit ein bißchen weh«, sagte McGovern ruhig. »Du solltest zumindest über die Möglichkeit nachdenken, daß dein Körper und dein Geist versuchen, dir etwas zu sagen. Ich will dir eine Frage stellen - war das der einzige beunruhigende Traum, den du in letzter Zeit gehabt hast?«

Ralph dachte ganz kurz an Carol, die bis zum Hals im Sand begraben war und von Spuren des weißen Mannes kreischte. An die Käfer, die aus ihrem Kopf gequollen waren. »Ich hatte in letzter Zeit überhaupt keine Alpträume«, sagte er steif. »Ich nehme an, das wirst du mir nicht glauben, weil es nicht in das kleine Drehbuch paßt, das du dir zurechtgelegt hast.« »Ralph -«

»Ich will dich etwas fragen. Glaubst du wirklich, es war nur ein Zufall, daß ich diese beiden Männer gesehen habe und May Locher gestorben ist?«

»Vielleicht nicht. Vielleicht hat dein körperlich und emotional aufgewühlter Zustand Bedingungen geschaffen, die eine echte übersinnliche Wahrnehmung ermöglicht haben.«

Ralph schwieg.

»Ich glaube, daß so etwas von Zeit zu Zeit vorkommt«, sagte McGovem und stand auf. »Hört sich von einem rationalen alten Vogel wie mir wahrscheinlich komisch an, aber es ist so. Ich will nicht behaupten, daß es sich tatsächlich so abgespielt hat, aber es könnte sein. Ich bin aber ganz sicher, daß die beiden Männer, die du gesehen hast, in Wirklichkeit nicht existiert haben.«

Ralph sah zu McGovern auf; er hatte die Hände in den Taschen stecken und so fest zu Fäusten geballt, daß sie sich wie Steine anfühlten. Er konnte die Muskeln in seinen Armen vibrieren spüren.

McGovern kam die Verandastufen herunter und hielt ihn dicht über dem Ellbogen behutsam am Arm. »Ich glaube nur...«

Ralph zog den Arm so ruckartig weg, daß McGovern überrascht grunzte und ein wenig stolperte. »Ich weiß, was du glaubst.«

»Du begreifst nicht, was ich -«

»Oh, ich begreife durchaus. Mehr als mir lieb ist. Glaub mir. Und entschuldige mich bitte - ich glaube, ich werde noch einen Spaziergang machen. Ich brauche einen klaren Kopf.« Er konnte das heiße Blut in Wangen und Stirn pochen fühlen. Er versuchte, einen Vorwärtsgang in seinem Gehirn einzulegen, der ihm ermöglichen würde, diese sinnlose, ohnmächtige Wut hinter sich zu lassen, aber er schaffte es nicht. Er fühlte sich fast so, wie nach dem Traum von Carolyn; seine Gedanken wirbelten vor Angst und Verwirrung durcheinander, und als er seine Beine in Bewegung setzte, hatte er nicht das Gefühl, als würde er gehen, sondern fallen, wie er am Montag morgen aus dem Bett gefallen war. Trotzdem ging er weiter. Manchmal konnte man nichts anderes tun.

»Ralph, du mußt zu einem Arzt gehen!« rief McGovern ihm nach, und nun konnte sich Ralph nicht mehr einreden, daß er nicht eine unheimliche, heftige Schadenfreude in McGoverns Stimme hörte. Die Sorge, die darin mitschwang, war wahrscheinlich aufrichtig, aber sie war wie ein süßer Zuckerguß auf einem bitteren Kuchen.

»Keinem Apotheker, keinem Hypnotiseur, keinem Akupunkteur! Du mußt zu deinem Hausarzt gehen!«

Klar, zu dem Typ, der meine Frau unterhalb der Flutlinie begraben hat! dachte er mit einer Art geistigem Aufschrei. Dem Mann, der sie bis zum Hals im Sand begraben und ihr anschließend gesagt hat, sie müßte keine Angst vor dem Ertrinken haben, solange sie schön brav ihre Valium und Tylenol- nahm!

Laut sagte er: »Ich muß einen Spaziergang machen! Das brauche ich, und mehr brauche ich nicht.« Sein Herz pochte jetzt mit den kurzen, harten Schlägen eines Vorschlaghammers in seinen Schläfen, und er überlegte sich, daß so ein Schlaganfall anfangen mußte; wenn er sich nicht bald unter Kontrolle bekam, würde er ins Wutkoma fallen, wie sein Vater sich immer ausgedrückt hatte.

Er konnte hören, wie McGovern ihm den Fußweg entlang folgte. Faß mich nicht an, Bill, dachte Ralph. Wage es nicht, mir die Hand auf die Schultern zu legen, denn in diesem Fall werde ich mich wahrscheinlich umdrehen und dir eine scheuern.

»Ich versuche nur, dir zu helfen, begreifst du das nicht?« brüllte McGovern. Der Briefträger auf der anderen Straßenseite war wieder stehengeblieben und beobachtete sie, und vor dem Red Apple starrten sie Karl, der morgens arbeitete, und Sue, das Mädchen, das nachmittags arbeitete, mit offenen Mündern unverhohlen an. Karl, stellte er fest, hielt eine Tüte Hamburgerbrötchen in einer Hand. Es war wirklich erstaunlich, was einem in solchen Augenblicken alles auffiel... allerdings nicht annähernd so erstaunlich wie das meiste, das er heute morgen gesehen hatte.

Was du dir zu sehen eingebildet hast, Ralph, sagte eine verräterische Stimme leise flüsternd in seinem Kopf.

»Geh weiter«, murmelte Ralph verzweifelt. »Geh einfach weiter, verdammt.« Vor seinem geistigen Auge spielte sich ein Film ab. Es war ein unangenehmer Film, wie er sie sich selten ansah, selbst wenn er alles andere schon gesehen hatte, was sie im Kino Center zeigten. Und der Soundtrack dieses Films war ausgerechnet »Pop Goes the Weasel.«

»Ich will dir was sagen, Ralph - in unserem Alter sind Geisteskrankheiten was ganz Normales! Was völlig Normales, also GEH ZU DEINEM ARZT!«

Mrs. Bennigan stand jetzt auf ihrer Veranda und hatte ihren Stock am Fuß der Treppe abgestellt. Sie hatte immer noch den hellroten Herbstmantel an, und ihr Mund schien offenzustehen, als sie über die Straße zu ihnen hersah.

»Hörst du mich Ralph? Ich hoffe es. Ich hoffe wirklich, daß du mich hörst!«

Ralph ging schneller und zog die Schultern wie bei einem kalten Gegenwind zusammen. Wenn er nun einfach weiter schreit, immer lauter und lauter? Und wenn er mir einfach die Straße entlang folgt?

Wenn er das tut, werden die Leute denken, daß er der Verrückte ist, sagte er zu sich, aber der Gedanke hatte keine beruhigende Wirkung auf ihn. Im Geiste hörte er immer noch ein Klavier ein Kinderlied spielen - nein, eigentlich nicht spielen, die Noten eines Kinderreims klimpern:

All around the mulberry bush The monkey chased the weasel, The monkey thought 'twas all infun, Pop! Goes the weasel!

Und jetzt sah Ralph die alten Anwohner der Harris Avenue, die ihre Versicherungen bei Gesellschaften abschlössen, welche im Kabelfernsehen Werbung machten, die Gallensteine und Hautkrebs hatten, deren Gedächtnis in dem Maß schrumpfte wie ihre Prostata anschwoll, die von Sozialhilfe lebten und die Welt durch den grauen Star statt durch die rosa Brille sahen. Es waren die Leute, die mittlerweile sämtliche Briefe mit der Adresse »An den Bewohner« lasen und die Werbezettel der Supermärkte nach Dosen im Sonderangebot und tiefgefrorenen Fertiggerichten absuchten. Er sah sie in grotesken kurzen Hosen und flauschigen kurzen Röcken, sah sie mit Propellermützchen und T-Shirts, auf denen Figuren wie Beavis und Butt-Head und Rüde Dog abgebildet waren. Er sah sie, kurz gesagt, als die ältesten Vorschüler der Welt. Sie marschierten um eine doppelte Stuhlreihe herum, während ein kleiner kahlköpfiger Mann im weißen Kittel »Pop Goes the Weasel« auf dem Klavier spielte. Ein anderer Kahlkopf nahm einen Stuhl nach dem anderen weg, und jedesmal, wenn die Musik aufhörte und alle sich setzten, blieb einer stehen -diesmal war es May Locher gewesen, das nächste Mal wahrscheinlich McGoverns alter Dekan. Die Person mußte selbstverständlich das Zimmer verlassen. Und Ralph hörte McGovern lachen. Lachen, weil er wieder einen Stuhl bekommen hatte. May Locher war tot, Bob Polhurst lag im Sterben, Ralph Roberts hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank, aber mit ihm war noch alles in Ordnung, Sir William D. McGovern ging es noch prächtig, noch bestens, er war noch in der Vertikalen und nahm Nahrung zu sich, und er konnte noch einen Stuhl finden, wenn die Musik aufhörte.

Ralph ging weiter, krümmte die Schultern noch mehr und rechnete mit einem weiteren Bombardement von Ratschlägen und Belehrungen. Er hielt es für unwahrscheinlich, daß McGovern ihm tatsächlich weiter nachkommen würde, aber nicht für völlig ausgeschlossen. Wenn McGovern wütend genug war, könnte er sich genau dazu hinreißen lassen - Vorhaltungen machen, Ralph sagen, er solle mit dem Unsinn aufhören und zum Arzt gehen, ihn daran erinnern, daß das Klavier jeden Moment aufhören konnte zu spielen, jederzeit, und wenn er keinen Stuhl fand, solange er noch Gelegenheit dazu hatte, war es vielleicht für immer aus mit ihm.

Aber es ertönten keine Rufe mehr. Er wollte sich umdrehen, um nachzusehen, wo McGovern abgeblieben war, besann sich aber eines Besseren. Wenn er sah, daß Ralph sich umdrehte, legte er vielleicht von vorne los. Ambesten war es, einfach weiterzugehen. Also machte er größere Schritte, ging ohne darüber nachzudenken, wieder in Richtung Flughafen, schritt mit gesenktem Kopf aus und versuchte, nicht das unbarmherzige Klavier zu hören, nicht die alten Kinder zur Kenntnis zu nehmen, die um die Stühle herumspazierten, nicht die ängstlichen Augen über dem vorgeschützten Lächeln zu sehen.

Beim Gehen überlegte er sich, daß seine Hoffnung nicht erfüllt worden war. Er war doch in den Tunnel gestoßen worden, und die Dunkelheit umgab ihn auf allen Seiten.

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